Perry Rhodan - Atlan-Zeitabenteuer - 11
Kontinente des Krieges Hanns Kneifel Alle Rechte vorbehalten 1997 by VPM Verlag...
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Perry Rhodan - Atlan-Zeitabenteuer - 11
Kontinente des Krieges Hanns Kneifel Alle Rechte vorbehalten 1997 by VPM Verlagsunion Pabel Moewig KG, Rastatt Redaktion: Klaus N. Frick Titelillustration: Rüdiger W. Wick Druck und Bindung: Ebner Ulm Printed in Germany 1997 ISBN3-8118-1510-5
Vorwort Der Arkonide Atlan, der nach dem Passieren der Magellan-Straße vor dem unglücklichen Weltentdecker durch die Südsee segelt - mit der zweiten Hälfte dieses Abenteuers beginnt das elfte Kapitel. Dieser Abschnitt ist zusammengesetzt aus Atlans Erlebnissen, geschildert in Taschenbuch 98, Wettfahrt der Entdecker, aus dem Jahr 1972, Taschenbuch 301, Die Masken der Erinnerung, von 1988 sowie Taschenbuch 305, Die Balladen des Todes, von 1988; den Taschenbüchern 100, Der Kontinent des Krieges, von 1972 und Nummer 308, Die unsichtbaren Pforten (1988); mit Einschüben aus Taschenbuch 321, Die Königsmörder (1989), und der ersten Hälfte von Taschenbuch 317, Atlan und die Selbstmörder, von 1989 endet dieser Band der Atlan-Zeitabenteuer, das elfte Kapitel der ANNALEN DER MENSCHHEIT. Dem Chronisten von Atlans Abenteuern ist im Lauf langer Berichte und deren Aufzeichnungen, Bearbeitungen, Analysen und Ergänzungen durch korrespondierende, gleichwertige Fremdquellen klargeworden, daß es innerhalb der irdischen Historie nicht nur eine Menge faszinierender Einzelheiten gibt, sondern daß bis zum heutigen Tag tiefe Geheimnisse geblieben sind: ES, dessen irdische Werkstatt-Bühne, das Weltbild der eisgegürteten Weltscheibe, Schauplatz ist für willkommene, zufallige oder unwillkommene Besucher, scheint sich vom anderen Paladin der Menschheit zurückzuziehen. Zumindest zwingt ES Atlan und Rico nicht mehr in gefahrvolle Missionen. Vor dem Jahr, in dem Atlan und Rhodan zusammentrafen, war die Erde eine riesige Agora gewesen, ein planetengroßer Marktplatz, wo Einheimische und Aliens auftraten, etwas bewirkten oder gesteinigt wurden oder abtraten - oder spurlos verschwanden! -, ununterbrochen, zehn Jahrtausende lang. Seit Alan zu erzählen angefangen hatte, war Professor Cyr Aescunnars Weltbild ständig korrigiert worden: Evolution einer bestimmten Art fand nicht statt ohne den arkonidischen Kristallprinzen.
Oder andere Xenowesen. Das versteckte Erbe der Lemurer, mit dem Atlan mindestens zweimal in Kontakt geraten war, schien nicht nur rothaarige Springer und beutegierige Aras angezogen zu haben. (Von der lemurischen Hinterlassenschaft, wie von so manchem anderen, konnte der Einsame der Zeit noch nichts wissen!) Unter dem Zwang der Dejä-vu-Erlebnisse, die das Überleben seines Verstandes nach den fast tödlichen Verletzungen während der Karthago-II-Mission zu sichern schienen, wird der ehemalige Admiral und Kristallprinz, der Oberlebende des Unterganges von Atlantis, von seinen Erlebnissen zwischen den Jahren 1522 und 1698 berichten; ein buntes Kaleidoskop aus Kämpfen, Kriegen, Hochstimmung und abgrundtiefer Verzweiflung, von herrlichen Planetentagen und den Phasen langen, kalten Schlafes. Atlans Erzählungen fügen dem Wissen über die Geschichte der Menschheit etliche neue, überraschende Komponenten hinzu, und ebenso, wie wir heute mehr über Atlans Schutzzylinder wissen, erfahren wir von seinem Zusammentreffen mit Hauptakteuren jener Geschichte, ohne die heute unser Weltbild völlig verändert sein würde. Nicht nur der Chronist wünscht sich mitunter, an Atlans Seite geritten, gefochten, »erfunden«, gelebt und gelitten zu haben. Der Chronist würde weder die Daten noch deren Zusammenstellung zu Zeittafeln - sie reichen immerhin von 8000 v. Chr. bis 2040 n. Chr. und gliedern die Geschehnisse in mehr als 55 Einzelerzählungen - ohne die Hilfe menschlicher und »positronischer« Gedächtnisse und vieler Ratschläge, Kritiken, Zuschriften und dankender Bestätigungen allein recherchieren können. Er brauchte es auch kaum zu tun: Rainer Castors abgrundtiefe Archive lieferten mancherlei Erhellendes. Klaus N. Frick bearbeitete die Bearbeitung von Atlans Bericht, und kaum ein Fehler entging ihm: bei beiden bedankt sich der Chronist ebenso wie seit den ersten ANNALENKapiteln. Die Abenteuer des »Capitaine des siecles« sind noch lange nicht beendet, seine Erfahrungen füllen noch viele Seiten dieser Geschichte unserer Menschheit. Hanns Kneifel
Prolog »Sensationell und bewundernswert! Faszinierend, aber anstrengend! Ein Atlan-Tsunami, dessen Gischt aus nie gekannten Bildern und dessen Wucht aus erlebten Abenteuern besteht! Aventiuren in der terranischen Geschichte, und keineswegs in den Nischen. Atlan segelte vor Magalhaes her! Die Passage nach Osten, nach Zipangu, China, Indien, die Kolumbus suchte! Segle weiter westwärts, Arkonide!« Cyr schwenkte den Kaffeebecher. Dann murmelte er: »Und erhole dich von den Strapazen, Atlan.« Er hatte seine Erzählung offensichtlich an jener Stelle unterbrochen, an der sie für ihn den Höhepunkt der Spannung erreicht hatte; Cyr Aescunnar war sich bewußt, daß er weder Psychologe noch Traumatisierungsforscher war, aber er konnte sich Atlans Gedächtnis nicht anders vorstellen als innerhalb eines Modells geologischer Schichtungen. Erinnerungen lagerten über Erinnerungen wie dünne Sedimente aus Sand, Staub, Schlamm, abgestorbenen Kleinstlebewesen. Nicht vergessen, sondern verdeckt, verschüttet, verdrängt. Eine Verwerfung dieser Ebenen, die aneinanderhefteten wie Seiten eines dicken Buches, schuf bizarre Effekte; als ob jene Seiten zerschnitten und, teilweise ineinandergeschoben, neu geordnet würden. Farben, Strukturen, Bilder und Geschehnisse wirbelten durcheinander. Unter diesen Umständen war nahezu jede chronologisch exakte Erzählung des NEI-Prätendenten Atlan das Meisterstück eines einwandfrei arbeitenden organischen Verstandes. Professor Aescunnar hatte die tagelange Ruhepause Atlans dazu benutzt, zusätzliche Informationen, Geschichtchen, Bilder, Diagramme, Querverweise, Fußnoten ins neunte und zehnte Großkapitel der ANNALEN DER MENSCHHEIT einzufügen - auf dem Schreibtisch fehlte das übliche Chaos; dieser ungewohnte Zustand begann ihn zu irritieren. Er hob den Kopf und betrachtete Atlans ausgestreckten Körper unter dem gedämpften Licht der Solarlampen. Obwohl der Arkonide noch immer intravenös ernährt wurde, ertastete er im Schlaf mit verblüffender Sicherheit die Becher voller Nährgetränke. Wie der Ver-
such des Arkoniden deutlich gezeigt hatte, war er noch nicht in der Lage, aufzustehen und mehr als drei Schritte sicher zu gehen. Bis er in das Dachappartement in Sol-Town verlegt werden konnte, das er und Scarron Eymundson vor der Karthago-II-Katastrophe bewohnt hatten, würde noch einige Zeit vergehen. »Tage, Siebentage, Zehntage und Monde, Atlan«. murmelte Cyr. »Dadurch, daß die Schlafphasen zwischen deinen Abenteuern kürzer und zugleich die Einzelabenteuer länger und geschichtlich wichtiger werden, überforderst du zwei Lebewesen: dich und mich, den armen Chronisten.« Das Chronometer zeigte den Vormittag am 10. Januar 3562; es hatte sich in der vergangenen Woche eingebürgert - selbst in der kargen Zeit, in der Cyr Aescunnar drei UniversitätsVorlesungen gehalten und seine studentischen Arbeitsgruppen öffentlich belobigt hatte; sie waren namentlich erwähnte Helfer für die ANNALEN -, diesen privaten, externen Forschungsraum der Chmorl-Universität als Anwählpartner für jede Art Auskunft zu betrachten: von Julian Tifflor. Atlans Vertreter, abwärts besuchte jeder Interessierte den Historiker oder rief über Visiphon an. Ihnen genügten die zwei täglichen Stellungnahmen des Planetaren Krankenhauses und die Datenbank MASTERCONTROLS nicht: Sie wollten Einzelheiten wissen. Aescunnar zuckte mit den Achseln. Er tat sein möglichstes. Auf einem Monitor las er Atlans arkonidische Qualifikationen ab. Sie stammten aus Starco/RivLenks AUFSTIEG UND NIEDERGANG DES ARKONIDISCHEN IMPERIUMS, einem der wenigen erhaltenen Exemplare dieser uralten Chronik. Cyr lächelte, als er die Titelsammlung betrachtete: Admiral Atlan »Mascaren« Gonozal, Kristallprinz; Kosmonaut, Hochenergie-Ingenieur, Kosmopsychologe, Kosmo-KolonisatorInfrastrukturplaner, Kosmo-Stratege, Kosmo-Taktiker... »Ich kann begreifen, daß Atlans Ungeduld wächst«, murmelte Cyr. Tifflor, Djosan Ahar, cbr Anthropologe und selbst Ghoum-Ardebil, der Ära-Mediziner, waren der gleichen Ansicht. »Er hat in jenen Jahren erste, unwiderlegbare Beweise dafür gesehen, daß seine naturwissenschaftlichen und technischen Anregungen endlich Wurzeln
geschlagen haben. Eigentlich dürfte er vor Aufregung gar nicht mehr freiwillig einschlafen!« Während langer Jahrtausende hatte der Arkonide immer wieder versucht, die Menschheit auf den Weg zu den Sternen zu führen. Unzählige »Erfindungen« waren spurlos untergegangen, andere hatten gefruchtet. Cyr war darauf vorbereitet, während der nächsten Wochen und Monate mitzuerleben, wie sich der Arkonide einer Zäsur in seinem Leben und in der technischnaturwissenschaftlichen Evolution seiner »Barbaren« näherte. Aescunnar war ausgeschlafen und ausgeruht. Seine Sehnerven arbeiteten ohne Störungen: Er sah nur die Bilder, die auch jeder andere mit scharfem Blick sehen konnte; er ahnte, daß er weiterhin mit seltsamen Formen der Fehlsichtigkeit würde leben müssen. Wieder blickte er auf die holografische Projektion, die den Blick in Atlans Intensivstations-Reinraum gestattete. Schweigend erhob sich Atlan halb von der Liege, leerte bedächtig einen Becher und achtete darauf - er hielt die Augen geschlossen wie ein Schlafwandler -, die Schläuche für die intravenöse Ernährung nicht zu verwirren. Er ergriff den Rahmen der Antigravanlage, streckte sich auf dem schwach schimmernden Energiegitter aus und ließ sich in den Überlebenstank transportieren. Die Nährflüssigkeit war ersetzt worden; jetzt füllte ein bläuliches Liquid den transparenten Tank. Bläschen und Schaum machten die Flüssigkeit milchig. Die modifizierte SERT-Haube setzte sich in Bewegung. Ehe sie ihre Position über Atlans Kopf und Schultern erreichte, sagte der Arkonide mit kräftiger Stimme: »Ich weiß genau, an welcher Stelle ich aufgehört habe zu berichten. Es war, damals, eine ruhige, glückliche Phase zwischen aufregenden Tagen und Nächten. Bald werde ich mit vollem Bewußtsein reden und mich wieder richtig bewegen können - bis dahin vertraue ich weiterhin den Anlagen dieser famosen Heilstätte.« Er hob den linken Arm aus der brodelnden Flüssigkeit und winkte. Cyr Aescunnar aktivierte ein Aufzeichnungsgerät nach dem anderen. Auf der Printplatte erschienen Buchstaben und Wörter. Atlan schien zu lächeln, als sich die Haube senkte. »Häuptling Aruano. Mauki, Sharma, die Samthäu-
tige, Sonne, Sand und Palmen - und dann zeigte uns die Südsee ihre gewalttätige Seite.« Der Arkonide schwieg, schien sich zu sammeln, zu überlegen: er lehnte Schultern und Kopf gegen das federnde Geflecht der Antigravstrahlen. Die soldschimmernde Gedankenhaube verhüllte seinen Kopf, ihr Rand berührte die Schultern, der Klang von Atlans Stimme veränderte sich. Nach etwa dreißig Sekunden Pause berichtete Atlan weiter.
1. Der aufregendste Augenblick stand mir noch bevor. Ich fuhr mit Häuptling Aruano und seinen Ruderern zum Fischen und Tauchen, wollte miterleben, wie man Perlen fand - über die Kostbarkeiten, die wir gegen stählerne Beile, kleine Spiegel oder Messer einhandelten, staunten nicht nur unsere Frauen. Nachdem wir aus der Lagune hinausgerudert waren, bog das lange Häuptlingskanu scharf nach Norden ab. »Wohin geht es?« Ich räkelte mich schläfrig unter dem Sonnensegel aus Bast. »Zu einer anderen Insel«, sagte der Häuptling. Das Boot war zerbrechlich; leicht und groß. Sämtliche Verbindungen bestanden aus Schlingen, Schnüren, Pflanzenfasern und Holz. Netze und Fischgerät lagen herum und eine Anzahl Steine, in Schnüre eingeflochten. »Wie findet ihr die anderen Inseln?« fragte ich. Aruano hob etwas hoch, das ich auf den ersten Blick nicht identifizieren konnte; dünne Stäbchen, an den Kreuzungspunkten mit Bast verbunden. Muscheln befanden sich dazwischen; ein unregelmäßiges Netz, das in drei längere Stäbe auslief. »Wir haben Karten!« Der Häuptling war häufiger Gast auf dem Schiff gewesen. Er bewunderte dieses technische Ding, aber mißtraute geschlossenen, von Holz umgebenen Räumen. Er erschrak tödlich, als unser Hinterladergeschütz feuerte und sämtliche Vogelschwärme aufscheuchte; jetzt präsentierte er mir ein Geflecht voll Muschelschalen als Karte. Ich blickte genauer hin. Die wirkliche Karte, eine H3henaufnahme, hatte ich in meiner Erinnerung. Ich nahm das Geflecht so, daß die Fortsätze auf Morgen, Mittag und Abend wiesen: tatsächlich eine Karte! Bastfaden kennzeichneten Meeresströmungen, dickere Streifen verdeutlichten die hauptsächlichen Winde, und ich erkannte, daß wir zur nächsten winzigen Insel segelten. Das Kanu schwankte beträchtlich, machte aber erstaunlich hohe Fahrt. Ich beugte mich vor und hörte den Häuptling sagen: »Ich werde euch Mauki mitgeben.«
Ich runzelte die Stirn und betrachtete plötzlich vieles unter einem gänzlich neuen Blickwinkel. Wir hatten die gleichen Erfahrungen, aber aus verschiedenen Quellen. Mein Wissen ging von der Größe des Kosmos bis zu den einfachen Dingen des täglichen Lebens. Seines war an diesen Dingen gewachsen; eine Art reiner Natur Wissenschaft. Insulaner und ich würden sich gut verstehen und ergänzen können. »Wer oder was ist Mauki?« fragte ich. »Einer unserer ältesten Männer. Er verlor einen Arm durch den Hai. Er kennt alle Inseln dieser Welt.« Ich lachte und sagte: »Kennt er auch die Küsten der fernen Länder?« »Es gibt nur Inseln«, sagte der Häuptling beharrlich. »Das Meer ist überall, alles, was in ihm liegt, ist Insel. Tausend Inseln hier. Wollt ihr Mauki und sein Boot mitnehmen? Er kann, wenn ihr ihn nicht mehr braucht, zurücksegeln.« Ich wandte ein: »Das kann für ihn eine lange Fahrt werden, denn wir segeln im Zickzack durch die Inseln, dann nach Sonnenuntergang, bis wir in der Heimat sind.« »Maukis längste Reise war zweihundert Tage lang, und er hat nicht einen Tag gedürstet.« »Ich nehme ihn mit!« Ich entschloß mich schnell; einen besseren Führer konnten wir nicht finden. Stundenlang segelten wir und mterhielten uns über Tiere und Pflanzen, Wasser und Fische, dann tauchte die Insel auf. »Unbewohnt. Nur wilde Schweine. Viele Vögel«, sagte der Häuptling. Bananen und Feigen, Pandanus- und Kokospalmen, wilder Ingwer und eine Menge buschartiger Pflanzen beherbergten eine reiche Vogelwelt, Eidechsen und Schlangen. Das doppelrümpfige Boot mit der Plattform zwischen den hochgekrümmten Einbäumen näherte sich, mit dem langen Ruder gesteuert, mit Hilfe des dreieckigen Doppelrah-Segels, einigen Blöcken aus Korallen, auf denen Palmen neben abgesplitterten Baumstümpfen standen. Mangrovenartige Sträucher wuchsen von der Insel aus ins Brackwasser. Ein Vogel10
Schwarm erhob sich, als wir zwischen Insel und Riff die Basttaue belegten. In den nächsten Stunden versuchte auch ich, Fische zu speeren und zu tauchen. Ersteres gelang mir einigermaßen, aber die Insulaner schienen Schwimmflossen und Kiemen zu haben - sie schwammen und tauchten verblüffend gut. Ich gab nach dem dritten Tauchversuch auf; ich schaffte diese Tiefen nicht. Die Muscheln wurden geöffnet, und zum Teil fanden sich Perlen. Der Häuptling holte eine große, schimmernde Perle aus einer Muschel, als ich von einem Streifzug über das Inselchen zurückkam. Wir hatten nicht einen Haifisch gesehen. In den Rümpfen häuften sich gespeerte Fische und solche, die mit Netzen gefangen wurden. Langsam war es Zeit, an die Rückfahrt zu denken. Häuptling Aruano tauchte aus dem Wasser, warf sein triefendes Haar zurück und fragte atemlos: »Was hast du entdeckt, weißer Mann Atlan?« »Wenig Aufregendes«, sagte ich. »Ich glaube, daß es wenige große Tiere auf den Inseln gibt, mehr Eidechsen und verschiedene Vögel. Vielleicht mehr, als wir denken.« »So ist es«, meinte er und schwang sich ins Boot. »Und sehr viele Arten Fische.« Er schrie über die Lagune, daß wir zurücksegeln wollten. Der Wind stünde nunmehr günstig. Die Männer brachten heran, was sie gefunden und erlegt hatten, und schließlich segelten wir zurück nach Tafuafau. »Habt ihr schon einmal fremde Schiffe gesehen? Solche wie unser Schiff?« fragte ich. Es war denkbar, denn der Inselkontinent war in erreichb arer Nähe. »Noch nie. Ihr seid die ersten Weißhäutigen auf all den Inseln!« Der Häuptling massierte seine Waden. »Und außerdem habt ihr das schönste Wetter seit Jahren gebracht. Das Meer ist sturmreich und wild, aber bisher war es von seltsamer Milde und Schönheit. Wann wollt ihr fahren?« Ich zuckte mit den Schultern. »In einigen Tagen. Wir werden im Zickzack alle Inseln ansteuern. Mauki wird uns leiten.« 11
»So war es besprochen!« Der Häuptling lachte. »Und er kennt die Sprachen anderer Stämme. Dieser große, wilde Mann mit den rollenden Augen...?« »Zaro«, sagte ich, »hat es vorgezogen, die Haifische zu füttern. Er sprang über Bord.« Aruano nickte verständnisvoll. Wir kreuzten in langen Geraden zur Insel; erreichten sie gegen Sonnenaufgang, langsam erwachte das Dorf. Zwischen den Männern des Schiffes, den wenigen »Offizieren«, und dem Stamm hatten sich gute Beziehungen ergeben - ich hatte darauf geachtet, daß keine Übergriffe geschahen. Die Männer sammelten Energien, und es näherte sich der Tag, an dem es ihnen zu langweilig wurde. Dagegen gab es genügend Medizin: wieder in See zu gehen und die Inseln zu besuchen. Es sollte eine Seefahrt des Vergnügens werden, keine erbarmungslose Jagd. Außerdem mußte ich Maghellanes treffen. Polynesiens Inseln zu zählen wäre überflüssig und sinnlos gewesen; ein riesiges Dreieck, von einer vulkanischen Insel im Norden bis zu den Steininseln weit im Osten und bis zu dem Inselkontinent im Westen. Wir luden das Kanu Maukis auf das Schiff, lagerten Kokosnüsse und andere haltbare Früchte ein, nahmen Frischwasser an Bord und verabschiedeten uns von dem Stamm. Wir hatten uns blendend erholt; wissenschaftliche Einsichten über diesen unbekannten Teil der Erde hatte ich sammeln können. Uns zog es an Deck. Fremde Küsten warteten auf uns. »Atlan! Du bist ein Mann, von dem ich nicht weiß, was er will!« Mauki war so braun gebrannt wie ein Afrikaner. Sein linker Arm war über dem Ellenbogengelenk abgetrennt wie mit einem Messer; das über und über lockige Haar war schneeweiß. Die Augen waren die eines verträumten Koboldes. Er stand neben mir, an die Reling des Heckkastells gelehnt. Seit Tagen segelten wir nach seinen Anordnungen. »Ich weiß, was ich will - ich werde es dir sagen«, meinte ich. »Wohin fahren wir?« 12
Er deutete auf seine Rohrgeflecht-Karte, neben der eine Luftaufnahme festgeheftet war. »Pinaki, Nengonengo. Gute Inseln. Viele Menschen. Wir holen Frauen von dort.« Das war ein weiteres Geheimnis: Auf diese Art konnte Inzucht nicht um sich greifen. Die Mitglieder der Stämme zogen in Schwärmen von Kanus aus, um Frauen zu rauben. Oftmals, versicherte Mauki mit strahlendem Grinsen, gingen die Mädchen gern mit. »Sehr gern...«, fügte er nachdenklich hinzu. »Was finden wir dort?« fragte Agsacha. Andere Totems, meinte Mauki. Andere Götter, andere Pflanzen. Je mehr sich die Inseln dem sagenhaften Land im Westen und Nordwesten näherten, desto reicher waren sie an Gewürzen, Blumen und Tieren. Sogar Vögel, die nicht fliegen, aber laufen konnten, größer als ein Mann, gäbe es auf vereinzelten Inseln. Mauki war ein Maghellanes der polynesischen Inseln. »Aber... was willst du wirklich, Atlan?« fragte er mißtrauisch. Die TERRA hatte jeden Fetzen Leinwand gesetzt und schoß mit achterlichem Wind dahin. Zischend bäumte sich der Gischt vor dem Bug. Wir verloren kaum eine Insel aus den Augen, als der Ausguck voraus oder querab eine neue meldete. Mauki versicherte dann, daß es sich um kleine Inseln handelte, nur Kokospalmen, nichts sonst. Nachdenklich betrachtete Sharma die Perle, die ihr der Häuptling zum Abschied geschenkt hatte. »Ich will einen Stamm treffen oder eine Anzahl von Stämmen, die vor uns andere Menschen gesehen haben. Ich will, daß sich alle kennenlernen. Die Insulaner und die Menschen von den Rieseninseln, den Kontinenten.« »Ich verstehe. Dann sind wir richtig. Wir werden Pinaki anlaufen und draußen ankern. Die Männer von Nengonengo haben schon kle ine, gelbe Menschen gesehen, sagten sie.« »Dorthin segeln wir!« bestätigte Diego de Avarra am Ruder. Die TERRA umrundete eine Insel nach der anderen. Oftmals ankerten wir und schickten ein Boot aus. Mauki stand wachsam, seinen Speer mit der Speerschleuder in den Händen, im Bug des Ruderbootes, als 13
es durch die Brandung am Korallenriff schoß und von der Welle in die Lagune geworfen wurde. Wir wurden überall freundlich aufgenommen. Mauki sprach offensichtlich jeden Dialekt der vielen Inseln; es war eine unwiederholbare Fahrt. Wir lernten Menschen und ihre Sitten kennen. Meine Männer tauschten Messer und allerlei Eisenwaren gegen Perlen und Schmuckstücke aus vielfarbigen Korallen. Einige lernten die Sprache, Diego zeichnete mit meiner Hilfe eine Karte der Winde und Strömungen, klassifizierte aus einer Laune heraus die Pflanzen, deren Verbreitung und Wuchs von der Natur der Inseln abhingen. Sie waren zum Teil vulkanischen Ursprungs, und zum anderen Teil von Korallenriffen gebildet. Die Mengen Palmwein, die wir tranken, wren groß; ein Fest löste das andere ab. Wir berichteten von unserem Land weit im Westen, erweiterten das Weltbild der Insulaner - und sie erweiterten unsere Erkenntnisse. Ich sprach viele Bänder voll, fertigte Bilder an und füllte viele Seiten unseres Logbuches. Die Reise von Tafuafau im Zickzack durch die Inseln war undramatisch. Wir legten sie meistens in beglückendem Dämmerzustand leichten Alkoholisiertseins zurück; trotzdem liefen wir auf kein Riff auf. Mauki entpuppte sich als Mann, dem offensichtlich die Fähigkeit fehlte, betrunken zu werden. Er war immer nüchtern - ein weiteres Wunder der Südsee. Und so kamen wir nach Aruarufa. Es war Nacht. Die TERRA bewegte sich auf geradem Kurs durch die unruhige See. Vor uns, die Sterne verdeckend, erhob sich eine Insel. Als wir sie im Licht der Sterne und im bleichen Licht des Mondes genauer sahen, konnten wir einige Eigentümlichkeiten feststellen. Diego murmelte unschlüssig: »Von hier sieht die Insel flach aus. Ich meine, mit einem tafelähnlichen Strand voller Palmen und Gewächse. Siehst du die Feuer, Atlan?« »Ja«, antwortete ich. »Und ich sehe auch auf dem einen der drei Berggipfel den rötlichen Schein und darüber die Wolke.« Agsacha fragte aufgeregt: »Ein Vulkan? Ein feuerspeiender Berg wie auf der Insel Vulcano?« »Vermutlich. Ich kann nicht genau sehen.« 14
Drei Berggipfel drängten sich am westlichen Ende der Insel zisammen. Sie sahen keineswegs vulkanisch aus; ich zog mein Teleskop auseinander und betrachtete die Silhouette der Insel. »Wardar! Nimm die Hälfte der Segel herunter!« rief ich. »Verstanden!« Das Tappen bloßer Füße auf den blankgescheuerten, salzüberkrusteten Planken. Die Taue knirschten, das Holz knarrte. Der Feuerschein auf dem Berggipfel nahm zu. »Aruarufa ist aus Feuer und Dampf geboren!« murmelte Mauki. »Es wird immer neu geboren.« Das Schiff wurde langsamer. Auch diese Insel war von einem Ring umgeben, aber er schien nicht aus Korallen zu bestehen. Es mußten, den dunklen Flächen nach, Felsen aus Lavagestein sein. Die Brecher schlugen an ihnen hoch und überschütteten sie mit Schaum. »Du wirst, Atlan, eine Insel sehen, deren Bewohner eine ganz andere Kultur haben. Sie leben mit den Flammen.« »Der feuerspeiende Berg... ist er gefährlich?« erkundigte sich Ssachany leise. »Mag sein, weiße Frau!« murmelte Mauki. »Bejar!« rief ich. »Einige Lotungen! Wir ankern vielleicht!« »Sofort, Kapitän!« kam es vom Vorschiff. Nur einige Positionslampen brannten. Das Schiff trieb auf die Insel zu und näherte sich einem Landvorsprung, dicht mit Palmen, Mangroven und Gebüsch bewachsen. Die Angaben des Lotenden wurden laut ausgerufen. Wieder fielen einige Segel. Diego ließ das Schiff in weitem Bogen auf das Land zutreiben. Uns allen war nicht wohl bei dem Gedanken, in der Nähe des Vulkans zu ankern. Die Männer wußten nicht, worum es sich dabei handelte. Einige Minuten vergingen. Nichts rührte sich, aber als sich die Perspektive änderte, sah ich zwischen Palmenschäften kleine Feuer flackern. Eine stark unterdrückte Unruhe begann sich unter der Mannschaft auszubreiten. »Wir haben sechzig Fuß Tiefe, Käpten!« kam Bejars Stimme durch das Dunkel. »Wir ankern!« rief ich. 15
Eine Stunde später hing das Schiff an einer Ankertrosse. Die Ebbe lief aus, und wir standen gegen den Strom. Auf dem Vorschiff drängte sich die Mannschaft zusammen. Ich spürte ihre Unruhe und ging zu ihnen. Mit ausgesuchten Worten versuchte ich zu erklären, was ein feuerspeiender Berg wirklich war. Sie schienen verstehen zu wo 1len, aber nicht zu können. Auch ich wurde von ihrer Unruhe angesteckt. Mauki legte seine Hand auf meine Schulter. Im Finstern leuchteten seine Augen und die Zähne. »Horch!« Er deutete zur Insel. Unsere Unterhaltung verstummte. Wir hielten den Atem an. Über den Geräuschen des Schiffes erhoben sich exotischere Töne: das Pochen hölzerner Trommeln, dumpfer Singsang in der vokalreichen Sprache der Insulaner, das grelle Kreischen von Baumflöten. »Was, deiner Meinung nach«, fragte ich vorsichtig, »tut dieser Stamm dort? Sie feiern ein Fest?« Mauki hob die Brauen und erwiderte: »Sie beschwören den Gott des Feuers. Sie tanzen und bringen Opfer!« »Das muß ich sehen. Diego!« ßrderte ich. »Ich brauche ein Boot und einige Freiwillige. Ich will diesen Tanz sehen. Das bin ich mir und dieser Reise schuldig.« »Ich sehe es nicht gern, daß du gehst, aber ich gehe mit!« sagte Agsacha mit Bestimmtheit. Wir ließen ein Boot zu Wasser, bemannten es mit acht Ruderern. Mauki, Agsacha und Sharma stiegen zu mir ins Boot. Ich nahm aus meinem Gepäck einen Handscheinwerfer, steckte eine zweite Energiezelle ein und bewaffnete Agsacha und mich mit Vielzweckpistolen. Mauki stellte sich mit seiner Speerschleuder in den Bug. Schaukelnd bewegte sich die Nußschale auf die dunkle Küste zu. Der Widerschein vieler Feuer tanzte auf den Wellen, als wir uns näherten. Mauki schrie etwas im Dialekt der Insel; eine schrille Stimme antwortete. Ich glaubte, ein rumpelndes Geräusch zu hören. Vermutlich war der Kiel des Bootes auf einem Felsen entlanggeschnurrt. Ohne es zu merken, war ich wie alle anderen in der Stimmung eingesponnen, die sich entlang des mondsichelförmigen Ufers ausbreitete. Schatten tanzten über den weißen Sand. Der Feuerschein wurde heller. Zwischen mir und den Feuern husch16
ten Silhouetten vorbei. Schließlich hoben die Matrosen die Ruder. Der Kiel schob sich die Sandfläche hoch, ein Ruck ging durch das Boot. Mauki sprang an Land. »Wir kommen in Frieden!« rief er. »Mauki von Tafuafau, mit fremden Freunden! Nehmt uns freundlich auf, Männer von Aruarufa!« Einige Krieger, schwer bewaffnet, mit Baströcken und langen Schildern, kamen auf uns zu. Einer sagte dumpf: »Ihr seid willkommen. Wir tanzen den Tanz des Feuergottes. Heute hat er den Boden erschüttert. Auch sind glühende Brocken ins Meer gefallen.« Stechender Geruch drang in meine Nase. Schwefel? Vermutlich vulkanische Gase aus Fumarolen oder Solfataren. Die Insel war nichts anderes als die Umgebung eine s Vulkans; es konnte sein, daß das Feuer aus der Tiefe sich jeden Augenblick siedend ergoß und die Landschaft verwüstete.... und das Schiff zerstört! meldete sich das Extrahirn. »Diese Männer kamen von weit her...« Maukis Wortschwall schien, abgesehen von der stark rhythmischen Musik hinter den Palmen, das einzige Geräusch zu sein. Wir stellten uns in einem Halbkreis hinter den Kriegern auf. Schließlich bat einer von ihnen, er trug eine weiß gestrichene Maske aus Bast, beschwörend leise: »Kommt näher! Bleibt im Schatten! Stört den Tanz nicht!« »Wir versprechen es, Tänzer!« bestätigte Mauki. Zu mir gewandt, sagte er leise: »Sie haben alle Kawa getrunken und sind nicht bei sich. Sie haben viel Angst vor dem Feuer und tanzen, um ihre Angst einzuschüchtern.« Kawa, ein erfrischendes Getränk, war mit starkem Palmwein versetzt; die zerkleinerte Wurzel eines Pfefferstrauches wurde vergoren, gemischt und aus geschnitzten Schalen getrunken. Wir sahen, als wir in die rötliche Helligkeit des Feuers hineintraten, etwa einhundert Männer und Frauen in drei Tanzreihen. Es war eine Szene von mystischer Eindringlichkeit. Schlagartig befanden wir Fremdlinge uns im Bann des Tanzes, der Musik - als hätten wir teilgenommen an der angsterfüllten Trance. Es war ein vollendeter Maskentanz aus einfachen, aber in ihrer Monotonie eindringlichen Schritten und Figuren. 17
Die Körper der Tanzenden bewegten sich, bildeten drei Kreise. Im Mittelpunkt des Reigens loderte ein mächtiges Feuer. Andere Feuerstellen verteilten sich in einer langen Reihe. Sharma schob sich zwischen Diego und Mauki hindurch und klammerte sich an meinen rechten Arm. Ich wagte nicht, den Scheinwerfer einzuschalten. Trommeln, Flöten, die ausgestoßenen Vokale der Tänzer, durchdringender Geruch nach Schweiß, Gestank nach Schwefel md saurem Palmwein, Stampfen der nackten Füße und das Hämmern der Schädelbrecher auf die harten Schilde, die wie Resonanzböden wirkten. .. die schweißtriefenden Körper schienen eins werden zu wollen mit den furchterregenden Masken. Ich war gebannt, unfähig, mich zu bewegen. Der Tanz ging ununterbrochen weiter. Eine furchtbare Drohung erfüllte die Luft. Weit hinter uns schlug etwas schwer ins Wasser. Einmal bebte der Boden; die Scheite im Feuer krachten übereinander. Ein ungeheurer Funkenschauer erhob sich in die heiße Luft. Die Tänzer hatten aufgehört, menschlich zu sein. Sie hatten ihr Wesen abgestreift und waren zu Sinnbildern gpworden. Drei riesige Totemsäulen, in grellen Farben bemalt und ausdrucksvoll geschnitzt, Umständen das Feuer. Einige Teile schmorten, Rauch stieg auf. Ununterbrochen kreischten und hämmerten Flöten und Trommeln. Ich war fasziniert, schließlich geriet ich in eine milde Form der Hypnose. Alles um mich herum war dazu angetan, uns einzuschläfern. Mauki entriß einem Krieger Speer und Schild und reihte sich in den äußersten Kreis ein. Ich sah es, wagte aber nicht einzugreifen. Oder konnte ich in dieser Sekunde schon nicht mehr? Der Tanz ging weiter. Lös dich aus der Starre! Ihr seid in Gefahr! Denk an das Schiff! kreischte der Extrasinn. Ich überhörte diese Warnung ebenso wie die folgenden. Diese Geschöpfe, die sich drehten und mit den Gliedmaßen schlenkerten, hypnotisierten sich selbst und uns. Die Kreise drehten sich in verschiedenen Richtungen. Die nassen und hellbraunen Körper bogen und verdrehten sich. Schilde, Schädelbrecher und Speere wurden hochgerissen und wirbelten durch die Luft. Plötzlich schwiegen die Flöten. Dann bliesen sie einen unerträglich hohen Ton, der in die Trommelfelle stach wie eine glühende Nadel. Abermals bebte der Boden. Irgendwo rollte ein Fels 18
zu Tal und riß Bäume mit sich. Die Trommel schlug einen rasenden Wirbel. Die Kreise zerstoben, bildeten in einem komplizierten Muster neue Gruppen. Drei Männer und ein gertenschlankes Mädchen verfolgten einander um die drei Totemsäulen herum. »Wahnsinn!« flüsterte Diego de Avarra. Der Vulkan bricht aus! schrie der Extrasinn. Ich vermochte mich nicht zu rühren. Das Mädchen, so gut wie unbekleidet, entriß einem Krieger den Schädelbrecher und steckte ihn ins Feuer. Während der Kopf der Waffe zu brennen und zu glühen begann, umtanzten die Männer das Mädchen. Schließlich brannte der Kopf des Schädelbrechers. Das Mädchen riß ihn aus der Glut und schwenkte ihn in wirren Kreisen durch die Luft. Funken flogen von dem kometenartigen Kopf v^g. Die Krieger wichen zurück. Das Mädchen verfolgte sie. »Schlag zu! Schlag zu!« riefen die Tänzer, stöhnten es. Als ob ihre Stimmbänder in der Fessel der dämonischen Trance gefangen wären. Ein urhafter Laut kam aus vielen Kehlen. Ich schrak auf. Auch hinter dem Lichtkreis bewegten sich Menschen. Die Totemsäulen schwankten, als die Erde wieder angehoben und nach zwei Richtungen gleichzeitig gestoßen und geschoben wurde. Schlag zu! Schlag zu! Schlag zu! Das Mädchen holte den ersten Tänzer ein, der in Schleifen von ihr wegtanzte. Jede Bewegung gphorchte dem Rhythmus der Trommel. Der schrille Ton der Flöte zitterte durch die Luft. Der Kopf des Schädelbrechers raste aufglühend und funkenschlagend durch die Dunkelheit und schien den Kopf des Tänzers zu treffen. Der Mann stieß einen gellenden Schrei aus und sank zu Boden. Die anderen Tänzer drangen auf das Mädchen ein, und der zweite empfing den tödlichen Hieb. Er ging schreiend zu Boden, und auch der dritte starb. Dann schrien die Tänzer etwas, das ich nicht verstand. Das Mädchen sprang ins Feuer und verschwand. Ich schüttelte mich. Ohrenbetäubendes Krachen drang durch die Nacht. Plötzlich zuckte ein roter Blitz durch das Firmament, langhallender Donner ertönte. Diego schrie in panischer Furcht: »Der Berg! Atlan! Unser Schiff! Wir müssen zurück!« Ich schüttelte mich, versuchte, den Bann abzustreifen, merkte nicht einmal, daß sich die Nägel Sharmas in meinen Oberarm bohrten. 19
Blutstropfen quollen zwischen den Fingerkuppen hervor. Wieder bebte der Boden; Palmen und Totemsäulen schwankten. »Zurück zum Boot!« Mauki warf Speer und Schild zu Boden, als sich meine Erstarrung löste. Ich hätte von selbst nicht die Gewalt über mich zurückgewinnen können. Aber das Mädchen, das noch wie halb besinnungslos tanzte, warf den qualmenden Schädelbrecher ins Feuer. Langsam erhoben sich die drei Tänzer. Zwischen dem Sprung ins Feuer und dem erneuten Auftauchen der biegsamen Tänzerin klaffte in meiner Erinnerung eine Lücke; das brachte mich wieder in die Realität airück! »Alle Mann zurück zum Schiff!« Ich keuchte. Wir wandten uns zur Flucht. Ein donnerndes Geräusch begleitete uns. Mehrmals wurden wir zu Boden geschleudert. Die TERRA feuerte einen Schuß ab, der sich im unterirdischen Grollen und dem oberirdischen Krachen, Knistern und Rumoren seltsam verloren ausnahm. »Schneller!« brüllte Mauki hinter uns. Wir stoben hinunter zum Strand, rafften uns wieder auf, stolperten weiter und erreichten das Wasser, das in flachen, schwappenden Wellen flutete. Unsere Hände klammerten sich an den Rand des Bootes, schoben es ins Wasser; als uns eine Welle mit sich riß, warfen sich die Matrosen auf die Ruderbänke. Mauki wurde von mir ins Boot gezogen, Diego klammerte sich ans Ruder. Wir ruderten wie die Wahnsinnigen. Die Schäfte der Riemen bogen sich durch Eine Woge riß uns mit sich, die nächste warf uns zurück, dem todbringenden Strand entgegen. Im Unterbewußtsein hörte ich, wie Wardar die Männer ans Gangspill trieb. Der Anker wurde gelichtet. Ich bog mich zur Seite und ließ das Ruder los. Brüllend brach sich eine meterhohe Wasserwand an den Felsen, überschüttete uns mit Wasser und Nebel. Das rote Glühen auf dem Berg war stärker geworden. Es sah aus, als ob der Krater auslaufen oder überkochen würde. Mein Handscheinwerfer wurde eingeschaltet. »Sind alle Mann im Boot?« schrie ich. 20
»Ja! Ich habe gezählt!« brüllte Diego. Weit links von uns zischte und kreischte die Natur. Ich konnte nichts erkennen, aber flüssige Lava rauschte in Kaskaden ins Meer und verwandelte Meerwasser in Dampf. Die gesamte Natur war in Aufruhr. Vogelschwärme rasten wie wahnsinnig über uns hin und her. Schweine stürzten sich kreischend ins Wasser, Trommeln und die Flöten waren nicht mehr zu hören. Wir passierten mit einer zurückflutenden See den Ring aus Felsen. Mit einem gewaltigen Sprung setzten wir über einen scharfkantigen Lavafelsen. Als der Lichtbalken durch die neblige, stauberfüllte Luft schwenkte, traf er nach fünfzig Schritten die Schiffswand. »Rudert Pullt um euer Leben!« schrie Diego. Auch ich griff wieder zum Riemen. Wir stemmten uns gegen die Rasten im Boden des Bootes. Unsere Rücken krümmten und strafften sich. Schweiß lief in Bächen über unsere Körper. Das Schiff drehte sich langsam herum. Segel wurden aufgezogen, jemand schrie von der Reling: »Wir werfen ein Tau!« »Verstanden!« brüllte ich. zufällig fiel mein Blick nach oben. Wir hatten uns vielleicht dreihundert Schritte vom großen Feuer entfernt. Die Insel war gut zu überblicken. Ein breiter schneller Bach strömte von der Spitze des Kraterberges. An seinen Rändern ging der Wald in Flammen auf. Rauchschwaden schoben sich wieder vor das grausige Bild. An einigen Stellen leuchtete die Nacht in blutigrotem Schimmer. Langsam entfernte sich das Schiff von seinem Ankerplatz. Ein Tauende prallte in meinen Rücken; zehn Hände griffen danach. Das Tau wurde am Bug des Bootes belegt, ein Ruck straffte das Seil; unsere Fahrt wurde schneller. Glutheißer Wind drängte uns vom Land weg. Mein Scheinwerfer bohrte seinen Lichtstrahl durch die rauchverdunkelte Finsternis. Ich sah, wie die Insulaner ihre Kanus bemannten und sich damit in die Lagune stürzten. Sie paddelten wie wild. Neben den Booten sah ich die Köpfe der Schwimmenden. »Näher heran!« Auf der TERRA wurden sämtliche Segel gesetzt. Es wurde unerträglich heiß, Dampfwolken erhoben sich. Das Schiff würde mit diesem Wind gerissen. Einige Matrosen holten das Tau ein. Wir ver21
stauten die Riemen. Wenige Zeit später lagen wir längsseits; die ersten Männer turnten über die Strickleiter und sprangen an Deck. »Diego! Schnell ans Steuer!« Ich strahlte die Leiter an. Diego half Sharma, und hinter ihr enterte er das Schiff. Kommandos ertönten. Keuchend und schwitzend turnten die Männer hoch. Die Leinen, an denen das Boot hochgewunden wurde, strafften sich, nachdem die Haken befestigt worden waren. Ich befand mich als letzter im Boot, hob einen Schädelbrecher hoch, der liegengeblieben war, und gab Anweisungen. Während die TERRA stampfend in unregelmäßigen Windstößen von der Insel wegfuhr, holten die Männer das Boot hoch und vertäuten es. Wir waren gerettet Ich ließ sämtliche Laternen setzen und kontrollierte alles an Deck. Mauki sagte: »Da drüben ist ein Felseninselchen. Dahin werden sie sich retten wollen. Hilfst du ihnen?« »Natürlich!« sagte ich. »Aber es wird schwer sein.« Das Schiff kreuzte eine Stunde später zwischen den Untiefen, vorgelagert dem Lavainselchen. Die vulkanische Insel wurde verwüstet. Jeder, der nicht mit dem Schiff zu tun hatte, starrte auf das Bild. Der Kessel des Kraters war voll gaserfüllter Lava. Sie schien dünn wie Wasser zu sein, von weißglühender Farbe. Nachdrückendes Magma der Erdkruste schob die Massen hoch. Wo der Krater ausgebuchtet und besonders schwach war, kochte die Lava über, strömte in einer Breite von mehr als fünfzig Schritten zu Tal, rasend schnell, flöß genau in den Geländevertiefungen, staute sich, wurde vom Beben des Untergrundes aufgeschüttelt, flöß weiter und vernichtete die Vegetation, schließlich fiel das glühende Material ins Meer. An dieser Stelle kochte der Ozean. Eine Dampfwolke erhob sich. Asche und winzige Felsbrocken wirbelten durch die Luft. Kochende Luft, feiner Sprühregen, der Asche mit sich führte und an unseren Segeln und Tauen kondensierte, färbte das Schiff schwarz. Ständig bebte der Boden, schlugen Wellen hoch. Dröhnen, gemischt mit heulendem Brausen und ständig wechselnden Explosionen, erfüllte die Nacht. Wir sahen keinen einzigen Stern. Sharma stand an der Reling des Heckkastells und sagte leise: »Die Insulaner, Atlan - was können wir tun, um ihnen zu helfen?« 22
Ich drehte den Scheinwerfer. Zwischen dem Schiff und der Insel sahen wir Kanus, schwer beladen. Die Ruderer arbeiteten wild, um aus dem Bereich des Dampfes und der brennenden Fahnen herauszukommen. Hier und dort überholten die Schwimmer die Boote, meist war es umgekehrt. Ich leuchtete dem ersten Boot den Weg und führte es in die entsprechende Richtung. Jemand hob ein Paddel und winkte. Einige Schwimmer erreichten, als wir wieder zurückkreuzten, das Schiff. Wir halfen ihnen an Deck. Diese Arbeiten dauerten den gesamten Morgen. Als durch die ungeheure Rauchwolke, die mit dem Passatwind abtrieb, das Tageslicht sickerte wie durch einen Filter, segelte die TERRA in einem weiten Bogen bis zum Nordende der Insel. Viele Kanus folgten uns. Wir setzten die Eingeborenen ab, halfen den Kanus, und mein letzter Eindruck vor dem Ende dieser Rettungsaktion war das Gesicht der Tänzerin. Nicht einmal ihr Haar war versengt worden. Gegen Mittag, als das Toben des Vulkans nachgelassen hatte, als zwei Gewitter die meisten Brande gelöscht und die Luft gereinigt hatten, befand sich die Bevölkerung wieder auf der Insel. Wir fanden, als wir weitersegelten, nicht eine einzige Leiche im Meer. Mit der häßlich grauen Rauchsäule im Rücken segelten wir davon, anderen Inseln entgegen. »Wo wolltest du den großen Kapitän mit seinen Schiffen treffen, Atlan?« fragte Mauki eines Tages, als wir wiederum zwanzig Inseln hinter uns gelassen hatten. Ich deutete auf eine Insel meiner Karte, die ich Cebü nannte. Heute schrieben wir den 27. April 1521. Was unternahm in dieser Stunde der Portugiese? Mich beschlich ein schlechtes Gefühl, wenn ich an seine zusammengeschmolzene Flotte dachte. Selbst ein Maghellanes kann sterben, wenn er einen Fehler begeht oder die Südsee zuschlägt, sagte der Extrasinn. »Dann«, meinte Mauki sinnierend, »sollten wir uns auf diesen Weg machen. Wir brauchen lange dorthin; du sagst immer, daß Eile ein Geschenk des Bösen ist.« »Recht gesprochen!« sagte ich in seiner Sprache und gab meine Anordnungen. 23
CONCEPTION hieß das Schiff, dessen Flammen uns die letzten Meilen den Weg wiesen. In der Nähe einer Insel, die Maghellanes sicher erscheinen mochte, verbrannte das dritte Schiff der Expedition. Wilde Vermutungen machten die Runde an Deck; wir kamen mit Vollzeug näher, drehten vor dem Riff bei und betrachteten das infaßbare Schauspiel. Was war geschehen? Nur die TRINIDAD und die VICTORIA waren von der Flotte übrig; als ich die Bilder des Albatros mit meiner Erinnerung verglich und durchs Teleskop blickte, begriff ich: Sie hatten das Schiff selbst angezündet und jeden Gegenstand von Wichtigkeit auf die beiden letzten Schiffe verteilt. Alles sah aus, als ob die Schiffe einen beispiellosen Irrweg hinter sich hätten. Aber... wo war Senor Fernande? Wie weit lüftete ich mein Inkognito, wenn ich mit der TERRA näher kam? Ich ließ ankern und brachte das größte Boot zu Wasser. Wir ruderten unruhig an Land, an der sterbenden CONCEPTION vorbei. Eine Gruppe Matrosen rannte auf uns zu, als das Boot auf den Strand lief und meine Männer ins Wasser sprangen. »Das ist der Spanier, dem die TERRA gehört!« schrien die Männer; wahre Elendsgestalten: Hoffnungslosigkeit, Hunger und Not sprachen aus ihren Gesichtern. Ich schüttelte den Kopf. »Bringt mich zum Generalkapitän, Männer!« befahl ich. »Wo finde ich ihn?« Schließlich, nach langem Schweigen, sagte einer der Männer leise: »Senor Maghellanes ist tot. Er starb am siebenundzwanzigsten April, Herr.« Ich setzte mich auf die Bordkante des Bootes. »Wie ist das geschehen?« Diego griff fassungslos nach der Waffe. Sie berichteten uns, stockend und immer wieder von der Erinnerung übermannt. Nach langer Irrfahrt durch den östlichen Teil dieses Ozeans waren sie zunächst halb verhungert an zwei steinernen Inseln unterhalb des südlichen Wendekreises vorbeigekommen. Sie hatten sich zuletzt von Ratten und aufgeweichtem Leder ernährt. Einhundertsiebenundsiebzig Menschen waren noch übrig. Viele starben auf diesem Abschnitt der Fahrt. Etwa vor einem Jahr, am 6. März, hatten 24
sie endlich eine grüne Insel entdeckt. Die Eingeborenen enterten, wie auch bei uns, das Deck und bestaunten in ihrer Neugierde alles, was sie fanden. Sie nahmen mit, was sie tauschen wollten deshalb nannte Maghellanes, der sich das Eigentum mit Feuer und Kampf zurückholte, diese Inselgruppe die Diebsinseln, die Ladronen. Die Reise ging weiter, man konnte sich wieder satt essen, man segelte nach Norden. Viel zu weit nach Norden, völlig falscher Kurs! dachte ich. Warum hat Maghellanes meinen Karten nicht geglaubt? Einer der Leute murmelte: »Er fand einen Brief an Deck. Von Euch, Senor Atlan. Er versuchte wohl, Euren Kurs zu fahren, aber wir kamen niemals an die Gewürzinseln.« »Von den Molukken seid ihr«, sagte Diego aufgebracht, »auch herzlich weit entfernt. Wie ging es weiter?« Ich schwieg und hörte zu. Maghellanes hatte bewiesen, daß die Erde rund war. Er erreichte die Inseln des Südmeeres, verfehlte aber sein Ziel. Statt bei den Unglücksinseln genau nach Westen zu segeln, segelte er nach Nordwesten. Er war mehrmals haarscharf an Inseln vorbeigesegelt, deren Eingeborene wir auf sein Erscheinen vorbereitet hatten. Schließlich erreichte man Inseln, auf denen schon andere seefahrende Völker bekannt waren, die offensichtlich vom Ostrand des Kontinents kamen. Man trieb Handel miteinander. Ein an sich unbedeutender Zwischenfall führte dazu, daß der Portugiese eine Strafexpedition ausrüstete. Es gab Kampf. Die Eingeborenen, falsch behandelt und ausgenutzt, wehrten sich. Beim Rückzugsgefecht starb Maghellanes, von Pfeilen getroffen, in der Lagune. Überall hatte man Gold gefunden. Warentausch wurde betrieben, aber dies konnten nicht die ersehnten Gewürzinseln sein. Man bekehrte die Eingeborenen zum christlichen Glauben, was sinnlos war und sich als verderblich erweisen sollte. Maktan hieß die Insel, auf der Maghellanes starb. Man übergab schließlich, nach großer Verwirrung, das Kommando gemeinsam an Serrano und Barbosa. Duarte Barbosa, ein schlechter Kapitän, forderte Maghellanes’ Sklaven Enrique heraus: schließlich gab es einen zweiten Kampf, in dem Serrano von der TRINIDAD und seinen Kameraden feige im Stich gelas25
sen worden war. Nur noch 150 Männer waren übrig, als die Schiffe weitersegelten. Diese Insel, auf der man sich wohl fühlen konnte, wurde zum Punkt der Entscheidung - man verteilte Männer und Material auf die beiden letzten Schiffe und zündete die CONCEPTION an. Ich drehte mich um; gerade fielen die brennenden Bordwände auseinander. »Und was jetzt?« Diego fragte es laut und sah in die Runde. Die ausgemergelten Männer hoben die Schultern. »Jetzt werden wir die Molukken suchen!« sagte eine dunkle Stimme. Wir wndten uns um. Kommandant Carvalho stand breitbeinig da und musterte uns. »Ihr habt Maghellanes’ Karten, Kommandant?« fragte ich. »Ich habe sie. Und ich kenne auch Eure Ratschläge. Wo finden wir die Molukken, Senor Atlan?« »Ich werde es Euch zeigen«, sagte ich. »Und Ihr solltet diesmal mehr Glauben haben, denn sonst sucht Ihr in alle Ewigkeit nach einer Rückkehrmöglichkeit nach Sevilla. Ein viertes Mal helfe ich nicht.« Ich hatte zum Teil verloren. Nur die Hälfte meines Planes ging auf. Maghellanes’ Tod änderte nichts. Ich ahnte nicht einmal, wie die Schiffe zurückreisen wollten. Ich ging mit Carvalho zu einer Hütte aus Palmzweigen. Dort beugten wir uns über die Karten. Ich zeigte ihnen den einfachsten Weg nach der Inselgruppe der Molukken. Dort konnten sie tauschen, ihre Laderäume füllen und nach Westen segeln. In Sicht der Küsten würden sie dann eventuell, um Afrikas Südküste herum, wieder Spanien erreichen. Ich berichtete über Sternstände, ich sagte ihnen die Positionen anhand der Kompaßmißweisung, und ich schilderte die Inseln, die sie treffen würden. Mehr konnte ich nicht tun. Zischend sanken die Überreste der CONCEPTION ins Wasser und gingen unter. Die Matrosen arbeiteten, um die anderen Schiffe zu überholen und so gut wie möglich auszurüsten. Aber es war nicht möglich, mehr als das Notwendige zu tun; Kräfte und Ausrüstung reichten nicht weit. Die endlosen, erbarmungslosen Wüsten des Ozeans würden die Schiffe wieder aufnehmen. Wie sah das Ende aus? Ich ging zu meinem Boot und versuchte gar nicht, meine Nfederge26
schlagenheit zu unterdrücken. Wir von der TERRA würden unsere Ziele erreichen. Ob es Carvalho schaffte, war zweifelhaft. »Wir gehen zurück«, sagte ich und deutete auf die TERRA, »segeln nach Westen. Bald werden wir auch nicht mehr die Ratschläge Maukis haben!« Der Abschied von den Männern der spanischen Karavellen war kurz. Vielleicht dachten sie, uns niemals wiederzusehen. Dann ruderten wir zur TERRA, die auf uns wartete und, kaum daß wir an Bord waren, den Anker lichtete und davonsegelte. Als wir die Küste einer Insel namens Marotay sichteten, kam Mauki den Aufgang zum Heckkastell herauf und blieb vor mir stehen. Sein Gesicht war ernst. Er deutete mit seinem einzigen Arm auf die dunkle, wie ein flaches Dreieck geformte Insel und sagte leise: »Es ist Zeit für mich, Atlan!« Ich lächelte ihn an und nickte. »Du willst zurück zu Häuptling Aruano. Nach Tafuafau. Ganz allein in deinem kleinen Kanu?« Er hielt seine Karte hoch; in den letzten Wochen und Monaten hatte er viele andere hergestellt. Sie bildeten, in einem nur ihm bekannten Muster aneinandergesetzt, eine Karte, die zwischen Tafuafau und Marotay eine Verbindung herstellte. Das Schiff lag schräg im Wind; wir kreuzten zurück zum Südlichen Wendekreis. Hier sahen wir, verglichen mit den Inseln Polynesiens, andere Küsten, andere, dunklerhäutige Menschen. »Ganz allein. Ich fange Fische mit dem Speer oder dem Rahmennetz. Ich lande und trinke Kokosmilch, trinke Eier aus, fange Vögel und Schildkröten. Ich schlafe im Boot, im Sand, unter den Palmen. Und ich richte mich nach dem Wind und nach den Strömungen. Ich habe Geduld; ich werde eines Tages Tafuafau erreichen. Bei guter Gesundheit.« »Ich glaube dir«, sagte ich. »Wann willst du das Kanu besteigen?« »Morgen früh, wenn ihr weitersegelt, Atlan.« Unzählige leguas hatten wir zwischen uns und Tafuafau gebracht. Wenn er ununterbrochen segelte oder ruderte, sich treiben ließ... Ich dachte die Überlegung nicht zu Ende. Für diesen weißhaarigen, einarmigen Mann galten andere Zeitbegriffe. Die TERRA ankerte vor 27
einer unbewohnten Insel. Ich schickte den Albatros auf einen Erkundungsflug, aber er funkte die gewohnten Bilder zurück: viel Wald, teilweise Dschungel, Quellen, wenige Wildtiere und merkwürdige Laufvögel. Wir brauchten keine Nahrungsmittel oder Frischwasser und verbrachten eine ruhige Nacht. Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, verabschiedeten wir uns herzlich von Mauki, ließen das Kanu ins Wasser, sahen zu, wie er sich darin einrichtete, und winkten so lange, wie wir ihn sehen konnten. Mit Wind und Strömung entfernte er sich nach Südosten. Dieser Abschnitt der langen Reise war beendet. Wir steuerten in südlicher Richtung. Der Wald über den Ufern nahm eine dunkle, drohende Farbe an. Es schien, als ob die unbeschwerten Tage zu Ende gingen. Ich studierte meine Karten; einige Tage später tauchte steuerbords die buchtenreiche Küste der großen Insel auf, die fast direkt, nur durch eine winzige Meerespassage getrennt, an den langen, nördlichen Vorsprung des riesigen Inselkontinents stieß, der wiederum nicht mehr weit vom Südpol, dem sagenumwobenen Kontinent, entfernt war. Wir befanden uns sozusagen gegenüber von Spanien - auf der anderen Seite des Globus. Wir warfen am nördlichen Rand eines ausgedehnten Sumpfgebietes Anker. Auf den fernen Bergen, höher als viertausend Meter, sahen wir zu unserer Verwunderung gewaltige Inlandsgletscher. Neuguinea sollte man diese höchst wundersame Insel später nennen; sie erwies sich als eines der letzten lockenden Reiseziele. Wir mußten daran denken, den Bereich der sicheren Inseln zu verlassen und uns für längere Reisestrecken zu verproviantieren. Schon nach kurzem Flug sah ich auf den Bildern des Vogels Runddörfer mit spitzkegeligen Dächern, teilweise auf Pfählen erbaut. Totempfähle und Netze, Waffen und Feuerstellen, Tanzplätze und abgegrenzte Bezirke, in denen verwilderte Schweine gehalten wurden. Geräuchertes Schweinefleisch konnten wir gut brauchen. Wir entschlossen uns, einen Vorstoß ins Landesinnere zu machen, im September 1521. Fünfzehn Matrosen, Agsacha, Sharma und ich rüsteten ein Boot aus, und wieder beschlich mich das Vorahnen einer undeutlichen Gefahr. 28
Wir verbargen das Boot sorgfältig, nickten uns zu und gingen geradewegs auf den schmalen Pfad zu. »Melanesien, Schwarzinselwelt«, murmelte ich, als wir hintereinander den Pfad betraten. Fünf Schritte vor mir schlich Scarr, mit nassem Fell und aufgeschabten Gelenken, zwischen triefenden Pflanzen einher. »Wir haben nur dunkelhäutige, kleine Menschen getroffen«, sagte Agsacha, der zwischen mir und Sharma ging. Wir hatten die entsicherten Waffen in den Händen; die Schaltung stand auf dem Patronenlauf. Unruhig murmelten die Matrosen, mit Haumessern, Entermessern und Musketen bewaffnet. »Daher dieser Name«, sagte ich. »Hoffentlich begreifen sie, daß wir als Freunde und Handelspartner kommen.« Hier herrschte tropisches Klima. Wir kamen an einer Menge runder Salzpfannen vorbei, in denen Meerwasser verdunstete und Salzkristalle, das einzige Gewürz dieser Erdgegend, zurückließ. Mit den Gewürzen, die das Abendland und auch die Schiffe der Händler des östlichen Kontinentenrandes suchten, konnten die Eingeborenen nicht viel anfangen. Unsere Lagerräume waren zum Teil wohlgefüllt mit Pfeffer, Nelken, Zimt und Ingwer. Sumpf-Taro und Bambus wuchsen hier in großer Menge. »Wann kommt das Dorf, Käpten?« rief jemand von ganz hinten. »Noch eine Stunde!« gab ich zurück. Wir schwitzten. Myriaden Insekten stürzten sich auf uns. Ein Kim, ein total verwilderter Hund, sah Scarr und Scob jaulend, mit eingezogenem Schwanz davon. Wir hielten unter einem Brotfruchtbaum. Eine Riesenschlange sah uns und ließ ihren Körper baumeln; sie war unentschlossen, ob wir Beute darstellten oder ein zu großer Gegner wären. Schließlich ringelte sie sich um einen mannsdicken Ast und verschwand raschelnd zwischen den Blättern. Für meine Matrosen waren dies Wunder und Gefahren; sie erschraken bei jedem dritten Schritt vor einer harmlosen Naturerscheinung. »Selbst hier gibt es Ratten!« Agsacha hob angewidert einen Stein auf und schleuderte ihn dem Tier nach, das quiekend verschwand. 29
Verglichen mit dem sauberen, übersichtlichen Strand der polynesischen Inseln war hier reinster Dschungel. »Nach einem Schluck Rum gehen wir weiter!« entschied ich. Paradiesvögel huschten vor uns her. Insekten tauchten auf, leuchteten in den wenigen Sonnenstrahlen und schossen ruckartig davon. Als wir weitergingen, wurde die Umgebung dunkler. Die Pflanzen bildeten undurchdringliche Mauern auf den Seiten des Weges. Wiederum einige Zeit später schloß sich auch der Raum über unseren Köpfen. Lianen hingen herab und wehende Vorhänge aus Pflanzen mit winzigen grünen und braungesprenkelten Blättern. Wir kämpften uns Schritt um Schritt vorwärts. »Halt!« sagte ich nach einer Weile und deutete nach links. »Was siehst du?« fragte Sharma. Scarrs Sehlinsen verfolgten den schnellen Lauf der Vögel, die über eine Lichtung rannten. Zwischen grünumwundenen Baumstämmen gab es eine Lichtung mit Bambusgras. Dort sahen wir drei Kasuare, die flugunfahigen Vögel. Sie schienen entweder scheu zu sein oder unausgesetzt gejagt zu werden, denn sie rasten in wilder Flucht davon. »Vögel, die nicht fliegen können«, sagte Agsacha leise. »Schießen wir einen?« »Er wird ungenießbar oder zäh sein; laß es!« gab ich zurück. Die Kasuare duckten ihre Köpfe und verschwanden unter herunterhängenden Lianen. Wir stolperten weiter und glitten im Schlamm des Pfades aus. Unsere Stiefel starrten bis zu den Knien vor Dreck. Nfemand zeigte sich, aber wir hatten das Gefühl, als ob uns Augen aus dem Dickicht heraus beobachteten. Hin und wieder ertönten geheimnisvolle Schreie. Wir konnten nichts erkennen, bis wir am Ende eines kleinen Tales aus dem Dschungel auf eine überraschend weiße, saubere Kiesfläche hinaustraten. »Das Dorf!« Agsacha bewegte sich unruhig. Es schien ausgestorben zu sein. Wenn die Bewohner sich \ersteckt hatten oder geflohen waren, dann vor kurzer Zeit; zwischen den Pfahlbauhäusern brannte noch ein Feuer mit fadendünner Rauchsäule. Wir traten aus der stinkenden Nässe des Dschungels ins Sonnenlicht und die Wärme. Vom 30
anderen Ende des Tales, das sich zu einer runden Ebene weitete, kam ein kühler Lufthauch. »Zähle ich die Hütten zusammen, dann ist der Stamm sehr zahlreich«, meinte ich leise. »Wo sie sich versteckt haben? Wir waren nicht gerade leise, aber daraus sollten sie erkannt haben, daß wir uns offen, ohne Feindschaft nähern.« Zögernd betraten wir den Dorfplatz. Alle Menschen, die wir bisher getroffen hatten, waren ohne die Kenntnis der Schrift gewesen. Auch hier? Sie kannten durch mündliche Überlieferung ihre Geschichte, nach der vor rund fünf Jährhunderten die Inseln besiedelt worden sein sollten, aber sie kannten keine anderen Zeugnisse als gewisse rituelle Waffen, die vererbt wurden, die feinen Schnitzereien an den Hauseingängen, Ahnenkulte und ähnliche Traditionen. Dieses Stammesdorf besaß mehrere Totems, wie die riesige, weißgestrichene Säule bewies. Ehen unter Angehörigen des gleichen Totems wren als Blutsverwandtschaften unmöglich; handelte jemand dagegen, wurde er bestraft, meist mit dem Tod. Totemzugehörigkeiten vererbten sich. Diese Einzelheiten und viele andere hatte ich von vielen Häuptlingen erfahren. »Wir warten hier, für jeden sichtbar!« entschied ich. Um das Feuer lagen Süßkartoffeln. Sagopalmen wiegten sich zwischen den Hütten. Die dicken runden Dächer waren von Vogelkot beschmutzt. Aus dem Gehege hinter den Hütten kamen die grunzenden und quiekenden Laute zahmer oder halbwilder Schweine. Netze waren zum Trocknen aufgespannt. Noch immer zeigte sich niemand. Einer meiner Männer wollte sich dem Totempfahl nähern; ich rief laut: »Zurück! Nichts anrühren. Ihr wißt, wie heilig die Totems sind. Wir warten, bis die Bewohner sich zeigen.« Einige Männer setzten sich auf den Boden. Wir standen und saßen in einer kleinen Gruppe. Die Blicke gingen suchend umher; wir konnten nicht überrascht werden, weil sich niemand in unseren Rücken schleichen konnte. Nur die Geräusche des Dschungels und der Ton schnell fließenden Wassers. Gespannte Stimmung erfüllte uns. Pfeile konnten plötzlich heranzischen, Muschelbeile konnten ge31
schleudert werden. Plötzlich stieß mich Sharma an, die sich ebenso unbehaglich fühlte. »Dort drüben, Atlan!« Ich folgte mit den Augen ihrem ausgestreckten Arm. Dann nickte ich ihr zu, schaltete mein Abwehrfeld ein und ging, beide Arme bis in Schulterhöhe erhoben, die Handflächen nach außen gekehrt, auf das etwa fünfjährige Kind zu, das sich losgerissen hatte und mit großen Augen und auf krummen Beinen mitten auf das Feuer zulief. Als mich der nackte, braune Junge sah, blieb er stehen und starrte mich an, lachte laut auf. Ich ging in die Knie, streckte einen Arm aus, und der Kleine legte seine Hand in meine. Dann lachte er ein zweites Mal, griff nach meinem blitzenden Amulett, dem Aktivator, und begann damit zu spielen. Das brach den Bann. Plötzlich waren überall Menschen. Sie waren primitiv, aber schwer bewaffnet. Ein kleiner, schlanker Mann mit einem dünnen, fast nur aus Muskeln bestehenden Körper und einem verzierten Stück Bambusrohr im Ohrläppchen kam auf mich zu. Sein Körper war von Narben bedeckt. Ich ließ den Kleinen zu Boden gleiten, stand auf und hob wieder die rechte Hand, deutete auf mich und sagte laut: »Atlan!« Er nickte, deutete auf die Häuser und die anderen Männer und Frauen, die nun zwischen den Büschen auftauchten, sich aus den dunklen Eingängen der Hütten drängten und aus vielen Verstecken kamen. Ich zählte mehr als zweihundertfünfzig. Dann sagte der Mann in einer kehligen Sprache: »Areka-Areka.« Er betrachtete mich intensiv, schweigend, so wie ich ihn. Wir musterten uns lange, dann erkannte er, daß ich ein Mensch wie er war, nur größer, von anderer Haut- und Haarfarbe und mit Augen, die er nicht genau definieren konnte. Rötliche Augäpfel statt weißer. Sichtlich interessierte ihn unsere Kleidung. Schließlich deutete er auf die langläufige Waffe in meinem Gürtel, und ich z)g sie heraus. Er bedeutete mir, daß dies ein Schädelbrecher sein konnte, und ich machte die Geste des Finger-in-die-Ohren-Steckens. Er begriff. Ich zielte auf einen Vogel, der über das kreisförmige Stück Himmel flog. Das Rohr ging mit, und als das Tier in der Mitte der blauen Fläche war, drückte ich ab. Der Knall donnerte über die Lichtung. Gewaltiges Geschrei 32
erhob sich, als der blaurote Vogel mitten im Flug zusammenzuckte, wild mit den Schwingen schlug und dann senkrecht zu Boden fiel, dicht neben das Feuer. Areka und ich lachten uns an, dann schob ich die Waffe zurück. Ich versuchte ihm klarzumachen, daß wir einige Schweine tauschen wollten. Wir hatten Spiegel, Messer und Äxte mitgebracht. Einige Matrosen demonstrierten deren Anwendung. Es gab eine Menge Geschrei und Schrecken, wenn sich die Eingeborenen plötzlich erkannten, wenn sie ihre Gesichter scharf vor den Augen sahen. Erstaunlich schnell begriffen sie, wozu Messer zu gebrauchen waren und Beile. Komplizierte Pantomimen folgten, dann schilderte Areka, daß wir hierbleiben sollten. Und er wollte alle Beile und Messer haben. Er wollte uns dafür Schweine geben, aber nicht viele; sie seien Tiere für die ritue llen Opfer. Aber er würde seinen Stamm mit Stellnetzen und Speeren ausschicken, um wilde Schweine zu fangen. Solange sollten wir bleiben. »Wo?« wollte ich wissen und vollführte entsprechende Gesten. Du weißt nicht, ob es Areka ehrlich meint! meldete sich der Extrasinn. »Einige Familienhütten sind frei!« verstand ich schließlich. Die Sprache war einfach, aber es würde eine Weile dauern, bis ich sie genügend gut sprach. Konnten wir riskieren, in diesem Dorf zu bleiben, dessen Zugangswege versteckt waren, um Feinden keinen Hinweis zu geben? Ich ging eine Weile umher und entdeckte in einer großen Hütte eine Sammlung Totenschädel. Am Rand des Dschungels trieben jüngere Leute schreiend zwei Greise und eine Greisin mit Stockschlägen vor sich her. »Ahnenkult?« fragte ich mich laut. Wir hatten eine Landschaft der Steinzeit betreten: Entweder blieben wir kurz und schleppten die Schweine zum Schiff, oder ich versuchte, meine Neugierde zu befriedigen, und setzte meine Mannschaft, Sharma und mich einer unbekannten Gefahr aus. Dann dachte ich an unsere getarnten Waffen, an den Albatros und Scarr, an den Schutzschirm, den ich einschalten konnte - und entschloß mich schnell. »Wir bleiben zwei Tage!« entschied ich. »Kommt zu mir her, Leute!« 33
Wir erklärten dem Häuptling, dessen Körper über und über mit Linien und Schlangenmustern von Schmucknarben bedeckt war, daß wir seine Einladung annehmen und zweimal übernachten würden. Er möge uns eine Hütte zeigen. Er verstand und winkte uns, wir folgten. Am östlichen Ende des Dorfes zeigte er uns eine große Hütte mit reichgeschnitztem Eingang. Sie stand auf dicken Pfählen; eine Steigleiter führte zur Wohnplattform. Wir bedankten uns. »Zuerst die Jagd!« wurde uns erklärt. »Dann ein Fest für alle, mit Tanz und Tabak. Dann einige kultische Handlungen. Dann Begleitung zurück zum Großen Kanu!« Es klang zufriedenstellend. Ich schickte Scarr vor. Er kletterte hoch, raste schnüffelnd durch das Haus und fauchte schließlich seinen Kodelaut. Das Haus war ohne Fallen. Hoch über uns zog der Albatros seine Kreise. Die Matrosen und Sharma gingen ins Haus, um sich auszuruhen; Agsacha und ich wanderten durch das Dorf und sahen uns um. Eine Reihe bizarrer, ungewöhnlicher Bilder zog an uns vorbei. Frauen, weniger tätowiert als die Männer, rauchten Tabakblätter aus Bambusabschnitten und grinsten uns scheu an. Wir sahen, daß bei vielen von ihnen Fingerglieder fehlten; sie schienen abgehackt oder abgeschnitten worden zu sein. Ich unterhielt mich stockend und lernte schnell - schließlich konnte man uns begreifbar machen, daß beim Tod eines Verwandten jeweils ein Fingerglied abgehackt wurde, »Das ist ein dunkler, sehr böser Ort«, sagte Agsacha zögernd. Sein Gesicht drückte Abwehr und Mißtrauen aus. »Wir sollten gehen, so schnell wie möglich.« »Wir würden sie dadurch beleidigen und ihren Zorn hervorrufen«, wandte ich ein. »Du hast recht. Es kann eine Falle sein, Atlan. Wir werden aufpassen müssen.« Areka sammelte seine Männer. Schließlich kam er, etwa dreißig verwegen aussehende Jäger mit Bögen und ungefiederten Pfeilen hinter sich, auf uns zu. Er bedeutete uns zu warten, bis sie heute vor Sonnenuntergang zurückkämen; zehn Schweine wollte er fangen. Wir sahen der Karawane nach, bis sie im unwegsamen Dschungel 34
verschwunden war. Sie gingen in die Richtung der eine Stunde Weg entfernten Felder, zu denen versteckte Wege führten. Ich kannte die Luftaufnahmen. »Einige Krieger weniger - Gefahr geringer!« sagte Agsacha zufrieden. Wir gingen weiter. Die Aufregung schien sich gelegt zu haben, denn außer verstohlenen Seitenblicken wurden wir nicht sonderlich angestaunt. Das Leben des Dorfes wurde an dem Punkt fortgesetzt, an dem wir es durch unser Erscheinen unterbrochen hatten. Trotz allem: Es herrschte eine niederdrückende Stimmung, die kommendes Unheil zu signalisieren schien. Wir fanden heraus, daß es verschiedene Arten Häuser gab, von denen abgesehen, in deren dunklen Räumen, durch Bastfacher abgetrennt, Großfamilien lebten. Ein Haus für die unverheirateten Männer, eines für Greise, für die Ahnenschädel, die auf bunt bemalten Brettern standen, mit Linienmustern und Blattornamenten verziert und höflich lächelnd - so wirkten sie. Die ganze Welt dieser Menschen war vom Glauben an die neidischen Ahnenseelen erfüllt und zudem von einer Götterwelt, die reiner Animismus war: Jedes Ding der Umwelt war personifiziert mit einer Gottheit. Es gab sogar ritue 1les Geschirr und Gabeln für die Feinde, die man verzehrte. Blutrache und Kannibalismus waren tägliche Vorkommnisse. Schließlich hatten wir unseren Rundgang beendet, und ich begann, die gelernten Wörter in ein System einzubauen heute nacht würden wir uns besser unterhalten können, aber vermutlich schlecht schlafen. Ich kletterte ins Haus. Agsacha setzte sich mit der Waffe über den Knien neben den Eingang. »Was hast du erfahren, Atlan?« fragte Sharma. »Vieles«, sagte ich. »Wir sind in einem anderen Land als gewohnt. Hier gibt es kaum Ähnlichkeit mit den hellhäutigen Menschen der polynesischen Inseln.« »Sie müssen sogar die Frauen kaufen«, sagte Sharma. »Junge Männer arbeiten lange, um sich eine Frau leisten zu können. Sie verwenden Muschelgeld.« »Das ist auch in Spanien üblich«, murmelte jemand aus der Besatzung. Das Innere des Hauses zeugte von einer Kultur, die sich auf 35
wenige Materialien beschränkte, sie aber mit größter Delikatesse bearbeitete. Ich legte meinen Kopf auf eine feingeschnitzte Bank, streckte mich auf der geflochtenen Matte aus und sah die Moskitosäcke an, die säuberlich zusammengerollt waren. Es gab sogar eine Feuerstelle aus Lehm, inzwischen zu Ton gebrannt. »Was tun wir?« »Ganz einfach«, antwortete ich. »Wir warten auf die Schweine und das Bratenfest.« Mich erfüllten viele unvereinbar heftige Gedanken. Handel und Tausch waren gute Möglichkeiten, alle unbekannten Gebiete dieses Planeten zu besuchen. Durch Handel konnten sich die Menschen treffen, konnten die wichtigsten Ergebnisse von Zivilisation und Kultur austauschen. Noch immer stand am Ende meiner vielen Bemühungen der Wunsch, entweder ein gelandetes Schiff zu finden oder zu warten, bis die Bewohner ein Raumschiff bauen konnten. Bis zum Start dieses Raumschiffes würde ich noch lange warten müssen. Der Beweis: Hier herrschte eine steinzeitliche Kultur, während Männer wie Kopernikus sich um kosmische Erkenntnisse bemühten. Während man in den Ländern zwischen Nordpol und Großer Wüste Menschen verkaufte und kaufte, aß man hier Menschen. Seefahrer weigerten sich, nach Raumaufnahmen ihren Kurs zu steuern, und starben bei der Überwindung riesiger Entfernungen. Und wir Weltumsegler, die nichts anderes brauchten als etwas Fleisch, begaben uns in Lebensgefahr wenigstens sah es so aus. Aber wir, mich eingeschlossen, hatten unseren Horizont vergrößert und konnten, zurückgekehrt, von der Reise und ihren Wundern berichten und mithelfen, die Welt kleiner zu machen. Tausend verschiedene Sprachen herrschten auf diesem barbarischen Planeten, und hinter den Lehmmasken der Eingeborenen \erbargen sich unberechenbare Charaktere. Die Reise der fünfzehnhundert Tage würde uns reich machen und mich als erholten Mann zurückkehren lassen; ein Teil Bitterkeit und Resignation war verschwunden. Ein anderer würde folgen, wenn wir endlich entlang des Äquators und der Küsten nach Spanien zurücksegelten. Ich mußte eingeschlafen sein; langgezogenes Geheul weckte mich gegen Sonnenuntergang. Ich setzte mich auf. Der breite Rücken Agsachas, 36
in ein Wams aus metallverstärktem Leder gehüllt, verdeckte den Eingang. »Agsacha! Was ist los?« Ich blieb neben ihm auf der hölzernen Terrasse stehen, einem Vorsprung, der auf drei Seiten um das Pfahlhaus lief. »Tote Männer, tote Schweine und jede Menge Wehgeheul!« sagte er und deutete nach unten. Areka kam mit seinen Männern zurück; als ich erkannte, was vorgefallen sein mußte, hörte ich das Wehklagen der Frauen und die stöhnenden Schreie der Männer. Die Jäger trugen an durchhängenden Stangen elf große graue Wildschweine. Zwischen den Schultern von tätowierten Männern hingen tote Jäger dieses Stammes; ich erkannte es an der Form der Schmucknarben. Zwei Gefangene wurden mitgeführt und mit Stößen und Tritten vorwärts geschoben und gezerrt. Als der Stamm, in Eile zusammengeströmt, diese Gefangenen sah, kannte das Geschrei keine Grenzen mehr. Es schwoll zu einem gewaltigen Heulen, Kreischen und Jammern an. Areka drehte sich um und rief aus der Menge zu uns herauf: »Wir sind überfallen worden.« Ich verstand nicht jedes Wort; der Sinn war klar. Was folgte, zählte zu den bösen Erinnerungen, die wir auf die Heimfahrt mitnahmen. »Scarr!« Der schwarze Gepard sprang auf den Boden und wartete auf mich. Ich legte die Hand auf den Griff der Waffe und ging auf die Menge zu. Die Leute bildeten eine Gasse, und Areka schrie und schnatterte ununterbrochen. Die Frauen banden die toten Schweine los und begannen, sie aufzubrechen, ihnen die Schwarte abzuziehen und sie zu zerteilen. Holz wurde ins Feuer geworfen. Je mehr Tageslicht schwand, desto höher loderten die Flammen. Areka drängte sich zu mir durch und erklärte: »Überfall! Wir liegen in Blutrache mit dem Stamm Dene-Orak. Wir haben zwei Feinde; wir sie heute kai-kai.« Kai-kai bedeutete »essen«. Man verzehrte die Gegner, um deren besondere Eigenschaften aufnehmen zu können. Die schnellen Füße, das scharfe Auge, der gute Bogenschuß... diese Fähigkeiten erbte 37
man. Ich entschloß mich, diese Scheußlichkeit zu verhindern, wenn ich es konnte. Schon drehten sich die Schweine über dem Feuer. Ich rief meine Leute zusammen, nahm Sharma in den Arm und erklärte ihnen: »Die Lage verschärft sich. Die Eingeborenen sind aufgeregt, halb wahnsinnig. Wir tauschen, sobald die Schweine gebraten sind, die Beile und Messer und ziehen uns in Richtung Pfad zurück. Niemand unternimmt etwas - sie sind gereizt und können uns (bewältigen, dann gibt es ein Blutbad. Verstanden? Ich gebe das Signal zum Aufbruch.« »Verstanden.« Agsacha blieb dicht neben mir. Wir verhandelten mit Areka, und eine Anzahl von Beilen, Messern und Entermessern wechselten die Besitzer; die ersten eisernen Gegenstände auf dieser Insel. Der Punkt, an dem der gewundene Pfad den Dschungel durchschnitt, war bekannt - dorthin würden wir uns zurückziehen. »Was planst du, Atlan?« flüsterte Sharma. »So schnell wie möglich weg!« sagte ich. »Du kennst meine Waffen, Sharma. Agsacha wird dich mitnehmen. Ich verteidige unseren Rückzug.« »Ja-a!« murmelte sie zögernd. Nun bildete sich in der Masse der Eingeborenen eine Gasse. Je vier Jäger führten die gefesselten, wild um sich schlagenden Gefangenen durch das Dorf. Am Fuß der Totemsäule waren vier, nein, sechs schenkelstarke Holzpfosten in den hartgestampften Lehmboden gptrieben worden. Mit roher Gewalt wurden die Gefangenen auf den Boden geworfen. Männer sprangen hinzu und fesselten Handgelenke und Fußknöchel an die Pfähle. Die zwei Männer, aus zahllosen kleinen Wunden blutend und bespuckt und schmutzig, wurden angepflockt, man straffte mit Holzknebeln die Fesseln und erreichte dadurch, daß sich die Männer nicht mehr rühren konnten. Plötzlich war alles still, unheimlich ruhig. Nur die Geräusche des Dschungels und das Knistern des Feuers, das Millionen von Insekten anzog, waren deutlich zu hören. Areka trat vor und sagte langsam: »Wir haben getauscht - große Freude, weißhaariger Mann?« 38
Ich nickte und erklärte: »Zufrieden, Areka. Diese Männer sterben... wann?« »Nach dem Fest! Wir feiern bald. Ihr alle Gäste des Stammes.« Zischend tropfte das Fett der gebratenen Schweinestücke ins Feuer. Es roch appetitanregend, aber in diesen Stunden mangelte es uns an der rechten Freude an einem Bratenfest. Das Dorf war in Rotglut getaucht. Riesige Blüten an den Bäumen sahen wie Augen auf die Menschenmasse, die zwischen Treppen und Pfählen, Netzen und unzähligen Werkzeugen hin und her wankte wie schmutziges Wasser in der Ebbe. Die Kinder krochen zwischen den Beinen der Mütter herum und schrien jämmerlich - man brachte sie zum Verstummen. Eine lautlose, intensive Unruhe hatte alle Menschen ergriffen. Auch uns, eine Unruhe, wie sie einem Ausbruch pseudoreligiösen Wahnsinns vorausging. »Was geschieht jetzt, Atlan?« murmelte Agsacha fragend. Ich sah aus dem Augenwinkel, daß man aus dem Versammlungshaus des Männer-Geheimbundes die Musikinstrumente schleppte und im Halbkreis vor dem Feuer, dem Totempfahl und den Gefangenen aufstellte. Jedesmal, wenn ein Stückchen Glut aus dem Feuer sprang und auf einem der Körper landete, stießen die Gefangenen spitze Schreie aus. Wir fühlten uns wie eingeschlossene Tiere, in einer Menschenmasse eingekerkert. Eine Schar halbzahmer, gemästeter Schweine wurde durch die Menge getrieben. »Wir warten. In kurzer Zeit haben wir unser Fleisch«, sagte ich leise. »Wir müssen bereit sein, die Lähmstrahler einzuschalten.« Der Blick des Häuptlings irrte vom Feuer ab, wo die Frauen inzwischen Fleischstücke abnahmen und in frisch gewaschene Bananenblätter einwickelten. Die stechenden Augen hefteten sich auf mein Amulett, das zwischen den Rändern des Wildlederhemdes baumelte. »Dein Totem?« Ich nickte. »Was verleiht es dir?« »Schnelligkeit der Gedanken und Erfindergeist«, sagte ich. »Aber es wirkt nur bei Menschen mit heller Haut, Areka.« Er wandte sich ab. Agsacha schwitzte; seine Augen gingen umher wie die eines Sperbers. Er ging um unsere Gruppe herum wie ein 39
Wachhund. Ich fühlte den Druck des schweren Robotkörpers Scarrs an meinem Knie. Wie erging es inzwischen der TERRA? »Dieses Warten!« Agsacha knetete seine Finger. »Worauf warten wir? Dieses Warten wird uns umbringen! Wir werden angegriffen und wegen unserer Hautfarbe gegessen oder wegen der Größe, was weiß ich! Hätten wir doch nie die Planken verlassen!« »Noch kein Grund zur Aufregung, Agsacha!« beruhigte ich ihn. »Männer - holt die Pakete und bildet mit Hilfe von Bastschnüren Tragelasten! Wir wollen das Fleisch nicht zurücklassen.« Die Männer verstanden und bewegten sich vorsichtig auf das Feuer zu. Dort ließen sie sich von den Frauen helfen. Ein unheimlicher brummender Ton lag nunmehr in der Luft. Es klang, als ob man eine gigantische Hornisse eingesperrt habe und sie bis zum Wahnsinn reizte. Alles geschah, um unsere Nervosität einem unheimlichen Höhepunkt entgegenzutreiben. Ich fühlte, wie ich inruhiger, gespannter wurde. Wenn sich jetzt jemand zu einer Unbesonnenheit hinreißen ließ, detonierte die aufgestaute Wut. Die Trance von uns allen lahmte unsere Gedanken. Ich bahnte mir einen Weg zu meinen Männern und wies sie an, am rechten Ende des Halbkreises zu warten in direkter Nähe zum Dschungel. Dort, woher wir gpkommen waren. Sie verstanden, beluden sich mit den schweren, dampfenden Paketen und kauerten sich zu Boden. Wir spürten die kranke, wirre Masse unartikulierbarer Leidenschaften. Sie beherrschten im Augenblick dieses Dorf, beherrschten darüber hinaus Teile der Welt, hielten Menschen in ihrem Bann und machten wahren Fortschritt unmöglich oder zögerten ihn endlos hinaus. Das Brummen unsichtbarer Schwirrhölzer riß nicht ab. Männer und Frauen kamen aus den Hütten und hatten Rasseln und Klappern an den Gelenken ihrer Körper befestigt. Jemand schlug mit zwei Schlegeln einen unregelmäßigen und unverbindlichen Rhythmus auf der riesigen Schlitztrommel, einem großen Baumabschnitt. Schweine rasten aufgeregt kreischend zwischen den Gruppen der Eingeborenen umher. Wir standen unschlüssig da. Agsacha zog mich und Sharma in die Richtung unserer Gruppe. »Weg vom hellen Licht!« mahnte der Freund. 40
Etliche Krieger rannten herum und hielten lange, schwere Knüppel in den Händen. Jemand warf einem Schwein eine Schlinge über, dann schlugen die Männer die Schweine tot. Sie taten es ohne jedes System, langsam und mit grimmigem Gelächter. Das Schreien und Quieken der sterbenden Schweine mischte sich mit dem Trommeln und dem Brummen. Diesen Menschen fehlte behutsame Einstellung zum Leben und noch mehr: zum Tod. Die anderen Tiere wurden geradezu tobsüchtig vor Panik und schossen ziellos im Zickzack hin und her. Ein Tier raste auf die gpfesselten Gefangenen zu, trampelte auf ihnen herum, rannte dann geradewegs durchs Feuer und kam, qualmend, schreiend und widerlichen Gestank verbreitend, aus der Glut hervor. Frauen sprangen zur Seite; einige Jäger setzten dem lier nach. Wir waren sprachlos vor Verwunderung und Entsetzen. Sanduhrförmige Membranophone wurden herangetragen und aufgestellt, während die letzten Schweine kreischend und zuckend starben. Dann erschlug man noch einige der gemästeten Hunde. »Sie fressen Hunde. Pfui!« murmelte ein Matrose und spuckte angewidert aus. »Und Insekten, selbst Würmer.« Ich sah noch mehr. Junge Frauen von sehr geringer Schönheit schleppten einen Flechtkorb herbei, in dem Lehm oder Erde angehäuft war. Die Eingeborenen stürzten sich darauf und begannen, kleine Mengen des Erdreichs zu essen. »Was bedeutet das, Atlan?« flüsterte Sharma voller Entsetzen. Sie vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter. Dies war Geophagie; der Genuß von Erde. »Vielleicht essen sie die Erde wegen der Mineralien. Oder aus rituellen Gründen. Ich weiß es nicht.« Hunde und Schweine wurden zerstückelt und ans Feuer gebracht. Schwirrhölzer, aufrechtstehende Schlitztrommeln und kleine Handtrommeln lösten einander ab. Es klang, als ob Musiker ihre Instrumente stimmen würden. Die musikalische Untermalung des »Festes« hatte noch nicht begonnen. Inzwischen war es tiefe Nacht geworden. Man schleppte, anscheinend ohne jedes System, andere Gegenstände 41
herbei, jetzt zum Beispiel reich geschnitzte Baumstümpfe. Wir standen nach wie vor in einer geschlossenen Gruppe zusammen - abseits. Unsichtbare Flöten, zum Teil offensichtlich mit der Nase geblasen, erklangen. Sie schienen nicht für die Blicke der Kinder und Frauen bestimmt zu sein, denn weder ihre Musiker noch diejenigen, von denen die Schwirrhölzer betätigt wurden, zeigten sich. Die Sinfonie des Schreckens spielte mit vielen Instrumenten. Der Dschungel schien atemlos zu lauschen; das verborgene Tal war von Lärm und vielfaltigem Gestank erfüllt. Eine riesige Welle schwarzer Gesichter und aufgerissener Augen, schattenwerfender Schmucknarben und spitzer Zähne bewegte sich rund um das Feuer. Schwarze Arme fuchtelten. An den Gelenken klapperten und rasselten die Muscheln und die hohlen Holzstücke. Es war das Inferno. »Wir müssen zurück. Ich werde sonst wahnsinnig«, sagte Agsacha laut. Ich sah ihm an, wie er nach einem Ausweg suchte. Er war kurz davor, die mühsam behaltene Beherrschung zu verlieren. Ich konnte ihn verstehen, aber meine Hand grub sich hart in seine Schulter. Ich sagte in scharfem Befehlston: »Du tust nichts ohne meinen Befehl, Agsacha! Wir bleiben noch. Außerdem kommt der Häuptling mit zehn Kriegern auf uns zu. Bleib ruhig - wir haben überlegene Waffen.« Gleichzeitig aktivierte ich ein neues Programm des Albatros. Er sah jetzt mit Infrarotaugen und peilte sich auf uns als Zielgruppe ein. Geriet einer von uns in Gefahr, würde er nach einem variablen Programm handeln - wie auch der Robotgepard. Areka winkte und sagte betont: »Zwei Männer von uns gestorben. Wir hacken Finger ab. Dann wir bestrafen den Überläufer.« »Wie?« fragte ich verblüfft. Offensichtlich ist jemand aus dem eigenen Stamm zu den Feinden übergelaufen, sagte der Extrasinn. Areka »erklärte« es mir. Ich als Fremder solle die Ehre haben, den tödlichen Schuß abzugeben. Sie wollten den Überläufer hinrichten. Hinrichten, obwohl er nicht hier war? Ich verstand nichts. »Wir machen Adath!« verkündete Areka eifrig. »Und wir werden Totems tauschen, Fremder!« 42
Mit einem schmutzigen Finger deutete er auf meinen Zellaktivator. Ich schüttelte langsam den Kopf. »Komm, sieh zu und warte!« Der Häuptling drehte sich um und stolzierte hinter seinen narbentätowierten Kriegern davon. Zwei junge Frauen wurden herangebracht. Der Feuerschein fiel auf ihre entrückten Gesichter. Sie hoben die Hände hoch, um allen zu zeigen, daß einige ihrer Angehörigen gestorben waren; mehrere Fingerglieder fehlten. Krieger mit Schilden und Speeren, Schädelbrechern und Pfeilköchern, die Bogen in den Händen, führten die Frauen im Bastrock an einen aufrechtstehenden Baumabschnitt. »Sie... tatsächlich! Sie hacken ihnen die Finger ab!« schrie ein Matrose und wollte sich auf die Krieger stürzen. Wir hielten ihn zurück. Eines unserer getauschten Entermesser fuhr blitzend herunter. Ein weiteres Fingerglied war abgetrennt worden. Das Mädchen schien keinen Schmerz zu kennen oder im Augenblick keinen empfunden zu haben. Mit Blättern wurde der blutende Finger verbunden, dann brachte man das Mädchen zurück in die Hütte. Alles wurde still. Die Trommelschläge ließen nach, als das zweitemal ein halber Finger abgetrennt wurde. Die blutenden Glieder flogen ins Feuer, über dem Bananen, irgendwelche Fladen und das Fleisch der Schweine und Hunde brieten. »Ich werde wahnsinnig! Wohin hast du uns geführt, Atlan?« keuchte Agsacha. Ich nickte und hob die Schultern. Ich mußte zugeben: »Niemand konnte das wissen. Ich sehe ein, daß wir auf der falschen Insel gelandet sind. Aber wir werden diese Hölle auch heil überstehen. Mitten in der Nacht stehlen wir uns davon.« Das lämmerartige Blöken aus Hunderten von Frauenkehlen setzte ein, als sich die Einwohnerschaft des Dorfes formierte. Wir sahen, daß man die Kinder und die Jugendlichen weggebracht hatte. Mehr als zweihundert Erwachsene tummelten sich, bildeten zwei Kreise. Einer bestand aus Männern, der andere umfaßte die Frauen. Viele Krieger schienen zu fehlen ich hatte vorhin mehr Menschen schätzen können. »Was tun sie jetzt, diese wahnsinnigen Insulaner?« fragte jemand. 43
»Hält’s Maul und hör zu!« rief ein anderer Matrose grob. Flöten und Schwirrholz, Rasseln, Klappern und Trommeln setzten mit aller Stärke ein. Es war nicht die Spur einer Melodie, dafür aber ein mitreißender Rhythmus zu erkennen. Ich ertappte uns, wie wir mit den Fingern und Zehen den Takt mitschlugen. Das dauerte etwa zehn Minuten, dann setzten sich die Tänzer in Bewegung und stampften den Boden, klatschten in die Hände und stießen Laute aus, die wie Bellen oder Husten klangen. Die Kreise drehten sich gegeneinander, mit ermüdender Monotonie, immer wieder, weder schneller noch langsamer. Die Musikanten arbeiteten, als würde sie jemand mit der Peitsche antreiben. Chaotischer Radau breitete sich aus und schien den Dschungel zu erschüttern. Hohe, jammernde Schreie, fremd, geheimnisvoll und scheinbar aus gemarterten Kehlen stammend, drangen aus dem umliegenden Wald. Der Tanz dauerte lange, und er war, verglichen mit denen, die wir häufig miterlebt hatten, von geradezu unglaublicher Primitivität. Ihr könnt noch nicht fliehen! sagte der Extrasinn plötzlich. Die Krieger beobachten euch. Die Bäume am anderen Ende der Lichtung schienen sich wie ein gewaltiger grüner Vorhang zu teilen. Ein feierlicher Umzug näherte sich den Tanzenden, die nun zwei Reihen bildeten, die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite der Krieger. Bambusfackeln leuchteten, zitternde Flammen mit langen, quirlenden Rußfäden. Zwischen den Ästen sahen wir die Spitzen von vielen Speeren und die auffallende Bemalung der Schilde. Die Männer trugen Lehmmasken. Der Häuptling führte sie an. Zwischen den Reihen der nackten, rituell bemalten Krieger schritt eine phantastische Gestalt einher. Sie war in Hunde- und Beuteltierfelle gehüllt und trug leuchtende Verzierungen aus den winzigen Federn kleiner Vögel. Mit stolperndem Tanzschritt löste sich die Gestalt aus den Reihen und tanzte bis zum Feuer. Sämtliche Instrumente schwiegen, nur noch die brummenden Schwirrhölzer arbeiteten wie besessen. »Komm zu mir, Fremder!« schrie der Häuptling und winkte mit dem Schild. Ich sah meine Waffe an, schob sie zurück und ging ruhig durch die Menschenmenge. Wieder durchlief der Schauer einer geordneten 44
Bewegung das Volk. Es zog sich bis vor die Hütten zurück. Zwischen den etwa dreißig Kriegern, dem Totempfahl, den Gefangenen und dem Hundefleisch entstand ein freier Raum. In Spiralen und Schleifen tanzte der Vermummte hin und her, hob die Arme und warf die Beine nach allen Seiten. »Was ist zu tun?« fragte ich. »Adath! Wir töten den Verräter!« sagte Areka dumpf unter seiner scheußlichen Maske hervor. Zwei Parteien. Alle sahen atemlos zu. Wieder setzten die übrigen Instrumente ein. Die Krieger verteilten sich in einem weit geschwungenen Halbkreis. Der Häuptling und auf sein Geheiß auch ich reihten uns in den Kreis ein. Jemand kam aus der Dunkelheit und reichte mir einen langen Bogen und einen Pfeil; reichverzierte, rituelle Waffen. Eine Menge unsichtbarer Fäden schien den vermummten Tänzer und die Krieger, mich eingeschlossen, zu verbinden. Unsere Blicke und Gedanken wurden wie von Schwarzer Magie angezogen. Auf einem Pfahl, der in der Zwis chenzeit in den Boden gerammt worden war, steckte ein hämisch lachender Totenschädel, völlig weiß und poliert. Die zuckenden Flammen brachen sich daran. Der Tänzer vollführte einige Bewegungen und begann, seine Vermummung abzustreifen. Sobald er ein Kleidungsstück ausgezogen hatte, hängte er es auf den Pfahl, und zwar derart geschickt, daß ein getreues Abbild von ihm entstand. Schließlich, als die Menge zum letztenmal gschrien hatte, warf er seinen Federmantel ab und deckte ihn über die »Schultern« der Figur. Wieder stimmten die Weiber ihr Gebrüll an. Die Männer antworteten in einem dunklen, stoßweise vorgebrachten Chor. »Werft die Speere! Speert den Verräter! Stoßt zu!« »Speert ihn! Tötet ihn! Macht Adath mit ihm!« Ich sah mich um. Die Krieger hoben die Speere, während der Tänzer sich in den Schutz der Totemsäule flüchtete. Die Trommeln, Pfeifen und Schwirrhölzer vollführten einen rasenden Lärm. Ich tat es den Kriegern nach und legte den Pfeil auf die Bogensehne. Die ersten Speere flogen; die meisten bohrten sich in die schlaffen Kleidungsstücke am Pfahl. Ein Speer blieb in der Bauchgegend der Pup45
pe stecken, ein anderer schoß fauchend neben dem Handgelenk eines der Gefangenen in den Boden. Dann wieder ein Doppelchor: »Schießt die Pfeile...!« Wir schossen. Kräftige Arme zogen die Sehnen aus. Die Bögen spannten sich, und die Pfeile schwirrten von den Sehnen. Die Sehnen schlugen gegen die Armgelenke und schürften sie auf, wo keine Bandagen angebracht waren. Mein Pfeil bohrte sich durch das linke Auge des Totenschädels, hob ihn an, brach dabei ab und schleuderte den Schädel kreiselnd um das Pfahlende. Ein gewaltiger Schrei erschütterte die Nacht. Dann ging der Tanz weiter. Ich nickte dem Häuptling zu und ging, Tänzern ausweichend, die sich in Trance befanden, zu meiner Gruppe. Erstauntes Schweigen und ratlose Gesichter empfingen mich. Ich sagte sarkastisch: »Wir haben verstanden. Endlich...« Der Tanz ging weiter, aber jetzt kamen einige alte Frauen und nahmen das Essen vom Feuer. Sie zerteilten alles und schichteten es fein säuberlich auf Matten, legten es in hölzerne Schüsseln und verteilten es auf Bananenblätter. Es begann nach Kräutern zu riechen. Das Feuer sandte eine Geruchswolke aus, von der die Sinne vernebelt wurden. Man holte Schüsseln mit hellgrauem Meersalz herbei. Der Tanz wurde, unabhängig von den Vorbereitungen, die man traf, wilder und zügelloser. Schwere Stangen und Roste aus angekohltem Holz wurden zum Feuer gebracht. Ich verstand oder glaubte zumindest zu ahnen, was sie vorhatten. Jetzt kamen die Krieger zurück, reihten sich ein und tanzten mit. Die Frauen mischten irgendein Getränk in einer Kalebasse, rührten heftig um und löschten kohlende und glühende Zweige in der Flüssigkeit. Dann humpelten sie zu den Gefangenen, die wild die Köpfe bewegten. Starres Entsetzen erfaßte mich - wie damals, als ich hinter den Kerkergittern das Gesicht der an die Wand geketteten Hexe ££sehen hatte, in Thorn. Die Frauen hockten sich auf die Brustkörbe der Gefangenen, hielten die Köpfe am Haar und an den Ohren fest und drückten den Männern die Nasen zu. Wild schnappten sie nach Luft. Die Flüssigkeit wurde ihnen in den Mund geschüttet. Sie gurgelten, husteten, aber die Schalen wurden erbarmungslos ausgeleert. 46
Als die Frauen aufstanden, lagen die Gefangenen erschlafft da, bewegten sich nur schwach. »Das Spiel kann beginnen!« sagte ich voller unterdrückter Wut. Wir blickten uns behutsam um. Alle Mitglieder des Stammes schienen zu tanzen. Zum Teil taten sie es mit geschlossenen Augen, zum anderen starrten sie blicklos vor sich hin. Meine Männer stahlen sich durch die Dunkelheit davon. Sie trugen die heißen, riechenden Braten mit sich. Agsacha, Sharma und ich warteten. »Sollen wir den armen Schuften helfen?« fragte der Maure. »Ich weiß es selbst nicht«, sagte ich. »Warten wir noch.« Wir würden uns einen Weg durch den Dschungel bahnen müssen. Nur der bleiche Mond würde uns den Weg finden helfen, aber durch den undurchdringlichen Dschungel leuchtete nicht einmal er. Wir traten zurück in das Dunkel jenseits des Feuerkreises. Ich wollte mich umdrehen, als Scan* neben mir fauchte. Mitten in der Bewegung erstarrte ich. Zehn oder mehr Krieger stürzten sich mit verblüffender Plötzlichkeit auf die wehrlosen Opfer, rissen die Messer und die Schädelbrecher hoch. In derselben Sekunde handelten Agsacha und ich fast gleichzeitig. Wir rissen die langläufigen Pistolen aus dem Gürtel, zielten mit ausgestreckten Armen und feuerten. Donnernd entluden sich die Läufe. Die Geschosse fuhren in die Glut des Feuers, detonierten in einer harten Explosion und schleuderten Funken und Holzstückchen in alle Richtungen. »Los! In den Dschungel!« schrie ich und gab Sharma einen Stoß. Der nächste Matrose, Wardar, packte sie und riß sie mit sich. Die Mannschaft flüchtete in die Schwärze des Dschungels. Dann zischten die Lähmstrahlen auf. Die Krieger zuckten mitten in den Bewegungen zusammen, ließen die Waffen fallen und sackten zu Boden. Agsacha gab in kalter Wut fünfzehn Schüsse ab. Der Donner der Detonationen war kaum verhallt, als ich Agsacha zurief: »Weg! Kümmere dich um Sharma!« »Geht in Ordnung, Käpten«, sagte er seelenruhig, feuerte zweimal auf Krieger, die sich aus dem Tanzkreis lösten. Dann raste er im Zickzack durch die Dunkelheit davon. Ich drückte die Knöpfe, die das Notprogramm des Albatros aktivierten. Langsam ging ich rück47
