Peter Dickinson
Die Kinder des Mondfalken Ko und Mana
Afrika vor 200 000 Jahren. Sechs Kinder haben sich von ihrem Sta...
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Peter Dickinson
Die Kinder des Mondfalken Ko und Mana
Afrika vor 200 000 Jahren. Sechs Kinder haben sich von ihrem Stamm, den Kindern des Mondfalken, getrennt, um auf eigene Faust neue Gute Jagdgründe zu finden. Geführt von den beiden älteren, Suth und Noli, entdecken sie, dass die Stärken, die sie den täglichen Bedrohungen entgegenzusetzen haben, in ihnen selbst liegen: ihr Erfindungsreichtum und ihre Fähigkeit, sich durch Sprache verständlich zu machen … ISBN: 3-492-26505-7 Original: The Kin Aus dem Englischen von Henning Ahrens Verlag: Piper - Carlsen Verlag GmbH Erscheinungsjahr: 2004
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Autor PETER DICKINSON wurde 1927 in Sambia geboren. Er wuchs in England auf und besuchte die Universität von Cambridge. Bevor er anfing Kriminalromane zu schreiben, arbeitete er für das Magazin PUNCH. Peter Dickinson ist Autor zahlreicher Jugendromane. Etliche seiner Bücher wurden ausgezeichnet, so mit der Carnegie Medal und dem Whitebread Award. Heute lebt Dickinson mit seiner Frau in Hampshire.
Buch Afrika vor 200 000 Jahren. Sechs Kinder haben sich von ihrem Stamm, den Kindern des Mondfalken, getrennt, um auf eigene Faust neue Gute Jagdgründe zu finden. Geführt von den beiden älteren, Suth und Noli, entdecken sie, dass die Stärken, die sie den täglichen Bedrohungen entgegenzusetzen haben, in ihnen selbst liegen: ihr Erfindungsreichtum und ihre Fähigkeit, sich durch Sprache verständlich zu machen. Die jüngeren Kinder, Ko und Mana, die in diesem zweiten Band im Mittelpunkt stehen, kennen ihren Stamm nur noch aus Erzählungen von Suth und Noli. Und dann, wie durch ein Wunder, finden die Kinder Mitglieder ihres Stammes wieder. Zur Freude über das Wiedersehen kommt die Angst, was aus ihrer Gruppe werden wird. Alle sechs müssen ihre Stellung in der Gemeinschaft finden. Sie haben sich verändert, sind reifer geworden und haben sich behauptet. Werden das die anderen Stammesmitglieder, die in ihnen noch immer die Kinder sehen, begreifen und akzeptieren können? Peter Dickinson beschreibt in seinem fesselnden Epos den Ursprung unserer Zivilisation. So könnte es gewesen sein, als die ersten Menschen angefangen haben. Gut und Böse zu unterscheiden.
Im Mittelpunkt dieses Buches stehen vier Kinder, deren Leben schicksalhaft miteinander verbunden sind. Kraft seines außergewöhnlichen Vorstellungsvermögens erschafft Dickinson eine Welt von fast visionärer Realität. Er schildert uns das Grauen und die Gewalt, die Zärtlichkeit und die Freude. Was »Die Kinder des Mondfalken« aber vor allem auszeichnet, ist die von Dickinson erdachte Mythologie. Dieses Buch ist wunderbar und mitreißend zugleich und berührt Fragen, die allumfassend sind. PHILIP PULLMAN Autor von Der Goldene Kompass und Das Magische Messer
Peter Dickinson hat aus den Mythen der Urzeit einen großen Roman gesponnen. FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
KO GESCHICHTE Für Sam und Andrew
EINS Es fiel kein Tropfen Regen. Mond um Mond um Mond blieb der Himmel von abweisendem Blau. Tagsüber brannte die Sonne. In den Nächten war es sehr kalt, nicht einmal Tau bildete sich. Die Gräser vertrockneten und brachten keine Samen hervor. In der Erde verkümmerten alle essbaren Wurzeln. Wenn es Nüsse gab, dann waren sie taub. Der Fluss schrumpfte zu einem Bach zusammen, zu einem Rinnsal, zu ein paar stinkenden Pfützen. Als auch die Pfützen verschwunden waren, floss er nur noch unterirdisch, und die Menschen waren gezwungen, Löcher zu graben, um ans Wasser zu kommen, das sie dann mühevoll mit der Hand herausschöpfen mussten. Taten sie das, dann kamen Tiere herbei, die das Wasser aus großer Entfernung gewittert hatten. Sie waren wild aufs Trinken und gleichzeitig geschwächt durch Hunger und Durst. Man konnte sie leicht erlegen, doch sie hatten kaum Fleisch auf den Knochen. Außerdem waren die Menschen nicht die einzigen Jäger. Es gab Löwen, Geparde und Rudel wilder Hunde und Hyänen. Auch sie witterten das Wasser und kamen herbei, wohl wissend, dass sie nicht nur ihren Durst löschen, sondern auch den Hunger stillen konnten. Wenn die Menschen keine Wachtposten aufstellten, wurden sie selbst zur Beute. Auch kleine Kinder konnten Wache halten. Sogar Ko, obwohl er darum bitten musste. Ko war auf einen Baum geklettert. Die Dürre hatte ihn vertrocknen lassen und er trug keine Blätter mehr, die Kos Sicht hätten versperren können. Der Baum befand sich in einiger Entfernung vom Wasserloch, so dass man laut
würde rufen müssen, wenn Gefahr drohte. Ko war zufrieden mit sich. Als die Männer sich auf die Jagd vorbereitet hatten, hatte er Suth in die Seite gestupst und geflüstert: »Suth, ich halte Wache? Ich, Ko, bitte.« Suth hatte gelächelt und mit Tun, ihrem Anführer, gesprochen, und Tun hatte einen Blick auf Ko geworfen und genickt. Also war Ko einer der beiden Wachtposten. Der zweite, Nar, befand sich auf dem gegenüberliegenden Ufer des trockenen Flussbettes. Nar war Kos heimlicher Feind. »Halt die Augen auf, Ko«, hatte Suth ihm leise gesagt. »Träum nicht.« Aber natürlich träumte Ko. Er steckte immer voller Träume. Diesmal war er der Held der Jagd. Antilopen kamen zum Wasser und die Jäger sprangen aus dem Hinterhalt hervor, doch sie hatten Pech. Irgendjemand – wahrscheinlich Net – hatte sich zu früh bewegt und die Antilopen erschraken und jagten über die Ebene davon. Die beste von ihnen, ein großer Bock mit glänzendem Fell – irgendwo musste er Gras gefunden haben, anders war es nicht zu erklären, dass er so wohlgenährt war –, lief dicht an Kos Baum vorbei und der pfiffige Ko hatte ein paar gute Steine auf den Baum geschafft und nun schleuderte er einen auf den Bock, schleuderte ihn mit tödlicher Treffsicherheit, erwischte das Tier mit voller Wucht an der Stirn, genau an der richtigen Stelle, unter dem Ohr, und … und … Ko hatte sich das Ende des Traums noch nicht genau überlegt. Würde er den Bock mit einem Streich töten? Das war wohl ein bisschen zu viel des Guten, selbst für einen Traum. Vielleicht hatte er ihn nur aus dem Gleichgewicht gebracht, so dass er vom Weg abkam, zurück – und den Jägern genau in die Arme lief …
Auf dem Weg zum Baum hielt er jedenfalls Ausschau nach guten Steinen, doch es gab keine. Der Traum musste anders verlaufen. Aber wie …? Bevor ihm etwas einfiel, hatte er den Baum erreicht. Er wuchs auf einem schräg abfallenden Stück Grundgestein und war kaum größer als ein erwachsener Mann. Die Wurzeln schlängelten sich den Felsen hinab bis zur darunter liegenden Erde. Am Fuß des Baums lag ein Felsbrocken, fast so groß wie Kos Kopf und viel zu schwer zum Werfen. Egal, einen anderen gab es nicht. Der Bock musste einfach näher herankommen, so dass er den Felsbrocken fallen lassen konnte, anstatt ihn zu werfen. Klar! Auf diese Weise könnte er ihn sogar töten … Mit großer Mühe hievte er den Brocken auf den Baum und klemmte ihn in eine Astgabel. Dann fand er einen Platz, wo er im Schatten des Stammes hocken und mit der Wache beginnen konnte. Die Zeit verging. Ko machte es nichts aus, denn er konnte sie sich mit seinem Traum vertreiben. Der Traum war gut, fast ein Wunder zwar, aber nicht ganz unwahrscheinlich, etwas, das Ko mit viel Glück tatsächlich fertig bringen könnte … In jener Nacht gäbe es natürlich ein Fest und Lob von den Jägern und ihm, Ko, würde es gestattet werden, mit seiner Tat zu prahlen, und keiner würde ihn auslachen … und Nar würde neidisch zuschauen … Irgendetwas war los! Lärm, ein Ruf, Geschrei von Männern, als sie sich auf die Beute stürzten. Ko brachte sich in eine Position, von der aus er in Richtung des Flusses blicken konnte, sah aber nichts. Die Rufe kamen aus dem trockenen, für ihn nicht einsehbaren Flussbett. Die Beute musste also von Nars Seite
gekommen sein, und er, Ko, hatte nichts gesehen, nichts, gar nichts … Sein Bock würde jetzt bestimmt ausbrechen und auf ihn zurasen … Nein. Er wandte sich wieder um und starrte sehnsüchtig auf die Ebene. Vielleicht passierte es doch noch … Bis zum Horizont rührte sich nichts in der ausgedörrten und bedrückend leeren Landschaft, die vom schräg einfallenden Licht der späten Nachmittagssonne erhellt wurde. Doch, da! Eine Bewegung, über die sein Blick hinweggeglitten war. Warum hatte er das nicht früher bemerkt? Weil das, was sich bewegte, fast die gleiche Farbe hatte wie die gelbbraune Ebene. Die löwenfarbene Ebene hatte die Löwen getarnt. Hätten sich ihre Schatten nicht bewegt, dann hätte er sie völlig übersehen. Sie trotteten auf den Fluss zu. Drei Löwinnen und zwei Junge. Sehr gefährlich. Eine Löwin, die Junge ernähren muss, schreckt vor nichts zurück. Ko wandte sich dem Fluss zu, legte die Hände um den Mund und stieß den auf- und abschwellenden, weithin hörbaren Ruf aus, der Gefahr! signalisierte. Alle benutzten und verstanden ihn, sowohl die Mondfalken als auch die anderen Angehörigen der alten Stämme, die sich mit Worten verständigen konnten, ja selbst die Stachelschweine, die keine Wörter kannten. Niemand hörte ihn. Die Jäger machten zu viel Lärm. Ein paar kleine Hirsche erklommen die jenseitige Flussböschung und jagten auf der Ebene davon. Er schrie noch einmal, lauter als beim ersten Mal. Er sah,
wie die Löwen innehielten. Ihre Köpfe wandten sich in seine Richtung. Sein Herz schlug schneller. Löwen konnten auf Bäume klettern. Er sah sich nach einem Ast um, auf dem er außer Reichweite der Löwen wäre. Doch die Raubtiere trotteten weiter auf den Fluss zu. Ko wartete, bis der Lärm abschwoll, und schrie wieder: Gefahr! Diesmal hörte ihn jemand. Ein Mann tauchte aus dem Flussbett auf. Die Löwen waren ihm inzwischen näher als Ko und er sah sie sofort. Er wandte sich um und rief den Männern im Flussbett etwas zu. Einige erkletterten die jenseitige Flussböschung und drei von ihnen trugen Hirschkadaver auf den Schultern. Unter dem Gewicht stolpernd liefen sie davon, während die anderen als Nachhut folgten und beim Laufen Blicke zurück über ihre Schultern warfen. Das konnten nicht alle sein. Nein. Als die ersten zwei Löwen im Flussbett verschwanden, erkletterten weitere Männer die jenseitige Böschung. Jeder von ihnen trug einen Arm voller Steine und hatte die andere Hand frei zum Werfen. Sie stellten sich in einer Reihe auf, bereit, die Löwen abzuwehren, wenn sie einen Angriff versuchen sollten. Einen Augenblick später erschienen links von Ko, ein Stück weiter den Fluss hinauf, zwei Männer und rannten auf ihn zu. Er erkannte Suth und Kern und seufzte erleichtert. Sie kamen, um nachzuschauen, ob mit ihm alles in Ordnung war. Er mochte vielleicht davon träumen, auf eigene Faust und allein in der gefährlichen Nacht zum Lagerplatz zurückzukehren, im Grunde seines Herzens aber wollte er es nicht wirklich. Die Löwin und ihre Jungen waren den anderen noch nicht hinab ins Flussbett gefolgt. Auch sie sah, wie die
Männer auf den Baum zuliefen, wandte sich sofort um und setzte ihnen eilig nach. Die Jungen folgten ihr. Ko schrie und wies auf die Löwen. Die Männer warfen einen Blick über ihre Schultern und liefen so schnell sie konnten in Richtung des Baumes. Die Löwin beschleunigte ebenfalls und holte immer weiter auf. Ko kletterte um den Stamm herum zu der Stelle, wo er seinen Felsbrocken eingeklemmt hatte, wuchtete ihn hoch und legte ihn auf Brusthöhe auf einem Ast ab. Vielleicht konnte er doch noch etwas tun. Sein Herz hämmerte. Dies war kein Traum. Suth war schneller als Kern. Er erreichte den großen Felsen, auf dem der Baum stand, kletterte hinauf und wandte sich dann um, um Kern zu helfen. Kern hatte den Felsen fast erreicht, als er sich umschaute. Dabei verfing sich sein Fuß und er stolperte und fiel. Sofort war er wieder auf den Beinen, aber die Löwin war ihm dicht auf den Fersen. Suth schrie und schleuderte seinen Grabstock. Die Spitze traf die Löwin an der rechten Schulter, unter dem Hals. Es war ein guter und kräftiger Wurf, der sie zusammenzucken und einen Augenblick lang innehalten ließ. Kern erreichte den Felsen, hatte aber keine Zeit mehr, ihn zu erklettern. Verzweifelt presste er seinen Rücken an den Stein und hob seinen Grabstock, um einen letzten Schlag zu führen. Hoffnungslos. Es war eine Löwin, die zwei Junge ernähren musste. Ko suchte auf dem schrägen Ast verzweifelt nach einem Halt für die Füße. Mit zwei Händen wuchtete er den Stein hoch über seinen Kopf. Er konnte ihn unmöglich weit genug schleudern. Vielleicht, wenn die Löwin sprang … Er spannte die Muskeln an, tastete nach einem besseren Halt – und rutschte aus.
Er griff nach dem Ast und der Felsbrocken entglitt ihm. Er sah, wie er völlig nutzlos senkrecht nach unten stürzte. Er verfehlte Suth um Haaresbreite, krachte genau auf die Kante des Felsens, schoss nach vorne und prallte der Löwin mitten im Sprung ins Gesicht. Die Löwin wurde fast von den Beinen gerissen und gegen den Felsen geschleudert, kam aber stolpernd wieder auf die Tatzen und schüttelte den Kopf, während ihr Blut aus Nase und Maul strömte. Suth schrie, half Kern auf den Felsen und gemeinsam kletterten sie auf den Baum. Die Löwin taumelte noch immer und versuchte sich das Blut aus den Augen und vom Gesicht zu schütteln, und nach einer Weile hatte sie sich so weit erholt, um innehalten und die drei Menschen auf dem Baum mustern zu können. Sie und ihre Jungen waren bis auf die Knochen abgemagert. Unter dem Fell zeichnete sich jede Rippe deutlich ab. Wenn sie nicht bald Beute machte, würden alle drei umkommen. Ko, Suth und Kern sahen ihr dabei zu, wie sie zu entscheiden versuchte, ob sie ihnen hinterherklettern sollte oder nicht. Schließlich wandte sie sich um und trottete mit schleppendem Gang, gefolgt von ihren Jungen, in Richtung Fluss davon. Sie warteten, bis die Löwen im Flussbett verschwanden, kletterten dann vom Baum und liefen zunächst in die entgegengesetzte Richtung, bevor sie sich auf den Weg zum Felsbuckel machten, wo sie lagerten. Sie schlugen einen großen Bogen um jede Deckung, hinter der sich weitere Löwen verbergen konnten. Als sie schließlich den Felsbuckel erreichten, warfen sie Schatten, die viele Male zehn Schritte lang waren.
»Ko«, sagte Suth, als sie fast am Ziel waren, »heute Abend berichte ich dem Stamm von deiner Tat. Ich, Suth, lobe dich.« »Auch ich, Kern, lobe dich«, sagte Kern. »Ich lobe und danke.« Solange Ko zurückdenken konnte, hatte er sich sehnlichst gewünscht, diese Worte zu hören, und ganz besonders aus dem Mund von Suth. Warum also bereiteten sie ihm Unbehagen, da sie nun endlich ausgesprochen worden waren? Das verstand er nicht. »Der Felsbrocken war groß«, sagte Kern voller Erstaunen. »Er war hoch oben im Baum. Wie kommt das?« Suth blickte zu Ko. »Ich … ich weiß nicht«, sagte Ko. »Ich fand ihn dort.« Er wusste, dass Suth seine Träume vor langer Zeit schon erraten hatte, aber vor Kern würde Ko kein Wort darüber verlieren. »Das war Glück, Glück«, sagte Kern. Suth blickte noch immer auf Ko. »Glück ist gut, Ko«, sagte er.
URSAGE
Die Töchter von Dat Dat gehörte zum Stamm von Papagei. Er hatte zwei kleine Töchter und ihre Namen lauteten Gata und Falu. Ihre Mutter, Pahi, war von einem roten Skorpion gebissen worden. Sie war auf der Ragala-Niederung gebissen worden. Dort war sie gestorben. Dat sagte zu seinen Töchtern: »Ich habe keine Gefährtin. Wer stampft nun Grassamen für mich? Wer rührt Weichwurzelbrei an? Das ist Frauensache.« Falu sagte: »Wir, deine Töchter, machen es, mein Vater.« Gata sagte nichts. Dat sagte: »Eines Tages kommen Männer, von Warzenschwein und von Webervogel. Sie sagen: ›Gata, Falu, wir erwählen euch zu unseren Gefährtinnen. Erwählt auch ihr uns?‹ Was antwortet ihr ihnen dann?« Falu sagte: »Geht zu Dat, unserem Vater. Fragt ihn.« Dat sagte: »Wollt ihr mir das versprechen, meine Töchter?«
Falu sagte. »Wir wollen es dir versprechen, mein Vater.« Gata sagte nichts. Also verrichteten Gata und Falu die Frauenarbeiten für Dat, ihren Vater. Sie stampften seine Grassamen und rührten seinen Weichwurzelbrei an. Er war glücklich. Viele Male zehn Monde verstrichen und wieder viele Male zehn Monde und Gata war fast eine Frau. Der Stamm von Papagei hatte sein Lager am Stinkwasser aufgeschlagen und auch der Stamm von Schlange war dort. Gata sah einen jungen Mann, groß und stark. Sein Name war Nal. Sie sagte zu Falu: »Bald bin ich eine Frau. Ich erwähle Nal zu meinem Gefährten.« Falu sagte: »Das ist nicht gut. Du bist vom Stamm von Papagei, meine Schwester. Nal ist Schlange.« Gata sagte: »Das sind nur Wörter. Ich, Gata, erwähle Nal zu meinem Gefährten. Ich erwähle keinen anderen Mann.« Gata wurde zur Frau. Sie war sehr schön. Männer kamen zu ihr, von Warzenschwein und von Webervogel, und sagten: »Gata, wir erwählen dich als unsere Gefährtin. Erwähle einen von uns. Welchen erwählst du?« Gata sagte: »Dat, mein Vater, erwählt für mich. Fragt ihn.« Gata flüsterte ihrem Vater ins Ohr: »Erwähle keinen dieser Männer, mein Vater. Ich, Gata, bitte.« Dat sagte zu den Männern: »Ich erwähle keinen von euch.« Es freute ihn, dies sagen zu können. Er wollte nicht, dass Gata ihn verließ. Ein neuer Mann kam von Webervogel. Sein Name war Tov. Er war klein, aber schlau und er hatte einen
lachenden Mund. Falu sah ihn. Sie war noch ein Kind, erst halb erwachsen, aber ihr Herz sang für ihn. Tov hatte nur Augen für Gata. Er kam und kam zu Dat und sagte immer wieder: »Gib mir Gata als Gefährtin.« Dat sagte zu seinen Töchtern: »Dieser Mann kommt und kommt. Was soll ich ihm sagen?« Gata sagte: »Sage dies zu ihm, mein Vater: Zuerst machst du mir ein Geschenk.« Dat sagte: »Welches Geschenk soll ich von ihm verlangen?« Gata sagte: »Sage dies zu ihm, mein Vater. Bring mir einen Zahn der Schlange Fododo, des Vaters aller Schlangen. Bring mir den Giftzahn.« Dat sagte: »Das ist eine schwere Bitte. Tov kann sie nicht erfüllen.« Gata sagte: »Du hast Recht, mein Vater. Tov kann sie nicht erfüllen.« Sie lachte und Dat stimmte in ihr Lachen ein. Tov kam noch einmal zu Dat. Falu sah ihn und folgte ihm. Sie verbarg sich im hohen Gras und lauschte ihrem Gespräch. Tov sagte: »Gib mir Gata als Gefährtin.« Dat sagte: »Zuerst machst du mir ein Geschenk. Du bringst mir einen Zahn der Schlange Fododo, des Vaters aller Schlangen. Du bringst mir den Giftzahn.« Tov lachte. Er sagte: »Das ist eine schwere Bitte. Aber für Gata tue ich es.«
ZWEI Einen Vorteil jedoch hatte die Dürre – es war einfach, Brennholz zu finden. Die meisten Bäume und Büsche waren verdorrt. Die glühend heiße Sonne hatte sie vertrocknet und ihre Äste ließen sich leicht abbrechen und fingen beim ersten Funken Feuer. In jener Nacht saßen die Menschen rund um zwei Feuer, die sie auf der Kuppe des Felsbuckels entfacht hatten, auf dem sie lagerten. Es war Vollmond und der Stamm bestand fast nur aus Mondfalken, also hielten sie ein Festmahl. Es war kein besonders üppiges Mahl. Sie hatten drei verhungerte Hirsche und ein paar kleine Tiere erlegt oder in Fallen erbeutet, außerdem einige Eidechsen und Schlangen, vertrocknete Wurzeln, einige Hand voll Maden und Sauergras, dessen Blätter man gut zerkauen, aber nicht hinunterschlucken konnte, ohne fast daran zu ersticken. Das war alles. Immerhin hatten sie während des Tages hier und da ein wenig zu sich genommen und jetzt bekam jeder drei Mund voll Essen, so dass sie zwar noch hungrig waren, aber nicht verhungerten. Der Stamm – Ko und die Mondfalken und die Überlebenden der anderen Stämme, die sich bis zu den Neuen Guten Jagdgründen durchgeschlagen und sich ihnen angeschlossen hatten – saß rund um eines der Feuer und die Stachelschweine um das andere. Das war kein Zeichen für eine Verstimmung. Sie verstanden sich gut und waren aneinander gewöhnt. Vor der Dürre waren sie für gewöhnlich getrennt umhergezogen, doch wenn sie sich begegnet waren, hatten sie einander freudig begrüßt. Nun, da das letzte Wasser des Flusses verschwand, folgten sie gemeinsam seinem Lauf.
Sie hatten keine andere Wahl. Sie waren so weit vorgedrungen wie noch nie zuvor, und vor ihnen, im Norden, lag ein riesiges Sumpfgebiet, das ihnen den Weg versperrte. Ko hatte mitbekommen, dass sich die Erwachsenen fragten, was sie tun sollten, wenn sie es erreichten. Zumindest aber musste es dort ausreichend Wasser geben. Es gab eine einfache Erklärung für die Tatsache, dass der Stamm und die Stachelschweine abends an getrennten Feuern saßen. Die Stachelschweine hatten keine Sprache. Sie berührten und streichelten einander öfter als der Stamm und benutzten eine Vielzahl verschiedener Laute – Warnungen oder Befehle, Begrüßungen und so fort –, aber sie konnten über keine Angelegenheit so reden wie der Stamm. Sie konnten weder schwatzen noch streiten, weder loben noch prahlen und sie konnten auch keine Ursagen erzählen und ihnen zuhören, wie es die Mondfalken abends gerne taten. Tor war als Einziger von den Stachelschweinen bei den Mondfalken geblieben, denn er gehörte jetzt zu ihrem Stamm. Als Suth, Noli und Tinu ihn damals gerettet hatten und Tinu seinen gebrochenen Arm geschient hatte, hatten sie ihm einen Namen gegeben und ihn in den Stamm aufgenommen und jetzt war er Nolis Gefährte. Ko erinnerte sich nicht mehr an die Rettung. Für ihn war Tor immer da gewesen, sanft und freundlich, mit seinem merkwürdig geformten Arm, der krumm zusammengewachsen, doch immer noch so kräftig war wie zuvor. Sie aßen das wenige, was es gab, auf, reichten aber weiterhin die blanken Knochen herum, um abwechselnd daran zu lutschen und zu nagen. Währenddessen erhoben sich die Männer und prahlten mit ihren Taten bei der Jagd. Suth war der Jüngste unter ihnen, also war er als Letzter
an der Reihe. Er stand auf, hob die Hand, um um Ruhe zu bitten, und blickte zu Tun, der ihm zunickte. Obwohl Suth der Jüngste war, hörte jeder zu, wenn er sprach. Sie hielten viel von ihm. Er war noch ein Kind gewesen, als er allein mit einem Leoparden gekämpft und ihn getötet hatte. Das war eine große Tat, die Tat eines Helden. Auf seiner linken Schulter waren noch immer die Narben zu sehen, die die Krallen des Leoparden geschlagen hatten, und auch auf der Wange war eine kleine Narbe zurückgeblieben. Die anderen Männer hatten Männernarben auf beiden Wangen, die, anlässlich ihrer Mannwerdung, vom Anführer ihres Stammes bei einem besonderen Fest hineingeschnitten worden waren. Suth hatte nur die Narbe, die der Leopard ihm beigebracht hatte. Sie reichte. »Ich, Suth, lobe«, begann er. »Ich lobe den Jungen Ko. Wir jagten. Ko hielt Wache auf einem Baum. Drei Löwen kamen …« Langsam erzählte er die Geschichte – wie er und Kern vor der Löwin geflohen waren und wie sie Kern fast erwischt hätte, dass aber Ko, oben im Baum, einen großen Felsbrocken geworfen (Suth sagte nicht »fallen gelassen« – er sagte »geworfen«) und es geschafft habe, die Löwin so lange außer Gefecht zu setzen, bis die zwei Männer den Baum erklettern und sich in Sicherheit bringen konnten. Suth hielt inne und setzte sich. Ko, der bei den Frauen und Kindern auf der anderen Seite des Feuers, gegenüber den Männern saß, wurde bewusst, dass alle ihn anschauten. Noli, die neben ihm hockte, stupste ihn sanft mit dem Ellbogen. Er stand auf, hob den Arm und sah Tun an. Tun nickte ernst. Es wurde still. Ko versuchte zu sprechen und seine Tat zu rühmen. Dies war ein Augenblick, von dem er immer wieder geträumt hatte, obwohl Jungen normalerweise nie die Gelegenheit
erhielten, auf diese Art vor den Erwachsenen zu prahlen. Untereinander taten sie das natürlich ständig. In seinem Traum waren Ko die Worte stolz und flüssig über die Lippen gekommen. Nicht so jetzt. Was immer auch Suth sagen mochte – er wusste, dass er nicht der Held seiner Träume gewesen war, der die Sache schlau und tapfer zum Guten gewendet hatte. Ja, vielleicht hatte er Kern das Leben gerettet, aber es war nur ein Zufall gewesen. Er schluckte und schaffte es zu sprechen. »Ich, Ko, habe das getan. Ja. Ich tat es. Suth sagte es. Es ist wahr. Ich … ich … hatte Glück, Glück.« Er setzte sich wieder und weinte fast, weil er sich für seine ungeschickten Worte schämte. Alle lachten. Am liebsten wäre er weggelaufen, weit in die dunkle Nacht hinein. Er fühlte, wie Nolis Arm um seine Schultern glitt. »Ko, warum versteckst du dein Gesicht?«, flüsterte sie. »Du machst es gut, gut. Suth lobt dich.« »Sie lachen über mich«, murmelte er. »Sie lachen über meine dummen Worte.« »Nein, Ko«, sagte sie. »Deine Worte sind gut. Sie freuen sich für dich. Sie lachen. Hör doch. Jetzt lachen sie über Kern. Es ist anders.« Das stimmte. Die Stimmen der Männer hatten einen neuen Klang, als sie sich über Kern lustig machten, der sich fast von der Löwin hatte erwischen lassen und von einem Jungen gerettet werden musste. »Du bist es, Kern, du hast Glück gehabt«, sagten sie. »Das ist wahr«, sagte Kern fröhlich. Ko fühlte sich besser, aber er blieb, wo er war, und lehnte sich weiter an Noli, die begriff, was er brauchte, und ihn weiter tröstend im Arm hielt. Noli war nicht Kos Mutter – dazu war sie viel zu jung. Es lag erst acht Monde
zurück, dass sie und Tor einander als Gefährten erwählt hatten, und jetzt war ihr Bauch dick vom Kind, das darin war. Aber sie hatte die Rolle einer Mutter für Ko, Mana und ihren eigenen kleinen Bruder Tan gespielt, seit ihre wirklichen Eltern getötet oder verschleppt worden waren, damals, als blutrünstige Fremde die Mondfalken angegriffen und sie aus ihren Alten Guten Jagdgründen vertrieben hatten. Ko konnte sich an all das nicht erinnern. Ihm waren nur Bruchstücke aus der Zeit kurz danach im Gedächtnis geblieben, als sie alle sechs – Suth, Noli, Tinu, er selbst, Mana und Tan, der damals Otan hieß, weil er noch ein Baby war – eine Weile beim Stamm von Affe gelebt hatten, in einem verborgenen Tal auf der Spitze eines Berges. Er wusste, dass der Berg explodiert war. Es war ihm erzählt worden, aber er konnte sich nur daran erinnern, im Dunkel verzweifelt einen felsigen Hang hinaufgelaufen zu sein und sich, wie ihm befohlen worden war, an jemanden geklammert zu haben, während Steine rings um ihn herum vom Himmel regneten und unten eine gewaltige, heiße, orangefarbene Masse dröhnte. An die nachfolgenden Ereignisse, etwa die Begegnung mit den Stachelschweinen, erinnerte er sich kaum – Suth hatte erzählt, dass sie irgendwo in einer Schlucht stattgefunden habe –, auch nicht daran, dass sie die Neuen Guten Jagdgründe erreicht und Tun, Kern und Chogi und den Rest der Mondfalken gefunden hatten. Alles, an das sich Ko wirklich erinnerte, war das Leben in den Neuen Guten Jagdgründen, gemeinsam mit den Menschen, die jetzt um die zwei Feuer versammelt waren. Doch noch immer betrachtete er die fünf, die jene Dinge getan hatten, von denen ihm erzählt worden war, als seine Familie. Suth war der Vater und Noli die Mutter, obwohl Suth der Gefährte von Bodu war und sie ihr eigenes Baby
hatten, Ogad, einen Sohn, und Nolis Baby im Laufe des nächsten Mondes geboren werden würde. Tinu war eine große Schwester, vielleicht auch eine Tante, selbst wenn sie noch keine Frau war. Und Mana war Kos jüngere Schwester und Tan sein kleiner Bruder, obwohl sie in Wirklichkeit alle verschiedene Eltern hatten. Ko fühlte sich diesen fünf also näher als jedem anderen auf dem Felsbuckel. Und jetzt saß er zwischen Noli und Mana, und Tinu saß zur anderen Seite Nolis. Tan lief zwischen den Feuern umher und spielte Fangen mit ein paar kleinen Jungen von Mondfalke und Stachelschwein. Um Fangen zu spielen, brauchte man keine Wörter. Während die Männer noch immer Kern aufzogen, stand Chogi auf, ging zur anderen Seite des Feuers und stellte sich vor Tun. Sie beugte die Knie, senkte kurz ihren Kopf und führte mit den Fingern eine flatternde Bewegung in der Luft aus. Chogi war die älteste Frau. Niemand erwartete von ihr, dass sie sich hinkniete und mit den Händen vor dem Anführer auf den Boden schlug, wie es eine junge Frau getan hätte. »Chogi, wir hören«, sagte Tun. Chogi senkte wieder den Kopf und ging langsam zur Lücke zwischen der Seite der Männer und jener der Frauen, damit jeder sie sehen und hören konnte. Offenbar hatte sie etwas Wichtiges zu sagen. Sie war eine kleine Frau mit runzligem Gesicht. Ko hatte sie niemals lachen sehen. Er konnte sich daran erinnern, dass sie ziemlich dick gewesen war, aber jetzt war sie durch den Hunger genauso abgemagert wie alle anderen. Ihre Hauptsorge galt der Einhaltung der alten Riten, Dingen, die mit Geburt und Gefährtenwahl und mit jenen Zeremonien zu tun hatten, die vollzogen wurden, wenn Babys zu Kleinkindern wurden oder Kleinkinder zu
Kindern oder Kinder zu Frauen und Männern. Ko fand derartige Angelegenheiten furchtbar langweilig, also hörte er Chogi nicht zu, sondern träumte noch einmal davon, seine Tat zu rühmen, wobei er, Ko, jene Worte sagte, die er eigentlich hatte sagen wollen. Und da er einmal dabei war, veränderte er das eigentliche Abenteuer gleich dahin gehend, dass er auf seinem Weg zum Baum ein paar richtig gute Steine zum Werfen gefunden hatte … Irgendetwas passierte. Die Männer hatten aufgehört miteinander zu tuscheln, wie sie es üblicherweise taten, wenn Frauen-Dinge besprochen wurden. Ko tauchte aus seinem Traum auf und lauschte. » … Der Mond ist groß«, sagte Chogi. »Wir feiern. Das ist gut. Dies ist eine fröhliche Zeit. Aber jetzt gehen wir zu neuen Orten, gefährlich, gefährlich. Finden wir Nahrung? Feiern wir wieder? Wann kommt die nächste fröhliche Zeit? Ich weiß es nicht. Also sage ich, Chogi, dies. Jetzt sind wir fröhlich. An diesem Ort. Ich sehe Nar. Ich sehe Tinu. Bald ist Nar ein Mann. Bald ist Tinu eine Frau. Bald erwählen sie Gefährten. Nar erwählt Tinu. Es gibt keine andere Frau. Tinu erwählt Nar. Es gibt keinen anderen Mann. Sie bestreichen ihre Stirnen mit Salz. Das ist gut. Das ist eine fröhliche Zeit. Also sage ich, Chogi, sie warten nicht damit. Sie tun es jetzt. Ich, Chogi, sage das.« Sie hielt inne, blieb aber, wo sie war, während der Feuerschein über ihr altes, zerfurchtes Gesicht zuckte und der Mond, auf halbem Weg den Himmel hinauf, hinter ihrem Rücken stand. Alle schienen vor Erstaunen kein Wort herausbringen zu können. Selbst Ko begriff, dass das, was Chogi vorschlug, einen Bruch der Riten bedeutete. Als Suth und Bodu einander erwählt hatten, war niemand erstaunt gewesen. Sie hatten keine andere Wahlmöglichkeit gehabt und außerdem gehörte Bodu zum Stamm von Kleiner Fledermaus, einem der beiden
Stämme, aus denen die Mondfalken ihre Gefährtinnen hatten aussuchen dürfen. Trotzdem hatten beide gewartet, bis sie die üblichen Riten der Mann- und Frauwerdung hinter sich gebracht hatten. Dann, bei einem Vollmondfest, hatte sich jeder von ihnen auf seiner Seite des Feuers erhoben und war zum Platz gegangen, wo Chogi nun stand. Sie hatten die Handflächen aneinander gelegt, die Worte der Gefährtenwahl gesprochen und ihre Stirnen mit Salz bestrichen, genau wie es Nal und Turka vor langer, langer Zeit, bei der allerersten Gefährtenwahl auf den Salzpfannen hinter Lusan-wo-die-Ameisen-wohnen, getan hatten – einem der Alten Guten Jagdgründe, die niemand von ihnen je wieder sehen würde. Plötzlich brach ein allgemeines Geplapper los. Alle sprachen über Chogis Vorschlag. Selbst die Männer redeten mit. Es ging nicht nur darum, dass Nar und Tinu einander erwählten, bevor sie Mann und Frau waren. Nar war vom Stamm von Affe. Er und Zara, seine Mutter, waren irgendwie davongekommen, als der Berg, auf dem der Stamm von Affe gelebt hatte, explodiert war. Es waren noch andere bei ihnen, aber alle waren umgekommen, als sie durch die Wüste geirrt waren. Nur Zara war mit Nar, ihrem kleinen Sohn, durchgekommen, hatte schließlich die Neuen Guten Jagdgründe erreicht und war zu den Mondfalken gestoßen. Jetzt waren sie die letzten Mitglieder ihres Stammes, und niemand wusste, aus welchen Stämmen Affe sich Gefährten erwählen durfte. Die Erwachsenen nahmen derartige Angelegenheiten sehr ernst, obwohl es, wenn Ko es richtig sah, im Grunde keinen Sinn mehr machte. Wen sollte er erwählen, wenn es so weit wäre? Die einzigen Mädchen im passenden Alter waren Mana, vom Stamm von Mondfalke (was Chogi ganz und gar nicht passen würde), und Sibi, die fast
noch ein Kleinkind und außerdem vom Stamm von Papagei war, und den Mondfalken war es verboten, sich Gefährten aus diesem Stamm zu erwählen – zumal Sibi mehr als deutlich machte, dass sie Ko für einen Dummkopf hielt. Ko beugte sich vor, um zu sehen, wie Tinu Chogis Vorschlag aufnahm, aber sie hatte sich im Schatten von Noli verkrochen und bedeckte das Gesicht mit den Händen – wegen ihres eigenartig schiefen Mundes versteckte sie sich jedes Mal, wenn irgendjemand die Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Ko hoffte, dass sie den Vorschlag ablehnen würde. Er wollte nicht, dass Nar ein Mitglied seiner Familie wurde, wie Tor und Bodu es bereits waren. Eigentlich gab es keinen guten Grund für Ko, Nar zu seinem Feind zu erklären. Schließlich war Nar bloß ein Junge, ein bisschen älter als Ko selbst. Vielleicht hätten sie Freunde sein sollen. Im Stamm gab es keine weiteren Jungen in ihrem Alter. Nar war größer und stärker als Ko, aber das lag nur daran, dass er älter war – er war weder ein Angeber noch ein Schläger. Die anderen schienen ihn zu mögen, aber das machte die Sache bloß noch schlimmer. Der eigentliche Grund für Kos Abneigung gegen Nar war dessen Lächeln. Nar lächelte oft, so gut wie jedes Mal, wenn jemand mit ihm sprach, und immer wenn Ko mit etwas geprahlt hatte – behauptet hatte, etwas getan zu haben, was in Wirklichkeit gar nicht geschehen war, oder verkündete, etwas tun zu wollen, wo doch jeder wusste, dass er es nicht konnte –, hatte Nar jedes Mal gelächelt und ihn einen Moment lang mit einem Blick angeschaut, der zu sagen schien: »Ich bin fast ein Mann und du bist nichts als ein dummer kleiner Junge …« Ko stand auf und tat so, als müsse er sich recken und gähnen, in Wirklichkeit aber wollte er einen Blick auf Nar erhaschen, um dessen Reaktion zu sehen. Er konnte ihn
nicht entdecken. Wo steckte er? Ah, das musste er sein, gleich hinter Zara, aber Ko konnte sein Gesicht nicht erkennen. Zara sagte etwas zu ihm. Er musste geantwortet haben, denn sie schüttelte ihren Kopf und gestikulierte heftig mit der linken Hand, als wolle sie den ganzen Vorschlag wegwischen. Gut – Zara hielt auch nichts davon. Ko konnte sich nicht vorstellen, dass Tinu sich Nar wirklich zum Gefährten wünschte. Chogi war bloß eine dumme alte Frau. Warum stand Tun nicht auf, um das zu sagen …? Als er sich wieder niederließ, bemerkte Ko, dass neben ihm irgendetwas mit Noli vorging. Sie zitterte und atmete langsam und tief. Dann erstarrte ihr Körper. Ihre Augen standen offen, die Augäpfel waren so weit hinaufgerollt, dass er unter den aufgerissenen Lidern nur das Weiße sehen konnte. In ihren Mundwinkeln sammelte sich Schaum. Ko erschrak nicht. Er wusste, was vor sich ging, und war vorbereitet, als Noli einen noch tieferen Atemzug nahm und plötzlich aufsprang. Sie stand nicht umständlich auf wie sonst, wenn das Baby in ihrem Bauch sie aus dem Gleichgewicht brachte. Diesmal schien es eher so zu sein, dass irgendetwas sie packte und in die Höhe riss. Alle hörten auf zu reden und sahen sie an. Keinem war dieses Ereignis fremd. Sie warteten schweigend. Sie hob die Arme und stand eine Weile da, starr wie ein Baum. Dann ertönte eine Stimme aus ihr, die nicht ihre eigene und weder die eines Mannes noch einer Frau war, sondern eine volle, sanfte Stimme wie das Echo in einer Höhle, die Stimme von Mondfalke, dem Ersten Wesen. »Wartet«, sagte die Stimme. »Es ist nicht an der Zeit.« Als die Stimme in der Nacht verklang, fiel Noli in sich zusammen. Das passierte manchmal, also kniete Ko schon,
um sie auffangen zu können, aber sie fiel in die andere Richtung, in Tinus Arme, und jetzt, im Feuerschein, konnte Ko Tinus Gesicht erkennen. Ihr schiefer Mund stand offen, und ihr Kiefer mahlte und klappte auf und zu, als würde etwas darin stecken. Ihre Wangen waren tränenüberströmt. Auch Mana hatte es bemerkt. Als Ko geholfen hatte, Noli auf die Felsen zu legen, kniete sie schon an Tinus anderer Seite, umarmte sie und presste sie an sich. Tinu kauerte sich neben der schlafenden Noli zusammen, bitterlich schluchzend, den Kopf in den Händen. Ko drehte sich um, damit er sie von der anderen Seite umarmen konnte. »Weine nicht, Tinu«, bat er sie. »Warum weinst du?« Mana zog ein Gesicht, das ihm sagte, er solle den Mund halten, aber Tinu antwortete murmelnd, die Wörter zwischen die Schluchzer quetschend. »Kein Mann … erwählt … Tinu … Kein Mann … niemals.« Ko, der sie verzweifelt trösten wollte, sagte das Erste, was ihm durch den Kopf ging. »Ich finde einen Gefährten für dich, Tinu. Ich, Ko, tue das.« Sie nahm die Hände von ihrem Gesicht, sah ihn an und er konnte erkennen, dass sie zu lächeln versuchte. Aber noch immer flossen die Tränen. Hinter Tinus Schulter runzelte Mana die Stirn und schüttelte den Kopf. Er seufzte, zog sich wieder hinter die andere Seite der schlafenden Noli zurück und saß da, das Kinn auf die Fäuste gestützt und in die zuckenden Flammen starrend, die über dem Gluthaufen tanzten. Hatte er etwas Falsches gesagt? Was hatte Tinu damit
gemeint, dass niemand sie je zur Gefährtin erwählen würde? Mit Tinu war doch alles in Ordnung, alles, was wichtig war. Ihr schiefes, verzerrtes Gesicht war anders als das anderer Menschen und sie konnte nicht richtig sprechen. Aber sie war ja nicht unfähig dazu – man musste sich bloß an die nuschelnde Art gewöhnen, in der sie sprach. Und sie war schlau und geschickt. Manchmal hatte sie Ideen, wie etwas anders und besser gemacht werden konnte, Ideen, auf die niemand sonst kam. Jedenfalls, sagte er zu sich selbst, sobald sie eine Frau wäre, würde irgendein Mann sie als Gefährtin erwählen. Aber welcher? Außer Nar gab es keinen, da hatte Chogi Recht, und Nar vergaß man besser. Er, Ko, würde schon jemanden finden.
URSAGE
Falus Gebet Falu sagte zu Gata: »Bleib bei meinem Vater. Stampfe Grassamen. Rühre Rotwurzelbrei an.« Gata sagte: »Meine Schwester, wohin willst du?« Falu sagte: »Ich folge Tov. Er sucht nach dem Zahn von Fododo, dem Vater aller Schlangen. Tov ist klug. Vielleicht holt er den Zahn. Aber ich stelle Fallen auf seinem Weg. Ich führe ihn in die Irre.« Gata sagte: »Meine Schwester, das ist gut.« Zuerst ging Falu nach Dindijji, dem Ort der Staubigen Bäume. Unterwegs sammelte sie Nüsse. Sie grub Weichwurzeln aus, zerkaute sie und spuckte die zerkauten Wurzeln in ihre Kürbisflasche. Sie erreichte Dindijji. Sie machte Brei aus den zerkauten Wurzeln und verteilte ihn auf einem Stein, der in der Sonne lag. Bald war der Brei sehr klebrig. Sie schmierte ihn auf die Äste der Staubigen Bäume und steckte die Nüsse hinein. Papageien kamen, um die Nüsse zu essen, die kleinen grauen Papageien mit den gelben Schwanzfedern.
Auch sie klebten am Brei fest. Falu fing sie. Jedem zog sie eine gelbe Schwanzfeder aus. Sie gab ihnen die Nüsse und ließ sie frei. Sie sagte: »Kleine graue Papageien, fliegt zum Ersten Wesen. Sagt ihm, Falu ist unsere Freundin. Sie schenkt uns Nüsse.« Sie steckte sich die Federn an ihr Gesäß, die gelben Schwanzfedern. Sie rollte sich unter den Bäumen auf der Erde und schüttete sich ihren Staub über den Kopf, den grauen Staub. Sie sagte: »Jetzt bin ich ein Papagei, ein kleiner grauer Papagei mit gelben Schwanzfedern.« Bei Anbruch der Nacht kletterte sie auf einen Baum. Sie kletterte bis in die Spitze. Die kleinen grauen Papageien kamen und ließen sich rings um sie nieder. Bei Sonnenaufgang erwachten sie, flogen hierhin und dorthin und sangen. Es war die Zeit der Papageien. Auch Falu sang. Sie sang diese Worte: Papagei, Erstes Wesen, ich bin dein Küken. Du beschützt mich. Du bringst mir süße Früchte. Gib mir Tov als Gefährten. Falu blieb fünf Nächte auf dem Baum, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Jeden Morgen sang sie zusammen mit den Papageien. In der sechsten Nacht wickelte sie sich in die Rinde von Tingin-Bäumen ein und schlief. Die Rinde der TinginBäume hüllte sie ein. Falu träumte. In ihrem Traum kam Papagei zu ihr und
sagte: »Falu, du bist mein Küken. Ich beschütze dich. Ich bringe dir süße Früchte. Ich gebe dir Tov als Gefährten. Gehe dorthin, wo er hingeht.« Am Morgen erwachte Falu. Sie sah auf ihre Arme hinab und es waren Flügel. Sie sah auf ihre Finger hinab und sie waren die grauen Federn der Flügelspitzen. Ihre Haut juckte. Sie kratzte sich mit ihrem Fuß. Sie sah auf ihren Fuß hinab und es war der Fuß eines Vogels. Sie öffnete ihren Mund und sang. Ihre Stimme war die Stimme eines Papageis. Falu sagte zu sich selbst: Das ist gut. Ich gehe dorthin, wo Tov hingeht. Er erkennt mich nicht.
DREI Die Gegend um ihren Lagerplatz bot ihnen nichts mehr zu essen, also zogen sie am nächsten Morgen Richtung Norden. Um ein größeres Gebiet nach Nahrung absuchen zu können, blieben die Stachelschweine auf dem östlichen Ufer des Flusses und die Mondfalken gingen hinüber zum westlichen Ufer. Sie kamen nur mühsam voran. Das Land wurde immer mehr zu einer richtigen Wüste. Die Bäume, die den Fluss säumten und die sonst das ganze Jahr über Laub trugen, waren kahl und tot. Selbst wenn sie im Flussbett gruben, war es fast unmöglich, Wasser zu finden, und mit Glück bekam jeder täglich ein paar Mund voll zu essen. So ging es einige Tage lang. Der Hunger schien Ko zu folgen wie sein eigener Schatten. Selbst in seinen Träumen hatte er Hunger. Bald kam der Durst hinzu. Sie konnten das Rinnsal riechen, das unter dem Flussbett dahinfloss, doch wenn sie gruben, fanden sie kaum etwas. Sie lutschten an Kieselsteinen und kauten auf trockenen Ästen herum, damit der Mund etwas zu tun hatte. Die Frauen machten sich große Sorgen um die Babys, sowohl um Bodus kleinen Ogad als auch um Nolis ungeborenes Kind. Bekam Bodu genug zu essen, um die nötige Milch zu haben? Bekam Noli genug zu essen, damit das Kind in ihrem Bauch wachsen konnte? Hätte sie Milch, um es nach der Geburt stillen zu können? Alles, was sie erübrigen konnten, gaben sie den zwei Müttern, aber im Grunde reichte es nicht. Auch die Männer machten sich Sorgen. Ko schnappte eines Abends ein paar Gesprächsfetzen auf, als sie mit viel Glück eine Stelle mit guten Kürbissen gefunden hatten,
jenen Kürbissen, die mondelang Wasser halten konnten, ohne weich zu werden, wenn sie eingesalzen und geräuchert worden waren. Die Männer waren damit beschäftigt, die Kürbisse zu präparieren, während die Frauen das bisschen Essen zubereiteten, das sie gefunden hatten. »Wir nehmen das ganze Salz«, sagte Var. »Es ist alle. Jetzt gehen wir weit und weit. Finden wir wieder Salz? Finden wir Steine zum Schneiden? Finden wir TinginBäume?« Er war sehr bedrückt. Das war Vars Art, doch diesmal grunzten die anderen Männer zustimmend. Die Dinge, die er aufgezählt hatte, brauchte man täglich. Ohne Klinge konnte man keinen guten Grabstock machen und auch keine Riemen aus der Rinde von Tingin-Bäumen, um eine Kürbisflasche zu tragen. Und Salz wurde gebraucht, um das Fleisch vor dem Verderben zu schützen und das Essen zu würzen. Aber genau wie alles andere waren auch diese Dinge rar. Ohne sie konnte man keinen tagelangen Marsch unternehmen. »Dort draußen gibt es eine Salzpfanne«, sagte Net, sprang auf und zeigte in Richtung Westen, als wollte er jeden Moment aufbrechen. »Yova fand sie. Sie hat keinen Namen.« »Sie ist zu weit entfernt«, sagte Tun. »Es gibt dort nichts zu essen. Kein Guter Jagdgrund. Nicht mehr. Er ist verschwunden.« Ko wusste, wovon die Rede war. Seine Erinnerung reichte gerade eben bis zur Zeit vor der großen Dürre, einer Zeit, als sie auf dem Weg von einem Guten Jagdgrund zum nächsten ein viel größeres Gebiet hatten durchziehen können. Jetzt hatte die Wüste alle Guten Jagdgründe verschluckt.
Er hörte dem Gespräch nicht weiter zu, sondern verlor sich in einem Traum, in dem er, Ko, heimlich im Dunkel verschwand, im Licht des Mondes seinen Weg fand, nach einigen tollen Abenteuern die Salzpfanne erreichte, die Yova entdeckt hatte, und einen Brocken Salz ausgrub, wunderbar weiß, von der besten Sorte, so weiß, dass er im Mondlicht glitzerte. Dann ging er damit zurück, betrat still und leise das Lager, während die anderen noch schliefen, und als sie morgens erwachten, fanden sie den Brocken neben der Glut des Feuers und konnten sich nicht erklären, wie er dorthin gekommen war. Und dann erzählte er, Ko, es ihnen. Das war ein guter Traum. Ko bastelte noch daran herum, als sich alle zum Schlafen niederlegten. Die nächsten Tage waren noch schlimmer. Der Fluss fächerte sich in ein Labyrinth aus kleineren Flüssen auf, die von Inseln, schlammigen Ufern und riesigen Büscheln toten Schilfs voneinander getrennt wurden und ebenfalls trocken waren. Es war jene Art von gefährlichem, unfruchtbarem Land, das vom Stamm als Jagdgrund der Dämonen bezeichnet wurde. Irgendwo auf der anderen Seite, weit entfernt, befanden sich die Stachelschweine – seit einigen Tagen hatten sie nichts mehr von ihnen gesehen oder gehört und jetzt waren sie so gut wie außer Reichweite. Noch immer war es schwierig Wasser zu finden. Manchmal mussten sie den ganzen Morgen über warten, bis sie aufbrechen konnten, während sich ein paar Erwachsene, die leeren Kürbisflaschen über den Schultern, einen Weg bahnten, um schließlich mit einer stinkenden, schlammigen Flüssigkeit zurückzukehren. Einige Menschen wurden krank. Mana war am schlimmsten dran. Sie stolperte, so dass Ko einen Arm um sie legen und ihr weiterhelfen musste. Außerdem war ihr
abwechselnd heiß und kalt und sie sah Dinge, die gar nicht da waren. Dann wurde Cal von einem Skorpion in den Fuß gebissen. Sein ganzes Bein schwoll an. Er war ein tapferer Mann, aber er schrie und weinte vor Schmerzen und sie glaubten, er müsse sterben. Doch am nächsten Morgen waren Schwellung und Schmerzen fast verschwunden und dann schrumpfte das Bein zu einem dünnen Stock zusammen, so dass er nur noch hinken konnte. Natürlich machte sich Ko nicht auf die Suche nach Wasser. Er probierte ein paar Träume aus, in denen er es tat, aber die Dämonen schlichen sich ein und machten ihm Angst. Stark geschwächt und niedergeschlagen erreichten sie das Zentrum der Sümpfe. Weiter war noch keiner von ihnen vorgedrungen, selbst vor der Dürre nicht. Auf einer leichten Erhebung hielten sie inne und blickten nach Norden. Es war Abend und dicht vor ihnen lag ein seltsamer Dunst, im Licht der Abendsonne golden glitzernd, der die Landschaft verschleierte. Alles, was weiter entfernt war, wurde von ihm verschluckt. Sehr dick schien er nicht zu sein. Ko konnte die ersten Schlammbänke und Schilfgürtel einigermaßen klar erkennen, aber dann verschwammen sie, wurden zu Schemen und waren schließlich ganz verschwunden. Pfade waren nirgendwo auszumachen, und es war zu spät, um zu einem Erkundungsgang aufzubrechen. Also richteten sie ihr Lager her und schliefen. Als sie morgens erwachten, hatte sich der Nebel verzogen und sie konnten erkennen, was ihnen bevorstand. Auch die Sümpfe waren ein Jagdgrund der Dämonen. Ko hatte nicht gewusst, was ihn erwarten würde, also hatte
er sie sich vorzustellen versucht: Schlammbänke und hohes, grünes Schilf, dazwischen klares Wasser. Das Schilf gab es, doch es war ein weitläufiger brauner Wirrwarr. Den Schlamm gab es, aber er war trocken und rissig. Wasser gab es nicht. Insekten schwärmten aus dem Schilf und umschwirrten die Neuankömmlinge. Ko konnte nicht erkennen, wie weit sich die Sümpfe erstreckten, aber dahinter sah er eine zitternde Linie, fast so blau wie der sengend heiße Himmel, und er wusste, dass es die weit entfernten Hügel waren. Suth streckte einen Finger aus. »Dorthin müssen wir«, sagte er. »Seht, es regnet. Dort finden wir Gute Jagdgründe.« Ko sah genau hin. Ja, in weiter Ferne konnte er zwei große Haufen von Regenwolken sehen, unter denen der Horizont verschwamm. »Suth, wir können die Sümpfe nicht durchqueren«, sagte Bodu. Sie war traurig. Sonst war sie meist fröhlich. Ko mochte sie. Sie lachte ihn manchmal aus, aber es hörte sich nie höhnisch oder ärgerlich an – sie lachte einfach gerne. Aber sie machte sich Sorgen um ihr Baby, das noch nicht einmal drei Monde alt war. Ogad war sehr mager und quengelig, weil sie nicht genug Milch für ihn hatte. Wenn sie nicht bald bessere Nahrung fänden, würde Ogad sterben. Ko wünschte sich sehr, sie trösten zu können. Und wie üblich sprach er, bevor er nachgedacht hatte. »Ich finde einen Weg durch die Sümpfe«, sagte er. »Ich, Ko, tue das.« Hinter ihm lachte jemand und Ko wirbelte herum. Es war Nar, der gar nicht erst versuchte sein Lächeln zu verbergen. Ko tat einen Schritt auf ihn zu und streckte sein
Kinn vor. Er spürte, wie seine Kopfhaut sich spannte, weil das Haar sich aufstellen wollte, obwohl er erst ein Mann sein musste, bevor es für jedermann sichtbar wäre. »Ich, Ko, spreche, Nar«, fauchte er. »Ich finde den Weg durch die Sümpfe. Sagt Nar Nein zu mir?« Das beeindruckte Nar überhaupt nicht. Sein Lächeln wurde breiter. »Du tust es, Ko«, sagte er. »Dann gebe ich dir ein Geschenk.« »Welches Geschenk, Nar?« Ko war richtig wütend. Er bildete sich ein, spüren zu können, wie sein Haar sich ein wenig sträubte. »Du verlangst, ich gebe«, sagte Nar beiläufig und brachte auf diese Weise seine Gewissheit, dass Ko sein Versprechen nicht würde einlösen können, umso stärker zum Ausdruck. All das war Männersache, waren jene Worte, die Var und Kern im Streit gebraucht hätten. Natürlich ahmten die Jungen die Männer nach. Es war eine Art Spiel für sie. Ko begriff, dass Nar es auch diesmal so verstand. Ko jedoch nicht. Er blickte sich um und sah einen Felsbrocken, der ein paar Schritte hinter Nar aus der Erde ragte. »Komm«, sagte er und ging mit festen Schritten darauf zu, ohne sich umzudrehen und nachzusehen, ob Nar ihm folgte. Er folgte und diesmal lächelte er nicht. Ko legte die rechte Hand auf den Felsbrocken. »Dies ist der Felsen Odutu …«, begann er, doch Nar unterbrach ihn. »Ko, ich nehme meine Worte zurück«, sagte er. »Sagst du, ich, Ko, finde den Weg durch die Sümpfe?«
»Nein, Ko«, sagte Nar mit ruhiger Stimme. »Du tust das nicht. Du versuchst es nicht. Es ist gefährlich, gefährlich.« Doch Ko war viel zu wütend, um die Worte oder den Ton zu hören, in dem Nar sie gesprochen hatte. Er legte die Hand wieder auf den Felsen. »Dies ist der Felsen Odutu, Odutu im Schatten des Berges«, sagte er. »Auf Odutu schwöre ich dies. Ich, Ko, finde den Weg durch die Sümpfe.« Er trat zurück und wartete. Das war der stärkste Schwur und die größte Herausforderung, die sie kannten. Odutu gab es wirklich, es war ein riesiger Felsen, weit im Süden der Alten Guten Jagdgründe, der am Fuß des Berges stand, auf dem die Ersten Wesen lebten. Ko war als kleines Kind dorthin mitgenommen worden, aber er erinnerte sich nicht mehr daran. Er kannte nur eine Ursage, die besagte, dass ein Schwur, der in Odutu abgelegt werde, ein Schwur auf immer sei. Und da sie inzwischen alle so weit fort vom echten Odutu waren, bot fast jeder Felsen einen Ersatz, vorausgesetzt, man gebrauchte die richtigen Worte. Nar zögerte, seufzte und zuckte die Schultern. Er legte seine Hand auf den Felsen und murmelte: »Dieser Felsen ist Odutu, Odutu im Schatten des Berges. Dies schwöre ich auf Odutu: Ko findet den Weg durch die Sümpfe und dann gebe ich ihm ein Geschenk. Ko verlangt. Ich, Nar, gebe.« Er blickte Ko an und schüttelte missbilligend den Kopf, ging aber zurück, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, und gesellte sich zu den anderen. Ko folgte ihm. Niemand schien bemerkt zu haben, was vorgegangen war. Sie waren nur Jungen, die irgendein Jungen-Ding ausgeheckt hatten, und in der anderen Richtung spielte sich etwas Interessanteres ab. Der feste Boden lief in einem flachen Ufer aus und dann
begannen die Sümpfe. Alle standen in einer Reihe am Ufer und beobachteten etwas. Es war natürlich Net, der sich immer Hals über Kopf in alles hineinstürzte. Er suchte sich einen Weg über einen Streifen trockenen Schlamms, zwischen zwei Schilfbüscheln hindurch, wobei er sich immer einen halben Schritt weiterbewegte und den Boden prüfte, bevor er den Fuß senkte und sein ganzes Gewicht darauf verlagerte. Er war vier oder fünf Schritte vom Ufer entfernt, als der Boden nachgab. Sofort steckte er bis zur Hüfte im Schlamm, doch die zähe, schwarze Masse schien noch tiefer zu sein, und er versank immer weiter, als er sich herumwarf und versuchte zurückzuwaten. Bald reichte ihm der Schlamm bis zur Brust. Er kämpfte wie wild, um zum Ufer zu gelangen, kam aber kein bisschen voran. Alle schrien. Die anderen Männer standen unten am Rand des Sumpfes, Tun gab Befehle. Suth begann auf den Schlamm zu kriechen. Er war der leichteste unter den Männern. Nun lag er auf dem Bauch, um sein Gewicht auf dem gefährlichen Schlamm zu verteilen, und robbte sich voran. Ko sah zu und sein Herz schlug bis zum Hals. Sobald sich Suths Füße vom Ufer lösten, kniete Var nieder und packte seine Fußgelenke, und dann, als Suth noch ein Stückchen weiter vorangekommen war, legte auch Var sich hin und robbte hinter ihm her, während Kern und Tor sich hinknieten und seine Fußgelenke packten. Als Suth schließlich Nets Handgelenke zu fassen bekam, steckte der bis zum Hals im Schlamm, waren Suth und Var ein gutes Stück weit vom Ufer entfernt, knieten Tor und Kern und beugten sich über den Schlamm, um Var festhalten zu können. Der Winkel war ungünstig. Keiner der beiden, die sich
auf festem Boden befanden, konnte mit ganzer Kraft ziehen und die beiden draußen auf dem Schlamm wagten es erst gar nicht. Dann aber, ohne auf Tuns Befehl zu warten, bildeten die Frauen zwei Schlangen, indem jede die Taille der vor ihr stehenden umfasste. Die beiden vordersten Frauen hielten Tor und Kern gepackt. Chogi rief und alle zusammen zogen. Suth und Var spürten den Ruck. Ko konnte sehen, wie sich die Muskeln ihrer Oberarme in dem Bemühen anspannten, den Griff nicht zu lockern. Net sank nicht tiefer ein. Die Frauen zogen im regelmäßigen Rhythmus, Tun gab den Takt an. Doch es reichte nicht. Net blieb stecken. Ko und Nar und die älteren Kinder schlossen sich den Frauen an und setzten ihr Gewicht mit ein. Ko befand sich ein gutes Stück das Ufer hinauf, konnte die Männer draußen auf dem Schlamm aber immer noch sehen. Der Boden unter Suth gab nach, doch es gelang ihm, nicht locker zu lassen. Auf dem schmutzigen Schlamm treibend drehte er den Kopf zur Seite, um Nase und Mund frei zu haben. Offenbar war der neue Winkel eine Hilfe. Langsam, so langsam, dass Ko die Bewegung kaum wahrnehmen konnte, kamen Vars Füße dem Ufer näher. Tor und Kern begannen sich aufzurichten. Nets Schultern ragten aus dem Schlamm. Und dann schoss er plötzlich heraus. Jene, die am Ufer standen, fielen auf den Rücken. Als sie wieder auf die Beine gekommen waren, hievten Tor und Kern Var ans Ufer und Suth und Net glitten mit den Füßen voran über die Oberfläche des Schlamms zurück. Dann hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen, alle scharten sich um sie, schrien triumphierend und verhöhnten Net wegen seiner Voreiligkeit, während sie versuchten den stinkenden Schlamm von ihren Körpern zu kratzen.
Ko aber blieb ganz oben auf dem Ufer stehen und starrte entmutigt auf den Sumpf. Auf die Weise nicht, dachte er. Nicht einmal im Traum.
URSAGE
Gogoli Tov ging zu Fon, dem Vater seines Vaters. Er war sehr alt und wusste viel. Tov sagte: »Vater meines Vaters, alter Fon, erzähle mir dies. Wo haust Fododo, der Vater aller Schlangen?« Fon sagte: »Tov, Sohn meines Sohnes, das weiß niemand. Nur einer weiß es. Das ist Gogoli, der Schakalder-alles-weiß.« Tov sagte: »Wo ist Gogoli?« Fon sagte: »Er ist hier, er ist dort. Aber wenn der Mond klein ist, trinkt er im Wasserloch hinter Ramban. Wenn er nicht trinkt, stirbt er.« Tov sagte: »Ich danke Fon, dem Vater meines Vaters.« Fon sagte. »Tov, Sohn meines Sohnes, habe Glück.« Dann starb Fon. Er war sehr alt. Tov zog nach Ramban. Dort sah er einen Papagei, einen kleinen grauen Papagei mit gelben Schwanzfedern. Er sagte: »Wie kommt dieser Papagei hierher? Sein Jagdgrund ist in Dindijji, dem Ort der Staubigen Bäume. Sicher schickt Gata ihn. Sie ist vom Stamm von Papagei.« Er lachte. Der Papagei antwortete und seine Stimme klang wie Lachen.
Tov sagte: »Papagei, wir beide lachen. Komm mit mir. Du bist mein Führer.« Daraufhin flog der Papagei hernieder und setzte sich auf seinen Kopf. Es war die Nacht des kleinen Mondes, also zog Tov zum Wasserloch hinter Ramban. Neben dem Pfad sah er einen Flügelnussbaum und sagte: »Das ist gut. Ich lege mich hinter dem Baum auf Lauer. Gogoli kommt. Ich springe hervor. Ich fange ihn. Papagei, fliege auf den Baum. Halt mit mir zusammen Wache. Sei leise.« Tov lag am Rand des Pfades und wartete. In der Dämmerung kam Gogoli. Viele Menschen jagten Gogoli, um sein Wissen zu stehlen. Also verbreitete er unterwegs einen Zauber, einen Schlafzauber. Die Jäger schliefen und fingen ihn nicht. Nun verbreitete er seinen Zauber und Tov schlief. Der Papagei schlief nicht. Er war kein Mensch. Als er Gogoli sah, kam er vom Baum herabgeflogen und schrie in Tovs Ohr. Er wachte auf und sprang hervor. Gogoli floh, doch Tov packte ihn beim Schwanz. Er band die Rinde von Tingin-Bäumen an den Schwanz, zog daran und Gogoli baumelte an einem Ast. Gogoli sagte: »Mensch, lass mich gehen. In dieser Nacht trinke ich aus dem Wasserloch. Wenn ich nicht trinke, sterbe ich.« Tov sagte: »Antworte mir zuerst. Ich suche Fododo, den Vater aller Schlangen. Wo liegt er auf der Lauer?« Gogoli sagte: »Er liegt in der Wüste, dort, wo sich kein Mensch je hinwagt. Es ist drei Tage in westlicher Richtung vom Tarutu-Felsen entfernt. Dann einen halben Tag in nördlicher Richtung.« Tov sagte: »Wo finde ich unterwegs Wasser?«
Gogoli sagte: »Zweikopf hat Wasser. Es liegt unter ihm. Beutelwurm hat Wasser. Es ist da und doch nicht da. Steinzahn hat Wasser. Es ist in ihm drin.« Tov sagte: »Sage mir noch dies. Ich suche den Zahn von Fododo, den Giftzahn. Wie kann ich ihn stehlen?« Daraufhin wurde Gogoli sehr ärgerlich. Er sagte: »Woher soll ich das wissen? Das hat noch niemand getan. Keiner weiß es.« Da löste Tov den Streifen Tingin-Rinde und Gogoli lief zum Wasserloch und trank. Aber sein Schlafzauber war noch stark und Tov legte sich hin und schlief. Nun war es dunkel und der Papagei war wieder zum Menschen geworden. Falu war er. Falu sagte in ihrem Herzen zu sich selbst: Gogolis Zauber ist stark. Vielleicht kommt Gefahr. Tov wacht nicht auf. Also halte ich, Falu, Wache. Falu wachte die ganze Nacht hindurch. Sie schlief nicht. Morgens wurde sie wieder zum Papagei. Tov erwachte. Er sagte: »Kleiner grauer Papagei, ich träumte. In meinem Traum schlief ich. Jemand wachte. Es war eine Frau. Ich denke: Es war Gata.« Der Papagei antwortete. Seine Stimme klang wie Lachen.
