Band 11
Kontinente des Krieges Hanns Kneifel
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Band 11
Kontinente des Krieges Hanns Kneifel
Alle Rechte vorbehalten 1997 by VPM Verlagsunion Pabel Moewig KG, Rastatt Redaktion: Klaus N. Frick Titelillustration: Rüdiger W. Wick Druck und Bindung: Ebner Ulm Printed in Germany 1997 ISBN 3-8118-1510-5
Vorwort Der Arkonide Atlan, der nach dem Passieren der MagellanStraße vor dem unglücklichen Weltentdecker durch die Südsee segelt – mit der zweiten Hälfte dieses Abenteuers beginnt das elfte Kapitel. Dieser Abschnitt ist zusammengesetzt aus Atlans Erlebnissen, geschildert in Taschenbuch 98, Wettfahrt der Entdecker, aus dem Jahr 1972, Taschenbuch 301, Die Masken der Erinnerung, von 1988 sowie Taschenbuch 305, Die Balladen des Todes, von 1988; den Taschenbüchern 100, Der Kontinent des Krieges, von 1972 und Nummer 308, Die unsichtbaren Pforten (1988); mit Einschüben aus Taschenbuch 321, Die Königsmörder (1989), und der ersten Hälfte von Taschenbuch 317, Atlan und die Selbstmörder, von 1989 endet dieser Band der AtlanZeitabenteuer, das elfte Kapitel der ANNALEN DER MENSCHHEIT. Dem Chronisten von Atlans Abenteuern ist im Lauf langer Berichte und deren Aufzeichnungen, Bearbeitungen, Analysen und Ergänzungen durch korrespondierende, gleichwertige Fremdquellen klargeworden, daß es innerhalb der irdischen Historie nicht nur eine Menge faszinierender Einzelheiten gibt, sondern daß bis zum heutigen Tag tiefe Geheimnisse geblieben sind: ES, dessen irdische Werkstatt-Bühne, das Weltbild der eisgegürteten Weltscheibe, Schauplatz ist für willkommene, zufällige oder unwillkommene Besucher, scheint sich vom anderen Paladin der Menschheit zurückzuziehen. Zumindest zwingt ES Atlan und Rico nicht mehr in gefahrvolle Missionen. Vor dem Jahr, in dem Atlan und Rhodan zusammentrafen, war die Erde eine riesige Agora gewesen, ein planetengroßer Marktplatz, wo Einheimische und Aliens auftraten, etwas bewirkten oder gesteinigt wurden oder abtraten – oder spurlos verschwanden! –,
ununterbrochen, zehn Jahrtausende lang. Seit Atlan zu erzählen angefangen hatte, war Professor Cyr Aescunnars Weltbild ständig korrigiert worden: Evolution einer bestimmten Art fand nicht statt ohne den arkonidischen Kristallprinzen. Oder andere Xenowesen. Das versteckte Erbe der Lemurer, mit dem Atlan mindestens zweimal in Kontakt geraten war, schien nicht nur rothaarige Springer und beutegierige Aras angezogen zu haben. (Von der lemurischen Hinterlassenschaft, wie von so manchem anderen, konnte der Einsame der Zeit noch nichts wissen!) Unter dem Zwang der Déjà-vu-Erlebnisse, die das Überleben seines Verstandes nach den fast tödlichen Verletzungen während der Karthago-II-Mission zu sichern schienen, wird der ehemalige Admiral und Kristallprinz, der Überlebende des Unterganges von Atlantis, von seinen Erlebnissen zwischen den Jahren 1522 und 1698 berichten; ein buntes Kaleidoskop aus Kämpfen, Kriegen, Hochstimmung und abgrundtiefer Verzweiflung, von herrlichen Planetentagen und den Phasen langen, kalten Schlafes. Atlans Erzählungen fügen dem Wissen über die Geschichte der Menschheit etliche neue, überraschende Komponenten hinzu, und ebenso, wie wir heute mehr über Atlans Schutzzylinder wissen, erfahren wir von seinem Zusammentreffen mit Hauptakteuren jener Geschichte, ohne die heute unser Weltbild völlig verändert sein würde. Nicht nur der Chronist wünscht sich mitunter, an Atlans Seite geritten, gefochten, »erfunden«, gelebt und gelitten zu haben. Der Chronist würde weder die Daten noch deren Zusammenstellung zu Zeittafeln – sie reichen immerhin von 8000 v. Chr. bis 2040 n. Chr. und gliedern die Geschehnisse in mehr als 55 Einzelerzählungen – ohne die Hilfe menschlicher und »positronischer« Gedächtnisse und vieler Ratschläge, Kritiken, Zuschriften und dankender Bestätigungen allein
recherchieren können. Er brauchte es auch kaum zu tun: Rainer Castors abgrundtiefe Archive lieferten mancherlei Erhellendes. Klaus N. Frick bearbeitete die Bearbeitung von Atlans Bericht, und kaum ein Fehler entging ihm: bei beiden bedankt sich der Chronist ebenso wie seit den ersten ANNALEN-Kapiteln. Die Abenteuer des »Capitaine des siècles« sind noch lange nicht beendet, seine Erfahrungen füllen noch viele Seiten dieser Geschichte unserer Menschheit.
Hanns Kneifel
Prolog »Sensationell und bewundernswert! Faszinierend, aber anstrengend! Ein Atlan-Tsunami, dessen Gischt aus nie gekannten Bildern und dessen Wucht aus erlebten Abenteuern besteht! Aventiuren in der terranischen Geschichte, und keineswegs in den Nischen. Atlan segelte vor Magalhaes her! Die Passage nach Osten, nach Zipangu, China, Indien, die Kolumbus suchte! Segle weiter westwärts, Arkonide!« Cyr schwenkte den Kaffeebecher. Dann murmelte er: »Und erhole dich von den Strapazen, Atlan.« Er hatte seine Erzählung offensichtlich an jener Stelle unterbrochen, an der sie für ihn den Höhepunkt der Spannung erreicht hatte; Cyr Aescunnar war sich bewußt, daß er weder Psychologe noch Traumatisierungsforscher war, aber er konnte sich Atlans Gedächtnis nicht anders vorstellen als innerhalb eines Modells geologischer Schichtungen. Erinnerungen lagerten über Erinnerungen wie dünne Sedimente aus Sand, Staub, Schlamm, abgestorbenen Kleinstlebewesen. Nicht vergessen, sondern verdeckt, verschüttet, verdrängt. Eine Verwerfung dieser Ebenen, die aneinanderhefteten wie Seiten eines dicken Buches, schuf bizarre Effekte; als ob jene Seiten zerschnitten und, teilweise ineinandergeschoben, neu geordnet würden. Farben, Strukturen, Bilder und Geschehnisse wirbelten durcheinander. Unter diesen Umständen war nahezu jede chronologisch exakte Erzählung des NEI-Prätendenten Atlan das Meisterstück eines einwandfrei arbeitenden organischen Verstandes. Professor Aescunnar hatte die tagelange Ruhepause Atlans dazu benutzt, zusätzliche Informationen, Geschichtchen, Bilder, Diagramme, Querverweise, Fußnoten ins neunte und zehnte Großkapitel der ANNALEN DER
MENSCHHEIT einzufügen – auf dem Schreibtisch fehlte das übliche Chaos; dieser ungewohnte Zustand begann ihn zu irritieren. Er hob den Kopf und betrachtete Atlans ausgestreckten Körper unter dem gedämpften Licht der Solarlampen. Obwohl der Arkonide noch immer intravenös ernährt wurde, ertastete er im Schlaf mit verblüffender Sicherheit die Becher voller Nährgetränke. Wie der Versuch des Arkoniden deutlich gezeigt hatte, war er noch nicht in der Lage, aufzustehen und mehr als drei Schritte sicher zu gehen. Bis er in das Dachappartement in Sol-Town verlegt werden konnte, das er und Scarron Eymundson vor der Karthago-II-Katastrophe bewohnt hatten, würde noch einige Zeit vergehen. »Tage, Siebentage, Zehntage und Monde, Atlan«, murmelte Cyr. »Dadurch, daß die Schlafphasen zwischen deinen Abenteuern kürzer und zugleich die Einzelabenteuer länger und geschichtlich wichtiger werden, überforderst du zwei Lebewesen: dich und mich, den armen Chronisten.« Das Chronometer zeigte den Vormittag am 10. Januar 3562; es hatte sich in der vergangenen Woche eingebürgert – selbst in der kargen Zeit, in der Cyr Aescunnar drei UniversitätsVorlesungen gehalten und seine studentischen Arbeitsgruppen öffentlich belobigt hatte; sie waren namentlich erwähnte Helfer für die ANNALEN –, diesen privaten, externen Forschungsraum der Chmorl-Universität als Anwählpartner für jede Art Auskunft zu betrachten: von Julian Tifflor. Atlans Vertreter, abwärts besuchte jeder Interessierte den Historiker oder rief über Visiphon an. Ihnen genügten die zwei täglichen Stellungnahmen des Planetaren Krankenhauses und die Datenbank MASTERCONTROLS nicht: Sie wollten Einzelheiten wissen. Aescunnar zuckte mit den Achseln. Er tat sein möglichstes. Auf einem Monitor las er Atlans arkonidische
Qualifikationen ab. Sie stammten aus Starco/Riv-Lenks AUFSTIEG UND NIEDERGANG DES ARKONIDISCHEN IMPERIUMS, einem der wenigen erhaltenen Exemplare dieser uralten Chronik. Cyr lächelte, als er die Titelsammlung betrachtete: Admiral Atlan »Mascaren« Gonozal, Kristallprinz; Kosmonaut, Hochenergie-Ingenieur, Kosmopsychologe, Kosmo-Kolonisator-Infrastrukturplaner, Kosmo-Stratege, Kosmo-Taktiker… »Ich kann begreifen, daß Atlans Ungeduld wächst«, murmelte Cyr. Tifflor, Djosan Ahar, der Anthropologe und selbst Ghoum-Ardebil, der Ara-Mediziner, waren der gleichen Ansicht. »Er hat in jenen Jahren erste, unwiderlegbare Beweise dafür gesehen, daß seine naturwissenschaftlichen und technischen Anregungen endlich Wurzeln geschlagen haben. Eigentlich dürfte er vor Aufregung gar nicht mehr freiwillig einschlafen!« Während langer Jahrtausende hatte der Arkonide immer wieder versucht, die Menschheit auf den Weg zu den Sternen zu führen. Unzählige »Erfindungen« waren spurlos untergegangen, andere hatten gefruchtet. Cyr war darauf vorbereitet, während der nächsten Wochen und Monate mitzuerleben, wie sich der Arkonide einer Zäsur in seinem Leben und in der technisch-naturwissenschaftlichen Evolution seiner »Barbaren« näherte. Aescunnar war ausgeschlafen und ausgeruht. Seine Sehnerven arbeiteten ohne Störungen: Er sah nur die Bilder, die auch jeder andere mit scharfem Blick sehen konnte; er ahnte, daß er weiterhin mit seltsamen Formen der Fehlsichtigkeit würde leben müssen. Wieder blickte er auf die holografische Projektion, die den Blick in Atlans Intensivstations-Reinraum gestattete. Schweigend erhob sich Atlan halb von der Liege, leerte bedächtig einen Becher und
achtete darauf – er hielt die Augen geschlossen wie ein Schlafwandler –, die Schläuche für die intravenöse Ernährung nicht zu verwirren. Er ergriff den Rahmen der Antigravanlage, streckte sich auf dem schwach schimmernden Energiegitter aus und ließ sich in den Überlebenstank transportieren. Die Nährflüssigkeit war ersetzt worden; jetzt füllte ein bläuliches Liquid den transparenten Tank. Bläschen und Schaum machten die Flüssigkeit milchig. Die modifizierte SERT-Haube setzte sich in Bewegung. Ehe sie ihre Position über Atlans Kopf und Schultern erreichte, sagte der Arkonide mit kräftiger Stimme: »Ich weiß genau, an welcher Stelle ich aufgehört habe zu berichten. Es war, damals, eine ruhige, glückliche Phase zwischen aufregenden Tagen und Nächten. Bald werde ich mit vollem Bewußtsein reden und mich wieder richtig bewegen können – bis dahin vertraue ich weiterhin den Anlagen dieser famosen Heilstätte.« Er hob den linken Arm aus der brodelnden Flüssigkeit und winkte. Cyr Aescunnar aktivierte ein Aufzeichnungsgerät nach dem anderen. Auf der Printplatte erschienen Buchstaben und Wörter. Atlan schien zu lächeln, als sich die Haube senkte. »Häuptling Aruano. Mauki, Sharma, die Samthäutige, Sonne, Sand und Palmen – und dann zeigte uns die Südsee ihre gewalttätige Seite.« Der Arkonide schwieg, schien sich zu sammeln, zu überlegen: er lehnte Schultern und Kopf gegen das federnde Geflecht der Antigravstrahlen. Die soldschimmernde Gedankenhaube verhüllte seinen Kopf, ihr Rand berührte die Schultern, der Klang von Atlans Stimme veränderte sich. Nach etwa dreißig Sekunden Pause berichtete Atlan weiter.
1. Der aufregendste Augenblick stand mir noch bevor. Ich fuhr mit Häuptling Aruano und seinen Ruderern zum Fischen und Tauchen, wollte miterleben, wie man Perlen fand – über die Kostbarkeiten, die wir gegen stählerne Beile, kleine Spiegel oder Messer einhandelten, staunten nicht nur unsere Frauen. Nachdem wir aus der Lagune hinausgerudert waren, bog das lange Häuptlingskanu scharf nach Norden ab. »Wohin geht es?« Ich räkelte mich schläfrig unter dem Sonnensegel aus Bast. »Zu einer anderen Insel«, sagte der Häuptling. Das Boot war zerbrechlich; leicht und groß. Sämtliche Verbindungen bestanden aus Schlingen, Schnüren, Pflanzenfasern und Holz. Netze und Fischgerät lagen herum und eine Anzahl Steine, in Schnüre eingeflochten. »Wie findet ihr die anderen Inseln?« fragte ich. Aruano hob etwas hoch, das ich auf den ersten Blick nicht identifizieren konnte; dünne Stäbchen, an den Kreuzungspunkten mit Bast verbunden. Muscheln befanden sich dazwischen; ein unregelmäßiges Netz, das in drei längere Stäbe auslief. »Wir haben Karten!« Der Häuptling war häufiger Gast auf dem Schiff gewesen. Er bewunderte dieses technische Ding, aber mißtraute geschlossenen, von Holz umgebenen Räumen. Er erschrak tödlich, als unser Hinterladergeschütz feuerte und sämtliche Vogelschwärme aufscheuchte; jetzt präsentierte er mir ein Geflecht voll Muschelschalen als Karte. Ich blickte genauer hin. Die wirkliche Karte, eine Höhenaufnahme, hatte ich in meiner Erinnerung. Ich nahm das Geflecht so, daß die Fortsätze auf Morgen, Mittag und Abend wiesen: tatsächlich eine Karte! Bastfäden kennzeichneten Meeresströmungen,
dickere Streifen verdeutlichten die hauptsächlichen Winde, und ich erkannte, daß wir zur nächsten winzigen Insel segelten. Das Kanu schwankte beträchtlich, machte aber erstaunlich hohe Fahrt. Ich beugte mich vor und hörte den Häuptling sagen: »Ich werde euch Mauki mitgeben.« Ich runzelte die Stirn und betrachtete plötzlich vieles unter einem gänzlich neuen Blickwinkel. Wir hatten die gleichen Erfahrungen, aber aus verschiedenen Quellen. Mein Wissen ging von der Größe des Kosmos bis zu den einfachen Dingen des täglichen Lebens. Seines war an diesen Dingen gewachsen; eine Art reiner Natur-Wissenschaft. Insulaner und ich würden sich gut verstehen und ergänzen können. »Wer oder was ist Mauki?« fragte ich. »Einer unserer ältesten Männer. Er verlor einen Arm durch den Hai. Er kennt alle Inseln dieser Welt.« Ich lachte und sagte: »Kennt er auch die Küsten der fernen Länder?« »Es gibt nur Inseln«, sagte der Häuptling beharrlich. »Das Meer ist überall, alles, was in ihm liegt, ist Insel. Tausend Inseln hier. Wollt ihr Mauki und sein Boot mitnehmen? Er kann, wenn ihr ihn nicht mehr braucht, zurücksegeln.« Ich wandte ein: »Das kann für ihn eine lange Fahrt werden, denn wir segeln im Zickzack durch die Inseln, dann nach Sonnenuntergang, bis wir in der Heimat sind.« »Maukis längste Reise war zweihundert Tage lang, und er hat nicht einen Tag gedürstet.« »Ich nehme ihn mit!« Ich entschloß mich schnell; einen besseren Führer konnten wir nicht finden. Stundenlang segelten wir und unterhielten uns über Tiere und Pflanzen, Wasser und Fische, dann tauchte die Insel auf. »Unbewohnt. Nur wilde Schweine. Viele Vögel«, sagte der Häuptling. Bananen und Feigen, Pandanusund
Kokospalmen, wilder Ingwer und eine Menge buschartiger Pflanzen beherbergten eine reiche Vogelwelt, Eidechsen und Schlangen. Das doppelrümpfige Boot mit der Plattform zwischen den hochgekrümmten Einbäumen näherte sich, mit dem langen Ruder gesteuert, mit Hilfe des dreieckigen Doppelrah-Segels, einigen Blöcken aus Korallen, auf denen Palmen neben abgesplitterten Baumstümpfen standen. Mangrovenartige Sträucher wuchsen von der Insel aus ins Brackwasser. Ein Vogelschwarm erhob sich, als wir zwischen Insel und Riff die Basttaue belegten. In den nächsten Stunden versuchte auch ich, Fische zu speeren und zu tauchen. Ersteres gelang mir einigermaßen, aber die Insulaner schienen Schwimmflossen und Kiemen zu haben – sie schwammen und tauchten verblüffend gut. Ich gab nach dem dritten Tauchversuch auf; ich schaffte diese Tiefen nicht. Die Muscheln wurden geöffnet, und zum Teil fanden sich Perlen. Der Häuptling holte eine große, schimmernde Perle aus einer Muschel, als ich von einem Streifzug über das Inselchen zurückkam. Wir hatten nicht einen Haifisch gesehen. In den Rümpfen häuften sich gespeerte Fische und solche, die mit Netzen gefangen wurden. Langsam war es Zeit, an die Rückfahrt zu denken. Häuptling Aruano tauchte aus dem Wasser, warf sein triefendes Haar zurück und fragte atemlos: »Was hast du entdeckt, weißer Mann Atlan?« »Wenig Aufregendes«, sagte ich. »Ich glaube, daß es wenige große Tiere auf den Inseln gibt, mehr Eidechsen und verschiedene Vögel. Vielleicht mehr, als wir denken.« »So ist es«, meinte er und schwang sich ins Boot. »Und sehr viele Arten Fische.« Er schrie über die Lagune, daß wir zurücksegeln wollten. Der Wind stünde nunmehr günstig. Die Männer brachten heran, was sie gefunden und erlegt hatten, und schließlich
segelten wir zurück nach Tafuafau. »Habt ihr schon einmal fremde Schiffe gesehen? Solche wie unser Schiff?« fragte ich. Es war denkbar, denn der Inselkontinent war in erreichbarer Nähe. »Noch nie. Ihr seid die ersten Weißhäutigen auf all den Inseln!« Der Häuptling massierte seine Waden. »Und außerdem habt ihr das schönste Wetter seit Jahren gebracht. Das Meer ist sturmreich und wild, aber bisher war es von seltsamer Milde und Schönheit. Wann wollt ihr fahren?« Ich zuckte mit den Schultern. »In einigen Tagen. Wir werden im Zickzack alle Inseln ansteuern. Mauki wird uns leiten.« »So war es besprochen!« Der Häuptling lachte. »Und er kennt die Sprachen anderer Stämme. Dieser große, wilde Mann mit den rollenden Augen…?« »Zaro«, sagte ich, »hat es vorgezogen, die Haifische zu füttern. Er sprang über Bord.« Aruano nickte verständnisvoll. Wir kreuzten in langen Geraden zur Insel; erreichten sie gegen Sonnenaufgang, langsam erwachte das Dorf. Zwischen den Männern des Schiffes, den wenigen »Offizieren«, und dem Stamm hatten sich gute Beziehungen ergeben – ich hatte darauf geachtet, daß keine Übergriffe geschahen. Die Männer sammelten Energien, und es näherte sich der Tag, an dem es ihnen zu langweilig wurde. Dagegen gab es genügend Medizin: wieder in See zu gehen und die Inseln zu besuchen. Es sollte eine Seefahrt des Vergnügens werden, keine erbarmungslose Jagd. Außerdem mußte ich Maghellanes treffen. Polynesiens Inseln zu zählen wäre überflüssig und sinnlos gewesen; ein riesiges Dreieck, von einer vulkanischen Insel im Norden bis zu den Steininseln weit im Osten und bis zu dem Inselkontinent im Westen. Wir luden das Kanu Maukis auf das Schiff, lagerten Kokosnüsse und andere haltbare Früchte ein,
nahmen Frischwasser an Bord und verabschiedeten uns von dem Stamm. Wir hatten uns blendend erholt; wissenschaftliche Einsichten über diesen unbekannten Teil der Erde hatte ich sammeln können. Uns zog es an Deck. Fremde Küsten warteten auf uns. »Atlan! Du bist ein Mann, von dem ich nicht weiß, was er will!« Mauki war so braun gebrannt wie ein Afrikaner. Sein linker Arm war über dem Ellenbogengelenk abgetrennt wie mit einem Messer; das über und über lockige Haar war schneeweiß. Die Augen waren die eines verträumten Koboldes. Er stand neben mir, an die Reling des Heckkastells gelehnt. Seit Tagen segelten wir nach seinen Anordnungen. »Ich weiß, was ich will – ich werde es dir sagen«, meinte ich. »Wohin fahren wir?« Er deutete auf seine Rohrgeflecht-Karte, neben der eine Luftaufnahme festgeheftet war. »Pinaki, Nengonengo. Gute Inseln. Viele Menschen. Wir holen Frauen von dort.« Das war ein weiteres Geheimnis: Auf diese Art konnte Inzucht nicht um sich greifen. Die Mitglieder der Stämme zogen in Schwärmen von Kanus aus, um Frauen zu rauben. Oftmals, versicherte Mauki mit strahlendem Grinsen, gingen die Mädchen gern mit. »Sehr gern…«, fügte er nachdenklich hinzu. »Was finden wir dort?« fragte Agsacha. Andere Totems, meinte Mauki. Andere Götter, andere Pflanzen. Je mehr sich die Inseln dem sagenhaften Land im Westen und Nordwesten näherten, desto reicher waren sie an Gewürzen, Blumen und Tieren. Sogar Vögel, die nicht fliegen, aber laufen konnten, größer als ein Mann, gäbe es auf vereinzelten Inseln. Mauki war ein Maghellanes der polynesischen Inseln. »Aber… was willst du wirklich, Atlan?« fragte er
mißtrauisch. Die TERRA hatte jeden Fetzen Leinwand gesetzt und schoß mit achterlichem Wind dahin. Zischend bäumte sich der Gischt vor dem Bug. Wir verloren kaum eine Insel aus den Augen, als der Ausguck voraus oder querab eine neue meldete. Mauki versicherte dann, daß es sich um kleine Inseln handelte, nur Kokospalmen, nichts sonst. Nachdenklich betrachtete Sharma die Perle, die ihr der Häuptling zum Abschied geschenkt hatte. »Ich will einen Stamm treffen oder eine Anzahl von Stämmen, die vor uns andere Menschen gesehen haben. Ich will, daß sich alle kennenlernen. Die Insulaner und die Menschen von den Rieseninseln, den Kontinenten.« »Ich verstehe. Dann sind wir richtig. Wir werden Pinaki anlaufen und draußen ankern. Die Männer von Nengonengo haben schon kleine, gelbe Menschen gesehen, sagten sie.« »Dorthin segeln wir!« bestätigte Diego de Avarra am Ruder. Die TERRA umrundete eine Insel nach der anderen. Oftmals ankerten wir und schickten ein Boot aus. Mauki stand wachsam, seinen Speer mit der Speerschleuder in den Händen, im Bug des Ruderbootes, als es durch die Brandung am Korallenriff schoß und von der Welle in die Lagune geworfen wurde. Wir wurden überall freundlich aufgenommen. Mauki sprach offensichtlich jeden Dialekt der vielen Inseln; es war eine unwiederholbare Fahrt. Wir lernten Menschen und ihre Sitten kennen. Meine Männer tauschten Messer und allerlei Eisenwaren gegen Perlen und Schmuckstücke aus vielfarbigen Korallen. Einige lernten die Sprache, Diego zeichnete mit meiner Hilfe eine Karte der Winde und Strömungen, klassifizierte aus einer Laune heraus die Pflanzen, deren Verbreitung und Wuchs von der Natur der Inseln abhingen. Sie waren zum Teil vulkanischen Ursprungs, und zum anderen Teil von Korallenriffen gebildet. Die Mengen Palmwein, die wir
tranken, waren groß; ein Fest löste das andere ab. Wir berichteten von unserem Land weit im Westen, erweiterten das Weltbild der Insulaner – und sie erweiterten unsere Erkenntnisse. Ich sprach viele Bänder voll, fertigte Bilder an und füllte viele Seiten unseres Logbuches. Die Reise von Tafuafau im Zickzack durch die Inseln war undramatisch. Wir legten sie meistens in beglückendem Dämmerzustand leichten Alkoholisiertseins zurück; trotzdem liefen wir auf kein Riff auf. Mauki entpuppte sich als Mann, dem offensichtlich die Fähigkeit fehlte, betrunken zu werden. Er war immer nüchtern – ein weiteres Wunder der Südsee. Und so kamen wir nach Aruarufa. Es war Nacht. Die TERRA bewegte sich auf geradem Kurs durch die unruhige See. Vor uns, die Sterne verdeckend, erhob sich eine Insel. Als wir sie im Licht der Sterne und im bleichen Licht des Mondes genauer sahen, konnten wir einige Eigentümlichkeiten feststellen. Diego murmelte unschlüssig: »Von hier sieht die Insel flach aus. Ich meine, mit einem tafelähnlichen Strand voller Palmen und Gewächse. Siehst du die Feuer, Atlan?« »Ja«, antwortete ich. »Und ich sehe auch auf dem einen der drei Berggipfel den rötlichen Schein und darüber die Wolke.« Agsacha fragte aufgeregt: »Ein Vulkan? Ein feuerspeiender Berg wie auf der Insel Vulcano?« »Vermutlich. Ich kann nicht genau sehen.« Drei Berggipfel drängten sich am westlichen Ende der Insel zusammen. Sie sahen keineswegs vulkanisch aus; ich zog mein Teleskop auseinander und betrachtete die Silhouette der Insel. »Wardar! Nimm die Hälfte der Segel herunter!« rief ich. »Verstanden!« Das Tappen bloßer Füße auf den blankgescheuerten, salzüberkrusteten Planken. Die Taue knirschten, das Holz knarrte. Der Feuerschein auf dem Berggipfel nahm zu.
»Aruarufa ist aus Feuer und Dampf geboren!« murmelte Mauki. »Es wird immer neu geboren.« Das Schiff wurde langsamer. Auch diese Insel war von einem Ring umgeben, aber er schien nicht aus Korallen zu bestehen. Es mußten, den dunklen Flächen nach, Felsen aus Lavagestein sein. Die Brecher schlugen an ihnen hoch und überschütteten sie mit Schaum. »Du wirst, Atlan, eine Insel sehen, deren Bewohner eine ganz andere Kultur haben. Sie leben mit den Flammen.« »Der feuerspeiende Berg… ist er gefährlich?« erkundigte sich Ssachany leise. »Mag sein, weiße Frau!« murmelte Mauki. »Bejar!« rief ich. »Einige Lotungen! Wir ankern vielleicht!« »Sofort, Kapitän!« kam es vom Vorschiff. Nur einige Positionslampen brannten. Das Schiff trieb auf die Insel zu und näherte sich einem Landvorsprung, dicht mit Palmen, Mangroven und Gebüsch bewachsen. Die Angaben des Lotenden wurden laut ausgerufen. Wieder fielen einige Segel. Diego ließ das Schiff in weitem Bogen auf das Land zutreiben. Uns allen war nicht wohl bei dem Gedanken, in der Nähe des Vulkans zu ankern. Die Männer wußten nicht, worum es sich dabei handelte. Einige Minuten vergingen. Nichts rührte sich, aber als sich die Perspektive änderte, sah ich zwischen Palmenschäften kleine Feuer flackern. Eine stark unterdrückte Unruhe begann sich unter der Mannschaft auszubreiten. »Wir haben sechzig Fuß Tiefe, Käpten!« kam Bejars Stimme durch das Dunkel. »Wir ankern!« rief ich. Eine Stunde später hing das Schiff an einer Ankertrosse. Die Ebbe lief aus, und wir standen gegen den Strom. Auf dem Vorschiff drängte sich die Mannschaft zusammen. Ich spürte ihre Unruhe und ging zu ihnen. Mit ausgesuchten Worten versuchte ich zu erklären, was ein feuerspeiender Berg
wirklich war. Sie schienen verstehen zu wollen, aber nicht zu können. Auch ich wurde von ihrer Unruhe angesteckt. Mauki legte seine Hand auf meine Schulter. Im Finstern leuchteten seine Augen und die Zähne. »Horch!« Er deutete zur Insel. Unsere Unterhaltung verstummte. Wir hielten den Atem an. Über den Geräuschen des Schiffes erhoben sich exotischere Töne: das Pochen hölzerner Trommeln, dumpfer Singsang in der vokalreichen Sprache der Insulaner, das grelle Kreischen von Baumflöten. »Was, deiner Meinung nach«, fragte ich vorsichtig, »tut dieser Stamm dort? Sie feiern ein Fest?« Mauki hob die Brauen und erwiderte: »Sie beschwören den Gott des Feuers. Sie tanzen und bringen Opfer!« »Das muß ich sehen. Diego!« forderte ich. »Ich brauche ein Boot und einige Freiwillige. Ich will diesen Tanz sehen. Das bin ich mir und dieser Reise schuldig.« »Ich sehe es nicht gern, daß du gehst, aber ich gehe mit!« sagte Agsacha mit Bestimmtheit. Wir ließen ein Boot zu Wasser, bemannten es mit acht Ruderern. Mauki, Agsacha und Sharma stiegen zu mir ins Boot. Ich nahm aus meinem Gepäck einen Handscheinwerfer, steckte eine zweite Energiezelle ein und bewaffnete Agsacha und mich mit Vielzweckpistolen. Mauki stellte sich mit seiner Speerschleuder in den Bug. Schaukelnd bewegte sich die Nußschale auf die dunkle Küste zu. Der Widerschein vieler Feuer tanzte auf den Wellen, als wir uns näherten. Mauki schrie etwas im Dialekt der Insel; eine schrille Stimme antwortete. Ich glaubte, ein rumpelndes Geräusch zu hören. Vermutlich war der Kiel des Bootes auf einem Felsen entlanggeschnurrt. Ohne es zu merken, war ich wie alle anderen in der Stimmung eingesponnen, die sich entlang des mondsichelförmigen Ufers ausbreitete. Schatten tanzten über den weißen Sand. Der Feuerschein wurde heller. Zwischen
mir und den Feuern huschten Silhouetten vorbei. Schließlich hoben die Matrosen die Ruder. Der Kiel schob sich die Sandfläche hoch, ein Ruck ging durch das Boot. Mauki sprang an Land. »Wir kommen in Frieden!« rief er. »Mauki von Tafuafau, mit fremden Freunden! Nehmt uns freundlich auf, Männer von Aruarufa!« Einige Krieger, schwer bewaffnet, mit Baströcken und langen Schildern, kamen auf uns zu. Einer sagte dumpf: »Ihr seid willkommen. Wir tanzen den Tanz des Feuergottes. Heute hat er den Boden erschüttert. Auch sind glühende Brocken ins Meer gefallen.« Stechender Geruch drang in meine Nase. Schwefel? Vermutlich vulkanische Gase aus Fumarolen oder Solfataren. Die Insel war nichts anderes als die Umgebung eines Vulkans; es konnte sein, daß das Feuer aus der Tiefe sich jeden Augenblick siedend ergoß und die Landschaft verwüstete… Und das Schiff zerstört! meldete sich das Extrahirn. »Diese Männer kamen von weit her…« Maukis Wortschwall schien, abgesehen von der stark rhythmischen Musik hinter den Palmen, das einzige Geräusch zu sein. Wir stellten uns in einem Halbkreis hinter den Kriegern auf. Schließlich bat einer von ihnen, er trug eine weißgestrichene Maske aus Bast, beschwörend leise: »Kommt näher! Bleibt im Schatten! Stört den Tanz nicht!« »Wir versprechen es, Tänzer!« bestätigte Mauki. Zu mir gewandt, sagte er leise: »Sie haben alle Kawa getrunken und sind nicht bei sich. Sie haben viel Angst vor dem Feuer und tanzen, um ihre Angst einzuschüchtern.« Kawa, ein erfrischendes Getränk, war mit starkem Palmwein versetzt; die zerkleinerte Wurzel eines Pfefferstrauches wurde vergoren, gemischt und aus geschnitzten Schalen getrunken. Wir sahen, als wir in die rötliche Helligkeit des Feuers
hineintraten, etwa einhundert Männer und Frauen in drei Tanzreihen. Es war eine Szene von mystischer Eindringlichkeit. Schlagartig befanden wir Fremdlinge uns im Bann des Tanzes, der Musik – als hätten wir teilgenommen an der angsterfüllten Trance. Es war ein vollendeter Maskentanz aus einfachen, aber in ihrer Monotonie eindringlichen Schritten und Figuren. Die Körper der Tanzenden bewegten sich, bildeten drei Kreise. Im Mittelpunkt des Reigens loderte ein mächtiges Feuer. Andere Feuerstellen verteilten sich in einer langen Reihe. Sharma schob sich zwischen Diego und Mauki hindurch und klammerte sich an meinen rechten Arm. Ich wagte nicht, den Scheinwerfer einzuschalten. Trommeln, Flöten, die ausgestoßenen Vokale der Tänzer, durchdringender Geruch nach Schweiß, Gestank nach Schwefel und saurem Palmwein, Stampfen der nackten Füße und das Hämmern der Schädelbrecher auf die harten Schilde, die wie Resonanzböden wirkten… die schweißtriefenden Körper schienen eins werden zu wollen mit den furchterregenden Masken. Ich war gebannt, unfähig, mich zu bewegen. Der Tanz ging ununterbrochen weiter. Eine furchtbare Drohung erfüllte die Luft. Weit hinter uns schlug etwas schwer ins Wasser. Einmal bebte der Boden; die Scheite im Feuer krachten übereinander. Ein ungeheurer Funkenschauer erhob sich in die heiße Luft. Die Tänzer hatten aufgehört, menschlich zu sein. Sie hatten ihr Wesen abgestreift und waren zu Sinnbildern geworden. Drei riesige Totemsäulen, in grellen Farben bemalt und ausdrucksvoll geschnitzt, umstanden das Feuer. Einige Teile schmorten, Rauch stieg auf. Ununterbrochen kreischten und hämmerten Flöten und Trommeln. Ich war fasziniert, schließlich geriet ich in eine milde Form der Hypnose. Alles um mich herum war dazu angetan, uns einzuschläfern. Mauki entriß einem Krieger Speer und Schild und reihte sich in den äußersten Kreis ein.
Ich sah es, wagte aber nicht einzugreifen. Oder konnte ich in dieser Sekunde schon nicht mehr? Der Tanz ging weiter. Lös dich aus der Starre! Ihr seid in Gefahr! Denk an das Schiff! kreischte der Extrasinn. Ich überhörte diese Warnung ebenso wie die folgenden. Diese Geschöpfe, die sich drehten und mit den Gliedmaßen schlenkerten, hypnotisierten sich selbst und uns. Die Kreise drehten sich in verschiedenen Richtungen. Die nassen und hellbraunen Körper bogen und verdrehten sich. Schilde, Schädelbrecher und Speere wurden hochgerissen und wirbelten durch die Luft. Plötzlich schwiegen die Flöten. Dann bliesen sie einen unerträglich hohen Ton, der in die Trommelfelle stach wie eine glühende Nadel. Abermals bebte der Boden. Irgendwo rollte ein Fels zu Tal und riß Bäume mit sich. Die Trommel schlug einen rasenden Wirbel. Die Kreise zerstoben, bildeten in einem komplizierten Muster neue Gruppen. Drei Männer und ein gertenschlankes Mädchen verfolgten einander um die drei Totemsäulen herum. »Wahnsinn!« flüsterte Diego de Avarra. Der Vulkan bricht aus! schrie der Extrasinn. Ich vermochte mich nicht zu rühren. Das Mädchen, so gut wie unbekleidet, entriß einem Krieger den Schädelbrecher und steckte ihn ins Feuer. Während der Kopf der Waffe zu brennen und zu glühen begann, umtanzten die Männer das Mädchen. Schließlich brannte der Kopf des Schädelbrechers. Das Mädchen riß ihn aus der Glut und schwenkte ihn in wirren Kreisen durch die Luft. Funken flogen von dem kometenartigen Kopf weg. Die Krieger wichen zurück. Das Mädchen verfolgte sie. »Schlag zu! Schlag zu!« riefen die Tänzer, stöhnten es. Als ob ihre Stimmbänder in der Fessel der dämonischen Trance gefangen wären. Ein urhafter Laut kam aus vielen Kehlen. Ich schrak auf. Auch hinter dem Lichtkreis bewegten sich Menschen. Die Totemsäulen schwankten, als die Erde wieder
angehoben und nach zwei Richtungen gleichzeitig gestoßen und geschoben wurde. Schlag zu! Schlag zu! Schlag zu! Das Mädchen holte den ersten Tänzer ein, der in Schleifen von ihr wegtanzte. Jede Bewegung gehorchte dem Rhythmus der Trommel. Der schrille Ton der Flöte zitterte durch die Luft. Der Kopf des Schädelbrechers raste aufglühend und funkenschlagend durch die Dunkelheit und schien den Kopf des Tänzers zu treffen. Der Mann stieß einen gellenden Schrei aus und sank zu Boden. Die anderen Tänzer drangen auf das Mädchen ein, und der zweite empfing den tödlichen Hieb. Er ging schreiend zu Boden, und auch der dritte starb. Dann schrien die Tänzer etwas, das ich nicht verstand. Das Mädchen sprang ins Feuer und verschwand. Ich schüttelte mich. Ohrenbetäubendes Krachen drang durch die Nacht. Plötzlich zuckte ein roter Blitz durch das Firmament, langhallender Donner ertönte. Diego schrie in panischer Furcht: »Der Berg! Atlan! Unser Schiff! Wir müssen zurück!« Ich schüttelte mich, versuchte, den Bann abzustreifen, merkte nicht einmal, daß sich die Nägel Sharmas in meinen Oberarm bohrten. Blutstropfen quollen zwischen den Fingerkuppen hervor. Wieder bebte der Boden; Palmen und Totemsäulen schwankten. »Zurück zum Boot!« Mauki warf Speer und Schild zu Boden, als sich meine Erstarrung löste. Ich hätte von selbst nicht die Gewalt über mich zurückgewinnen können. Aber das Mädchen, das noch wie halb besinnungslos tanzte, warf den qualmenden Schädelbrecher ins Feuer. Langsam erhoben sich die drei Tänzer. Zwischen dem Sprung ins Feuer und dem erneuten Auftauchen der biegsamen Tänzerin klaffte in meiner Erinnerung eine Lücke; das brachte mich wieder in die Realität
zurück! »Alle Mann zurück zum Schiff!« Ich keuchte. Wir wandten uns zur Flucht. Ein donnerndes Geräusch begleitete uns. Mehrmals wurden wir zu Boden geschleudert. Die TERRA feuerte einen Schuß ab, der sich im unterirdischen Grollen und dem oberirdischen Krachen, Knistern und Rumoren seltsam verloren ausnahm. »Schneller!« brüllte Mauki hinter uns. Wir stoben hinunter zum Strand, rafften uns wieder auf, stolperten weiter und erreichten das Wasser, das in flachen, schwappenden Wellen flutete. Unsere Hände klammerten sich an den Rand des Bootes, schoben es ins Wasser; als uns eine Welle mit sich riß, warfen sich die Matrosen auf die Ruderbänke. Mauki wurde von mir ins Boot gezogen, Diego klammerte sich ans Ruder. Wir ruderten wie die Wahnsinnigen. Die Schäfte der Riemen bogen sich durch. Eine Woge riß uns mit sich, die nächste warf uns zurück, dem todbringenden Strand entgegen. Im Unterbewußtsein hörte ich, wie Wardar die Männer ans Gangspill trieb. Der Anker wurde gelichtet. Ich bog mich zur Seite und ließ das Ruder los. Brüllend brach sich eine meterhohe Wasserwand an den Felsen, überschüttete uns mit Wasser und Nebel. Das rote Glühen auf dem Berg war stärker geworden. Es sah aus, als ob der Krater auslaufen oder überkochen würde. Mein Handscheinwerfer wurde eingeschaltet. »Sind alle Mann im Boot?« schrie ich. »Ja! Ich habe gezählt!« brüllte Diego. Weit links von uns zischte und kreischte die Natur. Ich konnte nichts erkennen, aber flüssige Lava rauschte in Kaskaden ins Meer und verwandelte Meerwasser in Dampf. Die gesamte Natur war in Aufruhr. Vogelschwärme rasten wie wahnsinnig über uns hin und her. Schweine stürzten sich kreischend ins Wasser, Trommeln und die Flöten waren nicht mehr zu hören. Wir
passierten mit einer zurückflutenden See den Ring aus Felsen. Mit einem gewaltigen Sprung setzten wir über einen scharfkantigen Lavafelsen. Als der Lichtbalken durch die neblige, stauberfüllte Luft schwenkte, traf er nach fünfzig Schritten die Schiffswand. »Rudert Pullt um euer Leben!« schrie Diego. Auch ich griff wieder zum Riemen. Wir stemmten uns gegen die Rasten im Boden des Bootes. Unsere Rücken krümmten und strafften sich. Schweiß lief in Bächen über unsere Körper. Das Schiff drehte sich langsam herum. Segel wurden aufgezogen, jemand schrie von der Reling: »Wir werfen ein Tau!« »Verstanden!« brüllte ich. Zufällig fiel mein Blick nach oben. Wir hatten uns vielleicht dreihundert Schritte vom großen Feuer entfernt. Die Insel war gut zu überblicken. Ein breiter schneller Bach strömte von der Spitze des Kraterberges. An seinen Rändern ging der Wald in Flammen auf. Rauchschwaden schoben sich wieder vor das grausige Bild. An einigen Stellen leuchtete die Nacht in blutigrotem Schimmer. Langsam entfernte sich das Schiff von seinem Ankerplatz. Ein Tauende prallte in meinen Rücken; zehn Hände griffen danach. Das Tau wurde am Bug des Bootes belegt, ein Ruck straffte das Seil; unsere Fahrt wurde schneller. Glutheißer Wind drängte uns vom Land weg. Mein Scheinwerfer bohrte seinen Lichtstrahl durch die rauchverdunkelte Finsternis. Ich sah, wie die Insulaner ihre Kanus bemannten und sich damit in die Lagune stürzten. Sie paddelten wie wild. Neben den Booten sah ich die Köpfe der Schwimmenden. »Näher heran!« Auf der TERRA wurden sämtliche Segel gesetzt. Es wurde unerträglich heiß, Dampfwolken erhoben sich. Das Schiff würde mit diesem Wind gerissen. Einige Matrosen holten das
Tau ein. Wir verstauten die Riemen. Wenige Zeit später lagen wir längsseits; die ersten Männer turnten über die Strickleiter und sprangen an Deck. »Diego! Schnell ans Steuer!« Ich strahlte die Leiter an. Diego half Sharma, und hinter ihr enterte er das Schiff. Kommandos ertönten. Keuchend und schwitzend turnten die Männer hoch. Die Leinen, an denen das Boot hochgewunden wurde, strafften sich, nachdem die Haken befestigt worden waren. Ich befand mich als letzter im Boot, hob einen Schädelbrecher hoch, der liegengeblieben war, und gab Anweisungen. Während die TERRA stampfend in unregelmäßigen Windstößen von der Insel wegfuhr, holten die Männer das Boot hoch und vertäuten es. Wir waren gerettet. Ich ließ sämtliche Laternen setzen und kontrollierte alles an Deck. Mauki sagte: »Da drüben ist ein Felseninselchen. Dahin werden sie sich retten wollen. Hilfst du ihnen?« »Natürlich!« sagte ich. »Aber es wird schwer sein.« Das Schiff kreuzte eine Stunde später zwischen den Untiefen, vorgelagert dem Lavainselchen. Die vulkanische Insel wurde verwüstet. Jeder, der nicht mit dem Schiff zu tun hatte, starrte auf das Bild. Der Kessel des Kraters war voll gaserfüllter Lava. Sie schien dünn wie Wasser zu sein, von weißglühender Farbe. Nachdrückendes Magma der Erdkruste schob die Massen hoch. Wo der Krater ausgebuchtet und besonders schwach war, kochte die Lava über, strömte in einer Breite von mehr als fünfzig Schritten zu Tal, rasend schnell, floß genau in den Geländevertiefungen, staute sich, wurde vom Beben des Untergrundes aufgeschüttelt, floß weiter und vernichtete die Vegetation, schließlich fiel das glühende Material ins Meer. An dieser Stelle kochte der Ozean. Eine Dampfwolke erhob sich. Asche und winzige Felsbrocken wirbelten durch die Luft. Kochende Luft, feiner Sprühregen,
der Asche mit sich führte und an unseren Segeln und Tauen kondensierte, färbte das Schiff schwarz. Ständig bebte der Boden, schlugen Wellen hoch. Dröhnen, gemischt mit heulendem Brausen und ständig wechselnden Explosionen, erfüllte die Nacht. Wir sahen keinen einzigen Stern. Sharma stand an der Reling des Heckkastells und sagte leise: »Die Insulaner, Atlan – was können wir tun, um ihnen zu helfen?« Ich drehte den Scheinwerfer. Zwischen dem Schiff und der Insel sahen wir Kanus, schwer beladen. Die Ruderer arbeiteten wild, um aus dem Bereich des Dampfes und der brennenden Fahnen herauszukommen. Hier und dort überholten die Schwimmer die Boote, meist war es umgekehrt. Ich leuchtete dem ersten Boot den Weg und führte es in die entsprechende Richtung. Jemand hob ein Paddel und winkte. Einige Schwimmer erreichten, als wir wieder zurückkreuzten, das Schiff. Wir halfen ihnen an Deck. Diese Arbeiten dauerten den gesamten Morgen. Als durch die ungeheure Rauchwolke, die mit dem Passatwind abtrieb, das Tageslicht sickerte wie durch einen Filter, segelte die TERRA in einem weiten Bogen bis zum Nordende der Insel. Viele Kanus folgten uns. Wir setzten die Eingeborenen ab, halfen den Kanus, und mein letzter Eindruck vor dem Ende dieser Rettungsaktion war das Gesicht der Tänzerin. Nicht einmal ihr Haar war versengt worden. Gegen Mittag, als das Toben des Vulkans nachgelassen hatte, als zwei Gewitter die meisten Brande gelöscht und die Luft gereinigt hatten, befand sich die Bevölkerung wieder auf der Insel. Wir fanden, als wir weitersegelten, nicht eine einzige Leiche im Meer. Mit der häßlich grauen Rauchsäule im Rücken segelten wir davon, anderen Inseln entgegen. »Wo wolltest du den großen Kapitän mit seinen Schiffen
treffen, Atlan?« fragte Mauki eines Tages, als wir wiederum zwanzig Inseln hinter uns gelassen hatten. Ich deutete auf eine Insel meiner Karte, die ich Cebú nannte. Heute schrieben wir den 27. April 1521. Was unternahm in dieser Stunde der Portugiese? Mich beschlich ein schlechtes Gefühl, wenn ich an seine zusammengeschmolzene Flotte dachte. Selbst ein Maghellanes kann sterben, wenn er einen Fehler begeht oder die Südsee zuschlägt, sagte der Extrasinn. »Dann«, meinte Mauki sinnierend, »sollten wir uns auf diesen Weg machen. Wir brauchen lange dorthin; du sagst immer, daß Eile ein Geschenk des Bösen ist.« »Recht gesprochen!« sagte ich in seiner Sprache und gab meine Anordnungen. CONCEPTION hieß das Schiff, dessen Flammen uns die letzten Meilen den Weg wiesen. In der Nähe einer Insel, die Maghellanes sicher erscheinen mochte, verbrannte das dritte Schiff der Expedition. Wilde Vermutungen machten die Runde an Deck; wir kamen mit Vollzeug näher, drehten vor dem Riff bei und betrachteten das unfaßbare Schauspiel. Was war geschehen? Nur die TRINIDAD und die VICTORIA waren von der Flotte übrig; als ich die Bilder des Albatros mit meiner Erinnerung verglich und durchs Teleskop blickte, begriff ich: Sie hatten das Schiff selbst angezündet und jeden Gegenstand von Wichtigkeit auf die beiden letzten Schiffe verteilt. Alles sah aus, als ob die Schiffe einen beispiellosen Irrweg hinter sich hätten. Aber… wo war Senor Fernande? Wie weit lüftete ich mein Inkognito, wenn ich mit der TERRA näher kam? Ich ließ ankern und brachte das größte Boot zu Wasser. Wir ruderten unruhig an Land, an der sterbenden CONCEPTION vorbei. Eine Gruppe Matrosen rannte auf uns zu, als das Boot auf den Strand lief und meine Männer ins Wasser sprangen.
»Das ist der Spanier, dem die TERRA gehört!« schrien die Männer; wahre Elendsgestalten: Hoffnungslosigkeit, Hunger und Not sprachen aus ihren Gesichtern. Ich schüttelte den Kopf. »Bringt mich zum Generalkapitän, Männer!« befahl ich. »Wo finde ich ihn?« Schließlich, nach langem Schweigen, sagte einer der Männer leise: »Senor Maghellanes ist tot. Er starb am siebenundzwanzigsten April, Herr.« Ich setzte mich auf die Bordkante des Bootes. »Wie ist das geschehen?« Diego griff fassungslos nach der Waffe. Sie berichteten uns, stockend und immer wieder von der Erinnerung übermannt. Nach langer Irrfahrt durch den östlichen Teil dieses Ozeans waren sie zunächst halb verhungert an zwei steinernen Inseln unterhalb des südlichen Wendekreises vorbeigekommen. Sie hatten sich zuletzt von Ratten und aufgeweichtem Leder ernährt. Einhundertsiebenundsiebzig Menschen waren noch übrig. Viele starben auf diesem Abschnitt der Fahrt. Etwa vor einem Jahr, am 6. März, hatten sie endlich eine grüne Insel entdeckt. Die Eingeborenen enterten, wie auch bei uns, das Deck und bestaunten in ihrer Neugierde alles, was sie fanden. Sie nahmen mit, was sie tauschen wollten – deshalb nannte Maghellanes, der sich das Eigentum mit Feuer und Kampf zurückholte, diese Inselgruppe die Diebsinseln, die Ladronen. Die Reise ging weiter, man konnte sich wieder satt essen, man segelte nach Norden. Viel zu weit nach Norden, völlig falscher Kurs! dachte ich. Warum hat Maghellanes meinen Karten nicht geglaubt? Einer der Leute murmelte: »Er fand einen Brief an Deck. Von Euch, Senor Atlan. Er versuchte wohl, Euren Kurs zu fahren, aber wir kamen niemals an die Gewürzinseln.«
»Von den Molukken seid ihr«, sagte Diego aufgebracht, »auch herzlich weit entfernt. Wie ging es weiter?« Ich schwieg und hörte zu. Maghellanes hatte bewiesen, daß die Erde rund war. Er erreichte die Inseln des Südmeeres, verfehlte aber sein Ziel. Statt bei den Unglücksinseln genau nach Westen zu segeln, segelte er nach Nordwesten. Er war mehrmals haarscharf an Inseln vorbeigesegelt, deren Eingeborene wir auf sein Erscheinen vorbereitet hatten. Schließlich erreichte man Inseln, auf denen schon andere seefahrende Völker bekannt waren, die offensichtlich vom Ostrand des Kontinents kamen. Man trieb Handel miteinander. Ein an sich unbedeutender Zwischenfall führte dazu, daß der Portugiese eine Strafexpedition ausrüstete. Es gab Kampf. Die Eingeborenen, falsch behandelt und ausgenutzt, wehrten sich. Beim Rückzugsgefecht starb Maghellanes, von Pfeilen getroffen, in der Lagune. Überall hatte man Gold gefunden. Warentausch wurde betrieben, aber dies konnten nicht die ersehnten Gewürzinseln sein. Man bekehrte die Eingeborenen zum christlichen Glauben, was sinnlos war und sich als verderblich erweisen sollte. Maktan hieß die Insel, auf der Maghellanes starb. Man übergab schließlich, nach großer Verwirrung, das Kommando gemeinsam an Serrano und Barbosa. Duarte Barbosa, ein schlechter Kapitän, forderte Maghellanes’ Sklaven Enrique heraus: schließlich gab es einen zweiten Kampf, in dem Serrano von der TRINIDAD und seinen Kameraden feige im Stich gelassen worden war. Nur noch 150 Männer waren übrig, als die Schiffe weitersegelten. Diese Insel, auf der man sich wohl fühlen konnte, wurde zum Punkt der Entscheidung – man verteilte Männer und Material auf die beiden letzten Schiffe und zündete die CONCEPTION an. Ich drehte mich um; gerade fielen die brennenden Bordwände auseinander. »Und was jetzt?« Diego fragte es laut und sah in die Runde.
Die ausgemergelten Männer hoben die Schultern. »Jetzt werden wir die Molukken suchen!« sagte eine dunkle Stimme. Wir wandten uns um. Kommandant Carvalho stand breitbeinig da und musterte uns. »Ihr habt Maghellanes’ Karten, Kommandant?« fragte ich. »Ich habe sie. Und ich kenne auch Eure Ratschläge. Wo finden wir die Molukken, Senor Atlan?« »Ich werde es Euch zeigen«, sagte ich. »Und Ihr solltet diesmal mehr Glauben haben, denn sonst sucht Ihr in alle Ewigkeit nach einer Rückkehrmöglichkeit nach Sevilla. Ein viertes Mal helfe ich nicht.« Ich hatte zum Teil verloren. Nur die Hälfte meines Planes ging auf. Maghellanes’ Tod änderte nichts. Ich ahnte nicht einmal, wie die Schiffe zurückreisen wollten. Ich ging mit Carvalho zu einer Hütte aus Palmzweigen. Dort beugten wir uns über die Karten. Ich zeigte ihnen den einfachsten Weg nach der Inselgruppe der Molukken. Dort konnten sie tauschen, ihre Laderäume füllen und nach Westen segeln. In Sicht der Küsten würden sie dann eventuell, um Afrikas Südküste herum, wieder Spanien erreichen. Ich berichtete über Sternstände, ich sagte ihnen die Positionen anhand der Kompaßmißweisung, und ich schilderte die Inseln, die sie treffen würden. Mehr konnte ich nicht tun. Zischend sanken die Überreste der CONCEPTION ins Wasser und gingen unter. Die Matrosen arbeiteten, um die anderen Schiffe zu überholen und so gut wie möglich auszurüsten. Aber es war nicht möglich, mehr als das Notwendige zu tun; Kräfte und Ausrüstung reichten nicht weit. Die endlosen, erbarmungslosen Wüsten des Ozeans würden die Schiffe wieder aufnehmen. Wie sah das Ende aus? Ich ging zu meinem Boot und versuchte gar nicht, meine Niedergeschlagenheit zu unterdrücken. Wir von der TERRA
würden unsere Ziele erreichen. Ob es Carvalho schaffte, war zweifelhaft. »Wir gehen zurück«, sagte ich und deutete auf die TERRA, »segeln nach Westen. Bald werden wir auch nicht mehr die Ratschläge Maukis haben!« Der Abschied von den Männern der spanischen Karavellen war kurz. Vielleicht dachten sie, uns niemals wiederzusehen. Dann ruderten wir zur TERRA, die auf uns wartete und, kaum daß wir an Bord waren, den Anker lichtete und davonsegelte. Als wir die Küste einer Insel namens Marotay sichteten, kam Mauki den Aufgang zum Heckkastell herauf und blieb vor mir stehen. Sein Gesicht war ernst. Er deutete mit seinem einzigen Arm auf die dunkle, wie ein flaches Dreieck geformte Insel und sagte leise: »Es ist Zeit für mich, Atlan!« Ich lächelte ihn an und nickte. »Du willst zurück zu Häuptling Aruano. Nach Tafuafau. Ganz allein in deinem kleinen Kanu?« Er hielt seine Karte hoch; in den letzten Wochen und Monaten hatte er viele andere hergestellt. Sie bildeten, in einem nur ihm bekannten Muster aneinandergesetzt, eine Karte, die zwischen Tafuafau und Marotay eine Verbindung herstellte. Das Schiff lag schräg im Wind; wir kreuzten zurück zum Südlichen Wendekreis. Hier sahen wir, verglichen mit den Inseln Polynesiens, andere Küsten, andere, dunklerhäutige Menschen. »Ganz allein. Ich fange Fische mit dem Speer oder dem Rahmennetz. Ich lande und trinke Kokosmilch, trinke Eier aus, fange Vögel und Schildkröten. Ich schlafe im Boot, im Sand, unter den Palmen. Und ich richte mich nach dem Wind und nach den Strömungen. Ich habe Geduld; ich werde eines Tages Tafuafau erreichen. Bei guter Gesundheit.« »Ich glaube dir«, sagte ich. »Wann willst du das Kanu besteigen?«
»Morgen früh, wenn ihr weitersegelt, Atlan.« Unzählige leguas hatten wir zwischen uns und Tafuafau gebracht. Wenn er ununterbrochen segelte oder ruderte, sich treiben ließ… Ich dachte die Überlegung nicht zu Ende. Für diesen weißhaarigen, einarmigen Mann galten andere Zeitbegriffe. Die TERRA ankerte vor einer unbewohnten Insel. Ich schickte den Albatros auf einen Erkundungsflug, aber er funkte die gewohnten Bilder zurück: viel Wald, teilweise Dschungel, Quellen, wenige Wildtiere und merkwürdige Laufvögel. Wir brauchten keine Nahrungsmittel oder Frischwasser und verbrachten eine ruhige Nacht. Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, verabschiedeten wir uns herzlich von Mauki, ließen das Kanu ins Wasser, sahen zu, wie er sich darin einrichtete, und winkten so lange, wie wir ihn sehen konnten. Mit Wind und Strömung entfernte er sich nach Südosten. Dieser Abschnitt der langen Reise war beendet. Wir steuerten in südlicher Richtung. Der Wald über den Ufern nahm eine dunkle, drohende Farbe an. Es schien, als ob die unbeschwerten Tage zu Ende gingen. Ich studierte meine Karten; einige Tage später tauchte steuerbords die buchtenreiche Küste der großen Insel auf, die fast direkt, nur durch eine winzige Meerespassage getrennt, an den langen, nördlichen Vorsprung des riesigen Inselkontinents stieß, der wiederum nicht mehr weit vom Südpol, dem sagenumwobenen Kontinent, entfernt war. Wir befanden uns sozusagen gegenüber von Spanien – auf der anderen Seite des Globus. Wir warfen am nördlichen Rand eines ausgedehnten Sumpfgebietes Anker. Auf den fernen Bergen, höher als viertausend Meter, sahen wir zu unserer Verwunderung gewaltige Inlandsgletscher.
Neuguinea sollte man diese höchst wundersame Insel später nennen; sie erwies sich als eines der letzten lockenden Reiseziele. Wir mußten daran denken, den Bereich der sicheren Inseln zu verlassen und uns für längere Reisestrecken zu verproviantieren. Schon nach kurzem Flug sah ich auf den Bildern des Vogels Runddörfer mit spitzkegeligen Dächern, teilweise auf Pfählen erbaut. Totempfähle und Netze, Waffen und Feuerstellen, Tanzplätze und abgegrenzte Bezirke, in denen verwilderte Schweine gehalten wurden. Geräuchertes Schweinefleisch konnten wir gut brauchen. Wir entschlossen uns, einen Vorstoß ins Landesinnere zu machen, im September 1521. Fünfzehn Matrosen, Agsacha, Sharma und ich rüsteten ein Boot aus, und wieder beschlich mich das Vorahnen einer undeutlichen Gefahr. Wir verbargen das Boot sorgfältig, nickten uns zu und gingen geradewegs auf den schmalen Pfad zu. »Melanesien, Schwarzinselwelt«, murmelte ich, als wir hintereinander den Pfad betraten. Fünf Schritte vor mir schlich Scarr, mit nassem Fell und aufgeschabten Gelenken, zwischen triefenden Pflanzen einher. »Wir haben nur dunkelhäutige, kleine Menschen getroffen«, sagte Agsacha, der zwischen mir und Sharma ging. Wir hatten die entsicherten Waffen in den Händen; die Schaltung stand auf dem Patronenlauf. Unruhig murmelten die Matrosen, mit Haumessern, Entermessern und Musketen bewaffnet. »Daher dieser Name«, sagte ich. »Hoffentlich begreifen sie, daß wir als Freunde und Handelspartner kommen.« Hier herrschte tropisches Klima. Wir kamen an einer Menge runder Salzpfannen vorbei, in denen Meerwasser verdunstete und Salzkristalle, das einzige Gewürz dieser Erdgegend, zurückließ. Mit den Gewürzen, die das Abendland und auch die Schiffe der Händler des östlichen Kontinentenrandes
suchten, konnten die Eingeborenen nicht viel anfangen. Unsere Lagerräume waren zum Teil wohlgefüllt mit Pfeffer, Nelken, Zimt und Ingwer. Sumpf-Taro und Bambus wuchsen hier in großer Menge. »Wann kommt das Dorf, Käpten?« rief jemand von ganz hinten. »Noch eine Stunde!« gab ich zurück. Wir schwitzten. Myriaden Insekten stürzten sich auf uns. Ein Kim, ein total verwilderter Hund, sah Scarr und stob jaulend, mit eingezogenem Schwanz davon. Wir hielten unter einem Brotfruchtbaum. Eine Riesenschlange sah uns und ließ ihren Körper baumeln; sie war unentschlossen, ob wir Beute darstellten oder ein zu großer Gegner wären. Schließlich ringelte sie sich um einen mannsdicken Ast und verschwand raschelnd zwischen den Blättern. Für meine Matrosen waren dies Wunder und Gefahren; sie erschraken bei jedem dritten Schritt vor einer harmlosen Naturerscheinung. »Selbst hier gibt es Ratten!« Agsacha hob angewidert einen Stein auf und schleuderte ihn dem Tier nach, das quiekend verschwand. Verglichen mit dem sauberen, übersichtlichen Strand der polynesischen Inseln war hier reinster Dschungel. »Nach einem Schluck Rum gehen wir weiter!« entschied ich. Paradiesvögel huschten vor uns her. Insekten tauchten auf, leuchteten in den wenigen Sonnenstrahlen und schossen ruckartig davon. Als wir weitergingen, wurde die Umgebung dunkler. Die Pflanzen bildeten undurchdringliche Mauern auf den Seiten des Weges. Wiederum einige Zeit später schloß sich auch der Raum über unseren Köpfen. Lianen hingen herab und wehende Vorhänge aus Pflanzen mit winzigen grünen und braungesprenkelten Blättern. Wir kämpften uns Schritt um Schritt vorwärts. »Halt!« sagte ich nach einer Weile und deutete nach links. »Was siehst du?« fragte Sharma.
Scarrs Sehlinsen verfolgten den schnellen Lauf der Vögel, die über eine Lichtung rannten. Zwischen grünumwundenen Baumstämmen gab es eine Lichtung mit Bambusgras. Dort sahen wir drei Kasuare, die flugunfähigen Vögel. Sie schienen entweder scheu zu sein oder unausgesetzt gejagt zu werden, denn sie rasten in wilder Flucht davon. »Vögel, die nicht fliegen können«, sagte Agsacha leise. »Schießen wir einen?« »Er wird ungenießbar oder zäh sein; laß es!« gab ich zurück. Die Kasuare duckten ihre Köpfe und verschwanden unter herunterhängenden Lianen. Wir stolperten weiter und glitten im Schlamm des Pfades aus. Unsere Stiefel starrten bis zu den Knien vor Dreck. Niemand zeigte sich, aber wir hatten das Gefühl, als ob uns Augen aus dem Dickicht heraus beobachteten. Hin und wieder ertönten geheimnisvolle Schreie. Wir konnten nichts erkennen, bis wir am Ende eines kleinen Tales aus dem Dschungel auf eine überraschend weiße, saubere Kiesfläche hinaustraten. »Das Dorf!« Agsacha bewegte sich unruhig. Es schien ausgestorben zu sein. Wenn die Bewohner sich versteckt hatten oder geflohen waren, dann vor kurzer Zeit; zwischen den Pfahlbauhäusern brannte noch ein Feuer mit fadendünner Rauchsäule. Wir traten aus der stinkenden Nässe des Dschungels ins Sonnenlicht und die Wärme. Vom anderen Ende des Tales, das sich zu einer runden Ebene weitete, kam ein kühler Lufthauch. »Zähle ich die Hütten zusammen, dann ist der Stamm sehr zahlreich«, meinte ich leise. »Wo sie sich versteckt haben? Wir waren nicht gerade leise, aber daraus sollten sie erkannt haben, daß wir uns offen, ohne Feindschaft nähern.« Zögernd betraten wir den Dorfplatz. Alle Menschen, die wir bisher getroffen hatten, waren ohne die Kenntnis der Schrift gewesen. Auch hier? Sie kannten durch mündliche
Überlieferung ihre Geschichte, nach der vor rund fünf Jahrhunderten die Inseln besiedelt worden sein sollten, aber sie kannten keine anderen Zeugnisse als gewisse rituelle Waffen, die vererbt wurden, die feinen Schnitzereien an den Hauseingängen, Ahnenkulte und ähnliche Traditionen. Dieses Stammesdorf besaß mehrere Totems, wie die riesige, weißgestrichene Säule bewies. Ehen unter Angehörigen des gleichen Totems waren als Blutsverwandtschaften unmöglich; handelte jemand dagegen, wurde er bestraft, meist mit dem Tod. Totemzugehörigkeiten vererbten sich. Diese Einzelheiten und viele andere hatte ich von vielen Häuptlingen erfahren. »Wir warten hier, für jeden sichtbar!« entschied ich. Um das Feuer lagen Süßkartoffeln. Sagopalmen wiegten sich zwischen den Hütten. Die dicken runden Dächer waren von Vogelkot beschmutzt. Aus dem Gehege hinter den Hütten kamen die grunzenden und quiekenden Laute zahmer oder halbwilder Schweine. Netze waren zum Trocknen aufgespannt. Noch immer zeigte sich niemand. Einer meiner Männer wollte sich dem Totempfahl nähern; ich rief laut: »Zurück! Nichts anrühren. Ihr wißt, wie heilig die Totems sind. Wir warten, bis die Bewohner sich zeigen.« Einige Männer setzten sich auf den Boden. Wir standen und saßen in einer kleinen Gruppe. Die Blicke gingen suchend umher; wir konnten nicht überrascht werden, weil sich niemand in unseren Rücken schleichen konnte. Nur die Geräusche des Dschungels und der Ton schnell fließenden Wassers. Gespannte Stimmung erfüllte uns. Pfeile konnten plötzlich heranzischen, Muschelbeile konnten geschleudert werden. Plötzlich stieß mich Sharma an, die sich ebenso unbehaglich fühlte. »Dort drüben, Atlan!« Ich folgte mit den Augen ihrem ausgestreckten Arm. Dann nickte ich ihr zu, schaltete mein Abwehrfeld ein und ging,
beide Arme bis in Schulterhöhe erhoben, die Handflächen nach außen gekehrt, auf das etwa fünfjährige Kind zu, das sich losgerissen hatte und mit großen Augen und auf krummen Beinen mitten auf das Feuer zulief. Als mich der nackte, braune Junge sah, blieb er stehen und starrte mich an, lachte laut auf. Ich ging in die Knie, streckte einen Arm aus, und der Kleine legte seine Hand in meine. Dann lachte er ein zweites Mal, griff nach meinem blitzenden Amulett, dem Aktivator, und begann damit zu spielen. Das brach den Bann. Plötzlich waren überall Menschen. Sie waren primitiv, aber schwer bewaffnet. Ein kleiner, schlanker Mann mit einem dünnen, fast nur aus Muskeln bestehenden Körper und einem verzierten Stück Bambusrohr im Ohrläppchen kam auf mich zu. Sein Körper war von Narben bedeckt. Ich ließ den Kleinen zu Boden gleiten, stand auf und hob wieder die rechte Hand, deutete auf mich und sagte laut: »Atlan!« Er nickte, deutete auf die Häuser und die anderen Männer und Frauen, die nun zwischen den Büschen auftauchten, sich aus den dunklen Eingängen der Hütten drängten und aus vielen Verstecken kamen. Ich zählte mehr als zweihundertfünfzig. Dann sagte der Mann in einer kehligen Sprache: »Areka-Areka.« Er betrachtete mich intensiv, schweigend, so wie ich ihn. Wir musterten uns lange, dann erkannte er, daß ich ein Mensch wie er war, nur größer, von anderer Haut- und Haarfarbe und mit Augen, die er nicht genau definieren konnte. Rötliche Augäpfel statt weißer. Sichtlich interessierte ihn unsere Kleidung. Schließlich deutete er auf die langläufige Waffe in meinem Gürtel, und ich zog sie heraus. Er bedeutete mir, daß dies ein Schädelbrecher sein konnte, und ich machte die Geste des Finger-in-die-Ohren-Steckens. Er begriff. Ich zielte auf einen Vogel, der über das kreisförmige Stück Himmel flog.
Das Rohr ging mit, und als das Tier in der Mitte der blauen Fläche war, drückte ich ab. Der Knall donnerte über die Lichtung. Gewaltiges Geschrei erhob sich, als der blaurote Vogel mitten im Flug zusammenzuckte, wild mit den Schwingen schlug und dann senkrecht zu Boden fiel, dicht neben das Feuer. Areka und ich lachten uns an, dann schob ich die Waffe zurück. Ich versuchte ihm klarzumachen, daß wir einige Schweine tauschen wollten. Wir hatten Spiegel, Messer und Äxte mitgebracht. Einige Matrosen demonstrierten deren Anwendung. Es gab eine Menge Geschrei und Schrecken, wenn sich die Eingeborenen plötzlich erkannten, wenn sie ihre Gesichter scharf vor den Augen sahen. Erstaunlich schnell begriffen sie, wozu Messer zu gebrauchen waren und Beile. Komplizierte Pantomimen folgten, dann schilderte Areka, daß wir hierbleiben sollten. Und er wollte alle Beile und Messer haben. Er wollte uns dafür Schweine geben, aber nicht viele; sie seien Tiere für die rituellen Opfer. Aber er würde seinen Stamm mit Stellnetzen und Speeren ausschicken, um wilde Schweine zu fangen. Solange sollten wir bleiben. »Wo?« wollte ich wissen und vollführte entsprechende Gesten. Du weißt nicht, ob es Areka ehrlich meint! meldete sich der Extrasinn. »Einige Familienhütten sind frei!« verstand ich schließlich. Die Sprache war einfach, aber es würde eine Weile dauern, bis ich sie genügend gut sprach. Konnten wir riskieren, in diesem Dorf zu bleiben, dessen Zugangswege versteckt waren, um Feinden keinen Hinweis zu geben? Ich ging eine Weile umher und entdeckte in einer großen Hütte eine Sammlung Totenschädel. Am Rand des Dschungels trieben jüngere Leute schreiend zwei Greise und eine Greisin mit Stockschlägen vor sich her. »Ahnenkult?« fragte ich mich laut. Wir hatten eine
Landschaft der Steinzeit betreten: Entweder blieben wir kurz und schleppten die Schweine zum Schiff, oder ich versuchte, meine Neugierde zu befriedigen, und setzte meine Mannschaft, Sharma und mich einer unbekannten Gefahr aus. Dann dachte ich an unsere getarnten Waffen, an den Albatros und Scarr, an den Schutzschirm, den ich einschalten konnte – und entschloß mich schnell. »Wir bleiben zwei Tage!« entschied ich. »Kommt zu mir her, Leute!« Wir erklärten dem Häuptling, dessen Körper über und über mit Linien und Schlangenmustern von Schmucknarben bedeckt war, daß wir seine Einladung annehmen und zweimal übernachten würden. Er möge uns eine Hütte zeigen. Er verstand und winkte uns, wir folgten. Am östlichen Ende des Dorfes zeigte er uns eine große Hütte mit reichgeschnitztem Eingang. Sie stand auf dicken Pfählen; eine Steigleiter führte zur Wohnplattform. Wir bedankten uns. »Zuerst die Jagd!« wurde uns erklärt. »Dann ein Fest für alle, mit Tanz und Tabak. Dann einige kultische Handlungen. Dann Begleitung zurück zum Großen Kanu!« Es klang zufriedenstellend. Ich schickte Scarr vor. Er kletterte hoch, raste schnüffelnd durch das Haus und fauchte schließlich seinen Kodelaut. Das Haus war ohne Fallen. Hoch über uns zog der Albatros seine Kreise. Die Matrosen und Sharma gingen ins Haus, um sich auszuruhen; Agsacha und ich wanderten durch das Dorf und sahen uns um. Eine Reihe bizarrer, ungewöhnlicher Bilder zog an uns vorbei. Frauen, weniger tätowiert als die Männer, rauchten Tabakblätter aus Bambusabschnitten und grinsten uns scheu an. Wir sahen, daß bei vielen von ihnen Fingerglieder fehlten; sie schienen abgehackt oder abgeschnitten worden zu sein. Ich unterhielt mich stockend und lernte schnell – schließlich konnte man uns begreifbar machen, daß beim Tod eines Verwandten jeweils
ein Fingerglied abgehackt wurde. »Das ist ein dunkler, sehr böser Ort«, sagte Agsacha zögernd. Sein Gesicht drückte Abwehr und Mißtrauen aus. »Wir sollten gehen, so schnell wie möglich.« »Wir würden sie dadurch beleidigen und ihren Zorn hervorrufen«, wandte ich ein. »Du hast recht. Es kann eine Falle sein, Atlan. Wir werden aufpassen müssen.« Areka sammelte seine Männer. Schließlich kam er, etwa dreißig verwegen aussehende Jäger mit Bögen und ungefiederten Pfeilen hinter sich, auf uns zu. Er bedeutete uns zu warten, bis sie heute vor Sonnenuntergang zurückkämen; zehn Schweine wollte er fangen. Wir sahen der Karawane nach, bis sie im unwegsamen Dschungel verschwunden war. Sie gingen in die Richtung der eine Stunde Weg entfernten Felder, zu denen versteckte Wege führten. Ich kannte die Luftaufnahmen. »Einige Krieger weniger – Gefahr geringer!« sagte Agsacha zufrieden. Wir gingen weiter. Die Aufregung schien sich gelegt zu haben, denn außer verstohlenen Seitenblicken wurden wir nicht sonderlich angestaunt. Das Leben des Dorfes wurde an dem Punkt fortgesetzt, an dem wir es durch unser Erscheinen unterbrochen hatten. Trotz allem: Es herrschte eine niederdrückende Stimmung, die kommendes Unheil zu signalisieren schien. Wir fanden heraus, daß es verschiedene Arten Häuser gab, von denen abgesehen, in deren dunklen Räumen, durch Bastfächer abgetrennt, Großfamilien lebten. Ein Haus für die unverheirateten Männer, eines für Greise, für die Ahnenschädel, die auf bunt bemalten Brettern standen, mit Linienmustern und Blattornamenten verziert und höflich lächelnd – so wirkten sie. Die ganze Welt dieser Menschen war vom Glauben an die neidischen Ahnenseelen erfüllt und
zudem von einer Götterwelt, die reiner Animismus war: Jedes Ding der Umwelt war personifiziert mit einer Gottheit. Es gab sogar rituelles Geschirr und Gabeln für die Feinde, die man verzehrte. Blutrache und Kannibalismus waren tägliche Vorkommnisse. Schließlich hatten wir unseren Rundgang beendet, und ich begann, die gelernten Wörter in ein System einzubauen – heute nacht würden wir uns besser unterhalten können, aber vermutlich schlecht schlafen. Ich kletterte ins Haus. Agsacha setzte sich mit der Waffe über den Knien neben den Eingang. »Was hast du erfahren, Atlan?« fragte Sharma. »Vieles«, sagte ich. »Wir sind in einem anderen Land als gewohnt. Hier gibt es kaum Ähnlichkeit mit den hellhäutigen Menschen der polynesischen Inseln.« »Sie müssen sogar die Frauen kaufen«, sagte Sharma. »Junge Männer arbeiten lange, um sich eine Frau leisten zu können. Sie verwenden Muschelgeld.« »Das ist auch in Spanien üblich«, murmelte jemand aus der Besatzung. Das Innere des Hauses zeugte von einer Kultur, die sich auf wenige Materialien beschränkte, sie aber mit größter Delikatesse bearbeitete. Ich legte meinen Kopf auf eine feingeschnitzte Bank, streckte mich auf der geflochtenen Matte aus und sah die Moskitosäcke an, die säuberlich zusammengerollt waren. Es gab sogar eine Feuerstelle aus Lehm, inzwischen zu Ton gebrannt. »Was tun wir?« »Ganz einfach«, antwortete ich. »Wir warten auf die Schweine und das Bratenfest.« Mich erfüllten viele unvereinbar heftige Gedanken. Handel und Tausch waren gute Möglichkeiten, alle unbekannten Gebiete dieses Planeten zu besuchen. Durch Handel konnten sich die Menschen treffen, konnten die wichtigsten Ergebnisse von Zivilisation und Kultur austauschen. Noch immer stand
am Ende meiner vielen Bemühungen der Wunsch, entweder ein gelandetes Schiff zu finden oder zu warten, bis die Bewohner ein Raumschiff bauen konnten. Bis zum Start dieses Raumschiffes würde ich noch lange warten müssen. Der Beweis: Hier herrschte eine steinzeitliche Kultur, während Männer wie Kopernikus sich um kosmische Erkenntnisse bemühten. Während man in den Ländern zwischen Nordpol und Großer Wüste Menschen verkaufte und kaufte, aß man hier Menschen. Seefahrer weigerten sich, nach Raumaufnahmen ihren Kurs zu steuern, und starben bei der Überwindung riesiger Entfernungen. Und wir Weltumsegler, die nichts anderes brauchten als etwas Fleisch, begaben uns in Lebensgefahr – wenigstens sah es so aus. Aber wir, mich eingeschlossen, hatten unseren Horizont vergrößert und konnten, zurückgekehrt, von der Reise und ihren Wundern berichten und mithelfen, die Welt kleiner zu machen. Tausend verschiedene Sprachen herrschten auf diesem barbarischen Planeten, und hinter den Lehmmasken der Eingeborenen verbargen sich unberechenbare Charaktere. Die Reise der fünfzehnhundert Tage würde uns reich machen und mich als erholten Mann zurückkehren lassen; ein Teil Bitterkeit und Resignation war verschwunden. Ein anderer würde folgen, wenn wir endlich entlang des Äquators und der Küsten nach Spanien zurücksegelten. Ich mußte eingeschlafen sein; langgezogenes Geheul weckte mich gegen Sonnenuntergang. Ich setzte mich auf. Der breite Rücken Agsachas, in ein Wams aus metallverstärktem Leder gehüllt, verdeckte den Eingang. »Agsacha! Was ist los?« Ich blieb neben ihm auf der hölzernen Terrasse stehen, einem Vorsprung, der auf drei Seiten um das Pfahlhaus lief. »Tote Männer, tote Schweine und jede Menge Wehgeheul!« sagte er und deutete nach unten. Areka kam mit seinen Männern zurück; als ich erkannte, was vorgefallen sein mußte,
hörte ich das Wehklagen der Frauen und die stöhnenden Schreie der Männer. Die Jäger trugen an durchhängenden Stangen elf große graue Wildschweine. Zwischen den Schultern von tätowierten Männern hingen tote Jäger dieses Stammes; ich erkannte es an der Form der Schmucknarben. Zwei Gefangene wurden mitgeführt und mit Stößen und Tritten vorwärts geschoben und gezerrt. Als der Stamm, in Eile zusammengeströmt, diese Gefangenen sah, kannte das Geschrei keine Grenzen mehr. Es schwoll zu einem gewaltigen Heulen, Kreischen und Jammern an. Areka drehte sich um und rief aus der Menge zu uns herauf: »Wir sind überfallen worden.« Ich verstand nicht jedes Wort; der Sinn war klar. Was folgte, zählte zu den bösen Erinnerungen, die wir auf die Heimfahrt mitnahmen. »Scarr!« Der schwarze Gepard sprang auf den Boden und wartete auf mich. Ich legte die Hand auf den Griff der Waffe und ging auf die Menge zu. Die Leute bildeten eine Gasse, und Areka schrie und schnatterte ununterbrochen. Die Frauen banden die toten Schweine los und begannen, sie aufzubrechen, ihnen die Schwarte abzuziehen und sie zu zerteilen. Holz wurde ins Feuer geworfen. Je mehr Tageslicht schwand, desto höher loderten die Flammen. Areka drängte sich zu mir durch und erklärte: »Überfall! Wir liegen in Blutrache mit dem Stamm DeneOrak. Wir haben zwei Feinde; wir sie heute kai-kai.« Kai-kai bedeutete »essen«. Man verzehrte die Gegner, um deren besondere Eigenschaften aufnehmen zu können. Die schnellen Füße, das scharfe Auge, der gute Bogenschuß… diese Fähigkeiten erbte man. Ich entschloß mich, diese Scheußlichkeit zu verhindern, wenn ich es konnte. Schon drehten sich die Schweine über dem Feuer. Ich rief meine
Leute zusammen, nahm Sharma in den Arm und erklärte ihnen: »Die Lage verschärft sich. Die Eingeborenen sind aufgeregt, halb wahnsinnig. Wir tauschen, sobald die Schweine gebraten sind, die Beile und Messer und ziehen uns in Richtung Pfad zurück. Niemand unternimmt etwas – sie sind gereizt und können uns überwältigen, dann gibt es ein Blutbad. Verstanden? Ich gebe das Signal zum Aufbruch.« »Verstanden.« Agsacha blieb dicht neben mir. Wir verhandelten mit Areka, und eine Anzahl von Beilen, Messern und Entermessern wechselten die Besitzer; die ersten eisernen Gegenstände auf dieser Insel. Der Punkt, an dem der gewundene Pfad den Dschungel durchschnitt, war bekannt – dorthin würden wir uns zurückziehen. »Was planst du, Atlan?« flüsterte Sharma. »So schnell wie möglich weg!« sagte ich. »Du kennst meine Waffen, Sharma. Agsacha wird dich mitnehmen. Ich verteidige unseren Rückzug.« »Ja-a!« murmelte sie zögernd. Nun bildete sich in der Masse der Eingeborenen eine Gasse. Je vier Jäger führten die gefesselten, wild um sich schlagenden Gefangenen durch das Dorf. Am Fuß der Totemsäule waren vier, nein, sechs schenkelstarke Holzpfosten in den hartgestampften Lehmboden getrieben worden. Mit roher Gewalt wurden die Gefangenen auf den Boden geworfen. Männer sprangen hinzu und fesselten Handgelenke und Fußknöchel an die Pfähle. Die zwei Männer, aus zahllosen kleinen Wunden blutend und bespuckt und schmutzig, wurden angepflockt, man straffte mit Holzknebeln die Fesseln und erreichte dadurch, daß sich die Männer nicht mehr rühren konnten. Plötzlich war alles still, unheimlich ruhig. Nur die Geräusche des Dschungels und das Knistern des Feuers, das
Millionen von Insekten anzog, waren deutlich zu hören. Areka trat vor und sagte langsam: »Wir haben getauscht – große Freude, weißhaariger Mann?« Ich nickte und erklärte: »Zufrieden, Areka. Diese Männer sterben… wann?« »Nach dem Fest! Wir feiern bald. Ihr alle Gäste des Stammes.« Zischend tropfte das Fett der gebratenen Schweinestücke ins Feuer. Es roch appetitanregend, aber in diesen Stunden mangelte es uns an der rechten Freude an einem Bratenfest. Das Dorf war in Rotglut getaucht. Riesige Blüten an den Bäumen sahen wie Augen auf die Menschenmasse, die zwischen Treppen und Pfählen, Netzen und unzähligen Werkzeugen hin und her wankte wie schmutziges Wasser in der Ebbe. Die Kinder krochen zwischen den Beinen der Mütter herum und schrien jämmerlich – man brachte sie zum Verstummen. Eine lautlose, intensive Unruhe hatte alle Menschen ergriffen. Auch uns, eine Unruhe, wie sie einem Ausbruch pseudoreligiösen Wahnsinns vorausging. »Was geschieht jetzt, Atlan?« murmelte Agsacha fragend. Ich sah aus dem Augenwinkel, daß man aus dem Versammlungshaus des Männer-Geheimbundes die Musikinstrumente schleppte und im Halbkreis vor dem Feuer, dem Totempfahl und den Gefangenen aufstellte. Jedesmal, wenn ein Stückchen Glut aus dem Feuer sprang und auf einem der Körper landete, stießen die Gefangenen spitze Schreie aus. Wir fühlten uns wie eingeschlossene Tiere, in einer Menschenmasse eingekerkert. Eine Schar halbzahmer, gemästeter Schweine wurde durch die Menge getrieben. »Wir warten. In kurzer Zeit haben wir unser Fleisch«, sagte ich leise. »Wir müssen bereit sein, die Lähmstrahler einzuschalten.« Der Blick des Häuptlings irrte vom Feuer ab, wo die Frauen
inzwischen Fleischstücke abnahmen und in frisch gewaschene Bananenblätter einwickelten. Die stechenden Augen hefteten sich auf mein Amulett, das zwischen den Rändern des Wildlederhemdes baumelte. »Dein Totem?« Ich nickte. »Was verleiht es dir?« »Schnelligkeit der Gedanken und Erfindergeist«, sagte ich. »Aber es wirkt nur bei Menschen mit heller Haut, Areka.« Er wandte sich ab. Agsacha schwitzte; seine Augen gingen umher wie die eines Sperbers. Er ging um unsere Gruppe herum wie ein Wachhund. Ich fühlte den Druck des schweren Robotkörpers Scarrs an meinem Knie. Wie erging es inzwischen der TERRA? »Dieses Warten!« Agsacha knetete seine Finger. »Worauf warten wir? Dieses Warten wird uns umbringen! Wir werden angegriffen und wegen unserer Hautfarbe gegessen oder wegen der Größe, was weiß ich! Hätten wir doch nie die Planken verlassen!« »Noch kein Grund zur Aufregung, Agsacha!« beruhigte ich ihn. »Männer – holt die Pakete und bildet mit Hilfe von Bastschnüren Tragelasten! Wir wollen das Fleisch nicht zurücklassen.« Die Männer verstanden und bewegten sich vorsichtig auf das Feuer zu. Dort ließen sie sich von den Frauen helfen. Ein unheimlicher brummender Ton lag nunmehr in der Luft. Es klang, als ob man eine gigantische Hornisse eingesperrt habe und sie bis zum Wahnsinn reizte. Alles geschah, um unsere Nervosität einem unheimlichen Höhepunkt entgegenzutreiben. Ich fühlte, wie ich unruhiger, gespannter wurde. Wenn sich jetzt jemand zu einer Unbesonnenheit hinreißen ließ, detonierte die aufgestaute Wut. Die Trance von uns allen lähmte unsere Gedanken. Ich bahnte mir einen Weg zu meinen Männern und wies sie an, am rechten Ende des Halbkreises zu warten – in direkter Nähe zum Dschungel.
Dort, woher wir gekommen waren. Sie verstanden, beluden sich mit den schweren, dampfenden Paketen und kauerten sich zu Boden. Wir spürten die kranke, wirre Masse unartikulierbarer Leidenschaften. Sie beherrschten im Augenblick dieses Dorf, beherrschten darüber hinaus Teile der Welt, hielten Menschen in ihrem Bann und machten wahren Fortschritt unmöglich oder zögerten ihn endlos hinaus. Das Brummen unsichtbarer Schwirrhölzer riß nicht ab. Männer und Frauen kamen aus den Hütten und hatten Rasseln und Klappern an den Gelenken ihrer Körper befestigt. Jemand schlug mit zwei Schlegeln einen unregelmäßigen und unverbindlichen Rhythmus auf der riesigen Schlitztrommel, einem großen Baumabschnitt. Schweine rasten aufgeregt kreischend zwischen den Gruppen der Eingeborenen umher. Wir standen unschlüssig da. Agsacha zog mich und Sharma in die Richtung unserer Gruppe. »Weg vom hellen Licht!« mahnte der Freund. Etliche Krieger rannten herum und hielten lange, schwere Knüppel in den Händen. Jemand warf einem Schwein eine Schlinge über, dann schlugen die Männer die Schweine tot. Sie taten es ohne jedes System, langsam und mit grimmigem Gelächter. Das Schreien und Quieken der sterbenden Schweine mischte sich mit dem Trommeln und dem Brummen. Diesen Menschen fehlte behutsame Einstellung zum Leben und noch mehr: zum Tod. Die anderen Tiere wurden geradezu tobsüchtig vor Panik und schossen ziellos im Zickzack hin und her. Ein Tier raste auf die gefesselten Gefangenen zu, trampelte auf ihnen herum, rannte dann geradewegs durchs Feuer und kam, qualmend, schreiend und widerlichen Gestank verbreitend, aus der Glut hervor. Frauen sprangen zur Seite; einige Jäger setzten dem Tier nach. Wir waren sprachlos vor Verwunderung und
Entsetzen. Sanduhrförmige Membranophone wurden herangetragen und aufgestellt, während die letzten Schweine kreischend und zuckend starben. Dann erschlug man noch einige der gemästeten Hunde. »Sie fressen Hunde. Pfui!« murmelte ein Matrose und spuckte angewidert aus. »Und Insekten, selbst Würmer.« Ich sah noch mehr. Junge Frauen von sehr geringer Schönheit schleppten einen Flechtkorb herbei, in dem Lehm oder Erde angehäuft war. Die Eingeborenen stürzten sich darauf und begannen, kleine Mengen des Erdreichs zu essen. »Was bedeutet das, Atlan?« flüsterte Sharma voller Entsetzen. Sie vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter. Dies war Geophagie; der Genuß von Erde. »Vielleicht essen sie die Erde wegen der Mineralien. Oder aus rituellen Gründen. Ich weiß es nicht.« Hunde und Schweine wurden zerstückelt und ans Feuer gebracht. Schwirrhölzer, aufrechtstehende Schlitztrommeln und kleine Handtrommeln lösten einander ab. Es klang, als ob Musiker ihre Instrumente stimmen würden. Die musikalische Untermalung des »Festes« hatte noch nicht begonnen. Inzwischen war es tiefe Nacht geworden. Man schleppte, anscheinend ohne jedes System, andere Gegenstände herbei, jetzt zum Beispiel reich geschnitzte Baumstümpfe. Wir standen nach wie vor in einer geschlossenen Gruppe zusammen – abseits. Unsichtbare Flöten, zum Teil offensichtlich mit der Nase geblasen, erklangen. Sie schienen nicht für die Blicke der Kinder und Frauen bestimmt zu sein, denn weder ihre Musiker noch diejenigen, von denen die Schwirrhölzer betätigt wurden, zeigten sich. Die Sinfonie des Schreckens spielte mit vielen Instrumenten. Der Dschungel schien atemlos zu lauschen; das verborgene Tal war von Lärm und vielfältigem Gestank erfüllt. Eine riesige Welle schwarzer Gesichter und
aufgerissener Augen, schattenwerfender Schmucknarben und spitzer Zähne bewegte sich rund um das Feuer. Schwarze Arme fuchtelten. An den Gelenken klapperten und rasselten die Muscheln und die hohlen Holzstücke. Es war das Inferno. »Wir müssen zurück. Ich werde sonst wahnsinnig«, sagte Agsacha laut. Ich sah ihm an, wie er nach einem Ausweg suchte. Er war kurz davor, die mühsam behaltene Beherrschung zu verlieren. Ich konnte ihn verstehen, aber meine Hand grub sich hart in seine Schulter. Ich sagte in scharfem Befehlston: »Du tust nichts ohne meinen Befehl, Agsacha! Wir bleiben noch. Außerdem kommt der Häuptling mit zehn Kriegern auf uns zu. Bleib ruhig – wir haben überlegene Waffen.« Gleichzeitig aktivierte ich ein neues Programm des Albatros. Er sah jetzt mit Infrarotaugen und peilte sich auf uns als Zielgruppe ein. Geriet einer von uns in Gefahr, würde er nach einem variablen Programm handeln – wie auch der Robotgepard. Areka winkte und sagte betont: »Zwei Männer von uns gestorben. Wir hacken Finger ab. Dann wir bestrafen den Überläufer.« »Wie?« fragte ich verblüfft. Offensichtlich ist jemand aus dem eigenen Stamm zu den Feinden übergelaufen, sagte der Extrasinn. Areka »erklärte« es mir. Ich als Fremder solle die Ehre haben, den tödlichen Schuß abzugeben. Sie wollten den Überläufer hinrichten. Hinrichten, obwohl er nicht hier war? Ich verstand nichts. »Wir machen Adath!« verkündete Areka eifrig. »Und wir werden Totems tauschen, Fremder!« Mit einem schmutzigen Finger deutete er auf meinen Zellaktivator. Ich schüttelte langsam den Kopf. »Komm, sieh zu und warte!« Der Häuptling drehte sich um und stolzierte hinter seinen narbentätowierten Kriegern davon. Zwei junge
Frauen wurden herangebracht. Der Feuerschein fiel auf ihre entrückten Gesichter. Sie hoben die Hände hoch, um allen zu zeigen, daß einige ihrer Angehörigen gestorben waren; mehrere Fingerglieder fehlten. Krieger mit Schilden und Speeren, Schädelbrechern und Pfeilköchern, die Bogen in den Händen, führten die Frauen im Bastrock an einen aufrechtstehenden Baumabschnitt. »Sie… tatsächlich! Sie hacken ihnen die Finger ab!« schrie ein Matrose und wollte sich auf die Krieger stürzen. Wir hielten ihn zurück. Eines unserer getauschten Entermesser fuhr blitzend herunter. Ein weiteres Fingerglied war abgetrennt worden. Das Mädchen schien keinen Schmerz zu kennen oder im Augenblick keinen empfunden zu haben. Mit Blättern wurde der blutende Finger verbunden, dann brachte man das Mädchen zurück in die Hütte. Alles wurde still. Die Trommelschläge ließen nach, als das zweitemal ein halber Finger abgetrennt wurde. Die blutenden Glieder flogen ins Feuer, über dem Bananen, irgendwelche Fladen und das Fleisch der Schweine und Hunde brieten. »Ich werde wahnsinnig! Wohin hast du uns geführt, Atlan?« keuchte Agsacha. Ich nickte und hob die Schultern. Ich mußte zugeben: »Niemand konnte das wissen. Ich sehe ein, daß wir auf der falschen Insel gelandet sind. Aber wir werden diese Hölle auch heil überstehen. Mitten in der Nacht stehlen wir uns davon.« Das lämmerartige Blöken aus Hunderten von Frauenkehlen setzte ein, als sich die Einwohnerschaft des Dorfes formierte. Wir sahen, daß man die Kinder und die Jugendlichen weggebracht hatte. Mehr als zweihundert Erwachsene tummelten sich, bildeten zwei Kreise. Einer bestand aus Männern, der andere umfaßte die Frauen. Viele Krieger schienen zu fehlen – ich hatte vorhin mehr Menschen schätzen können.
»Was tun sie jetzt, diese wahnsinnigen Insulaner?« fragte jemand. »Halt’s Maul und hör zu!« rief ein anderer Matrose grob. Flöten und Schwirrholz, Rasseln, Klappern und Trommeln setzten mit aller Stärke ein. Es war nicht die Spur einer Melodie, dafür aber ein mitreißender Rhythmus zu erkennen. Ich ertappte uns, wie wir mit den Fingern und Zehen den Takt mitschlugen. Das dauerte etwa zehn Minuten, dann setzten sich die Tänzer in Bewegung und stampften den Boden, klatschten in die Hände und stießen Laute aus, die wie Bellen oder Husten klangen. Die Kreise drehten sich gegeneinander, mit ermüdender Monotonie, immer wieder, weder schneller noch langsamer. Die Musikanten arbeiteten, als würde sie jemand mit der Peitsche antreiben. Chaotischer Radau breitete sich aus und schien den Dschungel zu erschüttern. Hohe, jammernde Schreie, fremd, geheimnisvoll und scheinbar aus gemarterten Kehlen stammend, drangen aus dem umliegenden Wald. Der Tanz dauerte lange, und er war, verglichen mit denen, die wir häufig miterlebt hatten, von geradezu unglaublicher Primitivität. Ihr könnt noch nicht fliehen! sagte der Extrasinn plötzlich. Die Krieger beobachten euch. Die Bäume am anderen Ende der Lichtung schienen sich wie ein gewaltiger grüner Vorhang zu teilen. Ein feierlicher Umzug näherte sich den Tanzenden, die nun zwei Reihen bildeten, die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite der Krieger. Bambusfackeln leuchteten, zitternde Flammen mit langen, quirlenden Rußfäden. Zwischen den Ästen sahen wir die Spitzen von vielen Speeren und die auffallende Bemalung der Schilde. Die Männer trugen Lehmmasken. Der Häuptling führte sie an. Zwischen den Reihen der nackten, rituell bemalten Krieger schritt eine phantastische Gestalt einher. Sie war in Hunde- und
Beuteltierfelle gehüllt und trug leuchtende Verzierungen aus den winzigen Federn kleiner Vögel. Mit stolperndem Tanzschritt löste sich die Gestalt aus den Reihen und tanzte bis zum Feuer. Sämtliche Instrumente schwiegen, nur noch die brummenden Schwirrhölzer arbeiteten wie besessen. »Komm zu mir, Fremder!« schrie der Häuptling und winkte mit dem Schild. Ich sah meine Waffe an, schob sie zurück und ging ruhig durch die Menschenmenge. Wieder durchlief der Schauer einer geordneten Bewegung das Volk. Es zog sich bis vor die Hütten zurück. Zwischen den etwa dreißig Kriegern, dem Totempfahl, den Gefangenen und dem Hundefleisch entstand ein freier Raum. In Spiralen und Schleifen tanzte der Vermummte hin und her, hob die Arme und warf die Beine nach allen Seiten. »Was ist zu tun?« fragte ich. »Adath! Wir töten den Verräter!« sagte Areka dumpf unter seiner scheußlichen Maske hervor. Zwei Parteien. Alle sahen atemlos zu. Wieder setzten die übrigen Instrumente ein. Die Krieger verteilten sich in einem weit geschwungenen Halbkreis. Der Häuptling und auf sein Geheiß auch ich reihten uns in den Kreis ein. Jemand kam aus der Dunkelheit und reichte mir einen langen Bogen und einen Pfeil; reichverzierte, rituelle Waffen. Eine Menge unsichtbarer Fäden schien den vermummten Tänzer und die Krieger, mich eingeschlossen, zu verbinden. Unsere Blicke und Gedanken wurden wie von Schwarzer Magie angezogen. Auf einem Pfahl, der in der Zwischenzeit in den Boden gerammt worden war, steckte ein hämisch lachender Totenschädel, völlig weiß und poliert. Die zuckenden Flammen brachen sich daran. Der Tänzer vollführte einige Bewegungen und begann, seine Vermummung abzustreifen. Sobald er ein Kleidungsstück
ausgezogen hatte, hängte er es auf den Pfahl, und zwar derart geschickt, daß ein getreues Abbild von ihm entstand. Schließlich, als die Menge zum letztenmal geschrien hatte, warf er seinen Federmantel ab und deckte ihn über die »Schultern« der Figur. Wieder stimmten die Weiber ihr Gebrüll an. Die Männer antworteten in einem dunklen, stoßweise vorgebrachten Chor. »Werft die Speere! Speert den Verräter! Stoßt zu!« »Speert ihn! Tötet ihn! Macht Adath mit ihm!« Ich sah mich um. Die Krieger hoben die Speere, während der Tänzer sich in den Schutz der Totemsäule flüchtete. Die Trommeln, Pfeifen und Schwirrhölzer vollführten einen rasenden Lärm. Ich tat es den Kriegern nach und legte den Pfeil auf die Bogensehne. Die ersten Speere flogen; die meisten bohrten sich in die schlaffen Kleidungsstücke am Pfahl. Ein Speer blieb in der Bauchgegend der Puppe stecken, ein anderer schoß fauchend neben dem Handgelenk eines der Gefangenen in den Boden. Dann wieder ein Doppelchor: »Schießt die Pfeile…!« Wir schossen. Kräftige Arme zogen die Sehnen aus. Die Bögen spannten sich, und die Pfeile schwirrten von den Sehnen. Die Sehnen schlugen gegen die Armgelenke und schürften sie auf, wo keine Bandagen angebracht waren. Mein Pfeil bohrte sich durch das linke Auge des Totenschädels, hob ihn an, brach dabei ab und schleuderte den Schädel kreiselnd um das Pfahlende. Ein gewaltiger Schrei erschütterte die Nacht. Dann ging der Tanz weiter. Ich nickte dem Häuptling zu und ging, Tänzern ausweichend, die sich in Trance befanden, zu meiner Gruppe. Erstauntes Schweigen und ratlose Gesichter empfingen mich. Ich sagte sarkastisch: »Wir haben verstanden. Endlich…« Der Tanz ging weiter, aber jetzt kamen einige alte Frauen und nahmen das Essen vom Feuer. Sie zerteilten alles und
schichteten es fein säuberlich auf Matten, legten es in hölzerne Schüsseln und verteilten es auf Bananenblätter. Es begann nach Kräutern zu riechen. Das Feuer sandte eine Geruchswolke aus, von der die Sinne vernebelt wurden. Man holte Schüsseln mit hellgrauem Meersalz herbei. Der Tanz wurde, unabhängig von den Vorbereitungen, die man traf, wilder und zügelloser. Schwere Stangen und Roste aus angekohltem Holz wurden zum Feuer gebracht. Ich verstand oder glaubte zumindest zu ahnen, was sie vorhatten. Jetzt kamen die Krieger zurück, reihten sich ein und tanzten mit. Die Frauen mischten irgendein Getränk in einer Kalebasse, rührten heftig um und löschten kohlende und glühende Zweige in der Flüssigkeit. Dann humpelten sie zu den Gefangenen, die wild die Köpfe bewegten. Starres Entsetzen erfaßte mich – wie damals, als ich hinter den Kerkergittern das Gesicht der an die Wand geketteten Hexe gesehen hatte, in Thorn. Die Frauen hockten sich auf die Brustkörbe der Gefangenen, hielten die Köpfe am Haar und an den Ohren fest und drückten den Männern die Nasen zu. Wild schnappten sie nach Luft. Die Flüssigkeit wurde ihnen in den Mund geschüttet. Sie gurgelten, husteten, aber die Schalen wurden erbarmungslos ausgeleert. Als die Frauen aufstanden, lagen die Gefangenen erschlafft da, bewegten sich nur schwach. »Das Spiel kann beginnen!« sagte ich voller unterdrückter Wut. Wir blickten uns behutsam um. Alle Mitglieder des Stammes schienen zu tanzen. Zum Teil taten sie es mit geschlossenen Augen, zum anderen starrten sie blicklos vor sich hin. Meine Männer stahlen sich durch die Dunkelheit davon. Sie trugen die heißen, riechenden Braten mit sich. Agsacha, Sharma und ich warteten. »Sollen wir den armen Schuften helfen?« fragte der Maure. »Ich weiß es selbst nicht«, sagte ich. »Warten wir noch.«
Wir würden uns einen Weg durch den Dschungel bahnen müssen. Nur der bleiche Mond würde uns den Weg finden helfen, aber durch den undurchdringlichen Dschungel leuchtete nicht einmal er. Wir traten zurück in das Dunkel jenseits des Feuerkreises. Ich wollte mich umdrehen, als Scarr neben mir fauchte. Mitten in der Bewegung erstarrte ich. Zehn oder mehr Krieger stürzten sich mit verblüffender Plötzlichkeit auf die wehrlosen Opfer, rissen die Messer und die Schädelbrecher hoch. In derselben Sekunde handelten Agsacha und ich fast gleichzeitig. Wir rissen die langläufigen Pistolen aus dem Gürtel, zielten mit ausgestreckten Armen und feuerten. Donnernd entluden sich die Läufe. Die Geschosse fuhren in die Glut des Feuers, detonierten in einer harten Explosion und schleuderten Funken und Holzstückchen in alle Richtungen. »Los! In den Dschungel!« schrie ich und gab Sharma einen Stoß. Der nächste Matrose, Wardar, packte sie und riß sie mit sich. Die Mannschaft flüchtete in die Schwärze des Dschungels. Dann zischten die Lähmstrahlen auf. Die Krieger zuckten mitten in den Bewegungen zusammen, ließen die Waffen fallen und sackten zu Boden. Agsacha gab in kalter Wut fünfzehn Schüsse ab. Der Donner der Detonationen war kaum verhallt, als ich Agsacha zurief: »Weg! Kümmere dich um Sharma!« »Geht in Ordnung, Käpten«, sagte er seelenruhig, feuerte zweimal auf Krieger, die sich aus dem Tanzkreis lösten. Dann raste er im Zickzack durch die Dunkelheit davon. Ich drückte die Knöpfe, die das Notprogramm des Albatros aktivierten. Langsam ging ich rückwärts, Schritt um Schritt. Scarr blieb dicht vor mir und schob sich an den Dschungelrand heran. In den Kreis der tanzenden Jäger war Bewegung gekommen; sie schrien und schnatterten. Ich wartete einige Sekunden – bisher
hatte ich den Tod der Opfer verhindern können. Plötzlich riß sich der Häuptling die Lehmmaske vom Gesicht und schrie gellend: »Sie haben das Tabu gebrochen! Jagt sie!« Hinter mir bewegte sich etwas. Ich drehte mich schnell halb herum in der Erwartung, das blitzende Metall der Waffe Agsachas zu sehen. Plötzlich trafen drei harte, schmerzhafte Schläge meinen Körper. Geschleuderte Steine! Die Hand, die das Schutzfeld einschalten wollte, wurde getroffen und weggerissen; augenblicklich breitete sich die Lähmung aus. Ich feuerte mit dem normalen Lauf zweimal in die Luft. Ein Speerschaft traf mich im Nacken; die Knie gaben nach. Dann schnellte sich Scarr zur Seite und grub nach einem riesigen Satz seine Fänge in den Hals eines Kriegers. Der Häuptling rannte auf mich zu, während weitere Steine durch die Luft sausten. Ich erkannte die Gefahr gleichzeitig mit dem Aufschrei des Extrasinnes. Der Aktivator! Ich ließ die Waffe fallen, bückte mich und hakte das Amulett von der vergoldeten Kette. Dann brach ich mit zitternden Fingern die Verzierungen von dem eiförmigen Aktivator. Ich erinnerte mich an Troja und ähnliche Gelegenheiten, schob den Aktivator auf die Zunge und würgte ihn hinunter. Ich holte tief Luft; gleichzeitig mit einem erneuten Angriff von allen Seiten sah ich, wie mindestens acht Männer auf den Gepard einschlugen. Sie hielten ihn mit den Speeren in Schach und droschen mit den Schädelbrechern auf ihn ein. Das Tier wehrte sich verzweifelt, wich aus, sprang senkrecht in die Luft und wurde von Pfeilen gespickt. Verzweifelt rang ich nach Atem. Ich versuchte, mit dem Arm, an dem sich zwei Krieger festhielten, den Schalter für das Abwehrfeld zu erreichen. Hinter dir! Ich ließ mich fallen. Ein furchtbarer Schlag raubte mir das Bewußtsein. Der letzte Eindruck war, daß sich zwanzig Eingeborene auf mich warfen. Dann verlor ich das
Bewußtsein. Das Ende… Auch Maghellanes war in der Südsee von Eingeborenen getötet worden. Ich hatte ein Tabu gebrochen und mich in eine kultische Handlung eingemischt.
2. Ich öffnete die Augen. Es war noch immer Nacht. Alles war sinnlos gewesen, denn ich konnte erkennen, was geschehen war: Scarr lag da, mit Seilen und Baumstämmen gefesselt. Der Albatros zog um mich enge Kreise; ich indessen war an die Totemsäule gebunden. In meinem Magen drückte der Aktivator auf die Nerven. Rund um den Pfahl war eine Menge Krieger niedergemäht worden, als der Albatros – um einige Sekunden zu spät – im Tiefflug heruntergestoßen war und mit den Vorderkanten der Flügel die Krieger umgerissen hatte. Langsam kehrte das Bewußtsein zurück und mit ihm an fast allen Stellen des Körpers wütende Schmerzen. Ich beugte den schmerzenden Rücken und dehnte meine Arme. Die Handgelenke waren mit dicken Bastschnüren zusammengebunden, und ich drehte sie langsam. Ringsherum war alles ruhig; außer Bewußtlosen und Toten sah ich niemanden. Das Feuer war heruntergebrannt. Auf den Spießen, auf dem verkohlten Rost lagen die Reste der verzehrten Gefangenen. »Verdammt!« sagte ich. Du hast dich überrumpeln lassen! flüsterte der Extrasinn. Ich zerrte an den Fesseln, aber ich würde sie nicht zerreißen können. Wo waren die Insulaner? Einige Minuten später begriff ich; sie hatten sich in die Hütten zurückgezogen, vermutlich war bei dem Fest eine Menge Palmwein getrunken worden. Ich flüsterte: »Albatros!« Der Vogel hielt in seinem Flug inne, drehte sich um und wartete summend auf Befehle. Ich sagte so deutlich, wie es meine geschwollenen und aufgesprungenen Lippen zuließen: »Zwischen meinen Händen sind Seile. Setz den Schnabel ein und kappe diese Verbindungen. Los!«
Der Albatros schwebte hinter den Totempfahl, seine Maschinen brummten auf, und ich spürte die scharfen Schneiden. Dann ertönte ein Schwirren in der Stille. Ich rührte mich nicht. Die Fesseln wurden abgezwickt, ich kippte nach vorn. Drei schnelle Sätze, und ich war im Dunkel verschwunden, nachdem ich über Bewußtlose und Betrunkene gestolpert war. Scarr merkte, daß ich frei war, und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Wo war meine Waffe? Ich fand ein Bastseil, drehte es zu einer großen Schlinge und holte den Robotvogel herbei. Ich befestigte die Schlinge an seinen Ständern und huschte im Zickzack bis zu dem Haufen Holz, der sich um Scarr befand. Ich suchte ein Messer, kappte die Schnüre und warf die Baumstämme zur Seite. Plötzlich ertönte vom anderen Ende der Lichtung ein Geräusch. Jemand flüsterte: »Atlan!« Es war Agsacha! Ich hob den Arm und bedeutete ihm, dort zu bleiben, holte Luft, ignorierte den Druck unterhalb der Knochenplatte, die ich anstelle von Rippen besaß, und warf das letzte Stück Holz zur Seite. Viele Jäger waren des Gepards Tod – beinahe. Scarr federte auf die Füße; das künstliche Fell sah mitgenommen aus. Über der Lichtung schwebte ein riesiger Vollmond. Geheimnisvolle Schatten bewegten sich. Ich sagte zu Scarr: »Du bringst Agsacha zum Strand! Wartet dort auf mich!« Dann winkte ich. Der Gepard warf sich vorwärts und verschwand am jenseitigen Ende der Schlucht. Ich lief weiter, trotz meiner Schmerzen. Die Waffe fand sich, halb in den Boden getrampelt. Ich steckte sie ein, dirigierte den Vogel zu mir her und sah, wie sich etwas vor mir bewegte: »Agsacha! Scarr bringt dich zum Strand. Ich komme mit dem Vogel. Schnell!« Agsacha murmelte: »Ich bin ihnen entkommen. Etwa fünfzig Krieger sind uns nachgerannt. Sie planen vielleicht, das Schiff
zu entern!« Das änderte die Sachlage. Ich streckte einen Arm aus und zog Agsacha zu mir. Wir befahlen dem Gepard, schnell zum Strand zu laufen. Dann setzten wir uns in die Seilschlinge, und der Vogel stieg summend hoch. Minuten später waren wir am Strand. »Was ist los?« fragte ich, als wir im nassen Sand einsanken. »Wir sind geflüchtet. Ich habe alle Männer auf das Boot gejagt. Das Boot ist neben der TERRA. Sharma ist in Sicherheit. Dann rannte ich zurück und traf auf die Krieger. Sie sind nicht mehr weit.« Aus dem Dschungel ertönten die Schreie aufgescheuchter Vögel. Der Gepard stob in riesigen Sätzen aus der Öffnung in der Mauer des Waldes heraus, auf uns zu. Wir konnten hier nichts mehr tun – Flucht war die einzige Lösung. »Der Vogel schleppt auch noch Scarr.« Ich überlegte laut. »Wir müssen zum Schiff. Wenn die Eingeborenen Kanus versteckt haben…« Agsacha hielt sich an der Seilschlinge fest und zielte mit der Waffe auf den Wall des Dschungels, er sagte: »… ich sah Schleifspuren. Sie haben Kanus!« »… dann ist auch die TERRA in Gefahr. Los, fliegen wir zurück! Wir zeigen, daß wir über einen Wundervogel verfügen; das sollte die Mannschaft nicht erfahren. Aber unser Leben ist wichtiger.« Wir setzten uns in die Seilschlinge, nahmen den ramponierten Gepard in die Arme, dann hob sich der Vogel höher und schwebte hinüber zur TERRA, die mit brennenden Positionslichtern etwa zweitausend Schritte entfernt in den Wellen schaukelte. Wir schwiegen, bis sich der Vogel in vorsichtigem Anflug dem Deck des Heckkastells näherte. Zuerst glitt Agsacha aus dem Seil, dann ich; Sharma warf sich in meine Arme.
»Ich habe Angst um dich gehabt, Liebster!« flüsterte sie. Ich streichelte ihr Haar. »Alles ist vorbei. Wir segeln weiter. Bald sind wir in Sevilla oder an einer lieblichen Küste.« Dann wandte ich mich an Agsacha und fragte: »Hast du schon einmal den Bauch eines Menschen geöffnet, Freund Agsacha?« »Warum?« Er schüttelte verblüfft den Kopf. Die Männer der Mannschaft, die unseren Anflug beobachtet hatten, drängten sich auf dem Kastell zusammen und unterhielten sich aufgeregt. »Wardar! Diego!« rief ich. »Käpten?« »Wir setzen Segel. Wir gehen weiter nach Süden. Agsacha! Macht den Vierpfünder klar! Vielleicht müssen wir uns wehren.« »In Ordnung.« Das Schiff verwandelte sich binnen Sekunden in eine Insel der Betriebsamkeit. Dumpfer Gesang erscholl, zusammengesetzt aus dem Ächzen und den Kommandos am Gangspill. Langsam bewegte sich das Schiff, vom Zug an der Trosse gezogen, über den Anker hinüber und brach ihn aus dem Untergrund. Die Rahen und Masten füllten sich mit den Segeln, Trossen und Taue spannten sich, und Diego de Avarra wirbelte das Rad des Ruders herum. Wir spähten zum Land: Lange Schatten drangen aus dem Dschungel. Kanus, von Kriegern ins Wasser geschoben. Ich lief auf Deck und erreichte das drehbare Geschütz; ich richtete mit Hilfe der Kurbeln das lange Geschützrohr aus und zielte auf den Strand. Der Verschluß öffnete sich, wir legten die Geschoßhülse ein. Dann wurde der Verschluß herumgeworfen und arretiert. »Wir nehmen Fahrt auf!« rief Diego vom Ruder. »Verstanden! Setzt mehr Segel!«
Die Männer in den Kanus paddelten wie wild. Im Licht des Mondes waren sie ungenau zu erkennen. Die Holzteile knarrten. Ich zielte und kalkulierte die ballistische Kurve ein, dann ließ ich den Hahn nach vom schnappen. Die Befestigung des Geschützes federte, als sich der Schuß krachend aus dem Rohr löste. Einen Herzschlag später entstand zwischen der TERRA und den Kanus eine Wassersäule: Eine riesige Fontäne sprang in die Luft, schimmerte im Mondlicht und überschüttete die Verfolger. »Wir haben Fahrt!« rief Diego. Ich wartete kurz, dann öffnete ich den Verschluß. Die heiße Hülse sprang heraus und fiel klatschend ins Wasser. Wir luden das Geschütz ein zweites Mal und feuerten. Diesmal lag der Treffer näher und warf zwei der Kanus um. Nachdem die Hülse entfernt worden war, breitete ich die Plane über das Geschütz, beschäftigte mich mit meinen Karten und gab die Kurse an. Wir segelten am westlichen Rand der großen Insel entlang nach Norden und würden diese Richtung beibehalten, bis wir auf gleicher Höhe mit dem Flußdelta waren. Dann bogen wir nach Südwesten ab und kamen an den Inseln Aru und Saumlaki vorbei. Schließlich war ich fertig, sprach mit Diego den Kurs ab und lehnte mich zurück. Der Druck in meinem Magen wurde unerträglich. Sharma brachte einen Becher gewürzten Weines und setzte sich auf die Lehne des Sessels. »Agsacha ist unruhig«, sagte sie. »Er denkt darüber nach, warum du ihn gefragt hast…« »Holst du ihn, bitte?« bat ich. Wir musterten uns lange und schweigend. Endlich brach Agsacha das Schweigen. Er sagte leise: »Diese Frage. Atlan…« »Ich weiß. Ich habe bewußt gefragt, Agsacha! Hast du schon einmal einen Menschen aufgeschnitten?« Er schüttelte stumm den Kopf. In seinen Augen stand ein
unsicherer Ausdruck. »Du wirst meinen Magen öffnen, mein Amulett herausholen und alles wieder zunähen. Das muß ich von dir, meinem Freund, verlangen.« Ich spielte mit der Öse der Halskette. Er sprang auf, starrte mich ungläubig an. während sein Gesicht schneeweiß wurde. »Das kannst du nicht verlangen!« rief er. »Wenn du es nicht tust, muß ich in einigen Stunden sterben. Tust du es, bin ich in drei Wochen wieder gesund. Ich habe niemanden, der dies vermag.« Er setzte sich und murmelte dumpf: »Sprich, Atlan!« Ich erklärte ihm, wie ich es den Ärzten vor Troja erklärt hatte, schilderte mit Hilfe vier verschiedener Zeichnungen, welche Gewebeschichten er durchtrennen mußte. Ich packte die Geräte aus, die wir brauchten. Diego kam nach einer Weile; er sollte mit Sharma, die ihnen assistieren würde, die Operation vornehmen. Ich sagte ihnen, was ich tun konnte, was sie tun mußten, versuchte, ihnen die Angst zu nehmen, mich umzubringen. Langsam begriffen sie, daß auch ein Mensch ein Ding war, das man öffnen und verschließen konnte. Ich wünschte, ich hätte einen toten Eingeborenen gehabt, um es ihnen zu demonstrieren. Das Risiko für mich war groß, aber zu meiner Verwunderung merkte ich, daß ich zu diesen Menschen volles Vertrauen hatte. In den frühen Morgenstunden waren wir mit den Schilderungen fertig; ich bestimmte, daß die Operation auf dem Tisch der Kapitänskajüte vor sich gehen sollte. Wir holten saubere Tücher, aus der Kombüse kamen heißes Wasser und sauberes kaltes. Ich verteilte Seife und gab Anweisungen, was mit dem Zellaktivator zu geschehen habe. Dann gab ich mir die Injektion, schlief ein und dachte, wie einfach alles sei, wenn diese Operation mißlingen würde. Dann wäre ich tot und alle Probleme hätten sich in nichts aufgelöst.
Südlicher Wendekreis; diese Worte standen auf der Seite des Logbuchs. Ich hatte sie geschrieben, mit dickem Verband über dem Magen. Zu den Narben waren andere gekommen, und jeden Tag setzte ich die verheilende Haut der Sonne aus. Gleichzeitig regte der Aktivator die Genesung an, beeinflußte die Zellen, besserte mein Allgemeinbefinden. Die Operation war glücklich verlaufen, hatte aber fast sechs Stunden gedauert. Sharma, Diego und Agsacha hatten sich selbst überboten. Während ich auf Deck oder in der Kajüte gelegen hatte, hatte die TERRA andere Inseln angelaufen, dort ihre Tauschgeschäfte abgewickelt: die Laderäume barsten fast vor Gewürzen, Edelmetallen und Porzellanwaren aus Ostasien. Ich schrieb einen Brief an Theophrast von Hohenheim, genannt Pamcelsus, in dem ich unsere Erlebnisse schilderte. Von den Karavellen des Maghellanes hatten wir keine Spuren mehr entdeckt, obwohl der Vogel tagelang viele Inseln besucht hatte. Wir stießen nach Südwesten vor, kreuzten den Äquator, den Wendekreis und segelten dann, erstklassig verproviantiert, nach Westen – dem Kap der Guten Hoffnung entgegen.
3. Februar 1522: Ich konnte nicht anders: Mit Wohlgefallen betrachtete ich die Mannschaft und das Schiff. Zwar hatte es Hunderte kleiner Wunden gegeben, gebrochene Arme, angebrochene Knochen, ausgerenkte Gelenke – aber keinen einzigen wirklichen Unfall. Bis auf Zaro lebten alle; besser als auf jedem anderen Schiff, das die Weltmeere kreuzte. Das Schiff war verwittert. Die Segel waren geflickt, schmutzig und ausgebleicht, aber alle Schäden beeinträchtigten nicht die Leistungsfähigkeit der TERRA. Sie lag tief im Wasser. Die Laderäume waren voll. Die Last würde, gut verkauft, uns alle zu reichen Männern machen. Sharma lag neben mir auf dem leinenüberzogenen Sessel und sonnte sich. »Du denkst nach?« fragte sie irgendwann. »Ich denke nach«, sagte ich und massierte meine Magengegend. Die Narben schmerzten nicht mehr; die frische Haut bräunte sich zusehends. Hoch über uns konnte ich den Albatros sehen, der unermüdlich vor dem Schiff seine Beobachter-Kreise zog. »Darüber, daß wir eine schöne Zeit hinter uns haben und eine ebenso schöne Zeit vor uns. Und ich trauere den verlorenen Träumen nach.« Sie flüsterte: »Meine Träume sind wahr geworden, Liebster. Ich habe wundervolle Jahre hinter mir. Ich habe niemals gedacht, dich zu treffen und mit dir um diesen Planeten zu reisen. Ich habe mehr erlebt als Hunderte Menschen in ihrem Leben – in drei Jahren.« »Das mag schon sein«, sagte ich leise. »Aber meine Träume waren größer. Sie flogen höher als die Wolken im Passatwind, der uns nun heimbringen soll.« Sie lächelte mich an. Ich erschrak ein wenig, als ich sie im unbarmherzigen Sonnenlicht betrachtete. Unsere Gesichter
waren nur drei Handbreit voneinander entfernt. Ich sah sie an, ihre Augen wanderten wie Ameisen über mein Gesicht. Sharma war, als ich sie kennengelernt hatte, ein einfaches Mädchen gewesen, mit Anzeichen kommender Schönheit, ohne wirkliche Lebenserfahrung. Unterdrückt, ungebildet und ein unbeschriebenes Blatt mit wunder Seele und aufgescheuerten Handgelenken – von den Sklavenfesseln. Heute war sie eine junge Frau, schön, verlockend, geistreich und von stiller Intelligenz, die, wenn sie sich artikulierte, überraschend hoch war. Viele lange Gespräche mit mir und Diego, mit rund drei Dutzend grimmigen Männern, die lächelten, wenn Sharma vorbeiging und mit ihnen sprach, mit vielen Häuptlingen. Sie war auf höchst angenehme Weise gereift, eine ideale Partnerin; eine bezaubernde Geliebte indes. Ich lächelte sie an und sagte: »Meine Träume sehen vor, daß alle Menschen miteinander in Frieden leben und große Dinge vollbringen sollen.« »Du meinst – Wunder. Solche, wie sie bei dir an der Tagesordnung sind?« Ich lachte schallend. Nur ein ferner Schmerz in der Magengrube erinnerte mich an die Operation. »Keine Wunder sind das, Sharma. Es ist alles zu erklären. Aber ich komme von einem Ort, wo solche Dinge zu den Errungenschaften des täglichen Lebens zählen. Denk nicht mehr daran.« »Ich denke ohnehin meist an dich… und natürlich an mich«, gab sie zurück. Ein Schatten fiel auf uns, als Diego und Ssachany auf das Deck kamen. »Ihr träumt. Freunde?« erkundigte sich der Steuermann. »Wir haben geträumt«, gab Sharma zurück. »Von Sevilla. der Stadt der Sehnsucht?« »Auch davon, Diego. Und von dem Haus mit den weißen Mauern, den hellen Fenstern und den Tauben auf den
Dächern«, sagte ich. »Gibt es etwas Besonderes, oder bist du wegen eines Bechers Wein heraufgestiegen?« In den letzten Wochen hatten wir Tage gehabt, an denen das Etmal höher war als je zuvor; die zurückgelegte Entfernung von Mittag zu Mittag. Wieder segelten wir auf dem Südlichen Wendekreis nach Westen. Bald mußte Madagaskar auftauchen. Wir hatten vier Stürme abgeritten und zwei Segel verloren; die letzten Reservesegel wurden gesetzt. Jetzt hatten wir einen Himmel, der eine gute, schnelle Heimreise förmlich versprach. »Letzteres, Atlan!« sagte Diego. »Eine Frage am Rand, und ich möchte dich ungern verärgern: Ich höre dich nicht mehr von Maghellanes oder seinen Nachfolgern reden.« Ich richtete mich auf, schirmte die Augen mit der flachen Hand und sagte ernst: »Ich habe noch eine Chance ausgerechnet, daß vielleicht ein Schiff zurückkommt. Wir haben nicht die Unterstützung der spanischen Krone, aber wir haben die Erde umrundet. Pigafetta und Delcano würden, lebten sie noch, Carlos dem Ersten Nachricht davon geben. Die TERRA ist nicht wichtig. Sie ist nur wichtig für uns.« Diego fragte erstaunt und ungläubig: »Wir sollten also den Mann Maghellanes vergessen?« »So ist es«, sagte ich hart. »Vergessen wir ihn, und denken wir an uns. Es ist sinnvoller. Holt Agsacha und ein paar Männer der Mannschaft – wir wollen unser drittletztes Weinfaß öffnen.« »Dabei halten wir mit, Käpten!« sagte Wardar, der die Becher brachte. Unsere Laune hob sich, als wir die Küste von Madagaskar sichteten, nach Süden abbogen und in leichtem Sturm die Südspitze Africas umschifften. Auf der Fahrt nach Norden, die entlang der Westküste des Riesenkontinents entlangführte, gingen wir mehrmals an Land und holten
Frischwasser und Kokosnüsse. Die Matrosen vertrieben sich die Zeit mit leidenschaftlichen schwarzen Frauen; wir badeten mit den Brandungsfischern im Ozean. Alles erinnerte uns an die entdeckten Paradiese der Südsee, und in die Freude der Heimfahrt mischten sich bittere Gedanken. Die Reise ging weiter. Eines Tages fiel der Gepard ins Wasser; ein Kurzschluß ließ den Mechanismus detonieren. Hinter dem Schiff brach eine gewaltige Explosion hoch. Endlich, nach vielen Tagen, segelten wir an Teneriffa vorbei und nahmen Kurs auf Gebel al Tariq. Und im August, es war der fünfte dieses Monats, legten wir mit bewachsenem Unterschiff, mit geflickten Segeln und splitternden Planken wieder in Sevilla an. Die Reise war beendet. Am letzten Tag machte ich eine Entdeckung, die ich zuerst nicht glauben konnte. Ich überlegte, als ich den Wochentag im Logbuch ablas. Wir alle hatten keinen einzigen Tag ausgelassen; drei dicke Bücher waren mit Eintragungen und kleinen Bildern gefüllt. Wir schrieben Dienstag, und als Rojas de Avarra über die Gangway an Bord stolperte und seinen Sohn umarmte, sagte er, es sei Mittwoch. Erst nach einer Weile kam ich darauf, daß sich dieser Planet im Lauf von vierundzwanzig Stunden einmal von Westen nach Osten um seine Polachse drehte. Ich versäumte nicht, diese wichtige Erkenntnis in meinen Briefen zu erwähnen. Später einmal, wenn die Geschichte dieses Planeten aus sicherer zeitlicher Distanz betrachtet werden würde, konnte man Maghellanes diese Erkenntnis zuschreiben. Jedenfalls freute sich Sharma, als ich ihr sagte, sie sei eigentlich einen Tag jünger, als ich dachte. Kaum jemand erinnerte sich wirklich an unser Schiff. Der Name Maghellanes war vollkommen vergessen.
Sevilla nahm uns wieder auf. Wir erfuhren, daß Carlos der Erste zum Kaiser des Römischen Reiches Deutscher Nation gewählt worden war. Wir bezogen das große, kühle Haus, das erst von Handwerkern in Ordnung gebracht werden mußte. 1520 war Hernando Cortez in Mexiko gelandet und hatte dort hundertmal mehr zerstört, als ich aufgebaut hatte… damals, in Vorzeiten. Langsam verkauften wir unsere Ladung an denselben Kaufmann, der Maghellanes ausgerüstet hatte. Nacheinander wurden die Matrosen abgefunden – sie erhielten vergleichsweise gewaltige Summen. Ich verkaufte das Schiff. Die Mannschaft fand sich ein Vierteljahr später zu zwei Dritteln wieder ein. Ein fremder Kapitän, ein fremder Steuermann gingen mit der TERRA – die jetzt LOS MONTEROS getauft worden war – wieder in See. Sie wollten, nach Osten segelnd, die Molukken erreichen und Porzellan aus Asien eintauschen. Zögernd, in einem heißen, zauberhaften Sommer, senkte sich das Alltagsleben über uns alle. Ich liebte Sharma und schrieb Kopernikus, was ich erlebt hatte; einen langen Brief. Ich legte den Stift nieder, überlas das Geschriebene und nickte. Inzwischen korrespondierte ich mit Männern wie Johannes Böhm, der eine »richtige Völkerkunde« schreiben wollte. Ich hatte ihm mitgeteilt, wen und was wir angetroffen hatten. Die Tür öffnete sich, Agsacha kam herein, setzte sich mir gegenüber und sagte: »Hier. Trink, Freund Atlan! Du wirst etwas erleben, was du dir nicht einmal erträumt hast!« Er schob mir den Krug über den Tisch. Ich brachte hastig die Papiere in Sicherheit. Magellan? Haben die Schiffe vielleicht…? Mein Extrasinn artikulierte verworren. Ich grinste und beschloß, Agsacha zu ärgern. Unschuldig fragte ich: »Du willst doch nicht etwa behaupten, daß Delcano oder Espinosa mit der TRINIDAD
hier angelegt haben?« Agsacha schmetterte die Faust auf die Tischplatte, daß der Wein aus den Bechern schwappte. »Verdammt!« rief er. »Das hast du geraten, Atlan! Nein! Die VICTORIA, fast ein Wrack, ist soeben mit achtzehn Männern eingelaufen. Delcano hat sie zurückgebracht. Sie wurde den Guadalquivir hinaufgeschleppt.« »Du hast recht«, sagte ich. nickte und griff lachend nach dem Glas. Dann wurde ich nachdenklich. »Aber das sollten wir uns ansehen. Ich habe geraten, ich gebe es zu. Gehen wir?« »Zuerst den Wein!« Wir stärkten uns, dann verließen wir das Haus und ritten zum Fluß. Als wir die Straße erreichten, die zur Kirche »Santa Maria de la Victoria« hinaufging, stiegen wir ab, banden die Tiere fest und schoben uns durch die aufgeregte Menge. Achtzehn Männer, von Delcano angeführt, wahre Leidensgestalten, in weiße Gewänder gekleidet, trugen lange Kerzen in den aufgerissenen, abgezehrten Händen. Sie erfüllten ihr Gelübde. Sie waren der Rest der Expedition. Stumm sahen Agsacha und ich uns an. »Es ist schwer«, sagte er, als Orgelklänge durch die Gasse dröhnten, »zu glauben, daß sie es dennoch geschafft haben. Maghellanes’ Frau ist gestorben, seine Kinder verschollen… nichts ist mehr übrig von diesem stolzen, düsteren Mann.« Ich erwiderte: »Es ist viel übrig, Agsacha! In wenigen Tagen wird eine Nachricht um die Welt gehen. Wir wußten es schon immer, aber uns fehlte die Fanfare, in die wir stoßen konnten. Auch wollten wir dies nicht.« »Nachricht? Welche?« »Die Erde ist eine Kugel, ein Planet unter anderen. Ein neues Weltbild wird von Sevilla aus seinen Weg gehen. Niemand weiß, daß Maghellanes mein Werkzeug war.« Acht Millionen Maravedis hatte die Expedition gekostet.
Nach dem Verkauf der Gewürze aus den Laderäumen der VICTORIA blieben noch einige Goldstücke übrig. Von der Sicht des Kaufmannes aus betrachtet, hatte sich diese Fahrt ebenfalls gelohnt. Meine persönliche Reise endete bald – ich wollte zurück. Aber ich versuchte, meine Freunde so zurückzulassen, daß sie bis zu ihrem Tode ohne Sorgen leben konnten. Sharma: Ich verließ sie. Nur der Umstand, daß ich unsterblich war und daß ich wußte, daß die Zeit alle Wunden heilt, half mir darüber hinweg, daß ich sie verließ und Agsacha einen Brief gab, den er ihr im Fall meines Verschwindens übergeben sollte. Ich kaufte das Haus und eine Menge Land und übereignete ihr alles zur Hälfte – die andere Hälfte erhielt Agsacha. Dies war alles, was ich zurücklassen konnte, darunter auch den Kompaß, der für Maghellanes gedacht war. Agsacha: Bargeld und meine Waffen mit aller Munition, die ich noch besaß. Die Anteile am Schiff, der ehemaligen TERRA, übereignete ich ihm ebenfalls. Er würde mich verstehen. Eines Nachts sagte ich ihm in dunkler Rede, daß ich nicht ein spanischer Grande, sondern ein unruhiger Reisender durch Länder und Zeiten war, ein Kapitän der Jahrzehnte. Diego und Ssachany: Ich übereignete ihnen einen großen Besitz all der Kostbarkeiten, die wir mitgebracht hatten. Gold und Korallen, Perlen. Sie hatten in einem prunkvollen Fest, das viele Tage dauerte, geheiratet und erwarteten ein Kind. Einen Sohn, wie Diego mit unerschütterlichem Optimismus behauptete. Und eines Tages verließ ich sie; alle. Auch Sevilla, die Stadt der Gitarren und des Weines. Ich flog mit dem Albatros zum Versteck des Gleiters, lud die Reste meiner Ausrüstung und das eingetauschte Edelmetall auf, schaltete die Geräte ein und trat den Rückzug in mein stählernes Gefängnis, knapp zwei Meilen unter dem Meeresspiegel an.
Ich würde schlafen, bis das nächste Schiff landete. Falls es noch eines gab, das sich auf diesen Planeten verirrte. Die Fahrt der fünfzehnhundert Tage existierte nur noch in meiner Erinnerung. Rico empfing mich, als sei ich nur Stunden weg gewesen. Bald schlief ich ein. Langsam kletterte die Sonne über die Hänge des vulkanischen Tales im Nordkontinent Khazas. Zwischen den Bäumen stieg dicker Nebel auf. Das Tal füllte sich mit dem hellgrausilbernen Schleier. Die Sonnenstrahlen kamen von Osten, schossen über die Nebeloberfläche und trafen die Würfel des Hauses am oberen Ende der vielen Treppen. Der nächtliche Spuk war verflogen. Ronald Tekener und Ingeyn standen aus dem breiten, fellüberzogenen Sessel auf. Als sie einen der Vorhänge öffneten, lebte der Raum mit den rohverputzten Wänden auf. Ich sagte: »Ich brauche ein Bad. Und etwas zu trinken. Ich bin völlig erledigt.« Noch immer schoben sich die beiden Ebenen übereinander: das Leben in Sevilla und die Wirklichkeit auf Khaza, kurz vor dem Start der Raumschiffe. T’aban Tenthredo reichte mir die Hand und zog mich aus dem Sessel. Er murmelte: »Ich weiß nun alles über Magalhaes. Wir wissen viel aus diesen Zeiten, aber nicht alles. Wie ging es weiter?« Schritt um Schritt fand ich zurück in die Wirklichkeit, nahm den schweren Pokal und trank ihn halb leer; der dunkelrote, wie frisches Blut glühende Wein schmeckte nach Zimt und Nelken und war süß. »Es geschah nicht mehr viel«, sagte ich leise. »Die Erkenntnisse, die wir alle sammelten, Pigafetta und ich, reichten zwar für einen Bestseller, der Pigafetta reich und berühmt machte, aber die wissenschaftliche Evolution meines zweiten Heimatplaneten ging mit mühsamer Langsamkeit vor sich. Kopernikus, dann Kepler, schließlich Newton und
Cavendish… erst mehr als vier Jahrhunderte später gab es entscheidende Einsichten.« Ingeyn erkundigte sich: »Ich habe deine Reise in ein fernes Land mit angehört, Arcon. Was wurde aus deinem Schiff, das mit Segeln fuhr statt mit Wasser-Zoon?« Ich lächelte, während ich mich weiter entspannte. »Die LOS MONTEROS? Sie ging verloren, denke ich. Jedenfalls sahen meine vielen Maschinen-Augen nichts mehr von ihr.« »Und… und diese Sharma? Sie muß sehr liebenswert gewesen sein?« »Sie war es. Ich erlebte später Bilder; sie wurde noch schöner und heiratete Agsacha. Aber sie wird ihn nicht sehr geliebt haben.« Wir blieben lange im Calpoda-t’Stylon-Bad und erholten uns. Wir waren zwar müde, aber eine Art Hochstimmung begann uns zu erfassen. Meine Arbeit auf diesem Planeten war getan. Ich lächelte breit und sagte: »Die Sonne ist da. Wir sollten etwas essen und zurückfliegen zum Paß.« Ingeyn stieg aus dem Bad, warf sich einen weißen Mantel um und kauerte sich neben T’abans Schultern nieder. Sie richtete ihren eindringlichen, prüfenden Blick auf mein Gesicht. »Arcon… du hast berichtet, wie der Adath-Kult einen Mann hingerichtet hat. Ist er gestorben? Hast du etwas gesehen?« Ich schüttelte langsam den Kopf. Meine Hand schloß sich um den Zellaktivator. »Nein. Ich konnte es nicht kontrollieren. Ich mußte dafür sorgen, daß die TERRA in See stach, daß wir gut vom Ufer Neuguineas wegkamen und daß die Operation richtig durchgeführt wurde. Außerdem war es Nacht.« Meine Hand wanderte von der Brust hinunter zum Magen. Dort glitten die Finger über die Narben in der Bauchhaut. Ich
merkte, wie ein Schauer meine Haut überzog. »Der Verräter, dessen Image wir getötet haben«, sagte T’aban fest, »ist jedenfalls gestorben. Der Stamm beschloß es, die Abstimmung war geheim, und das Ergebnis wird in Kürze einige Leute erschrecken.« »Ich gehe voraus, Meister des Schwertes!« T’aban stimmte schweigend zu. Er mußte sich von Ingeyn verabschieden: dieses Mal für immer oder für eine sehr lange Zeit. Ich legte meine Hände auf die Schultern Ingeyns und sagte: »Ich bin ein unruhig Reisender. Und ich weiß zu schätzen, wenn man mich bewirtet, wenn man mich einlädt und gute Gespräche mit mir führt. Aber ich muß weiter, in andere Welten, auch solche, die es nur in den Träumen gibt wie heute in der Nacht. Eines sage ich dir, Tochter der Morgenröte – du bist, manchmal, wie Sharma. So klug und so begehrenswert. Leb wohl!« Für eine zu lange Sekunde schmiegte sie sich an mich, dann nickte sie und flüsterte: »Dein Weg, Bruder des Schiffes und der Nächte, soll gerade sein und ohne Wunden verlaufen.« Langsam stieg ich neben dem Boten die vielen Treppen hinauf, bis wir auf die Landeplattform der Zoon kamen. Dort standen vier Tiere, ausgesucht schnelle Renn-Zoon mit schwarzem Gefieder und riesigen braunen Augen. Die Zügel liefen durch silberne Ringe, bestanden aus feinstem Leder, ebenso wie die hochlehnigen Sättel, und alles war bestickt. Die kostbarsten Sättel des Stammes! durchfuhr es mich. Ich verneigte mich vor Dancun, dem »Vetter der Schwingen«, und sagte leise: »T’aban und ich – wir sind gern hier bei den Naysat gewesen, Dancun. Und ihr ehrt uns auf ungewöhnliche Weise.« Dancun sagte stolz und laut: »Garaz T’aban Tenthredo ist der Sohn des Vulkans, der Meister des Schwertes, der
Verbündete der Schleuder. Er hat uns Dinge gesagt, die unseren Stamm gut und lebendig erhalten. Ihm gebührt alle Ehre. Und du bist sein Freund, und T’abans Freunde sind auch die Freunde der Naysat. Triffst du einen von uns, so wird er so für dich sterben wie du für ihn. In den Sattel, pt’Arcon!« Mein Tier riß den Kopf hoch, schrie und rannte los. Dicht vor dem Absturz entfaltete es die schwarzen Schwingen, warf sich in den Aufwind am Hang und begann mit den Flügeln zu schlagen. Nach einigen Metern, in denen es schwer durchsackte, gewann es Höhe, wurde schneller und schneller. Das zweite Tier nahm Anlauf und folgte. Ich zog am Mittelzügel, schwang die langen Enden mit pfeifendem Geräusch neben den Ohren des Zoon und setzte mich fest. Das Tier startete mit aller Wucht und Schnelligkeit, als habe man es von einem Katapult geschnellt. Dann rauschte der Fahrtwind. Als ich mich umdrehte, sah ich Tekener, der sich aus dem Sattel beugte, das Mädchen küßte und dann startete. Binnen weniger Minuten hatte er aufgeschlossen. Hintereinander flogen wir über das Tal, dem Paß mit dem Bauwerk aus Lavagestein und festgesetzten Mineralien entgegen. »Wir sollten bestätigen, wenn der ›Verräter‹, der als Gefangener im USO-Schiff sitzt, als tot und an vergifteten Klettengeschossen gestorben identifiziert wird.« Ich gab zurück: »Es wird uns sicher eine gute Erklärung einfallen. Sie wissen verdammt gut, Tekener, daß Sie sich mit dem Besitz eines Zellaktivators in eine Lage begeben haben, die wenig beneidenswert ist.« »Das wußte ich, als ich lange zögerte, ihn an mich zu nehmen, Sir«, gab Tekener zurück. »Aber ich habe immerhin ein ganz passables Beispiel, wie man es auch machen kann. Schließlich kämpfe ich nicht nur auf barbarischen Planeten um das Schiff der Rückkehr – wie Sie.«
»Das ist vorbei!« sagte ich verbissen. »Es ist viel weniger vorbei, als Sie glauben und es möchten.« Tekener startete den Gleiter. »Das wissen Sie genau. Wie lange schliefen Sie eigentlich nach der Weltumseglung?« »Einige Jahrzehnte«, sagte ich. »Außerdem bin ich müde.« »Ich auch«, sagte Ronald. Der Gleiter schwebte langsam über die märchenhafte Landschaft des Nordkontinents zum Schiff. Ein Jahrhundert später, dachte ich, ehe ich einschlief, herrschte in Europa der fürchterliche Dreißigjährige Krieg. Müßige Erinnerungen. Das USO-Schiff startete. Neue Abenteuer und neue Planeten warteten. Alle Dinge waren nur Intermezzi; Zwischenspiele auf einer gewaltigen Bühne, auf der einzelne Figuren verschwindend klein waren. Klein und unbedeutend, trotzdem faszinierend durch ihre Schicksale. Das Schiff erreichte den Weltraum und raste davon. Es stirbt der hohe Herr und der gemeine Knecht, Aus diesem Leben werden alle weggerafft, Da hilft nicht Reichtum, Ruhm noch Heldenkraft. Ein jeder muß von hinnen, Karpfen oder Hecht. Vergehen muß das ganze menschliche Geschlecht. Wie Spreu vom Winde weggefegt. Geleit: Auch Fürsten sind zum Sterben auserkoren, wie jeder Mensch hienieden, der vom Weib geboren, ob sie darob erzürnen oder klagen, schmerzbewegt, sie sind wie Spreu vom Winde weggefegt. Autant en emporte ly vens… (Maistre Franfois des Loges, autrement dit de Villon) 1431 -? Die
Bewußtseinsform
des
Arkoniden
war
schwer
zu
definieren: Er hielt die Augen geschlossen und bewegte sich dennoch mit erstaunlicher Sicherheit. Es schien, als befände er sich in einem virtuellen Umfeld, das in seinem Kopf erzeugt worden war. Ein weiterer Raum nahe Atlans Zimmer in der Intensivstation war keimfrei gemacht und geleert worden. Jetzt steckten Atlans Gliedmaßen in einer halbrobotischen Anlage, in der Zehen, Fußgelenke, Knie und Schenkelmuskeln stimuliert und gezwungen wurden, sich gegen Zug- und Druckkräfte zu bewegen. Ebenso Finger, Handgelenke, Ellenbogen und Schultermuskeln; sein gebräunter Körper glänzte vor Schweiß, der vom Belag des summenden, klickenden Gerätes aufgesogen wurde. Bisher hatten Oemchèn Orb, Scarron Eymundson und Cyr Aescunnar Atlans – wahrscheinlich unbewußte – Muskelkontraktionen genau beobachten können: eine Funktion der verinnerlichten DagorAusbildung, an die sich der Körper erinnert haben mochte. »Doktor Ghoum-Ardebil hat mir gesagt«, murmelte Cyr und sah zu, wie sich Muskeln spannten, wölbten, entspannten, wieder bewegten, vor Anstrengung zitterten, »daß sich Atlan mit klarer Stimme gemeldet und dieses schweißtreibende Verfahren ausdrücklich gewünscht hat.« »Der Grad seiner Selbständigkeit ist kontinuierlich größer geworden«, flüsterte Scarron. »Was haben deine Äußerungen vom Chmorl Mountain zu bedeuten?« »Ich erklär’s dir später«, sagte Cyr. »Es hat etwas mit der Schärfung von Gedanken und erkenntnispsychologischen Prozessen zu tun.« Elektrische Intervallimpulse durchfluteten Atlans Muskeln und Sehnen. Bindegewebe wurde ebenso stimuliert wie Nervenleitungen; unaufhörlich wurde jeder noch so kleine Muskel bewegt. Der Arkonide hielt sich neunundzwanzig Minuten lang im Wirkungskreis dieser Anlage auf, dann begannen die Überwachungsgeräte zu blinken. Die Maschine
wurde abgeschaltet, die röhrenförmigen Elemente klappten auseinander, und Hilfskräfte betteten Atlan auf die Antigravliege, die mit ihm durch eine medizinische Dusche schwebte, durch die Entfeuchtungskammer und zum Überlebenstank. Atlan schien wieder zu schlafen oder kurz vor dem Einschlafen zu sein. Er ließ die Prozeduren über sich ergehen und entspannte sich, als der Körper bis zum Kinn behutsam in die angereicherte Flüssigkeit sank. »Vor fünf Stunden zitierte er das Villon-Gedicht«, sagte Aescunnar. »Erfahrungsgemäß wird die Pause nicht kürzer als zwölf Stunden sein.« »Das läßt uns Zeit«, sagte Oemchèn, »dich über alle wichtigen Geschichtsdaten zu befragen, von denen uns Atlan berichtet hat.« Cyr nickte und betrachtete seufzend die Platte seines Schreibtisches. Er deutete auf die Zeittafel und begann zu erklären. Langsam drehte ich den Kopf und starrte in die Flammen. Ich war todmüde, erschöpft, niedergeschlagen von so vielen Schmerzen und dem Anblick der Sterbenden. Und von der Arbeit, die Toten zu begraben. Die Zeilen, die unser verehrter Mönch Thibault Taranne in eine Kalksteinplatte geschnitten hatte, kennzeichneten die furchtbare Lage, in der sich das Land rund um Le Sagittaire befand. Die Pest hatte gewütet und reiche Ernte gehalten. Solltest du nicht bei den Dörflern sein und helfen? fragte der Logiksektor. Unten patrouillierten die Roboter und jagten Ratten, die aus den Wolken flüchteten, den fauchenden Dampfstrahlen voller feinverdünntem Gift, das Mücken, Flöhe und Stechfliegen tötete. Es war Nacht; ich wollte ein paar Stunden schlafen. Ich mußte zu vergessen versuchen, daß wir zu spät gekommen waren. Wieder richtete ich meinen Blick
auf die Zeilen, die über dem Kamin zu zittern schienen. Wenn die Kerzen flackerten, bewegten sich Schatten in den Vertiefungen. Ich hob die Schultern und sah mein Gesicht im spiegelnden Weinpokal. Es gefiel mir nicht. »Morgen früh!« sagte ich leise. Jeder mußte sterben, aber niemand sollte unter solchen Umständen und so schmerzhaft sterben. Von dreihundert Bewohnern Beauvallons – das Dorf nannte sich seit etlichen Jahren so – waren einundsechzig gestorben. Von den Überlebenden würden wir noch viele begraben müssen; zu viele, wenn es nach mir ging. Georgette schob den Vorhang zur Seite und kam zögernd herein. Ich stand auf, musterte sie und deutete stumm auf den Tisch. Sie lächelte mir scheu zu und stellte Schüsseln, Bretter und Essen auf das weiße Tuch. »Du hast keine Angst mehr vor mir?« »Seit neun Tagen horchst du in dich hinein? Und noch nicht das kleinste Geschwür. Du bist gesund«, antwortete ich. »Und du warst nicht im Dorf.« »Nein.« Ich goß meinen Pokal voll und füllte ihren Becher mit fast schwarzrotem Wein. »Man kann mich zwar anstecken, aber ich werde nicht an der Pest sterben«, sagte ich. Die junge Frau setzte sich und schien, wie ich, Ruhe, Stille und das Alleinsein zu genießen. Ihre Mutter und ihr Bruder waren vor vier und drei Tagen gestorben. Den Dörflern war ihre Gutmütigkeit zum Verderben geworden. Zwei Bettler waren vom Händler gefunden und mitgenommen worden. Man gab ihnen Kleidung und Essen, ließ sie in einer Scheune schlafen, und dann lief die Gesetzmäßigkeit des Todes an, wie so viele Male auf diesem Planeten. Eine Ratte wurde angesteckt und starb, Pestflöhe verließen den Kadaver und stachen die Menschen; die Tröpfcheninfektionen übertrugen
die Pest von Mensch zu Mensch. Zwischen zwei und sieben Tagen dauerte es nur, bis die ersten Beulen aufbrachen und die Drüsen anschwollen wie große Blasen. »Hast du keinen Hunger?« fragte Georgette zaghaft. »Ich mag noch nichts essen.« Ich hatte geflucht, getobt und Roboter programmiert, als ich den Zustand in diesem Tal erkannte. Immerhin hatte ich erreicht, daß die Maschinen mit eingeschalteten Psychostrahlern über den Dächern schwebten und die Familien zwangen, sich einem bestimmten Verhaltensmuster zu unterstellen. Isolation voneinander, Jagd auf Ratten, viel heißes Wasser und die Anwendung von Pulvern, Seifen und Tüchern, Sonnenlicht und ein kalkgefülltes Riesengrab mitten im Wald – das waren die ersten Befehle. Glücklicherweise war das Jahr noch keine neunzig Tage alt. Die Aussaat war in der Erde; die Ernte würde vom Schwarzen Tod nicht allzu schlimm betroffen werden. »Du bist der Sohn unseres Herrn, nicht wahr?« Ich schrak auf und fühlte plötzlich nagenden Hunger. Seit Sonnenaufgang hatte ich geschuftet wie ein Rasender – gleichzeitig Arzt, Totengräber, Bauer und Vorleser aus dem Buch der Bücher. »Ja. Ich habe seinen Namen.« »Atlan d’Arcon. Man sagt, daß dein Vater weißhaarig war.« »Ich habe ihn nur weißhaarig in Erinnerung«, murmelte ich. Mein Aufbruch hatte in aller Eile stattgefunden. Diesmal war mein Haar braun gefärbt und vier Fingerbreit kurz geschnitten. Es paßte zu den dunklen, braunen Pupillen. Ich schnitt eine Scheibe Brot herunter, bestrich sie dick mit Butter und legte kalten Braten darauf und darüber eine Schicht weichen, gelben Käse. »Du bist gekommen, als die Not groß war. Noch vor drei Tagen haben sie vor Schmerzen geschrien und laute Gebete
gebrüllt.« »Meine Medizin hat ihnen ein wenig geholfen«, wich ich aus. Die angesteckten Kranken hatte ich nicht heilen können. Das Gegenmittel wirkte als schützende Impfung. Jeder Lebende in Beauvallon trug jetzt das blutunterlaufene Mal der Hochdruckspritze. »Nur noch unsere Alten erinnern sich an deinen Vater, Atlan«, sagte die Frau. Ihr Gesicht war von der Hitze des Kaminfeuers und vom Wein gerötet. Noch hatte ich die versteckten Anlagen von Le Sagittaire nicht vollständig in Betrieb nehmen können. Die Dörfler hatten ihr Wort gehalten, das sie mir gegeben hatten: Das Schlößchen war in bestem Zustand und sauber. Und ohne Ratten. »Wenn ich wegreiten sollte, wird es weniger lange dauern, bis ich wiederkomme«, antwortete ich. Während ich versucht hatte, Magellan die Kugelgestalt des Planeten und die Passage in den Westlichen Ozean zu zeigen, hatte sich nur Rico um Beauvallon gekümmert, ebenso wie um Port du Soleil. Ich hatte nach meinen letzten Erlebnissen mit Leonardo aus Vinci einige Zeit hier gelebt. Pierre hatte mich wiedererkannt, ehe er starb, und wenn ich daran dachte, schnürte es mir das Herz ab. Wenn es so sein konnte, daß ein Pestopfer zufrieden oder gar glücklich starb – seine letzten Worte schienen es zu bestätigen. »Es ist ein Jammer«, sagte ich und aß plötzlich wie ein Verhungerter. »Mein Vater sagte euch alles, was ihr tun müßt. Und was finde ich? Stillstehende Mühlen, verschlammte Wege, räudiges Vieh und überall Dreck. Nicht überall…« Ich lachte kurz auf und streichelte ihre Wange. »Aber in den nächsten Monaten werde ich ein böser, peitschenschwingender Herr sein!« »Das wird nicht nötig sein«, widersprach die Frau. »Sie werden dir aufs Wort gehorchen.«
Das ist mehr als wahrscheinlich, bestätigte der Logiksektor. Wir waren allein in dem Haus mit den vielen Zimmern. Vor zehn Tagen war ich in den Kellergewölben aus dem Transmitter gekommen, gefolgt von einer Schar summender Roboter. Ein Stapel luft- und wasserdichter Kleincontainer folgte. Es wäre sinnlos gewesen, Port du Soleil zuerst zu besuchen: Dort waren alle gestorben. »Das sollten sie tun!« Der Roboter befand sich noch in der Tiefseekuppel. RicoGiron-Riancors Spionsonden kreisten über Beauvallon. Wenn ich ihn brauchte, würde »mein Freund« die Transmitter schalten. Noch zögerte ich. Monique wollten wir nicht in Gefahr bringen; sie war nicht geweckt worden. Ich schlang Brot mit Pastete und Eiern hinunter und schüttete den Wein hinterher. Langsam wurde ich satt und ruhiger. Mir grauste, wenn ich an die Arbeit allein im Umkreis des Schlößchens dachte und darüber hinaus an den Zustand jener Welt, die ich kannte. Wiedergeburt! nannten die Gelehrten diese Zeit. Renaissance! Rinasciemento! Ich war satt, stand auf und öffnete das Fenster. Die Räume rochen nach Reinigungsflüssigkeit. Von draußen trieb Nachtwind den stinkenden Rauch des Feuers heran. Neben den Bäumen am Dorfplatz brannte seit Tagen ein Feuer, das immer wieder angefacht wurde. Kleidungsstücke wurden verbrannt, Decken und Kissen, Kadaver der Ratten und jener Dreck, den die Bauern und Handwerker aus den Ecken ihrer Häuser gekehrt hatten. Gespenstisch flackerten die Flammen, und ab und an sah ich den Körper eines Roboters durch die Dunkelheit schweben. »Du mußt müde sein, Comte Atlan.« »Die nächste Stunde findet mich zwischen den Laken«, versicherte ich. »Wecke mich vor Sonnenaufgang.«
Georgette nestelte an ihren Zöpfen und nickte. »Es gibt Hähne, die uns wecken werden.« Der Wein war höllisch gut. Ich nahm den Pokal und den Krug und schaffte beides, zusammen mit etlichen Leuchtern, ins Schlafzimmer. Ich stellte den Kontakt mit Rico her, nannte die Posten einer langen Liste, und er versicherte, daß spätestens morgen mittag alles über die Transmitterverbindung geliefert werden würde. Dann zog ich mich aus, hüllte mich in den bodenlangen Schlafmantel und trug den Leuchter vor den Spiegel im Baderaum. Zwanzig Kerzen warfen von der Glassitfläche ihr Licht an die hellen Wände. Ich bewegte die schweren Hähne, stellte mich unter die Schauer des heißen Wassers und versuchte, mit aromatisierter Seife selbst die Gedanken an Bakterien abzuwaschen. Diesen Raum hatte ich nach meiner überstürzten Ankunft zuerst ausgerüstet. Sogar der Teppich über den großen Fliesen stammte aus der Kuppel. Ich trocknete mich mit weichen Tüchern ab und hängte mir den Zellschwingungsaktivator wieder um den Hals. Meine Augen brannten, ich gähnte und zwang mich dazu, die Zähne zu reinigen. Es war die erste Nacht, in der ich mich mit ruhigem Gewissen schlafen legen konnte. »Der ganze Planet müßte mit Impfstoff geflutet werden«, schimpfte ich und fuhr in die Pantoffeln. Ich hob den Leuchter auf und schleppte mich zum Bett. Die Kerzen blies ich bis auf zwei aus, wuchtige Scheite fielen ins Kaminfeuer und entsandten eine Funkengarbe aus der Esse. Ich lehnte mich gegen das Kopfteil, stopfte Kissen in meinen Nacken und nahm einen langen Schluck aus dem Pokal. »Du hast getan, was du konntest, Arkonide«, flüsterte ich mir zu. Nach einer Weile kam Georgette herein. Sie trug eines der viel zu großen Hemden aus meinem Vorrat. Ihr Haar war feucht und hing über die Schultern. Ich nickte ihr auffordernd
zu, als sie neben das Bett trat und den langen Saum aufknöpfte. »Du mußt mich lieben«, sagte sie leise. »Wir haben zuviel Tod gesehen. Ich muß wissen, daß ich noch lebe. Oder willst du mich nicht?« »In so später Stunde«, sagte ich, setzte das Gefäß ab und streichelte ihr Haar im Nacken, »antworte ich nicht auf derlei törichte Fragen.« Sie hatte den reifen Körper einer voll erblühten Frau mit geraden Beinen und runden Hüften. Ihre Haut war weich und roch nach einer meiner Cremes. Sie kniete vor mich hin, faßte ihr Haar zusammen und legte meine Hand auf ihre Brust. Ihre Lippen waren feucht, und ihr Atem roch nach Wein, als sie sich zu mir herunterbeugte und mich hungrig küßte, bis ich sie in die Arme nahm und an mich zog. Die Nacht schien zu kurz für unsere Leidenschaft. Wir merkten nicht, daß die Kerzen dick tropfend niederbrannten und die Dochte im Wachs ertranken. Nur kleine Flammen und die intensive Glut des Feuers beleuchtete unsere Körper. Ein Chor aufgeregter Hähne weckte uns. noch ehe der erste Sonnenstrahl die Felsen und Bergkuppen aus den Morgennebeln herausschälte. Im strahlenden Sonnenlicht, aber in der Kühle, die aus dem Wald kam und noch im Boden steckte, übernahm ich wieder meine neue Rolle als Dorfschulze, als Maitre. Wir trieben das Vieh aus den Ställen, reinigten den Boden und hängten die Türen aus. In den größten Kesseln kochte Wasser, überall putzten und wischten die Menschen. Wir zimmerten Holzroste und legten Duschen an, ich verteilte Kleidung und Decken. Wieder stiegen Flammen und Rauch von dem großen Feuer auf; hektische Aufregung durchzog das Dorf; immer wieder trugen vier Männer, die gesamten Körper verhüllt und
Handschuhe über den Fingern, einzelne Körper zu den Waldgräbern. Die Toten sahen grauenhaft aus. An den Leisten und in den Achselhöhlen tauchten Geschwüre auf. Dann überzogen sich die Körper mit schwarzen und braunen Flecken. Beulen und Geschwüre brachen auf und sonderten ekelerregenden Ausfluß ab. Vor tausend Jahren war erstmals die Pest über Europa hinweggezogen und hatte ein Drittel aller Menschen hinweggerafft. Jeder Teil des Körpers litt, die Kranken vertrugen das Essen nicht mehr, und sie starben unter gräßlichen Qualen. Endlich blieb das Herz stehen, und der verstümmelte Leichnam wurde in die stinkenden Bettücher eingeschlagen und fortgeschafft. Was half? Schutzimpfung und Isolierung der Kranken, sobald die ersten Anzeichen erkennbar wurden. Wir hatten die Schule zum Siechenhaus bestimmen müssen. Und nun diktierten Sauberkeit und Licht. Jeder Winkel in jedem Haus wurde gewaschen, gepulst, neu gekalkt, und jeder einzelne Gegenstand, der uns zu schmutzig erschien, oder etwas, das ein Versteck für die Ratten, ein Schlupfwinkel für Mücken oder für anderes Ungeziefer sein konnte, wurde verbrannt. Die Bauernfamilien verloren von Tag zu Tag mehr von ihrer Angst; brutal ausgedrückt war es so, daß niemand mehr angesteckt wurde und jeder Kranke wegstarb. Ich war der Herr von Beauvallon, und mir gehorchten sie. Auch der Priester war gestorben. Ich schickte ein paar Männer mit Gespannen und einem Beutel kleiner Münzen in die nächste Stadt und schrieb auf, was wir dringend brauchten – bis zuletzt hatte der Lehrer die Jungen und Mädchen unterrichtet. Es fehlte an vielem: Zugpferde gab es noch, Reitpferde fehlten. Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine – die wenigen sahen erbarmungswürdig aus. Ein Teil der Häuser mußte ausgebessert werden, nur die Weiden und Felder
schienen mit Fleiß und Mühe in Ordnung gebracht worden zu sein. »Martial!« schrie ich. Ein junger Mann rannte auf mich zu. »Herr?« »Das Mehl fehlt. Es gibt genug Korn. Warum arbeitet die Mühle nicht?« »Der Schmied… gestern haben wir ihn begraben.« »Was hat der Schmied mit der Mühle zu tun?« »Er soll die Eisen schmieden, die wir fürs Wasserrad brauchen.« »Und die Lehrlinge des Schmiedes?« »Sie sind bei den Gräbern.« »Hol sie, und ich sehe nach, was fehlt. Leben die Zimmerleute noch?« »Einige.« »Hol sie zusammen!« So ging es weiter, Stunde um Stunde. Gegen Mittag summte mein Mehrzweckarmband, und ein wenig später schleppten wir die Kisten aus dem Gewölbe. Die arkonidischen Maschinen hatten die Behälter aus Kunststoffen und aus dünnem Metall zeitgemäß gestaltet: sie sahen wie kleinere und größere Truhen aus. Einfache Stiefel wurden verteilt, Decken und Hemden, Mäntel und Unterkleider, Kraftnahrung und zahlreiche Gegenstände, die im täglichen Leben gebraucht wurden. Die Positroniken kannten die entsprechenden Programme. Binnen Stunden waren die Behälter leer, und die Truhen wurden verteilt. Der Bäcker hatte überlebt; wir sammelten Mehl und Schrot und heizten den riesigen Backofen an. Verstehst du nun, was die Schwierigkeiten Beauvallons ausmachten? fragte der Logiksektor. Ich stand neben dem schwelenden Feuer und ließ meinen Blick über die Fassaden, Dächer, Vorgärten und Mauern gleiten. Ich wußte es noch
nicht genau, aber ich ahnte es – Beaumont oder Beauvallon, »Schöntal«, war ein Beispiel für Millionen kleiner und größerer Siedlungen. Land und Menschen wurden ausgebeutet, die Steuern, Zehnten und Abgaben stiegen, und weil sie langsam verarmten, fehlten ihnen Kraft und Phantasie, einen ständig steigenden Teil ihres Lebens selbst zu bestimmen. Die Arbeit wurde schwerer und – mehr; es wäre nötig gewesen, unter dem Schutz und in der Verantwortung eines Herrn zu stehen. »Wir sind augenscheinlich«, murmelte ich verzweifelt, »noch nicht weit genug von Städten, Straßen und Steuereintreibern entfernt.« Ich lief zur verlassenen Mühle. Die Frau und die Kinder des Müllers waren in der Pfarrei isoliert. Nachdem ich mich gründlich umgesehen hatte, mußte ich schweigend den Kopf schütteln. Überall herrschten Verfall, Unordnung, Dreck und die tausend Zeichen von Armut und Resignation. »Lernen sie es denn nie?« fragte ich in dumpfer Verzweiflung. »Muß ich denn jeden einzelnen Barbaren an der Hand führen und ihm sagen, wie der nächste Schritt aussieht?« Hol den Roboter zu Hilfe! sagte entschieden der Logiksektor. »Noch nicht!« knurrte ich. Die Bachufer waren zu säubern, der Teich war halb versumpft. Es gab für mich nur ein Mittel, nicht rasend zu werden. Dasselbe Mittel würde den Dörflern helfen, die Trauer und Lethargie zu überwinden. Ich rannte zurück zum Dorf, verteilte silberne Münzen und gab Befehle. Wieder schleppte man drei Bahren an mir vorbei. Hundert Leute mit Werkzeugen würden morgen bachaufwärts ziehen und das Gewässer von Wällen aus angetriebenen Pflanzen befreien, von umgestürzten Bäumen und allem anderen Abfall. Die zweite Gruppe fing schon jetzt
an. Einen nach dem anderen schickte ich zur Mühle. Die Schmiedelehrlinge schürten die Esse und versuchten, die angefangenen Stücke zu beenden. Lärm und Aufregung nahmen zu. In einem der gesäuberten Häuser wurde ein Kessel dicke Suppe gekocht. Fleischhauer und Metzger teilten Braten und Würste aus, während der Bäcker seinen Teig knetete. Ich zog mich in mein Arbeitszimmer zurück, packte Truhen aus, programmierte die Vielzweckroboter um und wies ihnen den Arbeitsbereich zu. Dann ging ich zur Mühle und schaffte es bis zum Einbruch der Nacht, die Schieber zu schließen und sämtliche beschädigten Teile des riesigen Wasserrads auszubauen. Ich warf alles auf ein Gespann und dirigierte es zurück ins Dorf. Mit Besen, Schaufeln, allerlei anderem Werkzeug und unter meinen Drohungen, Flüchen und derben Scherzen reinigten Frauen und größere Kinder die Mühle vom Speichergebälk bis zu den Fundamenten; bald prasselte auch hier ein Feuer, dessen Glut reinigte, vernichtete und wärmte. Nachts zogen die Roboter die Schieber des Teiches auf. Zwei Platten barsten, weil sie morsch waren. Der kleine See leerte sich, das Wasser und der Schlamm ergossen sich in den Bach und auf einen Teil der Felder, wo sie willkommenen Dünger abgaben. Zwei Kinder starben in der Abenddämmerung, aber heute brannten frisch gefüllte Öllampen und Kerzen in jedem Haus. Die letzten Vorräte wurden aus den Verstecken geholt. »Unser Herr ist wieder da.« Georgette versuchte es zu erklären. »Sie sind fleißig, weil ihnen jemand sagt, was sie tun müssen.« In der Mühle siebten sie noch immer die Vorräte an Korn. Das Tal füllte sich mit dünnem Nebel und mit dem Rauch vieler Feuer. Es roch unbeschreiblich. Irgendwo heulte ein Wolf. Es würde noch viele Tage dauern, bis die Spuren dieser Tragödie beseitigt sein würden – die vielen Toten brachte auch
meine Energie nicht wieder zurück. »Teil die Becher aus!« bat ich Georgette. Wir saßen am Kopfende des langen Tisches im größten Raum von Le Sagittaire. »Es wird, denke ich, eine lange Nacht. Kannst du schreiben?« Stolz antwortete sie: »Ich war die Beste von allen in meinem Alter, sagte Lehrer Jaques.« »Dort stehen Papiere und eine Feder, die du nicht in die Tinte zu tauchen brauchst«, sagte ich. »Du wirst aufschreiben, was wir heute nacht ausmachen.« Sie goß verdünnten Wein in meinen Pokal, lächelte mich an und flüsterte: »Laß nicht zu, daß sie bis Mitternacht bleiben. Es war so schön… gestern nacht.« »Ich tue mein Bestes«, versicherte ich und lehnte mich zurück. Wieder war ich tief eingetaucht in die Welt der Barbaren. Wünschte ich mich wirklich weit weg? Ich war wohl ein allzu gutmütiger Herrscher; es schien, als würde mir diese neue Aufbauarbeit tatsächlich Spaß machen. Gegen die Steuereintreiber indessen mußte etwas unternommen werden. Heinrich, König von Frankreich, kämpfte gegen die Habsburger und brauchte Geld, aber er würde wohl keine persönliche Order geben. Mittlerweile wirkten die Innenräume ein wenig wohnlicher. Ich hatte Zeit gefunden, mit Georgette und einer anderen jungen Frau meine eigenen Truhen und Kisten auszupacken. Langsam zündete Georgette die Öllampen und Kerzen an und verteilte sie im Raum. Wein gab’s im Dorf reichlich, und er war gut – eine weitere Seltsamkeit. Nacheinander kamen die erwachsenen Dörfler, einzeln und in kleinen Gruppen. Ich war freundlich, aber bestimmt. Ein großer Becher Wein nahm ihnen die Zurückhaltung und löste die Zungen. Ich teilte die Arbeiten ein. bestimmte die Vormänner, fragte und erhielt ungewisse Antworten. Nur langsam klärte sich das Bild. Sie
brauchten schier alles: Hämmer und Pflugscharen, Fässer und Stoff… Georgette schrieb mit, und ihre Zunge strich zwischen den Lippen hin und her. »Ein Schritt nach dem anderen«, sagte ich schließlich und ließ nachschenken. »Wenn wir Glück haben, arbeitet die Mühle in zwei Tagen. Gibt es jemanden, der vom Müller angelernt wurde?« »Ja, ich«, antwortete Perrenet. »Aber so gut wie Moreau kann ich’s nicht.« »Du wirst es schnell lernen. Frag mich, wenn du nicht weiterweißt«, sagte ich. Und so ging es weiter. Ich stand auf und schloß mit der Frage: »Wann erwartet ihr Guy und Jehan zurück?« »In neun Tagen, wenn sie ein wenig Glück haben.« »Bis dahin kennen sie Beauvallon nicht mehr wieder«, versprach ich. »Und morgen, bei Sonnenaufgang, treibt ihr eure Freunde und Nachbarn an die Arbeit! Ich gedenke ein wenig länger zu schlafen.« Die Männer tranken aus und gingen; sie schienen froh zu sein, ohne Strafen davongekommen zu sein. Sie wußten wohl genau, wie andernorts die Bauern behandelt wurden. »Morgen werde ich die Frauen und Mädchen auf diesen Sommer und viel Arbeit vorbereiten.« Ich stocherte zwischen den glühenden Balken im Kamin. »Es fehlt an allem. Buchstäblich! Aber wir werden es schaffen.« Georgette saß auf dem Hocker vor den Flammen und blickte mich schweigend an. Nach einer Weile konnte sie ihre Gedanken zusammenfassen. »Der Lehrer hat es uns gesagt. Dein Vater und sein Freund sind oft gekommen, lange geblieben, weggegangen und lange fortgeblieben. Immer dann, wenn sie hier waren und Befehle gegeben haben, ging es Beauvallon gut. Wir waren allein – und es kamen Krankheiten, Viehseuchen, Not und Armut. Wie
lange bleibst du?« Ich zuckte mit den Achseln, trank einen Schluck und blickte nachdenklich die Bilder, Steinarbeiten und Tafeln an, die die Wände schmückten. »Lange genug, um euch Sicherheit zu geben.« »Und dann…?« »Man wird sehen.« Ich wich aus und löschte eine Kerze nach der anderen zwischen den nassen Fingerspitzen, die ich in den Wein tauchte. »Niemand wird sich beklagen müssen. Vielleicht kommt auch mein Freund und Milchbruder Riancor, um uns zu helfen.« Es war spät. Mittlerweile heizten die Kaminfeuer nicht nur die Warmluftkanäle, sondern auch die frisch gefüllten Wasserbehälter. Im Baderaum sprudelte heißes Wasser in die Wanne und brachte die Essenzen und flüssigen Seifen dazu, weißen, knisternden Schaum aufzutürmen. Mit einem winzigen Vibromesser schnitt ich vor dem Spiegel Georgettes Haar; sie wollte es kürzen und verändern, und für mich war es eine willkommene Spielerei. Die Lichter im Schlößchen wurden ausgeblasen. Im Schlafraum war es so warm, daß wir die Terrassentür öffneten und, während wir uns liebten, die Laute der Nachtvögel hörten und den Wind, der durch die Baumkronen fauchte. Früher Morgen: Die ersten Sonnenstrahlen blitzten hinter dem Wald hervor. Die schweren Vorhänge waren geschlossen. Ich saß vor der Platte des Schreibtisches, der seit den Anfängen des Schlößchens bereits ein ehrwürdiges Alter zeigte. Das Leder darauf war blitzblank poliert. Ich betrachtete die Bilder auf zwei Bildschirmen, die innen in Truhendeckeln angebracht waren. Leise unterhielt ich mich mit Rico. Was wußten wir von den Ländern Europas – im Frühling Anno Domini 1550? Das portugiesische Weltreich zerfiel langsam, aber
anscheinend unaufhaltsam. Spanien unter dem Fünften Karl war noch immer eine Weltmacht. Kaperfahrer, meist aus England, und Piraten vieler Nationen überfielen die Gold- und Silbertransporte aus den Kolonien. Die Osmanen, Muslime wie meine Freunde aus dem »Morgenland«, bildeten den dritten Machtfaktor. Die Stammbäume der unendlich vielen Großherzöge, Könige und Kaiser sahen aus wie positronische Schaltungen und waren ebenso verwirrend – für mich wenig interessant. Tausend winzige Farbflecken, jeder ein Herrschaftsgebiet, verwandelten die Landmasse in ein bizarres Mosaik. Luther hatte die Heilige Schrift in die Sprache seines Landes, in Deutsch, übersetzt, und prompt hatte sich die Staatsreligion gespalten, und von den Hauptparteien gab es zahlreiche Eiferer, Fanatiker oder solche, die jeden Text nach ihren wirren Vorstellungen auslegen würden. Wieder hob ich die Schultern und machte mir Notizen. Geistreiche Zwerge und Krüppel wurden als Hofnarren gehalten. Die Musik brachte mit neuen »trumben« und »busunen«, mit Orgelpositiven in »pythagoreischen« Stimmungen neue Klänge hervor. Für Kurzsichtige gab es Brillen, das Weltbild des Kopernikus, das ich ihm mit erheblicher Mühe beigebracht hatte, wurde von Melanchthon schroff abgelehnt. Auf der Reise benutzte man kleine Sanduhren. Das Französische hatte als Aktensprache das Latein abgelöst, Frankreich verpachtete die Salzsteuer… wieder eine Notiz! In Italien wirkte Michelangelo für den Papst. Es gab Windmühlen, deren Dach samt Flügel sich in die Windrichtung drehte. Jemand, der Riese hieß, erfand das Rechnen »nach der Lenge auf der Linihen und Feder einschließlich der Regula falsi« – Rico würde sich verschlucken. In Frankreich las man (beziehungsweise indizierte sie der Klerus) die Bücher der frommen Margarete von Navarra und weitaus deftigere und wortgewaltige Werke
eines Franzosen, der sich Alcofribas Nasier nannte; niemand hieß wirklich so. Der Wälzer hieß »Pantagruel«, und der Text schien, soweit Rico dies ermitteln konnte, die richtige Lektüre für mich zu sein. Der inzwischen verstorbene Luther schien mehr gewußt zu haben als ich: Er hatte bestimmt, daß die Welt vor fünfeinhalbtausend Jahren entstanden sei und nur noch wenige Jahrhunderte bestehen würde – längstens, denn Gott würde die Verderbtheit auf dieser Welt nicht mehr lange zulassen. Die Läufe von Schußwaffen schleuderten das von vorn geladene Geschoß mit stabilisierendem Drall aus der Mündung. Man führte Gerichtsverhandlungen gegen Tiere. Mein Freund Leonardo da Vinci war längst tot und hatte Berge schwer entzifferbarer Texte und Zeichnungen hinterlassen. Paris war von rund dreihunderttausend Einwohnern bevölkert; seine Straßen glichen Kloaken. Während am spanischen Hof ein absurdes Zeremoniell sich zu manifestieren begann, schien es sich südlich und nördlich von Rom noch am heitersten zu leben. Überall war Krieg! Wenigstens eines hatten die europäischen Barbaren begriffen: Ihre Schiffe brachen unentwegt nach fernen Ufern auf, aber die Mannschaften starben noch immer zu Dutzenden an Mangelkrankheiten. »Sie scheinen nur das zu vergessen, was ihnen hülfe«, wunderte ich mich laut. »Rico, mein Milchbruder – statte dich wie ein provenzalischer Edler aus und hilf mir! Die Liste ist lang, wahrlich, aber wann kann ich mit dir rechnen?« Die Wahrscheinlichkeit, mir helfen zu müssen, war für den Höchstleistungsrobot errechenbar gewesen. Er war wieder »menschlich« und trug entsprechende Kleidung über seiner Plastramhaut. »In sechs Tagen«, antwortete er knapp. »Ein ganzes Dorf wartet auf dich und deine klug
eingesetzten Bärenkräfte. Bring reichlich Münzen mit, entsprechende Ausrüstung und das Programm rund um Le Sagittaire et cetera.« »Ich werde den Gleiter aktivieren!« Ich trennte die Verbindung und betätigte einige Schaltungen. Ich würde die interessantesten und am meisten charakterisierenden Informationen der Spionsonden zu gegebener Zeit in kurzen Zusammenfassungen abrufen. Ich klappte die Truhen zu und schloß sie ab. »Kein Schiff!« sagte ich zu mir und war entschlossen, dieses Versprechen zu halten. »Die Menge der Weltumsegler reicht wirklich für mindestens ein Jahrhundert!« Ich hoffte, diesmal auch keine Karten zeichnen, fälschen oder korrigieren zu müssen. Als ich die Vorhänge zur Seite geschoben hatte, ging ich in die Küche, und Georgette hatte bereits, ein archaisches Lied trällernd, das Frühstück bereitet. Hämisch bemerkte der Logiksektor: Ein Lob der Landbevölkerung, besonders wenn sie durch erotische Kontakte motiviert wird! Ich verzichtete auf einen Kommentar und grinste fröhlich. Dann stürzte ich mich wieder auf einen Teilbereich der Arbeiten in und um Beauvallon. Ich stemmte meine Fäuste in die Hüften und fragte: »Warum sind wir eigentlich hier?« »Weil dich die Sorge um das Heil der Barbaren geweckt hat«, antwortete Riancor zuvorkommend. »Wie schon so oft.« »Bist du sicher?« »Hochgradig sicher. Jede weitere Stunde beweist es deutlicher.« Der Müller Robinet und seine Familie hatten sich nicht angesteckt. Sie kehrten in die Mühle zurück. Seit einem Tag arbeiteten das Wasserrad, das Mahlwerk und die vielen Zahnräder aus Holz und Eisen. Es gab wieder frisches Mehl.
»Wahrscheinlich hast du recht«, brummte ich. »Irgendwie erkenne ich meine braven Beauvalloner nicht wieder, und auch das Dorf scheint sich in diesen wenigen Tagen verändert zu haben.« »Ein Teil deiner Sicht der Dinge ist pure Einbildung.« Beide Ufer des Baches waren gesäubert, der Schlamm vom Boden des Teiches herausgeschaufelt, die hölzernen Wehre neu gezimmert. Rauschend und patschend drehte sich das Rad. Sämtliche Wege hatten wir gereinigt und ausgebessert; an jeder Stelle des Dorfes wurde gehämmert und gesägt, genagelt oder Kalk geschlämmt, ausgebessert und geschmiedet. Jehan und Guy hatten Reitpferde und Zugtiere mitgebracht, drei wandernde Handwerker und nahezu alles, was auf unseren Listen vermerkt gewesen war. Krachend fiel am Waldrand ein Baum, und wieder setzten die Sägen kreischend ein. »Was ist das nächste Unternehmen?« fragte ich. »Tausend kleine Probleme«, wich Riancor aus. Seine kleinen Roboter und er hatten, seit sie mit der umfangreichen Ausrüstung aus dem Gewölbe gekommen waren – nachts natürlich -. ununterbrochen und meist unbemerkt geschuftet. Wir ließen die Familien, die Waisen und die Alten nicht zur Ruhe kommen. Arbeit schien die beste aller Möglichkeiten zu sein, die Trauer und das Leid zu betäuben. Wir gingen mit arkonidischer Gründlichkeit vor und rekultivierten Dorf und Felder, Zäune und Weinhänge. Äcker und die vielen Küchengärten Schritt um Schritt. Der Frühling beherrschte die Landschaft und die Tiere; viele waren trächtig, und in ein, zwei Jahren würde das Dorf wieder so reich wie früher sein. »Du hast recht. Aber ich sehe, daß es mit unserer Arbeit recht bald ein Ende haben wird.« »Ich habe interessante Bilder eingefangen«, versprach er.