wärts, Schritt um Schritt. Scarr blieb dicht vor mir und schob sich an den Dschungelrand heran. In den Kreis der tanzenden Jäger war Bewegung gekommen; sie schrien und schnatterten. Ich wartete einige Sekunden - bisher hatte ich den Tod der Opfer verhindern können. Plötzlich riß sich der Häuptling die Lehmmaske vom Gesicht und schrie gellend: »Sie haben das Tabu gebrochen! Jagt sie!« Hinter mir bewegte sich etwas. Ich drehte mich schnell halb herum in der Erwartung, das blitzende Metall der Waffe Agsachas zu sehen. Plötzlich trafen drei harte, schmerzhafte Schläge meinen Körper. Geschleuderte Steine! Die Hand, die das Schutzfeld einschalten wollte, wurde getroffen und weggerissen; augenblicklich breitete sich die Lähmung aus. Ich feuerte mit cbm normalen Lauf zweimal in die Luft. Ein Speerschaft traf mich im Nacken; die Knie gaben nach. Dann schnellte sich Scarr zur Seite und grub nach einem riesigen Satz seine Fänge in den Hals eines Kriegers. Der Häuptling rannte auf mich zu, während weitere Steine durch die Luft sausten. Ich erkannte die Gefahr gleichzeitig mit dem Aufschrei des Extrasinnes. Der Aktivator! Ich ließ die Waffe fallen, bückte mich und hakte das Amulett von der vergoldeten Kette. Dann brach ich mit zitternden Fingern die Verzierungen von dem eiförmigen Aktivator. Ich erinnerte mich an Troja und ähnliche Gelegenheiten, schob den Aktivator auf die Zunge und würgte ihn hinunter. Ich holte tief Luft; gleichzeitig mit einem erneuten Angriff von allen Seiten sah ich, wie mindestens acht Männer auf den Gepard einschlugen. Sie hielten ihn mit den Speeren in Schach und droschen mit den Schädelbrechern auf ihn ein. Das Tier wehrte sich verzweifelt, wich aus, sprang senkrecht in die Luft und wurde von Pfeilen gespickt. Verzweifelt rang ich nach Atem. Ich versuchte, mit dem Arm, an dem sich zwei Krieger festhielten, den Schalter für das Abwehrfeld zu erreichen. Hinter dir! Ich ließ mich fallen. Ein furchtbarer Schlag raubte mir das Bewußtsein. Der letzte Eindruck war, daß sich zwanzig Eingeborene auf mich warfen. Dann verlor ich das Bewußtsein. Das Ende... Auch Maghellanes war in der Südsee von Eingeborenen getötet Wort48
den. Ich hatte ein Tabu gebrochen und mich in eine kultische Handlung eingemischt. 49
2. Ich öffnete die Augen. Es war noch immer Nacht. Alles war sinnlos gewesen, denn ich konnte erkennen, was geschehen war: Scarr lag da, mit Seilen und Baumstämmen gefesselt. Der Albatros zog um mich enge Kreise; ich indessen war an die Totemsäule gebunden. In meinem Magen drückte der Aktivator auf die Nerven. Rund um den Pfahl war eine Menge Krieger niedergemäht worden, als der Albatros - um einige Sekunden zu spät - im Tiefflug heruntergestoßen war und mit den Vorderkanten der Flügel die Krieger umgerissen hatte. Langsam kehrte das Bewußtsein zurück und mit ihm an fast allen Stellen des Körpers wütende Schmerzen. Ich beugte den schmerzenden Rücken und dehnte meine Arme. Die Handgelenke waren mit dicken Bastschnüren zusammengebunden, und ich drehte sie langsam. Ringsherum war alles ruhig; außer Bfewußtlosen und Toten sah ich niemanden. Das Feuer war heruntergebrannt. Auf den Spießen, auf dem verkohlten Rost lagen die Reste der verzehrten Gefangenen. »Verdammt!« sagte ich. Du hast dich überrumpeln lassen! flüsterte der Extrasinn. Ich zerrte an den Fesseln, aber ich würde sie nicht zerreißen können. Wo waren die Insulaner? Einige Minuten später begriff ich; sie hatten sich in die Hütten zurückgezogen, vermutlich war bei dem Fest eine Menge Palmwein getrunken worden. Ich flüsterte: »Albatros!« Der Vogel hielt in seinem Flug inne, drehte sich um und wartete summend auf Befehle. Ich sagte so deutlich, wie es meine geschwollenen und aufgesprungenen Lippen zuließen: »Zwischen meinen Händen sind Seile. Setz den Schnabel ein und kappe diese Verbindungen. Los!« Der Albatros schwebte hinter den Totempfahl, seine Maschinen brummten auf, und ich spürte die scharfen Schneiden. Dann ertönte ein Schwirren in der Stille. Ich rührte mich nicht. Die Fesseln wurden abgezwickt, ich kippte nach vorn. Drei schnelle Sätze, und ich war 50
im Dunkel verschwunden, nachdem ich über Bewußtlose und Betrunkene gestolpert war. Scarr merkte, daß ich frei war, und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Wo war meine Waffe? Ich fand ein Bastseil, drehte es zu einer großen Schlinge und holte den Robotvogel herbei. Ich befestigte die Schlinge an seinen Ständern und huschte im Zickzack bis zu dem Haufen Holz, der Sich um Scarr befand. Ich suchte ein Messer, kappte die Schnüre und warf die Baumstämme zur Seite. Plötzlich ertönte vom anderen Ende der Lichtung ein Geräusch. Jemand flüsterte: »Atlan!« Es war Agsacha! Ich hob den Arm und bedeutete ihm, dort zu bleiben, holte Luft, ignorierte den Druck unterhalb der Knochenplatte, die ich anstelle von Rippen besaß, und warf das letzte Stück Holz zur Seite. Viele Jäger waren des Gepards Tod - beinahe. Scarr federte auf die Füße; das künstliche Fell sah mitgenommen aus. Über der Lichtung schwebte ein riesiger Vollmond. Geheimnisvolle Schatten bewegten sich. Ich sagte zu Scarr: »Du bringst Agsacha zum Strand! Wartet dort auf mich!« Dann winkte ich. Der Gepard warf sich vorwärts und verschwand am jenseitigen Ende der Schlucht. Ich lief weiter, trotz meiner Schmerzen. Die Waffe fand sich, halb in den Boden getrampelt. Ich steckte sie ein, dirigierte den Vogel zu mir her und sah, wie sich etwas vor mir bewegte: »Agsacha! Scarr bringt dich zum Strand. Ich komme mit dem Vogel. Schnell!« Agsacha murmelte: »Ich bin ihnen entkommen. Etwa fünfzig Krieger sind uns nachgerannt. Sie planen vielleicht, das Schiff zu entern!« Das änderte die Sachlage. Ich streckte einen Arm aus und zog Agsacha zu mir. Wir befahlen dem Gepard, schnell zum Strand zu laufen. Dann setzten wir uns in die Seilschlinge, und der Vogel stieg summend hoch. Minuten später waren wir am Strand. »Was ist los?« fragte ich, als wir im nassen Sand einsanken. »Wir sind geflüchtet. Ich habe alle Männer auf das Boot gejagt. Das Boot ist neben der TERRA. Sharma ist in Sicherheit. Dann rannte ich zurück und traf auf die Krieger. Sie sind nicht mehr weit.« 51
Aus dem Dschungel ertönten die Schreie aufgescheuchter Vögel. Der Gepard Scob in riesigen Sätzen aus der Öffnung in der Mauer des Waldes heraus, auf uns zu. Wir konnten hier nichts mehr tun - Flucht war die einzige Lösung. »Der Vogel schleppt auch noch Scarr.« Ich überlegte laut. »Wir müssen zum Schiff. Wenn die Eingeborenen Kanus versteckt haben...« Agsacha hielt sich an der Seilschlinge fest und zielte mit der Waffe auf den Wall des Dschungels, er sagte: »... ich sah Schleifspuren. Sie haben Kanus!« »... dann ist auch die TERRA in Gefahr. Los, fliegen wir zurück! Wir zeigen, daß wir über einen Wundervogel verfügen; das sollte die Mannschaft nicht erfahren. Aber unser Leben ist wichtiger.« Wir setzten uns in die Seilschlinge, nahmen den ramponierten Gepard in die Arme, dann hob sich der Vogel höher und schwebte hinüber zur TERRA, die mit brennenden Positionslichtern etwa zweitausend Schritte entfernt in den Wellen schaukelte. Wir schwiegen, bis sich der Vogel in vorsichtigem Anflug dem Deck des Heckkastells näherte. Zuerst glitt Agsacha aus dem Seil, dann ich; Sharma warf sich in meine Arme. »Ich habe Angst um dich gehabt, Liebster!« flüsterte sie. Ich streichelte ihr Haar. »Alles ist vorbei. Wir segeln weiter. Bald sind wir in Sevilla oder an einer lieblichen Küste.« Dann wandte ich mich an Agsacha und fragte: »Hast du schon einmal den Bauch eines Menschen geöffnet, Freund Agsacha?« »Warum?« Er schüttelte verblüfft den Kopf. Die Männer der Mannschaft, die unseren Anflug beobachtet hatten, drängten sich auf dem Kastell zusammen und unterhielten sich aufgeregt. »Wardar! Diego!« rief ich. »Käpten?« »Wir setzen Segel. Wir gehen weiter nach Süden. Agsacha! Macht den Vierpfünder klar! Vielleicht müssen wir uns wehren.« 52
»In Ordnung.« Das Schiff verwandelte sich binnen Sekunden in eine Insel der Betriebsamkeit. Dumpfer Gesang erscholl, zusammengesetzt aus dem Ächzen und den Kommandos am Gangspill. Langsam bewegte sich das Schiff, vom Zug an der Trosse gezogen, über den Anker hinüber und brach ihn aus dem Untergrund. Die Rahen und Masten füllten sich mit den Segeln, Trossen und Taue spannten sich, und Diego de Avarra wirbelte das Rad des Ruders herum. Wir spähten zum Land: Lange Schatten drangen aus dem Dschungel. Kanus, von Kriegern ins Wasser geschoben. Ich lief auf Deck und erreichte das drehbare Geschütz; ich richtete mit Hilfe der Kurbeln das lange Geschützrohr aus und zielte auf den Strand. Der Verschluß öffnete sich, wir legten die Geschoßhülse ein. Dann wurde der Verschluß herumgeworfen und arretiert. »Wir nehmen Fahrt auf!« rief Diego vom Ruder. »Verstanden! Setzt mehr Segel!« Die Männer in den Kanus paddelten wie wild. Im Licht des Mondes waren sie ungenau zu erkennen. Die Holzteile knarrten. Ich zielte und kalkulierte die ballistische Kurve ein, dann ließ ich den Hahn nach vom schnappen. Die Befestigung des Geschützes federte, als sich der Schuß krachend aus dem Rohr löste. Einen Herzschlag später entstand zwischen der TERRA und den Kanus eine Wassersäule: Eine riesige Fontäne sprang in die Luft, schimmerte im Mondlicht und überschüttete die Verfolger. »Wir haben Fahrt!« rief Diego. Ich wartete kurz, dann öffnete ich den Verschluß. Die heiße Hülse sprang heraus und fiel klatschend ins Wasser. Wir luden das Geschütz ein zweites Mal und feuerten. Diesmal lag der Treffer näher und warf zwei der Kanus um. Nachdem die Hülse entfernt worden war, breitete ich die Plane über das Geschütz, beschäftigte mich mit meinen Karten und gab die Kurse an. Wir segelten am westlichen Rand der großen Insel entlang nach Norden und würden diese Richtung beibehalten, bis wir auf gleicher Höhe mit dem Flußdelta waren. Dann bogen wir nach Südwesten ab und kamen an den Inseln Aru und Saumlaki vorbei. 53
Schließlich war ich fertig, sprach mit Diego den Kurs ab und lehnte mich zurück. Der Druck in meinem Magen wurde unerträglich. Sharma brachte einen Becher gewürzten Weines und setzte sich auf die Lehne des Sessels. »Agsacha ist unruhig«, sagte sie. »Er denkt darüber nach, warum du ihn gefragt hast...« »Holst du ihn, bitte?« bat ich. Wir musterten uns lange und schweigend. Endlich brach Agsacha das Schweigen. Er sagte leise: »Diese Frage. Atlan...« »Ich weiß. Ich habe bewußt gefragt, Agsacha! Hast du schon einmal einen Menschen aufgeschnitten?« Er schüttelte stumm den Kopf. In seinen Augen stand ein unsicherer Ausdruck. »Du wirst meinen Magen öffnen, mein Amulett herausholen und alles wieder zunähen. Das muß ich von dir, meinem Freund, verlangen.« Ich spielte mit der Öse der Halskette. Er sprang auf, starrte mich ungläubig an. während sein Gesicht schneeweiß wurde. »Das kannst du nicht verlangen!« rief er. »Wenn du es nicht tust, muß ich in einigen Stunden sterben. Tust du es, bin ich in drei Wochen wieder gesund. Ich habe niemanden, der dies vermag.« Er setzte sich und murmelte dumpf: »Sprich, Atlan!« Ich erklärte ihm, wie ich es den Ärzten vor Troja erklärt hatte, schilderte mit Hilfe vier verschiedener Zeichnungen, welche Gewebeschichten er durchtrennen mußte. Ich packte die Geräte aus, die wir brauchten. Diego kam nach einer Weile; er sollte mit Sharma, die ihnen assistieren würde, die Operation vornehmen. Ich sagte ihnen, was ich tun konnte, was sie tun mußten, versuchte, ihnen die Angst zu nehmen, mich umzubringen. Langsam begriffen sie, daß auch ein Mensch ein Ding war, das man öffnen und verschließen konnte. Ich wünschte, ich hätte einen toten Eingeborenen gehabt, um es ihnen zu demonstrieren. Das Risiko für mich war groß, aber zu meiner Verwunderung merkte ich, daß ich zu diesen Menschen volles Vertrauen hatte. In den frühen Morgenstunden waren wir mit den Schilderungen fertig; ich bestimmte, daß die Operation auf dem Tisch der Kapi54
tänskajüte vor sich gehen sollte. Wir holten saubere Tücher, aus der Kombüse kamen heißes Wasser und sauberes kaltes. Ich verteilte Seife und gab Anweisungen, was mit dem Zellaktivator zu geschehen habe. Dann gab ich mir die Injektion, schlief ein und dachte, wie einfach alles sei, wenn diese Operation mißlingen würde. Dann wäre ich tot und alle Probleme hätten sich in nichts aufgelöst. Südlicher Wendekreis; diese Worte standen auf der Seite des Logbuchs. Ich hatte sie geschrieben, mit dickem Verband über dem Magen. Zu den Narben waren andere gekommen, und jeden Tag setzte ich die verheilende Haut der Sonne aus. Gleichzeitig regte der Aktivator die Genesung an, beeinflußte die Zellen, besserte mein Allgemeinbefinden. Die Operation war glücklich verlaufen, hatte aber fast sechs Stunden gedauert. Sharma, Diego und Agsacha hatten sich selbst überboten. Während ich auf Deck oder in der Kajüte gelegen hatte, hatte die TERRA andere Inseln angelaufen, dort ihre Tauschgeschäfte abgewickelt: die Laderäume barsten fast vor Gewürzen, Edelmetallen und Porzellanwaren aus Ostasien. Ich schrieb einen Brief an Theophrast von Hohenheim, genannt Pamcelsus, in dem ich unsere Erlebnisse schilderte. Von den Karavellen des Maghellanes hatten wir keine Spuren mehr entdeckt, obwohl der Vogel tagelang viele Inseln besucht hatte. Wir stießen nach Südwesten vor, kreuzten den Äquator, den Wendekreis und segelten dann, erstklassig verproviantiert, nach Westen - dem Kap der Guten Hoffnung entgegen. 55
3. Februar 1522: Ich konnte nicht anders: Mit Wohlgefallen betrachtete ich die Mannschaft und das Schiff. Zwar hatte es Hunderte kleiner Wunden gegeben, gebrochene Arme, angebrochene Knochen, ausgerenkte Gelenke - aber keinen einzigen wirklichen Unfall. Bis auf Zaro lebten alle; besser als auf jedem anderen Schiff, das die Weltmeere kreuzte. Das Schiff war verwittert. Die Segel waren geflickt, schmutzig und ausgebleicht, aber alle Schäden beeinträchtigten nicht die Leistungsfähigkeit der TERRA. Sie lag tief im Wasser. Die Laderäume waren voll. Die Last würde, gut verkauft, uns alle zu reichen Männern machen. Sharma lag neben mir auf dem leinenüberzogenen Sessel und sonnte sich. »Du denkst nach?« fragte sie irgendwann. »Ich denke nach«, sagte ich und massierte meine Magengegend. Die Narben schmerzten nicht mehr; die frische Haut bräunte sich zusehends. Hoch über uns konnte ich den Albatros sehen, der unermüdlich vor dem Schiff seine Beobachter-Kreise zog. »Darüber, daß wir eine schöne Zeit hinter uns haben und eine ebenso schöne Zeit vor uns. Und ich trauere den verlorenen Träumen nach.« Sie flüsterte: »Meine Träume sind wahr geworden, Liebster. Ich habe wundervolle Jahre hinter mir. Ich habe niemals gedacht, dich zu treffen und mit dir um diesen Planeten zu reisen. Ich habe mehr erlebt als Hunderte Menschen in ihrem Leben - in drei Jahren.« »Das mag schon sein«, sagte ich leise. »Aber meine Träume waren größer. Sie flogen höher als die Wolken im Passatwind, der uns nun heimbringen soll.« Sie lächelte mich an. Ich erschrak ein wenig, als ich sie im unbarmherzigen Sonnenlicht betrachtete. Unsere Gesichter waren nur drei Handbreit voneinander entfernt. Ich sah sie an, ihre Augen wanderten wie Ameisen über mein Gesicht. Sharma war, als ich sie kennengelernt hatte, ein einfaches Mädchen gewesen, mit Anzeichen kommender Schönheit, ohne wirkliche Lebenserfahrung. Unterdrückt, ungebildet und ein unbeschriebenes Blatt mit wunder Seele 56
und aufgescheuerten Handgelenken - von den Sklavenfesseln. Heute war sie eine junge Frau, schön, verlockend, geistreich und von stiller Intelligenz, die, wenn sie sich artikulierte, überraschend hoch war. Viele lange Gespräche mit mir und Diego, mit rund drei Dutzend grimmigen Männern, die lächelten, wenn Sharma vorbeiging und mit ihnen sprach, mit vielen Häuptlingen. Sie war auf höchst angenehme Weise gereift, eine ideale Partnerin; eine bezaubernde Geliebte indes. Ich lächelte sie an und sagte: »Meine Träume sehen vor, daß alle Menschen miteinander in Frieden leben und große Dinge vollbringen sollen.« »Du meinst - Wunder. Solche, wie sie bei dir an der Tagesordnung sind?« Ich lachte schallend. Nur ein ferner Schmerz in der Magengrube erinnerte mich an die Operation. »Keine Wunder sind das, Sharma. Es ist alles zu erklären. Aber ich komme von einem Ort, wo solche Dinge zu den Errungenschaften des täglichen Lebens zählen. Denk nicht mehr daran.« »Ich denke ohnehin meist an dich... und natürlich an mich«, gab sie zurück. Ein Schatten fiel auf uns, als Diego und Ssachany auf das Deck kamen. »Ihr träumt. Freunde?« erkundigte sich der Steuermann. »Wir haben geträumt«, gab Sharma zurück. »Von Sevilla. der Stadt der Sehnsucht?« »Auch davon, Diego. Und von dem Haus mit den weißen Mauern, den hellen Fenstern und den Tauben auf den Dächern«, sagte ich. »Gibt es etwas Besonderes, oder bist du wegen eines Bechers Wein heraufgestiegen?« In den letzten Wochen hatten wir Tage gehabt, an denen das Etmal höher war als je zuvor; die zurückgelegte Entfernung von Mittag zu Mittag. Wieder segelten wir auf dem Südlichen Wendekreis nach Westen. Bald mußte Madagaskar auftauchen. Wir hatten vier Stürme abgeritten und zwei Segel verloren; die letzten Reservesegel wurden gesetzt. Jetzt hatten wir einen Himmel, der eine gute, schnelle Heimreise förmlich versprach. 57
»Letzteres, Atlan!« sagte Diego. »Eine Frage am Rand, und ich möchte dich ungern verärgern: Ich höre dich nicht mehr von Maghellanes oder seinen Nachfolgern reden.« Ich richtete mich auf, schirmte die Augen mit der flachen Hand und sagte ernst: »Ich habe noch eine Chance ausgerechnet, daß vielleicht ein Schiff zurückkommt. Wir haben nicht die Unterstützung der spanischen Krone, aber wir haben die Erde umrundet. Pigafetta und Delcano würden, lebten sie noch, Carlos dem Ersten Nachricht davon ^ben. Die TERRA ist nicht wichtig. Sie ist nur wichtig für uns.« Diego fragte erstaunt und ungläubig: »Wir sollten also den Mann Maghellanes vergessen?« »So ist es«, sagte ich hart. »Vergessen wir ihn, und denken wir an uns. Es ist sinnvoller. Holt Agsacha und ein paar Männer der Mannschaft - wir wollen unser drittletztes Weinfaß öffnen.« »Dabei halten wir mit, Käpten!« sagte Wardar, der die Becher brachte. Unsere Laune hob sich, als wir die Küste von Madagaskar sichteten, nach Süden abbogen und in leichtem Sturm die Südspitze Africas umschifften. Auf der Fahrt nach Norden, die entlang der Westküste des Riesenkontinents entlangführte, gingen wir mehrmals an Land und holten Frischwasser und Kokosnüsse. Die Matrosen vertrieben sich die Zeit mit leidenschaftlichen schwarzen Frauen; wir badeten mit den Brandungsfischern im Ozean. Alles erinnerte uns an die entdeckten Paradiese der Südsee, und in die Freude der Heimfahrt mischten sich bittere Gedanken. Die Reise ging weiter. Eines Tages fiel der Gepard ins Wasser; ein Kurzschluß ließ den Mechanismus detonieren. Hinter dem Schiff brach eine gewaltige Explosion hoch. Endlich, nach vielen Tagen, segelten wir an Teneriffa vorbei und nahmen Kurs auf Gebel al Tariq. Und im August, es war der fünfte dieses Monats, fegten wir mit bewachsenem Unterschiff, mit geflickten Segeln und splitternden Planken wieder in Sevilla an. Die Reise war beendet. Am letzten Tag machte ich eine Entdeckung, die ich zuerst nicht glauben konnte. Ich überlegte, als ich den Wochentag im Logbuch ablas. Wir alle hatten keinen einzigen Tag ausgelassen; drei dicke 58
Bücher waren mit Eintragungen und kleinen Bildern gefüllt. Wir schrieben Dienstag, und als Rojas de Avarra über die Gangway an Bord stolperte und seinen Sohn umarmte, sagte er, es sei Mittwoch. Erst nach einer Weile kam ich darauf, daß sich dieser Pknet im Lauf von vierundzwanzig Stunden einmal von Westen nach Osten um seine Polachse drehte. Ich versäumte nicht, diese wichtige Erkenntnis in meinen Briefen zu erwähnen. Später einmal, wenn die Geschichte dieses Planeten aus sicherer zeitlicher Distanz betrachtet werden würde, konnte man Maghellanes diese Erkenntnis zuschreiben. Jedenfalls freute sich Sharma, als ich ihr sagte, sie sei eigentlich einen Tag jünger, als ich dachte. Kaum jemand erinnerte sich wirklich an unser Schiff. Der Name Maghellanes war vollkommen vergessen. Sevilla nahm uns wieder auf. Wir erfuhren, daß Carlos der Erste zum Kaiser des Römischen Reiches Deutscher Nation gewählt worden war. Wir bezogen das große, kühle Haus, das erst von Handwerkern in Ordnung gebracht werden mußte. 1520 war Hernando Cortez in Mexiko gelandet und hatte dort hundertmal mehr zerstört, als ich aufgebaut hatte... damals, in Vorzeiten. Langsam verkauften wir unsere Ladung an denselben Kaufmann, der Maghellanes ausgerüstet hatte. Nacheinander wurden die Matrosen abgefunden - sie erhielten vergleichsweise gewaltige Summen. Ich verkaufte das Schiff. Die Mannschaft fand sich ein Vierteljahr später zu zwei Dritteln wieder ein. Ein fremder Kapitän, ein femder Steuermann gingen mit der TERRA - die jetzt LOS MONTEROS getauft worden war - wieder in See. Sie wollten, nach Osten segelnd, die Molukken erreichen und Porzellan aus Asien eintauschen. Zögernd, in einem heißen, zauberhaften Sommer, senkte sich das Alltagsleben über uns alle. Ich liebte Sharma und schrieb Kopernikus, was ich erlebt hatte; einen langen Brief. Ich legte den Stift nieder, überlas das Geschriebene und nickte. Inzwischen korrespondierte ich mit Männern wie Johannes Böhm, der eine »richtige Völkerkunde« schreiben wollte. Ich hatte ihm mitge59
teilt, wen und was wir angetroffen hatten. Die Tür öffnete sich, Agsacha kam herein, setzte sich mir gegenüber und sagte: »Hier. Trink, Freund Atlan! Du wirst etwas erleben, was du dir nicht einmal erträumt hast!« Er schob mir den Krug über den Tisch. Ich brachte hastig die Papiere in Sicherheit. Magellan? Haben die Schiffe vielleicht...? Mein Extrasinn artikulierte verworren. Ich grinste und beschloß, Agsacha zu ärgern. Unschuldig fragte ich: »Du willst doch nicht etwa behaupten, daß Delcano oder Espinosa mit der TRINIDAD hier angelegt haben?« Agsacha schmetterte die Faust auf die Tischplatte, daß der Wein aus den Bechern schwappte. »Verdammt!« rief er. »Das hast du geraten, Atlan! Nein! Die VICTORIA, fast ein Wrack, ist soeben mit achtzehn Männern eingelaufen. Delcano hat sie zurückgebracht. Sie wurde den Guadalquivir hinaufgeschleppt.« »Du hast recht«, sagte ich. nickte und griff lachend nach dem Glas. Dann wurde ich nachdenklich. »Aber das sollten wir uns ansehen. Ich habe geraten, ich gebe es zu. Gehen wir?« »Zuerst den Wein!« Wir stärkten uns, dann verließen wir das Haus und ritten zum Fluß. Als wir die Straße erreichten, die zur Kirche »Santa Maria de la Victoria« hinaufging, stiegen wir ab, banden die Tiere fest und schoben uns durch die aufgeregte Menge. Achtzehn Männer, von Delcano angeführt, wahre Leidensgestalten, in weiße Gewänder gekleidet, trugen lange Kerzen in den aufgerissenen, abgezehrten Händen. Sie erfüllten ihr Gelübde. Sie waren der Rest der Expedition. Stumm sahen Agsacha und ich uns an. »Es ist schwer«, sagte er, als Orgelklänge durch die Gasse dröhnten, »zu glauben, daß sie es dennoch geschafft haben. Maghellanes’ Frau ist gestorben, seine Kinder verschollen... nichts ist mehr übrig von diesem stolzen, düsteren Mann.« Ich erwiderte: »Es ist viel übrig, Agsacha! In wenigen Tagen wird eine Nachricht um die Welt gehen. Wir wußten es schon immer, aber 60
uns fehlte die Fanfare, in die wir stoßen konnten. Auch wollten wir dies nicht.« »Nachricht? Welche?« »Die Erde ist eine Kugel, ein Planet unter anderen. Ein neues Weltbild wird von Sevilla aus seinen Weg gehen. Niemand weiß, daß Maghellanes mein Werkzeug war.« Acht Millionen Maravedis hatte die Expedition gekostet. Nach dem Verkauf der Gewürze aus den Laderäumen der VICTORIA blieben noch einige Goldstücke übrig. Von der Sicht des Kaufmannes aus betrachtet, hatte sich diese Fahrt ebenfalls gelohnt. Meine persönliche Reise endete bald - ich wollte zurück. Aber ich versuchte, meine Freunde so zurückzulassen, daß sie bis zu ihrem Tode ohne Sorgen leben konnten. Sharma: Ich verließ sie. Nur der Umstand, daß ich unsterblich war und daß ich wußte, daß die Zeit alle Wunden heilt, half mir darüber hinweg, daß ich sie verließ und Agsacha einen Brief gab, den er ihr im Fall meines Verschwindens übergeben sollte. Ich kaufte das Haus und eine Menge Land und übereignete ihr alles zur Hälfte - die andere Hälfte erhielt Agsacha. Dies war alles, was ich zurücklassen konnte, darunter auch den Kompaß, der für Maghellanes gedacht war. Agsacha: Bargeld und meine Waffen mit aller Munition, die ich noch besaß. Die Anteile am Schiff, der ehemaligen TERRA, übereignete ich ihm ebenfalls. Er würde mich verstehen. Eines Nachts sagte ich ihm in dunkler Rede, daß ich nicht ein spanischer Grande, sondern ein unruhiger Reisender durch Länder und Zeiten war, ein Kapitän der Jahrzehnte. Diego und Ssachany: Ich übereignete ihnen einen großen Besitz all der Kostbarkeiten, die wir mitgebracht hatten. Gold und Korallen, Perlen. Sie hatten in einem prunkvollen Fest, das viele Tage dauerte, geheiratet und erwarteten ein Kind. Einen Sohn, wie Diego mit unerschütterlichem Optimismus behauptete. Und eines Tages verließ ich sie; alle. Auch Sevilla, die Stadt der Gitarren und des Weines. Ich flog mit dem Albatros zum Versteck des Gleiters, lud die Reste me iner Ausrüstung und das eingetauschte Edelmetall auf, schaltete die Geräte ein und trat den Rückzug in mein stählernes Gefängnis, knapp 61
zwei Meilen unter dem Meeresspiegel an. Ich würde schlafen, bis das nächste Schiff landete. Falls es noch eines gab, das sich auf diesen Planeten verirrte. Die Fahrt der fünfzehnhundert Tage existierte nur noch in meiner Erinnerung. Rico empfing mich, als sei ich nur Stunden weg gewesen. Bald schlief ich ein. Langsam kletterte die Sonne über die Hänge des vulkanischen Tales im Nordkontinent Khazas. Zwischen den Bäumen stieg dicker Nebel auf. Das Tal füllte sich mit dem hellgrau-silbernen Schleier. Die Sonnenstrahlen kamen von Osten, schossen über die Nebeloberfläche und trafen die Würfel des Hauses am oberen Ende der vielen Treppen. Der nächtliche Spuk war verflogen. Ronald Tekener und Ingeyn standen aus dem breiten, fellüberzogenen Sessel auf. Als sie einen der Vorhänge öffneten, lebte der Raum mit den rohverputzten Wänden auf. Ich sagte: »Ich brauche ein Bad. Und etwas zu trinken. Ich bin völlig erledigt.« Noch immer schoben sich die beiden Ebenen übereinander: das Leben in Sevilla und die Wirklichkeit auf Khaza, kurz vor dem Start der Raumschiffe. T’aban Tenthredo reichte mir die Hand und zog mich aus dem Sessel. Er murmelte: »Ich weiß nun alles über Magalhaes. Wir wissen viel aus diesen Zeiten, aber nicht alles. Wie ging es weiter?« Schritt um Schritt fand ich zurück in die Wirklichkeit, nahm den schweren Pokal und trank ihn halb leer; der dunkelrote, wie frisches Blut glühende Wein schmeckte nach Zimt und Nelken und war süß. »Es geschah nicht mehr viel«, sagte ich leise. »Die Erkenntnisse, die wir alle sammelten, Pigafetta und ich, reichten zwar für einen Bestseller, der Pigafetta reich und berühmt machte, aber die wissenschaftliche Evolution meines zweiten Heimatplaneten ging mit mühsamer Langsamkeit vor sich. Kopernikus, dann Kepler, schließlich Newton und Cavendish... erst mehr als vier Jahrhunderte später gab es entscheidende Einsichten.« Ingeyn erkundigte sich: »Ich habe deine Reise in ein fernes Land mit angehört, Arcon. Was wurde aus deinem Schiff, das mit Segeln fuhr statt mit Wasser-Zoon?« 62
Ich lächelte, während ich mich weiter entspannte. »Die LOS MONTEROS? Sie ging verloren, denke ich. Jedenfalls sahen meine vielen Maschinen-Augen nichts mehr von ihr.« »Und... und diese Sharma? Sie muß sehr liebenswert gewesen sein?« »Sie war es. Ich erlebte später Bilder; sie wurde noch schöner und heiratete Agsacha. Aber sie wird ihn nicht sehr geliebt haben.« Wir blieben lange im Calpoda-t’Stylon-Bad und erholten uns. Wir waren zwar müde, aber eine Art Hochstimmung begann uns zu erfassen. Meine Arbeit auf diesem Planeten war getan. Ich lächelte breit und sagte: »Die Sonne ist da. Wir sollten etwas essen und zurückfliegen zum Paß.« Ingeyn stieg aus dem Bad, warf sich einen weißen Mantel um und kauerte sich neben T’abans Schultern nieder. Sie richtete ihren eindringlichen, prüfenden Blick auf mein Gesicht. »Arcon... du hast berichtet, wie der Adath-Kult einen Mann hingerichtet hat. Ist er gestorben? Hast du etwas gesehen?« Ich schüttelte langsam den Kopf. Meine Hand schloß sich um den Zellaktivator. »Nein. Ich konnte es nicht kontrollieren. Ich mußte dafür sorgen, daß die TERRA in See stach, daß wir gut vom Ufer Neuguineas wegkamen und daß die Operation richtig durchgeführt wurde. Außerdem war es Nacht.« Meine Hand wanderte von der Brust hinunter zum Magen. Dort glitten die Finger über die Narben in der Bauchhaut. Ich merkte, wie ein Schauer meine Haut überzog. »Der Verräter, dessen Image wir getötet haben«, sagte T’aban fest, »ist jedenfalls gestorben. Der Stamm beschloß es, die Abstimmung war geheim, und das Ergebnis wird in Kürze einige Leute erschrecken.« »Ich gehe voraus, Meister des Schwertes!« T’aban stimmte schweigend zu. Er mußte sich von Ingeyn verabschieden: dieses Mal für immer oder für eine sehr lange Zeit. Ich legte meine Hände auf die Schultern Ingeyns und sagte: »Ich bin ein 63
unruhig Reisender. Und ich weiß zu schätzen, wenn man mich bewirtet, wenn man mich einlädt und gute Gespräche mit mir führt. Aber ich muß weiter, in andere Welten, auch solche, die es nur in den Träumen gibt wie heute in der Nacht. Eines sage ich dir, Tochter der Morgenröte - du bist, manchmal, wie Sharma. So klug und so begehrenswert. Leb wohl!« Für eine zu lange Sekunde schmiegte sie sich an mich, dann nickte sie und flüsterte: »Dein Weg, Bruder des Schiffes und der Nächte, soll gerade sein und ohne Wunden verlaufen.« Langsam stieg ich neben dem Boten die vielen Treppen hinauf, bis wir auf die Landeplattform der Zoon kamen. Dort standen vier Tiere, ausgesucht schnelle Renn-Zoon mit schwarzem Gefieder und riesigen braunen Augen. Die Zügel liefen durch silberne Ringe, bestanden aus feinstem Leder, ebenso wie die hochlehnigen Sättel, und alles war bestickt. Die kostbarsten Sättel des Stammes! durchfuhr es mich. Ich verneigte mich vor Dancun, dem »Vetter der Schwingen«, und sagte leise: »T’aban und ich - wir sind gern hier bei den Naysat gewesen, Dancun. Und ihr ehrt uns auf ungewöhnliche Weise.« Dancun sagte stolz und laut: »Garaz T’aban Tenthredo ist der Sohn des Vulkans, der Meister des Schwertes, der Verbündete der Schleuder. Er hat uns Dinge gesagt, die unseren Stamm gut und lebendig erhalten. Ihm gebührt alle Ehre. Und du bist sein Freund, und T’abans Freunde sind auch die Freunde der Naysat. Triffst du einen von uns, so wird er so für dich sterben wie du für ihn. In den Sattel, pt’Arcon!« Mein Tier riß den Kopf hoch, schrie und rannte los. Dicht vor dem Absturz entfaltete es die schwarzen Schwingen, warf sich in den Aufwind am Hang und begann mit den Flügeln zu schlagen. Nach einigen Metern, in denen es schwer durchsackte, gewann es Höhe, wurde schneller und schneller. Das zweite Tier nahm Anlauf und folgte. Ich zog am Mittelzügel, schwang die langen Enden mit pfeifendem Geräusch neben den Ohren des Zoon und setzte mich fest. 64
Das Tier startete mit aller Wucht und Schnelligkeit, als habe man es von einem Katapult geschnellt. Dann rauschte der Fahrtwind. Als ich mich umdrehte, sah ich Tekener, der sich aus dem Sattel beugte, das Mädchen küßte und dann startete. Binnen weniger Minuten hatte er aufgeschlossen. Hintereinander flogen wir über das Tal, dem Paß mit dem Bauwerk aus Lavagestein und festgesetzten Mineralien entgegen. »Wir sollten bestätigen, wenn der >Verräter- gerte ich. Monique wollten wir nicht in Gefahr bringen; sie war nicht 70
geweckt worden. Ich schlang Brot mit Pastete und Eiern hinunter und schüttete den Wein hinterher. Langsam wurde ich satt und ruhiger. Mir grauste, wenn ich an die Arbeit allein im Umkreis des Schlößchens dachte und darüber hinaus an den Zustand jener Welt, die ich kannte. Wiedergeburt! nannten die Gelehrten diese Zeit. Renaissance! Rinasciemento! Ich war satt, stand auf und öffnete das Fenster. Die Räume rochen nach Reinigungsflüssigkeit. Von draußen trieb Nachtwind den stinkenden Rauch des Feuers heran. Neben den Bäumen am Dorfplatz brannte seit Tagen ein Feuer, das immer wieder angefacht wurde. Kleidungsstücke wurden verbrannt, Decken und Kissen, Kadaver der Ratten und jener Dreck, den die Bauern und Handwerker aus den Ecken ihrer Häuser gekehrt hatten. Gespenstisch flackerten die Flammen, und ab und an sah ich den Körper eines Roboters durch die Dunkelheit schweben. »Du mußt müde sein, Comte Atlan.« »Die nächste Stunde findet mich zwischen den Laken«, versicherte ich. »Wecke mich vor Sonnenaufgang.« Georgette nestelte an ihren Zöpfen und nickte. »Es gibt Hähne, die uns wecken werden.« Der Wein war höllisch gut. Ich nahm den Pokal und den Krug und schaffte beides, zusammen mit etlichen Leuchtern, ins Schlafzimmer. Ich stellte den Kontakt mit Rico her, nannte die Posten einer langen Liste, und er versicherte, daß spätestens morgen mittag alles über die Transmitterverbindung geliefert werden würde. Dann zog ich mich aus, hüllte mich in den bodenlangen Schlafmantel und trug den Leuchter vor den Spiegel im Baderaum. Zwanzig Kerzen warfen von der Glassitfläche ihr Licht an die hellen Wände. Ich bewegte die schweren Hähne, stellte mich unter die Schauer des heißen Wassers und versuchte, mit aromatisierter Seife selbst die Gedanken an Bakterien abzuwaschen. Diesen Raum hatte ich nach meiner überstürzten Ankunft zuerst ausgerüstet. Sogar der Teppich über den großen Fliesen stammte aus der Kuppel. Ich trocknete mich mit weichen Tüchern ab und hängte mir den Zellschwingungsaktivator wieder um 71
den Hals. Meine Augen brannten, ich gähnte und zwang mich dazu, die Zähne zu reinigen. Es war die erste Nacht, in der ich mich mit ruhigem Gewissen schlafen legen konnte. »Der ganze Planet müßte mit Impfstoff geflutet werden«, schimpfte ich und fuhr in die Pantoffeln. Ich hob den Leuchter auf und schleppte mich zum Bett. Die Kerzen blies ich bis auf zwei aus, wuchtige Scheite fielen ins Kaminfeuer und entsandten eine Funkengarbe aus der Esse. Ich lehnte mich gegen das Kopfteil, stopfte Kissen in meinen Nacken und nahm einen langen Schluck aus dem Pokal. »Du hast getan, was du konntest, Arkonide«, flüsterte ich mir zu. Nach einer Weile kam Georgette herein. Sie trug eines der viel zu großen Hemden aus meinem Vorrat. Ihr Haar war feucht und hing über die Schultern. Ich nickte ihr auffordernd zu, als sie neben das Bett trat und den langen Saum aufknöpfte. »Du mußt mich lieben«, sagte sie leise. »Wir haben zuviel Tod gpsehen. Ich muß wissen, daß ich noch lebe. Oder willst du mich nicht?« »In so später Stunde«, sagte ich, setzte das Gefäß ab und streichelte ihr Haar im Nacken, »antworte ich nicht auf derlei törichte Fragen.« Sie hatte den reifen Körper einer voll erblühten Frau mit geraden Beinen und runden Hüften. Ihre Haut war weich und roch nach einer meiner Cremes. Sie kniete vor mich hin, faßte ihr Haar zusammen und legte meine Hand auf ihre Brust. Ihre Lippen waren feucht, und ihr Atem roch nach Wein, als sie sich zu mir herunterbeugte und mich hungrig küßte, bis ich sie in die Arme nahm und an mich zog. Die Nacht schien zu kurz für unsere Leidenschaft. Wir merkten nicht, daß die Kerzen dick tropfend niederbrannten und die Dochte im Wachs ertranken. Nur kleine Flammen und die intensive Glut des Feuers beleuchtete unsere Körper. Ein Chor aufgeregter Hähne weckte uns. noch ehe der erste Sonnenstrahl die Felsen und Bergkuppen aus den Morgennebeln herausschälte. Im strahlenden Sonnenlicht, aber in der Kühle, die aus dem Wald kam und noch im Boden steckte, übernahm ich wieder meine neue 72
Rolle als Dorfschulze, als Maitre. Wir trieben das Vieh aus den Ställen, reinigten den Boden und hängten die Türen aus. In den größten Kesseln kochte Wasser, überall putzten und wischten die Menschen. Wir zimmerten Holzroste und legten Duschen an, ich verteilte Kleidung und Decken. Wieder stiegen Flammen und Rauch von dem großen Feuer auf; hektische Aufregung durchzog das Dorf; immer wieder trugen vier Männer, die gesamten Körper verhüllt und Handschuhe über den Fingern, einzelne Körper zu den Waldgräbern. Die Toten sahen grauenhaft aus. An den Leisten und in den Achselhöhlen tauchten Geschwüre auf. Dann überzogen sich die Körper mit schwarzen und braunen Flecken. Beulen und Geschwüre brachen auf und sonderten ekelerregenden Ausfluß ab. Vor tausend Jahren war erstmals die Pest über Europa hinweggezogen und hatte ein Drittel aller Menschen hinweggerafft. Jeder Teil des Körpers litt, die Kranken vertrugen das Essen nicht mehr, und sie starben unter gräßlichen Qualen. Endlich blieb das Herz stehen, und der verstümmelte Leichnam wurde in die stinkenden Bettücher eingeschlagen und fortgeschafft. Was half? Schutzimpfung und Isolierung der Kranken, sobald die ersten Anzeichen erkennbar wurden. Wir hatten die Schule zum Siechenhaus bestimmen müssen. Und nun diktierten Sauberkeit und Licht. Jeder Winkel in jedem Haus wurde gewaschen, gepulst, neu gekalkt, und jeder einzelne Gegenstand, der uns zu schmutzig o*- schien, oder etwas, das ein Versteck für die Ratten, ein Schlupfwinkel für Mücken oder für anderes Ungeziefer sein konnte, wurde verbrannt. Die Bauernfamilien verloren von Tag zu Tag mehr von ihrer Angst; brutal ausgedrückt war es so, daß niemand mehr angesteckt wurde und jeder Kranke wegstarb. Ich war der Herr von Beauvallon, und mir gehorchten sie. Auch der Priester war gestorben. Ich schickte ein paar Männer mit Gespannen und einem Beutel kleiner Münzen in die nächste Stadt und schrieb auf, was wir dringend brauchten - bis zuletzt hatte der Lehrer die Jungen und Mädchen unterrichtet. Es fehlte an vielem: Zugpferde gab es noch, Reitpferde fehlten. Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine - die wenigen sahen erbarmungswürdig aus. Ein Teil der Häuser 73
mußte ausgebessert werden, nur die Weiden und Felder schienen mit Fleiß und Mühe in Ordnung gebracht worden zu sein. »Martial!« schrie ich. Ein junger Mann rannte auf mich zu. »Herr?« »Das Mehl fehlt. Es gibt genug Korn. Warum arbeitet die Mühle nicht?« »Der Schmied... gestern haben wir ihn begraben.« »Was hat der Schmied mit der Mühle zu tun?« »Er soll die Eisen schmieden, die wir fürs Wasserrad brauchen.« »Und die Lehrlinge des Schmiedes?« »Sie sind bei den Gräbern.« »Hol sie, und ich sehe nach, was fehlt. Leben die Zimmerleute noch?« »Einige.« »Hol sie zusammen!« So ging es weiter, Stunde um Stunde. Gegen Mittag summte mein Mehrzweckarmband, und ein wnig später schleppten wir die Kisten aus dem Gewölbe. Die arkonidischen Maschinen hatten die Behälter aus Kunststoffen und aus dünnem Metall zeitgemäß gestaltet: sie sahen wie kleinere und größere Truhen aus. Einfache Stiefel wurden verteilt, Decken und Hemden, Mäntel und Unterkleider, Kraftnahrung und zahlreiche Gegenstände, die im täglichen Leben gebraucht wurden. Die Positroniken kannten die entsprechenden Programme. Binnen Stunden waren die Behälter leer, und die Truhen wurden verteilt. Der Bäcker hatte überlebt; wir sammelten Mehl und Schrot und heizten den riesigen Backofen an. Verstehst du nun, was die Schwierigkeiten Beauvallons ausmachten? fragte der Logiksektor. Ich stand neben dem schwelenden Feuer und ließ meinen Blick über die Fassaden, Dächer, Vorgärten und Mauern gleiten. Ich wußte es noch nicht genau, aber ich ahnte es Beaumont oder Beauvallon, »Schöntal«, war ein Beispiel für Millionen kleiner und größerer Siedlungen. Land und Menschen wurden ausgebeutet, die Steuern, Zehnten und Abgaben stiegen, und weil sie langsam verarmten, fehlten ihnen Kraft und Phantasie, einen ständig steigenden Teil ihres Lebens selbst zu bestimmen. Die Arbeit wurde 74
schwerer und - mehr; es wäre nötig gewesen, unter dem Schutz und in der Verantwortung eines Herrn zu stehen. »Wir sind augenscheinlich«, murmelte ich verzweifelt, »noch nicht weit genug von Städten, Straßen und Steuereintreibern entfernt.« Ich lief zur verlassenen Mühle. Die Frau und die Kinder des Müllers waren in der Pfarrei isoliert. Nachdem ich mich gründlich umgesehen hatte, mußte ich schweigend den Kopf schütteln. Überall herrschten Verfall, Unordnung, Dreck und die tausend Zeichen von Armut und Resignation. »Lernen sie es denn nie?« fragte ich in dumpfer Verzweiflung. »Muß ich denn jeden einzelnen Barbaren an der Hand führen und ihm sagen, wie der nächste Schritt aussieht?« Hol den Roboter zu Hilfe! sagte entschieden der Logiksektor. »Noch nicht!« knurrte ich. Die Bachufer waren zu säubern, der Teich war halb versumpft. Es gab für mich nur ein Mittel, nicht rasend zu werden. Dasselbe Mittel würde den Dörflern helfen, die Trauer und Lethargie zu überwinden. Ich rannte zurück zum Dorf, verteilte silberne Münzen und gab Befehle. Wieder schleppte man drei Bahren an mir vorbei. Hundert Leute mit Werkzeugen würden morgen bachaufwärts ziehen und das Gewässer von Wällen aus angetriebenen Pflanzen befreien, von umgestürzten Bäumen und allem anderen Abfall. Die zweite Gruppe fing schon jetzt an. Einen nach dem anderen schickte ich zur Mühle. Die Schmiedelehrlinge schürten die Esse und versuchten, die angefangenen Stücke zu beenden. Lärm und Aufregung nahmen zu. In einem der gesäuberten Häuser wurde ein Kessel dicke Suppe ^kocht. Fleischhauer und Metzger teilten Braten und Würste aus, während der Bäcker seinen Teig knetete. Ich zog mich in mein Arbeitszimmer zurück, packte Truhen aus, programmierte die Vielzweckroboter um und wies ihnen den Arbeitsbereich zu. Dann ging ich zur Mühle und schaffte es bis zum Einbruch der Nacht, die Schieber zu schließen und sämtliche beschädigten Teile des riesigen Wasserrads auszubauen. Ich warf alles auf ein Gespann und dirigierte es zurück ins Dorf. Mit Besen, Schaufeln, allerlei anderem Werkzeug und unter meinen Drohungen, Flüchen und derben 75
Scherzen reinigten Frauen und größere Kinder die Mühle vom Speichergebälk bis zu den Fundamenten; bald prasselte auch hier ein Feuer, dessen Glut reinigte, vernichtete und wärmte. Nachts zogen die Roboter die Schieber des Teiches auf. Zwei Platten barsten, weil sie morsch waren. Der kleine See leerte sich, das Wasser und der Schlamm ergossen sich in den Bach und auf einen Teil der Felder, wo sie willkommenen Dünger abgaben. Zwei Kinder starben in der Abenddämmerung, aber heute brannten frisch gefüllte Öllampen und Kerzen in jedem Haus. Die letzten Vorräte wurden aus den Verstecken geholt. »Unser Herr ist wieder da.« Georgette versuchte es zu erklären. »Sie sind fleißig, weil ihnen jemand sagt, was sie tun müssen.« In der Mühle siebten sie noch immer die Vorräte an Korn. Das Tal füllte sich mit dünnem Nebel und mit dem Rauch vieler Feuer. Es roch unbeschreiblich. Irgendwo heulte ein Wolf. Es würde noch viele Tage dauern, bis die Spuren dieser Tragödie beseitigt sein würden die vielen Toten brachte auch meine Energie nicht wieder zurück. »Teil die Becher aus!« bat ich Georgette. Wir saßen am Kopfende des langen Tisches im größten Raum von Le Sagittaire. »Es wird, denke ich, eine lange Nacht. Kannst du schreiben?« Stolz antwortete sie: »Ich war die Beste von allen in meinem Alter, sagte Lehrer Jaques.« »Dort stehen Papiere und eine Feder, die du nicht in die Tinte zu tauchen brauchst«, sagte ich. »Du wirst aufschreiben, was wir heute nacht ausmachen.« Sie goß verdünnten Wein in meinen Pokal, lächelte mich an und flüsterte: »Laß nicht zu, daß sie bis Mitternacht bleiben. Es war so schön... gestern nacht.« »Ich tue mein Bestes«, versicherte ich und lehnte mich zurück. Wieder war ich tief eingetaucht in die Welt der Barbaren. Wünschte ich mich wirklich weit weg? Ich war wohl ein allzu gutmütiger Herrscher; es schien, als würde mir diese neue Aufbauarbeit tatsächlich Spaß machen. Gegen die Steuereintreiber indessen mußte etwas unternommen werden. Heinrich, König von Frankreich, kämpfte gegen 76
die Habsburger und brauchte Geld, aber er würde wohl keine persönliche Order geben. Mittlerweile wirkten die Innenräume ein wenig wohnlicher. Ich hatte Zeit gefunden, mit Georgette und einer anderen jungen Frau meine eigenen Truhen und Kisten auszupacken. Langsam zündete Georgette die Öllampen und Kerzen an und verteilte sie im Raum. Wein gab’s im Dorfreichlich, und er war gut - eine weitere Seltsamkeit. Nacheinander kamen die erwachsenen Dörfler, einzeln und in kleinen Gruppen. Ich war freundlich, aber bestimmt. Ein großer Becher Wein nahm ihnen die Zurückhaltung und Bste die Zungen. Ich teilte die Arbeiten ein. bestimmte die Vormänner, fragte und erhielt Ungewisse Antworten. Nur langsam klärte sich das Bild. Sie brauchten schier alles: Hämmer und Pflugscharen, Fässer und Stoff... Georgette schrieb mit, und ihre Zunge strich zwischen den Lippen hin und her. »Ein Schritt nach dem anderen«, sagte ich schließlich und ließ nachschenken. »Wenn wir Glück haben, arbeitet die Mühle in zwei Tagen. Gibt es jemanden, der vom Müller angelernt wurde?« »Ja, ich«, antwortete Perrenet. »Aber so gut wie Moreau kann ich’s nicht.« »Du wirst es schnell lernen. Frag mich, wenn du nicht weiterweißt«, sagte ich. Und so ging es weiter. Ich stand auf und schloß mit der Frage: »Wann erwartet ihr Guy und Jehan zurück?« »In neun Tagen, wenn sie ein vvenig Glück haben.« »Bis dahin kennen sie Beauvallon nicht mehr wieder«, versprach ich. »Und morgen, bei Sonnenaufgang, treibt ihr eure Freunde und Nachbarn an die Arbeit! Ich gedenke ein wenig länger zu schlafen.« Die Männer tranken aus und gingen; sie schienen froh zu sein, ohne Strafen davongekommen zu sein. Sie wußten wohl genau, wie andernorts die Bauern behandelt wurden. »Morgen werde ich die Frauen und Mädchen auf diesen Sommer und viel Arbeit vorbereiten.« Ich stocherte zwischen den glühenden Balken im Kamin. »Es fehlt an allem. Buchstäblich! Aber wir werden es schaffen.« 77
Georgette saß auf dem Hocker vor den Flammen und blickte mich schweigend an. Nach einer Weile konnte sie ihre Gedanken zusammenfassen. »Der Lehrer hat es uns gesagt. Dein Vater und sein Freund sind oft gekommen, lange geblieben, weggegangen und lange fortgeblieben. Immer dann, wenn sie hier waren und Befehle gegeben haben, ging es Beauvallon gut. Wir waren allein - und es kamen Krankheiten, Viehseuchen, Not und Armut. Wie lange bleibst du?« Ich zuckte mit den Achseln, trank einen Schluck und blickte nachdenklich die Bilder, Steinarbeiten und Tafeln an, die die Wände schmückten. »Lange genug, um euch Sicherheit zu geben.« »Und dann...?« »Man wird sehen.« Ich wich aus und löschte eine Kerze nach der anderen zwischen den nassen Fingerspitzen, die ich in den Wein tauchte. »Niemand wird sich beklagen müssen. Vielleicht kommt auch mein Freund und Milchbruder Riancor, um uns zu helfen.« Es war spät. Mittlerweile heizten die Kaminfeuer nicht nur die Warmluftkanäle, sondern auch die frisch gefüllten Wasserbehälter. Im Baderaum sprudelte heißes Wasser in die Wanne und brachte die Essenzen und flüssigen Seifen dazu, weißen, knisternden Schaum aufzutürmen. Mit einem winzigen Vibromesser schnitt ich vor dem Spiegel Georgettes Haar; sie wollte es kürzen und verändern, und für mich war es eine willkommene Spielerei. Die Lichter im Schlößchen wurden ausgeblasen. Im Schlafraum war es so warm, daß wir die Terrassentür öffneten und, während wir uns liebten, die Laute der Nachtvögel hörten und den Wind, der durch die Baumkronen fauchte. Früher Morgen: Die ersten Sonnenstrahlen blitzten hinter dem Wald hervor. Die schweren Vorhänge waren geschlossen. Ich saß vor der Platte des Schreibtisches, der seit den Anfangen des Schlößchens bereits ein ehrwürdiges Alter zeigte. Das Leder darauf war blitzblank poliert. Ich betrachtete die Bilder auf zwei Bildschirmen, die innen in Truhendeckeln angebracht waren. Leise unterhielt ich mich mit Rico. 78
Was wußten wir von den Ländern Europas - im Frühling Anno D> mini 1550? Das portugiesische Weltreich zerfiel langsam, aber anscheinend unaufhaltsam. Spanien unter dem Fünften Karl war noch immer eine Weltmacht. Kaperfahrer, meist aus England, und Piraten vieler Nationen überfielen die Gold- und Silbertransporte aus den Kolonien. Die Osmanen, Muslime wie meine Freunde aus dem »Morgenland«, bildeten den dritten Machtfaktor. Die Stammbäume der unendlich vielen Großherzöge, Könige und Kaiser sahen aus wie positronische Schaltungen und waren ebenso verwirrend - für mich wenig interessant. Tausend winzige Farbflecken, jeder ein Herrschaftsgebiet, verwandelten die Landmasse in ein bizarres Mosaik. Luther hatte die Heilige Schrift in die Sprache seines Landes, in Deutsch, übersetzt, und prompt hatte sich die Staatsreligion gespalten, und von den Hauptparteien gab es zahlreiche Eiferer, Fanatiker oder solche, die jeden Text nach ihren wirren Vorstellungen auslegen würden. Wieder hob ich die Schultern und machte mir Notizen. Geistreiche Zwerge und Krüppel wurden als Hofnarren gehalten. Die Musik brachte mit neuen »trumben« und »busunen«, mit Orgelpositiven in »pythagoreischen« Stimmungen neue Klänge hervor. Für Kurzsichtige gab es Brillen, das Weltbild des Kopernikus, das ich ihm mit erheblicher Mühe beigebracht hatte, wurde von IVfelanchthon schroff abgelehnt. Auf der Reise benutzte man kleine Sanduhren. Das Französische hatte als Aktensprache das Latein abgelöst, Frankreich verpachtete die Salzsteuer... wieder eine Notiz! In Italien wirkte Michelangelo für den Papst. Es gab Windmühlen, deren Dach samt Flügel sich in die Windrichtung drehte. Jemand, der Riese hieß, erfand das Rechnen »nach der Lenge auf der Linihen und Feder einschließlich der Regula falsi« - Rico würde sich verschlucken. In Frankreich las man (beziehungsweise indizierte sie der Kbrus) die Bücher der frommen Margarete von Navarra und weitaus deftigere und wortgewaltige Werke eines Franzosen, der sich Alcofribas Nasier nannte; niemand hieß wirklich so. Der Wälzer hieß »Pantagruel«, und der Text schien, soweit Rico dies ermitteln konnte, die richtige Lektüre für mich zu sein. Der inzwischen verstorbene 79
Luther schien mehr gewußt zu haben als ich: Er hatte bestimmt, daß die Welt vor fünfeinhalbtausend Jahren entstanden sei und nur noch wenige Jahrhunderte bestehen würde längstens, denn Gott würde die Verderbtheit auf dieser Welt nicht mehr lange zulassen. Die Läufe von Schußwaffen schleuderten das von vorn geladene Geschoß mit stabilisierendem Drall aus der Mündung. Man führte Gerichtsverhandlungen gegen Tiere. Mein Freund Leonardo da Vinci war längst tot und hatte Berge schwer entzifferbarer Texte und Zeichnungen hinterlassen. Paris war von rund dreihunderttausend Einwohnern bevölkert; seine Straßen glichen Kloaken. Während am spanischen Hof ein absurdes Zeremoniell sich zu manifestieren begann, schien es sich südlich und nördlich von Rom noch am heitersten zu leben. Überall war Krieg! Wenigstens eines hatten die europäischen Barbaren begriffen: Ihre Schiffe brachen unentwegt nach fernen Ufern auf, aber die Mannschaften starben noch immer zu Dutzenden an Mange Ikrankheiten. »Sie scheinen nur das zu vergessen, was ihnen hülfe«, wunderte ich mich laut. »Rico, mein Milchbruder - statte dich wie ein provenzalischer Edler aus und hilf mir! Die Liste ist lang, wahrlich, aber wann kann ich mit dir rechnen?« Die Wahrscheinlichkeit, mir helfen zu müssen, war für den Höchstleistungsrobot errechenbar gewesen. Er war wieder »menschlich« und trug entsprechende Kleidung über seiner Plastramhaut. »In sechs Tagen«, antwortete er knapp. »Ein ganzes Dorf wartet auf dich und deine klug eingesetzten Bärenkräfte. Bring reichlich Münzen mit, entsprechende Ausrüstung und das Programm rund um Le Sagittaire et cetera.« »Ich werde den Gleiter aktivieren!« Ich trennte die Verbindung und betätigte einige Schaltungen. Ich würde die interessantesten und am meisten charakterisierenden Informationen der Spionsonden zu gegebener Zeit in kurzen Zusammenfassungen abrufen. Ich klappte die Truhen zu und schloß sie ab. »Kein Schiff!« sagte ich zu mir und war entschlossen, dieses Versprechen zu halten. »Die Menge der Weltumsegler reicht wirklich für mindestens ein Jahrhundert!« 80
Ich hoffte, diesmal auch keine Karten zeichnen, fälschen oder korrigieren zu müssen. Als ich die Vorhänge zur Seite geschoben hatte, ging ich in die Küche, und Georgette hatte bereits, ein archaisches Lied trällernd, das Frühstück bereitet. Hämisch bemerkte der Logiksektor: Ein Lob der Landbevölkerung, besonders wenn sie durch erotische Kontakte motiviert wird! Ich verzichtete auf einen Kommentar und grinste fröhlich. Dann stürzte ich mich wieder auf einen Teilbereich der Arbeiten in und um Beauvallon. Ich stemmte meine Fäuste in die Hüften und fragte: »Warum sind wir eigentlich hier?« »Weil dich die Sorge um das Heil der Barbaren geweckt hat«, antwortete Riancor zuvorkommend. »Wie schon so oft.« »Bist du sicher?« »Hochgradig sicher. Jede weitere Stunde beweist es deutlicher.« Der Müller Robinet und seine Familie hatten sich nicht angesteckt. Sie kehrten in die Mühle zurück. Seit einem Tag arbeiteten das Wasserrad, das Mahlwerk und die vielen Zahnräder aus Holz und Eisen. Es gab wieder frisches Mehl. »Wahrscheinlich hast du recht«, brummte ich. »Irgendwie erkenne ich meine braven Beauvalloner nicht wieder, und auch das Dorf scheint sich in diesen wenigen Tagen verändert zu haben.« »Ein Teil deiner Sicht der Dinge ist pure Einbildung.« Beide Ufer des Baches waren gesäubert, der Schlamm vom Boden des Teiches herausgeschaufelt, die hölzernen Wehre neu gezimmert. Rauschend und patschend drehte sich das Rad. Sämtliche Wege hatten wir ^reinigt und ausgebessert; an jeder Stelle des Dorfes wurde gehämmert und gesägt, genagelt oder Kalk geschlämmt, ausgebessert und geschmiedet. Jehan und Guy hatten Reitpferde und Zugtiere mitgebracht, drei wandernde Handwerker und nahezu alles, was auf unseren Listen vermerkt gewesen war. Krachend fiel am Waldrand ein Baum, und wieder setzten die Sägen kreischend ein. »Was ist das nächste Unternehmen?« fragte ich. »Tausend kleine Probleme«, wich Riancor aus. 81
Seine kleinen Roboter und er hatten, seit sie mit der umfangreichen Ausrüstung aus dem Gewölbe gekommen waren - nachts natürlich -. ununterbrochen und meist unbemerkt geschuftet. Wir ließen die Familien, die Waisen und die Alten nicht zur Ruhe kommen. Arbeit schien die beste aller Möglichkeiten zu sein, die Trauer und das Leid zu betäuben. Wir gingen mit arkonidischer Gründlichkeit vor und rekultivierten Dorf und Felder, Zäune und Weinhänge. Äcker und die vielen Küchengärten Schritt um Schritt. Der Frühling beherrschte die Landschaft und die Tiere; viele waren trächtig, und in ein, zwei Jahren würde das Dorf wieder so reich wie früher sein. »Du hast recht. Aber ich sehe, daß es mit unserer Arbeit recht bald ein Ende haben wird.« »Ich habe interessante Bilder eingefangen«, versprach er. »Nur nach Arcanjuiz solltest du nicht reiten oder fliegen wollen.« »Warum nicht? Was steht dagegen?« »Die Inquisition!« Riancor winkte ab. »Es ist wahrscheinlich auch für dich, selbst für dich, unbegreiflich.« »Später!« Ich sah eine Weile zu, wie junge Männer Feuerholz aus den Resten jener Baumstämme hackten und sägten, die wir für Dachfirste und Bretter brauchten. »Ich habe eine Menge nachzuholen, nicht wahr?« »Richtig. Deswegen werden wir auch eine längere Zeit hierbleiben und, möglicherweise, Port du Soleil besuchen. Aber das scheint nicht wichtig zu sein.« »Ich habe verstanden.« Wir brachten die Bauern nach und nach dazu, sich regelmäßig im Badehaus einzufinden. Die französischen Seifensieder verdienten nicht viel an ihren schäumenden Erzeugnissen; man kaufte ihnen weitaus mehr Unschlittkerzen und Talglichter ab, denn Sauberkeit galt bis hinauf in die Herrscherhäuser als widernatürlich. Daß dadurch Seuchen und Krankheiten geradezu heraufbeschworen wurden, erkannte niemand. Man hielt böse Winde, vergiftete Pfeile aus dem Reich der Sterne, den Atem unsichtbarer Pestjungfern oder Heuschrecken für die Urheber der tödlichen Übel. Die Tiere brauchten ebensoviel Mühe wie die Menschen. Es gab an jeder Ecke 82
eine andere Frage, ein neues Problem. Aber das Dorf lebte. Es gedieh besser von Tag zu Tag. Riancor und ich schnitten verfilzte Haare und schmierten stinkende graue Salben auf die Köpfe, um die Läuse zu vernichten. Wir holten sogar Schrot aus der Mühle, um die wenigen übriggebliebenen Hühner, Gänse und Enten zu füttern. Ich packte Zaumzeug und Sattel aus und versuchte, den Schimmelhengst einzureiten, den ich hatte kaufen lassen. Georgette war der gute Geist des Schlößchens. Sie kümmerte sich um unseren Haushalt, fürchtete sich nicht vor den seltsamen Geräten und Werkzeugen, die wir benutzten, und am meisten - und am liebsten kümmerte sie sich um mich. Charlott, Noels Frau, winkte aus der Tür ihres Hauses, die schräg in den Angeln hing. »Herr!« rief sie. »Komm herein. Trink einen Becher Wein.« Michel war einer der neun Männer und drei Frauen, die ich noch von meinen letzten Jahren in Frankreich kannte. Alle anderen waren gestorben, und ihre Töchter und Söhne und vielleicht deren Kinder kannten »meinen Vater« nur aus Erzählungen. Ich trat in die große Stube, die gleichzeitig Küche und Wohnraum war. Noel, Riancors frischen Verband um das Bein, schaukelte bedächtig mit dem hochlehnigen Stuhl und lachte zahnlos, als ich ihn begrüßte. »Ich hab’s immer gesagt«, meinte er mit einer überraschend kraftvollen, tiefen Stimme. »Du siehst wie dein Herr Vater aus, wie aus dem Gesicht geschnitten, Herr.« »Und ich sorge mich genauso wie er um Beauvallon!« Ich setzte mich auf einen Hocker mit frisch geflochtener Sitzfläche und an einen weißgescheuerten Tisch. »Wie konnte dieses schöne, reiche Dorf nur so herunterkommen? Was habt ihr getan? Was habt ihr unterlassen?« Er seufzte tief. Charlott reichte uns die schartigen Tonbecher. »Es ist eine lange, schlimme Geschichte, Herr«, begann er, und dann erfuhr ich, wie weit sich die Kriege der Könige in das Leben der einfachsten und von Paris sehr weit entfernten, fast versteckt lebenden Menschen auswirkten. Steuern, Abgaben, plündernde Räuber, Krankheiten, eine Viehseuche, gegen die man kein Mittel wußte, zwei Mißernten, einige Familien, die fortgezogen waren und im E83
lend umkamen... eine Kette von kleinen und großen Zwischenfällen und Schicksalsschlägen, die nicht abreißen wollte. Von Jahr zu Jahr verfielen Dorf und Besitz, und zur Armut kamen Hilflosigkeit und schließlich dumpfe Resignation. »Mein Vater hat euch gelehrt, wie ihr euch gegen alles wehren könnt!« wandte ich ein. Er hob die Schultern. »Wenn man hungert, Herr, kämpft man nicht mehr.« »Und der Priester, der Lehrer...?« Der alte Mann gewann langsam jenes Maß an Vertrauen zurück, das einst zwischen uns geherrscht hatte. »Sie halfen, wo sie konnten. Aber du bist gekommen, hast mit Gold eingekauft, und wir hatten nicht einmal Vieh zum Tauschen.« »Niemand hat sich um euch gekümmert?« »Die Büttel, Kriegsknechte und Steuereintreiber des zweiten Henri«, erklärte er. Er nahm einen tiefen Schluck, lächelte breit und sagte voller Erleichterung: »Aber nun bist du wieder hier. Wie dein Vater! Und auch dein Milchbruder... Mir ist, als hätte ich ihn gestern zuletzt gesehen.« Ich murmelte etwas von starker Ähnlichkeit in unseren Familien und schaute mich aufmerksam um. Der Alte schien schmerzfrei; sein Bein hätte beinahe amputiert werden müssen, weil die Wunden eiterten. Ein stürzender Baum hatte ihn schwer verletzt. Zwanzig Dutzend Menschen, dachte ich, für die wir die Verantwortung übernommen hatten. Es gab Millionen Siedlungen wie Beaumont. Sollten, konnten, durften wir ihnen allen helfen? Das würde nicht einmal die ArkonFlotte schaffen. »Wir werden kommen und gehen«, versprach ich. »Aber wir werden wiederkommen und nach euch sehen.« »Das mußt du tun, Herr«, murmelte er glücklich und leerte den Becher. »Es wird ein gutes Leben werden. Im Sommer werden wir wieder unter dem Baum sitzen. Hat dir dein Herr Vater erzählt, wie er ihn gepflanzt hat?« »Gewiß«, versicherte ich gerührt. »Du wirst mit deiner Charlott tanzen wie ein Junger. Bald ist der Verband weg. Dann wirst du dein Bein in die Sonne legen.« 84
Er schilderte die Vergangenheit in bunten Farben. Ich mußte wieder einsehen, daß es meist die Armen traf und daß sie sich mit Gsdanken und mit ihrem Herzen an Wort und Handlungen des guten Herrschers klammerten, als wäre er für sie verantwortlich und könne Wunder wirken. So war es wohl auch. Ich stand nach dem dritten Becher auf und drückte die dicke Charlott an mich. »Im Sommer werden wir lustige Feste feiern, auf dem Holzboden unter dem Baum. Seht zu, daß der Wein gut wird dieses Jahr.« Noel kicherte laut. »Den haben sie nie gefunden. Wir haben ihn immer gut versteckt. Und ins Schlößchen haben sie sich niemals gpwagt.« Ich ging hinaus und blickte in die rote Sonne, die langsam hinter dem Wald versank. Es war wie immer: Nur an wenigen Punkten konnten wir erfolgreich sein und immer wieder versuchen, den Barbaren zu he Ifen. Wann hörte diese schlimme Zeit endlich auf? In einem Becher stand zwischen uns eine voll erblühte rote Rose, das Symbol der Verschwiegenheit. Nur noch schwache Hitze strahlte von den Steinquadern des Kamins aus. Der Sommer war nicht mehr fern. Das erste Gewitter war über das Tal hinweggerollt und schien die Natur auf wunderbare Weise gereinigt zu haben. Auch dies ein Symbol. Riancor sprach weiter. »Arcanjuiz und Spanien - vergessen wir’s! Das Land ist mit einem Kordon umgeben, der keinerlei fortschrittliche Gedanken hereinläßt. Bücher sind indiziert und dürfen, in, welcher Sprache auch immer, nicht ins Land. Die Pragmatische Sanktion hat’s befohlen. Der Großinquisitor will auch den Hauch einer gedanklichen Abweichung vom wahren Glauben abschirmen. Und was die Gesetze des Glaubens sind, bestimmt die Inquisition, die jeden Ketzer bestraft, ins Gefängnis wirft oder verbrennt. Selbst in den Kolonien treiben sie es so bunt, daß auch die ausgebeuteten Eingeborenen sich höchlichst wundern.« »Also kommen keine fremden Ideen, gleich welcher Art, unter die Leute«, stellte ich fest und schüttelte mich. »Einverstanden. Kein Reiseziel.« 85
»Willst du fortreiten?« flüsterte Georgette erschreckt. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Noch nicht. Wir bereden nur, was wir von unseren Boten und Brieftauben erfahren und was uns bekannt ist. Du mußt wissen, daß Freund Riancor eine weite Reise tat, ehe er mir zu Hilfe kam.« »Das Land der Italiker?« »Frankreich kennt keine der Einschränkungen, wie ich sie schilderte«, fuhr Riancor fort. Hektik und Aufregungen schienen hinter uns zu liegen. Beauvallon und seine überlebenden Bauern hatten sich von dem Schlag der Pest und vom Verfall erholt - leichtfertig ausgedrückt. »Die Halbinsel zerfallt, wie du gesehen hast, in viele mittelgroße Republiken. Königreiche, Herzogtümer und den Kirchenstaat. Viele Zentren der Bildung, Kunst und Wissenschaft. Du kannst es, auf einer geringfügig höheren Ebene, mit der Zeit Leonardos, des Linkshänders, vergleichen.« »Ein lohnendes Ziel also?« »So scheint es, wenn ich von exotischen Gegenden, fernen Stranden und einsamen Inseln absehe. Es ist indessen wahrscheinlich, daß dein Sinn nicht gerade danach steht.« »Nach Magellan und all dem anderen - nein, danke.« Firenze? Milano? Venezia? Wieder war ich unschlüssig. Ich mußte mich schnellstens entscheiden. Sei beruhigt! Du mußt die Welt nicht vor einem gewaltigen Feind retten! meldete sich der Logiksektor. »Du wirst dich dort umsehen und dafür sorgen, daß ich alles so vorfinde, wie ich es aus besseren Tagen gewohnt bin.« »Natürlich.« Auch die Natur und die Jahreszeit halfen mit, den Eindruck zu verändern. Äcker und Weiden standen in sattem Grün. Selbst der Wald wirkte gesünder und voller Leben: Vögel, kleine Tiere, Rotwild und Wildsauen mit Frischlingen. Überall sahen wir hilflos stolpernde Jungtiere. Für eine Weile konnten wir Beauvallon allein lassen und so tun, als wären wir nur für einige Tage fortgeritten. »Und etwas muß uns einfallen«, schloß ich, »das unseren Freunden mehr Sicherheit in den nächsten Jahren gibt.« »Bald weiß ich, mit wem wir deswegen sprechen müssen.« 86
Bis zur Ernte, die gut zu werden versprach, gab es für uns nicht mehr viel zu tun. Noch einige Tage lang berieten wir die Bauern, halfen ihnen, wo es nötig war, ritten die Grenzen des Dorfes ab, wagten uns weiter ins Land hinein und galoppierten auf der Handelsstraße nach Norden und Süden. Wenigstens in diesem Teil des Landes herrschte in diesen Sommermonden Ruhe; sie war sicherlich nicht von langer Dauer. 87
4. Vasari legte eine Scheibe gebratenen Kapaun auf das Brot, ringelte eine dünnere Scheibe Kalbfleisch darüber und krönte den Happen mit einem Würfel Parmegiano. »Bei der Fischsuppe und der Politik«, führte er aus, »sollte man nicht zuschauen, wie sie gemacht werden, Signor di Atlan. In Firenze kocht und speist man mit mehr Raffinesse.« »Man sagt«, versetzte ich, »daß geistreiche Menschen meist arm im Gemüt sind, Baumeister.« »Mag sein. Wen schert’s?« Giorgio Vasari, vierzig Jahre jung, schien ein würdiger Nachkomme des Leonardo und des bewunderten Michelangelo Buonarroti zu sein. Er schrieb seit langem, hatte er mir erzählt, am »Leben einiger berühmter Maler, Bildhauer und Baumeister des Cinquecento«. Er war in der Tat ein geistreicher Mann und von bestechender Oberflächlichkeit. »Mich nicht, solange ich als Gast von Firenze gut behandelt werde«, antwortete ich. Wir saßen an einem reich gedeckten Tisch unter dem altehrwürdigen Gewölbe in einer Taverne, die für Essen, Wein und Bedienung berühmt war. »Das werdet Ihr sicherlich, denn der Zuwachs an Galle bestimmter Personen läßt sich genau mit der Abnahme der Weisheit bemessen.« Vor zweiundfünfzig Jahren war Girolamo Savonarola, der religiöse Eiferer, verbrannt worden. Vasaris Pläne für die Uffizien waren von den Behörden genehmigt; mein Gegenüber zeichnete und rechnete; er würde wohl zum Baumeister berufen werden. Spanische Vizekönige herrschten über Neapel, unter Cosimo aus dem MediciGeschlecht blühten Künste und Handel in Firenze. »Ihr seid Schüler von Buonarroti?« sagte ich. Die Speisen, Weine und Beilagen zwischen uns glichen einer Ausstellung. Wir speisten vom Feinsten. Ich hob das langstielige Glas und musterte das Treiben in der Schenke. 88
»In der Tat. Er ist ein Genie. Er zerreißt Seile und sprengt Ketten, von denen die festgehalten werden, die am engen Weg des Herkömmlichen festhalten.« »Kann ich ihn treffen?« »Vielleicht. Er flieht vor sich selbst, vor seiner Verantwortung. Er baut in Rom die Kirche der Firenzoni.« »Und Ihr? Was bietet Ihr dem Interessierten in Firenze?« »Allerorten entstehen meisterliche Werke. Bildung ist das, was übrigbleibt, wenn der letzte Soldi weg ist.« »So hält man es auch andernorts.« Vor wenigen Tagen war Riancor nach Beauvallon zurückgeflogen. Ich blieb vorläufig allein im Mittelpunkt der toskanischen Landschaft. Die Stadt hatte sich ausgedehnt, war an einigen Stellen verfallen, an anderen neu und viel prächtiger entstanden; wieder andere Teile besaßen genau jenes Maß an Alterserscheinungen, die aus einem Klotz ein schönes Bauwerk machten. Ich fühlte mich wohl am Ufer des Arno, und in Vasari hatte ich einen Cicerone gefunden, der offensichtlich jeden Künstler dieser Zeit und dessen Werk kannte und beurteilen konnte. »Warum malt Ihr nicht, Atlan?« Ich lachte und warf teils gleichgültige, teils interessierte Blicke in die Richtung der jungen Frauen an anderen Tischen. Der toskanische Wein war mehr als hervorragend. »Ich vermag zu zeichnen, zu rechnen, zu konstruieren und allerlei anderes. Aber als Schauspieler, Sänger oder Maler würde ich völlig versagen.« »Habt Ihr nicht die Hoffnung, daß sich das ändert?« Ich winkte ab. »Die Hoffnung ist ein gutes Frühstück, aber ein schlechtes Abendessen.« Wir sprachen über Correggio, Andrea del Sarto und Leonardo und deren Werke, über Fracastoro, der Grundlegendes über die Lustseuche geschrieben, aber kein Heilmittel gefunden hatte, über Giuccardinis »Storia d’Italia«, ein offenbar ernst zu nehmendes Geschichtswerk, über Parmigianino, Dossi und Michelangelos Plastiken für das Julius-Grabmal in Rom, über die Entdeckung des Amazonenstroms 89
durch Oranella, über Cellinis herrliche Plastiken und schließlich über die Novellini des Masuccio Salemitano, der die verwirrende Geschichte zweier Liebender geschrieben hatte. Die klugen Künstler von Firenze wußten sogar, daß in einer Novellensammlung Matteo Bandellos ein anderer Dichter, Luigi da Porta, genau diese Geschichte nach Siena verlegt und aus Mariotto und Gianozza Romeo und Julia gemacht hatte. Ich bat mein schmausendes Gegenüber, mir dieses Büchlein zu leihen. Er lud mich ein, sein Haus und seine Werkstatt zu besuchen. »Und Ihr, Atlan, kennt viele ferne Länder?« »Ich bin sehr weit herumgekommen. Überall lernte ich etwas, und deswegen fallt es mir nicht schwer, andere Menschen etwas zu lehren.« Langsam tafelten wir, ein kleines Gericht nach dem anderen, und jedes wollte den Vorgänger an Geschmack übertreffen. Reiche Italiener kannten eine gute Küche, und der Wein tat ein übriges, die Stimmung in dem Gewölbe ansteigen zu lassen. Musikanten kamen und spielten zwischen den Tischen. Auch die Musik hatte sich zu ihrem Vorteil weiterentwickelt. »Diese Uffizien, von denen Ihr sprecht... ein großes Gebäude?« »Eines der größten in der Stadt. Ich habe noch Schwierigkeiten mit den Fundamenten.« »Gern helfe ich Euch, architetto!« »Hoch erfreut! Ihr werdet die Modelle morgen sehen.« Herbst in der Toskana; eine herrliche Jahreszeit, auch in diesem Jahr. Allerorten sah ich die Kennzeichen eines wirklich planetenweiten Handels. Es gab Fabriken, in denen überlegt gearbeitet wurde. Durch massenhafte Produktion wurde die Ware billiger. Die Bauern, wie überall, waren die Proletarier geworden, wenn es ihnen nicht gelungen war, vom eigenen Land mit Gewinn und Überschuß zu leben. Es gab also Kernzellen, von denen schrittweise die Zivilisation verbessert wurde. Auffallig war, wieviel Prächtiges gebaut wurde. Kirchen, Paläste, Ausstellungsbauten und Fabriken, Befestigungsanlagen und Straßen... die Barbaren hatten doch etwas gelernt. 90
»Und wie findet Ihr unsere Mädchen und Frauen?« erkundigte sich Giorgio, als der Wirt zum drittenmal nachgeschenkt hatte. »Höchst reizvoll und glutäugig.« »Hütet Euch! Eine Frau, die einen Ehemann sucht, ist das gewissenloseste aller Raubtiere!« »Ich beabsichtige nicht, mich zu verheiraten.« »Dann haltet Eure Börse fest. Alles, wessen Ihr bedürft, findet Ihr in unseren Mauern.« »Si vede«, brummte ich. »Man wird sehen. Wir alle tragen Masken. Auch die Frauen.« »Kennt Ihr die Spielregeln, so ist schon viel gewonnen.« Natürlich trug ich eine vollkommene Maske. Sie erstreckte sich von den Stiefeln über die enganliegenden Hosen bis zur Haartracht und unauffälliger Bewaffnung. Im Gürtel steckten reichbestickte Handschuhe, und an den Fingern trug ich kostbar aussehende Ringe. Mein leichter Mantel hing achtlos über der Stuhllehne. Die Musiker näherten sich unserem Tisch und spielten ein heiteres ricercar. Meine Finger schlugen die Takte mit. »Gebt ihnen nicht zuviel! Sonst schmerzen uns beim Nachtisch die Ohren!« warnte Giorgio. »Geld, das ich besitze, bedeutet Freiheit. Jage ich ihm selbst nach, wird es zur Peitsche der Knechtschaft.« »Wie wahr. Seid Ihr wirklich reich?« »Nicht sonderlich. Zum Leben reicht es. Angemessen«, gab ich Auskunft und beschenkte die Musikanten großzügig, bedeutete ihnen aber, an anderer Stelle zu spielen, und zwar neben dem Tisch an der Brüstung, wo die schwarzhaarige Dreißigjährige saß. »Und überdies«, sagte ich nach einem langen Blick in die Augen der Unbekannten, »kann ich nicht nur Euch bei bestimmten Berechnungen, sondern auch beim Bau von Kanälen, Schleusen, Musketen und anderen wichtigen Dingen manch guten Rat geben. In anderen Städten tragen viele dauerhafte und klug arbeitende Einrichtungen meinen Namen.« 91
»Das werde ich meinem Herrn wohl sagen. Aber die Verwaltung sie braucht für eine Unterschrift länger als der Schöpfer, der immerhin in sieben Tagen mit allem fertig war.« Ich mußte schallend lachen. »Das kenne ich. Aber die Qualität und die Wahrheit, sie können warten, sie sind es gewohnt.« Noch an diesem Abend, aus dem eine lange, weinschwere Nacht wurde, lernte ich viele wichtige Männer der Stadt kennen. Vasari und ich, sein Gast, wurden höflich begrüßt. Ich erhielt zwei Dutzend Einladungen und nahm jede von ihnen an. Schließlich begleiteten mich einige Herren noch bis zu meiner Wohnung, die im zweiten Stock lag, in einem geräumigen Haus, das innen an der Stadtmauer lehnte und einen zweiten Zugang über den hölzernen Wehr-Umgang hatte. Ich nahm die Talglaterne und versuchte, möglichst leise über die knarrenden Treppen zu klettern. Die Stunden waren ein bunter Reigen. Ich las und beobachtete Handwerker und Arbeiter, rechnete und zeichnete, ritt ins Umland und besuchte die beste Fechtschule der Stadt. Konzerte mit ergreifender Musik besuchte ich ebenso wie die Feste am Hof. Ich berechnete Fundamente und tragende Konstruktionen der Uffizien, begutachtete Vasaris Bilder und Plastiken, sah den Glasbläsern und Seidenwebern zu, kaufte wertvolle Kleinigkeiten, machte teure Geschenke und wurde beschenkt. Bald bewegte ich mich in der Stadt, als sei ich hier geboren, und den Dialekt sprach ich so gut wie einer von ihnen. Riancor wachte über Beauvallon und kümmerte sich um Port du Soleil. Ich lernte Mädchen und Frauen kennen und liebte Dianina, die Dame aus der Taverne. Sie war liebreizend, leidenschaftlich und klug, aber tatsächlich nur darauf aus, einen Ehemann zu finden. Verwunderlich, sagten alle meine neuen Freunde, da sie schon einmal verheiratet gewesen war und eine Tochter erzog. Ich ließ sie in dem guten Glauben, als Erfinder in Firenze zu bleiben und hier mein Geld zu verdienen. Ich lernte viel. Ich begriff - sicher nicht jede Einzelheit -, was den objektiven Wert eines Kunstwerks ausmachte, sah Instrumentenbauern ebenso bei der Arbeit zu wie Bauwerkern, deren Kräne und Seil92
züge ich verbesserte. Ich zeigte den Waffenschmieden, wie statt des Lunten- ein Steinschloßgewehr zu konstruieren war, vermochte die eng in ihren Zunftbedingungen denkenden Hersteller nicht zu überzeugen, daß Patronen und Kammern der bessere Weg waren. Durch diese kluge Zurückhaltung rettest du vielen Soldaten das Leben, bemerkte kritisch mein Extrahirn. In einem Land, das Schnee und Eis im Winter kaum kannte, reiste es sich angenehm. Mit Dianina und Vasari ritten wir nach Rom und besuchten Michelangelo, der uns seine Werke zeigte. Am Holzmodell seines ersten Entwurfs, der fünf Jahre alt war, stellte ich mit Riancors Hilfe Berechnungen an - die wohl einmalige Kuppel der Sanct-Petrus-Kirche stellte den Meister vor statische Probleme, die wir lösen konnten. Wieder lernte ich ein Land neu kennen, das Schauplatz einer wirren und langen Geschichte gewesen war und dessen Bewohner, wie ich fand, einen großen Schritt in eine bessere Zukunft getan hatten. Ich lieh von Giorgio Vasari die Hystoria Novellamente Ritrovata di due Nobili Amanti aus, ein schmales Büchlein, das vor fünfzehn Jahren in Venezia herausgegeben worden war. Im Titelhelden »Romeo« vermochte ich jenen Mariotto, den narbigen Wegelagerer, kaum mehr wiederzuerkennen - ihn, der mich und Rico einmal überfallen hatte. Vasari, geistreich, trinkfest und sarkastisch wie meist, hatte mich auf seine Art wieder gewarnt: »Eine Donna, caro amico, die einen Ehegatten sucht, ist, si vede, das gewissenloseste aller Raubtiere.« Wahr gesprochen! Dianina, die Leidenschaftliche, wollte mein Eheversprechen vor dem Magistrat einklagen. Liebe oder nicht, gemeinsame lange Nächte, Reisen und Ritte; nichts bedeutete ihr mehr als die Zeremonie in der Krche. Ich fragte sie, warum sie unbedingt eine solch schöne, tiefe Freundschaft zerstören wollte. Ihre Antwort war absolut unlogisch: Unsere Freundschaft würde endlos lange und von unergründlicher Tiefe sein, wenn wir unauflöslich in Liebe ane inandergefesselt wären. Jäh endete mein Aufenthalt in den Mauern von Firenze: Nachts holte Riancor mich und sämtliche Ausrüstung mit dem Gleiter ab. Während die Angehörigen der feinen Gesellschaft sich vor Kichern 93
und Lachen nicht halten konnten, verbrachten wir einen herrlichen, kalten Winter im Warmen. Le Sagittaire und die Wälder und leeren Weiden rund um Beauvallon luden zu besinnlichen Abenden und zur Jagd ein. Ich hatte vergessen, das Buch zurückzugeben, und als sich aus dem grauen Himmel unaufhörlich Schnee ergoß, wagte sich niemand mehr ins Tal. Die Hystoria Novellamente nahm ich mit, als wir uns wieder in die Tiefe des Meeres zurückzogen und warteten. Rico bewachte unseren Schlaf, und in dieser Zeit dirigierte er die Spionsonden an jene Punkte der Welt, an denen Kerne möglicher Veränderungen zu erkennen waren; für umfassende Informationen war der Planet zu groß, und Rico konnte nicht mehr als zwölf Sonden gleichzeitig steuern. Ohne ständiges Chaos war dieser Planet undenkbar. Streit, Neid, Kampf und bizarre Meinungsunterschiede dirigierten Einzelpersonen und Völker. Hundert Herrscher stritten sich um Land, Geld und Macht, und jeder von ihnen hätte wahrlich Vernünftigeres zu tun gehabt. Wehmütig dachte ich an Staatsgebilde, die ich kannte: Mesopotamien, das Land der Pharaonen und andere Großreiche. Während wir langsam auf die fernen Türme und Rauchsäulen der Hauptstadt zuritten, holte ich wieder den Brief meines Freundes Blaise heraus und las, erfreute mich an der feinen Schrift und ärgerte mich über das, was Monluc schrieb. »Zweiundvierzig Jahr’ trug ich rostende Rüstung und scharfe Waffen, im Dienst meiner Könige. Neunzehn war ich, da tötete ich den ersten Gegner. In Schlachten, so vielen, daß ich ihrer Zahl vergessen will, kämpfte ich nur für mein Land, für Frankreich. Dereinst sende ich Dir, dem Retter meines Lebens und meiner Gesundheit, jene commentaires, in denen ich mein Leben niederschreiben werde.« Ich zuckte mit den Achseln; wir hatten ihn und vier seiner Männer unweit der Straße gefunden; gegen Ende des klirrenden WinterFrostes in diesem Jahr. Sie waren entkräftet und krank. Jene Geschlechtskrankheit, die in Italien Syphilis genannt und detailliert beschrieben wurde, hielt sie in den Krallen. Pflege, äußerste Hygiene, reichliches Essen, Antibiotika und mein Zellaktivator hatten sie bin94
nen zweier Monde kuriert. Dazu die liebevolle Aufmerksamkeit unserer Bauernmädchen - sie waren genesen, gesund und von Riancor und mir in unsere Sicht der Welt eingeführt worden. Blaise Monluc war der Klügste von ihnen. Er begriff voll, was ihn betraf, und wir redeten nächtelang, tranken nächtelang, jagten und arbeiteten, und vor fünfzig Tagen waren sie mit frisch geputzten Waffen und in reinlicher Kleidung davongeritten. Monique, Riancor und ich besaßen einen unterschriebenen und gesiegelten Geleitbrief. »Besser als schieres Gold«, sagte der Grauhaarige und drückte mich an sich, als er mir das kurze Schreiben übergab. Ich las weiter; Worte, die ich längst kannte, aber für mich waren sie ein Zeichen der Hoffnung. Kehrte die Vernunft, ratio, tatsächlich in manche Hirne ein? »Tausendfacher Tod. Tausendfache Wunden. Schmerzen, Beulen und Schwären. Ungeziefer, Hitze und Kälte, Durst und Hunger. Die rasende Wut, mit der Menschen einander, sage ich, das Leben nehmen, nachdem ihnen allen, Heimat, Besitz und ihr Liebstes genommen ward - wofür? Alles kenne ich, mein kluger Freund. Ein Fußbreit Land, blutgetränkt, die hochfahrende SelbstEinschätzung jener Kreaturen, Herzöge, Pfaffen oder Könige, Kaiser und Päpste - für den Glanz des Augenblicks. Gut habe ich zugehört, Atlan-Car. Trostlos! Ich reite zurück an den königlichen Hof. Erbarmen! Die Tage sind unendlich lang, und froh ist jeder, der in diesen Zeiten noch Schlaf findet. In Le Sagittaire, nach schaurigen Jahren - oft stockte mein Blut -, fand ich Ruhe und Schlaf und Euch, Menschen, von denen ich in bittersten Nachtstunden träumte. Dank? Ein schwaches Wort, meine Freunde.« Die Straßen und Brücken, über die wir ritten, zeigten sich in kümmerlichem Zustand. Nur an wenigen Stellen gab es lichten Wald und große, fruchtbar wirkende Felder im späten Frühling. Die Herrscher hatten wichtige Vorhaben auf ihre Fahnen geschrieben: Seit \or vier Jahren Frankreichs König, der zweite Heinrich, bei einem Turnier gestorben war, versuchte seine Witwe, Catharina di Medici, die Autorität zu behalten. Ein Sohn starb, jetzt vertrat sie seit drei Jahren den neunten Karl, ein schwächliches Kind, das unfähig war, seiner 95
dubiosen Rolle gerecht zu werden. Es herrschte halb offener, halb verdeckter Krieg zwischen Katholiken und Protestanten, die »Hugenotten« hießen, huguenot, nach dem vergeblichen Versuch, in der Landessprache das fremde Wort »Eidgenossen« auszusprechen. Wieder einmal waren wir in anderer Maske unterwegs. Unser Ziel war die Hauptstadt. »Genug der trostlosen Worte, Freund Arcoluz und Du, Atlan-Car. Dankbar denke ich, in unerschütterlicher Freundschaft, an lange Monde zu Le Sagittaire. Gute Gespräche, Wein und Jagden - niemals in meinem Leben hatte ich solch gute Tage. Eingeladen seid Ihr oft und gern von mir. Kommt an den Hof des jungen Königs, so werdet Ihr alles finden, was ich Euch bieten kann. Zeig mein Siegel, AtlanCar. und jede Tür öifnet sich. Blaise Monluc schrieb’s, gab’s Monique de Beauvallon, und in einer guten Stunde liest sie’s Euch vor. Gegeben und gesiegelt Anno Domini 1563 zu Le Sagittaire« Vor einem Jahr hatten vierhundert Piratenschiffe der Engländer in dem schmalen Wasser zwischen Frankreich und der Insel sechshundert französische Schiffe gekapert. Reichlich fünfzehnmal teurer als Silber war dieselbe Menge Gold. Reiche Leute schnupften ein Kraut aus der Neuen Welt und nannten es Tabacque. Mit jeweils zwei beladenen Packtieren, in halb zeitgenössischer Kleidung, leicht verfremdet und entsprechend gesichert, steckten wir drei in der Maske ritterlicher Gelehrter. Ich hielt das Pferd an, hob grüßend die Hand und räusperte mich. Ich musterte die Doppelwache, die das SaintJacques-Tor schützte. »Wir wollen den Konnetabel sprechen, der die Verantwortung hat«, sagte ich liebenswürdig. Gelassen betrachtete der junge Mann unsere sauberen, vor Gesundheit strotzenden Pferde, das Gepäck und die Waffen. »Das bin ich. Lieutenant Barry, Messieurs.« Er grinste Monique an. »Euer Begehr?« 96
»Uns holt Blaise Monluc hierher«, erklärte Arcoluz. »Wir haben seine Einladung und sein Siegel.« Paris war von Mauern umgeben, die, grob gesehen, zwei Halbkreise mit unterschiedlich großem Durchmesser bildeten. Die Seine durchschnitt die Stadt, fünf Inseln lagen im Fluß. Ringsum erstreckten sich Äcker, Felder und kleine Siedlungen, eingebettet in Waldstücke. Aus dem weit offenen Tor zogen unbeschreibliche Gerüche heran. Paris stank. »Monluc ist nicht in der Stadt. Vor Tagen ritt er gegen Hugenotten im Südwesten.« »Sein Majordomus wird uns helfen können«, sagte Arcoluz und winkte einen Jungen herbei. Mittlerweile starrten uns Dutzende zerlumpter, schmutziger Menschen an. Fast gleichzeitig verstärkten wir den Radius unserer körpereigenen Schutzfelder. Vor Beutelschneidern und raffinierten Dieben brauchte uns niemand mehr zu warnen. Wir hatten sie alle erlebt. Der Wächter erklärte dem Jungen, wohin er uns führen sollte. Riancor gab ihm eine neu schimmernde Münze. »Hotel de Ville!« rief uns Barry nach. »Gebt acht! Und achtet das Stadtgesetz!« Die Spionsonden hatten uns viel gezeigt. Wie immer fehlte diesen Eindrücken eine entscheidende Dimension. Wir ritten zwischen verschmutzten Mauern durch einen Brei aus Unrat und Kot, kamen auf große Plätze, an denen große, prächtige Steinbauten standen. Eine Flut Menschen wälzte sich hin und her. Es herrschten Bewegungen, Farben, Dünste, Geschrei aus tausend Kehlen, knarrende Räder und kreischende Felgen auf den wenigen gepflasterten Flächen, das Rumpeln und Krachen der Wagen auf den Brückenbohlen und über allem die Doppeltürme der Kirche zu Unserer Lieben Frau: NotreDame. Zwischen den Bauwerken nahm der unerträgliche Gestank zu, und nur unter den Bäumen war es erträglich. Am hellen Vormittag sahen wir Ratten, streunende Katzen und räudige Hunde, Scharen von Tauben - Soldaten, Händler, Dirnen, Marktfrauen und unzählige Handwerker, die im Innern ihrer halb geöffneten Läden stichelten und hämmerten. Ätzender Rauch senkte sich aus den Essen über die Dächer herab, kroch entlang der Mauern, des Fachwerks und der 97
Fenster und biß in den Nasenlöchern. Ich prägte mir jeden Fußbreit ein, zählte Quergassen, speicherte das Aussehen der schmalbrüstigen oder breit hingelagerten Häuser und begann mich vor den Gefahren der Nächte zu fürchten. Wir überquerten den Fluß, ritten über den Platz vor der Kathedrale und erreichten über die östlichste von drei Brücken das Quartier. Ich stieg aus dem Sattel und achtete sehr genau darauf, wohin ich trat. Der Junge, der uns geführt hatte, deutete auf die kantige Front des Hauses. »Hier sind wir, die Herren. Monluc, er ist bei Hofe wohlgelitten!« Riancor betätigte den Türklopfer, einen grünspanigen Hundekopf, durch dessen Maul ein glänzender Ring lief. Krachende Schläge hallten durch das Haus. Leise verhandelte ich mit dem Betteljungen, zählte einige Münzen in die schmutzige, schwielige Hand und versuchte, den Geruch seines Atems zu ertragen. Phelip neigte gespielt hoheitsvoll den Kopf. »Euer Name, Monsieur, wird überall in der Stadt bekannt werden. Einen Rat darf ich Euch geben?« Ich hob die Brauen. »Wohnt nicht hier! Ich kenne einen Platz, in Saint-Germain-dePres, dort ist die Luft besser. Ich habe Eure Gesichter gesehen.« Ich lachte. Wahrscheinlich hatte er lecht. Das Tor wurde geöffnet. Ein älterer Mann mit weißem Haar, im Nacken zu einem Zopf aisammengefaßt, richtete wachsame Blicke aus grauen Augen auf unsere Gruppe. Als er mein weißes Haar sah, lächelte er breit und sagte höflich, fast erfreut: »Ihr müßt der Herr Graf von Beauvallon sein, von dem mein Herr immer spricht und den er eingeladen hat. Seit dreißig Tagen halten wir Eure Zimmer bereit. Warum schicktet Ihr keine Boten, Graf Atlancar?« In Wirklichkeit fixierte er uns sehr genau. Er drehte sich um und klatschte in die Hände. Mägde und Knechte kamen, kümmerten sich um die Tiere und das Gepäck, und Monique nahm ihre Reitkappe ab. Leuchtend rot fiel ihr Haar über ihre Schultern. Martial, Sekretär, Haushofmeister und Vertrauter meines Freundes, Martial Grandier 98
mit vollem Namen, erklärte uns, daß es wohl ein halbes Jahr dauern könne, bis Blaise zurückkäme. »Und warum hat er uns keinen Boten geschickt?« erkundigte ich mich lachend. Vier unterschiedlich hohe steinerne Gebäude umschlossen einen Hof voller Bäume und Rasen mit einem sprudelnden Brunnen und ein Küchengärtchen. Die kleinen Fenster unserer Räume und eine Terrasse blickten nach Westen. Deutlich sahen wir die Dächer und Türme des Louvre, des kastellartigen Stadtschlosses des Königs. »Von dieser Weltstadt, in der Händler und Fremde aus allen Teilen der Windrose zusammentrafen, bin ich enttäuscht!« Monique hatte bisher alles schweigend angesehen und Eindrücke gesammelt. Etwa dreihunderttausend Menschen mochten in Paris und seiner inmittelbaren Umgebung hausen. Ich hob die Schultern und brummte: »Die Zeit, in der die Menschen erfahren, wie lebenswert eine Stadt sein kann, ist längst vorbei. Vielleicht gibt es irgendwann auch in Paris einen göttergleichen Baumeister, der es ihnen wieder zeigt.« Nach einer Pause fuhr ich fort: »Ich werde es, fürchte ich, nicht sein.« Riancor belehrte uns mit der Zusammenfassung dessen, was er über die Stadt im Lauf vieler Jahre erfahren hatte. Er schloß: »Aus dem Versammlungsplatz der Wolfsjäger - le loup, der Wolf - wurde irgendwann la Louverie, daraus der Louvre. Dort versucht ein dreizehnjähriger Junge, das Schicksal eines Landes zu beeinflussen.« »Vielleicht können wir ihm helfen«, meinte Monique achselzuckend. Zumindest einen klaren Zweck hatte unsere Reise in die Hauptstadt. Vielleicht gelang es uns, den Menschen zu erklären, daß bestimmte Regeln der Sauberkeit das Große Sterben verhindern könnten. Ich mußte also versuchen, an einen Punkt vorzudringen, von dem aus ich Befehle geben und Planungen durchführen konnte. Zuerst suchten wir die Bekanntschaften der Gelehrten. Ich setzte vor den Augen einer kleinen Gruppe ein Gerät zusammen und nannte es in griechischer Sprache Teleskop, einen In-die-WeiteSeher. Messinghülsen mit unterschiedlichen Durchmessern enthielten geschlif99
fene Linsen, die ich angeblich von einem niederländischen Brillenmacher namens Lieuwenhoek hatte. Auf einen Dreifuß gesetzt, voll ausgezogen, genau auf ein fernes Ziel gerichtet, arbeiteten die Linsen auf das vortrefflichste zusammen und verblüfften jene Männer, erschreckten sie fast, die Gelehrten, die nicht einmal wußten, aus welchen Gründen die von der Pest Angesteckten starben und woher die Seuche kam. »Messieurs!« Ich führte eine großartige Gebärde aus. »Es ist ein lichtvo lies Jahrhundert, in dem wir leben. Verwundert sehe ich, daß Ihr wenig von dem kennt, was in meiner Heimat an der Schule jüngster Knaben gelehrt wird.« »Vergeßt nicht, Magister«, gab Alain de Marin zurück, »daß die furchtbare Pest, die vor einem Jahr tobte, ungezählte kluge Köpfe hinwegraffte.« »Und auch weiterhin wird sie wüten«, prophezeite ich. »Denn in dieser herrlichen Stadt findet sie, was sie braucht: Schweine und Ratten, Ungeziefer und sehr viel Dreck. In den Häusern und noch mehr in den Straßen. Ich weiß, daß noch viele Tausende sterben werden. Beim nächstenmal, meine Herren.« »Woher wißt Ihr dies?« »Woher wißt Ihr«, fragte ich sarkastisch, »daß die Sonne wärmt und der Regen Euch durchnäßt?« Ich erhielt keine oder nur solche Antworten, die mich verständlicherweise nicht zufriedenstellten. Aber es wäre ungerecht, wenn ich behauptete, daß die Barbaren nicht lernten und Gelerntes begriffen Kunst, Musik und viele andere Disziplinen blühten. Gleichzeitig lebten selbst die Reichen unter Bedingungen, die andernorts - dort, wo wir etwas zu sagen hatten - undenkbar gewesen wären. Vom Zustand der Umgebung, in der die Armen der Stadt und die Bauern und Handwerker überall in den Ländern lebten, wußten wir arge Lieder zu singen. »Von Fall zu Fall werde ich Euch Antworten geben, die ein wenig überraschen«, versprach ich. »Ich und mein Milchbruder und Condottiere Riancor sind bekannt geworden, weil wir gern antworten, 100