VIER Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich nach Westen zu wenden und einen Weg um die Sümpfe herum zu suchen. Als die Sonne höher stieg, begannen die Schlammbänke zu dampfen und bald war ein paar Schritte vor ihnen alles wieder vom Dunst verhüllt. Manchmal reichte einer der Teiche, die zwischen den Schlammbänken lagen, bis zum trockenen Ufer, so dass es wenigstens genug zu trinken gab. Zu essen aber gab es überhaupt nichts, nur das Schilf und den Schlamm und das trockene, trockene Land. Verzweifelt schleppten sie sich den ganzen Tag lang weiter. Bald wurden sie von den Insektenschwärmen entdeckt und verfolgt, also wichen sie ein Stück ins Landesinnere aus, um die schlimmsten Quälgeister los zu sein. Tun sah sich schon nach einem Lagerplatz um, als Ko bemerkte, dass Moru sich auf eigene Faust nach rechts gewandt hatte. Aus Langeweile trottete er hinter ihr her. »Moru, wohin gehst du?«, fragte er. »Ich gehe sehen«, sagte sie. »Vielleicht haben wir Glück.« Sie lächelte ihr schmales Lächeln. Moru war eine der Nachzügler, die mit Tun zurückgekommen waren, nachdem er aufgebrochen war, um herauszufinden, ob in den Alten Guten Jagdgründen irgendjemand überlebt hatte. Sie gehörte zum Stamm von Kleiner Fledermaus. Da ihr Gefährte, genau wie Vars Gefährtin, tot war, hatten sie einander erwählt. Ko hatte den Eindruck, dass sie, weil sie so viel Schlimmes erlebt hatte, immer traurig aussah. Kurz bevor sie den Rand der Sümpfe erreichte, hielt sie an und bückte sich. An dieser Stelle ging der feste Boden
nicht sofort in eine Böschung über, sondern lief in einem breiten, sanft abfallenden Streifen weicher und sandiger Erde aus. Mit einem zufriedenen Grunzen ging Moru noch ein paar Schritte weiter, bückte sich wieder und schob behutsam die Erde beiseite. Ko blickte über ihre Schulter und sah ihr zu. Sie grunzte noch einmal, schob die Erde noch behutsamer beiseite und holte dann vorsichtig etwas hervor. Sie zeigte es Ko. Es war ein großes Ei. »Welcher Vogel legt das?«, fragte er erstaunt. »Kein Vogel. Schildkröte«, sagte Moru. »Wir, vom Stamm von Kleiner Fledermaus, hatten einen Guten Jagdgrund. Er lag am Fluss Manchmal. Dort gab es Schildkrötennester. Sieh, es gibt viele hier. Ruf die anderen.« Ko rannte den Hang hinauf, schrie und fuchtelte mit den Armen. Köpfe wandten sich um. »Kommt. Moru findet Nahrung«, rief er und alle kamen angerannt. Moru zeigte ihnen, wie sie suchen mussten, und schließlich fanden sie zehn und zehn und noch zwei weitere Nester, alle voller Eier mit kleinen Schildkrötenbabys, die kurz vor dem Ausschlüpfen waren. Sie brachten sie ein gutes Stück weit weg vom Sumpf, entfachten mit Hilfe von trockenen Ästen ein ordentliches Feuer und rösteten die Eier über der Glut. Es war das beste Essen, das sie seit Monden gehabt hatten. Die folgenden drei Tage aber waren sehr schlecht. Sie fanden nur zwei Wasserstellen, an die sie herankommen konnten, und so gut wie keine Nahrung. Am dritten Tag stieg das Gelände an und sie zogen endlos lange auf einem kahlen, felsigen Hang über den Sümpfen dahin. Gegen Nachmittag zog sogar der üblicherweise fröhliche Kern ein besorgtes Gesicht und die arme Bodu weinte aus Angst
um ihr Baby. Ko war zu niedergeschlagen, um träumen zu können. Dann, als die Sonne tief im Westen stand, spürte er einen leichten Wind auf dem Gesicht, der einen neuen Geruch mit sich brachte. Wasser. Nicht das tote, stinkende Wasser der Sümpfe, sondern süßes, sauberes Wasser, in dem und um das herum grüne Pflanzen wuchsen. Alle rochen es gleichzeitig. Ihre müden Glieder erwachten zu neuem Leben. Die Lasten, die sie trugen, wurden plötzlich leichter. Ihre Schritte schneller. Einige der Männer liefen voraus. Ko sah, wie sie sich umwandten, riefen und winkten, dünne schwarze Gestalten vor dem Glühen des Sonnenuntergangs. Der größte Teil der Schar begann zu laufen, aber Noli, die den ganzen Tag lang das Baby in ihrem Bauch mit sich herumtragen musste, war müde und wurde von Suth und Tor gestützt. Also blieb Ko bei ihnen. Sie stießen als Letzte zu den anderen und sahen, was diese entdeckt hatten. Es war ein richtiger Guter Jagdgrund, wie jene vor der Dürre, an die sich Ko gerade noch erinnern konnte. Eine schmale Zunge des Sumpfes ragte südwärts bis in die Wüste hinein, aber es war eine andere Art von Sumpf, denn es gab dort gute, klare Teiche, Böschungen, bestanden mit hohem, grünem Schilf, und Büsche voller Blätter, die auf den Uferstreifen wuchsen. Und ganz bestimmt gab es am Wasser auch Nahrung. Obwohl sie hungrig und durstig waren, stürmten sie nicht hinunter, sondern standen einfach da und suchten das Gelände mit Blicken nach möglichen Gefahren ab. Dann wies Tun auf eine Stelle, wo das offene Gelände zwischen zwei Buschgruppen bis zum Wasser führte. Er stellte Wachtposten auf, die jede Richtung im Blick behielten, bevor er sich mit ein paar Erwachsenen aufmachte, um die
Kürbisflaschen zu füllen. Ko war angewiesen worden, die Richtung im Auge zu behalten, aus der sie gekommen waren, aber er hatte kaum mit seiner Wache begonnen, als hinter ihm ein Ruf ertönte. Erst war es eine Stimme, dann riefen viele: Gefahr! Lauft! Er wandte sich um. Die Menschen flohen vom Wasser. Hinter ihnen schleppte sich etwas Großes und Dunkles den Hang hinauf. Einen Moment lang konnte er es nicht genau erkennen. Ein Schrei übertönte die Rufe. Irgendjemand war gestürzt. Als die anderen anhielten und sich umwandten, um zu Hilfe zu eilen, konnte Ko das Wesen deutlich erkennen. Krokodile wurden doch nicht so groß! Ko konnte sich an Krokodile erinnern, die auf den Sandbänken des Flusses in den Neuen Guten Jagdgründen in der Sonne gelegen hatten, als er noch Wasser geführt hatte, hässliche Wesen mit dicker, schuppiger Haut und langen Schnauzen voller drohender Zähne. Damals war er kleiner gewesen und sie waren ihm riesig vorgekommen, aber er wusste, dass sie, wenn überhaupt, nur zwei bis drei Schritte lang gewesen waren. Dieses hier war mehr als doppelt so lang. Es war ein Monster, ein Alptraum, ein Dämon aus den Ursagen. Er sah, wie es zurückscheute, als die Menschen schreiend angestürmt kamen. Die Männer schlugen mit ihren Grabstöcken nach ihm, als es ruckelnd hinab zum Wasser lief. Es schien ihre Schläge nicht zu spüren. Als es unter die Oberfläche glitt, sah Ko, dass es irgendetwas im Maul trug. Die Menschen kamen langsam vom Wasser hinauf. Ko spürte ihren Schrecken und ihren Schock. Vier Männer hielten jemanden gemeinsam in den Armen. Als sie den Hügelkamm erreichten, wo Ko und die anderen warteten,
legten sie ihn auf den Boden. Es war Cal. Sein linkes Bein, jenes, wo ihn der Skorpion gestochen hatte, war verschwunden. Es war glatt über dem Knie abgebissen worden. Er hatte das Bewusstsein verloren. Chogi versuchte den Blutfluss mit den Händen einzudämmen, aber es pulste heftig zwischen ihren Fingern hervor. Ko ertrug den Anblick nicht, also starrte er auf die Wüste. Dort bewegte sich noch immer nichts. Er wandte sich wieder um und starrte auf den scheinbar friedlichen Streifen Wassers unten, der im Licht des Sonnenuntergangs rosa und golden glänzte. Sein Durst wurde plötzlich so heftig, dass er kaum hörte, als Chogi sagte: »Cal ist tot. Er ist von uns gegangen.« Alle stöhnten, aber noch immer konnte Ko an nichts anderes als seinen Durst denken. »Heute Abend trauern wir um Cal«, sagte Tun. »Jetzt füllen wir die Kürbisflaschen. Es ist gefährlich, gefährlich. Zuerst tue ich es. Dann ihr, einer nach dem anderen.« Wieder musste Ko Wache halten, aber er blickte ständig über seine Schulter, um zu sehen, was geschah. Einzeln sausten die Erwachsenen zu verschiedenen Stellen am Ufer hinab, um die Kürbisflaschen zu füllen, während die übrigen Steine und Erdklumpen ins Wasser regnen ließen, um Angreifer zu verscheuchen. Nichts geschah und nach einer Weile kehrten sie mit randvollen Kürbisflaschen zurück auf den Hügelkamm. Jeder nahm einen Schluck und dann, immer noch aufmerksam Wache haltend und ein gutes Stück vom Wasser entfernt bleibend, nutzten sie das letzte Tageslicht aus, um nach Nahrung zu suchen. Zu ihrer Freude fanden sie einige Büschel Dinka und ein Büschel Dornenfrucht. Dinka war ein kleiner Busch, dessen junge Blätter eher fade schmeckten, aber nach viel Kauen heruntergeschluckt
werden konnten. Dornenfrucht war eine Art Kaktus mit gefährlichen Stacheln. Es war schwierig die Früchte zu pflücken, und roh waren sie giftig. Doch wenn sie gut auf der Glut geröstet worden waren, wurden sie süß und saftig. Als es fast dunkel war, trugen sie ihre Beute zurück auf den Hügelkamm, entfachten das Feuer und richteten ihr Lager her. Nachdem sie gegessen hatten, stand Tun auf und gebot ihnen mit einer Handbewegung zu schweigen. »Wir trauern um Cal«, sagte er. »Er ist tot.« Die Frauen erhoben sich und stellten sich auf ihrer Seite des Feuers in einer Reihe auf. Die Kinder machten ihnen Platz. Die Männer, die ihnen mit überkreuzten Beinen gegenüber saßen, begannen rhythmisch in die Hände zu klatschen. Doch bevor der Tanz beginnen konnte, sah Ko, dass Noli erstarrte und mit langsamen, zuckenden Schritten, als würde sie von einer fremden Hand bewegt werden, auf die Lücke zwischen den zwei Gruppen zuging. Die Männer hörten auf zu klatschen und warteten. Noli schloss die Augen und als Mondfalkes Stimme aus ihr ertönte, war sie so leise, dass Ko die Worte gerade eben noch hören konnte. »Warzenschwein ist tot. Der Stamm ist verschwunden«, sagte die Stimme. Noch nie hatte Ko etwas Traurigeres gehört. Noli senkte den Kopf. Lange Zeit blieben alle unbewegt und still, und dann öffnete sie die Augen und ging leise zurück zu ihrem Platz in der Reihe. »Cal war Warzenschwein«, sagte Chogi. »Er war der Letzte. Es gibt kein Warzenschwein mehr.« Selbst Ko, der sich kaum Gedanken über derartige Dinge machte, spürte den Ernst des Augenblicks. Seit der Zeit der Ursagen hatte es die Stämme immer gegeben. Es
waren acht gewesen (oder neun, wenn man Affe mitzählte, aber Affe war anders). Jetzt … Jetzt gab es eigentlich nur noch einen, Kos eigenen Stamm, Mondfalke. Mondfalke und ein paar Versprengte. Niemand von Webervogel war unter ihnen und niemand von Ameisenmutter. Soweit man wusste, waren auch diese Stämme tot und verschwunden. Aber Cals Tod stellte das erste Mal dar, dass jemand den Augenblick des Verschwindens eines Stammes tatsächlich miterlebte. Tun gab das Zeichen, die Männer klatschten im Rhythmus und die Frauen sangen mit schrillen Stimmen die Totenklage und tanzten den Tanz – dreimal mit dem rechten Fuß aufstampfend und dreimal mit dem linken Fuß, wieder und wieder und wieder –, während die Funken aus dem Feuer in den sternenübersäten Himmel stoben. Mana, die neben Ko saß, nahm seine Hand. Er blickte sie an und sah, dass sie weinte, also legte er seinen Arm um sie und hielt sie fest. Ko konnte nicht weinen, aber er fühlte sich sehr seltsam, gar nicht wie Ko, sondern wie jemand, der viel älter war, viel weiser und ernst zu nehmender. Diese Person dachte nicht an das, was Ko sonst beschäftigte. Sie dachte über die Zeit nach und die Menschen, die einmal gelebt hatten und nun tot waren – an all die Menschen, die es gegeben hatte, an die Vorfahren, die immer weiter zurückführten, bis hin zur Zeit der Ursagen, an alle, die jemals zum Stamm gehört hatten und von denen nur die wenigen Menschen übrig geblieben waren, die hier in der Wüste rund um ihr Feuer saßen. Und sie waren nur knapp mit dem Leben davongekommen. Hätten sie diesen Guten Jagdgrund nicht gefunden, dann wäre Mondfalke am nächsten oder übernächsten Tag auch verschwunden, genau wie Webervogel, wie Ameisenmutter, wie Warzenschwein.
Kein Mondfalke mehr, nie mehr, für immer … Wenn er nach rechts blickte, konnte Ko von seinem Platz aus über die Sümpfe schauen. Der Dunst, der sie den ganzen Tag über verhüllt hatte, hatte sich aufgelöst. Was er sah, war eine riesige, dunkle Weite, die vor einer Hügelkette endete, welche sich vor dem blasseren Himmel abzeichnete. Dort drüben gab es noch Regen, dort drüben gab es Gute Jagdgründe, wo Mondfalke leben und gedeihen konnte, mehr Leben hervorbrächte und noch mehr Leben, mehr und immer mehr im Laufe der Zeit … So musste es sein. Wenn sie doch nur dorthin gelangen könnten. Am nächsten Morgen füllten sie ihre Kürbisflaschen auf dieselbe Weise wie am Vorabend. Jeweils einer rannte zum Ufer, immer zu einer anderen Stelle, während die anderen Steine und Erdklumpen auf das Wasser hinabregnen ließen. Ko und die Kinder sahen gespannt zu, bis es vorbei war, aber das Monster ließ sich nicht blicken, ebenso wenig wie irgendwelche kleineren Krokodile. Ihren Riten gemäß trugen sie Cals Leichnam danach weit in die Wüste hinein, trauerten noch einmal und ließen ihn dann dort, zusammen mit seiner Kürbisflasche, seinem Grabstock und einer Klinge. Dann kehrten sie zurück zum Wasserlauf und erkundeten diesen neuen Guten Jagdgrund, wobei sie unterwegs nach Nahrung suchten. Sie fanden Pflanzennahrung, Dinkablätter, Weißstängel, Dornenfrucht und eine bläuliche Wurzel, die ran-ran genannt wurde, sowie verschiedene Samen. Es war die beste Ausbeute seit Monden. Selbst die Insektenschwärme schienen nicht so schlimm zu sein wie im Inneren der Sümpfe. Tief im Dickicht gab es viele Vögel, außerdem Spuren kleiner
Tiere, nicht aber solche von größeren. Ko hörte, wie sich einige der Männer darüber unterhielten. »Das ist seltsam«, sagte Kern, der der beste Fährtenleser unter ihnen war. »Hier gibt es Nahrung. Hier gibt es Wasser. Ich sehe die Spuren von Hirschen. Ich sehe die Spuren von Schweinen. Sie sind alt, alt. Keine sind neu.« »Ich sehe keine Schwimmvögel«, sagte Net. »Das Krokodil frisst sie«, sagte Var düster. Die anderen beiden lachten, weil es typisch für Var war, so etwas zu sagen. Doch ein wenig später, als Ko nach einem Weg in ein Kaktusdickicht suchte, um an die saftig aussehenden Dornenfrüchte zu kommen, hörte er jemanden rufen: »Tun, komm, sieh!« Es war Kerns Stimme. Ko vergaß die Dornenfrucht und hastete los, um zu sehen, was vor sich ging. Als er die Männer fand, sahen sie sich einen der Streifen offenen Geländes an, die direkt zum Wasser führten. Kern kniete und zeigte auf seine Entdeckung. »Diese Spuren sind alt, alt«, sagte er. »Zwei Monde? Drei? Ich weiß es nicht. Seht, fünf Hirsche kommen. Zwei sind jung. Sie gehen langsam, vorsichtig. Und dort, seht, sie rennen, nur vier. Einer ist jung. Sie rennen schnell, schnell. Und jetzt, seht …« Er ging näher zum Wasser und zeigte auf eine Stelle, wo die zwei Linien von Hufspuren plötzlich verschwanden, als wäre eine riesige Faust über die Erde gefegt und hätte sie ausgewischt. Kern zeigte auf ein Muster von Mulden inmitten des Wirrwarrs und malte mit seinem Zeigefinger die Form eines großen, runden Fußes mit vier ausgestreckten Zehen. »Krokodil«, sagte er. »Groß, groß. Hirsche kommen zum Trinken, Krokodil kommt aus dem Wasser. Es nimmt einen Hirsch, einen jungen. Seht, es schleppt ihn …«
Er wies auf eine breite Spur auf der Erde, die bis zum Wasser führte. Jeder starrte auf die friedliche Oberfläche. Ko sah, wie Yova erstarrte, langsam die Hand hob und auf etwas zeigte. »Seht, im Schilf«, sagte sie leise. »Acht Schritte vom Ufer. Es beobachtet uns.« Ko sah genau hin und versuchte zu erkennen, was Yova entdeckt hatte. Dicht am Ufer befand sich ein Dickicht hohen, grünen Schilfs. Er ließ den Blick daran entlanggleiten. Wie weit waren acht Schritte entfernt …? Ja! Dort! Wo ein Schilfhalm geschwankt hatte, ohne dass jemand zu sehen war, der ihn bewegt hätte! Kleine Wellen gingen von einem Fleck aus, der aus treibendem Schlamm und Schilfblättern zu bestehen schien und sich sehr langsam auf das Ufer zubewegte. Innerhalb eines Herzschlags veränderte sich Kos Sehweise. Plötzlich war es kein Schlammfleck mehr, sondern die Oberseite eines Krokodilkopfes. Der kleine Hügel vorn waren die Nüstern und der hinten war das Auge. Ko konnte ein wachsames Auge glitzern sehen. Er zitterte und wich zurück. Und nicht als Einziger, denn fast alle waren schon in Bewegung, als das Krokodil angriff. Es schoss mit gewaltigem Schwung aus dem Wasser, das von seinem Schwanz zu Schaum geschlagen wurde, und raste auf sie zu. Sie liefen nach links und rechts auseinander. Ko riskierte einen Blick über die Schulter und sah, dass das Krokodil sie nicht verfolgte, sondern dort angehalten hatte, wo sie eben noch gestanden hatten. Er hielt an und wandte sich um, damit er sehen konnte, was als Nächstes geschah. Er war sich sicher, dass es genau dasselbe Krokodil war wie am Vortag – zwei von dieser Größe konnte es nicht geben.
Die Menschen waren über den Hang verstreut, einige rannten noch, andere, wie Ko, standen und schauten zu, aber alle waren angespannt und bereit, jederzeit wieder loszurennen. Das Krokodil stand nur ein oder zwei Augenblicke still, bevor es wieder angriff, den Körper hochwuchtete und sich mit den schwarzen Stummelbeinen vorantrieb. Wieder liefen alle auseinander. Als Ko diesmal einen Blick über die Schulter warf, verfolgte ihn das Monster immer noch und holte auf. Mit Schrecken erkannte er, dass es tatsächlich schneller war als er. Verzweifelt raste er weiter und hielt erst an, als er sah, dass die vor ihm laufende Chogi einen Blick zurückwarf, anhielt und sich umdrehte. Er wandte sich nun auch um und stand mit hämmerndem Herzen da. Das Krokodil hatte auf halbem Weg vom Wasserlauf wieder angehalten. Als er es beobachtete, hob es den Kopf und stieß ein so tiefes, donnerndes Brüllen aus, wie es Ko noch nie aus dem Maul eines Tieres gehört hatte. Net antwortete mit einem Schrei, schoss vor und schleuderte seinen Grabstock. Es war ein gut gezielter Wurf, aber der Stock prallte wie ein Zweig von der Haut des Tieres ab. Es schwang sich herum, stampfte auf Net zu und zwang ihn zurückzuweichen. Einige andere ahmten ihn mit genauso wenig Erfolg nach, doch nach einer Weile schien das Krokodil zu begreifen, dass es diesmal niemanden fangen würde. Es machte kehrt, schleppte sich zurück ins Wasser und verschwand. Ein wenig später sahen sie, wie es aus dem Wasser kroch und sich auf einer kleinen Insel niederließ, um sich zu sonnen. Die Erwachsenen sprachen während der Mittagsrast über das Problem. Normalerweise hörte Ko dieser Art von Gespräch nicht zu – es war ein Erwachsenen-Ding –, aber
das Krokodil hatte ihm große Angst eingejagt und er wollte wissen, was sie vorhatten. »Var hat Recht«, sagte Kern. »Dieses Krokodil frisst alle Hirsche. Es frisst alle Schwimmvögel. Sie haben Angst. Sie kommen nicht.« Die anderen grunzten zustimmend und saßen da, in düsteres Schweigen gehüllt. »Wir sehen nur ein Krokodil«, sagte Chogi. »Gibt es noch mehr in diesem Jagdgrund?« Die Männer besprachen die Angelegenheit unter sich und kamen überein, dass es vermutlich nur dieses eine im Wasserlauf gab. Die kleineren musste es entweder gefressen oder vertrieben haben. »Dann sage ich dies«, sagte Chogi. »Wir sind schwach. Wir sind müde. Bodu muss Nahrung haben. Keine Nahrung, ihr Baby stirbt. Bald ist Nolis Baby geboren – fünf Tage, zehn, ich weiß es nicht. Noli muss Nahrung haben. Dann ist sie stark, dann ist ihr Baby stark. Hier ist Nahrung. Hier ist gutes Wasser. Das Krokodil ist gefährlich, gefährlich. Aber wir passen die ganze Zeit auf. Wir sehen es – es ist an einer Stelle. Wir gehen zu einer anderen Stelle. Es fängt uns nicht. Ich, Chogi, sage, das ist das Beste.« »Töten die Männer das Krokodil?«, fragte Bodu. »Bodu, das ist schwierig«, sagte Tun. »Das Krokodil ist stark, stark. Es ist im Wasser. Wir können es nicht jagen. Seine Haut ist dick. Unsere Grabstöcke verletzten es nicht.« »Tun, du hast Recht«, sagte Chogi. »Ihr jagt es, dann sterben vielleicht Männer. Ihr seid wenige. Das ist nicht gut.« Alle murmelten zustimmend und sie begannen die
Vorsichtsmaßnahmen zu besprechen, die sie wegen des Krokodils zu treffen hatten. Bald nachdem sie weitergezogen waren, erreichten sie die Spitze des Wasserlaufs. Erstaunlicherweise wurde er von keinem Fluss gespeist. Es gab nicht einmal ein trockenes Bett. Das Wasser schien aus der Erde zu quellen. In weiter Ferne erhob sich eine Kette niedriger Hügel, die genauso ausgedörrt waren wie alles andere. Nachmittags erkundeten sie das jenseitige Ufer des Wasserlaufs, immer sicheren Abstand zum Wasser haltend. Das brachte es mit sich, dass sie viel versprechende Stellen nicht gefahrlos erreichen konnten, aber sie fanden anderswo genug zu essen. Um an jenem Abend den Insekten zu entkommen, zogen sie in die Hügel und entdeckten einen guten Lagerplatz zwischen einigen großen Felsbrocken, die sich in der Nähe eines toten Wäldchens befanden. Sie konnten unten den Wasserlauf sehen, aber der Blick auf die eigentlichen Sümpfe wurde von einem niedrigen Hügelrücken versperrt. Als sie sich rund ums Feuer niederließen, setzte sich Ko nicht zu Noli und den anderen. Stattdessen fand er eine Stelle, von wo aus er den Gesprächen der Männer lauschen konnte, um ja nichts zu verpassen, wenn sie über das Krokodil sprachen. Den ganzen Tag lang hatte er immer wieder über das Monster nachgedacht und sich an den furchtbaren Augenblick erinnert, als er vor seinem Angriff geflohen war, zurückgeblickt und gesehen hatte, dass es aufholte. Vielleicht kämen sie doch noch auf eine Idee, wie es zu töten wäre. Sie waren stark und tapfer, ganz besonders Suth. Ko war sich sicher, dass sie es
irgendwie schaffen würden. Doch zu seiner Enttäuschung beratschlagten sie den ganzen Abend, was mit der Zeit anzufangen war, die ihnen bis zur Geburt von Nolis Kind blieb. Hier gab es nichts zu jagen, und die Frauen und Kinder reichten aus, um für alle Nahrung zu sammeln. Also beschlossen die Männer, dass einige von ihnen in ein paar Tagen den weiter westlich gelegenen Rand der Sümpfe erkunden, andere wiederum ins Inland aufbrechen und die Salzpfanne suchen sollten, die Yova entdeckt hatte – weniger als einen Tagesmarsch von hier entfernt, glaubten sie –, um einen frischen Vorrat an Salz zu holen. Zumindest konnte sich Ko daraufhin beruhigt zum Schlafen niederlegen, und voller Glück malte er sich noch einmal aus, alleine zur Salzpfanne aufzubrechen und das wunderbare weiße Salz zurückzubringen. Über dem Tagtraum schlief er ein und träumte weiter, und der Traum verwandelte sich in einen schlimmen Alptraum. Mit einem Klumpen glitzernden Salzes, den er kaum tragen konnte, schritt er stolz im Mondlicht aus, aber der Klumpen wurde kleiner und schmutziger, und der Mond ging unter, und dann hielt er nichts mehr in den Händen, aber es war zu dunkel, um erkennen zu können, wo er das Salz hatte fallen lassen – oder abgelegt hatte, er wusste es nicht mehr genau – und in der Nähe, im Dunkel, war irgendetwas – er konnte einen schnaubenden Atem hören … Er begann zu rennen, aber seine Füße waren so schwer wie Steine, und dann hörte er, wie sich der Angreifer dumpf dröhnend vorwärts wuchtete … Er erwachte und sein Schrei steckte ihm noch in der Kehle. Das Dröhnen war der Schlag seines eigenen Herzens. Jeder Muskel war erstarrt. Seine Arme und Beine
glichen Grabstöcken. Er konnten keinen Finger rühren … Langsam ließ der Schreck nach. Seine Hände entspannten sich, dann seine Beine. Zitternd stieß er sich vom Boden ab und sah sich um. Im Westen stand ein Halbmond hoch am Himmel und schien auf die dunklen Körper hinab, die ruhig zwischen den Felsen schliefen. Dummer Ko. Es war nicht wirklich geschehen, sondern nur ein schlechter Traum gewesen. Alles war gut. Als er sich wieder hinlegte und einzuschlafen versuchte, regte sich jemand. Noli, die nur ein paar Schritte entfernt lag. Es war eine plötzliche Bewegung, als hätte sie schon lange wach gelegen und jemanden ihren Namen flüstern hören. Sie setzte sich aufrecht hin, und Ko hatte das Gefühl, als starrte sie ihn an. Der Mond schien ihr genau ins Gesicht. Ihre Augen standen weit offen, aber im Mondlicht wirkten sie versteinert und tot. Langsam hob sie einen Arm, streckte einen Finger aus und zeigte auf Ko. Sie sprach, wenn auch nicht mit ihrer eigenen Stimme, sondern in einem sanften, tiefen Flüsterton, der Stimme von Mondfalke. »Töte das Krokodil.«
URSAGE
Zweikopf Tov zog zum Tarutu-Felsen. Dort trank er aus der Tausenke und füllte seine Kürbisflasche. Dann machte er sich auf in die Wüste, immer Richtung Westen gehend, mitten hinein in die Jagdgründe der Dämonen. Der Papagei begleitete ihn. Er hockte auf seinem Kopf. Er schlief den ganzen Tag lang. Tov fand kein Wasser. Die Sonne stand hinter seinem Rücken, dann über ihm, dann schien sie in seine Augen und seine Kürbisflasche war leer. Er kam zu Zweikopf. Zweikopf wuchs aus der Wüste empor, wie ein Baum wächst, mit Wurzeln, die tief, tief hinabreichten. Er hatte Arme, aber keine Beine. Der Papagei erwachte und sah ihn. Er verließ Tov und flog auf einen Felsen. Tov sagte: »Habt ihr Nahrung? Habt ihr Wasser? Ich sehe nichts.« Zweikopf antwortete und beide Münder sprachen gleichzeitig: »Wir haben Nahrung. Wir haben Wasser.« Tov sagte: »Ich bin hungrig. Ich bin durstig. Meine Kürbisflasche ist leer. Gebt mir Nahrung und Wasser.«
Zweikopf sagte: »Dies ist unser Jagdgrund. Wir kennen keinen anderen. Unsere Nahrung und unser Wasser sind unter uns, tief, tief. Wir geben nichts ab. Wir sind Zweikopf.« Tov lachte. Zweikopf sagte: »Was ist das für ein Geräusch?« Tov sagte: »Es ist Lachen. Ich lache über eure Dummheit. Ich sage in meinem Herzen zu mir selbst: Sieh dir diesen Zweikopf an. Er hat nur diesen einen Jagdgrund. Er kennt keinen anderen. Ein Fremder kommt. Er kennt viele Jagdgründe. Er kennt viele Geschichten. Zweikopf gibt Nahrung und Wasser. Der Fremde erzählt Geschichten. Er berichtet von vielen Jagdgründen. Sie sind fröhlich zusammen, Zweikopf und der Fremde. Sie lachen.« Zweikopf sagte: »Wir geben nichts ab. Wir lachen nicht. Wir sind Zweikopf.« Tov sagte: »Zweikopf, hört mich an. Ich bringe euch zum Lachen. Dann gebt ihr mir Nahrung und Wasser. Ich bringe euch nicht zum Lachen. Dann gehe ich fort. Ist das gut?« Zweikopf sagte: »Das ist gut. Wir lachen nicht.« Tov sagte: »Ich erzähle euch die Geschichte eines Dummkopfs. Da ist ein Mann. Sein Name ist Tov. Er sieht eine Frau. Ihr Name ist Gata. Sie ist schön, schön. Er geht zu ihrem Vater. Er sagt: Gib mir Gata als Gefährtin.« Da flog der Papagei lautlos vom Felsen auf und hockte sich zwischen die Köpfe von Zweikopf. Zweikopf merkte es nicht. Tov fuhr fort mit der Geschichte. »Gatas Vater sagt: Zuerst bringst du mir ein Geschenk. Bring mir den Zahn von Fododo, dem Vater aller Schlangen. Bring mir den Giftzahn. Tov antwortet: Für
Gata tue ich das … War dieser Tov nicht ein großer Dummkopf?« Da rief der Papagei zwischen den Köpfen von Zweikopf. Sein Ruf war wie Lachen. Er flog davon. Der linke Kopf wandte sich dem rechten zu. Er sagte: »Du hast gelacht.« Der rechte Kopf sagte: »Du warst es.« Sie wurden wütend. Sie kämpften. Sie bissen und schlugen einander. Die linke Hand schlug den rechten Kopf und die rechte Hand schlug den linken Kopf. Ihr Blut floss. Es rann zu Boden. Tov lief mit seiner Kürbisflasche herbei und fing es auf, als es floss. Es war gelb wie Honig und süß. Es war Nahrung und Wasser, genau wie der Saft von Steinkraut. Tov füllte seine Kürbisflasche und ging seiner Wege. Der Papagei begleitete ihn. Als es dunkel wurde, sagte Tov: »Papagei, dies ist ein Jagdgrund der Dämonen. Man muss die ganze Nacht wachen. Den ganzen Tag lang hast du auf meinem Kopf geschlafen. Jetzt schlafe ich und du wachst.« Er legte sich nieder und schlief. Im Dunkel verwandelte sich der Papagei in Falu. Sie wachte die ganze Nacht. Tov erwachte im Dunkeln. Im Licht der Sterne sah er die Gestalt einer Frau, die wachte. In seinem Herzen sagte er zu sich selbst: Das ist Gata. Er rief ihren Namen. Falu antwortete: »Tov, du träumst. Gata ist weit und weit. Schlafe.« Tov schlief. Morgens erwachte er. Falu war wieder ein Papagei.
FÜNF Bis zur Dämmerung lag Ko wach. Ihm war elend vor Angst. Nichts in seinem Leben hatte ihm bisher so viel Furcht eingejagt wie das Krokodil. Auch alle anderen hatten Angst davor, selbst Tun und Suth, doch für sie war es nur ein großes, gefährliches Tier. Für Ko war es etwas anderes. Als er es zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er das sofort begriffen. Das Krokodil war ein Dämon. Es war das Tier aus seinem Alptraum, nur wirklich und leibhaftig und im hellen Tageslicht. Mit wem konnte er darüber reden? Wer würde ihn wirklich verstehen und nicht mit freundlichen Worten trösten wie: ›Hab keine Angst, es ist kein echter Dämon. Es ist bloß ein Alptraum‹? Nicht einmal Suth, das spürte er. Vielleicht Noli. Außerdem könnte er sie fragen, was sie gemeint hatte, als sie mit ausgestrecktem Finger auf ihn gezeigt hatte. Oder was Mondfalke gemeint hatte. Wenn Noli sich daran erinnerte – das konnte sie nicht immer. Egal, er würde sie fragen. Zumindest würde sie ihn nicht auslachen. Aber als die anderen erwachten und sich für den Tag bereitmachten, musste sich Noli um Tor kümmern. Tor machte sich Sorgen um die Stachelschweine, die sie zum letzten Mal gesehen hatten, als sie sich getrennt und auf die beiden Flussufer verteilt hatten. Wie ging es ihnen? Hatten auch sie Wasser und Nahrung gefunden? Wenn das nicht der Fall war, dann wären sie inzwischen alle tot. Da Tor und Noli nicht miteinander reden konnten, glichen sie diesen Mangel aus, indem sie viel mehr Zeit miteinander verbrachten als alle anderen Paare. Sie saßen beisammen, umarmten und streichelten sich. Noli schien auch ohne
Worte zu begreifen, woran Tor dachte, und sie sagte, er verstehe sie auf dieselbe Art. Nur, dass diese wortlosen Gespräche viel länger dauerten und viel mehr mit Gefühlen und ähnlichen Dingen zu tun hatten. Nun versuchte sie ihn zu trösten und ihm zu sagen, sie sei sich sicher, dass es seinen Freunden gut gehe, also ließ sich Ko in der Nähe nieder und wartete darauf, dass sie fertig würden. Nach einer Weile kam Mana zu ihm, setzte sich neben ihn und bot ihm einen Rest geröstete Blauwurzel vom letzten Abend an. Er schüttelte den Kopf. »Ko, du isst nichts«, sagte sie. »Warum?« »Ich habe keinen Hunger«, murmelte er. »Ko, du bist traurig«, sagte sie. »Warum bist du traurig. Erzähle.« Er seufzte und ohne sie anzublicken erzählte er ihr mit leiser Stimme von seinem Traum und Erwachen. Sie antwortete nicht sofort, ergriff aber seine Hand und saß nachdenklich da. Dann erhob sie sich, ließ ihn aber nicht los. »Komm«, sagte sie. »Du erzählst es jetzt Tinu.« »Nein«, sagte er, ohne sich zu bewegen. »Das will ich nicht.« »Komm«, wiederholte sie beharrlich. »Es ist gut für Tinu.« Sie zog ihn auf die Beine. Zögernd und erleichtert zugleich folgte er ihr zu der Stelle, wo Tinu Grassamen mahlte. Sie hatte sie auf einem flachen Felsbrocken ausgebreitet und ging mit einem runden Stein immer wieder darüber hinweg. Seit dem Fest, als Chogi vorgeschlagen hatte, dass sie und Nar einander als Gefährten erwählen sollten, war Tinu noch stiller als sonst und hatte sich noch mehr zurückgezogen. Sie schien gar
nicht bei der Sache zu sein, als Ko seine Geschichte noch einmal vor sich hin murmelte. Und als er fertig war, fuhr sie wortlos damit fort, den Stein hin- und herzurollen und die Samen zusammenzufegen, wenn sie zu weit verstreut waren. »Tinu«, sagte Mana. »Wie töten wir das Krokodil?« Tinu hielt mit der Arbeit inne und sah Ko ins Gesicht. Zum ersten Mal seit Tagen sah er, wie sie ihr schiefes Lächeln lächelte. »Ko … Das ist … schwierig«, nuschelte sie. »Ich denke.« Ko dankte ihr und überließ sie wieder ihrer Arbeit. Und Tinu dachte nach. Ko bemerkte es daran, dass sie hin und wieder alleine dastand, als sie längs des Wasserlaufs Nahrung sammelten, und die Insektenschwärme gar nicht wahrnahm, die sie umschwirrten und auf ihrem Körper herumkrochen. Dann begannen ihre Hände unsichtbare Formen in die Luft zu malen und sie runzelte die Stirn, verscheuchte geistesabwesend die Insekten und machte sich wieder ans Sammeln. Das gab Ko das Gefühl, als brauchte er sich nicht selbst um das Problem zu kümmern, und er gab sich einem guten Traum hin, in dem er, Ko, einen geheimen Weg durch die Sümpfe fand und alle anderen hinüber zu den wunderbaren, jenseitig gelegenen Guten Jagdgründen führte. Schon bald war er weit fort, genoss die Vorstellung des Festes, nachdem sie den ersten Hirsch erbeutet hatten, und von allen Prahlereien und Lobreden war keine besser als diejenige Kos, der den Weg durch die Sümpfe entdeckt hatte. Ohne Vorwarnung gab der Boden unter seinen Füßen
nach. Er stürzte geräuschvoll und schrie laut auf vor Schreck. Suth, der unmittelbar vor ihm ging, wandte sich um und lachte. »Ko«, sagte er. »Der Jäger passt auf, wo er seinen Fuß hinsetzt.« Einige andere Sammler hatten gesehen, was passiert war, und lachten ebenfalls. Nar war unter ihnen. Ko kletterte aus der Grube, in die er gestürzt war – sie war nur hüfttief –, und trat wütend nach dem Grasbüschel, das sie verborgen hatte. »Ich passe auf«, fauchte er. »Seht, das Gras hat das Loch verdeckt.« Suth lachte noch einmal und wandte sich ab. Ko zerbrach sich vergeblich den Kopf über eine weitere Erwiderung, als Tinu kam und sich neben die Grube kniete. Sorgsam richtete sie das Gras wieder auf, das sie verborgen hatte, und streute dann einige Hand voll lockerer Erde auf die Gräser. »Tinu, was tust du?«, fragte Ko. »Ko … Wir töten … Krokodil …«, antwortete sie. »Du zeigst … wie.« Während der Mittagsrast sah Ko zu, wie sie eine kleine runde Grube buddelte, dann mit Zweigen und Stängeln hantierte, um sie zu bedecken und schließlich unter einer dünnen Schicht Erde zu verstecken. Als sie fertig war, holte Ko Suth herbei. Und Tinu zeigte ihm, wie das Krokodil auf die Falle gelockt werden konnte, damit es einbrach und in die Grube stürzte. Ein dicker Stock stellte das Krokodil dar und ein dünnerer jenen Menschen, der als lebender Köder dienen und es aus dem Wasser locken sollte.
»Wie wir den Löwendämon töten?«, sagte Suth. Und dann, lächelnd: »Ko, du bist wieder Köder?« Ko wand sich. Das war ein Spaß, der ihm nicht gefiel, denn er spielte auf eine seiner Dummheiten an, eine, die so lange zurücklag, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Aber es wurde ihm immer wieder erzählt, dass er zu einem gefährlichen Ort gelaufen und Noli hinter ihm hergeeilt sei. Der Löwendämon habe sie fast eingeholt, aber Noli sei mit Ko zu einer Falle gerannt, die die Männer gebaut hatten, wo jemand von oben einen Felsbrocken auf den Löwen fallen lassen und ihn töten konnte. Als Tinu das Modell wieder hergerichtet hatte, holte Suth die restlichen Männer und erklärte ihnen die Idee. Als sie an jenem Abend rund ums Feuer saßen, sprachen sie darüber, brachten aber kein besonderes Interesse dafür auf. »Das ist viel, viel Arbeit«, sagte Kern. Die anderen lachten, weil Kern richtig harter Arbeit gerne aus dem Weg ging, wann immer er konnte, doch dann sagte Var: »Kern spricht wahr. Hier gibt es Nahrung für fünf Tage, sechs Tage, ich weiß es nicht. Es gibt kein Fleisch. Bald müssen wir aufbrechen. Sollen wir unsere Kraft geben und diese Grube ausheben? Ich sage Nein.« Net sagte: »Ich sage, wir holen Salz. Einige holen Salz. Einige ziehen nach Westen. Sie suchen einen neuen Guten Jagdgrund.« Sie wälzten das Problem hin und her und entschieden dann, am nächsten Tag zusätzliche Nahrung für die zwei Expeditionen zu sammeln und am übernächsten Tag aufzubrechen. Sollte jene Schar, die den Rand der Sümpfe erkundete, zurückkehren, ohne einen neuen Jagdgrund entdeckt zu haben, dann würden sie darüber nachdenken,
wie das Krokodil zu töten wäre. In dieser Nacht hatte Ko wieder seinen Alptraum. Er war genauso schlimm wie der zuvor, nur, dass er diesmal am Wasserlauf stand und das Krokodil kam und er, schlau wie er war, auf die Falle zulief, die die Männer gegraben hatten … doch sie hatten es nicht getan, sie waren stattdessen aufgebrochen, um Salz zu holen, und Ko war allein, allein in der dunklen Wüste, er hatte sich verirrt und seine Beine wollten ihm nicht gehorchen und das furchtbare Dröhnen kam näher und näher … Als er diesmal erwachte, rührte sich Noli nicht. In der folgenden Nacht war es dasselbe. Er hatte zu viel Angst, um wieder einschlafen zu können, also schlich er sich im Dunkeln aus dem Lager und ging zum Hügelkamm, wo er sich niederließ, um auf die Sümpfe zu starren. In den Nächten löste sich der Hitzeschleier auf und es bildeten sich fahle Nebelstreifen, die im Licht des untergehenden Mondes sehr schön aussahen. Bei Sonnenaufgang verschwanden auch sie und für kurze Zeit konnte er die ganzen Sümpfe überblicken, Schilfgürtel, Schlammbänke und Wasser, mit größeren Inseln hier und da, auf denen zum Teil Bäume wuchsen. Ko wäre gerne sitzen geblieben und hätte nach Anzeichen für einen Weg gesucht, aber inzwischen kam das Lager in Bewegung, und da er keine Lust hatte, Fragen nach seinem Verbleib beantworten zu müssen, schlich er zurück und gesellte sich zu den anderen. Auch tagsüber hatte er Angst vor dem Krokodil, doch es war eine andere Art von Angst, jene Angst, die auch die anderen verspürten. Wenn das Monster sich nicht sonnte und unsichtbar blieb, hielten alle großen Abstand zum Wasser, die meiste Zeit über war es aber nicht viel mehr als ein ernsthaftes Ärgernis. Nur wenn der Warnruf eines Wachtpostens ertönte, um den anderen zu sagen, dass das
Krokodil seine Insel verlassen hatte, empfand Ko etwas von seiner nächtlichen Angst. Dann starrte er auf die friedliche Oberfläche des Wasserlaufs und wusste, dass sich das Monster irgendwo darunter verbarg, mit großer Wahrscheinlichkeit näher und näher kam und wieder versuchte, einen Unachtsamen zu schnappen … Sobald die Männer zu ihren Expeditionen aufgebrochen waren, rief Chogi die Frauen zusammen. »Hört mich an«, sagte sie auf ihre ernste und ängstliche Art. »Ich, Chogi, sage dies. Die Männer sind fort. Jetzt graben wir Frauen die Grube. Dann kommen die Männer zurück. Sie ist fertig. Die Männer töten das Krokodil. Wir haben Fleisch. Wir finden mehr Pflanzennahrung. Wir bleiben zehn Tage hier und noch zehn. Nolis Baby wird geboren. Es ist stark. Wir sind stark. Wir sammeln Nahrung. Wir bewahren sie auf. Dann ziehen wir weiter, weit und weit. Ist das gut?« Alle stimmten zu, und als sie an diesem Tag genug Nahrung gesammelt hatten, begannen sie mit der Arbeit. Sie wählten eine Stelle auf einem der offenen, zum Ufer hin abfallenden Geländestreifen aus, die zwanzig Schritte vom Wasser entfernt lag, schnitten sich Grabstöcke wie die Männer und begannen zu graben. Derweil brachen die älteren Kinder, Ko, Mana und Nar, Zweige von den Büschen ab und bauten einen niedrigen Wall zwischen Ufer und Grube, so dass sie Wache halten konnten, ohne dass das Krokodil ihre gefährliche Nähe zum Wasser bemerkte. Als der Wall fertig war, verteilten sich die drei dahinter, hockten sich hin und beobachteten die stille Oberfläche des Wasserlaufs. Jeder hatte einen Haufen Steine neben sich liegen und war zum Werfen bereit.
Es dauerte nicht lange, da stieß Mana einen leisen Schrei aus und zeigte auf etwas. Ko schaute genau hin. Ja! Dort! Ein dunkler Schatten, wie ein Stück Treibholz, das gerade eben aus dem Wasser ragte, aber ganz langsam immer näher kam … Nar war dem Schatten am nächsten. Mana und Ko eilten zu ihm. Sobald das Krokodil in Reichweite war, standen sie auf und schleuderten ihre Steine. Sie hatten alle mit Steinen auf Ziele geworfen, seit sie Kleinkinder gewesen waren, denn es war eine Fertigkeit, die sie zum Überleben brauchten. Von einem guten Jäger wurde erwartet, mit wenigstens drei Versuchen einen Vogel vom Baum zu holen, wenn die Wurfbahn frei war. Nun hagelte plötzlich ein Regen von Steinen auf die Schnauze des Monsters herab. Wenigstens einer war ein Volltreffer. Das Wasser wurde wild aufgewühlt, und als sich die Oberfläche wieder beruhigte, war das Krokodil verschwunden. Ko ging mit klopfendem Herzen zu seiner Stelle zurück. Zeit verstrich und dann sahen er und Mana denselben dunklen Schatten weiter draußen im Wasser und wieder näherte er sich langsam dem Ufer. Diesmal verschwand er unter der Oberfläche, bevor er in Reichweite kam, aber der Wasserlauf war so unbewegt, dass Ko die winzigen Wellen sehen konnte, die von etwas Großem verursacht wurden, das sich dicht unter der Oberfläche bewegte und auf seine Seite des Walls zustrebte. Er rief und die anderen eilten ihm zu Hilfe. Als die Wellen nahe genug waren, ließen sie Steine auf die Stelle hinabregnen, und wieder wurde das Wasser aufgewühlt, als das Krokodil kehrtmachte und floh. An jenem Vormittag unternahm es noch einen Versuch, bevor es aufgab und zu seiner Insel zurückkehrte. Dort blieb es und sonnte sich während der heißesten Zeit des Nachmittags, so dass Ko und Nar dabei helfen konnten,
Erde aus der Grube zu schaffen, während Mana alleine Wache hielt. Es war schwere Arbeit. Tinu hatte Matten aus Schilf geflochten. Zwei der Frauen lockerten die Erde mit Grabstöcken. Vier andere schaufelten sie mit den Händen auf die Matten, und der Rest schaffte die vollen Matten fort. Nach einer Weile fielen sie auseinander, aber es gab viel Schilf, und Tinu war ständig damit beschäftigt, neue Matten zu flechten. Alle Steine, die sie ausgruben, legten sie beiseite, die kleineren, um sie auf das Krokodil zu werfen, und die größeren für die Männer, zum späteren Gebrauch, wenn sie das Monster gefangen hätten. Nach einer Weile rief Mana ihnen etwas zu. Das Krokodil hatte seine Insel verlassen und Ko und Nar rannten herbei, um es mit zu verscheuchen. An diesem Nachmittag unternahm ihr Feind noch vier Angriffsversuche und mit jedem schien er mutiger zu werden, näher zu kommen und länger durchzuhalten. Beim letzten Mal floh er nicht außer Reichweite, sondern schwamm am Ufer entlang, als suchte er nach einer Möglichkeit, sie zu umgehen. Sie folgten ihm, schrien und schleuderten ihre Steine, bis das Krokodil hinter dem Dickicht verschwand, das sich am Rand des Wasserlaufs entlangzog. Zu diesem Zeitpunkt begann es dunkel zu werden und das Licht war zu schlecht, um noch vernünftig sehen zu können. Außerdem waren die Frauen vom Graben erschöpft und sie gaben auf und gingen zurück zum Lagerplatz. Unterwegs sprang Ko in die Grube und stellte fest, dass sie ihm schon bis zur Hüfte reichte. An diesem Abend legte er sich froh und mit einem guten Gefühl nieder. Mit ein wenig Hilfe von Mana und Nar hatte er Ko, den ganzen Tag lang das Krokodil auf Abstand gehalten. Er hatte es besiegt. Wenn er das einmal
geschafft hatte, dann auch ein zweites Mal. Jedenfalls in seinen Träumen. Aber es kam anders. Der Triumph bei Tag hatte keine Auswirkung auf die Schrecken der Nacht. Er hockte hinter dem Wall und hielt mit den anderen zusammen Wache, dann aber war er plötzlich allein, es war dunkel, er starrte in Erwartung des Angriffs auf den mondbeschienenen Wasserlauf, und die Steine, die er gesammelt hatte, waren auf irgendeine Weise verschwunden, und das Monster befand sich schon an Land, hinter ihm, im Dunkel … und dann begann das furchtbare Dröhnen des Angriffs … Wie üblich erwachte er an dieser Stelle und schlich sich aus dem Lager zu seinem Beobachtungspunkt, wo er, auf den Sonnenaufgang wartend, dasaß und auf die Sümpfe starrte. Die nächsten zwei Tage verliefen ganz ähnlich. Irgendwann mussten die Kinder ein paar Volltreffer gelandet haben, die dem Krokodil selbst durch seinen Panzer Schmerzen bereitet hatten. Für eine Weile jedenfalls schien es müder zu sein und verschwand, sobald die ersten Steine ins Wasser plumpsten. Doch es gab nicht auf. Die Frauen gruben inzwischen weiter. Mit wachsender Tiefe wurde die Arbeit immer schwerer, und als die Männer am zweiten Nachmittag mit Salz zurückkehrten, mussten die Ränder der Grube mit Ästen gesichert werden, damit sie nicht hineinstürzten. Ohne es ganz ernst zu meinen, lobten die Männer die Frauen, blieben aber nicht da, um zu helfen. Sie redeten sich damit heraus, unterwegs eine Stelle mit Steinen gefunden zu haben, die gut zum Herstellen von Klingen geeignet seien. Am nächsten Morgen brachen sie auf, um die Steine aufzulesen, und überließen die Frauen allein ihrer Arbeit.
Am vierten Tag trat eine Veränderung ein. Das Krokodil befand sich nicht auf seiner Insel, und als sie den Wasserlauf erreichten, entdeckten sie zu ihrer Bestürzung, dass es nachts an Land gegangen sein musste. An zwei Stellen war der Wall durchbrochen worden und rund um die Grube herum konnten sie die riesigen Prankenspuren und die Schleppspur des Schwanzes erkennen. Sie richteten den Wall wieder her und Ko und Nar hockten sich angespannt hin, während Mana loszog, um noch mehr Steine zu sammeln. Fast sofort griff das Krokodil an. Mit einem Schlag war es an Land, ohne jede Vorwarnung, schlug das Wasser zu Schaum, setzte zu seinem schrecklichen, hüpfenden Lauf an und durchbrach die Mitte des Walls. Seine schuppigen Flanken troffen noch von Nässe. Wäre Mana auf Posten gewesen, sie hätte keine Chance gehabt. Ko war wurfbereit. Er schrie, schleuderte einen Stein und raste den Hang hinauf. Die Frauen halfen sich gegenseitig aus der Grube und dann flohen alle vor dem Angriff. Oben auf dem Hang angekommen wandten sie sich um und sahen, wie das Monster enttäuscht die Grube umkreiste und wohl noch den Geruch jenes frischen Fleisches witterte, wonach es hungerte. Erschaudernd musterte Ko das Krokodil. Wenn er darüber nachdachte, fragte er sich manchmal, ob er es in seinen Träumen nicht größer machte, als es in Wirklichkeit war. Aber dem war nicht so. Es war riesig und Furcht erregend. Er fragte sich, ob die Grube je groß genug wäre, um es darin verschwinden zu lassen, sollten die Männer Erfolg haben und es hineinlocken können. Schließlich gab es auf, schleppte sich zum Wasser und verschwand. Als sie sahen, dass es auf die nächstgelegene Insel kletterte, machten sie sich wieder an die Arbeit, und eines der Kinder behielt es im Auge.
An diesem Morgen griff es noch zweimal an, schien aber nicht zu begreifen, dass es beim Verlassen der Insel beobachtet wurde, so dass sich alle in Sicherheit gebracht hatten, wenn es an Land kam. Die Unterbrechungen waren den Frauen mehr als lästig, denn sie waren entschlossen, die Arbeit zu beenden, bevor die Männer abends zurückkehrten. Also arbeiteten sie auch während der schwülen und sengenden Mittagshitze, wobei ihnen der Schweiß aus allen Poren troff und eine Insektenwolke sie umschwirrte, so dicht wie der Dunst über den Sümpfen. Am frühen Nachmittag war die Grube tief genug und sie begannen sie mit Schilf zu bedecken, das sie auf ein Gitter aus dünnen Ästen legten. Das brauchte Zeit. Als die Sonne die Hälfte des Weges den Himmel hinab zurückgelegt hatte und Ko, ein Büschel von geschnittenem Schilf unter dem Arm, den Hang hinunterging, hörte er, dass Nar vom Wall her rief. Das Krokodil hatte seine Insel noch einmal verlassen. Er ließ das Schilf fallen und wollte sich schon in Sicherheit bringen, als Chogi ihn von der Grube aus rief. »Ko, bring das Schilf her. Geh mit aufpassen. Mana, gehe du auch. Haltet euch vom Wasser fern. Wir sind fast fertig. Du siehst das Krokodil. Du rufst. Du rennst. Wir rennen. Sag das Nar.« Also nahmen die drei Wachtposten ihre Stellung ein gutes Stück hinter dem Wall ein, um genug Vorsprung zu haben, wenn das Krokodil noch einmal angreifen sollte. Ko wartete, angespannt wie immer. Inzwischen konnte er genau abschätzen, wie lange das Krokodil brauchte, um von der Insel bis zum Ufer zu schwimmen … Nur noch ein wenig … »Gefahr!« Alle drei Wachtposten riefen gleichzeitig. Ko rannte
schon. Dicht vor ihm kletterten die Frauen aus der Grube. Er blickte nach rechts. Mana lief den Hang hinauf … Wo war Nar? Er blickte zurück. Da war Nar, auch er rannte. Aber irgendetwas stimmte nicht mit seinem Bein. Das Krokodil hievte sich schon aus dem Wasser, sprang auf den Wall zu, brach durch … Es sah den vor ihm humpelnden Nar und setzte ihm nach. Nar war zu langsam … Plötzlich ging es seinem Bein wieder besser und er begann zu rennen, nicht den Hang hinauf, sondern in schräger Richtung, dem Krokodil genau in die Quere. Das Krokodil hatte ihn fast erreicht. Es bäumte sich zum letzten Angriff auf. Nar warf sich mit aller Kraft nach links, dicht an den Rand der Grube. Sofort war er wieder auf den Beinen und rannte weiter. Hinter ihm ertönte ein reißendes Krachen, als das Krokodil auf dem halb fertigen Dach der Grube landete und einbrach. Die Frauen schrien und hasteten den Hang hinab. Als sie die Grube erreichten, warf das Krokodil den Kopf hoch und seine Vorderbeine wirbelten beim Versuch, einen Halt am Rand zu finden. Zara schlug ihm den Grabstock mit voller Wucht über den Schädel. Yova schnappte sich einen der großen Steine, die sie bereitgelegt hatten, hob ihn mit beiden Händen über ihren Kopf und schleuderte ihn. Der Stein prallte auf den Nacken des Monsters. Es brüllte und rutschte zurück. Aber es war riesig. Und wie Ko sich gedacht hatte, reichte die Grube nicht ganz aus, um es zu halten. Hätte man es allein gelassen, dann wäre es ohne Schwierigkeiten hinausgeklettert, doch jedes Mal, wenn es einen Versuch unternahm, wurde es von den Frauen zurückgeschlagen. Auch Ko schoss herbei und schleuderte alles, was er in die
Finger bekam. Dann gab der Rand der Grube nach, genau unter Tinus Füßen, aber Yova packte sie beim Arm und riss sie zurück. Das Monster begann den so entstandenen Hang hinaufzukriechen, doch Moru eilte herbei und schlug es von rechts genau aufs Auge. Es brüllte vor Schmerz und rollte zurück, rutschte wieder hinab in die Grube, wobei sein großer Schwanz nutzlos um sich schlug, und landete schließlich halb auf der Seite liegend auf dem Boden, mitten zwischen dem Wirrwarr von Schilf und Zweigen. Chogi und Yova hoben schon einen Felsbrocken hoch, der so groß war, dass beide zusammen ihn kaum tragen konnten. Sie warteten einen günstigen Augenblick ab, schwangen ihn über den Rand und ließen ihn fallen. Er prallte auf ein Vorderbein des Krokodils, genau unter der Schulter. Wieder brüllte es vor Schmerz. Das Monster schlug wild mit dem Schwanz und schaffte es, sich aufzurichten, aber es war deutlich zu erkennen, dass das Bein gebrochen war. Als es den Hang hinaufzuklettern versuchte, konnte es nicht Fuß fassen und fiel zurück, während immer mehr Steine auf es hinabregneten, bis alle aufgebraucht waren. Keuchend standen Frauen und Kinder rund um die Grube und warteten darauf, dass das Monster sterbe. Es unternahm noch ein paar schwache Versuche hinauszuklettern, lag aber schließlich einfach da und zuckte und dann rührte es sich nicht mehr. »Wir töten das Krokodil«, sagte Chogi feierlich. »Wir Frauen tun das.« Bei Sonnenuntergang kehrten die Männer zurück, beide Gruppen zugleich. Ko war hinauf zum Lagerplatz gegangen, um auf sie zu warten, und von seinem Standpunkt aus konnte er sie müde den unebenen Hang
entlangtrotten sehen, der zu den Sümpfen hinabführte. Ihre Art zu gehen verriet ihm, dass sie keine neuen Guten Jagdgründe gefunden hatten. Er lief ihnen glücklich entgegen und ergriff Suths Hand. »Geht nicht zum Lager«, sagte er. »Kommt zum Wasserlauf. Dort gibt es etwas zu sehen.« »Was gibt es zu sehen?«, fragte Suth mit einem müden Lächeln. »Die Frauen beenden die Grube«, riet Var, der einer jener Männer war, die das halb ausgehobene Loch zu Gesicht bekommen hatten. »Nein«, sagte Ko. »Es ist mehr, mehr. Kommt.« Suth kam mit und die anderen folgten ihm. Ko rannte voraus und rief vom oberen Ende des Hangs: »Die Männer kommen! Die Männer kommen! Ich sage ihnen nicht: Das Krokodil ist tot!« Die Frauen hatten oben auf dem Streifen freien Geländes gesessen und mit Zweigen gewedelt, um die Insekten zu verscheuchen. Nun erhoben sie sich, warteten darauf, die Männer begrüßen zu können, und führten sie zur Grube. Völlig verblüfft starrten die Männer hinein. »Chogi, das ist gut, gut«, sagte Tun schließlich. »Heute Abend feiern wir.« Zu diesem Zeitpunkt wurde es dunkel, doch Tun schickte Nar los, um heiße Glut vom Lagerplatz zu holen, und sie entfachten ein kleines Feuer und entzündeten Büschel trockenen Schilfs, eines nach dem anderen, um sehen zu können, was sie taten. Mit großer Anstrengung zogen sie den Kadaver aus der Grube und maßen ihn mit Schritten ab. Von der Schnauze bis zur Schwanzspitze war er mehr als sieben Schritte lang. Als Nächstes hackten sie einen Teil des
Krokodilschwanzes ab, den sie zum Lagerplatz hinauftrugen, um ihn zu rösten, während die anderen das tote Tier zur Sicherheit mit Steinen bedeckten. Dann aßen sie. Zum ersten Mal seit vielen Monden gab es für jeden genug Fleisch, und nach der tagelangen Pflanzennahrung war das wunderbar. Als sie gegessen hatten, stand Tun auf, hob die Hand und gebot ihnen zu schweigen. »Hört mich an«, sagte er. »Ich, Tun, spreche. Wir Männer gingen in Richtung Sonnenuntergang. Wir gingen weit und weit. Wir fanden schlechte Jagdgründe, Jagdgründe der Dämonen, ohne Nahrung, mit fauligem Wasser, Sumpfwasser. Wir kommen zurück. Wir sind hungrig, wir sind traurig. In unseren Mägen wohnt Angst. Wir finden die Frauen. Sie sagen uns Worte des Glücks. Sie töten das Krokodil. Zu euch, Männer, sage ich: Dies ist die Tat von Helden. Lasst Chogi sprechen. Lasst sie ihre Tat rühmen.« Alle riefen. Chogi stand auf, hob die Hand und wartete. Sie sieht nicht anders aus als sonst, dachte Ko, wenngleich es ihm neu war, dass ein Anführer eine der Frauen einlud, um ihre Tat zu rühmen. »Hört mich an«, sagte sie, als alle still waren. »Ich, Chogi, spreche. Ich spreche für die Frauen. Ich rühme alle Frauen. Zuerst rühme ich Tinu. Sie sah, wie Ko in eine Grube fiel. Sie sagte in ihrem Herzen zu sich selbst: So töten wir das Krokodil. Es ist Tinus Gedanke. Sie ist klug. Dann rühme ich die Frauen. Ich rühme Yova, Zara, Dipu, Galo, Bodu, Runa, Moru, Noli, Shuja. Wir gruben die Grube. Die Arbeit war schwer, schwer. Wieder rühme ich Tinu. Sie war schlau und flocht Matten. Sie trugen die Erde, viel und viel. Ich rühme die Kinder, die auf das Krokodil achteten. Sie passten gut auf. Sie warfen Steine.
Sie vertrieben es. Ich rühme den Jungen Nar. Nar war klug. Er war tapfer. Das Krokodil kam aus dem Wasser. Wir liefen. Wir liefen schnell. Nar lief. Er lief langsam. Er lief wie ein Junge mit einem kranken Bein. Das Krokodil sieht ihn. Es sagt in seinem Herzen zu sich selbst: Das Bein dieses Jungen ist krank. Ich fange ihn. Nar läuft zur Grube. Das Krokodil ist dicht, dicht. Nar springt zur Seite. Das Krokodil sieht die Grube nicht. Es fällt in die Grube. Wir Frauen kommen. Wir kämpfen mit dem Krokodil. Wir schlagen es mit Grabstöcken. Wir schleudern große Felsbrocken …« Ko hörte nicht mehr zu. Er hatte das Gefühl, vor Scham und Wut platzen zu müssen. Vielleicht hätte er es ertragen, wenn Chogi einfach nur Nars Namen genannt und ihn gerühmt hätte. Warum aber musste sie auch Ko erwähnen, und nicht etwa deshalb, weil er irgendetwas Kluges oder Tapferes vollbracht hatte, sondern nur, um alle an den dummen Sturz in die Grube zu erinnern? Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, seinen Namen im Zusammenhang mit dem bisschen Ruhm zu nennen, der ihm vergönnt war. Er war nur eines der Kinder, die Wache gehalten und das Krokodil mit Steinen verscheucht hatten. Ko war sich sicher, dass einige seiner Steine nicht nur Treffer gewesen waren – sie hatten das Monster richtig verletzt und davon abgeschreckt, in den ersten drei Tagen noch häufiger anzugreifen. Und er hatte beim Kampf an der Grube geholfen … Doch alles, was den anderen über seinen Anteil an diesem Abenteuer in Erinnerung bliebe, wäre die Tatsache, dass er in ein dummes Loch gestürzt war! Und Tinu hätte keinen Gedanken daran verschwendet, wie das Krokodil zu töten wäre, wenn Ko sie nicht darum gebeten hätte … Und es kam noch schlimmer, denn sie ließen Nar aufstehen, damit auch er seine Tat rühmen konnte, und er
machte seine Sache gut, nicht stockend und stotternd wie Ko, nachdem er durch Zufall die Löwin vertrieben und Kerns Leben gerettet hatte, sondern mit guten Worten, die ihm leicht von den Lippen gingen. Als Ko sich zum Schlafen niederlegte, war er noch immer verletzt und wütend. Seltsamerweise blieb der Alptraum diesmal aus, doch beim ersten Zeichen der Morgendämmerung erwachte er mit zwei festen Vorsätzen. Irgendwie würde er, Ko, einen Weg durch die Sümpfe finden. Und wenn er das geschafft hatte, würde er einen Gefährten für Tinu suchen. Um sich selbst zu beweisen, dass es ihm ernst war, stahl er einen kleinen Klumpen des neuen Salzes, als niemand hinschaute, und tat ihn in seine Kürbisflasche, damit er ihn Tinu und dem Mann – wer immer es sein mochte – geben konnte, wenn sie einander erwählten.
URSAGE
Beutelwurm Tov zog nach Westen. Der Papagei begleitete ihn, der kleine graue Papagei mit den gelben Schwanzfedern. Den ganzen Tag lang hockte er auf seinem Kopf und schlief. Die Sonne stand hinter seinem Rücken, dann über ihm, dann schien sie in sein Gesicht und seine Kürbisflasche war leer. Er kam zum Jagdgrund von Beutelwurm. Beutelwurm lag in der Wüste. Er war ein großer Wurm und sein Bauch war ein Beutel. Er war voller Wasser. Er legte ein Ohr auf die Erde und hörte Schritte. Er sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Einer kommt. Er findet kein Wasser. Er stirbt. Ich fresse ihn. Er spuckte sein Wasser in den Sand und kroch davon. Tov sah das Wasser und lief darauf zu. Beutelwurm sog mit seinem Mund, und das Wasser verschwand in seinem Bauch und war weg. Wieder sah Tov Wasser und lief, aber das Wasser war nicht da. Er sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Das ist ein Zauberding. Aber ich bin Tov. Als er das Wasser zum dritten Mal sah, lief er nicht. Er sagte: »Wach auf kleiner Papagei. Fliege hoch hinauf. Sieh das Wasser. Bald ist es weg. Folge ihm.«
Der Papagei flog hoch hinauf. Dann lief Tov. Beutelwurm hörte ihn und sog das Wasser mit seinem Mund wieder ein. Der Papagei folgte ihm. Dann folgte Tov auf leisen Sohlen dem Papagei, bis er zur Stelle kam, wo Beutelwurm lag. Tov überraschte ihn von hinten, machte einen Satz durch die Luft und landete auf dem dicken, fetten Bauch, so dass alles Wasser herausspritzte. Dann packte Tov Beutelwurm bei der Kehle und stopfte Erde in dessen Mund. Mit dem unteren Ende seines Grabstocks rammte er sie fest hinein. Nun konnte Beutelwurm das Wasser nicht mehr einsaugen. Tov trank und füllte seine Kürbisflasche. Im Wasser sah er Wesen, die Fische genannt werden. Sie sind Menschennahrung. Er nahm sie und zog weiter Richtung Westen. Bei Anbruch der Nacht machte er Halt und aß Fische, bis sein Magen voll war. Der Papagei aß nichts. Fische sind keine Papageiennahrung. Tov sagte: »Kleiner Papagei, ich bin müde. Den ganzen Tag lang hast du auf meinem Kopf geschlafen. Halte jetzt Wache, während ich schlafe.« Tov schlief. Der Papagei hockte sich auf einen Felsen zu seinen Füßen. Im Dunkel verwandelte er sich in Falu. Sie war hungrig und aß den Fisch, wobei sie die Gräten ausspuckte. Dann hielt sie Wache. Tov erwachte. Im Sternenlicht sah er Falu, die auf dem Felsen zu seinen Füßen saß. Er rief: »Gata?« Falu antwortete: »Es ist nicht Gata. Sie ist weit und weit. Tov, du träumst. Schlafe.« Tov schlief. Als es Tag war, erwachte er und sah den Papagei, der auf dem Felsen zu seinen Füßen hockte.