»Nur nach Arcanjuiz solltest du nicht reiten oder fliegen wollen.« »Warum nicht? Was steht dagegen?« »Die Inquisition!« Riancor winkte ab. »Es ist wahrscheinlich auch für dich, selbst für dich, unbegreiflich.« »Später!« Ich sah eine Weile zu, wie junge Männer Feuerholz aus den Resten jener Baumstämme hackten und sägten, die wir für Dachfirste und Bretter brauchten. »Ich habe eine Menge nachzuholen, nicht wahr?« »Richtig. Deswegen werden wir auch eine längere Zeit hierbleiben und, möglicherweise, Port du Soleil besuchen. Aber das scheint nicht wichtig zu sein.« »Ich habe verstanden.« Wir brachten die Bauern nach und nach dazu, sich regelmäßig im Badehaus einzufinden. Die französischen Seifensieder verdienten nicht viel an ihren schäumenden Erzeugnissen; man kaufte ihnen weitaus mehr Unschlittkerzen und Talglichter ab, denn Sauberkeit galt bis hinauf in die Herrscherhäuser als widernatürlich. Daß dadurch Seuchen und Krankheiten geradezu heraufbeschworen wurden, erkannte niemand. Man hielt böse Winde, vergiftete Pfeile aus dem Reich der Sterne, den Atem unsichtbarer Pestjungfern oder Heuschrecken für die Urheber der tödlichen Übel. Die Tiere brauchten ebensoviel Mühe wie die Menschen. Es gab an jeder Ecke eine andere Frage, ein neues Problem. Aber das Dorf lebte. Es gedieh besser von Tag zu Tag. Riancor und ich schnitten verfilzte Haare und schmierten stinkende graue Salben auf die Köpfe, um die Läuse zu vernichten. Wir holten sogar Schrot aus der Mühle, um die wenigen übriggebliebenen Hühner, Gänse und Enten zu füttern. Ich packte Zaumzeug und Sattel aus und versuchte, den Schimmelhengst einzureiten, den ich hatte kaufen lassen. Georgette war der gute Geist des Schlößchens. Sie kümmerte
sich um unseren Haushalt, fürchtete sich nicht vor den seltsamen Geräten und Werkzeugen, die wir benutzten, und am meisten – und am liebsten – kümmerte sie sich um mich. Charlott, Noels Frau, winkte aus der Tür ihres Hauses, die schräg in den Angeln hing. »Herr!« rief sie. »Komm herein. Trink einen Becher Wein.« Michel war einer der neun Männer und drei Frauen, die ich noch von meinen letzten Jahren in Frankreich kannte. Alle anderen waren gestorben, und ihre Töchter und Söhne und vielleicht deren Kinder kannten »meinen Vater« nur aus Erzählungen. Ich trat in die große Stube, die gleichzeitig Küche und Wohnraum war. Noel, Riancors frischen Verband um das Bein, schaukelte bedächtig mit dem hochlehnigen Stuhl und lachte zahnlos, als ich ihn begrüßte. »Ich hab’s immer gesagt«, meinte er mit einer überraschend kraftvollen, tiefen Stimme. »Du siehst wie dein Herr Vater aus, wie aus dem Gesicht geschnitten, Herr.« »Und ich sorge mich genauso wie er um Beauvallon!« Ich setzte mich auf einen Hocker mit frisch geflochtener Sitzfläche und an einen weißgescheuerten Tisch. »Wie konnte dieses schöne, reiche Dorf nur so herunterkommen? Was habt ihr getan? Was habt ihr unterlassen?« Er seufzte tief. Charlott reichte uns die schartigen Tonbecher. »Es ist eine lange, schlimme Geschichte, Herr«, begann er, und dann erfuhr ich, wie weit sich die Kriege der Könige in das Leben der einfachsten und von Paris sehr weit entfernten, fast versteckt lebenden Menschen auswirkten. Steuern, Abgaben, plündernde Räuber, Krankheiten, eine Viehseuche, gegen die man kein Mittel wußte, zwei Mißernten, einige Familien, die fortgezogen waren und im Elend umkamen… eine Kette von kleinen und großen Zwischenfällen und Schicksalsschlägen, die nicht abreißen wollte. Von Jahr zu Jahr verfielen Dorf und Besitz, und zur Armut kamen Hilflosigkeit
und schließlich dumpfe Resignation. »Mein Vater hat euch gelehrt, wie ihr euch gegen alles wehren könnt!« wandte ich ein. Er hob die Schultern. »Wenn man hungert, Herr, kämpft man nicht mehr.« »Und der Priester, der Lehrer…?« Der alte Mann gewann langsam jenes Maß an Vertrauen zurück, das einst zwischen uns geherrscht hatte. »Sie halfen, wo sie konnten. Aber du bist gekommen, hast mit Gold eingekauft, und wir hatten nicht einmal Vieh zum Tauschen.« »Niemand hat sich um euch gekümmert?« »Die Büttel, Kriegsknechte und Steuereintreiber des zweiten Henri«, erklärte er. Er nahm einen tiefen Schluck, lächelte breit und sagte voller Erleichterung: »Aber nun bist du wieder hier. Wie dein Vater! Und auch dein Milchbruder… Mir ist, als hätte ich ihn gestern zuletzt gesehen.« Ich murmelte etwas von starker Ähnlichkeit in unseren Familien und schaute mich aufmerksam um. Der Alte schien schmerzfrei; sein Bein hätte beinahe amputiert werden müssen, weil die Wunden eiterten. Ein stürzender Baum hatte ihn schwer verletzt. Zwanzig Dutzend Menschen, dachte ich, für die wir die Verantwortung übernommen hatten. Es gab Millionen Siedlungen wie Beaumont. Sollten, konnten, durften wir ihnen allen helfen? Das würde nicht einmal die ArkonFlotte schaffen. »Wir werden kommen und gehen«, versprach ich. »Aber wir werden wiederkommen und nach euch sehen.« »Das mußt du tun, Herr«, murmelte er glücklich und leerte den Becher. »Es wird ein gutes Leben werden. Im Sommer werden wir wieder unter dem Baum sitzen. Hat dir dein Herr Vater erzählt, wie er ihn gepflanzt hat?« »Gewiß«, versicherte ich gerührt. »Du wirst mit deiner Charlott tanzen wie ein Junger. Bald ist der Verband weg.
Dann wirst du dein Bein in die Sonne legen.« Er schilderte die Vergangenheit in bunten Farben. Ich mußte wieder einsehen, daß es meist die Armen traf und daß sie sich mit Gedanken und mit ihrem Herzen an Wort und Handlungen des guten Herrschers klammerten, als wäre er für sie verantwortlich und könne Wunder wirken. So war es wohl auch. Ich stand nach dem dritten Becher auf und drückte die dicke Charlott an mich. »Im Sommer werden wir lustige Feste feiern, auf dem Holzboden unter dem Baum. Seht zu, daß der Wein gut wird dieses Jahr.« Noel kicherte laut. »Den haben sie nie gefunden. Wir haben ihn immer gut versteckt. Und ins Schlößchen haben sie sich niemals gewagt.« Ich ging hinaus und blickte in die rote Sonne, die langsam hinter dem Wald versank. Es war wie immer: Nur an wenigen Punkten konnten wir erfolgreich sein und immer wieder versuchen, den Barbaren zu helfen. Wann hörte diese schlimme Zeit endlich auf? In einem Becher stand zwischen uns eine voll erblühte rote Rose, das Symbol der Verschwiegenheit. Nur noch schwache Hitze strahlte von den Steinquadern des Kamins aus. Der Sommer war nicht mehr fern. Das erste Gewitter war über das Tal hinweggerollt und schien die Natur auf wunderbare Weise gereinigt zu haben. Auch dies ein Symbol. Riancor sprach weiter. »Arcanjuiz und Spanien – vergessen wir’s! Das Land ist mit einem Kordon umgeben, der keinerlei fortschrittliche Gedanken hereinläßt. Bücher sind indiziert und dürfen, in, welcher Sprache auch immer, nicht ins Land. Die Pragmatische Sanktion hat’s befohlen. Der Großinquisitor will auch den Hauch einer gedanklichen Abweichung vom wahren
Glauben abschirmen. Und was die Gesetze des Glaubens sind, bestimmt die Inquisition, die jeden Ketzer bestraft, ins Gefängnis wirft oder verbrennt. Selbst in den Kolonien treiben sie es so bunt, daß auch die ausgebeuteten Eingeborenen sich höchlichst wundern.« »Also kommen keine fremden Ideen, gleich welcher Art, unter die Leute«, stellte ich fest und schüttelte mich. »Einverstanden. Kein Reiseziel.« »Willst du fortreiten?« flüsterte Georgette erschreckt. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Noch nicht. Wir bereden nur, was wir von unseren Boten und Brieftauben erfahren und was uns bekannt ist. Du mußt wissen, daß Freund Riancor eine weite Reise tat, ehe er mir zu Hilfe kam.« »Das Land der Italiker?« »Frankreich kennt keine der Einschränkungen, wie ich sie schilderte«, fuhr Riancor fort. Hektik und Aufregungen schienen hinter uns zu liegen. Beauvallon und seine überlebenden Bauern hatten sich von dem Schlag der Pest und vom Verfall erholt – leichtfertig ausgedrückt. »Die Halbinsel zerfällt, wie du gesehen hast, in viele mittelgroße Republiken. Königreiche, Herzogtümer und den Kirchenstaat. Viele Zentren der Bildung, Kunst und Wissenschaft. Du kannst es, auf einer geringfügig höheren Ebene, mit der Zeit Leonardos, des Linkshänders, vergleichen.« »Ein lohnendes Ziel also?« »So scheint es, wenn ich von exotischen Gegenden, fernen Stränden und einsamen Inseln absehe. Es ist indessen wahrscheinlich, daß dein Sinn nicht gerade danach steht.« »Nach Magellan und all dem anderen – nein, danke.« Firenze? Milano? Venezia? Wieder war ich unschlüssig. Ich mußte mich schnellstens entscheiden. Sei beruhigt! Du mußt die Welt nicht vor einem gewaltigen Feind retten! meldete sich der Logiksektor.
»Du wirst dich dort umsehen und dafür sorgen, daß ich alles so vorfinde, wie ich es aus besseren Tagen gewohnt bin.« »Natürlich.« Auch die Natur und die Jahreszeit halfen mit, den Eindruck zu verändern. Äcker und Weiden standen in sattem Grün. Selbst der Wald wirkte gesünder und voller Leben: Vögel, kleine Tiere, Rotwild und Wildsauen mit Frischlingen. Überall sahen wir hilflos stolpernde Jungtiere. Für eine Weile konnten wir Beauvallon allein lassen und so tun, als wären wir nur für einige Tage fortgeritten. »Und etwas muß uns einfallen«, schloß ich, »das unseren Freunden mehr Sicherheit in den nächsten Jahren gibt.« »Bald weiß ich, mit wem wir deswegen sprechen müssen.« Bis zur Ernte, die gut zu werden versprach, gab es für uns nicht mehr viel zu tun. Noch einige Tage lang berieten wir die Bauern, halfen ihnen, wo es nötig war, ritten die Grenzen des Dorfes ab, wagten uns weiter ins Land hinein und galoppierten auf der Handelsstraße nach Norden und Süden. Wenigstens in diesem Teil des Landes herrschte in diesen Sommermonden Ruhe; sie war sicherlich nicht von langer Dauer.
4. Vasari legte eine Scheibe gebratenen Kapaun auf das Brot, ringelte eine dünnere Scheibe Kalbfleisch darüber und krönte den Happen mit einem Würfel Parmegiano. »Bei der Fischsuppe und der Politik«, führte er aus, »sollte man nicht zuschauen, wie sie gemacht werden, Signor di Atlan. In Firenze kocht und speist man mit mehr Raffinesse.« »Man sagt«, versetzte ich, »daß geistreiche Menschen meist arm im Gemüt sind, Baumeister.« »Mag sein. Wen schert’s?« Giorgio Vasari, vierzig Jahre jung, schien ein würdiger Nachkomme des Leonardo und des bewunderten Michelangelo Buonarroti zu sein. Er schrieb seit langem, hatte er mir erzählt, am »Leben einiger berühmter Maler, Bildhauer und Baumeister des Cinquecento«. Er war in der Tat ein geistreicher Mann und von bestechender Oberflächlichkeit. »Mich nicht, solange ich als Gast von Firenze gut behandelt werde«, antwortete ich. Wir saßen an einem reich gedeckten Tisch unter dem altehrwürdigen Gewölbe in einer Taverne, die für Essen, Wein und Bedienung berühmt war. »Das werdet Ihr sicherlich, denn der Zuwachs an Galle bestimmter Personen läßt sich genau mit der Abnahme der Weisheit bemessen.« Vor zweiundfünfzig Jahren war Girolamo Savonarola, der religiöse Eiferer, verbrannt worden. Vasaris Pläne für die Uffizien waren von den Behörden genehmigt; mein Gegenüber zeichnete und rechnete; er würde wohl zum Baumeister berufen werden. Spanische Vizekönige herrschten über Neapel, unter Cosimo aus dem Medici-Geschlecht blühten Künste und Handel in Firenze. »Ihr seid Schüler von Buonarroti?« sagte ich.
Die Speisen, Weine und Beilagen zwischen uns glichen einer Ausstellung. Wir speisten vom Feinsten. Ich hob das langstielige Glas und musterte das Treiben in der Schenke. »In der Tat. Er ist ein Genie. Er zerreißt Seile und sprengt Ketten, von denen die festgehalten werden, die am engen Weg des Herkömmlichen festhalten.« »Kann ich ihn treffen?« »Vielleicht. Er flieht vor sich selbst, vor seiner Verantwortung. Er baut in Rom die Kirche der Firenzoni.« »Und Ihr? Was bietet Ihr dem Interessierten in Firenze?« »Allerorten entstehen meisterliche Werke. Bildung ist das, was übrigbleibt, wenn der letzte Soldi weg ist.« »So hält man es auch andernorts.« Vor wenigen Tagen war Riancor nach Beauvallon zurückgeflogen. Ich blieb vorläufig allein im Mittelpunkt der toskanischen Landschaft. Die Stadt hatte sich ausgedehnt, war an einigen Stellen verfallen, an anderen neu und viel prächtiger entstanden; wieder andere Teile besaßen genau jenes Maß an Alterserscheinungen, die aus einem Klotz ein schönes Bauwerk machten. Ich fühlte mich wohl am Ufer des Arno, und in Vasari hatte ich einen Cicerone gefunden, der offensichtlich jeden Künstler dieser Zeit und dessen Werk kannte und beurteilen konnte. »Warum malt Ihr nicht, Atlan?« Ich lachte und warf teils gleichgültige, teils interessierte Blicke in die Richtung der jungen Frauen an anderen Tischen. Der toskanische Wein war mehr als hervorragend. »Ich vermag zu zeichnen, zu rechnen, zu konstruieren und allerlei anderes. Aber als Schauspieler, Sänger oder Maler würde ich völlig versagen.« »Habt Ihr nicht die Hoffnung, daß sich das ändert?« Ich winkte ab. »Die Hoffnung ist ein gutes Frühstück, aber ein schlechtes Abendessen.«
Wir sprachen über Correggio, Andrea del Sarto und Leonardo und deren Werke, über Fracastoro, der Grundlegendes über die Lustseuche geschrieben, aber kein Heilmittel gefunden hatte, über Giuccardinis »Storia d’Italia«, ein offenbar ernst zu nehmendes Geschichtswerk, über Parmigianino, Dossi und Michelangelos Plastiken für das Julius-Grabmal in Rom, über die Entdeckung des Amazonenstroms durch Oranella, über Cellinis herrliche Plastiken und schließlich über die Novellini des Masuccio Salemitano, der die verwirrende Geschichte zweier Liebender geschrieben hatte. Die klugen Künstler von Firenze wußten sogar, daß in einer Novellensammlung Matteo Bandellos ein anderer Dichter, Luigi da Porta, genau diese Geschichte nach Siena verlegt und aus Mariotto und Gianozza Romeo und Julia gemacht hatte. Ich bat mein schmausendes Gegenüber, mir dieses Büchlein zu leihen. Er lud mich ein, sein Haus und seine Werkstatt zu besuchen. »Und Ihr, Atlan, kennt viele ferne Länder?« »Ich bin sehr weit herumgekommen. Überall lernte ich etwas, und deswegen fällt es mir nicht schwer, andere Menschen etwas zu lehren.« Langsam tafelten wir, ein kleines Gericht nach dem anderen, und jedes wollte den Vorgänger an Geschmack übertreffen. Reiche Italiener kannten eine gute Küche, und der Wein tat ein übriges, die Stimmung in dem Gewölbe ansteigen zu lassen. Musikanten kamen und spielten zwischen den Tischen. Auch die Musik hatte sich zu ihrem Vorteil weiterentwickelt. »Diese Uffizien, von denen Ihr sprecht… ein großes Gebäude?« »Eines der größten in der Stadt. Ich habe noch Schwierigkeiten mit den Fundamenten.« »Gern helfe ich Euch, architetto!« »Hoch erfreut! Ihr werdet die Modelle morgen sehen.«
Herbst in der Toskana; eine herrliche Jahreszeit, auch in diesem Jahr. Allerorten sah ich die Kennzeichen eines wirklich planetenweiten Handels. Es gab Fabriken, in denen überlegt gearbeitet wurde. Durch massenhafte Produktion wurde die Ware billiger. Die Bauern, wie überall, waren die Proletarier geworden, wenn es ihnen nicht gelungen war, vom eigenen Land mit Gewinn und Überschuß zu leben. Es gab also Kernzellen, von denen schrittweise die Zivilisation verbessert wurde. Auffällig war, wieviel Prächtiges gebaut wurde. Kirchen, Paläste, Ausstellungsbauten und Fabriken, Befestigungsanlagen und Straßen… die Barbaren hatten doch etwas gelernt. »Und wie findet Ihr unsere Mädchen und Frauen?« erkundigte sich Giorgio, als der Wirt zum drittenmal nachgeschenkt hatte. »Höchst reizvoll und glutäugig.« »Hütet Euch! Eine Frau, die einen Ehemann sucht, ist das gewissenloseste aller Raubtiere!« »Ich beabsichtige nicht, mich zu verheiraten.« »Dann haltet Eure Börse fest. Alles, wessen Ihr bedürft, findet Ihr in unseren Mauern.« »Si vede«, brummte ich. »Man wird sehen. Wir alle tragen Masken. Auch die Frauen.« »Kennt Ihr die Spielregeln, so ist schon viel gewonnen.« Natürlich trug ich eine vollkommene Maske. Sie erstreckte sich von den Stiefeln über die enganliegenden Hosen bis zur Haartracht und unauffälliger Bewaffnung. Im Gürtel steckten reichbestickte Handschuhe, und an den Fingern trug ich kostbar aussehende Ringe. Mein leichter Mantel hing achtlos über der Stuhllehne. Die Musiker näherten sich unserem Tisch und spielten ein heiteres ricercar. Meine Finger schlugen die Takte mit. »Gebt ihnen nicht zuviel! Sonst schmerzen uns beim
Nachtisch die Ohren!« warnte Giorgio. »Geld, das ich besitze, bedeutet Freiheit. Jage ich ihm selbst nach, wird es zur Peitsche der Knechtschaft.« »Wie wahr. Seid Ihr wirklich reich?« »Nicht sonderlich. Zum Leben reicht es. Angemessen«, gab ich Auskunft und beschenkte die Musikanten großzügig, bedeutete ihnen aber, an anderer Stelle zu spielen, und zwar neben dem Tisch an der Brüstung, wo die schwarzhaarige Dreißigjährige saß. »Und überdies«, sagte ich nach einem langen Blick in die Augen der Unbekannten, »kann ich nicht nur Euch bei bestimmten Berechnungen, sondern auch beim Bau von Kanälen, Schleusen, Musketen und anderen wichtigen Dingen manch guten Rat geben. In anderen Städten tragen viele dauerhafte und klug arbeitende Einrichtungen meinen Namen.« »Das werde ich meinem Herrn wohl sagen. Aber die Verwaltung – sie braucht für eine Unterschrift länger als der Schöpfer, der immerhin in sieben Tagen mit allem fertig war.« Ich mußte schallend lachen. »Das kenne ich. Aber die Qualität und die Wahrheit, sie können warten, sie sind es gewohnt.« Noch an diesem Abend, aus dem eine lange, weinschwere Nacht wurde, lernte ich viele wichtige Männer der Stadt kennen. Vasari und ich, sein Gast, wurden höflich begrüßt. Ich erhielt zwei Dutzend Einladungen und nahm jede von ihnen an. Schließlich begleiteten mich einige Herren noch bis zu meiner Wohnung, die im zweiten Stock lag, in einem geräumigen Haus, das innen an der Stadtmauer lehnte und einen zweiten Zugang über den hölzernen Wehr-Umgang hatte. Ich nahm die Talglaterne und versuchte, möglichst leise über die knarrenden Treppen zu klettern.
Die Stunden waren ein bunter Reigen. Ich las und beobachtete Handwerker und Arbeiter, rechnete und zeichnete, ritt ins Umland und besuchte die beste Fechtschule der Stadt. Konzerte mit ergreifender Musik besuchte ich ebenso wie die Feste am Hof. Ich berechnete Fundamente und tragende Konstruktionen der Uffizien, begutachtete Vasaris Bilder und Plastiken, sah den Glasbläsern und Seidenwebern zu, kaufte wertvolle Kleinigkeiten, machte teure Geschenke und wurde beschenkt. Bald bewegte ich mich in der Stadt, als sei ich hier geboren, und den Dialekt sprach ich so gut wie einer von ihnen. Riancor wachte über Beauvallon und kümmerte sich um Port du Soleil. Ich lernte Mädchen und Frauen kennen und liebte Dianina, die Dame aus der Taverne. Sie war liebreizend, leidenschaftlich und klug, aber tatsächlich nur darauf aus, einen Ehemann zu finden. Verwunderlich, sagten alle meine neuen Freunde, da sie schon einmal verheiratet gewesen war und eine Tochter erzog. Ich ließ sie in dem guten Glauben, als Erfinder in Firenze zu bleiben und hier mein Geld zu verdienen. Ich lernte viel. Ich begriff – sicher nicht jede Einzelheit –, was den objektiven Wert eines Kunstwerks ausmachte, sah Instrumentenbauern ebenso bei der Arbeit zu wie Bauwerkern, deren Kräne und Seilzüge ich verbesserte. Ich zeigte den Waffenschmieden, wie statt des Lunten- ein Steinschloßgewehr zu konstruieren war, vermochte die eng in ihren Zunftbedingungen denkenden Hersteller nicht zu überzeugen, daß Patronen und Kammern der bessere Weg waren. Durch diese kluge Zurückhaltung rettest du vielen Soldaten das Leben, bemerkte kritisch mein Extrahirn. In einem Land, das Schnee und Eis im Winter kaum kannte, reiste es sich angenehm. Mit Dianina und Vasari ritten wir nach Rom und besuchten Michelangelo, der uns seine Werke
zeigte. Am Holzmodell seines ersten Entwurfs, der fünf Jahre alt war, stellte ich mit Riancors Hilfe Berechnungen an – die wohl einmalige Kuppel der Sanct-Petrus-Kirche stellte den Meister vor statische Probleme, die wir lösen konnten. Wieder lernte ich ein Land neu kennen, das Schauplatz einer wirren und langen Geschichte gewesen war und dessen Bewohner, wie ich fand, einen großen Schritt in eine bessere Zukunft getan hatten. Ich lieh von Giorgio Vasari die Hystoria Novellamente Ritrovata di due Nobili Amanti aus, ein schmales Büchlein, das vor fünfzehn Jahren in Venezia herausgegeben worden war. Im Titelhelden »Romeo« vermochte ich jenen Mariotto, den narbigen Wegelagerer, kaum mehr wiederzuerkennen – ihn, der mich und Rico einmal überfallen hatte. Vasari, geistreich, trinkfest und sarkastisch wie meist, hatte mich auf seine Art wieder gewarnt: »Eine Donna, caro amico, die einen Ehegatten sucht, ist, si vede, das gewissenloseste aller Raubtiere.« Wahr gesprochen! Dianina, die Leidenschaftliche, wollte mein Eheversprechen vor dem Magistrat einklagen. Liebe oder nicht, gemeinsame lange Nächte, Reisen und Ritte; nichts bedeutete ihr mehr als die Zeremonie in der Kirche. Ich fragte sie, warum sie unbedingt eine solch schöne, tiefe Freundschaft zerstören wollte. Ihre Antwort war absolut unlogisch: Unsere Freundschaft würde endlos lange und von unergründlicher Tiefe sein, wenn wir unauflöslich in Liebe aneinandergefesselt wären. Jäh endete mein Aufenthalt in den Mauern von Firenze: Nachts holte Riancor mich und sämtliche Ausrüstung mit dem Gleiter ab. Während die Angehörigen der feinen Gesellschaft sich vor Kichern und Lachen nicht halten konnten, verbrachten wir einen herrlichen, kalten Winter im Warmen. Le Sagittaire und die Wälder und leeren Weiden rund um
Beauvallon luden zu besinnlichen Abenden und zur Jagd ein. Ich hatte vergessen, das Buch zurückzugeben, und als sich aus dem grauen Himmel unaufhörlich Schnee ergoß, wagte sich niemand mehr ins Tal. Die Hystoria Novellamente nahm ich mit, als wir uns wieder in die Tiefe des Meeres zurückzogen und warteten. Rico bewachte unseren Schlaf, und in dieser Zeit dirigierte er die Spionsonden an jene Punkte der Welt, an denen Kerne möglicher Veränderungen zu erkennen waren; für umfassende Informationen war der Planet zu groß, und Rico konnte nicht mehr als zwölf Sonden gleichzeitig steuern. Ohne ständiges Chaos war dieser Planet undenkbar. Streit, Neid, Kampf und bizarre Meinungsunterschiede dirigierten Einzelpersonen und Völker. Hundert Herrscher stritten sich um Land, Geld und Macht, und jeder von ihnen hätte wahrlich Vernünftigeres zu tun gehabt. Wehmütig dachte ich an Staatsgebilde, die ich kannte: Mesopotamien, das Land der Pharaonen und andere Großreiche. Während wir langsam auf die fernen Türme und Rauchsäulen der Hauptstadt zuritten, holte ich wieder den Brief meines Freundes Blaise heraus und las, erfreute mich an der feinen Schrift und ärgerte mich über das, was Monluc schrieb. »Zweiundvierzig Jahr’ trug ich rostende Rüstung und scharfe Waffen, im Dienst meiner Könige. Neunzehn war ich, da tötete ich den ersten Gegner. In Schlachten, so vielen, daß ich ihrer Zahl vergessen will, kämpfte ich nur für mein Land, für Frankreich. Dereinst sende ich Dir, dem Retter meines Lebens und meiner Gesundheit, jene commentaires, in denen ich mein Leben niederschreiben werde.« Ich zuckte mit den Achseln; wir hatten ihn und vier seiner Männer unweit der Straße gefunden; gegen Ende des klirrenden Winter-Frostes in diesem Jahr. Sie waren entkräftet und krank. Jene Geschlechtskrankheit, die in Italien Syphilis
genannt und detailliert beschrieben wurde, hielt sie in den Krallen. Pflege, äußerste Hygiene, reichliches Essen, Antibiotika und mein Zellaktivator hatten sie binnen zweier Monde kuriert. Dazu die liebevolle Aufmerksamkeit unserer Bauernmädchen – sie waren genesen, gesund und von Riancor und mir in unsere Sicht der Welt eingeführt worden. Blaise Monluc war der Klügste von ihnen. Er begriff voll, was ihn betraf, und wir redeten nächtelang, tranken nächtelang, jagten und arbeiteten, und vor fünfzig Tagen waren sie mit frisch geputzten Waffen und in reinlicher Kleidung davongeritten. Monique, Riancor und ich besaßen einen unterschriebenen und gesiegelten Geleitbrief. »Besser als schieres Gold«, sagte der Grauhaarige und drückte mich an sich, als er mir das kurze Schreiben übergab. Ich las weiter; Worte, die ich längst kannte, aber für mich waren sie ein Zeichen der Hoffnung. Kehrte die Vernunft, ratio, tatsächlich in manche Hirne ein? »Tausendfacher Tod. Tausendfache Wunden. Schmerzen, Beulen und Schwären. Ungeziefer, Hitze und Kälte, Durst und Hunger. Die rasende Wut, mit der Menschen einander, sage ich, das Leben nehmen, nachdem ihnen allen, Heimat, Besitz und ihr Liebstes genommen ward – wofür? Alles kenne ich, mein kluger Freund. Ein Fußbreit Land, blutgetränkt, die hochfahrende Selbst-Einschätzung jener Kreaturen, Herzöge, Pfaffen oder Könige, Kaiser und Päpste – für den Glanz des Augenblicks. Gut habe ich zugehört, Atlan-Car. Trostlos! Ich reite zurück an den königlichen Hof. Erbarmen! Die Tage sind unendlich lang, und froh ist jeder, der in diesen Zeiten noch Schlaf findet. In Le Sagittaire, nach schaurigen Jahren – oft stockte mein Blut –, fand ich Ruhe und Schlaf und Euch, Menschen, von denen ich in bittersten Nachtstunden träumte. Dank? Ein schwaches Wort, meine Freunde.« Die Straßen und Brücken, über die wir ritten, zeigten sich in
kümmerlichem Zustand. Nur an wenigen Stellen gab es lichten Wald und große, fruchtbar wirkende Felder im späten Frühling. Die Herrscher hatten wichtige Vorhaben auf ihre Fahnen geschrieben: Seit vor vier Jahren Frankreichs König, der zweite Heinrich, bei einem Turnier gestorben war, versuchte seine Witwe, Catharina di Medici, die Autorität zu behalten. Ein Sohn starb, jetzt vertrat sie seit drei Jahren den neunten Karl, ein schwächliches Kind, das unfähig war, seiner dubiosen Rolle gerecht zu werden. Es herrschte halb offener, halb verdeckter Krieg zwischen Katholiken und Protestanten, die »Hugenotten« hießen, huguenot, nach dem vergeblichen Versuch, in der Landessprache das fremde Wort »Eidgenossen« auszusprechen. Wieder einmal waren wir in anderer Maske unterwegs. Unser Ziel war die Hauptstadt. »Genug der trostlosen Worte, Freund Arcoluz und Du, Atlan-Car. Dankbar denke ich, in unerschütterlicher Freundschaft, an lange Monde zu Le Sagittaire. Gute Gespräche, Wein und Jagden – niemals in meinem Leben hatte ich solch gute Tage. Eingeladen seid Ihr oft und gern von mir. Kommt an den Hof des jungen Königs, so werdet Ihr alles finden, was ich Euch bieten kann. Zeig mein Siegel, Atlan-Car. und jede Tür öffnet sich. Blaise Monluc schrieb’s, gab’s Monique de Beauvallon, und in einer guten Stunde liest sie’s Euch vor. Gegeben und gesiegelt Anno Domini 1563 zu Le Sagittaire« Vor einem Jahr hatten vierhundert Piratenschiffe der Engländer in dem schmalen Wasser zwischen Frankreich und der Insel sechshundert französische Schiffe gekapert. Reichlich fünfzehnmal teurer als Silber war dieselbe Menge Gold. Reiche Leute schnupften ein Kraut aus der Neuen Welt und
nannten es Tabacque. Mit jeweils zwei beladenen Packtieren, in halb zeitgenössischer Kleidung, leicht verfremdet und entsprechend gesichert, steckten wir drei in der Maske ritterlicher Gelehrter. Ich hielt das Pferd an, hob grüßend die Hand und räusperte mich. Ich musterte die Doppelwache, die das Saint-Jacques-Tor schützte. »Wir wollen den Konnetabel sprechen, der die Verantwortung hat«, sagte ich liebenswürdig. Gelassen betrachtete der junge Mann unsere sauberen, vor Gesundheit strotzenden Pferde, das Gepäck und die Waffen. »Das bin ich. Lieutenant Barry, Messieurs.« Er grinste Monique an. »Euer Begehr?« »Uns holt Blaise Monluc hierher«, erklärte Arcoluz. »Wir haben seine Einladung und sein Siegel.« Paris war von Mauern umgeben, die, grob gesehen, zwei Halbkreise mit unterschiedlich großem Durchmesser bildeten. Die Seine durchschnitt die Stadt, fünf Inseln lagen im Fluß. Ringsum erstreckten sich Äcker, Felder und kleine Siedlungen, eingebettet in Waldstücke. Aus dem weit offenen Tor zogen unbeschreibliche Gerüche heran. Paris stank. »Monluc ist nicht in der Stadt. Vor Tagen ritt er gegen Hugenotten im Südwesten.« »Sein Majordomus wird uns helfen können«, sagte Arcoluz und winkte einen Jungen herbei. Mittlerweile starrten uns Dutzende zerlumpter, schmutziger Menschen an. Fast gleichzeitig verstärkten wir den Radius unserer körpereigenen Schutzfelder. Vor Beutelschneidern und raffinierten Dieben brauchte uns niemand mehr zu warnen. Wir hatten sie alle erlebt. Der Wächter erklärte dem Jungen, wohin er uns führen sollte. Riancor gab ihm eine neu schimmernde Münze. »Hotel de Ville!« rief uns Barry nach. »Gebt acht! Und achtet das Stadtgesetz!« Die Spionsonden hatten uns viel gezeigt. Wie immer fehlte
diesen Eindrücken eine entscheidende Dimension. Wir ritten zwischen verschmutzten Mauern durch einen Brei aus Unrat und Kot, kamen auf große Plätze, an denen große, prächtige Steinbauten standen. Eine Flut Menschen wälzte sich hin und her. Es herrschten Bewegungen, Farben, Dünste, Geschrei aus tausend Kehlen, knarrende Räder und kreischende Felgen auf den wenigen gepflasterten Flächen, das Rumpeln und Krachen der Wagen auf den Brückenbohlen und über allem die Doppeltürme der Kirche zu Unserer Lieben Frau: Notre-Dame. Zwischen den Bauwerken nahm der unerträgliche Gestank zu, und nur unter den Bäumen war es erträglich. Am hellen Vormittag sahen wir Ratten, streunende Katzen und räudige Hunde, Scharen von Tauben – Soldaten, Händler, Dirnen, Marktfrauen und unzählige Handwerker, die im Innern ihrer halb geöffneten Läden stichelten und hämmerten. Ätzender Rauch senkte sich aus den Essen über die Dächer herab, kroch entlang der Mauern, des Fachwerks und der Fenster und biß in den Nasenlöchern. Ich prägte mir jeden Fußbreit ein, zählte Quergassen, speicherte das Aussehen der schmalbrüstigen oder breit hingelagerten Häuser und begann mich vor den Gefahren der Nächte zu fürchten. Wir überquerten den Fluß, ritten über den Platz vor der Kathedrale und erreichten über die östlichste von drei Brücken das Quartier. Ich stieg aus dem Sattel und achtete sehr genau darauf, wohin ich trat. Der Junge, der uns geführt hatte, deutete auf die kantige Front des Hauses. »Hier sind wir, die Herren. Monluc, er ist bei Hofe wohlgelitten!« Riancor betätigte den Türklopfer, einen grünspanigen Hundekopf, durch dessen Maul ein glänzender Ring lief. Krachende Schläge hallten durch das Haus. Leise verhandelte ich mit dem Betteljungen, zählte einige Münzen in die schmutzige, schwielige Hand und versuchte, den Geruch
seines Atems zu ertragen. Phelip neigte gespielt hoheitsvoll den Kopf. »Euer Name, Monsieur, wird überall in der Stadt bekannt werden. Einen Rat darf ich Euch geben?« Ich hob die Brauen. »Wohnt nicht hier! Ich kenne einen Platz, in Saint-Germainde-Prés, dort ist die Luft besser. Ich habe Eure Gesichter gesehen.« Ich lachte. Wahrscheinlich hatte er recht. Das Tor wurde geöffnet. Ein älterer Mann mit weißem Haar, im Nacken zu einem Zopf zusammengefaßt, richtete wachsame Blicke aus grauen Augen auf unsere Gruppe. Als er mein weißes Haar sah, lächelte er breit und sagte höflich, fast erfreut: »Ihr müßt der Herr Graf von Beauvallon sein, von dem mein Herr immer spricht und den er eingeladen hat. Seit dreißig Tagen halten wir Eure Zimmer bereit. Warum schicktet Ihr keine Boten, Graf Atlancar?« In Wirklichkeit fixierte er uns sehr genau. Er drehte sich um und klatschte in die Hände. Mägde und Knechte kamen, kümmerten sich um die Tiere und das Gepäck, und Monique nahm ihre Reitkappe ab. Leuchtend rot fiel ihr Haar über ihre Schultern. Martial, Sekretär, Haushofmeister und Vertrauter meines Freundes, Martial Grandier mit vollem Namen, erklärte uns, daß es wohl ein halbes Jahr dauern könne, bis Blaise zurückkäme. »Und warum hat er uns keinen Boten geschickt?« erkundigte ich mich lachend. Vier unterschiedlich hohe steinerne Gebäude umschlossen einen Hof voller Bäume und Rasen mit einem sprudelnden Brunnen und ein Küchengärtchen. Die kleinen Fenster unserer Räume und eine Terrasse blickten nach Westen. Deutlich sahen wir die Dächer und Türme des Louvre, des kastellartigen Stadtschlosses des Königs.
»Von dieser Weltstadt, in der Händler und Fremde aus allen Teilen der Windrose zusammentrafen, bin ich enttäuscht!« Monique hatte bisher alles schweigend angesehen und Eindrücke gesammelt. Etwa dreihunderttausend Menschen mochten in Paris und seiner unmittelbaren Umgebung hausen. Ich hob die Schultern und brummte: »Die Zeit, in der die Menschen erfahren, wie lebenswert eine Stadt sein kann, ist längst vorbei. Vielleicht gibt es irgendwann auch in Paris einen göttergleichen Baumeister, der es ihnen wieder zeigt.« Nach einer Pause fuhr ich fort: »Ich werde es, fürchte ich, nicht sein.« Riancor belehrte uns mit der Zusammenfassung dessen, was er über die Stadt im Lauf vieler Jahre erfahren hatte. Er schloß: »Aus dem Versammlungsplatz der Wolfsjäger – le loup, der Wolf – wurde irgendwann la Louverie, daraus der Louvre. Dort versucht ein dreizehnjähriger Junge, das Schicksal eines Landes zu beeinflussen.« »Vielleicht können wir ihm helfen«, meinte Monique achselzuckend. Zumindest einen klaren Zweck hatte unsere Reise in die Hauptstadt. Vielleicht gelang es uns, den Menschen zu erklären, daß bestimmte Regeln der Sauberkeit das Große Sterben verhindern könnten. Ich mußte also versuchen, an einen Punkt vorzudringen, von dem aus ich Befehle geben und Planungen durchführen konnte. Zuerst suchten wir die Bekanntschaften der Gelehrten. Ich setzte vor den Augen einer kleinen Gruppe ein Gerät zusammen und nannte es in griechischer Sprache Teleskop, einen In-die-Weite-Seher. Messinghülsen mit unterschiedlichen Durchmessern enthielten geschliffene Linsen, die ich angeblich von einem niederländischen Brillenmacher namens Lieuwenhoek hatte. Auf einen Dreifuß gesetzt, voll ausgezogen, genau auf ein fernes Ziel gerichtet,
arbeiteten die Linsen auf das vortrefflichste zusammen und verblüfften jene Männer, erschreckten sie fast, die Gelehrten, die nicht einmal wußten, aus welchen Gründen die von der Pest Angesteckten starben und woher die Seuche kam. »Messieurs!« Ich führte eine großartige Gebärde aus. »Es ist ein lichtvolles Jahrhundert, in dem wir leben. Verwundert sehe ich, daß Ihr wenig von dem kennt, was in meiner Heimat an der Schule jüngster Knaben gelehrt wird.« »Vergeßt nicht, Magister«, gab Alain de Marin zurück, »daß die furchtbare Pest, die vor einem Jahr tobte, ungezählte kluge Köpfe hinwegraffte.« »Und auch weiterhin wird sie wüten«, prophezeite ich. »Denn in dieser herrlichen Stadt findet sie, was sie braucht: Schweine und Ratten, Ungeziefer und sehr viel Dreck. In den Häusern und noch mehr in den Straßen. Ich weiß, daß noch viele Tausende sterben werden. Beim nächstenmal, meine Herren.« »Woher wißt Ihr dies?« »Woher wißt Ihr«, fragte ich sarkastisch, »daß die Sonne wärmt und der Regen Euch durchnäßt?« Ich erhielt keine oder nur solche Antworten, die mich verständlicherweise nicht zufriedenstellten. Aber es wäre ungerecht, wenn ich behauptete, daß die Barbaren nicht lernten und Gelerntes begriffen – Kunst, Musik und viele andere Disziplinen blühten. Gleichzeitig lebten selbst die Reichen unter Bedingungen, die andernorts – dort, wo wir etwas zu sagen hatten – undenkbar gewesen wären. Vom Zustand der Umgebung, in der die Armen der Stadt und die Bauern und Handwerker überall in den Ländern lebten, wußten wir arge Lieder zu singen. »Von Fall zu Fall werde ich Euch Antworten geben, die ein wenig überraschen«, versprach ich. »Ich und mein Milchbruder und Condottiere Riancor sind bekannt geworden,
weil wir gern antworten, wenn schwierige Fragen gestellt werden. Und sehe ich mich um, dann erwarten wir viele Fragen.« Das Teleskop war eine Sensation. Sie sprach sich binnen dreier Tage in ganz Paris herum. Dutzende einzelner Gelehrter und Gruppen kamen auf die Terrasse des Hauses, benahmen sich aufdringlich und störten den Haushalt unseres Freundes, aber das Teleskop machte sie nachdenklich und steigerte ihre Aufregung. Stundenlang starrten sie hindurch, richteten es hierhin und dorthin, verfolgten Vögel im Flug und stellten unvorstellbare Dinge damit an. Unterdessen hatten wir angefangen, das Haus, die Gartenanlagen, hauptsächlich die Kellergewölbe von einer unglaublichen Masse stinkenden Unrats zu reinigen, Ratten zu fangen und totzuschlagen; mit Mühe gelang es uns, Röhren herzustellen und einen Abtritt zu konstruieren und zu bauen, der in einer Versitzgrube endete und das Wurzelwerk einiger Bäume versorgte und düngte. Unser Tun wurde zunächst voller Mißtrauen, dann mit Begeisterung vermerkt. Natürlich war es unser erklärtes Ziel, an den königlichen Hof eingeladen zu werden. Von dort kamen die Befehle, mit denen ein Teil der Welt ein bißchen zu ihrem Vorteil verändert, verbessert werden konnte. Einige Frauen aus den umliegenden Häusern wurden bezahlt und reinigten die etwa dreihundert Schritt der Rue de Seine mit Besen, Wasser und Essig. Es gab Leute, die uns für verrückt erklärten. Uns wurde das Bürgerrecht angetragen; wir nahmen an. Dabei lernten wir Jean Cousin kennen, Maler, Geometer und Glasmaler aus Sens, dessen Vater das Eckhaus an der neuen Rue des Marais hatte bauen lassen; ein hervorragender, hochbegabter Künstler und ein Zeichner von höchstem Können. Uns verblüffte, daß er schneller begriff als die meisten Gelehrten, woran es dieser Zeit und der Stadt Paris
mangelte. Cousin zeichnete und malte Vorlagen für Tapisserien, führte die Arbeiten seines Vaters fort, ließ sich von uns die Maltechniken Michelangelos erklären und versprach uns, daß wir durch ihn in den Louvre eingeladen werden würden. Wir warteten auf unseren Freund, dessen Krieger irgendwo in Frankreich gegen Marodeure und Schnapphähne kämpften, und während dieser Zeit wagten wir weite Ritte in die Umgebung der Stadt. Wir fanden gegenüber den Tuilerien, im Großdorf St.-Germain-des-Prés, ein Wohnhaus mit einer Halle, in der Boote gebaut worden waren; wir mieteten es und ließen es in Teilen um- und ausbauen. Paris war eine seltsame Stadt; nicht viel anders als jede andere große Siedlung in Europa nördlich der Alpen. In den Nächten herrschten die Armen, Ausgestoßenen, die Bettler, die in Gilden zusammengefaßt waren, die Räuber und jene Diebe, die wegen einer einzigen Münze einen Menschen erstachen. Wir wagten uns nur im Schutz der Energiefelder und mit entsicherten Lähmstrahlern durch die Straßen, und Riancor trug eine gespenstisch grell leuchtende Fackel. »Es gibt da einen Mann«, klärte mich Riancor auf, als wir westlich der Stadt über die Uferstraße trabten, »der, für diese Zeit, erstaunliche Ideen hat.« »Du meinst ihn, nicht wahr?« Monique lachte, richtete sich in den Steigbügeln auf und deutete mit der Reitgerte auf mich. »Nein. Er stammt aus Saint-Remy, aus einer Familie bekehrter Juden. Er hat, beispielsweise, klar erkannt, daß Seuchen und andere Krankheiten wegen mangelnder Sauberkeit so furchtbar grassieren.« »Ich bin verblüfft«, gab ich zu. »Warum erwähnst du das?« »Weil die Königmutter ihn an den Hof eingeladen hat. Narbonne, Carcassone, Toulouse und Bordeaux hat er besucht,
die Städte, die von der Pest teilweise entvölkert wurden.« »Weiter!« Im Gegensatz zum Land außerhalb der Mauern war Paris ein riesiger, kranker Organismus. Diese Stadt war unser Beispiel für unzählige andere. Die Menschenmasse erzeugte ihre Probleme selbst. »Er studierte die Seuche aus nächster Nähe. Zwar schreibt er seltsame okkulte Prophezeiungen, widmet sich dem Gang der Gestirne und anderen seltsamen Tätigkeiten. Er reiste von Salon hierher, auf Einladung des Hofes.« Wir erfuhren, daß er etwa sechzig Jahre alt war, daß vor siebzehn Jahren seine Frau und zwei Kinder an der Pest gestorben waren und daß er an den Universitäten von Avignon und Montpellier studiert hatte. »Man sagt, daß er Calvinist sei. Man erwartet ihn in drei Tagen im Louvre. Ihr beide wärt ein treffliches Gespann.« »Schon möglich. Ich werde ihn kennenlernen müssen.« Magister Michael de Notre Dame, dessen Großvater Arzt jenes Königs gewesen war, der noch heute im Volksmund »Bon Roi René« hieß, galt also als Pestexperte. Daß er versuchte, die Schicksale von Menschen aus dem Lauf der Sterne und der wenigen Planeten zu errechnen, die mit bloßem Auge zu entdecken waren, paßte in die Zeit und traf genau in die Träume, Vorstellungen und Sehnsüchte der unwissenden Barbaren. Monique hatte zugehört und sich jedes Wort gemerkt. Wir banden unsere Pferde vor einer Schenke an, bestellten Imbiß und Wein und versuchten, für unser weiteres Vorgehen ein überzeugendes Konzept zu finden. Bis zum heutigen Tag war es mir nicht recht gelungen, einen übergeordneten Sinn für unseren Aufenthalt zu finden. Wie du womöglich selbst entdeckt hast, bemerkte der Extrasinn, kann mehr Sinn darin liegen, viele kleine Dinge zu
betreiben als ein großes Vorhaben! Wir beendeten unser Gespräch, tranken den letzten Schluck Wein und ritten zurück hinter die Mauern von Paris. Blaise war noch nicht zurück. Die Mauern schützten die Bewohner womöglich vor Feinden und Überfällen, aber ebenso sicher und stark wehrten die Quaderwälle auch das Eindringen frischer Ideen und wissenschaftlicher Erkenntnisse ab. Paris 1563: eine Ansammlung unüberbrückbarer Gegensätze. Der König oder Bürgermeister hätte mit erbarmungsloser Härte seine Befehle erteilen und durchsetzen müssen. Sie machten fast alles falsch, diese Barbaren! Aus unzähligen Kaminen und Essen rauchten die Feuer am Tag und in den Nächten. Braun und grau, schwarz und stinkend, ätzend, voller Ruß und schädlichen Gasresten hing der Rauch an windstillen Stunden zwischen den Giebeln, verdunkelte die Sonne, ließ die Menschen keuchen und tötete die Alten. Regnete es, lief das Wasser als dreckiger Saft über die Fassaden. Über die Mauern zogen sich breite Streifen, in die sich der aufgelöste Kot der Vogelschwärme mischte. Hunde aller Größen und jeden Alters trieben sich heiser kläffend zwischen den Schweinen umher, von denen es in den Gassen wimmelte. Der Kot der Ziegen, Schafe, der Reit- und Zugpferde und der Ochsengespanne, vermischt mit allem, was die Pariser aus Fenstern, Türen und von Balkonen warfen und schütteten, Bauabfall, herangewehter Sand und Stroh aus brüchigen Dächern bedeckten mehr als knöchelhoch den Boden, der nur an wenigen Plätzen und Abschnitten aus grobem Pflaster bestand. Ging ein Sommergewitter über der Stadt nieder, so reinigte die Wasserflut Luft und Dächer, aber die Gassen verwandelten sich in morastige Abschnitte stinkender Canons, deren Enden sich in die Seine ergossen und meilenweit das Flußwasser färbten und Fische erstickten.
Schwärme allen erdenklichen Ungeziefers beherrschten die Schluchten zwischen schmalen Häusern, deren Fenster einander blind anstarrten, und sie tummelten sich in den lichten Zonen, an deren Rändern sich prächtige, wohlüberlegt gebaute Stadthäuser der Reichen erhoben, Kirchen und jene Bauwerke, die von Königen geplant und von guten Architekten errichtet worden waren. Im gesamten Bereich innerhalb der Mauern gab es keine Wasserleitungen, sondern nur Brunnen, in deren Grundwasser ein Teil jener Fäkalien hineinsickerte, und es existierte noch viel weniger eine Kloakenwasserführung. Ich war sicher, daß es nur einen einzigen Abtritt gab, nämlich den im Haus von Blaise Monluc, den Riancor und ich gebaut hatten. Eine jede Stadt dieser Art war zwangsläufig zu einem warmen und behaglichen Nest für alle Arten von Seuchen geworden; erst im vergangenen Jahr hatte die Pest ein Drittel aller Pariser Bürger getötet. Daß sie dabei keinen Unterschied zwischen unwissenden Bürgern, Bettlern und jenen klügeren Menschen machte, von denen Änderungen und Verbesserungen ausgingen, verstand man als Gottesgericht – aber sie tötete zugleich die Ideen, die Erkenntnisse und Handwerker, von denen sie in Geräte und Anlagen umgesetzt wurden. Hörte man dann von Männern, die womöglich die Seuche besiegen konnten, waren ihnen Ruhm und Anerkennung sicher. Auf diesem wenig ersprießlichen Umweg trafen wir schließlich zusammen: Catharina von Medici, der Kindkönig, Magister Michael de Notre Dame (oder, in gelehrter Sprache, Nostradamus) und wir, die reisenden Ritter und Gelehrten. Es gab viele Hunde im Inneren des Louvre. Jagdhunde und Windspiele, angeblich edle Tiere, die aber ebenso stanken, knurrten und bellten wie jeder andere Bastard: überall putzten die königlichen Diener den Kot der Tiere weg. Ein mittelgroßer Mann, gut gekleidet, mit einem dunklen Vollbart
und einer flachen Kappe verbeugte sich kurz vor uns. »Ich habe das Vergnügen mit den Rittern Riancor. Atlancar und der unvergleichlichen Monique de Beauvallon? Ihr brachtet das Teleskop an die Augen und Sinne der Weisen von der Universität der Stadt?« »Ein unbedeutendes Geschenk.« Ich verbeugte mich eine Handbreit tiefer. »Und Ihr seid zweifellos Magister de Notre Dame. Ihr schriebt die kryptischen und sibillinischen Qualrains, zu je hundert als Centuries gebündelt, von denen wir Unwissenden erfahren, was in künftigen Zeiten geschieht!« Dunkelbraune Augen eines Sechzigjährigen, von vielen Falten umsäumt, musterten uns nicht ohne Klugheit. Der Blick war zwingend; mein Eindruck, daß Nostradamus nicht war, was er zu sein vorgab, verstärkte sich. Die Stimme füllte mühelos den Raum zwischen Mauern, Gobelins und Säulen und übertönte die Unterhaltung zwischen Höflingen und selbst das Kichern der Hofdamen, die Riancors, Moniques und meine auffällige Erscheinung kommentierten. »Es sind nicht meine Gedanken, ist nicht mein Wissen – es sind Visionen«, erklärte Nostradamus. Langes, gelocktes Haar fiel dunkelbraun und voller grauer Strähnen bis auf den breiten Kragen des Mantels mit Rüschenärmeln in spanischer Mode. »Nur von Visionen wird die Welt regiert«, sagte Monique lächelnd. »Ob von solchen indessen«, murmelte ich sarkastisch, »wie sie aus Eurer Feder kommen, ist zu bezweifeln. Man sagt, Ihr seid der Arzt, der die Seuchen besiegen kann.« »Das gleiche sagt man von Buch, Ritter d’Arcon.« »Was tut Ihr dagegen?« »Mir starben Frau und zwei Kinder. Ich mische eine Arznei aus dem Holz der Zypressen, aus Veilchenwurzeln, Nelken,
Kalmus und Paradiesholz. Hinzu füge ich Kolrosen, Bisam und graue Ambra. Zu Zeiten der Pestilenz gibt es keinen Geruch der Welt, der die böse und vergiftete Luft besser vertreibt!« »Ich kenne einen solchen«, meinte Riancor und machte mehrere verächtliche Gesten. Notre Dame schien überrascht. »Welchen?« »Heißes Wasser, wohlriechende Seife, eine Bürste mit feinen Borsten, frische Tücher und Sauberkeit, wohin das Auge sieht.« Hofdamen in einer Kleidung, die als aufreizend gedacht war, formierten eine Art Spalier, durch das wir uns in die Richtung des Saales bewegten. Magister Michael, der zum Hofarzt des Königs ernannt worden war, zeigte Überraschung. Jedenfalls kannte er den Weg durch das Labyrinth der Korridore, Treppen und Säulenhallen der Stadtburg. Die Mauern rochen feucht und muffig. Für mich waren jene Angehörigen der Hohen Gesellschaft zum großen Teil nur grob geschliffene Karikaturen. Die Schuhe mit den auffallenden Schnallen und die kostbaren Strümpfe, die Nostradamus trug, waren ebenso beschmutzt wie die der anderen Männer. Die Frauen verbargen den bakterienwimmelnden Dreck unter ihren weit schwingenden Röcken. »Das mag helfen«, gab Nostradamus zu. »Aber niemand weiß, woher die Pestilenz und die Seuchen kommen. Es ist, fürwahr, ein Gottesgericht.« »Dessen Richter in der Meinung und im Strafmaß beeinflußbar sind von Äußerlichkeiten«, widersprach ich. »Erklärt mir, wie es am Hofe zugeht! Ich mache ungern Fehler.« Während wir auf zeremonielle Art weitergingen, stellten sich uns Personen. Paare oder Gruppen vor, und umgekehrt
versuchte Magister Michael, uns bekannt zu machen. Wußten wir nicht mehr weiter, halfen uns Diener. Riancor und ich speicherten Gesichter und Namen, Bedeutungen und Fetzen von Floskeln und Gesprächen. Unzweifelhaft drängten sich Intrigen und Korruption ebenso um den Thron wie Speichellecker und Glücksjäger. Und die wenigen anständigen, aufrechten Frauen und Männer verschwanden in der Masse der anderen. Der Logiksektor meinte: Nicht anders als an den orientalischen, römischen, persischen oder constantinopolischen Höfen! Ich zuckte mit den Achseln und ging weiter. Musik hallte von fern mit seltsamen Echos von den Mauern wider. Madrigale von Cyprian de Rore, Tänze von Jacques Consilium, Lieder von Orlandus Lassus. Wir entdeckten Jean Cousin »den Jüngeren« und tauschten Händedrücke und artige Bemerkungen. Magister Michael, Freund des Sprachforschers und Humanisten Julius Caesar Scaliger, war alles andere als ein unwissender Mann. Lyon zahlte ihm wegen der Verdienste beim Sieg über die Pest einen Ehrensold. Er ergänzte, wie er sagte, seine astronomischen Studien und die Versuche, aus dem Buch »Kabbala« Wahres von Unwichtigem zu trennen, durch die Erinnerungen an seine Trancezustände, in denen er Zukünftiges sah. »Für Eure zukünftige Tätigkeit, in welcher Stadt auch immer«, belehrte ihn Riancor auf der Treppe zum Empfangssaal, »werden wir Euch, Magister, erschreckende und wichtige Dinge zeigen und Erkenntnisse näherbringen. Damit ausgerüstet, wüßte jedermann, auch der einfache Bürger, wie er der Pest und anderem Übel entkommen kann.« »Ihr macht mich neugierig, Chevalier!« Durch schmale Fenster fiel in scharfem Winkel Sonnenlicht in den prächtigen Saal. Hunderte Kerzen brannten mit langen
Rußfäden. Kostbare Teppiche bedeckten große Teile des Steinbodens. Die Wände waren voller Bilder von einer Schönheit und Meisterschaft, wie ich sie hier am allerwenigsten vermutet hatte. Aber Leonardo und Michelangelo, nicht zuletzt Vasari hatten nicht nur meine Augen geschult, sondern mir auch Kriterien der Beurteilung vermittelt – jenseits meines eigenen arkonidischen Geschmacks. Wir blieben am Ende einer breiten Gasse stehen, die über sechzig Schritte hinweg bis zur Thronplattform führte. Hunderte aufwendig gekleideter Frauen und Männer, aus Paris und der Umgebung, aus dem Bereich rund um das Machtzentrum, unterhielten sich leise. Noch immer spielten die Musiker auf einem Podium links vom Doppelthron. Magister Michael warf mir einen langen, seltsamen Blick zu. Mir war, als könne er durch meine Maske hindurchsehen und allein mit den Blicken feststellen, daß ich ein Arkonide sei… und darüber hinaus alle meine anderen Geheimnisse aufdecken. Einen langen Augenblick starrten wir einander an, dann lächelte er und machte eine einladende Bewegung mit der rechten Hand. Über dem Handschuh aus hauchdünnem Leder funkelte ein schöner Ring mit einem geschliffenen Stein und von strahlendem Blau. »Geht nur ein Stück geradeaus. Ihr werdet aufgerufen«, empfahl Nostradamus mit sonorer Stimme. »Denkt daran: Dem König und seiner Mutter wird vieles und noch ein wenig mehr zugetragen. Sie kennen Euch und Eure Taten.« Seinem Tonfall konnte ich entnehmen, daß er sagen wollte: »So gut, wie ich Euch inzwischen kenne.« Sieh dich um! Alles Fremdartige ruft Begeisterung und Neid hervor, sagte das Extrahirn. Die Edlen am Hof des Neunten Charles starrten uns an. Von der Haartracht bis hinunter zu den kostbar scheinenden
Sporen war alles vertraut und dennoch exotisch. Schon allein die glatte, saubere Haut und deren Bräunung erzeugten ungläubiges Staunen. Riancors breite Schultern und die Kraft, die er verkörperte, verwirrten die Hofdamen und machten die Männer neidisch. Ein Diener, der neben der Königinmutter stand, rief schließlich unsere Namen. Wir traten vor und machten unsere gemessenen, aber überzeugenden Gesten. Mit wachsamen, intelligenten Augen betrachtete uns der junge König. Sein Gesicht und seine Hände, mehr sahen wir nicht, zeigten wächsern bleiche Haut. Die Königin bedeutete uns, näher zu kommen. Sie lächelte und zeigte bei den ersten Sätzen, die sie an uns richtete, daß wir sozusagen seit Passieren des Stadttors genau beobachtet worden waren. Nun, es gab keine Zeugen für »Wunder« oder unnatürliche Vorfälle. Sie versicherte uns ihrer Zuneigung, sprach davon, daß wir gute Bürger der Stadt seien und daß es richtig sei, für den Ruhm des Königs und das Wohl der Bürger zu arbeiten. Ihre Stimme, dunkel und von Anstrengungen gezeichnet, hob sich ein wenig, als sie, einen Schreiber herbeiwinkend, zu uns redete: »Ihr, Chevalier Atlancar d’Arcon, für den schon Blaise Monluc sprach, sollt vor den Studenten unserer Universität sprechen. Legt uns vor, in welchen Disziplinen Ihr lehren wollt. Wir wollen, daß Ihr unseren Gelehrten die Wege zu größeren Einsichten zeigt, zum fortschreitenden Wohl des Landes, und einige große Schritte auf dem Weg vorzeigt, von dem wir wissen, daß er lang ist und beschwerlich. Schon richtet sich das Auge des Gelehrten zu den Gestirnen dank des seltsamen Rohres, das Ihr uns schenktet. Es wird Euer Kampf sein, Chevalier, das Unverstehliche verständlich machen zu helfen. Wollt Ihr das? Werdet Ihr?« »Majestät«, sagte ich – es war mehr, als ich erhoffen konnte – und richtete die Blicke auf Charles und seine Mutter, »in
spätestens einem Mond werden wir tun, was Ihr richtig angeordnet habt. Vom königlichen Hof muß aber, wenn sich die Vernunft einer Sache herausgestellt hat, ein Befehl ergehen, denn nichts geschieht, wenn Ihr nicht anordnet – wie jedermann weiß und allerorten zu sehen ist.« Mich traf ein schmerzliches Lächeln. Eine Geste, zusammengesetzt aus wohlwollender Milde und zeitlichem Druck, ließ uns zur Seite treten. Der König winkte seinen Arzt herbei, und Nostradamus entschwand einige Stunden aus unserem Gesichtskreis. Murmeln, erstaunte Blicke, Applaus und unverhüllter Neid begleiteten uns den gesamten Weg bis zum Portal. Königliche Beamte und einige Würdenträger scharten sich um uns und befragten uns, was wir zu tun gedachten, wann, auf welche Weise. Riancor verlangte schon jetzt den größten Saal für meine Vorträge mit Lehrbeispielen, die neunmal im Mond stattfinden sollten. Auf dem Heimweg, mitten auf der Seinebrücke, wandte ich mich an Riancor: »Ein unbehagliches Gefühl beschlich mich. Magister Notre Dame haßt mich wegen meines Erfolgs.« »Stimmt. Es sollte uns nicht stören«, entgegnete er. »Er ist seltsam, nicht wahr? Als ob er Bewohner einer Schutzeinrichtung am Meeresgrund wäre.« »Hat er unsere Masken etwa durchschauen können?« »Wenn dies so ist, dann hält er uns im ungünstigsten Fall nicht für französische Ritter und Gelehrte.« »Das trifft mich hart. Der Nebenraum von Monlucs Hufschmiede wird sich in unser Laboratorium verwandeln. Ich als Dozierender an der Hochschule zu Paris! Wäre es nicht so bizarr, müßte ich lachen.« »Sprich, bevor du deine Vorträge hältst, mit hochrangigen Vertretern der Kirche. Wegen unbedachter Bemerkungen sind viele Menschen gestorben und vorher gefoltert worden.«
»Das ist ein vorzüglicher Rat!« lobte ich. »Und jetzt, Bruder Riancor, sollten wir eine Reihe leicht verständlicher, von praktischen Beispielen begleiteter, mitreißender und erfolgversprechender Vorlesungen entwerfen.« »Wenig ist leichter als das«, behauptete er zufrieden. »Das Maß der Ungebildetheit ist groß, und der Themen gibt’s viele.« Möglicherweise fing schon jetzt, mitten auf der knarrenden Brücke über dem recht sauberen Seinewasser, die lautlose, teilweise erbitterte Auseinandersetzung zwischen den Magistern Atlancar und Michael de Notre Dame an. Es blieb befremdlich: Manchmal dachte ich, daß Nostradamus nur die nahezu vollkommene Maske eines anderen Wesens verkörperte, sozusagen ein Doppelgänger war, der von seiner Rolle nichts wußte. Gefahr? Für uns gab es keine. Nicht hier, nicht in dieser Stadt. Zuerst fälschte Riancor mit Papier, Pergament, Leder und anderen Materialien den zweiten Band des Livre de Pourtraicture. Den ersten Band, eine Zeichenschule für die Proportionen des menschlichen Körpers, hatte Cousins Vater verfaßt. Wir fälschten das Siegel des verstorbenen Königs, jene einiger längst vermoderter Kleriker und deponierten die vergilbten Blätter und alles andere im Nachlaß von Cousin dem Älteren, zusammen mit einigen Zeichnungen, Studien und dem Holzschnitt von Eva Prima Pandora, einem hinreißend schönen Blatt. Zwei Monde später fand Jean Cousin, der Sohn, dieses Werk, das sich mit sämtlichen Vorgängen im Körper des Menschen, aller Knochen und Organe, auf das genaueste beschäftigte. Unsere erste Vorlesung sollte als Hauptthema die Gesundheit des Menschen haben. Wir fanden schließlich Charlot, einen »Bettlerfürsten« von abstoßendem Aussehen, halb krank,
hoffnungslos verfettet, von böswilligem Charakter und rohen Sitten. Für eine Reihe von Versprechen und schimmernde Goldstücke erklärte er sich mit einem Versuch einverstanden, der fünf oder sechs Monate lang dauern sollte. Wir errichteten sein »Gefängnis« in Nebenräumen der Universität. Unsere Boten luden insgesamt zweihundertfünfzig Frauen und Männer zur ersten Vorlesung ein. Dem Bischof von Paris, dem Königlichen Secrétaire und allen anderen, von deren Einverständnis meine Versuche abhingen, schilderten wir, was wir vorhatten. Ein wenig verstört, aber überzeugt, daß mit den Körpern zugleich die Seelen gerettet werden würden, willigten sie ein und erteilten ihr Placet. Zur dritten Stunde an einem frühen Sommertag versammelten sich die Geladenen, dazu viele Studenten, in dem frisch geweißten Saal, dessen Sitze erneuert waren. Ein Podium, fünf Ellen hoch, schloß die Kopfwand ab. Darauf standen schwarzlackierte, riesige Holzbretter, auf denen mit gefärbter, zu Stangen gepreßter Kreide geschrieben und gezeichnet werden konnte. Auf einem zweiten Podest fanden die Besucher seltsam erscheinende Gegenstände, Modelle und Behälter. In weichen Stiefeln, enganliegender Hose, breitem Gürtel mit kostbarer Schließe und seidenem weißem Hemd ging ich umher, begrüßte die Gäste, erklärte einige Versuchsanordnungen und verteilte Papier und Schreibzeug von bester Qualität. Monique saß in der ersten Reihe. Riancor überwachte die Bühne und beantwortete wie ich zahllose Fragen. An der Tür war ein Verzeichnis der ersten fünfzehn Vorlesungen angeschlagen. Ich nickte Riancor zu. Die Vorlesung begann, indem Musik unsichtbarer Spieler erklang. (Über klug versteckte Gleiterlautsprecher spielten wir ein Band, das rhythmische und laute Klänge aus Firenze wiedergab.) Staunen und Ratlosigkeit breiteten sich in den Reihen aus. Ich ging
gemessenen Schrittes zum Vorlesepult, hob die Hand; die Klänge wurden leiser und hörten schließlich auf. Ich fing zu reden an. »Wir treffen uns heute, um herauszufinden, wie jeder Mensch sein Leben verlängern, verbessern und schöner machen kann. Jeder! Vom Bettler bis zum König, vom Bauer bis zum Bischof. Ich frage Euch: Wer von Euch hat im vergangenen Jahr einen Angehörigen an die furchtbare Seuche verloren? Er hebe den Arm.« Mindestens drei Viertel der Anwesenden hoben die Arme. Keiner von ihnen wußte, wohin meine Worte führen mochten. Sie waren verunsichert, und als nun Rico unseren Patienten hereinbrachte, murmelten alle erstaunt auf. Charlot, der nur ein winziges Hüfttuch trug und unter dem Einfluß des Psychostrahlers stand, kam bis zur Mitte des Podiums. Sein Anblick rief Entsetzen hervor. Der unförmige, schwärende Koloß blieb an der Vorderkante stehen und erklärte mit gebrochener Stimme: »Ich bin Charlot. Jeder nennt mich Shaluq. Ich bin dem Tode näher als dem Leben. Jeder Fingerbreit von meinem Körper schmerzt; ich bin müde und weiß nicht, was ich tun soll. Nichts freut mich, ich habe das Lachen verlernt. Der Chevalier und sein Freund sagen, daß sie mich heilen. Ich glaube es ihnen nicht. Niemand kann das.« Er weinte, über das stachelige Gesicht liefen Tränen. Sein Haar war verfilzt, und die Zahnruinen, gelb und schwarz, verströmten abstoßenden Geruch. Eiter sickerte aus den verschorften Wunden; die Beine drohten unter dem Körper voller Fettwülste und roter, nässender Stellen wegzuknicken. »Dieser Mann«, sagte ich und deutete auf Charlot, der mit hängenden Schultern hinausschlurfte, »wird am Ende unserer Vorträge sich gänzlich verändert haben. Zwar wird er uns nicht gerade jung und schlank wie ein Knabe verlassen, aber
als kraftstrotzender, fünfunddreißigjähriger Mensch, der er ist – und viel fröhlicher als heute.« »Niemand glaubt das!« rief ein Medicus in der zweiten Reihe. Ich grinste ihn an. »Wir fangen an und zeigen Euch, wie Salben hergestellt werden, die diesem Armen helfen, wohlriechende Seifen, die seine Haut verschönern. Und wie wir ihn betreuen und heilen, kann jedermann sehen, wenn er in den Garten der Universität geht. Davon später. Zuerst aber will ich Euch allen zeigen, woher die Pest und viele andere tödliche Krankheiten stammen. Ich darf Euch bitten?« In einem Glaskasten lag eine festgeklemmte Ratte. Die Linsen eines einfachen Geräts, das stark vergrößernd wirkte, ein Mikroskop also, richteten sich auf das Tier. Viele Kerzen, dahinter kleine Spiegel und gekrümmte Reflektoren, richteten grelles Licht von allen Seiten in den winzigen Kasten. Ich bat nacheinander ein Dutzend Zuhörer auf das Podium. Sie warfen einen Blick in den Tubus und fuhren erschrocken zurück. Für Riancor war es einfach, Linsengröße, Abstände und Schliff zu berechnen. Das Mikroskop vergrößerte mehr als zweihundertfach. Die Gelehrten sahen ein schreckliches Fabeltier, sie dachten an einen Drachen oder an den Satan. In der Tat wirkte der Rattenfloh bedrohlich und von abgrundtiefer Häßlichkeit. »Das ist der Pestfloh«, sagte ich. »Noch lebt er warm und zufrieden im Fell der Ratte. Sie ist das eigentliche Übel. Der Floh wartet, bis die Ratte der Pest erlegen ist. Dann springt der Floh zum Menschen, sticht ihn – Ihr habt seinen furchtbaren Stachel gesehen –, und der Atem der Pest ist in uns. In Euch, Magister, ebenso wie in mir oder der schönen jungen Frau.« Nacheinander kamen die Eingeladenen und drehten zögernd an den gezahnten Rädern der Verstellmechanismen. Ich tötete die Ratte und führte vor, wie die Flöhe im Glaskasten
umhersprangen und sich im Stroh und Stoff verbargen, die in einer Ecke befestigt waren. Auf den Tafeln schrieb Riancor Merksätze auf und fertigte einfache Zeichnungen an. Viele Fragen wurden in den Saal gerufen; ich versprach, sie alle im Lauf der Vorlesungen zu beantworten. Viele »Schüler« schrieben mit und zeichneten ab, was ihnen Riancor und ich vorführten. Diese erste Stunde endete damit, daß wohl viele im Saal begriffen, daß überall dort, wo Schmutz und verrottende Materialien lagen, sich die schädlichen Insekten verbargen. Flöhe, Wanzen, Mücken und Schmeißfliegen. Betten, Kleiderkammern und, natürlich, die Kleidung, die sie am Leib trugen: In Pestzeiten waren es tödliche Winkel. Ich bat die ratlosen Zuhörer, im Garten zu verweilen und anzusehen, was mit Charlot geschah. Wir räumten einen Teil der Geräte in die Schränke, verschlossen sie, und ich erklärte einem Handwerker und Brillenmacher, wie das Mikroskop herzustellen war. Er versprach, einen Nachbau zu versuchen und schon heute damit anzufangen. Drei Klosterbrüder und eine in Heilkunde erfahrene ältere Frau kümmerten sich um Charlot. Die Räume, in denen er lebte, waren einfach, aber sauber. Er befand sich noch immer unter dem Einfluß eines gering dosierten Psychofelds und tat gehorsam, was man ihm auftrug. Sein Haar wurde gewaschen und kurz geschoren. Mit mildem Schaum und scharfem Messer rasierte man ihn. Ein heißes Bad, vermischt mit einem Kräutersud, reinigte seine Haut. Dann wurde auf die Wunden, Schnitte, Beulen, Entzündungen und eiternden Stellen eine dünne Salbe aufgetragen. Man wickelte Charlot in weiße Tücher und schleppte ihn mit Mühe auf ein Bett, das keine Matratze aus Leinen, Rupfen und Stroh enthielt. »Seine Lumpen haben wir verbrannt«, erläuterte ich. »Und
in drei Tagen werdet ihr alle die Rezeptur jener Salbe kennenlernen.« Schon diese erste Vorlesung war für Paris eine Sensation. Die Gerüchte wucherten. Die Menschen am Hof kannten kein anderes Gesprächsthema. In den folgenden Tagen kamen viele wirklich interessierte Männer zu uns und stellten Fragen. Das Durcheinander im Haus von Blaise Monluc wurde zu groß, und wir zogen endlich um nach St.-Germain-des-Prés. Ein langer, arbeitsreicher Sommer begann für uns. Wir lehrten die Seifensieder und Wachszieher, aus Blütenblättern, Wurzeln und Kräutern Auszüge herzustellen, indem sie Alkohol verwendeten, Pressen und andere Verfahren anwandten, um aus der verachteten Seife einen Luxusartikel zu machen. Heilkräuter waren die Bestandteile von Tinkturen und Salben, die von den Gehilfen der Mediziner gemischt werden konnten. Wir achteten darauf, nur Bestandteile zu verwenden, die nahe der Stadt vorkamen, und Verfahren, die praktisch jedermann nach kurzer Übung beherrschte. Charlot hungerte, nicht freiwillig, aber er erhielt gesundes Essen. Er lebte vor den Augen der Öffentlichkeit. Schon nach einigen Tagen hatten sich die ärgsten Wunden geschlossen. Mittlerweile begann er, wenn auch kraftlos, das Kaminholz für die Universität zu hacken. In einzelnen Schritten führten wir vor, wie ein Abwasserkanal entstand, wie eine Versitzgrube funktionierte und auf welch einfache Weise jede Hausfrau und jede Magd die Räume sauberhalten konnte. In dieser Zeit schien sich fast jedermann vor Wasser und Seife zu fürchten, und die prächtigen Kleider stanken nach kaltem Schweiß oder wahllos angewandten Duftwässern. Einen auffallenden Vorteil entdeckten wir rasch: Catharina von Medici hatte ihren »buon gusto« und eine Schar italienischer Köche mitgebracht. Inzwischen bildeten diese
Meister der Pfanne und des Tiegels Schüler aus, die ihrerseits Gasthäuser, Schenken und Speiselokale gründeten. Die barbarische Küche der Franzosen wurde leichter, wohlschmeckender und raffinierter. Leider auch teurer. Der König erließ, immerhin, einen Befehl, wonach man den Armen Geld geben sollte, wenn sie die Straßen reinigten. Tatsächlich kehrte man riesige Mengen Schutt und Dreck zusammen und brachte es aus den Mauern hinaus. Ärgerlich sagte ich: »Paris besteht aus fünfzigtausend Schauspielern. Die schlechtesten von ihnen bekleiden wichtige Ämter.« »Immerhin gehörst du dazu«, behauptete Monique. »Und Riancor auch.« Wir fühlten uns in der Vorstadt weitaus wohler als zwischen den Mauern. In der Werkstatt arbeiteten wir emsig an vielen einfachen Geräten. Mittlerweile erhielten wir tagein, tagaus Besuch von Handwerkern, die unseren Rat brauchten. »Sogar Nostradamus«, knurrte ich. Der Gleiter war ferngesteuert im Garten gelandet und hatte Nachschub gebracht. Unser Anwesen hob sich strahlend und in perfekter Sauberkeit von der Umgebung ab. Auf unsere Kosten hatten wir den Dorfplatz mit einem Abfluß versehen und pflastern lassen. Die Männer beherrschten ihren Beruf, Material war nicht teuer; trotzdem galt ein solcher sauberer, baumumstandener Platz als Sensation, derentwegen die Leute aus der Stadt kamen. »Ausgerechnet! Er intrigiert bei Catharinas Ratgebern!« Ich lachte wütend. »Wie gut, daß wir die richtigen Leute bestochen haben.« An buchstäblich jeder Stelle, an der die wenig berührte Natur sich ausbreitete oder der Mensch auf behutsam gestalterische Weise eingegriffen hatte, lag das Land unter der
Sommersonne gesund, freundlich und schön da. Viele unserer kleinen »Erfindungen« hatten sich weit herumgesprochen – der ungehinderte Handel transportierte Ideen in alle Richtungen der Windrose. Und jeder Handwerker, der es geschafft hatte, mit Hilfe unserer Beratung, Verfahren, Rezepturen oder bestimmter Hilfsgeräte etwas Eigenständiges herzustellen, verdiente reichlich. Es gab genug Begüterte, die alles kauften, wenn es nur der herrschenden Mode entsprach oder eine Neuigkeit bedeutete. »Greise streiten gerne«, warf Riancor ein, »damit man glauben soll, sie seien noch nicht so alt. Gilt zumindest für Magister Michael.« »Sicherlich auch für mich«, gab ich zu. »Bist du fertig? Haben wir alles?« »Wir können losreiten.« Das Ende der Vorlesungsreihe war zu sehen. Noch ein Dutzend Tage würden wir Gelehrte und Neugierige, Adel und Kleriker, Handwerker und Hofbeamte von Fortschritt und Vernunft zu überzeugen versuchen. Eine gewaltige Menge Papier war beschrieben worden. Ich hatte mittlerweile Schwierigkeiten, jedesmal von neuem die Aufmerksamkeit derer zu wecken, die meine Vorträge als Mittel zur amüsanten Zerstreuung betrachteten. Wir übergaben die Zügel der Pferde dem Universitätspedell und besuchten Charlot. Er war fast nicht wiederzuerkennen, winkte von seinem Hackklotz aus und spaltete mit einem wuchtigen Hieb einen Kloben. »Es ist ein Vergnügen«, sagte ich, »dich anzusehen. Die Frauen werden sich um dich prügeln, wenn wir fertig sind.« »Sie stehen schon jetzt am Fenster«, sagte er mit breitem Grinsen. Die Krätze seines Kopfes, der Finger und Zehen war verschwunden. Er hatte viel Fett verloren und durch Muskeln ersetzt. Die Sonne bräunte seine Haut, und die Narben der Wunden verschmolzen mit dem umgebenden Gewebe. Das
Haar glänzte und war nachgewachsen, der Oberlippenbart entwickelte kecke Spitzen. Charlot bewegte sich schneller, und sein lückenhaftes Gebiß zeigte das Weiß häufiger Versuche mit Schlämmkreide und der Bürste. »Die Leute vom Hof, die Ärzte – sie glauben dir?« »Sie fragen mehr, als ich antworten kann.« »Spricht jemand von einem unbegreiflichen Wunder?« »Nein, Herr! Sie haben dasselbe gesehen wie ich. Von Tag zu Tag ging es mir besser. Ich weiß nicht mehr, wie ich es ausgehalten habe – früher!« »Noch ist es nicht vorbei.« »Das tut nichts zur Sache. Ich werde tun, was Ihr mir geraten habt. Dann lebe ich lange und gesund.« »Ich wünschte, ich könnte dir jedes Wort glauben.« Ich lächelte ihm zu und war, alles in allem, zufrieden. Ohne daß ich etwas gesagt hätte, kehrten in Teilen der weitläufigen Universitätsgebäude mehr Sauberkeit und Helligkeit ein. Der erste Abwasserkanal war ausgehoben worden; nun arbeiteten Handwerker und mauerten Schächte und Abzweigungen aus Bruchstein und gebrannten Ziegeln. An diesem Tag wollte ich über den Sinn von Straßen, Plätzen und das ungesunde Leben in zu engen und zu dicht stehenden Häusern sprechen. In bedächtiger Ruhe bauten wir unsere Modelle auf und fertigten die Zeichnungen an. Wenn nur ein Drittel von alledem nicht vergessen und womöglich angewendet wurde, dann war unser Aufenthalt schon jetzt ein Erfolg. Frankreichs König zog ständig wachsende Steuern aus dem Land. Seit vor sechs Jahren sowohl Spanien als auch unser Gastland zahlungsunfähig geworden waren, war auch heute wieder der Wohlstand bedroht. Wegen ihres Glaubens bekämpfte die Krone die Hugenotten. Die Zünfte, mächtig
durch das Monopol spezialisierter Handwerke, wurden ebenso besteuert wie die armen Bauern. Wenigstens in unserer nächsten Umgebung konnten wir helfen, daß der Boden mehr trug und das Vieh gesund blieb. Johann und Jakob Fugger hielten die Handelswege frei und kontrollierten den Handel und die Herstellung von Tuchen, Schmuck, Pelzen, Seide und Samt, Gewürzen und – Schießpulver samt Waffen. Jeder Krieg wurde teurer von Tag zu Tag. Ich verwarf die Hoffnung, daß Verschuldung und Zahlungsunfähigkeit die Mächtigen von Kirche und Krone daran hindern würden, gegeneinander zu kämpfen. Das Gewitter war nach Osten weitergezogen und schüttete seine Schlagregen, vermischt mit Blitzen, Sturmböen und dem gigantischen Schmettern des Donners über Paris aus. Hier fiel nur noch ein milder Regen. Es war wunderbar kühl geworden; es roch nach sonnendurchglühter Landschaft, deren Düfte sich mit dem feuchten Hauch verbanden und zwischen den Bäumen und Häusern hindurchzogen. Nicht ein Stäubchen war in der Luft. Die Kerzen flackerten, das Kaminfeuer war heruntergebrannt, und unter den mächtigen Balken, den Brettern der Dachverschalung, auf dem handgewebten Teppich über dem warmen Kachelboden saßen wir um den niedrigen Tisch. In einfachen Glaspokalen voller Bläschen und bizarrer Einschüsse brach sich das Licht im tiefdunklen Wein. In Riancors Glas befand sich ein Fingerbreit Wein, an dem er mit verzückter Miene roch. Ich nahm einen kräftigen Schluck, spürte das edle Getränk auf Lippen und Zunge, betrachtete Moniques schönes Gesicht, ihren Hals und ihre bloßen Schultern, schließlich sagte ich nachdenklich: »Bald ist Erntezeit. Ich sehe wenig Sinn darin, unseren Aufenthalt über Gebühr und sinnlos lange auszudehnen.« »Wann?« fragte Monique schläfrig. Das grelle Weiß der
Wände verschmolz mit dem Braun und den farbigen Intarsien der Möbelstücke. Schatten zitterten über die vergoldeten Rahmen der Bilder, die einmal unermeßlich wertvoll werden konnten. »Ich weiß es nicht. Es mag sein, daß wir Freude finden an einem Ritt durch den Herbst nach Beauvallon.« Die tägliche Arbeit hielt uns davon ab, jeden Bericht einer jeden Spionsonde anzusehen und zu verarbeiten. Riancor hatte die Kanäle zu unseren Antennen geschaltet; schliefen wir, gab es genügend Zeit, die Geschichte einer Welt grob zu dokumentieren, die in ständigem Wandel begriffen war. Von weitem hörten wir Hufschlag. Jemand ritt in einem nachlässigen Kantergalopp. »Das Jahrhundert der Städte ist noch nicht gekommen«, bemerkte Riancor. »Es sind Steinhaufen mit lückenhafter Organisation. Ein Wunder, daß sie überlebensfähig sind.« »Die Menschen sind die Stadt. Sie sind in einem Maß belastbar, über dessen erstaunliche Größe jeder staunt, der es erlebt. Ich weiß, wovon ich rede, mein weißhaariger Freund«, sprach Monique nachdenklich. »Denn ich erinnere mich deutlich, wie mein Leben verlief, ehe du mich halbtot aus dem Gebüsch hervorgezerrt hast.« Sie war die einzige ohne Maske: Ihr unkomplizierter Charakter verarbeitete Paris ebenso wie die Kuppel unter den Wellen, sie wurde mit dem Grauen von Kampf und Krieg ebenso fertig wie mit der absoluten Entspannung am Strand unserer unbewohnten Insel im Ozean der Ruhe, dem Mare pacificum. Der Hufschlag war lauter geworden, das Tier fiel in Trab. »Winter in Le Sagittaire?« Ich winkte Riancor. Er schenkte die Gläser voll und stellte einen leeren Pokal vor einen der leeren Sessel aus Holz, Leder und lohfarbenem Fell. Bedächtig legte er einige dünne Scheite in die Glut. Winzige Flämmchen
züngelten hoch. »Gern. Warum nicht?« »Einverstanden«, sagte ich. »Du rittst vor einigen Tagen mit dem Troß der Königin, Monique. Was weiß sie zu sagen?« »Wie ich erfuhr, wünscht sie sich mehr Untertanen wie uns. Wir belasten die Kasse des Hofes nicht, sondern mehren den Reichtum von Stadt und Land, indem wir dadurch, daß besser verdienende Handwerker und Zünfte mehr Abgaben zahlen können, die Menge des Geldes vergrößern.« »Für den Ankauf von Waffen, versteht sich, und zum Bezahlen von unproduktiven Höflingen.« Ich lachte. »Denk daran, Riancor, daß mittlerweile selbst die Hundefänger in der Stadt zu reichen Bürgern geworden sind. Sie verkaufen die Kadaver, damit man aus ihnen Fett für die Seife kocht, die gegen Podagra hilft. O ihr Hunde, schlafraubende Beller und Kläffer in den Nächten! Wenigstens in Paris führt man euch einem guten Zweck zu.« Das Pferd des unbekannten Reiters wieherte. Der Hufschlag hielt an. Arcon Riancor stand auf und öffnete die Tür. Er ließ die getarnte Fackel aufflammen und rief: »Hier geht es hinein. Du wurdest erwartet, aber heute haben wir nicht mit dir gerechnet.« Blaise Monluc stürmte herein, warf die Kapuze des Reitermantels zurück, zog den Mantel von den Schultern und rannte auf Monique zu. Sie sprang auf und umarmte ihn. Er schwenkte sie viermal im Kreis, küßte ihre Wangen und brummte unverständliches Zeug. Dann setzte er sie ab, packte meine Hände und schlug mir auf die Schultern, daß es schmerzte. »Ich habe überlebt!« schrie er, sah sich wild um und rief mit wippenden weißen Schnurrbartspitzen: »Wein! Weiber! Musik!« »Die Damen hättest du besser selbst mitgebracht, nächtlicher
Reiter«, sagte ich. »Sei gegrüßt! Seit wann bist du in der Stadt?« »Seit dem frühen Abend. Ich weiß alles – natürlich weiß ich nichts. Es tut so verdammt gut, euch wiederzusehen. Du bist schöner geworden, mein feuerhaariges Herzblut! Und du, Atlan-Car? Du blickst so grämlich drein wie immer. Und dein Milchbruder steht da, unerschütterlich – mir ist, als wäre ich in dem Schlößchen.« »Dein Blut kocht«, sagte ich. »Lösche es mit dem Wein, den Riancor schon eingeschüttet hat.« Die Gläser klangen wie Metall, wie kleine Glocken. Eine frische Narbe zog sich vom Ohr Monlucs bis zum Mundwinkel. Unser Freund war hager geworden, tiefbraun gebrannt, und er roch nach Leder, Pferd und, wie mir schien, nach Feldlager und Pulverdampf. Er warf sich in den knarrenden Sessel, streckte die Beine in den nassen Reitstiefeln lang aus und hob das Glas in die Höhe. Es war leer. »Boten, Briefe, Nachrichten – alles unbrauchbar. Ich weiß seit einem Mond, daß ihr in der Stadt seid. Und eben erfuhr ich, seit welchem Tag. Ihr werft lange Schatten, Freunde.« »Daran solltest du gewöhnt sein. Hunger? Schläfst du hier? Soll ich die Mägde wecken, die tagsüber helfen und kochen?« »Alles beantworte ich mit Ja!« »Eines nach dem anderen. Störe unseren Frieden nicht.« Monique setzte sich, ehe sie in die dunkle Küche ging, kurz auf sein rundes Knie. »Ich freue mich am meisten, daß du nur verschrammt aus den Kämpfen zurückkommst. War es schlimm?« Wir wußten aus seinen langen, gescheiten Erzählungen, daß er kämpfte wie ein Rasender. Gleichzeitig haßte er das verfluchte Handwerk des Krieges, wie er sich ausdrückte. Seine Möglichkeit, zu überleben und nicht wahnsinnig zu werden: Er tötete rasch und versuchte, niemanden leiden zu
lassen. Wenn ich sage, daß er eine Gestalt dieser Zeit war, so hört sich das wenig klug an. Aber wie sollte man einen Heerführer bezeichnen, der zugleich Krieger, Humanist und Aufgeklärter war, gläubig und skeptisch, erfahren und, ging es um etwas Neues, neugierig wie ein aufgewecktes Kind? Kurzum, er war unser Freund. Nur das zählte. »Endlich weißt du, welchen Wein du kaufen mußt!« Er grinste mich an. »Wie gefällt dir meine Stadt?« Ich winkte ab. »Es gibt nichts Grauenvolleres als die Fremdheit derer, die sich gut kennen. Meine Arbeit bestand bis eben darin, drüben, in der Stadt, anderen zu erklären, was wir selbst nicht verstanden haben.« »Man wird euch Denkmäler errichten!« »Es sind ständig Erinnerungen daran, was das Volk meist gern vergessen möchte«, wich ich aus. »Alles in allem sind wir zufrieden. Möglicherweise ist dir nicht entgangen, daß sich dein Haus ein wenig verändert hat.« Er trank, als sei er durch eine Wüste geritten. »Ich dachte zuerst, ich stehe im Hof von Sagittaire!« dröhnte er. »Im Ernst… unendlichen Dank! Man berichtete mir, was ihr alles getan habt. Meine Freunde! Seid verdammt! Es ist unendlich gut, daß es euch gibt. Hierher mit den Würsten, mein Rotfuchslein!« Wir kannten ihn auch ganz anders; jetzt galoppierte seine Freude mit ihm über den Acker gesellschaftlicher Konventionen. Er fühlte sich geborgen und besser als in seinem eigenen Haus. Über das Essen fiel er her wie ein ausgehungerter Wolf im strengen Winter. Dann rülpste er anerkennend, leerte den Pokal und sah uns der Reihe nach völlig ernst mit seinen strahlend blauen Augen an. »Natürlich war es furchtbar«, begann er mit veränderter Stimme. »Wir haben gehaust wie betrunkene Schlächter. Und warum? Weil irgendwann ein Deutscher die Bibel übersetzt
und sich eigene Gedanken gemacht hat. Es wurde viel gestorben in diesem Sommer, Atlan-Car. Und niemand starb gern.« Wir schwiegen. Ich dachte an Magister Luther. Schließlich murmelte Monluc: »Ein gutes Gedächtnis ist ein Fluch; nur sieht er einem Segen ähnlich.« »Wem, o Freund«, sagte ich melancholisch, »sagst du das? Wenn der Teufel uns in Verwirrung bringen will, bedient er sich dazu der Idealisten.« Riancor zauberte Musik aus verborgenen Quellen. Blaise kannte uns und staunte längst nicht mehr über Vorkommnisse, die er nicht verstand. Vom Lärm, dem Gläserklirren und unserem Gelächter angelockt, erschienen die jungen Frauen aus den umliegenden Gehöften, die uns halfen und die von Monique in die Grundregeln eines weniger primitiven Lebens eingeweiht worden waren als dem, das sie führen mußten. Mit dem untrüglichen Blick des geübten Artilleristen fand Blaise die Hübscheste heraus, und Monique bat die anderen, unserem Freund ein Zimmer zu richten. Die Nacht schritt fort. Fledermäuse huschten umher. Die ersten Grillen wagten die Kadenzen eines gedämpften Konzerts. Schwer und lastend roch der Mohn, und in den Ställen regte sich das Vieh. Das Feuer war heruntergebrannt. Erschöpft und glücklich lagen Monique und ich auf den kühlen Laken. Vom anderen Ende des Hauses hörten wir das Gelächter Monlucs und seiner Freundin für eine Nacht. Aus Gründen, die sich meiner Vorstellung entzogen, fühlte ich tief in meinem Innern eine stechende Unruhe. Als ob ein Verhängnis, ein unsichtbarer Gegner unser aller Leben bedrohte. Meine Hand umfaßte den Zellschwingungsaktivator, und während ich langsam einschlief, lauschte ich auf Geräusche, die von
außerhalb kommen mochten und nur eine Bedeutung hatten: tödliche Drohung. Offensichtlich hatte die Zeit der spätsommerlichen Jagden angefangen. Das Auditorium war halb leer. Ich blickte in Gesichter, die mir inzwischen längst vertraut waren. Heute sprach ich vor meinem besten Publikum seit Beginn der Vorlesungen – bis auf Michael de Notre Dame saßen nur Zunft-Handwerker und alle jene vor dem Podium, die begierig auf jedes Wort warteten und das neue Wissen umsetzen wollten und konnten. Ich gab Riancor das verabredete Zeichen. In einer Tonkulisse von Lauten des Frühlings, gleichgearteter Musik, im hellsten Licht des Nachmittags, als Mittelpunkt von weniger als hundert Studenten, kam Charlot oder Shaluq herein: Tiefbraun gebrannt, strotzend vor Muskeln und Gesundheit, mit lockigem Haar, gesträubtem Schnurrbart und ansteckendem Lächeln, nackt und kraftvoll, ohne Beeinflussung durch Psychostrahler, ein Bild seiner selbst, wie er vor mehr als zwanzig Jahren ausgesehen hatte, hob der ehemalige Bettlerkönig die Arme. »Die lange Reihe der Vorträge, in denen ich euch zu schildern versuchte, was in unserer fernen Heimat längst bekannt ist, endet in ein paar Tagen«, sagte ich. »Einen Beweis, daß mit geringen Mitteln viel erreicht werden kann, seht ihr vor euch. Richtet die Fragen an Charlot, den stolzen und nunmehr gesunden Bürger dieser Stadt. Für sein Leben hätte im Frühling niemand auch nur einen Sou ausgegeben.« Charlot setzte sich an die Kante des Podiums. Fragen stürmten auf ihn ein. Er beantwortete jede einzelne in seiner bedächtigen, oftmals pfiffigen Art. Er ließ den Eindruck, als habe so etwas wie eine Wunderheilung stattgefunden, nicht ein Augenzwinkern lang aufkommen.
»Ich würde lügen«, fuhr ich nachdrücklich fort, »wenn ich Euch weiszumachen versuchte, daß in unserer Heimat jedermann solche erstaunlichen Wandlungen am eigenen Leib erlebt – aber wir achten ständig darauf, daß keine Seuche uns etwas anhaben kann. Unsere Häuser sind so sauber wie unsere Kleider, die Straßen kennen keinen Unrat; dadurch, daß wir die Körper ebenso rein halten wie unsere schönen Gedanken, gibt’s kaum Schwären und eiternde Wunden.« Die letzte Bemerkung rief gedämpfte Heiterkeit hervor. Weder Monique noch Riancor oder ich hatten den Eindruck, daß das Maß körperlicher Reinlichkeit bei Hofe sonderlich zugenommen hatte. Charlot beantwortete neugierige Fragen. Riancor erklärte einem anderen Teil der Versammlung, wie ein Pulver herzustellen sei, das Ungeziefer Vernichtete, indem man es versprühte, in Wasser auflöste oder auf Holzkohle in geschlossenen, aber menschenleeren Räumen verbrannte. Es war billig und ohne Schwierigkeiten von jedermann zu mischen und anzuwenden, der bis fünfzehn zählen konnte. »Ihr werdet Euch fragen, Messieurs, warum wir immer wieder Ordnung und Reinlichkeit fordern, warum wir eine Philosophie von Warmwasser und Seife betreiben. Die Antwort ist einfach: Keiner von uns will an einer vermeidbaren Krankheit sterben. Unfälle, Tod in der Schlacht, Herzschlag im Bett der Geliebten… das nehmen wir hin. Aber in jedem anderen Fall versuchen wir, unser Leben so gesund, angenehm und vergnüglich wie nur irgend denkbar zu gestalten. Auch unser Volk ist gläubig und denkt an das Leben nach dem Tode. Aber die lange Zeit davor nehmen wir ernst. Deswegen erfanden wir so viele nützliche Geräte und Maschinen, Pulver und Salben, Kanäle und unzähliges andere. Wir haben Euch vieles gezeigt – nehmt es an, lehnt es ab, aber erinnert Euch an die freigebigen Fremden, wenn wieder jeder
dritte an der Seuche sterben muß.« Riancor hatte unter einem halb mannsgroßen, buntbemalten Hohlkörper ein Feuerchen entfacht. Das Gebilde aus dünnen Gerten und ölgetränktem Papier glich einer Birne, die umgedreht und gekappt worden war. An hauchdünnen Drähten hing eine Gondel, in der mehrere kurze Kerzen brannten. Sie erhitzten die Luft, die den Ballon hob und langsam bis zur Decke schweben ließ. Unter den Klängen einer fremdartigen Musik erklärte Riancor mit überlauter Stimme: »Und auch in diesem Spielzeug steckt ein deutlicher Nutzen. Vergrößert dieses Gefährt, das dem Vogel gleich ist, setzt Euch in die Gondel, und es wird der Anfang eines langen, faszinierenden Vorstoßes in das Reich der Wolken sein, und jeder, der es erlebte, wird wissen, daß er den Gestirnen niemals näher sein kann.« Der Ballon tänzelte in einem leichten Luftzug hin und her, näherte sich dem Gebälk und sank wieder herunter, schwebte in den Saal hinein und stieß mehrere Male an die Decke. Entgeistert starrten die Zuschauer diesem unbegreiflichen Vorgang und dessen lautlosem Mittelpunkt hinterher. Schweigen und überraschte Ausrufe lösten einander ab. Verwirrt stolperte Charlot zurück zu Riancor, der ihn in das Gartenhäuschen brachte und mit einer Anzahl Münzen belohnte. Ich wartete und tat, was ich meist zu tun hatte: Ich beantwortete Fragen, so gut es ging und ohne allzusehr mit den herrschenden Vorstellungen der Moral und der Gesetze und des Glaubens zu kollidieren, der auf seltsame Art gedeutet, mißdeutet und, in Fällen, die wir gut genug kannten, mißbraucht wurde. Aber er galt und war Stütze für die einen, Grund für andere, sich gegenseitig umzubringen. »Wir sehen uns wieder in vier Tagen«, schloß ich.
»Hoffentlich erlebe ich es noch, wenn einer von Euch in der Gondel sitzt und die Stadt von hoch oben mit den Augen des Falken sieht.« Daran glaubst du tatsächlich? »Schwerlich«, murmelte ich und beantwortete so die sarkastisch betonte Frage des Logiksektors. Der farbige Heißluftballon sank senkrecht abwärts, und die letzte Kerzenflamme ertrank im Wachs. Ich zuckte mit den Schultern und begann, meine Ausrüstung wegzuräumen. Plötzlich freute ich mich wieder auf die Abende mit Blaise Monluc und den Winter in Beauvallon.
5. Wir hatten, obwohl Nostradamus nichts unversucht ließ, unsere Arbeit zu stören oder lächerlich zu machen, alles getan. Jeder fällige Gelehrte, Handwerker oder Baumeister konnte unzählige Lehren aus den zahlreichen Anregungen und Vorschlägen ziehen. Unser Gepäck war verladen; in den schwarzen Nächten folgte uns der Gleiter. Wir ritten zusammen mit Blaise und seiner Truppe nach Süden. Die Soldaten gingen ins Winterquartier. In ihrem sicheren Schutz trabten wir durch die sterbende Landschaft des späten Herbstes. Die Luft war frisch und klar, in manchen Nächten überzog leichter Frost das Land. Mit jedem Tag näherten wir uns den versteckten Hochtälern von Beauvallon und Le Sagittaire ein wenig mehr. Hinter den Dreifachreihen der Reiterei, in einer dünnen Staubwolke, mahlten die Felgen der Troßwagen, der langläufigen Geschütze und der Gefährte, auf denen Pulver und Kugeln in dicken Strohgebinden verstaut waren. Weit voraus trabten etliche Kundschafter – wir ritten an der Spitze des Zuges und unterhielten uns, so gut und fröhlich es ging. Der Organismus des riesigen Steinhaufens, der Miasmen und Krankheiten ausdünstete und nach Salpeter roch, lag weit hinter uns. »Auf keinen Fall kann ich lange bei euch bleiben!« rief Blaise zu Monique hinüber. »Man wird Boten schicken, wenn ich gebraucht werde.« »Jeder Tag mit dir ist ein Gewinn!« dröhnte ich. »Und jeder Hugenotte oder Papist, der nicht totgeschossen wird, ist ein noch größerer.« Er winkte ab. »Ich habe schon so viele ebenbürtige Gegner überlebt! Und ich entdeckte, daß sie mir alle fehlen.« »Derlei Gespräche führen wir später: bei Wein, Kaminfeuer
und des Nachts.« Inzwischen waren wir wieder mit unseren Masken verschmolzen. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen der Rolle, die wir uns aufgezwungen hatten, und uns selbst. Ein Zustand, der ebenso angenehm wie gefährlich war, denn er veränderte uns. In der Geborgenheit des Schlößchens würden wir wieder subtile Unterschiede treffen können. Riancors Spionsonden lieferten aus dem Gebiet unserer Schutzbefohlenen nur positive Bilder. Wieder kamen wir an eine Wegkreuzung und wandten uns nach Südost. »Noch drei Tage, schätze ich!« rief Riancor. Ich war auf dieselbe Zeit gekommen. Für uns war es eine Erleichterung, die dreimal hunderttausend Bewohner einer Stadt weit hinter uns gelassen zu haben, die sich nur den Anschein gab, die Klugheit und Erfahrung Fremder zu benötigen. Paris war nur ein Beispiel für ungezählte Städte. Trotzdem konnten wir sicher sein, daß ein bestimmter Prozentsatz der Denkanstöße weiterverwendet werden würde. Darüber sprachen wir, als wir in einer Gruppe von sieben Reitern über die gewundenen, schmalen Straßen nach Beauvallon trabten. Blaise hatte uns auf seine rauhe Art getröstet und aufgemuntert. Die Sonne war scheinbar im Nebel festgehalten worden. Ich zeigte auf den Wald, hinter dem die ärmlichen Fahnen aus rauchenden Kaminen aufstiegen. »Schnee liegt in der Luft.« »Das ist eine gute Nachricht. Schneit es, wird nicht gekämpft. Keine Gefechte, kein Blaise.« Obwohl ringsum die traurige Schönheit aus Weiß, Grau und Schwarz herrschte, waren unsere Gespräche bis zu dem Augenblick fröhlich und laut, an dem wir auf den halb zugewachsenen Waldweg hinunterritten, der das Dorf vor den Blicken der meisten Neugierigen verbarg. Der Hufschlag
klang weicher, obwohl die Erdschicht der Fahrrillen dünn wie eine abgegriffene Münze geworden war. Riancor beugte sich vor, gab dem Schecken die Sporen und sprengte vor uns her. Einige Atemzüge später hörten wir seine lauten Rufe. »Er sichert uns einen, hoffentlich, warmen Empfang!« meinte Blaise und zupfte an den Enden seines Bartes. »Er sorgt dafür, daß wir schnell erkannt werden. Wir haben unseren Bauern beigebracht, wie sie sich gegen Marodeure wehren können«, warf ich voller Ernst ein. Aber als wir das versteckte System aus Fallen, unsichtbaren Gräben und bewachsenen Schanzen durchritten, waren die Bohlentore längst geöffnet, und ein Teil der Einwohner hatte die Häuser verlassen. Ich half Monique aus dem Sattel und drückte zahlreiche Hände. »Wie war die Ernte? Sind die Handwerker gekommen? Habt ihr den großen Schuppen hinter der Schmiede gebaut?« »Alles wartet auf Euch, Herr! Jeder Plan, den Ihr gezeichnet habt, wurde ausgeführt.« Blaise und seine Soldaten setzten fröhliche Mienen auf. Sie fanden bestätigt, was wir berichtet hatten: Hier waren wir keine gefürchteten Herren, sondern Freunde, die klüger und anders waren. Schnell waren Pferde und Sattelzeug versorgt, das Gepäck in den Zimmern verstaut, die Kloben in den Kaminen und die Kerzen angezündet. »Ich bin wahrlich weit herumgekommen, Condottiere d’Arcon«, meinte am Ende des Tages der junge Lieutenent Tillyard. »Aber ein solches Dorf kam mir noch nie unter die Augen.« »Wir hören’s gern.« Riancor stieß mich in die Seite. »Ein wenig haben die wackeren Dörfler auch Angst, daß wir sie mit Nachdruck zum Glück und Reichtum zwingen wollen.« Beauvallon hatte sich auf den Winter vorbereitet. An den Hauswänden waren die riesigen Scheitholzstapel geschichtet.
Ställe und Wände waren frisch gekalkt, überall sahen wir Säcke, Schinken im Rauch, Fleisch im Pökelfaß, dampfende Kessel über der Glut der Kamine. Die Dörfler sahen gesund, sauber und gut gekleidet aus. Hühner gackerten, Enten und Gänse schnatterten, Tauben gurrten, es brüllten die Rinder, die Schweine erzeugten in den Koben schreckliche Geräusche, Hunde kläfften, auf warmen Kaminsteinen saßen fette Katzen. Es roch nach Most und Wein, eingelegtem Gemüse und nach Obst. Die Kieswege sahen sauber aus, und überall arbeiteten jetzt die Männer mit Holzstämmen, Bohlen und Brettern, setzten Bäume und beschnitten Anpflanzungen. Durch die kleinen Läden der Schule schimmerte das Licht der Kerzen. »Heute abend, wenn wir am großen Tisch in der Halle essen, werdet ihr sehen, was die vielen armen anderen Bauern nicht wissen!« vertröstete Monique. Wir überließen die Gäste der Obhut der Beauvalloner, zogen uns um, anschließend unternahmen Monique und ich einen ausgedehnten Spaziergang quer durch die abgeernteten, frisch umgebrochenen Felder und entlang der Waldränder, durch die Weinberge und um die Mühle herum. »Mit wenigen Worten«, ich lehnte mich an den Baumstamm, »es geht nicht ohne einen von uns. Vielleicht schicke ich Riancor jedes Jahr ein paar Monde lang hierher.« »Wird er es schaffen können?« Wir standen auf dem höchsten Hügel, der sich als natürliche Barriere vor den südlichen Wäldern erstreckte. Von hier aus sahen Häuser und Ställe wie lebendiges Spielzeug aus. »Mit einem entsprechenden Auftrag und dem bekannten Programm müßte es zu leisten sein. Man muß auf sie aufpassen. Die Menschen müssen wissen, daß es jemanden gibt, der die Verantwortung trägt und sie fordert.« »Und ihnen hilft, wenn sie’s brauchen.« Ich nahm sie in die Arme, zog sie an mich und genoß es, daß
auch ich jemanden hatte, wenn ich ihn brauchte. Ich merkte mir einige Punkte, die noch zu verbessern waren, beobachtete Raubvögel, Rotwild und eine Rotte Wildsäue, die fett und dreist wirkten. Der Logiksektor wisperte aufgeregt: Du riskierst deine Gesundheit, wenn ihr jagt! Das nahm ich gern in Kauf, meinte ich und grinste innerlich. Ich war, was die Stadt anging, bildermüde und sehfaul geworden; in diesen Jahren lohnte es sich nicht, in das Schicksal der barbarischen Kleinstaaten einzugreifen. Es dunkelte, und wir machten schnellere Schritte. Dohlen und große Eulenvögel krächzten zwischen Stämmen und Zweigen, von denen sich Rindenstücke schälten. Über den Nebel hob sich ein buttergelber Vollmond. Wir zogen die Kragen der fellgefütterten Jacken höher und eilten zwischen der Schmiede, der Schule und vorbei am verwaisten Pfarrhaus auf das weit offene Tor von Le Sagittaire zu. In der Halle waren die Vorbereitungen für ein langes und reichhaltiges Abendessen angefangen worden. Im Durcheinander von klappernden Tellern und Krügen sang Tillyard zur Laute und schäkerte mit den Mädchen. Nur die dunkelrote Glut hinter dem aschgrauen Bohlenstück verbreitete ein vages Licht. Aus irgendeinem Winkel hörte ich ganz leise den jungen Reiter singen; die Töne der Saiten klangen teilweise schaurig. Mit dem Wind, verstand ich, sang ich mein Lied in die Wolken… Jemand klopfte an die Tür. Ich lehnte müde am Kopfteil und erkannte den Rhythmus, den Riancor anwandte. Monique schlief, halb zusammengerollt, neben mir. … Sehnsucht in die Pinien gerufen, in den Ginster Wahrsagung gewebt… Riancor öffnete die Tür einen breiten Spalt, winkte mir, und
ich war schlagartig hellwach. Auf nackten Sohlen lief ich auf den Korridor hinaus und starrte aufgeregt in seine leuchtenden Sehlinsen. »Du hast sicher einen Grund«, begann ich. Er nickte. Schließlich sagte er völlig unbetont, plötzlich wieder mit der Stimme eines Roboters: »Die Überwachungsgeräte melden im Überlebenssystem einen Wassereinbruch. Er war zunächst so geringfügig, daß kein Alarm ausgelöst wurde. Jetzt ist die Menge des eingedrungenen Wassers so groß, daß die Hochleistungspumpe angelaufen ist. Die Roboter haben Zerstörungen registriert. Ich warte auf deinen Befehl, Gebieter.« Ich schwieg bestürzt. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich versuchte, die Situation einzuschätzen, und entschied mich schon nach einigen Sekunden. »Aktiviere die Transmitter! Wir gehen sofort in die Kuppel und müssen die Lage unter Kontrolle bringen.« »Ich habe natürlich bereits alle Schaltungen aktiviert, die uns helfen können. In kurzer Zeit warte ich auf dich in den Gewölben. Du solltest vielleicht bis zum Morgen wieder zurückgehen.« »Ich bin sofort bei dir.« Ich huschte zurück und zog mich an. Ich steckte die wichtigen Nachrichtengeräte ein und dachte über eine Gefahr nach, die ich bis zum heutigen Tag nicht richtig eingeschätzt hatte. Der Zylinder, den die Kuppel abschloß, war immerhin älter als neun Jahrtausende. In neuntausend Ellen Tiefe herrschte ein mörderischer Wasserdruck. Mehrmals waren durchaus ernstzunehmende unterseeische Beben registriert worden. Sie hatten Schlick aufgewühlt, die Felsen erschüttert, und der Überwachungskalender kannte schwere vulkanische Aktivitäten. Arkonstahl, in gebührender Dicke und mit
robotischer Zuverlässigkeit zusammengebaut, überdauerte Ewigkeiten, war aber nicht für ewig stabil. Wenn es ein feines Loch gab, entwickelte in dieser Tiefe ein eindringender Wasserstrahl die zerstörerische Wucht eines Laserstrahles. Ich weckte Monique, baute auf dem niedrigen Tisch neben unserem Bett ein paar Geräte auf und aktivierte eines nach dem anderen. »Riancor und ich müssen zurück in die Kuppel. Einige Maschinen haben versagt. Du kannst mit uns sprechen und uns sehen«, sagte ich drängend. Monique hatte sich aufgerichtet und blickte mich unsicher an. »Gefährlich? Du wirkst aufgeregter als jemals zuvor.« »Ehe es wirklich gefährlich wird, sehen wir nach. Du mußt Blaise und die Dörfler beruhigen, wenn es nötig wird.« Ihre Augen huschten über die aufgeklappten Truhen, in deren Deckeln die Bildschirme und Kontrollampen glimmten. »Wie spät?« »Noch vor Mitternacht«, sagte ich und schlüpfte in die Jacke. »Ich spreche mit dir, sobald ich in der Schutzkuppel bin.« Monique senkte den Kopf, strich einige Falten des Lakens glatt, ohne zu merken, was sie tat, und dann nickte sie mehrmals. »Ihr müßt nachsehen. Geht schnell, und kommt bald wieder zurück.« »Darauf kannst du dich verlassen«, sagte ich und küßte sie. Ich lief, so schnell und leise ich konnte, über die Gänge, Treppen und die Stufen hinunter in die Gewölbe. Hier roch es nach Wein. Ich schloß die schweren Portale und ging auf Riancor zu, der mit seiner Ausrüstung vor dem aktivierten Transmitter stand. »Hast du Verbindung mit der zentralen Positronik?« fragte ich und nickte. Er antwortete, während er die Kodierung in die Tastatur der Seitenleiste eintippte:
»Natürlich. Der Wassereinbruch erfolgte etwa in der Mitte des Zylinders. In einem der größeren Lagerräume. Es muß eine größere Menge eingedrungen sein, die ständig anschwillt«, erklärte er hart, machte einen großen Schritt zwischen die Energieschenkel und verschwand. Ich wartete, bis sich das Energiefeld wieder aufgebaut hatte, und spürte, wie meine schwarzen Ahnungen größer wurden. Dazu kam, daß unsere Station etwa zweihundert Ellen tief in den ausgehöhlten Fels hineinreichte. Der zylindrische Teil, im Thermal-Hochdruckverfahren mit dem gewachsenen Fels verschweißt, war also laut Zentralpositronik gefährdet. Ich passierte die Transmitterverbindung und befand mich in der kühlen, mittlerweile hell ausgeleuchteten Kuppelwölbung. Riancor hantierte an den Pulten und ließ Bilder der Unglücksstelle erscheinen. Eine schwebende Plattform summte heran und verharrte zwischen uns. Etwa hundertzwanzig große Schritte betrug der Durchmesser der Rundung. Ich studierte die schematisch blinkenden Darstellungen der Verbindungselemente, die wir benutzen mußten, um in die Tiefe hinunterzukommen. An zahlreichen Stellen bewiesen rote Blöcke, daß sich Notschleusen und Schotte geschlossen hatten. »Alles klar!« sagte Riancor und setzte sich in den Pilotensitz. »Das Leck befindet sich auf der elften Ebene. Sie ist teilweise überflutet.« »Inhalt des Lagerraums?« »Maschinen und Geräte, Rohstoffvorräte und Werkzeuge. Die Roboter sind bereits dabei, ein Thermoelement aufzubauen und mit Energie zu versorgen.« »Das bedeutet, daß nichts und niemand und erst recht keiner von uns von außen herankann?« »Du hast es auf den grafischen Darstellungen gesehen. Ich vermute, daß die Felsbewegungen einen winzigen
Materialfehler aufgedeckt haben…« »Kein Wunder; nach mehr als neuntausend Jahren.« Wir verließen die obersten Ebenen, von denen ich jeden Winkel auf das genaueste kannte. Ein Antigravschacht war eingeschaltet worden und nahm, nachdem sich schwere Schleusentore geschlossen hatten, die Schwebeplattform auf. Ich schaltete die Aufnahmegeräte mit dem Kuppelsender zusammen und sagte ins Mikrophon des Armbandgeräts: »Monique! Wir sind sicher gelandet. Wir befinden uns auf dem Weg zur Unglücksstelle.« Die Elemente der normalen Beleuchtung brannten störungsfrei. Ein gutes Zeichen; die Notbeleuchtung hatte sich noch nicht eingeschaltet. Mein Mißtrauen gegen arkonidische Technik war nicht sehr groß, aber über solch lange Zeiträume hinweg fielen auch Maschinen und Anlagen aus, die sich selbst kontrollierten und überdies von stationären Robotern gewartet und systemüberprüft wurden. »Hast du schon eine Reparaturmöglichkeit herausgefunden?« Es begann nach Meerwasser zu riechen, nach feuchten Materialien und schmorenden Energieleitern. Das Geräusch schwerer Maschinen, vermutlich der Pumpen, verstärkte sich. Von den massiven Stahlelementen gingen feine Vibrationen aus. »Die Maschinen werden ein Kastenelement herstellen und um den Riß herum anschweißen.« »Ich weiß nicht, ob mir das gefällt«, murmelte ich und hörte Moniques halb aufgeregte, halb zuversichtlich klingende Stimme. Ich merkte, wie die Bewegung der Plattform langsamer wurde. Riancor steuerte sie nach rechts, in ein verschlossenes Stück Korridor hinein. Die Kennfarbe dieser Plattform war gelb mit schwarzen Streifen. »Hinter diesem Schott beginnt die gefährliche Zone.«
»Gleichgültig. Sende den Öffnungsimpuls!« Hier unten gab es Räume, die ich nie betreten hatte, und Maschinen, von deren Existenz ich nur aus den Verzeichnissen und Bauplänen der Computer wußte. In Notzeiten hätte dieser Turm samt Kuppel für kurze Zeit zehntausend Arkoniden Unterschlupf bieten können. Ich rief mir ins Gedächtnis zurück, was ich von diesen Räumen wußte. Die Elemente eines Druckschotts schoben sich in Wand und Decke zurück. Nach Passieren einer weiteren Schleuse schwebte die Plattform einige Dutzend Schritte nach links, dann sprangen wir ab. An schwankenden dicken Kabeln hingen zusätzliche Tiefstrahler und tauchten eine unwirkliche Szene in grelles, fast schattenloses Licht. »Merde!« sagte ich laut und fügte einen französischen Fluch in voller Länge hinzu. »Wie gut, daß wir so schnell an Ort und Stelle waren.« Zwischen den senkrechten, wantenartigen Verstrebungen hatte sich ein Schlitz geöffnet, etwa drei Finger lang und doppelt fingerbreit. Waagrecht pfiff und heulte eine glasklare Wasserfläche, wie eine Schwertschneide, quer durch eine vierzig Schritt breite Halle. Sie traf einen Kasten aus Arkonstahl, der vorn geöffnet war. Darin erzeugte sie ein Geräusch wie lang anhaltendes Blitzkrachen und ferner Donner gleichzeitig. Unterhalb des Schwertes aus vernichtendem Wasser sprudelte und schäumte die Flüssigkeit, deren vernichtende Wucht gebrochen worden war, hervor und lief auf den gerasterten Kunststoffboden. Im Zentrum der Halle befanden sich zwei Abflüsse. Einer davon war alt, der andere war von Arbeitsrobotern eingeschnitten worden, nachdem sie eine zweite Pumpe mit einem Stahlrohr großen Durchmessers verbunden hatten. Jetzt bedeckte nur noch eine halbe Handbreit Seewasser den Boden, alles andere wurde abgesaugt. Aber an den Wänden markierte ein Streifen
auskristallisierendes Salz die Höhe des Wasserspiegels. Kisten, Ballen und Tonnen waren aus ihren Lagern gehoben worden, hatten zu schwimmen angefangen und waren, als das Wasser fiel, zu Boden gesunken. Die Maschinen hatten neun Zehntel davon so weit aufgeräumt, daß der Boden der Halle frei war. »Der Riß vergrößert sich ständig weiter«, sagte der Robot. »Man muß eilig arbeiten.« Vier wuchtige Stahlplatten hingen in den Greifern der Robots. Eben wurde die letzte Schweißnaht gelegt. Ich schirmte meine Augen ab und erkannte einen großen Kasten ohne Boden und Decke, der in einen Deckenkran eingehängt und quer durch die Halle geschleppt wurde. Es herrschte ohrenbetäubender Lärm aus zwei Dutzend Schallquellen. Riancor und ich brüllten uns Fragen und Antworten zu. »Sie versuchen es mit Vereisen!« Um den waagerechten Wasserstrahl – je mehr ich mich umsah, desto deutlicher sah ich die Schäden, die jene treibenden Gebinde davongetragen hatten – schienen Dutzende von Maschinen an der Innenhülle zu kleben. Ein weißer Fleck breitete sich aus, eine dicke Eisschicht kristallisierte rund um die Einbruchsstelle. Vielleicht gelang es, einen Teil des Meerwassers zwischen Fels und Bruchnaht zu vereisen. Schon der erste feine Strahl mußte wie ein feingebündelter Hochenergiestrahl gewirkt haben. Manche Dinge waren förmlich auseinandergeschnitten, und aus den Schnittstellen floß Wasser ab. Chemikalien hatten sich aufgelöst und bildeten skurrile, ineinanderfließende Farbflächen. »Deine Regie ist ausgezeichnet«, stellte ich fest. »Ich beanspruche immerhin vier Zehntel der ZentralrechnerKapazität.« Das offene Kastenelement wurde über den Strahl abgesenkt, mit gewaltiger Wucht zur Seite gerissen und schlug mit
dumpfem Dröhnen an die Wand zurück. Sofort flammten an neun Stellen die Schweißgeräte auf, die beide Metallteile verflüssigten und submolekular miteinander verbanden. Die eisige Kälte und die weiße Glut kämpften gegeneinander. Dampf brodelte vor den Scheinwerfern auf und wurde von den Exhaustoren weggerissen. »Als der Lärm losging«, rekapitulierte Riancor die Protokolle der Computer, »schaltete sich eine akustisch empfindliche Detektorenanlage ein. Dann aktivierten sich schrittweise sämtliche anderen Einrichtungen.« »Wann wurde das erste Geräusch gehört?« »Vor sechs Stunden. Eine Stunde später empfing ich die erste Alarmmeldung.« »Langsam, diese Zentraleinheit.« Jenseits der Ebene, in der sich Fels und Metall untrennbar miteinander verschmolzen hatten, mußte eine große Spalte oder ein System von Rissen aufgesprungen sein, durch das Seewasser sich einen Weg suchte, bis es auf den zukünftigen Riß traf, vermutlich eine Schnittstelle, an der damals die Maschinen in ihrer Arbeit unterbrochen worden waren. Schließlich war der »negative« Turm an Land hergestellt worden, unter atmosphärischen Bedingungen. »Sie hätte uns schneller warnen müssen. Aber wir allein – ohne das Heer der Maschinen wären wir hilflos gewesen!« brüllte ich. Die Dampfwolken verzogen sich. Neuer Lärm breitete sich aus, als die dröhnenden Maschinen versuchten, in das Kastenelement von oben einen fast eine Handbreit dicken Schieber einzuführen. Eine Arkonstahlplatte, die außen mit kreuzförmigen Verstrebungen verstärkt wurde, schwebte an den Haken eines Antigravgeräts senkrecht abwärts und glitt klirrend in wuchtige Führungsschienen. Nichts geschah, bis die Unterkante in den Bereich des Wasserstrahl geriet. Er
schien mir kleiner und weniger vernichtend zu sein. Dann zischte das Wasser, breitete sich nach allen Seiten aus, der Strahl verwandelte sich in eine Fontäne, die in alle Richtungen prasselte. Ein Rüttler packte die Oberkante und schob die Platte unaufhaltsam weiter nach unten. Während das Seewasser knatternd, zischend und kreischend aus dem Kasten zu entkommen versuchte, schwebte eine weitere Maschine heran und wickelte ein flexibles Rohr um alle vier Wandungen. Die einzelnen Windungen lagen dicht an dicht und wurden, mit einer großen Kältemaschine verbunden, vom Portalkran herangeschleppt. Augenblicklich preßten Pumpen eine tiefkalte Flüssigkeit in das System; die Röhren vereisten auch äußerlich. Mit einem letzten Knall schloß sich der Schieber, aber das Wasser wurde mit infernalischer Gewalt aus den Fugen gepreßt. »Sie schaffen es!« entfuhr es mir. Vor Spannung halb krank, hatte ich die Gedanken verdrängt, daß die Katastrophe ab einer bestimmten Größe unaufhaltsam sein würde – ich würde, samt der riesigen Technik um mich herum, zum heimatlosen Ausgestoßenen geworden sein, ohne die Möglichkeit, mich zu behaupten und den Barbaren den Weg zu den Sternen zu ebnen. »Die Wahrscheinlichkeit ist nahe hundert Prozent!« brüllte Riancor zurück. Es schien unmäßig lange zu dauern, bis die Fontänen und nadelscharfen Strahlen, die aus den Fugen pfiffen, nicht mehr mathematisch gerade, wie ein Spurstrahl, sondern, kraftloser geworden, in mehr oder weniger starken Krümmungen schossen. Wasser begann zu tropfen. Schließlich versiegten die Fontänen, und der annähernd würfelförmige Block hatte sich in eine dicke Schicht Eis verwandelt. Die Maschinen arbeiteten an anderen Stellen und überzogen die Innenwand mit einem Mosaik großer, rechteckiger Platten, die sie mit der Wandung und untereinander mit der
Thermokanone verbanden. Wieder gab es Dampf und Rauch. Aus einem Regal löste sich eine Palette voller Halbzeug: bronzene, silberne und goldene Zylinder, aus denen man, beispielsweise, Rohlinge schneiden und Münzen prägen konnte. »Und jetzt zur Schadensermittlung«, sagte ich. »Rufst du die Daten ab?« Wir hatten uns bis unmittelbar an das stählerne Geländer herangewagt und traten jetzt auf die Scherben von Scheinwerferabdeckungen. Die Hitze, die von den Schneideund Schweißstrahlen ausging, die hinter dicken Filterschutzschirmen arbeiteten, trocknete das stählerne Gewölbe. Gleichzeitig verdunstete die Feuchtigkeit; grauenhafter Geruch breitete sich aus. »Ziehen wir uns zurück. Ich setze weitere Maschinen ein.« Riancor packte mich am Arm. »Der Schaden wird nicht unbeträchtlich sein.« »Aber nicht lebensgefährdend.« »Dank der technischen Ausrüstung, deren Möglichkeiten du eben hast sehen können, läßt sich alles wiederherstellen. Oder fast alles. Hier entlang!« Mittlerweile waren schwebende Kamerasysteme erschienen und eine Reihe »fabrikneuer« Maschinen. Der Schwarm verteilte sich in der Halle. Eine Kette offener Container schwebte an unserer Plattform vorbei und schob sich über die Rampe abwärts. Der tobende Lärm hatte aufgehört. Wir schwebten hinaus; hinter uns schlossen sich die schweren Portale. Es schien, als sei unser Überlebenssystem gerettet. Ich schwieg und merkte mir, während wir auf einem anderen, ebenso verschachtelten Weg zu den obersten Ebenen vorstießen, die Anordnung der Decks und der Räume. Schließlich schaltete ich mich in den Informationskanal ein und beruhigte Monique.
»Halte unsere Gäste noch etwa drei Stunden hin«, bat ich sie. »Dann komme ich wieder aus unserem Gewölbe.« »Du ahnst nicht, wie ich um euch gezittert habe«, sagte Monique leise. »Ist es vorbei?« »So scheint es.« In dem vertrauten Bereich der Säle und Freiflächen unter der Kuppel wechselte ich zunächst die Kleidung und ließ sie säubern. Ein Pokal Wein verbesserte meine Laune und mein Wohlbefinden, als ich die Bilder anschaute und den Kommentaren zuhörte, die von Riancor und den Computern kamen. Sie verglichen die Posten auf den langen Listen. Ein bunter Reigen wiederverwendbarer, halbverdorbener und völlig unbrauchbarer Materialien, Gegenstände und Geräte zog an mir vorbei. Die Roboter sortierten die Gebinde und Container aus. Die Schäden waren tatsächlich groß, aber da unsere Vorräte vergleichsweise gewaltig waren, fielen sie nicht wirklich ins Gewicht. Vieles konnte wiederaufbereitet werden. Schließlich meldete der Zentralcomputer eine Lagernummer, die mich aufhorchen ließ. Du kennst sie, rief der Logiksektor in heller Panik. Ein unersetzlicher Verlust! »Zeigt die Kiste her! Langsamer!« rief ich. Ich zwinkerte und entsann mich. Die Erinnerung betäubte mich wie ein Schlag ins Gesicht: ein Kasten, halbmannslang, zwei Ellen hoch, drei Ellen breit, mit stabilen Verschlüssen und raumfester Versiegelung. Innen befand sich ein Spezialfutter aus federndem Schaumstoff, der ein kompaktes Gerät umschloß. Der Hyperfunksender! Zuerst schien die Verpackung aus dem Fach gefallen zu sein, dann war sie im Wasser geschwommen, halb eingetaucht. Sie mußte mehrmals und zu unterschiedlichen Zeiten von den vernichtenden Wasserstrahlen getroffen worden sein, denn die Umhüllung war zerschnitten, verformt und teilweise bis zur Unkenntlichkeit zerknittert. Der federnde Stoff im Innern troff
erbärmlich; das Gehäuse sowie mehrere kleine Anbauten und Ausbuchtungen schienen wie abgeschnitten, aufgeschnitten. »Bringt diesen Gegenstand hoch und stellt ihn in der Werkstatt neun ab!« befahl ich. Meine Finger zitterten wie im Fieber; ich schwankte im Sessel. Mir wurde übel: Der letzte mögliche Ausweg weg aus dem Chaos des Planeten war unpassierbar geworden. Vorbei. Schweigend sah ich zu, wie die Robots das Gerät auf eine Plattform verluden und aus dem Bildbereich der Linsen verschwanden. »Das ist die endgültige Antwort auf viele Fragen«, murmelte ich und griff nach dem Wein. »Mit größter Wahrscheinlichkeit existiert keine Funkverbindung mehr zum Computer der Venusstation«, sagte Riancor. »Du und ich«, ich hob in plötzlichem Frost die Schultern, »sind nun endgültig von Arkon verbannt. Keine Alternative mehr. Der Traum von der Arkon-Flotte… vorbei. Aus. Ausgesetzt auf dem Barbarenplaneten.« Nur langsam begriff ich, was Riancor antwortete. Er wiederholte es zweimal. »Wenn der Planet Arkon von dir erführe, über den Hyper-Fernsender der Venusstation, bedeutet dies einen Text, den auch andere abhören können. Selbst wenn du ihn kodierst. Verschlüsselungen sind von raumfahrenden Intelligenzen zu dekodieren. Auch andere Raumfahrer würden den Barbarenplaneten finden und ausbeuten, seine Bewohner versklaven. Auch diese Gefahr existiert nicht mehr. Erinnere dich allein an jene Raumschiffe, die zufällig hierherfanden.« Er hat recht, bestätigte das Extrahirn. Ob durch den Schock auch die Wahrscheinlichkeit kleinerer Zwischenfälle beseitigt worden war… in dieser traurigen Stunde war es mir absolut gleichgültig. Dennoch war es unendlich schwer, mich mit der Einsicht abzufinden, nie mehr die Flotte oder ein einzelnes
Schiff rufen zu können. Aber noch immer ruhte das »Raumschiff« im Basaltfelsen nahe der verödeten, ausgestorbenen Oase. Ausgraben? Die Felswand sprengen? Eine winzige Hoffnung blieb also. »Ich habe verstanden«, sagte ich. »Geht es nach uns und nach dem verdammten Schicksal, kommen weder die Schiffe meiner Leute noch irgendwelche anderen.« Riancor brachte mir unaufgefordert einen zweiten Pokal voll Wein. »Unsere Aufgabe ist niemals klar definiert worden. Du beantwortest stellvertretend für diesen Planeten selbstgestellte Fragen. Du glaubst vielleicht, versagt zu haben. Das ist falsch. Du solltest einige Zeit vergehen lassen und darüber nachdenken. Geh zurück zu Monique und Blaise! Ich bleibe mit dir in Verbindung und komme nach, sobald die Lage völlig unter Kontrolle ist.« Ich stand auf und fühlte, daß ich schwankte. Meine Knie waren ohne Kraft. Gedanken und Empfindungen wirbelten hin und her, zwischen tiefster Verzweiflung und einer neuen Kraft, die aus der Resignation kommen mochte. Ich hielt dem Roboter den leeren Pokal entgegen, schaltete das Bild Moniques auf einen Bildschirm und stellte mich in den Sichtbereich der Linsen. »Ich komme, meine Liebste«, sagte ich mit schwerer Stimme. »Der Preis für manche Einsicht ist so hoch, daß ich meine Zweifel habe, ob ich ihn zahlen kann…« »Komm zu mir!« antwortete sie mit der ruhigen Überzeugung, die richtigen Worte gefunden zu haben. »Es warten deine Freunde. Und ich – am meisten. Deine maurischen Freunde nennen dich El radschul el tawil, den großen Mann. Ich weiß nicht, was vorgefallen ist, aber nichts kann dich unbedeutender machen, Liebster.« Ich schluckte trocken und murmelte: »In einer halben Stunde findest du mich, wo ich hingehöre.«
Sie lachte aufmunternd. »Ich sehe es. Im Weinkeller von Sagittaire.« Das Bild flimmerte, ehe es wechselte. Ich kontrollierte auf eineinhalb Dutzend Monitoren den Umfang der Reparaturarbeiten, warf einen Blick auf die traurigen Reste des Hypersenders und hob die Schultern. Ich sprach mit Riancor, ging zur Transmitterstation und wagte den Sprung zurück in jene Umgebung, die mir weniger vertraut war als die technische Kühle der Überlebenskuppel. Aber Holzfässer, Weingeruch und die handgefertigten Teile, mit denen Trauben gepreßt und der Saft gefiltert wurden – sie rochen nach wirklichem Leben, und Monique, die auf mich wartete, gehörte zu diesem Leben. Ich atmete tief durch und sagte: »Träume, das ist es, was wir brauchen. Komm, träumen wir von künftigen Tagen, im Schnee oder im Mai.« Moniques Lächeln stärkte meine ersten hoffnungsvollen Überlegungen darüber, wie es nach Durchtrennung dieser Verbindung weitergehen würde. Ich war bereit, mich derselben Aufgabe unter geänderten Vorzeichen zu stellen. Blaise und seine Männer erkannten, daß ich weitaus ernster und nachdenklicher war als am letzten Abend, aber sie meinten, es käme vom überreichen Genuß unseres Weines. Mit dem Hinweis, sie sollten sich Saufedern leihen und ihre Waffen schärfen, beruhigte ich sie. Der Herbst, die beste Zeit für die Jagden, war fast vorbei, aber in »meinen« Wäldern gab es überreichlich Wild. Wagte andernorts ein Bauer, in den Waldungen seines Herrn zu jagen, riskierte er abgehackte Gliedmaßen, Kerker oder das Leben – nicht bei uns in Beauvallon. Wir sorgten dafür, daß es nur die älteren und schwächeren Tiere traf, aber unsere Beute war stets wohlgenährt. Es gab Braten im Überfluß; dazu Felle, die gegerbt und zu Kleidungsstücken genäht wurden. An vielen
Tagen, bis in die Zeit hinein, in der der erste Schnee fiel, sprengten wir durch jene Bezirke unserer Wälder, die man zu Pferde betreten konnte, ohne sich Hals und Bein zu brechen, durch finstere Hohlwege, über Lichtungen und weit die Berghänge hinauf. Große Schwärme von Krähen und Raben, einzelne Bussarde, Falkenpärchen und Geier begleiteten uns hoch über den Baumkronen und fraßen, was wir übrigließen. Jeden Morgen hing Rauhreif an den Zweigen. Die Ufer der Bäche begannen zu vereisen. Neunzehn Tage nach der letzten Jagd: Wir saßen in den behaglichen Sesseln der Halle und sprachen über die schönen und weniger schönen Seiten des Lebens. Jemand klopfte schüchtern ans Portal. Ein Junge kam herein und rief aufgeregt: »Ein reitender Bote ist gekommen. Er hat Nachricht für Ritter Blaise!« Monluc stand auf, drehte an den Enden seines weißen Bartes und murmelte ächzend: »Die schönen Tage sind vorbei, Freunde. Man braucht mich, um andere umzubringen.« »Warte ab, welche Nachricht man dir bringt«, wehrte Monique ab. »Immerhin bist du hier gesund eingeritten – und reitest gesund und wohlgelaunt wieder weg.« »Auch wahr. Sehen wir weiter.« Selbstsicher stiefelte er hinaus. Wir hatten gute Tage hinter uns. Es gab einige Handvoll Bauern mehr, die Verständnis hatten für Soldaten und Krieger. Es gab Kriegsmänner, die jene vielfältigen Probleme des ärmsten und am meisten geschundenen Standes im Land verstehen konnten. Viele Arbeiten wären ohne die Hilfe unserer Gäste nicht erledigt worden. Und die Mädchen schwärmten von der Heiterkeit der Reiter. Nun, ja. »Ausgerechnet! Fängt der Winter an, müssen wir reiten!« rief Tillyard vorwurfsvoll. »Unsere Pferde werden erfrieren!« Wir folgten Monluc, die Pokale in den Händen. Das
dampfende Pferd des Boten wurde von den Bauern versorgt. Blaise nahm einen Brief entgegen, las ihn, dann riß er den Arm in die Höhe und schrie: »Freunde! Die Zeilen kosten euch ein Vermögen in Wein, Brot und Braten! Erst in hundert Tagen brauchen sie uns. Kampf unweit von La Rochelle. Dürfen wir bleiben, Atlan-Cor?« Längst hatte ich verstanden, daß er, wenn er meinen Namen bewußt falsch gebrauchte, seine Herzlichkeit beweisen wollte: Cor, Herz; auf diese Art drückte er seine Freundschaft aus. »Natürlich. Gegen deine Langeweile kenne ich Rezepte«, antwortete Riancor herausfordernd. »Bäume fällen, dem Schmied helfen, Schieber ausbessern, mit mir zusammen hämmern und bohren…« Blaise lachte dröhnend. Ich zog Monique an mich und fühlte mich nach vielen Tagen wieder ausgeglichen. Ich zeigte auf die Dorfbewohnerinnen. »Vergiß nicht, Blaise, daß hier auch andere Aufgaben auf euch warten. Weitaus reizvollere.« Fünfundachtzig Tage und Nächte. Wir verbrachten sie so fröhlich und sinnvoll wie möglich. Ich bereitete die Dorfbewohner darauf vor, daß sie vom Jahresende an ihre Sorgen mit Riancor zu teilen hatten. Er würde für Ordnung sorgen und jegliche Verantwortung tragen. Wir lichteten die Wälder ringsum, hinterließen gefüllte Speicher, halfen den Einwohnern, wo immer es ging, regelten das Leben für die nahe Zukunft und zahlten unsere Steuern mit falschem Gold im voraus. Immer wieder »verschwand« Riancor und kontrollierte die Reparaturarbeiten in den Tiefen unserer Überlebensstation. Blaise Monlucs kleine Truppe, mit reichlich Proviant ausgestattet und gesunden, kräftigen Pferden, verließ uns endgültig. Wir begleiteten ihn bis zur übernächsten
Wegkreuzung, und der Abschied fiel so herzlich aus wie das – versprochene – Wiedersehen. Ich vermochte nicht daran zu glauben. Nachdenklich ritten wir zurück nach Le Sagittaire und versorgten jene Teile des Gepäcks und der Ausrüstung, die wir nicht zurücklassen konnten. Wie es die Alten im Dorf immer zu erzählen wußten, verschwanden wir unerwartet und mitten in einer Nacht, in der ein Schneesturm das Dorf und das Schlößchen umheulte und zu ersticken drohte. An den Resten des unersetzlichen Funkgeräts arbeitete ein Schwarm Spezialroboter. Die Bruchstücke waren poliert, teilweise demontiert und… unbrauchbar. Die Computer hatten sämtliche Lagerlisten abgefragt und festgestellt, daß der Senderempfänger irreparabel beschädigt war. »Schafft das Ding fort und versteckt es auf einer der untersten Ebenen!« sagte ich. »Und erinnert mich niemals wieder an den Hyperfunksender.« Einige Tage lang zögerten wir noch. Unsere Sonden übermittelten Bilder von der Oberfläche, aber da sie meist das Elend der Armen zeigten und die Verrücktheiten der Mächtigen, schien es besser, einen langen Schlaf zu beginnen. Rico würde wissen, wann er uns zu wecken hatte. Seltsamkeiten gab es genug auf diesem Barbarenplaneten; die eine oder andere würde auffallend oder dramatisch sein, und wenn die Computer ihre Auswahl getroffen hatten, durfte ich wieder zeigen, was ich von den Barbaren gelernt hatte; mit Ricos Hilfe. Das Innendach der Bühne war noch nicht geschlossen. Keilförmig sprang die Bühnenplattform in den unratübersäten Zuschauerraum vor. Die Galerien waren leer, der Balkon der Oberbühne trug schon Teile der Abend-Dekoration. Ein Vorhang trennte die Hinterbühne von den wenigen
Zuschauern; gleichzeitig kennzeichnete er den Eingang zur Schenke und Herberge. Ein Wirtshausschild zeigte ein schwellendes Kissen und einen Pokal. Eine Szene auf dem Marktplatz sollte geprobt werden. Jemand rief aus den Kulissen: »Zweite Szene!« Auf einem grob gezeichneten Zettel, an einem rostigen Nagel an die Wand gespießt, stand zu lesen: KOMÖDIE DER IRRUNGEN; COMEDY OF ERRORS. »Fangt endlich an!« Eine KURTISANE in offenem Mieder, mit unedlem Geschmeide und in gelbschwarzem Kleid trippelte aufreizend herein und setzte sich auf den Brunnenrand. Ein würdigrüstiger ALTER MANN, der eine Sonnenuhr, einen prunkvollen Gürtel und Schreibzeug trug, kam vorbei, lächelte die KURTISANE überaus freundlich an und setzte sich zwei Ellen neben ihr auf denselben Brunnenrand. »Zweiter Aufzug! Zweite Szene!« ANTIPHOLUS VON SYRACUS tritt auf. ANTIPHOLUS: Nur die Schönheit und ’s geistvolle Alter füllen den Platz. Kaum bin ich da, kommt schon der Narr, mein Sklave! DROMIO VON SYRACUS (schlendert heran): So komm ich ohne Fug und Recht zu solchem barschen Gruß. Denn Eu’r Warum und Eu’r Wofür hat weder Hand noch Fuß. Nun gut, ich danke Euch. Wofür? Ich werd’ es nie erraten. ALTER MANN (irritiert): Es fängt wohl unverständlich an, und sehr bizarr wird’s enden. ANTIPHOLUS: Du dankst mir, Freund? Wofür? DROMIO: Meiner Treu, Herr, für das kleine Etwas, das ich für nichts bekam! KURTISANE: Nicht besser geht’s ihm, als es mir oft ging, ’s ist überall dasselbe.
ALTER MANN: Der Eifer ist ein schlechter Herr, indes: Er ist ein guter Diener. ANTIPHOLUS: Nächstens will ich’s dir wiedergutmachen. Dann gebe ich dir nichts für etwas. Aber sag, ist es Essenszeit? DROMIO: Nein, Herr, denn unser Fleisch ist noch nicht, was ich bin. ANTIPHOLUS: Und was wäre das? DROMIO: ’s ist noch nicht mürbe. KURTISANE: Meines schon längst. Ich spür’s. Und dies für kärgsten Lohn! ALTER MANN: Der Mann lügt besser, wenn er redet, die Frau, wenn sie schreibt (deutet auf sein Werkzeug). KURTISANE: Nicht zahlt man mich fürs Schreiben, wie du weißt, (deutet auf ihr offenes Mieder). ALTER MANN (lacht): Bedauernswert die Frau, die nichts bereuen muß! KURTISANE: Ihr habt nicht Grund, mich zu bedauern. ANTIPHOLUS: Dann wird das Fleisch noch hart und trocken sein? DROMIO: Ja. Und wenn’s so ist, ich bitt’ Euch, eßt ja nicht davon. ANTIPHOLUS: Kein Biß davon! So hat denn jeglich Ding hier seine Stunde: Mein Rat an dich: So lern zu spaßen, wenn es an der Zeit. DROMIO: Den Satz hätt’ ich wohl geleugnet, ehe Ihr so cholerisch wurdet. ANTIPHOLUS: Nach welcher Regel? DROMIO: Nach einer Regel, die so klar wie die klare kahle Platte des uralten Gottes der Zeit. KURTISANE (kokett): Kenne ich den? ALTER MANN (nickt näher heran): Du wirst ihn kennenlernen, sei gewiß – und sicher früher, als dir’s schmeckt.
ANTIPHOLUS: Laß hören! DROMIO: Wenn einer von Natur aus kahl wird, so gibt es keine Zeit für ihn, sein Haar wiederzubekommen. Es sei denn, durch den Kauf des abgeschnittenen Haares eines anderen. KURTISANE: Dein Haar ist grau und lang. Ist’s denn dein eigen, alter Mann? ALTER MANN: Ich weiß was Beßres, als dem Wortwirrwarr zu lauschen. Mein Haar ward grau durch Klugheit, Wissen und durch Sorge. Noch ist es meines, jeder Faden. Sag an, wie nennt man dich? KURTISANE: In anderen Büchern schrieb man: Dremougati. Man kennt mich hier und heut als Anna oder Jane. ANTIPHOLUS: Warum ist doch die Zeit ein solcher Knicker mit dem Haar, das sonst ein solch reicher Auswuchs ist? KURTISANE: Auch du ein Knicker? Und was find’ ich, wenn ich dich begleite? ALTER MANN: Wart’s ab. Mein Ruf ist stark. Ich fasle nicht wie diese beiden. In meinen Jahren hält man mehr, als man verspricht. Und nimmer leid’ ich dieses holprig-hilflose Gestammel. DROMIO (wirft begehrliche Blicke auf Anna-Jane): Weil Haar ein Segen ist, mit dem das Vieh begabt. Was sie, die Zeit, dem Mann an Haar entzieht, ersetzt sie ihm an Witz. ALTER MANN: Das trifft’s! Bei Chronos! Den beiden nämlich fallen ihre Locken bis tief ins Hemd. KURTISANE (legt ihren Arm um seine Schultern): Auch hört man’s an den langen Reden, die sie schwingen. ALTER MANN (nimmt sie um die Hüfte, kneift sie): Dort gibt es warmes Bier, mein Lieb, und welschen Wein. Geh’n wir zum Wirt. Ich zahle gern. KURTISANE (beiseite): Ich leb’ davon. (Lachend und kopfschüttelnd entfernen sie sich.) ANTIPHOLUS: Und doch hat mancher Mensch mehr Haar
als Witz. DROMIO: Kein einziger, der soviel Witz hält’, sein Haar gern zu verlieren. Ein stattlicher Mann kam aus der Dekoration, breitete beide Arme aus und unterbrach die Schauspieler. Diesmal war er es, der den Kopf schüttelte. Zu den Akteuren sagte er: »Macht eine Pause! So geht’s wohl nicht, bei allem schuldigen Respekt.« Er sprang hinunter zu den Zuschauern, setzte sich neben einen jungen Mann mit nackenlangem braunem Haar und sagte ruhig: »Es ist zuviel, Master William, und auch zuwenig. Es gefällt mir nicht. Ihr solltet die Szene noch einmal überschlafen. Der Rest der Comedy wird wohl die Sitze und Ränge füllen. Aber noch ist’s nicht ausgegoren.« William, der Schauspieler und Stückeschreiber, der erst vor reichlich einem Jahr in die Stadt gekommen war, schien nicht verärgert zu sein. Er meinte: »Klug ist der Wirt, der entweder die Portionen vergrößert oder die Mieder der Kellnerinnen aufschnürt. So werde ich es halten. Vielleicht weiß mein neuer Freund einen Rat. Und ihr?« »Wir proben den Rest, und am Abend spielen wir ein Stück von Master Christopher Marlowe.« Sie nickten einander zu. Nur ein gutes Stück, das die Leute mitriß, brachte ihnen Geld und Ansehen. Der Poet aus Stratford-on-Avon verabschiedete sich herzlich und verließ den Innenhof des Gasthauses mit langen Schritten. Im Herbst Anno Domini 1587 weckte uns Riancor. Knapp zweiundzwanzig Jahre lang hatte diesmal unser Tiefschlaf gedauert. Meine erste Frage, als ich wieder Gewalt über Lippen und Zunge hatte, galt dem Leck des Riesenzylinders.
»Computer und Maschinen, Gebieter, mögen viele Nachteile haben. Einen Vorteil besitzen sie: Gründlichkeit. Wir haben das Leck hervorragend und sicher für weitere Jahrtausende geschlossen und buchstäblich jede Stelle untersucht. Es wurde keine zweite schwache Naht gefunden. Euer Schlaf war sicher.« »Gut. Warum hast du uns geweckt?« »Weil sich, in der kleinlichen Staatenwirtschaft der TerraBarbaren gesehen, drastische Veränderungen ankündigen. Philipp, der Sohn des großen Fünften Carlos von Spanien, seine katholische Gattin Maria, die junge englische Königin Elisabeth, Streit zwischen den Glaubensrichtungen, Überfälle der Spanier auf Engländer auf allen Meeren – das sind nur Stichworte eines Vorhabens, das geeignet sein kann, die Welt zu erschüttern.« »Im einzelnen: Was geht vor?« »Spanien plant, die größte Flotte dieser Zeit auszuschicken, um die englischen Inseln zu erobern.« Auf den Bildschirmen erschienen Karten, Ansichten, Bilder und Merksätze. Nach einiger Zeit gab ich meine Zustimmung: »Einverstanden. Ich bin nun schon einmal wach; ich bleib’s auch. Wie geht es Monique?« »Ich spiele ihr gerade Theaterstücke aus London vor, denn dort scheint ein Künstler den Altmeister Marlowe ersetzen oder ablösen zu wollen. Ein hervorragendes Talent, dieser Shakespeare. Die deftigen, groben, witzigen und innigen Darbietungen helfen Monique aufzuwachen.« »Und was soll das sein?« Ich zeigte mit zitternden Fingern auf einen Bildschirm. Dort zeichneten sich grünbewachsene Hügel im Sonnenlicht ab. Die Luftaufnahme einer Sonde zeigte ein stilisiertes Pferd aus weißen Umrissen. Schafherden weideten zwischen den
fließenden Formen. Der Pferdekörper maß vom Kopf bis zum Schweif etwa siebzig Mannslängen. Die weißen Umrisse oder langgezogenen Flächen bestanden aus dem KalksteinUntergrund der Hügel; sie waren offensichtlich sorgfältig vom Gras befreit worden. »Das ist das Weiße Pferd nahe Uffington, schätzungsweise reichlich sechzehnhundert Jahre alt. Ich fand erste Informationen darüber in den Speichern. Interessant, nicht wahr?« »Ein Hinweis für fliegende Objekte? Aus dieser Zeit? Ich denke gerade an die freigescharrten Linien in der Wüste des südlichen Amerika.« »Etwas Ähnliches. Ein Totem? Vielleicht«, sagte Rico. »Ein Stammeszeichen der Beigen-Kelten? Und hier, der Riese von Gerne Abbas, dessen genaues Alter nicht einmal unsere Speicher kennen. Schätzungsweise zweihundert Jahre nach der Zeitwende entstanden.« Ein riesiger Mann mit einer wuchtigen Keule in der Faust des erhobenen rechten Arms, mit auffallend riesigem Geschlechtsteil, angedeutetem Gürtel und kleinem, rundem Kopf, ebenso aus dem Kalkuntergrund geschabt; die grasenden Rinder in diesem Bild, das in die Sterne blickte, waren nur Farbtupfer. »Man hat das Pferd als ›Wunder Albions‹ beschrieben und feierte aufwendige Feste. Bist du ganz sicher, daß es nicht Zeichen für dich sind?« »Nein. Sicher kann ich nicht sein«, brummte ich und schloß die Augen, als sich die Solarlampen einschalteten. »Nicht, wenn es mich und den Planeten der Barbaren betrifft.« Von Stunde zu Stunde wurden die Informationen dichter aufbereitet. Etliche Tage später wußten wir mehr. Ein Zerwürfnis löste das nächste ab, ein Zwischenfall jagte den anderen – der Weg in den Krieg zwischen Spanien und
England schien vorgezeichnet. Vor mehr als fünfzig Jahren hatten spanische Armada-Schiffe die Türken vor Tunis besiegt; ein Grund für ein starkes Selbstbewußtsein Seiner Katholischen Majestät, König Philipps des Zweiten von Spanien, des mächtigsten Mannes der Christenheit. Seit 1556 saß er auf dem Thron Spaniens – was nicht ganz zutraf, denn sein karger Schreibtisch, ein abgewetzter Sessel, drei Dutzend Bücher in einem fensterlosen Raum, dessen Türen in eine private Kapelle und ins ebenso karge Schlafgemach führten, das alles in der Festung El Escorial… das war die Schaltzentrale einer Macht. Philipp war ein Sonderling, dem man zuviel auf seine Schultern geladen hatte. »Königtum ist Sklaverei mit einer Krone auf dem Haupt«, pflegte er zu sagen. Der katholische Philipp heiratete Maria die Erste und hatte dadurch nicht einmal politischen Erfolg. Maria verfolgte in England die Protestanten und ließ viele verbrennen. Sein Vater dankte ab; Philipp kehrte erleichtert nach Spanien zurück und erbot sich, Marias Halbschwester zu heiraten – wegen der Freundschaft beider Länder. Aber jene Frau, Elisabeth, wagte sich 1558 auf den Thron des Inselreichs. In Europa hagelte es Proteste. Englische Seeleute überfielen spanische Schiffe und Siedlungen in der Neuen Welt. 1579 überfielen eifernde Fremde Elisabeths Land. 1580 übernahm Philipp den portugiesischen Thron; die Ausführung dieses Staatsstreichs brachte Furcht und Schrecken über die Welt. Der Handel blühte, obwohl unentwegt Schiffe im Sturm sanken, überfallen und gekapert wurden – jeder gegen jeden. Philipps Flotte wuchs durch den Raub der portugiesischen Galeonen. Spanische und französische Flotten kämpften bei Sao Miguel und Terceira. Ich hielt die Bilder an und schluckte. Meine Inseln! SA Miguel! Santa Cruz, der Marquis Don Alvaro de Bazán. der
Held der Seeschlachten, sagte: »Jetzt, da uns Portugal gehört, ist England unser!« Philipp glaubte ihm. England, sagte der Logiksektor, diese streitsüchtige, eigensinnige Insel, ärmliches Land voller Burgruinen, Ketzerei und von feuchtem Klima. Stein des Anstoßes mitten im Meer. Heimat trinkfester Männer, großartiger Erzähler, dauersingender Barden und eminent tüchtiger Weltumsegler, Kaperfahrer, Piraten und Bogenschützen. Santa Cruz erhielt den Auftrag, eine Invasion zu planen. Er forderte 550 Schiffe, knapp 100.000 Mann und 3,8 Millionen Dukaten. Als Elisabeth, die Jungfräuliche Königin, ihre Rivalin Maria aus dem Geschlecht der Smart, ihre Cousine, hinrichten ließ, schrien die Katholiken nicht nur Spaniens nach blutiger Rache. Gut sieben Monate später wurden Monique und ich geweckt, da hatte »El Dragon«, der Drache, »Meisterdieb der unbekannten Welt«, seinen dreistesten bewaffneten Schachzug zur See schon siegreich beendet. Wir hatten genug Informationen; ich ließ das Spektakel auf den holografischen Bildschirmen ablaufen. Monique brachte spanischen Wein und setzte sich in den zweiten Sessel. Die Gefahr eines gewaltigen Krieges schien nach diesen Tagen zu einer Lawine angewachsen zu sein, die nichts und niemand mehr aufhalten konnte. Ich widmete mich zwei höchst unterschiedlichen Dingen. Ich sah zu und bewunderte mehr und mehr diesen verrückten Piraten Drake – und zugleich fragte ich mich, was ich eigentlich bei diesen barbarischen Spektakeln sollte. Auf dem Achterdeck der ELIZABETH BONAVENTURE stand Drake; kleinwüchsig, mit dem Brustkorb eines Meisterringers, einem braunen Bart im runden Gesicht und mittellangem Haar, im Halbharnisch und mit schwerem Degen. Hinter ihm segelten einundzwanzig andere Schiffe:
Galeonen, Pinassen und bewaffnete Kauffahrer. Die Hafeneinfahrt von Cadiz, seicht und eng, lag in erreichbarer Nähe. Clerk of the Ships William Borough zog sich verwirrt an Bord der GOLDEN LION zurück. Es gab keine erkennbare Taktik, keinen Plan. Zudem besaß Cadiz, östlich der Guadalquivir-Mündung, starke Uferbatterien. Drakes beste Waffen hießen Vorstoß und Verwegenheit. Er segelte los; der Rest des Geschwaders folgte in einiger Verwirrung, aber gehorsam. Was suchte ich inmitten der kleinlichen Auseinandersetzungen der Barbaren? Denn in einigen Tagen würde ich den Schutz der Kuppel verlassen haben. Ein Geschwader von Galeeren lag, den Bug zur See ausgerichtet, im Hafen. Die englischen Schiffe fuhren scharfe Wenden; eine Breitseite nach der anderen wurde abgefeuert. Verheerende Schäden und reiches Sterben gab es auf den spanischen Schiffen. Andere Schiffe ruderten an flache Stellen des Hafens, einige kollidierten, in der Stadt brach äußerste Verwirrung aus. Unablässig dröhnten die bronzenen Geschützrohre. Die Engländer enterten die Schiffe, die vor Anker lagen, und schleppten systematisch die Beute in ihre Segler. Die Geschütze der Festung und zwei Küstenbatterien richteten keinen erkennbaren Schaden unter den Eindringlingen an. Als die Nacht anfing, plünderten die Männer Drakes im Feuerschein der brennenden SpanierGaleeren Schiff um Schiff. Die Galeone des spanischen Admirals, die sich ins flache Wasser des inneren Hafens gerettet hatte, wurde von Drake in seiner Barkasse und kleineren Schiffen überfallen und in Flammen gesetzt. Die GOLDEN LION erhielt einen Treffer an der Wasserlinie; der Wind ließ nach und schlief völlig ein. Neue Maske, Arkonide. Noch mehr Neugierde? Noch immer
die Überzeugung, das Schicksal vieler Menschen verändern und ihnen den nächsten Schritt auf dem Weg zu den Sternen zeigen zu können? Als die LION sich anschickte, den Hafen zu verlassen, ruderten sechs spanische Galeeren heran und nahmen sie unter schwersten Beschuß. Drake schickte die Galeone RAINBOW, seine Pinasse und fünf Kauffahrer los. Sie schlugen zusammen mit Boroughs HON die Angreifer zurück. Nun gab es überhaupt keinen Wind mehr. Mehr als zehn Stunden lang beschossen die Spanier von allen Seiten die englische Flotte. Kleine Boote, in Brand gesetzt, steuerten auf die Piraten zu. Die Festungsgeschütze feuerten, was die Mannschaften leisten konnten. Mit wohlgezielten Breitseiten – sie waren hervorragende Kanoniere! – hielten sich die Engländer alle Angreifer vom Leib. Sie warfen ihre Anker und zogen die Schiffe an den Tauen in die Richtung der Hafenausfahrt; Ruderboote wurden eingesetzt; die Matrosen pullten wie die Rasenden, um die schweren Schiffe in den Schutz der Nacht und des sicheren Fahrwassers zu ziehen. Kurz nach Mitternacht kräuselte ablandiger Wind das schwarze Wasser. Die Segel füllten sich. Drake setzte sich mit der BONAVENTURE an die Spitze seiner Armada und segelte nach Nordwest. Zwei Dutzend spanische Schiffe waren vernichtet, 175.000 Dukaten in Flammen aufgegangen, auf dem Boden des Hafens oder als Prisen in den Bäuchen der englischen Galeonen. Sechs Wochen lang zogen englische Schiffe vor der spanischen Atlantikküste hin und her und plünderten jedes Schiff aus, dessen sie habhaft werden konnten. Im Juni erbeutete Drakes Geschwader im Schatten der grauen Felsen von Sao Miguel seine Traum-Prise. Die portugiesische Ostindien-Karacke SAN FELIPE, mit Stoffen, Gewürzen, Edelholz, Elfenbein, Gold, Silber, Edelsteinen bis
zur Ladegrenze beladen, ergab sich nahezu kampflos. Der Wert der Beute war so groß, daß das arme England darangehen konnte, seine eigene Flotte als Antwort auf Spaniens Armada aufzurüsten und Neubauten auf Kiel zu legen. Zwar tat Admiral Santa Cruz sein Bestes, rasten Boten durch das Land, wurden Gelder geliehen und Waren eingekauft, wurden Männer ausgehoben – aber Lethargie und spanische Mißwirtschaft halfen den Briten. Der Bau der Armada geriet zum Desastro. »Unsere Antennen und Spezial-Stationen sind selbstverständlich, nachdem die Insel besiedelt und das Versteck fragwürdig geworden war, bestens getarnt. Bisher ist den Anlagen nicht einmal ein kühner Kletterer zu nahe gekommen«, beruhigte mich Riancor. »Später würden mich Bilder aus England interessieren«, sagte ich und trank den letzten Schluck. »Ich denke daran, dort ein Häuschen zu mieten. Denn irgendwann wird die Armada wohl die Inseln erreichen.« »Wann? Das können nicht einmal unsere Hochleistungsrechner ahnen«, bedauerte er. Erinnerungen? Mehr als genug. Schiffe, Stürme, Gefechte und das endlose Meer: Wir kannten alles. Das Schöne, die Gefahren des Wassers, tapfere Männer und rücksichtslose Draufgänger. Und die Mächtigen, von denen Tausende in einen sinnlosen Tod gejagt wurden. Jeder einzelne hätte Besseres zu tun gehabt. Ich holte tief Atem. »Wir werden Frankreich besuchen, Le Sagittaire natürlich, und Spanien… vielleicht auch nicht. Früher war es dort heiterer. Jetzt regiert die Inquisition. Und auf jeden Fall das Land der Briten; dorthin reisen wir. Spiel mir die Bilder und Zusammenfassungen deiner Aufenthalte in Beauvallon vor!« »Sofort. Hast du die Masken, die näheren Umstände und die Rollen schon bestimmt?«
»Für Beauvallon wählen wir unser altes Erscheinungsbild; ich werde ein wenig älter aussehen. Ich denke über die politischen Beziehungen nach, die es uns erlauben, unbehelligt zu leben: als Italiener, Franzosen oder was weiß ich. Wir haben genügend Zeit, uns zu entscheiden.« »Muß ich etwa als Greisin in Beauvallon erscheinen?« fragte Monique entgeistert. »Nein. Färbe dein Haar, schneide es, verkleide dich – du bist dann meine zweite oder dritte Gemahlin.« »Aber auch nur für die Dörfler.« »Einverstanden.« Ich grinste und merkte, daß sich meine Muskeln im gleichen Maße strafften, wie sich die Haut bräunte. Bald konnten wir wieder feste Nahrung zu uns nehmen. »Bringst du uns etwas Wein, Riancor?« Der Roboter, dessen Äußeres überholt war, sah noch so aus, wie ihn die Dorfbewohner in Erinnerung gehabt hatten. Bart und Haar waren schloßweiß geworden; Falten und Runzeln zeichneten sein wettergegerbtes Gesicht. So gefiel er mir. Wozu mischte ich mich wieder in die Kriege der Barbaren? Weil ich freiwillig die Verantwortung übernommen hatte. Meine Erfolge? Hatten sie gelernt? Es gab tausend Staaten, Königreiche, Länder… Grenzen und Wappen ohne Zahl. Mein Traum einer einzigen planetaren Sprache und einer gemeinsamen Anstrengung rund um den Planeten, die Sterne zu erreichen oder ihnen näher zu kommen: Keine Chance, ihn zu realisieren. Verdiente England das Schicksal, in Spaniens Kultur hineingezwungen zu werden? Nein. Nicht gegen den Widerstand seiner Bevölkerung. Was konnten wir tun? Der Logiksektor gab die bündige Antwort: Kümmere dich um Beauvallon! Streue einige Dutzend kleiner Erfindungen unters Volk. Verhüte das Schlimmste, wo du es siehst. Mische dich nur an ungefährlicher Stelle in die Schachzüge der
Mächtigen. Eines fernen Tages schaffen die Barbaren alles, zumindest sehr viel – mit deiner Hilfe. Denke daran: ES sieht wahrscheinlich zu und hilft. In Spanien verbrannte die Kirche Abtrünnige vom wahren Glauben. Autodafes nannten die Kirchenoberen dieses makabre Geschehen. Die Mauren, Moriscos, denen das Land Kultur und Zivilisation verdankte, wurden unterdrückt. Die Maranos, also Schweine, so wurden die Juden genannt, von denen einst die blühende Wirtschaft abhing, wurden vertrieben. Das burgundisch-spanische Hofzeremoniell, das jeder Geste eine starre Bedeutung und dem unbedachten Wort gefährliche Wichtigkeit verlieh, entfremdete Herrscher und das Volk; Philipp II. mißtrauisch und pedantisch, legte einen Schleier frömmelnder Düsternis über seine Länder. Spanien war also nicht unser erstes Reiseziel – wir planten, arbeiteten und ließen packen und erschienen in kurzen Abständen, natürlich, in Beauvallon. Diesmal empfingen uns Ordnung, Reichtum und Gesundheit. Riancors Anwesenheit hatte sichtbare Spuren hinterlassen. Die Dörfler jubelten; nur der Pfarrer mißtraute uns. Er hielt uns für Freigeister, Calvinisten oder gar Hugenotten. Illusionen waren die schlechteste Medizin der Phantasie; ich fühlte mich halbwegs wie einer dieser sinnlos agierenden Barbaren und versuchte dennoch, in irgendeiner Form einzugreifen. Nachdem wir uns in Le Sagittaire eingerichtet hatten, postierten wir mehrere Spionsonden neu und hofften, die Informationen richtig zu verarbeiten. Während wir Musik vom Hof Elisabeths hörten, zusahen, wie man Ritterrüstungen gegen Musketengeschosse verstärkte, wie nach meinen frühen Ideen eine neue Kartenprojektion »erfunden« wurde – Mercator hieß der Mann, der die zylindrische Abwicklung der Kugelform ersann –, in der Zeit, in der Brieftauben als
Nachrichten-Boten entdeckt wurden, Zucker den Honig abzulösen begann, mehr von der Planetenoberfläche entdeckt und vermessen wurde – Martin Frobisher entdeckte eine nördliche Passage, Francis Drake umsegelte den Globus –, wurde von Papst Gregor eine neue Kalenderberechnung eingeführt. In England begann man mit dem Rauchen einer besonders behandelten Pflanze namens tabac. Ein Katalog von Fixsternen (1000!) wurde gedruckt. Kurzum: Während wir versuchten, die Welt besser zu begreifen, ging der Herbst vorbei, und der Winter begann. Wir gingen auf eine drei Monde währende Reise, die uns in die Neue Welt brachte, dort auf eine große Insel zwischen den Kontinenthälften Amerikas, die unbewohnt war und nur Piratenschiffen als Versteck dienen mochte – die Funde ließen diesen Schluß zu. Sonne, Wärme, weißer Sandstrand und die großen Wellen der seidenweichen Brandung: So ließ sich der Winter fein ertragen. Aber unser riesiger, schneller Gleiter war voller Technik. Wir waren von den Nachrichten der Welt nicht abgeschnitten, während wir mächtige Wale sahen und zwischen spielenden Schnabelfischen schwammen. Wir wohnten an der höchsten Stelle eines weißen Strandes, dessen Enden mit dem Horizont verschmolzen. Der Gleiter war versteckt, um drei Seiten des geräumigen Zeltes spannten sich Schattensegel. Ich lag in einer Hängematte, schaukelte mit dem linken Bein und verrieb reichlich Creme auf der tief braunen Haut. Mein schulterlanges Haar war völlig weiß geworden; den Bart, der mich zum Greis gemacht hatte, hatte ich entfernt. »Immer wieder treffe ich dieselbe Feststellung«, sagte Riancor halblaut. »Sind einige Handvoll Tage vorbei, langweilst du dich so sehr, daß du unglaubwürdig wirst.« »Die Sonne verwirrt deine Sensoren.« Ich schaute zur
Brandung und sah zu, wie Monique mit einem stattlichen Fisch am Angelhaken kämpfte, bis zur Brust im Wasser. »Ich versuche, mein Verhältnis zu diesem Planeten neu zu ordnen. Jetzt genieße ich den Sand, die Wärme, die meinen Körper zu einem Teil der Welt zu machen scheint, die vielen Stunden, in denen ich nicht gegen Dummheit zu kämpfen brauche.« »Du bist untätig«, stellte der Roboter fest. »Ein ungewohnter Zustand. Du denkst nicht an die Kämpfe und Probleme der Barbaren?« »Unausgesetzt. Aber ich handle nicht. Noch nicht.« »Du wirst deine Anordnungen klar aussprechen. Ich fühle mich nicht überfordert.« »Keinen Zweifel, liebster aller Roboter, Condottiere Riancor!« »Ich hole den kühlen Rosewein. Ich habe verstanden.« »Einen zweiten Becher für Monique.« Wir hatten miterlebt, wie die Spanier die Kolonien ausplünderten und wie ihre mit Gold, Sklaven und Gewürzen überladenen Schiffe in Stürmen sanken, wenn sie nicht von Piraten aufgebracht wurden, sahen, wie beide Flotten in abenteuerlich langsamem Tempo wuchsen – die französische und die der Engländer. Viele andere Tragödien ereigneten sich Tag um Tag: Die Geusen der Niederlande kämpften gegen die spanischen Besatzungen, hier forschten Männer, dort starben sie; Unfrieden war zahlreicher als Sonnentage in Europa. Wahrsager, Astrologen und Scharlatane schrieben und redeten viel. Sie stellten das Jahr 1588 unter den Stern des Bösen. Blutregen, Mißgeburten, Sonnen- und Mondfinsternisse, Mißernten und Hagelschlag, todbringende Konstellationen der Wandelsterne, Analysen aus Zahlenmystiken und der Offenbarung des Johannes… keine Verrücktheit schien unlogisch genug zu sein, und jene, die das Weltende für dieses Jahr vorhersagten, sprachen zuerst, daß ein Weltreich fallen
würde. Welches? Gott war mit den Spaniern; sie glaubten, England müsse verlieren. Also entwickelten sie eine Buchhaltung für die Jahre nach ihrem Sieg. Wir segelten in einer kleinen Schale aus unsinkbarem Kunststoff, fischten und genossen jeden Tag. Mein Körper hatte sich längst wieder in ein Bündel aus Muskeln, Knochen und Sehnen verwandelt, in eine arkonidische Dagor-Kampfmaschine ohne ein Quentlein Fett. Ich schwamm stundenlang, schlief tief und traumlos, versuchte im chaotischen Farbenspiel der Dämmerungen und im Zentrum einer Hemisphäre prächtiger Sterne, in den Armen Moniques, mehr Sinn in meiner Existenz zu erkennen. Die Nächte waren voller Liebe, Wein und Gespräche, von kurzen Gewittern mit warmem Regen unterbrochen. Regen. Es regnete auch in Europa: überall. In den letzten Monden des vergangenen Jahres hatten Hurrikane und Stürme auf den Meeren getobt. Wolkenbrüche über ganz Europa. Felder und Straßen ertranken. Hagel tötete das Vieh auf den Weiden. Regen auch in Spanien, als Don Alonso Pérez de Guzman, el Bueno. siebter Herzog von Medina Sidonia, achtunddreißig, ein breitschultriger Landedelmann, nach Lissabon kam, um die Armada als neuer Befehlshaber kennenzulernen. Er erschrak zu Tode. Im abgedunkelten Zelt sahen wir die Bilder der Sonden. »Wenn es nach meiner Rechnung geht«, meinte Riancor, »wird die Invasion der Inseln niemals stattfinden. Aber ich vermag den Starrsinn der Menschen nicht als feste Rechengröße zu verstehen.« »Das ist mehr meine Spezialität«, brummte ich. Es regnete. Don Alonso bewies Talent: Er begann zu organisieren. Es war eine Arbeit, die einem arkonidischen Roboter Ehre gemacht hätte. Sold wurde gezahlt, Kleidung verteilt, man zog Handwerker zusammen und begann die
verwahrlosten Schiffe zu reparieren. Kanonen, Kugeln und Pulver wurden neu verteilt; einige Schiffe besaßen keine Geschütze, andere kippten – überladen – fast schon im Hafen um. Der Regen hörte nicht auf. Vorderkastelle und achterliche Aufbauten einiger Schiffe wurden ausgebaut, was ihre Toplastigkeit erhöhte. Die ersten Kranken des 22.000-MannHeeres verließen die Betten. Lotsen, die den Weg nach London kannten, vorbei an den tückischen Sandbänken der Niederländer, wurden gesucht und gefunden. Es regnete noch immer, aber der April war wärmer. Sechshundert Dirnen, die auf den Schiffen lebten, wurden vertrieben. Nach und nach versammelten sich hundertdreißig große Schiffe in Lissabons Hafen: Galeonen von 1000 Tonnen, dreimastige Patachen, Zabras, Kurierboote, Galeassen mit vierzig Ruderriemen und Sklaven als Ruderer, Galeeren und Urkas, unförmige Lastschiffe, etliche hervorragende Karacken und dazu ein monströses Heer, das schon jetzt mit fauligem Wasser und Schimmel, Ratten und dem jaucheartigen Gestank in den Bilgen kämpfte. Etwa achttausend Seeleute, mehr als zwanzigtausend Soldaten, knapp zweihundert Priester und Mönche, ein halbes Hundert Verwaltungsbeamte, für diese Leute Proviant für ein halbes Jahr, Waffen und Kanonenkugeln… vierzig Maultiere und Geschützlafetten und eine Menge Material und Werkzeug, mit der man mühelos eine Brücke über den Kanal hätte schlagen können wie jener persische Gottkönig, der Griechenland angegriffen hatte. »Dazu dreißig kleinere Schiffe«, zählte Riancor aus. »Zu groß, zu unbeweglich und im Starkwind kaum zu gebrauchen.« »Noch sind die Schiffe im Hafen. Und die Spione beider Länder haben schon längst ihre Berichte abgefaßt.« Andere Bilder: Die Schiffe der Engländer boten sich in einem
weitaus besseren Zustand dar. Wir fanden achtzehn Gefechtsgaleonen zwischen dreihundert und elfhundert Tonnen, sieben kleinere Galeonen, viele Pinassen, dazu zweiundzwanzig schwerbestückte Kauffahrer: ein knappes halbes Hundert Schiffe. Jeder Kapitän, ob Francis Drake auf der REVENGE, Thomas Fenner, Kampfgenosse vor Cadiz und auf vielen erdumrundenden Raubzügen, war Vizeadmiral, Martin Fro bisher an Bord der TRIUMPH, Fenton auf der MARY ROSE, John Hawkins auf der VICTORY, sein Sohn Richard auf der SWALLOW und schließlich der kauzige Sir William Wynter mit der neuen VANGUARD – zu ihnen stieß, mehr begeistert als fachlich kompetent, Charles Lord Howard of Effingham. Jedes Stück der englischen Küste, von Süden ostwärts bis hoch hinauf, war in Verteidigungsbereitschaft versetzt. Cornwall und Devon, die Thames von der Mündung bis London – Strandwachen mit jeder nur vorstellbaren Bewaffnung, Wälle aus eingerammten, zugespitzten Pfählen und Geschützbatterien, die jeden Winkel des Flusses bestreichen konnten: Die hohl starrenden Bronzerohre waren scheinbar überall. In England und andernorts erschien ein Buch, das eigentlich nur die Musterrolle der Armada darstellte. Übersetzer reicherten es mit spukhaften Einzelheiten an. Eine Schiffsladung Stricke wurde mitgeführt, um alle erwachsenen Engländer hängen zu können, Eisen, mit denen die Kinder der Ketzer gebrandmarkt wurden, Peitschen, um die Frauen zu geißeln, und rund viertausend Ammen, um verwaiste Säuglinge zu stillen. Unter dem Eindruck solcher Nachrichten erstarkte England in Waffen. Begeisterung für die gemeinsame Sache grassierte; Standesunterschiede verwischten sich. Ein vager Verteidigungsplan zur See entstand zwischen den Kapitänen und der hochmütigen Admiralität.
Die Spanier lichteten endgültig, nach drei qualvollen Sturmund Regenperioden, am letzten Tag des Mai die Anker. Segel füllten sich, überaus prächtige Banner knatterten. Trompeten antworteten auf das Kanonenschußsignal. La felicissima, die allerglücklichste, unbesiegbare Armada lief aus. Am Abend des nächsten Tages erreichte die Schiffsprozession den offenen Atlantik; ein Sturm wütete ihnen entgegen, und die Schiffe kreuzten schwerfällig auf einem seltsamen Kurs, der erst besser wurde, als nach fünfzehn Tagen der Wind jäh auf Südwest umsprang. Wasser und Lebensmittel waren zu neun Zehnteln verdorben. Wir verfugten über einen Kleintransmitter. In regelmäßigen Abständen verließ uns Riancor und organisierte in Beauvallon die Arbeiten. Auch dort wüteten unmäßige Regenfälle. Er warnte uns und riet, hier auf der namenlosen Insel zu bleiben. Er schleppte Früchte und Essen nach Beauvallon. »Ich bekomme so etwas wie ein schlechtes Gewissen«, meinte Monique. Ihr rotes Haar, stark gekürzt, war unter der Sonne fast weißblond geworden. Im Sand hatten wir zwei kleine Geschützrohre und eine wuchtige Truhe voller Wertsachen gefunden – Perlen, Geschmeide, massive Goldkreuze und zahllose Münzen mit portugiesischer, englischer und spanischer Prägung, so schwer, daß Riancor Mühe hatte, sie wegzubringen und nach Sagittaire zu schaffen. »Wegen unseres guten Lebens hier?« fragte ich. »Jenseits des Ozeans ertrinkt alles. Die Menschen hungern. Und wir – wir finden Gold.« »Wärest du glücklicher«, brummte ich und ließ Sand über ihre nackten Schultern rieseln, »wenn wir im kalten Regen säßen und Skelette fänden?« »Nein. Aber…« »Aber es dauert einen Tag, und wir sind in London, Beauvallon oder in Amsterdam. Genieße den Tag, den
Umstand, daß wir ohne Masken hier in Ruhe leben können.« »Wahrscheinlich hast du recht.« »Irgendwann müssen wir das Zelt abbauen«, schränkte ich ein. »Ich weiß es selbst auch nicht besser. Sie werden kämpfen, siegen und verlieren. Ich kann und werde sie nicht aufhalten.« Wollte man Menschen erziehen, verboten sich Psychostrahler. Ich wandte sie nur an, wenn wir unmittelbar bedroht wurden. Eine edle Theorie, die von der Wirklichkeit zunichte gemacht werden konnte. Am 20. Juni liefen große Teile der Armada in La Coruna ein, dem Hafen an Spaniens nordwestlichster Ecke. Kaum lagen die schnelleren Schiffe im Hafen, brach ein Sturm los und zerstreute den Rest der Flotte. Der Orkan zerfetzte Segel, zerriß Leinen, zerbrach Masten und trieb viele Schiffe bis zu den Inseln, die Comwall vorgelagert waren. Die Armada erholte sich, die Schiffe wurden neu verproviantiert und instand gesetzt, und am 22. Juli setzte sich die Felicissima Armada wieder in Marsch. Drei Tage später erreichte sie die Scilly-Inseln, jene öde Felsgruppe, die dem südwestlichsten Sporn der englischen Insel vorgelagert war. Es wurde schwierig, die richtigen Bilder einzuholen, denn die englische Flotte hatte sich geteilt und versteckte sich vor einem Orkan, der länger als sechsunddreißig Stunden tobte und die Armada-Schiffe aus den Kommandoverbänden riß. Riancor hatte ein mittelgroßes, wuchtig gebautes Haus gefunden, das sich hoch über dem Meer an Cornwalls Küste in die Hügel duckte. Ich befahl ihm, das Haus anzumieten, bestimmte Arbeiten in Auftrag zu geben und von den Maschinen der Überlebenskuppel Einrichtungsgegenstände und Anlagen im Baukastensystem herstellen zu lassen. Voll Erstaunen sahen wir die Bilder: An diesem vorletzten Tag des Monats Juli im Jahre des Herrn 1588 wehte ein kaum
wahrnehmbarer Westsüdwest, ein Justyroller. Nebel bedeckte das Wasser des Kanals und der Straße von Calais. Die Wellen gaben leise gluckernde Laute von sich. Die Konturen des Landes zu beiden Seiten der Engstellen waren kaum zu ahnen; fahle Pinselstriche in verschwimmender Umgebung. Wie ein blinder glühender Schild schwamm die Sonne hinter dem Grau. Geheimnisvolle Stille schien sich zwischen Plymouth und Brest, Norwich und Leiden auszubreiten. Jedes Geräusch schien übernatürlich laut zu sein; der Teufel und alle gefallenen Engel hatten sich auf den Schiffen der Engländer versteckt. Gott aber, das war sicher, war mit der Armada. In der Mitte der Nebel, seit mehr als vierundzwanzig Stunden, schob sich fast unhörbar die schwimmende Macht Spaniens in östlicher Richtung hinauf. Hin und wieder brannte an Land ein Signalfeuer; ein eng gebündelter roter, weißgefleckter Punkt, von dem aus, durch die unterschiedlich geschichteten Schwaden, schräg die langgezogenen Rauchwolken aufstiegen. Die spanische Flotte, ohne Hilfsschiffe, formierte sich quälend langsam, eine Spitze zeigte nach Norden, andere Schiffe stießen hinzu, und eine halbmondförmige Formation trieb die gesamte Nacht hindurch den Kanal aufwärts. Am Sonntagmorgen hatte sich der Nebel endlich gelichtet. Etwa sechs Dutzend englische Schiffe segelten mit dem Wind, von West kommend, auf das Ende der Armada zu. Beide Flotten trafen nahe Plymouth aufeinander. An Medina Sidonias Schiff, am Vormars, wurde die königliche Flagge entrollt: das Angriffssignal. Die DISDAIN segelte auf das Flaggschiff zu, feuerte einen Schuß aus der kleinen Kulverine ab und jagte zurück zum englischen Geschwader. Schon jetzt waren wir sicher, daß nahezu alle englischen Schiffe viel härter am Wind segeln konnten und daß sie darüber hinaus nicht beabsichtigten, spanische Schiffe zu entern oder sich
entern zu lassen – es würde ein anonymes Gemetzel geben. Ich wandte mich an Monique, führte eine zurückhaltende Geste aus und sagte halblaut: »Gewöhn dich nicht zu sehr an dieses Haus, Liebste. Denk an Le Sagittaire! Wir werden nicht lange in Cornwall bleiben, denke ich.« »Wie lange? Wie lange dauert es, bis wir entscheiden, daß es schöner in Beauvallon ist oder an anderen Plätzen?« »Ich weiß es nicht. Wenn wir einmal unser kaltes Nachtlager verlassen haben«, ich bemühte mich, meine skeptischen Gedanken klar auszusprechen, »ist Unstetigkeit ein Hauptteil unseres Lebens. Warum auch nicht?« »Ich habe darauf nichts zu antworten«, sagte Monique und wandte sich wieder dem Geschehen zu. Von der grasbewachsenen Terrasse unseres neuen Hauses konnten wir nur mit der stärksten Vergrößerung des Teleskops die hochbordigen Schiffe der Armada sehen. Südlich von Plymouth hatten sich die Spanier zu einem fast kreisrunden Block zusammengeschoben. Unsichtbar zogen unsere Spionsonden ihre Kreise um die beiden Schiffsverbände – oberhalb der Ebene, in der die Geschütze feuern wurden. Nach einer gründlichen Analyse aller Vorgänge und erkennbaren Entwicklungen sagte Riancor abschätzig: »Die Engländer werden kämpfen wie immer, also wie Kaperfahrer und Piraten. Sie haben keine klar erkennbare Taktik. Die Spanier hingegen sind schwerfällig.« Kurz nach der neunten Stunde segelten die englischen Galeonen mit geschwellten Segeln nacheinander an der südlichen Flanke der Spanier vorbei. Dort stampfte ein riesiges Schiff auf Nordostkurs, das aussah, als sei es das Flaggschiff: die Karacke RATA SANTA MARIA ENCORONADA. Die ARK ROYAL und die RATA segelten nebeneinander, und der Engländer belegte das andere Schiff aus großer Entfernung mit
einzelnen, gutgezielten Kanonenschüssen. Der Kampf zog sich dahin – die Spanier, an deren Decks die Pikenträger, Arkebusenschützen und Säbelfechter ungeduldig warteten, kamen nicht an die Engländer heran. Hart am Wind preschten die englischen Galeonen dahin. Drake auf der REVENGE und Hawkins auf der VICTORY zusammen mit Frobisher als Kommandant der TRIUMPH umzingelten die 1000-Tonnen-Galeone SAN JUAN DE PORTUGAL. Zwei Stunden lang feuerten die Engländer auf den Spanier, der besessen darauf wartete, einen der Angreifer entern zu können. Ununterbrochen zuckten mannslange Blitze, rot und weiß geflammt, aus den Bronzemündungen. Die Kugeln heulten durch die Luft, erzeugten gigantische Wasserfontänen, schlugen unter und über der Wasserlinie in die Schiffe ein. Männer starben, Geschütze barsten, aufflammende Brände wurden mit Seewasser gelöscht. Wanten und laufendes Gut wurden zerfetzt, und Masten brachen wie die Rahen, deren Trümmer auf Deck stürzten, die Männer erschlugen oder verwundeten. Langsam schoben sich einzelne Spanier auf die kämpfende Gruppe zu. Die RATA SANTA MARIA hatte Schäden davongetragen, aber keines der kämpfenden Schiffe war leck oder manövrierunfähig geschossen worden. Mächtige Rauchwolken verhüllten das Geschehen und trieben träge über den Wellen dahin. Als sich mehrere spanische Schiffe den Engländern näherten, drehten diese ab. »Es scheint, als sei das erste Geplänkel vorbei.« Ich nahm meine Augen vom Okular. »Die Invasion Englands, an die ohnehin keiner mehr glaubte, wird wohl auf sich warten lassen.« »Keine der beiden Parteien kann auf einen schnellen Sieg hoffen«, schätzte Monique. »Schwerlich, Gevatterin!« erwiderte Riancor.