wenn schwierige Fragen gestellt werden. Und sehe ich mich um, dann erwarten wir viele Fragen.« Das Teleskop war eine Sensation. Sie sprach sich binnen dreier Tage in ganz Paris herum. Dutzende einzelner Gelehrter und Gruppen kamen auf die Terrasse des Hauses, benahmen sich aufdringlich und störten den Haushalt unseres Freundes, aber das Teleskop machte sie nachdenklich und steigerte ihre Aufregung. Stundenlang starrten sie hindurch, richteten es hierhin und dorthin, verfolgten Vögel im Flug und stellten unvorstellbare Dinge damit an. Unterdessen hatten wir angefangen, das Haus, die Gartenanlagen, hauptsächlich die Kellergewölbe von einer unglaublichen Masse stinkenden Unrats zu reinigen, Ratten zu fangen und totzuschlagen; mit Mühe gelang es uns, Röhren herzustellen und einen Abtritt zu konstruieren und zu bauen, der in einer Versitzgrube endete und das Wurzelwerk einiger Bäume versorgte und düngte. Unser Tun wurde zunächst voller Mißtrauen, dann mit Begeisterung vermerkt. Natürlich war es unser erklärtes Ziel, an den königlichen Hof eingeladen zu werden. Von dort kamen die Befehle, mit denen ein Teil der Welt ein bißchen zu ihrem Vorteil verändert, verbessert werden konnte. Einige Frauen aus den umliegenden Häusern wurden bezahlt und reinigten die etwa dreihundert Schritt der Rue de Seine mit Besen, Wasser und Essig. Es gab Leute, die uns für verrückt erklärten. Uns wurde das Bürgerrecht angetragen; wir nahmen an. Dabei lernten wir Jean Cousin kennen, Maler, Geometer und Glasmaler aus Sens, dessen Vater das Eckhaus an der neuen Rue des Marais hatte bauen lassen; ein hervorragender, hochbegabter Künstler und ein Zeichner von höchstem Können. Uns verblüffte, daß er schneller begriff als die meisten Gelehrten, woran es dieser Zeit und der Stadt Paris mangelte. Cousin zeichnete und malte Vorlagen für Tapisserien, führte die Arbeiten seines Vaters fort, ließ sich von uns die Maltechniken Michelangelos erklären und versprach uns, daß wir durch ihn in den Louvre eingeladen werden würden. Wir warteten auf unseren Freund, dessen Krieger irgendwo in Frankreich gegen Marodeure und Schnapphähne kämpften, und während dieser Zeit wagten wir 101
weite Ritte in die Umgebung der Stadt. Wir fanden gegenüber den Tuilerien, im Großdorf St.Germain-des-Pres, ein Wohnhaus mit einer Halle, in der Boote gebaut worden waren; wir mieteten es und ließen es in Teilen um- und ausbauen. Paris war eine seltsame Stadt; nicht viel anders als jede andere große Siedlung in Europa nördlich der Alpen. In den Nächten herrschten die Armen, Ausgestoßenen, die Bettler, die in Gilden zusammengefaßt waren, die Räuber und jene Diebe, die wegen einer einzigen Münze einen Menschen erstachen. Wir wagten uns nur im Schutz der Energiefelder und mit entsicherten Lähmstrahlern durch die Straßen, und Riancor trug eine gespenstisch grell leuchtende Fackel. »Es gibt da einen Mann«, klärte mich Riancor auf, als wir westlich der Stadt über die Uferstraße trabten, »der, für diese Zeit, erstaunliche Ideen hat.« »Du meinst ihn, nicht wahr?« Monique lachte, richtete sich in den Steigbügeln auf und deutete mit der Reitgerte auf mich. »Nein. Er stammt aus Saint-Remy, aus einer Familie bekehrter Juden. Er hat, beispielsweise, klar erkannt, daß Seuchen und andere Krankheiten wegen mangelnder Sauberkeit so furchtbar grassieren.« »Ich bin verblüfft«, gab ich zu. »Warum erwähnst du das?« »Weil die Königmutter ihn an den Hof eingeladen hat. Narbonne, Carcassone, Toulouse und Bordeaux hat er besucht, die Städte, die von der Pest teilweise entvölkert wurden.« »Weiter!« Im Gegensatz zum Land außerhalb der Mauern war Paris ein riesiger, kranker Organismus. Diese Stadt war unser Beispiel für unzählige andere. Die Menschenmasse erzeugte ihre Probleme selbst. »Er studierte die Seuche aus nächster Nähe. Zwar schreibt er seltsame okkulte Prophezeiungen, widmet sich dem Gang der Gestirne und anderen seltsamen Tätigkeiten. Er reiste von Salon hierher, auf Einladung des Hofes.« Wir erfuhren, daß er etwa sechzig Jahre alt war, daß vor siebzehn Jahren seine Frau und zwei Kinder an der Pest gestorben waren und daß er an den Universitäten von Avignon und Montpellier studiert 102
hatte. »Man sagt, daß er Calvinist sei. Man erwartet ihn in drei Tagen im Louvre. Ihr beide wärt ein treffliches Gespann.« »Schon möglich. Ich werde ihn kennenlernen müssen.« Magister Michael de Notre Dame, dessen Großvater Arzt jenes Königs gewesen war, der noch heute im Volksmund »Bon Roi Rene« hieß, galt also als Pestexperte. Daß er versuchte, die Schicksale von Menschen aus dem Lauf der Sterne und der wenigen Planeten zu errechnen, die mit bloßem Auge zu entdecken waren, paßte in die Zeit und traf genau in die Träume, Vorstellungen und Sehnsüchte der unwissenden Barbaren. Monique hatte zugehört und sich jedes Wort gemerkt. Wir banden unsere Pferde vor einer Schenke an, bestellten Imbiß und Wein und versuchten, für unser weiteres Vorgehen ein überzeugendes Konzept zu finden. Bis zum heutigen Tag war es mir nicht recht gelungen, einen übergeordneten Sinn für unseren Aufenthalt zu finden. Wie du womöglich selbst entdeckt hast, bemerkte der Extrasinn, kann mehr Sinn darin liegen, viele kleine Dinge zu betreiben als ein großes Vorhaben! Wir beendeten unser Gespräch, tranken den letzten Schluck Wein und ritten zurück hinter die Mauern von Paris. Blaise war noch nicht zurück. Die Mauern schützten die Bewohner womöglich vor Feinden und Überfällen, aber ebenso sicher und stark wehrten die Quaderwälle auch das Eindringen frischer Ideen und wissenschaftlicher Erkenntnisse ab. Paris 1563: eine Ansammlung unüberbrückbarer Gegensätze. Der König oder Bürgermeister hätte mit erbarmungsloser Härte seine Befehle erteilen und durchsetzen müssen. Sie machten fast alles falsch, diese Barbaren! Aus unzähligen Kaminen und Essen rauchten die Feuer am Tag und in den Nächten. Braun und grau, schwarz und stinkend, ätzend, voller Ruß und schädlichen Gasresten hing der Rauch an windstillen Stunden zwischen den Giebeln, verdunkelte die Sonne, ließ die Menschen keuchen und tötete die Alten. Regnete es, lief das Wasser als dreckiger Saft über die Fassaden. Über die Mauern zogen sich breite Streifen, in die sich der aufgelöste Kot der Vo103
gelschwärme mischte. Hunde aller Größen und jeden Alters trieben sich heiser kläffend zwischen den Schweinen umher, von denen es in den Gassen wimmelte. Der Kot der Ziegen, Schafe, der Reit- und Zugpferde und der Ochsengespanne, vermischt mit allem, was die Pariser aus Fenstern, Türen und von Baikonen warfen und schütteten, Bauabfall, herangewehter Sand und Stroh aus brüchigen Dächern bedeckten mehr als knöchelhoch den Boden, der nur an wenigen Plätzen und Abschnitten aus grobem Pflaster bestand. Ging ein Sommergewitter über der Stadt nieder, so reinigte die Wasserflut Luft und Dächer, aber die Gassen verwandelten sich in morastige Abschnitte stinkender Canons, deren Enden sich in die Seine ergossen und meilenweit das Flußwasser färbten und Fische erstickten. Schwärme allen erdenklichen Ungeziefers beherrschten die Schluchten zwischen schmalen Häusern, deren Fenster einander blind anstarrten, und sie tummelten sich in den lichten Zonen, an deren Rändern sich prächtige, wohlüberlegt gebaute Stadthäuser der Reichen erhoben, Kirchen und jene Bauwerke, die von Königen geplant und von guten Architekten errichtet worden waren. Im gesamten Bereich innerhalb der Mauern gab es keine Wasserleitungen, sondern nur Brunnen, in deren Grundwasser ein Teil jener Fäkalien hineinsickerte, und es existierte noch viel weniger eine Kloakenwasserführung. Ich war sicher, daß es nur einen einzigen Abtritt gab, nämlich den im Haus von Blaise Monluc, den Riancor und ich gebaut hatten. Eine jede Stadt dieser Art war zwangsläufig zu einem warmen und behaglichen Nest für alle Arten von Seuchen geworden; erst im vergangenen Jahr hatte die Pest ein Drittel aller Pariser Bürger getötet. Daß sie dabei keinen Unterschied zwischen unwissenden Bürgern, Bettlern und jenen klügeren Menschen machte, von denen Änderungen und Verbesserungen ausgingen, verstand man als Gottesgericht - aber sie tötete zugleich die Ideen, die Erkenntnisse und Handwerker, von denen sie in Geräte und Anlagen umgesetzt wurden. Hörte man dann von Männern, die womöglich die Seuche besiegen konnten, waren ihnen Ruhm und Anerkennung sicher. Auf diesem wenig ersprießlichen Umweg trafen wir schließlich zusammen: Catharina von Medici, der Kindkönig, Magister Michael de Notre Dame (oder, in gelehr104
ter Sprache, Nostradamus) und wir, die reisenden Ritter und Gelehrten. Es gab viele Hunde im Inneren des Louvre. Jagdhunde und Windspiele, angeblich edle Tiere, die aber ebenso stanken, knurrten und bellten wie jeder andere Bastard: überall putzten die königlichen Diener den Kot der Tiere weg. Ein mittelgroßer Mann, gut gekleidet, mit einem dunklen Vo llbart und einer flachen Kappe verbeugte sich kurz vor uns. »Ich habe das Vergnügen mit den Rittern Riancor. Atlancar und der unvergleichlichen Monique de Beauvallon? Ihr brachtet das Teleskop an die Augen und Sinne der Weisen von der Universität der Stadt?« »Ein unbedeutendes Geschenk.« Ich verbeugte mich eine Handbreit tiefer. »Und Ihr seid zweifellos Magister de Notre Dame. Ihr schriebt die kryptischen und sibillinischen Qualrains, zu je hundert als Centuries gebündelt, von denen wir Unwissenden erfahren, was in künftigen Zeiten geschieht!« Dunkelbraune Augen eines Sechzigjährigen, von vielen Falten umsäumt, musterten uns nicht ohne Klugheit. Der Blick war zwingend; mein Eindruck, daß Nostradamus nicht war, was er zu sein vorgab, verstärkte sich. Die Stimme füllte mühelos den Raum zwischen Mauern, Gobelins und Säulen und übertönte die Unterhaltung zwischen Höflingen und selbst das Kichern der Hofdamen, die Riancors, Moniques und meine auffällige Erscheinung kommentierten. »Es sind nicht meine Gedanken, ist nicht mein Wissen - es sind Visionen«, erklärte Nostradamus. Langes, gelocktes Haar fiel dunkelbraun und voller grauer Strähnen bis auf den breiten Kragen des Mantels mit Rüschenärmeln in spanischer Mode. »Nur von Visionen wird die Welt regiert«, sagte Monique lächelnd. »Ob von solchen indessen«, murmelte ich sarkastisch, »wie sie aus Eurer Feder kommen, ist zu bezweifeln. Man sagt, Ihr seid der Arzt, der die Seuchen besiegen kann.« »Das gleiche sagt man von Buch, Ritter d’Arcon.« »Was tut Ihr dagegen?« 105
»Mir starben Frau und zwei Kinder. Ich mische eine Arznei aus dem Holz der Zypressen, aus Veilchenwurzeln, Nelken, Kalmus und Paradiesholz. Hinzu füge ich Kolrosen, Bisam und graue Ambra. Zu Zeiten der Pestilenz gibt es keinen Geruch der Welt, der die böse und vergiftete Luft besser vertreibt!« »Ich kenne einen solchen«, meinte Riancor und machte mehrere verächtliche Gesten. Notre Dame schien überrascht. »Welchen?« »Heißes Wasser, wohlriechende Seife, eine Bürste mit feinen Borsten, frische Tücher und Sauberkeit, wohin das Auge sieht.« Hofdamen in einer Kleidung, die als aufreizend gedacht war, formierten eine Art Spalier, durch das wir uns in die Richtung des Saales bewegten. Magister Michael, der zum Hofarzt des Königs ernannt worden war, zeigte Überraschung. Jedenfalls kannte er den Weg durch das Labyrinth der Korridore, Treppen und Säulenhallen der Stadtburg. Die Mauern rochen feucht und muffig. Für mich waren jene Angehörigen der Hohen Gesellschaft zum großen Teil nur grob geschliffene Karikaturen. Die Schuhe mit den auffallenden Schnallen und die kostbaren Strümpfe, die Nostradamus trug, waren ebenso beschmutzt wie die der anderen Männer. Die Frauen verbargen den bakterienwimmelnden Dreck unter ihren weit schwingenden Röcken. »Das mag helfen«, gab Nostradamus zu. »Aber niemand weiß, w> her die Pestilenz und die Seuchen kommen. Es ist, fürwahr, ein Gottesgericht.« »Dessen Richter in der Meinung und im Strafmaß beeinflußbar sind von Äußerlichkeiten«, widersprach ich. »Erklärt mir, wie es am Hofe zugeht! Ich mache ungern Fehler.« Während wir auf zeremonielle Art weitergingen, stellten sich uns Personen. Paare oder Gruppen vor, und umgekehrt versuchte Magister Michael, uns bekannt zu machen. Wußten wir nicht mehr weiter, halfen uns Diener. Riancor und ich speicherten Gesichter und Namen, Bedeutungen und Fetzen von Floskeln und Gesprächen. Unzweifelhaft drängten sich Intrigen und Korruption ebenso um den Thron wie Speichellecker und Glücksjäger. Und die wenigen anstän106
digen, aufrechten Frauen und Männer verschwanden in der Masse der anderen. Der Logiksektor meinte: Nicht anders als an den orientalischen, römischen, persischen oder constantinopolischen Höfen! Ich zuckte mit den Achseln und ging weiter. Musik hallte von fern mit seltsamen Echos von den Mauern wider. Madrigale von Cyprian de Rore, Tänze von Jacques Consilium, Lieder von Orlandus Lassus. Wir entdeckten Jean Cousin »den Jüngeren« und tauschten Händedrücke und artige Bemerkungen. Magister Michael, Freund des Sprachforschers und Humanisten Julius Caesar Scaliger, war alles andere als ein unwissender Mann. Lyon zahlte ihm wegen der Verdienste beim Sieg über die Pest einen Ehrensold. Er ergänzte, wie er sagte, seine astronomischen Studien und die Versuche, aus dem Buch »Kabbala« Wahres von Unwichtigem zu trennen, durch die Erinnerungen an seine Trancezustände, in denen er Zukünftiges sah. »Für Eure zukünftige Tätigkeit, in welcher Stadt auch immer«, belehrte ihn Riancor auf der Treppe zum Empfangssaal, »werden wir Euch, Magister, erschreckende und wichtige Dinge zeigen und Erkenntnisse näherbringen. Damit ausgerüstet, wüßte jedermann, auch der einfache Bürger, wie er der Pest und anderem Übel entkommen kann.« »Ihr macht mich neugierig, Chevalier!« Durch schmale Fenster fiel in scharfem Winkel Sonnenlicht in den prächtigen Saal. Hunderte Kerzen brannten mit langen Rußfäden. Kostbare Teppiche bedeckten große Teile des Steinbodens. Die Wände waren voller Bilder von einer Schönheit und Meisterschaft, wie ich sie hier am allerwenigsten vermutet hatte. Aber Leonardo und Michelangelo, nicht zuletzt Vasari hatten nicht nur meine Augen geschult, sondern mir auch Kriterien der Beurteilung vermittelt jenseits meines eigenen arkonidischen Geschmacks. Wir blieben am Ende einer breiten Gasse stehen, die über sechzig Schritte hinweg bis zur Thronplattform führte. Hunderte aufwendig gekleideter Frauen und Männer, aus Paris und der Umgebung, aus dem Bereich rund um das Machtzentrum, unterhielten sich leise. Noch immer spielten die Musiker auf einem Podium links vom Dop107
pelthron. Magister Michael warf mir einen langen, seltsamen Blick zu. Mir war, als könne er durch meine Maske hindurchsehen und allein mit den Blicken feststellen, daß ich ein Arkonide sei... und darüber hinaus alle meine anderen Geheimnisse aufdecken. Einen langen Augenblick starrten wir einander an, dann lächelte er und machte eine einladende Bewegung mit der rechten Hand. Über dem Handschuh aus hauchdünnem Leder funkelte ein schöner Ring mit einem geschliffenen Stein und von strahlendem Blau. »Geht nur ein Stück geradeaus. Ihr werdet aufgerufen«, empfahl Nostradamus mit sonorer Stimme. »Denkt daran: Dem König und seiner Mutter wird vieles und noch ein wenig mehr zugetragen. Sie kennen Euch und Eure Taten.« Seinem Tonfall konnte ich entnehmen, daß er sagen wollte: »So gut, wie ich Euch inzwischen kenne.« Sieh dich um! Alles Fremdartige ruft Begeisterung und Neid hervor, sagte das Extrahirn. Die Edlen am Hof des Neunten Charles starrten uns an. Von der Haartracht bis hinunter zu den kostbar scheinenden Sporen war alles vertraut und dennoch exotisch. Schon allein die glatte, saubere Haut und deren Bräunung erzeugten ungläubiges Staunen. Riancors breite Schultern und die Kraft, die er verkörperte, verwirrten die Hofdamen und machten die Männer neidisch. Ein Diener, der neben der Königinmutter stand, rief schließlich unsere Namen. Wir traten vor und machten unsere gemessenen, aber überzeugenden Gesten. Mit wachsamen, intelligenten Augen betrachtete uns der junge König. Sein Gesicht und seine Hände, mehr sahen wir nicht, zeigten wächsern bleiche Haut. Die Königin bedeutete uns, näher zu kommen. Sie lächelte und zeigte bei den ersten Sätzen, die sie an uns richtete, daß wir sozusagen seit Passieren des Stadttors genau beobachtet worden waren. Nun, es gab keine Zeugen für »Wunder« oder unnatürliche Vorfalle. Sie versicherte uns ihrer Zuneigung, sprach davon, daß wir gute Bürger der Stadt seien und daß es richtig sei, für den Ruhm des Königs und das Wohl der Bürger zu arbeiten. Ihre Stimme, dunkel und von Anstrengungen gezeichnet, hob sich ein wenig, als sie, einen Schreiber herbeiwinkend, zu uns redete: 108
»Ihr, Chevalier Atlancar d’Arcon, für den schon Blaise Monluc sprach, sollt vor den Studenten unserer Universität sprechen. Legt uns vor, in welchen Disziplinen Ihr lehren wollt. Wir wollen, daß Ihr unseren Gelehrten die Wege zu größeren Einsichten zeigt, zum fortschreitenden Wohl des Landes, und einige große Schritte auf dem Weg vorzeigt, von dem wir wissen, daß er lang ist und beschwerlich. Schon richtet sich das Auge des Gelehrten zu den Gestirnen dank des seltsamen Rohres, das Ihr uns schenktet. Es wird Euer Kampf sein, Chevalier, das Unverstehliche verständlich machen zu helfen. Wollt Ihr das? Werdet Ihr?« »Majestät«, sagte ich - es war mehr, als ich erhoffen konnte - und richtete die Blicke auf Charles und seine Mutter, »in spätestens einem Mond werden wir tun, was Ihr richtig angeordnet habt. Vom königlichen Hof muß aber, wenn sich die Vernunft einer Sache herausgestellt hat, ein Befehl ergehen, denn nichts geschieht, wenn Ihr nicht anordnet - wie jedermann weiß und allerorten zu sehen ist.« Mich traf ein schmerzliches Lächeln. Eine Geste, zusammengesetzt aus wohlwollender Milde und zeitlichem Druck, ließ uns zur Seite treten. Der König winkte seinen Arzt herbei, und Nostradamus entschwand einige Stunden aus unserem Gesichtskreis. Murmeln, erstaunte Blicke, Applaus und unverhüllter Neid begleiteten uns den gesamten Weg bis zum Portal. Königliche Beamte und einige Würdenträger scharten sich um uns und befragten uns, was wir zu tun ^dachten, wann, auf welche Weise. Riancor verlangte schon jetzt den größten Saal für meine Vorträge mit Lehrbeispielen, die neunmal im Mond stattfinden sollten. Auf dem Heimweg, mitten auf der Seinebrücke, wandte ich mich an Riancor: »Ein unbehagliches Geflihl beschlich mich. Magister Notre Dame haßt mich wegen meines Erfolgs.« »Stimmt. Es sollte uns nicht stören«, entgegnete er. »Er ist seltsam, nicht wahr? Als ob er Bewohner einer Schutzeinrichtung am Meeresgrund wäre.« »Hat er unsere Masken etwa durchschauen können?« »Wenn dies so ist, dann hält er uns im ungünstigsten Fall nicht für französische Ritter und Gelehrte.« 109
»Das trifft mich hart. Der Nebenraum von Monlucs Hufschmiede wird sich in unser Laboratorium verwandeln. Ich als Dozierender an der Hochschule zu Paris! Wäre es nicht so bizarr, müßte ich lachen.« »Sprich, bevor du deine Vorträge hältst, mit hochrangigen Vertretern der Kirche. Wegen unbedachter Bemerkungen sind viele Menschen gestorben und vorher gefoltert worden.« »Das ist ein vorzüglicher Rat!« lobte ich. »Und jetzt, Bruder Riancor, sollten wir eine Reihe leicht verständlicher, von praktischen Beispielen begleiteter, mitreißender und erfolgversprechender Vorlesungen entwerfen.« »Wenig ist leichter als das«, behauptete er zufrieden. »Das Maß der Ungebildetheit ist groß, und der Themen gibt’s viele.« Möglicherweise fing schon jetzt, mitten auf der knarrenden Brücke über dem recht sauberen Seinewasser, die lautlose, teilweise erbitterte Auseinandersetzung zwischen den Magistern Atlancar und Michael de Notre Dame an. Es blieb befremdlich: Manchmal dachte ich, daß Nostradamus nur die nahezu vollkommene Maske eines anderen Wesens verkörperte, sozusagen ein Doppelgänger war, der von seiner Rolle nichts wußte. Gefahr? Für uns gab es keine. Nicht hier, nicht in dieser Stadt. Zuerst fälschte Riancor mit Papier, Pergament, Leder und anderen Materialien den zweiten Band des Livre de Pourtraicture. Den ersten Band, eine Zeichenschule für die Proportionen des menschlichen Körpers, hatte Cousins Vater verfaßt. Wir fälschten das Siegel des verstorbenen Königs, jene einiger längst vermoderter Kleriker und deponierten die vergilbten Blätter und alles andere im Nachlaß von Cousin dem Älteren, zusammen mit einigen Zeichnungen, Studien und dem Holzschnitt von Eva Prima Pandora, einem hinreißend schönen Blatt. Zwei Monde später fand Jean Cousin, der Sohn, dieses Werk, das sich mit sämtlichen Vorgängen im Körper des Menschen, aller Knochen und Organe, auf das genaueste beschäftigte. Unsere erste Vorlesung sollte als Hauptthema die Gesundheit des Menschen haben. Wir fanden schließlich Charlot, einen »Bettlerfürsten« von abstoßendem Aussehen, halb krank, hoffnungslos verfettet, 110
von böswilligem Charakter und rohen Sitten. Für eine Reihe von Versprechen und schimmernde Goldstücke erklärte er sich mit einem Versuch einverstanden, der fünf oder sechs Monate lang dauern sollte. Wir errichteten sein »Gefängnis« in Nebenräumen der Universität. Unsere Boten luden insgesamt zweihundertfünfzig Frauen und Männer zur ersten Vorlesung ein. Dem Bischof von Paris, dem Königlichen Secretaire und allen anderen, von deren Einverständnis meine Versuche abhingen, schilderten wir, was wir vorhatten. Ein wenig verstört, aber überzeugt, daß mit den Körpern zugleich die Seelen gerettet werden würden, willigten sie ein und erteilten ihr Placet. Zur dritten Stunde an einem frühen Sommertag versammelten sich die Geladenen, dazu viele Studenten, in dem frisch geweißten Saal, dessen Sitze erneuert waren. Ein Podium, fünf Ellen hoch, schloß die Kopfwand ab. Darauf standen schwarzlackierte, riesige Holzbretter, auf denen mit gefärbter, zu Stangen gepreßter Kreide geschrieben und gezeichnet werden konnte. Auf einem zweiten Podest fanden die Besucher seltsam erscheinende Gegenstände, Modelle und Behälter. In weichen Stiefeln, enganliegender Hose, breitem Gürtel mit kostbarer Schließe und seidenem weißem Hemd ging ich umher, begrüßte die Gäste, erklärte einige Versuchsanordnungen und verteilte Papier und Schreibzeug von bester Qualität. Monique saß in der ersten Reihe. Riancor überwachte die Bühne und beantwortete wie ich zahllose Fragen. An der Tür war ein Verzeichnis der ersten fünfzehn Vorlesungen angeschlagen. Ich nickte Riancor zu. Die Vorlesung begann, indem Musik unsichtbarer Spieler erklang. (Über klug versteckte Gleiterlautsprecher spielten wir ein Band, das rhythmische und laute Klänge aus Firenze wiedergab.) Staunen und Ratlosigkeit breiteten sich in den Reihen aus. Ich ging gemessenen Schrittes zum Vorlesepult, hob die Hand; die Klänge wurden leiser und hörten schließlich auf. Ich fing zu leden an. »Wir treffen uns heute, um herauszufinden, wie jeder Mensch sein Leben verlängern, verbessern und schöner machen kann. Jeder! Vom 111
Bettler bis zum König, vom Bauer bis zum Bischof. Ich frage Euch: Wer von Euch hat im vergangenen Jahr einen Angehörigen an die furchtbare Seuche verloren? Er hebe den Arm.« Mindestens drei Viertel der Anwesenden hoben die Arme. Keiner von ihnen wußte, wohin meine Worte führen mochten. Sie waren verunsichert, und als nun Rico unseren Patienten hereinbrachte, murmelten alle erstaunt auf. Charlot, der nur ein winziges Hüfttuch trug und unter dem Einfluß des Psychostrahlers stand, kam bis zur Mitte des Podiums. Sein Anblick rief Entsetzen hervor. Der unförmige, schwärende Koloß blieb an der Vorderkante stehen und erklärte mit gebrochener Stimme: »Ich bin Charlot. Jeder nennt mich Shaluq. Ich bin dem Tode näher als dem Leben. Jeder Fingerbreit von meinem Körper schmerzt; ich bin müde und weiß nicht, was ich tun soll. Nichts freut mich, ich habe das Lachen verlernt. Der Chevalier und sein Freund sagen, daß sie mich heilen. Ich glaube es ihnen nicht. Niemand kann das.« Er weinte, über das stachelige Gesicht liefen Tränen. Sein Haar war verfilzt, und die Zahnruinen, gelb und schwarz, verströmten abstoßenden Geruch. Eiter sickerte aus den verschorften Wunden; die Beine drohten unter dem Körper voller Fettwülste und roter, nässender Stellen wegzuknicken. »Dieser Mann«, sagte ich und deutete auf Charlot, der mit hängenden Schultern hinausschlurfte, »wird am Ende unserer Vorträge sich gänzlich verändert haben. Zwar wird er uns nicht gerade jung und schlank wie ein Knabe verlassen, aber als kraftstrotzender, fünfunddreißigjähriger Mensch, der er ist - und viel fröhlicher als heute.« »Niemand glaubt das!« rief ein Medicus in der zweiten Reihe. Ich grinste ihn an. »Wir fangen an und zeigen Euch, wie Salben hergestellt werden, die diesem Armen helfen, wohlriechende Seifen, die seine Haut verschönern. Und wie wir ihn betreuen und heilen, kann jedermann sehen, wenn er in den Garten der Universität geht. Davon später. Zierst aber will ich Euch allen zeigen, woher die Pest und viele andere tödliche Krankheiten stammen. Ich darf Euch bitten?« 112
In einem Glaskasten lag eine festgeklemmte Ratte. Die Linsen eines einfachen Geräts, das stark vergrößernd wirkte, ein Mikroskop also, richteten sich auf das Tier. Viele Kerzen, dahinter kleine Spiegel und gekrümmte Reflektoren, richteten grelles Licht von allen Seiten in den winzigen Kasten. Ich bat nacheinander ein Dutzend Zuhörer auf das Podium. Sie warfen einen Blick in den Tubus und fuhren erschrocken zurück. Für Riancor war es einfach, Linsengröße, Abstände und Schliff zu berechnen. Das Mikroskop vergrößerte mehr als zweihundertfach. Die Gelehrten sahen ein schreckliches Fabeltier, sie dachten an einen Drachen oder an den Satan. In der Tat wirkte der Rattenfloh bedrohlich und von abgrundtiefer Häßlichkeit. »Das ist der Pestfloh«, sagte ich. »Noch lebt er warm und zufrieden im Fell der Ratte. Sie ist das eigentliche Übel. Der Floh wartet, bis die Ratte der Pest erlegen ist. Dann springt der Floh zum Menschen, sticht ihn - Ihr habt seinen furchtbaren Stachel gesehen -, und der Atem der Pest ist in uns. In Euch, Magister, ebenso wie in mir oder der schönen jungen Frau.« Nacheinander kamen die Eingeladenen und drehten zögernd an den gezahnten Rädern der Verstellmechanismen. Ich tötete die Ratte und führte vor, wie die Flöhe im Glaskasten umhersprangen und sich im Stroh und Stoff verbargen, die in einer Ecke befestigt waren. Auf den Tafeln schrieb Riancor Merksätze auf und fertigte einfache Zeichnungen an. Viele Fragen wurden in den Saal gerufen; ich versprach, sie alle im Lauf der Vorlesungen zu beantworten. Viele »Schüler« schrieben mit und zeichneten ab, was ihnen Riancor und ich vorführten. Diese erste Stunde endete damit, daß wohl viele im Saal begriffen, daß überall dort, wo Schmutz und verrottende Materialien lagen, sich die schädlichen Insekten verbargen. Flöhe, Wanzen, Mücken und Schmeißfliegen. Betten, Kleiderkammern und, natürlich, die Kleidung, die sie am Leib trugen: In Pestzeiten waren es tödliche Winkel. Ich bat die ratlosen Zuhörer, im Garten zu verweilen und anzusehen, was mit Charlot geschah. Wir räumten einen Teil der Geräte in die Schränke, verschlossen sie, und ich erklärte einem Handwerker und Brillenmacher, wie das 113
Mikroskop herzustellen war. Er versprach, einen Nachbau zu versuchen und schon heute damit anzufangen. Drei Klosterbrüder und eine in Heilkunde erfahrene ältere Frau kümmerten sich um Charlot. Die Räume, in denen er lebte, waren einfach, aber sauber. Er befand sich noch immer unter dem Einfluß eines gering dosierten Psychofelds und tat gehorsam, was man ihm auftrug. Sein Haar wurde gewaschen und kurz geschoren. Mit mildem Schaum und scharfem Messer rasierte man ihn. Ein heißes Bad, vermischt mit einem Kräutersud, reinigte seine Haut. Dann wurde auf die Wunden, Schnitte, Beulen, Entzündungen und eiternden Stellen eine dünne Salbe aufgetragen. Man wickelte Charlot in weiße Tücher und schleppte ihn mit Mühe auf ein Bett, das keine Matratze aus Leinen, Rupfen und Stroh enthielt. »Seine Lumpen haben wir verbrannt«, erläuterte ich. »Und in drei Tagen werdet ihr alle die Rezeptur jener Salbe kennenlernen.« Schon diese erste Vorlesung war für Paris eine Sensation. Die Gerüchte wucherten. Die Menschen am Hof kannten kein anderes Gesprächsthema. In den folgenden Tagen kamen viele wirklich interessierte Männer zu uns und stellten Fragen. Das Durcheinander im Haus von Blaise Monluc wurde zu groß, und wir zogen endlich um nach St.-Germain-des-Pres. Ein langer, arbeitsreicher Sommer begann für uns. Wir lehrten die Seifensieder und Wachszieher, aus Blütenblättern, Wurzeln und Kräutern Auszüge herzustellen, indem sie Alkohol verwendeten, Pressen und andere Verfahren anwandten, um aus der verachteten Seife einen Luxusartikel zu machen. Heilkräuter waren die Bestandteile von Tinkturen und Salben, die von den Gehilfen der Mediziner gemischt werden konnten. Wir achteten darauf, nur Bestandteile zu verwenden, die nahe cbr Stadt vorkamen, und Verfahren, die praktisch jedermann nach kurzer Übung beherrschte. Charlot hungerte, nicht freiwillig, aber er erhielt gesundes Essen. Er lebte vor den Augen der Öffentlichkeit. Schon nach einigen Tagen hatten sich die ärgsten Wunden geschlossen. Mittlerweile begann er, wenn auch kraftlos, das Kaminholz für die Universität zu hacken. 114
In einzelnen Schritten führten wir vor, wie ein Abwasserkanal entstand, wie eine Versitzgrube funktionierte und auf welch einfache Weise jede Hausfrau und jede Magd die Räume sauberhalten konnte. In dieser Zeit schien sich fast jedermann vor Wasser und Seife zu fürchten, und die prächtigen Kleider stanken nach kaltem Schweiß oder wahllos angewandten Duftwässern. Einen auffallenden Vorteil entdeckten wir rasch: Catharina von Medici hatte ihren »buon gusto« und eine Schar italienischer Köche mitgebracht. Inzwischen bildeten diese Meister der Pfanne und des Tiegels Schüler aus, die ihrerseits Gasthäuser, Schenken und Speiselokale gründeten. Die barbarische Küche der Franzosen wurde leichter, wohlschmeckender und raffinierter. Leider auch teurer. Der König erließ, immerhin, einen Befehl, wonach man den Armen Geld geben sollte, wenn sie die Straßen reinigten. Tatsächlich kehrte man riesige Mengen Schutt und Dreck zusammen und brachte es aus den Mauern hinaus. Ärgerlich sagte ich: »Paris besteht aus fünfzigtausend Schauspielern. Die schlechtesten von ihnen bekleiden wichtige Ämter.« »Immerhin gehörst du dazu«, behauptete Monique. »Und Riancor auch.« Wir fühlten uns in der Vorstadt weitaus wohler als zwischen den Mauern. In der Werkstatt arbeiteten wir emsig an vielen einfachen Geräten. Mittlerweile erhielten wir tagein, tagaus Besuch von Handwerkern, die unseren Rat brauchten. »Sogar Nostradamus«, knurrte ich. Der Qeiter war ferngesteuert im Garten gelandet und hatte Nachschub gebracht. Unser Anwesen hob sich strahlend und in perfekter Sauberkeit von der Umgebung ab. Auf unsere Kosten hatten wir den Dorfplatz mit einem Abfluß versehen und pflastern lassen. Die Männer beherrschten ihren Beruf, Material war nicht teuer; trotzdem galt ein solcher sauberer, baumumstandener Platz als Sensation, derentwegen die Leute aus der Stadt kamen. »Ausgerechnet! Er intrigiert bei Catharinas Ratgebern!« Ich lachte wütend. »Wie gut, daß wir die richtigen Leute bestochen haben.« 115
An buchstäblich jeder Stelle, an der die wenig berührte Natur sich ausbreitete oder der Mensch auf behutsam gestalterische Weise eingegriffen hatte, lag das Land unter der Sommersonne gesund, freundlich und schön da. Viele unserer kleinen »Erfindungen« hatten sich weit herumgesprochen - der ungehinderte Handel transportierte Ideen in alle Richtungen der Windrose. Und jeder Handwerker, der es gpschafft hatte, mit Hilfe unserer Beratung, Verfahren, Rezepturen oder bestimmter Hilfsgeräte etwas Eigenständiges herzustellen, verdiente reichlich. Es gab genug Begüterte, die alles kauften, wenn es nur der herrschenden Mode entsprach oder eine Neuigkeit bedeutete. »Greise streiten gerne«, warf Riancor ein, »damit man glauben soll, sie seien noch nicht so alt. Gilt zumindest für Magister Michael.« »Sicherlich auch für mich«, gab ich zu. »Bist du fertig? Haben wir alles?« »Wir können losreiten.« Das Ende der Vorlesungsreihe war zu sehen. Noch ein Dutzend Tage würden wir Gelehrte und Neugierige, Adel und Kleriker, Handwerker und Hofbeamte von Fortschritt und Vernunft zu überzeugen versuchen. Eine gewaltige Menge Papier war beschrieben worden. Ich hatte mittlerweile Schwierigkeiten, jedesmal von neuem die Aufmerksamkeit derer zu wecken, die meine Vorträge als Mittel zur amüsanten Zerstreuung betrachteten. Wir übergaben die Zügel der Pferde dem Universitätspedell und besuchten Charlot. Er war fast nicht wiederzuerkennen, winkte von seinem Hackklotz aus und spaltete mit einem wuchtigen Hieb einen Kloben. »Es ist ein Vergnügen«, sagte ich, »dich anzusehen. Die Frauen werden sich um dich prügeln, wenn wir fertig sind.« »Sie stehen schon jetzt am Fenster«, sagte er mit breitem Grinsen. Die Krätze seines Kopfes, der Finger und Zehen war verschwunden. Er hatte viel Fett verloren und durch Muskeln ersetzt. Die Sonne bräunte seine Haut, und die Narben der Wunden verschmolzen mit dem umgebenden Gewebe. Das Haar glänzte und war nachgewachsen, der Oberlippenbart entwickelte kecke Spitzen. Charlot bewegte sich schneller, und sein lückenhaftes Gebiß zeigte das Weiß häufiger Versuche mit Schlämmkreide und der Bürste. 116
»Die Leute vom Hof, die Ärzte - sie glauben dir?« »Sie fragen mehr, als ich antworten kann.« »Spricht jemand von einem unbegreiflichen Wunder?« »Nein, Herr! Sie haben dasselbe gesehen wie ich. Von Tag zu Tag ging es mir besser. Ich weiß nicht mehr, wie ich es ausgehalten habe - früher!« »Noch ist es nicht vorbei.« »Das tut nichts zur Sache. Ich werde tun, was Ihr mir geraten habt. Dann lebe ich lange und gesund.« »Ich wünschte, ich könnte dir jedes Wort glauben.« Ich lächelte ihm zu und war, alles in allem, zufrieden. Ohne daß ich etwas gesagt hätte, kehrten in Teilen der weitläufigen Universitätsgebäude mehr Sauberkeit und Helligkeit ein. Der erste Abwasserkanal war aus^hoben worden; nun arbeiteten Handwerker und mauerten Schächte und Abzweigungen aus Bruchstein und gebrannten Ziegeln. An diesem Tag wollte ich über den Sinn von Straßen, Plätzen und das ungesunde Leben in zu engen und zu dicht stehenden Häusern sprechen. In bedächtiger Ruhe bauten wir unsere Modelle auf und fertigten die Zeichnungen an. Wenn nur ein Drittel von alledem nicht vergessen und womöglich angewendet wurde, dann war unser Aufenthalt schon jetzt ein Erfolg. Frankreichs König zog ständig wachsende Steuern aus dem Land. Seit vor sechs Jahren sowohl Spanien als auch unser Gastland zahlungsunfähig geworden waren, war auch heute wieder der Wohlstand bedroht. Wegen ihres Glaubens bekämpfte die Krone die Hugenotten. Die Zünfte, mächtig durch das Monopol spezialisierter Handwerke, wurden ebenso besteuert wie die armen Bauern. Wenigstens in unserer nächsten Umgebung konnten wir helfen, daß der Boden mehr trug und das Vieh gesund blieb. Johann und Jakob Fugger hielten die Handelswege frei und kontrollierten den Handel und die Herstellung von Tuchen, Schmuck, Pelzen, Seide und Samt, Gewürzen und - Schießpulver samt Waffen. Jeder Krieg wurde teurer von Tag zu Tag. Ich verwarf die Hoffnung, daß Verschuldung und Zahlungs117
Unfähigkeit die Mächtigen von Kirche und Krone daran hindern würden, gegeneinander zu kämpfen. Das Gewitter war nach Osten weitergezogen und schüttete seine Schlagregen, vermischt mit Blitzen, Sturmböen und dem gigantischen Schmettern des Donners über Paris aus. Hier fiel nur noch ein milder Regen. Es war wunderbar kühl geworden; es roch nach sonnendurchglühter Landschaft, deren Düfte sich mit dem feuchten Hauch verbanden und zwischen den Bäumen und Häusern hindurchzogen. Nicht ein Stäubchen war in der Luft. Die Kerzen flackerten, das Kaminfeuer war heruntergebrannt, und unter den mächtigen Balken, den Brettern der Dachverschalung, auf dem handgewebten Teppich über dem warmen Kachelboden saßen wir um den niedrigen Tisch. In einfachen Glaspokalen voller Bläschen und bizarrer Einschüsse brach sich das Licht im tiefdunklen Wein. In Riancors Glas befand sich ein Fingerbreit Wein, an dem er mit verzückter Miene roch. Ich nahm einen kräftigen Schluck, spürte das edle Getränk auf Lippen und Zunge, betrachtete Moniques schönes Gesicht, ihren Hals und ihre bloßen Schultern, schließlich sagte ich nachdenklich: »Bald ist Erntezeit. Ich sehe wenig Sinn darin, unseren Aufenthalt über Gebühr und sinnlos lange auszudehnen.« »Wann?« fragte Monique schläfrig. Das grelle Weiß der Wände verschmolz mit dem Braun und den farbigen Intarsien der Möbelstücke. Schatten zitterten über die vergoldeten Rahmen der Bilder, die einmal unermeßlich wertvoll werden konnten. »Ich weiß es nicht. Es mag sein, daß wir Freude finden an einem Ritt durch den Herbst nach Beauvallon.« Die tägliche Arbeit hielt uns davon ab, jeden Bericht einer jeden Spionsonde anzusehen und zu verarbeiten. Riancor hatte die Kanäle zu unseren Antennen geschaltet; schliefen wir, gab es genügend Zeit, die Geschichte einer Welt grob zu dokumentieren, die in ständigem Wandel begriffen war. Von weitem hörten wir Hufschlag. Jemand ritt in einem nachlässigen Kantergalopp. 118
»Das Jahrhundert der Städte ist noch nicht gekommen«, bemerkte Riancor. »Es sind Steinhaufen mit lückenhafter Organisation. Ein Wunder, daß sie überlebensfahig sind.« »Die Menschen sind die Stadt. Sie sind in einem Maß belastbar, über dessen erstaunliche Größe jeder staunt, der es erlebt. Ich weiß, wovon ich rede, mein weißhaariger Freund«, sprach Monique nachdenklich. »Denn ich erinnere mich deutlich, wie mein Leben verlief, ehe du mich halbtot aus dem Gebüsch hervorgezerrt hast.« Sie war die einzige ohne Maske: Ihr unkomplizierter Charakter verarbeitete Paris ebenso wie die Kuppel unter den Wellen, sie wurde mit dem Grauen von Kampf und Krieg ebenso fertig wie mit der absoluten Entspannung am Strand unserer unbewohnten Insel im Ozean der Ruhe, dem Märe pacificum. Der Hufschlag war lauter geworden, das Tier fiel in Trab. »Winter in Le Sagittaire?« Ich winkte Riancor. Er schenkte die Gläser voll und stellte einen leeren Pokal vor einen der leeren Sessel aus Holz, Leder und lohfarbenem Fell. Bedächtig legte er einige dünne Scheite in die Glut. Winzige Flämmchen züngelten hoch. »Gern. Warum nicht?« »Einverstanden«, sagte ich »Du rittst vor einigen Tagen mit dem Troß der Königin, Monique. Was weiß sie zu sagen?« »Wie ich erfuhr, wünscht sie sich mehr Untertanen wie uns. Wir belasten die Kasse des Hofes nicht, sondern mehren den Reichtum von Stadt und Land, indem wir dadurch, daß besser verdienende Handwerker und Zünfte mehr Abgaben zahlen können, die Menge des Geldes vergrößern.« »Für den Ankauf von Waffen, versteht sich, und zum Bezahlen von unproduktiven Höflingen.« Ich lachte. »Denk daran, Riancor, daß mittlerweile selbst die Hundefänger in der Stadt zu reichen Bürgern geworden sind. Sie verkaufen die Kadaver, damit man aus ihnen Fett für die Seife kocht, die gegen Podagra hilft. O ihr Hunde, schlafraubende Beller und Kläffer in den Nächten! Wenigstens in Paris führt man euch einem guten Zweck zu.« 119
Das Pferd des unbekannten Reiters wieherte. Der Hufschlag hielt an. Arcon Riancor stand auf und öffnete die Tür. Er ließ die getarnte Fackel aufflammen und rief: »Hier geht es hinein. Du wurdest erwartet, aber heute haben wir nicht mit dir gerechnet.« Blaise Monluc stürmte herein, warf die Kapuze des Reitermantels zurück, zog den Mantel von den Schultern und rannte auf Monique zu. Sie sprang auf und umarmte ihn. Er schwenkte sie viermal im Kreis, küßte ihre Wangen und brummte unverständliches Zeug. Dann setzte er sie ab, packte meine Hände und schlug mir auf die Schultern, daß es schmerzte. »Ich habe überlebt!« schrie er, sah sich wild um und rief mit wippenden weißen Schnurrbartspitzen: »Wein! Weiber! Musik!« »Die Damen hättest du besser selbst mitgebracht, nächtlicher Reiter«, sagte ich. »Sei gegrüßt! Seit wann bist du in der Stadt?« »Seit dem frühen Abend. Ich weiß alles - natürlich weiß ich nichts. Es tut so verdammt gut, euch wiederzusehen. Du bist schöner geworden, mein feuerhaariges Herzblut! Und du, Atlan-Car? Du blickst so grämlich drein wie immer. Und dein Milchbruder steht da, unerschütterlich - mir ist, als wäre ich in dem Schlößchen.« »Dein Blut kocht«, sagte ich. »Lösche es mit dem Wein, den Riancor schon eingeschüttet hat.« Die Gläser klangen wie Metall, wie kleine Glocken. Eine frische Narbe zog sich vom Ohr Monlucs bis zum Mundwinkel. Unser Freund war hager geworden, tiefbraun gebrannt, und er roch nach Leder, Pferd und, wie mir schien, nach Feldlager und Pulverdampf. Er warf sich in den knarrenden Sessel, streckte die Beine in den nassen Reitstiefeln lang aus und hob das Glas in die Höhe. Es war leer. »Boten, Briefe, Nachrichten - alles unbrauchbar. Ich weiß seit einem Mond, daß ihr in der Stadt seid. Und eben erfuhr ich, seit welchem Tag. Ihr werft lange Schatten, Freunde.« »Daran solltest du gewöhnt sein. Hunger? Schläfst du hier? Soll ich die Mägde wecken, die tagsüber helfen und kochen?« »Alles beantworte ich mit Ja!« 120
»Eines nach dem anderen. Störe unseren Frieden nicht.« Monique setzte sich, ehe sie in die dunkle Küche ging, kurz auf sein rundes Knie. »Ich freue mich am meisten, daß du nur verschrammt aus den Kämpfen zurückkommst. War es schlimm?« Wir wußten aus seinen langen, gescheiten Erzählungen, daß er kämpfte wie ein Rasender. Gleichzeitig haßte er das verfluchte Handwerk des Krieges, wie er sich ausdrückte. Seine Möglichkeit, zu überleben und nicht wahnsinnig zu werden: Er tötete rasch und versuchte, niemanden leiden zu lassen. Wenn ich sage, daß er eine Gestalt dieser Zeit war, so hört sich das wenig klug an. Aber wie sollte man einen Heerführer bezeichnen, der zugleich Krieger, Humanist und Aufgeklärter war, gläubig und skeptisch, erfahren und, ging es um etwas Neues, neugierig wie ein aufgewecktes Kind? Kurzum, er war unser Freund. Nur das zählte. »Endlich weißt du, welchen Wein du kaufen mußt!« Er grinste mich an. »Wie gefällt dir meine Stadt?« Ich winkte ab. »Es gibt nichts Grauenvolleres als die Fremdheit derer, die sich gut kennen. Meine Arbeit bestand bis eben darin, drüben, in der Stadt, anderen zu erklären, was wir selbst nicht verstanden haben.« »Man wird euch Denkmäler errichten!« »Es sind ständig Erinnerungen daran, was das Volk meist gern vergessen möchte«, wich ich aus. »Alles in allem sind wir zufrieden. Möglicherweise ist dir nicht entgangen, daß sich dein Haus ein wenig verändert hat.« Er trank, als sei er durch eine Wüste geritten. »Ich dachte zuerst, ich stehe im Hof von Sagittaire!« dröhnte er. »Im Ernst... unendlichen Dank! Man berichtete mir, wis ihr alles getan habt. Meine Freunde! Seid verdammt! Es ist unendlich gut, daß es euch gibt. Hierher mit den Würsten, mein Rotfuchslein!« Wir kannten ihn auch ganz anders; jetzt galoppierte seine Freude mit ihm über den Acker gesellschaftlicher Konventionen. Er fühlte sich geborgen und besser als in seinem eigenen Haus. Über das Essen fiel er her wie ein ausgehungerter Wolf im strengen Winter. 121
Dann rülpste er anerkennend, leerte den Pokal und sah uns der Reihe nach völlig ernst mit seinen strahlend blauen Augen an. »Natürlich war es furchtbar«, begann er mit veränderter Stimme. »Wir haben gehaust wie betrunkene Schlächter. Und warum? Weil irgendwann ein Deutscher die Bibel übersetzt und sich eigene Gedanken gemacht hat. Es wurde viel gestorben in diesem Sommer, Atlan-Car. Und niemand starb gern.« Wir schwiegen. Ich dachte an Magister Luther. Schließlich murmelte Monluc: »Ein gutes Gedächtnis ist ein Fluch; nur sieht er einem Segen ähnlich.« »Wem, o Freund«, sagte ich melancholisch, »sagst du das? Wenn der Teufel uns in Verwirrung bringen will, bedient er sich dazu der Idealisten.« Riancor zauberte Musik aus verborgenen Quellen. Blaise kannte uns und staunte längst nicht mehr über Vorkommnisse, die er nicht verstand. Vom Lärm, dem Gläserklirren und unserem Gelächter angelockt, erschienen die jungen Frauen aus den umliegenden Gehöften, die uns halfen und die von Monique in die Grundregeln eines weniger primitiven Lebens eingeweiht worden waren als dem, das sie führen mußten. Mit dem untrüglichen Blick des geübten Artilleristen fand Blaise die Hübscheste heraus, und Monique bat die anderen, unserem Freund ein Zimmer zu richten. Die Nacht schritt fort. Fledermäuse huschten umher. Die ersten Grillen wagten die Kadenzen eines gedämpften Konzerts. Schwer und lastend roch der Mohn, und in den Ställen regte sich das Vieh. Das Feuer war heruntergebrannt. Erschöpft und glücklich lagen Monique und ich auf den kühlen Laken. Vom anderen Ende des Hauses hörten wir das Gelächter Monlucs und seiner Freundin für eine Nacht. Aus Gründen, die sich meiner Vorstellung entzogen, fühlte ich tief in meinem Innern eine stechende Unruhe. Als ob ein Verhängnis, ein unsichtbarer Gegner unser aller Leben bedrohte. Meine Hand umfaßte den Zellschwingungsaktivator, und während ich langsam einschlief, lauschte ich auf Geräu122
sehe, die von außerhalb kommen mochten und nur eine Bedeutung hatten: tödliche Drohung. Offensichtlich hatte die Zeit der spätsommerlichen Jagden angefangen. Das Auditorium war halb leer. Ich blickte in Gesichter, die mir inzwischen längst vertraut waren. Heute sprach ich vor meinem besten Publikum seit Beginn der Vorlesungen - bis auf Michael de Notre Dame saßen nur Zunft-Handwerker und alle jene vor dem Podium, die begierig auf jedes Wort warteten und das neue Wissen umsetzen wollten und konnten. Ich gab Riancor das verabredete Zeichen. In einer Tonkulisse von Lauten des Frühlings, gleichgearteter Musik, im hellsten Licht des Nachmittags, als Mittelpunkt von weniger als hundert Studenten, kam Charlot oder Shaluq herein: Tiefbraun gebrannt, strotzend vor Muskeln und Gesundheit, mit lockigem Haar, gesträubtem Schnurrbart und ansteckendem Lächeln, nackt und kraftvoll, ohne Beeinflussung durch Psychostrahler, ein Bild seiner selbst, wie er vor mehr als zwanzig Jahren ausgesehen hatte, hob der ehemalige Bettlerkönig die Arme. »Die lange Reihe der Vorträge, in denen ich euch zu schildern versuchte, was in unserer fernen Heimat längst bekannt ist, endet in ein paar Tagen«, sagte ich. »Einen Beweis, daß mit geringen Mitteln viel erreicht werden kann, seht ihr vor euch. Richtet die Fragen an Charlot, den stolzen und nunmehr gesunden Bürger dieser Stadt. Für sein Leben hätte im Frühling niemand auch nur einen Sou ausgegeben.« Charlot setzte sich an die Kante des Podiums. Fragen stürmten auf ihn ein. Er beantwortete jede einzelne in seiner bedächtigen, oftmals pfiffigen Art. Er ließ den Eindruck, als habe so etwas wie eine Wunderheilung stattgefunden, nicht ein Augenzwinkern lang aufkommen. »Ich würde lügen«, fuhr ich nachdrücklich fort, »wenn ich Euch weiszumachen versuchte, daß in unserer Heimat jedermann solche erstaunlichen Wandlungen am eigenen Leib erlebt - aber wir achten ständig darauf, daß keine Seuche uns etwas anhaben kann. Unsere Häuser sind so sauber wie unsere Kleider, die Straßen kennen keinen Unrat; dadurch, daß wir die Körper ebenso rein halten wie unsere schönen Gedanken, gibt’s kaum Schwären und eiternde Wunden.« 123
Die letzte Bemerkung rief gedämpfte Heiterkeit hervor. Weder Monique noch Riancor oder ich hatten den Eindruck, daß das Maß körperlicher Reinlichkeit bei Hofe sonderlich zugenommen hatte. Charlot beantwortete neugierige Fragen. Riancor erklärte einem anderen Teil der Versammlung, wie ein Pulver herzustellen sei, das Ungeziefer Vernichtete, indem man es versprühte, in Wasser auflöste oder auf Holzkohle in geschlossenen, aber menschenleeren Räumen verbrannte. Es war billig und ohne Schwierigkeiten von jedermann zu mischen und anzuwenden, der bis fünfzehn zählen konnte. »Ihr werdet Euch fragen, Messieurs, warum wir immer wieder Ordnung und Reinlichkeit fordern, warum wir eine Philosophie von Warmwasser und Seife betreiben. Die Antwort ist einfach: Keiner von uns will an einer vermeidbaren Krankheit sterben. Unfälle, Tod in der Schlacht, Herzschlag im Bett der Geliebten... das nehmen wir hin. Aber in jedem anderen Fall versuchen wir, unser Leben so gesund, angenehm und vergnüglich wie nur irgend denkbar zu gestalten. Auch unser Volk ist gläubig und denkt an das Leben nach dem Tode. Aber die lange Zeit davor nehmen wir ernst. Deswegen erfanden wir so viele nützliche Geräte und Maschinen, Pulver und Salben, Kanäle und unzähliges andere. Wir haben Euch vieles gezeigt nehmt es an, lehnt es ab, aber erinnert Euch an die freigebigen Fremden, wenn wieder jeder dritte an der Seuche sterben muß.« Riancor hatte unter einem halb mannsgroßen, buntbemalten Hohlkörper ein Feuerchen entfacht. Das Gebilde aus dünnen Gerten und ölgetränktem Papier glich einer Birne, die umgedreht und gekappt worden war. An hauchdünnen Drähten hing eine Gondel, in der mehrere kurze Kerzen brannten. Sie erhitzten die Luft, die den Ballon hob und langsam bis zur Decke schweben ließ. Unter den Klängen einer fremdartigen Musik erklärte Riancor mit überlauter Stimme: »Und auch in diesem Spielzeug steckt ein deutlicher Nutzen. Vergrößert dieses Gefährt, das dem Vogel gleich ist, setzt Euch in die Gondel, und es wird der Anfang eines langen, faszinierenden Vorstoßes in das Reich der Wolken sein, und jeder, der es erlebte, wird wissen, daß er den Gestirnen niemals näher sein kann.« 124
Der Ballon tänzelte in einem leichten Luftzug hin und her, näherte sich dem Gebälk und sank wieder herunter, schwebte in den Saal hinein und stieß mehrere Male an die Decke. Entgeistert starrten die Zuschauer diesem unbegreiflichen Vorgang und dessen lautlosem Mittelpunkt hinterher. Schweigen und überraschte Ausrufe lösten einander ab. Verwirrt stolperte Charlot zurück zu Riancor, der ihn in das Gartenhäuschen brachte und mit einer Anzahl Münzen belohnte. Ich wartete und tat, was ich meist zu tun hatte: Ich beantwortete Fragen, so gut es ging und ohne allzusehr mit den herrschenden Vorstellungen der Moral und der Gesetze und des Glaubens zu kollidieren, der auf seltsame Art gedeutet, mißdeutet und, in Fällen, die wir gut genug kannten, mißbraucht wurde. Aber er galt und war Stütze für die einen, Grund für andere, sich gegenseitig umzubringen. »Wir sehen uns wieder in vier Tagen«, schloß ich. »Hoffentlich erlebe ich es noch, wenn einer von Euch in der Gondel sitzt und die Stadt von hoch oben mit den Augen des Falken sieht.« Daran glaubst du tatsächlich? »Schwerlich«, murmelte ich und beantwortete so die sarkastisch betonte Frage des Logiksektors. Der farbige Heißluftballon sank senkrecht abwärts, und die letzte Kerzenflamme ertrank im Wachs. Ich zuckte mit den Schultern und begann, meine Ausrüstung wegzuräumen. Plötzlich freute ich mich wieder auf die Abende mit Blaise Monluc und den Winter in Beauvallon. 125
5. Wir hatten, obwohl Nostradamus nichts unversucht ließ, unsere Arbeit zu stören oder lächerlich zu machen, alles getan. Jeder fällige Gelehrte, Handwerker oder Baumeister konnte unzählige Lehren aus den zahlreichen Anregungen und Vorschlägen ziehen. Unser Gepäck war verladen; in den schwarzen Nächten folgte uns der Gleiter. Wir ritten zusammen mit Blaise und seiner Truppe nach Süden. Die Soldaten gingen ins Winterquartier. In ihrem sicheren Schutz trabten wir durch die sterbende Landschaft des späten Herbstes. Die Luft war frisch und klar, in manchen Nächten überzog leichter Frost das Land. Mit jedem Tag näherten wir uns den versteckten Hochtälern von Beauvallon und Le Sagittaire ein wenig mehr. Hinter den Dreifachreihen der Reiterei, in einer dünnen Staubwolke, mahlten die Felgen der Troßwagen, der langläufigen Geschütze und der Gefahrte, auf denen Pulver und Kugeln in dicken Strohgebinden verstaut waren. Weit voraus trabten etliche Kundschafter - wir ritten an der Spitze des Zuges und unterhielten uns, so gut und fröhlich es ging. Der Organismus des riesigen Steinhaufens, der Miasmen und Krankheiten ausdünstete und nach Salpeter roch, lag weit hinter uns. »Auf keinen Fall kann ich lange bei euch bleiben!« rief Blaise zu Monique hinüber. »Man wird Boten schicken, wenn ich gebraucht werde.« »Jeder Tag mit dir ist ein Gewinn!« dröhnte ich. »Und jeder Hugenotte oder Papist, der nicht totgeschossen wird, ist ein noch größerer.« Er winkte ab. »Ich habe schon so viele ebenbürtige Gegner überlebt! Und ich entdeckte, daß sie mir alle fehlen.« »Derlei Gespräche führen wir später: bei Wein, Kaminfeuer und des Nachts.« Inzwischen waren wir wieder mit unseren Masken verschmolzen. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen der Rolle, die wir uns aufgezwungen hatten, und uns selbst. Ein Zustand, der ebenso angenehm wie gefährlich war, denn er veränderte uns. In der Geborgen126
heit des Schlößchens würden wir wieder subtile Unterschiede treffen können. Riancors Spionsonden lieferten aus dem Gebiet unserer Schutzbefohlenen nur positive Bilder. Wieder kamen wir an eine Wegkreuzung und wandten uns nach Südost. »Noch drei Tage, schätze ich!« rief Riancor. Ich war auf dieselbe Zeit gekommen. Für uns war es eine Erleichterung, die dreimal hunderttausend Bewohner einer Stadt weit hinter uns gelassen zu haben, die sich nur den Anschein gab, die Klugheit und Erfahrung Fremder zu benötigen. Paris war nur ein Beispiel für ungezählte Städte. Trotzdem konnten wir sicher sein, daß ein bestimmter Prozentsatz der Denkanstöße weiterverwendet werden würde. Darüber sprachen wir, als wir in einer Gruppe von sieben Reitern über die gewundenen, schmalen Straßen nach Beauvallon trabten. Blaise hatte uns auf seine rauhe Art getröstet und aufgemuntert. Die Sonne war scheinbar im Nebel festgehalten worden. Ich zeigte auf den Wald, hinter dem die ärmlichen Fahnen aus rauchenden Kaminen aufstiegen. »Schnee liegt in der Luft.« »Das ist eine gute Nachricht. Schneit es, wird nicht gekämpft. Keine Gefechte, kein Blaise.« Obwohl ringsum die traurige Schönheit aus Weiß, Grau und Schwarz herrschte, waren unsere Gespräche bis zu dem Augenblick fröhlich und laut, an dem wir auf den halb zugewachsenen Waldweg hinunterritten, der das Dorf vor den Blicken der meisten Neugierigen verbarg. Der Huf schlag klang weicher, obwohl die Erdschicht der Fahrrillen dünn wie eine abgegriffene Münze geworden war. Riancor beugte sich vor, gab dem Schecken die Sporen und sprengte vor uns her. Einige Atemzüge später hörten wir seine lauten Rufe. »Er sichert uns einen, hoffentlich, warmen Empfang!« meinte Blaise und zupfte an den Enden seines Bartes. »Er sorgt dafür, daß wir schnell erkannt werden. Wir haben unseren Bauern beigebracht, wie sie sich gegen Marodeure wehren können«, warf ich voller Ernst ein. 127
Aber als wir das versteckte System aus Fallen, unsichtbaren Gräben und bewachsenen Schanzen durchritten, waren die Bohlentore längst geöffnet, und ein Teil der Einwohner hatte die Häuser verlassen. Ich half Monique aus dem Sattel und drückte zahlreiche Hände. »Wie war die Ernte? Sind die Handwerker gekommen? Habt ihr den großen Schuppen hinter der Schmiede gebaut?« »Alles wartet auf Euch, Herr! Jeder Plan, den Ihr gezeichnet habt, wurde ausgeführt.« Blaise und seine Soldaten setzten fröhliche Mienen auf. Sie fanden bestätigt, was wir berichtet hatten: Hier waren wir keine gefürchteten Herren, sondern Freunde, die klüger und anders waren. Schnell wren Pferde und Sattelzeug versorgt, das Gepäck in den Zimmern verstaut, die Kloben in den Kaminen und die Kerzen angezündet. »Ich bin wahrlich weit herumgekommen, Condottiere d’Arcon«, meinte am Ende des Tages der junge Lieutenent Tillyard. »Aber ein solches Dorf kam mir noch nie unter die Augen.« »Wir hören’s gern.« Riancor stieß mich in die Seite. »Ein wenig haben die wackeren Dörfler auch Angst, daß wir sie mit Nachdruck zum Glück und Reichtum zwingen wollen.« Beauvallon hatte sich auf den Winter vorbereitet. An den Hauswänden waren die riesigen Scheitholzstapel geschichtet. Ställe und Wände waren frisch gekalkt, überall sahen wir Säcke, Schinken im Rauch, Fleisch im Pökelfaß, dampfende Kessel über der Glut der Kamine. Die Dörfler sahen gesund, sauber und gut gekleidet aus. Hühner gackerten, Enten und Gänse schnatterten, Tauben gurrten, es brüllten die Rinder, die Schweine erzeugten in den Koben schreckliche Geräusche, Hunde kläfften, auf warmen Kaminsteinen saßen fette Katzen. Es roch nach Most und Wein, eingelegtem Gemüse und nach Obst. Die Kieswege sahen sauber aus, und überall arbeiteten jetzt die Männer mit Holzstämmen, Bohlen und Brettern, setzten Bäume und beschnitten Anpflanzungen. Durch die kleinen Läden der Schule schimmerte das Licht der Kerzen. »Heute abend, wenn wir am großen Tisch in der Halle essen, werdet ihr sehen, was die vielen armen anderen Bauern nicht wissen!« vertröstete Monique. 128
Wir überließen die Gäste der Obhut der Beauvalloner, zogen uns um, anschließend unternahmen Monique und ich einen ausgedehnten Spaziergang quer durch die abgeernteten, frisch umgebrochenen Felder und entlang der Waldränder, durch die Weinberge und um die Mühle herum. »Mit wenigen Worten«, ich lehnte mich an den Baumstamm, »es geht nicht ohne einen von uns. Vielleicht schicke ich Riancor jedes Jahr ein paar Monde lang hierher.« »Wird er es schaffen können?« Wir standen auf dem höchsten Hügel, der sich als natürliche Barriere vor den südlichen Wäldern erstreckte. Von hier aus sahen Häuser und Ställe wie lebendiges Spielzeug aus. »Mit einem entsprechenden Auftrag und dem bekannten Programm müßte es zu leisten sein. Man muß auf sie aufpassen. Die Menschen müssen wissen, daß es jemanden gibt, der die Verantwortung trägt und sie fordert.« »Und ihnen hilft, wenn sie’s brauchen.« Ich nahm sie in die Arme, zog sie an mich und genoß es, daß auch ich jemanden hatte, wenn ich ihn brauchte. Ich merkte mir einige Punkte, die noch zu verbessern waren, beobachtete Raubvögel, Rotwild und eine Rotte Wildsäue, die fett und dreist wirkten. Der Logiksektor wisperte aufgeregt: Du riskierst deine Gesundheit, wenn ihr jagt! Das nahm ich gern in Kauf, meinte ich und grinste innerlich. Ich war, was die Stadt anging, bildermüde und sehfaul geworden; in diesen Jahren lohnte es sich nicht, in das Schicksal der barbarischen Kleinstaaten einzugreifen. Es dunkelte, und wir machten schnellere Schritte. Dohlen und große Eulenvögel krächzten zwischen Stämmen und Zweigen, von denen sich Rindenstücke schälten. Über den Nebel hob sich ein buttergelber Vollmond. Wir zogen die Kragen der fellgefütterten Jacken höher und eilten zwischen der Schmiede, der Schule und vorbei am verwaisten Pfarrhaus auf das weit offene Tor von Le Sagittaire zu. In der Halle waren die Vorbereitungen für ein langes und reichhaltiges Abendessen angefangen worden. Im Durch129
einander von klappernden Tellern und Krügen sang Tillyard zur Laute und schäkerte mit den Mädchen. Nur die dunkelrote Glut hinter dem aschgrauen Bohlenstück verbreitete ein vages Licht. Aus irgendeinem Winkel hörte ich ganz leise den jungen Reiter singen; die Töne der Saiten klangen teilweise schaurig. Mit dem Wind, verstand ich, sang ich mein Lied in die Wolken... Jemand klopfte an die Tür. Ich lehnte müde am Kopfteil und erkannte den Rhythmus, den Riancor anwandte. Monique schlief, halb zusammengerollt, neben mir. ... Sehnsucht in die Pinien gerufen, in den Ginster Wahrsagung gewebt... Riancor öffnete die Tür einen breiten Spalt, winkte mir, und ich war schlagartig hellwach. Auf nackten Sohlen lief ich auf den Korridor hinaus und starrte aufgeregt in seine leuchtenden Sehlinsen. »Du hast sicher einen Grund«, begann ich. Er nickte. Schließlich sagte er völlig unbetont, plötzlich wieder mit der Stimme eines Roboters: »Die Überwachungsgeräte melden im Überlebenssystem einen Wassereinbruch. Er war zunächst so geringfügig, daß kein Alarm ausgelöst wurde. Jetzt ist die Menge des eingedrungenen Wassers so groß, daß die Hochleistungspumpe angelaufen ist. Die Roboter haben Zerstörungen registriert. Ich warte auf deinen Befehl, Gebieter.« Ich schwieg bestürzt. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich versuchte, die Situation einzuschätzen, und entschied mich schon nach einigen Sekunden. »Aktiviere die Transmitter! Wir gehen sofort in die Kuppel und müssen die Lage unter Kontrolle bringen.« »Ich habe natürlich bereits alle Schaltungen aktiviert, die uns helfen können. In kurzer Zeit warte ich auf dich in den Gewölben. Du solltest vielleicht bis zum Morgen wieder zurückgehen.« »Ich bin sofort bei dir.« 130
Ich huschte zurück und zog mich an. Ich steckte die wichtigen Nachrichtengeräte ein und dachte über eine Gefahr nach, die ich bis zum heutigen Tag nicht richtig eingeschätzt hatte. Der Zylinder, den die Kuppel abschloß, war immerhin älter als neun Jahrtausende. In neuntausend Ellen Tiefe herrschte ein mörderischer Wasserdruck. Mehrmals waren durchaus ernstzunehmende unterseeische Beben registriert worden. Sie hatten Schlick aufgewühlt, die Felsen erschüttert, und der Überwachungskalender kannte schwere vulkanische Aktivitäten. Arkonstahl, in gebührender Dicke und mit robotischer Zuverlässigkeit zusammengebaut, überdauerte Ewigkeiten, war aber nicht für ewig stabil. Wenn es ein feines Loch gab, entwickelte in dieser Tiefe ein eindringender Wasserstrahl die zerstörerische Wucht eines Laserstrahles. Ich weckte Monique, baute auf dem niedrigen Tisch neben unserem Bett ein paar Geräte auf und aktivierte eines nach dem anderen. »Riancor und ich müssen zurück in die Kuppel. Einige Maschinen haben versagt. Du kannst mit uns sprechen und uns sehen«, sagte ich drängend. Monique hatte sich aufgerichtet und blickte mich unsicher an. »gefährlich? Du wirkst aufgeregter als jemals zuvor.« »Ehe es wirklich gefährlich wird, sehen wir nach. Du mußt Blaise und die Dörfler beruhigen, wenn es nötig wird.« Ihre Augen huschten über die aufgeklappten Truhen, in deren Efeckeln die Bildschirme und Kontrollampen glimmten. »Wie spät?« »Noch vor Mitternacht«, sagte ich und schlüpfte in die Jacke. »Ich spreche mit dir, sobald ich in der Schutzkuppel bin.« Monique senkte den Kopf, strich einige Falten des Lakens glatt, ohne zu merken, was sie tat, und dann nickte sie mehrmals. »Ihr müßt nachsehen. Geht schnell, und kommt bald wieder zirück.« »Darauf kannst du dich verlassen«, sagte ich und küßte sie. Ich lief, so schnell und leise ich konnte, über die Gänge, Treppen und die Stufen hinunter in die Gewölbe. Hier roch es nach Wein. Ich schloß die schweren Portale und ging auf Riancor zu, der mit seiner Ausrüstung vor dem aktivierten Transmitter stand. 131
»Hast du Verbindung mit der zentralen Positronik?« fragte ich und nickte. Er antwortete, während er die Kodierung in die Tastatur der Seitenleiste eintippte: »Natürlich. Der Wassereinbruch erfolgte etwa in der Mitte des Zylinders. In einem der größeren Lagerräume. Es muß eine größere Menge eingedrungen sein, die ständig anschwillt«, erklärte er hart, machte einen großen Schritt zwischen die Energieschenkel und verschwand. Ich wartete, bis sich das Energiefeld wieder aufgebaut hatte, und spürte, wie meine schwarzen Ahnungen größer wurden. Dazu kam, daß unsere Station etwa zweihundert Ellen tief in den aus^- höhlten Fels hineinreichte. Der zylindrische Teil, im ThermalHochdruckverfahren mit dem gewachsenen Fels verschweißt, war also laut Zentralpositronik gefährdet. Ich passierte die Transmitterverbindung und befand mich in der kühlen, mittlerweile hell ausgeleuchteten Kuppelwölbung. Riancor hantierte an den Pulten und ließ Bilder der Unglücksstelle erscheinen. Eine schwebende Plattform summte heran und verharrte zwischen uns. Etwa hundertzwanzig große Schritte betrug der Durchmesser der Rundung. Ich studierte die schematisch blinkenden Darstellungen der Verbindungselemente, die wir benutzen mußten, um in die Tiefe hinunterzukommen. An zahlreichen Stellen bewiesen rote Blöcke, daß sich Notschleusen und Schotte geschlossen hatten. »Alles klar!« sagte Riancor und setzte sich in den Pilotensitz. »Das Leck befindet sich auf der elften Ebene. Sie ist teilweise überflutet.« »Inhalt des Lagerraums?« »Maschinen und Geräte, Rohstoffvorräte und Werkzeuge. Die Roboter sind bereits dabei, ein Thermoelement aufzubauen und mit Energie zu versorgen.« »Das bedeutet, daß nichts und niemand und erst recht keiner von uns von außen herankann?« »Du hast es auf den grafischen Darstellungen gesehen. Ich vermute, daß die Felsbewegungen einen winzigen Materialfehler aufgedeckt haben...« »Kein Wunder; nach mehr als neuntausend Jahren.« 132
Wir verließen die obersten Ebenen, von denen ich jeden Winkel auf das genaueste kannte. Ein Antigravschacht war eingeschaltet worden und nahm, nachdem sich schwere Schleusentore geschlossen hatten, die Schwebeplattform auf. Ich schaltete die Aufnahmegeräte mit dem Kuppelsender zusammen und sagte ins Mikrophon des Armbandgeräts: »Monique! Wir sind sicher gelandet. Wir befinden uns auf dem Weg zur Unglücksstelle.« Die Elemente der normalen Beleuchtung brannten störungsfrei. Ein gutes Zeichen; die Notbeleuchtung hatte sich noch nicht eingeschaltet. Mein Mißtrauen gegen arkonidische Technik war nicht sehr groß, aber über solch lange Zeiträume hinweg fielen auch Maschinen und Anlagen aus, die sich selbst kontrollierten und überdies von stationären Robotern gewartet und systemüberprüft wurden. »Hast du schon eine Reparaturmöglichkeit herausgefunden?« Es begann nach Meerwasser zu riechen, nach feuchten Materialien und schmorenden Energieleitern. Das Geräusch schwerer Maschinen, vermutlich der Pumpen, verstärkte sich. Von den massiven Stahlelementen gingen feine Vibrationen aus. »Die Maschinen werden ein Kastenelement herstellen und um den Riß herum anschweißen.« »Ich weiß nicht, ob mir das gefällt«, murmelte ich und hörte Moniques halb aufgeregte, halb zuversichtlich klingende Stimme. Ich merkte, wie die Bewegung der Plattform langsamer wurde. Riancor steuerte sie nach rechts, in ein verschlossenes Stück Korridor hinein. Die Kennfarbe dieser Plattform war gelb mit schwarzen Streifen. »Hinter diesem Schott beginnt die gefahrliche Zone.« »Gleichgültig. Sende den Öffnungsimpuls!« Hier unten gab es Räume, die ich nie betreten hatte, und Maschinen, von deren Existenz ich nur aus den Verzeichnissen und Bauplänen der Computer wußte. In Notzeiten hätte dieser Turm samt Kuppel für kurze Zeit zehntausend Arkoniden Unterschlupf bieten können. Ich rief mir ins Gedächtnis zurück, was ich von diesen Räumen wußte. Die Elemente eines Druckschotts schoben sich in Wand und Decke zurück. Nach Passieren einer weiteren Schleuse schwebte die 133
Plattform einige Dutzend Schritte nach links, dann sprangen wir ab. An schwankenden dicken Kabeln hingen zusätzliche Tiefstrahler und tauchten eine unwirkliche Szene in grelles, fast schattenloses Licht. »Merde!« sagte ich laut und fügte einen französischen Fluch in voller Länge hinzu. »Wie gut, daß wir so schnell an Ort und Stelle vsaren.« Zwischen den senkrechten, wantenartigen Verstrebungen hatte sich ein Schlitz geöffnet, etwa drei Finger lang und doppelt fingerbreit. Waagrecht pfiff und heulte eine glasklare Wasserfläche, wie eine Schwertschneide, quer durch eine vierzig Schritt breite Halle. Sie traf einen Kasten aus Arkonstahl, der vorn geöffnet war. Darin erzeugte sie ein Geräusch wie lang anhaltendes Blitzkrachen und ferner Donner gleichzeitig. Unterhalb des Schwertes aus vernichtendem Wasser sprudelte und schäumte die Flüssigkeit, deren vernichtende Wucht gebrochen worden war, hervor und lief auf den gerasterten Kunststoffboden. Im Zentrum der Halle befanden sich zwei Abflüsse. Einer davon war alt, der andere war von Arbeitsrobotern eingeschnitten worden, nachdem sie eine zweite Pumpe mit einem Stahlrohr großen Durchmessers verbunden hatten. Jetzt bedeckte nur noch eine halbe Handbreit Seewasser den Boden, alles andere wurde abgesaugt. Aber an den Wänden markierte ein Streifen auskristallisierendes Salz die Höhe des Wasserspiegels. Kisten, Ballen und Tonnen waren aus ihren Lagern gehoben worden, hatten zu schwimmen angefangen und waren, als das Wasser fiel, zu Boden gesunken. Die Maschinen hatten neun Zehntel davon so weit aufgeräumt, daß der Boden der Halle frei war. »Der Riß vergrößert sich ständig weiter«, sagte der Robot. »Man muß eilig arbeiten.« Vier wuchtige Stahlplatten hingen in den Greifern der Robots. Eben wurde die letzte Schweißnaht gelegt. Ich schirmte meine Augen ab und erkannte einen großen Kasten ohne Boden und Decke, der in einen Deckenkran eingehängt und cjier durch die Halle geschleppt wurde. Es herrschte ohrenbetäubender Lärm aus zwei Dutzend Schallquellen. Riancor und ich brüllten uns Fragen und Antworten zu. 134
»Sie versuchen es mit Vereisen!« Um den waagerechten Wasserstrahl - je mehr ich mich umsah, desto deutlicher sah ich die Schäden, die jene treibenden Gebinde davongetragen hatten - schienen Dutzende von Maschinen an der Innenhülle zu kleben. Ein weißer Fleck breitete sich aus, eine dicke Eisschicht kristallisierte rund um die Einbruchsstelle. Vielleicht gplang es, einen Teil des Meerwassers zwischen Fels und Bruchnaht zu vereisen. Schon der erste feine Strahl mußte wie ein feingebündelter Hochenergiestrahl gewirkt haben. Manche Dinge waren förmlich auseinandergeschnitten, und aus den Schnittstellen floß Wasser ab. Chemikalien hatten sich aufgelöst und bildeten skurrile, ineinanderfließende Farbflächen. »Deine Regie ist ausgezeichnet«, stellte ich fest. »Ich beanspruche immerhin vier Zehntel der ZentralrechnerKapazität.« Das offene Kastenelement wurde iber den Strahl abgesenkt, mit gewaltiger Wucht zur Seite gerissen und schlug mit dumpfem Dröhnen an die Wand zurück. Sofort flammten an neun Stellen die Schweißgeräte auf, die beide Metallteile verflüssigten und submolekular miteinander verbanden. Die eisige Kälte und die weiße Glut kämpften gegeneinander. Dampf brodelte vor den Scheinwerfern auf und wurde von den Exhaustoren weggerissen. »Als der Lärm losging«, rekapitulierte Riancor die Protokolle der Computer, »schaltete sich eine akustisch empfindliche Detektorenanlage ein. Dann aktivierten sich schrittweise sämtliche anderen Einrichtungen.« »Wann wurde das erste Geräusch gehört?« »Vor sechs Stunden. Eine Stunde später empfing ich die erste Alarmmeldung.« »Langsam, diese Zentraleinheit.« Jenseits der Ebene, in der sich Fels und Metall untrennbar miteinander verschmolzen hatten, mußte eine große Spalte oder ein System von Rissen aufgesprungen sein, durch das Seewasser sich einen Weg suchte, bis es auf den zukünftigen Riß traf, vermutlich eine Schnitt135
stelle, an der damals die Maschinen in ihrer Arbeit unterbrochen worden waren. Schließlich war der »negative« Turm an Land hergestellt worden, unter atmosphärischen Bedingungen. »Sie hätte uns schneller warnen müssen. Aber wir allein - ohne das Heer der Maschinen wären wir hilflos gewesen!« brüllte ich. Die Dampfwolken verzogen sich. Neuer Lärm breitete sich aus, als die dröhnenden Maschinen versuchten, in das Kastenelement von oben einen fast eine Handbreit dicken Schieber einzuführen. Eine Arkonstahlplatte, die außen mit kreuzförmigen Verstrebungen verstärkt wurde, schwebte an den Haken eines Antigravgeräts senkrecht abwärts und glitt klirrend in wuchtige Führungsschienen. Nichts gpschah, bis die Unterkante in den Bereich des Wasserstrahl geriet. Er schien mir kleiner und weniger vernichtend zu sein. Dann zischte das Wasser, breitete sich nach allen Seiten aus, der Strahl verwandelte sich in eine Fontäne, die in alle Richtungen prasselte. Ein Rüttler packte die Oberkante und schob die Platte unaufhaltsam weiter nach unten. Während das Seewasser knatternd, zschend und kreischend aus dem Kasten zu entkommen versuchte, schwebte eine weitere Maschine heran und wickelte ein flexibles Rohr um alle vier Wandungen. Die einzelnen Windungen lagen dicht an dicht und wurden, mit einer großen Kältemaschine verbunden, vom Portalkran herangeschleppt. Augenblicklich preßten Pumpen eine tiefkalte Flüssigkeit in das System; die Röhren vereisten auch äußerlich. Mit einem letzten Knall schloß sich der Schieber, aber das Wasser wurde mit infernalischer Gewalt aus den Fugen gepreßt. »Sie schaffen es!« entfuhr es mir. Vor Spannung halb krank, hatte ich die Gedanken verdrängt, daß die Katastrophe ab einer bestimmten Größe unaufhaltsam sein würde - ich würde, samt der riesigen Technik um mich herum, zum heimatlosen Ausgestoßenen geworden sein, ohne die Möglichkeit, mich zu behaupten und den Barbaren den Weg zu den Sternen zu ebnen. »Die Wahrscheinlichkeit ist nahe hundert Prozent!« brüllte Riancor zurück. Es schien unmäßig lange zu dauern, bis die Fontänen und nadelscharfen Strahlen, die aus den Fugen pfiffen, nicht mehr irathematisch gerade, wie ein Spurstrahl, sondern, kraftloser geworden, 136
in mehr oder weniger starken Krümmungen schossen. Wasser begann zu tropfen. Schließlich versiegten die Fontänen, und der annähernd würfelförmige Block hatte sich in eine dicke Schicht Eis verwandelt. Die Maschinen arbeiteten an anderen Stellen und überzogen die Innenwand mit einem Mosaik großer, rechteckiger Platten, die sie mit der Wandung und untereinander mit der Thermokanone verbanden. Wieder gab es Dampf und Rauch. Aus einem Regal löste sich eine Palette voller Halbzeug: bronzene, silberne und goldene Zylinder, aus denen man, beispielsweise, Rohlinge schneiden und Münzen prägen konnte. »Und jetzt zur Schadensermittlung«, sagte ich. »Rufst du die Daten ab?« Wir hatten uns bis unmittelbar an das stählerne Geländer herangewagt und traten jetzt auf die Scherben von Scheinwerferabdeckungen. Die Hitze, die von den Schneide- und Schweißstrahlen ausging, die hinter dicken Filterschutzschirmen arbeiteten, trocknete das stählerne Gewölbe. Gleichzeitig verdunstete die Feuchtigkeit; grauenhafter Geruch breitete sich aus. »Ziehen wir uns zurück. Ich setze weitere Maschinen ein.« Riancor packte mich am Arm. »Der Schaden wird nicht unbeträchtlich sein.« »Aber nicht lebensgefährdend.« »Dank der technischen Ausrüstung, deren Möglichkeiten du eben hast sehen können, läßt sich alles wiederherstellen. Oder fast alles. Hier entlang!« Mittlerweile waren schwebende Kamerasysteme erschienen und eine Reihe »fabrikneuer« Maschinen. Der Schwarm verteilte sich in der Halle. Eine Kette offener Container schwebte an unserer Plattform vorbei und schob sich über die Rampe abwärts. Der tobende Lärm hatte aufgehört. Wir schwebten hinaus; hinter uns schlossen sich die schweren Portale. Es schien, als sei unser Überlebenssystem gerettet. Ich schwieg und merkte mir, während wir auf einem anderen, ebenso verschachtelten Weg zu den obersten Ebenen vorstießen, die Anordnung der Decks und der Räume. Schließlich schaltete ich mich in den Informationskanal ein und beruhigte Monique. 137
»Halte unsere Gäste noch etwa drei Stunden hin«, bat ich sie. »Dann komme ich wieder aus unserem Gewölbe.« »Du ahnst nicht, wie ich um euch gezittert habe«, sagte Monique leise. »Ist es vorbei?« »So scheint es.« In dem vertrauten Bereich der Säle und Freiflächen unter der Kuppel wechselte ich zunächst die Kleidung und ließ sie säubern. Ein Pokal Wein verbesserte meine Laune und mein Wohlbefinden, als ich die Bilder anschaute und den Kommentaren zuhörte, die von Riancor und den Computern kamen. Sie verglichen die Posten auf den langen Listen. Ein bunter Reigen wiederverwendbarer, halbverdorbener und völlig unbrauchbarer Materialien, Gegenstände und Geräte zog an mir vorbei. Die Roboter sortierten die Gebinde und Container aus. Die Schäden waren tatsächlich groß, aber da unsere Vorräte vergleichsweise gewaltig waren, fielen sie nicht wirklich ins Gewicht. Vieles konnte wiederaufbereitet werden. Schließlich meldete der Zentralcomputer eine Lagernummer, die mich aufhorchen ließ. Du kennst sie, rief der Logiksektor in heller Panik. Ein unersetzlicher Verlust! »Zeigt die Kiste her! Langsamer!« rief ich. Ich zwinkerte und entsann mich. Die Erinnerung betäubte mich wie ein Schlag ins Gesicht: ein Kasten, halbmannslang, zwei Ellen hoch, drei Ellen breit, mit stabilen Verschlüssen und raumfester Versiegelung. Innen befand sich ein Spezialfutter aus federndem Schaumstoff, der ein kompaktes Gerät umschloß. Der Hyperfunksender! Zuerst schien die Verpackung aus dem Fach gefallen zu sein, dann war sie im Wasser geschwommen, halb eingetaucht. Sie mußte mehrmals und zu unterschiedlichen Zeiten von den vernichtenden Wasserstrahlen getroffen worden sein, denn die Umhüllung war zerschnitten, verformt und teilweise bis zur Unkenntlichkeit zerknittert. Der federnde Stoff im Innern troff erbärmlich; das Gehäuse sowie mehrere kleine Anbauten und Ausbuchtungen schienen wie ab^schnitten, aufgeschnitten. »Bringt diesen Gegenstand hoch und stellt ihn in cbr Werkstatt neun ab!« befahl ich. Meine Finger zitterten wie im Fieber; ich 138
schwankte im Sessel. Mir wurde übel: Der letzte mögliche Ausweg weg aus dem Chaos des Planeten war unpassierbar geworden. Vorbei. Schweigend sah ich zu, wie die Robots das Gerät auf eine Plattform verluden und aus dem Bildbereich der Linsen verschwanden. »Das ist die endgültige Antwort auf viele Fragen«, murmelte ich und griff nach dem Wein. »Mit größter Wahrscheinlichkeit existiert keine Funkverbindung mehr zum Computer der Venusstation«, sagte Riancor. »Du und ich«, ich hob in plötzlichem Frost die Schultern, »sind nun endgültig von Arkon verbannt. Keine Alternative mehr. Der Traum von der Arkon-Flotte... vorbei. Aus. Ausgesetzt auf dem Barbare nplaneten.« Nur langsam begriff ich, was Riancor antwortete. Er wiederholte es zweimal. »Wenn der Planet Arkon von dir erführe, über den HyperFernsender der Venusstation, bedeutet dies einen Text, den auch andere abhören können. Selbst wenn du ihn kodierst. Verschlüsselungen sind von raumfahrenden Intelligenzen zu dekodieren. Auch andere Raumfahrer würden den Barbarenplaneten finden und ausbeuten, seine Bewohner versklaven. Auch diese Gefahr existiert nicht mehr. Erinnere dich allein an jene Raumschiffe, die zufällig hierherfanden.« Er hat recht, bestätigte das Extrahirn. Ob durch den Schock auch die Wahrscheinlichkeit kleinerer Zwischenfalle beseitigt worden war... in dieser traurigen Stunde war es mir absolut gleichgültig. Dennoch war es unendlich schwer, mich mit der Einsicht abzufinden, nie mehr die Flotte oder ein einzelnes Schiff rufen zu können. Aber noch immer ruhte das »Raumschiff« im Basaltfelsen nahe der verödeten, ausgestorbenen Oase. Ausgraben? Die Felswand sprengen? Eine winzige Hoffnung blieb also. »Ich habe verstanden«, sagte ich. »Geht es nach uns und nach dem verdammten Schicksal, kommen weder die Schiffe meiner Leute noch irgendwelche anderen.« Riancor brachte mir unaufgefordert einen zweiten Pokal voll Wein. »Unsere Aufgabe ist niemals klar definiert worden. Du beantwortest stellvertretend für diesen Planeten selbstgestellte Fragen. Du glaubst 139
vielleicht, versagt zu haben. Das ist falsch. Du solltest einige Zeit vergehen lassen und darüber nachdenken. Geh zurück zu Monique und Blaise! Ich bleibe mit dir in Verbindung und komme nach, sobald die Lage völlig unter Kontrolle ist.« Ich stand auf und fühlte, daß ich schwankte. Meine Knie waren ohne Kraft. Gedanken und Empfindungen wirbelten hin und her, zwischen tiefster Verzweiflung und einer neuen Kraft, die aus der ftsignation kommen mochte. Ich hielt dem Roboter den leeren Pokal entgegen, schaltete das Bild Moniques auf einen Bildschirm und stellte mich in den Sichtbereich der Linsen. »Ich komme, meine Liebste«, sagte ich mit schwerer Stimme. »Der Preis für manche Einsicht ist so hoch, daß ich meine Zweifel habe, ob ich ihn zahlen kann...« »Komm zu mir!« antwortete sie mit der ruhigen Überzeugung, die richtigen Worte gefunden zu haben. »Es warten deine Freunde. Und ich - am meisten. Deine maurischen Freunde nennen dich El radschul el tawil, den großen Mann. Ich weiß nicht, was vorgefallen ist, aber nichts kann dich unbedeutender machen, Liebster.« Ich schluckte trocken und murmelte: »In einer halben Stunde findest du mich, wo ich hingehöre.« Sie lachte aufmunternd. »Ich sehe es. Im Weinkeller von Sagittaire.« Das Bild flimmerte, ehe es wechselte. Ich kontrollierte auf eineinhalb Dutzend Monitoren den Umfang der Reparaturarbeiten, warf einen Blick auf die traurigen Reste des Hypersenders und hob die Schultern. Ich sprach mit Riancor, ging zur Transmitterstation und wagte den Sprung zurück in jene Umgebung, die mir weniger vertraut war als die technische Kühle der Überlebenskuppel. Aber Holzfasser, Weingeruch und die handgefertigten Teile, mit denen Trauben gepreßt und der Saft gefiltert wurden - sie rochen nach wirklichem Leben, und Monique, die auf mich wartete, gehörte zu diesem Leben. Ich atmete tief durch und sagte: »Träume, das ist es, was wir brauchen. Komm, träumen wir von künftigen Tagen, im Schnee oder im Mai.« 140
Moniques Lächeln stärkte meine ersten hoffnungsvollen Überlegungen darüber, wie es nach Durchtrennung dieser Verbindung weitergehen würde. Ich war bereit, mich derselben Aufgabe unter geänderten Vorzeichen zu stellen. Blaise und seine Männer erkannten, daß ich weitaus ernster und nachdenklicher war als am letzten Abend, aber sie meinten, es käme vom überreichen Genuß unseres Weines. Mit dem Hinweis, sie sollten sich Saufedern leihen und ihre Waffen schärfen, beruhigte ich sie. Der Herbst, die beste Zeit für die Jagden, war fast vorbei, aber in »meinen« Wäldern gab es überreichlich Wild. Wagte andernorts ein Bauer, in den Waldungen seines Herrn zu jagen, riskierte er abgehackte Gliedmaßen, Kerker oder das Leben - nicht bei uns in Beauvallon. Wir sorgten dafür, daß es nur die älteren und schwächeren Tiere traf, aber unsere Beute war stets wohlgenährt. Es gab Braten im Überfluß; dazu Felle, die gegerbt und zu Kleidungsstücken genäht wurden. An vielen Tagen, bis in die Zeit hinein, in der der erste Schnee fiel, sprengten wir durch jene Bezirke unserer Wälder, die man zu Pferde betreten konnte, ohne sich Hals und Bein zu brechen, durch finstere Hohlwege, über Lichtungen und weit die Berghänge hinauf. Große Schwärme von Krähen und Raben, einzelne Bussarde, Falkenpärchen und Geier begleiteten uns hoch über den Baumkronen und fraßen, was wir übrigließen. Jeden Morgen hing Rauhreif an den Zweigen. Die Ufer der Bäche begannen zu vereisen. Neunzehn Tage nach der letzten Jagd: Wir saßen in den behaglichen Sesseln der Halle und sprachen über die schönen und weniger schönen Seiten des Lebens. Jemand klopfte schüchtern ans Portal. Ein Junge kam herein und rief aufgeregt: »Ein reitender Bote ist ££kommen. Er hat Nachricht für Ritter Blaise!« Monluc stand auf, drehte an den Enden seines weißen Bartes und murmelte ächzend: »Die schönen Tage sind vorbei, Freunde. Man braucht mich, um andere umzubringen.« »Warte ab, welche Nachricht man dir bringt«, wehrte Monique ab. »Immerhin bist du hier gesund eingeritten - und reitest gesund und wohlgelaunt wieder weg.« 141
»Auch wahr. Sehen wir weiter.« Selbstsicher stiefelte er hinaus. Wir hatten gute Tage hinter uns. Es gab einige Handvoll Bauern mehr, die Verständnis hatten für Soldaten und Krieger. Es gab Kriegsmänner, die jene vielfältigen Probleme des ärmsten und am meisten geschundenen Standes im Land verstehen konnten. Viele Arbeiten wären ohne die Hilfe unserer Gäste nicht erledigt worden. Und die Mädchen schwärmten von der Heiterkeit der Reiter. Nun, ja. »Ausgerechnet! Fängt der Winter an, müssen wir reiten!« rief Tillyard vorwurfsvoll. »Unsere Pferde werden erfrieren!« Wir folgten Monluc, die Pokale in den Händen. Das dampfende Pferd des Boten wurde von den Bauern versorgt. Blaise nahm einen Brief entgegen, las ihn, dann riß er den Arm in die Höhe und schrie: »Freunde! Die Zeilen kosten euch ein Vermögen in Wein, Brot und Braten! Erst in hundert Tagen brauchen sie uns. Kampf unweit von La Rochelle. Dürfen wir bleiben, AtlanCor?« Längst hatte ich verstanden, daß er, wenn er meinen Namen bewußt falsch gebrauchte, seine Herzlichkeit beweisen wollte: Cor, Herz; auf diese Art drückte er seine Freundschaft aus. »Natürlich. Gegen deine Langeweile kenne ich Rezepte«, antwortete Riancor herausfordernd. »Bäume fällen, dem Schmied helfen, Schieber ausbessern, mit mir zusammen hämmern und bd&teisei lachte dröhnend. Ich zog Monique an mich und fühlte mich nach vielen Tagen wieder ausgeglichen. Ich zeigte auf die Dorfbewohnerinnen. »Vergiß nicht, Blaise, daß hier auch andere Aufgaben auf euch warten. Weitaus reizvollere.« Fünfundachtzig Tage und Nächte. Wir verbrachten sie so fröhlich und sinnvoll wie möglich. Ich bereitete die Dorfbewohner darauf vor, daß sie vom Jahresende an ihre Sorgen mit Riancor zu teilen hatten. Er würde für Ordnung sorgen und jegliche Verantwortung tragen. Wir lichteten die Wälder ringsum, hinterließen gefüllte Speicher, halfen den Einwohnern, wo immer es ging, regelten das Leben für 142
die nahe Zukunft und zahlten unsere Steuern mit falschem Gold im voraus. Immer wieder »verschwand« Riancor und kontrollierte die Reparaturarbeiten in den Tiefen unserer Überlebensstation. Blaise Monlucs kleine Truppe, mit reichlich Proviant ausgestattet und gesunden, kräftigen Pferden, verließ uns endgültig. Wir begleiteten ihn bis zur übernächsten Wegkreuzung, und der Abschied fiel so herzlich aus wie das - versprochene - Wiedersehen. Ich vermochte nicht daran zu glauben. Nachdenklich ritten wir zurück nach Le Sagittaire und versorgten jene Teile des Gepäcks und der Ausrüstung, die wir nicht zurücklassen konnten. Wie es die Alten im Dorf immer zu erzählen wußten, verschwanden wir unerwartet und mitten in einer Nacht, in der ein Schneesturm das Dorf und das Schlößchen umheulte und zu ersticken drohte. An den Resten des unersetzlichen Funkgeräts arbeitete ein Schwarm Spezialroboter. Die Bruchstücke waren poliert, teilweise demontiert und... unbrauchbar. Die Computer hatten sämtliche lagerlisten abgefragt und festgestellt, daß der Senderempfanger irreparabel beschädigt war. »Schafft das Ding fort und versteckt es auf einer cbr untersten Ebenen!« sagte ich. »Und erinnert mich niemals wieder an den Hyperfunksender.« Einige Tage lang zögerten wir noch. Unsere Sonden übermittelten Bilder von der Oberfläche, aber da sie meist das Elend der Armen zeigten und die Verrücktheiten der Mächtigen, schien es besser, einen langen Schlaf zu beginnen. Rico würde wissen, wann er uns zu wecken hatte. Seltsamkeiten gab es genug auf diesem Barbarenplaneten; die eine oder andere würde auffallend oder dramatisch sein, und wenn die Computer ihre Auswahl getroffen hatten, durfte ich wieder zeigen, was ich von den Barbaren gelernt hatte; mit Ricos Hilfe. Das Innendach der Bühne war noch nicht geschlossen. Keilförmig sprang die Bühnenplattform in den unratübersäten Zuschauerraum vor. Die Galerien waren leer, der Balkon der Oberbühne trug schon 143
Teile der Abend-Dekoration. Ein Vorhang trennte die Hinterbühne von den wenigen Zuschauern; gleichzeitig kennzeichnete er den Eingang zur Schenke und Herberge. Ein Wirtshausschild zeigte ein schwellendes Kissen und einen Pokal. Eine Szene auf dem Marktplatz sollte geprobt werden. Jemand rief aus den Kulissen: »Zweite Szene!« Auf einem grob gezeichneten Zettel, an einem rostigen Nagel an die Wand gespießt, stand zu lesen: KOMÖDIE DER IRRUNGEN; COMEDY OF ERRORS. »Fangt endlich an!« Eine KURTISANE in offenem Mieder, mit unedlem Geschmeide und in gelbschwarzem Kleid trippelte aufreizend herein und setzte sich auf den Brunnenrand. Ein würdig-rüstiger ALTER MANN, der eine Sonnenuhr, einen prunkvollen Gürtel und Schreibzeug trug, kam vorbei, lächelte die KURTISANE überaus freundlich an und setzte sich zwei Ellen neben ihr auf denselben Brunnenrand. »Zweiter Aufzug! Zweite Szene!« ANTIPHOLUS VON SYRACUS tritt auf. ANTIPHOLUS: Nur die Schönheit und ’s geistvolle Alter füllen den Platz. Kaum bin ich da, kommt schon der Narr, mein Sklave! DROMIO VON SYRACUS (schlendert heran): So komm ich ohne Fug und Recht zu solchem barschen Gruß. Denn Eu’r Warum und Eu’r Wofür hat weder Hand noch Fuß. Nun gut, ich danke Euch. Wofür? Ich werd’ es nie erraten. ALTER MANN (irritiert): Es fangt wohl unverständlich an, und sehr bizarr wird’s enden. ANTIPHOLUS: Du dankst mir, Freund? Wofür? DROMIO: Meiner Treu, Herr, für das kleine Etwas, das ich für nichts bekam! KURTISANE: Nicht besser geht’s ihm, als es mir oft ging, ’s ist überall dasselbe. ALTER MANN: Der Eifer ist ein schlechter Herr, indes: Er ist ein guter Diener. 144
ANTIPHOLUS: Nächstens will ich’s dir wiedergutmachen. Dann gebe ich dir nichts für etwas. Aber sag, ist es Essenszeit? DROMIO: Nein, Herr, denn unser Fleisch ist noch nicht, was ich bin. ANTIPHOLUS: Und was wäre das? DROMIO: ’s ist noch nicht mürbe. KURTISANE: Meines schon längst. Ich spür’s. Und dies für kärgsten Lohn! ALTER MANN: Der Mann lügt besser, wenn er redet, die Frau, wenn sie schreibt (deutet auf sein Werkzeug). KURTISANE: Nicht zahlt man mich fürs Schreiben, wie du weißt, (deutet auf ihr offenes Mieder). ALTER MANN (lacht): Bedauernswert die Frau, die nichts bereuen muß! KURTISANE: Ihr habt nicht Grund, mich zu bedauern. ANTIPHOLUS: Dann wird das Fleisch noch hart und trocken sein? DROMIO: Ja. Und wenn’s so ist, ich bitt’ Euch, eßt ja nicht davon. ANTIPHOLUS: Kein Biß davon! So hat denn jeglich Ding hier seine Stunde: Mein Rat an dich: So lern zu spaßen, wenn es an der Zeit. DROMIO: Den Satz hätt’ ich wohl geleugnet, ehe Ihr so cholerisch wurdet. ANTIPHOLUS: Nach welcher Regel? DROMIO: Nach einer Regel, die so klar wie die klare kahle Platte des uralten Gottes der Zeit. KURTISANE (kokett): Kenne ich den? ALTER MANN (nickt näher heran): Du wirst ihn kennenlernen, sei gewiß - und sicher früher, als dir’s schmeckt. ANTIPHOLUS: Laß hören! DROMIO: Wenn einer von Natur aus kahl wird, so gibt es keine Zeit für ihn, sein Haar wiederzubekommen. Es sei denn, durch den Kauf des abgeschnittenen Haares eines anderen. KURTISANE: Dein Haar ist grau und lang. Ist’s denn dein eigen, alter Mann?