Neben dem Felsen sah er die Fischgräten. Er sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Von diesen Gräten habe ich nicht geträumt. Dieser Papagei ist schlau, schlau. Aber ich bin Tov.
SECHS Am nächsten Morgen hackten die Männer unter großen Schwierigkeiten den Kopf des Krokodils ab und steckten ihn neben dem Lagerplatz auf einen Pfahl, um zu zeigen, was die Frauen getan hatten. Nun, da das Monster tot war, konnten sie gefahrlos weit größere Teile des Wasserlaufs nach Nahrung absuchen und ins Wasser waten, wenn sie jene Abschnitte des Dickichts erreichen wollten, die sich am Ufer entlangzogen. Außerdem gab es Krokodilfleisch für mehrere Tage, selbst wenn es in der feuchten Hitze fast sofort schlecht zu werden begann. Doch ihre Mägen konnten einiges vertragen und sie aßen es noch, ohne krank zu werden, als es schon richtig stank. Die zusätzliche Nahrung ermöglichte es ihnen zu bleiben, bis Nolis Baby auf die Welt käme, also entschlossen sie sich zum Warten. Ko wurde immer rastloser. Sobald sich die Möglichkeit bot, schlich er hinab zum Ufer und suchte nach Stellen, wo der Schlamm trockener und fester zu sein schien als anderswo. Einmal wagte er sich ein paar Schritte weit auf eine trockene Schlammbank vor, doch dann wurde der Boden weicher und er erinnerte sich plötzlich daran, wie Net eingebrochen und nur um ein Haar wieder herausgezogen worden war. Also tastete er sich zurück und brachte sich, zitternd vor Angst, in Sicherheit. Er entdeckte jedoch auch andere Stellen, wo flach getretene Schilfbüschel auf dem Schlamm lagen, und an diesen Stellen schienen die Halme sein Gewicht so zu verteilen, dass er unbesorgt auftreten konnte. Diese Stellen führten natürlich nirgendwohin, aber angenommen, er könnte beim Gehen genug Schilfhalme abschneiden und
sie vor sich auf den Weg legen … Als er eines Abends darüber nachdachte, fielen ihm die Matten ein, die Tinu geflochten hatte, damit die Frauen beim Ausheben der Krokodilfalle die Erde wegschaffen konnten. Am nächsten Tag schaute er nach und fand neben der Grube noch einige, die nicht zu zerschlissen waren. Bei der nächsten Gelegenheit nahm er sie mit in die Sümpfe und probierte sie aus. Eine Schicht schien nicht ganz auszureichen, also legte er jeweils zwei übereinander, schuf sich so einen guten, sicheren Pfad, der drei Matten lang war, und kroch darauf. Als er ans Ende kam, begriff er, dass er jetzt das erste Paar Matten holen und vor sich legen konnte, um so einen Schritt weiterzukommen. Das wiederholte er noch einmal. Und noch einmal. Er war mehr als zehn Schritte weit auf dem Schlamm vorgedrungen, als er die Nerven verlor und kehrtmachte. Schließlich hatte er wieder festen Boden unter den Füßen und wischte sich zitternd vor Erleichterung den schlimmsten Matsch von Armen und Beinen. Ich gehe auf dem Sumpf, dachte er, als er wieder zu den anderen zurückschlich. Ich, Ko, finde den Weg. Aber es geht langsam, langsam. Suth bemerkte seine Rückkehr. »Ko, wo warst du?«, fragte er. »Suth, es ist ein Geheimnis«, antwortete Ko. Suth lächelte. Ko glaubte zu wissen, was er dachte – Jungen-Ding. Jungen stecken voller kleiner Geheimnisse. Aber dies war kein kleines Geheimnis. Es war groß, groß. Ko beschloss niemandem etwas davon zu erzählen, bis er die erste Insel erreicht hatte, die ein Stück weiter westlich vom Wasserlauf lag.
Zu diesem Zweck brauchte er mehr Matten. Auf drei Paar Matten zu kriechen ging viel zu langsam. Hätte er fünf Paare, dann könnte er einen längeren Pfad auslegen und immer drei auf einmal nach vorne holen. Das ginge viel schneller. Wenn die Männer nicht auf Nahrungssuche waren, stellten sie aus den Steinen, die sie mitgebracht hatten, neue Klingen her. Kern brachte Nar bei, wie es funktionierte, doch Kos Hände waren noch nicht kräftig genug, also hatte er Suth gebeten, ihm eine kleine Klinge zu machen. Es war eine gute, mit einer Kante, die sowohl scharf als auch hart war und eine ganze Weile halten würde, bevor sie abstumpfte. Niemand sah etwas Ungewöhnliches darin, dass Ko sie ausprobieren wollte – was die Klingen betraf, so waren alle Jungen gleich –, und das Naheliegendste war, allein loszuziehen und ein paar Schilfhalme abzusäbeln. Es war also einfach für ihn, sich davonzumachen und seinen Plan auszuführen. Doch die Herstellung von Matten war viel schwieriger, als er gedacht hatte. Ko ahmte Tinus Matten so genau nach, wie er konnte, doch die seinen waren nicht einmal halb so gut. Er benötigte die gesamte freie Zeit zweier Tage, um ein weiteres Paar zu flechten, und entschied dann, dass es reichen müsse. Am dritten Tag sammelte er die acht Matten ein und brach zu seinem Abenteuer auf. Er hatte Angst – sowohl vor der Gefahr als auch vor dem, was Suth dazu sagen würde –, aber aufgeben würde er nicht. Die Insel, die er erreichen wollte, hatte er sich von seinem Beobachtungsposten über dem Lagerplatz aus genau angesehen, immer morgens, gleich nach Sonnenaufgang, wenn der Nebel sich gelichtet und der Dunst die Sümpfe noch nicht wieder verhüllt hatte. Wenn man in gerader Richtung über den Schlamm ging, war sie
gar nicht so weit vom Ufer entfernt. Und es wuchsen echte Bäume darauf. Er verließ das Ufer und ging auf dem Hang entlang, weil er von dort aus die Bäume erkennen konnte, die aus dem Dunst ragten. Als er sich ihnen genau gegenüber befand und sich anschickte, zu den Sümpfen hinabzugehen, wirbelte ein kleiner Sandsturm aus den Hügeln direkt auf ihn zu. Er warf seine Matten gerade noch rechtzeitig auf die Erde, kniete sich darauf, damit sie nicht fortgeweht wurden, hockte sich hin und hielt sich mit der Hand die Augen zu, während ein Hagel von Steinchen und Zweigen, die vom Wind mitgerissen worden waren, seine Haut peitschte. Nach wenigen Augenblicken war es vorbei. Er erhob sich und sah zu, wie der Sandsturm den Hang hinab- und auf die Sümpfe hinauswirbelte, den Dunstschleier zerriss und eine Schneise quer über die Schlammbank schlug, bis er schließlich erstarb. Dies geschah genau am Ufer der Insel, so dass Ko einen kurzen Blick auf ihren östlichen Rand erhaschen konnte. Und in diesem kurzen Augenblick sah er einen Mann. Unbewegt wie ein Reiher stand er dicht am Wasser auf einem Bein. Das andere war angewinkelt und die Sohle des Fußes lag auf dem durchgedrückten Knie des Standbeins. Er hatte den rechten Arm bis zur Schulter erhoben und hielt einen langen, dünnen Speer in der Hand. Sein Kopf war gebeugt, er starrte ins Wasser. Ko begriff sofort, dass er tat, was die Reiher taten. Er fischte. Dann schloss sich der Dunst wieder und verbarg ihn. Natürlich war Ko klar, was eigentlich zu tun war. Eigentlich müsste er sofort losrennen und Suth und Tun von seiner Entdeckung erzählen. Aber er würde es bleiben lassen. Er sagte sich, dass der Mann jetzt dort sei. Bis er
bei den anderen wäre und sie geholt hätte, wäre der Mann vielleicht schon verschwunden. Und er hatte nur acht Matten. Sie reichten nicht aus, um das Gewicht eines erwachsenen Mannes zu tragen. Wenn aber Ko die Insel erreichen und diesen Fremden beobachten könnte, ohne selbst gesehen zu werden, ja, wenn er ihm vielleicht folgen könnte, sobald er die Insel verließ … Warum? Weil der Mann irgendwie auf die Insel gekommen sein musste. Und das bedeutete, dass er einen Weg durch die Sümpfe kannte! Noch bevor er sich eines anderen besinnen konnte, rannte Ko hinab zum Ufer, suchte sich eine Stelle aus und legte das erste Mattenpaar auf den Schlamm. Er kroch darauf, langte nach hinten und zog das zweite Paar heran, dann das nächste und wieder das nächste. Erst als er zurückgekrochen war, um die ersten zwei Paare zu holen, und sich so vom Ufer gelöst hatte, zögerte er und biss sich auf die Lippe. Es war noch nicht zu spät, um sich auf den Weg zu machen und Suth zu holen. Nein. Er, Ko, würde es alleine tun. Also machte er weiter, arbeitete genau wie am Vortag und schob seinen kleinen Pfad langsam, aber sicher immer weiter hinaus auf den Schlamm. Bald kam er in einen Rhythmus. Die Oberfläche war von der Sonne zu einer harten Kruste gebacken worden und er spürte kaum, dass sie nachgab, als er auf das vor ihm liegende Mattenpaar kroch. Dann konnte er die Insel sehen, eine undeutliche, bräunliche Masse im dichten Dunst. Als er zurückblickte, war das Ufer schon außer Sichtweite. Er musste mindestens die Hälfte der Strecke zurückgelegt haben. Dann veränderte sich die Oberfläche. Sie wurde weicher und klebriger. Schlammklumpen blieben an den Matten
hängen und als er sie nach vorne zog, begannen sie unter ihrem eigenen Gewicht zu zerreißen. Er ging mit ihnen so sorgsam wie möglich um, aber jedes Mal, wenn er eine bewegte, löste sie sich weiter auf und Stücke rissen heraus. Die zwei, die er selbst geflochten hatte, wurden fast sofort unbrauchbar … Er blickte zurück, sah aber nichts als den Schlamm und den klebrigen Matsch, den er überquert hatte. Er blickte nach vorn, und der Schilfgürtel, der die Insel säumte, schien sehr nahe zu sein. Er konnte einzelne Halme erkennen. Dort musste er hinkommen. Den Rückweg würden die Matten nicht überstehen. Vielleicht konnte er auf der Insel neue flechten. Zuletzt, kurz vor dem Ziel, verzichtete er auf die kaputten Matten, legte sich auf den Bauch und robbte über den stinkenden, klebrigen Matsch, bis er sich auf eine Schicht gestürzter Schilfhalme hieven konnte. Mit großer Erleichterung richtete er sich auf, ging langsam am undurchdringlichen Schilfdickicht entlang und suchte nach einer Lücke. Nach einer Weile aber lief die Schlammbank in einem Streifen offenen Wassers aus und er war gezwungen, den Rückweg anzutreten. Er suchte sich eine Stelle aus, wo das Dickicht nicht ganz so undurchdringlich aussah, und begann sich hindurchzukämpfen. Es war furchtbar. Bald konnte er sich kaum noch rühren. Mit größter Anstrengung zwängte er sich durch eine Lücke, saß fest, kämpfte sich ein Stückchen weiter und saß wieder fest. Sein Schweiß floss in Strömen. Gierig sammelten sich Insektenschwärme rund um ihn und behinderten ihn. Er wusste nicht mehr, in welche Richtung er sich bewegte. Er fühlte sich hilflos, verzweifelt, ängstlich und unendlich allein. Selbst wenn er aus dem Schilf herauskäme, schaffte er es nicht wieder zurück über
den Schlamm. Die anderen würden ihn nie mehr finden. Er würde umkommen, gefangen an diesem furchtbaren Ort, einem Jagdgrund der Dämonen – dummer, dummer Ko. Er schämte sich über sich selbst, aber er musste schluchzen. Als er Luft holte, jaulte der Atem in seiner Kehle. Seine Tränen blendeten ihn. Er tastete sich voran. Irgendetwas packte ihn beim Handgelenk. Er schrie vor Schreck auf und im nächsten Augenblick begriff er, dass das Ding eine Hand war. Sie zog ihn weiter und warf ihn auf eine freie Stelle. Er hörte ein Zischen und es klang wie das Zischen einer wütenden Schlange, und er blickte auf, den Arm hebend, um sich vor dem erwarteten Schlag zu schützen. Durch den Tränenschleier sah er ein Gesicht. Es war das Gesicht eines Dämons. Er riss den Mund auf, doch der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken. Von der Form her schien es das Gesicht eines Mannes zu sein, war aber von grellgelben Streifen überzogen wie ein Papageienschwanz, und dunkelrote Tupfer rahmten die Augen. Der Dämon schnaubte. Ko zuckte zusammen, doch in irgendeinem Winkel seines Verstandes, der noch nicht vor Schreck erstarrt war, erkannte er den Laut wieder. Es war fast dieselbe Art von Schnauben, das Tor benutzte, wenn er von etwas Neuem überrascht oder verwirrt wurde. Tor hatte keine Wörter. Er konnte nicht sagen: ›Was ist das?‹ Stattdessen schnaubte er. Ko fand seine Stimme wieder. »Ich … ich … ich … Ko …« Das Einzige, was ihm einfiel, war, dem Dämon etwas zu schenken. Er wusste, dass dies Sitte gewesen war, wenn
der Stamm in den alten Tagen einen fremden Guten Jagdgrund betreten hatte. Er kramte in seiner Kürbisflasche und fand einen harten Klumpen. Ja, das Stückchen Salz, das er gestohlen hatte. Salz war ein richtiges Geschenk. Er nahm es in die Hand und bot es dem Dämon an. Der Dämon schnaubte wieder vor Überraschung und nahm es. Die Hand hatte keine großen, gekrümmten Krallen wie die eines Dämons in den Ursagen, sondern ganz gewöhnliche Finger, Menschenfinger. Auf dem Handrücken befand sich ein Kreis, doch als Ko genau hinsah, erkannte er, dass es sich um irgendein gelbes Zeug handelte, das darauf geschmiert worden war. Die Haut selbst war braun. Nicht so dunkel wie Kos Haut, aber ähnlich wie die von Tor. Der Dämon war ein Mensch. Er hatte sich bloß mit irgendeinem farbigen Zeug beschmiert, damit er aussah wie ein Dämon. Mit einem erleichterten Seufzer sah Ko dem Mann dabei zu, wie er das Salz zum Mund hob, daran leckte und dann grunzte. Wieder erkannte Ko den Laut. Es war nicht genau derselbe, ähnelte aber dem Grunzen, das Tor benutzte, um seine Zufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. Da er sich nun viel besser fühlte, stand Ko auf. Er musterte den Mann und der Mann musterte ihn. Der Schreck raubte Ko jetzt nicht mehr den Verstand und er sah, dass der Mann leicht einer von Tors Leuten hätte sein können, den Stachelschweinen. Er war größer und hagerer als Tor, hatte aber dasselbe schmale Gesicht, die spitze Hakennase und die vorstehenden Zähne. Nach einer Weile blickte der Mann auf den Klumpen Salz in seiner Hand hinab und hielt ihn Ko mit einem fragenden Grunzlaut hin, als sei er nicht sicher, ob er ihn behalten dürfe.
Ko, der seiner selbst immer sicherer wurde, hob beide Hände, die Handflächen nach außen gekehrt und die Finger gespreizt, und bewegte sie auf den Mann zu. Zugleich gab er einen kurzen, doppelten Kehllaut von sich, wobei der zweite Laut tiefer war als der erste. Auch das war Stachelschwein-Sprache. Die Stachelschweine machten einander ständig kleine Geschenke. Das war eines der Dinge, durch die sie das Sprechen ersetzten. Während einer Rast hatte Ko einmal beobachtet, wie drei von ihnen die ganze Zeit über denselben bunten Kiesel hin- und hergereicht hatten, und als sie wieder aufgebrochen waren, hatten sie ihn einfach liegen lassen. Das Geben war wichtig, nicht das Nehmen. Wieder stieß der Mann den erfreuten Laut aus, diesmal noch betonter. Um die Taille trug er etwas, das aussah wie ein schmales Schilfblatt. Daran baumelten ein paar hölzerne, längliche Gefäße. Ko kannte das Holz nicht, aber es wirkte wie sehr dicke Schilfhalme. Einige von ihnen waren mit einem Blätterklumpen zugestöpselt worden. Der Mann öffnete eines, ließ das Salz hineinfallen und stöpselte es wieder zu. Er nahm seinen langen Speer vom Boden auf, wandte sich um, winkte Ko, ihm zu folgen, und ging dann den schmalen Pfad entlang, auf dem sie gestanden hatten. Er endete auf dem freien Gelände an der Spitze der Insel, wo Ko zum ersten Mal einen Blick auf den Mann erhascht hatte. Dort kniete er sich hin, schob ein paar abgebrochene Schilfhalme beiseite und brachte drei Fische zum Vorschein. Er wählte einen aus, biss ein Stück aus dem Rücken, holte den Bissen dann aus seinem Mund und bot ihn Ko an. Ko kannte Fische. Im Fluss, der sich durch die Neuen Guten Jagdgründe schlängelte, hatte es ein paar gegeben. Die Stachelschweine hatten es manchmal geschafft, einen
mit bloßen Händen zu fangen, aber der Stamm hatte sich nicht darum gekümmert, bis der Fluss auszutrocknen begann und sie die in Teichen gefangenen Fische entdeckten. Ko gab den Ich danke-Laut von sich, kaute und schluckte den Bissen hinunter. Er schmeckte sehr gut. Der Mann nahm seine Arbeit wieder auf. Unmittelbar an der Spitze der Insel auf einem Bein stehend, starrte er reglos ins Wasser. Ko wartete. Ein Insekt setzte sich auf seinen Nacken und stach zu. Er schlug danach und sofort drehte der Mann den Kopf, gebot ihm mit einem Zischlaut zu schweigen und wandte sich wieder dem Fischen zu. Ko ging so weit auf dem Pfad zurück, bis er den Mann gerade noch sehen konnte, las einen abgebrochenen Schilfhalm auf, um die Insekten damit zu verscheuchen, und wartete. Die Zeit verging. Der Mann schien keinen Muskel zu rühren, ja nicht einmal zu atmen. Das ist gutes Jagen, dachte Ko. Es gab ein Sprichwort im Stamm: Der Jäger ist stark – gut. Der Jäger ist schnell – besser. Der Jäger ist still – am besten. Das wurde Ko immer wieder vorgehalten, denn er war nicht sehr gut darin, still zu sein. Nun aber tat er sein Bestes, um fast so still zu sein wie der Mann. Nicht nur deshalb, weil er nicht allein und ohne jede Möglichkeit, zum Stamm zurückzukehren, auf dieser furchtbaren Insel zurückgelassen werden wollte. Sondern auch deshalb, weil er es so weit geschafft und begonnen hatte, Freundschaft zu schließen. Ko würde nicht so leicht aufgeben. Der Mann musste den Weg durch die Sümpfe kennen. Eine bessere Gelegenheit, ihn zu finden, ergäbe sich nie. Die Stille wurde von einer Bewegung durchbrochen, die so plötzlich und heftig war wie der Angriff einer Schlange. Der linke Arm schoss nach vorn. Das angewinkelte Bein
warf sich zu einem langen Schritt aus. Der Körper wurde nach vorn gewuchtet und der rechte Arm schleuderte den langen Speer kraftvoll hinaus aufs Wasser, so dass er glatt die Oberfläche durchstach. Einen Augenblick später sprang der Mann hinterher und verschwand im Schaum. Als er wieder auftauchte, hielt er mit beiden Händen einen Fisch gepackt. Einen so großen hatte Ko noch nie gesehen. Er war so lang wie sein Arm, mit weit aufgerissenem Rachen und dünnen, gebogenen Zähnen. Der Speer durchbohrte ihn noch, aber er lebte und tobte herum, während der Mann darum kämpfte, ihn zu halten. Irgendwie gelang es ihm, beide Hände um den Speer zu legen, auf jeder Seite des Fischkörpers eine, und dann schleppte er ihn ans Ufer und zog ihn aus dem Wasser. Ko lief herbei, packte ihn beim Schwanz und zerrte ihn ein gutes Stück den Pfad hinauf, während der Mann an Land kam. Mit triumphierendem Lachen setzte der Mann einen Fuß dicht hinter den Kopf des Fisches, zog den Speer heraus und stieß noch einmal zu. Wieder durchbohrte er das Tier und nagelte es auf der Erde fest. Dort lag es, schlagend und mit schnappendem Maul, und schließlich war es still. Als der Mann darauf wartete, dass der Fisch sterbe, sah sich Ko den Speer an. Er war länger als der Mann, ungefähr so dick wie Kos Daumen, sehr gerade und wies in Abständen knotige Ringe auf. Das musste irgendeine andere Art von Schilf sein. Um einen so großen Fisch glatt zu durchbohren, musste er sehr spitz und gut zu werfen sein, und das beeindruckte ihn am meisten. Ein Glück, dass der Mann Ko nicht für irgendein Tier gehalten hatte, als er lärmend im Schilf herumgeirrt war. Wie leicht hätte er den Speer in Richtung des Geräusches schleudern können. Vielleicht war es Kos Glück gewesen, laut geweint zu haben, denn das war ein Geräusch, das nur
Menschen machen. Offenbar meinte der Mann nun, genug gejagt zu haben. Sobald der Fisch tot war, hob er ihn, noch vom Speer durchbohrt, auf und spießte dann die restlichen drei Fische auf. Er legte sich Speer und Beute über die Schulter, nickte Ko zu und gab ein zweifaches Grunzen von sich. Wieder war es etwas anders als das der Stachelschweine, aber doch so verwandt, dass Ko die doppelte Bedeutung von: ›Ich gehe‹ und: ›Auf Wiedersehen‹ erfasste. »Ich komme mit«, sagte Ko entschlossen. Er wollte auf gar keinen Fall zurückgelassen werden. Der Mann sah verwirrt aus, aber Ko vergeudete keine Zeit damit, dem Mann seine Absicht mit Gesten klarzumachen. Er kannte Tor und die Stachelschweine gut genug, um zu wissen, dass es sehr schwierig wäre, sich dem Mann verständlich zu machen. »Tor ist nicht wie Tinu«, hatte ihm Noli einmal erklärt. »Tinus Mund ist verletzt. Er kann keine guten Wörter machen. Aber Tinu hat Wörter in ihrem Kopf. Tor hat keine Wörter im Kopf. In seinem Kopf gibt es keinen Ort für Wörter. Ich mache Zeichen mit den Händen. Diese Zeichen sind Hand-Wörter. Du verstehst meine Zeichen. Für dich ist das einfach. Für Tor ist das schwierig, schwierig.« Also vermutete Ko, dass es sinnlos wäre, an seine Brust zu klopfen und dann auf die Sümpfe zu zeigen, um zu sagen: Ich möchte, dass du mich hindurchführst. Stattdessen ergriff er einfach die freie Hand des Mannes und machte sich auf den Weg. Der Mann sah noch immer verwirrt aus, kam aber mit. Weil der Pfad nicht breit genug für zwei war, ließ Ko die Hand des Mannes los, wartete, bis dieser ihn überholt hatte, und folgte ihm dann. Der Mann sah sich um, zuckte mit den Schultern und ging weiter.
URSAGE
Steinmaul Tov zog nach Westen. Der Papagei hockte auf seinem Kopf und schlief. Die Sonne stand hinter seinem Rücken, dann über ihm, dann schien sie in sein Gesicht und seine Kürbisflasche war leer. Er kam zum Jagdgrund von Steinmaul. Dort sah er einen großen Felsen. Das war der Kopf von Steinmaul. Es gab weder Körper noch Arme noch Beine, nur den Kopf. Im Felsen befand sich eine Höhle. Das war der Mund von Steinmaul. Daraus ertönte sein Lied. Komm in meine Höhle. Wasser ist darin. Hör das süße Wasser. Es ist kühl, kühl. Das Lied war ein Zauber. Als Tov es vernahm, vergaß er die Vorsicht eines Jägers. Er rannte zur Höhle, ohne hinzuschauen, ohne zu sehen.
Der Papagei erwachte und schrie in Tovs Ohr, so dass Tov das Lied von Steinmaul nicht hören konnte. Da schaute er hin und sah. Er sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Das ist Steinmaul. Die Höhle ist sein Mund. Neben der Höhle sah Tov einen großen Felsbrocken liegen. Er rollte ihn in den Höhleneingang, zwischen die Kiefer von Steinmaul. Dann ging er hinein. Die Kiefer schnappten zu, krachten aber auf den Felsbrocken und konnten sich nicht weiter schließen. Tov ging zum Wasser, trank und füllte seine Kürbisflasche. Neben dem Wasser sah er eine tote Gazelle, eine Wüstengazelle. Steinmaul hatte sie erbeutet. Tov packte sie und schleppte sie aus der Höhle. Er sagte: »Komm, kleiner Papagei. Wir haben Nahrung, wir haben Wasser. Steinmaul, lebe wohl.« Tov schlug sein Lager auf und aß von der Gazelle. Der Papagei aß nichts. Gazellen sind keine Papageiennahrung. Tov sagte: »Kleiner Papagei, du hast den ganzen Tag lang auf meinem Kopf geschlafen. Jetzt schlafe ich. Du wachst.« Als er sich niederlegte, legte er sich einen spitzen Dorn unter die Rippen. Er schlief nicht. Im Dunkel verwandelte sich der Papagei in Falu. Sie war hungrig und aß von der Gazelle, sie saugte das Mark aus den Knochen. Das war ein lautes Geräusch. Tov hörte es, öffnete die Augen und sah, wie sie das Mark aus den Knochen saugte. Leise kroch er auf sie zu und packte sie beim Handgelenk. Falu schrie laut auf. Sie sagte: »Tov, lass mich los.« Tov sagte: »Ich lasse dich nicht los. Bald graut der Morgen. Dann sehe ich, wer du bist.«
Falu weinte. Sie sagte: »Tov, tu das nicht. Du hältst mich, du siehst mich. Dann stirbt dein Papagei, der kleine graue Papagei mit den gelben Schwanzfedern.« Tov sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Ich kann es nicht tun. Ich brauche meinen kleinen Papagei. Sie ist schlau, schlau. Er ließ Falus Handgelenk los, legte sich hin und schlief. Am Morgen war Falu wieder ein Papagei.
SIEBEN Der Pfad endete an der jenseitigen Seite der Insel. Als er an dem Mann vorbeiblickte, konnte Ko einen Streifen Schlamm und dahinter eine weitere Insel erkennen. Der Mann schritt ohne zu zögern auf den Schlamm und begann sofort einzusinken. Der Schlamm schloss sich um seinen Fuß, doch er sank nicht weiter ein, tat einen weiteren Schritt und dann noch einen, vor dem Ausschreiten jedes Mal den Halt überprüfend. Ko folgte ihm, trat genau in die Fußstapfen des Mannes und spürte, dass sich dicht unter der Oberfläche etwas Festes befand. Nach einer Weile hielt er neugierig inne, balancierte auf einem Bein und tauchte den anderen Fuß vorsichtig in den Schlamm neben den Stapfen. Dort war nichts und ebenso wenig auf der anderen Seite. Es gab nur diesen einen schmalen Pfad. Er bückte sich, wühlte mit den Fingern im Schlamm und fühlte, dass die feste Masse offenbar eine dicke Schicht Schilf war, die nur in einer Richtung verlief. Das konnte kein Zufall sein. Er begriff, dass sie verlegt worden sein musste. Er eilte dem Mann hinterher, bevor der Schlamm die Fußstapfen wieder füllte. Als er zurückblickte, sah er, dass die ersten Stapfen schon verschwunden waren. Wenn man also nicht genau wusste, wo sich der Pfad befand, konnte man ihn nicht benutzen. Das jenseitige Ufer der nächsten Insel war offener. Etwas weiter entfernt waren zwei Frauen mit Fischen beschäftigt. Sie benutzten dieselbe Art von Speer wie der Mann. Der Mann rief ihnen etwas zu. Sie wandten sich um, starrten ihn einen Augenblick lang an und kamen dann angerannt.
Der Mann zeigte ihnen die Fische, die er gefangen hatte, und sie klatschten in die Hände und gaben das glucksende wo-wo-wo-wo von sich, das Tor benutzte, um irgendjemanden zu loben. Sie umarmten, beleckten und streichelten ihn, wobei er triumphierend lachte. Ihre Gesichter waren nicht angemalt wie das des Mannes, aber sie hatten dieselbe Art von Gürtel mit den hölzernen Gefäßen daran. Eine von ihnen trug offenbar ein Baby in sich. Ko vermutete, dass es die Gefährtin des Mannes war, doch die andere verwirrte ihn, weil sie sich auf dieselbe Art verhielt. Sie wirkte ein bisschen jünger als Noli, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann alt genug war, um ihr Vater zu sein. Als sie aufgehört hatten, dem Mann zu zeigen, wie wunderbar er war, wandten sie sich um, starrten Ko an und stießen erstaunte Laute aus. Sie bückten sich, beschnüffelten und betasteten ihn, und die jüngere Frau leckte an seiner Haut und rieb dann mit den Fingern heftig an der Stelle, während er versuchte sich loszuwinden. Die anderen beiden sahen lachend zu, bis sie begriff, dass Kos Hautfarbe nicht abging, und aufgab. Hintereinander gehend brachen sie auf und schlängelten sich von Insel zu Insel, wobei sie in den meisten Fällen die Pfade über die Schlammbänke benutzten, manchmal aber auch durch hüfthohes Wasser wateten. Nach einer Weile erreichten sie wieder einen der offenen Wasserläufe und Ko sah, dass eine Schar von Menschen am Ufer der nächsten Insel stand. Kos drei Begleiter hielten an und hockten sich hin, um zuzuschauen, wobei sie leise Laute des Erstaunens von sich gaben. Ko wunderte sich, denn soweit er erkennen konnte, tat die andere Schar nichts Besonderes. Dann bemerkte er, dass sich einer der Männer hingehockt hatte, ein Ende seines Speers ins Wasser hielt und ihn sanft hin- und herschwenkte.
Eine Weile geschah nichts. Wie üblich sammelten sich die schrecklichen Insekten um sie herum, ließen sich nieder und stachen zu. Ko schlug mit einem Stück Schilf nach ihnen. Den Sumpf-Menschen aber schienen sie nichts auszumachen. Die Luft war stickig, heiß und schwül. Die Sonne konnte Ko nicht erkennen, aber sie musste hoch am Himmel stehen. Der Stamm begab sich sicher gerade zur Mittagsrast. Nein, inzwischen dürften sie bemerkt haben, dass Ko fehlte. Sie waren vermutlich wütend, besorgt und unglücklich und würden trotz der Hitze nach ihm suchen. Sie würden die Spur entdecken, die seine Matten auf dem getrockneten Schlamm dicht beim Ufer hinterlassen hatten. Vielleicht würden sie die Fetzen der zerrissenen Matten weit draußen auf dem Sumpf sehen. Sie würden glauben, er wäre dort im Schlamm versunken und umgekommen. ›Dummer, dummer Ko‹, würden sie sagen. Warum war er nicht losgerannt und hatte Suth erzählt, dass er den Mann auf der Insel gesehen hatte? Er fühlte sich sehr elend und allein und weit fort von allen Freunden. Nun griff sich der Mann, in dessen Begleitung er sich befand, den großen Fisch und begann an seinem Rücken herumzubeißen. Doch es erwies sich als schwierig, denn er konnte ihn nicht ganz mit dem Mund umfangen, also kramte Ko in seiner Kürbisflasche und bot ihm die Klinge an. Sie war schon etwas stumpf, weil er so viel Schilf für die Matten geschnitten hatte, doch die Kante besaß noch ein paar scharfe Stellen. Bei ihrem Anblick runzelte der Mann verwirrt die Stirn, bis Ko sich schließlich neben den Fisch kniete, ein Stück herausschnitt und es ihm reichte. Dasselbe tat er für die Frauen. Obwohl er keinen Hunger hatte, schnitt er auch einen Happen für sich heraus. Der Mann nahm die Klinge, befühlte die Kante mit dem Daumen, grunzte anerkennend und reichte sie zurück.
Dann öffnete er eines der Gefäße an seinem Gürtel, holte den Klumpen Salz heraus, den Ko ihm geschenkt hatte, und krümelte ein paar Kristalle auf den Fisch. Sofort umschmeichelten ihn die Frauen, um auch etwas abzubekommen, und verärgert brach er für jede ein wenig ab. Als sie jedoch um mehr bettelten, schnaubte er wütend und schüttelte den Kopf. Plötzlich ertönte ein Ruf am anderen Ufer. Sofort sprangen die drei Führer von Ko erregt auf. Auch er stand auf, um etwas zu sehen. Der Mann mit dem Speer hatte sich aufgerichtet und warf sich nach hinten, um nicht ins Wasser gezogen zu werden. Ein paar andere halfen ihm. Weitere waren ins Wasser gesprungen. Es herrschte ein Durcheinander von Gischt, glitzernden Armen und Körpern, die hin und her geworfen wurden, als sie mit etwas unter der Oberfläche rangen. Der Speer löste sich und die drei Menschen, die ihn gehalten hatten, stürzten auf den Rücken. Dann hievten jene, die ins Wasser gesprungen waren, gemeinsam ein großes Tier heraus, das wild um sich schlug, und Ko sah, dass es ein Krokodil war, ein kleines, nicht viel größer als er selbst. Trotzdem waren sechs Menschen nötig, um es zu bändigen, wobei jeweils einer ein Bein gepackt hielt, einer den Schwanz und ein weiterer die Kiefer zusammenpresste, damit es nicht das Maul aufreißen konnte. Sie schleppten es ans Ufer und drückten es auf die Erde, während einer der Männer immer wieder in die Augenhöhlen stach, bis es tot war. Kos Schar ergriff die Fische, watete in den Wasserlauf und durchquerte ihn. Beim Gehen klatschten sie ins Wasser, stießen schrille Schreie aus und juchzten. Ko hatte große Angst. Offenbar war dies eine schlimme Krokodilgegend. Kein Mitglied vom Stamm hätte auch nur im Traum daran gedacht, einen derartigen Wasserlauf
zu durchwaten. Doch er wollte nicht zurückgelassen werden, also kam er mit, hielt sich so dicht wie möglich hinter den anderen und kletterte mit einem Seufzer der Erleichterung aufs jenseitige Ufer. Alle versammelten sich rund um das tote Krokodil. Es waren fast ausschließlich Männer, jeder mit einer anderen Gesichtsbemalung, und nur wenige Frauen, die einige der Männer umarmten und streichelten und lobende Laute ausstießen. Ein Mann hatte stolz einen Fuß auf das Krokodil gesetzt, offenbar war er der oberste Jäger, und er hatte drei Frauen für sich allein, während andere gar keine hatten. Dieser Anblick verwirrte Ko. Und dann kam ihm ein außergewöhnlicher Gedanke. Vielleicht hatten diese Männer mehr als eine Gefährtin. Sein Freund hatte zwei, der oberste Jäger drei. Was bedeutete, dass die anderen Männer überhaupt keine hatten! Ko konnte sich nicht vorstellen, wie jemand auf diese Weise leben konnte. Das war mehr als merkwürdig. Zuerst bemerkten ihn die neuen Menschen nicht, denn sie waren zu begeistert über den Fang. Und als sie ihn schließlich wahrnahmen, waren sie nicht gerade freundlich. Sie gaben überraschte Laute von sich und einige bestupsten seine Haut und rieben daran. Sie packten ihn einfach, wenn sie ihn anschauen wollten, und stießen ihn grob von sich fort, wenn sie damit fertig waren. Dann versuchte ein Mann sich Ko zu schnappen, bevor ein anderer seine Untersuchung beendet hatte, und keiner von beiden wollte ihn loslassen. Er schrie, als er hin- und hergerissen wurde, bis schließlich der Mann hinzukam, dem er zuerst begegnet war, und sich alle gegenseitig anfauchten. Das war jene Art spielerischer Auseinandersetzung, die Ko oft bei den Stachelschweinen beobachtet hatte, denn ihnen fehlten die Wörter, um sich
streiten zu können. Mitten in der Auseinandersetzung machte einer der Männer einen Satz, schnappte sich Ko, schleuderte ihn beiseite und fuhr mit der Faucherei fort. Ko krachte gegen die Beine irgendeines Zuschauers und fiel halb betäubt zu Boden. Als er sich wieder aufzurichten und die Tränen zu verbergen suchte, die ihm in die Augen traten, packte ihn eine Hand beim Arm und zog ihn mit sanfter Gewalt von den Männern fort. Es war die jüngere der beiden Frauen, in deren Begleitung er hierher gelangt war. Sie klopfte ihm tröstend auf die Schulter und versteckte ihn hinter ihrem Rücken, bis der Streit zu Ende war. Als Kos Führer wieder zu ihnen stieß, streichelten die beiden Frauen ihn und gaben gurrende Laute von sich, so als hätte er etwas ähnlich Wunderbares vollbracht wie den Fang des großen Fisches. Dann überließen sie die Jagdgemeinschaft ihrem Fest und zogen weiter. Bald wurde der Weg einfacher. Die versteckten Pfade, die über die Schlammbänke führten, waren fester und lagen dichter unter der Oberfläche, und die Wege, die durch Schilfgürtel und über Inseln führten, wurden breiter. Hin und wieder sah Ko Fischer auf den verschiedenen Inseln. Es waren sowohl Männer als auch Frauen und alle standen auf einem Bein wie Reiher und warteten unbewegt. Obwohl er begriff, dass das, was sie taten, eine Art von Jagd war, unterschied es sich sehr von jener Art, die er kannte. Sein Gefühl der Einsamkeit wuchs. Diese Sumpf-Menschen blieben ihm unverständlich. In ihrer Welt fühlte er sich so hilflos wie ein Baby. Außerdem hatte er sich im undurchschaubaren Wirrwarr von Schilfgürteln und Inseln so hoffnungslos verirrt wie noch nie zuvor in seinem Leben. Im dichten Dunst konnte er nicht einmal die Sonne ausmachen. Schließlich erreichten sie einen andersartigen und weitaus größeren
Wasserlauf, in dessen Mitte etliche kleine Inseln dicht beieinander lagen. Es waren nur Hügel, die gerade eben aus dem Wasser ragten, nahezu unbestanden von Schilf oder Bäumen. Menschen bewegten sich darauf hin und her. Ko sah keine Möglichkeit, zu den Inseln zu gelangen, doch der Mann führte sie am Ufer entlang, bis sie etwas erreichten, das aussah wie eine lange, schmale Schlammbank, die vom Schilfgürtel bis zur nächstgelegenen Insel reichte. Sie diente als Dammweg, auf dem man gehen konnte. Als sie darauf zuliefen, schöpfte jeder von Kos Führern eine Hand voll Schlamm. Und auf dem Weg hinüber zur Insel suchte sich jeder eine Stelle aus, legte den Schlamm dort ab und stampfte ihn sorgfältig fest, um den Pfad zu verstärken. Diese Menschen sind schlau, dachte Ko. Sie hatten keine Wörter und wussten nichts von Klingen, aber sie kannten viele Dinge, von denen der Stamm keine Ahnung hatte. Offenbar hatten sie selbst die versteckten Pfade durch die Sümpfe angelegt, sich diese Inseln als Lagerplatz ausgesucht und sie gesichert. An der Stelle, wo der Pfad die erste Insel erreichte, befand sich ein seltsamer, niedriger Wall mit einer Öffnung in der Mitte und einer Reihe von Pfählen dahinter, auf denen etwas steckte. Als er näher kam, sah Ko, dass es Krokodilköpfe waren – und beim nächsten Herzschlag begriff er, dass der ganze Wall aus Krokodilköpfen bestand. Einige von ihnen waren so alt, dass Haut und Fleisch abgefallen und nur die weißen, grinsenden Schädel übrig waren. Keiner von ihnen war auch nur halb so groß wie das Monster, das der Stamm getötet hatte, doch es waren viele Male zehn. Ko hatte richtig Angst vor ihnen. Sie verliehen dem Eingang etwas von einem Jagdgrund der Dämonen. Der
Mann aber hielt einfach vor der Öffnung an, berührte die Schnauze des größten Schädels mit der Hand und führte sie weiter. Die Frauen folgten ohne Umschweife und Ko tat es ihnen gleich. Auf der Insel befanden sich einige Frauen und viele Kinder, die aufschrien, sobald sie Ko erblickten, ihn umringten, beschnüffelten, berührten und erstaunt grunzten. Dann bahnte sich ein Mann einen Weg durch die Menge, die anderen grob beiseite stoßend. Auch sein Gesicht war bemalt wie das eines Dämons. Er starrte Ko an, schnaubte wütend, packte ihn bei der Schulter und schleuderte ihn zurück zum Eingang. Sofort begann der wütende Austausch von Fauchlauten zwischen den beiden Männern, doch als Ko sich wieder aufrappelte, sah er sofort, wer diesmal als Sieger daraus hervorgehen würde. Der neue Mann war älter und wichtiger als Kos Führer, der bereits zurückwich. Die zwei Frauen fassten Ko bei den Armen, brachten ihn zurück zum Wasser und führten ihn am Ufer der Insel entlang zu einem anderen Pfad. Auf diesem gelangten sie zu einer kleineren Insel, die sie wiederum überquerten, indem sie am Ufer entlangliefen. So ging es weiter, vorbei an zwei weiteren Inseln, bis sie eine erreichten, die ganz am Rand der Gruppe lag. Dort ließen sie ihn los und legten ihre Lasten ab. Ko vermutete, dass sie hier zu Hause waren. Wenige Augenblicke später traf der Mann ein und er sah sowohl ängstlich als auch wütend aus. Als sie sich niederließen, streichelten und liebkosten sich die drei Sumpf-Menschen wie üblich, dann legte der Mann den Fisch auf die Erde, zeigte auf Kos Kürbisflasche und stieß einen Gib-Laut aus. Ko, der erriet, was verlangt wurde, holte seine Klinge hervor und reichte sie dem Mann. Umständlich, denn er war nicht an das Werkzeug gewöhnt, hackte der Mann für jeden etwas vom Fisch ab.
Als Ko den Boden der Kürbisflasche betastete, fand er genug Salz für die zwei Frauen und sich selbst. Die ganze Oberfläche der Insel war von Schilfstückchen und -splittern übersät, und als sie genug gegessen hatten, machten die Frauen ein kleines Loch darin frei, legten den Rest des Fisches hinein und bedeckten ihn. Der Mann begann, seinen Fischspeer zu schärfen, indem er die Spitze mit einem kurzen Stück Holz rieb, das er in den grobkörnigen Schlamm getaucht hatte. Die Frauen stellten Vorratsgefäße aus Schilfhalmen her, wobei sie die Zähne benutzten, um die splittrigen Enden zu glätten. Alle drei machten einen unruhigen Eindruck und warfen immer wieder ängstliche Blicke auf die große Insel, die den Zugang zu allen anderen Inseln darstellte. Nach einer Weile hörte Ko rhythmisches Rufen, das über das Wasser schallte und in das sich ein seltsames, klapperndes Geräusch mischte, das an Spechte erinnerte, die an einen hohlen Baumstamm klopften. Die drei Sumpf-Menschen sprangen auf und hielten Ausschau. Ko folgte ihren Blicken und sah eine Prozession, die sich durch die Schilfgürtel am gegenüberliegenden Ufer schlängelte. Der Mann packte Ko bei den Schultern, drückte ihn heftig, um ihm zu sagen, er solle bleiben, wo er sei, und eilte dann zusammen mit den zwei Frauen zum Eingang. Ko wartete und hielt die Augen offen. Die meiste Zeit über wurde die Prozession vom Schilf verborgen, bis sie schließlich den Pfad erreichte, der über das Wasser führte. Dann sah er, dass die vordersten Männer dicht hintereinander gingen und etwas auf den Armen in der Luft trugen. Es war der Kadaver des Krokodils, das sie erbeutet hatten. Die Menschen liefen ihnen auf dem Pfad entgegen und tanzten dann vor ihnen wieder zurück. Das Klopfgeräusch wurde stärker, aber Ko konnte noch immer
nicht erkennen, wie es entstand. Offenbar war es für diese Menschen ein wichtiges Ereignis, wenn ein Krokodil erlegt worden war. Er wünschte sich, ihnen das Monster zeigen zu können, das der Stamm getötet hatte. Er wartete lange, so lange, bis der graue Dunst sich golden zu verfärben begann und er begriff, dass der Sonnenuntergang kurz bevorstand. Auf der jenseitigen Seite der großen Insel war die Farbe kräftiger, also vermutete er, dass dort Westen war. Er ließ sich nieder, legte das Kinn auf die Knie und sah der langsamen Verwandlung zu. Sie erfüllte ihn mit Traurigkeit. Obwohl er im Augenblick in Sicherheit zu sein schien, fühlte er sich sehr, sehr allein. Zu dieser Tageszeit kehrten Sammler und Jäger zum Lagerplatz zurück, rösteten das Fleisch, das sie erbeutet hatten, und zerstießen Wurzeln und Samen. Dann aßen sie, während der Feuerschein über ihre Gesichter zuckte und die Augen vom Widerschein der Funken blitzten, sprachen, scherzten und prahlten – Kos Menschen in Kos Welt, einer Welt, in der er sich auskannte, seiner Heimat. Nicht diese undurchdringlichen, stickigen Sümpfe, diese Fremden mit ihren unheimlichen Sitten … Neue Rufe, anders, wütend. Sie kamen näher. Er stand auf, wandte sich um und sah zwei Frauen, die über die nächstgelegene Insel rannten, gefolgt von ihrem Mann. Zahlreiche andere Männer waren ihnen dicht auf den Fersen und schrien wütend. Die Frauen sausten über den Verbindungsweg, der Mann aber hielt auf halbem Wege an, drehte sich um und stellte sich den Verfolgern entgegen. Er hatte keine Waffe, stand aber kampfbereit und mit gesträubtem Haar da und bellte sie an. Ko sah schreckerfüllt zu. Das musste etwas mit ihm zu
tun haben. Die Männer waren von der Krokodiljagd zurückgekehrt und ihr Anführer hatte sie veranlasst, Ko zu holen. Dieses seltsame Kind hatte in ihrem Jagdgrund nichts zu suchen. Sie würden ihn töten oder von ihren Inseln werfen, in den furchtbaren Sümpfen aussetzen, allein und mitten in der Nacht. Das wäre fast genauso schlimm. Sie hielten schreiend am Ufer an. Ihr Anführer drängelte sich zum Pfad durch und trat vor Kos Gastgeber. Ko erwartete, dass dieser wie vorhin, als dasselbe auf der Hauptinsel vor sich gegangen war, zurückweichen würde. Aber er hielt fauchend stand. ›Das ist meine Insel‹, schien er zu sagen. ›Darauf bin ich der Anführer, nicht ihr.‹ Die Frauen sahen ängstlich murmelnd zu. Die ältere packte Ko beim Arm und zog ihn hinter ihren Rücken, wo er nicht gesehen werden konnte. Nach einer Weile schnaubte der andere Mann, wandte sich ab und die Angreifer verschwanden knurrend. Kos Gastgeber ging mit festen Schritten zurück zur Insel und die Frauen liebkosten und lobten ihn, doch er stand da, sah Ko an und runzelte die Stirn, bis Ko vor ihm niederkniete und dreimal die Knöchel aneinander schlug, so wie er es getan hätte, wenn er Tun, seinen eigenen Anführer, um einen Gefallen hätte bitten wollen. »Ich, Ko, danke«, sagte er. »Ich, Ko, bitte. Morgen gehe ich. Du zeigst mir den Weg.« Er wandte sich um und zeigte nach Süden, um zu verdeutlichen, was er meinte. Der Mann grunzte unsicher, fuhr aber mit der Hand durch Kos Haar, und Ko fühlte, dass er zu sagen versuchte, er wolle ihm helfen, wenn es möglich sei. Inzwischen war es fast dunkel. Die Frauen schaufelten eine große Mulde im Schilfabfall frei, die drei Sumpf-
Menschen legten sich hinein und schmiegten sich dicht aneinander, der Mann in der Mitte. Ko schaufelte sich eine eigene Mulde, legte sich an diesem fremden und Furcht einflößenden Ort nieder und wünschte sich mit jeder Faser seines Körpers, von hier fortzukommen und zwischen seinen eigenen Leuten zu liegen, dicht bei der guten, roten Glut ihres Feuers. Er weinte leise im Dunkeln und schluchzend schlief er ein. Er wurde wachgerüttelt und wusste nicht, wo er sich befand. Seine linke Körperhälfte war von Insektenstichen übersät. Eine Frauenstimme grunzte leise und er erinnerte sich wieder. Er richtete sich auf und sah sich um. Es war noch dunkel. Der Hitzeschleier hatte sich verzogen und die vertrauten Sterne waren gut sichtbar. Im Osten schimmerte der Himmel in einem schwachen Grau. Wieder stieß die Frau ihren leisen Komm-Laut aus. Ko stand auf, tastete nach seiner Kürbisflasche und hängte sie sich über die Schulter. Er folgte den drei anderen hinab zum Pfad und hinüber zur ersten Insel. Sie bahnten sich einen Weg rund um die Insel herum, unmittelbar am Wasser entlanggehend, und bewegten sich so auf den Haupteingang zu, ohne eine der Inseln wirklich betreten zu müssen. Als sie die Schilfgürtel erreichten, war es fast hell. Ko sah, dass die jüngere Frau den halb aufgegessenen Fisch bei sich trug. Schweigend und ohne anzuhalten führte sie der Mann weiter, bis sie verschiedene andere Inseln überquert hatten. Dann legten sie eine Pause ein, die nur so lange dauerte, bis sie für jeden einen Happen Fisch abgehackt hatten, und zogen beim Gehen essend weiter. Als die Sonne aufging, bildete sich wieder der Hitzeschleier und schon bald verlor Ko jede Orientierung. Die ganze Zeit über schenkte ihm der Mann kaum einen Blick und Ko
begann das ungute Gefühl zu entwickeln, einfach in die Sümpfe geführt zu werden, damit man ihn loswürde, um dann auf sich gestellt den Heimweg finden zu müssen. Doch die Frauen blieben freundlich, ganz besonders die jüngere, und nach einer Weile, als er die Stelle wieder erkannte, wo das Krokodil erlegt worden war, begann er sich viel besser zu fühlen. Er war auf dem Heimweg. Noch mehr Schlammbänke, Inseln, Schilfgürtel, Wege quer über das Wasser. Auf einem weiteren Weg über noch eine Insel hielt der Mann schließlich an. Die drei Führer von Ko wandten sich um und sahen ihn an. Der Mann grunzte: ›Gut so?‹ Ko runzelte die Stirn, blickte sich um und erkannte, dass dies die Stelle war, wo er sich durch das Schilf gekämpft und der Mann ihn entdeckt hatte. Wie aber sollte er von der Insel herunterkommen und die letzte, schreckliche Strecke Schlamm überqueren? Vielleicht kannte der Mann einen Weg. ›Kommt‹, grunzte er, wobei er sein Bestes tat, um die Art nachzuahmen, auf die die Sumpf-Menschen den Laut hervorbrachten. Er führte sie auf dem Pfad entlang bis zur Spitze der Insel, wo der Mann gefischt hatte. Der Dunst war noch nicht dicht genug, um das Festland zu verbergen, von wo aus er aufgebrochen war. Ko zeigte darauf und gab das helle, ängstlich klingende Stöhnen von sich, das ›Ich bitte‹ bedeutete. Der Mann runzelt die Stirn, schnaubte unsicher und ging wieder auf dem Pfad zurück. Auf halbem Wege hielt er an, musterte das Schilf zu seiner Linken, schüttelte den Kopf, ging ein Stückchen weiter, grunzte und bahnte sich einen Weg hinein. Als er den anderen folgte, begriff Ko, dass sie offenbar einen alten Pfad benutzten, der zum Teil schon überwachsen, aber immer noch besser war als das undurchdringliche Schilfdickicht zu beiden Seiten.
Sie traten unmittelbar gegenüber vom Festland aus dem Schilf, und die Schlammbank, die vor ihnen lag, war nicht breiter als einige Male zehn Schritte. Der Mann wühlte mit dem unteren Ende seines Fischspeers im Schlamm herum, nickte und tat einen Schritt nach vorn. Er sank tiefer ein als üblich, bis zur Hälfte des Schienbeins, fand dann aber festen Grund. Er tat noch ein paar Schritte, diesmal aber folgten ihm die Frauen nicht und er kehrte um. Noch einmal blickten alle drei auf Ko. Sie schienen ihm zu sagen, dass dies ein alter, verborgener Pfad durch den Schlamm sei. Wäre er achtsam, dann müsste er es alleine schaffen. Der Mann nahm ihn bei der Schulter und schubste ihn darauf zu. Ko grunzte: ›Ich danke‹, und suchte in seiner Kürbisflasche nach einem Geschenk. Er hatte nur noch seine Klinge, also bot er sie zögernd dem Mann an, der sie sofort und offensichtlich erfreut an sich nahm. Die Frauen sahen zu und warteten. Sie schienen sich nichts zu erhoffen, aber Ko hatte den dringenden Wunsch, auch ihnen etwas zu schenken. Sie hatten genauso wie der Mann zu ihm gehalten und waren zudem freundlich gewesen. Zumindest konnte er ihnen zeigen, dass er keine weiteren Geschenke hatte, also drehte er die Kürbisflasche um und hielt sie über seine offene Handfläche. Zwischen den anderen Krümeln glitzerten ein paar Salzbröckchen. Nicht annähernd genug für ein Geschenk, doch die Frauen beugten sich eifrig vor, pickten sie heraus und legten sie mit kleinen Freudenlauten auf ihre Zungen. Plötzlich hatte Ko eine Idee. Im Lager gab es reichlich Salz. Vielleicht konnte er sie zum Mitkommen überreden. Dann könnte Ko womöglich Tun und Suth und die anderen herbeiholen und sie einander vorstellen. Und er könnte ihnen als Überraschung den Weg durch die Sümpfe
zeigen. Und diese Entdeckung wäre ausschließlich Ko zu verdanken. Bevor die Frauen sich die letzten Salzkrümel schnappen konnten, schloss er seine Finger darum und hielt sie fest. Mit der anderen Hand klopfte er auf die Knöchel und zeigte dann über den Schlamm. Die Frauen versuchten seine Finger aufzubiegen und lachten dabei. Er entzog ihnen seine Faust, zeigte wieder aufs Festland und gab die ermunternden Nahrung-Laute von sich, mit denen die Stachelschwein-Eltern ihre Kinder zum Essen riefen. Sie hörten auf zu lachen, starrten ihm ins Gesicht und dann auf seine Handfläche, als er die Faust öffnete, ihnen das Salz zeigte und noch einmal mit dem Finger aufs Festland wies. Sie blickten in die Richtung des kaum noch sichtbaren Hügelhangs jenseits der Schlammbank und er merkte, dass sie verstanden hatten. Auch der Mann hatte verstanden, doch ihm gefiel die Idee offenbar ganz und gar nicht. Die Frauen ergriffen ihn bei den Händen und bettelten, doch er entriss sie ihnen unter wütendem Grunzen. Sie fielen auf die Knie, streichelten und schmiegten sich an ihn, bis er schließlich einen tiefen, resignierten Seufzer ausstieß und sie auf den letzten verborgenen Pfad führte.
URSAGE
Der Vater aller Schlangen Tov zog in Richtung Norden. Der Papagei hockte auf seinem Kopf. Er schlief. Die Sonne stand auf ihrer rechten Seite, dann über ihnen und dann kamen sie an ein großes Loch. Daneben stand ein Baum, ein Wüstenbaum, der niemals stirbt. Dies war der Jagdgrund von Fododo, dem Vater aller Schlangen. Tov sagte: »Versteck dich, kleiner Papagei. Vögel sind Schlangennahrung.« Der Papagei flog auf den Baum und versteckte sich. Tov legte die Hände um den Mund und rief laut, laut: »Fododo, komm aus deinem Loch.« Fododo hörte ihn und kam. Sein Körper war zweimal zehn Schritte lang und viele Male zehn mehr. Sein Körperumfang war der Körperumfang eines Mannes und seine Farbe war weiß, weiß wie ein Knochen, ein alter Knochen in der Wüste. Er blickte Tov an und der Blick war Zauber. Tov konnte
sich nicht mehr rühren. Fododo sagte: »Tov, du bist ein großer Dummkopf.« Tov sagte: »Du kennst meinen Namen. Wie kommt das?« Fododo sagte: »Ich weiß alles, alles.« Tov sagte: »Ich, Tov, weiß etwas. Du, Fododo, weißt es nicht. Es ist dies. Es gibt jemanden. Tag kommt. Es hat Lachen, aber keine Wörter. Es hat Flügel, aber keine Arme. Nacht kommt. Es hat Worte, es hat Lachen. Es hat Arme, aber keine Flügel. Fododo, Vater aller Schlangen, wer ist es? Das weißt du nicht.« Das stimmte und so verlor Fododo seinen Zauber. Über seinem Kopf rief der Papagei. Sein Ruf war wie Lachen. Fododo blickte auf und Tov konnte sich bewegen. Er lief hinter den Baum, schnell, schnell. Der Papagei flog vom Baum hinab und vor Fododos Maul. Fododo schnappte nach ihm, doch er flog hinter ihn. Fododo verfolgte ihn mit seinem Maul, dicht, dicht, aber der Papagei flog nach unten, nach oben, im Kreis, immer wieder und wieder. Die ganze Zeit über verfolgte ihn Fododo mit dem Maul. Dann flog der Papagei wieder auf den Baum und Fododo streckte sich, um ihn zu erreichen. Doch sein Körper war nun ein riesiger Knoten. Als er sich streckte, zog er ihn zu, so dass er sich nicht bewegen konnte. Tov kam hinter dem Baum hervor, trat hinter Fododo und packte ihn am Nacken. Fododo riss sein Maul auf, um ihn zu beißen, aber Tov war bereit. Er stieß seinen Grabstock zwischen die Kiefer von Fododo, von der Seite, so dass sich die Giftzähne vor dem Stock befanden. Tov packte den linken Giftzahn und zog daran, kräftig, kräftig. Der Giftzahn löste sich und Tov hielt ihn und freute sich. Er zog seinen Stock zwischen den Kiefern von
Fododo hervor. Fododo konnte sich nicht bewegen. Tov sagte: »Komm, kleiner Papagei, wir sind fertig.« Er ging davon. Fododo rief ihm nach: »Tov, sei achtsam, achtsam. Mein Giftzahn steckt voller Tod.« Tov antwortete: »Fododo, du hast Recht. Aber es ist nicht der Tod von Tov und nicht der Tod von seinem Papagei.«
ACHT Inzwischen war der Vormittag vorangeschritten. Ko vermutete, dass alle unten am Wasserlauf nach Nahrung suchten, doch als er die Sumpf-Menschen den Hang hinaufführte, hörte er einen Ruf zu seiner Linken und sah, dass Mana auf ihn zurannte. Er legte die Hände auf ihre Schultern und blickte sie an. »Du weinst, Mana«, sagte er. »Warum denn? Ich komme zurück. Ich bin glücklich, glücklich.« »Oh, Ko«, schluchzte sie. »Ich suche dich, lange, lange. Ich sage in meinem Herzen zu mir selbst: Ko ist tot. Ich bin traurig, traurig.« Sie ergriff seine Hand. »Komm«, sagte sie. »Komm zu Suth, zu Noli, zu Tinu. Oh, Ko, wir sind traurig!« »Nein«, sagte er. »Zuerst begrüßt du diese Menschen. Sie bringen mich zurück. Mana, sie sind wie Tor. Sie haben keine Wörter. Dann bringe ich sie zu unserem Lager. Ich gebe ihnen Salz. Es ist mein Geschenk, zum Dank. Du gehst zu Suth. Du sagst ihm: Ko ist zurück.« Er nahm sie mit zu den Sumpf-Menschen und sie kniete sich hin und schlug mit den Händen vor dem Mann auf die Erde, als begrüßte sie einen wichtigen Mann vom Stamm. Der Sumpf-Mann schaute verwirrt drein, schien aber an Selbstvertrauen zu gewinnen. Vor Mana brauchte er keine Angst zu haben. Sie stand auf, legte ihre Arme um Ko und stieß, zu den Frauen gewandt, Danke-Laute aus. Dann lief sie davon, während Ko die anderen drei weiterführte. Sobald sie den Hügelkamm erreichten und das Lager unten sehen
konnten, hielt der Mann an und bellte laut. Alle drei starrten mit weit aufgerissenen Augen den Hang hinab. Ko folgte verdutzt ihren Blicken. Das Lager war menschenleer und außer der Glut des Feuers und dem aufgespießten Krokodilkopf gab es nichts zu sehen … Natürlich, der Krokodilkopf. Ko fiel wieder ein, wie die Sumpf-Menschen gefeiert hatten, nachdem sie das kleine Krokodil erbeutet und mit nach Hause gebracht hatten – und er erinnerte sich an die Krokodilköpfe, keiner von ihnen so groß wie dieses Monster, die rund um den Eingang zum Lager aufgespießt waren. Der Mann drehte sich um und starrte Ko an. Ko lächelte selbstsicher. »Wir töten das Krokodil«, sagte er. »Unsere Frauen tun es. Ich, Ko, helfe.« Er klopfte sich auf die Brust. Nach all dem Bitten und Betteln in den Sümpfen tat es gut, ein bisschen vor diesem Mann angeben zu können. Er stieß den Komm-Laut aus und begann den Hang hinabzulaufen. Die SumpfMenschen folgten mit zögerndem Murmeln, fielen zurück und gingen schließlich überhaupt nicht mehr weiter. Ko wartete. Er war nicht ungeduldig. Er wollte, dass sie da wären, wenn Suth käme, denn so würde es noch ein wenig länger dauern, bis er Suth allein gegenüberstünde. Und egal, was er angestellt hatte – Suth würde sicher einsehen, dass irgendetwas Gutes dabei herausgekommen war, und nicht so streng mit ihm sein, denn schließlich hatte er die Sumpf-Menschen entdeckt. War das etwa nichts? Also sah er zu, wie der Mann den Frauen mit Gesten bedeutete, dort zu bleiben, wo sie waren, und dann mit langsamen, steifen Schritten zum Krokodilkopf ging. Ein paar Schritte entfernt vom Kopf hielt er an und bellte drei
Mal, jeweils mit einer langen Pause dazwischen. Dann kniete er nieder und kroch zum Pfahl, neigte an seinem Fuß den Kopf auf die Erde, erhob sich schließlich und stand dicht vor dem Monster. Wie zum Gruß hob er den rechten Arm und blieb eine Weile schweigend stehen. Ganz langsam, als wäre er jemand, der vor den Augen des ganzen Stammes seinen Mut erproben müsste, streckte er die Hand aus, legte die Finger auf die Schnauze des Monsters, wartete ein wenig und zog sie wieder fort. Dann trat er, immer noch grüßend, einige Schritte zurück, kniete nieder, berührte wieder mit dem Kopf die Erde, stand auf und ging zu den Frauen. Wie üblich umschmeichelten sie ihn, diesmal aber mit sanften, fragenden Bewegungen, als wäre er Teil eines Zaubers. Jede von ihnen ergriff eine seiner Hände. Gemeinsam führten sie ihn zu Ko und dann weiter zum Lager, wo sie ihn vorsichtig hinsetzten, als wäre er nicht imstande, es alleine zu tun. Ko störte sie nicht. Er ahnte, was vorging. Noli hatte oft Hilfe gebraucht, wenn Mondfalke zu ihr gekommen war. Der Mann hatte etwas getan, das mit den Ersten Wesen zusammenhing. Also ging Ko schweigend davon und holte drei kleine Salzklumpen unter dem Felsbrocken hervor, wo sie aufbewahrt wurden. Dann wartete er, bis der Mann heftig gezittert, geniest, den Kopf geschüttelt und sich umgeschaut hatte, als wüsste er nicht, wo er sich befand, bis sein Blick auf das Krokodil fiel und er sich wieder erinnerte. Er grunzte und sah Ko fragend an. Ko ging zu ihm und schenkte ihm mit ritueller Geste den größten Salzklumpen. Der Mann ergriff ihn, dankte und reichte Ko mit einer ebenso rituellen Geste die Klinge zurück. Ko bedankte sich, als hätte er sie noch nie in seinem Leben gesehen. Rasch reichte er auch den Frauen das Salz. Sie krähten vor
Freude, doch anstatt ihm zu danken, liebkosten sie ihn genau wie den Mann, der großmütig zuschaute. Sie waren noch nicht fertig, als Ko sah, dass Suth vom Wasserlauf heraufgerannt kam. Er bedeutete dem Mann mit Zeichen, zu bleiben, wo er war, und lief Suth entgegen. Suth hielt an und wartete, so dass Ko zu ihm kommen musste. Ko hatte ihn schon ärgerlich erlebt, aber noch nie so streng wie in diesem Augenblick. »Oh, Suth«, stieß er hervor. »Ich bin schlecht, schlecht. Ich, Ko, weiß das. Aber höre mich an. Ich ging in die Sümpfe. Ich fand Menschen. Suth, sie leben in den Sümpfen. Sie kennen alle Wege. Drei brachten mich zurück, ein Mann, zwei Frauen. Suth, sie sind hier. Komm und begrüße sie. Vielleicht zeigen sie uns den Weg durch die Sümpfe.« Ko kam ins Stocken. Suth antwortete nicht. Hinter ihm konnte Ko Noli, Tor, Bodu und ihr Baby, Tinu, Mana und Tan sehen, die den Hügel hinaufkamen. Tor trug Tan auf den Schultern. »Ko, du bist schlecht, schlecht«, sagte Suth. »Ich rede später mit dir. Komm.« Auf dem Weg zum Lager erzählte ihm Ko so viel über die Sumpf-Menschen, wie in der kurzen Zeit möglich war – dass sie keine Wörter hatten, aber Gesten und Laute, wie Tor und die Stachelschweine sie benutzten, dass die Männer ihre Gesichter bemalten wie Dämonen, dass sie meist rohen Fisch aßen, weil sie kein Feuer kannten, dass das Krokodil eine Art von Erstem Wesen war und so weiter. Suth schwieg. Als sie die Sumpf-Menschen erreichten, drängten sich diese dicht zusammen und der Mann stand vor den Frauen. Seine Muskeln waren gespannt und er hielt den Fischspeer mit der Spitze nach unten, bereit, ihn hochzureißen und
zuzustechen. Suth, der sich ruhig und selbstsicher bewegte, legte seinen Grabstock auf die Erde und ging weiter, indem er die rechte Hand hob, die Finger spreizte und die Handfläche nach außen kehrte. Als er den Mann erreichte, stieß er einen tiefen, summenden Kehllaut aus. So grüßten die Stachelschweine einander, wenn sich zwei Männer begegneten. Statt eines Summens gab der Mann ein weiches Bellen von sich, seine Geste aber glich der von Suth und die zwei Männer legten die Handflächen aneinander. Ko seufzte erleichtert. So weit, so gut. Dann legte Suth einen Arm um Kos Schultern, zog ihn an sich, stieß die Danke-Laute aus und schenkte dem Mann seine Klinge. Als Gegengabe reichte ihm dieser zwei der hölzernen Gefäße, die an seinem Gürtel hingen. Suth starrte sie verwirrt an und der Mann nahm sie wieder an sich, schlug sie gegeneinander, wobei sie einen schönen, klingenden Ton von sich gaben. Lächelnd schlug er sie rhythmisch aneinander, Tick-atick-tack, Tick-aticktack, und Ko erkannte das merkwürdige, spechtartige Geräusch wieder, das über das Wasser gehallt war, als die Jäger das Krokodil heimgetragen hatten. Suth lächelte, nahm die Gefäße und probierte es selbst aus, wobei ihm der Mann ermunternd zumurmelte. Inzwischen waren Noli und die anderen eingetroffen. Als Tor den Mann begrüßte, umarmten sie Ko, lachten und weinten. Dann verbeugten sie sich und ließen ihre Finger vor dem Mann in der Luft flattern. Schließlich begrüßten sie auch die Frauen. Nach kurzer Zeit schon streichelten Noli und die ältere Frau unter bewunderndem Gurren und lautem Lachen der anderen gegenseitig ihre Bäuche. Dann setzten sich alle hin. Mana reichte eine kleine Kürbisflasche mit Samenbrei herum und zeigte den
Sumpf-Menschen, dass sie einen Finger hineintauchen und ihn ablecken mussten. Doch schon bald begann der Sumpf-Mann unruhig zu werden, und sobald Suth aufstand, sprang auch er auf die Beine und wies die Frauen an mitzukommen. Bevor er das Lager verließ, kniete er noch einmal vor dem Krokodilkopf nieder, stand auf, berührte die Schnauze des Monsters mit den Fingerspitzen und der Stirn und wich dann zurück. Suth und Ko gingen gemeinsam mit den Besuchern hinab zu den Sümpfen. Unterwegs versuchte Suth dem Mann begreiflich zu machen, dass er jemanden brauchte, der sie zur jenseitigen Seite führte, doch der Mann verstand ihn nicht. Also stießen sie am Ufer die LebewohlLaute aus und sahen zu, wie die Sumpf-Menschen auf dem verborgenen Pfad allmählich im Dunst verschwanden. »Jetzt, Ko, rede ich mit dir«, sagte Suth und erklärte ihm mit leiser, ruhiger Stimme, ohne Ärger oder Verachtung, wie schlecht er gewesen sei. Er war wirklich sehr schlecht gewesen. Ko weinte. Schweigend gingen sie den Hang hinauf, doch bevor sie das Lager erreichten, sagte Suth: »Höre mich, Ko. Bald kommen die anderen, um sich auszuruhen. Tun ruft dich. Er sagt: Ko, erzähle von deinen Taten. Erzähle, was du gesehen hast. Du erzählst alles. Bedenke jetzt deine Worte. Aber höre mich, Ko. Du hattest Glück, Glück. Wer Glück hatte, prahlt nicht.« »Suth, ich höre«, sagte Ko. Ihm wurde bewusst, dass Suth ebenso gut hätte warten können, bis alle anwesend waren, um ihm dann vor aller Ohren zu sagen, wie schlecht er gewesen war. Er war ihm sehr dankbar, weil er das nicht getan hatte, aber das machte es nicht viel einfacher, als Ko schließlich vor Tun und den anderen
stand und seine Geschichte erzählen musste. Selbst Kern zog ein erschrockenes Gesicht, als Ko beschrieb, wie er den Sumpf-Mann entdeckt hatte und ohne jemandem davon zu erzählen über den gefährlichen Schlamm gekrochen war, um zu ihm zu gelangen. Sobald er aber zur Begegnung mit den Sumpf-Menschen kam, veränderten sich die Mienen und sie begannen Fragen zu stellen. Und als er erzählte, wie die Frauen versucht hatten seine dunkle Haut abzulecken und abzureiben, lachte jemand und er begann sich wohler zu fühlen. Es wurden noch viele Fragen gestellt. Die Rast nahm die Hälfte des Nachmittags in Anspruch und danach führte Ko alle hinab zum Sumpf und zeigte ihnen den verborgenen Pfad. Er war jetzt leicht zu finden, weil der trockene Schlamm dicht am Ufer, dort, wo Ko und die SumpfMenschen ihn überquert hatten, noch zertrampelt war. Weiter draußen jedoch hatte er die Fußstapfen wieder verschluckt und es war nichts mehr zu erkennen. Sie sammelten Nahrung, bis es dunkel wurde. Ko fühlte sich unsäglich glücklich, weil er wieder unter Freunden und dort war, wo er hingehörte. Zu seiner Überraschung kam Nar, um mit ihm zu reden, stellte einige Fragen, lachte dann und sagte: »Ko, ich glaube, du findest den Weg durch die Sümpfe. Bald gebe ich dir mein Geschenk.« »Morgen ist morgen«, sagte Ko hochmütig und Nar lachte noch einmal. Während der nächsten zwei Tage geschah nichts Besonderes. Sie hatten fast alle Nahrung gesammelt, die die Gegend um den Wasserlauf geboten hatte, und wären gerne weitergezogen, konnten aber nirgendwohin. Var und
Net erkundeten den Weg in die Sümpfe und nahmen Salz für den Fall mit, dass sie auf Sumpf-Menschen stießen, aber sie kamen nicht weiter als bis zur ersten Insel und Kos Freunde waren nicht dort. Den Pfad zur nächsten Insel konnten sie nicht finden. Am dritten Morgen steckten Ko und Mana tief in einem Dickicht, wo sie einen Bau ausgruben, den Mana entdeckt hatte. Sie hatten das Nest fast erreicht und konnten schon das wilde Quieken der kleinen Wesen hören, die unter ihnen in der Falle saßen, als Suth rief. Enttäuscht schlängelte sich Ko aus dem Dickicht. Draußen sah er Suth und neben ihm Tan, der verwirrt dreinschaute. »Nolis Baby beginnt«, erklärte Suth. »Männer und Jungen gehen.« Ko begriff sofort. Dasselbe war geschehen, als vor einigen Monden Ogad geboren worden war. Es war Nacht gewesen und sie hatten geschlafen, doch Suth, Ko und Tan und alle anderen Männer, die alt genug gewesen waren, um laufen zu können, hatten das Lager verlassen, waren ins Dunkel hineingegangen und hatten gewartet, bis das Lied der Geburt am Feuer erklungen war. Dann waren sie zurückgekehrt und Suth hatte seinen Baby-Sohn zum ersten Mal gesehen. Die Geburt war Frauen-Sache, mehr als alles andere. Jungen und Männer durften nicht in der Nähe sein. Nur kleine Babys wie Ogad konnten dableiben, weil sie noch gestillt wurden und ihre Mütter brauchten. Also trotteten alle Männer hinauf zum Lager, um im kargen Schatten unter den kahlen Bäumen zu warten. Die Männer ließen sich nieder, um ihr übliches Spiel zu spielen, wobei sie Kieselsteine in einen Kreis warfen, den sie in die Erde gezogen hatten, und versuchten den Stein eines anderen Spielers hinauszuwerfen.