Gingen die Engländer näher an die spanischen MonsterSchiffe heran, liefen sie Gefahr, von der erschreckenden Feuerkraft der schweren Breitseiten vernichtet zu werden. Sie konnten also nur an den Enden oder am Rand der Armada vorbeisegeln – je nachdem, wie sie sich formiert hatten – und dort die Kunst ihrer Kanoniere zeigen. Eine Landung der Spanier würden sie stören, den Angreifern gewaltige Verluste zufügen, aber sie nicht verhindern können. Mitten in der Flotte, die wieder eng zusammengedrängt den Kanal aufwärts segelte, detonierte mit Flammen, Feuer, Blitz und Rauch der Tausendtonner SAN SALVADOR. Offensichtlich waren achtern die Pulvervorräte in die Luft geflogen. Die Spanier hielten an, der Bug des brennenden Schiffes wurde in den Wind gedreht, um das Feuer nicht auf andere Vorräte übergreifen zu lassen. Zwei Galeassen nahmen das schwelende Wrack und schleppten es aus dem gefährdeten Flottenverband. Zweihundert Männer, hieß es, hätten den Tod gefunden. Im zunehmenden Wind, der stoßweise aus West heranheulte, rissen die Taue am Fockmast der ROSARIO. Das Bugspriet war bei den Kämpfen abgebrochen worden. Es stürzte auf den Großmast, und in dem Gewirr aus Leinen, Rahstücken, Trümmern und Segeln wurde das Schiff manövrierunfähig. Es mußte schließlich zurückgelassen werden; in der Nacht, hörten wir später, wurde es von Engländern unter Feuer genommen und ergab sich; Drake persönlich nahm die Kapitulation an und schleppte das Schiff in die Tor-Bucht. Dort lud man vier Dutzend Geschütze, mehr als 50.000 Golddukaten, gewaltige Pulver- und Kugelvorräte um. Die Engländer, hieß es allgemein, wären knapp an Munition; ich verstand es, denn sie schossen weitaus häufiger als ihre Gegner, allerdings auch besser. Auch die halbverkohlte SAN SALVADOR wurde gesichtet,
angelaufen und abgeschleppt. Die Männer der GOLDEN HIND fanden nur Sterbende und Tote mit fürchterlichen Verbrennungen, aber auch 130 Fässer Pulver und zweieinvierteltausend Kugeln. Als sich diese Nachrichten an Land herumgesprochen hatten, packte eine neue Welle Kampfesmut die Engländer. Sie liefen in den Häfenstädten zusammen und stürzten sich mit jedem größeren Boot, blindlings und siegestrunken, in den Kampf – beziehungsweise sie versuchten, die Spanier zu erreichen, die am Horizont mit etwa zweieinhalb Knoten Geschwindigkeit nach Osten segelten, unaufhaltsam, wie es jetzt schien, auf die Thamesmündung zu. Am darauffolgenden Montag lauerten die englischen Schiffe auf eine Angriffsmöglichkeit, die Spanier formierten sich neu und segelten, von den Engländern flankiert, auf Portland Bill zu, den riesigen Felsen aus Kalkgestein, der eine auffällige Landmarke darstellte. Der Wind schwächte zusehends ab, das Wasser färbte sich schwarz; in den Abendstunden hingen alle Segel schlaff herunter. Tidenströme zogen die vielen Schiffe zuerst nach Ost, dann zurück nach West, schließlich wieder nach Osten. Nach der Morgendämmerung frischte der Wind, zunächst eine schwache Brise, stärker auf und blies aus Nordost. Diesmal waren die Spanier begünstigt. In mir, geschult in der Taktik von Raumschlachten, sträubte sich alles, als ich die qualvoll langsamen Manöver mit ansehen mußte. Die Engländer, heftig feuernd, segelten nach Norden, aufs Land zu. Die Spanier bedrängten sie; die Engländer drehten nach Südost und attackierten die gegenüberliegende Flanke der Armada. Sechs Schiffe blieben nahe dem weißen Riesenfelsen. Vier spanische Galeeren kamen drohend heran, Galeassen, kraftvoll gerudert und mit Stützbesegelung. Die Schiffe verbissen sich ineinander, Rauch verhüllte die geräuschvolle
Szenerie, und die TRIUMPH feuerte Breitseite um Breitseite ab. Die spanischen Ruderschiffe wurden furchtbar zugerichtet; die bewaffneten englischen Kauffahrer versuchten, wild um sich feuernd, auf die windabgewandte Seite der Spanier zu kommen. Langsam drehte der Wind, bis er wieder den Engländern nützte und der Armada-Abteilung schadete. Die Engländer waren außerordentlich kaltblütig: Nachdem die Geschütze gefeuert hatten, gingen die Schiffe in eine andere Position, entzogen sich dem Zugriff des Gegners und luden schnell, aber ohne Hast nach. Sidonias Flaggschiff, die SAN MARTIN, griff mutig Howards ARK ROYAL an. Die ARK segelte auf den Gegner zu, ihre Geschütze feuerten, Deck um Deck, und die folgenden Schiffe segelten ebenso, außerhalb der Enter-Entfernung, an der MARTIN vorbei, scheinbar achtlos und kühn, und unaufhörlich dröhnten die Breitseiten auf. Dennoch forderte der Armada-Admiral seinen Gegner zum Kampf Bordwand an Bordwand auf. Die Geschütze der Engländer begannen unregelmäßig zu feuern. Aus dem gewaltigen Rauch, der große Teile der Kämpfe den Blicken der Engländer entzog – sie standen und saßen an den Ufern und versuchten jede Phase des Kampfes zu sehen –, kamen seltener jene donnernden Explosionen und die fahlen Blitze. Die Vorräte an Geschossen und Ladungen gingen zur Neige. Howards Signalflagge glitt in die Salings. Die Kämpfe vor Portland Bill wurden abgebrochen. In der Dunkelheit zogen sich die Engländer zurück; die Armada segelte nach Ost, südlich der Insel Wight vorbei. In der Nacht wurde die plumpe GRAN GRIFON, eine Urca, von Drakes Schiffen angegriffen. Sie wehrte sich verbissen, schoß die Großrah von Drakes Schiff in Trümmer und wurde schließlich von einer Galeasse abgeschleppt, deren Ruderer wie gepeitschte Sklaven
an den Riemen rissen. Auch am nächsten Tag gab es keinen Wind. Mitunter war es für mich eine deutliche Hilfe, meine Überlegungen auf ihren ernsthaften Sinn und ihre logische Verwertbarkeit zu überprüfen, wenn ich mich mit unwichtigen Dingen beschäftigte: In diesem Fall kümmerte ich mich zusammen mit Riancor, seinen emsigen Maschinen und Monique um die Einrichtung des Hauses, um eine Reihe von Trivialitäten wie: Versitzgrube, Brunnen, Zäune und Hecken, Heizung und Warmwasser und die Sauberkeit. Wir richteten das Haus vollends ein, mähten den Rasen, beschnitten Hecken und setzten Glasscheiben in die neuen Fensterrahmen. Unsere geheimnisvolle technische Ausrüstung wurde so verborgen, daß wir keinen der schlecht ernährten und in Lumpen gekleideten Eingeborenen erschreckten. »Ich fürchte, Atlancar, daß Philipps Armada an irgendeinem Abschnitt der Küste an Land gehen wird«, meinte Monique einen Tag später. »Das ist denkbar«, sagte ich. »Ich bin zu einem Entschluß gekommen.« »Was wirst du tun? Oder anders – was willst du anfangen?« Ich hob die Schultern und faßte meine einsamen Entscheidungen zusammen. »Ich habe kein Verständnis dafür, daß ein großer Barbarenstamm einen kleinen Stamm derselben Leute überfällt. Ich liebe weder dieses Inselvolk noch die düsteren Spanier. Zwei Kulturen sind besser als eine – in diesem Fall. Ein König, in dessen Land eine Einrichtung wie die Inquisition die Menschen schindet und den Fortschritt erwürgen läßt – ich bin sicher, daß ich diesen Einfluß nicht mag. Ich werde verhindern, daß die Armada die Insel überfällt. Hast du genau zugesehen?« Monique schmiegte sich an mich. Ohne die Geräusche der furchtbaren Auseinandersetzungen liefen die ständig
wechselnden Bilder vor unseren Augen ab. An vielen Stellen beschossen die Schiffe einander; es war ein widerliches, großartiges Schauspiel. »Ja. Ich verstehe einiges nicht, aber ich kenne fast jedes Bild.« »Dann wirst du erkannt haben, daß Engländer und Spanier im Fall einer Landung – oder eines Versuchs – ein kolossales Blutbad untereinander anrichten werden. Keiner wird nachgeben. Bei den Engländern geht es um die Freiheit des Individuums, der Gruppen, des Glaubens und der Krone. Sie werden eher sterben als zurückweichen.« »Das ist ein Grund, die Spanier zu bekämpfen. Wie groß sind deine Möglichkeiten, Liebster?« »Sie werden ausreichen. Noch warte ich ab. Riancor ist bereit, mir zu helfen.« In Wirklichkeit würdest du ohne den Robot hilflos sein, argumentierte der Extrasinn. »Kann ich dir helfen?« Ich küßte sie und schüttelte den Kopf. In der Sommerhitze und mit kaum wahrnehmbarem Windhauch kam der stechende Geruch der Pulvergase bis ins Innere des Hauses. »Noch nicht. Ich ahne, daß alle unsere Rechnungen, Vermutungen und Befürchtungen gegenstandslos werden können. Diese aberwitzigen Menschen, sie schaffen es, daß alle unsere Logik versagt. Warten wir ab – noch sind sie so verrückt, daß sie ihre Schiffe von Ruderbooten zum Gefecht schleppen lassen.« Mein Zeigefinger berührte fast den Bildschirm im Inneren eines Truhendeckels. Bei völliger Windstille, und an diesem Tag gab es praktisch keinen Wind, waren etliche Schiffe der Armada im Vorteil; die Galeassen. Ihre Ruderer führten die Schiffe auf die Engländer zu, deren Galeonen von rundlichen Ruderbooten an langen Tauen geschleppt wurden. Sie waren alle wahnsinnig! Jeder einzelne von ihnen schien kein anderes
Ziel zu haben, als mit kreischender Freude für den König, für eine Idee oder für eine der unzählbaren kostbar bestickten Fahnen, Flaggen und Wimpel zu sterben. Fassungslos sahen wir zu, wie sich die gegnerischen Schiffe beschossen. Irgendwann gab es wieder Wind, und die Schiffe segelten hin und her, griffen an und zogen sich zurück, vollführten allerlei kuriose Manöver – und uns, den kühl Zuschauenden, wurde das Treiben zunehmend langweiliger. Monique und ich benutzten den Transmitter und tauchten wieder in Le Sagittaire auf. Als wir das Gewölbe verließen, über Treppen und durch kühle Zimmer gingen und schließlich, noch braun gebrannt von der Sonne Americas, das Tor aufstießen, blendete uns die stechende Sonne eines südlichen Mittags. Schon die ersten Blicke zeigten uns die Schönheit eines Sommers, der spät begonnen hatte. Rundherum grünte, wuchs, blühte und roch alles. Jede Pflanze schien besondere Gerüche von unvorstellbar luftigem Aroma zu verströmen. Die Rufe arbeitender Bauern und die vielfältigen Geräusche und Laute eines betriebsamen Vormittags entrückten uns binnen weniger Atemzüge dem Pulverdampf, dem Geruch nach abgestandenem Meerwasser und den Gedanken an eine drohende Invasion. Bahnte sie sich an? Riancor würde uns sofort rufen und das Programm, das wir entwickelt hatten, einschalten. Nicht mit mir, zweiter Philipp, dachte ich grimmig. Und nicht mit Francis Drake, dem Weltumsegler! »Hier sind wir«, brummte ich zufrieden und ging auf den Dorfplatz zu, einen der ersten und einzigen gepflasterten Dorfplätze dieses Planeten, an dessen Gestaltung ich mitgearbeitet hatte. »Endlich Sonne, Hitze und sattes Grün in diesem Teil der Welt.« »Sie haben lange darauf warten müssen – hier im südlichen
Frankreich«, erklärte Monique. »Ein halbes Jahr der nassen Katastrophen liegt hinter ihnen.« Wir schüttelten unzählige Hände, streichelten Kinder und erkundigten uns nach den Umständen. Der nasse Boden trug reiche Früchte, und die meisten Schutzmaßnahmen hatten gegriffen. Dem Dorf ging es gut. Viele Bewohner arbeiteten auf den Feldern, und selbst das Vieh schien vor Gesundheit zu strotzen. Wir erzählten den alten Freunden, wohin uns unsere Reisen geführt hatten, was wir gesehen und erlebt hatten. Wir begannen, Hand in Hand, einen langen Spaziergang durch die Felder, entlang des Waldrandes, hinauf zu den Mühlen und den Gehegen. Unsere Schutzbefohlenen litten indessen nur an einem Mangel, der sich mit Wasser, Seife und frischen Tüchern beheben ließ und mit ein wenig ärztlicher Hilfe. Selbst die Kinder halfen beim Lesen von Früchten, hüteten das Vieh und waren so laut und fröhlich, wie Kinder eigentlich sein sollten. Ich rief den Lehrer, unseren weißhaarigen und heiteren Pfarrer, den Dorfschulzen und jene Männer für den späten Abend ins Schlößchen zusammen. Bei unseren jungen Frauen bestellte ich ein Essen und versprach, die Portale offenzulassen, damit uns nachts jeder besuchen und einen Becher Wein trinken konnte. Zwischen dem sechsten und achten August ging die Seeschlacht in einzelnen, langsamen Zügen und Bewegungen weiter, ohne besondere Dramatik, ohne viele Verluste, in Windstille und Sturm, in heldenhaften Aktionen, lähmender Langeweile und in der ständigen Untermalung von dröhnenden und krachenden Breitseiten und den scharfen Explosionen aus den Rohren der englischen Geschütze, die seltener feuerten, weil die Vorräte an Pulver und Kugeln fast aufgebraucht waren. In der Nacht des achten August sprang
der Wind um; ein Südost heulte heran und türmte grüne Wellenberge hoch. Die Spanier – um mehrere halb auseinandergebrochene Schiffe waren dicke Trossen geschlungen und gespannt worden – segelten nach Nordost und gerieten in die Gefahr, auf die flandrischen Sandbänke zuzutreiben. Die Engländer verfolgten sie und sahen erstaunt, daß die Spanier Anker warfen. Der Wind drehte, völlig überraschend, auf Westsüdwest. Aus dem Wind wurde ein Sturm. Die Spanier lichteten die Anker und wurden nordwärts getrieben. Der Sturm hielt an. »Der Wind Gottes bläst und zerstreut!« frohlockten die Engländer. Vier Tage später waren die Schiffe der Armada zerstreut, schwerstem beschädigt, fortgetrieben, im Nordosten der Insel an der schottischen Grenze vorbei, auf dem Weg in den nördlichen Ozean. Nach vier Hauptgefechten war die Armada kein kampftüchtiger Verband mehr; die Chance der Truppen, anzulanden und das Land zu besetzen, existierte nicht mehr. Außer Zweifel stand nur, daß die Spanier abgezogen waren. In allen Ländern, die etwas von der Armada wußten, wucherten Gerüchte und überschlugen sich falsche Meldungen. Riancor kam nach Beauvallon und half bei der Ernte und bei den Feiern. Gott schien nicht mit den Spaniern zu sein; das Wetter war in jedem Fall gegen sie. Vom dreizehnten bis achtzehnten August tobten Stürme aus dem südlichen Quadranten vor Schottlands Küsten. Regen, Nebel und schwerster Seegang kamen hinzu. Vom Masttopp des einen Schiffes vermochte niemand mehr das nächste zu erkennen. Längst hatten die Engländer ihre Verfolgung abgebrochen, ankerten in den Häfen und entließen ihre Kranken und Verwundeten an Land. Als am 21. August sich der wütende Wind endlich legte und die spanischen Schiffe, eines nach dem anderen, wieder zum Kernteil der
Flotte stießen, sah Medina Sidonia ein, daß weder an eine Fortsetzung des Kampfes noch an die Invasion oder daran zu denken war, die spanischen Hilfstruppen aus Flandern zu holen. Während die Pferde und Maulesel aus den Schiffsbäuchen gehievt wurden, zuckten Signale und Antworten zwischen den Schiffen hin und her. Eintausendsiebenhundert Meilen nach Seemaß waren die Heimathäfen entfernt. Man warf die Tiere über Bord und machte neue Bestandsaufnahmen von Proviant, Wasser und Vorräten; man teilte die Not besser ein: Schottland und Irland sollten nach Westen umsegelt und dann der Weg nach Süden angetreten werden. Die Schiffe gingen die lange, verzweifelte Heimfahrt an. Sie segelten dahin, ohne zu wissen, wohin – im September überfielen herbstliche Stürme die schaurig zugerichtete Armada. Gegenwind und Nebel behinderten und ließen den Mut sinken. Kaum ein Schiff, das nicht schlimmen Tribut gezollt hätte – viele trieben steuerlos dahin; ununterbrochen wurde zu reparieren versucht, was gerade nur ging. Der Schiffsverband, längst auseinandergerissen, wurde zu einer langen Zickzacklinie einzelner Punkte, die einander aus den Augen verloren, und zu verstreuten Resten, die nichts anderes kannten als das ferne Ziel. Seeleute verhungerten. Schiffe trieben an die Klippen und wurden zerschmettert, liefen auf Riffe und sanken. Überlebende retteten sich an die irischen Strände und wurden von der englischen Garnison gefangengenommen. Die Offiziere konnten sich freikaufen, die einfachen Männer wurden niedergemacht. Im chaotischen Wirrwarr der irischen Westküste fanden viele Schiffe ihr nasses Grab, später zählte man mindestens zwanzig. Schätzungsweise Ende September würden die übriggebliebenen Schiffe wieder Spanien erreichen. Weniger
als sechzig würden es sein; hundert waren verloren. Riancor schätzte aus zahllosen Beobachtungen – unsere Sonden konnten längst nicht jedes Schiff verfolgen –, daß etwa zwanzigtausend Seeleute und Soldaten umgekommen waren; zwei Drittel aller, die vor hundertzwanzig Tagen aufgebrochen waren. Der Herbst machte London zu einer Stadt, in der man leben konnte. Die Freude aller Engländer, mit der Hilfe von Gottes Stürmen gesiegt zu haben, und ihre Verehrung Drakes und seiner Admirale und Kapitäne erzeugten in den vielen Gassen, den Schenken und am Hafen eine fremdenfreundliche Stimmung. Begreiflicherweise vermied jeder, spanische Wörter auszusprechen. Wir, die gelehrten und reisenden Condottiere aus dem Großherzogtum Toscana, waren willkommene Gäste. Es war am frühen Abend, unweit eines kleinen Theaters, einer Bühne, die sich redlich bemühte, es dem »Globe« und der Truppe der »Lord Chamberlain’s Men« gleichzutun; erfolglos bisher. Ich kaufte dem streng blickenden Mann vier der besten Karten ab und fragte: »Wird Master William, der Stückeschreiber, heute bei Euch sein?« »Wenn er nicht zusieht und mit den Dirnen schäkert, findet Ihr ihn im Hahn, Fisch und Dunkelbier«, lautete die mürrische Antwort. »Schuldet er Euch Geld?« »Ich schulde ihm Bewunderung, mein Freund«, sagte ich und erfuhr, daß die Vorstellung des Marlowe-Stückes in zwei Stunden anfangen würde. »Soll ich ihm sagen, daß Ihr dort wartet?« »Gern. Er frage nach Atlancar di Arcone«, sagte ich. »Ist er beliebt?« »Nun ja. Immer zuwenig Geld und zuviel Mutterwitz.« »Ein Mann nach meinem Herzen«, meinte ich und setzte
vorsichtig meine italienischen Stiefel neben die Pfützen und den Schmutz. Unter dem löchrigen Vordach hatte der hagere Schankwirt einen Tisch gesäubert und wartete auf unsere Bestellung. Ich setzte mich, streckte die Beine aus und betrachtete die Häuser, das Themseufer und die Vorübergehenden. London war eine Stadt wie Paris, nur eben englisch. Das Bier – nun, es stand im Becher und schmeckte nicht schlecht. Ich bat den Wirt, Master William an unseren Tisch zu schicken, wenn er käme. »Nach zehn Tagen in dieser Stadt, Liebster, kann ich nicht sagen, daß ich begeistert bin.« Ich zuckte mit den Schultern und erinnerte mich an einige große Bauwerke, die errichtet waren, wohl um der Ewigkeit zu widerstehen. »Nach dem ersten großen Brand werden sie vielleicht besser bauen; und schöner.« Ich bestellte eine Auswahl Speisen, die ich kannte und genießbar fand. »Wir sehen auch hier ein willkürliches Nebeneinander von ärmlichen Behausungen und Stadtpalästen.« Schwere Gespanne rasselten vorbei. Das schwarze Bier war lauwarm. Hunde kläfften, und Taubenschwärme flatterten zwischen den Rauchsäulen der Kamine umher. Wie überall: Die Armen waren krank und zerlumpt, die Reichen stolzierten umher, und es gab unerwartet viele Menschen, die verstümmelt waren, blind oder unglaublich verschmutzt. Reden und Flüche klangen in sämtlichen Dialekten ausgesucht ordinär, und weniger als hundertzwanzigtausend Menschen waren es sicher nicht, die streets und lanes bevölkerten. »Wir haben jene Männer und ihre Freundinnen und Frauen eingeladen, an denen uns etwas liegt«, beschwichtigte Riancor. »Bevor die Straßen unpassierbar werden, kommen sie wohl.« »Nur Musiker und Dichter fehlen noch«, brummte ich und wischte den Bierschaum von den Lippen.
Nach einer Weile, in der wir versuchten, uns unter den Blicken der Bettler nicht allzu unbehaglich zu fühlen, sagte Riancor leise: »Der Poet; da ist er. Unten, zwischen Brunnen und Zettelbaum.« Wir blickten schärfer hin. Vor der Eiche, an deren Stamm unzählige Plakate. Zettel, Nachrichten und Aufforderungen aus dem Palast hingen, stand ein schlanker Mann von rund fünfundzwanzig Jahren, vollführte mit Hand und Hut einen nachlässigen Gruß und kam mit großen Schritten die Gasse herauf. Das braune Haar, nackenlang, war weder strähnig noch fett, auch der Bart schien gepflegt. »Du hast recht. Das ist er. Daß er gern trinkt, weiß ich bereits – Wirt! Einen Krug Dunkles für den Dichter.« Einige Schritte vor dem Hahn, Fisch und Dunkelbier (in dessen Iranerin wir schon einmal gesessen und einem weltentdeckenden Kapitän eine gefälschte Karte verkauft hatten; damals hieß es anders!) blieb Shakespeare stehen, überlegte unschlüssig und gab sich einen Ruck. Er bog im rechten Winkel zu seiner bisherigen Laufrichtung ab und steuerte kerzengerade auf die Tür und die Tische zu. Man grüßte ihn zurückhaltend, schließlich kam der Wirt, packte ihn grob am Arm und schob ihn auf unseren Tisch zu. »Diese hochedlen Herren und die Lady sagten, sie bewundern Euch, Master William. Versteh’s, wer es will. Aber sie hießen mich, Euch diesen Krug hinzustellen.« Ich ließ Münzen auf den Tisch klingeln, machte eine einladende Geste; als Master William schließlich den Blick seiner braunen, großen Augen von Moniques Ausschnitt losreißen und auf uns richten konnte, meinte ich artig: »Tröstet Euch, Sir William. Nur wer das Zeug zu etwas hat, dem kann man dran flicken.« »Ihr wollt mich sprechen? Nun, ich bin der arme Poet, der außer drei Kindern und einer zänkischen Frau nichts sein
eigen nennt als Feder und Papier und ein paar schlechte Reime.« »Wir hörten viel von Euch.« Monique hob lächelnd ihren Becher. Shakespeare nahm einen gewaltigen Schluck und erwiderte: »Im Ernst? Woher?« Riancor zitierte fast vollkommen in Betonung und Versmaß jene Zeilen, die wir aus seiner angefangenen »Komödie der Irrungen« kannten. Master William, der eine gewisse Unruhe verströmte, winkte ab und antwortete: »Ein guter Stoff, der widerspenstig ist. Noch habe ich ihn nicht richtig zähmen können.« »Uns gefiel’s«, sagte ich. »Gebt Ihr uns die Ehre, heute neben Euch sitzen zu dürfen?« Ich reichte ihm eine Karte, grinste kurz und fuhr fort: »Ich fand in einem book-shop ein Bändchen, das ich im Original kenne. Es ist eine seltsame Geschichte; es drängt mich, Sie Euch zu erzählen.« Riancor holte aus der Tragetasche die William Paintersche Übersetzung der italienischen Bandello-Novellen, die ein Franzose namens Boaistuau aus dem Italienischen wiedererzählt hatte. Der Band hieß The Palace of Pleasure. Noch ein Buch kannte ich, in dem The Tragical History of Romeus and Juliet von Arthur Brooke geschildert wurde. Es sind alles Kopisten von Masuccio Salernitano, der über Mariotto und Gianozza schrieb, jenen Schlagetot, mit dem du gefochten hast, Arkonide, glaubte der Extrasinn mich erinnern zu müssen. Ich gab Shakespeare den Band und sagte: »Ihr werdet viele gute Stücke schreiben. Ich erkenne eine gute Feder, so, wie ich guten Wein, eine gute Klinge und ein ebensolches Pferd erkenne, wenn ich sie sehe.« »Wenn Ihr es sagt, Master…« Wir stellten einander vor und baten ihn, nach der
Vorstellung in unserer Herberge, den »Winchester Arms«, mit uns zu essen. Er willigte sofort ein. »Ein Vorzug unseres Nebels liegt darin«, meinte er, als der Krug leer war und wir weitere Höflichkeiten ausgetauscht hatten, »daß Leute, die einander einladen, meist nicht dort hinfinden. Oh, ich kenne die Gassen. Ich brauche Licht nur, um nachts schreiben zu können.« »Jene Geschichte von einem Veroneser Liebespaar, das in Wirklichkeit ganz anders hieß und in Siena lebte – ihr solltet ein Drama daraus machen. Liebe, Tragik, Schönheit und Aktionen… alles ist enthalten.« William blätterte in dem Buch und nickte. »Erst wenn ich sicher bin und Erfolg hatte. Noch herrschen Marlowe und Kollegen und üben ein erbarmungsloses Regiment aus.« »Euer Talent wird sich durchsetzen!« Er schenkte Monique einen hingerissenen Blick, nickte dankend und brummte: »Wenn ich bis dorthin nicht verhungert bin.« Dann griff er in die Saiten einer imaginären Laute und summte und sang leise: »Komm auf die Insel, wo der Garten noch blühet, die Falter uns winken, Blüte und Blatt sich verneigen, wo der Bach, der Quell und der Vogel uns singen. Dort, wo wir den Wind und den Vogel noch verstehn, auf der Insel, wo Klarheit und Trunkenheit des Wortes warten… oh, Rose…« Er hörte auf, warf einen belustigten Blick in die Runde und deutete, als er den Wirt sah, auf den leeren Krug. »Jene ›Due Nobili Amanti‹, von denen Ihr spracht… eines Tages wage ich mich wohl daran. Aber mein Kopf ist voller ungeschriebener Schauspiele, so voll, wie mein Beutel leer ist von Goldstücken. Ihr seid fremd hier? Ich werde Euch erklären, was das Besondere am Theater zur Zeit der Königin Elisabeth ist; gute Plätze habt Ihr erstanden, Freunde meiner
Verse, Master Atlancar.« »Ich fange an, mich auf den Abend zu freuen, in Eurer Gegenwart«, sagte ich. Er war ein angenehmer Gesellschafter, der binnen weniger Atemzüge von Betrübtheit zu lachendem Lebensmut zu schwanken schien und nicht einmal sich selbst ernst nahm. Seine Hände waren sauber, die Finger gepflegt. Ich lud ihn ein, lange Tage im Spätherbst im Haus auf Cornwalls Klippen zu verbringen. Er freute sich darüber, wußte aber noch nicht, wie er dorthin gelangen sollte. »Ich werde es arrangieren. Könnt Ihr reiten?« »Leidlich. Auf einem frommen Gaul. Die Feder gehorcht mir leichter als die Trense.« Wir aßen noch ein paar Kleinigkeiten, tranken den einen oder anderen Becher, zahlten und machten uns leicht angeheitert auf den Weg zum Theater. Auf Shakespeares Rat hin sicherten wir die Börsen; Riancor nickte, als ich ihm mit Winken bedeutete, erhöhte Wachsamkeit zu programmieren. Innerhalb der Mauern des Theaters verwischten sich die schroffen Standesgegensätze. Auf einfachen Bänken und Tischen saß und tafelte man, trank und redete miteinander, und nur die Reichen und der Adel hatten mehr Platz und weichere Kissen. Meist saßen sie auf den Rängen. Hunde liefen zwischen den Beinen der Wartenden; die Schauspieler, zum Teil in Bühnenkleidung und grell geschminkt, saßen im Publikum und hofften, eingeladen zu werden. Fackeln wurden angezündet und in Mauerringe gesteckt. Dutzende Öllampen, die auch am Bühnenrand brannten, loderten mit rußenden Flammen in Wandnischen. Ich zählte etwa zweihundertfünfzig Gäste – ein Querschnitt durch die Bevölkerung Londons. Die Dirnen waren jünger und besser angezogen; vielen fehlten Zähne. Die Bühne, die weit in den Zuschauerraum vorsprang und
von Tischen und Bänken dicht umgeben war, kannte keinen Vorhang. Von einem solchen waren aber der hintere Querteil und die Oberbühne schlecht verhüllt, die in der Höhe der Galerie des »Old Globe« verlief. Auf ihr saßen besser gekleidete Zuschauer, obwohl sie den Weg zu den Gastzimmern darstellte. Ich wandte mich an Shakespeare, der mit einigen Schauspielern sprach. »Erzählt uns etwas über das Stück, William«, bat ich. Er nickte, machte eine weit ausholende Geste und begann: »Christopher Marlowe, fast so jung wie ich, fand die Geschichte. Er machte daraus ein Drama. Er ist, bei Melpomene, einzigartig gut. Ich beneide ihn! Heute sehen wir ›The Tragical History of Doctor Faustus‹. Damit hat er überall einen riesigen Erfolg – den auch ich haben will.« »Ihr werdet ihn haben. Zweifelt niemals an Euch, Master William!« rief Monique begeistert. »Was bedeutet schon ein Jahr? Lernt von Marlowe!« »Das ist ein übler, guter Rat, Lady mit dem Feuerhaar. Ich fürchte, Ihr habt recht.« Das Spektakel fing an. Es dauerte lange, bis die Zuhörer ruhiger wurden und wir die Darsteller verstehen konnten. Wir erlebten einige Stunden mit, die sich unauslöschlich in unser Gedächtnis einprägten: deftig und anrührend, voller sprachlicher Gewalt, Zärtlichkeit und Zoten, von hervorragenden Schauspielern. Es gab nur wenige Requisiten; die eigene Phantasie wurde gefordert. Die Darsteller sprachen mit dem Publikum; sie improvisierten und riefen johlendes Gelächter hervor – das Stück wurde ohne eine einzige Pause durchgespielt. Die Vorlage war einfach und eine Erzählung, die der Vorstellungswelt meiner Barbaren entsprach: Ein seltsamer Arzt suchte nach der Möglichkeit, mit Hilfe jenseitiger Mächte sein Leben zu verändern, zu verlängern und reicher an
inneren und äußeren Erlebnissen zu machen. Eine Geschichte voller Tragik und drastischer Komik. Schweigende Helfer räumten Requisiten weg und stellten andere auf, wenn es nötig war. Symbolische Andeutungen halfen beim Verstehen: Schrifttafeln, einfache Abbildungen, Rufe aus dem Innern des Zuschauerraumes, durch den jeweils die Boten oder Fremden kamen – die Aufführung spiegelte fast das gesamte Spektrum des Lebens jener Jahre wider. Ein herrliches, prall naturalistisches Theater! Es war unmöglich, sich von dem Geschehen zu lösen. Wir wurden mitgerissen und zu Teilen der Darstellung, des Dramas; wir waren erleichtert, erschöpft und enttäuscht, als der letzte Epilog gesprochen war und sich die Bühne geleert hatte. Ich stand auf und spannte meine Muskeln. Ich merkte, daß ich mich vor Konzentration halbwegs verkrampft hatte. »Es hat Euch gefallen, wie ich sehe«, murmelte Master William. »Ich will erreichen, was Marlowe schuf.« »Mancher Mann ist mit sich selbst ungeduldig«, antwortete ich und legte meinen Arm um seine Schultern, »weil er alle Geduld für andere braucht.« »Mag sein; nichts mehr davon. Ihr sollt nicht meine Fragen beantworten müssen. In einer Stunde in der Herberge?« »Wir halten einen Platz frei.« Riancor entzündete eine Fackel am Talglicht des Theaterausgangs. Die gleißende Helligkeit der Magnesiumflammen fiel zwar auf, aber unser Heimweg durch das nächtliche, von menschlichen Gefahren erfüllte London blieb sicher. Wir warteten in der geräumigen, hellen Gaststube der »Winchester Arms« auf Master Shakespeare, erfuhren vom bevorstehenden Besuch des Freibeuters Thomas Cavendish, der angeblich seine dritte Erdumseglung vollendet hatte und von Queen Elizabeth erwartet wurde, und hörten, daß in Cambridge ein mechanischer Webstuhl seine Arbeit
aufgenommen hatte. Federigo Giambelli, ein italienischer ingeniere, hatte vor etwa zwei Jahren damit angefangen, die Verteidigung der Stadt gegen die spanischen Invasoren zu organisieren. Von den großen Bauwerken des innersten Hafens der Thames ausgehend, erstreckten sich Mauern und Wälle entlang der Flußufer und Kanäle. Heute dienten sie den Spaziergängern und, an einigen Stellen, weidenden Schafen. Wir mieteten Pferde und Sättel und ritten zum Hafen, um auf die Ankunft des Freibeuters zu warten. Eine einzige Brücke, die London Bridge, führte über den Fluß. Die Ebbe lief gerade ab, und die Fließgeschwindigkeit des Flusses war größer geworden. »Spaniens Armada ist besiegt«, erklärte Riancor. »Aber Spanien ist noch lange nicht gewillt, den Krieg zu beenden. Die nächste Attacke wird sein, daß alle Häfen, die Philipps Soldaten kontrollieren, für englische Schiffe gesperrt werden.« »Das versetzt, weiß ich, dem freien Handel von Waren und Ideen einen schweren Schlag«, pflichtete ihm Monique bei. »Hawkins und Drake werden dafür sorgen, daß die Spanier ernsthaften Ärger bekommen.« »Die Protestanten von ganz Europa«, meinte ich und zügelte das Pferd, »werden mit England sympathisieren. Die Katholiken indessen weitaus weniger.« Die Menschen waren von einer ansteckenden Arbeitsfreude. Überall dort, wo wir zusehen konnten, wurden die Schiffe überholt, die hier und nicht in der königlichen Werft nahe der Thames-Mündung Platz gefunden hatten. In Chatham wurde die meiste Arbeit geleistet. »Und damit die braven Engländer es ein wenig leichter haben, werde ich ihnen etliche Mittel vorführen, mit denen sie preiswerter sein können als die Konkurrenz.« »Und das alles in unserem Comwall-Haus?« fragte Monique
skeptisch. »Unter anderem auch dort.« Wir verließen, als wir flußabwärts ritten, die Verteidigungsanlagen, überholten weiße Schwäne und Fischerboote, entkamen dem Dunstkreis der großen Stadt. An unzähligen Stellen sahen wir, wie einfach die angewendeten Techniken zu verbessern wären – aber hier unterschied sich Londons Handwerkerschaft nicht von den Zünften und vom Herrscher kontrollierten Betrieben in allen anderen Ländern. Schließlich erreichten wir nach dem Stillyard Limehouse an der ersten Biegung des Flusses. Teergestank belästigte uns ätzend und qualmend. »Das könnte Cavendish sein.« Riancor zeigte auf eine Gruppe großer Boote, die eine schnittige Galeone eskortierten. Das große Schiff sah durch die Linsen des Teleskops genauso aus, wie wir uns eines vorstellen mußten, das von einer langen, beschwerlichen Reise zurückkam. Segel, Tauwerk und Holz waren von der See gezeichnet. Der Rumpf lag tief; drei Boote schleppten den Rückkehrer gegen die Strömung. »Thomas Cavendish!« murmelte ich und musterte die Gestalt, die auf einem Decksstuhl auf der Plattform des Achterdecks saß und hin und wieder den Bewohnern an den Ufern zuwinkte. »Er hat endgültig bewiesen, daß der Planet kugelförmig ist.« Der Freibeuter hatte augenscheinlich auch bewiesen, daß sein Schiff überlebt hatte. An jeder erdenklichen Stelle war es – vom Hauptmasttopp bis zum Ruder und den Stückpforten – geflickt, gespleißt, ausgebessert, von Tauwerk zusammengehalten. Aber die Segel waren gefüllt, die Galeone war sauber; im Sonnenlicht glänzten die metallenen Teile vom Bugspriet bis zum Achterkastell. Auch vom Land wurden einzelne Salutschüsse abgegeben. Hin und wieder feuerte das Schiff, selbst der Name war nicht mehr lesbar, aus der
Kulverine einen Begrüßungsschuß ab. »Reiten wir zurück«, schlug Monique vor. »Wir können ihn besser und leichter im Hafen begrüßen.« »Dort werden ihn die Männer des Königshofs abfangen und uns nicht zu ihm lassen.« »Wir haben Zeit.« Langsam ritten wir auf Umwegen zurück. Wir erreichten den inneren Hafen, an dem ein besonders leicht ansteuerbarer Platz freigeräumt wurde, fast gleichzeitig mit der kleinen Flotte. Längsseits zum Kai ging Cavendishs Galeone an die Poller; von allen Seiten strömten Hunderte und Tausende zusammen. Die Nachricht hatte sich in rasender Eile ausgebreitet. Wir ließen unsere Pferde in einem Mietstall zurück und bahnten uns mühsam einen Weg bis zum Schiff. Die Gangway ratterte an Land, Kommandos ertönten. Jubel kam auf. Nach einer halben Stunde kam der Pirat im Dienst seiner Königin, dreimaliger Weltumsegler, Stürmisch gefeiert, über die zerschrammte Gangway an Land, hielt sich an den Schultern einiger Soldaten fest – wie üblich nach langer Seereise schien das Land zu schwanken –, drehte sich um und hob die Arme. Seine Kleidung war ebenso ramponiert wie das Schiff. Willkommensschreie übertönten seine Ansprache. Wir verstanden nur Bruchstücke. »… reiche Beute, viele Prisen… Fässer und Ballen voller teurer Gewürze… keine Toten, wenig Verletzte… herrliche Zeit… später alles berichten…!« Die Matrosen stolperten von Bord, die königlichen Sekretäre kamen mit ihren Listen, um den Wert der Ladung genau festzulegen. Es gelang mir, Cavendish zu erreichen, bevor ihn die Berittenen eskortierten. »Viele Küsten, die Ihr kennengelernt habt, kannte ich schon vorher«, sagte ich und schüttelte, nachdem ich mich vorgestellt hatte, seine Hand. »Es wäre für uns wichtig,
miteinander zu sprechen.« Ich reichte ihm eine jener Karten, wie sie von Studenten benutzt wurden: Name und Wohnort samt einer kurzen Wegebeschreibung waren darauf gedruckt. Er verstand, was ich meinte, sah mich unter buschigen Brauen hervor lange an und knurrte: »Hört sich gut an, Master. Wir treffen uns wieder.« »Im ›Winchester Arms‹ oder in meinem Haus in Cornwall«, schlug ich verbindlich vor. »Auch die Insel kenne ich, auf der Freibeuter ihre Beute vergraben.« »Ihr seid ein weitgereister Mann, Italiener?« »So ist es, Master Cavendish.« Ich war sicher, in naher Zukunft mit ihm eine gute Unterhaltung führen zu können. Die Menschenmenge machte jeden weiteren Versuch, mit Kapitän oder Mannschaft sprechen zu können, unmöglich. Wir holten die Pferde und ritten über den Stock Market zurück zur Herberge. Dort wartete eine Nachricht in der schönen Schrift Shakespeares, der uns bat, ihn bei einem seiner Freunde zu treffen, einem Mann, »der am tobacke raucht und Fragen an Riancor hat«. Ich schickte einen Brief zurück und versprach, am nächsten Mittag zu kommen. Sir Edward Benjamin Dale-O’Rourke bewohnte ein schloßähnliches Gemäuer an einem aufgestauten Bach, beschäftigte sich mit Bilderdruck, der Herstellung von Gold, der Konstruktion von Waffen und Maschinen, war grauhaarig, sehr reich und ein außerordentlich sympathischer Sonderling. Wir wurden mit – für englische Verhältnisse – überschäumender Herzlichkeit empfangen. Master Shakespeare zählte zu Sir Edwards Freunden, die Dienerschaft tat, als wären wir Familienangehörige des Hausherrn. Der Längstrakt des Nebengebäudes war seine Werkstatt;
Skurrileres hatte ich seit Jahrhunderten nicht gesehen. »Eine lästige Frage, my dear friends«, meinte der Adelige und reichte uns schwere Metallbecher mit herrlichem spanischem Beute-Branntwein. »Wie lange könnt ihr meine Gäste sein? Ich weiß, daß vielerlei auf euch wartet… mir wäre es lieb, bliebet ihr ein Jahr oder länger.« Riancor ging langsam von einer Bank zur anderen, musterte die Maschinen und die angehäuften Seltsamkeiten, die auf riesigen Tischen standen und lagen. Ich antwortete lachend: »Etliche Tage, Master. Nicht mehr, denn uns erwarten Gäste in Cornwall. Ich bin sicher, wir können viele Fragen beantworten; vielleicht auch einige, die Master William noch nicht einmal kennt.« »Verteufelt ausgezeichnet«, schnarrte Edward. »William weiß, daß ich an allem Interesse habe. Aber ich habe fast alles selbst gelernt, und deswegen weiß ich nichts richtig.« »Wie gut, daß Ihr nicht kocht!« scherzte Monique. »Viele meiner Freunde erwarten große Sachen von mir. Ich bin bei etlichen neuen Erfindungen kurz vor einer gewaltigen Erkenntnis. Allein der Austausch von Gedanken kann dem mutlosen Erfinder weiterhelfen.« Er lachte aufgeregt und goß die Becher halb voll. »Und da, sagte ich mir, helfen die weitgereisten Freunde von William. Italiener. So wie Federigo Giambelli, der auch Italiener ist.« Vom anderen Ende der Werkstatt rief Riancor: »Zuerst müssen wir die Wassermühle in Ordnung bringen und die Wehre samt Stauraum höher bauen!« »Wir bleiben«, entschloß ich mich, »solange es geht. Und wir besuchen Euch, wenn es möglich ist. Was habt Ihr, teurer Lord, bei diesem Handgeschütz an Schwierigkeiten?« Auf hölzernen Ständern ruhte ein schweres Luntengewehr. Noch einige Gespräche, ein paar Schlucke des Branntweins, den es auch in der Apotheke gab, und wir befanden uns in der
angestrengtesten Fachsimpelei. Master William munterte uns mit klugen oder unsäglich dummen Fragen auf. Arbeiter fingen an, nach Riancors Richtlinien und Zeichnungen den Bach kurzfristig umzuleiten, Bohlen einzurammen, Quader aus dem Fundament einer Schloßturmruine zu vermauern und das große, klapprige Mühlenrad abzubauen. Wachs und Säure, eiserne Walzen und dünnes Kupferblech, spezielle Griffel und Nadeln – Edward Dale-O’Rourke hatte so viele Experimente unternommen, mit halbrichtigen und falschen Mitteln und Methoden, daß er meist nur kurz vor dem Ziel gewesen war. Unsere Hilfe bestand aus einem Anstoß: Da war er. Und einen Tag später gab es ein Verfahren, eine beliebig große Anzahl auch großformatiger Drucke von geritzten Kupferplatten abzunehmen. Ohne daß wir ernsthafte Arbeit darauf verschwendeten, gelang es uns, ihm auszureden, daß er Gold herstellen könne. Als sich nach etlichen Tagen das Wasserrad schneller und kräftiger drehte, stand eine neue Antriebsform zur Verfügung und bald darauf auch eine neue Ideenkette. Wir bereiteten mehrere Versuchsreihen vor, bewunderten unausgesetzt die Farben und Werkzeuge, die gnadenlose Unordnung, die vielen skurrilen Zeichnungen, Werkzeuge, Phiolen, Brenner und Materialien, blindgewordene Fenster und die Beleuchtung, die gemütliche Ecke neben der kleinen Esse, neben der es stets schäumendes Braunbier und Erfrischungen gab, die verzweifelte Dienerschaft und all jene Ambosse, Dreheinrichtungen, Gußformen und Tinkturen, den Gestank und den Rauch – der Adelige war einer der verblüffendsten Männer, die ich kennengelernt hatte. Nebenbei ritt er vorzüglich und wünschte sich nichts sehnlicher, als während des Rittes aus einer langläufigen Waffe auf Hasen oder Füchse schießen zu können.
Nach neun Tagen ritten wir zurück, verbrachten zwei Tage in London und verschwanden nachts mit dem Gleiter nach Cornwall. Von den dunklen Anfängen dessen, was man füglich die »Wissenschaft von der Natur« nennt, bis zum heutigen Tage haben die Menschen aus mindestens drei verschiedenen Motiven um das Verstehen jener Phänomene gerungen, die sie sahen, fühlten, erlebten; Erscheinungen der Natur: primum aus dem Durst nach Wissen, das den denkenden Menschen auszeichnet, secundum aus dem Wunsch nach technischer Nutzung von natürlichen Prozessen und tertium aus religiösen Gründen. 4. Axiom: Die Entfernung der Erde von der Sonne ist unmerklich klein, wenn sie mit der Höhe des FixsternHimmels verglichen wird. 5. Axiom: Jederlei scheinbare Bewegung des Firmaments ergibt sich aus einer Bewegung der Erde, nicht des Firmaments selber. Die Erde durchläuft an jedem Tage zusammen mit den materiellen Elementen ihrer Umgebung eine vollständige Umdrehung um ihre Achse, wobei Firmament und höchster Himmel unberührt bleiben. 6. Axiom: Was als jährliche Sonnenbewegung erscheint, ist Folge aus der Bewegung der Erde und deren Achse. Mit der Sphäre der Erde zugleich umkreisen wir wie jeder andere Planet die Sonne. (Aus einem Brief von Nikolaus Kopernikus an Atlan de Gonozal y Arcon, Vorstudie zu: Commentariolus) Noch war der Abend überschaubar. Die Gäste, eineinhalb Dutzend, aßen und tranken und unterhielten sich. Im Hintergrund des Saales spielten sieben Musiker. In den Pokalen schimmerte Wein aus Beauvallon. Schon bald hatten
sich unsere skeptischen Überlegungen bewahrheitet. Die Adeligen, besser gekleidet, aber offensichtlich durch einen gewaltigen Abstand vom gemeinen Volk getrennt, verwandelten die lange Tafel im Lauf der Stunden in das Chaos eines Schlachtfelds. Jede leckere Speise und die herrliche Musik hielten sie für selbstverständliche Zutaten des Abends. Dennoch, meinte der Logiksektor skeptisch, werden sie eine brauchbare Idee erkennen – wenn sie damit reicher werden können. Monique und ich aßen, wie wir es mittlerweile selbst am französischen Hof gesehen hatten, mit zierlichen Gabeln. Vieles andere, das unsere Gäste hier sahen und erlebten, erregte ihre Aufmerksamkeit und in einigen Fällen auch das ernsthafte Interesse. Master William, der zwischen Monique und mir saß, beugte sich zu mir herüber und meinte, am saftigen Braten kauend: »Wohl dem, der sich Euer Freund nennen darf, denn es geht ihm wohl.« »So soll’s bleiben.« Ich bemerkte, wie sich einige Männer für das System aus schmiedeeisernen Röhren interessierten, das in die Kaminflammen ragte und von dort aus zu anderen Stellen des Hauses führte. »Und wenn einige Freunde etwas von uns lernen, dann geht es mir auch wohl.« »Ihr seid ein Mann von seltsamer Großzügigkeit, Master Atlancar.« »Täuscht Euch nicht.« Kleinere Gruppen bildeten sich. Einige Männer rauchten. Zwei blickten abwechselnd durch das Teleskop und teilten sich, was sie sahen, voller Verwunderung mit. In einem angrenzenden Raum erklärte Riancor den Ehefrauen, wie der Webstuhl aus Holz und Eisen funktionierte. Bewundernd strichen die Damen mit fettigen Fingern über die farbigen Muster.
Wie üblich und beabsichtigt, standen in allen Teilen des Hauses neuartige Geräte und Maschinen herum, unübersehbar, im Stil der Zeit hergestellt, einfach und doch hervorragend arbeitend. Keiner unserer Gäste ging letztlich aus dem Haus, ohne sie zwangsläufig gesehen und wenigstens teilweise ihre Funktion begriffen zu haben. Es waren ausnahmslos Weiterentwicklungen bekannter Prinzipien. Edward O’Rourke kam vor einem Londoner Schiffbauer aus dem angrenzenden, umgebauten Schuppen und nahm einen vollen Pokal vom Tablett eines Dieners. »Dachte immer, Master, ich wäre nicht ohne Einfälle. Aber Ihr seid viel beweglicher hier oben, meine ich. Ist es nicht so?« Er deutete an seine Stirn und wandte sich an den jungen Schiffs-Fachmann. »So ist es. Ich bewundere das Schiff, das Ihr dort im Modell habt.« Ich nickte und erklärte, was wir uns bei der Schiffseinrichtung gedacht hatten, und schloß: »Wir sind oft, lange und weit über die Meere gekreuzt. Auf unseren Schiffen gab es weder Krankheiten noch Ratten. Unsere Seeleute kamen besser erholt und gesünder zurück, als sie an Bord kamen.« »Und das ist nicht übertrieben«, stimmte Monique zu. »Ich war bei vielen langen Fahrten dabei. Es ging uns immer prächtig.« »Ihr seid zufrieden, Master O’Rourke?« fragte ich. »Ich entdecke jeden Tag, wie gut Master William daran getan hat, uns miteinander bekannt gemacht zu haben.« »Wenn einige Ideen und übermütige Schnurrpfeifereien den Weg aus meinem Haus – und aus Eurem, mit Verlaub, Master O’Rourke – hinaus und in die Massenanwendung finden, dann gibt es weniger hungernde Arme und einige sehr viel Reichere!« betonte ich. »Denkt nur allein an die Straße und die
Brücken!« Um unser Haus auf den Klippen erreichen zu können, waren alle Freunde und Gäste von der sogenannten Straße heruntergefahren und hatten sich nach wenigen Galoppsprüngen auf »unserer« Straße gesehen: Welch ein Unterschied zu den schlammigen, unsicheren Wegen der Insel. »Sie sind vom Besten, was meine Stiefelsohlen je gesehen haben.« Es waren nur neunhundert Schritte gewesen. Aber wir hatten den nassen Boden abtragen lassen, einen Unterbau aus zerschlagenem Stein zwölf Ellen breit eingelegt und darüber groben und feinen Sand eingebracht. Gemauerte Ränder dienten der Wasserführung, das Erdreich hatte dazu gedient, das Gelände wieder aufzufüllen, Rampen zu schaffen und neuen Boden für eine Doppelreihe neu gepflanzter oder nicht gefällter Bäume. Die beiden Bäche waren von Brücken überspannt, die aus einem Baukastensystem heraus entwickelt worden waren. In anmutigen leichten Bögen, ohne großes Gefälle, führte unsere Straße bis vor das Haus und endete auf dem Pflaster des Hofes, durch dessen breite, von Gras bewachsene Spalten das Regenwasser leicht abfließen konnte. »Ich schlage es unserer Königin vor«, mischte sich ein würdiger Adeliger ein, den wir vor der Royal Exchange vor einem Überfall bewaffneter Wegelagerer bewahrt hatten. »Es wird vielen Arbeit bringen… und einen Sack Gold kosten.« »Aber jede Nachricht und jede Ware wird die Grenzen des Königreichs in Windeseile erreichen.« »Zweifellos. Master of Arcon.« »Und die königlichen Soldaten reiten und marschieren, wenn nötig, sehr viel schneller und sind nicht müde, wenn’s zum Kampfe geht«, stimmte der Dichter zu. »Daß eine Armee nicht auffällt«, wandte ich ein. »ist das
Beste, was man von ihr sagen kann.« »Das ist die Wahrheit«, rief eine der Damen, »und die Wahrheit verletzt tiefer als jede Verleumdung!« Verwirrt schüttelten wir die Köpfe. Die Musiker machten jetzt, einige Stunden nach dem Beginn des Abendessens, die erste Pause und verschwanden in der Küche, um zu essen. Ich führte einige Paare durch das Haus und erklärte ihnen, warum es in fast allen Räumen so anheimelnd warm war. Daß es ein Bad gab, daß aus den Hähnen kaltes und warmes Wasser lief, verwunderte sie zutiefst, und wieder mußte ich endlose Erklärungen abgeben und Modelle in der Werkstatt vorführen. Isolierte Tanks unter dem Dach waren das größte Geheimnis, aber die einfache Balgpumpe, zwar von Riancors Maschinen angetrieben, aber auch über ein Laufrad zu bewegen, überzeugte die technisch Gebildeten unter den männlichen Gästen. »Ihr seid wirklich ein Erfinder!« »Ich zeige Euch nur, was kluge Männer in Italien erdacht, gezeichnet und ersonnen haben.« »Erstaunlich!« Der Abend verlief wie viele, die darauf folgten. Shakespeare rezitierte einige seiner Sonette, es gab Musik und Gelächter, lange Diskussionen und kluge Reden, Spaziergänge – wenn es nicht regnete –, und wir versuchten nicht nur, den unüberbietbar großen Gegensatz zwischen Arm und Reich, den gleich großen zwischen Ungebildet und Gebildet zu verkleinern, sondern Denkanstöße in jeder Hinsicht auszuteilen. Die Eingeladenen verließen uns einzeln, in Paaren, auf schwergängigen Gespannen oder im Sattel. Andere besuchten uns; je weiter der Herbst fortschritt, desto ruhiger wurde es, und wir hatten Zeit, mit Bauern und Dienern alles auf den Winter vorzubereiten.
In regelmäßigen Abständen wechselten wir zwischen Cornwall und Beauvallon hin und her, und nur dreimal während des Winters besuchten wir London und Westminster. Monique, Riancor und ich verbrachten acht Monde mehr oder weniger damit, die Informationen der Spionsonden zu studieren und auszuwerten, die beiden Häuser zu bewohnen und jenen Menschen, die andere als unsere Leibeigenen, dienstbaren Bauern, Tagelöhner und Rechtlosen bezeichneten, ein möglichst gutes Leben in einer Umgebung ohne vermeidbare Krankheit und gewaltsamen Tod zu ermöglichen. Äcker, Weiden und ein Stück Forst in Cornwall und das versteckte Tal von Beauvallon waren, als der August des 1589. Jahres des Herrn anfing, Zonen der Ruhe und des Friedens in einer Welt, die sich ununterbrochen veränderte, je nach Laune oder Glaubensbekenntnis der Herrschenden und dem Machtstreben und Ehrgeiz deren Berater. Eigentlich fing es damit an, daß die gascognischen Garden im Dezember des vergangenen Jahres, auf Befehl vom dritten Heinrich von Frankreich, in Blois den Herzog von Guise ermordeten, einen katholischen Extremisten. Er hatte als einer der »Heiligen Liga« versucht, Paris zu nehmen und Heinrich zu beseitigen – dadurch sollte das protestantische England unterjocht werden. Die Wellen dieses Glaubensbebens, die sich nach allen Richtungen hin mit der Geschwindigkeit eines Gerüchts fortsetzten, erreichten uns in Le Sagittaire. Religionskriege nannte man die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Hugenotten, die seit Jahrzehnten in sinnloser Folge ausbrachen. Kleine Armeen trugen die Kämpfe aus, Reiter und Arkebusen-Schützen; die Feldgeschütze, die sie mitunter mitführten, vermochten höchstens Holztore zu zertrümmern. Söldner waren es, Deutsche und Schweizer unter ihnen. Die Hugenotten, nachdem viele von ihnen 1572 ermordet worden waren, bauten im Süden des Landes eigene
Stützpunkte auf und machten La Rochelle, die Hafenstadt, zu ihrem Zentrum. »Krieg der drei Heinriche«, sagte das Volk, als um Paris gekämpft wurde. Religiöser Fanatismus hatte das Volk ergriffen; die Mächtigen nützten ihn aus. Ein bedeutender Anführer der Hugenotten hieß Heinrich von Navarra, der Sohn eines Herzogs de Bourbon Vendome. Er hatte Montauban befestigt; und es war von Lyon, unserer nächsten Stadt, nicht allzuweit entfernt, wenn man entlang der Tarn zog. Ein gewisser Lampriere schrieb ein Wörterbuch, dessen fragwürdige Translation über uns kam; samt wenig hilfreicher Erklärungen. Der dritte Heinrich wurde ermordet; wir konnten nur mit Mühe rekonstruieren, wie es geschehen war. Ein katholischer Verrückter, erzählten die Leute, sei es gewesen. August 1589: Ich hob meinen Kopf, drosselte die Lautstärke und beobachtete die lautlosen Reiter auf dem Bildschirm. Riancor sagte, nur mit mäßigen Zeichen von Beunruhigung: »Wir haben einige Varianten zur Auswahl. Wenn wir sie in die Flucht schlagen, erinnern sie sich an Beauvallon, einen reichen Ort voller guter Gläubiger. Des falschen Glaubens, aus ihrer Sicht. Willst du sie alle töten? Wollen wir mit unseren braven Bauern kämpfen? Die Hugenotten kommen auf der Straße hierher, die wir leichtsinnigerweise ausgebaut haben. Sie werden in Beauvallon einfallen. Was ordnest du an?« Psychostrahler! flüsterte der Logiksektor. Ein gefährliches Vorhaben. Wenn wir auf dem Umweg über unsere Geräte den Eindringlingen (in fünf Stunden oder etwas mehr würden sie die Abzweigung bemerken; von der Hauptstraße dauerte es bei leichtem Trab etwa eine Stunde bis zu uns) suggerierten, daß dies eine verbotene Gegend sei, würden sie sich später daran erinnern, es den Leuten in Lyon erzählen, und jene
konnten es nicht glauben, da sie die Händlerbauern aus Beauvallon gut kannten. Langsam reifte eine Idee in meinen Überlegungen. Ich grinste und sagte zu Riancor: »Sattle unsere Pferde! Wir legen Rüstungen an und nehmen genügend Waffen mit. Mit unserer gewaltigen Übermacht werden wir sie entlang der Hauptstraße bekämpfen. Wähle die richtige Fahne, so daß sie glauben, wir wären ihre Feinde.« »Monique?« »Sie wird hierbleiben, die Bauern beruhigen und dafür sorgen, daß sich von den hungrigen Hugenotten keiner nähert.« Der Tag hätte kaum ungünstiger sein können. Vom Süden, auf Lyon zu und vermutlich mit Paris als Ziel, näherten sich Schweizer Söldner unter französischer Führung. Wir hatten vierhundert Männer gezählt, etwa zweihundert von ihnen besaßen Pferde: Ein kleines, gut gerüstetes Heer bewegte sich auf unsere Felder, Weiden und Äcker zu, auf die Weinberge und auf schutzlose Bauern, die in den Erntearbeiten schufteten und die Hakenbüchsen, Schwerter und Spieße ihrer Großväter längst vergessen hatten. »Du willst sie nicht beunruhigen?« Ich schüttelte den Kopf und fuhr in die schweren Reiterstiefel. »Nein. Nicht nötig. Sie nützen uns nichts, also sollten sie uns auch nicht schaden können…« »Leicht wird es nicht werden.« Riancor half mir, die Halbrüstung anzulegen, und ich schloß die breiten Schnallen seines Harnischs. Wir rüsteten uns wohlüberlegt aus und testeten die kleinen schwebenden Maschinen. Ich bereitete Monique auf die Möglichkeiten vor, die ihr in den Stunden zwischen Mittag und Abend blieben. Wir stimmten uns ab und entschlossen uns, so und nicht anders vorzugehen. Wir stiegen in die Sättel und ritten so
unauffällig wie möglich durchs Dorf, an der Mühle vorbei und zwischen die bemoosten Stämme der ersten Bäume des Schutzwaldes hinein. Unsere Pferde galoppierten an, der lange Wimpel der »Liga« flatterte… und ich wußte, daß wir uns geschickt verhalten mußten. Der Weg wand sich durch den Wald und vorbei an den Bannwällen, die nichts gegen diese Reitergruppe würden ausrichten können. »Hoffentlich sind die Anführer nicht zu schlau!« »Oder zu mißtrauisch«, setzte ich hinzu. »Wenn die Nacht anfängt, müssen wir schon über die Brücke hinaus sein.« »Es sollte so funktionieren, wie ich es errechnet habe«, versicherte Riancor. Wir erreichten die Handelsstraße; ich fragte, an welcher Stelle die Hugenotten jetzt waren. »Beim Kalkfelsen, wo wir einmal das Salzlager hatten«, lautete die Antwort. »Sie sind nicht schnell. In einer halben Stunde werden wir die Vorreiter sehen.« Wir entsicherten unsere antik aussehenden Waffen, pflanzten die Pike mit dem Wimpel deutlich sichtbar auf, und die Antigravkugeln, sendefertig mit den Projektilen beladen, schwebten in die Höhe. Ich glaubte, es im Innern Riancors klicken und summen zu hören, als er die Strahlung dosierte und das Programm einstellte. Ungeduldig tänzelten die Pferde in der Mittagshitze, schwitzend und schäumend. Kurz verständigten wir uns, dann ritten wir den Hugenotten entgegen. Ich sprach über das Gerät im breiten Gelenkschutz aus Leder und Stahl mit meiner Freundin und beruhigte sie mit einiger Mühe. »Da kommen sie.« Zwei Reiter und hinter ihnen noch einmal drei kamen hinter der Biegung des Weges hervor. Ihre Pferde und alles andere waren staubbedeckt. Schweißspuren zeichneten schwarze Bahnen über Felle und Haut und färbten Teile der Kleidung. Riancor und ich hoben die langläufigen Reiterpistolen, zielten
und feuerten. Die Magazine waren voller Kartuschen mit feststeckenden Geschossen. Die gut eingerittenen und an die hämmernden Detonationen gewöhnten Hengste zuckten nur die Ohren. Graublauer Rauch hüllte uns ein. Funken und Staubfontänen sprangen hoch. Die Pferde scheuten, die Männer riefen Flüche zu uns herüber und schwenkten ihre Luntenflinten oder Feuersteinschloßarkebusen. Dann rissen sie die Pferde herum und galoppierten davon. Wir schickten ihnen noch eine Serie von Schüssen hinterher, die in Baumstämme schlugen, in das Straßengeröll oder in die Büsche, deren Blätter in Fetzen davonwirbelten. »Auf unsere Geräte ist Verlaß«, stellte Riancor fest. »Hast du ihr Erschrecken bemerkt?« »Natürlich.« Die Einstellung der Psychostrahler bewirkte bei jedem Menschen in einem Radius von eineinhalbtausend Schritten, der schwarze Pferde, schwarzgekleidete Reiter mit blinkenden Rüstungen und spanischen Helmen sah, daß sich in seinem Verstand zunächst zwei, dann vier, schließlich acht und darauffolgend sechzehn gleichartige Bilder festigten. Die fünf Reiter waren hinter der Krümmung der Fahrspuren und der wuchernden, welkenden Grasstreifen verschwunden; wir warteten. »Sie rechnen mit einer Straßensperre der Liga-Reiter«, bestätigte Riancor. Langsam ritten wir bis zum Schaft der doppelt mannslangen Pike, einer der gefürchteten Waffen dieser Zeit, lang und tödlich wie die Sarissen des Makedoniers. Nach einer kurzen Weile hörten wir das Dröhnen vieler Pferdehufe, wildes Geschrei, scharfe Kommandos und das Klirren von Metall. Die Durchlässe zwischen den Bäumen und den Hangfelsen waren nicht breit; nur acht Reiter hatten Platz nebeneinander. Sie waren den Kampf gewohnt und kamen in
scharfem Trab näher. Wieder feuerten wir und achteten darauf, niemanden zu treffen. Noch nicht. Riancor verstärkte die Wirkung der Psychostrahlen, wir aktivierten die Schutzschirme, und die Reiter feuerten ihre schweren Waffen leer. Rauchwolken quollen in die Höhe. Geschosse heulten wie Hornissen durch die heiße Luft. Immer mehr Reiter kamen aus dem Engpaß hervor und griffen an. Wir, vierundsechzig gegnerische Reiter, ergriffen die Flucht; ich riß die Lanze aus dem Boden und galoppierte, um die Bilder nicht allzu synchron werden zu lassen, hinter Riancor her. Freudiges Gebrüll erscholl in meinem Rücken. Deutlich verstand ich den Kampfruf der Söldner: »Für Heinrich von Bourbon!« Henry Navarras Vater ist Antoine de Bourbon, klärte mich der Logiksektor auf, und Henry der Dritte war der letzte des Valois-Geschlechts. Wieder summten die schweren Kugeln der wenigen Reiterpistolen über unsere Köpfe hinweg. Wir waren zunächst geflüchtet, und mehr als fünfzig Reiter setzten uns nach. Sie waren bereits an der Wegkreuzung vorbeigeprescht und wechselten in einen kurzen Galopp über. Riancor und ich hielten die Pferde an, wendeten und stellten uns. Die Entfernung zwischen uns und den Hugenotten betrug fünfhundert Schritt. Weit hinter den Reitern tauchten die Fahrzeuge und die Marschierenden des Trosses auf. Wir zogen die archibugi aus den Sattelhüllen. Die schweren Kleingeschütze waren von Riancor manipuliert, aber die Wirkung der Schüsse blieb höllisch. Feuerten die zeitgenössischen arquebusen oder haquebuten schwere Bleibrocken, so heulten die Geschosse aus unseren langgezogenen Rohren zwischen die Reiter, detonierten mit höllischem Schmettern, strömten kochende Hitze und stinkende Gase aus, unter denen die Nüstern der Tiere am
meisten litten. Unsichtbare Strahlen pfiffen geradeaus und erzeugten dort, wo sie auftrafen, kurze, aber intensive Schmerzen, ohne Wunden oder sichtbare Male. Wir boten für die Hugenotten ein Bild des Schreckens. Aus den Mündungen unserer Hakenbüchsen zuckten halbarmlange grelle Flammen. Rauchwolken machten das Bild der vielen vorgespiegelten Gegner undeutlich. Wir bildeten eine breite, geschlossene Front und schienen unverwundbar. Die Metallteile der Rüstungen funkelten silbern oder golden. Eine Reihe Hugenotten sprang aus den Satteln, stürzte ihre Büchsen auf die Gabeln und brannte die Lunten an. Sie zielten auf Riancor und mich – und auf Dutzende von Schemen, die ebenso deutlich in ihrer Vorstellungskraft waren wie wir selbst. Bleibrocken schlugen nur zum Teil in unsere Schutzschirme ein. Rings um uns prasselten Metallkugeln ins Gebüsch, splitterten Baumrinde ab, wurden von Steinen und Felsbrocken abgelenkt und heulten schwirrend davon. Wieder donnerten unsere Waffen auf, die wir nicht abstützten; Pferde und deren Reiter wälzten sich schreiend und wild um sich schlagend auf dem Boden. Wir rissen die Tiere herum und galoppierten davon. Riancor erzeugte ein grelles, schmerzend trillerndes Hornsignal und schob eine neue Energiezelle in den Kolben der Waffe. »Demnächst werden sie wohl ihr Geschütz geladen haben.« »Dort vorn gibt es ein gerades Stück Straße!« rief ich und hoffte, daß es um diese Zeit keine anderen Benutzer dieses uralten Handelsweges gab. »Offiziell« waren wir Truppen, mit Spanien verbündet. Mir erschien es logisch, daß Frankreich seinen Bewohnern gehörte und von einem Herrscher geführt wurde, der im Land geboren war. Da aber augenscheinlich jeder König im unauslöschlichen Bewußtsein aufwuchs, von Gott selbst zum Herrschen bestimmt worden zu sein, nahm er diese
Bestimmung auch gegenüber Nachbarländern und fernen Kolonien in Anspruch. So abenteuerlich ist diese Überzeugung nicht, knurrte der Extrasinn. Es ist auch Brauch bei Arkoniden! »Wir lassen sie bis zu diesem Punkt in Ruhe. Sie sammeln sich schon wieder.« »Hoffentlich entdeckt der langsame Troß nicht die Abzweigung.« »Nein. Sie stolpern vorbei.« Die Pferde wurden mit Mühe eingefangen und beruhigt. Mit zitternden Fingern luden die Schützen ihre ungefügen Waffen nach. Pikeure zu Pferd bahnten sich einen Weg durch das Getümmel, fällten die langen Lanzen und galoppierten auf das freie Stück Straße hinaus. Wieder setzten wir die Strahlen unserer Waffen ein und lähmten die Arme einiger Reiter. Rechts und links der durcheinanderwirbelnden Gruppen kamen die Fußsoldaten, die ihre Helme festschnürten und fluchend die Schwerter zogen und die Piken schwenkten. »Es sind, immerhin, tapfere Söldner!« knurrte ich, wider Willen die Leistung bewundernd. Sie stellten sich einer riesigen Übermacht und kämpften gegen ihre Verwirrtheit. »Vielleicht kämpft ihre Glaubensüberzeugung mit ihnen«, setzte Riancor hinzu. »Gut möglich.« Wir schwitzten ebenso wie die Tiere. Jeder Hufschlag wirbelte feinen Staub in die Höhe, der sich ätzend auf die Schleimhäute legte. Immer wieder zerrissen krachende Detonationen aus den heißen Waffenläufen den lärmenden Mittag. Pulverrauch wälzte sich in trägen Wolken über dem Boden dahin. Riancor und ich legten an und zielten auf die ersten Reihen der Heranstürmenden. Wir richteten die Lähmstrahlen so genau wie möglich auf die Arme und Oberkörper, lähmten einen Teil der Männer und riefen Schmerzen hervor. Waffen klapperten zu Boden; dann wichen
die Reihen der Reiter und der Fußsoldaten auseinander. Das Rohr des Geschützes schwenkte herum und wurde auf uns gerichtet. »Es wird Zeit!« rief ich und hielt den Wimpel höher. Wir setzten die Sporen ein und gaben die Zügel frei. Mehr als fünfhundert Schritte waren die letzten Teile des Trosses von der Wegkreuzung entfernt, nördlich davon und ohne sie richtig wahrgenommen zu haben. Wir beugten uns über die Hälse der Pferde und schalteten die Leistung der Schutzschirme höher. Unsere Pferde galoppierten das gerade Stück der Straße in schnellerem Tempo hinunter, und wir sahen die hochragenden Balkenbündel jener breiten, aber kurzen Brücke, die wir vor vielen Jahren konstruiert und seither immer wieder erneuert hatten. Vor den Holzpylonen, an denen sich schenkeldicke Taubündel spannten, bogen wir nach rechts und links ab. Keinen Lidschlag zu früh, denn die Ladung aus Metallsplittern und gehacktem Blei prasselte wie ein waagerechter Hagelschauer gegen das Holz, auf die Bohlen und ins Erdreich, in die Baumkronen und Äste. Ein Regen zerfetzter Blätter und Aststückchen sank herunter, und gleichzeitig drang der dröhnende Krach des Abschusses an unsere Ohren. Wir näherten uns der Straße, senkten die Waffen und fingen mit gezieltem Beschuß der Reiter und Fußtruppen an. Einige Zeit lang verwandelten wir uns in einen dichtgestaffelten Pulk, der die Brücke zu verteidigen schien und aus hundert Rohren ununterbrochen feuerte. Unser Ziel war, alle Hugenotten-Söldner auf der Straße und in ständiger Bewegung nach Norden zu halten – es sollte keiner zurückbleiben. Wie es schien, waren sie alle genügend wütend und folgten uns, und es blieben nur wenige zurück. Zwei Pferde lagen mit gebrochenen Läufen im Graben und wurden getötet.
Wieder preschten die Reiter vor und richteten die Piken aus. An ihren Flanken standen Arkebusenschützen, hatten die Läufe in die hölzernen Gabeln gelegt und zielten auf die Phantombilder. Ab und zu zuckte aus einer unserer Waffen ein vernichtender Energiestrahl, dank der grellen Mittagssonne fast unsichtbar; er traf die Kanone, schmolz sie halb, brachte Pulver zur Explosion, brannte Löcher in Schilde oder schmolz Teile der Arkebusen zu unkenntlichen Metallknüppeln zusammen. Nachdem wir abermals eine grauenhafte Verwirrung angerichtet hatten, beruhigten wir unsere Pferde und trabten langsam über die aufdröhnenden Brückenbohlen. Tatsächlich gab es keinen Verkehr auf diesem Stück des Weges. Ich beugte mich im Sattel hinüber und rief: »Hast du eine Sonde nach Norden geschickt?« »Sie ist inzwischen zurück. Bis zur Schlucht ist niemand zu sehen. Nur Bauern in den Weinbergen von Collonnes.« »Gut so.« Das Flüßchen tief unter der Brücke war fast versiegt. Wir bewegten uns über die sechs Serpentinen den Hang hinauf und behielten den Platz vor den flachen Rampen genau in den Augen. Auch unsere Hengste waren müde geworden und keuchten, schweißüberströmt. »Was mögen sie denken?« fragte ich laut. »Ich bin sicher, daß sie uns für Liga-Reiter halten, von denen sie auf dem langen Weg nach Paris daran gehindert werden sollen, zu plündern und diejenigen Franzosen zu überfallen, die der Bourbone wohl bald regieren will.« »Diese Illusion werden wir noch bis zur Dämmerung aufrechterhalten«, versicherte ich. »Noch etwas fällt mir gerade ein. Diesen Winter bleiben wir hier, nicht in Cornwall. Wir verschenken alle unsere erfindungsreichen Modelle und nehmen nur mit, was wir brauchen.«
»Ich habe eine hohe Wahrscheinlichkeit für diesen Entschluß errechnet«, gab Riancor zurück. Als nur noch ein Straßenstück zwischen uns und der Hügelkuppe lag, kamen die ersten Reiter an die Brücke. Sie lag schräg unter uns, vielleicht dreihundert Schritt oder tausend Ellen entfernt. Ich hob den Arm und rief: »Wir lassen sie die Brücke passieren. Dann sehen wir, wie viele es wirklich sind.« Die Straße verlief jetzt auf nacktem Fels. Myriaden Hufe und hunderttausend Gespanne hatten seit den Jahren, als Rom hier herrschte und sein Straßennetz nach überraschend wohlgeplanten Methoden angelegt hatte, den Boden zerfurcht. Schlagregen und kochender Sonnenglast hatten tiefe Rillen in den Grund gehobelt. Feines Geröll und Sand, Teil der Verwitterung, lagen in den Fahrspuren. In den Felsspalten hatten Pinien und andere Gewächse Fuß gefaßt und ihre Wurzeln dorthin gezwängt, wo Feuchtigkeitsspuren waren. Wir blickten über die breiten Baumkronen und zwischen ihnen hindurch auf unsere Verfolger. »Wieder haben sie sich organisiert.« Die Reiter zögerten nicht, ihre Tiere über die Brücke zu treiben. Das Poltern und Dröhnen war bis hierher gut zu hören. Weit im Osten brannte es, am westlichen Horizont ballten sich schwarze Gewitterwolken. Wir hatten vorübergehend die Psychostrahler ausgeschaltet. Die Reiter erreichten wieder festen Boden. In guter Formation folgten die Pikeure. Die Sonne des frühen Nachmittags riß funkelnde Reflexe aus den frischgeschärften Schneiden der Waffenenden. In langsamem Laufschritt folgten die Männer den Reitern, dann kam die Kanone, die wir unbrauchbar gemacht hatten. Dann schloß sich der Troß an: Wagen mit Futter, Wasser, Nahrungsmitteln und Wein, Strohlager für Verwundete, Dirnen und Handwerker, ganz
zum Schluß drei graufellige Esel, die riesige Heubündel schleppten. Als die dahintrippelnden Lastesel die Brücke verlassen hatten, stiegen wir an der höchsten Stelle der Straße aus den Sätteln. Mindestens viertausend Galoppsprünge weit war die Straße nach Lyon zu von uns zu übersehen. Sie war wirklich leer. Ich lehnte die Wimpellanze an einen tiefhängenden Ast, zog die schwere Waffe aus dem Futteral und blieb an der Kante der Straßenbiegung stehen. »Psychostrahler an?« »Sie setzen gerade mit voller Leistung wieder ein.« Vermutlich sahen die Hugenotten den gesamten Hang voller Verteidiger und einen Arkebusier neben jedem borkigen Stamm. Pinienzapfen brachen knisternd unter unseren Stiefelsohlen. Wir visierten unsere Ziele an und stützten die Läufe gegen die Pinienstämme. Ich blinzelte; salziger Schweiß sickerte durch meine Brauen und biß in den Augen. »Für die hübschen Bauerntöchter von Beauvallon!« sagte ich und schoß. Hinter den Eseln schlugen Feuerbälle aus dem Boden. Der Felshang schleuderte jede Explosion als Echo zurück. Ein Esel verlor die Last, und mein nächster Schuß setzte sie in Brand. Riancor zerstörte nach zwei Dutzend wilder Schüsse in die Reihen der Reiter und Fußsoldaten das Geschütz völlig und den Pulverwagen ebenso wie den, auf dem die Geschosse transportiert wurden. Die Angehörigen des Trosses flüchteten schreiend und fluchend nach allen Seiten. Einige Pferde brachen aus und schleuderten ihre Reiter aus den Sätteln. Piken brachen, von unten wurde zurückgeschossen, und die erste Abteilung der Berittenen hetzte die Pferde über die Krümmung das lange, schräge Straßenstück hinauf. Wir drehten uns halb herum und setzten die Lähmstrahlen gegen die Reiter ein. Mit haarfeinen
Energiestrahlen zerschnitten wir die meisten Piken, versetzten die Männer, die sich ohnehin am Rand ihrer Leistungsfähigkeit befanden, in Verwunderung, ungläubiges Staunen und Wut. »Sie sind«, bemerkte Riancor, »einigermaßen demoralisiert.« »Würde ich an ihrer Stelle gegen unbekannte ArkonidenTechnik kämpfen, erginge es mir nicht anders«, brummte ich, hustete, würgte, weil die Wolken unserer eigenen Pulverentladungen uns beide halbwegs unsichtbar machten. »Bringen wir es hinter uns.« Ich leerte mit zwanzig wohlplazierten Schüssen das Magazin. Der letzte Abschnitt jenes Chaos, das wir erzeugten, glich den vorhergehenden: Wir töteten niemanden, verletzten ernsthaft kaum einen der Hugenotten, beraubten sie alle aber ihrer Organisation, ihrer Waffen, des Angriffsgeistes und ihrer Möglichkeiten, mit mehr als Fäusten, Dolchen oder Schwertern hantieren zu können. Auch Riancor setzte seine Treffer zwischen Pferdehufe, zwischen die rennenden, stolpernden, fluchenden und torkelnden Männer. Sie waren erschöpft und versuchten dennoch, das Gold, das man ihnen irgendwann bezahlt hatte, zu verdienen – aber es gab keine wirkliche Chance, den übermächtigen Gegner zu besiegen. Als wir sicher sein konnten, daß keiner aus dem Haufen der Hugenottensöldner daran dachte, die Scheunen von Beauvallon zu plündern, schulterten wir die wichtigen Büchsen und gingen hinüber zu den Pferden. »Wir haben zwei Möglichkeiten«, schlug ich vor. Riancor kannte sie. »Mitten durch die Gegner – oder auf langen Umwegen durch die Furt des Flusses, die Wälder und etliche Weinberge.« »Ich meine, mit ein bißchen Glück müßten wir den direkten Weg überleben können.«
»Ich sorge dafür, daß wir überleben«, versprach Riancor. »Warten wir, bis sie völlig durcheinander sind«, schlug ich vor und ging hinüber zu den dösenden Pferden. Mittlerweile spürte ich auch die Müdigkeit. Ich stemmte mich keuchend in den Sattel, steckte die Waffe neben den Sattel und vergewisserte mich, daß die Kapazität des Schutzschirms fast aufs Maximum gefahren war. »Schalte die Psychostrahler auf völliges Chaos«, ordnete ich an. »Wir nehmen den kurzen, direkten Weg.« »Für Henry und die Liga!« rief Riancor fröhlich, zwang sein Pferd in die entgegengesetzte Richtung und hob seine rechte Hand. Ich sah, daß er den Handschuh aus Kettengewebe ausgezogen und die Projektoren seiner Fingerspitzen frei gemacht hatte. »Gehen wir!« »Nach Beauvallon!« Die Pferde trabten, fielen in einen kurzen Galopp, schienen unsere Absicht und somit ihr Ziel zu wittern, wurden schneller und schienen sich ihrer letzten Kraft bewußt zu werden. In hartem Kantergalopp ritten wir die erste Gerade abwärts, wurden in der Biegung langsamer, kamen die zweite Gerade herunter und trafen auf die ersten Reiter, die wie die Wahnsinnigen versuchten, ihre Pferde zu bändigen. Rücksichtslos sprengten wir zwischen ihnen hindurch; die Pferde, von uns in langen Monden eingeritten, warfen sich nach links und rechts und achteten instinktiv darauf, niemanden umzuwerfen. Irgendwie fand sich eine Gasse zwischen ratlosen Fußsoldaten, und genau durch diese zufällige Zickzacklinie galoppierten wir, vorbei an brennenden Resten der Wagen und auskeilenden, kreischenden Eseln. »Heimwärts!« gellte Riancors Schrei. »Zu einem heißen Bad und einem kalten Schauer!« gab ich zurück, stand in den Steigbügeln auf und hielt das Ende der
Lanze als Abwehr schräg nach unten. Wir schafften es, ohne größere Probleme zwischen der Masse aufgeregter Menschen hindurchzukommen. Ein kurzer dumpfer Wirbel auf den Brückenbohlen, dann waren wir im freien Gelände, verließen die Straße und ritten durch den Schatten des Waldes auf Wegen, die nur wir kannten, zurück nach Beauvallon; unterwegs verständigte ich Monique von unserem Erfolg. Wir glitten vor Le Sagittaire aus den Sätteln, als die Sonnenscheibe hinter den Bergen versank. In der Luft war der Geruch frisch gedroschener Getreidehalme und der Herdfeuer. Monique und ein Mädchen aus dem Dorf kamen auf uns zu, große Becher mit rotem Wein in den Händen – es war der Empfang für heimkehrende Helden. Ich trank viel, lange und in tiefen Zügen, dann holte ich Luft und sagte: »Die Kämpfe sind an uns vorbeigezogen. Sie werden, denke ich, niemals zurückkommen.« Monique umarmte mich, als sei ich ein Jahr lang fort gewesen, und flüsterte in mein Ohr: »Es ist nur wichtig, Liebster, daß du zurückkommst. Hier, trink! Küsse mich.« Nach einer Weile: »Dein Bad voller Kräuter, Essenzen und edler Seife aus Grasse ist bereit. Eil dich! Sonst wird das Wasser kalt.« Ein paar junge Leute halfen uns aus der Rüstung. Sie wußten und verstanden nichts. Ich bemerkte, daß ich nach Pferd, Pulverrauch und Schweiß stank wie ein Wiedehopf, und schleppte mich in das heiße Wasser des Bades, in dem ich einschlief. Am nächsten Morgen, in Moniques Armen, begann die Umwelt ein anderes Aussehen anzunehmen. »Von den Hugenotten, jenen oder anderen, werden wir nie wieder etwas sehen«, erklärte Riancor, nachdem er die vielen
Informationen ausgewertet hatte. »Während ich versuche, die seltsame Sprache ›Cornisch‹ bei unseren Freunden in Cornwall anzuwenden, dürft ihr bei der Ernte helfen.« »Es ist sicher keine Arbeit, von der der Weg der Barbaren zu den Sternen einfacher wird«, antwortete ich, »aber es macht wenigstens Spaß.« Frankreich schien mit dem ersten Bourbonen als neuem Herrscher kein schlechtes Los gezogen zu haben. Henry entwickelte Ehrgeiz und arbeitete hart – mehr konnte ich nicht sagen. »Hoffentlich beendet Heinrich die Religionskriege«, sagte Monique und ging auf den Balkon hinaus. Wir blickten über diese unverändert friedliche Zone hinweg und freuten uns am Rauch aus etlichen Kaminen, der fast gerade in den Abendhimmel stieg. »Ich werde heute nacht über die Transmitterverbindung nach Cornwall gehen«, meinte Riancor. »Morgen nacht komme ich mit dem beladenen Gleiter zurück und bringe auch den Transmitter mit.« »Einverstanden!« Wir hatten die Wahl. Wieder einmal. Sollten wir in diesem weltabgeschiedenen Winkel bleiben oder uns in das Gefängnis im Meer zurückziehen und dort die Reparaturen der Schäden kontrollieren? Im Lauf der nächsten Stunden, während Monique und ich im Arbeitszimmer in den Sesseln lagen und darüber sprachen, schafften wir Klarheit. Wir wollten in aller Ruhe soviel über die Welt des endenden sechzehnten Jahrhunderts seit der Zeitenwende erfahren, wie es möglich war – und wenn es uns im Herbst, Winter oder Frühjahr wirklich zu langweilig wurde, würden wir Beauvallon und Le Sagittaire verlassen, für eine unbestimmt lange Zeitspanne. »Es wird sich nicht wirklich etwas ändern, Liebster«, flüsterte die Gefährtin so vieler Abenteuer. Sie war schöner
und reifer geworden in all den Jahren, die wir miteinander verbracht hatten. Erinnerte sie sich noch an die ersten Stunden in meinem Zelt, damals…? »Nicht viel. Das Schöne und das Abstoßende, Häßliche werden bleiben. Aber jedes Jahr wird ein wenig mehr erfunden, wird die eine oder andere Entwicklung, von mir oder im Verstand der Barbaren entstanden, allgemein bekanntwerden.« Sie hob ihre glatten Schultern. »Der Weg zur Vernunft ist so weit, daß er mir unbeschreitbar erscheint. Wie weit ist dann der schmale Pfad zur Erkenntnis, zu den Sternen?« »Wenn ich nur die Hälfte der Antwort kennen würde«, seufzte ich. »Aber je länger ich meine Barbaren kenne, desto demütiger bin ich geworden. Sie sind nicht mit der Wucht einer Arkon-Flotte zu überzeugen oder zu ändern.« »Bis dorthin wird es noch Jahrhunderte dauern!« War es wirklich wichtig? Immer wieder, in langen Abständen, kamen mir solche Gedanken. Gewiß, ich wollte heim, zurück nach Arkon. Aber ich war der einzige Fremde, der von einer höheren Warte aus in die Entwicklung eines Planeten eingriff. Ich durfte mich nicht von dem chaotischen, wenig pragmatischen Treiben von einigen hundert Millionen Barbaren von Larsaf Drei ablenken lassen. Was tun, Arkonide? Denk an das halbzerlegte Raumschiff im Basaltfelsen deiner Oase! sagte der Logiksektor grimmig. »Und das alte, ewige Dilemma bricht von neuem auf«, murmelte ich verdrossen. »Du wirst es nicht lösen«, behauptete Monique. Wir ließen uns Zeit, denn wir hatten alles, was wir brauchten: Sonne, Wärme, Wein und fröhliche, gesunde Menschen. Das Tal war und blieb sicher, denn wir zahlten alle Steuern und verhielten uns nicht anders als sonst. Der Sommer verstrich wie im Flug, der Herbst und die Ernten verwöhnten
uns. Tausend kleine Veränderungen, Verbesserungen, Hilfen und Tricks halfen den Bauern und Handwerkern und beschäftigten uns auf seltsam unwichtige, aber befriedigende Weise. Wir erkundeten die Welt um uns und sahen, wie nicht anders erwartet, bemerkenswerte Dinge, Geschehnisse, schauerliche Tragödien und bezaubernde Einzelheiten – kurzum das Bild des Planeten Larsaf Drei, den die Barbaren »Erde« nannten, in seiner großartigen Unvollkommenheit. Wie schon einmal, mitten im kalten und nassen Winter, verschwanden wir aus Le Sagittaire. Nur Riancor kam und ging wie Ahasver, half den Bauern und brachte neue Informationen mit, aus der Welt der Lebenden in die stille Welt der Schlafenden. Atlan schwieg, und Cyr Aescunnar versuchte in der Berichtspause, Ordnung auf seinem Tisch zu schaffen. Dutzende Zettel mit Notizen waren korrekt abzulegen, die meisten trugen Kürzel von Querverweisen zur ENZYKLOPAEDIA TERRANIA oder anderen Quellen, vorliegend in ausgedruckter Form oder als Datei im Archivsystem von MASTERCONTROL. Das Stichwort NOSTRADAMUS hatte Cyr, dem die Augen brannten, dick unterstrichen. Er seufzte und tippte die Kodezahl ins Terminal. Augenblicklich wurde die Datei freigegeben, ein Holowürfel entstand, und die Speichersequenz spulte ab: 14. April 3443, 0:15 Uhr: Von einer der zahlreichen Satellitenstationen wurden heftige Energieentfaltungen auf paraphysikalischer Ebene nahe dem Südpol gemeldet, dann übertrug der Satellit das Originalbild nach Imperium-Alpha: Aus einer goldfarben leuchtenden Energiesäule wurde ein strahlender Ball, der zum Zylinder emporwuchs und dann spiralförmig zu Boden sank.
Während Gleiter, Shifts, Roboter und Bewaffnete das Gebiet abzuriegeln begannen, rührte sich der Mann nicht, der anstelle des Leuchtern auf dem Eis stand, und die Kälte schien ihm nichts auszumachen. Er war mittelgroß, trug einen schwarzen Vollbart und hatte langes, gelocktes Haar, das von einer Kappe bedeckt war. Die Kleidung war ebenso merkwürdig wie der Mann und sein Erscheinen; kurzer Mantel mit aufgerüschten Ärmeln, enge Kniehose mit kurzer, aufgebauschter Hose darüber, Schnallenschuhe, im reichverzierten Gürtel ein Dolch. »Sie werden entschuldigen«, sagte der Fremde zu den Soldaten hinter der Absperrung. »Aber eine andere Kleidung stand mir nicht zu Verfügung. Mein Name ist Michel de Notre-Dame, man nannte mich auch Nostradamus. Aber auch das ist nicht mein richtiger Name.« Als kurz darauf ein Gleiter mit dem USO-Emblem landete, Atlan ausstieg und näher kam, ging ein Ruck durch den Körper des Arkoniden. »Dieser Schwindler!« schrie Atlan. »Schon damals ahnte ich, daß er nicht der war, der zu sein er vorgab.« Er stürmte los und blieb unmittelbar vor dem Fremden stehen. »Michel de Notre-Dame! Nostradamus!« »Ich ahnte, daß Sie mich sofort wiedererkennen würden.« Der Fremde blieb ungerührt. »In welcher Rolle traten Sie doch damals auf? Soweit ich mich erinnere, spielten Sie ein paar Monate den Berater des Königs. Allerdings war Ihr Erfolg bei den Hofdamen wesentlich größer.« »Sie waren es damals, der alle meine Versuche zunichte machte, den König vernünftig zu beraten!« Atlan ging nicht auf die Unverschämtheit ein, sondern wandte sich an den Truppkommandanten. »Das ist Nostradamus, der berühmte Astrologe und Leibarzt des französischen Königs Karl des Neunten. Er lebte von fünfzehnhundertdrei bis fünfzehnhundertsechsundsechzig. Bekannt wurde er vor
allem durch seine dunklen Prophezeiungen, die er in zehn Centuries herausgab. Es handelte sich um gereimte Vierzeiler, die sogenannten Quatrains.« »Ihr Gedächtnis ist verblüffend«, sagte Nostradamus. »Aber in einer Beziehung täuschen Sie sich. Ich lebte nicht nur bis fünfzehnhundertsechsundsechzig, sondern ich lebe noch immer, wovon Sie sich mit Ihren eigenen Augen überzeugen können.« »Und wer sind Sie wirklich?« »Wissen Sie das wirklich nicht?« »Ich ahne es.« »Dann sprechen Sie Ihre Ahnung aus.« »Sie sind ein Cyno.« Nostradamus lächelte. »Das ist richtig. Ich bin Schmitts Bruder. Imago Zwei…« Bevor Cyr dazu kam, sich intensiver mit Cynos, Schwarm und den damaligen Ereignissen zu beschäftigen, die die Milchstraße an den Rand einer Katastrophe gebracht hatten, erklang wieder die Stimme des Arkoniden. Atlan berichtete weiter.
6. Zu seiner Zeit waren selbst hochgebildete Kleriker sicher, daß der Planet Larsaf Drei, die Welt, Erde, terra… geringfügig älter als 5500 Jahre sei; man hielt sich an Bishop Ussher, der die Schöpfung auf 9 Uhr am 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt datiert hatte. Als ich ihn 1522 beobachtete, als Junker Jörg auf der Wartburg, war er dabei, die Bibel zu übersetzen, was ihn nicht hinderte, scharfe Episteln zu schreiben: Hetzreden gegen Bauern, Türken. Juden und Andersgläubige, vor deren Geist alle Kinder zu schützen seien. Alle nicht lutherisch ordinierten Prediger sollten gehenkt werden. Meine Briefe vermochten sein Weltbild nicht zu beeinflussen, geschweige denn zu verändern; er schrieb unermüdlich, stieß aus seinem kranken Körper Darmwinde aus, die kleine Segel hätten füllen können, und mit mir war er einer Meinung, was die Ehrfurcht vor dem Glauben und »manncherley Unfug der armen sundigen menschen« betraf. 1546, am 18. februarus, starb er im deutschen Eisleben – meines Wissens war er derjenige, der den Wert der »teutschenn sprach« entscheidend steigerte, denn es gab wenig Bücher, in denen häufiger gelesen wurde. Seiner Frau, Katharina von Bora, und seiner Kinderschar hinterließ er nicht viel mehr als 1000 Gulden und mir drei lange Briefe in schwer lesbarer Schrift und reichlich seltsamer Sprache. Ich war schon wach genug, um begreifen zu können, daß ich mich am Beginn einer neuen Aufweckphase befand, die ebenso qualvoll und lange sein würde wie alle vorausgegangenen. Als sich, unterstützt von bewegten farbigen Bildern und Musik, die ich nur als unmelodische Tonfolgen wahrnahm, meine Augen genügend adaptiert hatten, erkannte ich neben Rico eine zweite, fast gleich große
Gestalt. Bevor ich genauer sehen konnte, übermannte mich wieder die Müdigkeit. Unbestimmte Zeit später: Auf den Bildschirmen zogen riesige Wälder vorbei, unterbrochen von Küstenstreifen, tiefblauen Seen, Flüssen und Siedlungen. Mein Blick irrte ab und heftete sich – ich zuckte erschreckt – auf die Frau neben Rico. An sein Aussehen war ich gewöhnt. Er verkörperte jeweils die Idealgestalt der Zeitepoche. Die Frau trug langes, braunes Haar, war auf herausfordernde Weise schlank, sah mich aus leuchtendgrünen Augen an; ich verstand, ehe ich einige Worte formulieren und mit tauben Lippen aussprechen konnte, was Rico sagte: »Das, Gebieter Atlan, ist die schöne Lilith. Die mechanischen Komponenten sind ebenso perfekt wie meine. Ihr optischer Eindruck scheint dich nicht zu entsetzen.« Ich schüttelte schwach den Kopf. Erst vierundzwanzig Stunden später war ich in der Lage, eine Frage zu stellen. »Ich weiß, daß du Synonymus Eins und Lilith gebaut hast. Ich erinnere mich an viele Tests. Du hast offensichtlich für Lilith die Summe jener Einzelheiten errechnet, die du als ›schön‹, ›begehrenswert‹ und ›positiv auffallend‹ definiert hast?« »Sie ähnelt allen deinen Gefährtinnen, von denen ich Bilder gespeichert habe. Außer Usha Tizia. Aber auch das wäre schnell zu ändern.« »Was hast du mit ihr vor?« »Ich werde dich bitten, den zweiten arkonidischen Hochleistungsrobot an deiner Seite auszuprobieren«, sagte er. »Wir sollten darüber diskutieren, wenn du völlig wiederhergestellt bist.« Lilith lächelte mich aus einem vollkommenen Gesicht mit vollkommenen Lippen und unglaubwürdig weißen und
ebenmäßigen Zähnen an. Als sie ging, um mir einen Becher Konzentratbrei zu holen, bewegte sie herausfordernd ihre vollkommenen Hüften. Ihre Beine waren zu lang. Ich stöhnte. »Das lange Alleinsein hat dich geschädigt.« Ich versuchte mich aufzurichten, sank aber kraftlos zurück. »Aber als Bereicherung meiner Helferschar ist Lilith durchaus geeignet.« »Wenn Lilith dir nicht gefällt – ihr Aussehen ist ebenso leicht zu ändern wie ihr Name.« Ich schloß verzweifelt die Augen. Zu meinen schönsten Erinnerungen zählen die Geschehnisse, die »Das goldene Kaleidoskop« als Überschrift tragen könnten. Der Abzugshahn klickte, der Schuß dröhnte auf. In der Mittagssonne war die Feuerzunge nicht zu sehen; wir ritten durch den grauen Rauch der Explosion. Die langläufige Reiterpistole ruckte in meiner Hand, der Schuß ging durch die Blätter und versengte Äste. In riesigen Fluchten sprang der junge Rehbock nach rechts und zeigte uns den buschigen Spiegel. Übermütig lachten wir uns zu. »Selbst ich hätte ihn nicht getroffen!« rief Gustav. Sein goldblondes, lockiges Haar klebte schweißnaß an den Schläfen der Stirn und im Nacken. »Morgen holen wir ihn uns«, versprach ich und schob das bläuliche Rohr in die Satteltasche zurück. Unsere Schimmelhengste galoppierten übermütig durch den Bach. Fontänen winziger Wassertropfen verwandelten sich in golden blitzende Kostbarkeiten. »Morgen? Da sind wir bei den Mädchen!« Gustav lächelte kühn. »Richtig. Wenigstens lernst du von mir, wie man richtig lebt«, meinte ich zufrieden. Mitten auf einer Lichtung, an deren Rand sich geschälte Stämme stapelten, hielt Gustav
Adolf das Pferd an. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Mit dem feierlichen Ernst der Jugend versicherte er: »Von vielen klugen Männern lerne ich vieles, Comte Atlan. Von dir lerne ich, was nur ein Freund lehren kann. Ich werde weinen, wenn du nicht mehr bei mir bist.« »Auch ich werde traurig sein, wenn ich gehen muß«, sagte ich und schaute in seine strahlenden blauen Augen. Dann gäbe es keine nächtelangen Gespräche am lodernden Kaminfeuer, keine Wahrheiten über versunkene Großreiche, keine Versuche, einem Jüngling die delikate Balance zwischen Vernunft und klugem Machtgebrauch zu erklären, die in einer chaotischen Welt das Überleben sicherte. Und kein Schwimmen in der kalten baltischen See, kein Schäkern mit den wohlgeformten blonden Mädchen, keine schwingenden Hexameter aus Homers Odyssee; jetzt, Anno Domini 1609. »Aber du bleibst noch, Comte, ja?« bat er. Ich nickte ernst und zwang mich zum Lächeln. Er war ein schlanker, großer Junge mit höchst talentiertem und gut geschultem Verstand. Und einer der liebenswertesten Menschen, die mir seit langer Zeit begegnet waren. »Noch bleibe ich«, sagte ich wahrheitsgemäß. Wenig überzeugend flüsterte der Logiksektor: Ein schwedischer Barbar, Arkonide! Aber in den meisten Stunden galoppierten wir unbeschwert durch sommerliche Wälder. Hohes Laub raschelte auf den schmalen Holzfällerwegen. Der junge Mann, der bald König sein würde, beherrschte den Hengst ebenso gut wie ich mit leichter Hand und wenigen Sporenhilfen. »Gibt es in Frankreich, im Süden, woher du kommst, auch dichte Wälder?« Gustavs Französisch war verständlich, aber holprig und nicht sonderlich gut. Er lernte es aus Büchern oder von Johan Schroderus. Jetzt nannte sich der Lehrer Johan Skytte. »Rund um Sagittaire stehen so viele Bäume, daß man das
Dorf nicht findet, wenn man nicht weiß, wo es liegt«, antwortete ich und stellte mich in den Steigbügeln auf. »Weiter?« »Ja. Ist es wirklich so warm, daß Trauben wachsen? Ihr macht aus ihnen den Wein, den ich bei dir kosten durfte?« Wir trabten nebeneinander in die Richtung der alten Mühle. Ich lachte. »Mitunter trinken wir Most oder essen die Trauben.« »Wir trinken immer nur Milch!« rief Gustav bedauernd. »Und Bier.« Skytte unterrichtete Gustav Adolf am Vormittag in vielerlei Fächern: Latein und Griechisch, Niederländisch und Italienisch. Von mir lernte der junge Schwede, wie ein Geschütz herzustellen, zu laden und zu richten war und so abgefeuert werden mußte, daß es traf. Und andere nützliche Dinge, die ein zukünftiger König können mußte; Erzählungen, wie es in anderen Teilen der Welt aussah und zuging. »Euer Bier ist auch nicht zu verachten, Milchbart«, gab ich zurück. »Du solltest weniger davon trinken.« »Ich bin ein Mann, Comte Atlan.« Er sprengte, als der Weg breiter wurde, an mir vorbei. In großem Bogen näherten wir uns den Toren der Stadt. »Ein junger Mann mit zuviel Verantwortung!« Auch ich saß im Sattel eines Pferdes aus den Ställen »tre kronars«, des Schlosses mit den drei Kronen. Dort stand auch der Wallach, den Hofmeister Bernt Dietrich von Mörner ritt, ein Edelmann aus Brandenburg, der den Jungen im Fechten, Jagen und Reiten, im Schießen und dem Benehmen eines Fürsten unterwies. In diesen Unterweisungen lösten wir einander ab. Mit Bernt übte selbst ich Fechten und Schießen. »Es muß sein, daß ich alles lerne. Na ja, nicht alles… soviel wie möglich«, gab Gustav über die Schulter zurück. »Man wird sehen«, brummte ich.
Mit einer Gruppe von Berufsoffizieren – Schotten, Deutsche, Franzosen, Niederländer und Engländer – war ich nach dem Waffenstillstand zwischen Spanien und den Niederlanden hierhergelangt. Die Männer suchten neue Aufgaben im schwedischen Heer. Ich, der französische Adelige, diente niemandem. Gerade dieser Umstand sicherte meine Beliebtheit am Hofe des neunten Karl, Gustav Adolfs krankem Vater. Der junge Prinz suchte meine Nähe, ich aber nicht den düsteren Eindruck der Hallen von tre kronars oder Kärnan, dem uralten Schloßturm. »Kannst du nicht mehr, Comte?« rief er herausfordernd. Ich kitzelte den Hengst mit den Sporen und setzte dem Jungen nach. Mitunter ging das cholerische Temperament, ein Erbteil der Wasa, mit Gustav durch. »Ich galoppiere noch, wenn dir die Haut in Fetzen abgeht.« Ich federte einen weiten Sprung über einen halbvermoderten Zaun ab. »Du mußt heute noch zu Oxenstiema.« Gustavs Antwort klang wenig beeindruckt: »Weiß ich, Comte, weiß ich alles.« Wir ritten noch etwa zwei Stunden lang, tranken beim Müller einen Humpen Bier leer, wurden überall freudig begrüßt, begegneten einem Häufchen bewaffneter Reiter, die von Jakob de la Gardie kommandiert wurden, und Gustav begleitete mich bis zu meinem halbverfallenen Heim. Ich schwang mich aus dem Sattel und gab Gustav Adolf die Zügel. »Soll ich dir jemanden schicken, Comte?« »Nein, danke. Ich werde heute allein im Haus bleiben«, entgegnete ich und schnallte die Taschen vom Sattel. »Für einen Boten ist immer Zeit, und morgen wissen wir ja, wann wir reiten – und wohin.« In diesen Tagen bevorzugte Gustav Adolf unzweifelhaft Mädchen und Kartenspiel mehr als die Unterweisungen des
Bischofs und den Unterricht Skyttes. Ich grüße ihn und warnte halblaut: »Treibe es nicht zu arg, Jäger Gosta Hakennase!« Gustav lachte, wurde für einen Moment nachdenklich, wischte die Vorbehalte mit einer entschlossenen Handbewegung weg. Sein impulsives Temperament behielt die Oberhand. Dennoch blieb er ein gutherziger, hoffnungsvoller Junge. Ich nickte ihm zu und ging ins Haus. Als ich die Tür hinter mir schloß, hörte ich den Hufschlag der Pferde. Fünfmal klingelte die astronomische Uhr und zeigte mir nicht nur die Stellung der Planeten und die Zeit, sondern auch den Zeitunterschied, den die Larsaf-Barbaren förmlich konstruiert hatten: In den Ländern, in denen der protestantische Glaube galt, rechnete man nach dem Kalender des Julius Caesar, der vom Zahlenwerk des ehemaligen Rechtsgelehrten Ugo Buoncompagni, seit 1572 Papst Gregor der Dreizehnte, um zehn Tage abwich. Die winzigen Fehler des Julianischen Kalenders hatten sich addiert, seit siebenundzwanzig Jahren waren alle – katholischen – Christen verpflichtet, sich nach Gregors Kalender zu richten. Folgerichtig hatte der Uhrmachermeister zwei Zifferblätter übereinander angeordnet. Ich schaltete die Beleuchtung an, kontrollierte den Stummen Wächter und registrierte, daß niemand in mein romantisch-morsches Reich eingedrungen war. Ich wußte selbst nicht, wie lange ich noch in Schweden blieb. Es richtete sich wohl danach, wie sich Gustav Adolfs Leben entwickelte. Durch die Glasfenster fiel spätnachmittägliches Sonnenlicht. In der kleinen Küche bestrich ich das dunkle, würzige Brot mit gesalzener Butter und legte eine Scheibe Rentierbraten darauf. Wein aus Beauvallon gluckerte in ein Glas. Der elektrische Strom, den der Generator erzeugte, an das Mühlrad angeschlossen, erwärmte viel Wasser. Ich öffnete die Hähne
und schüttete Kräuteressenz aus Grasse ins Badewasser. Während ich aß, mir den Wein schmecken ließ und das Wasser in die Wanne aus schwedischen Granitplatten einlief, drückte ich im Zierat des Bildrahmens verschiedene Punkte. Eine Sekunde später blickte ich in Ricos Schaltzentrale. »Neuigkeiten?« fragte ich. Mein Robot. Träger vieler Namen und Masken wie ich, sah aus, wie ihn die Leute von Beauvallon kannten: Ciron de Ronca, jener Freund des Grafen, der sich um den Fortbestand des Tales mit Hingabe kümmerte. »Allerlei«, lautete die Antwort. »Nichts Lebensgefährliches, Atlan.« Ich fing wohlgelaunt an, die Stiefel auszuziehen, was nicht einfach war. Sie reichten bis zur Mitte des Oberschenkels. Die Sporen klirrten und klingelten. Der dunkelrote Wein schmeckte, wie stets, hervorragend. »Sprich!« Der qualvolle Tod des inbrünstig gläubigen zweiten Philipp von Spanien, Verlierer menschenmordender und materialvernichtender Seegefechte mit Englands Flotte, hatte in Europa ein lang anhaltendes Beben ausgelöst, eines aus schwindender oder zunehmender Macht und Streitigkeiten um die Herrschaft des rechten Glaubens in der Welt. Während Tycho Brahe Meisterwerke der vorteleskopischen Astronomie schuf, zahlreiche Alchimisten versuchten, Gold herzustellen, während in Berlin die Pest wütete und ich mein weißes Haar als echte Perücke flocht, verbrannte die Kirche Giordano Bruno als Ketzer, weil er eine in Zeit und Raum unendliche Welt lehrte, die von unzählbaren Sonnen erfüllt war. Und in einer solchen Welt fühlst du dich wohl! bemerkte vorwurfsvoll das Relikt der ARK SUMMIA. »Du hast vor langer Zeit dem burgundischen Hagen einen Deflektor geschenkt, den du ›Tarnkappe‹ nanntest«, begann der Roboter. Er kontrollierte auch die Transmitterschiene
zwischen der Kuppel, dem Schlößchen und meinem efeuüberwucherten Versteck nördlich Stockholms. »Das stimmt. Ein Vorwurf?« fragte ich halblaut. »Keineswegs. Ich habe winzige Beobachtungen gespeichert, die zumindest darauf hinweisen, daß du beobachtet wirst.« Ich hängte den zweiten Stiefel an den hölzernen Haken und leerte das Weinglas. »Der gesamte Hof von Stockholm und viele andere starren jede Geste von mir an«, antwortete ich. »Aber das meinst du nicht.« »Nein. Ich habe meine Schwierigkeiten, einen Unsichtbaren zu finden.« Ich schloß die Wasserhähne und verschloß die Eingangstür. Natürlich bestand meine Ausrüstung aus vielen hervorragend getarnten Gegenständen. Bisher hatte kein Besucher etwas erkannt. Gelegentlich hatte ich Schwierigkeiten, erstaunte Fragen zu beantworten. Ich kam im bodenlangen Morgenmantel zurück und setzte mich in den hochlehnigen Sessel, dem Bildschirm gegenüber. »Du vermutest einen unsichtbaren Beobachter. Richtig? Was noch?« »Du weißt, daß der Kunstplanet WANDERER, kontrolliert, aber oft unbeaufsichtigt durch ES, eine weite Bahn beschreibt, deren zweiter Ellipsenbrennpunkt innerhalb des Systems von Larsafs Sonne liegt?« »Auch das ist mir bekannt.« Ich kaute mit Hingabe das herbe Brot. »Ich schließe daraus, daß ES einen besonderen Bezug zum Planeten der Barbaren hat. Wir kennen zahllose Beweise dafür: wir, die freiwilligen Sklaven von ES.« »Weiterhin höre ich über Spionsonden häufiger als sonst in Erzählungen, Legenden, Märchen und Sagen einige Begriffe, die meine Positronen alarmieren«, erklärte Ciron ungerührt, als schildere er die Temperatur in der unterseeischen Kuppel,
»denn sie lauten etwa: Nicht-Landschaft der Utopia, Jenseitslandschaft, unverletzliche, hermetische Teile, die idyllische Bezeichnungen wie ›Rosengarten‹ tragen. Und ähnliches. Macht dich das nicht nachdenklich, Atlan?« Ich brauchte ihm nicht zu erklären, daß ich mich mit den letzten Überlegungen selbst beschäftigt hatte. Zugegeben, nicht seit langer Zeit. Aber gelegentlich dachte ich intensiv über mögliche Hinterlassenschaften von Besuchern nach, die vor meiner Zeit diesen Planeten betreten haben mochten. Oder an Besucher, die der Aufmerksamkeit unserer Antennen und Spürgeräte entgangen waren – und da gab es einige im Lauf so vieler Jahrtausende! Ich erwiderte, an unsere technischen Möglichkeiten denkend: »Verstanden, Ciron. Ich werde mich damit beschäftigen. Keine Botschaft von ES eingetroffen?« »Nein.« »Und… Monique schläft tief und traumlos?« »Sicherlich nicht traumlos, aber tief. Sie hat nichts von blonden, leidenschaftlichen Schwedinnen gesehen.« Ich grinste. »Im Vertrauen: Sie sind nicht alle blond, Ciron.« »Ich weiß. Und du weißt, wie es um Schweden bestellt ist?« sagte der Robot. Ich war überrascht; er schien vergleichende Zeitgeschichte zu treiben. Ich nickte. Jeder Scherz verging mir auf der Zunge, als ich antwortete: »Das kenne ich besser als du, vorlauter Robot. Und ich bin hier, um Änderungen zum Besseren zu versuchen. Alles wird von Gustav Adolf ausgehen, der zu den positivsten Hoffnungen Anlaß gibt.« »Vielleicht ein weiterer Name in deiner langen Liste des Versagens«, erinnerte mich Ciron. »Brauchst du irgend etwas? Neue Energiemagazine? Papier? Zuspruch oder Wein?« Ich lächelte halb amüsiert, halb bitter. »Alles vorhanden. Ich melde mich, wenn ich etwas brauche. Du gehst wieder nach Sagittaire?«
»In den nächsten Tagen«, sagte er und wartete, bis ich abschaltete. Auch Elisabeth von England, unverheiratet und kinderlos, war zu ihren Ahnen versammelt worden. Jacob, ein Stuart, löste sie ab. Irland war nach unzähligen Aufständen gegen England verwüstet zurückgelassen. Im Süden des afrikanischen Kontinents gründeten die Niederländer eine erste Kolonie, und Shakespeare fuhr fort, Schauspiele von einzigartiger Qualität zu schreiben und zu spielen. Schwarze Sklaven schufteten für Sir Walter Raleigh in den Tabakfeldern. Ciron hatte eine herrliche Aufnahme von Monteverdis »Orpheus« gespeichert und hielt sie auf Abruf bereit. Die letzten Mauren wurden aus Spanien vertrieben, und die Aufregung, die vor knapp zwei Jahren das Erscheinen eines Kometen hervorgerufen hatte, legte sich unter den abergläubischen Barbaren. Und es war abzuwarten, wann Männer wie Kepler, Brahe oder Galilei die Linsenrohre, vom Niederländer Lipperhey erfunden, zur astronomischen Beobachtung benutzen würden. Mein vergoldetes Fernrohr lag dort drüben auf dem Sims. Während ich im warmen Wasser ausgestreckt lag und den Wein gegen das Licht im Glas kreisen ließ, dachte ich über mancherlei nach. Ich erfreute mich der sieben kleinen Räume, die in der alten Mühle nebeneinander und übereinander lagen, sauber, mit dicken Wollteppichen und wenigen Holzmöbeln ausgestattet und voller technischer Überraschungen, die mir ein gutes Leben sicherten. Schweden mochte im Winter schauerlich kalt sein, aber jetzt ging es mir gut. Nicht nur mir. Auch Gustav Adolf. Und den jungen Frauen. Dennoch: Ich wußte, daß ich beim ersten Zeichen einer eindeutigen Beobachtung schlagartig meine Nachlässigkeit verlieren würde. Zu viel stand auf dem Spiel.
»Es ist so, und ich weiß es, und deine Lehrer wissen es auch«, sagte ich irgendwann in dieser Nacht, »und du wirst lernen müssen: Seit Anbeginn der Zeiten haben Menschen an etwas geglaubt. Oder an jemanden. Es gibt grob gerechnet tausend Namen, und zu seiner Zeit war jeder so groß wie der des Gottessohns. Ich halte es eines denkenden Menschen für unwürdig, wenn er seinen Nachbarn erschlägt, nur weil er katholisch ist und nicht protestantisch – oder umgekehrt. Oder einer, der an Allah glaubt, wobei die Muslime die Christen und diese die Muslime als ›Heiden‹ bezeichnen. Dem Irrsinn noch Schwachsinn zuzufügen, das hieße, einen ehrlichen Glauben zum Schwert wider einen anderen ehrlichen Glauben zu machen. Oder bin ich ein Mann, den du bekämpfen willst?« Ich hatte mich ein wenig in Hitze geredet. Jedes Wort fuhr in Gustav Adolfs Inneres wie der Stachel einer Biene. Er hob die Schultern und fragte leise: »Welchen Glauben hast du, Comte Atlan?« »Das werde ich dir, Milchbart, nicht auf die Nase binden. Jeden und keinen. Aber ich werde niemals gegen jemanden kämpfen, nur weil er papistisch ist. Oder Maure. Oder ein Finne, der das Nordlicht anbetet.« Er starrte in sein Glas und sah im Spiegel des roten Weines sein Gesicht. »Aber… der Bischof und alle anderen sagen…« Ich konnte die Barbaren nicht zur Vernunft zwingen. Ich hob die Hand und antwortete: »Buddha hätte nicht gegen Jesus Christus gekämpft und Jupiter nicht gegen Allah. Keiner gegen den anderen. Es sind nur die Menschen, die ›Religio‹ auf ihre Schilde pinseln und ›Macht‹ meinen. Willst du auch zu ihnen gehören? Du hast ein riesiges Land und Norwegen als neidischen Nachbarn. Kümmere dich um deine Wälder, Schwede.« »Sicher hast du recht, Atlan«, sagte er tief nachdenklich. Er war fünfzehn Jahre jung. Ich setzte wohl zuviel voraus.
»Du kennst sicher die Geschichte nicht, die vom Geizigen und Nörgler, der zum ersten und einzigen Male kurze Zeit vor seinem Tod lächelte?« begann ich. »Nein.« »Es ist lange her. An seinem Sterbelager stritten sich die Erben.« Ich nahm einen Schluck. Die Planetenuhr klingelte mahnend. Mars stand in Konjunktion oder so ähnlich. Auch an diesen Unsinn glaubten die Barbaren. Astrologie war eine allseits anerkannte Wissenschaft! »Ein Mann wischte dem Sterbenden die Stirn und tröstete ihn. Der Nörgler wollte ihm alles hinterlassen, denn bisher hatte niemand ohne Eigennutz seinen Kopf angehoben und ihm die Lippen genetzt. Der Helfer lehnte ab. Der Sterbende lächelte zufrieden; er hatte erkannt, wie nebensächlich alles war, was er geschätzt und mit dem Schwert verteidigt hatte. Er begriff: Sein neues Leben fing im Augenblick des Todes an.« »Warst du dieser Helfer, Comte Atlan?« fragte Gustav Adolf. Ich hob die Schultern. »Ja? Nein? Vielleicht.« »Wer war der Nörgler?« »Wer da mit dem Schwert kämpfte und das Naheliegende vergaß? Die Liebe zum anderen? Es war ein Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Der Name tut nichts zur Sache«, schloß ich. »Ist es dein Ziel, daß es dir ebenso ergeht?« Gustav schüttelte den Kopf. Unentwegt spielten seine Finger mit dem etwa handlangen Kaleidoskop. Ich zeigte auf die Lampe mit dem Schirm aus dickem Pergament. »Sieh hindurch und dreh es!« Gustav gehorchte. Das Gerät schlug ihn binnen weniger Atemzüge in den Bann und ließ ihn dreißig Minuten lang atemlos zusehen. Es war ein besonderes pädagogisches Maschinchen, würdig der Phantasie eines Leonardo da Vinci. Nicht nur Farben, Formen und Lichter bewegten sich und
setzten sich zu stets neuen, gedankenanregenden Bildern zusammen, sondern auch Gestalten, Szenen und Figuren, deren Bedeutung schwach hypnotischen Einfluß auf den Betrachter ausübte. Ich beschäftigte mich gelegentlich gern mit dem Dingelchen. Jetzt nahm ich es ihm aus den Fingern, zeigte ihm die erste Veränderung und zog die Rohrstücke auseinander. Ich öffnete das Fenster, richtete das Teleskop auf die Feuer der Wachen auf dem Kärnan und stellte das Bild scharf ein. Die Silhouetten der Wachen und die Struktur des Mauerwerks sprangen mich förmlich an, als ob es sich ums nächststehende Haus handele. »Sieh hindurch! Erkenne den zweiten Zweck«, sagte ich. Mit atemlosem Staunen starrte er auf wechselnde Bilder, erschrocken und fasziniert zugleich. Ich erklärte, was die Linsen bewirkten. »Wenn ich gehe, werde ich dir dieses Fernrohr schenken. Aus gutem Grund, den ich dir später erkläre, solltest du es niemals verlieren.« Mit großem Ernst versicherte der junge Thronfolger: »Was ich von dir gelernt habe und noch lernen werde, vergesse ich nie in meinem Leben. Was du mir schenkst, verliere ich nicht.« Ich lächelte nachsichtig. »Da bin ich nicht ganz sicher, Gosta. Ich denke, du solltest schlafen gehen. Morgen ist dieses Fest, und du wirst wieder tanzen bis zum Zusammenbruch.« Er stand auf, leerte sein Glas und ging unruhig in einem der Wohnräume auf und ab. Schließlich setzte er sich auf eine Stufe der Treppe zum Schlafraum. Der Duft des Weines mischte sich in den Geruch des harzigen Brennholzes und der Bienenwachskerzen. Als koste es ihn große Mühe, brachte Gustav Adolf hervor: »Du hast mich gelehrt, aus dem armen und menschenleeren Land Schweden eine blühende Gemeinschaft zu machen. Das werde ich sicherlich tun, Comte Atlan de Arcon et Sagittaire. Aber mein Land ist ein Spielball der großen Fürsten und
Herrscher. Ich werde kämpfen müssen.« »Du wirst die Liebe deines Volkes, die du schon heute hast«, verdeutlichte ich ihm, »weiterhin besitzen, wenn du die Grenzen schützt und verteidigst und nicht versuchst, in anderen Ländern Krieg zu führen. Jeder Weltenherrscher, längst zu Asche geworden, starb an diesem Übermut. Und wenn du hundert Jahre alt wirst, was unwahrscheinlich ist, hast du genug zu tun, Häfen und Schiffe zu bauen, Straßen und Brücken, Häuser und Hallen. Vielleicht läßt du dich von Johannes Bureus beraten, mit dem du den weisen Cicero liest.« Gerade in seiner jungenhaften Unsicherheit blieb er liebenswert. Ich konnte nur hoffen, daß er nicht gezwungen wurde, den gleichen Fehler wie so viele zu machen. War es ihm vergönnt, aus der Weltgeschichte zu lernen, die ihm vom »Polyhistor« Bureus nahegebracht und durch Bilder und Karten aus meinen Unterlagen verinnerlicht wurde? Ich mußte es eigentlich bezweifeln. »Kennst du die Zukunft?« Gustav blieb mit dem Rücken zur Tür stehen. Ich schüttelte seine Hand. »Nein, Majestät«, gab ich zu. »Aber es wiederholen sich überall auf der Welt immer die gleichen Fehler. Die Dummen lernen nicht daraus. Aber du bist ein gescheiter junger Mann.« Er blieb mir eine Antwort schuldig. Aber als wir die schmale Steintreppe zur Eingangstür hinuntergingen, meinte Gustav: »Vielleicht erwartest du zuviel. Morgen, am frühen Abend? Ich komme mit ein paar Freunden, ja?« »Ich warte hier. Schick mir morgen früh einen Stallburschen mit dem Schimmel.« »Versprochen, Comte.« Er ging zu seinem Pferd, entzündete die Fackel am flackernden Tranlicht neben dem Eingang und schwang sich in den Sattel. Ich wartete, nachdem ich aufgeräumt hatte, eine halbe Stunde auf Britta Persdottir, eine schwarzhaarige
Hofdame, die sich in mich, den Wein aus Frankreich und meine seltsame Aussprache des Schwedischen verliebt hatte. Etwa einen Monat später – nach einem offiziellen Abend im Schloß, wo Gustavs Vater sich vom Schlaganfall erholte – hatte sich eine bunte Gesellschaft in meiner Mühle zusammengefunden. Britta, duftend und mit aufgestecktem Haar dem Bad entstiegen, bewirtete die Frauen und Männer mit schwerem dunklem Bier und spritzigem Wein. Mein Blick ruhte auf dem mächtigen Bidenhänder, der an rostigen Klampen über dem Kamin an die Mauer geheftet war. Obwohl die Waffe schartig und uralt war, weckte sie unselige Erinnerungen. Ich war dem Hieb dieses Henkersschwerts nur um Haaresbreite entgangen, damals, als… »Ihr habt seltsame Dinge um Euch versammelt, Comte«, meinte de la Gardie. »Aber alle sind sehenswert.« Er hielt den langen, achteckigen Lauf der Steinschloßpistole in der Hand. Das Modell, nachempfunden einer Schöpfung des französischen Malers und Büchsenmachers Marin de Bourgeoys, erzeugte Stichflamme, Rauch und Schall und feuerte gleichzeitig einen Hochenergiestrahl ab. »Ihr meint sicherlich Britta, die Euch das Glas entgegenhält«, wich ich aus. »Und Ihr habt nur Augen für Todesgerätschaften.« »Verzeiht«, bat er, lächelte martialisch und nahm das halbgefüllte Glas. »Mein Handwerk hat mehr mit Waffen zu tun als mit schönen Frauen.« »Hier findet kein Krieg statt, Monsieur«, sagte ich in meinem schönsten Französisch. Am Hof herrschte, gelinde gesagt, babylonisches Sprachengewirr. Zwischen dem reichlichen Dutzend meiner Gäste bewegte sich Gustav Adolf wie eine Wildkatze im Wald. In einer schwachen Minute hatte ich mir gesagt, daß ich, hätte ich einen Sohn gehabt, mir wohl einen
Jungen wie ihn gewünscht hätte. Er hielt einen kleinen Becher Met in den Fingern und leckte das süße Zeug vom Handrücken. Meine Gäste betrachteten die Bilder an den Wänden, bewunderten die Planetenuhr, wärmten sich am Feuer oder aßen eine Kleinigkeit in der Küche. Auch Axel Oxenstierna, ein Mann, den selbst ich bewunderte, schenkte sich das Bier ein. Als ich mit frischen Kerzen an meinen Arbeitstisch trat, sprach er mich an. »Ihr habt diesen Jungen gern, Atlan de Sagittaire.« Er sprach mit angenehmer Stimme und ohne Aggression. »Hochbegabt und zu früh in die Pflicht genommen von seinem dominierenden Vater und mit einem Charakter geschlagen, der einer feurigen Seele eigen ist.« »Ihr habt Gustav zutreffend charakterisiert«, versetzte ich. »Und da Ihr ihn ebenso hochschätzt, werdet Ihr ihn weise beraten, wenn er König ist.« Er senkte den Kopf. Ich hatte von ihm nur Gutes gehört, er war klug und besonnen. »Darauf läuft es wohl hinaus«, sagte er. »Und Ihr, Comte?« »Ich werde, wenn es mir zu dunkel und kalt wird, abreisen. An wärmere Ufer sozusagen.« »Unabhängigkeit, wie Ihr sie kennt, erregt meinen Neid.« Meine kleinen Geheimnisse waren so gut verborgen, daß ich keine Entdeckung zu befürchten hatte. Die Gäste waren vom Zauber der Person Gustavs ebenso beeindruckt wie ich und schienen zu wissen, daß sein Vater bald starb. Ich setzte mich auf die Lehne des Sessels, in dem Britta thronte. Die Planetenuhr klingelte mahnend. »Unabhängigkeit«, wiederholte ich leise, »werden unsere Gäste kaum finden.« »Sie suchen Macht und Einfluß. Deswegen hoffen sie, daß ein goldener Blick aus Gostas Augen auf sie fällt.«
Ich grinste sarkastisch und erwiderte, ihren langen Hals streichelnd: »So habe ich es noch nicht gesehen. Ich dachte, sie wollen ihm helfen, ein kluger Erwachsener zu werden. Verfolgen sie alle nur persönliche Ziele?« »Wenn du lange genug nachdenkst, wirst du es selbst herausfinden. Was wären sie ohne ihn als König?« »Was wäre der junge König ohne Berater und Freunde?« »Ein junger Mann, um den sich alle Mädchen in Stockholm die Haare ausreißen würden.« Nacheinander ritten die Gäste, mehr oder weniger nüchtern, in die Nacht davon. Ich begleitete den Prinzen zu seinem Pferd und grüßte die gähnenden Gardisten. »Man hat ausgerechnet, daß in acht Wochen der erste Schnee fällt«, sagte er traurig. Unter der Eisdecke strömte noch immer Wasser und wuchtete langsam das eisüberkrustete Mühlrad herum. Überall lag Schnee. Die Läden der Mühlenfenster waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Die Glut im Kamin brannte auf unserer Haut. Gustavs nasser Pelzmantel dampfte wie der Wasserkessel in der Küche. Ich hielt das vergoldete Kaleidoskop zwischen den Fingern und zeigte Gustav, wie die geheime Sicherung zu lösen war. »Was tust du?« »Ich gebe dir das Kaleidoskop. Wenn du glaubst, am schwersten Punkt deines Lebens zu stehen, wenn dir kein anderer mehr helfen kann, dann verdrehe diese beiden Ringe und lausche, bis es siebenmal scharf knackt. Es dauert einen Monat, und ich bin bei dir. Aber ich komme nur einmal. Also überlege lange, ehe du mich rufst. In der Zeit bis zu diesem Tag oder dieser Nacht möge dein Verstand ebenso klar bleiben wie dein Blick, wenn du die Rohrstücke auseinanderziehst.« Gustav Adolf bat mich nicht mehr, länger zu bleiben. Ich hatte meine Zeit in Schweden, auch wegen Britta, um mehr als
einen Monat verlängert. Der junge Prinz hatte sich auf den Abschied vorbereitet. »Wohin reisest du, Freund?« fragte er leise und drehte das zylindrische Ding in den Fingern. »Zu einer der Inseln mit dem heißen Sand?« »Wahrscheinlich.« »Werden wir uns einmal sehen?« fragte er. »Ohne daß ich dich… um Hilfe rufe?« »Das ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich«, antwortete ich; auch meine Stimme ließ erkennen, daß ich niedergedrückt war. Er beherrschte sich wie ein Erwachsener. Schweigend zog er seinen Mantel an und knöpfte ihn zu. »Du bist der einzige Mann, der nicht erwartet, für seine Freundschaft belohnt zu werden. Ich habe gelernt, was ein wirklicher Freund ist. Dafür… du wirst ein Maßstab sein für das, was ich tue. Leb wohl, mein Freund.« Ich nickte nur. Er streifte die Kapuze über seinen Lockenkopf und ging zur Treppe. Unter dem Vordach, neben der riesigen Glutschale voller Holzkohle, wartete der Gardist mit den Pferden. Wir umarmten uns kurz. Unter dem Kapuzenrand aus weißem Pelz warf mir Gustav einen Blick zu, den ich nie vergessen konnte. Ich ging zurück ins tiefverschneite Haus, wo Britta auf mich wartete. Es war unsere letzte leidenschaftliche Nacht. Noch vor dem Morgengrauen schob ich meinen Besitz durch den Transmitter, kletterte selbst auf die Plattform und wußte, daß das Gerät später von Rico geholt würde. Francis Bacon wohnte in London, und ein Buchtitel, von dem er oft sprach, lautete: »Das Neue Atlantis«. Ich traf ihn ungefähr ein halbes Jahr nach dem Fest in Beauvallon. Es gab an diesem Stück Themseufer, the strand, nicht nur Geldnot und, grob ausgedrückt, geiziges Verhalten, sondern Abende
von strahlender Helligkeit und bescheidenem Prunk. Schließlich war Sir Nicolas der Großsiegelbewahrer der Queen Elizabeth gewesen. Ich half bei den kostspieligen Arrangements mit einigen Pfund Sterling aus den Prägemaschinen der Kuppel. Francis, einen silbernen Becher voller Uisge Beatha in der Hand, machte gerade ein Wortspiel, das sich auf den Zusammenhang zwischen Herbstwetter und Königshaus bezog. Ein Adeliger mit hochrotem Gesicht deklamierte: »Wachsen die Nächte schon wieder auf Erden, so vieles kürzer die Tage nun werden.« Ich warf Francis Bacon einen irritierten Blick zu, deutete auf den Becher und fragte: »Woher, Sire, bezieht Ihr dieses eau de vie?« »Einer der wenigen Vorteile, die mein Onkel sicherstellt. Lordschatzmeister Cecil Burghley bestellt das Zeug in Glen Farclas. Es schimpft sich Bruichladdich Isley und schmeckt auch so.« »Hervorragend!« Ich ließ mir von dem Bediensteten einschenken. Im Hintergrund des Saales spielten Musiker Pavanen von John Dowland und Thomas Morley. Zum auffallenden Benehmen der Gäste paßte diese zarte, klare Musik wie Engelsgesang zur Vorhölle. Francis Bacon schien über Gäste und Fortgang des Abends ebenso zu denken wie ich. Aber er brauchte die geneigte Bekanntschaft der wichtigen Männer dringender als das schottische Lebenswasser. »Auch dies geht vorbei«, murmelte er. »Draußen regnet es. Hier ist es warm und gemütlich.« »Im Lauf der Nacht wird’s wohl noch wärmer werden«, sagte ich leichthin. »Ich habe Zeit, Euch den Begriff zu erklären, der so lange unausgesprochen in Euren Gedanken umhertobte. Nirgendwo-Land, nicht wahr?« »In der Tat. Utopia, wie die Griechen es wußten.«
Der Saal im York House, dem alten Palatium Eboracense, war festlich eingerichtet. Ein langer Tisch für sechsunddreißig Gäste, Leuchter und Kerzen, zwei lodernde Kamine, eigene und gemietete Diener, gutes englisches Bier und jenes unvergleichliche Getränk aus den schottischen Granittälern. Knapp fünfzig Jahre zählte Francis Bacon, ein begabter und ehrgeiziger Rechtskundler, der ständig unter überhöhtem Ehrgeiz und knappem Geld litt. Mein Name schien ihn ebenso zu faszinieren wie meine scheinbare Großzügigkeit und meine enge Bekanntschaft mit William Shakespeare. »Schon angefangen mit dem Buch?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Ich schrieb schon die Exposition. Eure Ideen sind ebenso exzellent wie Euer Geschmack, Sir Atlan.« »Ihr übertreibt, Master Bacon.« Einige der Gäste hatten mich, meist von Master Shakespeare mitgebracht, in meinem Haus in Cornwall besucht. Mittlerweile schienen sie über die Maßen gealtert und überschütteten mich mit unglaubwürdigen Komplimenten über mein jugendliches Aussehen. Uns gegenüber reimte ein Bärtiger mit auffallender Perücke unter dem johlenden Gelächter einiger Gäste: »Geraten sehr wohl die Hopfen und Reben, so wird’s in der Folge viel Räusche geben.« »Als Verwalter der königlichen Archive ist er besser, als es den Anschein hat«, brummte Francis. »Aber einer wie ich, der von seiner Staatslaufbahn mehr schlecht als recht lebt, muß lächelnd Reime dieser Art ertragen.« »Denkt daran, das ist die Gesellschaft, die Ihr aufklären und verändern wollt.« »Man muß in London erst tot sein, wenn sie jemanden leben lassen wollen.« »Nicht nur in London«, bestätigte ich.
Francis war alles andere als beliebt. Weder seine Amtsführung noch sein überdeutlich zur Schau gestelltes Selbstbewußtsein waren dazu angetan, ihm viele Freundschaften zu schaffen. Aufklärung in diesen Jahren war ein riskantes Geschäft; wenn jemand öffentlich verkündete: »Die Wahrheit ist böse«, und sich dazu erdreistete, zu bestimmen, was die Wahrheit sei und wie sie lautete, sollte er sich besser nicht über mangelnde Beliebtheit wundern. Was nichts daran änderte, daß er ein kluger Kopf war und vielleicht die Gesellschaft dieser Insel verändern konnte. Besonders dann, wenn er unter dem Sohn Maria Stuarts sozusagen die Nachfolge seines Onkels antrat. Die Chancen standen gut. »Vor rund einem Jahrhundert schrieb der große Thomas Morus sein Utopia«, erklärte Francis Bacon verbindlich. »Mein Nirgendwo-Land wird noch mehr verändern.« »Heute ist nicht der Tag, vielmehr die Nacht, lange darüber zu sprechen«, sagte ich und nahm einen tiefen Schluck. »Widmet Euch Euren wichtigen Gästen, Sire.« »Was sein muß, soll geschehen«, meinte er pathetisch und gab den Musikern ein Zeichen. London war größer geworden, reicher, aber nicht sauberer oder schöner. Noch immer führte nur eine einzige Brücke, mit mehrstöckigen Läden und Schenken statt eines Geländers, über die Themse. Ich hatte nicht vor, jeden Regen und jedes Schneegestöber hier mitzuerleben. Aber Francis Bacon bedeutete für mich eine klare Möglichkeit, einen Schritt weiter in Richtung auf Vernunft, wenigstens auf dieser Insel, gehen zu können. Was seine Schrift nicht bewirkte – wer las denn schon? –, würde er als Lordkanzler oder Siegelbewahrer schaffen. Ich brauchte Master William nicht lange zu suchen. Er probte im Globe-Theater, drüben in Southwark. Auch mein
Dichterfreund war stark gealtert. Er sprang auf und umarmte mich, als ich vor ihm im Zuschauerraum stehenblieb. »Ich bin sechsundvierzig«, jammerte er, »und du siehst nicht älter als fünfunddreißig aus, dearest friend. Welches Elixier trinkst du?« »Dunkles Bier«, antwortete ich und schüttelte ihn an den Schultern. »Was schreibst du, William?« »Sonette«, sagte er. »Jetzt endlich kann ich es mir leisten. Wohnen in Stratford, gut verdienen, Theatermachen in London.« »Heute abend liest du sie mir vor.« »Nichts lieber als das, Atlan.« Er klatschte in die Hände, scheuchte die Schauspieler von der Bühne und rief ihnen zu, daß sie morgen mittag weiterüben würden. Für heute sei Schluß. »Aber daß ihr mir ja heute das Beste gebt. Denkt an den Beifall – und an das viel zu viele Geld, das ich euch zahle.« »Schon gut, Master Will.« Ich wohnte in Westminster, einer lebendigen, alten Stadt, in der das Parlament im Palast des achten Heinrich tagte, ebenso der Oberste Gerichtshof. Der Hof selbst war aus London nach Whitehall gezogen. Westminster war eine Art ländliches Gegengewicht zur Stadt; Advokaten und Staatsanwälte lebten in mehr oder weniger prächtigen Häusern entlang der Fleet Street. In modischen, sauberen Geschäften konnte man Luxuswaren kaufen; die Parks waren voller eleganter Spaziergänger. Für Abwechslung im Speisezettel sorgten ländliche Gaststätten und gepflegte Schenken. William Shakespeare ritt zunächst zu seiner Absteige, dann schlugen wir die Richtung zu meinem Heim ein. Links von unserem Weg rauschte die Thames. Je mehr wir uns von den Stadtmauern entfernten, desto mehr prächtig gekleidete Spaziergänger und Reiter begegneten uns.
»Und dir ist der Stoff für Schauspiele, Dramen und Komödien nicht ausgegangen, Will?« fragte ich. Er lachte fröhlich mit seinen maroden Zähnen. »Willst du mir wieder ein Thema vorschlagen? Romeo und Juliet ist noch immer ein großer Erfolg. Nein, ich habe noch viele Notizen. Der Sturm, so nenne ich mein nächstes Drama. Es ist sehr gut, weißt du?« »Spielt ihr es?« »Nicht in den nächsten Tagen. Du wohnst vornehm, Freund.« »Mir tut der arme Pöbel in der Stadt leid, aber ich muß ja nicht in ihren Verhältnissen leben. Es ist nur ein Stockwerk, klein und überschaubar.« »Und sehr wohnlich, wie ich dich kenne, Atlan.« Wir ließen die Pferde in der Obhut eines Stallknechts, dann legte ich Holz zur Glut ins Kaminfeuer, zündete viele Kerzen an und deutete auf Gläser und Krüge, Becher und Karaffen. »Bedient Euch, Dichterfürst«, bat ich. Eine junge Dienerin klopfte und bot uns einen kleinen Spätimbiß an. Nachdem Will meine Behausung genau angesehen hatte, setzte er sich am Kamin in einen hochlehnigen Sessel, schlug seine Mappe auf und entschied sich für Xereswein. »Ich hörte in der Stadt, daß du den ›Fino‹ besonders schätzt.« Ich goß ein Glas voll und reichte es ihm. Er grinste breit. »Alter Fuchs. Du kennst jeden Kniff. Danke – genauso verhält es sich.« Er roch am Wein, ein Ausdruck der Begeisterung glitt über sein Gesicht, er nippte genußvoll daran. Sein Haar war fast weiß geworden, die Stirn war kahl bis über die Ohren, aber aus seinen Augen funkelte ungebrochene Begeisterung. Ich nahm ein Lebenswasser aus Schottland, streckte meine Beine zum Feuer aus und forderte ihn auf: »Lies, Will! Der Wohlklang deiner Reime wird meine Grämlichkeit vertreiben,
fürchte ich.« Die zierlichen Zeiger der Planetenuhr bewegten sich, das Läutwerk zirpte silbern. Shakespeare rezitierte etliche Sonette. Ich ließ die Wörter tief in mir wirken, und als er eine Pause, frische Luft und einen weiteren Xereswein nötig hatte, meinte ich: »Wunderschön. In einigen Zeilen scheine ich – aber sicher irre ich, Will – die Handschrift Bacons zu erkennen. Schreibt er von dir ab? Was hältst du von ihm?« »Ein talentierter Hund mit Löwenklaue. Er ist gut. Schade, daß er Jurist und leidend ist.« »Leidend?« »Unter Geldmangel und zu großem Ehrgeiz. Es gab Gerüchte, er schriebe für mich. Im Ernst hältst du das für möglich?« »In allem Ernst«, gab ich zu, »wirklich nicht. Ich schenke ihm ein paar tiefe Gedanken, mit deren Hilfe er aus allen Engländern bessere Menschen machen will.« Wir beide kannten Macht und Ohnmacht von Worten und Überzeugungen und konnten darüber lachen. Noch ein Sonett, noch ein Glas, neue Kloben im Feuer, ein Monolog aus »Sturm« schloß sich an, die Kanne Xeres leerte sich. Ich schlief im Bett, Will schnarchte im Wohnraum und erschreckte gegen Mittag die junge Annabell, die mein Haus besorgte. Dieser Planet starrt vor Gefahren für deine Existenz, mithin für mein Weiterleben. Wenn du als Denkmodell annimmst, daß sich ein Androide von WANDERER, mit und ohne Wissen von ES, auf Larsaf Drei herumtreibt und, was denkbar ist, deinen Deflektor als Tarnkappe benutzt, hebt sich dein Ärger auf eine höhere Ebene der unmittelbaren Gefahr. Anno Domini 435 gabst du deinem Freund dieses Gerät, dessen Lebensdauer begrenzt ist, aber mit entsprechender
Ausrüstung reaktiviert werden kann. Der Extrasinn schwieg eine Weile. Ich lenkte das Pferd weiter durch das Gewimmel der Londoner Straßen. Ich ertappte mich dabei, wie ich allen Ernstes nach unsichtbaren Androiden Ausschau hielt. Mit hörbarem Sarkasmus wisperte der Logiksektor: Du wirst auch herausfinden, daß, abgesehen von Besuchern, auf diesem Planeten Tore oder Öffnungen bestehen, die in Nischen der Wirklichkeit, der Zeit oder der Dimensionen führen und wieder Zurück in die Welt deiner geliebten Barbaren. Auf bösartige Wesen, Menschen oder Außerplanetarische, ist grundsätzlich Verlaß. Sie ändern ihre Absichten niemals und wollen diesen Planeten beherrschen. Im gegenwärtigen Stadium gelingt dies nur durch Chaos und keineswegs planetenweit. Ziehe deine eigenen Schlußfolgerungen, Paladin der Menschheit. Ich nickte und sagte zu mir selbst: »Das werde ich tun, wenn ich wieder in der Kuppel bin. Und das dauert gar nicht mehr lange, wenn ich die grauen Schneewolken sehe.« Bevor ich an die Rückkehr denken konnte, mußte ich mit Francis Bacon versuchen, einen weiteren kleinen Schritt auf dem dornigen Pfad der Erkenntnis weiterzustolpern. In einer Welt, in der das Jahr der Protestanten um zehn Tage dem der Katholiken hinterherhinkte, in der nur knapp die Hälfte der Planetenoberfläche bekannt war, in der nur wenige Barbaren schreiben und lesen konnten, blieb unser Versuch entsprechend nützlich – für eine Handvoll kluger Barbaren. Was natürlich nichts über deren Moral, Fähigkeiten und guten Willen aussagt, meinte der Logiksektor bissig. »Nova Atlantis«, sagte Francis. »Das Land Eurer Erinnerung wird in vier Chapters neu entstehen. In klaren, leicht verständlichen und erzieherisch wirksamen Schritten wird der Reisende, der nachvollziehende Leser, zuerst auf der Insel
Neu-Atlantis landen und dann in das Gefüge der Überzeugungen eingeführt.« »Verdreht dem Leser nicht zu sehr den Kopf«, warnte ich. »Es könnte Euch das Genick brechen.« »Man muß in den Strom springen, Master Atlan«, antwortete Bacon, seinen Bart streichelnd, »um gegen ihn schwimmen zu können.« »Auch wahr. Aber wenn Ihr den Zeigefinger zu sehr hebt, wird man sagen, Ihr verstündet die Welt am wenigsten zu deuten.« Wir hatten lange nüchtern über einen Versuch gesprochen, durch das Werkzeug einer durchführbaren Utopie die Lebensumstände von vielen Menschen zu verbessern. Ich schlug mehr oder weniger das vor, was ich getan hätte, nicht mit der diktatorischen Anwesenheit der gedanklich vielstrapazierten Arkonflotte, sondern durch vorhandene Machtstrukturen. Es galt, zuerst das Denken und die Überzeugungen der Herrschenden zu verändern. Könige und Fürsten konnten, wenn sie selbst nicht lasen, sich die Texte von Thomas Morus oder Francis Bacon von den Kanzlern oder Geistlichen vorlesen lassen. Also war dieser Versuch nicht schon im Ansatz sinnlos. Ein Programm, das die Beziehungen zwischen Beherrschten und Herrschenden reformieren sollte? Ganz bestimmt. Aber die Herrscher leiteten ihren Anspruch vom göttlichen Auftrag ab. Bewußter Wille zur Besserung? Im Fall Bacons war ich sicher, obwohl er wie alle anderen seiner Gesellschaftskaste die wirklichen Nöte und die Armut nur vom Wegschauen kannte. »Die beste Staatsverfassung wurzelt in Vernunft und der visionären Gabe des Verfassers«, schlug ich vor. »Und in einer klaren Sicht der Aufgaben.« »Ihr habt sie mir vermittelt«, sagte Francis zuvorkommend. »Wann soll das Opus erscheinen?«
»Noch ringe ich mit meiner Armut«, entgegnete er allen Ernstes. »Wenn ich Zeit und Muße habe, kann ich Meisterwerke schaffen. Nicht vorher.« »Aber die Zustände, die wir hassen, gibt es heute.« »In dreißig Jahren sind’s allemal dieselben.« Seine Mundwinkel verzogen sich nach unten. »Die Absicht, sagt der Weise, daß der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten.« »Eine Ansicht, die allgemein gültig ist«, pflichtete ich bei. Bacon hatte unzählige Aufzeichnungen und Notizen in seiner dicken Mappe. Ich war sicher, daß er sie für ein Manuskript voller richtiger und phantasievoll geschilderter Kapitel benutzen würde. Ob dieses Buch den Zustand der Welt oder auch nur Englands ändern konnte? Für diesen Abend verabschiedete ich mich von ihm und ritt heim. Die Bedeutung jener Warnungen, die mein Extrasinn mir hatte zukommen lassen, verfolgten mich bis tief in meine Träume. Ich blieb noch fünfzehn Tage in London. Als das Wetter noch schlechter geworden war und ich keine Lust mehr hatte, packte ich meine Ausrüstung zusammen, ließ von Ciron-Rico das Schlößchen von Beauvallon vorbereiten und startete den Gleiter, der als Boot getarnt in der Themse schaukelte. Noch vor dem Morgengrauen erreichte ich unweit von Le Puy das Tal des Allier und folgte ihm stundenlang bis zur Mündung des Nebenflüßchens, das auch durch das versteckte Tal floß. Ciron hatte die Dörfler auf mich vorbereitet; ich fand Le Sagittaire sauber und gemütlich, so, wie ich es in Erinnerung hatte. Obwohl es mir mein photographisch exaktes Gedächtnis nicht erlaubte, auch nur Kleinigkeiten zu vergessen, wurde doch vieles verdrängt. Oder scheinbar wichtigere Vorgänge und Erinnerungen überlagerten diese Informationen. Bei der Größe
des Planeten und der Masse von Erschütterungen und Katastrophen aller Art wußte selbst der Roboter, daß vieles auch gar nicht bemerkt wurde. In der wohligen Ruhe des hellen Arbeitsraums von Le Sagittaire versuchte ich, mir über diesen Verdacht klarzuwerden. »Wohlversorgt mit Schinken, frischem Brot und Wein sitzt du dort und denkst nach.« Cirons Stimme klang keineswegs vorwurfsvoll. Es war eine zutreffende Bemerkung. Über Transmitter und Bildschirme war ich mit den Speichern der Kuppel-Computer verbunden. Lilith sah ich nicht; ich fragte ihn auch nicht nach der Roboterfrau. »Wüßtest du, wie gut es mir hier geht, würdest du erschrecken«, entgegnete ich. »Die Arbeit, die du in meiner Abwesenheit geleistet hast, ist anerkennenswert. Hast du die Daten über die einschlägigen Legenden komplett?« »Du findest den Ausdruck in der kleinen Truhe mit den Bronzebeschlägen«, sagte Ciron. »Die Bauern Beauvallons sind auch zufrieden.« Mit vielen gefälschten Dokumenten, an wichtigen Stellen verteilt, waren sie nun alles andere als rechtlose Leibeigene. Niemand konnte sie ausbeuten oder zwingen. Alle Anwesen strahlten Tüchtigkeit und unaufdringlichen Reichtum aus, gepaart mit Selbstbewußtsein. »Versuche, mit den Spionsonden einen Anhaltspunkt aufzuspüren! Wenn sich bewahrheitet, was ich denke, haben wir viele Erklärungen für noch mehr Seltsamkeiten.« »Die Suchprogramme laufen.« »Ich warte. Sollte sich ein aktueller Verdacht ergeben, müssen wir handeln. Wenn nicht, bin ich in ein paar Monaten in der Kuppel.« Rund um den Planeten sammelten Spionsonden auf vorgeschriebenen Kursen und an programmierten
Haltepunkten die Informationen. Gegenwärtig, Ende A.D. 1610, tobten keine gewaltigen Kriege. Die Scharmützel zwischen den unzähligen Machtgruppen waren höchstens in ihrer Summierung wichtig für die Zukunft. Nachdem der Komet wieder in die Tiefen des Weltalls zurückgekehrt war, die Lustseuche – ein Kunstwort nach einem Hirten namens Syphilus – ihre Opfer fand, konnte ich mich auf die seltsame Suche nach Exoten auf Larsafs drittem Planeten konzentrieren. »Die Gegenstände, die du an verschiedenen Orten erworben hast, sind würdig zwischen andere Exponate eingereiht worden«, meldete Ciron gestelzt. Galileo Galilei verwendete die niederländische Erfindung des Fernrohrs für aufsehenerregende Beobachtungen der Mondoberfläche und der Monde des Jupiters. Herrliche Bilder entstanden, faszinierende Schriften und Dramen; die Musik dieses Jahrhunderts erreichte einen Wohlklang, der selbst meine Ohren entzückte. Könnten Teile von WANDERER zu gewissen Bezirken dieser Welt werden – und umgekehrt? fragte das Extrahirn nachdrücklich. Das würde vieles Seltsame erklären. »Ich dachte bereits darüber nach.« Hagen Tronecs »Tarnkappe«… repariert und mit der Energiezelle einer anderen Technik? Ich hielt diese Überlegungen für zu weit hergeholt. Aber das Unwahrscheinliche war gerade auf meinem Barbarenplaneten an der Tagesordnung. Innerlich hob ich die Schultern: ratlos und in steigendem Maß unsicher geworden. War es das, was das Extrahirn wollte? Von den Terminals der Kuppelgeräte kamen überspielte Grafiken, Schriftsätze und Meldungen, die keiner Rubrik unterzuordnen waren. Ich studierte sie nächtelang und versuchte, Muster und Strukturen zu erkennen, die auf einen oder mehrere »Unsichtbare« hindeuteten.
Als der Schnee halbwegs weggeschmolzen war, unternahm ich mit Roquette lange Ausritte in die Umgebung und »sah nach dem Rechten«. Viele Bäume, die ich als schenkelhohe Schößlinge kannte, waren zu stattlichen Stämmen herangewachsen. Der Mühlenweiher war zugefroren; pausbäckige und rotwangige Kinder vergnügten sich auf dem dicken Eis. Mehrmals unternahmen wir Jagden, die uns ermüdeten und die Schüsseln und Räucherkammern füllten. Etwas mehr als vierhundert Bewohner zählte das »Schöne Tal«, und immer wieder machten sich ausgebildete Handwerker auf die Wanderschaft, oder andere kamen her, nahmen eine Frau und blieben. Noch immer gab es einen verständnisvollen Abbé, einen oder zwei lehrende Magister und einen tüchtigen Dorfschulzen, der genau wußte, welchen Schutz die seltsamen Herren von Le Sagittaire dem Dorf gaben. Ich denke gern an diesen ruhigen Winter, in dem ich Zeit genug hatte, über viele Aspekte meines Aufenthalts nachzudenken. Am Schluß einer langen Kette von Gedanken war ich entschlossen, eine Expedition auszurüsten und das kleine Raumschiff aus dem Felsen am Fluß in Africa zu bergen. Zwei mächtige Haufen weißer und roter Glut verströmten Hitze. Nachtwind gurgelte und stöhnte im Kaminzug. Die Kerzen brannten mit ruhig rußenden Flammen. In langstieligen Gläsern leuchtete der Wein des guten Jahres 1609 rot wie Rubin. Ritter und Würdenträger der Wandfresken starrten mich würdevoll an. Ich hob das Glas und winkte ihnen heiter zu. Fröhliche Musik der späten Troubadoure und der zeitgenössischen Engländer und Italiener kam einschmeichelnd aus unsichtbaren Lautsprechern. Eulen knappten im Gebälk des Daches; im Wald schrien Käuzchen. Mitternacht war längst vorbei, und auch Roquette wußte, daß
ich bald zurückkehren würde in ein Land, das sie niemals kennenlernen würde. Durch das halbe Stockwerk zog der Duft des Kräuterbalsams aus dem Bad. Eine Hand mit schlanken Fingern schob den Vorhang zurück. Sie trug das bodenlange Hemd mit den kostbaren Londoner Silberstickereien. Der Schmuck funkelte im Kerzenlicht mit ihrem dunkelbraunen Haar und der schlohweißen Strähne um die Wette. Ich reichte ihr das andere Glas. »Schönste Schäferin von Beauvallon«, murmelte ich hingerissen. »Wie gut, daß es dich nur einmal gibt.« Sie war schlank und groß, und es brauchte weder Musik noch Kerzenlicht, mich zu verblüffen. Seit Wochen war ich ihr Geliebter, und sie schien schöner geworden zu sein in dieser Zeit. Sie trank und setzte sich auf die Felle, die über Teppich ausgebreitet waren. Ruhig betrachtete sie mich aus großen, graugoldenen Augen. »Was wäre, wenn ich ein Zwilling wäre?« fragte sie. »Doppelte Schönheit und Leidenschaft würden mich umbringen«, gestand ich. Mit vier hellen Tönen und einem dunkleren Hall mischte sich der Wandelstern-Automat in die Musik. »Wie viele Nächte bleiben uns noch?« fragte sie und leerte das Glas. Ich schenkte nach und antwortete zögernd: »Zwei Dutzend, eine mehr, eine weniger.« »Wenn ich allein bin«, bemerkte Roquette ohne Traurigkeit in ihrer dunklen Stimme, »stelle ich mir vor, wir könnten zusammenleben. Ich weiß, daß du einmal hier, einmal dort bist Du tust Dinge, die keiner weiß und verstehen kann. Lebe ich noch, wenn du wiederkommst, bin ich alt, häßlich und Mutter vieler Kinder. Der Abbè denkt, es ist Sünde, aber er sagt zu mir nichts.« »Sein vorwurfsvoller Blick verrät Neid und Sehnsucht.« Ich
setzte mich neben sie. »Ich bin hier, weil ich nachdenken muß. Wahrscheinlich steht Kampf bevor… nicht hier. Wenn es Krieg gibt, dann werde ich ihn nicht ohne schwere Wunden überleben. Deswegen wird unsere Zeit ein gutes Ende haben, weil es so bemerkenswert oft ein schlechtes Ende gibt.« »Ja. Das weiß ich. Im Alter werde ich immer von uns träumen. Von den Tagen. Und von unseren Nächten, Atlan de Sagittaire.« Ich zog sie an mich. Schweigend tranken wir den schweren Wein. Die Musik wechselte für einige Dutzend Takte ins Düstere, Verhaltene. Wir küßten uns, als hätten wir uns heute zum erstenmal gesehen. Dann, nach einer langen Zeit, leerten wir den Wein mit dem gleichen Maß an Vergnügen, mit dem wir auch unsere Leidenschaft wiederentdeckten. Fünfzehn Tage danach, als der Gleiter versteckt und mein Gepäck längst durch den Transmitter geschleust war, suchte ich stundenlang nach Roquette. Niemand hatte sie gesehen. Schließlich, weit nach Mitternacht, verstand ich und gab die Suche auf. Zwei Tage später zeigte mir ein Bildschirm in der Kuppel, wie sie schweigend durch die Räume des Schlößchens ging. Aber sie weinte nicht. Ohne daß die verstärkte Tätigkeit der solaren Flecken und der Umstand, daß die neun Larsaf-Planeten wie Perlen an der Schnur eine Linie zwischen Sonne und Unendlichkeit bildeten – diese Konstellation hatte sich, wie alle 179 Jahre, auch 1624 ergeben –, den Planeten und seine Bewohner umgebracht hatten, waren neue Feldherren der Verwüstung aufgestanden. Gustavus Adolphus Rex Sueciae war einer dieser Fürsten des Schreckens. Und der Terror bewegte sich kreuz und quer durch Europa. Warum war ich geweckt worden? »Gustav Adolf rief dich, Atlan«, antwortete Ciron. »Das kleine Gerät, das Kaleidoskop, sandte den Rufimpuls aus.«
»Woher?« Im Strom meiner träge dahinrinnenden Gedanken begriff ich, daß ich im Jahr 1630 des Herrn geweckt worden war. Die Menschen nannten Gustav Adolf den »Löwen aus Mitternacht«, denn Schweden lag für sie hoch im Norden. Ich war wie immer von einer Batterie summender und klickender Geräte umgeben. Langsam vollzog sich der Wiedereintritt in das bewußte und aktive Leben. »Aus Stockholm. Schweden.« »Hast du Monique geweckt?« »Noch nicht.« »Warte, bis ich mich entschieden habe«, murmelte ich und versuchte, die ersten Informationsblöcke zu verarbeiten. 1611 war Gustav Adolf nach dem Tod seines Vaters als Siebzehnjähriger zum König gekrönt worden. Mein Freund Shakespeare und sein Kollege Cervantes waren gestorben, Galilei stand vor den Befragern der Inquisition, Rußland und Schweden befanden sich im Krieg, und Sir Walter Raleigh war hingerichtet worden. Lordsiegelbewahrer und Lordkanzler lauteten jetzt die Amtsbezeichnungen Sir Francis Bacons, und ein Buch namens »Neues Atlantis« fand sich nicht in den Listen der Messen und Buchhändler. Jakob von England starb 1615 und wurde durch Karl ersetzt, und ein Jahr später war Bacon (Baco von Verulam) tot. Unsere Gedanken über einen Idealstaat erschienen wiederum ein Jahr später. Kurz bevor ich einschlief, erschienen seltsame Bilder auf den Schirmen. Ein blonder Mann mit länglichem Gesicht, das Haar zur Perücke geflochten. Er sah mir auf den ersten Blick ähnlich. Groß und schlank, von schwer zu übertreffender Eleganz und exotischer, machtvoller Ausstrahlung, dunkel gekleidet. Seine Stiefel, gut knielang, trugen an den Außenseiten nicht nur Scheiden für Dolche oder Messer, sondern flache, kästchenartige Fächer oder Elemente. Der Fremde war
zeitgemäß gekleidet, aber trotz meiner Schläfrigkeit erkannte ich, daß Kleidung und Benehmen einander ergänzten; sie kamen aus einer anderen Kultur. Plötzlich verschwand die Gestalt von den Bildschirmen. Ich schlief ein und träumte schlecht. »Gustav Adolf hat mich also um Hilfe gerufen«, stellte ich einen Tag später fest. »Er hat zweifellos Gründe dafür. Welche?« Wieder einmal tobte Krieg in den europäischen Ländern. Die Machtzentren lagen, wenn unsere Informationen ausreichend waren, in Wien und in Madrid, und wie nicht anders erwartet, mischten sich Unfähigkeit und Größenwahn der Gottesgnaden-Herrscher mit religiösen Gegensätzen, falsch verstandener Freiheitswille zur falschen Zeit mit falschen Argumenten. Die Versuche von Glücksrittern, ihr persönliches Geschäft mit dem Krieg zu machen, die hilflose Gegenwehr der Bauern, das alles ergab ein Geflecht, das kaum zu durchschauen war. Das gewohnte Chaos an den Brennpunkten der Barbaren-Kultur! Der Logiksektor meldete sich mit einer zutreffenden Bemerkung. »Das konnte ich noch nicht ermitteln. Du solltest zuerst den Werdegang deines Schützlings genauer erkennen.« »Ja. Eines nach dem anderen – übrigens, lasse Monique schlafen. In diesen grauenhaften Kriegswirren ist sie wohl nicht die richtige Begleitung.« Nach kurzer Überlegung setzte ich hinzu: »Falls ich mich entschließe, dem jungen König zu helfen.« 1611 hatte Dänemark den Schweden den Krieg erklärt. Der sogenannte Kalmar-Krieg endete ein Jahr später, ein Krieg gegen Rußland begann. Er endete 1617. In den Jahren, seit ich ihn nicht mehr gesehen hatte, schien das Schicksal nicht gerade schonend mit Gustav Adolf umgegangen zu sein. Er mußte das Heer befehligen, kämpfte mutig wie ein Teufel,
sprach auf dem Reichstag, stritt sich mit seinen Brüdern, ließ sich einen zweispitzigen Schnurrbart und einen Knebelbart am Kinn wachsen, verliebte sich in Ebba Brahe, eine Hofdame, heiratete schließlich Maria Eleonora aus Brandenburg, während seit zwei Jahren nach einem Aufstand der Böhmen der sogenannte Böhmisch-Pfälzische Krieg geführt wurde, angeblich fünf Jahre lang. Gustav Adolfs Truppen eroberten Riga, kämpften um Danzig und siegten in Livland. Der König kämpfte anschließend gegen Polen in Preußen und wurde zweimal verwundet. An diesem Punkt unterbrach Ciron die Flut seiner gesammelten Informationen. »Das ist drei Jahre her. Die Verwundung ist bedenklich. Beim Übergang über die Weichsel wurde er an der Hüfte verletzt; ein Musketenschuß. Die Wunde heilte schnell. Anfang August, vor dem polnischen Lager, traf ihn ein Geschoß in die rechte Schulter. Zwei Zoll neben der Halsschlagader blieb die Kugel im Schulterblatt stecken. Da ist sie heute noch. Dein Freund leidet erhebliche Schmerzen; er kann keinen Hämisch tragen, und zwei Finger der rechten Hand sind gelähmt.« Ich brauchte nicht lange zu überlegen und befahl: »Eine entsprechende Ausrüstung, Ciron, falls ich ihm wirklich helfe!« Der niedersächsisch-dänische Krieg löste seinen Vorgänger noch im selben Jahr ab. Was sich in diesen Auseinandersetzungen entlud, wurde mittlerweile aus Spanien, den Habsburger Landen, Paris und einigen anderen Städten gesteuert. Namen tauchten auf, aus Informationen wurden lebende Menschen: Wallenstein. Pappenheim. Tilly. Herzog Bernhardt. Eine Handvoll anderer Offiziere. Der Wahnsinn nahm Gestalt an, Farbe und unterschiedliche Bedeutungen. Ich hob schwach und mit schmerzenden Muskeln meinen rechten Arm. Die Haut war von den
Solarlampen leicht gebräunt. Noch immer vertrug ich keine feste Nahrung. Aber ich konnte klar denken und reden. »Diese Bilder, Ciron«, sagte ich. »Der dunkle Fremde. Faß alles zusammen, was du über ihn erfahren hast.« Nach dem Waffenstillstand zwischen Polen und Schweden zu Altmark war der Fremde zum erstenmal in der Nähe Gustav Adolfs gesehen worden. Die Spionsonde, die von Zeit zu Zeit meinen Schützling suchte und Informationen übertrug, hatte den Fremden für die Dauer von sieben Minuten und ein paar Sekunden deutlich gesehen. Je länger ich die Aufzeichnungen betrachtete, je deutlicher ich verstand, was Gustav Adolf und der Rätselhafte miteinander gesprochen hatten, desto mehr nahm mein Erschrecken zu. Der holografische Bildschirm zeigte erstaunliche Ähnlichkeit zwischen mir und dem Unbekannten. Ich selbst, um zwei Jahrzehnte älter: Er hatte meine rötlich schimmernden Augäpfel nicht. Es war keineswegs Richelieu, der mit Gustav Adolf sprach. Der Abgesandte des Bourbonenherrschers trug keine breiten Armbänder, deren Aussehen auf technische Einrichtungen hindeutete. Daß für die deutschen Protestanten der schwedische König die Morgendämmerung des Friedens sei, dieser Satz stammte von Richelieu. Aber daß Gustav Adolf das einzige schlagkräftige Heer habe, das die Länder zwischen Moskau und dem Atlantik, den Alpen und Grönland binnen kurzer Zeit leer gefegt, befriedet und beherrscht haben würde, wagte nicht einmal der listige Franzose laut zu denken. Ich wußte von Gustav, daß sein Glaube an seine eigene Bedeutung, an die Sendung, die ihm gewissermaßen anerzogen worden war, stark bleiben würde. Wenn ein riesiges Gebiet wie jene Zone voller geschundener Protestanten den Löwen aus Mitternacht um Hilfe rief, würde sein Heer jedes Hindernis überrennen. Jeder Bewohner, wenn es sich nicht gerade um einen katholischen Heerführer,
Fürsten oder Soldaten handelte, wäre binnen weniger Atemzüge ein Freund des Schweden. Dann riß die Überspielung ab. Cirons Fehler bestand darin, daß er die exotische Gefährlichkeit dieses Unbekannten nicht klar identifizierte. Der Robot meinte, es sei ein Ratgeber unter vielen. Als ich zum elftenmal Bild und Text studierte, wußte ich es genau. Deine Befürchtungen haben Gestalt angenommen! sagte der Logiksektor. Ein Gegner. Steig an die Oberfläche und greife ein. Ich richtete mich mitsamt der Rückenlehne des schweren Reanimationssessels auf, griff mit unsicheren Fingern nach dem Weinpokal und sagte: »Monique bleibt hier. Ich gehe zu Gustav Adolf. Ich werde versuchen, dem Wahnsinn ein Ende zu machen. Dieser Fremde trägt Merkmale eines machtsüchtigen Androiden von Wanderer, eines Mannes aus einem Nirgendwoland. Meine Ausrüstung muß hervorragend sein und ein Höchstmaß an Schutz für mich bieten. Bereite alles vor.« »Soll ich dich begleiten? Oder Synonymus Eins?« »Ich brauche einen Wächter, der nötigenfalls mit Donner und Blitz in das Geschehen eingreift, Ciron. Stelle entsprechende Überwachungsgeräte zusammen!« »Ich denke, ich habe verstanden.« Er glitt in seiner menschlichen Gestalt leise aus dem Raum voller Bildschirme, Lautsprecher und Terminals. Auf einem Pult stand die Uhr mit den acht Zifferblättern und schlug mehrmals mit silbernem Zirpen. Ich fühlte, wie mich eisige Kälte erfaßte, ein untrügliches Zeichen kommender Schwierigkeiten und Gefahren. Meine Alpträume schienen wahr geworden zu sein. Abermals ließ ich die aussagekräftige Aufzeichnung ablaufen. »Ich bin aus Sarpedon im Meer von Karkar. Manche, die ich besiegt habe, nannten mich Nahith Nonfarmale. Aber ich habe viele Namen.«
Als letzter Eindruck blieb das Bild des königlichen Arbeitszimmers auf den Schirmen stehen. Ich flüchtete mich wieder in einen tiefen Schlaf und die nächsten Stationen der Wiederbelebung. Immerhin vertrug ich bereits leichten Wein. Indessen hatte alles eine neue Dimension erreicht. Ich, Admiral und Kosmostratege, rüstete für eine aufgezwungene Mission inmitten der Wirren, die sich über Deutschland ausbreiteten. Der wirtschaftliche Niedergang dieses Landes rief den politischen Untergang hervor. Und umgekehrt. Beschränkte und engherzige Herrscher vermochten nicht für Recht und Ordnung zu sorgen. Die Zeit war auch ohne Kriegshandlungen grausam; jetzt aber waren Schändung und Mord, Raub, Hungersnot und Folter, Seuchen und Verwüstungen dort, wo die Heere zogen, alltäglich. War bisher das alltägliche Leben der Menschen ähnlich verlaufen, jetzt erlebten sie die Greuel hautnah und dauernd. Grausamkeit war allen Menschen gegenwärtig: harte Richter, faulender Unrat überall und unzählige Galgen, an denen Gehenkte von schwarzen Aasvögeln zerstückelt wurden, feuchte Häuser und Fürstenhöfe, die im äußersten Prunk lebten. Die Basis dieser makabren Pyramide, der einfache Bauer, blieb rechtlos und versklavt. Deutschlands zentrale Lage, sein Straßennetz mit den Handels-Knotenpunkten Frankfurt am Main, Leipzig, Augsburg, Frankfurt an der Oder und Nürnberg, war für dieses Land ein zusätzliches Verhängnis. Der Handel war bisher Deutschlands Wohl gewesen. Nunmehr verarmten die unzähligen kleinen Ländchen, in die das Gebiet zersplittert war. »Gustav Adolf ist viel zu klug, als daß er im Winter nach Deutschland übersetzen und mit einem frierenden Heer kämpfen würde«, behauptete Ciron. »Du solltest dich darauf vorbereiten, ihn im Norden Deutschlands zu treffen.«
»Ich überlege, ob ich als einsamer Reiter oder in einer anderen Maske sicherer bin.« Mittlerweile stapelte sich die Ausrüstung. Während ich die Karten studierte, eine Vielzahl aktueller Bilder aus dem verschneiten und eisigen Europa ansah, trainierte ich meinen Körper und beschäftigte mich mit Möglichkeiten, diesen Irrsinn zu beenden. Bald sah ich ein, daß es wieder darauf hinauslief, daß man, von der Spitze ausgehend, die Veränderungen mit harter Entschlossenheit herbeiführen müßte. Norddeutschland war von Wallenstein und dem Feldherrn Tilly unterworfen worden, lag also in der Hand der Katholiken. Sie schikanierten folgerichtig die Protestanten. Stralsund war lange von Wallenstein belagert und dennoch nicht eingenommen worden. Es blieb halbwegs unabhängig, de facto in der Hand der Schweden. Der Kurfürstentag in Regensburg, ein Beispiel der Uneinigkeit, des Beharrens auf eigener Macht, dabei beeinflußt und durch Versprechen erzwungen aus den Machtzentren Habsburgs, Frankreichs sowie vielen anderen Einflüsterungen, schloß damit ab, daß Wallenstein entlassen werden sollte. Tilly wurde zum Oberbefehlshaber des Kaiserlichen Heeres gemacht. Der Astronom Kepler, an dessen Wahrsagungen Wallenstein geglaubt hatte, lebte nicht mehr. Schon jetzt flüsterte man vom Schwedischen Krieg. »Was immer du wählst«, erklärte Ciron, »es bleibt gefährlich.« »Und das bringt mich zur Auswahl eines versteckten, nicht gerade winzigen Stützpunkts. Ich muß beweglich bleiben und mich schnell zurückziehen können. Überdies werde ich wohl bald das Objekt allgemeiner Suche sein; von Söldnerhaufen und anderen.« »Ich habe die Daten etlicher trockener Höhlen gesammelt.« Ich pfiff durch die Zähne. »Das klingt gut. Du wirst in der
Mitte dieses unglücklichen Landes ein Versteck finden und einrichten. Zieh die Maschinen aus Beauvallon ab!« »Es dauert ein paar Tage.« An den halbrobotischen Maschinen trainierte ich weiter. Ich lief die weichen Stiefel ein, probierte lange Dolche, unzerbrechliche Degen und zahlreiche Schußwaffen aus, studierte Landkarten und versuchte mich in dem unentwirrbaren Geflecht derjenigen Beziehungen und Abhängigkeiten zurechtzufinden, die diesen jetzt schon zwölfjährigen Krieg verschuldet hatten. Daß sich in seinem Gefolge Seuchen ausbreiteten und die Bevölkerung halbierten, war anderen Umständen zuzuschreiben – ich kannte sie alle und kämpfte seit Jahrhunderten für eine Änderung. Warum hatte mich Gustav Adolf um Hilfe gerufen? Wer war der exotische Fremde?