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ALTER MANN: Ich weiß was Beßres, als dem Wortwirrwarr zu lauschen. Mein Haar ward grau durch Klugheit, Wissen und durch Sorge. Noch ist es meines, jeder Faden. Sag an, wie nennt man dich? KURTISANE: In anderen Büchern schrieb man: Dremougati. Man kennt mich hier und heut als Anna oder Jane. ANTIPHOLUS: Warum ist doch die Zeit ein solcher Knicker mit dem Haar, das sonst ein solch reicher Auswuchs ist? KURTISANE: Auch du ein Knicker? Und was find’ ich, wenn ich dich begleite? ALTER MANN: Wart’s ab. Mein Ruf ist stark. Ich fasle nicht wie diese beiden. In meinen Jahren hält man mehr, als man verspricht. Und nimmer leid’ ich dieses holprig-hilflose Gestammel. DROMIO (wirft begehrliche Blicke auf Anna-Jane): Weil Haar ein Segen ist, mit dem das Vieh begabt. Was sie, die Zeit, dem Mann an Haar entzieht, ersetzt sie ihm an Witz. ALTER MANN: Das trifft’s! Bei Chronos! Den beiden nämlich fallen ihre Locken bis tief ins Hemd. KURTISANE (legt ihren Arm um seine Schultern): Auch hört man’s an den langen Reden, die sie schwingen. ALTER MANN (nimmt sie um die Hüfte, kneift sie): Dort gibt es warmes Bier, mein Lieb, und welschen Wein. Geh’n wir zum Wirt. Ich zahle gern. KURTISANE (beiseite): Ich leb’ davon. (Lachend und kopfschüttelnd entfernen sie sich.) ANTIPHOLUS: Und doch hat mancher Mensch mehr Haar als Witz. DROMIO: Kein einziger, der soviel Witz hält’, sein Haar gern zu verlieren. Ein stattlicher Mann kam aus der Dekoration, breitete beide Arme aus und unterbrach die Schauspieler. Diesmal war er es, der den Kopf schüttelte. Zu den Akteuren sagte er: »Macht eine Pause! So geht’s wohl nicht, bei allem schuldigen Respekt.« Er sprang hinunter zu den Zuschauern, setzte sich neben einen jungen Mann mit nackenlangem braunem Haar und sagte ruhig: 146
»Es ist zuviel, Master William, und auch zuwenig. Es gefällt mir nicht. Ihr solltet die Szene noch einmal überschlafen. Der Rest der Comedy wird wohl die Sitze und Ränge füllen. Aber noch ist’s nicht ausgegoren.« William, der Schauspieler und Stückeschreiber, der erst vor reichlich einem Jahr in die Stadt gekommen war, schien nicht verärgert zu sein. Er meinte: »Klug ist der Wirt, der entweder die Portionen vergrößert oder die Mieder der Kellnerinnen aufschnürt. So werde ich es halten. Vielleicht weiß mein neuer Freund einen Rat. Und ihr?« »Wir proben den Rest, und am Abend spielen wir ein Stück von Master Christopher Marlowe.« Sie nickten einander zu. Nur ein gutes Stück, das die Leute mitriß, brachte ihnen Geld und Ansehen. Der Poet aus Stratford-on-Avon verabschiedete sich herzlich und verließ den Innenhof des Gasthauses mit langen Schritten. Im Herbst Anno Domini 1587 weckte uns Riancor. Knapp zweiundzwanzig Jahre lang hatte diesmal unser Tiefschlaf gedauert. Meine erste Frage, als ich wieder Gewalt über Lippen und Zunge hatte, galt dem Leck des Riesenzylinders. »Computer und Maschinen, Gebieter, mögen viele Nachteile haben. Einen Vorteil besitzen sie: Gründlichkeit. Wir haben das Leck hervorragend und sicher für weitere Jahrtausende geschlossen und buchstäblich jede Stelle untersucht. Es wurde keine zweite schwache Naht gefunden. Euer Schlaf war sicher.« »Gut. Warum hast du uns geweckt?« »Weil sich, in der kleinlichen Staatenwirtschaft der Terra-Barbaren gesehen, drastische Veränderungen ankündigen. Philipp, der Sohn des großen Fünften Carlos von Spanien, seine katholische Gattin Maria, die junge englische Königin Elisabeth, Streit zwischen den Glaubensrichtungen, Überfalle der Spanier auf Engländer auf allen Meeren - das sind nur Stichworte eines Vorhabens, das geeignet sein kann, die Welt zu erschüttern.« »Im einzelnen: Was geht vor?« 147
»Spanien plant, die größte Flotte dieser Zeit auszuschicken, um die englischen Inseln zu erobern.« Auf den Bildschirmen erschienen Karten, Ansichten, Bilder und Merksätze. Nach einiger Zeit gab ich meine Zustimmung: »Einverstanden. Ich bin nun schon einmal wach; ich bleib’s auch. Wie geht es Monique?« »Ich spiele ihr gerade Theaterstücke aus London vor, denn dort scheint ein Künstler den Altmeister Marlowe ersetzen oder ablösen zu wollen. Ein hervorragendes Talent, dieser Shakespeare. Die deftigen, groben, witzigen und innigen Darbietungen helfen Monique aufzuwachen.« »Und was soll das sein?« Ich zeigte mit zitternden Fingern auf einen Bildschirm. Dort zeichneten sich grünbewachsene Hügel im Sonnenlicht ab. Die Luftaufnahme einer Sonde zeigte ein stilisiertes Pferd aus weißen Umrissen. Schafherden weideten zwischen den fließenden Formen. Der Pferdekörper maß vom Kopf bis zum Schweif etwa siebzig Manns längen. Die weißen Umrisse oder langgezogenen Flächen bestanden aus dem Kalkstein-Untergrund der Hügel; sie waren offensichtlich sorgfaltig vom Gras befreit worden. »Das ist das Weiße Pferd nahe Uffmgton, schätzungsweise reichlich sechzehnhundert Jahre alt. Ich fand erste Informationen darüber in den Speichern. Interessant, nicht wahr?« »Ein Hinweis für fliegende Objekte? Aus dieser Zeit? Ich denke gerade an die freigescharrten Linien in der Wüste des südlichen Amerika.« »Etwas Ähnliches. Ein Totem? Vielleicht«, sagte Rico. »Ein Stammeszeichen der BeigenKelten? Und hier, der Riese von Gerne Abbas, dessen genaues Alter nicht einmal unsere Speicher kennen. Schätzungsweise zweihundert Jahre nach der Zeitwende entstanden.« Ein riesiger Mann mit einer wuchtigen Keule in der Faust des o*- hobenen rechten Arms, mit auffallend riesigem Geschlechtsteil, angedeutetem Gürtel und kleinem, rundem Kopf, ebenso aus dem Kak148
Kalkuntergrund geschabt; die grasenden Rinder in diesem Bild, das in die Sterne blickte, waren nur Farbtupfer. »Man hat das Pferd als >Wunder Albions< beschrieben und feierte aufwendige Feste. Bist du ganz sicher, daß es nicht Zeichen für dich sind?« »Nein. Sicher kann ich nicht sein«, brummte ich und schloß die Augen, als sich die Solarlampen einschalteten. »Nicht, wenn es mich und den Planeten der Barbaren betrifft.« Von Stunde zu Stunde wurden die Informationen dichter aufbereitet. Etliche Tage später wußten wir mehr. Ein Zerwürfnis löste das nächste ab, ein Zwischenfall jagte den anderen - der Weg in den Krieg zwischen Spanien und England schien vorgezeichnet. Vor mehr als fünfzig Jahren hatten spanische Armada-Schiffe die Türken vor Tunis besiegt; ein Grund für ein starkes Selbstbewußtsein Seiner Katholischen Majestät, König Philipps des Zweiten von Spanien, des mächtigsten Mannes der Christenheit. Seit 1556 saß er auf dem Thron Spaniens - was nicht ganz zutraf, denn sein karger Schreibtisch, ein abgewetzter Sessel, drei Dutzend Bücher in einem fensterlosen Raum, dessen Türen in eine private Kapelle und ins ebenso karge Schlafgemach führten, das alles in der Festung El Escorial... das war die Schaltzentrale einer Macht. Philipp war ein Sonderling, dem man zuviel auf seine Schultern geladen hatte. »Königtum ist Sklaverei mit einer Krone auf dem Haupt«, pflegte er zu sagen. Der katholische Philipp heiratete Maria die Erste und hatte dadurch nicht einmal politischen Erfolg. Maria verfolgte in England die Protestanten und ließ viele verbrennen. Sein Vater dankte ab; Philipp kehrte erleichtert nach Spanien zurück und erbot sich, Marias Halbschwester zu heiraten - wegen der Freundschaft beider Länder. Aber jene Frau, Elisabeth, wagte sich 1558 auf den Thron des Inselreichs. In Europa hagelte es Proteste. Englische Seeleute überfielen spanische Schiffe und Siedlungen in der Neuen Welt. 1579 überfielen eifernde Fremde Elisabeths Land. 1580 übernahm Philipp den portugiesischen Thron; die Ausführung dieses Staatsstreichs brachte Furcht und Schrecken über die Welt. Der Handel blühte, obwohl unentwegt Schiffe im Sturm sanken, überfallen und gekapert wurden 149
jeder gegen jeden. Philipps Flotte wuchs durch den Raub der portugiesischen Galeonen. Spanische und französische Flotten kämpften bei Sao Miguel und Terceira. Ich hielt die Bilder an und schluckte. Meine Inseln! SA Miguel! Santa Cruz, der Marquis Don Alvaro de Bazän. der Held der Seeschlachten, sagte: »Jetzt, da uns Portugal gehört, ist England unser!« Philipp glaubte ihm. England, sagte der Logiksektor, diese streitsüchtige, eigensinnige Insel, ärmliches Land voller Burgruinen, Ketzerei und von feuchtem Klima. Stein des Anstoßes mitten im Meer. Heimat trinkfester Männer, großartiger Erzähler, dauersingender Barden und eminent tüchtiger Weltumsegler, Kaperfahrer, Piraten und Bogenschützen. Santa Cruz erhielt den Auftrag, eine Invasion zu planen. Er forderte 550 Schiffe, knapp 100.000 Mann und 3,8 Millionen Dukaten. Als Elisabeth, die Jungfräuliche Königin, ihre Rivalin Maria aus dem Geschlecht der Smart, ihre Cousine, hinrichten ließ, schrien die Katholiken nicht nur Spaniens nach blutiger Rache. Gut sieben Monate später wurden Monique und ich geweckt, da hatte »El Dragon«, der Drache, »Meisterdieb der unbekannten Welt«, seinen dreistesten bewaffneten Schachzug zur See schon sie greich beendet. Wir hatten genug Informationen; ich ließ das Spektakel auf den holografischen Bildschirmen ablaufen. Monique brachte spanischen Wein und setzte sich in den zweiten Sessel. Die Gefahr eines gewaltigen Krieges schien nach diesen Tagen zu einer Lawine angewachsen zu sein, die nichts und niemand mehr aufhalten konnte. Ich widmete mich zwei höchst unterschiedlichen Dingen. Ich sah zu und bewunderte mehr und mehr diesen verrückten Piraten Drake - und zugleich fragte ich mich, was ich eigentlich bei diesen barbarischen Spektakeln sollte. Auf dem Achterdeck der ELIZABETH BONAVENTURE stand Drake; kleinwüchsig, mit dem Brustkorb eines Meisterringers, einem braunen Bart im runden Gesicht und mittellangem Haar, im Halbharnisch und mit schwerem Degen. Hinter ihm segelten einundzwanzig andere Schiffe: Galeonen, Pinassen und bewaffnete Kauffahrer. Die Hafeneinfahrt von Cadiz, seicht und eng, lag in erreichbarer Nähe. 150
Clerk of the Ships William Borough zog sich verwirrt an Bord der GOLDEN LION zurück. Es gab keine erkennbare Taktik, keinen Plan. Zudem besaß Cadiz, östlich der GuadalquivirMündung, starke Uferbatterien. Drakes beste Waffen hießen Vorstoß und Verwegenheit. Er segelte los; der Rest des Geschwaders folgte in einiger Verwirrung, aber gehorsam. Was suchte ich inmitten der kleinlichen Auseinandersetzungen der Barbaren? Denn in einigen Tagen würde ich den Schutz der Kuppel verlassen haben. Ein Geschwader von Galeeren lag, den Bug zur See ausgerichtet, im Hafen. Die englischen Schiffe fuhren scharfe Wenden; eine Breitseite nach der anderen wurde abgefeuert. Verheerende Schäden und reiches Sterben gab es auf den spanischen Schiffen. Andere Schiffe ruderten an flache Stellen des Hafens, einige kollidierten, in der Stadt brach äußerste Verwirrung aus. Unablässig dröhnten die bronzenen Geschützrohre. Die Engländer enterten die Schiffe, die vor Anker lagen, und schleppten systematisch die Beute in ihre Segler. Die Geschütze der Festung und zwei Küstenbatterien richteten keinen erkennbaren Schaden unter den Eindringlingen an. Als die Nacht anfing, plünderten die Männer Drakes im Feuerschein der brennenden SpanierGaleeren Schiff um Schiff. Die Galeone des spanischen Admirals, die sich ins flache Wasser des inneren Hafens gerettet hatte, wurde von Drake in seiner Barkasse und kleineren Schiffen überfallen und in Flammen gesetzt. Die GOLDEN LION erhielt einen Treffer an der Wasserlinie; der Wind ließ nach und schlief völlig ein. Neue Maske, Arkonide. Noch mehr Neugierde? Noch immer die Überzeugung, das Schicksal vieler Menschen verändern und ihnen den nächsten Schritt auf dem Weg zu den Sternen zeigen zu können? Als die LION sich anschickte, den Hafen zu verlassen, ruderten sechs spanische Galeeren heran und nahmen sie unter schwersten Beschuß. Drake schickte die Galeone RAINBOW, seine Pinasse und fünf Kauffahrer los. Sie schlugen zusammen mit Boroughs HON die Angreifer zurück. Nun gab es überhaupt keinen Wind mehr. Mehr als zehn Stunden lang beschossen die Spanier von allen Seiten die engli151
sehe Flotte. Kleine Boote, in Brand gesetzt, steuerten auf die Piraten zu. Die Festungsgeschütze feuerten, was die Mannschaften leisten konnten. Mit wohlgezielten Breitseiten - sie waren hervorragende Kanoniere! - hielten sich die Engländer alle Angreifer vom Leib. Sie warfen ihre Anker und zogen die Schiffe an den Tauen in die Richtung der Hafenausfahrt; Ruderboote wurden eingesetzt; die Matrosen pullten wie die Rasenden, um die schweren Schiffe in den Schutz der Nacht und des sicheren Fahrwassers zu ziehen. Kurz nach Mitternacht kräuselte ablandiger Wind das schwarze Wasser. Die Segel füllten sich. Drake setzte sich mit der BONAVENTURE an die Spitze seiner Armada und segelte nach Nordwest. Zwei Dutzend spanische Schiffe waren vernichtet, 175.000 Dukaten in Flammen aufgegangen, auf dem Boden des Hafens oder als Prisen in den Bäuchen der englischen Galeonen. Sechs Wochen lang zogen englische Schiffe vor der spanischen Atlantikküste hin und her und plünderten jedes Schiff aus, dessen sie habhaft werden konnten. Im Juni erbeutete Drakes Geschwader im Schatten der grauen Felsen von Sao Miguel seine Traum-Prise. Die portugiesische Ostindien-Karacke SAN FELIPE, mit Stoffen, Gewürzen, Edelholz, Elfenbein, Gold, Silber, Edelsteinen bis zur Ladegrenze beladen, ergab sich nahezu kampflos. Der Wert der Beute war so groß, daß das arme England darangehen konnte, seine eigene Flotte als Antwort auf Spaniens Armada aufzurüsten und Neubauten auf Kiel zu legen. Zwar tat Admiral Santa Cruz sein Bestes, rasten Boten durch das Land, wurden Gelder geliehen und Waren eingekauft, wurden Männer ausgehoben - aber Lethargie und spanische Mißwirtschaft halfen den Briten. Der Bau der Armada geriet zum Desastro. »Unsere Antennen und Spezial-Stationen sind selbstverständlich, nachdem die Insel besiedelt und das Versteck fragwürdig geworden war, bestens getarnt. Bisher ist den Anlagen nicht einmal ein kühner Kletterer zu nahe gekommen«, beruhigte mich Riancor. »Später würden mich Bilder aus England interessieren«, sagte ich und trank den letzten Schluck. »Ich denke daran, dort ein Häuschen zu mieten. Denn irgendwann wird die Armada wohl die Inseln erreichen.« 152
»Wann? Das können nicht einmal unsere Hochleistungsrechner ahnen«, bedauerte er. Erinnerungen? Mehr als genug. Schiffe, Stürme, Gefechte und das endlose Meer: Wir kannten alles. Das Schöne, die Gefahren des Wassers, tapfere Männer und rücksichtslose Draufgänger. Und die Mächtigen, von denen Tausende in einen sinnlosen Tod gejagt wurden. Jeder einzelne hätte Besseres zu tun gehabt. Ich holte tief Atem. »Wir werden Frankreich besuchen, Le Sagittaire natürlich, und Spanien... vielleicht auch nicht. Früher war es dort heiterer. Jetzt regiert die Inquisition. Und auf jeden Fall das Land der Briten; dorthin reisen wir. Spiel mir die Bilder und Zusammenfassungen deiner Aufenthalte in Beauvallon vor!« »Sofort. Hast du die Masken, die näheren Umstände und die Rollen schon bestimmt?« »Für Beauvallon wählen wir unser altes Erscheinungsbild; ich werde ein wenig älter aussehen. Ich denke über die politischen Beziehungen nach, die es uns erlauben, unbehelligt zu leben: als Italiener, Franzosen oder was weiß ich. Wir haben genügend Zeit, uns zu entscheiden.« »Muß ich etwa als Greisin in Beauvallon erscheinen?« fragte Monique entgeistert. »Nein. Färbe dein Haar, schneide es, verkleide dich - du bist dann meine zweite oder dritte Gemahlin.« »Aber auch nur für die Dörfler.« »Einverstanden.« Ich grinste und merkte, daß sich meine Muskeln im gleichen Maße strafften, wie sich die Haut bräunte. Bald konnten wir wieder feste Nahrung zu uns nehmen. »Bringst du uns etwas Wein, Riancor?« Der Roboter, dessen Äußeres überholt war, sah noch so aus, wie ihn die Dorfbewohner in Erinnerung gehabt hatten. Bart und Haar waren schloßweiß geworden; Falten und Runzeln zeichneten sein wettergegerbtes Gesicht. So gefiel er mir. Wozu mischte ich mich wieder in die Kriege der Barbaren? Weil ich freiwillig die Verantwortung übernommen hatte. Meine Erfolge? Hatten sie gelernt? 153
Es gab tausend Staaten, Königreiche, Länder... Grenzen und Wappen ohne Zahl. Mein Traum einer einzigen planetaren Sprache und einer gemeinsamen Anstrengung rund um den Planeten, die Sterne zu erreichen oder ihnen näher zu kommen: Keine Chance, ihn zu realisieren. Verdiente England das Schicksal, in Spaniens Kultur hineingezwungen zu werden? Nein. Nicht gegen den Widerstand seiner Hfevölkerung. Was konnten wir tun? Der Logiksektor gab die bündige Antwort: Kümmere dich um Beauvallon! Streue einige Dutzend kleiner Erfindungen unters Volk. Verhüte das Schlimmste, wo du es siehst. Mische dich nur an ungefährlicher Stelle in die Schachzüge der Mächtigen. Eines fernen Tages schaffen die Barbaren alles, zumindest sehr viel - mit deiner Hilfe. Denke daran: ES sieht wahrscheinlich zu und hilft. In Spanien verbrannte die Kirche Abtrünnige vom wahren Glauben. Autodafes nannten die Kirchenoberen dieses makabre Geschehen. Die Mauren, Moriscos, denen das Land Kultur und Zivilisation verdankte, wurden unterdrückt Die Maranos, also Schweine, so wurden die Juden genannt, von denen einst die blühende Wirtschaft abhing, wurden vertrieben. Das burgundischspanische Hofzeremoniell, das jeder Geste eine starre Bedeutung und dem unbedachten Wort gefährliche Wichtigkeit verlieh, entfremdete Herrscher und das Volk; Philipp II. mißtrauisch und pedantisch, legte einen Schleier frömmelnder Düsternis über seine Länder. Spanien war also nicht unser erstes Reiseziel - wir planten, arbeiteten und ließen packen und erschienen in kurzen Abständen, natürlich, in Beauvallon. Diesmal empfingen uns Ordnung, Reichtum und Gesundheit. Riancors Anwesenheit hatte sichtbare Spuren hinterlassen. Die Dörfler jubelten; nur der Pfarrer mißtraute uns. Er hielt uns für Freigeister, Calvinisten oder gar Hugenotten. Illusionen waren die schlechteste Medizin der Phantasie; ich fühlte mich halbwegs wie einer dieser sinnlos agierenden Barbaren und versuchte dennoch, in irgendeiner Form einzugreifen. Nachdem wir uns in Le Sagittaire eingerichtet hatten, postierten wir mehrere Spi154
onsonden neu und hofften, die Informationen richtig zu verarbeiten. Während wir Musik vom Hof Elisabeths hörten, zusahen, wie man Ritterrüstungen gegen Musketengeschosse verstärkte, wie nach meinen frühen Ideen eine neue Kartenprojektion »erfunden« wurde Mercator hieß der Mann, der die zylindrische Abwicklung der Kugelform ersann -, in der Zeit, in der Brieftauben als NachrichtenBoten entdeckt wurden, Zucker den Honig abzulösen begann, mehr von der Planetenoberfläche entdeckt und vermessen wurde - Martin Frobisher entdeckte eine nördliche Passage, Francis Drake umsegelte den Globus -, wurde von Papst Gregor eine neue Kalenderberechnung eingeführt. In England begann man mit dem Rauchen einer besonders behandelten Pflanze namens tabac. Ein Katalog von Fixsternen (1000!) wurde gedruckt. Kurzum: Während wir versuchten, die Welt besser zu begreifen, ging der Herbst vorbei, und der Winter begann. Wir gingen auf eine drei Monde währende Reise, die uns in die Neue Welt brachte, dort auf eine große Insel zwischen den Kontinenthälften Amerikas, die unbewohnt war und nur Piratenschiffen als Versteck dienen mochte die Funde ließen diesen Schluß zu. Sonne, Wärme, weißer Sandstrand und die großen Wellen der seidenweichen Brandung: So ließ sich der Winter fein ertragen. Aber unser riesiger, schneller Gleiter war voller Technik. Wir vsaren von den Nachrichten der Welt nicht abgeschnitten, während wir mächtige Wale sahen und zwischen spielenden Schnabelfischen schwammen. Wir wohnten an der höchsten Stelle eines weißen Strandes, dessen Enden mit dem Horizont verschmolzen. Der Gleiter war versteckt, um drei Seiten des geräumigen Zeltes spannten sich Schattensegel. Ich lag in einer Hängematte, schaukelte mit dem linken Bein und verrieb reichlich Creme auf der tief braunen Haut. Mein schulterlanges Haar war völlig weiß geworden; den Bart, der mich zum Greis gemacht hatte, hatte ich entfernt. »Immer wieder treffe ich dieselbe Feststellung«, sagte Riancor halblaut. »Sind einige Handvoll Tage vorbei, langweilst du dich so sehr, daß du unglaubwürdig wirst.« 155
»Die Sonne verwirrt deine Sensoren.« Ich schaute zur Brandung und sah zu, wie Monique mit einem stattlichen Fisch am Angelhaken kämpfte, bis zur Brust im Wasser. »Ich versuche, mein Verhältnis zu diesem Planeten neu zu ordnen. Jetzt genieße ich den Sand, die Wärme, die meinen Körper zu einem Teil der Welt zu machen scheint, die vielen Stunden, in denen ich nicht gegen Dummheit zu kämpfen brauche.« »Du bist untätig«, stellte der Roboter fest. »Ein ungewohnter Zustand. Du denkst nicht an die Kämpfe und Probleme der Barbaren?« »Unausgesetzt. Aber ich handle nicht. Noch nicht.« »Du wirst deine Anordnungen klar aussprechen. Ich fühle mich nicht überfordert.« »Keinen Zweifel, liebster aller Roboter, Condottiere Riancor!« »Ich hole den kühlen Rosewein. Ich habe verstanden.« »Einen zweiten Becher für Monique.« Wir hatten miterlebt, wie die Spanier die Kolonien ausplünderten und wie ihre mit Gold, Sklaven und Gewürzen überladenen Schiffe in Stürmen sanken, wenn sie nicht von Piraten aufgebracht wurden, sahen, wie beide Flotten in abenteuerlich langsamem Tempo wuchsen - die französische und die der Engländer. Viele andere Tragödien ereigneten sich Tag um Tag: Die Geusen der Niederlande kämpften gegen die spanischen Besatzungen, hier forschten Männer, dort starben sie; Unfrieden war zahlreicher als Sonnentage in Europa. Wahrsager, Astrologen und Scharlatane schrieben und redeten viel. Sie stellten das Jahr 1588 unter den Stern des Bösen. Blutregen, Mißgeburten, Sonnen- und Mondfinsternisse, Mißernten und Hagelschlag, todbringende Konstellationen der Wandelsterne, Analysen aus Zahlenmystiken und der Offenbarung des Johannes... keine Verrücktheit schien unlogisch genug zu sein, und jene, die das Weltende für dieses Jahr vorhersagten, sprachen zuerst, daß ein Weltreich fallen würde. Welches? Gott war mit den Spaniern; sie glaubten, England müsse verlieren. Also entwickelten sie eine Buchhaltung für die Jahre nach ihrem Sieg. Wir segelten in einer kleinen Schale aus unsinkbarem Kunststoff, fischten und genossen jeden Tag. Mein Körper hatte sich längst 156
wieder in ein Bündel aus Muskeln, Knochen und Sehnen verwandelt, in eine arkonidische DagorKampfmaschine ohne ein Quentlein Fett. Ich schwamm stundenlang, schlief tief und traumlos, versuchte im chaotischen Farbenspiel der Dämmerungen und im Zentrum einer Hemisphäre prächtiger Sterne, in den Armen Moniques, mehr Sinn in meiner Existenz zu erkennen. Die Nächte waren voller Liebe, Wein und Gespräche, von kurzen Gewittern mit warmem Regen unterbrochen. Regen. Es regnete auch in Europa: überall. In den letzten Monden des vergangenen Jahres hatten Hurrikane und Stürme auf den Meeren getobt. Wolkenbrüche über ganz Europa. Felder und Straßen ertranken. Hagel tötete das Vieh auf den Weiden. Regen auch in Spanien, als Don Alonso Perez de Guzman, el Bueno. siebter Herzog von Medina Sidonia, achtunddreißig, ein breitschultriger Landedelmann, nach Lissabon kam, um die Armada als neuer Befehlshaber kennenzulernen. Er erschrak zu Tode. Im abgedunkelten Zelt sahen wir die Bilder der Sonden. »Wenn es nach meiner Rechnung geht«, meinte Riancor, »wird die Invasion der Inseln niemals stattfinden. Aber ich vermag den Starrsinn der Menschen nicht als feste Rechengröße zu verstehen.« »Das ist mehr meine Spezialität«, brummte ich. Es regnete. Don Alonso bewies Talent: Er begann zu organisieren. Es war eine Arbeit, die einem arkonidischen Roboter Ehre gemacht hätte. Sold wurde gezahlt, Kleidung verteilt, man zog Handwerker zusammen und begann die verwahrlosten Schiffe zu reparieren. Kanonen, Kugeln und Pulver wurden neu verteilt; einige Schiffe besaßen keine Geschütze, andere kippten überladen - fast schon im Lkfen um. Der Regen hörte nicht auf. Vorderkastelle und achterliche Aufbauten einiger Schiffe wurden ausgebaut, was ihre Toplastigkeit erhöhte. Die ersten Kranken des 22.000-Mann-Heeres verließen die Betten. Lotsen, die den Weg nach London kannten, vorbei an den tückischen Sandbänken der Niederländer, wurden gesucht und gefunden. Es regnete noch immer, aber der April war wärmer. Sechshundert Dirnen, die auf den Schiffen lebten, wurden vertrieben. Nach und nach versammelten sich hundertdreißig große Schiffe in Lissabons Hafen: Galeonen von 1000 Tonnen, dreimastige Patachen, 157
Zabras, Kurierboote, Galeassen mit vierzig Ruderriemen und Sklaven als Ruderer, Galeeren und Urkas, unförmige Lastschiffe, etliche hervorragende Karacken und dazu ein monströses Heer, das schon jetzt mit fauligem Wasser und Schimmel, Ratten und dem jaucheartigen Gestank in den Bilgen kämpfte. Etwa achttausend Seeleute, mehr als zwanzigtausend Soldaten, knapp zweihundert Priester und Mönche, ein halbes Hundert Verwaltungsbeamte, für diese Leute Proviant für ein halbes Jahr, Waffen und Kanonenkugeln... vierzig Maultiere und Geschützlafetten und eine Menge Material und Werkzeug, mit der man mühelos eine Brücke über den Kanal hätte schlagen können wie jener persische Gottkönig, der Griechenland angegriffen hatte. »Dazu dreißig kleinere Schiffe«, zählte Riancor aus. »Zu groß, zu unbeweglich und im Starkwind kaum zu gebrauchen.« »Noch sind die Schiffe im Hafen. Und die Spione beider Länder haben schon längst ihre Berichte abgefaßt.« Andere Bilder: Die Schiffe der Engländer boten sich in einem weitaus besseren Zustand dar. Wir fanden achtzehn Gefechtsgaleonen zwischen dreihundert und elfhundert Tonnen, sieben kleinere Galeonen, viele Pinassen, dazu zweiundzwanzig schwerbestückte Kauffahrer: ein knappes halbes Hundert Schiffe. Jeder Kapitän, ob Francis Drake auf der REVENGE, Thomas Fenner, Kampfgenosse vor Cadiz und auf vielen erdumrundenden Raubzügen, war Vizeadmiral, Martin Pro bisher an Bord der TRIUMPH, Fenton auf der MARY ROSE, John Hawkins auf der VICTORY, sein Sohn Richard auf der SWALLOW und schließlich der kauzige Sir William Wynter mit der neuen VANGUARD - zu ihnen stieß, mehr begeistert als fachlich kompetent, Charles Lord Howard of Effingham. Jedes Stück der englischen Küste, von Süden ostwärts bis hoch hinauf, war in Verteidigungsbereitschaft versetzt. Cornwall und Efevon, die Thames von der Mündung bis London - Strandwachen mit jeder nur vorstellbaren Bewaffnung, Wälle aus eingerammten, zugespitzten Pfählen und Geschützbatterien, die jeden Winkel des Flusses bestreichen konnten: Die hohl starrenden Bronzerohre waren scheinbar überall. 158
In England und andernorts erschien ein Buch, das eigentlich nur die Musterrolle der Armada darstellte. Übersetzer reicherten es mit spukhaften Einzelheiten an. Eine Schiffsladung Stricke wurde mitgeführt, um alle erwachsenen Engländer hängen zu können, Eisen, mit denen die Kinder der Ketzer gebrandmarkt wurden, Peitschen, um die Frauen zu geißeln, und rund viertausend Ammen, um verwaiste Säuglinge zu stillen. Unter dem Eindruck solcher Nachrichten o*- starkte England in Waffen. Begeisterung für die gemeinsame Sache grassierte; Standesunterschiede verwischten sich. Ein vager Verteidigungsplan zur See entstand zwischen den Kapitänen und der hochmütigen Admiralität. Die Spanier lichteten endgültig, nach drei qualvollen Sturm- und Regenperioden, am letzten Tag des Mai die Anker. Segel füllten sich, überaus prächtige Banner knatterten. Trompeten antworteten auf das Kanonenschußsignal. La felicissima, die allerglücklichste, unbesiegbare Armada lief aus. Am Abend des nächsten Tages erreichte die Schiffsprozession den offenen Atlantik; ein Sturm wütete ihnen entgegen, und die Schiffe kreuzten schwerfällig auf einem seltsamen Kurs, der erst besser wurde, als nach fünfzehn Tagen der Wind jäh auf Südwest umsprang. Wasser und Lebensmittel waren zu neun Zehnteln verdorben. Wir verfugten über einen Kleintransmitter. In regelmäßigen Abständen verließ uns Riancor und organisierte in Beauvallon die .Arbeiten. Auch dort wüteten unmäßige Regenfälle. Er warnte uns und riet, hier auf der namenlosen Insel zu bleiben. Er schleppte Früchte und Essen nach Beauvallon. »Ich bekomme so etwas wie ein schlechtes Gewissen«, meinte Monique. Ihr rotes Haar, stark gekürzt, war unter der Sonne fast weißblond geworden. Im Sand hatten wir zwei kleine Geschützrohre und eine wuchtige Truhe voller Wertsachen gefunden - Perlen, Geschmeide, massive Goldkreuze und zahllose Münzen mit portugiesischer, englischer und spanischer Prägung, so schwer, daß Riancor Mühe hatte, sie wegzubringen und nach Sagittaire zu schaffen. »Wegen unseres guten Lebens hier?« fragte ich. 159
»Jenseits des Ozeans ertrinkt alles. Die Menschen hungern. Und wir - wir finden Gold.« »Wärest du glücklicher«, brummte ich und ließ Sand über ihre nackten Schultern rieseln, »wenn wir im kalten Regen säßen und Skelette fänden?« »Nein. Aber...« »Aber es dauert einen Tag, und wir sind in London, Beauvallon oder in Amsterdam. Genieße den Tag, den Umstand, daß wir ohne Masken hier in Ruhe leben können.« »Wahrscheinlich hast du recht.« »Irgendwann müssen wir das Zelt abbauen«, schränkte ich ein. »Ich weiß es selbst auch nicht besser. Sie werden kämpfen, siegen und verlieren. Ich kann und werde sie nicht aufhalten.« Wollte man Menschen erziehen, verboten sich Psychostrahler. Ich wandte sie nur an, wenn wir unmittelbar bedroht wurden. Eine edle Theorie, die von der Wirklichkeit zunichte gemacht werden konnte. Am 20. Juni liefen große Teile der Armada in La Coruna ein, dem Hafen an Spaniens nordwestlichster Ecke. Kaum lagen die schnelleren Schiffe im Hafen, brach ein Sturm los und zerstreute den Rest der Flotte. Der Orkan zerfetzte Segel, zerriß Leinen, zerbrach Masten und trieb viele Schiffe bis zu den Inseln, die Comwall vorgelagert waren. Die Armada erholte sich, die Schiffe wurden neu verproviantiert und instand gesetzt, und am 22. Juli setzte sich die Felicissima Armada wieder in Marsch. Drei Tage später erreichte sie die ScillyInseln, jene öde Felsgruppe, die dem südwestlichsten Sporn der englischen Insel vorgelagert war. Es wurde schwierig, die richtigen Bilder einzuholen, denn die englische Flotte hatte sich geteilt und versteckte sich vor einem Orkan, der länger als sechsunddreißig Stunden tobte und die Armada-Schiffe aus den Kommandoverbänden riß. Riancor hatte ein mittelgroßes, wuchtig gebautes Haus gefunden, das sich hoch über dem Meer an Cornwalls Küste in die Hügel duckte. Ich befahl ihm, das Haus anzumieten, bestimmte Arbeiten in Auftrag zu geben und von den Maschinen der Überlebenskuppel Einrichtungsgegenstände und Anlagen im Baukastensystem herstellen zu lassen. 160
Voll Erstaunen sahen wir die Bilder: An diesem vorletzten Tag des Monats Juli im Jahre des Herrn 1588 wehte ein kaum wahrnehmbarer Westsüdwest, ein Justyroller. Nebel bedeckte das Wasser des Kanals und der Straße von Calais. Die Wellen gaben leise gluckernde Laute von sich. Die Konturen des Landes zu beiden Seiten der Engstellen waren kaum zu ahnen; fahle Pinselstriche in verschwimmender Umgebung. Wie ein blinder glühender Schild schwamm die Sonne hinter dem Grau. Geheimnisvolle Stille schien sich zwischen Plymouth und Brest, Norwich und Leiden auszubreiten. Jedes Geräusch schien übernatürlich laut zu sein; der Teufel und alle gefallenen Engel hatten sich auf den Schiffen der Engländer versteckt. Gott aber, das war sicher, war mit der Armada. In der Mitte der Nebel, seit mehr als vierundzwanzig Stunden, schob sich fast unhörbar die schwimmende Macht Spaniens in östlicher Richtung hinauf. Hin und wieder brannte an Land ein Signalfeuer; ein eng gebündelter roter, weißgefleckter Punkt, von dem aus, durch die unterschiedlich geschichteten Schwaden, schräg die langgezogenen Rauchwolken aufstiegen. Die spanische Flotte, ohne Hilfsschiffe, formierte sich quälend langsam, eine Spitze zeigte nach Norden, andere Schiffe stießen hinzu, und eine halbmondförmige Formation trieb die gesamte Nacht hindurch den Kanal aufwärts. Am Sonntagmorgen hatte sich der Nebel endlich gelichtet. Etwa sechs Dutzend englische Schiffe segelten mit dem Wind, von West kommend, auf das Ende der Armada zu. Beide Flotten trafen nahe Plymouth aufeinander. An Medina Sidonias Schiff, am Vormars, wurde die königliche Flagge entrollt: das Angriffssignal. Die DISDAIN segelte auf das Flaggschiff zu, feuerte einen Schuß aus der kleinen Kulverine ab und jagte zurück zum englischen Geschwader. Schon jetzt waren wir sicher, daß nahezu alle englischen Schiffe viel härter am Wind segeln konnten und daß sie darüber hinaus nicht beabsichtigten, spanische Schiffe zu entern oder sich entern zu lassen es würde ein anonymes Gemetzel geben. Ich wandte mich an Monique, führte eine zurückhaltende Geste aus und sagte halblaut: 161
»Gewöhn dich nicht zu sehr an dieses Haus, Liebste. Denk an Le Sagittaire! Wir werden nicht lange in Cornwall bleiben, denke ich.« »Wie lange? Wie lange dauert es, bis wir entscheiden, daß es schöner in Beauvallon ist oder an anderen Plätzen?« »Ich weiß es nicht. Wenn wir einmal unser kaltes Nachtlager verlassen haben«, ich bemühte mich, meine skeptischen Gedanken klar auszusprechen, »ist Unstetigkeit ein Hauptteil unseres Lebens. Warum auch nicht?« »Ich habe darauf nichts zu antworten«, sagte Monique und wandte sich wieder dem Geschehen zu. Von der grasbewachsenen Terrasse unseres neuen Hauses konnten wir nur mit der stärksten Vergrößerung des Teleskops die hochbordigen Schiffe der Armada sehen. Südlich von Plymouth hatten sich die Spanier zu einem fast kreisrunden Block zusammengeschoben. Unsichtbar zogen unsere Spionsonden ihre Kreise um die beiden Schiffsverbände - oberhalb der Ebene, in der die Geschütze feuern wurden. Nach einer gründlichen Analyse aller Vorgänge und erkennbaren Entwicklungen sagte Riancor abschätzig: »Die Engländer werden kämpfen wie immer, also wie Kaperfahrer und Piraten. Sie haben keine klar erkennbare Taktik. Die Spanier hingegen sind schwerfällig.« Kurz nach der neunten Stunde segelten die englischen Galeonen mit geschwellten Segeln nacheinander an der südlichen Flanke der Spanier vorbei. Dort stampfte ein riesiges Schiff auf Nordostkurs, das aussah, als sei es das Flaggschiff: die Karacke RATA SANTA MARIA ENCORONADA. Die ARK ROYAL und die RATA segelten nebeneinander, und der Engländer belegte das andere Schiff aus großer Entfernung mit einzelnen, gutgezielten Kanonenschüssen. Der Kampf zog sich dahin - die Spanier, an deren Decks die Pikenträger, Arkebusenschützen und Säbelfechter ungeduldig warteten, kamen nicht an die Engländer heran. Hart am Wind preschten die englischen Galeonen dahin. Drake auf der REVENGE und Hawkins auf der VICTORY zisammen mit Frobisher als Kommandant der TRIUMPH umzingelten die 1000-Tonnen-Galeone SAN JUAN DE PORTUGAL. Zwei 162
Stunden lang feuerten die Engländer auf den Spanier, der besessen darauf wartete, einen der Angreifer entern zu können. Ununterbrochen zuckten mannslange Blitze, rot und weiß geflammt, aus den Bronzemündungen. Die Kugeln heulten durch die Luft, erzeugten gigantische Wasserfontänen, schlugen unter und über der Wasserlinie in die Schiffe ein. Männer starben, Geschütze barsten, aufflammende Brände wurden mit Seewasser gelöscht. Wanten und laufendes Gut wurden zerfetzt, und Masten brachen wie die Rahen, deren Trümmer auf Deck stürzten, die Männer erschlugen oder verwundeten. Langsam schoben sich einzelne Spanier auf die kämpfende Gruppe zu. Die RATA SANTA MARIA hatte Schäden davongetragen, aber keines der kämpfenden Schiffe war leck oder manövrierunfähig geschossen worden. Mächtige Rauchwolken verhüllten das Geschehen und trieben träge über den Wellen dahin. Als sich mehrere spanische Schiffe den Engländern näherten, drehten diese ab. »Es scheint, als sei das erste Geplänkel vorbei.« Ich nahm meine Augen vom Okular. »Die Invasion Englands, an die ohnehin keiner mehr glaubte, wird wohl auf sich warten lassen.« »Keine der beiden Parteien kann auf einen schnellen Sieg hoffen«, schätzte Monique. »Schwerlich, Gevatterin!« erwiderte Riancor. Gingen die Engländer näher an die spanischen Monster-Schiffe heran, liefen sie Gefahr, von der erschreckenden Feuerkraft der schweren Breitseiten vernichtet zu werden. Sie konnten also nur an den Enden oder am Rand der Armada vorbeisegeln - je nachdem, wie sie sich formiert hatten und dort die Kunst ihrer Kanoniere zeigen. Eine Landung der Spanier würden sie stören, den Angreifern gewaltige Verluste zufügen, aber sie nicht verhindern können. Mitten in der Flotte, die wieder eng zusammengedrängt den Kanal aufwärts segelte, detonierte mit Flammen, Feuer, Blitz und Rauch der Tausendtonner SAN SALVADOR. Offensichtlich waren achtern die Pulvervorräte in die Luft geflogen. Die Spanier hielten an, der Bug des brennenden Schiffes wurde in den Wind gedreht, um das Feuer nicht auf andere Vorräte übergreifen zu lassen. Zwei Galeas163
sen nahmen das schwelende Wrack und schleppten es aus dem gpfährdeten Flottenverband. Zweihundert Männer, hieß es, hätten den Tod gefunden. Im zunehmenden Wind, der stoßweise aus West heranheulte, rissen die Taue am Fockmast der ROSARIO. Das Bugspriet war bei den Kämpfen abgebrochen worden. Es stürzte auf den Großmast, und in dem Gewirr aus Leinen, Rahstücken, Trümmern und Segeln wurde das Schiff manövrierunfähig. Es mußte schließlich zurückgelassen werden; in der Nacht, hörten wir später, wurde es von Engländern unter Feuer genommen und ergab sich; Drake persönlich nahm die Kapitulation an und schleppte das Schiff in die Tor-Bucht. Dort lud man vier Dutzend Geschütze, mehr als 50.000 Golddukaten, gewaltige Pulver- und Kugelvorräte um. Die Engländer, hieß es allgemein, wären knapp an Munition; ich verstand es, denn sie schossen weitaus häufiger als ihre Gegner, allerdings auch besser. Auch die halbverkohlte SAN SALVADOR wurde gesichtet, angelaufen und abgeschleppt. Die Männer der GOLDEN HIND fanden nur Sterbende und Tote mit fürchterlichen Verbrennungen, aber auch 130 Fässer Pulver und zweieinvierteltausend Kugeln. Als sich diese Nachrichten an Land herumgesprochen hatten, packte eine neue Welle Kampfesmut die Engländer. Sie liefen in den Häfenstädten zisammen und stürzten sich mit jedem größeren Boot, blindlings und siegestrunken, in den Kampf- beziehungsweise sie versuchten, die Spanier zu erreichen, die am Horizont mit etwa zweieinhalb Knoten Geschwindigkeit nach Osten segelten, unaufhaltsam, wie es jetzt schien, auf die Thamesmündung zu. Am darauffolgenden Montag lauerten die englischen Schiffe auf eine Angriffsmöglichkeit, die Spanier formierten sich neu und segelten, von den Engländern flankiert, auf Portland Bill zu, den riesigen Felsen aus Kalkgestein, der eine auffällige Landmarke darstellte. Der Wind schwächte zusehends ab, das Wasser färbte sich schwarz; in den Abendstunden hingen alle Segel schlaff herunter. Tidenströme zogen die vielen Schiffe zuerst nach Ost, dann zurück nach West, schließlich wieder nach Osten. Nach der Morgendämmerung frischte der Wind, zunächst eine schwache Brise, stärker auf und blies aus 164
Nordost. Diesmal waren die Spanier begünstigt. In mir, geschult in der Taktik von Raumschlachten, sträubte sich alles, als ich die qualvoll langsamen Manöver mit ansehen mußte. Die Engländer, heftig feuernd, segelten nach Norden, aufs Land zu. Die Spanier bedrängten sie; die Engländer drehten nach Südost und attackierten die gegenüberliegende Flanke der Armada. Sechs Schiffe blieben nahe dem weißen Riesenfelsen. Vier spanische Galeeren kamen drohend heran, Galeassen, kraftvoll gerudert und mit Stützbesegelung. Die Schiffe verbissen sich ineinander, Rauch verhüllte die geräuschvolle Szenerie, und die TRIUMPH feuerte Breitseite um Breitseite ab. Die spanischen Ruderschiffe wurden furchtbar zugerichtet; die bewaffneten englischen Kauffahrer versuchten, wild um sich feuernd, auf die windabgewandte Seite der Spanier zu kommen. Langsam drehte der Wind, bis er wieder den Engländern nützte und der Armada-Abteilung schadete. Die Engländer waren außerordentlich kaltblütig: Nachdem die Geschütze gefeuert hatten, gingen die Schiffe in eine andere Position, entzogen sich dem Zugriff des Gegners und luden schnell, aber ohne Hast nach. Sidonias Flaggschiff, die SAN MARTIN, griff mutig Howards ARK ROYAL an. Die ARK segelte auf den Gegner zu, ihre Geschütze feuerten, Deck um Deck, und die folgenden Schiffe segelten ebenso, außerhalb der Enter-Entfernung, an der MARTIN vorbei, scheinbar achtlos und kühn, und unaufhörlich dröhnten die Breitseiten auf. Dennoch forderte der Armada-Admiral seinen Gegner zum Kampf Bordwand an Bordwand auf. Die Geschütze der Engländer begannen unregelmäßig zu feuern. Aus dem gewaltigen Rauch, der große Teile der Kämpfe den Blicken der Engländer entzog - sie standen und saßen an den Ufern und versuchten jede Phase des Kampfes zu sehen -, kamen seltener jene donnernden Explosionen und die fahlen Blitze. Die Vorräte an Geschossen und Ladungen gingen zur Neige. Howards Signalflagge glitt in die Salings. Die Kämpfe vor Portland Bill wurden abgebrochen. In der Dunkelheit zogen sich die Engländer zurück; die Armada segelte nach Ost, südlich der Insel Wight vorbei. In der Nacht wurde die plumpe GRAN GRIFON, eine Urca, 165
von Drakes Schiffen angegriffen. Sie wehrte sich verbissen, schoß die Großrah von Drakes Schiff in Trümmer und wurde schließlich von einer Galeasse abgeschleppt, deren Ruderer wie gepeitschte Sklaven an den Riemen rissen. Auch am nächsten Tag gab es keinen Wind. Mitunter war es für mich eine deutliche Hilfe, meine Überlegungen auf ihren ernsthaften Sinn und ihre logische Verwertbarkeit zu überprüfen, wenn ich mich mit unwichtigen Dingen beschäftigte: In diesem Fall kümmerte ich mich zusammen mit Riancor, seinen emsigen Maschinen und Monique um die Einrichtung des Hauses, um eine Reihe von Trivialitäten wie: Versitzgrube, Brunnen, Zäune und Hecken, Heizung und Warmwasser und die Sauberkeit. Wir richteten das Haus vollends ein, mähten den Rasen, beschnitten Hecken und setzten Glasscheiben in die neuen Fensterrahmen. Unsere geheimnisvolle technische Ausrüstung wurde so verborgen, daß wir keinen der schlecht ernährten und in Lumpen gekleideten Eingeborenen erschreckten. »Ich fürchte, Atlancar, daß Philipps Armada an irgendeinem Abschnitt der Küste an Land gehen wird«, meinte Monique einen Tag später. »Das ist denkbar«, sagte ich. »Ich bin zu einem Entschluß gekommen.« »Was wirst du tun? Oder anders - was willst du anfangen?« Ich hob die Schultern und faßte meine einsamen Entscheidungen zusammen. »Ich habe kein Verständnis dafür, daß ein großer Barbarenstamm einen kleinen Stamm derselben Leute überfällt. Ich liebe weder dieses Inselvolk noch die düsteren Spanier. Zwei Kulturen sind besser als eine - in diesem Fall. Ein König, in dessen Land eine Einrichtung wie die Inquisition die Menschen schindet und den Fortschritt erwürgen läßt - ich bin sicher, daß ich diesen Einfluß nicht mag. Ich werde verhindern, daß die Armada die Insel überfallt. Hast du genau zugesehen?« Monique schmiegte sich an mich. Ohne die Geräusche der furchtbaren Auseinandersetzungen liefen die ständig wechselnden Bilder vor unseren Augen ab. An vielen Stellen beschossen die Schiffe einander; es war ein widerliches, großartiges Schauspiel. 166
»Ja. Ich verstehe einiges nicht, aber ich kenne fast jedes Bild.« »Dann wirst du erkannt haben, daß Engländer und Spanier im Fall einer Landung - oder eines Versuchs - ein kolossales Blutbad untereinander anrichten werden. Keiner wird nachgeben. Bei den Engländern geht es um die Freiheit des Individuums, der Gruppen, des Glaubens und der Krone. Sie werden eher sterben als zurückweichen.« »Das ist ein Grund, die Spanier zu bekämpfen. Wie groß sind deine Möglichkeiten, Liebster?« »Sie werden ausreichen. Noch warte ich ab. Riancor ist bereit, mir zu helfen.« In Wirklichkeit würdest du ohne den Robot hilflos sein, argumentierte der Extrasinn. »Kann ich dir helfen?« Ich küßte sie und schüttelte den Kopf. In der Sommerhitze und mit kaum wahrnehmbarem Windhauch kam der stechende Geruch der Pulvergase bis ins Innere des Hauses. »Noch nicht. Ich ahne, daß alle unsere Rechnungen, Vermutungen und Befürchtungen gegenstandslos werden können. Diese aberwitzigen Menschen, sie schaffen es, daß alle unsere Logik versagt. Warten wir ab - noch sind sie so verrückt, daß sie ihre Schiffe von Ruderbooten zum Gefecht schleppen lassen.« Mein Zeigefinger berührte fast den Bildschirm im Inneren eines Truhendeckels. Bei völliger Windstille, und an diesem Tag gab es praktisch keinen Wind, waren etliche Schiffe der Armada im Vorteil; die Galeassen. Ihre Ruderer führten die Schiffe auf die Engländer zu, deren Galeonen von rundlichen Ruderbooten an langen Tauen geschleppt wurden. Sie waren alle wahnsinnig! Jeder einzelne von hnen schien kein anderes Ziel zu haben, als mit kreischender Freude für den König, für eine Idee oder für eine der unzählbaren kostbar bestickten Fahnen, Flaggen und Wimpel zu sterben. Fassungslos sahen wir zu, wie sich die gegnerischen Schiffe beschossen. Irgendwann gab es wieder Wind, und die Schiffe segelten hin und her, griffen an und zogen sich zurück, vollführten allerlei kuriose Manöver und uns, den kühl Zuschauenden, wurde das Treiben zunehmend 167
langweiliger. Monique und ich benutzten den Transmitter und tauchten wieder in Le Sagittaire auf. Als wir das Gewölbe verließen, über Treppen und durch kühle Zimmer gingen und schließlich, noch braun gebrannt von der Sonne Americas, das Tor aufstießen, blendete uns die stechende Sonne eines südlichen Mittags. Schon die ersten Blicke zeigten uns die Schönheit eines Sommers, der spät begonnen hatte. Rundherum grünte, wuchs, blühte und roch alles. Jede Pflanze schien besondere Gerüche von unvorstellbar luftigem Aroma zu verströmen. Die Rufe arbeitender Bauern und die vielfaltigen Geräusche und Laute eines betriebsamen Vormittags entrückten uns binnen vsniger Atemzüge dem Pulverdampf, dem Geruch nach abgestandenem Meerwasser und den Gedanken an eine drohende Invasion. Bahnte sie sich an? Riancor würde uns sofort rufen und das Programm, das wir entwickelt hatten, einschalten. Nicht mit mir, weiter Philipp, dachte ich grimmig. Und nicht mit Francis Drake, dem Weltumsegler! »Hier sind wir«, brummte ich zufrieden und ging auf den Doriplatz zu, einen der ersten und einzigen gepflasterten Dorfplätze dieses Planeten, an dessen Gestaltung ich mitgearbeitet hatte. »Endlich Sonne, Hitze und sattes Grün in diesem Teil der Welt.« »Sie haben lange daraufwarten müssen - hier im südlichen Frankreich«, erklärte Monique. »Ein halbes Jahr der nassen Katastrophen liegt hinter ihnen.« Wir schüttelten unzählige Hände, streichelten Kinder und erkundigten uns nach den Umständen. Der nasse Boden trug reiche Früchte, und die meisten Schutzmaßnahmen hatten gegriffen. Dem Dorf ging es gut. Viele Bewohner arbeiteten auf den Feldern, und selbst das Vieh schien vor Gesundheit zu strotzen. Wir erzählten den alten Freunden, wohin uns unsere Reisen geführt hatten, was wir gesehen und erlebt hatten. Wir begannen, Hand in Hand, einen langen Spaziergang durch die Felder, entlang des Waldrandes, hinauf zu den Mühlen und den Gehegen. Unsere Schutzbefohlenen litten indessen nur an einem Mangel, der sich mit Wasser, Seife und frischen Tuchern beheben ließ und mit ein wenig ärztlicher Hilfe. Selbst die 168
Kinder halfen beim Lesen von Früchten, hüteten das Vieh und waren so laut und fröhlich, wie Kinder eigentlich sein sollten. Ich rief den Lehrer, unseren weißhaarigen und heiteren Pfarrer, den Dorfschulzen und jene Männer für den späten Abend ins Schlößchen zusammen. Bei unseren jungen Frauen bestellte ich ein Essen und versprach, die Portale offenzulassen, damit uns nachts jeder besuchen und einen Becher Wein trinken konnte. Zwischen dem sechsten und achten August ging die Seeschlacht in einzelnen, langsamen Zügen und Bewegungen weiter, ohne besondere Dramatik, ohne viele Verluste, in Windstille und Sturm, in heldenhaften Aktionen, lähmender Langeweile und in der ständigen Untermalung von dröhnenden und krachenden Breitseiten und den scharfen Explosionen aus den Rohren der englischen Geschütze, die seltener feuerten, weil die Vorräte an Pulver und Kugeln fast aufgebraucht waren. In der Nacht des achten August sprang der Wind um; ein Südost heulte heran und türmte grüne Wellenberge hoch. Die Spanier - um mehrere halb auseinandergebrochene Schiffe waren dicke Trossen geschlungen und gespannt worden segelten nach Nordost und gerieten in die Gefahr, auf die flandrischen Sandbänke zuzutreiben. Die Engländer verfolgten sie und sahen erstaunt, daß die Spanier Anker warfen. Der Wind drehte, völlig überraschend, auf Westsüdwest. Aus dem Wind wurde ein Sturm. Die Spanier lichteten die Anker und wurden nordwärts getrieben. Der Sturm hielt an. »Der Wind Gottes bläst und zerstreut!« frohlockten die Engländer. Vier Tage später waren die Schiffe der Armada zerstreut, schwerstem beschädigt, fortgetrieben, im Nordosten der Insel an der schottischen Grenze vorbei, auf dem Weg in den nördlichen Ozean. Nach vier Hauptgefechten war die Armada kein kampftüchtiger Verband mehr; die Chance der Truppen, anzulanden und das Land zu besetzen, existierte nicht mehr. Außer Zweifel stand nur, daß die Spanier abgezogen waren. In allen Ländern, die etwas von der Armada wußten, wucherten Gerüchte und überschlugen sich falsche Meldungen. Riancor kam nach Beauvallon und half bei der Ernte und bei den Feiern. 169
Gott schien nicht mit den Spaniern zu sein; das Wetter war in jedem Fall gegen sie. Vom dreizehnten bis achtzehnten August tobten Stürme aus dem südlichen Quadranten vor Schottlands Küsten, ftgen, Nebel und schwerster Seegang kamen hinzu. Vom Masttopp des einen Schiffes vermochte niemand mehr das nächste zu erkennen. Längst hatten die Engländer ihre Verfolgung abgebrochen, ankerten in den Häfen und entließen ihre Kranken und Verwundeten an Land. Als am 21. August sich der wütende Wind endlich legte und die spanischen Schiffe, eines nach dem anderen, wieder zum Kernteil der Flotte stießen, sah Medina Sidonia ein, daß weder an eine Fortsetzung des Kampfes noch an die Invasion oder daran zu denken war, die spanischen Hilfstruppen aus Flandern zu holen. Während die Pferde und Maulesel aus den Schiffsbäuchen gehievt wurden, zuckten Signale md Antworten zwischen den Schiffen hin und her. Eintausendsiebenhundert Meilen nach Seemaß waren die Heimathäfen entfernt. Man warf die Tiere über Bord und machte neue Bestandsaufnahmen von Proviant, Wasser und Vorräten; man teilte die Not besser ein: Schottland und Irland sollten nach Westen umsegelt und dann der Weg nach Süden angetreten werden. Die Schiffe gingen die lange, verzweifelte Heimfahrt an. Sie sege 1ten dahin, ohne zu wissen, wohin - im September überfielen herbstliche Stürme die schaurig zugerichtete Armada. Gegenwind und Nebel behinderten und ließen den Mut sinken. Kaum ein Schiff, das nicht schlimmen Tribut gezollt hätte - viele trieben steuerlos dahin; ununterbrochen wurde zu reparieren versucht, was gerade nur ging. Der Schiffsverband, längst auseinandergerissen, wurde zu einer langen Zickzacklinie einzelner Punkte, die einander aus den Augen verloren, und zu verstreuten Resten, die nichts anderes kannten als das ferne Ziel. Seeleute verhungerten. Schiffe trieben an die Klippen und wurden zerschmettert, liefen auf Riffe und sanken. Überlebende retteten sich an die irischen Strande und wurden von der englischen Garnison gpfangengenommen. Die Offiziere konnten sich freikaufen, die einfachen Männer wurden niedergemacht. Im chaotischen Wirrwarr cbr 170
irischen Westküste fanden viele Schiffe ihr nasses Grab, später zählte man mindestens zwanzig. Schätzungsweise Ende September würden die übriggebliebenen Schiffe wieder Spanien erreichen. Weniger als sechzig würden es sein; hundert waren verloren. Riancor schätzte aus zahllosen Beobachtungen - unsere Sonden konnten längst nicht jedes Schiff verfo 1gen -, daß etwa zwanzigtausend Seeleute und Soldaten umgekommen waren; zwei Drittel aller, die vor hundertzwanzig Tagen aufgebrochen waren. Der Herbst machte London zu einer Stadt, in der man leben konnte. Die Freude aller Engländer, mit der Hilfe von Gottes Stürmen gesiegt zu haben, und ihre Verehrung Drakes und seiner Admirale und Kapitäne erzeugten in den vielen Gassen, den Schenken und am Hafen eine fremdenfreundliche Stimmung. Begreiflicherweise vermied jeder, spanische Wörter auszusprechen. Wir, die gelehrten und reisenden Condottiere aus dem Großherzogtum Toscana, waren willkommene Gäste. Es war am frühen Abend, unweit eines kleinen Theaters, einer Bühne, die sich redlich bemühte, es dem »Globe« und der Truppe der »Lord Chamberlain’s Men« gleichzutun; erfolglos bisher. Ich kaufte dem streng blickenden Mann vier der besten Karten ab und fragte: »Wird Master William, der Stückeschreiber, heute bei Euch sein?« »Wenn er nicht zusieht und mit den Dirnen schäkert, findet Ihr ihn im Hahn, Fisch und Dunkelbier«, lautete die mürrische Antwort. »Schuldet er Euch Geld?« »Ich schulde ihm Bewunderung, mein Freund«, sagte ich und erfuhr, daß die Vorstellung des Mariowe-Stückes in zwei Stunden anfangen würde. »Soll ich ihm sagen, daß Ihr dort wartet?« »Gern. Er frage nach Atlancar di Arcone«, sagte ich. »Ist er beliebt?« »Nun ja. Immer zuwenig Geld und zuviel Mutterwitz.« »Ein Mann nach meinem Herzen«, meinte ich und setzte vorsichtig meine italienischen Stiefel neben die Pfützen und den Schmutz. Un171
ter dem löchrigen Vordach hatte der hagere Schankwirt einen Tisch gesäubert und wartete auf unsere Bestellung. Ich setzte mich, streckte die Beine aus und betrachtete die Häuser, das Themseufer und die Vorübergehenden. London war eine Stadt wie Paris, nur eben englisch. Das Bier - nun, es stand im Becher und schmeckte nicht schlecht. Ich bat den Wirt, Master William an unseren Tisch zu schicken, wenn er käme. »Nach zehn Tagen in dieser Stadt, Liebster, kann ich nicht sagen, daß ich begeistert bin.« Ich zuckte mit den Schultern und erinnerte mich an einige große Bauwerke, die errichtet waren, wohl um der Ewigkeit zu widerstehen. »Nach dem ersten großen Brand werden sie vielleicht besser bauen; und schöner.« Ich bestellte eine Auswahl Speisen, die ich kannte und genießbar fand. »Wir sehen auch hier ein willkürliches Nebeneinander von ärmlichen Behausungen und Stadtpalästen.« Schwere Gespanne rasselten vorbei. Das schwarze Bier war lauwarm. Hunde kläfften, und Taubenschwärme flatterten zwischen den Rauchsäulen der Kamine umher. Wie überall: Die Armen waren krank und zerlumpt, die Reichen stolzierten umher, und es gab unerwartet viele Menschen, die verstümmelt waren, blind oder unglaublich verschmutzt. Reden und Flüche klangen in sämtlichen Dialekten ausgesucht ordinär, und weniger als hundertzwanzigtausend Menschen wren es sicher nicht, die streets und lanes bevölkerten. »Wir haben jene Männer und ihre Freundinnen und Frauen eingeladen, an denen uns etwas liegt«, beschwichtigte Riancor. »Bevor die Straßen unpassierbar werden, kommen sie wohl.« »Nur Musiker und Dichter fehlen noch«, brummte ich und wischte den Bierschaum von den Lippen. Nach einer Weile, in der wir versuchten, uns unter den Blicken der Bettler nicht allzu unbehaglich zu fühlen, sagte Riancor leise: »Der Poet; da ist er. Unten, zwischen Brunnen und Zettelbaum.« Wir blickten schärfer hin. Vor der Eiche, an deren Stamm unzählige Plakate. Zettel, Nachrichten und Aufforderungen aus dem Palast hingen, stand ein schlanker Mann von rund fünfundzwanzig Jahren, 172
vollführte mit Hand und Hut einen nachlässigen Gruß und kam mit großen Schritten die Gasse herauf. Das braune Haar, nackenlang, war weder strähnig noch fett, auch der Bart schien gepflegt. »Du hast recht. Das ist er. Daß er gern trinkt, weiß ich bereits Wirt! Einen Krug Dunkles für den Dichter.« Einige Schritte vor dem Hahn, Fisch und Dunkelbier (in dessen Iranerin wir schon einmal gesessen und einem weltentdeckenden Kapitän eine gefälschte Karte verkauft hatten; damals hieß es anders!) blieb Shakespeare stehen, überlegte unschlüssig und gab sich einen Ruck. Er bog im rechten Winkel zu seiner bisherigen Laufrichtung ab und steuerte kerzengerade auf die Tür und die Tische zu. Man grüßte ihn zurückhaltend, schließlich kam der Wirt, packte ihn grob am Arm und schob ihn auf unseren Tisch zu. »Diese hochedlen Herren und die Lady sagten, sie bewundern Euch, Master William. Versteh’s, wer es will. Aber sie hießen mich, Euch diesen Krug hinzustellen.« Ich ließ Münzen auf den Tisch klingeln, machte eine einladende Geste; als Master William schließlich den Blick seiner braunen, großen Augen von Moniques Ausschnitt losreißen und auf uns richten konnte, meinte ich artig: »Tröstet Euch, Sir William. Nur wer das Zeug zu etwas hat, dem kann man dran flicken.« »Ihr wollt mich sprechen? Nun, ich bin der arme Poet, der außer drei Kindern und einer zänkischen Frau nichts sein eigen nennt als Feder und Papier und ein paar schlechte Reime.« »Wir hörten viel von Euch.« Monique hob lächelnd ihren Becher. Shakespeare nahm einen gewaltigen Schluck und erwiderte: »Im Ernst? Woher?« Riancor zitierte fast vollkommen in Betonung und Versmaß jene Zeilen, die wir aus seiner angefangenen »Komödie der Irrungen« kannten. Master William, der eine gewisse Unruhe verströmte, winkte ab und antwortete: »Ein guter Stoff, der widerspenstig ist. Noch habe ich ihn nicht richtig zähmen können.« 173
»Uns gefiel’s«, sagte ich. »Gebt Ihr uns die Ehre, heute neben Euch sitzen zu dürfen?« Ich reichte ihm eine Karte, grinste kurz und fuhr fort: »Ich fand in einem book-shop ein Bändchen, das ich im Original kenne. Es ist eine seltsame Geschichte; es drängt mich, Sie Euch zu erzählen.« Riancor holte aus der Tragetasche die William Paintersche Übersetzung der italienischen Bandello-Novellen, die ein Franzose namens Boaistuau aus dem Italienischen wiedererzählt hatte. Der Band hieß The Palace of Pleasure. Noch ein Buch kannte ich, in dem The Tragical History of Romeus and Juliet von Arthur Brooke geschildert wurde. Es sind alles Kopisten von Masircio Salernitano, der über Mariotto und Gianozza schrieb, jenen Schlagetot, mit dem du gefochten hast, Arkonide, glaubte der Extrasinn mich erinnern zu müssen. Ich gab Shakespeare den Band und sagte: »Ihr werdet viele gute Stücke schreiben. Ich erkenne eine gute Feder, so, wie ich guten Wein, eine gute Klinge und ein ebensolches Pferd erkenne, wenn ich sie sehe.« »Wenn Ihr es sagt, Master...« Wir stellten einander vor und baten ihn, nach der Vorstellung in unserer Herberge, den »Winchester Arms«, mit uns zu essen. Er willigte sofort ein. »Ein Vorzug unseres Nebels liegt darin«, meinte er, als der Krug leer war und wir weitere Höflichkeiten ausgetauscht hatten, »daß Leute, die einander einladen, meist nicht dort hinfinden. Oh, ich kenne die Gassen. Ich brauche Licht nur, um nachts schreiben zu können.« »Jene Geschichte von einem Veroneser Liebespaar, das in Wirklichkeit ganz anders hieß und in Siena lebte - ihr solltet ein Drama daraus machen. Liebe, Tragik, Schönheit und Aktionen... alles ist enthalten.« William blätterte in dem Buch und nickte. »Erst wenn ich sicher bin und Erfolg hatte. Noch herrschen Mariowe und Kollegen und üben ein erbarmungsloses Regiment aus.« »Euer Talent wird sich durchsetzen!« 174
Er schenkte Monique einen hingerissenen Blick, nickte dankend und brummte: »Wenn ich bis dorthin nicht verhungert bin.« Dann griff er in die Saiten einer imaginären Laute und summte und sang leise: »Komm auf die Insel, wo der Garten noch blühet, die Falter uns winken, Blüte und Blatt sich verneigen, wo der Bach, der Quell und der Vogel uns singen. Dort, wo wir den Wind und den Vogel noch verstehn, auf der Insel, wo Klarheit und Trunkenheit des Wortes warten... oh, Rose...« Er hörte auf, warf einen belustigten Blick in die Runde und deutete, als er den Wirt sah, auf den leeren Krug. »Jene >Due Nobili AmantiThe Tragical History of Doctor FaustusWinchester Arms< oder in meinem Haus in Cornwall«. schlug ich verbindlich vor. »Auch die Insel kenne ich, auf der Freibeuter ihre Beute vergraben.« »Ihr seid ein weitgereister Mann, Italiener?« »So ist es, Master Cavendish.« 180
Ich war sicher, in naher Zukunft mit ihm eine gute Unterhaltung führen zu können. Die Menschenmenge machte jeden weiteren Versuch, mit Kapitän oder Mannschaft sprechen zu können, unmöglich. Wir holten die Pferde und ritten über den Stock Market zurück zur Herberge. Dort wartete eine Nachricht in der schönen Schrift Shakespeares, der uns bat, ihn bei einem seiner Freunde zu treffen, einem Mann, »der am tobacke raucht und Fragen an Riancor hat«. Ich schickte einen Brief zurück und versprach, am nächsten Mittag zu kommen. Sir Edward Benjamin Dale-O’Rourke bewohnte ein schloßähnliches Gemäuer an einem aufgestauten Bach, beschäftigte sich mit Bilderdruck, der Herstellung von Gold, der Konstruktion von Waffen und Maschinen, war grauhaarig, sehr reich und ein außerordentlich sympathischer Sonderling. Wir wurden mit - für englische Verhältnisse - überschäumender Herzlichkeit empfangen. Master Shakespeare zählte zu Sir Edwards Freunden, die Dienerschaft tat, als wären wir Familienangehörige des Hausherrn. Der Längstrakt des Nebengebäudes war seine Werkstatt; Skurrileres hatte ich seit Jahrhunderten nicht gesehen. »Eine lästige Frage, my dear friends«, meinte der Adelige und reichte uns schwere Metallbecher mit herrlichem spanischem BeuteBranntwein. »Wie lange könnt ihr meine Gäste sein? Ich weiß, daß vielerlei auf euch wartet... mir wäre es lieb, bliebet ihr ein Jahr oder länger.« Riancor ging langsam von einer Bank zur anderen, musterte die Maschinen und die angehäuften Seltsamkeiten, die auf riesigen Iischen standen und lagen. Ich antwortete lachend: »Etliche Tage, Master. Nicht mehr, denn uns erwarten Gäste in Cornwall. Ich bin sicher, wir können viele Fragen beantworten; vielleicht auch einige, die Master William noch nicht einmal kennt.« »Verteufelt ausgezeichnet«, schnarrte Edward. »William weiß, daß ich an allem Interesse habe. Aber ich habe fast alles selbst gelernt, und deswegen weiß ich nichts richtig.« »Wie gut, daß Ihr nicht kocht!« scherzte Monique. 181
»Viele meiner Freunde erwarten große Sachen von mir. Ich bin bei etlichen neuen Erfindungen kurz vor einer gewaltigen Erkenntnis. Allein der Austausch von Gedanken kann dem mutlosen Erfinder weiterhelfen.« Er lachte aufgeregt und goß die Becher halb voll. »Und da, sagte ich mir, helfen die weitgereisten Freunde von William. Italiener. So wie Federigo Giambelli, der auch Italiener ist.« Vom anderen Ende der Werkstatt rief Riancor: »Zuerst müssen wir die Wassermühle in Ordnung bringen und die Wehre samt Stauraum höher bauen!« »Wir bleiben«, entschloß ich mich, »solange es geht. Und wir besuchen Euch, wenn es möglich ist. Was habt Ihr, teurer Lord, bei diesem Handgpschütz an Schwierigkeiten?« Auf hölzernen Ständern ruhte ein schweres Luntengewehr. Noch einige Gespräche, ein paar Schlucke des Branntweins, den es auch in der Apotheke gab, und wir befanden uns in der angestrengtesten Fachsimpelei. Master William munterte uns mit klugen oder unsäglich dummen Fragen auf. Arbeiter fingen an, nach Riancor s Richtlinien und Zeichnungen den Bach kurzfristig umzuleiten, Bohlen einzurammen, Quader aus dem Fundament einer Schloßturmruine zu vermauern und das große, klapprige Mühlenrad abzubauen. Wachs und Säure, eiserne Walzen und dünnes Kupferblech, spezielle Griffel und Nadeln Edward Dale-O’Rourke hatte so viele Experimente unternommen, mit halbrichtigen und falschen Mitteln und Methoden, daß er meist nur kurz vor dem Ziel gewesen war. Unsere Hilfe bestand aus einem Anstoß: Da war er. Und einen Tag später gab es ein Verfahren, eine beliebig große Anzahl auch großformatiger Drucke von geritzten Kupferplatten abzunehmen. Ohne daß wir ernsthafte Arbeit darauf verschwendeten, gelang es uns, ihm auszureden, daß er Gold herstellen könne. Als sich nach etlichen Tagen das Wasserrad schneller und kräftiger drehte, stand eine neue Antriebsform zur Verfügung und bald darauf auch eine neue Ideenkette. Wir bereiteten mehrere Versuchsreihen vor, bewunderten unaus^- setzt die Farben und Werkzeuge, die gnadenlose Unordnung, die vielen skurrilen Zeichnungen, Werkzeuge, Phiolen, Brenner und Ma182
terialien, blindgewordene Fenster und die Beleuchtung, die gemütliche Ecke neben der kleinen Esse, neben der es stets schäumendes Braunbier und Erfrischungen gab, die verzweifelte Dienerschaft und all jene Ambosse, Dreheinrichtungen, Gußformen und Tinkturen, den Gestank und den Rauch - der Adelige war einer der verblüffendsten Männer, die ich kennengelernt hatte. Nebenbei ritt er vorzüglich und wünschte sich nichts sehnlicher, als während des Rittes aus einer langläufigen Waffe auf Hasen oder Füchse schießen zu können. Nach neun Tagen ritten wir zurück, verbrachten zwei Tage in London und verschwanden nachts mit dem Gleiter nach Cornwall. Von den dunklen Anfangen dessen, was man füglich die »Wissenschaft von der Natur« nennt, bis zum heutigen Tage haben die Menschen aus mindestens drei verschiedenen Motiven um das Verstehen jener Phänomene gerungen, die sie sahen, fühlten, erlebten; Erscheinungen der Natur: primum aus dem Durst nach Wissen, das den denkenden Menschen auszeichnet, secundum aus dem Wunsch nach technischer Nutzung von natürlichen Prozessen und tertium aus religiösen Gründen. 4. Axiom: Die Entfernung der Erde von der Sonne ist unmerklich klein, wenn sie mit der Höhe des Fixstern-Himmels verglichen wird. 5. Axiom: Jederlei scheinbare Bewegung des Firmaments ergibt sich aus einer Bewegung der Erde, nicht des Firmaments selber. Die Erde durchläuft an jedem Tage zusammen mit den materiellen Elementen ihrer Umgebung eine vollständige Umdrehung um ihre Achse, wobei Firmament und höchster Himmel unberührt bleiben. 6. Axiom: Was als jährliche Sonnenbewegung erscheint, ist Folge aus der Bewegung der Erde und deren Achse. Mit der Sphäre der Erde zugleich umkreisen wir wie jeder andere Planet die Sonne. (Aus einem Brief von Nikolaus Kopernikus an Atlan de Gonozal y Arcon, Vorstudie zu: Commentariolus) Noch war der Abend überschaubar. Die Gäste, eineinhalb Dutzend, aßen und tranken und unterhielten sich. Im Hintergrund des Saales 183
spielten sieben Musiker. In den Pokalen schimmerte Wein aus Beauvallon. Schon bald hatten sich unsere skeptischen Überlegungen bewahrheitet. Die Adeligen, besser gekleidet, aber offensichtlich durch einen gewaltigen Abstand vom gemeinen Volk getrennt, verwandelten die lange Tafel im Lauf der Stunden in das Chaos eines Schlachtfelds. Jede leckere Speise und die herrliche Musik hielten sie für selbstverständliche Zutaten des Abends. Dennoch, meinte der Logiksektor skeptisch, werden sie eine brauchbare Idee erkennen - wenn sie damit reicher werden können. Monique und ich aßen, wie wir es mittlerweile selbst am französischen Hof gesehen hatten, mit zierlichen Gabeln. Vieles andere, das unsere Gäste hier sahen und erlebten, erregte ihre Aufmerksamkeit und in einigen Fällen auch das ernsthafte Interesse. Master William, der zwischen Monique und mir saß, beugte sich zu mir herüber und meinte, am saftigen Braten kauend: »Wohl dem, der sich Euer Freund nennen darf, denn es geht ihm wohl.« »So soll’s bleiben.« Ich bemerkte, wie sich einige Männer für das System aus schmiedeeisernen Röhren interessierten, das in die Kaminflammen ragte und von dort aus zu anderen Stellen des Hauses führte. »Und wenn einige Freunde etwas von uns lernen, dann geht es mir auch wohl.« »Ihr seid ein Mann von seltsamer Großzügigkeit, Master Atlancar.« »Täuscht Euch nicht.« Kleinere Gruppen bildeten sich. Einige Männer rauchten. Zwei blickten abwechselnd durch das Teleskop und teilten sich, was sie sahen, voller Verwunderung mit. In einem angrenzenden Raum erklärte Riancor den Ehefrauen, wie der Webstuhl aus Holz und Eisen funktionierte. Bewundernd strichen die Damen mit fettigen Fingern über die farbigen Muster. Wie üblich und beabsichtigt, standen in allen Teilen des Hauses neuartige Geräte und Maschinen herum, unübersehbar, im Stil der Zeit hergestellt, einfach und doch hervorragend arbeitend. Keiner unserer Gäste ging letztlich aus dem Haus, ohne sie zwangsläufig 184
gesehen und wenigstens teilweise ihre Funktion begriffen zu haben. Es waren ausnahmslos Weiterentwicklungen bekannter Prinzipien. Edward O’Rourke kam vor einem Londoner Schiffbauer aus dem angrenzenden, umgebauten Schuppen und nahm einen vollen Pokal vom Tablett eines Dieners. »Dachte immer, Master, ich wäre nicht ohne Einfalle. Aber Ihr seid viel beweglicher hier oben, meine ich. Ist es nicht so?« Er deutete an seine Stirn und wandte sich an den jungen SchiffsFachmann. »So ist es. Ich bewundere das Schiff, das Ihr dort im Modell habt.« Ich nickte und erklärte, was wir uns bei der Schiffseinrichtung gpdacht hatten, und schloß: »Wir sind oft, lange und weit über die Meere gekreuzt. Auf unseren Schiffen gab es weder Krankheiten noch Ratten. Unsere Seeleute kamen besser erholt und gesünder zurück, als sie an Bord kamen.« »Und das ist nicht übertrieben«, stimmte Monique zu. »Ich war bei vielen langen Fahrten dabei. Es ging uns immer prächtig.« »Ihr seid zufrieden, Master O’Rourke?« fragte ich. »Ich entdecke jeden Tag, wie gut Master William daran getan hat, uns miteinander bekannt gemacht zu haben.« »Wenn einige Ideen und übermütige Schnurrpfeifereien den Weg aus meinem Haus - und aus Eurem, mit Verlaub, Master O’Rourke hinaus und in die Massenanwendung finden, dann gibt es weniger hungernde Arme und einige sehr viel Reichere!« betonte ich. »Denkt nur allein an die Straße und die Brücken!« Um unser Haus auf den Klippen erreichen zu können, waren alle Freunde und Gäste von der sogenannten Straße heruntergefahren und hatten sich nach wenigen Galoppsprüngen auf »unserer« Straße gpsehen: Welch ein Unterschied zu den schlammigen, unsicheren Wegen der Insel. »Sie sind vom Besten, was meine Stiefelsohlen je gesehen haben.« Es waren nur neunhundert Schritte gewesen. Aber wir hatten den nassen Boden abtragen lassen, einen Unterbau aus zerschlagenem Stein zwölf Ellen breit eingelegt und darüber groben und feinen Sand eingebracht. Gemauerte Ränder dienten der Wasserführung, das Erdreich hatte dazu gedient, das Gelände wieder aufzufüllen, Rampen zu 185
schaffen und neuen Boden für eine Doppelreihe neu gepflanzter oder nicht gefällter Bäume. Die beiden Bäche waren von Brücken überspannt, die aus einem Baukastensystem heraus entwickelt worden waren. In anmutigen leichten Bögen, ohne großes Gefalle, führte unsere Straße bis vor das Haus und endete auf dem Pflaster des K>- fes, durch dessen breite, von Gras bewachsene Spalten das Regenwasser leicht abfließen konnte. »Ich schlage es unserer Königin vor«, mischte sich ein würdiger Adeliger ein, den wir vor der Royal Exchange vor einem Überfall bewaffneter Wegelagerer bewahrt hatten. »Es wird vielen Arbeit bringen... und einen Sack Gold kosten.« »Aber jede Nachricht und jede Ware wird die Grenzen des Königreichs in Windeseile erreichen.« »Zweifellos. Master of Arcon.« »Und die königlichen Soldaten reiten und marschieren, wenn nötig, sehr viel schneller und sind nicht müde, wenn’s zum Kampfe geht«, stimmte der Dichter zu. »Daß eine Armee nicht auffällt«, wandte ich ein. »ist das Beste, was man von ihr sagen kann.« »Das ist die Wahrheit«, rief eine der Damen, »und die Wahrheit verletzt tiefer als jede Verleumdung!« Verwirrt schüttelten wir die Köpfe. Die Musiker machten jetzt, einige Stunden nach dem Beginn des Abendessens, die erste Pause und verschwanden in der Küche, um zu essen. Ich führte einige Paare durch das Haus und erklärte ihnen, warum es in fast allen Räumen so anheimelnd warm war. Daß es ein Bad gab, daß aus den Hähnen kaltes und warmes Wasser lief, verwunderte sie zutiefst, und wieder mußte ich endlose Erklärungen abgeben und Modelle in der Werkstatt vorführen. Isolierte Tanks unter dem Dach waren das größte Geheimnis, aber die einfache Balgpumpe, zwar von Riancors Mischinen angetrieben, aber auch über ein Laufrad zu bewegen, überzeugte die technisch Gebildeten unter den männlichen Gästen. »Ihr seid wirklich ein Erfinder!« »Ich zeige Euch nur, was kluge Männer in Italien erdacht, gezeichnet und ersonnen haben.« 186
»Erstaunlich!« Der Abend verlief wie viele, die darauf folgten. Shakespeare rezitierte einige seiner Sonette, es gab Musik und Gelächter, lange Diskussionen und kluge Reden, Spaziergänge - wenn es nicht regnete -, und wir versuchten nicht nur, den unüberbietbar großen Gegensatz zwischen Arm und Reich, den gleich großen zwischen Ungebildet und Gebildet zu verkleinern, sondern Denkanstöße in jeder Hinsicht auszuteilen. Die Eingeladenen verließen uns einzeln, in Paaren, auf schwergängigen Gespannen oder im Sattel. Andere besuchten uns; je weiter der Herbst fortschritt, desto ruhiger wurde es, und wir hatten Zeit, mit Bauern und Dienern alles auf den Winter vorzubereiten. In regelmäßigen Abständen wechselten wir zwischen Cornwall und Beauvallon hin und her, und nur dreimal während des Winters besuchten wir London und Westminster. Monique, Riancor und ich verbrachten acht Monde mehr oder v&- niger damit, die Informationen der Spionsonden zu studieren und auszuwerten, die beiden Häuser zu bewohnen und jenen Menschen, die andere als unsere Leibeigenen, dienstbaren Bauern, Tagelöhner und Rechtlosen bezeichneten, ein möglichst gutes Leben in einer Umgebung ohne vermeidbare Krankheit und gewaltsamen Tod zu ermöglichen. Äcker, Weiden und ein Stück Forst in Cornwall und das versteckte Tal von Beauvallon waren, als der August des 1589. Jahres des Herrn anfing, Zonen der Ruhe und des Friedens in einer Welt, die sich ununterbrochen veränderte, je nach Laune oder Glaubensbekenntnis der Herrschenden und dem Machtstreben und Ehrgeiz deren Berater. Eigentlich fing es damit an, daß die gascognischen Garden im Dfczember des vergangenen Jahres, auf Befehl vom dritten Heinrich von Frankreich, in Blois den Herzog von Guise ermordeten, einen katholischen Extremisten. Er hatte als einer der »Heiligen Liga« versucht, Paris zu nehmen und Heinrich zu beseitigen - dadurch sollte das protestantische England unterjocht werden. Die Wellen dieses Glaubensbebens, die sich nach allen Richtungen hin mit der Geschwindigkeit eines Gerüchts fortsetzten, erreichten uns in Le Sagittaire. 187
Religionskriege nannte man die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Hugenotten, die seit Jahrzehnten in sinnloser Folge ausbrachen. Kleine Armeen trugen die Kämpfe aus, Reiter und Akebusen-Schützen; die Feldgeschütze, die sie mitunter mitführten, vermochten höchstens Holztore zu zertrümmern. Söldner waren es, Deutsche und Schweizer unter ihnen. Die Hugenotten, nachdem viele von ihnen 1572 ermordet worden waren, bauten im Süden des Landes eigene Stützpunkte auf und machten La Rochelle, die Hafenstadt, zu ihrem Zentrum. »Krieg der drei Heinriche«, sagte das Volk, als um Paris gekämpft wurde. Religiöser Fanatismus hatte das Volk ergriffen; die Mächtigen nützten ihn aus. Ein bedeutender Anführer der Hugenotten hieß Heinrich von Navarra, der Sohn eines Herzogs de Bourbon Vendome. Er hatte Montauban befestigt; und es war von Lyon, unserer nächsten Stadt, nicht allzuweit entfernt, wenn man entlang der Tarn zog. Ein gewisser Lampriere schrieb ein Wörterbuch, dessen fragwürdige Translation über uns kam; samt wenig hilfreicher Erklärungen. Der dritte Heinrich wurde ermordet; wir konnten nur mit Mühe rekonstruieren, wie es geschehen war. Ein katholischer Verrückter, erzählten die Leute, sei es gewesen. August 1589: Ich hob meinen Kopf, drosselte die Lautstärke und beobachtete die lautlosen Reiter auf dem Bildschirm. Riancor sagte, nur mit mäßigen Zeichen von Beunruhigung: »Wir haben einige Varianten zur Auswahl. Wenn wir sie in die Flucht schlagen, erinnern sie sich an Beauvallon, einen reichen Ort voller guter Gläubiger. Des falschen Glaubens, aus ihrer Sicht. Willst du sie alle töten? Wollen wir mit unseren braven Bauern kämpfen? Die Hugenotten kommen auf der Straße hierher, die wir leichtsinnigerweise ausgebaut haben. Sie werden in Beauvallon einfallen. Was ordnest du an?« Psychostrahler! flüsterte der Logiksektor. Ein gefahrliches Vorhaben. Wenn wir auf dem Umweg über unsere Geräte den Eindringlingen (in fünf Stunden oder etwas mehr würden sie die Abzweigung bemerken; von der Hauptstraße dauerte es bei leichtem Trab etwa 188
eine Stunde bis zu uns) suggerierten, daß dies eine verbotene Gegend sei, würden sie sich später daran erinnern, es den Leuten in Lyon erzählen, und jene konnten es nicht glauben, da sie die Händlerbauern aus Beauvallon gut kannten. Langsam reifte eine Idee in meinen Überlegungen. Ich grinste und sagte zu Riancor: »Sattle unsere Pferde! Wir legen Rüstungen an und nehmen genügend Waffen mit. Mit unserer gewaltigen Übermacht werden wir sie entlang der Hauptstraße bekämpfen. Wähle die richtige Fahne, so daß sie glauben, wir wären ihre Feinde.« »Monique?« »Sie wird hierbleiben, die Bauern beruhigen und dafür sorgen, daß sich von den hungrigen Hugenotten keiner nähert.« Der Tag hätte kaum ungünstiger sein können. Vom Süden, auf Lyon zu und vermutlich mit Paris als Ziel, näherten sich Schweizer Söldner unter französischer Führung. Wir hatten vierhundert Männer gezählt, etwa zweihundert von ihnen besaßen Pferde: Ein kleines, gut gerüstetes Heer bewegte sich auf unsere Felder, Weiden und Äcker zu, auf die Weinberge und auf schutzlose Bauern, die in den Erntearbeiten schufteten und die Hakenbüchsen, Schwerter und Spieße ihrer Großväter längst vergessen hatten. »Du willst sie nicht beunruhigen?« Ich schüttelte den Kopf und fuhr in die schweren Reiterstiefel. »Nein. Nicht nötig. Sie nützen uns nichts, also sollten sie uns auch nicht schaden können...« »Leicht wird es nicht werden.« Riancor half mir, die Halbrüstung anzulegen, und ich schloß die breiten Schnallen seines Harnischs. Wir rüsteten uns wohlüberlegt aus und testeten die kleinen schwebenden Maschinen. Ich bereitete Monique auf die Möglichkeiten vor, die ihr in den Stunden zwischen Mittag und Abend blieben. Wir stimmten uns ab und entschlossen uns, so und nicht anders vorzugehen. Wir stiegen in die Sättel und ritten so unauffällig wie möglich durchs Dorf, an der Mühle vorbei und zwischen die bemoosten Stämme der ersten Bäume des Schutzwaldes hinein. Unsere Pferde galoppierten an, der lange Wimpel der »Liga« flatterte... und ich wußte, daß wir uns geschickt verhalten 189
mußten. Der Weg wand sich durch den Wald und vorbei an den Bannwällen, die nichts gegen diese Reitergruppe würden ausrichten können. »Hoffentlich sind die Anführer nicht zu schlau!« »Oder zu mißtrauisch«, setzte ich hinzu. »Wenn die Nacht anfängt, müssen wir schon über die Brücke hinaus sein.« »Es sollte so funktionieren, wie ich es errechnet habe«, versicherte Riancor. Wir erreichten die Handelsstraße; ich fragte, an welcher Stelle die Hugenotten jetzt waren. »Beim Kalkfelsen, wo wir einmal das Salzlager hatten«, lautete die Antwort. »Sie sind nicht schnell. In einer halben Stunde werden wir die Vorreiter sehen.« Wir entsicherten unsere antik aussehenden Waffen, pflanzten die Pike mit dem Wimpel deutlich sichtbar auf, und die Antigravkugeln, sendefertig mit den Projektilen beladen, schwebten in die Höhe. Ich glaubte, es im Innern Riancors klicken und summen zu hören, als er die Strahlung dosierte und das Programm einstellte. Ungeduldig tänzelten die Pferde in der Mittagshitze, schwitzend und schäumend. Kurz verständigten wir uns, dann ritten wir den Hugenotten ent^gen. Ich sprach über das Gerät im breiten Gelenkschutz aus Leder und Stahl mit meiner Freundin und beruhigte sie mit einiger Mühe. »Da kommen sie.« Zwei Reiter und hinter ihnen noch einmal drei kamen hinter der Biegung des Weges hervor. Ihre Pferde und alles andere waren staubbedeckt. Schweißspuren zeichneten schwarze Bahnen über Felle und Haut und färbten Teile der Kleidung. Riancor und ich hoben die langläufigen Reiterpistolen, zielten und feuerten. Die Magazine waren voller Kartuschen mit feststeckenden Geschossen. Die gut eingerittenen und an die hämmernden Detonationen gewöhnten Hengste zuckten nur die Ohren. Graublauer Rauch hüllte uns ein. Funken und Staubfontänen sprangen hoch. Die Pferde scheuten, die Männer riefen Flüche zu uns herüber und schwenkten ihre Luntenflinten oder Feuersteinschloßarkebusen. Dann rissen sie die Pferde herum und galoppierten davon. Wir schickten ihnen noch eine Serie 190
von Schüssen hinterher, die in Baumstämme schlugen, in das Straßengeröll oder in die Büsche, deren Blätter in Fetzen davonwirbelten. »Auf unsere Geräte ist Verlaß«, stellte Riancor fest. »Hast du ihr Erschrecken bemerkt?« »Natürlich.« Die Einstellung der Psychostrahler bewirkte bei jedem Menschen in einem Radius von eineinhalbtausend Schritten, der schwarze Pferde, schwarzgekleidete Reiter mit blinkenden Rüstungen und spanischen Helmen sah, daß sich in seinem Verstand zunächst zwei, dann vier, schließlich acht und darauffolgend sechzehn gleichartige Bilder festigten. Die fünf Reiter waren hinter der Krümmung der Fahrspuren und der wuchernden, welkenden Grasstreifen verschwunden; wir warteten. »Sie rechnen mit einer Straßensperre der Liga-Reiter«, bestätigte Riancor. Langsam ritten wir bis zum Schaft der doppelt mannslangen Pike, einer der gefürchteten Waffen dieser Zeit, lang und tödlich wie die Sarissen des Makedoniers. Nach einer kurzen Weile hörten wir das Dröhnen vieler Pferdehufe, wildes Geschrei, scharfe Kommandos und das Klirren von Metall. Die Durchlässe zwischen den Bäumen und den Hangfelsen waren nicht breit; nur acht Reiter hatten Platz nebeneinander. Sie waren den Kampf gewohnt und kamen in scharfem Trab näher. Wieder feuerten wir und achteten darauf, niemanden zu treffen. Noch nicht. Riancor verstärkte die Wirkung der Psychostrahlen, wir aktivierten die Schutzschirme, und die Reiter feuerten ihre schweren Waffen leer. Rauchwolken quollen in die Höhe. Geschosse heulten wie Hornissen durch die heiße Luft. Immer mehr Reiter kamen aus dem Engpaß hervor und griffen an. Wir, vierundsechzig gegnerische Reiter, ergriffen die Flucht; ich riß die Lanze aus dem Boden und galoppierte, um die Bilder nicht allzu synchron werden zu lassen, hinter Riancor her. Freudiges Gebrüll erscholl in meinem Rücken. Deutlich verstand ich den Kampfruf der Söldner: »Für Heinrich von Bourbon!« 191
Henry Navarras Vater ist Antoine de Bourbon, klärte mich der k>- giksektor auf, und Henry der Dritte war der letzte des ValoisGeschlechts. Wieder summten die schweren Kugeln der wenigen Reiterpistolen über unsere Köpfe hinweg. Wir waren zunächst geflüchtet, und mehr als fünfzig Reiter setzten uns nach. Sie waren bereits an der Wegkreuzung vorbeigeprescht und wechselten in einen kurzen Galopp über. Riancor und ich hielten die Pferde an, wendeten und stellten uns. Die Entfernung zwischen uns und den Hugenotten betrug fünfhundert Schritt. Weit hinter den Reitern tauchten die Fahrzeuge und die Marschierenden des Trosses auf. Wir zogen die archibugi aus den Sattelhüllen. Die schweren Kleingeschütze waren von Riancor manipuliert, aber die Wirkung der Schüsse blieb höllisch. Feuerten die zeitgenössischen arquebusen oder haquebuten schwere Bleibrocken, so heulten die Geschosse aus unseren langgezogenen Rohren zwischen die Reiter, detonierten mit höllischem Schmettern, strömten kochende Hitze und stinkende Gase aus, unter denen die Nüstern der Tiere am meisten litten. Unsichtbare Strahlen pfiffen geradeaus und erzeugten dort, wo sie auftrafen, kurze, aber intensive Schmerzen, ohne Wunden oder sichtbare Male. Wir boten für die Hugenotten ein Bild des Schreckens. Aus den Mündungen unserer Hakenbüchsen zuckten halbarmlange grelle Flammen. Rauchwolken machten das Bild der vielen vor^- spiegelten Gegner undeutlich. Wir bildeten eine breite, geschlossene Front und schienen unverwundbar. Die Metallteile der Rüstungen funkelten silbern oder golden. Eine Reihe Hugenotten sprang aus den Satteln, stürzte ihre Büchsen auf die Gabeln und brannte die Lunten an. Sie zielten auf Riancor und mich - und auf Dutzende von Schemen, die ebenso deutlich in ihrer Vorstellungskraft waren wie wir selbst. Bleibrocken schlugen nur zum Teil in unsere Schutzschirme ein. Rings um uns prasselten Metallkugeln ins Gebüsch, splitterten Baumrinde ab, wurden von Steinen und Felsbrocken abgelenkt und heulten schwirrend davon. Wieder donnerten unsere Waffen auf, die wir nicht abstützten; Pferde und deren Reiter wälzten sich schreiend 192
und wild um sich schlagend auf dem Boden. Wir rissen die Tiere herum und galoppierten davon. Riancor erzeugte ein grelles, schmerzend trillerndes Hornsignal und schob eine neue Energiezelle in den Kolben der Waffe. »Demnächst werden sie wohl ihr Geschütz geladen haben.« »Dort vorn gibt es ein gerades Stück Straße!« rief ich und hoffte, daß es um diese Zeit keine anderen Benutzer dieses uralten Handelsweges gab. »Offiziell« waren wir Truppen, mit Spanien verbündet. Mir erschien es logisch, daß Frankreich seinen Bewohnern gehörte und von einem Herrscher geführt wurde, der im Land geboren war. Da aber augenscheinlich jeder König im unauslöschlichen Bewußtsein aufwuchs, von Gott selbst zum Herrschen bestimmt worden zu sein, nahm er diese Bestimmung auch gegenüber Nachbarländern und fernen Kolonien in Anspruch. So abenteuerlich ist diese Überzeugung nicht, knurrte der Extrasinn. Es ist auch Brauch bei Arkoniden! »Wir lassen sie bis zu diesem Punkt in Ruhe. Sie sammeln sich schon wieder.« »Hoffentlich entdeckt der langsame Troß nicht die Abzweigung.« »Nein. Sie stolpern vorbei.« Die Pferde wurden mit Mühe eingefangen und beruhigt. Mit zitternden Fingern luden die Schützen ihre ungefügen Waffen nach. Pikeure zu Pferd bahnten sich einen Weg durch das Getümmel, fällten die langen Lanzen und galoppierten auf das freie Stück Straße hinaus. Wieder setzten wir die Strahlen unserer Waffen ein und lahmten die Arme einiger Reiter. Rechts und links der durcheinanderwirbelnden Gruppen kamen die Fußsoldaten, die ihre Helme festschnürten und fluchend die Schwerter zogen und die Piken schwenkten. »Es sind, immerhin, tapfere Söldner!« knurrte ich, wider Willen die Leistung bewundernd. Sie stellten sich einer riesigen Übermacht und kämpften gegen ihre Verwirrtheit. »Vielleicht kämpft ihre Glaubensüberzeugung mit ihnen«, setzte Riancor hinzu. »Gut möglich.« 193
Wir schwitzten ebenso wie die Tiere. Jeder Huf schlag wirbelte feinen Staub in die Höhe, der sich ätzend auf die Schleimhäute legte. Immer wieder zerrissen krachende Detonationen aus den heißen Waffenläufen den lärmenden Mittag. Pulverrauch wälzte sich in trägen Wolken über dem Boden dahin. Riancor und ich legten an und zielten auf die ersten Reihen der Heranstürmenden. Wir richteten die Lähmstrahlen so genau wie möglich auf die Arme und Oberkörper, lahmten einen Teil der Männer und riefen Schmerzen hervor. Waffen klapperten zu Boden; dann wichen die Reihen der Reiter und der Fußsoldaten auseinander. Das Rohr des Geschützes schwenkte herum und wurde auf uns gerichtet. »Es wird Zeit!« rief ich und hielt den Wimpel höher. Wir setzten die Sporen ein und gaben die Zügel frei. Mehr als fünfhundert Schritte waren die letzten Teile des Trosses von der Wegkreuzung entfernt, nördlich davon und ohne sie richtig wahr^- nommen zu haben. Wir beugten uns über die Hälse der Pferde und schalteten die Leistung der Schutzschirme höher. Unsere Pferde g^- loppierten das gerade Stück der Straße in schnellerem Tempo hinunter, und wir sahen die hochragenden Balkenbündel jener breiten, aber kurzen Brücke, die wir vor vielen Jahren konstruiert und seither immer wieder erneuert hatten. Vor den Holzpylonen, an denen sich schenkeldicke Taubündel spannten, bogen wir nach rechts und links ab. Keinen Lidschlag zu früh, denn die Ladung aus Metallsplittern und gehacktem Hei prasselte wie ein waagerechter Hagelschauer gegen das Holz, auf die Bohlen und ins Erdreich, in die Baumkronen und Äste. Ein Regen zerfetzter Blätter und Aststückchen sank herunter, und gleichzeitig drang der dröhnende Krach des Abschusses an unsere Ohren. Wir näherten uns der Straße, senkten die Waffen und fingen mit gezieltem Beschuß der Reiter und Fußtruppen an. Einige Zeit lang verwandelten wir uns in einen dichtgestaffelten Pulk, der die Brücke zu verteidigen schien und aus hundert Rohren ununterbrochen feuerte. Unser Ziel war, alle Hugenotten-Söldner auf der Straße und in ständiger Bewegung nach Norden zu halten - es sollte keiner zurückbleiben. 194
Wie es schien, waren sie alle genügend wütend und folgten uns, und es blieben nur wenige zurück. Zwei Pferde lagen mit gebrochenen Läufen im Graben und wurden getötet. Wieder preschten die Reiter vor und richteten die Piken aus. An ihren Flanken standen Arkebusenschützen, hatten die Läufe in die hö 1zernen Gabeln gelegt und zielten auf die Phantombilder. Ab und zu zuckte aus einer unserer Waffen ein vernichtender Energiestrahl, dank der grellen Mittagssonne fast unsichtbar; er traf die Kanone, schmolz sie halb, brachte Pulver zur Explosion, brannte Löcher in Schilde oder schmolz Teile der Arkebusen zu unkenntlichen Metallknüppeln zusammen. Nachdem wir abermals eine grauenhafte Verwirrung angerichtet hatten, beruhigten wir unsere Pferde und trabten langsam über die aufdröhnenden Brückenbohlen. Tatsächlich gab es keinen Verkehr auf diesem Stück des Weges. Ich beugte mich im Sattel hinüber und rief: »Hast du eine Sonde nach Norden geschickt?« »Sie ist inzwischen zurück. Bis zur Schlucht ist niemand zu sehen. Nur Bauern in den Weinbergen von Collonnes.« »Gut so.« Das Flüßchen tief unter der Brücke war fast versiegt. Wir bewegten uns über die sechs Serpentinen den Hang hinauf und behielten den Platz vor den flachen Rampen genau in den Augen. Auch unsere Hengste waren müde geworden und keuchten, schweißüberströmt. »Was mögen sie denken?« fragte ich laut. »Ich bin sicher, daß sie uns für Liga-Reiter halten, von denen sie auf dem langen Weg nach Paris daran gehindert werden sollen, zu plündern und diejenigen Franzosen zu überfallen, die der Bourbone wohl bald regieren will.« »Diese Illusion werden wir noch bis zur Dämmerung aufrechterhalten«, versicherte ich. »Noch etwas fallt mir gerade ein. Diesen Winter bleiben wir hier, nicht in Cornwall. Wir verschenken alle unsere erfindungsreichen Modelle und nehmen nur mit, was wir brauchen.« »Ich habe eine hohe Wahrscheinlichkeit für diesen Entschluß errechnet«, gab Riancor zurück. 195
Als nur noch ein Straßenstück zwischen uns und der Hügelkuppe lag, kamen die ersten Reiter an die Brücke. Sie lag schräg unter uns, vielleicht dreihundert Schritt oder tausend Ellen entfernt. Ich hob den Arm und rief: »Wir lassen sie die Brücke passieren. Dann sehen wir, wie viele es wirklich sind.« Die Straße verlief jetzt auf nacktem Fels. Myriaden Hufe und hunderttausend Gespanne hatten seit den Jahren, als Rom hier herrschte und sein Straßennetz nach überraschend wohlgeplanten Methoden angelegt hatte, den Boden zerfurcht. Schlagregen und kochender Sonnenglast hatten tiefe Rillen in den Grund gehobelt. Feines Geröll und Sand, Teil der Verwitterung, lagen in den Fahrspuren. In den Felsspalten hatten Pinien und andere Gewächse Fuß gefaßt und ihre Wurzeln dorthin gezwängt, wo Feuchtigkeitsspuren waren. Wir blickten über die breiten Baumkronen und zwischen ihnen hindurch auf unsere Verfolger. »Wieder haben sie sich organisiert.« Die Reiter zögerten nicht, ihre Tiere über die Brücke zu treiben. Das Poltern und Dröhnen war bis hierher gut zu hören. Weit im Osten brannte es, am westlichen Horizont ballten sich schwarze Gewitterwolken. Wir hatten vorübergehend die Psychostrahler ausgeschaltet. Die Reiter erreichten wieder festen Boden. In guter Formation folgten die Pikeure. Die Sonne des frühen Nachmittags riß funkelnde Reflexe aus den frischgeschärften Schneiden der Waffenenden. In langsamem Laufschritt folgten die Männer den Reitern, dann kam die Kanone, die wir unbrauchbar gemacht hatten. Dann schloß sich der Troß an: Wagen mit Futter, Wasser, Nahrungsmitteln und Wein, Strohlager für Verwundete, Dirnen und Handwerker, ganz zum Schluß drei graufellige Esel, die riesige Heubündel schleppten. Als die dahintrippelnden Lastesel die Brücke verlassen hatten, stiegen wir an der höchsten Stelle der Straße aus den Sätteln. Mindestens viertausend Galoppsprünge weit war die Straße nach Lyon zu von uns zu übersehen. Sie war wirklich leer. Ich lehnte die Wimpellanze 196