Ko war sehr unruhig. Nach seinem Abenteuer in den Sümpfen hatte er versprochen, sich nicht ohne Erlaubnis aus Suths Blickfeld zu entfernen. Er langweilte sich schrecklich unter den Bäumen. Er war zu jung, um mitzuspielen. Und er hatte keinen Spielkameraden außer Nar. Seit ihrem kurzen und merkwürdigen Gespräch vor ein paar Tagen hatte er begonnen Nar gegenüber etwas anderes zu empfinden, doch er wusste nicht, wie er es anstellen sollte, Freundschaft zu schließen nach einer so langen Zeit, in der er sich bemüht hatte, die Feindschaft zu schüren. Ko sah dem Spiel zu, bis Suth an der Reihe gewesen war, kniete sich dann neben ihn und flüsterte: »Suth, ich gehe auf den Hügel. Ich beobachte die Sümpfe. Ich bleibe dort. Ich gehe nicht hinab zum Sumpf. Ich, Ko, bitte.« Suth musterte ihn. Ko sah, dass er versuchte nicht zu lächeln. »Geh, Ko«, sagte er und wandte sich wieder dem Spiel zu. Also kletterte Ko zu seinem Aussichtsplatz hinauf, lehnte seinen Rücken an einen Felsklotz und starrte voller Verlangen auf die Sümpfe. Er konnte gerade noch die Wipfel der Bäume erkennen, die auf der Insel standen, wo er dem Sumpf-Mann begegnet war. So dicht … Vielleicht war der Mann wieder dort, in genau diesem Augenblick … Angenommen, Ko würde sich die Gefäße borgen, die Suth geschenkt worden waren, ginge hinab zum Ufer und schlüge sie aneinander … Er hatte kaum zu träumen begonnen, als Nar kam und sich neben ihn hockte. »Was tust du, Ko?«, fragte er. »Ich warte«, sagte Ko. »Vielleicht sehe ich etwas. Vielleicht höre ich etwas.« »Ich warte mit dir?«, fragte Nar.
»Gut«, sagte Ko und machte Platz, damit auch Nar sich an den Felsklotz lehnen konnte. Unter ihnen dampften die Sümpfe still vor sich hin. Nach einer Weile sagte Nar: »Zara, meine Mutter, ist traurig, traurig. Niemand von unserem Stamm ist übrig. Alle sind tot. Verschwunden. Wir lebten auf dem Berg. Wir waren glücklich. Der Berg brannte. Er warf große Felsbrocken in die Luft. Einer traf Beg, meinen Vater. Er starb. Wir flohen. Wir kamen zu einer Wüste, keine Nahrung, kein Wasser. Viele starben dort. Illa, meine Schwester, starb. Andere gingen verloren. Nun sagt meine Mutter zu mir: ›Nur wir zwei sind unser Stamm. Hier gibt es wenig Nahrung. Bald ist sie zu Ende. Dann sterben wir. Du stirbst, Nar, mein Sohn. Dann ist unser ganzer Stamm tot.‹ Ko, meine Mutter ist traurig, traurig.« Ko murmelte mitfühlend. Er erinnerte sich an das seltsame Gefühl, das ihn überkommen hatte, als Cal vom Krokodil getötet worden war. Sein ganzer Stamm, Warzenschwein, war mit ihm gestorben. Bis zu jenem Augenblick hatte es den Stamm von Warzenschwein immer gegeben, seit der Zeit, als die Ersten Wesen die Kinder von An und Ammu im Ersten Guten Jagdgrund aufgezogen hatten. Ko konnte sich vorstellen, wie er sich fühlen würde, wenn er wüsste, dass er der letzte Mondfalke wäre und es nach ihm keinen mehr gäbe. Das wäre schlimmer als sein eigener Tod. Kein Wunder, dass Nar ein so großes Interesse daran hatte, einen Weg durch die Sümpfe zu finden. Ko wusste nicht, was er sagen sollte, also saßen sie schweigend da. Obwohl kein Wind wehte, schien sich der Dunstschleier über den Sümpfen ständig zu bewegen, einmal dichter und dann wieder lichter werden. Manchmal konnte Ko die Umrisse verschiedener Inseln erkennen, doch nach wenigen Augenblicken waren sie wieder
verschwunden. Er wurde erneut unruhig. Da richtete sich Nar auf, starrte in den Dunst und wies mit dem Finger auf etwas. »Ein Ding kommt«, flüsterte er. »Menschen? Tiere?« Ko kniff die Augen zusammen und dann sah auch er den verschwommenen, dunklen Schemen, der sich langsam durch den Dunst auf das Land zubewegte. Er befand sich ungefähr dort, wo der verborgene Pfad verlief. Ein Tier konnte es nicht sein, dazu war der Schemen zu groß. Es konnten nur mehrere Menschen sein, die sich dicht hintereinander bewegten. Beide Jungen standen auf. Ko lief ein paar Schritte den Hang hinab. Plötzlich erinnerte er sich an das Versprechen, das er Suth gegeben hatte. Er machte kehrt und gemeinsam rannten sie zu den Männern zurück, knieten sich hin und schlugen die Knöchel aneinander. Die Männer sahen auf und runzelten angesichts der Unterbrechung die Stirnen. »Tun, ich, Nar, spreche«, sagte Nar und fuhr gleich fort, ohne auf eine Erlaubnis zu warten. »Menschen kommen aus den Sümpfen. Auch Ko sieht sie.« Die Männer schnaubten überrascht, brachen das Spiel ab und rannten hinauf zum Hügelkamm. Als sie dort ankamen, hatte der verschwommene Schemen, den Nar und Ko gesehen hatten, das Ufer erreicht und war deutlich sichtbar. Es waren tatsächlich Menschen. Sieben oder acht Sumpf-Männer. Sie stellten sich hintereinander auf und marschierten den Hügel hinauf. Die Fischspeere wippten bedrohlich auf ihren Schultern.
URSAGE
Tov und Falu Tov kam zu Steinmaul. Der Papagei begleitete ihn. Noch immer klemmte der Felsbrocken im Mund von Steinmaul, so dass er nicht zuklappen konnte. Tov ging in den Mund und fand Wasser. Er trank, füllte seine Kürbisflasche und verließ die Höhle. Neben Steinmaul schlug er sein Lager auf und aß Gazellenfleisch. Die Nacht kam. Tov sagte: »Jetzt schlafe ich, kleiner Papagei. Du wachst.« Er legte sich hin und schlief. Es war dunkel und der Papagei verwandelte sich wieder in Falu. Nun sang sie mit ihrer eigenen Stimme. Dies waren die Worte ihres Liedes: Papagei, Erstes Wesen, Ich bin dein Küken. Du behütest mich,
Du bringst mir süße Früchte. Es ist Tag, ich bin ein Papagei. Es ist Nacht, ich bin ein Kind. Lass mich dies nicht mehr sein. Verwandele mich in eine Frau. Dann ging Falu in die Höhle, in den Mund von Steinmaul. Sie wusch sich die gelben Federn vom Gesäß und den grauen Staub von ihrem Körper und säuberte sich. Als sie die Höhle verließ, war sie eine Frau. Tov schlief. Die ganze Nacht lang bewachte ihn Falu. Morgens erwachte Tov und sah Falu. Er erkannte sie nicht. Er sagte: »Jetzt sehe ich dich, Frau. Sag mir deinen Namen.« Sie sagte: »Ich bin Falu, die Tochter von Dat. Ich war ein Kind. Es ist verschwunden. Ich war ein Papagei, ein kleiner grauer Papagei mit gelben Schwanzfedern. Er ist verschwunden. Ich bin hier. Tov, ich erwähle dich zu meinem Gefährten. Erwählst du auch mich?« Tov sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Gata ist schöner, aber Falu ist schlau, schlau. Sie ist tapfer. Sie hilft mir. Er sagte: »Falu, ich erwähle dich zu meiner Gefährtin. Jetzt bestreichen wir unsere Stirnen mit Salz.« Falu sagte: »Nein, Tov, wir warten. Ich habe Dat, meinem Vater, ein Versprechen gegeben. Er entscheidet für mich. Wir gehen jetzt zu ihm. Du gibst ihm dein Geschenk, den Zahn von Fododo, dem Vater aller Schlangen, den Giftzahn. Du sagst zu ihm: Gib mir Falu als Gefährtin.« Tov sagte: »Ich tue das. Es ist gut.«
Tov und Falu zogen zusammen weiter. Die Sonne schien in ihre Augen. Sie waren glücklich, glücklich.
NEUN Mit gleichmäßigen Schritten kamen die SumpfMenschen den Hügel hinauf. Nicht nur Gesichter und Hände, sondern ihre ganzen Körper waren in den Farben der Dämonen mit Punkten und Strichen bemalt worden. Die Männer des Stammes drängten sich zusammen, um sich ihnen entgegenzustellen. Aus ihren Kehlen drang ein tiefes Knurren und ihr Haar begann sich zu sträuben. Im Gegenzug sträubte sich auch das Haar der SumpfMänner. Sie knurrten nicht, stießen aber einen schrillen, bellenden Laut aus, der genauso Furcht erregend war. Ko, der in der Mitte zwischen beiden Gruppen stand, sah erschrocken zu. Die Sumpf-Männer gingen nur wenige Schritte entfernt an ihm vorbei, aber sie würdigten ihn keines Blickes. Es war, als wäre er Luft. Ohne Vorwarnung schrie Net und stürmte den Hügel hinunter. Tun rief ihm nach, er solle anhalten, aber Net stürmte weiter. Die Sumpf-Männer hielten inne. Sie holten mit dem Wurfarm aus. Ko hatte erlebt, welche Wirkung die Fischspeere haben konnten, wie spitz sie waren und wie weit die SumpfMenschen sie werfen konnten. Ohne nachzudenken rannte er los und stieß einen warnenden Ruf aus. »Gefahr! Speere sind spitz, Net, spitz!« Er stellte sich Net in den Weg, schrie und ruderte mit den Armen. Verrückt. Wie sollte ein Kind einen erwachsenen Mann aufhalten, in dem die Kampfeswut brannte, die Wut eines Helden? Net rannte ihn einfach um. Ko wurde zur Seite geschleudert und purzelte den Hang hinunter. Der Sturz nahm ihm den Atem. Dann kam er
betäubt und zerkratzt zum Stillstand und schnappte ächzend nach Luft. Sein Kopf schien von einem seltsamen, auf- und abschwellenden Geräusch erfüllt zu sein. Als er sich wieder aufrappelte, begriff er, dass das Geräusch seinen Ursprung nicht in seinem Kopf, sondern draußen hatte. Benommen sah er sich um. Ein kurzes Stück weiter den Hang hinab lag Net mit dem Gesicht auf der Erde. Tot? Nein. Unter Keuchen und Krächzen versuchte er aufzustehen. Er war noch übler zugerichtet als Ko. Dicht hinter ihm standen die Sumpf-Männer. Sie hatten ihre Speere gesenkt und ihr Haar sträubte sich nicht mehr. Mit den freien Händen zeigten sie auf Net und schüttelten sich vor Lachen. Tränen liefen über ihre grell bemalten Gesichter. Einige stampften mit dem Fuß auf und andere brachen fast zusammen. Sie waren hilflos. Hätten die Männer des Stammes jetzt angegriffen, dann hätten sie sich nicht wehren können. Verdutzt wandte Ko sich um. Die Männer des Stammes hatten ihre Grabstöcke gesenkt und auch ihr Haar begann sich zu legen. Kern lächelte und schüttelte seinen Kopf. Ko sah, dass Tun mit Var sprach, Tor ein Zeichen gab und dann gemeinsam mit ihm in aller Ruhe den Hügel hinabging. Zerkratzt, mit aufgeschlagenen Ellbogen und Knien und immer noch ganz benommen half Ko Net wieder auf die Beine und holte seinen Grabstock für ihn. Net machte nicht mehr den Eindruck, wild aufs Kämpfen zu sein. Sie warteten ab, was Tun vorhatte. Tun hielt einige Schritte vor den Sumpf-Männern an und bedeutete Tor mit einem Zeichen, dasselbe zu tun. Sie legten ihre Grabstöcke auf die Erde und gingen weiter, die offene Handfläche der Rechten zum Zeichen des Friedens erhoben. Wieder hielten sie inne und warteten, bis das Lachen abgeebbt war. Ko meinte zu erkennen, dass Tor
ängstlich aussah, aber Tun wirkte ganz selbstsicher. Sobald er etwas sagen konnte, ohne schreien zu müssen, wandte er sich um und sprach Net an. »Geh zurück, Net. Nimm Ko mit. Ich, Tun, spreche.« Gehorsam humpelte Net den Hügel hinauf, ohne Ko anzublicken. Ko spürte, dass er sich dafür schämte, sich zum Gespött der Fremden gemacht zu haben. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen. Er hatte Angst, dass Net wütend auf ihn wäre, weil er, Ko, seinem heldenmütigen Angriff in die Quere gekommen war. Wer war Ko? Ein dummer kleiner Junge, der sich in MännerDinge einmischte? Kern kam ihnen entgegen, legte seinen Arm um Net und tröstete ihn, als er zu seinen Freunden zurückhumpelte. Ko, der ängstlich hinterherhinkte, sah, dass Suth ihn herbeiwinkte. Doch als er ihn erreichte, war Suth damit beschäftigt, Tun und Tor dabei zuzuschauen, wie sie mit den Sumpf-Menschen verhandelten. »Suth, was passiert?«, flüsterte er. »Kämpfen wir mit den Sumpf-Männern?« »Nein. Du, Ko, hast den Kampf beendet.« »Ich glaube, Net ist deshalb wütend auf mich. Bin ich schlecht, Suth?« Suth schnaubte belustigt. »Nein, Ko. Diesmal bist du nicht schlecht.« Ko fühlte sich erleichtert, war aber immer noch verdutzt. Noch vor wenigen Minuten hatte alles so furchtbar und hoffnungslos ausgesehen, doch jetzt … »Warum lachen die Sumpf-Männer, Suth?«, fragte er. »Warum lächelst du?« »Ko, ich kann das nicht sagen. Es war ein Lach-Ding, das ist alles. Net greift an. Es ist der Angriff eines Helden.
Wer kann ihn aufhalten? Ein Junge steht ihm im Weg. Der Junge fuchtelt mit den Armen, er schreit. Der Held sieht den Jungen nicht. Er rennt gegen ihn, er stürzt, er kann nicht atmen. Der Held ist fort … Ich sehe es, ich lache. Es ist ein Lach-Ding … Ah, sieh nur, wir kämpfen nicht. Sie kommen. Tun gibt ihnen Salz.« Ko blickte auf und sah, dass Tun den Hügel hinaufschritt und den Sumpf-Männern winkte, damit sie ihm folgten. Das taten sie. Sie blieben dicht beieinander, schweigend und von einem noch unklaren Vorhaben erfüllt, aber sie bewegten sich nicht mehr in Kampfhaltung wie am Anfang. Ko erkannte im Anführer seinen Freund aus den Sümpfen, aber der Mann schien ihn nicht wahrzunehmen. Als sie den Hügelkamm überschritten, stieß ihr Anführer ein lautes Bellen aus und hielt plötzlich an. Die anderen stellten sich zu beiden Seiten neben ihm auf. Tun drehte sich um und wartete. Die Sumpf-Männer schenkten ihm keine Aufmerksamkeit. Ein tiefer, erstaunter Stöhnlaut entwich ihren Mündern. Ko begriff, was geschah. Sie hatten den Kopf des großen Krokodils zum ersten Mal erblickt. »Suth«, flüsterte er. »Sie kommen nicht wegen Salz. Sie kommen wegen unseres Krokodils.« »Ko, du hast Recht«, murmelte Suth. »Ich sage es Tun.« Er fing Tuns Blick auf und die beiden Männer entfernten sich, um leise miteinander zu sprechen. Tun nickte und ging weiter in Richtung des Lagers. Mit langsamen, steifen Schritten näherten sich die Sumpf-Männer dem großen Kopf und hielten ein paar Schritte entfernt von ihm an. Einer nach dem anderen ging in die Knie, kroch vorwärts, klopfte vor dem Fuß des Pfahls mit der Stirn auf den Boden, erhob sich dann und berührte mit den Fingerspitzen das bösartige Maul, dann
den eigenen Kopf. Schließlich stand er eine Weile schwer atmend da, ging rückwärts und nahm wieder seinen Platz in der Reihe ein. Genau wie Ko erkannten die Männer des Stammes, dass es sich um etwas handelte, dass mit den Ersten Wesen zu tun hatte. Sie sahen schweigend zu. Zuletzt kam der Anführer. Auch er ging ein paar Schritte rückwärts, doch anstatt sich wieder einzureihen, hielt er an und ging mit ausgestreckten Armen wieder vorwärts. Offenbar hatte er vor, den Kopf vom Pfahl zu heben. Ko hörte, wie die Männer des Stammes ärgerlich murmelten. Das war nicht recht. Nicht die Sumpf-Menschen hatten das Krokodil getötet, sondern Chogi und die Frauen. Der Kopf gehörte dem Stamm. Ko spürte, dass die Angst wieder in ihm aufstieg. Sollte es schließlich doch noch zum Kampf kommen? Doch Tun hatte andere Pläne. Als die Sumpf-Männer zurückgegangen waren, hatte er sich neben den Pfahl gestellt und gewartet. Und bevor der Sumpf-Mann ihn erreicht hatte, hob er den Kopf herunter und ging ihm damit entgegen. Überrascht hielt der Sumpf-Mann inne. Tun hielt ihm den Kopf hin und stieß den doppelten, summenden Kehllaut aus, der ›ich gebe‹ bedeutete. Der Mann sah noch überraschter aus, nahm dann voller Ehrfurcht den Kopf entgegen und gab dann dreimal laut ›Ich bin froh‹ von sich. Die ganze Reihe der Sumpf-Männer stieß Laute der Verwunderung und Freude aus, als der Anführer mit dem Kopf zu ihnen zurückkehrte. Er setzte ihn vorsichtig auf der Erde ab, zögerte, hob seinen Fischspeer auf und sah Tun an. Plötzlich schien er unsicher zu werden. Ko konnte erraten, worüber er nachdachte. Er hatte im Gegenzug kein Geschenk zu bieten, das auch nur annähernd so großartig war wie der Krokodilkopf. Würde Tun den Fischspeer annehmen oder wäre er beleidigt?
Aber Tun war darauf vorbereitet. Er stieß einen KommLaut aus, winkte Tor und ging wieder hinauf zum Hügelkamm. »Nar, Ko«, sagte Suth. »Geht. Sucht die Frauen. Sagt zu Chogi: ›Wartet auf Nolis Baby. Dann kommt schnell, schnell. Bringt Nahrung.‹« »Was passiert?«, fragte Ko, als er zusammen mit Nar zum Wasserlauf hinablief. »Tun sprach mit Suth«, sagte Nar. »Ich höre ihre Worte. Tun gibt den Kopf vom Krokodil. Das ist sein Geschenk. Der Sumpf-Mann gibt den Weg durch die Sümpfe. Das ist sein Geschenk. Tor sagt es ihm jetzt.« Ko begriff sofort. Obwohl er und alle anderen Mitglieder des Stammes die Stachelschweine gut kannten und geübt darin waren, ihre Laute nachzuahmen, war es noch immer oft unmöglich, ihnen etwas begreiflich zu machen, was Menschen vom Stamm mit wenigen Worten sagen konnten. Die Stachelschweine jedoch hatten Möglichkeiten, sich untereinander durch zahlreiche Berührungen, Grunzlaute und Gesten zu verständigen, bis sie sich über eine Sache einig geworden waren, was immer es sein mochte. Kos Freund musste etwas Ähnliches getan haben, um die anderen Sumpf-Männer dazu zu überreden, ihn zu begleiten, um den Kopf vom Krokodil zu holen. Und Tor hatte die größte Chance, ihnen verständlich zu machen, was Tun wollte. Als sie sich dem Wasserlauf näherten, hörte Ko Frauen, die mit hoher Stimme einen glücklichen, auf- und abschwellenden Gesang angestimmt hatten. Es sangen immer drei oder vier gemeinsam, dann fielen andere ein und machten weiter, bis schließlich eine einzelne, freudige Stimme ertönte, die von Chogi, der obersten Frau, und die ersten Stimmen wieder antworteten, und so weiter – das
Lied des neugeborenen Mädchens, das in den Ursagen die Töchter von An und Ammu erfunden hatten, um es bei der Geburt von Turkas erstem Kind gemeinsam zu singen. Sie hielten an und warteten. Es war noch nicht so weit, dass Männer oder Jungen sich dem Ort der Geburt nähern durften, egal wie dringend die Botschaft war. Als die letzten Töne verklangen, kam Mana herbeigerannt. »Nolis Baby ist geboren!«, rief sie. »Es ist ein Mädchen. Es ist schön, schön. Nar, Ko, warum seid ihr hier? Was passiert?« »Eine große Sache passiert, Mana«, sagte Nar. »Geh. Suche Chogi. Sage ihr: ›Komm schnell.‹« Mana zögerte einen Augenblick, aber sie begriff, dass es sich nicht um ein Jungen-Ding handelte. Nar war ernst. Sie bahnte sich einen Weg zurück ins Dickicht. Ein wenig später tauchte Chogi auf, die Stirn in noch tiefere Falten gelegt als üblich und ganz offensichtlich verärgert über diese Störung einer so wichtigen Frauen-Sache. Zuerst hörte sie Nar ungeduldig zu, nickte dann aber und sagte: »Das ist gut. Die Geburt ist leicht. Noli ist stark. Wir kommen bald. Sage das Tun. Jetzt geht.« Als die Jungen zum Lager zurückgekehrt waren, sahen sie, dass Tun und Tor die Sumpf-Männer irgendwie dazu überredet hatten, sie durch die Sümpfe zu führen. Und während sie auf die Frauen warteten, saßen die Männer im Schatten der Bäume, den Krokodilkopf neben sich auf einem Felsbrocken, und die Sumpf-Männer lernten das Kieselsteinspiel. Nach nicht allzu langer Zeit trafen die Frauen ein. Noli, erschöpft, aber lachend vor Glück, zeigte Tor seine Tochter. Tor nahm sie in den Arm, streichelte sie und trug sie dann zu den Männern hinüber, um sie ihnen zu zeigen. Ganz zuletzt kam er zu Ko. Für Ko war das Baby einfach
ein Baby, faltig und wabbelig wie alle Neugeborenen. Seine Haut war heller als Nolis Dunkelbraun und der Hautfarbe von Tor und den Stachelschweinen viel ähnlicher. Ko gab die üblichen Ich preise-Laute von sich, während Tor vor Stolz und Freude strahlte. Inzwischen teilte der Stamm seine Nahrung mit den Besuchern. Niemand bekam mehr ab als ein oder zwei Mund voll, weil der Vorrat fast aufgebraucht war und sie am Vormittag, vor dem Beginn der Geburt, nicht sehr lange gesammelt hatten. Doch es war wichtig, alles zu tun, was sie konnten, um den Sumpf-Männern zu zeigen, dass sie diese zu Freunden und Verbündeten haben wollten. Zum Ausgleich für das karge Mahl schenkte Tun jedem Besucher eine Hand voll Salz und sie waren hocherfreut. Dann war es Zeit zum Aufbruch. Während der Stamm die Kürbisflaschen mit allem füllte, was zu tragen war, und Ko Tinu dabei half, den Feuerbewahrer zu füllen und zu verschließen, legten die Besucher ihre Fischspeere nebeneinander auf die Erde, legten den Krokodilkopf darauf und banden ihn mit Schilfblättern fest. Als sie fertig waren, stellte sie ihr Anführer in einer Reihe auf, wobei er sie herumstieß, bis alle so standen, wie er es wollte. Ko sah fasziniert zu. Vor nur fünf Tagen hatte dieser Mann sich von den anderen Sumpf-Männern zu seiner Insel zurückscheuchen lassen, nun aber war er der unangefochtene Anführer und niemand stellte ihn in Frage. Ko vermutete, dass es am Krokodilkopf lag. Er hatte ihn entdeckt und jetzt war er ihm von Tun geschenkt worden. Das machte ihn zu einem großen und wichtigen Mann. Als der Anführer zufrieden war, bellte er einmal laut. Die zwei Männer an der Spitze bückten sich, ergriffen die Fischspeere und hoben sie auf ihre Schultern, einer an jedem Ende. Das Gewicht des Kopfes bog die Speere
durch. Der Anführer löste zwei der hölzernen Gefäße von seinem Gürtel und die vier Männer am Ende taten es ihm gleich. Er nahm den Platz an der Spitze der Prozession ein, ging los und schlug beim Gehen die Gefäße aneinander. Die vier Männer am Ende stimmten ein und die ganze Schlange folgte ihm hinauf zum Hügelkamm. Der Stamm, Männer, Frauen und Kinder, kam hinterdrein. Als der dunstverhangene Sumpf in Sicht kam, stieß der Anführer einen triumphierenden Schrei aus und die anderen sechs antworteten mit preisenden Rufen. Nach einigen Schritten wiederholten sie das und auf dem Weg den Hang hinab spielte sich dieser Rhythmus ein. Ko kamen die Laute seltsam aufregend vor. Der spechtartige Klang der Gefäße hatte eine Art von Rhythmus und die Rufe waren ein Teil dieses Rhythmus. Er hatte auch eine Bedeutung und sie war Ko so klar, als hätte er gelernt, in den Grunz- und Belllauten der Stachelschweine zu denken. Er bedeutete Glück. Er bedeutete Ruhm.
URSAGE
Tovs Geschenk Tov und Falu waren den ganzen Tag lang unterwegs und kamen zu Beutelwurm. Sein Wasser befand sich neben ihm. Er hatte den Mund voller Erde und konnte es nicht einsaugen. Im Wasser schwammen Fische. Tov und Falu holten sie heraus, aßen und tranken und füllten ihre Kürbisflasche. Beutelwurm sah das. Er war sehr wütend. Nacht kam. Tov und Falu hielten abwechselnd Wache, jeder, wenn der andere schlief. Sie erwachten und wanderten weiter, bis sie zu Zweikopf kamen. Seine Köpfe kämpften immer noch miteinander und das gelbe Blut tropfte heraus. Tov und Falu tranken es und füllten ihre Kürbisflasche. Nacht kam und sie schliefen und hielten Wache wie zuvor. Sie erwachten, sie wanderten weiter, sie kamen zum Tarutu-Felsen. Dort lagerte Webervogel, Tovs eigener Stamm. Tov sagte: »Sagt mir, Stammesbrüder, wo ist Dat?« Sie antworteten: »Papagei lagert beim Tal der Toten Bäume. Dort ist er.« Tov und Falu zogen zum Tal der Toten Bäume. Als Gata
sie kommen sah, verbarg sie sich in ihrer Nähe im hohen Gras. Tov stand vor Dat und sagte: »Dat, ich bringe dir das Geschenk, um das du mich bittest. Ich bringe dir den Zahn von Fododo, dem Vater aller Schlangen. Ich bringe dir den Giftzahn. Hier ist Falu, deine Tochter. Sie ist eine Frau. Ich erwähle sie als meine Gefährtin. Sie erwählt mich. Dat, sagst du Ja dazu?« Dat sagte: »Gib mir den Zahn von Fododo, dem Vater aller Schlangen. Gib mir den Giftzahn.« Tov gab ihm den Zahn. Dat hielt ihn in der Hand. Er sagte: »Mein Versprechen galt nicht für Falu. Es galt für Gata. Ich sage Nein zu deiner Wahl.« Tov war sehr wütend. Er sagte: »Gib mir mein Geschenk zurück.« Dat sagte: »Das Geschenk ist gemacht. Es gehört mir.« Er schloss seine Hand um den Zahn, fest, fest, so dass er in seine Handfläche stach und das Gift in sein Blut schoss. Er starb. Dann bestrichen Tov und Falu einander die Stirnen mit Salz und waren ein Paar. All das sah und hörte Gata, verborgen im hohen Gras.
ZEHN Langsam tastete sich die Prozession über den verborgenen Pfad. Als alle auf dem Ufer der ersten Insel standen, begannen die im Schlamm liegenden Schilfhalme zu reißen, weil so viele Menschen auf einmal darüber gelaufen waren. Der Weg zur nächsten Insel war noch schlimmer. Sie mussten einander an den Händen halten und eine Menschenkette bilden, um die Letzten sicher hinüberzubringen. Die Sumpf-Männer schenkten ihnen keine Aufmerksamkeit, sondern liefen weiter vorneweg. Bald waren sie außer Sichtweite, wenngleich ihre wilde Musik noch unheimlich über die Sümpfe trieb. Der Stamm eilte den Geräuschen hinterher und sah, wie sie eine Schlammbank überquerten und im vor ihnen liegenden Dunst verschwanden. Doch am jenseitigen Ufer warteten die zwei Gefährtinnen des Sumpf-Mannes, um zu helfen. Der Anblick der vielen Menschen, die sich zwischen den Bäumen herausschlängelten, schien sie zu verdutzen, doch die Jüngere von beiden erkannte Ko wieder und rannte ihm entgegen, um ihn auf die Art der Sumpf-Menschen durch Umarmen und Streicheln zu begrüßen. Beim Anblick von Nolis Baby krähte sie vor Freude, rief die andere Frau herbei, damit sie es bewundere, und dann machten sie sich daran, die nächste Überquerung zu organisieren. Sie ließen immer nur ein paar Mitglieder des Stammes auf einmal hinübergehen und jede Schar musste ein Bündel Schilf mitnehmen, das auf die Schwachstellen des Pfades gelegt wurde. Da viele Menschen mithalfen und viele Klingen zur Verfügung standen, um das Schilf zu schneiden, war das rasch erledigt, aber trotzdem wurde
das Geräusch der Prozession der Sumpf-Männer, die ihnen vorauseilten, immer schwächer. Schließlich wurde es wieder lauter und auf der jenseitigen Seite der fünften Insel fand der Stamm tatsächlich wieder Anschluss. Dort hatten einige Menschen an einem offenen Wasserlauf gefischt und die Sumpf-Männer hatten angehalten, damit die anderen vor dem Krokodilkopf die Erste-Wesen-Zeremonie vollführen konnten. Als der Stamm sie einholte, waren sie fast fertig. Die Frauen kamen herbeigelaufen, um die Fremden in Augenschein zu nehmen, und gaben beim Anblick des Babys Schnalz- und Gurrlaute von sich. Einige aber stießen sorgenvolle Laute aus, blickten Noli an und seufzten mitfühlend. »Warum sind sie traurig, Ko?«, fragte Mana. »Mana, ich weiß nicht«, antwortete er. »Ich glaube, sie sagen: ›Es ist nur ein Mädchen. Ein Junge ist besser.‹ Für sie sind Männer viel, viel. Frauen sind wenig. Sieh diese neuen Menschen. Drei Männer. Fünf, sechs Frauen. Ich sagte es dir. Die Frauen sind die Gefährtinnen der Männer. Ein Mann hat zwei Gefährtinnen oder drei. Es ist seltsam, seltsam.« Mana starrte ihn mit großen Augen an. Vielleicht hatte sie es nicht verstanden oder nicht wirklich daran geglaubt, als er es ihr zum ersten Mal erzählt hatte. »Ko, das ist nicht gut«, flüsterte sie. Rings um ihn herum ertönten zustimmende Laute und er begriff, dass einige der anderen zugehört hatten, Yova und Var und einige seiner eigenen Familie. Suth nickte ihm ermutigend zu. Es war neu für Ko, dass ihm zugehört wurde, als hätte er etwas zu erzählen, was von Interesse für seine Zuhörer war. Er freute sich, fühlte sich aber zugleich unwohl. Es schien, als hätte ihn sein Abenteuer
irgendwie verändert, ohne dass er für diese Veränderung wirklich bereit war. Den ganzen Nachmittag hindurch schlängelte sich die Prozession durch die Sümpfe und wurde immer langsamer, weil immer mehr Menschen dazustießen. Die Männer reihten sich vorn ein, während die Frauen und Kinder lachend in einer Reihe hinterherliefen. Als sie schließlich das Hauptlager erreichten, erstreckte sich die Schlange über zwei Inseln und den dazwischen liegenden Wasserlauf. Die Sonne, die tief zu ihrer Linken stand, war nur noch ein verschwommener Lichtpunkt, der Dunst schimmerte golden und der See, der die Insel umschloss, glitzerte vielfarbig. Ko beobachtete, wie die Männer an der Spitze der Prozession den Dammweg betraten, der zu den Inseln führte. Sie wurden von ihren Spiegelungen begleitet, die sich auf dem fast unbewegten, seidigen Wasser abzeichneten. Das Echo ihrer Musik floss über die in der Ferne liegenden Schilfgürtel hinweg. Fünf von ihnen hielten den Krokodilkopf nun eine Armlänge über ihren Köpfen. Selbst aus der Entfernung und durch den Dunst über den Sümpfen gesehen wirkte es wild und Furcht einflößend. Ko zitterte, als er sich an seine Alpträume erinnerte. Er verstand sehr gut, weshalb die SumpfMenschen dies für eine Angelegenheit der Ersten Wesen hielten. Eine kleine Prozession kam der großen entgegen und sie vollzogen die Begrüßung mitten auf dem Dammweg. Dann machten sie kehrt und brachten die Trophäe heim, während die ganze lange Menschenschlange hinterhertrottete. Die Musik – viele Male zehn SumpfMänner, die mit ihren Gefäßen klapperten und riefen – hörte nicht sofort auf. Als die Stämme schließlich den Dammweg erreichten, war die Dämmerung schon
hereingebrochen. Die Umgebung des Eingangs der Hauptinsel war überfüllt von aufgeregten Menschen, also bahnten sie sich einen Weg hindurch zur jenseitigen Seite und ließen sich dort nieder, wo sie ihre eigenen Worte wieder verstehen konnten. »Wir waren acht Stämme bei Odutu«, hörte Ko Chogi sagen. »Alle Stämme beisammen, Männer, Frauen und Kinder. Und doch sind diese Sumpf-Menschen zahlreicher.« »Chogi, du hast Recht«, sagte Kern. »Doch was essen wir? Wir haben kaum Nahrung.« »Wir essen Fisch«, sagte Suth. »Komm, Kern. Komm, Zara. Kommt, Mana und Ko. Bringt Salz. Ko, du kennst diese Menschen. Du sagst zu den Frauen: ›Ihr gebt mir Fische. Ich gebe euch Salz.‹« Es war gerade noch hell genug, um etwas sehen zu können. Die Frauen saßen grüppchenweise beisammen und umringten die Haufen der Fische, die sie gefangen hatten. Suth suchte sich eine Gruppe aus, die reichlich Beute gemacht zu haben schien, gab Ko einen Salzklumpen und klopfte ihm ermutigend auf die Schulter. Zögernd machte sich Ko auf den Weg. Die Frauen beobachteten ihn schon, stießen einander an und gaben glucksende Laute von Interesse und Belustigung von sich. Er krümelte ein wenig Salz in seine Hand und reichte es herum. Die Frauen nahmen etwas, legten es sich auf die Zunge und baten um mehr. Ko schnappte sich einen Fisch und stieß den Ich bitte-Grunzlaut aus. Alle Frauen griffen gleichzeitig nach den Fischen und warfen ihm welche zu, wobei sie eifrig die Ich gebe-Laute ausstießen. Ko nahm einen Fisch nach dem anderen, reichte ihn Suth, der hinter ihm stand, und verteilte weitere Salzkrümel.
Die Frauen erleichterten ihm die Aufgabe nicht gerade, denn sie kniffen ihn, rieben an seiner Haut oder kratzten mit einem Fingernagel daran, um herauszufinden, ob die Farbe echt war. Ko konnte hören, wie Suth und die anderen hinter ihm lachten, als er versuchte die Hände wegzuschlagen, gleichzeitig das Salz nicht zu verlieren und die glitschigen Fische nach hinten zu reichen. Sie bewegten sich von einer Gruppe zur nächsten. Manchmal stapfte ein Sumpf-Mann herbei und bellte die Frauen an, die ihm dann einen Fisch gaben und ihn umschmeichelten, während er aß. Ko und den anderen wurde keine Aufmerksamkeit geschenkt und sobald er aufgegessen hatte, stapfte er wieder davon, um sich zu den anderen Krachmachern zu gesellen. Inzwischen war es ganz dunkel, doch als Ko und seine Schar zu den anderen zurückkehrten, war bereits ein Feuer entfacht worden und alle grasten das Ufer nach zerbrochenem und weggeworfenem Schilf ab, das zwar lichterloh brannte, aber keine große Hitze entwickelte. Zum Glück war es in rauen Mengen vorhanden, und nach einer Weile konnten sie die Fische in die Asche legen, abwarten, bis sie gar waren, und dann mit Stöcken herausholen, um sie abkühlen zu lassen. Sie schmeckten köstlich, genauso gut wie der Schwanz des Krokodils damals. Die Sumpf-Menschen schienen kein Feuer zu haben, kannten es aber offenbar, denn sie kamen schon bald mit trockenen Schilfhalmen herbeigelaufen, die sie in die Flammen hielten, um schließlich zu den Schilfhaufen zurückzueilen, die sie selbst zusammengetragen hatten, und ihre Feuer in Gang zu bringen. Als der Stamm fertig mit Essen war, war die Insel von Lichtpunkten übersät, zwischen denen sich dunkle Gestalten hin und her bewegten. Am hellsten leuchtete es in der Nähe des
Eingangs, wo sich die meisten Menschen zusammenballten und der größte Lärm entstand. Ko war fasziniert. »Suth, gehen wir sehen?«, bettelte er. Suth erhob sich und sagte: »Komm, Tinu. Kommt, Mana und Tan. Das ist ein Ding, das wir sehen müssen. Wir sehen es nicht wieder. Noli, kommst du?« Schließlich kamen alle mit und gesellten sich zu der Menge beim Eingang. Kein einziger Sumpf-Mensch schenkte ihnen Beachtung. Ko war zu klein und konnte nichts erkennen, aber er schaffte es, sich nach vorn durchzudrängeln. Dort, vor der Wand aus Krokodilköpfen und der Reihe größerer Köpfe auf Pfählen, befand sich eine freie Stelle. Der Kopf des Krokodilmonsters steckte jetzt auf dem Pfahl in der Mitte. Davor brannte ein wildes Feuer und sein Licht ließ die großen Fangzähne aufblitzen und Schatten über die schuppige Haut flackern. Der größte Teil der Sumpf-Männer stand vor der Wand, schlug die Holzgefäße aneinander und schrie rhythmisch. Frauen und Kinder bildeten einen Ring, und in diesem Ring lief ein Mann hin und her. Er war es, der beim Geschrei den Ton angab und jedes Mal, wenn er schrie, ließ er seinen Fischspeer über dem Kopf wirbeln. Ko erkannte ihn nicht, bis eine schwangere Frau aus Richtung des Dammwegs herbeikam, neues Schilf aufs Feuer warf und ihn kurz umschmeichelte. Es war die ältere der beiden Frauen, auf die er gestoßen war, als er sich zum ersten Mal in die Sümpfe gewagt hatte. Ein wenig später jedoch erschien eine seltsame junge Frau, brachte noch mehr Schilf und auch sie umschmeichelte den Mann. Noch bevor sie fertig war, tauchte die jüngere der beiden Frauen mit weiterem Schilf auf und stieß zu ihr. Es schien sie nicht zu kümmern, dass die andere junge Frau bereits
da war. Ko sah mit offenem Mund zu, als die Frau, die er kannte, ihn entdeckte, zu ihm hinübersauste und ihn lachend zum Mann zerrte. Im Licht des Feuers erkannte Ko, dass es sich tatsächlich um seinen Freund handelte, den Mann, dem er vor fünf Tagen begegnet war. Er musste es ein, obwohl er ihn wegen des übergeschnappten, stolzen Gesichtsausdrucks fast nicht wieder erkannt hätte. Seine Augen waren so weit aufgerissen, dass rund um die Iris das Weiße sichtbar war, und der glitzernde Widerschein der Flammen tat das seine, um die Wildheit zu steigern. Der Mann hatte die Prozession seit dem Mittag angeführt, war dann vor dem Krokodilkopf auf und ab gestampft und hatte die ganze Zeit über sein Triumphgeschrei ausgestoßen. Er war heiser und sein bemalter Körper glänzte von Schweiß und zitterte vor Anstrengung, doch er war noch immer von der Kraft eines Helden erfüllt. Auch als er Ko sah, unterbrach er sein Stampfen nicht, lachte aber, riss ihn mühelos hoch in die Luft und setzte ihn auf seine Schultern, wobei er weiter im Ring herumstampfte. Nun wurde Ko vom Taumel der Masse mitgerissen. Er schwankte über den Köpfen der Menschen und konnte von der von Feuern erleuchteten Insel aus weit über die dunstigen Wasser und in die dunkel verschatteten Fernen der Sümpfe blicken. Mit der linken Hand krallte er sich im Haar des Mannes fest, hob die rechte Faust über den Kopf und schüttelte sie im Rhythmus der Klanghölzer und wenn der Mann schrie, schrie auch er aus voller Lunge. Es war großartig, war eine wunderbare, wortlose Prahlerei, eine Prahlerei, wie es sie noch nie gegeben hatte oder je wieder geben würde, eine Prahlerei, an die er sich sein ganzes Leben lang erinnern würde, und er brauchte sich noch nicht einmal dafür zu schämen.
Als der Mann ihn schließlich absetzte, war seine Kehle rau. Die Menschenmenge ließ ihn durch und man klopfte ihm auf den Rücken, als er lachend zu seinen Freunden zurücklief. Auch sie lachten, aber nicht über ihn, sondern mit ihm. Sie sahen noch ein wenig zu und kehrten dann zu ihrem Feuer zurück. Als sie sich zum Schlafen niederlegten, hörte Ko, wie Var sagte: »Der Mann macht ein Versprechen. Er führt uns durch die Sümpfe. Erinnert er sich morgen an sein Versprechen?« »Var, ich weiß es nicht«, sagte Tun. »Er ist wie ein Mann, der viel vom Steinkraut getrunken hat. Vielleicht erinnert er sich an nichts.« Sie irren sich, dachte Ko. Mitten in seinem Triumph hat der Mann mich erkannt. Er wusste, was er mir zu verdanken hat, auch wenn ich nichts davon mit Absicht getan habe. Er wird sich an sein Versprechen erinnern. Ko hatte Recht. Der Mann erinnerte sich daran. Am nächsten Morgen kam er mit seinen drei Gefährtinnen, zwei weiteren Männern und drei anderen Frauen – die Gefährtinnen der Männer, vermutete Ko, obwohl er nicht herausfinden konnte, wer zu wem gehörte. Alle hatten einen Fischspeer dabei und auf die der Frauen waren zahlreiche Fische gespießt worden. Kos Freund sah völlig erschöpft aus und wenn er zu grunzen oder zu bellen versuchte, gab er nur schwache Krächzlaute von sich. Trotzdem schien er seiner selbst ganz sicher zu sein und begrüßte Tun von Anführer zu Anführer. Dann ließ er seinen ältesten Begleiter den Komm-Laut ausstoßen, führte sie jedoch selbst von der Insel. Inzwischen hatte sich die Menschenmenge vom
Vorabend größtenteils zerstreut, aber der große Krokodilkopf, flankiert von den kleineren Köpfen, starrte noch immer grimmig nach Norden. Als sie die Insel verließen, berührten die Sumpf-Menschen ehrerbietig seine Schnauze. Ko warf einen letzten Blick darauf. Es war nur ein Krokodilkopf. Tot. Er jagte ihm keine Angst mehr ein. Sie hatten erst ein paar Inseln überquert, als Kos Freund anhielt und Lebewohl-Laute zu krächzen begann. Nach seiner ersten Verwirrung begriff Ko am Verhalten der Sumpf-Menschen, dass seine Freunde nun zurückkehren würden, während die anderen fünf sie weiterführten. Der Mann schenkte Tun einen Fischspeer, den einer seiner Gefolgsleute trug und auf dem mehrere Fische steckten, und Tun schenkte ihm im Gegenzug eine Kürbisflasche und Salz. Auch den Frauen schenkte er Salz und dann trennten sie sich mit einem Chor verschiedenster Arten, Lebewohl zu sagen. Der Weg begann sich nun zu verändern. Es gab nicht länger Inseln und Schilfgürtel, die von versteckten Pfaden verbunden wurden, sondern einen Schilfwald, der sich unendlich weit ausdehnte. Dort liefen sie nicht auf matschiger Erde, sondern auf einem dicht unter der Wasseroberfläche liegenden festen Untergrund aus ineinander verschlungenen Schilfwurzeln. Der Schilfwald wurde von einem Labyrinth von Pfaden durchzogen. Manchmal bog einer ihrer Begleiter ab, begab sich auf einen Seitenpfad und holte sie bald darauf wieder ein, einen weiteren Fisch in der Hand, der ihren Vorrat bereicherte. Ko war neugierig. Die Lebensweise der SumpfMenschen war ihm unheimlich und faszinierte ihn zugleich. Als wieder eine der Frauen ausscherte, folgte er ihr. Sie hörte ihn und blickte sich um, lächelte jedoch und
ging weiter. Bald endete der Seitenpfad. Die Frau legte einen Finger auf die Lippen, ging zielstrebig weiter und kniete sich neben ein Loch zwischen den Schilfwurzeln. Einem der Gefäße, die an ihrem Gürtel hingen, entnahm sie ein paar Krümel von irgendetwas, ließ sie auf das Wasser fallen und wartete dann bewegungslos und mit erhobenem Fischspeer. Ko sah, wie sich ihre Muskeln anspannten. Sie stieß zu und drehte den Speer mit geübter Bewegung, so dass sich der Fisch nicht entwinden konnte, als sie ihn herausholte. Ko klatschte in die Hände. Sie lachte und gab ihm den Fisch und dann rannten sie los, um die anderen einzuholen. Sie legten keine Mittagsrast ein, sondern wateten mit regelmäßigen Schritten weiter, wobei sie Fische die Reihe hinabreichten, damit jeder etwas essen konnte. Diese Art von feuchter Hitze, die hier herrschte, hatte Ko noch nie erlebt. Der Dunst war so dicht, dass man kaum atmen konnte. Insekten umschwärmten sie. Der Schweiß lief ihnen aus allen Poren. Die Luft war von einem summenden Klingeln erfüllt. Es fühlte sich an, als würde der Dunst immer straffer und straffer gezogen und könnte jeden Augenblick reißen, von Horizont zu Horizont, und den klaren Himmel entblößen. Nolis Baby wimmerte und ließ sich nicht trösten. »Ihr Kopf tut weh«, sagte Noli. »Regen kommt.« »Noli, du hast Recht«, sagte Suth. Und dann, mitten im Nirgendwo, hielten sie an. Ko befand sich fast am Ende der Schlange und konnte nicht erkennen, was vor sich ging, aber nach einer Weile kamen Tun und Chogi mit den Führern an der Menschenschlange entlang zurück. Ko sah verwirrt zu, als sie Lebewohl-Laute von sich gaben und weitere Geschenke austauschten.
Offensichtlich hatten die Sumpf-Menschen große Angst, denn sie fügten ihrem Lebewohl ständig Gefahr-Laute hinzu. Doch schließlich machten sie kehrt und gingen auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren. »Sie gehen nicht weiter«, erklärte Tun. »Sie haben Angst. Es gibt einen Pfad. Er ist nicht gut. Er ist alt.« »Tun, welche Gefahr ist das?«, fragte Bodu. »Bodu, ich weiß es nicht«, antwortete er. »Wir gehen weiter. Wir sehen. Wir passen auf.« Danach kämpften sie sich eine Weile weiter auf dem voran, was einmal ein guter Pfad gewesen sein musste, inzwischen aber fast vollständig von Schilf überwachsen war. Dann bog Ko um eine Ecke und sah, dass sich die Menschenschlange vor ihm in die Luft zu erheben schien, bis er begriff, dass sie einen festen Hang hinaufgingen. Der Dunst wurde schwächer. Schließlich ließ auch Ko das Schilf hinter sich und begann den Aufstieg. Vor ihm lag ein Hügelhang, übersät von Steinen und Felsbrocken. Dies war der nördliche Rand der Sümpfe. Sie hatten es geschafft. Der Stamm hielt an und sah sich um. Die Sonne stand schon tief am Himmel. Wie es schien, befanden sie sich auf einer Hügelzunge, die in die Sümpfe hineinragte. Wenn sie nach Osten und nach Westen blickten, bot sich ihnen derselbe dunstverhangene Schilfwald dar. Der Hang selbst war zwar kahl, doch das Ufer wurde von Dickichten gesäumt. Bevor Tun sie sammeln ließ, schickte er Kundschafter aus, die den Hügelkamm und den Rand der Sümpfe erkundeten. Sie kehrten mit der Nachricht zurück, dass sich der Hügelrücken ein ganzes Stück weit nach Norden zu erstrecken schien, sie aber kein Anzeichen von Gefahr entdeckt hätten. »Die Sumpf-Menschen hatten Angst«, sagte Chogi.
»Wie kommt das?« »Sie kennen diesen Jagdgrund«, sagte Var mit seiner düstersten Stimme. »Er ist gefährlich. Wir sehen diese Gefahr nicht. Sie ist hier.« »Var spricht«, sagte Kern und wie üblich lachten alle, wenn auch nervös. Die Stille und die Verlassenheit des Hügelhangs hatten etwas Bedrohliches an sich. »Ich sage dies«, fuhr Kern fort. »Es sind SumpfMenschen. Sie mögen die feste Erde nicht. Es ist nicht ihr Jagdgrund.« Zustimmendes Murmeln erhob sich, aber trotzdem schickte Tun Shuja und Nar los, um Wache zu halten, während fast alle anderen das Ufer nach Nahrung absuchten, bis es dunkel wurde. Suth und seine Familie aber sammelten Brennmaterial, erklommen den Hügel und suchten einen Lagerplatz. Sie fanden ihn in einer Mulde zwischen zwei Hügelrücken. Dort wäre das Feuer für fremde Augen unsichtbar. Dann öffnete Tinu ängstlich den Feuerbewahrer. Das Schilf, das sie am Vorabend verbrannt hatten, war zu Asche geworden, nicht zu Glut, aber sie hatte die paar Holzstückchen mit hineingetan, die sie schließlich doch noch gefunden hatten. Als sie den Feuerbewahrer ausschüttete und auf den rußgeschwärzten Haufen blies, glommen ein paar Funken, die sie wieder zur Flamme schüren konnte. Es war fast dunkel, als sich alle um das Feuer versammelten und das Lied sangen, das die Stämme schon immer gesungen hatten, wenn sie einen neuen Lagerplatz bezogen und ihr Feuer wieder entfachten. Dann bereiteten sie ihr Essen und verteilten es untereinander. Als sie damit fertig waren, stand Tun auf, hob eine Hand und bat um Ruhe.
»Hört mich, Tun, an«, sagte er. »Ich rühme den Jungen Ko. Ko macht oft Dummheiten. Oft ist er schlecht. So sind die Jungen. Aber wir haben die Sümpfe durchquert. Ko fand den Weg. Das war seine Tat. Lasst nun Ko sprechen. Lasst ihn seine Tat rühmen.« Ko zögerte erstaunt und erhob sich schließlich. Diesmal fühlte er sich nicht nervös oder sprachlos. In der letzten Nacht, als er auf den Schultern des Sumpf-Mannes gesessen hatte, hatte er genug prahlen können und das reichte ihm. Ihm fiel etwas ein, das Suth vor nicht allzu langer Zeit zu ihm gesagt hatte. »Ich, Ko, spreche«, sagte er. »Hört mich. Tun hat Recht. Ich war dumm. Ich war schlecht. Aber ich hatte Glück, Glück. Wer Glück hat, prahlt nicht.« Er setzte sich wieder hin und hatte das Gefühl, es diesmal richtig gemacht zu haben. Auch die anderen schienen so zu denken, spendeten leisen Beifall und lachten, ohne ihn zu verhöhnen. Er sah sogar, dass Chogi ihm zulächelte und nickte. Er fühlte sich sehr gut. Nar kam, hockte sich neben ihn und sagte: »Ko, du hältst dein Versprechen. Du findest den Weg durch die Sümpfe. Jetzt sagst du mir, was ich dir schenken soll.« Ko lächelte verschmitzt. »Ich sage es dir morgen«, sagte er.
URSAGE
Gata und Nal Gata sagte in ihrem Herzen zu sich selbst: Dat, mein Vater, ist tot. Falu, meine Schwester, ist eine Frau. Sie erwählt sich einen Gefährten. Ich, Gata, habe keinen. Männer kamen zu Gata, von Kleiner Fledermaus und von Ameisenmutter. Sie sagten: »Gata, du bist schön, schön. Ich erwähle dich als meine Gefährtin. Erwählst du mich?« Gata antwortete jedem von ihnen: »Ich erwähle dich nicht.« In ihrem Herzen sagte sie zu sich selbst: Ich erwähle nur Nal. Gata verließ ihren Stamm und zog alleine zur RagalaNiederung. Dort lagerte Schlange. Sie wachte und wartete, bis Nal alleine auf Jagd ging. Dann stellte sie sich vor ihn hin und sagte: »Nal, ich erwähle dich als meinen Gefährten. Erwählst du mich?« Nal antwortete: »Gata, du bist Papagei. Ich bin Schlange. Das ist nicht gut. Es ist schlecht, schlecht.« Gata sagte: »Gut ist ein Wort. Schlecht ist ein Wort. Ich
kenne sie nicht. Ich weiß nur dies. Ich erwähle dich, Nal, als meinen Gefährten. Ich erwähle keinen anderen Mann, nie.« Nal sah sie an. Sie war schön, schön. Er sagte: »Gata, wie leben wir? Zu welchem Stamm gehören wir? Zu keinem. Wo sind unsere Guten Jagdgründe? Wir haben keine. Wo jagen wir? Wo sammeln wir?« Sie sagte: »Wir gehen weit und weit. Vielleicht finden wir Gute Jagdgründe. Vielleicht sterben wir. Ich erwähle dich, Nal. Ich erwähle auch das.« Nal sagte: »So soll es sein. Ich erwähle dich, Gata, als meine Gefährtin.« Dann bestrichen sie einander die Stirnen mit Salz und waren erwählt. Ihre Stämme sagten zu ihnen: »Das ist schlecht, schlecht. Geht weit und weit.« Gata und Nal zogen in die Dürren Jagdgründe, die Jagdgründe der Dämonen. Sie fand keine Nahrung und kein Wasser. Sie legten sich gemeinsam nieder und sagten: »Morgen sterben wir.« Sie schliefen und Gata träumte. In ihrem Traum kam Papagei zu ihr und sang. Dies war sein Lied: Gata, meine Tochter, mein Küken, Ich behüte dich nicht. Ich bringe dir keine süßen Früchte. Morgen stirbst du. Dies aber sage ich dir, dies: Es gibt Stämme, Männer und Frauen, Sie haben Kinder, sie werden alt, sie sterben.
Und ihre Kinder und die Kinder ihrer Kinder, Sie sitzen rund um Feuer, sie erzählen Geschichten. Sie erzählen von dir, Gata. Sie sagen: Schön wie Gata. Sie sind traurig, traurig. Auch die Ersten Wesen trauerten um Gata und Nal. Sie verwandelten sie. In den Dürren Jagdgründen liegen zwei Felsen, eine Tagesreise und noch eine jenseits der Ragala-Niederung. Kein anderer Felsen gleicht ihnen. Ein Felsen ist glatt und schwarz. Wenn die Sonne scheint, ist er voller glitzernder Sterne. Er ist schön. Es ist Gata. Der andere ist groß und stark. Es ist Nal.
ELF Nachdem sie sich den ganzen Tag lang durch die Sümpfe gekämpft hatten, waren alle erschöpft. Und da kein Anzeichen einer unmittelbaren Gefahr zu erkennen war, stellte Tun keine Wachtposten auf und sie legten sich dankbar rund um ihr Feuer zum Schlafen nieder. Mitten in der Nacht brach das Unwetter mit einem gewaltigen Donnerschlag über sie herein. Die Schlafenden schreckten auf, stolperten auf die Füße, streckten die Arme zum Himmel empor und ließen den warmen, heftigen Regen über ihre Körper strömen. Bevor die kostbare Glut erlöschen konnte, füllte Tinu hastig den Feuerbewahrer. Dann verließen sie die Mulde und sahen den Zacken der Blitze zu, die über den Sümpfen tanzten, während der Donner grollte und grollte. Das Unwetter endete so plötzlich, wie es begonnen hatte. Wasser strömte gurgelnd den dunklen Hügelhang hinab, der Geruch von Regen auf trockener Erde erfüllte die Nacht mit Süße, und Ko legte sich auf der nassen Erde wieder zum Schlafen nieder und dachte: Ah, das ist gut, gut. Er schaffte es, am nächsten Morgen in aller Frühe und beim ersten grauen Licht zu erwachen. Er wusste genau, was zu tun war. Er kroch hinüber zu Tinu und berührte sie sanft an der Schulter. Sie erwachte sofort. Er legte einen Finger auf den Mund, damit sie schwieg, gab ihr ein Zeichen, schlich den kurzen Hang hinauf und verschwand hinter der Kuppe, wo er außer Sichtweite der anderen war. Als er auf sie wartete, suchte er den Hang nach irgendwelchen Anzeichen für Gefahr ab, aber er schien so verlassen wie immer zu sein.
Dann suchte er nach einer Stelle, die ein wenig verborgen und für ein ungestörtes Gespräch unter vier Augen geeignet war. Nach dem Regen war die Luft so klar, dass er über die Sümpfe und die Neuen Guten Jagdgründe bis zu einer schwachen, blauen Linie blicken konnte, vermutlich die Dürren Hügel, die Bergkette jenseits der im Süden gelegenen Wüste, viele lange Tagesreisen weit entfernt. Zu seiner Rechten, zwischen den am Sumpf wachsenden Büschen, gab es ein paar viel versprechende Stellen und als Tinu kam, packte er sie beim Handgelenk und sagte mit fester Stimme: »Komm.« Sie starrte ihn an, aber er zog sie am Arm und sie folgte ihm gehorsam den Hügel hinab. Er fand eine kleine offene Fläche, die zwischen Büschen und Sumpf lag und vom Hügel aus nicht sichtbar war. Er suchte den Boden nach Pfotenabdrücken ab und witterte die Luft, die nach dem Regen voller Gerüche war. Nichts wies darauf hin, dass irgendein gefährliches Tier in der Nähe lauern könnte. »Warte hier, Tinu«, sagte er. »Ich bringe dir ein Ding.« Bevor sie etwas einwenden konnte, eilte er wieder den Hang hinauf. Inzwischen kam das Lager in Bewegung. Er fing Nars Blick auf und winkte ihn zu sich. Sofort rief Zara und fragte Nar, wohin er wolle. »Ich gehe mit Ko«, antwortete Nar fröhlich, so dass es sich anhörte wie ein Jungen-Ding. »Wir haben etwas zu tun.« Ko führte ihn ein paar Schritte den Hang hinab. Er steckte die Hand in seine Kürbisflasche und zog sie als Faust wieder heraus. Nar konnte nicht sehen, was sich darin verbarg. »Jetzt sage ich dir, welches Geschenk du mir gibst«,
sagte er. Mit seiner freien Hand zeigte er auf die Sümpfe. »Dort wartet Tinu«, sagte er. »Geh zu ihr. Nimm dies.« Er öffnete seine Faust und zeigte Nar die Hand voll Salz, die er zu diesem Zweck eingesteckt hatte, das weißeste, das er hatte finden können, fein zerkrümelt und mit ein wenig Speichel und Samenbrei vermischt, so dass es haften bliebe. »Dies, Nar, ist das Geschenk, das du mir gibst«, sagte er. »Du erwählst Tinu als deine Gefährtin.« Nar starrte das Salz an. »Ko, ich kann das nicht tun«, sagte er. »Du gabst dein Versprechen«, sagte Ko bestimmt. »Du gabst es bei Odutu, bei Odutu im Schatten des Berges.« Nar begann zu lächeln, als wäre dies ein Jungen-Ding, für das er inzwischen zu alt war. Ko behielt sein ernstes Gesicht. Seine Bitte war gerecht. Ein Geschenk musste keine Sache, sondern konnte ebenso gut eine Tat oder ein Gefallen sein. Nars Lächeln erlosch. Er wusste, dass er sein Versprechen bei Odutu im Schatten des Berges gegeben hatte, und keinen Rückzieher machen konnte. Einen Augenblick lang wandte er sich um und blickte in Richtung des Lagers. Von dort, wo sie standen, konnten sie gerade noch die Köpfe der Menschen erkennen, die sich in der Mulde bewegten, und Ko vermutete, dass Nar nachschaute, ob seine Mutter zusah. Er erinnerte sich daran, wie wütend Zara gewesen zu sein schien, als Chogi zum ersten Mal vorgeschlagen hatte, dass Nar und Tinu einander erwählen sollten. Was? Ihr lieber Sohn, der Letzte seines Stammes, sollte sich dieses Mädchen erwählen, dessen Gesicht schief und krumm war und das nicht einmal richtig sprechen konnte? Nein! Er konnte
warten, bis Mana oder Sibi alt genug wären. Nar war immer ein sehr guter Sohn gewesen, der allen Bitten seiner Mutter entsprochen hatte. Zara würde dies ganz und gar nicht gefallen. Er schaute Ko an und nickte. »Ich tue es«, sagte er langsam. »Gib mir das Salz. Komm.« Gemeinsam gingen sie den Hang hinunter, doch bevor sie die Büsche erreichten, hielt Ko an. »Ich bleibe«, flüsterte er. »Du gehst alleine.« Nar schien tief in Gedanken versunken zu sein und kaum wahrzunehmen, wo er die Füße auf dem unebenen Hang hinsetzte, aber er nickte. Offenbar war es besser, Tinu glauben zu machen, er frage sie aus eigenem Antrieb. Ko wartete, bis er außer Sichtweite war, und schlich sich dann hinab, bis er Nar und Tinu durch den Schutz einiger Zweige sehen konnte. Er kam gerade rechtzeitig, um mitzuerleben, wie Nar die Hand ausstreckte und Tinu das Salz anbot. Sie starrte ihn an. Ihr Kiefer bewegte sich auf und ab, wie immer, wenn sie zu aufgeregt oder verärgert war, um ihren Mund dazu zu zwingen, Wörter von sich zu geben. Sie wich einen halben Schritt zurück. Nun verbarg ein Ast ihr Gesicht vor Ko. Als er sich zu einer Stelle schlich, die ihm wieder freie Sicht bot, knackte ein Zweig unter seinem Fuß. Sofort fuhr Tinus Kopf herum. Ko erstarrte und verfluchte sich selbst. Dummer, dummer Ko, immer machte er etwas falsch, immer gerade dann, wenn es darauf ankam. Oh, warum hatte er nicht wie ein Jäger aufgepasst, wo er seinen Fuß hinsetzte? Tinu starrte genau in seine Richtung, obwohl er sicher
war, dass sie ihn hinter den Büschen nicht erkennen konnte. Ihre Miene gefror. Sie wandte sich wieder an Nar und stieß eine Frage hervor – ›Wer ist da?‹, vermutete Ko. Nar antwortete. Dann eine längere Frage. Oh, sollte er doch lügen, sollte er doch lügen! Sollte er Tinu doch erzählen, dass er, Nar, Ko darum gebeten hatte, Tinu hierher zu führen, damit er ihr das Salz anbieten konnte, ohne dabei gesehen zu werden. Aber das täte er natürlich nicht. Dies war ein Ausweg für ihn, eine Möglichkeit, Ko das Geschenk zu geben, ohne seine Mutter aufzubringen. Dummer, dummer Ko. Bis hierhin war es gut gegangen und in der letzten Minute hatte er alles verdorben. Nar sprach. Tinu hörte zu. Ein oder zwei Mal hatte Ko die Gesichter von Toten gesehen. So sah Tinus Gesicht jetzt aus. Als Nar geendet hatte, senkte sie den Kopf und stieß gleichzeitig die Hand fort, die das Salz hielt. Nar starrte auf seine Hand, macht dann kehrt und ging auf dem Weg zurück, den er gekommen war. Tinu sah auf und blickte ihm nach. Ihr Gesicht war so verzerrt, dass es keine Ähnlichkeit mehr mit einem menschlichen Gesicht hatte. Tränen strömten über ihre Wangen. Ko ertrug es nicht, sie anzusehen, konnte aber zugleich nicht wegschauen. Einige Schritte entfernt von Ko hielt Nar an. Er stand immer noch auf der anderen Seite der Büsche. Die Hand, die das Salz hielt, fuhr sanft auf und ab, als wollte er sein Gewicht abschätzen, um es dann so heftig wie möglich in Kos Gesicht zu schleudern. Er wirkte wie ein erwachsener Mann, genauso wie Suth, als er Ko gesagt hatte, wie schlecht es gewesen sei, sich allein in die Sümpfe gewagt zu haben. »Höre mich, Ko«, sagte er so leise, dass Ko die Worte gerade noch hören konnte. »Ich, Nar, spreche. Mein Geschenk an dich ist gegeben. Ich schwor bei Odutu,
Odutu im Schatten des Berges. Es ist getan. Geh jetzt. Geh zurück zu den anderen.« »Ich gehe«, flüsterte Ko niedergeschlagen und trottete wieder den Hügel hinauf. Er ertrug es nicht, irgendjemandem zu begegnen, also ging er auf dem Hang entlang bis zum äußersten Ende des Ausläufers. Er ließ sich ein gutes Stück vor der Spitze nieder, stützte das Kinn auf die Fäuste und starrte bedrückt nach Westen. Es war ein wunderbarer Tag. Er konnte sich an keinen Tag wie diesen erinnern, keinen, der so klar und so frisch gewesen wäre. Die Sümpfe dehnten sich endlos aus. Zuerst der riesige Schilfwald, dann das Labyrinth von Inseln, Schlammbänken und Wasserläufen. Vögel stiegen in Schwärmen auf, kreisten und ließen sich wieder nieder. Die Luft war erfüllt von ihren Rufen. In der Ferne ballte sich ein weiteres Gewitter zusammen und kam als schwarze Wolkenbank, aus der Regen wie ein Schleier niederging, langsam auf ihn zu. Links und rechts davon entsprangen die Enden eines Regenbogens, dazwischen blitzte es unvermittelt. Er konnte schon das unregelmäßige Grollen des Donners hören. Wunderbar, aber Ko nahm es kaum wahr. Er konnte nur daran denken, dass er seine Möglichkeit vertan hatte und – viel, viel schlimmer noch – Tinus Chance, glücklich zu werden. Alles war sinnlos und dumm und es war ausschließlich Kos Fehler. Vage hörte er die Stimmen von Menschen, die aufgeregt schwatzten. Im Lager musste irgendetwas vor sich gehen, aber es interessierte ihn nicht. Es war egal. Alles war egal. Wenn sie es nie durch die Sümpfe geschafft hätten, wenn sie alle in der Wüste umgekommen wären – es wäre nicht viel schlimmer gewesen.