7. Die Natur erschreckte mit auffälligen Vorkommnissen und seltsamen Katastrophen. Die Winter waren in einigen Gebieten so warm, daß die Bäume blühten. Aber dafür überzog mitten im Sommer klirrender Frost manche Landschaften, vernichtete die Ernte und tötete Menschen und Vieh. Nahe Bamberg dröhnten die Eingeweide der Erde, und ein schweres Beben versetzte einen Berg, auf dem an fränkischen Reben saurer Wein wuchs. Eine Springflut in Hamburg, die stärkste seit sieben Jahrzehnten, zertrümmerte Schiffe und Häuser, ersäufte Mensch und Tier. Über Odenburg sah man drei Sonnen am Himmel, nach Sonnenuntergang einen riesigen Regenbogen. Endlose Regenfluten und Gewitter von nie gekannter Wildheit zogen über das Land. Pest und ihre nicht weniger tödlichen Verwandten tobten sich aus und ließen leere Häuser und volle Friedhöfe zurück. Unweit von Fulda, in einem der ärmsten Landstriche, entfernt von den wichtigen Straßen, erstreckte sich die Höhle unter einem namenlosen Berg. Im harten Licht der Strahler erkannte ich, daß der Boden aus Sand bestand und trocken war. Die Maschinen faßten die unterirdische Quelle und leiteten sie ab. Auf einer unregelmäßigen Plattform aus Metallgittern lag ein isolierender, hochfloriger Belag, auf dem wiederum, wie ein paar Inseln, einzelne Elemente der »Einrichtung« standen; Bad und Hygienekabine, eine kleine Kochgelegenheit, die geöffneten Container voller Ausrüstung und Tische, Sessel und Liegen. Energieblöcke befanden sich entlang der Höhlenwände; Wassertanks, Heizung und der Transmitter fehlten ebensowenig wie Geschirr und andere Kleinigkeiten, die ich zum Überleben brauchte. Der Gleiter war von
Beauvallon hierhergebracht worden, ebenso sah ich dreidimensionale Landkarten auf Stellwänden am Rand der Wohnplattform. Ich drehte mich halb herum, nickte Ciron zu und lobte: »Ausgezeichnet. Der Ausgang ist sicherlich versteckt und den Eingeborenen unbekannt.« »Es wäre ein Zufall, wenn sich jemand dorthin verirren würde. Überdies habe ich drei Sperrschirme angebracht.« Ich sah auf den Bildschirmen mehrere Spionsonden, die Steuergeräte und die Bildschirme mit den Speichern. Ciron hatte für alles gesorgt. Auch ein Teil meiner persönlichen Ausstattung befand sich im Schutz der Höhle. Ich war bereit. Ich konnte die Maske des reisenden Magisters der Wissenschaften anlegen und mitten in Deutschland auftauchen. Mein erster Gang, Ritt oder Flug würde mich zu Gustav Adolf führen. An diesem Maitag strahlte die Sonne am wolkenlosen Himmel. Ich ließ den Gleiter bis über die Wipfel der Bäume steigen und schaute mich um. So weit ich sehen konnte, stand die Natur in gesundem Grün. Jenseits des dichten Waldes gab es Felder, Weiden und ein paar kümmerliche Häuser. Wenn Gustav Adolf das Land betrat, geschah es hoch im Nordost, von hier aus gesehen. Ich beendete gegen Mittag den Rundflug, den ich nachts wiederholen würde. Hier, fernab aller Straßen und Brücken, merkte ich nichts von den Greueln des langen Krieges. Ich steuerte die schwere Maschine zwischen den riesenhaften Wurzeln eines Baumes und durch den Felsspalt, ließ sie im Schacht absinken und stellte sie außerhalb des Lichtkreises in der kühlen Höhle ab, die nach frischem Wasser und Wurzelwerk roch. Die flackernden Bilder der Schirme riefen farbige Reflexe an den zerklüfteten Höhlenwänden hervor. Ich ging mit meinen weichen, wasserdichten Stiefeln durch den Sand und
kontrollierte die Geschehnisse. Torquato Contis Truppen, noch von Wallenstein dirigiert, lagen von Hinterpommern bis Mecklenburg, in Wismar, Rostock, Greifswald, Kolberg und als Eingreifreserve in Garts, Greifenhagen, Stralsund und Stettin. Ich betrachtete kopfschüttelnd die Lager. Auf einen Soldaten kamen eine Frau und ein Troßbube. Fünf Diener versorgten einen Leutnant, mindestens fünfzehn von ihnen kümmerten sich um das Wohl eines Obristen. Gab es viel Beute, kamen weitere Diener als Träger dazu. Bauernmädchen, unterwegs geraubt, trieben sich zwischen den Zelten herum, entführte Kinder vegetierten in unfaßbarem Schmutz dahin, es gab Marketender und Hausierer, Quacksalber, Streuner, Hebammen und Neugeborene; an jedem Tag einen zusätzlichen Bewohner des Lagers. Die Kanoniere bildeten eine Art verschlampter und hochfahrender Elitetruppe. Knechte und Diener versorgten die schweren Gespanne und die Zugpferde. Kriegsdirnen und die teuer entlohnten Stückmeister waren innerhalb des Heeres eine mächtige Gruppe und sonderten sich von dem gewöhnlichen Kriegsvolk ab. Essen und Getränke für die Menschen, Futter für die Pferde, Abfälle für die Hunde, Nachschub für dreiundfünfzig Tausendschaften und deren lärmenden und betrunkenen Anhang wurde aus der Umgebung requiriert. Der Ausdruck Chaos beschrieb den Zustand dieser »Streitkräfte« – übrigens aller anderen außer den Schweden – höchst unvollkommen. Meine Unruhe und Besorgtheit wuchsen. Obwohl die Spionsonden an vielen verschiedenen Orten schwebten, hatten sie Nonfarmale kein drittes Mal sichten können. Weder in der Nähe Gustav Adolfs, der sein Heer in Bewegung setzte, noch bei Wallenstein zeigte sich der Exot. Ich ließ mir bewußt Zeit und lud bedächtig Vorräte und
Ausrüstung in den Gleiter, testete dessen Schutzeinrichtung und die verschiedenen Systeme, mit denen ich mein Überleben zu garantieren gedachte. Auch die redundant angelegte Fernsteuerung arbeitete mit gewohnter Zuverlässigkeit. Ich machte über Bildschirme und Lautsprecher die Bekanntschaft mit einem der großen Verwüster der Länder, mit dem Oberbefehlshaber des eigenen Heeres und der Kaiserlichen Truppen, Fürst Albrecht von Wallenstein. Man schrieb auch: Waldstein, Wahlenstein oder anders. Seine Soldaten, die jetzt wohl bald Tilly befehligen würde, kannte ich schon. Jetzt beobachtete ich einen gichtkranken Mann mit schwärendem Bein, dem gemeinen Volk entrückt und gegen Lärm allergisch, ein Zyniker der Macht und sternenschicksalsgläubig, der im Luxus lebte, eines Kaisers würdig. Eine vage Gestalt, ein Name und Begriff, wuchs und rundete sich zu einer menschlichen Person. Mein Bemühen, ihn kennenzulernen, wuchs keineswegs. Aber auch Wallenstein schien unter dem Einfluß eines Dämons zu stehen; meine Sorge nahm zu. Durch einen Zufall fing eine Spionsonde in den Niederlanden – hieß die Stadt Leyden oder Weiden? – ein unfertiges Bild auf. Der Maler nannte sich Gerrit Dou. Ich konnte nicht glauben, was ich in feuchten Ölfarben auf der Leinwand sah. Es schien ein Gemälde des Fremden zu sein. Es gelang Rico, das fertige Bild zu stehlen und einen Beutel Goldmünzen an der Staffelei zu deponieren; eine Stunde später schwebte die vergrößerte Holografie im Halbdunkel meiner Höhle: Der Fremde schwebte in großer Höhe entlang der Küste, saß mit lang ausgestreckten Beinen in den schweren Steigbügeln auf dem Rücken eines Tieres, das wie ein Flugsaurier aussah. Ich zweifelte nicht daran, daß es solche Schreckechsen in der
Vorzeit von Larsaf Drei gegeben hatte, und ich kannte die geschuppten, lederhäutigen Riesen von anderen Welten. Die Echse mit langen Sichelschwingen besaß die Größe eines Bauernhauses. Der lange Schwanz wirkte als Balanceruder. Der Schädel lief in einen Hammerkopf und einen ebenso langen, nach vorn gekrümmten Schnabel aus, in dem viele Doppelreihen spitzer Zähne glitzerten. Rostrot und schwarz waren die Farben dieses Fabelwesens. Der Reiter beugte sich weit aus dem Sattel, schirmte die Augen mit der flachen Hand und schien nach Gustav Adolfs Schiffen Ausschau zu halten. Die Riesenechse zog einen Kreis über dem Strand, den Nadelwäldern und den winzigen Wellen. Das Bild warf mehr Fragen auf, als ich in den schlimmsten Phantasien zu beantworten wagte. Sah ich Gespenster? Ein Reiter auf einer Flugechse? Saums, so lautete die griechische Bezeichnung. Hatte sich der Planet in einen Tummelplatz für Fremde verwandelt? Ein furchtbarer Verdacht nahm ein bißchen mehr Gestalt an. Drei Tage später versteckte ich den Gleiter unter einem Sandhügel, aktivierte die Antigravelemente im Sattel und zog ihn samt den schweren Doppeltaschen und den zeitgemäß aussehenden Waffen hinter mir her. Ich näherte mich den Vorwerken der Stadt Stettin und kaufte um teures Geld zwei Pferde, von denen ich glaubte, sie wären kampferprobt. Ich fand einen Stall und zahlte einen Pferdeknecht, der mir half. Wir wuschen die Felle, kämmten die Mähnen und Schweife, ich injizierte aufbauende Stoffe gegen Infektionen und Mangelerkrankungen. Nachdem die Tiere frisch beschlagen waren, sattelte und zäumte ich sie und ritt auf die Stadt zu. Ich fand eine Unterkunft und wartete neun Tage lang auf den Schweden. In dieser Zeit studierte ich Schriften, die Neuigkeitenblätter, in denen meist wortreiche, aber dennoch zutreffende Informationen vermittelt wurden; schließlich
erlebte ich, wie Gustav Adolf mit dem erwarteten Spektakel seinen Fuß auf das Land der unterdrückten Protestanten setzte. Auf dem Strom ankerten zwei lange Reihen flachgehender Landungsschiffe. Darüber erhoben sich die Oderburg und die Mauern, hinter denen sich Stettin versteckte. Zwei Kanonenschüsse dröhnten auf; ein Signal. Gustav Adolf stieg aus, rutschte auf der Planke aus und tat so, als beuge er ehrfurchtsvoll das Knie. Der König trug ein graues Soldatenkleid. Ihm folgten prächtig geschmückte Offiziere, die ich nicht kannte, und zwei Kompanien Bewaffneter. Schwedische Agenten hatten die Bevölkerung vorbereitet. Obwohl die Bürgerwehr und eine Garnison unter Oberst Damitz, also gegnerische Kräfte, in der Stadt lagen, strömten die Stettiner durch die Tore und drängten sich um den König und seine Soldaten. Während ich, an die Mauer des Turmes gelehnt, auf Gustav wartete, betrachtete ich ihn durch mein Fernrohr. Noch immer überragte er alle Männer seiner Umgebung. Leichter Wind zerrte an seinem rotblonden Haar und Bart. Den Kopf mit der Hakennase reckte Gustav vor und blinzelte mit blauen Augen, die groß, aber kurzsichtig waren. Er hielt sich gerade, bewegte sich geschickt und schnell, obwohl er recht korpulent geworden war. Gustav trug nur einfaches graues Tuch, ein Elchlederwams und eine rote Schärpe. Seine Soldaten, die den Offizieren folgten, machten einen unerhört tüchtigen Eindruck. Ihre Kleidung bestand aus blauen und roten Stoffen, die Männer trugen einwandfreies Schuhwerk oder gute Stiefel. Helme, Halbrüstungen, Waffen und Piken sahen aus, als kämen sie aus einer einzigen Waffenschmiede. Die Männer, denen die leichten Geschütze auf Lafetten folgten, bewegten sich mit gelassener Kampfbereitschaft. Zwei Kompanien folgten Gustav Adolf, der den Weg zur Burg einschlug und
das Fernrohr aus der Rocktasche zog: mein Geschenk, das goldene Kaleidoskop. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, fühlte den Druck des Zellschwingungsaktivators und nickte lächelnd den Wachen zu, die ihre Waffen präsentierten. Ohne schwer zu atmen, sprang Gustav Adolf auf die Plattform, blickte durch die Linsen auf Stettin und auf den glanzvollen Aufmarsch der Soldaten, auf seine Schiffe und die Stadtmauern. Er senkte schließlich das Fernrohr, nickte nacheinander den Umstehenden zu, dann fiel sein Blick auf mich. »Allergnädigste Majestät, König von Schweden. Oder hören Sie lieber von mir den alten Namen Gosta? Ihr habt gerufen, König. Hier bin ich«, sagte ich. Er starrte mich an, zögerte, zuckte zusammen und kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Ratlosigkeit stand in den Gesichtern seiner Begleiter. »Comte Atlan. Aus Sagittaire. Woher… ist gleich. Ich freue mich, Atlan. Mein Freund!« Vorübergehend verlor er etwas von der königlichen Gemessenheit. Wir umarmten uns, er preßte mich an seine breite Brust und schlug mir auf den Rücken. Dann sagte er leise: »Ich muß diesen Leuten erst erklären, daß ich ihre Stadt nicht berenne. Komm mit vor die Mauern. Wie hast du hierhergefunden?« »Ich bin höchst ungeduldig, Sire«, sagte ich ironisch, »den Grund Eures Rufes zu erfahren. Es klang dringend, als wäre Euer Leben in Gefahr.« Gustav wurde ernst. Er nickte nachdenklich. »Das, Freund Atlan, wirst du heute abend in meinem Zelt erfahren. Laß mich meine christliche Aufgabe zu Ende führen.« Ich gestattete mir ein Lachen. »Zu Ende? Ihr seid erst am Beginn, Gustavus Rex.« Er wußte es, beabsichtigte aber nicht, hier mit nur darüber zu debattieren. Sein erstes Ziel hieß Stettin, und er bewies
sogleich, daß er alles zu Ende dachte und auch zum Ende führen wollte. Er winkte seinen Offizieren, die Feldzeichen schwenkten herum, und der gesamte Zug bewegte sich hinunter zu den Stadttoren von Stettin. Ohne Eile schlenderte ich hinterher, musterte die Soldaten und schätzte Menge und Leistungsfähigkeit des Heerhaufens. Ab und zu schnappte ich Bemerkungen auf, die meine Schätzungen genauer werden ließen. Sechsundfünfzig Schiffe, sechzehn Schwadronen Reiterei und zweiundzwanzig Kompanien Infanterie, dazu eine große Anzahl bespannter Lafetten und Geschütze; insgesamt dreizehntausend Mann. Aber, so meine Gedanken, einer von ihnen wog drei oder vier aus dem kaiserlichen Lager mühelos auf. Schotten und Deutsche, dazu Angeworbene anderer Nationalität, waren im Heer vertreten, aber der Kern bestand aus Schweden. Ich bemerkte rasch, daß sich Gustav Adolfs Heer als ein geschlossener Organismus verstand, als nationale Einheit. Die riesigen, muskelstarrenden Südschweden, helläugig und blond, marschierten ebenso geschlossen und mit ernsten Gesichtern wie die schlanken Finnen und die dunkelhäutigen Lappländer, die ihre zotteligen kleinen Pferde mitgebracht hatten. Zweimal täglich, erfuhr ich, wurde gebetet. Gustav Adolf aber verehrten sie wie ihren persönlichen Gott. Vor dem Stadttor verließ ich den Wald aus Helmspitzen, Piken und Musketenmündungen und wartete abseits. Leutselig und lebhaft sprach Gustav mit den Stettiner Bürgern. Allmählich begriffen sie, daß er in freundlicher Absicht gekommen war, daß ihm ein unblutiger Sieg allemal lieber war als ein Gefecht. Aus der Stadt kam ein Bote, ein Trompeter, der in sein Instrument blies und einen langgezogenen Ton erzeugte. Das Tremolo verriet seine Aufregung. Er sprach mit den Offizieren
und richtete ihnen aus, daß das Heer die Stadt nicht zu betreten habe. Der König erwiderte, er würde nur mit seinesgleichen verhandeln. Der Bote rannte zurück, eine Weile später kam Oberst von Damnitz mit seinen Offizieren. Gustav deutete auf seine Geschütze, die ihre Rohre auf die Stadttore richteten. Schließlich schleppte sich der bierbäuchige Herzog Bogislaw zu uns, sprach lange mit Gustav und rief resignierend: »Nun, in Gottes Namen!« Die Tore öffneten sich, die Schweden zogen ein und fingen an, die Stadt in angemessenen Verteidigungszustand zu versetzen. Oberst von Damnitz und sein Heer traten geschlossen in schwedische Dienste. Staunend bahnte ich mir durch die Volksmenge in den Gassen den Weg in meine Unterkunft. Erst am nächsten Tag sollte der offizielle, feierliche Einzug Gustav Adolfs stattfinden. Am späten Abend eskortierte man mich zu seinem Zelt. Ich trat ein, zog schwungvoll meinen Federhut und zog den rechten Handschuh aus. »Willkommen, Freund! Setzt Euch, Comte Atlan!« Er sprang auf und zeigte auf den Tisch und die Feldsessel. »Ich habe, um die Wahrheit zu sagen, nicht hoffen dürfen, daß der einzige Freund aus meinen frühen Jahren kommt, wenn ich ihn rufe.« Ein Diener nahm mir Mantel, Hut und Handschuhe ab und hängte meine Waffen an die Zeltstange. Ich setzte mich und versuchte im Lichtschein vieler Kerzen zu ergründen, was in Gustav Adolf wirklich vor sich ging. »Einst sprachen wir darüber«, eröffnete ich die Unterhaltung, die im Zeichen kühler Befangenheit stand, »daß der einzige Sinn für Schweden darin bestünde, die Grenzen zu sichern, Frieden mit den Nachbarn zu schaffen und Wohlergehen für ein wachsendes Volk. Was treibt Euch, König Gosta, in den Kampf mit den Kaiserlichen?«
»Es sind drei Schritte: Ich rette den deutschen Protestantismus, vertreibe die Wallensteinschen Truppen von den Gestaden der Ostsee und verhindere, daß sie wiederkommen. Das fordert mein Gott von mir.« »Er hat es Euch, Sire, sicherlich selbst mitgeteilt und sich dazu eines Mannes bedient, der sich Nahith nennt und von Inseln kommt, die antike Schriftsteller schilderten. Ist es nicht so?« Wir tranken starkes Stralsunder Bier. Von draußen hörten wir ein Lied, zur Laute gesungen. »Haffo, Guisbert, mein Barde.« Gustav führte eine indifferente Geste aus. »Ich betrachte Nonfarmale nicht als Gottesboten. Nein! Er redete von dem, was ich dachte. Zuerst erschrak ich und meinte, Euch, Atlan, vor mir zu haben. Im Gegensatz zu ihm aber seid Ihr jung geblieben. An Jahren zumindest.« »Euer Liebden wissen, wie wohl Salzwasser, Sonne und viel Schlaf tun«, entgegnete ich. »Warum der Notruf, mein Freund?« Er sah sich um, als belausche man uns. Er senkte seine Stimme und erklärte: »Weil ich nicht weiß, ob ich recht tue. Der eine rät mir dazu, der andere ab. In mir spüre ich, was mein Glaube mir gebietet. Sehe ich die furchtbaren Wunden, die der Krieg schlägt, zweifle ich daran. Der Wunsch, Schweden zu sichern, streitet mit der Gefahr, die von diesen Küsten für mich ausgeht. Noch kann ich an der Spitze des Heeres kämpfen. Was aber geschieht, wenn mich wieder eine Kugel trifft?« »Ich werde deinem Feldscher helfen«, ich zeigte auf seine Finger im ledernen Schutz, »die Kugel, die dich quält, schmerzlos zu entfernen.« Wir sprachen jetzt in den alten, vertrauten Formen; niemand hörte uns. »Du würdest es wagen, was Magister Acker Gabbo nicht
riskiert?« Gustav schien verwundert und erleichtert zugleich. »Nicht nur das. Ich wage noch Gefährlicheres«, gab ich zu. »Ich wage dem Löwen aus Mitternacht, wie dich die begeisterten Protestanten nennen, zu widersprechen.« »Du darfst es, Freund Atlan.« »Ich sehe, daß du älter und klüger geworden bist.« Ich tastete mich vorsichtig an die Probleme heran. »Deine Soldaten, wenn du sie weiter im Zaum hältst, sind eine hervorragende Truppe. Du wirst viele Siege erringen und viele Krüppel nach Schweden schicken. Und der Krieg wird auch dich fressen. Deine kleine Tochter Christina freut sich schwerlich, wenn du sie zur Waise machst. Ich weiß, was du und Oxenstierna für euer Land getan habt; nicht einmal ich hätte es besser gekonnt. Du solltest, nachdem du die Wallensteinschen – bald wird ihn Tilly als Feldherr ablösen, wußtest du das? – vertrieben und die Landstriche gesichert hast, zurücksegeln nach Stockholm.« Gustav senkte den Kopf. Nach einigen schweren Atemzügen brachte er die Antwort heraus. »Das sollte ich wohl besser tun.« »Es streiten sich zu viele Herrscher. Wer entscheidet, welche Religion die richtige ist? Truppen ziehen durch das Land und hinterlassen dem Sieger eine Wüstenei, verarmt und voller Krüppel und Kranker. Willst du dieses Land wirklich beherrschen?« Ratlos hob er die Schultern. Ich versuchte, den Schweden davon abzuhalten oder wenigstens den Schaden klein zu halten. »Ich werde zunächst die Küsten sichern. Atlan. Und dann wird’s in der Hand des Schöpfers liegen, was geschieht.« »Wie so oft. Sag mir, wann du bereit bist für die Kugel in deinem Schulterblatt, Gustav.« »Sprich mit dem Medicus, bitte!«
»Wo finde ich ihn?« Gustav versprach, den Acker Gabbo zu mir zu schicken. Dann fragte er, ob ich mit ihm und dem Heer mitreiten wollte. Ich wußte es selbst nicht und versprach, die nächsten Tage in der Stadt zu bleiben. Gustav war unruhig und raschelte mit Papieren auf dem Arbeitstisch. Ich stand auf und nahm seine Hand. »Ich wünsche dir viel Glück, Gosta«, sagte ich leise. »Möge der Kampf kurz und der Sieg leicht werden.« »Das hoffen wir alle!« Ich verließ das Lager und ging zurück in die Stadt. Ratlos und hektisch hatte sich der schwedische König verhalten, als habe er für seine Pläne nicht mehr viel Zeit und wisse dies. Wahrscheinlich hing es auch mit dem Umstand zusammen, daß Schweden ein armes Land blieb und keineswegs für viele Soldaten regelmäßigen Sold aufbringen konnte. Obwohl die Todesstrafe für Übergriffe auf Spitäler, Schulen und Kirchen und deren Insassen und Beschäftigte stand, würde auch Gustav Adolfs sonst so diszipliniertes Heer zu plündern anfangen. Am nächsten Vormittag besuchte mich Acker Gabbo, ein hochgewachsener Südschwede, der den unverfänglichen Teil meiner medizinischen Ausrüstung mit Verwunderung musterte. »Ihr wollt tatsächlich diesen Eingriff wagen, Magister de Sagittaire?« Ich demonstrierte an seiner Schulter, wie die steckengebliebene Kugel ertastet, der Schnitt gesetzt, die Kugel herausgeholt und die Haut vernäht werden konnte. Er meinte, daß der König vor Schmerzen brüllen und wild um sich schlagen würde, dann gestand er, fast verschämt: »Einen Magen habe ich schon einmal geöffnet. In Stockholm, und der Mann lebt noch heute. Ich bin stolz darauf; es hat einen solchen Schnitt noch kein anderer gewagt.« Da derlei Operationen ausnahmslos ohne Betäubung,
bestenfalls während einer Bewußtlosigkeit oder im Rausch des Unglücklichen erfolgten, blieb das Risiko horrend groß. Ich berichtete dem Feldscher, daß in anderen Ländern ein Mittel erfunden worden sei, das seine Opfer betäuben konnte. Am Ende unseres Gesprächs schien er zu bedauern, daß es für ihn noch nichts zu tun gab. Magdeburg, die Stadt und wichtigste Festung der Elbe, hatte sich dem Diktat des habsburgischen Kaisers widersetzt. Man sagte, es sei die reichste Stadt Deutschlands. Wer diese Feste besaß, konnte entweder behaupten, daß sich das wahre Christentum durchgesetzt habe oder daß er den richtigen Glauben verteidigte. Beide wollten Magdeburg besitzen: Gustav Adolf und der greise Kaiserliche, Feldherr Tilly. Von Stettin aus zog Gustav Adolfs Heer, durch Söldner vergrößert, nach Magdeburg und setzte den ehemaligen protestantischen Administrator der Stadt, Christian Wilhelm, wieder ein. Er versprach, das Bistum mit Hilfe der Schweden zu verteidigen. Das Volk fürchtete sich vor Tillys Gegenzug; während der Inthronisation auf dem Bischofsstuhl flatterten riesige Rabenschwärme krächzend über der Stadt, während über den blutrot beleuchteten Elbwellen die Sonne in den phantastischsten Abbildern kämpfender Wolkenheere unterging. Da Gustav Adolf in den kleinen Scharmützeln, dem Vorrücken, den vielen Vertragsverhandlungen und dem Versuch, sein Heer zu überwintern, an mir wenig Interesse zeigte, versuchte ich die anderen Fürsten und Feldherren kennenzulernen. Ich reiste weit; im Sattel und oft auch im Gleiter. Durch einen Zufall war ich auf den Einsiedler gestoßen; wir trafen uns, nachdem ich mit der Armbrust ein Reh erlegt hatte
und den Himmel absuchte. Der alte Mann in seinen abgerissenen Kleidern sammelte Bucheckern und Pilze. Nördlich meiner Höhle war es, im Sommer 1631, und seit dem ersten Treffen besuchte ich Malte, genannt Uhlenhorst, in unregelmäßigen Abständen. Das nächste Dorf war zwei Tageswanderungen entfernt. »Ich sage dir, Arkon«, brabbelte er, »ich werde es nicht mehr erleben. Ich hab’s gesehen!« »Was hast du gesehen?« Er bewegte kichernd die Zehen in den weichen Schuhen, die ich ihm geschenkt hatte. Am meisten freute er sich über eine dicke Unschlittkerze, die im Hintergrund seines Unterschlupfes brannte. »Alles, Weißhaar. Zwanzig Jahre wird’s noch dauern. Das Land wird zur Wüste. Aber nicht überall. Hier nicht.« »Woher weißt du das alles?« fragte ich. Der Wein im großen Deckelkrug war noch nicht zu Essig geworden. Wir drehten Holzbecher in unseren rußigen Fingern. Uhlenhorst hatte seit fünfzehn Jahren, erzählte er mir, dieses Loch nicht verlassen. Sein weitester Weg führte bis zu den Eichen auf dem Hügel, eine Stunde weit zu Fuß. »Ich hab’ ’s Gesicht. Das Zweite Gesicht, Arkon«, brummte er und leerte den Becher. »Im Halbschlaf sehe ich alles. Die Schweden und die Kaiserlichen, den bösen Böhmen und die Spanier. Tausendmal tausend Höfe brennen. Die Weiber, geschändet und totgeschlagen. Die Soldaten graben unter den Häusern nach Geld und Gold.« »Und das siehst du, Malte Spökenkieker?« »Das erlebe ich alles. Nur wenn ich tief schlaf’, hab’ ich Ruhe vor den Bildern.« »Und du kennst auch die Namen, die Feldherren?« »Alle. Gustav Adolf, der Wasa. Wallenstein und Pappenheim, Bernhardt und Arnim, den Hansjörg, den
bayrischen Max und seinen Freund, den Tilly. Keiner wird lange leben. Der Krieg schlägt sie alle tot.« Natürlich war ich verblüfft, auch über seine Erklärungen, die den einfachsten Nenner ausdrückten. Woher er sein Wissen bezog, wußte er selbst nicht. Es flog ihm in Wachträumen zu; mit einigen Prophezeiungen hatte er bestürzend genau recht behalten. Malte kratzte sich im Nacken und unter den Achseln, schob ein Scheit ins knisternde Feuer und hielt mir den Becher entgegen, als ich den Krug hob. »Bringst du wieder Wein, wenn du kommst?« »Ja, aber ich weiß nicht, wann ich dich wieder besuche«, antwortete ich leise. »Du bist gesund?« »Ich spür’ manchmal das Zipperlein«, gestand er. »Weißt du, daß die Kaiserlichen das arme Magdeburg nehmen werden? Tod, Elend, tausendfaches Verwunden wird’s haben, Arkon.« »Wann?« »Ich weiß es nicht. Bald, sag’ ich dir. Sie sind innen faul und taub, die Bucheckern. Nicht einmal die Wildsäue werden satt in diesem Jahr. Ein böses Zeichen.« »Ich werde dir berichten, was ich gesehen habe; draußen im Land«, versprach ich, von seinen dunklen Vorhersagen tief beunruhigt. Im anbrechenden Abend, als Uhlenhorst eingeschlafen war, schob ich die Felle im Loch des gemauerten Höhlenvorbaues zur Seite und machte mich auf den Heimweg. Am 30. Mai 1593 wurde Christopher Marlowe, Dichter und Dramatiker, in einer Südlondoner Kaschemme bei einer Messerstecherei tödlich verletzt. 1616 starb Master Will, William Shakespeare, Handschuhmachersohn, zuletzt »Groom of the Chamber« in Stratford-on-Avon. Marlowes Doctor Faustus, aufgeführt im Rose Theatre, wurde 1588, nach Tamburlaine the Great, uraufgeführt; das Theaterstück über
Timur i Lenk zählte auch Master Will zu den Zuschauern. Er spielte damals am Globe Theatre. Mir hatte Shakespeare erzählt, daß er Marlowes Kunst bewunderte. Beide waren 1564 geboren worden, und schon nach Shakespeares Tod hatte selbst ich von Gerüchten gehört, daß Francis Bacon, Edward de Vere, Bari of Oxford oder Lord Derby Wills Dramen geschrieben hätten. Ich wußte es besser. In den Nischen des »Erinnerungsraumes«, wo Jeanne d’Arcs Kettenhandschuh ebenso ihren Platz gefunden hatte wie viele andere Zeitzeichen, lagen zwei vollgekritzelte Hefte. Eines trug den Titel Comedy of Errors. Eine andere versiegelte Vitrine enthielt Gutenbergs wertvolle Bibel und Friedrich von Spees Cautio criminalis, ein Buch zur Verteidigung der sogenannten Hexen, 1631 anonym im deutschen Rütteln gedruckt und von mir und Rico entziffert. Offensichtlich waren Master Wills Manuskripte unauffindbar; ich wußte, daß er seine Spuren – unbewußt! – auszulöschen und hinter seinem erstaunlichen Werk zurückzutreten versuchte; für mich war er Oberon und Ariel, Shylock, Lear und Macbeth gewesen, Hamlet und Romeo and Juliet – jenes Märchen vom italienischen Wegelagerer, das ich dem »Schwan von Avon« erzählt hatte. Tot, begraben, zu Asche zerfallen. So wie Martin Luther, der mit 21 schon Professor war… »In mein gantz Leben hab ich khein armada gesehen, deren all nothwenige requista von größerstem biß zum geringsten auf einmal totaliter abgehen, sintemahl khein Artigleria-Pferde, khein einzig Officirer, khein Stückhe so zue geprauchen, khein Pulver, Kugeln, Hackhen und Schauffeln, khein geldt noch Proviandt vorhanden ist.« Dies schrieb Johann Tserklas Graf von Tilly in Mecklenburg, als ihm Wallenstein den Nachschub aus Friedland verweigerte. Seine Soldaten liefen davon und erhofften sich im
Heer von Arnim besseres Leben. Pappenheim, der Stellvertreter Tillys, drängte: Magdeburg, reich und voller Vorräte, konnte bezwungen werden. Anfang April marschierte Gustav Adolf an der Spitze seines Heeres auf Frankfurt an der Oder zu. Ich ritt eine deutsche Landmeile rechts neben dem Heerzug und versuchte, die Menschen zu warnen und selbst nicht bemerkt und angegriffen zu werden. Teile des einstigen Heeres Wallensteins stellten sich den Schweden in den Weg. Das Heer hatte sich in zwei Teile gespalten. An beiden Ufern der Oder preschten Reiter vor, die leichte Geschütze mit sich führten. Noch waren die Frankfurter nicht gewarnt, aber der Tillysche Feldmarschall Tiefenbach schien das Ziel des schwedischen Vorstoßes zu ahnen. Ich trabte, das Packpferd am Zügel hinter mir, auf einem lehmigen Feldweg. Weit vor nur erkannte ich eine Schanze, die halbkreisförmig die rußgeschwärzten Fassaden einer Handvoll Bauernhäuser umgab. Auf einem halbverbrannten Dach flatterte die Fahne der Kaiserlichen. Noch als ich überlegte, was als nächstes geschehen konnte, befand ich mich mitten im ersten Kampf auf dem linken Oderufer. Weit hinter meinem Rücken ertönte ein unheilvolles Heulen. Ich griff zur großen Schnalle des Brustgürtels und schaltete das Abwehrfeld auf volle Kapazität. Die Pferde stellten die Ohren auf und wurden unruhig. Das Geschoß schlug dicht über der Schanze in die Hauswand ein und detonierte. In einer dumpfen Explosion flogen Kalk und Mauerbrocken, zwei zerfetzte Körper und die Bombensplitter durch die Luft. Ich riß am Zügel und galoppierte an. Als ich den Schutz zwischen den schwarzen Stämmen eines Obstgartens erreicht hatte, hob ich meine schwere Reiterpistole. Aus dem Haus rannten Soldaten, zogen ihre Harnische in rasender Eile über, und einer von ihnen, der die meisten
Befehle in größter Lautstärke schrie, steckte die glimmende Lunte ins Gras der Schanze. Aus den hinteren Teilen der Häuser rannten die Bauern, ihr Vieh hinter sich herzerrend. Wieder feuerte das unsichtbare Geschütz der schwedischen Vorhut. Diesmal erkannte ich die kleine Rauchwolke des Abschusses. Noch vor einer halben Stunde war ich hügelab auf die Kreuzung zugeritten, von der aus das Geschütz feuerte. Die Schweden sind schnell und treffsicher, meinte der Logiksektor. Sieh dich vor, Arkonide! Bisher hatte ich keinen Grund gehabt, mich angegriffen zu fühlen und wehren zu müssen. Der zweite Treffer zerfetzte die Seitenflanke der Verschanzung, kippte ein Geschütz um und wirbelte eine Fontäne aus Flammen, schwarzer Erde und Trümmern in die Höhe. Die beiden Geschütze der Kaiserlichen wurden ausgerichtet und geladen, dann senkte sich die Lunte auf das Pulver im Zündloch. Zwei lange Feuerzungen stachen aus den schwarzen Mündungen, Rauch verdunkelte das Bild der Fassade und der Fensterhöhlen, dann heulten die Sprenggeschosse auf die ferne Kreuzung zu. Ich ritt langsam und wachsam geradeaus und sah, daß die Bauern in einem Heuschober Schutz suchten, am anderen Ende des Ackers. Drei Schafe stolperten blökend durch die Furchen. Von den Gehöften kam Geschrei. »Die Reiter. Die schwedische Reiterei!« Gustav trieb seine Soldaten in Eilmärschen voran. Seit Tagen hatten sie kaum etwas zu essen bekommen. Ein paar Dutzend Reiter stoben entlang der Dorfstraße heran. Hinter den Hufen der Pferde wirbelten Erdbrocken in die Luft. Die Soldaten schwangen Pistolen, schwere Säbel und kurze Musketen mit trompetenartig geweiteten Rohrenden. Auf ihren zottigen Pferdchen hockten die schlitzäugigen Nördlinge wie Kobolde und schrien heiser. Mäntel und Pelze flatterten im Wind.
Hinter den Reitern rumpelten Lafetten und Geschütze über das unebene Gelände. Die Kaiserlichen ließen Ladestöcke und Pulverfässer fallen und sahen ein, daß sie keine Zeit mehr übrig hatten. Sie wandten sich zur Flucht und rannten zwischen den Gebäuden zu den Ställen. Ich blieb ruhig und beobachtete die Szene von meinem geschützten Standort aus. Hinter den Gespannen tauchten die Fußsoldaten auf. Sie hasteten, vier oder fünf Mann nebeneinander, hinter dem Leutnant mit dem Feldzeichen her. Es waren einige tausend; hinter ihnen sah ich wieder Reiter, Troßwagen und die schweren Geschütze. Der Zug wand sich in mehreren Schlingen den Uferhügel herunter und auf die Treidelwege zu. Es herrschte Hochnebel, und kalter Wind trieb die Pulvergase nach Osten. Die Kaiserlichen schafften es gerade noch, die Pferde zu satteln und aus der Scheune zu bringen. Unter dem bösartigen Summen der ersten Kugeln, dem Geknatter der Abschüsse und den heiseren Rufen der schwedischen Reiterei galoppierten sie mit verhängten Zügeln und scharfem Sporeneinsatz in Richtung Stadt. Ich ritt aus dem Obstgarten heraus, hob den rechten Arm und rief auf schwedisch: »Ihr kennt mich! Auf welchem Ufer ist Ihre Majestät?« Mich kannten tatsächlich fast alle Offiziere. Einige warfen ihre Pferde herum und ritten auf mich zu. Ein Schotte parierte vor mir seinen dampfenden Hengst durch. »Magister Atlan!« rief er. »Ihr kämpft mit uns? Es verwundert mich.« »MacLeod«, gab ich grinsend zurück. »Ich sehe nur zu, wie ihr die Kaiserlichen hetzt.« »Sie sind weg?« »Alle. Laßt die Bauern in Ruhe«, bat ich ihn. »Sie sind halb tot vor Angst und haben nichts.« »Schon recht. Gustav Adolf reitet auf dem anderen Ufer«,
sagte man mir. »Ihr kennt das Gelände vor Frankfurt?« »Einigermaßen. Ihr werdet Häuser und Scheunen finden, vor den Mauern. Wo sind die schweren Geschütze?« »Auf Schiffen, sie folgen auf dem Wasser nach. Weiter!« Ich ritt neben MacLeod hinter der Spitze der Reiterei. Die Männer hatten ihre Pferde in Trab fallen lassen; die Infanterie rückte auf. Der Schotte, Söldneranführer wie viele andere im Heer, teilte mir flüsternd mit, daß Gustav auf seinem Weg nach Magdeburg das Heer aus der nächsten Stadt versorgen wollte. Die brandenburgischen Kurfürsten stellten sich dem Schweden nicht in den Weg. Wir ritten weiter, und vor jedem feindlichen Posten warnte ich die Truppen. Die Kaiserlichen aber, die vor uns geflüchtet waren, schienen ihre eigenen Leute mit sich gerissen zu haben in wilder Flucht. Nur dreimal teilten sich die Gruppen der Reiterei, und in einer engen Kurve schwenkte das Geschütz herum. Die Schweden schossen wie die Teufel. Ihre Granaten trafen fast immer das anvisierte Ziel und richteten verheerende Zerstörungen an. Am elften April lagerte das schwedische Heer, etwa einen halben Tagesmarsch vor den Toren Frankfurts, an beiden Seiten des Gewässers. Gustav Adolf ritt durch das flüchtig aufgeschlagene Heerlager, während die Schiffe, voll von schweren Geschützen und deren Mannschaften, noch auf dem Weg hierher waren. Ich hatte meine Pferde versorgt und wußte noch nicht recht, wie ich die wenigen Stunden der Ruhe verbringen sollte. Neben dem Feuer, an dem wir saßen, zügelte Gustav sein Pferd. Trotz des großen Mangels an Essen herrschte im Lager Ruhe. »Freund Atlan«, rief er verblüfft. »Ich denke, Ihr habt einen Becher Wein auch für mich?« Unter den Offizieren, die ich begleitet hatte, war mein letztes Fäßchen ausgeteilt worden. Es fanden sich noch ein Becher
und genügend Wein. Gustav schwang sich aus dem Sattel und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Die Kugel in seiner Schulter! Ich gab ihm den Becher. »Du hast mir immer mit gutem Rat geholfen, Freund«, sagte er. Die Offiziere hörten gespannt zu. Gustav zeichnete mich nun in ihren Augen durch diese Form der Anrede öffentlich aus. »Wie viele Soldaten liegen in der Stadt?« »Etwa fünftausend«, antwortete ich ohne Zögern. »Tiefenbach ist eingetroffen. Sein Vorgänger, Schauenburg, bat Tilly um Hilfe.« Die Offiziere murmelten aufgeregt miteinander. »Du weißt es, Atlan? Genau?« fragte Gustav. »Ziemlich genau. Und sie sind wohlausgerüstet hinter den Mauern. Mittlerweile haben ihre Späher euch gesehen.« »Das glaube ich auch. Ich denke, wir haben leichtes Spiel.« »Deine Soldaten hungern«, murmelte ich. »Wirst du sie plündern lassen?« Der König zeigte auf seine Offiziere und erwiderte mit unüberhörbarer Schärfe: »Ich habe den Herren Leutnants und Christen schriftlich alle nötige Gewalt übertragen. Die Stadt ist voller protestantischer Bürger! Wer plündert, kommt vor das Kriegsgericht.« Die Nachricht eines schnellen Sieges würde die Kaiserlichen demoralisieren. Erfuhr die Welt, daß sich die Soldateska ebenso grausam verhielt wie andere Heere, was bisher meines Wissens nicht geschehen war, diente es der geheiligten Sache des Schweden keinesfalls. »Verstanden, Sire.« MacLeod salutierte. »Auch meine Männer wissen’s!« Mit hörbarem Genuß trank Gustav den Becher leer und meinte zu mir: »In meinem Zelt hat’s noch Bier. Der junge Barde singt und heitert unsere knurrenden Mägen auf.« »Ich werde kommen«, versprach ich. An die etwa zwei
Dutzend Offiziere aller Nationalitäten hatte ich einige Notrationen aus meinem schrumpfenden Gepäck verteilt. Gustavs Truppe litt Hunger. Ich verabredete mich mit den Söldnerleutnants und ging quer durch das riesige Lager. Die Soldaten waren während des Gewaltmarsches kaum einmal dazu gekommen, in der Umgebung etwas Eßbares zu finden und trösteten sich mit heißem Tee, verschimmeltem Brot und jedem anderen Rest, der sich in der Tiefe der Taschen fand, und darüber hinaus mit schwermütig klingenden Liedern. Nur ein wenig mehr Fröhlichkeit herrschte rund um das Zelt des Königs. Ununterbrochen rannten oder ritten Boten in alle Richtungen. Gustav stellte zahlreiche Fragen und gab ebenso viele Antworten. Auf einem leeren Wasserfaß hockte Haffo Guisbert, der Barde mit struppigem Bart und wohlklingender Stimme. Er versuchte, die Umgebung des Königs aufzuheitern. Ich blieb in der wärmenden Nähe eines Feuers stehen und hörte zu. »Einen Bart, sehr rot und fest, nannte ich einmal mein eigen, darin gab’s ein kleines Nest, warm und sichrer als in Zweigen.« Ich registrierte im Heer noch mehr als nur Hunger und Wut. Die Soldaten waren von tödlicher Entschlossenheit. Alles drängte auf einen vernichtenden Ausbruch hin. Aber die straffe Hand des Königs, seine ständige Gegenwart und der Umstand, daß er auch für den jüngsten Soldaten zu sprechen war, verhinderten, daß sich das Heer unkontrolliert in eine rasende Furie verwandelte. Im Zelt, dessen vordere Leinwand hochgeklappt war, so daß jeder seinen König sehen konnte, wurde das letzte Bier ausgeschenkt. Schaler Geruch wehte zu mir herüber und mischte sich mit Pferdeschweiß und Rauch. Kaum jemand außer mir hörte dem Barden und dem Klang der Saiten zu.
»Lange barg ich dort ein Paar weißer Tauben unterm Kinne, und in meinem roten Haar pflegten sie der Taubenminne.« Guisbert sah ein, daß er heute wenig Heiterkeit verbreiten konnte. Er stand auf, winkte ab und war überrascht, als ich ihm, bevor ich zu Gustav hineinging, Beifall spendete. Vielleicht hörte ich eines Tages mehr über das Schicksal des Rotbärtigen mit seinen weißen Tauben. Gustav Adolf meinte, wenn überhaupt, sollten Acker Gabbo und ich nach der Erstürmung von Frankfurt an unser blutiges, schmerzvolles Wagnis herangehen. Ich beruhigte ihn nur mit Schwierigkeit. Das gesamte Heer stand noch einige Zeit nach den letzten Gebeten regungslos da. Unzählige leise Gespräche wuchsen zu einem Murmeln, das zum Dröhnen wurde, schließlich zu einem seltsamen Geräusch anschwoll, das sich wie ein tödlicher Sturm ausbreitete und dem letzten Rauch der Feuer folgte. Die Verteidiger hatten, um den Schweden zu erschrecken, unzählige Häuser der Vororte angezündet. Gustav Adolf setzte seine Sturmhaube auf und ging hinüber zu dem Dutzend schwerer Geschütze, deren Rohre auf das Gubener Tor ausgerichtet waren. »Ohne Hast, gut gezielt, und öffnet uns den Weg in die Stadt!« Er senkte den Arm. Das erste Geschütz brüllte auf und schleuderte eine Eisenkugel in fast gestreckter Flugbahn gegen die Mauer unweit des Tores. Noch bevor sie einige Quadratfuß Mauerwerk in Staub und Steinsplitter verwandelte, verstanden wir die Schreie und die Flüche von den Mauern. »Habt ihr eure Geschütze aufgefressen?« »Das Leder? Hat’s euch geschmeckt, Strömlinge?« Noch in der Nacht waren die schwedischen Geschütze eingegraben worden. Selbst der König hatte die Schaufel und
den Pickel geschwungen und dabei vor Schmerz geächzt. Auch einige Laufgräben hatten die Soldaten im Schutz der Dunkelheit bis an die vorgelagerten Befestigungen vorangetrieben. Die schwedischen Soldaten barsten förmlich vor Ungeduld und Kampfeseifer. Das Bombardement belehrte die Schreier von den Mauern eines anderen: Wieder zeigten die schwedischen Kanoniere, was sie gelernt hatten. Ich wartete unweit des Königs im Sattel; mittags war längst den Verteidigern das Pulver für einige Geschütze ausgegangen. Rauch aus vielen Geschützrohren und noch mehr anderen Quellen brodelte über der Stadt. Dazu kam im Osten eine Nebelbank. Wolken ballten sich zusammen und drifteten über den Himmel. Die erste Explosion, die ich genau erkennen konnte, verwandelte das obere Drittel eines Turmes in handgroße Trümmer. Menschen und Waffen, Kanonen, Pulverfässer, Mauerwerk und Balken bildeten einen Pilz aus Flammen, Rauch und Bruchstücken, der langsam und in Flammenfarbenspiele getaucht in die Höhe wuchtete. Die Schweden schrien begeistert auf. Am späten Nachmittag befahl Gustav Adolf einige kleine Abteilungen gegen die Außenwerke. Als wir sahen, daß ein deutscher Leutnant seine Truppe über den Graben trieb, ohne daß es größere Verluste gab, hob der König den Arm und schickte die Ordonnanzen zu den Sturmtruppen. Als der Deutsche die Mauer überwand, setzten die Schweden nach, mit Gustav mitten unter den ersten Reitern und mit mir als Beobachter, der sein Leben und das des Freundes schützen wollte. Die Schotten, unter anderem die bärtigen Männer MacLeods, folgten uns unmittelbar. Es dauerte nicht lange, bis die Tore aufgesprengt wurden. Ein großer Teil des Heeres drang ein, während die eigenen Kanonen abgestuft zu feuern aufhörten. Ich verstand nur einen kollektiven Aufschrei der
hungrigen Schweden: »Neubrandenburger Quartier!« oder: »Neubrandenburgisch Quartier!« Die protestantischen Brandenburger flüchteten erschreckt in ihre Häuser. Die Soldaten preschten durch die Gassen, das Fußvolk fand keine Gegenwehr und fing an, alles niederzuhauen, was außer ihnen noch auf den Straßen und Gassen war. Die Soldaten der Verteidiger flüchteten in heilloser Panik in die Richtung der südlichen Tore. Noch kämpften Soldaten gegen Soldaten. Unser Voraustrupp, mehrere waffenstarrende Reiterabteilungen, stob fast ungehindert quer durch die Stadt. Von einem höher gelegenen Platz aus sahen wir, wie die gegnerische Reiterei über die Oderbrücke rasselte und die Pferde peitschte. Sie verschwanden rechts und links der Straße zwischen den Büschen und Bäumen. An allen Ecken Frankfurts wurde geschossen. Die Schweden erklommen die Mauern und schlugen die Verteidiger hinunter. Pferde trampelten wiehernd treppauf. Säbel und Degen blitzten, die Schneiden der Piken troffen von Blut. An einigen Stellen loderten Flammen in die Höhe, Rauch kroch durch die schmalen Gassen. »Es wird nicht geplündert!« schrie Gustav seinen Anführern zu, »Die Frankfurter geben uns, was wir brauchen.« Es war klar, daß selbst ihm die Führung entglitt. Hier und dort ergaben sich kleine Gruppen der Kaiserlichen. Dampf zischte von den Brandstellen in die stauberfüllte Luft. Schüsse, Flüche, Schmerzensschreie, Hufschlag und Klirren widerhallten in den Straßen. Irgendwo wimmerte unaufhörlich eine Glocke. Ich hing tief über dem Rücken des Pferdes, hatte den Schutzschild eingeschaltet und feuerte aus dem Lähmstrahler auf jene schwedischen Soldaten, die wie von Sinnen auf Bürger einschlugen.
»Hier Schwed! Hier Freund!« schrien wir alle, wenn wir uns, zu Fuß oder im Sattel, irgendwo begegneten. Klingen klirrten auf Stein, wie zornige Hummeln zirpten die Kugeln durch Bogengänge und Geäst. Ich zügelte mein Pferd auf einem Platz, auf dem mindestens zwei Dutzend Gruppen miteinander kämpften. Meine Augen erhaschten einen Blick auf eine Kirchenfassade, eine breite Treppe, auf Bäume hinter Friedhofsmauern und etliche Eingänge, vor denen Schweden Frauen mit sich zerrten. Türen barsten in Splitter. Aus offenen Fenstern warfen Plünderer wahllos alles, was sie in den Häusern fanden, ihren Kriegsgenossen zu. An vielen Stellen lagen Erschlagene, einige Verwundete versuchten, sich davonzuschleppen. Ich ritt mitten in den Platz hinein, ließ mein Pferd langsame Drehungen ausführen und schoß gezielt nach den Schweden. Frauen und Männer schrien. Die peitschenden Entladungen der getarnten Waffe erzeugten hallende Echos. Obwohl ich eine Art seltsames Verständnis mit den plündernden Schweden nicht unterdrücken konnte, war diese offene Raserei zuviel. »Es ist Krieg, Atlan«, sagte ich, setzte die Sporen ein und ritt zum Kloster. Wieder schoß ich drei Schweden nieder, die mit blitzenden Pokalen aus den Pforten torkelten. Ich sprang neben den zeternden Nonnen aus dem Sattel und schrie ihnen zu: »Weg von der Straße! Sind Plünderer im Haus?« »Ja, Herr Offizier. Wir haben Kranke im Spittal!« Ich reichte einer älteren Frau die Zügel. Mit der Linken zog ich die zweite Waffe aus der Schutzhülle im Brustgurt. Aus einer Quergasse stolperten schwedische Soldaten, Lappländer, sichtlich betrunken. Sie schleppten Beute mit sich. Aber aus der entgegengesetzten Richtung galoppierte ein Leutnant in den schwedischen Farben auf den Kirchplatz. Ich feuerte auf einen Soldaten, der sich aus dem Fenster beugte. Dann, als ich
sah, daß der Leutnant mit seinen Kommandos und den wilden Hieben mit dem flachen Säbel einigen Erfolg hatte, drang ich in das Kloster ein. In den Gängen und auf den Treppen spielten sich wüste Szenen ab. Die Soldateska war rasend. Die Kerle hatten die Küche verwüstet, irgendwo Weinvorräte entdeckt, sie waren betrunken. Nichts schien sicher zu sein. Sie verfolgten die Nonnen und liefen, ohne es richtig wahrzunehmen, in meine Lähmschüsse hinein. »Wie viele sind es, Schwester?« Draußen gab es unverändert Schüsse, Flüche, Geklirr und barsches Geschrei. Nach meinem nächsten Schuß, der einen Finnen oder Südschweden auf die steinernen Stufen schmetterte, rissen die Schreie ab. »Zwei Dutzend. Im Keller, Herr…« Ich rannte einen kurzen Korridor entlang und bemerkte noch mehr Spuren von Eindringen und Verwüstung. Zwei Männer schoß ich ohne Warnung nieder. Sie glotzten mich aus weit aufgerissenen Augen an. Ich packte zwei Frauen, die ihr Entsetzen augenscheinlich am schnellsten unterdrückt hatten, an den Händen und sagte: »Schleppt die Kerle auf den Kirchplatz hinaus! Nehmt ihnen ab, was sie gestohlen haben! Und – hört mit diesem verdammten Geschrei auf!« Ich registrierte, daß aus den unteren Geschossen noch am meisten Lärm und Schreie kamen. Wie ein Rasender stob ich die Treppen abwärts, drei Stufen mit einem Schritt überwindend. In der Halle neben dem Eingang hielt ich an, feuerte auf eine eindringende Gruppe und rannte weiter. Im Vorratskeller bot sich mir ein Bild, zusammengesetzt aus sinnloser Zerstörung, Gewalt und Grausamkeit. Halbnackte Mädchen rannten kreischend um Fässer und Sackstapel. Betrunkene taumelten hinter ihnen her. Zwischen den Gestellen loderten Fackeln. Es stank nach verschüttetem
Wein. Männer hielten Teile gebratener Vögel in den Fäusten und tranken aus Kelchen und Meßgefäßen. Säcke waren aufgeschlitzt, Mehl staubte und vermischte sich mit den Flüssigkeiten zu einem unappetitlichen Brei. Die ersten Schüsse ließen die Mauern erzittern. Jemand schleuderte einen Schinken nach mir, der vom Schutzfeld abprallte. Der Lärm der Lähmschüsse übertönte das gellende Geschrei von Novizinnen. Ich lähmte die Schweden, die versuchten, die Frauen zu vergewaltigen, und richtete die Waffe auf die Stirn eines älteren Mannes, der mit hängenden Armen dastand. »Dein Name?« »Per Liding.« »Nimm die Betrunkenen und bring deine Kameraden auf den Platz! Sonst bist du heute noch am Galgen. Du kennst mich, Liding?« »Ja… du, bist Gast unseres Königs.« »Recht so. An die Arbeit! Ich vergesse nichts.« An mir rannte ein Schwede vorbei und zerrte am Rock einer Frau. Ich schlug ihm den Lauf der Waffe in den Nacken. Er stürzte in den glitschigen Brei und schrammte sich die Knöchel wund. »Raus!« brüllte ich. »Und zwar schnell!« Ich winkte den verschreckten Mädchen, die sich zitternd und jammernd aneinanderklammerten. Ich zeigte auf die Treppe und rief: »Lauft zur Oberin und versteckt euch! Ich passe auf. Die Treppe hinauf!« Ich scheuchte etwa zwanzig junge Frauen über Stufen. Hinter mir fingen die Schweden, die schlagartig nüchtern zu sein schienen, damit an, ihre Kameraden wegzuschleppen. Ich blieb in der Halle, atmete tief durch und sah um mich herum jene seltsame Art von schneller, fast lautloser Bewegung: Nonnen in dunklen, bodenlangen Gewändern rannten wie aufgeweckte Gespenster hin und her und versuchten,
Ordnung zu schaffen. Zu viert schleppten sie die Körper der Besinnungslosen hinaus. »Sind noch Plünderer im Haus?« rief ich und lief auf die Pforte mit den zersplitterten Schlössern zu. »Gefahr vorbei, Schwester Oberin?« Sie nickte mir schweigend und angstvoll zu. Durch die aufkrachende Tür sprang ich ins Freie. Ein Trupp Schweden trieb schätzungsweise hundert Kaiserliche vorbei. An einigen Stellen kümmerten sich die Profose um die Bewußtlosen. Bürger sammelten gehetzt und voller Furcht ihre Habseligkeiten ein. Das Glöckchen schwieg inzwischen, auch der Lärm der Schüsse hatte nachgelassen. Aber noch barst die Stadt förmlich vom Lärm der Plündernden. Ich schaute mich wachsam um. Das Kloster samt dem Spital war wohl vom Ärgsten verschont worden. Aber andere Häuser trugen die Spuren der rücksichtslosen Soldaten. Ich konnte schwerlich das gesamte schwedische Heer lähmen. Du kannst sicher sein, daß sich die Offiziere nicht durchsetzen können, erklärte der Extrasinn. Ein schwedischer Anführer sprengte heran, riß hart am Zügel und hob grüßend die Hand. Sein Gesicht war rußverschmiert und schweißübergossen. »Große Beute, schneller Sieg, Atlan de Sagittaire!« rief er abgehetzt. »Die Kriegskasse haben wir erbeutet, viele Geschütze, massenhaft Munition. Was tust du hier?« »Ich beschütze Protestanten vor Protestanten«, gab ich kalt zurück. »Ihr habt Schwierigkeiten, wie?« »Es wächst uns über den Kopf. Ich schicke dir ein paar Zuverlässige, ja?« »Einverstanden!« schrie ich. Er galoppierte an und jagte rücksichtslos durch seine eigenen Leute, die schwer beladen das Haus am Ende des Platzes verließen. Ich waltete, preßte das rechte Knie auf den Boden und stellte den Projektor auf Streuwirkung. Vier lange Schüsse ließen eine Gruppe
Plünderer zusammenbrechen. Ich hob die Hände an den Mund und schrie: »Holt euer Zeug zurück, Frankfurter! Schnell, ehe andere Schweden kommen!« Es war, wie ich es ohne hellseherische Begabung mir hatte vorstellen müssen. So gründlich, wie dem König und seinen Offizieren die Kontrolle entglitt, so würde ihm auch sein Vorsatz zunichte gemacht werden. Der elende Krieg hatte eigene Gesetzmäßigkeiten, beschwor weitere Aktionen herauf, zwang Feldherren und Herrscher, weiterzukämpfen bis zum eigenen Ende oder bis zu einer Katastrophe, die weiteres Schlachten deshalb sinnlos machte, weil es kein Geld, keine Soldaten und keine Opfer mehr gab. Ich ging mit weiten Schritten in der Abenddämmerung zwischen dem Kirchenportal und dem letzten Haus hin und her, beruhigte die Frankfurter und wartete auf die versprochenen Wachen. Die Nonnen waren mutiger als die Bürger, und selbst die Pfarrer aus der Kirche überwanden sich und steckten brennende Fackeln in Mauerringe. Zwei Stunden später saß ich auf der viertuntersten Stufe vor der Kirche. Aus dem Innern kam das inbrünstige Murmeln der Gebete. Die Oberin hatte mir einen Becher Wein bringen lassen. Hier oben hatten wir offensichtlich Ruhe geschaffen. Bewußtlose lehnten an den Mauern und kippten mit den Schultern gegeneinander. Endlich kamen ein deutscher Leutnant, Heinrich Zerr, und zwölf Schweden. Ich ging auf ihn zu, grüßte ihn und fragte: »Wie viele Gefangene?« »Ich hörte von tausend Mann, de Sagittaire. War es schlimm?« Er deutete auf die Häuser rundum, tippte dann seinen Leuten auf die Brust und teilte ihnen die einzelnen Eingänge zu. Dann schnarrte er in klirrendem Schwedisch: »Hört gut zu!
Ihr habt unten gesehen, was passiert. Morgen früh sterben viele von euch unterm Henkersschwert. Hier wird nicht geplündert.« Er nahm einen Schluck aus dem Becher und gab ihn mir zurück. Wir blickten den Infanteristen nach. Aus der Stadt kam unverändert das tobende Lärmen. Vereinzelte Schüsse schienen zu beweisen, daß die Schweden auf ihresgleichen schossen. Heinrich Zerr sagte: »Der König greift selbst ein. Er schäumt vor Wut. Wir müssen ihm gegen die halb verhungerten Schweden helfen. Sie sind von Sinnen.« »Wenn es hell wird, zählen wir die Toten«, knurrte ich. »Der Ruf des Bewahrers protestantischer Religion wird in Deutschland wohl weniger löwenhaft sein.« »Ob er dieses Debakel aufwiegt? Ich meine, die Nachricht von den Kaiserlichen, die bis nach Schlesien rannten, wird Tilly erschrecken.« Ich nickte und deutete mit dem Pistolenlauf über die Schulter. »Ich denke, daß wir im Kloster etwas zu essen bekommen, wenn endlich Ruhe herrscht.« »Gut. Komm, Franzose! Ein Rundgang um den Platz.« Mit gezogenen Waffen umkreisten wir wie Hunde des Schäfers den Platz. Die Geflüchteten hielten sich bis zum Morgen in der Kirche auf. Nur langsam nahm der Lärm ab. Die Bewußtlosen kamen zu sich und wurden von uns darüber belehrt, daß wir ihnen unter den obwaltenden Umständen das Leben gerettet hatten. Sie schlichen wie geprügelte Hunde davon. Am Morgen kannte man die Zahl der Toten noch nicht. Gustav Adolf versuchte sein Äußerstes, die Bürger zu versöhnen. Er zahlte Ersatz für die Verwüstungen, verteilte gekauftes Essen, gab Bücher und Wertsachen zurück, und das Standrecht hielt grausame Ernte. Abends wußten wir es: Knapp zweitausend Tote wurden
innerhalb der Mauern, auf Vorstadt-Friedhöfen, in namenlosen Gräbern verscharrt. Viele kippte man von den Totenkarren einfach in die Oder. Weil sich dennoch in der schwedischen Führung starke Siegesgefühle auftaten, entschloß sich Gustav Adolf dazu, die Entfernung der schmerzenden Kugel zuzulassen. Es fällt wie ein plötzliches Fieber auf ihn. Krämpfe schütteln seinen Körper. Stöhnend, weinend und lallend wirft er sich auf den Fellen hin und her. Ein fremder Verstand scheint sich Uhlenhorsts zu bemächtigen. In seiner Höhle schreit er unter furchtbaren Qualen fremde Namen, Begriffe und wirres Wortwerk heraus: Magdeburg, Lützen, Rain am Lechfluß. Elend nennen sich die Tage, die Nächte sind Rausch, Vergewaltigung, Raub und spitze Messer. Die Irrsinnshirse blüht und wuchert, und Horrorroggen wird geerntet, wenn aus Wein Blut wird und mitten im GROSSEN VERRECKEN Branntwein in blauen Flammen lodert. Malte Uhlenhorst stöhnt und ächzt. Er merkt nicht, wie Schweiß in Bächen aus seinem Körper rinnt. Kerze und Feuer verwandeln sich in Kämpfende. Mitten in seinem Delirium zuckt der Mann mit dem Zweiten Gesicht zusammen; seine Zähne krachen. Als er aufwacht, als er wieder zu sich selbst kommt, erinnert er sich an jede Einzelheit. Das Grauen, das seine Gedanken an kommende Jahre erfüllt, ist nicht mehr zu steigern. Gustav Adolfs Arme waren mit breiten Bändern an die Bettpfosten gebunden. Das Schulterblatt, die Muskeln und einige Adern traten scharf hervor. Etwa zwei Dutzend Kerzen, zwischen ihnen eine kalkig strahlende Spezialleuchte aus meiner Ausrüstung, verwandelten seine helle Haut in eine weiße, schattenlose Fläche. Acker Gabbo und ich hatten unsere
Finger und Unterarme in eine keimtötende Lösung getaucht und die Haut des Patienten damit mehrmals gesäubert, ebenso die Instrumente. Gustav Adolfs Wunsch war es, daß nur wir beide von dem »kleinen Eingriff« etwas wissen durften; er wollte es als weiteres Siegeszeichen erklären. Vor dem Zimmer stand eine Doppelwache, im angrenzenden Raum wurde getafelt und der Sieg gefeiert. Auch der Barde sang wieder. Gustav schlief dank eines starken Medikaments. Ich hatte riskiert, den blitzenden Metallstift mit der haarfeinen Nadel anzusetzen. Das Gewebe rund um die ertastbare Verhärtung war absolut gefühllos. Gustav lag auf ausgekochten Laken, wir hatten genügend heißes Wasser, blutstillende Mittel und kleinere Tücher bereit. »Die Haut wächst zu«, erklärte ich leise. »Die Muskeln darunter brauchen länger dazu. Aber die feinen Nerven, die man fast nicht sieht, die darfst du nicht durchschneiden.« Mit dünnem Stift hatte ich Markierungen gemalt. Ich zeigte Acker das feinstgeschliffene Skalpell, setzte es an und zog einen fingerlangen Schnitt durch die Haut. Das Fleisch klaffte auseinander. Ich kniff den Muskel zusammen und versuchte, die Kugel um die Kante des großen Knochenblatts herumzuziehen. Als ich sie zwischen den Fingern spürte, mitsamt dem verhärteten Gewebe darum, schnitt ich noch einmal, nur einen Fingerbreit lang und ebenso tief. Die Schneide berührte Metall. Ich legte das Skalpell weg, ließ Gabbo die Wundränder abtupfen und mit dem blutstillenden Mittel bestreichen, dann spreizte ich die Wunde mit einer Zange und wartete, bis das Blut abgetupft war. »Sehr behutsam muß die Kugel gezogen werden«, murmelte ich. »Sie ist alles andere als rund und kann die Adern noch jetzt zerschneiden.« Ich packte sie mit einer Pinzette, preßte mit aller Kraft beide Metallschenkel zusammen und zog. Das Geschoß bewegte
sich, kippte langsam und folgte dem Zug des Instruments. Ich drehte und zog, gab nach und zog wieder, und schließlich rutschte das zerquetschte Stück Blei ans Licht. Ich ließ es in einen Teller fallen, entfernte die Zange und bedeutete Gabbo, die Wunde loszulassen. Dann nahm ich die gekrümmte Nadel und den dünnen, fadenartig verzwirbelten Katzendarm und schloß die Wunde mit sechs Stichen und einfachen Knoten. Als Gabbo heißes Wasser holte, sprühte ich Bioplast über die Fläche. »In spätestens zehn Tagen tust du dies…«, begann ich und löste den Knoten an Gustavs Armfesseln. Der Körper sank wieder in eine normale Lage zurück. Ich erklärte, daß er mit Eis, wenn er welches fand, die Wundränder unempfindlich machen und dann, nachdem er sie zerschnitten hatte, die Fäden der Naht ziehen mußte. »Und jetzt helfe ich dir beim Verbinden«, sagte ich, wischte mir den Schweiß von der Stirn und vergaß seine erstaunten, lobenden Bemerkungen. Guisbert sang im Vorraum: »Unter einem Mandelbaum traf ich eine, die sehr schön war, und wir träumten Liebestraum, als der Abschied schon zu sehn war.« Ich nahm einen langen Schluck Bier; das verstanden die Deutschen wahrlich wohl einzusieden. Ich meinte, während ich das Werkzeug sorgfältig wusch, trocknete und wegpackte: »Nun hast du’s gesehen. Vielleicht mußt du auch mir eines Tages helfen. Noch einmal: Wir haben zu schweigen, Gabbo.« »Bis zum Grab«, versicherte er. Ich zog die Brauen hoch und fragte: »Wessen?« Als das trunkene Gelächter der Männer um Johan Baner aufhörte, verstand ich den Sänger mit seinem olympischen Baß.
»Klatschmohn stand am Wegesrand. Wolken, die den Himmel fegten. Sie verlor ihr blaues Band, als wir uns in die Nesseln legten.« Als sei nichts geschehen, stellte ich im angrenzenden Zimmer meine Tasche ab, ließ mir frisches Bier reichen und sagte: »Der König schläft. Wer ihn weckt, spürt königlichen Zorn. Wißt ihr, daß in Deutschland Flugblätter gegen das überaus schädliche Tabakrauchen umhergehen?« Besonders die deutschen Söldnerführer rauchten wie Lagerfeuer aus feuchtem Holz. Ich vermochte an diesem und den folgenden Abenden nicht, jemandem die gute Laune zu verderben. Informationsüberspielung an Atlan, A. D. Mai 1631: »Magdeburg, wichtigster strategischer Punkt an der Elbe. Tilly glaubt: voller Vorräte. Folge ist: Versuch, sich zwischen Schwedenkönig und M. zu schieben. Neubrandenburg unter beträchtlichem Gemetzel genommen. Rückzug, folgend Anschluß an Pappenheims Heer. Ziel: Urbicid der Stadt. Bürger unwillig; helfen Dietrich von Falkenberg, der Verteidigung organisiert, auch dies unwillig. Störrische Protestanten, diese. Flugblätter gemeinsame Aussage: Gustav, hilf Magdeburg! Magdeburger, harret aus! G. A. in Wut über Uneinigkeit dt. Fürsten – dies zu Recht. Auch hier Chaos. Bauern flüchten. These Tillys und Pappenheims: G. A. rast förmlich heran, eigenes Heer desolat, Wallenstein schickt weder Proviant noch Geld. Größte Gefahr für Staat und Bewohner. Ende.« »Deine Informationen sind wertvoll«, sprach ich in das Mikrophon des Schuppenrings über dem linken Reiterhandschuh. »Aber der Versuch, literarische Dichte zu vermitteln, geht fehl, Ciron de Beauvallon et cetera. Die Höhle,
der Eremit, die Kuppel?« Aus dem winzigen Lautsprecher im Knochen hinter meinem linken Ohr flüsterte der Robot: »Dort herrscht kein Chaos.« Ich trennte vorläufig die Verbindung. Vor mir, im Weichbild der Stadt Magdeburg, übte eine starke Abteilung der Reiterei. Die Männer des Generals Gottfried Graf zu Pappenheim, wenigstens diese Kavalkade, schien über genügend Proviant und gut gefütterte Pferde zu verfügen. Auf die Reiter des Pappenheim, meist tollkühne Burschen, baute nicht nur der greise Tilly seine Angriffspläne. Sie waren verläßlich, gleichgültig, welche Schwierigkeiten es geben mochte. Im Heer hießen sie nur die »Pappenheimer«. Ihre Pferde drehten sich im Kreis, schlugen mit den Hinterläufen die Gegner aus Strohgeflecht aus den Sätteln, stiegen hoch, rammten oder bissen andere Tiere. Die Pappenheimer, zwei Gruppen der Kürassiere, trugen teilweise schwere Panzer mit Visierhelmen, Pistolen und kurze Säbel. Spieße und Arkebusen trugen die anderen; eine Schärpe und der Kriegsruf erlaubten den Männern, die eigenen Reiter vom Feind im Getümmel zu unterscheiden. Graf Pappenheim ließ, fast übermütig, seinen breit gebauten Schimmel vor mir hochsteigen und grüßte dann mit großer Zuvorkommenheit. »Magister? Ihr seht begeistert zu meinen Männern hinüber?« Er war etliche Monate älter als Gustav Adolf. Vor vier Jahren, noch unter dem Kommando Wallensteins, hatte er schon einmal die Stadt belagert. Ich hatte ihn damit beeindruckt, daß ich zwei Dutzend seiner Männer mit Kräutertränken, etlichen heißen Bädern und einem Topf köstlich duftender Salben gesund gepflegt hatte. »Ihr meint, dem Schweden ernsthaft Widerstand bieten zu können?« Ungeduld, Tatendrang und kühne Einfälle markierten seine kriegerische Laufbahn. Ein Ahne war Reichserbmarschall
gewesen. Der Mann mit dem Narbengesicht hatte die Universität besucht; wir sprachen Italienisch miteinander. »Wenn er nur kein formiertes Corps nach Magdeburg bringt«, antwortete er und tätschelte sein Pferd. »Wenn das passiert, ist Niedersachsen von Rebellion überschwemmt, und die Elbe ist verlustig.« »In der Tat«, mußte ich zugeben. »Was meint Wolf von Mansfeld, der andere Befehlshaber?« Seine Geste beantwortete alles. Sie sagte aus, daß er sich über alles hinwegsetzen würde, wie seine Reiter über Hindernisse. »Aber Falkenberg ist ein tüchtiger Mann«, sagte er daraufhin. »Was seht Ihr als Eure Aufgabe an?« »Nicht nur Eure Reiter zu heilen«, sagte ich. In einer Zeit, in der es jedem Söldner freistand, am nächsten Tag die Fahne zu wechseln und gegen seine bisherigen Kameraden zu kämpfen, schien es keine Angst vor Spionen zu geben. »Ich werde auch den Magdeburgern helfen, den Bürgern. Und Euch, wenn man Euch, was Gott verhüten möcht’, verwundet.« »Ein schreibender, zeichnender, schießender Feldscher also«, antwortete Pappenheim. »Ich muß zurück. Da der ›Schneekönig‹ gute Reiter hat, müssen meine besser sein.« Wir schwenkten unsere breitkrempigen Federhüte; er galoppierte davon. Das größte Rätsel war der grausame Krieg, der keinen und tausend verschiedene schlechte Gründe hatte: Während Falkenberg auf Kreuzhorst, einer südlichen Elbinsel, eine Verschanzung anlegen ließ, die er »Trutz Tilly« benannte, während andere Schanzen fertiggestellt wurden. »Trutz Kaiser«, »Trutz Pappenheim« oder »Magdeburger Succurs«, versuchte Gustav Adolf, freien Zug auf die Stadt zu haben, also die Elbe bei Dessau oder Wittenberg zu überqueren; dabei würde er sich durch sächsisches Gebiet bewegen müssen.
Aber die Kurfürsten erlaubten es ihm nicht. Zweiunddreißigtausend Kaiserliche lagen um Magdeburg, im Mai 1631. Und am siebzehnten Mai fing der Beschuß an. Diesmal wollte Pappenheim in die Stadt, zu den Siegern gehören, und zwar bevor der Schwede vor den Mauern stand. Noch zögerte Tilly. Zuerst war es heiß gewesen, zu heiß für diese Jahreszeit. Unaufhörlich schossen die schweren Stücke die Mauern morsch und verwandelten die Schanzen in eine Kraterwüste. Am neunundzwanzigsten April war bereits die Zollschanze gefallen. Am Tag der Heiligen Saturnina und des Bernhardin von Siena, am gleichen Tag, an dem Columbus oder Colon in Valladolid starb und Vasco da Gama in Kalikut landete, also am zwanzigsten Mai, um fünf Uhr und etwa fünf Minuten, hetzten Reiter, Infanteristen, Sappeure und alles Kriegsvolk mit einem Geschrei, das in weitem Umkreis den Boden zu erschüttern schien, auf Magdeburg zu. Ich wußte, daß Pappenheim ohne Tillys Befehl losgeschlagen hatte. Sein Mut war tollkühn, oder bedeutete seine respektlose Tollkühnheit schon den Sieg? Nachher würde niemand fragen. Die Kanonen wurden geladen und abgefeuert. Ein windiger Morgen; der Wind trieb graue Schleier vor sich her. Die Erde dröhnte tatsächlich unter den Abschüssen, den Einschlägen, den Pferdehufen und dem Tritt von Zehntausenden. Im Norden und im Süden drangen gleichzeitig die Kaiserlichen vor. Pappenheim schaffte es, im ersten Versuch bei der Hohen Pforte im Norden in die Stadt einzudringen. Unmittelbar danach warf sich ihm Falkenberg mit jedem Mann, den er hatte sammeln können, mit äußerstem Mut entgegen. Die Männer waren einander ebenbürtig. Pappenheim verlor beim Sturm ein halbes Dutzend seiner Männer, aber im folgenden Kampf Haus um Haus, Straße um Straße, starben rund tausend. Die Kaiserlichen ergossen sich in die Stadt wie
Wasser, das durch die aufgebrochenen Planken eines Schiffes strömt. Mir sagte Pappenheim später, Falkenberg, dem er Pardon angeboten hatte, habe den Tod gesucht – und rasch gefunden. Einen Soldatentod. Als auch noch der zweite Teil des Heeres die Wälle überwand, war die Stadt schon vernichtet, aber noch niemand wußte es. Die Kaiserlichen, Offiziere wie Soldaten, verfielen in den blutigen Rausch der Sieger. Es breitete sich ein verzweifeltes Sterben und Plündern aus, ein Hacken und Stechen, ein Peinigen und Prügeln. Ich suchte den Himmel ab. Wahrscheinlich richteten auch viele der dreißigtausend Magdeburger ihre Augen zum Himmel, um von ihrem Gott vergebens Hilfe zu erflehen. Unendlich langsam schien die Zeit zu vergehen. Die Geschütze schwiegen, aber hinter den Mauern entwickelte sich ein Orkan aus unzählbaren Schreien. Vor den feuchten Obstgärten brannten zwei Häuser an der Hohen Pforte. Eins sank in einem Ascheregen zusammen. Tilly und Pappenheim waren in der Stadt; auch sie würden versuchen, ihre Leute von den Grausamkeiten abzuhalten, und wieder würde es nicht gelingen. Am Rand eines Eingreiftrupps, vierundzwanzig Pappenheimer auf Pferden, hinter uns die leeren Zelte, die sich bald mit Verwundeten füllen würden, wartete ich und hatte meinen Arm über den Hals des Rapphengstes gelegt, der aus dem Hafersack fraß. Mit dem Fernrohr beobachtete ich die Stadt. Rund sechshundert Bürger flohen, von einem weißgewandeten Klosterprior zusammengeschrien, in den Dom. Wenn auf einen Bewohner mehr als ein Plünderer kam, würde Magdeburg nicht nur ausgeplündert und leer zurückgelassen, sondern auch ein gigantisches Heerlager sein. Als etwa zwei Stunden vergangen waren und etliche hundert
Soldaten wieder herauskamen, ihre Verwundeten mit sich führten und entweder die Kameraden oder die Beute fallen ließen und wieder aufhoben, schien ich in einen Traum hineinzugleiten: Das Bild sprang mich in der schärfsten Vergrößerung an. Natürlich konnte ich das Aussehen des Exoten nicht vergessen, aber trotz des Schocks faszinierte es mich wieder. Heute war es mir, als schimmre seine Flugechse metallisch dunkelblau, wie ausgeglühter Arkonstahl. Der Fremde war für mich sichtbar geworden; ich konnte nicht sagen, was Einbildung zwischen Wolken, Sonnenflächen und Rauch war und was Wirklichkeit. Etliche Minuten später flammten an mindestens fünfzig verschiedenen Stellen Feuer auf, verteilt über die gesamte Stadt. Als ich die Linsen wieder nach oben richtete, verschwand der Tagmahr und blieb unsichtbar. Neben mir rief ein Deutscher, der sich mehrmals bekreuzigte: »Gott sei uns allen gnädig!« Strohdächer und allerlei Plunder darunter, trockene Dachsparren, das Holz für die Herde, dürre Bretter; alles ging in Flammen auf. Der Wind schien zuzunehmen, und wenn Tilly und Pappenheim ihre betrunkenen Soldaten zusammentrieben, um löschen zu helfen, mußten sie viele aus den Weinkellern und von den Bierfässern in den Gewölben holen. Die Stadt verwandelte sich in einen Glutofen. Einzelne Brände, die zuerst ein Dach, das Haus, die beiden benachbarten Häuser und schließlich die Straße ergriffen, wanderten nach allen Seiten und aufeinander zu. Eine Massenflucht aller setzte ein. Trompeter bliesen zum Sammeln und Verlassen der Stadt. Aus den Stadttoren quollen Menschenmassen, Bürger, Kinder, Soldaten, Verteidiger, Angreifer, Reiter, Pferde mit leeren Sätteln, etliche Fuhrwerke, Reiter mit Mädchen vor sich. Hier und dort detonierten Pulverfässer und Sprengkugeln. Aus den Feuern wuchs eine
Pyramide, ein Spitzkegel, der Luft von allen Seiten ansog und senkrecht nach oben ausschleuderte, wo sich Flammen und Rauch zu drehen begannen wie in einem Wirbelsturm, immer wieder neu beschickt durch die Glutbälle der zusammenbrechenden Häuser. Ich war völlig erstarrt. Die Männer hinter mir nicht weniger. Sie stiegen aus den Sätteln und führten still ihre Pferde weg. Schreiende Menschen flüchteten aus dem Feuer der dahingemordeten Stadt. Bis tief in die Nacht sahen wir die Flammen. Drei Tage und Nächte lang schwelte jener gewaltige Haufen von verkohltem Holz, in dessen Mitte, nahezu unversehrt, der steinerne Dom mit den Spitzbogen aufragte. Als die Soldaten sich zurückwagten, um die Ruinen auszuplündern, fanden sie tatsächlich viele gefüllte Weinfässer. Sie fanden auch ihre Kameraden, die, betrunken, in den Kellern erstickt waren, neben sich viele der Bewohner. Leichen lagen unter den Trümmern, bis zur Unkenntlichkeit verschmort. Von achtzig Kindern, die man bei den Mönchen zusammentrug, überlebten nur fünfzehn. Nicht die Toten wurden gezählt, sondern die Überlebenden. Es galt als gewiß, daß insgesamt vierundzwanzigtausend Menschen getötet worden waren. Tilly ließ die Leichen, um den Ausbruch der Pest zu vermeiden, sofort in die Elbe werfen. Im Uferschilf versammelten sich Krähen und Raben; jeder andere Aasfresser beider Flußufer kam hinzu. Ständig gab es Bilder und Szenen von unüberbietbarer Bizarrheit: makabre Zeitzeichen, aus denen natürlich keiner dieser Barbaren lernen würde. Die Frauen waren aus der brennenden Stadt ins Lager geschleppt worden. Überlebenden Männern gestattete man, ihre Ehefrauen zurückzukaufen. Priester überredeten die Soldaten, ihre Opfer zu heiraten. Oder sie an die Magdeburger Männer zu verkaufen.
Die Armen mußten als Soldatendiener mit ihren »Gewinnern« mitgehen. Fünf Tage nach dem Untergang wurde der Dom feierlich wieder eingeweiht. Geschütze auf einem intakten Stück der Mauer schossen Salut. Das Heer trat mit flatternden Fahnen zu einem Tedeum an. Der Dom und die Überlebenden waren also wieder zum »wahren Glauben« zurückgekehrt. Die Nachricht verbreitete sich mit der üblichen Schnelligkeit. Der Fall Magdeburgs war für jeden Protestanten in allen vier Richtungen der Windrose ein Zeichen, sich gegen das katholische Kaiserhaus zusammenzuschließen. Ich kaufte drei Waisenjungen, zwei elfjährige Mädchen und zwei hübsche junge Frauen. Auf dem Weg – ich zog mich für einige Zeit in die Höhle zurück – ließ ich die Kinder, die zusammenbleiben wollten, in Klosterschulen zurück und setzte eine Stiftung für jeden ein. Almuth, deren dunkles Haar nach dem Brand gerade einen Fingerbreit kurz geblieben war, wollte unbedingt mit mir mitziehen, obwohl ich sie warnte. Das wenigste, was ich jetzt brauchen konnte, war eine neue Liebschaft oder auch nur Leidenschaft aus Langeweile oder Mitleid. Trotzdem: Es war angenehmer, in der Höhle ein lebendes Wesen an meiner Seite zu haben. Die Schrecken von Magdeburg saßen tief in der Psyche der jungen Frau. Sie war auch durch die Technik des Gleiters oder der Höhle nicht mehr zu verblüffen. Almuth schien jenseits des Schreckens. Anno Domini 1632: An diesem späten Februar-Nachmittag waren wir fast allein in der sauberen, kleinen Schenke. Der Kamin heizte, seine Züge waren in Ordnung, so daß der Rauch nicht die Augen tränen ließ. Der Wirt hatte uns untrüglichen Blickes eingeschätzt, also standen volle Weingläser vor uns.
»Eigentlich ist es einfach«, sagte ich und deutete auf die Kreise der Landkarte. »Gustav Adolf will und muß jede Stadt, jedes Land – natürlich die protestantischen! – besetzen. Wenn alle Kreise protestantisch sind, hat er gewonnen.« Die junge Frau war als Offizier verkleidet. Dank ihres kurzen Haares und ihrer dunklen Stimme wirkte sie glaubwürdig. Unsere saubere, teure Kleidung wies uns als zahlungskräftige und »ordentliche« Menschen aus. In diesen Jahren war dieser Trick eine Lebensversicherung. »Und die Katholiken, die Liga, nehmen ihm diese Punkte oder Flächen wieder weg.« »Richtig. Und umgekehrt. Und deshalb ziehen sie mit ihren Heeren kreuz und quer durch Deutschland. Gerade jetzt verlassen sie wieder die Winterlager.« Als gedankliches Modell war die Zeichnung durchaus brauchbar. Um zu verhindern, daß die entsprechende Besitzfläche von der Gegenpartei genommen wurde, griff jeweils der Gegner an oder drohte damit. Die Heere, waren sie einmal unterwegs, verwüsteten das Land und hinterließen breite Streifen aus Ruinen. Toten und Armut. Meist aber, und das würde diesem Land einmal das Überleben sichern, zogen die Heere den einfachsten Weg. nämlich entlang der Straßen. Die Wege, teilweise noch von den klugen römischen Baumeistern geplant, bildeten ein Netz. Der Raum zwischen den Knoten wurde oftmals gar nicht betreten: je schwieriger und wilder die Landschaft war, desto größere Chancen hatten die Bewohner, den Krieg zu überstehen. Es war wie im versteckten Tal von Beauvallon. »Herr Wirt?« Ein harscher Regenschauer schlug an die winzigen Glasscheiben. »Die Herren Obristen«, schmeichelte er. »Ihr habt hoffentlich Hunger?« »Hängt davon ab, was Ihr offeriert«, sagte ich. »Bringt noch
mehr von dem Wein.« Er bot uns Steynbradt mit vil guet gruibenschmaltz an, Hirschenschlegl darzu semla dorttem und blauer Krautzchol, danach Käs vom Allgey in Walschland truknet, als Nachspeiß: Met-Truck in kalflwrn serviret. Wir bestellten für eine spätere Stunde. Ich lehnte mich auf der gepolsterten Bank zurück, blickte in die dunkelbraunen Augen Almuths und dachte nach. Die Probleme, die mich beschäftigten, hatten sich nicht geändert. Hatte ich mich verändert? War aus dem Kosmokolonisations-Infrastrukturplaner, dem Admiral und Kosmostrategen, unter dem Einfluß der Larsaf-III-Barbaren ein intellektueller Schwächling geworden? Warum setzte ich mich nicht an die Spitze meines Heeres und fegte all diese Taktierer, Schwachköpfe, Zauderer und Machtgeilen hinweg? Amaine, so heißt das treffende Stichwort, Haßliebe zu den Barbaren, erklärte ungefragt der Logiksektor. Zu diesem Problem, alle wichtigen Entscheidungen mit der Arkonflotte zu lösen oder mit weltweitem Einsatz von Psychostrahlern, ist der Fremde hinzugekommen! Als ob ich das nicht selbst wüßte. Das Gestern war keineswegs von organischem Wachstum der Vernunft gekennzeichnet gewesen. Aber das Morgen versprach noch irrsinniger zu werden. Ich war darauf vorbereitet. »Du schläfst mit offenen Augen, Atlan«, sagte Almuth leise. »Woran denkst du?« »unter anderem daran, daß wohl Tilly und Gustav Adolf mit furchtbarem Zorn aufeinandertreffen werden. Bald, denke ich. Der Schwed’ hat schließlich bei Breitenfeld den alten Tilly besiegt.« »Und du wirst dabeisein?« »Ich denke, ich versuche, Gustav Adolf eines Besseren zu belehren.« »Es wird nichts nützen.«
Nach einem künstlich verlängerten Tiefschlaf, dem Einwirken der Regenerationsroboter, dem Check durch die Medostation und genau berechnetem Essen, verbunden mit ablenkenden Äußerlichkeiten wie Musik, Helligkeit, Körperpflege und neue Kleidung, die flimmernde Technik und Bilder, die wie Erscheinungen wirkten, hatten die Geräte im Überlebenszylinder die junge Frau hoffentlich von den Psychosen befreit und sie an ein anderes Leben gewöhnt. Eine rätselhafte Scheu hielt uns davon ab, es miteinander ernsthaft zu versuchen. »Ich sehe mich nicht als Mann, der allen anderen die eigenen Entscheidungen abnimmt«, brummte ich ärgerlich und schaute zum Fenster hinaus. Der Regen war von einem flammenden Sonnenuntergang abgelöst worden, der rasch in einen Hagelschauer überging. »Es wären auch zu viele einzelne Entscheidungen«, sagte Almuth. »Viel zu viele. Mehr, als irgendeine Macht treffen könnte.« Das Essen war liebevoll und von einem Könner zubereitet. Wein. Bier und Met schmeckten, als wäre tiefster Friede. Als wir fast fertig waren, kamen ein halbes Dutzend würdig und klug aussehender Männer in die Gaststube und wurden untertänigst begrüßt. Sie setzten sich um den größten Tisch und diskutierten, was Tilly, der Kaiser. Maximilian und der Schwede mit ihren Zügen und Schlachten, die kreuz und quer durch das Land führten, wohl vorhatten und wie man in Landsberg abschneiden würde, denn Augsburg lag nicht fern. Auch diese Innungsmeister. Ratsherren und Stadtschreiber waren sicher: Ein neuer, gewaltiger Zusammenstoß der Heere stand unmittelbar bevor. Die Zeit war überreif. Wenn Gustav Adolf starb, hatte er zumindest Deutschland gut kennenlernen können. Die Stationen, die er selbst, mit und ohne Heer, markierte, lasen sich wie ein Städteverzeichnis:
Berlin, Greifswald, Tangermünde, Brandenburg, Breitenfeld, Mainz, Würzburg, Ochsenfurt, Frankfurt, Hanau, Schweinfurt, Kitzingen, die Stadt saurer Weine, Nürnberg und Donauwörth. Auf ähnlich verschlungenen Wegen zog das Heer, das Tilly befehligte. Bei Rain am Lech, einem bedeutungslosen Dorf, trafen beide Heere aufeinander. Ich war dabei. Almuth hatte ich in Landsberg im Kloster zurückgelassen. Der zwölfte März sah mich im Lager der Schwedischen. Ich ritt durch die Lagergassen, begrüßte Ake Trott und Baner, Nils Brahe und Acker Gabbo, den Medicus. Man brachte mich zum Zelt des Königs. Ich konnte es nicht glauben, aber er freute sich, mich zu sehen – wie damals in den Stockholmer Schären und Wäldern, als er hinter den Mädchen und meinem Wein her war. »Nie kam ich dazu, Atlan, mich zu bedanken!« schrie er begeistert. Er war ein wenig angetrunken. »Die Finger sind steif geblieben, aber in der Schulter gibt’s keinen Schmerz mehr.« Wir umarmten uns. Ein Teil des Heeres, zumindest alle Offiziere, sah zu. Ich verschob die Erörterung wichtiger Dinge auf später; in dieser Stimmung war er vernünftigen Argumenten nicht zugänglich. »Du hast dich von deinen Ufern sehr weit entfernt«, wandte ich zögernd ein. »Ein weiter Weg zurück nach Schweden. Euer Liebden.« »Bekümmere dich nicht darum. Atlan. Bald werde ich siegreich in Stockholm einziehen.« »Was ist dein nächstes Ziel?« »Ich will mich der Donau bis gegen Ulm versichern. Nur noch über den Fluß, und wir sind gut auf dem Marsch.« »Aber drüben wartet Tilly darauf, den Einfall nach Baiern abzuwehren«, gab ich zu bedenken. Er, im Siegesrausch,
winkte ab und ließ Getränke bringen. »Ich habe knapp vierzigtausend Mann. Wer wollte mir widerstehen!« Ich hob den Pokal. »Nun, mein Platz wird wieder bei Acker Gabbo sein, und dessen Platz ist bei denen, die wieder zusammengeflickt werden müssen«, versicherte ich bitter und schloß mich Gustav Adolf an, der das zukünftige Schlachtfeld abritt und sich die Einzelheiten merkte. Mitte März war der Lech durch den schmelzenden Schnee im Gebirge angeschwollen. Bis hinauf nach Augsburg hatten Maximilians Truppen alle Brücken so weit zerstört, daß das reißende Wasser die Reste davongeschwemmt hatte. Schon jetzt zimmerten die wassergewohnten Schweden eine Brücke aus einzelnen Teilen, die man rasch zusammenfügen konnte. Boote waren ebensowenig zu sehen wie leichte Furten. Das gegenüberliegende Ufer lag beachtlich höher, und ein Angriff hügelan schien riskant. Ich enthielt mich der Meinung, aber Gustavs Generäle und Offiziere waren dagegen. »Ich weiß schon, was ich tun werde«, versicherte er listig und ließ Stroh herbeischaffen. Die schwedischen Geschütze wurden entlang des westlichen Ufers in einer weit auseinandergezogenen Reihe im guten Schutz der Fichten und Tannen aufgestellt. Das Wasser, grünlich-milchig, schoß dahin und wirbelte. An vielen Stellen war es schierer Selbstmord, hineinzureiten. Überdies war der Lech eisig kalt. Nicht einmal ich hätte den Angriff an dieser Stelle gewagt. Gustav Adolf glaubte, er sei unverwundbar und unsterblich. Am 13. Mai, spätabends, saß ich im Zelt des Königs, aß und trank mit ihm und hörte die Meldungen der Boten, die von umfangreichen und durchaus listigen Vorbereitungen berichteten. Dreihundert finnische Pioniere schliefen schon, bestens ausgerüstet und völlig nüchtern gehalten. An beiden
Ufern markierten kleine Feuer in dieser kalten, zugigen Nacht nicht so sehr die Positionen der Gegner, sondern sollten von der wahren Stärke und Ausdehnung der Lager ablenken. »Und der Wind, der Wolken jagt, trieb auch mich in ferne Lande. Doch ich ließ ihr unverzagt Mancherley zum Unterpfande.« So sang der unvermeidliche Troubadour gutgelaunt. Ich kam also doch noch in den Genuß aller Strophen, wenn ihn nicht morgen eine feindliche Kugel durchbohrte. Je mehr ich von Gustavs Strategie erfuhr, desto schlauer kam mir sein Plan vor. »Ein Paar Tauben gab ich ihr, einen Mandelzweig in Blüte: daß sie bis zur Rückkehr mir auch die Liebe gut behüte!« Von den Lagerfeuern und den Unterständen schrien die Soldaten: »Ruhe, du Krähe! Morgen müssen wir ausgeschlafen sein.« Beleidigt schwieg der Barde. Ich beschloß, ihn morgen um den restlichen Text zu bitten. Ich haßte unvollendete Lieder und halbleere Becher. Leise sprach Gustav von seinen Plänen, von seiner Gottgesandtheit, von Erfolg und Mißerfolg. Ihm war nicht nur die Kriegsführung entglitten; es war geschehen, was mir einst Oxenstierna vorausgesagt hatte – er war sich selbst entglitten. Ich hörte schweigend und aufmerksam zu; wieder bestätigten sich meine schlimmsten Befürchtungen. Jeder Herrscher, jeder Mächtige berief sich auf göttliche Weisung. Was er tat, war richtig und wurde zum Recht, er hielt sich für unantastbar und kaum verwundbar. Die Herren in diesem Kontinent des Krieges, ihnen ging es gut. Am anderen Ende standen Bauern und Handwerker. Armut bedeutete Rechtlosigkeit.
»Wir greifen noch vor dem Morgengrauen an!« entschied Gustav Adolf und gab zu verstehen, daß auch er schlafen wollte. Ich spannte die Hängematte zwischen baierische Tannen, wickelte mich in Mantel und Schlafsack und fand unter einem herrlichen Sternenhimmel ein paar Stunden Ruhe. Der erste Schuß aus dem schweren schwedischen Geschütz brachte mich auf die Beine. Die Generale und Christen des Königs gingen mit großer Kriegslist vor. Flußaufwärts war. offensichtlich von den Kaiserlichen unbemerkt, eine Schiffsbrücke gezimmert worden. Sie trieb mit der Strömung auf die vorgesehene Stelle zu. Gleichzeitig feuerten entlang des niedrigen Gleithangs sämtliche Geschütze ununterbrochen. Es war bekannt, daß die schwedischen Elitekanoniere dreimal so schnell luden und feuerten wie jedes andere Heer. Aus Baumstämmen wurden schenkeldicke Splitter gerissen, Schrapnellfetzen heulten durch die Luft, zerfetzten Äste und Büsche und ließen einen dauernden Regen aus Nadeln und Zapfen niedergehen. Jeder Fußbreit des gegenüberliegenden Geländes wurde aufgerissen und umgepflügt. Zwischen Baumstämmen heulten die Kugeln hindurch und suchten ihr Ziel in den Verschanzungen der maximilianischen Artillerie. An mindestens zehn Stellen – so viele zählte ich – wurde nasses Stroh angezündet. Zusammen mit ätzenden Pulvergasen entwickelte sich ein Vorhang aus Rauch und Qualm, den der erste zögerliche Morgenwind genau nach Ost trieb, über den dampfenden Fluß und den Steilhang hinauf. Lautlos, von langen Seilen gesichert, trieb die Brücke näher; ein mächtiges Gefüge aus ungeschälten Fichten- und Tannenstämmen, sauber verfugt und verzapft an den Enden und eines besseren Zweckes würdig. Die dreihundert Finnen, ein Trupp, der allein durch Aussehen und Benehmen kalte
Furcht verbreitete, standen bereit. Sie waren mit Musketen und reichem Schanzwerkzeug ausgerüstet. Die schwedische Reiterei machte sich bereit. Die Felle der Pferde dampften, aus den Nüstern schien Rauch hervorzuquellen, und auch aus den Mündern der Reiter wehten fahle Wolken. Mit den Bildern, die Cirons Spionsonden aufnahmen, würde die Apokalypse des Johannes einzigartig illustriert werden können. In der Deckung der vielen Bäume machten sich die Abteilungen der Infanterie bereit, und unablässig galoppierte der König zwischen seinen Leuten hin und her. Die Brücke, die auch für uns kaum zu sehen war, rammte fast gleichzeitig beide Ufer und wurde von den Finnen an den Bäumen befestigt, die man in Hüfthöhe abgesägt hatte. Die Finnen drangen über den Fluß. Lehm, Erde, Sägespäne und rauhe Bretter befanden sich als oberste Schicht auf den schwer eintauchenden Stämmen. Etwa drei Dutzend Kanonenschüsse hatten die Schweden an Vorsprung gehabt. Seit dem ersten Morgengrauen wurde zurückgeschossen. Maximilians und Tillys Batterien hatten sich in der hügeligen Landschaft gut verschanzt und feuerten aus allen Rohren; langsamer als die Schweden, aber nicht weniger gut gezielt. Nach den ersten Salven, die das Lechwasser in hohen Fontänen aufspritzen ließen oder hoch über unsere Köpfe und Zeltspitzen hinwegorgelten, trafen auch die Kaiserlichen in die Masse der schwedischen Krieger. Aber noch während der gegnerische Beschuß anfing, waren Gustavs Soldaten flußauf- und -abwärts ausgewichen, so weit es ging. Noch brannte das Stroh, aber der Wind hatte aufgefrischt, und so gab es große Lücken in der undurchdringlichen Wand. Tillys vorgeschobene Späher meldeten sichtlich erschrocken, daß die Brücke wie aus dem Nichts aufgetaucht war, daß die
Finnen in einem Pulk die Balkenkonstruktion überquert und am Ufer damit angefangen hatten, in rasender Eile Verschanzungen für die leichten Geschütze und eine Rampe aufzuwerfen, über die Reiterei und nach den Gespannen der Geschütze auch die Infanterie das gegnerische Ufer schnell erreichen konnten. Tillys und Maximilians Artillerie nahm den Brückenkopf unter gezieltes Feuer. Aber der zeitliche Vorsprung hatte zunächst genügt. Unter dem Hagel der Geschütze drangen die Truppen über den Fluß, die schwedischen Geschütze gingen in Stellung und schossen in rasenden Folgen. Ich sah verblüfft, daß der alte Feldmarschall Tilly selbst eingriff. Wahrscheinlich ärgerte es ihn bis aufs Blut, daß Gustav Adolf bei seinem Erkundungsritt mit kaiserlichen Wachposten rauhe Soldatenscherze ausgetauscht hatte. Die Reiterei und einige Gruppen Infanterie stürmten den Hügel hinunter und griffen die Finnen und die Geschützmannschaften an. Wütendes Feuer schlug Tillys Männern entgegen, als sie hinter der Fahne ritten und rannten. Die Schweden rückten unaufhaltsam nach; immer mehr Männer ergossen sich, wild feuernd, schreiend und johlend, vom Brückenende fächerförmig auf das zerwühlte und von zahllosen Kratern bedeckte gegnerische Ufer. Tilly ließ die Fahne los. Bevor sie in den Schlamm fiel, packte sie ein anderer Reiter. Der Greis faßte sich, aufschreiend, an den rechten Schenkel. Er war getroffen worden, offensichtlich von einem Geschoß, das ihm das Bein halb zerschmettert hatte. Sofort war er von einer Gruppe Reiter umringt, die ihn schnell und sicher davonbrachten. Hügelaufwärts zersplitterte der Kampf in einzelne kleine Gefechte. Reiter schlugen aufeinander ein, feuerten aufeinander, und die Fußkämpfer stachen und hieben auf diejenigen ein, die am Boden lagen. Die Gegner unterschieden
sich nur durch Schärpen, durch die Form und den Zierat auf Helmen und Harnischen, und es war durchaus möglich, daß sich Kaiserliche gegenseitig umbrachten. Auch Aldringer wurde getroffen. Unter seiner Eisenhaube, die weit aufgerissen wurde, strömte Blut hervor. Es waren nur wenige Minuten, so schätzte ich, seit dem schweren Treffer vergangen, den Tilly erhalten hatte. Maximilian ließ Zeichen geben. Während die Schweden ungestüm nachdrängten, zog sich das Heer der Kaiserlichen und der Baiern zurück. Zuerst erfolgte die Absetzbewegung unter den hellen Signalen der Trompeten noch Schritt um Schritt, und je mehr Zeit verging, desto hastiger rannten und flüchteten die Baiern. Das Geschützfeuer der Schweden, die einen Vorstoß der Reiter auf den bairischen Flügel unterstützten, war von kalter Unbarmherzigkeit. Es ging der Reiterei, die dem Kampf entgegengefiebert hatte, nicht schnell genug. An beiden Seiten der Brücke spornten und peitschten sie die Pferde durch das eisige Gletscherwasser des reißenden Gebirgsflusses. Die Massenflucht der Baiern riß alles mit sich fort, und erst Gustav Adolf, der mitten zwischen seinen Truppen ritt, konnte die nutzlose Verfolgung anhalten. Ich saß still da, hatte den Griff des schweren Strahlers in der Hand und wartete. Einige Stunden später befanden sich der größte Teil des Heeres und die Voraustruppe des Trosses auf dem gegenüberliegenden Ufer. Es dauerte einen ganzen Tag. bis die dreieinhalbtausend Toten zusammengetragen, die Geschütze in die Artillerie eingegliedert und der Troß der Baiern nach den makabren Regeln des Krieges aufgeteilt waren. Zunächst sammelten sich die Reiter und wollten die Baiern verfolgen. Tilly wurde in einer Sänfte mitgeschleppt, als sich Maximilian mit den demoralisierten Resten des Heeres auf
Ingolstadt zurückzog. Aber wieder war Gustav schlauer; diesmal glaubte er mir, als ich ihn warnte. Ich verwendete die Informationen einer Sonde, die einen nahenden Sturm festgestellt hatte. Die Schweden bewegten sich geradeaus und errichteten ein Lager, das ihnen Sicherheit geben konnte. Der König befahl; alle gehorchten. Man sah kaum Zelte in diesen Stunden: Unterstände wurden rund um die schweren Kanonen errichtet, weitere Bäume wurden gefällt, massive Dächer flocht man aus Zweigen. Und wenn man Zelte aufstellte, dann beschwerte man die Schnüre, verstärkte die Stangen und achtete darauf, die ledernen oder leinenen Unterstände im Windschatten zu errichten. In der folgenden Nacht, schon während der Abenddämmerung, kroch die Sturmwalze, vermischt mit warmer Luft, von den Alpen heran. In den Baumkronen erhob sich ein unheilvolles Rauschen. Aus den Feuern zogen lange Flammen und Funkenregen. Alle Pferde und die räudigen Hunde, von denen das Heer begleitet wurde, waren unruhig und verängstigt. Die Pferde band man an dicke Baumstämme, viele Feuer wurden gelöscht. Der Sturm war am Abend noch nicht schlimm, aber in der Nacht steigerte er sich zu einem Orkan. Zunächst war der Himmel völlig klar gewesen, dann aber wechselten Gewitter, Sturm und Regen in schnellem Wechsel miteinander ab. Am Morgen, an dem es von jedem Baum troff und tropfte, erkannten die Schweden, daß die Wege in alle Richtungen von entwurzelten Bäumen, heruntergerissenen Ästen und zerbrochenen Stämmen versperrt waren. Dennoch war der König zufrieden. »Ganz Baiern liegt offen vor mir. Die nächste Stadt, die fallen wird, ist Augsburg.« Ich konnte ihn nicht aufhalten. Er ließ sich nicht beeinflussen. Nicht mehr; es war zu spät. Ich beschloß, die
Gegenseite aufzusuchen, holte Informationen ein, ritt zurück zum Kloster und nahm die junge Frau in ihrer Verkleidung auf den langen Ritt abseits der großen Straßen mit. Ich wollte jenen Mann kennenlernen, der auf seine ganz einmalige Weise diesen Krieg förderte. Er selbst war durch den Krieg zum reichsten Mann in Europa geworden, hieß es: Wallenstein, der Friedländer, der Horoskopgläubige. Die vierzehn Jahre, während denen Maximilians Baiern von den Heeren verschont geblieben waren, gingen zu Ende, als Gustav Adolf den Lech überschritt. Er schien seit diesem Tag nicht mehr derjenige zu sein, als den ich ihn kannte: Er wies sein Heer an, Baiern zu verwüsten. Seine Generale schickte er in alle Gegenden, verschonte indessen das reiche München, zog aber selbst hin und her, als sei er ein blinder Käfer auf einer Landkarte. Sein vorläufig letztes Ziel war Nürnberg, wo sich seine Armee verschanzte. Wallenstein sollte sich an dieser Festung zu Tode kämpfen, wenigstens so lange, bis der Schwede so viele neue Soldaten gesammelt hatte, daß er den Kaiser, Wallenstein und Maximilian zusammen besiegen konnte. Ich hatte meinen Ritt die Rednitz entlang beendet und wartete darauf, von Wallenstein als Meister des Festungsbaus, Magister medicinae und, von einigen italienischen Principil recommandiret, als Fachmann für Brunnenbau eingestellt zu werden. Der gnädige Herr ließ sich reichlich Zeit. Das Lager erstreckte sich meilenweit im Westen Nürnbergs, im Osten von der Rednitz geschützt, in die aus Westen die Bibert einfloß, im Norden gab es, inmitten der Wälder, die jetzt schonungslos niedergelegt wurden, einen Hügelkamm, im Norden eine Burgruine auf einer baumbestandenen Höhe, die sich »Alte Veste« nannte. Mir hatte man mitgeteilt, daß etwas weniger als fünfundvierzigtausend Menschen hier versammelt
waren. Tausend Männer verwandelten die Ortschaften Zirndorf, Unter-Asbach, Kreutles und Altenberg in ein System von Schanzen, Palisadenwänden, Laufgräben und Unterständen für Mann und Tier. Nord und Ost waren am stärksten geschützt. Der Sommer schien sehr heiß werden zu wollen. Die Rohre der Kanonen verströmten schon jetzt unangenehme Wärme. Wallenstein wohnte in einer hölzernen Baracke, deren Inneres seinen Hang zu Luxus und Ruhe widerspiegelte. Ich wurde über dicke Teppiche zu seinem Schreibtisch geführt, einem mächtigen Möbel, das voller Papier und Schreibzeug war. Sein Bein streckte er gerade von sich; es steckte in dicken Binden und roch nicht gut. Mit dem Blick dessen, der sich ungern an langen Texten aufhielt, studierte er Siegel und Unterschriften, schien sich zu erinnern und gab mir die kostbaren Fälschungen zurück. »Es soll sein«, erklärte er. Ein Fingerschnippen rief den Schreiber herbei. »Er schreibe, fix, dem Cavaliere Atlan de Beauvallon eine Ausrichtung! Er wird den Herren Offizieren gründlich sagen, wie sie besser zu schanzen vermögen. Er hat ungehindert überall freien Zugang.« »Danke, Feldherr«, murmelte ich. Der Schreiber verbeugte sich wortlos und begann zu kritzeln. Im ständigen Kommen und Gehen von Boten, die Nachrichten ablieferten und Antworten zurückbrachten, war eine Pause entstanden. Ich stand ruhig da und machte mir Gedanken über den Herzog von Friedland. Es waren nicht die ersten und würden sicherlich nicht die letzten sein. Wallenstein war jetzt nicht mehr von statuarischer Wucht, sondern abgemagert und von ansteckender Griesgrämigkeit, die seine Unzufriedenheit mit dem Lauf der Welt ausdrückte. Sein dunkles Haar war dünner geworden und von grauen
Strähnen durchsetzt, ebenso sein Bart, den er ähnlich wie Gustav Adolf trug. Wallenstein war kein angenehmer Charakter, aber er schien auch nicht geistig krank zu sein. In einem Gesicht von ungesunder Farbe waren die Augen von Schlaflosigkeit gezeichnet. Ihm, der Lärm geradezu pathologisch haßte, mußte das geräuschvolle Treiben in den dichten Reihen der Zelte um sein Häuschen herum höllisch vorkommen. Wallenstein zeigte eine fast maskenhafte Beherrschung. Sein Atem roch nach übersäuertem Magen, seine Hände, von der Gicht geplagt, spielten mit Briefen und der Petschaft. Wandborde und Schränke waren übersät und angefüllt mit Beuteln, Flaschen. Döschen und Krügen mit schwungvoll beschrifteten Etiketten. In der stillen Behausung stank es wie in einer Apotheke. Der Schreiber faltete den Brief, legte ihn Wallenstein vor, und er setzte seine wild geschwungene Unterschrift darunter, siegelte und gab das Schreiben in meine Hand. »Der Schwede ist stark«, murmelte Wallenstein. »Und er darf sich dorten nicht halten dürfen. Hunger und Mangel anforagi werden ihn hinwegtreiben. Ihr sorgt dafür, Cavaliere?« »Ich tue, wie stets, mein Bestes«, versicherte ich, machte eine militärische Kehrtwende und sah zu, daß ich ins Freie kam. Die Kanzlei, die Stabsoffiziere, die Pferde des Wallenstein unter einem festen Dach: geräuschvolles Gewimmel herrschte zwischen zahllosen Zelten. Diener stritten sich an der nahen Quelle um Wasser, der Bach glitt trübe unter den Bäumen vorbei. In der Sommerhitze breitete sich Gestank aus: Ich hatte nichts anderes erwartet. An die fünfzigtausend Menschen, die vielen Pferde, der Rauch der unzähligen Feuerstellen, die offenen Latrinen… bei Windstille bildeten diese Gerüche einen Nebel, der zwischen den Stämmen hing und nichts Gutes verhieß. Meine Pferde, Beutetiere aus der Bataille bei Rain am
Lech, hatte ich so weit wie möglich entfernt bei einem Bauern gelassen und ihn gut für Pflege und Futter und das Aufpassen auf die Sättel bezahlt. Ich richtete meinen Blick nachdenklich auf die Galgen. Es gab von ihnen vier Stück, an denen reglos die Schlingen baumelten. Munitionsplätze, sorgfältig umzäunt, Kochstellen und die Marketenderinnen waren weitere Einzelheiten aus dem Gewimmel dieser langgestreckten Bastion. Ich ging, sämtliche Aktivitäten genau registrierend, entschlossen hinauf zur Alten Veste und sah recht bald, daß mit weniger zersägten Baumstämmen unterhalb der Ruine weitaus mehr an vernünftigen Schanzen und Schutzgängen hergestellt werden konnte, als die Offiziere ahnten. Bis zum Anfang des Monats August war diese Beratung meine Hauptaufgabe. Aber immer stärker kam ein anderes Problem auf uns alle zu. Es war zu erwarten gewesen, aber die schwüle Hitze im Juli und auch an diesen Tagen verschlimmerte die Zustände und machte die Lage unerträglicher von Tag zu Tag: Krankheiten brachen aus, die Anzahl der Befallenen nahm von Tag zu Tag zu. Ich blieb verschont, weil ich meist meine Konzentratnahrung aß und trotz des Zellaktivators selbst den kleinsten Schluck Wasser abkochte. Myriaden Fliegen, Würmer und Stechmücken übertrugen die Bakterien mit großem Erfolg. Jede Berührung mit feuchten Fingern, jeder Kuß der Soldatendirnen, die schlecht zubereiteten Nahrungsmittel und das verdorbene Wasser der Bäche verschlimmerten die Situation. Ich kannte diese Krankheit; sie schlug mit gnadenloser Gleichgültigkeit nach jedem. Ich wurde in den Karzer gerufen, weil sich herausgestellt hatte, daß ich Abhilfe schaffen konnte – in viel zu geringem Maß. Hinter den Gitterstäben aus Holz, meist an dünnen
Ketten, oft mit eisernen Schellen, die um beide Handgelenke festgeschlossen waren, lagen die stöhnenden Kranken auf verkotetem Stroh. Übelkeit und blutiger Durchfall ließen ihre Kräfte rapide verfallen. Bei jenen, die schon lange hier lagen, war die Bedrohung lebensgefährlich. »Bringt die Leute hinaus! Frische Luft, Schatten, Sauberkeit!« Ich packte ein paar der Handschellen. Sie waren breiter als meine Hand und hatten mit ihren schartigen Rändern tiefe, eiternde Wunden hinterlassen. »In drei Tagen lebt keiner von diesen Männern mehr«, wiederholte ich. Der Profos zuckte mit den Achseln. »Was soll ich tun?« »Die Leute brauchen Ruhe, dürfen nichts Fettes essen – aber sie sind jetzt auch nicht in der Lage, etwas zu kauen. Kocht Tee, gebt ihnen Schleimsuppen, später Mehl- oder Schrotbrei! Der Dreck, in dem die Leute leben müssen, wird euch alle umbringen.« Ketten, Handschellen, schmalere und breitere, Ruten und Stöcke hingen und lagen auf einem Gestell außerhalb des unerträglich stinkenden Gefängnisses. »Ich werde mit dem Obristen reden«, versicherte der Profos. »Ich kann nichts tun.« »Sage ihm«, versuchte ich zu erklären, »daß Wallenstein mit Kranken, Sterbenden und Toten nicht gegen Gustav Adolf kämpfen kann, und wenn sich zwei Leute um einen Sterbenden kümmern müssen, braucht der Schwede nicht einmal zu kämpfen.« »Wahrscheinlich hast du Jecht, Cavaliere«, brummte mein Gegenüber und ging davon. Ich fühlte mich durch den Zellschwingungsaktivator geschützt. War ein Mensch in Wallensteins Lager angesteckt, dann war er – wenn nichts zu seiner Hilfe getan wurde – in zwanzig Tagen tot. Daß Wallensteins Organisation, die sich
aus der Umgebung und über Essenstransporte von weit her ernährte, den Kranken fast nicht mehr helfen konnte, wußte selbst der Feldherr. Rührte es ihn nicht? Die Vision, daß vielleicht die Hälfte aller Kinder, Mädchen und Frauen, Soldaten und Einwohner der vier Dörfer ihr Leben mit Darmkrämpfen und in blutiger Entkräftung hier beenden würde, schien ihm fremd zu sein. Ich vermochte nicht, einige tausend Leute zu heilen. Die nächsten elf Tage verbrachte ich damit, Verschanzungen fertigzustellen, Ratschläge für einen bevorstehenden Angriff des schwedischen Königs zu geben und den Opfern der Bakterienkrankheit zu helfen. Aber selbst meine Anstrengungen reichten nicht aus. Einer nach dem anderen starb und wurde verscharrt. Viele Kranke brachte man mit denselben Wagen, die Nahrungsmittel aus der Umgebung herbeikarrten, bis nach Eichstätt oder gar nach Regensburg. Wallensteins Soldaten taten, was sie konnten, aber einer nach dem anderen starb im schwärenden Lager. Einer, dann vier, schließlich sechzehn und vierundsechzig. Es gab Beispiele für wunderbare Heilungen ebenso wie für qualvolles Massensterben. Ich versuchte, tiefe Brunnen bohren zu lassen – die Arbeiter waren zu kraftlos. Ich las die Kapitel aus dem Kräuterbuch des Heidelberger Arztes Jacobus Theodorus, Tabernaemontanus genannt, den einflußreichen Männern vor… das gesammelte Wissen von mehr als dreitausend pflanzlichen Heilkombinationen des »New und vollkommen Kräuterbuchs« beeindruckte niemanden. Roh, nichts begreifend, gleichermaßen gottsuchend und ahnungslos schauten die Obristen zu, wie ihre Krieger starben. Selbst ich erschrak, als ich die Zahl der qualvoll gestorbenen Lagerinsassen erfuhr: Es waren mehr als elftausend! Ich bewegte mich wie in Trance zwischen den Männern in Wallensteins Lager und wußte, daß das Heer des Schweden
ebenso unter Mangel und Krankheiten litt. Tilly war an seiner schweren Verletzung gestorben, die er in Rain erlitten hatte; Aldringen hatte sich erholt. Ich erfuhr, daß innerhalb von fünfzehn Tagen Gustav Adolf rund fünfzehntausend Männer durch Desertion und Krankheit verlor. Beide Feldherren warteten ab, belauerten einander, wagten einzelne Ausfälle, die jedesmal zurückgeschlagen wurden. Plötzliche Schußwechsel dienten mehr der Einrichtung und dem Zielen der eingegrabenen Geschütze. Sie riefen nur marginale Verluste hervor. Die schwerbeladenen Wagen, die in Kolonnen und wegen der Vorräte schwer bewacht waren, wurden jeweils vom Gegner angegriffen – einige verbrannten, andere kamen durch, wieder andere waren willkommene Beute. Die Schweden fraßen Nürnberg förmlich leer, und wieder waren es die Bürger, die erbärmliche Not litten. Aus unterschiedlichen Richtungen näherten sich die Teilheere Gustav Adolfs und vereinigten sich mit ihm. Ich sah ein, daß einerseits meine Dienste nicht mehr gebraucht wurden, andererseits die Zeit ablief und meine Vorräte an luftdicht versiegelten, teeartigen Getränken nur noch wenige Tage reichten. Wieder wurde ich von den Ereignissen gepackt, festgehalten und mitgerissen. Am letzten Tag des August postierte Gustav Adolf sein Heer rechts der Rednitz, gegenüber Wallensteins Lager. Ununterbrochen dröhnten die schweren Geschütze beider Seiten. Wallenstein, der im roten Mantel über der schwarzen Rüstung durch sein Lager ritt, wußte, daß der Fluß und der Sumpf ihn an dieser Stelle schützten. Ich inspizierte die Schanzen, die unter meiner Leitung verbessert worden waren, und konnte sehen, daß die Kanoniere hinter den Wällen, Palisaden und Abweisern unversehrt waren. Die entkräfteten Männer bedankten sich bei mir. Vom höchsten Punkt der Alten Veste betrachtete ich den riesenhaften Aufmarsch der
Schweden; wahrscheinlich würde Gustav das stinkende, ausgetrocknete Flüßchen überschreiten und im Norden angreifen. Unter dem ständigen Dröhnen der Artillerie und den vernichtenden Einschlägen kletterte ich aus den Laufgräben. Plötzlich zügelte der Feldherr sein Pferd neben mir. Er nahm den prunkvollen Federhut ab, schwenkte ihn mit anerkennendem Gruß und nickte mir zu. »Wohl geschafft, Cavaliere!« rief er. »Alle Kanoniere werden es Euch danken. Ich nit minder!« Ein Schrapnell schlug in der Nähe ein und detonierte. Der Explosionsdruck wirbelte Holzsplitter und Staub durch die Luft, riß Wallenstein den Hut aus der Hand und ließ ihn zwischen die zersplitterten Stämme segeln. Das Pferd scheute und zwang den Reiter in einem bockigen Galopp den Ziehweg abwärts. In den Staubwirbeln lief ich zu den Kiefernwurzeln und hob den verstaubten schwarzen Hut auf. Wallenstein war vorläufig verschwunden. Ich staubte den Hut ab, schüttelte Kiefernnadeln heraus und bemerkte am Etikett eines Breslauer Hutmachers, daß die Kopfzier samt auffallender Feder und Silberschnalle am Band so gut wie neu war. Im Kopfteil war ein dünner Schutz aus Eisenblech eingearbeitet. Als ich eine halbe Stunde später den Feldherrn noch immer nicht gefunden hatte, setzte ich den Hut selbst auf und machte mich auf den Weg zu meinen Pferden. Verständlicherweise hatte ich nicht die Absicht, während der Kämpfe verwundet zu werden oder mich töten zu lassen. Auch meine Pferde sahen nicht mehr sonderlich gut aus; der Bauer war froh, denn Stroh, Grünfutter und Hafer gingen zur Neige. Bedächtig sattelte ich den Hengst und belud den Wallach mit den schweren Packtaschen. Binnen eines Tages konnte ich auf schmalen Pfaden in Sicherheit sein, aber ich mußte damit rechnen, daß mich sowohl Plünderer als auch
hungernde Bürger überfielen. »Ich wünsche Euch, Herr, eine gute Zeit«, sagte der hohlwangige Bauer. »Bessere, als wir haben.« Ich gab ihm fünf kleine Silbermünzen. Sonst konnte ich nichts mehr für ihn und seinesgleichen tun. Ich stieg, den schönen neuen Hut auf dem Kopf, in die Steigbügel. »Lebt wohl«, sagte ich. »In ein paar Tagen bekommt ihr viel Arbeit. Es wird ein großes Begraben geben.« Bauer Franz brachte mich bis zum Zaun. Dahinter lagen verwüstete Äcker, Wiesen und Felder. Hinter mir wurde der Lärm der schweren Stücke leiser, aber der Wind trieb den Geruch nach Pulverrauch und Brand nach Osten. In der folgenden Nacht wagte auch keiner der Gegner, den anderen massiert anzugreifen. Zwischen dem ersten und zweiten September bewegte sich Gustav Adolf nach Fürth, und Wallenstein willigte am dritten in den Kampf ein. Ich beobachtete die Kämpfe mit Spionsonden aus ungefährlicher Entfernung. Im Westen baute sich ein herrlicher Gewittersturm auf. Das Ziel der vereinigten schwedischen Angreifer war der Hügel der Veste. Die schwedischen Reiter ließen sich von einem Manöver des Friedländers ablenken und suchten ihn vergeblich im Südwesten des Festungslagers. Das Angriffsziel Gustav Adolfs am dritten September war die Alte Veste. Ein zweiter Hügel, den Wallensteinschen Batterien gegenüber, bot sich als neue Stellung der schwedischen Artillerie an. Die leichten schwedischen Geschütze, Pulver und Munition, die Kanoniere, das alles rasselte und rannte zwischen den Reitern und Infanteristen in die Richtung der Hügel. Ich hätte nicht gedacht, daß sich Gustav Adolf in diese Falle locken lassen würde. Beide Hügel, besonders der, den ich zu befestigen geholfen hatte, offenbarten schnell ihren wahren
Charakter. Sie schienen sich in tödliche Vulkane zu verwandeln. Die kaiserliche und baierische Armee, die aus dem Westen in das eigene Lager zurückmarschiert war, warf sich den Angreifern entgegen. Unzählige Geschütze feuerten ununterbrochen. Nach zwei Stunden wurden erschöpfte Mannschaften durch frische Kräfte ersetzt. Aus den Verstecken in den Wäldern galoppierten die Musketiere des Friedländers auf die überraschten Schweden los. Die Erde bebte, der Schall war etliche Dörfer weit entfernt noch zu laut für die Ohren. Die Gegenwehr der Schweden konnte die Kanoniere nicht erschüttern. Sie waren hinter den Verkleidungen in Sicherheit. Meist ragten nur die Rohre der Geschütze aus den Erdwällen hervor. Aus den Mündungen fuhren lange Feuerstrahlen, der Rauch blieb zwischen den Stämmen und verdunkelte den Tag. Wallenstein war außer sich; er schien um fünfzehn Jahre jünger geworden zu sein in diesen langen Stunden des Todes. Er galoppierte umher, schien an jeder Stelle gleichzeitig zu sein, lobte und lachte und streute goldene Dukaten unter sein Kriegsvolk. Der Kampf fand kein Ende, Angriffe und Verteidigung lösten an unzähligen Stellen einander ab. Die Generäle Fugger, Carraffa und Chiesa waren auf Wallensteins Seite gefallen. An Munition und Todesmut fehlte es nicht. Die Schweden wurden vom gegnerischen Feuer vertrieben. Die Feldgeschütze dröhnten und krachten Stunde um Stunde. Die Hänge wimmelten von Leuten, die Geschosse und Pulver schleppten. Herrenlose Pferde irrten durch das Lager des Friedländers. Verwundete, Sterbende und Tote bildeten am Abend, als das Gewitter herangekommen war und seinen Regen über die rauchende, brennende und staubende Landschaft ausschüttete, eine schlimme Bevölkerung des Waldes. Die Bäche stauten sich an den
Wällen aus Pferdekadavern, Leichen und Ausrüstung. Gefangene wurden auf beiden Seiten dazu gezwungen, die Verwundeten aus dem Feuer zu schleppen. Im strömenden Regen, im ruhiger werdenden Geschützfeuer zogen sich die Schweden zurück. Bis zum Achtzehnten dieses Monats hielt es Gustav Adolf noch aus. Sein Kriegsrat unterbreitete Wallenstein ein Angebot, dessen Bedeutung ich nicht kannte, aber in jedem Fall lehnte der Friedländer ab. Das schwedische Heer aus siebenundzwanzig Tausendschaften – also hatte Gustav achtzehntausend Soldaten eingebüßt, dazu kamen etwa dreißigtausend Opfer unter Nürnbergs Bevölkerung – zog in vorbildlicher Ordnung ab. Auch in den folgenden sechs Wochen verfolgte ich in der ruhigen Abgeschiedenheit meiner Höhle das weitere Marschieren der Heere und die Verelendung des Landes. Recht beziehungslos hing neben einem Teil meiner Ausrüstung Wallensteins schwarzer Hut auf dem Ständer. An einem teuer erworbenen Gemälde würde ich in ferner Zukunft mehr Freude haben. Es zeigte Johan Amos Komensky, gemalt von Anthonis van Dyck; ein geistiger Würdenträger und Pädagoge, der »eynen Sokken strikkent« in einer Kutsche an einer geplünderten Stadt vorbeifuhr. Hier, in gedämpftem Pathos und satten Farben, bis ins winzigste Detail hervorragend beobachtet, sah ich eine Chronik aller Verwüstungen dieses langen Krieges. Ich blieb allein. Almuth war aus dem Kloster verschwunden und hatte sich in den Wirren des langen Krieges verloren. Ich besuchte Malte Uhlenhorst und schleppte zwei Säcke voller nützlicher Ausrüstung mit. Mittlerweile machte ich mir Sorgen um meine kleine Pferdeherde. Immer wieder kaufte oder erbeutete ich Pferde und brachte sie schließlich in die Nähe meines Verstecks. Sie weideten im Freien und waren
zwar entdeckt, aber nicht gefangen worden. Ausgeschlafen, in frischer Kleidung und satt, die Säcke über den Schultern, näherte ich mich der Höhle des Alten. Das Deflektorfeld machte den Gleiter unsichtbar. »Malte!« rief ich. »Komm heraus! Hilf mir tragen!« Es roch nach kaltem Rauch, nach Schweiß und feuchtem Abfall. Das einigermaßen melodische Pfeifen der Hirtenflöte riß ab. Ich rief noch einmal, und Malte stolperte aus dem verwahrlosten Eingang. Er sprang wie ein junger Mann den Pfad herunter und packte einen Sack. »Atlan! Ich war sicher, ich sehe dich niemals wieder.« Ich stellte das Gepäck neben dem Eingang ab und antwortete: »Ich kam, weil du mit der Körperpflege um drei Jahre im Rückstand bist.« Malte machte ein bedenkliches Gesicht. In seiner Höhle sah es unbeschreiblich aus. Er riß die Säcke auf und sortierte den Inhalt. Er freute sich mehr als ein Kind über das Essen, Wein und Bier, ein paar Bücher, etliches Schreibzeug, vielerlei Kleidung und Tücher samt Seife, Messern und vielen Kerzen und Lampenöl. Ich packte meinen Becher aus, goß aus meinem Vorratsbehälter frisches Bier hinein und setzte mich auf die gemauerte Bank neben der Feuerstelle. »Ich habe den Krieg und das Elend selbst gesehen, mit eigenen Augen. Was sah dein Zweites Gesicht. Spökenkieker?« »Ich sah viel. Ich sah wahrscheinlich alles, Atlan. Noch zweimal zehn Jahre. Wir werden das Ende nicht mehr erleben«, brummte er und hielt mir in deutlicher Aufforderung einen zerbeulten Zinnbecher entgegen. »Der weißhaarige Tilly – tot, nicht wahr?« »Du weißt es?« Bier gluckerte schäumend in den Becher, der Schaum fiel jäh zusammen. Malte nickte.
»Bald werden sie alle gestorben sein. Der Schwed’, Wallenstein… ein übles Ende wird man ihm schaffen, sage ich. Alle. Vielleicht auch du.« Jetzt war ich beunruhigt. »Hast du etwas gesehen?« »Nicht deinen Tod, Atlan, nicht draußen im Krieg. Aber ich habe große Gefahren für dich gesehen, mein weißhaariger Freund.« Ich leerte bedachtsam nicht nur einen Becher. Dann zwang ich den Eremiten, seine Höhle auszumisten und die Hälfte seiner kuriosen Sammlung zu verbrennen. Wir mauerten den Rauchabzug neu, säuberten den Boden, und als es mitten in der Nacht wieder gewitterte, wuschen wir uns gründlich, trockneten uns gegenseitig, und ich brachte sein Haar und seinen Bart in Ordnung. In den frischen Kleidungsstücken wirkte Malte gut genug für weitere zwanzig Jahre Prophezeiungen. Im Kerzenlicht sprachen wir bis zum Morgengrauen über die Zukunft, und das wenige, das er mir über mein angebliches Schicksal sagen konnte, klang nicht gut. Nicht für mich. Als ich im hellen Sonnenschein den Gleiter in die Höhle zurücksteuerte, hatte ich meine Schwierigkeiten und rammte drei massive Buchenstämme.
8. Von Nürnberg nach Donauwörth, über Windsheim, dann über Schweinfurt nach Erfurt – so zog das schwedische Heer Anno Domini 1632 weiter. Dann ging es auf Leipzig zu. Gustav Adolf schien alles auf die Karte des letzten Gefechts zu setzen. In Breitenfeld hatte er vor einem Jahr gesiegt, dort kannte er das Land. Wallenstein, der seine Truppen ins Winterlager führte, schien sie um sein Schloß zu Lützen sammeln zu wollen. Ich ließ noch einmal die Aufzeichnungen ablaufen, erkannte den Barden wieder, den Medicus, den Kameraden einiger wilder Ritte und Jagden. Ich entschloß mich nach langer Selbstprüfung, Gustav Adolf aufzusuchen und ihm diesen Krieg auszureden. Nach meinen Berechnungen war er noch nie in solch großer Ohnmacht gewesen. Die Wahrscheinlichkeit des eigenen Scheiterns hatte ich in meine Überlegungen einbezogen. Zuerst suchte ich die drei besten und kräftigsten Pferde aus meiner Herde heraus, trieb den Rest über Land und verschenkte die Tiere an die Bauern des nächsten Weilers. Dieses Mal überprüfte ich die gesamte Ausrüstung mehrmals, überlegte lange, belud den Gleiter mit allergrößter Sorgfalt. Mit Ciron sprach ich die Stationen eines langen Rittes bis in alle Einzelheiten ab. Hinter mir blieb die Höhle zurück, dreifach gesichert und voll aktivierter Kampfmaschinen. Ich brach noch vor Tag auf und wechselte jede Stunde die Pferde. Hoch über mir schwebte der Gleiter. Ab und zu sah ich das verstohlene Aufblitzen der Sonden, die Ciron steuerte. Auf den Straßen, die ich lange beobachtet hatte, begegneten mir an diesem Herbsttag nur wenige Gespanne, hingegen viele Menschen, die so aussahen, als habe sie der Krieg hierher verschlagen und sie hätten kein festes Ziel auf ihrer armseligen
Wanderung. Ich galoppierte vorbei. Gustav Adolf wollte nach Leipzig, das wußte ich. Ich schlief in verlassenen Häusern, mied jedes Lagerfeuer und hielt alle Abwehreinrichtungen aktiviert. Vier, fünf Stunden unruhiger Schlaf mit schmerzenden Muskeln, ein hastiges Essen, etwas Milch oder gemischter Wein, dann zurrte ich den Sattelgurt fest und jagte weiter. Ich erreichte Außer Schweßwitz, einen Weiler zwischen Halle und Lützen, an einem frühen Abend. Die Spuren der Schweden und Wallensteins waren nicht zu übersehen. Ich sprang aus dem Sattel, kontrollierte mein Körperschutzfeld und klopfte an die Tür des am besten erhaltenen Hauses. Ein bärtiger Mann mit sorgenvollem Gesicht öffnete einen Spaltbreit. Ich versuchte, beruhigend zu lächeln, und sagte: »Ich bin reisender Medicus und Gelehrter. Ich brauche Unterstand für drei Pferde; für mich einen ruhigen Winkel. Vielleicht etwas warmes Essen. Ich zahle gut, und ich werde auch nicht von Soldaten verfolgt. Kann ich mit Eurer Hilfe rechnen?« Er zögerte und schwieg. Mißtrauisch starrte er mich an. Kalter Wind wirbelte Nebel vom Osten heran. Eine ältere Frau kam an die Tür und musterte mich. Ich nahm höflich meinen warmen Hut ab. »Willst du ihn erfrieren lassen?« fragte sie den Mann. »Ihr müßt verstehen, daß unsere Tür nicht mehr offen ist. Zuviel haben wir erlebt. Es ist der Krieg, wißt Ihr?« »Ich reite auf seinen Spuren«, antwortete ich in ebenso bitterem Ton wie die Frau. »Aber die Schweden sind schon vorbei. Habt Ihr einen Platz für meine Tiere und mich?« »Ja. Selbst ein warmes Bad«, entgegnete die Grauhaarige und raffte den Umhang zusammen. »Dort ist die Scheune, Herr…« »Atlan von Arkonstein«, sagte ich spontan. »Ich danke Euch. Befürchtet man Übergriffe von Söldnern?«
»Wir befürchten an jedem Tag immer das Schlimmste.« »Falls man angreift«, sagte ich und lud mir den Sattel mit den Pistolentaschen auf die Schulter, nachdem die Tiere im dunklen Winkel des Stalles angebunden und trockengerieben waren. »Ich habe Waffen. Ein Bad, das höre ich gern, würde mir guttun. Ich habe Würste, Schinken und gesalzene Butter in diesen Taschen.« »Von solchem Essen haben wir einst gehört«, klärte mich die Bäuerin auf. Wir versammelten uns in einem großen Raum, der durch einen Gitterverschlag abgeteilt war. Im kleineren Teil hausten Hühner, Gänse, zwei Ziegen, Schafe und eine magere Kuh. Mit einem Krug Lampenöl und einem halben Dutzend langer Kerzen belohnte ich dieses Wunder der Gastfreundschaft. Neunzehn Bewohner hatte dieser Weiler. Der große Tisch wurde rasch geputzt, das wenige vorhandene Essen und meine Mitbringsel würden uns alle mehr als satt machen. Im Lauf der Stunden kam eine Spur zaghafte Fröhlichkeit auf. Gegen Mitternacht gab ich Schulze Ockerdey eine kleine Pistolennachahmung, die drei Dutzend tödliche Explosivgeschosse verfeuerte und dann unbrauchbar sein würde. »Du kannst schießen?« Er nickte. Ich zeigte ihm, wie die Laterne zu handhaben war. Angeblich eine italienische Invenzione. »Wir gehen ein paarmal um die Häuser und sehen nach.« »Einverstanden.« Vor einem Jahrzehnt war die Ortschaft gesund und voller Menschen gewesen. Steuern und Ablieferungen, Brandschatzung und Plünderei, Totschlag und Vergewaltigung hatten die Anzahl der Leibeigenen und der wenigen freien Bauern dezimiert. Während wir in völliger Finsternis auf die Straße zugingen, sich unsere Augen nur zögernd an die Dunkelheit gewöhnten, berichtete mir
Ockerdey mit tonloser Stimme von den Greueln, die dieser kleine Ausschnitt beispielhaft für einen um so viel größeren Kosmos erlebt hatte. Hin und wieder blitzten die kalkweißen Lichtstrahlen auf, wischten durch die Schwärze und zeigten uns auch beim dritten Rundgang, daß niemand in der Nähe lauerte. In einen großen Zuber hatten die Frauen viel heißes Wasser geschüttet. Sie mischten es mit Wasser aus der eigenen Brunnenanlage. Ich stellte zwei Kerzen auf, legte Dolch, Pistole und Säbel auf einen Schemel und schob eine Bank vor die Scheunentür. Die Pferde wandten die Köpfe und sahen nur zu. Ich wusch mich gründlich und streckte meine Beine aus, versuchte mich zu entspannen. Die Kerzenflammen blieben ruhig. Wind pfiff leise durch die Ritzen, das wenige Heu roch, und nur die gewohnten Geräusche der Nacht des vierzehnten November drangen an meine Ohren. Es hatte zu schneien angefangen, aber der Schulze glaubte nicht, daß der Schnee schon liegenblieb. Ich trocknete mich ab, stieg in Hose und Hemd, breitete zwei Decken auf das Stroh, entfaltete ein Tuch darüber und bereitete Decken, Mantel und Schlafsack vor. Meine Ausrüstung schleppte ich zum Heuhaufen, vergewisserte mich der Stellen, an denen ich mitsamt den Pferden flüchten konnte, und versteckte schließlich Sattel und die kostbaren Taschen. Nachdem ich eine Kerze ausgeblasen und weggepackt hatte, wickelte ich mich in die Decken und klebte die fingerlang heruntergebrannte Kerze mit Wachs an den Schemelrand. Es war warm und sauber unter den Decken; ich verschränkte die Arme im Nacken und schloß die Augen. Der Zellaktivator drückte. Ich legte ihn an die richtige Stelle zurück und hoffte mit einem langen Gedanken, daß die selbstauflösende Folie, die das unersetzliche Gerät als wertlosen Stein tarnte, weiterhin ein Teil der sicheren Maske
bleiben würde. Ich war wohl für einige Minuten eingeschlafen, denn ein Rascheln weckte mich. Ich schreckte in die Höhe und richtete die Waffe auf eine dunkle Gestalt. »Ich bin’s. Ullana.« Das Flüstern einer Frauenstimme verriet, wer sich in die Scheune geschlichen hatte. Die junge Witwe aus dem Nachbarhaus. »Jetzt schlafen alle. Du hast noch Platz unter deinem Mantel.« Ullana kniete zwischen der Kerzenflamme und mir und ließ ihren Umhang fallen. Ihre blauen Augen bohrten sich geradezu in mein Gesicht. Mühsam unterdrückte Leidenschaft und Entschlossenheit vermochte ich in der Dunkelheit gerade noch zu erkennen. »Dein Ansinnen ehrt mich«, murmelte ich schließlich und machte Platz. Die Frau war in wenigen Augenblicken völlig ohne Kleidung und drängte sich an mich. Ihre Haut war kühl und glatt wie Seide. »Ich habe deine Blicke am Tisch falsch gedeutet.« »Vor zwei Jahren haben sie Willem erschlagen. Wenn ich Soldaten sehe, verstecke ich mich.« Mit einer entschiedenen Bewegung schob sie die Kerze hinter einen massigen Stützbalken. Ihre Finger tasteten über meinen Körper. Ich kam nicht dazu, eine Antwort zu geben. Wir genossen unsere Leidenschaft, und als wir einschliefen, herrschte nächtliches Dunkel. Als die Pferde grell wieherten, ein Schuß durch die Dunkelheit donnerte und dünne Bretter unter Stiefeltritten zersplitterten, war es immer nur noch der brennende Kerzenstumpf, der mir die Eindringlinge zeigte – die winzige Flamme hatte uns verraten. Trotz des warmen Körpers, der halb auf mir lag, war ich nicht unvorbereitet. Ich griff nach hinten, riß den Dolch aus dem Holz und schleuderte die Klinge. Sie traf einen stämmigen, blonden Mann, der auf mich zurannte. Einen
Moment später war ich auf den Knien, hatte beide Pistolen in den Händen und feuerte. Der erste Schuß fuhr in die Stirn eines Schweden. Den zweiten traf ich in die Schulter, dicht über dem Herzen. Ullana wachte auf, packte die Muskete und feuerte sie ab. Ein vernichtender Hagel Arkonstahlschrot erfaßte zwei Männer, die über die Bank durch die weit offene Scheunentür sprangen. Ich feuerte auf einen Mann, der meine Satteltaschen in der Hand hielt. Ein Unsichtbarer schien mich von oben angesprungen zu haben, denn ich spürte nur einen krachenden Hieb und wurde bewußtlos. Als ich wieder zu mir kam, knieten zwei Männer auf mir, und einer hatte mir etwas in den Hals gerammt. Ich fühlte den Schmerz einer brennenden Wunde rund um den Hals und begriff… Der Zellaktivator! Du schluckst ihn! schrie der Logiksektor. Unwillkürlich rang ich nach Luft, keuchte, röchelte und schluckte. Ich würgte in schierer Todesnot den eigroßen Gegenstand hinunter und bekam wieder Luft. In meinen Fingern hielt ich noch immer die Waffen. Ich zwang mich dazu, klar zu denken, ignorierte das Schreien der Frau und die Flüche der Schweden. Durch das Stroh hindurch brachte ich die Läufe der Waffen in die Höhe, richtete sie halbwegs aus und rastete mit dem Daumen die Hochenergieprojektion ein. Die Strahlen töteten die Männer auf meiner Brust und den Knien. Sofort fing das Stroh Feuer. Ich stemmte mich in die Höhe und schwenkte die Waffe im Viertelkreis. Dann sprang ich aus dem Strohhaufen, packte Decken, Leinen und Mantel, gab dem Schemel einen Tritt und wirbelte herum. Zwei Fuß von meinem Ohr entfernt entlud sich der zweite Lauf der kurzen Muskete. Die Wucht des Einschlags ließ einen Mann neben dem Tor durch die Bretter nach draußen prallen. »Schnell hinaus!« schrie ich. »Nimm das Zeug!«
Sie belud sich mit Decken und den Packtaschen, die ich dem Toten entwand, und rannte zum Tor, ich hängte mich an die Halfter der Pferde und ließ mich halb von ihnen mitschleifen. Zwischen den Häusern tauchten wir wie Gespenster auf; ich im knielangen Hemd und einer Pistole zwischen den Zähnen. Die Pferde beruhigten sich schnell. Ich stürmte im Zickzack zwischen den Toten umher, holte den Sattel und mein übriges Gepäck. Ich sah, daß an zwei Stellen Stroh brannte; es gelang mir, mit einem Holzeimer und dem Badewasser die Brände zu löschen, ehe die Scheune loderte. Dann brachte mir Ullana die Hose und die Stiefel. Ich zog mich mit zitternden Fingern an, gab dem Schulzen meine Waffe und schaute mich um. An die zehn halbverhungerte Pferde ließen unter den Apfelbäumen am Wegrain die Köpfe hängen. Endlich war ich angezogen. Der Horizont zeigte erstes Grau. Der Schulze schaltete die Lampe aus und sagte mit rauher Stimme: »Sie kommen immer, wenn man sie nicht erwartet.« »Schweden«, stellte ich fest und tastete meinen Magen ab. »Bitte, ladet die Toten auf die Pferde und bindet sie fest.« »Aber…« »Ich bin auf dem Weg zu Gustav Adolf. Er läßt Plünderer henken. Diese Arbeit nahm ich ihm ab.« Ich klopfte Stroh von meiner Kleidung, hängte Gurte um und schloß Schnallen, sattelte den schwarzen Hengst mit der weißen Blesse und den weißen Stiefeln, befestigte die Taschen und lehnte mich über den Hals des Streitrosses. Ullana hielt die Packpferde und sah mich mit undeutbarem Gesichtsausdruck an. »Es war wunderschön mit dir, Fürstin der Nacht«, meinte ich leise. »Sie haben uns dankenswert erst gestört, als du schon eingeschlafen warst.« Das Sprechen machte auch mir Schwierigkeiten. Wie ein
eiskalter Steinbrocken lag der Zellaktivator in meinem Magen. Ullana gab mir das schwere Schießgerät zurück. Sie lächelte jetzt und bekannte: »Ich weiß, wie man schießt! Ich habe getroffen.« Schon herrschte Zwielicht. Noch während wir miteinander sprachen, kam die Magd aus dem Haus und brachte eine Kanne dampfenden Kräutersud. Sie war unendlich erleichtert und meinte: »Mit Eurem Honig gesüßt, Herr Medicus, und mit dem italienischen Saft. So guten Tee haben wir noch nie gehabt.« »Behaltet den Rest«, sagte ich leichthin. »Vielleicht komme ich zu euch zurück, wenn alles vorbei ist.« Und leiser: »In Wirklichkeit zu dir, Leidenschaftliche im Stroh.« »Soll ich darum beten?« »Es wäre«, gestand ich etwas verlegen, »ein nicht unsinniger Zeitvertreib.« Wir tranken den heißen Tee, der die Lebensgeister wieder weckte und den Druck im Magen minderte. Ich sah zu. wie die Pferde aneinandergebunden wurden, und verabschiedete mich von den Bewohnern dieser Oase. »Einen letzten Rat: Wischt das Blut weg, bessert die Schäden aus und tut so, als wäre nichts passiert. Vielleicht komme ich wieder. Lebt wohl.« Ich wäre gern noch ein paar Tage hiergeblieben, allein wegen der braunhaarigen Frau, deren Leidenschaftlichkeit man nicht alle Tage fand. Ohne meine Müdigkeit zu zeigen, schwang ich mich in den Sattel und trabte los. An den Sattel des zweiten Packpferds knotete ich den Zügel des ersten Beutepferds und ritt an diesem Tag so lange, bis ich auf die ersten Posten der Schweden stieß. Sie lagerten südlich von Lützen auf freiem Feld. Ich bat einen Boten, den König zu holen, nannte meinen Namen und berichtete, daß die Schweden geplündert hätten und daß sich die Kaiserlichen, auf die sie gestoßen waren,
nicht hatten berauben lassen wollen. Gustav Adolf veranlaßte, was zu tun sei, dann zog er mich in guter Laune zu seinem Zelt. »Eines sage ich dir, mein Freund«, murmelte ich an seinem Ohr. »Ich bin hergekommen, um dir alle dummen, gefährlichen, tödlichen und verrückten Gedanken auszureden.« Kurzsichtig musterte er jede Falte in meinem Gesicht und das schulterlange Haar, das ich heute nicht zum Nackenzopf geflochten hatte. »Nach der Vernichtung des Generalissimus Wallenstein, die morgen stattfinden wird. Dann reiten wir zurück nach Schweden, und Axel mag hier die Verhandlungen führen. Kein dritter Winter in Deutschland, Freund Weißhaar.« »Im Alter wird selbst Gosta Hakennase klug«, flüsterte ich. Er schlug mir auf die Schulter und befahl im Vorbeigehen jemandem, meine Pferde und mein Gepäck in seine unmittelbare Nähe zu bringen. Mein Blick ging umher. Ich suchte Acker Gabbo. Aber ohne ihn zu suchen, fand ich Guisbert, den Barden. Gut eine Meile vom Ortsrand entfernt, auf Feldern, in deren Furchen Schnee lag, hatten sich die etwa sechzehntausend Mann des schwedischen Heeres eingerichtet. »In der Fremde traf’s mich hart; ein paar scharfe welsche Scheren stutzten mir den roten Bart. Da beschloß ich heimzukehren.« Den Schweden waren einige Soldaten vor die Musketen gelaufen. Man verhörte die Kaiserlichen. Sie hatten ausgesagt, daß die kaiserliche Großarmee dabei war, in ihr Winterquartier zu marschieren. Was Gustav Adolf ahnte, war eingetreten. Ein triumphaler Sieg würde die Reste des Heeres
vernichten und Wallenstein in Gefangenschaft bringen. Wallenstein, sagte Adolf, rechnete nie und nimmer mit einer Schlacht. Auch die Colloredoschen Reiter, die man schließlich niedergehauen hatte, konnten den letzten Sieg nicht mehr gefährden. »Und wann willst du angreifen?« »Morgen in aller Frühe. Meine Männer stehen bereit«, antwortete er. Die Spuren unzähliger Strapazen waren selbst bei Fackellicht nicht mehr zu übersehen. Immerhin bewegte er seinen Arm ohne jeden Schmerz. Auch die Stimme des Barden klang rauh vor Frost und Hunger. »Doch als ich nach langer Fahrt durch die Wälder und die Wogen wiederkehrte ohne Bart, war das Taubenpaar entflogen.« Man hatte von Lützen drei Kanonenschüsse gehört. Später waren Boten gesehen worden, die in Richtung Leipzig, also nach Nordost, und nach Halle ihre Pferde peitschten. Aber niemals würden die Regimenter rechtzeitig eintreffen. Wenn Wallenstein gefangen war, diktierte Gustav Adolf dem Kaiser, und das beendete den Krieg. Ich saß auf einem harten Feldstuhl, hielt Sohlen und Finger in die Hitze der Glutschale und fragte nach Acker Gabbo. »Er ist im Lager«, sagte ein Adjutant, der das Zelt betrat und abgefertigt wurde. »Soll ich ihn suchen?« »Wenn Ihr ihn seht, Leutnant, ich brauche ihn. Atlan de Beauvallon!« Er salutierte und rannte davon. In der Nacht brannten nur die vielen Wachfeuer der Schweden. Im Schkölzigerwald war der Gleiter gut versteckt. Im schwachen Fackellicht war zu erkennen, daß von Lutzens dreihundert Häusern aus, entlang der Poststraße nach Leipzig, geschanzt wurde. In den tiefen Straßengräben und entlang eines Flößerkanals gruben sich Wallensteins Truppen ein.
Nördlich des Städtchens drehten sich auf einer winzigen Anhöhe vier Windmühlen. Dort postierte man vierzehn schwere Geschütze. Erdwälle, Palisaden aus gefällten Obstbäumen, Gräben und winzige Verschanzungen aus den Mauern der Lehmhäuser entstanden in rasender Arbeit in der feuchtkalten Nacht. Wallenstein selbst, von Schmerzen geplagt, verließ die Sänfte und ritt zwischen seinen Leuten umher. Mit düsterem Gesicht sprach er von Sieg. Sein Heer wartete auf Pappenheim, dessen Reiter und Infanterie, denen die Boten hinterhergehetzt waren. Schon vor Morgengrauen verteilte auch Gustav Adolf sein Heer. Er stellte es im Osten Lutzens auf, vor der Poststraße. Die schwach funkelnden Sterne deuteten daraufhin, daß der Morgen wolkenlos und sogar sonnig sein würde. Die schweren Geschütze wurden eingegraben, die rund vier Dutzend leichten Rohre der beweglichen Artillerie lud man schon jetzt, bevor man die Pferde einschirrte. Ich ritt neben Gustav durch das Gewimmel zwischen den roten Glutkreisen der Feuer. Endlich spürte ich Acker Gabbo auf. Er lief geschäftig in einem Zelt hin und her, das er auf die Ankunft der Verletzten vorbereitete. »Medicus!« schrie ich, sprang aus dem Sattel und packte sein Handgelenk. »Du mußt mein Leben retten«, flüsterte ich ihm zu. »Heute oder morgen. Ich brauche dich wirklich, Acker.« Erst starrte er mich verwirrt an, dann seinen König. Er verbeugte sich, während Gustav Adolf weiterritt. Ich bemühte mich, einigermaßen zuversichtlich dreinzuschauen. Noch immer befand sich der Zellaktivator drückend in meinem Magen; bald würde er wandern und anfangen, die Därme zu zerreißen. Meine Halswunde war inzwischen schmerzfrei und begann zu heilen. Acker war nur einer von vielen Feldschern im Heer; bis zum heutigen Tag hatte er sein blutiges Handwerk durchgestanden. Er überlegte und nickte
schließlich. »Soll ich deine Nase abschneiden?« versuchte er zu scherzen. Ich schüttelte den Kopf und deutete auf die riesige Schnalle der Brustgurte. »Du tust es nicht zum erstenmal. Du mußt meinen Magen öffnen, Gabbo.« »Wie? Ich?« Malte Uhlenhorst hatte mit seinem verrückten Zweiten Gesicht wieder einmal einen winzigen Spalt der Wahrscheinlichkeit geöffnet. Die Gefahr für mich – hier war sie. Ich nickte und versicherte: »Ich werde dir dabei helfen. Aber du mußt es riskieren. Es wird so gutgehen wie mit des Königs Schulter.« »Hier? In diesem Zelt?« Die Pritschen, Tische und Kübel sahen keineswegs vertrauenerweckend aus. »Nein. An einer guten Stelle, von mir ausgesucht«, antwortete ich. »Ich finde dich hier?« »In zwei Stunden blasen sie zum Angriff. Bis weit in die Nacht werde ich hier sein«, versprach Acker und wuchtete seine Taschen voller Tinkturen und Werkzeug auf einen Tisch. Eine verwahrloste Frau brachte Sägespäne und streute sie unter die Tische. Ich ging schaudernd hinaus und lehnte mich gegen den Hals meines Pferdes. Auf eineinhalb Meilen Breite standen die Heere, weit auseinandergezogen und in lockeren Verbänden, Bernhard von Sachsen und Weimar galoppierte hinüber zum linken Flügel. Ohne daß es ein Signal gegeben hatte, fingen bei Anbruch des Tages die schweren Geschütze zu feuern an. Ihr Rauch mischte sich in den Nebel, der vom Boden aufstieg. Gegen acht Uhr betete König Gustav Adolf und erflehte den gerechten Sieg für sein Heer. Während hüben und drüben die
Geschosse einschlugen und die Geschütze antworteten, machten die schwedischen Reiter zwei Ausfälle und versuchten, die Wallensteinschen aus ihren Linien hervorzulocken. Auf seinem braunen Hengst Streiff, die niederländischen Pistolen in den Sattelhüllen, ritt Gustav von dem Wagen weg, in dem er die letzten Stunden verbracht hatte. Ich winkte ihm und Knyphausen zu. Er lachte kurz, aber sein Gesichtsausdruck wechselte sofort wieder zu tiefem Ernst. Etwa zwei Stunden lang belauerten sich die Heere. Daß Wallenstein nicht einen riskanten Angriff vortrug, hatten wir schon gestern vermutet. Die Schweden, deren Schlachtruf »Gott mit uns« lautete, überquerten gegen zehn Uhr den Flößerkanal. Ab und zu stoben im Nebel schemenartig Kuriere und Reiter der Gegenseite in vollem Galopp vorbei. »Jesus Maria!« schrien die Kaiserlichen. Der Nebel wurde dichter. Hinter seinen wabernden Vorhängen hörten wir die Trommeln und Pfeifen marschierender Heerhaufen. Ich ritt ins Zentrum des leeren Lagers zurück, fand meine Pferde und brachte sie und die Ausrüstung in Sicherheit. Dazu mußte ich weit nach Süden ausweichen und zum Rand des schütteren Wäldchens vorstoßen, in dem der Gleiter steckte. Das Leibregiment des Königs, die Gelben, die Schwedische Brigade und die smalandische Reiterei, sie wagten den ersten Vorstoß in den Nebel hinein und wurden vom König in seinem Elchlederwams selbst angeführt. Ich hatte ihm ein kugelsicheres Wams schenken wollen – er lehnte es fast empört ab. Graf Nils Brahe wartete noch im Zentrum. Etwa um elf Uhr durchbrach die Sonne den Nebel. Signale. Die Geschütze feuerten in schnellerer Folge. Gustav Adolf stürmte auf die Straße los und trieb jene Musketiere aus den Straßengräben, deren Aufgabe es gewesen wäre, auf die
Bäuche der darübersetzenden Pferde zu feuern. Die schwedische Infanterie stürmte hinter den Reitern einher und hieb und stach alles nieder, was sich noch bewegte. Der linke Flügel der Kaiserlichen wurde überrannt, auseinandergesprengt und in einzelnen Kämpfen niedergemacht. Die Reiterei sammelte sich wieder, wartete auf dampfenden Pferden auf die Boten und schlug ein Fähnlein Wallensteins in die Flucht, das aus Westen kam. Gegen Mittag schwenkte dieser schwedische Heeresteil um neunzig Grad und fing an, vom weitest links liegenden den rechten Flügel der Kaiserlichen über die Mitte aufzurollen. Wenn die Schweden die Windmühlen und die davor verschanzten Geschütze erreichten, hatten sie den Sieg. Irgendwo im Nebel war Wallenstein. Wieder Signale. Zuerst im Schritt, dann im Trab, schließlich im Kantergalopp drangen die Schweden nach Westen. Ein Bote sprengte heran, blutbespritzt und kaum zu erkennen. Er meldete, daß sich Herzog Bernhard nicht mehr halten könne. Wallenstein hatte Lützen anzünden lassen; der Wind trieb nun statt dichten Nebels ätzenden Rauch nach Ost, in die Gesichter der Schweden. Die schottische und deutsche Grüne Brigade verblutete im Geschützfeuer und unter den Schlägen der Wallensteinschen Kavallerie. Gustav Adolf reagierte blitzschnell. General Stalhandke übernahm sein Kommando. Das smaländische Reiterregiment sammelte sich, und die Männer ritten in gestrecktem Galopp, ihre Pferde über die Körper der Toten und Verwundeten hetzend, den Waffen und dem Schanzgerät ausweichend, auf den linken Flügel des eigenen Heeres zu, dorthin, wo die tödlichen Geschütze noch immer nicht überrannt waren. Mittag. Pappenheim erreichte, ebenfalls im Galopp, das Schlachtfeld. Die Infanterie hatte die Geschwindigkeit seiner etwa dreitausend Reiter nicht halten können. Der
Narbengesichtige erkannte die Lage, sammelte die Flüchtenden, schickte die schnelle Reiterei in das Lager der Schweden, wo sie anfingen, die Bagage zu plündern und zu verbrennen. Seit einer halben Stunde hatte ich diese Wendung kommen sehen. Acker Gabbo. Haue ihn heraus! befahl der Logiksektor. Ich schaltete die Abwehrfelder ein, kitzelte meinen Hengst mit den Sporen und zog die schwere Reiterpistole aus dem Futteral. Auch der Wallach trug einen Sattel. Ich ritt im schärfsten Galopp, beide Zügel in der Linken, auf die Fahne zwischen den Lazarettzelten zu. Rechts und links von mir tauchten die ersten Pappenheimer auf; neue Leute, von denen ich keinen erkannte. Noch hielten sie mich für einen der Ihren. Ich galoppierte, in den Bügeln federnd, quer über das ebene Land. Schon sammelten sich Krähen und Raben in der Luft; sie bildeten dichte Schwärme vor der riesigen, breiten Rauchwand, die von der brennenden Stadt heranrollte. Ich erreichte als erster die Zelte und brüllte den Namen des Feldschers. »Hier!« Er stolperte über einen hölzernen Rost, schaute sich um und begriff, in welcher Gefahr er war. Die ersten Fackeln flogen in die Zelte und auf die Wagen. Er sprang auf das Pferd zu, zog sich am Sattelknopf hoch, und ich langte hinüber und berührte den versteckten Knopf. »In den Wald, Acker!« rief ich, ließ meinen Hengst hochsteigen und auf der Hinterhand drehten. Mit eineinhalb Dutzend donnernden, aufblitzenden und wirkungsvollen Lähmschüssen höchster Intensität befreite ich uns aus einem Ring kroatischer Reiter. In wilder Flucht stoben wir davon, hinüber zum Waldrand. Pappenheim ritt zusammen mit seinen schwergepanzerten Reitern auf das Zentrum der Schlacht zu. Frontal griff er die
Schweden an. Im Hagel des Schrapnellfeuers wurde er getroffen; seine Körperseite wurde von einer Drahtkugel in eine riesige Wunde verwandelt. Ein schwedischer Reiter versuchte, Pappenheim als Gefangenen mitzuschleppen, aber des Feldmarschalls Trompeter schoß den Schweden nieder und zog Pappenheim mit sich. Die eigenen Reiter, die den Anführer flüchten sahen, wendeten ihre Pferde und ritten dorthin zurück, woher sie angegriffen hatten. Immerhin eskortierten sie Pappenheim bis zu einem Wagen, in den man ihn bettete und nach Leipzig bringen wollte. An der Stelle, im weiten Umkreis des ersten Zusammenpralls, setzte unter den Kaiserlichen eine Massenflucht ein. Wallensteins Leute suchten nach Pappenheims Reitern, die ihnen immer wieder in den aberwitzigsten Lagen geholfen hatten – aber niemand wußte, wo sie sein mochten. Regimenter lösten sich auf, plünderten noch ihre eigene Bagage, und sie rannten, bis sie auf die Infanterie Pappenheims stießen, die keuchend heranmarschierte und die Sache schon verloren gab. Die Schweden drangen ins Zentrum ein, nahmen sieben Geschütze des Feindes und richteten sie gegen die Kaiserlichen. Ein Pulverwagen im schwedischen Lager explodierte, hinterließ ein kreisförmiges Feld aus Leichen und einen tiefen Krater, dessen Ränder brannten. Um ein Uhr war die Sonne wieder verschwunden. Nebel und Rauch bedeckten grau und bräunlich das gesamte Schlachtfeld. Niemand erkannte mehr, was in seiner Nähe geschah. Unwillkürlich drängten sich die Kämpfenden zusammen; ununterbrochen ertönten die Kriegsrufe, und nur selten sah man weiter als ein paar Lanzenlängen. Weder Wallenstein noch Gustav Adolf wußten, was der Gegner plante, wo er sich befand, wohin er sich wandte. Durch einen Zufall erreichte Gustav Adolf mit den
Samländern den linken Flügel seiner Infanterie. Reiter umringten Wallenstein und schützten ihn, bis Holks Reiter sich näherten und den Feldherrn in Sicherheit abdrängten. Die Schweden sammelten sich ebenfalls, und zusammen mit seinen Elitereitern bewegte sich Gustav Adolf durch die ratlosen eigenen Truppen dorthin, wo er den Feind vermutete. Ein kaiserlicher Musketier sah undeutlich einen Mann auf braunem Hengst, der bedeutend aussah. Die Waffe krachte, der Schütze starb einige Atemzüge später, aber eine schwere Wunde zeichnete den linken Arm des Königs. Schrecken lähmte die schwedischen Reiter. Nur vier, fünf Mann zu Pferde versuchten, den Herrscher in Sicherheit zu bringen. Wohin sollten sie reiten? Sie entschlossen sich, der Eingebung des schrecklichen Augenblicks gehorchend, zu einer Drehung um hundertachtzig Grad. Von Sachsen-Lauenburg, der Herzog Franz Albrecht, griff in die Zügel Streiffs. Gustav Adolf krümmte sich, im Sattel nach vom gesunken, vor Schmerzen. Blut lief über den Bug des Pferdes. Leubelfing, sein Page, stützte Gustav Adolf. Anders Jönnsson, der Leibknecht, sicherte den Rückzug mit dem blanken Degen und der geladenen Pistole. Plötzlich wurde es leer um die flüchtende Gruppe. Die schwedischen Soldaten hatte der Nebel lautlos aufgesaugt. Der einzelne Pistolenschuß fiel niemandem auf, als aus der grauen Wand eine Phalanx kaiserlicher Kürassiere hervorgaloppierte, wild feuerte und schrie. Gustav Adolf glitt aus dem Sattel, wurde mitgeschleift, Jönnsson starb, als er sich umwandte und zu zielen versuchte. Auch Leublfing wurde aus dem Sattel geschossen. Streiff schüttelte seine nachschleifende Last ab, rasend vor Schmerz, wild auskeilend, eine tiefe blutende Wunde im Hals. Auch der Hengst verschwand im Nebel. Durch den Nebel, der sich innerhalb der nächsten sechs
Stunden noch dunkler färbte, huschten die Gerüchte. Kaiserliche und Schweden glaubten nicht, daß Gustav Adolf tot war – oder wußten es allzu genau. Der Kampf ging völlig regellos weiter, aber mit uneingeschränkter Grausamkeit. Wallensteins Leute wurden in der Mehrzahl auf das brennende Lützen zurückgetrieben. Dem Piccolomini schossen die Schweden fünf Pferde unter dem Sattel nieder. Er selbst, Octavio, empfing sieben Streifschüsse. Bernhard von Sachsen-Weimar befehligte die Schweden. Holks Reiter preschten in alle Richtungen und versuchten, einen Gegner zu finden, was selten genug geschah. Andere Feldherren verloren einander, trafen sich wieder, galoppierten in die Irre. Aus buchstäblich allen Richtungen der Ebene kamen die Detonationen der Geschütze. Wallenstein entriß den Schweden die eroberte Batterie bei den Windmühlen wieder. Schwedische Reiter flüchteten, und irgendwann traf sich um den jungen Herzog Bernhard eine entschlossene Gruppe, die groß genug war, um in Nebel und einsetzender Finsternis den Kampf zu entscheiden. Kleine Hügel von Toten lagen überall wie weggeworfene Bündel. Bernhard wollte Rache. Er wußte es nicht, aber sein Gefühl sagte ihm, daß sein König tot war. Wieder wurde ein Angriff vorgetragen, einer von vielen an diesem Tage. Ein furchtbares Blutbad suchte beide Heere heim. Und bei Fackelschein, in der Nacht, fanden die Schweden ihren toten König. Der achtjährige Page, schwer verletzt, wimmerte unweit von Gustav Adolf im nassen Acker. Fünf Schüsse hatten ihn getroffen, drei Hiebe und ein Stich. Siegelring, Lederkollier, Goldkette und Uhr, Sporen und Waffen, Stiefel… nichts hatten sie ihm mehr gelassen. Der Löwe aus Mitternacht, Jäger Gosta Hakennase – sein Weg, der ihn aus der frostigen Sicherheit seines Landes hinausgeführt hatte, war nach achtunddreißig Jahren im nächtlichen Nebel vor Lützen zu Ende. Zwei
Dutzend Tage fehlten zu seinem Geburtstag. Davon wußten wir noch nichts, Acker Gabbo und ich. Zweimal hatte sich Acker in die Nähe der niedergebrannten Zelte zurückgewagt, aber er stand da mit leeren Händen – er konnte nur sterbenden Soldaten Trost zusprechen. Er gab auf und band den Wallach an einem Haltegriff des Gleiters fest. »Sinnlos«, sagte er dumpf. »Du hast Wein? Es wird meine Hand beruhigen, Atlan.« »Trinke und zittere in Maßen«, empfahl ich ihm. Ich trug ein warmes Hemd, das Brust und Bauch freiließ. An den Füßen hatte ich dünne, wadenhohe Stiefel, die Hose war bis zu den Knien heruntergerollt. Ich würde in den nächsten Tagen meine Stiefel weder ausziehen noch anziehen können. Die Ladefläche des Gleiters lag voller Ausrüstung und Sättel. Die Trennwand zwischen den Sitzen war umgelegt. Eine sechs mal zehn Fuß freie Fläche, gepolstert und mit sauberen Tüchern abgedeckt, war entstanden. Das Schutzfeld spannte sich wie ein schwarzes Gewölbe über dem bootsgroßen Fluggerät. Im Innern war es warm und hell. Auf einem Klappbrett lagen die Instrumente und alles, was Acker zu der Operation brauchte. An einem Metallarm hatte ich den Spiegel so befestigt, daß ich zusehen konnte, wenn er meine Haut durchtrennte. Siebenmal hatten wir jeden einzelnen Handgriff durchgesprochen. Seine Hände, sein Gesicht, meine Haut, alles war mehrfach steril gemacht worden. Ich deutete auf die Gurte über der Brust und der Schamgegend. »Ich empfinde keinen Schmerz, Acker«, murmelte ich und schob ein zusätzliches Kissen unter meinen Kopf. »Wenn du schneidest, ist es, als ob du mit dem Fingernagel über meine Haut fährst. Überdies kann ich mich zusätzlich lähmen.« Wieder bedeckten Zeichnungen die narbige Bauchdecke. Ein Kreis markierte die Stelle, an der wir den Zellaktivator getastet
hatten. Gabbo sagte leise: »Der Barde irrte zwischen den Toten herum. Ich habe ihm gesagt, wo wir sind.« Ich hatte die Außenhülle des Gleiters in eine energetische Abwehrzone verwandelt; er war unsichtbar. Überdies brauchte ich nur einen Schalter zu kippen, dann stieg programmgesteuert der Gleiter in die Nacht und verschwand. »Wenn er hierherfindet, ist mir Haffo willkommen«, erwiderte ich. »Bringen wir es hinter uns?« Er nickte. Seine Finger waren ruhig, als er den leeren Becher wegstellte und sich noch einmal die Hände reinigte. Ich hob die Spritze, einen Hohlbehälter, der im Licht der zugeschalteten Scheinwerfer blitzte, dann stach ich an sieben Stellen die haarfeine Nadel in die Bauchdecke und tiefer. Meine Muskeln unterhalb der Knochenplatten-Kante hatte ich mit Dagorübungen entspannt. Ich schoß mir jeweils eine schwache Lähmungsladung in die Kniegelenke. Dann zog Gabbo die Gurte fest und schaute mir in die Augen. »Los!« drängte ich. Das schmale Gesicht des Schweden war kalkweiß. Tief hatten sich die Falten eingegraben. Er trug ein breites weißes Stirnband und ein Band um den Hals. Er setzte das Skalpell an der richtigen Stelle an, durchtrennte eineinhalb Finger lang die Haut, die Unterhaut-Fettschicht und mit übergroßer Vorsicht den Muskel in Längsrichtung, tupfte das Blut ab und unterband den Blutverlust, indem er die Spezialflüssigkeit aufpinselte und die Äderchen versiegelte. »Gut so«, sagte ich und bemerkte die Schweißtropfen auf Ackers Stirn. Er zog die Muskelhälften auseinander, ging mit großer Vorsicht tiefer und berührte schließlich die Gewebeschicht, die den Magensack umhüllte. »So klein wie möglich… ein Ei… und die Kette…«, flüsterte ich. Ich hatte seit eineinhalb Tagen nichts gegessen, der Magen sollte bis auf den Zellaktivator leer sein, dachte ich. Minute um Minute tröpfelte dahin, während Acker die richtige Stelle für
den Schnitt suchte. Dann wagte er es, fischte in dem Blut umher und stocherte mit dem stumpfen Haken in der Höhlung herum, drehte und zog schließlich ganz langsam den Haken wieder in die Höhe. Ich erkannte die dünne, fast unzerreißbare Kette. »Weiter! Langsam!« keuchte ich. Brechreiz würgte in meiner Kehle. Er zog aus dem kleinen Schlitz den Rest der Kette hoch, das eigroße Gerät kam hinterher, und wie immer, wenn der Zellaktivator besonders viel leisten mußte, strahlte er ein schwaches, rötliches Leuchten ab. Gabbos Atem wich pfeifend aus seinen Lungen. Er tauchte Aktivator und Kette in ein Gefäß, legte nur das gereinigte Gerät auf die Brust. Dann griff er nach der ersten Nadel. Es dauerte eine Stunde, bis er das Blut weggetupft und die feine Naht im Magen gezogen hatte. Er zerschnitt den Faden hinter dem letzten Knoten, reinigte die Wunde, betätigte die Sprühflasche und löste die Klammern. Dann ging er daran, die Bauchhaut zu vernähen. Er hielt sich großartig. In seinem Gesicht arbeitete es unaufhörlich; er fluchte flüsternd vor sich hin, schlang endlich den letzten Knoten und wischte mehrmals Blut, Gewebereste und Schweißtropfen von meiner Haut. Dann trug er Bioplast über der Wunde auf, pinselte eine Schutzsalbe und öffnete die Gurte. Der Zellaktivator erwärmte sich und sandte seine Schwingungen verstärkt durch meinen Körper, als ich mich ächzend aufrichtete, obwohl ich noch immer nichts spürte. Acker wickelte eine Binde aus dünnem Stoff um Bauch und Rücken, dann befestigte er sie mit einer breiten, leicht elastischen Binde, die mir mehr Halt gab und mich vor unbedachten Bewegungen schützte. Sein Fluchen und Flüstern hörte auf, als er mir das Hemd zuknöpfte, die Hose hochzog und behutsam schloß. Dann ließ er seine Schultern nach vorn sinken. Er starrte mich an, als sähe er mich zum erstenmal.
»Ich hab’s geschafft, Atlan!« stöhnte er. »Du auch einen Wein?« »Natürlich!« »Jetzt zittern sie, die Finger«, vermerkte er verblüfft, als er zwei Glaspokale mit rotem Wein füllte. Probeweise bewegte ich mich nach vorn und schob den Spiegel weg. »Danke, mein Freund«, sagte ich. »Merk dir alles, schreib es nieder, mach Zeichnungen. Niemand kann es besser als du. Natürlich hast du diese Betäubungsflüssigkeiten nicht. Deswegen schenke ich dir auch diese Spritze nicht; du könntest nichts mit ihr anfangen. Alles andere weißt du schon von der Operatio, die wir an des Königs Schulter ausführten. Wie wird es ihm ergangen sein?« Während wir tranken, räumte Acker Gabbo ein wenig auf. Er schaute mich fragend an und meinte: »Ich weiß es nicht. Lebt er? Ist er tot? Ich sehe nach, wenn die Nacht vorbei ist.« Die Pferde wurden unruhig. Der Wärmebildschirm zeigte mir eine einzelne Gestalt, die sich durch die Stämme kämpfte. Ich öffnete die hintere Schutzkuppel, deutete auf die Pistole und bat: »Sieh nach! Vielleicht ist es der Barde.« Acker Gabbo glitt durch die Klappe und die Strukturöffnung nach draußen, schwenkte die Laterne, und der Lichtkegel erfaßte Haffo Guisbért, der die Laute über der Schulter und einen Degen in der Hand hatte. Ich hörte einen gedämpften Wortwechsel, dann schob der Medicus unseren Sänger ins Innere. Sie klappten eine Sitzbank aus der Seitenfläche, ich verschloß die Öffnung wieder, und Gabbo verwendete das dritte Glas aus der gepolsterten Wandhalterang. Blutspritzer, Asche, Risse in der Kleidung. Ackerschmutz und Ruß bedeckten Guisbért. Er weinte; die Tränen sickerten in seinen rotgrau gesprenkelten Bart. Er trank wie einer, der fast verdurstet war. Dann holte er
Atem, faßte sich und brummte in einem klagenden Singsang: »Gosta Hakennase, König Gustav der zweite Adolf von Wasa, König der Schweden, Goten und Wenden, Großfürst Finnlands, Herzog Estlands und Kareliens. Herr von Ingermanland – er ist tot. Pappenheim: tot. Der kleine Page: tot. Jönnsson: tot. Draußen liegen sie alle. Tausende. Alle tot.« Er hob die Laute von der Schulter, blickte sie an, als wolle er sie zertrümmern, dann richtete er den Blick aus rotgeränderten Augen auf uns und fragte: »Ich kann nur singen. Darf ich?« Ich bedeutete Gabbo, Wein nachzuschenken und aus einer Schachtel ein weißes Kügelchen darin aufzulösen. Ich erwiderte: »Dich erleichtert’s, Guisbért, und uns tröstet es. Sing! Die zwei letzten Strophen.« »Von den Tauben und dem Mandelzweig?« »Ja.« Er intonierte, unendlich traurig, noch einmal die drittletzte Strophe, summte halbverständlich, einige Worte: »… wiederkehrt ohne Bart, war das Taubenpaar entflogen…« Dann kräftiger, aber mit schwankender Stimme: »War der Mandelzweig verdorrt! Kein Willkomm, dem müden Wandrer, und an unsrem Liebesort lag zwar sie, doch auch ein andrer. Da beschloß mein Herz versehrt, nie den Bart mehr zu verschandeln, bis die Liebe wiederkehrt; und die Tauben, und die Mandeln. Notfalls werd’ ich unbeschwert bis zum Knie im Barte wandeln.« Er hörte auf zu weinen. Dann berichtete er, wie man Gustav Adolf gefunden hatte. Nach zwei Dutzend Sätzen war sein Glas das drittemal ausgetrunken, und das Schlafmittel wirkte.
In diesen letzten Stunden der Nacht schliefen wir im Schutz des Gleiters. Als der Tag graute, verließen mich Acker und Guisbért. Ich schenkte ihnen die Pferde und den einfachen Sattel, der keinerlei technisch-energetische Besonderheiten enthielt. Ich brachte den Gleiter, nachdem ich mich mühsam hinters Steuer geschoben hatte, aus dem Schutz des Waldes hinaus, schwebte im Rauch schwelender Häuser und BagageWagen über die Ebene bei Lützen, notierte meine Beobachtungen und richtete die Spitze des Geräts auf den Weiler Außer Schweßwitz. Es sollte, A.D. 1632 und 1633, ein weißer Winter werden. Einige Bewohner von Außer Schweßwitz schienen mich gesehen zu haben, als der Gleiter unweit des Brunnens landete. In diesen Zeiten stellte ein fliegendes Boot nur ein weiteres Wunder dar. Der Schulze Ockerdey lief neben Ullana auf mich zu, als ich mich hinausbeugte und winkte. »Schulze«, sagte ich halblaut. »Der Schwedenkönig starb letzte Nacht. Vielleicht ist der Krieg vorbei; ich glaub’ es nicht. Dort hinten sind Kisten. Nimm sie, sie gehören euch.« Honig und Limonensaft, gutes Bier aus Baiern in versiegelten Krügen, Kerzen, Lampenöl, etliche Werkzeuge und Kleinigkeiten wie Nägel, Töpfe und ähnlicher Kram – in meiner Höhle gab es sehr viel mehr davon. Während der Schulze begeistert ausräumte, versenkte ich meinen Blick in Ullanas blaue Augen und sprach in träumerischem Tonfall: »In einer großen, warmen Höhle, weit weg vom Krieg, zusammen mit mir? Licht, Musik und Ruhe? Im Frühling eine weite Reise über die südlichen Berge, in ein winziges Schlößchen. Eine fremde Sonne, fremde Sprachen, liebenswerte Menschen? Kein Krieg, ein verwunschenes Tal? Und wenn der Schnee hochliegt, kannst du dich nach dem Mann umsehen, mit dem du Kinder haben willst.«
Sie schaute mich fassungslos an und flüsterte: »Was muß ich dafür tun? Noch mehr beten? Oder einen Arm herschenken?« »Etwas Ähnliches«, sagte ich, während uns die Dörfler umringten und über den Inhalt der Geschenkkiste staunten. »Ich brauche ein paar Wochen lang eine liebevolle Pflegerin. Ich habe hier eine Wunde, die aber schnell heilt.« Ich zeigte auf den Verband unter dem Hemd und der offenen Jacke. »Soll ich da noch lange überlegen, fragen; warten…?« »Es liegt bei dir«, sagte ich. »Aber du hast nur noch eine Viertelstunde Zeit. Alles, was eine Frau braucht, findest du in der Höhle.« »Wo?« »Du kennst die Gegend nicht. Mitten in riesigen Wäldern, in denen nur ein Eremit haust.« In Gedanken wiederholte Ullana, was sie mir erzählt hatte. Jedes Leben als dieses war besser, fast an jedem anderen Ort. Ich schob Kissen und Decken vom Nebensitz herunter und machte eine einladende Handbewegung. Sie nickte mir zu, rannte ins Haus zurück, kam nach kurzer Zeit mit einem hastig geschnürten Bündel wieder und setzte sich entschlossen neben mich. Ich zeigte ihr, wie die Tür zu schließen war. Von links schob sich eine Pranke ins Innere. »Wir haben’s nit verdient, Herr von Arkonstein«, sagte der Schulze rauh, »aber uns tut’s gut. Wie können wir danken?« »Seid zu den Richtigen so gastfreundlich wie zu mir«, empfahl ich ihm, und sein Händedruck schmerzte bis zur Wunde unter dem warmen Bioplast. Ich nickte ihm zu, und mit offenen Mündern schauten uns die Dörfler nach, bis wir im Grau des bedeckten Tages verschwunden waren, der unsichtbaren Abendsonne zu. Nach einigen Minuten hatte ich die Selbststeueranlage geschaltet, einige Worte mit Ciron gewechselt und leise Musik aus dem Speicher gewählt. Jetzt
lehnte ich mich zurück und sagte ernst: »Deine Krankenpflege beginnt… jetzt. Hier sind Gläser, dort ist Wein. Ich kann mich kaum rühren. Mitgegangen, mitgefangen, mit und ohne Bangen. Ich denke, es wird eine gute Zeit werden.« Langer Schlaf, viel Ruhe und nahrhaftes, breiiges Essen, dazu ab und zu ein Becher Wein; die schwere Bauchwunde heilte gut, und Ullana zog die Fäden. Einige Tage und Nächte lang gab es kaum Bewegungen und sehr viel Ruhe in der Höhle. Ich ließ von Ciron einige Programme aus dem Hypnoschulungsprogramm überspielen, wandte sie an, während Ullana schlief. Dadurch nahm ich ihr die Furcht oder besser Unsicherheit vor der fremden Einrichtung und den vielen kleinen Wundern. Während aus versteckten Schallquellen zeitgenössische Musik zu hören war, wickelten die Medorobots ihre Programme ab, bei mir und Ullana. Voller Entzücken entdeckte sie die Freuden von duftenden Körper-Pflegemitteln. Ich schnitt mit einiger Mühe ihr Haar, das nach Tagen sein stumpfes Aussehen verlor. Ciron lieferte durch den Transmitter maßgefertigte Kleidung. Die Frau lebte sich verblüffend schnell ein, reinigte alle Oberflächen jeglicher Gerätschaften, ordnete die Nahrungsmittelvorräte und bestaunte die Bilder, die von Sonden überspielt wurden. Solarstrahler bräunten unsere Haut, während an der Oberfläche die frühen Winterstürme das letzte Laub abrissen, mit Schnee mischten und in riesigen weißen Dünen ablagerten. Massagen, leichtes Krafttraining und die Wirkung des Zellaktivators unterstützten die Heilung der Wunde. Einige Tage später hatte ich keine Schwierigkeiten mehr, mich zu bewegen und leichte Gegenstände zu heben. Die junge Frau, die ich aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen hatte, veränderte sich, aber sie mißtraute dieser
warmen Insel der Ruhe. Die Unterschiede waren noch zu groß. »Du sprichst mit jemandem, den ich nicht sehe«, meinte sie eines Tages und betrachtete ihre nachgewachsenen, sauberen Fingernägel, »tust seltsame Dinge, schaust vielen Menschen über die Schulter – aber was tun wir, wenn du wieder ganz gesund bist?« »Zuerst sehen wir uns die verschneite Welt an«, meinte ich. »Dann besuchen wir Uhlenhorst, den Eremiten mit dem Zweiten Gesicht. Warte, bis ich wieder richtig laufen kann, dann jagen wir Wölfe und Raubtiere, die dem Menschen schaden«, versicherte ich. Es war keine drei Wochen her, seit wir die Höhle betreten und die Einrichtung in Gebrauch genommen hatten. Mir schien, daß viele Kleinigkeiten Ullana verändert und hübscher gemacht hatten. Aber unverändert schlummerten in ihr die Erfahrungen über die Schrecken des Krieges. Das Töten und Verwüsten hatte nun länger als vierzehn Jahre angehalten. Den Menschen wäre jede Art Frieden mehr als hochwillkommen. Die Mächtigen, von deren Unterschriften es abhing, sträubten sich, dachten nicht daran oder waren in ihrer Überzeugung des Gottesgnadentums zu weit von der geschundenen Bevölkerung ihrer Länder entfernt. Fremde Heere herrschten über Deutschland, über die Ruine eines einst kraftvollen Reiches. Im zehnten Jahr des Shôgun Tokugawa Jyemitsu sah man zwischen den Wolken über der Insel seltsame Dinge. Die Bevölkerung, vom Fischer und Reisbauern bis hinauf zum Diktator, litt unter der geheimen Furcht vor einer Invasion der fremden Mächte. Ein dunkelblaues Pferd mit einem weißen Schweif, der dreimal länger als der Körper war, schwebte außerhalb der Reichweite von Samurai-Bögen über das Land.