an einen tiefhängenden Ast, zog die schwere Waffe aus dem Futteral und blieb an der Kante der Straßenbiegung stehen. »Psychostrahler an?« »Sie setzen gerade mit voller Leistung wieder ein.« Vermutlich sahen die Hugenotten den gesamten Hang voller Verteidiger und einen Arkebusier neben jedem borkigen Stamm. Pinienzapfen brachen knisternd unter unseren Stiefelsohlen. Wir visierten unsere Ziele an und stützten die Läufe gegen die Pinienstämme. Ich blinzelte; salziger Schweiß sickerte durch meine Brauen und biß in den Augen. »Für die hübschen Bauerntöchter von Beauvallon!« sagte ich und schoß. Hinter den Eseln schlugen Feuerbälle aus dem Boden. Der Felshang schleuderte jede Explosion als Echo zurück. Ein Esel verlor die Last, und mein nächster Schuß setzte sie in Brand. Riancor zerstörte nach zwei Dutzend wilder Schüsse in die Reihen der Reiter und Fußsoldaten das Geschütz völlig und den Pulverwagen ebenso wie den, auf dem die Geschosse transportiert wurden. Die Angehörigen des Trosses flüchteten schreiend und fluchend nach allen Seiten. Einige Pferde brachen aus und schleuderten ihre Reiter aus den Sätteln. Piken brachen, von unten wurde zurückgeschossen, und die erste Abteilung der Berittenen hetzte die Pferde über die Krümmung das lange, schräge Straßenstück hinauf. Wir drehten uns halb herum und setzten die Lähmstrahlen gegen die Reiter ein. Mit haarfeinen Energiestrahlen zerschnitten wir die meisten Piken, versetzten die Männer, die sich ohnehin am Rand ihrer Leistungsfähigkeit befanden, in Verwunderung, ungläubiges Staunen und Wut. »Sie sind«, bemerkte Riancor, »einigermaßen demoralisiert.« »Würde ich an ihrer Stelle gegen unbekannte Arkoniden-Technik kämpfen, erginge es mir nicht anders«, brummte ich, hustete, würgte, weil die Wolken unserer eigenen Pulverentladungen uns beide halbwegs unsichtbar machten. »Bringen wir es hinter uns.« Ich leerte mit zwanzig wohlplazierten Schüssen das Magazin. Der letzte Abschnitt jenes Chaos, das wir erzeugten, glich den vorhergehenden: Wir töteten niemanden, verletzten ernsthaft kaum einen der Hugenotten, be197
raubten sie alle aber ihrer Organisation, ihrer Waffen, des Angriffsgeistes und ihrer Möglichkeiten, mit mehr als Fäusten, Dolchen oder Schwertern hantieren zu können. Auch Riancor setzte seine Treffer zwischen Pferdehufe, zwischen die rennenden, stolpernden, fluchenden und torkelnden Männer. Sie waren erschöpft und versuchten dennoch, das Gold, das man ihnen irgendwann bezahlt hatte, zu verdienen - aber es gab keine wirkliche Chance, den übermächtigen Gegner zu besiegen. Als wir sicher sein konnten, daß keiner aus dem Haufen der Hugenottensöldner daran dachte, die Scheunen von Beauvallon zu plündern, schulterten wir die wichtigen Büchsen und gingen hinüber zu den Pferden. »Wir haben zwei Möglichkeiten«, schlug ich vor. Riancor kannte sie. »Mitten durch die Gegner - oder auf langen Umwegen durch die Furt des Flusses, die Wälder und etliche Weinberge.« »Ich meine, mit ein bißchen Glück müßten wir den direkten Weg überleben können.« »Ich sorge dafür, daß wir überleben«, versprach Riancor. »Warten wir, bis sie völlig durcheinander sind«, schlug ich vor und ging hinüber zu den dösenden Pferden. Mittlerweile spürte ich auch die Müdigkeit. Ich stemmte mich keuchend in den Sattel, steckte die Waffe neben den Sattel und vergewisserte mich, daß die Kapazität des Schutzschirms fast aufs Maximum gefahren war. »Schalte die Psychostrahler auf völliges Chaos«, ordnete ich an. »Wir nehmen den kurzen, direkten Weg.« »Für Henry und die Liga!« rief Riancor fröhlich, zwang sein Pferd in die entgegengesetzte Richtung und hob seine rechte Hand. Ich sah, daß er den Handschuh aus Kettengewebe ausgezogen und die Projektoren seiner Fingerspitzen frei gemacht hatte. »Gehen wir!« »Nach Beauvallon!« Die Pferde trabten, fielen in einen kurzen Galopp, schienen unsere Absicht und somit ihr Ziel zu wittern, wurden schneller und schienen sich ihrer letzten Kraft bewußt zu werden. In hartem Kantergalopp ritten wir die erste Gerade abwärts, wurden in der Biegung langsamer, kamen die zweite Gerade herunter und trafen auf die ersten Re i198
ter, die wie die Wahnsinnigen versuchten, ihre Pferde zu bändigen. Rücksichtslos sprengten wir zwischen ihnen hindurch; die Pferde, von uns in langen Monden eingeritten, warfen sich nach links und rechts und achteten instinktiv darauf, niemanden umzuwerfen. Irgendwie fand sich eine Gasse zwischen ratlosen Fußsoldaten, und genau durch diese zufällige Zickzacklinie galoppierten wir, vorbei an brennenden Resten der Wagen und auskeilenden, kreischenden Eseln. »Heimwärts!« gellte Riancors Schrei. »Zu einem heißen Bad und einem kalten Schauer!« gab ich zurück, stand in den Steigbügeln auf und hielt das Ende der Lanze als A>- wehr schräg nach unten. Wir schafften es, ohne größere Probleme zwischen der Masse aufgeregter Menschen hindurchzukommen. Ein kurzer dumpfer Wirbel auf den Brückenbohlen, dann waren wir im freien Gelände, verließen die Straße und ritten durch den Schatten des Waldes auf Wegen, die nur wir kannten, zurück nach Beauvallon; unterwegs verständigte ich Monique von unserem Erfolg. Wir glitten vor Le Sagittaire aus den Sätteln, als die Sonnenscheibe hinter den Bergen versank. In der Luft war der Geruch frisch gedroschener Getreidehalme und der Herdfeuer. Monique und ein Mädchen aus dem Dorf kamen auf uns zu, große Becher mit rotem Wein in den Händen - es war der Empfang für heimkehrende Helden. Ich trank viel, lange und in tiefen Zügen, dann holte ich Luft und sagte: »Die Kämpfe sind an uns vorbeigezogen. Sie werden, denke ich, niemals zurückkommen.« Monique umarmte mich, als sei ich ein Jahr lang fort gewesen, und flüsterte in mein Ohr: »Es ist nur wichtig, Liebster, daß du zurückkommst. Hier, trink! Küsse mich.« Nach einer Weile: »Dein Bad voller Kräuter, Essenzen und edler Seife aus Grasse ist bereit. Eil dich! Sonst wird das Wasser kalt.« Ein paar junge Leute halfen uns aus der Rüstung. Sie wußten und verstanden nichts. Ich bemerkte, daß ich nach Pferd, Pulverrauch und Schweiß stank wie ein Wiedehopf, und schleppte mich in das heiße Wasser des Bades, in dem ich einschlief. 199
Am nächsten Morgen, in Moniques Armen, begann die Umwelt ein anderes Aussehen anzunehmen. »Von den Hugenotten, jenen oder anderen, werden wir nie wieder etwas sehen«, erklärte Riancor, nachdem er die vielen Informationen ausgewertet hatte. »Während ich versuche, die seltsame Sprache >Cornisch< bei unseren Freunden in Cornwall anzuwenden, dürft ihr bei der Ernte helfen.« »Es ist sicher keine Arbeit, von der der Weg der Barbaren zu den Sternen einfacher wird«, antwortete ich, »aber es macht wenigstens Spaß.« Frankreich schien mit dem ersten Bourbonen als neuem Herrscher kein schlechtes Los gezogen zu haben. Henry entwickelte Ehrgeiz und arbeitete hart - mehr konnte ich nicht sagen. »Hoffentlich beendet Heinrich die Religionskriege«, sagte Monique und ging auf den Balkon hinaus. Wir blickten über diese unverändert friedliche Zone hinweg und freuten uns am Rauch aus etlichen Kaminen, der fast gerade in den Abendhimmel stieg. »Ich werde heute nacht über die Transmitterverbindung nach Cornwall gehen«, meinte Riancor. »Morgen nacht k>mme ich mit dem beladenen Gleiter zurück und bringe auch den Transmitter mit.« »Einverstanden!« Wir hatten die Wahl. Wieder einmal. Sollten wir in diesem weltabgeschiedenen Winkel bleiben oder uns in das Gefängnis im Meer zurückziehen und dort die Reparaturen der Schäden kontrollieren? Im Lauf der nächsten Stunden, während Monique und ich im Arbeitszimmer in den Sesseln lagen und darüber sprachen, schafften wir Klarheit. Wir wollten in aller Ruhe soviel über die Welt des endenden sechzehnten Jahrhunderts seit der Zeitenwende erfahren, wie es möglich war - und wenn es uns im Herbst, Winter oder Frühjahr wirklich zu langweilig wurde, würden wir Beauvallon und Le Sagittaire verlassen, für eine unbestimmt lange Zeitspanne. »Es wird sich nicht wirklich etwas ändern, Liebster«, flüsterte die Gefährtin so vieler Abenteuer. Sie war schöner und reifer geworden 200
in all den Jahren, die wir miteinander verbracht hatten. Erinnerte sie sich noch an die ersten Stunden in meinem Zelt, damals...? »Nicht viel. Das Schöne und das Abstoßende, Häßliche werden bleiben. Aber jedes Jahr wird ein wenig mehr erfunden, wird die eine oder andere Entwicklung, von mir oder im Verstand der Barbaren entstanden, allgemein bekanntwerden.« Sie hob ihre glatten Schultern. »Der Weg zur Vernunft ist so weit, daß er mir unbeschreitbar erscheint. Wie weit ist dann der schmale Pfad zur Erkenntnis, zu den Sternen?« »Wenn ich nur die Hälfte der Antwort kennen würde«, seufzte ich. »Aber je länger ich meine Barbaren kenne, desto demütiger bin ich geworden. Sie sind nicht mit der Wucht einer ArkonFlotte zu überzeugen oder zu ändern.« »Bis dorthin wird es noch Jahrhunderte dauern!« War es wirklich wichtig? Immer wieder, in langen Abständen, kamen mir solche Gedanken. Gewiß, ich wollte heim, zurück nach Arkon. Aber ich war der einzige Fremde, der von einer höheren Warte aus in die Entwicklung eines Planeten eingriff. Ich durfte mich nicht von dem chaotischen, wenig pragmatischen Treiben von einigen hundert Millionen Barbaren von Larsaf Drei i> lenken lassen. Was tun, Arkonide? Denk an das halbzerlegte Raumschiff im Basaltfelsen deiner Oase! sagte der Logiksektor grimmig. »Und das alte, ewige Dilemma bricht von neuem auf«, murmelte ich verdrossen. »Du wirst es nicht lösen«, behauptete Monique. Wir ließen uns Zeit, denn wir hatten alles, was wir brauchten: Sonne, Wärme, Wein und fröhliche, gesunde Menschen. Das Tal war und blieb sicher, denn wir zahlten alle Steuern und verhielten uns nicht anders als sonst. Der Sommer verstrich wie im Flug, der Herbst und die Ernten verwöhnten uns. Tausend kleine Veränderungen, Verbesserungen, Hilfen und Tricks halfen den Bauern und Handwerkern und beschäftigten uns auf seltsam unwichtige, aber befriedigende Weise. Wir erkundeten die Welt um uns und sahen, wie nicht anders erwartet, bemerkenswerte Dinge, Geschehnisse, schauerliche Tragödien und bezaubernde Einzelheiten kurzum das Bild des Pk201
neten Larsaf Drei, den die Barbaren »Erde« nannten, in seiner großartigen Unvollkommenheit. Wie schon einmal, mitten im kalten und nassen Winter, verschwanden wir aus Le Sagittaire. Nur Riancor kam und ging wie Ahasver, half den Bauern und brachte neue Informationen mit, aus der Welt der Lebenden in die stille Welt der Schlafenden. Atlan schwieg, und Cyr Aescunnar versuchte in der Berichtspause, Ordnung auf seinem Tisch zu schaffen. Dutzende Zettel mit Notizen waren korrekt abzulegen, die meisten trugen Kürzel von Querverweisen zur ENZYKLOPAEDIA TERRANIA oder anderen Quellen, vorliegend in ausgedruckter Form oder als Datei im Archivsystem von MASTERCONTROL. Das Stichwort NOSTRADAMUS hatte Cyr, dem die Augen brannten, dick unterstrichen. Er seufzte und tippte die Kodezahl ins Terminal. Augenblicklich wurde die Datei freigegeben, ein Holowürfel entstand, und die Speichersequenz spulte ab: 14. April 3443, 0:15 Uhr: Von einer der zahlreichen Satellitenstationen wurden heftige Energieentfaltungen auf paraphysikalischer Ebene nahe dem Südpol gemeldet, dann übertrug der Satellit das Originalbild nach Imperium-Alpha: Aus einer goldfarben leuchtenden Energiesäule wurde ein strahlender Ball, der zum Zylinder emporwuchs und dann spiralförmig zu Boden sank. Während Gleiter, Shifts, Roboter und Bewaffnete das Gebiet abzuriegeln begannen, rührte sich der Mann nicht, der anstelle des Leuchtern auf dem Eis stand, und die Kälte schien ihm nichts auszumachen. Er war mittelgroß, trug einen schwarzen Vollbart und hatte langes, gelocktes Haar, das von einer Kappe bedeckt war. Die Kle idung war ebenso merkwürdig wie der Mann und sein Erscheinen; kurzer Mantel mit aufgerüschten Ärmeln, enge Kniehose mit kurzer, aufgebauschter Hose darüber, Schnallenschuhe, im reichverzierten Gürtel ein Dolch. »Sie werden entschuldigen«, sagte der Fremde zu den Soldaten hinter der Absperrung. »Aber eine andere Kleidung stand mir nicht 202
zu Verfügung. Mein Name ist Michel de Notre-Dame, man nannte mich auch Nostradamus. Aber auch das ist nicht mein richtiger Name.« Als kurz darauf ein Gleiter mit dem USO-Emblem landete, Atlan ausstieg und näher kam, ging ein Ruck durch den Körper des Arkoniden. »Dieser Schwindler!« schrie Atlan. »Schon damals ahnte ich, daß er nicht der war, der zu sein er vorgab.« Er stürmte los und blieb unmittelbar vor dem Fremden stehen. »Michel de Notre-Dame! Nostradamus!« »Ich ahnte, daß Sie mich sofort wiedererkennen würden.« Der Fremde blieb ungerührt. »In welcher Rolle traten Sie doch damals auf? Soweit ich mich erinnere, spielten Sie ein paar Monate den Berater des Königs. Allerdings war Ihr Erfolg bei den Hofdamen vesentlich größer.« »Sie waren es damals, der alle meine Versuche zunichte machte, den König vernünftig zu beraten!« Atlan ging nicht auf die Unverschämtheit ein, sondern wandte sich an den Truppkommandanten. »Das ist Nostradamus, der berühmte Astrologe und Leibarzt des französischen Königs Karl des Neunten. fi lebte von fünfzehnhundertdrei bis fünfzehnhundertsechsundsechzig. Bekannt wurde er vor allem durch seine dunklen Prophezeiungen, die er in zehn Centuries herausgab. Es handelte sich um gereimte Vierzeiler, die sogenannten Quatrains.« »Ihr Gedächtnis ist verblüffend«, sagte Nostradamus. »Aber in einer Beziehung täuschen Sie sich. Ich lebte nicht nur bis fünfzehnhundertsechsundsechzig, sondern ich lebe noch immer, wovon Sie sich mit Ihren eigenen Augen überzeugen können.« »Und wer sind Sie wirklich?« »Wissen Sie das wirklich nicht?« »Ich ahne es.« »Dann sprechen Sie Ihre Ahnung aus.« »Sie sind ein Cyno.« Nostradamus lächelte. »Das ist richtig. Ich bin Schmitts Bruder. Imago Zwei...« 203
Bevor Cyr dazu kam, sich intensiver mit Cynos, Schwarm und den damaligen Ereignissen zu beschäftigen, die die Milchstraße an den Rand einer Katastrophe gebracht hatten, erklang wieder die Stimme des Arkoniden. Atlan berichtete weiter. 204
6. Zu seiner Zeit waren selbst hochgebildete Kleriker sicher, daß der Planet Larsaf Drei, die Welt, Erde, terra... geringfügig älter als 5500 Jahre sei; man hielt sich an Bishop Ussher, der die Schöpfung auf 9 Uhr am 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt datiert hatte. Als ich ihn 1522 beobachtete, als Junker Jörg auf der Wartburg, war er dabei, die Bibel zu übersetzen, was ihn nicht hinderte, scharfe Episteln zu schreiben: Hetzreden gegen Bauern, Türken. Juden und Andersgläubige, vor deren Geist alle Kinder zu schützen seien. Alle nicht lutherisch ordinierten Prediger sollten gehenkt werden. Meine Briefe vermochten sein Weltbild nicht zu beeinflussen, geschweige denn zu verändern; er schrieb unermüdlich, stieß aus seinem kranken Körper Darmwinde aus, die kleine Segel hätten füllen können, und mit mir war er einer Meinung, was die Ehrfurcht vor dem Glauben und »manncherley Unfug der armen sundigen menschen« betraf. 1546, am 18. februarus, starb er im deutschen Eisleben - meines Wissens war er derjenige, der den Wert der »teutschenn sprach« entscheidend steigerte, denn es gab wenig Bücher, in denen häufiger gelesen wurde. Seiner Frau, Katharina von Bora, und seiner Kinderschar hinterließ er nicht viel mehr als 1000 Gulden und mir drei lange Briefe in schwer lesbarer Schrift und reichlich seltsamer Sprache. Ich war schon wach genug, um begreifen zu können, daß ich mich am Beginn einer neuen Aufweckphase befand, die ebenso qualvoll und lange sein würde wie alle vorausgegangenen. Als sich, unterstützt von bewegten farbigen Bildern und Musik, die ich nur als unmelodische Tonfolgen wahrnahm, meine Augen genügend adaptiert hatten, erkannte ich neben Rico eine zweite, fast gleich große Gestalt. Bevor ich genauer sehen konnte, übermannte mich wieder die Müdigkeit. Unbestimmte Zeit später: Auf den Bildschirmen zogen riesige Wälder vorbei, unterbrochen von Küstenstreifen, tiefblauen Seen, 205
Flüssen und Siedlungen. Mein Blick irrte ab und heftete sich - ich zuckte erschreckt - auf die Frau neben Rico. An sein Aussehen war ich gewöhnt. Er verkörperte jeweils die Idealgestalt der Zeitepoche. Die Frau trug langes, braunes Haar, war auf herausfordernde Weise schlank, sah mich aus leuchtendgrünen Augen an; ich verstand, ehe ich einige Worte formulieren und mit tauben Lippen aussprechen konnte, was Rico sagte: »Das, Gebieter Atlan, ist die schöne Lilith. Die mechanischen Komponenten sind ebenso perfekt wie meine. Ihr optischer Eindruck scheint dich nicht zu entsetzen.« Ich schüttelte schwach den Kopf. Erst vierundzwanzig Stunden später war ich in der Lage, eine Frage zu stellen. »Ich weiß, daß du Synonymus Eins und Lilith gebaut hast. Ich erinnere mich an viele Tests. Du hast offensichtlich für Lilith die Summe jener Einzelheiten errechnet, die du als >schönbegehrenswert< und >positiv auffallend< definiert hast?« »Sie ähnelt allen deinen Gefährtinnen, von denen ich Bilder gespeichert habe. Außer Usha Tizia. Aber auch das wäre schnell zu ändern.« »Was hast du mit ihr vor?« »Ich werde dich bitten, den zweiten arkonidischen Hochleistungsrobot an deiner Seite auszuprobieren«, sagte er. »Wir sollten darüber diskutieren, wenn du völlig wiederhergestellt bist.« Lilith lächelte mich aus einem vollkommenen Gesicht mit vollkommenen Lippen und unglaubwürdig weißen und ebenmäßigen Zähnen an. Als sie ging, um mir einen Becher Konzentratbrei zu holen, bewegte sie herausfordernd ihre vollkommenen Hüften. Ihre Beine wren zu lang. Ich stöhnte. »Das lange Alleinsein hat dich geschädigt.« Ich versuchte mich aufzurichten, sank aber kraftlos zurück. »Aber als Bereicherung me iner Helferschar ist Lilith durchaus geeignet.« »Wenn Lilith dir nicht gefällt - ihr Aussehen ist ebenso leicht zu ändern wie ihr Name.« Ich schloß verzweifelt die Augen. 206
Zu meinen schönsten Erinnerungen zählen die Geschehnisse, die »Das goldene Kaleidoskop« als Überschrift tragen könnten. Der Abzugshahn klickte, der Schuß dröhnte auf. In der Mittagssonne war die Feuerzunge nicht zu sehen; wir ritten durch den grauen Rauch der Explosion. Die langläufige Reiterpistole ruckte in meiner Hand, der Schuß ging durch die Blätter und versengte Äste. In riesigen Fluchten sprang der junge Rehbock nach rechts und zeigte uns den buschigen Spiegel. Übermütig lachten wir uns zu. »Selbst ich hätte ihn nicht getroffen!« rief Gustav. Sein goldblondes, lockiges Haar klebte schweißnaß an den Schläfen der Stirn und im Nacken. »Morgen holen wir ihn uns«, versprach ich und schob das bläuliche Rohr in die Satteltasche zurück. Unsere Schimmelhengste galoppierten übermütig durch den Bach. Fontänen winziger Wassertropfen verwandelten sich in golden blitzende Kostbarkeiten. »Morgen? Da sind wir bei den Mädchen!« Gustav lächelte kühn. »Richtig. Wenigstens lernst du von mir, wie man richtig lebt«, meinte ich zufrieden. Mitten auf einer Lichtung, an deren Rand sich geschälte Stämme stapelten, hielt Gustav Adolf das Pferd an. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Mit dem feierlichen Ernst der Jugend versicherte er: »Von vielen klugen Männern lerne ich vieles, Comte Atlan. Von dir lerne ich, was nur ein Freund lehren kann. Ich werde weinen, wenn du nicht mehr bei mir bist.« »Auch ich werde traurig sein, wenn ich gehen muß«, sagte ich und schaute in seine strahlenden blauen Augen. Dann gäbe es keine nächtelangen Gespräche am lodernden Kaminfeuer, keine Wahrheiten über versunkene Großreiche, keine Versuche, einem Jüngling die delikate Balance zwischen Vernunft und klugem Machtgebrauch zu erklären, die in einer chaotischen Welt das Überleben sicherte. Und kein Schwimmen in der kalten baltischen See, kein Schäkern mit den wohlgeformten blonden Mädchen, keine schwingenden Hexameter aus Homers Odyssee; jetzt, Anno Domini 1609. 207
»Aber du bleibst noch, Comte, ja?« bat er. Ich nickte ernst und zwang mich zum Lächeln. Er war ein schlanker, großer Junge mit höchst talentiertem und gut geschultem Verstand. Und einer der liebenswertesten Menschen, die mir seit langer Zeit begegnet waren. »Noch bleibe ich«, sagte ich wahrheitsgemäß. Wenig überzeugend flüsterte der Logiksektor: Ein schwedischer Barbar, Arkonide! Aber in den meisten Stunden galoppierten wir unbeschwert durch sommerliche Wälder. Hohes Laub raschelte auf den schmalen Holzfallerwegen. Der junge Mann, der bald König sein würde, beherrschte den Hengst ebenso gut wie ich mit leichter Hand und wenigen Sporenhilfen. »Gibt es in Frankreich, im Süden, woher du kommst, auch dichte Wälder?« Gustavs Französisch war verständlich, aber holprig und nicht sonderlich gut. Er lernte es aus Büchern oder von Johan Schroderus. Jetzt nannte sich der Lehrer Johan Skytte. »Rund um Sagittaire stehen so viele Bäume, daß man das Dorf nicht findet, wenn man nicht weiß, wo es liegt«, antwortete ich und stellte mich in den Steigbügeln auf. »Weiter?« »Ja. Ist es wirklich so warm, daß Trauben wachsen? Ihr macht aus ihnen den Wein, den ich bei dir kosten durfte?« Wir trabten nebeneinander in die Richtung der alten Mühle. Ich lachte. »Mitunter trinken wir Most oder essen die Trauben.« »Wir trinken immer nur Milch!« rief Gustav bedauernd. »Und Bier.« Skytte unterrichtete Gustav Adolf am Vormittag in vielerlei lächern: Latein und Griechisch, Niederländisch und Italienisch. Von mir lernte der junge Schwede, wie ein Geschütz herzustellen, zu laden und zu richten war und so abgefeuert werden mußte, daß es traf. Und andere nützliche Dinge, die ein zukünftiger König können mußte; Erzählungen, wie es in anderen Teilen der Welt aussah und ziging. »Euer Bier ist auch nicht zu verachten, Milchbart«, gab ich zurück. »Du solltest weniger davon trinken.« 208
»Ich bin ein Mann, Comte Atlan.« Er sprengte, als der Weg breiter wurde, an mir vorbei. In großem Bogen näherten wir uns den Toren der Stadt. »Ein junger Mann mit zuviel Verantwortung!« Auch ich saß im Sattel eines Pferdes aus den Ställen »tre kronars«, des Schlosses mit den drei Kronen. Dort stand auch der Wallach, den Hofmeister Bernt Dietrich von Mörner ritt, ein Edelmann aus Brandenburg, der den Jungen im Fechten, Jagen und Reiten, im Schießen und dem Benehmen eines Fürsten unterwies. In diesen Unterweisungen lösten wir einander ab. Mit Bernt übte selbst ich Fechten und Schießen. »Es muß sein, daß ich alles lerne. Na ja, nicht alles... soviel wie möglich«, gab Gustav über die Schulter zurück. »Man wird sehen«, brummte ich. Mit einer Gruppe von Berufsoffizieren - Schotten, Deutsche, Franzosen, Niederländer und Engländer - war ich nach dem Waffenstillstand zwischen Spanien und den Niederlanden hierhergelangt. Die Männer suchten neue Aufgaben im schwedischen Heer. Ich, der französische Adelige, diente niemandem. Gerade dieser Umstand sicherte meine Beliebtheit am Hofe des neunten Karl, Gustav Adolfs krankem Wer. Der junge Prinz suchte meine Nähe, ich aber nicht den düsteren Eindruck der Hallen von tre kronars oder Kärnan, dem uralten Schloßturm. »Kannst du nicht mehr, Comte?« rief er herausfordernd. Ich kitzelte den Hengst mit den Sporen und setzte dem Jungen nach. Mitunter ging das cholerische Temperament, ein Erbteil der Wasa, mit Gustav durch. »Ich galoppiere noch, wenn dir die Haut in Fetzen abgeht.« Ich federte einen weiten Sprung über einen halbvermoderten Zaun ab. »Du mußt heute noch zu Oxenstiema.« Gustavs Antwort klang wenig beeindruckt: »Weiß ich, Comte, weiß ich alles.« Wir ritten noch etwa zwei Stunden lang, tranken beim Müller einen Humpen Bier leer, wurden überall freudig begrüßt, begegneten einem Häufchen bewaffneter Reiter, die von Jakob de la Gardie kom209
mandiert wurden, und Gustav begleitete mich bis zu meinem halbverfallenen Heim. Ich schwang mich aus dem Sattel und gab Gustav Adolf die Zügel. »Soll ich dir jemanden schicken, Comte?« »Nein, danke. Ich werde heute allein im Haus bleiben«, entgegnete ich und schnallte die Taschen vom Sattel. »Für einen Boten ist immer Zeit, und morgen wissen wir ja, wann wir reiten - und wohin.« In diesen Tagen bevorzugte Gustav Adolf unzweifelhaft Mädchen und Kartenspiel mehr als die Unterweisungen des Bischofs und den Unterricht Skyttes. Ich grüße ihn und warnte halblaut: »Treibe es nicht zu arg, Jäger Gosta Hakennase!« Gustav lachte, wurde für einen Moment nachdenklich, wischte die Vorbehalte mit einer entschlossenen Handbewegung weg. Sein inpulsives Temperament behielt die Oberhand. Dennoch blieb er ein gutherziger, hoffnungsvoller Junge. Ich nickte ihm zu und ging ins Haus. Als ich die Tür hinter mir schloß, hörte ich den Hufschlag der Pferde. Fünfmal klingelte die astronomische Uhr und zeigte mir nicht nur die Stellung der Planeten und die Zeit, sondern auch den Zeitunterschied, den die Larsai-Barbaren förmlich konstruiert hatten: In den Ländern, in denen der protestantische Glaube galt, rechnete man nach dem Kalender des Julius Caesar, der vom Zahlenwerk des ehemaligen Rechtsgelehrten Ugo Buoncompagni, seit 1572 Papst Gregor der Dreizehnte, um zehn Tage abwich. Die winzigen Fehler des Julianischen Kalenders hatten sich addiert, seit siebenundzwanzig Jahren waren alle - katholischen - Christen verpflichtet, sich nach Gregors Kalender zu richten. Folgerichtig hatte der Uhrmachermeister zwei Zifferblätter übereinander angeordnet. Ich schaltete die Beleuchtung an, kontrollierte den Stummen Wächter und registrierte, daß niemand in mein romantisch-morsches Reich eingedrungen war. Ich wußte selbst nicht, wie lange ich noch in Schweden blieb. Es richtete sich wohl danach, wie sich Gustav Adolfs Leben entwickelte. 210
Durch die Glasfenster fiel spätnachmittägliches Sonnenlicht. In der kleinen Küche bestrich ich das dunkle, würzige Brot mit gesalzener Butter und legte eine Scheibe Rentierbraten darauf. Wein aus Beauvallon gluckerte in ein Glas. Der elektrische Strom, den der Generator erzeugte, an das Mühlrad angeschlossen, erwärmte viel Wasser. Ich öffnete die Hähne und schüttete Kräuteressenz aus Grasse ins Badewasser. Während ich aß, mir den Wein schmecken ließ und das Wasser in die Wanne aus schwedischen Granitplatten einlief, drückte ich im Zierat des Bildrahmens verschiedene Punkte. Eine Sekunde später blickte ich in Ricos Schaltzentrale. »Neuigkeiten?« fragte ich. Mein Robot. Träger vieler Namen und Masken wie ich, sah aus, wie ihn die Leute von Beauvallon kannten: Ciron de Ronca, jener Freund des Grafen, der sich um den Fortbestand des Tales mit Hingabe kümmerte. »Allerlei«, lautete die Antwort. »Nichts Lebensgefahrliches, Atlan.« Ich fing wohlgelaunt an, die Stiefel auszuziehen, was nicht einfach war. Sie reichten bis zur Mitte des Oberschenkels. Die Sporen klirrten und klingelten. Der dunkelrote Wein schmeckte, wie stets, hervorragend. »Sprich!« Der qualvolle Tod des inbrünstig gläubigen zweiten Philipp von Spanien, Verlierer menschenmordender und materialvernichtender Seegefechte mit Englands Flotte, hatte in Europa ein lang anhaltendes Beben ausgelöst, eines aus schwindender oder zunehmender Macht und Streitigkeiten um die Herrschaft des rechten Glaubens in der Welt. Während Tycho Brahe Meisterwerke der vorteleskopischen Astronomie schuf, zahlreiche Alchimisten versuchten, Gold herzustellen, während in Berlin die Pest wütete und ich mein weißes Haar als echte Perücke flocht, verbrannte die Kirche Giordano Bruno als Ketzer, weil er eine in Zeit und Raum unendliche Welt lehrte, die von unzählbaren Sonnen erfüllt war. Und in einer solchen Welt fühlst du dich wohl! bemerkte vorwurfsvoll das Relikt der ARK SUMMIA. »Du hast vor langer Zeit dem burgundischen Hagen einen Deflektor geschenkt, den du >Tarnkappe< nanntest«, begann der Roboter. Er 211
kontrollierte auch die Transmitterschiene zwischen der Kuppel, dem Schlößchen und meinem efeuüberwucherten Versteck nördlich Stockholms. »Das stimmt. Ein Vorwurf?« fragte ich halblaut. »Keineswegs. Ich habe winzige Beobachtungen gespeichert, die zumindest daraufhinweisen, daß du beobachtet wirst.« Ich hängte den zweiten Stiefel an den hölzernen Haken und leerte das Weinglas. »Der gesamte Hof von Stockholm und viele andere starren jede Geste von mir an«, antwortete ich. »Aber das meinst du nicht.« »Nein. Ich habe meine Schwierigkeiten, einen Unsichtbaren zu finden.« Ich schloß die Wasserhähne und verschloß die Eingangstür. Natürlich bestand meine Ausrüstung aus vielen hervorragend getarnten Gegenständen. Bisher hatte kein Besucher etwas erkannt. Gelegentlich hatte ich Schwierigkeiten, erstaunte Fragen zu beantworten. Ich kam im bodenlangen Morgenmantel zurück und setzte mich in den hochlehnigen Sessel, dem Bildschirm gegenüber. »Du vermutest einen unsichtbaren Beobachter. Richtig? Was noch?« »Du weißt, daß der Kunstplanet WANDERER, kontrolliert, aber oft unbeaufsichtigt durch ES, eine weite Bahn beschreibt, deren weiter Ellipsenbrennpunkt innerhalb des Systems von Larsafs Sonne liegt?« »Auch das ist mir bekannt.« Ich kaute mit Hingabe das herbe Brot. »Ich schließe daraus, daß ES einen besonderen Bezug zum Pkneten der Barbaren hat. Wir kennen zahllose Beweise dafür: wir, die freiwilligen Sklaven von ES.« »Weiterhin höre ich über Spionsonden häufiger als sonst in Erzählungen, Legenden, Märchen und Sagen einige Begriffe, die meine Positronen alarmieren«, erklärte Ciron ungerührt, als schildere er die Temperatur in der unterseeischen Kuppel, »denn sie lauten etwa: NichtLandschaft der Utopia, Jenseitslandschaft, unverletzliche, hermetische Teile, die idyllische Bezeichnungen wie >Rosengarten< tragen. Und ähnliches. Macht dich das nicht nachdenklich, Atlan?« 212
Ich brauchte ihm nicht zu erklären, daß ich mich mit den fetzten Überlegungen selbst beschäftigt hatte. Zugegeben, nicht seit langer Zeit. Aber gelegentlich dachte ich intensiv über mögliche Hinterlassenschaften von Besuchern nach, die vor meiner Zeit diesen Planeten betreten haben mochten. Oder an Besucher, die der Aufmerksamkeit unserer Antennen und Spürgeräte entgangen waren - und da gab es einige im Lauf so vieler Jahrtausende! Ich erwiderte, an unsere technischen Möglichkeiten denkend: »Verstanden, Ciron. Ich werde mich damit beschäftigen. Keine Botschaft von ES eingetroffen?« »Nein.« »Und... Monique schläft tief und traumlos?« »Sicherlich nicht traumlos, aber tief. Sie hat nichts von blonden, leidenschaftlichen Schwedinnen gesehen.« Ich grinste. »Im Vertrauen: Sie sind nicht alle blond, Ciron.« »Ich weiß. Und du weißt, wie es um Schweden bestellt ist?« sagte der Robot. Ich war überrascht; er schien vergleichende Zeitgeschichte zu treiben. Ich nickte. Jeder Scherz verging mir auf der Zunge, als ich antwortete: »Das kenne ich besser als du, vorlauter Robot. Und ich bin hier, um Änderungen zum Besseren zu versuchen. Alles wird von Gustav Adolf ausgehen, der zu den positivsten Hoffnungen Anlaß gibt.« »Vielleicht ein weiterer Name in deiner langen Liste des Versagens«, erinnerte mich Ciron. »Brauchst du irgend etwas? Neue Energiemagazine? Papier? Zuspruch oder Wein?« Ich lächelte halb amüsiert, halb bitter. »Alles vorhanden. Ich melde mich, wenn ich etwas brauche. Du gehst wieder nach Sagittaire?« »In den nächsten Tagen«, sagte er und wartete, bis ich abschaltete. Auch Elisabeth von England, unverheiratet und kinderlos, war zu ihren Ahnen versammelt worden. Jacob, ein Stuart, löste sie ab. Irland war nach unzähligen Aufständen gegen England verwüstet airückgelassen. Im Süden des afrikanischen Kontinents gründeten die Niederländer eine erste Kolonie, und Shakespeare fuhr fort, Schauspiele von einzigartiger Qualität zu schreiben und zu spielen. Schwarze Sklaven schufteten für Sir Walter Raleigh in den Tabakfeldern. Ciron hatte eine herrliche Aufnahme von Monteverdis »Or213
pheus« gespeichert und hielt sie auf Abruf bereit. Die letzten Mauren wurden aus Spanien vertrieben, und die Aufregung, die vor knapp zwei Jahren das Erscheinen eines Kometen hervorgerufen hatte, legte sich unter den abergläubischen Barbaren. Und es war abzuwarten, wann Männer wie Kepler, Brahe oder Galilei die Linsenrohre, vom Niederländer Lipperhey erfunden, zur astronomischen Beobachtung benutzen würden. Mein vergoldetes Fernrohr lag dort drüben auf dem Sims. Während ich im warmen Wasser ausgestreckt lag und den Wein gegen das Licht im Glas kreisen ließ, dachte ich über mancherlei nach. Ich erfreute mich der sieben kleinen Räume, die in der alten Mühle nebeneinander und übereinander lagen, sauber, mit dicken Wollteppichen und wenigen Holzmöbeln ausgestattet und voller technischer Überraschungen, die mir ein gutes Leben sicherten. Schweden mochte im Winter schauerlich kalt sein, aber jetzt ging es mir gut. Nicht nur mir. Auch Gustav Adolf. Und den jungen Frauen. Dennoch: Ich wußte, daß ich beim ersten Zeichen einer eindeutigen Beobachtung schlagartig meine Nachlässigkeit verlieren würde. Zu viel stand auf dem Spiel. »Es ist so, und ich weiß es, und deine Lehrer wissen es auch«, sagte ich irgendwann in dieser Nacht, »und du wirst lernen müssen: Seit Anbeginn der Zeiten haben Menschen an etwas geglaubt. Oder an jemanden. Es gibt grob gerechnet tausend Namen, und zu seiner Zeit war jeder so groß wie der des Gottessohns. Ich halte es eines denkenden Menschen für unwürdig, wenn er seinen Nachbarn erschlägt, nur weil er katholisch ist und nicht protestantisch - oder umgekehrt. Oder einer, der an Allah glaubt, wobei die Muslime die Christen und diese die Muslime als >Heiden< bezeichnen. Dem Irrsinn noch Schwachsinn zuzufügen, das hieße, einen ehrlichen Glauben zum Schwert wider einen anderen ehrlichen Glauben zu machen. Oder bin ich ein Mann, den du bekämpfen willst?« Ich hatte mich ein wenig in Hitze geredet. Jedes Wort fuhr in Gustav Adolfs Inneres wie der Stachel einer Biene. Er hob die Schultern und fragte leise: »Welchen Glauben hast du, Comte Atlan?« 214
»Das werde ich dir, Milchbart, nicht auf die Nase binden. Jeden und keinen. Aber ich werde niemals gegen jemanden kämpfen, nur weil er papistisch ist. Oder Maure. Oder ein Finne, der das Nordlicht anbetet.« Er starrte in sein Glas und sah im Spiegel des roten Weines sein Gesicht. »Aber... der Bischof und alle anderen sagen...« Ich konnte die Barbaren nicht zur Vernunft zwingen. Ich hob die Hand und antwortete: »Buddha hätte nicht gegen Jesus Christus gpkämpft und Jupiter nicht gegen Allah. Keiner gegen den anderen. Es sind nur die Menschen, die >Religio< auf ihre Schilde pinseln und >Macht< meinen. Willst du auch zu ihnen gehören? Du hast ein riesiges Land und Norwegen als neidischen Nachbarn. Kümmere dich um deine Wälder, Schwede.« »Sicher hast du recht, Atlan«, sagte er tief nachdenklich. Er war fünfzehn Jahre jung. Ich setzte wohl zuviel voraus. »Du kennst sicher die Geschichte nicht, die vom Geizigen und Nörgler, der zum ersten und einzigen Male kurze Zeit vor seinem Tod lächelte?« begann ich. »Nein.« »Es ist lange her. An seinem Sterbelager stritten sich die Erben.« Ich nahm einen Schluck. Die Planetenuhr klingelte mahnend. Mars stand in Konjunktion oder so ähnlich. Auch an diesen Unsinn glaubten die Barbaren. Astrologie war eine allseits anerkannte Wissenschaft! »Ein Mann wischte dem Sterbenden die Stirn und tröstete ihn. Der Nörgler wollte ihm alles hinterlassen, denn bisher hatte niemand ohne Eigennutz seinen Kopf angehoben und ihm die Lippen genetzt. Der Helfer lehnte ab. Der Sterbende lächelte zufrieden; er hatte erkannt, wie nebensächlich alles war, was er geschätzt und mit dem Schwert verteidigt hatte. Er begriff: Sein neues Leben fing im Augenblick des Todes an.« »Warst du dieser Helfer, Comte Atlan?« fragte Gustav Adolf. Ich hob die Schultern. »Ja? Nein? Vielleicht.« »Wer war der Nörgler?« »Wer da mit dem Schwert kämpfte und das Naheliegende vergaß? Die Liebe zum anderen? Es war ein Kaiser des Heiligen Römischen 215
Reiches Deutscher Nation. Der Name tut nichts zur Sache«, schloß ich. »Ist es dein Ziel, daß es dir ebenso ergeht?« Gustav schüttelte den Kopf. Unentwegt spielten seine Finger mit dem etwa handlangen Kaleidoskop. Ich zeigte auf die Lampe mit dem Schirm aus dickem Pergament. »Sieh hindurch und dreh es!« Gustav gehorchte. Das Gerät schlug ihn binnen weniger Atemzüge in den Bann und ließ ihn dreißig Minuten lang atemlos zusehen. Es war ein besonderes pädagogisches Maschinchen, würdig der Phantasie eines Leonardo da Vinci. Nicht nur Farben, Formen und Lichter bewegten sich und setzten sich zu stets neuen, gedankenanregenden Bildern zusammen, sondern auch Gestalten, Szenen und Figuren, deren Bedeutung schwach hypnotischen Einfluß auf den Betrachter ausübte. Ich beschäftigte mich gelegentlich gern mit dem Dingelchen. Jetzt nahm ich es ihm aus den Fingern, zeigte ihm die erste Veränderung und zog die Rohrstücke auseinander. Ich öffnete das Fenster, richtete das Teleskop auf die Feuer der Wachen auf dem Kärnan und stellte das Bild scharf ein. Die Silhouetten der Wachen und die Struktur des Mauerwerks sprangen mich förmlich an, als ob es sich ums nächststehende Haus handele. »Sieh hindurch! Erkenne den zweiten Zweck«, sagte ich. Mit atemlosem Staunen starrte er auf wechselnde Bilder, erschrocken und fasziniert zugleich, fch erklärte, was die Linsen bewirkten. »Wenn ich gehe, werde ich dir dieses Fernrohr schenken. Aus gutem Grund, den ich dir später erkläre, solltest du es niemals verlieren.« Mit großem Ernst versicherte der junge Thronfolger: »Was ich von dir gelernt habe und noch lernen werde, vergesse ich nie in meinem Leben. Was du mir schenkst, verliere ich nicht.« Ich lächelte nachsichtig. »Da bin ich nicht ganz sicher, Gosta. Ich denke, du solltest schlafen gehen. Morgen ist dieses Fest, und du wirst wieder tanzen bis zum Zusammenbruch.« Er stand auf, leerte sein Glas und ging unruhig in einem der Wohnräume auf und ab. Schließlich setzte er sich auf eine Stufe der Treppe zum Schlafraum. Der Duft des Weines mischte sich in den Geruch 216
des harzigen Brennholzes und der Bienenwachskerzen. Als koste es ihn große Mühe, brachte Gustav Adolf hervor: »Du hast mich gelehrt, aus dem armen und menschenleeren Land Schweden eine blühende Gemeinschaft zu machen. Das werde ich sicherlich tun, Comte Atlan de Arcon et Sagittaire. Aber mein Land ist ein Spielball der großen Fürsten und Herrscher. Ich werde kämpfen müssen.« »Du wirst die Liebe deines Volkes, die du schon heute hast«, verdeutlichte ich ihm, »weiterhin besitzen, wenn du die Grenzen schützt und verteidigst und nicht versuchst, in anderen Ländern Krieg zu fuhren. Jeder Weltenherrscher, längst zu Asche geworden, starb an diesem Übermut. Und wenn du hundert Jahre alt wirst, was unwahrscheinlich ist, hast du genug zu tun, Häfen und Schiffe zu bauen, Straßen und Brücken, Häuser und Hallen. Vielleicht läßt du dich von Johannes Bureus beraten, mit dem du den weisen Cicero liest.« Gerade in seiner jungenhaften Unsicherheit blieb er liebenswert. Ich konnte nur hoffen, daß er nicht gezwungen wurde, den gleichen Fehler wie so viele zu machen. War es ihm vergönnt, aus der Weltgeschichte zu lernen, die ihm vom »Polyhistor« Bureus nahegebracht und durch Bilder und Karten aus meinen Unterlagen verinnerlicht wurde? Ich mußte es eigentlich bezweifeln. »Kennst du die Zukunft?« Gustav blieb mit dem Rücken zur Tür stehen. Ich schüttelte seine Hand. »Nein, Majestät«, gab ich zu. »Aber es wiederholen sich überall auf der Welt immer die gleichen Fehler. Die Dummen lernen nicht daraus. Aber du bist ein gescheiter junger Mann.« Er blieb mir eine Antwort schuldig. Aber als wir die schmale Steintreppe zur Eingangstür hinuntergingen, meinte Gustav: »Vielleicht erwartest du zuviel. Morgen, am frühen Abend? Ich komme mit ein paar Freunden, ja?« »Ich warte hier. Schick mir morgen früh einen Stallburschen mit dem Schimmel.« »Versprochen, Comte.« Er ging zu seinem Pferd, entzündete die Fackel am flackernden Tranlicht neben dem Eingang und schwang sich in den Sattel. Ich 217
wartete, nachdem ich aufgeräumt hatte, eine halbe Stunde auf Britta Persdottir, eine schwarzhaarige Hofdame, die sich in mich, den Wein aus Frankreich und meine seltsame Aussprache des Schwedischen verliebt hatte. Etwa einen Monat später - nach einem offiziellen Abend im Schloß, wo Gustavs Vater sich vom Schlaganfall erholte - hatte sich eine bunte Gesellschaft in meiner Mühle zusammengefunden. Britta, duftend und mit aufgestecktem Haar dem Bad entstiegen, bewirtete die Frauen und Männer mit schwerem dunklem Bier und spritzigem Wein. Mein Blick ruhte auf dem mächtigen Bidenhänder, der an rostigen Klampen über dem Kamin an die Mauer geheftet war. Obwohl die Waffe schartig und uralt war, weckte sie unselige Erinnerungen. Ich war dem Hieb dieses Henkersschwerts nur um Haaresbreite entgangen, damals, als... »Ihr habt seltsame Dinge um Euch versammelt, Comte«, meinte de la Gardie. »Aber alle sind sehenswert.« Er hielt den langen, achteckigen Lauf der Steinschloßpistole in der Hand. Das Modell, nachempfunden einer Schöpfung des französischen Malers und Büchsenmachers Marin de Bourgeoys, erzeugte Stichflamme, Rauch und Schall und feuerte gleichzeitig einen Hochenergiestrahl ab. »Ihr meint sicherlich Britta, die Euch das Glas entgegenhält«, wich ich aus. »Und Ihr habt nur Augen für Todesgerätschaften.« »Verzeiht«, bat er, lächelte martialisch und nahm das halbgeflillte Glas. »Mein Handwerk hat mehr mit Waffen zu tun als mit schönen Frauen.« »Hier findet kein Krieg statt, Monsieur«, sagte ich in meinem schönsten Französisch. Am Hof herrschte, gelinde gesagt, babylonisches Sprachengewirr. Zwischen dem reichlichen Dutzend meiner Gäste bewegte sich Gustav Adolf wie eine Wildkatze im Wald. In einer schwachen Minute hatte ich mir gesagt, daß ich, hätte ich einen Sohn gehabt, mir wohl einen Jungen wie ihn gewünscht hätte. Er hielt einen kleinen Becher Met in den Fingern und leckte das süße Zeug vom Handrücken. 218
Meine Gäste betrachteten die Bilder an den Wänden, bewunderten die Planetenuhr, wärmten sich am Feuer oder aßen eine Kleinigkeit in der Küche. Auch Axel Oxenstierna, ein Mann, den selbst ich bewunderte, schenkte sich das Bier ein. Als ich mit frischen Kerzen an meinen Arbeitstisch trat, sprach er mich an. »Ihr habt diesen Jungen gern, Atlan de Sagittaire.« Er sprach mit angenehmer Stimme und ohne Aggression. »Hochbegabt und zu früh in die Pflicht genommen von seinem dominierenden Vater und mit einem Charakter geschlagen, der einer feurigen Seele eigen ist.« »Ihr habt Gustav zutreffend charakterisiert«, versetzte ich. »Und da Ihr ihn ebenso hochschätzt, werdet Ihr ihn weise beraten, wenn er König ist.« Er senkte den Kopf. Ich hatte von ihm nur Gutes gehört, er war klug und besonnen. »Darauf läuft es wohl hinaus«, sagte er. »Und Ihr, Comte?« »Ich werde, wenn es mir zu dunkel und kalt wird, abreisen. An wärmere Ufer sozusagen.« »Unabhängigkeit, wie Ihr sie kennt, erregt meinen Neid.« Meine kleinen Geheimnisse waren so gut verborgen, daß ich keine Entdeckung zu befürchten hatte. Die Gäste waren vom Zauber der Person Gustavs ebenso beeindruckt wie ich und schienen zu wissen, daß sein Vater bald starb. Ich setzte mich auf die Lshne des Sessels, in dem Britta thronte. Die Planetenuhr klingelte mahnend. »Unabhängigkeit«, wiederholte ich leise, »werden unsere Gäste kaum finden.« »Sie suchen Macht und Einfluß. Deswegen hoffen sie, daß ein goldener Blick aus Gostas Augen auf sie fällt.« Ich grinste sarkastisch und erwiderte, ihren langen Hals streichelnd: »So habe ich es noch nicht gesehen. Ich dachte, sie wollen ihm helfen, ein kluger Erwachsener zu werden. Verfolgen sie alle nur persönliche Ziele?« »Wenn du lange genug nachdenkst, wirst du es selbst herausfinden. Was wären sie ohne ihn als König?« »Was wäre der junge König ohne Berater und Freunde?« 219
»Ein junger Mann, um den sich alle Mädchen in Stockholm die Haare ausreißen würden.« Nacheinander ritten die Gäste, mehr oder weniger nüchtern, in die Nacht davon. Ich begleitete den Prinzen zu seinem Pferd und grüßte die gähnenden Gardisten. »Man hat ausgerechnet, daß in acht Wochen der erste Schnee fällt«, sagte er traurig. Unter der Eisdecke strömte noch immer Wasser und wuchtete langsam das eisüberkrustete Mühlrad herum. Überall lag Schnee. Die Läden der Mühlenfenster waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Die Glut im Kamin brannte auf unserer Haut. Gustavs nasser Pelzmantel dampfte wie der Wasserkessel in der Küche. Ich hielt das vergoldete Kaleidoskop zwischen den Fingern und zeigte Gustav, wie die geheime Sicherung zu lösen war. »Was tust du?« »Ich gebe dir das Kaleidoskop. Wenn du glaubst, am schwersten Punkt deines Lebens zu stehen, wenn dir kein anderer mehr helfen kann, dann verdrehe diese beiden Ringe und lausche, bis es siebenmal scharf knackt. Es dauert einen Monat, und ich bin bei dir. Aber ich komme nur einmal. Also überlege lange, ehe du mich rufst. In der Zeit bis zu diesem Tag oder dieser Nacht möge dein Verstand ebenso klar bleiben wie dein Blick, wenn du die Rohrstücke auseinanderziehst.« Gustav Adolf bat mich nicht mehr, länger zu bleiben. Ich hatte meine Zeit in Schweden, auch wegen Britta, um mehr als einen Monat verlängert. Der junge Prinz hatte sich auf den Abschied vorbereitet. »Wohin reisest du, Freund?« fragte er leise und drehte das zylindrische Ding in den Fingern. »Zu einer der Inseln mit dem heißen Sand?« »Wahrscheinlich.« »Werden wir uns einmal sehen?« fragte er. »Ohne daß ich dich... um Hilfe rufe?« »Das ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich«, antwortete ich; auch meine Stimme ließ erkennen, daß ich niedergedrückt war. Er 220
beherrschte sich wie ein Erwachsener. Schweigend zog er seinen Mantel an und knöpfte ihn zu. »Du bist der einzige Mann, der nicht erwartet, für seine Freundschaft belohnt zu werden. Ich habe gelernt, was ein wirklicher Freund ist. Dafür... du wirst ein Maßstab sein für das, was ich tue. Leb wohl, mein Freund.« Ich nickte nur. Er streifte die Kapuze über seinen Lockenkopf und ging zur Treppe. Unter dem Vordach, neben der riesigen Glutschale voller Holzkohle, wartete der Gardist mit den Pferden. Wir umarmten uns kurz. Unter dem Kapuzenrand aus weißem Pelz warf mir Gustav einen Blick zu, den ich nie vergessen konnte. Ich ging zurück ins tiefverschneite Haus, wo Britta auf mich wartete. Es war unsere letzte leidenschaftliche Nacht. Noch vor dem Morgengrauen schob ich meinen Besitz durch den Transmitter, kletterte selbst auf die Plattform und wußte, daß das Gerät später von Rico geholt würde. Francis Bacon wohnte in London, und ein Buchtitel, von dem er oft sprach, lautete: »Das Neue Atlantis«. Ich traf ihn ungefähr ein halbes Jahr nach dem Fest in Beauvallon. Es gab an diesem Stück Themseufer, the Strand, nicht nur Geldnot und, grob ausgedrückt, geiziges Verhalten, sondern Abende von strahlender Helligkeit und bescheidenem Prunk. Schließlich war Sir Nicolas der Großsiegelbewahrer der Queen Elizabeth gewesen. Ich half bei den kostspieligen Arrangements mit einigen Pfund Sterling aus den Prägemaschinen der Kuppel. Francis, einen silbernen Becher voller Uisge Beatha in der Hand, machte gerade ein Wortspiel, das sich auf den Zusammenhang zwischen Herbstwetter und Königshaus bezog. Ein Adeliger mit hochrotem Gesicht deklamierte: »Wachsen die Nächte schon wieder auf Erden, so vieles kürzer die Tage nun werden.« Ich warf Francis Bacon einen irritierten Blick zu, deutete auf den Becher und fragte: »Woher, Sire, bezieht Ihr dieses eau de vie?« »Einer der wenigen Vorteile, die mein Onkel sicherstellt. Lordschatzmeister Cecil Burghley bestellt das Zeug in Glen Farclas. Es schimpft sich Bruichladdich Isley und schmeckt auch so.« 221
»Hervorragend!« Ich ließ mir von dem Bediensteten einschenken. Im Hintergrund des Saales spielten Musiker Pavanen von John Do wland und Thomas Morley. Zum auffallenden Benehmen der Gäste paßte diese zarte, klare Musik wie Engelsgesang zur Vorhölle. Francis Bacon schien über Gäste und Fortgang des Abends ebenso zu denken wie ich. Aber er brauchte die geneigte Bekanntschaft der wichtigen Männer dringender als das schottische Lebenswasser. »Auch dies geht vorbei«, murmelte er. »Draußen regnet es. Hier ist es warm und gemütlich.« »Im Lauf der Nacht wird’s wohl noch wärmer werden«, sagte ich leichthin. »Ich habe Zeit, Euch den Begriff zu erklären, der so lange unausgesprochen in Euren Gedanken umhertobte. Nirgendwo-Land, nicht wahr?« »In der Tat. Utopia, wie die Griechen es wußten.« Der Saal im York House, dem alten Palatium Eboracense, war festlich eingerichtet. Ein langer Tisch für sechsunddreißig Gäste, Leuchter und Kerzen, zwei lodernde Kamine, eigene und gemietete Diener, gutes englisches Bier und jenes unvergleichliche Getränk aus den schottischen Granittälern. Knapp fünfzig Jahre zählte Francis Bacon, ein begabter und ehrgeiziger Rechtskundler, der ständig unter überhöhtem Ehrgeiz und knappem Geld litt. Mein Name schien ihn ebenso zu faszinieren wie meine scheinbare Großzügigkeit und meine enge Bekanntschaft mit William Shakespeare. »Schon angefangen mit dem Buch?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Ich schrieb schon die Exposition. Eure Ideen sind ebenso exzellent wie Euer Geschmack, Sir Atlan.« »Ihr übertreibt, Master Bacon.« Einige der Gäste hatten mich, meist von Master Shakespeare mitgebracht, in meinem Haus in Cornwall besucht. Mittlerweile schienen sie über die Maßen gealtert und überschütteten mich mit unglaubwürdigen Komplimenten über mein jugendliches Aussehen. Uns gegenüber reimte ein Bärtiger mit auffallender Perücke unter dem johlenden Gelächter einiger Gäste: 222
»Geraten sehr wohl die Hopfen und Reben, so wird’s in der Folge viel Räusche. »Als Verwalter der königlichen Archive ist er besser, als es den Anschein hat«, brummte Francis. »Aber einer wie ich, der von seiner Staatslaufbahn mehr schlecht als recht lebt, muß lächelnd Reime dieser Art ertragen.« »Denkt daran, das ist die Gesellschaft, die Ihr aufklären und verändern wollt.« »Man muß in London erst tot sein, wenn sie jemanden leben lassen wollen.« »Nicht nur in London«, bestätigte ich. Francis war alles andere als beliebt, \\feder seine Amtsführung noch sein überdeutlich zur Schau gestelltes Selbstbewußtsein waren dazu angetan, ihm viele Freundschaften zu schaffen. Aufklärung in diesen Jahren war ein riskantes Geschäft; wenn jemand öffentlich verkündete: »Die Wahrheit ist böse« und sich dazu erdreistete, zu bestimmen, was die Wahrheit sei und wie sie lautete, sollte er sich besser nicht über mangelnde Beliebtheit wundern. Was nichts daran änderte, daß er ein kluger Kopf war und vielleicht die Gesellschaft dieser Insel verändern konnte. Besonders dann, wenn er unter dem Sohn Maria Stuarts sozusagen die Nachfolge seines Onkels antrat. Die Chancen standen gut. »Vor rund einem Jahrhundert schrieb der große Thomas Morus sein Utopia«, erklärte Francis Bacon verbindlich. »Mein NirgendwoLand wird noch mehr verändern.« »Heute ist nicht der Tag, vielmehr die Nacht, lange darüber zu sprechen«, sagte ich und nahm einen tiefen Schluck. »Widmet Euch Euren wichtigen Gästen, Sire.« »Was sein muß, soll geschehen«, meinte er pathetisch und gab den Musikern ein Zeichen. London war größer geworden, reicher, aber nicht sauberer oder schöner. Noch immer führte nur eine einzige Brücke, mit mehrstöckigen Läden und Schenken statt eines Geländers, über die Themse. Ich hatte nicht vor, jeden Regen und jedes Schneegestöber hier mitzuerleben. Aber Francis Bacon bedeutete für mich eine klare Mög223
lichkeit, einen Schritt weiter in Richtung auf Vernunft, wenigstens auf dieser Insel, gehen zu können. Was seine Schrift nicht bewirkte wer las denn schon? -, würde er als Lordkanzler oder Siegelbewahrer schaffen. Ich brauchte Master William nicht lange zu suchen. Er probte im Globe-Theater, drüben in Southwark. Auch mein Dichterfreund war stark gealtert. Er sprang auf und umarmte mich, als ich vor ihm im Zuschauerraum stehenblieb. »Ich bin sechsundvierzig«, jammerte er, »und du siehst nicht älter als fünfunddreißig aus, dearest friend. Welches Elixier trinkst du?« »Dunkles Bier«, antwortete ich und schüttelte ihn an den Schultern. »Was schreibst du, William?« »Sonette«, sagte er. »Jetzt endlich kann ich es mir leisten. Wohnen in Stratford, gut verdienen, Theatermachen in London.« »Heute abend liest du sie mir vor.« »Nichts lieber als das, Atlan.« Er klatschte in die Hände, scheuchte die Schauspieler von der Bühne und rief ihnen zu, daß sie morgen mittag weiterüben würden. Für heute sei Schluß. »Aber daß ihr mir ja heute das Beste gebt. Denkt an den Beifall - und an das viel zu viele Geld, das ich euch zahle.« »Schon gut, Master Will.« Ich wohnte in Westminster, einer lebendigen, alten Stadt, in der das Parlament im Palast des achten Heinrich tagte, ebenso der Oberste Gerichtshof. Der Hof selbst war aus London nach Whitehall gezogen. Westminster war eine Art ländliches Gegengewicht zur Stadt; Advokaten und Staatsanwälte lebten in mehr oder weniger prächtigen Häusern entlang der Fleet Street. In modischen, sauberen Geschäften konnte man Luxuswaren kaufen; die Parks waren voller eleganter Spaziergänger. Für Abwechslung im Speisezettel sorgten ländliche Gaststätten und gepflegte Schenken. William Shakespeare ritt zunächst zu seiner Absteige, dann schlugen wir die Richtung zu meinem Heim ein. Links von unserem Weg rauschte die Thames. Je mehr wir uns von den Stadtmauern entfernten, desto mehr prächtig gekleidete Spaziergänger und Reiter begegneten uns. 224
»Und dir ist der Stoff für Schauspiele, Dramen und Komödien nicht ausgegangen, Will?« fragte ich. Er lachte fröhlich mit seinen maroden Zähnen. »Willst du mir wieder ein Thema vorschlagen? Romeo und Juliet ist noch immer ein großer Erfolg. Nein, ich habe noch viele Notizen. Der Sturm, so nenne ich mein nächstes Drama. Es ist sehr gut, weißt du?« »Spielt ihr es?« »Nicht in den nächsten Tagen. Du wohnst vornehm, Freund.« »Mir tut der arme Pöbel in der Stadt leid, aber ich muß ja nicht in ihren Verhältnissen leben. Es ist nur ein Stockwerk, klein und überschaubar.« »Und sehr wohnlich, wie ich dich kenne, Atlan.« Wir ließen die Pferde in der Obhut eines Stallknechts, dann legte ich Holz zur Glut ins Kaminfeuer, zündete viele Kerzen an und deutete auf Gläser und Krüge, Becher und Karaffen. »Bedient Euch, Dichterfürst«, bat ich. Eine junge Dienerin klopfte und bot uns einen kleinen Spätimbiß an. Nachdem Will meine Efehausung genau angesehen hatte, setzte er sich am Kamin in einen hochlehnigen Sessel, schlug seine Mappe auf und entschied sich für Xereswein. »Ich hörte in der Stadt, daß du den >Fino< besonders schätzt.« Ich goß ein Glas voll und reichte es ihm. Er grinste breit. »Alter Fuchs. Du kennst jeden Kniff. Danke - genauso verhält es sich.« Er roch am Wein, ein Ausdruck der Begeisterung glitt über sein Gesicht, er nippte genußvoll daran. Sein Haar war fast weiß geworden, die Stirn war kahl bis über die Ohren, aber aus seinen Augen funkelte ungebrochene Begeisterung. Ich nahm ein Lebenswasser aus Schottland, streckte meine Beine zum Feuer aus und forderte ihn auf: »Lies, Will! Der Wohlklang deiner Reime wird meine Grämlichkeit vertreiben, fürchte ich.« Die zierlichen Zeiger der Planetenuhr bewegten sich, das Läutwerk zirpte silbern. Shakespeare rezitierte etliche Sonette. Ich ließ die 225
Wörter tief in mir wirken, und als er eine Pause, frische Luft und einen weiteren Xereswein nötig hatte, meinte ich: »Wunderschön. In einigen Zeilen scheine ich - aber sicher irre ich, Will - die Handschrift Bacons zu erkennen. Schreibt er von dir ab? Was hältst du von ihm?« »Ein talentierter Hund mit Löwenklaue. Er ist gut. Schade, daß er Jurist und leidend ist.« »Leidend?« »Unter Geldmangel und zu großem Ehrgeiz. Es gab Gerüchte, er schriebe für mich. Im Ernst hältst du das für möglich?« »In allem Ernst«, gab ich zu, »wirklich nicht. Ich schenke ihm ein paar tiefe Gedanken, mit deren Hilfe er aus allen Engländern bessere Menschen machen will.« Wir beide kannten Macht und Ohnmacht von Worten und Überzeugungen und konnten darüber lachen. Noch ein Sonett, noch ein Glas, neue Kloben im Feuer, ein Monolog aus »Sturm« schloß sich an, die Kanne Xeres leerte sich. Ich schlief im Bett, Will schnarchte im Wohnraum und erschreckte gegen Mittag die junge Annabell, die mein Haus besorgte. Dieser Planet starrt vor Gefahren für deine Existenz, mithin für mein Weiterleben. Wenn du als Denkmodell annimmst, daß sich ein Androide von WANDERER, mit und ohne Wissen von ES, auf Larsaf Drei herumtreibt und, was denkbar ist, deinen Deflektor als Tarnkappe benutzt, hebt sich dein Ärger auf eine höhere Ebene der unmittelbaren Gefahr. Anno Domini 435 gabst du deinem Freund dieses Gerät, dessen Lebensdauer begrenzt ist, aber mit entsprechender Ausrüstung reaktiviert werden kann. Der Extrasinn schwieg eine Weile. Ich lenkte das Pferd weiter durch das Gewimmel der Londoner Straßen. Ich ertappte mich dabei, wie ich allen Ernstes nach unsichtbaren Androiden Ausschau hielt. Mit hörbarem Sarkasmus wisperte der Logiksektor: Du wirst auch herausfinden, daß, abgesehen von Besuchern, auf diesem Planeten Tore oder Öffnungen bestehen, die in Nischen der Wirklichkeit, der Zeit oder der Dimensionen führen und wieder Zurück in die Welt deiner geliebten Barbaren. Auf 226
bösartige Wesen, Menschen oder Außerplane tarische, ist grundsätzlich Verlaß. Sie ändern ihre Absichten niemals und wollen diesen Planeten beherrschen. Im gegenwärtigen Stadium gelingt dies nur durch Chaos und keineswegs planetenweit. Ziehe deine eigenen Schlußfolgerungen, Paladin der Menschheit. Ich nickte und sagte zu mir selbst: »Das werde ich tun, wenn ich wieder in der Kuppel bin. Und das dauert gar nicht mehr lange, wenn ich die grauen Schneewolken sehe.« Bevor ich an die Rückkehr denken konnte, mußte ich mit Francis Bacon versuchen, einen weiteren kleinen Schritt auf dem dornigen Pfad der Erkenntnis weiterzustolpern. In einer Welt, in der das Jahr der Protestanten um zehn Tage dem der Katholiken hinterherhinkte, in der nur knapp die Hälfte der Planetenoberfläche bekannt war, in der nur wenige Barbaren schreiben und lesen konnten, blieb unser Versuch entsprechend nützlich - für eine Handvoll kluger Barbaren. Was natürlich nichts über deren Moral, Fähigkeiten und guten Willen aussagt, meinte der Logiksektor bissig. »Nova Atlantis«, sagte Francis. »Das Land Eurer Erinnerung wird in vier Chapters neu entstehen. In klaren, leicht verständlichen und erzieherisch wirksamen Schritten wird der Reisende, der nachvollziehende Leser, zuerst auf der Insel Neu-Atlantis landen und dann in das Gefüge der Überzeugungen eingeführt.« »Verdreht dem Leser nicht zu sehr den Kopf«, warnte ich. »Es könnte Euch das Genick brechen.« »Man muß in den Strom springen, Master Atlan«, antwortete Efecon, seinen Bart streichelnd, »um gegen ihn schwimmen zu können.« »Auch wahr. aber wenn Ihr den Zeigefinger zu sehr hebt, wird man sagen, Ihr verstündet die Welt am wenigsten zu deuten.« Wir hatten lange nüchtern über einen Versuch gesprochen, durch das Werkzeug einer durchführbaren Utopie die Lebensumstände von vielen Menschen zu verbessern. Ich schlug mehr oder weniger das vor, was ich getan hätte, nicht mit der diktatorischen Anwesenheit der gedanklich vielstrapazierten Arkonflotte, sondern durch vorhandene Machtstrukturen. Es galt, zuerst das Denken und die Überzeu227
gungen der Herrschenden zu verändern. Könige und Fürsten konnten, wenn sie selbst nicht lasen, sich die Texte von Thomas Morus oder Francis Bacon von den Kanzlern oder Geistlichen vorlesen lassen. Also war dieser Versuch nicht schon im Ansatz sinnlos. Ein Programm, das die Beziehungen zwischen Beherrschten und Herrschenden reformieren sollte? Ganz bestimmt. Aber die Herrscher leiteten ihren Anspruch vom göttlichen Auftrag ab. Bewußter Wille zur Besserung? Im Fall Bacons war ich sicher, obwohl er wie alle anderen seiner Gesellschaftskaste die wirklichen Nöte und die Armut nur vom Wegschauen kannte. »Die beste Staatsverfassung wurzelt in Vernunft und der visionären Gabe des Verfassers«, schlug ich vor. »Und in einer klaren Sicht der Aufgaben.« »Ihr habt sie mir vermittelt«, sagte Francis zuvorkommend. »Wann soll das Opus erscheinen?« »Noch ringe ich mit meiner Armut«, entgegnete er allen Ernstes. »Wenn ich Zeit und Muße habe, kann ich Meisterwerke schaffen. Nicht vorher.« »Aber die Zustände, die wir hassen, gibt es heute.« »In dreißig Jahren sind’s allemal dieselben.« Seine Mundwinkel verzogen sich nach unten. »Die Absicht, sagt der Weise, daß der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten.« »Eine Ansicht, die allgemein gültig ist«, pflichtete ich bei. Bacon hatte unzählige Aufzeichnungen und Notizen in seiner dicken Mappe. Ich war sicher, daß er sie für ein Manuskript voller richtiger und phantasievoll geschilderter Kapitel benutzen würde. Ob dieses Buch den Zustand der Welt oder auch nur Englands ändern konnte? Für diesen Abend verabschiedete ich mich von ihm und ritt heim. Die Bedeutung jener Warnungen, die mein Extrasinn mir hatte zukommen lassen, verfolgten mich bis tief in meine Träume. Ich blieb noch fünfzehn Tage in London. Als das Wetter noch schlechter geworden war und ich keine Lust mehr hatte, packte ich meine Ausrüstung zusammen, ließ von Ciron-Rico das Schlößchen von Beauvallon vorbereiten und startete den Gleiter, der als Boot getarnt in der Themse schaukelte. Noch vor dem Morgengrauen er228
reichte ich unweit von Le Puy das Tal des Allier und folgte ihm stundenlang bis zur Mündung des Nebenflüßchens, das auch durch das versteckte Tal flöß. Ciron hatte die Dörfler auf mich vorbereitet; ich fand Le Sagittaire sauber und gemütlich, so, wie ich es in Erinnerung hatte. Obwohl es mir mein photographisch exaktes Gedächtnis nicht erlaubte, auch nur Kleinigkeiten zu vergessen, wurde doch vieles verdrängt. Oder scheinbar wichtigere Vorgänge und Erinnerungen überlagerten diese Informationen. Bei der Größe des Planeten und der Masse von Erschütterungen und Katastrophen aller Art wußte selbst der Roboter, daß vieles auch gar nicht bemerkt wurde. In der wohligen Ruhe des hellen Arbeitsraums von Le Sagittaire versuchte ich, mir über diesen Verdacht klarzuwerden. »Wohlversorgt mit Schinken, frischem Brot und Wein sitzt du dort und denkst nach.« Cirons Stimme klang keineswegs vorwurfsvoll. Es war eine zutreffende Bemerkung. Über Transmitter und Bildschirme war ich mit den Speichern der Kuppel-Computer verbunden. Lilith sah ich nicht; ich fragte ihn auch nicht nach der Roboterfrau. »Wüßtest du, wie gut es mir hier geht, würdest du erschrecken«, entgegnete ich. »Die Arbeit, die du in meiner Abwesenheit geleistet hast, ist anerkennenswert. Hast du die Daten über die einschlägigen Legenden komplett?« »Du findest den Ausdruck in der kleinen Truhe mit den Bronzebeschlägen«, sagte Ciron. »Die Bauern Beauvallons sind auch zufrieden.« Mit vielen gefälschten Dokumenten, an wichtigen Stellen verteilt, waren sie nun alles andere als rechtlose Leibeigene. Niemand konnte sie ausbeuten oder zwingen. Alle Anwesen strahlten Tüchtigkeit und unaufdringlichen Reichtum aus, gepaart mit Selbstbewußtsein. »Versuche, mit den Spionsonden einen Anhaltspunkt aufzuspüren! Wenn sich bewahrheitet, was ich denke, haben wir viele Erklärungen für noch mehr Seltsamkeiten.« »Die Suchprogramme laufen.« 229
»Ich warte. Sollte sich ein aktueller Verdacht ergeben, müssen wir handeln. Wenn nicht, bin ich in ein paar Monaten in der Kuppel.« Rund um den Planeten sammelten Spionsonden auf vorgeschriebenen Kursen und an programmierten Haltepunkten die Informationen. Gegenwärtig, Ende A.D. 1610, tobten keine gewaltigen Kriege. Die Scharmützel zwischen den unzähligen Machtgruppen waren höchstens in ihrer Summierung wichtig für die Zukunft. Nachdem der Komet wieder in die Tiefen des Weltalls zurückgekehrt war, die Lustseuche - ein Kunstwort nach einem Hirten namens Syphilus ihre Opfer fand, konnte ich mich auf die seltsame Suche nach Exoten auf Larsafs drittem Planeten konzentrieren. »Die Gegenstände, die du an verschiedenen Orten erworben hast, sind würdig zwischen andere Exponate eingereiht worden«, meldete Ciron gestelzt. Galileo Galilei verwendete die niederländische Erfindung des Fernrohrs für aufsehenerregende Beobachtungen der Mondoberfläche und der Monde des Jupiters. Herrliche Bilder entstanden, faszinierende Schriften und Dramen; die Musik dieses Jahrhunderts erreichte einen Wohlklang, der selbst meine Ohren entzückte. Könnten Teile von WANDERER zu gewissen Bezirken dieser Welt werden - und umgekehrt? fragte das Extrahirn nachdrücklich. Das würde vieles Seltsame erklären. »Ich dachte bereits darüber nach.« Hagen Tronecs »Tarnkappe«... repariert und mit der Energiezelle einer anderen Technik? Ich hielt diese Überlegungen für zu weit hergeholt. Aber das Unwahrscheinliche war gerade auf meinem Barbarenplaneten an der Tagesordnung. Innerlich hob ich die Schultern: ratlos und in steigendem Maß unsicher geworden. War es das, was das Extrahirn wollte? Von den Terminals der Kuppelgeräte kamen überspielte Grafiken, Schriftsätze und Meldungen, die keiner Rubrik unterzuordnen waren. Ich studierte sie nächtelang und versuchte, Muster und Strukturen zu erkennen, die auf einen oder mehrere »Unsichtbare« hindeuteten. Als der Schnee halbwegs weggeschmolzen war, unternahm ich mit Roquette lange Ausritte in die Umgebung und »sah nach dem Rech230
ten«. Viele Bäume, die ich als schenkelhohe Schößlinge kannte, vsaren zu stattlichen Stämmen herangewachsen. Der Mühlenweiher war zugefroren; pausbäckige und rotwangige Kinder vergnügten sich auf dem dicken Eis. Mehrmals unternahmen wir Jagden, die uns ermüdeten und die Schüsseln und Räucherkammern füllten. Etwas mehr als vierhundert Bewohner zählte das »Schöne Tal«, und immer wieder machten sich ausgebildete Handwerker auf die Wanderschaft, oder andere kamen her, nahmen eine Frau und blieben. Noch immer gab es einen verständnisvollen Abbe, einen oder zwei lehrende Magister und einen tüchtigen Dorfschulzen, der genau wußte, welchen Schutz die seltsamen Herren von Le Sagittaire dem Dorf gaben. Ich denke gern an diesen ruhigen Winter, in dem ich Zeit genug hatte, über viele Aspekte meines Aufenthalts nachzudenken. Am Schluß einer langen Kette von Gedanken war ich entschlossen, eine Expedition auszurüsten und das kleine Raumschiff aus dem Felsen am Fluß in Africa zu bergen. Zwei mächtige Haufen weißer und roter Glut verströmten Hitze. Nachtwind gurgelte und stöhnte im Kaminzug. Die Kerzen brannten mit ruhig rußenden Flammen. In langstieligen Gläsern leuchtete der Wein des guten Jahres 1609 rot wie Rubin. Ritter und Würdenträger der Wandfresken starrten mich würdevoll an. Ich hob das Glas und winkte ihnen heiter zu. Fröhliche Musik der späten Troubadoure und der zeitgenössischen Engländer und Italiener kam einschmeichelnd aus unsichtbaren Lautsprechern. Eulen knappten im Gebälk des Caches; im Wald schrien Käuzchen. Mitternacht war längst vorbei, und auch Roquette wußte, daß ich bald zurückkehren würde in ein Land, das sie niemals kennenlernen würde. Durch das halbe Stockwerk zog der Duft des Kräuterbalsams aus dem Bad. Eine Hand mit schlanken Fingern schob den Vorhang zurück. Sie trug das bodenlange Hemd mit den kostbaren Londoner Silberstickereien. Der Schmuck funkelte im Kerzenlicht mit ihrem dunkelbraunen Haar und der schlohweißen Strähne um die Wette. Ich reichte ihr das andere Glas. 231
»Schönste Schäferin von Beauvallon«, murmelte ich hingerissen. »Wie gut, daß es dich nur einmal gibt.« Sie war schlank und groß, und es brauchte weder Musik noch Kerzenlicht, mich zu verblüffen. Seit Wochen war ich ihr Geliebter, und sie schien schöner geworden zu sein in dieser Zeit. Sie trank und setzte sich auf die Felle, die über Teppich ausgebreitet waren. Ruhig betrachtete sie mich aus großen, graugoldenen Augen. »Was wäre, wenn ich ein Zwilling wäre?« fragte sie. »Doppelte Schönheit und Leidenschaft würden mich umbringen«, gestand ich. Mit vier hellen Tönen und einem dunkleren Hall mischte sich der Wandelstern-Automat in die Musik. »Wie viele Nächte bleiben uns noch?« fragte sie und leerte das Glas. Ich schenkte nach und antwortete zögernd: »Zwei Dutzend, eine mehr, eine weniger.« »Wenn ich allein bin«, bemerkte Roquette ohne Traurigkeit in ihrer dunklen Stimme, »stelle ich mir vor, wir könnten zusammenleben. Ich weiß, daß du einmal hier, einmal dort bist Du tust Dinge, die keiner weiß und verstehen kann. Lebe ich noch, wenn du wiederkommst, bin ich alt, häßlich und Mutter vieler Kinder. Der Abbe denkt, es ist Sünde, aber er sagt zu mir nichts.« »Sein vorwurfsvoller Blick verrät Neid und Sehnsucht.« Ich setzte mich neben sie. »Ich bin hier, weil ich nachdenken muß. Wahrscheinlich steht Kampf bevor... nicht hier. Wenn es Krieg gibt, dann werde ich ihn nicht ohne schwere Wunden überleben. Deswegen wird unsere Zeit ein gutes Ende haben, weil es so bemerkenswert oft ein schlechtes Ende gibt.« »Ja. Das weiß ich. Im Alter werde ich immer von uns träumen. Von den Tagen. Und von unseren Nächten, Atlan de Sagittaire.« Ich zog sie an mich. Schweigend tranken wir den schweren Wein. Die Musik wechselte für einige Dutzend Takte ins Düstere, Verhaltene. Wir küßten uns, als hätten wir uns heute zum erstenmal gesehen. Dann, nach einer langen Zeit, leerten wir den Wein mit dem gleichen Maß an Vergnügen, mit dem wir auch unsere Leidenschaft wiedere ntdeckten. 232
Fünfzehn Tage danach, als der Gleiter versteckt und mein Gepäck längst durch den Transmitter geschleust war, suchte ich stundenlang nach Roquette. Niemand hatte sie gesehen. Schließlich, weit nach Mitternacht, verstand ich und gab die Suche auf. Zwei Tage später zeigte mir ein Bildschirm in der Kuppel, wie sie schweigend durch die Räume des Schlößchens ging. Aber sie weinte nicht. Ohne daß die verstärkte Tätigkeit der solaren Flecken und der Umstand, daß die neun LarsafPlaneten wie Perlen an der Schnur eine Linie zwischen Sonne und Unendlichkeit bildeten - diese Konstellation hatte sich, wie alle 179 Jahre, auch 1624 ergeben -, den Planeten und seine Bewohner umgebracht hatten, waren neue Feldherren der Verwüstung aufgestanden. Gustavus Adolphus Rex Sueciae war einer dieser Fürsten des Schreckens. Und der Terror bewegte sich kreuz und quer durch Europa. Warum war ich geweckt worden? »Gustav Adolf rief dich, Atlan«, antwortete Ciron. »Das kleine Gerät, das Kaleidoskop, sandte den Rufimpuls aus.« »Woher?« Im Strom meiner träge dahinrinnenden Gedanken begriff ich, daß ich im Jahr 1630 des Herrn geweckt worden war. Die Menschen nannten Gustav Adolf den »Löwen aus Mitternacht«, denn Schweden lag für sie hoch im Norden. Ich war wie immer von einer Batterie summender und klickender Geräte umgeben. Langsam vollzog sich der Wiedereintritt in das bewußte und aktive Leben. »Aus Stockholm. Schweden.« »Hast du Monique geweckt?« »Noch nicht.« »Warte, bis ich mich entschieden habe«, murmelte ich und versuchte, die ersten Informationsblöcke zu verarbeiten. 1611 war Gustav Adolf nach dem Tod seines Vaters als Siebzehnjähriger zum König gekrönt worden. Mein Freund Shakespeare und sein Kollege Cervantes waren gestorben, Galilei stand vor den Befragern der Inquisition, Rußland und Schweden befanden sich im Krieg, und Sir Walter Raleigh war hingerichtet worden. Lordsiegelbewahrer und Lordkanzler lauteten jetzt die Amtsbezeichnungen Sir Francis Ba233
cons, und ein Buch namens »Neues Atlantis« fand sich nicht in den Listen der Messen und Buchhändler. Jakob von England starb 1615 und wurde durch Karl ersetzt, und ein Jahr später war Bacon (Baco von Verulam) tot. Unsere Gedanken über einen Idealstaat erschienen wiederum ein Jahr später. Kurz bevor ich einschlief, erschienen seltsame Bilder auf den Schirmen. Ein blonder Mann mit länglichem Gesicht, das Haar zur Perücke geflochten. Er sah mir auf den ersten Blick ähnlich. Groß und schlank, von schwer zu übertreffender Eleganz und exotischer, machtvoller Ausstrahlung, dunkel gekleidet. Seine Stiefel, gut knielang, trugen an den Außenseiten nicht nur Scheiden für Dolche oder Messer, sondern flache, kästchenartige Fächer oder Elemente. Der Fremde war zeitgemäß gekleidet, aber trotz meiner Schläfrigkeit erkannte ich, daß Kleidung und Benehmen einander ergänzten; sie kamen aus einer anderen Kultur. Plötzlich verschwand die Gestalt von den Bildschirmen. Ich schlief ein und träumte schlecht. »Gustav Adolf hat mich also um Hilfe gerufen«, stellte ich einen Tag später fest. »Er hat zweifellos Gründe dafür. Welche?« Wieder einmal tobte Krieg in den europäischen Ländern. Die Machtzentren lagen, wenn unsere Informationen ausreichend waren, in Wien und in Madrid, und wie nicht anders erwartet, mischten sich Unfähigkeit und Größenwahn der Gottesgnaden-Herrscher mit religiösen Gegensätzen, falsch verstandener Freiheitswille zur falschen Zeit mit falschen Argumenten. Die Versuche von Glücksrittern, ihr persönliches Geschäft mit dem Krieg zu machen, die hilflose Gegenwehr der Bauern, das alles ergab ein Geflecht, das kaum zu durchschauen war. Das gewohnte Chaos an den Brennpunkten der Barbaren-Kultur! Der Logiksektor meldete sich mit einer zutreffenden Bemerkung. »Das konnte ich noch nicht ermitteln. Du solltest zuerst den Werdegang deines Schützlings genauer erkennen.« »Ja. Eines nach dem anderen - übrigens, lasse Monique schlafen. In diesen grauenhaften Kriegswirren ist sie wohl nicht die richtige Begleitung.« Nach kurzer Überlegung setzte ich hinzu: »Falls ich mich entschließe, dem jungen König zu helfen.« 234
1611 hatte Dänemark den Schweden den Krieg erklärt. Der sogsnannte Kalmar-Krieg endete ein Jahr später, ein Krieg gegen Rußland begann. Er endete 1617. In den Jahren, seit ich ihn nicht mehr gesehen hatte, schien das Schicksal nicht gerade schonend mit Gustav Adolf umgegangen zu sein. Er mußte das Heer befehligen, kämpfte mutig wie ein Teufel, sprach auf dem Reichstag, stritt sich mit seinen Brüdern, ließ sich einen zweispitzigen Schnurrbart und einen Knebelbart am Kinn wachsen, verliebte sich in Ebba Brahe, eine Hofdame, heiratete schließlich Maria Eleonora aus Brandenburg, während seit zwei Jahren nach einem Aufstand der Böhmen der sogenannte Böhmisch-Pfalzische Krieg geführt wurde, angeblich fünf Jahre lang. Gustav Adolfs Truppen eroberten Riga, kämpften um Danzig und siegten in Livland. Der König kämpfte anschließend gegen Polen in Preußen und wurde zweimal verwundet. An diesem Punkt unterbrach Ciron die Flut seiner gesammelten Informationen. »Das ist drei Jahre her. Die Verwundung ist bedenklich. Beim Übergang über die Weichsel wurde er an der Hüfte verletzt; ein Musketenschuß. Die Wunde heilte schnell. Anfang August, vor dem polnischen Lager, traf ihn ein Geschoß in die rechte Schulter. Zwei Zoll neben der Halsschlagader blieb die Kugel im Schulterblatt stecken. Da ist sie heute noch. Dein Freund leidet erhebliche Schmerzen; er kann keinen Hämisch tragen, und zwei Finger der rechten Hand sind gelähmt.« Ich brauchte nicht lange zu überlegen und befahl: »Eine entsprechende Ausrüstung, Ciron, falls ich ihm wirklich helfe!« Der niedersächsisch-dänische Krieg löste seinen Vorgänger noch im selben Jahr ab. Was sich in diesen Auseinandersetzungen entlud, wurde mittlerweile aus Spanien, den Habsburger Landen, Paris und einigen anderen Städten gesteuert. Namen tauchten auf, aus Informationen wurden lebende Menschen: Wallenstein. Pappenheim. Tilly. Herzog Bernhardt. Eine Handvoll anderer Offiziere. Der Wahnsinn nahm Gestalt an, Farbe und unterschiedliche Bedeutungen. Ich hob schwach und mit schmerzenden Muskeln meinen rechten Arm. Die Haut war von den Solarlampen leicht gebräunt. Noch immer vertrug ich keine feste Nahrung. Aber ich konnte klar denken und reden. 235
»Diese Bilder, Ciron«, sagte ich. »Der dunkle Fremde. Faß alles zusammen, was du über ihn erfahren hast.« Nach dem Waffenstillstand zwischen Polen und Schweden zu Altmark war der Fremde zum erstenmal in der Nähe Gustav Adolfs gpsehen worden. Die Spionsonde, die von Zeit zu Zeit meinen Schützling suchte und Informationen übertrug, hatte den Fremden für die Dauer von sieben Minuten und ein paar Sekunden deutlich gesehen. Je länger ich die Aufzeichnungen betrachtete, je deutlicher ich verstand, was Gustav Adolf und der Rätselhafte miteinander gesprochen hatten, desto mehr nahm mein Erschrecken zu. Der holografische Bildschirm zeigte erstaunliche Ähnlichkeit zwischen mir und dem Unbekannten. Ich selbst, um zwei Jahrzehnte älter: Er hatte meine rötlich schimmernden Augäpfel nicht. Es war keineswegs Richelieu, der mit Gustav Adolf sprach. Der Abgesandte des Bourbonenherrschers trug keine breiten Armbänder, deren Aussehen auf technische Einrichtungen hindeutete. Daß für die deutschen Protestanten der schwedische König die Morgendämmerung des Friedens sei, dieser Satz stammte von Richelieu. Aber daß Gustav Adolf das einzige schlagkräftige Heer habe, das die Länder zwischen Moskau und dem Atlantik, den Alpen und Grönland binnen kurzer Zeit leer gefegt, befriedet und beherrscht haben würde, wagte nicht einmal der listige Franzose laut zu denken. Ich wußte von Gustav, daß sein Glaube an seine eigene Bedeutung, an die Sendung, die ihm gewissermaßen anerzogen worden war, stark bleiben würde. Wenn ein riesiges Gebiet wie jene Zone voller geschundener Protestanten den Löwen aus Mitternacht um Hilfe rief, würde sein Heer jedes Hindernis überrennen. Jeder Bewohner, wenn es sich nicht gprade um einen katholischen Heerführer, Fürsten oder Soldaten handelte, wäre binnen weniger Atemzüge ein Freund des Schweden. Dann riß die Überspielung ab. Cirons Fehler bestand darin, daß er die exotische Gefährlichkeit dieses Unbekannten nicht klar identifizierte. Der Robot meinte, es sei ein Ratgeber unter vielen. Als ich zum elftenmal Bild und Text studierte, wußte ich es genau. 236
Deine Befürchtungen haben Gestalt angenommen! sagte der Logiksektor. Ein Gegner. Steig an die Oberfläche und greife ein. Ich richtete mich mitsamt der Rückenlehne des schweren Reanimationssessels auf, griff mit unsicheren Fingern nach dem Weinpokal und sagte: »Monique bleibt hier. Ich gehe zu Gustav Adolf. Ich werde versuchen, dem Wahnsinn ein Ende zu machen. Dieser Fremde trägt Merkmale eines machtsüchtigen Androiden von Wanderer, eines Mannes aus einem Nirgendwoland. Meine Ausrüstung muß hervorragend sein und ein Höchstmaß an Schutz für mich bieten. Bereite alles vor.« »Soll ich dich begleiten? Oder Synonymus Eins?« »Ich brauche einen Wächter, der nötigenfalls mit Donner und Blitz in das Geschehen eingreift, Ciron. Stelle entsprechende Überwachungsgeräte zusammen!« »Ich denke, ich habe verstanden.« Er glitt in seiner menschlichen Gestalt leise aus dem Raum voller Bildschirme, Lautsprecher und Terminals. Auf einem Pult stand die Uhr mit den acht Zifferblättern und schlug mehrmals mit silbernem Zirpen. Ich fühlte, wie mich eisige Kälte erfaßte, ein untrügliches Zeichen kommender Schwierigkeiten und Gefahren. Meine Alpträume schienen wahr geworden zu sein. Abermals ließ ich die aussagekräftige Aufzeichnung ablaufen. »Ich bin aus Sarpedon im Meer von Karkar. Manche, die ich besiegt habe, nannten mich Nahith Nonfarmale. Aber ich habe viele Namen.« Als letzter Eindruck blieb das Bild des königlichen Arbeitszimmers auf den Schirmen stehen. Ich flüchtete mich wieder in einen tiefen Schlaf und die nächsten Stationen der Wiederbelebung. Immerhin vertrug ich bereits leichten Wein. Indessen hatte alles eine neue Dimension erreicht. Ich, Admiral und Kosmostratege, rüstete für eine aufgezwungene Mission inmitten der Wirren, die sich über Deutschland ausbreiteten. Der wirtschaftliche Niedergang dieses Landes rief den politischen Untergang hervor. Und umgekehrt. Beschränkte und engherzige Herrscher vermochten 237
nicht für Recht und Ordnung zu sorgen. Die Zeit war auch ohne Kriegshandlungen grausam; jetzt aber vsaren Schändung und Mord, Raub, Hungersnot und Folter, Seuchen und Verwüstungen dort, vso die Heere zogen, alltäglich. War bisher das alltägliche Leben der Menschen ähnlich verlaufen, jetzt erlebten sie die Greuel hautnah und dauernd. Grausamkeit war allen Menschen gegenwärtig: harte Richter, faulender Unrat überall und unzählige Galgen, an denen Gehenkte von schwarzen Aasvögeln zerstückelt wurden, feuchte Häuser und Fürstenhöfe, die im äußersten Prunk lebten. Die Basis dieser makabren Pyramide, der einfache Bauer, blieb rechtlos und versklavt. Deutschlands zentrale Lage, sein Straßennetz mit den Handels-Knotenpunkten Frankfurt am Main, Leipzig, Augsburg, Frankfurt an der Oder und Nürnberg, war für dieses Land ein zusätzliches Verhängnis. Der Handel war bisher Deutschlands Wohl gewesen. Nunmehr verarmten die unzähligen kleinen Ländchen, in die das Gebiet zersplittert war. »Gustav Adolf ist viel zu klug, als daß er im Winter nach Deutschland übersetzen und mit einem frierenden Heer kämpfen würde«, behauptete Ciron. »Du solltest dich darauf vorbereiten, ihn im Norden Deutschlands zu treffen.« »Ich überlege, ob ich als einsamer Reiter oder in einer anderen Maske sicherer bin.« Mittlerweile stapelte sich die Ausrüstung. Während ich die Karten studierte, eine Vielzahl aktueller Bilder aus dem verschneiten und eisigen Europa ansah, trainierte ich meinen Körper und beschäftigte mich mit Möglichkeiten, diesen Irrsinn zu beenden. Bald sah ich ein, daß es wieder darauf hinauslief, daß man, von der Spitze ausgehend, die Veränderungen mit harter Entschlossenheit herbeiführen müßte. Norddeutschland war von Wallenstein und dem Feldherrn Tilly mterworfen worden, lag also in der Hand der Katholiken. Sie schikanierten folgerichtig die Protestanten. Stralsund war lange von Wallenstein belagert und dennoch nicht eingenommen worden. Es blieb halbwegs unabhängig, de facto in der Hand der Schweden. Der Kurfürstentag in Regensburg, ein Beispiel der Uneinigkeit, des Beharrens auf eigener Macht, dabei beeinflußt und durch Verspre238
chen erzwungen aus den Machtzentren Habsburgs, Frankreichs s> wie vielen anderen Einflüsterungen, schloß damit ab, daß Wallenstein entlassen werden sollte. Tilly wurde zum Oberbefehlshaber des Kaiserlichen Heeres gemacht. Der Astronom Kepler, an dessen Wahrsagungen Wallenstein geglaubt hatte, lebte nicht mehr. Schon jetzt flüsterte man vom Schwedischen Krieg. »Was immer du wählst«, erklärte Ciron, »es bleibt gefährlich.« »Und das bringt mich zur Auswahl eines versteckten, nicht gerade winzigen Stützpunkts. Ich muß beweglich bleiben und mich schnell zurückziehen können. Überdies werde ich wohl bald das Objekt allgemeiner Suche sein; von Söldnerhaufen und anderen.« »Ich habe die Daten etlicher trockener Höhlen gesammelt.« Ich pfiff durch die Zähne. »Das klingt gut. Du wirst in der Mitte dieses unglücklichen Landes ein Versteck finden und einrichten. Zieh die Maschinen aus Beauvallon ab!« »Es dauert ein paar Tage.« An den halbrobotischen Maschinen trainierte ich weiter. Ich lief die weichen Stiefel ein, probierte lange Dolche, unzerbrechliche Efegen und zahlreiche Schußwaffen aus, studierte Landkarten und \ersuchte mich in dem unentwirrbaren Geflecht derjenigen Beziehungen und Abhängigkeiten zurechtzufinden, die diesen jetzt schon zwölfjährigen Krieg verschuldet hatten. Daß sich in seinem Gefolge Seuchen ausbreiteten und die Bevölkerung halbierten, war anderen Umständen zuzuschreiben - ich kannte sie alle und kämpfte seit Jahrhunderten für eine Änderung. Warum hatte mich Gustav Adolf um Hilfe gerufen? Wer war der exotische Fremde? 239
7. Die Natur erschreckte mit auffalligen Vorkommnissen und seltsamen Katastrophen. Die Winter waren in einigen Gebieten so warm, daß die Bäume blühten. Aber dafür überzog mitten im Sommer klirrender Frost manche Landschaften, vernichtete die Ernte und tötete Menschen und Vieh. Nahe Bamberg dröhnten die Eingeweide der Erde, und ein schweres Beben versetzte einen Berg, auf dem an fränkischen Reben saurer Wein wuchs. Eine Springflut in Hamburg, die stärkste seit sieben Jahrzehnten, zertrümmerte Schiffe und Häuser, ersäufte Mensch und Tier. Über Odenburg sah man drei Sonnen am Himmel, nach Sonnenuntergang einen riesigen Regenbogen. Endlose Regenfluten und Gewitter von nie gekannter Wildheit zogen über das Land. Pest und ihre nicht weniger tödlichen Verwandten tobten sich aus und ließen leere Häuser und volle Friedhöfe zurück. Unweit von Fulda, in einem der ärmsten Landstriche, entfernt von den wichtigen Straßen, erstreckte sich die Höhle unter einem namenlosen Berg. Im harten Licht der Strahler erkannte ich, daß der Boden aus Sand bestand und trocken war. Die Maschinen faßten die unterirdische Quelle und leiteten sie ab. Auf einer unregelmäßigen Plattform aus Metallgittern lag ein isolierender, hochfloriger Belag, auf dem wiederum, wie ein paar Inseln, einzelne Elemente der »Einrichtung« standen; Bad und Hygienekabine, eine kleine Kochgelegenheit, die geöffneten Container voller Ausrüstung und Tische, Sessel und Liegen. Energieblöcke befanden sich entlang der Höhlenwände; Wassertanks, Heizung und der Transmitter fehlten ebensowenig wie Geschirr und andere Kleinigkeiten, die ich zum Überleben brauchte. Der Gleiter war von Beauvallon hierhergebracht worden, ebenso sah ich dreidimensionale Landkarten auf Stellwänden am Rand der Wohnplattform. Ich drehte mich halb herum, nickte Ciron zu und lobte: »Ausgezeichnet. Der Ausgang ist sicherlich versteckt und den Eingeborenen unbekannt.« 240
»Es wäre ein Zufall, wenn sich jemand dorthin verirren würde. Überdies habe ich drei Sperrschirme angebracht.« Ich sah auf den Bildschirmen mehrere Spionsonden, die Steuer^- räte und die Bildschirme mit den Speichern. Ciron hatte für alles gpsorgt. Auch ein Teil meiner persönlichen Ausstattung befand sich im Schutz der Höhle. Ich war bereit. Ich konnte die Maske des reisenden Magisters der Wissenschaften anlegen und mitten in Deutschland auftauchen. Mein erster Gang, Ritt oder Flug würde mich zu Gustav Adolf fuhren. An diesem Maitag strahlte die Sonne am wolkenlosen Himmel. Ich ließ den Gleiter bis über die Wipfel der Bäume steigen und schaute mich um. So weit ich sehen konnte, stand die Natur in gesundem Grün. Jenseits des dichten Waldes gab es Felder, Weiden und ein paar kümmerliche Häuser. Wenn Gustav Adolf das Land betrat, gpschah es hoch im Nordost, von hier aus gesehen. Ich beendete gegen Mittag den Rundflug, den ich nachts wiederholen würde. Hier, fernab aller Straßen und Brücken, merkte ich nichts von den Greueln des langen Krieges. Ich steuerte die schwere Maschine zwischen den riesenhaften Wurzeln eines Baumes und durch den Felsspalt, ließ sie im Schacht absinken und stellte sie außerhalb des Lichtkreises in der kühlen Höhle ab, die nach frischem Wasser und Wurzelwerk roch. Die flackernden Bilder der Schirme riefen farbige Reflexe an den zerklüfteten Höhlenwänden hervor. Ich ging mit me inen weichen, wasserdichten Stiefeln durch den Sand und kontrollierte die Geschehnisse. Torquato Contis Truppen, noch von Wallenstein dirigiert, lagen von Hinterpommern bis Mecklenburg, in Wismar, Rostock, Greifswald, Kolberg und als Eingreifreserve in Garts, Greifenhagen, Stralsund und Stettin. Ich betrachtete kopfschüttelnd die Lager. Auf einen Soldaten kamen eine Frau und ein Troßbube. Fünf Diener versorgten einen Leutnant, mindestens fünfzehn von ihnen kümmerten sich um das Wohl eines Obristen. Gab es viel Beute, kamen weitere Diener als Träger dazu. Bauernmädchen, unterwegs geraubt, trieben sich zwischen den Zelten herum, entführte Kinder vegetierten in unfaßbarem Schmutz dahin, es gab Marketender und Hausierer, 241
Quacksalber, Streuner, Hebammen und Neugeborene; an jedem Tag einen zusätzlichen Bewohner des Lagers. Die Kanoniere bildeten eine Art verschlampter und hochfahrender Elitetruppe. Knechte und Diener versorgten die schweren Gespanne und die Zugpferde. Kriegsdirnen und die teuer entlohnten Stückmeister waren innerhalb des Heeres eine mächtige Gruppe und sonderten sich von dem gewöhnlichen Kriegsvolk ab. Essen und Getränke für die Menschen, Futter für die Pferde, Abfalle für die Hunde, Nachschub für dreiundfünfzig Tausendschaften und deren lärmenden und betrunkenen Anhang wurde aus der Umgebung requiriert. Der Ausdruck Chaos beschrieb den Zustand dieser »Streitkräfte« übrigens aller anderen außer den Schweden - höchst unvollkommen. Meine Unruhe und Besorgtheit wuchsen. Obwohl die Spionsonden an vielen verschiedenen Orten schwebten, hatten sie Nonfarmale kein drittes Mal sichten können. Weder in der Nähe Gustav Adolfs, der sein Heer in Bewegung setzte, noch bei Wallenstein zeigte sich der Exot. Ich ließ mir bewußt Zeit und lud bedächtig Vorräte und Ausrüstung in den Gleiter, testete dessen Schutzeinrichtung und die verschiedenen Systeme, mit denen ich mein Überleben zu garantieren gedachte. Auch die redundant angelegte Fernsteuerung arbeitete mit gewohnter Zuverlässigkeit. Ich machte über Bildschirme und Lautsprecher die Bekanntschaft mit einem der großen Verwüster der Länder, mit dem Oberbefehlshaber des eigenen Heeres und der Kaiserlichen Truppen, Fürst Albrecht von Wallenstein. Man schrieb auch: Waldstein, Wahlenstein oder anders. Seine Soldaten, die jetzt wohl bald Tilly befehligen würde, kannte ich schon. Jetzt beobachtete ich einen gichtkranken Mann mit schwärendem Bein, dem gemeinen Volk entrückt und gegen Lärm allergisch, ein Zyniker der Macht und sternenschicksalsgläubig, der im Luxus lebte, eines Kaisers würdig. Eine vage Gestalt, ein Name und Begriff, wuchs und rundete sich zu einer menschlichen Person. Mein Bemühen, ihn kennenzulernen, wuchs keineswegs. Aber auch Wallenstein 242
schien unter dem Einfluß eines Dämons zu stehen; meine Sorge nahm zu. Durch einen Zufall fing eine Spionsonde in den Niederlanden hieß die Stadt Leyden oder Weiden? - ein unfertiges Bild auf. Der Maler nannte sich Gerrit Dou. Ich konnte nicht glauben, was ich in feuchten Ölfarben auf der Leinwand sah. Es schien ein Gemälde des Fremden zu sein. Es gelang Rico, das fertige Bild zu stehlen und einen Beutel Goldmünzen an der Staffelei zu deponieren; eine Stunde später schwebte die vergrößerte Holografie im Halbdunkel meiner Höhle: Der Fremde schwebte in großer Höhe entlang der Küste, saß mit lang ausgestreckten Beinen in den schweren Steigbügeln auf dem Rücken eines Tieres, das wie ein Flugsaurier aussah. Ich zweifelte nicht daran, daß es solche Schreckechsen in der Vorzeit von Larsaf Drei gegeben hatte, und ich kannte die geschuppten, lederhäutigen Riesen von anderen Welten. Die Echse mit langen Sichelschwingen besaß die Größe eines Bauernhauses. Der lange Schwanz wirkte als Balanceruder. Der Schädel lief in einen Hammerkopf und einen ebenso langen, nach vorn gpkrümmten Schnabel aus, in dem viele Doppelreihen spitzer Zähne glitzerten. Rostrot und schwarz waren die Farben dieses Fabelwesens. Der Reiter beugte sich weit aus dem Sattel, schirmte die Augen mit der flachen Hand und schien nach Gustav Adolfs Schiffen Ausschau zu halten. Die Riesenechse zog einen Kreis über dem Strand, den Nadelwäldern und den winzigen Wellen. Das Bild warf mehr Fragen auf, als ich in den schlimmsten Phantasien zu beantworten wagte. Sah ich Gespenster? Ein Reiter auf einer Flugechse? Saums, so lautete die griechische Bezeichnung. Hatte sich der Planet in einen Tummelplatz für Fremde verwandelt? Ein furchtbarer Verdacht nahm ein bißchen mehr Gestalt an. Drei Tage später versteckte ich den Gleiter unter einem Sandhügel, aktivierte die Antigravelemente im Sattel und zog ihn samt den schweren Doppeltaschen und den zeitgemäß aussehenden Waffen hinter mir her. Ich näherte mich den Vorwerken der Stadt Stettin und kaufte um teures Geld zwei Pferde, von denen ich glaubte, sie wären kampfer243