Eine Hand berührte ihn an der Schulter. Er sah sich um und wollte schon fauchen. Es war Mana und sie lächelte über das ganze Gesicht. Selbst Mana lachte über seine Dummheit. »Geh!«, fauchte er. Immer noch lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Komm, Ko«, sagte sie. »Suth sagt das. Komm jetzt.« Sie packte ihn beim Handgelenk, zog ihn auf die Füße und begann ihn den Hügel hinaufzuzerren. Er kam mit, meckerte aber bei jedem Schritt. Vom Kamm aus blickten sie hinab in die Mulde. Ko konnte nicht erkennen, was vor sich ging. Alle hatten sich jenseits des Feuers aufgeregt zusammengedrängt. Fast in der Mitte konnte er Tun, Chogi und Suth ausmachen, die zu einer Frau sprachen, die ihnen den Rücken zuwandte. Chogi redete mit ernster Miene auf sie ein. Wütend schüttelte die Frau ihren Kopf. Die Art der Bewegung verriet Ko, dass es sich um Zara handelte. Chogi redete weiter, bis Tun die Hand hob und ein paar kurze Worte an Zara richtete. Er trat zur Seite, um Platz für jemanden zu machen, der hinter ihm stand. Nar. Nar und Tinu, die mit ineinander verschlungenen Händen dicht beisammen standen. Tinu hatte den Kopf natürlich aus Schüchternheit zur Seite gesenkt, doch Nar sah seiner Mutter direkt ins Gesicht. Mit fester Stimme begann er zu ihr zu sprechen. Seine Stirn war mit etwas Weissem bestrichen. Ebenso Tinus. Völlig verdutzt starrte Ko auf die Szene hinab. »Was passiert? Was passiert?«, flüsterte er. Mana lachte. »Nar erzählt es uns«, sagte sie. »Er geht zu Tinu. Er
erwählt sie als seine Gefährtin. Es ist sein Geschenk für dich, Ko. Ein Zweig bricht. Tinu hört. Sie ist schlau, Ko. Sie fragt: ›Ist das Ko? Warum schaut er zu?‹ Nar sagt es ihr. Sie sagt: ›Tinu ist nicht Kos Geschenk. Nar, ich erwähle dich nicht. Geh.‹ Nar geht. Er schickt dich fort. Er geht zurück. Er sagt: ›Mein Geschenk an Ko ist gegeben. Tinu, jetzt erwähle ich dich als meine Gefährtin. Es ist meine Wahl. Erwählst du mich?‹ Dann sagt Tinu: ›Nar, ich erwähle dich.‹ Oh, Ko, Tinu ist glücklich, glücklich!«
MANAS GESCHICHTE Für Rosemary und George
EINS Mana fischte allein im Schilf. Sie hatte ihr eigenes Fischloch. Suth und Tor hatten ihr geholfen und einen sicheren Pfad aus geschnittenen Halmen auf den Wurzelteppich gelegt. Er führte zehn und noch einmal zehn Schritte weit in den Schilfwald hinein. Dort, wo er endete, hatten sie das Dickicht gelichtet und in die Mitte dieser kleinen Lichtung ein rundes Loch in die ineinander verschlungenen Wurzeln geschnitten, so dass ein knapp einen Schritt breiter Teich mit klarem Wasser entstanden war. Sie wussten, was sie zu tun hatten, weil Ko eine der Sumpf-Frauen auf diese Art hatte fischen sehen. Danach aber hatten sich Fragen ergeben, die sie selbst beantworten mussten: Welcher Köder war am besten geeignet? Wie kam es, dass ein Fisch, den man erbeuten wollte, sich nie dort befand, wo man ihn sah, sondern ein Stück darüber? Und schließlich die wichtigste Frage: Wie sollte man vollkommen unbewegt warten und warten und dann mit einem Ruck die ganze Kraft von Arm, Schulter und Seite in einen Stoß legen, der so schnell und unerwartet sein musste wie der Biss einer Schlange? Nur ein Zucken, nur ein kurzes Zögern vor dem Stoß und der Fisch würde sich erschrecken und davonflitzen. Mana konnte gut warten. Tinu hatte als Erste herausgefunden, wie es ging, und es den anderen gezeigt. Dann hatte Suth die Kinder immer wieder angehalten, es zu üben. Er hatte ein Blatt auf die Spitze eines dünnen Schilfhalms gelegt und es auf die Art von Fischen unter Wasser hin- und herbewegt. Dieses Blatt war ihr Ziel gewesen. Nachdem Manas Fischspeer das Blatt bei drei von vier Versuchen durchbohrt hatte,
hatten Suth und Tor den Pfad für sie angelegt. Nun hockte sie also zum ersten Mal vor ihrem eigenen Fischloch, während ihr Speer – ein kräftiger und vorn angespitzter Schilfhalm – bereit zum Wurf auf ihrer Schulter lag. Dieser Teil des Schilfwalds wimmelte von Fischen. Es war merkwürdig, dass keiner der SumpfMenschen zum Jagen hierher kam, aber sie schienen sich davor zu hüten, dem Ufer zu nahe zu kommen, als gäbe es dort etwas, das ihnen große Angst machte. Sie konnte drei kleine Fische sehen, silbern, an den Flanken grün gestreift und so lang wie ihr Mittelfinger. Das war gut. Sie waren viel zu klein, um mit dem Speer erlegt zu werden, doch ihre Bewegungen würden den größeren Fischen verraten, dass es an dieser Stelle etwas zu fressen gab. Sie streckte langsam die linke Hand aus und ließ noch ein paar Libelleneier auf die Wasseroberfläche fallen. Als die weißen Flecken durchs Wasser hinabtaumelten, schossen die kleinen Fische darauf zu und verschluckten sie. Aus dem Dunkel des Schilfs tauchten zwei weitere auf, einer von derselben Art, der andere etwas größer, stumpfnasig und von dunklem Braun. Hatte sich da etwas geregt? Irgendein Schatten am Rand des Dunkels? Manas Herz begann schneller zu schlagen. Vorsichtiger als je zuvor streckte sie die linke Hand aus und ließ noch ein paar der kostbaren Eier fallen. Der Schatten sauste herbei, um sie sich zu schnappen, ein Fisch, so lang wie der Fuß eines Mannes, breitbäuchig und blauschwarz, mit einem roten Fleck hinter dem Auge. Zu spät. Die kleinen Fische waren schneller gewesen. Mana opferte noch ein paar Eier. Im Wettlauf setzten sich alle sechs Fische in Bewegung und begannen hinter
den Ködern herzutauchen. Jetzt! Als der dunkle Rücken abdrehte, stieß Mana zu. Einen Augenblick lang prallte die Spitze gegen etwas Festes, aber sie trieb sie hindurch. Sofort wurde der Speer in ihren Händen zu etwas Lebendigem und schnellte hin und her, als der Fisch darum kämpfte freizukommen. Hände und Arme erinnerten sich an die endlosen Übungen und gaben dem Instinkt nicht nach, der ihnen befahl, den Speer so herauszuziehen, wie er hineingeschleudert worden war. Denn auf diese Weise hätte man ihn auch aus dem Fisch ziehen können. Stattdessen packte Mana den Speer mit der linken Hand so weit vorn wie möglich, hob ihn hoch und schwenkte ihn zur Seite. Dann lehnte sie den Körper zurück, um den Speer herauszuhieven, dessen Spitze knapp vor dem jenseitigen Rand des Loches aus dem Wasser kam. Eine Handbreit vor der Spitze zappelte der Fisch in der Luft herum, glatt durchbohrt. Mana erhob sich mit einem glücklichen Seufzer, stand in Gedanken versunken da und wischte sich die Insekten vom Körper. Die ganze Zeit über waren sie um sie herumgeschwärmt, aber sie hatte sie kaum wahrgenommen. Etliche hatten sie gestochen. Sie konnte sich vorstellen, wie es abends jucken würde, aber es war ihr egal. Es war die Sache mehr als wert. Beim ersten Versuch hatte sie diesen schönen Fisch in ihrem Fischloch erbeutet. Sie trieb den Speer weiter durch den Fisch, so dass er sich nicht entwinden konnte, und legte ihn dann auf den Pfad. Als das Wasser sich wieder beruhigt hatte, entnahm sie ihrer Kürbisflasche einen anderen Köder – nicht die Libelleneier, die zu finden viel Mühe kostete, sondern Krümel, die beim Stampfen von Blauwurzelbrei übrig geblieben waren. Sie trieben auf der Oberfläche, und die
Fische, die erschrocken davongestoben waren, würden sie finden und glauben, dass sie hier beim nächsten Mal wieder etwas Gutes zu fressen fänden. Der eine Fisch reichte Mana. Er bedeutete genug Glück für sie und mehr als genug zu essen. Sie konnte ihn sogar mit jemandem teilen. Sie legte sich den Speer über die Schulter, den Fisch hinterm Rücken, und ging. Als sie den Hügel erklomm, wurde ihr bewusst, wie froh sie war, den Insekten des Sumpfes entkommen zu sein. Jedes Mal, wenn man hinab in die Sümpfe ging, war es dasselbe: Wolken dieser furchtbaren Viecher ballten sich in der schwülen Luft zusammen und umschwirrten einen. Die meisten ließen sich nieder und tranken den Schweiß und das kitzelte nur. Andere aber stachen zu und saugten Blut. Man hatte gelernt, es hinzunehmen und zu vergessen, während man tat, was man tun musste. Doch sobald es ging, erklomm man wieder den Hügel und begab sich in die trockenere Hitze, wo sich die Insekten nur selten hinverirrten. Ein gutes Stück den Hügel hinauf setzte sie sich hin und wartete. In diesem Augenblick verlangte es sie mehr als alles andere danach, jemandem ihren schönen Fisch zu zeigen, aber alle steckten irgendwo im riesigen Schilfwald, der sich am Ufer unter ihr entlangzog, und fischten in verschiedenen Löchern. Sie hatte sich eine Stelle ausgesucht, von der aus sie jeden sehen konnte, der aus dem Schilf trat, um sofort hinabzulaufen und ihm ihren Fisch zu zeigen. Aber sie war nicht ungeduldig, was das betraf. Sie wartete gerne, erfüllt vom Glück ihres Fangs, und sie brauchte niemanden, um dieses Glück zu teilen. Der Hügel, auf dem sie saß, glich dem Schwanz eines riesigen Krokodils. Es war ein zerklüfteter Ausläufer mit steilen Flanken, der immer weiter anstieg, bis er den
zentralen Hügelkamm erreichte, der wiederum wie der Rücken eines Krokodils aussah. Ihn von Norden nach Süden zu überqueren war mühsam und dauerte einen ganzen Tag. Mana saß auf der östlichen Flanke und die Morgensonne schien ihr ins Gesicht. Vor ihr und zu ihrer Rechten dehnten sich die dunstverhangenen Sümpfe aus. Irgendwo dort draußen befanden sich Var und Net, Yova und Kern vermutlich auf dem Rückweg und benutzten die Pfade, die ihnen von den Sumpf-Menschen gezeigt worden waren. Sie waren aufgebrochen, um neues Salz zu holen. Fast alles, was sie mit sich geführt hatten, hatten sie an die Sumpf-Menschen verschenkt, und Tun hatte entschieden, dass sie mehr brauchten, damit sie Freundschaft mit jenen Menschen schließen konnten, die ihnen auf dem Weg nach Norden, unterwegs auf der Suche nach neuen Jagdgründen, vielleicht noch begegnen würden. So hatten sie etwas zu tun, während sie darauf warteten, dass sich alle von der Sumpf-Krankheit erholten. Zwei von ihnen waren gestorben: Runa und Taja, Morus kleine Tochter. Die meisten anderen waren sehr krank gewesen. Mana hatte es zuerst getroffen, noch vor der Durchquerung der Sümpfe. Chogi behauptete, es läge daran, zu dicht bei den Sümpfen oder mitten darin geschlafen zu haben. Inzwischen waren alle wieder gesund, wenn auch zum Teil noch geschwächt, und sobald die Schar zurückkehrte, die aufgebrochen war, um das Salz zu holen, wären sie bereit, nach Norden zu ziehen. Mana hatte Angst vor dem Aufbruch. Sie wusste, dass sie nicht für immer hier bleiben konnten. Entlang der Ufer wurde bereits die Pflanzennahrung knapp und ausschließlich Fisch zu essen war unmöglich. Außerdem war dies nicht die Art von Leben, an das sie gewöhnt waren. Doch Mana mochte keine Veränderungen. Sie zog
das vor, was sie kannte und verstand. Dies war einer der Gründe, weshalb sie froh über ihren Fang war – er bedeutete, dass sie sich irgendwie nützlich machen konnte. Das Fischen verschaffte ihr innerhalb des Stammes einen Platz und eine Berechtigung. Es half ihr dabei, zu wissen, wozu sie da war. Beim Gedanken daran, ihr Fischloch so bald schon wieder verlassen zu müssen, wurde sie traurig. Vielleicht stießen sie auf Jagdgründe, wo es keine Möglichkeit zum Fischen mehr gab. Sie stand auf, schaute nach Norden und musterte den Weg, den sie einschlagen würden. Tun hatte Kundschafter ausgeschickt und sie hatten nach der Rückkehr berichtet, das Ende des Ausläufers selbst nach einem halben Tagesmarsch noch nicht erreicht zu haben, dass er vielmehr immer steiler geworden sei, sich seine Flanke fast in eine Klippe verwandelt habe und dass es zwischen den steilen Felsen und dem Sumpf weder Platz noch Erde gebe, wo etwas wachsen könne. Also ließ Mana ihren Blick am Hügelhang entlanggleiten. Sie versuchte sich den schwierigen Marsch vorzustellen und fragte sich, was wohl an seinem Ende läge. Wäre es eine weite, offene Landschaft, vielleicht mit einem Fluss, der sich hindurchschlängelte, mit schattigen Gehölzen und Buschwerk, wie in den Guten Jagdgründen vor der Dürre, an die sie sich gerade noch erinnern konnte? Vor ihren Augen dehnte sich die vorgestellte Landschaft aus, so dass sie die wirkliche gar nicht mehr richtig wahrnahm. Trotzdem bemerkte sie eine kurze Bewegung. Sie erstarrte und sah genau hin. Ja, dort. Kurz, flüchtig, ein brauner Schimmer zwischen zwei Felsbrocken. Verschwunden. Fuchs oder Schakal? Zu groß. Nicht die Art, auf die sich
ein Hirsch bewegte. So große Wesen hatten sie hier bisher nicht gesehen. Der Ausläufer bot Grasfressern kaum Nahrung und für Fleischfresser gab es nicht genug Beute. Noch einmal! Obwohl Mana es diesmal deutlich sah, konnte sie noch immer nicht sagen, was es war. Ein runder, schwarzer Kopf, dahinter ein brauner Rücken, die Bewegungen schnell, aber ungelenk … Erst, als es wieder verschwunden war, begriff sie, was sie gesehen hatte. Das Wesen, das sich den Hang hinaufpirschte, war ein Mensch – eine Frau, glaubte Mana – und der Hautfarbe nach zu urteilen einer der SumpfMenschen. Sie bewegte sich so merkwürdig, weil sie tief gebückt lief und zugleich etwas mit beiden Händen umklammerte und fest an ihre Brust presste … Da war sie wieder. Aber die Hände umklammerten nichts mehr, sondern hielten etwas in der hohlen Hand. Die Frau machte Halt und spähte um die Ecke eines Felsbrockens, nicht aber in Manas, sondern in die entgegengesetzte Richtung, nach Norden, als verberge sie sich vor einer Gefahr, die ihr aus dieser Richtung drohte. Sie hastete mit denselben ungelenken Bewegungen weiter und bemühte sich, das, was sie trug, nicht zu verlieren. Es konnte sich nur um Wasser handeln, entschied Mana. Warum trug eine Sumpf-Frau Wasser über die kahlen Felsen? Die Sumpf-Menschen begaben sich nie auf den Ausläufer. Hier draußen gab es etwas, wovor sie furchtbare Angst hatten – und die Art der Frau, sich zu bewegen, zeigte, dass sie diese Angst teilte. Und weshalb trug sie das Wasser in den Händen und nicht in einem der Schilfgefäße, die die Sumpf-Menschen zu ähnlichen Zwecken benutzten? Neugierig bückte sich Mana nach ihrem Speer, auf dem noch immer der Fisch steckte, und machte sich auf den
Weg quer über den Hang. Sie hatte keine Angst. Die Sumpf-Frauen waren nett, man kam gut mit ihnen zurecht, und trotz ihres stolzen Gehabes waren die Männer ungefährlich. Doch da sich die Frau so vorsichtig bewegt hatte, verbarg sich Mana hinter einem Felsen, als sie wieder auftauchte, und wartete, bis sie ein ganzes Stück den Hang hinab war, bevor sie ihr folgte. Als sie in die Nähe der Stelle gelangte, von wo die Frau gekommen war, legte sie ihren Speer ab und kroch vorsichtig weiter, bis sie hinter einem Felsen hervorspähen und sehen konnte, was sich dahinter befand. Sie blickte in eine kleine Mulde mit steilen Wänden hinab. Auf ihrem Grund lag ein Mann. Seine Augen waren geschlossen. Sein Gesicht war von Schmerzen stark verzerrt. Aus einer schrecklichen Wunde unterhalb seiner linken Schulter floss Blut. Sein rechter Arm lag ausgestreckt auf dem steinigen Boden. Ein kleiner Junge, fast noch ein Baby, saß da, hielt seine Finger gepackt und starrte mit einem Blick um sich, der erfüllt war von Schrecken, Elend und Verwirrung. Das Gesicht des Mannes war nicht mit grellen Farben bemalt, wie bei den Sumpf-Menschen üblich. Er trug auch nicht wie sie den Gürtel aus geflochtenen Schilfblättern, an dem die hölzernen Gefäße baumelten. Waren es am Ende etwa gar keine Sumpf-Menschen? Es kam Mana nicht in den Sinn, dass diese Menschen sie nichts angingen und ihre Hilfe nicht verdienten. Die Mienen der beiden sagten ihr das Gegenteil. Sie blickte den Hang hinab und sah, dass die Frau schon wieder mit einer Hand voll kostbarem Wasser für den verletzten Mann hinaufzuklettern begann. Es war besser, auf sie zu warten. Mana kroch ein Stückchen weiter zurück und verbarg
sich, doch sobald die Frau in der Mulde verschwunden war, zog sie den Fisch vom Speer und kroch damit zu jener Stelle, von wo aus sie hinabblicken konnte. Die Frau hatte sich über den Mann gebeugt und ließ das Wasser in seinen Mund tropfen. Die Hälfte ging daneben, doch seine Zunge kam zum Vorschein und er leckte den Rest auf. Als das Wasser fast alle war, hielt sie es dem Jungen hin und drückte sein Gesicht auf ihre Handfläche, damit er es auflecken konnte. Mana wartete, bis sie fertig war, dann zischte sie sanft. Sofort schnellte die Frau herum, schnappte sich mit jeder Hand einen Stein und hockte sich knurrend vor den Mann. Mana ging in die Hocke und streckte zum Gruß und als Zeichen des Friedens die offene Handfläche aus. Die Frau blieb, wo sie war, mit gebleckten Zähnen, knurrend wie ein in die Enge getriebener Schakal. Mana hielt ihr den Fisch hin und stieß den doppelten Summlaut aus, mit dem Menschen, die keine Wörter hatten, ›Ich gebe‹ sagten. Unsicher runzelte die Frau ihre Stirn. Sie hörte auf zu fauchen, blieb aber in der sprungbereiten Kampfhaltung und ihr Blick fuhr hin und her. Mana lächelte, zuckte die Schultern und warf den Fisch in die Mulde. Er landete vor den Füßen der Frau. Sie zögerte und schaute abwechselnd auf Mana und den Fisch. Schließlich fällte sie eine Entscheidung, öffnete die linke Hand, ließ den Stein fallen und angelte, ohne Mana aus den Augen zu lassen, nach dem Fisch. Dann biss sie einen Mund voll aus dem Rücken, immer in Kampfhaltung und den Stein in der rechten Hand bereit zum Schlag oder Wurf, spuckte das zerkaute Fleisch in ihre Hand und zwängte es durch die Lippen des Mannes. Seine Kiefer bewegten sich schwach, während sie etwas für das Kind vorkaute.
Dann biss sie etwas für sich selbst ab, wobei sie Mana im Auge behielt, und ging kauend rückwärts hinauf zum hinter ihr liegenden Rand der Mulde, wo sie über die Kante blicken konnte. Dort drehte sie sich schließlich um und musterte den nördlichen Teil des Hügelhangs, wobei sie immer wieder Blicke auf Mana warf, um sicherzugehen, dass sie sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Schließlich kam sie zurück und fuhr fort zu essen und ihre Familie zu füttern. Da dies offensichtlich einige Zeit in Anspruch nehmen würde, leerte Mana den Inhalt ihrer Kürbisflasche auf einem flachen Felsen aus und eilte den Hang hinab, wobei sie wie die Frau immer in Deckung blieb. Der Wunde des Mannes nach zu urteilen, hatten sie guten Grund, sich zu fürchten. Sie füllte die Kürbisflasche an einem Teich im Sumpf und trug sie wieder hinauf. Diesmal ging sie hinab in die Mulde. Die Frau fauchte und holte zum Schlag aus, aber Mana lächelte sie an und zeigte ihr die bis zum Rand gefüllte Kürbisflasche. Da die Frau zögerte, stellte sie die Flasche ab und kletterte wieder aus der Mulde. Die Frau entspannte sich ein wenig, ergriff die Kürbisflasche und half dem Mann, daraus zu trinken. Mana wandte sich um und musterte den südlich gelegenen Uferstreifen. Inzwischen waren zwei Menschen aus dem Schilfwald gekommen. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, dass es Ko war. Niemand sonst nahm beim Stehen eine Haltung ein, die zu sagen schien: Seht mich an!, und die zugleich eifrig und unsicher war. Die andere Gestalt sah aus wie Moru. Ko zeigte ihr etwas. Er wirkte stolz und glücklich. Offenbar hatte auch er Glück beim Fischen gehabt. Schlagartig wurde Mana bewusst, dass sie nun niemandem mehr ihren schönen ersten Fisch würde zeigen können. Wenn die Fremden mit Essen fertig wären,
würden nur noch die Gräten übrig sein. Aber sie hatte ihnen den Fisch geben müssen. Ihr war nichts anderes übrig geblieben. Und jetzt musste sie aufbrechen und Hilfe holen. Auch das lag auf der Hand. Sie rief leise hinab zur Frau, zeigte, lächelte und stieß den Ich gehe-Laut aus. Die Frau reagierte nicht. Mana fragte sich, ob sie dieselben Laute benutzte wie die anderen Menschen ohne Wörter, die sie kannte. Abgesehen vom Fauchen hatte sie bisher keinen Laut von sich gegeben. Als Mana über den Hang lief, wurde ihr bewusst, dass sie im Grunde überhaupt nichts von diesen Menschen wusste. Wären sie nicht in einer so verzweifelten Lage gewesen, als sie sie entdeckt hatte, was wären sie dann gewesen? Freunde oder Feinde? Sie konnte es nicht sagen. Alles, was sie gewusst hatte, war, dass sie Schwierigkeiten hatten und in Gefahr waren. Anhand der Wunde des Mannes konnte sie sogar erraten, um welche Art von Gefahr es sich handelte. Es war weder ein Biss noch die Wunde, die der Prankenschlag eines großen, wilden Tieres hinterließ. Irgendetwas Hartes und Scharfes hatte dem Mann einen heftigen Schlag versetzt und eine tiefe Wunde gerissen. Vielleicht das Horn eines Tieres, aber die Wunde war breiter als die Hörner aller Antilopen, die Mana je zu Gesicht bekommen hatte. Und warum sollte die Frau so furchtbar ängstlich und ständig kampfbereit sein, wenn es das gewesen war? Antilopen verfolgten den Jäger nicht, den sie verwundet hatten. Nein, dachte Mana. Menschen haben die Wunde geschlagen. Sie hatte noch nie eine Verletzung gesehen, die ein Grabstock verursacht hatte, aber so sähe sie aus. Das war schlecht, glaubte sie, schlecht. Vielleicht
schwebten sie und alle ihre Freunde nun in derselben Gefahr wie jene drei Menschen, die sie in der Mulde zurückgelassen hatte. Aber sie hatte trotzdem das Gefühl, dass sie nicht anders hätte handeln können.
URSAGE
Die Dilli-Jagd Schwarze Antilope schlief. Sein Schlaf war lang, lang. Warzenschwein und Schlange tranken Steinkraut. Sie waren fröhlich. Schlange prahlte. Er sagte: »Sieh dir Gul an, er ist von meinem Stamm. Kein Jäger ist schneller. Kein Jäger hat schärfere Augen. Er wirft einen Stein. Kein Jäger zielt besser.« Warzenschwein sagte: »Schlange, du lügst. Dop, von meinem Stamm, ist der bessere. Er schlägt einen Stein mit dem Grabstock. Der Stein geht in Stücke. Er folgt der Spur von einem Dilli-Hirsch. Er verliert sie nicht. Er wittert sie im Dunkel der Nacht.« Schlange sagte: »Warzenschwein, du lügst. Gul ist der bessere.« Sie stritten miteinander. Sie schrien sich an. Webervogel sagte: »He, ihr beiden, hört auf zu schreien. Meine Frauen können nicht verstehen, was ich ihnen
befehle.« Warzenschwein und Schlange sagten: »Entscheide du es, Webervogel. Sieh dir Gul und Dop an, unsere Männer. Welcher von beiden ist der bessere Jäger?« Webervogel blickte von der Spitze des Berges, dem Berg über Odutu. Er sagte: »Seht den schönen Dilli-Hirsch. Er hat einen schwarzen Fleck auf dem Hinterteil. Fangt an. Macht zwei aus ihm. Dann habt ihr zwei Dilli-Hirsche. Setzt einen Gul vor die Nase. Setzt einen Dop vor die Nase. Lasst beide Dilli-Hirsche nach Gelbquelle rennen. Ein Mann ist als Erster dort. Er tötet seinen Hirsch. Der Mann ist der bessere Jäger.« Warzenschwein und Schlange sagten: »Webervogel, das ist gut. Wir tun es.« Webervogel aber sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Mir ist es gleich, welcher Jäger der bessere ist. Gelbquelle ist weit und weit. Jetzt haben wir hier Ruhe. Gul jagte. Dop jagte. Jeder sah einen schönen DilliHirsch. Er hatte einen schwarzen Fleck auf dem Hinterteil. Er floh vor ihnen. Er war schlau. Er schlug Haken, er lief über Felsen, er versteckte sich im dichten Gebüsch. Die Jäger verloren die Spuren nicht. Die Hirsche näherten sich Gelbquelle. Beide kamen gleichzeitig dort an, aber Dop war ihnen dichter auf den Fersen. Schlange sah das. Er war nicht froh. Er sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Mein Mann verliert den Wettstreit. Wir haben zwei Hirsche aus einem gemacht. Jetzt mache ich einen aus zweien. Er legte Warzenschwein Steinkraut in den Weg.
Warzenschwein fand es. Er trank es. Er achtete nicht mehr auf die Jagd. Schlange ließ Dops Hirsch hinter einem Dickicht verschwinden. Dann machte er aus zwei Hirschen einen. Dops Hirsch war verschwunden. Dop lief um das Dickicht herum. Sein Hirsch war nicht dort. Die Spur endete. Er suchte ihn hier und da. Er konnte ihn nicht finden. Gul folgte seinem Hirsch bis nach Gelbquelle. Dort tötete er ihn. Er war froh. Dop hatte Durst. Er ging nach Gelbquelle. Er sah Gut Er sah den toten Hirsch. Er hatte einen schwarzen Fleck auf dem Hinterteil. Dop sagte: »Gul, du hast meinen Hirsch getötet. Ich habe ihn den ganzen Tag lang gejagt.« Gul sagte: »Dop, du lügst. Der Hirsch gehört mir. Ich habe ihn den ganzen Tag lang gejagt.« Dop packte den Hirsch bei den Hinterläufen. Gul packte den Hirsch bei den Vorderläufen. Beide zogen. Keiner war stärker. Gul ließ den Hirsch mit einer Hand los. Er schnappte sich einen Stein. Er warf ihn. Er zielte gut. Der Stein traf Dop am Kiefer. Sein Griff lockerte sich. Das geschah plötzlich. Gul war nicht darauf vorbereitet. Er stolperte rückwärts. Sein Fuß blieb an einem Grasbüschel hängen. Er fiel. Dop stürzte sich auf Gul. Er schlug mit seinem Grabstock nach ihm, es war ein heftiger Schlag. Gul wich aus. Dops Grabstock fuhr in die Erde. Gul lachte. Er sagte: »Dop, ein Ameisenfresser ist schneller, ein blinder Ameisenfresser.« Er schlug nach Dop, es war ein heftiger Schlag. Dop wehrte den Schlag ab. Er lachte. Er sagte: »Gul, ein
Küken ist stärker, ein nacktes Küken.« Jeder machte sich über den anderen lustig. Sie waren von Wut erfüllt, der Wut von Helden. Sie kämpften. Schlange und Warzenschwein sahen das. Sie sagten: »Das ist gut. Nun sehen wir, wer der Bessere ist.« Dop und Gul kämpften den ganzen Tag lang. Sie ließen heftige Schläge niederregnen. Sie schleuderten Steine. Sie schlugen mit ihren Fäusten. Sie bissen mit ihren Zähnen. Blut floss. Die Sonne stand tief. Gul sah das. Er machte kehrt. Er rannte auf die Sonne zu. Dop folgte ihm. Gul machte wieder kehrt. Er stellte sich Dop entgegen. Er versetzte ihm einen heftigen Schlag, den Schlag eines Helden. Von dieser Art war der Schlag: Seht diesen Baum, diesen Vater aller Bäume. Kein Baum ist höher, keiner dicker. Dann kommt die Zeit des Regens. Seht diese Wolke. Sie ist schwarz, sie ist langsam, sie ist mit Donner gefüllt. Sie steht über dem Vater aller Bäume. Sie birst. Die Blitze stürzen heraus. Sie sind heller als die Sonne. Sie sind lauter als das Brüllen eines Löwen. Der Vater aller Bäume wird getroffen, er fällt, er liegt auf der Erde. Von dieser Art war der Schlag, den Gul gegen Dop führte. Die Sonne schien Dop in die Augen. Er sah Guls Schlag nicht. Der Schlag traf ihn am Kopf, an der Seite des Kopfes, hinter dem Auge. Ihm wurde schwarz vor Augen. Seine Knie wurden schwach. Er fiel zu Boden. Er bewegte sich nicht. Gul packte den Dilli-Hirsch. Er trug ihn fort. Er war froh.
ZWEI Der Mann konnte sich nicht auf den Beinen halten, geschweige denn alleine gehen, also nahmen Suth und Net einander bei der Hand, schufen so einen Sitz zwischen sich und trugen den Mann, der ihnen stöhnend seine Arme um die Schultern legte, zurück zum Lager. Seine Wunde brach wieder auf und blutete den ganzen Weg über. Die Frau schien beschlossen zu haben, dass ihnen diese Fremden freundlich gesinnt waren. Besorgt lief sie neben dem Mann her, hielt das Kind im Arm und blickte alle paar Schritte zurück über die Schulter. Sie betteten ihn so bequem wie möglich auf ein Lager aus Schilfhalmen. Mana holte Wasser für die Frau, damit sie die Wunde auswaschen konnte, und legte dann den Rest ihres Fisches in die Glut, um ihn für sie zu rösten. Inzwischen war es Zeit für die Mittagsrast, zuerst aber schickte Tun Ko und Nar los, damit sie in Richtung Norden Wache hielten, jeder auf einer Flanke des Hügels. Alle anderen saßen im Schatten, aßen, was sie gefangen oder gefunden hatten, und unterhielten sich mit leiser Stimme über die Fremden. Mana konnte nicht hören, was die Männer auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers sagten, die Frauen rund um sie herum aber stimmten darin überein, dass die Wunde von etwas Ähnlichem wie einem Grabstock geschlagen worden sein musste und dass die Frau große Angst hatte. Dies, vermuteten sie, lag daran, dass die Frau glaubte, jene Menschen, die die Wunde verursacht hatten, würden ihnen immer noch folgen. Niemand machte Mana einen Vorwurf wegen ihres Handelns. Genau wie sie schienen auch alle anderen das Gefühl zu haben, dass sie keine Wahl gehabt hatte.
Bevor die Rast zu Ende war, gingen Mana und Shuja den Hügel hinauf, um Ko und Nar abzulösen. Sie hielten den größten Teil des Nachmittags über Wache, bis Zara und Dipu kamen und weitermachten. Auf dem Weg den Hügel hinab hielt Shuja inne und wies nach vorne auf die Spitze des Ausläufers. »Sieh«, sagte sie. »Var kommt. Und Net und Yova und Kern. Sie haben Salz. Das ist gut.« Mana schaute hin. Die Sonne sank immer tiefer und der Dunst, der die Schilfgürtel den ganzen Tag über verhüllt hatte, begann eine goldene Farbe anzunehmen. Vier müde Menschen, jeder mit zwei schweren Kürbisflaschen über den Schultern, waren gerade aus dem Dunst aufgetaucht und begannen zum Lager hinaufzusteigen. Sie waren auch von anderen gesehen worden. Links von ihr und am Fuß des Hügels hörte Mana Rufe und alle verließen die Fischlöcher und rannten den Hügel hinauf, um die Expedition zu begrüßen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie reichlich Nahrung erbeutet oder gesammelt und gegen Abend waren die Insekten unten in den Sümpfen immer am unerträglichsten, also schürten sie das Feuer und bereiteten das Essen vor, während die Neuigkeiten ausgetauscht wurden. Ko hatte drei Fische gefangen, die er mit Mana teilte. Jeder von ihnen war kleiner als der, den sie gefangen hatte, aber sie schwieg. Bei Sonnenuntergang, als sie noch immer mit Essen beschäftigt waren, stieß die fremde Frau einen lauten, jaulenden Schrei aus und begann sich mit den Fingernägeln Gesicht und Brust zu zerkratzen, bis sie blutete. Mana wusste auch ohne hinzuschauen, dass der Mann gestorben war. Zuerst ließ die Frau es nicht zu, dass irgendjemand ihn
anrührte, aber nach einer Weile bestanden sie darauf. Mit einem toten Mann in der Nähe würden sie sich ganz bestimmt nicht schlafen legen. Ein Toter konnte Dämonen anlocken, die den Geist fressen wollten, der noch mit ihm verbunden war. Einige hielten die Frau fest, während andere den Leichnam ein ganzes Stück den Hügel hinauftrugen und ihn mit Steinen bedeckten. Im letzten Licht tanzten die Frauen dann den Totentanz für den Fremden, um seinem Geist die Freiheit zu geben, während seine Frau klagend am Fuße des Steinhaufens kniete. Mana war zu jung, um mitzutanzen. Die Fremde hatte ihr das Baby übergeben, damit sie um ihren Mann klagen konnte. Als Mana mit dem schlafenden Jungen im Arm hinter der Reihe von Frauen saß, sah sie plötzlich, dass Noli aus dem stampfenden Rhythmus ausscherte, erstarrte und zu schwanken begann. Bodu, die neben ihr stand, fing sie auf und hielt sie fest. Tinu nahm ihr die kleine Amola ab. Die übrigen Frauen hielten inne. Die Männer, auf der anderen Seite des Steinhaufens sitzend, stellten das langsame Klatschen und den stöhnenden Gesang ein. Schließlich blickte auch die fremde Frau auf, verstummte und zog ein verwirrtes Gesicht, als die Stimme von Mondfalke langsam zwischen Nolis Lippen hervordrang, leise und tief und trotzdem den ganzen Hang mit ihrem Klang ausfüllend. »Blut fließt«, sagte die Stimme. »Männer folgen.« Nolis Kopf fiel auf ihre Brust und ihre Knie knickten ein, aber Bodu und Tinu hielten sie, bis sie sich schüttelte, schnaubte und sich umschaute. Sie murmelte Tinu etwas zu und nahm ihr Baby zurück. Alle starrten einander fragend an. Eine ganze Weile fiel kein Wort. Mana fühlte plötzlich Angst und Unsicherheit. Sie wusste, dass alle dasselbe dachten. Mondfalkes kurze Botschaft war furchtbar klar. Blut fließt. Die Wunde des
Fremden hatte schon geblutet, als Mana ihn zum ersten Mal erblickt hatte. Wahrscheinlich hatte sie die ganze Zeit über geblutet, als er vor seinen Feinden geflohen war, und dann war sie wieder aufgebrochen, als sie ihn zum Lager getragen hatten. Das hatte eine deutliche Spur hinterlassen. Männer folgen. Also nicht nur ein Feind. Mindestens zwei, vielleicht viele. »Folgen sie seiner Spur bei Nacht?«, fragte Var. »Riechen sie die Spur?« »Ich sage, sie tun es nicht«, sagte Kern, der beste Spurenleser unter ihnen. »Ich sage, sie warten. Morgen ist es hell. Dann kommen sie.« »Wie viele Männer?«, fragte Chogi. »Kann Noli das sagen?« »Ich sehe sie nicht«, murmelte Noli. »Es sind Jäger, wild, wild.« Gemurmel erhob sich. Mana sah, dass Noli die Hand hob, aber sie schien noch zu betäubt von Mondfalkes Besuch zu sein, um sich durchsetzen zu können. Doch Bodu hatte die Bewegung gesehen und rief: »Wartet. Noli sagt mehr.« Wieder schwiegen alle und spitzten die Ohren. Diesmal war Nolis Stimme weich und sehr leise, aber es war ihre eigene. »Ich war ein Kind«, sagte sie. »Wir lagerten beim Tal der Toten Bäume. Ich träumte. Männer kamen, wild, wild. Sie töteten unsere Männer. Sie raubten unsere Frauen. Das war mein Traum. Mondfalke schickte ihn. Es war ein wahrer Traum. Diese Männer kamen.« Alle wussten, wovon sie sprach, obwohl Mana selbst damals noch klein gewesen war und sich nicht daran erinnern konnte, außer manchmal, an den dunklen Rändern eines Alptraums. Die acht Stämme hatten
friedlich in den Alten Guten Jagdgründen gelebt, wie schon immer seit der Zeit der Ursagen, als eine Horde mordlüsterner Fremder über sie hergefallen war, alle Männer, die sie fangen konnten, getötet und die Frauen verschleppt hatte. Nur der Stamm von Mondfalke war durch Nolis Traum gewarnt worden, aber man hatte ihr nicht geglaubt. Jetzt schon. Es trat ein schreckensstarres Schweigen ein, bis Chogi jene Frage stellte, die alle beschäftigte. »Das sind diese Menschen?« Noli zögerte. »Ich weiß es nicht«, murmelte sie. »Ich glaube … ich glaube, es sind andere.« Tun ergriff wieder das Wort. »Hört mich an«, sagte er. »Heute Nacht halten wir Wache, immer drei und drei. Wir verstecken das Feuer. Morgen wachen wir im Dunkeln auf. Wir sind bereit. Wir stellen Wachtposten auf. Sie sehen, wer kommt, wie viele. Wenige Männer, wir zeigen uns. Sie sehen, wir sind mehr. Sie gehen fort. Viele Männer, wir gehen in die Sümpfe. Wir kennen die Pfade. Sie nicht. Ist das gut?« Zustimmendes Murmeln erhob sich. Sie gingen wieder hinab zum Lager und entschieden unterwegs, wer was zu tun hatte und wie sie den Fremden begegnen sollten, wenn es dazu käme. Nur die Frau des toten Mannes blieb klagend beim Steinhaufen zurück. Mitten in der Nacht kroch sie ins Lager. Ihr Baby war inzwischen unruhig geworden und weinte. Sie stillte es eine Weile, legte sich dann neben Mana und schlief. Auf ihrem Beobachtungsposten zusammengekauert,
dicht am Rand des Kamms, der auf dem Ausläufer entlanglief, wartete Mana auf Kos Signal. Er befand sich ein Stück weiter den Hang hinauf, an einer Stelle, von wo aus er weit in Richtung Norden blicken konnte. Es war so gut wie sicher, dass die Jäger der Blutspur folgten. In aller Frühe hatte Kern sie bis zu jenem Punkt verfolgt, wo Ko die Jäger zum ersten Mal erblicken würde, also wusste er genau, wo er hinschauen musste. Mana konnte ihn noch nicht sehen, denn er lag hinter einem niedrigen Hügelkamm verborgen. Langsam schleppte sich die Zeit voran und die Schatten der Felsen wanderten. Ungefähr gegen Mitte des Vormittags sah Mana, wie Ko auftauchte und zwischen zwei Felsbrocken hervorkroch. Sobald er wieder tief genug war, stand er auf und hob beide Arme. Mana tat es ihm gleich, um zu zeigen, dass sie sein Signal gesehen hatte. Dann senkte Ko den rechten Arm und hob ihn wieder, einmal, noch einmal, noch einmal, noch einmal … Nur vier Jäger. Sie seufzte erleichtert, als sie das Signal erwiderte. Dann bewegte sie sich zu einer Stelle, von wo aus sie die Neuigkeiten ins Lager übermitteln konnte. Suth winkte zurück, wandte sich ab, sprach mit den Menschen im Lager, wartete auf eine Antwort und wandte sich wieder Mana zu. Er hob beide Hände und drückte sie in ihre Richtung. Bleibt da. Da es nur wenige Jäger waren, konnten die erwachsenen Mitglieder des Stammes im Lager warten und ihnen entgegentreten. Mana winkte und gab den Befehl an Ko weiter, der antwortete und wieder verschwand. Dann wartete sie, mit trockenem Mund, pochendem Herzen, die Augen auf jenen Punkt gerichtet, wo die Blutspur, ein gutes Stück unterhalb von Kos Beobachtungsposten, den Hügelkamm kreuzte.
Der Hang unter ihr schien verlassen zu sein. Suth war verschwunden. Die Sümpfe wurden vom üblichen Dunst verschluckt. Irgendwo dort draußen, in sicherer Entfernung, warteten die Mütter mit den Babys und den Kleinen auf den verschlungenen Pfaden. Alle anderen hielten sich zwischen den Felsen verborgen, die das Lager umgaben. Die Jäger tauchten viel früher in ihrem Sichtfeld auf, als sie vermutet hatte. Eins, zwei, drei, vier, schnell und regelmäßig laufend, innehaltend, spähend und dann zur nächsten Deckung rennend. Sie suchten die Deckung nicht aus Angst vor Feinden, sondern nur, weil sie ihre Beute nicht warnen wollten. In Abständen hockte sich ihr Anführer hin, zeigte und blickte einen Augenblick lang auf etwas am Boden. Mana wusste, was er entdeckt hatte – einen weiteren Tropfen der Blutspur. Sie brauchten nicht lange, bis sie die Mulde erreicht hatten, wo Mana den Fremden zum ersten Mal begegnet war. Sie hockten kurz an ihrem Rand, dann glitten sie hinein und waren verschwunden. Mana duckte sich hinter einen Felsbrocken und gab ein Signal in Richtung Lager. Suth riskierte keine Antwort, doch sie war gewiss, dass er sie gesehen hatte. Sie kehrte zu ihrem Beobachtungsposten zurück. Eine Zeit lang blieben die Jäger außer Sicht. Vermutlich lasen sie die Spuren, die Kern gefunden hatte – der Mann hatte dort gelegen und geblutet, die Frau hatte dort gekniet, das Kind hatte dort Wasser gelassen, abgenagte Fischgräten waren dort ausgespuckt worden. Dann waren andere gekommen. Dem Mann war geholfen worden, man hatte ihn getragen. Seine Wunde war wieder aufgebrochen … Dann sah sie die Jäger wieder, diesmal aber spähte nur ein einzelner Kopf über den Rand der Mulde und musterte
den vor ihm liegenden Hang. Ja, sie hatten die Spuren gut gelesen. Sie wussten nun, dass sie es mit mehr als einer Frau und einem verwundeten Mann zu tun hatten. Alle vier kamen aus der Mulde hervor und liefen rasch und in gebückter Haltung weiter. Diesmal gaben sie sich größere Mühe, verborgen zu bleiben, bewegten sich aber genauso selbstsicher wie zuvor. Als sie unterhalb ihres Postens vorbeiliefen, konnte Mana sie zum ersten Mal richtig erkennen. Sie waren anders als alle anderen Menschen, die sie kannte, mit langen, dünnen Armen und Beinen und einer Haut, die so dunkel wie die ihre war, aber nicht von demselben, klaren Braun. Die Haut dieser Jäger war grauer und schimmerte leicht rötlich unter der Oberfläche. Sie trugen Gürtel, an denen ein oder zwei seltsam blasse Kürbisflaschen baumelten, und spitze Stöcke, länger als gewöhnliche Grabstöcke, aber kürzer und kräftiger als der Fischspeer, den Mana gestern benutzt hatte. Hin und wieder blieb einer wie erstarrt stehen und sah sich um und Mana erstarrte mit ihm und hielt den Atem an, voller Angst, dass die wilden Augen, die den Hang musterten, diesmal das Glitzern eines Auges zwischen zwei Felsbrocken bemerken würden. Es fiel ihr schwer, nicht vor Erleichterung zu seufzen, wenn der Blick über sie hinwegglitt. Trotz dieser Pause kamen sie rasch voran und hatten schließlich fast das Lager erreicht. Als sie zehn und noch einmal zehn Schritte davon entfernt waren, erhoben sich Tun, Suth, Var und Kern mit Grabstöcken in den Händen hinter den Felsbrocken. Tun tat einen Schritt nach vorn, die linke Hand zum Gruß erhoben. Sein Haar war noch nicht gesträubt. Die Fremden zögerten nicht lange. Ihr Haar sträubte sich sofort. Sie stießen einen durchdringenden, kläffenden Laut
aus und griffen an. Die vier Männer des Stammes antworteten mit einem Ruf und hoben ihre Grabstöcke. Mana sah, dass Kern, der ihr am nächsten stand, einen Schlag abwehrte, dann aber kam der Rest des Stammes aus den Verstecken hervor und beteiligte sich am Kampf. Wild und wütend hallten ihre Schreie über den Hang. Einer der Fremden brach aus und rannte davon. Außer Mana sah keiner, dass er floh. Sie stand auf, zeigte und schrie, aber ihre Stimme ging im Aufruhr unter. Als der Kampf zu Ende war, war er schon ein gutes Stück weit entfernt. Sie schrie noch einmal. Köpfe fuhren herum. Sie zeigte. Net und Tor nahmen die Verfolgung auf, aber der Mann hatte einen zu großen Vorsprung und sie gaben bald auf. Mana wandte sich wieder den anderen zu. Sie konnte einen Körper – nein, zwei – auf dem Boden liegen sehen, zum Teil von den Beinen der Menschen verdeckt. Irgendjemand saß auf einem Felsbrocken und kümmerte sich um seinen verwundeten Arm. Chogi untersuchte jemanden, der am Kopf verwundet worden war. Suth winkte und zeigte auf Kos Beobachtungsposten, der außer Sichtweite des Lagers lag, und winkte dann noch einmal, um zu sagen, dass sie zurückkommen sollten. Mana gab die Nachricht weiter und rannte dann den Hügel hinab. Es war Tun, dessen Arm verwundet worden war. Beim ersten Angriff war ihm eine tiefe Wunde geschlagen worden. Yovas Auge war zugeschwollen. Der Knauf eines Grabstocks hatte sie getroffen, als jemand den Arm zurückgerissen hatte, um zum Schlag auszuholen. Erschaudernd sah Mana auf die Körper hinab. Drei waren es, der dritte lag unten in der Senke beim Feuer. Alle gehörten zu den Fremden. Die ersten beiden, die sie gesehen hatte, lagen mit dem Gesicht nach unten auf der Erde, der dritte aber, blutig und übel zugerichtet, starrte
blind in den Himmel. Neben ihm lag das Ding, das an seinem Gürtel gebaumelt hatte. Es war keine Kürbisflasche. Es war ein menschlicher Schädel. Erschrocken und angewidert wandte sich Mana ab. Suth stand neben ihr und starrte hinab auf den Toten und das schreckliche Ding, das neben ihm lag. Sie klammerte sich an ihn und vergrub ihr Gesicht in seiner Seite und er legte einen Arm um sie und hielt sie fest. »Das ist ein Dämonen-Ding«, murmelte er.
URSAGE
Die Wut von Roh Dop kämpfte mit Gul. Gul gewann. Warzenschwein und Schlange sahen das. Schlange sagte: »Sieh nur. Gul, mein Mann, ist der bessere.« Warzenschwein sagte: »Die Sonne schien Dop in die Augen.« Schlange sagte: »Das hat Gul so gemacht. Er war schlau.« Er lachte. Er kehrte zurück zum Berg, dem Berg über Odutu. Warzenschwein war wütend. Er ging zu Dop. Er blies seinen Atem auf ihn. Er heilte seine Wunden. Er erfüllte ihn mit Kraft. Dop schlief noch immer. Warzenschwein schickte ihm einen Traum. In diesem Traum sprach er zu ihm. Er sagte: »Dop, mein Ferkel, Gul hat dich entehrt. Er hat deinen Dilli-Hirsch geraubt. Nun prahlt er vor seinem Stamm damit. Er sagt: ›Ich kämpfte mit Dop. Ich besiegte ihn. Er war wie Gras vor meinen Hieben.‹ Dop, was sagst du meinem Stamm? Womit prahlst du?«
Dop erwachte. Er erinnerte sich an den Kampf mit Gul. Er blickte um sich und sah, dass der Dilli-Hirsch verschwunden war. Wieder entflammte seine Wut. Er zog nach Sam-Sam, zu den Höhlenklippen. Dort lagerte Warzenschwein. Roh war sein Anführer. Er war Dops Vater. Er war alt. Dop trat vor ihn hin. Er sagte: »Roh, mein Vater, ich bin entehrt.« Roh sagte: »Dop, mein Sohn, wer entehrt dich?« Dop sagte: »Gul, vom Stamm von Schlange, entehrt mich. So und so geschah es.« Und er erzählte vom Kampf. Roh war dumm. Er sagte nicht in seinem Herzen zu sich selbst: ›Mein Sohn hat den ganzen Tag lang mit Dop gekämpft. Ich sehe seine Wunden. Sie sind geheilt. Das ist eine Sache der Ersten Wesen.‹ Er dachte nicht nach. Er war von Wut erfüllt. Von dieser Art war seine Wut: Seht den Fluss Manchmal. Das Bett ist leer. Dort liegen nur trockene Steine. Hirsche trinken aus den Pfützen. Dann kommt die Flut. Sie ist ein Hügel aus Wasser. Sie braust durch das Flussbett. Die Hirsche fliehen. Sie sind schnell, doch das Wasser ist schneller. Es schwemmt sie davon. Sie sind verschwunden. Der Fluss ist voller Wasser. Er grollt. Von dieser Art war die Wut von Roh. Er rief die Männer von Warzenschwein zusammen. Er sprach wilde Worte. Er erfüllte sie mit Wut. Er sagte: »Wo lagert Schlange?« Sie antworteten: »Roh, Schlange lagert in den Buckligen Hügeln. Es ist ihr Jagdgrund. Nicht der unsere. Wir betreten ihn nicht.« Roh sagte: »Ihr betretet jetzt die Buckligen Hügel. Ihr liegt auf der Lauer, ihr wartet auf einen Mann von
Schlange. Ihr rächt euch an ihm für die Entehrung von Dop.« Die Männer von Warzenschwein füllten ihre Kürbisflaschen mit Proviant. Sie schärften ihre Grabstöcke. Sie brachen auf zu den Buckligen Hügeln.
DREI Keiner wollte in der Nähe der Toten bleiben, geschweige denn sie berühren. Ohne weitere Worte zu verlieren, entfernten sie sich ein gutes Stück vom Lager, während Nar den Hügel hinauflief, um Ausschau zu halten, und Ko hinab zu den Sümpfen rannte, um die Mütter und Kinder zu holen. Mana, die sich noch immer an Suth klammerte, hörte den Gesprächen zu. Bei der Erinnerung an das, was sie gesehen hatte, überkam sie immer wieder ein Schaudern. »Sind das Männer?«, fragte Kern. »Sind das Menschen? Sind das Dämonen?« »Ich sage, das sind Menschen«, sagte Var. »Ihr Erstes Wesen ist ein Dämon.« »Mana fand einen Mann«, sagte Tun. »Vier jagten ihn. Wir töten drei. Einer rennt. Holt er jetzt die anderen?« »Ich sage dies«, sagte Chogi. »Noli hat Recht. Mondfalke zeigte es ihr. Wir waren in den Alten Guten Jagdgründen. Fremde kamen. Sie kamen, ohne uns zu warnen. Sie töteten Männer. Sie raubten Frauen. Diese sind wie sie.« Mana hörte wütendes Murmeln, ausgelöst von der Erinnerung. Kein Wunder, dass der eigentlich friedliebende Stamm so wild gekämpft hatte. »Die anderen hatten Wörter«, sagte Kern. »Und diese? Dieser Mann – er rennt. Er findet andere – andere Dämonen-Menschen. Er sagt ihnen: ›Dies geschah.‹ Wie sagt er es ihnen?« »Kern, ich weiß es nicht«, sagte Chogi. »Ich sage, sie kommen.«
»Die anderen Fremden waren zu viele, zu viele«, sagte Var. »Wir konnten uns nicht gegen sie wehren. Diese vier trugen spitze Stöcke. Es waren keine Grabstöcke. Es waren keine Fischspeere. Ich sage, es waren Kampfstöcke. Diese sind Kämpfer, es sind Menschen-Töter. Bald kommen viele. Wir können uns nicht gegen sie wehren.« Diesmal lachte keiner über Vars düstere Prophezeiungen. Was er sagte, war nur allzu wahrscheinlich. Die vier Fremden hatten den verwundeten Mann weder gejagt, um Rache zu nehmen, noch aus irgendeinem anderen Grund, der dem Stamm verständlich war. Sie hatten ihn gejagt, weil sie Menschen-Töter waren. Die Schädel an ihren Gürteln bewiesen das. »Hört mich an«, sagte Tun entschlossen. »Ich sage dies. Wir bleiben hier nicht. Dies ist ein Jagdgrund der Dämonen.« Niemand widersprach. Was sollte es anderes sein angesichts der Toten in und vor dem Lager? »Wir schlafen nicht in den Sümpfen«, sagte Tun. »Dort ist Krankheit. Wir gehen nicht nach Norden. Diese Männer kommen von dort. Es ist gefährlich, gefährlich. Wir gehen auf die andere Seite dieses Hügels, weit und weit. Wir gehen auf hartem Fels. Unsere Füße sind achtsam. Wir hinterlassen keine Spur.« »Tun«, sagte Kern. »Auf der Seite ist das Schilf trocken. Es ist tot. Dort gibt es keine Fische.« »Kern, du hast Recht«, sagte Tun. »Wir machen uns Pfade ins Schilf. Wir verbergen unsere Pfade. Weiter drinnen ist Wasser. Dort fischen wir. Die ganze Zeit halten wir Wache auf dem Hügel. Diese Dämonen-Menschen kommen. Unsere Wachtposten sehen sie. Wir verstecken uns im Schilf. Vielleicht finden sie unsere Pfade. Wir machen schmale Pfade. Es kommt immer einer dieser
Männer, einer und einer. Wir kämpfen gegen diese Männer, immer gegen einen und einen. Wir liegen auf der Lauer. Es ist gefährlich für sie, gefährlich. Vielleicht kommen sie nicht ins Schilf. Sie haben Angst. Hört mich weiter an. Es ist schwierig. Es ist gefährlich. Es ist nicht gut. Aber was können wir anderes tun? Alles andere ist schlimmer.« Sie besprachen den Plan eine Weile. Er gefiel niemandem, aber wie Tun gesagt hatte, konnten sie nichts anderes tun. »Ich denke etwas Schlechtes«, sagte Var. Wieder lachte ihn keiner aus. »Der Regen zieht fort. Bald ist die Zeit des Westwinds. Diese Männer stehen auf dem Hügel. Vertreibt der Wind den Dunst? Sehen die Männer unsere Pfade?« »Suth, was ist das?«, wisperte Mana ängstlich und verwirrt. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass die Regenzeit früher regelmäßig gekommen und gegangen war. Suth erklärte ihr hastig, dass ein steter Wind aus Richtung Westen geweht hatte, sobald die Regenzeit zu Ende gewesen war. Var vermutete, dass die DämonenMenschen weit über die Sümpfe blicken und herausfinden könnten, wo der Stamm sich verbarg, wenn es auch hier so wäre. Als sie wieder hinhörte, erinnerte Kern – der immer eine fröhlichere Natur war als Var – sie daran, dass er die westliche Seite des Ausläufers bald nach ihrer Ankunft ausgiebig erkundet und dort nur wenig Nahrung entdeckt hatte. »Dieser Mann flieht«, sagte er. »Er findet andere. Wie lange dauert das? Einen Tag, zwei? Ich weiß es nicht. Er sagt: ›Männer und Frauen sind in dem Jagdgrund. Kommt. Wir jagen sie.‹ Das ist noch ein Tag. Sie holen Nahrung.
Sie kommen. Sie finden uns nicht. Sie essen ihre Nahrung. Sie haben keine mehr. Sie finden hier keine Nahrung. Können sie fischen? Ich sage, sie können es nicht. Sie gehen fort. Wir kommen aus den Sümpfen. Wir fischen. Wir halten Wache. Wir verstecken uns nicht immer. Das ist besser.« Der Rest des Stammes sprach darüber und schöpfte etwas mehr Mut. Mana fühlte, dass Suth ihr aufmunternd auf die Schulter klopfte. »Mana, du fischst an deinem Fischloch«, sagte er. »Ist das gut?« Sie ergriff seine Hand und drückte sie, konnte es aber nicht verhindern, dass sie sich ausmalte, schweigend und angespannt an ihrem Fischloch zu hocken und darauf zu warten, dass sich ein Fisch zeigte, wobei ihr ständig die Frage im Kopf herumging, ob sich nicht einer der Dämonen-Menschen unbemerkt an den Wachtposten vorbeigeschlichen hatte und hinter ihrem Rücken auf dem Pfad auf sie zukroch. Wieder erschauderte sie. Suth kniete sich hin, nahm sie bei den Schultern und sah ihr in die Augen. »Du hast Angst?«, fragte er sanft. »Es sind Dämonen«, murmelte sie. »Mana, du bist Mondfalke«, sagte er. »Wir sind tapfer. Wir sind schlau. Wir sind stark. Mondfalke hilft uns. Diese Männer sind keine Dämonen. Es sind Menschen. Sie sagen in ihrem Herzen zu sich selbst: ›Alle haben Angst vor uns. Alle fliehen vor uns.‹ Aber die Mondfalken haben keine Angst. Wir fliehen nicht. Zuerst verstecken wir uns. Wir machen einen Plan. Wir warten. Wir wählen eine gute Zeit aus. Wir besiegen diese Männer, diese Menschen-Töter. Wir, die Mondfalken, tun das. Du tust es, Mana. Du hilfst.«
Sie nickte und riss sich zusammen, drückte die Schultern durch und stellte sich gerade hin. Tun hatte Recht. Es würde schwierig und gefährlich werden, aber sie hatten keine andere Wahl. Und Suth hatte noch einmal Recht – Mondfalke konnte es schaffen. Aber nicht, wenn sie vor lauter Angst den Verstand verloren. Dann kamen die Mütter mit ihren Kleinen bedrückt aus den Sümpfen hinauf. Ko hatte ihnen die Neuigkeiten mitgeteilt. Während sie den Hügel erklommen, führten sie vermutlich dieselben Gespräche, die Mana eben gehört hatte. Sie hielten an und lauschten schweigend, als Tun seinen Plan erklärte. Für die fremde Frau hatten seine Worte natürlich keine Bedeutung. Sie sah sich um, erblickte Mana und stieß fragende Laute aus. Um es sich zu ersparen, ihr die Sache mit Grunzlauten und Gesten erklären zu müssen, führte Mana sie den Hügel hinauf bis zu einer Stelle, von wo aus sie auf das Lager hinabschauen konnten. Die Frau starrte, keuchte vor Erstaunen, warf Mana ihr Kind in die Arme, rannte los und wurde erst langsamer, als sie die Stelle unten erreicht hatte. Sobald sie wieder zu Atem gekommen war, kniete sie neben den zwei Toten nieder, die mit dem Gesicht auf der Erde lagen, und rollte sie auf den Rücken. Dann stand sie auf, streckte beide Arme gen Himmel und stieß einen lauten Schrei aus, den Schrei eines wütenden Tieres. Sie bückte sich wieder und schleifte den Toten, der am Feuer lag, hinüber zu den anderen, legte ihn neben sie und begann um sie herumzutanzen, allein auf dem steinigen Hang, wobei sie in die Hände klatschte und so laut sang, wie sie nur konnte. Die anderen hörten den freudigen und wilden Gesang und kamen herbei, um nachzuschauen, was er zu bedeuten hatte. Eine Zeit lang sahen sie schweigend zu.