Das Pferd, aus dessen Nüstern zischende und fauchende Wolken und Flammen schossen, war überaus prächtig gezäumt und gesattelt; Silber, Gold und kostbare Steine blitzten und funkelten im Sonnenlicht fast unerträglich grell. Aus den Schultern des riesigen Reittiers, das sich im gestreckten Galopp befand, wuchsen gewaltige Flügel von schwarzblauer Farbe mit silbernen Federn. Sie bewegten sich langsam, aber ungemein kraftvoll. In einem Sattel, dessen Seiten von langen, flatternden Bändern verziert waren, saß ein weißhaariger Samurai mit dem Helm des Kriegers, der das Zeichen des Drachen trug. Über seiner Schulter war ein Bogen befestigt, daneben hing ein Köcher, und zwischen den vielen metallisch blitzenden Teilen der Rüstung glänzten Griff und bloße Schneide des Schwertes. Auch die Standarte, deren Ende mitten im Rücken am Gürtel und an zwei federnden Streben von den Schultern aufwärts und schräg gehalten wurde, ließ den Kopf des mythologischen Drachen erkennen. Der fliegende Samurai glitt entlang der kochenden Brandungswellen, überflog Dörfer und Reisfelder, näherte sich den aufragenden Palästen und warf seinen Schatten über Gärten, Höfe und Straßen. Das Haar wehte unter dem Helmrand nach beiden Seiten des schmalen, langgezogenen Schädels. Manche Inselbewohner meinten, in den hageren Zügen kalte Grausamkeit und tödliche Entschlossenheit gesehen zu haben. Neue Gerüchte schürten die Angst vor dem Fremden. Seit den Tagen des Göttersturms – als der Khan versuchte, die Insel zu erobern und zu unterjochen – gab es diese Furcht. Wenn auch nur der kleinste Grund die Krieger der Insel der aufgehenden Sonne unruhig machte, drohten Streit und die blitzschnell ausgeteilten Tode der Kriegerkaste. Der Samurai im goldenen Helm drehte sich halb herum, als
er auf das Feld der dampfenden Wasser und des brodelnden Schlamms zuschwebte. Schräg über seiner Schulter glaubte er eine winzige Kugel erkannt zu haben, an der die Sonne reflektiert wurde. Er blickte genauer hin, aber der Lichtblitz kehrte nicht wieder. Dennoch blieb der Fremde beunruhigt. Nur er war in der Lage, auf verschiedenartige Weise zu erscheinen, zu schweben und zu verschwinden und die Bewohner des Landes zu erschrecken. Er lachte leise und lenkte das Flügelroß hinaus zu den Vögeln mit den silberfarbenen Schwingen, die seinen Flug mit klagenden und mißtönenden Schreien begleiteten. Gegen die atemberaubende Helligkeit mußten wir dunkle Brillen tragen. Es waren dünne Folien zwischen Metallverstrebungen. Schon vor Mittag loderte und funkelte das Sonnenlicht aus dem fahlblauen Himmel und wurde von der Schneedecke widergespiegelt. Fast lautlos schwebte der Gleiter über der verschneiten Landschaft. »Es ist so friedlich«, meinte Ullana. »Aber weil wir wissen, wie es in vielen Dörfern aussieht und in den Städten…« Schnee und Kälte herrschten über Deutschland. Aber auch andere Tyrannen gab es: Die Seuchen rafften die Einwohnerschaft ganzer Dörfer hin. Die Ernte hätte für dieses Jahr ausreichen können, aber die durchziehenden Truppen, ihre Pferde und das Schlachtvieh, das man mittrieb, zertrampelten die Felder. »Eines Tages wird auch dieser Krieg an Erschöpfung sterben«, meinte ich und suchte die Wolfsrudel, von denen die Schafe gerissen worden waren. »Und dann wird man erfahren, wieviel tausendmal tausend Menschen sich gegenseitig umgebracht haben.« Wir steckten in gefütterten Stiefeln, dicken Hosen und ebenso dicken Mänteln, die aus den Maschinenwerkstätten der
unterseeischen Kuppel stammten und mit den weichen Fellstücken selbsterlegter Tiere eingefaßt waren. Auf unseren Köpfen saßen zylindrische Fellmützen. Der Schatten des Gleiters huschte über die Wipfel der Bäume, auf denen dick Schnee lag, der sich immer wieder in langen Fontänen löste und die Äste hochschnellen ließ. Kälte knackte in den Stämmen. Die Landschaft war von unzähligen Spuren durchzogen; die Tierwelt in den wenig berührten Teilen der Wälder und Buschzonen schien im Krieg nicht dezimiert worden zu sein. Große schwarze Vögel kreisten und flatterten. Schließlich fand ich eine einzelne Spur. Sie sah aus, als würde sie von einem Wolf stammen. Wölfe drangen weit aus den Wäldern vor. Diese herrlichen Tiere wurden zur Bedrohung der Menschen, denn sie durchstreiften verlassene Gehöfte und stille Dörfer, fielen das wenige Vieh an, fraßen Sterbende und Tote. Füchse, Hunde, Wölfe bissen die Menschen und einander und verbreiteten eine seuchenartige Krankheit, während der die Menschen wahnsinnig wurden. Im weiten Umkreis meines Verstecks gab es etwa ein Dutzend kleiner Dörfer inmitten der Felder und Äcker, die bisher noch glimpflich davongekommen waren. Ich steuerte den Gleiter über die Wolfsspur und bemerkte, daß nach wenigen hundert Schritten drei Spuren zusammenliefen. »Sie jagen am Tag«, sagte ich und ließ das Fenster heruntergleiten, um ihr Heulen hören zu können, »das bedeutet, daß sie ihre Scheu verloren haben.« »Weil es niemanden gibt, der sie verscheucht?« »Weil sie ihre Beute zu leicht finden.« Über Baumwipfel, entlang von schmalen Wasserläufen, die in seltsamen, flirrenden Eiszapfen erstarrt waren, über die blutigen Spuren hinweg, die von einem zerfetzten Vogel stammten, der Wolfsspur schnell hinterher, zu der wieder drei frische Eindrücke von Pfoten kamen. Durch den dichten Ring
aus Buschwerk, das sich vor dem Waldrand erstreckte, stießen die Spuren in auseinandergezogenen Schleifen auf die einzelne Rauchsäule zu, die hinter einem Hügel hochstieg. Jetzt bedeckte der Schatten die Spur, der Gleiter summte weiter, und ich griff zu der Waffe und hob das Fernrohr. »Dort vorn sind sie. Am Hügel«, brummte ich und gab Ullana das Fernrohr. Die Wölfe, es waren inzwischen neun, drängten sich auf der Anhöhe zusammen und äugten abwartend. Der Gleiter wurde langsamer und blieb rechts der heulenden Tiere in der Luft. »Was tust du, Atlan?« »Ich warte. Ich denke, daß die Bauern sich nicht gegen so viele Wölfe werden wehren können.« Vierzehn Häuser drängten sich um einen Brunnen zusammen. Nur aus einem Loch des größten Daches quoll dünner Rauch. Am zertrampelten Schnee vor etlichen Scheunen erkannten wir, daß sich mehr Menschen und etliches Vieh in den Bauernhäusern befanden. Die zerfetzten Kadaver von zwei Schafen lagen neben den Pfosten des halb zusammengebrochenen Zaunes. Armut und Stille kennzeichneten auch dieses Dörfchen. Nacheinander öffneten sich drei schmale Türen. Ängstliche Gesichter spähten hervor. Ich sah Messerklingen blitzen. Zwischen den Mauern herrschten tiefschwarze Schatten, und der Wind trieb Eiskristalle über die glatte Schneedecke. »Sie haben Angst, sage ich.« Ullana entsicherte die leichte Muskete. Ich hatte sie in die kleinen Geheimnisse einiger Feuerwaffen eingeweiht. »Dort, die Scheune!« Ich zeigte auf die ausgebrochenen Bretter, die schief in den Angeln hängenden Tore und den Dampf, der aus den Ritzen quoll. »Scheune oder Wohnstube – dort werden die Wölfe angreifen, denn dort steht das Vieh.« »Wir sollten es verhindern, nicht wahr?«
Wenn sie nicht heute in die Häuser eindrangen, dann morgen oder in der nächsten Nacht, sagte ich mir. Ich brachte den Gleiter in den Sichtschutz einiger verschneiter Büsche und der Baumstämme und schlüpfte auf die leere Ladefläche. Ich langte nach der Waffe und sagte kurz: »Über die Wolfspelze werden sich die Bauern freuen.« Im gleichen Augenblick sprang der Leitwolf los. Das Rudel folgte ihm. Diesmal liefen sie nicht im Zickzack, sondern sprangen in Sätzen durch den aufstiebenden Schnee tatsächlich auf die verfallene Scheune zu. Zwei peitschende Schüsse lösten sich aus den Waffen; wir trafen ausgezeichnet. Die Tiere wurden im Sprung getroffen und überschlugen sich. Im blutigen Schnee blieben sie mit zuckenden Läufen liegen. Das Knurren riß ab, dafür ertönten im Nachhall der Schüsse im Dorf Hundegebell, Schreie, das Kreischen aufgeschreckten Geflügels und Flüche aus Männerkehlen. Wir zielten, die Läufe wanderten mit den vorwärtsstürmenden Wölfen mit, und mit mehr als einem Dutzend Schüssen töteten wir die restlichen Wölfe. Den letzten traf Ullanas Schuß drei Schritt vor der Wand des Hauses und brannte dort ein Loch in die Lehmwand. Ich sicherte die Waffe und kam zurück in die warme Kabine. »Sie müssen uns nicht sehen. Wahrscheinlich denken sie, daß Soldaten auf die Wölfe geschossen haben.« Schon jetzt flogen Krähen und Raben auf. Bräunliche Raubvögel mit sichelartigen Schwingen rüttelten in der kalten Luft. Ich ließ den Gleiter steigen, drehte ab und flog nach Westen. »Wahrscheinlich hatten die Bauern kein Saatgut im Herbst«, meinte ich. »Sie sollen nicht auch ihr letztes Vieh einbüßen müssen. Sind schon zu viele verhungert.« An diesem Nachmittag schoß ich zwei junge Hirsche, einen Rehbock und drei Wildsäue. Ich lud die Beute auf den Gleiter
und startete in der Dunkelheit zu einem längeren Flug. Die getöteten Tiere warf ich über die Kante des Gleiters und achtete darauf, daß sie vor die Türen der Bauern fielen. Malte Uhlenhorsts Augen blitzten, als er den Zeigefinger hochstreckte und in die Dunkelheit deutete. Über dem Tal hing ein riesiger Vollmond. »Hört ihr’s?« Von allen Zweigen tropfte es. Käuzchen schrien, kleines Getier schien überall unsichtbar umherzusuchen. Die Bäume schienen in Erwartung warmer Winde zu stöhnen. »Die ersten Zeichen des Frühlings«, sagte Ullana. »Die langen Winternächte, in denen du deine Wahrsagungen hast schreiben können, sind vorbei, Malte.« Er hatte den Winter gut überstanden. Tatsächlich schrieb er häufig alles Erdenkliche in die Seiten der Hefte, die ich ihm mitgebracht hatte. Ich kannte nur wenige Zeilen. Sie waren voller Hinweise auf zukünftige Greuel, Naturkatastrophen und weitere Verwüstungen der Länder. »Eure Zeit in der Höhle«, bemerkte er, »ist auch vorbei. Hat euch gutgetan. Ihr seid ruhiger geworden. Und fetter.« Das Windlicht warf zitternde Helligkeit auf unsere Gesichter und die dicken Felle des Höhlenvorbaues. Ich hatte im Spätherbst eine Ladung groben Kies herangebracht und vor dem Eingang verteilt. Man stand jetzt nicht immer in Nässe und schlammigem Lehm. »Weil unsere Höhlenzeit vorbei ist«, sagte ich ruhig, »sind wir hier. Zeit für den Abschied, Spökenkieker.« Bis auf kleine Reste besaß er die leichtverderblichen Vorräte. Bald würde die Höhle bis auf ein paar unwichtige Reste und den Transmitter wieder leer sein. Wir schüttelten uns die Hände. Ullana küßte ihn, und Malte flüchtete verwirrt in seinen Unterschlupf zurück. In der mondhellen Nacht tasteten wir uns zum Gleiter und schwebten über das leere Land zu
unserer Höhle zurück. Natürlich kannte die junge Frau Bilder von Beauvallon und Sagittaire und freute sich auf den langen, heißen Sommer. Ich hatte Ciron befragt: Roquette war zum zweitenmal verheiratet und zog vier Kinder groß. Nur Verstrebungen und Isolatoren, schmorender Abfall und die glühenden Schenkel des Transmitters befanden sich noch in der Höhle. Cirons Vorbereitungen waren mit maschinenhafter Gründlichkeit erfolgt. Ein Teil der Ausrüstung lagerte in den Magazinen der Kuppel, ein anderer lag dort, wo Ciron uns erwartete. »Zuerst du«, sagte ich und schob Ullana auf das Gerät zu. »Dank der harmlosen Zaubereien wird dir mein Freund seine Finger entgegenstrecken.« Sie überwand ihre Furcht und trat auf die Abstrahlplatte. Als sie verschwunden war, betätigte ich die Schaltungen und folgte ihr. In den Gewölben des Schlößchens fanden wir uns wieder. Ciron de Beauvallon, in perfekter Maske und Ausstattung, einen furchterregend gekrümmten Bart auf der Oberlippe, breitete die Arme aus. »Ein gar herzlich’ Willkomm, Graf von Arkonstein, oder welchen Namen Ihr auch immer gewählt haben mögt. Und die Dame seines Herzens, mit der Sprache dieser Gegend wohlversehen. Alles ist bereit, und bald wird der Jubel der freien Weinbauern des Tales keine Grenzen mehr kennen.« »Wenn die Vorbereitungen so sind wie deine Stilübungen«, spottete ich und zog Ullana die Treppen hinauf, »gehen wir freiwillig in die Höhle zurück.« »Warte und sieh, Freund Atlan!« rief er uns nach und kümmerte sich weiter um die perfekte Tarnung der kostbaren Habe. Ich stieß die Läden auf, und Morgenlicht flutete durch die Räume. Dann legte ich den Arm um Ullanas Schultern und meinte: »So sieht es in Wirklichkeit aus. Da sind wir jetzt.«
Sie blinzelte in die warme Sonne und entdeckte junges Grün, heitere Farben und ungleich größere Wärme, die durch die offenen Fenster kam. Selbst für mich war dieser Augenblick wie eine Heimkehr. Das Fest in Beauvallon war noch lange nicht beendet. Zahllose Lichter sprenkelten das langgezogene Oval um die Plätze und entlang der Straße. Es roch noch nach allem, was auf den eisernen Rosten gebraten worden war. Gesang und Musik, Lachen und das Fußtrampeln der Tanzenden drangen mühelos bis unter das Sonnensegel auf der Terrasse. Wir lagen müde und ein wenig trunken in fellbespannten Sesseln. Ciron tat so, als habe er zuviel getrunken, dabei roch er nur an seinem leeren Pokal. »Nach allem, was an Informationen und Erkenntnissen vorliegt…«, begann er und richtete den Blick seiner graugrünen, großen Augen auf Ullana. Inzwischen schien er Eitelkeit im Fundus seiner Maskierungsmaßnahmen entdeckt zu haben. »… gibt es diesen Nahith Nonfarmale tatsächlich. Daß er Begriffe, seine angebliche Herkunft betreffend, aus dem Schrifttum von Larsaf Drei benutzt, zeigt seine Gefährlichkeit.« Ich sah im Kerzenlicht mein Spiegelbild im dunklen Wein. Es wirkte nicht heiter. »Ullana weiß über den Drachenreiter Bescheid«, warf ich ein. »Er verfügt über bestimmtes Wissen. Keineswegs kann sich sein Wissen mit dem Inhalt unserer Speicher und Gedächtnisse messen.« »Wenn nicht ES sich einmischt.« »Nicht unmöglich«, sagte ich. »Wahrscheinlich verfolgen wir einen entsprungenen Androiden von WANDERER.« Ciron nickte und stimmte mir voll zu. »Weitere Tatsachen: Nonfarmale drückt seine Vorliebe für das Makabre durch die
Namenswahl aus und kann sich ohne größere Schwierigkeiten unsichtbar machen.« »Damit ist er nicht allein«, brummte ich. »In meinen Spürgeräten fand sich kein Impuls. Wenn es ein Gerät ist, muß es entweder mit äußerst schwacher Energie arbeiten, oder das Ganze läuft auf organischpsychoenergetischer Ebene ab. Oder aber es wird mit einer Energieform betrieben, auf die keines unserer Geräte geeicht ist.« Ciron faßte zusammen, was mir in langen, schlaflosen Nächten bewußt geworden war. Wie so oft im Leben, hatte mich plötzlich in dieser Nacht eine Phase scheinbarer Hellsicht gepackt. Möglicherweise war das Problem durch Nachdenken und Phantasie zu lösen. »Seine Gestalt ist menschlich«, stellte Ciron fest. »Wobei denkbar ist, daß er sie willentlich verändern kann.« »Zutreffend. Er bevorzugt Reittiere aus der Mythologie dieser Welt.« »Und das dient dem Zweck, die Eingeborenen durch Schauerbilder ihrer eigenen Mythen, Sagen und Träume zu erschrecken.« Ciron zögerte, ehe er weitersprach. »Ein Symbiont?« »Vorstellbar«, murmelte ich verdutzt und tastete nach Ullanas Fingern. War er hierhergekommen, um eine Lebensessenz einzuatmen oder aufzunehmen, die er aus den Qualen der Planetarier sog? Konnte er ohne diese Schwingungen nicht existieren? Vermutlich gab es hier alles, was er zum Überleben brauchte. Der Katalog der Fragen wurde länger, die Fragen schwieriger, die Antworten vorläufig reines Rätselraten. Ciron nickte und roch am Pokal. »Ich empfinde es nicht anders. Da!« Er zeigte auf ein Wandbild, das im angrenzenden Raum leuchtete. Die Farben verblaßten, die strukturlose Glätte eines
Bildschirms erschien. Dann bildete sich die Oberfläche von Larsafs drittem Planeten ab, in der Projektion des Meisters Mercator. Lichter blinkten. Ich hielt den Atem an. »Deutschland«, flüsterte ich. Nun ja, das wußte ich. »Zipangu, der Subkontinent. Afrika! Die Neue Welt, Arabien.« Ich zählte fünfzehn Punkte. Sie erloschen plötzlich. Wenn sich dieses Wesen erst seit kurzer Zeit auf dem Planeten aufhielt, bedeutete die geringe Anzahl der Sichtungen, daß es sich zunächst orientierte. »Seine Reittiere sind keine Maschinen. Es scheinen androidenhafte Züchtungen zu sein, oder gezähmte Exemplare einer Fauna, die dort gedeiht, wo Nonfarmale herkommt.« »Er besitzt ein Tor zur Welt!« stieß ich hervor. »Auf diesen Einfall wollte ich dich mit meinen unbedeutenden Erkenntnissen hinsteuern«, sagte Ciron. Er goß einige Tropfen des schweren Weins in seinen Pokal und versenkte einen Teil des savoyardischen Schnurrbarts darein. »Du Guter!« Ullana lächelte ihn an. »Sind deine Hinweise noch weiterreichend?« fragte ich. Ich ging in mein Arbeitszimmer und holte die maschinengeblasene Flasche, die normannischen Apfelbranntwein enthielt. Ich brauchte stärkeren Alkohol für stärkere Argumente. »Ich werde heute nicht schlafen können«, sagte ich. Ullana lächelte wieder und flüsterte: »Wie schön.« Ich nahm einen kräftigen Schluck des rauchigen Apfelbrandes. Die Planetenkarte verwandelte sich in die Gestalten des Freskos zurück. Dann sagte ich: »Die Oase, Ciron.« »Der Basaltfelsen und die LARSAF ZWEI: DREI?« »Nichts anderes. Zuerst sehen wir nach, dann rüsten wir eine Karawane aus, beziehungsweise eine Expedition, und dann
sprengen wir das Vehikel aus der Höhle.« Ciron schwieg. Der Roboter dachte auf seine Weise nach. Vermutlich korrespondierte er mit den Computern in der Schutzkuppel. Ich schmeckte, wie sich der einzigartige Geruch über die Terrasse verbreitete. Im Dorf war Ruhe eingekehrt. Auch die Beauvalloner würden morgen schwere Köpfe haben. Mit einem guten Gewissen allerdings dachte ich an mein langes Gespräch mit Roquette, die noch immer eine gutaussehende Frau war und, als sie vom Schicksal der Menschen in Deutschland und Ullanas erfuhr, verständnisvoll genickt hatte. »Du weißt, daß wir den besten Verbündeten haben, den wir uns wünschen können?« fragte Ciron. »Ja. Die Zeit.« »Sie verändert vieles. Übergroße Eile ist auch in diesem Fall nicht geboten. Es gibt eine Reihe von Aufnahmen der fraglichen Gegend, in Abständen gemacht. Aber die Informationen sind in der Kuppel. Es sieht nicht so aus, als kämen wir leicht zu unserem Ziel. Ich werde die Analyse vorlegen, wenn sie richtig bearbeitet wurde. Hast du etwas dagegen, wenn ich euch noch drei Tage lang bediene, versorge und unterhalte, ehe ich wieder meinen unaufschiebbaren Geschäften nachgehe?« Ich lachte heiser. »Du sagtest eben, daß wir Zeit haben. Soviel Zeit haben wir allemal. Es ist gut.« Seine Speicher und Rechenwerke hatte ich schätzen gelernt, nicht nur deshalb, weil sie mein Leben sicherten und schon so oft gerettet hatten, daß die Zahl für mich beschämend war. Aber diese unzähligen Verhaltensweisen und, tatsächlich, die konstruktive Phantasie, bewiesen mir die Lernfähigkeit. Nur ein Beispiel: Noch bevor wir in Beauvallon angekommen waren, hatte Ciron zusammen mit einem Stier für die Kühe des Dorfes auch hervorragend zugerittene Pferde für die
Herren Le Sagittaires gekauft und hierhergeschafft. Daß die Ställe frisch verputzt und gekalkt waren, verstand sich von selbst. »Jedenfalls ist das Boot im Felsen nicht zerstört oder verrostet«, sagte er tröstend. Ich dachte an die Mengen von Fett, die wir verwendet hatten, und an alle anderen Vorsichtsmaßnahmen und versuchte nachzurechnen, vor wievielen Jahren das gewesen war. Aber ich wollte nicht mehr rechnen und bot der jungen Frau von dem Apfelbrand an. Sie schüttelte den Kopf. Ich kippte die Flasche noch einmal über dem Becher. »Ich plante«, erklärte ich eine Weile später, »den Winter hier abzuwarten. Die Zeit bis dahin verbringen wir mit der Suche nach diesem Kretin, und damit, zuzuschauen, wie sich die Armeen zerfleischen.« »Sich selbst und das Land«, bemerkte Ullana bitter, griff nach meinem Becher und nahm einen Schluck. »Hierher verirrt sich der Krieg kaum«, sagte ich, »wenn alle Söldner an anderer Stelle sind. Was anderen schadet, nützt uns.« Zweihundertsiebzig Tage und Nächte lang genossen wir die Ruhe des verwinkelten, sonnenerfüllten Tales. Schnelle Ritte und Treibjagden, fröhliche Feste und die Weinproben, die Versuche Axel Oxenstiernas, die Politik seines Königs mit anderen Mitteln fortzusetzen, sein Vertrag zwischen den evangelischen Fürsten und Schweden, eine Reihe von schlimmen Gewittern und Regen, die einen Teil des Tales und das Mühlrad zerstörten, die Aufbauarbeit, während die Nässe in praller Sommersonne verdunstete. Die Feste, wenn Kinder geboren wurden, und die Nächte nach Tod und Begräbnis; Aussaat, Blühen und Ernte. Noch mehr Krieg: Wallenstein siegte bei Thurn, und Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar eroberte Regensburg. Schöne und schwere
Stunden, Arbeit und Nächte der Leidenschaft, Ruhe und Gelächter. Das Jahr lief dahin wie das Wasser eines breiten Flusses. Händler kamen und gingen, eine Scheune brannte mit der frisch eingebrachten Ernte. Auf meinem Tisch lagen die Bilder, die über den langen Zeitraum seit der Verödung der Oase den Felsen zeigten. Ein schönes Beispiel dafür, daß sich alles bewegte, alles veränderte. Der Stausee trocknete, die Mauern verfielen, Sand bedeckte alles. Ein Erdbeben, in diesem Teil des Planeten nicht selten, veränderte die Landschaft abermals. Eine Flutwelle legte alles wieder bloß und bedeckte es später mit Geröll. Der Felsen schien im Boden zu schwinden und wieder aufzutauchen wie aus steingewordener Brandung. Dann bedeckte eine graue Düne aus angewehter Asche den Felsen. Und wie sah es heute dort aus? Der charakteristische obere Teil, trotz der Härte des Steines verwittert, ragte aus der Savanne. Weit und breit gab es kein Wasser. Steinplatten lagen herum, der großartige afrikanische Himmel mit seinen wattigen Wolken spannte sich über einer gebirgigen Einöde, über der die Geier kreisten. Zum versiegelten Eingang vorzustoßen, würde viel Arbeit und den Einsatz größerer technischer Mittel erfordern. Am Tag der Heiligen Francisca und Johannes’ vom Kreuz verschwand Ullana ohne eine Spur, ohne Nachricht. Ciron und Roquette meinten, ich solle nicht nach ihr suchen. Irgendwann in diesem letzten Monat gab ich es wirklich auf und fügte meiner Erinnerung an viele rätselhafte Vorkommnisse eine weitere hinzu. Mit diesen Erkenntnissen räumte ich meinen einsamen Hausstand zusammen und bereitete mich darauf vor, in den langen, kalten Schlaf zurückzukehren. Das
regungslose
Gesicht
des
absolut
menschlich
verkleideten Roboters verriet kein einziges Megabyte seiner Überlegungen. Logik innerhalb einer bestimmten Variationsbreite der Interpretation bestimmte sein Handeln, und er war noch immer nicht sicher, ob die Parameter stimmten. Die Konstruktion der Verschwörung war nicht stabil genug. Verschwörung? Er hatte sich mit Ullana gegen den Arkoniden verschworen. Mit der typischen Handwerkerschläue der Barbaren, gepaart mit rascher Auffassungsgabe und dem Reichtum an List, die viele Frauen auszeichnete, hatte Ullana von den Funktionen der Überlebenskuppel erfahren, sie richtig gedeutet und Ciron einen Vorschlag gemacht. Ihre Logik sagte aus: Möglicherweise gibt es in den Kammern des langen Schlafes andere Männer oder Frauen. Wahrscheinlich Frauen. Sie wollte eine davon sein. Ganz richtig schloß sie, daß mit dem Augenblick des Einschlafens, wie jede Nacht erlebbar, die Erinnerung abriß und beim Aufwachen wieder zurückkam. Der Zeitraum dazwischen war ihr gleichgültig. Eines Tages, argumentierte sie weiter, braucht mich Atlan. Vielleicht läßt er die eine oder andere Frau aufwecken und nimmt sie mit auf seine Reise. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie dabei stirbt, ist nicht gering. Wecke mich, wenn Atlan mich braucht! In einem Jahr, in zehn oder hundert. Ich will und werde an seiner Seite kämpfen. Cirons Stimmung war jetzt das Äquivalent eines grimmigen Lächelns. Er mußte weitere Parameter hinzufügen. Atlan unterbrach seine Erzählung, schwieg beängstigend lange, hob eine Hand und sagte, als ob er bewußt zu Cyr Aescunnar spräche, abermals mit veränderter Stimme: »Daß Ullana verschwand, war seltsam; zweifellos. Sehr viel später berichtete mir Rico über die Gründe seines damaligen
Verhaltens. Aber als er mich weckte, weil unsere Satelliten eine doppelte oder zwei unterschiedliche Annäherungen eines Raumschiffes oder sogar zweier Raumflugkörper angemessen hatten, vermochte er noch nicht jenen zuckenden Energiestrahl aus der Tiefe der Milchstraße zu orten. Ich erinnere mich jetzt, daß ich in der Camargue schon einmal gezwungen wurde, von Radogyne und dem Schwarzen Drachen zu berichten; auch das Schwemmland der Rhonemündung zählt zu meinen, von Erinnerungen erfüllten irdischen Landschaften. Und… abermals mußte ich einen Kontinent der Kriege betreten, um wandernden Zielen hinterherzujagen…« Es gab im Süden Terras gewisse Stunden; es sind nur wenige im Lauf des Jahres, in denen der gesamte Planet zu erstarren scheint. Es ist wie die Pause vor einem gigantischen Atemholen. Alles liegt bewegungslos unter dem heißen Glast der Mittagssonne, deren Strahlen beinahe senkrecht fallen. Dann sind die Laute der Grillen und das gelegentliche Rascheln des dürren, verstaubten Grases die einzigen Geräusche. »Es sind gläserne Schlangen, die sich bewegen. Du kannst sie nicht sehen; sie kriechen unter den Gräsern«, sagte der Thanatophobe, massierte Hautcreme in die Winkel zwischen Nasenwurzel und Augen und murmelte halb unverständlich: »Du stehst, Weißhaariger, auf der Mauer wie ein Späher. Allein mit den Gegengewichten deiner Unrast. Du versuchst, die Asche deiner Erinnerungen zu sammeln… ach! Es ist die Asche der Legionen deiner toten Freunde.« Ich, der Weißhaarige, hörte die Worte und dachte nach, während sich das Zirpen der Grillen langsam im Kreis drehte; ein Tier löste das andere ab. Wir saßen im Schatten eines Olivenbaumes. Der Boden war gesprenkelt von Licht, das auf den winzigen Kieseln tanzte; kaum wahrnehmbarer Wind fuhr
die Rhone abwärts, bewegte die Zweige und ließ hin und wieder Inseln aus Gekräusel entstehen, hier, wo sich der Flußlauf staute. Diese unglaubliche Hitze lähmte sogar die Mücken. Große, vom Wasser und Wind ausgebleichte Fragmente angeschwemmter Baumstämme, die aussahen wie die Knochen prähistorischer Tierriesen, lagen auf dem Kies der Landzunge, dessen kalkiges Weiß schmerzhaft in die Augen stach. Schließlich erwiderte ich, dessen Haut von der Sonne und von den Jahren zwischen den Sternen wie gegerbt aussah, leise und unverbindlich: »In meiner Hand die Sanduhr, Freund Vaskene, sie läuft ab. Wenn das letzte Sandkorn den engen Schlund passiert, wird auch meine Erinnerung sterben.« Vaskene, der Thanatophobe, sprang auf und verschüttete den hohen Becher. Die eiskalte Sangria floß über die weißgescheuerte Platte des Tisches. Vaskene starrte mich und die junge Frau an, schluckte und wurde unter dem Pigment der braunen Haut leichenfahl. Ein Gedanke schien ihn gleichermaßen mit Furcht und mit einer magischen Anziehung zu erfüllen. Panik und Faszination stritten sich in seinem Gesichtsausdruck. »Es stirbt jeder Tag«, sagte der Hagere und verschob die Sonnenbrille über den Augen. »Und es stirbt jeder Mensch… einmal. Für viele mag dies die Lösung aller Probleme sein.« Vor Stunden, als die Mittagshitze die Kühle des Vormittags verdrängt hatte, war dieser Mann aus den Büschen des Ufers gekommen. Er mußte mindestens zweihundert Jahre alt sein, aber eine Serie kosmetischer Operationen, mehrere Epidermisbehandlungen, teure Ara-Medikamente und die Angst vor dem Sterben, denn nichts anderes bedeutete der Ausdruck Thanatophobie, hatten diesen Greis in einen Mann der mittleren Jahre verwandelt. Aber die dünne Schicht Firnis über dem wahren Bild des furchtsamen Terraners hatte nicht
lange standhalten können. Irgendwo vor uns sprang ein großer Fisch aus dem ruhigen Wasser, schnellte sich in einer eleganten Kurve hoch und fiel zurück. Ein System von Ringen breitete sich aus. Das Wasser der Rhone war glasklar und sauber. Bei diesem Geräusch zuckte Vaskene zusammen, warf einen furchtsamen Blick in die Runde und sagte dann: »Ich muß weiter. Ich habe keine Ruhe. Ich fürchte das Ende, Weißhaariger.« Ich nickte ruhig und musterte die Gestalt. Es schien, als ob ein unbeugsamer Wille diesen Mann aufrechthielt; dies war sicherlich eine Täuschung. Der wichtigste Gegenstand im Leben des Thanatophoben war ein Spiegel – Vaskene würde sich stets so gut oder schlecht fühlen, wie es ihm sein Spiegelbild, dieser zweidimensionale Zwilling, suggerierte. Alles, was geeignet war, ihm Angst vor dem drohenden Ende zu machen, wurde fluchtartig verlassen. »Dein Ende, Vaskene, ist bestimmt noch in weiter Feme«, sagte Radogarth. Sie sprach zum erstenmal seit Stunden. »Wohl kaum! Ich fürchte mich davor, alt zu werden. Meine rechte Schulter ist tiefer als die linke. Dort ruht die Last meiner Erlebnisse. Sie drückt mich nieder. Und es gibt nichts anderes als Flucht dagegen!« Ich richtete den Becher auf, schöpfte mit ihm Wasser aus einem hölzernen Behälter und schwemmte die schnell auftrocknende Sangria von der Tischplatte. »Bin ich Prometheus?« fragte ich lächelnd. Ich erinnerte mich meiner eigenen Erinnerungen, zahlreich wie die Sterne der Galaxis und von der gleichen bitteren Kälte wie der Raum zwischen den Sonnen, und sah zu, wie Vaskene grußlos über den Kies der Landzunge rannte. Die Steine gaben unter den Sohlen der weißen Stiefel nach, im Kies erschienen tiefe Spuren. Dann keuchte der Mann, der vor dem Tod Angst hatte, den Uferhang hinauf und verschwand.
Wir waren wieder allein mit dem provozierenden Zirpen der Grillen. Heute, an diesem Tag im dritten Jahrtausend nach der Zeitenwende, schien die Vergangenheit wieder aufgetaucht zu sein; nicht drohend, nicht niederschmetternd – sie schien sich nur zögernd erheben zu wollen. Vielleicht waren auch die Erinnerungen von der Glut dieses Mittags gelähmt, wer weiß? Sieh nicht zu oft in ihr Gesicht! Die Erinnerungen… warnte der Extrasinn. Allein der Name – diese auffallende Ähnlichkeit! – würde genügen, um mich zu zwingen, mich an die Frau von den Sternen zu erinnern. Damals, als die keuchende Orgel das Byrd-Madrigal gespielt hatte. »Radogarth!« sagte ich. Die Hexe! sagte der Extrasinn. Unmerklich ging der Mittag mit seiner unbarmherzigen Hitze und Grelle in den Nachmittag über. Kleine, weiße Wolken erschienen und zogen von Westen nach Osten über den pastellfarbenen Himmel. Es begann zu duften. Tausende verschiedener Kräuter und Blätter, Blüten und Früchte ringsum verströmten den Geruch, der für diese Landschaft charakteristisch war. Ich dachte einmal kurz daran, daß es möglich sein müßte, Landschaften zu bestimmten Zeiten an den Gerüchen zu erkennen. Wir spazierten langsam die schmalen Gassen, die vielen Stufen, die Steinplatten des Flußufers entlang, unter Bäumen und verborgenen Lichtern, und endlich standen wir, von den Tönen angelockt, auf den Stufen, die zum Kirchenportal hinaufführten. Ich zögerte, gleichzeitig zog es mich vorwärts. Radogarth merkte es am Druck meiner Finger. Für mich besaß die Musik Claudio Monteverdis eine besondere Bedeutung. Ich hatte sie gehört, einige Wochen, nachdem sie komponiert worden war, und war der einzige Mensch im Universum, der von sich behaupten konnte, er habe Claudio selbst dirigieren sehen. Und durch einige Jahre meines Aufenthaltes auf Larsaf III zog sich die Musik
Monteverdis ebenso wie die Stücke eines Jan Pieterzoon Sweelinck, eines Byrd, Schütz, Hans Leo Haßler und anderer. Sie besaßen die gleiche eindringliche Kraft der Erinnerung wie die Werke Shakespeares. Orgelklänge, lauter, eindringlicher, drohendes Schicksal ankündigend, hallten durch den Innenraum der gotischen Kirche. Es ist die gleiche Musik wie damals, flüsterte der Extrasinn. So war es. Ein fünfstimmiges Madrigal von Byrd, dem englischen Komponisten. Ich kannte jede Note, auch die Orgelbearbeitung. Vermutlich benutzte ein Lehrer des Ortes die Abendstunden, um zu üben. Ich zuckte zusammen, als ich die komplizierte Kadenz des ersten Satzes erkannte. Noch zehn Schritte, und du mußt reden! sagte das Extrahirn drängend. Radogarth sah mich von der Seite an. Ich atmete schwer. Ein paar Dorfbewohner waren stehengeblieben und sahen in die Richtung des Kirchenportals. Schweißtropfen erschienen auf meiner Stirn und versickerten in den Brauen. Um meinen Mund zuckte ein Muskel. Der Druck meiner Finger verstärkte sich; ich setzte fast mechanisch Schritt vor Schritt und stieg mit Radogarth die Treppe hinauf. Meine Hand drückte die schmiedeeiserne Klinke nieder; sie bewegte sich kreischend und ließ einen rostigen Mechanismus knackend und klickend reagieren. Dann schwang die Tür auf. Die kühle, abgestandene Luft des Kircheninnern schlug uns entgegen. Du bist verloren! Du kannst nicht mehr zurück! schrie der Logiksektor. Wir gingen langsam weiter. Hinter uns schlug die Tür zu. Wir waren in einer eigentümlichen Welt gefangen. Das exterritoriale Gebiet einer Religion umgab uns. Verstand und Erinnerungsvermögen empfingen eine schnelle Folge einzelner Schläge, es waren mehr schmerzhafte Nadelstiche. Die Bilder des Kreuzwegs, die Empore mit den Orgelpfeifen,
die Kanzel und das Altargemälde, die sorgsam restaurierten und konservierten Reihen der Bänke, die Votivtafeln und die Marmorplatten, auf denen verblassende Schriften mit der Vergangenheit kämpften, mit der Vergessenheit der Zeitgenossen. Meine Knie knickten ein. Der Orgelspieler hatte uns nicht bemerkt, und auch das Geräusch, mit dem ich in einen Sitz fiel, störte ihn nicht. Perlend raste eine Tonfolge des Madrigals durch die Kirche, der Nachhall betäubte. Die Welle ergriff mich, hob mich hoch, schleuderte mich um Jahrhunderte zurück. Wieder roch ich das Gemisch aus Weihrauch und aus dem Geruch, der durch das Dorf wehte, wenn die Knechte des Kerkermeisters mit glühenden Zangen Fleischfetzen aus dem Körper der »Hexen« rissen. Wieder erschollen hinter dem Orgelspiel die Schreie der Tiere, das Keifen der Marktweiber, das Knattern schneller Hufe auf den Steinen, erschollen die Flüche der Landsknechte. Und jetzt erlebte Radogarth mit, wie ich wieder einmal die Oberfläche dieser Welt betrat. Sie erlebte meine Schilderung, gegen die ich mich nicht wehren konnte. Sie sah, hörte, empfand und staunte und befand sich plötzlich im Jahr 1645 der terranischen Geschichte. Meine Stimme wurde von den letzten Takten des Madrigals begleitet. Ich holte tief Atem und redete ununterbrochen, als ob ein ungeheuer fesselnder Film ablief. Fünfzehn Männer, die im langsamen Galopp auf das Dorf zuritten, sahen aus, als wären sie Varianten eines einzigen Typs: Bis auf wenige unbedeutende Einzelheiten waren ihre Rüstungen und Waffen gleich. Die Männer besaßen auch die gleiche Statur, die gleiche Größe, und selbst die Art, in der sie in den Sätteln ihrer ausnahmslos schwarzen Pferde saßen, war auffallend gleich: eine schwarze Kavalkade, die durch den Hohlweg donnerte. Auf dem Wimpel, der an der
scharfgeschliffenen Hellebarde des ersten Reiters flatterte, befand sich ein blauweißer Stern auf purpurnem Grund. Die folgenden Reiter hingegen waren bunt und auch sorgloser; von der ersten Gruppe ging ein düsterer Eindruck aus, der wenig Gutes verhieß. Der Anführer hob die Hand und zügelte seinen Rappen scharf. Das Tier bäumte sich auf, drehte sich nervös auf den Hinterbeinen und stand dann unbeweglich. »Freunde!« rief der Anführer. Sein Gesicht war scharfgeschnitten, die Haut leicht bräunlich, als ob er in die Sonne vieler Länder geblickt habe. Die Augen waren die eines Habichts; scharf und kalt. Der Umstand, daß die oberen Lider schräg waren, verstärkte diesen Eindruck. Pferde wieherten leise. Hufe scharrten, und als einer der Landsknechte eine Frau an den Schenkel griff, kreischte sie auf. Der letzte Reiter der ersten Gruppe drehte sich um, starrte den Gewappneten an, dann die Frau; beide erstarrten unter diesem Blick. Der Zug der Reiter versammelte sich binnen Sekunden in einer engen Gruppe. »Freunde«, sagte der Anführer abermals. Er sprach, als nähme er innerlich keinen Anteil an der Bedeutung seiner Worte. »Wir suchen zwei Personen, einen Mann und eine junge Frau. Auf diesem Weg müssen wir durch die Siedlung vor uns – jeder andere Weg würde einen zu großen Umweg bedeuten. Wir reiten schnell hindurch, bleiben dicht zusammen. Wir suchen die beiden Fremden, kaufen Essen ein und reiten weiter, wenn wir sie nicht hier finden. Wir wissen, daß sie in nordwestlicher Richtung geflohen sind. Wir sind schneller, und wir sind mehr. Wir müssen sie finden.« Nervös wurden die Musketen nachgesehen, die langen Schwerter angefaßt, die Armbrüste gesichert. Der Anführer sah einen nach dem anderen an und wußte, daß ihre Mission schwierig war. Sie versuchten, in einem brennenden und stinkenden Heuhaufen zwei Nadeln zu finden – und sie hatten
keinen Magneten. Aber sie hatten Zeit. Allerdings: zu wenig Zeit, wenn man es recht bedachte. Mit ihnen um die Wette ritten die Wirren des langen Krieges, den man später den Dreißigjährigen Krieg nennen würde. »Wieviel Zeit haben wir?« fragte eine der jungen Frauen, die sie irgendwo unterwegs aufgelesen hatten. »Siebenhundert Tage. Nicht mehr!« sagte der Anführer. »Das bedeutet, daß wir ununterbrochen suchen müssen.« »Worauf warten wir noch?« fragte der Mann neben ihm. Man hätte viele aus der Gruppe der dreißig Reiter, ihrer harten Sprache wegen, für Schweden halten können, die in das Gebiet des langen Flusses, des großen Sees und der nördlichen Berglandschaft, versprengt worden waren. Dagegen stand die dunkle Farbe der Haut. Dagegen standen auch die Waffen, die wahre Wunderwerke zu sein schienen, dagegen stand ferner, daß sie an nichts glaubten, vor nichts Angst hatten, ungemein rasch zu sein schienen und wie der leibhaftige Satan selbst ritten. Sie waren halbe Kentauren. Jedesmal, bevor sie eine der Frauen in ihre merkwürdigen Zelte nahmen, zitterten die jungen Dinger, und danach weinten sie. Der Anführer schlug mit dem stahlverstärkten Handschuh gegen den schwarzen Brustpanzer. »Los!« Die Truppe zog sich auseinander. Der Galopp wurde schärfer, Erdklumpen wirbelten von den Hufen der Pferde durch die Luft und prallten dumpf gegen Baumstämme. Hin und wieder kamen die Reiter an Baumstümpfen vorbei, die zerborsten, geschwärzt und zersplittert waren; Folgen des Beschusses aus Feldschlangen oder anderem Geschütz. Als sie den Hohlweg passiert hatten, stürzten sich die Hunde auf den Trupp, ausgemergelte, vor Hunger und Angst halb irrsinnige Tiere, deren Rippen scharf unter dem zottigen, schmutzigen Fell hervorsahen und es durchstoßen wollten. Die Tiere bellten nicht einmal mehr; sie röchelten und
geiferten nur. Vor sich sahen sie wohlgenährte Pferde mit gestriegelten, glänzenden Fellen, rochen gutes Leder, lebendige Haut, warmes Fleisch. Sie stürzten sich besinnungslos auf den ersten Reiter, dessen Pferd zu scheuen begann. Der Mann schätzte ihre Anzahl ab: Es waren rund zwanzig Bastarde. Der Anführer senkte die Hellebarde, rammte deren Spitze einem der hochspringenden Tiere quer durch den Körper. Dann – eine der Frauen, die kreischend ihr Pferd die Schräge des Hanges hochjagte, sah es und wunderte sich noch Tage später darüber – riß der Anführer die mehr als zwei Meter lange Waffe hoch, schwenkte sie in einem Halbkreis und erschlug mit dem kläffenden Hund einen zweiten. Sein Pferd keilte aus und schleuderte ein Tier durch die Luft, das gegen die Brust des dahinter galoppierenden Reiters flog und starb. »Die Schwerter!« schrie einer der fünfzehn. Die Waffen befanden sich in den gepanzerten Fäusten der Männer. Selbst ein schielender Bettler würde erkennen, daß die fünfzehn Reiter erstklassige Krieger waren, die es mit jedem Feind aufnehmen konnten. Die Hunde sprangen an den Pferden hoch, die wieherten, sich aufbäumten, ausschlugen und sich im Kreis drehten. Die langen, schmalen Waffen beschrieben Kreise, trafen auf zuckende Tierkörper. Der Galopp ging weiter, entfernte sich vom Ausgang des Hohlwegs. Die Hunde sprangen im Zickzack neben den durchgehenden Pferden hoch, wurden geköpft oder tödlich verwundet. Blut troff aus den Fellen der Pferde, dorther, wo die räudigen Köter ihre Zähne hatten hineingraben können. Die blitzenden Klingen hoben und senkten sich. Einige der Landsknechte feuerten die Armbrüste ab. In das Trommeln der Hufe, das Wiehern und erregte Schnauben, in die herrischen Kommandos der Reiter, in das Schreien der vier Frauen mischten sich die hechelnden Laute der halb wahnsinnigen Bestien, das harte Schnellen der
Armbrustsehnen und die Geräusche, mit denen die unterarmlangen Bolzen in die Tierkörper einschlugen. »Weiter! Schneller! Fangt den Gaul ein!« schrie der Anführer. Er hieß Usinas und hatte eine tiefe, tragende Stimme. Nur noch drei Hunde umsprangen ihn. Er zog den Fuß im knielangen Stiefel aus dem eisernen Sattelschuh, holte aus und trat zu. Der Tritt brach einem der Hunde das Genick. Der zweite verbiß sich in den Spann des Stiefels und wurde von der breiten Spitze der Lanze durchbohrt. Der letzte rannte einige Schritte neben dem dahinpreschenden Pferd her. In außergewöhnlicher Ruhe befestigte Usinas das Ende der Hellebarde im Sattelschuh, zog eine Reiterpistole mit feinziseliertem Feuersteinschloß aus der Lederhülle und warf sie im vollen Galopp in die Höhe. Er griff zu, hielt das Ende des Laufes in der Hand und verwendete den Griff als Keule. Mit scharfem Krachen zerbarst die Schädeldecke des Hundes. Das Tier überschlug sich und wurde von den Hufen der nachfolgenden Pferde in den Boden getreten. Einer der fünfzehn lenkte seinen Rappen nach links, zwang ihn in vier Sprüngen den Hang hinauf und erwischte den durchhängenden Zügel des Pferdes, in dessen Beutesattel die Frau hilflos schwankte. »Keine Sorge, Agnés!« sagte er. Sie lächelte ihn verzerrt an, dann ging der wilde Ritt weiter. Die ersten bearbeiteten Felder tauchten auf. In der Ferne, hinter niedergerittenen Zäunen und rauchgeschwärzten Mauern verbrannter Scheunen, in deren Steinen Spuren von Artillerietreffern zu sehen waren, tauchten die ersten Häuser und der spitze Kirchturm auf. Der Anführer zügelte sein Pferd und ließ den Trupp an sich vorbeireiten. Er zählte neunundzwanzig. Sie hatten die Attacke der Hunde gut überstanden; die Wunden der Pferde würde man im Dorf versorgen können. Tag und Nacht ging es so, sie folgten einer
Spur, so gut wie unsichtbar. Nur Gerüchte, Aussagen von Gefangenen, die hinter vorgehaltener Hand kursierenden Auskünfte von Pfaffen oder Ratsdienern… das waren die winzigen Punkte, die sich zu einem Pfad durch ein verwüstetes Land gliederten. Usinas wußte, daß er Vaskane Dyer finden mußte. Das Schicksal zahlreicher Menschen hing davon ab, daß er ihn lebend traf. Nichts anderes zählte, dachte er grimmig, als er die Sporen einsetzte und den Zug entlang ritt, um wieder die Spitze übernehmen zu können. Schnell näherten sie sich der Siedlung, einem Zeilendorf, zwei Reihen Häuser und Ställe entlang der S-förmigen Windung der Straße. Eine Kirche, deren Turm an der Ostseite Brand- und Rauchspuren zeigte, erhob sich in der Mitte, dort, wo sich die Straße verbreiterte. Ein Bauer, der mit zwei ausgemergelten Ochsen einen Acker pflügte, sah die Reiter und verbarg sein Gesicht in beiden Händen. »Schon wieder die Schweden!« murmelte er. Jetzt war der Zug zwischen den ersten Gehöften. Der Anführer versuchte, mit seinen scharfen Augen das Gebüsch und die verwitterten Mauern zu durchdringen. Wurden sie angegriffen? Niemand sah ihnen an, daß sie keine Feinde waren, sondern Suchende, Jäger, die nach einem kostbaren Wild suchten, das die vollkommenste Form der Mimikry beherrschte: Es hatte sich im größten Gewimmel verborgen, war selbst zu einem Teil dieser Wirrnis geworden. Niemand sprach ein Wort. Aus dem Galopp war ein schneller Trab geworden. Dreißig Reiter, in Paaren, ritten in das Dorf ein, dessen Namen sie nicht kannten; keine Karte verzeichnete diese Ansammlung von Bauernhöfen. Es stank nach Mist. Ein Hahn schrie heiser vom Stauwehr einer Mühle, deren Dach unregelmäßige Löcher aufwies. Irgendwo bellte ein Hund.
Usinas mißtraute dem Frieden, setzte die Sporen ein, kippte die Hellebarde nach vorn und legte sich auf den Hals seines Pferdes. Aus dem Trab wurde ein Galopp. Die anderen folgten ihm. Sie sahen an seinen Reaktionen, welche Spannung ihn ergriffen hatte; da sie alle den Tod tausendfach gesehen hatten, fürchteten sie einen Musketenschuß aus dem Hinterhalt ebenso wie einen geschleuderten Stein oder einen heransurrenden Armbrustbolzen. »Vorsicht!« rief Usinas. »Wir sammeln uns am Brunnen.« Erfahrungsgemäß baute man die Dörfer um den Brunnen herum, so daß er in der Mitte der Siedlung zu finden sein würde. Hauswände warfen das Echo der klappernden Hufe zurück. Und dann geschah, was Usinas erwartet und befürchtet hatte. Aus dem Augenwinkel sah er das Aufblitzen, gleichzeitig erreichte die Schallwelle der Explosion sein Ohr. Die Kugel pfiff hinter seinem Nacken vorbei und grub sich klatschend in einen Baum. Usinas riß die Waffe hervor, hielt mit der Linken die Hellebarde fest und gab zwei, drei Schüsse ab. Glutbälle detonierten an der oberen Kante der Mauer, hinter der sich der Schütze verborgen hatte. Schlagartig reagierten die anderen. Noch ehe die Bolzen der Armbrüste sie von den Pferden reißen konnten, kippten sie nach beiden Seiten aus den Sätteln, hielten sich an den Mähnen der Pferde fest oder am Sattelhorn, feuerten nach allen Seiten. Ein höllisches Spektakel brach los. Ein Hofhund an langer Kette rannte wie besessen zwischen zwei Häusern entlang und erdrosselte sich fast bei dem Versuch, einen der Reiter anzugreifen. Usinas richtete sich in den Steigbügeln auf, schoß mehrmals und brüllte aus Leibeskräften: »Die Franzosen haben das Dorf besetzt! Fangt zwei Leute, die wir verhören können!« »Verstanden!« schrien ein paar der Männer in den
schwarzen Halbrüstungen. Wenn die Bauern und die kleine französische Besatzung, die dieses Dorf verteidigten, genauer hingesehen hätten, würden sie vielleicht ein Flimmern um die ersten Reiter des dahinpreschenden Trupps bemerkt haben, als ob die Luft um sie herum kochen würde. Die Kavalkade erreichte, durch ein Inferno aus Schüssen, summenden Bolzen, kläffenden Hunden und feuernden Soldaten reitend, den Marktplatz. Dort sahen sie mehrere Personen, die zu flüchten versuchten. Es waren eine junge und eine uralte Frau, ein Knecht und ein Bauer in riesigen Holzpantinen. Usinas ritt scharf nach rechts, schnitt der jungen Frau den Weg ab und beugte sich tief aus dem Sattel. Er griff nach ihr und riß sie zu sich hinauf in den Sattel. Er legte sie quer vor sich, hielt sie fest und sprengte weiter. Der flüchtende Bauer, dessen Pantoffeln über die großen Steine der Straße kugelten, wurde zwischen zwei Reitern mitgeschleift. Die Männer hielten ihn an den Armen, unter den Achseln, ritten nebeneinander, und der Bauer riß seine bloßen Füße hoch. »Weiter!« brüllte Usinas. Die Gruppe trennte sich. Jeweils etwa fünfzehn Reiter stoben rechts und links der gemauerten, mit Holzbohlen verstärkten Brunnenumrandung vorbei. Ein Priester erschien auf den Stufen seines Kirchleins und feuerte eine riesengroße Muskete ab. Der Rückstoß warf ihn krachend gegen die Tür des geschnitzten Portals. Eine Rauchwolke aus dem trichterförmigen Schlund der Muskete verhüllte das Bild. Ein paar Kugeln, die den Reitern nachgeschickt wurden, trafen in die hölzernen Schindeln von Dächern. Das Klappern der Pferdehufe wurde leiser, als die Reiter die zweite Hälfte der Straße erreichten, die aus dem Dorf hinausführte. Usinas handhabte seine Reiterpistole schnell und sicher und gab, während er sich mehr und mehr von seinem Hintermann
entfernte, Schüsse nach rechts und links ab. Seine Schüsse explodierten und setzten Reisighaufen, Holzstöße, Farne und Büsche in Brand. Eine doppelte Mauer aus Rauch, Flammen und fettem Qualm machte die Sicht auf die Straße unmöglich. Der beißende Geruch der schwitzenden Pferde mischte sich mit dem Gestank des Amoniaks, als ein Misthaufen zerrissen wurde und, einer pilzförmigen Wolke gleich, sich über den Weg und die Reiter warf. »Wir sind gleich im freien Feld!« schrie jemand. Wieder feuerte man auf die Reiter. Von beiden Seiten wurden Musketen abgeschossen. Usinas wunderte sich, daß niemand daran dachte, eine Feldschlange abzufeuern. Dann jagten die Pferde durch die dichten Rauchwolken hindurch, ließen die letzten Gehöfte hinter sich, und wenige Minuten später trafen sie sich an einem dürren Gehölz. Ein Mann hing am Ast einer Eiche; ausgemergelt bis zum Skelett und mit den Wunden vieler Vogelschnäbel. Usinas unterdrückte einen Fluch… dieser Kontinent war ein Asyl, in das sich Schrecken und Wahnsinn, Not und Hunger, Verzweiflung und Krieg geflüchtet zu haben schienen. Der Trupp sammelte sich. Usinas’ Stimme durchschnitt das einsetzende Murmeln von vielen Gesprächen. »Verletzte?« fragte er. »Ich… leicht! Hat Zeit!« »Ich stinke… mit Mist bedeckt…« »Ich glaube, mein Panzer hat ein Loch!« »Nebensächlich!« entschied er. »Die Gefangenen hierher!« Er sprang mit einem Satz vom Pferd, griff der jungen Frau unter die Achseln und sah, daß sie sowohl ziemlich jung, schön und klug aussah. Vielleicht war sie die Tochter des Schulmeisters oder des Pfarrers. Er fragte leise: »Kannst du mich verstehen, Magdalena?« »Ich heiße Anna«, sagte die Frau, nachdem sie einige
Sekunden lang sein glattrasiertes Gesicht gemustert hatte. »Ich kann Euch verstehen, Reiter.« Usinas sagte: »Wir suchen einen Mann und eine Frau. Der Mann sieht ähnlich aus wie ich, hat aber einen solchen Bart.« Sein Finger deutete auf den Fleck unterhalb der Nase und beschrieb dann einen Kreis, der sich über das Kinn fortsetzte und wieder unter der Nase endete. Gleichzeitig deutete er mit der anderen Hand auf drei Landsknechte, die sie mit unverhohlener Lüsternheit angafften, und befahl: »Sammelt schnell Reisig und trockenes Geäst: wir wollen dem Bäuerlein die Sohlen rösten!« Der Bauer versuchte zu flüchten, aber aus einem Sattel warf sich einer der Schwarzen und nagelte ihn am Boden fest. Die Landsknechte gehorchten wortlos. Die Frau sagte furchtlos, jedoch mit heiserer Stimme: »Ich habe vor drei Monden einen solchen Mann gesehen; es war ein Offizier der verfluchten Schweden.« Usinas winkte ab. »War eine Frau bei ihm?« Sie nickte. »Zwei Frauen. Die eine, blond, war jünger als ich, und sie hatte ganz kurzes Haar. Vielleicht ist sie den Henkersknechten entwichen. Die andere war alt, fett und häßlich. Ihre Haare waren rot gefärbt.« »Vor drei Monden?« Usinas zog sein Messer aus der Scheide des breiten Gürtels. »Vor drei Monden. Sie froren sehr. Ein kleiner Trupp versprengter Schweden. Gott verwünsche sie.« »Er hat anderes zu tun«, meinte Usinas. Er versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. Es waren nicht die Gesuchten. Die Merkmale, nach denen er suchte, waren andere. Er würde sie niemandem erzählen, denn der geringste Hinweis war nur dann erfolgversprechend, wenn eine bestimmte Auskunft erfolgte. Inzwischen brannte ein kleines Feuer, fast rauchlos, und man band dem Bauern die Füße zusammen, die Knie an
einem massiven Ast fest; die Hände verschnürte man hinter dem Kopf. Der Mann verdrehte die Augen und wurde ohnmächtig. Man brachte ihn zu sich, indem eine der Frauen kichernd eine Feldflasche über seinen Kopf entleerte. Usinas verfluchte sich selbst – aber ihm blieb keine andere Wahl. Ihm war zumute wie einem Unhold in einem Waisenhaus. »Bauer!« sagte er scharf, als der Mann seine Augen öffnete. »Ich habe eine Frage.« »Ja, Herr! Verschont mich!« wimmerte der Mann. Er war aschfahl, eine der unzähligen geschundenen Kreaturen dieses Zeitalters, in dem der Wahnsinn sich zur Methode manifestiert hatte. »Weißt du etwas von einem Paar? Ein Mann und eine Frau. Jung, mit sonnenbrauner Haut, in gutes Gewand gekleidet?« Der Bauer nickte schweigend. Er schwitzte stark und verströmte einen unangenehmen Geruch. »Ja. Ich hörte etwas von einem hinkenden Invaliden. Sie haben einen solchen Mann als Hexer gefangen.« Usinas ließ beinahe sein Messer fallen. Der Schreck durchzuckte ihn, aber er beherrschte sich und fragte scheinbar gleichmütig weiter. »Wo?« »In Langenheim!« »Wann?« Das Messer Usinas’ näherte sich der Kehle des Mannes. Gleichzeitig zerrten ihn die Landsknechte näher an das Feuer heran, das eine heiße Glut verströmte. »Wann? Vor einigen Tagen, meine ich. Wartet, Herr! Der, der es mir erzählte, starb vor drei Tagen. Also muß es vor… vor mehr als einer Woche gewesen sein.« Usinas gab den Landsknechten einen Wink. Sie lachten roh auf, hoben den Ast und waren bereit, die Füße des Bauern ins Feuer zu drehen. Der Mann kreischte auf. Ruhig fragte Usinas: »Und die Frau?« »Man hat sie als Hexe eingekerkert«, sagte der Invalide.
»Auch in Langenheim. Am Fluß. An der Jagst, heißt er, glaube ich. Herr!« Usinas sagte leichthin: »Er lügt. Röstet ihn!« Die junge Frau warf sich fast in sein Messer. Er konnte sie gerade noch zur Seite reißen. Anna klammerte sich an seinen Arm, schrie und stammelte: »Herr Offizier… er sagt die Wahrheit. Tut ihm nichts! Ich hörte es von meinem Vater. Sie haben zwei Menschen gefaßt, die unverständlich sprachen. Sie sind als Hexer und Hexe eingesperrt worden. Aber ich weiß nicht, wie sie aussahen. Sie haben…« Usinas sah einen der anderen Schwarzgekleideten an und nickte. Er wußte genug. Dann holte er tief Atem, sah in Annas angstvolle Augen. Sie begann zu weinen. Usinas verfluchte sich abermals, steckte das Messer ein und befahl: »Bindet den Mann los! Löscht das Feuer. Wir reiten weiter – nach Langenheim!« Widerwillig gehorchten die Landsknechte. Er hatte sie um ein Schauspiel gebracht. Usinas griff in seinen Gürtel, zog vier Goldstücke mit dem Bild des Kaisers hervor und drückte sie dem Mädchen in die Hand. »Anna«, sagte er leise, faßte sie vorsichtig am Oberarm und ging zu seinem Pferd, das verdrossen an den kargen Halmen zupfte. »Es tut uns leid – wir wollen euch nichts tun. Wir suchen nur diese Leute; wir sind keine Ungeheuer. Teilt euch das Gold, ärgert euch nicht, und laßt euch die Münzen nicht von den Franzosen abnehmen. Geht heim; möge euch der Krieg verschonen.« Sie schaute ihn verblüfft an. »So ist es!« Er wandte sich ab. »Geht zurück zu eurem Dorf. Wir sind keine Schweden. Wir sind Fremde.« Sie war so überrascht, daß sie die Sprache verlor. Der Bauer und das Mädchen hielten sich aneinander fest und gingen
zwischen den Pferden hindurch. Ein Landsknecht trat dem Bauern in den Rücken und schwang sich fluchend in den Sattel. Usinas schüttelte den Kopf, als könne er auf diese Weise den Alptraum loswerden. Er schwang sich auf sein Pferd, hob die Hellebarde und schrie: »Wir reiten! Nach Norden – nach Langenheim. Dort finden wir, was wir suchen.« Eine der Frauen aus der Truppe drängte sich zwischen ihn und die beiden Schwarzgerüsteten. »Wo übernachten wir, Usinas?« fragte sie und rieb ihre Hüften an seinem Wildlederstiefel. »In des Teufels Rachen, Angelika!« sagte er verdrossen. »Oder in der Nähe von Langenheim. Wir werden sehen, ob wir den Ort heute noch erreichen.« Sie trollte sich zurück zu ihrem Pferd. Sie war durstig, hungrig; sie wollte heute in Usinas’ Zelt schlafen. Er war der Stärkste, und seine Haut war weich wie der Samt, von dem ihr einmal ein Mann erzählt hatte. Und sie mochte seine goldfarbenen Augen. Solche hatte sie noch niemals gesehen. Usinas blickte Areosa an und murmelte: »Ich kann es noch nicht glauben. Vielleicht erwischen wir Vaskane noch lebend. Und dann wird er sein Schiff landen müssen.« Areosa gab zurück: »Wir hetzen seit Wochen durch diese Kultur der Wahnsinnigen… pah! Kultur! Wann hat dieser Ritt ein Ende?« Celingsas sagte trocken: »Wenn wir Dyer gezwungen haben, das Geheimnis der verschwundenen Welt zu offenbaren. Vergeßt nicht: Wir reiten mit dem Wahnsinn um die Wette!« Böses Kläffen erscholl aus dem Dorf, dann fiel eine ganze Meute in das Heulen ein. Der Chor verfolgte die Reiter, als sie aufsaßen und der Andeutung eines Weges folgten, der, nach dem Geständnis des Bauern, nach Langenheim führte. Irgendwann, dachte Usinas, werden wir die Wahrheit erfahren. Entweder die, von der das Leben unserer Welt
abhängt, oder eine andere. »Das bedeutet«, murmelte er, als er weiterritt und sich fragte, wie lange die Tiere und die anderen diese wahnwitzige Jagd durch ein fremdes Gebiet noch aushalten würden, »daß Vaskane Dyer tot ist. Umgebracht von diesen Wilden!« Das alles war fast sinnlos. Fünfzehn Männer hatten sich eine Aufgabe gestellt, deren Gelingen fragwürdig war. Die Chancen, optimistisch gerechnet, standen neunundneunzig gegen eins. Eins: »Das bedeutet, daß wir Vaskane finden, ehe ihn die Irren umgebracht haben.« Usinas fühlte, während er ritt, wie sich ein Knoten in seinem Magen bildete. Es wurde ihm übler mit jedem Sprung, den sein Rappe machte. Er und vierzehn seiner besten Freunde suchten jemanden, der nur durch einen unglaublichen Zufall gefunden werden konnte. Usinas korrigierte sich augenblicklich: Es war von lebensnotwendiger Bedeutung, Vaskane Dyer und Radogyne, seine Geliebte, zu finden. Nur sie kannten das Geheimnis, dessen Auflösung das Leben einer uralten Kultur bedeutete und das Leben für einige Milliarden Menschen, die Usinas ausgeschickt hatten. »Ich werde wahnsinnig!« Usinas reagierte sich ab, indem er den Hals des Tieres klopfte. »Es ist alles so ungeheuer irrsinnig, daß ich in Tränen ausbrechen müßte.« Während sie weiterritten, begann sein Magengeschwür zu schmerzen. Ein Schmerz, als ob jemand mit einer gezahnten Spirale in seiner Bauchhaut umherbohrte. Usinas unterdrückte die Tränen, Tränen der Wut, der Hilflosigkeit, der Resignation und des Wissens, verloren zu haben, noch ehe das Spiel begonnen hatte. An jenem Tag, dem Tag der toten Hunde, schafften sie es nicht mehr, Langenheim zu erreichen. Sie übernachteten im Wald, und die Frau kam in sein Zelt, ohne daß er sie gerufen
hatte. Sie teilte sein Essen, seinen Wein und seine Decken mit ihm. Am anderen Morgen fühlte er sich wohler.
9. Schließlich kam der Augenblick, in dem ich wieder Herr über meinen Verstand und meine Sprache war. Eine Uhr zeigte das Datum: 1645. Mein Blick glitt über die vertrauten Schalter und Pulte, über die vielfältige Inneneinrichtung dieses Raumes der Tiefseekuppel, und blieb auf der Brust des Roboters haften. Als sei dies ein Signal, sagte Rico: »Atlan! Es sind zwei Raumschiffe gelandet.« Die Mitteilung durchfuhr mich wie ein starker Stromstoß. Aufgeregt versuchte ich, meinen Oberkörper in senkrechte Lage zu bringen. Der kühle Arm aus Metall und Plastik stützte mich. »Berichte!« sagte ich. »Vor geraumer Zeit landete ein Raumschiff nördlich der Alpen. Es scheint zwei Personen abgesetzt zu haben; der Robotspion, den ich sofort losschickte, lieferte Bilder, die nur aussageschwach sind.« »Weiter!« forderte ich. Rico hatte mich geweckt, rund eine Handvoll Jahre nach meinem letzten Einschlafen. Zwei Schiffe waren gelandet: Das bedeutete eine faszinierende doppelte Gelegenheit. Vielleicht würde es diesmal klappen – eine direkte Passage nach Arkon war nicht mehr in utopisch weiter Entfernung. Während sich die Maschinen mit mir und meinem Körper beschäftigten, während Nahrungsstoffe und Medikamente durch meinen Kreislauf krochen und der Zellaktivator die heilende und regenerierende Strahlung ausschickte, erfuhr ich mehr. Rico projizierte einige der Bilder. »Ein Schiff landete, setzte zwei Personen ab und startete. Zu diesem Zeitpunkt leitete ich die Aufweckschaltungen ein. Einige Tage später landete ein zweites, wesentlich größeres
Schiff oder Beiboot unweit dieser Stelle. Fünfzehn Individuen verließen es, auch dieses Schiff startete wieder und befindet sich im Augenblick im geostationären Orbit über dem Mittelmeer. Das erste, kleinere Schiff verschwand mit großer Sicherheit aus dem System von Larsafs Stern.« Ich murmelte hilflos: »Das sieht nach Verfolgung aus. Es steht fest – ich muß eingreifen. Bis ich wiederhergestellt bin, spielst du mir die zwischenzeitlich gewonnenen Eindrücke ab!« Panische Furcht begann von mir Besitz zu ergreifen. Wieder einmal würde der Kontinent Schauplatz einer geheimen Jagd sein. Jetzt würde ich entweder die Flüchtlinge oder die Fremden verfolgen, um einen Platz im Raumschiff zu bekommen. Jeder würde jeden verfolgen; alles geschah im verborgenen. Und in welche Zeiten, in welche Wirrnisse würde ich dieses Mal hineingeschleudert werden? Ich sah die Bilder, hörte die Eindrücke und sah, daß der unbarmherzige Krieg noch immer das Land überzog. Fast alle Staaten des Kontinents waren mittlerweile daran beteiligt. Das Mosaik der Bilder, von Rico erläutert, schilderte mir den Unsinn dieses Krieges, der die Menschen dezimierte, Hunger und Seuchen mit sich brachte und ständig hin und her flutete. Welche Rolle sollte ich diesmal spielen? Rico hatte für mich gedacht und sagte: »Ich habe vorgearbeitet in der Zeit seit deinem Einschlafen. Ich habe einen riesigen grauen Wolf herstellen lassen; ein wahres Kunstwerk. Und du solltest diesmal als Artillerist, als Erfinder großer Kanonen, als französischer Offizier, das Land bereisen.« Ich erkannte die Stärken des Planes. »Einverstanden!« In den folgenden Stunden und Tagen, in denen sich mein Körper kräftigte, saß ich in dem schweren Sessel des Betrachters und lernte ununterbrochen. Ich fieberte vor Eile
und Nervosität, aber die Frist der Reanimation durfte nicht unterschritten werden. Es war eine merkwürdige Zeit: Während die Künste blühten und die »Naturwissenschaften« begannen, die Umrisse einer wirklichen wissenschaftlichen Disziplin anzunehmen, wurde gemordet und getötet, wurden Bauern geschunden, diskutierten die Abgesandten der Herrscher endlos über die Bedingungen eines Friedens, der niemandem weh tat. Und was war der Grund für diesen mörderischen Krieg, der schon fast dreißig Jahre dauerte, oft durchbohrt von friedlichen Abschnitten? Bilder und Erinnerungen: Im Mai 1618 hatten in Böhmen die Protestanten einen Aufstand gegen den Kaiser gewagt. Ich erinnerte mich an meinen Briefwechsel mit Martin Luther; Religionskrieg war die Folge davon, daß böhmische Adelige die kaiserlichen Räte Martinicz und Slavata samt ihrem Geheimschreiber aus dem Fenster des Hradschins geworfen hatten. Zwar landeten die Räte auf einem dampfenden Dunghaufen, aber der Krieg war unvermeidlich. Die protestantische Union und die Liga der Katholiken bekriegten sich. 1620 wurden die Böhmen von Tilly geschlagen. Der Kaiser ließ die Mitglieder der Union hinrichten, zog die Güter der Adeligen ein; schließlich führte er die Bevölkerung in den »rechten Glauben« zurück, was mit einer Massenschlächterei einherging. Tilly drang in die Pfalz und nach Westfalen vor. Der Krieg hatte von Böhmen nach Deutschland übergegriffen. Schließlich griff der dänische König Christian der Vierte ein, und der Tscheche Albrecht von Wallenstein stellte ein Heer für den Kaiser auf. Die Dänen wurden zurückgedrängt, die Auseinandersetzung ging in die Breite, erfaßte mehr Länder und Völker. »Es sind Barbaren«, wiederholte ich, »aber immerhin hat ein Mann namens Kepler zwei ›Gesetze‹ veröffentlicht, die mathematisch einwandfrei beweisen, aus welchen Kräften
heraus die Planeten die Sonne umrunden. Offensichtlich waren die Dinge, die ich Kopernikus sagte, nicht ganz verloren.« »Du magst recht haben«, sagte Rico, während wir den Speicher und die Automatiken des Wolfes programmierten, der so groß wie ein kleines Kalb war und eine Menge technischer Geheimnisse enthielt. »Während sie dichten und komponieren, bringen sie sich gegenseitig um.« Wir stellten die Teile meiner Ausrüstung zusammen. Das Schema hierfür änderte sich nur unwesentlich: Waffen, Medikamente und Ausrüstungsgegenstände. Kepler, der ein astronomisches Fernrohr benutzte und das Erste und Zweite Gesetz veröffentlicht hatte. Ein Postdienst, als Lehen an die von Thurn und Taxis gegeben, überzog spinnennetzgleich große Teile des Kontinents. Ein Forscher namens Cysat hatte den Nebel im Sternbild Orion entdeckt; die Arkoniden benutzten andere Bezeichnungen für dieses kosmische Objekt. Es gab erste Zeitungen; in deutschen Schulen führte man, trotz der Erkenntnisse und Schriften des Johann Amos Comenski, genannt Comenius, die Prügelstrafe ein. Eine Anhäufung von Widersprüchen gedieh wie Unkraut. »Du wirst als Kanonier eine Truppe brauchen«, sagte Rico. »Mit Geld läßt sie sich zusammenstellen.« »Kümmere dich zuerst um die Gruppen der kosmischen Besucher. Ich brauche Bilder, Worte, ihre Richtung… möglichst viele Informationen.« Der Roboter sagte: »Ich habe alles in die Wege geleitet. Es sind ausnahmslos humanoide Wesen, die ohne viel Schutzeinrichtungen auf diesem Planeten leben können.« Der große Wolf blickte mich mit silbernen Augen an; eine naturgetreue Nachahmung. Ich würde auch einen Falken brauchen; diese Kombination hatte sich als richtig erwiesen. Ununterbrochen arbeiteten die Maschinen, um meinen Start in
eine feindliche Umwelt risikoärmer zu machen. Der »Don Quixote« des Cervantes, die Schußwaffen mit Feuersteinschlössern, die Mathematik des Blaise Pascal… alle Informationen gruben sich in mein Gedächtnis ein. Eine irrsinnige Zeit, und mitten in dieser Phase der Widersprüche würde die Jagd vonstatten gehen. »In zehn Tagen kannst du die Oberfläche betreten. Neun Zehntel der Ausrüstung sind bereit. Hier, deine Kleidung!« Genaue Kopien der herrschenden Mode waren hergestellt worden, aus unverwüstlichem Material. Es herrschte nebliger, kühler Frühling. Stiefel und Hosen, Gürtel und Waffen, zahllose eingebaute Mechanismen, ein Abwehrfeld und Funkgeräte, trickreiche Schmuckstücke, der Sattel mit großen Taschen, Vorräte und Waffen, hauptsächlich für »psychologische« Kriegsführung, im Bauch des Wolfes, Antibiotika und Verbandszeug. Ich zog mich langsam an und nahm Korrekturen vor. Mein schulterlanges Haar wurde in einen festen Zopf geflochten, und ich lernte das Knöpfen einer schwarzen Schleife. Und schließlich der Behälter mit den Münzen, den der Wolf in sich tragen würde. Vermutlich würde man auch mich als einen Hexer ansehen, der mit den Tieren sprach und deshalb mit dem Gottseibeiuns im Bund stand. Schließlich war ich fast fertig und bereit. Ich brannte darauf, die Spur aufnehmen zu können. Rico sagte: »Bilder der Robotsonden. Sie zeigen die fünfzehn Verfolger.« Ich zog die Stulpenhandschuhe wieder aus. Sie paßten und schützten durch dünne stählerne Einlagen meine Hände und Handgelenke. Dann warf ich die Handschuhe auf einen Sessel und starrte die Bildschirme an. »Ich sehe…«, begann ich. Ich studierte die Bilder. Zwei davon waren verschwommen;
die Robotsonde hatte die Gestalten im schwindenden Tageslicht aufgenommen und dann ihre Spur verloren. Die fünfzehn Verfolger waren unverkennbar Raumfahrer. Ich konnte in einem kurzen Film sehen, wie sie in rasender Eile ihre Ausrüstung zusammenstellten. Zur gleichen Zeit stellten meine Maschinen aus Serien von Luftaufnahmen die Karten des betreffenden Gebietes her. »Siebzehn Raumfahrer. Sie sehen aus wie Menschen, und sie zu erkennen wird nur aus nächster Nähe möglich sein. Ich muß also inkognito bleiben«, sagte ich. Rüste dich gut aus! Du gehst mitten in die Zone des Todes, wisperte das Extrahirn. Die Sprachen kannte ich, die Namen der Herrscher und die verworrenen innenpolitischen Gegensätze waren mir ebenso geläufig wie die Geldeinheiten. Ich wußte, wie man Tabak in Pfeifen rauchte, erkannte die Cembalostücke von John Bull, wußte, welches Pulver und welche Kugeln man verwendete; ich war bereit. Cis, der Falke, und Hound, der große Wolf, waren einsatzbereit. Mein Gepäck umfaßte das Wichtigste, das meiste konnte ich in den Satteltaschen mitnehmen. Rico begleitete mich zum »Hangar«. »Du beobachtest weiterhin den Luftraum und den Weltraum um den Planeten«, sagte ich. »Bei jeder wichtigen Veränderung rufst du mich. Ich werde dir die nötigen Befehle geben, falls du nicht vollständig allein handeln kannst. Klar?« Der Roboter funkelte mich aus seinen Augen an und versicherte: »Ich habe begriffen. Ich wünsche dir, Atlan, viel Glück.« Im spiegelnden Glas des Gleiters betrachtete ich mich. Ich sah aus, wie Adlan d’Arcogne, der französische Edelmann aus Beauvallon, dessen Stärke in der Kriegstaktik und dem Bau von Fernwaffen lag. In dieser Maske konnte ich mich frei bewegen, blieb mein eigener Herr und wurde überall, von
jeder kriegführenden Gruppe, gern aufgenommen und geschützt. Auf diese Weise würde ich Helfer finden, deren Geschäft der Krieg war. In solchen Zeiten, so hatte Rico einmal gesagt, mußte man mit den Wölfen heulen – oder man starb. Ich kämpfte gegen die Versuchung an, mich in den Sand des Mittelmeerstrandes zu legen, und nahm Kurs auf Deutschland. Wo der Schwede, verbündet mit Frankreich, gegen Habsburg kämpfte, waren die Fremden verschwunden. Ich suchte auf der Karte den Platz meines Verstecks, fand ihn und schwebte in großer Höhe darauf zu. Endlich landete der Gleiter; ich stieg aus. Hier sah und hörte man nichts vom Krieg. Mittag: Die Sonne beschien ein wogendes Meer aus Nebel tief unter mir. Ich suchte eine Höhle und lud ab, was ich brauchte. Der Gleiter schob sich rückwärts in die Höhle hinein; ich errichtete aus Steinen eine Mauer, verschweißte die Steine miteinander und war sicher, daß, wenn ich die Fernsteuerung betätigte, der Gleiter freikommen würde. Der Falke schwang sich in die Luft und verschwand; sein Auftrag war, einen Ort zu finden, wo ich Pferde kaufen und Männer anwerben konnte. Der Wolf blieb bei mir. Ich war allein und überlegte die nächsten Schritte. »Zuerst muß ich den Ort der Landung erreichen, die Spur finden und dieser Spur folgen«, sagte ich laut. Als Antwort schrie eine Krähe. Irgendwo nördlich vor und unter mir lagen jene kleinen Städtchen und Siedlungen, zwischen denen die Heere und die versprengten Gruppen umherzogen und sich bekriegten: In der Schlacht bei Lützen fiel mein Freund Gustav Adolf; zwei Jahre später ermordeten kaisertreue Offiziere den Wallenstein. Brandenburg und Sachsen machten mit dem Kaiser ihren Frieden – und der wohl letzte Akt dieses Dramas war ein Machtkampf zwischen Habsburg und Frankreich. Der letzte Akt deswegen, weil kaum eine der beteiligten Nationen die Kraft hatte, weiter
Krieg zu führen. Die Länder waren ausgeraubt, die meisten Menschen tot, das Vieh geschlachtet, die Häuser verbrannt. Schon jetzt wurde verhandelt; bisher ohne Ergebnis. Ich wartete. Gegen Nachmittag kam der Falke zurück, ich stieg in die Seilschlinge, und Hound bewachte die Ausrüstung. »Nach Fünfstetten!« krächzte Cis. »Dort Pferde. Leerer Hof.« »Bringe mich hin!« sagte ich. Wir befanden uns auf einem Bergrücken südlich des Flusses Donau. Ich hatte zunächst vor, mich auszurüsten und loszureiten. Außerdem hatte ich keine andere Möglichkeit, mich an die Verfolgergruppe oder an die Verfolgten heranzumachen; ich mußte in der Maske eines Offiziers reiten. Der Flug dauerte nicht lange. Der Nebel machte uns unsichtbar. Nach einer halben Stunde setzte mich Cis in einem Gutshof ab, über den der Krieg hinweggerollt war wie eine Feuerwalze. Jetzt war die Anlage eine Ruine, in der die Kadaver lagen und die Gerippe einiger Gehängter an geschwärzten Bäumen baumelten. Alles war voller halbverhungerter Ratten. Ich suchte mir einen Schlupfwinkel und fand ihn dort, wo vor einiger Zeit ein Geschütz in Stellung gebracht worden war. Der einzige Raum, in dem man wohnen konnte. Wieder wartete ich. Kurz darauf kam der Vogel und brachte die Satteltaschen und den Sattel. Ich machte ein kleines Feuer, kochte und briet etwas, knüpfte eine Hängematte auf und überließ die Wache und das Verjagen der Ratten dem Wolf. Beim ersten Sonnenstrahl wachte ich auf und machte mich auf den Weg. Hound begleitete mich. Selbst ein Blinder hätte Fünfstetten nicht verfehlen können. Ein kleiner Wald aus Zeltstangen, viele weidende Pferde, Trommeln und Marketenderwagen wiesen mir den Weg. Ein Trompetensignal ertönte. Ich erreichte den Ort und ging weiter. Überall sah ich die Spuren der Verwüstung. Ein kleines Heer der Kaiserlichen lagerte hier.
Nur wenige Häuser waren neu oder wieder aufgebaut worden, meistenteils aus Holz. Auf den Schwellen saßen hungernde und frierende Kinder, große Augen blickten mir nach. Alles an mir schien zu neu, zu gepflegt zu sein – ich erweckte Neid. Magere Köter strichen umher und zogen davon, den Schwanz zwischen den Beinen, als Hound grollte und seine silbernen Augen auf die streunenden Tiere richtete. Ich wich einer Pfütze von Dreckwasser aus und näherte mich dem größten Zelt. Vor mir stob ein Kurierreiter durch einen Gang zwischen den Zelten. Es roch nach Rauch und nach dünner Kohlsuppe. Jemand fluchte, ein Mädchen kicherte. Die eigentümliche Geräuschkulisse des Lagers nahm mich auf. Ich schätzte die Zahl der Zelte auf hundert, die der Männer auf über fünfhundert. Neben dem Vordach des Kommandantenzeltes blieb ich stehen, zog den weichen Hut mit der langen Feder und sagte zu dem Posten: »Ich suche den kaiserlichen Anführer, Kamerad.« Der Soldat umklammerte frierend seine Hellebarde, sah mich lange an und bemerkte meinen prächtigen Aufzug. Dann sagte der Mann mit schmalen Lippen: »Werth und Mercy sind nicht da. Wir warten auf sie. Hier befehligt Pistorius!« »Meldet mich an!« forderte ich. Der Soldat deutete auf Hound und murmelte: »Laßt Euren Hund draußen – Pistorius mag keine Hunde im Zelt!« Ich lächelte. »Es ist ein Wolf, und ich werde ihn nicht mitnehmen.« Einige Soldaten betrachteten mich fast feindselig, wie es schien. Ich wartete, während der Soldat den Vorhang zurückschlug und ins Zelt hineinging, hörte die Stimme des Soldaten und eine andere, dunkel und sehr heiser. Der Soldat hielt den Zeltvorhang zur Seite, nickte, verbeugte sich knapp und deutete nach innen. Ich bückte mich und sah mich zwei Männern gegenüber; sie saßen hinter einem Tisch, der mit
Karten übersät war. Alle Menschen, die ich bisher gesehen hatte, schienen zu hungern. Alle Städte und Dörfer, die im Bereich der Heeresbewegungen lagen, waren ausgeplündert. Nur wenige Siedlungen, weit abgelegen und versteckt, entgingen diesem Schicksal. Ich schwenkte den Hut in einer höflichen Geste, legte ihn auf einen Feldstuhl und sagte: »Meine Herren! Ich bin Adlan d’Arcogne et BeauvallonSagittaire, geborener Franzose, Fachmann für Artillerie. Ich habe einen Schutzbrief des Kaisers. Ich brauche Eure Unterstützung.« Der dunkelhaarige Mann stand auf, warf einen Stock auf die knisternden Karten und streckte mir die Hand entgegen. »Ein Franzose im Dienst der Habsburger?« fragte er erstaunt. Seine Stimme stand im Gegensatz zu seinem Aussehen. Er war mittelgroß, schlank in den Hüften, besaß ein schmales, faltiges Gesicht und breite Schultern. An seinem rechten Zeigefinger steckte ein riesiger goldener Ring. »Hier«, sagte ich, griff in die Außentasche und zog das Dokument hervor. Ich hatte viele solcher Schutzbriefe, ausgestellt und unterfertigt von allen wichtigen Männern, sogar von Wallenstein. Schweigend las Pistorius den Brief, gab ihn weiter an seinen Adjutanten. Er nickte, wies auf einen Stuhl und fragte leise: »Was braucht Ihr, d’Arcogne?« Ich hob die Schultern, sah mich im Raum um und entdeckte nicht viel, was mein Interesse fesseln konnte. Nach kurzer Überlegung sagte ich: »Ich suche zwei Menschen, einen Mann und eine Frau; Spione, obwohl die Bezeichnung nicht ganz richtig ist. Sie besitzen Wissen, das uns nützen kann. Für diese Suche brauche ich Pferde und Männer – und ich kann sie gut bezahlen. Die Frage ist: Könnt Ihr mir helfen?« Der andere Mann zog an seinen Fingern und ließ die Gelenke knacken. Er schnitt eine Grimasse, die Unsicherheit und Skepsis ausdrücken sollte. »Wieviel Pferde? Wieviel
Männer?« »Ich denke, etwa fünfundzwanzig werden genügen. Ich brauche erfahrene Männer, keine jungen Raufbolde. Die Sache ist wichtig, und obendrein ist sie eilig.« Pistorius murmelte: »Wir könnten ihm die Pferde geben, die wir frei haben – viele Männer sind auf dem Weg hierher gestorben. Könnt Ihr die Tiere ernähren, d’Arcogne?« Ich steckte den gefalteten Brief zurück und nickte. »Ja. Ich kenne Wiesen, die noch nicht verwüstet sind.« »Gut. Jetzt zu den Männern und den Sätteln!« Sie berieten leise miteinander. Der Brief, von Ferdinand von Habsburg unterzeichnet, hatte vorläufig alle Schwierigkeiten beiseitegeräumt. Größere Barrieren freilich konnte auch er nicht überwinden helfen. Der jüngere Mann nahm ein schmutziges Papier, schrieb eine Reihe Namen darauf und kaute nachdenklich am Ende des Federkiels. Dann schob er das Papier zu Pistorius hinüber, der es schweigend las. »Wie lange, schätzt Ihr, werdet Ihr die Männer brauchen?« fragte der Stellvertreter des Marschalls. Ich zog den linken Handschuh an und strich die Finger glatt. »Ich weiß es nicht. Aber ich kann Euch versprechen, daß wir unterwegs jeden Franzosen oder Schweden angreifen werden, den wir sehen. Und ich habe vor, zurückzukommen, wenn Mercy und Werth hier sind. Ihr rechnet mit einem Zusammenstoß mit den Franzosen?« Beide Männer nickten. »Ja. Richelieu wird Tourenne schicken. Sie werden erst kommen, wenn sie nicht mehr so stark frieren. Im Winter kämpft der Franzose nicht gern.« Ich stand auf. »Vielleicht kann ich Euch dann helfen. Habt Ihr Schwierigkeiten mit der Artillerie?« »Im Augenblick keine«, sagte Pistorius grimmig, »die wir nicht selbst beheben könnten. Wenige Geschütze, keine Kugeln, wenig Pulver: das bedeutet wenig Schwierigkeiten.«
Ich schüttelte wieder ihre Hände. »Ich verspreche es Euch: Ich werde Euch helfen. Wo finde ich die Pferde und die Männer?« »Ich komme mit Euch, d’Arcogne!« Der Adjutant stand ebenfalls auf. Diese kleine Truppe war ziemlich frisch oder wirkte wenigstens so. Eine gewisse Disziplin herrschte; ein Umstand, der selten war. Je mehr Menschen es gab, desto größer war das Chaos. Wir blieben vor einer Gruppe von zerschlissenen Zelten stehen. »Wir sind da!« Der Adjutant winkte ein paar Männer zu sich heran. »Wer von euch kann lesen?« »Ich, Herr Dixat!« sagte einer der Männer. Er bekam die Liste. »In kurzer Zeit sind diese Männer angetreten. Mit guten Pferden, die sie beim Troß holen können. Fünf Tiere zur Reserve, und alle Waffen. Sie gehorchen einem neuen Kommando.« Ich blickte mich um und registrierte eine Serie von Eindrücken. Wie eine Wolke giftigen Nebels hing die Erwartung über dem Lager. Der Krieg mochte in einigen Jahren vorbei sein, aber bis dahin gab es mit tödlicher Sicherheit noch eine Menge Schlachten; selbst nach den Friedensschlüssen würden räuberische Banden entlassener, entwurzelter Soldaten noch lange das Land unsicher machen. Ich schwor mir in diesem Moment, zu tun, was ich konnte, um diesen Zustand beenden zu helfen. Es wird nicht sonderlich viel sein, Arkonide! schränkte der Extrasinn ein. Es dauerte nicht lange; der Offizier namens Dixat beaufsichtigte die Männer, die ihre geringe Habe zu den Pferdekoppeln schleppten. Wir suchten einige Tiere aus, ich sah zu, daß ich ein starkes, ausdauerndes Tier bekam und
entschied mich für einen starkknochigen falben Hengst mit riesigem Brustkasten und wilden Augen. Ich sah zu, wie ein Knecht dem Tier die Trense durchs Maul schob und ihn heranzog. Ich bückte mich und schnallte die Sporen fester. »Freund Dixat«, sagte ich leise. »Ich habe Vollmacht, Euch zu bezahlen. Was schulde ich der Kriegskasse?« Dixat winkte ab. »Solange wir mit Gold nicht einmal Hafer für die Pferde, geschweige denn Brot für die Männer kaufen können, ist Gold wertlos. Wenn Ihr zurückkommt und uns bei der Artillerie helft, mag es gut sein.« »So sei es!« Ich schwang mich auf den, bloßen Rücken des Pferdes. Das Tier merkte, daß ein geübter Reiter die Zügel ergriffen hatte und stand starr. Dixat holte Luft und schrie: »Männer! Dieser Offizier führt jetzt das Kommando! Ihr gehorcht ihm, als sei er Werth! Er wird euch gesund zurückbringen; ich weiß, daß er eine wichtige Mission hat. Er erklärt euch alles. Ihr könnt reiten, d’Arcogne!« »Ich danke Euch!« Ich grüßte, drückte meinen Hut in die Stirn, schob meinen Säbel nach hinten und ritt an. Die anderen Reiter folgten mir; auf den ausgeruhten Tieren, neben denen der Wolf lief, kamen wir aus dem Lager heraus, preschten in Zweierreihen auf den schlammigen Weg hinaus und auf den zerstörten Gutshof zu. Ich ritt an der Spitze und sagte kein einziges Wort, bis wir den Hof erreichten. Dann hob ich die Hand und schrie: »Absitzen! Ich habe euch allen etwas zu sagen!« Wir führten die Tiere in den Schutz eines brüchig aussehenden Daches und banden sie fest. Ich schleppte meinen Sattel und die schweren Satteltaschen hinüber und sattelte meinen Falben, nachdem ich die weiche Decke über seinen Rücken geworfen hatte. Dann drehte ich mich um, musterte die fünfundzwanzig Männer und merkte, daß der
Adjutant mir erfahrene Kriegsleute mitgegeben hatte. Ihre Verwahrlosung, innerlich wie äußerlich, war erschreckend groß. Ich wußte, daß ich viel Arbeit vor mir hatte. »Männer«, sagte ich halblaut, »ich kenne euch nicht, ihr kennt mich nicht! Wir werden in den nächsten Wochen einige Personen suchen; ihr hört noch, worum es sich handelt. Vorher werde ich euch sagen, was ich bin und von euch will. Ich zahle euch in gutem Gold. Ich werde euch in einigen Stunden zu einem Weiler bringen, dessen Leute noch nie den Krieg gesehen haben. Dort werden wir essen und trinken, dort werden wir die Pferde pflegen und uns selbst. Und ich sage euch eines: Diese Truppe wird niemanden foltern, berauben, vergewaltigen – dafür verbürge ich mich. Bei der geringsten Disziplinlosigkeit lasse ich euch Spießruten laufen. Habt ihr verstanden?« In ihren bärtigen, schmutzigen Gesichtern zeigte sich maßlose Überraschung. Widerwilliges Murmeln, aus dem man mit einiger Phantasie ein »Ja« heraushören konnte, war zu hören. »Wir werden stets genug zu essen und zu trinken haben. Wir greifen nur dort an, wo wir ohne Schwierigkeiten siegen, sonst ist nur Gegenwehr erlaubt. Wir suchen zwei Personen. Wer es ist – darüber später.« Ein hochgewachsener, schlanker Mann mit einem melancholischen Bart fragte störrisch: »Wohin gehen wir?« »Ich weiß es nicht genau, aber wir werden kaum große Entfernungen zurücklegen. Wir suchen diese Leute, die selbst nicht sehr schnell reisen. Jedenfalls reiten wir nicht nach Frankreich, nach Schweden oder nach Böhmen. Weitere Fragen?« Ein Mann, etwa vierzig Jahre alt, den sie Jörg nannten, erkundigte sich: »Der Wolf ist zahm?« Ich schnippte mit den Fingern, und Hound, der einige Ratten
totgebissen hatte, schnellte sich neben mich und blieb neben meinem linken Knie stehen. »Das ist Hound, mein Wolf. Er gehorcht mir aufs Wort, schützt mein Leben und ist ein sehr gelehriges Tier. Er wird auch euch schützen. Die Pferde fürchten ihn und seine ungeheure Wildheit nicht, weil er nicht wie ein Wolf riecht. Ich rate ab, ihn zu reizen.« »Herr!« sagte ein jüngerer Mann. »Wir haben Hunger.« »Ich auch! Wir reiten gleich weiter. Vier Stunden, dann treffen wir auf den Weiler. Dort leben zehn Personen: wir wollen den Leuten nichts antun. Wir kaufen ihnen ab, was sie uns geben, zahlen für die Tage, in denen wir dort sind. Wir werden ihnen helfen, wo immer es geht. Wehe einem von euch, der vergißt, was ich jetzt gesagt habe – wir sind keine Truppe im Kriegszustand.« Ein Landsknecht sagte zum anderen: »Ich sehe schon, wir gehen schlimmen Zeiten entgegen.« Ich grinste. »Zunächst geht ihr alle einem heißen Bad mit viel Seife entgegen. Und anderen Unannehmlichkeiten dieser Art.« Ich zog aus einer Tasche, die auf einer der prallen Satteltaschen aufgenäht war, eine Karte und faltete sie auseinander, legte sie auf die Kruppe eines Pferdes und winkte die Männer herbei. Die Karte war ein dreidimensionales, farbgetreues Luftbild der Umgebung. »Wer kann Karten lesen?« »Wir alle!« sagte jemand mürrisch. Er wußte, wie seine Kameraden, nicht genau, was er von diesem Kommandounternehmen zu halten hatte. Ich ließ ihn in der Ungewißheit. Ich erklärte den Weg, den wir verfolgen würden. Wir alle hatten eine kurze Pause nötig: Männer und Tiere waren ausgehungert und ungepflegt. Ich mußte die Beobachtungen des Falken auswerten: Schnelligkeit war meine einzige Chance.
»Ihr wißt Bescheid?« »Ja.« Ich hob das Knie und steckte meinen Stiefel in den Sattelschuh. »Wir reiten! Zügig, aber nicht zu schnell. Wir brauchen die Pferde noch. Los!« Der Haufen setzte sich in Bewegung. Wir ritten über niedergetretene Felder, auf denen die Saaten vernichtet waren, erreichten einen Weg, der zwischen Gehölzen entlanglief. Wir kamen an einer zerstörten Mühle vorbei, an niedergebrannten Bauernhöfen, einer saftigen Weide, die zu wachsen begann, erreichten den Hochwald und bewegten uns in vorwiegend südlicher Richtung. Der Wald wurde dichter, wir wechselten auf einen Ziehpfad über, ritten durch einige Lichtungen. Wir scheuchten ein paar wildernde Hunde auf; es schien weder Rehe noch Hasen noch anderes Wild in diesem heimgesuchten Land zu geben. Einmal hielten wir an einer Kiesgrube an, orientierten uns an den Sonnenstrahlen, die durch den Nebel drangen. »Weiter! Noch zwei Stunden!« »Die Pferde werden müde, Herr Adlan!« sagte Jörg. »Sie werden durchhalten!« knurrte ich und ritt weiter. Der Wald wurde zu einer Art Urwald. Ein Rudel Wildschweine kreuzte unseren Weg, als wir eine Stunde lang weitergeritten waren, zum Teil durch Niederwald und Gebüsch. Ich riß die langläufige Reiterpistole aus dem Gürtel, zog den Zügel an und feuerte dreimal. Drei Schweine schlugen mit den Läufen, ein viertes griff an und wurde von Hellebarden erlegt, noch ehe es an die scheuenden Pferde herankommen konnte. »Bindet die Tiere hinter den Sätteln fest! Unser Abendbraten!« sagte ich lachend. »Ich versprach euch Essen und Wein – hier ist das Essen!« In besserer Laune ritten wir weiter. Die Sonne ging in den
Mittag; für die Mitte des vierten Monats war sie stark genug. Vögel zwitscherten, als wir einen verwilderten Streifen Gelände durchquerten und einem kaum sichtbaren Pfad folgten, der sich in Schlangenlinien einen Hügel hinaufwand. Wir ritten im Gänsemarsch; die Packpferde mit dem Wild bildeten den Schluß. Hoch über uns kreiste der Falke und signalisierte durch seinen ruhigen Flug, daß wir auf dem richtigen Weg waren. Ich hielt mein Pferd an, als ich hinter einer Buche hervorbog, deren vier Stämme an der Wurzel zusammengewachsen waren. Hinter mir bildeten die dreißig Pferde einen wirren Haufen, der sich auseinanderzog zu einer Linie. Die Männer griffen in den Waffen, und ich hob die Hand und sagte scharf: »Halt! Niemand schießt! Nur ich, denn ich habe eine Waffe, die nur lähmt. Denkt daran – wir wollen, daß uns die Leute freiwillig beherbergen!« »Verstanden.« Unter uns lag ein Tal, ein Bach wand sich in Schlangenlinien hindurch und bildete, zweimal aufgestaut, große Tümpel, an denen Trauerweiden standen. Vor uns, im Mittelpunkt eines Systems sich kreuzender Fahrspuren, standen zwei Wohnhäuser und zwei lange Scheunen. Das Mauerwerk war weiß; frisch gekalkt. Das Holz glänzte vor dunklem Firnis, und in den Fenstern waren sogar gläserne Scheiben. Aus Kaminen stiegen dünne Rauchsäulen fast senkrecht in die Luft des Vormittags. Äcker und Saaten, Weiden und eine Viehkoppel – alles atmete Reichtum, Sorglosigkeit und Ruhe aus. Eine seltene Idylle. »Hört zu! Wir reiten auf dem Weg, nicht über die Felder, durch das Hoftor, offen und nicht zu schnell. Und wir verletzen niemanden!« Wir ritten den Hang abwärts, trafen auf den Weg und ritten im Trab auf die Gebäude zu. Hier wohnte und wirtschaftete
jemand, der seinen Beruf verstand. Was wir sahen, war in vorbildlichem Zustand. Zäune umgaben die Äcker, und die Spuren von Wildschweinen und Rotwild bewiesen, daß Mauern und Holzplanken wichtig waren. Wir ritten in diese Oase des Friedens, ich schob den Riegel meiner Waffe herum. Jetzt war aus der Reiterpistole eine Lähmwaffe geworden. Zwei Hunde rasten heran, wie wahnsinnig kläffend, und Hound stürzte sich auf sie. Die Tiere verschwanden jaulend im Gebüsch. Wir ritten in Dreierreihen. Knechte liefen über den Hof, der mit weißem Kies bestreut war. Mächtige Bäume, unter denen Wagen standen, spendeten Schatten. Zwei Brunnen plätscherten. Dann wurde die aus dicken Bohlen bestehende Tür im Hauptbau aufgestoßen, und ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern erschien. Er hielt eine Muskete in beiden Händen, richtete sie auf mich, der ich als erster in den Hof einritt und jetzt mein Pferd zügelte. »Halt! Was wollt ihr hier?« schrie er aufgebracht. »Es ist Krieg, Bauer!« brüllte ich zurück. »Wir sind Kaiserliche, und wir werden drei Tage lang bei euch bleiben. In allen Ehren, versteht sich!« »Ihr reitet sofort dorthin, wo ihr hergekommen seid! Ich zähle bis drei, dann jage ich dir eine Kugel durch den Kopf.« Ich hob die Hand. »Wir sind keine Plünderer. Außerdem ist das Recht auf unserer Seite. Wir zahlen in Gold, was wir essen!« »Zurück, sage ich! Eins…« »Drei!« rief ich. Hound, der meinen Wink abgewartet hatte, raste im Zickzack auf den Mann zu. Ich hob meine Waffe, während meine Männer unruhig wurden und sich zu einer Linie formierten. Dann drückte ich ab. Eine halbe Sekunde, ehe der Hahn der Muskete schnappte, traf ich den Arm des Mannes. Krachend löste sich ein Schuß und zerfetzte die Blätter über unseren Köpfen. Hound sprang den Bauern an,
riß ihn um und blieb dann über ihm stehen, die Fänge dicht vor seiner Kehle. Ein Knecht kam mit einer erhobenen Mistgabel aus der Scheune gerannt und wollte sie auf einen der Männer werfen. Ich drehte den Lauf meiner Pistole und feuerte. Krachend entlud sich der Lähmstrahler und warf den Mann von den Beinen. Dann sprang ich aus dem Sattel, winkte meinen Männern, ruhig zu bleiben und ging auf den Bauern zu, der quer über den steinernen Stufen lag. »Ihr seht«, sagte ich, schob den Wolf zur Seite und hob den Mann auf die Beine, »wir sind Soldaten, keine Marodeure. Ich bin Kaiserlicher Offizier, und wir haben nicht vor, Euren Besitz zu verwüsten. Auch weiß niemand, daß wir hier sind. Ihr werdet bis zum Frieden unbelästigt bleiben.« Der Arm des Mannes hing kraftlos herunter. Die Augen blickten mich verblüfft an. »Wer seid Ihr?« »Ein Edelmann«, sagte ich. »Und Franzose in Habsburger Diensten. Trotz der wilden Reiter ein höflicher Mann. Ich bitte Euch herzlich, uns ein paar Tage lang Quartier und Essen zu geben – einigen Braten haben wir gleich mitgebracht.« »Der Krieg hat alles verwüstet«, sagte er leise und spie aus. »Und ihr werdet meinen Hof nicht einäschern?« »Wir werden uns wie wohlerzogene Gäste aufführen. Und wenn der Hof angegriffen wird, von den Schweden, werden wir ihn verteidigen.« »Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig – seid also willkommen.« Ich schüttelte seine linke Hand. »Was braucht Ihr?« »Alles«, sagte ich. »Ich muß aus diesem zerlumpten Haufen einen kleinen Trupp von Menschen machen. Und werde nichts verlangen, Herr Bauer, was Ihr uns nicht geben könnt.« Er brachte ein zögerndes Lächeln zustande. »Gut. Ich wähle das kleinere Übel. Ihr helft mir, ich helfe Euch. Euer Name, Herr Offizier?«
Ich sagte ihm, wer ich war; was ich vorhatte, deutete ich nur an. Der Bauer, Martin der Müller, rief Knechte und Mägde zusammen. Meine Männer saßen ab. Wir nahmen die Sättel herunter und führten alle Pferde in den Stall. Ich befahl den Soldaten, die Pferde zu striegeln, ihre Mähnen zu schneiden, die Hufe nachzusehen, ihnen Futter und Wasser zu geben. Die Männer murrten zwar, gehorchten aber. Ich hatte einen festumrissenen Plan, den ich in den folgenden Tagen ausführen mußte. Um Martin den Müller zu überzeugen, zählte ich ihm zwanzig Goldstücke in die Hand; ab diesem Zeitpunkt gab es kaum noch Schwierigkeiten. Zehn Personen bewirtschafteten diesen Hof, weitere sieben Familienangehörige wohnten in dem großen, vorwiegend aus Stein erbauten Haus. Zuerst brachten wir die Schweine in die Küche und rüsteten ein Essen, das uns alle satt machen würde. Für die Männer war es das erste richtige Essen seit Monaten; sie waren aufgebracht, als sie die Mengen sahen, die ihnen zu wenig erschienen. Ich klärte sie darüber auf, daß sie alles, was sie gegessen hatten, wieder von sich geben würden, wenn sie zuviel äßen – und ein kräftiger Umtrunk aus angenehm säuerlichem Wein beendete die Mahlzeit. Für die Soldaten waren die kommenden Tage eine einzige Schikane. Ich ließ allen von einem Knecht, der diese Kunst beherrschte, das Haar schneiden. Dann rieben sie sich eine Verdünnung meiner Tinktur ins Haar, die sämtliche Läuse umbrachte. Anschließend verteilte ich Seife und Bürsten; die Männer wurden gezwungen, sich einem heißen Bad zu unterziehen, in riesigen Holzbottichen auf der Tenne. Sie erkannten sich, als sie abgetrocknet waren, kaum wieder. Das Essen wurde mit jeder Mahlzeit reichhaltiger. Die Pferde bekamen ein straffes, glänzendes Fell und wurden jeden Tag versorgt. Ich kaufte Martin Hemden aus grobem Leinen ab und verteilte sie. Wir reinigten und putzten die Sättel, nähten
und wichsten die Stiefel, ich versorgte zahllose kleine Wunden und kurierte mit meinem Antibiotika venerische Krankheiten und auch deren Symptome. Ein Teil der Lumpen wurde verbrannt, mit ihnen Läuse und Billiarden Krankheitserreger. Die Hausfrau, drei der ältesten Töchter und die Mägde nähten und besserten aus, wuschen und halfen uns. Langsam kam ein gewisser Glanz über meine Truppe. Ich war unbarmherzig. Gleichzeitig lernte ich die Männer und ihre Namen, ihre Eigenheiten und ihre Verdienste kennen. Es war ein wilder Haufen, der nur wenige Götzen kannte. Sie brauchten eine harte Hand. An fünf der zuverlässigsten Männer verteilte ich Nachahmungen meiner Reiterpistolen mit Magazinen zu je dreißig Schuß. Ich hatte genügend Munition, und wir übten einige Stunden lang das Schießen. Martin verkaufte uns Würste und Schinken und runde Brote. Wir tranken kuhwarme Milch und frische Eier, schliefen lange und arbeiteten den ganzen Tag. Am Ende des zweiten Tages kam Jörg zu mir; ich saß in der Wohnstube und studierte meine Karten. Ich blickte ihn genau an, sah die glänzenden Stiefel, die sauberen Hosen und die frischen Nähte im Lederzeug. Sogar der Brustpanzer war gescheuert worden. »Was gibt es?« »M’sieur Adlan«, sagte er gepreßt, »die anderen schicken mich. Sie sagten, ich könne am besten reden.« Ich lachte schallend. »Also, dann rede!« »Die Männer haben lange nachgedacht, sagten sie. Sie sehen ein, daß du streng sein mußt. Sie sehen, daß die Pferde ausgeruht sind, daß alles, was du tust, ihnen gefällt. Besonders die Kranken…« Ich winkte ab. »Ich habe euch versprochen, daß ich jedem helfen werde. Was wollen sie wirklich? Geld? Frauen?« Er grinste breit. Ich hatte ihnen beigebracht, sich hin und
wieder die Zähne zu reinigen, damit sie nicht aus dem Mund stanken. »Das auch, später, obwohl die Mägde… das ist es nicht. Sie sind ungeduldig. Sie wollen mit dir reiten. Du bist der beste Offizier, dem sie jemals gehorcht haben, sagen sie.« Ich sagte entschlossen: »Wir reiten übermorgen früh los. Gerade suche ich unser Ziel. Sag ihnen das. In einer Stunde sehe ich mir die Pferde, die Sättel und Satteltaschen, die Kleidung und die Waffen an. Wehe, es ist nicht alles so, wie es abgesprochen war!« Wieder grinste er. Langsam, wie es seine Art war, sagte er in rauhem Deutsch: »Du wirst sehen, alles ist bestens, Adlan!« Ich hatte ihnen befohlen, mich zu duzen; meine Autorität hing nicht davon ab, daß sie »Herr Offizier« und »Ihr« sagten. Schließlich würde der Moment kommen, an dem ich mich auf jeden verlassen mußte. Ich war allein, rief die Informationen des Falken ab und betrachtete die Bilder, die er überspielte. Der Wolf rannte im Kreis um das Tal und würde uns, falls Schweden oder Franzosen kamen, rechtzeitig warnen. Rico hatte sich nicht gemeldet, also war keine Schiffsbewegung erfolgt. Ich hatte von der Ladefläche des Gleiters soviel Ausrüstungsgegenstände geholt, wie ich verantworten konnte. Auch Hemden, Jacken und Mäntel hatte ich verteilen können. Wir waren, wenn wir losritten, hervorragend ausgerüstet. Herbsthausen hieß unser Ziel. Dorthin hatten sich, mit größter Sicherheit, die beiden Fremden geflüchtet. Auch hatte der Falke ein Gespräch abgehört, in dem die Rede war von dreißig Reitern, die wie durch ein Wunder einen Ritt durch Kugelhagel und Armbrustbolzen unverwundet überstanden hatten. Ich schaute in ausgeruhte, saubere Gesichter, sah geschnittenes Haar, saubere Kleidung, dunkles Leder. Mehr konnte nicht getan werden – alles andere hing von
Zufälligkeiten und dem Schicksal ab. Ich machte mir keine Illusionen. Wenn die Verfolger schneller sind als du, hast du verloren. Sie besteigen ihr Schiff und fliegen davon! sagte mein Extrahirn. Ich schüttelte die Hand des Bauern und sagte, auf den Lauf der Waffe deutend: »Du kannst dreißigmal schießen, Martin. Du weißt, wie man diese Waffe behandelt. Wir sind quitt?« Er blickte seine Knechte an, die neben den Soldaten standen. Eine Magd schäkerte mit Kaspar, dem jüngsten Reiter. Dann nickte der Bauer. »Wir scheiden als Freunde. Du bist mit deinen Männern herzlich willkommen. Ich werde für jeden stets einen Schinken und einen Becher Wein haben.« »Dein Angebot gilt«, sagte ich. Ein friedlicher Morgen brach an. Das Viereck des Hofes glänzte vom Tau. Gräser und Saaten sproßten in der Sonne. Ungeduldig scharrten die Pferde. Alles, was wir besaßen, trugen wir an den Sätteln. Schneller als wir konnte kaum jemand reiten. Hoch über dem Hof zog Cis seine Kreise und verscheuchte die Hühner; der Wolf richtete seine Ohren auf den Bauer und auf mich. »Wir werden niemandem sagen, welcher Frieden hier herrscht«, beruhigte ich ihn und dankte dem Knecht, der mein Pferd brachte. »Adieu, Freund Martin!« »Ich wünsche Euch viel Glück, d’Arcogne!« sagte er. Ich hatte ihm in den vergangenen Tagen einige Ratschläge technischer Natur gegeben. Noch einmal umfaßte mein Blick die Gebäude und Ställe, die Bäume und die Brunnen, dann schwang ich mich in den Sattel und hob die Hand. »Wir reiten nach Herbsthausen, Männer!« sagte ich. Ein Gemisch aus Lachen, Schreien und Johlen antwortete mir. Die Pferde wieherten unternehmungslustig, als ich lospreschte. Kies hagelte nach allen Seiten, als
neunundzwanzig Tiere und ein Wolf den Hof verließen und auf den Wald jenseits des Tales zugaloppierten. Als wir den kahlen Hügel hinunterritten, sahen wir vor uns die Siedlung. Sie wirkte, als habe ein Erdbeben stattgefunden. Wir konnten, obwohl ich mein Fernrohr auseinanderzog und im letzten Licht des Tages die Umgebung betrachtete, keine Spuren eines Lagers erkennen. Die Ruhe, die über dieser Landschaft lagerte, wirkte wie ein Leichentuch. Wir ritten weiter. Die Tiere schnaubten unruhig; die Nervosität der Reiter übertrug sich auf die Pferde. Ich drehte mich im Sattel, sah den Wimpel, den Jörg trug, träge an der Hellebarde baumeln und sagte halblaut: »Vorsichtig weiterreiten! Wir versuchen, Quartier in den ersten Häusern zu bekommen.« »Verstanden. So wie es aussieht, werden wir nicht mehr bekommen als verseuchtes Wasser.« »Wir haben unsere Vorräte, Freunde!« sagte ich. Auch damals hatte ich die Schrecken des Krieges so deutlich vor Augen gesehen wie während der vergangenen Tage. Über dieses Land herrschten nicht Jahreszeiten, Sonne oder Wind, nicht einmal der Kaiser oder die Feldherren. Schon gar nicht Bürger, Bauern oder Edelleute. Wenn überhaupt jemand herrschte, so war es der Soldat. Und die Ratten. Die Marschälle hatten nur selten Macht über ihre Soldateska. Besonders dann, wenn eine Stadt nach der Belagerung fiel, tobten sich die niedersten Instinkte aus. Kinder wurden von den Kaiserlichen in Kellern abgeschlachtet, neben aufgeschlagenen Weinfässern, aus denen die Flüssigkeit auf den Boden lief. Frauen wurden geschändet und aus Fenstern geworfen. Man folterte, brannte und mordete ohne jeden Sinn. Priester band man unter die Wagen des Trosses, in denen Dirnen und Weinfässer lagen. Die entkräfteten Männer brachen zusammen, nachdem sie auf allen vieren gerannt
waren und wurden zu Tode geschleift. Seuchen und Hunger richteten Verwüstungen an, die zu begreifen fast meine Natur überstieg. Das ist der Planet, Arkonide, über den du die Verantwortung übernommen hast! sagte das Extrahirn. Ich schloß die Augen. Hier war ich wieder. Jedesmal, wenn ich auftauchte, geriet ich in die primitivsten Auseinandersetzungen der Barbaren. Ich kannte die Mühsal ihres verwirrten Weges in die Kultur, kannte die Stationen der Zivilisation – viele davon hatte ich selbst initiiert. Und hier war ich abermals im totalen Chaos. Diese Narren! Sie schrieben Ideen, leer von Bedeutungen, auf ihre golddurchwirkten Fahnen, schwenkten diese und trugen sie in die Schlachten, zerfetzten sich gegenseitig mit Schrapnells, folterten, bohrten sich Säbel in die Körper, entwürdigten einander bis zum untersten Punkt der Möglichkeiten. Und mitten in diesem perfekten Irrsinn landeten zwei Raumfahrer. Wovor verbargen sie sich? Und warum wurden sie von anderen Raumfahrern verfolgt? Was hatte das zu bedeuten? Ich war kein harter Mensch… Mensch! Ich begann bereits, mich mit diesen Hirnlosen zu identifizieren. Also: Ich war ein Arkonide, hatte ein Bündel von Möglichkeiten, vermochte nicht, größere Bewegungen auf diesem Planeten hervorzurufen oder zu steuern. Meine einzige Möglichkeit lag im Verstecken, in der perfekten Maske. So konnte ich einen zahlenmäßig beschränkten Personenkreis dirigieren, ihm helfen, ihm zeigen, daß es auch mit Vernunft ging. Ich war nicht verantwortlich für Millionen verhungernder Kinder in diesem Land. Ich konnte lediglich hier und dort Hilfe geben. Ich öffnete die Augen und sah sie Ratten. Sie hatten sich um den Kadaver eines Pferdes versammelt, abseits der Hauptstraße. Neben den wimmelnden Ratten saß ein Mann, ausgemergelt bis zum Skelett, der mit einem rostigen Messer
an dem Kadaver herumschnitt und faules Fleisch zwischen den Zähnen hielt. Ich wandte mich ab; mein Magen revoltierte. Rummel, der Soldat, der das Horn blies, feuerte einen Schuß ab; Ratten stoben in ihre Verstecke. Am Ende unserer Gruppe übergab sich ein Mann stöhnend. »Weiter!« sagte ich mit einer Stimme, die mir fremd war. Die Siedlung war entvölkert. Als wir das zweite, verbrannte Haus erreichten, begannen Kirchenglocken zu läuten; ein absurder Laut in der tödlichen Stille, so daß ich zusammenzuckte. Der Klang zweier Glocken rollte zwischen den Waldrändern hin und her. Ein Geruch nach Aas, nach schlechtem Braten und verbranntem Horn stieg in unsere Nasen. Mein Hengst scheute; ich beruhigte ihn mühsam. Rummel galoppierte nach vorn, kniff die Augen zusammen, als er weitere Ratten sah, die hungrig aus ihren Verstecken hervorsahen oder über den Weg liefen. Er hielt sich auf gleicher Höhe und sagte: »Dieses Dorf ist verhungert. Wenn wir unsere Pferde auch nur einen Augenblick unbeaufsichtigt lassen, drehen sie sich ein wenig später auf den Spießen. Feuerholz gibt’s, denke ich, genug.« »Du hast recht«, sagte ich. »Außerdem glaube ich, daß in dieser Siedlung noch etwas vorgeht, das wir nicht wissen. Wir bleiben dicht zusammen und reiten zu jenem Gebäude.« »In Ordnung!« gab er zurück und ritt nach hinten, die Hand am Kolben der Waffe. Wir stolperten Minuten später über einen Leichnam, der offensichtlich aus einem Grab hervorgeholt worden war. Hungrige Köter verschwanden, als der Wolf sich ihnen näherte. Menschen, die kaum kriechen konnten, streckten uns dürre Arme entgegen. Mit weißen Gesichtern ritten wir weiter und bogen von der Hauptstraße ab. Ein kleines Kind, fast nackt, mit Stelzenbeinen und einem krankhaft runden Bauch, stolperte über die Straße, sah uns an
und brach zusammen. Ein Krähenschwarm stürzte sich darauf. Ich sprang aus dem Sattel, rannte los und verscheuchte die Vögel. Es war zu spät – das Kind war gestorben. Ich nahm von Stadelberger die Zügel entgegen und schwang mich auf den Rücken des Falben. Schweigend ritten wir weiter. »Vorsicht! Ich reite hinein!« sagte ich, als wir die Bäume erreichten, an denen erste Knospen zu sehen waren. Ich zog meine Waffe, stellte sie auf Lähmung ein und ritt in den Hof des Anwesens. Der Bau war leer. Ich sah nur Trümmer, Ratten huschten überall umher. »Niemand hier!« rief ich, zog an der Kandare; der Hengst stellte sich auf die Hinterfüße. Er drehte sich um hundertachtzig Grad, und ich sah, daß wir es hier eine Nacht aushalten konnten. Meine Männer galoppierten heran, saßen ab und begannen mit der Schnelligkeit erfahrener Soldaten, ein Lager aufzuschlagen. Ein Feuer, dann die Sättel, schließlich die Pferde. Hound sicherte das Lager und tötete Ratten, wo immer er sie traf. Rummel, Jörg und Stadelberger kamen heran und hoben sorgfältig die Füße, um die Stiefel nicht mit Kot und Unrat zu verschmutzen. »Vermutlich ist keine Truppe im Dorf«, sagte Stadelberger. Ich machte eine vage Bewegung und murmelte unschlüssig: »Warum läutet dieser irre Mesner seine Glocken so andauernd?« Stadelbergers Knebelbart teilte sein Gesicht in zwei Hälften, der untere Teil wurde von den züngelnden Flammen des Feuers beleuchtet und glich einer dämonischen Maske. Ich nahm die Flasche mit dem Rasierwasser, schüttete etwas in den Handteller und wischte damit über mein Gesicht. Jetzt ließ sich der Geruch hier aushalten. »Der Wahnsinnige«, sagte ich. Mein Blick ging zum Himmel. Etwa eine knappe Stunde lang würde es noch hell genug sein. Ich grinste, nahm die kleine Waffe mit dem Spannschloß und
lud verschiedenfarbige Magnesitpatronen, sagte leise: »Wir gehen in die Siedlung. Vermutlich werden sie uns angreifen, weil wir so aussehen, als wären wir Männer mit viel Proviant. Mindestens sechs Männer sollten mit mir gehen.« »Mit wenig Vergnügen, aber wir kommen mit«, sagte Glaser. Ich teilte Kaspar zur Wache ein. Die Pferde standen sicher; solange sich zwischen ihren Beinen Hound herumtrieb, würden die Ratten sie nicht belästigen. Bis der kalte Braten aufgewärmt, der Glühwein bereit war, konnten wir uns umsehen. Schließlich führte die Spur der Flüchtenden hierher. »Gut. Gehen wir schnell!« befahl ich. »Oder sollen wir reiten?« Stadelberger und Glaser sagten wie aus einem Mund: »Reiten ist besser. Schnelle Flucht ist besser als ein langsamer Tod!« Ich schlug ihm schwer auf die Schulter und sagte mit nervösem Lachen: »Ich freue mich darüber, wie schnell ihr lernt.« »Schließlich sind wir nicht blöde!« gab Glaser zurück und lachte breit. »Wir können fast alle lesen. Einige können auch schreiben.« Ich murmelte: »Ich kann beides. In die Sättel, Freunde!« Wir ritten scharf aus dem verfallenden Gehöft heraus. Nicht ein einziger Halm Heu oder Stroh war zu finden. Wir fütterten unsere Pferde mit dem Hafer des Müllers und hofften, daß die Tiere nicht hungrig sein mögen. Hinter uns vermischte sich der Rauch des Feuers mit der beginnenden Dunkelheit. Eine blutrote, feuchte Abenddämmerung brach an und tauchte den Waldrand in Flammen. Feuer: ein Symbol dieser Zeit. Wir sprengten den ausgefahrenen Weg entlang, bis sich uns die ersten Häuser entgegenstellten. Nur hinter wenigen Fenstern brannten Lichter, aus wenigen Essen stieg Rauch. Wir kamen unbelästigt zwischen den Häusern hindurch. Man sah, daß wir
Soldaten waren, aus diesem Grund blieben wir vor einem Angriff der hungernden Bürger verschont. Die Hufe der Pferde klapperten auf den groben Steinen eines kleinen Platzes. Die Pestsäule, die neben dem Brunnen aufragte, war von einem Kanonenschuß getroffen worden. Und rußgeschwärzt war sie auch. Wir ritten an ihr vorbei, kamen an ein Haus, das man mit viel Phantasie für ein Rathaus halten konnte, dann hörte das Bimmeln der Glocken endlich auf; eine Wohltat für unsere Nerven. Wir hielten vor dem Rathaus. Ich schwang mich auf den Boden. Meine Sporen klirrten auf den Fliesen, als ich die Tür aufstieß, die mißtönend in den Angeln kreischte. »He!« schrie ich. »Wir sind keine Plünderer! Lebt hier jemand?« Keine Antwort. Ich nahm die winzige Lampe, die wie eine Tabaksdose aussah, aus dem Gürtel und schaltete sie an. Der kräftige Strahl durchschnitt eine Dunkelheit, in der meine Schritte Staubwolken aufscheuchten. Das Licht fiel in eine Art Amtsstube. Hier hatte sich vor kurzer Zeit jemand aufgehalten. Ich sah heruntergebrannte Kerzen, Schreibzeug, vergilbte Zettel an einem Wandbrett, schmutziges Geschirr und verwahrloste Einrichtungsgegenstände. Ein Stapel ledergebundener Bücher lag schräg auf einem Wandbrett, auf dem ein ausgestopfter Uhu mich mit gläsernen Augen anstarrte. Ich schüttelte mich, ging um den Tisch herum und roch säuerlichen Wein. Eine Ratte, einen Brotrest zwischen den Zähnen, huschte davon. Staub stieg in meine Nase; ich nieste dreimal hintereinander. »Zum Wohl, Euer Gnaden«, sagte Glaser neben mir. Er hielt die Waffe hoch und sah aus dem Fenster. »Komm wieder heraus! Offensichtlich wollen sie jemanden verbrennen!« Ich leuchtete den Raum aus, fand aber nichts Interessantes mehr. Dann stützte ich mich an der Fensterbrüstung ab und
sprang nach draußen. Die Hände meiner Reiter fingen mich auf. »Was hast du gesagt?« erkundigte ich mich verblüfft. »Dort um den Pfahl ist eine Menge Holz und Reisig!« sagte Stadelberger. »Es sieht so aus, als ob…« »Los! Hinüber!« sagte ich und schaltete die Lampe aus. Bisher hatten sich meine Männer weder über meinen Reichtum, der aus der Prägekunst der Maschinen und früher erbeutetem Gold bestand, noch über technische Tricks sonderlich gewundert. Vielleicht dachten sie, daß ein französischer Militärstratege und Kanonengießer bessere, andere Waffen haben mußte. Jedenfalls war dadurch ihre Achtung vor mir nicht kleiner geworden. Wir gingen auf den Haufen Holz zu; ich erkannte alle Merkmale des Holzstoßes, wie ich ihn auch in Thom gesehen hatte. »Eine Hexe? Sie wartet auf die Verbrennung!« sagte ich nachdenklich. Muß nicht jeder wahre Gläubige einen Außerirdischen, der sich nicht zurechtfindet, als »absonderlich« und daher als Buhlen des Satans identifizieren? fragte der Extrasinn. Diese Möglichkeit war so unwahrscheinlich, daß ich sie außer acht lassen konnte. Meine Chance war vernachlässigbar gering. Wir gingen langsam, mit ungebrochener Wachsamkeit weiter. Die Pferde bliesen ihren Atem in unsere Nacken. Wir hielten die Schußwaffen in den Händen, die Hähne waren gespannt. Niemand war auf der Straße, düstere Stimmung lag über dem Platz, erstreckte sich auch auf die Kirche. Ein gut erhaltener Turm aus massivem Mauerwerk erhob sich jenseits der dürftigen Pfarre. Dort nahmen wir schattenhafte Bewegungen wahr. Stadelberger stieß mich an. Unsere Sporen scharrten auf den Steinen, als wir uns der Gruppe näherten. »Wahrscheinlich foltern sie das Satanskind«, sagte Glaser. »Du Narr!« zischte ich wütend. »Es gibt keinen Menschen,
der mit dem Satan im Bund ist! Und wenn schon, dann sind es die Fürsten, die den Krieg verlängern, statt Frieden zu halten!« Wir sahen einen Ring aus Bewohnern, der sich um den Turm legte. Nichts geschah, niemand sprach, niemand schien uns zu beachten. Mehrere Armeepferde waren am Zaun der Pfarre angepflockt und zupften an den dürren Halmen. Ich verließ die Gruppe, hielt die Waffe fest und stieg die Stufen zur Kirchentür hinauf. Was ging hier vor? Ich spähte durch die halbe Dunkelheit über den Zaun, zwischen den dürftigen Büschen hindurch. Jemand schleppte eine weiße Gestalt davon und näherte sich den Pferden. Ein Schimmel mit blitzendem Zaumzeug warf den Kopf hoch. Und im gleichen Moment begann die Orgel zu spielen. Ich holte Atem und versuchte, einen kühlen Kopf zu behalten. »Tötet sie! Sie bringt das Unheil über die Stadt!« kreischte jemand mit sich überschlagender Stimme. Ich hörte ein unbekanntes Lied, eine seltsam kraftvolle Melodie. Jemand trat auf die Blasebälge; ein anderer schlug die Orgel. Die Klänge ergossen sich durch die offene Tür ins Freie und vermischten sich mit den Flüchen meiner Reiter. Ein Pferd schlug wiehernd aus. Ich sah mich im Innern der Kirche um. Sie war, schien es, mehrmals geplündert worden. Nur beschädigte Heiligenfiguren standen unter den weißen Flächen, über denen einmal Bilder gehangen hatten. Kerzen brannten; ihre Flammen zuckten im Luftstrom. Der Orgelspieler ließ sich nicht stören, zog ein hallendes Register und fuhr fort, Kadenzen und Läufe zu spielen. »Verbrennt sie! Sie buhlt mit dem Satan!« Eine männliche Stimme, hart und fordernd: »Sie ist… fangt sie ein! Ein Goldstück für den, der sie kriegt!« Ich drehte mich um; jetzt durchschaute ich die Situation, stellte meine Waffe auf Lähmung, lehnte mich an den
arretierten Flügel des Portals und wartete mit gespannten Nerven. Der Saum meines Mantels verhakte sich in meinem Sporn; ich hob den Fuß. Die Gestalt schlug um sich, riß sich los und lief davon. Sie sah sich suchend um und entdeckte das Viereck der offenen Kirchentür. Die Melodie der Orgel war beruhigend, sanft und von schöner Harmonie. Nur die ächzenden Bälge und die klappernden Register störten. Ich sah, wie die Gestalt auf bloßen Füßen durch den Garten der Pfarre hetzte, Verfolgt von einigen Bürgern und einigen Soldaten. »Adlan!« rief Stadelberger. »Ich sehe alles!« rief ich. Wer immer es war, der floh: Er war gewandt oder bewegte sich in Todesfurcht. Mehrere Bürger nahmen die Verfolgung auf. Meine Reiter wußten, was sie zu tun hatten. Sie bewegten sich ruhig und selbstsicher in den Sätteln und lenkten ihre Pferde so, daß sie eine Gasse zwischen den Verfolgern und dem voraussichtlichen Weg des Flüchtenden bildeten. Einen Moment lang sah ich die Augen des Flüchtenden aufblitzen, als ob es Katzenaugen wären. Ein Schuß krachte. Das Blei summte, vom Einschlag verformt, von einem Pflasterstein in die Luft. Es wurde dunkler. Ununterbrochen spielte der Mann an den Tasten des Instruments, ununterbrochen ächzten die Bälge. Die Gestalt schwang sich über eine niedrige Mauer, schlug wild um sich, als sich ein paar entkräftete Bürger auf sie stürzten. Sie erreichte die ersten Pferde. Meine Reiter bewegten die Tiere aufeinander zu, dann ritten sie vorwärts und bildeten eine Reihe zwischen den Verfolgern und den Kirchenstufen. Meine Augen weiteten sich verblüfft, als ich erkannte, daß… Eine Frau! sagte der Extrasinn scharf. Ich stieß mich vom rissigen Holz ab und lief schnell die Stufen hinunter. »Sie… wollen… mich verbrennen!« keuchte die Frau. Sie war nackt. Auf ihrem Körper sah ich die Spuren der Peitsche.
Heißer Zorn stieg in mir hoch. Ich zog die Waffe aus dem Gürtel, zielte und feuerte drei Leuchtkugeln ab. Zwei weiße in die Luft und eine rote in Richtung auf die Verfolger. »Dannhauser! Mein Pferd!« sagte ich, riß den Mantel von meinen Schultern und sagte scharf: »Du bist in Sicherheit. Keine Angst!« Als das zitternde, grellweiße Licht am Himmel erschien und abwärts sank, schrien die Menschen auf und wichen zurück. Ich sah flüchtig eine Mauer ausgemergelter Körper, offener Münder und aufgerissener, erschrockener Augen. Die junge Frau sackte in meinen Armen zusammen. Ich schlug den schweren Stoff des Mantels um sie und setzte sie mit Dannhausers Hilfe auf den Sattel meines Pferdes. »Er rettet die Hexe!« murmelten die Einwohner. Fünf Soldaten schwangen sich jenseits des Pfarrgartens in die Sättel; ich feuerte, ohne abzusetzen, hinter ihnen her. Es war mir gleichgültig, ob ich traf oder nicht. Die Reiter flohen. Ich sagte laut: »Wir reiten zum Hof. Schnell.« Die drei Leuchtkugeln waren auf den Boden gefallen; das rote Glühen zwischen uns und der Bevölkerung mußte die abergläubischen Menschen überzeugen, daß der Teufel eingegriffen hatte. Ich stieg in den Sattel, und unter der doppelten Last schnaubte mein Hengst unwillig auf und tänzelte nervös. Ich schrie den Menschen zu: »Der Teufel haust draußen im zerfallenen Gehöft! Wagt euch nicht aus den Häusern, sonst verbrennt euch sein Atem!« Ich riß das Pferd herum und galoppierte davon. Der Mann an der Orgel spielte weiter, als sei nichts vorgefallen. Die Orgelklänge und das zuckende Licht der Magnesitfackeln verfolgte uns, als wir über den Marktplatz sprengten und die Hufe der Pferde Funken aus den Steinen schlugen. Die Frau vor mir im Sattel war besinnungslos. Sie bewegte sich wieder,
als wir in den Hof einritten. Kressin stellte sich uns in den Weg, schwenkte einen brennenden Ast und erkannte uns sofort. »Adlan hat sich einen nackten, gerupften Vogel gefangen!« rief Dannhauser. Die Männer lachten; als ich aus dem Sattel sprang und auf einen zerbrochenen Wagen zuging, sahen sie, was ich trug. Sie folgten mir, bis ich mich umdrehte und zornig rief: »Die Wachen verdreifachen! Ich brauche Hilfe… Stadelberger, Greiff! Her zu mir!« Er waren die ältesten, erfahrensten Männer der Truppe. Wir schleppten Decken heran, Hafersäcke der Pferde, einige Mäntel. In sicherer Entfernung vom Feuer machten wir ein Lager daraus, dann setzte ich die Frau ab. Sie sah mich an, als ich gebückt neben ihr kniete und ihren Kopf hochhob. Im Schein der Feuer starrte ich wieder in ihre Katzenaugen. Sie atmete schwer und zuckte zusammen, als ihre mißhandelte Haut die Decken berührte. »Schnell! Meine Satteltaschen!« rief ich. Ein vager Verdacht zeichnete sich ab. Wenn sie jene Frau von den Sternen war, würde sie erkennen, was nicht aus der Kultur dieser Welt kam. Und wenn sie merkte, daß sie es mit einem anderen Außerirdischen zu tun hatte, würde sie mich mit einem der Verfolger gleichsetzen. Und ich konnte nichts erfahren. Ich versuchte, ihr etwas vom heißen Würzwein einzuflößen. Sie trank einige Schlucke, dann schloß sie die Augen und schlief ein. Ich scheuchte die Männer zur Seite, öffnete die Satteltaschen und nahm eine Energiezelle heraus. Eine winzige Fackel begann strahlend hell zu brennen. Als ich den Mantel zurückschlug, sah ich die Kerben der Auspeitschung. Schnell tastete ich die Glieder ab; nichts war gebrochen, aber ich entdeckte Prellungen und Blutergüsse. Stadelberger fragte ruhig: »Kann ich helfen, Adlan?«
»Ich brauche heißes Wasser. Greiff, pack die Taschen aus und stelle alles auf die Trommel!« Er zog das Tuch hervor, während ich meinen Brustharnisch öffnete, das Wams aufknöpfte und das Hemd. Ich nahm den Zellaktivator, der wie ein kostbares Schmuckstück aussah, mit einem Wappen, das vierundvierzig Variationen zuließ, vom Hals und legte ihn zwischen die Brüste der Frau, injizierte ein einschläferndes Mittel und suchte das andere Material zusammen. Ich säuberte die Wunden, verband sie, benutzte Salben und Bioplast, das ich aufsprühte. Offensichtlich war die junge Frau gefoltert worden; aber man hatte »nur« die Peitsche, Beinschrauben und die Streckbank angewandt; nur einen Teil des teuflischen Instrumentariums. Ich tat, was ich konnte – ließ mir helfen, drehte den Körper um und wickelte Binden um die mißhandelten Hüften und den Rücken. Aus tiefen Einstichen sickerte wieder Blut – es war die »Hexenprobe« gewesen, in der einer der Schergen mit einer Nadel in den Körper stach. Floß kein Blut, galt dies als Zeichen, daß der Satan die Delinquentin unempfindlich gemacht hatte. Zwei Stunden später war ich fertig; ich schlug die Enden des Mantels zusammen und stand auf. Der Aktivator entfaltete seine unerklärlichen Kräfte; es war mir schleierhaft, warum er wirkte, wenn ich jemandem helfen wollte – normalerweise würde jemand, der meinen Aktivator stahl, sterben, wenn er ihn trug. Mein Rücken schmerzte; Bertold der Lispler reichte mir wortlos einen Becher Würzwein. »Diese verdammten Hunde«, sagte ich. »Sie verhungern bei lebendigem Leib, und trotzdem foltern ihre Scharfrichter noch Unschuldige.« Glaser murmelte: »Aber… man hat sie als Hexe erkannt… ich; was ist, Adlan?« Ich ließ den Becher fallen und packte Glaser an seinem
Wams. Eine Sekunde lang verhüllte Zorn meine Gedanken: Ich sah nur eine weiße Wand. Ich schüttelte den Mann, knurrte zwischen zusammengebissenen Zähnen; Hound sprang neben mich und keuchte gierig auf. »Hör zu, du Narr!« flüsterte ich heiser. »Es gibt keinen Teufel! Und auch die Dinge, die dir wunderbar vorkommen, sind keine Wunder, keine Ausgeburten der Hölle, sondern Dinge, die du nicht kennst, weil du zu dumm bist. Es gibt keine Hexen, es gibt keine Hexer, Satan ist eine Ausgeburt kranker menschlicher Hirne! Hast – du – das – verstanden, du Klotz?« Bei jedem Wort schüttelte ich ihn. Ich brach beinahe sein Genick. Dann kam ich zu mir und ließ ihn los. »Entschuldige«, sagte ich leise und wischte den Schweiß von meiner Stirn. »Aber es gibt wirklich keinen Teufel und keine Hexen. Das, was teuflisch oder merkwürdig erscheint, entspringt armen, geschundenen Hirnen. Und ihr alle tätet besser daran, in meiner Gegenwart nicht mehr davon zu reden.« Ich ging zurück zum Feuer. Die Frau schlief; die scharfen Linien des Schmerzes waren aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie hatte sich entspannt; nur Binden und Bandagen verhinderten, daß sie sich zusammenrollte. Für eine halbe Nacht würden meine Männer und ich auf die Mäntel verzichten können. Die Hälfte der Nacht läuteten die Glocken der armseligen Kirche. Aber wir hörten keine Orgelklänge mehr. Am nächsten Morgen banden wir eine Art Trage zwischen zwei Pferden fest, betteten die schlafende Frau darauf und verließen den Hof. In der Stadt drangen drei von uns mit gezogenen Waffen in ein Haus ein, das unzerstört aussah. Wir suchten nicht lange, dann fanden wir Kleidungsstücke, die unserem Gast passen würden. Ich fand ein Paar kostbare
Stiefel und sagte der zitternden Tochter eines Dorfschulzen, daß der Teufel und seine Buhle sich über die Stiefel freuen würden. Nach zwei Tagen erreichten wir den zweiten meiner geheimen Fluchtpunkte. Es war eine Köhlerhütte am Ende einer Schlucht, die wohl während des gesamten Krieges nicht entdeckt werden würde. Hier endlich hatte unser Gast Ruhe. Die junge Frau mit den Katzenaugen schlief volle drei Tage, und immer wieder hängte ich ihr den Aktivator um. Hound bewachte sie. Wir schlugen ein Lager auf, scherzten mit dem Köhler, der in seinem Leben zum erstenmal Gold sah und »höfliche« Soldaten. Wir konnten Wildschweine erlegen und einen jungen Hirsch. Die Männer schossen Hasen und Schnepfen mit den Armbrüsten und brieten das Wild. Wir schlugen ein Zelt auf, unsere Pferde weideten in guter Ruhe; die kurze Idylle wurde von Cis bewacht. Der Falke zog seine Kreise und wurde nur unruhig, als ihn ein Schwarm verwilderter Tauben angriff. Einen Tag später saß ich auf einem Holzstoß, hatte einen Spiegel aufgestellt und rasierte mich. Die Innenfläche des Lederkastens, in dem Seife und Rasierzeug untergebracht waren, zeigte ein winziges, scharfes und farbiges Bild. Ich warf zwischen den Strichen mit dem Rasiermesser einen Blick darauf und sah, daß sich zwei Heere rüsteten. Sie zogen im Gelände aufeinander zu und schienen unentschlossen. Es war in der Gegend von MergentheimHerbsthausen. Tourenne? Werth? Mercy? Ich wußte es nicht; aber würde mich darum kümmern. Vielleicht gelang es »uns Kaiserlichen«, die Franzosen und Schweden aus dem Land zu treiben. Ich klappte den Kasten zu, als Greiff auf mich zukam, mit nacktem Oberkörper, der sich in der Maisonne langsam rötete. »Freund Greiff?« sagte ich und steckte mein Gesicht ins warme, duftende Wasser. »Was gibt es?« Er deutete grinsend mit dem Daumen über seine Schulter.
»Die Frau«, sagte er. »Sie ist wach.« Sein Grinsen gefiel mir nicht recht. Ich trocknete mein Gesicht ab, rieb Creme hinein und fragte: »Da ist noch etwas. Sie ist wach… und was noch?« In seine Augen kam ein unverkennbar lüsterner Ausdruck. Sein Grinsen wurde breiter und enthüllte zwei Zahnruinen. Er spie Tabaksaft in die Brennesseln und sagte leise: »Die anderen Männer schlafen. Noch schlafen sie! Wenn sie aufwachen und sehen, daß die Frau im Köhlerteich schwimmt, kannst du sie nicht mehr halten.« Er fügte hinzu, als ich aufstand und die Gegenstände verpackte. »Sie ist wirklich schön. Schlank, wo sie schlank sein soll, und fett, wo Weiber fett sein müssen.« »Deine Erfahrung, mein Geschmack und Köhlers Teich – sicher feiern wir heute ein heiteres Fest«, sagte ich und ging mit ihm zu der rußigen Hütte des alten Mannes. Wir suchten ein Handtuch aus meinem Gepäck, dann wickelten wir die requirierte Kleidung hinein; als Greiff mit mir zum Teich gehen wollte schüttelte ich mit einem breiten Grinsen den Kopf. »Das ist meine Sache, Freund Greiff!« »Du bist der Herr«, sagte er und setzte sich. Ich ging zum Wehr, setzte mich auf die feuchten Bohlen und wickelte die Seife aus dem Handtuch. Ich sagte laut: »Erschrick nicht, Mädchen – aber mit diesem grünen Stück hier gehen Schmutz und Salben besser von der Haut. Handtuch und Kleider liegen hier. Ich verstecke mich hinter einem Baum und schiele lüstern durch die Zweige.« »Du kannst ebensogut zusehen.« Sie lächelte nicht, als sie auf mich zuschwamm und sich an einem Balken festhielt, der vor dem Rechen schaukelte. »Ihr Soldaten seid alle gleich.« »Jedoch manche, Prinzessin«, sagte ich leichthin, »sind eine
Spur gleicher als die anderen.« »Du, zum Beispiel, mit deinem lächerlichen Zopf?« »Zugegeben, es steckt nicht an jedem Zopf auch gleich ein weiser Kopf, aber ich schätze es nur bedingt, wenn man seine Lebensretter ärgert. Bist du hungrig?« »Jetzt, wo du es sagst, merke ich es. Was ist das für ein lustiges Ding hier, Herr Soldat?« Sie griff ins Wasser und zog den Aktivator heraus. Ihr Hals war lang und schön. »Mein Eigentum«, sagte ich scharf, »ich fange es auf.« Sie warf ungeschickt, und ich machte einen gewaltigen Satz in die Nesseln hinein. Jetzt wußte ich, wie Sprichwörter entstanden; ich saß zwar nicht in den Nesseln, aber erst die Wirkung es Aktivators, den ich in mein Hemd gleiten ließ, milderte die wütenden Schmerzen an den Händen und Unterarmen. Ich ging zum Haus zurück, und wenig später kam die junge Frau. Der Henkersknecht hatte ihr Haar abgesengt, und inzwischen waren die verbrannten Stücke abgefallen. Sie sah viel zu jung aus, aber die Form des Schädels war hinreißend. Und sie hatte hellgrüne Katzenaugen, die von innen zu leuchten schienen. Ich sagte ernst: »Wir haben die Kleider aus der Siedlung mitgenommen, in der du gefoltert worden bist. Sind die Spuren verschwunden?« Sie nickte und maß mich mit einem unergründlichen Blick. »Ihr… was bedeutet dieses ›ihr‹? Wieviel seid ihr? Eine Kompanie? Oder nur eine Gruppe Deserteure wie dieser Eyb vom Fels… nein! Ihr seid anders. Ich muß euch allen zu Willen sein; damit habe ich meinen Dank abgestattet. Richtig?« Ich stand vor dem Eingang der Hütte. Ich starrte ungläubig in ihre Augen, dann brach ich in ein gewaltiges Gelächter aus. »Ich bin Adlan d’Arcogne«, sagte ich atemlos, und wieder schüttelte mich das Gelächter. »Und ich versichere dir, daß
dein Körper von keiner rauhen Kriegerhand berührt wird. Meine Männer und der Köhler werden dir nichts tun. Du sollst dich wie eine Schwester unter Brüdern fühlen.« »Köhler…?« fragte sie. »Ein Mann«, klärte ich sie auf, »der Holz unter Ausschluß von Luft verbrennt und daraus Holzkohle macht. Man kann damit wunderbar Hirschbraten rösten und andere Dinge. Haselnüsse etwa.« »Oder Hexen…«, sagte sie. »Das auch«, murmelte ich betroffen. Der Ausdruck ihres Gesichtes hatte sich geändert. Bis jetzt schien starke Spannung die junge Frau aufrechtgehalten zu haben. Als sei mein Gelächter ein Signal gewesen – sie ging mit gesenktem Kopf ein paar Schritte vorwärts, starrte mich an und knickte in den Knien ein. Ich fing sie auf; sie klammerte sich an mir fest. Sie würde sich, stünde ich nicht hier, auch an einem Baumstamm festgeklammert haben. Ein tiefes Schluchzen schüttelte ihren Körper. Nacheinander kamen meine Männer ins Freie und bildeten einen dichten Kreis um uns. Ich streichelte das kurze Haar und fühlte, wie sie sich beruhigte. Das Schluchzen ließ nach; jetzt weinte sie. Dann hob sie den Kopf und starrte mich an. Sie flüsterte heiser: »Danke, Adlan!« und küßte mich schnell auf den Mund. »Bravo!« schrie Greiff. Die Frau sah ihn an, als sähe sie zum erstenmal einen Landsknecht. Dann ging sie feierlich von einem zum anderen und küßte jeden. Ich schüttelte entgeistert den Kopf, aber dann sah ich, daß meine Männer gerührt waren. Nur Kaspar konnte sich nicht beherrschen – er kniff sie. Die junge Frau schien es nicht gespürt zu haben. Sie sah glücklich aus. »Ich glaube«, sagte Rummel und schneuzte sich mit den Fingern, »sie sollte mit uns reiten.« »Sie wird tot umfallen, wenn wir sie nicht gleich ins Haus
bringen und ihr eine Mahlzeit vorsetzen«, knurrte ich. »Unser Herr hat recht!« Kaspar grinste schräg, als ich ihm einen wütenden Blick zuwarf. Fünfundzwanzig Männer versuchten, gleichzeitig in die Hütte zu kommen, Vorräte auszupacken, Suppe vom Herd zu nehmen und vieles mehr. Es gab ein heilloses Durcheinander. Ist sie nun die Lady von den Sternen, Arkonide? fragte mein Extrasinn. Außer ihr wußte es niemand. Sie aß mit beispiellosem Appetit, und sie lebte sichtlich dabei auf. Als sie fertig war, lehnte sie sich an den warmen Ofen und fragte: »Und der Mann? Wo ist er? Haben sie ihn zu Tode geschunden?« Ich blinzelte. »Welcher Mann?« »Ich ritt mit einem Mann über Land. Wir sind Kartographen. Ich weiß nicht warum, aber plötzlich umzingelte uns eine Menge hungriger Leute, riß uns vom Pferd und schleppte uns weg. Ich wurde betäubt und wachte auf, als…«, dann, nach einem zögernden Blick in die Runde und einer kurzen Pause, fuhr sie fort: »… als ich mich im Turm befand. Dort waren Männer mit schwarzen Kapuzen, die mich gefesselt hatten. Sie sagten, ich bin eine Hexe, sie sagten, ich könnte im Guten gestehen, oder sie würden mich der hochnotpeinlichen Befragung unterziehen. Dann zeigten sie mir die Werkzeuge, mit denen sie mich quälen würden. Ich bin eine Hexe, sagten sie. Und der Mann ist ein Hexer, ein Freund des Teufels.« Ich sagte: »Wir kamen auf den Marktplatz, als dich zwei Soldaten zu einem Schimmel trugen. Du konntest dich losreißen und bist über einen Zaun gesprungen, durch den Garten des Pfarrers gerannt, über eine Mauer gesetzt, und dann bist du auf den Stufen der Kirche zusammengebrochen.« Sie sah mich an. »Ich erinnere mich. Dort war ein warmes Licht, und dort stand ein Mann, der so aussah, als könne er mir helfen. Eine Hexe flieht nicht in die Kirche.«
»Der Mann bin ich«, sagte ich. Ihre Finger, schlank und auf merkwürdige Weise kräftig, spielten mit dem Bratenmesser. »Als sie mein Haar abgesengt hatten und mich untersuchten, ob ich Merkmale des Teufels trug«, erzählte sie weiter; als sie sprach, merkte ich, wie sie sich von der Schilderung distanzierte, so, als habe eine andere Person alles erlebt, »kam ein Offizier in den Kerker. Ich schrie und schrie, und er sagte, er liebe Hexen. Es war ein ekelhafter Kerl. Ich schrie, er solle weggehen, weil sein Anblick böse ist.« Die Sprache! flüsterte der Extrasinn. Ich hatte gebannt dem Bericht zugehört, und deshalb war mir die Eigentümlichkeit ihrer Ausdrucksweise entgangen. Als sie weitersprach, merkte ich es deutlich. Entweder war sie unsicher, was die Wortwahl betraf, oder aber sie hatte Jahre der Schulung und eine Zeit, in der sie eine verwilderte Sprache gehört und benutzt haben mochte, durcheinandergewürfelt. Statt »sei« sagte sie »ist«, und ich spürte weitere Eigentümlichkeiten auf. »Dann ging er und lachte. Der Henkersknecht stach mich mit einer langen Nadel, und blies mir seinen stinkenden Atem ins Gesicht.« Wir hörten schweigend zu. »Dann sagte der Scharfrichter, ich könne mich loskaufen lassen, wenn ich mit Eyb vom Fels gehe. Ich wollte nicht. Sie steckten meine Beine in Holzblöcke und drehten Schrauben, bis das Blut lief. Ich wurde besinnunslos vor Schmerzen. Sie schütteten mir Wasser ins Gesicht und befragten mich abermals. Eyb kam wieder und berührte mich…« Sie schauderte; ich sah, wie sich ihr Körper versteifte. Sie redete jetzt wie unter Zwang. Auf ihren Armen erschienen rote Flecken; die Spuren der Mißhandlungen, die Härchen an den Armen und im Nacken stellten sich auf. Ich beobachtete sie scharf. Wer war sie wirklich? Tatsächlich die Gehilfin eines Kartenzeichners? Sie keuchte und sprach weiter: »Er berührte mich… überall, am ganzen Körper. Ich bringe
ihn um, wenn ich ihn treffe. Dann peitschten sie mich. Ich schrie und schrie. Wieder kam Eyb und fragte lachend, ob ich den Scheiterhaufen lieber habe als ihn. Meine Haut, sagte er, sie ist so warm. Er liebe die Hitze bei Frauen, lachte er. Der Knecht peitschte mich wieder. Dann banden sie mich los und legten mich auf eine Leiter. Sie zogen mir die Glieder auseinander. Und immer war ich nackt.« Sie keuchte. Schweiß lief über ihr Gesicht. Ich erkannte, daß sie nur von ihren Erlebnissen loskam, wenn sie bis zum Ende erzählte. Kein Atemzug war in der Hütte des Köhlers zu hören. »Und da waren überall im Keller Fackeln und Feuer. Und diese Ratten. Sie warteten darauf, bis sie mein Blut lecken konnten. Die Ratten, Ratten… diese häßlichen, dreckigen Ratten…« Ich war bereit, nach vorn zu springen und einzugreifen. Die Frau, deren Namen wir noch nicht wußten, schwankte, als führe sie eine Reihe ritueller Bewegungen aus. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihre Stimme war die eines Jungen im Stimmbruch, als sie heiser weiterredete, sich verhaspelte, flüsterte und leise aufschrie wie ein verwundetes Tier. »Ratten… auch Eyb war eine Ratte. Ist eine Ratte. Ich wurde ohnmächtig. Dann schrie ich, daß Eyb mich haben könne. Er gab dem Scharfrichter einen Schinken und Gold. Sie ließen mich los, gossen Wasser über mich. Dann kamen zwei Männer und haben mich weggeschleppt.« Sie drehte sich um, schnappte nach Luft und öffnete die Augen. Ein langer Blick aus hellgrünen Augen, in deren Iris silberne Streifen waren, traf mich. Als sie die rötliche Farbe meiner Augäpfel sah, schüttelte sie den Kopf und flüsterte: »Die Nachtluft machte, daß ich zu mir kam. Ich sah fremde Reiter, sah diesen Mann in der Kirchentür und hörte Musik. Ich riß mich los und rannte.«
Schweigen. Meine Reiter blickten betreten zu Boden. Vielleicht begriffen sie, wie man eine Hexe zum Geständnis brachte. Nach einigen Minuten, in denen ich Zündt, unserem Koch, einen Wink gab, sagte die junge Frau: »Ich danke euch. Vielleicht kann ich jetzt besser schlafen. Ich heiße Radogyne und komme aus einem Land, das ihr nicht kennen werdet.« Noch niemals hatte ich auf diesem Planeten in solche Augen geblickt. Ich lehnte mich zurück und sah, wie Zündt Radogyne einen Becher an die Lippen setzte. Ich war verblüfft über die Zartheit seiner Bewegungen; er sah aus, als füttere er mit einem Strohhalm einen Vogel mit gebrochenem Flügel. Ich unterdrückte meine Rührung und fragte: »Und der Mann?« Sie setzte den Becher ab, indem sie ihre Finger leicht auf Zündts Pranke legte und sie wegschob. »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht gesehen. Nur Ratten waren überall.« Ich wollte sagen: Dies ist ein Planet der Ratten, der Tiere und der menschlichen Ratten, statt dessen sagte ich: »Freunde – was tun wir?« Kressin und Bertold der Lispler sagten im Duett: »Ehrensache für uns! Wir holen den Mann aus den Klauen des Henkers. Noch heute, Adlan?« Ich schüttelte den Kopf. »Wir teilen uns. Morgen beim ersten Sonnenstrahl. Fünfzehn Männer. Wir schlagen hart zu. Und den Scharfrichter werde ich besonders liebenswürdig behandeln.« Christian, den sie den Schieler nannten, heftete sein gesundes Auge auf Radogyne und versprach: »Ich suche die besten Pferde aus, und ich gieße viele neue Kugeln für diesen Tag.« Wieder ein Wink. Zündt kippte einen gewaltigen Schluck Branntwein in den Weinbecher und streichelte scheu die Wange des Mädchens, als sie trank. Minuten später war sie
leicht betrunken und müde; wir brachten sie über die Leiter nach oben. Sie schlief unter der Decke der Hütte, neben dem Fenster in den hölzernen Schindeln. Die Männer drängten ins Freie. Ich hielt das Ende der Spur fest in meiner Hand, aber ich wußte noch immer – gar nichts. Wir mußten den falschen Kartographen finden. Ich schickte den Falken aus, aber er brachte nur Bilder vom Aufmarsch der Truppen. Schweden, Franzosen und Hessen hatten sich verbündet und marschierten auf die Heere der Kaiserlichen zu. Einmal sah ich den Feldherrn Mercy. Er sah aus wie ein Mann, der ahnte, daß er sterben würde. Den Fremden sah ich nicht. Und auch nicht seine Verfolger. Die Jagd schien sich im Kreis zu drehen, wie meine Gedanken.
10. Die Einsicht, daß er sterben würde, schlug ein wie ein Meteorit. Er war nicht mehr weit davon entfernt, aber er hatte noch keine Ordnung in seine Gedanken gebracht. Zu viel war geschehen, es war zu plötzlich über ihn gekommen. Er wollte sich im Getümmel verstecken, und das Chaos hatte seine blutigen Finger ausgestreckt und ihn ergriffen. Er bewegte vorsichtig seinen linken Fuß. Das Klirren der schweren Kette bewies ihm, daß die Zeit noch nicht gekommen war. Noch immer sahen die Wachen jede halbe Stunde nach ihm, er würde länger brauchen, um sich zu befreien. Der rechte Fuß. Die Maus, die neben der Kerze saß und sich die Schnurrhaare putzte, sah ihn aus winzigen, klugen Augen an und hob ein Krümelchen feuchten Brotes auf. Die Haut auf ihrer Nase kräuselte sich, als sie das Brot knabberte, auf den Hinterbeinen, den Schwanz graziös geringelt. Er liebte dieses Tier seit vier Tagen. Er holte tief Atem, trotz des Gestanks in dieser Zelle. Wenigstens gab es hier keine Ratten. Das war der Begriff. Ratten. Überall waren sie. Immer hungrig, immer pfeifend… er zwang seine Gedanken in eine andere Richtung. »Verdammt!« sagte er. Winzige Fehler addierten sich auf. Die Summe unter dem roten Strich hieß: Tod. lösche und Papier. Perspektivische Hilfslinien und Zeichenunterlagen. Eine Ausrüstung, die mit Sorgfalt gealtert worden war: Ein verwundeter Soldat, dem sie geholfen hatten, bemerkte die Karten und mußte etwas einem Offizier gesagt haben. Trotzdem waren nicht viele Soldaten unter der Menge gewesen, die sie aus den Sätteln zerrte. Er hatte alles verloren. Nur den stählernen Ring nicht und den Positionsgeber. Den Positionsgeber würden erst die Ratten finden, wenn sie seinen
Leichnam anfraßen – der fingerlange Stab mit dem Auslöser befand sich einoperiert im Bauchfell. Der Mann schwitzte. In dem feuchten Keller schwitzte er: Seine Körpertemperatur war so hoch, daß er in Eiswasser schwimmen konnte, ohne Schaden zu nehmen. Der Stahlring an seinem linken Oberarm, schmucklos, breit und unauffällig, würde ihm helfen. »Aber nur dann, Maus, wenn die Soldaten schlafen!« Die graue Maus zwinkerte verständnisvoll, putzte ihre Haare und ringelte den Schwanz. Sie trippelte um die Kerze herum, warf den Schatten eines Tigers an die Wand aus Bruchstein und erschien auf der anderen Seite. Sie fand Fleischfasern am Löffel im hölzernen Napf. Der Löffel klapperte, als die Maus die Fleischreste auffraß. Wieder blinzelte sie ihn an. »Und sie werden bald schlafen, Maus!« sagte der Mann. Er schien sich ganz unten zu befinden. Aber ein Tal, wußte er aus seiner Erfahrung, war nur ein Einschnitt zwischen Bergen. Der Schwung, mit dem er ins Tal gerutscht war, würde ihn den jenseitigen Hang hinauftragen. Wenigstens ein Stück. »Und du wirst mich begleiten, mein Mäuschen«, sagte er leise. Der Posten steckte seinen Kopf durch das Gitter und brüllte: »Halt’s Maul, dreckiger Spion!« »Aber gern«, gab er leidenschaftslos zurück. Der Soldat brummte etwas Unverständliches und verzog sich. Dann drang das harte Rasseln einer Trommel in die Zelle, der strahlende Klang einer Signaltrompete. Schritte näherten sich, Worte wurden gewechselt, und ein anderer Soldat betrachtete den Spion auf dem Holzboden, der an allen Gelenken gefesselt war. Die Ketten klirrten nicht, weil der Mann die Glieder ruhig hielt. Er dachte nach, wie er entfliehen konnte – es war wichtig, daß diese Gruppe Heloten ihm nicht auf die Spur
kam. Und Radogyne wurde gefoltert und verbrannt. Einen Augenblick lang brannte heißes Bedauern in ihm. Sie war freiwillig mit ihm gekommen, sie kannte das Risiko, das sie auf einer Kategorie-III-Welt einging. Zudem auch noch auf einer Welt, die zwei metabolische Ebenen tiefer lag als Algot Creosa, der Planet der Ausgesuchten. »Sie heißt Radogyne, Maus, und inzwischen hat man sie verbrannt!« Die Kerzenflamme zuckte und sprang. Der Schatten der Maus tanzte über die Mauern. Der Mann hörte die Schritte des Postens, der sich entfernte. Ein Vogel setzte sich flatternd vor die eisernen Gitterstäbe. Fenster? Eine kleine Öffnung in der dicken Mauer. Es schien ein Raubvogel zu sein, denn Vaskane sah den gekrümmten Schnabel und die charakteristische Form des Kopfes. Der Mann bewegte sich, diesmal klirrten die Ketten nicht. Der Posten betrachtete ihn schweigend, ohne besondere Anteilnahme. Er sah einen Mann, der für die Kaiserlichen Zeichnungen und Pläne gezeichnet hatte. Jemand hatte das Mädchen aus seiner Begleitung weggeschleppt, nachdem das Wort »Hexe« geflüstert worden war. Massive Ketten, an den Hand- und Fußgelenken und an eingelassenen Ringen in der Mauer befestigt, würden verhindern, daß der Mann mit dem merkwürdigen Namen entfloh. Es war kühl, selbst der Falke schützte sich in der Ecke der Luke. Der Posten wickelte sich in seinen Mantel und lehnte die Hellebarde an die Mauer. Das schnarrende Geräusch schnitt in die Nerven des Fremden, der zu schlafen schien. »Und jetzt, Maus«, sagte er leise, »werden wir diese Barbaren überlisten.« Nach der Pause, die er zur Erholung gebrauchen konnte – er aß die Konzentratnahrung aus den Säumen seiner Kleidung –, war Vaskane frisch. Er hob den Arm, bis er den Eisenring erreichte, tastete mit den Fingerkuppen nach der Markierung,
drückte sie zusammen; der Ring lag, in Hälften gespalten in seiner Hand. Wieder betätigte er eine Schaltung und fuhr mit einer Kante des Ringes am Eisenring entlang, der um seinen linken Knöchel lag. Das Metall zerbröselte in eine graue, körnige Masse und rieselte zu Boden. Der rechte Knöchel war binnen weniger Augenblicke befreit. Nur zwei Kettenglieder bewegten sich und klirrten zu Boden. Vaskane öffnete ein Auge und sah nach dem Brett in der massiven Bohlentür. Nichts. Die Atemzüge der Wache blieben tief und regelmäßig. »Aber weißt du, Maus; meine Verfolger schlafen nicht. Sie suchen mich, um das Geheimnis von Algot Creosa herauszufinden. Sie waren verdammt schnell, die Heloten!« flüsterte er, drehte seinen Arm so, daß die Kette gespannt entlang der rauhen Wand hing und nicht klingen würde. Er schnitt mit der Ultraschallsäge die Fessel durch, wiederholte das Verfahren, wobei er noch vorsichtiger war, weil er das Arbeiten mit der anderen Hand nicht so gut beherrschte. Unbehaglich sah er, als der zerbrochene Ring an der Mauer scharrte, das Auge des Falken. Die Maus hatte sich aufgerichtet, bereit, in ihr Loch zu hasten. Vaskane holte Luft und stand auf. »Mäuschen«, flüsterte er, »du brauchst keine Angst zu haben. Ich will nur…« Die Maus stieß einen Pfiff aus, ließ sich auf die Vorderbeine nieder und war blitzschnell aus dem Bereich der Kerzenflamme verschwunden. Vaskane machte Kniebeugen, dehnte den Brustkorb und fühlte nach seiner Temperatur. Er begann sich großartig zu fühlen. »Schnell!« sagte er zu sich, nahm den Ring, hielt ihn hochkant und schnitt um ihn einen Halbkreis in das Holz. Das Mehl aus dem Spalt lief über seine Stiefel. Als der Holzausschnitt zu wackeln begann, griff er mit der anderen Hand zu und faßte ihn an, legte ihn mitsamt dem Riegel
vorsichtig und lautlos auf den Boden des Kerkers. Blinzelnd beobachtete ihn der Falke jenseits der Gitterstäbe. Vaskane richtete sich auf, drückte den Ring zusammen und zielte mit der Öffnung auf den Posten. Ein leises Fauchen ertönte; der Posten zuckte, glitt von seinem Schemel und starb. »Wieder einen Schritt weiter!« sagte er, setzte den Hut des Mannes auf, nahm seine Waffen und befestigte den Mantel an seinen Schultern. Er warf einen Blick in sein Gefängnis; die Maus war verschwunden. Nur der Falke starrte ihn an, als habe das Tier begriffen, was es gesehen hatte. »Schnell weg, Vaskane!« zischte er und orientierte sich. Der Turm, Teil einer geschleiften Burg, stand zur Hälfte an einen aufragenden Felsen gelehnt, in der Nähe des Truppenlagers. Vaskane nahm die Hellebarde, hielt den Ring am linken Handgelenk fest und ging auf eine Gruppe Pferde zu. Lagerfeuer brannten, er hörte schwedische und französische Wortfetzen. Die Nacht war noch mondlos. Nur die Sterne spannten sich über der Szenerie. Die Zeltstangen, abgestellten Karren und Wagen, Kanonen, schußfertig zu Viererbatterien aneinandergestellt auf ihren Lafetten, gähnten ihn mit den Öffnungen der Rohre an. Kurierreiter sprengten mit verhängten Zügeln durch die Nacht. Am anderen Ende des Lagers wurde ein Horn geblasen. Seine Schritte verloren sich raschelnd im Gras, das vom Laub des Herbstes voll war. Er erreichte die Pferde und sah sich um. Je selbstverständlicher er sich bewegte, desto größer waren seine Chancen. Bisher hatte ihn niemand bemerkt. Er versuchte, die Pferde zu beurteilen, und entschied sich für einen Fuchs mit heller Mähne und prächtigem Schweif; ein starkes Tier. Er entdeckte nur rechts, in der Richtung des halbverfallenen Turmes, einen Doppelposten mit Musketen. »Los!« sagte er sich. Er mußte eine möglichst große Entfernung zwischen sich und die Verfolger einerseits und die
Heere andererseits bringen. Irgendwo auf diesem Planeten mußte er sich verbergen, bis die Heloten es aufgaben, ihn zu verfolgen. Er gab die Zügel frei, und das Pferd setzte sich in Bewegung. Weit vor ihnen war der Waldrand. Im Wald würden sie, zumindest vorübergehend, Schutz finden. Als er sich umdrehte, sah er einen Kurierreiter aus dem Lager preschen; er zügelte sein Pferd, ritt an den Mann heran. »Ich reite eine kurze Strecke mit dir, Kamerad!« rief er. Der andere gab zur Antwort. »Gut. Dann wird der Weg weniger langweilig. Vorsichtig, ich reite schnell!« »Ich reite nicht langsamer, Freund Kurier!« Nebeneinander sprengten sie aus dem Lager der Verbündeten hinaus, sahen im Licht der Sterne schwach die Konturen eines Weges zwischen dunklen Wiesen und nassen Äckern, über die das Heer getrampelt war. Der Hufschlag der Pferde wurde schärfer auf den Steinen, dann dämpften Laub und Nadeln die Laute. Sie erreichten den Wald und ritten weiter, den Einschnitt in den Mauern aus Bäumen vor sich. Vor ihnen, hinter einer runden Kuppe, hob sich die kalkweiße Scheibe des Mondes in den Sternenhimmel. Tannen standen dort, und neben den Bäumen bemerkte Vaskane einen riesigen Wolf. Er stand als Silhouette da und hielt den Kopf hochgereckt, als heule er den Mond an. Aber da war kein Geräusch, kein Heulen, kein Bellen. Vaskane schauderte, als er das riesige Tier sah. »Ich reite nach rechts, dort hinüber!« rief er. »Guten Weg, Kamerad!« »Danke. Guten Kampf allerwege!« gab der Kurier zurück, hob den Arm und verschwand im Dunkel. Vaskane hielt sein Pferd an und klopfte dessen Hals. Er drehte sich im Kreis. Das Lager war weit, diese Gefahr konnte er vergessen. Der Wolf, dessen Augen zu glühen schienen,
hatte nichts zu bedeuten; es war unmöglich, dieser Waffe, die er am Handgelenk trug, zu widerstehen. Zudem war sie auf seine Lebensimpulse abgestimmt. Was jetzt? »Auf alle Fälle muß ich aus diesem Teufelskreis hinaus!« Er erschrak vor dem heiseren Klang seiner Stimme. Als er gemerkt hatte, auf dem langen Flug nach Algot Creosa, daß ihn ein Schiff der Heloten verfolgte, hatte er dem Piloten Anweisung gegeben, den nächsten Planeten anzufliegen, der ein Versteck bieten konnte. Nur wenige kannten die Koordinaten Creosas. Sie hatten diesen dritten Planeten einer langweiligen Sonne entdeckt, hatten sich in Eile orientiert und waren gelandet. Dann war der Pilot umgedreht, mit der Weisung, zurückzufliegen und das Signal abzuwarten. Keineswegs durfte der Weg nach Algot Creosa den Heloten bekannt werden. Kaum daß er und Radogyne gelandet waren und sich anschickten, ein Versteck zu finden, hatte er die Spur des einfliegenden Heloten-Schiffes gesehen. Noch immer waren sie ihm auf der Spur. Sie mußten ihn hassen, denn er war der Mann, der die höheren, qualifizierten Klassen seiner Heimatwelt in das Paradies führen würde. Das Paradies hieß Algot Creosa. »Weg!« sagte er. »Weit weg!« Der Weg war weit und beschwerlich; er kannte ihn nicht genau. Sie hatten ihm nach der Verhaftung alle Karten weggenommen. Er konnte sich nicht um Radogynes Tod kümmern – er war deshalb wichtiger, weil der die Daten des neuen Planeten wußte, der das Überleben seines Volkes sicherte. Nein, nicht des ganzen Volkes. Nur eines Drittels. Und die Angehörigen der anderen beiden Drittel suchten ihn, weil sie die Koordinaten brauchten. Er mußte trinken und sich ausschlafen. Er brauchte ein gutes Versteck. Dieses Versteck lag, mit größter Wahrscheinlichkeit,
abseits aller Straßen, in der Tiefe der unergründlichen Wälder. Er gab die Zügel frei und hatte eine kreisrunde Fläche in seinen Vorstellungen. Ein Kreis, in dem sich winzige Bauten befanden, im Südosten des Flusses, zwischen den Bergen und dem mächtigen Gebirge. Dort würde er Ruhe finden. Die Entfernung betrug nicht mehr als drei Tage zu Fuß, also höchstens zwei Tage im Sattel. In diesem Moment sah er, wie ein Falke mit ausgebreiteten Schwingen zwischen den Baumwipfeln hervorkam und einen Sturzflug einleitete. Vaskane riß den Arm hoch und legte ihn vor seinen Kopf, aber der Falke fing sich, riß sich in einen engen Kreis und stieg, nur mit den Flügelspitzen wippend, nach oben und schwirrte zwischen den dicken Ästen davon. »Ich sehe Gespenster!« murmelte Vaskane. Er hatte eine flüchtige Sekunde lang den Kopf des Falken gesehen. Unbarmherzige Raubvogelaugen über der gekrümmten Linie des Schnabels hatten ihn angesehen, als wollte sich der Vogel den Ausdruck seines Gesichtes für alle Zeiten einprägen. Die Augen schienen von innen heraus geleuchtet zu haben. Was war das? Eisige Furcht ergriff ihn. »Verdammter Planet!« keuchte er auf. Dann gruben sich die Hacken seiner Stiefel in die Weichen des Pferdes. Das Tier wieherte erschrocken, keuchte und machte einen gewaltigen Satz nach vorn, raste in gestrecktem Galopp den Hohlweg hinauf, hinein in den Wald, auf den Hügel zu. Der Rand des Mondes berührte gerade die Hügelkuppe. Der Wirbel der Hufschläge entfernte sich, aber der Wolf stand noch immer regungslos da und drehte den Kopf, blickte in die Richtung, in der Vaskane floh. Der Weg, den er ritt, führte im Zickzack und in einem Bogen nach Südosten, nach Osten und dann wieder in die Gegend von Herbsthausen.