probt. Ich fand einen Stall und zahlte einen Pferdeknecht, der mir half. Wir wuschen die Felle, kämmten die Mähnen und Schweife, ich injizierte aufbauende Stoffe gegen Infektionen und Mangelerkrankungen. Nachdem die Tiere frisch beschlagen waren, sattelte und zäumte ich sie und ritt auf die Stadt zu. Ich fand eine Unterkunft und wartete neun Tage lang auf den Schweden. In dieser Zeit studierte ich Schriften, die Neuigkeitenblätter, in denen meist wortreiche, aber dennoch zutreffende Informationen vermittelt wurden; schließlich erlebte ich, wie Gustav Adolf mit dem erwarteten Spektakel seinen Fuß auf das Land der unterdrückten Protestanten setzte. Auf dem Strom ankerten zwei lange Reihen flachgehender Landungsschiffe. Darüber erhoben sich die Oderburg und die Mauern, hinter denen sich Stettin versteckte. Zwei Kanonenschüsse dröhnten auf; ein Signal. Gustav Adolf stieg aus, rutschte auf der Planke aus und tat so, als beuge er ehrfurchtsvoll das Knie. Der König trug ein graues Soldatenkleid. Ihm folgten prächtig geschmückte Offiziere, die ich nicht kannte, und zwei Kompanien Bewaffneter. Schwedische Agenten hatten die Bevölkerung vorbereitet. Obwohl die Bürgerwehr und eine Garnison unter Oberst Damitz, also gegnerische Kräfte, in der Stadt lagen, strömten die Stettiner durch die Tore und drängten sich um den König und seine Soldaten. Während ich, an die Mauer des Turmes gelehnt, auf Gustav wartete, betrachtete ich ihn durch mein Fernrohr. Noch immer überragte er alle Männer seiner Umgebung. Leichter Wind zerrte an seinem rotblonden Haar und Bart. Den Kopf mit der Hakennase reckte Gustav vor und blinzelte mit blauen Augen, die groß, aber kurzsichtig waren. Er hielt sich gerade, bewegte sich geschickt und schnell, obwohl er recht korpulent geworden war. Gustav trug nur einfaches graues Tuch, ein Elchlederwams und eine rote Schärpe. Seine Soldaten, die den Offizieren ßlgten, machten einen unerhört tüchtigen Eindruck. Ihre Kleidung bestand aus blauen und roten Stoffen, die Männer trugen einwandfreies Schuhwerk oder gute Stiefel. Helme, Halbrüstungen, Waffen und Piken sahen aus, als kämen sie aus einer einzigen 244
Waffenschmiede. Die Männer, denen die leichten Geschütze auf Lafetten folgten, bewegten sich mit gelassener Kampfbereitschaft. Zwei Kompanien folgten Gustav Adolf, der den Weg zur Burg einschlug und das Fernrohr aus der Rocktasche zog: mein Geschenk, das goldene Kaleidoskop. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, fühlte den Druck des Zellschwingungsaktivators und nickte lächelnd den Wachen zu, die ihre Waffen präsentierten. Ohne schwer zu atmen, sprang Gustav Adolf auf die Plattform, blickte durch die Linsen auf Stettin und auf den glanzvollen Aufmarsch der Soldaten, auf seine Schiffe und die Stadtmauern. Er senkte schließlich das Fernrohr, nickte nacheinander den Umstehenden zu, dann fiel sein Blick auf mich. »Allergnädigste Majestät, König von Schweden. Oder hören Sie lieber von mir den alten Namen Gosta? Ihr habt gerufen, König. Hier bin ich«, sagte ich. Er starrte mich an, zögerte, zuckte zusammen und kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Ratlosigkeit stand in den Gesichtern seiner Begleiter. »Comte Atlan. Aus Sagittaire. Woher... ist gleich. Ich freue mich, Atlan. Mein Freund!« Vorübergehend verlor er etwas von der königlichen Gemessenheit. Wir umarmten uns, er preßte mich an seine breite Brust und schlug mir auf den Rücken. Dann sagte er leise: »Ich muß diesen Leuten erst erklären, daß ich ihre Stadt nicht berenne. Komm mit vor die Mauern. Wie hast du hierhergefunden?« »Ich bin höchst ungeduldig, Sire«, sagte ich ironisch, »den Grund Eures Rufes zu erfahren. Es klang dringend, als wäre Euer Leben in Gefahr.« Gustav wurde ernst. Er nickte nachdenklich. »Das, Freund Atlan, wirst du heute abend in meinem Zelt erfahren. Laß mich meine christliche Aufgabe zu Ende führen.« Ich gestattete mir ein Lachen. »Zu Ende? Ihr seid erst am Beginn, Gustavus Rex.« Er wußte es, beabsichtigte aber nicht, hier mit nur darüber zu debattieren. Sein erstes Ziel hieß Stettin, und er bewies sogleich, daß er alles zu Ende dachte und auch zum Ende führen wollte. Er winkte 245
seinen Offizieren, die Feldzeichen schwenkten herum, und der gesamte Zug bewegte sich hinunter zu den Stadttoren von Stettin. Ohne Eile schlenderte ich hinterher, musterte die Soldaten und schätzte Menge und Leistungsfähigkeit des Heerhaufens. Ab und zu schnappte ich Bemerkungen auf, die meine Schätzungen genauer werden ließen. Sechsundfünfzig Schiffe, sechzehn Schwadronen Reiterei und zweiundzwanzig Kompanien Infanterie, dazu eine große Anzahl bespannter Lafetten und Geschütze; insgesamt dreizehntausend Mann. Aber, so meine Gedanken, einer von ihnen wog drei oder vier aus dem kaiserlichen Lager mühelos auf. Schotten und Deutsche, dazu Angeworbene anderer Nationalität, waren im Heer vertreten, aber der Kern bestand aus Schweden. Ich bemerkte rasch, daß sich Gustav Adolfs Heer als ein geschlossener Organismus verstand, als nationale Einheit. Die riesigen, muskelstarrenden Südschweden, helläugig und blond, marschierten ebenso geschlossen und mit ernsten Gesichtern wie die schlanken Finnen und die dunkelhäutigen Lappländer, die ihre zotteligen kleinen Pferde mitgebracht hatten. Zweimal täglich, erfuhr ich, wurde gebetet. Gustav Adolf aber verehrten sie wie ihren persönlichen Gott. Vor dem Stadttor verließ ich den Wald aus Helmspitzen, Piken und Musketenmündungen und wartete abseits. Leutselig und lebhaft sprach Gustav mit den Stettiner Bürgern. Allmählich begriffen sie, daß er in freundlicher Absicht gekommen war, daß ihm ein unblutiger Sieg allemal lieber war als ein Gefecht. Aus der Stadt kam ein Bote, ein Trompeter, der in sein Instrument blies und einen langgezogenen Ton erzeugte. Das Tremolo verriet seine Aufregung. Er sprach mit den Offizieren und richtete ihnen aus, daß das Heer die Stadt nicht zu betreten habe. Der König erwiderte, er würde nur mit seinesgleichen verhandeln. Der Bote rannte zurück, eine Weile später kam Oberst von Damnitz mit seinen Offizieren. Gustav deutete auf seine Geschütze, die ihre Rohre auf die Stadttore richteten. Schließlich schleppte sich der bierbäuchige Herzog Bogislaw zu uns, sprach lange mit Gustav und rief resignierend: 246
»Nun, in Gottes Namen!« Die Tore öffneten sich, die Schweden zogen ein und fingen an, die Stadt in angemessenen Verteidigungszustand zu versetzen. Oberst von Damnitz und sein Heer traten geschlossen in schwedische Dienste. Staunend bahnte ich mir durch die Volksmenge in den Gassen den Weg in meine Unterkunft. Erst am nächsten Tag sollte der offizielle, feierliche Einzug Gustav Adolfs stattfinden. Am späten Abend eskortierte man mich zu seinem Zelt. Ich trat ein, zog schwungvoll meinen Federhut und zog den rechten Handschuh aus. »Willkommen, Freund! Setzt Euch, Comte Atlan!« Er sprang auf und zeigte auf den Tisch und die Feldsessel. »Ich habe, um die Wahrheit zu sagen, nicht hoffen dürfen, daß der einzige Freund aus meinen frühen Jahren kommt, wenn ich ihn rufe.« Ein Diener nahm mir Mantel, Hut und Handschuhe ab und hängte meine Waffen an die Zeltstange. Ich setzte mich und versuchte im Lichtschein vieler Kerzen zu ergründen, was in Gustav Adolf wirklich vor sich ging. »Einst sprachen wir darüber«, eröffnete ich die Unterhaltung, die im Zeichen kühler Befangenheit stand, »daß der einzige Sinn für Schweden darin bestünde, die Grenzen zu sichern, Frieden mit den Nachbarn zu schaffen und Wohlergehen für ein wachsendes Volk. Was treibt Euch, König Gosta, in den Kampf mit den Kaiserliche n?« »Es sind drei Schritte: Ich rette den deutschen Protestantismus, vertreibe die Wallensteinschen Truppen von den Gestaden der Ostsee und verhindere, daß sie wiederkommen. Das fordert mein Gott von mir.« »Er hat es Euch, Sire, sicherlich selbst mitgeteilt und sich dazu eines Mannes bedient, der sich Nahith nennt und von Inseln kommt, die antike Schriftsteller schilderten. Ist es nicht so?« Wir tranken starkes Stralsunder Bier. Von draußen hörten wir ein Lied, zur Laute gesungen. »Haffo, Guisbert, mein Barde.« Gustav führte eine indifferente Geste aus. »Ich betrachte Nonfarmale nicht als Gottesboten. Nein! Er redete von dem, was ich dachte. Zuerst erschrak ich und meinte, 247
Euch, Atlan, vor mir zu haben. Im Gegensatz zu ihm aber seid Ihr jung geblieben. An Jahren zumindest.« »Euer Liebden wissen, wie wohl Salzwasser, Sonne und viel Schlaf tun«, entgegnete ich. »Warum der Notruf, mein Freund?« Er sah sich um, als belausche man uns. Er senkte seine Stimme und erklärte: »Weil ich nicht weiß, ob ich recht tue. Der eine rät mir dazu, der andere ab. In mir spüre ich, was mein Glaube mir gebietet. Sehe ich die furchtbaren Wunden, die der Krieg schlägt, zweifle ich daran. Der Wunsch, Schweden zu sichern, streitet mit der Gefahr, die von diesen Küsten für mich ausgeht. Noch kann ich an der Spitze des Heeres kämpfen. Was aber geschieht, wenn mich wieder eine Kugel trifft?« »Ich werde deinem Feldscher helfen«, ich zeigte auf seine Finger im ledernen Schutz, »die Kugel, die dich quält, schmerzlos zu entfernen.« Wir sprachen jetzt in den alten, vertrauten Formen; niemand hörte uns. »Du würdest es wagen, was Magister Acker Gabbo nicht riskiert?« Gustav schien verwundert und erleichtert zugleich. »Nicht nur das. Ich wage noch Gefahrlicheres«, gab ich zu. »Ich wage dem Löwen aus Mitternacht, wie dich die begeisterten Protestanten nennen, zu widersprechen.« »Du darfst es, Freund Atlan.« »Ich sehe, daß du älter und klüger geworden bist.« Ich tastete mich vorsichtig an die Probleme heran. »Deine Soldaten, wenn du sie weiter im Zaum hältst, sind eine hervorragende Truppe. Du wirst viele Siege erringen und viele Krüppel nach Schweden schicken. Und der Krieg wird auch dich fressen. Deine kleine Tochter Christina freut sich schwerlich, wenn du sie zur Waise machst. Ich weiß, was du und Oxenstierna für euer Land getan habt; nicht einmal ich hätte es besser gekonnt. Du solltest, nachdem du die Wallensteinschen - bald wird ihn Tilly als Feldherr ablösen, wußtest du das? - vertrieben und die Landstriche gesichert hast, zurücksegeln nach Stockholm.« Gustav senkte den Kopf. Nach einigen schweren Atemzügen brachte er die Antwort heraus. »Das sollte ich wohl besser tun.« 248
»Es streiten sich zu viele Herrscher. Wer entscheidet, welche Religion die richtige ist? Truppen ziehen durch das Land und hinterlassen dem Sieger eine Wüstenei, verarmt und voller Krüppel und Kranker. Willst du dieses Land wirklich beherrschen?« Ratlos hob er die Schultern. Ich versuchte, den Schweden davon abzuhalten oder wenigstens den Schaden klein zu halten. »Ich werde zunächst die Küsten sichern. Atlan. Und dann wird’s in der Hand des Schöpfers liegen, was geschieht.« »Wie so oft. Sag mir, wann du bereit bist für die Kugel in deinem Schulterblatt, Gustav.« »Sprich mit dem Medicus, bitte!« »Wo finde ich ihn?« Gustav versprach, den Acker Gabbo zu mir zu schicken. Dann fragte er, ob ich mit ihm und dem Heer mitreiten wollte. Ich wußte es selbst nicht und versprach, die nächsten Tage in der Stadt zu bleiben. Gustav war unruhig und raschelte mit Papieren auf dem Arbeitstisch. Ich stand auf und nahm seine Hand. »Ich wünsche dir viel Glück, Gosta«, sagte ich leise. »Möge der Kampf kurz und der Sieg leicht werden.« »Das hoffen wir alle!« Ich verließ das Lager und ging zurück in die Stadt. Ratlos und hektisch hatte sich der schwedische König verhalten, als habe er für seine Pläne nicht mehr viel Zeit und wisse dies. Wahrscheinlich hing es auch mit dem Umstand zusammen, daß Schweden ein armes Land blieb und keineswegs für viele Soldaten regelmäßigen Sold aufbringen konnte. Obwohl die Todesstrafe für Übergriffe auf Spitäler, Schulen und Kirchen und deren Insassen und Beschäftigte stand, würde auch Gustav Adolfs sonst so diszipliniertes Heer zu plündern anfangen. Am nächsten Vormittag besuchte mich Acker Gabbo, ein hochgewachsener Südschwede, der den unverfänglichen Teil meiner medizinischen Ausrüstung mit Verwunderung musterte. »Ihr wollt tatsächlich diesen Eingriff wagen, Magister de Sagittaire?« Ich demonstrierte an seiner Schulter, wie die steckengebliebene Kugel ertastet, der Schnitt gesetzt, die Kugel herausgeholt und die Haut vernäht werden konnte. Er meinte, daß der König vor Schmerz249
zen brüllen und wild um sich schlagen würde, dann gestand er, fast verschämt: »Einen Magen habe ich schon einmal geöffnet. In Stockholm, und der Mann lebt noch heute. Ich bin stolz darauf; es hat einen solchen Schnitt noch kein anderer gewagt.« Da derlei Operationen ausnahmslos ohne Betäubung, bestenfalls während einer Bewußtlosigkeit oder im Rausch des Unglücklichen erfolgten, blieb das Risiko horrend groß, fch berichtete dem Feldscher, daß in anderen Ländern ein Mittel erfunden worden sei, das seine Opfer betäuben konnte. Am Ende unseres Gesprächs schien er zu bedauern, daß es für ihn noch nichts zu tun gab. Magdeburg, die Stadt und wichtigste Festung der Ebe, hatte sich dem Diktat des habsburgischen Kaisers widersetzt. Man sagte, es sei die reichste Stadt Deutschlands. Wer diese Feste besaß, konnte entweder behaupten, daß sich das wahre Christentum durchgesetzt habe oder daß er den richtigen Glauben verteidigte. Beide wollten Magdeburg besitzen: Gustav Adolf und der greise Kaiserliche, Feldherr Tilly. Von Stettin aus zog Gustav Adolfs Heer, durch Söldner vergrößert, nach Magdeburg und setzte den ehemaligen protestantischen Administrator der Stadt, Christian Wilhelm, wieder ein. Er versprach, das Bistum mit Hilfe der Schweden zu verteidigen. Das Volk fürchtete sich vor Tillys Gegenzug; während der Inthronisation auf dem Bischofsstuhl flatterten riesige Rabenschwärme krächzend über der Stadt, während über den blutrot beleuchteten Eibwellen die Sonne in den phantastischsten Abbildern kämpfender Wolkenheere unterging. Da Gustav Adolf in den kleinen Scharmützeln, dem Vorrücken, den vielen Vertragsverhandlungen und dem Versuch, sein Heer zu überwintern, an mir wenig Interesse zeigte, versuchte ich die anderen Fürsten und Feldherren kennenzulernen. Ich reiste weit; im Sattel und oft auch im Gleiter. Durch einen Zufall war ich auf den Einsiedler gestoßen; wir trafen uns, nachdem ich mit der Armbrust ein Reh erlegt hatte und den Himmel absuchte. Der alte Mann in seinen abgerissenen Kleidern 250
sammelte Bucheckern und Pilze. Nördlich meiner Höhle war es, im Sommer 1631, und seit dem ersten Treffen besuchte ich Malte, gpnannt Uhlenhorst, in unregelmäßigen Abständen. Das nächste Dorf war zwei Tageswanderungen entfernt. »Ich sage dir, Arkon«, brabbelte er, »ich werde es nicht mehr erleben. Ich hab’s gesehen!« »Was hast du gesehen?« Er bewegte kichernd die Zehen in den weichen Schuhen, die ich ihm geschenkt hatte. Am meisten freute er sich über eine dicke Unschlittkerze, die im Hintergrund seines Unterschlupfes brannte. »Alles, Weißhaar. Zwanzig Jahre wird’s noch dauern. Das Land wird zur Wüste. Aber nicht überall. Hier nicht.« »Woher weißt du das alles?« fragte ich. Der Wein im großen Efeckelkrug war noch nicht zu Essig geworden. Wir drehten Holzbecher in unseren rußigen Fingern. Uhlenhorst hatte seit fünfzehn Jahren, erzählte er mir, dieses Loch nicht verlassen. Sein weitester Weg führte bis zu den Eichen auf dem Hügel, eine Stunde weit zu Fuß. »Ich hab’ ’s Gesicht. Das Zweite Gesicht, Arkon«, brummte er und leerte den Becher. »Im Halbschlaf sehe ich alles. Die Schweden und die Kaiserlichen, den bösen Böhmen und die Spanier. Tausendmal tausend Höfe brennen. Die Weiber, geschändet und totgeschlagen. Die Soldaten graben unter den Häusern nach Geld und Gold.« »Und das siehst du, Malte Spökenkieker?« »Das erlebe ich alles. Nur wenn ich tief schlaf, hab’ ich Ruhe vor den Bildern.« »Und du kennst auch die Namen, die Feldherren?« »Alle. Gustav Adolf, der Wasa. Wallenstein und Pappenheim, Bernhardt und Arnim, den Hansjörg, den bayrischen Max und seinen Freund, den Tilly. Keiner wird lange leben. Der Krieg schlägt sie alle tot.« Natürlich war ich verblüfft, auch über seine Erklärungen, die den einfachsten Nenner ausdrückten. Woher er sein Wissen bezog, wußte er selbst nicht. Es flog ihm in Wachträumen zu; mit einigen Prophezeiungen hatte er bestürzend genau recht behalten. Malte kratzte sich 251
im Nacken und unter den Achseln, schob ein Scheit ins knisternde Feuer und hielt mir den Becher entgegen, als ich den Krug hob. »Bringst du wieder Wein, wenn du kommst?« »Ja, aber ich weiß nicht, wann ich dich wieder besuche«, antwortete ich leise. »Du bist gesund?« »Ich spür’ manchmal das Zipperlein«, gestand er. »Weißt du, daß die Kaiserlichen das arme Magdeburg nehmen werden? Tod, Elend, tausendfaches Verwunden wird’s haben, Arkon.« »Wann?« »Ich weiß es nicht. Bald, sag’ ich dir. Sie sind innen faul und taub, die Bucheckern. Nicht einmal die Wildsäue werden satt in diesem Jahr. Ein böses Zeichen.« »Ich werde dir berichten, was ich gesehen habe; draußen im Land«, versprach ich, von seinen dunklen Vorhersagen tief beunruhigt. Im anbrechenden Abend, als Uhlenhorst eingeschlafen war, schob ich die Felle im Loch des gemauerten Höhlenvorbaues zur Seite und machte mich auf den Heimweg. Am 30. Mai 1593 wurde Christopher Marlowe, Dichter und Dramatiker, in einer Südlondoner Kaschemme bei einer Messerstecherei tödlich verletzt. 1616 starb Master Will, William Shakespeare, Handschuhmachersohn, zuletzt »Groom of the Chamber« in Stratford-onAvon. Marlowes Doctor Faustus, aufgeführt im Rose Theatre, wurde 1588, nach Tamburlaine the Great, uraufgeführt; das Theaterstück über Timur i Lenk zählte auch Master Will zu den Zuschauern. Er spielte damals am Globe Theatre. Mir hatte Shakespeare erzählt, daß er Marlowes Kunst bewunderte. Beide waren 1564 geboren worden, und schon nach Shakespeares Tod hatte selbst ich von Gerüchten gehört, daß Francis Bacon, Edward de Vere, Bari of Oxford oder Lord Derby Wills Dramen geschrieben hätten. Ich wußte es besser. In den Nischen des »Erinnerungsraumes«, wo Jeanne d’Arcs Kettenhandschuh ebenso ihren Platz gefunden hatte wie viele andere Zeitzeichen, lagen zwei vollgekritzelte Hefte. Eines trug den Titel Comedy of Errors. Eine andere versiegelte Vitrine enthielt Gutenbergs wertvolle Bibel und Friedrich von Spees Cautio criminalis, ein 252
Buch zur Verteidigung der sogenannten Hexen, 1631 anonym im deutschen Rütteln gedruckt und von mir und Rico entziffert. Offensichtlich waren Master Wills Manuskripte unauffindbar; ich wußte, daß er seine Spuren - unbewußt! - auszulöschen und hinter seinem erstaunlichen Werk zurückzutreten versuchte; für mich war er Oberon und Ariel, Shylock, Lear und Macbeth gewesen, Hamlet und Romeo and Juliet - jenes Märchen vom italienischen Wegelagerer, das ich dem »Schwan von Avon« erzählt hatte. Tot, begraben, zu Asche zerfallen. So wie Martin Luther, der mit 21 schon Professor war... »In mein gantz Leben hab ich khein armada gesehen, deren all nothwenige requista von größerstem biß zum geringsten auf einmal totaliter abgehen, sintemahl khein Artigleria-Pferde, khein einzig Officirer, khein Stückhe so zue geprauchen, khein Pulver, Kugeln, Hackhen und Schauffein, khein geldt noch Proviandt vorhanden ist.« Dies schrieb Johann Tserklas Graf von Tilly in Mecklenburg, als ihm Wallenstein den Nachschub aus Friedland verweigerte. Seine Soldaten liefen davon und erhofften sich im Heer von Arnim besseres Leben. Pappenheim, der Stellvertreter Tillys, drängte: Magdeburg, reich und voller Vorräte, konnte bezwungen werden. Anfang April marschierte Gustav Adolf an der Spitze seines Heeres auf Frankfurt an der Oder zu. Ich ritt eine deutsche Landmeile rechts neben dem Heerzug und versuchte, die Menschen zu warnen und selbst nicht bemerkt und angegriffen zu werden. Teile des einstigen Heeres Wallensteins stellten sich den Schweden in den Weg. Das Heer hatte sich in zwei Teile gespalten. An beiden Ufern der Oder preschten Reiter vor, die leichte Geschütze mit sich führten. Noch waren die Frankfurter nicht gewarnt, aber der Tillysche Feldmarschall Tiefenbach schien das Ziel des schwedischen Vorstoßes zu ahnen. Ich trabte, das Packpferd am Zügel hinter mir, auf einem lehmigen Feldweg. Weit vor nur erkannte ich eine Schanze, die halbkreisförmig die rußgeschwärzten Fassaden einer Handvoll Bauernhäuser umgab. Auf einem halb verbrannten Dach flatterte die Fahne der Kai253
serlichen. Noch als ich überlegte, was als nächstes geschehen konnte, befand ich mich mitten im ersten Kampf auf dem linken Oderufer. Weit hinter meinem Rücken ertönte ein unheilvolles Heulen. Ich griff zur großen Schnalle des Brustgürtels und schaltete das Abwehrfeld auf volle Kapazität. Die Pferde stellten die Ohren auf und wurden unruhig. Das Geschoß schlug dicht über der Schanze in die Hauswand ein und detonierte. In einer dumpfen Explosion flogen Kalk und Mauerbrocken, zwei zerfetzte Körper und die Bombensplitter durch die Luft. Ich riß am Zügel und galoppierte an. Als ich den Schutz zwischen den schwarzen Stämmen eines Obstgartens erreicht hatte, hob ich meine schwere Reiterpistole. Aus dem Haus rannten Soldaten, zogen ihre Harnische in rasender Eile über, und einer von ihnen, der die meisten Befehle in größter Lautstärke schrie, steckte die glimmende Lunte ins Gras der Schanze. Aus den hinteren Teilen der Häuser rannten die Bauern, ihr Vieh hinter sich herzerrend. Wieder feuerte das unsichtbare Geschütz der schwedischen Vorhut. Diesmal erkannte ich die kleine Rauchwolke des Abschusses. Noch vor einer halben Stunde war ich hügelab auf die Kreuzung zugeritten, von der aus das Geschütz feuerte. Die Schweden sind schnell und treffsicher, meinte der Logiksektor. Sieh dich vor, Arkonide! Bisher hatte ich keinen Grund gehabt, mich angegriffen zu fühlen und wehren zu müssen. Der zweite Treffer zerfetzte die Seitenflanke der Verschanzung, kippte ein Geschütz um und wirbelte eine Fontäne aus Flammen, schwarzer Erde und Trümmern in die Höhe. Die beiden Geschütze der Kaiserlichen wurden ausgerichtet und geladen, dann senkte sich die Lunte auf das Pulver im Zündloch. Zwei lange Feuerzungen stachen aus den schwarzen Mündungen, Rauch verdunkelte das Bild der Fassade und der Fensterhöhlen, dann heulten die Sprenggeschosse auf die ferne Kreuzung zu. Ich ritt langsam und wachsam geradeaus und sah, daß die Bauern in einem Heuschober Schutz suchten, am anderen Ende des Ackers. Drei Schafe stolperten blökend durch die Furchen. Von den Gehöften kam Geschrei. »Die Reiter. Die schwedische Reiterei!« 254
Gustav trieb seine Soldaten in Eilmärschen voran. Seit Tagen hatten sie kaum etwas zu essen bekommen. Ein paar Dutzend Reiter stoben entlang der Dorfstraße heran. Hinter den Hufen der Pferde wirbelten Erdbrocken in die Luft. Die Soldaten schwangen Pistolen, schwere Säbel und kurze Musketen mit trompetenartig geweiteten Rohrenden. Auf ihren zottigen Pferdchen hockten die schlitzäugigen Nördlinge wie Kobolde und schrien heiser. Mäntel und Pelze flatterten im Wind. Hinter den Reitern rumpelten Lafetten und Geschütze über das unebene Gelände. Die Kaiserlichen ließen Ladestöcke und Pulverfasser fallen und sahen ein, daß sie keine Zeit mehr übrig hatten. Sie wandten sich zur Flucht und rannten zwischen den Gebäuden zu den Ställen. Ich blieb ruhig und beobachtete die Szene von meinem geschützten Standort aus. Hinter den Gespannen tauchten die Fußsoldaten auf. Sie hasteten, vier oder fünf Mann nebeneinander, hinter dem Leutnant mit dem Feldzeichen her. Es waren einige tausend; hinter ihnen sah ich wieder Reiter, Troßwagen und die schweren Geschütze. Der Zug wand sich in mehreren Schlingen den Uferhügel herunter und auf die Treidelwege zu. Es herrschte Hochnebel, und kalter Wind trieb die Pulvergase nach Osten. Die Kaiserlichen schafften es gerade noch, die Pferde zu satteln und aus der Scheune zu bringen. Unter dem bösartigen Summen der ersten Kugeln, dem Geknatter der Abschüsse und den heiseren Rufen der schwedischen Reiterei galoppierten sie mit verhängten Zügeln und scharfem Sporeneinsatz in Richtung Stadt. Ich ritt aus dem Obstgarten heraus, hob den rechten Arm und rief auf schwedisch: »Ihr kennt mich! Auf welchem Ufer ist Ihre Majestät?« Mich kannten tatsächlich fast alle Offiziere. Einige warfen ihre Pferde herum und ritten auf mich zu. Ein Schotte parierte vor mir seinen damp fenden Hengst durch. »Magister Atlan!« rief er. »Ihr kämpft mit uns? Es verwundert mich.« »MacLeod«, gab ich grinsend zurück. »Ich sehe nur zu, wie ihr die Kaiserlichen hetzt.« »Sie sind weg?« 255
»Alle. Laßt die Bauern in Ruhe«, bat ich ihn. »Sie sind halb tot vor Angst und haben nichts.« »Schon recht. Gustav Adolf reitet auf dem anderen Ufer«, sagte man mir. »Ihr kennt das Gelände vor Frankfurt?« »Einigermaßen. Ihr werdet Häuser und Scheunen finden, vor den Mauern. Wo sind die schweren Geschütze?« »Auf Schiffen, sie folgen auf dem Wasser nach. Weiter!« Ich ritt neben MacLeod hinter der Spitze der Reiterei. Die Männer hatten ihre Pferde in Trab fallen lassen; die Infanterie rückte auf. Der Schotte, Söldneranführer wie viele andere im Heer, teilte mir flüsternd mit, daß Gustav auf seinem Weg nach Magdeburg das Heer aus der nächsten Stadt versorgen wollte. Die brandenburgischen Kurfürsten stellten sich dem Schweden nicht in den Weg. Wir ritten weiter, und vor jedem feindlichen Posten warnte ich die Truppen. Die Kaiserlichen aber, die vor uns geflüchtet waren, schienen ihre eigenen Leute mit sich gerissen zu haben in wilder Flucht. Nur dreimal teilten sich die Gruppen der Reiterei, und in einer engen Kurve schwenkte das Geschütz herum. Die Schweden schossen wie die Teufel. Ihre Granaten trafen fast immer das anvisierte Ziel und richteten verheerende Zerstörungen an. Am elften April lagerte das schwedische Heer, etwa einen halben Tagesmarsch vor den Toren Frankfurts, an beiden Seiten des Gewässers. Gustav Adolf ritt durch das flüchtig aufgeschlagene Heerlager, während die Schiffe, voll von schweren Geschützen und deren Mannschaften, noch auf dem Weg hierher waren. Ich hatte meine Pferde versorgt und wußte noch nicht recht, wie ich die wenigen Stunden der Ruhe verbringen sollte. Neben dem Feuer, an dem wir saßen, zügelte Gustav sein Pferd. Trotz des großen Mangels an Essen herrschte im Lager Ruhe. »Freund Atlan«, rief er verblüfft. »Ich denke, Ihr habt einen Becher Wein auch für mich?« Unter den Offizieren, die ich begleitet hatte, war mein letztes Fäßchen ausgeteilt worden. Es fanden sich noch ein Becher und genügend Wein. Gustav schwang sich aus dem Sattel und verzog 256
schmerzerfüllt das Gesicht. Die Kugel in seiner Schulter! Ich gab ihm den Becher. »Du hast mir immer mit gutem Rat geholfen, Freund«, sagte er. Die Offiziere hörten gespannt zu. Gustav zeichnete mich nun in ihren Augen durch diese Form der Anrede öffentlich aus. »Wie viele Soldaten liegen in der Stadt?« »Etwa fünftausend«, antwortete ich ohne Zögern. »Tiefenbach ist eingetroffen. Sein Vorgänger, Schauenburg, bat Tilly um Hilfe.« Die Offiziere murmelten aufgeregt miteinander. »Du weißt es, Atlan? Genau?« fragte Gustav. »Ziemlich genau. Und sie sind wohlausgerüstet hinter den Mauern. Mittlerweile haben ihre Späher euch gesehen.« »Das glaube ich auch. Ich denke, wir haben leichtes Spiel.« »Deine Soldaten hungern«, murmelte ich. »Wirst du sie plündern lassen?« Der König zeigte auf seine Offiziere und erwiderte mit unüberhörbarer Schärfe: »Ich habe den Herren Leutnants und Christen schriftlich alle nötige Gewalt übertragen. Die Stadt ist voller protestantischer Bürger! Wer plündert, kommt vor das Kriegsgericht.« Die Nachricht eines schnellen Sieges würde die Kaiserlichen demoralisieren. Erfuhr die Welt, daß sich die Soldateska ebenso grausam verhielt wie andere Heere, was bisher meines Wissens nicht ££schehen war, diente es der geheiligten Sache des Schweden keinesfalls. »Verstanden, Sire.« MacLeod salutierte. »Auch meine Männer wissen’s!« Mit hörbarem Genuß trank Gustav den Becher leer und meinte zu mir: »In meinem Zelt hat’s noch Bier. Der junge Barde singt und heitert unsere knurrenden Mägen auf.« »Ich werde kommen«, versprach ich. An die etwa zwei Dutzend Offiziere aller Nationalitäten hatte ich einige Notrationen aus meinem schrumpfenden Gepäck verteilt. Gustavs Truppe litt Hunger. Ich verabredete mich mit den Söldnerleutnants und ging quer durch das riesige Lager. Die Soldaten waren während des Gewaltmarsches kaum einmal dazu gekommen, in der Umgebung etwas Eßbares zu 257
finden und trösteten sich mit heißem Tee, verschimmeltem Brot und jedem anderen Rest, der sich in der Tiefe der Taschen fand, und darüber hinaus mit schwermütig klingenden Liedern. Nur ein wenig mehr Fröhlichkeit herrschte rund um das Zelt des Königs. Ununterbrochen rannten oder ritten Boten in alle Richtungen. Gustav stellte zahlreiche Fragen und gab ebenso viele Antworten. Auf einem leeren Wasserfaß hockte Haffo Guisbert, der Barde mit struppigem Bart und wohlklingender Stimme. Er versuchte, die Umgebung des Königs aufzuheitern. Ich blieb in der wärmenden Nähe eines Feuers stehen und hörte zu. »Einen Bart, sehr rot und fest, nannte ich einmal mein eigen, darin gab’s ein kleines Nest, warm und sichrer als in Zweigen.« Ich registrierte im Heer noch mehr als nur Hunger und Wut. Die Soldaten waren von tödlicher Entschlossenheit. Alles drängte auf einen vernichtenden Ausbruch hin. Aber die straffe Hand des Königs, seine ständige Gegenwart und der Umstand, daß er auch für den jüngsten Soldaten zu sprechen war, verhinderten, daß sich das Heer unkontrolliert in eine rasende Furie verwandelte. Im Zelt, dessen vordere Leinwand hochgeklappt war, so daß jeder seinen König sehen konnte, wurde das letzte Bier ausgeschenkt. Schaler Geruch wehte zu mir herüber und mischte sich mit Pferdeschweiß und Rauch. Kaum jemand außer mir hörte dem Barden und dem Klang der Saiten zu. »Lange barg ich dort ein Paar weißer Tauben unterm Kinne, und in meinem roten Haar pflegten sie der Taubenminne.« Guisbert sah ein, daß er heute wenig Heiterkeit verbreiten konnte. Er stand auf, winkte ab und war überrascht, als ich ihm, bevor ich zu Gustav hineinging, Beifall spendete. Vielleicht hörte ich eines Tages mehr über das Schicksal des Rotbärtigen mit seinen weißen Tauben. Gustav Adolf meinte, wenn überhaupt, sollten Acker Gabbo und ich 258
nach der Erstürmung von Frankfurt an unser blutiges, schmerzvolles Wagnis herangehen. Ich beruhigte ihn nur mit Schwierigkeit. Das gesamte Heer stand noch einige Zeit nach den letzten Gebeten regungslos da. Unzählige leise Gespräche wuchsen zu einem Murmeln, das zum Dröhnen wurde, schließlich zu einem seltsamen Geräusch anschwoll, das sich wie ein tödlicher Sturm ausbreitete und dem letzten Rauch der Feuer folgte. Die Verteidiger hatten, um den Schweden zu erschrecken, unzählige Häuser der Vororte angezündet. Gustav Adolf setzte seine Sturmhaube auf und ging hinüber zu dem Dutzend schwerer Geschütze, deren Rohre auf das Gubener Tor ausgerichtet waren. »Ohne Hast, gut gezielt, und öffnet uns den Weg in die Stadt!« Er senkte den Arm. Das erste Geschütz brüllte auf und schleuderte eine Eisenkugel in fast gestreckter Flugbahn gegen die Mauer unweit des Tores. Noch bevor sie einige Quadratfuß Mauerwerk in Staub und Steinsplitter verwandelte, verstanden wir die Schreie und die Flüche von den Mauern. »Habt ihr eure Geschütze aufgefressen?« »Das Leder? Hat’s euch geschmeckt, Strömlinge?« Noch in der Nacht waren die schwedischen Geschütze eingegraben worden. Selbst der König hatte die Schaufel und den Pickel geschwungen und dabei vor Schmerz geächzt. Auch einige Laufgräben hatten die Soldaten im Schutz der Dunkelheit bis an die vorgelagerten Befestigungen vorangetrieben. Die schwedischen Soldaten barsten förmlich vor Ungeduld und Kampfeseifer. Das Bombardement belehrte die Schreier von den Mauern eines anderen: Wieder zeigten die schwedischen Kanoniere, was sie gelernt hatten. Ich wartete unweit des Königs im Sattel; mittags war längst den Verteidigern das Pulver für einige Geschütze ausgegangen. Rauch aus vielen Geschützrohren und noch mehr anderen Quellen brodelte über der Stadt. Dazu kam im Osten eine Nebelbank. Wolken ballten sich zusammen und drifteten über den Himmel. Die erste Explosion, die ich genau erkennen konnte, verwandelte das obere Drittel eines Turmes in handgroße Trümmer. Menschen und Waffen, Kanonen, Pulverfasser, Mauerwerk und Balken bildeten 259
einen Pilz aus Flammen, Rauch und Bruchstücken, der langsam und in Flammenfarbenspiele getaucht in die Höhe wuchtete. Die Schweden schrien begeistert auf. Am späten Nachmittag befahl Gustav Adolf einige kleine Abteilungen gegen die Außenwerke. Als wir sahen, daß ein deutscher Leutnant seine Truppe über den Graben trieb, ohne daß es größere Verluste gab, hob der König den Arm und schickte die Ordonnanzen zu den Sturmtruppen. Als der Deutsche die Mauer überwand, setzten die Schweden nach, mit Gustav mitten unter den ersten Reitern und mit mir als Beobachter, der sein Leben und das des Freundes schützen wollte. Die Schotten, unter anderem die bärtigen Männer MacLeods, folgten uns unmittelbar. Es dauerte nicht lange, bis die Tore aufgesprengt wurden. Ein großer Teil des Heeres drang ein, während die eigenen Kanonen abgestuft zu feuern aufhörten. Ich verstand nur einen kollektiven Aufschrei der hungrigen Schweden: »Neubrandenburger Quartier!« oder: »Neubrandenburgisch Quartier!« Die protestantischen Brandenburger flüchteten erschreckt in ihre Häuser. Die Soldaten preschten durch die Gassen, das Fußvolk fand keine Gegenwehr und fing an, alles niederzuhauen, was außer ihnen noch auf den Straßen und Gassen war. Die Soldaten der Verteidiger flüchteten in heilloser Panik in die Richtung der südlichen Tore. Noch kämpften Soldaten gegen Soldaten. Unser Voraustrupp, mehrere waffenstarrende Reiterabteilungen, Scob fast ungehindert quer durch die Stadt. Von einem höher gelegenen Platz aus sahen wir, wie die gegnerische Reiterei über die Oderbrücke rasselte und die Pferde peitschte. Sie verschwanden rechts und links der Straße zwischen den Büschen und Bäumen. An allen Ecken Frankfurts wurde geschossen. Die Schweden erklommen die Mauern und schlugen die Verteidiger hinunter. Pferde trampelten wiehernd treppauf. Säbel und Degen blitzten, die Sehne iden der Piken troffen von Blut. An einigen Stellen loderten Flammen in die Höhe, Rauch kroch durch die schmalen Gassen. »Es wird nicht geplündert!« schrie Gustav seinen Anführern zu, »Die Frankfurter geben uns, was wir brauchen.« 260
Es war klar, daß selbst ihm die Führung entglitt. Hier und dort ergaben sich kleine Gruppen der Kaiserlichen. Dampf zischte von den Brandstellen in die stauberfüllte Luft. Schüsse, Flüche, Schmerzensschreie, Hufschlag und Klirren widerhallten in den Straßen. Irgendwo wimmerte unaufhörlich eine Glocke. Ich hing tief über dem Rücken des Pferdes, hatte den Schutzschild eingeschaltet und feuerte aus dem Lähmstrahler auf jene schwedischen Soldaten, die wie von Sinnen auf Bürger einschlugen. »Hier Schwed! Hier Freund!« schrien wir alle, wenn wir uns, zu Fuß oder im Sattel, irgendwo begegneten. Klingen klirrten auf Stein, wie zornige Hummeln zirpten die Kugeln durch Bogengänge und Geäst. Ich zügelte mein Pferd auf einem Platz, auf dem mindestens zwei Dutzend Gruppen miteinander kämpften. Meine Augen erhaschten einen Blick auf eine Kirchenfassade, eine breite Treppe, auf Bäume hinter Friedhofsmauern und etliche Eingänge, vor denen Schweden Frauen mit sich zerrten. Türen barsten in Splitter. Aus offenen Fenstern warfen Plünderer wahllos alles, was sie in den Häusern fanden, ihren Kriegsgenossen zu. An vielen Stellen lagen Erschlagene, einige Verwundete versuchten, sich davonzuschleppen. Ich ritt mitten in den Platz hinein, ließ mein Pferd langsame Drehungen ausführen und schoß gezielt nach den Schweden. Frauen und Männer schrien. Die peitschenden Entladungen der gptarnten Waffe erzeugten hallende Echos. Obwohl ich eine Art seltsames Verständnis mit den plündernden Schweden nicht unterdrücken konnte, war diese offene Raserei zuviel. »Es ist Krieg, Atlan«, sagte ich, setzte die Sporen ein und ritt zum Kloster. Wieder schoß ich drei Schweden nieder, die mit blitzenden Pokalen aus den Pforten torkelten. Ich sprang neben den zeternden Nonnen aus dem Sattel und schrie ihnen zu: »Weg von der Straße! Sind Plünderer im Haus?« »Ja, Herr Offizier. Wir haben Kranke im Spittal!« Ich reichte einer älteren Frau die Zügel. Mit der Linken zog ich die zweite Waffe aus der Schutzhülle im Brustgurt. Aus einer Quergasse stolperten schwedische Soldaten, Lappländer, sichtlich betrunken. Sie schleppten Beute mit sich. Aber aus der entgegengesetzten Rich261
tung galoppierte ein Leutnant in den schwedischen Farben auf den Kirchplatz. Ich feuerte auf einen Soldaten, der sich aus dem Fenster beugte. Dann, als ich sah, daß der Leutnant mit seinen Kommandos und den wilden Hieben mit dem flachen Säbel einigen Erfolg hatte, drang ich in das Kloster ein. In den Gängen und auf den Treppen spielten sich wüste Szenen ab. Die Soldateska war rasend. Die Kerle hatten die Küche verwüstet, irgendwo Weinvorräte entdeckt, sie wren betrunken. Nichts schien sicher zu sein. Sie verfolgten die Nonnen und liefen, ohne es richtig wahrzunehmen, in meine Lähmschüsse hinein. »Wie viele sind es, Schwester?« Draußen gab es unverändert Schüsse, Flüche, Geklirr und barsches Geschrei. Nach meinem nächsten Schuß, der einen Finnen oder Südschweden auf die steinernen Stufen schmetterte, rissen die Schreie ab. »Zwei Dutzend. Im Keller, Herr...« Ich rannte einen kurzen Korridor entlang und bemerkte noch mehr Spuren von Eindringen und Verwüstung. Zwei Männer schoß ich ohne Warnung nieder. Sie glotzten mich aus v^it aufgerissenen Augen an. Ich packte zwei Frauen, die ihr Entsetzen augenscheinlich am schnellsten unterdrückt hatten, an den Händen und sagte: »Schleppt die Kerle auf den Kirchplatz hinaus! Nehmt ihnen ab, was sie gestohlen haben! Und hört mit diesem verdammten Geschrei auf!« Ich registrierte, daß aus den unteren Geschossen noch am meisten Lärm und Schreie kamen. Wie ein Rasender Scob ich die Treppen abwärts, drei Stufen mit einem Schritt überwindend. In der Halle neben dem Eingang hielt ich an, feuerte auf eine eindringende Gruppe und rannte weiter. Im Vorratskeller bot sich mir ein Bild, zusammengesetzt aus sinnloser Zerstörung, Gewalt und Grausamkeit. Halbnackte Mädchen rannten kreischend um Fässer und Sackstapel. Betrunkene taumelten hinter ihnen her. Zwischen den Gestellen loderten Fackeln. Es stank nach verschüttetem Wein. Männer hielten Teile gebratener Vögel in den Fäusten und tranken aus Kelchen und Meßgefäßen. Säcke waren aufgeschlitzt, Mehl staubte und vermisch262
te sich mit den Flüssigkeiten zu einem unappetitlichen Brei. Die ersten Schüsse ließen die Mauern erzittern. Jemand schleuderte einen Schinken nach mir, der vom Schutzfeld abprallte. Der Lärm der Lähmschüsse übertönte das gellende Geschrei von Novizinnen. Ich lahmte die Schweden, die versuchten, die Frauen zu vergewaltigen, und richtete die Waffe auf die Stirn eines älteren Mannes, der mit hängenden Armen dastand. »Dein Name?« »Per Liding.« »Nimm die Betrunkenen und bring deine Kameraden auf den Platz! Sonst bist du heute noch am Galgen. Du kennst mich, Liding?« »Ja... du, bist Gast unseres Königs.« »Recht so. An die Arbeit! Ich vergesse nichts.« An mir rannte ein Schwede vorbei und zerrte am Rock einer Frau. Ich schlug ihm den Lauf der Waffe in den Nacken. Er stürzte in den glitschigen Brei und schrammte sich die Knöchel wund. »Raus!« brüllte ich. »Und zwar schnell!« Ich winkte den verschreckten Mädchen, die sich zitternd und jammernd aneinanderklammerten. Ich zeigte auf die Treppe und rief: »Lauft zur Oberin und versteckt euch! Ich passe auf. Die Treppe hinauf!« Ich scheuchte etwa zwanzig junge Frauen über Stufen. Hinter mir fingen die Schweden, die schlagartig nüchtern zu sein schienen, damit an, ihre Kameraden wegzuschleppen. Ich blieb in der Halle, atmete tief durch und sah um mich herum jene seltsame Art von schneller, fast lautloser Bewegung: Nonnen in dunklen, bodenlangen Gewändern rannten wie aufgeweckte Gespenster hin und her und versuchten, Ordnung zu schaffen. Zu viert schleppten sie die Körper der Besinnungslosen hinaus. »Sind noch Plünderer im Haus?« rief ich und lief auf die Pforte mit den zersplitterten Schlössern zu. »Gefahr vorbei, Schwester Oberin?« Sie nickte mir schweigend und angstvoll zu. Durch die aufkrachende Tür sprang ich ins Freie. Ein Trupp Schweden trieb schätzungsweise hundert Kaiserliche vorbei. An einigen Stellen kümmerten sich die Profose um die Bewußtlosen. 263
Bürger sammelten gehetzt und voller Furcht ihre Habseligkeiten ein. Das Glöckchen schwieg inzwischen, auch der Lärm der Schüsse hatte nachgelassen. Aber noch barst die Stadt förmlich vom Lärm der Plündernden. Ich schaute mich wachsam um. Das Kloster samt dem Spital war wohl vom Ärgsten verschont worden. Aber andere Häuser trugen die Spuren der rücksichtslosen Soldaten. Ich konnte schwerlich das gesamte schwedische Heer lahmen. Du kannst sicher sein, daß sich die Offiziere nicht durchsetzen können, erklärte der Extrasinn. Ein schwedischer Anführer sprengte heran, riß hart am Zügel und hob grüßend die Hand. Sein Gesicht war ruß verschmiert und schweißübergossen. »Große Beute, schneller Sieg, Atlan de Sagittaire!« rief er ab^- hetzt. »Die Kriegskasse haben wir erbeutet, viele Geschütze, massenhaft Munition. Was tust du hier?« »Ich beschütze Protestanten vor Protestanten«, gab ich kalt zurück. »Ihr habt Schwierigkeiten, wie?« »Es wächst uns über den Kopf. Ich schicke dir ein paar Zuverlässige, ja?« »Einverstanden!« schrie ich. Er galoppierte an und jagte rücksichtslos durch seine eigenen Leute, die schwer beladen das Haus am Ende des Platzes verließen. Ich waltete, preßte das rechte Knie auf den Boden und stellte den Projektor auf Streuwirkung. Vier lange Schüsse ließen eine Gruppe Plünderer zusammenbrechen. Ich hob die Hände an den Mund und schrie: »Holt euer Zeug zurück, Frankfurter! Schnell, ehe andere Schweden kommen!« Es war, wie ich es ohne hellseherische Begabung mir hatte vorstellen müssen. So gründlich, wie dem König und seinen Offizieren die Kontrolle entglitt, so würde ihm auch sein Vorsatz zunichte gpmacht werden. Der elende Krieg hatte eigene Gesetzmäßigkeiten, beschwor weitere Aktionen herauf, zwang Feldherren und Herrscher, weiterzukämpfen bis zum eigenen Ende oder bis zu einer Katastrophe, die weiteres Schlachten deshalb sinnlos machte, weil es kein Geld, keine Soldaten und keine Opfer mehr gab. 264
Ich ging mit weiten Schritten in der Abenddämmerung zwischen dem Kirchenportal und dem letzten Haus hin und her, beruhigte die Frankfurter und wartete auf die versprochenen Wachen. Die Nonnen waren mutiger als die Bürger, und selbst die Pfarrer aus der Kirche überwanden sich und steckten brennende Fackeln in Mauerringe. Zwei Stunden später saß ich auf der viertuntersten Stufe vor der Kirche. Aus dem Innern kam das inbrünstige Murmeln der Gebete. Die Oberin hatte mir einen Becher Wein bringen lassen. Hier oben hatten wir offensichtlich Ruhe geschaffen. Bewußtlose lehnten an den Mauern und kippten mit den Schultern gegeneinander. Endlich kamen ein deutscher Leutnant, Heinrich Zerr, und zwölf Schweden. Ich ging auf ihn zu, grüßte ihn und fragte: »Wie viele Gefangene?« »Ich hörte von tausend Mann, de Sagittaire. War es schlimm?« Er deutete auf die Häuser rundum, tippte dann seinen Leuten auf die Brust und teilte ihnen die einzelnen Eingänge zu. Dann schnarrte er in klirrendem Schwedisch: »Hört gut zu! Ihr habt unten gesehen, was passiert. Morgen früh sterben viele von euch unterm Henkersschwert. Hier wird nicht geplündert.« Er nahm einen Schluck aus dem Becher und gab ihn mir zurück. Wir blickten den Infanteristen nach. Aus der Stadt kam unverändert das tobende Lärmen. Vereinzelte Schüsse schienen zu beweisen, daß die Schweden auf ihresgleichen schossen. Heinrich Zerr sagte: »Der König greift selbst ein. Er schäumt vor Wut. Wir müssen ihm gegen die halb verhungerten Schweden helfen. Sie sind von Sinnen.« »Wenn es hell wird, ^hlen wir die Toten«, knurrte ich. »Der Ruf des Bewahrers protestantischer Religion wird in Deutschland wohl weniger löwenhaft sein.« »Ob er dieses Debakel aufwiegt? Ich meine, die Nachricht von den Kaiserlichen, die bis nach Schlesien rannten, wird Tilly erschrecken.« Ich nickte und deutete mit dem Pistolenlauf über die Schulter. »Ich denke, daß wir im Kloster etwas zu essen bekommen, wenn endlich Ruhe herrscht.« »Gut. Komm, Franzose! Ein Rundgang um den Platz.« 265
Mit gezogenen Waffen umkreisten wir wie Hunde des Schäfers den Platz. Die Geflüchteten hielten sich bis zum Morgen in der Krche auf. Nur langsam nahm der Lärm ab. Die Bewußtlosen kamen zu sich und wurden von uns darüber belehrt, daß wir ihnen unter den obwaltenden Umständen das Leben gerettet hatten. Sie schlichen wie geprügelte Hunde davon. Am Morgen kannte man die Zahl der Toten noch nicht. Gustav Adolf versuchte sein Äußerstes, die Bürger zu versöhnen. Er zahlte Ersatz für die Verwüstungen, verteilte gekauftes Essen, gab Bücher und Wertsachen zurück, und das Standrecht hielt grausame Ernte. Abends wußten wir es: Knapp zweitausend Tote wurden innerhalb der Mauern, auf VorstadtFriedhöfen, in namenlosen Gräbern verscharrt. Viele kippte man von den Totenkarren einfach in die Oder. Weil sich dennoch in der schwedischen Führung starke Siegesgefühle auftaten, entschloß sich Gustav Adolf dazu, die Entfernung der schmerzenden Kugel zuzulassen. Es fällt wie ein plötzliches Fieber auf ihn. Krämpfe schütteln seinen Körper. Stöhnend, weinend und lallend wirft er sich auf den Fellen hin und her. Ein fremder Verstand scheint sich Uhlenhorsts zu bemächtigen. In seiner Höhle schreit er unter furchtbaren Qualen fremde Namen, Begriffe und wirres Wortwerk heraus: Magdeburg, Lützen, Rain am Lechfluß. Elend nennen sich die Tage, die Nächte sind Rausch, Vergewaltigung, Raub und spitze Messer. Die Irrsinnshirse blüht und wuchert, und Horrorroggen wird geerntet, wenn aus Wein Blut wird und mitten im GROSSEN VERRECKEN Branntwein in blauen Flammen lodert. Malte Uhlenhorst stöhnt und ächzt. Er merkt nicht, wie Schweiß in Bächen aus seinem Körper rinnt. Kerze und Feuer verwandeln sich in Kämpfende. Mitten in seinem Delirium zuckt der Mann mit dem Zweiten Gesicht zusammen; seine Zähne krachen. Als er aufwacht, als er wieder zu sich selbst kommt, erinnert er sich an jede Einzelheit. Das Grauen, das seine Gedanken an kommende Jahre erfüllt, ist nicht mehr zu steigern. 266
Gustav Adolfs Arme waren mit breiten Bändern an die Bettpfosten gebunden. Das Schulterblatt, die Muskeln und einige Adern traten scharf hervor. Etwa zwei Dutzend Kerzen, zwischen ihnen eine kalkig strahlende Spezialleuchte aus meiner Ausrüstung, verwandelten seine helle Haut in eine weiße, schattenlose Fläche. Acker Gabbo und ich hatten unsere Finger und Unterarme in eine keimtötende Lösung getaucht und die Haut des Patienten damit mehrmals gesäubert, ebenso die Instrumente. Gustav Adolfs Wunsch war es, daß nur wir beide von dem »kleinen Eingriff« etwas wissen durften; er wollte es als weiteres Siegeszeichen erklären. Vor dem Zimmer stand eine Doppelwache, im angrenzenden Raum wurde getafelt und der Sieg gefeiert. Auch der Barde sang wieder. Gustav schlief dank eines starken Medikaments. Ich hatte riskiert, den blitzenden Metallstift mit der haarfeinen Nadel anzusetzen. Das Gewebe rund um die ertastbare Verhärtung war absolut gefühllos. Gustav lag auf ausgekochten Laken, wir hatten genügend heißes Wasser, blutstillende Mittel und kleinere Tücher bereit. »Die Haut wächst zu«, erklärte ich leise. »Die Muskeln darunter brauchen länger dazu. Aber die feinen Nerven, die man fast nicht sieht, die darfst du nicht durchschneiden.« Mit dünnem Stift hatte ich Markierungen gemalt. Ich zeigte Acker das feinstgeschliffene Skalpell, setzte es an und zog einen fingerlangen Schnitt durch die Haut. Das Fleisch klaffte auseinander. Ich kniff den Muskel zusammen und versuchte, die Kugel um die Kante des großen Knochenblatts herumzuziehen. Als ich sie zwischen den Fingern spürte, mitsamt dem verhärteten Gewebe darum, schnitt ich noch einmal, nur einen Fingerbreit lang und ebenso tief. Die Sehne ide berührte Metall. Ich legte das Skalpell weg, ließ Gabbo die Wundränder abtupfen und mit dem blutstillenden Mittel bestreichen, dann spreizte ich die Wunde mit einer Zange und wartete, bis das Blut abgetupft war. »Sehr behutsam muß die Kugel gezogen werden«, murmelte ich. »Sie ist alles andere als rund und kann die Adern noch jetzt zerschneiden.« 267
Ich packte sie mit einer Pinzette, preßte mit aller Kraft beide Metallschenkel zusammen und zog. Das Geschoß bewegte sich, kippte langsam und folgte dem Zug des Instruments. Ich drehte und zog, gab nach und zog wieder, und schließlich rutschte das zerquetschte Stück Blei ans Licht. Ich ließ es in einen Teller fallen, entfernte die Zange und bedeutete Gabbo, die Wunde loszulassen. Dann nahm ich die gekrümmte Nadel und den dünnen, fadenartig verzwirbelten Katzendarm und schloß die Wunde mit sechs Stichen und einfachen Knoten. Als Gabbo heißes Wasser holte, sprühte ich Bioplast über die Fläche. »In spätestens zehn Tagen tust du dies...«, begann ich und löste den Knoten an Gustavs Armfesseln. Der Körper sank wieder in eine normale Lage zurück. Ich erklärte, daß er mit Eis, wenn er welches fand, die Wundränder unempfindlich machen und dann, nachdem er sie zerschnitten hatte, die Fäden der Naht ziehen mußte. »Und jetzt helfe ich dir beim Verbinden«, sagte ich, wischte mir den Schweiß von der Stirn und vergaß seine erstaunten, lobenden Bemerkungen. Guisbert sang im Vorraum: »Unter einem Mandelbaum traf ich eine, die sehr schön war, und wir träumten Liebestraum, als der Abschied schon zu sehn war.« Ich nahm einen langen Schluck Bier; das verstanden die Deutschen wahrlich wohl einzusieden. Ich meinte, während ich das Werkzeug sorgfältig wusch, trocknete und wegpackte: »Nun hast du’s gesehen. Vielleicht mußt du auch mir eines Tages helfen. Noch einmal: Wir haben zu schweigen, Gabbo.« »Bis zum Grab«, versicherte er. Ich zog die Brauen hoch und fragte: »Wessen?« Als das trunkene Gelächter der Männer um Johan Baner aufhörte, verstand ich den Sänger mit seinem olympischen Baß. »Klatschmohn stand am Wegesrand. Wolken, die den Himmel fegten. Sie verlor ihr blaues Band, als wir uns in die Nesseln legten.« 268
Als sei nichts geschehen, stellte ich im angrenzenden Zimmer meine Tasche ab, ließ mir frisches Bier reichen und sagte: »Der König schläft. Wer ihn weckt, spürt königlichen Zorn. Wißt ihr, daß in Deutschland Flugblätter gegen das überaus schädliche Tabakrauchen umhergehen?« Besonders die deutschen Söldnerführer rauchten wie Lagerfeuer aus feuchtem Holz. Ich vermochte an diesem und den folgenden Abenden nicht, jemandem die gute Laune zu verderben. Informationsüberspielung an Atlan, A. D. Mai 1631: »Magdeburg, wichtigster strategischer Punkt an der Elbe. Tilly glaubt: voller Vorräte. Folge ist: Versuch, sich zwischen Schwedenkönig und M. zu schieben. Neubrandenburg unter beträchtlichem Gemetzel genommen. Rückzug, folgend Anschluß an Pappenheims Heer. Ziel: Urbicid der Stadt. Bürger unwillig; helfen Dietrich von Falkenberg, der Verteidigung organisiert, auch dies unwillig. Störrische Protestanten, diese. Flugblätter gemeinsame Aussage: Gustav, hilf Magdeburg! Magdeburger, harret aus! G. A. in Wut über Uneinigkeit dt. Fürsten dies zu Recht. Auch hier Chaos. Bauern flüchten. These Tillys und Pappenheims: G. A. rast förmlich heran, eigenes Heer desolat, Wallenstein schickt weder Proviant noch Geld. Größte Gefahr für Staat und Bewohner. Ende.« »Deine Informationen sind wertvoll«, sprach ich in das Mikrophon des Schuppenrings über dem linken Reiterhandschuh. »Aber der Versuch, literarische Dichte zu vermitteln, geht fehl, Ciron de Beauvallon et cetera. Die Höhle, der Eremit, die Kuppel?« Aus dem winzigen Lautsprecher im Knochen hinter meinem linken Ohr flüsterte der Robot: »Dort herrscht kein Chaos.« Ich trennte vorläufig die Verbindung. Vor mir, im Weichbild der Stadt Magdeburg, übte eine starke Abteilung der Reiterei. Die Männer des Generals Gottfried Graf zu Pappenheim, wenigstens diese Kavalkade, schien über genügend Proviant und gut gefütterte Pferde zu verfügen. Auf die Reiter des Pappenheim, meist tollkühne Burschen, baute nicht nur der greise Tilly seine Angriffspläne. 269
Sie waren verläßlich, gleichgültig, welche Schwierigkeiten es geben mochte. Im Heer hießen sie nur die »Pappenheimer«. Ihre Pferde drehten sich im Kreis, schlugen mit den Hinterläufen die Gegner aus Strohgeflecht aus den Sätteln, stiegen hoch, rammten oder bissen andere Tiere. Die Pappenheimer, zwei Gruppen der Kürassiere, trugen teilweise schwere Panzer mit Visierhelmen, Pistolen und kurze Säbel. Spieße und Arkebusen trugen die anderen; eine Schärpe und der Kriegsruf erlaubten den Männern, die eigenen Re iter vom Feind im Getümmel zu unterscheiden. Graf Pappenheim ließ, fast übermütig, seinen breit gebauten Schimmel vor mir hochsteigen und grüßte dann mit großer Zuvorkommenheit. »Magister? Ihr seht begeistert zu meinen Männern hinüber?« Er war etliche Monate älter als Gustav Adolf. Vor vier Jahren, noch unter dem Kommando Wallensteins, hatte er schon einmal die Stadt belagert. Ich hatte ihn damit beeindruckt, daß ich zwei Dutzend seiner Männer mit Kräutertränken, etlichen heißen Bädern und einem Topf köstlich duftender Salben gesund gepflegt hatte. »Ihr meint, dem Schweden ernsthaft Widerstand bieten zu können?« Ungeduld, Tatendrang und kühne Einfalle markierten seine krie^- rische Laufbahn. Ein Ahne war Reichserbmarschall gewesen. Der Mann mit dem Narbengesicht hatte die Universität besucht; wir sprachen Italienisch miteinander. »Wenn er nur kein formiertes Corps nach Magdeburg bringt«, antwortete er und tätschelte sein Pferd. »Wenn das passiert, ist Niedersachsen von Rebellion überschwemmt, und die Elbe ist verlustig.« »In der Tat«, mußte ich zugeben. »Was meint Wolf von Mansfeld, der andere Befehlshaber?« Seine Geste beantwortete alles. Sie sagte aus, daß er sich über alles hinwegsetzen würde, wie seine Reiter über Hindernisse. »Aber Falkenberg ist ein tüchtiger Mann«, sagte er daraufhin. »Was seht Ihr als Eure Aufgabe an?« »Nicht nur Eure Reiter zu heilen«, sagte ich. In einer Zeit, in der es jedem Söldner freistand, am nächsten Tag die Fahne zu wechseln und gegen seine bisherigen Kameraden zu kämpfen, schien es keine 270
Angst vor Spionen zu geben. »Ich werde auch den Magdeburgern helfen, den Bürgern. Und Euch, wenn man Euch, was Gott verhüten möchf, verwundet.« »Ein schreibender, zeichnender, schießender Feldscher also«, antwortete Pappenheim. »Ich muß zurück. Da der >Schneekönig< gute Reiter hat, müssen meine besser sein.« Wir schwenkten unsere breitkrempigen Federhüte; er galoppierte davon. Das größte Rätsel war der grausame Krieg, der keinen und tausend verschiedene schlechte Gründe hatte: Während Falkenberg auf Kreuzhorst, einer südlichen Eibinsel, eine Verschanzung anlegen ließ, die er »Trutz Tilly« benannte, während andere Schanzen fertiggestellt wurden. »Trutz Kaiser«, »Trutz Pappenheim« oder »Magdeburger Succurs«, versuchte Gustav Adolf, freien Zug auf die Stadt zu haben, also die Elbe bei Dessau oder Wittenberg zu überqueren; dabei würde er sich durch sächsisches Gebiet bewegen müssen. Aber die Kurfürsten erlaubten es ihm nicht. Zweiunddreißigtausend Kaiserliche lagen um Magdeburg, im Mai 1631. Und am siebzehnten Mai fing der Beschuß an. Diesmal wollte Pappenheim in die Stadt, zu den Siegern gehören, und zwar bevor der Schwede vor den Mauern stand. Noch zögerte Tilly. Zuerst war es heiß gewesen, zu heiß für diese Jahreszeit. Unaufhörlich schossen die schweren Stücke die Mauern morsch und verwandelten die Schanzen in eine Kraterwüste. Am neunundzwanzigsten April war bereits die Zollschanze gefallen. Am Tag der Heiligen Saturnina und des Bernhardin von Siena, am gleichen Tag, an dem Columbus oder Colon in Valladolid starb und Vasco da Gama in Kalikut landete, also am zwanzigsten Mai, um fünf Uhr und etwa fünf Minuten, hetzten Reiter, Infanteristen, Sappeure und alles Kriegsvolk mit einem Geschrei, das in weitem Umkreis den Boden zu erschüttern schien, auf Magdeburg zu. Ich wußte, daß Pappenheim ohne Tillys Befehl losgeschlagen hatte. Sein Mut war tollkühn, oder bedeutete seine respektlose Tollkühnheit schon den Sieg? Nachher würde niemand fragen. 271
Die Kanonen wurden geladen und abgefeuert. Ein windiger Morgen; der Wind trieb graue Schleier vor sich her. Die Erde dröhnte tatsächlich unter den Abschüssen, den Einschlägen, den Pferdehufen und dem Tritt von Zehntausenden. Im Norden und im Süden drangen gleichzeitig die Kaiserlichen vor. Pappenheim schaffte es, im ersten Versuch bei der Hohen Pforte im Norden in die Stadt einzudringen. Unmittelbar danach warf sich ihm Falkenberg mit jedem Mann, den er hatte sammeln können, mit äußerstem Mut entgegen. Die Männer waren einander ebenbürtig. Pappenheim verlor beim Sturm ein halbes Dutzend seiner Männer, aber im folgenden Kampf Haus um Haus, Straße um Straße, starben rund tausend. Die Kaiserlichen ergossen sich in die Stadt wie Wasser, das durch die aufgebrochenen Planken eines Schiffes strömt. Mir sagte Pappenheim später, Falkenberg, dem er Pardon angeboten hatte, habe den Tod gesucht - und rasch gefunden. Einen Soldatentod. Als auch noch der zweite Teil des Heeres die Wälle überwand, war die Stadt schon vernichtet, aber noch niemand wußte es. Die Kaiserlichen, Offiziere wie Soldaten, verfielen in den blutigen Rausch der Sieger. Es breitete sich ein verzweifeltes Sterben und Plündern aus, ein Hacken und Stechen, ein Peinigen und Prügeln. Ich suchte den Himmel ab. Wahrscheinlich richteten auch viele der dreißigtausend Magdeburger ihre Augen zum Himmel, um von ihrem Gott vergebens Hilfe zu erflehen. Unendlich langsam schien die Zeit zu vergehen. Die Geschütze schwiegen, aber hinter den Mauern entwickelte sich ein Orkan aus unzählbaren Schreien. Vor den feuchten Obstgärten brannten zwei Häuser an der Hohen Pforte. Eins sank in einem Ascheregen zusammen. Tilly und Pappenheim waren in der Stadt; auch sie würden versuchen, ihre Leute von den Grausamkeiten abzuhalten, und wieder würde es nicht gelingen. Am Rand eines Eingreiftrupps, vierundzwanzig Pappenheimer auf Pferden, hinter uns die leeren Zelte, die sich bald mit Verwundeten füllen würden, wartete ich und hatte meinen Arm über den Hals des Rapphengstes gelegt, der aus dem Hafersack fraß. Mit dem Fernrohr beobachtete ich die Stadt. Rund sechshundert Bürger flohen, von 272
einem weißgewandeten Klosterprior zusammengeschrien, in den Dom. Wenn auf einen Bewohner mehr als ein Plünderer kam, würde Magdeburg nicht nur ausgeplündert und leer zurückgelassen, sondern auch ein gigantisches Heerlager sein. Als etwa zwei Stunden vergangen waren und etliche hundert Soldaten wieder herauskamen, ihre Verwundeten mit sich führten und entweder die Kameraden oder die Beute fallen ließen und wieder aufhoben, schien ich in einen Traum hineinzugleiten: Das Bild sprang mich in der schärfsten Vergrößerung an. Natürlich konnte ich das Aussehen des Exoten nicht vergessen, aber trotz des Schocks faszinierte es mich wieder. Heute war es mir, als schimmre seine Flugechse metallisch dunkelblau, wie aus^- glühter Arkonstahl. Der Fremde war für mich sichtbar geworden; ich konnte nicht sagen, was Einbildung zwischen Wolken, Sonnenflächen und Rauch war und was Wirklichkeit. Etliche Minuten später flammten an mindestens fünfzig verschiedenen Stellen Feuer auf, verteilt über die gesamte Stadt. Als ich die Linsen wieder nach oben richtete, verschwand der Tagmahr und blieb unsichtbar. Neben mir rief ein Deutscher, der sich mehrmals bekreuzigte: »Gott sei uns allen gnädig!« Strohdächer und allerlei Plunder darunter, trockene Dachsparren, das Holz für die Herde, dürre Bretter; alles ging in Flammen auf. Der Wind schien zuzunehmen, und wenn Tilly und Pappenheim ihre betrunkenen Soldaten zusammentrieben, um löschen zu helfen, mußten sie viele aus den Weinkellern und von den Bierfassern in den Gewölben holen. Die Stadt verwandelte sich in einen Glutofen. Einzelne Brände, die zuerst ein Dach, das Haus, die beiden benachbarten Häuser und schließlich die Straße ergriffen, wanderten nach allen Seiten und aufeinander zu. Eine Massenflucht aller setzte ein. Trompeter bliesen zum Sammeln und Verlassen der Stadt. Aus den Stadttoren quollen Menschenmassen, Bürger, Kinder, Soldaten, Verteidiger, Angreifer, Reiter, Pferde mit leeren Sätteln, etliche Fuhrwerke, Reiter mit Mädchen vor sich. Hier und dort detonierten Pulverfasser und Sprengkugeln. Aus den Feuern wuchs eine Pyramide, ein Spitz273
kegel, der Luft von allen Seiten ansog und senkrecht nach oben ausschleuderte, wo sich Flammen und Rauch zu drehen begannen wie in einem Wirbelsturm, immer wieder neu beschickt durch die Glutbälle der zusammenbrechenden Häuser. Ich war völlig erstarrt. Die Männer hinter mir nicht vveniger. Sie stiegen aus den Sätteln und führten still ihre Pferde weg. Schreiende Menschen flüchteten aus dem Feuer der dahingemordeten Stadt. Bis tief in die Nacht sahen wir die Flammen. Drei Tage und Nächte lang schwelte jener gewaltige Haufen von verkohltem Holz, in dessen Mitte, nahezu unversehrt, der steinerne Dom mit den Spitzbogen aufragte. Als die Soldaten sich zurückwagten, um die Ruinen auszuplündern, fanden sie tatsächlich viele gefüllte Weinfasser. Sie fanden auch ihre Kameraden, die, betrunken, in den Kellern erstickt waren, neben sich viele der Bewohner. Leichen lagen unter den Trümmern, bis zur Unkenntlichkeit verschmort. Von achtzig Kindern, die man bei den Mönchen zusammentrug, überlebten nur fünfzehn. Nicht die Toten wurden gezählt, sondern die Überlebenden. Es galt als gewiß, daß insgesamt vierundzwanzigtausend Menschen gptötet worden waren. Tilly ließ die Leichen, um den Ausbruch der Pest zu vermeiden, sofort in die Elbe werfen. Im Uferschilf versammelten sich Krähen und Raben; jeder andere Aasfresser beider Flußufer kam hinzu. Ständig gab es Bilder und Szenen von unüberbietbarer Bizarrheit: makabre Zeitzeichen, aus denen natürlich keiner dieser Barbaren lernen würde. Die Frauen waren aus der brennenden Stadt ins Lager geschleppt worden. Überlebenden Männern gestattete man, ihre Ehefrauen zurückzukaufen. Priester überredeten die Soldaten, ihre Opfer zu heiraten. Oder sie an die Magdeburger Männer zu verkaufen. Die Armen mußten als Soldatendiener mit ihren »Gewinnern« mitgehen. Fünf Tage nach dem Untergang wurde der Dom feierlich wieder eingeweiht. Geschütze auf einem intakten Stück der Mauer schossen Salut. Das Heer trat mit flatternden Fahnen zu einem Tedeum an. Der Dom und die Überlebenden waren also wieder zum »wahren Glauben« zurückgekehrt. 274
Die Nachricht verbreitete sich mit der üblichen Schnelligkeit. Der Fall Magdeburgs war für jeden Protestanten in allen vier Richtungen der Windrose ein Zeichen, sich gegen das katholische Kaiserhaus zusammenzuschließen. Ich kaufte drei Waisenjungen, zwei elfjährige Mädchen und zwei hübsche junge Frauen. Auf dem Weg - ich zog mich für einige Zeit in die Höhle zurück ließ ich die Kinder, die zusammenbleiben wollten, in Klosterschulen zurück und setzte eine Stiftung für jeden ein. Almuth, deren dunkles Haar nach dem Brand gerade einen Fingerbreit kurz geblieben war, wollte unbedingt mit mir mitziehen, obwohl ich sie warnte. Das vsnigste, was ich jetzt brauchen konnte, war eine neue Liebschaft oder auch nur Leidenschaft aus Langeweile oder Mitleid. Trotzdem: Es war angenehmer, in der Höhle ein lebendes Wesen an meiner Seite zu haben. Die Schrecken von Magdeburg saßen tief in der Psyche der jungen Frau. Sie war auch durch die Technik des Gleiters oder der Höhle nicht mehr zu verblüffen. Almuth schien jenseits des Schreckens. Anno Domini 1632: An diesem späten Februar-Nachmittag waren wir fast allein in der sauberen, kleinen Schenke. Der Kamin heizte, seine Züge waren in Ordnung, so daß der Rauch nicht die Augen tränen ließ. Der Wirt hatte uns untrüglichen Blickes eingeschätzt, also standen volle Weingläser vor uns. »Eigentlich ist es einfach«, sagte ich und deutete auf die Kreise der Landkarte. »Gustav Adolf will und muß jede Stadt, jedes Land - natürlich die protestantischen! - besetzen. Wenn alle Kreise protestantisch sind, hat er gewonnen.« Die junge Frau war als Offizier verkleidet. Dank ihres kurzen Haares und ihrer dunklen Stimme wirkte sie glaubwürdig. Unsere saubere, teure Kleidung wies uns als zahlungskräftige und »ordentliche« Menschen aus. In diesen Jahren war dieser Trick eine Lebensversicherung. »Und die Katholiken, die Liga, nehmen ihm diese Punkte oder Flächen wieder weg.« 275
»Richtig. Und umgekehrt. Und deshalb ziehen sie mit ihren Heeren kreuz und quer durch Deutschland. Gerade jetzt verlassen sie wieder die Winterlager.« Als gedankliches Modell war die Zeichnung durchaus brauchbar. Um zu verhindern, daß die entsprechende Besitzfläche von der Gegenpartei genommen wurde, griff jeweils der Gegner an oder drohte damit. Die Heere, waren sie einmal unterwegs, verwüsteten das Land und hinterließen breite Streifen aus Ruinen. Toten und Armut. Meist aber, und das würde diesem Land einmal das Überleben sichern, z)- gen die Heere den einfachsten Weg. nämlich entlang der Straßen. Die Wege, teilweise noch von den klugen römischen Baumeistern geplant, bildeten ein Netz. Der Raum zwischen den Knoten wurde oftmals gar nicht betreten: je schwieriger und wilder die Landschaft war, desto größere Chancen hatten die Bewohner, den Krieg zu überstehen. Es war wie im versteckten Tal von Beauvallon. »Herr Wirt?« Ein harscher Regenschauer schlug an die winzigen Glasscheiben. »Die Herren Obristen«, schmeichelte er. »Ihr habt hoffentlich Hunger?« »Hängt davon ab, was Ihr offeriert«, sagte ich. »Bringt noch mehr von dem Wein.« Er bot uns Steynbradt mit vil guet gruibenschmaltz an, Hirschenschlegl darzu semla dorttem und blauer Krautzchol, danach Käs vom Allgey in Walschland truknet, als Nachspeiß: Met-Truck in kalflwrn serviret. Wir bestellten für eine spätere Stunde. Ich lehnte mich auf der gepolsterten Bank zurück, blickte in die dunkelbraunen Augen Almuths und dachte nach. Die Probleme, die mich beschäftigten, hatten sich nicht geändert. Hatte ich mich verändert? War aus dem Kosmokolonisations-Infrastrukturplaner, dem Admiral und Kosmostrategen, unter dem Einfluß der Larsaf-III-Barbaren ein intellektueller Schwächling geworden? Warum setzte ich mich nicht an die Spitze meines Heeres und fegte all diese Taktierer, Schwachköpfe, Zauderer und Machtgeilen hinweg? Amaine, so heißt das treffende Stichwort, Haßliebe zu den Barbaren, erklärte ungefragt der Logiksektor. Zu diesem Problem, alle 276
wichtigen Entscheidungen mit der Arkonflotte zu lösen oder mit weltweitem Einsatz von Psychostrahlern, ist der Fremde hinzugekommen! Als ob ich das nicht selbst wüßte. Das Gestern war keineswegs von organischem Wachstum der Vernunft gekennzeichnet gewesen. Aber das Morgen versprach noch irrsinniger zu werden. Ich war darauf vorbereitet. »Du schläfst mit offenen Augen, Atlan«, sagte Almuth leise. »Woran denkst du?« »unter anderem daran, daß wohl Tilly und Gustav Adolf mit furchtbarem Zorn aufeinandertreffen werden. Bald, denke ich. Der Schwed’ hat schließlich bei Breitenfeld den alten Tilly besiegt.« »Und du wirst dabeisein?« »Ich denke, ich versuche, Gustav Adolf eines Besseren zu belehren.« »Es wird nichts nützen.« Nach einem künstlich verlängerten Tiefschlaf, dem Einwirken der Regenerationsroboter, dem Check durch die Medostation und genau berechnetem Essen, verbunden mit ablenkenden Äußerlichkeiten wie Musik, Helligkeit, Körperpflege und neue Kleidung, die flimmernde Technik und Bilder, die wie Erscheinungen wirkten, hatten die Geräte im Überlebenszylinder die junge Frau hoffentlich von den Psychosen befreit und sie an ein anderes Leben gewöhnt. Eine rätselhafte Scheu hielt uns davon ab, es miteinander ernsthaft zu versuchen. »Ich sehe mich nicht als Mann, der allen anderen die eigenen Entscheidungen abnimmt«, brummte ich ärgerlich und schaute zum Fenster hinaus. Der Regen war von einem flammenden Sonnenuntergang abgelöst worden, der rasch in einen Hagelschauer überging. »Es wären auch zu viele einzelne Entscheidungen«, sagte Almuth. »Viel zu viele. Mehr, als irgendeine Macht treffen könnte.« Das Essen war liebevoll und von einem Könner zubereitet. Wein. Bier und Met schmeckten, als wäre tiefster Friede. Als wir fast fertig waren, kamen ein halbes Dutzend würdig und klug aussehender Männer in die Gaststube und wurden untertänigst begrüßt. Sie setzten sich um den größten Tisch und diskutierten, was Tilly, der Kaiser. Maximilian und der Schwede mit ihren Zügen und Schlachten, die kreuz und 277
quer durch das Land führten, wohl vorhatten und wie man in Landsberg abschneiden würde, denn Augsburg lag nicht fern. Auch diese Innungsmeister. Ratsherren und Stadtschreiber waren sicher: Ein neuer, gewaltiger Zusammenstoß der Heere stand unmittelbar bevor. Die Zeit war überreif. Wenn Gustav Adolf starb, hatte er zumindest Deutschland gut kennenlernen können. Die Stationen, die er selbst, mit und ohne Heer, markierte, lasen sich wie ein Städte Verzeichnis: Berlin, Greifswald, Tangermünde, Brandenburg, Breitenfeld, Mainz, Würzburg, Ochsenfurt, Frankfurt, Hanau, Schweinfurt, Kitzingen, die Stadt saurer Weine, Nürnberg und Donauwörth. Auf ähnlich verschlungenen Wegen zog das Heer, das Tilly befehligte. Bei Rain am Lech, einem bedeutungslosen Dorf, trafen beide Heere aufeinander. Ich war dabei. Almuth hatte ich in Landsberg im Kloster zurück^lassen. Der zwölfte März sah mich im Lager der Schwedischen. Ich ritt durch die Lagergassen, begrüßte Ake Trott und Baner, Nils Brahe und Acker Gabbo, den Medicus. Man brachte mich zum Zelt des Königs. Ich konnte es nicht glauben, aber er freute sich, mich zu sehen - wie damals in den Stockholmer Schären und Wäldern, als er hinter den Mädchen und meinem Wein her war. »Nie kam ich dazu, Atlan, mich zu bedanken!« schrie er begeistert. Er war ein wenig angetrunken. »Die Finger sind steif geblieben, aber in der Schulter gibt’s keinen Schmerz mehr.« Wir umarmten uns. Ein Teil des Heeres, zumindest alle Offiziere, sah zu. Ich verschob die Erörterung wichtiger Dinge auf später; in dieser Stimmung war er vernünftigen Argumenten nicht zugänglich. »Du hast dich von deinen Ufern sehr weit entfernt«, wandte ich zögernd ein. »Ein weiter Weg zurück nach Schweden. Euer Liebden.« »Bekümmere dich nicht darum. Atlan. Bald werde ich siegreich in Stockholm einziehen.« »Was ist dein nächstes Ziel?« »Ich will mich der Donau bis gegen Ulm versichern. Nur noch über den Fluß, und wir sind gut auf dem Marsch.« 278
»Aber drüben wartet Tilly darauf, den Einfall nach Baiern abzuwehren«, gab ich zu bedenken. Er, im Siegesrausch, winkte ab und ließ Getränke bringen. »Ich habe knapp vierzigtausend Mann. Wer wollte mir widerstehen!« Ich hob den Pokal. »Nun, mein Platz wird wieder bei Acker Gabbo sein, und dessen Platz ist bei denen, die wieder zusammengeflickt werden müssen«, versicherte ich bitter und schloß mich Gustav Adolf an, der das zukünftige Schlachtfeld abritt und sich die Einzelheiten merkte. Mitte März war der Lech durch dbn schmelzenden Schnee im Gebirge angeschwollen. Bis hinauf nach Augsburg hatten Maximilians Truppen alle Brücken so weit zerstört, daß das reißende Wasser die Reste davongeschwemmt hatte. Schon jetzt zimmerten die wassergewohnten Schweden eine Brücke aus einzelnen Teilen, die man rasch zusammenfügen konnte. Boote waren ebensowenig zu sehen wie leichte Furten. Das gegenüberliegende Ufer lag beachtlich höher, und ein Angriff hügelan schien riskant. Ich enthielt mich der Meinung, aber Gustavs Generäle und Offiziere waren dagegen. »Ich weiß schon, was ich tun werde«, versicherte er listig und ließ Stroh herbeischaffen. Die schwedischen Geschütze wurden entlang des westlichen Ufers in einer weit auseinandergezogenen Reihe im guten Schutz der Fichten und Tannen aufgestellt. Das Wasser, grünlich-milchig, schoß dahin und wirbelte. An vielen Stellen war es schierer Selbstmord, hineinzureiten. Überdies war der Lech eisig kalt. Nicht einmal ich hätte den Angriff an dieser Stelle gewagt. Gustav Adolf glaubte, er sei unverwundbar und unsterblich. Am 13. Mai, spätabends, saß ich im Zelt des Königs, aß und trank mit ihm und hörte die Meldungen der Boten, die von umfangreichen und durchaus listigen Vorbereitungen berichteten. Dreihundert finnische Pioniere schliefen schon, bestens ausgerüstet und völlig nüchtern gehalten. An beiden Ufern markierten kleine Feuer in dieser kalten, zugigen Nacht nicht so sehr die Positionen der Gegner, sondern sollten von der wahren Stärke und Ausdehnung der Lager ablenken. 279
»Und der Wind, der Wolken jagt, trieb auch mich in ferne Lande. Doch ich ließ ihr unverzagt Mancherley zum Unterpfande.« So sang der unvermeidliche Troubadour gutgelaunt. Ich kam also doch noch in den Genuß aller Strophen, wenn ihn nicht morgen eine feindliche Kugel durchbohrte. Je mehr ich von Gustavs Strategie erfuhr, desto schlauer kam mir sein Plan vor. »Ein Paar Tauben gab ich ihr, einen Mandelzweig in Blüte: daß sie bis zur Rückkehr mir auch die Liebe gut behüte!« Von den Lagerfeuern und den Unterständen schrien die Soldaten: »Ruhe, du Krähe! Morgen müssen wir ausgeschlafen sein.« Beleidigt schwieg der Barde. Ich beschloß, ihn morgen um den restlichen Text zu bitten. Ich haßte unvollendete Lieder und halbleere Becher. Leise sprach Gustav von seinen Plänen, von seiner Gott^- sandtheit, von Erfolg und Mißerfolg. Ihm war nicht nur die Kriegsführung entglitten; es war geschehen, was mir einst Oxenstierna vorausgesagt hatte - er war sich selbst entglitten. Ich hörte schweigend und aufmerksam zu; wieder bestätigten sich meine schlimmsten Befürchtungen. Jeder Herrscher, jeder Mächtige berief sich auf göttliche Weisung. Was er tat, war richtig und wurde zum Recht, er hielt sich für unantastbar und kaum verwundbar. Die Herren in diesem Kontinent des Krieges, ihnen ging es gut. Am anderen Ende standen Bauern und Handwerker. Armut bedeutete Rechtlosigkeit. »Wir greifen noch vor dem Morgengrauen an!« entschied Gustav Adolf und gab zu verstehen, daß auch er schlafen wollte. Ich spannte die Hängematte zwischen baierische Tannen, wickelte mich in Mantel und Schlafsack und fand unter einem herrlichen Sternenhimmel ein paar Stunden Ruhe. Der erste Schuß aus dem schweren schwedischen Geschütz brachte mich auf die Beine. Die Generale und Christen des Königs gingen mit großer Kriegslist vor. Flußaufwärts war. offensichtlich von den Kaiserlichen unbe280
merkt, eine Schiffsbrücke gezimmert worden. Sie trieb mit der Strömung auf die vorgesehene Stelle zu. Gleichzeitig feuerten entlang des niedrigen Gleithangs sämtliche Geschütze ununterbrochen. Es war bekannt, daß die schwedischen Elitekanoniere dreimal so schnell luden und feuerten wie jedes andere Heer. Aus Baumstämmen wurden schenkeldicke Splitter gerissen, Schrapnellfetzen heulten durch die Luft, zerfetzten Äste und Büsche und ließen einen dauernden Regen aus Nadeln und Zapfen nieder^- hen. Jeder Fußbreit des gegenüberliegenden Geländes wurde aufgerissen und umgepflügt. Zwischen Baumstämmen heulten die Kugeln hindurch und suchten ihr Ziel in den Verschanzungen der maximilianischen Artillerie. An mindestens zehn Stellen - so viele zählte ich - wurde nasses Stroh angezündet. Zusammen mit ätzenden Pulvergasen entwickelte sich ein Vorhang aus Rauch und Qualm, den der erste zögerliche Morgenwind genau nach Ost trieb, über den dampfenden Fluß und den Steilhang hinauf. Lautlos, von langen Seilen gesichert, trieb die Brücke näher; ein mächtiges Gefüge aus ungeschälten Fichten- und Tannenstämmen, sauber verfugt und verzapft an den Enden und eines besseren Zweckes würdig. Die dreihundert Finnen, ein Trupp, der allein durch Aussehen und Benehmen kalte Furcht verbreitete, standen bereit. Sie waren mit Musketen und reichem Schanzwerkzeug ausgerüstet. Die schwedische Reiterei machte sich bereit. Die Felle der Pferde dampften, aus den Nüstern schien Rauch hervorzuquellen, und auch aus den Mündern der Reiter wehten fahle Wolken. Mit den Bildern, die Cirons Spionsonden aufnahmen, würde die Apokalypse des Johannes einzigartig illustriert werden können. In der Deckung der vielen Bäume machten sich die Abteilungen der Infanterie bereit, und unablässig galoppierte der König zwischen seinen Leuten hin und her. Die Brücke, die auch für uns kaum zu sehen war, rammte fast gleichzeitig beide Ufer und wurde von den Finnen an den Bäumen befestigt, die man in Hüfthöhe abgesägt hatte. 281
Die Finnen drangen über den Fluß. Lehm, Erde, Sägespäne und rauhe Bretter befanden sich als oberste Schicht auf den schwer eintauchenden Stämmen. Etwa drei Dutzend Kanonenschüsse hatten die Schweden an Vorsprung gehabt. Seit dem ersten Morgengrauen wurde zurückgeschossen. Maximilians und Tillys Batterien hatten sich in der hügeligen Landschaft gut verschanzt und feuerten aus allen Rohren; langsamer als die Schweden, aber nicht weniger gut gezielt. Nach den ersten Salven, die das Lechwasser in hohen Fontänen aufspritzen ließen oder hoch über unsere Köpfe und Zeltspitzen hinwegorgelten, trafen auch die Kaiserlichen in die Masse der schwedischen Krieger. Aber noch während der gegnerische Beschuß anfing, waren Gustavs Soldaten flußauf- und -abwärts ausgewichen, so weit es ging. Noch brannte das Stroh, aber der Wind hatte aufgefrischt, und so gab es große Lücken in der undurchdringlichen Wand. Tillys vor^- schobene Späher meldeten sichtlich erschrocken, daß die Brücke wie aus dem Nichts aufgetaucht war, daß die Finnen in einem Pulk die Balkenkonstruktion überquert und am Ufer damit angefangen hatten, in rasender Eile Verschanzungen für die leichten Geschütze und eine Rampe aufzuwerfen, über die Reiterei und nach den Gespannen der Geschütze auch die Infanterie das gegnerische Ufer schnell erreichen konnten. Tillys und Maximilians Artillerie nahm den Brückenkopf unter gpzieltes Feuer. Aber der zeitliche Vorsprung hatte zunächst genügt. Unter dem Hagel der Geschütze drangen die Truppen über den Fluß, die schwedischen Geschütze gingen in Stellung und schossen in lasenden Folgen. Ich sah verblüfft, daß der alte Feldmarschall Tilly selbst eingriff. Wahrscheinlich ärgerte es ihn bis aufs Blut, daß Gustav Adolf bei seinem Erkundungsritt mit kaiserlichen Wachposten rauhe Soldatenscherze ausgetauscht hatte. Die Reiterei und einige Gruppen Infanterie stürmten den Hügel hinunter und griffen die Finnen und die Ceschützmannschaften an. Wütendes Feuer schlug Tillys Männern entgegen, als sie hinter der Fahne ritten und rannten. Die Schweden rückten unaufhaltsam nach; immer mehr Männer ergossen sich, wild 282
feuernd, schreiend und johlend, vom Brückenende fächerförmig auf das zerwühlte und von zahllosen Kratern bedeckte gegnerische Ufer. Tilly ließ die Fahne los. Bevor sie in den Schlamm fiel, packte sie ein anderer Reiter. Der Greis faßte sich, aufschreiend, an den rechten Schenkel. Er war getroffen worden, offensichtlich von einem Geschoß, das ihm das Bein halb zerschmettert hatte. Sofort war er von einer Gruppe Reiter umringt, die ihn schnell und sicher davonbrachten. Hügelaufwärts zersplitterte der Kampf in einzelne kleine Gefechte. Reiter schlugen aufeinander ein, feuerten aufeinander, und die Fußkämpfer stachen und hieben auf diejenigen ein, die am Boden lagen. Die Gegner unterschieden sich nur durch Schärpen, durch die Form und den Zierat auf Helmen und Harnischen, und es war durchaus möglich, daß sich Kaiserliche gegenseitig umbrachten. Auch Aldringer wurde getroffen. Unter seiner Eisenhaube, die weit aufgerissen wurde, strömte Blut hervor. Es waren nur wenige Minuten, so schätzte ich, seit dem schweren Treffer vergangen, den Tilly erhalten hatte. Maximilian ließ Zeichen geben. Während die Schweden ungestüm nachdrängten, zog sich das Heer der Kaiserlichen und der Baiern zurück. Zuerst erfolgte die Absetzbewegung unter den hellen Signalen der Trompeten noch Schritt um Schritt, und je mehr Zeit verging, desto hastiger rannten und flüchteten die Baiern. Das Geschützfeuer der Schweden, die einen Vorstoß der Reiter auf den bairischen Flügel unterstützten, war von kalter Unbarmherzigkeit. Es ging der Reiterei, die dem Kampf entgegengefiebert hatte, nicht schnell genug. An beiden Seiten der Brücke spornten und peitschten sie die Pferde durch das eisige Gletscherwasser des reißenden Gebirgsflusses. Die Massenflucht der Baiern riß alles mit sich fort, und erst Gustav Adolf, der mitten zwischen seinen Truppen ritt, konnte die nutzlose Verfolgung anhalten. Ich saß still da, hatte den Griff des schweren Strahlers in der Hand und wartete. Einige Stunden später befanden sich der größte Teil des Heeres und die Voraustruppe des Trosses auf dem gegenüberliegenden Ufer. Es dauerte einen ganzen Tag. bis die dreieinhalbtausend 283
Toten zusammengetragen, die Geschütze in die Artillerie eingegliedert und der Troß der Baiern nach den makabren Regeln des Krieges aufgeteilt waren. Zunächst sammelten sich die Reiter und wollten die Baiern verfo 1gen. Tilly wurde in einer Sänfte mitgeschleppt, als sich Maximilian mit den demoralisierten Resten des Heeres auf Ingolstadt zurückzog. Aber wieder war Gustav schlauer; diesmal glaubte er mir, als ich ihn warnte. Ich verwendete die Informationen einer Sonde, die einen nahenden Sturm festgestellt hatte. Die Schweden bewegten sich geradeaus und errichteten ein Lager, das ihnen Sicherheit geben konnte. Der König befahl; alle gehorchten. Man sah kaum Zelte in diesen Stunden: Unterstände wurden rund um die schweren Kanonen errichtet, weitere Bäume wurden gefällt, massive Dächer flocht man aus Zweigen. Und wenn man Zelte aufstellte, dann beschwerte man die Schnüre, verstärkte die Stangen und achtete darauf, die ledernen oder leinenen Unterstände im Windschatten zu errichten. In der folgenden Nacht, schon während der Abenddämmerung, kroch die Sturmwalze, vermischt mit warmer Luft, von den Alpen heran. In den Baumkronen erhob sich ein unheilvolles Rauschen. Aus den Feuern zogen lange Flammen und Funkenregen. Alle Pferde und die räudigen Hunde, von denen das Heer begleitet wurde, waren unruhig und verängstigt. Die Pferde band man an dicke Baumstämme, viele Feuer wurden gelöscht. Der Sturm war am Abend noch nicht schlimm, aber in der Nacht steigerte er sich zu einem Orkan. Zunächst war der Himmel völlig klar gewesen, dann aber wechselten Gewitter, Sturm und Regen in schnellem Wechsel miteinander ab. Am Morgen, an dem es von jedem Baum troff und tropfte, erkannten die Schweden, daß die Wege in alle Richtungen von entwurzelten Bäumen, heruntergerissenen Ästen und zerbrochenen Stämmen versperrt waren. Dennoch war der König zufrieden. »Ganz Baiern liegt offen vor mir. Die nächste Stadt, die fallen wird, ist Augsburg.« Ich konnte ihn nicht aufhalten. Er ließ sich nicht beeinflussen. Nicht mehr; es war zu spät. Ich beschloß, die Gegenseite aufzusu284
chen, holte Informationen ein, ritt zurück zum Kloster und nahm die junge Frau in ihrer Verkleidung auf den langen Ritt abseits der großen Straßen mit. Ich wollte jenen Mann kennenlernen, der auf seine ganz einmalige Weise diesen Krieg förderte. Er selbst war durch den Krieg zum reichsten Mann in Europa geworden, hieß es: Wallenstein, der Friedländer, der Horoskopgläubige. Die vierzehn Jahre, während denen Maximilians Baiern von den Heeren verschont geblieben waren, gingen zu Ende, als Gustav Adolf den Lech überschritt. Er schien seit diesem Tag nicht mehr derjenige zu sein, als den ich ihn kannte: Er wies sein Heer an, Baiern zu verwüsten. Seine Generale schickte er in alle Gegenden, verschonte indessen das reiche München, zog aber selbst hin und her, als sei er ein blinder Käfer auf einer Landkarte. Sein vorläufig letztes Ziel war Nürnberg, wo sich seine Armee verschanzte. Wallenstein sollte sich an dieser Festung zu Tode kämpfen, wenigstens so lange, bis der Schwede so viele neue Soldaten gesammelt hatte, daß er den Kaiser, Wallenstein und Maximilian zusammen besiegen konnte. Ich hatte meinen Ritt die Rednitz entlang beendet und wartete darauf, von Wallenstein als Meister des Festungsbaus, Magister medic inae und, von einigen italienischen Principil recommandiret, als Fachmann für Brunnenbau eingestellt zu werden. Der gnädige Herr ließ sich reichlich Zeit. Das Lager erstreckte sich meilenweit im Westen Nürnbergs, im Osten von der Rednitz geschützt, in die aus Westen die Bibert einfloß, im Norden gab es, inmitten der Wälder, die jetzt schonungslos niedergelegt wurden, einen Hügelkamm, im Norden eine Burgruine auf einer baumbestandenen Höhe, die sich »Alte Veste« nannte. Mir hatte man mitgeteilt, daß etwas weniger als fünfundvierzigtausend Menschen hier versammelt waren. Tausend Männer verwandelten die Ortschaften Zirndorf, UnterAsbach, Kreutles und Altenberg in ein System von Schanzen, Palisadenwänden, Laufgräben und Unterständen für Mann und Tier. Nord und Ost waren am stärksten geschützt. Der Sommer schien sehr heiß werden zu wollen. Die Rohre der Kanonen verströmten schon jetzt unangenehme Wärme. 285
Wallenstein wohnte in einer hölzernen Baracke, deren Inneres seinen Hang zu Luxus und Ruhe widerspiegelte. Ich wurde über dicke Teppiche zu seinem Schreibtisch geführt, einem mächtigen M)bel, das voller Papier und Schreibzeug war. Sein Bein streckte er ^rade von sich; es steckte in dicken Binden und roch nicht gut. Mit dem Blick dessen, der sich ungern an langen Texten aufhielt, studierte er Siegel und Unterschriften, schien sich zu erinnern und gab mir die kostbaren Fälschungen zurück. »Es soll sein«, erklärte er. Ein Fingerschnippen rief den Schreiber herbei. »Er schreibe, fix, dem Cavaliere Atlan de Beauvallon eine Ausrichtung! Er wird den Herren Offizieren gründlich sagen, wie sie besser zu schanzen vermögen. Er hat ungehindert überall freien Zugang.« »Danke, Feldherr«, murmelte ich. Der Schreiber verbeugte sich wortlos und begann zu kritzeln. Im ständigen Kommen und Gehen von Boten, die Nachrichten ablieferten und Antworten zurückbrachten, war eine Pause entstanden. Ich stand ruhig da und machte mir Gedanken über den Herzog von Friedland. Es waren nicht die ersten und würden sicherlich nicht die letzten sein. Wallenstein war jetzt nicht mehr von statuarischer Wucht, sondern abgemagert und von ansteckender Griesgrämigkeit, die seine Unzufriedenheit mit dem Lauf der Welt ausdrückte. Sein dunkles Haar war dünner geworden und von grauen Strähnen durchsetzt, ebenso sein Bart, den er ähnlich wie Gustav Adolf trug. Wallenstein war kein angenehmer Charakter, aber er schien auch nicht geistig krank zu sein. In einem Gesicht von ungesunder Farbe waren die Augen von Schlaflosigkeit gezeichnet. Ihm, der Lärm geradezu pathologisch haßte, mußte das geräuschvolle Treiben in den dichten Reihen der Zelte um sein Häuschen herum höllisch vorkommen. Wallenstein zeigte eine fast maskenhafte Beherrschung. Sein Atem roch nach übersäuertem Magen, seine Hände, von der Gicht gpplagt, spielten mit Briefen und der Petschaft. Wandborde und Schränke waren übersät und angefüllt mit Beuteln, Flaschen. Döschen und Krügen mit schwungvoll beschrifteten Etiketten. In der stillen Behausung stank es wie in einer Apotheke. Der Schreiber faltete den 286
Brief, legte ihn Wallenstein vor, und er setzte seine wild geschwungene Unterschrift darunter, siege Ite und gab das Schreiben in meine Hand. »Der Schwede ist stark«, murmelte Wallenstein. »Und er darf sich dorten nicht halten dürfen. Hunger und Mangel anforagi werden ihn hinwegtreiben. Ihr sorgt dafür, Cavaliere?« »Ich tue, wie stets, mein Bestes«, versicherte ich, machte eine militärische Kehrtwende und sah zu, daß ich ins Freie kam. Die Kanzlei, die Stabsoffiziere, die Pferde des Wallenstein unter einem festen Dach: geräuschvolles Gewimmel herrschte zwischen zahllosen Zelten. Diener stritten sich an der nahen Quelle um Wasser, der Bach glitt trübe unter den Bäumen vorbei. In der Sommerhitze breitete sich Gestank aus: Ich hatte nichts anderes erwartet. An die fünfzigtausend Menschen, die vielen Pferde, der Rauch der unzähligen Feuerstellen, die offenen Latrinen... bei Windstille bildeten diese Gerüche einen Nebel, der zwischen den Stämmen hing und nichts Gutes verhieß. Meine Pferde, Beutetiere aus der Bataille bei Rain am Lech, hatte ich so weit wie möglich entfernt bei einem Bauern gelassen und ihn gut für Pflege und Futter und das Aufpassen auf die Sättel bezahlt. Ich richtete meinen Blick nachdenklich auf die Galgen. Es gab von ihnen vier Stück, an denen reglos die Schlingen baumelten. Munitionsplätze, sorgfältig umzäunt, Kochstellen und die Marketenderinnen waren weitere Einzelheiten aus dem Gewimmel dieser langgestreckten Bastion. Ich ging, sämtliche Aktivitäten genau registrierend, entschlossen hinauf zur Alten Veste und sah recht bald, daß mit weniger zersägten Baumstämmen unterhalb der Ruine weitaus mehr an vernünftigen Schanzen und Schutzgängen hergestellt werden konnte, als die Offiziere ahnten. Bis zum Anfang des Monats August war diese Beratung meine Hauptaufgabe. Aber immer stärker kam ein anderes Problem auf uns alle zu. Es war zu erwarten gewesen, aber die schwüle Hitze im Juli und auch an diesen Tagen verschlimmerte die Zustände und machte die Lage unerträglicher von Tag zu Tag: Krankheiten brachen aus, die Anzahl der Befallenen nahm von Tag zu Tag zu. Ich blieb ver287
schont, weil ich meist meine Konzentratnahrung aß und trotz des Zellaktivators selbst den kleinsten Schluck Wasser abkochte. Myriaden Fliegen, Würmer und Stechmücken übertrugen die Bakterien mit großem Erfolg. Jede Berührung mit feuchten Fingern, jeder Kuß der Soldatendirnen, die schlecht zubereiteten Nahrungsmittel und das verdorbene Wasser der Bäche verschlimmerten die Situation. Ich kannte diese Krankheit; sie schlug mit gnadenloser Gleichgültigkeit nach jedem. Ich wurde in den Karzer gerufen, weil sich herausgestellt hatte, daß ich Abhilfe schaffen konnte in viel zu geringem Maß. Hinter den Gitterstäben aus Holz, meist an dünnen Ketten, oft mit eisernen Schellen, die um beide Handgelenke festgeschlossen waren, lagen die stöhnenden Kranken auf verkotetem Stroh. Übelkeit und blutiger Durchfall ließen ihre Kräfte rapide verfallen. Bei jenen, die schon lange hier lagen, war die Bedrohung lebensgefährlich. »Bringt die Leute hinaus! Frische Luft, Schatten, Sauberkeit!« Ich packte ein paar der Handschellen. Sie waren breiter als meine Hand und hatten mit ihren schartigen Rändern tiefe, eiternde Wunden hinterlassen. »In drei Tagen lebt keiner von diesen Männern mehr«, wiederholte ich. Der Profos zuckte mit den Achseln. »Was soll ich tun?« »Die Leute brauchen Ruhe, dürfen nichts Fettes essen - aber sie sind jetzt auch nicht in der Lage, etwas zu kauen. Kocht Tee, gebt ihnen Schleimsuppen, später Mehl- oder Schrotbrei! Der Dreck, in dem die Leute leben müssen, wird euch alle umbringen.« Ketten, Handschellen, schmalere und breitere, Ruten und Stöcke hingen und kgen auf einem Gestell außerhalb des unerträglich stinkenden Gefängnisses. »Ich werde mit dem Obristen reden«, versicherte der Profos. »Ich kann nichts tun.« »Sage ihm«, versuchte ich zu erklären, »daß Wallenstein mit Kranken, Sterbenden und Toten nicht gegen Gustav Adolf kämpfen kann, und wenn sich zwei Leute um einen Sterbenden kümmern müssen, braucht der Schwede nicht einmal zu kämpfen.« 288
»Wahrscheinlich hast du Jecht, Cavaliere«, brummte mein Gegenüber und ging davon. Ich fühlte mich durch den Zellschwingungsaktivator geschützt. War ein Mensch in Wallensteins Lager angesteckt, dann war er wenn nichts zu seiner Hilfe getan wurde - in zwanzig Tagen tot. Daß Wallensteins Organisation, die sich aus der Umgebung und über Essenstransporte von weit her ernährte, den Kranken fast nicht mehr helfen konnte, wußte selbst der Feldherr. Rührte es ihn nicht? Die Vision, daß vielleicht die Hälfte aller Kinder, Mädchen und Frauen, Soldaten und Einwohner der vier Dörfer ihr Leben mit Darmkrämpfen und in blutiger Entkräftung hier beenden würde, schien ihm fremd zu sein. Ich vermochte nicht, einige tausend Leute zu heilen. Die nächsten elf Tage verbrachte ich damit, Verschanzungen fertigzustellen, Ratschläge für einen bevorstehenden Angriff des schwedischen Königs zu geben und den Opfern der Bakterienkrankheit zu helfen. Aber selbst meine Anstrengungen reichten nicht aus. Einer nach dem anderen starb und wurde verscharrt. Viele Kranke brachte man mit denselben Wagen, die Nahrungsmittel aus der Umgebung herbeikarrten, bis nach Eichstätt oder gar nach Regensburg. Wallensteins Soldaten taten, was sie konnten, aber einer nach dem anderen starb im schwärenden Lager. Einer, dann vier, schließlich sechzehn und vierundsechzig. Es gab Beispiele für wunderbare Heilungen ebenso wie für qualvolles Massensterben. Ich versuchte, tiefe Brunnen bohren zu lassen - die Arbeiter waren zu kraftlos. Ich las die Kapitel aus dem Kräuterbuch des Heidelberger Arztes Jacobus Theodorus, Tabernaemontanus genannt, den einflußreichen Männern vor... das gesammelte Wissen von mehr als dreitausend pflanzlichen Heilkombinationen des »New und vollkommen Kräuterbuchs« beeindruckte niemanden. Roh, nichts begreifend, gleichermaßen gottsuchend und ahnungslos schauten die Obristen zu, wie ihre Krieger starben. Selbst fch erschrak, als ich die Zahl der qualvoll gestorbenen lagerinsassen erfuhr: Es waren mehr als elftausend! 289