»Das ist gut«, sagte Tun. »Die Dämonen kommen ihr nicht nahe. Sie haben Angst. Jetzt füllt Tinu den Feuerbewahrer.« Tinu stolperte den Hang hinunter und tat wie geheißen. Mana fragte sich, ob sie womöglich weniger Angst vor den Dämonen hatte als die anderen. Als sie zurückkam, wurde sie von der fremden Frau begleitet, die nicht mehr verzweifelt den Kopf einzog, sondern lächelte und aufrecht ging. Sie erklommen den Hügelkamm und zogen auf seiner schräg abfallenden Seite nach Norden. Selbst die kleinsten Kinder achteten darauf, dorthin zu treten, wo sie keine Fußspuren hinterließen. Yova und Moru liefen oben auf dem Kamm entlang, um Ausschau zu halten, während der Rest auf der anderen Seite zum westlichen Ufer hinabstieg. Unter ihnen lag ein weiterer Arm des riesigen Schilfwaldes, den sie inzwischen so gut kannten, doch hier wuchs das Schilf nicht in gutem Wasser, sondern entspross einer ausgedehnten Schlammbank. Diese wiederum war ausgetrocknet und in der Folge war das Schilf an vielen Stellen abgestorben und hatte ein Gewirr toter Halme hinterlassen. Obwohl die Regenzeit gekommen und wieder gegangen war, brachen die ersten grünen Triebe an den Stellen, wo das Schilf noch lebte, gerade erst aus dem braunen, trockenen Gestrüpp hervor. Als sie das Ufer erreichten, war es Mittag. Normalerweise hätten sie während der Hitze gerastet, aber die meisten Erwachsenen machten sich sofort an die zeitraubende und schwierige Arbeit, einen versteckten Pfad ins Schilf zu schneiden. Suth aber sagte: »Komm, Ko. Komm, Mana. Wir suchen Stellen für die
Wachtposten.« und führte sie den Hügel hinauf. Vielleicht hätte Mana die Feder nicht entdeckt, wenn sie nicht darauf geachtet hätte, wo sie ihre Füße hinsetzte. Sie bückte sich und zog aus einem Spalt zwischen zwei Felsen eine einzelne Feder von mattem, bläulichem Dunkelgrau hervor. Als sie sie vor die Sonne hielt, schien das Blau zur Oberfläche zu steigen und über dem dunklen Untergrund zu schimmern. Sie kannte nur einen Vogel, der solche Federn hatte. »Suth, sieh, was ich finde!«, sagte sie und zeigte ihm die Feder. Er hielt inne, nahm sie und hielt sie vor die Sonne, damit sie ihren Schimmer zeigte. »Mondfalke«, sagte er. »Mana, du findest ein gutes Zeichen.« Lächelnd reichte er ihr die Feder zurück und sie kletterten weiter. Von der Spitze des Hügelkamms blickte Mana zurück. Ja, dachte sie, Var hatte Recht. Der Dunst über den Sümpfen war ihr Freund. Stünde ein Feind an der Stelle, wo sie stand, dann sähe er etwa zehn Schritte weit über den Schilfwald und würde die Menschen erkennen, die dort arbeiteten, dahinter aber verschwämme alles zu einer schemenhaften, braunen Weite. Nicht einmal ein breiter Pfad wäre zu sehen. Käme jedoch der Westwind und brächte klare Luft mit sich, dann wäre es viel schwieriger für den Stamm, sich zu verstecken. Sie entdeckten Yova und Moru, die sich hinter Felsbrocken zu beiden Seiten des Kamms geduckt hatten. Jede konnte von ihrem Punkt aus über den Hang des Ausläufers weit nach Norden blicken. »Das ist gut«, sagte Suth. »Jetzt halten Mana und Ko Wache. Yova und Moru gehen hinab. Sie schneiden
Schilf. Ich suche nach etwas.« Also übernahm Ko von Moru die östliche Seite des Kamms, während Mana auf der westlichen blieb. Sie ließ sich nieder und begann die Landschaft im Norden zu mustern. Der Hang war nicht eben, sondern übersät von Buckeln und Mulden. Sie suchte nach Stellen, wo Angreifer irgendeine Erhebung oder einen kleineren Ausläufer überqueren mussten und sie die besten Chancen hätte, sie zu sehen. Unter ihr lief Suth hin und her und suchte den Hang ab. Mana hatte keine Ahnung, wonach er suchte, bis er schließlich einen großen flachen Stein aufhob und damit den Hügel hinaufstolperte. Als er sie erreicht hatte, keuchte er vor Anstrengung. Er kniete nieder und wuchtete den flachen Stein direkt über dem Beobachtungsposten in eine aufrechte Stellung. Nun sah Mana, dass seine ganze Oberfläche von kleinen, glitzernden Punkten bedeckt war, die ihn viel heller aussehen ließen als jeden anderen Stein in der Nähe. Als er wieder zu Atem gekommen war, sagte er: »Einer wacht beim Pfad, der ins Schilf führt. Er sieht diesen Stein. Er sagt in seinem Herzen zu sich selbst: ›Kein Feind kommt.‹« Er kippte den Stein um. »Der Wächter sieht diesen Stein nicht«, sagte er. »Er sagt in seinem Herzen zu sich selbst: ›Er ist weg. Ein Feind kommt.‹ Er sagt es den anderen. Sie verstecken sich. Ist das gut?« Mana fiel ein, wie schnell die Dämonen-Menschen beim ersten Angriff vorangekommen waren. Die Wächter hätten keine Zeit, zum Ufer hinabzulaufen und die anderen zu warnen. Selbst zu rufen oder aufzustehen und zu winken könnte gefährlich sein. Aber … Wieder krampfte sich ihr Magen vor Angst zusammen.
»Aber die Wächter, Suth?«, flüsterte sie. »Wohin gehen sie?« Er nickte zuversichtlich. »Ich finde eine Stelle«, sagte er. Wieder suchte er den Hang ab, hielt oft inne, um nach Norden zu spähen, und bückte sich jedes Mal tief, wenn er offenes Gelände überquerte. Mana hielt weiter Ausschau, doch während sie den Hang mit Blicken absuchte, sagte ihr eine innere Stimme immer wieder: Das ist Gefahr. Die ganze Zeit ist Gefahr. Die ganze Zeit bewegen wir uns wie Suth. Wir wachen. Wir rennen. Wir verstecken uns. Wir haben Angst. Suth fand das, wonach er suchte, weder vor ihr noch unter ihr, also verschwand er hinter ihr und rief sie nach kurzer Zeit leise herbei. Sie kam, wobei sie sich bewegte, wie er es getan hatte, und entdeckte ihn ein kleines Stück weiter unten am Hang, wo er vor einem großen Felsbrocken hockte und mit ein paar kleineren Steinen hantierte, die an seinem Fuß lagen. Als sie sich neben ihn kniete, nahm er einige von ihnen fort und zeigte ihr eine schmale Öffnung unter dem Felsbrocken. »Ich bin zu groß«, sagte er. »Kannst du unter diesen Felsen kriechen? Nimm meinen Grabstock. Pass auf Skorpione auf.« Vorsichtig schob Mana Kopf und Schultern in den Spalt und stocherte mit dem Grabstock darin herum. Als sich ihre Augen ans Dunkel gewöhnt hatten, sah sie, dass sich der Spalt weiter innen verbreiterte und ihr genug Platz bot, um hineinzukriechen, sich umzudrehen und wieder hinaus ins Licht zu schauen. »Das ist gut«, sagte Suth. »Sieh. Nimm dies hier.« Er reichte Mana einen Stein hinein und verdeckte den Spalt mit den restlichen, ließ aber ein kleines Loch offen.
Dann nahm er sie wieder fort und sie musste üben, die Steine von innen vor den Spalt zu ziehen, bis sie ihn mit dem verschließen konnte, den er ihr gegeben hatte. Danach holte er Ko und probierte aus, ob auch er noch Platz darin hatte. Es klappte gerade eben, aber er musste sich mit den Füßen zuerst hineinzwängen und dann seine Brust durch den Spalt quetschen. Als Suth zufrieden war, ließ er sie wieder herauskommen. »Suth«, sagte Ko. »Das ist eng. Passt Yova hinein? Passt Moru hinein?« »Ko, sie passen nicht hinein«, antwortete Suth. »Nur wenige können Wache halten. Tinu und Shuja – sie sind klein. Du, Ko, und Mana. Mehr nicht. Ko, jetzt gehst du zu deinem Posten zurück. Ich hole Tinu und Shuja. Ich zeige es ihnen. Mana, warte.« Sie hockte sich neben ihn auf den brennend heißen Hang, bis Ko außer Sichtweite war. Dann sah er ihr in die Augen und sagte: »Mana, tust du das? Hast du keine Angst?« »Ja, Suth, ich tue das«, antwortete sie. Sie schluckte. Der Schlitz unter dem Felsbrocken sah aus wie der Eingang zu einem Bau. Mana hatte oft kleine Tiere aus ihrem Bau ausgegraben und aufmerksam ihrem erschreckten Quieken gelauscht, als sie dem Nest näher gekommen war. Nun wären sie und Ko im Bau. Sie wusste, dass Suth ahnte, was sie dachte, sonst hätte er nicht gefragt. Sie sah hinab auf ihre Hand und ihr wurde bewusst, dass sie noch immer die Mondfalkenfeder hielt. Sie sah zu, wie er aufstand und mit dem Fuß alle verräterischen Spuren wegwischte, die die Steine beim Hin- und Herschleifen hinterlassen hatten. Dann kroch sie wieder zu ihrem Beobachtungsposten, während er sich einen Weg hinab zu den Sümpfen suchte.
In dieser Nacht schlugen sie kein Lager auf und das war das erste Mal, an das Mana sich erinnern konnte. Es gab kein fröhliches Feuer. Die Arbeiter hatten am Ende des Pfades, den sie durchs Schilf gebahnt hatten, eine runde Lichtung freigeschnitten, den Boden mit Schlamm befestigt und ihr Feuer dort draußen entfacht. Um das Feuer herum hatten sie eine Mauer aus Schlamm gebaut und nur unten und oben zwei kleine Öffnungen gelassen, damit am nächsten Morgen noch genug heiße Glut übrig wäre, um ein neues Feuer zu entfachen. Auf diese Weise war es vom Ufer aus unsichtbar und es bestand nicht die Gefahr, dass ein Funke den großen Schilfwald in Brand setzte, von dem ihre Sicherheit abhing. Der Schilfwald war jetzt ihr Zuhause. Der Hang war nur ein Ort, wo sie in sicherer Entfernung von der Sumpfkrankheit schlafen konnten. Von nun an würden sie jeden Abend eine andere Stelle am Hang auswählen und versuchen keine Spur zu hinterlassen, die nicht schon vorher dort gewesen war. Alle, die alt genug waren, um sich unter Kontrolle zu haben, mussten ihre Geschäfte im Schilf verrichten, und die Mütter mussten das, was ihre Babys hinterließen, sorgsam beseitigen. Sie ließen sich gerade zwischen den unvertrauten Felsen nieder, als Mana jemanden sagen hörte: »Seid still. Horcht.« Ihr Herz stand still. Hatte der Sprecher Schritte oder den Aufschlag eines Steinchens gehört, als unsichtbare Gestalten auf sie zukrochen? Nein. Aus der nördlichen Richtung des Ausläufers drang ein hoher, rauer Schrei zu ihnen, der zweimal wiederholt wurde, iik-iik-iik. Es entstand eine Pause, dann ertönte der Ruf noch einmal und noch einmal. Es war der Schrei eines
Mondfalken, der bei Einbruch der Nacht sein Nest verließ, um zwischen den Felsen Beute zu machen, jene kleinen Tiere zu jagen, die nur im Dunkeln aus ihrem Bau hervorkamen. »Er ist hier«, flüsterte jemand. »Er ist bei uns. Dies ist ein Jagdgrund von Mondfalke.« Mana wusste, dass sie nicht die Einzige war, die Trost darin fand.
URSAGE
Der Kriegsschwur Die Männer von Schlange sagten: »Heute jagen wir.« Jad war unter ihnen. Seine Gefährtin war Meena, von Kleiner Fledermaus. Sie hatten einander erst vor kurzem erwählt. Sie waren glücklich, glücklich. Alle sahen ihre Liebe. Von dieser Art war sie: Seht diesen Mann. Er sagt in seinem Herzen zu sich selbst: Jetzt mache ich eine Klinge. Er wählt einen guten Stein aus. Er schlägt ihn so und so. Er zielt gut. Die Splitter fliegen vom Stein. Die Kante ist scharf, stark, ein sauberer Bogen. Er nimmt die Klinge in die Hand. Seine Finger schließen sich darum. Klinge und Hand, sie sind eins. Er ist froh, froh. Von dieser Art war die Liebe von Jad für Meena und von Meena für Jad. Meena sagte: »Jad, komme ich mit dir? Sehe ich dich jagen?« Jad fragte die Männer. Sie lachten. Sie sagten: »Lass sie mitkommen.« Sie kamen dorthin, wo die Hirsche ästen. Sie verteilten
sich. Jad sagte zu Meena: »Bleib zehn Schritte hinter mir. Lass dich nicht sehen.« Die Männer von Warzenschwein lagen auf der Lauer. Unter ihnen war Mott. Sein Herz war von Wut erfüllt. Jad kam näher. Mott warnte ihn nicht. Er stürzte sich auf Jad. Er schlug ihn mit seinem Grabstock auf die Seite des Halses. Jad fiel hin. Blut floss. Mott hob den Grabstock zu einem weiteren Schlag. Meena sah das. Sie rannte zwischen die Männer. Mott sah sie nicht, er dachte nicht nach, seine Wut erfüllte ihn. Er schlug noch einmal. Sein Grabstock war spitz, er war schwer. Er traf Meena zwischen den Brüsten. Er durchstieß ihre Rippen. Er fuhr in ihr Herz. Sie fiel auf Jads Körper. Sie waren tot. Nun verließ die Wut Mott. Er sah Jads Körper und er sah Meenas Körper. Er freute sich nicht. Er sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Ich habe das getan. Es ist schlecht, schlecht. Er zerrte die Körper unter die Büsche. Er floh aus diesem Jagdgrund. Die Männer von Warzenschwein sahen ihn. Sie sagten: »Mott flieht. Wir fliehen auch.« Also flohen sie. Die Männer von Schlange frohlockten. Sie sagten: »Die Männer von Warzenschwein sind schwach, es sind Feiglinge. Wir sind tapfer und stark. Aber wo ist Jad? Wo ist Meena?« Sie suchten. Sie fanden die Körper von Jad und von Meena. Sie waren erfüllt von Wut. Ziul war Jads Bruder. Er sagte: »Warzenschwein hat das getan. Wir, Schlange, nehmen jetzt Rache. Kommt.« Sie verfolgten die Männer von Warzenschwein. Sie kamen nach Sam-Sam, zu den Höhlenklippen. Die Männer
von Warzenschwein traten ihnen entgegen. Wieder kämpften sie. Die Männer von Schlange kämpften besser. Sie kämpften mit wilden Schlägen. Sie töteten zwei. Die Männer von Warzenschwein flohen. Die Männer von Schlange frohlockten. Sie sagten: »Wir haben Rache für Jad genommen.« Aber Ziul sagte: »Das ist nicht genug. Wir haben keine Rache für Meena genommen.« Er betrat die Höhlen. Er fand Dilu, Tongs Gefährtin. Sie verbarg sich dort. Sie war von Ameisenmutter. Ziul schlug sie. Sie starb. Er kehrte zu den Männern von Schlange zurück. Er sagte: »Frohlockt. Ich habe Rache für Meena genommen.« Die Männer von Warzenschwein sagten: »Wir nehmen Rache für Dilu. Aber die Männer von Schlange sind zu stark. Wir brauchen Freunde.« Sie schickten Boten zu Ameisenmutter, zu Webervogel und zu Papagei. Zu Ameisenmutter sagten sie: »Nehmt Rache an Schlange für Dilu, die eure Tochter war.« Zu Webervogel sagten sie: »Sam-Sam ist euer Jagdgrund. Dort tötete Schlange Dilu, eine Frau. Ihr seid entehrt.« Zu Papagei sagten sie: »In der Zeit unserer Väter habt ihr gegen Mondfalke gekämpft. Wir halfen euch. Helft nun uns.« Die Männer von Schlange sagten: »Warzenschwein ruft seine Freunde zu Hilfe. Sie nehmen Rache an uns für Dilu. Lasst auch uns Boten ausschicken, zu Kleiner Fledermaus, zu Krokodil und zu Mondfalke.« Zu Kleiner Fledermaus sagten sie: »Warzenschwein hat
Meena getötet, die eure Tochter war. Nehmt Rache an ihnen.« Zu Krokodil sagten sie: »Ameisenmutter kämpft gegen uns. Gelbquelle ist ihr Jagdgrund. Ihr wollt ihn haben. Helft uns nun. Wir besiegen sie. Ihr bekommt Gelbquelle. Sie gehört euch.« Zu Mondfalke sagten sie: »Papagei kämpft gegen uns. Ihr habt Blutschulden offen. Helft uns. Wir helfen euch.« Die Stämme besprachen sich untereinander. Einige Männer wollten es nicht. Sie sagten: »Mott und Ziul haben das getan. Übergebt Mott an Schlange. Sie sollen ihn töten. Übergebt Ziul an Warzenschwein. Sie sollen ihn töten. Es ist vorbei.« Das sagten wenige Männer. Andere Männer sagten: »Lasst uns kämpfen. Lasst uns nach Odutu ziehen. Lasst uns den Kriegsschwur schwören.« Das sagten viele Männer. Also versammelten sich alle bei Odutu. Zuerst kamen Schlange und Warzenschwein. Sie legten ihre Hände auf den Felsen. Sie schworen den Kriegsschwur. Die anderen sahen zu. Sie sagten: »Morgen schwören auch wir. Es ist Krieg.«
VIER Zehn und noch einmal zwei Tage verstrichen, lange Tage, doch die mordlüsternen Fremden blieben verschwunden. Es gab zwei Beobachtungsposten, jeder mit einem eigenen Signalstein. Jeden Morgen war Mana auf Posten, behielt den inzwischen vertrauten Hang im Auge und achtete auf jede noch so schwache Bewegung. Ihre Anspannung ließ nicht nach. In ihrem Herzen wusste sie, dass der Feind irgendwann wiederkäme, und wenn er nicht schon aus großer Entfernung entdeckt werden würde, dann hätten die anderen nicht genug Zeit, um sich zu verstecken, und dann würde gekämpft und gemordet werden. Und wenn die Angreifer in zu großer Zahl kämen, dann würden Mondfalke und die anderen Stämme für immer vom Erdboden verschwinden, ganz gleich, wie tapfer sie kämpften. Die Dämonen-Menschen würden alle Männer töten – Tun, Suth, Tor, Ko und die anderen, und die Frauen und Mädchen – Yova und Noli, Bodu, Tinu und sie selbst – würden als Gefährtinnen dieser DämonenMänner verschleppt werden, um ihre Dämonen-Kinder zu gebären. Vielleicht schickte Mondfalke eine Warnung, wie er es zuvor getan hatte. Vielleicht auch nicht. Bei den Ersten Wesen konnte man nie sicher sein. Also ließ Manas Wachsamkeit nie nach und auch Ko, der sich auf der anderen Seite des Kamms befand, passte genau auf. Sie wechselten immer wieder die Seiten, damit sie nicht abstumpften, weil sie die ganze Zeit über auf denselben Hang starrten. Sie waren allein. Wenn Mana sich auf der westlichen Flanke befand und auf die Sümpfe hinabschaute, konnte sie keine Spur ihrer
Freunde erkennen. Doch sie wusste, wo sie waren, wusste, dass sie den Hauptpfad immer weiter über die Schlammbank vorantrieben oder Seitenpfade und Sackgassen freischnitten, um jene zu verwirren, die den Weg nicht kannten. Irgendwo dort draußen brannte das kostbare Feuer, aber sie sah und roch nichts davon. Wenn sie sich auf der anderen Flanke befand und hinabschaute, sah sie ein paar Menschen, die das Ufer nach Nahrung absuchten oder vielleicht einen jener Pfade betraten oder verließen, die zu den Fischlöchern führten. Würde jemand dort von einem Angriff überrascht werden, dann bliebe ihm keine Zeit, den Kamm zu erklettern, auf die andere Seite zu gelangen und das sichere Hauptversteck zu erreichen. Also hatten sie auch auf dieser Seite einen Pfad freigeschnitten und ein Labyrinth von Fallen und Abzweigungen angelegt. Wenn Gefahr drohte, konnte man sich dort verstecken. Es waren immer mindestens zwei Männer dort, um den Pfad zu verteidigen, wenn es sein musste. Wie alles andere war auch dies gefährlich, aber sie waren gezwungen, dieses Risiko auf sich zu nehmen, weil es auf dem westlichen Ufer kaum Nahrung gab und ihr Hauptpfad den jenseitigen Rand der ausgedehnten Schlammbank noch nicht erreicht hatte, wo es sauberes und fischreiches Wasser gab. Gegen Mittag stiegen Tinu und Shuja von der westlichen Seite des Sumpfes hinauf, um weiter Wache zu halten, und Mana und Ko, auf jeden Schritt achtend, den sie taten, krochen wieder den Hang hinab. Zu diesem Zeitpunkt brummte Manas Schädel immer und ihre Augen waren wund, weil sie ununterbrochen auf den von Steinen übersäten und von der grellen Sonne beschienenen Hang gestarrt hatte. Unten am Ufer stand jemand und wartete auf den
Moment, wenn der blasse Stein oben beim Beobachtungsposten verschwände und so das Auftauchen von Feinden signalisierte. Ko und Mana begrüßten den Wächter, hoben dann an einer bestimmten Stelle am Ufer einen großen, wirren Haufen Schilf hoch, krochen durch den so entstandenen Spalt und dann noch ein paar Schritte weit durch einen gewundenen Tunnel, bis sie den Pfad erreichten. Es gab drei solcher Eingänge, damit jeder, der sich draußen aufhielt, schnell Deckung suchen konnte. Der Pfad selbst schlängelte sich hin und her, damit er vom Hügelkamm aus nicht so leicht zu erkennen war. Auf dem ersten Abschnitt hielten sie zweimal an und gingen nicht weiter geradeaus – es wären Sackgassen gewesen –, sondern bogen ab, schlüpften zwischen ein paar Schilfhalmen hindurch und gelangten wieder auf den Hauptpfad. Am dritten Tag entdeckten sie bei der zweiten jener Sackgassen Net und Var, die so schufteten, dass ihnen in der schwülen Hitze der Schweiß aus allen Poren rann. Sie hatten die geschnittenen Schilfhalme vom Boden aufgesammelt und lockerten mit ihren Grabstöcken die Erde darunter. »Var, was tust du?«, fragte Ko. »Wir machen eine Falle«, sagte Var. »Es ist Tinus Gedanke. Sieh her, wir weichen den Schlamm auf …« Er trat auf die Stelle, wo er gearbeitet hatte. Sofort begann sein Bein zu versinken. »Wir sind fertig«, sagte er, »wir legen das Schilf wieder darauf. Wir gehen darüber. Das ist sicher. Aber DämonenMänner kommen. Sie finden unseren Pfad. Wir laufen. Wir laufen über das Schilf. Wir nehmen das Schilf fort. Dämonen-Männer kommen. Sie laufen auf den Schlamm. Sie sinken. Wir kämpfen mit Grabstöcken gegen sie. Sie
stecken im Schlamm. Das ist gut für uns.« Die Männer machten sich wieder an die Arbeit und Ko und Mana gingen weiter. Inzwischen hatte der Pfad eine Stelle erreicht, die früher einmal eine von Bäumen und Büschen bestandene Insel gewesen war. Die meisten von ihnen waren der Dürre zum Opfer gefallen, also gab es reichlich Brennholz, und außerdem war es ein guter Ort, um das Feuer zu entfachen, ohne den ganzen, riesigen Schilfwald in Brand zu stecken. Tagsüber diente ihnen die Insel als Lager. Wenn Ko und Mana sie erreichten, hatten sich die anderen meist schon zum Essen und zur Mittagsrast versammelt, doch sobald sie aufgegessen hatten, nahmen sie ihre Arbeit wieder auf. Mana half überall dort, wo Hilfe nötig war – sie sammelte Brennholz, bereitete Essen vor, verstärkte die Pfade mit Halmen, suchte nach Vogelnestern oder Insekten, die als Köder zum Fischen dienen konnten. Wenn die Sonne sich auf den Horizont hinabsenkte, versammelten sich alle, ausgenommen die Wachtposten, wieder zum Essen. In den ersten Tagen waren die Mahlzeiten karg, weil so gut wie jeder entweder Wache hielt oder mit verzweifelter Anstrengung daran arbeitete, ihr Versteck so sicher wie möglich zu machen und den Pfad zum jenseitigen Rand der Schlammbank voranzutreiben, wo sie in Sicherheit fischen konnten. Also blieben nur wenige übrig, um im Schilf auf der östlichen Seite des Kamms zu fischen und das Ufer dort nach Nahrung abzusuchen. Doch sie aßen immer, was sie gerade hatten, und waren froh darüber. Wenn es dämmerte, kamen sie so vorsichtig wie möglich aus ihrem Versteck hervor und betraten das Ufer, um zu jener Stelle hinaufzuklettern, die Tun als Nachtlager ausgesucht hatte. Zuerst hatte Mana große Angst davor. Sie wusste auch, dass sie nicht die Einzige war, der es so
ging. Der Mond war klein und die Nächte waren sehr dunkel. Das Dunkel gehörte den Dämonen. Das wussten alle. Und das war auch der Grund, weshalb der Stamm, egal wie heiß es war und ob es Nahrung gab, die geröstet werden musste oder nicht, jedes Mal als Erstes ein Feuer entfachte, wenn ein neues Lager aufgeschlagen wurde. Dann konnten sie beruhigt im Schein der Flammen schlafen, weil sie wussten, dass es den Dämonen Angst einjagte und sie fern hielt. Nun aber musste es ohne Feuer gehen, denn die Flamme wäre in der Nacht weithin sichtbar und die am nächsten Morgen auf dem Hang zurückbleibende Asche könnte sie verraten. Sie waren gezwungen im Dunkeln zu schlafen, und Mana erwachte ab und zu, steif vor Schrecken, hörte einen Kleinen wimmern oder einen Erwachsenen seufzen und wusste, dass noch jemand wach war und genauso viel Angst hatte wie sie. Dann aber hörte sie, weiter nördlich über dem Ausläufer, einen der Mondfalken schreien. Es war nur ein Paar gewöhnlicher Mondfalken, von denen jeder abwechselnd jagte, während der andere die Jungen mit dem fütterte, was gerade erbeutet worden war. Doch wenn Mana den Schrei hörte, hatte sie das Gefühl, als schwebte Mondfalke selbst in der Nähe im Dunkeln, bereit zu warnen, bereit, die letzten Mitglieder seines Stammes zu beschützen. Dann überwand sie die Angst und schlief wieder ein. Das Labyrinth von Pfaden und Fallen war fast fertig. Der Mond hatte die Hälfte seiner eigentlichen Größe erreicht, doch die Dämonen-Menschen ließen sich noch immer nicht blicken. Mana hörte, wie die Erwachsenen erörterten, ob sie überhaupt wiederkämen. Var war sich natürlich sicher, dass sie wiederkämen, und Kern war sich genauso sicher, dass sie es nicht täten. Die Meinung der
anderen schwankte. »Hört mich an«, sagte Tun schließlich. »Sie kommen, sie kommen nicht, wer weiß? Aber wir sagen in unseren Herzen zu uns selbst: ›Sie kommen. Das ist das Beste. Jeden Tag sind wir wachsam, wachsam. Der Mond wird groß. Er wird wieder klein. Dann entscheiden wir.‹ Ich, Tun, sage das.« Also ließ ihre Wachsamkeit nicht nach und sie verrichteten ihre Arbeiten weiter so, als ob der Angriff an jedem Tag über sie hereinbrechen könnte. Sie hatten den jenseitigen Rand der Schlammbank zwar erreicht, doch die Fischgründe dort erwiesen sich als enttäuschend, also kehrten einige zu ihren alten Fischlöchern auf der östlichen Seite zurück. Als es rund um das Lager auf der Insel nichts mehr für Mana zu tun gab, bat sie Suth, auch dorthin gehen zu dürfen, sobald ihre Wache auf dem Beobachtungsposten zu Ende war. Am ersten Nachmittag fing sie nichts, am zweiten aber zwei schöne kleine Fische. Am dritten Nachmittag, als die kleinen Fische den Köder entdeckt und zu fressen begonnen hatten und sie gespannt darauf wartete, dass sich ein größerer Fisch zeigte, hörte sie den pfeifenden Ruf eines kleinen braunen Vogels. Er kam vom Ufer. Mana legte ihren Fischspeer nieder und wartete mit angehaltenem Atem. In den Neuen Guten Jagdgründen, südlich der großen Sümpfe, war dieser Vogel häufig gewesen, hier aber hatte ihn niemand entdeckt. Darum hatten sie seinen Ruf ausgewählt. Wieder rief der Vogel, doch als sie diesmal hinhörte, erkannte sie, dass es kein echter Vogel war. Kern, der den Eingang des versteckten Pfades bewachte, hatte gesehen, dass der Signalstein über dem östlichen Beobachtungsposten verschwunden war, und das
Warnsignal von sich gegeben. Der Wachtposten dort oben hatte irgendjemanden oder irgendetwas erblickt, das sich von Norden her näherte. Mana atmete ruckartig aus und erhob sich mit pochendem Herzen. Hier konnte sie nicht bleiben. Der Eingang war vom Ufer aus deutlich sichtbar. Sie nahm Kürbisflasche und Fischspeer, überprüfte ruhig, ob es noch weitere Spuren ihrer Anwesenheit gab, und lief dann den kurzen Pfad zurück. Tief gebückt schlich sie sich am Ufer entlang bis zu jener Stelle, wo Kern wartete. »Gut«, sagte er. »Gleich kommt Moru. Dann sind alle drin.« Er hob ein Bündel Schilfhalme hoch und sie kroch unterdurch. Genau wie auf der anderen Seite befand sich ein Tunnel vor dem eigentlichen Pfad, und ein kleines Stück weiter lag eine jener Fallen, wie Var und Net sie damals angelegt hatten. Tun und die fremde Frau mit dem Baby auf ihrer Hüfte waren dort. (Noli hatte ihnen Namen gegeben, Ridi und Ovoth. Sobald Ridi begriffen hatte, dass Tun der Anführer war, hatte sie sich ihm einfach beigesellt und wich ihm nicht mehr von der Seite.) Mana hatte schon die Falle überquert und wollte weiterlaufen, als Tun sagte: »Warte. Mein Arm ist nicht gut. Nimm Halme von der Falle. Nicht alle. Ein paar. Bald kommen Moru und Kern. Dann nimm alle, schnell, schnell. Zeig es Ridi. Warum kommt Moru nicht?« Mana hatte ihn noch nie so ängstlich erlebt. Sie legte Kürbisflasche und Speer auf den Pfad und bedeutete Ridi mit Gesten, Ovoth abzusetzen. Während Tun auf der anderen Seite der Falle Wache hielt, sammelte sie einen Arm voll loser Halme, reichte sie an Ridi weiter und sagte ihr mit Hilfe von Zeichen, sie solle das Schilfbündel ein Stück weiter den Pfad hinabtragen.
Die Schilfhalme waren kreuzweise in mehreren Schichten übereinander gelegt worden. Darunter befand sich klares Wasser. Mana entfernte zwei Schichten und probierte die übrigen aus, indem sie darüber ging. Sie konnte fühlen, wie die Erde unter ihr nachgab. »Tun, nehme ich sie?«, fragte sie. Er blickte über die Schulter. »Nimm von dieser Seite«, sagte er. »Lass jene liegen.« Sie tat wie geheißen und wollte ihn gerade noch einmal fragen, als sie am Eingang des Pfades Rufe hörte – wütend schreiende Männer –, und einen Augenblick später rannte Moru auf dem Pfad auf sie zu. Tun trat zur Seite, um sie durchzulassen. Mana rief ihr zu, sie solle sich rechts halten, doch sie hörte es nicht und trat auf die schwache Stelle. Ihr Fuß fuhr durch das Schilf und sie wäre beinahe gestürzt, aber Mana packte ihren ausgestreckten Arm und zerrte sie hinüber. Bevor Mana ihr folgen konnte, kam ein Dämonen-Mann um die Biegung des Pfades, gefolgt von einem weiteren. Der erste sah Tun, hob seinen Kampfstock und raste mit einem Schrei auf ihn zu. »Zurück!«, schrie Tun. Mana machte kehrt und rannte los. Ridi, die sich bückte, um Ovoth aufzuheben, versperrte ihr den Weg. Sie blickte zurück und sah, dass sich Tun auf den diesseitigen Rand der Falle zurückgezogen hatte. Jedes seiner Haare war gesträubt, den Grabstock hielt er zum Schlag erhoben. Der Mann stürzte sich auf ihn und warf das ganze Körpergewicht in seinen Schlag. Der vordere Fuß landete mit voller Wucht auf der Falle und brach sofort ein. Er stolperte und begann zu fallen. Im Stürzen ging sein Schlag knapp an der Hüfte Tuns vorbei und verfehlte
gerade eben Mana, die hinter ihm stand. Ridi bückte sich, packte das Ende des Kampfstocks mit ihrer freien Hand und zerrte, als Tuns Schlag schon auf den Rücken des Mannes niederfuhr. Er schrie und brach zusammen, doch im Fallen streckte er die freie Hand aus und bekam Tuns Fußgelenk zu fassen. Tun hatte sich zurückgeworfen, um zu einem neuen Schlag auszuholen. Plötzlich aus dem Gleichgewicht gebracht, stürzte er auf Mana. Sie wollte sich gerade aufrappeln, als der zweite Mann auf sie zustürmte. Nur Ridi war noch auf den Beinen. Der erste Mann hatte seinen Stock beim Fallen losgelassen, aber sie hatte ihn festgehalten. Der zweite Mann hielt einen Augenblick lang inne, um seinen Sprung abzuschätzen. Diesen Augenblick nutzte Ridi, um den Stock umzudrehen, und als er sprang, schrie sie auf und schoss los, um ihm zu begegnen, den Stock mit beiden Händen gepackt haltend und ihn mit ganzer Kraft nach vorn stoßend. Er schien sie nicht zu sehen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Tun. Er sprang genau in die scharfe Spitze des Stocks. Sie bohrte sich in seinen Magen, dicht unterhalb des Brustkastens. Der Rückschlag warf Ridi nach hinten, doch inzwischen war Mana auf den Beinen. Tun lag noch am Boden und versuchte sein Fußgelenk aus dem Griff des ersten Mannes zu lösen. Er hatte seinen Grabstock losgelassen. Sein linker Arm, beim ersten Kampf verwundet, war noch immer so gut wie nutzlos. Mana sah den Stock, der vor ihren Füßen lag, tat einen Schritt nach vorn und ließ ihn auf den Kopf des ersten Mannes niederfahren. Er stieß einen tiefen Grunzer aus und ließ Tuns Fußgelenk los. Als Tun wieder auf die Beine kam, schlug sie noch zweimal zu, um sicherzugehen. Der letzte Schlag fühlte sich anders an. Irgendetwas gab unter dem Grabstock nach. Der Mann
lag mit dem Gesicht nach unten im Wasser und bewegte sich nicht mehr. Der zweite Mann kniete am Rand der Falle, wo Mana eine Extraschicht Schilf hatte liegen lassen. Die Spitze des Stocks steckte noch immer in seinem Bauch und er grinste mit schmalen Lippen, wobei sich alle Zähne zeigten. Er zog den Stock heraus und versuchte aufzustehen, während das Blut seinen Bauch hinabströmte. Tun nahm Mana den Grabstock ab, zielte und schlug ihn mit voller Wucht auf eine Seite des Halses, knapp über dem Schlüsselbein. Immer noch grinsend fiel er zur Seite und über den anderen Mann. Sie standen nebeneinander, keuchend, die Toten zu ihren Füßen. »Mana, ich danke. Ridi, ich danke«, sagte Tun. »Ich habe Angst um Kern. Wo ist er?« Während Tun den Pfad bewachte, legten Mana und Ridi wieder so viel Schilf auf die Falle, dass das Wasser verborgen blieb, die Halme aber kein Gewicht tragen würden. Dann warteten sie lange, doch niemand erschien auf dem Pfad, weder Freund noch Feind. »Geh, Mana«, sagte Tun. »Suche andere. Erzähle ihnen, was wir tun. Sage: ›Kommt. Macht diese Falle stark.‹ Ich suche Kern.« Mana eilte davon. Sie fand Yova, Moru, Rana und Galo, die ängstlich gleich hinter der ersten Stelle warteten, dort, wo ein falscher Pfad weiterführte und der richtige hinter einer Schilfwand verborgen war. Moru war außer sich, das war offensichtlich, und die anderen hatten versucht sie zu beruhigen. »Kern kommt nicht?«, fragte sie verzweifelt. Mana schüttelte den Kopf.
»Es ist meine Tat«, sagte Moru krächzend vor Leid. »Ich hörte nicht den Ruf des pfeifenden Vogels. Kern kam. Er fand mich. Wir rannten. Die Dämonen-Männer sahen uns. Es waren fünf. Sie fanden den Pfad. Kern sagte: ›Lauf, Moru. Ich kämpfe mit ihnen.‹ Ich lief. Oh, Yova, Kern ist tot.« Das stimmte. Als sie zur Falle zurückkehrten, fanden sie Tun dort vor, der sehr grimmig dreinschaute. Er war zum Ende des Pfades gegangen und hatte Blut auf dem zertrampelten Schilf beim Eingang gesehen. Der Signalstein oben beim Beobachtungsposten war nicht am Platz gewesen, also hatte er gewusst, dass die DämonenMänner noch in der Nähe sein mussten. Es blieb ihnen also nur übrig, die Falle so zu lassen, wie sie war, und zu warten. Gegen Abend war der Signalstein wieder zu sehen und schließlich kamen sie hervor. Ein Stück den Hügel hinauf fanden sie Kerns Körper. Dass es sein Körper war, konnten sie nur an der Hautfarbe erkennen. Einen anderen Anhaltspunkt hatten sie nicht. Sein Kopf fehlte. Tun starrte mit düsterer Miene hinab auf den Körper und schwieg. Die anderen warteten. Mana begann zu schluchzen und konnte nicht aufhören. Rana kniete sich hin und nahm sie in den Arm. Sie war sich schwach der Stimme Morus bewusst, die ebenfalls von Schluchzern geschüttelt wurde und sich immer wieder selbst beschuldigte, während die anderen Frauen, die ebenfalls weinten, sie zu trösten versuchten. Schließlich sagte Tun: »Wir lassen ihn nicht hier.« Also fassten zwei bei den Schultern und zwei bei den Schenkeln an und hoben ihn hoch, während Mana die hinabbaumelnden Füße hielt und Tun voranging. Sie trugen ihn hinauf zum Steinhaufen, den sie über dem toten Fremden aufgeschichtet hatten. Sie legten ihn daneben ab
und bedeckten auch ihn mit Steinen. Es war eine anstrengende Arbeit, aber Mana hatte zumindest das Gefühl, alles für Kern zu tun, was in ihrer Macht stand, und das tröstete sie ein wenig. Bevor sie fertig waren, kamen einige andere vom westlichen Rand der Sümpfe hinauf. Sie hatten gesehen, dass der Signalstein auf ihrer Seite wieder aufgetaucht war, wussten also, dass keine Gefahr mehr drohte, und wollten nachschauen, was passiert war. Spät in der Dämmerung überquerten sie den Hügelkamm und fanden den Rest des Stammes, der sich bereits auf dem Hang versammelt hatte. Sie hatten Nahrung mitgebracht, aber Mana konnte nichts essen. Irgendjemand war schon zu den Sümpfen hinabgerannt und hatte die Neuigkeit verbreitet, also legten sie sich nicht zum Schlafen nieder, sondern setzten sich hin und besprachen die Sache. Der halbe Mond ging gerade auf, stand aber noch nicht über dem Kamm, so dass der Hang noch in tiefem Dunkel lag. Erst jetzt, unfähig, die Gesichter zu erkennen, aber dasitzend und den wohl bekannten, besorgten Stimmen lauschend, begann Mana etwas tief in ihrem Inneren zu fühlen, von dessen Existenz sie bisher nichts gewusst hatte. Angesichts des plötzlichen Angriffs hatte sie nur Schrecken empfunden – einen Schrecken, der ihr fast den Verstand geraubt und sie dazu gebracht hatte, zu laufen und dann zu kämpfen. Danach die unfassbare Erleichterung, gesiegt zu haben, dann das lange, bange Warten und die Frage, was mit Kern geschehen war, und die furchtbare, traurige Antwort. Nun aber, als sie dasaß und ohne etwas zu sehen über die weiten, vom Mondlicht schemenhaft erhellten Sümpfe
blickte, kam ihr ein anderer Gedanke. Ich töte Menschen. Ja. Die Angreifer waren Dämonen-Männer gewesen, aber sie waren deshalb nicht weniger Menschen. Mana bereute ihre Tat nicht. Hätte sie es nicht getan, dann wäre Tun jetzt vielleicht tot, ebenso der kleine Ovoth, und sie, Ridi und Yova und die anderen Frauen, die dort gewesen waren, wären von den wilden Siegern nach Norden getrieben worden. Dessen war sie sich sicher. Aber trotzdem hatte sich alles verändert und Mana selbst wäre nie wieder die Gleiche. Sie hatte Menschen getötet. Schließlich erhob sich der Mond über dem Hügelkamm und plötzlich war der ganze Hang in ein fahles Licht getaucht, hier und da gesprenkelt mit den tiefschwarzen Schatten, die die Felsen warfen. Tun stand auf. »Hört mich an«, sagte er. »Wir tanzen nicht den Tanz der Toten für Kern. Die Dämonen-Männer nahmen seinen Kopf. Sie nahmen seinen Geist. Er ist nicht hier. Ich sage wieder, wir tanzen nicht den Tanz der Toten für Kern. Wir tun dies. Kommt.« Er führte sie zu einem großen Felsklotz. Er wartete, bis sich alle rundherum versammelt hatten, dann streckte er den Arm aus und legte die dunkle Hand auf den helleren Untergrund des Felsens. »Dieser Felsen ist Odutu«, sagte er mit leiser, doch deutlicher Stimme. »Odutu im Schatten des Berges. Ich schwöre dies auf Odutu: Diese Männer töten Kern. Er ist Mondfalke. Sie nehmen seinen Kopf. Dafür töte ich sie, alle, alle. Keiner lebt mehr. Ich, Tun, tue das. Das schwöre ich auf Odutu.« Einer nach dem anderen gingen alle Erwachsenen,
Frauen wie auch Männer, zum Felsklotz, legten ihre Hand darauf und schworen dasselbe. Moru brachte die Worte kaum heraus und sie war nicht die Einzige. Als alle geschworen hatten, hallte der dreifache Schrei eines jagenden Mondfalken durch die Stille der Nacht.
URSAGE
Schwarze Antilope erwacht Schwarze Antilope schlief. Er träumte gute Träume. Dann weckte ihn ein Ding. Von dieser Art war sein Erwachen: Seht diesen Mann. Er schläft beim Feuer. Ein brennendes Scheit fällt. Funken fliegen. Einer landet auf dem Arm des Mannes. Der Schmerz ist stark, stark. Er erwacht. Er schreit: ›0h!‹ Von dieser Art war das Erwachen von Schwarzer Antilope. Er sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Menschen kamen nach Odutu, Odutu im Schatten des Berges. Sie legten ihre Hände auf den Felsen. Sie schworen den Kriegsschwur. Er sah vom Berg hinab. Er sah den Felsen Odutu. Er sah die Stämme, die sich darum versammelt hatten. Er blies Atem aus seinen Nüstern. Der Atem war dichter Nebel. Die Menschen schliefen. Sie erwachten. Sie waren in dichten Nebel gehüllt. Sie konnten nichts sehen. Sie suchten nach Odutu, dem Felsen. Sie konnten ihn nicht
finden. Schwarze Antilope rief die Ersten Wesen zu sich. Er sagte: »Die Stämme schworen den Kriegsschwur. Warum? Lasst Mondfalke sprechen.« Mondfalke sagte: »Papagei kämpft gegen Schlange. Mein Stamm hat noch offene Blutschulden mit Papagei.« Schwarze Antilope sagte: »Papagei, warum kämpft dein Stamm gegen Schlange?« Papagei sagte: »Mein Stamm steht bei Warzenschwein in der Schuld. Als er gegen Papagei kämpfte, half ihm Warzenschwein.« Dann nannte Krokodil den Grund, dann Webervogel, dann Ameisenmutter und dann Kleine Fledermaus. Schwarze Antilope sah Schlange an. Er sagte: »Ziul, dein Mann, hat eine Frau getötet. Warum?« Schlange sagte: »Aus Rache für den Tod von Meena. Mott, Warzenschweins Mann, tötete sie.« Warzenschwein sagte: »Mott war wütend, er war mit der Wut eines Helden erfüllt. Er sah nicht, dass es eine Frau war.« Schwarze Antilope sagte: »Warum diese Wut?« Warzenschwein sagte: »Dop, mein Mann, jagte. Gul, Schlanges Mann, jagte. Da war ein Dilli-Hirsch. Jeder der Männer sagte, er gehöre ihm. Sie kämpften. Gul gewann durch einen Trick. Dop, mein Mann, war entehrt. Mein Stamm war entehrt.« Webervogel sagte: »jetzt erinnere ich mich. Schlange und Warzenschwein tranken vom Steinkraut. Es gab viel Geschrei, jeder sagte, sein Mann sei der bessere. Gul und Dop waren diese Männer.« Schwarze Antilope sagte: »Fing es damit an?« Warzenschwein und Schlange schämten sich sehr. Sie
verbargen ihre Köpfe. Schwarze Antilope sprach zu den Ersten Wesen. Er sagte: »Ihr sechs geht jetzt zu euren Stämmen. Sie haben nicht den Kriegsschwur geschworen. Sprecht in ihren Herzen zu ihnen. Sagt ihnen: Das ist Narrheit. Schickt sie zurück zu ihren Jagdgründen.« Die sechs stiegen den Berg hinunter. Sie sprachen zu den Herzen ihrer Stämme. Die Stämme taten wie geheißen. Schwarze Antilope sprach zu Schlange und mit Warzenschwein. Er sagte: »Diese Narrheit ist eure Narrheit. Ihr müsst sie wieder gutmachen.« Sie sagten: »Wir gehen jetzt zu unseren Stämmen. Wir sagen ihnen: Löst euren Kriegsschwur.« Er sagte. »Das ist nicht genug. Sie schworen auf Odutu, Odutu im Schatten des Berges. Wie können sie den Schwur lösen? In ihren eigenen Herzen müssen sie ihn lösen, nicht auf euer Geheiß. Ich kenne euch beide. Ihr sagt in euren Herzen zu euch selbst: ›Ich betrüge Schwarze Antilope. Mein Stamm gehört mir. Ich wünsche etwas – er tut es.‹ Also tue ich dies mit euch.« Er legte seine Nüstern auf die ihren. Er blies seinen Atem hinein. Er entzog ihnen ihre Kraft. Warzenschwein war nicht mehr Warzenschwein. Er war ein Schwein der Schilfgürtel. Er war fett. Schlange war nicht mehr Schlange. Er war eine Baumschlange, grün und schwarz. Er war lang. Sie sagten: »Unsere Kraft ist verschwunden. Unsere Stämme hören unsere Worte nicht mehr. Wir können nicht mit ihnen sprechen.« Schwarze Antilope sagte: »Ich gebe euch dies. Geht zu euren Stämmen. Einer sieht euch zuerst. Nur er hört eure Worte, nur einer hört sie. Geht jetzt.«
FÜNF Sie erwachten beim ersten Licht. Als sie den Hang nach Spuren absuchten, die ihr Aufenthalt hinterlassen haben könnte, hörte Mana einen neuen Ton aus den Stimmen heraus. Wut und Angst schwangen darin mit. Sie spürte die Veränderung in sich selbst. Die Angst war anders als früher, wie ein neuer Geschmack im Mund, nicht mehr dünn und bitter, sondern rund und stark. Der Geschmack von etwas, auf das sie bauen und das sie antreiben konnte. Später am Vormittag, als sie auf ihrem Beobachtungsposten kauerte, dachte sie darüber nach und kam zu der Ansicht, dass sie lieber wieder die alte Angst verspüren wollte. Wenn es sein musste, würde sie natürlich wieder so entschlossen kämpfen wie die Erwachsenen, die den Schwur geschworen hatten. Wenn es sich ergeben sollte, dass sie wieder einen DämonenMann töten könnte, dann würde sie es tun. Schrecklich, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Warum sollte sie allein vom Schrecken verschont bleiben? Gestern aber hatte hier eine andere Mana gehockt, eine, die noch nie einen Menschen getötet hatte. Diese Mana war glücklicher gewesen, trotz der Angst. Gemeinsam mit Ko wachte sie den ganzen Vormittag über, doch sie sahen keine Anzeichen von Gefahr. Es kam nicht mehr in Frage, in den östlichen Sümpfen zu fischen, weil der Pfad nicht mehr geheim war und die Geister der Toten Dämonen anlockten, die im Schilf lauerten. Also gingen sie auf der anderen Seite bis zur Insel, wo sie zu Mittag Reste aßen. Dann kam Suth und überbrachte ihnen die freudige Botschaft, dass der Pfad einen neuen Wasserlauf erreicht habe, wo man besser fischen könne,
und dass bereits einige Fischlöcher geschnitten worden seien. Nachdem sie gegessen hatten, gingen sie los, um es sich anzuschauen, und erhielten die Erlaubnis, an einem der Löcher zu fischen. Sie wechselten sich ab. Mana fing nichts, doch Ko erbeutete einen Fisch mit dem Speer, der zwar klein, aber dick war, und er trug ihn triumphierend zurück zur Insel. Die Nacht war noch nicht weit fortgeschritten, als Mana zwischen den anderen Schläfern auf dem Hang erwachte. Sie war vom Mond geweckt worden, der über den Hügelkamm gestiegen war. Inzwischen hatte er mehr als die Hälfte seiner vollen Größe erreicht, war sein Licht noch heller und waren die Schatten, die er warf, noch schwärzer als in der Nacht zuvor. Die Mondfalken waren wieder auf Jagd und wechselten sich in schneller Folge ab, weil das bessere Licht es ihnen erleichterte, die Beute zu entdecken. In der Nähe stöhnte jemand im Schlaf. Das Stöhnen verebbte und Mana sah eine dunkle Gestalt – Noli –, die sich vom Boden abstieß, die Arme ausbreitete und sich dem Mond zuwandte. Die untere Hälfte ihres Körpers lag im Schatten, die obere aber zeichnete sich im harten, fahlen Licht deutlich ab. Die Stimme von Mondfalke atmete langsam Silben in die Stille. »Großer Mond … Männer … bringen Kern …« Mana stand auf und kroch zu Noli, um sie auffangen zu können, wenn sie stürzte. »Großer Mond …«, seufzte die Stimme noch einmal. Noli erschauderte. Mana legte ihre Arme um sie. Ihr Körper wurde so starr wie ein Holzklotz und erschlaffte dann genauso rasch wieder. Mana wurde vom plötzlichen Gewicht fast umgeworfen, schaffte es aber, die immer noch schlafende und weiterhin leise stöhnende Noli zu
Boden gleiten zu lassen. Alle anderen waren nun hellwach, richteten sich auf und fragten sich flüsternd, was die Botschaft wohl zu bedeuten habe. Es dauerte lange, bis alle wieder eingeschlafen waren. Der nächste Vormittag verlief fast genauso wie der am Vortag. Mana und Ko hielten Wache und sahen nichts. Doch als sie gegen Mittag den Hügel hinabstiegen, spürten sie, dass sich etwas verändert hatte. Ein Wind blies ihnen ins Gesicht. Die Erwachsenen sprachen schon darüber, als sie die Insel erreichten. »Ich sage dies«, sagte Var. »Diese Männer finden hier keine Nahrung. Sie kehren zu ihrem Jagdgrund zurück, sie sammeln Nahrung, sie nehmen sie mit. Das sind zwei Tage. Es sind drei. Ich weiß es nicht. Jetzt kommt der Westwind. Sie stehen auf dem Hügel. Sie sehen weit. Sie sehen die Sümpfe. Sehen sie unseren Pfad? Unsere Insel? Ich sage, sie sehen es.« »Mondfalke sagt: großer Mond«, sagte Net. »In drei Tagen ist kein großer Mond.« »Hört mich an«, sagte Suth. »Ich sage dies. Var hat Recht. Net hat Recht. Sagt in euren Herzen zu euch selbst: ›Ich bin ein Dämonen-Mann.‹ Jetzt sagt: ›Männer, Frauen sind in jenem Jagdgrund. Wir sind viele. Wir jagen sie. Wo sind sie?‹ Was tut ihr? Ich sage, zuerst kommt ihr, aber nur wenige, wenige. Ihr versteckt euch. Ihr werdet nicht gesehen. Ihr seht hierhin, ihr seht dorthin. Ihr seht die Sümpfe. Der Dunst ist verschwunden. Ihr sagt: ›Dort sind sie.‹ Ihr untersucht die Felsen. Ihr wittert den Kot von Babys. Ihr findet Menschenhaar. Ihr sagt: ›Hier schlafen sie.‹ Ihr sagt: ›Wir kommen nachts, beim großen Mond. Der Mond ist hell. Wir finden diese Männer, diese Frauen. Sie schlafen.‹ Ich glaube, das alles tut ihr.« »Suth, du hast Recht«, sagte Chogi.
»Dieser Wind ist schlecht, schlecht«, sagte Var. Aus den Augenwinkeln heraus sah Mana eine leichte Bewegung. Tinu, die einige Schritte links von ihr saß. Sie hatte den Arm ausgestreckt und über Bodus Schoß hinweg Noli berührt. Bodu rückte beiseite, und während die anderen weiterredeten, hockte sich Tinu neben Noli und murmelte ihr etwas ins Ohr. Mana konnte nicht hören, was sie sagte, konnte aber sehen, wie eifrig sie sich bemühte, ihren schiefen Mund die Wörter hervorbringen zu lassen. Nach einer Weile gab Noli Suth ein Zeichen, der seinen Platz zwischen den Männern auf der anderen Seite des Feuers verließ und herüberkam. Tinu rückte ein Stückchen zurück, und sie und Suth hockten sich nebeneinander, er hörte zu und stellte hin und wieder eine Frage, Tinu murmelte aufgeregt und kratzte mit einem Stock auf der Erde, wischte das Gezeichnete wieder weg und setzte neu an. Mana sah, dass Nar sie besorgt beobachtete. Seit er und Tinu einander erwählt hatten, hatte er sich sehr um sie gekümmert, auch wenn sie noch keine richtigen Gefährten waren. Tinu hatte an Selbstsicherheit gewonnen, brachte es aber noch immer nicht fertig, sich vor alle anderen hinzustellen und ihnen einen Gedanken darzulegen, den sie gehabt hatte, obwohl jeder zum Zuhören bereit gewesen wäre. Inzwischen stritt sich der Rest darüber, wann und wie der nächste Angriff erfolgen würde, doch sie taten es auf unbestimmte Art, weil sie darauf warteten, das zu hören, was Tinu Suth erzählte. Schließlich kehrte er zu seinem Platz zwischen den Männern zurück, setzte sich aber nicht hin. »Rede, Suth«, sagte Tun. »Wir hören.« »Hört mich an«, sagte Suth. »Dies ist nicht mein
Gedanke. Es ist Tinus Gedanke. Ich sage ihn für sie. Var hat nicht Recht. Dieser Wind ist nicht schlecht. Er ist gut.« Stück für Stück erklärte er ihnen Tinus furchtbaren Plan. Sie besprachen ihn eine ganze Zeit lang. Manche fügten Gedanken und Details hinzu, andere hatten etwas einzuwenden. Var betonte immer wieder, wie gefährlich der Plan sei und wie viele Dinge dabei schief gehen konnten. Was, wenn der Wind abflaute? Was, wenn die Dämonen-Männer merkten, dass es eine Falle war? Was, wenn schließlich doch nur ein paar von ihnen kämen? Was, wenn …? Jedes Mal, wenn er seine Einwände vorbrachte, hörte Mana zustimmendes Gemurmel. »Hört mich an«, sagte Chogi plötzlich. »Ich erinnere mich an dies. Es gab einen Löwendämon. Die Männer bauten eine Falle. Noli und Ko waren Köder. Wir töteten den Löwendämon. Es war Tinus Gedanke. Es gab einen Krokodildämon. Die Frauen gruben eine Falle. Nar war Köder. Wir töteten den Krokodildämon. Auch das war Tinus Gedanke. Dämonen-Männer kamen zum Schilfwald. Tun kämpfte mit ihnen und Ridi und Mana kämpften. Sie töteten sie. Sie taten es bei einer Falle. Es war Tinus Gedanke. Nun sage ich dies. Wir bauen eine neue Falle. Wir sind Köder, wir Frauen, unsere Männer, unsere Kinder. Ich sage in meinem Herzen zu mir selbst: Das ist gefährlich, gefährlich. Aber es ist Tinus Gedanke. Er ist gut.« »Hört mich an«, sagte Tun. »Ich sage dies. Var spricht gut. Chogi spricht gut. Wer hat Recht? Ich weiß es nicht. Aber ich habe einen anderen Gedanken. Es ist dies: Ich schwor einen Schwur. Ich schwor ihn auf Odutu, Odutu im Schatten des Berges. In meinem Schwur sagte ich: Ich töte diese Dämonen-Männer. Wie tue ich das? Es ist
schwierig, schwierig. Tinu zeigt mir, wie es geht. Das reicht.« Damit war die Sache beschlossen. Selbst Var hörte auf, Einwände vorzubringen. Auch er hatte auf Odutu im Schatten des Berges geschworen und egal wie gefährlich das Vorhaben war – dieser Schwur war bindend. Sie mussten das Risiko auf sich nehmen. Sie begannen sofort mit der Umsetzung des Plans. Tun verteilte die verschiedenen Arbeiten, die zu erledigen waren. In der Hauptsache galt es, einen neuen, breiten und gewundenen Pfad durch den vertrockneten Schilfgürtel zwischen Insel und Ufer zu bahnen, aber auch, jedes irgendwie brauchbare Stück Holz, das sie fanden, zu einem Feuerbewahrer auszuhöhlen und weitere Fallen auf dem zentralen Eingangspfad zu bauen. Essen mussten sie natürlich trotzdem noch, also wurde Mana losgeschickt, um an einem der neuen Löcher zu fischen. Als sie sich neben dem winzigen Teich niederließ, hatte sie das Gefühl, überhaupt nichts fangen zu können. Alles an ihr, Körper und Geist, schien in Bewegung zu sein und leise zu summen, weil sie von einer neuen Mischung aus Hoffnung und Angst erfüllt war. Das lange Stillhalten, das zum Fischen nötig war, schien ihr so gut wie unmöglich zu sein, aber sie entdeckte, dass ihre Gefühle sich wieder beruhigten und sie daran erinnerten, dass alles, was sie tat und tun musste, Teil des Plans war. Es waren Dinge, die zu tun ihr möglich waren, nicht unmöglich. Wenn sie alles richtig machte, würde der Stamm überleben. Wenn nicht, dann nicht. Auf diese Weise angespornt fischte sie den ganzen Nachmittag hindurch eifrig und leidenschaftlich und es schien ihr, dass sie noch stiller wartete als sonst, dass sie noch besser zielte, noch schneller zuschlug. Insgesamt warf sie ihren Speer fünf Mal, und als die Sonne im
Westen zu sinken begann und die merkwürdig klare Luft von einem goldenen Licht durchtränkt wurde, kehrte sie mit fünf guten Fischen auf ihrem Speer zur Insel zurück. Während der nächsten drei Tage sah Mana kaum etwas von der Arbeit, mit der alle anderen beschäftigt waren. Vormittags hielt sie Wache auf dem Kamm, mittags kehrte sie zur Insel zurück, schlang herunter, was für sie übrig geblieben war, und machte sich danach sofort auf den Weg zu einem der Fischlöcher, wo sie den restlichen Nachmittag verbrachte. Am zweiten Tag hatten sie Glück. Net, Yova, Nar und Tinu, die das nördliche Ende des neuen Pfades freischnitten, erreichten den Nestgrund einer Kolonie von Sumpfreihern. Nar lief los, um Hilfe zu holen, und während die erwachsenen Vögel über ihnen kreisten und wütend schrien, plünderten sie die Nester und erbeuteten viele Male zehn halb ausgewachsene Junge. An jenem Abend wurde auf der Insel ein Fest gefeiert, da sie endlich einmal etwas anderes essen konnten als den immer gleichen Fisch. Bei Einbruch der Dunkelheit verließen sie die Sümpfe und erklommen den Hügel mit dem seltsamen und leichtsinnigen Gedanken, dass am Ende doch noch alles gut werden würde. In jener Nacht lagerten sie zum ersten Mal an derselben Stelle wie zuvor, ein Stückchen unterhalb des Verstecks, das Suth für die Wachtposten gefunden hatte. Als sie am nächsten Morgen aufbrachen, gaben sie sich keine Mühe, die Zeichen ihrer Anwesenheit zu beseitigen, im Gegenteil – sie ließen bewusst einige Spuren zurück, den Abdruck einer Hand an einer weichen Stelle, die Gräte eines kleinen Fisches, ein paar menschliche Haare. Tinus Plan hatte verschiedene Versionen, je nachdem
wann und wie der Feind anzugreifen beschloss und ob er zuerst Kundschafter schickte. Das wäre am besten, denn die Kundschafter würden eine Stelle entdecken, wo nachts zuvor Menschen gelagert hatten, und dann kämen die Dämonen-Männer und würden versuchen ihre Beute eines Nachts, wenn der Mond groß war, im Schlaf zu überraschen. Noli konnte ihnen keine Antwort auf all diese offenen Fragen geben. Obwohl Mana und viele der anderen die Botschaft von Mondfalke gehört hatten, konnte sich Noli selbst überhaupt nicht daran erinnern. Ihr war nur schwach bewusst, dass sie geträumt hatte und dass Mondfalke im Traum zu ihr gekommen war. Also erklomm Mana allmorgendlich während der kurzen Dämmerung den Hügel und sagte sich jedes Mal, dass es an diesem Tag geschehen würde. Als die Sonne höher stieg, begab sie sich an ihren Platz und konzentrierte sich mit aller Kraft, die sie besaß, darauf, den Hang zu beobachten, den sie Felsbrocken um Felsbrocken absuchte, um sicherzugehen, dass ihr nichts entging, nicht die kleinste Bewegung oder Veränderung. Mit jedem Tag wurde der Wind kräftiger, ließ die abgestorbenen Schilfhalme rascheln und vertrieb den Dunst, genau wie Var vorausgesagt hatte. Am zweiten Tag, als sie nach ihrer Wache mit Ko zusammen den Hügel hinabkletterte, konnte Mana das helle Glitzern von Wasser weit draußen in den Sümpfen erkennen und dahinter weitere Schilfgürtel und Inseln, die sich bis zu den westlichen Hügeln erstreckten. Doch obwohl sie wusste, wo sich der Pfad durch das Schilfdickicht schlängelte, konnte sie ihn zu ihrer Erleichterung nicht sehen. Die nächstgelegene Insel musste jene sein, auf der sie lagerten, aber es war nicht zu erkennen, dass dort Menschen lebten und ihr Feuer
entfacht hatten.
URSAGE
Siku Warzenschwein und Schlange stiegen den Berg hinab. Schwarze Antilope machte sich unsichtbar. Er ging mit ihnen. Sie sahen ihn nicht. Sie hatten Angst. Sie sagten in ihren Herzen zu sich selbst: Wir haben keine Kraft. Männer jagen uns. Sie töten uns. Sie rösten unser Fleisch auf der Glut. Sie essen es. Wir sind verschwunden. Das ist schlecht, schlecht. Warzenschwein sagte: »Mein Stamm lagert bei der Windigen Klippe. Sie essen kein Schwein. Ich gehe dorthin. Ich verberge mich im hohen Gras. Ich warte. Ich sehe Roh, ihren Anführer. Ich zeige mich ihm. Er sieht mich zuerst. Er hört meine Worte. Das ist gut.« Warzenschwein zog zur Windigen Klippe. Schwarze Antilope ging mit ihm. Warzenschwein sah ihn nicht. Nun kämpfte Stamm gegen Stamm, Schlange gegen Warzenschwein. Sie überfielen einander, sie lagen auf der Lauer, sie stellten Fallen. Sie führten wilde Schläge, sie warfen Steine, sie bissen mit ihren Zähnen. Blut floss, Menschen starben. Jene Zeiten waren schlecht. Die Männer von Warzenschwein sagten: »Der Regen hört auf. Bald ziehen alle Stämme nach Mamhaga. Die weißschwänzigen Hirsche durchqueren den Fluss. Die
Stämme jagen sie. Wir kämpfen nicht bei Mambaga. Es ist ein Ding-das-nicht-getan-wird. Aber seht, Schlange lagert jetzt bei der Schlucht-der-alten-Weiber. Wenn sie nach Mambaga ziehen, kommen sie am Wasserloch-der-Bienen vorbei. Wir gehen jetzt. Wir warten dort auf sie.« Sie schärften ihre Grabstöcke. Sie brachen auf. Die Frauen blieben zurück. Sie waren traurig. Siku war ein Kind. Sie hatte keinen Vater, keine Mutter. Sie sammelte mit den Frauen. Keiner achtete auf sie. Sie kam zur Klippe. Dort wuchs eine Blutbeerranke. Sie war von dieser Art: Seht Gata, die Schöne. Ihr Haar war lang, lang. Es glänzte. Es floss über ihre Schultern hinab. Ihre Haut war darunter verborgen. So floss die Blutbeerranke die Klippe hinab. Siku sah gute Blutbeeren. Sie sagte in ihrem Herzen zu sich selbst: Sie sind zu hoch. Die Ranke ist schwach. Die Frauen sind schwer. Sie klettern nicht hinauf. Doch ich bin ein Kind, leicht. Ich klettere. Sie ergriff die Ranke. Sie kletterte. Die Ranke riss. Sie fiel. Sie fiel auf ein weiches Ding. Es war Warzenschwein. Er verbarg sich hinter den Ranken. Siku sprach, wie ein Kind spricht, so: »Schwein, warum verbirgst du dich? Mein Stamm ist Warzenschwein. Wir essen kein Schwein.« Warzenschwein antwortete nicht. Er sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Soll ich zu einem Kind sprechen? Soll sie meine Worte dem Stamm überbringen? Wer hört mich? Siku sagte: »Oh, Schwein, ich bin traurig, traurig. Männer lagen auf der Lauer. Sie töteten meinen Vater. Ich habe keinen Vater. Meiner Mutter trauerte. Sie aß nichts.
Eine Krankheit überfiel sie. Ich habe keine Mutter.« Warzenschwein sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Ich habe das getan. Er sprach. Er sagte: »Siku, ich höre dich.« Siku sagte: »Oh, Schwein, du hast Wörter! Wie kommt das? Ist das ein Dämonen-Ding?« Warzenschwein sagte: »Siku, das ist kein DämonenDing. Ich bin Warzenschwein.« Siku kniete nieder. Sie legte die Stirn auf die Erde. Sie ließ ihre Finger flattern. Sie sagte: »Oh, Warzenschwein, ich bin dein Ferkel. Die Männer gehen nach Wasserlochder-Bienen. Sie liegen auf der Lauer. Sie warten auf Schlange. Sage ihnen: Tut das nicht.« Warzenschwein sagte: »Siku, sie hören mich nicht. Nur du hörst mich.« Siku sagte: »Warzenschwein, wie kommt das?« Warzenschwein sagte: »Schwarze Antilope hat das getan. Ich erzähle dir nicht mehr. Es ist meine Schuld.« Siku sagte: »Warzenschwein, das ist nicht gut. Unsere Frauen sagen zu den Männern: Geht nicht. Die Männer sagen: Unsere Herzen sind erfüllt von Wut – wir gehen. Wie hören die Männer mich, Siku? Ich bin ein Kind, ein Mädchenkind.« Warzenschwein dachte nach. Er sagte: »Wir finden Schlange. Sie sind bei der Schlucht-der-alten-Weiber.« Siku sagte: »Das ist weit, zu weit.« Warzenschwein sagte: »Klettere auf meinen Rücken. Ich bin schnell.« Siku kletterte auf seinen Rücken. Er lief den ganzen Tag und die ganze Nacht. Schwarze Antilope kam mit ihm. Sie sahen ihn nicht. Sie kamen zur Schlucht-der-alten-Weiber.