Der Wolf schien einem inneren Befehl zu gehorchen. Er senkte den Kopf, drehte ihn und lief in charakteristischem Wolfstrott davon. Nur der Falke, ein unsichtbarer Wächter in der Nacht des Vollmondes, zog über dem Flüchtenden seine Kreise und beobachtete ihn unausgesetzt. Irgendwann würde das Wissen dieses Robotvogels abgerufen werden, dann konnte er sich anderen Beschäftigungen oder anderen Objekten zuwenden. Stunden später: Die Morgendämmerung zog auf. Zuerst erschien ein fahlsilberner Streifen über dem Land. Dann überzogen sich sein unterer und oberer Rand mit blutrot angestrahlten Wolken, als öffne sich im Osten ein ungeheurer Mund, dessen Lippen aus Flammen bestanden. Gewaltige Speere aus Licht schossen aus einem Mittelpunkt hervor, als sich die Sonne über den Horizont wälzte. Überall sahen die Menschen diesen Himmel. Sie blinzelten scheu in die Helligkeit und flüsterten: »Ein böses Zeichen! Not wird kommen, noch mehr Not…« Andere wieder sagten: »Das ist ein Zeichen Gottes. Er läßt den Krieg in Flammen zu Ende gehen, ihr werdet es sehen!« Der Feldherr Mercy, der das Heer der Kaiserlichen befehligte, sah den Widerschein dieses solaren Feuers auf dem spiegelnden Material einer Trompete und murmelte: »Ein Morgenrot wie dieses kann nur Tod oder Sieg bedeuten.« Dann wurde ihm die Doppeldeutigkeit dieses Gedankens bewußt; Tod des einen war mit dem Sieg eines anderen verbunden. Einer der Männer, die versuchten, die Kanonen in Stellung zu bringen, betete unablässig. Er wußte, daß viele Männer an diesem Abend nicht mehr leben würden. Wir indessen erreichten die Siedlung just in dem Augenblick, als die Sonne in unserem Rücken aufging. Fünfzehn Männer, die Waffen in den Fäusten, den Wimpel aufgepflanzt, Eisen an den Armen und um den Oberkörper,
und stählerne Helme mit breiten Kinnbändern auf den Köpfen, ritten in die Siedlung ein. Eine Lichtflut wälzte sich hinter uns her und ließ uns wie rächende Engel erscheinen oder wie die Reiter aus der Apokalypse. »Halt!« befahl ich. »Jetzt wißt ihr, was wir zu tun haben. Wir suchen den Mann, und wir werden nachher den Kaiserlichen helfen – aber auf besondere Art.« Flach, der Polterer, und Christian, der Schleifer, riefen: »Tod den Schweden! Unser Leben für Adlan!« »Hoffentlich nicht.« Ich setzte die Sporen ein. Innerhalb kurzer Zeit waren wir in der Siedlung. Wir sprengten bis vor das halbverfallene Rathaus; vier von uns drangen ein. Sie schleppten den Scharfrichter mit sich. Dieser Mann hat seine scheußlichen Verbrechen nicht einmal aus Unwissenheit begangen, wisperte der Extrasinn. Er ist bereit, sich das Mädchen vom Offizier Eyb vom Fels abkaufen zu lassen. Er wehrte sich schwach, als ihn die eisenklirrenden Reiter aus dem Bett und ins Morgenlicht zerrten. Wir feuerten ein paar Schüsse ab, und die Siedlung erwachte, als ob wir mit einem Stock in einen Ameisenhaufen gefahren wären. Es waren verhungerte Ameisen, die sich mit hohlen Gesichtern auf den Platz drängten. »Du bist Vischer, der Scharfrichter?« fragte ich und hielt ihm die Muskete vor das rechte Auge. Ein Schrei aus großer Höhe lenkte mich für einen Augenblick ab. Ich wandte meinen Blick von dem angsterfüllten Gesicht des Scharfrichters ab und sah in den Himmel hinauf. Er war pastellblau und wolkenlos. Alle Gegenstände wurden vom Osten her in das morbide Rot getaucht. Selbst die Raben oder Krähen – so genau unterschied ich dies nicht – schienen sich in feinverteiltem Gas von roter Farbe zu bewegen. Es waren
Tausende. Sie bildeten einen Schwarm; noch nie hatte ich eine derartige Menge großer Vögel an einer Stelle gesehen. »Krähen!« sagte Zündt grimmig. »Todesvögel. Sieh sie genau an, Vischer. Sie werden bald dein Fleisch von deinen gichtigen Knochen picken.« Vischer schnappte nach Luft. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Diese Vögel faszinierten mich, ich erinnerte mich daran, daß ich die gesammelten Daten des Falken würde abrufen müssen. Ich hatte ihm in der letzten Nacht eine Art Handlungsfreiheit geschaltet – was würde er erfahren haben? Die Krähen kreisten über der Landschaft, stießen krächzende Schreie aus, ein Regen aus Vogelkot fiel langsam zur Erde hinunter. Die fernen Schreie vereinigten sich zu einem mißtönenden Geräusch. Ich bemerkte Unruhe unter meinen Reitern. Die Männer beobachteten die Bevölkerung, die sich im Halbkreis um das Haus scharte. Sie waren wütend, aber ohnmächtig sahen sie zu, wie Stadelberger ein dünnes Seil entrollte und bedächtig Knoten darein schlang. »Zurück zu dir, du Ehrenbild eines Menschen«, sagte ich und spannte den Hahn meiner verkappten Mehrzweckwaffe. »Herr Soldat!« wimmerte der Scharfrichter. »Ich tat nur, was meines Amtes war. Ich bin…« Meine Handbewegung schnitt seine Rede ab. »Was du tatest, war nicht deines Amtes. Und wessen nicht deines Amtes ist«, sagte ich wütend, »da hättest du besser deines Fürwitzes lassen sollen. Du hast dieses Mädchen ergreifen lassen?« »Ich habe nur getan…« Glaser gab dem Scharfrichter eine schallende Ohrfeige, die ihn in den Eingang zurückwarf. Kräftige Fäuste rissen ihn wieder hoch. »Du hast sie ergreifen lassen. Ja oder nein?« Er spie einen Zahn aus. »Ja!« murmelte er. »Du hast sie gefoltert?« Er nickte. »Und du hast geglaubt, sie
sei vom Teufel besessen, ergo eine Hexe?« »Ja, so war es«, flüsterte er und sackte in den Knien zusammen. Seine Finger zitterten wie in starkem Fieber. Ich bekam Mitleid mit dieser dürren, stachelbeinigen Gestalt, die ihre furchtbare Würde nur im Kleid des Richters ausüben konnte. »Warum hast du dich dann von Eyb bestechen lassen, nur weil er die Frau haben wollte?« »Herr«, ächzte der Mann und lehnte sich gegen die Hände, die seine Oberarme gefaßt hielten, »habt Ihr niemals gehungert? Er gab mir einen saftigen Schinken!« »Du hast also angesichts des Schinkens deine Überzeugung verloren, das Mädchen sei eine Hexe?« erkundigte ich mich mit unverhohlenem Zynismus. »Es… ich habe…« »Ja oder nein?« schrie ich ihn an. »Ja!« sagte er schließlich. »Dafür wirst du sterben«, sagte Bertold der Lispler und fragte seinen Nachbarn, den Jörg: »Sollen wir das Seil an seinen Ohren anknüpfen? Oder am Hals – nein, dann hat er nicht soviel davon. Ich glaube, wir sollten seinen linken Fuß nehmen.« Der Scharfrichter schielte plötzlich, das Weiße seiner Augen wurde sichtbar; er keuchte und wurde besinnungslos. Flach ging zum Brunnen, füllte seinen Eisenhut mit Wasser und schüttete ihn über dem Kopf des Scharfrichters aus. Inzwischen packte Bertold einen Fuß und befestigte das Seil daran, zog es leidlich straff an und warf es Glaser zu, der es am Sattelhorn verknotete. Als die Menge sah, was wir vorhatten, schrien die Menschen auf, aber das Klicken der gespannten Hähne und die schleifenden Geräusche, mit denen die Waffen aus den Scheiden gezogen wurden, ließ die Menge furchtsam erstarren. Ich beugte mich vor und fragte:
»Ein Mann ritt mit dem Mädchen. Wo ist er?« Schwach und mit blauen Lippen fragte der Scharfrichter: »Der Spion?« Sie halten den Kartenzeichner für einen Spion, suggerierte der Extrasinn. »Ja. Der Spion. Wo ist er? Drüben im Turm, oder habt ihr ihn zu Tode geschunden?« »Ein Trupp Franzosen nahm ihn mit. Sie ritten dort hinaus!« Der Mann deutete zitternd an der Kirche vorbei. Seine Unterlippe geriet in unkontrollierte Bewegungen. »Wann?« »Vor vier Tagen«, sagte er. »Weißt du mehr über den Spion?« fragte ich leise und in gefährlichem Tonfall. »Nein. Sie werden ihn wohl erschießen oder köpfen«, sagte der Scharfrichter. Ich überlegte. Der Mann und mit ihm das Geheimnis seines Schiffes waren in Lebensgefahr. Für uns bedeutete dies ein neues Ziel. Noch immer kreiste der Krähenschwarm über der Landschaft. Das Sonnenlicht hatte seine Farbe geändert; es war gelbgolden; überall stiegen Nebel auf und lösten sich auf, wenn sie den Schutz der Baumwipfel verließen. »Los!« befahl ich. »Wir reiten nach Herbsthausen. Und wir holen die anderen.« Die Reiter ließen den Scharfrichter los, der sich auf den Stufen wand. Wir gingen zurück zu den Pferden, und als Glaser sein Tier rückwärts gehen ließ, straffte sich das Seil. Der Mann rutschte über die Stufen, schrie jämmerlich auf und bekam zum erstenmal in seinem Leben einen Eindruck von den Schmerzen und Ängsten seiner Opfer. Dann riß er die Arme hoch, und als ich mich in den Sattel schwang, schnappte er nach Luft, bäumte sich abermals auf, mit dem Rücken über Staub und Steine rutschend. Dann starb er – aus Angst! Vom
Schlag getroffen! Glaser band das Seil los und wickelte es in Schlingen auf. Ich setzte die Sporen ein, nahm eine der winzigen Hitzebomben aus der Brusttasche und entsicherte sie. Als ich an dem Turm vorbeikam, parierte ich das Pferd durch und schleuderte die Bombe durch ein vergittertes Kellerfenster. Als ich zurückgaloppierte, erfolgte die Explosion. Eine Glutwelle erreichte mich, dann schlugen meterhohe Flammen aus dem Keller des Turms. Steine sprangen knallend auseinander, Fugenmörtel bröckelte blasig zwischen den Quadern hervor. Eine Rauchsäule erhob sich; Zugluft brach sich Bahn, als die Flammen die Klappe der oberen Plattform zerstört hatten. Als ich meine Reiter erreichte, die in gestrecktem Galopp aus der Siedlung ritten, brach der Turm mit Getöse auseinander. Einige Blöcke rollten über den Platz und verscheuchten die Bevölkerung. »Wir müssen den Mann finden, aber wie?« fragte Heitzer, den ich überholte, um mich hinter Hound an die Spitze des Zuges zu setzen. »Dringend!« sagte ich. »Vielleicht weiß ich auch, wo er sich befindet. Ich glaube, er wird geflohen sein.« Ich schloß von meiner Reaktion auf die eines anderen Fremden. Auch ich hätte Tricks angewendet, um freizukommen. Falls sie ihn nicht gleich erschlagen hatten, waren seine Chancen groß. Wo waren die Verfolger? »Nach Herbsthausen etwa?« fragte Glaser, der vor Heitzer ritt. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Die Informationen des Falken! schrie mein Extrasinn, um meine Überlegungen zu übertönen. Ich galoppierte an die Spitze des Zuges, zügelte meinen Falben und wartete, bis Dannhauser und Stadelberger neben mir waren. Dann sagte ich: »Wir teilen uns. Die Hälfte reitet zum Köhler und bringt
die anderen zurück; wir warten am Kreuzweg auf diese Gruppe. Dann reiten wir dorthin.« Ich zeigte auf die Stelle, auf die der untere Teil des Krähenschwarmes deutete. Entweder gab es dort ein riesiges Leichenfeld, auf das die Vögel entfallen würden, oder aber sie ahnten mit unerklärlichem Instinkt, daß sie heute ihre Mägen mit dem Fleisch von Leichen füllen konnten. Ich wußte zu wenig, um einen festen Plan haben zu können. Wir ritten schweigend weiter. Eigentlich war ich froh, daß diese menschliche Bestie der Schlag getroffen hatte, ehe wir den Scharfrichter zu Tode schleifen konnten. Es war besser so, dachte ich ohne Mitgefühl. »Nicht so schnell! Schont die Tiere!« schrie Glaser aus der Mitte der Kavalkade. Wir erreichten den Wald. Die Gruppe teilte sich. Ich bedeutete Hound, bei uns zu bleiben, und wir brachten die Pferde an eine karge Weide. Wir schlangen ein ungemütliches Frühstück hinunter. Dann schnippte ich mit den Fingern und ging mit Hound, der herbeigesprungen war, in den Wald hinein, bis ich eine Sitzgelegenheit gefunden hatte. »Du warst gestern nacht draußen. Was hast du gesehen?« fragte ich. Sekundenschnell traf die Miniaturpositronik im Körper des Tieres eine Serie Entscheidungen; der Wolf sagte zwischen den Fangzähnen heraus: »Viele Reiter. Zwei Heere bewegen sich. Herbsthausen und anderer Ort. Ich hörte: Tourenne und Werth.« »Vergleiche die Spezifikationen. Hast du den gesehen, den wir suchen?« »Nein. War dunkel. Ein Reiter, nach Südosten.« »War es der Gesuchte?« fragte ich. »Keine positive Identifikation möglich.« »Gut. Du streifst umher und warnst uns. Richte deinen Weg
auch nach Herbsthausen. Du mußt wieder hier sein, wenn der Rest der Gruppe kommt.« Irgendwo, unabhängig von uns, jagten rund fünfzehn Verfolger hinter Radogyne und ihrem Freund her. Die Jagd schien sich im Kreis zu bewegen. Woher bekam ich Informationen über die Verfolger? Rico? Was wußte der Falke? Ich schob meine Hand unter den gewölbten Brustpanzer und zog den Bildschirm hervor. Dann klappte ich den Ring auf und betätigte die Fernsteuerung. Die Informationen wurden auf den Schirm projiziert. Die ersten Bilder kamen: Ich sah mich um; keiner beobachtete mich. Ich sah die Infrarotbilder der Siedlungen und Felder, zertrampelter Äcker und Wälder, die der Falke überflogen hatte. Keine wichtigen Informationen. Dann erblickte ich das Gelände nahe Mergentheim, auf das die beiden Heere zumarschierten. Die Vorhuten wurden in leichte Gefechte verwickelt. »Was ist das?« murmelte ich. Das Bild wechselte. Aus der Dunkelheit schälte sich ein Rechteck, vielfach unterteilt. Hinter den Streben flackerte dünnes Licht. Jetzt erkannte ich die Bedeutung. Der Falke hatte seiner »Neugierde« nachgegeben und steuerte in vorsichtigem Flug auf die Öffnung einer Mauer zu. Sie war dick vergittert. Die Linsen akkommodierten sich, blickten direkt in eine Kerzenflamme, neben der eine Maus saß und sich die Schnurrhaare putzte. Wieder veränderte sich die Feineinstellung, und ich sah das Gesicht und den Körper eines Gefangenen, der in der Ecke zwischen Boden und Wand lehnte und an der Mauer angekettet war. Das Gesicht. Ich überlegte – dieses Gesicht war identisch mit dem, das die Robotsonden aufgenommen hatten. »Ich brauche Zeit!« flüsterte ich. Der Falke setzte sich vor die Maueröffnung und beobachtete. Dann kam ein Schnitt; ein Zeichen, daß lange Zeit nichts Wichtiges vorgefallen war. Eine
andere Bildfolge. Ich lachte auf, als ich sah, wie sich der Mann von den Fesseln befreite! »Bei allen Sternen der Galaxis!« sagte ich verblüfft. »Er lebt tatsächlich.« Ich begriff, daß die Aufnahmen eine Nacht alt waren. Ich sah, wie er die Tür aufschnitt, den Posten tötete, dessen Ausrüstung an sich nahm und mit dem Kurier davonritt, sah den Mond, sah Hound, der die Feststellungen machte, die ich eben gehört hatte. Und dann sah ich in einer Nahaufnahme, die in eine Filmschleife überging, das erschrockene Gesicht des Mannes, bevor er seinen Arm hochriß, um sich vor dem »Angriff« des Falken zu schützen. Das Gesicht kam ausgezeichnet sichtbar auf mich zu, als der Vogel sich schnell dem Fremden näherte. Ich sah rund zwanzig Stationen seiner Flucht. Anscheinend suchte er einen Ort, an dem er sich ausruhen und sattessen konnte. Aber er schien keine Hilfsmittel mehr zu haben. Der Mann, der das Pferd nicht schonte und es quer durch den Wald ritt, schlug, ohne es vermutlich zu wissen, einen riesigen Bogen ein, der ihn, zog man in Gedanken die Linie weiter, bis auf eine Kiesfläche bringen würde. Dort, in der Nähe eines versiegenden Baches, bewegte sich der riesige Krähenschwarm. Der Bach floß in Schlangenlinien nach Norden. Von seiner früheren erodierenden Arbeit stammte die Kiesfläche, die zwei Meilen im Durchmesser mit Sträuchern besetzt war, die erste Blätter zeigten. Das Tal des Baches stieg an beiden Seiten an, bildete im Osten und im Westen eine Reihe runder Hügel. Darauf und dahinter waren Mischwälder, einzelne Flächen, durch Gesträuch und Niederwald verbunden. »Wenn er in diese Richtung weiterreitet«, murmelte ich, »erreicht er das, was er nicht will! Nämlich das Zentrum der Auseinandersetzung zwischen den Kaiserlichen und den
Verbündeten.« Die Bildfolge endete. Der letzte Streifen zeigte den Fremden, der einen auffallenden hellbraunen Mantel trug. Darauf war in hellen Farben ein schwedisches Wappen genäht. Auch der Hut mit den beiden farbigen Federn war typisch schwedisch. »Er ist verloren, wenn ihn einer der Kaiserlichen trifft«, sagte ich. Er war den Schweden oder Franzosen entwischt, sah nicht, welches Zeichen er auf dem Rücken trug. Der Fremde war eine reitende Zielscheibe für alle Schützen der Kaiserlichen. Aber er würde merken, daß er mitten in das Gebiet der beginnenden Schlacht hineinritt. Auch ich mußte dorthin. Während er einen Bogen ritt, konnte ich die Gerade nehmen, würde also früher als der Fremde dort sein, konnte ihn mit mir nehmen. Dann erst konnte ich meine Maske lüften. Vielleicht war mir Radogyne dankbar. Der Falke kreiste über dem Krähenschwarm und den Feldern, auf denen die Heere zusammentreffen würden. Der Kampf, der Versuch Dahinsiechender, sich mit jemandem zu schlagen – beide Heerhaufen waren ausgemergelt, müde und unlustig. Aber die Kaiserlichen hatten das Ziel, den Feind aus dem Land zu treiben. Soldaten, die Schanzungen aushoben, kleine Gruppen, die sich versteckten – ich sah dieses Bild und spürte die taktischen Nachteile beider Angreifer auf. Nur eine winzige Verschiebung der Akzente, zwei oder drei schnelle Angriffe der Kaiserlichen, und der Gegner war in die Defensive gedrängt. Sollte ich ihnen helfen? Ich hatte es schließlich versprochen. Also würde ich eingreifen, nachdem ich den Fremden gefangen hatte. Was der Falke nicht sah, waren die Verfolger. Ich ging, nachdem ich den Bildschirm verstaut hatte, zurück zu meinen Männern. Dannhauser rasierte sich und fluchte lästerlich.
»Hast du Pilze gefunden, Adlan?« fragte Zündt. »Nein, aber einige gute Ideen«, gab ich zurück und klaubte eine Klette aus der Mähne meines Pferdes. »Was hast du vor?« Ich sah sie an. »Als ich mit Pistorius sprach, versprach ich, zum Dank für seine Freundlichkeit, ihm einen Dienst zu erweisen. Das Wort eines Mannes gilt – wir werden den Kaiserlichen einen großen Dienst erweisen.« »Hört!« sagte Greiff. »Er will Tourenne umbringen!« »Das sicher nicht«, versetzte ich, »aber ich kann nur dann einen guten Plan haben, wenn ich weiß, daß ihr auf meiner Seite seid und tut, was ich sage. Ich habe da einige Überlegungen…« »Hast du vom Schlachtfeld geträumt?« fragte Greiff angriffslustig. Sie waren altgediente Soldaten, gute, geschickte Kämpfer, denn sie lebten noch. Sie wußten inzwischen, daß in vielen Fällen Flucht keine Feigheit, sondern ein Entschluß der Klugheit war: Dumme sterben zuerst im Kampf, sagte ein zeitgenössisches Sprichwort. »Ich habe geträumt«, sagte ich, »daß der Feldherr der Baiern, Franz von Mercy, ein paar winzige Fehler gemacht hat. Falls es uns gelingt, diese Nachteile zu verwandeln…« »Wir sind kein Heer, nur sechsundzwanzig Mann und eine Frau!« Ich ließ mich nicht unterbrechen, nickte Bertold zu, der diesen Einwand gebracht hatte. Ich fuhr fort: »… zum Vorteil zu machen, dann siegen heute die Kaiserlichen.« »Dazu brauchst du nur unsere Truppe?« sagte Stadelberger ungläubig. »Mehr Leute wären ein Nachteil. Denkt an die Waffen, die so oft feuern können, daran, wie gut wir bisher durch die Wochen gekommen sind. Denkt daran, daß ich euch erstklassigen Lohn versprochen habe.«
»Daran denken wir immer. Nur können wir nicht einmal mit bestem Gold etwas kaufen«, warf einer von ihnen ein. »Daran bin ich so unschuldig wie ein Säugling!« Ich sah, daß Hound aus dem Wald herausrannte. Hinter ihm ritt Radogyne auf einem der Reservepferde. Sie sah, nachdem sie einiges an ihrer Kleidung verändert hatte, ungewöhnlich aus, war ausgeruht und schien einen Teil der Schrecken vergessen zu haben. Sie hob den Arm und winkte. Hinter ihr ritten die letzten Soldaten aus dem Wald. Wir schwangen uns in die Sättel, galoppierten an und wandten uns nach Norden. Am frühen Nachmittag konnten wir das Tal erreicht haben. Ich sagte: »Wir reiten schnell, aber nicht hastig. Wir müssen die Pferde schonen; uns erwartet eine Schlacht.« »Wir haben verstanden!« bestätigte der Polterer. Sein grimmiges Gesicht mit den Pockennarben sah zwischen den Lederstreifen des Eisenhutes hervor. Eine dicke Versteifung schützte das Schädeldach. Ich erinnerte mich an die Konstruktionszeichnungen für meine Maschinen, die aus meinem Helm ein kleines Wunderwerk gemacht hatten. Hoffentlich brauchte ich diese Einbauten niemals zu benutzen; dies würde bedeuten, daß ich in ernsthafte Schwierigkeiten geraten war. Schnell legten wir die Strecke zwischen dem Kreuzweg und dem Tal zurück. Und ebenso, wie uns der Anblick des Krähenschwarmes begleitete, in der heißen Luft des Maientages, ertönte hin und wieder der Donner eines Geschützes. »Sie fangen an!« rief Glaser. »Es sind nur die Flankier!« gab Jörg zurück. »Sie messen ihre Kräfte.« Das Schlachtfeld: Ein Wirrwarr der Farben und Bewegungen, deren Verschmelzungen in jedem Fall Tod hießen. Wolken aus Geschützschlünden; Trommeln. Fanfaren,
Kurierreiter, Fahnen, die von Splittern zerfetzt wurden, samt denen, die sie trugen. Wieder einmal wendeten die Barbaren eine beachtliche Menge technischen Könnens auf, um sich gegenseitig totzuschlagen. Und wieder sah ich ein. daß ich nichts oder nur wenig tun konnte. Es gehörte viel Kaltschnäuzigkeit dazu, sich vor einer Schlacht prächtig zu fühlen. Ich fühlte mich niedergeschlagen und war der Resignation nahe, aber dachte an die beiden Raumschiffe. Ich brauchte nur eines, um nach Arkon zu kommen; wenige Monate später würde ein Spuk dieser Art schlagartig ein Ende haben. Und wenn ich jedem Fürsten dieses Planeten einen Roboter als Ratgeber und Kontrollorgan an die Seite stellen mußte! Ich wußte, daß ich auch schon anders gedacht hatte, aber ich war es leid. Müßige Gedanken, Gonozal! Du sitzt noch nicht in diesem Wunsch-Raumschiff, sagte der Logiksektor mit kasuistischer Gründlichkeit. Als unsere Tiere zu schwitzen begannen, erreichten wir die Quelle am oberen Ende eines Hügels, von Dickicht überwuchert. Wir ritten aus dem Gebüsch heraus, der Blick öffnete sich in die Weite; wir sahen das Feld. Die Truppen hatten sich gesammelt. Kressin murmelte: »Links, die Leute von Tourenne. Die verdammten Franzosen!« Ihnen gegenüber hatten sich Teile der Kaiserlichen Armee verschanzt. Unter uns befand sich die Kiesfläche, durch die sich das Rinnsal schlängelte. Zur rechten Hand, umgeben von Wäldern, erhob sich ein Hügel. Dort waren drei Batterien langrohriger Geschütze in Stellung gegangen. Mich wunderte, daß hier kein einziger Beobachter stand – er hätte jede Phase der Schlacht überblicken und steuern können. Nach Norden weisend schlossen sich andere, im Gegensatz zum ersten Hügel, dicht bewachsene Erhebungen an, nach links, also in die Richtung des verschwindenden Bachlaufes mit sumpfigen und unkrautbewachsenen Rändern, waren sie mit Geschützen
gespickt. Überall sahen wir Uniformen und Fahnen der Kaiserlichen. Im Norden, jenseits des letzten Wäldchens, warteten einige Hundertschaften von Berittenen. Sie lagen im Versteck. Gegen einen Umgehungsangriff von Süden waren die Kaiserlichen unter Werth nicht geschützt. »Ich verstehe das nicht«, murmelte Rummel verblüfft. »Das weiß doch jeder, daß eine schnelle Reiterei durch den Kies sofort eingreifen kann. Nur Kanonen sind hierher gerichtet.« Eine verschanzte Batterie, in der die Kanoniere mit brennenden Lunten standen, war auf die Kiesebene ausgerichtet. Auf der Kuppe des Hügels waren Zelte aufgeschlagen. Im Fernrohr erkannte ich die Gesichter von Pistorius und von Werth. »Das sind die Fehler, die ich meinte«, sagte ich. »Hound wird Radogyne hier bewachen. Siehst du, Dannhauser, was ich meinte?« Die Geländestruktur links war ähnlich. Von der Quelle zog sich ein bewaldeter Streifen hangabwärts. Gut getarnt sahen wir, daß dort acht Geschütze standen, wohlversehen mit Munition, Pulversäckchen und Kugeln. Vor den Lafetten standen jeweils sechs Pferde im Geschirr. Also planten die Kanoniere, von einer Gruppe schwerbewaffneter, gepanzerter Reiter geschützt, einen Überraschungsangriff. Sie konnten hervorpreschen, über die Kiesebene fahren und umdrehen – damit war für sie möglich, was den Batterien am gegenüberliegenden Hügel nicht möglich war, nämlich den Hügel mit dem Zelt von Werths zu beschießen. Zündt murmelte grimmig: »Dieser Tourenne ist verdammt gerissen, meiner Seel’!« »So ist es«, sagte ich. »Die Schlacht hat noch nicht richtig begonnen. Beide Seiten zögern noch.« Die Sonne stieg höher, Mittag ging vorbei; wir warteten. Ganz plötzlich begann die Metzelei. Radogyne schlug die
Hände vors Gesicht und beugte sich auf den Hals des Pferdes. Ich schwang mein Bein über die Kruppe und stieg aus dem Sattel. Weiterhin drehte sich der Krähenschwarm über uns. Die Tiere erschraken nicht, als die Geschütze beider Seiten zu feuern begannen – von den Hügeln herunter, von rechts und links, drangen die Soldaten hinter ihren Fahnen vor. Musketen wurden abgefeuert. Zwei Trompeter bliesen Signale, die im Krachen untergingen. Die ersten Soldaten fielen. Von hier sah alles wie eine Spielzeugschlacht aus, aber es war blutiger Ernst. Ich griff unter die Achseln Radogynes, hob sie aus dem Sattel und lehnte sie gegen einen Baumstamm. »Wir sind bald zurück«, versprach ich halblaut. »Der Wolf wird dich bewachen; hab keine Angst. Ein kluges, schnelles Tier. Bleib auf alle Fälle hier. Versprichst du das?« Sie nickte schweigend. Ich deutete hinunter auf die fahrbaren Geschütze und rief: »Wir werden uns anschleichen! Dann betäuben wir die Mannschaft, die Reiter und bringen die Geschütze zu den Kaiserlichen. Einverstanden?« Meine Reiter hoben die Hände und rasselten mit ihren Waffen. Ich schaltete mein körpereigenes Abwehrfeld ein; plötzlich empfing ich ein Signal des Vogels, berührte eine Niete neben der Schnalle des Helmbandes und hörte in meinem Ohr die Stimme des Falken. »Der Fremde. Rechts unter dir! Rasender Galopp!« Ich fuhr herum. Die Reiter machten sich an den Abstieg. Ein Tier nach dem anderen suchte sich einen Weg durch die Büsche und Krüppelfichten. Ich hielt an, zog mein Fernrohr aus und spähte. Ein einzelner Reiter näherte sich von Süden. Gleichzeitig erreichte die Schlacht einen vorläufigen Höhepunkt. Hinter den wartenden feindlichen Geschützen sprengte eine Gruppe von rund fünfundzwanzig Reitern hervor, ritt einen Viertelkreis und näherte sich in verdächtiger Eile dem Hügel von Werths. Gleichzeitig erhielt die berittene
Abteilung der Kaiserlichen ein Signal und raste heran, umging in einer Geraden die eigenen Stellungen und näherte sich dem Punkt, an dem der einzelne Reiter mit den Franzosen zusammentreffen würde. Das könnten die Verfolger sein. Die Raumfahrer! flüsterte der Logiksektor. »Wo bleibst du, Adlan?« rief Kressin herauf. »Ich komme!« gab ich zurück und machte mich, nachdem ich Radogyne einen aufmunternden Blick zugeworfen hatte, an den Abstieg. Pausenlos entluden sich die Geschütze. Die Szene wurde zum Teil von den Rauchwolken verhüllt. Die kaiserlichen Reiter näherten sich. Der einzelne Reiter parierte – soviel konnte ich während des Absteigens erkennen – sein Pferd und sah sich um. Schräg hinter ihm donnerte, Kies und Erdbrocken hochschleudernd, die kleine Phalanx heran und schnitt ihm den Rückweg ab. Wenn wir eingriffen, die Kanonen eroberten und sie nach rechts schafften, in die Nähe der Kaiserlichen, konnten wir den Gegner von der Seite unter direkten Beschuß nehmen. Dann konnte ich auch die Franzosen davon abhalten, dem einzelnen Reiter gefährlich zu werden. Endlich erreichten wir die Kiesfläche. »Ihr braucht nur zu schießen, wenn sich jemand trotz meiner Waffe wehrt!« rief ich laut. »Es ist wichtig, daß ihr die Gespanne schnell in Trab bringt!« »Verstanden!« Noch waren wir von Weidenbüschen gedeckt. Wir ritten in einer Linie und im Zickzack auf das Wäldchen zu, in dem Geschütze, Bedienungen der Artillerie und Reiter warteten. Noch hatten sie kein Signal bekommen. Alles geriet in eine andere Perspektive; nunmehr befanden wir uns auf dem flachen Gelände und sahen nicht mehr genug. Eines sah ich: Weit im Norden galoppierte die Kavallerie der Franzosen unter Tourenne auf die erste Geschützbatterie zu. Sie
brauchten nur geradeaus zu reiten; hier oben wurde kaum gekämpft. Hinter aufwirbelnden Rauchwolken verborgen feuerten die kaiserlichen Geschütze schräg in die Schlacht hinein. Direkt an der Trennlinie des Baches gerieten die Truppen gegeneinander. Die Aktion löste sich in tausend Einzelkämpfe auf. Reiter gegen Fußvolk, Armbrust- und Musketenschützen gegen Reiter, Fußvolk gegen Fußvolk. Das Chaos begann. Die kaiserliche Reiterei, deren Ziel unabsichtlich der einzelne Reiter war, der jetzt schräg in die Nähe des Hügels zu gelangen versuchte, spaltete sich in zwei Abteilungen. Eine davon stellte sich zum Kampf und drang auf die Kavallerie der Franzosen ein. Stadelberger neben mir hob den Arm und zügelte sein Pferd. Er deutete nach vorn. »Wie gehen wir vor?« Ich betrachtete die Männer vor mir, die Gegend und die nervösen Pferde. Dann entschied ich: »Ihr reitet dort entlang und feuert auf die Reiter. Ich lenke die anderen Männer ab!« Ich ritt nach rechts. Vorläufig mußte ich den Fremden vergessen, der gezwungen wurde, nach Norden zu reiten, dem Zentrum des Kampfes zu. Meine Reiter brachen aus dem Versteck hervor und donnerten auf die gegnerische Kavallerie zu. Ich stellte den Feuerknopf auf Lähmung und schoß, sobald ich jemanden sah. Die Geschützbedienungen fielen lautlos um. Ich traf auch ein Pferd, das wiehernd auskeilte und sich, halb stürzend, in die Zugstränge verwickelte. Dann war ich zwischen den Büschen heraus. Ein harter Schlag gegen mein Schutzfeld bewies, daß jemand auf mich gefeuert hatte. Ich drehte mich halb herum, das Pferd unter mir drehte sich in die andere Richtung, und ich zog die zweite Reiterpistole aus dem Gürtel. Ich feuerte in die Richtung des verborgenen Schützen und registrierte, wie ein besinnungsloser Körper über einen Baumstamm fiel. Einen Mann, der sich hinter einer Munitionskiste erhob, schoß ich nieder – es würden mehr als
zwölf Stunden vergehen, bis sich diese Männer wieder bewegen konnten. Dann dirigierte ich meinen Hengst dorthin, wo gefeuert wurde. Die Entladungen des Lähmstrahlers fegten die Reiter aus den Sätteln. Man sah keinen Rauch, aber meine Männer, die die fremden Reiter eingekesselt hatten, begriffen schnell, ritten zu den Geschützen, griffen in die Zügel der Zugpferde und trieben die Tiere an. »Schneller! Los!« schrie jemand. Es waren weniger als fünfzig Reiter gewesen. Ich zielte zwischen dem Gewoge aus Köpfen und Oberkörpern, Pferdeköpfen und Pferdehälsen hindurch und schoß einen der Franzosen nach dem anderen aus dem Sattel. Dannhauser und Kressin sprengten an mir vorbei und winkten flüchtig. Dann bewegte sich unter Schreien und Johlen, unter dem durchdringenden Wiehern der Pferde, das erste Geschütz und nahm Kurs auf den Punkt, an dem sich jetzt der einzelne Fremde von den Sternen befinden mußte. Der letzte Franzose fiel. »Zurück! Die Geschütze!« schrie ich. Meine Männer galoppierten an mir vorbei, ritten rechts und links an die Gespanne heran, schrien sich Kommandos zu und brachten die Zugpferde in Trab. Das zweite Gespann setzte sich knarrend in Bewegung. Die Männer kannten das Ziel genau und auch den Weg dorthin. Ich hielt an. Vor mir spielten sich Szenen ab, die farbig, grausam und bewundernswert zugleich waren. Ein Gespann nach dem anderen verließ seinen Standort. Die Pferde scheuten. Eines das ich versehentlich getroffen hatte, wurde aus dem Geschirr geschnitten. Säbel blitzten auf. Einige Schüsse wurden abgefeuert. Als ich hinter uns niemanden mehr sah, griff ich ein, warf mich vorwärts, blieb dicht neben dem Kanonenrohr und spähte nach allen Seiten. »Links! Gefahr!« schrillte die Stimme des Falken im
winzigen Lautsprecher. Ich stellte mich in den Steigbügeln auf und sah, daß dreißig Reiter direkt auf uns zusprengten. Sie sahen uns nicht, wir waren nicht ihr Ziel, aber wir würden bald mitten in den Büschen auf der Kiesebene zusammentreffen. Ich überlegte nicht, ritt langsamer und schrie: »Jörg!« Der Mann drehte sich um, ich winkte ihm. Ich warf ihm meine Zügel zu und ließ mich aus dem Sattel gleiten. Jörg verstand, was ich vorhatte; ich sprang auf den stoßenden, schlingernden Wagen und hielt mich am Rohr des Geschützes fest. »Dort vorn! Das Rohr in diese Richtung!« schrie ich. Die rasende Fahrt ging weiter. Ich klammerte mich fest, während das letzte Geschütz aus der Linie ausscherte und nach Süden fuhr. Ruckartig hielt es an, die Waagscheite schlugen den Zugtieren gegen die Hinterläufe. Ich stellte meine Waffe auf Strahler um, zielte und feuerte. Die schwache Energieladung erreichte das Pulver. Der Schuß löste sich und warf das Geschütz mit mir einen Schritt in die Höhe. Augenblicklich ruckte das Gespann an und raste weiter. Die Ladung krachte in einer gewaltigen Rauchwolke zwischen den Büschen hindurch und schlug voll ein. Die ersten der fremden Reiter wurden aus den Sätteln gerissen, die Pferde scheuten, überschlugen sich und schleuderten die Reiter aus den Sätteln. Noch während ich von dem rasenden Gefährt aus versuchte, den Sattel zu erreichen, sah ich über die Schulter zurück. Die Raumfahrer! schrie der Extrasinn. Ich wußte, daß ich mindestens zehn Männer getroffen hatte. Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, würden sie sich in ihrem Blut wälzen. Aber die Reiter sprangen auf. Schutzfelder? Sie halfen einander auf die Beine und sammelten ihre Waffen ein. Zwei der Gruppe erhoben sich
nicht wieder. Wir hatten die Hälfte der Kiesfläche erreicht und wandten uns nach meinem Ruf nach links, nach Norden, dem Zentrum des Schlachtens zu. »Dannhauser!« schrie ich durch den Lärm. Er wandte sich im Sattel um. Sein Gespann war das erste, das in die andere Richtung fuhr. »Wir fahren nahe heran und feuern eine scharfe Petarde!« Ich brauchte ihnen nichts zu erklären. Sie wußten, daß ein Geschütz nutzlos war, solange es geladen wurde. Für uns, keine ausgebildeten Kanoniere, war der Versuch zu leichtsinnig. Wir konnten nichts anderes tun als die Rohre leerfeuern und dann die Geschütze in der Nähe des Hügels der Kaiserlichen stehenlassen. Zum Laden und Putzen brauchten wir Ruhe. Die hatten wir nicht. »Tadellos!« brüllte ich. Die Geschütze vollführten, abgesehen vom letzten, das schneller auf den Hügel von Werths zuschlingerte, fast gleichzeitig eine halbe Wendung. Nun fuhren wir in einer Linie auf die Zone des Kampfes zu. Rechts neben uns war das Rinnsal des Baches. »In Deckung bleiben!« schrie ich und überholte die Geschütze, ritt vor ihnen vorbei und sah mich um. Noch blieb mir genügend Zeit. Der Zusammenstoß vieler kleinerer Abteilungen beider Heere bereitete sich vor. Sie ritten und rannten aufeinander zu. Direkt vor uns flutete das Gros der Franzosen von den Hügeln, zwischen den Stämmen der Wälder hervor. Das helle Knattern zahlloser Musketenschüsse war zu hören. Schreie und Aufeinanderschlagen von Hiebwaffen hallten über das Schlachtfeld. Von überall her erklangen die Abschüsse der Geschützbatterien. Der ätzende Pulverrauch trieb durch das Tal und verhüllte die vielen einzelnen Kämpfe. Ich ritt fünfzig Galoppsprünge weit in das Getümmel hinaus und merkte, wie Schüsse von meinem Abwehrfeld abprallten, stellte den Lähmstrahler auf
Maximum und größte Streuung und feuerte mehrmals im Halbkreis. Kaiserliche und Franzosen sanken lautlos um. »Feuer!« rief jemand hinter mir. »Aus der Schußbahn!« Als Zeichen, daß ich verstanden hatte, riß ich die rechte Hand hoch. Wieder schossen die Franzosen auf mich; ich sprengte hinter die Kanonen zurück. Dannhauser und Rummel, Jörg und Glaser richteten die Geschütze aus, zielten kurz; dann ritt der Polterer mit einem brennenden Zweig heran und senkte ihn auf die Schießlöcher. Die erste Detonation krachte über das Feld und schlug vor den anstürmenden Franzosen Tourennes ein. Der Angriff auf uns kam ruckartig zum Stehen. Pferde warfen die Reiter ab, Infanteristen schlugen zu Boden. Wiehern, Schreie, Flüche und vereinzelte Musketenschüsse. »Weg mit der Kanone! Zu Werth!« kommandierte ich. Die Pferde wurden gepeitscht. Sie zogen an, das Geschütz wankte, und Pulverdampf stieg in Schlangenlinien aus dem Loch des Rohres. Die Mündung schwankte an mir vorbei, die Zugtiere wurden schneller; meine Reiter rissen sie an den Zügeln mit sich. Das zweite Geschütz feuerte. Die Wirkung war grauenhaft: Ein Knäuel blutiger Leiber wälzte sich über eine Bodensenke. Eine Wand von weißem Ranch hüllte uns ein, wir waren halb taub. Das dritte Geschütz feuerte seine scharfe Petarde ab, schwenkte herum und wurde abgezogen. Ich hustete würgend und zog mich zurück. »Deine Idee aus dem Traum war ausgezeichnet!« sagte Bertold der Lispler, als er an mir vorbeiritt, um die Zügel der Zugpferde zu fassen zu kriegen. Er schlug mir auf die Schulter; aus seinem Gesicht sprach fassungsloses Erstaunen, als seine Hand einen Fuß über meiner Schulter gegen ein unsichtbares Hindernis prallte. »Ein Trick des Teufels!« behauptete ich mit diabolischem Lachen und zog das Sturmband fester. Schließlich feuerte das
letzte Geschütz seine tödliche Ladung ab, wurde gedreht und weggebracht. Jetzt konnte ich handeln. Ich spornte mein Pferd, orientierte mich so gut es ging, und dann stob ich los. Der Hengst schien schlachterfahren zu sein. Ich setzte über ein zusammengebrochenes feindliches Geschütz, ritt im Zickzack zwischen Gardisten hindurch, die auf mich feuerten. Dann riß ich das Tier hoch und lähmte einen Franzosen, der mit der Muskete auf die Brust des Hengstes zielte. Ich ritt rücksichtslos einem Ziel entgegen, das ich nicht sehen konnte. Aber ich hatte die Geschwindigkeit der Reiter abschätzen können; der Fremde mußte unterhalb des Hügels mit den Zelten sein, unter Marschall Werth und dessen Ordonnanzen. Die Hufe des Tieres versanken im Schlamm des Bachrandes. Ich spornte das Tier, ritt durch das hochspritzende Wasser, und der Hengst trat auf Gefallene, schnaubte unwillig; ich zwang ihn weiter. Schaum flockte um das Gebiß und flog nur um die Ohren, als das Tier weitergaloppierte, mitten in eine Pulverdampfwolke hinein. Wieder gewann ich fünfzig Meter freies Feld. Ich sprengte über die Kiesfläche, die mit einem Ausläufer, unterbrochen von dürren Sträuchern, in die Nähe des Hügels reichte. Der Ritt wurde ein rasender Galopp. Ich stand im Sattel, sah mich um und versuchte zu erkennen, was rund um mich vorging. Vor mir: Der Hügel, eingeteilt in ein System gegeneinander versetzter Terrassen, hinter denen die Geschütze standen. Die Bedienungen hantierten in fieberhafter Eile mit Rohrputzern, Pulversäckchen, Kugeln, Splittern und Ladestöcken. Ein Offizier stand, die Lunte auf einer langen Stange, bei Fuß. Ein Anblick wie aus einem Märchenbuch, von Wahnsinnigen geschrieben und von Irren illustriert. Der Fremde – ich erkannte ihn an seinem Mantel und an seinem Pferd – hatte seinen Hut verloren und ritt vierhundert Schritte vor mir im rechten Winkel zu meiner Richtung. Sein Ziel war der Wald an
der Nordseite von Werths Hügel. Hinter mir: Zehn, fünfzehn Reiter sprengten rechts hinter mir auf den Punkt zu, auch das Ziel des einzelnen Reiters. Der Mann an der Spitze des schwarzgekleideten Trupps trug eine kleine Standarte, auf der ich einen Stern zu erkennen glaubte. Die Reiter ritten ihre Pferde schonungslos. Es sah aus, als ob sie sich in selbstmörderischer Absicht auf die Geschütze der Baiern stürzen wollten. War der fremde Reiter ihr Ziel? Erkannten sie ihn? Wenn er der Begleiter Radogynes war, waren diese fünfzehn fremden Reiter seine Verfolger. Ich mußte ihn vor ihnen erreichen und in Sicherheit bringen. Mir fiel, während mein Hengst einen Franzosen niederritt, der mit einem Schwert um sich schlug, eine der letzten Beobachtungen ein: Obwohl die Männer von dem Geschütz aus den Sätteln geschossen worden waren, standen sie wieder auf. Sie trugen Abwehrschirme wie ich! Also waren es die Verfolger! Ich beugte mich im Sattel vor und sprengte weiter auf den einzelnen Reiter los, ebenso wie der Fremde, unterhalb der Geschütze Werths, im toten Winkel. Ich schwitzte und fror gleichzeitig. Ich hustete, weil der Pulverdampf sich ätzend in die Lungen grub. Das Pferd war am Ende seiner Kräfte, galoppierte aber weiter. Seine Augen waren aufgerissen; Schaum wehte in großen Flocken von der Trense. Das Fell glänzte vor Schweiß. Nicht anders erging es den Tieren der Verfolger und dem des Reiters. Ich hatte noch hundert Galoppsprünge bis zu ihm, die doppelte oder zweieinhalbfache Entfernung mußten die Verfolger zurücklegen. Da griff die Kavallerie der Baiern ein. Sie drangen aus dem Einschnitt zwischen Wald und Hügel und galoppierten auf frischen Tieren heran, etwa zweihundert Mann. Sie griffen in breiter Front an und hatten ein deutliches Ziel: die Franzosen, die über den Bach gekommen waren, zurückzuwerfen. Dort unten, hinter mir, wurde erbittert
gekämpft. Die auseinandergezogene Kavalkade donnerte auf den Fremden zu. Und somit auch auf die fünfzehn Verfolger. Der Fremde stutzte, riß sein Pferd herum. Es knickte in den Hinterläufen zusammen und rutschte über den Boden. Die Aktion war taktisch klug vorbereitet. Kleine Truppen sicherten beide Flügel, das Fußvolk griff in der Mitte an; die schnelle Reiterei war an vielen Stellen einsatzbereit. Der Fremde hatte Angst, er wendete und galoppierte zurück, während die fünfzehn Verfolger umschwenkten, ohne anzuhalten. Dann feuerten die Geschütze, eines nach dem anderen. Der Hügel verwandelte sich in einen Igel aus feurigen Blitzen, krachenden Explosionen und weißen, runden Wolken. Ein ungeheurer Donner hallte durch das Tal. Die Verfolger wurden abgedrängt. Der Fremde floh in die Richtung, aus der er gekommen war – er hätte dies schon vor einer Stunde tun sollen. Jenseits einiger Rauchwolken sah ich meine Reiter, die mit Gespannen und Geschützen den Hügel traversierten und hinauf zum Feldherrn sprengten. Ich mußte grinsen; ein kühner Streich. Ich ritt dem Fremden nach. Nur noch fünfzig Schritte trennten uns. Noch immer ritten wir im toten Winkel der ballistischen Bahnen der Geschosse und der Schrapnells. In rasender Eile wurden die Geschütze, die ihre Ladung weit über den Bachlauf in die Reihen der Feinde geworfen hatten, nachgeladen. Und dann kam das Verhängnis. Links, eines der nächsten Geschütze, löste sich, als sich die Lunte senkte, mit einem Rad aus seiner Verankerung. Der lange schwarze Eisenlauf senkte sich. Noch mitten in der Bewegung löste sich der Schuß. Rund um den einzelnen Reiter erschienen im Boden Hunderte kleiner Fontänen aus Dreck und Krater im Kies. Pferd und Reiter wurden von den Splittern förmlich zersiebt. Das Pferd machte noch fünf Sätze und wieherte schmerzvoll.
Der Mann riß beide Arme hoch, dann schlugen Pferd und Reiter schwer in den Boden. Der Mann wurde aus dem Sattel geschleudert, überschlug sich und blieb liegen, die zerfetzten Arme und Beine kreuzförmig ausgebreitet. Ich zog am Zügel; ich konnte es nicht fassen, daß ich verloren hatte. Mein Hengst blieb stehen und ließ den Kopf hängen. Mit steifen Gliedern kletterte ich aus dem Sattel; alle Muskeln taten mir weh. Ich ging auf den Mann zu, der auf dem zerwühlten Boden lag. Sein Pferd starb, als ich daran vorbeischritt. Ich ging in die Knie und streckte die Hand aus, um den Toten zu berühren. An seinem blutüberströmten Handgelenk sah ich einen dicken, eisernen Ring. Dies war entweder die Fernsteuerung für das Schiff oder eine Art Waffe. Mein Falke hatte beobachtet, wie sich der Fremde mit diesem Instrument einen Weg ins Freie gebahnt hatte. Als ich den Ring mit dem Finger berührte, begann er sich aufzulösen. Wenige Sekunden später rieselte das Gerät in Form eines schwarzen, körnigen Staubes auf den Boden. Ich stutzte: Ein Splitter hatte den Magen des Mannes quer aufgerissen, den Gurt und die Kleidung dazu. Ich sah ein fingerlanges metallenes Objekt. Dies mußte ein wichtiger Gegenstand sein, denn ohne Zweifel war er einoperiert worden. Als ich danach faßte – ich verwendete dazu die Spitze meines Säbels –, zischte die Kapsel auf und verbrannte. Verloren, Arkonide! Waffe und Funkgeber des Fremden sind zerstört. Es bleibt dir nur noch das Schiff der Verfolger im Orbit. Mein Extrasinn hatte recht. Ich richtete mich auf und blickte mich um. Schmerzen, Ermattung, Resignation und Erschöpfung beherrschten mich. Die Verfolger waren außer Sicht; nirgends erkannte ich die Standarte mit dem Stern darauf. Wenn sie gesehen hatten, wie der Mann starb (vorausgesetzt, sie hatten ihn als ihr Opfer identifizieren können), würden sie in kurzer Zeit starten. Oder
aber sie suchten noch weiter nach Radogyne. »Radogyne«, murmelte ich, ging zu meinem Pferd, stieg in den Sattel und ritt vorsichtig zurück, den Hang in Serpentinen hinauf. Schließlich war ich bei Radogyne, die reglos auf einem Baumstamm kauerte und die Schlacht mit blicklosen Augen betrachtete. Als sie mich bemerkte, hob sie den Kopf und sagte: »Ist genug getötet worden?« Es klang, als machte sie mir einen Vorwurf. Ich deutete hinunter. »Die Franzosen flüchten. Franz von Mercy hat ihnen eine Niederlage bereitet. Es ist vielleicht so, daß mit dieser Schlacht der Gegner aus diesem Land hinausgedrängt wird.« Radogyne fragte tonlos: »Glaubst du daran, Adlan?« Ich schaltete mein Abwehrfeld aus und bekannte leise: »Ehrlich gestanden, nein.« Sie stand auf und lehnte sich leicht an mich. »Was jetzt?« Ich zuckte mit den Schultern. Reitet zu Mercy und Werth. Du wirst deine Männer wiederfinden und kannst versuchen, die Verfolger zu finden. Frag Radogyne, warum sie und ihr Begleiter gelandet sind, meldete sich der Extrasinn. Das war es. So würde ich vorgehen. »Wir reiten zu Pistorius, Werth und Mercy. Dann sehen wir weiter. Dein Begleiter – du wolltest doch wissen, wo er ist?« Sie sah mich mit ihren Katzenaugen an und nickte. »Der einzelne Reiter, den du verfolgt hast?« fragte sie hoffnungslos. Ihre ganze Haltung drückte tiefste Resignation aus. »Ja. Er ist tot.« »Dann bin ich verloren«, sagte sie dumpf. »Verloren in einer Masse blutgieriger Narren.« Ich konnte nur antworten: »Ich werde dafür sorgen, daß du dich nicht ganz verloren fühlst.« Wir ritten hinunter, schlugen einen Bogen ein und näherten uns dem Hügel von Osten. Die Sonne versank hinter den
Fichtenwipfeln, als die Reiterei der Baiern sich an die Verfolgung des französischen Heeres machte. Tourenne würde sich wohl über den Rhein zurückziehen müssen. Teile der Kavallerie und die Infanteristen – von einem geordneten Heer konnte wohl keine Rede sein – machten sich daran, Beute zu sammeln. Sie durchstreiften die Stallungen und das Feld der Toten und Verwundeten, fingen Pferde ein und führten sie hinweg, zogen die Geschütze hervor und sammelten sich. Das alles artete binnen kurzer Zeit aus; schließlich sah ich Dannhauser, der auf uns zusprengte und winkte. Er parierte sein Pferd neben uns. »Wir haben Mercy geholfen, den Sieg zu erringen!« rief er. »Sie rühren die Trommeln für uns!« »Was beim Trommeln gewonnen wird«, sagte ich düster, »wird oft beim Pfeifen wieder verloren, Freund. Wie geht es den anderen?« »Sie trinken Wein mit dem Obristen!« »Das kann ich auch brauchen«, sagte ich. »Du bringst mich zu ihnen?« »Deswegen bin ich hier, Adlan!« Vom Hügel aus hatte ich einen Überblick, der mir das Blut in den Adern gerinnen ließ. Nebel senkte sich auf das Schlachtfeld. Die Schreie der Verwundeten drangen gedämpft bis hier herauf. Hin und wieder unterbrach ein Schuß die Ruhe des Todes. Der Schwarm der Krähen teilte sich in viele Schwärme auf. Sie fielen auf das Schlachtfeld ein. Sie schrien nicht, als sie begannen, den Toten die Augen auszuhacken und an ihrem Fleisch zu zerren. Ich würgte meine Übelkeit hinunter, als ich sah, wie von Werth auf mich zukam. »Ihr seid sicherlich Adlan d’Arcogne?« fragte er, die Hand ausstreckend. Er trug einen auffallenden Ring über dem feinen, wildledernen Handschuh. »So ist es, Feldherr!« bestätigte ich. »Aber lobt mich nicht
zuviel wegen der erbeuteten Geschütze.« »Ich schulde Euch viel.« Er schüttelte meine Hand, half mit bäuerlicher Galanterie Radogyne aus dem Sattel und sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Nicht viel«, widersprach ich. »Höchstens Quartier, etwas Wein und, so möglich, einige Unzen Brot und Braten für meine Männer.« »Das sollt Ihr haben, d’Arcogne!« sagte er. Ruhig fügte er hinzu: »Es sind Fehler gemacht worden. Diese Geschütze, die Ihr und Eure Männer erbeutet habt, waren in der Lage, unseren Hügel zu beschießen und uns zu töten. Das haben wir nicht gesehen, und somit habt Ihr uns alle gerettet.« Ich winkte ab. »Ich bin müde! Meine Männer ebenso. Und überhaupt habe ich vom Morden, Schießen und Schlachten genug.« »Wie wir alle!« sagte von Werth. »Wie auch Mercy. Sie verhandeln schon in Münster, aber nur der Allmächtige weiß, wann es Frieden geben wird.« Ich sammelte meine Männer ein. Mercy und von Werth versprachen, uns nachzukommen. Sie hatten Häuser beschlagnahmen lassen, einen Weiler unweit von hier. Dort würden wir Essen finden, ein Strohlager, einige Zimmer; auch ein wenig Futter für unsere Tiere. Wir fanden einen Wagen der Franzosen, der Wein, Musikinstrumente und Hafer enthielt und luden Wein und Hafer auf unsere Packpferde. In beginnender Nacht ritten wir in den Hof ein, gaben die Parole ab und bezogen unser Quartier. Lange würden wir hier nicht bleiben. Das war sicher. Die Schlacht war vorüber. Mercy hatte gesagt, er wolle versuchen, die Donaulinie zu halten und zu verteidigen. Nun, das war seine Sache… meine Sache war eine ganz andere. Du mußt die Verfolger finden! drängte der Extrasinn. Leichter gesagt als getan. Zunächst galt es, die Kräfte
wiederzufinden und Radogyne auszuhorchen. Dann würde ich weiter handeln können. Diesmal mußte ich wohl darauf verzichten, den Barbaren kulturelle Denkanstöße zu liefern. Und diesen Krieg zu beenden, lag auch nicht in meiner Macht. Ich öffnete das knarrende Fenster, um den Schweißgeruch zu vertreiben, den das Leder des Sattels ausströmte. Ich war zum erstenmal seit Tagen ganz allein, sah mich in dem kleinen Zimmer um, das unter dem Dach lag und als Gesindekammer gedient haben mochte; nach all den Nachtlagern auf der Erde und im Stroh war dies ein geradezu luxuriöses Bett. Ich stellte den Leuchter mit den drei Unschlittkerzen so auf, daß der Luftzug ihn nicht traf, verriegelte die Tür und mischte kaltes mit heißem Wasser. Ich packte meine Satteltaschen aus und legte, was ich brauchte, auf ein flauschiges Tuch, begann mich zu waschen, trocknete mich ab, säuberte die Nägel und flocht den Zopf in meinem Nacken auseinander. Nachdem ich mir tiefenwirksame, reinigende Creme eingerieben hatte, zog ich neue Wäsche an und wusch die alte; komprimiertes Pulver in Wasser aufgelöst, half mir. Ich muß allein sein, um klare Gedanken fassen zu können. Radogyne befand sich unter der persönlichen Obhut Kressins und Stadelbergers bei meinen Männern und versuchte, ihnen bei der Essenszubereitung zu helfen. Ich breitete Decken und meinen Mantel über die harte Matratze, trank einen großen Schluck Wein und drückte die Fernsteuerung des Falken. Langsam beruhigten sich meine Nerven. Die heilsame Strahlung des Aktivators half. Ich legte mich, nur mit Hemd und dünner Hose bekleidet, auf das Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und dachte nach. Was ich bisher gesehen und miterlebt hatte, direkt oder indirekt durch die unentwegt suchenden Spionsonden, verdiente wahrlich die Bezeichnung »Barock«. Der Ausdruck stammte aus dem portugiesischen barroco und bezeichnete eine
unregelmäßige Perle. Inzwischen drang eine Stilrichtung, schockierend seltsam, eine Art europäischer Absolutismus, nach Norden vor, zugleich mit einem mechanistischen Weltbild; Trachten, Bilder und Musikstücke zeugten von diesem Stil, der die Renaissance ablöste. Auch dieser unheilvolle Krieg war ein Kennzeichen, zugleich von barocker, ausschweifender Gründlichkeit und Brutalität. Eine Figur war aus dem Spiel genommen worden – der Mann von den Sternen war tot. Noch blieben Radogyne, rund fünfzehn Verfolger und ich. Von ihr wollte ich erfahren, warum sie hier gelandet waren. Und die Verfolger würden in den nächsten Tagen nach Radogynes Begleiter suchen – mit ihnen mußte ich in neutraler Umgebung zusammentreffen. »So und nicht anders werde ich vorgehen«, sagte ich. Karten des Gebietes. Verpflegung. Das Wohlergehen von siebenundzwanzig Personen und den Tieren. Der Wolf, der vor der Tür lag. Und der Falke. Wo blieb er? Ich nahm einen zweiten Schluck Rotwein; vermutlich war er tief in Südfrankreich gewachsen; sein Geschmack und sein Alkoholgehalt unterschieden sich wohltuend von den sauren Gewächsen dieser Gegend. Ich spürte, wie meine Verkrampfung wich; Wärme breitete sich in meinem Körper aus. Ich trank den Becher leer und begann, mich leichter, beschwingter zu fühlen. Zwar waren alle Eindrücke dieses Tages fotografisch exakt in meiner Erinnerung aufgehoben, aber besänftigend legte sich der Dunst des Alkohols darüber. Langsam verdrängte ich die Schrecken. Ich goß den Becher voll, aß Würfelkonzentrate aus meinem Vorrat und stand auf. Der Falke setzte sich auf den Fenstersturz und fauchte: »Hier bin ich. Viele Informationen.« »Gut. Warte!« Ich wrang meine Kleidung aus, hängte sie an den Wänden
auf und hoffte, daß das Gewebe bis morgen leidlich trocken war. Dann schüttete ich das Wasser aus dem Fenster und lachte, als ein ellenlanger Fluch ertönte. Ich blieb vor dem Fenster stehen, atmete die kühle Nachtluft ein und hörte das Stimmengewirr, Lieder und Musik der Soldaten, die Stimmen von Mercy und Werth. Alles verschmolz zu einer Stimmung, die ähnlich gelöst war wie die körperliche Erschlaffung nach der Schlacht. »Bilder?« fragte ich und klappte meinen Lederkasten auf, schaltete den Bildschirm ein. »Viele Bilder!« krächzte Cis. »Abruf!« befahl ich. Eine Stunde lang sah ich Bilder, von den Linsen des Falken aufgenommen, und ich konnte den letzten Teil der Flucht des Fremden miterleben, die in den Tod führte. Ich sagte, während ich nur Gesichter und Ausrüstung der fünfzehn Verfolger einprägte: »Speichere diese Worte, so daß du die Fremden jederzeit erkennen kannst.« Der Vogel sah aus wie ein lebendiger Falke. Meine Maschinen hatten Meisterwerke erschaffen, erstaunlich naturgetreu, obwohl aus federleichtem Kunststoff. Desgleichen war der Kopf der eines rassigen Falken; sämtliche Bewegungen, die dieser künstliche Raubvogel ausführen konnte, glichen denen des Originals. Ich sah, wie nach dem Konterzug der von Werthschen Reiterei die Fremden abdrehten und sich im Gelände verloren. Sie schlossen sich weder der einen noch der anderen Partei an. Sie und ihr Troß, der sich auf weitere fünfzehn Personen belief, darunter drei junge Frauen, waren womöglich noch disziplinierter als meine fünfundzwanzig Reiter. Auch sie hatten in kürzester Zeit lernen müssen, sich in einer Umwelt zu bewegen, die nicht ihrer gewohnten Umgebung entsprach – sie hatten darin wahre Meisterschaft entwickelt. Sie sammelten sich in einem Wald und berieten. Der Falke hatte
Gesprächsfetzen aufschnappen können: Sie wußten nicht, daß der Fremde tot war. Ein hartgesichtiger Mann sagte scharf: »Vaskane hat sich den Kaiserlichen angeschlossen. Heute ist es unsinnig, ihn zu suchen. Wir werden uns als Hilfstruppe ausgeben und Mercys Heer nachreiten. Sie müssen sich, weil sie nicht stark sind, nach Süden zurückziehen, zum Fluß. Dort werden wir Vaskane aufstöbern.« Jemand warf ein: »Und Radogyne?« »Wir haben erfahren, daß sie als Hexe verbrannt werden sollte. Dann kaufte sie ein Offizier dem Henker ab, und nach ihrer Flucht schloß sie sich einem Haufen vagabundierender Deserteure an. Sie wird verkommen und untergehen – wir suchen nur den Mann. Er kennt die Koordinaten.« Koordinaten? Das deutet auf einen Planeten hin, flüsterte der Extrasinn. Ich sagte zum Falken: »Du bleibst ständig in der Nähe dieser Gruppe, speicherst alles, was wichtig ist: Du kennst die Auswahlmomente.« »Ja!« krächzte Cis. Ich befahl: »Jeden Tag einmal rufst du mich und überspielst die Informationen. Wenn sie sich entschließen, ihr Schiff abzurufen, setzt du dich mit Rico in Verbindung und sagst, er solle Kontakt mit mir aufnehmen!« »Verstanden«, keuchte der Falke. Hätte uns jemand zugehört, würde er zweifellos der Meinung sein, wir wären Teile einer Heerschar des Satans, ausgeschickt, um diese Erde zu verwüsten, wie es auf den Bildern Breughels oder Hieronymus Boschs geschildert war. Cis, ein sprechender Falke, Hound, ein Wolf, in dessen Bauch Goldstücke waren und Geräte, mit denen man eine Stadt niederbrennen konnte! Sprechende Tiere. Ich überlegte noch einmal sorgfaltig und sagte: »Versuch, die Fremden wiederzufinden und bleib auf ihrer Spur! Nur wenn mir direkte Gefahr droht, kannst du diesen Posten verlassen. Flieg jetzt los!«
Der Falke hob seinen Kopf, breitete die Schwingen aus und stieß einen krächzenden Schrei aus. Dann stieß er sich von der zersplitterten Fensterbrüstung ab und schwang sich in die Luft. Ich hoffte, daß er die Fremden wiederfand – schließlich mußte ich mit ihnen in Verbindung treten; dies sollte bald geschehen. Ich packte sorgfältig alle Geräte ein, die Radogyne verräterisch erscheinen konnten. Soldaten brachten heißes Wasser; ich zog die gesäuberten Stiefel an, schloß die Gürtelschnalle, steckte eine Pistole ein und ging hinunter. Die Feuer im Hof des Weilers verbreiteten eine solche Hitze, daß ich trotz des dünnen Hemdes nicht fröstelte. Meine Männer saßen um eines der Feuer, an dem Teile eines mageren Ochsen hingen, Radogyne saß auf einer Trommel mit zerrissenen Spannschnüren und aß ein Stück Brot, auf dem eine Scheibe Braten lag. »Wohl bekomm’s«, sagte ich leise und kauerte mich zwischen Radogyne und Stadelberger. Funken flogen hoch, und Fett tropfte zischend in die Flammen. Bretter und Trümmer landwirtschaftlicher Geräte wurden verbrannt. Einige Männer hatten neue Mäntel um die Schultern, von denen sie die Zeichen der Franzosen heruntergerissen hatten. Dannhauser hob einen Holzbecher und rief, leicht angetrunken: »Auf Adlan mit seinen Ideen!« Ich hob die Hand, sagte: »Danke, Dannhauser – besauft euch nicht. Wir reiten spätestens übermorgen.« Zündt knurrte: »Und morgen werden wir wieder Pferde und Waffen pflegen müssen. Ich wette eine Doublone!« »Schon gewonnen«, sagte ich lachend. »So ist es. Wir sind kein wilder Haufen, sondern eine fabelhafte Truppe!« »Er hat recht!« lallte Jörg. Er war schon betrunken. Ich sagte halblaut zu Radogyne: »Ich habe in meinem Zimmer Wasser, Seife und Tücher. Und einen schweren Riegel sowie einen Wolf, der über deine Tugend wacht. Du kannst
dich waschen und umziehen, ein Hemd hat sich noch in meinen Vorräten gefunden. Außerdem ist ein großer Krug Rotwein oben. Willst du?« Sie sagte kauend: »Ja. Ich bin überrascht, daß du daran gedacht hast, Weißhaariger. Du bist nicht älter als Vierzig; was hat dein Haar weiß werden lassen?« »Sorgen und viel Tod habe ich gesehen, und das Land ist gedüngt mit der Asche meiner toten Freunde. Und irgendwann sind meine Haare weiß geworden.« Sie lächelte und suchte etwas, woran sie ihre fetten Finger abwischen konnte. Ich ergriff sie am Oberarm, zog sie aus dem Feuerkreis und sagte: »Wir alle sind gefangen, schöne Freundin mit den Katzenaugen, im Plan einer Gesetzmäßigkeit von Werden und Vergehen, die viel zu gewaltig ist, als daß sie von uns begriffen werden kann. Versuche dich damit abzufinden. Etwas, das größer ist als wir alle, manipuliert uns. Weder du noch ich konnten den Tod deines Begleiters ändern.« Überraschung sprach aus ihrem Gesicht. »So ist es wohl. Du hast recht. Ich sehe, daß du einer der wenigen weisen Narren bist, die auf diesem Kontinent des Todes leben.« Ich nickte. »Weise, aber durchaus fehlbar. Du solltest etwas für die Pflege deines Körpers tun. Wir gehen langen Ritten und heißen Zeiten entgegen.« Sie ließ sich in das kleine Zimmer bringen, sah sich verwundert um; ich erklärte ihr die Wirkungsweise gewisser kosmetischer Wässer und Salben. Sie begriff schnell und bat mich, darauf zu achten, daß Hound vor der Tür wachte. Ich gab dem Wolf einen Befehl. Das Tier bewegte den Kopf, sah mich aus silbernen Augen an, als ich die knarrende Treppe hinunterstieg und plötzlich vor Franz von Mercy stand. »Ihr seid jener Franzose in des Kaisers Dienst, nicht wahr?« Er legte mir seine behandschuhte Linke auf den Arm.
»So ist es, Marschall«, sagte ich. »Aber ich bin unabhängig und frei. Ich habe das Wort eingelöst, das ich Pistorius gab.« Mercy nickte und murmelte: »Er hat sich nicht daran erfreuen können. Er wurde von drei Kugeln getroffen und starb auf der Bahre des Feldschers, während der letzten Salve unserer Geschütze. Wir werden zurückgehen. Dieses Land braucht Frieden. Niemand ist da, der sät und die Saaten schützt.« Ich sagte grimmig: »Wenn es so weitergeht, wird auch bald niemand mehr da sein, der das Korn essen kann – falls es überhaupt gewachsen ist. Sie verhandeln, sagt Ihr?« »Nur Gott weiß, wie lange noch.« Ich erkundigte mich: »Was habt Ihr in den nächsten Wochen vor?« Er hob die Schultern und betrachtete mein Gesicht, als sähe er dort eine Erleuchtung. Dann sagte er zögernd: »Tourenne hat die Schlacht verloren. Er zieht sich sicherlich hinter den Rhein zurück und wird abdanken. Mazarin wird ihn überreden, sich einem neuen Heer zu unterstellen oder anzuschließen, vielleicht einem Heer unter Enghien. Ich ziehe mich zurück und hoffe, die Donau halten zu können.« »Ich werde Euch folgen«, versprach ich. »Vielleicht fange ich dabei auch die beiden Spione, die ich suche. Einen dritten, ein Mädchen, das sie identifizieren wird, habe ich bereits getroffen.« Mercy lachte kurz und fragte: »Dieses bezaubernde, schlanke Geschöpf mit dem kurzen Haar und den Katzenaugen etwa?« »Es ist, Feldherr, im Augenblick mein kostbarster Besitz«, sagte ich. »Behütet ihn gut!« empfahl er. »Ich werd’s nicht versäumen!« Ich schüttelte seine Hand. »Wir können noch einen Tag lang hier bleiben und uns erholen?«
»Selbstverständlich! Wenn Ihr etwas braucht, kommt zu mir!« »Danke, Marschall!« Ich wartete noch eine Weile, dann ging ich wieder nach oben und klopfte an die Tür. Durch die Ritzen schimmerte das Kerzenlicht. »Wer ist dort?« »Adlan«, sagte ich. »Kann ich hereinkommen?« Ich lehnte mich an den kalten Stein der Wand. Radogyne zog den Riegel zurück, Hound wich aus, ich bückte mich unter dem hölzernen Türsturz. Radogyne hatte aufgeräumt und roch nach meinem Gesichtswasser. Sie hatte ihre Kleidung gewaschen, Stand auf einem Tuch und hatte eines meiner Hemden angezogen. Sie sah im Kerzenlicht hinreißend aus. Sie ging rückwärts und setzte sich auf den Mantel über der Bettlade. »Zufrieden?« fragte ich, zog die knarrende Tür zu und blies den Staub aus dem zweiten Becher, goß vorsichtig Wein in beide Becher und gab ihr einen davon. »Ja«, sagte sie. »Es war wie eine rituelle Waschung. Ich hatte Ruhe, ich entspannte mich. Und ich bin ein wenig betrunken. Ich glaube, ich werde heute bei dir schlafen. Das heißt… wenn du nichts dagegen hast.« »Schwerlich, Schwester. Nur, schütte keinen Wein auf unser karges Nachtlager.« Sie nahm einen Schluck, dessen Menge ausgereicht hätte. Stadelberger umzuwerfen. Ich hatte den Eindruck, daß sie sich Mut antrinken wollte. »Vaskane ist tot«, sagte sie. »Ja. Warum warst du mit ihm zusammen?« fragte ich leise. »Ich war eine seiner… Dienerinnen«, sagte sie. »Es gibt ein Land, das er gefunden hat. Ein schönes, fruchtbares Land. Er war auf dem Weg dorthin, um es anzusehen. Alle unsere Freunde sollten in dieses Land ziehen. Ich war deswegen
dabei, weil er mich brauchte. Ich sollte mit ihm dort eine Zeitlang leben und ausprobieren, ob dieses Land für uns wirklich so gut war.« Die Schleier vor dem Geheimnis waren etwas dünner geworden. »Und da Vaskane tot ist, willst du mit mir schlafen?« erkundigte ich mich und hob den Becher. Ich sah über seinen rissigen Rand hinweg in ihre Augen: Katzenaugen, mit silbernen Streifen in der Iris. »Nicht deshalb«, sagte sie. »Es ist vielmehr so, daß du der einzige Mann bist, den ich kenne, in dessen Nähe ich sein möchte.« »Vielmehr…«, sagte ich und schmunzelte, »könnte es durchaus so sein, daß du nicht die einzige Frau bist, die ich kenne, und in deren Nähe ich sein möchte. Hattest du über diese Möglichkeit nachgedacht, Schwester?« Sie sah mich etwas betroffen an, dann kicherte sie. »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Bisher habe ich alle Männer bekommen, die ich haben wollte.« »Die Regel wird nur durch Ausnahmen bestätigt«, erwiderte ich knapp. »Ich bin ein Mann mit sehr starkem Willen.« Radogyne trank ihren Becher aus und hielt ihn mir entgegen. Vorsichtig schüttete ich nach. Ich mutmaßte, daß ihr Stolz es nicht zuließ, sich mit einem Barbaren dieser Welt zu verbinden, ohne daß sie nicht versuchte, ihn hinunterzudrücken. Ihre Überlegenheit mußte gewahrt bleiben. Würde ich ihr sagen, woher ich wirklich kam, wäre es eine Beziehung zwischen Partnern. So war es ein Spiel zwischen Opfer und Raubtier. Dachte sie wenigstens. Ich grinste, musterte ihre langen Beine, sah in ihre Augen und sagte: »Vielleicht bekommst du mich, vielleicht nicht – wir werden sehen, wie der Falke fliegt. Warum, um in deiner Geschichte fortzufahren, wolltet ihr dieses Land
untersuchen?« Sie antwortete sofort. »Weil jenes Land, aus dem wir kommen, ruiniert ist. In einigen Jahren kann dort niemand mehr leben. Alle werden sterben.« Ersetzte ich den Begriff Land durch Planet, erhielt ich das richtige Bild. Jetzt mußte ich nur noch wissen, warum… »Wurdet ihr verfolgt?« fragte ich, als ich auch meinen Becher füllte. »Ja«, sagte sie leise. »Von wem?« fragte ich rasch. »Von einer Gruppe Heloten. Wir wollten sie, einen großen Teil unseres Volkes, zurücklassen. Wir wollten ein Land für die Elite aufbauen.« Ein Land für die Elite! Ich begriff. Vaskane und Radogyne kannten einen Planeten, den sie mit wenigen Freunden besiedeln wollten. Auf dem Flug zu diesem geheimen Planeten entdeckten sie, daß sie verfolgt wurden. Daraufhin landeten sie auf der Erde. Auch die Verfolger merkten die Kursänderung und landeten ebenfalls. Dann begann die Suche. Niemand ahnte, daß ich ebenfalls auf der Suche nach einem Raumschiff war – dieses Schiff, die letzte Chance, schwebte über der Erde im Orbit. Ich musterte Radogyne und fragte: »War es ein Schiff, das euch an diesen Küsten abgesetzt hat?« Sie lehnte sich an die Wand und spielte mit dem Kragen des Hemdes, sah mich aus großen Augen an. Fast körperlich konnte ich die Hitze spüren, die ihr Körper ausstrahlte. Diese Fremden mußten von einem Planeten kommen, auf dem die Evolution die höchstorganisierten Wesen mit höherer Körpertemperatur ausgestattet hatte; ich hatte dies schon auf den Infrarotbildern des Falken bemerkt. »Ja. Ein… Schiff. Und auch die Verfolger sind in einem Schiff
gekommen.« »Und es besteht für dich«, fragte ich vorsichtig, um meine Maske nicht zu lüften, »keine Möglichkeit, auf dieses Schiff zurückzukehren?« »Nein!« Nach einiger Zeit setzte sie hinzu: »Nur Vaskane kennt das Signal. Ich kann das Schiff nicht rufen. Es fährt zurück in unser Land.« Sie nickte. Es schien ihr bewußt zu werden, was sie in Wirklichkeit verloren hatte. Sie war auf diesem Planeten ausgesetzt. Aber warum wandte sie sich nicht an die Verfolger? »Auch die Verfolger haben ein Schiff, denke ich«, murmelte ich leise. »Warum gehst du nicht zu ihnen und bittest sie, dich mit zurückzunehmen?« Sie hob in einer verzweifelten Bewegung die Schultern und entgegnete: »Die Verfolger sind Heloten, hassen Vaskane und mich und unsere Freunde. Sie wollen von Vaskane die… die Karten des neuen Landes. Ich kenne sie nicht. Wenn sie dies erfahren, werden sie mich töten. Haben sie Vaskane getötet?« »Nein«, sagte ich hart. »Er wurde von einem Kanonenschuß voll getroffen.« Jetzt sah ich klarer. Ich mußte die Verfolger einholen, mußte versuchen, mich ihnen so zu nähern, daß sie mich akzeptierten. Ich konnte ihnen eine Flotte für die Suche nach dem neuen, heißeren Planeten bieten. Sie würden akzeptieren und mich nach Arkon mitnehmen. Alles schien gewonnen – es war nur eine Frage der Zeit. Plötzlich fühlte ich mich wohl. Eine gewisse Leichtigkeit durchströmte mich. Mit meinen Männern würde ich den Fremden folgen auf einer Spur, die mein Falke mir zeigte. Noch bist du nicht am Ziel! Denk an die gescheiterten Versuche, Atlan! warnte mein Extrasinn. Ich griff nach dem Becher und sah, daß Radogyne ihren Wein ausgetrunken hatte. Ich schenkte nach und setzte mich neben
sie auf das Bett. Sie sah mich lange schweigend von der Seite an, dann flüsterte sie: »Ich glaube, du brauchst mich, d’Arcogne mit den weißen Haaren. Und schließlich brauche ich dich auch!« »In diesen Zeiten«, sagte ich leichthin, »braucht jeder jemanden. Wir sind keine Ausnahme.« Die zärtlichen Stunden bis zum Morgengrauen würde ich nie vergessen. Sie war zuerst eine Fremde, jemand, der eine andere Sprache sprach und andere Sitten kannte; von einer Sekunde zur anderen schien ein Damm in ihr zu brechen. Sie verlor ihre distanzierte Art. Ich mußte etwas getan haben, das sie überzeugte, ein Spiel zwischen Partnern zu spielen. Sie war zärtlich und anschmiegsam; sie zwang sich sichtlich, möglichst viel zu vergessen oder von sich abzustreifen. Dann aber zerbröckelte die tarnende Schicht. Die aufgestaute Unsicherheit, die Erinnerungen der jüngsten Vergangenheit, Zweifel und Selbstquälerei verschwanden. Wir lagen da, tranken kalten Wein in kleinen Schlucken und sahen der Kerze zu, wie sie herunterbrannte. Schließlich ertranken Docht und Flamme im heißen Wachs. Radogyne flüsterte: »Bist du wirklich einer der Barbaren aus diesem armen Land?« Ich lächelte erschöpft und wisperte: »Ich bin in Wirklichkeit ein verkleideter Prinz von den Sternen, Katzenäugige. Und ich warte darauf, daß mich eine Jungfrau erlöst.« Sie kicherte. »Du bist wirklich irre. Jungfrauen – in diesem Land, zu dieser Zeit?« »Gerade deswegen«, entgegnete ich und küßte sie, »warte ich auf meine Erlösung. Auch du wirst es nicht schaffen.« »Selbst ich nicht«, sagte sie nachdenklich. »Und dabei habe ich mir soviel Mühe gegeben, dich zu verführen.« Ich schloß die Augen und murmelte: »Die Zeiten sind hart. Und sie werden nicht angenehmer.«
Sie schlief übergangslos ein. Ich lag noch eine Stunde lang wach, spürte ihren bezaubernden Körper. Ich kannte kein Schema, in das ich sie einordnen konnte: alle meine Geliebten waren… waren anders gewesen, ganz anders. Selbst die unvergessene Alexandra oder die ägyptische Prinzessin. Radogyne war jemand aus einer mir gemäßen Kultur; ich hatte zu lange unter den Barbaren gelebt und vergessen, daß es eine solche Kultur gab. Ich zwang mich, nicht an das Ende zu denken. Während ich in einen Schlaf der glücklichen Erschöpfung hinüberdämmerte, zog der Falke seine Kreise und suchte jene fünfzehn Männer, die ich finden mußte. Der Tag der Schlacht endete. Als ob die Atmosphäre des Planeten alles Vorgefallene mit Hohn und Spott betrachten würde, brach ein wunderschöner Morgen an.
11. Als ich die Spinne sah, waren wir siebenundachtzig Tage durch das verwüstete Land geritten. Es war ein merkwürdiges Spiel: Jedesmal, wenn der Falke die Gruppe entdeckt hatte, war sie weiter von uns entfernt. In den Wirren des Krieges verlor sich diese Spur. Die fünfzehn Fremden und ihr Troß wechselten je nach Gebiet und Erfordernissen Pferde und Kleidung, versteckten sich, verschwanden aus meiner Reichweite. Trafen wir nach schnellem Ritt am Ort des letzten Verstecks ein, waren die Vögel ausgeflogen. Wieder begann die Suche von neuem. Die Verfolger ritten falschen Gerüchten nach, denn wer immer Vaskane gesehen haben mochte, log absichtlich oder unabsichtlich – Vaskane war unwiderruflich tot. Die Nervosität der fremden Reiter griff auf mich über. Die Frist, von der ich nicht wußte, wie lang sie war, schien abzulaufen. Ich war aus dem Sattel gestiegen, kauerte neben einer Zwergtanne und sah das Netz der Spinne. Die Wärme der letzten Julitage löste die Tautropfen auf, die das Netz wie winzige Perlen bedeckten. Geschäftig schwang sich die Spinne hin und her und zog ihren seidenen Faden. »Ist nicht auch dein Schätzchen unruhig geworden, Atlan?« Ich schaute auf und drehte mich halb herum. Zündt stand da, hatte sich eine Pfeife angesteckt und sah mich prüfend an. »Sie auch, ja«, murmelte ich. »Zündt, ich kann nicht anders! Wir werden noch eine Weile reiten müssen. Die Spur ist heiß, aber verwischt.« Wir wußten, daß Tourenne und Enghien ein Heer aufgestellt hatten und sich in Richtung Nördlingen bewegten. Das Heer unter Mercy zog hingegen in die Richtung von Allerheim. Wir waren hiervon nicht mehr weit entfernt. Zündt setzte sich neben mich auf einen nassen Baumstamm.
»Du weißt, die Stimmung ist nicht besonders gut. Wir haben alles, wir sind ausgeruht, haben gute Beute gemacht und bessere Pferde als je zuvor. Aber wir sehnen uns danach, zu handeln – wir sind Männer des Krieges, nicht des Friedens.« »Ich weiß«, bekannte ich. »Und ich verspreche euch, daß wir in wenigen Tagen alles zu Ende geführt haben werden.« Er zwinkerte mißtrauisch. »Alles?« »Ich hoffe es. Wenn mein Plan aufgeht, werdet ihr alle staunen. Für euer Lebensende wird gesorgt sein… aber ich muß erst diejenigen finden, die ich suche.« »Dein Falke sagt dir, wo sie sind, eh?« erkundigte er sich. »Mein Falke hat altersschwache Augen«, sagte ich. »Immer wieder verliert er die Spur.« Ich warf einen Blick auf das Spinnennetz. Das Tier hatte bewiesen, daß Geduld zum Ziel führte. Die Spinne lauerte und spann, und plötzlich befand sich ein Opfer in den Maschen der klebrigen Fäden. Ich sah dieses Symbol der Geduld und der Beharrlichkeit an. Ich konnte nicht anders. Sechsundachtzigmal hatte ich gehofft und war enttäuscht worden. Es war wie ein Brettspiel – die Jagd hatte sich in viele kleine Sprünge auseinandergezogen. Die letzten beiden Sprünge würden in jene Gegend führen, in der aller Voraussicht nach die Heere aufeinandertreffen würden. Mit Sicherheit traf ich die fünfzehn Verfolger dort. Sie dachten sicher noch, Vaskane habe Unterschlupf bei den Kaiserlichen gefunden. Aus dem Kreis, in dem wir uns bewegten, würde eine Spirale werden, in deren Mittelpunkt das Treffen stattfand. »Wie sehen die nächsten Tage aus?« fragte Zündt leise. »Wir reiten weiter. Richtung Allerheim. Und dort werden wir auf alle Fälle in den Kampf eingreifen. Vielleicht gelingt uns wieder ein verblüffender Erfolg.« »Wir alle brennen darauf«, versicherte er.
»Ich nicht weniger, wenn auch aus anderen Gründen«, sagte ich. »Sag es den Männern.« Er stand auf und schlug den Pfeifenkopf an seinem Radsporn leer. »Und Feinsliebchen reitet mit?« Ich erwiderte lässig: »Feinsliebchen reitet mit mir. Neid?« »Nicht ganz. Sie ist mir zu dürr!« behauptete er und zeichnete ungemein füllige Umrisse in die Luft, um sein Phantasieweib anzudeuten. Ein Insekt zappelte im Netz. Die Spinne ließ sich auf das Tierchen fallen, indem sie an einem ihrer Fäden herabglitt, dann umzingelten ihre Beine die glänzende Fliege. »Auf die Pferde, in die Sättel!« ordnete ich an. »Allerheim entgegen!« Zündt steckte die Pfeife in die Tasche seines ledernen Wamses. Wir saßen auf, orientierten uns nach meiner Karte und ritten los. Hound sicherte den Weg, als wir nacheinander ritten. Radogyne ritt neben mir; sie schien ihre Sicherheit wiedergefunden zu haben. Jedenfalls hatte sie sich seit dem Tag, an dem sie im Teich des Köhlers gebadet hatte, grundlegend verändert. Ich konnte beginnen, sie zu verstehen. Schweden, Hessen und Franzosen hatten sich gegen die Kaiserlichen verbündet. Sie drangen in breiten Marschkolonnen auf Allerheim vor und waren noch Tagesmärsche entfernt. Das Gerücht von ihrer Ankunft verbreitete sich schnell, und überall trafen wir auf Bewohner der Dörfer, die mageres Vieh, mit schlaffen Kornsäcken beladen, in die dunklen Wälder trieben. Lange Prozessionen von Elendsgestalten, immer wieder. Die Dörfer und Weiler, durch die wir ritten, waren verwaist. Am späten Morgen des zweiten August des Jahres 1645 erhielt ich von Cis das Signal, auf das ich mit Ungeduld gewartet hatte. Der winzige Lautsprecher, der im Kopf einer Hutnadel untergebracht war, sagte: »Zwei Stunden geradeaus. Lager in
Ruine. Dort sind sie!« Ich hielt meinen Hengst an und hob die Hand. »Dannhauser! Stadelberger!« Sie waren kurz darauf an meiner Seite. Ich deutete auf Radogyne und sagte: »Ich muß vorausreiten. Reitet mir nach – der Wolf hat die Spur. Paßt auf sie auf; wenn ihr angegriffen werdet, flieht! Ich bin bald wieder zurück.« »Du hast die Fremden gefunden?« fragte Zündt hinter mir, der mitgehört hatte. »Ich denke, ich habe sie. Irgendwo in zwei Stunden Ritt gibt es eine Ruine. Dort lagern sie. Dort treffen wir uns auch.« »Verstanden. Viel Glück, Adlan!« Ich zog meinen Hut in die Stirn, schob das Band unters Kinn und ritt los. In leichtem, kräftesparendem Galopp ritt ich den fast unkenntlichen Weg geradeaus. Während ich mich im Sattel vorbeugte, spähte ich nach rechts und links. Hound lief eine kurze Strecke Weges neben mir, dann rannte er ins Gestrüpp und wartete, sorgfältig die Gegend ortend, auf die anderen. Die Luft zwischen den dunklen Nadelbäumen, die in riesigen Wäldern wuchsen, kühlte mein heißes Gesicht. Ich war am Ende der Spur! Schneller und über weicheren Boden. Bäume flogen vorbei. Eichelhäher flatterten quer über den Weg, und Eichkätzchen rannten die Stämme hinauf. Das Trommeln der Hufe wurde schneller. Ich ließ die Zügel fahren und lehnte mich nach vorn. In einer Hand hatte ich die Waffe, entsichert und auf Patronenfeuer eingestellt. Viel zu langsam verging eine Stunde. Einmal hob ich mein Lederarmband am Handgelenk an den Mund, drückte mit dem Kinn eine verkappte Niete hinein und sagte laut: »Cis?« Der Falke antwortete sofort über den Hutlautsprecher: »Hab’ sie. Bin auf dem Dach. Sie essen, trinken und besorgen die Pferde.« »Bleib dort! Hast du mich geortet?«
»Ja. Noch halbe Stunde!« Ich schaltete die Funkverbindung ab und ritt weiter. Der Weg schlängelte sich durch die Wälder. Ich wußte, daß viele Lichtungen voller Flüchtlinge waren. Für Jahrzehnte hinaus war dieses Land ruiniert. Ich sah vor mir kein Haus, keine Ruine. Nur den Weg, von Farnen und langen, dornigen Ranken bedeckt. Der Hengst wieherte dumpf auf, als mache ihm das Rennen Freude. Nach einer halben Stunde verbreiterte sich der Weg, wurde steiniger und sandiger; jemand rief mich plötzlich von rechts an. »Halt! Wer ist’s?« Ich schaltete mein Abwehrfeld ein und schrie zurück: »Gut Freund!« Der Schuß, der mir nachgeschickt wurde, pfiff hinter meinem Rücken durch die Stämme und ließ einen Regen dürrer Nadeln niedergehen. In vollem Galopp sprengte ich auf die knapp mannshohen Mauern des Einödhofes zu. Rauchfahnen von Feuern stiegen dahinter auf. Zwei Zelte waren aufgeschlagen. Hinter der Mauer tauchten Köpfe auf; ich erkannte zwei der Fremden. Musketen wurden auf die Steine gelegt; dann schrie jemand mit kommandogewohnter Stimme: »Wer seid Ihr?« Ich gab zurück, während ich näherritt: »Adlan d’Arcogne! Ihr sucht einen Fremden, der sich verbirgt und euch ausweicht! Ist das richtig?« Hinter der Mauer sprang ein hochgewachsener Mann in schwarzer Halbrüstung auf. Er trug einen schweren Mantel, richtete seine Muskete auf mich, und ich ahnte, daß dieses Instrument eine ähnliche Tarnung war wie meine Waffe. Der Mann rief: »Nicht feuern! Warten!« Ohne anzuhalten, ritt ich weiter, bis ich neben ihm stand. Dann schwang ich mich aus dem Sattel. Auch dieser Fremde
trug ein körpernahes Abwehrfeld; deutlich konnte ich das leichte Flimmern erkennen. Ich lächelte, streckte die Hand aus und ging auf ihn zu. »Ihr sucht Vaskane?« fragte ich ruhig. Dieser Name bewirkte ein kleines Wunder. Der Reiter, der mich hatte aufhalten wollen, galoppierte heran und bedrohte mich mit seiner Waffe. Aus allen Teilen des Hofes, der mit Trümmern und Sitzgelegenheiten übersät war, strömten Menschen zusammen. Ich sah, wie sich der Falke von einem verkohlten Ende des Firstbalkens in die Luft schwang und Kreise zu ziehen begann. Etwa zwanzig Männer bildeten einen Kreis um mich und den Anführer. »Ich bin Usinas«, sagte er leise. »Sagtet Ihr: ›Vaskane‹?« Wir starrten uns an. Ich nickte, nahm meinen Hut herunter, steckte die Waffe ein und deutete dann auf die Brust des Mannes vor mir. Leise sagte ich: »Raumfahrer! Du kannst dein Abwehrfeld ausschalten. Ich schalte meines ebenfalls ab.« Wir benutzten die Sprache, die man hier redete. Ich stellte fest, daß Usinas sie fast ebenso gut zu beherrschen schien wie ich. Verwunderte Blicke trafen mich. Eine Art gespannter Erwartung war eingetreten. Unruhig bewegten sich die Hände und die Füße der Männer. Langsam sah ich von einem zum anderen und erkannte die Fünfzehn. Ihre Haltung und vor allem die dunkle Kleidung, die zu neu, zu wenig zerrissen aussah: untrügliche Merkmale. »Abwehrfeld… Vaskane… was weißt du?« Ich sagte: »Ziemlich alles. Radogyne ist bei mir. Vaskane ist vor meinen Augen gestorben, kurz nachdem ich eine Kanone auf euch abgefeuert hatte. Ich wußte noch nicht, wer ihr wirklich seid. Ich bin ein gestrandeter Raumfahrer, der euch um eine Passage bittet.« Halt! Sie müssen nicht alles wissen. Sie sind zutiefst mißtrauisch! wisperte der Extrasinn. »Radogyne. Was weiß sie?« fragte Usinas.
»So gut wie nichts. Sie kennt die Koordinaten des Planeten nicht, den ihr sucht und den Vaskane anfliegen wollte.« Jemand flüsterte sehnsuchtsvoll: »Algot Creosa!« Jetzt wußte ich definitiv den Namen dieser Welt; er sagte mir gar nichts. Usinas faßte mich am Arm und zog mich in den Hof hinein. Wir setzten uns in einem Kreis zusammen; dann meinte der Anführer: »Wir sind die letzten drei Monate im Kreis herumgeritten und haben versucht, ein Gerücht zu fangen. Woher wußtest du, daß wir hier sind? Nein, zuerst etwas anderes: Wir brauchen diesen Planeten Creosa, weil unsere Welt stirbt. Es gab mehrere Planeten als Alternativen zur Aussiedlung. Creosa war die beste aller möglichen Welten. Vaskane und Radogyne beschlossen, als Testkommando loszufliegen. Bis zu diesem Datum kannten die weniger privilegierten Menschen unserer Welt Creosa nicht. Wir verfolgten das Schiff, weil wir dadurch die Koordinaten herausfinden wollten. Vaskane merkte, daß er verfolgt wurde und landete auf diesem Kategorie-III-Planeten, der zwei metabolische Ebenen tiefer liegt als die Normen unserer Heimatwelt. Er schickte den Piloten mit dem Schiff zurück und wollte vermutlich einen Funkruf ausstrahlen, der seine Rückkehr ermöglichen sollte. Du hast ihn sterben sehen?« Ich nickte schweigend. Die Konturen und Farben des Bildes, das ich mir gemacht hatte, waren schärfer und leuchtender geworden. Es ging für diese Männer um einen gewaltig hohen Einsatz. »Hast du einen Gegenstand gesehen, der etwa so groß war…« Usinas schilderte die Kapsel, die ich in der offenen Bauchwunde des Toten gesehen hatte. »Als ich es berührte, verbrannte es zu Asche«, sagte ich. Usinas beherrschte sich mustergültig. Schweigend steckte er
diesen Schlag ein. Er mußte erkennen, daß sein Einsatz umsonst gewesen war. Er besaß weder Vaskane noch dessen Sender, weder die Koordinaten noch die Möglichkeit, den Piloten zurückzurufen und von ihm diese Daten zu erfahren. Ich wußte, wie schwer es war, irgendwo in der Galaxis einen bestimmten Planeten zu finden. »Ist dir Arkon ein Begriff?« fragte ich. Er flüsterte: »Natürlich. Du bist Arkonide. Ich hätte es sehen sollen. Sehen müssen. Das Haar, die Augen. Wie kommst du auf diese Welt?« Ich winkte müde ab und versicherte: »Eine lange Geschichte. Ich werde ihre Fortsetzungen gern in eurem Schiff erzählen. Ich biete einen fairen Tausch: Eine Passage nach Arkon gegen meine Hilfe bei der Suche nach Algot Creosa. Start möglichst bald. Gilt dieser Vorschlag?« »Er ist akzeptabel. Dein Name ist Adlan?« »Genauer: Atlan«, sagte ich. »Aus der Richtung, aus der ich kam, kommen fünfundzwanzig Reiter, Radogyne und ein Wolf. Wir sollten uns zusammentun und auf das Schiff warten, das im Orbit nördlich des Äquators steht.« Usinas wußte jetzt, daß ich über Beobachtungsinstrumente verfügte, die eine solche Feststellung ermöglichten. Er lehnte sich zurück; ich konnte förmlich sehen, wie er überlegte. Zwischen den Männern, die mich mit einer gewissen Scheu betrachteten, kamen leise Gespräche auf. Sie wußten, um welche Einsätze hier gespielt wurde. Hoffentlich nicht nur gespielt, dachte ich. Zwei metabolische Ebenen tiefer, hatte Usinas gesagt. Daher die starke Wärmestrahlung der Körper. Daher konnte Radogyne im eiskalten Wasser eines Tümpels schwimmen, daher erholte sie sich so schnell, obwohl ich ihr den Aktivator nur dreimal fünf Stunden lang auf den Körper gelegt hatte. Usinas stand plötzlich auf, ohne mich anzusehen. Er sagte laut:
»Freunde! Es scheint, als ob unsere Mission im ersten Punkt fehlgeschlagen ist. Im zweiten Punkt scheint sich eine glückliche Wendung abzuzeichnen. Wir haben den Planeten nicht finden können, was das erklärte Ziel unserer Mission war. Aber wenn es stimmt, was d’Arcogne sagt, dann wird uns eine Flotte bei der Suche helfen. Dieser Mann scheint genügend Macht zu besitzen.« Hüte dich, ihnen zu sagen, wer du wirklich bist! flüsterte der Logiksektor. Ich lächelte zustimmend. »Ich schlage folgendes vor: Wir rufen das Schiff ab und landen es im verborgenen. Wir nehmen soviel Menschen mit wie möglich – das sind wir unseren Helfern schuldig. Wir fliegen nach Arkon; Atlan weiß dessen Koordinaten. Von dort aus betreiben wir mit seiner Unterstützung die Suche nach Algot Creosa. Wer mit meinem Plan einverstanden ist, hebt die Hand.« Er hob sie als erster. Vierzehn Hände hoben sich, schließlich streckte auch ich meine Rechte in die Höhe. »Einstimmig«, sagte er. »Du mußt zugeben, daß wir unkonventionell handeln.« Ich erklärte nachdenklich: »Jemand wie ich, der seit langer Zeit auf diesem Planeten leben mußte, hat nicht viele Möglichkeiten. Ich vertraue euch. Und ihr, mit den Schrecken des Krieges konfrontiert, werdet die Not eines Gestrandeten nicht ausnutzen.« »So ist es«, sagte Usinas fest. »Wir sind gezwungen, schnell zu denken und noch schneller zu handeln. Deswegen auch unsere kurze Zeit des Überlegens. Wir starten morgen. Zuerst muß die Fernsteuerung zusammengebaut werden. Ich glaube, deine Truppe kommt!« Er deutete auf das letzte Stück des Weges. Dort lief der Wolf heran, sah mich und raste auf mich zu. Ich schnippte mit den Fingern, drückte das Rohr einer Waffe hinunter und deutete
neben meinem Knie zu Boden. »Er ist harmlos und verteidigt nur mich«, sagte ich. Ich hatte gewonnen. Dann fühlte ich, wie die Knie unter mir nachgaben. Salziges Sekret brannte in meinen Augen. Die Wipfel der Tannen und die Flammen des Feuers drehten sich in einem wirren Tanz, dann streckte ich beide Arme aus und brach zusammen. Meine Odyssee durch die Jahrtausende war zu Ende. Jetzt konnte ich mir eine Ohnmacht leisten… Ich erwachte aus meiner Bewußtlosigkeit. Der Schock hatte mich an dem Punkt getroffen, wo ich ungeschützt und verwundbar war. Eine seelische Achillesferse sozusagen. Geradezu unendliche Ruhe überkam mich. Ich hatte Jahrtausende lang gehofft und gewartet, gezittert und immer wieder resignieren müssen. Langsam schloß ich die Augen und fühlte die beruhigende Nähe Radogynes. Alles war zu schnell, zu plötzlich und zu einfach gegangen. Ich sollte mißtrauisch werden, tat es aber nicht. Ich wollte nicht mißtrauisch sein; ich hatte gewonnen. Morgen würde ich frei sein, morgen würde das Schiff der Fremden mit mir nach Arkon starten. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte meine Odyssee durch die Zeiten ihr Ende gefunden. Ich richtete mich auf, grinste verzerrt und murmelte entschuldigend: »Eine plötzliche Schwäche – das lange Reiten, wißt ihr!« Die Raumfahrer betrachteten mich mit Zurückhaltung und offener Neugierde. Schnell in den Entschlüssen, einsichtig und den Realitäten verhaftet, hatten sie ihren Plan geändert. Trotzdem blieben ihnen viele Punkte rätselhaft; ich würde sie aufklären müssen. Usinas wandte sich an Radogyne und fragte deutlich: »Vaskane ist tot. Was weißt du über Algot Creosa?« Ich sah, wie sie ihren Unwillen überwand, mit einem
Vertreter der Heloten reden zu müssen. Wie hilfesuchend nahm sie meinen Arm und erwiderte trotzig: »Nicht viel. Ich kenne nur die Beschreibung Vaskanes. Ich würde euch die Koordinaten sagen; der Preis, von diesem Planeten wegzukommen, ist hoch genug. Ich weiß die Daten aber nicht. Es tut mir leid.« Sie sah mich an. Plötzlich waren auch für sie viele Rätsel gelöst. »Und du bist natürlich auch ein Raumfahrer, nicht wahr?« »Ja«, sagte ich. »Hast du das nicht ahnen könnten?« »Nein. Ich merkte nur, daß du anders warst… aber was soll das! Die Situation hat sich um hundertachtzig Grad verändert, und wir alle müssen uns damit abfinden.« Bissig meinte einer der Verfolger: »Dafür, daß sie Vaskanes Gefährtin war, ist sie verblüffend klug. Wer hätte dies gedacht.« Ich hob die Hände. »Streitet euch nicht, bitte. Radogyne hat recht: Wir müssen uns mit der veränderten Lage abfinden. Setzt die Fernsteuerung zusammen und holt das Schiff! Was wir brauchen, ist ein guter Landeplatz.« »Ganz in der Nähe, richtig!« Ich ging zu meinem Pferd, zog die Karten aus der Satteltasche und sah mich um. Meine fünfundzwanzig Männer und die Menschen, die jene Raumfahrer begleiteten, hatten Gruppen gebildet und unterhielten sich miteinander. Weinschläuche wurden geöffnet. Die Feuer brannten nieder; würziger Geruch kam von dem Rehbraten am dicken Spieß. Mittag war nicht mehr fern. Ich ging zurück, die Landkarten in der Hand, und als ich sie Usinas gab, riß er überrascht die Augen auf und starrte die farbigen, stereoskopischen Höhenbilder an. Er breitete einen Teil der Karten auf der Oberkante der Mauer aus, betrachtete die Farben und Linien lange und fast ehrfürchtig und sagte dann:
»Wir hätten mehr solche Fotos haben sollen, dann hätten wir uns viel Weg und viele Mühe erspart. Deine Karten?« »Selbst angefertigt.« Ich nickte, zeigte ihm auf einer großformatigen Karte unseren Standort. In unmittelbarer Nähe des ehemaligen Weilers gab es keinen Landeplatz. Wir suchten und entschieden uns für ein Tal, dessen Boden auf dem Bild Brandspuren zeigte, etwa zehn Meilen entfernt. Usinas maß die Abstände, überlegte eine Weile und rief dann über die Schulter: »Hondleyn!« Ein Schwarzgekleideter kam an unsere Seite, sah meine abschätzenden Blicke und sagte: »Unser Raumschiff ist für aerodynamische Landungen gebaut. Wir brauchen zwar keinen langen Landeplatz, aber ein paar hundert…«, er gebrauchte einen fremden Begriff, »… müssen wir haben. Das Schiff muß sanft aufsetzen. Der Start ist leichter, weil wir Antigravaggregate mit manueller Steuerung verwenden können.« »Das ist einzusehen«, sagte ich. »Kann ich euch irgendwie helfen?« »Vorläufig nicht. Wir sollten hinüberreiten und uns verbergen. Die Gegend wimmelt von Soldaten der beiden Heere.« »Einverstanden!« sagte ich, ging zu meinen Männern und versammelte die ältesten und erfahrensten um mich. Ich überlegte, bevor ich zum Sprechen ansetzte. Noch immer befand ich mich im Bann meiner Unruhe. Ich versuchte, das Ergebnis meiner Fragen und Hinweise vorherzusehen, aber ich konnte nichts festlegen. Ich wußte nicht, wie sich Dannhauser und Stadelberger, Zündt und Jörg verhalten würden. Ich begann zögernd zu sprechen. »Morgen, im Laufe des Tages«, sagte ich halblaut, »wird sich auf dem Boden des Tales, das ich euch auf der Karte gezeigt habe, etwas tun. Eine Art riesiger Drache aus Stahl wird aus
dem Himmel herunterschweben. Wir können in dieses… in dieses Himmelsschiff hineinsteigen. Es wird uns wie im Traum in ein fremdes Land bringen, zu Menschen, die eine andere Sprache sprechen. Dort werden wir Abenteuer erleben und als reiche, geehrte Männer sterben. Die fünfzehn Männer, die um mich herumstanden, als ihr kamt, Radogyne und ich werden auf alle Fälle ins Himmelsschiff steigen! Ich frage euch jetzt: Wollt ihr mit uns kommen?« Zündt sagte zögernd: »Das werden wir überdenken müssen. Dort, wohin du willst, gibt es dort auch Krieg? Fliegen – wie dein Falke?« »Kein Krieg!« Ich schüttelte den Kopf. »Geht zu den anderen, auch zu euren neuen Freunden vom anderen Haufen«, sagte ich schließlich. »Sagt ihnen, was ich erzählt habe. Fragt sie, beratet euch mit ihnen. Bis morgen, gegen Mittag, habt ihr Zeit für eure Überlegungen. Dann muß euer Entschluß feststehen. Ihr werdet einschlafen und im fremden Land erwachen.« Usinas hatte zugehört und warf ein: »Für rund fünfzig Mann haben wir Platz, nicht mehr. Die Pferde müssen wir hierlassen.« Er lachte. Ich lachte auch, und ich sah die verwirrten Gesichter. Bei allen auftauchenden Schwierigkeiten hatten sie zuverlässig und sicher gehandelt. Was wir ihnen vorschlugen, überstieg ihr Begriffsvermögen. Sie würden lange dazu brauchen, um anzunehmen oder abzulehnen. Ich ahnte noch nicht einmal, wie sie sich entscheiden würden. Usinas legte mir die Hand auf die Schulter: der Wolf hob wachsam den Kopf. »Schon lange zwischen diesen irrsinnigen Barbaren?« »Schon zu lange«, flüsterte ich. »Ich habe euch seit Monaten gesucht. Ihr habt ständig eure Maske verändert.« »Wir haben alles versucht, um unerkannt Vaskane zu
fangen«, versicherte Usinas. »Wie, schlägst du vor, sollen wir jetzt vorgehen?« Ich hatte die Karte im Kopf. Auch wußte ich, woher die Soldaten kamen und daß sich die baierische Artillerie und große Teile des Heeres auf einer Hügelgruppe nahe Allerheim verschanzten. Aber noch immer kamen Züge der Nachhut durch das Gelände gesprengt, Munitionswagen ebenso wie Trommler, Infanterie und Reiter und der Troß mit Marketenderinnen und Dirnen und erbeutetem Wein. Wir sollten aus dem Bereich dieser politischen Gefahr möglichst schnell verschwinden, denn wenn wir auf die Landung warteten, waren wir in gewisser Weise hilflos, zur Passivität verurteilt. Ich machte einen Vorschlag. »Reiten wir zum Tal, verstecken wir uns dort und schlagen ein kleines Lager auf. Von dort aus könnt ihr das Schiff herunterlenken.« Usinas kniff die Augen zu, nickte und machte eine Geste. »Einverstanden!« sagte er. »Was man tut, soll man schnell tun – einige wenige Dinge ausgenommen.« Ich lachte ihn befreit an. »Ich sehe, daß du ein Mann von kosmischer Erfahrung bist. Ich glaube, wir werden uns gut verstehen.« Er nickte, stemmte die Arme in die Seiten und schrie in den Hof: »Macht euch fertig! Nehmt den angebissenen Braten mit – wir reiten die letzte Strecke in diesem Tal des Jammers.« Langsam leerte sich der Hof. Die Reiter packten ohne sonderliche Eile ihre Ausrüstung zusammen. Die Wachtposten kamen aus dem halbzerstörten Gebälk des Daches. Taschen und Säcke wurden gefüllt, Becher leergetrunken, Proviant verschwand in Tüchern und in Packen. Die Männer scherzten mit den Frauen und stiegen in die Sättel. Inzwischen hatten einige Reiter die Pferde getränkt und ihnen das karge Futter vorgeworfen. Radogyne kam auf mich zu und lehnte sich
gegen den Hals des Hengstes. Ihre Finger spielten mit dem Leder des Zügels. »Es ist alles so verwirrend«, sagte sie leise, als spräche sie mit sich selbst. »Und es geht so schnell, so überhastet… ich brauche Ruhe, um zu überlegen. Ich hatte mich ganz und gar aufgegeben; jetzt ist alles ganz anders.« Ich strich tröstend über ihr kurzes Haar. Ihr Problem war anders, aber nicht weniger groß als meines und das der fünfzehn Heloten. Ich sah, daß sich die beiden Gruppen formiert hatten. Ich deutete auf den Schimmel, schnippte mit den Fingern; Hound griff den Zügel und zerrte das Pferd Radogynes heran. Ich hob sie in den Sattel. »Morgen früh, nach einem Schlaf in meinen Armen«, flüsterte ich, »wird alles ganz anders aussehen.« »Ich hoffe es!« Sie lächelte, als sie in die Zügel griff und das Tier mit Schenkelhilfen und Sporen drehte. Ich griff ans Sattelhorn, stellte meinen Fuß in den Steigbügel und schwang mich auf den Rücken des Hengstes. »Los! Dort entlang! Vorsicht, wir könnten angegriffen werden!« Usinas schwenkte den Wimpel. Der Stern auf dunklem Grund schien plötzlich verheißungsvoll aufzuleuchten. Rund sechzig Mann setzten sich in Bewegung und ritten nach Osten. In drei oder vier Stunden würden wir die Lichtung erreicht haben. Wir ritten, ich setzte mich an die Spitze, denn ich sah den Falken zwischen den Tannenwipfeln, der uns den Weg zeigte. Am frühen Nachmittag erreichten wir den Rand des Tales. Hier hatten vor einem Jahr Brände gewütet, und das Tal beschrieb nach Süden hin einen Bogen. Wir kamen am nördlichen Ende heraus und konnten das andere Ende nicht einsehen. Usinas stellte sich in den Sattel und spähte umher, suchte meinen Blick; ich nickte, als der Fremde nach rechts
deutete. »Dort ist ein kleiner Kessel. Dort lagern wir. Das meiste, das wir haben, lassen wir ohnehin hier… also gebt euch nicht zuviel Mühe!« Schnell wurde ein Lager aufgeschlagen. Ich ritt mit der Hälfte meiner Männer – Radogyne ließ ich im Gespräch mit Usinas zurück – in den Wald und einmal um das gesamte Tal herum. Ein fast unkenntlicher Weg durchschnitt das Tal am südlichen Ende, und wir sahen frische Räder- und Hufspuren, aber wir hatten ein recht gutes Versteck gefunden. Wir riskierten ein Feuer, das nicht auffiel. Als wir wieder zurückkamen und ich aus dem Sattel gleiten wollte, hielt mich Stadelberger am Arm fest. »Herr Adlan d’Arcogne«, sprach er mich leise an. »Die Männer haben gesagt, ich soll mit dir reden. Sie lassen dir sagen, daß du der beste aller Herren bist, mit denen sie je geritten sind.« Sein Gesicht war ernst und verwirrt. Ich sagte ebenso ernst: »Es freut mich, daß du das sagst. Wollen sie mitkommen?« Er schüttelte den Kopf und sah verlegen zu Boden. Dann räusperte er sich und spuckte ins Gras. »Nein. Es sind alte Kriegsleute, selbst Kaspar, unser Jüngster. Sie wollen hierbleiben. Hier kennen sie alles, hier wissen sie sich zu bewegen. Bist du ihnen böse deswegen?« »Ich bin gerührt, aber nicht böse«, sagte ich. »Ich werde euch das Gold geben, das ich habe – es ist eine Menge, für die ihr ein halbes Land kaufen könnt. Wenn ihr hierbleiben wollt, wird euch niemand daran hindern. Ich hoffe, daß wir als Freunde auseinandergehen.« Er räusperte sich abermals und hielt sein Pferd zurück. »Das ist allemal richtig!« sagte er und ließ die Zügel los. Wir lagerten uns um das Feuer, stellten Wachen auf, einige Männer schliefen; der Nachmittag, dessen Sonne unsere Haut
bräunte, verging mit Gesprächen. Alle Teilnehmer an diesem Lager waren anscheinend bester Laune; sogar als die Fremden aus ihrer Kleidung fünfzehn verschiedene Gegenstände hervorzogen und sie zusammensetzten, machten wir noch Scherze. Dann, nach einigen Stunden, kam der große Moment. Der »Drache« wurde gerufen. Während die Männer schliefen, die Wachen mit dem Schlaf kämpften und ihre Waffen umklammerten, setzte sich in einem Dorf unweit des Schlachtfeldes ein schweigender Zug in Bewegung; schwere Wagen. Die Räder waren mit Lumpen aus zerrissenen Beutemänteln umwickelt, desgleichen die Hufe der Zugpferde. Die fünfzig Reiter, die diesen Zug der Kaiserlichen begleitete, waren bis an die Zähne bewaffnet. Der Zug fuhr zwischen den durchlöcherten, zerschossenen Wänden der Häuser hervor, auf die Straße, und auf die Hügel zu, wo die Baiern letzte Hand an ihre Schanzen legten. Dieser Transport im Schutz der Nacht war wichtig: Kanonenkugeln, Schrapnells und viele Fässer Pulver waren auf den Wagen gestapelt, durch Stricke gehalten, mit schwarzen Tüchern verhüllt. Ein einzelner Reiter ritt an der Spitze. Mercy hatte befohlen, daß sie gegen Mittag den Hügel erreichen sollten. Das zwölfte Gespann war kein Wagen, sondern eine leichte Kanone, an der die besten Kanoniere des Heeres arbeiteten. Sie sollte feuern, wenn die Gruppe von Hessen, Schweden oder Franzosen angegriffen wurde. Leise rollte der schwerbeladene Zug durch die Nacht, auf dem Weg mitten durch die Wälder. Mitten in der Nacht, als Radogyne schlief, weckte mich Ricos Stimme. »Atlan! Rico spricht. Ich habe festgestellt, daß sich das Schiff bewegt hat.« »Ich weiß«, sagte ich leise, um niemanden zu wecken. »Ich bin bei den Männern, denen das Schiff gehört.«
Ich benutzte die Geräte des Falken als Relaisstation. Auf mein Geheiß würde Cis enge Kreise um unser Lager ziehen, um uns vor einem Angriff zu warnen. Viele schliefen, obwohl um uns die Geräusche zu hören waren, die eine Schlacht ankündigten. Ich sah die wachsamen Augen des Wolfes, wußte den Falken über uns, hörte den Atem und das Schnarchen der Schlafenden, die leisen Schritte der Wachen. Pferde bewegten sich unruhig, und die Geräusche des Waldes waren vertraut und kaum hörbar. Das Schiff schwebte inzwischen auf die Erde zu, durch die Lufthülle und näherte sich entlang des Funkleitstrahls unserer Lichtung. Wir warteten. Zwei Gruppen hatten sich gebildet – eine Gruppe Menschen, die andere aus Außerirdischen. Das Lager war abgebrochen worden. Ich hatte mein gesamtes Gold, im Bauch Hounds versteckt, ausgeteilt; eine beträchtliche Menge. Das Schiff schwebte von Norden auf das Tal zu. Nach den Berechnungen des Mannes am Funkgerät mußte es eine Höhe von zweitausend Schritten haben und tiefer sinken, etwa dreihundert Meilen pro Stunde schnell. Usinas warf besorgte Blicke um sich, schaute angestrengt zwischen den Wipfeln hindurch, beruhigte seine Männer. Jetzt sahen wir ein, daß es ein Risiko sein konnte, unseren »Drachen« hier landen zu lassen. Indes war es zu spät für eine Änderung der Pläne. Radogyne sagte leise: »Usinas… überall, wo dieses Raumschiff jetzt, mitten am Tag, gesehen wird, entstehen Legenden. Die Menschen starren furchtsam in den Himmel.« Usinas schüttelte sich. Weit vor dem Tal krachte ein Schuß. Das Echo rollte durch den Wald. »Sie werden sagen, ein fliegender Drache…« »… ein schwarzer Drache«, meinte einer der Männer. »Unser Schiff ist schwarz!«
»… ein Drache sei über das Land geflogen und habe die Schlacht bei Allerheim eingeleitet.« Legenden und Gerüchte würden aus einem Raumschiff einen apokalyptischen Drachen werden lassen, mit geiferndem Maul, aus dem Feuer schlug, mit fragen Schwingen und giftigen Krallen. Ein zweiter Schuß. Ich deutete auf das Südende des Tales, unruhig geworden. Hound sah mich an. »Hinunter, und sieh nach!« befahl ich. Mit riesigen Sprüngen raste das Tier davon. Auch Cis begriff, daß dort etwas vorging, das sich nachteilig auf die Landung und das Einschleusen auswirken konnte. Aus einem Kreis wurde eine Gerade, entlang der er durch die Luft dahinschoß. Meine Reiter wurden unruhig. Der dritte Schuß und knallende Peitschen schreckten uns vollends hoch. Der Mann mit dem Funkgerät sagte: »Nur noch einige Zeiteinheiten. Es befindet sich im Landeanflug. Jeden Augenblick muß es hier auftauchen.« Usinas brüllte: »Ich höre die Retrodüsen!« In der Luft war ein hohles Brausen. Als die Düsen schwiegen und das Echo rollte, mischten sich zahlreiche andere Geräusche ein. Dannhauser brüllte: »Ein Kampf! Sie kämpfen am Südende des Tales!« Augenblicklich saßen die Soldaten auf. Auch ich schwang mich in den Sattel des Hengstes, den ich Stadelberger geschenkt hatte. Ich drehte mich zu der Gruppe der Heloten um und sagte: »Wir klären dort die Lage. Vielleicht kommt jemand auf die Idee, ein Geschütz auf den Drachen abzufeuern!« Als wir voranpreschten, wurde ein Geschütz abgefeuert, grelles Wiehern ertönte. Wir lagen über den Hälsen der Pferde. Einmal drehte ich mich um und sah, wie das Schiff über den Bäumen auftauchte und zu einer Gleitlandung
ansetzte. Viele Düsen feuerten: Das Objekt sah einem Drachen nicht unähnlich. Als wir die Mitte des Tales erreicht hatten, war das Raumschiff am oberen Ende angelangt. Und am unteren Ende war ein wütendes Gefecht entbrannt. Zwölf Gespanne fuhren kreuz und quer entlang des Weges. Überall waren Einzelgefechte zwischen Reitern und Fußvolk ausgebrochen. Noch hing der Rauch des Geschützes in der Luft; im Gras wälzten sich blutende Pferde und sterbende Soldaten. Die Baiern verteidigten sich verbissen. »Hie Kaiserliche!« schrie ich, richtete mich im Sattel auf und feuerte aus beiden Waffen. »Freunde!« schrie einer der Gespannführer auf und lenkte, erbarmungslos auf die Pferde einschlagend, den Wagen ins Tal, weg aus der Enge des Weges. Einen schwedischen Reiter, der in die Zügel der Pferde griff, schlug er mit der Peitsche aus dem Sattel. Überall krachten Schüsse. Ich mähte eine Gruppe Schweden mit dem Lähmstrahler nieder. Die Kanone war umgestürzt worden. Meine Männer griffen ohne Erbarmen an. Zwei weitere Gespanne folgten dem Beispiel des ersten und ratterten hinaus in das Tal. »Ein Drache!« schrie jemand. Sekundenlang hörten alle Gefechte auf. Alle starrten zum Himmel, wo das Schiff in Baumwipfelhöhe über dem Boden, am Knick des Tales auftauchte und auf uns zuraste. »Es wird die Gespanne erreichen!« schrie ich. Die Pferde rannten kopfscheu geradeaus. Allgemeines Tohuwabohu entstand. Zwei Gegner flohen nebeneinander in den Wald. Ein hünenhafter Schwede schlug mit dem Kolben seiner Reiterpistole den Falken nieder, der ihm die Wange aufgerissen hatte. Hound biß in die Vorderläufe der Pferde der Schweden, die daraufhin durchgingen. Die Baiern schossen weiter, und weitere Wagen verließen den Weg; Wagen, abgedeckt mit schwarzen Planen. Zu spät! Flieh! schrie der
Extrasinn. Ich riß mein Pferd herum und befahl: »Los! Zurück! Folgt mir!« »Der Drache der Bibel!« wimmerten Stimmen. Das Schiff setzte zum erstenmal auf. Die riesigen Räder federten tief ein. Die Männer flohen zu Fuß und zu Pferde in alle Richtungen. Das Schiff machte einen leichten, eleganten Sprung. Ich rannte mir beinahe den Schädel an einem tiefhängenden Ast ein. Dann feuerten wieder die Bugdüsen. Mein Pferd scheute, als der Donner des Geräusches die Stämme erschütterte. Der Drache setzte zum zweitenmal auf, nur noch zwanzig Schritte vom ersten Gespann entfernt. Die Pferde wurden halb wahnsinnig vor Angst, rissen sich aus den Zugseilen und stürzten den Wagen vorwärts. Die Geschwindigkeit hatte stark abgenommen, unter den langen Tragflächen sah ich die Heloten und Radogyne heranlaufen, ritt im Zickzack zwischen den Bäumen und nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie ein Schwede in vollem Galopp gegen einen bemoosten Stamm krachte und sich das Genick brach. Ein letztesmal, mitten in der Phase, in der das Raumfahrzeug zum Stillstand kam, feuerten die Bugdüsen. Vier Fuhrwerke befanden sich unterhalb des schlanken Rumpfes. Deckung am Boden! schrie unhörbar mein Extrasinn. Ich zügelte den Hengst. Er stieg hoch, und ich sprang aus dem Sattel. Während ich mich herumwarf, schlug ich mit der flachen Hand auf die Kruppe des Tieres. Es rannte in den Wald hinein. Ich warf mich hinter einem Baum in die Nadeln und vergrub den Kopf in den Händen, halb wahnsinnig vor Furcht. Die Flammen der Triebwerke erreichten das Pulver auf dem ersten Wagen. Eine gewaltige Explosion zerfetzte den Wagen und schleuderte die Ladung, Schrapnells und Kugeln, nach allen Seiten. Ein Funkenregen breitete sich aus. Der zweite, dritte Wagen detonierte. Die Tragflächen des Schiffes wurden zersiebt, durchlöchert, abgeknickt. Dann gingen mehrere
Wagen zugleich in die Luft. Ein Inferno aus Flammen, Druckwellen, heißer Luft und Rauch breitete sich aus. Wieder eine Reihe von Detonationen. Knisternd begannen Tannenwipfel zu brennen. Es stank, Rauch flutete durch den Wald, ein Mann, dessen Leib aufgerissen war, taumelte vorbei. Wieder explodierte ein Wagen voller Pulverfässer. Vor mir erschien stechend weiße Helligkeit, die sogar die Haut meiner Lider durchdrang und mich blendete. Alles endete in einem Flammenmeer, in einem gewaltigen Krater, in einer Masse verformten, halbgeschmolzenen Metalls, in Flammen, Brand und Geschrei. Viele waren tot, noch mehr verwundet, einige geflohen, der Rest besinnungslos rings um den Kreis des gewaltigen Brandes. Mein Traum war zu Ende. Die Asche dieses Traumes legte sich wie ein Schleier um meinen Verstand, als ich vor den Flammen floh, den Brand umging und in der Mitte des Tales wieder herauskam. Dort fand mich Radogyne. Wir brauchten drei volle Tage, um aus dem Chaos das herauszusuchen, was uns weiterhalf: Zehn Fremde, Radogyne und ich hatten überlebt, schlichen umher wie geprügelte Hunde. Nur selten sagte einer mehr als ein paar Worte. Wir fingen unsere Pferde ein, betrachteten den Krater, in dem Metall lag. Das Grundwasser trat ein und würde alles zusammenrosten lassen. Die primitive Technik der Barbaren hatte ein Meisterwerk der Technik vernichtet. Wir waren verdammt, auf dieser Welt zu bleiben. Schließlich fanden sich zwanzig Leute, die mit mir nach Süden ritten. Wir überquerten die Alpen, ich holte meinen Gleiter, führte ein Gespräch mit Rico und bedauerte den Verlust des Wolfes und des Falken. Wir brauchten lange, um uns von dem Schrecken zu erholen; wir, die Verdammten dieses schrecklichen Kontinents.
Am 3. August 1645, als wir längst in die Richtung Beauvallons am Nebenflüßchen des Allier ritten, besiegten die Schweden, Hessen und Franzosen die Baiern in einer fast unentschiedenen Schlacht; sie waren zu schwach, die Flüchtenden zu verfolgen. Mercy wurde schwer verletzt, er starb kurz darauf – dieser Feldherr verteidigte zwei Jahre lang den Forêt noir gegen die Franzosen. Unbeobachtet folgte uns der Gleiter, dessen Vorräte von Rico über die Transmitterstrecke ergänzt wurden. Irgendwie war es Radogarth Gem Dyer gelungen, mich aus dem Kirchengestühl zu schleppen; zuerst in den Kreuzgang, an dessen Brunnen ich mich erfrischte, dann zum Gleiter, der außerhalb der Mauern Aigues Mortes’ parkte. Wir schwebten zu unserem mobilen Feriencontainer am Schwemmufer der Rhone. Ich duschte, schüttete ein aufgelöstes Medikament, Kaffee und Calvados in mich hinein und setzte mich auf die Eingangsstufen, erschöpft und in tiefes Nachdenken versunken. Irgendwann öffnete ich die Augen und sah die junge Frau an. »Radogyne«, sagte ich lächelnd. Sie lächelte zurück und korrigierte: »Radogarth. Ich hab’ alles gehört, alles verstanden. Wie fühlst du dich?« »Scheußlich, in der Erinnerung an eine Niederlage«, sagte ich. »Langsam erhole ich mich; mein Schädel dröhnt bei jedem Herzschlag.« In der Nähe quakten Frösche. Vor dem Schilfstreifen vollführten die Grillen ihr allnächtliches Lärmen. Aus dem Inneren des Containers war Musik zu hören: Emilio de’ Cavalieris Rappresentatione di Anima, et di Corpo. Ich sagte leise: »Um sechzehnhundert in Firenze uraufgeführt. Ich habe es etliche Jahre später selbst gehört.« »Die Gegenwart, Atlan, wird deutlicher, wenn man sie mit
Dingen aus der Vergangenheit dekoriert.« Radogarth legte ihren Arm um meine Schultern, streichelte meine Schläfen und flüsterte: »Und die junge Frau? Was geschah mit ihr?« Wieder tauchten vor mir die Katzenaugen mit den Silberstrichen in der Iris auf, der spöttische Mund und das kurze Haar. Ich sagte leise: »Sie starb.« »Warum?« »Sie vertrug auf die Dauer einen Planeten nicht, der zwei metabolische Ebenen unter den gewohnten Umweltbedingungen lag. Sie siechte zuletzt dahin; auch der Zellaktivator konnte ihr nicht mehr helfen, obwohl ich nichts sehnlicher wollte. Die Fremden, diese Heloten, verließen mich nach und nach und starben wohl auch – sie vertrugen trotz aller äußerlicher Ähnlichkeit die Erde nicht.« »Das hast du wahrscheinlich nicht beobachten können und… wollen. Ihr lebtet sicherlich in Beauvallon oder hier am Mittelmeer?« »So war es. So endet die Geschichte von Radogyne.« Langsam wichen die Nebel von meinen Gedanken und die Schwäche aus meinen Muskeln. Radogarth sagte nachdenklich: »Drei Jahre später, glaube ich mich zu erinnern, endete der Dreißigjährige Krieg. Hast du mitgeholfen, ihn zu beenden?« »Nein.« Ich zog mich hoch und stand einigermaßen sicher. »Ich blieb in Beauvallon. 1648 wurde nach vierjährigen Verhandlungen Frieden geschlossen. Mit den Franzosen in Münster, den Schweden in Osnabrück; man nahm den Deutschen im Westen und Norden Gebiete ab, die Fürstenmacht wurde gestärkt, die des Kaisers entscheidend geschwächt. Fast die Hälfte aller Bewohner Deutschlands war gestorben – das Land brauchte lange, um sich zu erholen: ein halbes Jahrhundert lang herrschte überall bitterste Not.« Ich lauschte der Renaissancemusik, dann holte ich tief Luft:
Noch immer zeichneten sich die Landschaften der Erinnerung vor meinem inneren Auge ab. Szenen offenbarten sich voller Formen und Farben, Bewegungen und Worten, Erinnerungen und deren liebenswürdige Schwester, die Hoffnung – sie ließen mich mitunter weit hinein ins Vorgestern pendeln. Aber durch diese Erlebnisse war ich geprägt worden, mit dieser Belastung hatte ich zu leben gelernt, trotz aller blinden Flecken und verschütteten oder gesperrten Erinnerungen. Ich nahm Radogarths Hand und zog sie in den kühlen Wohnraum. Wir schliefen lange in den Camargue-Tag hinein; an diesem Nachmittag belästigte uns nicht einmal Vaskene, der Thanatophobe.
12. Rund zwei Larsaf-III-Jahre lang zog ich mich in den Kältetiefschlaf zurück; noch während des Einschlafens glaubte ich daran, diese Pause könne helfen, meine Gedanken zu ordnen; ich war fast sicher, daß sich die frühe Morgenröte einer neuen Zeit zeigte. Die archaische Komponente dieses barbarischen Planetengeschlechts schien, wenn ich sie auch nicht ganz ausschließen konnte, doch mildere Formen zu zeigen. Allein schon unzählige Bauwerke, Gärten, Fortschritte im kleinen, Musik und Bilder, Plastiken oder Kleidung – bahnte sich der Fortschritt an, den ich so oft zu vermitteln versucht hatte? Waren zwei Jahre Zeit genug, ruhig auf Veränderungen zu warten? Würde sich jener seltsame Besucher wieder zeigen? Oder war er, wie jene »Teufel«, keine wirkliche Bedrohung des Planeten? Warum erteilte uns ES keine Aufträge mehr? Oder wollte ES mich prüfen und beobachtete nur noch? Nur die Wirklichkeit und du mitten darin kann Antworten geben und fordern, sagte der Logiksektor, der ebenso schläfrig war wie ich. Ich hatte mich entschlossen, nach meinem Aufwachen – sicherlich erwarteten mich neue Versionen von Lilith und Synonymus Eins – ganz allein zu prüfen, wie es um Larsaf III stand. Und um mich. Einschlafen, Tiefschlaf und Erwachen waren ebenso Routine wie die schmerzvollen Tage der Reanimation. Nicht, daß mich Paris und Frankreich unwiderstehlich anzogen: Hier trafen aber so viele Strömungen aufeinander und vermischten sich, daß meine brennende Neugierde am schnellsten und gründlichsten befriedigt werden würde.
Die aufgeregten Schreie, das Klirren von Stahl und die Schritte hörte ich, bevor ich meine Schritte beschleunigte und die Treppe aufwärts hastete. Unschuldig plätscherte der Brunnen. In den Kronen der Bäume zwitscherten Vögel. Sonnenlicht brach waagrecht zwischen Stämmen und Ästen hervor. Als ich zwischen Mauern, Häusern und jenseits des breiten Weges den Waldrand von Saint Cloud erreichte, sah ich die Männer kämpfen. Elf gegen einen, wie es schien. Im Jahr der Fronde, 1650, sieben Jahre nach dem Tod des dreizehnten Louis und ein Jahr nach der Flucht des elfjährigen Thronfolgers mit seiner Mutter Anna von Österreich, waren in Paris Duelle an der Tagesordnung. Aber nicht in dieser Ungleichheit. Ich zog meinen Degen, rannte auf den einzelnen, hell gekleideten Chevalier zu und rief: »Ihr braucht sicher keine Hilfe, aber ich halte mich bereit.« Ein guter Spruch war in diesen Tagen ebenso geschätzt wie eine glänzende Parade. Zwischen den jungen Bäumen, auf abgeweidetem Gras und raschelndem Kies sprangen die Männer hin und her und versuchten, den hochgewachsenen Mann umzubringen. Es waren zwölf gewesen; einer saß an den Stamm gelehnt und schien zu verbluten. »Ihr dürft mir beistehen, Monsieur!« rief der Angegriffene mit kräftiger Stimme und focht weiter. Ich sprang an seine Seite, hob, meine zahlreichen Gegner grüßend, den Degen und stellte mich vor, während ich drei Männer in brauner Kleidung und hohen Stiefeln nach links zurücktrieb. »Ihr habt das Vergnügen, gegen Adlon d’Arcoyne zu fechten.« »An der Seite des Savinien Cyrano de Bergerac«, antwortete er ohne innezuhalten. Er schlug die Deckung eines Mannes zur Seite und durchbohrte mit blitzschnellem Stich dessen Schulter. »Fechtmeister, Wissenschaftler, Literat und im Augenblick von den gedungenen Meuchlern der Frondeure umzingelt.«
»Nicht mehr lange, Cyrano!« Während ich versuchte, nicht verwundet zu werden, warf ich hin und wieder einen Blick auf Cyrano. Er focht wie zehn Teufel gleichzeitig, schien völlig immun zu sein, denn während die Kleidung seiner Angreifer zerfetzt und an vielen Stellen blutgetränkt war, blieb er unverletzt. Wieder zog er die Spitze seiner Waffe schräg von einer Schulter bis zur Leber, zerfetzte Stoff und Leder und hinterließ einen zusammenbrechenden Fechter. »Bravo«, sagte ich und führte nach einer komplizierten Riposte einen Oberarmstich aus, der schmerzhaft, aber nicht lebensgefährlich war. »Warum der Aufwand?« »Die Fronde verwechselt die Stimme der Vernunft mit einem tätigen Angriff.« »Ihr habt gegen die Fronde geschrieben?« »Und jetzt fechte ich gegen ihre Kreaturen.« Wieder durchbohrte er geschickt einen Angreifer. Die anderen verdoppelten ihre Anstrengungen. Die Männer, schweißüberströmt und stoppelbärtig, hatten einen Dreiviertelkreis um uns gebildet und behinderten sich im Angriff gegenseitig. Ich durchdrang eine verzweifelte Deckung, schlug mit dem Stilett die Waffe zur Seite und hämmerte dem Angreifer den Griff des Degens an die Schläfe. Er sackte unmittelbar vor mir zu Boden. Ich sprang über ihn hinweg und rief, im Rücken der Männer: »En garde! Hier warten Wunden, Blut und ehrenvoller Tod.« Fluchend und schreiend ließ ein Braungekleideter seine Waffe fallen, hielt sich die Seite und taumelte davon, eine Blutspur hinter sich. Die Sonne verwandelte den dünnen Nebel in treibende, wallende Schleier aus silbernem Licht. Das schulterlange, gewellte Haar Cyranos flog und wirbelte. Schweißtropfen glitzerten in seinem Oberlippenbart. Meist konnte ich die Bewegungen seines Degens nicht verfolgen, so
schnell parierte er und schlug oder stach zu. Wieder setzte ich mit zwei tiefen Stichen in die Unterarme einen Frondeur außer Gefecht. Das Klirren der Waffen mußte weit durch den Park und über die Straßen gehört werden. Jetzt hatten wir nur noch sechs Gegner; sie kämpften schweigend und ermüdeten. Ich trieb zwei von ihnen quer über den Kies, aus dem Kampfkreis hinaus und versuchte, die Reichweite meines Armes auszunutzen. Mit einer klaffenden Halswunde taumelte ein Gegner zur Seite. Ein Schrei von rechts bewies, daß de Bergerac einen Treffer gesetzt hatte. Dann, ganz plötzlich, schien er es leid zu sein. Bisher hatte er mit kühler Überlegung gefochten. Nun verwandelte er sich in einen Rasenden, der an mehreren Stellen gleichzeitig zu sein schien und nacheinander vier Gegner niederstach. »Ich hasse Heuchelei und Ehrlosigkeit«, stellte er fest. Während wir ruhig nebeneinander zur Treppe gingen, merkte ich, daß auch er schwer atmete. Er schien die Dreißig eben erst überschritten zu haben. »Und da ich als Sekretär des Herzogs von Arpajon an Mazarin nichts Schlechteres sehen kann als an Richelieu, meint man, mich beseitigen zu müssen. Ihr habt gesehen, wie’s endete.« »In der Tat«, sagte ich. Er warf das blutbesudelte Tuch elegant über die Schulter. »Dann seid Ihr sicher Mitglied der Acadfimie francaise? Ich muß gestehen, daß ich keines Eurer Werke kenne.« Wir kühlten uns am Brunnen ab. Ich deutete auf ein Haus, das zwar schmalbrüstig, aber aus massivem Stein gebaut war, mehr eine zweistöckige Hütte. »Dort wohne ich. Ein paar Happen zum Frühstück? Ein Gläschen moussierenden Wein?« »Ihr rettetet mein Leben, und Ihr schickt Euch jetzt an, auch den Tag zu retten«, sagte er zustimmend. »Ich muß Euch warnen, Edler d’Arcoyne. Ich bin ein unbequemer Geselle.«
Wir befanden uns außerhalb der Stadt. Ich wohnte hier, wenn ich wollte, ungezwungen und zurückgezogen. Die Literaten standen, das wußte ich, im mächtigen Schatten der Naturwissenschaftler und Philosophen. »Natürlich weiß ich es«, sagte ich. »Aber ich bin nicht weniger seltsam. Und was Eure Überempfindlichkeit angeht, der Nase halber – mit mir werdet Ihr Euch deswegen nicht anlegen. Ich finde sie passabel. Schönheit suche ich bei den Frauen.« Er starrte mich mißtrauisch und herausfordernd an. Dann zuckte er mit den Schultern. »Leider bin ich alles andere als reich«, bekannte er. »Was brachte Euch nach Paris?« »Neugierde. Ich hörte den Klang vieler großer Namen und wollte nachforschen, ob die Gelehrten wirklich so gelehrt sind.« Wir kehrten am Ende des Sträßchens, das langsam zum gewohnten Leben erwachte, bei einem Bäcker ein. Dann sperrte ich die massive Tür auf und öffnete die bodentiefen Fenstertüren zum Wald. Wir rückten den schweren Tisch ins Sonnenlicht und breiteten Gläser, Platten und Essen aus. Unsere Waffengehänge und die Jacken, feucht vom Tau, baumelten an den Messinghaken. Neugierig schaute sich Cyrano um. Ich drückte ihm ein gefülltes Glas in die Finger. »Ihr schreibt, zeichnet, entwerft röhrenförmige Dinge? Seid Ihr Franzose?« »Ich komme, nachdem ich die Verwüstungen eines Krieges gesehen habe, der drei Jahrzehnte dauerte und angeblich vor zwei Jahren endete, aus Allemagne. Meine Eltern herrschen über eine kleine Grafschaft in Äthiopien, wie Ihr das Land nennt.« Wir ließen uns das Essen schmecken. Ich erfuhr, daß Bergerac in der gascognischen Gardecompagnie des Herrn
Carbon de Casteljaloux gedient und dort den Beinamen »Dämon der Tapferkeit« erhalten hatte, daß er mit den Gascognern im Artois und in der Picardie gegen die Habsburger gekämpft hatte und durch einen Musketenschuß und einen Säbelhieb in die Kehle – er zeigte mir stolz die schreckliche Narbe – verwundet worden war. Vor neun Jahren hatte Cyrano den Philosophen Gassendi mit gezogenem Degen dazu gezwungen, ihn in seine erlesene Schülergruppe aufzunehmen. Seit dieser Zeit las, lernte, focht und schrieb er. Cyrano schien ein sprunghaftes aber sehr abwechslungsreiches Leben zu führen. »Und so kommt es«, er beendete seine Ausführungen, »daß ich noch viele tausend Fragen habe und nicht weiß, ob ich je eine Antwort erfahre.« »Einige Antworten kann ich Euch sicherlich geben«, meinte ich. »Wir fangen damit heute abend im Tour d’ Argent an. Bringt zwei junge Damen mit, die wir mit unseren geistvollen Reden beeindrucken.« Seit 1582 speiste der Adel in diesem ältesten Pariser Restaurant; Cyrano versprach, einen Boten zu schicken, damit man uns einen Tisch freihielt. Ich hob das Glas und blinzelte in die Sonne. »Mir scheint. Adlon, Ihr seid ein Mann, der mit sich selbst und der Welt in Frieden lebt.« »Das scheint so«, antwortete ich. »Ich bin nur in Maßen sprunghaft. Darf ich das Manuskript der ›Staaten und Reiche des Mondes‹ lesen? Es mag sein, daß ich dazu etliche Bemerkungen machen kann.« »Ich bring’s heute abend mit.« Wir leerten noch einige Gläser, dann verabschiedete er sich, dankte ein paarmal und sagte, er freue sich auf das Essen und die angenehme Gesellschaft. Mit Cyrano befreundet zu sein, war wie das Jonglieren mit
Giftschlangen. Er war ohne Zweifel einer der liebenswertesten, selbstlosesten und tapfersten Chaoten, die ich je kennengelernt hatte. Alles, was sich bewegte, alles, was gedacht werden konnte, forderte sein brennendes Interesse heraus. Wir redeten nächtelang über das Bild der Welt, die nur ein Planet unter anderen war, um die Sonne kreiste und vom Mond umkreist wurde. Stets dann, wenn er in irgendeiner Bemerkung, Geste oder Antwort eine persönliche Beleidigung witterte – und es genügten Winzigkeiten! –, fuhr seine Hand zum Degen. Solange er mit anderen die Klingen kreuzte, störte mich sein Charakter nicht. Als er mir spätnachts und nicht mehr nüchtern vorwarf, ich hätte den Rüssel eines Elefanten mit seiner Nase verglichen oder umgekehrt, packte ich ihn mit einem Dagorgriff und hob ihn hoch, so daß seine Zehen den Boden nicht mehr erreichten. »Nicht mit mir, Freund Cyrano«, sagte ich drohend. »Wenn Ihr wollt, dann bringe ich Euch zu den Ärzten meines Bruders. In einem halben Mond habt Ihr dann eine Nase, die klassisch ist wie die des Apoll. Ja oder nein?« Diesmal war er es, der vor dem plötzlichen Ausbruch erschrak. Ich ließ ihn in seinen Sessel zurückfallen und deutete auf seine Nase. »Wollt Ihr? Keine Angst, Ihr werdet nichts spüren!« Er blickte mich an wie ein gescholtenes Kind. Dann murmelte er: »Eine neue, operierte Nase, Adlon, verhält sich zum armen Cyrano wie die Erzählung einer Liebesnacht zur wirklichen Nacht der Leidenschaft. Wenn ich nicht mehr… ach, ich weiß es nicht. Ich denke darüber nach. Ihr könnt es wirklich?« Ich mußte lachen, goß Wein nach und breitete die Arme aus. »Ihr schlaft ein, und wenn Ihr aufwacht, ist nicht mehr zu sehen, als eine dünne Narbe, die an der Sonne vergeht.« Du solltest ihn verstehen, schaltete sich der Logiksektor ein.
Für ihn ändert sich das Leben, wenn er seine Nase ändert. Davor hat er Angst. Ich würde auf diesen Gegenstand des Ärgers zurückkommen. In der nächsten Zeit zeigte er mir Paris und die Umgebung. Wenig davon erkannte ich wieder. Die Stadt, in der überall gebaut wurde, stank noch immer, und die Klassenunterschiede waren groß geblieben. Der junge König reiste nach Rouen, beobachtete die Belagerung von Bellegarde, lernte Bordeaux kennen und blieb vorläufig eine Marionette des Kardinals Mazarin, eines Sizilianers namens Mazarini, der etwa so fromm war wie ein Schakal. Wir fochten Duelle aus, versprachen heiratswütigen Mädchen und Frauen das Blaue vom Himmel und versuchten, den besseren Teil der herrschenden Sitten herauszusuchen; wir besuchten Dutzende Theatervorstellungen und hörten Giovanni Battista oder Jean-Baptiste Lully und seine Violons spielen, trieben lockere Scherze und führten abgrundtiefe Gespräche. Mich überraschte Cyrano damit, über »Staaten und Reiche der Sonne« schreiben zu wollen; einen Spiegel, den er der hinfälligen Gesellschaft in der Form einer utopischen Erzählung entgegenhalten wollte, zusammen mit den »Mondreichen« ein Opus von aufsehenerregender Wirkung. Aber er fand keinen Verleger dafür, und wenn ihm jemand den Vorschlag machte, für ihn zu drucken, dann faßte Cyrano das Preisangebot als persönliche Beleidigung auf. Aber Ende August rief mich Rico nach England. Oliver Cromwell stellte seine Eisenseiten zur Schlacht auf. Ich versprach Cyrano, im Herbst nach Paris zurückzukommen. Alles, was rasch verdarb, Lebensmittel und Wein, schenkte ich den Tischlern in der Nachbarschaft. Ich verschloß mein Haus, wechselte meine Kleidung, packte die wenigen wichtigen Habseligkeiten in einen Ledersack und schob, bevor ich den Transmitter nach Carundel Court benutzte, das volle
Weinfaß hindurch. In meinem Haus desaktivierte ich zuerst den Transmitter in Paris, dann verstaute ich meine Ausrüstung, und schließlich rief ich die Bilder ab, die mein Roboter von Nahith Nonfarmale aufgefangen hatte. Nonfarmale war ein Meister der Masken. Aber seine Verkleidung diente dazu, Angst und Schrecken zu verbreiten, wenn ihn die Sterblichen dieser Welt sahen. Am ersten Tag im September Anno Domini 1650, am St.Aegidiustag, zeigte sich das Ungeheuer über dem Land östlich von Edinburgh. Erstaunlicherweise glich der Saurokrator Dürers Federzeichnung von vier apokalyptischen Reitern, die ich hinter Glas aufbewahrte. Nonfarmale sah aus wie ein riesiges Gerippe, das in einer schwarzen Rüstung aus klappernden Teilen steckte, trug einen mächtigen Eisenhut, dessen Visier geschlossen war. Unter der Blende flatterte weißes, langes Haar. Wieder trug er Armbrust und Köcher. Fetzen eines dunklen Gewandes flatterten, als sein Reittier über den Hügeln einen Kreis beschrieb. An den bloßen Fußknochen, die in eisenkorbartigen Steigbügeln steckten, waren die Sporen festgeschnallt. Als ob er vor einigen Stunden aus einem Riesengrab hervorgekrochen war, so verrostet, vermodert, beschmutzt sah er aus. Die Armbrust, deren Schenkel ausgeklappt waren und deren Sehne gespannt war, schwenkte er wie der Tod seine Sense. Ich glaubte ihn hinter dem Eisen grinsen zu sehen, mit rasselnden gelben Zähnen im fleischlosen Kiefer. Sein Flügelroß galoppierte aus derselben Schatzkammer des Grauens. Aus den knochigen Nüstern schossen Feuersäulen und Rauchwolken. Langsam schlugen die Fledermausflügel auf und nieder. Auf dem Körper, der nur aus räudigem Fell, Wunden, Knochen und Sehnen bestand, thronte der Sattel, an
dem ein Henkersschwert, ein Morgenstern und eine Streitaxt angeknüpft waren und dem Tier gegen die Gelenke und die Flanken schlugen. Aus den Wunden tropfte grüner Schleim zu Boden. Nur drei Sekunden lang hatte der Robot die Beobachtung machen können. Dann beendete Nonfarmale seine Umkreisung und verschwand. »Hast du irgendwelche Messungen anstellen können?« fragte ich. »Eine dünne Energiespur. Sie beschrieb eine Gerade und riß ab. Es ist, als verschwände er durch eine unsichtbare Tür.« »Wann genau war das?« »Exakt zu Mittag. Viele Barbaren haben Nonfarmale beobachtet.« Ich zögerte und studierte andere Bildfolgen. Beide Heere sammelten sich. Bis zum Zusammenprall würden vermutlich noch sechsunddreißig Stunden vergehen. »Im Morgengrauen des dritten September bin ich dort und warte auf ihn«, erklärte ich. »Du bist bereit?« »Selbstverständlich. Alle Geräte sind postiert.« »Ich melde mich heute nacht.« Ich beruhigte die Dienerschaft, die sich um mich Sorgen gemacht hatte, ließ meinen Rappen satteln und ritt zu Virginia Hanley. Als ich am Mühlbach vorbeikam, sah ich, daß ein provisorisches neues Bett ausgehoben war. Die Fundamente der alten Mühle lagen trocken im Sonnenlicht. Im Schuppen bauten die Handwerker am neuen, unterschlächtigen Wasserrad. Die Mauern für die Wasserführung und das Wehr wuchsen. Ich winkte scheinbar fröhlich und galoppierte weiter. Während ich durch die ernteheiße Landschaft ritt, überdachte ich analytisch jeden Einzelschritt meines Vorgehens. Die Hecken wichen auseinander, und Virginias Haus wurde
zwischen den sorgsam gestutzten alten Bäumen sichtbar. Solide leuchtete das neue Dach. Fasane, Hühner und Wachteln stoben auseinander, als ich auf den neu gemauerten und getünchten Eingang zuritt und das Pferd zügelte. »Master Adlon ist da!« schrie aufgeregt ein Diener und fing den Zügel auf. An vielen Stellen rund ums Haus wurde gearbeitet. Ein Fuhrwerk voller Ziegel stand da. Ich begrüßte die Herrin des Hauses mit der gebotenen Zurückhaltung vor den Dienstboten. »In Paris habe ich Freunde und ein Häuschen gefunden«, sagte ich mit breitem Lächeln. »Und dorthin lade ich dich ein, wenn die nächsten Tage vorbei sind.« Sie hakte sich bei mir ein, während wir ins Haus gingen. »Du weißt, daß Oliver Cromwell nach Norden gezogen ist? Erzähl mir von Paris!« Meine Erinnerungen waren frisch. Ich berichtete von Mazarins Kampf gegen den Adel, von Cyrano, den Konzerten und dem prächtigen Schmuck und den farbenfrohen Moden. Als schließlich die Rede auf Cromwells Armee und die der Schotten kam, wich die Fröhlichkeit aus unserem Gespräch. Ich blieb bis zum nächsten Mittag, bezahlte einige Handwerker und besichtigte die Fortschritte. Es waren unaufwendige Arbeiten, die den Wert von Virginias Familienbesitz erhalten würden. In der Ruhe von Carundel Court rüstete ich mich aus und überprüfte jedes Gerät mehrmals auf tadellose Funktion. Noch vor dem ersten Morgengrauen befand ich mich zwischen Dunbar und Edinburgh. Ich wartete auf die Schlacht. Stoßweise ging der Atem der Pferde. Im Gebüsch raschelten Igel, und Lerchen verstreuten ihren Gesang über das leere Hochland. Wir ritten weit voraus; der Troß folgte hinter dem
Hügel. Ich hatte bewiesen, daß wir uns schützen konnten. Überdies jubelten meist alle Dörfler, wenn wir vorüberkamen. »Ich glaube, du hast mehr vom englischen Schinken abgebissen, als du kauen kannst. Außerdem liegt er schwer im Magen!« rief ich. Wir ritten prächtige Rapphengste. Unsere Halbrüstungen funkelten in der Sonne und klirrten. An den Sattelhörnern schaukelten die Helme. Das Land war grün und vielversprechend, gesprenkelt von weidenden Schafen. »Es muß immer einen geben, der die Drecksarbeit macht, Adlon«, gab Oliver zurück. Seine Laune schien trotz des irischen Gemetzels gut zu sein. »Und ich bin der Beste für dieses Land, bei Gott.« »Wenn er derselben Meinung ist?« gab ich lachend zu bedenken. »Das Gegenteil ist mir nur von anderer Stelle vorgeworfen worden.« August bis Februar war Oliver mit seinen Truppen über die aufrührerischen Iren hergefallen. Nun herrschte Ruhe im Land der Starrköpfigen. Sein Schwiegersohn Ireton hielt dort das Kommando, und nachdem die Schotten vor wenigen Tagen den Zweiten Charles zum König ausgerufen hatten, zog es ihn nach dem Ruf des Parlaments zurück nach London. »Kampf, Schlachten, Tod und Wunden. Kennst du nichts anderes?« Er wandte mir sein erhitztes Gesicht zu und schüttelte den Kopf. »Ruhe ist erst, wenn jeder im Land in eine Richtung denkt, marschiert, arbeitet und handelt. Nicht jeder soll seine Suppe kochen – alle essen aus einem Kessel.« »Aber dein Napf soll einen goldenen Rand haben, Oliver?« »Zumindest ist er gut geputzt und blitzt!« Oliver Cromwell, April 1599 geboren, Enkel von Sir Henry Cromwell of Hinchinbrook, mütterlicherseits ein echter Stuart,
war ein hochtalentierter und entschlossener Mann. Wenig älter als ein halbes Jahrhundert, schien er angetreten, um aus dem Gewirr der Kräfte auf dem Gewirr der Inseln und Küsten einen Staat zusammenzuhämmern. Ein Mann voller Widersprüche ausgesprochen drastischer, fast gewalttätiger Art; indessen ein Ehrenmann, unbestechlich und, was noch irrealer war, festen Glaubens. Die Pferde gingen in einem kräftesparenden Kantergalopp. Ich musterte Oliver von der Seite. Er wirkte längst nicht so erschöpft, wie er hätte sein müssen; sein puritanischer Glaube gab ihm wohl auch äußere Kraft und Stärke. »Die Stillen, Ruhigen«, sagte er durch das Klirren, Hufgetrappel und Vogelgezwitscher, »bedeuten nicht viel. Aber sie schmücken die Friedhöfe.« »So wie der König?« »Sein Grab ist prunkvoll genug. Vor Gott ist er gleich mit jedem Schafhirten.« »Wie wahr«, sagte ich, »und auch du wirst nicht gleicher werden. Auch ein paar tausend tote Schotten ändern daran nichts, mein Freund.« Er grinste. »Der Moralist von uns beiden bin ich, Sire!« Oliver, mittelgroß und mittelblond, mit hellem Oberlippenbart, breitschultrig und eher gedrungen als schlank, hatte schläfrig wirkende, tiefliegende Augen unbestimmter Farbe. Seine innere und äußere Tatkraft indessen war alles andere als Mittelmaß. Er besaß gutgeformte, kräftige Hände. Sie hielten die Bibel ebenso sicher wie das Schwert oder die Muskete. »Jedenfalls scheinst du im Land derjenige mit der größten Autorität zu sein!« rief ich und zügelte mein Pferd. Vor uns, quer über das Tal, sprang ein Rudel Rotwild. Seitlich davon schnürte ein Fuchs vorbei. Mit ungewöhnlichem Ernst versetzte er. während er die Riemen seines Panzers lockerte:
»Moralische Autorität ist niemals stärker als die Anerkennung, die ihr entgegengebracht wird. Ich finde Anerkennung, mein Freund.« »Stimmt«, gab ich zu. »Nur nicht von allen und jedem.« »Damit rechne ich. Da Gott mit mir ist, wird sich alles richten.« »Wenn ich dir jeden Namen aufzähle, jeden Mann, der genau diesen Spruch gebraucht und trotzdem jämmerlich verloren hat, es würde Stunden dauern.« Er lachte heiser und verstaute seinen Brustpanzer am Sattel. »Regieren ist an und für sich eine einfache Sache«, dozierte er mit breitem Lächeln und klopfte seinem Schlachtroß den Hals. »Nur kann man’s auch unmoralisch, sehr kompliziert, betrügerisch und ohne rechte Ahnung tun. Und das tun leider zu viele. Ich nicht.« »Das Heer deiner Freunde! Ich seh’s wachsen von Tag zu Tag.« »Gott hat alle Macht. Auch die des Schwertes«, meinte er entschlossen. Was immer die Historiker über Oliver Cromwell schreiben würden, ich wußte es anders. Viel besser. Oliver vereinigte in sich viele und widersprüchliche Eigenschaften. Das traf auch für die meisten Barbaren zu, aber diese Gegensätze hatten Format und Stil. Hintergründiger Humor, tiefer Glaube an einen wenig großzügigen Gott – Oliver war Puritaner –, dazu Sinn für Gerechtigkeit und Unbestechlichkeit, Sendungsbewußtsein und starke Überzeugungskraft zeichneten ihn aus. Überdies war er trinkfest, ein hervorragender Krieger, erfahren in allen Waffen, sattelfest und, was niemand zu ahnen schien, außerordentlich leicht für weibliche Schönheit zu entflammen. »Weiter«, sagte ich. »London wartet auf dich.« Er stieß ein Lachen aus. »Nicht ganz London, wie du treffend einschränkst.« »Cromwells Eiserne Seiten«, so wurden seine disziplinierten
Soldaten ehrfürchtig wegen ihrer Panzerung genannt, rasselten in langem Zug hinter uns heran. Wir kitzelten die Hengste mit den Sporen und trabten hügelabwärts. Schottland hatte böse Tage vor sich, wenn Oliver sich anschickte, den Bürgerkrieg endgültig beenden zu wollen. Vor fünf Jahren hatte Oliver als Heerführer der Parlamentspartei die Truppen des Ersten Charles besiegt. Das Parlament, von ihm halbwegs elegant entmachtet, würde ihn gegen die Schotten einsetzen. Wir würden gegen Abend den Stadtrand erreichen. Dort warteten zahlreiche Aufgaben auf Cromwell. Auf mich wartete ein gemütliches, aber leeres Bauernhaus inmitten eines herrlich verwilderten Gartens. Die »gottseligen Ironsides« Oliver Cromwells waren ebenso wie er von ihrer puritanischen Sendung und Glaubensauslegung überzeugt. Da sie richtig motiviert waren, kämpften sie furchtlos und diszipliniert. Das machte sie unbesiegbar; sie starben für Gott und Cromwell. Der Bürgerkrieg hatte die üblichen Gründe: Übergriffe des Adels, Armut der Massen, Ungerechtigkeit und die Unfähigkeit der Regierenden. Vor zwölf Jahren wehrten sich die Schotten gewaltsam gegen die Einführung der anglikanischen Kirche, und der Bürgerkrieg zwischen der Krone und dem Parlament, auch »Kavaliere« und »Kurzgeschorene« genannt, wurde durch einen Aufstand irischer Katholiken noch verlängert und uferte aus. Bei Preston siegte Cromwell über die Schotten, und der König wurde angeklagt und hingerichtet, weil der Erste Charles Schottland unterstützte. Mit der Hinrichtung des Königs beendete Cromwell, wahrscheinlich vorübergehend, die Monarchie. Das geschieht auf dem Planeten alle Monate, sagte der Logiksektor. Und du gibst Ratschläge, wie sie das Getötetwerden vermeiden können.
»Richtig und falsch«, murmelte ich, während die Dienerschaft das Essen vorbereitete und das Kaminfeuer versorgte. Rico hatte mir beim Ausbau des niedrigen, langgestreckten Hauses geholfen. Die puritanische Säuberung des katholischen Irlands war eine einzige Kette von Massakern. Niemand besaß mehr einen Fußbreit eigenen Boden. Der Haß schien das halbe Land überzogen zu haben. Wenn ich aber irgendwo Nahith Nonfarmale fand, dann hier. Ich wartete, ausgerüstet mit neu gebauten Suchgeräten und dem üblichen Zubehör der Tarnung und Maske, darauf, daß sich dieser fünfte apokalyptische Reiter zeigte. Vision oder Wirklichkeit: Bisher war ich erfolglos geblieben. Und nun hatten die Schotten den Zweiten Charles zum König ausgerufen und wollten die Republik, das »Commonwealth«, wieder durch die gottgewollte Monarchie ersetzen. Aus versteckten Lautsprechern klang Musik vom Virgmal, abwechselnd von John Bull und Michael Preatorius. Dave Fletcher näherte sich meinem großen Arbeitstisch, eine Flasche und Gläser auf einem Tablett tragend. »Ihr erwartet Gäste, Master Adlon?« »Wie zumeist, Dave. Zwei reizende Damen und den zukünftigen Lordprotektor.« »Das bedeutet einen langen, heiteren Abend, Sir.« David reichte mir ein Glas Uisge Beatha, das Cromwell in Schottland erbeutet hatte. Ich verwöhnte Oliver hingegen mit Wein von der Loire und der Ardeche. »Wie haltet Ihr es mit dem Essen?« Ich trug bequeme Hauskleidung, hatte das Pferd versorgt, geduscht, und als ich aus dem Fenster sah, näherte sich der Schäfer mit seiner Herde. Ums Haus herum hatte ich alle verrotteten Zäune abreißen und eine einzige Fläche schaffen lassen. Vieles, was sich seinerzeit im Haus zu Cornwall befunden hatte, zählte nun hier zur Einrichtung und
Ausrüstung. »Ein guter Imbiß, so wie ich ihn mag. Die Kammer ist voll, David.« Er beaufsichtigte die Diener. Es war wie immer gewesen, wenn ich mich mit Barbaren zu umgeben hatte. Die Diener und Dienerinnen erfuhren, ohne daß sie es merkten, die Segnungen einer Hypnoschulung, und dann verhielten sie sich wie Menschen: Sie badeten alle zwei Tage, wechselten oft die Kleidung, entwickelten Regeln der Hygiene und verloren, je mehr sie lernten, den stumpfen Sinn, den ihre Umgebung geprägt hatte. Und sie wunderten sich nicht über seltsame Vorgänge rund um meine Person. »Kalt oder warm, Sir?« »Haltet eine Kraftbrühe warm«, empfahl ich. »Und bereitet die Zimmer für die Nacht vor.« »Schon geschehen, Master Adlon.« Ich hob das Glas, musterte den golden-rauchfarbenen Inhalt und wedelte den Wohlgeruch über die gezeichneten und beschrifteten Karten der Inseln. »Ausgezeichnet. Und wie steht es mit dem Geld, Master David?« »Es ist noch genügend da. Und bei dieser Gelegenheit, Sir, ich weiß nicht, wie ich danken soll.« Ich winkte ab. Der Mann, den wir mittellos in London aufgelesen hatten, besaß jetzt ein Haus und eine Menge Grund, der sich zwischen der Pfarre und Adlon Cottage themsewärts erstreckte. Sein sehnlichster Wunsch war, eine Kornmühle zu betreiben. Jetzt gehörte das uralte, massive Gemäuer uns beiden, ihm und mir. »Wenn ich lange genug bleiben sollte, werden wir die feinste Mühle in ganz England haben.« »Aber… Sir, ohne Frau, ohne Arbeiter, da ist noch so viel zu tun, und obwohl Ihr mich besser bezahlt als einen
Goldschmied, woher das Geld nehmen?« »David«, meinte ich tadelnd, »du bist jung und stark. Seit du dich wäschst und rasierst, siehst du aus wie ein Ritter. Stell eine Liste guter Handwerker zusammen und laß sie schätzen, was sie brauchen und was es kosten wird. Dein erster Müllergehilfe sitzt vor dir und trinkt schottisches Lebenswasser.« Völlig verwirrt, aber voller Hoffnungen ging er davon. Überflüssig zu sagen, daß auch er glühender Anhänger der Puritaner war. Ein paar Arbeiter zogen auf der feuchten Nordseite meines Hauses gerade einen tiefen und breiten Graben um die Fundamente. Geld? Daran herrscht bei dir niemals Mangel, bemerkte in puritanischer Säuerlichkeit der Logiksektor. Das traf zu. Ricos Spionsonden kannten große Goldvorräte, und die Maschinen der Kuppel prägten Goldstücke aller Länder und Herrscher und ließen sie sogar künstlich altern. Cromwells Erfolg war aus mindestens zwei Gründen so groß, auch wenn seine Herrschaft eines Tages auf eine Militärdiktatur hinauslaufen würde. Er selbst war integer und überzeugend. Und dem Volk war es nach Pest, Hungersnöten und einer Verwahrlosung unbeschreiblicher Art gleich, wer es regierte. Aber diese Regierung sollte nach Regeln erfolgen, die auch dem einfachen Bauern seine Rechte sicherten. Das versprachen die Puritaner, und in einigen Fällen hielten sie es auch. Der niedere und hohe Adel, der um seine rücksichtslos eingetriebenen Einkünfte fürchtete – er war der wirkliche Gegner. Nun, ich war hier und beriet Freund Oliver. Wenn es nach mir ginge… aber die Barbaren sollten ihre Ordnung selbst schaffen. Ein Philanthrop und Gentleman, knurrte der Extrasinn. Mein Unterschlupf war ungewöhnlich groß und einfach
eingerichtet. Zur Not konnte ich mich tagelang verteidigen, wenn nicht gerade Sturmgeschütze auf die Mauern feuerten. Ich hatte den Besitz dem zynischen Erben eines verarmten Landadeligen abgekauft; deshalb hießen Land und Häuser Carundel Court. Während die Schafe mit sanftem Blöken die große begradigte Fläche kurzfraßen, unterhielt ich mich bei einem guten Glas mit dem Schäfer und erfuhr viele Neuigkeiten aus der Umgebung. Fuhrwerke mit grobem Kies von der Küste rasselten heran, und die Drainage um die Grundmauern des Hauses wuchs in die Länge. Wieder krachte die Rattenfalle und tötete die pesttragenden Wandernager. Ein Helfer kam mit Leiter und Säge und entfernte den morschen Ast des Nußbaums über dem Hausgiebel. Später hörte ich den Bericht meines Roboters und begann zu ahnen, daß sich möglicherweise der »Seelenfresser und Furchtsauger« Nonfarmale in den Wolken über Schottland zeigen mochte, wenn Cromwells Parlamentsheer angriff. Nun war es eine Vision oder die Realität? Der Tag verging in produktiver Ruhe. Die ersten Augusttage zeigten sich mit südfranzösisch gutem Wetter. Die Bauern ernteten auf meinen Feldern das Getreide; mit Werkzeugen, die sie nicht mehr zu schleifen brauchten. Eine Stunde vor der Abenddämmerung näherte sich zwischen den übermannshohen Hecken, die auch die Straße zu meinem Besitz säumten, ein einzelner Reiter. Ich entsicherte meine kleine Pistole und blieb unter dem weit vorspringenden Dach des Eingangs zwischen den Säulen stehen. Der Reiter tauchte hinter der Stallung und der Scheune auf und hob grüßend den Arm. Es war Whitland, ein Unterführer Cromwells. Ich grüßte zurück, und er sprang vor mir aus dem Sattel. »Sir Adlon. Botschaft von Lordstatthalter Cromwell.« Er grinste und schwenkte begeistert seinen Becher. »Er würde
sehr gern Eure Gastfreundschaft malträtieren.« »Damit rechne ich.« Ich bat Whitland ins Haus. »Wollt Ihr auch hierbleiben?« »Danke, Sir. Ich muß zurück. Ich muß den elenden Handwerkern beistehen. Sie kümmern sich um die Geschütze.« Meine Diener versorgten sein Pferd und führten es zum Stall. Whitland kannte mein Haus, und er bemerkte die vielen kleinen Änderungen. Ein Schwarm Fasane flatterte auf und fiel raschelnd ins Gebüsch ein. Aus der Küche drangen Geschirrklappern und Wohlgerüche. Kein Zweifel: Cromwell rüstete sein Heer wieder aus. Die Disziplin seiner Krieger war bis hierher zu spüren. Der junge Mann setzte sich zu mir ans Kaminfeuer, drehte seinen Becher in den Fingern und erklärte, nachdem er Möbel, Bilder, Karten und unverständliche Modelle gebührend lange betrachtet hatte: »Werdet Ihr an Cromwells Seite kämpfen?« »Wohl kaum«, antwortete ich. »Es reicht, daß ich ihn einmal heraushauen mußte. Vielleicht komme ich nach.« »Rechtzeitig zum Sieg?« Wir prosteten einander zu. »Ihr seid sicher, Whitland?« »Ich bin sicher, weil wir alle wissen, wofür wir kämpfen. Worum es ihm und uns geht – Ihr wißt es, denn vieles, was Ihr sagt, wurde zu Sir Cromwells innerster Überzeugung.« »Er wird die Menschen zwingen, aber nicht verändern können«, widersprach ich und füllte unsere Becher neu. Mir war stets unbehaglich, wenn ich an den Katechismus der puritanischen Forderungen dachte. Die Schenken und Pubs, die public rooms, würden nachts und an Sonntagen geschlossen bleiben, die Kirche sollte vom katholischen Ritus gereinigt und die Prasserei, Hurerei und Prunksucht der Würdenträger einem Bibelchristentum und der Askese weichen – ein großartiger Vorsatz, aber eine Forderung, die zu
früh in der Geschichte der Insel erhoben wurde. Diese Ratschläge stammten allerdings nicht von mir. »Abgesehen von unserem Sieg«, entgegnete er, »werden die Dinge lange dauern, und darüber stirbt das eine oder andere halsstarrige Geschlecht aus oder flüchtet nach Frankreich.« »Und kommt als Teil eines Invasionsheers zurück«, brummte ich und dachte an die Schiffe, die ich für Cromwell entworfen und hatte zeichnen lassen. »Könnt Ihr in die Zukunft blicken, Sir?« Der junge Artillerist trank nachdenklich den Becher leer und stand auf. Er streckte sich ächzend und hatte noch zwei Stunden Ritt vor sich. »Kann ich nicht.« Wir wechselten einen langen Händedruck miteinander. »Aber alles wiederholt sich im Gleichmaß. Geht die Sonne unter, wird es dunkel.« Er verzichtete klug darauf, etwas vom inneren und äußeren Licht des wahren Glaubens zu erwidern, und ging sporenklirrend zu seinem Pferd, das in der Zwischenzeit getränkt, gestriegelt und gefüttert worden war. Ich verglich diesen ernsten jungen Mann mit der scheinbaren Unbekümmertheit eines anderen Freundes, Cyrano de Bergerac. und ich war nicht sicher, wer das bessere Los gezogen hatte. Das Extrahirn erklärte prophetisch: Wenn du überlebst, wirst du es in Jahren wissen. Der einstige Landedelmann lehnte sich zurück und betrachtete nachdenklich den Schaum des frischen Bieres. Cromwells Kleidung war gediegen und unaufwendig. Er trug kaum Schmuck und hatte, wie üblich, wenig gegessen und dazu Messer, Löffel und die zweizinkige Gabel gebraucht. Jetzt, gegen Mitternacht, ertönte schwermütige Musik von Frescobaldi und Cavalli. Unsere weiblichen Gäste schienen
nicht im mindesten müde zu sein. »Wollen wir am Fuß dieses Humpens Schlafengehen?« fragte Oliver und schaute mir in die Augen. In Wirklichkeit meinte er Catherine Sheborne, eine schwarzhaarige junge Witwe mit angenehm zurückhaltenden Manieren. »Ich habe die tiefe Ruhe, die kühlen Laken und das heiße Wasser schätzen gelernt. Hier sprudelt es sogar durch feine Löcher in der Decke.« Catherine lächelte in sich gekehrt. Sie hielt es mehr mit dem hellfarbenen Wein der Loire. »Wann reitest du wieder, Oliver?« wollte ich wissen. Er hatte wohl alle Gedanken an sein Heer und das schottische Vorhaben völlig vergessen. »Die Kavalleristen holen mich drei Stunden nach Mittag ab.« »Frühstück um elf«, sagte ich. »Auf der Terrasse. Erlaubt die puritanische Sicht der Welt einen starken Kaffee?« »Sogar mit Zucker und Sahne«, bekannte er. »Die Unmäßigkeit ist das Übel, nicht der Genuß im Kleinen.« »Meiner Seel’. Das hör’ ich gern«, meinte Catherine. Virginia Hanley kicherte anzüglich. Beide Damen schätzten nicht nur die Schäferstunden, sondern sahen in unserer Freundschaft eine bestimmte Garantie; sie gehörten zum verarmten Adel, jenem Teil der Gentry, die selbst Cromwell als »anständig und wahrhaftig« bezeichnete. Der Vater etlicher Töchter und Söhne – ich kannte Richard und den jüngeren Henry – war in Liebesdingen alles andere als ein Puritaner. Er leerte den Becher nicht ganz und reckte sich in die Höhe. »Das Schlimme an deiner Gastfreundschaft, mein wehrhafter Freund, ist der Umstand, daß man darüber alles andere zu vergessen neigt.« »Weniger als das Bestmögliche werde ich dem ungekrönten Herrscher der Insel nicht anbieten. So gut solltest du mich kennen.« Ich tat grimmig.
Er lachte laut und streichelte die bloße Schulter Catherines. Wenn nicht tausend Augen auf ihn gerichtet waren, verhielt er sich wie ein fröhlicher, ehrlicher Gast und Freund. Er heuchelte nicht in meiner Gegenwart. Nicht seit dem Augenblick, als ich zwischen dem herunterkrachenden Kriegsbeil und seinem ungeschützten Kopf hindurchgeritten war und den Iren aus dem Sattel geschossen hatte. »Doch. Ich kenne dich gut. Deswegen bin ich immer hier zu finden, wenn ich einen Rat brauche.« »Morgen bekommst du ihn. Umsonst«, beteuerte ich. »Ihr kennt den Weg, denke ich.« Cromwell hob einen Leuchter vom Tisch, faßte Catherine um die Hüften und verbeugte sich angemessen. »Dank für alles. Morgen, wenn wir ausgeschlafen sind, reden wir über alles.« »Über alles Wichtige«, korrigierte ich. Leise schloß sich die Tür hinter ihnen. Natürlich hatten wir die Hälfte des langen Abends über seine Pläne und Vorstellungen gesprochen und darüber, wie es innerhalb seines Lebens möglich wäre, jedem Menschen in England eine Existenz in Würde und bescheidenem Reichtum zu verschaffen. Mit mir war er einer Meinung, was den Nutzen von Straßen- und Brückenbau betraf, die Einrichtung von Manufakturen, Schiffbau und den Bau und die Ausstattung von Schulen aller Art. Ob er so lange lebte, dies alles durchzusetzen? Virginia stieß einen Seufzer aus und sagte: »Ein tapferer, ehrlicher Mann. Aber er hat halb England gegen sich. Er wird es keine Stunde lang einfach haben.« »Reden wir von uns«, schlug ich vor. »Noch einen Schluck vom Ardeche-Roten?« Virginia nickte. Auch sie hatte eine Weile gebraucht, mit den Überraschungen meines Lebenskreises richtig umgehen zu können. Aber sie waren lernfähig, meine barbarischen Freunde: Kaum hatten sie beispielsweise begriffen, welche
Wohltat Seife, warme Duschen und exotische Duftwässer bedeuteten, mochten sie es nicht mehr lassen. Die Dienerschaft schlief längst im Ostflügel. Ich blies drei Viertel aller Kerzenflammen aus und kam mit den gefüllten Gläsern wieder zum Tisch. »Du bist zufrieden mit den Arbeitern? Der neue Dachstuhl ist dicht und hält kühl?« Die Handwerker, von mir entlohnt, arbeiteten an dem bescheidenen Schlößchen ihrer dezimierten Familie. Virginia strich ihr aschblondes Haar in den Nacken und antwortete: »Ihr beide habt euch gesucht und gefunden. Merkwürdige Männer seid ihr. Großzügig und selbstlos, wobei du, weil offensichtlich reicher als viele, großzügiger bist.« »Was ich dafür bekomme, liebste Freundin«, wich ich aus, »ist reichlich mehr, als ich je in meinen Händen und Truhen halten könnte. Es ist eine Wohltat in diesen Zeiten, mit Frauen wie dir befreundet zu sein.« »Schmeichler, Sir Adlon!« »Ich meine es ernst. Du kannst ein paar Tage bleiben?« »Solange sie am Haus hämmern, malen und umgraben, fällt es mir noch leichter. Wir können hinüberreiten und nachsehen.« »Gern. Morgen oder übermorgen.« Leise klang die Musik aus. Wir leerten in kleinen Schlucken die Gläser und küßten uns. Kerzenflammen flackerten und ertranken im Wachs. Bevor uns die völlige Dunkelheit stolpern ließ, gingen wir eng umschlungen in die Schlafkammer, und dort steckte ich frische Kerzen in den Leuchter, während sich Virginia auszog und den Wonnen einer Dusche hingab. Ich stieß die Türen zur Terrasse auf und ging hinaus in die warme, sternüberstrahlte Augustnacht. Ein Käuzchen schrie im duftenden Stechginster. In den Balken tickten die Holzwürmer. Ein plötzlicher Windstoß, der schnell
wieder verging, ließ die Flammen flackern und zeichnete bedrohliche Schatten auf den hellen Stein. Wahrscheinlich kreiste eine Eule über dem First und verdeckte die Sterne; wäre es Nonfarmale gewesen, hätte ich ein Signal des unermüdlich wachsamen Roboters empfangen. Unsere Haut war noch feucht vom Wasser. Wir streckten uns auf den schneeweißen Laken aus, beobachteten die Kerzenflammen durch den rubinroten Wein der Gläser hindurch und tauschten Zärtlichkeiten aus. »Niemals werde ich die milde, südenglische Landschaft vergessen«, sagte ich; ich wußte, daß Virginia selbst an meinen ironischen Bemerkungen Gefallen fand, »die ich in deinen Armen spüren darf.« Sie beugte sich über mich. Ihr schulterlanges Haar kitzelte meinen Hals und meine Brust. Wieder erlosch eine Flamme. »Du meinst, daß südenglische Leidenschaft erfreulich ist, weil sie niemanden verpflichtet.« Ich lachte leise in die Dunkelheit. »Mich verpflichtet sie dazu, den Menschen treu zu bleiben. Rasende Leidenschaft, scheint mir, erzeugt mehr Feindschaft als Freundschaft.« »Genau das«, Virginia küßte mich hungrig, »sagte Sir Oliver Cromwell auch zu Catherine.« Wir versuchten, die Unterschiede zwischen arkonidischer und südenglischer Leidenschaft herauszufinden, aber wenn es sie gab, waren sie bedeutungslos. Im Morgengrauen träumte ich wieder einmal vom Henker, dessen riesigem Schwert ich in der Maske eines Staatsdieners entkommen war. Es mußte an diesem verfluchten Saurokrator liegen, der selbst meine Träume in eine schauerliche Richtung zwang. Sechs Jahrzehnte lag dieses Erlebnis jetzt zurück. Auch im Frankreich von heute lebte jemand wie ich gefährlich, aber das war ich gewohnt. Henkersschwert! Ich ging auf nackten Zehenspitzen in den Wohnraum zurück und füllte mein Glas
bis zum Rand. Der Krieg drohte. Nonfarmale war unterwegs – ich spürte es. Es wurde höchste Zeit, diesem drachenreitenden Armbrustschützen das Handwerk zu legen. Sollte ich mit Oliver nach Norden reiten? Oder war ich in Paris besser aufgehoben, zusammen mit Virginia, die hypnogeschult die Sprache lernte und die Gedichte und Essays des Savinien Cyrano, de Bergerac genannt, zu verstehen versuchte? Im kühlen Morgenlicht saß ich auf dem Bett, trank und dachte nach, betrachtete den makellosen reifen Körper Virginias und vernahm den Rat des Extrasinns: Entscheide dich rasch, Arkonide! Ratlos, wie ich war, zog ich die schweren Vorhänge zusammen und trank. In der Ferne dröhnte Geschützlärm auf. Dieser verdammte Whitland schoß seine Feldschlangen ein. »Ohne mich, Whitland«, murmelte ich. »Ohne mich, Oliver.« Virginia wachte auf, zog mich am Arm und nahm das halbvolle Glas aus meinen Fingern. Sie trank es leer und murmelte besitzergreifend. Ich saß im Sitz meines kleinen Gleiters und schwebte am Waldrand zwischen Baumwipfeln. Vor mir breitete sich das riesige Panorama der beiden Heere mit Geschützbatterien, Zelten und Troß aus. Wie auf einer riesigen Bühne lag alles vor, unter und über mir. Ich hatte freie Sicht nach überall hin, bis zu den Wolken und zum fernen Horizont. Schräg unter mir, im Wald versteckt, warteten eisengepanzerte Reiter unter Cromwells Fahne. Auch sie hatten mich nicht gesehen; ich sagte ins Mikrophon: »Du hast mich geortet, Rico?« »Spionsonden sind verteilt. Alles wartet. Die FremdenergieFinger aus dem All geisterten vor etlichen Minuten in Planetennähe. Die Wahrscheinlichkeit, daß der Fremde sichtbar wird, ist groß. Deine Spürgeräte, Atlan?« »Aktiviert bis auf den Deflektor.«
Jener Fremde, ob er nun über dem Schauplatz eines voraussichtlichen Gemetzels erschien oder nicht, schien sich an den Emanationen Leidender, Verwundeter und Sterbender zu weiden. Der Extrasinn pflichtete skeptisch bei. Bedeutete ihm der Umstand etwas, daß von schätzungsweise einer halben Milliarde barbarischer Planetarier stets ein bestimmter Prozentsatz in Qualen starb? Kam er aus einer dieser Zonen, deren Existenz ich vermutete, ohne sie beweisen zu können? Paralleluniversum? Gab es exoenergetische Pforten zu zeitversetzten Ebenen in der Milchstraße? Kam er von ES? Ich konnte nur raten, nur zwischen verschiedenen phantastischen Theorien auswählen. »Du brauchst deine Aufmerksamkeit nicht auf mich zu konzentrieren, Rico«, sagte ich tonlos. »Verwende die gesamte passive Energie der drei Satelliten, um möglichst viele Informationen einzuholen. Ich bin hochgerüstet, Meister Ciron!« »Verstanden, Sir Adlon.« Reitergruppen galoppierten über das Schlachtfeld. Fröhlich knatterten die Standarten. Bogenschützen bauten sich hinter den Schanzungen auf. Die wuchtigen Trommeln dröhnten. Schlachtreihen bildeten sich, lösten sich wieder auf und entstanden neu. Trompeten und Hörner riefen. In einem verirrten Band aus Sonnenstrahlen blitzten Rüstungen, blanke Schwerter und die Spitzen der überlangen Lanzen auf. Dann löste sich der erste Schuß aus einer der langrohrigen Feldschlangen. Ein Signal. Geschrei erhob sich auf beiden Seiten der mehrfach gestaffelten Heerhaufen. Noch bildeten die Farben der Uniformen einzelne Blöcke. Aber schon rückten die Gegner vor. Noch mehr Trommeln. Hinter den Hufen der Pferde flogen Brocken aus Grassoden in die Höhe. Von den Hügeln kam eine zweite Salve, und plötzlich war das Feld voller schwarzer Fontänen, greller Flammen, hochgewirbelter
Pulvergase und Krater. Ich löste meinen Blick vom Boden und wartete. Nacheinander feuerten die Geschütze, und zwei Wände aus dunklem Rauch hoben sich unendlich langsam in die Höhe. Blitze zuckten aus ihnen hervor. Geschosse heulten über das sanfte Tal hinweg und schlugen ein, detonierten, zerfetzten Körper. Todesgeschrei von Pferden mischte sich in den Trommelschlag. Reiter schlugen aufeinander ein. Reitergruppen prallten mit klirrender Wucht gegeneinander. Eine regellose Masse breitete sich zwischen den Hauptteilen der Heere aus. Noch mehr Rauch wölkte in die Höhe, als ein Wagen voller Pulverfässer detonierte. Geradeaus. Sechshundert Fuß hoch, schrie der Logiksektor. Aus dem Nichts tauchte Nonfarmale auf. Das Visier war hochgeklappt und zeigte einen gelblichen, pergamenthäutigen Totenschädel. Ein fröhliches Grinsen lag auf dem Gesicht. In sicherer Höhe kreiste Nahith über dem Inferno der Schlacht. Ich schob den Fahrthebel nach vorn und schaltete den Deflektor ein. Der Roboter erklärte: »Du bist nicht mehr zu sehen.« »Verstanden.« Ich schaltete das Abwehrfeld zu. Dann schwebte ich höher, weiter vorwärts, und während der Lärm leiser und die kämpfenden Ameisen noch kleiner wurden, schlug ich denselben Kurs ein wie der Fremde. Ich blieb in gut hundertfünfzig Fuß schräg hinter und über ihm und glich die Geschwindigkeit an. Das erstemal, daß ich ihm wirklich nahe kam. Ich beobachtete meine Geräte, obwohl jeder Impuls aufgezeichnet werden würde. Das gesamte Spektrum aller Detektoren zeigte Nullwert. Das bedeutete, daß sich vor mir keine Energiequelle befand, daß es sich bei ihm um ein wirkliches Lebewesen handelte.
Spitze Keile hinter roten Fahnen rammten sich in vollem Galopp, die Musketen und Pistolen abfeuernd, in die Karrees der Reiter hinter weißen Fahnen mit goldener Stickerei. Schwärme von Pfeilen segelten hierhin und dorthin, fast lautlose Todesboten. Pferde überschlugen sich. Hufe wirbelten, Reiter flogen durch die Luft. Die Speere versanken in Pferdekörpern und bohrten sich durch die Fugen der Rüstungen. Unaufhörlich dröhnten die Kanonen. Die Reihen der Fußsoldaten rückten langsam, aber unbarmherzig vor. Sie erschlugen jeden, der sich auf ihrem unaufhaltsamen Weg vor ihnen befand. Gespanne rasten kopflos durch die Menge. Unaufhörlich und überall erschienen Einschläge und hinterließen Krater, zerfetzte Körper, Flammen und Rauch. Der Fremde griff über die knochige Schulter, zog einen Bolzen aus dem Köcher und legte ihn in die Armbrust ein, stemmte das Ende der Waffe gegen die Hüfte und zielte nach unten. Die Schenkel der Waffe zuckten nach vorn und rissen den Pfeil abwärts. Er hinterließ eine Spur roten Rauches, der anwuchs, sich ausbreitete und in einer engen Kurve nach unten wies. Dort vermischte er sich mit dem hochsteigenden Geschützqualm. Eine Detonation ließ das Totenroß mit den Saurierschwingen und meinen Gleiter schwanken. Waren es vierzigtausend Männer, die dort unten in Einzelkämpfen einander zu töten versuchten? Ich wußte es nicht. Auf meinen Bildschirmen veränderten sich Ziffern. Nadeln hatten ausgeschlagen; als die Detonation einen Teil des Troßlagers buchstäblich zu Splittern und Fleischbrocken zerfetzte, gab es weitere Signale. Erschreckt merkte ich, daß fast eine Stunde vergangen war. Unter mir tobte das wütende Gemetzel. Zahllose Körper bedeckten den aufgewühlten Boden. Blut versickerte zwischen zerbrochenen Waffen. Die Wolken der verbrannten Pulvergase waren von einem Teil des Schlachtfelds auf die Östliche Seite
getrieben worden und machten die Kämpfenden halbblind, brannten im Rachen und in den Nasen. Pferde verendeten qualvoll. Klirren und Geschrei erfüllten den Raum zwischen dem Wald und den Hügelkuppen; noch immer sammelten sich gepanzerte Reiter und griffen an. Musketenfeuer mähte die Fußkämpfer nieder. Es gab zwei deutlich zu unterscheidende Heere – eines kämpfte überlegt, kraftvoll und entschlossen, und die Niederlage des Gegners war abzusehen; aber es rafften sich selbst Schwerverwundete auf und griffen in den Kampf ein. Ich merkte, daß das Knochenpferd seinen Weg änderte; manche Kämpfer hatten Nonfarmale gesehen, niemand achtete auf das seltsame Schauspiel am Himmel. Nonfarmale steuerte auf die träge wallende Wolke zu und schien darin verschwinden zu wollen. Ich kippte einen Schalter. Lange genug hatte ich überlegen können. Ich folgte Nonfarmale und hoffte, daß er wieder unsichtbar werden würde, vor meinen Augen und dem Visier des Geschützes. Die Flugbahn des Reittiers wurde zu einer Geraden. Als die Konturen zu verschwimmen begannen und das apokalyptische Pferd seinen Weg nicht änderte, ahnte ich, daß es vor ihnen wirklich so etwas wie ein Tor gab. Ich drückte den Auslöser. Der Gleiter schüttelte sich, als die Treibladung aufflammte und das Geschoß aus dem Führungsrohr jagte, direkt hinter Nonfarmale her. An der Stelle, an der er verschwunden war, riß der feurige Rauchschweif der Rakete ab. Die Detonation hörte und sah ich nicht mehr, aber wenn er überlebte und die Geschoßspuren analysierte, fand er die Bestandteile eines zeitgenössischen Artilleriegeschosses. Ich drehte ab, setzte die Geschwindigkeit herauf und schwebte in großer Höhe, wieder sichtbar geworden, nach Süden. War es mir gelungen? Ich blieb, was den Tod des Alien betraf, skeptisch zurück.