Ich bewegte mich wie in Trance zwischen den Männern in Wallensteins Lager und wußte, daß das Heer des Schweden ebenso unter Mangel und Krankheiten litt. Tilly war an seiner schweren Verletzung gestorben, die er in Rain erlitten hatte; Aldringen hatte sich erholt. Ich erfuhr, daß innerhalb von fünfzehn Tagen Gustav Adolf rund fünfzehntausend Männer durch Desertion und Krankheit verlor. Beide Feldherren warteten ab, belauerten einander, wagten einze 1ne Ausfalle, die jedesmal zurückgeschlagen wurden. Plötzliche Schußwechsel dienten mehr der Einrichtung und dem Zielen der eingegrabenen Geschütze. Sie riefen nur marginale Verluste hervor. Die schwerbeladenen Wagen, die in Kolonnen und wegen der Vorräte schwer bewacht waren, wurden jeweils vom Gegner angegriffen einige verbrannten, andere kamen durch, wieder andere waren willkommene Beute. Die Schweden fraßen Nürnberg förmlich leer, und wieder waren es die Birger, die erbärmliche Not litten. Aus unterschiedlichen Richtungen näherten sich die Teilheere Gustav Adolfs und vereinigten sich mit ihm. Ich sah ein, daß einerseits meine Dienste nicht mehr gebraucht wurden, andererseits die Zeit ablief und meine Vorräte an luftdicht versiegelten, teeartigen Getränken nur noch wenige Tage reichten. Wieder wurde ich von den Ereignissen gepackt, festgehalten und mitgerissen. Am letzten Tag des August postierte Gustav Adolf sein Heer rechts der Rednitz, gegenüber Wallensteins Lager. Ununterbrochen dröhnten die schweren Geschütze beider Seiten. Wallenstein, der im roten Mantel über der schwarzen Rüstung durch sein Lager ritt, wußte, daß der Fluß und der Sumpf ihn an dieser Stelle schützten. Ich inspizierte die Schanzen, die unter meiner Leitung verbessert worden waren, und konnte sehen, daß die Kanoniere hinter den Wällen, Palisaden und Abweisern unversehrt waren. Die entkräfteten Männer bedankten sich bei mir. Vom höchsten Punkt der Alten Veste betrachtete ich den riesenhaften Aufmarsch der Schweden; wahrscheinlich würde Gustav das stinkende, ausgetrocknete Flüßchen überschreiten und im Norden angreifen. Unter dem ständigen Dröhnen der Artillerie und den vernichtenden Einschlägen kletterte ich aus den Laufgräben. 290
Plötzlich zügslte der Feldherr sein Pferd neben mir. Er nahm den prunkvollen Federhut ab, schwenkte ihn mit anerkennendem Gruß und nickte mir zu. »Wohl geschafft, Cavaliere!« rief er. »Alle Kanoniere werden es Euch danken. Ich nit minder!« Ein Schrapnell schlug in der Nähe ein und detonierte. Der Explosionsdruck wirbelte Holzsplitter und Staub durch die Luft, riß Wallenstein den Hut aus der Hand und ließ ihn zwischen die zersplitterten Stämme segeln. Das Pferd scheute und zwang den Reiter in einem bockigen Galopp den Ziehweg abwärts. In den Staubwirbeln lief ich zu den Kiefernwurzeln und hob den verstaubten schwarzen Hut auf. Wallenstein war vorläufig verschwunden. Ich staubte den Hut ab, schüttelte Kiefernnadeln heraus und bemerkte am Etikett eines Breslauer Hutmachers, daß die Kopfzier samt auffallender Feder und Silberschnalle am Band so gut wie neu war. Im Kopfteil war ein dünner Schutz aus Eisenblech eingearbeitet. Als ich eine halbe Stunde später den Feldherrn noch immer nicht gefunden hatte, setzte ich den Hut selbst auf und machte mich auf den Weg zu meinen Pferden. Verständlicherweise hatte ich nicht die Absicht, während der Kämpfe verwundet zu werden oder mich töten zu lassen. Auch meine Pferde sahen nicht mehr sonderlich gut aus; der Bauer war froh, denn Stroh, Grünfutter und Hafer gingen zur Neige. Bedächtig sattelte ich den Hengst und belud den Wallach mit den schweren Packtaschen. Binnen eines Tages konnte ich auf schmalen Pfaden in Sicherheit sein, aber ich mußte damit rechnen, daß mich sowohl Plünderer als auch hungernde Bürger überfielen. »Ich wünsche Euch, Herr, eine gute Zeit«, sagte der hohlwangige Bauer. »Bessere, als wir haben.« Ich gab ihm fünf kleine Silbermünzen. Sonst konnte ich nichts mehr für ihn und seinesgleichen tun. Ich stieg, den schönen neuen Hut auf dem Kopf, in die Steigbügel. »Lebt wohl«, sagte ich. »In ein paar Tagen bekommt ihr viel .Arbeit. Es wird ein großes Begraben geben.« Bauer Franz brachte mich bis zum Zaun. Dahinter lagen verwüstete Äcker, Wiesen und Felder. Hinter mir wurde der Lärm der schweren 291
Stücke leiser, aber der Wind trieb den Geruch nach Pulverrauch und Brand nach O&ten. In der folgenden Nacht wagte auch keiner der Gegner, den anderen massiert anzugreifen. Zwischen dem ersten und zweiten September bewegte sich Gustav Adolf nach Fürth, und Wallenstein willigte am dritten in den Kampf ein. Ich beobachtete die Kämpfe mit Spionsonden aus ungefährlicher Entfernung. Im Westen baute sich ein herrlicher Gewittersturm auf. Das Ziel der vereinigten schwedischen Angreifer war der Hügel der Veste. Die schwedischen Reiter ließen sich von einem Manöver des Friedländers ablenken und suchten ihn vergeblich im Südwesten des Festungslagers. Das Angriffsziel Gustav Adolfs am dritten September war die Alte Veste. Ein weiter Hügel, den Wallensteinschen Batterien gegenüber, bot sich als neue Stellung der schwedischen Artillerie an. Die leichten schwedischen Geschütze, Pulver und Munition, die Kanoniere, das alles rasselte und rannte zwischen den Reitern und Infanteristen in die Richtung der Hügel. Ich hätte nicht gedacht, daß sich Gustav Adolf in diese Falle locken lassen würde. Beide Hügel, besonders der, den ich zu befestigen gpholfen hatte, offenbarten schnell ihren wahren Charakter. Sie schienen sich in tödliche Vulkane zu verwandeln. Die kaiserliche und baierische Armee, die aus dem Westen in das eigene Lager zurückmarschiert war, warf sich den Angreifern entgegen. Unzählige Geschütze feuerten ununterbrochen. Nach zwei Stunden wurden erschöpfte Mannschaften durch frische Kräfte ersetzt. Aus den Verstecken in den Wäldern galoppierten die Musketiere des Friedländers auf die überraschten Schweden los. Die Erde bebte, der Schall war etliche Dörfer weit entfernt noch zu laut für die Ohren. Die Gegenwehr der Schweden konnte die Kanoniere nicht erschüttern. Sie waren hinter den Verkleidungen in Sicherheit. Meist ragten nur die Rohre der Geschütze aus den Erdwällen hervor. Aus den Mündungen fuhren lange Feuerstrahlen, der Rauch blieb zwischen den Stämmen und verdunkelte den Tag. Wallenstein war außer sich; er schien um fünfzehn Jahre jünger geworden zu sein in diesen lan292
gen Stunden des Todes. Er galoppierte umher, schien an jeder Stelle gleichzeitig zu sein, lobte und lachte und streute goldene Dukaten unter sein Kriegsvolk. Der Kampf fand kein Ende, Angriffe und Verteidigung lösten an unzähligen Stellen einander ab. Die Generäle Fugger, Carraffa und Chiesa waren auf Wallensteins Seite gefallen. An Munition und Todesmut fehlte es nicht. Die Schweden wurden vom gegnerischen Feuer vertrieben. Die Feld^- schütze dröhnten und krachten Stunde um Stunde. Die Hänge wimmelten von Leuten, die Geschosse und Pulver schleppten. Herrenlose Pferde irrten durch das Lager des Friedländers. Verwundete, Sterbende und Tote bildeten am Abend, als das Gewitter herangekommen war und seinen Regen über die rauchende, brennende und staubende Landschaft ausschüttete, eine schlimme Bevölkerung des Waldes. Die Bäche stauten sich an den Wällen aus Pferdekadavern, Leichen und Ausrüstung. Gefangene wurden auf beiden Seiten dazu gezwungen, die Verwundeten aus dem Feuer zu schleppen. Im strömenden Regen, im ruhiger werdenden Geschützfeuer zogen sich die Schweden zurück. Bis zum Achtzehnten dieses Monats hielt es Gustav Adolf noch aus. Sein Kriegsrat unterbreitete Wallenstein ein Angebot, dessen Bedeutung ich nicht kannte, aber in jedem Fall lehnte der Friedländer ab. Das schwedische Heer aus siebenundzwanzig Tausendschaften also hatte Gustav achtzehntausend Soldaten eingebüßt, dazu kamen etwa dreißigtausend Opfer unter Nürnbergs Bevölkerung - zog in vorbildlicher Ordnung ab. Auch in den folgenden sechs Wochen verfolgte ich in der ruhigen Abgeschiedenheit meiner Höhle das weitere Marschieren der Heere und die Verelendung des Landes. Recht beziehungslos hing neben einem Teil meiner Ausrüstung Wallensteins schwarzer Hut auf dem Ständer. An einem teuer erworbenen Gemälde würde ich in ferner Zukunft mehr Freude haben. Es zeigte Johan Amos Komensky, g?- malt von Anthonis van Dyck; ein geistiger Würdenträger und Pädagoge, der »eynen Sokken strikkent« in einer Kutsche an einer geplünderten Stadt vorbeifuhr. Hier, in gedämpftem Pathos und satten 293
Farben, bis ins winzigste Detail hervorragend beobachtet, sah ich eine Chronik aller Verwüstungen dieses langen Krieges. Ich blieb allein. Almuth war aus dem Kloster verschwunden und hatte sich in den Wirren des langen Krieges verloren. Ich besuchte Malte Uhlenhorst und schleppte zwei Säcke voller nützlicher Ausrüstung mit. Mittlerweile machte ich mir Sorgen um meine kleine Pferdeherde. Immer wieder kaufte oder erbeutete ich Pferde und brachte sie schließlich in die Nähe meines Verstecks. Sie weideten im Freien und waren zwar entdeckt, aber nicht gefangen worden. Ausgeschlafen, in frischer Kleidung und satt, die Säcke über den Schultern, mherte ich mich der Höhle des Alten. Das Deflektorfeld machte den Gleiter unsichtbar. »Malte!« rief ich. »Komm heraus! Hilf mir tragen!« Es roch nach kaltem Rauch, nach Schweiß und feuchtem Abfall. Das einigermaßen melodische Pfeifen der Hirtenflöte riß ab. Ich rief noch einmal, und Malte stolperte aus dem verwahrlosten Eingang. Er sprang wie ein junger Mann den Pfad herunter und packte einen Sack. »Atlan! Ich war sicher, ich sehe dich niemals wieder.« Ich stellte das Gepäck neben dem Eingang ab und antwortete: »Ich kam, weil du mit der Körperpflege um drei Jahre im Rückstand bist.« Malte machte ein bedenkliches Gesicht. In seiner Höhle sah es unbeschreiblich aus. Er riß die Säcke auf und sortierte den Inhalt. Er freute sich mehr als ein Kind über das Essen, Wein und Bier, ein paar Bücher, etliches Schreibzeug, vielerlei Kleidung und Tücher samt Seife, Messern und vielen Kerzen und Lampenöl. Ich packte meinen Becher aus, goß aus meinem Vorratsbehälter frisches Bier hinein und setzte mich auf die gemauerte Bank neben der Feuerstelle. »Ich habe den Krieg und das Elend selbst gesehen, mit eigenen Augen. Was sah dein Zweites Gesicht. Spökenkieker?« »Ich sah viel. Ich sah wahrscheinlich alles, Atlan. Noch zweimal zehn Jahre. Wir werden das Ende nicht mehr erleben«, brummte er und hielt mir in deutlicher Aufforderung einen zerbeulten Zinnbecher entgegen. »Der weißhaarige Tilly - tot, nicht wahr?« »Du weißt es?« 294
Bier gluckerte schäumend in den Becher, der Schaum fiel jäh zisammen. Malte nickte. »Bald werden sie alle gestorben sein. Der Schwed’, Wallenstein... ein übles Ende wird man ihm schaffen, sage ich. Alle. Vielleicht auch du.« Jetzt war ich beunruhigt. »Hast du etwas gesehen?« »Nicht deinen Tod, Atlan, nicht draußen im Krieg. Aber ich habe große Gefahren für dich gesehen, mein weißhaariger Freund.« Ich leerte bedachtsam nicht nur einen Becher. Dann zwang ich den Eremiten, seine Höhle auszumisten und die Hälfte seiner kuriosen Sammlung zu verbrennen. Wir mauerten den Rauchabzug neu, säuberten den Boden, und als es mitten in der Nacht wieder gpwitterte, wuschen wir uns gründlich, trockneten uns gegenseitig, und ich brachte sein Haar und seinen Bart in Ordnung. In den frischen Kleidungsstücken wirkte Malte gut genug für weitere zwanzig Jahre Prophezeiungen. Im Kerzenlicht sprachen wir bis zum Morgengrauen über die Zukunft, und das wenige, das er mir über mein angebliches Schicksal sagen konnte, klang nicht gut. Nicht für mich. Als ich im hellen Sonnenschein den Gleiter in die Höhle zurücksteuerte, hatte ich meine Schwierigkeiten und rammte drei massive Buchenstämme. 295
8. Von Nürnberg nach Donauwörth, über Windsheim, dann über Schweinfurt nach Erfurt - so zog das schwedische Heer Anno Domini 1632 weiter. Dann ging es auf Leipzig zu. Gustav Adolf schien alles auf die Karte des letzten Gefechts zu setzen. In Breitenfeld hatte er vor einem Jahr gesiegt, dort kannte er das Land. Wallenstein, der seine Truppen ins Winterlager führte, schien sie um sein Schloß zu Lützen sammeln zu wollen. Ich ließ noch einmal die Aufzeichnungen ablaufen, erkannte den Barden wieder, den Medicus, den Kameraden einiger wilder Ritte und Jagden. Ich entschloß mich nach langer Selbstprüfung, Gustav Adolf aufzusuchen und ihm diesen Krieg auszureden. Nach meinen Berechnungen war er noch nie in solch großer Ohnmacht gewesen. Die Wahrscheinlichkeit des eigenen Scheiterns hatte ich in meine Überlegungen einbezogen. Zuerst suchte ich die drei besten und kräftigsten Pferde aus meiner Herde heraus, trieb den Rest über Land und verschenkte die Tiere an die Bauern des nächsten Weilers. Dieses Mal überprüfte ich die gesamte Ausrüstung mehrmals, überlegte lange, belud den Gleiter mit allergrößter Sorgfalt. Mit Ciron sprach ich die Stationen eines langen Rittes bis in alle Einzelheiten ab. Hinter mir blieb die Höhle zurück, dreifach gesichert und voll aktivierter Kampfmaschinen. Ich brach noch vor Tag auf und wechselte jede Stunde die Pferde. Hoch über mir schwebte der Gleiter. Ab und zu sah ich das verstohlene Aufblitzen der Sonden, die Ciron steuerte. Auf den Straßen, die ich lange beobachtet hatte, begegneten mir an diesem Herbsttag nur wenige Gespanne, hingegen viele Menschen, die so aussahen, als habe sie der Krieg hierher verschlagen und sie hätten kein festes Ziel auf ihrer armseligen Wanderung. Ich galoppierte vorbei. Gustav Adolf wollte nach Leipzig, das wußte ich. Ich schlief in verlassenen Häusern, mied jedes Lagerfeuer und hielt alle Abwehreinrichtungen aktiviert. Vier, fünf Stunden unruhiger Schlaf mit schmerzenden Muskeln, ein hastiges Essen, etwas Milch 296
oder gemischter Wein, dann zurrte ich den Sattelgurt fest und jagte weiter. Ich erreichte Außer Schweßwitz, einen Weiler zwischen Halle und Lützen, an einem frühen Abend. Die Spuren der Schweden und Wallensteins waren nicht zu übersehen. Ich sprang aus dem Sattel, kontrollierte mein Körperschutzfeld und klopfte an die Tür des am besten erhaltenen Hauses. Ein bärtiger Mann mit sorgenvollem Gesicht öffnete einen Spaltbreit. Ich versuchte, beruhigend zu lächeln, und sagte: »Ich bin reisender Medicus und Gelehrter. Ich brauche Unterstand für drei Pferde; für mich einen ruhigen Winkel. Vielleicht etwas warmes Essen. Ich zahle gut, und ich werde auch nicht von Soldaten verfolgt. Kann ich mit Eurer Hilfe rechnen?« Er zögerte und schwieg. Mißtrauisch starrte er mich an. Kalter Wind wirbelte Nebel vom Osten heran. Eine ältere Frau kam an die Tür und musterte mich. Ich nahm höflich meinen warmen Hut ab. »Willst du ihn erfrieren lassen?« fragte sie den Mann. »Ihr müßt verstehen, daß unsere Tür nicht mehr offen ist. Zuviel haben wir o*- lebt. Es ist der Krieg, wißt Ihr?« »Ich reite auf seinen Spuren«, antwortete ich in ebenso bitterem Ton wie die Frau. »Aber die Schweden sind schon vorbei. Habt Ihr einen Platz für meine Tiere und mich?« »Ja. Selbst ein warmes Bad«, entgegnete die Grauhaarige und raffte den Umhang zusammen. »Dort ist die Scheune, Herr...« »Atlan von Arkonstein«, sagte ich spontan. »Ich danke Euch. Efefürchtet man Übergriffe von Söldnern?« »Wir befürchten an jedem Tag immer das Schlimmste.« »Falls man angreift«, sagte ich und lud mir den Sattel mit den Pistolentaschen auf die Schulter, nachdem die Tiere im dunklen Winkel des Stalles angebunden und trockengerieben waren. »Ich habe Waffen. Ein Bad, das höre ich gern, würde mir guttun. Ich habe Würste, Schinken und gesalzene Butter in diesen Taschen.« »Von solchem Essen haben wir einst gehört«, klärte mich die Bäuerin auf. Wir versammelten uns in einem großen Raum, der durch einen Gitterverschlag abgeteilt war. Im kleineren Teil hausten Hüh297
ner, Gänse, zwei Ziegen, Schafe und eine magere Kuh. Mit einem Krug Lampenöl und einem halben Dutzend langer Kerzen belohnte ich dieses Wunder der Gastfreundschaft. Neunzehn Bewohner hatte dieser Weiler. Der große Tisch wurde rasch geputzt, das wenige vorhandene Essen und meine Mitbringsel würden uns alle mehr als satt machen. Im Lauf der Stunden kam eine Spur zaghafte Fröhlichkeit auf. Gegen Mitternacht gab ich Schulze Ockerdey eine kleine Pistolennachahmung, die drei Dutzend tödliche Explosivgeschosse verfeuerte und dann unbrauchbar sein würde. »Du kannst schießen?« Er nickte. Ich zeigte ihm, wie die Laterne zu handhaben war. Angeblich eine italienische Invenzione. »Wir gehen ein paarmal um die Häuser und sehen nach.« »Einverstanden.« Vor einem Jahrzehnt war die Ortschaft gesund und voller Menschen gewesen. Steuern und Ablieferungen, Brandschatzung und Plünderei, Totschlag und Vergewaltigung hatten die Anzahl der Leibeigenen und der wenigen freien Bauern dezimiert. Während wir in völliger Finsternis auf die Straße zugingen, sich unsere Augen nur zögernd an die Dunkelheit gewöhnten, berichtete mir Ockerdey mit tonloser Stimme von den Greueln, die dieser kleine Ausschnitt beispielhaft für einen um so viel größeren Kosmos erlebt hatte. Hin und wieder blitzten die kalkweißen Lichtstrahlen auf, wischten durch die Schwärze und zeigten uns auch beim dritten Rundgang, daß niemand in der Nähe lauerte. In einen großen Zuber hatten die Frauen viel heißes Wasser geschüttet. Sie mischten es mit Wasser aus der eigenen Brunnenanlage. Ich stellte zwei Kerzen auf, legte Dolch, Pistole und Säbel auf einen Schemel und schob eine Bank vor die Scheunentür. Die Pferde wandten die Köpfe und sahen nur zu. Ich wusch mich gründlich und streckte meine Beine aus, versuchte mich zu entspannen. Die Kerzenflammen blieben ruhig. Wind pfiff leise durch die Ritzen, das wenige Heu roch, und nur die gewohnten Geräusche der Nacht des vierzehnten November drangen an meine Ohren. Es hatte zu sehne ien angefangen, aber der Schulze glaubte nicht, daß der Schnee schon liegenblieb. 298
Ich trocknete mich ab, stieg in Hose und Hemd, breitete zwei Dfccken auf das Stroh, entfaltete ein Tuch darüber und bereitete Decken, Mantel und Schlafsack vor. Meine Ausrüstung schleppte ich zum Heuhaufen, vergewisserte mich der Stellen, an denen ich mitsamt den Pferden flüchten konnte, und versteckte schließlich Sattel und die kostbaren Taschen. Nachdem ich eine Kerze ausgeblasen und weggepackt hatte, wickelte ich mich in die Decken und klebte die fingerlang heruntergebrannte Kerze mit Wachs an den Schemelrand. Es war warm und sauber unter den Decken; ich verschränkte die Arme im Nacken und schloß die Augen. Der Zellaktivator drückte. Ich legte ihn an die richtige Stelle zurück und hoffte mit einem langen Gedanken, daß die selbstauflösende Folie, die das unersetzliche Gerät als wertlosen Stein tarnte, weiterhin ein Teil der sicheren Maske bleiben würde. Ich war wohl für einige Minuten eingeschlafen, denn ein Rascheln weckte mich. Ich schreckte in die Höhe und richtete die Waffe auf eine dunkle Gestalt. »Ich bin’s. Ullana.« Das Flüstern einer Frauenstimme verriet, wer sich in die Scheune geschlichen hatte. Die junge Witwe aus dem Nachbarhaus. »Jetzt schlafen alle. Du hast noch Platz unter deinem Mantel.« Ullana kniete zwischen der Kerzenflamme und mir und ließ ihren Umhang fallen. Ihre blauen Augen bohrten sich geradezu in mein Gesicht. Mühsam unterdrückte Leidenschaft und Entschlossenheit vermochte ich in der Dunkelheit gerade noch zu erkennen. »Dein Ansinnen ehrt mich«, murmelte ich schließlich und machte Platz. Die Frau war in wenigen Augenblicken völlig ohne Kleidung und drängte sich an mich. Ihre Haut war kühl und glatt wie Seide. »Ich habe deine Blicke am Tisch falsch gedeutet.« »Vor zwei Jahren haben sie Willem erschlagen. Wenn ich Soldaten sehe, verstecke ich mich.« Mit einer entschiedenen Bewegung schob sie die Kerze hinter einen massigen Stützbalken. Ihre Finger tasteten über meinen Körper. Ich kam nicht dazu, eine Antwort zu geben. Wir genossen unsere Leidenschaft, und als wir einschliefen, herrschte nächtliches Dunkel. 299
Als die Pferde grell wieherten, ein Schuß durch die Dunkelheit donnerte und dünne Bretter unter Stiefeltritten zersplitterten, war es immer nur noch der brennende Kerzenstumpf, der mir die Eindringlinge zeigte - die winzige Flamme hatte uns verraten. Trotz des warmen Körpers, der halb auf mir lag, war ich nicht unvorbereitet. Ich griff nach hinten, riß den Dolch aus dem Holz und schleuderte die Klinge. Sie traf einen stämmigen, blonden Mann, der auf mich zurannte. Einen Moment später war ich auf den Knien, hatte beide Pistolen in den Händen und feuerte. Der erste Schuß fuhr in die Stirn eines Schweden. Den zweiten traf ich in die Schulter, dicht über dem Herzen. Ullana wachte auf, packte die Muskete und feuerte sie ab. Ein vernichtender Hagel Arkonstahlschrot erfaßte zwei Männer, die über die Bank durch die weit offene Scheunentür sprangen. Ich feuerte auf einen Mann, der meine Satteltaschen in der Hand hielt. Ein Unsichtbarer schien mich von oben angesprungen zu haben, denn ich spürte nur einen krachenden Hieb und wurde bewußtlos. Als ich wieder zu mir kam, knieten zwei Männer auf mir, und einer hatte mir etwas in den Hals gerammt. Ich fühlte den Schmerz einer brennenden Wunde rund um den Hals und begriff... Der Zellaktivator! Du schluckst ihn! schrie der Logiksektor. Unwillkürlich rang ich nach Luft, keuchte, röchelte und schluckte. Ich würgte in schierer Todesnot den eigroßen Gegenstand hinunter und bekam wieder Luft. In meinen Fingern hielt ich noch immer die Waffen. Ich zwang mich dazu, klar zu denken, ignorierte das Schreien der Frau und die Flüche der Schweden. Durch das Stroh hindurch brachte ich die Läufe der Waffen in die Höhe, richtete sie halbwegs aus und rastete mit dem Daumen die Hochenergieprojektion ein. Die Strahlen töteten die Männer auf meiner Brust und den Knien. Sofort fing das Stroh Feuer. Ich stemmte mich in die Höhe und schwenkte die Waffe im Viertelkreis. Dann sprang ich aus dem Strohhaufen, packte Decken, Leinen und Mantel, gab dem Schemel einen Tritt und wirbelte herum. Zwei Fuß von meinem Ohr entfernt entlud sich der zweite Lauf der kurzen Muskete. Die Wucht des Ein300
Schlags ließ einen Mann neben dem Tor durch die Bretter nach draußen prallen. »Schnell hinaus!« schrie ich. »Nimm das Zeug!« Sie belud sich mit Decken und den Packtaschen, die ich dem Toten entwand, und rannte zum Tor, ich hängte mich an die Halfter der Pferde und ließ mich halb von ihnen mitschleifen. Zwischen den Häusern tauchten wir wie Gespenster auf; ich im knielangen Hemd und einer Pistole zwischen den Zähnen. Die Pferde beruhigten sich schnell. Ich stürmte im Zickzack zwischen den Toten umher, holte den Sattel und mein übriges Gepäck. Ich sah, daß an zwei Stellen Stroh brannte; es gelang mir, mit einem Holzeimer und dem Badewasser die Brände zu löschen, ehe die Scheune loderte. Dann brachte mir Ullana die Hose und die Stiefel. Ich zog mich mit zitternden Fingern an, gab dem Schulzen meine Waffe und schaute mich um. An die zehn halbverhungerte Pferde ließen unter den Apfelbäumen am Wegrain die Köpfe hängen. Endlich war ich angezogen. Der Horizont zeigte erstes Grau. Der Schulze schaltete die Lampe aus und sagte mit rauher Stimme: »Sie kommen immer, wenn man sie nicht erwartet.« »Schweden«, stellte ich fest und tastete meinen Magen ab. »Bitte, ladet die Toten auf die Pferde und bindet sie fest.« »Aber...« »Ich bin auf dem Weg zu Gustav Adolf. Er läßt Plünderer henken. Diese Arbeit nahm ich ihm ab.« Ich klopfte Stroh von meiner Kleidung, hängte Gurte um und schloß Schnallen, sattelte den schwarzen Hengst mit der weißen Blesse und den weißen Stiefeln, befestigte die Taschen und lehnte mich über den Hals des Streitrosses. Ullana hielt die Packpferde und sah mich mit undeutbarem Gesichtsausdruck an. »Es war wunderschön mit dir, Fürstin der Nacht«, meinte ich leise. »Sie haben uns dankenswert erst gestört, als du schon eingeschlafen warst.« Das Sprechen machte auch mir Schwierigkeiten. Wie ein eiskalter Steinbrocken lag der Zellaktivator in meinem Magen. Ullana gab mir das schwere Schießgerät zurück. Sie lächelte jetzt und bekannte: 301
»Ich weiß, wie man schießt! Ich habe getroffen.« Schon herrschte Zwielicht. Noch während wir miteinander sprachen, kam die Magd aus dem Haus und brachte eine Kanne dampfenden Kräutersud. Sie war unendlich erleichtert und meinte: »Mit Eurem Honig gesüßt, Herr Medicus, und mit dem italienischen Saft. So guten Tee haben wir noch nie gehabt.« »Behaltet den Rest«, sagte ich leichthin. »Vielleicht komme ich zu euch zurück, wenn alles vorbei ist.« Und leiser: »In Wirklichkeit zu dir, Leidenschaftliche im Stroh.« »Soll ich darum beten?« »Es wäre«, gestand ich etwas verlegen, »ein nicht unsinniger Zeitvertreib.« Wir tranken den heißen Tee, der die Lebensgeister wieder weckte und den Druck im Magen minderte. Ich sah zu. wie die Pferde aneinandergebunden wurden, und verabschiedete mich von den Bewohnern dieser Oase. »Einen letzten Rat: Wischt das Blut weg, bessert die Schäden aus und tut so, als wäre nichts passiert. Vielleicht komme ich wieder. Lebt wohl.« Ich wäre gern noch ein paar Tage hiergeblieben, allein wegen der braunhaarigen Frau, deren Leidenschaftlichkeit man nicht alle Tage fand. Ohne meine Müdigkeit zu zeigen, schwang ich mich in den Sattel und trabte los. An den Sattel des zweiten Packpferds knotete ich den Zügel des ersten Beutepferds und ritt an diesem Tag so lange, bis ich auf die ersten Posten der Schweden stieß. Sie lagerten südlich von Lützen auf freiem Feld. Ich bat einen Boten, den König zu holen, nannte meinen Namen und berichtete, daß die Schweden geplündert hätten und daß sich die Kaiserlichen, auf die sie gestoßen waren, nicht hatten berauben lassen wollen. Gustav Adolf veranlaßte, was zu tun sei, dann zog er mich in guter Laune zu seinem Zelt. »Eines sage ich dir, mein Freund«, murmelte ich an seinem Ohr. »Ich bin hergekommen, um dir alle dummen, gefährlichen, tödlichen und verrückten Gedanken auszureden.« 302
Kurzsichtig musterte er jede Falte in meinem Gesicht und das schulterlange Haar, das ich heute nicht zum Nackenzopf geflochten hatte. »Nach der Vernichtung des Generalissimus Wallenstein, die morgen stattfinden wird. Dann reiten wir zurück nach Schweden, und Axel mag hier die Verhandlungen führen. Kein dritter Winter in Deutschland, Freund Weißhaar.« »Im Alter wird selbst Gosta Hakennase klug«, flüsterte ich. Er schlug mir auf die Schulter und befahl im Vorbeigehen jemandem, meine Pferde und mein Gepäck in seine unmittelbare Nähe zu bringen. Mein Blick ging umher. Ich suchte Acker Gabbo. Aber ohne ihn zu suchen, fand ich Guisbert, den Barden. Gut eine Meile vom Ortsrand entfernt, auf Feldern, in deren Furchen Schnee lag, hatten sich die etwa sechzehntausend Mann des schwedischen Heeres eingerichtet. »In der Fremde traf s mich hart; ein paar scharfe welsche Scheren stutzten mir den roten Bart. Da beschloß ich heimzukehren.« Den Schweden waren einige Soldaten vor die Musketen gelaufen. Man verhörte die Kaiserlichen. Sie hatten ausgesagt, daß die kaiserliche Großarmee dabei war, in ihr Winterquartier zu marschieren. Was Gustav Adolf ahnte, war eingetreten. Ein triumphaler Sieg würde die Reste des Heeres vernichten und Wallenstein in Gefangenschaft bringen. Wallenstein, sagte Adolf, rechnete nie und nimmer mit einer Schlacht. Auch die Colloredoschen Reiter, die man schließlich niedergehauen hatte, konnten den letzten Sieg nicht mehr gefährden. »Und wann willst du angreifen?« »Morgen in aller Frühe. Meine Männer stehen bereit«, antwortete er. Die Spuren unzähliger Strapazen waren selbst bei Fackellicht nicht mehr zu übersehen. Immerhin bewegte er seinen Arm ohne jeden Schmerz. Auch die Stimme des Barden klang rauh vor Frost und Hunger. 303
»Doch als ich nach langer Fahrt durch die Wälder und die Wogen wiederkehrte ohne Bart, war das Taubenpaar entflogen.« Man hatte von Lützen drei Kanonenschüsse gehört. Später waren Boten gesehen worden, die in Richtung Leipzig, also mch Nordost, und nach Halle ihre Pferde peitschten. Aber niemals würden die Regimenter rechtzeitig eintreffen. Wenn Wallenstein gefangen war, diktierte Gustav Adolf dem Kaiser, und das beendete den Krieg. Ich saß auf einem harten Feldstuhl, hielt Sohlen und Finger in die Hitze der Glutschale und fragte nach Acker Gabbo. »Er ist im Lager«, sagte ein Adjutant, der das Zelt betrat und ab^- fertigt wurde. »Soll ich ihn suchen?« »Wenn Ihr ihn seht, Leutnant, ich brauche ihn. Atlan de Beauvallon!« Er salutierte und rannte davon. In der Nacht brannten nur die vielen Wachfeuer der Schweden. Im Schkölzigerwald war der Gleiter gut versteckt. Im schwachen Fackellicht war zu erkennen, daß von Lutzens dreihundert Häusern aus, entlang der Poststraße nach Leipzig, geschanzt wurde. In den tiefen Straßengräben und entlang eines Flößerkanals gruben sich Wallensteins Truppen ein. Nördlich des Städtchens drehten sich auf einer winzigen Anhöhe vier Windmühlen. Dort postierte man vierzehn schwere Geschütze. Erdwälle, Palisaden aus gefällten Obstbäumen, Gräben und winzige Verschanzungen aus den Mauern der Lehmhäuser entstanden in rasender Arbeit in der feuchtkalten Nacht. Wallenstein selbst, von Schmerzen geplagt, verließ die Sänfte und ritt zwischen seinen Leuten umher. Mit düsterem Gesicht sprach er von Sieg. Sein Heer wartete auf Pappenheim, dessen Reiter und Infanterie, denen die Boten hinterhergehetzt waren. Schon vor Morgengrauen verteilte auch Gustav Adolf sein Heer. Er stellte es im Osten Lutzens auf, vor der Poststraße. Die schwach funkelnden Sterne deuteten daraufhin, daß der Morgen wolkenlos und sogar sonnig sein würde. Die schweren Geschütze wurden eingegraben, die rund vier Dutzend leichten Rohre der beweglichen Artillerie 304
lud man schon jetzt, bevor man die Pferde einschirrte. Ich ritt neben Gustav durch das Gewimmel zwischen den roten Glutkreisen der Feuer. Endlich spürte ich Acker Gabbo auf. Er lief geschäftig in einem Zelt hin und her, das er auf die Ankunft der Verletzten vorbereitete. »Medicus!« schrie ich, sprang aus dem Sattel und packte sein Handgelenk. »Du mußt mein Leben retten«, flüsterte ich ihm zu. »Heute oder morgen. Ich brauche dich wirklich, Acker.« Erst starrte er mich verwirrt an, dann seinen König. Er verbeugte sich, während Gustav Adolf weiterritt. Ich bemühte mich, einigermaßen zuversichtlich dreinzuschauen. Noch immer befand sich der Zellaktivator drückend in meinem Magen; bald würde er wandern und anfangen, die Därme zu zerreißen. Meine Halswunde war inzwischen schmerzfrei und begann zu heilen. Acker war nur einer von vielen Feldschern im Heer; bis zum heutigen Tag hatte er sein blutiges Handwerk durchgestanden. Er überlegte und nickte schließlich. »Soll ich deine Nase abschneiden?« versuchte er zu scherzen. Ich schüttelte den Kopf und deutete auf die riesige Schnalle der Brustgurte. »Du tust es nicht zum erstenmal. Du mußt meinen Magen öffnen, Gabbo.« »Wie? Ich?« Malte Uhlenhorst hatte mit seinem verrückten Zweiten Gesicht wieder einmal einen winzigen Spalt der Wahrscheinlichkeit geöffnet. Die Gefahr für mich - hier war sie. Ich nickte und versicherte: »Ich werde dir dabei helfen. Aber du mußt es riskieren. Es wird so gutgehen wie mit des Königs Schulter.« »Hier? In diesem Zelt?« Die Pritschen, Tische und Kübel sahen keineswegs vertrauenerweckend aus. »Nein. An einer guten Stelle, von mir ausgesucht«, antwortete ich. »Ich finde dich hier?« »In zwei Stunden blasen sie zum Angriff. Bis weit in die Nacht werde ich hier sein«, versprach Acker und wuchtete seine Taschen 305
voller Tinkturen und Werkzeug auf einen Tisch. Eine verwahrloste Frau brachte Sägespäne und streute sie unter die Tische. Ich ging schaudernd hinaus und lehnte mich gegen den Hals meines Pferdes. Auf eineinhalb Meilen Breite standen die Heere, weit auseinandergezogen und in lockeren Verbänden, Bernhard von Sachsen und Weimar galoppierte hinüber zum linken Flügel. Ohne daß es ein Signal gegeben hatte, fingen bei Anbruch des Tages die schweren Geschütze zu feuern an. Ihr Rauch mischte sich in den Nebel, der vom Boden aufstieg. Gegen acht Uhr betete König Gustav Adolf und erflehte den gerechten Sieg für sein Heer. Während hüben und drüben die Geschosse einschlugen und die Geschütze antworteten, machten die schwedischen Reiter zwei Ausfalle und versuchten, die Wallensteinschen aus ihren Linien hervorzulocken. Auf seinem braunen Hengst Streiff, die niederländischen Pistolen in den Sattelhüllen, ritt Gustav von dem Wagen weg, in dem er die letzten Stunden verbracht hatte. Ich winkte ihm und Knyphausen zu. Er lachte kurz, aber sein Gesichtsausdruck wechselte sofort wieder zu tiefem Ernst. Etwa zwei Stunden lang belauerten sich die Heere. Daß Wallenstein nicht einen riskanten Angriff vortrug, hatten wir schon gestern vermutet. Die Schweden, deren Schlachtruf »Gott mit uns« lautete, überquerten gegen zehn Uhr den Flößerkanal. Ab und zu stoben im Nebel schemenartig Kuriere und Reiter der Gegenseite in vollem Galopp vorbei. »Jesus Maria!« schrien die Kaiserlichen. Der Nebel wurde dichter. Hinter seinen wabernden Vorhängen hörten wir die Trommeln und Pfeifen marschierender Heerhaufen. Ich ritt ins Zentrum des leeren Lagers zurück, fand meine Pferde und brachte sie und die Ausrüstung in Sicherheit. Dazu mußte ich weit nach Süden ausweichen und zum Rand des schütteren Wäldchens vorstoßen, in dem der Gleiter steckte. Das Leibregiment des Königs, die Gelben, die Schwedische Brigade und die smalandische Reiterei, sie wagten den ersten Vorstoß in den Nebel hinein und wurden vom König in seinem Elchlederwams selbst angeführt. Ich hatte ihm ein kugelsicheres Wams schenken 306
wollen - er lehnte es fast empört ab. Graf Nils Brahe wartete noch im Zentrum. Etwa um elf Uhr durchbrach die Sonne den Nebel. Signale. Die Geschütze feuerten in schnellerer Folge. Gustav Adolf stürmte auf die Straße los und trieb jene Musketiere aus den Straßengräben, deren Aufgabe es gewesen wäre, auf die Bäuche der darübersetzenden Pferde zu feuern. Die schwedische Infanterie stürmte hinter den Reitern einher und hieb und stach alles nieder, was sich noch bewegte. Der linke Flügel der Kaiserlichen wurde überrannt, auseinandergesprengt und in einzelnen Kämpfen niedergemacht. Die Reiterei sammelte sich wieder, wartete auf dampfenden Pferden auf die Boten und schlug ein Fähnlein Wallensteins in die Flucht, das aus Westen kam. Gegen Mittag schwenkte dieser schwedische Heeresteil um neunzig Grad und fing an, vom weitest links liegenden den rechten Flügel der Kaiserlichen über die Mitte aufzurollen. Wenn die Schweden die Windmühlen und die davor verschanzten Geschütze erreichten, hatten sie den Sieg. Irgendwo im Nebel war Wallenstein. Wieder Signale. Zuerst im Schritt, dann im Trab, schließlich im Kantergalopp drangen die Schweden nach Westen. Ein Bote sprengte heran, blutbespritzt und kaum zu erkennen. Er meldete, daß sich Herzog Bernhard nicht mehr halten könne. Wallenstein hatte Lützen anzünden lassen; der Wind trieb nun statt dichten Nebels ätzenden Rauch nach Ost, in die Gesichter der Schweden. Die schottische und deutsche Grüne Brigade verblutete im Geschützfeuer und unter den Schlägen der Wallensteinschen Kavallerie. Gustav Adolf reagierte blitzschnell. General Stalhandke übernahm sein Kommando. Das smaländische Reiterregiment sammelte sich, und die Männer ritten in gestrecktem Galopp, ihre Pferde über die Körper der Toten und Verwundeten hetzend, den Waffen und dem Schanzgerät ausweichend, auf den linken Flügel des eigenen Heeres zu, dorthin, wo die tödlichen Geschütze noch immer nicht überrannt waren. Mittag. Pappenheim erreichte, ebenfalls im Galopp, das Schlachtfeld. Die Infanterie hatte die Geschwindigkeit seiner etwa dreitausend Reiter nicht halten können. Der Narbengesichtige erkannte die 307
Lage, sammelte die Flüchtenden, schickte die schnelle Reiterei in das Lager der Schweden, wo sie anfingen, die Bagage zu plündern und zu verbrennen. Seit einer halben Stunde hatte ich diese Wendung kommen sehen. Acker Gabbo. Haue ihn heraus! befahl der Logiksektor. Ich schaltete die Abwehrfelder ein, kitzelte meinen Hengst mit den Sporen und zog die schwere Reiterpistole aus dem Futteral. Auch der Wallach trug einen Sattel. Ich ritt im schärfsten Galopp, beide Zügel in der Linken, auf die Fahne zwischen den Lazarettzelten zu. Rechts und links von mir tauchten die ersten Pappenheimer auf; neue Leute, von denen ich keinen erkannte. Noch hielten sie mich für einen der Ihren. Ich galoppierte, in den Bügeln federnd, quer über das ebene Land. Schon sammelten sich Krähen und Raben in der Luft; sie bildeten dichte Schwärme vor der riesigen, breiten Rauchwand, die von der brennenden Stadt heranrollte. Ich erreichte als erster die Zelte und brüllte den Namen des Feldschers. »Hier!« Er stolperte über einen hölzernen Rost, schaute sich um und begriff, in welcher Gefahr er war. Die ersten Fackeln flogen in die Zelte und auf die Wagen. Er sprang auf das Pferd zu, zog sich am Sattelknopf hoch, und ich langte hinüber und berührte den versteckten Knopf. »In den Wald, Acker!« rief ich, ließ meinen Hengst hochsteigen und auf der Hinterhand drehten. Mit eineinhalb Dutzend donnernden, aufblitzenden und wirkungsvollen Lähmschüssen höchster Intensität befreite ich uns aus einem Ring kroatischer Reiter. In wilder Flucht stoben wir davon, hinüber zum Waldrand. Pappenheim ritt zusammen mit seinen schwergepanzerten Reitern auf das Zentrum der Schlacht zu. Frontal griff er die Schweden an. Im Hagel des Schrapnellfeuers wurde er getroffen; seine Körperseite wurde von einer Drahtkugel in eine riesige Wunde verwandelt. Ein schwedischer Reiter versuchte, Pappenheim als Gefangenen mitzuschleppen, aber des Feldmarschalls Trompeter schoß den Schweden nieder und zog Pappenheim mit sich. Die eigenen Reiter, die den Anführer flüchten sahen, wendeten ihre Pferde und ritten dorthin 308
zurück, woher sie angegriffen hatten. Immerhin eskortierten sie Pappenheim bis zu einem Wagen, in den man ihn bettete und nach Leipzig bringen wollte. An der Stelle, im weiten Umkreis des ersten Zusammenpralls, setzte unter den Kaiserlichen eine Massenflucht ein. Wallensteins Leute suchten nach Pappenheims Reitern, die ihnen immer wieder in den aberwitzigsten Lagen geholfen hatten - aber niemand wußte, wo sie sein mochten. Regimenter lösten sich auf, plünderten noch ihre eigene Bagage, und sie rannten, bis sie auf die Infanterie Pappenheims stießen, die keuchend heranmarschierte und die Sache schon verloren gab. Die Schweden drangen ins Zentrum ein, nahmen sieben Geschütze des Feindes und richteten sie gegen die Kaiserlichen. Ein Pulverwagen im schwedischen Lager explodierte, hinterließ ein kreisförmiges Feld aus Leichen und einen tiefen Krater, dessen Ränder brannten. Um ein Uhr war die Sonne wieder verschwunden. Nebel und Rauch bedeckten grau und bräunlich das gesamte Schlachtfeld. Niemand erkannte mehr, was in seiner Nähe geschah. Unwillkürlich drängten sich die Kämpfenden zusammen; ununterbrochen ertönten die Kriegsrufe, und nur selten sah man weiter als ein paar Lanzenlängen. Weder Wallenstein noch Gustav Adolf wußten, was der Gegner plante, wo er sich befand, wohin er sich wandte. Durch einen Zufall erreichte Gustav Adolf mit den Samländern den linken Flügel seiner Infanterie. Reiter umringten Wallenstein und schützten ihn, bis Holks Reiter sich näherten und den Feldherrn in Sicherheit abdrängten. Die Schweden sammelten sich ebenfalls, und zusammen mit seinen Elitereitern bewegte sich Gustav Adolf durch die ratlosen eigenen Truppen dorthin, wo er den Feind vermutete. Ein kaiserlicher Musketier sah undeutlich einen Mann auf braunem Hengst, der bedeutend aussah. Die Waffe krachte, der Schütze starb einige Atemzüge später, aber eine schwere Wunde zeichnete den linken Arm des Königs. 309
Schrecken lahmte die schwedischen Reiter. Nur vier, fünf Mann zu Pferde versuchten, den Herrscher in Sicherheit zu bringen. Wohin sollten sie reiten? Sie entschlossen sich, der Eingebung des schrecklichen Augenblicks gehorchend, zu einer Drehung um hundertachtzig Grad. Von Sachsen-Lauenburg, der Herzog Franz Albrecht, griff in die Zügel Streiffs. Gustav Adolf krümmte sich, im Sattel nach vom gesunken, vor Schmerzen. Blut lief über den Bug des Pferdes. Leubelfing, sein Page, stützte Gustav Adolf. Anders Jönnsson, der Leibknecht, sicherte den Rückzug mit dem blanken Degen und der geladenen Pistole. Plötzlich wurde es leer um die flüchtende Gruppe. Die schwedischen Soldaten hatte der Nebel lautlos aufgesaugt. Der einzelne Pistolenschuß fiel niemandem auf, als aus der g*auen Wand eine Phalanx kaiserlicher Kürassiere hervorgaloppierte, wild feuerte und schrie. Gustav Adolf glitt aus dem Sattel, wurde mitgeschleift, Jönnsson starb, als er sich umwandte und zu zielen versuchte. Auch Leublfmg wurde aus dem Sattel geschossen Streiff schüttelte seine nachschleifende Last ab, rasend vor Schmerz, wild auskeilend, eine tiefe blutende Wunde im Hals. Auch der Hengst verschwand im Nebel. Durch den Nebel, der sich innerhalb der nächsten sechs Stunden noch dunkler färbte, huschten die Gerüchte. Kaiserliche und Schweden glaubten nicht, daß Gustav Adolf tot war - oder wußten es allzu genau. Der Kampf ging völlig regellos weiter, aber mit uneingeschränkter Grausamkeit. Wallensteins Leute wurden in der Mehrzahl auf das brennende Lützen zurückgetrieben. Dem Piccolomini schossen die Schweden fünf Pferde unter dem Sattel nieder. Er selbst, Octavio, empfing sieben Streifschüsse. Bernhard von Sachsen-Weimar befehligte die Schweden. Holks Reiter preschten in alle Richtungen und versuchten, einen Gegner zu finden, was selten genug geschah. Andere Feldherren verloren einander, trafen sich wieder, galoppierten in die Irre. Aus buchstäblich allen Richtungen der Ebene kamen die Detonationen der Geschütze. Wallenstein entriß den Schweden die eroberte Batterie bei den Windmühlen wieder. Schwedische Reiter flüchteten, und irgendwann 310
mühlen wieder. Schwedische Reiter flüchteten, und irgendwann traf sich um den jungen Herzog Bernhard eine entschlossene Gruppe, die groß genug war, um in Nebel und einsetzender Finsternis den Kampf zu entscheiden. Kleine Hügel von Toten lagen überall wie weggeworfene Bündel. Bernhard wollte Rache. Er wußte es nicht, aber sein Gefühl sagte ihm, daß sein König tot war. Wieder wurde ein Angriff vorgetragen, einer von vielen an diesem Tage. Ein furchtbares Blutbad suchte beide Heere heim. Und bei Fackelschein, in der Nacht, fanden die Schweden ihren toten König. Der achtjährige Page, schwer verletzt, wimmerte unweit von Gustav Adolf im nassen Acker. Fünf Schüsse hatten ihn getroffen, drei Hiebe und ein Stich. Siegelring, Lederkollier, Goldkette und Uhr, Sporen und Waffen, Stiefel... nichts hatten sie ihm mehr gelassen. Der Löwe aus Mitternacht, Jäger Gosta Hakennase - sein Weg, der ihn aus der frostigen Sicherheit seines Landes hinausgeführt hatte, war nach achtunddreißig Jahren im nächtlichen Nebel vor Lützen zu Ende. Zwei Dutzend Tage fehlten zu seinem Geburtstag. Davon wußten wir noch nichts, Acker Gabbo und ich. Zweimal hatte sich Acker in die Nähe der niedergebrannten Zelte zurückgewagt, aber er stand da mit leeren Händen - er konnte nur sterbenden Soldaten Trost zusprechen. Er gab auf und band den Wallach an einem Haltegriff des Gleiters fest. »Sinnlos«, sagte er dumpf. »Du hast Wein? Es wird meine Hand beruhigen, Atlan.« »Trinke und zittere in Maßen«, empfahl ich ihm. Ich trug ein warmes Lfemd, das Brust und Bauch freiließ. An den Füßen hatte ich dünne, wadenhohe Stiefel, die Hose war bis zu den Knien heruntergerollt. Ich würde in den nächsten Tagen meine Stiefel weder ausziehen noch anziehen können. Die Ladefläche des Gleiters lag voller Ausrüstung und Sättel. Die Trennwand zwischen den Sitzen war umgelegt. Eine sechs mal zehn Fuß freie Fläche, gepolstert und mit sauberen Tüchern abgedeckt, war entstanden. Das Schutzfeld spannte 311
sich wie ein schwarzes Gewölbe über dem bootsgroßen Fluggerät. Im Innern war es warm und hell. Auf einem Klappbrett lagen die Instrumente und alles, was Acker zu der Operation brauchte. An einem Metallarm hatte ich den Spiegel so befestigt, daß ich zusehen konnte, wenn er meine Haut durchtrennte. Siebenmal hatten wir jeden einzelnen Handgriff durchgesprochen. Seine Hände, sein Gesicht, meine Haut, alles war mehrfach steril gemacht worden. Ich deutete auf die Gurte über der Brust und der Schamgegend. »Ich empfinde keinen Schmerz, Acker«, murmelte ich und schob ein zusätzliches Kissen unter meinen Kopf. »Wenn du schneidest, ist es, als ob du mit dem Fingernagel über meine Haut fahrst. Überdies kann ich mich zusätzlich lahmen.« Wieder bedeckten Zeichnungen die narbige Bauchdecke. Ein Kreis markierte die Stelle, an der wir den Zellaktivator getastet hatten. Gabbo sagte leise: »Der Barde irrte zwischen den Toten herum. Ich habe ihm gesagt, wo wir sind.« Ich hatte die Außenhülle des Gleiters in eine energetische Abwehrzone verwandelt; er war unsichtbar. Überdies brauchte ich nur einen Schalter zu kippen, dann stieg programmgesteuert der Gleiter in die Nacht und verschwand. »Wenn er hierherfindet, ist mir Haffo willkommen«, erwiderte ich. »Bringen wir es hinter uns?« Er nickte. Seine Finger waren ruhig, als er den leeren Becher wegstellte und sich noch einmal die Hände reinigte. Ich hob die Spritze, einen Hohlbehälter, der im Licht der zugeschalteten Scheinwerfer blitzte, dann stach ich an sieben Stellen die haarfeine Nadel in die Bauchdecke und tiefer. Meine Muskeln unterhalb der Knochenplatten-Kante hatte ich mit Dagorübungen entspannt. Ich schoß mir jeweils eine schwache Lähmungsladung in die Kniegelenke. Dann zog Gabbo die Gurte fest und schaute mir in die Augen. »Los!« drängte ich. Das schmale Gesicht des Schweden war kalkweiß. Tief hatten sich die Falten eingegraben. Er trug ein breites weißes Stirnband und ein Band um den Hals. Er setzte das Skalpell an der richtigen Stelle an, durchtrennte eineinhalb Finger lang die 312
Haut, die Unterhaut-Fettschicht und mit übergroßer Vorsicht den Muskel in Längsrichtung, tupfte das Blut ab und unterband den Blutverlust, indem er die Spezialflüssigkeit aufpinselte und die Äderchen versiegelte. »Gut so«, sagte ich und bemerkte die Schweißtropfen auf Ackers Stirn. Er zog die Muskelhälften auseinander, ging mit großer Vorsicht tiefer und berührte schließlich die Gewebeschicht, die den Magensack umhüllte. »So klein wie möglich... ein Ei... und die Kette...«, flüsterte ich. Ich hatte seit eineinhalb Tagen nichts gegessen, der Magen sollte bis auf den Zellaktivator leer sein, dachte ich. Minute um Minute tröpfelte dahin, während Acker die richtige Stelle für den Schnitt suchte. Dann wagte er es, fischte in dem Blut umher und stocherte mit dem stumpfen Haken in der Höhlung herum, drehte und zog schließlich ganz langsam den Haken wieder in die Höhe. Ich erkannte die dünne, fast unzerreißbare Kette. »Weiter! Langsam!« keuchte ich. Brechreiz würgte in meiner Kehle. Er zog aus dem kleinen Schlitz den Rest der Kette hoch, das eigroße Gerät kam hinterher, und wie immer, wenn der Zellaktivator besonders viel leisten mußte, strahlte er ein schwaches, rötliches Leuchten ab. Gabbos Atem wich pfeifend aus seinen Lungen. Er tauchte Aktivator und Kette in ein Gefäß, legte nur das gereinigte Gerät auf die Brust. Dann griff er nach der ersten Nadel. Es dauerte eine Stunde, bis er das Blut weggetupft und die feine Naht im Magen gezogen hatte. Er zerschnitt den Faden hinter dem letzten Knoten, reinigte die Wunde, betätigte die Sprühflasche und löste die Klammern. Dann ging er daran, die Bauchhaut zu vernähen. Er hielt sich großartig. In seinem Gesicht arbeitete es unaufhörlich; er fluchte flüsternd vor sich hin, schlang endlich den letzten Knoten und wischte mehrmals Blut, Gewebereste und Schweißtropfen von meiner Haut. Dann trug er Bioplast über der Wunde auf, pinselte eine Schutzsalbe und öffnete die Gurte. Der Zellaktivator erwärmte sich und sandte seine Schwingungen verstärkt durch meinen Körper, als ich mich ächzend aufrichtete, obwohl ich noch immer nichts spürte. 313
Acker wickelte eine Binde aus dünnem Stoff um Bauch und Ricken, dann befestigte er sie mit einer breiten, leicht elastischen Binde, die mir mehr Halt gab und mich vor unbedachten Bewegungen schützte. Sein Fluchen und Flüstern hörte auf, als er mir das Hemd zuknöpfte, die Hose hochzog und behutsam schloß. Dann ließ er seine Schultern nach vorn sinken. Er starrte mich an, als sähe er mich zum erstenmal. »Ich hab’s geschafft, Atlan!« stöhnte er. »Du auch einen Wein?« »Natürlich!« »Jetzt zittern sie, die Finger«, vermerkte er verblüfft, als er zwei Glaspokale mit rotem Wein füllte. Probeweise bewegte ich mich nach vorn und schob den Spiegel weg. »Danke, mein Freund«, sagte ich. »Merk dir alles, schreib es nieder, mach Zeichnungen. Niemand kann es besser als du. Natürlich hast du diese Betäubungsflüssigkeiten nicht. Deswegen schenke ich dir auch diese Spritze nicht; du könntest nichts mit ihr anfangen. Alles andere weißt du schon von der Operatio, die wir an des Königs Schulter ausführten. Wie wird es ihm ergangen sein?« Während wir tranken, räumte Acker Gabbo ein wenig auf. Er schaute mich fragend an und meinte: »Ich weiß es nicht. Lebt er? Ist er tot? Ich sehe nach, wenn die Nacht vorbei ist.« Die Pferde wurden unruhig. Der Wärmebildschirm zeigte mir eine einzelne Gestalt, die sich durch die Stämme kämpfte. Ich öffnete die hintere Schutzkuppel, deutete auf die Pistole und bat: »Sieh nach! Vielleicht ist es der Barde.« Acker Gabbo glitt durch die Klappe und die Strukturöffnung nach draußen, schwenkte die Laterne, und der Lichtkegel erfaßte Haffo Guisbert, der die Laute über der Schulter und einen Degen in der Hand hatte. Ich hörte einen gedämpften Wortwechsel, dann schob der Medicus unseren Sänger ins Innere. Sie klappten eine Sitzbank aus der Seitenfläche, ich verschloß die Öffnung wieder, und Gabbo verwendete das dritte Glas aus der gepolsterten Wandhalterang. Blutspritzer, Asche, Risse in der Kleidung. Ackerschmutz und Ruß bedeckten Guisbert. Er weinte; die Tränen sickerten in seinen rotgrau gesprenkelten Bart. 314
Er trank wie einer, der fast verdurstet war. Dann holte er Atem, faßte sich und brummte in einem klagenden Singsang: »Gosta Hakennase, König Gustav der zweite Adolf von Wasa, König der Schweden, Goten und Wenden, Großfürst Finnlands, Herzog Estlands und Kareliens. Herr von Ingermanland - er ist tot. Pappenheim: tot. Der kleine Page: tot. Jönnsson: tot. Draußen liegen sie alle. Tausende. Alle tot.« Er hob die Laute von der Schulter, blickte sie an, als wolle er sie zertrümmern, dann richtete er den Blick aus rotgeränderten Augen auf uns und fragte: »Ich kann nur singen. Darf ich?« Ich bedeutete Gabbo, Wein nachzuschenken und aus einer Schachtel ein weißes Kügelchen darin aufzulösen. Ich erwiderte: »Dich erleichtert’s, Guisbert, und uns tröstet es. Sing! Die zwei letzten Strophen.« »Von den Tauben und dem Mandelzweig?« »Ja.« Er intonierte, unendlich traurig, noch einmal die drittletzte Strophe, summte halb verständlich, einige Worte: »... wiederkehrt ohne Bart, war das Taubenpaar entflogen...« Dann kräftiger, aber mit schwankender Stimme: »War der Mandelzweig verdorrt! Kein Willkomm, dem müden Wandrer, und an unsrem Liebesort lag zwar sie, doch auch ein andrer. Da beschloß mein Herz versehrt, nie den Bart mehr zu verschandeln, bis die Liebe wiederkehrt; und die Tauben, und die Mandeln. Notfalls werd’ ich unbeschwert bis zum Knie im Barte wandeln.« Er hörte auf zu weinen. Dann berichtete er, wie man Gustav Adolf gefunden hatte. Nach zwei Dutzend Sätzen war sein Glas das drittemal ausgetrunken, und das Schlafmittel wirkte. In diesen
letzten Stunden der Nacht schliefen wir im Schutz des Gleiters. Als der Tag graute, verließen mich Acker und Guisbert. Ich schenkte ihnen die 315
Pferde und den einfachen Sattel, der keinerlei technisch-energetische Besonderheiten enthielt. Ich brachte den Gleiter, nachdem ich mich mühsam hinters Steuer geschoben hatte, aus dem Schutz des Waldes hinaus, schwebte im Rauch schwelender Häuser und Bagage-Wagen über die Ebene bei Lützen, notierte meine Beobachtungen und richtete die Spitze des Geräts auf den Weiler Außer Schweßwitz. Es sollte, A.D. 1632 und 1633, ein weißer Winter werden. Einige Bewohner von Außer Schweßwitz schienen mich gesehen zu haben, als der Gleiter unweit des Brunnens landete. In diesen Zeiten stellte ein fliegendes Boot nur ein weiteres Wunder dar. Der Schulze Ockerdey lief neben Ullana auf mich zu, als ich mich hinausbeugte und winkte. »Schulze«, sagte ich halblaut. »Der Schwedenkönig starb letzte Nacht. Vielleicht ist der Krieg vorbei; ich glaub’ es nicht. Dort hinten sind Kisten. Nimm sie, sie gehören euch.« Honig und Limonensaft, gutes Bier aus Baiern in versiegelten Krügen, Kerzen, Lampenöl, etliche Werkzeuge und Kleinigkeiten wie Nägel, Töpfe und ähnlicher Kram - in meiner Höhle gab es sehr viel mehr davon. Während der Schulze begeistert ausräumte, versenkte ich meinen Blick in Ullanas blaue Augen und sprach in träumerischem Tonfall: »In einer großen, warmen Höhle, weit weg vom Krieg, zusammen mit mir? Licht, Musik und Ruhe? Im Frühling eine weite Reise über die südlichen Berge, in ein winziges Schlößchen. Eine fremde Sonne, fremde Sprachen, liebenswerte Menschen? Kein Krieg, ein verwunschenes Tal? Und wenn der Schnee hochliegt, kannst du dich nach dem Mann umsehen, mit dem du Kinder haben willst.« Sie schaute mich fassungslos an und flüsterte: »Was muß ich dafür tun? Noch mehr beten? Oder einen Arm herschenken?« »Etwas Ähnliches«, sagte ich, während uns die Dörfler umringten und über den Inhalt der Geschenkkiste staunten. »Ich brauche ein paar Wochen lang eine liebevolle Pflegerin. Ich habe hier eine Wunde, die aber schnell heilt.« 316
Ich zeigte auf den Verband unter dem Hemd und der offenen Jacke. »Soll ich da noch lange überlegen, fragen; warten...?« »Es liegt bei dir«, sagte ich. »Aber du hast nur noch eine Viertelstunde Zeit. Alles, was eine Frau braucht, findest du in der Höhle.« »Wo?« »Du kennst die Gegend nicht. Mitten in riesigen Wäldern, in denen nur ein Eremit haust.« In Gedanken wiederholte Ullana, was sie mir erzählt hatte. Jedes Leben als dieses war besser, fast an jedem anderen Ort. Ich schob Kissen und Decken vom Nebensitz herunter und machte eine einladende Handbewegung. Sie nickte mir zu, rannte ins Haus zurück, kam nach kurzer Zeit mit einem hastig geschnürten Bündel wieder und setzte sich entschlossen neben mich. Ich zeigte hr, wie die Tür zu schließen war. Von links schob sich eine Pranke ins Innere. »Wir haben’s nit verdient, Herr von Arkonstein«, sagte der Schulze rauh, »aber uns tut’s gut. Wie können wir danken?« »Seid zu den Richtigen so gastfreundlich wie zu mir«, empfahl ich ihm, und sein Händedruck schmerzte bis zur Wunde unter dem warmen Bioplast. Ich nickte ihm zu, und mit offenen Mündern schauten uns die Dörfler nach, bis wir im Grau des bedeckten Tages verschwunden waren, der unsichtbaren Abendsonne zu. Nach einigen Minuten hatte ich die Selbststeueranlage geschaltet, einige Worte mit Ciron gewechselt und leise Musik aus dem Speicher gewählt. Jetzt lehnte ich mich zurück und sagte ernst: »Deine Krankenpflege beginnt... jetzt. Hier sind Gläser, dort ist Wein. Ich kann mich kaum rühren. Mitgegangen, mitgefangen, mit und ohne Bangen. Ich denke, es wird eine gute Zeit werden.« Langer Schlaf, viel Ruhe und nahrhaftes, breiiges Essen, dazu ab und zu ein Becher Wein; die schwere Bauchwunde heilte gut, und Ullana zog die Fäden Einige Tage und Nächte lang gab es kaum Bewegungen und sehr viel Ruhe in der Höhle. Ich ließ von Ciron einige Programme aus dem Hypnoschulungsprogramm überspielen, wandte sie an, während Ullana schlief. Dadurch nahm ich ihr die 317
Furcht oder besser Unsicherheit vor der fremden Einrichtung und den vielen kleinen Wundern. Während aus versteckten Schallquellen zeitgenössische Musik zu hören war, wickelten die Medorobots ihre Programme ab, bei mir und Ullana. Voller Entzücken entdeckte sie die Freuden von duftenden Körper-Pflegemitteln. Ich schnitt mit einiger Mühe ihr Haar, das nach Tagen sein stumpfes Aussehen verlor. Ciron lieferte durch den Transmitter maßgefertigte Kleidung. Die Frau lebte sich verblüffend schnell ein, reinigte alle Oberflächen jeglicher Gerätschaften, ordnete die Nahrungsmittelvorräte und bestaunte die Bilder, die von Sonden überspielt wurden. Solarstrahler bräunten unsere Haut, während an der Oberfläche die frühen Winterstürme das letzte Laub abrissen, mit Schnee mischten und in riesigen wißen Dünen ablagerten. Massagen, leichtes Krafttraining und die Wirkung des Zellaktivators unterstützten die Heilung der Wunde. Einige Tage später hatte ich keine Schwierigkeiten mehr, mich zu bewegen und leichte Gegenstände zu heben. Die junge Frau, die ich aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen hatte, veränderte sich, aber sie mißtraute dieser warmen Insel der Ruhe. Die Unterschiede waren noch zu groß. »Du sprichst mit jemandem, den ich nicht sehe«, meinte sie eines Tages und betrachtete ihre nachgewachsenen, sauberen Fingernägel, »tust seltsame Dinge, schaust vielen Menschen über die Schulter aber was tun wir, wenn du wieder ganz gesund bist?« »Zuerst sehen wir uns die verschneite Welt an«, meinte ich. »Dann besuchen wir Uhlenhorst, den Eremiten nit dem Zweiten Gesicht. Warte, bis ich wieder richtig laufen kann, dann jagen wir Wölfe und Raubtiere, die dem Menschen schaden«, versicherte ich. Es war keine drei Wochen her, seit wir die Höhle betreten und die Einrichtung in Gebrauch genommen hatten. Mir schien, daß viele Kleinigkeiten Ullana verändert und hübscher gemacht hatten. Aber unverändert schlummerten in ihr die Erfahrungen über die Schrecken des Krieges. 318
Das Töten und Verwüsten hatte nun länger als vierzehn Jahre angehalten. Den Menschen wäre jede Art Frieden mehr als hochwillkommen. Die Mächtigen, von deren Unterschriften es abhing, sträubten sich, dachten nicht daran oder waren in ihrer Überzeugung des Gottesgnadentums zu weit von der geschundenen Bevölkerung ihrer Länder entfernt. Fremde Heere herrschten über Deutschland, über die Ruine eines einst kraftvollen Reiches. Im zehnten Jahr des Shögun Tokugawa Jyemitsu sah man zwischen den Wolken über der Insel seltsame Dinge. Die Bevölkerung, vom Fischer und Reisbauern bis hinauf zum Diktator, litt unter der geheimen Furcht vor einer Invasion der fremden Mächte. Ein dunkelblaues Pferd mit einem weißen Schweif, der dreimal länger als der Körper war, schwebte außerhalb der Reichweite von SamuraiBögen über das Land. Das Pferd, aus dessen Nüstern zischende und fauchende Wolken und Flammen schossen, war überaus prächtig gezäumt und gesattelt; Silber, Gold und kostbare Steine blitzten und funkelten im Sonnenlicht fast unerträglich grell. Aus den Schultern des riesigen Reittiers, das sich im gestreckten Galopp befand, wuchsen gewaltige Flügel von schwarzblauer Farbe mit silbernen Federn. Sie bewegten sich langsam, aber ungemein kraftvoll. In einem Sattel, dessen Seiten von langen, flatternden Bändern verziert waren, saß ein weißhaariger Samurai mit dem Helm des Kriegers, der das Zeichen des Drachen trug. Über seiner Schulter war ein Bogen befestigt, daneben hing ein Köcher, und zwischen den vielen metallisch blitzenden Teilen der Rüstung glänzten Griff und bloße Schneide des Schwertes. Auch die Standarte, deren Ende mitten im Rücken am Gürtel und an zwei federnden Streben von den Schultern aufwärts und schräg gehalten wurde, ließ den Kopf des mythologischen Drachen erkennen. Der fliegende Samurai glitt entlang der kochenden Brandungswellen, überflog Dörfer und Reisfelder, näherte sich den aufragenden Palästen und warf seinen Schatten über Gärten, Höfe und Straßen. Das Haar wehte unter dem Helmrand nach beiden Seiten des schma319
len, langgezogenen Schädels. Manche Inselbewohner meinten, in den hageren Zügen kalte Grausamkeit und tödliche Entschlossenheit ££sehen zu haben. Neue Gerüchte schürten die Angst vor dem Fremden. Seit den Tagen des Göttersturms - als der Khan versuchte, die Insel zu erobern und zu unterjochen - gab es diese Furcht. Wenn auch nur der kleinste Grund die Krieger der Insel der aufgehenden Sonne unruhig machte, drohten Streit und die blitzschnell ausgeteilten Tode der Kriegerkaste. Der Samurai im goldenen Helm drehte sich halb herum, als er auf das Feld der dampfenden Wasser und des brodelnden Schlamms zuschwebte. Schräg über seiner Schulter glaubte er eine winzige Kugel erkannt zu haben, an der die Sonne reflektiert wurde. Er blickte genauer hin, aber der Lichtblitz kehrte nicht wieder. Dennoch blieb der Fremde beunruhigt. Nur er war in der Lagp, auf verschiedenartige Weise zu erscheinen, zu schweben und zu verschwinden und die Bewohner des Landes zu erschrecken. Er lachte leise und lenkte das Flügelroß hinaus zu den Vögeln mit den silberfarbenen Schwingen, die seinen Flug mit klagenden und mißtönenden Schreien begleiteten. Gegen die atemberaubende Helligkeit mußten wir dunkle Brillen tragen. Es waren dünne Folien zwischen Metallverstrebungen. Schon vor Mittag loderte und funkelte das Sonnenlicht aus dem fahlblauen Himmel und wurde von der Schneedecke widergespiegelt. Fast lautlos schwebte der Gleiter über der verschneiten Landschaft. »Es ist so friedlich«, meinte Ullana. »Aber weil wir wissen, wie es in vielen Dörfern aussieht und in den Städten...« Schnee und Kälte herrschten über Deutschland. Aber auch andere Tyrannen gab es: Die Seuchen rafften die Einwohnerschaft ganzer Dörfer hin. Die Ernte hätte für dieses Jahr ausreichen können, aber die durchziehenden Truppen, ihre Pferde und das Schlachtvieh, das man mittrieb, zertrampelten die Felder. »Eines Tages wird auch dieser Krieg an Erschöpfung sterben«, meinte ich und suchte die Wolfsrudel, von denen die Schafe gerissen 320
worden waren. »Und dann wird man erfahren, wieviel tausendmal tausend Menschen sich gegenseitig umgebracht haben.« Wir steckten in gefütterten Stiefeln, dicken Hosen und ebenso dicken Mänteln, die aus den Maschinenwerkstätten der unterseeischen Kuppel stammten und mit den weichen Fellstücken selbsterlegter Tiere eingefaßt waren. Auf unseren Köpfen saßen zylindrische Fellmützen. Der Schatten des Gleiters huschte über die Wipfel der Bäume, auf denen dick Schnee lag, der sich immer wieder in langen Fontänen löste und die Äste hochschnellen ließ. Kälte knackte in den Stämmen. Die Landschaft war von unzähligen Spuren durchzogen; die Tierwelt in den wenig berührten Teilen der Wälder und Buschzonen schien im Krieg nicht dezimiert worden zu sein. Große schwarze Vögel kreisten und flatterten. Schließlich fand ich eine einzelne Spur. Sie sah aus, als würde sie von einem Wolf stammen. Wölfe drangen weit aus den Wäldern vor. Diese herrlichen Tiere wurden zur Bedrohung der Menschen, denn sie durchstreiften verlassene Gehöfte und stille Dörfer, fielen das wenige Vieh an, fraßen Sterbende und Tote. Füchse, Hunde, Wölfe bissen die Menschen und einander und verbreiteten eine seuchenartige Krankheit, während der die Menschen wahnsinnig wurden. Im weiten Umkreis meines Verstecks gab es etwa ein Dutzend kleiner Dörfer inmitten der Felder und Äcker, die bisher noch glimpflich davongekommen waren. Ich steuerte den Gleiter über die Wolfsspur und bemerkte, daß nach wenigen hundert Schritten drei Spuren zusammenliefen. »Sie jagen am Tag«, sagte ich und ließ das Fenster heruntergleiten, um ihr Heulen hören zu können, »das bedeutet, daß sie ihre Scheu verloren haben.« »Weil es niemanden gibt, der sie verscheucht?« »Weil sie ihre Beute zu leicht finden.« Über Baumwipfel, entlang von schmalen Wasserläufen, die in seltsamen, flirrenden Eiszapfen erstarrt waren, über die blutigen Spuren hinweg, die von einem zerfetzten Vogel stammten, der Wolfsspur schnell hinterher, zu der wieder drei frische Eindrücke von Pfoten 321
kamen. Durch den dichten Ring aus Buschwerk, das sich vor dem Waldrand erstreckte, stießen die Spuren in auseinandergezogenen Schleifen auf die einzelne Rauchsäule zu, die hinter einem Hügel hochstieg. Jetzt bedeckte der Schatten die Spur, der Gleiter summte weiter, und ich griff zu der Waffe und hob das Fernrohr. »Dort vorn sind sie. Am Hügel«, brummte ich und gab Ullana das Fernrohr. Die Wölfe, es waren inzwischen neun, drängten sich auf der Anhöhe zusammen und äugten abwartend. Der Gleiter wurde langsamer und blieb rechts der heulenden Tiere in der Luft. »Was tust du, Atlan?« »Ich warte. Ich denke, daß die Bauern sich nicht gegen so viele Wölfe werden wehren können.« Vierzehn Häuser drängten sich um einen Brunnen zusammen. Nur aus einem Loch des größten Daches quoll dünner Rauch. Am zertrampelten Schnee vor etlichen Scheunen erkannten wir, daß sich mehr Menschen und etliches Vieh in den Bauernhäusern befanden. Die zerfetzten Kadaver von zwei Schafen lagen neben den Pfosten des halb zusammengebrochenen Zaunes. Armut und Stille kennzeichneten auch dieses Dörfchen. Nacheinander öffneten sich drei schmale Türen. Ängstliche Gesichter spähten hervor. Ich sah Messerklingen blitzen. Zwischen den Mauern herrschten tiefschwarze Schatten, und der Wind trieb Eiskristalle über die glatte Schneedecke. »Sie haben Angst, sage ich.« Ullana entsicherte die leichte Muskete. Ich hatte sie in die kleinen Geheimnisse einiger Feuerwaffen eingeweiht. »Dort, die Scheune!« Ich zeigte auf die ausgebrochenen Bretter, die schief in den Angeln hängenden Tore und den Dampf, der aus den Ritzen quoll. »Scheune oder Wohnstube - dort werden die Wölfe angreifen, denn dort steht das Vieh.« »Wir sollten es verhindern, nicht wahr?« Wenn sie nicht heute in die Häuser eindrangen, dann morgen oder in der nächsten Nacht, sagte ich mir. Ich brachte den Gleiter in den Sichtschutz einiger verschneiter Büsche und der Baumstämme und 322
schlüpfte auf die leere Ladefläche. Ich langte nach der Waffe und sagte kurz: »Über die Wolfspelze werden sich die Bauern freuen.« Im gleichen Augenblick sprang der Leitwolf los. Das Rudel folgte ihm. Diesmal liefen sie nicht im Zickzack, sondern sprangen in Sätzen durch den aufstiebenden Schnee tatsächlich auf die verfallene Scheune zu. Zwei peitschende Schüsse lösten sich aus den Waffen; wir trafen ausgezeichnet. Die Tiere wurden im Sprung getroffen und überschlugen sich. Im blutigen Schnee blieben sie mit zuckenden Läufen liegen. Das Knurren riß ab, dafür ertönten im Nachhall der Schüsse im Dorf Hundegebell, Schreie, das Kreischen aufgeschreckten Geflügels und Flüche aus Männerkehlen. Wir zielten, die Läufe wanderten mit den vorwärtsstürmenden Wölfen mit, und mit mehr als einem Dutzend Schüssen töteten wir die restlichen Wölfe. Den letzten traf Ullanas Schuß drei Schritt vor der Wand des Hauses und brannte dort ein Loch in die Lehmwand. Ich sicherte die Waffe und kam zurück in die warme Kabine. »Sie müssen uns nicht sehen. Wahrscheinlich denken sie, daß Soldaten auf die Wölfe geschossen haben.« Schon jetzt flogen Krähen und Raben auf. Bräunliche Raubvögel mit sichelartigen Schwingen rüttelten in der kalten Luft. Ich ließ den Gleiter steigen, drehte ab und flog nach Westen. »Wahrscheinlich hatten die Bauern kein Saatgut im Herbst«, meinte ich. »Sie sollen nicht auch ihr letztes Vieh einbüßen müssen. Sind schon zu viele verhungert.« An diesem Nachmittag schoß ich zwei junge Hirsche, einen Rehbock und drei Wildsäue. Ich lud die Beute auf den Gleiter und startete in der Dunkelheit zu einem längeren Flug. Die getöteten Tiere warf ich über die Kante des Gleiters und achtete darauf, daß sie vor die Türen der Bauern fielen. Malte Uhlenhorsts Augen blitzten, als er den Zeigefinger hochstreckte und in die Dunkelheit deutete. Über dem Tal hing ein riesiger Vollmond. »Hört ihr’s?« 323
Von allen Zweigen tropfte es. Käuzchen schrien, kleines Getier schien überall unsichtbar umherzusuchen. Die Bäume schienen in Erwartung warmer Winde zu stöhnen. »Die ersten Zeichen des Frühlings«, sagte Ullana. »Die langen Winternächte, in denen du deine Wahrsagungen hast schreiben können, sind vorbei, Malte.« Er hatte den Winter gut überstanden. Tatsächlich schrieb er häufig alles Erdenkliche in die Seiten der Hefte, die ich ihm mitgebracht hatte. Ich kannte nur wenige Zeilen. Sie waren voller Hinweise auf zukünftige Greuel, Naturkatastrophen und weitere Verwüstungen der Länder. »Eure Zeit in der Höhle«, bemerkte er, »ist auch vorbei. Hat euch gutgetan. Ihr seid ruhiger geworden. Und fetter.« Das Windlicht warf zitternde Helligkeit auf unsere Gesichter und die dicken Felle des Höhlenvorbaues. Ich hatte im Spätherbst eine Ladung groben Kies herangebracht und vor dem Eingang verteilt. Man stand jetzt nicht immer in Nässe und schlammigem Lehm. »Weil unsere Höhlenzeit vorbei ist«, sagte ich ruhig, »sind wir hier. Zeit für den Abschied, Spökenkieker.« Bis auf kleine Reste besaß er die leichtverderblichen Vorräte. Bald würde die Höhle bis auf ein paar unwichtige Reste und den Transmitter wieder leer sein. Wir schüttelten uns die Hände. Ullana küßte ihn, und Malte flüchtete verwirrt in seinen Unterschlupf zurück. In der mondhellen Nacht tasteten wir uns zum Gleiter und schwebten über das leere Land zu unserer Höhle zurück. Natürlich kannte die junge Frau Bilder von Beauvallon und Sagittaire und freute sich auf den langen, heißen Sommer. Ich hatte Ciron befragt: Roquette war zum zweitenmal verheiratet und zog vier Kinder groß. Nur Verstrebungen und Isolatoren, schmorender Abfall und die glühenden Schenkel des Transmitters befanden sich noch in der Höhle. Cirons Vorbereitungen waren mit maschinenhafter Gründlichkeit erfolgt. Ein Teil der Ausrüstung lagerte in den Magazinen der Kuppel, ein anderer lag dort, wo Ciron uns erwartete. 324
»Zuerst du«, sagte ich und schob Ullana auf das Gerät zu. »Dank der harmlosen Zaubereien wird dir mein Freund seine Finger entgegenstrecken.« Sie überwand ihre Furcht und trat auf die Abstrahlplatte. Als sie verschwunden war, betätigte ich die Schaltungen und folgte ihr. In den Gewölben des Schlößchens fanden wir uns wieder. Ciron de Beauvallon, in perfekter Maske und Ausstattung, einen furchterregend gekrümmten Bart auf der Oberlippe, breitete die Arme aus. »Ein gar herzlich’ Willkomm, Graf von Arkonstein, oder welchen Namen Ihr auch immer gewählt haben mögt. Und die Dame seines Herzens, mit der Sprache dieser Gegend wohlversehen. Alles ist bereit, und bald wird der Jubel der freien Weinbauern des Tales keine Grenzen mehr kennen.« »Wenn die Vorbereitungen so sind wie deine Stilübungen«, spottete ich und zog Ullana die Treppen hinauf, »gehen wir freiwillig in die Höhle zurück.« »Warte und sieh, Freund Atlan!« rief er uns nach und kümmerte sich weiter um die perfekte Tarnung der kostbaren Habe. Ich stieß die Läden auf, und Morgenlicht flutete durch die Räume. Dann legte ich den Arm um Ullanas Schultern und meinte: »So sieht es in Wirklichkeit aus. Da sind wir jetzt.« Sie blinzelte in die warme Sonne und entdeckte junges Grün, heitere Farben und ungleich größere Wärme, die durch die offenen Fenster kam. Selbst für mich war dieser Augenblick wie eine Heimkehr. Das Fest in Beauvallon war noch lange nicht beendet. Zahllose Lichter sprenkelten das langgezogene Oval um die Plätze und entlang der Straße. Es roch noch nach allem, was auf den eisernen Rosten gebraten worden war. Gesang und Musik, Lachen und das Fußtrampeln der Tanzenden drangen mühelos bis unter das Sonnensegel auf der Terrasse. Wir lagen müde und ein wenig trunken in fellbespannten Sesseln. Ciron tat so, als habe er zuviel getrunken, dabei roch er nur an seinem leeren Pokal. 325
»Nach allem, was an Informationen und Erkenntnissen vorliegt...«, begann er und richtete den Blick seiner graugrünen, großen Augen auf Ullana. Inzwischen schien er Eitelkeit im Fundus seiner Maskierungsmaßnahmen entdeckt zu haben. »... gibt es diesen Nahith Nonfarmale tatsächlich. Daß er Begriffe, seine angebliche Herkunft betreffend, aus dem Schrifttum von Larsaf Drei benutzt, zeigt seine Gefährlichkeit.« Ich sah im Kerzenlicht mein Spiegelbild im dunklen Wein. Es wirkte nicht heiter. »Ullana weiß über den Drachenreiter Bescheid«, warf ich ein. »Er verfügt über bestimmtes Wissen. Keineswegs kann sich sein Wissen mit dem Inhalt unserer Speicher und Gedächtnisse messen.« »Wenn nicht ES sich einmischt.« »Nicht unmöglich«, sagte ich. »Wahrscheinlich verfolgen wir einen entsprungenen Androiden von WANDERER.« Ciron nickte und stimmte mir voll zu. »Weitere Tatsachen: Nonfarmale drückt seine Vorliebe für das Makabre durch die Namenswahl aus und kann sich ohne größere Schwierigkeiten unsichtbar machen.« »Damit ist er nicht allein«, brummte ich. »In meinen Spürgeräten fand sich kein Impuls. Wenn es ein Gerät ist, muß es entweder mit äußerst schwacher Energie arbeiten, Oder das Ganze läuft auf organisch-psychoenergetischer Ebene ab. Oder aber es wird mit einer Energieform betrieben, auf die keines unserer Geräte geeicht ist« Ciron faßte zusammen, was mir in langen, schlaflosen Nächten bewußt geworden war. Wie so oft im Leben, hatte mich plötzlich in dieser Nacht eine Phase scheinbarer Hellsicht gepackt. Möglicherweise war das Problem durch Nachdenken und Phantasie zu lösen. »Seine Gestalt ist menschlich«, stellte Ciron fest. »Wobei denkbar ist, daß er sie willentlich verändern kann.« »Zutreffend. Er bevorzugt Reittiere aus der Mythologie dieser Welt.« 326
»Und das dient dem Zweck, die Eingeborenen durch Schauerbilder ihrer eigenen Mythen, Sagen und Träume zu erschrecken.« Ciron zögerte, ehe er weitersprach. »Ein Symbiont?« »Vorstellbar«, murmelte ich verdutzt und tastete nach Ullanas Fingern. War er hierhergekommen, um eine Lebensessenz einzuatmen oder aufzunehmen, die er aus den Qualen der Planetarier sog? Konnte er ohne diese Schwingungen nicht existieren? Vermutlich gab es hier alles, was er zum Überleben brauchte. Der Katalog der Fragen wurde länger, die Fragen schwieriger, die Antworten vorläufig reines Rätselraten. Ciron nickte und roch am Pokal. »Ich empfinde es nicht anders. Da!« Er zeigte auf ein Wandbild, das im angrenzenden Raum leuchtete. Die Farben verblaßten, die strukturlose Glätte eines Bildschirms erschien. Dann bildete sich die Oberfläche von Larsafs drittem Planeten ab, in der Projektion des Meisters Mercator. Lichter blinkten. Ich hielt den Atem an. »Deutschland«, flüsterte ich. Nun ja, das wußte ich. »Zipangu, der Subkontinent. Afrika! Die Neue Welt, Arabien.« Ich zählte fünfzehn Punkte. Sie erloschen plötzlich. Wenn sich dieses Wesen erst seit kurzer Zeit auf dem Planeten aufhielt, bedeutete die geringe Anzahl der Sichtungen, daß es sich zunächst orientierte. »Seine Reittiere sind keine Maschinen. Es scheinen androidenhafte Züchtungen zu sein, oder gezähmte Exemplare einer Fauna, die dort gedeiht, wo Nonfarmale herkommt.« »Er besitzt ein Tor zur Welt!« stieß ich hervor. »Auf diesen Einfall wollte ich dich mit meinen unbedeutenden Erkenntnissen hinsteuern«, sagte Ciron. Er goß einige Tropfen des schweren Weins in seinen Pokal und versenkte einen Teil des savoyardischen Schnurrbarts darein. »Du Guter!« Ullana lächelte ihn an. »Sind deine Hinweise noch weiterreichend?« fragte ich. Ich ging in mein Arbeitszimmer und holte die maschinengeblasene Flasche, die 327
normannischen Apfelbranntwein enthielt. Ich brauchte stärkeren Alkohol für stärkere Argumente. »Ich werde heute nicht schlafen können«, sagte ich. Ullana lächelte wieder und flüsterte: »Wie schön.« Ich nahm einen kräftigen Schluck des rauchigen Apfelbrandes. Die Planetenkarte verwandelte sich in die Gestalten des Freskos zurück. Dann sagte ich: »Die Oase, Ciron.« »Der Basaltfelsen und die LARSAF ZWEI: DREI?« »Nichts anderes. Zuerst sehen wir nach, dann rüsten wir eine Karawane aus, beziehungsweise eine Expedition, und dann sprengen wir das Vehikel aus der Höhle.« Ciron schwieg. Der Roboter dachte auf seine Weise nach. Vermutlich korrespondierte er mit den Computern in der Schutzkuppel. Ich schmeckte, wie sich der einzigartige Geruch über die Terrasse verbreitete. Im Dorf war Ruhe eingekehrt. Auch die Beauvalloner würden morgen schwere Köpfe haben. Mit einem guten Gewissen allerdings dachte ich an mein langes Gespräch mit Roquette, die noch immer eine gutaussehende Frau war und, als sie vom Schicksal der Menschen in Deutschland und Ullanas erfuhr, verständnisvoll ^nickt hatte. »Du weißt, daß wir den besten Verbündeten haben, den wir uns wünschen können?« fragte Ciron. »Ja. Die Zeit.« »Sie verändert vieles. Übergroße Eile ist auch in diesem Fall nicht geboten. Es gibt eine Reihe von Aufnahmen der fraglichen Gegend, in Abständen gemacht. Aber die Informationen sind in der Kuppel. Es sieht nicht so aus, als kämen wir leicht zu unserem Ziel. Ich werde die Analyse vorlegen, wenn sie richtig bearbeitet wurde. Hast du etwas dagegen, wenn ich euch noch drei Tage lang bediene, versorge und unterhalte, ehe ich wieder meinen unaufschiebbaren Geschäften nachgehe?« Ich kchte heiser. »Du sagtest eben, daß wir Zeit haben. Soviel Zeit haben wir allemal. Es ist gut.« Seine Speicher und Rechenwerke hatte ich schätzen gelernt, nicht nur deshalb, weil sie mein Leben sicherten und schon so oft gerettet 328
hatten, daß die Zahl für nicht beschämend war. Aber diese unzähligen Verhaltensweisen und, tatsächlich, die konstruktive Phantasie, bewiesen mir die Lernfähigkeit. Nur ein Beispiel: Noch bevor wir in Beauvallon angekommen waren, hatte Ciron zusammen mit einem Stier für die Kühe des Dorfes auch hervorragend zugerittene Pferde für die Herren Le Sagittaires gekauft und hierhergeschafft. Daß die Ställe frisch verputzt und gekalkt waren, verstand sich von selbst. »Jedenfalls ist das Boot im Felsen nicht zerstört oder verrostet«, sagte er tröstend. Ich dachte an die Mengen von Fett, die wir verwendet hatten, und an alle anderen Vorsichtsmaßnahmen und versuchte nachzurechnen, vor wievielen Jahren das gewesen war. Aber ich wollte nicht mehr rechnen und bot der jungen Frau von dem Apfelbrand an. Sie schüttelte den Kopf. Ich kippte die Flasche noch einmal über dem Becher. »Ich plante«, erklärte ich eine Weile später, »den Winter hier abzuwarten. Die Zeit bis dahin verbringen wir mit der Suche nach diesem Kretin, und damit, zuzuschauen, wie sich die Armeen zerfleischen.« »Sich selbst und das Land«, bemerkte Ullana bitter, griff nach meinem Becher und nahm einen Schluck. »Hierher verirrt sich der Krieg kaum«, sagte ich, »wenn alle Söldner an anderer Stelle sind. Was anderen schadet, nützt uns.« Zweihundertsiebzig Tage und Nächte lang genossen wir die Ruhe des verwinkelten, sonnenerfüllten Tales. Schnelle Ritte und Treibjagden, fröhliche Feste und die Weinproben, die Versuche Axel Oxenstiernas, die Politik seines Königs mit anderen Mitteln fortzusetzen, sein Vertrag zwischen den evangelischen Fürsten und Schweden, eine Reihe von schlimmen Gewittern und Regen, die einen Teil des Tales und das Mühlrad zerstörten, die Aufbauarbeit, während die Nässe in praller Sommersonne verdunstete. Die Feste, wenn Kinder geboren wurden, und die Nächte nach Tod und Begräbnis; Aussaat, Blühen und Ernte. Noch mehr Krieg: Wallenstein siegte bei Thurn, und Herzog Bernhard von SachsenWeimar eroberte Regensburg. Schöne und schwere Stunden, Arbeit und Nächte der Leidenschaft, Ruhe und Gelächter. Das Jahr lief da329
hin wie das Wasser eines breiten Flusses. Händler kamen und gingen, eine Scheune brannte mit der frisch eingebrachten Ernte. Auf meinem Tisch lagen die Bilder, die über den langen Zeitraum seit der Verödung der Oase den Felsen zeigten. Ein schönes Beispiel dafür, daß sich alles bewegte, alles veränderte. Der Stausee trocknete, die Mauern verfielen, Sand bedeckte alles. Ein Erdbeben, in diesem Teil des Planeten nicht selten, veränderte die Landschaft abermals. Eine Flutwelle legte alles wieder bloß und bedeckte es später mit Geröll. Der Felsen schien im Boden zu schwinden und wieder aufzutauchen wie aus steingewordener Brandung. Dann bedeckte eine graue Düne aus angewehter Asche den Felsen. Und wie sah es heute dort aus? Der charakteristische obere Teil, trotz der Härte des Steines verwittert, ragte aus der Savanne. Weit und breit gab es kein Wasser. Steinplatten lagen herum, der großartige afrikanische Himmel mit seinen wattigen Wolken spannte sich über einer gebirgigen Einöde, über der die Geier kreisten. Zum versiegelten Eingang vorzustoßen, würde viel Arbeit und den Einsatz größerer technischer Mittel erfordern. Am Tag der Heiligen Francisca und Johannes’ vom Kreuz verschwand Ullana ohne eine Spur, ohne Nachricht. Ciron und Roquette meinten, ich solle nicht nach ihr suchen. Irgendwann in diesem letzten Monat gab ich es wirklich auf und fügte meiner Erinnerung an viele rätselhafte Vorkommnisse eine weitere hinzu. Mit diesen Erkenntnissen räumte ich meinen einsamen Hausstand zusammen und bereitete mich darauf vor, in den langen, kalten Schlaf zurückzukehren. Das regungslose Gesicht des absolut menschlich verkleideten Roboters verriet kein einziges Megabyte seiner Überlegungen. Logik innerhalb einer bestimmten Variationsbreite der Interpretation bestimmte sein Handeln, und er war noch immer nicht sicher, ob die Parameter stimmten. Die Konstruktion der Verschwörung war nicht stabil genug. Verschwörung? 330
Er hatte sich mit Ullana gegen den Arkoniden verschworen. Mit der typischen Handwerkerschläue der Barbaren, gepaart mit rascher Auffassungsgabe und dem Reichtum an List, die viele Frauen auszeichnete, hatte Ullana von den Funktionen der Überlebenskuppel erfahren, sie richtig gedeutet und Ciron einen Vorschlag gemacht. Ihre Logik sagte aus: Möglicherweise gibt es in den Kammern des langen Schlafes andere Männer oder Frauen. Wahrscheinlich Frauen. Sie wollte eine davon sein. Ganz richtig schloß sie, daß mit dem Augenblick des Einschlafens, wie jede Nacht erlebbar, die Erinnerung abriß und beim Aufwachen wieder zurückkam. Der Zeitraum dazwischen war ihr gleichgültig. Eines Tages, argumentierte sie weiter, braucht mich Atlan. Vielleicht läßt er die eine oder andere Frau altfwecken und nimmt sie mit auf seine Reise. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie dabei stirbt, ist nicht gering. Wecke mich, wenn Atlan mich braucht! In einem Jahr, in zehn oder hundert. Ich will und werde an seiner Seite kämpfen. Cirons Stimmung war jetzt das Äquivalent eines grimmigen Lächelns. Er mußte weitere Parameter hinzufügen. Atlan unterbrach seine Erzählung, schwieg beängstigend lange, hob eine Hand und sagte, als ob er bewußt zu Cyr Aescunnar spräche, abermals mit veränderter Stimme: »Daß Ullana verschwand, war seltsam; zweifellos. Sehr viel später berichtete mir Rico über die Gründe seines damaligen Verhaltens. Aber als er mich weckte, weil unsere Satelliten eine doppelte oder zwei unterschiedliche Annäherungen eines Raumschiffes oder sogar zweier Raumflugkörper angemessen hatten, vermochte er noch nicht jenen zuckenden Energie strahl aus der Tiefe der Milchstraße zu orten. Ich erinnere mich jetzt, daß ich in der Camargue schon einmal gezwungen wurde, von Radogyne und dem Schwarzen Drachen zu berichten; auch das Schwemmland der Rhonemündung zählt zu meinen, von Erinnerungen erfüllten irdischen Landschaften. Und... abermals mußte ich einen Kontinent der Kriege betreten, um wandernden Zielen hinter herzujagen...« 331
Es gab im Süden Terras gewisse Stunden; es sind nur wenige im Lauf des Jahres, in denen der gesamte Planet zu erstarren scheint. Es ist wie die Pause vor einem gigantischen Atemholen. Alles liegt bewegungslos unter dem heißen Glast der Mittagssonne, deren Strahlen beinahe senkrecht fallen. Dann sind die Laute der Grillen und das gelegentliche Rascheln des dürren, verstaubten Grases die einzigen Geräusche. »Es sind gläserne Schlangen, die sich bewegen. Du kannst sie nicht sehen; sie kriechen unter den Gräsern«, sagte der Thanatophobe, massierte Hautcreme in die Winkel zwischen Nasenwurzel und Augen und murmelte halb unverständlich: »Du stehst, Weißhaariger, auf der Mauer wie ein Späher. Allein mit den Gegengewichten deiner Unrast. Du versuchst, die Asche deiner Erinnerungen zu sammeln... ach! Es ist die Asche der Legionen deiner toten Freunde.« Ich, der Weißhaarige, hörte die Worte und dachte nach, während sich das Zirpen der Grillen langsam im Kreis drehte; ein Tier löste das andere ab. Wir saßen im Schatten eines Olivenbaumes. Der Boden war gesprenkelt von Licht, das auf den winzigen Kieseln tanzte; kaum wahrnehmbarer Wind fuhr die Rhone abwärts, bewegte die Zweige und ließ hin und wieder Inseln aus Gekräusel entstehen, hier, wo sich der Flußlauf staute. Diese unglaubliche Hitze lahmte sogar die Mücken. Große, vom Wasser und Wind ausgebleichte Fragmente angeschwemmter Baumstämme, die aussahen wie die Knochen prähistorischer Tierriesen, lagen auf dem Kies der Landzunge, dessen kalkiges Weiß schmerzhaft in die Augen stach. Schließlich erwiderte ich, dessen Haut von der Sonne und von den Jahren zwischen den Sternen wie gegerbt aussah, leise und unverbindlich; »In meiner Hand die Sanduhr, Freund Vaskene, sie läuft ab. Wenn das letzte Sandkorn den engen Schlund passiert, wird auch meine Erinnerung sterben.« Vaskene, der Thanatophobe, sprang auf und verschüttete den hohen Becher. Die eiskalte Sangria floß über die weißgescheuerte Platte des Tisches. Vaskene starrte mich und die junge Frau an, schluckte und wurde unter dem Pigment der braunen Haut leichenfahl. Ein Gedan332
ke schien ihn gleichermaßen mit Furcht und mit einer magischen Anziehung zu erfüllen. Panik und Faszination stritten sich in seinem Gesichtsausdruck. »Es stirbt jeder Tag«, sagte der Hagere und verschob die Sonnenbrille über den Augen. »Und es stirbt jeder Mensch... einmal. Für viele mag dies die Lösung aller Probleme sein.« Vor Stunden, als die Mittagshitze die Kühle des Vormittags verdrängt hatte, war dieser Mann aus den Büschen des Ufers gekommen. Er mußte mindestens zweihundert Jahre alt sein, aber eine Serie kosmetischer Operationen, mehrere Epidermisbehandlungen, teure Ära-Medikamente und die Angst vor dem Sterben, denn nichts anderes bedeutete der Ausdruck Thanatophobie, hatten diesen Greis in einen Mann der mittleren Jahre verwandelt. Aber die dünne Schicht Firnis über dem wahren Bild des furchtsamen Terraners hatte nicht lange standhalten können. Irgendwo vor uns sprang ein großer Fisch aus dem ruhigen Wasser, schnellte sich in einer eleganten Kurve hoch und fiel zurück. Ein System von Ringen breitete sich aus. Das Wasser der Rhone war glasklar und sauber. Bei diesem Geräusch zuckte Vaskene zusammen, warf einen furchtsamen Blick in die Runde und sagte dann: »Ich muß weiter. Ich habe keine Ruhe. Ich fürchte das Ende, Weißhaariger.« Ich nickte ruhig und musterte die Gestalt. Es schien, als ob ein unbeugsamer Wille diesen Mann aufrechthielt; dies war sicherlich eine Täuschung. Der wichtigste Gegenstand im Leben des Thanatophoben war ein Spiegel - Vaskene würde sich stets so gut oder schlecht fühlen, wie es ihm sein Spiegelbild, dieser zweidimensionale Zwilling, suggerierte. Alles, was geeignet war, ihm Angst vor dem drohenden Ende zu machen, wurde fluchtartig verlassen. »Dein Ende, Vaskene, ist bestimmt noch in weiter Ferne«, sagte Radogarth. Sie sprach zum erstenmal seit Stunden. »Wohl kaum! Ich fürchte mich davor, alt zu werden. Meine rechte Schulter ist tiefer als die linke. Dort ruht die Last meiner Erlebnisse. 333
Sie drückt mich nieder. Und es gibt nichts anderes als Flucht dagsgen!« Ich richtete den Becher auf, schöpfte mit ihm Wasser aus einem hölzernen Behälter und schwemmte die schnell auftrocknende Sangria von der Tischplatte. »Bin ich Prometheus?« fragte ich lächelnd. Ich erinnerte mich meiner eigenen Erinnerungen, zahlreich wie die Sterne der Galaxis und von der gleichen bitteren Kälte wie der Raum zwischen den Sonnen, und sah zu, wie Vaskene grußlos über den Kies der Landzunge rannte. Die Steine gaben unter den Sohlen der weißen Stiefel nach, im Kies erschienen tiefe Spuren. Dann keuchte der Mann, der vor dem Tod Angst hatte, den Uferhang hinauf und verschwand. Wir waren wieder allein mit dem provozierenden Zirpen der Grillen. Heute, an diesem Tag im dritten Jahrtausend nach der Zeitenwende, schien die Vergangenheit wieder aufgetaucht zu sein; nicht drohend, nicht niederschmetternd - sie schien sich nur zögernd erheben zu wollen. Vielleicht vsaren auch die Erinnerungen von der Glut dieses Mittags gelähmt, wer weiß? Sieh nicht zu oft in ihr Gesicht! Die Erinnerungen.... warnte der Extrasinn. Allein der Name - diese auffallende Ähnlichkeit! - würde genügen, um mich zu zwingen, mich an die Frau von den Sternen zu erinnern. Damals, als die keuchende Orgel das Byrd-Madrigal gespielt hatte. »Radogarth!« sagte ich. Die Hexe! sagte der Extrasinn. Unmerklich ging der Mittag mit seiner unbarmherzigen Hitze und Grelle in den Nachmittag über. Kleine, weiße Wolken erschienen und zogen von Westen nach Osten über den pastellfarbenen Himmel. Es begann zu duften. Tausende verschiedener Kräuter und Blätter, Blüten und Früchte ringsum verströmten den Geruch, der für diese Landschaft charakteristisch war. Ich dachte einmal kurz daran, daß es möglich sein müßte, Landschaften zu bestimmten Zeiten an den Gerüchen zu erkennen. Wir spazierten langsam die schmalen Gassen, die vielen Stufen, die Steinplatten des Flußufers entlang, unter Bäumen und verborgenen Lichtern, und endlich standen wir, von den Tönen angelockt, auf den 334
Stufen, die zum Kirchenportal hinaufführten. Ich zögerte, gleichzeitig zog es mich vorwärts. Radogarth merkte es am Druck meiner Finger. Für mich besaß die Musik Claudio Monteverdis eine besondere Bedeutung. Ich hatte sie gehört, einige Wochen, nachdem sie komponiert worden war, und war der einzige Mensch im Universum, der von sich behaupten konnte, er habe Claudio selbst dirigieren sehen. Und durch einige Jahre meines Aufenthaltes auf Larsaf III zog sich die Musik Monteverdis ebenso wie die Stücke eines Jan Pieterzoon Sweelinck, eines Byrd, Schütz, Hans Leo Häßler und anderer. Sie besaßen die gleiche eindringliche Kraft der Erinnerung wie die Werke Shakespeares. Orgelklänge, lauter, eindringlicher, drohendes Schicksal ankündigend, hallten durch den Innenraum der gotischen Kirche. Es ist die gleiche Musik wie damals, flüsterte der Extrasinn. So war es. Ein fünfstimmiges Madrigal von Byrd, dem englischen Komponisten. Ich kannte jede Note, auch die Orgelbearbeitung. Vermutlich benutzte ein Lehrer des Ortes die Abendstunden, um zu üben. Ich zuckte zusammen, als ich die komplizierte Kadenz des ersten Satzes erkannte. Noch zehn Schritte, und du mußt reden! sagte das Extrahirn drängend. Radogarth sah mich von der Seite an. Ich atmete schwer. Ein paar Dorfbewohner waren stehengeblieben und sahen in die Richtung des Kirchenportals. Schweißtropfen erschienen auf meiner Stirn und versickerten in den Brauen. Um meinen Mund zuckte ein Muskel. Der Druck meiner Finger verstärkte sich; ich setzte fast mechanisch Schritt vor Schritt und stieg mit Radogarth die Treppe hinauf. Meine Hand drückte die schmiedeeiserne Klinke nieder; sie bewegte sich kreischend und ließ einen rostigen Mechanismus knackend und klickend reagieren. Dann schwang die Tür auf. Die kühle, abgestandene Luft des Kircheninnern schlug uns entgegen. Du bist verloren! Du kannst nicht mehr zurück! schrie der Logiksektor. Wir gingen langsam weiter. Hinter uns schlug die Tür zu. 335