SECHS Am vierten Vormittag, kurz nachdem Mana mit ihrer Wache oben auf dem westlichen Hang, über dem verdorrten Schilfgürtel, begonnen hatte, tauchten die Dämonen-Männer wieder auf. Sie konzentrierte sich so sehr darauf, den vor ihr liegenden Hang zu beobachten, dass sie das Signal, das Ko vom östlichen Hang gab, fast überhört hätte. Hatte sie es wirklich gehört? Den Ruf des pfeifenden Vogels, der unvermittelt abbrach? Oder war ihre Einbildung so stark, dass sie sich an den Ruf erinnerte, ohne ihn wirklich gehört zu haben? Es war besser, sich Gewissheit zu verschaffen. Sie musterte noch einmal den Hang und da sie nichts Neues erkennen konnte, verließ sie ihren Posten und kroch auf den Kamm zu. Wenn Ko noch an Ort und Stelle war, wusste sie, dass es ein falscher Alarm war. Sie hatte den Kamm fast erreicht, als sie das klickende Geräusch eines losgetretenen Steinchens vernahm. Sie erstarrte. Einen Augenblick später kam Ko angekrochen. »Mana, hörst du meinen Ruf nicht?«, flüsterte er. »Warum kommst du? Warum versteckst du dich nicht?« »Ko, ich glaube, ich höre«, sagte sie. »Ich weiß es nicht. Sahst du ein Ding?« »Männer kommen«, sagte er. »Drei? Vier? Ich weiß es nicht. Sie sind vorsichtig. Sie bewegen sich langsam. Sie verbergen sich. Komm. Schau.« Er machte kehrt und kroch zurück zum Kamm. Noch ängstlicher als zuvor ließ Mana ihren Blick über ihre Seite des Ausläufers gleiten und folgte ihm dann. Er lag hinter
einem Felsklotz und spähte hinab zur anderen Seite. Sie zwängte sich neben ihn und hob ganz langsam den Kopf. Der ausgedehnte Hang schien so verlassen zu sein wie eh und je. »Sieh den großen Felsen«, flüsterte er. »Er grenzt ans Schilf. Ein Stück weiter hinauf, sieh, eine kleine Klippe …« Noch bevor er geendet hatte, nahm sie eine kurze Bewegung wahr, ein gutes Stück links von ihr, fast am Ende des Hangs. Noch einmal. Diesmal war sie darauf vorbereitet und sah sie deutlicher: irgendetwas Dunkles, das von einem Felsbrocken zum nächsten huschte. Dann war der Hang wieder leer. Noch einmal die rasche Bewegung zwischen den Felsbrocken – ein weiterer Mann, der zweite, dann ein dritter und ein vierter, alle mit Kampfstöcken, die sie gesenkt in Händen hielten, und mindestens einer trug einen Schädel am Gürtel. Ihre Art, sich zu bewegen, war etwas verwirrend. Obwohl sie sich offensichtlich große Mühe gaben, nicht gesehen zu werden, stellten sie es nicht sehr schlau an. Da – einer kauerte hinter einem Felsbrocken, und sein Kopf und die rechte Schulter waren trotzdem deutlich sichtbar. »Ko, sie verstecken sich schlecht«, flüsterte sie. »Sie waren schon einmal hier«, versuchte er zu erklären. »Menschen waren im Schilf. Sie fanden sie. Jetzt sagen sie in ihrem Herzen zu sich selbst: ›Dort sind Menschen.‹ Sie verstecken sich vor diesen Menschen. Sie verstecken sich nicht vor uns.« Ja, so musste es sein. Und dann krochen die vier Dämonen-Männer zum Eingang des Pfads in den Schilfgürtel hinab. Kurz davor hielten sie an und
untersuchten den Boden, ein oder zwei Mal auf ein Zeichen oder eine Spur zeigend, die einer von ihnen entdeckt hatte. »Was sehen sie?«, fragte Ko. »Ich weiß es nicht …«, begann Mana, doch dann fiel ihr schlagartig die Antwort ein. »Ah – Kerns Körper lag dort. Wir hoben ihn hoch. Wir trugen ihn fort. Das sehen sie.« Noch vorsichtiger als zuvor bewegten sich die vier Männer auf den Eingang des Pfades zu und schlängelten sich nacheinander hinein. »Sie finden uns nicht im Schilf«, sagte Ko. »Finden sie ihre Toten? Mana, was machen sie dann?« »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich glaube, sie suchen weiter. Sie kommen den Hügel hinauf. Sie sehen die andere Seite. Ko, ich nehme jetzt den weißen Stein fort. Ich sage den anderen: ›Dämonen-Männer sind hier.‹ Ist das gut?« »Mana, das ist gut«, sagte er. »Ich bleibe hier. Ich passe auf.« Also machte Mana kehrt, doch bevor sie den westlichen Hang hinunterschlich, sah sie sich noch einmal ganz genau um. Vielleicht hatten die Dämonen-Männer eine zweite Schar von Kundschaftern ausgesandt, die sich schon unter ihr befanden. Doch da sich nichts rührte, kroch sie zum Beobachtungsposten hinab und legte den Signalstein hin. Bodu, die Ogad auf der Hüfte trug, erschien kurz am Rand des toten Schilfs, winkte und war wieder außer Sicht. Zufrieden kehrte Mana zum Kamm zurück und legte sich neben Ko. Die Zeit verstrich. Ab und zu kroch Mana zurück, um auf der westlichen Flanke des Ausläufers Ausschau zu halten, sah nichts und kehrte zu Ko zurück. Schließlich kamen die Dämonen-Männer wieder aus dem Schilf
hervor und starrten um sich. Was hatten sie entdeckt?, fragte sich Mana. Trieben die Leichen der beiden, die sie, Tun und Ridi getötet hatten, noch immer auf dem Wasser der Falle oder waren sie vom Sumpf verschluckt worden? Was empfanden diese Männer, wenn sie sie entdeckt hatten? Waren sie wütend wie der Stamm beim Anblick von Kerns Leiche, erfüllt vom Wunsch nach Rache, noch wilder als vorher? Oder war es wie bei den Schakalen, die ein getötetes Mitglied des Rudels bloß beschnüffelten und weiterzogen? Beide Gedanken waren schrecklich, doch der zweite war schlimmer. Die Dämonen-Männer unternahmen nun keinen Versuch mehr, sich zu verbergen. Es schien ihnen nicht in den Sinn zu kommen, dass irgendjemand sie von oben beobachten könnte. Sie zögerten eine Weile und berührten einander hin und wieder. Derjenige, der den Schädel am Gürtel trug, begann in verschiedene Richtungen zu zeigen. Dann teilten sie sich auf. Einer lief am Ufer entlang auf die Spitze des Ausläufers zu, zwei stiegen auf unterschiedlichen Wegen zum Kamm hinauf und der vierte kletterte auf die beiden Wächter zu. Alle vier bewegten sich gebückt und im Zickzack vorwärts, gaben sich aber keine besondere Mühe, verborgen zu bleiben, und liefen so schnell wie möglich. Mana und Ko wussten sofort, was sie taten. Auf diese Weise gingen Jäger vor, die die Spur ihrer Beute verloren hatten und sich auf die Suche nach irgendwelchen Zeichen machten: einem Hufabdruck, einem gelockerten Stein, Fell, das an einem Zweig hängen geblieben war, Kot. »Bald kommt er zu nahe«, flüsterte Ko. »Jetzt verstecken wir uns.« Sie verließen den Kamm und krochen rasch hinab zum Felsklotz, unter dem sich der Spalt befand. Mana war kleiner als Ko, also schlüpfte er als Erster hinein. Dann
reichte sie ihm den Stein, mit dem sie das letzte Loch verschließen würden, überprüfte, ob die anderen Steine griffbereit dalagen, und zwängte sich neben ihn. Sobald sie am Platz war, füllten sie den Spalt mit den Steinen und ließen nur drei schmale Lichtschlitze offen. Wenn Mana ihren Hals drehte, bis der Wangenknochen auf dem harten Stein lag, konnte sie ihr Auge an den rechten Schlitz legen und einen schmalen Streifen des Hangs sowie den Schilfgürtel dahinter sehen. Ko war besser dran, denn er kam an die zwei anderen Schlitze. Einer bot ihm den Blick über einen Teil des Hangs, durch den anderen konnte er weit über die Sümpfe blicken und die Insel erkennen, wo der Stamm lagerte und sein Feuer entfacht hatte. Also lagen sie im Dunkeln und warteten. Als sie ungesehen oben auf dem Kamm zugeschaut hatten, hatte Mana so gut wie keine Angst gehabt. Zuerst hatte ihr Herz wild geklopft, doch mehr vor Aufregung denn aus Angst. Nach einiger Zeit hatte sich diese Aufregung in die gleichmäßige, gespannte Wachsamkeit verwandelt, die sie beim Fischen empfand. Nun aber begann ihr Herz wieder heftig zu klopfen und wollte sich nicht beruhigen. Die Zeit verstrich langsam und Mana konnte nicht genau sagen, wie spät es war. Mittag war es noch nicht, also stand die Sonne hinter ihr, und die Schatten auf dem Stück Hang, das sie sehen konnte, wurden von den Felsen verborgen, die sie warfen. Sie konnte nicht erkennen, wie die Schatten kürzer wurden. Schließlich spürte sie, dass Ko nach ihrer Hand griff und sie drückte. Sie drehte den Kopf, damit er seinen Mund dicht an ihr Ohr legen konnte. »Einer ist unter uns«, hauchte er. »Er wartet. Er sieht hierher. Er hebt seine Hand. Ich glaube, ein anderer ist ganz in unserer Nähe … Er bewegt sich … Ich sehe ihn
nicht.« Mana wandte ihren Kopf wieder dem Guckloch zu. Der Wind blies stetig den Hügel hinauf und pfiff in den Spalt, so dass ihr Auge jedes Mal zu tränen begann, wenn sie länger hindurchschaute. Sie sah nichts Neues, hörte aber von unten einen leisen Ruf. Er wurde ganz in ihrer Nähe beantwortet. Einen Augenblick später wurde Manas Sichtfeld kurz von etwas Schwarzem versperrt, das es durchquerte und verschwand. »Einer ist hier«, flüsterte sie. »Er kommt zu dir.« »Ich sehe ihn«, hauchte Ko. »Er geht den Hang hinab, schnell, schnell. Jetzt kommt ein anderer … Ich glaube, sie finden unseren Schlafplatz.« Sie konnte seine Aufregung aus dem fast lautlosen Gewisper heraushören und teilte sie trotz ihrer Angst. Eine ganze Weile sahen sie nichts mehr. Das war sehr schwer zu ertragen. Ein kleines Stück unterhalb ihres Verstecks, aber für sie beide nicht einsehbar, lag die Stelle, wo der Stamm in den letzten drei Nächten geschlafen und bewusst Spuren hinterlassen hatte. Sie konnten nur vermuten, dass die Dämonen-Männer diese Spuren entdeckt hatten. Aber Bodu beobachtete sie wahrscheinlich noch aus dem Schilf. Sie müsste es gesehen haben. Nar dürfte derweil den Pfad entlanghasten, um die Neuigkeit, dass ihr Nachtlager entdeckt worden war, zur Insel zu bringen. Ah! Da war ein Dämonen-Mann! Tief gebückt und den Boden absuchend durchquerte er Manas Sichtfeld und verschwand. »Rauch steigt auf«, flüsterte Ko. Der Mann kam wieder zurück, diesmal auf einem anderen Weg, dichter bei ihnen. Bevor er außer Sicht war,
hörte Mana denselben kurzen Ruf. Der Mann sah auf, wandte sich um und starrte über die Sümpfe, wobei er die Augen mit der Hand beschattete. Mana hielt den Atem an. Das war ein entscheidender Augenblick. Würden sie alles erkennen? Würden sie die Spuren lesen und begreifen, dass sich ihre Beute tagsüber weit draußen in den Sümpfen verbarg, nachts aber hier auf dem Hang schlief? Und würden sie dann zu der Einsicht gelangen, dass sie, wenn sie den Stamm fangen wollten, ohne sich durch das Labyrinth schilfiger Pfade schlängeln zu müssen, wo es von Fallen und Hinterhalten nur so wimmelte, bei Nacht kommen mussten? Genau darauf hoffte der Stamm. Obwohl Tinus Plan auch anders funktionieren würde, wäre ein Angriff bei Nacht das Allerbeste. Trotzdem erfüllte der Gedanke an all das, was schief gehen konnte, Mana mit Schrecken. Jetzt verschwand der Mann. Sie hatte so lange durch den zugigen Spalt gestarrt, dass ihr Auge ganz wund war und sie kaum noch etwas sehen konnte. Sie drehte ihren Kopf, um das Auge zu schonen, und zwinkerte, um die Tränen zu entfernen. Außer dem Pfeifen des Windes und den Vögeln, die weit entfernt in den Sümpfen riefen, war nichts zu hören. Sie fragte sich, was die Dämonen-Männer nun wohl tun würden. Angesichts der Art, wie sie sich verhalten hatten, als sie wieder aus dem östlichen Schilfgürtel hervorgekommen waren, war es unwahrscheinlich, dass sie Wörter hatten. Sie hatten sich so miteinander verständigt wie die Menschen ohne Wörter, die Mana kannte, die Stachelschweine und die Sumpf-Menschen. Sie berührten einander, grunzten und gestikulierten, bis sie überein gekommen waren. Tor war Stachelschwein und Noli war Tors Gefährtin, aber sie wusste noch immer nicht, wie sie es taten.
»Einer sieht in den Geist vom anderen, glaube ich«, hatte Noli ihr erzählt. »Das tue ich mit Tor, ein wenig, ein wenig. Es ist schwierig für mich. Mein Geist ist voller Wörter.« Der Gedanke, dass die wilden Menschen-Töter auf dem Hang in irgendeiner Weise dem freundlichen, sanften Tor ähneln sollten, war befremdlich. Aber er war nicht von der Hand zu weisen. Auch die Dämonen-Männer waren Menschen. Menschen wie Mana selbst, wie Ko und Suth und Noli. Und sie, Mana, hatte einen von ihnen getötet. Jetzt half sie dabei, viele andere zu töten. Bei diesem Gedanken durchfuhr sie ein Schrecken. Ko spürte es, missverstand sie aber. »Keine Angst, Mana«, flüsterte er. »Dies ist gut. Unsere Falle klappt.« Sie seufzte, denn sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, es ihm zu erklären. Selbst wenn sie es versucht hätte, hätte er es nicht verstanden. Bis weit nach dem Mittag lagen sie in ihrem Versteck. Schatten erschienen auf der hangzugewandten Seite der Felsen und begannen auf sie zuzukriechen. Von Zeit zu Zeit spähte Mana durch ihren Spalt, konnte die DämonenMänner aber nicht mehr sehen. Ko konnte seine Spalte mit je einem Auge erreichen und immer eines schonen. Er sah sie noch ein paar Male am Rand des Sumpfes umherstreifen. Der Eingang zum Pfad lag außer Sichtweite, also wusste er nicht, ob sie ihn gefunden hatten. Als der Nachmittag zur Hälfte verstrichen war, sah Mana sie schließlich wieder. Sie erklommen den Hang zielstrebig in Richtung Norden. »Ich glaube, sie gehen«, flüsterte sie. Sie warteten noch eine Weile, bevor sie die schützenden
Steine beiseite schoben und herauskrochen, die Glieder steif und schmerzend vom langen Stillhalten. Sie kletterten zum Kamm hinauf und suchten die jenseitige Flanke des Ausläufers genau mit den Blicken ab, sahen aber keine Spur mehr von den Dämonen-Männern. Also richteten sie den Signalstein wieder auf und krochen zu den Sümpfen hinunter.
URSAGE
Farj Schlange sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Warzenschweins Plan ist gut. Ich tue dasselbe. Ich gehe zu meinem Stamm. Sie lagern bei der Schlucht-der-altenWeiber. Sie essen keine Schlangen. Ich verberge mich im hohen Gras. Ich warte. Ich sehe Puy, ihren Anführer. Ich zeige mich ihm. Er sieht mich zuerst. Er hört meine Worte. Er zog zur Schlucht-der-alten-Weiber. Die Männer jagten Zebras. Die Frauen sammelten. Farj kümmerte sich um das Feuer. Er war alt. Seine Glieder zitterten. Er sah nicht weit. Schlange sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Ich spreche nicht zum alten Farj. Er war ein starker Mann. Er war Anführer. Das ist vorbei. Nun ist er alt, er zittert, er murmelt, er sieht nicht viel. Nein, ich warte auf Puy. Farj betete. Dies war sein Gebet: Schlange, du bist stark, du bist weise. Du behütest deine kleinen Schlangen.
Höre mich, Farj. Ich bin alt. Bald sterbe ich. Diese Zeiten sind schlecht, schlecht. Die Herzen der Männer sind von Wut erfüllt. Mein erster Sohn ist tot, er wurde erschlagen. Mein zweiter Sohn nimmt Rache. Bald ist auch er erschlagen. Lass mich vorher sterben. Ich, Farj, bitte. Schlange hörte ihn. Er sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Ich habe das getan. Er sprach. Er sagte: »Farj, meine kleine Schlange, ich trauere mit dir, ich trauere.« Farj sah ihn nicht richtig. Er sagte: »Wer spricht?« Schlange sagte: »Ich, Schlange, spreche. Ich bin dein Erstes Wesen.« Farj kniete nieder. Er klopfte mit der Stirn auf die Erde. Er klatschte in die Hände. Er sagte: »Schlange, Erstes Wesen, gebiete diesem Kampf Einhalt. Heute jagen die Männer Zebras. Sie trocknen Fleisch, sie füllen ihre Kürbisflaschen mit Proviant. Morgen suchen sie die Männer von Warzenschwein, Sie kämpfen wieder. Sprich zu ihnen, Erstes Wesen. Lösche die Wut in ihren Herzen.« Schlange sagte: »Farj, ich kann das nicht tun. Die Männer haben den Kriegsschwur geschworen. Sie müssen ihn lösen. Sie müssen es in ihrem Herzen tun, nicht auf mein Geheiß. Meine Kraft ist verschwunden. Schwarze Antilope nahm sie. Nur einer aus meinem Stamm hört meine Worte. Du bist es.« Farj sagte: »Erstes Wesen, das ist schwierig. Wut lässt die Männer ertauben. Ich spreche, sie hören nicht. Was tun wir?«
Schlange sagte: »Farj, ich weiß es nicht.« Er legte sein Ohr auf die Erde. Er hörte einen Lärm. Er war von dieser Art: Seht den Berg. Feuer ist darin. Nun bricht es aus. Felsen fliegen durch die Luft, sie sind rot, sie sind heiß. Der Berg zittert, er dröhnt. Menschen hören ihn, weit, weit. Sie sagen in ihren Herzen zu sich selbst: Das ist kein Donner – es ist mehr. Von dieser Art war der Lärm, den Schlange hörte. Er sagte: »Wir warten. Einer kommt. Er rennt schnell. Er ist schwer. Es ist Warzenschwein.« Warzenschwein kam. Siku saß auf seinem Rücken. Sie waren müde. Schwarze Antilope kam mit ihnen. Sie sahen ihn nicht. Warzenschwein sprach zu Siku. Farj konnte ihn nicht hören. Siku sagte: »Ich bin Siku. Dies ist mein Erstes Wesen. Seine Kraft ist verschwunden. Nur ich höre seine Worte. Wir bringen Neuigkeiten. Bald ziehen die Stämme nach Mambaga. Sie jagen den weißschwänzigen Hirsch. Ihr zieht nach Wasserloch-der-Bienen. Die Männer meines Stammes schärften ihre Grabstöcke. Sie brachen auf. Jetzt liegen sie beim Wasserloch auf der Lauer. Sag deinem Stamm: Geht nicht dorthin.« Farj sagte: »Das ist nicht gut. Die Herzen der Männer sind von Wut erfüllt. Sie sagen: Ah! Ah! Männer von Warzenschwein lauern uns auf. Wir gehen. Wir schleichen uns von hinten an, leise, leise. Wir töten viele.« Siku sagte: »Sagst du es den Frauen?« Farj sagte: »Manche sind närrisch. Sie sprechen zu ihren Männern. Warte jetzt. Ich denke.« Er dachte. Er sagte: »Wir tun dies und das.« Schwarze Antilope hörte die Worte von Farj. Er sagte in
seinem Herzen zu sich selbst: Das ist gut. Jetzt rede ich mit den Zebras. Die Männer fangen keine.
SIEBEN Noch drei Nächte bis zum großen Mond. Der Angriff konnte in jeder dieser Nächte erfolgen, vielleicht auch in einer danach. Alle wären hell genug. Was, wenn sich schon Dämonen-Männer hier aufhielten und das Treiben des Stammes, ein Stück weiter den Kamm hinauf verborgen, beobachteten? Sie würden Folgendes sehen: tagsüber den verlassenen Hang und einen gelegentlichen Rauchfetzen über der Insel, der vom Wind davongeweht wurde. Dann, wenn die Sonne unterging, zwei oder drei Menschen, die vorsichtig aus dem Schilfgürtel hervorkamen und den Hügel mit ängstlichen Blicken nach Anzeichen von Gefahr absuchten. Schließlich würden sie sich, offenbar beruhigt, umwenden und gestikulieren, und andere Menschen – zehn und zehn und noch ein paar mehr – kämen aus dem Schilf, würden vertrauensvoll den Hügel hinaufsteigen und sich zum Schlafen niederlegen, nachdem sie einige Wachen aufgestellt hatten. Bald stünde der Mond am Himmel und die kurze Dämmerung wäre vorüber. Dann läge die ganze westliche Flanke des Ausläufers in tiefem Schatten. Die Beobachter würden also nicht sehen, dass sich die meisten jener Menschen wieder erhoben, schräg über den Hügel hinab zu einer anderen Stelle gingen – einer Stelle, die im Norden von einer Erdfalte abgeschirmt wurde – und sich wieder niederließen. Zwei Menschen aber würden nicht mitkommen. Einer bliebe beim alten Schlafplatz, während der zweite – kleiner als die meisten anderen – zum Kamm hinaufklettern würde und verschwände.
Bei diesen Menschen konnte es sich nur um Ko, Shuja oder Mana handeln. Alle anderen, Tinu ausgenommen, waren zu groß, um sich unter dem Felsklotz zu verstecken. Und Tinu fiel aus, weil sie das Signal nicht rufen konnte. Um die Reihenfolge festzulegen, zogen die drei Steinchen aus der geballten Faust von Suth. Shuja hielt in der ersten Nacht Wache und sah nichts. Ko wachte in der zweiten und auch er sah nichts. Also wachte Mana in der Nacht des großen Mondes. Sie kam gemeinsam mit den anderen aus dem Schilf hervor, erklomm den Hügel und tat so, als lasse sie sich nieder. Als Tun das Stichwort flüsterte, schlichen alle außer zweien zum richtigen Schlafplatz. Yova blieb, wo sie war – um Mitternacht würde Zara den Hügel hinaufklettern und sie ablösen, damit Yova ein wenig schlafen konnte. Doch Mana musste die ganze Nacht lang wach bleiben. Tief gebückt erklomm sie den Hügel und trat ins Mondlicht. Inzwischen kannte sie den besten Weg und überquerte den Kamm durch einen flachen Einschnitt, der zu einer dahinter liegenden Senke führte. Dann wandte sie sich nach links und schlich eine sanfte Steigung hinauf, an deren Ende sich der Beobachtungsposten befand. Als sie dort ankam, waren die Mondfalken schon unterwegs, riefen von ihrem Nistplatz, der sich ein Stück weiter nördlich auf der anderen Flanke befand, segelten über den Kamm und kreisten, nach Beute suchend, über dem vom Mond erhellten Hang. Mondlicht ist trügerisch. Man bildet sich ein, es wäre so hell wie Tageslicht, doch selbst der trübste, düsterste Tag ist heller. Im Licht des vollen Mondes konnte Mana über die zerfurchte und silbrig glänzende Flanke des Ausläufers hinweg bis in weite Ferne blicken. Sie hatte erwartet, die Dämonen-Männer, viele Male zehn von ihnen, schon in
großer Entfernung ausmachen zu können, egal wie vorsichtig sie sich vorwärts bewegten. Doch sobald die Einzelheiten des Plans ausgearbeitet worden waren und noch bevor die vier Dämonen-Männer sie ausgekundschaftet hatten, waren Suth und Var mit Mana, Ko und Shuja im Mondlicht auf den Kamm gestiegen und hatten sie angewiesen, genau hinzuschauen, während sich zwei Männer, die gar nicht erst versuchten sich zu verbergen, von ihnen entfernten. Nach furchtbar kurzer Zeit waren sie wie vom Erdboden verschluckt. Nur ihre Schatten, die über die grauen Steine flackerten, verrieten sie noch. »Sie kommen von dort«, hatte Var gesagt und auf das Ufer gezeigt, das nach Norden führte. »Sie wissen es.« »Var, du hast Recht«, hatte Suth gesagt. »Ein paar führen. Sie zeigen den Weg. Viele folgen. Sie kommen am Ufer entlang. Dann klettern sie auf den Hügel. Sie kommen hierher. Diese Stelle liegt über unserem Schlafplatz. Er ist in der Nähe. Sie warten. Der Mond steigt höher am Himmel. Zuerst scheint er auf diese Seite. Die andere ist dunkel. Dann steht der Mond hoch. Er scheint auf die andere Seite. Sie greifen an.« Mana konnte nur hoffen, dass sie Recht hatten, doch es schien offensichtlich zu sein, dass sich die DämonenMänner für diesen Plan entschieden. Mit einer kleinen Vorhut von Kundschaftern schlügen sie den Weg ein, den sie kannten, würden sich oben auf dem Kamm versammeln und darauf warten, dass der Mond hoch genug stünde, um den westlichen Hang zu erhellen. Dann könnten sie ihre Beute sehen, wenn sie über sie herfielen. Aus diesem Grund konnte Mana nicht einfach im Versteck warten und dort den Warnruf ausstoßen. Sie sähe die Dämonen-Männer nicht früh genug und der Stamm hätte keine Zeit, sich im Schilf in Sicherheit zu bringen.
Der Angriff hätte schon längst begonnen. Also hatte sie sich nun hingekauert, wie sie es tagsüber so oft getan hatte, und sah zu, wie sich die Farbe des Hangs langsam veränderte und sich die schweren Schatten zu den Felsen zurückzogen, von denen sie geworfen wurden. Über ihr zischte und pfiff der Wind zwischen den Felsen des Kamms, doch dort, wo sie hockte, war alles still. Sie fühlte sich nicht müde. Sie hatten den ganzen Nachmittag über auf der Insel gedöst und jetzt, da sie mit Sicherheit wusste, dass Gefahr drohte, schossen ihr Schrecken und Aufregung ins Blut, pulsten mit jedem Herzschlag durch sie hindurch und sorgten dafür, dass sie hellwach und aufmerksam blieb. Unter ihren hornigen Fußsohlen konnte sie die unebene Oberfläche der Felsen spüren, nicht nur als Ganzes, sondern jede einzelne Unebenheit, und wenn sie gewollt hätte, hätte sie sie zählen können. Zudem sah sie den vom Mond erleuchteten Hang nicht nur, sondern ihre Blicke schienen ihn zu verschlingen, ihn aufzusaugen, bis jedes Stückchen des langen Hangs ein Teil von ihr zu werden und am Ende eines Nervs zu vibrieren meinte. Ein flüchtige Bewegung. Sie erstarrte. Wo? Ah, nicht zwischen den Felsen, sondern darüber. Einen Augenblick lang war ein Stern verschwunden, als etwas darüber hinweggeflogen war, ein Mondfalke, der über den Kamm glitt, um im hellen Mondlicht zu jagen. Sie beobachtete ihn kurz: ein Schatten vor dem hellen Himmel, der mit dem Wind davonsauste, dann einen weiten Kreis zog, langsamer wurde und mit flatternden Flügelspitzen über einer Stelle hing, während seine das Dunkel durchdringenden Augen nach etwas Ausschau hielten, das sich unter ihm befand. Sie sah, wie er sich hinabfallen ließ. Als er zuschlug, hörte sie durchs Pfeifen des Winds den dumpfen Aufprall und den schrillen Schrei der Beute.
Als sie den Schrei hörte, war Mana einen Augenblick lang selbst die Beute, kauerte hinter diesen Felsen, stand ein Dämonen-Mann über ihr, der zum Schlag ausholte. Dann dachte sie, dass es nicht dasselbe war. Der Mondfalke tat das, wofür er geschaffen worden war, denn sonst wäre er kein Mondfalke. Doch die Dämonen-Männer waren Menschen, genau wie sie und der Stamm. Was man tat, entsprang immer einem Entschluss. Die DämonenMenschen hatten sich dazu entschlossen, DämonenMenschen zu sein. Sie aber, Mana und der Stamm, hatten sich entschieden zu sagen: ›Nein, wir sind nicht eure Opfer.‹ Hier auf dem Hügel Wache zu halten war ein Teil dieses Entschlusses. Sie wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu und beachtete die Mondfalken kaum noch, als sie auftauchten und wieder verschwanden. Die Nacht schritt voran. Der Mond stieg höher. Bald stünde er so hoch, dass sein Licht über den Kamm strahlte und die westliche Flanke erreichte. Wenn der Angriff heute Nacht überhaupt stattfände, dann käme er mit Sicherheit bald, sehr bald. Oder hatten sich die Dämonen-Männer für einen Überfall in der Morgendämmerung entschieden? Oder … Was war das? Rechts von ihr, weiter unten? Nein, es war nur der plötzliche Sturz eines Mondfalken gewesen, gefolgt von … Nicht von einem Schrei, nicht vom dumpfen Aufprall des Falken, als er zuschlug, sondern von einem leisen Kreischen und … Warum war ihr das aufgefallen? Warum ausgerechnet dieser Sturzflug eines Mondfalken, wo sie es doch schon längst aufgegeben hatte, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken? Sie folgte dem Vogel mit Blicken, als er kreisend
aufstieg. Doch diesmal flog er nicht mit der Beute zum Nistplatz zurück oder blieb rüttelnd über einer Stelle in der Luft hängen, wie er es tat, wenn ihm die Beute entwischt war, sondern kreiste höher und höher, bis sie seine ausgebreiteten Flügel vor der hellen Scheibe des Mondes sehen konnte. Weder mit den Fängen noch mit dem Schnabel hielt er irgendeine Beute gepackt. Ja. Das war es. Dieser Sturzflug war ihr aufgefallen, weil etwas damit nicht gestimmt hatte. Der Falke hatte keine Beute gemacht. Doch selbst wenn er sie verfehlte, war jedes Mal sein dumpfer Aufprall auf der Erde zu hören. Diesmal nicht. Und das Kreischen. Nicht ein Opfer hatte es ausgestoßen, sondern der Falke selbst. Ein überraschtes Kreischen. Ein Alarmschrei. Auf was hatte er sich niederfallen lassen? Auf welche schnelle, flüchtige Bewegung? Was für ein Schatten hatte gezuckt und ihn in Gefahr gebracht? Mit Sicherheit würde er nichts angreifen, das so groß war wie ein Mensch. Doch ein Mensch, der sich im Schatten bewegte und für einen Augenblick etwas ins Mondlicht hielt, die Spitze eines Kampfstocks, eine Ferse, eine Hand? Vielleicht. Vor Panik schlug ihr das Herz bis zum Hals, und Mana starrte, bis ihr die Augen schmerzten. Wo war der Falke hinabgesaust? Dort. So nahe? Sie schaute genau hin, doch da sie direkt in den Mond geblickt hatte, war ihre Sicht zuerst noch getrübt, Langsam wurde sie klarer und ihr Blick konzentrierte sich auf eine bestimmte Stelle des Hangs … ein niedriger Felsklotz … Ja! Es war kaum zu erkennen gewesen, doch irgendetwas hatte sich bewegt, das obere Ende von etwas Größerem,
vielleicht von einem zweiten Mann, der hinter einem ersten herkroch. Sie hatte keine Zeit, um auf einen dritten zu warten und sicherzugehen. Sie waren schon viel näher, als sie vermutet hatte. Sie zwang sich dazu, ihren Kopf langsam zurückzuziehen, bis er ganz hinter dem Felsen verschwunden war, und sauste dann auf dem Weg zurück, den sie gekommen war, bis sie die Spitze des westlichen Hangs erreichte. Er lag noch vollständig in tiefem Schatten, doch die Schnittstelle, wo Mondlicht und Dunkel aufeinander trafen, lag deutlich sichtbar über dem Schilfgürtel, nur einige Male zehn Schritte vom Ufer entfernt. Der stete Wind blies über sie hinweg. Während sie wartete, um wieder zu Atem zu kommen, horchte sie nach dem nächsten Ruf des Mondfalken. Er blieb aus. Natürlich – der Vogel wusste, dass Gefahr drohte. Er hatte sich einen anderen Jagdgrund gesucht. Eine ganze Weile lang würde er nicht mehr rufen. »Warte«, hatte Suth gesagt. »Lass den Vogel rufen. Rufe danach. Dann ruft ihr nicht gemeinsam. Wir wissen, es ist das Signal.« Doch sie konnte nicht warten. Sie legte die Hände um den Mund, befeuchtete ihre Lippen, holte tief Luft und rief, so laut sie konnte, weil sie gegen den Wind ankommen musste. Iik-iik-iik-iik. Es war der Ruf eines jagenden Mondfalken, nur viermal statt dreimal. Unten in den Sümpfen hatten Ko, Shuja und sie es immer wieder geübt, bis selbst Var der Ansicht war, es klänge richtig. Sofort holte sie noch einmal tief Luft und wiederholte den Ruf.
Das war das Signal. Zwei Rufe, jeder mit vier Kreischlauten. Je dichter die Rufe aufeinander folgten, desto näher war der Feind. Sie sind hier! Sie sind dicht, dicht! Als ihr letzter Ruf verklungen war, stand sie auf und eilte zum Versteck. Die Dämonen-Männer waren schon schrecklich nahe, aber sie wagte es nicht zu rennen. Es war noch so finster, dass sie bei jedem Schritt den Boden mit dem Fuß abtasten musste. Jedes laute Geräusch wäre sofort vom Wind zu ihnen getragen worden. Schließlich hockte sie sich vor den Felsklotz und fühlte mit den Händen, ob alles am Platz war. Ihr Puls raste vor Anstrengung, so sehr hatte sie sich bemüht, sich vorsichtig zu bewegen. Doch sie schlüpfte nicht gleich unter den Felsen. Von dort konnte sie zu wenig sehen. Stattdessen legte sie sich an seiner niedrigeren Seite flach auf den Boden und streckte ihren Kopf gerade so weit vor, dass sie die zerklüftete Linie des Kamms sehen konnte, die sich vor dem Himmel abzeichnete, der nun, da der Mond immer höher stieg, fahler und fast sternenlos war. Unter ihr konnte sie nichts als den Wind hören, obwohl die Wachen inzwischen die Schläfer auf dem Hang geweckt haben mussten und sich vermutlich alle vorsichtig durch das Dunkel bewegten. Einige von ihnen würden zu Yova hinaufklettern, die sich beim alten Schlafplatz befand – käme der Alarm, dann mussten die Angreifer im Glauben gelassen werden, dass alle die ganze Nacht hindurch arglos dort geschlafen hatten. Die anderen würden sich zum Schilfwald hinabschleichen. Von diesen wiederum würden die meisten auf dem verborgenen Pfad zur Insel eilen, doch einige der Männer würden sich gemeinsam mit Tinu ganz in der Nähe im
Schilf verstecken. Und Yova wäre so gespannt und wachsam wie ein scheuer Hirsch und würde wie Mana den Kamm nach dem ersten Anzeichen einer Bewegung absuchen. Die Zeit verstrich. Langsam stieg der Mond höher. Mana glaubte, er würde nie den Kamm erreichen, obwohl der Himmel inzwischen fast so blass wie in der Dämmerung war. Hatte sie einen Fehler gemacht und falschen Alarm gegeben? Hatte das Verhalten des Mondfalken sie getäuscht und eine Bewegung sehen lassen, die es gar nicht gegeben hatte? Was war das? Keine Bewegung, sondern ein kurzes, schwaches Kratzen, kaum hörbar im Gegenwind. Holz auf Stein vielleicht? Hatte das herabhängende Ende eines Kampfstocks kurz einen Felsen gestreift? Dann sah sie eine Bewegung, eine langsame Veränderung auf der schwarzen, zerklüfteten Linie des Horizonts, als sich ein Kopf immer höher hob, um auf den Hang hinabzuspähen. Der Mann schien eine Ewigkeit dort zu bleiben und das zu beobachten, was unter ihm lag, obwohl es noch in tiefe Schatten gehüllt war. Konnte er im Dunkeln sehen wie ein Mondfalke? Könnte er Mana erkennen, obwohl es so finster war? Er befand sich so dicht über ihr. Ihr fiel etwas ein, das Suth einmal zu Ko gesagt hatte, als er ihm erzählte, was ein Jäger denken müsse, wenn er der Beute auflauerte. ›Ich verberge mich im Gras. Ich bin Gras. Der Hirsch sieht mich nicht.‹ Ich bin Fels, dachte sie. Ich liege flach auf diesem Hügel. Ich bin still, still. Schließlich wurde der Kopf zurückgezogen, doch Mana blieb, wo sie war. Es war zu früh, um das nächste Signal
zu geben. Dazu musste sie warten, bis der Feind vom Hügel hinabkam, und vom Versteck aus könnte sie nicht sehen, was vor sich ging. Würden sie, sobald der Mond aufging, sofort vom Hügel aus angreifen oder würden sie, was wahrscheinlicher war, die Dunkelheit ausnutzen, um sich näher an ihre Beute heranzuschleichen? Ah, sie kamen. Mana sah mehrere von ihnen auf einmal. Sie glitten über den Kamm und schlichen sich den Hügel hinab. Sie hielten die Kampfstöcke tief neben sich gesenkt. Nur bei einem war es anders und dieser Mann bewegte sich umständlicher. Mana konnte erkennen, woran es lag. Er musste seinen Kampfstock mit beiden Händen halten, weil die Spitze von einem runden Etwas hinabgezogen wurde. Ihr wurde kurz übel, als sie erriet, was es war. Ein menschlicher Kopf. Und sie erriet auch, wessen. Sie schluckte zwei Mal, überwand den Schrecken, schlängelte sich dann leise zurück und glitt schließlich seitwärts und mit den Füßen voran in den Schlitz unter dem Felsklotz. Sie zerrte die kleineren Steine nicht an ihren Platz, weil das Geräusch sie mit Sicherheit verraten hätte und sie noch freie Sicht brauchte. Nur ihr Kopf schaute noch aus dem Schlitz hervor. Sie streckte den rechten Arm aus und tastete nach dem Ende des langen Schilfhalms, der für den Notfall bereitliegen musste. An seinem anderen Ende befand sich ein kleiner Steinhaufen, der von Tinu sorgfältig auf einer schrägen Felsplatte aufgeschichtet worden war. Sie wartete und wagte kaum zu atmen. Den Kamm konnte sie nicht mehr erkennen, hatte aber einen freien Blick bis hinab zu den Sümpfen und rechts über die Flanke des Ausläufers hinweg. Unter ihr hatte die Grenze zwischen Licht und Dunkel fast das Ufer erreicht. Der Hang lag noch immer in tiefem Schwarz, aber der Himmel
glänzte von Sternen und wurde vom immer höher steigenden Mond erhellt. Es dauerte nicht lange, bis Mana die Reihe der Dämonen-Männer, die sich über den Hügel zog, vorbeikriechen sah. Der nächste war keine zehn Schritte von ihr entfernt. Sobald er außer Sicht war, riss sie ruckartig an dem Schilfhalm. Der Steinhaufen kam aus dem Gleichgewicht und polterte krachend den schrägen Felsen hinunter. Der Dämonen-Mann hielt an, drehte sich um, starrte. Mana hielt den Atem an. Käme er darauf, was wirklich geschehen war? Oder würde er glauben, die kleine Lawine selbst ausgelöst zu haben, als er vorbeigeschlichen war? Yovas Ruf ließ ihm keine Zeit, sich zu entscheiden: Gefahr! Am Schlafplatz erhob sich Geschrei und Tumult. Die wenigen Menschen dort schrien aus voller Lunge, erweckten den Eindruck, als wären sie dreimal so viele wie in Wirklichkeit, und ließen den Hang auch dann noch von ihrer Panik widerhallen, als sie schon den Hügel hinabrannten. Die Reihe der Dämonen-Männer nahm die Verfolgung auf und ihre Kriegsrufe verdoppelten den Lärm. Mana hob ihren Kopf, um zuschauen zu können. Das Mondlicht hatte den Rand des Schilfgürtels erreicht. Sie konnte die Köpfe von Menschen erkennen, die sich um den Eingang zum Pfad drängten. Ihre Körper lagen noch im Dunkeln. Es waren nicht viele, aber sie taten so, als wären andere schon hineingeschlüpft und als wären sie die Letzten, die noch hineinmussten. Als sie darauf warteten, an die Reihe zu kommen, schrien sie vor Panik. Als der Letzte im Schilf verschwand, befanden sich die Angreifer noch auf dem Hang. Nun kam der nächste kritische Moment. Der Dämonen-
Mann an der Spitze zögerte nicht und stürzte in den nun enttarnten Eingang. Würden ihm alle folgen? Würde jemand zurückbleiben und Wache halten? Nein. Sie ballten sich alle vor der Stelle zusammen und stürmten hinein. Nun kroch Mana aus dem Spalt, hockte sich in den Schatten des Felsklotzes und sah sich um. Auch hier oben hielt kein Dämonen-Mann Wache. Vorsichtig hob sie den Kopf ins Mondlicht und musterte den Kamm. Auch der war verlassen. Sie drehte sich um, legte die Hände um den Mund und stieß so laut sie konnte den Mondfalkenruf aus, immer zwei Rufe auf einmal: Iik-iik … iik-iik. Sie wartete kurz und wiederholte das Signal. Alle sind hineingegangen. Keiner hält Wache. Da sie unsicher war, ob ihre Stimme gegen den Wind ankäme, kletterte sie auf den Felsklotz, hob die Arme über den Kopf und schwenkte sie auf und nieder, bis sie schließlich rechts und links vom Eingang zwei Menschen aus dem Schilf schlüpfen sah. Zum Zeichen, dass sie sie gesehen hatten, winkten sie ihr zu, und bis auf einen verschwanden alle auf dem Pfad, den die Dämonen-Männer eingeschlagen hatten, um die Schilfhalme von den neuen Fallen zu entfernen, die für diesen Moment vorbereitet worden waren. Zuletzt rannte Tinu mit einem Bündel über der Schulter den Hügel hinauf. Mana lief ihr entgegen, nahm ihr das Bündel ab – trockenes Schilf – und schichtete es auf einem vorspringenden Felsen zu einem losen Haufen auf. Tinu öffnete den Feuerbewahrer, den sie bei sich trug, und schüttete den Inhalt darauf. Sie brauchte nicht in die Glut zu pusten. Der Wind tat es für sie und sofort züngelten Flammen empor. Mana warf abgefallene Blätter darauf, die sich aufrollten, knackten
und aufloderten. Innerhalb von Sekunden stand der ganze Haufen in Flammen. Draußen auf der Insel und entlang des gewundenen Pfades rechts und links davon warteten Wachtposten auf dieses Signal. Auch sie hatten trockenes Schilf aufgehäuft und hielten die Feuerbewahrer bereit. Nun blieb Mana und Tinu nichts mehr zu tun, als mit klopfendem Herzen dazustehen, zuzuschauen und zu warten … Dort! Ein oranger Funke! Und dort! Und dort! Bald brannte der Schilfgürtel an jeder Ecke, die Funken wurden zu grellen Flecken, als die Flammen aufloderten. Neue Funken blitzten auf und wuchsen sich zu Feuern aus, als die Menschen mit brennenden Schilfbündeln in Händen auf dem Pfad entlangsausten, um weitere Feuer zu legen, wobei sie sich die ganze Zeit über vom äußeren Rand her auf die Insel zubewegten, falls ein Windstoß die Flammen zurückschlagen ließe und das Schilf in ihrem Rücken in Brand setzte. Doch der Wind blies stetig aus einer Richtung und trieb die Flammen vor sich her, breitete das Feuer nach links und rechts aus und ließ die einzelnen Brandherde miteinander verschmelzen, so dass die beiden Beobachter auf dem Hang bald zwei gebogene Feuerstreifen sahen, die länger wurden und sich aufeinander zubewegten, während der Rauch, im Licht des Mondes silbern leuchtend, vor ihnen herströmte, als sie sich dröhnend auf das Ufer zufraßen und eine Feuerwand in die Höhe wachsen ließen, die zur Falle für die Dämonen-Männer werden und sie auf dem Weg, auf dem sie gekommen waren, wieder hinaustreiben würde. Zu dem Zeitpunkt, als sich die zwei Streifen vereinigten, bewegten sie sich so schnell, wie ein Mann laufen konnte,
und ganz sicher schneller als eine ganze Schar von Männern, die einem zunächst harmlos wirkenden Pfad gefolgt waren, sich dann aber in einem Gewirr von Pfaden gefangen sahen, lauter Sackgassen, die mitten im Schilfgürtel endeten – und schließlich, wenn sie begriffen, in welcher Gefahr sie schwebten, und kehrtmachten, um zum sicheren Ufer zurückzurennen, die Entdeckung machen mussten, dass der Pfad von Stellen unterbrochen war, wo der Grund plötzlich unter ihren Füßen nachgab und sie im dicken, saugenden Schlamm herumtaumeln ließ, den sie entweder mühevoll durchqueren oder umgehen mussten, indem sie einen Bogen durchs dichte Schilf schlugen. Und die ganze Zeit über strömte der Rauch über sie hinweg, konnten sie hören, wie die Flammen unter Knacken und Dröhnen immer näher kamen … Tinu sprang vor Aufregung auf und ab und klatschte in die Hände. Sie freute sich nicht nur darüber, die Zerstörung dieser schrecklichen Feinde mit ansehen zu können, sondern auch (und vielleicht noch mehr) darüber, dass ihre gewaltige Falle funktionierte, so funktionierte, wie sie es sich gedacht hatte. Doch Mana empfand keine Freude. In der Hauptsache empfand sie große Erleichterung, weil die Sache so glatt gegangen und so glücklich verlaufen war und weil die furchtbare Gefahr, in deren Schatten sie so lange gelebt hatten, bald ausgestanden wäre. In einem anderen Teil ihrer selbst aber empfand sie nur Schrecken darüber, dass so etwas überhaupt notwendig geworden war. Dass Männer, Menschen wie sie, auf diese Art sterben mussten. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie das Dröhnen der Flammen und damit vermischt (oder war es nur Einbildung?) die Schreie hören. Es ließ sich nichts daran ändern. Es hatte getan werden müssen. Aber
es war falsch, falsch. Sie ertrug es nicht länger, zuzuschauen oder zuzuhören. Sie legte die Hände auf ihre Ohren, wandte sich ab und sah den Hang hinauf. Inzwischen stand der Mond über dem Kamm. Er war nicht mehr silbern, sondern braunorange, weil er vom Rauchschleier verdeckt wurde. Ein Vogel flog vor seiner runden Scheibe vorbei. Natürlich einer der Mondfalken. Diesmal aber flog er nicht weiter. Genau vor dem Mond blieb er mit ausgebreiteten Flügeln in der Luft hängen. Er schien sich die Szene, die unter ihm lag, anzuschauen, genau wie Mana und Tinu es getan hatten. Vielleicht gehörte dieser Falke überhaupt nicht zu dem nistenden Paar. Vielleicht war es Mondfalke selbst, der gekommen war, um nachzuschauen, ob alles glatt ging für seinen Stamm. In Manas Geist entstand ein Gebet. Sie sprach es schweigend. Mondfalke, ich preise. Mondfalke, ich danke. Lass es ein Ende haben, Mondfalke. Bald, bald. Mit einem leichten Schlag der Flügel schwang sich der Vogel herum und war verschwunden. Getröstet wandte sich Mana wieder den Sümpfen zu. Die Flammen waren näher gekommen und der Rauch um sie herum war dichter geworden. Er strömte den Hügel hinauf und verbarg das Ufer. Plötzlich ertönten Rufe von dort, Stimmen wütender Männer – die fünf Männer des Stammes, die den Pfad entlanggegangen waren, um die Fallen vom Schilf zu befreien, und die dann zurückgekehrt
waren, um beim Eingang auf der Lauer zu liegen, bereit, jeden Überlebenden niederzuschlagen, der sich ins Freie hinaus gekämpft hatte. Der Pfad war nur breit genug für je einen Dämonen-Mann, als diese von den näher kommenden Flammen hinausgetrieben wurden und vom Rauch geblendet herumtasteten. Tinu stieß einen Schrei aus, zeigte mit dem Finger und rannte nach rechts. Irgendjemand stürzte den Hang hinauf. Er wurde von zwei anderen verfolgt, die ihre Grabstöcke zum Schlag bereithielten. Ohne nachzudenken schnappte sich Mana einen Stein und lief los, um dem Mann den Weg abzuschneiden, ihn einen Augenblick lang aufzuhalten. Alle vier Gestalten – Tinu, die zwei Männer des Stammes und ihr Opfer – verschwanden hinter einem Rauchwirbel. Als er sich verzog, sah sie, dass Tinu den Arm nach vorn warf, als der Mann an ihr vorbeistürmte. Er kam ins Stolpern und wäre fast gestürzt. Bevor er sein Gleichgewicht wiedererlangt hatte, waren seine Verfolger zur Stelle und droschen mit heftigen Schlägen auf ihn ein. Mana ließ den Stein fallen und wandte sich ab. Erst später kam ihr der Gedanke, wie seltsam es doch gewesen war. Angenommen, sie hätte den fliehenden Mann zuerst gesehen, dann hätte sie genau dasselbe getan wie Tinu, wäre losgerannt, um zu versuchen ihn aufzuhalten, damit die Männer ihn fangen und töten konnten. Der Anblick des Ganzen aber erfüllte sie mit Schrecken und Abscheu. Es war der letzte Dämonen-Mann gewesen, der dem Schilf zu entkommen versucht hatte. Als sich die Spitzen der geschwungenen Feuerstreifen am Ufer trafen, erstarben sie und die Streifen selbst schlossen sich immer dichter zusammen, bis auch sie sich trafen und das Feuer erlosch. Es hatte keine Nahrung
mehr, aber noch immer stiegen Rauchfäden aus dem verkohlten Gewirr auf. Schließlich erstarben auch sie und die Nacht wurde wieder klar. Die Schar, die sich auf dem Ufer befand, Mana, Tinu und die fünf Männer, stiegen bis zur Hälfte des Hangs hinauf und warteten, obwohl sie nicht glaubten, dass die anderen die Sümpfe vor Anbruch der Dämmerung verließen, wenn die Glut des Feuers sich so weit abgekühlt hätte, dass man darauf laufen und erkennen konnte, wo man die Füße hinsetzte. Einige hielten Wache, doch Mana legte sich hin und fiel in einen wunderbaren, tiefen und traumlosen Schlaf. Sie wachte erst auf, als es heller Tag war. Die anderen waren schon in Bewegung, verließen die Insel, kehrten dorthin zurück oder suchten das Ufer und die ehemaligen Pfade ab. Sie sah die Körper der Dämonen-Männer beim Eingang liegen. Hinter ihnen dehnte sich eine große schwarze Fläche aus, wo der Wind unvermittelt Ascheflocken emporwirbelte und den Hang hinaufblies. Mana ging nicht hinunter, um zu ihren Freunden zu stoßen, sondern wartete, bis die ganze Schar zusammen und mit einer bestimmten Absicht den Hügel hinaufging. Tun führte sie an. Er hielt ein dunkles, rundes Ding in den Händen. Kerns Kopf. Mana vermutete, dass sie, sobald es hell geworden war, als Erstes nach dem Leichnam des Anführers gesucht und daneben den Kopf gefunden hatten. Net hatte eine Wunde an der Seite, die ihm von einem der Dämonen-Männer geschlagen worden war, als sie am Eingang des Pfades blindlings drauflosgedroschen hatten. Moru hatte schmerzhafte Verbrennungen davongetragen, als eine Flamme unvermutet umgeschlagen war. Einige andere hatten leichtere Verbrennungen und vielen tränten
noch die Augen vom Rauch. Chogi hatte schon alles für diese Wunden getan, was in ihrer Macht stand. Und nun, bevor sie aßen oder rasteten, führte sie Tun am Hügel entlang zum Felshaufen. Sie befreiten Kerns Körper von den Steinen. Tun legte den Kopf an seinen Platz. Dann schichteten sie den Haufen wieder auf. Die Frauen stellten sich östlich des Haufens und mit der Sonne im Rücken in einer Reihe auf. Ihnen gegenüber ließen sich die Männer nieder, klatschten rhythmisch in die Hände und stöhnten leise und mit geschlossenen Lippen. Die Frauen stampften im Takt der Schläge und begannen mit dem schrillen, wechselweisen Gesang, der Kerns Geist von diesem Ort lösen und ihn auf den Weg zum Guten Jagdgrund auf dem Berg schicken sollte, dem Berg über Odutu, wo die Ersten Wesen lebten. Mana sah zu und lauschte und spürte um sich herum das gute Gefühl der anderen, ein Gefühl der Erleichterung angesichts einer schrecklichen Tat, die nun doch noch Erlösung fand und gutgemacht wurde. Sie teilte dieses Gefühl. Sie freute sich für Kern, sie freute sich für sich selbst und den Stamm. Aber es gab noch andere Geister, die an diesen Hang und an die Sümpfe gebunden waren. Auch ihre Gegenwart spürte sie, die Gegenwart der Geister all jener Dämonen-Männer, die in der letzten Nacht und davor getötet worden waren. Sie spürte ihre Anwesenheit fast körperlich rings um sich herum, konnte beinahe hören, wie sie leise in der würzigen Morgenluft klagten. Als der Tanz vorbei war, machten sie sich schweigend auf den Rückweg, doch als sie den Ausläufer überquerten, hinter dem die im Osten liegenden Sümpfe sichtbar wurden, hielten die an der Spitze Gehenden an. Unten am Ufer tanzte eine einzelne Gestalt ausgelassen hin und her.
Ridi. Sie war außer sich vor Freude über die Rache, die ihre Feinde ereilt hatte, und ihr wilder Triumphgesang wurde vom Wind zum Stamm herübergetragen. Mana schaute kurz zu und dachte: Nein, so bin ich nicht. Sie bemerkte, dass Noli neben ihr stand. »Noli«, flüsterte sie. »Hilf mir. Ich trage eine Sorge in meinem Herzen.« Noli schien in einer Art Traum gefangen zu sein. Der Totentanz war ein Ding der Ersten Wesen. Vielleicht hatte sie Kern ein Stück auf seiner Reise begleitet. Mana sah, wie Nolis Augen wieder ihren normalen Glanz annahmen. »Mana«, murmelte sie. »Warum?« »Noli … es sind die anderen …«, sagte Mana. »Es sind Dämonen-Männer … Sie sind tot … Geister … Wohin … Wie …?« Noli verstand die gestammelte Frage. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Mana, ich weiß es nicht«, sagte sie. »Das ist nicht unsere Sache. Bald verlassen wir diesen Jagdgrund.« »Noli, es ist meine Sache«, sagte Mana mit Nachdruck. »Es ist eine Sorge in meinem Herzen. Was tue ich?« »Mana, ich …«, begann Noli und schüttelte wieder den Kopf. Der Satz brach ab, sie erschauderte und klammerte sich an Manas Schulter. Aus ihrem Mundwinkel quoll ein wenig Schaum. Mana legte einen Arm um sie, um sie auffangen zu können, doch es war nicht nötig. Das Flüstern von Mondfalkes Stimme war so leise, dass nur Mana es hören konnte. »Warte.« Noli seufzte, schüttelte sich und blickte sich um. Verwirrt runzelte sie die Stirn und sah Mana an.
»Mondfalke war da?«, fragte sie. »Sprach er?« »Ja«, sagte Mana. »Es war für mich.« Die anderen begannen sich wieder in Bewegung zu setzen. Noli nickte, schüttelte sich noch einmal und folgte ihnen. Mana begriff, dass sie sich nicht an das erinnerte, was gerade eben geschehen war, vielleicht nicht einmal an Manas Frage. Doch das war egal. Mana wusste jetzt, was zu tun war. Warten.
URSAGE
Die Schweinejagd Die Männer von Schlange kehrten von der Jagd zurück. Sie waren müde. Sie waren hungrig. Sie brachten kein Fleisch mit. Sie sagten: »Gestern sahen wir viele Zebras. Heute sind sie verschwunden. Wir sahen ihre Spuren. Alle zogen zusammen fort. Wir folgten ihnen weit und weit. Wir fanden sie nicht.« Die Frauen machten sich über die Männer lustig. Sie sagten: »Ihr seid dumme Jäger. Die Zebras sind schlauer. Heute Abend esst ihr nur Pflanzennahrung. Eure Kraft ist verschwunden.« Die Frauen lachten die Männer aus. Ihr Lachen war von dieser Art: Seht, es dämmert. Die Stare versammeln sich, um zu rasten, die blauen Stare. Der Himmel wird von ihren Flügeln verdunkelt. Sie lärmen mit schrillen Stimmen. Ein Löwe brüllt. Man kann ihn nicht hören. So laut sind die Stimmen der Stare. Von dieser Art war das Lachen der Frauen über die
Männer von Schlange. Die Männer schämten sich. Es war Dämmerung. Warzenschwein lief zu den Schilfgürteln in der Schlucht-der-alten-Weiber. Er sprach zu den Schweinen, die sich in ihren Senken suhlten. Er sagte: »Das Wasser verschwindet. Bald sind diese Senken trocken. Wasserloch-der-Bienen hat guten Schlamm. Kommt jetzt. Es ist Nacht. Die Sonne verbrennt uns nicht. Der Mond ist groß. Wir sehen den Weg.« Die Schweine erhoben sich, verließen die Senken, in denen sie sich suhlten, und folgten Warzenschwein. Da versperrte ihnen eine große Schlange den Weg. Sie sahen sie im Mondlicht. Sie richtete sich auf. Sie zischte. Warzenschwein sagte: »Lauft! Lauft! Es ist eine Dämonenschlange! Sie frisst uns alle!« Schweine sind nicht klug. Einer tut etwas, alle tun es. Warzenschwein rannte Richtung Osten auf Gelbquelle zu. Die anderen folgten ihm. Sie kamen nach Kamm-derlangen-Felsen. Warzenschwein hielt an. Alle hielten an. Sie sagten: »Die Schlange ist fort. Jetzt laufen wir nach Wasserloch-der-Bienen.« Sie liefen los. Sie trabten auf dem Kamm-der-langenFelsen entlang. Sie hinterließen keine Spuren. Warzenschwein kam nicht mit ihnen. Er lief nach Schlucht-der-alten-Weiber. Dort fand er Siku. Sie verbarg sich im hohen Gras. Er sagte: »Steig auf meinen Rücken. Ich bringe dich zur Windigen Klippe, zu deinem Stamm.« Es war Morgen. Der Stamm von Schlange erwachte. Sie füllten ihre Kürbisflaschen. Sie brachen auf nach Wasserloch-der-Bienen. Männer gingen voran. Bald riefen sie: »Ho! Was ist das? Hier sind die Spuren von Schweinen, von vielen, vielen. Seht, sie laufen hier
entlang, nach Wasserloch-der-Bienen. Schweine sind keine Zebras. Sie laufen nicht weit und weit. Wir jagen jetzt diese Schweine. Wir töten sie, wir essen sie. Warzenschwein ist unser Feind. Wir rauben ihnen ihre Kraft. Frauen, folgt diesen Spuren. Wir laufen schnell.« Dann riefen sie: »Ho! Was ist das? Die Schweine biegen ab. Irgendetwas macht ihnen Angst. Seht, sie laufen schnell. Bald sind sie müde. Wir fangen sie.« Sie folgten den Spuren. Sie kamen nach Kamm-derlangen-Felsen. Die Spuren waren verschwunden. Die Männer sagten: »Sie biegen wieder ab. Welchen Weg nehmen sie? Nach Wasserloch-der-Bienen geht es hier entlang. Nach Gelbquelle dort. Es ist näher.« Sie zogen nach Gelbquelle. Dort endete der felsige Boden. Sie sahen keine Spuren. Sie kehrten zurück. Die Frauen waren da. Die Männer sagten: »Wir gehen jetzt nach Wasserlochder-Bienen.« Farj sagte: »Gelbquelle ist näher.« Die Frauen sagten: »Farj hat Recht. Unsere Kleinen sind müde. Das Wasser in unseren Kürbisflaschen ist alle. Wir gehen nach Gelbquelle. Männer, kommt ihr mit uns? Wir haben Pflanzennahrung.« Die Männer sagten in ihren Herzen zu sich selbst: Pflanzennahrung ist besser als keine Nahrung. Sie zogen nach Gelbquelle. Die Männer von Warzenschwein lagerten am Wasserloch-der-Bienen. Keine Menschen kamen. Viele Schweine kamen. Die Männer jagten sie nicht. Warzenschwein isst keine Schweine.
ACHT Auf die Schlacht folgten ruhige Tage. Tun stellte zwar noch immer von der Morgen- bis zur Abenddämmerung und von der Abend- bis zur Morgendämmerung Wachtposten auf, doch alle Mitglieder des Stammes wussten in ihren Herzen, dass sie mit der Bedrohung aus dem Norden fertig geworden waren. Die Menschen jagenden Dämonen-Männer würden keinen Angriff mehr wagen. Ebenso unwahrscheinlich war es, dass sie zu zweit oder zu dritt angriffen. Wenn dort, von wo diese gekommen waren, noch einige übrig geblieben sein sollten, dann hätten sie nun sicher Angst. Und vor allem: Mondfalke war stark in diesem Jagdgrund. Er würde seinen Stamm warnen und beschützen. Als Allererstes trugen sie die Leichname der fünf Dämonen-Männer, die in den früheren Kämpfen getötet worden waren, zum westlichen Teil des abgebrannten Geländes. So war die östliche Seite des Ausläufers frei von allem, das Dämonen anlocken konnte, und der Stamm konnte sich wieder dorthin begeben, Fallen stellen, fischen und sammeln, die Wunden von Tun und Net konnten in Ruhe heilen und Moru sich von den Verbrennungen erholen. Wann immer sie keine Wache halten musste, hockte Mana bei ihrem Fischloch. Sie fing fast immer etwas und kehrte eines glücklichen Nachmittags mit vier Fischen zum Lager zurück, alle schön und fett. Doch sie war es genauso zufrieden, in aller Stille neben dem Loch zu warten, die hin- und herflitzenden Fischchen zu beobachten und nichts zu fangen. Das Fischen tat ihr gut. Sie fühlte, dass auch sie eine
Wunde hatte, die verheilen musste, eine innere Wunde, eine in ihrem Geist. Sie war von einem Grabstock geschlagen worden. Diesen Schlag hatte sie mit eigener Hand und mit ihrem eigenen Arm geführt, als sie neben der Falle auf dem Pfad durchs Schilf gestanden hatte, während Tun, strampelnd neben ihr auf dem Boden liegend, versucht hatte den Griff des Dämonen-Mannes abzuschütteln. Sie hatte mit Tuns Grabstock auf den Kopf des Dämonen-Mannes eingedroschen und beim dritten Schlag hatte sie gespürt, dass der Schädel des DämonenMannes zersplittert war. In jenem Augenblick hatte sie ihn getötet. Das war die Wunde in ihrem Geist. Sie hatte auch Verbrennungen, nicht so schlimm wie die Wunde, aber schmerzhaft. Manchmal wachte sie mitten in der Nacht auf, wenn alles still war, abgesehen vom leisen Pfeifen des Windes, der über den höher gelegenen Kamm hinwegstrich. Jedes Mal aber war sich Mana sicher, dass der Wind Geräusche zu ihr hinübergetragen hatte, kurz bevor sie aufgewacht war – die Schreie von Männern, die im westlichen Schilfgürtel feststeckten, als die Feuerwalze über sie hinwegrollte. Es musste ähnlich sein wie das, was Moru widerfahren war. Als Mana zusammen mit Tinu auf dem Hügel gestanden und dem Rauch zugeschaut hatte, der aus dem Schilfgürtel aufgestiegen war, wo sich die zwei Feuerwände einander immer weiter genähert hatten, war eine Windböe über sie hinweggefahren und hatte sie mit dem Sterben der Männer wie mit einer dunklen Flamme erfüllt und ihren Geist versengt. Sie erzählte niemandem etwas davon. Soweit sie wusste, empfanden die anderen, selbst Noli, angesichts ihrer Tat nichts als Triumph und Erleichterung. Auch Mana empfand das. Sie war glücklich, dass alle, abgesehen vom armen Kern, noch am Leben waren, glücklich, dass die
Tage ruhig verliefen und sie ohne das Bewusstsein von Gefahr rund um ihr Feuer auf dem Hang lagern konnten, glücklich über die Schönheit der Welt, nun, wo der Wind gekommen war, den über den Sümpfen hängenden Dunst weggepustet hatte und den Blick in glitzernde Fernen öffnete. Glücklich, fischen zu können. Am zweiten Tag nach der Schlacht tauchten zwei Sumpf-Männer aus dem Schilf auf und stiegen zum Lager hinauf. Shuja hielt Wache, sah sie aber nicht sofort, weil sie meist nach Norden blickte, der Richtung, aus der Gefahr drohen konnte. Als sie einen Blick über ihre Schulter warf, sah sie die Männer, erkannte aber ihre friedlichen Absichten, stand auf und rief zu den anderen hinunter, die am Ufer nach Nahrung suchten, fischten oder im Schilf nach Insekten suchten, die sie als Köder brauchten. Mana verließ ihr Fischloch, kam hervor und sah, dass Tun und Var den Hügel erklommen, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Das war keine Kinder-Sache, also wandte sie sich wieder dem Fischen zu. Abends, als alle rund ums Feuer saßen, hörte sie, was vor sich gegangen war. »Ein Mann ist unser Führer«, sagte Var. »Er brachte uns zu diesem Jagdgrund. Damals waren seine zwei Frauen bei ihm. Sie verließen das Schilf nicht. Nicht der Mann, nicht die Frauen. Sie hatten Angst.« »Ich sah das«, sagte Net. »Sie hatten Angst.« Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Alle konnten sich daran erinnern. »Wir sahen diesen Mann noch einmal«, fuhr Var fort. »Wir holten Salz – ich, Var, Net, Kern und Yova. Wir trafen ihn im Schilf, auf einem Pfad. Er sieht uns. Er hat Angst. Er wendet sich ab. Ich rufe: Wir kommen in
Frieden. Er läuft davon. Ich rufe wieder. Er hält an. Er kommt zurück, langsam, langsam. Er berührt mich. Er lächelt. Er ist glücklich. Jetzt hat er keine Angst. Er ruft seine beiden Frauen. Sie kommen, voller Angst, Angst. Sie berühren mich. Sie sind glücklich. Ich sage in meinem Herzen zu mir selbst: Diese Menschen glauben, Var ist tot. Er ist ein Geist. Sie berühren mich. Ich bin warm. Ich bin nicht tot. Sie sind glücklich.« »Var, du hast Recht«, sagte Yova. »Ich sah das.« »Ich sage dies«, sagte Tun. »Die Sumpf-Menschen fürchten die Dämonen-Männer. Sie sagen in ihren Herzen zu sich selbst: › Diese Fremden sind Dummköpfe. Sie gehen zu den Jagdgründen der Dämonen-Männer. Die Dämonen-Männer töten sie.‹ Sie hören Kampflärm in der Nacht. Sie sehen ein großes Feuer. Dann sehen sie unser Feuer auf dem Hügel. Es ist noch immer dort. Sie fragen: ›Leben die Fremden?‹ Sie kommen. Wir führen sie ins tote Schilf. Wir zeigen ihnen die Körper der DämonenMänner. Sie sind glücklich. Sie sind wie Ridi. Sie loben und preisen. Bald kommen andere. Auch sie sehen es.« Sie besprachen es eine Weile und kamen überein, dass Tun wahrscheinlich Recht hatte, waren aber nicht auf die Art vorbereitet, auf die es schließlich geschah. Mana hielt Wache. Sie hörte einen eigentümlichen Lärm, der sich hinter ihr in den Sümpfen erhob und immer näher kam. Nach kurzer Zeit wurde ihr bewusst, dass sie dies schon einmal gehört hatte, damals, als die Prozession der SumpfMenschen den Kopf des Krokodilmonsters, das der Stamm in die Falle gelockt und getötet hatte, zu ihrer Hauptinsel zurückgetragen hatte. Es war das Geräusch, das die Sumpf-Menschen machten, indem sie zwei der Schilfgefäße, die sie am Gürtel trugen, aneinander schlugen. Diesmal aber klang es anders. Als Mana es zum ersten Mal gehört hatte, war es ein wilder,
jagender Rhythmus gewesen, in den sich Triumphschreie gemischt hatten. Diesmal war es langsam, ernst und monoton und es wurde nicht gesungen. Mana begriff sofort, dass es ein Totengeräusch war. Offenbar hatte der ganze Stamm das Geräusch gehört, denn sie ließen alles stehen und liegen und strömten zusammen, um sich die Prozession anzuschauen. Viele Male zehn Sumpf-Menschen, Männer, Frauen und Kinder, kamen aus dem Schilf hervor und stiegen den Hügel hinauf zum Lager. Dann fand der übliche Austausch von Geschenken statt. Selbst von ihrem Beobachtungsposten oben auf dem Hügel aus konnte Mana erkennen, dass die Sumpf-Menschen viel mehr mitgebracht hatten, als der Stamm ihnen zum Tausch geben konnte. Danach bewegten sie sich aus ihrem Blickfeld zur westlichen Seite des Ausläufers, aber den ganzen Vormittag hindurch trug der Wind die traurige Musik zu ihr hinauf. Sobald Nar kam, um sie abzulösen, kletterte sie auf den Kamm und sah hinab. Tief unter ihr, auf der verbrannten Schlammbank, bewegten sich Frauen und Kinder hin und her und suchten den Boden ab, während die Männer am Ufer blieben und ununterbrochen ihre Gefäße aneinander schlugen. Hin und wieder bückte sich einer der Suchenden, hob etwas auf und trug es zum Ufer, wo es auf den Haufen gelegt wurde, der sich bereits angesammelt hatte. Obwohl sie es aus der Entfernung nicht genau erkennen konnte, begriff Mana sofort, dass sie jene Schädel einsammelten, die die Dämonen- Männer an ihren Gürteln getragen hatten. Und sie begriff auch – der Lärm der Klang-Stöcke sagte es ihr –, dass das, was sie taten, kein Dämonen-Ding war. Im Gegenteil. Sie sammelten die Schädel nicht als Trophäen ein, sondern um etwas Gutes damit anzustellen. Einige dieser Schädel waren vermutlich die Köpfe von
Sumpf-Menschen gewesen, doch da sie nicht genau wussten, welche es waren, sammelten sie alle ein. Wahrscheinlich empfanden sie dasselbe dafür wie der Stamm für Kerns Kopf und hatten auch das Bedürfnis, etwas Ähnliches zu tun wie die Mondfalken, die Kerns verstümmelten Körper wieder um den Kopf ergänzt und erst danach den Totentanz für ihn getanzt hatten. Als sie fertig waren, verabschiedeten sich die SumpfMenschen und schlängelten sich wieder ins Schilf. Die traurige Musik ihrer Klang-Hölzer wurde leiser und leiser, je weiter sie sich entfernten. Sie hatten einen großen Berg von Geschenken zurückgelassen, in der Hauptsache Fisch, aber auch Fischspeere, Krokodilzähne, geflochtene Gürtel und Gefäße. Einige der Gefäße enthielten eine farbige Paste, mit der sich die Sumpf-Menschen ihre Gesichter bemalten. Es bereitete den Kindern großen Spaß, einander mit roten und gelben Streifen und Punkten zu bemalen. In dieser Nacht aßen sie, bis ihnen fast die Bäuche platzten. Am nächsten Tag brachen Var und Suth auf, um den Norden zu erkunden. Drei Tage später, in denen alle um sie gebangt hatten, kehrten sie müde, aber wohlbehalten zurück. Sie waren den ganzen Ausläufer entlanggelaufen, immer auf demselben endlosen, kahlen Hang, hatten dann eine Kette von Hügeln erklommen, die fast Berge und ebenso kahl waren, aber keinen Guten Jagdgrund für den Stamm finden können. Fast wäre ihnen der Proviant ausgegangen, und zu dem Zeitpunkt, als sie die Spitze der Hügelkette erreicht hatten, hätten sie beinahe aufgegeben. Dann aber waren sie noch ein Stückchen weiter vorgedrungen und hatten in ein großes, viel versprechendes Tal hinabgeblickt, das genau jene Art von Gegend darstellte, nach der sie gesucht hatten. Sie hatten es kurz erkundet und kaum Spuren von Menschen
entdeckt, wohl aber reichlich Nahrung. Als sie ihren Bericht beendet hatten, lobte Tun sie überschwänglich. Dann sagte er: »Das ist gut. Morgen brechen wir auf. Macht euch bereit.« Sobald es am nächsten Morgen hell war, ging Mana zum letzten Mal zu ihrem Fischloch, krümelte Köder aufs Wasser und sah den kleinen Fischen zu, die gierig zuschnappten. Dann erschien zu ihrer großen Freude ein schöner, großer Fisch mit silbernen Schuppen und einem gelben Streifen auf den Flanken. Es war einer der besten Art, mit rosigem, festem und saftigem Fleisch, aber sie unternahm keinen Versuch ihn zu fangen. Stattdessen warf sie noch mehr Köder ins Wasser, segnete die Fische, groß und klein, und das Wasser, worin sie schwammen, und verließ das Fischloch, glücklich und traurig zugleich. Den ganzen Vormittag über zogen sie in regelmäßigem Tempo auf dem Ausläufer entlang und suchten sich einen Weg auf dem unebenen Hang. Zwei Männer liefen ihnen voraus, um sie rechtzeitig vor Gefahren warnen zu können. Als sie eine Rast einlegten, bemerkte Mana, dass Suth, der mit den anderen Männern sprach, mitten im Satz innehielt und auf die Sümpfe zeigte. Sie folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger mit den Blicken und sah sofort, was er entdeckt hatte. Weit draußen watete eine Reihe winziger Gestalten durch einen hüfttiefen Wasserlauf. »Ho! Die Sumpf-Menschen kommen auch!«, sagte Zara. »Jetzt haben sie keine Angst.« Net sprang auf die Füße, legte die Hände um den Mund, rief und winkte. Nach einer Weile sah Mana, dass die Sumpf-Menschen anhielten und sich umwandten. Alle standen auf und winkten. Die Sumpf-Menschen winkten zurück und liefen weiter, während der Stamm sich mit dem guten Gefühl wieder setzte, dieses Abenteuer nicht
allein bestehen zu müssen. »Sie benutzen einen alten Pfad«, sagte Var. »Sie kennen ihn.« »Var, du hast Recht«, sagte Chogi. »Ich sage dies. Die ganzen Sümpfe waren ihr Jagdgrund. Sie fischten hier. Sie kamen zum trockenen Land. Sie hatten keine Angst. Dann kamen Dämonen-Männer. Sie töteten Männer, sie raubten Frauen. Die Sumpf-Menschen hatten Angst. Sie gingen fort. Jetzt töten wir die Dämonen-Männer. Sie haben keine Angst. Sie kommen zurück.« »Chogi, du hast Recht«, sagte Net, und alle stimmten darin überein, dass es so sein müsse. An diesem Abend schlugen sie zeitig ihr Lager auf. Es befand sich ein Stückchen hangaufwärts, dort, wo sich das Ufer am Fuß der hohen Hügelkette in Richtung Osten schwang. Da Var und Suth sie vor dem Nahrungsmangel in den Hügeln gewarnt hatten, nahmen sie sich Zeit, um zu fischen und zwischen den Pflanzen am Ufer nach Nahrung zu suchen. Wie üblich, wenn sie ihr Lager an einer neuen Stelle aufschlugen, entfachten sie das Feuer in einer Mulde, damit es aus der Ferne nicht gesehen werden konnte. Tun stellte Wachtposten auf und dann begaben sie sich an ihre verschiedenen Aufgaben. Hier schien seit vielen Monden niemand mehr gesammelt zu haben. Mana fand einen Bau von Fong-Käfern. In seinem Eingang hielt ein Käfer lauernd Wache. Der Biss dieses Käfers war sehr giftig, aber sie lockte ihn ins Freie, indem sie ihn mit einem Grashalm kitzelte, und dann zerquetschte sie ihn mit einem Stein, den sie in der anderen Hand bereitgehalten hatte. Nun konnte sie den Bau gefahrlos ausgraben und die saftigen braunen Käfer in ihre Kürbisflasche schaufeln. Gerade als sie fertig war, hörte sie ein kurzes, pfeifendes
Zischen dichtbei im Schilf. Sie blickte auf und sah ein grell bemaltes Gesicht, das sie durch die Schilfhalme beobachtete. Sie hob die Hand, stieß einen leisen Grußlaut aus und schließlich kam der Sumpf-Mann vorsichtig hervor. Sie erkannte das Muster auf seinem Gesicht nicht wieder, doch er schien sie zu kennen. Er erwiderte ihren Gruß, schaute aber an ihr vorbei, musterte prüfend den Hang und stieß dann mit geschlossenen Lippen einen fragenden Laut aus, der wie ein leises Bellen klang. Obwohl es nicht der Grunzlaut war, den die Stachelschweine benutzt hätten, verstand sie seine Frage sofort. ›Ist es sicher? Habt ihr Dämonen-Männer gesehen?‹ Mana lächelte, grunzte beruhigend und sagte: »Komm, ich bringe dich zu Tun.« Doch als sie losgehen wollte, wies er sie mit einem Bellen an zu warten und rief jemanden, der sich im Schilf verborgen hielt. Weitere Sumpf-Menschen kamen zum Vorschein, Männer und Frauen, alle sehr eingeschüchtert und ängstlich. Eine der Frauen bot Mana einige Fische als Geschenk an, rümpfte aber vor Abscheu die Nase, als Mana ihr zum Tausch ein paar Maden geben wollte. Tun kam herbei und führte sie zum Lager. Weitere Sumpf-Menschen trafen ein und als es dämmerte, saßen zehn und noch fünf mehr zusammen mit dem Stamm rund ums Feuer und rösteten ihre Fische auf der Glut. Sie gingen wieder den Hügel hinab, um im Schilf zu schlafen – sie schienen sich nicht um die Krankheit zu scheren –, doch am nächsten Morgen hörte Mana, die noch gar nicht richtig wach war, den leisen Ruf eines der Wachtposten. Fünf Sumpf-Männer erklommen den Hügel. Sie kamen ohne Frauen und diesmal waren nicht nur ihre Gesichter, sondern ihre ganzen Körper mit grellen Farben bemalt.