Staubwirbel, rot wie Blut, tanzten aufglühend im Licht der Sonne. Winselnd und heulend trieb der Sarsar feinen Sand und Staub zu winzigen Dünen zusammen. Vor der Morgensonne erhoben sich die Berge als schwarzgezackte Barriere. Der große Talkessel füllte sich mit Licht. Jede noch so winzige Erhebung warf einen langen und gestochen scharfen Schatten. Wie ein Schiffsbug ragte der Basaltfelsen aus dem schlackebedeckten Boden. Hundert Schritt südlich davon erstreckten sich sandverwehte Ruinenfundamente. Etliche Riesenbäume, rindenlos und wie ausgebleichte Knochen ausgestorbener Tiergiganten, streckten sich gegen den wolkenleeren Himmel, der die Farbe von Stahl angenommen hatte. Im Zentrum der menschenfeindlichen Zone modellierten Licht und Schatten einen Kratertrichter, an dessen Rand sich bronzene Schienen in der Luft krümmten. Der Sand hatte sie hochpoliert wie leuchtendes Gold. Vor Zeiten, die endlos lange zurückzuliegen schienen, war dieser Landstrich bewohnt gewesen. Das Flußbett ließ sich nur noch durch riesige Kiesel erahnen. An einigen Stellen ragten aus Asche und Sand gespenstische Steinplastiken, die noch jetzt, halb zerfressen und ihrer Konturen beraubt, ihre Schönheit ahnen ließen. Die nächtliche Kälte wich, in wenigen Stunden würde die Hitze unerträglich sein. Unerträglich auch für Amiralis Thomerose, die vor dem Zelt stand. Jedesmal stockte ihr Atem, wenn sie diese gespenstische Szenerie betrat. Die junge Frau war in ein lockeres Hemd gekleidet, das ebenso weiß schien wie die Hosen und die wadenhohen Stiefel. Der Stoff reflektierte das Licht und blieb im Innern kühl. Amiralis, schlank und hochgewachsen, trug eine Schirmmütze aus dem gleichen Stoff und eine große, dunkle Brille. Anders war um diese Zeit die Lichtflut nicht zu ertragen. Amiralis winkelte den linken Arm an und berührte eine
Taste eines breiten Armbands. Bei der Bewegung würde ein Beobachter erkannt haben, daß sich Amiralis sehr gerade hielt und daß die harten Muskeln ihre höchst weiblichen Formen nicht verändert hatten. »Ich fange wieder an«, sagte sie halblaut. »Ich kann nicht abschätzen, wann der Sand endlich weit genug abgetragen ist.« Eine wohlmodulierte, überaus herzliche Stimme antwortete ihr. »Heute vor Anbruch der Dunkelheit helfe ich dir. Ich ertrage die Umstände besser.« »Bekannt. Aber ich habe mich bisher gut gehalten, nicht wahr?« »Niemand könnte es besser, Amiralis.« »Schmeichler. Bis abends.« Das Zelt war ein bizarrer Fremdkörper. Kantig, aus speziell isolierendem Stoff, weiß wie der große Wassertank und der winzige Gleiter. Stahltrossen, mittlerweile silbern geschmirgelt von Wind und Sandkörnern, spannten sich schräg zum Boden. Amiralis holte aus einer großen Truhe ein schweres, stabförmiges Gerät und rollte, als sie zur senkrecht abfallenden Vorderseite des Basaltriffs ging, ein dünnes Kabel hinter dem klobigen Mechanismus ab. Dreißig Schritte vor dem schwarzen Felsen richtete sie die trichterförmige Öffnung auf den Sand. Ein Schalter klickte, dann röhrte farblose Energie auf, traf den Sand und löste ihn in breiter Fläche auf. Gleichzeitig verschmolz sie die Oberfläche. Vor dem senkrechten Felsabsturz war auf diese Weise eine rechteckige Grube entstanden. Sie ließ am tiefsten Ende erkennen, daß die Felswand mindestens fünfzehn Schritte hoch gewesen war, als sie über dem Spiegel des aufgestauten Flusses aufragte. Im rissigen Fels sah Amiralis die Reste stählerner Verankerungen und dünngeschabte, konkav geformte Blechfetzen. Langsam und gründlich schuf sie eine Grube, deren Ränder
flach verliefen. In regelmäßigen Abständen dröhnte der schwere Desintegrator auf. Die Gase riß der nächste Windstoß davon, den, mit Sand gemischt, der Sarsar über die Tiefebene peitschte. Mühelos hielt die Frau, deren Alter auf fünfundzwanzig zu schätzen war, das Gerät in der Armbeuge. Als die Sonne den höchsten Stand erreicht hatte, reichte die Basaltwand mehr als zehn Schritte von der kantigen Spitze bis zur verfestigten Sandfläche. »Schluß für den halben Tag«, meinte Amiralis, schleppte den Desintegrator in die Truhe zurück und zog den magnetischen Außenverschluß der Sandschleuse hoch. Tatsächlich befand sich eine dünne rötliche Schicht am Boden und neben den rauhen Nähten der Kammer aus Gewebe. Amiralis verschloß und öffnete die Vorhänge und trat in das kühle Halbdunkel des Zeltes. »Riancor hatte recht«, sagte sie und zog sich langsam aus. »Eine schlimme Gegend und harte Arbeit.« Alles im Innern des Zeltes bestand aus zusammengesetzten Elementen. Seit sie den seltsamen Außerirdischen beobachteten, verzichteten sie weitestmöglich auf stehende Funkkanäle. Sie schaltete den Bandrecorder ein, dessen Musik das Pfeifen des Windes übertönte. Dann duschte sie sparsam, ölte ihren Körper ein und betrachtete sich dabei im Spiegel. Ihr Körper gefiel ihr besser als früher. Ihre Muskeln, Sehnen und Reflexe hatten inzwischen viel lernen müssen. Amiralis setzte die Brille auf und wagte sich für einige Minuten ins Freie. Auf diese Weise, während zahlreicher windstiller Momente, entwickelte sich auf ihrer Haut ein tiefes, gleichmäßiges Braun, das der Farbe ihrer Haare entsprach. Sie trug sie straff an den Kopf gebürstet und im Nacken durch ein federndes Band zusammengehalten. Als der Sarsar wieder Sandschleier aufwirbelte, rannte sie ins Zelt. Während sie ihr Essen zubereitete und sich der Wohltat einer
Klimaanlage erfreute, fiel ihr Blick auf die Vergrößerung eines dreidimensionalen Bildes, das diesen Talkessel bis hinüber zu den Dünen zeigte. Das Bild war knapp eineinhalb Jahrtausende alt. Es zeigte »die Oase«, eine paradiesische Landschaft, die sich auf beiden Seiten eines Flusses ausbreitete. Weiden und Gärten, unzählige Bäume, Menschen und Tiere, Farben und wohltuende Schönheit in jedem Detail. Auf dem Stausee über den Mühlengebäuden und den Rädern schwamm ein altertümliches Schiff mit eingerollten Segeln, wie eine lebendig gewordene Erinnerung an eine Vergangenheit; dennoch grazil und robust zugleich. Das Bild gab in jeder Einzelheit jene Aura von Zufriedenheit, Glück und heiterer Würde wieder, von der Riancor so oft gesprochen hatte. »Und jetzt: entsetzliche, unfruchtbare Unwirtlichkeit«, murmelte sie, schüttelte sich und richtete ihre Gedanken auf das Näherliegende. Sie aß, trank zwei Gläser dunkelroten Wein und streckte sich aus. Während das Gerät gravitätische Musik von Michel-Richard Delalande spielte, las Amiralis einige Kapitelchen in einem kopierten Buch und schlief ein. Drei Stunden später weckte sie der Gong. Sie gab zum tiefschwarzen Kaffee Zucker und pulverisierte Milch, rührte nachdenklich in dem Becher herum und genoß das starke Getränk. Minuten später stand sie, voll ausgerüstet, in der Schleuse und sah sich wieder der trostlosen Kargheit gegenüber. Bevor sie den Desintegrator hervorholte, zog sie aus dem Unterteil der Kiste eine Plattform hervor und kippte einen Schalter. Damit aktivierte sie einen Transmitter, dessen Energiesäulen in der Helligkeit unsichtbar blieben. Minuten später röhrte und dröhnte wieder das Gerät auf, das die Sandmenge vor der Felswand verringerte und eine lange, abwärts führende Rampe hervorbrachte, in die der Wind immer wieder mehlfeinen Sand hinein wehte.
Der Nachmittagshimmel war wie flüssige Bronze, der Sturm hatte sich gelegt. Trockene Hitze tyrannisierte den Talkessel. Nicht einmal Ameisen wagten sich hervor. Hoch über den Bergen kreiste ein Geier. Als die Frau mit dem Körper einer hochtrainierten Dagorkämpferin den Mechanismus absetzte, sprang Riancor von der Transmitterplattform. »Ehrgeiz ist ein schreckliches Wort. Auf deutsch klingt’s besonders bezeichnend. In Versailles sagt man ›Ambition‹«, meinte er lachend. »Dich treibt Langeweile zu Höchstleistungen, teuerste Amiralis?« Goldfarbene und hellbraune Locken umrahmten sein gebräuntes Gesicht. Nur der buschige Gascogner-Schnurrbart paßte nicht zu seinem edlen Ausdruck. Sein Grinsen war eine einzige Unverschämtheit. »Keine Spur«, antwortete sie. »Mich fesselt die Schönheit dieser Landschaft. Je eher wir fertig sind, desto länger kann ich hier ausspannen.« Er faßte sie an den Hüften, hob sie spielerisch hoch und ließ sich von ihr sein sorgfältig gedrehtes Haar zerzausen. Sie lachten einander mit Herzlichkeit an; ein Teil ihrer gemeinsamen Rituale. »Ich habe einen Helfer mitgebracht. Darf er in deiner Dusche schlafen?« fragte er und setzte sie ab. Amiralis warf einen Blick zum Transmitter. Ein heller Kubus schwebte dort, ausgerüstet mit mehr als eineinhalb Dutzend Armen und verwirrenden positronischen Sinnesorganen. »Noch ein wenig zu früh«, entgegnete Amiralis, während er das Gerät aufhob und zum Magazin zurückschleppte. »Ich brauche noch einen Tag für den Sand.« Lautlose Befehle wechselten zwischen Riancor und der Maschine. Riancors grüngoldene Augen ruhten sekundenlang auf ihrem Körper. Sie standen in der Glut des Nachmittags und machten den Eindruck, als schätzten sie einander ab; ein
Vorgang, der eigentlich schon abgeschlossen sein sollte. »Wenn ich dich betrachte«, Riancor lächelte leutselig, »denke ich, daß wir einen langen Weg zu Ende gebracht haben. Fast zu Ende.« »Ich weiß, daß ich als Ullana weniger schön, sehr dumm und recht tolpatschig war.« Sie öffnete die Sandschleuse. »Warum haben wir uns nicht früher getroffen, eher ami?« »Weil es Atlan nicht eher nach dir gelüstete, my dear«, gab der Robot zurück. »Schnell, hinein.« Vorsichtig ließ er sich auf dem Sessel aus Stahlrohr und samtigem Stoff nieder. Die Konstruktion ächzte. »Wie geht es ihm?« »Er schläft und träumt sich dem Augenblick entgegen, an dem er dich zum erstenmal richtig wahrnimmt.« Blitzartig erinnerte sich Ullana-Amiralis an eine Folge von Vorgängen. Sie lag unter seltsamen Maschinen und versuchte, das vermittelte Wissen zu verstehen und zu verarbeiten, und damit sie nicht den Verstand verlor, dachte sie an Wunder. Sie lag in Gerätschaften, die ihren Körper zu verändern schienen, rang und kämpfte gegen Riancor, bis sie hundert Dagorgriffe im Unbewußten kannte und richtig anwandte. Sie nahm Waffen auseinander und setzte sie zusammen, wandte sie an und erzielte von Monat zu Monat mehr Treffer. Sie lernte, in ihrer eigenen Welt zu überleben. Und sie wußte, daß jede Stunde sie bereichert hatte. Sie war Riancors Geschöpf. »Ob er mich dann noch liebt?« fragte sie nachdenklich und wechselte völlig ungerührt ihre Kleidung. Riancor hob seine breiten Schultern. »Das wird man sehen und erleben.« Jetzt trug sie in formvollendeter Eleganz eine weiße, bodenlange Djellaba mit wenigen Goldstickereien. Sie goß ihr Glas halb voll Wein und sah der kleinen Maschine zu, die sich in einem Winkel auf den federnden, samtweichen Boden
abgleiten ließ. »Böse Neuigkeiten von Nonfarmale, diesem merkwürdigen Schinder?« »Nein. Aber ich habe die Geräte fertig, mit deren Hilfe wir ihn besser beobachten können.« »Das wird, glaube ich, meinen Haß auf diese Märchenfigur noch steigern«, erklärte Amiralis. »Unter anderem deswegen, um ihn gezielt bekämpfen zu können, treiben wir Ausgrabungen unserer eigenen archäologischen Hinterlassenschaften«, bestätigte er. »Wieviel Zeit verstreicht, ehe wir damit fertig sind, weiß ich nicht.« Riancor hatte gegenüber dem schlafenden Atlan ein Geheimnis: Amiralis Thornerose. Gegenüber der einstigen Ullana gab es mehr zu verbergen: Atlans Versuch, in den Wirren des europaverwüstenden Krieges, drei Jahre vor dessen Ende, mit einem Raumschiff dem Barbarenplaneten zu entkommen. Dann sein Aufenthalt, den er wieder einmal allein genossen hatte – vor zwei Jahrzehnten. Und Monique, die in Qubbat el Arwah, der Kuppel der Geister, tief und ahnungslos schlief. Er beabsichtigte nicht, etwas zu offenbaren, ohne dazu den Befehl erhalten zu haben. Im Fall der Jägerin dieses drachenreitenden Massenmörders errechnete Rico eine hohe Wahrscheinlichkeit der Nützlichkeit. Deswegen hatte er die Barbarin erzogen, geformt, stärker gemacht in vielen Beziehungen. »Wie könnte ich es dann abschätzen«, gab sie zurück. »Bleibst du in der Nacht hier?« Riancor nickte. Mit dem Zentralcomputer der Kuppel stand er in Raffer-Funkverbindung. Die nächsten zwölf Stunden war seine Anwesenheit hier sinnvoller als einige tausend Meilen weit entfernt und 9357 englische Fuß tief. »Es ist fast unvorstellbar«, Amiralis deutete mit dem Glas
auf das bezaubernde Bild der »Oase«, »daß es einst eine solch schöne Landschaft hier gegeben hat.« Er zählte auf, was er in langen Zeiträumen stichprobenartig herausgefunden hatte. »Die Kontinente bewegen sich gegeneinander. Land bricht auf. Spalten öffnen und schließen sich, und der Fluß ändert wieder einmal seinen Lauf. Kein Wasser, keine Menschen; Ratlosigkeit. Sie flüchteten in andere Gebiete. Den Rest besorgten Hitze, Kälte, Regen, Sturm und Wind. Und mehr als eine halbe Million Tage und Nächte. Auch dein schönes Gesicht wird in vielen Jahren Runzeln tragen – hier verlor die Welt ihr lockiges grünes Haar.« »Du bist so unendlich klug«, lobte ihn Amiralis. »Klüger als Atlan?« Würde sie es nicht besser wissen, hielte sie zwangsläufig dieses Fabelwesen zwischen Mensch und Maschine für einen wirklichen Mann. Trotzdem genoß sie es, mit ihm die Florette ihrer Argumente kreuzen zu können. Mit wem sonst, da Atlan kalt und blaß dalag und aussah wie seine eigene Grabskulptur? »Ich kann schneller rechnen«, gab er zu. »Wer geliebt und verehrt werden will, so wie ich von dir, muß mehr seine Fehler hervorkehren als sein Vorzüge.« Sogar sein Lachen überzeugte. Amiralis nahm einen tiefen Schluck und ließ sich zurückfallen. »Im Ernst.« Sie schaltete den Recorder ab. »Ich schlafe ein Stündchen. Dann esse ich etwas, und wenn du von der Schufterei zurückkommst, unterhalten wir uns bei Kerzenlicht, bis du zurück mußt.« »Einverstanden, zehn Stunden, wenn es keinen Zwischenfall gibt.« »Was sollte in dieser Ödnis schon passieren?« Ohne jede Koketterie entgegnete Riancor: »Ich kenne mehr
als neuntausend Jahre dieser Welt. Der wirksamste Schutz des Planeten wäre die Abschaffung aller Barbaren. Ich sage dir: Alles, was im schlimmsten Alptraum geschieht, wird irgendwann zur traurigen Wahrheit.« Amiralis dachte an die Jahre des Großen Krieges, senkte still den Kopf und flüsterte heiser: »Ja. Du hast recht. Leider. So ist es wohl.« Riancor nahm seinen klobigen Helfer mit, als er während der blendenden Farbspiele des Sonnenuntergangs das Zelt verließ und zu arbeiten begann. Er übermittelte der Maschine den Fugenraster zwischen den Basaltblöcken, hinter denen Atlan und er die LARSAF ZWEI-DREI konserviert hatten. Die Rose war die schönste Blume. Das Leben, das Ullana geführt hatte, ehe sie im Stroh einer windigen Scheune den fremden Reiter mit leidenschaftlicher Verliebtheit überfiel, hatte mit spitzen Dornen nicht nur sie verletzt. Während des langwierigen Vorgangs, der sie befähigte, sich zu verändern, als sie die Sprache der Engländer lernte, wählte sie diesen Namen. Rose als Sinnbild und Hoffnung, Dornen als Erinnerung, Amiralis als Vorsatz. Ob die Blüte verdorrte, die Dornen hornighart zurückblieben – wußte sie’s? Nicht einmal Riancor konnte eine Sekunde weit wirklich die Zukunft berechnen. Sie hörte die Arbeitsgeräusche, seufzte im Halbschlaf und dachte an Atlans leidenschaftliche Zärtlichkeiten und an ihr Bedürfnis danach. Sie wachte auf. Die Innenblenden der transparenten Flächen waren geschlossen. Nur eine Anzahl leuchtender Kontrollfelder und Schalter tauchte den Raum in phantastisches Dämmerlicht. Sie leerte das Glas, zog sich an und befestigte die Magnethalterung einer Waffe an der rechten Hüfte. Dann trat sie hinaus in die Dunkelheit. Riesenhaft und eiskalt leuchtend schwebte der volle Mond
über den fernen Dünen. Tausende klarer Sterne, zwischen ihnen der funkelnde Staub winziger Lichter in Schlieren und Schleiern, bildeten eine Kuppel. Leise und traurig winselte der Nachtwind. Die Stille zwischen dem Donnern der Maschine schien in den Ohren zu zischen. Langsam ging Amiralis zu Riancor und sah, daß er fast den Boden erreicht hatte. »Du weißt natürlich, wann du aufhören mußt«, stellte sie fest. Er zeigte auf den Robot, der undeutlich sichtbar an der Oberkante der Wand schwebte und sirrende Geräusche erzeugte. Funken sprühten in schmalen Kaskaden auf. »Noch genau ein Fuß«, antwortete er. »Wenn du mich nicht jetzt in nächtliche Unterhaltungen verwickelst, bin ich in einer Stunde fertig.« »Dann werde ich die Kerzen anzünden«, versprach sie. »Was bleibt mir morgen zu tun?« »Ich erklär’s dir nachher.« Sie nickten einander zu. Amiralis ging in ihren Fußstapfen zurück und blieb vor dem Zelt stehen. Immer wenn sie sich solchen Eindrücken ungefiltert gegenübersah, verstand sie etwas mehr von Atlans schwer deutbaren Empfindungen. Das glaubte sie jedenfalls. Hin und her gerissen zwischen Pflichtbewußtsein, Ekel, Faszination und Freundschaft, Leidenschaft und Verzweiflung, legte der Einsame der Zeit seinen Weg durch die Welt zurück. Jetzt hatte er ein aufregendes, rätselhaftes Ziel: Nonfarmale. Auch dieser schreckliche Fremdling kannte keinen regelmäßigen Kalender. Zehnmal, sagte Riancor, war er sichtbar aufgetaucht. Nicht in den letzten Jahren, in denen sie wach und allein in der Kuppel gewesen war. »Das Leben in deiner Nähe, Atlan von Arkonstein«, murmelte sie halb verzweifelt, halb in heiterem Fatalismus, »ist herrlich. Aber alles andere als einfach.« Sie trat ins Zelt, aktivierte die Musikwiedergabe und zündete
Kerzen an. Sie hatte ihr Weinglas noch nicht geleert, als Riancor eintrat und verzückt am Weinkrug roch. »Morgen brauchst du nur zu kontrollieren, ob der Kleine die Blöcke zuverlässig heraustrennt und irgendwo im Gelände absetzt.« »Es ist schön, wie lieb du an meinen Tagesablauf denkst«, antwortete sie. »Und nachher? Zurück in die Kuppel und an deine Schirme?« »Aus mindestens einem Grund, der uns alle betrifft.« »Beauvallon? Le Sagittaire?« »Richtig. Mit großer Wahrscheinlichkeit drohen dem Tal drei Gefahren.« »Welche?« Sie richtete sich auf und wußte, daß Riancor keinen Grund zu weiteren Scherzen sah. »Die bekannten marodierenden Haufen. Es droht eine Mißernte, also eine Hungersnot, ernsthafter Ärger mit Steuereintreibern. Der König fängt einen neuen Kriegsgang an, und das Land ächzt unter der Belastung. Es ist denkbar, daß ich allein nichts tun kann.« Er fügte eine abschwächende Geste hinzu. »Nein, auch nicht mit deiner Hilfe. Wir beide sind nicht gerissen genug, um Colberts Beamte zu belügen. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering, und ich beobachte nicht nur diese Entwicklung mit Sorge.« Sie verstand. »Wenn der Drachenreiter von der Insel Sarpedon im Meer von Karkar sich zeigt, rufst du mich?« »Das habe ich versprochen!« sagte Riancor und zwirbelte die Enden seines Bartes. Atlan, der Meister der Masken! Amiralis war sicher, daß sie nur einen Teil seiner vielschichtigen Persönlichkeit kennengelernt hatte. Während sie versuchte, die Tätigkeit des Roboters exakt zu beobachten, fragte sie sich, ob es sie glücklicher machen würde, jedes Geheimnis Atlans zu kennen; vermutlich sollte sie es gar nicht versuchen.
Die Maschine trennte mit funkensprühendem Energiestrahl die unsichtbaren Fugen zwischen den Basaltblöcken auf. Dann zog sie den gelockerten Stein hervor, packte ihn mit den Greifern und schwebte schräg abwärts. Die schweren schwarzen Ziegeln fielen in den aufstiebenden Sand und bildeten einen unordentlichen Haufen. Etwa ein Drittel der senkrechten Fläche war abgetragen. Die Maschine arbeitete zuverlässig; eigentlich war es nicht nötig, sie zu kontrollieren. Amiralis ging ein Dutzend Schritte nach rechts und blickte durch die dunklen Gläser nach Westen. Sie zwinkerte überrascht. Sämtliche Dinge in der Nähe hatten unscharfe, flirrende Ränder. Die Umrisse des Zeltes, die Spanntaue und die Bäume, die Felsen und die versunkenen Statuen – ihre Konturen wurden unscharf von den ineinander überfließenden Farben des Regenbogens nachgezeichnet. Im Westen teilte eine graubraune Wand den Himmel. Amiralis deutete die Zeichen richtig, drückte den Sprechknopf und sagte: »Riancor! Ein Sandsturm ist in spätestens zwei Stunden hier. Abu serir, der Vater aller Stürme. Unser Projekt – kann es gefährdet werden?« Augenblicklich antwortete er: »Warte fünfzehn Sekunden, mia cara.« Er befragte seine zahlreichen Spionsonden und Beobachtungsgeräte, dann sagte er in unüberhörbarer Schärfe: »Aktiviere den Transmitter! Ich komme.« Amiralis empfand keine Furcht. Noch nicht. Aber das ausgelaugte und vernarbte Land hatte ihr gezeigt, wozu ein Sturm fähig war. Sie rannte zum Magazin, zog die Plattform heraus und schaltete das Gerät ein. Sie dachte kurz nach und aktivierte das Steuergerät der kleinen Maschine. Langsam, um den Transponder nicht zu überfordern, befahl sie: »Aufhören! Nimm jeweils vier Objekte und schleppe sie zu mir.« Das Gerät summte gehorsam. Sie lief zum ersten der sieben
Befestigungspunkte der Spannseile. Der Robot schwebte heran, und sie deutete auf die betreffenden Stellen. Im Lauf der nächsten Minuten stapelte die Maschine je vier Basaltquader über die Stahlschiene, die Riancor tief in den Boden gerammt hatte. Die Mauer hochgewirbelten Sandes bedeckte die Hälfte des Himmels und näherte sich der Sonne, deren Licht einen Höhepunkt stechender Grelle erreicht hatte. »Hier bin ich!« rief Riancor. »Es sieht schlimm aus. Ich sehe… völlig richtig, was du versuchst.« Riancor schaute sich um. Das seltsame Leuchten war verschwunden. Es gab nicht das kleinste Lüftchen. Stille lastete über dem Talkessel; die wenigen Geräusche klangen übertrieben laut. Die Maschine hörte nicht auf, Quader zu stapeln. Amiralis zeigte zum Magazin. »Der Transmitter?« Riancor drehte sich herum. Die Energiesäulen lösten sich knallend auf. Die Plattform fuhr ins Magazin zurück, und der Robot setzte einen der letzten Quader ab. »Erledigt. Wir warten im Zelt«, erklärte Riancor. »Damit habe ich um diese Jahreszeit nicht rechnen können.« »Und ich kenne einen solchen Sturm nur aus deinen Erzählungen und aus Aufzeichnungen«, sagte Amiralis schaudernd. Die Wolke begann die Sonne zu verdunkeln. Trotz der unbewegten Luft und der kochenden Hitze war es, als breite sich eisige Kälte aus. Riancor wechselte mit der Maschine unhörbare Befehle und nahm Amiralis mit einem harten Griff am Oberarm mit. »In Deckung!« drängte er. Sie verschwanden im Zelt. In einem engen Bogen kurvte der kleine Robot heran und folgte ihnen. Riancor kam mit einigen Ausrüstungsteilen zurück und verschloß die Öffnungen der Klimaanlage und die transparenten Flächen der Zeltwände. Er schien sicher zu sein, daß das Spezialgewebe dem Sturm widerstehen konnte. Sorgfältig klebte er ein breites Band über den feinen Spalt der
inneren Schleusenklappe. »Deine Gegenwart beruhigt mich mehr, als du ahnst«, versicherte Amiralis. »Im Freien gibt es keine Chance, nicht wahr?« »Für große Tiere und Menschen – kaum. Sie ersticken.« »Wie lange kann der Sturm dauern?« »Meist nur eine halbe Stunde. Er zieht vorbei. Ich weiß aber von Stürmen, die drei Tage dauerten und länger.« Sie warteten schweigend. Die Öffnung im Felsen war auf der östlichen Seite. Was Sturm und Sand wirklich anrichten konnten, ahnte nicht einmal Amiralis. Auf den ersten Windstoß wartend, starrten sie einander an. Amiralis hielt die Spannung nicht mehr aus und betätigte die Hebel und Verschlüsse der Mokkamaschine. Sie erinnerte sich, daß Atlan sie selbst konstruiert hatte. Dieses aufmunternde Getränk war vor kurzer Zeit erst entdeckt worden. Als sie ihre Unruhe wieder unter Kontrolle hatte, griff der Sturm an. Kreischen, Heulen und grelles Pfeifen drangen durch das Gewebe. Dach und Wände bebten, beulten sich nach innen und außen, flatterten und knatterten. Schlagartig beherrschten die Geräusche und die Bewegungen diesen winzigen Ausschnitt der Welt. Bis zu einem gewissen Grad waren die Folienschichten lichtdurchlässig. Jetzt herrschte wieder nächtliches Dunkel. Die Spannseile aus geflochtenem Arkonstahl vibrierten wie die Saiten eines Spinetts. Metallisches Zirpen unterbrach das Geheul des Sturmes. Aber das Zelt widerstand dem Andruck und dem Sog. Aus dem Flattern wurde ein stetiger Druck, der sich gegen die westliche Front stemmte. Ungeheure Massen von feinem und grobem Sand, über tausend Meilen herangeschleppt, wurden als riesige Walze über das Land transportiert. Amiralis schien etwas zu sagen, aber selbst Riancor konnte nur erkennen, daß sie die Lippen bewegte. Qualvoll langsam
verstrich die Zeit. Die vielfältigen Geräusche waren einem einzigen auf- und abschwellenden Dröhnen gewichen. Eine unversöhnliche Natur tobte, schleppte die Sandmassen über die Berge, über Klüfte, Salzseen und vulkanische Reste und schleuderte sie über den Steilhängen des Westufers ins Rote Meer. Sand, ausgetrocknetes Erdreich, zermahlene Splitter modernder Bäume, kleine Tiere und Nadeln, Blätter, Ameisen, Schlamm aus verdunsteten Tümpeln und einige Dutzend anderer Bestandteile dieser gigantischen Sandwalze dröhnten über die Dünen hinweg, über das wüste Land, und wurden an der Vorderflanke der Berge in die Höhe gerissen. »… nachzulassen. Es wird leiser, denke ich«, verstand Riancor endlich. Siebenunddreißig Minuten waren verstrichen. Die konvexe Ausbeulung der Westwand bewegte sich lautlos um einen Fingerbreit zurück. »Das Schlimmste ist vorbei«, stellte Riancor fest. »Vielleicht müssen wir uns einen Weg freischaufeln.« »Ich stelle mir vor, wie eine Karawane von einem solchen Sturm erfaßt wird«, sagte Amiralis. Sie schüttelte sich, und damit schüttelte sie auch den Rest Beklemmung ab. Noch vor Jahren wäre sie vor Furcht gestorben, sagte sie sich. »Auch das haben Atlan und ich überlebt, wenn auch reichlich zerzaust.« Riancor lächelte. Das Dröhnen hatte aufgehört. Es existierten nur noch die gewohnten Windgeräusche. »Lügner!« »Die ausgesuchte Sorgfalt, mit der ich Frauen anlüge, ist ein Kompliment für diese Frauen«, antwortete Riancor, stand aus dem ächzenden Sessel auf und entfernte den Dichtungsstreifen. Im Zelt war es heiß geworden, und die Luft war verbraucht. Vorsichtig öffnete er den Saum und sah sich drei Handbreit hoch Staub in der Schleuse gegenüber. »Warte bitte!« Er schloß die Innenfolie, ging hinaus und
lachte, als er verarbeitet hatte, was er sah. »Komm heraus! Das hast du nicht erwartet.« Sie bewunderten die Veränderungen. Der Sturm hatte mehr Sand mit sich gerissen, als er abgeladen hatte. Die ausgedörrten Bäume, denen etliche Äste fehlten, schienen gewachsen zu sein. Hinter dem Zelt, dem Magazin und dem Basaltfelsen waren unterschiedlich hohe und lange Dünen gewachsen, deren Spitze nach Osten auslief. An allen sichtbaren Stellen hatte der Sturm den Staub weggerissen. »Das war’s«, bemerkte Riancor. »An die Arbeit, meine Teure.« Der Robot verließ das Zelt und fuhr emsig mit seiner programmierten Arbeit fort, als sei nichts geschehen. Nach wenigen Minuten, in denen der Desintegrator dröhnte, war das Magazin frei zugänglich, und der Transmitter brachte Riancor zurück in die Unterseekuppel. Am nächsten Morgen lag die Höhle im Fels offen vor Amiralis. Die Blöcke bildeten in der Senke eine breite Bahn bis zum Niveau des Bodens. Ein Ding, das entfernt einem Flugdrachen glich, undeutlich unter einer Schicht Staub und Sand, verschnürt und verpackt, richtete eine stumpfe Nase auf Amiralis. »Entferne den Staub und sämtliches weiches Verpackungsmaterial! Wenn du fertig bist, gib ein lautes Signal!« befahl Amiralis und ging zurück ins Zelt. Sie sprach mit Riancor, duschte und schlief zufrieden und tief. Am nächsten Morgen sah sie das »Raumschiff« deutlich. Es glich einem Adler mit gestutzten und gebrochenen Schwingen, sagte sie sich. Riancor kam so oft wie möglich. Er nahm die zugelötete Bronzekiste in die Kuppel mit, in der sich zahllose Schrauben, Muttern und Verbindungen im Fettbad befanden, wie er
ausführte. Schwebende Roboter und Amiralis lösten die Binden voll verharztem Fett vorsichtig von den mechanischen Gelenken. Ein demontiertes Teil nach dem anderen ging durch den Transmitter und landete in einer der Hallen, wo sich andere Maschinen darüber hermachten. »Meine Vorstellungen von ›Raumschiff‹ waren ganz anders«, gestand Amiralis. In den kurzen Pausen hatte ihr Körper eine lückenlose Bräune entwickelt. Sie wirkte trotz der ungewohnten Art der Arbeit überlegen und entsprach völlig ihrem eigenen Schönheitsideal. »Mithin sehen wirkliche, große Schiffe auch anders aus«, erklärte Riancor. »Immerhin ist es ein Einmann-Schiff für mittlere Entfernungen. Zuletzt hat es noch funktioniert. Wenn ich an unsere Oasen-Bewohner und ihre Gesichter denke…« Er kicherte. Sie zerlegten die Flügel, ließen die Segmente des Rumpfes und des Höhenruders zum Transmitter schleppen, und eines Tages war die Höhle bis auf Abfälle leer. »Irgendwann muß alles außerhalb der Kuppel wieder zusammengeschraubt werden«, brummte er, während sie zum Zelt gingen und ihnen die kleinen Maschinen schwebend folgten. »Dann gibt’s neue Schwierigkeiten.« »Der Abbau unserer Anlagen ist nicht unsere Sache. Pack deinen persönlichen Kram zusammen und komm nach! Ich denke, wir wecken deinen weißhaarigen Geliebten auf.« »Mit Vergnügen!« Jetzt kicherte sie. Zwei Falttaschen reichten. Amiralis schob die Packen durch den Transmitter, schüttete den letzten Wein ins Glas und stellte den Krug auf die Plattform. Sie drehte sich um und ließ einen letzten Blick über die leblose Szene gehen. »Ein Mittel gegen Geburt und Tod ist, wenn die Zeit dazwischen genutzt wird«, murmelte sie im Selbstgespräch. »Ich habe sechsundzwanzig Tage gut genutzt.«
Sie nahm einen tiefen Schluck des edlen Ardeche-Weines, drehte sich um und ging, das Glas in der Hand, durch den Transmitter. Hinter ihr fingen die Maschinen mit dem Abbau der Station an. Mein Aufenthalt endete, wie er begonnen hatte: Ich bemühte mich, möglichst viele Stunden auf der Planetenoberfläche zu verbringen, die es wert waren, sich daran beim Aufwachen zu erinnern: Sonne, gute Gespräche und lange Ritte, leidenschaftliche Nächte, Weine und die Flüge und Reisen zu Bauwerken, Bildern, musikalischen Genüssen und einige Versuche, wichtige Spuren von Frauen und Männern wiederzufinden, die ich gekannt hatte – so wie Marlowe. Shakespeare, Martin Luther oder jene bildenden Künstler, denen ich beim Malen hatte zusehen dürfen. Aber nach langweiliger Zeit im idyllischen Beauvallon am Allier-Nebenflüßchen verwischte ich Anno Domini 1652 meine Spuren, rief Rico und fragte, ob mein kaltes Schlaflager bereit sei; Ciron de Beauvallon schien sich aller anderen Namen zu erinnern, die er in all den Jahren gebraucht hatte. »Alles ist bereit, Atlan: dein Sessel, die Musik, Kerzen und Wein. Solltest du Uisge Beatha oder jenes Gebräu aus Holzäpfeln brauchen, so finden sich angemessene Vorräte allhier.« »Allhier?« sagte ich stirnrunzelnd. »Hast du zuviel an diesen Tropfen gerochen?« »Ein wenig.« Er wirkte schuldbewußt. »Wiederhole: Du kannst kommen. Wir warten auf dich.« »Wir? Wer?« »Die rothaarige Monique und ich, Kapitän der Jahrzehnte«, antwortete der Roboter und führte die Schaltungen aus. La Sagittaire sank in einstweilige Verlassenheit zurück. Ich, der Einsame der Zeit, betrat wieder meine kalte Heimat. Der lange Schlaf konnte beginnen.
Zeiger und Symbole krochen über die acht Zifferblätter der kostbaren Planetenuhr. Das Läutwerk klingelte silbern. Für mich, den »Meister der Masken«, begann Anno Domini 1670. Ich kam zu mir, und in den Phasen, in denen mein Verstand zu leiden drohte, überschwemmten mich die Wiederholungen meiner letzten Wahrnehmungen: das Desaster von 1645, als das fremde Raumschiff detonierte, an Radogyne, an Frankreich und England, an meine restaurierten Besitztümer in Carundel. An Freundschaften mit Männern, die in der Lage waren, besser zu fechten und zu trinken als ich und von denen Teile der Barbarenwelt geformt wurden. Inzwischen war ich in der Lage, mich ohne Ricos Hilfe zu bewegen. Ich sah, während einige Bilder der Rundumprojektoren verblaßten, seine robotischen Schöpfungen Synonymus Eins und Lilith, die Geräusche sanken zu bedeutungslosem Hintergrundrauschen zurück, der Zellschwingungsaktivator schickte aufbauende, wärmende Wellen durch meinen Körper. Meine Muskeln schmerzten von den letzten Serien der Massagen. Ich glaubte, allein aufgewacht zu sein, meine Erinnerungen blieben verschwommen. Rico kam in mein Blickfeld. Er sah fast ebenso abstoßend männlich aus wie Synonymus und so schön wie Lilith, auf andere Weise. »Warum hast du mich geweckt?« »Es war notwendig. Beauvallon ist in Gefahr. Die Satelliten haben energetische Seltsamkeiten angemessen; ich deute sie als Überschneidungen zwischen Daseinsebenen. ES scheint aktiv zu werden. Ich kann dieses Problem nicht allein lösen. Aber du brauchst noch Zeit, bis du entscheidungs- und handlungsfähig bist.« »Weiß ich selbst«, krächzte ich. »Also weiter mit deinem schrecklichen Programm.«
»Es gibt keine Alternative.« Ich schloß die Augen, überließ mich den Subrobotern und schlief übergangslos ein. Als ich in der Lage war, die Bilder eines trostlosen Frühlings um das versteckte Ardechetal richtig zu deuten, sah ich ein, daß Rico mich zu Recht geweckt hatte. Die Beauvalloner hungerten, ein junger französischer König, Louis-Dieudonne, bereitete Kriegszüge vor und zog erbarmungslos Steuern ein, verfolgte erneut die Hugenotten und hatte sich mit England gegen die Niederlande verbündet. Rico bereitete das erste Essen nach Absetzen der flüssigen und intravenösen Aufbaunahrung vor; ich besaß wieder die Herrschaft über meinen Körper. Jemand berührte meinen Arm. Ich drehte mich herum, während die Schirme und Lautsprecher sich abschalteten. Ullana stand da, nahm meine Hand und sagte: »Ich bin der zweite Gast, für den Riancor gekocht hat, Atlan von Arkonstein.« Ich starrte sie fassungslos an. Ullana! Aber wie hatte sie sich verändert! Kopfschüttelnd sah ich, während ich mich an die langen Nächte des Kriegswinters erinnerte, daß sie gewachsen zu sein schien, zugleich schlanker und fraulicher aussah und eine unbekannte Selbstsicherheit ausstrahlte. Der Extrasinn meldete sich: Die Veränderung, die du feststellst, geht viel tiefer, als du ahnst, Arkonide! »Ullana!« Ich zog sie behutsam an mich. »Ich habe Schwierigkeiten, dich wiederzuerkennen.« Auch ihre Stimme war geschult worden, ebenso wie ihr Sprachrhythmus. Sie erwiderte mit einem strahlenden, altvertrauten Lächeln: »Nicht mehr Ullana, Geliebter. Amiralis Thornerose! Was mich so verändert hat, waren einige Jahre Dagorschulung und zahllose Memobänder der Hypnoschulung. Riancor hat dafür gesorgt. Inzwischen kann
ich ihn in einigen Disziplinen besiegen.« Rico-Riancor ließ die Tür zu meinen privaten Räumen wieder aufgleiten. Die Kerzen brannten. »Es sind nur wenige Disziplinen. Kochen gehört dazu«, sagte er verbindlich. Ich schwankte zwischen ungläubiger Belustigung und dem Erschrecken vor den Konsequenzen. »Außerdem waren wir in der ehemaligen ›Oase‹ und haben die gute, alte LARSAF ausgegraben. Die Teile werden hier überholt und durchgescheckt.« Ich blickte in ihre wunderschönen blauen Augen. Sie waren unverändert und liebevoll. »Und welchen Grund hat diese aufwendige Überraschung, Thornerose?« »Nonfarmale starb nicht durch dein Explosivgeschoß. Du brauchst, um ihn zu bekämpfen, kein Hausmütterchen. Aber mit einer hochtrainierten Dagorkämpferin«, erklärte Amiralis, »wirst du weniger Sorgen und mehr Erfolg haben.« Riancors Grinsen war ebenso echt wie Cromwells Glaube und Bergeracs Gelächter. Ich ließ mich von Amiralis zum Tisch ziehen und versuchte erst gar nicht, meine Überraschung zu verbergen. Sie trug eine Art weißen Anzug, kostbaren Schmuck, eine Hochfrisur, die an die Damen von Paris erinnerte. Die Rundumillusion schuf einen englischen Park voller Statuen und Wasserspiele. Alles schien leicht an diesem Abend: der Wein, die Speisen, die Unterhaltung und der Versuch, uns zwischen Staunen, Zärtlichkeiten und Leidenschaft wiederzufinden. Sechs Stunden später deutete Amiralis mit dem Weinpokal zur geschlossenen Tür von Atlans Wohnsektor. Sie saß, das Haar über die Schultern, in einem bodenlangen Nachtüberhang in Atlans Kontursessel vor den Kontrollen. Ihr gegenüber lehnte Riancor an den Pulten. Nur der dreidimensionale Projektor,
der die Ansichten aus Le Sagittaire und Beauvallon lieferte, war eingeschaltet. »Atlan schläft, tief wie ein kleiner Junge«, meinte sie. »Zeit also, um auch meine Neugierde zu befriedigen.« Riancor musterte den Sonnenaufgang über dem Frühlingswald des versteckten Mühlenweihers. »Was willst du wissen, mi amor?« fragte er. »Alles über Cromwell, my dear«, antwortete sie. Der Robot nickte. Jetzt wußte sie auch, daß er Cyrano ein wenig ähnelte, die Nase ausgenommen. »Oliver Cromwell«, dozierte er und steuerte die Bildsequenzen, die seine Ausführungen illustrierten, »nannte es eine ›krönende Barmherzigkeit‹ als er nach Dunbar die Königlichen auch bei Worcester vernichtend schlug. Er und seine Getreuen errichteten eine Militärdiktatur, die dem Adel viele Unbequemlichkeiten, dem Land aber Wohltaten brachte. 1654 wurde Cromwell Lordprotektor. Er machte das Parlament zu seinem Werkzeug; zu viele Nicht-Puritaner waren lebenslang seine Feinde. Die Erfolge seiner klugen Außenpolitik waren immens. Straßen, Schiffbau, reger und einträglicher Handel, nur englische Schiffe durften Waren zur Insel bringen; England schien aufzuatmen. Am dritten September 1658, just zum Jahrestag der Siege von Dunbar und Worcester, starb der gicht-kranke, fiebergeschüttelte Freund Atlans, von dunklen Zukunftsahnungen krank gemacht und in der Einsicht, daß es niemanden gab, der ebenso ehrlich und entschlossen sein Werk fortführen konnte. Atlan war nicht bei ihm, als er starb. Aber sie sorgten gut für ihre wenigen echten Freunde, Cromwell und Atlan.« Amiralis hatte in dieser Beziehung keine andere Auskunft erwartet. Nach einer Weile fragte sie: »Und Savinien Cyrano de Bergerac?« »Er blieb, was er war: ein hochtalentierter Gascogner
Haudegen, Saufaus, Dichter und Frauenheld. Die beiden Werke, zu denen Atlans wissenschaftliche Erklärungen viel beitrugen, erschienen nach seinem Tod. Ein Balken traf seinen Schädel, die Wunde heilte nicht, und im September 1655 starb er im Kloster seiner Schwester Catherine, umsorgt von Freunden. Und natürlich hat er sich hier die Nase nicht verschönern lassen.« »Atlans Häuschen in Paris?« »Längst abgebrochen und eingeebnet.« »Und Virginia Hanley, die verarmte Gutsherrin?« »Darüber befragst du deinen erschöpften Geliebten«, antwortete Riancor mit robotischer Diskretion. »Wenn er es für angemessen hält, wird er dir antworten.« »Sein Besitz an der Wassermühle? Was wurde daraus?« Wieder erschienen Bilder. Amiralis sah, zwei Jahrzehnte nach Baubeginn, einen idyllischen Park, in dem Schafe weideten. Der breite Bach war zu einem See aufgestaut. Überall breiteten sich Buschwerk, Hecken und Bäume aus. Schwäne ruderten entlang der Ufer. Die Landschaft bezauberte. Neben dem kreisenden Mühlrad und über moosbewachsenen Staumauern und einfachen Wehren erhob sich ein Gewirr kleiner Türme, kantiger Hausteile, sauberer Dächer, langgestreckter Speicher. Türen und Fenster, Balkenwerk und alle anderen Einrichtungen funkelten in einwandfreiem Zustand. Ein Bild zeigte David FletcherCarundel, den geadelten Müller, pausbäckig, gesund, im Alter von etwa siebzig Jahren. »Eine Reihe Zimmer, Kammern und Räume in den jeweils obersten Stockwerken gehören Atlan für alle Zeiten. Ein kleiner Transmitter ist versteckt eingebaut. Von Le Sagittaire kann die Mühle ohne Zeitverlust betreten werden.« »Das heißt, daß auch Virginia noch leben könnte?« »Sie wäre fast ebenso alt wie Fletcher-Carundel.«
Atlan hatte seinen Besitz mit Gewinn verkauft und alles Wertvolle in die Mühle geschafft. Mit gewohnter Zuverlässigkeit hatten er und Riancor dieses Kapitel ebenso abgeschlossen wie viele andere. Amiralis nippte am Wein, bewunderte die wohlproportionierte Architektur der Carundel-Mühle und fragte gähnend: »Unsere nächsten Schritte führen uns also dorthin. Ausgerüstet, um den fürstlichen Bauern und Handwerkern über ein schlimmes Jahr zu helfen! Es sieht nicht gut aus, Riancor.« Sie schauten die trockenen Felder und das magere Vieh an. Die Gesichter der Menschen waren verdrossen. Armut sah aus jeder Ritze. »In vielen Teilen der Welt ist es so«, belehrte sie der Robot. »In einem kleinen Teil können wir helfen.« »Das werden wir!« Sie leerte den Pokal und ging zurück zu Atlan, der tief atmete und ein entspanntes Gesicht zeigte. Heute träumte er bestimmt nicht von geschwungenen Henkersschwertern. Während seine Schutzbefohlenen schliefen, führte Riancor die ersten logischen Schritte aus, die nötig waren, um die Entwicklung in Beauvallon zu beeinflussen. Während Amiralis neben mir noch schlief, blickte ich, die Arme im Nacken verschränkt, in die Baumkronen der holografischen Illusion des Mühlenparks. Eigentlich hatte ich mir selten gründliche Gedanken über Rico, den arkonidischen Hochleistungsrobot, gemacht. Während ich meist schlief, hatte er mehr als neun Jahrtausende Zeit gehabt, sich selbst zu verändern, zu verbessern, robotische Zwillinge zu konstruieren. Daher auch die Idee, aus Amiralis das Geschöpf seiner Ausbildung auferstehen zu lassen. Da der Robot jedes Jahr 8760 Stunden Zeit hatte, lernte er ständig, vergrößerte die
Speicher und sein Wissen, verbesserte jedes Gelenk und die Hochenergieversorgung und näherte sich einer abstrakten Vollkommenheit. Jede Muskelbewegung, jede Geste, jeder Griff und unzählige Redewendungen, viele Sprachen und all das, was äußerlich einen Menschen ausmachte – Riancor war durch jahrtausendelanges Training zu einem positronischen »Menschen« geworden. Es gab keinen Grund, diese Entwicklung zu bedauern. Nicht für mich. Seit einigen Jahren, berichtete Riancor, während er die Ergebnisse und Analysen der Kuppelpositroniken abrief und optisch aufbereitete, zuckte aus jener Richtung, in der sich das unsichtbare Zentrum der Galaxis befand, ein Energiestrahl in die Richtung des dritten Planeten. Die Art der Energie ähnelte jener, die einen Transitionsvorgang hervorrief. Die aufgewendete Energiemenge schien jedesmal gleichgroß zu sein, aber der Strahl trat völlig regellos auf; es gab kein Muster, keinen Rhythmus, und an den Punkten, an denen nach einer Transition ein fester Körper – ein Raumschiff – angemessen werden konnte, geschah nichts dergleichen: Im Grenzbereich einer kreisförmigen Öffnung gab es nur eine hyperenergetische Streustrahlung. Nach langem Überlegen sagte ich: »Während ähnlicher Überlappungen ist Atlantis untergegangen. Meine erste Theorie: Es sind Strukturöffnungen – fragt sich nur, wohin. Ich vermute, daß ES experimentiert.« »ES hat uns vielleicht manipuliert, ist aber seit langem nicht mehr direkt in Erscheinung getreten, Atlan.« »Kennen wir ES?« Ich hob die Schultern und betrachtete die Diagramme. »Vielleicht meint ES, daß wir gute Arbeit geleistet haben und nunmehr selbständig wirken sollen? Mich überfällt eine gewisse Ungeduld, denn wir stehen am Beginn eines mechanistischen Weltbildes. Von Monat zu Monat gibt es
mehr Maschinen, sogar solche, die diesen Begriff verdienen. Und wenn es so ist, wie Amiralis vermutet?« »Daß der Fremde aus einer Parallelwelt kommt, um sich an den Qualen sterbender und leidender Barbaren zu ergötzen? Oder mit deren Schwingungen seine Psyche auflädt? Nein!« Rico sprach mit positronischer Entschiedenheit. »Du selbst hast unzählige Male selbst gesagt, daß die archaische Grausamkeit der Barbaren keines Anstoßes bedarf.« »Stimmt! Hab’ ich oft gesagt. Ist auch so.« Ich lehnte mich zurück und versuchte, in der Dokumentation dieses »Suchstrahles« ein kosmisches Phänomen, eine Gesetzmäßigkeit zu erkennen; ein Modell der unsichtbaren Pforten, durch die etliche – wie viele? – Besucher Larsaf III während meiner Anwesenheit betreten hatten. Mir fiel nichts ein, das einer logischen Überprüfung standgehalten hätte. Der Logiksektor sagte grämlich: Sonden messen Wunder, Legenden und irreale Vorgänge nicht an. Ich nickte, deutete zwischen Ricos Augen und sagte: »Warum hast du Ullana vor mir versteckt?« »Sie wollte es. Unbedingt. Und da Synonymus Eins und Lilith noch immer nicht meinen Ansprüchen genügen, war es logisch, daß dich eine ausgebildete Kämpferin als Gefährtin nicht behindern wird… sie argumentierte, und ich plante folgendermaßen: Im Labyrinth des Überlebenssystems würdest du nichts entdecken, was ich dir bewußt verberge. Der Impuls dazu, ich bin sicher, kam von ES. Wenn Ullana unbedingt kämpfen wollte, konnte nur ich dafür sorgen, daß sie über die nötigen Techniken verfügt. Wir haben Programme für alles: Waffen, Sprachen, Dagortechniken, jedes erdenkliche Lernprogramm, drei robotische Kampfpartner; ich gab ihr fünf reale Jahre, und sie wurde zu einer Persönlichkeit wie Zakanza Upuaut oder andere. Ihre Reflexe sind fast so gut wie deine. Sie weiß nichts von Monique.«
»Ich werde gebührend darüber nachdenken«, sagte ich. »Und über diesen suchend schwirrenden Strahl, der auch ein stellares Signal sein kann. Noch etwas: Wenn Nonfarmale das ist, was Ullana-Amiralis vermutet, muß ich ihn als Paladin der Menschheit bekämpfen.« »Einer Menschheit, die auf geschätzte 500 Millionen Köpfe angewachsen ist«, sagte Rico. »Und was für Köpfe!« »Köpfe und Leiber jeder Art«, brummte ich und schaltete die Wiedergabe ab. »An den wenigsten kann ich mich begeistern.«
13. Zuerst hatte Riancor zehn Pferde gestohlen. Er suchte sie in einem der vielen Heere aus, führte jeweils zwei auf die Ladefläche des Gleiters und betäubte sie, schwebte nach Beauvallon und zog sie am Waldrand herunter. Nach einigen Stunden, als er mit der nächsten Ladung Tierkörper heransummte, standen sie schon benommen auf eigenen Beinen. Fünf der wohlgenährten Tiere waren Gespannpferde. In der letzten Nacht öffnete er alle Fenster und Türen in Le Sagittaire und aktivierte die technischen Einrichtungen. Nahrungsmittel und Ausrüstung lagerten in den Gewölben. Im Transmitterraum der Kuppel warteten weitere Ballen und Kisten. Riancor kam in die Kuppel zurück, weckte mich sowie Amiralis und ließ ein Schott aufgleiten. »Meister der Masken«, bemerkte er. »Maßkleidung für euch, richtig für Landedelleute im neunten Regierungsjahr des vierzehnten Louis.« »Frühstück hier oder in Sagittaire?« »Wenn Amiralis mit mir überwechselt, dann findest du alles wohlvorbereitet im Schlößchen, Gebieter.« »Ich heiße… wie eigentlich?« fragte ich. »Für unsere hungrigen Beaumonter-Beauvallonen wohl Atlan de Arcon et Sagittaire, nicht wahr?« »Es empfiehlt sich, nicht dem Wortlaut zahlreicher gefälschter Dokumente zu widersprechen. Ihr könntet sonst, Comte, Eures Besitzes verlustig gehen.« »Einverstanden. Und Ihr? Bleibt’s beim Gewohnten?« »Dabei bleibt’s«, antwortete Riancor und fing an, die letzten Mitbringsel zu verpacken. Eine Stunde später schleppte er hinter Amiralis die Proviantkisten aus dem Gewölbe in die Küche des Schlößchens. Nachdem wir gegessen und einige
Räume halbwegs eingerichtet hatten, wirbelte Amiralis hinaus auf die sonnenüberflutete Terrasse und winkte begeistert. »Eine Frau«, rief sie halbsingend, »ist vielleicht wunschlos glücklich, aber ich bin niemals sprachlos, wenn ich glücklich bin.« »Du Glückliche!« versetzte ich gutgelaunt, durchaus in der Erwartung des Elends, das uns im Dorf erwartete; in jedem der rund sechzig Häuser. »Eigentlich sollte ich jubeln, denn ich war viel länger nicht an der frischen Luft.« »Dann komm endlich!« rief sie. »Sie warten auf uns.« Das Schlößchen war fast völlig hinter Buschwerk und Baumkronen versteckt. Wir gingen ins Dorf und begrüßten die Leute von Beauvallon. Der Pfarrer, sagte man uns, habe sich vor zwei Monaten erhängt. Der alte Lehrer lag krank seit dem Winter; seit letzten Sommer hatte es nicht einen Tropfen geregnet. Die Häuser mußten dringend ausgebessert werden. Ich drückte zahlreiche Hände und erkannte in einigen Alten jene Jungen und Mädchen, die ich aufwachsen gesehen hatte. »Erst einmal geht alle zum Gewölbe«, sagte ich. »Wie viele leben noch im Dorf?« Die Pferde weideten am Waldrand, weil auch die Wiesen gelb und zerrupft waren. »Zweihundertdreiundneunzig, alles zusammen«, bekamen wir zur Antwort. »Viele sind fortgezogen. Was habt ihr im Gewölbe?« »Essen und nützliche Sachen. Habt ihr einen Schulzen, Bürgermeister oder Dorfrat?« Ein weißbärtiger Mann hob die Hand. Wie alle anderen war auch er mager, trug abgewetzte Kleidung und löchrige Schuhe. »Ich, Herr Atlan.« »Also. Ihr findet im Gewölbe, was ihr braucht. In den nächsten Tagen werden wir den Mühlenteich leerschöpfen und ein wenig ackern.«
»Es ist kein Saatgut da, Herr.« »Wir haben genügend mitgebracht.« Amiralis zeigte zum Schlößchen. »Es sieht recht jämmerlich aus im Dorf.« »Das alte Lied, Gräfin«, beteuerte Jean-Jacques, der Bürgermeister. »Die Steuern sind hoch, die jungen Männer werden in die Armee gepreßt, kein Regen; Überfälle und Vergewaltigungen, und viele Kinder sind gestorben.« Ich hatte mich noch nicht genau genug umgesehen. Während eine traurige Prozession sich zum Schlößchen schleppte, wanderte ich mit Amiralis von Haus zu Haus, hinüber zum Kirchlein und zur Mühle, an den Weinbergen und den unfruchtbaren Äckern vorbei. Riancor fing drei Zugpferde ein und schirrte sie an. »In einem Monat sieht es hier anders aus«, versprach ich. »Zuerst müssen wir diese Stumpfheit, die Mutlosigkeit aus den Gesichtern der Leute wegbekommen.« »Das wird nicht einfach sein, Atlan. Aber bald können sie alle hoffen. Du wirst Menschen hierherbringen müssen. Allein können sie nicht überleben.« »Das hast du richtig beobachtet.« Die Häuser spiegelten den Zustand der Bewohner wider – und umgekehrt. Zum Glück führte das Flüßchen genügend Wasser. Riancor hängte ein Ende des dicken Schlauches am Zuggeschirr an und führte die Pferde zur höchsten Anhöhe hinauf. Das andere Ende des Schlauches deponierte er beim Mühlrad. Die ersten Dörfler kamen vom Schlößchen zurück und schleppten, was sie tragen konnten: Nahrungsmittel, Stoffe, Stiefel, Nähnadeln und Salz; inzwischen besaßen wir für solche Aktionen perfekte Auflistungen mit Mengenangaben. Einige Frauen zündeten die Feuer ihrer Herde an. Wir blieben am Waldrand stehen und schauten auf die langgestreckte, ausgedörrte Anlage. »Organisieren und anpacken«, sagte ich entschlossen.
»Zuerst die Pflüge, dann müssen wir Vieh kaufen.« »Ich kümmere mich um die Häuser und die Wohnstuben.« »Erwarte nicht, daß dir diese Arbeit viel Freude bereiten wird, Amiralis. Du wirst Läuse und Flöhe ernten.« Riancor steckte Rohrverbindungen zusammen und schaltete die getarnte Pumpe ein. Das Wasser wurde zu den Weinbergen hinaufgepumpt und lief, als sich die Erde vollgesogen hatte, weiter auf das Dorf zu. Aus tausend winzigen Löchern spritzten Wasserstrahlen in die Luft und bildeten einen nassen Vorhang. Mit drei Pferden, die den dreifachen Pflug zogen, fing ich zu ackern an und ließ mich von den stärksten Männern der Siedlung ablösen. In drei Tagen, hatte ich ihnen versprochen, würden wir ein Fest feiern, wenn verschiedene Bedingungen erfüllt waren. Dazu gehörte die Reparatur der hölzernen Plattform unter dem Riesenbaum, der den Dorfplatz überschattete. Amiralis ließ Fenster und Türen aufreißen, Wasser wurde erhitzt. Bald breitete sich im Dorf der Geruch von Seife und Reinigungsmitteln aus, während die Frauen kochten, scheuerten und die kreischenden Kinder in den Trögen abseiften. Frische Tücher kamen aus unseren Depots. Wir brachten die Saat ein und verlegten den Schlauch nacheinander an drei Stellen des großen Ackers. Schon nach Tagen zeigten sich erste, hellgrüne Spitzen. Für die Pferde hatte Riancor genügend Heu und Hafer mitgebracht. Der Bäcker konnte wieder Hörnchen und Brot backen. Selbst alles Geflügel war geschlachtet oder vom Fuchs verschleppt worden. Im Wald wurde dünnes Holz geschlagen, und die erste Familie machte sich daran, den Dachstuhl ihrer Scheune auszubessern. Wir vermischten, nachdem viele Rohre und Kanäle freigespült waren, den Inhalt der Kloake mit viel Flußwasser und verteilten die übelriechende Brühe auf Äcker und Wiesen.
»Zwölf Häuser, und nicht die schlechtesten, stehen mitsamt Ställen und Scheunen leer«, zählte Amiralis auf. Mittlerweile hörten wir bei unserer Arbeit vereinzelt Gelächter. Jeder hatte genug zu essen, und abends teilten wir den Wein aus. »Und daß sie keinen jungen Magister haben, stört mich mehr als die Kleinen.« Knapp drei Dutzend Kinder waren übriggeblieben. Bevor wir uns an dieses Problem herantrauten, mußte das Überleben der Bewohner gesichert sein. »Noch ist unser erster Monat nicht um«, meinte ich. Die Männer besserten die Zäune aus, als ob es genügend Vieh gäbe. Unermüdlich schleiften die Pferde Bäume aus dem Wald. Ich sattelte ein Reitpferd und ritt, ausreichend bewaffnet, aus dem Dorf, durch den Wald und bis zur Handelsstraße, die nach St. Etienne und Lyon führte. Noch immer galten die Vorteile unseres damaligen Planes: Beauvallon lag weit abseits und ziemlich versteckt von den großen Straßen. Aber Gewalt und Not waren auch bis hierher gekommen. Was war zu tun? Ein Stier, einige Milchkühe, Schafe und Ziegen, Hühner, Enten und Gänse, Korn und einige Sauen mußten auf dem Viehmarkt von Lyon gekauft und hierhergebracht werden. Am nächsten Dienstag, im Schutz der Nacht, flogen Amiralis und Riancor zum Markt. An einem der folgenden Tage scheuchte ich die jungen Männer in die verwahrloste Schule und half ihnen, Tische, Bänke und Tafeln auszubessern. Der Lehrer starb, nicht unerwartet, in einer windigen Nacht. Das erste Frühjahrsgewitter schien den Bann gebrochen zu haben. Als der Regen herunterrauschte, Staub und abgestorbene Blätter aus der Landschaft wusch, tanzten die Beauvallonen vor den Häusern. Die löchrigen Lumpen wurden im Freudenfeuer verbrannt, nachdem Riancor die neuen Schöpfungen der
Maschinen verteilt hatte. Drei Tage nach dem zweiten Dorffest kam das Vieh an, Käfige voller Geflügel und quiekende Säue. Die Ställe waren vorbereitet, und die Fuhrwerke hatten wir ebenfalls für das Dorf gekauft. Abends brannten in den Häusern und auch auf den Tischen des Versammlungsplatzes Talgkerzen und Öllampen. Natürlich hatten wir auch Lampenöl kaufen müssen; hier versagte unsere Liste. Ich bat Riancor, Wein und Calvados, Apfelschnaps aus der Normandie, zu bringen. Dann versammelte ich die Ältesten unter dem Dorfbaum. Mit gutem Zureden und viel Nachdruck hatte Amiralis durchgesetzt, daß die Männer sich Haar und Schnurrbärte gestutzt und dank unserer braunen Tränklein auch die Kopfläuse ausgerottet hatten. Sie sahen alle viel besser aus und fühlten sich auch so. Ich hob den Becher. »Als Herr über Wald, Weinberge und Land brauche ich euch nicht zu fragen. Aber da ihr freie Bauern seid, frage, ich euch. Ich mache einen Vorschlag. Wißt ihr, was einen französischen Bauern von einem hugenottischen Bauern unterscheidet?« »Vielleicht zieht der Hugenotte geradere Furchen?« fragte Jean-Jacques lachend zurück. Ich lachte mit und klärte sie auf: »König Louis ist sehr um das Wohl der Kirche besorgt. Er läßt die Hugenotten verfolgen. Wenn ich ein Dutzend guter Bauern und Handwerker finde, arme Hugenotten natürlich, und wenn ich sie in den leeren Häusern ansiedle, so meine ich, hilft das unserem Dorf – und den Hugenotten. Beratet darüber, und sagt mir morgen, was ihr davon haltet.« »Wir wollen keinen Ärger, Herr Graf.« »Ich werde nur solche Frauen und Männer herbringen, die notfalls ihren Namen ändern und ihren Glauben nicht in schreienden Farben vor sich hertragen.« »Dann läßt sich nicht viel dagegen sagen«, meinte Michel, der Grobschmied. »Vielleicht ist auch ein guter Fleischhauer darunter.«
»Oder ein Müller, der nicht betrügt.« »Das wird man sehen«, antwortete ich. »Morgen habt ihr eure Meinung fertig?« »Ja, morgen. Prächtig, Herr, was sich in den beiden Wochen schon geändert hat. Sogar die Trauben wachsen.« Die Zeit hatte Gutes und Böses über das Dorf gebracht. Das Schlößchen hatte niemand verwüstet, denn Riancor erschien stets blitzschnell, um es verteidigen zu können. Die Jahre hatten aber auch seine Möglichkeiten überfordert; aus diesem Grund fanden wir hier keine blühende, reiche Gemeinschaft, sondern Armut und Unwissen. »Für eure Kinder werde ich einen Magister herbringen. Das Schreiben und Lesen sind wichtig. Und Rechnen, damit ihr auf dem Markt nicht betrogen werdet.« »In Gottes Namen«, murmelte Richard. »Werdet Ihr lange bleiben, Graf Atlan?« »Lange genug«, wich ich aus, »um zuzusehen, wie Beauvallon blüht, wächst und Früchte abwirft. Wie die vielen Bäume, die ihr nicht beschnitten und gepfropft habt.« »Wir haben alles verloren. Auch den Mut und die Kraft«, klagte Jean-Jacques. »Euer Geschlecht sollte stets hier wohnen. Dann ginge es uns allen besser.« »Bald geht es euch auch so gut wie euren Eltern«, sagte Riancor. »Das Dorf lebt schon wieder.« In einigen Tagen würden wir eine kleine Treibjagd veranstalten. Ich hatte gesehen, wie viele junge Bäume vom Rotwild verbissen worden waren. Nachdem es mittlerweile Eier gab, frisches Brot, Butter aus einem Fäßchen für alle, dicke Suppen und einen Wein, würde Wildbret für weitere Abwechslung sorgen. »Und unsere Frauen sind hübscher geworden«, stellte Henri fest. »Aber keine ist so hübsch wie Amiralis!« rief der
Bürgermeister. Wir hoben die Becher und tranken auf diese zutreffende Feststellung. Riancor wertete die wenigen Beobachtungen und Messungen aus, verknüpfte Sagen, geschichtliche Tatsachen und die Spuren, die ich selbst hinterlassen hatte, fügte hinzu, was wir als Diener von ES erfahren hatten, und entwarf ein »erstes und überaus vorläufiges« Szenario, das sich mit Nonfarmale beschäftigte. Während wir nach der Arbeit früh zu Bett gingen, tief und traumlos schliefen, rechnete er Wahrscheinlichkeiten aus und sammelte Informationen. »Der Kunstplanet WANDERER beschreibt auf seinem Weg durch das Universum eine elliptische Bahn. Das System von Larsafs Stern ist einer der Ellipsenbrennpunkte. Androiden sind mehrmals von WANDERER hierher geflüchtet und sorgten für Aufregung, in vielen Jahren der Geschichte. Also gibt es Möglichkeiten, zwischen dem Kunstplaneten und dem Barbarenplaneten hin und her zu springen. Viele Sagen beschäftigen sich damit, daß sich besonders kluge, mächtige und an Zaubern reiche Subjekte in ein geheimes Reich zurückziehen konnten. Merlin, ein Zauberer am Hofe König Artus’, zog sich nach Avalum oder Avalon zurück. Dietrich von Bern, Theoderich von Verona oder Thiudareiks, ein und dieselbe Person, war ein anderer. Zwergenkönig Laurin gehörte auch zu diesem Kreis interessanter Zwitterwesen zwischen Wirklichkeit und Phantasie. Laurin herrscht nahe Bozen in den Bergen über eine ›Jenseitslandschaft‹, den Rosengarten. Auch wenn die Tarnkappe, die Hagen aus Burgund bekam, längst nicht mehr funktionieren kann, besteht eine, wenn auch phantastische Möglichkeit, daß die Tarnkappe, von Hunnensöldlingen geraubt, an Attila kam. Da Theoderich ein Jahr nach Attilas Tod, 454 nach der Zeitwende, geboren wurde, und da weiterhin Laurin der Zwerg mit
Theoderich/Dietrich zusammenkam, ist eine Verbindung denkbar. Daß Laurin einen kräfteverstärkenden Gürtel besaß, ist eine weitere Merkwürdigkeit. Rosengarten und Jenseitslandschaft sind volkstümliche Ausdrücke für unbegreifliche Welten. WANDERER und die Barbarenwelt wären für Wesen des jeweils anderen Planeten solche Landschaften im Jenseits. Raumüberschneidungen, zeitliche Überschneidungen, vielleicht von einem unbekannten Wesen hergestellt, distanzlose Schritte, den Transmittern vergleichbar, zwischen beiden Welten.« Wir hatten schweigend zugehört. »Das ist natürlich ein wildes Sammelsurium von Möglichkeiten. Etwas weitergedacht«, sagte ich, sehr nachdenklich geworden, »bedeutet es nichts anderes, als daß ein Wesen mit den gleichen Möglichkeiten auch an anderen Stellen der Geschichte hat eingreifen können. Wenn es jemand wie Nonfarmale wäre, der sich anscheinend am Blut weidet, würde es vieles erklären.« »Ich werde Nonfarmale jagen«, erklärte Amiralis finster zum wiederholten Male. »Anderes interessiert mich nicht.« Daß Larsafs Stern eine Wendemarke des Kunstplaneten war, erklärte nur zum Teil die Beziehung von ES zu den Barbaren und zu mir. Paladine der Menschheit! dachte ich. Waren jene Merlins, Dietrichs und Laurins auch Paladine gewesen? Oder das Gegenteil davon? »Es ist sinnlos«, erinnerte uns Riancor, »jetzt über einzelne Punkte dieser Sammlung zu streiten. Wir werden erleben, was zutrifft und was nicht zu meinen Spekulationen gehört.« »So ist es«, sagte ich. »Bleiben wir vorläufig bei der Aufgabe, ein stabiles Gemeinwesen neu zu gründen.« Der Frühjahrsmonat neigte sich dem Ende zu. Es hatte ein zweitesmal geregnet; die Ernte schien vorläufig gesichert. Nun gingen die Bauern daran, ihre Gärten vom Abfall zu säubern,
die Zweige zu kappen und die Wurzeln zu düngen. Bienen und Schmetterlinge waren in der warmen Luft. Überall grünte und sproß, was auf den Regen gewartet hatte. Das Gras wuchs auf den Weiden. Schafe und Ziegen liefen am Seil um den Pflock und fraßen Kreise ins Grün. Wildsauen, ein paar Böcke und Rehe, Hasen und – zwei verwilderte Kühe, die wir ins Dorf trieben, waren die Beute unserer Jagd. Tagelang roch es von jeder Feuerstelle nach köstlichem Braten. Obwohl viele Hugenotten sich zum katholischen Glauben bekannt hatten, wurden sie durch das Edikt von Nantes geschützt. Angeblich geschützt, denn Pastoren, die sich nicht fügen wollten, vertrieb man, Kirchen und Schulen wurden zerstört; wenn Hugenotten beim Verlassen des Landes gefaßt wurden, drohte ihnen die Galeerensklaverei. Dennoch flüchteten viele. Da sie klug und fleißig waren, überdies gute Handwerker, schadete dieser Verlust dem ausgebluteten Land. Nachdem ich Riancors Spionsonden und deren Aufzeichnungen lange genug kontrolliert hatte, sprach ich mit unserem Bürgermeister. »Die Taille, unsere Grundsteuer, habe ich bezahlt. Und jetzt hole ich eineinhalb Dutzend Hugenottenfamilien. Und solltet ihr Beauvalloner euer Wort brechen, verliere ich mein gutes Benehmen, Jean-Jacques. Es gilt?« Ich streckte die Hand aus. »Herr de Sagittaire!« Er schlug ein. »Wenn sich die Hugenotten ducken wie die Wachtel im Gras, sind sie willkommen. Aber wir wollen nicht, daß des Königs Soldaten Beauvallon verbrennen.« »Ich richte mich danach«, versicherte ich. »Und vielleicht bekommen wir wieder ein lustiges Pfäfflein, das die mit der falschen Religion, zum rechten Glauben bekehrt.«
»Auch dafür werde ich sorgen.« Je näher an Paris, desto stärker die Verfolgungen. Ich flog nach Bergerac ins Perigord und suchte dort einen Pastor der Hugenotten, denn südlich der Dordogne befanden sich sogenannte Sicherheitsplätze der Hugenotten, die der Bartholomäusnacht und den Verfolgungen entkommen waren. Schließlich traf ich Jules Coligny, einen Mann in mittleren Jahren, der sich Seelsorger nannte. »Ich bin in einer heiklen Mission auf Euch gestoßen, Hochwürden«, sagte ich. »Wenn Ihr Euch um die Seelen sorgt, so sorge ich für die Unversehrtheit der Körper.« »Ihr macht es interessant, Graf. Wollt Ihr zu unserem Glauben übertreten?« »Ich will einen jungen Magister, etliche Handwerker und ein paar Bauern vor den Verfolgungen des Pöbels und der allein seligmachenden Kirche retten.« Er warf mir einen Blick voller Mißtrauen zu. Dann meinte er: »Mein Gewissen ist sauber. Was habt Ihr vor?« »Gewissen ist erziehungsbedürftig«, gab ich zurück und berichtete, ohne Namen und Ort zu nennen, wie es um Beauvallon stand. Zwölf leere, guterhaltene Häuser, eine Mühle, eine Schule und mein Plan, eine Familie mit allem, was sie tragen konnte, nach der anderen dorthin zu bringen; ich sprach klar und deutlich die Bedingungen aus, die ich an jene vielleicht vierzig Leute knüpfen mußte. »Wenn dann das Gewissen der hugenottischen Gläubigen schlägt, müssen sie zurückschlagen. In ihren Häusern können sie tun, was sie wollen. Überdies ist die Grenze nicht fern, und die Wege dorthin führen durch Wald. Was sagt Ihr nun, Coligny?« »Herr Graf setzen mich in Erstaunen. Laßt mich nachdenken.« »Ihr werdet unter Euren Schützlingen mehr als eineinhalb
Dutzend finden, die schwankend im Glauben sind, deren Kinder vielleicht sich katholisch taufen lassen, Leute, die arm sind und durch Arbeit reich werden können. Und sie alle haben einen Herrn, der seinen starken Arm über sie hält.« Ich zog meine Reiterpistole; einen dreißigschüssigen täuschend ähnlichen Nachbau einer wertvollen Doppellaufwaffe, zeigte sie ihm und deutete auf den Arm. »Ein Arm, der einst mit Cyrano von Bergerac focht«, setzte ich hinzu. Er stellte zahlreiche Fragen. Vor einem Krug Apfelmost saßen wir im Gärtchen seiner Pfarre. Mit calvinistischen Protestanten hatte ich meine Erfahrungen; auch Cromwells Puritaner dachten, glaubten und handelten nach diesen Regeln. »Wie lange laßt Ihr mir Zeit, unter meinen Schauern zu fragen?« erkundigte er sich. »Meinetwegen einen Monat. Sie sollen, jeweils für vier Personen, so viel zusammenpacken, wie auf ein Fuhrwerk paßt.« »Ich merke es mir. Wo kann ich Euch treffen?« »Ich treffe Euch hier, Pastor. Am Tag des heiligen Hugo von Cluny, dem letzten im April.« »Daß wir in aller Verschwiegenheit handeln müssen, ist Euch klar?« »Nur Ihr und ich und mein Bürgermeister wissen davon. Uns macht es nicht das geringste aus, wenn die Familien arm sind. Arbeit gibt’s mehr als genug. Ein abgelegenes, sauberes Dörfchen mit dreihundert Seelen. Und schönen Weinbergen. Und wenn Eure Schäfchen auch noch herzhaft lachen können, sind sie dreifach willkommen.« Ich ließ ihn in tiefer Nachdenklichkeit zurück. Ein solcher Vorschlag war ihm und seiner malträtierten Gemeinde sicher noch niemals gemacht worden. Ich spazierte durch die
schmalen Gassen zum Tor hinaus und bis zum Waldversteck des Gleiters. Neugierig starrten mir einige Bauern nach. Ein Bote stob auf seinem Schimmel vorbei. Ich wartete die Dunkelheit ab und flog zurück nach Beauvallon. Der König war der Jagdgesellschaft vorausgeritten und zügelte jetzt sein Pferd. Das Kläffen der Hunde und die Schreie der Jäger wurden leiser. Wieder spürte Louis le Grand, zweiunddreißig Jahre alt, daß sein Magen schmerzte. Auch seine Zähne spürte er heute wieder. Aber auf seinen Jagden vergaß er die Schwindelanfälle und das rasende Herzklopfen, das ihn von Zeit zu Zeit erschreckte. Das Pferd riß den Kopf in die Höhe und wurde unruhig. »Ruhig«, sagte er. Dann sah er den Reiter zwischen den Bäumen hervorreiten und auf ihn zukommen. Der König hob erstaunt die Brauen. Einen solchen Mann hatte er noch nie gesehen. Er glich einer lebendig gewordenen Statue eines Meisters der Metallgießkunst. Langsam ritt der Fremde näher. Das Erstaunen des Königs wuchs, als er sah, daß aus den Nüstern des Reittiers, eines herrlichen goldfarbenen Hengstes, dunkler Rauch hervorstob. Der König zügelte das eigene Tier, das auf den Vorderläufen tanzte. »Ihr seid der König dieses ruhmreichen Landes?« fragte der Fremde mit dunkler Stimme. »Un roi, une foi, une loi; ein König, ein Glaube, ein Gesetz. Ihr rüstet Euer treffliches Heer gegen die Niederlande. Ihr tut gut daran.« Louis war viel zu überrascht von dem blendenden Anblick, als daß er die Fragen des anderen beantworten oder sich über die Kühnheit erregen konnte. Der Reiter, fast zwei Kopf größer als er, trug eine goldene oder vergoldete Rüstung. »Das weiß ich«, sagte Louis. »Ich bin der Stellvertreter des Höchsten. Ich bringe die gloire meines Landes in die Welt.« »Ich werde dir sagen, König, wie du unglaublichen Ruhm
ernten kannst. Ich sage Euch, daß nur der Krieg, die Eroberung, die reiche Beute und den Ruhm bringen, der einer Majestät wie Eurer angemessen ist.« »Deswegen habe ich ein Heer aufgestellt«, hörte sich Louis sagen. Der Reiter, der aussah, wie sich der König den Kriegsgott Mars vorstellte, trug einen ebenso klassischen wie kostbaren Helm. Gold und Silber leuchteten, edle Steine funkelten und blitzten. Der Stoff, der zwischen den Teilen der Rüstung hervorsah, war goldbestickt. Dasselbe galt für das Zaumzeug des Pferdes, den Sattel und die Satteldecke. Der Reiter hielt in so großer Entfernung, daß das Pferd des Königs nicht scheute. »Es soll größer werden, machtvoller und strahlender. Sieg um Sieg soll es an die Fahnen heften.« Der Fremde überzeugte den König. Wie gelähmt, völlig fasziniert, hörte Louis zu, während er die Waffen des Mannes bewunderte. Degen. Pistole und Muskete waren fremdartige Meisterwerke. Auf dem linken Schultergelenk trug sein Gegenüber einen Schild. In seltsamer Schrift las Louis: NORAHC RIMY SISEMEN NIDO »Wer seid Ihr, Messieur?« fragte er verwundert. »Ein fremder Reiter, der unendlich viel erlebt hat, und der Euch, König, sagen muß: Gottesgnadentum verpflichtet, die Macht zu vergrößern; wie wäre dies besser zu bewerkstelligen als durch einen Krieg gegen einen würdigen Gegner?« Wieder glitt der Blick des Königs über Roß und Reiter. Der Mann zeigte unter dem Helm des griechischen Gottes ein schmales Gesicht von wilder Kühnheit. Weißes Haar ringelte sich in herrlichen Locken bis auf die schimmernden Schultern. Der Mund war schmal; wenn er sprach, sah Louis le Grand
schneeweiße Zähne. »Ich werde Euch helfen, Kriege zu gewinnen«, versprach der Reiter. »Ihr seid Heerführer?« Ruhig blickte der Goldschimmernde in das pockennarbige Gesicht mit der kräftigen, langen Nase. Das Haar des Königs begann schütter zu werden, das verbarg auch der Hut nicht, dessen Rand rundum von Fett troff. »Ich bin der Mann, der alle Kriege kennt.« Der Lärm der heranspringenden Hunde und der Reiter wurde lauter. Äste krachten, und dumpfer Hufschlag wurde hörbar. Der König fragte mit gepreßter Stimme: »Wie nenne ich Euch, Messieur?« Der Reiter lächelte kalt, zog den Helm über sein Gesicht; hohl kam aus den Schlitzen und Löchern des Metalls die Antwort: »Nahith Nonfarmale. Merkt Euch den Namen, Sire.« Während die Jäger näherkamen und kalter Schrecken nach dem Herz des Königs packte, verschwand der goldene Reiter mitsamt dem Pferd vor Louis’ Augen. Er schüttelte sich und fragte sich, ob er geträumt oder ein wunderbares Zeichen erhalten hatte. Louis setzte die Sporen ein, galoppierte zu seinen Jägern zurück. Daß er die Hugenotten verfolgen ließ, er sich mit England gegen die Holländer verbündete, daß er mit dem zweiten Karl den »Großen Plan« unterzeichnete und die Ostgrenze des Landes mit Festungsbauten schützte, daß Park und Schloß von Versailles gebaut worden waren – es mußte sein. Alles war richtig und gottgewollt, denn er, Louis, mußte in der Mission civilisatrice ganz Europa beherrschen. Glücklicherweise hatte jene Sonde, die wir zeitweilig auf den König richteten, den Großteil der Szene optisch und akustisch aufgefangen. Zwei Tage später rief Riancor die Informationen ab und alarmierte mich. Ich rannte von der Schmiede, in der
gerade der zweite Wagen hergestellt wurde, zum Schlößchen hinauf. Im Wohnraum, dessen Vorhänge zugezogen waren, flimmerten Bilder über die Schirme. Riancor zeigte auf das eingebaute Wandgerät. Ich setzte mich, starrte die Bilder an und wiederholte die Sequenz fünfmal, vergrößerte den Wappenschild, der Teil der Schulterbrühne war, las die Worte, studierte die Buchstaben und verstand nichts. Wer oder was war Nido? Sisemen… was bedeutete dieses Wort? Der Aufzug des Fremden, der sich erdreistete, den französischen König ebenso wie seinerzeit den von Schweden zu verführen, war, wie immer, perfekt kalkuliert. Die Pracht war immens. Welche Helfer stellten diese phantastischen Verkleidungen her? »Nun wissen wir es«, sagte ich und schrieb die unbekannten Worte untereinander auf ein Blatt Papier. »Frankreich will nach Nordost, Ost und vielleicht auch Süd wachsen. Daß Colbert den Schiffbau vorantreibt und dafür die meisten Materialien im eigenen Land findet, zeigt uns, daß auch eine Flotte aufgestellt werden soll. Ebenso machte es Cromwell.« »Unter anderem brachte er es fertig, daß jahrhundertelang die Iren die Engländer hassen und umbringen werden.« »Was manchen freut. Mazarin war Italiener; Nonfarmale stellte sich mit italienischem Namen vor. Er ist gerissen.« »Er taucht auf und verschwindet, wo er will. Also sind unsichtbare Tore oder körperlose Schritte auf dem gesamten Planeten möglich. Oder an vielen Plätzen.« »Richtig!« Ich bestaunte kopfschüttelnd das Streitroß, das stählerne Hufe zu haben schien. »Er wird warten müssen. Oder er sieht sich in anderen Weltgegenden um«, sagte ich. Riancor wußte ebensogut wie ich, daß, abgesehen von der Besetzung Lothringens, keine größere Schlacht bevorstand. »Was tun wir?« murmelte ich. Der Fremde tauchte auf und verschwand, wie er wollte. Die
Messungen unserer Geräte hatten ergeben, daß sich an verschiedenen Stellen seiner Ausrüstung Energieaggregate befanden. Die Riesenarmbrust enthielt Hochenergie-Elemente. Das Verschwinden ging mit einem undeutlichen Aufwallen anderer Energien vor sich. »Solange er nicht ahnt, daß er beobachtet und verfolgt wird«, gab ich zu, »kann er sich leichter eine Blöße geben. Vorläufig können wir beobachten, suchen, nachdenken.« »Das tun wir schon viel zu lange«, meinte Riancor mißmutig und schaltete den Bildschirm aus. Nachdenklich, obwohl mir auch nichts einfiel, ging ich zurück ins Dorf, wo Arbeit auf uns wartete. Vier Personen, die nachts die Ladefläche des schweren Gleiters betreten und einen Willkommenstrunk genossen hatten, schliefen zwischen ihren Bündeln, Käfigen und Packen. Ein junger Magister, ein Müllerehepaar in mittleren Jahren und eine junge Frau, die das Wachszieherhandwerk gelernt hatte. Ich war, wie sie auch, vom Pastor gesegnet worden. Noch in der Nacht trugen Jean-Jacques, Riancor und ich die Leute in ihre zukünftigen Behausungen, dann flog ich mit Amiralis zum zweitenmal nach Nordwesten. Bis zum Morgengrauen hatten wir die hugenottischen Bauern in die Häuser getragen, wo sie weiterschnarchten und niemals erfahren würden, durch welches Wunder sie die riesige Entfernung hinter sich gebracht hatten. Anguerond saß ratlos zwischen den gescheuerten Tischen und den Stühlen, die einen aufdringlichen Geruch trocknenden Holzes verströmten. »Magisterlein.« Ich goß hellgoldenen Alkohol in die Becher. Der Geruch des Calvados überdeckte den des Holzes. Anguerond blinzelte und schwieg mich abwartend an. »Hier
seid Ihr nun. Große Aufgaben warten auf Euch. Rund drei Dutzend Kinder, unerfahren, im Elend groß geworden, voller Hunger nach Wissenschaft und Bildung, wovon sie selbst noch nichts wissen, erwarten Euch. Darauf stoßen wir an.« Zögernd griff er nach dem Becher. »Es ist ruhig hier. Sonnig. Es riecht so ganz anders. Wo bin ich?« »Wie versprochen in Beauvallon an einem Nebenflüßchen des Allier, in der Ardeche. Dreihundertfünfzig Seelen. Und ein Schlößchen, das wir Le Sagittaire nennen und das mir gehört.« Noch war er unsicher und aufgeregt. Er nahm einen viel zu großen Schluck, und ich fuhr fort: »Ich führe Euch nachher von Haus zu Haus. Mittagessen im Schlößchen. Ihr Hugenotten müßt euch klug benehmen. Folgende Regeln gelten für euch: Drängt euren Glauben den anderen nicht auf! Betet leise in euren Häusern! Betreibt keine Politik, wie sie zum Fall von La Ròchelte geführt hat! Wenn einer von euch einsieht, daß der Glaube der anderen Franzosen besser ist, laßt euch umtaufen! Gegen euren Fleiß wird niemand ein Sterbenswörtchen zu sagen wissen. Und erzieht die Kinder zu vernünftigen Menschen, nicht zu Hugenotten oder zu Revolutionären. Wenn ich merke, daß Ihr Streit mit Jean-Jacques, dem Bürgermeister, bekommt, ziehe ich Euch die Ohren lang, Schulmeisterlein. Denkt daran, daß es nächstes Jahr eigenen Wein gibt, daß Beauvallon in Wirklichkeit ein reiches Dorf ist und daß der Schloßherr, Graf Atlan«, ich zeigte auf mich, »fast alles sieht und weiß.« Ich prostete ihm zu. Er holte tief Atem und lächelte dann schüchtern. »Ich habe verstanden, Herr Graf. Darf ich jetzt sehen, wo ich leben und Unterricht halten muß?« »Folgt mir, Anguerond!« Ich führte eine einladende Geste aus. »Draußen liegt das Leben.« Wir gingen zur Mühle, dann führte ich die Fremden von Haus zu Haus, und die Hugenotten erfuhren langsam, daß sie
ein Gebiet betreten hatten, in dem viele gewohnte Regeln nicht galten. Mit mehr Offenheit und Herzlichkeit, als ich erwartet hatte, wurden die Fremden von meinen Bauern begrüßt. Nur die Kinder, die das kommende Verhängnis ahnten, ließen es an der erwünschten Lebhaftigkeit fehlen. Der Müller sagte ein wenig ratlos: »Die Mühle, Herr, ist geräumig und in gutem Schuß. Aber welches Korn soll ich mahlen?« »Im Herbst gibt’s viel Korn von unseren Feldern. Und zuerst sollst du dich einrichten, die Mäuse vertreiben und aufschreiben, was dir fehlt. In kurzer Zeit wirst du genug Korn bekommen.« Die nächtlichen Flüge setzten wir fort, bis sich in jedem leeren Haus ein Bauer oder ein Handwerker eingefunden hatte – ein junges Paar, eine Familie oder ein einzelner. Für Riancor und mich bedeutete der Zuwachs an Köpfen mehr Arbeit. Nachts präparierten wir die Geburtsregister der Pfarrei, so daß die neuen Siedler zu guten, alteingesessenen Beauvallonen wurden. Als der Mai begann, hatten wir unzählige Küken, junge Enten und Gänse, ein paar Osterlämmchen und das Versprechen, daß wir vor der Reise nach Paris für das gesamte Dorf ein Fest feiern würden. Am Abend des Himmelfahrtstags war es schließlich soweit, aber zuvor war aus einem unserer Magazine noch eine große Ladung Ausrüstung, Werkzeuge und Gerät eingetroffen: Messer, Beile und Äxte, Sägen, Feilen, Pflugscharen, Zähne für Eggen, Räder und Achsen, Kleidung, Stoff, Salzblöcke, Kessel und Pfannen, Tongeschirr und Kannen. Stiefel und Seile… und vieles andere Kleinzeug. Auch diese Gegenstände würden in vielen Jahren spurlos verschwunden sein, verteilt auf einer Welt ständigen Wandels, die von unzähligen Kämpfen, Schlachten und Kriegen beherrscht wurde. Es galt, die schlechten Einflüsse so gut wie
irgend möglich von Beauvallon fernzuhalten. Das Dorf sollte nicht das trostlose Ende der »Oase« nehmen. Nach Mitternacht flatterte in der Mailuft ein farbenprächtiger Falter durch die Fenstertüren. Musik aus Lullys »Alcidiane« klang melancholisch im Hintergrund. Wachskerzen rochen mit der erkaltenden Glut und dem Wein um die Wette. Amiralis hatte ihren Kopf in meinen Schoß gebettet. Da die dringenden Arbeiten und Eingriffe für das Überleben des Dorfes nicht mehr unsere gesamte Zeit in Anspruch nahmen, fiel Amiralis wieder in jene Nachdenklichkeit zurück, die mich schon in der Kuppel beunruhigt hatte. »Du denkst noch immer an den Fremden?« fragte ich und klappte den »Abenteuerlichen Theutschen Simplizissimus« eines Christoffel von Grimmelshausen zu. Amiralis nickte. »Ich denke mehr an die vielen Menschen, die er auf dem Gewissen hat.« »Du weißt«, ich ließ ihr langes Haar durch meine Finger gleiten, »daß auch ohne fremdes Zutun die Menschen aufeinander einschlagen. Er ist nicht an jedem Ort, an dem Gewalt und Not ausbrechen.« »Ich weiß. Aber du darfst nicht vergessen, wieviel wir selbst erlebt und gesehen haben. Hunderte von Schlachten. Kriege, die nach Riancors Informationen dreißig, siebzig oder hundert Jahre lang mit äußerster Erbitterung geführt wurden. Ich werde ihn verfolgen und umzubringen versuchen«, beharrte Amiralis. Der Falter näherte sich in wirren Spiralen wieder den Kerzenflammen. Ich hoffte, er würde sich nicht die Flügel verbrennen, aber ich wollte die entspannte Stimmung nicht zerbrechen und das farbenfröhliche Tier verscheuchen. »Ich bin ganz sicher. Riancor hat mich mit genügend Waffen ausgerüstet.« »Ich hab’s versucht, und mir ist es nicht geglückt.«
»Wenn wir es immer wieder versuchen, werden wir sein Versteck finden und die Tür in seine Jenseitslandschaft, Atlan. Ich weiß es.« Der Falter fand seinen Weg zwischen den Flammen, der Glut im Kamin und dem Weinkrug, an dessen Rand er sich festhielt und die Flügel zusammenlegte. Ich wußte, daß Amiralis auf dem richtigen Weg war, aber sie schien die Schwierigkeiten zu unterschätzen. »Deswegen sind wir hier«, stellte ich fest. »Er überzeugte den vierzehnten Louis von der Notwendigkeit glorreicher Kriege.« Der Erziehungsprozeß, den Amiralis hinter sich hatte, mußte zwangsläufig ihre Empfindungen und Gedanken geschärft haben. Während nahezu alle Menschen die hemmungslose Gewalt und die daraus folgenden Leiden als von Gott gesandt und daher unabänderlich empfanden, lauteten Amiralis’ Folgerungen ganz anders. Sie war entschlossen, den Menschen, aus deren Mitte sie kam, zu helfen. Sie seufzte und griff nach dem Weinglas. »Du fürchtest, Atlan, er könnte mich töten?« »Das fürchte ich ernsthaft, Liebste«, entgegnete ich. »Tu nichts Unüberlegtes! Riancor und ich haben im Kämpfen die größere Erfahrung.« »Und in der Kunst der Maskierung und des Versteckens!« Amiralis richtete sich auf und umklammerte meine Schultern. »Das ist für uns die einzige Voraussetzung, um lange genug zu überleben.« Ich spielte mit dem Zellschwingungsaktivator. »Und nur wer überlebt, kann kämpfen und siegen.« Schließlich, als der Schmetterling sich vom Weinkrug in die Höhe schwang und wieder auf die Kerzenflammen zuflatterte, sagte Amiralis: »Ich muß dir glauben. Aber vielleicht kommt der Augenblick, an dem ich eurem Rat nicht mehr gehorchen kann.«
»Nicht, wenn ich es verhindern kann«, versicherte ich. Der große Falter kreiste ein paarmal um die Flammen, dann flog er quer durch den Raum und stürzte sich in die Glut. Die Unterhaltung ging mir nicht aus dem Sinn. Vorübergehend vergaßen wir das bedrohliche Thema und widmeten uns weitaus angenehmeren Beschäftigungen. Eine vage Spur von Resignation und Abschied schwebte wie jener unglückliche Falter über unseren Zärtlichkeiten und der Leidenschaft. Erst im Morgengrauen schliefen wir ein. Den folgenden Tag verbrachte ich damit, abermals das Dorf zu inspizieren, mich über jeden Fortschritt zu freuen und mit Jean-Jacques zu schimpfen, wenn ich Schmutz, Nachlässigkeit oder einen anderen Rückfall in die Jahre des Hungers und Elends fand. Und da der Müller mir zum drittenmal klagte, kein Korn zum Mahlen zu haben, da einige Bauersfrauen meinten, auch gebratene Täubchen würden den Speisezettel das ganze Jahr über bereichern, teilte ich mir ein paar Tage Urlaub von Beauvallon zu. Der Logiksektor schien ebenfalls zu spüren, daß ich Ruhe brauchte, eine gewisse Form der Ablenkung und Gelegenheit, über die neuen Eindrücke und Bedrohungen nachzudenken. Als Lektüre nahm ich das Buch aus dem Verlag in Nuernberg mit; eine erschütternde und offensichtlich selbsterlebte Schilderung des Krieges in Deutschland, der dreißig Jahre lang das Land und die Menschen verwüstet hatte. Der Transmitter brachte mich zum Müller von Fletcher-Carundel.
14. In der Dunkelheit roch es muffig. Ich öffnete die schweren, mit Wachs eingelassenen Schlagläden und bemerkte, daß die Riegel und Angeln, ebenso wie die der Fenster, eingefettet waren. Ich vermied, polternd durch die Zimmer zu laufen, und freute mich über die Morgensonne und die Laute, die von draußen hereindrangen. David Fletcher oder seine Familie hatten jedes Einrichtungsteil die vielen Jahre hindurch geputzt und gepflegt. Die verwinkelten Räume wirkten nicht gerade so, als hätte ich sie vor einem Monat verlassen, aber alles befand sich in bester Verfassung. In Erinnerungen versunken, ging ich hinaus auf den winzigen Balkon, lehnte mich weit über die steinerne Brüstung und machte mich mit der veränderten Umgebung vertraut. Noch immer breitete sich in weitem Umkreis ein paradiesischer Park aus. Langsam drehte sich das Mühlrad. Es gab nichts Beunruhigendes zu entdecken. Ich öffnete die massive, reich geschnitzte Tür, bewunderte die wertvollen Angeln, Schlösser und Griffe aus Eisen und Messing. Nicht einmal die Treppenstufen knarrten, als ich ins Erdgeschoß hinunterstieg, mich umsah und entlang des Hauses über weißen Kies zur Mühle ging. Zwei leere Gespanne mit mächtigen Rädern standen unter dem weiten Vordach. Enten, Schwäne, Gänse und unbekannte Wasservögel tummelten sich entlang der Faschinen am Mühlteich. Ich trat in die rasselnde, klappernde, knirschende und von Mehlstaub erfüllte Mühle und rief: »David Fletcher! Ich bringe Eicheln, Rinde und Späne, wie bestellt, für dein Mehl!« Ein Weißhaariger stürzte, einen Knüppel schwingend, über eine Treppe auf mich zu und schrie erbost: »Ich bin kein
Betrüger. Scher dich… nein! Sir Adlon. Ihr seid es tatsächlich?« Wahrscheinlich würde auch er mich darauf ansprechen, wie wenig älter ich geworden war. Wir schüttelten uns die Hände. Dann meinte der Müller: »Nur einen Moment, Master. Bin gleich wieder bei Euch.« Er rannte, für sein Alter überraschend rüstig, quer durch die Mühle und öffnete die Schleuse des Nebenkanals. Langsam kam das tropfende Mühlrad zum Stehen. Rasch wusch sich David den Mehlstaub aus dem Gesicht und von den Händen und murmelte mit weitaus mehr Fassung: »Wir haben alles in bestem Zustand gehalten, Sir. Oft habe ich geträumt. Ein paarmal sprach ich mit Lady Hanley über Euch. Entzückende alte Dame, sage ich. Hat nicht wieder geheiratet. Einen guten, alten Trank habe ich im Haus. Seid Ihr hier, um mich zu sprechen, Sir?« Ich nickte lachend. »Und um Korn zu kaufen. Nicht Mehl, Master David, sondern Korn. Roggen und Weizen. Fünfzig Sack oder hundert. Könnt Ihr es beschaffen?« »Die Bauern werden froh sein, wenn sie ihre Vorräte verkaufen können. Braucht Ihr es bald? Wohin soll es gebracht werden?« Ich deutete auf die Gespanne, während er mich am Arm zum Wohnbereich zog, die Tür aufstieß und nach seiner Tochter Evy rief. Davids Anwesen zeichnete jene dauerhafte, unauffällige Gediegenheit aus, die dazu angetan war, Jahrhunderte zu überdauern. Ich folgte ihm, setzte mich an einen polierten Tisch, betrachtete die gerahmten Bilder und wartete, bis David den Krug entkorkte und sich setzte. Evy, etwa vierzig Jahre alt und mehr höflich als hübsch, brachte Gläser, einen Imbiß und füllte die Gläser zur Hälfte, worauf ihr Vater ihr den Krug aus der Hand nahm und bis zum Rand auffüllte. »Sie hat nicht viel Umgang mit hohen Herrschaften«, erklärte
er. »Sir, ich muß sagen, daß ich mich ganz ungewöhnlich freue. Euch wieder einmal zu sehen.« Wir hoben die Gläser, und der rauchige Geruch dieser schottischen Köstlichkeit breitete sich im Raum aus. Der Müller, ein wohlhabender Mann, berichtete, während wir Uisge Beatha tranken und salziges Gebäck knabberten, daß seine Frau gestorben war und, bis auf Evy, alle Töchter geehelicht hatten. Die beiden Söhne waren auf Handelsschiffen und kamen alle zwei oder drei Jahre einmal zurück, um sich sattzuessen. »Wie steht es in England?« fragte ich. David sagte seiner Tochter, sie solle ins Dorf gehen und den Bauern sagen, daß der Müller ihr Korn kaufen wollte. »Nun, nicht gut, nicht schlecht, wie immer. Alte Männer, die Steuern zahlen, läßt man in Ruhe. Der zweite Karl macht es nicht schlechter als andere. Cromwell, wißt Ihr wohl, ist todkrank geworden über dem Regieren dieser Starrköpfe.« »Ich weiß. Jedenfalls gibt es, offiziell, keinen Krieg.« »Aber genug Ärger. Bald wird es mich nicht mehr betreffen.« David goß nach. Er sah aus, als würde er noch lange leben. Wir unterhielten uns, als sprächen wir über ein anderes Land oder irgendeine andere Zeit. Alles war ein wenig unwirklich. Aber mir tat dieser Abstand wohl: Ich erlebte wieder einmal, daß Menschen und Dinge, mit denen ich mich beschäftigt hatte, auch eine Zukunft in Gesundheit und Würde hatten. Fletcher-Carundel war ein solcher Beweis. »Wie lange wollt Ihr bleiben, Sir Adlon?« Ich hob die Schultern, genoß die Ruhe des dämmrigen Raumes und lehnte mich zurück. »Eine Handvoll Tage«, sagte ich. »Wenn Evy mein Bett bereiten würde? Natürlich reite ich zu Virginia Hanley. Hast du ein Pferd? Oder kann ich eines leihen?« »Evys Wallach ist ein frommes Tier. Kein Kriegsroß. Aber
noch recht flott zu Huf, Sir.« »Höre ich gem. Ich bin hierhergekommen, damit ich in Ruhe über verschiedene Entwicklungen nachdenken kann. Habt Ihr noch mehr von diesem Trunk?« »Zwei Fäßchen im Keller. Eines ist noch älter als der da.« »Dann wird’s ein guter Urlaub werden«, brummte ich und sah zu, wie er nachschüttete. Binnen zweier Tage kaufte ich den Bauern der Umgebung ihr Getreide ab. Wir lagerten die Gebinde im Speicher der Mühle. Nachts schwebte der kleine Robot zwischen dem Lager und dem Transmitter hin und her und schleppte die Säcke zum Gerät. Ich überließ es Riancor, den Dörflern zu erklären, warum so viel Korn in unseren Gewölben lag. Das Mehl, das der neue Müller von Beauvallon mahlte, würde wohl bis zum Winteranbruch reichen. Wehmütig und vom Alter verklärt, wenigstens von Virginias Reife, nicht meiner, waren die Unterhaltungen der langen Abende. Die Männer, die Virginia nach mir gekannt hatte, waren aus Kriegen und von Kämpfen nicht zurückgekommen. Zusammen mit einem alten Diener und einem Handwerkerehepaar residierte sie in ihrem Haus, kümmerte sich um Bienen und Blumen, trank viel zu starken Tee und vertrug keinen Alkohol mehr. Ihre Schönheit hatte sie trotz des weißen Haares nicht ganz verloren; sie ging überraschend gerade und wußte, daß ich nicht wiedergekommen war, um zu bleiben. »Ihr alle, die ich kannte«, sagte sie einmal, als sie mir die brennende Fackel reichte, nachdem ich mich in den Sattel geschwungen hatte, »die Männer mit den kühnen Augen; entweder sind sie längst tot, oder sie leben in Legenden weiter. Oder in den Erinnerungen alter Frauen.« »Ich bin keine Legende« widersprach ich und blickte sie voll abgeklärter Zärtlichkeit an. »Ich fühle mich wohl in deiner
Erinnerung, Virginia.« Sie nickte, als wisse sie es. »Wann sehen wir uns wieder?« »Übermorgen«, antwortete ich. »An einem der letzten Tage, die ich noch in England bleibe.« Sie winkte, als ich lostrabte. Evys Pferd fand den Weg von selbst. Die Nacht an einem der letzten Maitage war voller Geräusche, die mir einen friedvollen Teil des Planeten zeigten, einer Welt, die an anderen Stellen in endlosen Zwist verwickelt war und über der Nonfarmale schwebte und Blutgeruch gierig einsog. Als ich wieder in Le Sagittaire war, merkte jedermann, daß ich meine Ruhe wiedergefunden hatte. Das nächste Abenteuer konnte anfangen. Wir waren wieder auf den Spuren des Eindringlings. Paris! Die Mauern waren gefallen. Mehrspurige Alleen, die Boulevards, fast 197 englische Fuß breit, verbanden die neuen Plätze und Stadtteile. Der Louvre wurde ausgebaut, die Champs Elysees entstanden, die Place de l’Etoile wurde errichtet. Gärten und Parks versuchten, den Gestank in den Straßen zu verdrängen. 150.000 Dienerinnen und Diener bildeten den Bodensatz der Bevölkerung: arm, ausgenutzt und kaum bezahlt. Jährlich starben knapp 20.000 Menschen, die man in Massengräbern verscharrte. Sechshundert Betten mußten reichen für zweieinhalbtausend Kranke. Von 25.000 Neugeborenen waren 7000 Findelkinder, die in die Spitäler gebracht wurden. Fünftausend Bauern strömten jeden Morgen in die Stadt und hielten auf ihren Märkten alles Eßbare feil, das ihre Felder hergaben. Unbeschreiblicher Schmutz kennzeichnete die Stadt, aber auch: Briefkästen für eine Art Postdienst, die vielen Sorten Speiseeis im Café Procopio, der Bau einer Sternwarte, vereinzelte Wasserklosetts und der Gebrauch des Rezeptbuchs »Cuisinier Francais« von La Varenne, einem Pfeiler der tatsächlich hervorragenden
Kochkultur jener Franzosen, die es sich leisten konnten. Glücklicherweise hatten wir ein sauberes, nicht zu großes Haus westlich der Abtei von St. Germain des Pros gefunden, eingerichtet und für unsere Zwecke umgestaltet. Zuverlässige und erfahrene Diener zu finden, gelang mir mit Hilfe der Nachbarn. Schmale Sträßchen, Gebüsch und parkartiger, gelichteter Wald schlossen sich unmittelbar ans Haus an, so konnten wir, ohne Aufsehen zu erregen, ausreiten oder sogar den Gleiter benutzen. »Ich möchte mit dir in diesem alten Restaurant essen.« Amiralis schaute sich skeptisch in unserer Küche um. »Ich will den König sehen, sein Schloß und die Gärten von Versailles; wir wollen erfahren, wo er die nächsten Schlachten zu schlagen gedenkt.« »Eines nach dem anderen!« Ich hob abwehrend die Hände. »Zuerst versuchen wir, die Stadt Paris zu erleben, während Riancor seine Aufgabe erfüllt.« »Etwa zu Fuß?« fragte sie verblüfft. Ich lachte sie aus. »Hat eine Dagorkämpferin etwa Angst, die Stiefel zu beschmutzen?« »Das nicht aber die prunkvollen Säume meiner teuren Kleider«, erwiderte Amiralis und ging hinaus, um die Diener zu bitten, die Pferde zu satteln. Wir hatten uns darüber verständigt; die beiden Dienerpaare brauchten dringend eine einschlägige Hypnoschulung. Riancor richtete im obersten, gut verschließbaren Raum die Bildschirme und die Steuerung der Sonden ein und sorgte für die notwendige Tarnung. Ein Essen im Tour d’Argent war die beste Einstimmung, die ich Amiralis bieten konnte. Aber vorher mußten wir Paris kennenlernen. Ein halber Tag würde für eine flüchtige Rundreise ausreichen. Ich schickte Pierre mit einer schriftlichen Bestellung zum Restaurant, half Amiralis in den
Sattel und mußte grinsen, als ich ihre modische Ausstaffierung sah. »Schön, aber unhandlich«, sagte sie. »Werden wir den König sehen, Atlan?« »Kaum. Er liebt seine Pariser nicht. Wahrscheinlich hält er sich im Louvre auf, denn in Versailles gibt es nicht genügend Platz für die gesamte Hofhaltung.« »Dann zeig mir wenigstens den Louvre von außen.« »Gern. Denk an deine Pistole.« Wir ritten los und wagten uns in den Trubel und das Getümmel von Tausenden Menschen hinein, sahen die stolzen Fassaden der Adelspalais und die schlammigen Plätze, die schmalen Straßen, noch immer nicht gepflastert, rochen die erstickenden Dünste von hundert unangenehmen Quellen, bewunderten die Kolonnaden und erkannten die ersten Ansätze zu einer bewußten Gestaltung von klaren Achsen, überschaubaren Quartieren und einer klaren Konzeption der Stadt auf der Ile de la Cité und entlang der Seinekrümmung. Zu meiner Überraschung waren reihenweise recht stattliche Bäume gepflanzt worden. Paris in diesen Jahren schien sich mehr denn je in eine Baustelle verwandelt zu haben; eine lebhafte Stadt voller Menschen, die viel arbeiteten. Amiralis prägte sich Straßen und Namen der wichtigen Bauwerke ein und registrierte alles, was um sie herum geschah. »Eine Stadt, die ein König baut, der sich buchstäblich nur Gott gegenüber verantwortlich hält«, bemerkte sie. Ich antwortete ernst: »Warte, bis du siehst, was er in seiner zukünftigen Residenz bauen und gestalten läßt.« Der Gegensatz zwischen Beauvallon und Paris konnte nicht drastischer sein. Wir waren unruhig, empfanden die hochragenden, geschwärzten Mauern der überfüllten Häuser als körperliche Bedrohung, und die unzähligen Blicke, die uns
trafen, konnten noch weniger beruhigen. Die Stadt wimmelte von Menschen; es schien, als könnte sich die Masse binnen Minuten zu einem Mob zusammenrotten, der schreiend, plündernd, brandschatzend und mordend durch die Gassen flutete. Ich wurde diesen bedrohlichen Eindruck nicht los, auch nicht, als wir uns schließlich Versailles näherten und sahen, welche Bauwerke und Gartenanlagen unter Louis Le Vau und André Le Notre entstanden waren und noch entstanden. Der Logiksektor versuchte eine längere Erklärung. Paris, der königliche Hof und die Bedrohung durch Nonfarmale sind eine Zusammenballung, die als gemeinsame Drohung oder Gefahr wirkt. In dem Augenblick, in dem ihr handeln müßt, seid ihr hier weitaus mehr gefährdet. Ich schloß mich dieser Deutung an. Wir sahen zwar den König nicht, aber Teile des Heeres, das zur Gartenarbeit abkommandiert worden war. Tausende schufteten an Kanälen, Erdbewegungen und Bepflanzungen und an Mauern, die Louis neben denen des Jagdschlosses hatte hochziehen lassen, des bescheidenen Anwesens, das sein Vater gebaut hatte. »Der Staatsrat hat das alles bewilligt?« fragte Amiralis. »Das kostet mehrere Vermögen!« Ich hatte ein Gerücht gehört, das besagte, man habe an den Einsatz von sechsunddreißig Tausendschaften gedacht, von denen Bäume umgepflanzt und komplizierte Wasserspiele angelegt werden sollten. Teile der Anlagen, die »Blumenparterre« genannt wurden, standen in voller Blütenpracht. Ich deutete nach rechts. »Dort hinten, in den Wäldern, trafen Nonfarmale und der König zusammen. Natürlich ist es sinnlos, jetzt dort nach einem Tor zu suchen.« »Verständlich. Wenn alles einmal fertig ist, wird es ein
wunderschöner Park. So etwas sollten wir in Beauvallon auch anlegen.« »Mit Riancor als Gärtner«, meinte ich. »Und gleichzeitig baut Colbert, der Controler general, eine Handelsflotte und eine Kriegsmarine auf sowie ein stehendes Heer von etwa 200.000 Mann. Jeder Franzose steuert sein Scherflein zu diesem Traum von Louis le Grand roi bei.« »Das macht den König so beliebt.« Wir wendeten die Pferde und ritten in scharfem Trab zurück zu unserem weitaus weniger beeindruckenden Haus. Riancor war tätig geworden. Die Dienerschaft lag eingeschläfert unter den Strahlern der Hypnoprogramme. Der Robot bemerkte: »Wenn sie morgen aufwachen, werden sie ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Sauberkeit, neuer Kleidung, angemessenen Umgangsformen und absoluter Treue und Verschwiegenheit den neuen Herrn gegenüber verspüren. Die Kleidung liegt bereit. Heißes Wasser habe ich zubereitet. Ich begleite euch zum Restaurant und sorge für Schutz.« »Erstklassige Arbeit!« lobte ich ihn. Wahrscheinlich würde er den Rest der Nacht damit verbringen, die sanitären Anlagen des Hauses auf einen angemessenen Stand zu bringen. Wir versorgten die Pferde, sahen uns in der Nachbarschaft um und stellten uns vor, dann wechselten wir die Kleidung, und ich steckte neben einer gefüllten Börse auch nützliche Kleinigkeiten wie als Dolche getarnte Lähmstrahler, ein Rapier, Feuerzeug und meine bewährte Pistole ein. Noch vor Einbruch der Dunkelheil betraten wir den »Silbernen Turm« und wurden zu unserem Tisch geführt. Riancor wartete bei den Pferden und zog weitere Informationen ein. Heiße Schokolade, Pilze, Spargel und Kräuter, herrliche Saucen, frische Salate und eine Menge unterschiedlicher
Gerichte, kleine Beilagen und weiße Servietten, zierliche Löffel und Messer, zweizinkige Gabeln und kostbares Geschirr – Vielfalt, Sorgfalt und Eleganz bestimmten hier den Abend. Nachdem wir bestellt hatten, wobei der Maitre uns höflich Auskunft gab und beriet, lehnten wir uns zurück, kostbare Gläser in den Fingern, und beobachteten die anderen Gäste. Ein etwa siebenunddreißigjähriger Mann am Nebentisch, der offensichtlich seine Freunde erwartete, fiel uns auf. Amiralis fiel neben den adeligen Damen nur dadurch auf, daß sie sich äußerst zurückhaltend benahm. Immer wieder warf unser Nachbar mit leichter Hand Zeichnungen auf Papier, das er zusammen- und wieder auseinanderfaltete. »Könnt Ihr mir sagen, ob uns der Herr dort porträtiert?« fragte ich nach der Suppe unseren Bediener. Er warf einen Blick auf den Herrn mit beherrschten Bewegungen und einer soldatischen Ausstrahlung, beugte sich zu meinem Ohr und gab Auskunft. »Ein Herr aus Burgund, ländlicher Adel, wie man sagt. Ein Sappeur. Sein Name ist Sébastien le Prestre de Vauban. Im Dienst Seiner Majestät.« »Versteht sich. Er zeichnet uns?« »Nein«, flüsterte der Weißgeschürzte und räumte die Teller und Näpfe weg. »Generalinspekteur der Festungen. Er baut Verteidigungsanlagen gegen unsere Feinde.« »Selbst am Tisch Eures herrlichen Restaurants«, bemerkte ich und sah in der nächsten halben Stunde genauer auf seine Zeichnungen. Seit meinen Besuchen mit Bergerac hatte sich nicht viel geändert. Das Essen mit wechselnden Weinen war ein Genuß ohne Einschränkungen. Die Gäste waren mitunter laut und kicherten, lachten und tauschten einen unaufhörlichen Strom von Geistreicheleien und Klatsch aus, aber sie pöbelten nicht. »Jedenfalls habe ich nicht übertrieben, liebste Amiralis?«
fragte ich etwa in der zweiten Hälfte unserer Gaumenfreuden. »Nein, nicht ein bißchen. Wir sind unter die Künstler geraten.« »Auch unter die Zeichenkünstler«, murmelte ich und meinte le Prestre. Er zeichnete Kurtinen, Escarpen und Gräben, Ravelins und Contre-Escarpen, Palisaden und Glacis. Gänge und Ravelingräben vervollständigten den Wirrwarr auf dem vollgekritzelten Papierbogen. Endlich kamen seine lautstarken Freunde, offensichtlich andere Militärtechniker. Da wir von vielem aber keine großen Portionen gegessen hatten, waren wir vom Zuckerwerk und den Kuchen des Nachtisches ebensowenig überfordert wie von dem einen oder anderen Obstbrand, der sich anschloß. Mit le Prestre kam ich durch einen Umstand ins Gespräch, der recht amüsant war: Er wollte seinen Freunden etwas erklären, sein Papier war inzwischen vollgezeichnet, und ich reichte ihm die Menükarte hinüber. »Besten Dank«, sagte er mit angenehmer Stimme. »Bei wem bedanke ich mich?« »Comte Atlan d’Arconville«, sagte ich. »Die entzückende Dame ist Amiralis.« »Welch ein Name. Schönheit im Wohlklang, Schönheit im Aussehen«, sagte er und stellte sich vor. »Ich denke darüber nach, mit dem Zeichenstift, wie meine Befestigungen das Geld des Königs sparen und dennoch den Kanonenkugeln widerstehen.« »Solltet Ihr den Rat eines erfahrenen Schützen brauchen«, wandte ich ein, »dann stehe ich Euch zur Verfügung.« Wir wurden abgelenkt; das Essen für den Nebentisch wurde serviert. Im Lauf des Abends erfuhr ich, daß er an den nordöstlichen und östlichen Grenzen arbeitete und aus guten Gründen ablehnte, Städte durch meterdicke und arbeitsaufwendig gebaute Mauern zu schützen. »Seigneur«, riet ich ihm, »strenge Symmetrie im Aufbau und
viel Gras auf den Wällen ist eine Lösung. Ich bin sicher, daß Colbert es gern sieht, wenn Zehntausende niedlicher Schafe auf Euren Glacis weiden und viel Wolle für die Manufakturen liefern.« »Der Gedanke ist einmalig!« rief er. Die anderen Herren ließen ihre Löffel und Messer sinken und brachen in Beifall aus. Amiralis und ich tauschten einen Blick des Einverständnisses. Uns beiden gefiel dieser junge Mann. Der Logiksektor bemerkte: Deswegen, weil der Flottenadmiral sein Können dem unwissenden Barbaren offenbart, wird er die Welt nicht verändern. Gezielt dachte ich: Wo Vauban baut, entstehen Festungen, um die gekämpft wird, und dort erscheint der Fremde. Das ist der Grund. Der Extrasinn schwieg besiegt. Ich grinste und bestellte noch zwei Gläser des Birnenschnapses. Noch hatte ich mein Arbeitszimmer nicht eingerichtet. Aber ich lud le Prestre ein, uns in drei Tagen zu besuchen. Diener huschten durch die Räume und »schneuzten« die Kerzen. Die leichte Trunkenheit an einigen Tischen nahm zu, von oben kamen Gelächter und das Klirren zerschmetterter Gläser. »Der Adel zeigt sich wieder von seiner schönsten Seite«, meinte Amiralis leise. »Er sollte sich ein Beispiel an uns nehmen.« Ich bat den Maitre, die Rechnung zu bringen. Sébastien le Prestre wandte sich an uns, als er merkte, daß wir aufzubrechen gedachten. »Comte«, sagte er offen, »ich gedenke eine Lehre des Handwerks von der Belagerung und der Verteidigung zu verfassen. Ihr habt sicherlich die Fähigkeit, mich bei einem solchen Unterfangen zu beraten?« Beinahe hätte ich ihm erzählt, daß ich in Cyrano de Bergeracs Handschrift nicht wenige Korrekturen eingefügt hatte, aber gerade noch hielt ich mich zurück. Ich wiegte den Kopf und antwortete statt dessen: »Zusammen werden wir es
wohl schaffen. Ihr habt Euch gemerkt, wo ich zu finden bin?« »Selbstverständlich. In drei Tagen also. Gegen Mittag?« »Es wird mir ein Vergnügen sein«, sagte ich, zahlte und nahm Amiralis’ Arm. Riancor wartete geduldig. Er half Amiralis in den Sattel, entzündete zwei Fackeln, die unseren Heimweg für das räuberische Gesindel derart grell beleuchteten, daß keine der dunklen Gestalten daran dachte, uns anzugreifen. Unbehelligt erreichten wir unser Haus und verschlossen hinter uns sorgfältig die Türen. Strahlende Selbstdarstellung war das Problem des vierzehnten Louis. Er ordnete nahezu alles dieser Maxime unter. Aus der Luft war zu erkennen, daß die neuen Achsen, Grands Boulevards, Plätze und Brücken bis hinaus nach Versailles den durchaus kühnen und richtigen Versuch darstellten, die Stadt Paris zu planen. Im fünfhundert Jahre alten Louvre war kein Platz für die Entfaltung von Pomp und Prunk; trotz der eben fertiggestellten herrlichen Kolonnaden würde der König mit Ministerien und Hofstaat in die Schlösser von Versailles umziehen. Aus der Luft schienen auch die Lagezeichnungen von Sébastien le Prestre angefertigt zu sein. Frankreich sollte wachsen, und die vielen Forts sollten leicht zu verteidigende vorgeschobene Bollwerke bilden. Ich musterte die Höhenlinien, eingezeichneten Wege, Bäche, Donjons und Mauern der Städte. »Ihr müßt daran denken, Seigneur«, wandte ich ein und zog ein paar Linien, »daß Krieg und Schlachten selten sind, der Friede trotz allem häufiger ist. Und länger dauert, so Louis will. Also müssen die Befestigungen in Friedenszeiten auch vernünftigen Zwecken dienen: Weide für alle möglichen Tiere, schmale Waldgürtel, weil Holz immer gebraucht wird, Anlegestellen für Schiffe und Boote, und natürlich müssen sich
die Verteidiger aus den Gräben schnell zurückziehen können.« Wir beide trugen keine Perücken, sondern hatten das Haar im Nacken zum Zopf geflochten. Auf meinem Arbeitstisch breiteten sich Vaubans Pläne aus. Er zeichnete fast so gut wie Riancor und phantasiereicher als ich. »Das bedingt«, antwortete er nachdenklich, »daß den Angreifern der Weg in die Stadt versperrt werden muß.« »Nichts leichter als das. Der letzte Flüchtende läßt Sand und Steine von oben in den Fluchtgang herunterstürzen. Oder es werden Schleusen geöffnet, deren Wasser die Angreifer dorthin zurückschwemmt, woher sie gekommen sind, und ihr Pulver naß werden lassen.« »Daran dachte ich auch. Darum müssen Fluchtgänge ständig bewacht werden, jedenfalls diese Stellen.« Mein erster Freund im Paris dieser Jahre verzichtete darauf, gigantische Steinmassen aufeinanderzutürmen. Er plante Verteidigungsanlagen bescheidener Art, die für das Kreuzfeuer abprallender Geschosse eingerichtet waren, für das sogenannte Ricoschettfeuer. Allerdings klafften in seiner Logistik noch erhebliche Lücken. Ich entwickelte für ihn ein Konzept, das damit begann, auf welchen Wegen sich der Feind nähern konnte, einbezogen auch phantasiereiche Varianten, welche Möglichkeiten er bekam, wenn er nur an ein, zwei Stellen einen Graben zuschüttete, und daß es wichtig war, ihn von weitem sehen und bekämpfen zu können. Ein Glacis, eine leicht abfallende oder ebene Fläche, die sich weit vor der Festung erstreckte, machte den Feind verwundbarer, die Festung allerdings konnte leichter vom Nachschub abgeschnitten werden. Es galt, einen Kompromiß zu finden. Sébastien und ich wußten, daß wir für Louis und Generale wie Turenne und Condo arbeiteten. Aber gleichzeitig legten wir wie auch der König und seine Baumeister Grundsteine für das Aussehen und den späteren Nutzen einer kleinen
Landschaft. Am Beispiel einer Festung, deren Namen er mir wegen der beabsichtigten Überraschung nicht verraten wollte, zeichneten wir die ideale Version einer Verteidigungslandschaft mit Mehrfachnutzen ein. Der wichtigste Gedanke dabei war: Ein Artilleriegeschoß pulverisierte nicht irgendwo ein Stück Stadtmauer, sondern bohrte sich in weiches Erdreich. Dort konnte es überdies ausgegraben und von den Verteidigern wiederverwendet werden. Plötzlich sprang le Prestre auf, wickelte einen länglichen Gegenstand aus dem Tuch und sagte: »Meine Erfindung, Comte Atlan!« Es war eine leichtere Muskete, die neben der Mündung eine Tülle aufwies. Er zog einen langen Dolch hervor, mehr ein kurzes Stoßrapier mit geschliffener Spitze, und schob den Griff in die Halterung, drehte ihn kurz, und ein metallenes Schnappen ertönte. Dann täuschte er einen Ausfall vor, der fast den Kerzenleuchter vom Tisch fegte. »Was hältst du davon? Wenn die Muskete leergeschossen und keine Zeit zum Nachladen ist, tritt die Truppe zum Nahkampf an. Ich habe es ›Bajonett‹ genannt.« »Eine weitere Erfindung, Barbaren umzubringen«, knurrte ich und setzte lauter hinzu: »Diese Erfindung wird dich unsterblich machen. Colbert spart viel Geld. Nur ein Dolch, zwei Verwendungszwecke, ein Sonderautzen für die Armee und die königlichen Kassen.« Er nickte, nahm das Bajonett ab und setzte es wieder auf den Lauf der Muskete. »Vielleicht werde ich wegen meiner Erfindung eines Tages Marschall von Frankreich.« Wir verstanden uns recht gut. Er war alles andere als ein schmarotzender Angehöriger einer Adelskaste, die steuerfrei lebte. Im Lauf mancher Tage bekam ein neuer Plan viel von meiner Handschrift und den umgesetzten Erkenntnissen
arkonidischer Raumschiffstaktik. Während Amiralis Paris oder Umgebung erkundete, nachts in ihrer Schwebeschale oder im Gleiter größere Entfernungen zurücklegte, half ich Sébastien. Le Prestre führte mich in die wichtigen und sehenswerten Bauwerke der Stadt. Er kannte nahezu jedermann, Baumeister oder Verwalter von Bibliotheken, Maler oder Architekt. Wir ritten durch die Gärten der neuen Anlage, die, zwischen Stadt und westlichen Wäldern gelegen, Stück um Stück wuchs. Ich bewunderte Notre Dame, die Kirche Unserer Lieben Frau, beobachtete das Treiben im Louvre, und wir kehrten in kleinen Schenken ein, die le Prestre aussuchte. Unsere Mahlzeiten waren nicht aufwendig, aber stets galten die Wirtin und ihre Köche als Meister einfacher, aber deftigraffinierter Gerichte. Und daß der Wein kein Schädelbrecher war, dafür sorgten unser Sachverstand und eine stets gefüllte Börse. Mitte Juni, draußen wusch ein heftiger Landregen den Kot aus den Gassen und schwemmte ihn in die Seine, saßen wir zwischen Fenster und Kamin und unterhielten uns leise. »Die Wonnen von warmem Wasser und Seife«, sagte ich angelegentlich und betrachtete die Menschen, ärmlich oder reicher, die in unserer Nähe saßen, »sind im Land der Gloire unbekannt. Jedermann, scheint mir, starrt vor Dreck. Was habt ihr Pariser gegen Sauberkeit?« Sébastien schaute mich verständnislos an. »Was meint Ihr, Comte?« Er betrachtete begriffsstutzig die schwarzen Ränder seiner Fingernägel. »Ich entsinne mich eines Dorfpfarrers«, sagte ich und dankte dem Wirt, der den leicht perlenden Wein brachte, »der da sagte: Ausgenommen die Feiertage, sind meine Schäflein, ob reich oder arm, so verdreckt, daß die Mädchen die Männer
und umgekehrt vor jeglicher Fleischeslust bewahren.« »Dort, woher Ihr kommt«, wir duzten oder gebrauchten die förmliche Anrede wild durcheinander, ohne zu überlegen, »gibt es viele unverständliche Sitten. Aber ein kluges Völkchen müßt Ihr sein.« »Vor allem werden wir nicht krank, weil wir verdreckt sind. Der Schwarze Tod? Bei uns unbekannt.« »Dann solltet Ihr den Herzog von Montausier kennenlernen.« »Er wäscht sich etwa täglich?« »Er benutzt, wie Ihr im Tour d’Argent, bei Tisch sogar eine Gabel!« »Unfaßbar«, sagte ich. »Und wann badet er?« Ein neues Fremdwort. Man badete zu hohen Festen oder aus medizinischen Gründen. Ich wurde le Prestre geradezu unheimlich. »Weiß ich nicht. Ihr solltet sehen, wie unnachahmlich elegant unser König ein Ragout vom Geflügel ißt.« »Mit den Fingern, versteht sich?« »Wie sonst?« Mittlerweile war es in höchsten Kreisen üblich, sich die triefende Nase nicht am Tischtuch oder am Kleid abzuwischen, sondern ein Tüchlein dazu zu verwenden. Im »Musketier an der Mauer« waren nicht einmal die Tische gedeckt. Mittlerweile sollte Riancor schon von Beauvallon zurück sein. Er hatte einen wunderschön gezimmerten Taubenturm und fünfzig Taubenpärchen gefunden und gekauft und erfüllte die dringenden Wünsche unserer Bauersfrauen. Überdies versprach ein Taubenschwarm über dem Dorf Glück und Reichtum. Die Tür wurde aufgestoßen, ein Windstoß ließ die Flammen hochwirbeln und blies die Hälfte unserer Kerzen aus, die am Tisch und die Stummel des Wandleuchters. Ich stand auf und grub in der Tiefe der großen
Rocktaschen. Le Prestre begrüßte die vier Eintretenden. Eni Priester, Jesuit, ein Richter des Parlament, ein junger Kunstmaler und dessen Freundin, eine grell geschminkte, offenherzige Kurtisane. Sie steuerten unter Gelächter und Verbeugungen einen freien Tisch an und hängten ihre triefenden Mäntel achtlos auf Haken und über Stuhllehnen. Ich zündete eine Kerze nach der anderen mit dem Feuerzeug an und schob es in die Tasche. Der Jesuit war, kaum daß er Platz gefunden hatte, wieder aufgesprungen. Erschreckt meldete sich der Logiksektor: Du hast dich verraten! Laß dir eine gute Ausrede einfallen. Es ist lebensgefährlich. »Was tut Ihr da, im Namen des Herrn?« rief der Priester, hochrot im Gesicht. Ich hielt die Hand in der Tasche und drehte mit dem Daumen das Gasventil, Teil einer Verzierung, bis zum Anschlag zurück. »Ich habe eine Kerze an der anderen angezündet, Hochwürden«, antwortete ich so gelassen wie möglich, »weil der Wind die Flammen ausblies.« »Ihr seid ein Zauberer, ein Hexenmeister!« schrie der Jesuit. Der Richter ruckte bedeutungsschwer. »Eure Taschen sind voller Blendwerk!« »Meine Taschen sind so sauber wie mein Gewissen«, sagte ich und hielt ihm ein kleines Ding auf der Handfläche entgegen, das wie ein Parfümflakon aussah. »Hexenmeister werden in der Regel durch Flammen der ewigen Seligkeit zugeführt«, bemerkte der Kunstmaler. Die Frau kicherte und bestellte Wein. Vauban stand auf, zirkelte eine höfliche Geste und erklärte im Tonfall völliger Verwunderung: »Das Licht hier, wegen der ausgeblasenen Kerzen, ist schlecht. Ihr müßt etwas gesehen haben, das es nicht gibt. Denn dieser Comte, mein Freund, vermag leider nicht zu
zaubern.« »Ich hab’s genau gesehen«, sagte entschlossen der Richter. »Was habt Ihr gesehen?« fragte ich. »Ihr nahmt ein Papier, habt es gefallet, an einer Flamme entzündet und damit die Kerzen wieder zum Brennen gebracht.« »Wer leugnet es?« wollte ich wissen. Immerhin hatte ich noch meine Waffe und den Mikrodeflektor in der anderen Innentasche. Die Lage war deshalb nicht ungefährlich, weil ich inzwischen bekannt war, einen Wohnsitz besaß und der Freund le Prestres war. Der Priester starrte den Flakon mißtrauisch an. Er konnte nichts anderes sehen als ein zylindrisches Ding in kostbarer, nachgeahmter Intarsienarbeit. Die Klappe, von einem geschliffenen Stein gekrönt, ließ sich hochklappen. In ihr war der elektrische Zündmechanismus versteckt. »Ich habe eine Flamme an der anderen zum Brennen gebracht«, sagte ich und steckte den Zylinder wieder ein. »Überdies habe ich nur dem Wirt die Arbeit abgenommen.« Ich wandte mich an den Jesuiten und erkundigte mich spöttisch: »Oder klagt Ihr auch Colbert an, weil er Menschen und Tiere in Teppiche weben läßt? Ich muß gestehen, daß es mich merkwürdig berührt, kurz nachdem Le Grand Roi zu regieren begann, von Euch derlei ungereimtes Zeug zu hören. Oder sucht Ihr etwa einen Anlaß, Euch mit mir zu schlagen? Hochwürden! Als Mann des Glaubens?« Selbst der Richter mußte lachen. Ich setzte mich, wandte den anderen Gästen den Rücken zu und hob mein Glas. Noch war die Gefahr nicht vorbei. Der Mann der Gesellschaft Jesu war durchaus in der Lage, mich vor ein hochnotpeinliches Inquisitionsgericht zu bringen. Ich hatte offensichtlich Glück gehabt. Sébastien meinte nach einer Weile so leise, daß nur ich es verstehen konnte: »Ich kann sie nicht leiden, diese Männer,
die am Rad der Zeit rückwärts drehen wollen. Sie werden mich auch anklagen, wenn ich eine Bresche in eine Mauer sprenge.« Er nahm das Feuerzeug, öffnete es und roch demonstrativ am Duftstoff. »Es gab derlei Vorfälle«, sagte er etwas lauter. »Vor sechs oder sieben Jahren ist ein Mann auf den Scheiterhaufen gegangen, weil man ihm angeblich wundersames Handeln nachweisen konnte. Oder er gestand unter der Folter.« Ich steckte das Gerät ein, schwor mir, in Zukunft vorsichtiger zu sein, und fragte mich, welche Aufregung ich hervorgerufen hätte, wenn ich vor den Augen der zur Hälfte gefüllten Gaststube einfach verschwunden wäre. Der Wirt brachte den Gästen Wein und uns das Essen. Noch immer diskutierten der Richter und der Geistliche. Ich beruhigte mich und zog eine Gabel aus den unergründlichen Taschen, worauf le Prestre in ein lautstarkes Gelächter ausbrach. Würde der Jesuit wirklich wissen, was ich alles in den Taschen und am Körper versteckt trug, mußte ich für ihn tatsächlich der Abgesandte der Hölle sein. Es dauerte lange, bis ich den Vorfall verdrängt hatte; aber er lehrte mich, vorsichtig zu bleiben. In aller Öffentlichkeit, wie für jedermann unter einer Lupe, lebte Louis-Dieudonné im Louvre. Das tägliche Diner, das er meist allein, mit Messer und den Fingern, aß, wurde ebenso beobachtet wie seine zahlreichen Affären. Acht Gänge wurden serviert, mit jeweils zwanzig oder dreißig Platten. Sprach er mit einer Dame, nahm der König den Hut ab, und daher stank die schwere Krempe nach ranzigem Fett und Schlimmerem. Schon Louis’ Vater war ein begeisterter Koch gewesen. Der König war nur zu verstehen, wenn ich mangelnde Bildung, Erziehung durch Mazarin, unbegreifliche Sitten und die
Auswüchse der absoluten Monarchie, Unerfahrenheit und Machtgelüste, sein bourbonisch-heftiges Temperament und die absolute Ichbezogenheit des roi soleil zusammenrechnete und mit der pockennarbigen, mittelgroßen Person krönte, die volle, blaurote Backen zeigte, dessen Haar schütter wurde, der sich für seine regelmäßigen nächtlichen Abenteuer eine ständig anwachsende Zahl von Mädchen und Frauen jeglicher Herkunft hielt wie ein Rehrudel. Marquis de Vauban war zu Bauarbeiten an die nordöstliche Grenze abberufen worden. Der Burgunder, Schüler des einfallsreichen Abraham Fabert, versprach, mir einen Boten zu schicken, wenn unsere Pläne ausgeführt waren und über alle Aufschüttungen Gras wuchs. In unser Haus war wieder gespannte Ruhe eingekehrt. Die zweite Hälfte des Juni verwöhnte Frankreich mit herrlichem Wetter. Gegenwärtig kreisten unsere Sonden über einem großen Tal voller schroffer Felsen und wogender Felder. Wie gotische Fassaden wirkten die Klüfte und Höhlen. In der Höhe flogen nur unsere Sonden, nicht einmal mehr die Störche. Hin und wieder zeichnete sich als angeblich größeres Objekt ein Vogelschwarm auf dem Bildschirm ab. »Der Hang Nonfarmales zu bösem Humor«, bemerkte Riancor bitter, »äußert sich in seiner Abwesenheit.« »Ich will nicht gerade sagen, daß ich mich langweile«, sagte ich und las weiter, was Huygens über den Planeten Saturn auszuführen hatte. Amiralis freundete sich mit Ann-Claire Fleuron an, einem grauäugigen, blonden Geschöpf zwischen Mädchen und Frau aus der Nachbarschaft mit langen Locken und einem bedauernswerten Schicksal: Sie war schön, liebenswert und – blind. Wir luden sie ein, Rico und ich entführten sie in die
Schutzkuppel und ließen sie von den Medorobots untersuchen. Die Operation war wenig riskant; noch während der Bewußtlosigkeit erfüllten die Robots andere Teile ihrer Programmierung, und wir brachten Ann-Claire schlafend zurück; die Veränderung würde sich zeigen, wenn wir die breite Binde über ihren Augen aufknoteten. Amiralis gewöhnte Ann-Claire im verdunkelten Zimmer ans Kerzenlicht, später ans Halbdunkel, und nach dem Erleben ihres ersten Sonnenaufgangs in unserem Garten begann das Mädchen zu weinen – wir fühlten uns edel, hilfreich und einzigartig erfreut. Amiralis und Ann-Claire waren unzertrennlich, ritten gemeinsam aus, und selbst ich bekam feuchte Augen, wenn ich sie beobachtete: Ann-Claire entdeckte die Welt mit der tolpatschigen Grazie eines edlen jungen Tieres. Wir erforschten die Umgebung der einzigartigen Stadt, warteten, wechselten bisweilen in die Kuppel und kontrollierten die Suchgeräte und die Bilder der Sonden. Mir gelang es, mich abzulenken, indem ich die Drucker besuchte, in den Bibliotheken stöberte und die neuesten Erkenntnisse der Naturwissenschaftler studierte. Ein gewisser Picard hatte eine genaue Methode gefunden, die Erdkugel zu vermessen. Mit Hilfe eines Barometers, das Luftdruck registrierte, sagte der Deutsche Guericke einen Sturm voraus, und irgendwo war tatsächlich eine echte Injektion von Heilmitteln in die Adern durchgeführt worden. Ich fand sogar heraus, daß man eine Maschine gebaut hatte, mit der Korn gedroschen werden konnte! »Der Sommer scheint ohne Kämpfe und Schlachten zu vergehen«, bemerkte Riancor viel später. »Ich denke, daß der Außerirdische noch einmal versucht, Louis zum Krieg gegen die Niederlande zu überreden. Oder er provoziert einen Zwischenfall.«
Es gab Gerüchte und Meinungen: Der »König der Ballette« scheute die Kriege, und für Theater, Musik, Kleidung und Möbel. Leibgarde und Stallungen verschleuderte er das Zwanzigfache an Geld wie seine Vorgänger. Obwohl das starke Heer mit allem versorgt war, was für einen Angriff nötig war, begnügte sich der König damit, Mätressen zu verbrauchen und außereheliche Kinder zu zeugen. Die meisten Gerüchte waren Tatsachen. Wir warteten weiter, Tag um Tag. In den Nächten fuhr Amiralis schweißgebadet in die Höhe und riß mich aus dem Schlaf. Nachmittags weckte mich Rico. Amiralis und Ann-Claire waren ausgeritten, irgendwo in den südlichen Teilen der Versailler Wälder. Ich war während der Musik Jean-Baptiste Lullys eingeschlafen. Rico winkte, ich folgte ihm ins Dachgeschoß. »Nonfarmale?« »Bisher unsichtbar. Aber nahe Versailles haben die Geräte eine Strukturöffnung angemessen. Sie hat sich wieder geschlossen; das schwache Positionsecho verschwand in Bodennähe.« »Er muß es sein. Sucht er vielleicht wieder den König?« Eine Sonde schwebte unsichtbar schräg über Amiralis und Ann-Claire. Ich betrachtete das friedliche Bild und beruhigte mich. Hier, abseits der Ränder jener gewaltigen Gartenbaustelle, breitete sich eine geradezu idyllische Landschaft aus. Meine Gefährtin und Ann-Claire trabten auf einen kleinen Gutshof zu, in dem Milch, Wein und Bier ausgeschenkt sowie Essen verkauft wurden. »Nichts zu sehen, Atlan, außer Vogelschwärmen«, sagte Rico. »In einer bestimmten Stunde wird sich der Fremde zeigen. Vielleicht ein besonders bizarrer Scherz von ES, um zu verhindern, daß es dir zu gut gefällt zwischen den Barbaren?«
»Auch das ist möglich. Ich bin in meinem Arbeitszimmer.« »Ich rufe dich, wenn ich ihn gefunden habe.« Zwei Stunden später fing eine Sonde das Bild Nonfarmales ein. Er schwebte auf einen umzäunten Teil der Gärten zu; hier gab es kein Rotwild, keine Jagd, denn die Pflanzungen sollten ungestört wachsen. Meine Blicke wechselten zwischen dem Reiter auf einem sauroiden Pferd mit Libellenflügeln und Amiralis und Ann-Claire. Nie hatte ich Nonfarmale menschenähnlicher gesehen. Er ähnelte dem Chevalier in der goldenen Rüstung, trug aber statt des goldenen Helmes einen Hut mit weißen und goldenen Federn. Er saß im Prunksattel eines pferdeähnlichen Tieres, das schlanke Libellenflügel so schnell zu bewegen schien wie ein Kolibri. Er schien sich auf einen längeren Aufenthalt eingerichtet zu haben. Er lehnte bequem gegen die Rückenlehne des Sattels. Köcher und Armbrust hingen vor dem rechten Knie am Sattel. Das Fell des Tieres glitzerte und funkelte, als ob es aus Schuppen bestünde. In großer Höhe erfaßten ihn jetzt die ersten Sonnenstrahlen. Er schien direkt in das grelle Licht hineinsehen zu können; er blinzelte nicht, und wir erkannten keine Schutzvorrichtungen. Sein schmales Gesicht war entspannt, er machte eine höchst zufriedene Miene. Sein weißes Haar war in zierliche zylindrische Rollen gelegt und mit einer schwarzen Schleife zusammengefaßt. Stulpenhandschuhe, Sporen, breite Gurte, allerlei Stickereien und ein prächtiges Zaumzeug, das zum Maul des schlanken, eleganten Riesentiers führte, fingen im grellen Morgenlicht zu blitzen und zu leuchten an. Völlig unberührt schwebte Nonfarmale dahin, warf hin und wieder einen Blick auf die langsam erwachende Landschaft und schien mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Er landete, stieg ab und führte das Tier in eine Scheune, deren Außenwände in Gipsputz und in jenem Stil verkleidet waren, der den Gebäuden Versailles glich. Ein Tor schwang
langsam zu. Die deflektorgeschützte Sonde stieß gegen einen Schutzschirm, schwebte zurück und begann langsam um das Gebäude zu kreisen, das offensichtlich keinen zweiten Ausgang hatte, der für Nonfarmales Reittier groß genug war. Ich knurrte: »Also weiter warten.« Der Gleiter war bereit, ebenso die kleinere Maschine, deren Antigravtriebwerke eine größere Flughöhe zuließen. Die Stunden des Nachmittags verrannen träge. Amiralis und AnnClaire waren längst auf dem Rückweg; sie hatten keine Eile. Ich sah, wie sich ihnen ein Reiter näherte, höflich den Hut schwenkte und lachte. Sie sprachen und scherzten miteinander und näherten sich langsam der Straße, die zum Treffpunkt führte: In der Dunkelheit würde Rico Reiterinnen und Pferde mit dem Gleiter abholen und hierher fliegen. Als der Weg durch das Halbdunkel des Waldes führte, durch dessen Stämme das goldene Licht der untergehenden Sonne in schmalen Streifen funkelte, verlor ich sie aus den Augen. Der Fremde und sein Reittier hatten die Scheune bisher nicht verlassen. Summen, Hufgetrappel, ein Schrei, das Summen der Gleitermaschinen, krachende Äste und dann zwei Stimmen: Aus den Lautsprechern, meinem Armbandgerät und der Verbindung der Geräte mit dem schweren Gleiter drangen Lärm und Laute, die ich nicht entschlüsseln konnte. Der Extrasinn schrie: Sie sind in Gefahr! Vielleicht kann Rico nicht helfen! Ich holte tief Luft, versuchte auf dem Monitor der Sonde etwas zu erkennen, als sich der Roboter meldete: »Atlan! Amiralis ist unversehrt. Ich muß die Pferde einfangen. Ein Unbekannter hat Ann-Claire… überfallen. Sie ist bewußtlos…« »Ich helfe Rico.« Amiralis’ Stimme, todtraurig, atemlos, hart und entschlossen. »Halte dich bereit. Wir bringen sie nach
Hause.« »Was ist geschehen?« Ich zwang mich zur Ruhe. »Seid ihr verletzt?« »Nur Ann-Claire. Ich weiß selbst nicht genau, was er ihr angetan hat. Ich war bewußtlos…« »Ich warte auf euch. Es ist sinnlos, euch entgegenzureiten«, sagte ich. »Es würde zu lange dauern.« »Rico hat die Pferde. Nicht länger als eine halbe Stunde, Liebster.« Wieder wartete ich in steigender Ungeduld; verzweifelt und zur Untätigkeit verurteilt. Von Zeit zu Zeit gab Rico knappe Erklärungen ab. Die Pferde, ebenfalls unversehrt, standen in den Gittern der Ladefläche, der Gleiter hob sich, hüllte sich ins Deflektorfeld, gewann an Höhe und Schnelligkeit; ich ging in den Garten und öffnete die breiten Türen der Scheune, kontrollierte meine medizinische Ausrüstung und aktivierte den winzigen Medorobot. Es schien eine kleine Ewigkeit zu dauern, bis ich das Summen hörte und die unsichtbare Masse der Maschine zugleich mit dem Schweißgeruch der Tiere an mir vorbeischwebte. Ich schloß die Türen, rannte halb um die Scheune herum und prallte fast mit Amiralis zusammen, die den reglosen Körper auf den Armen trug. Ann-Claires Reitkleidung war schmutzig, zerrissen und voller Blut, das Gesicht kalkweiß unter Schmutz und geronnenem Blut, ihre blonden Locken hingen feucht bis zu Amiralis’ Knien. Wir rannten in mein Arbeitszimmer und betteten den leichten Körper auf die Liege. »War es dieser Reiter?« fragte ich, schaltete Lichter an, reinigte Ann-Claires Gesicht, wich dem summenden Medorobot aus. Amiralis sagte: »Nonfarmale!« Der Robot trennte die Kleidung auf, kontrollierte den Herzschlag, tastete Knochen und Gelenke ab, summte und
blinkte; langsam redete Amiralis weiter. »Nichts fiel mir auf, bis wir kurz vor der TreffpunktLichtung waren. Ich habe keine Waffe gesehen, aber mich traf ein Lähmstrahl, warf mich aus dem Sattel, und das Pferd ging wohl durch, die Zügel haben sich in den Büschen verfangen. Als ich zu mir kam, lag sie neben dem Pfad. Ihr Herz schlägt, sie hat gewimmert, als wir hierherflogen.« Der Diagnoseschirm des Maschinchens zeigte, daß AnnClaire lebte. Der Roboter versorgte eine Platzwunde über dem rechten Ohr und injizierte beruhigende und kreislaufstabilisierende Medikamente. Zwischen den mädchenhaften Brüsten und der Halsgrube begann sich die Haut zu röten; mehr und mehr, blutrot schließlich, auch als der Robot eine Salbenschicht daraufsprühte. Es war der Abdruck einer sechsfingrigen Hand mit ungewöhnlich langen Fingern. Ich sagte leise: »Hat er sie vergewaltigt?« Der Robot öffnete die Lider des Mädchens, weißes Licht strahlte. Amiralis hob die zerschnittene Kleidung hoch, und auf dem Monitor erschien das Symbol für Negativ. Ich holte tief Luft, und wir warteten, bis Ann-Claire versorgt und von Rico in ihr Bett getragen worden war. Der Robot sagte: »Das Maschinchen hat errechnet, daß sie bis morgen mittag schlafen wird. Alle körperlichen Funktionen entsprechen den definierten Normen. Keine innerlichen Verletzungen. Die Kopfwunde ist unerheblich. Wir müssen warten.« Amiralis sagte kurz: »Ich nicht. Ich bring’ ihn um.« Ich umarmte sie und zog sie an mich. Sie weinte einige Sekunden lang an meiner Schulter und zog mich in den Wohnraum. Der Eßtisch war von den Dienern, bevor ich ihnen mittags freigegeben hatte, für uns drei gedeckt worden. Wir setzten uns, ich füllte Wein in die Pokale, aber weder Amiralis noch ich hatten Appetit. Nach einer Weile sagte sie:
»Ihr müßt Nonfarmale finden. Ich bin bereit, ihm mit dem Gleiter zu folgen und ihn zu töten. Wenn Rico kein Tor in seine Jenseitswelt findet, bedeutet es, daß er sein Unwesen auch in dieser Nacht treibt.« »Wir haben ihn aus den Augen verloren. Wir wissen nur, wo er sein exotisches Reittier versteckt hat«, sagte ich. »Rico wird ihn finden, wie immer.« Der Roboter und seine Spionsonden entdeckten Nonfarmale im ersten schwachen Schimmer des neuen Tages. Wir starrten auf den Bildschirm: Am klaren Himmel erloschen nacheinander die Sterne, der Mond war längst hinter den Horizont getaucht. Erstes Grau zeichnete einen schmalen Streifen im Osten. Der Reiter und sein Reittier wurden deutlicher, die Farben besser wiedergegeben. »Das ist der Tag«, sagte Amiralis entschieden. »Heute bringe ich ihn um.« Wir hörten, daß Amiralis sich ausrüstete und anzog. Metallgegenstände schlugen mit dumpfem Klirren gegeneinander. Die Morgensonne erfaßte unsere Sonde und ließ sie zu einem hellen Punkt werden, der sich im Rücken des Reiters hielt. Die zweite Sonde, sehr viel höher und im Gegenlicht, blieb hoffentlich für seine Augen unsichtbar. Langsam schwebte er weiter. »Mit dem Gleiter könntest du ihn in knapp mehr als einer Stunde erreichen«, rechnete mir der Robot vor. Amiralis kam in den dämmrigen Raum, betrachtete die Bilder der Wiedergabegeräte und legte ihre Arme um mich. Sie trug einen Anzug, der dem ähnelte, in dem sie das Raumschiff aus dem Basaltfelsen herausgeholt hatte. Die Gelenke waren von Metallplatten geschützt, sie trug Brust- und Rückenpanzer und war so gut bewaffnet, wie wir es für einen bevorstehenden Kampf berechnet hatten. Ein einziger Blick in
ihr Gesicht zeigte mir, daß ich sie von ihrem Vorsatz nicht mehr abbringen konnte. »Ich nehme die kleine Schwebekapsel«, erklärte sie. Ihre Stimme war fast tonlos. »Du kommst nach?« »Ich komme nach«, versprach ich. »Verlaß dich darauf. Wir haben so oft darüber gesprochen. Denk daran, Amiralis – nur List und Verschlagenheit können erfolgreich sein. Offener Angriff ist Selbstmord.« Ich küßte sie, und Amiralis verließ den Raum mit schnellen Schritten. Kurz darauf stieg der winzige Gleiter zwischen den Baumwipfeln senkrecht in die Höhe und verschwand in der Helligkeit. Ich hatte genug sehen können und fragte: »Du hast das Funknetz klar, Riancor?« »Selbstverständlich.« Ich trank kalten Mokka vom Vortag und rüstete mich so ähnlich aus, wie Amiralis. Schließlich befestigte ich das Kommunikationsgerät am Handgelenk und murmelte: »Du wirst uns einweisen. Ich allerdings beabsichtige, unsichtbar zu bleiben. Ich glaube nicht, daß wir ihn fassen, aber der Versuch scheint heute sinnvoller als sonst zu sein.« Der zerschrammte Gleiter hob sich auf die Antigravpolster. Ich klinkte die breiten Gurte ein und schaltete das Deflektorfeld ein, das Tor öffnete sich, ehe uns ein Bediensteter sehen konnte. Ich schwebte hinaus, drehte über einer Lichtung und steuerte den Gleiter schräg aufwärts. »Ist unsere Tarnung klar?« fragte ich Riancor. Er bestätigte: »Auch Amiralis Thornerose hat die Tarnkappe aufgesetzt.« Ich schob den Geschwindigkeitsregler bis zum Anschlag. Gleichzeitig erhöhte ich die Steigleistung der Maschine. In der Höhe von mehr als einer Seemeile, selbst ohne tarnende Felder, hielt man uns möglicherweise für kämpfende Vögel. Summend und schneller flog und stieg die Maschine; weit
voraus auf meinem Kurs wuchs ein heller Punkt fast unmerklich langsam an. Das Extrahirn unterbrach meine Überlegungen. Luftkampf, Arkonide? Nonfarmale wird sich geschützt haben. Der Punkt voraus begann sich in die beiden Gestalten zu verwandeln. Ich steuerte nach links, um schräg hinter das Ziel zu kommen. Dann winkelte ich den Arm an und sagte: »Amiralis? Du bist hinter ihm?« »Genau in Flugrichtung. Ich werde ihn betäuben, Atlan.« »Einverstanden. Rechne damit, daß auch sein Reittier uns einen intelligenten Kampf liefern kann. Entfernung?« »Zwei Pfeilschuß weit«, antwortete Amiralis. »Geh näher heran, bleib unsichtbar und versuch, das Tier zu lähmen! Dann stürzt er vielleicht ab. Ich bin erst in ein paar Minuten nahe genug heran.« Nichts war zu sehen; unberührt bewegte sich das Libellenpferd weiter in östliche Richtung. Ich befand mich südlich der beiden und sah, wie aus dem Nichts ein fahler Strahl aufzuckte und hinter Nonfarmale auf eine unsichtbare Sperre auftraf, zerteilt wurde und irrlichternd erlosch. Sekunden später, noch während ich hörte, wie Amiralis den Fremden verfluchte, schlugen zwei Energielanzen in den Schutzschirm des Fremden ein; eine Hochenergiewaffe und die Entladung der Lähmwaffe. Die aufgefangene und abgestrahlte Energieflut wirbelte in Schlieren und Blitzen an der Außenfläche eines kugelförmigen Schutzschirms. »Sinnlos«, sagte ich. »Amiralis! Wir brauchen ein transportables Geschütz für diesen Panzer.« Nonfarmale drehte sich ruhig im Sattel um. Als ich sein Gesicht sehen konnte, korrigierte ich mich. Er war alles andere als ruhig. Die Augen waren aufgerissen, der schmale Mund stand vor Schreck weit offen; er zeigte deutliche Angst. »Ich weiß nicht…«, hörte ich noch, dann bekamen die
Vorgänge ihre eigene Gesetzlichkeit. Alles lief in überraschender Schnelligkeit ab. Nonfarmale rammte seinem Flügelpferd die Sporen tief in die Weichen. Die Flügel des Tieres bewegten sich so rasend schnell, daß in der Morgensonne nur wirbelnde, blitzende Viertelkreise wahrzunehmen waren. Gleichzeitig stürzten Roß und Reiter schräg abwärts, schlugen einen spiraligen Kurs ein und wurden schneller. Wieder feuerte Amiralis einen Strahl aus der Hochleistungswaffe ab, nadelscharf diesmal, und der Reiter warf, von einem Schock getroffen, den linken Arm hilflos in die Höhe. Dann schloß sich die Strukturlücke im Schutzschirm, der nur zu sehen war, wenn er Fremdenergie aufhielt. Mitten in einem rasenden Sturzflug verschwand Nonfarmale. Eine Sekunde später hörte ich durch die überlasteten Bordlautsprecher: »Liebster, ich werde mit…« Der Schrei riß ab. Ich flog weiter auf den Ort von Nonfarmales Verschwinden zu, als ich endlich Riancors Stimme hörte. »Amiralis ist zwei Sekunden nach Nonfarmale verschwunden.« Ein Deflektorfeld war von keinem Barbaren zu durchdringen. Aber unsere Geräte orteten jene Felder ohne Schwierigkeiten. Der Schreck ließ mich zusammenzucken; mich packte eine eisige, hoffnungslose Lähmung. Ich krächzte: »Willst du etwa sagen, daß Amiralis durch dieselbe Tür schlüpfte wie Nonfarmale?« »Mit höchster Wahrscheinlichkeit ist es so.« Der Morgenhimmel war leer. Unter mir erfaßten die Sonnenstrahlen Bergspitzen und Dächer der Kirchtürme. Ich verringerte die Geschwindigkeit des Gleiters; automatische Gesten und Handlungen. Ich wußte nicht, was in der »Jenseitslandschaft« vor sich ging, aber als ich meine klare Überlegung wiedergewann, erkannte ich die trostlose
Wahrheit hinter dem Geschehen, das vor mir abgelaufen war. Nonfarmale und Amiralis Thornerose waren kurz hintereinander dorthin verschwunden, wo Nonfarmale sich aufhielt. Amiralis befand sich, hervorragend ausgerüstet und nicht unvorbereitet, in Nonfarmales Reich, entschlossen, ihn zu töten. Er hatte gemerkt, daß er von den Barbaren des Planeten erkannt und verfolgt wurde. »Kannst du irgend etwas anmessen, das einem Tor gleichkommt?« fragte ich. »Ich habe es versucht. Nichts, Atlan. Was tust du?« »Warten, Riancor! Und ich stelle mir vor, was hinter der unsichtbaren Grenze im ›Rosengarten‹ vor sich geht. Ein erbitterter Kampf auf Leben und Tod?« »Dort ist er der Herrscher. Ob wir Amiralis wiedersehen, ist fraglich.« Traurige Konsequenz, sagte der Extrasinn. Warte, Arkonide. Hier oder woanders, gleiche Wahrscheinlichkeit herrscht an jedem anderen Punkt über der Welt. Ich wartete. Der Gleiter beschrieb im Westen von Paris Kreise in großer Höhe. In meinem Innern breitete sich das Gefühl eines unersetzlichen Verlustes aus, gepaart mit schwarzer Traurigkeit. »Du wirst mir nicht glauben können, Liebster.« Amiralis schluckte und stöhnte auf. »Aber die Gleitergeräte zeichnen alles auf.« Dieses Universum war dunkel, zusammengesetzt aus Tieren und Pflanzen eines aberwitzigen Alptraums. Nonfarmale schoß in das Chaos aus phosphoreszierenden Bewegungen und dunkel leuchtenden Felsen hinein, das Libellenpferd verringerte die Geschwindigkeit; Amiralis Thornerose versuchte im chaotischen Schrecken zu erkennen, wo sie sich befand, was sich geändert hatte. Sie begriff: Jetzt befand sie sich in der Jenseitslandschaft. Sie hatte geschworen, Nonfarmale zu bestrafen.
Über der Szene, die keine Begrenzung erkennen ließ, lag giftgrünes Licht. Als Amiralis nach links auswich, sah sie hinter einer Gruppe Felsen die Sonne; sie war riesengroß und bildete einen abgegrenzten Kreis hinter wabernden Nebeln. Amiralis flüsterte in das Armbandmikrophon: »Riancor? Atlan? Könnt ihr mich hören?« Nur leises Knistern im Lautsprecher bewies, daß das Gerät arbeitete. Niemand antwortete. Sie verstand, daß sie von ihrer Welt abgeschnitten war. Das Reittier bewegte sich wie eine wirkliche Libelle. In einer Anzahl eckiger Bewegungen raste der Verfolgte hin und her, aufwärts und abwärts, stieg fast senkrecht auf und schaltete den Abwehrschirm aus, nachdem er einige Male gegen Äste geprallt war und einen Hagel von Blättern und Rindenstückchen losgewirbelt hatte. »Antwortet doch!« Amiralis versuchte es noch einmal und hoffte, daß sie auch in der »Jenseitslandschaft« unsichtbar geblieben war. Sie hatte Schwierigkeiten, Nonfarmale auf der Spur zu bleiben. Die Eindrücke, die sie von der vorbeihuschenden Landschaft empfing, verdichteten sich zu einem Bild, das sie nicht bewußt studieren konnte. Keine Antwort. Das Kontrollämpchen flackerte aufgeregt. Die Felsen schienen Pflanzenarme zu haben, die wie Peitschen schnellten oder sich träge wanden und nach Unsichtbarem tasteten wie Tentakel. Über der seltsamen Landschaft aus Fels, Dschungel und schlammigem Boden lag das grüne Leuchten, das in den Augen schmerzte und jedem Gegenstand ein gefährliches Aussehen verlieh. Amiralis riß den kleinen Gleiter hin und her, wich den Tentakeln aus; die neblige Luft war voller fliegender Tiere. Libellen, so groß wie Hände, prallten im Zickzackflug, von hammerköpfigen Flugechsen verfolgt, gegen den Schutzschirm des Gleiters. Über den Wipfeln der alptraumhaft gewundenen Bäume schwebten kleine und große Vögel oder
Saurier, mit langen Schwingen und Storchenschnäbeln. Käferartiges Getier summte dröhnend zwischen den Zweigen umher. Als sich der Dschungel lichtete, erhob sich über einer brodelnden Schlammfläche eine Barriere grün leuchtender Kristalle, zweimal so hoch wie die Türme des Louvre, und der untere Rand der grünen Sonne berührte die chaotischregelmäßigen Auswüchse der achteckigen Felsformationen. In der Mitte hatte sich eine Art Portal gebildet, das von stechend rotem Licht und wabernden Nebeln durchflutet wurde. Dort war Nonfarmale hindurchgejagt. Ihr Gleiter fegte auf die Passage zu. Kristallfelsen, Nadeln und Bastionen, abgebrochene Diademe und Zinnen schienen zu leben. Eine Flüssigkeit, wie funkelndes Öl, lief über die gebrochenen Flächen und tropfte zäh von Vorsprüngen, Spitzen und kühn ins Leere ragenden Brücken. Amiralis schüttelte sich und umklammerte die Griffe der Steuerung. Sie tauchte in den rotglimmenden Nebel und spürte, wie ihre vielfältigen kleinen Schrecken durch eine kalte Wut der Entschlossenheit ersetzt wurden. Das Gefühl bedingungslosen Hasses auf den Menschenvernichter kam zurück. Der Tunnel aus facettenartig gewachsenen Vorsprüngen und Nebel war nach einigen Sekunden schnellen Fluges zu Ende. Der Nebel riß auf. Amiralis starrte in eine kleine, rote Sonne hinein und sah davor die Silhouette des Libellenpferdes; es strebte schräg abwärts und blieb über einer felsigen Hochfläche wilder Gesteinsformationen in der Luft schweben. »Grüne Sonne, rote Sonne… wo bin ich wirklich?« Amiralis verringerte die Geschwindigkeit, schwebte auf eine Baumgruppe zu, deren riesige Äste und Blätter im roten Licht und einem leisen Wind angstvoll zu zittern schienen. Unruhig wartete Amiralis und versuchte herauszufinden, welche Waffe in der Lage war, Nonfarmale ohne Risiko für ihr Leben zu töten.
Ununterbrochen betrachtete sie ihre Umgebung. Jemand, der hier lebte, besaß zweifellos einen kranken Verstand. Das Licht erstickte jegliche Fröhlichkeit; wo sich die schwarzen Bäume, die Echsen und die Sumpftiere wohlfühlten, würde ein Mensch binnen einigen Monden an der Krankheit des Geistes sterben müssen. Wieder sank das Reittier und kreiste über den Türmen und Mauern, die aus dem kleinen Tafelberg emporwuchsen und irisierende Schatten warfen. Der stumpfkegelige Berg stand inmitten einer Landschaft, die an Seltsamkeit schwer zu übertreffen war. Im roten Licht, das unbekannte Farben erzeugte, breitete sich ebenes Land aus, durchsetzt von Inseln aller Art: Da gab es runde Flächen, in deren Mitte steinerne Finger nach dem Nebel zu greifen schienen, umgeben von Buschwerk in unaufhörlicher Bewegung. An anderer Stelle ragten monströse Gesichter, Köpfe und Hälse aus dem brodelnden Morast; Fratzen wie die Wasserspeier von Notre Dame, mit gespannten Muskeln, bereit zum tödlichen Sprung. An einigen Stellen schienen Flammen aus dem Moor zu züngeln. Dumpfes Summen schien einen Sturm anzukündigen. Amiralis schüttelte den Kopf und richtete ihren Blick auf den Fremden. Sein Reittier sank senkrecht dem Gewirr steinerner Bauwerke entgegen. Amiralis steuerte ihren Gleiter im weiten Kreis um den Tafelberg herum und spähte umher. Der Himmel blieb dunstig, die Sonne schwamm im Nebel wie ein leuchtender Fremdkörper. In irgendeiner Himmelsrichtung bauten sich schwarze Wolkentürme auf. Amiralis starrte über dem Sumpf in die Sehorgane fremder Wesen. Die Wände des Tafelbergs, rissig und voller Klüfte, ragten ungefähr dreihundert Fuß auf; der Sumpf bildete eine riesige Schüssel, deren Ränder im Dschungel verschwanden. Dunkle Wolken rollten rasend schnell heran; Amiralis glaubte, zwischen ihnen das Flächenfeuer von Blitzen zu erkennen. Die Sonne wurde
vom Wolkenrand verschluckt. Düsternis fiel über die Schreckenslandschaft. Nonfarmale war zwischen den Türmen, Mauern und Pyramiden verschwunden. Amiralis folgte ihm: Ein heilloses Gewirr aus Bauten bedeckte die Fläche, es wurde dunkler, Sturm heulte in der Luft, Regenschauer hämmerten gegen den Gleiter. Die Tiere waren in den Schutz zwischen Zweigen geflüchtet. »Also muß ich dich in deinem Schlupfwinkel bekämpfen!« Der Himmel wurde schwarz, überall waren Wolken, die Sonne verschwand. Amiralis steuerte den Gleiter bis über die Zinnen, versuchte zu landen und steuerte den taumelnden Gleiter in dichtes Buschwerk. Der flutende Regen lief mit ohrenbetäubendem Lärm vom Schutzschirm ab: Amiralis fühlte sich in der Finsternis gefangen, eingeschlossen und ohne jede Hilfe. Sie spürte ihren kalten Haß. Der Regen ging so schnell vorbei, wie er gekommen war. Statt der roten Sonne leuchtete jetzt eine gelbe Scheibe in unangenehmem Licht. Amiralis wunderte sich nicht über die Anzahl der Sonnen und deren Farben und ließ den Gleiter hochsteigen, als über dem Dschungel Dampfschwaden aufstiegen und die Tiere ihre erbarmungslosen Jagden begannen. Sie landete hinter einer Reihe doppelt mannshoher Säulen auf großen Platten und dick bemoosten Fugen – in dieser Jenseitswelt galten andere Gesetzmäßigkeiten. Amiralis desaktivierte das Deflektorfeld, schaltete die Maschinen in Leerlauf und lief durch Muster aus gleißendem Licht und vagen Schatten, durch Nebelschwaden und unter geflügelten Echsen, die sich tödliche Kämpfe lieferten, auf nassen Rampen und zwischen triefenden Mauern abwärts. Kochendheiße Luft umwaberte sie, die Ausrüstung wurde mit jedem Schritt schwerer; eine Wolke stechenden Geruchs wehte ihr entgegen. Leise sprach sie ihre Beobachtungen ins
Funkgerät und in die Aufnahmegeräte. Binnen weniger Augenblicke trocknete die Hitze die Felsen, Pfützen und Rinnsale versiegten vor ihren Augen; sie zwang sich zurück in die Verhaltenswelt des Dagorkämpfers und wünschte, Atlan wäre bei ihr. Sie merkte sich jeden Schritt innerhalb dieses steinernen Irrgartens, zeichnete jede Phase auf, um während des Rückzuges in diesem Labyrinth, aus dem Felsen herausgeschlagen, sich nicht zu verirren. Nach einigen Minuten stieß sie auf den Stall der Fabeltiere, auf denen Nonfarmale ritt; jenseits einer langen Rampe waren die Säulen und Eingänge voller Kot und Spuren, die Haut Klauen und Zähne der Tiere hinterlassen hatten. Nähte oder Zierleisten der Mauern waren Adern eines andersfarbigen Gesteins. Zwei Dutzend Tiere standen und lagen im feuchten, dreckstarrenden Stall: Saurier, pferdeähnliche Monstren. Drachen, eine geflügelte Schlange – eine abstoßende Legendenmenagerie. Schwärme kleiner Wesen wieselten auf den ledrigen Körpern umher und putzten und fütterten sie. Der Gestank raubte Amiralis den Atem, ihre Augen tränten. Auf weiteren Schrägen und Gängen näherte sie sich einem weniger zyklopenhaften Teil der Anlage: Erker, Bögen, Säulen oder Fenster waren leichter, spielerischer. Die Hitze blieb, die Schatten wanderten kaum, ornamentartige Vertiefungen, Traversen und Überdachungen führten auf eine tieferliegende Ebene, aus der ein vierzig Schritt breiter Flachbau herauswuchs, etwa doppelt so lang. Junge Dschungelbäume umstanden, gepflegt und sorgsam beschnitten, den Wohnbezirk. Amiralis schwang das Führungsrohr vom Rücken und suchte ihr erste Ziel, visierte das größte Fenster an und feuerte die erste Ladung ab. Aufheulend, eine Stichflamme und graugelben Rauch ausstoßend, jagte das tropfenförmige Projektil durch das transparente Material hindurch. Amiralis wartete nicht, lud
das nächste Projektil und feuerte durch das nächste Fenster, wechselte den Standort und wurde vom Druck der doppelten Detonation, die aus den Löchern herausbarst, in den Rücken getroffen und nach vorn geprellt. Sie erreichte die Ecke, hetzte eine Treppe hinauf und schoß drei Projektile ab, ehe sie hinter der Deckung auf dem Steinboden lag und Trümmer, Feuerzungen und Splitter über sie hinwegheulten. Sie lud die letzten Explosivkörper nach, hob den Kopf, entdeckte eine steinerne Konstruktion, die sie mit dem Eingang identifizierte, und jagte die Geschosse durch eine massive Doppeltür, die zehn Fuß breit und ebenso hoch war. Sie warf das Führungsrohr hinter eine Balustrade, die sich als pantherähnliche Figur seitlich über eine Stufenfolge schob. Dort vernichtete sich das Gerät selbst, indem es verbrannte. Sämtliche Öffnungen waren zerstört worden. Höllisches Feuer hatte im Innern gewütet. Die Öffnungen waren an den Seiten geschwärzt; nach oben zogen Rauch und Flammen ab und zeichneten schwarze Zungen auf den Fels. Amiralis schaltete das Schutzfeld ein. Sie hielt beide Waffen in den Händen, als sie auf den Eingang zurannte, die verschmorten Reste mit einem Desintegratorschuß zerstörte und in den Raum hineinsprang, tief geduckt und bereit, auf alles zu feuern, was sich bewegte. Der Raum besaß keine Trennwände. Es gab nur Trümmer und zahlreiche Brände. Zehn Herzschläge lang musterte Amiralis das Innere, dann sah sie, daß hier nichts und niemand mehr lebte und daß in der Mitte der Halle eine Treppe ins untere Geschoß führte. Sie sprang vorwärts, drehte sich mehrmals um und sah, daß sie allein war, bis sie den Niedergang erreichte. Die Stufen waren von Scherben und schwelenden Fetzen von irgend etwas bedeckt. Amiralis huschte abwärts und sicherte nach den Seiten. Je tiefer sie eindrang, desto geringer war die Verwüstung. Die letzte Stufe entließ sie in einen ringförmigen
Korridor. Offene Durchgänge und zerbeulte Türen zeigten sich, als sie vordrang. Sie blickte in nahezu unzerstörte, seltsam eingerichtete Räume: Nonfarmale hatte in jedem Raum Spuren hinterlassen; Kleidungsstücke, Teile der Rüstungen, die sie an ihm gesehen hatte, Blumen und Zweige aus der wirklichen Welt, Gläser und Krüge. Sie wollte, daß er auftauchte und einen Pfeil aus der Armbrust auf sie abfeuerte, aber er blieb unsichtbar… verschwunden. Amiralis huschte von einem Raum zum anderen und stellte fest, daß sie sich in hervorragend ausgestatteten Höhlen befand, kunstvoll aus dem Fels herausgeschlagen. Die Scheinfenster bestanden aus großen Spiegeln aus Firenze und aus den GlasbläserManufakturen, die Colbert, der Finanzminister des französischen Königs, eingerichtet hatte. Durch ein sinnreiches System wurden Licht und Spiegelungen aus vielen Teilen der Bauwerke hierher gelenkt. Jeder Raum zeigte einen anderen Ausschnitt der gelb überstrahlten Wirklichkeit. Auf dem vorletzten Spiegel sah Amiralis die Kolonnade und, wenig deutlich, ihren Gleiter. Der goldgerahmte Spiegel im letzten Raum neben der ehemals prunkvollen Treppe zeigte ihr Nonfarmale. Amiralis handelte blitzschnell, schob den Desintegrator zurück und hastete die Treppe hinauf. Nonfarmale ritt wieder im Sattel des Libellenflügel-Pferdes, das sie zwischen den Bestien im Stall gesehen hatte. Ein Schwarm von mindestens fünf Dutzend kleinerer Saurier umkreiste ihn. »Seine Jagdhunde!« Sie keuchte und raste durch den verwüsteten Raum, hechtete durch die zerfetzte Tür und fand den Weg zum Landeplatz des Gleiters. Während sie unter den Traversen hindurchrannte, die Stufen hinaufsprang, entlang der heißen Mauern unter dem Schatten der Stege durch die Schluchten stürmte, ahnte sie, daß sie den Kampf verloren hatte.
Sie preschte die letzte Rampe hinauf, warf einen Blick zum Himmel und sah, wie Nonfarmale wieder unsichtbar wurde. Sie schwang sich in den Sitz, schloß mit einem wilden Ruck den Gürtel; während sie den Gleiter schräg in die Höhe zog, baute sich das Abwehrfeld auf. Der Deflektorschirm entstand in ansteigender Kapazität und Intensität. Amiralis steuerte in die Mitte des Schwarmes aus spitzschnäbeligen, hammerköpfigen Flatterern. »Jagdhunde oder nicht«, flüsterte sie und zerwirbelte mit flüchtig gezielten Strahlen aus dem Bordgerät einen Teil des Schwarmes. Zuckende Körper fielen in Spiralen zu Boden und schlugen in den See über dem Sumpf. »Ich will euren Herrn.« Strahlen, fast unsichtbar im grellen Licht, zuckten hierhin und dorthin. Amiralis hoffte, daß sie auf die Energiesphäre prallen und den Unsichtbaren zeigen würden. Farbenprächtige Flugechsen rasten in alle Richtungen davon, und Amiralis sah ein, daß eine weitere Suche sinnlos war, wenn ihr nicht der Zufall half. Es war vernünftiger, mit Atlan und Riancor zu sprechen und zu schildern, wie die »Jenseitslandschaft« aussah. Ohne viel Zutrauen zu dem Gerät schaltete sie die Aufzeichnungen der Flugbewegung um und ließ den Griff der Steuerung los, suchte vor sich, über sich und seitlich den Himmel ab und näherte sich in schnellem Flug dem Rand des dampfenden Dschungels. Ihr Körper wurde schwer und träge. Müdigkeit griff nach ihr, sie schloß für einige Sekunden die Augen. Amiralis schüttelte sich, zwang Verstand und Körper zurück in die Sphäre des Dagorkämpfers und setzte die Geschwindigkeit der Maschine herunter, als mächtige Äste sich dem Fahrzeug in den Weg streckten. In ihrer Magengrube stach ein kurzer Schmerz und verging sofort wieder. »Atlan…«, sie flüsterte und krümmte sich, als ein zweiter Schmerzanfall sie packte, sich vom Innersten des Körpers über
Rücken und Brust bis zum Hals hochschob und ihr den Atem nahm. Aus ihrer Kehle kam ein rasselndes Keuchen. Der Gleiter suchte sich seinen Weg durch die Baumkronen und hinterließ eine Gasse aus splitterndem Holz und einen Regen aus Blättern und Rindenstücken. Jetzt hatte der Schmerz sämtliche Muskeln und die Haut erfaßt. Amiralis krümmte sich, schluchzte und griff nach ihrem Kopf. In den Ohren schrillten marternde Dissonanzen. Von der mühsam gezügelten Kraft, die in ihrem Körper gewachsen war, schwand ein Teil nach dem anderen. Der Schmerz raste in ihrem Körper, griff nach dem Verstand und machte aus ihr ein hilfloses Bündel aus Knochen und Fleisch. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen diese rasenden, würgenden Schmerzen an, verlor wieder das Bewußtsein; als sie durch brennende Augen die Umgebung erfaßte, entsann sich ein versteckter Winkel ihres Verstandes, daß alles irgendwann eine Bedeutung gehabt hatte, die sie nicht mehr erkannte, obwohl sie sah, daß sie durch zurückschnellende Zweige im Licht einer purpurnen Sonne schräg aufwärts jagte. Ihr Gesicht war zu einer Grimasse hilflosen Schmerzes erstarrt. Die Haut, leichenfahl, spannte sich über den Knochen. Wieder raubte eisige Kälte, in der sie verbrannte, ihr Bewußtsein. Sie sah nicht mehr, daß Nonfarmale über ihr sichtbar geworden war und sein Reittier in einer engen Kurve zur Seite lenkte. Sie wollte schreien, aber aus ihrer Kehle kam nur ein langgezogenes, hustendes Stöhnen. Sie war noch bei Bewußtsein, als sie mit gespreizten Händen nach vorn fiel und vom Armaturenbrett heruntersackte. Unter den splitternden Fingernägeln kippten die Schalter. Der Gleiter schoß aus dem unsichtbaren Loch in der nicht sichtbaren Wand hinaus in die Welt. Mit der Morgensonne im Rücken, keine zweihundert
Sekunden nach ihrem Verschwinden, jagte Amiralis, vor Schmerzen schreiend und unverständliche Worte kreischend, auf den Arkoniden zu. Sie starb, als es Riancor gelungen war, den Gleiter zu übernehmen und an einen menschenleeren Waldrand zu steuern. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie alles vergessen, was sie seit der Geburt gelernt hatte. Sie war gestorben wie Unzählige vor ihr, deren Seele Nonfarmale gefressen hatte.