Wir waren in einer eigentümlichen Welt gefangen. Das exterritoriale Gebiet einer Religion umgab uns. Verstand und Erinnerungsvermögen empfingen eine schnelle Folge einzelner Schläge, es waren mehr schmerzhafte Nadelstiche. Die Bilder des Kreuzwegs, die Empore mit den Orgelpfeifen, die Kanzel und das Altargemälde, die sorgsam restaurierten und konservierten Reihen der Bänke, die Votivtafeln und die Marmorplatten, auf denen verblassende Schriften mit der Vergangenheit kämpften, mit der Vergessenheit der Zeitgenossen Meine Knie knickten ein. Der Orgelspieler hatte uns nicht bemerkt, und auch das Geräusch, mit dem ich in einen Sitz fiel, störte ihn nicht. Perlend raste eine Tonfolge des Madrigals durch die Kirche, der Nachhall betäubte. Die Welle ergriff mich, hob mich hoch, schleuderte mich um Jahrhunderte zurück. Wieder roch ich das Gemisch aus Weihrauch und aus dem Geruch, der durch das Dorf wehte, wenn die Knechte des Kerkermeisters mit glühenden Zangen Fleischfetzen aus dem Körper der »Hexen« rissen. Wieder erscho llen hinter dem Orgelspiel die Schreie der Tiere, das Keifen der Marktweiber, das Knattern schneller Hufe auf den Steinen, erschollen die Flüche der Landsknechte. Und jetzt erlebte Radogarth mit, wie ich wieder einmal die Oberfläche dieser Welt betrat. Sie erlebte meine Schilderung, gegen die ich mich nicht wehren konnte. Sie sah, hörte, empfand und staunte und befand sich plötzlich im Jahr 1645 der terranischen Geschichte. Meine Stimme wurde von den letzten Takten des Madrigals begleitet. Ich holte tief Atem und redete ununterbrochen, als ob ein ungeheuer fesselnder Film ablief. Fünfzehn Männer, die im langsamen Galopp auf das Dorf zuritten, sahen aus, als wären sie Varianten eines einzigen Typs: Bis auf vsnige unbedeutende Einzelheiten waren ihre Rüstungen und Waffen gleich. Die Männer besaßen auch die gleiche Statur, die gleiche Größe, und selbst die Art, in der sie in den Sätteln ihrer ausnahmslos schwarzen Pferde saßen, war auffallend gleich: eine schwarze Ka336
valkade, die durch den Hohlweg donnerte. Auf dem Wimpel, der an der scharfgeschliffenen Hellebarde des ersten Reiters flatterte, befand sich ein blauweißer Stern auf purpurnem Grund. Die folgenden Re iter hingegen waren bunt und auch sorgloser; von der ersten Gruppe ging ein düsterer Eindruck aus, der wenig Gutes verhieß. Der Anführer hob die Hand und zügelte seinen Rappen scharf. Das Tier bäumte sich auf, drehte sich nervös auf den Hinterbeinen und stand dann unbeweglich. »Freunde!« rief der Anführer. Sein Gesicht war scharfgeschnitten, die Haut leicht bräunlich, als ob er in die Sonne vieler Länder geblickt habe. Die Augen waren die eines Habichts; scharf und kalt. Der Umstand, daß die oberen Lider schräg waren, verstärkte diesen Eindruck. Pferde wieherten leise. Hufe scharrten, und als einer der Landsknechte eine Frau an den Schenkel griff, kreischte sie auf. Der letzte Reiter der ersten Gruppe drehte sich um, starrte den Gewappneten an, dann die Frau; beide erstarrten unter diesem Blick. Der Zug der Reiter versammelte sich binnen Sekunden in einer engen Gruppe. »Freunde«, sagte der Anführer abermals. Er sprach, als nähme er innerlich keinen Anteil an der Bedeutung seiner Worte. »Wir suchen zwei Personen, einen Mann und eine junge Frau. Auf diesem Weg müssen wir durch die Siedlung vor uns - jeder andere Weg würde einen zu großen Umweg bedeuten. Wir reiten schnell hindurch, bleiben dicht zusammen. Wir suchen die beiden Fremden, kaufen Essen ein und reiten weiter, wenn wir sie nicht hier finden. Wir wissen, daß sie in nordwestlicher Richtung geflohen sind. Wir sind schneller, und wir sind mehr. Wir müssen sie finden.« Nervös wurden die Musketen nachgesehen, die langen Schwerter angefaßt, die Armbrüste gesichert. Der Anführer sah einen nach dem anderen an und wußte, daß ihre Mission schwierig war. Sie versuchten, in einem brennenden und stinkenden Heuhaufen zwei Nadeln zu finden und sie hatten keinen Magneten. Aber sie hatten Zeit. Allerdings: zu wenig Zeit, wenn man es recht bedachte. Mit ihnen um die 337
Wette ritten die Wirren des langen Krieges, den man später den Dreißigjährigen Krieg nennen würde. »Wieviel Zeit haben wir?« fragte eine der jungen Frauen, die sie irgendwo unterwegs aufgelesen hatten. »Siebenhundert Tage. Nicht mehr!« sagte der Anführer. »Das bedeutet, daß wir ununterbrochen suchen müssen.« »Worauf warten wir noch?« fragte der Mann neben ihm. Man hätte viele aus der Gruppe der dreißig Reiter, ihrer harten Sprache wegen, für Schweden halten können, die in das Gebiet des langen Flusses, des großen Sees und der nördlichen Berglandschaft, versprengt worden waren. Dagegen stand die dunkle Farbe der Haut. Dagegen standen auch die Waffen, die wahre Wunderwerke zu sein schienen, dagegen stand ferner, daß sie an nichts glaubten, vor nichts Angst hatten, ungemein rasch zu sein schienen und wie der leibhaftige Satan selbst ritten. Sie waren halbe Kentauren. Jedesmal, bevor sie eine der Frauen in ihre merkwürdigen Zelte nahmen, zitterten die jungen Dinger, und danach weinten sie. Der Anführer schlug mit dem stahlverstärkten Handschuh gegen den schwarzen Brustpanzer. »Los!« Die Truppe zog sich auseinander. Der Galopp wurde schärfer, Erdklumpen wirbelten von den Hufen der Pferde durch die Luft und prallten dumpf gegen Baumstämme. Hin und wieder kamen die Reiter an Baumstümpfen vorbei, die zerborsten, geschwärzt und zersplittert waren; Folgen des Beschusses aus Feldschlangen oder anderem Geschütz. Als sie den Hohlweg passiert hatten, stürzten sich die Hunde auf den Trupp, ausgemergelte, vor Hunger und Angst halb irrsinnige Tiere, deren Rippen scharf unter dem zottigen, schmutzigen Fell hervorsahen und es durchstoßen wollten. Die Tiere bellten nicht einmal mehr; sie röchelten und geiferten nur. Vor sich sahen sie wohlgenährte Pferde mit gestriegelten, glänzenden Fellen, rochen gutes Leder, lebendige Haut, warmes Fleisch. Sie stürzten sich besinnungslos auf den ersten Reiter, dessen Pferd zu scheuen begann. Der Mann schätzte ihre Anzahl ab: Es waren rund zwanzig Bastarde. Der Anführer senkte die Hellebarde, rammte deren Spitze einem der hochspringenden Tiere quer durch den Körper. Dann - eine der 338
springenden Tiere quer durch den Körper. Dann - eine der Frauen, die kreischend ihr Pferd die Schräge des Hanges hochjagte, sah es und wunderte sich noch Tage später darüber - riß der Anführer die mehr als zwei Meter lange Waffe hoch, schwenkte sie in einem Halbkreis und erschlug mit dem kläffenden Hund einen zweiten. Sein Pferd keilte aus und schleuderte ein Tier durch die Luft, das gegen die Brust des dahinter galoppierenden Reiters flog und starb. »Die Schwerter!« schrie einer der fünfzehn. Die Waffen befanden sich in den gepanzerten Fäusten der Männer. Selbst ein schielender Bettler würde erkennen, daß die fünfzehn Reiter erstklassige Krieger waren, die es mit jedem Feind aufnehmen konnten. Die Hunde sprangen an den Pferden hoch, die wieherten, sich aufbäumten, ausschlugen und sich im Kreis drehten. Die langen, schmalen Waffen beschrieben Kreise, trafen auf zuckende Tierkörper. Der Galopp ging weiter, entfernte sich vom Ausgang des Hohlwegs. Die Hunde sprangen im Zickzack neben den durchgehenden Pferden hoch, wurden geköpft oder tödlich verwundet. Blut troff aus den Fellen der Pferde, dorther, wo die räudigen Köter ihre Zähne hatten hineingraben können. Die blitzenden Klingen hoben und senkten sich. Einige der Landsknechte feuerten die Armbrüste ab. In das Trommeln der Hufe, das Wiehern und erregte Schnauben, in die herrischen Kommandos der Reiter, in das Schreien der vier Frauen mischten sich die hechelnden Laute der halb wahnsinnigen Bestien, das harte Schnellen der Armbrustsehnen und die Geräusche, mit denen die unterarmlangen Bolzen in die Tierkörper einschlugen. »Weiter! Schneller! Fangt den Gaul ein!« schrie der Anführer. Er hieß Usinas und hatte eine tiefe, tragende Stimme. Nur noch drei Hunde umsprangen ihn. Er zog den Fuß im knielangen Stiefel aus dem eisernen Sattelschuh, holte aus und trat zu. Der Tritt brach einem der Hunde das Genick. Der zweite verbiß sich in den Spann des Stiefels und wurde von der breiten Spitze der Lanze durchbohrt. Der letzte rannte einige Schritte neben dem dahinpreschenden Pferd her. In außergewöhnlicher Ruhe befestigte Usinas das Ende der Hellebarde im Sattelschuh, zog eine Reiterpistole mit feinziseliertem Feu339
ersteinschloß aus der Lederhülle und warf sie im vollen Galopp in die Höhe. Er griff zu, hielt das Ende des Laufes in der Hand und verwendete den Griff als Keule. Mit scharfem Krachen zerbarst die Schädeldecke des Hundes. Das Tier überschlug sich und wurde von den Hufen der nachfolgenden Pferde in den Boden getreten. Einer der fünfzehn lenkte seinen Rappen nach links, zwang ihn in vier Sprüngen den Hang hinauf und erwischte den durchhängenden Zügel des Pferdes, in dessen Beutesattel die Frau hilflos schwankte. »Keine Sorge, Agnes!« sagte er. Sie lächelte ihn verzerrt an, dann ging der wilde Ritt weiter. Die ersten bearbeiteten Felder tauchten auf. In der Ferne, hinter niedergerittenen Zäunen und rauchgeschwärzten Mauern verbrannter Scheunen, in deren Steinen Spuren von Artillerietreffern zu sehen waren, tauchten die ersten Häuser und der spitze Kirchturm auf. Der Anführer zügelte sein Pferd und ließ den Trupp an sich vorbeireiten. Er zählte neunundzwanzig. Sie hatten die Attacke der Hunde gut überstanden; die Wunden der Pferde würde man im Dorf versorgen können. Tag und Nacht ging es so, sie folgten einer Spur, so gut wie unsichtbar. Nur Gerüchte, Aussagen von Gefangenen, die hinter vorgehaltener Hand kursierenden Auskünfte von Pfaffen oder Ratsdienern... das waren die winzigen Punkte, die sich zu einem Pfad durch ein verwüstetes Land gliederten. Usinas wußte, daß er Vaskane Dyer finden mußte. Das Schicksal zahlreicher Menschen hing davon ab, daß er ihn lebend traf. Nichts anderes zählte, dachte er grimmig, als er die Sporen einsetzte und den Zug entlang ritt, um wieder die Spitze übernehmen zu können. Schnell näherten sie sich der Siedlung, einem Zeilendorf, zwei Reihen Häuser und Ställe entlang der S-förmigen Windung der Straße. Eine Kirche, deren Turm an der Ostseite Brand- und Rauchspuren zeigte, erhob sich in der Mitte, dort, wo sich die Straße verbreiterte. Ein Bauer, der mit zwei ausgemergelten Ochsen einen Acker pflügte, sah die Reiter und verbarg sein Gesicht in beiden Händen. »Schon wieder die Schweden!« murmelte er. Jetzt war der Zug zwischen den ersten Gehöften. Der Anführer versuchte, mit seinen 340
scharfen Augen das Gebüsch und die verwitterten Mauern zu durchdringen. Wurden sie angegriffen? Niemand sah ihnen an, daß sie keine Feinde waren, sondern Suchende, Jäger, die nach einem kostbaren Wild suchten, das die vollkommenste Form der Mimikry beherrschte: Es hatte sich im größten Gewimmel verborgen, war selbst zu einem Teil dieser Wirrnis geworden. Niemand sprach ein Wort. Aus dem Galopp war ein schneller Trab geworden. Dreißig Reiter, in Paaren, ritten in das Dorf ein, dessen Namen sie nicht kannten; keine Karte verzeichnete diese Ansammlung von Bauernhöfen. Es stank nach Mist. Ein Hahn schrie heiser vom Stauwehr einer Mühle, deren Dach unregelmäßige Löcher aufwies. Irgendwo bellte ein Hund. Usinas mißtraute dem Frieden, setzte die Sporen ein, kippte die Hellebarde nach vorn und legte sich auf den Hals seines Pferdes. Aus dem Trab wurde ein Galopp. Die anderen folgten ihm. Sie sahen an seinen Reaktionen, welche Spannung ihn ergriffen hatte; da sie alle den Tod tausendfach gesehen hatten, fürchteten sie einen Musketenschuß aus dem Hinterhalt ebenso wie einen geschleuderten Stein oder einen heransurrenden Armbrustbolzen. »Vorsicht!« rief Usinas. »Wir sammeln uns am Brunnen.« Erfahrungsgemäß baute man die Dörfer um den Brunnen herum, So daß er in der Mitte der Siedlung zu finden sein würde. Hauswände warfen das Echo der klappernden Hufe zurück. Und dann geschah, was Usinas erwartet und befürchtet hatte. Aus dem Augenwinkel sah er das Aufblitzen, gleichzeitig erreichte die Schallwelle der Explosion sein Ohr. Die Kugel pfiff hinter seinem Nacken vorbei und grub sich klatschend in einen Baum. Usinas riß die Waffe hervor, hielt mit der Linken die Hellebarde fest und gab zwei, drei Schüsse ab. Glutbälle detonierten an der oberen Kante der Mauer, hinter der sich der Schütze verborgen hatte. Schlagartig reagierten die anderen. Noch ehe die Bolzen der Armbrüste sie von den Pferden reißen konnten, kippten sie nach beiden Seiten aus den Sätteln, hielten sich an den Mähnen der Pferde fest oder am Satte 1horn, feuerten nach allen Seiten. Ein höllisches Spektakel brach los. Ein Hofhund an langer Kette rannte wie besessen zwischen zwei 341
Häusern entlang und erdrosselte sich fast bei dem Versuch, einen der Reiter anzugreifen. Usinas richtete sich in den Steigbügeln auf, schoß mehrmals und brüllte aus Leibeskräften: »Die Franzosen haben das Dorf besetzt! Fangt zwei Leute, die wir verhören können!« »Verstanden!« schrien ein paar der Männer in den schwarzen Halbrüstungen. Wenn die Bauern und die kleine französische Besatzung, die dieses Dorf verteidigten, genauer hingesehen hätten, würden sie vielleicht ein Flimmern um die ersten Reiter des dahinpreschenden Trupps bemerkt haben, als ob die Luft um sie herum kochen würde. Die Kavalkade erreichte, durch ein Inferno aus Schüssen, summenden Bolzen, kläffenden Hunden und feuernden Soldaten reitend, den Marktplatz. Dort sahen sie mehrere Personen, die zu flüchten versuchten. Es waren eine junge und eine uralte Frau, ein Knecht und ein Bauer in riesigen Holzpantinen. Usinas ritt scharf nach rechts, schnitt der jungen Frau den Weg ab und beugte sich tief aus dem Sattel. Er griff nach ihr und riß sie zu sich hinauf in den Sattel. Er legte sie quer vor sich, hielt sie fest und sprengte weiter. Der flüchtende Bauer, dessen Pantoffeln über die großen Steine der Straße kugelten, wurde zwischen zwei Reitern mitgeschleift. Die Männer hielten ihn an den Armen, unter den Achseln, ritten nebeneinander, und der Bauer riß seine bloßen Füße hoch. »Weiter!« brüllte Usinas. Die Gruppe trennte sich. Jeweils etwa fünfzehn Reiter stoben rechts und links der gemauerten, mit Holzbohlen verstärkten Brunnenumrandung vorbei. Ein Priester erschien auf den Stufen seines Kirchleins und feuerte eine riesengroße Muskete ab. Der Rückstoß warf ihn krachend gegen die Tür des geschnitzten Portals. Eine Rauchwolke aus dem trichterförmigen Schlund der Muskete verhüllte das Bild. Ein paar Kugeln, die den Reitern nachgeschickt wurden, trafen in die hölzernen Schindeln von Dächern. Das Klappern der Pferdehufe wurde leiser, als die Reiter die zweite Hälfte der Straße erreichten, die aus dem Dorf hinausführte. 342
Usinas handhabte seine Reiterpistole schnell und sicher und gab, während er sich mehr und mehr von seinem Hintermann entfernte, Schüsse nach rechts und links ab. Seine Schüsse explodierten und setzten Reisighaufen, Holzstöße, Farne und Büsche in Brand. Eine doppelte Mauer aus Rauch, Flammen und fettem Qualm machte die Sicht auf die Straße unmöglich. Der beißende Geruch der schwitzenden Pferde mischte sich mit dem Gestank des Amoniaks, als ein Misthaufen zerrissen wurde und, einer pilzförmigen Wolke gleich, sich über den Weg und die Reiter warf. »Wir sind gleich im freien Feld!« schrie jemand. Wieder feuerte man auf die Reiter. Von beiden Seiten wurden Musketen abgeschossen. Usinas wunderte sich, daß niemand daran dachte, eine Feldschlange abzufeuern. Dann jagten die Pferde durch die dichten Rauchwolken hindurch, ließen die letzten Gehöfte hinter sich, und wenige Minuten später trafen sie sich an einem dürren Gehölz. Ein Mann hing am Ast einer Eiche; ausgemergelt bis zum Skelett und mit den Wunden vieler Vogelschnäbel. Usinas unterdrückte einen Fluch... dieser Kontinent war ein Asyl, in das sich Schrecken und Wahnsinn, Not und Hunger, Verzweiflung und Krieg geflüchtet zu haben schienen. Der Trupp sammelte sich. Usinas’ Stimme durchschnitt das einsetzende Murmeln von vielen Gesprächen. »Verletzte?« fragte er. »Ich... leicht! Hat Zeit!« »Ich stinke... mit Mist bedeckt...« »Ich glaube, mein Panzer hat ein Loch!« »Nebensächlich!« entschied er. »Die Gefangenen hierher!« Er sprang mit einem Satz vom Pferd, griff der jungen Frau unter die Achseln und sah, daß sie sowohl ziemlich jung, schön und klug aussah. Vielleicht war sie die Tochter des Schulmeisters oder des Pfarrers. Er fragte leise: »Kannst du mich verstehen, Magdalena?« »Ich heiße Anna«, sagte die Frau, nachdem sie einige Sekunden lang sein glattrasiertes Gesicht gemustert hatte. »Ich kann Euch verstehen, Reiter.« 343
Usinas sagte: »Wir suchen einen Mann und eine Frau. Der Mann sieht ähnlich aus wie ich, hat aber einen solchen Bart.« Sein Finger deutete auf den Fleck unterhalb der Nase und beschrieb dann einen Kreis, der sich über das Kinn fortsetzte und wieder unter der Nase endete. Gleichzeitig deutete er mit der anderen Hand auf drei Landsknechte, die sie mit unverhohlener Lüsternheit angafften, und befahl: »Sammelt schnell Reisig und trockenes Geäst: wir wollen dem Bäuerlein die Sohlen rösten!« Der Bauer versuchte zu flüchten, aber aus einem Sattel warf sich einer der Schwarzen und nagelte ihn am Boden fest. Die Landsknechte gehorchten wortlos. Die Frau sagte furchtlos, jedoch mit heiserer Stimme: »Ich habe vor drei Monden einen solchen Mann gesehen; es war ein Offizier der verfluchten Schweden.« Usinas winkte ab. »War eine Frau bei ihm?« Sie nickte. »Zwei Frauen. Die eine, blond, war jünger als ich, und sie hatte ganz kurzes Haar. Vielleicht ist sie den Henkersknechten entwichen. Die andere war alt, fett und häßlich. Ihre Haare waren rot gefärbt.« »Vor drei Monden?« Usinas zog sein Messer aus der Scheide des breiten Gürtels. »Vor drei Monden. Sie froren sehr. Ein kleiner Trupp versprengter Schweden. Gott verwünsche sie.« »Er hat anderes zu tun«, meinte Usinas. Er versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. Es waren nicht die Gesuchten. Die Merkmale, nach denen er suchte, waren andere. Er würde sie niemandem erzählen, denn der geringste Hinweis war nur dann erfolgversprechend, wenn eine bestimmte Auskunft erfolgte. Inzwischen brannte ein kleines Feuer, fast rauchlos, und man band dem Bauern die Füße zusammen, die Knie an einem massiven Ast fest; die Hände verschnürte man hinter dem Kopf. Der Mann verdrehte die Augen und wurde ohnmächtig. Man brachte ihn zu sich, indem eine der Frauen kichernd eine Feldflasche über seinen Kopf entleerte. Usinas verfluchte 344
sich selbst - aber ihm blieb keine andere Wahl. Ihm war zumute wie einem Unhold in einem Waisenhaus. »Bauer!« sagte er scharf, als der Mann seine Augen öffnete. »Ich habe eine Frage.« »Ja, Herr! Verschont mich!« wimmerte der Mann. Er war aschfahl, eine der unzähligen geschundenen Kreaturen dieses Zeitalters, in dem der Wahnsinn sich zur Methode manifestiert hatte. »Weißt du etwas von einem Paar? Ein Mann und eine Frau. Jung, mit sonnenbrauner Haut, in gutes Gewand gekleidet?« Der Bauer nickte schweigend. Er schwitzte stark und verströmte einen unangenehmen Geruch. »Ja. Ich hörte etwas von einem hinkenden Invaliden. Sie haben einen solchen Mann als Hexer gefangen.« Usinas ließ beinahe sein Messer fallen. Der Schreck durchzuckte ihn, aber er beherrschte sich und fragte scheinbar gleichmütig weiter. »Wo?« »In Langenheim!« »Wann?« Das Messer Usinas’ näherte sich der Kehle des Mannes. Gleichzeitig zerrten ihn die Landsknechte näher an das Feuer heran, das eine heiße Glut verströmte. »Wann? Vor einigen Tagen, meine ich. Wartet, Herr! Der, der es mir erzählte, starb vor drei Tagen. Also muß es vor... vor mehr als einer Woche gewesen sein.« Usinas gab den Landsknechten einen Wink. Sie lachten roh auf, hoben den Ast und waren bereit, die Füße des Bauern ins Feuer zu drehen. Der Mann kreischte auf. Ruhig fragte Usinas: »Und die Frau?« »Man hat sie als Hexe eingekerkert«, sagte der Invalide. »Auch in Langenheim. Am Fluß. An der Jagst, heißt er, glaube ich. Herr!« Usinas sagte leichthin: »Er lügt. Röstet ihn!« Die junge Frau warf sich fast in sein Messer. Er konnte sie gerade noch zur Seite reißen. Anna klammerte sich an seinen Arm, schrie und stammelte: »Herr Offizier... er sagt die Wahrheit. Tut ihm nichts! Ich hörte es von meinem Vater. Sie haben zwei Menschen gefaßt, die unverständ345
lieh sprachen. Sie sind als Hexer und Hexe eingesperrt worden. Aber ich weiß nicht, wie sie aussahen. Sie haben...« Usinas sah einen der anderen Schwarzgekleideten an und nickte. Er wußte genug. Dann holte er tief Atem, sah in Annas angstvolle Augen. Sie begann zu weinen. Usinas verfluchte sich abermals, steckte das Messer ein und befahl: »Bindet den Mann los! Löscht das Feuer. Wir reiten weiter - nach Langenheim!« Widerwillig gehorchten die Landsknechte. Er hatte sie um ein Schauspiel gebracht. Usinas griff in seinen Gürtel, zog vier Goldstücke mit dem Bild des Kaisers hervor und drückte sie dem Mädchen in die Hand. »Anna«, sagte er leise, faßte sie vorsichtig am Oberarm und ging zu seinem Pferd, das verdrossen an den kargen Halmen zupfte. »Es tut uns leid - wir wollen euch nichts tun. Wir suchen nur diese Leute; wir sind keine Ungeheuer. Teilt euch das Gold, ärgert euch nicht, und laßt euch die Münzen nicht von den Franzosen abnehmen. Geht heim; möge euch der Krieg verschonen.« Sie schaute ihn verblüfft an. »So ist es!« Er wandte sich ab. »Geht zurück zu eurem Dorf. Wir sind keine Schweden. Wir sind Fremde.« Sie war so überrascht, daß sie die Sprache verlor. Der Bauer und das Mädchen hielten sich aneinander fest und gingen zwischen den Pferden hindurch. Ein Landsknecht trat dem Bauern in den Rücken und schwang sich fluchend in den Sattel. Usinas schüttelte den Kopf, als könne er auf diese Weise den Alptraum loswerden. Er schwang sich aufsein Pferd, hob die Hellebarde und schrie: »Wir reiten! Nach Norden - nach Langenheim. Dort finden wir, was wir suchen.« Eine der Frauen aus der Truppe drängte sich zwischen ihn und die beiden Schwarzgerüsteten. »Wo übernachten wir, Usinas?« fragte sie und rieb ihre Hüften an seinem Wildlederstiefel. »In des Teufels Rachen, Angelika!« sagte er verdrossen. »Oder in der Nähe von Langenheim. Wir werden sehen, ob wir den Ort heute noch erreichen.« 346
Sie trollte sich zurück zu ihrem Pferd. Sie war durstig, hungrig; sie wollte heute in Usinas’ Zelt schlafen. Er war der Stärkste, und seine Haut war weich wie der Samt, von dem ihr einmal ein Mann erzählt hatte. Und sie mochte seine goldfarbenen Augen. Solche hatte sie noch niemals gesehen. Usinas blickte Areosa an und murmelte: »Ich kann es noch nicht glauben. Vielleicht erwischen wir Vaskane noch lebend. Und dann wird er sein Schiff landen müssen.« Areosa gab zurück: »Wir hetzen seit Wochen durch diese Kultur der Wahnsinnigen... pah! Kultur! Wann hat dieser Ritt ein Ende?« Celingsas sagte trocken: »Wenn wir Dyer gezwungen haben, das Geheimnis der verschwundenen Welt zu offenbaren. Vergeßt nicht: Wir reiten mit dem Wahnsinn um die Wette!« Böses Kläffen erscholl aus dem Dorf, dann fiel eine ganze Meute in das Heulen ein. Der Chor verfolgte die Reiter, als sie aufsaßen und der Andeutung eines Weges folgten, der, nach dem Geständnis des Bauern, nach Langenheim führte. Irgendwann, dachte Usinas, werden wir die Wahrheit erfahren. Entweder die, von der das Leben unserer Welt abhängt, oder eine andere. »Das bedeutet«, murmelte er, als er weiterritt und sich fragte, wie lange die Tiere und die anderen diese wahnwitzige Jagd durch ein fremdes Gebiet noch aushalten würden, »daß Vaskane Dyer tot ist. Umgebracht von diesen Wilden!« Das alles war fast sinnlos. Fünfzehn Männer hatten sich eine Aufgabe gestellt, deren Gelingen fragwürdig war. Die Chancen, optimistisch gerechnet, standen neunundneunzig gegen eins. Eins: »Das bedeutet, daß wir Vaskane finden, ehe ihn die Irren umgebracht haben.« Usinas fühlte, während er ritt, wie sich ein Knoten in seinem Magen bildete. Es wurde ihm übler nit jedem Sprung, den sein Rappe machte. Er und vierzehn seiner besten Freunde suchten jemanden, der nur durch einen unglaublichen Zufall gefunden werden konnte. Usinas korrigierte sich augenblicklich: Es war von febensnotwendiger Bedeutung, Vaskane Dyer und Radogyne, seine Geliebte, zu finden. Nur sie kannten das Geheimnis, dessen Auflösung das Leben 347
einer uralten Kultur bedeutete und das Leben für einige Milliarden Menschen, die Usinas ausgeschickt hatten. »Ich werde wahnsinnig!« Usinas reagierte sich ab, indem er den Hals des Tieres klopfte. »Es ist alles so ungeheuer irrsinnig, daß ich in Tränen ausbrechen müßte.« Während sie weiterritten, begann sein Magengeschwür zu schmerzen. Ein Schmerz, als ob jemand mit einer gezahnten Spirale in seiner Bauchhaut umherbohrte. Usinas unterdrückte die Tränen, Tränen der Wut, der Hilflosigkeit, der Resignation und des Wissens, verloren zu haben, noch ehe das Spiel begonnen hatte. An jenem Tag, dem Tag der toten Hunde, schafften sie es nicht mehr, Langenheim zu erreichen Sie übernachteten im Wald, und die Frau kam in sein Zelt, ohne daß er sie gerufen hatte. Sie teilte sein Essen, seinen Wein und seine Decken mit ihm. Am anderen Morgen fühlte er sich wohler. 348
9. Schließlich kam der Augenblick, in dem ich wieder Herr über meinen Verstand und meine Sprache war. Eine Uhr zeigte das Datum: 1645. Mein Blick glitt über die vertrauten Schalter und Pulte, über die vielfaltige Inneneinrichtung dieses Raumes der Tiefseekuppel, und blieb auf der Brust des Roboters haften. Als sei dies ein Signal, sagte Rico: »Atlan! Es sind zwei Raumschiffe gelandet.« Die Mitteilung durchfuhr mich wie ein starker Stromstoß. Aufgeregt versuchte ich, meinen Oberkörper in senkrechte Lage zu bringen. Der kühle Arm aus Metall und Plastik stützte mich. »Berichte!« sagte ich. »Vor geraumer Zeit landete ein Raumschiff nördlich der Alpen. Es scheint zwei Personen abgesetzt zu haben; der Robotspion, den ich sofort losschickte, lieferte Bilder, die nur aussageschwach sind.« »Weiter!« forderte ich. Rico hatte nicht geweckt, rund eine Handvoll Jahre nach meinem letzten Einschlafen. Zwei Schiffe waren gelandet: Das bedeutete eine faszinierende doppelte Gelegenheit. Vielleicht würde es diesmal klappen - eine direkte Passage nach Arkon war nicht mehr in utopisch weiter Entfernung. Während sich die Maschinen mit mir und meinem Körper beschäftigten, während Nahrungsstoffe und Medikamente durch meinen Kreislauf krochen und der Zellaktivator die heilende und regenerierende Strahlung ausschickte, erfuhr ich mehr. Rico projizierte einige der Bilder. »Ein Schiff landete, setzte zwei Personen ab und startete. Zu diesem Zeitpunkt leitete ich die Aufweckschaltungen ein. Einige Tage später landete ein zweites, wesentlich größeres Schiff oder Beiboot unweit dieser Stelle. Fünfzehn Individuen verließen es, auch dieses Schiff startete wieder und befindet sich im Augenblick im geostationären Orbit über dem Mittelmeer. Das erste, kleinere Schiff verschwand mit großer Sicherheit aus dem System von Larsafs Stern.« 349
Ich murmelte hilflos: »Das sieht nach Verfolgung aus. Es steht fest - ich muß eingreifen. Bis ich wiederhergestellt bin, spielst du mir die zwischenzeitlich gewonnenen Eindrücke ab!« Panische Furcht begann von mir Besitz zu ergreifen. Wieder einmal würde der Kontinent Schauplatz einer geheimen Jagd sein. Jetzt würde ich entweder die Flüchtlinge oder die Fremden verfolgen, um einen Platz im Raumschiff zu bekommen. Jeder würde jeden verfolgen; alles geschah im verborgenen. Und in welche Zeiten, in welche Wirrnisse würde ich dieses Mal hineingeschleudert werden? Ich sah die Bilder, hörte die Eindrücke und sah, daß der unbarmherzige Krieg noch immer das Land überzog. Fast alle Staaten des Kontinents waren mittlerweile daran beteiligt. Das Mosaik der Bilder, von Rico erläutert, schilderte mir den Unsinn dieses Krieges, der die Menschen dezimierte, Hunger und Seuchen mit sich brachte und ständig hin und her flutete. Welche Rolle sollte ich diesmal spielen? Rico hatte für mich gedacht und sagte: »Ich habe vorgearbeitet in der Zeit seit deinem Einschlafen. Ich habe einen riesigen grauen Wolf herstellen lassen; ein wahres Kunstwerk. Und du solltest diesmal als Artillerist, als Erfinder großer Kanonen, als französischer Offizier, das Land bereisen.« Ich erkannte die Stärken des Planes. »Einverstanden!« In den folgenden Stunden und Tagen, in denen sich mein Körper kräftigte, saß ich in dem schweren Sessel des Betrachters und lernte ununterbrochen. Ich fieberte vor Eile und Nervosität, aber die Frist der Reanimation durfte nicht unterschritten werden. Es war eine merkwürdige Zeit: Während die Künste blühten und die »Naturwissenschaften« begannen, die Umrisse einer wirklichen wissenschaftlichen Disziplin anzunehmen, wurde gemordet und getötet, wurden Bauern geschunden, diskutierten die Abgesandten der Herrscher endlos über die Bedingungen eines Friedens, der niemandem weh tat. Und was war der Grund für diesen mörderischen Krieg, der schon fast dreißig Jahre dauerte, oft durchbohrt von friedlichen Abschnitten? Bilder und Erinnerungen: Im Mai 1618 hatten in Böhmen die Protestanten einen Aufstand gegen den Kaiser gewagt. Ich erinnerte 350
mich an meinen Briefwechsel mit Martin Luther; Religionskrieg war die Folge davon, daß böhmische Adelige die kaiserlichen Räte Martinicz und Slavata samt ihrem Geheimschreiber aus dem Fenster des Hradschins geworfen hatten. Zwar landeten die Räte auf einem dampfenden Dunghaufen, aber der Krieg war unvermeidlich. Die protestantische Union und die Liga der Katholiken bekriegten sich. 1620 wurden die Böhmen von Tilly geschla^n. Der Kaiser ließ die Mitglieder der Union hinrichten, zog die Güter der Adeligen ein; schließlich führte er die Bevölkerung in den »rechten Glauben« airück, was mit einer Massenschlächterei einherging. Tilly drang in die Pfalz und nach Westfalen vor. Der Krieg hatte von Böhmen nach Deutschland übergegriffen. Schließlich griff der dänische König Christian der Vierte ein, und der Tscheche Albrecht von Wallenstein stellte ein Heer für den Kaiser auf. Die Dänen wurden zurück^- drängt, die Auseinandersetzung gjng in die Breite, erfaßte mehr Länder und Völker. »Es sind Barbaren«, wiederholte ich, »aber immerhin hat ein Mann namens Kepler zwei >Gesetze< veröffentlicht, die mathematisch einwandfrei beweisen, aus welchen Kräften heraus die Planeten die Sonne umrunden. Offensichtlich waren die Dinge, die ich Kopernikus sagte, nicht ganz verloren.« »Du magst recht haben«, sagte Rico, während wir den Speicher und die Automatiken des Wolfes programmierten, der so groß wie ein kleines Kalb war und eine Menge technischer Geheimnisse enthielt. »Während sie dichten und komponieren, bringen sie sich gegenseitig um.« Wir stellten die Teile meiner Ausrüstung zusammen. Das Schema hierfür änderte sich nur unwesentlich: Waffen, Medikamente und Ausrüstungsgegenstände. Kepler, der ein astronomisches Fernrohr benutzte und das Erste und Zweite Gesetz veröffentlicht hatte. Ein Postdienst, als Lehen an die von Thurn und Taxis gegeben, überzog spinnennetzgleich große Teile des Kontinents. Ein Forscher namens Cysat hatte den Nebel im Sternbild Orion entdeckt; die Arkoniden benutzten andere Bezeichnungen für dieses kosmische Objekt. Es gab erste Zeitungen; in deut351
sehen Schulen führte man, trotz der Erkenntnisse und Schriften des Johann Amos Comenski, genannt Comenius, die Prügelstrafe ein. Eine Anhäufung von Widersprüchen gedieh wie Unkraut. »Du wirst als Kanonier eine Truppe brauchen«, sagte Rico. »Mit Geld läßt sie sich zusammenstellen.« »Kümmere dich zuerst um die Gruppen der kosmischen Besucher. Ich brauche Bilder, Worte, ihre Richtung... möglichst viele Informationen.« Der Roboter sagte: »Ich habe alles in die Wege geleitet. Es sind ausnahmslos humanoide Wesen, die ohne viel Schutzeinrichtungen auf diesem Planeten leben können.« Der große Wolf blickte mich mit silbernen Augen an; eine naturgetreue Nachahmung. Ich würde auch einen Falken brauchen; diese Kombination hatte sich als richtig erwiesen. Ununterbrochen arbeiteten die Maschinen, um meinen Start in eine feindliche Umwelt risikoärmer zu machen. Der »Don Quixote« des Cervantes, die Schußwaffen mit Feuer Steinschlössern, die Mathematik des Blaise Pascal... alle Informationen gruben sich in mein Gedächtnis ein. Eine irrsinnige Zeit, und mitten in dieser Phase der Widersprüche würde die Jagd vonstatten gehen. »In zehn Tagen kannst du die Oberfläche betreten. Neun Zehntel der Ausrüstung sind bereit. Hier, deine Kleidung!« Genaue Kopien der herrschenden Mode waren hergestellt worden, aus unverwüstlichem Material. Es herrschte nebliger, kühler Frühling. Stiefel und Hosen, Gürtel und Waffen, zahllose eingebaute Mechanismen, ein Abwehrfeld und Funkgeräte, trickreiche Schmuckstücke, der Sattel mit großen Taschen, Vorräte und Waffen, hauptsächlich für »psychologische« Kriegsführung, im Bauch des Wolfes, Antibiotika und Verbandszeug. Ich zog mich langsam an und nahm Korrekturen vor. Mein schulterlanges Haar wurde in einen festen Zopf geflochten, und ich lernte das Knöpfen einer schwarzen Schleife. Und schließlich der Behälter mit den Münzen, den der Wolf in sich tragen würde. Vermutlich würde man auch mich als einen 352
Hexer ansehen, der mit den Tieren sprach und deshalb mit dem Gottseibeiuns im Bund stand. Schließlich war ich fast fertig und bereit. Ich brannte darauf, die Spur aufnehmen zu können. Rico sagte: »Bilder der Robotsonden. Sie zeigen die fünfzehn Verfolger.« Ich zog die Stulpenhandschuhe wieder aus. Sie paßten und schützten durch dünne stählerne Einlagen meine Hände und Handgelenke. Dann warf ich die Handschuhe auf einen Sessel und starrte die Bildschirme an. »Ich sehe...«, begann ich. Ich studierte die Bilder. Zwei davon waren verschwommen; die Robotsonde hatte die Gestalten im schwindenden Tageslicht aufgenommen und dann ihre Spur verloren. Die fünfzehn Verfolger waren unverkennbar Raumfahrer. Ich konnte in einem kurzen Film sehen, wie sie in rasender Eile ihre Ausrüstung zusammenstellten. Zur gleichen Zeit stellten meine Maschinen aus Serien von Luftaufnahmen die Karten des betreffenden Gebietes her. »Siebzehn Raumfahrer. Sie sehen aus wie Menschen, und sie zu erkennen wird nur aus nächster Nähe möglich sein. Ich muß also inkognito bleiben«, sagte ich. Rüste dich gut aus! Du gehst mitten in die Zone des Todes, wisperte das Extrahirn. Die Sprachen kannte ich, die Namen der Herrscher und die verworrenen innenpolitischen Gegensätze waren mir ebenso geläufig wie die Geldeinheiten. Ich wußte, wie man Tabak in Pfeifen rauchte, erkannte die Cembalostücke von John Bull, wußte, welches Pulver und welche Kugeln man verwendete; ich war bereit. Cis, der Falke, und Hound, der große Wolf, waren einsatzbereit. Mein Gepäck umfaßte das Wichtigste, das meiste konnte ich in den Satteltaschen mitnehmen. Rico begleitete mich zum »Hangar«. »Du beobachtest weiterhin den Luftraum und den Weltraum um den Planeten«, sagte ich. »Bei jeder wichtigen Veränderung rufst du 353
mich. Ich werde dir die nötigen Befehle geben, falls du nicht vollständig allein handeln kannst. Klar?« Der Roboter funkelte mich aus seinen Augen an und versicherte: »Ich habe begriffen. Ich wünsche dir, Atlan, viel Glück.« Im spiegelnden Glas des Gleiters betrachtete ich mich. Ich sah aus, wie Adlan d’Arcogne, der französische Edelmann aus Beauvallon, dessen Stärke in der Kriegstaktik und dem Bau von Fernwaffen lag. In dieser Maske konnte ich mich frei bewegen, blieb mein eigener Herr und wurde überall, von jeder kriegführenden Gruppe, gern aufgenommen und geschützt. Auf diese Weise würde ich Helfer finden, deren Geschäft der Krieg war. In solchen Zeiten, so hatte Rico einmal gesagt, mußte man mit den Wölfen heulen - oder man starb. Ich kämpfte gegen die Versuchung an, mich in den Sand des Mittelmeerstrandes zu legen, und nahm Kurs auf Deutschland. Wo der Schwede, verbündet mit Frankreich, gegen Habsburg kämpfte, waren die Fremden verschwunden. Ich suchte auf der Karte den Platz meines Verstecks, fand ihn und schwebte in großer Höhe darauf zu. Endlich landete der Gleiter; ich stieg aus. Hier sah und hörte man nichts vom Krieg. Mittag: Die Sonne beschien ein wogendes Meer aus Nebel tief unter mir. Ich suchte eine Höhle und lud ab, was ich brauchte. Der Gleiter schob sich rückwärts in die Höhle hinein; ich errichtete aus Steinen eine Mauer, verschweißte die Steine miteinander und war sicher, daß, wenn ich die Fernsteuerung betätigte, der Gleiter freikommen würde. Der Falke schwang sich in die Luft und verschwand; sein Auftrag war, einen Ort zu finden, wo ich Pferde kaufen und Männer anwerben konnte. Der Wolf blieb bei mir. Ich war allein und überlegte die nächsten Schritte. »Zuerst muß ich den Ort der Landung erreichen, die Spur finden und dieser Spur folgen«, sagte ich laut. Als Antwort schrie eine Krähe. Irgendwo nördlich vor und unter mir lagen jene kleinen Städtchen und Siedlungen, zwischen denen die Heere und die versprengten Gruppen umherzogen und sich bekriegten: In der Schlacht bei Lützen fiel mein Freund Gustav Adolf; zwei Jahre später ermordeten kaisertreue Offiziere den Wallenstein. 354
Brandenburg und Sachsen machten mit dem Kaiser ihren Frieden und der wohl letzte Akt dieses Dramas war ein Machtkampf zwischen Habsburg und Frankreich. Der letzte Akt deswegen, wil kaum eine der beteiligten Nationen die Kraft hatte, weiter Krieg zu führen. Die Länder waren ausgeraubt, die meisten Menschen tot, das Vieh geschlachtet, die Häuser verbrannt. Schon jetzt wurde verhandelt; bisher ohne Ergebnis. Ich wartete. Gegen Nachmittag kam der Falke zurück, ich stieg in die Seilschlinge, und Hound bewachte die Ausrüstung. »Nach Fünfstetten!« krächzte Cis. »Dort Pferde. Leerer Hof.« »Bringe mich hin!« sagte ich. Wir befanden uns auf einem Bergrücken südlich des Flusses Donau. Ich hatte zunächst vor, mich auszurüsten und loszureiten. Außerdem hatte ich keine andere Möglichkeit, mich an die Verfolgergruppe oder an die Verfolgten heranzumachen; ich mußte in der Maske eines Offiziers reiten. Der Flug dauerte nicht lange. Der Nebel machte uns unsichtbar. Nach einer halben Stunde setzte mich Cis in einem Gutshof ab, über den der Krieg hinweggerollt war wie eine Feuerwalze. Jetzt war die Anlage eine Ruine, in der die Kadaver lagen und die Gerippe einiger Gehängter an geschwärzten Bäumen baumelten. Alles war voller halbverhungerter Ratten. Ich suchte mir einen Schlupfwinkel und fand ihn dort, wo vor einiger Zeit ein Geschütz in Stellung gebracht worden war. Der einzige Raum, in dem man wohnen konnte. Wieder wartete ich. Kurz daraufkam der Vogel und brachte die Satteltaschen und den Sattel. Ich machte ein kleines Feuer, kochte und briet etwas, knüpfte eine Hängematte auf und überließ die Wache und das Verjagen der Ratten dem Wolf. Beim ersten Sonnenstrahl wachte ich auf und machte mich auf den Weg. Hound begleitete mich. Selbst ein Blinder hätte Fünfstetten nicht verfehlen können. Ein kleiner Wald aus Zeltstangen, viele weidende Pferde, Trommeln und Marketenderwagen wiesen mir den Weg. Ein Trompetensignal ertönte. Ich erreichte den Ort und ging weiter. Überall sah ich die Spuren der Verwüstung. Ein kleines Heer der Kaiserlichen lagerte hier. 355
Nur wenige Häuser waren neu oder wieder aufgebaut worden, meistenteils aus Holz. Auf den Schwellen saßen hungernde und frierende Kinder, große Augen blickten mir nach. Alles an mir schien zu neu, zu gepflegt zu sein - ich erweckte Neid. Magere Köter strichen umher und zogen davon, den Schwanz zwischen den Beinen, als Hound grollte und seine silbernen Augen auf die streunenden Tiere richtete. Ich wich einer Pfütze von Dreckwasser aus und näherte mich dem größten Zelt. Vor mir Scob ein Kurierreiter durch einen Gang zwischen den Zelten. Es roch nach Rauch und nach dünner Kohlsuppe. Jemand fluchte, ein Mädchen kicherte. Die eigentümliche Geräuschkulisse des Lagers nahm mich auf. Ich schätzte die Zahl der Zelte auf hundert, die der Männer auf über fünfhundert. Neben dem Vordach des Kommandantenzeltes blieb ich stehen, zog den weichen Hut mit der langen Feder und sagte zu dem Posten: »Ich suche den kaiserlichen Anführer, Kamerad.« Der Soldat umklammerte frierend seine Hellebarde, sah mich lange an und bemerkte meinen prächtigen Aufzug. Dann sagte der Mann mit schmalen Lippen: »Werth und Mercy sind nicht da. Wir warten auf sie. Hier befehligt Pistorius!« »Meldet mich an!« forderte ich. Der Soldat deutete auf Hound und murmelte: »Laßt Euren Hund draußen - Pistorius mag keine Hunde im Zelt!« Ich lächelte. »Es ist ein Wolf, und ich werde ihn nicht mitnehmen.« Einige Soldaten betrachteten mich fast feindselig, wie es schien. Ich wartete, während der Soldat den Vorhang zurückschlug und ins Zelt hineinging, hörte die Stimme des Soldaten und eine andere, dunkel und sehr heiser. Der Soldat hielt den Zeltvorhang zur Seite, nickte, verbeugte sich knapp und deutete nach innen. Ich bückte mich und sah mich zwei Männern gegenüber; sie saßen hinter einem Tisch, der mit Karten übersät war. Alle Menschen, die ich bisher gesehen hatte, schienen zu hungern. Alle Städte und Dörfer, die im Bereich der Heeresbewegungen lagen, waren ausgeplündert. Nur wenige Siedlungen, weit abgelegen und versteckt, entgingen diesem 356
Schicksal. Ich schwenkte den Hut in einer höflichen Geste, legte ihn auf einen Feldstuhl und sagte: »Meine Herren! Ich bin Adlan d’Arcogne et Beauvallon-Sagittaire, geborener Franzose, Fachmann für Artillerie. Ich habe einen Schutzbrief des Kaisers. Ich brauche Eure Unterstützung.« Der dunkelhaarige Mann stand auf, warf einen Stock auf die knisternden Karten und streckte mir die Hand entgegen. »Ein Franzose im Dienst der Habsburger?« fragte er erstaunt. Seine Stimme stand im Gegensatz zu seinem Aussehen. Er war mittelgroß, schlank in den Hüften, besaß ein schmales, faltiges Gesicht und breite Schultern. An seinem rechten Zeigefinger steckte ein riesiger goldener Ring. »Hier«, sagte ich, griff in die Außentasche und zog das Dokument hervor. Ich hatte viele solcher Schutzbriefe, ausgestellt und unterfertigt von allen wichtigen Männern, sogar von Wallenstein. Schweigend las Pistorius den Brief, gab ihn weiter an seinen Adjutanten. Er nickte, wies auf einen Stuhl und fragte leise: »Was braucht Ihr, d’Arcogne?« Ich hob die Schultern, sah mich im Raum um und entdeckte nicht viel, was mein Interesse fesseln konnte. Nach kurzer Überlegung sagte ich: »Ich suche zwei Menschen, einen Mann und eine Frau; Spione, obwohl die Bezeichnung nicht ganz richtig ist. Sie besitzen Wissen, das uns nützen kann. Für diese Suche brauche ich Pferde und Männer - und ich kann sie gut bezahlen. Die Frage ist: Könnt Ihr mir helfen?« Der andere Mann zog an seinen Fingern und ließ die Gelenke knacken. Er schnitt eine Grimasse, die Unsicherheit und Skepsis ausdrücken sollte. »Wieviel Pferde? Wieviel Männer?« »Ich denke, etwa fünfundzwanzig werden genügen. Ich brauche erfahrene Männer, keine jungen Raufbolde. Die Sache ist wichtig, und obendrein ist sie eilig.« Pistorius murmelte: »Wir könnten ihm die Pferde geben, die wir frei haben - viele Männer sind auf dem Weg hierher gestorben. Könnt Ihr die Tiere ernähren, d’Arcogne?« 357
Ich steckte den gefalteten Brief zurück und nickte. »Ja. Ich kenne Wiesen, die noch nicht verwüstet sind.« »Gut. Jetzt zu den Männern und den Sätteln!« Sie berieten leise miteinander. Der Brief, von Ferdinand von Habsburg unterzeichnet, hatte vorläufig alle Schwierigkeiten beiseitegpräumt. Größere Barrieren freilich konnte auch er nicht überwinden helfen. Der jüngere Mann nahm ein schmutziges Papier, schrieb eine Reihe Namen darauf und kaute nachdenklich am Ende des Federkiels. Dann schob er das Papier zu Pistorius hinüber, der es schweigend las. »Wie lange, schätzt Ihr, werdet Ihr die Männer brauchen?« fragte der Stellvertreter des Marschalls. Ich zog den linken Handschuh an und strich die Finger glatt. »Ich weiß es nicht. Aber ich kann Euch versprechen, daß wir unterwegs jeden Franzosen oder Schweden angreifen werden, den wir sehen. Und ich habe vor, zurückzukommen, wenn Mercy und Werth hier sind. Ihr rechnet mit einem Zusammenstoß mit den Franzosen?« Beide Männer nickten. »Ja. Richelieu wird Tourenne schicken. Sie werden erst kommen, wenn sie nicht mehr so stark frieren. Im Winter kämpft der Franzose nicht gern.« Ich stand auf. »Vielleicht kann ich Euch dann helfen. Habt Ihr Schwierigkeiten mit der Artillerie?« »Im Augenblick keine«, sagte Pistorius grimmig, »die wir nicht selbst beheben könnten. Wenige Geschütze, keine Kugeln, wenig Pulver: das bedeutet wenig Schwierigkeiten.« Ich schüttelte wieder ihre Hände. »Ich verspreche es Euch: Ich werde Euch helfen. Wo finde ich die Pferde und die Männer?« »Ich komme mit Euch, d’Arcogne!« Der Adjutant stand ebenfalls auf. Diese kleine Truppe war ziemlich frisch oder wirkte wenigstens so. Eine gewisse Disziplin herrschte; ein Umstand, der selten war. Je mehr Menschen es gab, desto größer war das Chaos. Wir blieben vor einer Gruppe von zerschlissenen Zelten stehen. 358
»Wir sind da!« Der Adjutant winkte ein paar Männer zu sich heran. »Wer von euch kann lesen?« »Ich, Herr Dixat!« sagte einer der Männer. Er bekam die Liste. »In kurzer Zeit sind diese Männer angetreten. Mit guten Pferden, die sie beim Troß holen können. Fünf Tiere zur Reserve, und alle Waffen. Sie gehorchen einem neuen Kommando.« Ich blickte mich um und registrierte eine Serie von Eindrücken. Wie eine Wolke giftigen Nebels hing die Erwartung über dem Lager. Der Krieg mochte in einigen Jahren vorbei sein, aber bis dahin gab es mit tödlicher Sicherheit noch eine Menge Schlachten; selbst nach den Friedensschlüssen würden räuberische Banden entlassener, entwurzelter Soldaten noch lange das Land unsicher machen. Ich schwor mir in diesem Moment, zu tun, was ich konnte, um diesen Zustand beenden zu helfen. Es wird nicht sonderlich viel sein, Arkonide! schränkte der Extrasinn ein. Es dauerte nicht lange; der Offizier namens Dixat beaufsichtigte die Männer, die ihre geringe Habe zu den Pferdekoppeln schleppten. Wir suchten einige Tiere aus, ich sah zu, daß ich ein starkes, ausdauerndes Tier bekam und entschied mich für einen starkknochigen falben Hengst mit riesigem Brustkasten und wilden Augen. Ich sah zu, wie ein Knecht dem Tier die Trense durchs Maul schob und ihn heranzog. Ich bückte mich und schnallte die Sporen fester. »Freund Dixat«, sagte ich leise. »Ich habe Vollmacht, Euch zu bezahlen. Was schulde ich der Kriegskasse?« Dixat winkte ab. »Solange wir mit Gold nicht einmal Hafer für die Pferde, geschweige denn Brot für die Männer kaufen können, ist Gold wertlos. Wenn Ihr zurückkommt und uns bei der Artillerie helft, mag es gut sein.« »So sei es!« Ich schwang mich auf den, bloßen Rücken des Pferdes. Das Tier merkte, daß ein geübter Reiter die Zügel ergriffen hatte und stand starr. Dixat holte Luft und schrie: »Männer! Dieser Offizier führt jetzt das Kommando! Ihr gehorcht ihm, als sei er Werth! Er wird euch 359
gesund zurückbringen; ich weiß, daß er eine wichtige Mission hat. Er erklärt euch alles. Ihr könnt reiten, d’Arcogne!« »Ich danke Euch!« Ich grüßte, drückte meinen Hut in die Stirn, schob meinen Säbel nach hinten und ritt an. Die anderen Reiter folgten mir; auf den ausgeruhten Tieren, neben denen der Wolf lief, kamen wir aus dem Lager heraus, preschten in Zweierreihen auf den schlammigen Weg hinaus und auf den zerstörten Gutshof zu. Ich ritt an der Spitze und sagte kein einziges Wort, bis wir den Hof erreichten. Dann hob ich die Hand und schrie: »Absitzen! Ich habe euch allen etwas zu sagen!« Wir führten die Tiere in den Schutz eines brüchig aussehenden Daches und banden sie fest. Ich schleppte meinen Sattel und die schweren Satteltaschen hinüber und sattelte meinen Falben, nachdem ich die weiche Decke über seinen Rücken geworfen hatte. Dann drehte ich mich um, musterte die fünfundzwanzig Männer und merkte, daß der Adjutant mir erfahrene Kriegsleute mitgegeben hatte. Ihre Verwahrlosung, innerlich wie äußerlich, war erschreckend groß. Ich wußte, daß ich viel Arbeit vor mir hatte. »Männer«, sagte ich halblaut, »ich kenne euch nicht, ihr kennt mich nicht! Wir werden in den nächsten Wochen einige Personen suchen; ihr hört noch, worum es sich handelt. Vorher werde ich euch sagen, was ich bin und von euch will. Ich zahle euch in gutem Gold. Ich werde euch in einigen Stunden zu einem Weiler bringen, dessen Leute noch nie den Krieg gesehen haben. Dort werden wir essen und trinken, dort werden wir die Pferde pflegen und uns selbst. Und ich sage euch eines: Diese Truppe wird niemanden foltern, berauben, vergewaltigen - dafür verbürge ich mich. Bei der geringsten Disziplinlosigkeit lasse ich euch Spießruten laufen. Habt ihr verstanden?« In ihren bärtigen, schmutzigen Gesichtern zeigte sich maßlose Überraschung. Widerwilliges Murmeln, aus dem man mit einiger Phantasie ein »Ja« heraushören konnte, war zu hören. »Wir werden stets genug zu essen und zu trinken haben. Wir greifen nur dort an, wo wir ohne Schwierigkeiten siegen, sonst ist nur 360
Gegenwehr erlaubt. Wir suchen zwei Personen. Wer es ist - darüber später.« Ein hochgewachsener, schlanker Mann mit einem melancholischen Bart fragte störrisch: »Wohin gehen wir?« »Ich weiß es nicht genau, aber wir werden kaum große Entfernungen zurücklegen. Wir suchen diese Leute, die selbst nicht sehr schnell reisen. Jedenfalls reiten wir nicht nach Frankreich, nach Schweden oder nach Böhmen. Weitere Fragen?« Ein Mann, etwa vierzig Jahre alt, den sie Jörg nannten, erkundigte sich: »Der Wolf ist zahm?« Ich schnippte mit den Fingern, und Hound, der einige Ratten totgebissen hatte, schnellte sich neben mich und blieb neben meinem linken Knie stehen. »Das ist Hound, mein Wolf. Er gehorcht mir aufs Wort, schützt mein Leben und ist ein sehr gelehriges Tier. Er wird auch euch schützen. Die Pferde fürchten ihn und seine ungeheure Wildheit nicht, weil er nicht wie ein Wolf riecht. Ich rate ab, ihn zu reizen.« »Herr!« sagte ein jüngerer Mann. »Wir haben Hunger.« »Ich auch! Wir reiten gleich weiter. Vier Stunden, dann treffen wir auf den Weiler. Dort leben zehn Personen: wir wollen den Leuten nichts antun. Wir kaufen ihnen ab, was sie uns geben, zahlen für die Tage, in denen wir dort sind. Wir werden ihnen helfen, wo immer es geht. Wehe einem von euch, der vergißt, was ich jetzt gesagt habe wir sind keine Truppe im Kriegszustand.« Ein Landsknecht sagte zum anderen: »Ich sehe schon, wir gehen schlimmen Zeiten entgegen.« Ich grinste. »Zunächst geht ihr alle einem heißen Bad mit viel Seife entgegen. Und anderen Unannehmlichkeiten dieser Art.« Ich zog aus einer Tasche, die auf einer der prallen Satteltaschen aufgenäht wir, eine Karte und faltete sie auseinander, legte sie auf die Kruppe eines Pferdes und winkte die Männer herbei. Die Karte war ein dreidimensionales, farbgetreues Luftbild der Umgebung. »Wer kann Karten lesen?« »Wir alle!« sagte jemand mürrisch. Er wußte, wie seine Kameraden, nicht genau, was er von diesem Kommandounternehmen zu 361
halten hatte. Ich ließ ihn in der Ungewißheit. Ich erklärte den Weg, den wir verfolgen würden. Wir alle hatten eine kurze Pause nötig: Männer und Tiere waren ausgehungert und ungepflegt. Ich mußte die Beobachtungen des Falken auswerten: Schnelligkeit war meine einzige Chance. »Ihr wißt Bescheid?« »Ja.« Ich hob das Knie und steckte meinen Stiefel in den Sattelschuh. »Wir reiten! Zügig, aber nicht zu schnell. Wir brauchen die Pferde noch. Los!« Der Haufen setzte sich in Bewegung. Wir ritten über niedergetretene Felder, auf denen die Saaten vernichtet waren, erreichten einen Weg, der zwischen Gehölzen entlanglief. Wir kamen an einer zerstörten Mühle vorbei, an niedergebrannten Bauernhöfen, einer saftigen Weide, die zu wachsen begann, erreichten den Hochwald und bewegten uns in vorwiegend südlicher Richtung. Der Wald wurde dichter, wir wechselten auf einen Ziehpfad über, ritten durch einige Lichtungen. Wir scheuchten ein paar wildernde Hunde auf; es schien weder Rehe noch Hasen noch anderes Wild in diesem heimgesuchten Land zu geben. Einmal hielten wir an einer Kiesgrube an, orientierten uns an den Sonnenstrahlen, die durch den Nebel drangen. »Weiter! Noch zwei Stunden!« »Die Pferde werden müde, Herr Adlan!« sagte Jörg. »Sie werden durchhalten!« knurrte ich und ritt weiter. Der Wald wurde zu einer Art Urwald. Ein Rudel Wildschweine kreuzte unseren Weg, als wir eine Stunde lang weitergeritten waren, zum Teil durch Niederwald und Gebüsch. Ich riß die langläufige Reiterpistole aus dem Gürtel, zog den Zügel an und feuerte dreimal. Drei Schweine schlugen mit den Läufen, ein viertes griff an und wurde von Hellebarden erlegt, noch ehe es an die scheuenden Pferde herankommen konnte. »Bindet die Tiere hinter den Sätteln fest! Unser Abendbraten!« sagte ich lachend. »Ich versprach euch Essen und Wein - hier ist das Essen!« 362
In besserer Laune ritten wir weiter. Die Sonne ging in den Mittag; für die Mitte des vierten Monats war sie stark genug. Vögel zwitscherten, als wir einen verwilderten Streifen Gelände durchquerten und einem kaum sichtbaren Pfad folgten, der sich in Schlangenlinien einen Hügel hinaufwand. Wir ritten im Gänsemarsch; die Packpferde mit dem Wild bildeten den Schluß. Hoch über uns kreiste der Falke und signalisierte durch seinen ruhigen Flug, daß wir auf dem richtigen Weg waren. Ich hielt mein Pferd an, als ich hinter einer Buche hervorbog, deren vier Stämme an der Wurzel zusammengewachsen waren. Hinter mir bildeten die dreißig Pferde einen wirren Haufen, der sich auseinanderzog zu einer Linie. Die Männer griffen in den Waffen, und ich hob die Hand und sagte scharf: »Halt! Niemand schießt! Nur ich, denn ich habe eine Waffe, die nur lahmt. Denkt daran - wir wollen, daß uns die Leute freiwillig beherbergen!« »Verstanden.« Unter uns lag ein Tal, ein Bach wand sich in Schlangenlinien hindurch und bildete, zweimal aufgestaut, große Tümpel, an denen Trauerweiden standen. Vor uns, im Mittelpunkt eines Systems sich kreuzender Fahrspuren, standen zwei Wohnhäuser und zwei lange Scheunen. Das Mauerwerk war weiß; frisch gekalkt. Das Holz glänzte vor dunklem Firnis, und in den Fenstern waren sogar gläserne Scheiben. Aus Kaminen stiegen dünne Rauchsäulen fast senkrecht in die Luft des Vormittags. Äcker und Saaten, Weiden und eine Viehkoppel - alles atmete Reichtum, Sorglosigkeit und Ruhe aus. Eine seltene Idylle. »Hört zu! Wir reiten auf dem Weg, nicht über die Felder, durch das Hoftor, offen und nicht zu schnell. Und wir verletzen niemanden!« Wir ritten den Hang abwärts, trafen auf den Weg und ritten im Trab auf die Gebäude zu. Hier wohnte und wirtschaftete jemand, der seinen Beruf verstand. Was wir sahen, war in vorbildlichem Zustand. Zäune umgaben die Äcker, und die Spuren von Wildschweinen und Rotwild bewiesen, daß Mauern und Holzplanken wichtig waren. Wir ritten in diese Oase des Friedens, ich schob den Riegel meiner Waffe 363
herum. Jetzt war aus der Reiterpistole eine Lähmwaffe geworden. Zwei Hunde rasten heran, wie wahnsinnig kläffend, und Hound stürzte sich auf sie. Die Tiere verschwanden jaulend im Gebüsch. Wir ritten in Dreierreihen. Knechte liefen über den Hof, der mit weißem Kies bestreut war. Mächtige Bäume, unter denen Wagen standen, spendeten Schatten. Zwei Brunnen plätscherten. Dann wurde die aus dicken Bohlen bestehende Tür im Hauptbau aufgestoßen, und ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern erschien. Er hielt eine Muskete in beiden Händen, richtete sie auf mich, der ich als erster in den Hof einritt und jetzt mein Pferd zügelte. »Halt! Was w3Üt ihr hier?« schrie er aufgebracht. »Es ist Krieg, Bauer!« brüllte ich zurück. »Wir sind Kaiserliche, und wir werden drei Tage lang bei euch bleiben. In allen Ehren, versteht sich!« »Ihr reitet sofort dorthin, wo ihr hergekommen seid! Ich zähle bis drei, dann jage ich dir eine Kugel durch den Kopf.« Ich hob die Hand. »Wir sind keine Plünderer. Außerdem ist das Recht auf unserer Seite. Wir zahlen in Gold, was wir essen!« »Zurück, sage ich! Eins...« »Drei!« rief ich. Hound, der meinen Wink abgewartet hatte, raste im Zickzack auf den Mann zu. Ich hob meine Waffe, während meine Männer unruhig wurden und sich zu einer Linie formierten. Dann drückte ich ab. Eine halbe Sekunde, ehe der Hahn der Muskete schnappte, traf ich den Arm des Mannes. Krachend löste sich ein Schuß und zerfetzte die Blätter über unseren Köpfen. Hound sprang den Bauern an, riß ihn um und blieb dann über ihm stehen, die Fänge dicht vor seiner Kehle. Ein Knecht kam mit einer erhobenen Mistgabel aus der Scheune gerannt und wollte sie auf einen der Männer werfen. Ich drehte den Lauf meiner Pistole und feuerte. Krachend entlud sich der Lähmstrahler und warf den Mann von den Beinen. Dann sprang ich aus dem Sattel, winkte meinen Männern, ruhig zu bleiben und ging auf den Bauern zu, der quer über den steinernen Stufen lag. »Ihr seht«, sagte ich, schob den Wolf zur Seite und hob den Mann auf die Beine, »wir sind Soldaten, keine Marodeure. Ich bin Kaiserli364
eher Offizier, und wir laben nicht vor, Euren Besitz zu verwüsten. Auch weiß niemand, daß wir hier sind. Ihr werdet bis zum Frieden unbelästigt bleiben.« Der Arm des Mannes hing kraftlos herunter. Die Augen blickten mich verblüfft an. »Wer seid Ihr?« »Ein Edelmann«, sagte ich. »Und Franzose in Habsburger Diensten. Trotz der wilden Reiter ein höflicher Mann. Ich bitte Euch herzlich, uns ein paar Tage lang Quartier und Essen zu geben einigen Braten haben wir gleich mitgebracht.« »Der Krieg hat alles verwüstet«, sagte er leise und spie aus. »Und ihr werdet meinen Hof nicht einäschern?« »Wir werden uns wie wohlerzogene Gäste aufführen. Und wenn der Hof angegriffen wird, von den Schweden, werden wir ihn verteidigen.« »Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig - seid also willkommen.« Ich schüttelte seine linke Hand. »Was braucht Ihr?« »Alles«, sagte ich. »Ich muß aus diesem zerlumpten Haufen einen kleinen Trupp von Menschen machen. Und werde nichts verlangen, Herr Bauer, was Ihr uns nicht geben könnt.« Er brachte ein zögerndes Lächeln zustande. »Gut. Ich wähle das kleinere Übel. Ihr helft mir, ich helfe Euch. Euer Name, Herr Offizier?« Ich sagte ihm, wer ich war; was ich vorhatte, deutete ich nur an. Der Bauer, Martin der Müller, rief Knechte und Mägde zusammen. Meine Männer saßen ab. Wir nahmen die Sättel herunter und führten alle Pferde in den Stall. Ich befahl den Soldaten, die Pferde zu striegeln, ihre Mähnen zu schneiden, die Hufe nachzusehen, ihnen Futter und Wasser zu geben. Die Männer murrten zwar, gehorchten aber. Ich hatte einen festumrissenen Plan, den ich in den folgenden Tagen ausführen mußte. Um Martin den Müller zu überzeugen, zählte ich ihm zwanzig Goldstücke in die Hand; ab diesem Zeitpunkt gab es kaum noch Schwierigkeiten. Zehn Personen bewirtschafteten diesen Hof, weitere sieben Familienangehörige wohnten in dem großen, vorwiegend aus Stein erbauten Haus. Zuerst brachten wir die Schweine in die Küche und rüsteten ein Essen, das uns alle satt ma365
eben würde. Für die Männer war es das erste richtige Essen seit Monaten; sie waren aufgebracht, als sie die Mengen sahen, die ihnen zu wenig erschienen. Ich klärte sie darüber auf, daß sie alles, was sie gegessen hatten, wieder von sich geben würden, wenn sie zuviel äßen - und ein kräftiger Umtrunk aus angenehm säuerlichem Wein beendete die Mahlzeit. Für die Soldaten waren die kommenden Tage eine einzige Schikane. Ich ließ allen von einem Knecht, der diese Kunst beherrschte, das Haar schneiden. Dann rieben sie sich eine Verdünnung meiner Tinktur ins Haar, die sämtliche Läuse umbrachte. Anschließend verteilte ich Seife und Bürsten; die Männer wurden gezwungen, sich einem heißen Bad zu unterziehen, in riesigen Holzbottichen auf der Tenne. Sie erkannten sich, als sie abgetrocknet waren, kaum wieder. Das Essen wurde mit jeder Mahlzeit reichhaltiger. Die Pferde bekamen ein straffes, glänzendes Fell und wurden jeden Tag versorgt. Ich kaufte Martin Hemden aus grobem Leinen ab und verteilte sie. Wir reinigten und putzten die Sättel, nähten und wichsten die Stiefel, ich versorgte zahllose kleine Wunden und kurierte mit meinem Antibbtika venerische Krankheiten und auch deren Symptome. Ein Teil der Lumpen wurde verbrannt, mit ihnen Läuse und Billiarden Krankheitserreger. Die Hausfrau, drei der ältesten Töchter und die Mägde nähten und besserten aus, wuschen und halfen uns. Langsam kam ein gewisser Glanz über meine Truppe. Ich war unbarmherzig. Gleichzeitig lernte ich die Männer und ihre Namen, ihre Eigenheiten und ihre Verdienste kennen. Es war ein wilder Haufen, der nur wenige Götzen kannte. Sie brauchten eine harte Hand. An fünf der zuverlässigsten Männer verteilte ich Nachahmungen meiner Reiterpistolen mit Magazinen zu je dreißig Schuß. Ich hatte genügend Munition, und wir übten einige Stunden lang das Schießen. Martin verkaufte uns Würste und Schinken und runde Brote. Wir tranken kuhwarme Milch und frische Eier, schliefen lange und arbeiteten den ganzen Tag. Am Ende des zweiten Tages kam Jörg zu mir; ich saß in der Wohnstube und studierte meine Karten. Ich blickte ihn 366
genau an, sah die glänzenden Stiefel, die sauberen Hosen und die frischen Nähte im Lederzeug. Sogar der Brustpanzer war gescheuert worden. »Was gibt es?« »M’sieur Adlan«, sagte er gepreßt, »die anderen schicken mich. Sie sagten, ich könne am besten reden.« Ich lachte schallend. »Also, dann rede!« »Die Männer haben lange nachgedacht, sagten sie. Sie sehen ein, daß du streng sein mußt. Sie sehen, daß die Pferde ausgeruht sind, daß alles, was du tust, ihnen gefällt. Besonders die Kranken...« Ich winkte ab. »Ich habe euch versprochen, daß ich jedem helfen werde. Was wollen sie wirklich? Geld? Frauen?« Er grinste breit. Ich hatte ihnen beigebracht, sich hin und wieder die Zähne zu reinigen, damit sie nicht aus dem Mund stanken. »Das auch, später, obwohl die Mägde... das ist es nicht. Sie sind ungeduldig. Sie wollen mit dir reiten. Du bist der beste Offizier, dem sie jemals gehorcht haben, sagen sie.« Ich sagte entschlossen: »Wir reiten übermorgen früh los. Gerade suche ich unser Ziel. Sag ihnen das. In einer Stunde sehe ich mir die Pferde, die Sättel und Satteltaschen, die Kleidung und die Waffen an. Wehe, es ist nicht alles so, wie es abgesprochen war!« Wieder grinste er. Langsam, wie es seine Art war, sagte er in rauhem Deutsch: »Du wirst sehen, alles ist bestens, Adlan!« Ich hatte ihnen befohlen, mich zu duzen; meine Autorität hing nicht davon ab, daß sie »Herr Offizier« und »Ihr« sagten. Schließlich würde der Moment kommen, an dem ich mich auf jeden verlassen mußte. Ich war allein, rief die Informationen des Falken ab und betrachtete die Bilder, die er überspielte. Der Wolf rannte im Kreis um das Tal und würde uns, falls Schweden oder Franzosen kamen, rechtzeitig warnen. Rico hatte sich nicht gemeldet, also war keine Schiffsbewegung erfolgt. Ich hatte von der Ladefläche des Gleiters soviel Ausrüstungsgegenstände geholt, wie ich verantworten konnte. Auch Hemden, Jacken und Mäntel hatte ich verteilen können. Wir waren, wenn wir losritten, hervorragend ausgerüstet. 367
Herbsthausen hieß unser Ziel. Dorthin hatten sich, mit größter Sicherheit, die beiden Fremden geflüchtet. Auch hatte der Falke ein Gespräch abgehört, in dem die Rede war von dreißig Reitern, die wie durch ein Wunder einen Ritt durch Kugelhagel und Armbrustbolzen unverwundet überstanden hatten. Ich schaute in ausgeruhte, saubere Gesichter, sah geschnittenes Haar, saubere Kleidung, dunkles Leder. Mehr konnte nicht getan werden - alles andere hing von Zufälligkeiten und dem Schicksal ab. Ich machte mir keine Illusionen. Wenn die Verfolger schneller sind als du, hast du verloren. Sie besteigen ihr Schiff und fliegen davon! sagte mein Extrahirn. Ich schüttelte die Hand des Bauern und sagte, auf den Lauf der Waffe deutend: »Du kannst dreißigmal schießen, Martin. Du weißt, wie man diese Waffe behandelt. Wir sind quitt?« Er blickte seine Knechte an, die neben den Soldaten standen. Eine Magd schäkerte mit Kaspar, dem jüngsten Reiter. Dann nickte der Bauer. »Wir scheiden als Freunde. Du bist mit deinen Männern herzlich willkommen. Ich werde für jeden stets einen Schinken und einen Becher Wein haben.« »Dein Angebot gilt«, sagte ich. Ein friedlicher Morgen brach an. Das Viereck cbs Hofes glänzte vom Tau. Gräser und Saaten sproßten in der Sonne. Ungeduldig scharrten die Pferde. Alles, was wir besaßen, trugen wir an den Sätteln. Schneller als wir konnte kaum jemand reiten. Hoch über dem Hof zog Cis seine Kreise und verscheuchte die Hühner; der Wolf richtete seine Ohren auf den Bauer und auf mich. »Wir werden niemandem sagen, welcher Frieden hier herrscht«, beruhigte ich ihn und dankte dem Knecht, der mein Pferd brachte. »Adieu, Freund Martin!« »Ich wünsche Euch viel Glück, d’Arcogne!« sagte er. Ich hatte ihm in den vergangenen Tagen einige Ratschläge technischer Natur gegeben. Noch einmal umfaßte mein Blick die Gebäude und Ställe, die Bäume und die Brunnen, dann schwang ich mich in den Sattel und hob die Hand. 368
»Wir reiten nach Herbsthausen, Männer!« sagte ich. Ein Gemisch aus Lachen, Schreien und Johlen antwortete mir. Die Pferde wieherten unternehmungslustig, als ich lospreschte. Kies hagelte nach allen Seiten, als neunundzwanzig Tiere und ein Wolf den Hof verließen und auf den Wald jenseits des Tales zugaloppierten. Als wir den kahlen Hügel hinunterritten, sahen wir vor uns die Siedlung. Sie wirkte, als habe ein Erdbeben stattgefunden. Wir konnten, obwohl ich mein Fernrohr auseinanderzog und im letzten Licht des Tages die Umgebung betrachtete, keine Spuren eines Lagers erkennen. Die Ruhe, die über dieser Landschaft lagerte, wirkte wie ein Leichentuch. Wir ritten weiter. Die Tiere schnaubten unruhig; die Nervosität der Reiter übertrug sich auf die Pferde. Ich drehte mich im Sattel, sah den Wimpel, den Jörg trug, träge an der Hellebarde baumeln und sagte halblaut: »Vorsichtig weiterreiten! Wir versuchen, Quartier in den ersten Häusern zu bekommen.« »Verstanden. So wie es aussieht, werden wir nicht mehr bekommen als verseuchtes Wasser.« »Wir haben unsere Vorräte, Freunde!« sagte ich. Auch damals hatte ich die Schrecken des Krieges so deutlich vor Augen gesehen wie während der vergangenen Tage. Über dieses Land herrschten nicht Jahreszeiten, Sonne oder Wind, nicht einmal der Kaiser oder die Feldherren. Schon gar nicht Bürger, Bauern oder Edelleute. Wenn überhaupt jemand herrschte, so war es der Soldat. Und die Ratten. Die Marschälle hatten nur selten Macht über ihre Soldateska. Bfesonders dann, wenn eine Stadt nach der Belagerung fiel, tobten sich die niedersten Instinkte aus. Kinder wurden von den Kaiserlichen in Kellern abgeschlachtet, neben aufgeschlagenen Weinfässern, aus denen die Flüssigkeit auf den Boden lief. Frauen wurden geschändet und aus Fenstern geworfen. Man folterte, brannte und mordete ohne jeden Sinn. Priester band man unter die Wagen des Trosses, in denen Dirnen und Weinfasser lagen. Die entkräfteten Männer brachen aisammen, nachdem sie auf allen vieren gerannt waren und wurden zu 369
Tode geschleift. Seuchen und Hunger richteten Verwüstungen an, die zu begreifen fast meine Natur überstieg. Das ist der Planet, Arkonide, über den du die Verantwortung übernommen hast! sagte das Extrahirn. Ich schloß die Augen. Hier war ich wieder. Jedesmal, wenn ich auftauchte, geriet ich in die primitivsten Auseinandersetzungen der Barbaren. Ich kannte die Mühsal ihres verwirrten Weges in die Kultur, kannte die Stationen der Zivilisation - viele davon hatte ich selbst initiiert. Und hier war ich abermals im totalen Chaos. Diese Narren! Sie schrieben Ideen, leer von Bedeutungen, auf ihre golddurchwirkten Fahnen, schwenkten diese und trugen sie in die Schlachten, zerfetzten sich gegenseitig mit Schrapnells, folterten, bohrten sich Säbel in die Körper, entwürdigten einander bis zum untersten Punkt der Möglichkeiten. Und mitten in diesem perfekten Irrsinn landeten zwei Raumfahrer. Wovor verbargen sie sich? Und warum wurden sie von anderen Raumfahrern verfolgt? Was hatte das zu bedeuten? Ich war kein harter Mensch... Mensch! Ich begann bereits, mich mit diesen Hirnlosen zu identifizieren. Also: Ich war ein Arkonide, hatte ein Bündel von Möglichkeiten, vermochte nicht, größere Bewegungen auf diesem Planeten hervorzurufen oder zu steuern. Meine einzige Möglichkeit lag im Verstecken, in der perfekten Maske. So konnte ich einen zahlenmäßig beschränkten Personenkreis dirigieren, ihm helfen, ihm zeigen, daß es auch mit Vernunft ging. Ich war nicht verantwortlich für Millionen verhungernder Kinder in diesem Land. Ich konnte lediglich hier und dort Hilfe geben. Ich öffnete die Augen und sah sie Ratten. Sie hatten sich um den Kadaver eines Pferdes versammelt, abseits der Hauptstraße. Neben den wimmelnden Ratten saß ein Mann, ausgemergelt bis zum Skelett, der mit einem rostigen Messer an dem Kadaver herumschnitt und faules Fleisch zwischen den Zähnen hielt. Ich wandte mich ab; mein Magen revoltierte. Rummel, der Soldat, der das Horn blies, feuerte einen Schuß ab; Ratten stoben in ihre Verstecke. Am Ende unserer Gruppe übergab sich ein Mann stöhnend. »Weiter!« sagte ich mit einer Stimme, die mir fremd war. 370
Die Siedlung war entvölkert. Als wir das zweite, verbrannte Haus erreichten, begannen Kirchenglocken zu läuten; ein absurder Laut in der tödlichen Stille, so daß ich zusammenzuckte. Der Klang zweier Glocken rollte zwischen den Waldrändern hin und her. Ein Geruch nach Aas, nach schlechtem Braten und verbranntem Horn stieg in unsere Nasen. Mein Hengst scheute; ich beruhigte ihn mühsam. Rummel galoppierte nach vorn, kniff die Augen zusammen, als er weitere Ratten sah, die hungrig aus ihren Verstecken hervorsahen oder über den Weg liefen. Er hielt sich auf gleicher Höhe und sagte: »Dieses Dorf ist verhungert. Wenn wir unsere Pferde auch nur einen Augenblick unbeaufsichtigt lassen, drehen sie sich ein wenig später auf den Spießen. Feuerholz gibt’s, denke ich, genug.« »Du hast recht«, sagte ich. »Außerdem glaube ich, daß in dieser Siedlung noch etwas vorgeht, das wir nicht wissen. Wir bleiben dicht zusammen und reiten zu jenem Gebäude.« »In Ordnung!« gab er zurück und ritt nach hinten, die Hand am Kolben der Waffe. Wir stolperten Minuten später über einen Leichnam, der offensichtlich aus einem Grab hervorgeholt worden war. Hungrige Köter verschwanden, als der Wolf sich ihnen näherte. Menschen, die kaum kriechen konnten, streckten uns dürre Arme entgegen. Mit weißen Gesichtern ritten wir weiter und bogen von der Hauptstraße ab. Ein kleines Kind, fast nackt, mit Stelzenbeinen und einem krankhaft runden Bauch, stolperte über die Straße, sah uns an und brach zusammen. Ein Krähenschwarm stürzte sich darauf. Ich sprang aus dem Sattel, rannte los und verscheuchte die Vögel. Es war zu spät - das Kind war gestorben. Ich nahm von Stadelberger die Zügel entgegen und schwang mich auf den Rücken des Falben. Schweigend ritten wir weiter. »Vorsicht! Ich reite hinein!« sagte ich, als wir die Bäume erreichten, an denen erste Knospen zu sehen waren. Ich zog meine Waffe, stellte sie auf Lähmung ein und ritt in den Hof des Anwesens. Der Bau war leer. Ich sah nur Trümmer, Ratten huschten überall umher. »Niemand hier!« rief ich, zog an der Kandare; der Hengst stellte sich auf die Hinterfüße. Er drehte sich um hundertachtzig Grad, und 371
ich sah, daß wir es hier eine Nacht aushalten konnten. Meine Männer galoppierten heran, saßen ab und begannen mit der Schnelligkeit erfahrener Soldaten, ein Lager aufzuschlagen. Ein Feuer, dann die Sättel, schließlich die Pferde. Hound sicherte das Lager und tötete Ratten, wo immer er sie traf. Rummel, Jörg und Stadelberger kamen heran und hoben sorgfaltig die Füße, um die Stiefel nicht mit Kot und Unrat zu verschmutzen. »Vermutlich ist keine Truppe im Dorf«, sagte Stadelberger. Ich machte eine vage Bewegung und murmelte unschlüssig: »Warum läutet dieser irre Mesner seine Glocken so andauernd?« Stadelbergers Knebelbart teilte sein Gesicht in zwei Hälften, der untere Teil wurde von den züngelnden Flammen des Feuers beleuchtet und glich einer dämonischen Maske. Ich nahm die Flasche mit dem Rasierwasser, schüttete etwas in den Handteller und wischte damit über mein Gesicht. Jetzt ließ sich der Geruch hier aushalten. »Der Wahnsinnige«, sagte ich. Mein Blick ging zum Himmel. Etwa eine knappe Stunde lang würde es noch hell genug sein. Ich grinste, nahm die kleine Waffe mit dem Spannschloß und lud verschiedenfarbige Magnesitpatronen, sagte leise: »Wir gehen in die Siedlung. Vermutlich werden sie uns angreifen, weil wir so aussehen, als wären wir Männer mit viel Proviant. Mindestens sechs Männer sollten mit mir gehen.« »Mit wenig Vergnügen, aber wir kommen mit«, sagte Glaser. Ich teilte Kaspar zur Wache ein. Die Pferde standen sicher; solange sich zwischen ihren Beinen Hound herumtrieb, würden die Ratten sie nicht belästigen. Bis der kalte Braten aufgewärmt, der Glühwein bereit war, konnten wir uns umsehen. Schließlich führte die Spur der Flüchtenden hierher. »Gut. Gehen wir schnell!« befahl ich. »Oder sollen wir reiten?« Stadelberger und Glaser sagten wie aus einem Mund: »Reiten ist besser. Schnelle Flucht ist besser als ein langsamer Tod!« Ich schlug ihm schwer auf die Schulter und sagte mit nervösem Lachen: »Ich freue mich darüber, wie schnell ihr lernt.« 372
»Schließlich sind wir nicht blöde!« gab Glaser zurück und lachte breit. »Wir können fast alle lesen. Einige können auch schreiben.« Ich murmelte: »Ich kann beides. In die Sättel, Freunde!« Wir ritten scharf aus dem verfallenden Gehöft heraus. Nicht ein einziger Halm Heu oder Stroh war zu finden. Wir fütterten unsere Pferde mit dem Hafer des Müllers und hofften, daß die Tiere nicht hungrig sein mögen. Hinter uns vermischte sich der Rauch des Feuers mit der beginnenden Dunkelheit. Eine blutrote, feuchte Abenddämmerung brach an und tauchte den Waldrand in Flammen. Feuer: ein Symbol dieser Zeit. Wir sprengten den ausgefahrenen Weg entlang, bis sich uns die ersten Häuser entgegenstellten. Nur hinter wenigen Fenstern brannten Lichter, aus wenigen Essen stieg Rauch. Wir kamen unbelästigt zwischen den Häusern hindurch. Man sah, daß wir Soldaten waren, aus diesem Grund blieben wir vor einem Angriff der hungernden Bürger verschont. Die Hufe der Pferde klapperten auf den groben Steinen eines kleinen Platzes. Die Pestsäule, die neben dem Brunnen aufragte, war von einem Kanonenschuß getroffen worden. Und rußgeschwärzt war sie auch. Wir ritten an ihr vorbei, kamen an ein Haus, das man mit viel Phantasie für ein Rathaus halten konnte, dann hörte das Bimmeln der Glocken endlich auf; eine Wohltat für unsere Nerven. Wir hielten vor dem Rathaus. Ich schwang mich auf den Boden. Meine Sporen klirrten auf den Fliesen, als ich die Tür aufstieß, die mißtönend in den Angeln kreischte. »He!« schrie ich. »Wir sind keine Plünderer! Lebt hier jemand?« Keine Antwort. Ich nahm die winzige Lampe, die wie eine Tabaksdose aussah, aus dem Gürtel und schaltete sie an. Der kräftige Strahl durchschnitt eine Dunkelheit, in der meine Schritte Staubwolken aufscheuchten. Das Licht fiel in eine Art Amtsstube. Hier hatte sich vor kurzer Zeit jemand aufgehalten. Ich sah heruntergebrannte Kerzen, Schreibzeug, vergilbte Zettel an einem Wandbrett, schmutziges Geschirr und verwahrloste Einrichtungsgegenstände. Ein Stapel federgebundener Bücher lag schräg auf einem Wandbrett, auf dem ein ausgestopfter Uhu mich mit gläsernen Augen anstarrte. Ich schüttelte mich, ging um den Tisch herum und roch säuerlichen Wein. Eine 373
Ratte, einen Brotrest zwischen cbn Zähnen, huschte davon. Staub stieg in meine Nase; ich nieste dreimal hintereinander. »Zum Wohl, Euer Gnaden«, sagte Glaser neben mir. Er hielt die Waffe hoch und sah aus dem Fenster. »Komm wieder heraus! Offensichtlich wollen sie jemanden verbrennen!« Ich leuchtete den Raum aus, fand aber nichts Interessantes mehr. Dann stützte ich mich an der Fensterbrüstung ab und sprang nach draußen. Die Hände meiner Reiter fingen mich auf. »Was hast du gesagt?« erkundigte ich mich verblüfft. »Dort um den Pfahl ist eine Menge Holz und Reisig!« sagte Stadelberger. »Es sieht so aus, als ob...« »Los! Hinüber!« sagte ich und schaltete die Lampe aus. Bisher hatten sich meine Männer weder über meinen Reichtum, der aus der Prägekunst der Maschinen und früher erbeutetem Gold bestand, noch über technische Tricks sonderlich gewundert. Vielleicht dachten sie, daß ein französischer Militärstratege und Kanonengießer bessere, andere Waffen haben mußte. Jedenfalls war dadurch ihre Achtung vor mir nicht kleiner geworden. Wir gingen auf den Haufen Holz zu; ich erkannte alle Merkmale des Holzstoßes, wie ich ihn auch in Thom gesehen hatte. »Eine Hexe? Sie wartet auf die Verbrennung!« sagte ich nachdenklich. Muß nicht jeder wahre Gläubige einen Außerirdischen, der sich nicht zurechtfindet, als »absonderlich« und daher als Buhlen des Satans identifizieren? fragte der Extrasinn. Diese Möglichkeit war so unwahrscheinlich, daß ich sie außer acht lassen konnte. Meine Chance war vernachlässigbar gering. Wir gingen langsam, mit ungebrochener Wachsamkeit weiter. Die Pferde bliesen ihren Atem in unsere Nacken. Wir hielten die Schußwaffen in den Händen, die Hähne waren gespannt. Niemand war auf der Straße, düstere Stimmung lag über dem Platz, erstreckte sich auch auf die Kirche. Ein gut erhaltener Turm aus massivem Mauerwerk erhob sich jenseits der dürftigen Pfarre. Dort nahmen wir schattenhafte Bewegungen wahr. Stadelberger stieß mich an. Unsere Sporen scharrten auf den Steinen, als wir uns der Gruppe näherten. »Wahrscheinlich foltern sie das Satanskind«, sagte Glaser. 374
»Du Narr!« zischte ich wütend. »Es gibt keinen Menschen, der mit dem Satan im Bund ist! Und wenn schon, dann sind es die Fürsten, die den Krieg verlängern, statt Frieden zu halten!« Wir sahen einen Ring aus Bewohnern, der sich um den Turm legte. Nichts geschah, niemand sprach, niemand schien uns zu beachten. Mehrere Armeepferde waren am Zaun der Pfarre angepflockt und zupften an den dürren Halmen. Ich verließ die Gruppe, hielt die Waffe fest und stieg die Stufen zur Kirchentür hinauf. Was ging hier vor? Ich spähte durch die halbe Dunkelheit über den Zaun, zwischen den dürftigen Büschen hindurch. Jemand schleppte eine weiße Gestalt davon und näherte sich den Pferden. Ein Schimmel mit blitzendem Zaumzeug warf den Kopf hoch. Und im gleichen Moment begann die Orgel zu spielen. Ich holte Atem und versuchte, einen kühlen Kopf zu behalten. »Tötet sie! Sie bringt das Unheil über die Stadt!« kreischte jemand mit sich überschlagender Stimme. Ich hörte ein unbekanntes Lied, eine seltsam kraftvolle Melodie. Jemand trat auf die Blasebälge; ein anderer schlug die Orgel. Die Klänge ergossen sich durch die offene Tür ins Freie und vermischten sich mit den Flüchen meiner Reiter. Ein Pferd schlug wiehernd aus. Ich sah mich im Innern der Kirche um. Sie war, schien es, mehrmals geplündert worden. Nur beschädigte Heiligenfiguren standen unter den weißen Flächen, über denen einmal Bilder gehangen hatten. Kerzen brannten; ihre Flammen zuckten im Luftstrom. Der Orgelspieler ließ sich nicht stören, zog ein hallendes Register und fuhr fort, Kadenzen und Läufe zu spielen. »Verbrennt sie! Sie buhlt mit dem Satan!« Eine männliche Stimme, hart und fordernd: »Sie ist... fangt sie ein! Ein Goldstück für den, der sie kriegt!« Ich drehte mich um; jetzt durchschaute ich die Situation, stellte meine Waffe auf Lähmung, lehnte mich an den arretierten Flügel des Portals und wartete mit gespannten Nerven. Der Saum meines Mantels verhakte sich in meinem Sporn; ich hob den Fuß. Die Gestalt schlug um sich, riß sich los und lief davon. Sie sah sich suchend um und entdeckte das Viereck der offenen Kirchentür. Die Melodie der 375
Orgel war beruhigend, sanft und von schöner Harmonie. Nur die ächzenden Bälge und die klappernden Register störten. Ich sah, wie die Gestalt auf bloßen Füßen durch den Garten der Pfarre hetzte, Verfolgt von einigen Bürgern und einigen Soldaten. »Adlan!« rief Stadelberger. »Ich sehe alles!« rief ich. Wer immer es war, der floh: Er war gewandt oder bewegte sich in Todesfurcht. Mehrere Bürger nahmen die Verfolgung auf. Meine Re iter wußten, was sie zu tun hatten. Sie bewegten sich ruhig und selbstsicher in den Sätteln und lenkten ihre Pferde so, daß sie eine Gasse zwischen den Verfolgern und dem voraussichtlichen Weg des Flüchtenden bildeten. Einen Moment lang sah ich die Augen des Flüchtenden aufblitzen, als ob es Katzenaugen wären. Ein Schuß krachte. Das Blei summte, vom Einschlag verformt, von einem Pflasterstein in die Luft. Es wurde dunkler. Ununterbrochen spielte der Mann an den Tasten des Instruments, ununterbrochen ächzten die Bälge. Die Gestalt schwang sich über eine niedrige Mauer, schlug wild um sich, als sich ein paar entkräftete Bürger auf sie stürzten. Sie erreichte die ersten Pferde. Meine Reiter bewegten die Tiere aufeinander zu, dann ritten sie vorwärts und bildeten eine Reihe zwischen den Verfolgern und den Kirchenstufen. Meine Augen weiteten sich verblüfft, als ich erkannte, daß... Eine Frau! sagte der Extrasinn scharf. Ich stieß mich vom rissigen Holz ab und lief schnell die Stufen hinunter. »Sie... wollen... mich verbrennen!« keuchte die Frau. Sie war nackt. Auf ihrem Körper sah ich die Spuren der Peitsche. Heißer Zorn stieg in mir hoch. Ich zog die Waffe aus dem Gürtel, zielte und feuerte drei Leuchtkugeln ab. Zwei weiße in die Luft und eine rote in Richtung auf die Verfolger. »Dannhauser! Mein Pferd!« sagte ich, riß den Mantel von meinen Schultern und sagte scharf: »Du bist in Sicherheit. Keine Angst!« Als das zitternde, grellweiße Licht am Himmel erschien und ä> wärts sank, schrien die Menschen auf und wichen zurück. Ich sah flüchtig eine Mauer ausgemergelter Körper, offener Münder und aufgerissener, erschrockener Augen. Die junge Frau sackte in meinen 376
Armen zusammen. Ich schlug den schweren Stoff des Mantels um sie und setzte sie mit Dannhausers Hilfe auf den Sattel meines Pferdes. »Er rettet die Hexe!« murmelten die Einwohner. Fünf Soldaten schwangen sich jenseits des Pfarrgartens in die Sättel; ich feuerte, ohne abzusetzen, hinter ihnen her. Es war mir gleichgültig, ob ich traf oder nicht. Die Reiter flohen. Ich sagte laut: »Wir reiten zum Hof. Schnell.« Die drei Leuchtkugeln waren auf den Boden gefallen; das rote Glühen zwischen uns und der Bevölkerung mußte die abergläubischen Menschen überzeugen, daß der Teufel eingegriffen hatte. Ich stieg in den Sattel, und unter der doppelten Last schnaubte mein Hengst unwillig auf und tänzelte nervös. Ich schrie den Menschen zu: »Der Teufel haust draußen im zerfallenen Gehöft! Wagt euch nicht aus den Häusern, sonst verbrennt euch sein Atem!« Ich riß das Pferd herum und galoppierte davon. Der Mann an der Orgel spielte weiter, als sei nichts vorgefallen. Die Orgelklänge und das zuckende Licht der Magnesitfackeln verfolgte uns, als wir über den Marktplatz sprengten und die Hufe der Pferde Funken aus den Steinen schlugen. Die Frau vor mir im Sattel war besinnungslos. Sie bewegte sich wieder, als wir in den Hof einritten. Kressin stellte sich uns in den Weg, schwenkte einen brennenden Ast und erkannte uns sofort. »Adlan hat sich einen nackten, gerupften Vogel gefangen!« rief Dannhauser. Die Männer lachten; als ich aus dem Sattel sprang und auf einen zerbrochenen Wagen zuging, sahen sie, was ich trug. Sie folgten mir, bis ich mich umdrehte und zornig rief: »Die Wachen verdreifachen! Ich brauche Hilfe... Stadelberger, Greiff! Her zu mir!« Er waren die ältesten, erfahrensten Männer der Truppe. Wir schleppten Decken heran, Hafersäcke der Pferde, einige Mäntel. In sicherer Entfernung vom Feuer machten wir ein Lager daraus, dann setzte ich die Frau ab. Sie sah mich an, als ich gebückt neben ihr kniete und ihren Kopf hochhob. Im Schein der Feuer starrte ich wie377
der in ihre Katzenaugen. Sie atmete schwer und zuckte zusammen, als ihre mißhandelte Haut die Decken berührte. »Schnell! Meine Satteltaschen!« rief ich. Ein vager Verdacht zeichnete sich ab. Wenn sie jene Frau von den Sternen war, würde sie erkennen, was nicht aus der Kultur dieser Welt kam. Und wenn sie merkte, daß sie es mit einem anderen Außerirdischen zu tun hatte, würde sie mich mit einem der Verfolger gleichsetzen. Und ich konnte nichts erfahren. Ich versuchte, ihr etwas vom heißen Würzwein einzuflößen. Sie trank einige Schlucke, dann schloß sie die Augen und schlief ein. Ich scheuchte die Männer zur Seite, öffnete die Satteltaschen und nahm eine Energiezelle heraus. Eine winzige Fackel begann strahlend hell zu brennen. Als ich den Mantel zurückschlug, sah ich die Kerben der Auspeitschung. Schnell tastete ich die Glieder ab; nichts war gebrochen, aber ich entdeckte Prellungen und Blutergüsse. Stadelberger fragte ruhig: »Kann ich helfen, Adlan?« »Ich brauche heißes Wasser. Greiff, pack die Taschen aus und stelle alles auf die Trommel!« Er zog das Tuch hervor, während ich meinen Brustharnisch öffnete, das Wams aufknöpfte und das Hemd. Ich nahm den Zellaktivator, der wie ein kostbares Schmuckstück aussah, mit einem Wappen, das vierundvierzig Variationen zuließ, vom Hals und legte ihn zwischen die Brüste der Frau, injizierte ein einschläferndes Mittel und suchte das andere Material zusammen. Ich säuberte die Wunden, verband sie, benutzte Salben und Bioplast, das ich aufsprühte. Offensichtlich war die junge Frau gefoltert worden; aber man hatte »nur« die Peitsche, Beinschrauben und die Streckbank angewandt; nur einen Teil des teuflischen Instrumentariums. Ich tat, was ich konnte ließ mir helfen, drehte den Körper um und wickelte Binden um die mißhandelten Hüften und den Rücken. Aus tiefen Einstichen sickerte wieder Blut - es war die »Hexenprobe« gewesen, in der einer der Schergen mit einer Nadel in den Körper stach. Floß kein Blut, galt dies als Zeichen, daß der Satan die Delinquentin unempfindlich gemacht hatte. Zwei Stunden später war ich fertig; ich schlug die Enden des Mantels zusammen und stand auf. Der Aktivator entfaltete seine unerklärli378
eben Kräfte; es war mir schleierhaft, warum er wirkte, wenn ich jemandem helfen wollte normalerweise würde jemand, der meinen Aktivator stahl, sterben, wenn er ihn trug. Mein Rücken schmerzte; Bertold der Lispler reichte mir wortlos einen Becher Würzwein. »Diese verdammten Hunde«, sagte ich. »Sie verhungern bei lebendigem Leib, und trotzdem foltern ihre Scharfrichter noch Unschuldige.« Glaser murmelte: »Aber... man hat sie als Hexe erkannt... ich; was ist, Adlan?« Ich ließ den Becher fallen und packte Glaser an seinem Wams. Eine Sekunde lang verhüllte Zorn meine Gedanken: Ich sah nur eine weiße Wand. Ich schüttelte den Mann, knurrte zwischen zusammengebissenen Zähnen; Hound sprang neben mich und keuchte gierig auf. »Hör zu, du Narr!« flüsterte ich heiser. »Es gibt keinen Teufel! Und auch die Dinge, die dir wunderbar vorkommen, sind keine Wunder, keine Ausgeburten der Hölle, sondern Dinge, die du nicht kennst, weil du zu dumm bist. Es gibt keine Hexen, es gibt keine Hexer, Satan ist eine Ausgeburt kranker menschlicher Hirne! Hast du - das - verstanden, du Klotz?« Bei jedem Wort schüttelte ich ihn. Ich brach beinahe sein Genick. Dann kam ich zu mir und ließ ihn los. »Entschuldige«, sagte ich leise und wischte den Schweiß von meiner Stirn. »Aber es gibt wirklich keinen Teufel und keine Hexen. Das, was teuflisch oder merkwürdig erscheint, entspringt armen, geschundenen Hirnen. Und ihr alle tätet besser daran, in meiner Gegenwart nicht mehr davon zu reden.« Ich ging zurück zum Feuer. Die Frau schlief; die scharfen Linien des Schmerzes waren aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie hatte sich entspannt; nur Binden und Bandagen verhinderten, daß sie sich zusammenrollte. Für eine halbe Nacht würden meine Männer und ich auf die Mäntel verzichten können. Die Hälfte der Nacht läuteten die Glocken der armseligen Kirche. Aber wir hörten keine Orgelklänge mehr. 379
Am nächsten Morgen banden wir eine Art Trage zwischen zwei Pferden fest, betteten die schlafende Frau darauf und verließen den Hof. In der Stadt drangen drei von uns mit gezogenen Waffen in ein Haus ein, das unzerstört aussah Wir suchten nicht lange, dann fanden wir Kleidungsstücke, die unserem Gast passen würden. Ich fand ein Paar kostbare Stiefel und sagte der zitternden Tochter eines Dorfschulzen, daß der Teufel und seine Buhle sich über die Stiefel freuen würden. Nach zwei Tagen erreichten wir den zweiten meiner geheimen Fluchtpunkte. Es war eine Köhlerhütte am Ende einer Schlucht, die wohl während des gesamten Krieges nicht entdeckt werden würde. Hier endlich hatte unser Gast Ruhe. Die junge Frau mit den Katzenaugen schlief volle drei Tage, und immer wieder hängte ich ihr den Aktivator um. Hound bewachte sie. Wir schlugen ein Lager auf, scherzten mit dem Köhler, der in seinem Leben zum erstenmal Gold sah und »höfliche« Soldaten. Wir konnten Wildschweine erlegen und einen jungen Hirsch. Die Männer schossen Hasen und Schnepfen mit den Armbrüsten und brieten das Wild. Wir schlugen ein Zelt auf, unsere Pferde weideten in guter Ruhe; die kurze Idylle wurde von Cis bewacht. Der Falke zog seine Kreise und wurde nur unruhig, als ihn ein Schwarm verwilderter Tauben angriff. Einen Tag später saß ich auf einem Holzstoß, hatte einen Spiegel aufgestellt und rasierte mich. Die Innenfläche des Lederkastens, in dem Seife und Rasierzeug untergebracht waren, zeigte ein winziges, scharfes und farbiges Bild. Ich warf zwischen den Strichen mit dem Rasiermesser einen Blick darauf und sah, daß sich zwei Heere rüsteten. Sie zogen im Gelände aufeinander zu und schienen unentschlossen. Es war in der Gegend von MergentheimHerbsthausen. Tourenne? Werth? Mercy? Ich wußte es nicht; aber würde mich darum kümmern. Vielleicht gelang es »uns Kaiserlichen«, die Franzosen und Schweden aus dem Land zu treiben. Ich klappte den Kasten zu, als Greiff auf mich zukam, mit nacktem Oberkörper, der sich in der Maisonne langsam rötete. »Freund Greiff?« sagte ich und steckte mein Gesicht ins warme, duftende Wasser. »Was gibt es?« 380
Er deutete grinsend mit dem Daumen über seine Schulter. »Die Frau«, sagte er. »Sie ist wach.« Sein Grinsen gefiel mir nicht recht. Ich trocknete mein Gesicht ab, rieb Creme hinein und fragte: »Da ist noch etwas. Sie ist wach... und was noch?« In seine Augen kam ein unverkennbar lüsterner Ausdruck. Sein Grinsen wurde breiter und enthüllte zwei Zahnruinen. Er spie Tabaksaft in die Brennesseln und sagte leise: »Die anderen Männer schlafen. Noch schlafen sie! Wenn sie aufwachen und sehen, daß die Frau im Köhlerteich schwimmt, kannst du sie nicht mehr halten.« Er fügte hinzu, als ich aufstand und die Gegenstände verpackte. »Sie ist wirklich schön. Schlank, wo sie schlank sein soll, und fett, wo Weiber fett sein müssen.« »Deine Erfahrung, mein Geschmack und Köhlers Teich - sicher feiern wir heute ein heiteres Fest«, sagte ich und ging mit ihm zu der rußigen Hütte des alten Mannes. Wir suchten ein Handtuch aus meinem Gepäck, dann wickelten wir die requirierte Kleidung hinein; als Greiff mit mir zum Teich gehen wollte schüttelte ich mit einem breiten Grinsen den Kopf. »Das ist meine Sache, Freund Greiff!« »Du bist der Herr«, sagte er und setzte sich. Ich ging aim Wehr, setzte mich auf die feuchten Bohlen und wickelte die Seife aus dem Handtuch. Ich sagte laut: »Erschrick nicht, Mädchen - aber mit diesem grünen Stück hier gehen Schmutz und Salben besser von der Haut. Handtuch und Kleider liegen hier. Ich verstecke mich hinter einem Baum und schiele lüstern durch die Zweige.« »Du kannst ebensogut zusehen.« Sie lächelte nicht, als sie auf mich zuschwamm und sich an einem Balken festhielt, der vor dem Rechen schaukelte. »Ihr Soldaten seid alle gleich.« »Jedoch manche, Prinzessin«, sagte ich leichthin, »sind eine Spur gleicher als die anderen.« »Du, zum Beispiel, mit deinem lächerlichen Zopf?« 381
»Zugegeben, es steckt nicht an jedem Zopf auch gleich ein weiser Kopf, aber ich schätze es nur bedingt, wenn man seine Lebensretter ärgert. Bist du hungrig?« »Jetzt, wo du es sagst, merke ich es. Was ist das für ein lustiges Ding hier, Herr Soldat?« Sie griff ins Wasser und zog den Aktivator heraus. Ihr Hals war lang und schön. »Mein Eigentum«, sagte ich scharf, »ich fange es auf.« Sie warf ungeschickt, und ich machte einen gewaltigen Satz in die Nesseln hinein. Jetzt wußte ich, wie Sprichwörter entstanden; ich saß zwar nicht in den Nesseln, aber erst die Wirkung es Aktivators, den ich in mein Hemd gleiten ließ, milderte die wütenden Schmerzen an den Händen und Unterarmen. Ich ging zum Haus zurück, und wenig später kam die junge Frau. Der Henkersknecht hatte ihr Haar abgesengt, und inzwischen waren die verbrannten Stücke abgefallen. Sie sah viel zu jung aus, aber die Form des Schädels war hinreißend. Und sie hatte hellgrüne Katzenaugen, die von innen zu leuchten schienen. Ich sagte ernst: »Wir haben die Kleider aus der Siedlung mitgenommen, in der du gefoltert worden bist. Sind die Spuren verschwunden?« Sie nickte und maß mich mit einem unergründlichen Blick. »Ihr... was bedeutet dieses >ihr