15. Ihre Schreie gellten in meinen Ohren. Ich riß den Einstieg der zerschrammten Maschine auf und blickte in das ausgezehrte Gesicht einer greisenalten Idiotin. Die Wangen trugen die Spuren der Fingernägel, die sich ins Fleisch gegraben hatten. Amiralis starrte mit fahlen blauen Augen. Ich überwand die ersten, flüchtigen Schrecken, als ich ihr die Augen schloß und darüber nachzudenken begann, was sie in drei Minuten erlebt haben mochte. Dann erklärte, in Trauer und Lähmung der Gedanken hinein, das Extrahirn: Waffen fehlen! Sieh auf der Uhr nach! In Nonfarmales Versteck verstreicht Zeit in einem, anderen Maß. Er ist Sieger geblieben. Ich nickte verständnislos und löste den Gurt. Als ich sie heraushob und in den Schatten trug, auf taubenetzten Moospolstern niederlegte, merkte ich, daß ihr Körper leichter geworden war. Die erste Reaktion war, daß ich den Spaten aus dem Werkzeug meines Gleiters in die Hände nahm und wie ein Rasender ein Grab schaufelte. Ich mußte die Raserei aus Trauer, Wut, Haß und dem Gefühl der Ohnmacht austoben. »Sie ist auf furchtbare Weise gestorben, Rico«, sagte ich, nachdem ich sämtliche Waffen und Geräte aus ihrer Kleidung geborgen und gesehen hatte, daß sie Brand- und Rußspuren aufwies, die Knöchel beider Hände aufgeschürft und die Stiefel durch brennenden Schutt bewegt worden waren. »Und sie hat Nonfarmale einen Kampf geliefert.« »Ich bugsiere den Gleiter im Schutz des Deflektorfeldes zurück ins Haus. Ich warte auf dich. Unternimm nichts!« Ich schrie: »Was denn? Ich finde niemals den Eingang dorthin. Ich kann ihn nur in unserer Welt bekämpfen. Er hat Amiralis umgebracht, dieser…« Meine Stimme kippte um, und ich schaffte es, mich zu beherrschen und wie ein
Kristallprinz zu verhalten. »Das weiß ich. Sie starb unter Qualen, aber nicht sinnlos, wenn im Sterben während eines Kampfes überhaupt ein Sinn zu berechnen ist.« Wir sprachen nicht mehr weiter. Trauer hockte in mir und auf mir wie ein großer schwarzer Vogel mit nassen Schwingen. Ich schaufelte Erde über das Grab und schichtete Steine auf, nachdem der kleine Gleiter gestartet und verschwunden war. Die Zeit war zu spät für jede sinnvolle Überlegung und Handlung. Ich fing an, mir selbst Vorwürfe zu machen. Hätte ich Amiralis Thornerose zurückhalten können? Nicht auf die Dauer. Ich ging mit hängenden Schultern zu meinem Gleiter und fiel in den Sitz. In der Ferne läuteten Kirchenglocken. Tränen, Heulen und Zähneklappern und das furchtbare Getöse des gegenseitigen Mordens gingen also weiter. Nonfarmale war nur in der Welt der Barbaren zu besiegen. Ich flog in großer Höhe zurück nach Paris und versteckte den Gleiter hinter doppelt gesicherten Türen, schloß mich in meinem Arbeitszimmer ein, machte sinnlose Zeichnungen und zog den Verschluß aus dem Calvadoskrug. Weder Riancor noch der Logiksektor wußten etwas zu sagen. Tage und Nächte fraß ich Trauer und Wut in mich hinein, schlief lange und schlecht, träumte von Le Sagittaire, Amiralis und von kommenden Kriegen. Hohläugig und müde, ausgelaugt, saß ich am späten Morgen im Schatten eines Baumes und würgte ein Essen hinunter. Riancor stellte eine große Schale vor mir ab. Er deutete darauf und sagte: »Ich habe das Rezept de Bergeracs gespeichert. Diesen Wundertrank habt ihr häufig nach langen Nächten gebraut. Verlaß dich darauf: Er hilft!« Ich begann widerstrebend zu löffeln. Verschiedene Zutaten,
ein Schluck Wein, scharfe Gewürze und die Hitze trieben mir den Schweiß aus den Poren. Rico deutete in die Richtung des heißen, schäumenden Bades. Ich leerte die Schale und merkte, wie mein Körper den Verstand zwang, an der Erholung teilzunehmen; mir lief salziges Sekret unaufhaltsam aus den Augen. Die Umgebung, offene Fragen, die Besorgtheit um Ann-Claire, die arkonidische Analysefähigkeit nach der ARK SUMMIA – sie gewannen an Schärfe, die Konturen waren nicht mehr verwischt, die zutreffende Farbe stellte sich ein. Ich wandte mich an Rico: »Was konntest du herausfinden? Haben die Aufzeichnungsgeräte zuverlässig gearbeitet?« Er zwirbelte seinen Schnurrbart, nickte. »Du warst ausgemergelt. Es ist positiv, mitanzusehen, wie du entmergelst. Nimm ein Bad, schlafe ungestört; ich regle alles. Morgen untersuchen wir jeden Aspekt dieser tragischen Geschichte, Atlan.« Ich verzichtete auf eine Entgegnung. Der Roboter hatte Recht. Auch ein arkonidischer Kristallprinz sollte fähig sein, seine Grenzen zu erkennen. Der Logiksektor widersprach nicht. Ann-Claire Fleuron erwachte aus langem, tiefem Schlaf; sie schien erholt und erinnerte sich an nichts außer an unsere Gesichter und Namen. Der Abdruck der sechsfingrigen Hand verschorfte, darunter bildete sich neue Haut. Als ich mit ihr sprach, erschien sie mir somnambul, gab ihre Antworten mit hoher, kindlicher Stimme, war ungeschickt, als sei sie zehn Jahre jünger; auch der Ausdruck ihres Gesichtes hatte sich verändert. Ich hatte Amiralis gesehen, und jetzt begriff ich mit schmerzhafter Gründlichkeit, was abseits von Versailles vorgefallen war. Ann-Claire war Amiralis’ Schicksal um Haaresbreite entgangen. Jener Reiter, eine jüngere Version des Fremden, hatte blitzschnell erkannt, daß Ann-Claire nichts
oder wenig von dem besaß, was er suchte und hatte sich aus ihrem Verstand zurückgezogen, bevor sie ausgesogen war. Freiwillig? Ich überließ sie zunächst der Pflege unserer Dienerschaft und erklärte ihre Amnesie durch die Kopfverletzung. Jetzt war ich in der Lage, ruhig genug über sämtliche Vorgänge nachzudenken, abzuwägen und zumindest einen großen Teil der wahren Bedeutung zu erkennen. Während Ann-Claire schlief, behutsam der Wirkung unserer Psychostrahlungen ausgesetzt, untersuchten wir den kleinen Gleiter, überspielten die Ton- und Bildaufnahmen, kontrollierten die Zeiteinblendungen und versuchten, den Flug dieser mutigen jungen Frau zu rekonstruieren. Umgeben von Monitoren, Lautsprechern und einem halben Dutzend unterschiedlicher Bilderfolgen, auch von unseren Spionsonden aktuell gesendet, saß ich unter dem Dach, neben Rico, und wir erlebten die mehr als 124 Minuten mit, die Amiralis in der Jenseitswelt verbracht hatte. Erste, kaum zu erschütternde Feststellung: In der Parallelwelt, Jenseitswelt, auf dem anderen Planeten, jede Bezeichnung ist gleichermaßen richtig oder fragwürdig, herrscht ein anderer Zeitablauf. Der Extrasinn flüsterte: Daraus ist nicht zu schließen, ob es ein Teil von WANDERER ist. Ich überlegte: Mehrere Sonnen, eine eindeutig fremde Landschaft, ein problemfrei zu passierendes Tor, sei es im All oder in Planetennähe; derlei Saurier, Vögel und Pflanzen deuteten auf eine Larsaf-III-ähnliche Welt im frühen Stadium hin. Und – wie war Nonfarmale, der anscheinend allein dort lebte, auf diesen Planeten gekommen? Über ein Tor, oder mit einem Raumschiff? Wir erlebten sämtliche Vorgänge mit, sahen, daß sich der
Fremde mit Gegenständen von jenem Planeten ausstattete, über den ich wachte, wir erkannten, daß Nonfarmale uns die Ebene der Auseinandersetzung aufgezwungen hatte. Auf seiner Welt waren wir mehr oder weniger hilflose Eindringlinge. Ich sagte: »Zweite Prämisse: Einen Teil seiner Lebensenergie scheint jener Außerirdische aus anderen Lebewesen zu saugen. Er geht selektiv vor: Ann-Claire war zu kindlich, hatte trotz ihres schweren Schicksals zu wenig erlebt. Nun, andernorts auf Larsaf III essen die Eingeborenen Hirn und Herz des erschlagenen Feindes, damit seine Klugheit und Kraft auf sie übergehen. Es ist das Gleiche, sage ich.« »Die Großpositronik unseres Verstecks widerspricht dir nicht«, meinte Rico. »Sie hat eine hohe Wahrscheinlichkeit für folgende These errechnet: Es gibt in diesem System aus Energiestrahlen mit Knoten an zeitlich und örtlich willkürlichen Orten mindestens eine Welt, auf der Nonfarmale – allein oder nicht – mit einem Raumschiff, woher auch immer, gelandet ist.« »Die Positronik und ich sind einer Meinung«, murmelte ich. »Du hast über Satelliten, Antennen und Ortungsgeräte festgestellt: Dieses Transmitter-Pforte-Transitionsenergie-wasauch-immer-Tor ist verschwunden, und aus irgendwelchen Tiefen der Galaxis zuckt kein Leit- oder Suchstrahl. Richtig?« »Richtig«, sagte Rico. »Das gilt für gestern und heute.« Flüchtig wandte ich mich näherliegenden Überlegungen zu. Der vierzehnte Louis plante trotz eines stehenden Heeres von rund 200.000 Mann keinen breit angelegten Krieg. Sein Gegner würde wohl die Niederlande sein; sie und die Franzosen hatten ihre Festungen meist hervorragend geschützt. Die überzeugenden Lösungen schuf Sébastien le Prestre de Vauban mit meiner Hilfe.
Louis Le Nôtre war, als wir ihn trafen, achtundfünfzig Jahre alt und ein Landschaftsarchitekt, dessen Fähigkeiten womöglich größer waren als die meines Schützlings le Prestre. Das Gelände, das er für Wälder, Parks, Wasserspiele und Blumenanlagen bearbeitete, war eine Ödnis gewesen, bevor Versailles entstand. Vor zwei Jahren schon war der Friedensschluß von Aachen in den neu entstandenen Teilen der Schloßanlage gefeiert worden. Als le Prestre mich besuchte und aufforderte, zum Planer Le Nôtre zu reiten, sagte ich freudig zu. Daß wir mitten in einem Heer von Arbeitern, Fuhrwerken und Werkzeug, neu gepflanzten Bäumen, Büschen und Grasflächen den König trafen, ohne Hofstaat, war ein Zufall. Sébastian rief mir zu: »Natürlich ächzt das Volk unter den Steuern. Das Heer, die Beamten und die Bauten des Königs… es wird in Jahrhunderten noch vom Ruhm unseres Landes zeugen.« Wir ritten im Schatten alter Bäume, die von Vorgängern des Louis gepflanzt worden waren, in weitem Bogen durch die Zone zwischen natürlichen Wäldern und geplantem Parkbewuchs. »Wäre Euer König wirklich klug, würde er den Adel besteuern. Oder aber jeden Bürger gleichermaßen.« Er nickte. Es war auch ihm ernst mit der Überlegung. Bisher hatte sich der Adel schamlos bereichert. Männer wie Mazarin und Fouquet betrogen König und Staat auf komplizierte Weise um unfaßbare Summen. Bestechung und Titelkauf waren an der Tagesordnung. Wer zahlte? Stets das Volk. »Ein königlicher Zehent, sozusagen? Meinst du das, Atlan?« »Könige sollen gerecht sein, gegen sich und alle anderen. Wenn schon Steuern sein müssen, dann gerechte Steuern. Ein armes Zehntel vom Bauern, ein goldenes vom Adeligen. Ich sehe die Notwendigkeit ein und würde, wenn auch nicht
gerade jubelnd, zahlen.« »Wenn ich weiß, daß Colbert die begehrten Louisdors klingeln ließe«, rief mein Freund, »dann würde auch ich zahlen!« »Welch schöne Einigkeit.« Wir ritten im Trab zwischen Erdwällen hindurch, passierten in einigen Schritten Entfernung einen Kanal, der noch wasserlos war und sich scheinbar bis in die Unendlichkeit erstreckte. Ein Teil der riesenhaften Anlage war fertig; je weiter sich die Massen der Schaufetaden und Ziehenden vom Schloß entfernten, desto wüster sah die Gegend aus. Unzählige Bäume, während des ausgehenden Winters in tiefe Gruben gesetzt, waren, sorgfältige Abstände und Knotenpunkte markierend, an Stangen und Stützbalken befestigt, wirkten wie Inseln, da der Bereich um den Stamm bereits aus grasbewachsenen Hügeln bestand. Steinmetze setzten hinter den Faschinen ihre Ufersteine an den Rand der Kanäle und Becken. Die meisten Sockel waren noch ohne Statuen; der Wolkenhimmel spiegelte sich in den Wasserflächen des Bassins. »Dort vorn. Die Bauhütte!« rief le Prestre. Um die Arbeiter nicht zu stören – selbst Teile des Heeres schufteten hier ebenso wie an den Befestigungsanlagen de Vaubans –, zügelten wir die Pferde und ritten auf dem steinigen Boden zwischen den Bäumen weiter. »Er scheint seine Leute gut in der Hand zu haben«, meinte ich. »Kein Wunder. Soldaten sind gewohnt, klaren Befehlen zu gehorchen. Die Disziplin im Heer ist ausgezeichnet. Das habe ich immer wieder merken können«, gab Sébastien zurück. Rechnerische und gestalterische Fähigkeiten im Bereich der Architektur waren in diesen Jahren zu beträchtlichem Standard entwickelt worden. Während Le Vau die neuen
Bauten um das alte Jagdschloß des königlichen Vaters hochzog, sah ich hier die Anwendung von Meßgerät, klugen Berechnungen, lange entwickelter Formeln und präziser Linien, Kreise und Kreisausschnitte. Durch geschicktes Visieren durch Peilgestänge erreichte der Gartenbaumeister, daß ein ebenes Stück Gelände auch tatsächlich so glatt war wie eine Tischplatte. Wir stiegen aus den Sätteln und banden die Zügel an einen Holzpfeiler; ich half Ann-Claire aus dem Damensattel. »Hier sind wir, Monsieur Le Nôtre!« rief le Prestre und klatschte in die Hände. »Ich, der Hügelformer le Prestre, und mein Freund, Comte de Beauvallon.« Langsam kletterte Louis Le Nôtre die beiden Stufen hinunter, schwenkte seinen Hut mit weißer Feder, worauf wir das gleiche taten und uns vorstellten. Vauban erklärte, welche Hilfen ich ihm gegeben hatte und daß die ersten Seiten seines Buches schon vom Drucker zurückgekommen waren. Le Nôtre hörte sich das Lob an, lächelte mich und Ann-Claire nachdenklich an und fragte: »Ihr seid erfahren in den Notwendigkeiten der Wasserkünste, Comte?« »Leidlich. Mein Freund Riancor kann weitaus mehr. Wo liegen die Schwierigkeiten?« »Bei der Regulierung. Bald werden die Pumpen dicke Wasserstrahlen aus Hörnern, Muscheln, Mäulern und allerlei anderen Öffnungen speien. Es gibt Probleme mit der Dichtigkeit und der Mechanik.« Ich nickte und antwortete: »Zeigt mir die Anlage; vielleicht können wir zusammen ein paar Fragen beantworten. Es dürfte menschenmöglich sein.« »Unser König wird in diesem Fall nicht mit Anerkennung und Dank geizen«, versprach der Gartenarchitekt. Vom unfertigen Schloß sprengte eine Kavalkade heran: sechs
Reiter, zwischen ihnen ein Mann in brauner Kleidung. Vauban und Le Nôtre veränderten ihre Haltung und schienen zu erstarren. Dann meinte der Architekt: »Ein Glückstag, Seigneurs, Le Grand Roi beehrt uns mit seinem Besuch. Eine Auszeichnung!« Durch Klatsch und Gerüchte wußte halbwegs jeder, was am Hof vor sich ging. Das Ansehen des Königs war in der Bevölkerung gering; seine häufigen Liebschaften, zur Zeit mit La Valliere und der Madame Athenais de Montespan gleichzeitig, waren Marktgeschwätz. Für einen zweiunddreißigjährigen Mann sah er verlebt und übermüdet aus, während er auf einem prachtvollen Hengst heransprengte, das Tier hart durchparierte und nach allen Seiten grüßte. Achtung, sagte der Logiksektor. Der Mann ist schwierig; schwieriger sind die Sitten hierzulande. Ich grüßte den König mit der gebotenen Höflichkeit und wartete, nachdem ich meinen Namen genannt hatte, darauf, daß er mich ansprach. Der Architekt kam uns zuvor und erklärte, daß ich und mein Freund ihm halfen, die Wasserkünste zu überprüfen und in Tätigkeit zu bringen. »Könige müssen dem Volk und aller Welt zeigen, daß sich französische Wesensart und unser feiner Stil überallhin ausbreiten werden. Daher ist es wichtig, daß Wasser in sattem Strahl sprudelt. Tut das Eure, Seigneur, und Ihr werdet große Ehre einheimsen. Man wird Euch in einem Atemzug mit unseren Künstlern nennen.« »Ich bin nur ein bescheidener Handwerker, der ein wenig zeichnen und rechnen kann.« Ich verbeugte mich mehrmals. »Und ich will auch die Kosten für Versailles nicht in die Höhe treiben, indem ich gewaltige Rechnungen schreibe. Ich bin weit weniger ruhmsüchtig als der Krieger in der goldenen Rüstung, der Frankreich in den Krieg treiben will.« Unter einer aufgeplusterten braunen Perücke starrte er mich
verblüfft an. »Ihr wißt… ich denke, ein guter Rat war es, der mir gegeben wurde. Die gefährliche Grenze liegt im Nordosten, Comte. Ich will mein Land vergrößern, und überall innerhalb unserer neuen Grenzen werde ich die einzig seligmachende Kirche errichten und festigen. Und aus diesem Grund hörte ich den Rat Erfahrener mit offenen Ohren. Aber nicht ohne tiefes Nachdenken.« Das war eine ziemlich klare Antwort. Ich verbeugte mich abermals und hörte zu, wie Louis dem Architekten weitere Einzelheiten seiner Wünsche mitteilte, fahrige Bewegungen ausführte. Militärische Gloire und ihre Entsprechung in vergoldeten Figuren, riesigen Vasen, Sinnbildern und allegorischen Figurengruppen sollten die Anlagen auszeichnen; Colbert würde alles zahlen. »Auch Euch, Comte de Beauvallon!« rief er. Die Pferde seiner Begleitung wurden unruhig. Ich hatte ihn mit wissenschaftlicher Gründlichkeit studiert. »Sorgt für sprudelndes Wasser, und bemeßt nach dem Erfolg die Forderungen! Ihr seid mir verantwortlich, Le Nôtre!« »Zu Befehl, Eure Majestät.« Louis riß seinen Hengst herum, setzte die Sporen ein und galoppierte an. Er durchquerte in schnellem Ritt einen Teil der Anlage, rief Befehle, lobte und tadelte und hielt häufig an, um mit Aufsehern zu sprechen. Ich hätte nicht in seiner Haut stecken mögen und fand auch keinen Gefallen an dem Gedanken, ihn zu beraten. Er war, im klassischen Sinn, ein ruhmsüchtiger Barbar, der an seine göttliche Sendung glaubte und daran, was er gelernt hatte. Dies schien recht wenig gewesen zu sein, und wenn Riancor und ich die Anlage überprüften und verbesserten, dann deshalb, weil es uns Freude machte, weil sich Ann-Claire darüber entzückt zeigte, und spätere Generationen sich daran erfreuen konnten.
Wir ließen uns die primitive Anlage erklären, zeichneten Funktionspläne und Details der Verteidigung, und Handwerker führten die Arbeiten aus. Ein Fest in Versailles, in einer herrlichen Sommernacht, brachte nur die einzige Überraschung, daß die beschnittenen Büsche mit den Bassins und dem Schloßhof eine prächtige Kulisse abgaben. Musik und Beleuchtung, prächtig gekleidete Menschen, ein Feuerwerk und Tänze – das gesamte Geschehen war einem ausgefeilten Ritual unterworfen, das spätestens nach zwei Stunden ermüdete. Ich hatte das Gefühl, als bewegten sich auf einer Bühne ausnahmslos Kunstfiguren, keine Menschen. Die wenigen Freunde, die ich hatte, verloren sich in der Menge; Ann-Claire blieb an meinem Arm. Ich sah ein, daß der bessere Platz für meinen treuen Roboter und mich unser Castellet war. Aber noch war, aus unterschiedlichen Gründen, der Tag der Abreise fern. Ann-Claire erholte sich in winzigen Schritten. Der Fremde hatte ihren Verstand wie einen Schwamm ausgepreßt, und nun sog dieses Gewebe in einem langwierigen Prozeß wieder jene befruchtende Feuchtigkeit ein – Ann-Claire, die ehemals blinde Waise, wuchs zu einer Schönheit heran, während ihr Verstand dieser Entwicklung zu folgen versuchte. Ich glaubte, daß ein langer Aufenthalt in Beauvallon ihr nicht schaden konnte. Sieben Tage nach dem Fest besuchte mich abends, zur besten Stunde, mein Freund le Prestre de Vauban. Er öffnete mit geheimnisvoller Miene zwei Flaschen, dekantierte den tiefroten Wein in ein Glasgefäß und grinste, während er die Pokale füllte. »Ihr schleppt die Vorstellung einer vergnüglichen Untat in Euch, Euer Liebden?« Ich verringerte die Lichtstärke der künstlichen Kerzen. »Ein famoser Tropfen.« »Erst einen tiefen Schluck, Euer Denkwürden.« Er lachte und
hob den Silberbecher. Ein königlicher Wein, sagte der Logiksektor. Vauban zögerte, setzte das Gefäß ab und sagte dann: »Ich kenne Euch als verschwiegenen Freund. Ihr haltet Euer Wort. Ihr enttäuscht niemanden, der Euch vertraut.« »Ihr scheint, lieber Freund, die lange Vorrede nötig zu haben. Redet frisch von der Leber, Vauban!« sagte ich. »Ein Freund, ein Mann, dem ich unendlich viel verdanke, hat ein Problem. Er sprach nur mit mir. Also habe ich ein Problem, seines nämlich.« »Und hiermit habe ich Euer Problem. Wen soll ich umbringen?« »Niemanden. Es werden zwei Männer gebraucht, die eine Kutsche fahren, sich selbst und andere verteidigen können, die, selbst unsichtbar, alles sehen und niemanden verraten. Ein abgelegenes Haus ist auch im Spiel.« »Ich soll dafür sorgen, daß ein längeres Geschehen von nur vier Menschen bemerkt wird?« fragte ich. »Ihr seid des Teufels, Freund d’Arconville. Woher wißt Ihr das?« »Ich habe es mir ausgerechnet.« Wir saßen beim Licht etlicher Kerzen im Arbeitszimmer. Ann-Claire schlief. Vor uns standen Rollen von Zeichnungen und kleinen Modellen. Ich wußte, daß niemand lauschen konnte; die energetischen Sperren sorgten dafür. Ich hob den Weinpokal, trank und ging zum Kamin, um ein Scheit nachzulegen. »Ihr werdet helfen?« fragte Vauban. »Wenn Ihr mich braucht… ja. Aber nur, wenn ich weiß, worum es geht.« »Ich bin gebührend alt. Eine solche Geschichte muß wahr sein; niemand könnte sie erfinden.« »Sprecht! Ihr findet mich angespannt zuhörend – und schweigend.«
»Es gibt einen königlichen Gefangenen. In welchem Gefängnis er auch modern mag, er trägt stets eine Maske aus Eisen. Man sagt, nur ›roi soleil‹ habe den Schlüssel.« »Eine Maske welcher Art?« fragte ich. »Sie umschließt den Kopf bis zum Hals. Sie hat Öffnungen, Türlein und Löcher. Niemand soll den Gefangenen erkennen. Er sei etwa dreiunddreißig, fünfunddreißig Jahre alt.« »So alt wie der König.« Wir schrieben 1671. Le Prestre war zu einem seiner seltenen Besuche in dieser Zeit bei uns eingekehrt. Der Marquis de Vauban arbeitete mehr denn je für den vierzehnten Ludwig. Ich füllte Wein nach und schüttelte den Kopf. »Gerüchte sagen, daß dieser Mann ein Zwillingsbruder unseres Königs sei«, sagte Vauban. »Er gleiche ihm wie ein Ei dem anderen. Da der Mann in der Maske an der Stelle des Königs auftreten könnte – Ihr wißt, daß Zwillinge dieselbe Schrift, dieselben Gedanken und noch viele andere Lebensäußerungen gemeinsam und völlig gleich haben –, würde niemand den Betrug merken. Wohlgemerkt: Gerüchte. Und da gibt es eine Frau, Alix, die der König begehrt. Sie verabscheut ihn.« »Zuerst war alles klar. Jetzt beginnt Ihr mich zu verwirren, Marquis.« »Der König und der Mann in der Maske müssen sich treffen. Der König kann nicht ins Gefängnis reisen; es fiele auf Ihr versteht? Man bringt den Mann mit der Eisenmaske zu einem geheimen Treffpunkt.« »Und dorthin fahren wir mit dem König und der Kutsche?« fragte ich. »Richtig! Der König, der vor den Augen der Öffentlichkeit lebt, kann nicht einige Wochen einfach verschwinden. Und da ist auch der Geliebte dieser Frau, der es gern sähe, wenn auf dem Umweg über königliche Wollust er einen Grafentitel und
eine Grafschaft bekäme.« »Ein trefflicher Versuch, mir die Moral der herrschenden Stände zu schildern. Und die schöne Alix will erst recht nicht?« »So verhält es sich!« »Wenn Ihr Pferde und Kutsche besorgt, dann ist es für uns ein leichtes, den König ungesehen aus dem Schloß, zum Treffpunkt und zurückzubringen. Und was sollen dort der Liebhaber, jene Alix und der Eisenmasken-Mann?« »Philipp, Ludwigs Sohn, ist gestorben. Der König schließt sich voll Trauer ein. Nicht einmal die nächsten Angehörigen der Familie werden ihn stören dürfen.« »Ihr besorgt die Kutsche. Ich kümmere mich um Waffen und unseren Schutz. Wißt Ihr schon vom Haus, in dem man sich trifft?« »In den Wäldern von Chátenay-Malabry.« Intrigen und raffiniertes Versteckspielen waren im Dunstkreis von Paris und Versailles an der Tagesordnung, und je länger ich nachdachte, desto merkwürdiger und abenteuerlicher wurde die Geschichte um den Mann mit der eisernen Maske. Ich ritt die Strecke ab, der Treffpunkt lag im Süden der Stadt, fand das Haus, inspizierte die Kutsche und organisierte die Überwachung durch meine Geräte. In einer heißen Nacht trabte das Vierergespann vors Haus. Schwerbewaffnet machten Vauban und ich uns auf den Weg. Ohne Eile passierten wir Sevres und Chaville und warteten am Kreuzweg nach Versailles: Vier Rappen, eine schwarze Kutsche; wir trugen schwarze Mäntel und hatten die Kapuzen über die Köpfe gezogen. Nur eine Fackel brannte. Die Pferde ließen die Köpfe hängen; Totenstille breitete sich über den Feldern, Äckern und zwischen den Wäldern aus. In der Neumondnacht funkelten klar die Sterne. Ein paar
Sternschnuppen furchten das Firmament. Wir warteten und schwiegen. Eine halbe Stunde später näherte sich aus Westen leiser Hufschlag, schließlich trabte ein Reiter auf uns zu. Auch er verhüllte sein Gesicht. »La Gloire du Roi-Soleil«, flüsterte er. Ich beendete das Paßwort: »Ist überall und ewiglich.« Er reichte mir die Zügel und öffnete die Tür der Kutsche. Flüchtig sah ich zwischen den Rändern der Kapuze ein schweres Geflecht. Ich band die Zügel des Pferdes, das einen alten Sattel trug, an die Kutsche und rief unterdrückt: »Antraben, Kutscher!« Ich schwang mich auf das breite Brett, hielt mich fest und zog die schwere Reiterpistole. Die Kutsche schaukelte, unter den eisenbeschlagenen Rädern malmte der Kies. Die Pferde fielen in leichten Galopp; schließlich bog Vauban von der Straße in einen Nebenweg, von diesem auf einen Pfad. Das Haus lag versteckt hinter Hecken. Wir wendeten die Kutsche, fuhren sie unter das Vordach, und unser schweigender Gast ging mit schnellen Schritten ins Haus. Während Vauban sich um Pferde und Geschirr kümmerte, schlich ich zwischen den dunklen Büschen hindurch. Ich schaltete einen winzigen Bildschirm ein. Der Mann mit der Maske trat ins Licht. Er schlug die Kapuze zurück und nahm mit einem Griff die Maske ab, die wie ein Gitterhelm aussah. Der König in der Kleidung eines einfachen Mannes breitete die Arme aus und zog den Fremden, der mit dem vierzehnten Louis nicht die geringste Ähnlichkeit hatte, an seine Brust. Zwischen dem Kamin, in dem dürres Holz prasselte, und einem reich gedeckten Tisch stand in einem reizvollen, aber selbst für Versailler Verhältnisse gewagten Kleid die schöne Alix Baudicour. Der König und der Mann mit der Maske schienen die besten Freunde zu sein: Sie schlugen einander auf die Schultern, und Tränen der Bewegtheit standen in ihren
Augen. Das Abhörgerät würde jedes Wort aufzeichnen. Ich tappte zurück zur Kutsche. Vauban saß im offenen Einstieg und zog den Korken aus einer Flasche. »Trink ruhig!« sagte ich. »Niemand stört uns. Der Maskenmann ist auf keinen Fall der eigleiche Zwillingsbruder unseres Königs.« Er starrte mich schweigend an, dann holte er einen Becher aus der Jackentasche, füllte ihn und hielt ihn mir entgegen. »Ihr wißt es besser?« »Ich weiß zumindest«, antwortete ich ruhig, »daß der Gefangene und der König beste Freunde sind. Alix ist dort und scheint eine gemeinsame Freundin zu sein. Vielleicht erfahren wir, was im Haus wirklich vor sich geht. Zuerst warten wir.« »Wie lange?« Ich zuckte mit den Achseln. Wir schirrten die Pferde aus und koppelten ihre Vorderbeine zusammen. Ich spannte zwei Hängematten zwischen die Bäume, schaltete einen Warndetektor an und entzündete die Kerze des Windlichts. Während wir die Flasche Schluck um Schluck leerten, hörten wir aus dem Haus Gelächter und laute Worte. Der Logiksektor wisperte: So wird aus einem möglicherweise alltäglichen Vorgang eine Legende. Die falsche Information wird sich Jahrhunderte lang als Märchen halten. Das Windlicht flackerte. Vauban schnarchte, während ich hin und wieder das Geschehen im Haus verfolgte. Auch ich wurde müde, leerte den letzten Becher und dachte mir mein Teil. Der Haushalt in Paris war schnell aufgelöst. Wir machten uns auf den Weg nach Beauvallon. Wenn wir nicht mehr reiten wollten, betäubten wir die Tiere und benutzten den Gleiter. Der Frühherbst war die beste Zeit für Le Sagittaire.
Ich saß mit Anguerond auf der Balustrade der Terrasse. Unter uns flackerten die Lichter des Dorfes. Ich hob den Weinpokal und prostete dem Schulmeister zu. »Ihr Hugenotten seid wie Hefe in einem schweren Teig«, meinte ich nachdenklich. »Es hat mir sehr gefallen, was ich in den zwei Tagen gesehen habe.« Aus dem Schulmeisterlein war, seit er um eine Tochter des Bürgermeisters warb und kräftig aß, ein stattlicher Mann geworden. »Danke. Wir fühlen uns wohl. Wir arbeiten gern, und das bringt Vorteile für alle.« »Recht so!« lobte ich. »Ihr habt alles, was ihr braucht? Nach der Weinlese und der Kornernte fängt der lange Winter an.« »Da müßt Ihr Jean-Jacques fragen. Herr. Er führt die Listen. Aber mir scheint, daß es Beauvallon niemals besser ging. Ich muß nicht einmal mehr die Schüler prügeln.« »Trefflich«, antwortete ich versonnen. »Und wann heiratet Ihr, Anguerond?« »Im Frühling, denke ich. Wenn der Bürgermeister endlich sein Wort gibt. Madeleine will mich.« »Abermals recht so«, stimmte ich zu. Es war einsam in Sagittaire, seit Amiralis und Ann-Claire nicht mehr bei uns waren. Immerhin arbeiteten alle Vorrichtungen hervorragend, wir hatten den Gleiter in die Kuppel zurückgeschickt. »Wie lange bleibt Ihr nun bei uns?« »Ich denke, bis zum Frühling«, antwortete ich. »Aber das ist ungewiß. Die Dörfler werden es rechtzeitig erfahren.« »Und Eure Gattin, die schöne Amiralis?« wollte er nach einem langen Schluck wissen. »Sie starb«, beschied ich ihm. »Ich trauere um sie. Und eure breithüftigen Jungfern sind nicht dazu angetan, mich von der Trauer abzulenken.« »Es sind brave Mädchen«, beschwichtigte er mich. Ich nickte.
Es gab noch viele Bücher, die ich lesen, viele wissenschaftliche Schriften, die ich in Ruhe studieren wollte. Wein und Calvados hatten wir genug eingekauft auf unserem Ritt durch die Normandie und das Burgund, und da gab es immer noch die Mühle in England, wo ich einkehren und Lebenswasser aus Schottland kaufen konnte. »Ich lasse Euch besser allein, Herr Graf«, meinte der Schulmeister angesichts des leeren Pokals. »In der Stimmung, mich zu schelten, seid Ihr heute nicht.« »Um es genau zu sagen«, brummte ich, überrascht von so viel Einsicht, »bin ich in überhaupt keiner Stimmung.« Einige Tauben, vom Habicht verfolgt, flatterten spät in den Schlag zurück. Eulen huschten durch die Zweige, die an den Mauern des Schlößchens scharrten. Die ersten Sterne zogen auf; die Mondsichel stieg hinter dem Berggrat hoch. Eine von zahllosen Sommernächten fing an. Ich blieb auf der Terrasse, trank Wein und wußte nicht recht, was ich tun sollte. Ich sehnte mich nach Erlebnissen und Abenteuern, und gleichzeitig wußte ich, welches Ende das Abenteuer haben würde, das meine Gedanken beherrschte. Die Verse des Racine, »Andromache«, klangen in wohlgesetzter, strenger Schönheit zwischen den Mauern. Leise untermalte Cavallis »Jason« – Musik die Reime. Ich las von Acre Perennius und seinem nagenden Ärger über den Schwarzen Großen Vogel. Ein großer Sommer war für Beauvallon zu Ende gegangen: Alle Alten ruhten in den Gräbern und waren, wie man mir berichtete, friedlich in den Betten oder im Schatten des Vordachs gestorben. Mehltau lagerte sich auf pralle Trauben, schwer zog saftiges Obst die Äste zur Erde. Rinder, Ziegen und Schafe, die gackernde Schar des Geflügels, Taubenschwärme und etliche Fohlen – das Vieh zeigte mir den Reichtum des Dorfes. In knarrenden Wiegen
und schaukelnden Netzen krähten dicke Säuglinge. Das Tal strotzte vor Wohlstand; ab und zu roch es nach gebratenem Fisch und Knoblauch. Es wäre eigentlich eine gute Zeit gewesen. Aber da bohrte in mir der Stachel der Unzufriedenheit, der Selbstprüfung und der Zweifel: Der Weg zu den Sternen schien unter Imhotep näher gewesen zu sein als unter Leibniz und Huygens, der immerhin die Saturnringe entdeckt hatte. Hitze, Wein und Nichtstun schienen, was einen gewissen Kristallprinzen betraf, verderbliche Dinge zu sein. Ich war satt und faul, las und schaute mir endlose Sequenzen an, die unsere Sonden lieferten. An den Tagen arbeitete ich mit den Bauern und Handwerkern und brachte ihnen bei, was sie verstehen konnten. Meine Haut, in Paris vornehm bleich, färbte sich zum gesunden Braun. Einen nutzlosen Versuch, die Kerzenmacherin zu verführen, brach ich frühzeitig ab. An jener Lächerlichkeit, die tötet, wollte ich nicht gerade hier sterben. Riancor und ich wälzten zahlreiche Theorien über unseren Feind. Wenn wir recht hatten, erholte er sich von dem Schlag, den ihm Amiralis versetzt hatte, und, ein Wunder in jenen Jahren, nirgends tobten blutige Kriege. Während unserer Anwesenheit wagte es nicht eine Person im Dorf, nachlässig zu arbeiten. Die gemauerten Vorratsbehälter füllten sich. Unablässig mahlte der Müller Schrot und Mehl. In Kammern und Rauchfängen hingen dicke Würste, Schinken und Rauchfleisch. Krankheiten waren selten, und Unfälle wurden von uns so gut wie möglich vermieden – dennoch mußten wir Wunden behandeln. Der riesige Baum, der bereits Alterserscheinungen zeigte, war der Treffpunkt, an dem alle Fragen geklärt wurden. Dann kamen Weinlese, Kelter und der Most, der Geruch, der das Tal zu füllen schien. Die Olivenernte folgte, und wir hatten zu tun, die Presse zu
reparieren. Unter unseren harten Händen wuchs ein kleines Geschlecht stolzer, fleißiger Menschen heran, und ich war darauf nicht wenig stolz. Als eine Patrouille der Kavallerie sich in unsere Gegend verirrte, bewirteten wir sie herzlich. Der Lieutenant und ich hatten einen gemeinsamen Freund: le Prestre. Ich lud die fünfundzwanzig Männer zu einer lärmenden Herbstjagd ein. In den Nächten, in denen die abgehangenen Braten schmorten, wurde nicht nur ein Kind gezeugt, dessen Vater nicht aus Beauvallon stammte. Dann senkte sich der Spätherbst über Wald und leere Felder. Mitternacht, Käuzchen schrien im Wald. Ich saß im Bett, den Rücken gegen die Kissen gelehnt, einen unbeträchtlichen Text von Comenius in den Händen und Calvados in Reichweite. Jetzt spürte ich die Unruhe besonders deutlich. Irgendwo im Gemäuer werkelte Riancor. Ich glaubte zuerst, er habe einen seltsamen Text zu meiner Unterhaltung eingeschaltet, als ich die Summe hörte: »Dezennien ist’s her, seit die Arkoniden die Erde bewohnten…« Ich ließ das Buch sinken und hörte zu. »… und viel Aufwand sich machten, auch manches Kluge ersannen.« Ich kannte die Stimme, aber ich erkannte sie nicht. »Aber zur Zeit, da sie lebten, war’n sie nicht weiser, als wir sind.« Der Logiksektor sagte etwas, das ich nicht richtig hörte. »Trunkne lebten voll Scherz; es gab schnelle Mädchen und Schiffe!« Irgendwann hatte ich mir angemaßt, Hexameter zu dichten. Wie auch mein Gesang eine brotlose Unkunst. »Und der Hunde bellende Rudel. Sage, o Atlan.« Jetzt erkannte ich die Stimme. Momque! Ich trank verwirrt den Becher leer und sprang aus dem Bett. »Wie war’s da?« Ich beendete den Text und brüllte begeistert »Teils schon und teils trostlos. Es war alles wie heute… hier bin ich, Monique!«
Sie kannte den Weg. Die Tür schwang auf. Da stand sie, lebendig und schön, mit glattem rotem Haar, in einem reich bestickten Kleid und ohne Schmuck. Es durchzuckte mich wie der Stich eines Skorpions; ich breitete die Arme aus, sie kam näher, und der verdammte Roboter hatte wieder einmal das Richtige ausgerechnet und danach gehandelt. »Du bist arrogant und ungerecht, Liebster«, sagte sie. »Ich schlafe, und du trinkst im Bett. Und wir beide schlafen allein.« »Das hat sich eben geändert«, flüsterte ich, zog sie an mich und küßte sie mit einer Leidenschaft, die mich überrascht hätte, wenn sie mir bewußt gewesen wäre. Riancor streckte seinen Kopf durch den Türspalt und bewegte lautlos die Klinken, als er die Türflügel schloß. Das Leben im Castellet änderte sich von dieser Nacht an. Moniques Fröhlichkeit steckte jeden an. Selbst unsere Hugenotten, die stets ein wenig verkniffen wirkten, lachten mit. Moniques erstes Vorhaben stieß auf volle Zustimmung: Nach der Weinlese, wenn Felder und Bäume abgeerntet waren, sollte ein Herbstfest gefeiert werden. Sie freute sich jede Minute, daß sie nicht mehr schlief und die herrliche Natur des Tales erleben konnte. Wir unternahmen lange Ritte und kontrollierten, so gut es ging, die naturbedingten Grenzen des Tales. Nur wenige Pfade, die Spuren von Tieren und kaum feststellbare Hinweise auf Menschen zeigten, führten ins Tal und unsere gewundene Straße. Natürlich kannte der Steuereintreiber den Weg. »Ihr beide habt scharfe Augen«, meinte sie, als wir durch das Dorf ritten. »Aber eine ausgeschlafene Hausfrau sieht mehr.« »Und was siehst du jetzt?« fragte ich neugierig. »Eine Menge Ecken, Winkel und Verstecke, die in einem oder zwei Jahren unendlich viel Arbeit und Geld kosten werden.«
»Warum reden wir nicht mit Jean-Jacques darüber?« fragte ich. »Heute nachmittag.« Ebenso wie ich wußte sie, wie Schlamperei letzten Endes über die Existenz einer Siedlung entscheiden konnte. Die Oase war ein warnendes Beispiel. Wir hatten Monique erzählt, daß das demontierte Raumschiff der Venusstation sich in zahlreichen Einzelteilen in den Hallen der Kuppel befand und daß wir versuchen würden, es zusammenzubauen und für einen Langstreckenflug auszurüsten. Zwei Stunden nach unserem Ritt wanderten wir durch das Dorf, zusammen mit dem Bürgermeister; tatsächlich fand Monique vieles auszusetzen. Riancor notierte die Einzelheiten, und JeanJacques schüttelte den Kopf. »Übertreibt Ihr nicht ein wenig, Gräfin?« fragte er. »Nicht ein kleines bißchen, Bürgermeister«, antwortete sie spitz. »Mir hat Graf Atlan berichtet, wie es aussah, als er wiederkam. Das soll nicht wieder passieren. Oder sitzt Ihr gern in Not und Dreck, Jean-Jacques?« »Nein!« Diesmal schüttelte er aus anderen Gründen den Kopf; er erinnerte sich. Also packten wir wieder alle an, lichteten den Wald, zogen Zäune, kurierten Krankheiten und wateten flußaufwärts, um Hindernisse zu beseitigen. Der Schmied hämmerte sein Eisen, neue Schindeln wurden gespalten, und schließlich arbeitete auch die Wasserleitung wieder, die im Winter hin und wieder einfror. Auf allen Herden wurden Früchte eingekocht. Zwiebelzöpfe und Girlanden aus Apfelscheiben und Birnenschnitzen rankten sich an den Deckenbalken. Gänse und Enten wurden gerupft; die gereinigten Federn nähten die Bäuerinnen in Leinenkissen. Most und Quellwasser waren tägliches Getränk, und der Tag des Herbstfestes kam heran. Als der erste schwere Regen fiel, waren alle Dächer dicht.
Das Pflaster des Dorfplatzes glänzte, und aus den Ästen voller goldfarbener Blätter tropfte es auf die große Plattform des Versammlungsplatzes. Die Männer kamen von der ersten Herbstjagd zurück und weideten die vielen Beutetiere aus. Weinfässer standen unter vorspringenden Dächern. Die Essen des Schmiedes verwandelten sich in Roste, auf denen Würste brutzelten. Während ich an die Bauteile der LARSAF dachte, an Nonfarmale und an die nächsten Jahre, breitete sich erwartungsvolle Fröhlichkeit von einem Ende Beauvallons bis zum Schlößchen aus. »Wenn ich mich heute umsehe«, erklärte uns Monique, ein Glas hellroten Weines in den schlanken Fingern, »dann bin ich sicher, daß Beauvallon den Winter und das nächste Jahr gut überstehen wird. Nicht nur Stadtluft und Mauern machen frei, sondern auch der Besitz von Atlans Salzblöcken, ohne Steuer, seine frischgeprägten Goldstücke…« »… und die Erfahrungen Riancors. Die Möglichkeiten der Kuppelmaschinen. Und ein herzhaftes Regiment vom Schlößchen. Was wir tun, hilft allen. Oder nicht?« »Es ist gut für jeden im Tal. Auch für uns, Liebster«, antwortete Monique. Sie kümmerte sich um jede Einzelheit des Festes und der Vorbereitungen. Schwarzer Rauch wirbelte aus dem Schornstein des Bäckers, und der wuchtige Brustfeuerofen war mit Lehm verschlossen, während drinnen im Brotteig allerlei Fleisch vom Schwein, Speck, Würste und Schinken schmorten. »Morgen sind alle Männer glücklich betrunken.« »Nicht die Hugenotten«, widersprach ich. »Das Schwierigste wird sein, sie dazu zu überreden, mehr als einen Schluck Wein zu trinken.« »Arbeitsam und gottesfürchtig.« Ich erinnerte mich an die ersten Feste, die hier gefeiert worden waren. Es waren die gleichen Bauern und
Handwerker, aber ein ganz anderer Menschenschlag gewesen. Auf Fundamenten, die sie damals gebaut hatten, siedelten Jean-Jacques und seine Leute. Wem ging es besser? Ich wußte es nicht. Jedenfalls hatte das Dorf alles, was es brauchte. Von Le Sagittaire her erscholl Musik. Heitere, ländliche Weisen, von Riancor an vielen Stellen aufgenommen. Wir hatten in jedem Weinberg, auf jedem Acker, in jedem Stall und unter jedem Giebel alles auf das Sorgfältigste kontrolliert. Selbst wenn eine Hundertschaft Fußsoldaten hier einfiel, würden sie über den Winter satt werden. »Ich ziehe mich um«, kündigte Monique an. »Damit die Bäuerinnen und die Mädchen sehen, wie sie ihre Männer verführen können.« »Du hast viel vor heute?« fragte ich. »Wenn es dich nicht stört, daß ich an deiner guten Laune teilhabe?« »In Wirklichkeit kleide ich mich für dich, Liebster. Das wissen alle.« Das Fest fing bei Sonnenuntergang an, und die Lautstärke, die Gerüche, Musik und Menschen, kläffende Hunde und aufgeregte Tauben, herumrennende Kinder, krähende Säuglinge und die Gruppe der Hugenotten, die scheu herumstanden und halbwegs mit Gewalt davon überzeugt werden mußten, daß Wein oder Calvados keine Sünde waren. Aber je dunkler es wurde, je mehr Öllampen, Bienenwachsund Unschlittkerzen und die Flammen, die in der Glut durch das triefende Fett aufzischten, die Nacht in viele Lichterinseln verwandelten, desto mehr ließen sich unsere Neubürger anstecken. Schließlich tanzte einer der Männer nach dem anderen mit Monique. Allen gefiel es, man verschlang Brot und Gebäck, Butter und Käse, Braten und Würste, trank Most und Wein, warf einander glutvolle Blicke zu, verscheuchte die müden Kinder und brachte die Kleinen zu Bett, und je weiter die Nacht fortschritt, desto ungehemmter wurde das Fest.
Die Bauern prahlten von der neuen Ernte. Die Frauen beklagten sich, daß sie schon wieder schwanger wären. Furchtsame Blicke, von den Hugenotten zum Himmel gesandt, riefen rauhes Gelächter hervor. Der Ungeist vielfältiger Zwänge und die vielen Vorstellungen vom Leben in Sünde und der Erlösung waren an diesem Abend vergessen. Riancor, Monique und ich saßen auf prallen Kissen, die Rücken gegen den borkigen Stamm des Baumes auf dem Dorfplatz gelehnt. Wir betrachteten das Treiben. Monique genoß die hungrigen Blicke der jungen Männer; sie hatte sich in etwas gekleidet, wie es die falschen Schäferinnen in Versailles tragen mochten. Ihr wohlgewölbter Körper ruhte an meiner Schulter. Sie schmiegte sich an mich und flüsterte: »In ganz Frankreich sind wir die liebsten und verehrtesten Grafen. Aber was tun sie, wenn wir nicht mehr da sind?« Gruppen hatten sich gebildet. Schatten huschten hin und her, Flammen flackerten im kühlen Herbstwind, und aus unterschiedlichen Richtungen wallten Gerüche und trafen unsere Nasen. Dort tanzte ein Paar, weltvergessen. Hinter den Hecken am Platz kicherten Mädchen. Der Bürgermeister und der Schulmeister kamen auf uns zu. Sie schwankten leicht, der eine stützte den anderen. Ihre Augen funkelten. »Das Schisma ist besiegt!« Riancor roch an einem Tonbecher, in dem ein Schluck dreißigjähriger Calvados gluckerte. »Wenigstens für eine halbe Nacht.« »Vorsicht! Schwiegersohn und Schwiegervater wollen unseren Rat. Oder deinen Segen, Comte Atlan?« Monique kicherte anzüglich. »Abwarten.« Ich fühlte leichte Schwäche in Muskeln und Gelenken. Wir hatten viel und hart gearbeitet, in den Mahlwerken der Mühle und in der Zimmermannswerkstatt. Von leeren Äckern stieg
ein erster Nebel auf. Der Bürgermeister rülpste, entschuldigte sich und zeigte mit einem dicken Finger auf mich. »Seigneur«, sagte er undeutlich. »Dieser junge Spund will meine Madeleine. Was sagt Ihr dazu?« »Will sie ihn denn?« erkundigte sich Riancor scheinbar schläfrig. »Was ist wichtig daran? Was bringt er mit, der Schulmeister?« Ich betrachtete die Gestalten vor mir. Drüben, im Eingang des langgestreckten Hauses, stand Madeleine. Ich beugte mich vor und schaute sie genauer an. Dann bemerkte ich das Lächeln meiner Freundin und wußte, daß Monique education sociat betrieben hatte. Das Mädchen trug abgelegte Kleidung Moniques und sparsamen Schmuck. Aber meine Freundin hatte sie gebadet, ihr Haar geschnitten und aufgetürmt, und in der Tat war das Mädchen, etwa achtzehn Lenze alt, plötzlich zu einer Schönheit geworden. »Riancor?« »Seigneur?« Der Roboter verbeugte sich. »Euer Begehr?« »Bringe dieses schöne Mädchen, auf dem meine Augen wohlgefällig ruhen, hierher. Niemand hat gesehen, daß Madeleine erwachsen wurde, daß sie eine Schönheit ist, daß sie in des Schulmeisterleins Meisterklasse berufen wurde. Wäre Monique nicht, würde ich sie heiraten. Was willst du, dicker Jean-Jacques? Gold? Einen tüchtigen Schwiegersohn? Viele plärrende Enkel? Oder warum fragst du mich?« Riancor, der wie Cyrano mit schöner Nase aussah und der geheime Schwarm reifer Jungfern war, stolzierte mit erhobenem Haupt über den Platz, wich Schwankenden und Tanzenden aus und bot Madeleine geziert seinen Arm im kostbaren Tuch. Sie kam an des Lehrers Seite; der junge Mann sah aus, als verstünde er die Welt nicht mehr.
»Hat er den rechten Glauben?« fragte der Bürgermeister. »Sein Glaube und deiner, Jean-Jacques«, sagte ich scharf, »werden sich in den Enkeln vermischen. Deine Tochter lernte schreiben und lesen und so Gott will, auch anderes nützliches Zeug. Welcher Gott hat das Rechnen erfunden?« Er stützte sich schwer auf die Tischplatte, versenkte den Blick seiner fast schwarzen Augen in unsere Gesichter, unterwarf sich dem qualvollen Prozeß des Nachdenkens und packte einen Becher. »Du kriegst sie!« dröhnte er und schlug den Meister der Kreide zwischen die Schulterblätter. »Und was versprichst du ihr?« »Halt!« Riancor mischte sich ein. »Und wer fragt meine schönste Freundin hier?« Er küßte den Handrücken Madeleines. Das Mädchen war ebenso verwirrt wie ihr Freund. »Willst du den Tintenkleckser?« fragte ihr Vater. »Sag’s!« »Schon seit einem Jahr, Vater.« »Wirklich? Ehrlich?« Irgendwann, in fernen Jahren, würden junge Menschen in der Lage sein, selbständig über ihre Gegenwart, Zukunft und über ihre Vorstellungen entscheiden zu können. Hier und heute galten archaische Regeln. »Ja. Er hat unsere Stuben schon eingerichtet, Vater.« Der Bürgermeister gab auf. Er packte den Kopf des Hugenotten, als wolle er ihn von den Schultern reißen, küßte ihn schmatzend auf die Stirn und die Wangen und keuchte schließlich: »Meinetwegen. Ein Problem weniger. Und daß ja anständig geheiratet wird! Danke, Herr Graf.« Ich winkte ab. »Dankst du nur dafür, daß deine Tochter einen fleißigen, gut gewachsenen und anständigen Mann ausgesucht hat? Laß die Jungen! Hock dich her, trink ein Glas, denn mehr verträgst du heute nicht mehr, Alter.«
»Du wirst dich wundern. Herr Graf«, versprach er. Tatsächlich trank er mich unter den Tisch. Der Schulmeister und seine Braut verschwanden in der Dunkelheit und weihten sicherlich das Bett des tüchtigen hugenottischen Zimmermannes ein. Im Morgengrauen schleppten sich die letzten Zecher in ihre Häuser; mein Zellaktivator sorgte dafür, daß ich rasch wieder nüchtern wurde. Alle Bürger Beauvallons wußten, was sie von uns zu halten hatten. Der Winter mochte kommen. Auf Werkbänken und zwischen robotischen Klammern und Greifern waren im harten Licht zahlreicher Tiefstrahler die Teile des Raumboots aufgebaut. Prüfgeräte rings an den Wänden erzeugten farbiges Flackern. Ein Gerüst umgab die Metallteile der Außenhülle. Ich betrachtete den gesamten Aufbau mit sichtlicher Skepsis. »Wir haben keine Schaltpläne«, sagte Riancor. »Wir müssen die Funktionen zahlloser Bauteile feststellen und können sie dann erst rekonstruieren.« Die Außenhülle funkelte und strahlte. Polierter Arkonstahl, Verbundbaustoffe und Träger, Verbindungen und Leitungen aller Art wirkten höchst verwirrend. »Wie auch immer«, sagte ich. »Dieses Raumschiffchen mag für Flüge innerhalb des Systems hervorragend geeignet sein. Aber es ist kein Fernraumschiff.« »Ich habe mit hoher Wahrscheinlichkeit errechnet«, widersprach Riancor, »daß wir daraus ein Dreimannboot herstellen können. Es dauert sehr lange. Die technischen Möglichkeiten sind vorhanden, Gebie… Atlan.« »Wir versuchen es«, entschied ich leichten Herzens. Nach langer Zeit wieder einmal ein vernünftiger Einfall, Kristallprinz! Der Logiksektor dröhnte. Zum erstenmal betrat ich jene Sektion der Unterseekuppel,
in der das Raumschiff ruhte. Die Konstruktion, einem Vogel nicht unähnlich, bestand aus etwa dreihundert Teilen, Blöcken, Elementen. Über einen riesigen Bildschirm flimmerten die Darstellungen eines Zwischenstücks: drei Sitze, zwei Ruheräume, Vorratsräume und Gänge, Schotten, Bullaugen, Navigationsräume… es war ein gewaltiger Unterschied, ob ich von der Venus zur Oase flog oder wir zu dritt nach Arkon fliegen wollten. »Wir sollten es wirklich versuchen«, wiederholte ich nach einer ersten Inspektion. »Eine technische Herausforderung für mich.« Einige Roboter arbeiteten noch an Teilen, die technisch anspruchslos waren. An einer Wand, grell ausgeleuchtet, haftete der Funktionsplan des Schiffes. In einer abgetrennten Ecke erkannte ich ein röhrenförmiges Segment, das zwischen Kanzel und letztem Rumpfdrittel eingefügt werden konnte. »Wie ich dich zu kennen glaube«, fragte ich Riancor, »hast du den Bedarf an Energie und Lebensmitteln und an allem übrigen bis zur Landung auf Arkon schon berechnen lassen?« »Eine Kleinigkeit für die Zentralpositronik«, lautete die Antwort. »Daher auch die Dimension des Verlängerungsteils.« In jedem Fall waren die Arbeiten langwierig, äußerst schwierig und dadurch erschwert, daß in der kleinen LARSAF nur wenige Mehrfach-Systeme eingebaut waren. Es lief darauf hinaus, daß mindestens fünf Dutzend Geräte und Servomechaniken doppelt und dreifach hergestellt und überlegt geschaltet werden mußten. Eine Höllenarbeit! Nach einer Stunde schüttelte ich den Kopf. »Jetzt fehlt mir die Ruhe. Ich kann mich nicht hinsetzen und zu zeichnen anfangen. Ich denke darüber nach, wenn wir aus Beauvallon zurückkommen.« Riancor bewies, daß er Langzeitprogramme entwickeln konnte, die sehr viel taugten. »In der Zwischenzeit werden die
Maschinen versuchen, Geräte zu duplizieren und dabei die Duplikate zu verbessern. Laderäume samt Schlafzellen und Hygieneabteil sowie die Verbindungen mit dem geteilten Rumpf können ohne deine Überwachung hergestellt werden. Auch Tragflächen mit Spoilern und Verbindungsklappen können montiert und durchgetestet werden. Einverstanden?« »Klingt gut«, meinte ich. »Macht weiter so! In fünf, sechs Monaten beschäftige ich mich ernsthaft damit. Es war wirklich eine gute Idee, das Schiff aus dem Felsen zu bergen.« »Sie stammte auch von dir«, antwortete der Roboter und log damit schamlos. Sorgfältig verstaute ich die Erinnerungsstücke meines Aufenthalts in Paris: eines der ersten gedruckten Exemplare von Cyranos »Mondstaaten«; nach seinem Tod gedruckt. Etliche Waffen, einige Tafeldrucke der le Prestre-Befestigungsanlagen, ein Ölbild auf Leinwand von Nicolas Poussin, »Bildnis erzürnter Musquetiere von Notre Dame«, etliche Papierbeschwerer, aus Halbedelstein gemeißelt, und eine Abschrift von Huygens »Saturn«Manuskript wurden sorgfältig verstaut, in Vitrinen gelegt oder aufgehängt. »Man kann nicht sagen, daß du die Barbaren ausplünderst«, sagte Riancor. »Selbst wenn wir gelegentlich willkommene Beute an Gold- und Silbermünzen machen, sie umschmelzen und aktuell prägen.« Ich lachte und schloß die Schatulle, in der auf Samt eine doppelläufige Reiterpistole gebettet lag. »Meine Schätze habe ich bezahlt oder als Geschenk erhalten. Daß ich für den Ärger, den nur die Barbaren verschaffen, auch noch Steuern zahlen soll, sehe ich nicht ein.« Ebenso achtsam gingen wir mit jenen Köstlichkeiten um, die sich lange genug halten würden: luftgetrocknetes Fleisch, geräucherte Schinken, Wein und Calvados und andere Kleinigkeiten aus den Küchen der Bäuerinnen. Während die
Roboter am Raumschiff bastelten, benutzten Transmitter und tauchten in Le Sagittaire auf.
wir
den
Ann-Claire Fleuron besuchte in Beauvailon die Schule, hatte ein Zimmerchen in Le Sagittaire, blieb gesund und holte mit unserer Hilfe in winzigen Schritten den Unterschied zwischen ihrem Körper und der Reife ihres Verstandes nach. In einer Winternacht döste ich vor meinem Arbeitstisch im großen Ohrensessel; die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Vision schienen sich zu verwischen. Gegen einen hellgrauen Himmel zeichnete sich eine winzige Silhouette ab. Der Fremde! Er ritt in einem schwarzen Sattel auf einem Tier, das einem schwarzen Raben glich und dennoch eine Flugechse war. Ich erkannte eine Landschaft des östlichen Europa, schneebedecktes, leeres Land. Er steckte von Kopf bis Fuß in schwarzer Kleidung und strahlte kalte Eleganz aus. Auf dem Leder waren schwarze Metallteile befestigt, aus dem Schnabel des Flugtieres brodelte schwarzer Rauch und markierte den Weg dieses seltsamen Gespanns. Schleifen und Kreise – ein Zeichen für Abergläubische, ein Schrecksymbol. Nonfarmale zerrte am Zügel, das Tier riß den gräßlichen Schnabel auf und stieß zugleich mit einem trompetenden Schrei eine Rauchwolke aus. Nonfarmale hob die Armbrust, die Schenkel klappten vor und strafften die Sehne; mit einem Pfeil zielte der Fremde aufwärts und feuerte das Projektil in den Winterhimmel. Ein feuerroter Lichtblitz mit weißen Rändern, drei furchtbare Donnerschläge, die über das Land hallten, dann fiel blutroter Regen vom Himmel, und die Tropfen gefroren zu Flocken. Ich warf einen Blick in das schmale Gesicht und empfand, als ich den hochmütigen, herrischen Ausdruck erkannte, das gesamte Spektrum von Haß, Ekel, Wut und Vernichtungswillen: Jetzt erst verstand ich Amiralis Thorneroses tödlichen Entschluß.
Als ich versuchte, auf dem Schulterschild die Lettern zu erkennen, zuckte ich zusammen, schlug mit den Knien gegen den Tisch und wachte auf: ein Schreckenstraum. »Und wieder bleibe ich ratlos zurück«, murmelte ich, ging zum Fenster und riß es weit auf. Monique kam herein, ich schilderte ihr den Traum, und während sie sprach, suchte sie zwischen meinen Zeichnungen und Unterlagen auf der Tischplatte. »Wonach suchst du?« fragte ich. »Mein Spiegel«, sagte sie lächelnd. »Ich will mich für den bürgermeisterlichen Abendball zurechtmachen. Vorher helfe ich Ann-Claire beim Frisieren und Schminken.« Ich grinste. Wir wollten mit Jean-Jacques in seiner warmen Scheune einen heiteren Abend verbringen und darüber sprechen, wie wir die Winternächte am klügsten verbringen konnten. Als sie den Spiegel fand, sah ich genauer hin; plötzlich erkannte ich, daß Teile der Schrift klar hervortraten. Auch Leonardo aus Vinci schrieb seine Notizen in Spiegelschrift mit linker Hand nieder. »Halt. Warte. Ich bin einem Rätsel auf der Spur.« Riancor kam heran. Wir blickten auf das Holophoto und in den venezianischen Spiegel. In großer Deutlichkeit lasen wir: CHARON YMIR NEMESIS ODIN Für jeden, der die Bedeutung kennt und lesen kann, sagte der Logiksektor, ist dies ein vernichtendes Versprechen. Ich räusperte mich und sagte mit heiserer Stimme: »Charon, ist in der griechischen Mythologie der Fährmann über den Totenfluß. Ymir, der Frostriese aus der nordischen Dichtung, dazu Nemesis, die Göttin der unversöhnlichen Rache bei den Griechen, und schließlich der Herrscher von
Walhall und Tyrann aller Menschen im Norden: Odin. Nonfarmale ist sicher, die Eigenschaften aller vier zu besitzen. Für die Zukunft sehe ich nur eines voraus: Kämpfe, Schlachten, Tote und Sterbende. Mit einem Wort: Ein neuer Herrscher des Chaos ist auf der Bühne der Welt aufgetreten.« Wir schauten einander an. Wir schauderten, und ich murmelte: »Tausende Kombinationen sind möglich, jede erscheint sinnlos: NRSN? OIII? AMMO? YEODIN? Ich geb’s auf.« Das Fest lenkte mich ab. Aber aus diesem Traum konnte jederzeit oder erst in etlichen Jahren Wirklichkeit werden. Oder niemals mehr. Dann würde ich keine Alpträume mehr haben, durfte aber auch nicht auf die Pforte in eine Welt hoffen, auf der ich ein Raumschiff fand; Nonfarmales Schiff, das mich nach Arkon bringen würde. Keiner von uns würde bewußt die qualvolle Wartezeit auf sich nehmen: Monique und ich versanken im Tiefschlaf, und jener Leutnant würde Ann-Claire zu Vauban bringen, sich wahrscheinlich in sie verlieben und in einer Schlacht des Louis verwundet werden.
16. Dumpf-fiebrige Hitze, war über mir. Meine wirren Gedanken, ein Kaleidoskop der Ratlosigkeit, meine unausgeprägten Empfindungen und auch mein Körper schleppten sich durch erstickendes Dunkel. Irgendwo funkelten farbige Lichter. Sterne? Aus unbekannter Ferne drangen Rufe und Schreie auf mich ein. Ihr Schall rief neue Schmerzen hervor; sie schienen nicht aus dieser Welt zu stammen. Dann schlugen Schweigen und dampfende Stille über mir zusammen. Stunden oder Tage später: Eine vertraute Stimme sprach mit mir, vertraute Wärme umhüllte mich. Ich versank in tiefen Schlaf wie in heißen Schlamm und ahnte, daß die Welt noch wirrer, widersprüchlicher und furchtbarer sein würde, wenn ich aufwachte. Noch war ich nicht in der Lage, zwischen Phantasieren und Wirklichkeit, zwischen Schönem und Furchtbarem unterscheiden zu können. Es war tiefe Nacht; seit zwei Stunden kämpfte Cyr Aescunnar gegen seine abgrundtiefe Müdigkeit an. Atlans Stimme klang kraftvoll, sein Erzählstil war sicher wie immer, und die Geräte vor der Arbeitsfläche des Historikers begannen sich schon wieder in flirrende Flächen aufzulösen, hinter denen Cyrs psychosomatisch gequälte Augen Leiterbahnen, Energieströme von Mikrochips und unzählige Pünktchen in verschiedenen Farben zu sehen glaubten. Der Arkonide hielt inne. »Mein nächster Aufenthalt«, sagte er übergangslos, »wird tief im Inneren des Chmorl-Fragment-Berges sein, in einer Abteilung der Chmorl-Universität. Wahrscheinlich in der Nebenstelle der Historischen Fakultät. Die Schärfe der Erinnerungen ist, besonders in den letzten Kapiteln, gefordert:
Als meine Wartezeit auf Larsaf III endete, geschahen seltsam schizophren anmutende Dinge von größter Tragweite.« Er schwieg, die SERT-Haube verharrte über seinem Kopf. Cyr lehnte sich gähnend zurück und fragte sich, ob ihn der Arkonide etwa persönlich angesprochen hatte – aber woher sollte er wissen, daß Professor Aescunnar am anderen Ende der Kommunikationsstrecke saß? Er trank schwarzen Mokka und suchte zwischen seinen Unterlagen. Seine Studenten hatten ihm einen Stapel Fundstücke geschickt; er fand, was er gesucht hatte. »Und auch dieser Abschnitt zählt nicht mehr zu den Devous introuvable, den unauffindbar gewordenen Büchern«, sagte er sich und hob die Piastram-Reproduktion eines uralten Palimpsests in die Höhe. Seine Arbeitsgruppe hatte es gefunden, die Quellenangabe sprach von: Mardscha e-taklidMedresse, also der Koranschule mit dem Begriff »Quelle der Nachahmung«. »So wie ich es gesehen habe, berichte ich es: Im Jahr der Geburt Mohammeds, des späteren Propheten Allahs, im Quran-Jahr 1, oder 570 n. der Anno-Domini-Rechnung der Ungläubigen, machte sich der christliche Statthalter Abraha von Jemen mit einem starken Heer von Lanzknechten und dreizehn wütenden Kriegselefanten gen Mekka, mit dem Ziel, das Heiligtum der K’aaba zu zerstören. Er näherte sich der ungeschützten Stadt, und plötzlich verfinsterte sich der Himmel: Über das Heer flog kreisend ein brausender Chamsin, ein unübersehbar großer Schwarm großer schwarzer Vögel hinweg, und jeder Vogel trug einen Stein im Schnabel oder in den Klauen. Aus großer Höhe ließen die Vögel die Steine fallen, die wie Tropfen aussahen; viele Verwundete sagten, sie wären glühend heiß gewesen. Das Heer wurde in die Flucht geschlagen, denn so es heißt im siebzehnten Vers der achten Sure: Sahst du nicht, was Allah mit den
Elefantengefährten tat? Führte er nicht ihre Listen irre und schickte Millionen Vögel, damit sie das Heer beschleuderten mit Steinen aus gebranntem Ton, und so machte er sie wie abgefressene Saat.« Cyr hob die Schultern. Die Notiz war bizarr und – trotz erwiesenen, Vulkanismus auf der Arabischen Halbinsel noch im terranischen Mittelalter – nicht unglaubhaft. Nicht weniger phantastisch als Ricos Vorliebe für erriechbaren Alkohol und »postpositronische Musik«, vorzugsweise von Bach, Händel oder Lully, Charpentier oder Rameau. Ein Besuch in Atlans »Museum«, das zugleich mit Sao Miguel, dem Atlantik Terras, dem Planeten und Luna unauffindbar verschwunden war – jeder Historiker würde ins kreischende Delirium der Begeisterung fallen. Die Speicher der großen Positronik in der Schutzanlage! Die ANNALEN würden dreimal so umfangreich – und niemals fertiggestellt – werden! Cyr seufzte. »Daß Atlan Alarich zum Vandalenanführer gemacht hat oder die Numerierung der französischen Könige unkorrekt zählte, ist leicht entschuldbar«, murmelte er und gähnte. Seine Augen schwammen. »Aber Nonfarmale muß ihm vorgekommen sein wie der fünfte Reiter der Apokalypse. Aber wie verwendete Rico-Ciron seine Robotschöpflingen? Ich höre nichts von der überschönen Lilith und dem tüchtigen Synonymus. Habe ich etwas übersehen?« Atlan holte tief Luft, hüstelte und sprach weiter, als habe es keine Unterbrechung gegeben, er sprach zuerst, als sei er es nicht selbst, der es sagte. »Am neunzehnten April dieses Jahres erschien nahe dem Altar in der Kirche Saint Denis zu Paris eine Hand. Sie gehörte einem nicht zu alten Mann. Kostbare Ringe funkelten an drei Fingern; der Zeigefinger deutete hierhin und dorthin. Ein
Mönch brachte Schreibzeug und Tinte. Die Hand begann zu schreiben und hörte nicht eher auf, ehe drei Seiten vollgeschrieben waren. Man brachte die Schriften nach Versailles, zum König. Seine Majestät erkannte selbige als seine eigene. Um die Seltsamkeit zu vergrößern, erschraken Seine Majestät auf das Furchtbarste. Man sagt, auf dem Papier wären die geheimsten Gedanken des Königs zu lesen gewesen. Sie betrafen die Heere, die Kriege und schilderten manche Prophezeiungen, die alsbald eintreffen würden. Verwüstung und große Not, so las man, würden die Länder und das gemeine Volk heimsuchen.« Als meine Erinnerung wieder mit einem Schub versuchte, den Verstand in Bewegung zu setzen, sah ich mich an der Seite einer schönen Frau sitzen, in einer Loge, silberne Schalen voller Gebäck und Pokale voller Wein vor uns. Wann war das gewesen? Vor einem Jahrzehnt? Wir saßen im Palacio del Buon Retiro in Madrid, und auf der Bühne schwelgte die Oper des Júan Hidalgo »Celos, aun del Aire, Matan« in opulenter Ausstattung mit vielen Musikern und Sängern. Eine noble Musik, die uns an Monteverdi erinnerte, an »L’Orfeo« oder die »Marienvesper«. Der Text der Oper war von Pedro Calderon de la Barca geschrieben worden; heute wurde das Stück mit dem kryptischen Titel »Auch unbegründete Eifersucht kann töten« zum erstenmal aufgeführt; Solostimmen und Chöre waren mitreißend. Nach dem Geschmack in Spanien blieb das Geschehen auf der prunkvoll eingerichteten Bühne wenig bewegt. Wenn das Licht einen Pokal traf, schimmerte der Wein rubinrot auf. Tausende Kerzen brannten in schweren Leuchtern und Kandelabern. Chöre schmetterten wuchtige
Bauwerke aus Tönen in die heiße Luft, die von den Ausdünstungen vieler Körper erfüllt war, von Gerüchen der Schminke und dem muffigen Geruch, der von der Bühne herwehte. Wir waren uns durchaus bewußt, eine der wenigen spanischen Opern zu hören, mitzuerleben, wie auch dieses Land versuchte, eine eigenständige Musik zu entwickeln. Monique lächelte nur zu. Ich hob den Pokal und sah durch die Krümmung des Glases, verzerrt und rot, die Akteure auf der Bühne. »Jeder Mann, jede Frau, die in Madrid etwas zu sagen hat«, flüsterte mir Monique ins Ohr, »sitzt heute im Palacio, nicht wahr?« »Und auch einige, die von weither gekommen sind«, brummte ich. An Fingern und Handgelenken, an Hälsen und im Haar funkelte barbarisch kostbarer Schmuck. »Das Ereignis rechtfertigt den Aufwand.« Perücken rochen staubig, Diamanten pendelten in tiefen Dekolletes, kostbare Kleidung raschelte. Das festliche Ereignis war nicht in der Lage, den maroden Zustand des Reiches zu verschleiern, und je mehr ich mich an das Durcheinander von Musik, Stimmen und Eindrücken erinnerte, desto mehr verschwamm es zu einem beängstigenden Wirbel erstaunlicher Beobachtungen, die meinen nächsten Sturz in den Schlaf begleiteten. Ich blieb hilflos wie ein Säugling. Mitten am hellen Tag erschienen zuerst tiefe, scharf eingestochene Fußspuren im dunklen Sand. Die Eindrücke leuchteten und strahlten, als bestünden sie aus Goldfolie. Als mutige osmanische Reiter nachschauten, fanden sie schieres Gold. Boten rannten zu ihren Pferden, schwangen sich in die Sättel und galoppierten in die Richtung der Prunkzelte. An diesem Tag geschahen noch mehr Wunder; Allah und ein Prophet stürzten die Osmanen in helle Aufregung und
abgrundtiefes Staunen. Während die Boten ihren Pferden die Sporen in die Weichen rammten, ertönte in der Luft über ihnen lautes Heulen und Kreischen, wie während eines rasenden Sturmes. Kantige Brocken flogen über die Büsche, zwischen den Bäumen hin, zwischen den Zelten hindurch und über die ausgebrannten Dachstühle der Bauerngehöfte, kamen von allen Seiten und schlugen in der Mitte der Sandfläche ein. Sie prallten gegeneinander und verschmolzen zu einem kantigen Sockel. »Allah ist groß!« schrien verwirrt die Janitscharen. Sie flüchteten in alle Winkel, warfen sich zu Boden, duckten sich unter dem Geheul der Steinstücke und sahen erschreckt, wie aus dem Sockel eine zweimal mannshohe Statue wuchs. Mit donnerndem Krachen detonierender Geschützkugeln schlugen Steingeschosse aus dem Nichts zusammen. Die Gestalt über dem Sockel dehnte sich aus, glich schon jetzt einer prächtig geschmückten menschlichen Figur, einem Mann mit kostbaren Stiefeln und goldenen Sporen. Tausend Spahireiter beobachteten dieses Wunder mit aufgerissenen Mündern und Augen. Stück um Stück entstand ein Effendi, ein Sultan, ein Hoher Herr. »Ein Zeichen! Allah sei uns gnädig!« stöhnten die Zuschauer und hoben die Stirnen aus dem Staub. Während die Osmanen versuchten, in dem erstaunlichen Geschehen einen Sinn zu erkennen, öffnete der steinerne Kopf die Augen. Unter einem turbangeschmückten Kampfhelm hatte sich das Gesicht des Sultans gebildet, des zweiten Trägers des Namens Mustafa. »Was will uns Allah sagen?« fragten sich die Soldaten und spürten die Kälte einer Vorahnung von Tod und Elend. »Unendlich groß ist Allah!« Die Statue bewegte sich nicht mehr. Ob sie aus Stein, Metall oder einem anderen wunderbareren Stoff war, wußte niemand. Die durchdringenden Augen schienen jeden
anzustarren, der vor dem Gesicht auf dem Boden lag oder kauerte. »Es ist wirklich der Sultan Mustafa«, ächzte der Meldereiter, der die Stärke der Gegner in der ungarischen Ebene herausgefunden hatte. Von allen Seiten näherten sich zögernd verwirrte Männer. Ein aus schiebenden und drängenden Osmanenkriegern gestaffelter Ring umgab das riesenhafte Standbild. »Es ist harter Stein. Holt den Sultan!« In das Schreien und Murmeln mischte sich Hufschlag. Die Leibgarde des Sultans und zwischen ihnen der Große Mustafa sprengten heran. Auf dem linken Unterarm des Sultans hockte sein Lieblingsfalke. Der Sultan ritt seinen pechschwarzen Hengst mit der weißen Stirnblesse. Die Gardisten hatten ihre Waffen in den Fäusten, ritten um die Statue herum und duckten sich unter den Blicken des steingewordenen Wunders. Ein Janitschare zeigte aus dem Sattel in den Sand und schrie bleich vor Angst: »Seht selbst! Die Statue wirft keinen Schatten.« »Mehr als ein Wunder.« Jetzt öffnete das steingewordene Wunder die Lippen, vom Sockel und der Gestalt strahlte eisige Kälte aus. Der Blick ging abweisend über die Versammelten hinweg und heftete sich auf den Sultan. Das Gesicht verzog sich zu einem Lächeln menschenverachtender Härte. »Ich sehe dich, Sultan Mustafa.« Dröhnende Worte kamen aus dem Mund der Statue. »Ich sehe den künftigen Herrscher eines großen Teils der Welt, von Meer zu Meer, Gebirge zu Gebirge.« Der Sultan zitterte, aber versuchte, seine Furcht zu verbergen. Der Falke schrie und schlug mit den Schwingen. Aufgeregt tänzelte der Rappe unter dem Zügel. »Ich spreche von deiner Zukunft«, sagte der Stein. Die Stimme war überaus deutlich. Ihr Klang reichte bis in die
hintersten Winkel des Lagers, wo die Feuer der Köche qualmten. »Sie besteht aus dem Kampf gegen die Ungläubigen. Viele Niederlagen und Siege haben deine tapferen Krieger gesehen. Wenn du deine Truppen nach Westen führst, wirst du mehr Erfolge erkämpfen als der Großwesir, Mustafa Pascha, den man den Tugendhaften Fazil nennt. Unermeßliche Ländereien wirst du den Ungläubigen abnehmen.« Der Sultan zwang sich stotternd zu einer Frage. »Du sprichst von großen Unternehmungen, Unbekannter.« »Nicht größer als du, Sultan.« »Bist du ein Abgesandter des Propheten?« »So ist es«, bestätigte die Gestalt. »Ein Zeichen Allahs. Es wird noch andere Zeichen geben, aber keines, das zu dir spricht, Effendi. Du sollst nicht zögern. Besiege die Ungläubigen! Fürchte nicht ihre Stärke! Deine Macht wird größer sein. Bereite deine Männer auf den Kampf vor und spare nicht an guten Waffen. Allah will nicht, daß du ihre Seelen zu den Houris schickst. Allah will keine Heere von Märtyrern. Unermeßliche Beute, Schätze in beispielloser Menge, Erkenntnisse von einmaliger Größe warten am Ende der Schlachten.« Die Stimme des Sultans zitterte. Der Falke schrie, und der Rappe keilte aus. »Wer bist du, mächtiger Unbekannter?« »An anderen Orten kennt man mich. Ich bin Al-Thaalab al Mohammat al-Sabah.« »Ich will tun, was du… der legendäre Fuchs, der die unüberwindlichen Probleme löst… ich werde tun, was Allah und der Prophet wollen«, versicherte der Sultan. »Warte nicht zu lange! Auch die Feinde haben gute Waffen und treffliche Feldherren. Am Ende des Weges wartet auf euch tapfere Krieger, ein Leben in prächtigen Gärten voller Sklavinnen, inmitten großer Macht und immerwährender
Herrlichkeit. Kämpft! Siegt! Allah ist mit euch.« Schweigend und ungläubig, mit aufgerissenen Augen und Mündern, angerührt vom Hauch unverständlicher Ereignisse, lauschten Spahis und Janitscharen: Jetzt schlossen sich die strahlenden Augen, die Lippen preßten sich zusammen; die Statue hob den Arm. Mit einer zweischneidigen Streitaxt zeigte sie nach Westen. Die Statue veränderte das Aussehen, die Farben verblichen und ließen aus dem goldflimmernden Koloß ein Ding entstehen, das aus strahlendem Weiß bestand und noch immer keinen Schatten warf. Der Arm und die Waffe zeigten senkrecht in den blauen Himmel. Der Rappe stieg wiehernd in die Luft. Eine Stichflamme zuckte zur Sonne. Am Ende des blendenden Blitzes erschien nach einem Donnerschlag ein Jagdfalke. Die Enden seiner Schwungfedern glänzten, als wären sie aus edlem Metall oder aus Juwelen. Sultan Mustafa zwang seinen Hengst wieder zu Boden, senkte den Kopf und blickte seine zitternden Finger an. Tief in seinem Innern spürte er Zuversicht und Sicherheit. Halbmond und Roßschweife würden bald überall in jenen Ländern flattern, die von den Ungläubigen heute noch beherrscht wurden. Schweigend ritt er zurück zu den Zelten des Serails. Ich hatte erkennen müssen, daß ich geweckt worden war und mich in absehbarer Zeit der Verantwortung würde stellen müssen. Voller Erleichterung begrüßte ich die Frist, die bis zum Beginn der nächsten Wachperiode blieb. Mit tauber Zunge formulierte ich mühsam die Frage. »Warum bin ich geweckt worden, Rico?« »Aus mehreren Gründen, wichtigen Gründen, Atlan«, entgegnete der Roboter. »Gefährliche Erinnerungen. Drohende Entwicklungen. Auftauchen des Nahith Nonfarmale.« »Diese Bilder. Schreie und Kommentare?« »Dokumentationen von Vorfällen, die etwa vor zweiundzwanzig Jahren stattfanden. Ich überlegte seinerzeit,
dich zu wecken, aber der Überfall endete so schnell, daß es sinnlos war, deine Ruhe zu unterbrechen.« Ich versuchte, herauszufinden, was ich jetzt auf den Bildschirmen erkannte: Breitschultrige, rothaarige Gestalten in Raumanzügen zerrten und schleppten eine ältere Frau mit mongolischen Gesichtszügen, in das halb zerrissene Gewand einer Nomadin gekleidet, zu einem elliptischen Gleiter oder Raumlandeboot. Ein Textblock, von den Computern der historischen Speicher eingeblendet, gab Informationen. Als Rico sah, daß meine Augendrüsen salziges Sekret absonderten und ich zwinkern mußte, las er vor: »Nara, eine nomadisch lebende Mongolin, wurde überfallartig gepackt und ins Beiboot verschleppt. Eines von mehreren Opfern unbekannter Besucher. Analyse: Raumfahrer dieser Rasse waren auf Larsaf III gelandet. Bemerkenswert im Fall der Nara ist, daß auch ihr reichlich beschädigtes Zelt zerlegt und mitgenommen wurde.« Ich lag, gegen die halb hochgefahrene Lehne des warmen Kontursessels gestützt, in einem der Reanimationsräume. Eine weitere Bildfolge zeigte: Ein blonder, breitschultriger Mann, in Wollgewirktes und Felle gekleidet, wurde von den Raumfahrern davongeschleift. Rico berichtete: »Alf Tornsten, Bauer aus Schweden, dem Land König Gustav Adolfs. Ebenfalls gelähmt und verschleppt. Die Auswahlprinzipien der rotbärtigen Fremden sind nicht ermittelbar. Auch Alf wurde von einem hervorragend organisierten Team eines ellipsoiden Raumboots fortgeschleppt. Ob Teile seiner Habe ebenfalls gestohlen worden waren, hatten die Spionsonden nicht festhalten können.« Das nächste Bild zeigte eine sonnenflirrende Savannenlandschaft. Offensichtlich Teil des inneren Afrika. Ein schwarzhäutiger Mann, der vor Angst zitterte, flüchtete
vor dem Beiboot, wurde mühelos eingeholt und verschleppt. Rico meinte: »Es konnten nur wenige Geräusche von einer uralten Spionsonde aufgefangen werden.« Ich konzentrierte meine verschwimmenden Blicke auf die Bildschirme. »Vielleicht«, erklärte der Robot gleichmütig, »bedeutete das Wort, das er immer wieder ausstieß, wirklich seinen Namen. Mtumbo. Ich weiß es nicht.« Wieder wechselte der Schauplatz einer wilden Jagd. Raumfahrer fingen Menschen dieses Planeten. Brauchten sie Anschauungsmaterial für spätere Besuche? »Wir kennen den Namen des nächsten Opfers«, sagte der Robot. »Es ist der junge Graf Rodrigo de Berceo. Er reitet zum Zeitpunkt der Aufnahmen über den Besitz seiner Eltern im südlichen Amerika. Beachte den Schatten des verfolgenden Flugobjekts!« »Ich sehe zu.« Ich überlegte, was die Fremden mit dieser Aktion bezweckten. Ein walzenförmiges Etwas, dessen Schatten riesengroß und pechschwarz über das Land huschte, verfolgte den Reiter, der über dem Hals des Pferdes hing und den Kopf drehte. Er blickte nicht nur in die Richtung der Verfolger, sondern auch in die Linsen der Sondenoptik, peitschte voll Angst sein isabellfarbenes Reittier und versuchte, indem er geschickt die Deckungsmöglichkeiten der Geländeformationen ausnutzte, den lautlosen Verfolgern zu entkommen. Wieder erschien über ihm ein elliptisches Fluggerät, überholte ihn und beendete mit wirksamer Technik die Verfolgung. Das Pferd galoppierte davon, nachdem es sich halb überschlagen hatte. Der Graf, ein Mann von wenig mehr als zwanzig Jahren, verschwand in der Schleuse des Beiboots. Das Raumschiff selbst, dessen Beibootbesatzungen die Menschen einfingen, war von den Sonden nicht direkt beobachtet
worden. Ich wußte, daß solche Dokumentationen Zufallsergebnisse bleiben mußten; die Oberfläche dieses Planeten war gigantisch groß; sinnlos, sie systematisch kontrollieren zu wollen. »Ist das… alles?« fragte ich lallend, spürte die warmen Ausstrahlungen des Zellschwingungsaktivators auf meiner Brust; gleichzeitig strichen meine unruhigen Finger über die Narben unterhalb meiner Brustplatte. Mein Denkvermögen reichte noch nicht für komplizierte Überlegungen. Fingen sie lebende Exponate für einen galaktischen Zoo? Angelten sie exotisches Leben von der Oberfläche eines exotischen Planeten? Noch mehr Besucher, gegen die ich zu kämpfen hatte? Ich stöhnte und schüttelte mich trotz meiner Schwäche. Der Roboter legte mitfühlende Behutsamkeit in seine halblauten Worte: »Raumfahrer entführten Menschen. Vielleicht waren es mehr als die beobachteten Subjekte. Es ist nicht festgestellt worden, ob sich seither solche Ereignisse wiederholten. Ich weiß es nicht.« Rico projizierte sämtliche Bildsequenzen noch einmal. Dann, als ich keine Einwände erhob, verbannte er sie in die Speicher der historischen Dokumentation. Ich kam nicht mehr dazu, Fragen zu stellen. Im Schlaf vergaß ich die Raumfahrer, die auf »meinem« Planeten allerlei Exponate für unbekannte Zwecke einfingen. Die nächste Einblendung nach mehr als zehn planetaren Stunden zeigte das bis zur Unkenntlichkeit überwucherte und bewachsene Schlößchen Le Sagittaire und das Dorf Beauvallon. Das versteckte Tal strahlte den Frieden relativen Reichtums und sommerlicher Ruhe aus. Menschen und Tiere schienen gesund zu sein und ohne bemerkenswerte Bedrückung zu leben. Ich schwitzte unter dem
sonnenähnlichen Licht und der schweißtreibenden Hitze der Speziallampen. Weniger mühsam formulierte ich: »Wann schliefen wir zum letztenmal ein?« Mit unerschütterlicher robotischer Abgeklärtheit erwiderte Rico: »Ende 1671.« Ich erinnerte mich und dachte an Nonfarmale, den zu vernichten ich geschworen hatte. »Wann wurden diese Menschen eingefangen und weggebracht?« »Im Sommer 1674.« Ich hielt mich an den wenigen positiven Bildern fest. »Die Bilder von Beauvallon – sind sie Realzeit?« »Selbstverständlich. Wir schreiben den Sommer 1696.« Ich versuchte zu lächeln. »Du hast dich um das Dorf gekümmert, Rico-Riancor?« Diesmal grinste er und antwortete selbstsicher: »Wie eine schnurrbärtige Amme, Herr Atlan d’Arcoyne.« Ich holte tief Atem und spürte stechenden Schmerz in meiner Brust. »Hast du Monique aufgeweckt?« »Sie befindet sich im selben hilflosen Zustand wie du, Graf Atlan.« »Dann ist auch Sagittaire vorbereitet?« Ich ahnte die selbstbewußte Antwort. »Für einen triumphalen Einzug tagsüber oder, weil weniger schwierig, in der Nacht.« Ich wartete, überlegte, wägte ab und fragte schließlich: »Und was ist der eigentliche Grund, Riancor?« Die Augen des Roboters – diesmal grüngolden – schlossen und öffneten sich. Schließlich antwortete er: »Der eigentliche Grund ist Nonfarmale. Versuche, tief zu schlafen, Atlan.« Das Licht der Solarlampen wurde abgeschaltet. Ein warmes Bad mit Massagen schloß sich an. Dann wieder: Vergessen im Schlaf.
Die Summe von Ricos Beobachtungen zeigte deutlich, daß zwischen zwei Besuchen Nahith Nonfarmales unverständlich lange Zeit verging. Dieser Umstand sprach gegen unsere Annahme, daß er sich von mentalen Energien ernährte – oder sie genoß –, die von leidenden Planetariern stammten. Wahrscheinlich hatte Rico nicht jedes Auftreten anmessen oder orten können; noch immer öffneten sich im planetennahen Raum seltsame Pforten und schlossen sich in ebenso unberechenbarem Rhythmus. Ein Rätselwesen war jener Fremde, und es blieb fraglich, ob ich ihn stellen und bekämpfen konnte. Ich ahnte nicht einmal, aus welcher Zivilisation Nonfarmale stammte. Ohne Zweifel war Nahith Nonfarmale ein lebendes Wesen, kein Roboter. Ich kontrollierte Bilder und Informationen der Spionsonden und entschloß mich, eine bestimmte Entwicklung in die Wege zu leiten. Rico spielte Lage und Ansichten eines Dutzends unbewohnter Inseln ein, ich suchte die zweitgrößte heraus, ordnete ein Programm zur Umgestaltung an und ließ die Insel mit Brunnen versehen, mit Reisfeldern und Häusern, ließ Brücken, Pfade, Wege, einen kleinen Hafen und Wälder bauen und anpflanzen, und schließlich konzipierten ich und Rico ein Gesamtprogramm, das diese Insel im Süden bewohnbar machte. Es würde der Tag kommen, an dem ich dort meine Helfer im Kampf gegen Nonfarmale traf. Shogun Tsunayoshi trug Mitschuld an dem Rückgang der ritterlichen Kultur in Japan oder Zipangu. Dekadenz überzog das Shogunat wie wucherndes Moos. Die Samurai verarmten und häuften bei den Kaufleuten beträchtliche Schulden an. »Du bist sicher, daß eine Handvoll Samurai und etliche Ninja dir helfen werden?« fragte Rico. »Diese menschlichen Kampfmaschinen«, antwortete ich, »sind die einzigen Barbaren, mit denen zusammen ich ihn
besiegen kann. Auf ihre Art, mit ihrem Kampfkodex schaffen wir es vielleicht; die besten Kämpfer, die ich auf diesem Planeten fand. Ich werde sie aussuchen und auf diese Insel schicken. Von dort aus brechen wir eines Tages auf und bringen den Fremden um.« Es würde vielleicht Jahre dauern. Aber bis zu diesem Zeitpunkt war die Insel ein Abbild Japans; im Kleinen, viel wärmer, mit mehr Sonne, aber für unsere Zwecke besser brauchbar, in der Nähe meiner Flucht- und Erholungsinsel unter den Sternen des Südens. »Rechne nicht mit einem schnellen Erfolg, Atlan«, mahnte der Robot. »Ganz sicher nicht«, gab ich zurück. »Ich will diese Krieger nicht nach Beauvallon mitnehmen.« Die Roboterin Lilith, deren unglaubwürdige Schönheit Rico auf ein ertragbares Maß korrigiert hatte, beaufsichtigte die Umgestaltung des Eilandes: Samen und Schößlinge, programmierte Roboter, Material aus den verborgenen Magazinen, ein abgeschwächtes Deflektorfeld und ein kuppelförmiges Schutzfeld wurden aufgebaut. Rico schloß und öffnete das Feld, um den Austausch von Lebewesen zu garantieren und sicherzustellen, daß niemand die Insel betrat. Vielleicht stellten sich meine Vorbereitungen aber auch als voreilig und sinnlos heraus. Die Halle war temperiert, und jeder Tiefstrahler, jeder Scheinwerfer richtete seine Lichtflut auf den Gegenstand im Zentrum der Anlage. Er ruhte auf dem Fahrgestell, das aus wulstigen Reifen und ebensolchen Prallkörpern bestand. Die LARSAF funkelte und strahlte. »Der Umbau ist bis auf wenige Triebwerkseinrichtungen und Schaltungen beendet«, erklärte Rico. »Das Schiff sieht herrlich aus«, lobte ich. Ich war überwältigt.
Von der aerodynamischen Spitze bis zu den Flügelenden und den Antriebseinheiten erstrahlte das Venus-Raumschiff in metallischem Glanz und eingebrannten Farben. Die Erweiterung, die sich zwischen Vorderteil und Heck nahtlos einfügte, war nur für jemanden zu erkennen, der die Bauzeichnungen kannte. »Ich habe es überholen lassen«, sagte Rico, »aber diese Phase kennst du bereits. Dann setzten wir alle Teile zusammen, überprüften jede Verbindung, nahmen alles auseinander und haben es nun ein zweitesmal zusammengebaut.« Ich fing auf schwachen Füßen einen Gang rund um das Schiff an. Jede Einzelheit war mit maschinenhafter Präzision vollendet, überholt, repariert oder ersetzt worden. Der Einstieg war aufgeklappt; ich kletterte mit schmerzenden Muskeln über den Steg. »Zeit und Arbeitsstunden spielen ja keine große Rolle«, murmelte ich. »Von beidem haben wir genug.« »Um einen Probestart durchzuführen, muß das Schiff wieder auseinandergenommen werden«, sagte Rico. Als ich schwieg und einen Teil der zweckmäßigen Inneneinrichtungen musterte, sprach er weiter. »Innerhalb der Überlebenskuppel gibt es keinen Transmitter, der für diesen Koloß groß genug wäre.« »Wir denken in den nächsten Jahren daran.« »Sämtliche Verbindungen zwischen den Bauelementen sind entweder zu stecken oder fast ohne Werkzeug zu schrauben. Deswegen gibt es noch Schwierigkeiten mit der Steuerung.« Das System der Wiederaufbereitung von Atemluft und Wasser, die Steuerkanzel und die leeren Laderäume glänzten und funkelten vor Sauberkeit. Nicht einmal Metallspäne waren zu sehen. Synonymus Eins, gekleidet wie ein Handwerker, arbeitete mit Subrobots an der Außenseite des Schiffes. Ich schüttelte verwirrt den Kopf, setzte mich in den
Pilotensitz und wandte mich an den Roboter: »Wenn wir Zeit und Gelegenheit haben, bauen wir eine Halle und schicken die Teile per Transmitter dorthin. Fehlerhafte Elemente könnten hierher zurückgebracht werden.« »So ungefähr hatte ich es geplant, Atlan.« Ich stützte mich auf Ricos Schulter, als wir das Schiff verließen und aus der Montagehalle in die oberen Stockwerke zurückgingen. Ich warf, am obersten Punkt der Rampe, vor den Druckschotten, einen Blick auf das Schiff. Amiralis hatte es aus dem Fels geholt, mit Ricos Hilfe; auch sie zählte zu den Opfern des Unbekannten, der im Schutz von »Jenseitslandschaften« hauste. Noch längst wußte ich nicht genug über meinen Gegner. Seit Mittag saßen Monique und ich auf der Terrasse von Le Sagittaire, obwohl unsere Ausrüstung noch nicht völlig zusammengestellt war. Hinter dem dichten Grün von Spalierobst und Wein sah uns niemand aus dem Dorf. Die Sonne des Frühherbst brannte auf das riesige Sonnensegel. Unsere Körper troffen vor Öl und Schweiß. Wein, mit Quellwasser gemischt, stand auf einem niedrigen Marmorwürfel zwischen unseren Liegestühlen. »Wir sollten uns also auf eine lange Reihe von Jahren vorbereiten? Auf Kämpfe gegen diesen Nonfarmale?« fragte Monique schläfrig. Ihre grünen Augen funkelten mich an. Wie aus weiter Ferne drang der Lärm der erntenden Freibauern von Beauvallon et Villeneuf de Fraconnade hierher. Es war, als befänden wir uns auf einer Insel. Im Innern des Schlößchens rumorten Ricos metallene Helfer. Ich sagte: »Ich weiß nicht alles über sein Wirken, während wir schliefen. Aber schon hetzt er die Osmanen gegen das Abendland.«
»Du hast gesagt, daß er nicht auf dieser Welt wohnt?« Ich bemühte mich, Monique zu berichten, was wir inzwischen herausgefunden hatten. »Nonfarmale, der diese Welt durch unsichtbare Pforten betritt und verläßt, kann sich unsichtbar machen. Wir sind sicher, daß er mehrere Schlupfwinkel hat. Wir nennen sie ›Jenseitswelten‹. Sein Vorrat an Fabelwesen, auf denen er reitet, scheint unerschöpflich. Aber in seinen phantastischen Landschaften gibt es natürliche, wenn auch exotische Lebewesen. Seine Tricks, seine Ausrüstung und Skrupellosigkeit sind immens.« Ich ließ eine Pause eintreten und trank einen Schluck Wein aus den Fässern des LeSagittaire-Gewölbes. »Es mag sein, daß Nonfarmale etwas mit dem Planeten WANDERER zu tun hat. Es kann sich, wie bei den rothaarigen Riesenraumfahrern, um einen Besucher unserer Welt handeln, dem es hier gut gefällt. Das werden wir wissen, wenn wir ihn besiegt haben.« »Ich sah Bilder von der Insel im Osten. Du denkst an die Samurai und die Ninja, Atlan?« »Ich denke daran«, bestätigte ich. »Das heißt nicht, daß sie für mich kämpfen werden. Es ist bisher nicht mehr als eine Überlegung.« Sie nickte. Ich hatte beschlossen, ihr nichts von Amiralis und ihrem schrecklichen Ende zu erzählen. Monique senkte den Kopf, ließ ihre Blicke über das Arrangement aus Pokalen, hellen Fliesen, Marmor und meinen leicht gebräunten Zehen gleiten, dann sagte sie abwägend: »Nahith Nonfarmale von der Insel Sarpedon im Meer von Karkar scheint dein einziger Gegner zu sein?« Ich nickte ernst. Der Himmel über Beauvallon war blau und voller schneeweißer Wolken. Die Sonne ließ Weizen und Trauben reifen, doch leider half sie meinen Gedanken nicht zur größeren Reife.
»Rechnest du damit, ihn zu töten?« fragte Monique. Ihr Haar war gekämmt und hing bis über ihre Schultern. Ich spürte die Wärme durch meinen Körper sickern, ich blinzelte in der Sonne und dachte an den fünften Sohn des Prinzen Eugen Moritz von Savoyen-Carignan und der Nichte Olympia des Kardinals Mazarin, Berater des vierzehnten Ludwig von Frankreich. »Ich rechne nicht mit schnellem Erfolg«, brummte ich verdrießlich. »Aber wir dürfen nicht auffallen. Sonst greift er uns an, und das könnte tödlich sein. Wir haben weniger Erfahrungen im Versteckenspielen.« Im Innern des Schlößchens, dem großen Wohn- und Arbeitsraum, begann die zierliche Planetenuhr zirpend zu schlagen. »Du nimmst den Kampf auf?« Ich nickte und lauschte dem Klang des wertvollen Instruments. »Wir hören nicht eher auf, bis der Fremde tot ist. Wir müssen in die Kuppel. Uns fehlen noch ein paar Tage, bis wir mit festem Schritt auftreten können.« Wir schlüpften, unbemerkt von den Bewohnern des Ortes, in unsere weißen Mäntel, kletterten im Keller auf die Plattform des Transmitters und ließen uns abstrahlen. Während England eine unblutige Revolution zelebrierte, während die Macht der Habsburger auf Kosten der Türken sich stärkte, Hunderttausende schwarzer Sklaven nach Amerika verschifft wurden, der russische Zar als Zimmermann den Schiffsbau für seine spätere Flotte lernte und der Frieden von Rijswyk geschlossen wurde, streckte der alternde König von Frankreich die Hand nach Osten aus, nach Südost und auch in andere Richtungen. Prinz Eugen von Savoyen zählte in diesem Jahr seinen dreiunddreißigsten Geburtstag. Wir trafen den kleinen Prinzen im späten Herbst. »Wenn wir erst damit anfangen, Messieurs«, sagte der Mann
mit den scharfen Gesichtszügen, »im Winter Kriege zu führen, gibt es in unseren Ländern niemanden mehr, den wir schützen müßten. Nein! Zum Sterben im Pulverdampf gehören blauer Himmel über Hungaria und weiße, habsburgische Wolken.« »Und Soldaten, die scharfe Säbel, richtige Gewehre und etwas zu essen haben«, meinte Graf Cari Nocra-Beauvallon und spielte seine Karte aus. Er sprach leichthin und unbetont. »Ganz zu schweigen von einer kompetenten Führung und einer Idee, wofür und wogegen sie kämpfen. Mit diesem Heer, Prinz, werdet Ihr nur schmale Verdienste erwerben können.« »Ich fürchte, mein Freund hat nicht unrecht, Prinz.« Ich führte die falschen Karten ins Spiel ein und verlor an Eugen von Savoyen eine beträchtliche Summe Goldmünzen, die so hervorragend gefälscht waren, daß man sie noch später in Museen für echt halten mußte. »Wieder eine Mauer für Euer Hochwohlgeboren Stadtpalais.« Eugen war möglicherweise nicht geldgierig, aber er gewann gern und brauchte das Geld, um seinen Architekten Lucas von Hildebrandt und Fischer von Erlach den Lohn für aufwendige Baumaßnahmen zu zahlen. Überraschte Blicke trafen uns, irrten von unseren schnurrbärtigen und weißperückten Gesichtern ab und hefteten sich auf das makellose Dekollete Moniques. Sie hatte, von Graf Cari raffiniert unterstützt, stets kleinere Summen gewonnen. »Ich weiß es, mon eher Comte«, sagte der Prinz. »Ihr sagt es. Und was tun wir dagegen?« »Das obliegt Euch«, wandte ich ein. »Schließlich sammeln sich die Türken keine dreihundert Meilen südöstlich von Wien, wo wir sitzen und in behaglicher Wärme mit Karten, Worten und Goldstücken spielen.« »Meiner Treu!« Der Prinz teilte mit flinken Fingern die Karten aus. »Seit Sobiesky zu seinen Ahnen versammelt wurde, habe ich derlei gerade Worte nicht mehr gehört.«
»Für solcherlei Klugheit sind wir selbst in Frankreich berühmt«, bekannte ich verschämt und zog das Weinglas über den Samt des Spieltisches. Eugen war eineinhalb Kopf kleiner als Monique. Sein Gesicht war schmal und bleich; seine Bewegungen standen dem blitzschnellen Umherhuschen seiner Augen in nichts nach. Ich wußte, daß er ein mehr als hervorragender Reiter war, daß ihn – untypisch für seine Zeit – Ehrlichkeit und Anständigkeit, Vernunft und hohes Maß Klugheit auszeichneten. Als er weitersprach, stellte sich klar heraus, daß er tatsächlich überall im riesigen Reich der Habsburger seine Spione sitzen hatte. Er überraschte uns mit Daten unserer Reise. »Ihr scheint nicht unerfahren zu sein im blutigen Geschäft des Krieges, Graf D’Arcoyne de Fraconnard?« fragte er. »Sucht Ihr einen Heerführer?« »Auch das. Ihr kennt die Osmanen?« Ich winkte müde ab, stieß meine Karten zusammen und hob das Glas. Wir saßen im Nebenzimmer eines Nebensaals in einem Wiener Stadtpalais und hatten uns »zufällig« kennengelernt. »Ich kenne viele Schlachten. Ich weiß, wie man sicher und schnell gewinnt. Auch im Winter, wenn’s denn sein muß.« Prinz Eugen war ein Mann rascher Entschlüsse. Er lehnte sich zurück, schoß eine Serie prüfender Blicke aus seinen blitzenden Augen ab und sagte in einem Tonfall, der keine Widerrede zuließ: »Ihr seid meine Gäste in der Himmelsfortgasse. Es ist mehr als reichlich Platz. Oder zieht es Euch weiter, Graf Atlan?« »Nicht, wenn ich helfen kann, Probleme zu lindern«, versicherte ich wahrheitsgemäß. »Morgen vormittag sind die Gemächer bereit«, meinte er.
»Ihr wißt, in welcher Art Hauptstadt Ihr seid?« »So genau«, beruhigte ihn Cari Nocra, »als hätten wir sie gebaut und bevölkert. Seit dem zweiten Ramses von Ägypten ist es immer und überall dasselbe.« Immerhin sprachen wir mit dem Generalfeldwachtmeister, späteren Feldmarschall-Leutnant Eugen, dem Träger des Goldenen Vlieses, dem Verwundeten von Belgrad, dem Mann, der Mainz schwerverwundet erobert hatte, dem Held von Turin und dem Feldmarschall des Kaisers Leopold. Auf einem reifbedeckten Boden, den der zweite Frost hart hatte werden lassen, klangen die Hufschläge wie Trommelwirbel vor einer Schlacht. Aus den Nüstern unserer Pferde stoben Dampfwolken. Rauhreif glitzerte auch an den Haaren unserer Pelze, als wir außerhalb der Stadt über die Flächen des Glacis ritten. »Du mußt wissen, mon cher ami«, sagte Eugen, »daß ich es allemal vorziehe, einen Eisblock zu schmelzen als ein paar Kübel warmes Wasser aufzukochen. Indessen: Das Land und besonders der Hof wimmelt von Lauen, Bestechlichen und…« »Behalte die Contenance!« empfahl ich ihm lachend. »Ich kenne diese Leute. Aber es finden sich immer wieder Männer, von denen die Scheißkübel fortgeschafft werden.« »Einer der besten reitet neben dir, Atlan.« Als er von Kurfürst Maximilian nach Bayern eingeladen worden war, mußte er für die Reise den Ring des Freundes Conti verpfänden. Als er vor acht Jahren den Orden erhielt, fehlten ihm die dreitausend Gulden, um die Kette dazu kaufen zu können. Als mittelloser Flüchtling aus Frankreich war er vor dreizehn Jahren an den Hof Leopolds gekommen, voll brennendem Ehrgeiz und von großem Können. »Du kennst den Zustand des Heeres?« fragte ich. Er nickte und entließ aus seinen Lippen ein häßliches Geräusch. »Du
kennst die Türken?« »Ich fürchte sie.« Zwei Armbrustschüsse hinter uns ritt der Robot, Graf Cari Nocra, auf seinem falben Hengst. Er wachte nicht nur über meine Sicherheit und die des kleinen Prinzen, sondern korrespondierte mit den Geräten in der Kuppel und in Sagittaire und ließ die Spionsonden suchen. »Du weißt auch, daß der Vierzehnte Ludwig sie unterstützt?« wollte ich wissen. Seine Antwort ließ mich ahnen, daß seine Spione nicht viel schlechter waren als meine. »Ja. Weiß ich. Wenn sich der Kaiser entschlösse, so etwas Ähnliches wie ein richtiges, starkes Heer aufzustellen, würden wir sie ins Schwarze Meer treiben. Aber Seine Majestät und all die Zehenkitzler, Arschkriecher und Friedengewinnler fürchten die Kosten. Sie beten darum, daß ein kostenloses Wunder den Habsburgern hilft. Bisher gab es kein Jahr ohne Krieg, seit dem sechzehnhundertdreiundachtziger Jahr.« »Spätestens im nächsten Sommer greift Sultan Mustafa an.« »Ich rechne mit dem Ende des Frühjahrs«, entgegnete er. Ich zog meinen pelzgefütterten Hut, schwenkte ihn und sagte in ehrlicher Bewunderung: »Mehr und mehr gefallt Ihr mir, Prinz. Drahtig und klein, schnelldenkend und klug. Complimenti, Signore. Mir deucht, ich werde an Eurer Seite kämpfen.« Er warf mir einen langen, warmen Blick zu und nickte ohne jedes Lächeln. »Es würde mich freuen, mein Freund. Ich warte auf Euch, irgendwo im flachen Land.« Ich schlug von oben auf den Hut und antwortete, ebenso ehrlich: »Graf Nocra und ich werden neben dir reiten und kämpfen, Eugenio von Savoyen.« »Ich ahne, daß ich niemals bessere Kampfgenossen haben werde. Vielleicht dieser Engländer…«, meinte er. Die Hufeindrücke zogen sich als parallele Spuren über die
Flächen außerhalb der Stadt Wien. Aus zahllosen Kaminen stiegen Rauchsäulen fast senkrecht in die Luft. Ich entsann mich, daß vor rund dreizehn Jahren die Türken vor den Mauern dieser Stadt in den letzten Stunden einer verlustreichen Belagerung gescheitert waren. Eugen wandte sich an mich und parierte seinen Hengst durch. »Wann gehst du zurück zu deinem Besitz?« »In ein paar Tagen«, antwortete ich. »Ein Winter westlich von Savoyen ist allemal besser als Flöhe und Wanzen in Wien.« »In meinem Haus?« schrie er aufgeregt. »In deinem Haus holt man sich Podagra und das Zipperlein«, sagte ich und mußte lachen. »Nein. Du kümmerst dich um deine Prunkbauten, ich muß meinen freien Herren Bauern Ratschläge geben und verhüten, daß sie übermütig werden. Keine Sorge, Prinz – ich werde wissen, wann du gegen die Türken reitest.« »Ich schicke Boten.« Ich lachte unmäßig, deutete mit dem behandschuhten Finger auf seine Falkennase und sagte: »Du und deine vielen Spione, Eugen. Vergiß sie! Wenn ich es vorziehe, unsichtbar zu bleiben, wirst du von denen nicht erfahren, wo ich bin. Außerdem gilt mein Wort. Versprochen ist versprochen. Ich muß auch Monique vor deinen gierigen Augen nebst Fingern in Sicherheit bringen.« Er schüttelte seinen Kopf. Unter dem Fellhut verbarg sich heute keine aufgetürmte Lockenperücke, sondern sein schütteres, kurzgeschorenes Haar, das er täglich waschen ließ. Er war ein Mann seiner Zeit, und oftmals tat er sich hart, meine Art von Humor zu verstehen; er gab sich viel Mühe. Er war, alles in allem, ein feiner Kerl. Ich wünschte, es gäbe mehr von seinem Schlag. Wir ritten noch weitere vier habsburgische Meilen, dann
preschten wir im Galopp durch die Gassen und in die Stallungen des Prinzen. Warmer Wein erwartete uns im Kutscherstüberl; auch Cari Nocra roch an seinem Becher. Ich spürte die Hitze des Kaminfeuers und der Glut an den Sohlen. Kalter Sturm gurgelte in den Kaminen von Le Sagittaire. Ich war allein und versuchte, die vielen Tatsachen zu verwerten, die Informationen, die wir eingesammelt hatten. Ein Museum der unglaublichen Zufälle war dieser Planet, ein Friedhof von Sankt Nirgendwo, ein Ort, den anscheinend jedermann kannte und besuchte, um sich zu bereichern. Bisher waren die Invasoren nicht als Plünderer aufgetreten; das mochte noch kommen. Mußte ich als Paladin einer barbarischen Menschheit künftig damit rechnen, daß Fremde landeten, um ihre Harems aufzufüllen, Schätze zu rauben oder Waffen auszuprobieren? Gehörte Larsaf Drei in Wirklichkeit einer anderen Rasse, von der ich nicht wußte? Nonfarmale kam und ging wie eine Windhose, entstand und verging im Nichts. Fanden wir die Überreste vergangener Kulturen und Zivilisationen? Gab es im Erdinnern oder am Grund der Ozeane Hinterlassenschaften, die älter waren als meine Arkon-Kuppel? Ich kannte sie nicht, und, wenn es sie gab, stieß ich wohl nur durch einen Zufall darauf. Oder war Nonfarmale nur Zeichen für einen verstohlenen Kontakt mit Larsaf III, einer Welt, die einst von fremden Raumfahrern kolonisiert worden war? Oder waren wir ein Niemandsland, das jedem offenstand? Der Extrasinn knurrte: Wirre Thesen. Halte dich an die Realität, Arkonide! Die schwere Tür knirschte in den Angeln. Cari Nocra trat ein. Ich deutete auf den leeren Sessel. »Du bist zufrieden mit meinem Wirken in Beauvallon?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich nickte und rückte meine Stiefel weiter von der Glut weg.
»Ausgezeichnete Arbeit«, antwortete ich. »Scheunen und Speisekammern sind voll, die Häuser in bester Ordnung, die Felder groß und gesund, wie das Vieh. Wieviel Einwohner?« »Siebenhunderteinundfünfzig. Auch Schule und Kirche werden bestens versorgt.« »Und die Steuern sind auch bezahlt worden?« »Zum Teil sogar von den Dörflern. Die Hugenotten machen keine Probleme, sie zahlen freiwillig die schweren Steuern und Abgaben.« In den Ställen standen die Reitpferde, die wir auf unseren Reisen gekauft hatten. »Zurück zu unseren Helden«, sagte ich leise. »Er wird uns jedenfalls nicht mehr schlecht ausgerüstet und bewaffnet erwischen. Wie gehen die Bauarbeiten auf unserer Insel weiter?« »Wie ausgerechnet, im Schutz eines Deflektor- und eines Schutzfeldes, mit vielen Traktorstrahlen und Robots, die Hügel aufschütten und Bäume pflanzen und vieles mehr.« »Ich brauche mich also darum nicht zu kümmern?« »Nicht während der nächsten Jahre, Graf d’Arcoyne.« Die ersten Wochen eines stillen Winters in dem versteckten Tal dienten dazu, herauszufinden, in welche kaum verständliche Richtung sich die Macht zu verschieben begann; jedes Jahrfünft änderten sich Allianzen, wurden Grenzen versetzt; zweifellos würden die Türken versuchen, ihre Herrschaft auf Europa auszudehnen. 1683 war Wien von ihnen belagert worden, jetzt rüsteten sie wieder und bereiteten sich auf einen Kampf vor. Spionsonden schwirrten umher und lieferten wichtige Einsichten in die Struktur der osmanischen Macht. Das Oberkommando hatte der Großwesir. Er war vom Sultan ernannt und besaß Macht, kaum faßbare Geldmittel, sämtliche Möglichkeiten direkten und indirekten Einwirkens.
Ein Gelehrten-Gremium, »Männer der Feder«, beriet ihn, der islamische Klerus machte ihm Vorschriften, die »Uleróa« gab Ratschläge, die mit dem Gewissen der Öffentlichkeit zu tun hatten, und auch der Oberste der Schwarzen Eunuchen, der den Haushalt und den Harem kontrollierte. Die »Seratkuli«, ausgehobene Truppen der entsprechenden Provinz, nannte man »Sklaven der Grenzgebiete«. Wahrscheinlich würden sich hunderttausend Fußkämpfer und fünfzigtausend Reiter auf den Weg machen. Das reguläre Heer zählte rund fünfzigtausend Janitscharen sowie fünfzehntausend Männer der schweren und leichten Reiterei. Militärtechniker aus aller Herren Länder folgten dem Heer, zusammen mit Handwerkern. Zuhälter, Dirnen, Zigeuner, Gaukler und Bärenführer schlossen sich an, auch besonders geschulte Janitscharen-Sänger, die das Heer mit unflätigen Liedern unterhielten. Die Türken, die seit knapp eineinhalb Jahrhunderten große Teile Europas besetzt hielten und das Land ausplünderten, wurden vom vierzehnten Ludwig unterstützt, weil sie Feinde der Habsburger waren. Die Fähigkeiten der Monarchen von Österreich und Ungarn, ihre Länder zu verteidigen, waren bemerkenswert schwach entwickelt. Unsere Informationen kamen aus einer breiten Zone entlang der Donau, zwischen Linz und dem Eisernen Tor. »Es werden große Heere sein, die im Sommer aufeinanderprallen«, stellte Monique fest. »Das erste Kommando unseres kleinen Prinzen ist seine Feuertaufe.« »Mit unserer Hilfe hat er’s etwas leichter«, tröstete Rico. In der Abgeschiedenheit des Schlößchens lasen wir Texte von Racine, hörten Purcells Musik, versuchten Robert Boyles Experimente zu verstehen, sahen das Modell von Papins Tauchschiff und wagten weite Ausritte in die Umgebung. Die Bauern hatten nichts vergessen; das Essen war ebenso gut wie
das Bier und der Wein. Für unsere Schüler kaufte ich einige Exemplare der Lafontaineschen Fabeln; wir erfuhren, daß der Wal kein Fisch, sondern ein Säugetier war. Nebenbei suchten wir einen Platz, an dem ein Raumschiff zusammengebaut und getestet werden konnte, ohne daß es die Barbaren sahen und an Wunder glaubten. Die Suche, die mit niedrig schwebenden Spionsonden durchgeführt wurde, zeigte uns: Dieser Planet war ein herrlicher Platz im Kosmos, und seine Bewohner hätten Besseres zu tun, als sich gegenseitig Gold, Frauen, Land oder Leben wegzunehmen. Mit den Dörrlern veranstalteten wir Jagden, schlugen Bäume und versuchten, zu verbessern, was es noch zu verbessern gab. Der Wein dieses Herbstes schmeckte uns, die älteren Jahrgänge waren besser. Rico und ich wechselten häufig zwischen Sagittaire und der Kuppel, überprüften die Geräte und hofften, Nonfarmales Spuren zu entdecken. Er zeigte sich nicht. »Seit dem Tod von Amiralis weiß der Fremde, daß er gesucht wird.« Rico-Ciron-Cari schaltete ein Terminal ab und wandte sich zu mir um. »Es hat noch Zeit, verrückte Krieger aus Zipangu zu holen.« »Ich habe es nicht eilig.« Wir benutzten den Transmitter und schleppten Mitbringsel für das Dorf zurück. Die Liste der benötigten Kleinigkeiten war lang gewesen. Der Präsident des Hofkriegsrates, Ernst Rüdiger Graf Starhemberg, empfahl den kleinen Prinzen, aber Kaiser Leopold ernannte den Kurfürsten von Sachsen zum Oberkommandeur. Den Kurfürsten wählte man zum polnischen König; er mußte das Kommando in Ungarn abgeben. Mitten im Jahr schickte man Prinz Eugen an die
Front, ein Signal für uns, aufzubrechen. Monique blieb in Le Sagittaire. Wir verluden die Pferde, unsere umfangreiche Ausrüstung und eine Anzahl trickreicher Waffen in den schweren Gleiter und flogen nachts nach Osten. Einen Tag nach Prinz Eugen trafen wir in Esseg ein, einem Städtchen an der Drau, einem Nebenfluß der Donau, unterhalb von Mohacs. Ohne Aufsehen zogen wir in einen Bauernhof, den Rico angemietet und mit Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet hatte. Wir versteckten den Gleiter und rüsteten uns aus, legten wieder eine unserer Masken an. Wir fragten uns zu Prinz Eugen durch; was wir auf den Bildschirmen erkannt hatten, stellte sich in erbarmungswürdigen Bildern dar. »Mit diesem zerlumpten und verlotterten, hungrigen und waffenlosen Haufen will unser Prinzlein siegen?« fragte ich. Die Herren Grafen Atlan und Cari ritten schwere Rapphengste, trugen mäßig teure Rüstungen und mehr als genügend Waffen. Das Heer in und um Esseg war in einem Zustand, für den der Begriff erbarmungswürdig zutraf. »Der Kaiser hat kein Geld, um den Sold zu zahlen.« Das Städtchen war voller Zelte und Strohlager. Tausende Männer lungerten herum. Die Waffen waren rostig, die Stiefel voller Löcher, die Kleidung fadenscheinig. Was aus den Kesseln der Feldküchen roch, machte keinen Appetit. Von Munition und Kanonen sah ich nichts; die Stimmung war alles andere als zuversichtlich. »Der französische König zahlt die Osmanen«, erklärte Cari. Prinz Eugen galoppierte durch die staubigen Gassen. Er schien am Sattel festzukleben. Auf seiner hochgetürmten Perücke saß ein federgeschmückter Hut. Er zeigte beim Lachen seine Schneidezähne und hob die Stupsnase mit den großen Nasenlöchern hoch in die Luft. »Willkommen!« schrie er, schwenkte den Hut und preschte zwischen uns hinein. Er packte unsere Arme und Hände; seine
Freude war laut und ehrlich. »Eine betrübliche Tatsache, diese kaiserliche Söldnerarmee, nicht wahr? Aber es wird von Tag zu Tag besser.« Seine Zuversicht steckte nicht nur uns an. Die kaiserliche Kasse zahlte. Aus allen Richtungen kamen Handwerker, Näher und Händler. Die Kleidung wurde gewaschen und ausgebessert, Knöpfe und Streifen wurden angenäht. Schuhmacher brachten Tausende von Stiefeln in Ordnung. Gurte wurden geschnitten, und die Feuer der Waffenschmiede glühten. Fuhrwerke brachten Pulver und Blei herbei. Die Feldscher schnitten den Soldaten die Haare, rasierten die narbigen Gesichter; von Tag zu Tag gab es mehr kleinere Abteilungen, die außerhalb der Stadt übten und sich einem Zustand näherten, der gegen die Türken einigen Erfolg versprach. Pferdehändler kamen donauabwärts. Man schaffte Sättel und Flinten, Pulverhörner und Werkzeug herbei. Säbel und Bajonette wurden geschmiedet und glatt-geschliffen. Mehr und mehr verwandelte sich der Ort im weiten Umkreis in ein geordnetes Heerlager. Auch das Essen wurde von Tag zu Tag schmackhafter. Im freien Gelände übten die Reiter. Die Pferde wurden getränkt, gestriegelt und, wenn nötig, neu beschlagen. Zwanzigtausend Männer gliederten sich in die Truppenteile. Cari Nocra und ich verteilten an die Eskorte des Prinzen doppelläufige Reiterpistolen, die mit Magazinen kleiner Geschosse ausgerüstet waren und dreißigmal ununterbrochen feuerten. Das Geheimnis bestand darin, daß es dicht gepreßte Pulverstäbchen waren, auf die unsere Maschinen die Geschosse geklebt hatten. Die Rohre feuerten rückstandsfrei; es gab keine Feuersteine und keine heißen Hülsen. »Seht ihr?« Prinz Eugen kannte den Zustand seiner Leute genauer als jeder andere. »In einigen Tagen wird alles besser aussehen.«
Sein Organisationstalent besiegte in logischen Schritten alle Widrigkeiten der Mißorganisation. Er schrieb, rechnete, unterzeichnete Zahlungsanweisungen und fand immer Zeit, mit seinen Soldaten zu sprechen und sie aufzumuntern. »Es sind mehr als einunddreißigtausend!« rief eine Ordonnanz. »Bis wir vom Feind hören, werden wir vollzählig sein.« Mittlerweile verschanzten sich die Osmanen bei Zenta und errichteten eine Schiffsbrücke über die Theiß. Ich hatte Eugen die Bilder noch nicht gezeigt, denn beide Seiten schickten berittene Kundschafter in das Gebiet des Gegners. »Deine Soldaten sind noch nicht in der Lage, eine Schlacht zu gewinnen«, sagte Graf Cari Nocra. Auch Guido Starhemberg, einer der Unterführer, nickte ernst. »Ich sehe es nicht anders. Deshalb die Eile, meine Herren.« Soldaten und Troß wuchsen täglich. Es gab mehr Waffen und mehr Stiefel. Die Abteilungen wurden zusammengestellt und probten miteinander. Prinz Commercy und Graf Heister übten mit größeren Truppenteilen Angriff und Rückzug. Tag um Tag verstrich der August. Die Kaiserlichen hatten einen Kundschafter gefangen. Der junge Türke war an eine Stalltür gebunden und schwitzte vor Furcht. Fünf Mann mit blanker Waffe bewachten ihn. Ich sagte leise zu Cari Nocra: »Du kennst die Lage an der Theiß genauer als jeder andere. Laß entsprechende Neuigkeiten in deine Übersetzung einfließen.« Wir kamen zu der gemauerten Scheune, die als Gefängnis diente. Der osmanische Meldereiter blickte voller Furcht auf die Menschenmenge, die sich um ihn sammelte. Früher Nachmittag, die Sonne brannte in den ersten Septembertagen, in der Luft trieben Staub von zahllosen Hufen und Rauch aus
vielen Feuern und Kaminen. Starhemberg, Commercy und Heister warteten ungeduldig. Wir schwangen uns aus den Sätteln, als Eugen heranpreschte und seinen Hengst in eine Parade zwang. »Wenn er nicht die Wahrheit sagt, lasse ich ihn vor dem Erschießen auspeitschen!« rief er schneidend. »Ihr übersetzt, Graf Cari?« »Ich spreche seine Sprache.« Cari stellte sich vor den Reiter, ließ sich einen Becher Wein geben und sprach halblaut auf den Kundschafter ein. »Er sagt, daß sie ostwärts, nach Siebenbürgen vordringen.« »Ich ahnte es«, schnarrte Prinz Eugen. »Wieviel Mann?« Cari versuchte den schlotternden Kundschafter zu beruhigen und herauszufinden, wie es wirklich östlich von Esseg aussah. Gierig trank der Gefesselte den dünnen, sauren Wein. »Etwa fünfzigmal tausend. Das Dorf Zenta wurde niedergebrannt. Es gibt zwei Lager, eines am östlichen Ufer der Theiß, das andere im Halbrund vor der Schiffsbrücke. Sie war, als er ritt, noch nicht ganz fertig.« »Weiß er, wann Sultan Mustafa angreifen will? Und an welcher Stelle?« »Er weiß es nicht. Der Sultan lebt in äußerstem Prunk im Lager östlich des Flusses.« »Wie ist die Stimmung der Janitscharen?« »Wie immer. Sie kämpfen wie tausend Teufel, wenn sie merken, daß sie siegen können. Droht eine Niederlage, meutern sie.« Für etwa dreihundert kämpfende Soldaten wanderte im osmanischen Heer ein Henker mit, der die Urteile der Schnellgerichte vollstreckte. In der Armee des Kaisers feuerten die Schützen mit Steinschloßgewehren; zwei Schüsse in der Minute waren möglich. Die Osmanen benutzten noch Luntengewehre, weitaus langsamer feuernde Waffen. Auf
Kamelrücken führten sie leichte Geschütze mit, eine Erfindung von abstruser Kühnheit. »Kann der Sultan in den nächsten vier Tagen angreifen?« »Nein. Jedenfalls nicht hier in Esseg.« »Warum nicht?« »Weil er nach Osten vorstößt, wie alle Vorbereitungen zeigen.« »Was ist sein Ziel?« »Er verschweigt es. Das Banat? Siebenbürgen?« »Weiß Mustafa, daß ich in Zenta stehe und ihn angreifen will?« fragte Eugen. Jedes Wort in beiden Sprachen war, obwohl schnell geredet wurde, deutlich zu verstehen gewesen. »Er weiß, daß Euer Heer, Prinz, im gegenwärtigen Zustand leicht überrannt werden kann«, übersetzte Cari Nocra. »Weiß ich auch«, brummte Prinz Eugen. Im Gegensatz zu seiner geringen Körperlänge war er ein nimmermüdes Energiebündel, mit Wasser und Brot zufrieden; er schien zweiundsiebzig Stunden ohne Schlaf auszukommen. In den letzten Tagen hatte er lange schlafen können. Seine Blicke richteten sich auf jedes Gesicht der Versammelten; er musterte die staubigen Stiefel und die übrige Ausstattung, dann sagte er anscheinend zufrieden mit der Entwicklung der Umstände: »Bindet ihn los, er bleibt gefangen. Danke, Freund Cari, fürs treffliche Bemühen. Wir wissen, daß es ernst wird.« Mit beiden Händen winkte er uns. Wir folgten in das geräumige Zelt zwischen Dorfgasthof und Kirche. Auf Tischen waren Karten ausgespannt. Prinz Eugen zeigte auf die entsprechenden Gebiete, verfolgte die farbigen Pfeile, schien schweigend großartige Rechnungen durchzuführen. »Wir, meine Herren, denen Sieg oder Niederlage in die Hände gegeben ist, werden uns das osmanische Arrangement genauer ansehen. Morgen reiten wir, mit guter Bedeckung.« »Im Morgengrauen?« fragte Starhemberg und schien
hocherfreut. »Beim ersten Licht. Mit Zweitpferden im schwerbewaffneten schnellen Troß. Und in bester Laune, bitte ich, Messieurs.« »Selbstredend, mein Prinz!« rief Siegbert Heister. »Wir reiten voraus«, versprach ich und verabschiedete mich von den Anwesenden. Wenn unser Prinz losschlagen wollte, würde er es mit Truppen tun müssen, mit denen Hannibal nicht einmal hätte Wälle aufschütten mögen. Das Wetter spielte in der zweiten Septemberwoche mit. Etwa dreißig Mann mit sechzig Pferden saßen im Morgengrauen auf und folgten dem Kundschafter. Als Gestank und Unruhe des Dorfes hinter uns lagen, ritt ich an Prinz Eugen heran und reichte ihm eine kleine, zweiläufige Pistole. »Ein Meisterstück eines Waffenschmieds in meiner Grafschaft, mein Prinz«, sagte ich. »Sie schießt genauer und viel weiter als eine Flinte.« »Ich gedenke sie heute nicht zu benutzen«, versetzte er lachend. »Ich danke.« Im Lauf und im Kolben befand sich ein Schutzfeldgenerator, den ich durch den Druck auf einen Teil der SchultergurtZierschnalle aktivieren konnte. In ruhigem Trab ritten wir in Paaren ostwärts. Eine halbe Stunde später befanden sich Cari Nocra und ich nebeneinander, während wir auf einem Pfad durch ein Kukuruzfeld ritten. »Du kontrollierst die Spionsonde. Was wird Eugen sehen?« »Etwa die letzten Bilder, die auch du kennst. Die Entwicklung ist ein wenig weitergegangen. Bald werden die Reiter über die Brücke vorstoßen.« »Verstanden. Sie lassen sich Zeit.« »Wenn Eugen richtig handelt, wird er einen gewaltigen Vorteil erringen können. Zwangsläufig.« »Warten wir’s ab.« Rund fünfundfünfzig Meilen in direkter Linie betrug der
Abstand zwischen Esseg und Zenta. Ob wir an diesem Tag einen Punkt erreichten, an dem wir etwas von dem feindlichen Lager sehen konnten, war fraglich. Nur wenige Menschen arbeiteten auf den Feldern in unserem Blickbereich. Die meisten waren geflohen oder von den Türken niedergemacht worden. Nach einem abwechslungsreichen Ritt stoben wir einen Hügel hinauf, verhielten zwischen kühlen Laubbäumen und sahen in dem sonst brettebenen Land einen keilförmigen Ausschnitt, an dessen weitestem Ende wir erst durch die Vergrößerungen der Fernrohre die Schiffsbrücke erkennen konnten, und auch sie bot sich in einem schwierigen Winkel dar. Ich glaubte, das Aufblitzen der Sonde zu sehen, die über dem Lager der Türken hing. »Gut gemacht, Wenzel«, sagte ich. »Weißt du, was mich höchst verwundert?« Er grinste breit und hob hilflos die Schultern. »Wäre ich der Türk’, würde ich hier einen Ausguck postiert haben.« »Genau das.« Wir warteten eine Weile, bis Eugen und seine Begleiter heran waren. Er ließ es sich nicht nehmen, nach Blicken durch meine Spezialoptik den Hügel hinunterzugaloppieren und nach einem besseren Aussichtspunkt zu suchen. Starhemberg und ich folgten ihm. Ich aktivierte das Schutzfeld, das Eugen nicht spürte. Er sah weit voraus Osmanenpatrouillen auftauchen; dazu eine Handvoll Bilder, die ihm mehr über Ausdehnung und Art der türkischen Lager sagten. »Zurück, mein Prinz«, drängte ich. »Mustafa braucht keine solch edlen Gefangenen.« »Auf den frischen Pferden und in gestrecktem Galopp«, entgegnete er. Mit diesem Tag schien er außerordentlich zufrieden zu sein: schon zeichnete sich in seinen Gedanken ein Plan ab, wie er trotz der Übermacht der Türken angreifen und schwer treffen konnte. Wir preschten den Hügel hinauf,
wechselten die Pferde und galoppierten schnell zurück nach Esseg. Gegen Mittag, am elften September, als sich jeweils hundertvierzig Männer zu einer Kompanie, fünf Kompanien zu einem Bataillon und davor vier zu einem Regiment formiert und einen langen Marsch zurückgelegt hatten, überschritt das erste Viertel der türkischen Reiterei die Schiffsbrücke über die Theiß. Eine Verteidigungslinie, bestehend aus Wall, Graben und Palisaden, erstreckte sich im Halbkreis um andere Verschanzungen, den Brückenkopf und eine dicht zusammengeschobene Wagenburg. Aber in der Mitte der äußeren Linie klaffte eine breite Lücke: Die Anlage war unfertig. »Der Übergang dauert viele Stunden lang«, flüsterte Cari Nocra mir zu. »Das Tageslicht wird für ein siegreiches Treffen nicht mehr reichen.« »Noch sechs Stunden«, prophezeite Cari. Am Nachmittag würde der größte Teil der Kavallerie auf der anderen Flußseite sein. Aber ein großer Rest Reiter und sämtliche Fußtruppen befanden sich noch innerhalb der ersten Verschanzung, derjenigen mit der breiten Lücke, und hatten dort Stellung bezogen. Sie sicherten den Übergang bis zu jenem Punkt, an dem sie selbst aufbrechen würden. Über acht Stunden lang waren alle Männer des Heeres unter dem Doppeladlerbanner in einem Gewaltmarsch hinter uns geritten und marschiert. Etwa die Hälfte der Anführer, gepanzert und schwer bewaffnet, versammelte sich hinter Prinz Eugen, als jenseits des Hügels eine Stelle erreicht war, an der ein Abschnitt des Flußlaufes und beide Teile des Lagers, diesseits und jenseits des Flusses, zu sehen waren. Boten sprengten zurück zu den Kavallerie- und den Infanterieregimentern und befahlen den Vormarsch in größter Eile.
»Ihr übernehmt den linken Flügel, Graf Starhemberg!« rief er durchdringend. »Im Fluß ist eine Sandbank. Geht bei den Ruinen von Zenta durch das Wasser und greift das Lager an. Noch stehen Zelte und Wagen in Reih und Glied.« Starhemberg nickte unter dem Rand des polierten Helmes. »Wenn es dunkel wird, Prinz, herrscht dort der Doppeladler. Ob es dann noch so ordentlich ist, wagen wir zu bezweifeln.« »Recht so. Und schnell geritten!« Tatsächlich hatte Eugen die seichte Stelle oberhalb der Brücke klar als strategisch wichtig identifiziert. Wir ritten weiter. Der Gegner war mittlerweile geteilt und halb so gefährlich; unablässig trabte die Reiterei über die schmale Brücke. Noch schien man uns nicht bemerkt zu haben, obwohl hinter den unzähligen Hufen, Lafettenrädern und Stiefeln sich gegen die sinkende Sonne eine Staubwolke hob und immer schärfer abzuzeichnen begannen: Ich aktivierte Eugens Schutzfeld. Noch war unser Vorrücken durch Wälder und Inseln aus Büschen und Bäumen gedeckt. Aber die Waldstreifen verbargen uns nicht völlig. Die Soldaten liefen mit der Sonne um die Wette. Commercy setzte sich an die Spitze des Zentrums. Aber die türkischen Reiter hatten uns entdeckt. Aus allen Richtungen schoben sie mit gellenden Schreien auf die Lücke in der Verteidigungslinie zu, verschwanden darin und verteilten sich zwischen den Wagen der Wagenburg, den Gräben und außerhalb des Waffenlagers. Jetzt konnten sie das Mahlen der Felgen auf den Kieseln schmaler Bauernwege hören. Die Sonne begann sich rötlich zu färben. Links von uns hatten die Truppen, vom jungen Starhemberg angeführt, sich zu einem langgezogenen Keil formiert. An den Rändern rückten die Geschütze und die Kanoniere vor. Ein riesiges Lärmen tobte sich über unseren Köpfen aus und
übertönte das Rauschen der Flußwellen, die sich an Steinen brachen. Wir führten das Zentrum an, das zunächst wie eine Schlange auf einen Punkt zumarschierte, der als Verlängerung der Brücke einige Büchseneinschüsse weit vor der ersten Verschanzung in flachem Land lag. Sollte auf diesen Weiden jemals grünes Gras gestanden sein, wäre hier ein Acker oder Weizenfeld gewesen – jetzt breitete sich hier eine Fläche aus, aufgerissen, von zehntausenden Füßen und Hufen zerwühlt, staubig und trocken. Prinz Eugen rief den Meldereitern Befehle zu. Signale schmetterten ihre grellen Töne über das Feld. »Sie werden nicht ausbrechen!« rief Eugen und deutete kurz nach links. Dort erschienen Starhembergs Truppen, nicht sonderlich schnell, aber in geschlossener Ordnung und mit weiten Schritten. Zunächst deutete die Spitze des Kampfzuges auf die Verschanzung des Brückenkopfes. Niemand schien das türkische Lager zu sehen, das links von Starhemberg, jenseits der Wasserfläche war. »Er hält sich wacker!« rief Eugen. Er hatte das Zentrum gewählt, um so schnell wie möglich dorthin zu galoppieren, wo er benötigt wurde. Sein schwarzer Harnisch und die rote Schärpe leuchteten und funkelten weithin, für jeden Kaiserlichen ein deutliches Zeichen. Die Hälfte der Sonnenscheibe war hinter den Staubwolken verschwunden, und eine böse Ahnung beschlich mich, während ein erster Windstoß auffuhr. »Hoffentlich sind seine Leute nicht erschöpft, wenn sie angreifen!« rief ich ihm zu. Die kleinen Trommeln rasselten, die großen Trommeln dröhnten. Trompeten schrillten, der Boden schien unter den Marschtritten zu beben. Noch immer wagten die Türken keinen Ausfall, denn ihre Anführer glaubten, daß sie sich
hinter den schützenden Fluß zurückgezogen haben würden, wenn das Heer der Kaiserlichen endlich einmal Aufstellung genommen haben würde. Außerdem rechneten die Janitscharen mit dem Sonnenuntergang, einer schnellen Dämmerung und dem Schutz der Finsternis. Neue Befehle erreichten die Reiter und die Fußsoldaten. Irgendwo dröhnten Kanonenschüsse. Die Staubwolke holte erste Teile der Nachhut ein und legte sich wie ein erstickender Schleier auf Nase und Mund. Jetzt breitete sich das Zentrum nach rechts und links aus. Hinter den letzten Musketieren preschten Heisters Reiter nach rechts und tauchten, für die Türken plötzlich und unerwartet, am äußersten rechten Ende des Halbkreises auf. Als Starhembergs Reiter sich hart nach links wandten und geradewegs auf das Ufer zugaloppierten, gab der Prinz das Signal zum Angriff. Etwa dreieinhalb Meilen, so schätzte ich, mochte ein Kreisausschnitt von hundertfünfzig Grad lang sein, den unser Heer eingenommen hatte. Die Männer rückten vor. Das Knattern der Musketenschüsse riß nicht mehr ab. Zwischen den Männern hielten die Gespanne an, fuhren einen Kreis, die Kanonen deuteten auf den Gegner. Stichflammen zuckten, der Pulverdampf brodelte in die Höhe und ließ die Soldaten unsichtbar werden. Der stumpfe Glanz eines frühen Abends legte sich über das Schlachtfeld. Starhemberg, etwa eineinhalb Stunden vor Sonnenuntergang, erreichte den Uferrand der Theiß, die Kavallerie ritt in breiter Linie ins hochspritzende Wasser und kam, ohne daß ein Pferd stürzte, auf die Sandbank. Von dort war es nicht weit bis zu einer Straße, die parallel zum Fluß verlief. Während die Geschütze ins Lager feuerten und die Geschosse in der Menge der übergesetzten Reiterei detonierten, griffen die Soldaten des linken Flügels das Lager
an. Es waren mehr als zehntausend Mann, die zunächst in einem Keil, dann in einem ungeordneten T das gegnerische Ufer erreichten und zum größten Teil sich dem Lager zuwandten. Eine Barriere schob sich zwischen die eigenen Leute und die osmanische Reiterei, die vom anderen Brückenkopf aus verzweifelte Ausfälle riskierte. »Starhemberg führt einen Angriff durch, wie ich ihn vollendeter nicht hätte vortragen können«, meinte Prinz Eugen voller Stolz. Zuerst war unseren Leuten wütendes Feuer aus Musketen entgegengeschlagen, auch die Geschütze auf den Kamelrücken wurden gezündet. Der Lärm und der Pulverdampf breiteten sich so weit aus, daß kaum jemand unterscheiden konnte, aus welcher Richtung geschossen wurde. Hin und wieder zirpten und zwitscherten Bleigeschosse hoch über unseren Köpfen hinweg wie kleine Vögel. Die Janitscharen schienen ihre Flinten weggeworfen zu haben. Säbel blitzten auf. Die gesamte Kriegerschar, die sich vor dem Brückenkopf zusammengedrängt hatte, war von unserem Zentrum und dem rechten Flügel eingeschlossen. Reiter jagten hin und her und feuerten ihre Pistolen leer. Wurfspieße flogen durch Staub und Rauch. Pfeile heulten über Verwundete und Tote hinweg. Graf Cari rief unüberhörbar: »Die gefährlichste Grausamkeit ist die der zivilisierten Völker!« »Sie wird beendet, wenn der Sieg vollkommen ist«, gab Prinz Eugen zurück. Zweimal war er die gesamte Front abgeritten, hatte seine Soldaten aufgemuntert und schien gegen Kugeln und Pfeile gefeit zu sein. Die Umklammerung wurde enger, an vielen Stellen waren Graben und Wall überklettert. Mann kämpfte gegen Mann. Die ersten Türken flüchteten, und natürlich rannten sie zu der Brücke. Die kaiserlichen Truppen wahrten ihre Kampfordnung. Ihre
Entschlossenheit wirkte auf den Gegner lähmend und erschreckend. Die ersten Zelte des türkischen Lagers brannten. Aus der Verteidigung des türkischen Brückenkopfes mit all den Zelten und Wagen wurde ein ungeordneter Rückzug. Wer sich auf der Brücke befand, beeilte sich, ans andere Ufer zu gelangen. Immer wieder lichteten sich die Pulverdampfwolken, und das Geschehen teilte sich in einzelne Bilder auf. Ich spürte ein gesteigertes Unbehagen, als ich erkannte, daß sich vor der diesseitigen Brückenrampe die Türken in besinnungsloser Angst schreiend ins Wasser stürzten. Ich suchte im Getümmel den Blick des Roboters. Graf Cari Nocra deutete zum Himmel. Ich scheute mich, den Blick zu heben. Hatte sich meine Ahnung bewahrheitet? Zwischen Wolken aus Pulvergasen und treibenden Mittagswolken glaubte ich einen schwarzen Adler mit zwei Köpfen schemenhaft sehen zu können; aus den Hakenschnäbeln des Fabeltieres züngelten Flammen und Rauch. Ich war nicht sicher, zog mein Fernrohr auseinander, sah zu, wie das Bild undeutlich wurde und sich auflöste. Einmal schien es, als ob jenseits der Wolken eine Metallfläche auftauchte wie die Hülle eines großen Raumschiffes. Der Extrasinn sagte: Wenn es mehr als eine Illusion war, orten es deine Antennen! Cari saß unbeweglich auf dem breitbrüstigen Schecken. Offensichtlich wurde ein großer Teil seiner positronischen Kapazität gebraucht. Der ungeordnete Rückzug verwandelte sich in eine Massenflucht panischen Ausmaßes; aus dem Lager flüchteten die Türken, zu Fuß und auf Pferden, selbst auf Kamelen. Ein Teil von Starhembergs Männern, meist Kavalleristen mit gefällten Lanzen, hatte die Brücke erreicht und sperrte sie. Der rettende Weg zum anderen Ufer war für die Türken versperrt.
Sie retteten sich in das kalte Wasser der Theiß, sprangen kopfüber hinein, wurden hineingestoßen – die meisten konnten nicht schwimmen. In dem Gedränge, das sich vor den ersten Schiffspontons entwickelte, würde auch ein geübter Schwimmer ertrinken müssen, weil er unter Wasser gedrückt wurde. Ich sah, wie Eugens Soldaten auf der Menge der zuckenden Körper sich wie auf einer schwankenden Insel bewegten. Die Kaiserlichen wurden, sobald sie die Verteidigungslinien hinter sich gelassen hatten, zu rasenden Bestien; es war kein Kämpfen mehr, sondern ein Abschlachten. Von dem Feld vor der ersten Linie waren fast alle Männer verschwunden. Nur einzelne Körper lagen da, und kleine Gruppen bewegten sich. Der Staub sank, von der blutroten Sonne durchstrahlt, langsam auf alles und alle herunter. Hier wurde ein Gespann von den wenigen Männern, die noch vernünftig geblieben waren, vor die Lafetten und die Geschütze geschirrt und in die Richtung auf den Wald geführt. An anderen Stellen kümmerten sich Feldscher um Verwundete, verbanden sie und trugen sie vom Schlachtfeld weg. Andere Soldaten, meist selbst verwundet, schleppten ihre Toten an den Rand des Feldes und legten sie in Reihen nebeneinander. Einzelne Pferde fing man ein und zog sie an den Waldrand. Prinz Eugen und seine Ordonnanz waren geradeaus galoppiert und befanden sich vor den Gräben und der Wagenburg. Ich starrte Nonfarmale – oder die Vision? – an. Für meine Waffen war er unerreichbar hoch. Rico, der auf mich zuritt, rief halblaut: »Ich habe einen bestätigenden Impuls. Wir wissen, wo er seine Weltentore öffnete. Vielleicht erfahren wir auch, wie sie sich schließen.« Ich winkte. Wir ritten mit einigen Boten, Kundschaftern und
zu den Fahnen und Feldzeichen zurückgekehrten Reitern, die ihre Musketen neu luden, dem Feldmarschall hinterher. Die Massenflucht hatte sich in ein Gemetzel verwandelt. Die meisten Brände schwelten nur noch. Mit markerschütterndem Krach flog ein Geschütz oder ein Faß Pulver in die Luft. Schreie gellten auf. Das Schießen hatte fast völlig aufgehört, dafür hatte sich ein schauerlicher Chor von Todesschreien erhoben. Selbst Janitscharen stürzten sich auf die eigenen Leute. Sie meuterten also tatsächlich. Die ersten Reiter Starhembergs kamen, zum Großteil über die geräumte Brücke, wieder auf unser Ufer zurück. Die Sonne berührte mit ihrem Rand die Baumwipfel und schien zu zögern, bevor sie unterging; ich fand, daß sich die verbleibende Zeit unmäßig dehnte. Noch immer kreiste der doppelköpfige Adler. Die Sonnenstrahlen leuchteten das Schreckensbild in dieser Höhe nicht rot, sondern goldfarben an. Das Fabeltier war weiter nach Osten gezogen. Nonfarmale hielt seine gewaltige Armbrust in der rechten Hand. Er schien jene Rüstung zu tragen, die er dazu verwendet hatte, den vierzehnten Ludwig zu seinen Schlachten zu überreden. Den Schild mit der seltsamen Aufschrift konnte ich nicht einmal durch die Feldlinsen meines Fernrohres erkennen. »Bist du sicher… mit den Messungen?« rief ich. Wir ritten nebeneinander, durch unsere projezierten Schutzfelder abgesichert, auf die Wagenburg zu, die von unseren Soldaten auseinandergezerrt wurde. »Ja. Weitaus mehr als bei allen vorhergehenden Versuchen. Sie auszuwerten wird dauern. Geht wahrscheinlich nur in der Kuppel«, lautete die Antwort. Das türkische Heer dachte nicht mehr an Gegenwehr; es war zerstreut, aufgelöst, weitestgehend vernichtet. Viele Tausende lagen tot oder verwundet innerhalb des Halbkreises. Eine
große Menge war in der Theiß ertrunken. Fackeln wurden ausgeteilt und angezündet; sie stammten aus den Vorräten der Osmanen. Nun lugte die Sonne nur noch mit dem obersten Rand hinter der Kulisse der Bäume hervor, die aussah wie eine schartige Säge. Zum erstenmal ertönte das Signal zum Sammeln. Nur wenige Soldaten hörten mit der Metzelei auf. Die Kaiserlichen hatten ihre anfängliche Disziplin völlig vergessen und verhielten sich wie rasende Fleischhauer. Nur wenige Türken hatten sich ans andere Ufer retten können; bei dem schwachen Licht schätzte ich sie auf etwa zehn Hundertschaften. Auch im türkischen Lager, das völlig in der Hand der Kaiserlichen war, leuchteten die ersten Fackeln auf. Ich sah, ehe die Dunkelheit hereinbrach, eine unglaubliche Menge Kamele und hörte das Geschrei einer gewaltigen Rinderherde. Ich nahm meinen Helm ab und blickte in den isabellfarbenen Himmel. Das schwarze und goldene Gespann des Emotiosaugers leuchtete einmal auf, dann verschwand es. »Zum zweitenmal!« rief Cari. »Klare Impulsbündel und Meßkurven in mehreren Bereichen. Der Tag war ein Gewinn, Graf Atlan.« »Auch für Prinz Eugen.« Ich senkte den Kopf. Zum viertenmal war das Signal zu hören gewesen; andere Trompeter wiederholten es und richteten die Schalltrichter nach allen Richtungen. Das Gemetzel hatte aufgehört. Die Menge der Fackeln nahm zu, und bald war die ausgedehnte Fläche diesseits und jenseits des Flusses von winzigen Lichtern gesprenkelt, die sich langsam und völlig ungeordnet durcheinanderbewegten. Ich griff in die Satteltasche, zog die erste »unserer« Fackeln hervor und rieb ihren Kopf am Leder meines rechten Stiefels. Als ich die aufflammende Fackel über den Kopf hob, als sich
das grelle, flimmernde Licht weit ausbreitete, befand ich mich innerhalb kurzer Zeit im Mittelpunkt eines Kreises aus Reitern. In ihrer Mitte sprengte Eugen heran und sagte erschöpft: »Die Sonne selbst hat nicht eher weichen wollen, bis sie mit ihrem glänzenden Auge den völligen Triumph der glorreichen kaiserlichen Waffen hat anschauen können.« »Das glänzende Auge war zuletzt trüb und rot«, sagte ich. Die Kühle der Nacht kroch über das Schlachtfeld. Das Geschrei hatte aufgehört. Man hörte nur das Ächzen, Stöhnen und Wimmern der Verletzten. »Aber der Sieg ist Euer, Feldmarschall.« Ich berührte die Schnalle und schaltete seine unsichtbare Lebensgarantie ab. Eugen zeigte in die Richtung des westlichen Waldrands. Dort versammelten sich die meisten Fackeln. »Ein hartes Quartier«, sagte er. »Und vielleicht ist der Troß schon da. Dann findet sich auch ein Trunk für durstige Kehlen.« Wir ritten an Soldaten vorbei, die dreihundert flache Gräber aushoben. Nur zweihundert ernsthaft Verletzte hatte man gezählt. Die Anführer, der Feldmarschall und wir besichtigten in der dritten Stunde des Tages die Beute, das türkische Lager vor der Brücke und das zweite, am Ostufer. »Ein denkwürdiger Tag«, sagte Prinz Eugen nachdenklich. »Wißt Ihr, was vor Jahren geschah?« »Es ist der vierzehnte Jahrestag, an dem Ihr mit den Türken erstmals vor Wien zusammentraft«, entgegnete Graf Cari. »Was geschieht mit all der Beute?« »Was das Heer zum Kampf brauchen kann«, bekamen wir zur Antwort, »behält das Heer. Wertsachen werden eingesammelt und verteilt, ebenso wie Geld. Ein Drittel der
Beute erhält der Feldmarschall.« Man hatte fast sechzigtausend Kamele gezählt. Meine Phantasie streikte, als ich mir vorzustellen versuchte, diese Anzahl in den Straßen Wiens wiederzusehen oder andernorts. Melder rannten hinzu oder sprangen vor dem Prinzen aus den Sätteln. »Viele Würdenträger haben unseren Soldaten riesige Summen versprochen, wenn ihnen das Leben geschenkt werden würde.« »Nahmen sie’s?« »Nein, Marschall. Sie töteten die Türken. Viele sagen, es war wie im Rausch.« »Der Sultan ist geflohen. Er rettete nur sein nacktes Leben.« »Die Nacht hat ihn gerettet«, meinte ich. »Es gab keine Verfolgung.« »So war es. Der Großwesir starb.« »Und vier andere Wesire. Die Janitscharen haben es uns gesagt.« »Viele andere Würdenträger wurden von den Ihren erschlagen.« »Der Gouverneur von Bosnien ist verblutet.« »Der von Anatolien starb durch einen Speer oder eine Lanze.« »Hat jemand die Wagen gezählt?« »Es sind unzählige Wagen und Gespanne.« Das Lager der Kaiserlichen, in Esseg abgebrochen, entstand in militärischer Ordnung an den Ufern des Flusses, nahe des niedergebrannten Dorfes. Einige Bewohner Zentas, denen es geglückt war, in die Wälder zu fliehen, kamen abgerissen und hohläugig aus den Verstecken. Fragen und Antworten prasselten auf uns ein. Wir kamen gerade im Schrittempo vorwärts. »Man will wissen, daß zwanzigtausend Türken tot sind.«
»Irgendwer wird sie zählen. Man soll sie begraben, der Seuche wegen.« »Die Befehle habe ich schon gegeben«, bestätigte Starhemberg. »Alles, was die Toten nicht mehr brauchen, gehört dem Kaiser«, mahnte der Prinz. »Mir dünkt, das Wichtigste nach dem Sieg sind die Federfuchser und Zahlmeister«, scherzte ich mit ernstem Gesicht. Freundlich nickte Prinz Eugen. »Das Gesetz des Krieges. Die Türken, die wir heute ausplündern, haben gestern unser Land ausgeplündert.« Das Heer nahm das verlassene Türkenlager in Besitz. Arbeitsgerät wurde den Überlebenden von Zenta übergeben. Eintausendfünfhundert und ein paar mehr Rinder hatten die Osmanen mit sich geführt. Man eskortierte uns durch die Lagergassen, in denen die Gefangenen ihre eigenen Toten wegschleppten und Gräber schachteten. Im verwaisten Zelt des Sultans entdeckte Prinz Eugen das Großsiegel, das der Sultan als Zeichen seiner Würde um den Hals getragen hatte. Noch nie hatte es, so stammelte ein Türke, die Hand eines Ungläubigen berührt. Kisten voller Beute wurden weggeschleppt. Als wir die nächsten Zelte betraten, stolperten wir über die Leichen erschlagener und erstochener Schwarzer. »Eunuchen«, wurde uns erklärt. Starhemberg lachte und rieb sich die Hände, die in kostbaren Handschuhen steckten. »Der Serail des Sultans, der Harem. Wißt ihr noch? Großwesir Kara Mustafa, vor Wien, soll eintausendfünfhundert Frauen im Harem gehalten haben, von siebenhundert schwarzen Eunuchen bewacht. Wie hielt es der andere Mustafa hier?« Die Wachen hatten ein Areal aus einigen Dutzend Zelten gesichert. Staunend gingen wir unter Baldachinen und über kostbare Teppiche von einem Zelt zum anderen. Überall lagen
tote Schwarze in langen Gewändern. Einige umklammerten die Messer, mit denen sie sich selbst die Halsschlagader aufgeschlitzt hatten. Wir wechselten schweigende Blicke; unsere Augen glitten über die Reste von Mahlzeiten, über Schmuck und Gewänder, eine Unzahl Kissen und Liegen, über zitternde weißhäutige Sklaven, und schließlich fanden wir in einem Zelt, sprachlos und zitternd vor Furcht, etwa fünfzig Mädchen und Frauen. Mit liebenswürdigem Lächeln wandte sich Eugen an Cari. »Sage ihnen, daß sie nicht in die Sklaverei verkauft werden. Sie brauchen um ihr Leben nicht zu fürchten. Aber wir, die Sieger, werden uns freuen, wenn sie die Gunst ihrer Schönheit an uns verschwenden würden. Ich für meinen Teil verlege mein Hauptquartier, ich werde es im Zelt des Sultans aufschlagen.« Während Cari übersetzte und ich mit innerlichem Kopfschütteln den sinnlichen Wandel meines Freundes nachzuvollziehen versuchte, sagte Eugen: »Meine Herren! Die jungen Damen haben die Wahl. Ich wünsche Vergnügen und – Diskretion!« Cari übersetzte, während ich mich auf einen Stapel seidener Kissen niederließ. Eugen ließ die Toten wegschaffen, die geraubten Christensklaven ins Lager bringen und einkleiden, gab eine Reihe Befehle und Anordnungen, und als die Schönheiten begriffen, daß dieser kleine, schlanke Mann sozusagen ihr Retter war, umringten sie uns, redeten auf uns ein, lächelten zögernd und immer offener, und schließlich wurde jeder von einem Schwarm Mädchen umflattert, die den Houris des Paradieses glichen und sich so verhielten. Ich lächelte und wurde mit feurigen Blicken belohnt. Ich dachte an Monique und ließ mich lediglich dazu verleiten, dem einen oder anderen Mädchen einen Platz in Beauvallon anzubieten – für später.
»Dieses Lager wurde für den Sieger angelegt«, erklärte Prinz Eugen. »Ihr, meine Herren, könnt in den angrenzenden Quartieren logieren. Man soll diese Frauen gut behandeln, und die Zeit, bis neue Order eintrifft, werden wir wohl in angenehmer Erinnerung behalten.« »Ihr gebt Befehle, die man einfach befolgen muß.« Prinz Commercy lachte und zog zwei füllige Schönheiten an sich. »Ich denke, der Wein ist schon hierher unterwegs.« Um Eugen hatten sich fünf Mädchen versammelt, die nicht größer waren als er. Bevor die Lage nur mit Mühe zu kontrollieren war, hörte ich mit halbem Ohr Caris Übersetzung zu – er gab den Mädchen taktische Verhaltensweisen – und zog Eugen zu mir heran. »Mein Prinz«, sagte ich leise, »die Nachwelt erfährt, was von meiner Diskretion abhängt, kein Wort. Wir zwei beziehen die weißen Zelte am Ufer, nachdem unsere Ausrüstung hier ist. D’accord?« »Bleibt in meiner Nähe!« flüsterte er und begann die Rundungen einer Braunhäutigen mit funkelndem pechschwarzen Haar zu streicheln. »Wir haben vieles zu besprechen.« »Genau das meinte ich«, gab ich zurück und sagte mir, daß bestimmte osmanisch-muslimische Gebräuche ihre Vorteile haben mochten. Es dauerte lange, bis die unermeßliche Beute begutachtet, katalogisiert, geschätzt, verteilt und danach verlagert und verladen wurde; wie gut sie zur Rückeroberung Belgrads zu verwenden war. Botenstafetten jagten nach Wien, Briefe und Lobpreisungen kamen auf demselben Weg zurück. Schließlich gab Prinz Eugen die Losung aus, daß er die besten siebentausend Mann suchte, die mit ihm in Richtung Sarajewo ziehen sollten.
Langsam fahrende Gespanne, dick mit Stroh gepolstert und von Planen überdeckt, brachten die Verwundeten zurück in die Dörfer und Städte, in denen sie angeworben worden waren. Schwerbewachte Transporte führten die kostbare Beute nach Wien. Die Theiß riß die Leichen der Ertrunkenen mit sich und schwemmte sie donauabwärts. Soldaten halfen, Teile von Zenta wieder aufzubauen. Eines Tages war auch das letzte Kamel weggetrieben worden. Rückständiger Sold und hohe Belohnungen wurden ausgezahlt, die ungezählten Waffen gesammelt und sorgfältig aufbewahrt. Der Sieger verwaltete mit großer Erfahrung den Sieg. Prinz Eugen genoß während dieser Tage sämtliche Freuden der maßlosen osmanischen Kultur: heiße Bäder in duftenden Essenzen, schmeichelnde Gewänder, die ungeteilte Aufmerksamkeit der schönen SerailInsassinnen, den kaiserlichen Wein und die Begeisterung eines jeden Soldaten bis hinunter zum analphabetischen Maultiertreiber, wenn er sich zeigte. Ich sprach lange und oft mit Monique, die sich auf einen zweiten Winter freute, der aber nicht unbedingt nur in Beauvallon zu verbringen war. Ich schlug die menschenleere Südseeinsel vor, die wir umformten, und erntete Zustimmung. Die Rinder wurden, soweit sie nicht an den Bratspießen endeten, zu den überlebenden Bauern der Umgebung getrieben. Nachdem nahezu sämtliche Hinterlassenschaft des osmanischen Heeres verwendet war, als nur noch wenige Zelte dastanden und sich das kleine, aber starke Heer – selbst die Kleidung war vergleichsweise prunkvoll, die Bewaffnung exzellent, die Pferde in bestem Zustand – gesammelt hatte, brach das Expeditionskorps nach Süden auf. Die Haremsmädchen verschwanden ohne auffällige Spuren, und Eugen fand wieder mehr Zeit zu langen Gesprächen. »Es war eine Zeit ungetrübten Glückes«, meinte Eugen einmal. »Ich möchte sie nicht missen. Mir vorzustellen, mit
einer pferdegesichtigen Gräfin verheiratet zu sein, nach diesen liebenswerten Zwitscherschwalben, die tatsächlich lächelnd schwiegen, wenn sie nichts zu sagen hatten… es käme mich steinhart an.« Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Der nächste Sieg über die Osmanen beschert dir ein weiteres Glück dieser Art. In Wien wird man sagen, du hättest es mit den Jünglingen.« Er warf mir einen grimmigen Blick zu und verzichtete auf eine Antwort. Das Expeditionskorps hatte es nicht eilig. Wir ritten über schwierige Pässe, durch menschenleere Wälder und kleine Dörfer, durch klamme Schluchten und über weite Ebenen. Vor uns flohen die Türken. Es gab nur wenige schwere Gefechte. Die christliche Bevölkerung jubelte uns zu, wir ritten entlang der Save und der Bosna und trieben die Osmanen vor uns her. Eine Belagerung Belgrads im Winter war undenkbar. Vor uns lag Sarajewo, ein reiches Handelszentrum des östlichen Europas, eine Stadt mit etwa hundert Moscheen, fest in türkischer Hand. Ende Oktober trafen wir dort ein; der Gleiter, ferngesteuert, landete in einem sorgsam ausgesuchten Versteck. Mit einem stehenden Heer, dessen Soldaten ihre Heimat verteidigten und daher hochmotiviert waren, mit Männern im Rücken, die mit dem geschlagenen Feind dauerhafte Verträge schlossen, Friedensverträge mit unverrückbaren Grenzen, unterstützt von einem Monarchen, der nicht auf jeden einzelnen bestochenen und bestechlichen Berater hörte, sondern sein Regierungsgeschäft verstand, mit Verbündeten, die nicht auf jeden eroberten Quadratfuß Land rasend eifersüchtig waren – mit unserer Hilfe hätte der unbestechliche Prinz von Savoyen ein kleines Weltreich erobern, bestens verwalten und beherrschen können. Er besaß längst nicht den
Charme wie der junge Gustav Adolf von Schweden, aber seine Kühnheit, Klugheit, sein blitzschnelles Erfassen auch ausweglos erscheinender Verhältnisse machten ihn zu einer Gestalt von einmalig, aber einsamer Größe. Er besaß mehr Vitalität als drei andere gute Männer. Wenn je den Türken ein Friedensvertrag abgekämpft werden konnte, so war Prinz Eugen dafür der Grund, nicht der Erste Leopold. Die geflüchteten Türken hatten sich hinter den Mauern der Stadt verschanzt. Seit Tagen wußten sie, daß wir Sarajewo angreifen würden. Das Heer schob sich an uns vorbei, als wir unsere Pferde anhielten und Eugen die Parlamentäre heranwinkte. Zwei Reiter, die an den Lanzen große weiße Tücher befestigt hatten, trabten heran. »Reitet zum Stadttor!« sagte der Prinz und reichte den Kavalleristen einen gesiegelten Brief. »Übergebt die Bedingungen der Kapitulation! Die Türken wissen, denke ich, was gut für sie sein wird.« »Während sie am hinteren Tor ausziehen, reiten wir durchs vordere in die Stadt.« »Und das sollte bald sein.« Die Parlamentäre rissen die Pferde herum und galoppierten an. Ohne große Eile näherten sie sich den Mauern, auf einer breiten, gewundenen Straße. Wir warteten; Cari und ich ritten hinter den Reitern her und schauten uns im Schutz unserer Abwehrfelder um. »Der Kaiser schenkt für den Sieg bei Zenta unserem Freund ein riesiges Gut in Ungarn. Baranyavär, im Delta der Drau. Bei Mohäcs. Es war nach der Flucht der Türken herrenlos.« »Wie schön für ihn und uns«, meinte ich leichthin. »Er wird uns einladen, und wir können auf seinem Gutshof umherreiten.« »Kein Sieg, keine Belohnung«, erklärte Cari Nocra. »Ein
Triumph läßt Geld und kaiserliche Huld regnen.« »Und ein Drittel der Beute, einschließlich der Haremsfrauen.« Ein Schuß peitschte auf und unterbrach unsere Unterhaltung. Auf den Mauern und Türmen tauchten Türken auf, legten langläufige Luntengewehre auf und feuerten auf die beiden Reiter. Mit unüberhörbarer Lautstärke schrie Cari Nocra: »Zurück! Schnell.« Das Feuer wurde nicht unterbrochen. Die Pferde stiegen hoch, drehten auf den Hinterbeinen und galoppierten zurück. Nach zwei Sprüngen sackte einer der Parlamentäre im Sattel zusammen und ließ seine Lanze fallen. Ohne uns zu verständigen, setzten wir die Sporen ein, sprengten auf die Männer zu und sahen, während wir uns ihnen näherten, wie der Soldat schwankte, sich am Sattelknopf festzuhalten versuchte und, als wir in erreichten, aus den Steigbügeln kippte. Brust und Rücken waren blutüberströmt. Im Küraß zeigten sich furchtbare Einschußlöcher. Wir fingen ihn auf, ehe sein Körper den Boden berührte. Kugeln prallten, summend wie Hornissen, von den Schutzfeldern ab. In vollem Galopp brachten wir den Soldaten, der in unseren Händen starb, aus dem Bereich der türkischen Gewehre. Reiter kamen uns entgegen und halfen uns. Unsere Gruppe erreichte das Zentrum des kleinen Heeres. Wir hielten an, und schon war Prinz Eugen bei uns. »Tot?« fragte er. Ich nickte und trug den Toten zu einem Fouragewagen. »Der tödliche Schuß kam, zufällig wohl, von hinten.« Ich nahm das Papier aus der verkrampften Hand des jungen Österreichers. Feldmarschall Eugen hob den Arm. Die Unterführer hatten sich, einschlägige Befehle erwartend, um den Prinzen geschart. Ihre Aufgeregtheit übertrug sich auf die Pferde, die nervös
tänzelten und die Köpfe hochrissen. »Wir brechen die Tore auf, plündern die Stadt und zünden sie, wenn wir fertig sind, an allen vier Ecken an.« »Sollten Euer Gnaden nicht ein wenig an die Bevölkerung denken?« wagte ich einzuwenden. Eugen nickte, und während sich der Wortlaut seines Befehles durch die wartenden Reihen fortsetzte und das erste Jubelgeschrei laut wurde, sagte er: »Wir richten es so ein, daß die Leute Zeit haben, zu fliehen. Helft ihr mir ein wenig?« »Selbstverständlich«, entgegnete Cari. »Wir holen uns ein gutes Geschütz und zielen ein wenig genauer als deine Kanoniere.« Die Belagerung von Sarajewo war kurz und heftig. Winzige Sprengkörper an jenen Stellen, an denen die Geschosse der Kanone einschlugen, rissen die Mauern auf, sprengten die Tore und ließen die Türme in sich zusammensacken. Die Österreicher stürmten die Stadt, ein furchtbarer Kampf brach aus. Ehe die Stadt niedergebrannt wurde, plünderten die Kaiserlichen mit kaum vorstellbarer Härte und Grausamkeit. Sicher befanden sich unter den vielen Flüchtenden, die aus den Stadttoren strömten, auch einige Türken. Ich erbat aus der gewaltigen Beute nur ein paar Schmuckstücke für Monique. Prinz Eugen hatte die Grausamkeiten weder gefördert noch verhindert; er schien begriffen zu haben, daß seine eigenen Leute für ein mildes Vorgehen kein Verständnis gehabt hätten. Sie waren und blieben Barbaren. »Das ist das Ende des Feldzugs gewesen«, sagte der Prinz und schüttelte meine Hand. »Für dieses Jahr.« »Wo verbringst du den Winter, mon ami?« fragte ich. »In Wien?« »Dort, wo man mich für die Schlachten belohnt, für die Siege, um genauer zu sein.«
»Und wann vertreibst du die Osmanen aus Belgrad?« Cari Nocra stand neben seinem Pferd und hielt Eugens Hand. Wir schieden in größter Hochachtung voneinander, für eine nicht zu lange Zeit, wie wir alle dachten. »Das weiß ich nicht. Man wird, denke ich, einen Frieden schließen wollen.« Unser Gepäck wog nicht viel. Das Wichtigste war auf der Ladefläche des Gleiters verstaut. Die Nächte waren kalt geworden. In anderen Teilen Europas schneite es bereits, und Monique wartete. »Wenn du uns wirklich brauchst«, versprach ich, »werden wir dich finden. Deine Spuren sind schwerlich zu übersehen.« Noch immer schwelten und brannten Teile der Stadt. Die Mauern waren rußgeschwärzt. »Wo immer ich bin, wo wir auch sein mögen – wir finden einander.« Prinz Eugen nickte. Sein Gesicht war traurig. Er schien uns tatsächlich zu vermissen. »Ihr seid jederzeit eingeladen. Grüßt nur die schöne Monique! Auf ein Wiedersehen in kurzer Zeit.« Wir stellten die Stiefelspitzen in die Steigbügel und schwangen uns in die Sättel. Als wir durch das langgezogene Lager ritten, winkten viele Soldaten, und die Herren Offiziere schwenkten die Hüte. Wir ritten langsam zum Versteck des Gleiters und kehrten zurück nach Beauvallon. Es begannen Tage voll weißem, feinkörnigem Sand, donnernden Brandungswellen, die zischend über dem Strand ausliefen, Sonne, die durch das Wasser der Lagune bis zum Grund drang und aus den Schulen großer und kleiner Fische vielfarbige Edelsteine machte. Albatrosse segelten hoch über uns hinweg. »Nach einem Weihnachten in Beauvallon«, flüsterte Monique, »ein Sommer hier… die Fürsten der Jahreszeiten
zeigen mir die Welt an den schönsten Stellen.« Die Insel hatte sich nicht entscheidend verändert. Erdreich und Bäume waren dazugekommen, ein Umstand, der den Wasserhaushalt günstiger beeinflußte, so daß die Quellschüttung das gesamte Jahr über nahezu konstant blieb. Unsichtbare Rohrleitungen und Vorratsbehälter, Schwimmschalter und Pumpen sorgten dafür, daß nichtverbrauchtes Wasser in den Kreislauf zurückgeführt wurde. »Die hoffentlich nicht von Nonfarmale entdeckt werden«, rief der Robot, der nun wieder Ciron hieß. »Hier gibt es keine menschlichen Drachen, an denen er sich satttrinken könnte«, brummte ich. Lilith hatte vulkanische Felsen herbeigeschafft, und viele Bäume, die in diesen Breiten wuchsen. Einige Brücken, Kiesel und Blumenpflanzen aus Zipangu bildeten zusammen mit kleinen Häusern eine Oase am flutwellensicheren Punkt der Insel. Ein Magazin, Energieerzeuger, Fernschaltungen und der Transmitter waren sorgfältig versteckt. Die Roboter hatten rundherum die Strände gereinigt. In den Rillen, die ihre Rechen hinterlassen hatten, waren unsere Fußspuren nach vielen Jahren die ersten wirklichen Lebenszeichen. »Nein. Hier gibt es nur Ruhe und Sonnenschein«, bestätigte Monique. Noch sahen wir in der Erholung, Entspannung und der Lebensfreude einen genügend großen Grund, uns in Beauvallon und hier aufzuhalten. Für mich gab es gegenwärtig keine andere Veranlassung, mich noch viel länger an der Oberfläche des Planeten herumzutreiben. Die Schlachten, die geschlagen wurden, veränderten die Machtverhältnisse nicht wirklich. Sie waren nicht so barbarisch, daß ich aus Mitleid hätte eingreifen müssen. Prinz Eugen brauchte mich nicht: Er beschäftigte Architekten und zahllose Handwerker, die seinen Hausbesitz mehrten.
17. Nahith Nonfarmale blieb verschwunden. Ab und zu verließen Ciron und ich die Insel und arbeiteten in der Kuppel. Die Messungen waren schwierig und die Auswertung langwierig. Auf den Testbildschirmen zeichneten sich viele Linien ab, die schließlich zu einem Gebilde zusammenwuchsen, das wie das kleinere Ende eines konischen Schlauches aussah. Wir konnten das Aussehen des energetischen Tores rekonstruieren, durch das er unsere Welt betrat und verließ. Weitaus schwieriger war es, ein Verfahren zu entwickeln, das uns diese Tore auffinden ließ. Denn wenn sie nicht gebraucht wurden, blieben sie verschwunden. Wir brauchten ein Antennensystem, das die hyperphysikalischen Schwingungen aufspürte, rund um die Planetenkugel. »Mir fällt gerade etwas ein, Ciron«, sagte ich, als wir wieder eine Pause einlegen mußten. »Ich höre, Atlan?« »In absehbarer Zeit werden wir wieder einen langen Schlaf tun. Sollte es wichtig sein, mich zu wecken…« »Dann nur, wenn es unumgänglich ist«, unterbrach er. »Wenn es gefährlich zu werden verspricht, weck nur mich! Laß Monique schlafen! Wenn es um Nonfarmale geht, kann es ihren Tod bedeuten.« »Ich habe verstanden. Gefährliche und delikate Situationen wünschst du ohne ihre Hilfe zu meistern.« »Kommt darauf an, was du unter ›delikat‹ verstehst.« Eine Antenne war schnell gebaut und auf einem unzugänglichen Berggipfel installiert. Sandte sie Suchimpulse aus, konnte sie lokalisiert werden und auf unsere Spur führen. Kleine, hochfliegende Satelliten waren besser. Wenn sie
Kontakt mit dem Weltentor haben, mußt du geweckt werden, erklärte der Logiksektor. »Richtig«, sagte ich halblaut. Bis du eingreifen kannst, vergeht in der Regel etwa ein Monat, gab der Logiksektor zu bedenken. Bis dahin ist Nonfarmale längst verschwunden. Du solltest, vollständig ausgerüstet, eine längere Zeit nur mit der Verfolgung verbringen, ein bis drei Jahre, lautete der seltsame Ratschlag dieses Instruments der ARK SUMMA. Sollte ich? Ein Vorschlag, der mich erheiterte. Denk selbst darüber nach! Ich tat im Zusammenhang mit diesem Verbrecher kaum etwas anderes. In seinem Auftauchen lag nicht die kleinste statistisch feststellbare Regelmäßigkeit. Es war nicht an Geschehnisse dieses Planeten gebunden. »Eine hoffnungslos verfahrene Angelegenheit!« murmelte ich. »Wenn nur ES käme und mir einen Ratschlag gäbe.« »ES schweigt«, konstatierte Ciron. Er versuchte Programme zu entwickeln, die uns weiterhalfen. An dem makabren Vorschlag des Extrahirns war eigentlich nichts auszusetzen. »Gehen wir zurück in die Sonne«, schlug ich vor. »Auch dort kannst du in Ruhe nachdenken.« Wir benutzten den Transmitter, um Nahrungsmittel, Wein und Sonnenöl mitzunehmen. Mein Plan, der möglichst alle Unwägbarkeiten berücksichtigen sollte, nahm nur in winzigen Schritten Gestalt an. Tatsächlich spielten die Samurai und die Ninja darin eine Rolle, die von Mal zu Mal wichtiger wurde. Noch blieb jeder weitere Zug im Spiel nebelhaft und dem Zufall unterworfen. Einige Monate später, als wir zu den Bauwerken und den Einrichtungen der Insel noch etliche Einzelheiten hinzugefügt hatten, fingen wir an, uns vor lauter Schwimmen, Tauchen und Sonnenbaden und trotz der Verliebtheit, die Monique und mich wieder heimgesucht hatte, zu langweilen. Wir
wechselten in die Kuppel, trödelten dort eine Weile herum, dann suchten wir freiwillig die Schlafkammern auf. Ich ahnte, daß meine Ruhe bald unterbrochen werden würde. Cyr hatte ein linderndes Medikament in seine schmerzenden Augen gesprüht. Im Spiegel hatte er gesehen, daß sie blutunterlaufen und die Lider geschwollen und gerötet waren. Er suchte eine dunkle Brille und zwinkerte, als er sah, daß sich die Gedankenhaube hob und zur Seite schwenkte, in die Ruheposition. Atlan atmete schwer und entspannte sich in der schäumenden, blauen Nährflüssigkeit des Überlebenstanks. »Nahith Nonfarmale und dessen Raumschiff in einer Jenseitswelt«, murmelte der Historiker. Seit wenigen Minuten zeigte der Chronometer den 23. Januar 3562. »Atlan und der größte Militäringenieur der Neuzeit! Vauban baute 300 Festungen nach dem neuen System und leitete selbst mehr als fünfzig Belagerungen!« Einer seiner findigen Studenten hatte herausgefunden, daß jenes Lied des Barden, der mit dem Schwedenkönig ritt, ins deutsche Liedgut Eingang gefunden hatte. Cyr zuckte mit den Achseln; für die ANNALEN war dieses Mosaiksteinchen unwichtig. Er fühlte sich wie erschlagen, so, als stünde er kurz vor der Jahrhundertwende, 1698 oder 1699, vor dem Anbruch neuer Zeiten auf der alten Erde. Zwar schien Atlan von den Manipulationen ES’ verschont, aber dies konnte sich schon während des nächsten Berichtes als Trugschluß herausstellen. Der Printer warf summend eine Anzahl bedruckter Seiten aus. Aescunnar schaltete gähnend ein Gerät nach dem anderen aus; seine Blicke ruhten auf dem Arkoniden, der erschöpft wirkte, obwohl sein Körper im medizinischen Bad verborgen und nur sein Profil und das Leuchten des Zellschwingungsaktivators sichtbar waren. Das weiße Haar
war etwa drei Fingerbreiten lang und schien an jeder Stelle des Kopfes nachgewachsen zu sein. Jetzt klebte es naß und fast durchscheinend auf der Haut. »Woher kam jener unbekannte Strahl, in dessen Wirkungsbereich die transmitterartigen Öffnungen entstanden?« fragte sich Cyr und machte den schwachen Versuch, den Schreibtisch aufzuräumen. Atlans Erlebnisse geisterten durch seine Gedanken. Wahrscheinlich war er viel zu überdreht und konnte nur schwer einschlafen. Er stemmte sich aus dem Sessel und betrachtete, ohne es richtig wahrzunehmen, seinen schwer zu ordnenden Wirkungsbereich, dachte flüchtig an Atlans Museum, und fühlte Erleichterung darüber, daß keiner von Atlans Freunden sich mehr zu sorgen brauchte – der Arkonide schien körperlich jenseits jeder Gefährdung zu sein. Und da er selbst die Kavernen der Chmorl-Universität erwähnt hatte, schien auch sein Verstand die qualvollen Monate gut überstanden zu haben. Über eine Information, die Cyr Aescunnar über Tifflor und, anscheinend, auch über USO-Veteranen und deren Erben erreicht hatte, vermochte er jetzt nicht nachzudenken. Fartuloon, der Bauchaufschneider. Der OMIRGOS-Kristall. Das Vergessen vor dem Vergessen? lautete der karge Text. »Morgen, übermorgen…«, murmelte Cyr, starrte Ziffern und Lämpchen an, schüttelte sich und wankte ins Bad. Eine lange, warme Dusche ermüdete ihn zusätzlich. Am Tag, an dem der schottische Adelige Archibald Campbell, Marquess of Argyll, den englischen König Karl I. für 400.000 Pfund an das englische Parlament verkauft und ausgeliefert hatte, schloß Cyr Aescunnar die Schlafzimmertür hinter sich, schlüpfte unter die Decken und tastete nach Oemchéns Schulter. Sie summte versöhnlich und schmiegte sich an ihn; Cyr brauchte eine lange, qualvolle Stunde, bis er endlich einschlafen konnte.
Dem Frühstückstisch, der ebenso überladen war wie die Platte seines ungleich größeren Arbeitstisches, näherte sich Cyr blinzelnd, mit knurrendem Magen und noch immer von den letzten Träumen verwirrt. Der nächste Blick zeigte ihm, daß der Arkonide im durchsichtigen Tank schlief. Die Unterbrechung der Erzählungen würde also wieder lang genug sein. Cyr setzte sich und füllte einen Becher mit rußschwarzem Kaffee. Oemchèn war längst an ihrer Arbeitsstelle; in kleinen Schritten, trotz eiskalter Duschen, erwachte der Geschichtswissenschaftler. Aus dem reichhaltigen Programm der Musikanlage wählte er nach kurzem Zögern Musik von Jean-Babtiste Lully (1632 bis 1687) und begann ausgehungert zu frühstücken. Seine Gedanken waren bei Atlan, dem tiefschlafenden Prätendenten des NEI und bei der Flut von Informationen, die in das Geschichtswerk einzuarbeiten, zu belegen, zu illustrieren und mit gleichartigen Vorgängen zu verknüpfen waren. Auch mit der Hilfe der Studiengruppen und des Universitätscomputers, der Subspeicher von MASTERCONTROL, würde allein die Scharfeinteilung tagelanges Arbeiten erfordern. Und dennoch – Atlans bedeutsamer Anteil an der Geschichte der Menschheit war eine Sache; die Landungen fremder Wesen auf Larsaf III eine andere. Ob sie ebenso in die Geschicke der Barbaren eingegriffen hatten wie der Arkonide… es war denkbar, aber unwahrscheinlich; vielleicht wußte es Atlan, der Einsame der Zeit, selbst nicht. Aescunnar seufzte und dachte an die gewaltige Arbeit, die noch vor ihm lag. ENDE