»Sie kommen zum Kämpfen«, sagte Suth. »Ich erinnere mich an dies. Sie kamen, um den Krokodilkopf zu holen. Er gehörte uns. Sie sagten in ihren Herzen zu sich selbst: ›Diese Menschen geben uns den Kopf nicht. Wir müssen kämpfen. ‹ Aber Tun gab ihnen den Kopf. Wir kämpften nicht. Damals waren sie genauso bemalt.« »Suth, kämpfen sie mit uns?«, fragte Ko. »Nein. Dies ist mein Gedanke: Sie kämpfen mit den Dämonen-Männern.« Diesmal brachten die Sumpf-Männer keine Geschenke mit. Sie tauschten Begrüßungen aus, standen dann herum und warteten offenbar auf den Aufbruch des Stammes. Sobald Tun das Signal gab, liefen drei von ihnen als Kundschafter voraus, während die restlichen zwei sich zu ihm gesellten. Anscheinend kannten sie den Weg, also ließ er es zu, dass sie den Stamm in einem Bogen über den Hügel führten, bis sie einen kleinen Ausläufer erreichten, dem sie dann in Richtung der Spitze der Hügel folgten. Der Aufstieg dauerte lange und war mühsam. Schließlich sah Mana, dass sich die Kundschafter vorsichtiger zu bewegen begannen, und als sie schließlich hinter der Horizontlinie verschwanden, ließen die zwei Männer, die neben Tun hergelaufen waren, alle anhalten und warten, bis die Kundschafter wieder auftauchten und ihnen signalisierten, dass der Weg frei war. Sie stiegen bis zu einem Pass hinauf, der zwischen steil aufragenden Hügelwänden lag, und liefen im Gänsemarsch darüber, bis der Boden abzufallen begann und den Blick nach Norden freigab. Mana hörte, dass viele Menschen aufseufzten, und dann flüsterte jemand etwas, der links von ihr stand. Sie wusste nicht, wer gesprochen hatte, aber es war auch ihr Gedanke. Alle dachten dasselbe.
»Das sind Gute Jagdgründe. Gut. Gut.«
URSAGE
Die Furt von Mambaga Schwarze Antilope lief zu den weißschwänzigen Hirschen, den Hirschen von Mambaga. Er sagte zu ihnen: »Es regnet nicht mehr. Diese Weidegründe sind trocken. Jetzt zieht ihr nach Süden, zu neuen Weidegründen, zur Ragala-Niederung. Überquert ihr den Fluss bei Mambaga? Dort warten Menschen auf euch. Sie jagen euch. Sie töten viele.« Die weißschwänzigen Hirsche sagten: »Schwarze Antilope, wir kennen die Furt von Mambaga. Wir kennen keine andere.« Er sagte: »Ich zeige euch eine andere Furt. Kommt.« Er führte sie nach Osten und dann nach Süden, zur Dampfenden Schlucht. Damals war der Fluss voller Wasser. Bei der Dampfenden Schlucht stürzte er über eine Klippe. Die weißschwänzigen Hirsche sagten: »Schwarze Antilope, hier kommen wir nicht hinüber. Die Schlucht ist zu breit. Sie ist zu tief. Das Wasser dampft. Es donnert. Wir haben Angst.« Schwarze Antilope schlug mit einem Huf auf die nördliche Seite der Klippe. Sie stürzte in die Schlucht. Er sprang über die Schlucht. Er schlug mit einem Huf auf die südliche Klippe. Auch sie brach ein. Die Felsen lagen in
der Schlucht. Das Wasser wurde gestaut. Die weißschwänzigen Hirsche hatten immer noch Angst. Schwarze Antilope sprang noch einmal über die Schlucht. Er sagte: »Kommt schnell. Das Wasser steigt. Bald reißt es die Steine fort.« Er führte die weißschwänzigen Hirsche über den Steinsturz. Sie überquerten ihn auf diese Art: Seht, es dämmert. Die Ameisen verlassen ihren Bau. Den ganzen Tag lang kommen und gehen sie. Sie suchen hier nach Nahrung und dort. Dann dämmert es wieder. Sie kehren zum Bau zurück. Wer kann sie zählen? Die Erde ist schwarz von ihnen. Durch einen schmalen Spalt laufen sie in ihren Bau. Alle sind verschwunden. Auf diese Art überquerten die weißschwänzigen Hirsche den Fluss. Neben ihnen stieg das Wasser. Der letzte Hirsch lief hinüber. Das Wasser brach durch. Es riss den Steinsturz fort. Die weißschwänzigen Hirsche zogen südwärts zur Ragala-Niederung. Das Gras dort war frisch, es war grün. Sie waren glücklich. Alle Stämme versammelten sich bei Mambaga. Sie warteten auf die weißschwänzigen Hirsche. Keiner kam zur Furt. Die Männer sprachen miteinander. Sie sagten: »Warum kommen die Hirsche nicht? Das ist seltsam.« Farj hatte eine Tochter, Rimi. Ihr Gefährte war Nos. Er war von Krokodil. Farj ging zu ihm. Er sagte: »Nos, Gefährte meiner Tochter, höre mich, Farj. Ich bin alt. Ich habe viele Dinge erlebt. Dies habe ich nicht erlebt. Die weißschwänzigen Hirsche sind immer nach Mambaga gekommen. Sie kommen in dieser Jahreszeit. Nun kommen
sie nicht. Warum? Ich, Farj, sage dies. Ich bin Schlange. Unsere Männer schworen den Kriegsschwur. Wut erfüllt ihre Herzen. Die Männer von Warzenschwein schworen den Kriegsschwur. Wut erfüllt auch ihre Herzen. Die weißschwänzigen Hirsche wittern diese Wut. Sie haben Angst. Sie kommen nicht.« Nos sagte: »Farj, du hast Recht. Ich rede mit den anderen Stämmen. Ich erzähle ihnen von deinen Worten.« Alle Männer hörten zu. Sie sagten: »Nos hat Recht. Farj hat Recht.« Sie gingen zu den Männern von Schlange und von Warzenschwein. Sie sagten: »Beendet diesen Krieg, diese Narrheit.« Die Männer von Schlange und von Warzenschwein antworteten: »Wir können ihn nicht beenden. Wir schworen den Kriegsschwur.« Die Männer der Stämme sagten: »Unsere jungen Männer kommen nicht zu euch. Sie sagen nicht: Wir erwählen eure Töchter zu unseren Gefährtinnen. Eure jungen Männer kommen zu uns. Wir sagen zu ihnen: Unsere Töchter erwählen euch nicht als Gefährten. Beendet zuerst diesen Krieg.« Die Männer von Schlange antworteten: »Lasst Warzenschwein zuerst den Krieg beenden. Sie sollen den Kriegsschwur lösen. Sie sollen uns Mott geben. Wir töten ihn. Dann lösen wir den Kriegsschwur. Wir geben ihnen Ziul.« Die Männer von Warzenschwein antworteten mit denselben Worten. Beide sagten: »Wir tun es nicht als Erste. Wir verlieren nicht unser Gesicht.« Die Frauen sagten: »Ihr seid Dummköpfe.« Sie lachten nicht.
Farj und Siku lauschten diesen Worten. Sie erzählten es Schlange und Warzenschwein. Warzenschwein und Schlange sagten: »Die Männer sind reife Beeren. Sie sind so weit. Farj, du bist alt, du bist weise. Was tun wir jetzt?« Farj dachte nach. Er sagte: »Wir tun jetzt dies und das.«
NEUN Es war, als hätten sie eine andere Welt betreten. Hinter ihnen lagen der lange, trockene Hang und der Pass – Steine, Geröll, Büschel harten Grases, hier und da dornige und verkrüppelte Büsche, alle braun, versengt und mit hängenden Zweigen, selbst nach dem Regen. Eine Welt, die so gut wie tot war. Hier aber, nur ein kurzes Stück Richtung Norden, lag eine lebendige Welt mit grünen Hängen, wo Hirsche äsen konnten, Bäumen mit langen Ästen, die kühlen Schatten spendeten, Vögeln, die riefen und einander antworteten, Ranken, Büschen, Gerüchen nach Pflanzensaft und Pollen, dem Gesumm von Honigbienen und Tieren, die sich in den gefleckten Schatten bewegten – mit guter Erde, guter Luft, guten Sammel- und Jagdgründen. Ein riesiger Guter Jagdgrund dehnte sich unter ihnen aus. Mana kam ein Gedanke. Sie konnte ihn nicht ganz in Worte fassen. Suth stand neben ihr. »Suth«, flüsterte sie. »Die Dämonen-Menschen … Sie hatten dies … all dies … Warum?« Warum hatten sie dies wunderbare Tal verlassen, um zu jagen und zu töten – keine Tiere, sondern Menschen, deren Köpfe sie abschnitten und mit sich nahmen als …? Als was? Wozu brauchten sie sie? War ihr Erstes Wesen wirklich ein Dämon? Sagte es ihnen, dass sie dies tun mussten, damit es zufrieden war? Das war eine zu schreckliche Vorstellung. Suth schien ihr Gestammel zu verstehen. Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Mana, ich weiß es nicht«, sagte er. »Es ist seltsam,
seltsam.« Tun stellte natürlich Wachtposten auf und der Rest des Stammes begann mit der Suche nach Nahrung. Das war nicht im Sinne der Sumpf-Männer. Sie warteten eine Weile und versuchten dann, Tun zum erneuten Aufbruch zu überreden. Als sie begriffen, dass er dazu nicht bereit war, waren sie unglücklich, standen noch eine Weile untätig herum, wobei sie grunzten, gestikulierten und einander berührten, und liefen schließlich vorsichtig und mit kampfbereiten Fischspeeren den Hügel hinab. Der Stamm arbeitete fröhlich. Sie fanden alles, was sie wollten, Nüsse, Früchte und Wurzeln, Maden und Vogeleier. Als sie begonnen hatten, war es schon früher Nachmittag gewesen und sie hatten nicht die übliche Rast eingelegt, doch hier oben war die Luft kühler und die Aufregung und Freude, mit denen sie diesen neuen Jagdgrund erkundeten, beflügelten sie. Spät am Nachmittag hörte Mana die Rufe von Jägern und ein wenig später tauchten Net und Nar auf, die triumphierend einen großen Ameisenbären herbeischleppten, den sie überrascht und getötet hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie mehr als genug gesammelt, also führte Tun sie zurück zum Pass und fand eine gute Mulde, wo sie lagern konnten. Die Nacht wäre kalt dort oben, aber es war sicherer, im Freien zu schlafen und Wachtposten aufzustellen, anstatt weiter unten das Lager aufzuschlagen, wo Feinde und wilde Tiere zu viel Deckung hatten, um sich anzuschleichen und sie zu überfallen. In der Abenddämmerung kehrten die fünf SumpfMänner zurück. Sie wurden von einer Frau begleitet, die genau wie eine der Sumpf-Frauen aussah. Sie hatte ein Mädchen-Baby bei sich.
Die Sumpf-Männer waren allerbester Laune. Als sie zum Stamm stießen, gestikulierten sie triumphierend und boxten mit den Fäusten in die Luft. Zwei von ihnen trugen Schädel mit sich, die sie sorgsam ein Stückchen entfernt vom Feuer ablegten. Dann zeigten sie Tun und den anderen Männern voller Stolz ihre Fischspeere. »Was ist das?«, flüsterte Moru, die von der Seite des Feuers aus, wo die Frauen saßen, zuschaute. »Ich rieche Blut«, sagte Noli. »Ich glaube, sie töten Menschen.« Auch Mana war der unverwechselbare Geruch in die Nase gestiegen, doch sie hatte nicht erraten können, zu welchem Geschöpf er gehören mochte. »Wer ist diese Frau?«, sagte Shuja. »Töten die SumpfMänner ihren Gefährten? Rauben sie sie? Sie ist nicht traurig.« Die Frau hatte sich zu ihnen gesetzt und wirkte, wie Shuja gesagt hatte, benommen, aber nicht unglücklich. Sie aß, ohne ganz bei der Sache zu sein, und starrte unverwandt einen der Sumpf-Männer an, der auf der anderen Seite des Feuers saß. »Ich sage dies«, sagte Chogi mit entschiedener Stimme. »Diese Menschen waren nicht immer Sumpf-Menschen. Die Sumpf-Menschen waren ihre Freunde. Aber sie lebten hier. Dieser Jagdgrund gehörte ihnen. Dann kamen Dämonen-Menschen. Sie töteten Männer, sie raubten Frauen. Diese Männer flohen in die Sümpfe. Die SumpfMenschen sagten: ›Bleibt bei uns, lernt, wie wir leben.‹ Das taten sie. Jetzt töten wir viele Dämonen-Männer. Diese Männer sagen in ihren Herzen zu sich selbst: ›Wir kehren zu unseren eigenen Jagdgründen zurück. Wir finden unsere Frauen. Wir sehen einen Dämonen-Mann. Wir töten ihn.‹«
»Chogi, du hast Recht«, sagte Yova. »Warum bringen sie Schädel mit?«, fragte Bodu. »Ein Dämonen-Mann tötet ihre Freunde«, vermutete Moru. »Er nimmt ihre Köpfe. Jetzt töten ihn diese Männer. Sie holen sich die Köpfe wieder. Das ist gut.« Eine ganze Weile sprachen sie über diesen Gedanken, doch Mana dachte noch immer über die DämonenMenschen nach. Sie konnte ahnen, was die Sumpf-Männer vermutlich getan hatten. Es war Rache. Es war schrecklich, sicher, aber es war ein Menschen-Ding. Das, was die Dämonen-Menschen taten, war anders. Bedeutete das, dass sie am Ende doch keine Menschen waren? Nein, in ihrem Herzen wusste sie, dass sie welche waren. Dass sie Menschen waren, war das Schlimmste an der Sache. Hätte es sich nur um Tiere in Menschengestalt gehandelt, dann wären sie zwar immer noch schrecklich gewesen, aber auf eine andere Art. Die Dämonen-Männer waren Menschen, genau wie der gutmütige Suth, genau wie der starke Tun, wie der leicht erregbare Net oder der sanfte Tor – darin bestand der Unterschied. Und daran lag es, dass Manas Geist verwundet worden war, als sie einen von ihnen getötet hatte. Vielleicht würde sie es eines Tages verstehen. Mondfalke hatte ihr gesagt, sie solle warten. Also hatte Mondfalke gewusst, dass Manas Wunde eine echte Wunde war. Er hatte gewusst, dass die Dämonen-Männer Menschen waren, sonst hätte er das nicht gesagt. Der Stamm schlief rund ums Feuer. Um es wärmer zu haben, hatten sich immer einige aneinander geschmiegt. Auch die Sumpf-Männer und die Frau mit dem Baby, die sie entdeckt hatten, lagen dicht aneinander gedrängt. Am nächsten Morgen sagten sie Lebewohl und die SumpfMänner machten sich auf den Weg zurück zu den
Sümpfen, während der Stamm ins Tal hinunterging, um es ausgiebiger zu erkunden. Diesmal liefen sie schneller, wobei Kundschafter ihnen vorauseilten, und hielten nur an, um zu sammeln, wenn sie eine besonders ergiebige Stelle entdeckten. Sie kamen zu einem Bach, der von Felsen zu Felsen plätscherte, tranken von seinem sauberen, frischen Wasser, machten sich aber nicht die Mühe, ihre Kürbisflaschen zu füllen. In zwei Gruppen geteilt zogen sie auf beiden Ufern des Baches entlang, als Mana sah, dass Tor, der ihr als Kundschafter vorauslief, sich hinhockte, nach vorn spähte und ihnen mit der linken Hand gleichzeitig ein Zeichen gab, sich zu ducken. Sofort suchte sie hinter dem nächstbesten Busch Deckung. Als sie nach rechts und nach links blickte, sah sie nichts mehr vom Stamm. Abgesehen von Tinu, die auf der anderen Seite desselben Busches hockte, schien er sich in Luft aufgelöst zu haben. Sie warteten, während Tor und Net davonkrochen. Bald darauf kehrte Tor zurück und winkte ihnen, wies sie aber zugleich an, weiterhin gebückt zu gehen. Alle erhoben sich aus ihren Verstecken und schlichen weiter. Sie erreichten den Rand einer Senke, hielten an und blickten hinab. Der Hang war kurz, fiel aber steil ab. Mana sah, dass ein Lagerplatz unter ihr lag, der ständig bewohnt gewesen sein musste. Es befand sich dort eine erkaltete Feuerstelle, die, da sie von einem großen Berg Asche umringt wurde, viele Tage lang geschürt worden sein musste, ein Haufen Brennholz, ein zertrampelter Flecken Erde, ein flacher Felsbrocken, auf dem verstreut leere Samenkapseln lagen, und so weiter. Ungewohnt war nur der Anblick zweier Pfähle, die zu beiden Seiten des Pfades, der den Hügel hinabführte, in den Boden gerammt worden waren.
Neben der Feuerstelle lag ein Körper mit dem Gesicht nach unten. Seine Haut war von einem sehr dunklen Grau, in das sich ein leichtes Lila mischte, und er war beschmiert mit Blut, das einigen kleinen, tiefen Wunden entströmte. Mana hörte ein Murmeln neben sich. Bodu. »Die Sumpf-Männer töten ihn. Mit einem Fischspeer.« Ja, ein Fisch, der vom Speer getroffen wurde, wies ein solches Loch an seiner Seite auf. Chogis Vermutung vom vorhergehenden Abend war richtig gewesen. Doch es war nicht der Körper eines Dämonen-Mannes. Dazu war er zu klein. Es war ein Junge gewesen – ungefähr in ihrem Alter, vermutete Mana. Ein Dämonen-Junge. Mit einem tiefen Seufzer senkte sie den Kopf und wandte sich ab. Warum? Und warum hier, an diesem schönen Ort, in diesem Lager beim plätschernden Bach …? Sie ertrug es nicht mehr, sich dort aufzuhalten, sondern kroch davon, während ihr Tränen der Trauer um den toten Jungen in die Augen traten. Sie weinte um ihn, wie sie um Kern geweint hatte. Tod war Tod und er war immer gleich schrecklich. Durch ihren Tränenschleier konnte sie kaum etwas erkennen, stahl sich aber weiter davon und überließ es ihren Füßen, den Weg zu finden. Sie wusste, dass sie etwas Falsches tat, etwas Schlechtes, dass sie die anderen in diesem fremden Jagdgrund, wo unbekannte Gefahren lauern konnten, nicht aus dem Blick verlieren durfte. Aber sie musste alleine mit ihrer Trauer sein, ohne dass jemand zu ihr sprach und sie zu trösten versuchte. Das hätte sie nicht ertragen. Sie hielt an, weil sie nicht weitergehen konnte, wischte sich die Tränen mit dem Handrücken fort und sah sich um.
Sie stand vor einem umgestürzten Baumstamm auf einer kleinen Lichtung. Hinter ihrem Rücken war noch das leise Plätschern des Baches zu hören. Sie konnte noch nicht umkehren. Sie hatte das Gefühl, als hätte die plötzlich aufwallende Trauer die Fäden ihres inneren Selbst gelockert und gelöst – so, wie die Kordeln aus Gräsern, an denen ihre Kürbisflasche hing, gelegentlich aufribbelten –, und sie brauchte ein wenig Zeit, um sie wieder zu verflechten. Sie stand da, seufzte und schüttelte den Kopf, als hinter ihr irgendjemand schrie. Vor Schreck hätte sie fast der Schlag getroffen, dann begriff sie, dass es bloß Suth gewesen war, der sie gerufen hatte. Als sie sich umwandte, um zu antworten, zischte etwas vor ihren Füßen. Wieder fuhr sie zusammen und wich dann mit großen Augen zurück. Ein dünner, dunkler Arm glitt unter dem umgestürzten Baumstamm hervor und winkte ihr. Sie kniete nieder und blickte ins Dunkel unter dem Stamm. Dort glitzerten zwei weit aufgerissene Augen. Das Gesicht darum herum konnte sie kaum erkennen. Ein Mädchen? Eine Frau? Suth rief wieder, diesmal aus größerer Nähe. Der Arm winkte ungeduldig. Mana hob ihre Hand, die Handfläche nach außen gewandt – Friede –, und antwortete über die Schulter hinweg: »Suth, ich bin hier.« Sie erhob sich, um ihm entgegenzugehen. »Warte, Suth«, sagte sie leise. »Eine versteckt sich. Sie hat Angst. Sie sagt in ihrem Herzen zu sich selbst: ›Diese Männer töten mich.‹« »Ich hole Noli«, sagte er und rannte davon. Mana kehrte zum umgestürzten Baumstamm zurück und hockte sich an eine Stelle, wo die Frau sie sehen konnte, lächelte und stieß beruhigende Kehllaute aus, bis Noli mit Amola
eintraf. Sie hockte sich hin, schaute unter den Baumstamm und summte zum Zeichen des Grußes. Als das Mädchen – oder die Frau – sich nicht rührte, setzte sich Noli mit übergeschlagenen Beinen ins Gras und legte Amola an, die sofort glücklich zu saugen begann. Mana sah, wie die runden Augen noch größer wurden. Langsam und vorsichtig kroch der Mensch, zu dem sie gehörten, ins Freie. Es war eine seltsame kleine Frau, offensichtlich eine Erwachsene, aber selbst im Stehen nicht so groß wie Mana. Ihre Haut war dunkler als diejenige Manas, fast schwarz. Sie hatte große, hervorstehende Pobacken und ihr Gesicht war so voller Runzeln wie das eines Neugeborenen. Trotzdem wirkte sie nicht sehr alt. Sie warf hektische Blicke nach links und nach rechts und war so scheu wie eine aufgeschreckte Hirschkuh. Lächelnd stand Noli auf und ergriff ihre Hand. »Komm«, sagte sie und führte sie zurück zum Lager. Als die Frau Suth erblickte, stieß sie ein erschrockenes Keuchen aus, riss ihre Hand aus derjenigen Nolis und wich zurück. Suth machte das Friede-Zeichen und summte grüßend. Zögernd kehrte die kleine Frau zurück zu Noli und ließ sich weiterführen. Bevor sie das Lager erreichten, rief Suth den anderen zu: »Hört mich. Wir bringen eine fremde Frau mit. Sie hat Angst, Angst.« Einige Mitglieder des Stammes erklommen die Uferbank, um ihr entgegenzugehen, doch sie hielt wieder an und wich zurück. Dann schien sie auf einmal beschlossen zu haben, dass diese Neuankömmlinge ihr nichts Böses wollten, übersah sie jedoch, eilte an ihnen vorbei hinab zum Lagerplatz und verschwand aus Manas Augen. Mana konnte es nicht ertragen, noch einmal einen
Blick auf den toten Jungen zu werfen, also fragte sie Shuja, als sie weiterzogen, was vor sich gegangen war. »Sie drehte den Jungen um«, sagte Shuja. »Sie sah ihn an. Mein Gedanke war: Es ist ihr Sohn. Aber sie trauerte nicht. Sie ging zur Feuerstelle. Sie nahm Asche. Sie rieb sie auf sein Gesicht. Sie stand kurz da. Sie wandte sich ab. Es war vorbei.« »Das ist seltsam«, sagte Bodu. »Ist es eine DämonenFrau? Ich sage: Nein.« Unterwegs sprachen sie weiter darüber. Sie folgten dem Hang in grob östlicher Richtung und stiegen nicht tiefer ins Tal hinab, um abends, wenn sie ihr Lager aufschlugen, nicht erst wieder zum offenen Gelände hinaufsteigen zu müssen. »Ich sage dies«, sagte Chogi schließlich. »Ihre Haut ist schwarz. Die Haut der Dämonen-Menschen ist dunkel wie unsere. Die Haut des Jungen ist dunkler. Ein DämonenMann raubte diese Frau. Er war der Vater. Der Junge ist ihr Sohn. Sie will ihn nicht. Aber er ist ihr Sohn.« »Das ist traurig, traurig«, sagte Bodu. Die kleine Frau, die neben ihnen hertrottete, schien es nicht so zu empfinden. Sie machte inzwischen einen selbstsichereren Eindruck, verhielt sich so, als hätte sie schon immer zu ihnen gehört, und half ihnen jedes Mal bereitwillig, wenn sie anhielten, um Nahrung zu sammeln. Den toten Jungen schien sie völlig vergessen zu haben. Gegen Mittag aber, als sie nach einer geeigneten Stelle suchten, um zu rasten und zu essen, stieß sie einen ihrer merkwürdigen Laute aus, lächelte, hob ihre Hand wie zum Abschied und lief dann den Hang hinab. Ein wenig später hörten sie, wie sie rief. Aus der Ferne ertönten nacheinander zwei Rufe als Antwort. »Sie findet Freunde«, sagte Bodu. »Gehen wir sehen?«
Noch bevor jemand antworten konnte, sah Mana, wie Ridi vor Tun auf die Knie fiel und das stöhnende Winseln von sich gab, mit dem sie um etwas zu bitten pflegte. Sie zeigte in die Richtung, in der die Frau verschwunden war. »Das sind Frauenstimmen«, sagte Tun. »Wir finden sie. Wir machen Geschenke. Sie sind Freunde. Ist das gut?« Also brachen sie auf. Ridi lief voraus, wandte sich ab und zu um und winkte ihnen, schneller zu gehen. Nach kurzer Zeit hielt sie an und rief. Von unten ertönte eine Antwort. Ridi begann zu laufen und verschwand. Sie folgten ihr und fanden sie weiter unten auf dem Hügel. Sie hielt eine andere Frau bei der Hand und führte sie zum Stamm. Diese Frau trug ein Kind auf der Hüfte, ein Mädchen, das ein wenig jünger zu sein schien als Tan. Die Mutter sah Ridi oder einer der Sumpf-Frauen sehr ähnlich, doch die Haut des Kindes war dunkler und schimmerte leicht gräulich. Offenbar waren die Mutter und Ridi gute Freundinnen, denn sie lachten und weinten vor Glück über ihr Wiedersehen. Sie begrüßten Tun und führten die Schar dann zu einem anderen Lagerplatz. Er glich dem ersten, den sie entdeckt hatten, war aber größer und das Feuer brannte noch. Dort befanden sich zwei weitere Frauen: jene, die Mana morgens gefunden hatte, und eine andere, die ihre Schwester hätte sein können, denn sie hatte dasselbe runzlige Gesicht, ebenso schwarze Haut und riesige Pobacken. Im Arm hielt sie ein tiefschwarzes Baby. Außerdem trieben sich dort ein genauso schwarzes, älteres Mädchen und ein kleiner Junge mit viel hellerer Haut herum. Ridis Freundin schien seine Mutter zu sein. Ein weiterer Unterschied zum ersten Lagerplatz, den sie entdeckt hatten, bestand darin, dass an seinem Eingang vier Pfähle aufgestellt worden waren. Auf jedem steckte
ein menschlicher Schädel. Dieser Anblick würde sich ihnen in den nächsten Tagen häufiger bieten: ein seit langer Zeit bewohnter Lagerplatz, in dessen Mitte ein Feuer brannte, Frauen und Kinder, die Nahrung verarbeiteten oder irgendwo in der Nähe sammelten, sowie zwei oder mehr Pfähle, bekrönt von den furchtbaren Trophäen. In den meisten Fällen glichen die Frauen den SumpfMenschen und waren schmal und hellhäutig. Einige ähnelten der seltsamen kleinen Frau, die Mana in der Nähe des Lagerplatzes mit dem toten Jungen gefunden hatte. Andere wiederum waren groß und dünn und ihre Haut wies denselben lila Schimmer auf wie die der DämonenMenschen. Die Kinder waren eine Mischung aus diesen Körperformen und Hautfarben, doch einige sahen aus wie richtige Dämonen-Menschen. Wenn der Stamm auf einen dieser Lagerplätze stieß, nahmen die kleinen Frauen sofort Reißaus, um sich zu verstecken. Die hellhäutigen Frauen wollten es ihnen meist gleichtun, kamen aber zögernd zurück, wenn Ridi ihnen etwas zurief. War aber eine Dämonen-Frau darunter, dann stand sie auf und stellte sich ihnen, gemeinsam mit ihrem Dämonen-Kind, stolz entgegen. Es machte den Eindruck, als wüssten sie nicht, was es bedeutete, Angst zu haben. Als dies zum ersten Mal geschah, konnte Mana Mutter und Kind nur anstarren, doch als der Stamm weiterzog, wünschte sie sich, sie hätte mehr getan – sie begrüßt, gelächelt, zu ihnen gesprochen –, irgendetwas getan, um ihnen und sich selbst zu zeigen, dass sie etwas gemeinsam hatten – Menschen waren. Beim nächsten Mal also, einige Tage später, ging sie auf die Dämonen-Frau zu, begrüßte sie mit erhobener Hand und gab den Summton von sich, den die Sumpf-Menschen bei derartigen Anlässen
benutzten. Die Dämonen-Frau warf ihr einen abschätzigen Blick zu und sah wieder fort. Der Junge – klein und gerade alt genug, um zu laufen, ohne immer wieder hinzufallen – starrte Mana aus dunklen, unfreundlichen Augen an. Sie lächelte und streckte eine Hand aus, um ihn zu berühren. Sofort zischte die Mutter wie eine Schlange und riss ihren Sohn außer Reichweite. Mana fuhr zurück und versuchte weiterhin zu lächeln, doch die Mutter blickte bewusst von ihr fort. Als Mana kehrtmachte, sah sie, dass sie von einigen Mitgliedern des Stammes beobachtet wurde. Chogi runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Als sie weiterzogen, fühlte sich Mana sehr bedrückt. Sie unternahm keinen Versuch mehr, sich mit einer DämonenFrau anzufreunden. All das war schon schlimm genug, doch die Dinge nahmen eine noch schlimmere Wendung. Der Stamm hatte sich tiefer ins Tal vorgewagt und war nun dabei, sich einen Weg zurück nach Westen zu bahnen. Unterwegs erkundeten sie weiter die Gegend. Wenn sie jetzt auf einen der Lagerplätze stießen, glichen sie meist dem ersten, den sie entdeckt hatten. Die Schädel waren von den Pfählen genommen worden. Das Feuer war erloschen oder am Verglimmen und manchmal lag ein Leichnam oder mehrere neben der erkalteten Glut, Dämonen-Frauen und dunkelhäutige Kinder. Alle anderen Frauen und Kinder waren verschwunden. Niemand antwortete, obgleich Ridi immer wieder rief. Dieser Anblick erfüllte den Stamm mit demselben Schrecken wie Mana. Die Schande, die es für einen Mann bedeutete, eine Frau oder ein Kind zu töten, war unsagbar groß. Sein eigener Stamm wäre geächtet, bis man ihn gestellt hätte. Sofern er einen hätte, würde sein eigener Bruder ihn erschlagen. Ein Totentanz fände nicht statt.
Man würde seinen Leichnam stattdessen zu einem der Jagdgründe der Dämonen bringen und ihn dort liegen lassen, damit die Dämonen seinen Geist fressen konnten. Seinen Namen würde man mit Bedacht vergessen. In der langen Geschichte der Stämme waren nur drei solcher Namen zur Warnung in Erinnerung geblieben. Da. Mott. Ziul. Dämonen-Männer, ob tot oder lebendig, sah der Stamm nicht, und zu Manas Erleichterung begegneten sie keinem der Sumpf-Männer, die diese Morde begangen hatten. Trotz ihrer seltsamen Lebensweise schienen sie immer Freunde des Stammes gewesen zu sein, nun aber hätte sie nicht gewusst, wie sie ihnen hätte gegenübertreten sollen. »Wir bleiben nicht hier«, sagte Tun. »Dieser Jagdgrund ist voller Geister. Es sind Dämonen-Geister. Niemand tanzt den Totentanz für sie.« Also führte er sie rasch Richtung Westen und dann nach Norden, bis sie zu einer Gegend kamen, die bei weitem nicht so fruchtbar war und wo sich überhaupt keine Lagerplätze zu befinden schienen. Sie glich jener Art von Landschaft, an die sie gewöhnt waren – offener und mit weit verstreuten Guten Jagdgründen, zwischen denen das Land fast kahl und von Felsen, Sand und Steinen, grobem, von der Sonne verbranntem Gras und dornigen Büschen mit harten Blättern bedeckt war. Hier fühlten sich alle viel wohler in ihrer Haut. Es hatte fast den Anschein, als wäre das Leben auf jenen nach Norden blickenden Hängen zu leicht, zu reichhaltig und zu großzügig gewesen. Eines Abends sprachen sie beim Feuer darüber und Mana kam ein seltsamer Gedanke. Sie dachte kurz darüber nach und berührte Noli dann am Arm. Noli sah sie an und hob fragend die Augenbrauen. »Ich habe einen Gedanken«, flüsterte Mana. »Die Dämonen-
Menschen. Sie beunruhigen mich. Warum tun sie diese Dinge? Ich sage dies. Jene anderen Jagdgründe – sie sind zu gut. Die Frauen machen alles. Sie sammeln, sie stellen Fallen. Sie finden Nahrung, reichlich, reichlich. Was tun die Männer? Sie jagen, sie erbeuten Hirsche, zwei, drei – es gibt viele Hirsche, viele. Sie können all die Hirsche gar nicht essen. Sie sagen in ihren Herzen zu sich selbst: ›Ich habe nichts zu tun – ich jage Menschen.‹ Ist das ein Menschen-Ding, Noli? Tut Tun so etwas? Tut Suth es?« Noli nahm die Frage ernst und dachte mit gerunzelter Stirn darüber nach. »Mana, ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich weiß, Tun tut es nicht. Ich weiß, Suth tut es nicht. Aber Männer müssen irgendetwas tun. Ein Mann sagt in seinem Herzen zu sich selbst: ›Die Menschen sollen mich sehen. Sie sollen sagen: Das ist ein Mann.‹« Ja, dachte Mana, so war es. Männer mussten beim Feuer stehen und mit ihren Taten prahlen. Im Stamm prahlten sie für gewöhnlich mit der Jagd, denn die Jagd war schwierig und wenn sie erfolgreich war, konnte man sehr wohl damit prahlen. Aber angenommen, die Jagd wäre leicht, was gab es dann noch? Es gab das Kämpfen, Mann gegen Mann. Wenn ein Mann einen anderen tötete, dann war er der bessere. Und um noch mehr prahlen zu können, brächte er als Beweis für seine Tat vielleicht den Kopf des Toten mit. In dieser Nacht schlief sie schlecht ein, weil sie weiter darüber nachdachte. War es so? Musste es so sein?
URSAGE
Das Kieselsteinspiel Die Stämme verließen Mambaga. Sie sagten: »Wir wollen nicht kämpfen. Warzenschwein zieht nach Westen, vorbei an Wasserloch-der-Bienen. Schlange zieht nach Osten, vorbei an Gelbquelle.« Der Stamm von Warzenschwein war einen Vormittag lang unterwegs. Ein Schwein stand ihnen im Weg. Das Schwein war fett. Sie sagten: »Das ist merkwürdig. Dieses Schwein hat keine Angst vor Menschen. Warum?« Siku sagte: »Ich, Siku, zeige es euch.« Sie trat vor. Sie war klein. Das Schwein legte sich hin. Siku kletterte auf seinen Rücken. Das Schwein stand auf. Siku sagte: »Kommt.« Das Schwein lief in Richtung Gelbquelle. Sie sagten: »Sollen wir folgen? Die Stämme sagten: ›Zieht an Wasserloch-der-Bienen vorbei.‹ Wenn wir nach Gelbquelle gehen, sind sie wütend. Aber seht, das Schwein läuft nicht vor uns weg. Ein Kind, ein Mädchen-Kind, klettert auf seinen Rücken. Sie spricht zu den Älteren. Sie
hat keine Angst. Ist dies ein Ding der Ersten Wesen? Wir folgen diesem Schwein. Wir sehen.« Sie zogen in Richtung Gelbquelle. Sie folgten dem westlichen Pfad. Der Stamm von Schlange zog auf dem nördlichen Pfad nach Gelbquelle. Sie kamen in die Nähe des Ortes. Eine Schlange lag auf ihrem Weg, eine große Baumschlange, grün und schwarz. Sie sagten: »Das ist seltsam. Hier gibt es keine Bäume. Hier liegt diese Baumschlange. Sie versteckt sich nicht vor den Menschen. Warum?« Farj sagte: »Ich, Farj, zeige es euch.« Er trat vor. Die Baumschlange richtete sich auf. Sie wand sich um ihn. Ihr Kopf lag auf seiner Schulter. Sie erdrückte ihn nicht. Er sagte: »Wartet.« Sein Stamm sah ihn an. Sie sagten: »Das ist der alte Farj. Er zittert. Er murmelt. Aber seht, die Schlange windet sich um ihn. Sie erdrückt ihn nicht. Ist das ein Ding der Ersten Wesen? Wir warten.« Es war Abend. Die Sonne stand niedrig. Der Stamm von Warzenschwein kam in die Nähe von Gelbquelle. Das Schwein hielt an. Siku kletterte von seinem Rücken. Das Schwein lief. Es war verschwunden. Die Menschen hatten Durst. Ihre Kürbisflaschen waren leer. Sie gingen zur Quelle. Sie erreichten die Quelle auf dem westlichen Pfad. Dasselbe geschah mit dem Stamm von Schlange. Die Baumschlange schlängelte sich vom alten Farj hinunter. Sie war verschwunden. Die Menschen hatten Durst, ihre Kürbisflaschen waren leer. Sie gingen zur Quelle. Sie erreichten sie auf dem nördlichen Pfad.
Bei Gelbquelle trafen sich beide Stämme. Die Männer sahen ihre Feinde. Sie sagten: »Jetzt kämpfen wir. Hier begann dieser Krieg. Hier beenden wir ihn.« Die Frauen packten sie bei den Armen. Sie sagten: »Dieses Ende ist dumm, dumm. Kämpft nicht.« Die Männer sagten: »Menschen wurden getötet, Blut floss aus Wunden, wilde Schläge wurden geführt. Für all das muss bezahlt werden. Ein Tod für einen Tod, eine Wunde für eine Wunde, ein Schlag für einen Schlag.« Farj stellte sich vor seinen Stamm. Schwarze Antilope trat hinter ihn. Niemand sah ihn. Er blies seinen Atem auf Farj. Farj rief mit kräftiger Stimme, mit der Stimme eines Anführers: »Das ist gut. Ich, Farj, zähle für euch. Ich zähle unsere Tode, unsere Wunden, unsere Schläge. Wir sind Schlange. Eine Schlange wand sich um mich. Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter. Das war ein Zeichen für euch. Ich bin erwählt.« Die Männer sagten in ihren Herzen zu sich selbst: Warzenschwein tötete seinen Sohn. Das vergisst er nicht. Er will Rache. Die Frauen sagten in ihren Herzen zu sich selbst: Ein Sohn lebt noch. Er will seinen Tod nicht. Er will Frieden. Beide Gruppen sagten: »Wir sahen das Zeichen. Farj soll für uns zählen.« Siku stand vor ihrem Stamm. Schwarze Antilope trat hinter sie. Niemand sah ihn. Er blies seinen Atem auf Siku. Siku rief mit klarer Stimme, mit der Stimme einer reifen Frau: »Das ist gut. Ich, Siku, zähle für euch. Ich zähle unsere Tode, unsere Wunden, unsere Schläge. Wir sind Warzenschwein. Ein fettes Schwein verstellte uns den Weg. Es legte sich hin. Ich kletterte auf seinen Rücken. Es
führte euch nach Gelbquelle. Das war ein Zeichen für euch. Ich bin erwählt.« Die Männer sagten in ihren Herzen zu sich selbst: »Sie ist ein Kind. Sie zählt. Das gefällt uns nicht. Wir sagen: ›Ein Kind tat es. Das ist nichts. Lasst uns noch einmal zählen. Lasst einen Mann zählen‹.« Die Frauen sagten in ihren Herzen zu sich selbst: Ihr Vater wurde getötet. Ihre Mutter starb. Sie kennt Krieg, sie weiß, was er uns antut. Beide Gruppen sagten: »Wir sahen das Zeichen. Siku soll für uns zählen.« Farj sagte: »Das ist gut. Wir zählen jetzt. Wir spielen das Kieselsteinspiel.« Farj und Siku gingen zur Quelle. Er war groß, er war stolz, er war ein Anführer. Sie war klein, sie war ein Kind, ein Mädchen-Kind. Sie steckten ihre Hände ins Wasser. Sie holten Kieselsteine heraus, schwarze und gelbe und graue. Sie leerten ihre Kürbisflaschen. Sie gingen zu ihren Stämmen. Sie zählten die Tode, die Wunden, die Schläge. Für jeden Tod taten sie einen schwarzen Kieselstein in ihre Kürbisflasche. Für jede Wunde einen gelben Kieselstein. Für jeden Schlag einen grauen Kieselstein. Sie gingen zur Quelle. Sie knieten sich hin. Die Stämme waren um sie versammelt. Niemand rührte sich. Niemand atmete. Sie sahen Farj und Siku zu. Farj sagte: »Ich setze Schwarz. Ich setze fünf Tode.« Er steckte die Hand in seine Kürbisflasche. Er holte fünf schwarze Kieselsteine heraus. Er setzte sie in einer Reihe. Siku steckte die Hand in ihre Kürbisflasche. Sie holte schwarze Kieselsteine heraus. Sie setzte sie in einer Reihe. Es waren fünf. Siku sagte: »Ich setze Gelb. Ich setze zehn und noch drei
Wunden.« Sie steckte die Hand in ihre Kürbisflasche. Sie holte zehn und noch drei gelbe Kieselsteine heraus. Sie setzte sie in einer Reihe. Farj steckte die Hand in seine Kürbisflasche. Er holte gelbe Kieselsteine heraus. Er setzte sie neben Sikus Reihe. Es waren zehn und noch drei. Farj sagte: »Wir setzen Grau. Wir setzen Schläge. Wir setzen immer abwechselnd.« Jeder steckte die Hand in seine Kürbisflasche. Immer abwechselnd setzten sie die grauen Kieselsteine. Jeder setzte zehn und zehn und noch zwei. Farj sagte: »Meine Kürbisflasche ist leer.« Siku steckte die Hand in ihre Kürbisflasche. Sie holte einen grauen Kieselstein heraus. Sie setzte ihn. Sie sagte: »Meine Kürbisflasche ist leer.« Sie erhoben sich. Sie standen sich gegenüber. Farj war groß, er war stolz, er war ein Anführer. Siku war klein, ein Kind, ein Mädchen-Kind. Farj sagte: »Siku, schlag mich.« Siku schlug Farj. Sie schlug ihn mit der Kraft eines Kindes. Er stürzte. Er jaulte. Er schrie: »Oh, oh! Ich wurde von einer starken Faust geschlagen! Oh, oh!« Alle sahen es. Alle hörten es. Niemand sprach. Sie sagten in ihren Herzen zu sich selbst: Was soll das? Was hat das zu bedeuten? Farj lag am Boden, ein großer Mann, ein Anführer. Er jaulte. Siku stand über ihm, ein Mädchen, ein Kind. Sie hob die Faust und schüttelte sie, sie triumphierte. Ein Junge lachte. Alle hörten ihn. Sie sagten in ihren
Herzen zu sich selbst: Das ist ein Lach-Ding. Alle lachten. Ihr Lachen war von dieser Art: Seht, es ist Regenzeit. Die Luft ist schwül, sie ist schwer. Männer fauchen, sie suchen den Kampf. Frauen zetern, sie beschimpfen ihre Gefährten mit heftigen Worten. Kinder quengeln, sie sind schlecht. Nun aber seht: der Regen kommt, er geht. Die Luft ist leicht, die Erde duftet gut. Alle sind glücklich. Alle sind gut. Von dieser Art war das Lachen der zwei Stämme. Farj erhob sich. Er ging zur Quelle. Er holte einen grauen Kieselstein heraus. Er setzte ihn. Die Reihen waren gleich lang. Er sagte: »Alles ist beglichen. Jetzt ziehen wir nach Odutu, Odutu im Schatten des Berges. Wir lösen den Kriegsschwur.«
ZEHN Mana sammelte Nahrung. Nicht weit von ihr entfernt standen Bodu und Nar unter einem Stinkfruchtbaum und warteten darauf, dass Tinu, die hinaufgeklettert war, sich weit genug auf einem Ast entlangtastete, um die Früchte mit ihrem Fischspeer herunterzuschlagen. Reife Stinkfrüchte waren sehr weich. Wenn man versuchte, sie mit Steinwürfen herunterzuholen, dann zerplatzten sie entweder, wenn man sie traf oder wenn sie hinabfielen und auf die Erde klatschten. Also musste jemand auf den Baum klettern und immer eine auf einmal herunterschlagen, während ein anderer unter dem Baum stand, um sie aufzufangen. Diesmal war das noch schwieriger, denn zwischen den reifsten Früchten befand sich ein Hornissennest und die Hornissen flogen ständig ein und aus. Um ihnen nicht zu nahe zu kommen, benutzte Tinu ihren Fischspeer. Einige von ihnen hatten die Fischspeere behalten, weil sie, abgesehen vom Fischen, in vieler Hinsicht nützlich waren. Mana half nicht, weil sie Stinkfrüchte nicht besonders gerne mochte. Einige meinten, sie schmeckten köstlich, obwohl selbst sie sich die Nase zuhalten mussten, um sie zu essen. Hornissen mochte sie ebenso wenig, also hatte sie sich aufgemacht, um nach etwas anderem zu suchen. Als Bodu den Baum in der Nähe entdeckt hatte, hatten sich alle vier schon am Ende der Kette von Sammlern befunden und deshalb war Mana jetzt noch weiter vom Rest des Stammes entfernt. Wenn sie allein unterwegs war, bewegte sich Mana sehr vorsichtig und wachsam und hielt jedes Mal inne, um Ausschau zu halten und zu wittern, bevor sie weiterging.
Also hörte sie die Geräusche, die auf sie zukamen, schon aus weiter Entfernung – jemand rannte, rannte verzweifelt und mit unsicheren Schritten und holte keuchend Luft. Sie wusste sofort, dass der Läufer dicht an ihr vorbeikäme. Fremder kommt. Verstecken. Ihn sehen. Dann überlegen. Sieht er dich? Das war eine Regel, die Mana eingetrichtert worden war, sobald sie die ersten Wörter hatte sprechen können. Sie kauerte sich hin und wartete. Der Läufer kam in Sicht. Es war eine Dämonen-Frau. Mana sah nur ihren Kopf und ihre Schultern hinter ein paar Büschen, bis sie schließlich hinter einem größeren Dickicht verschwand. Dahinter lag offenes Gelände. Mana wartete darauf, dass sie wieder auftauchte. Sie konnte noch immer den schweren, erschöpften Atem hören, aber die Frau schien angehalten zu haben. Dann lief sie weiter und kam plötzlich in Sicht, eine große, schlanke, dunkelhäutige Frau, deren unsichere, taumelnde Schritte zeigten, wie nahe sie dem Ende ihrer Kräfte war. Sie überquerte den Streifen offenen Geländes und verschwand. Mana blieb, wo sie war. Sie wusste schon, was als Nächstes geschehen würde. Wie konnte sie helfen? Zu den anderen Sammlern laufen und sie um Hilfe bitten? Dazu war keine Zeit mehr – so, wie die Frau lief, mussten ihre Verfolger ihr dicht auf den Fersen sein. Außerdem waren die meisten Männer auf der Jagd. Und sie würden sowieso nicht kommen – vor einiger Zeit hatte sie den Entschluss der Erwachsenen mitbekommen, dass das, was sich zwischen den Sumpf- und den Dämonen-Menschen abspielte, nicht die Sache des Stammes war. Mana blieb nichts anderes übrig, als unter den Busch zu kriechen und mit traurigem Herzen zu warten. Warte.
Die Stimme von Mondfalke schien es in ihrem Geist zu flüstern. Unmittelbar darauf hörte sie die Rufe der Jäger, die der noch frischen Spur folgten. Sie hatten sich verteilt, um ihre Beute nicht zu verlieren, falls sie einen Haken schlagen sollte. Wenn sie eine frische Spur entdeckten, verständigten sie sich beim Laufen mit Rufen. Mana hörte ihren leicht gehenden Atem und das Getrappel ihrer Schritte. Dann tauchten sie auf, vier Sumpf-Männer. Der Mann am nächsten war deutlich zu erkennen, er lief keine zehn Schritte weit entfernt an ihr vorbei, die anderen an seiner Seite, alle im federnden Laufschritt von Jägern, leicht und selbstsicher und in der Gewissheit, dass ihre Jagd bald zu Ende wäre. Der Mann, der aus Manas Sicht der zweite war, folgte der eigentlichen Spur. Wie die Frau tauchte auch er einen Augenblick lang hinter den niedrigen Büschen auf und verschwand dann hinter dem Dickicht, aber er erreichte das offene Gelände dahinter viel schneller. Alle vier waren bald außer Sichtweite. Was hatte die Frau dort getan? Warum hatte sie angehalten, wo ihr die Verfolger doch so dicht im Nacken saßen? Sich ausgeruht? Nein. Wenn ein Läufer anhält und um Luft ringt, verlangsamt sich der Atem und die Züge werden tiefer. Ihre Atemzüge aber waren, wenn überhaupt, schneller geworden. Sie hatte irgendetwas getan, und zwar in fieberhafter Eile … Nach einem Versteck gesucht? Vielleicht, aber … Egal, Mana musste zu den anderen zurückkehren, damit sie wussten, wo sie steckte. Sie kroch unter dem Busch hervor und ging mit unguten Gefühlen und einem schlechten Geschmack im Mund zurück zum Stinkfruchtbaum. Nar und Bodu sahen nicht mehr Tinu,
sondern der Jagd zu. In der Ferne riefen zwei Männer, einer hinter Mana, der andere links von ihr. Die anderen stimmten wild und triumphierend ein. Die Jagd war zu Ende. Die Frau hatte ganz bestimmt nicht geschrien oder um ihr Leben gebettelt – es war eine Dämonen-Frau … Seltsam, dass sie überhaupt geflohen war … Eine Dämonen-Frau, die sich verkroch …? Mana erinnerte sich an die Dämonen-Frauen, die dem Stamm auf den Lagerplätzen in der Erwartung gegenübergetreten waren, getötet zu werden, und die zu stolz gewesen waren, um zurückzuzucken oder Angst zu zeigen. Doch das Flüstern in ihrem Geist eben war keine bloße Erinnerung gewesen. Warte, hatte Mondfalke gesagt und ihr etwas mitteilen wollen, als sie unter dem Busch gelegen hatte. Mana machte kehrt, lief zu der Stelle zurück, wo sie gelegen hatte, und ging dann vorsichtig weiter zur anderen Seite der Büsche, wobei sie sich den steinigsten Untergrund aussuchte. Hinter den Büschen war der Boden sandig und sie konnte zwei Spuren sehen, jene der Frau und dicht daneben die des Jägers. Vor einer steinigen Stelle hörten die Spuren auf, um auf dem Sand gleich dahinter wieder zu beginnen. Die Frau musste also auf den Steinen angehalten haben. Mana musterte hastig das Gelände und suchte nach einem Weg, um die Stelle zu erreichen, ohne eigene Spuren zu hinterlassen. Doch sie fand keinen. Die Jäger würden die Spur wieder zurückverfolgen, um das zu finden, was gefehlt hatte, also rannte sie zu den Steinen, bückte sich und hob einen Zweig des größten Busches an, der bis auf die Erde reichte. Dort lag ein Dämonen-Baby. Es war ein Junge, ungefähr
neun Monde alt. Er war wach, gab aber keinen Mucks von sich und starrte Mana nur aus großen, verschwommenen Augen an, als sie ihn aufhob und auf dem Weg zurücktrug, den sie gekommen war. Nar und Bodu standen unter dem Stinkfruchtbaum und beobachteten sie, aber sie ging nicht gleich auf sie zu. Um die Sumpf-Männer zu verwirren, lief sie zu einem anderen Dickicht und hinterließ bewusst einige Fußspuren, genau wie die Frau. Sobald sie dort war, beschloss sie, den Eindruck zu erwecken, als habe sie sich zwischen den Büschen verstecken wollen, um dann, ohne eine Spur zu hinterlassen, zu den Sammlern zurückzukehren. Als sie sich den Büschen näherte, hörte sie Nars warnenden Ruf. »Mana! Sumpf-Männer kommen!« Sie machte kehrt und rannte auf den Baum zu. Linker Hand sah sie zwei Sumpf-Männer, die die Spur zurückverfolgten. Sie hatten schon das offene Gelände erreicht, das dicht hinter dem steinigen Geländestreifen lag. Sie mussten sie gesehen haben, aber das Baby war hinter ihrem Körper versteckt. Gleich würden sie ihre Fußspuren entdecken und die Sache durchschauen. Sie presste das Baby an sich und rannte weiter. Sie keuchte schon vor Anstrengung, als sie den Ruf der Sumpf-Männer hörte. Nar und Bodu standen inzwischen hinter dem Baum und riefen die anderen Sammler zu Hilfe. Sie blickte schnell nach rechts und links und sah, dass die Sumpf-Männer herbeigesaust kamen, um ihr den Weg abzuschneiden. Mana war näher am Baum als sie, doch sie waren schneller und holten immer weiter auf. Als sie den Baum erreichte, war ihr Vorsprung auf wenige Schritte zusammengeschrumpft. Sie war gedankenlos hierher gelaufen, weil dies die Stelle war, wo sich ihre Freunde befanden, aber nur Nar, Bodu und Tinu,
die oben im Baum saß, konnten sich den Sumpf-Männern entgegenstellen. Nar kam zurückgelaufen, um zu helfen. Bodu winkte den Sammlern hektisch zu. Einen Augenblick lang überlegte Mana, das Baby zu Tinu hinaufzuwerfen, aber das war sinnlos. Sie wusste, dass sie nicht mehr die Kraft dazu hatte. Sie wandte sich um und stellte sich den Sumpf-Männern. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Sie waren zu zweit. Die anderen beiden waren nicht zu sehen. Sie hoben ihre Fischspeere. Mana konnte das frische Blut riechen und sehen, das an den schrecklichen Spitzen klebte. »Nein!«, schrie sie. »Ihr tötet es nicht. Das ist schlecht, schlecht!« Sie sahen einander an und senkten die Fischspeere ein wenig, doch Mana sah, dass sie noch immer außer sich vor Wut waren. Sie erkannte sie nicht, war sich aber sicher, dass sie wussten, dass sie zum Stamm gehörte. Wenn möglich würden sie es vermeiden, sie zu verletzen, denn die Sumpf-Menschen waren mit dem Stamm befreundet und verbündet und ohne den Stamm würden sie sich noch immer voller Angst vor den Dämonen-Menschen in den Sümpfen verstecken. Einer von ihnen stieß den Gib-Laut aus – nicht in einem bittenden, sondern in einem befehlenden Ton –, tat einen Schritt auf Mana zu und streckte den Arm nach dem Baby aus. Sie wich zurück, doch da fiel plötzlich etwas vom Baum genau vor die Füße des Mannes und zerplatzte. Verwirrt hielt er mitten im Schritt inne. Es entstand eine kurze Pause und dann stieg eine Wolke wütender Hornissen auf und verschluckte ihn. Mana machte kehrt und lief. Der Schrecken, den ihr die Hornissen eingejagt hatten, vervielfachte ihre Kräfte. Bodu und Nar rannten schon voraus. Irgendjemand lief
neben ihr. Tinu. Sie musste in genau jenem Augenblick vom Baum gesprungen sein, als sie das Hornissennest heruntergestoßen hatte. Doch Mana keuchte schon wieder. Ihre Knie begannen unter ihr nachzugeben. Sie konnte nichts sehen – ihr Kopf war erfüllt von Schwärze. Ihr Fuß verfing sich in irgendetwas. Sie stolperte, stürzte, immer noch das Baby im Arm haltend, und versuchte sich im Fallen so zu drehen, dass sie nicht darauf fiel … Ein Arm griff zu und stützte sie. Eine Männerstimme grunzte. Tor. Dann grunzte er noch einmal, diesmal erstaunt. Er hatte das Dämonen-Baby gesehen. »Was passiert?«, fragten zahlreiche Stimmen auf einmal. Mana konnte nicht sprechen. Ihre Lungen sogen pfeifend Luft durch die Kehle, ihr Herz hämmerte gegen den Brustkasten, ihr Kopf war von einem rötlichen Dunkel erfüllt. Sie hörte, wie Nar begann, das zu beschreiben, was er gesehen hatte – nicht alles, aber genug … Als sie sich schließlich so weit erholt hatte, um wieder etwas sehen zu können, war schon die Hälfte der Sammler zu der Gruppe gestoßen und andere kamen hinzu. Die Geschichte musste für jeden Neuankömmling wiederholt werden. Mana stand mitten zwischen ihnen, hielt den Kopf über das Baby gesenkt und wagte es nicht, den anderen ins Gesicht zu sehen. Die Stimmen sagten ihr, dass keiner froh über das war, was sie getan hatte. Sie hörte Zweifel, Ablehnung, Angst, Verwirrung aus ihnen heraus. Auf ihrer linken Schulter und Hüfte pochte ein wilder Schmerz. Hornissenstiche. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie gestochen worden war. Dann kam die Menge rings um sie in Bewegung und als sie aufblickte, sah sie, dass die vier Sumpf-Männer auf sie zukamen und der Stamm sich zusammenscharte, um sich
ihnen entgegenzustellen. Sie versteckte sich hinter Bodu und schaute über ihre Schulter, wobei sie darauf achtete, dass das Baby nicht zu sehen war. Nun waren alle vier Sumpf-Männer da. Die ersten beiden gingen normal, doch der dritte half dem vierten, der nur noch humpeln konnte, beim Gehen. Offenbar hatte er große Schmerzen. Die Wunde an Tuns Arm hatte sich eine Zeit lang verschlimmert und war noch immer nicht verheilt, also hatte er sich entschieden, ihn zu schonen und nicht mit auf die Jagd zu gehen. Nun gab er Tor ein Zeichen und ging mit ihm zusammen den Sumpf-Männern entgegen. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollten sie ihn einfach beiseite stoßen, aber er hielt ihnen mit der gewohnten Selbstsicherheit stand und der Anführer der SumpfMänner beantwortete brüsk seinen Gruß. Sofort begann er zu grunzen und zu gestikulieren. Sein Haar sträubte sich. Er schüttelte seinen Speer, als wollte er zustechen, bedeutete den anderen drei mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen, und wollte wieder an Tun vorbeigehen. Tun verstellte ihm den Weg. Auch sein Haar sträubte sich, aber nur teilweise, was hieß, dass er verhandeln, aber nicht kämpfen wollte. Der Sumpf-Mann hob eine Hand, um ihn beiseite zu stoßen, aber Tun packte ihn mit seinem gesunden Arm beim Handgelenk, zog ihn dicht zu sich heran und starrte ihm ohne mit der Wimper zu zucken in die Augen. Der zweite Sumpf-Mann zögerte, dann hob er seinen Speer. Der Stamm schrie mit einer Stimme auf und alle liefen los. Zwar waren es fast nur Frauen, aber keine so unterwürfigen und diensteifrigen Geschöpfe wie die Gefährtinnen der Sumpf-Männer. Die wichen zurück und senkten ihre Speere. Tun ließ das Handgelenk des Anführers los und auch dieser trat einen Schritt zurück.
Sein Haar legte sich wieder, ebenso Tuns. »Das ist gut«, sagte er ruhig. »Wir machen Feuer. Wir essen. Wir reden. Nar, such die Jäger. Sie gingen dorthin. Sag ihnen: Kommt.« Er stieß den Komm-Laut aus und ohne abzuwarten, ob die Sumpf-Männer ihm folgten, ging er auf eine schattige Baumgruppe zu. Während die meisten Frauen das Feuer entfachten und eine Mahlzeit vorbereiteten, zerstampften Chogi und Bodu Garri-Blätter und vermischten sie mit ein wenig Wasser, um einen Brei zuzubereiten, den sie auf die Hornissenstiche schmierten. Obwohl auch Mana und Tinu gestochen worden waren, kümmerten sie sich zuerst um den Sumpf-Mann, denn er war am schlimmsten zugerichtet. Der Garri-Brei ließ die Schmerzen zwar nicht ganz verschwinden, linderte sie aber so weit, dass sie erträglich wurden. Als Chogi schließlich zu Mana kam, begann das Dämonen-Baby endlich ein wenig zu wimmern und bewegte die Lippen, als wollte es saugen. »Es ist hungrig«, sagte Chogi verstimmt. »Mana, das ist dumm. Du kannst es nicht ernähren. Du hast keine Milch. Es stirbt.« »Chogi hat Recht«, sagte Zara. »Es ist ein DämonenBaby. Eines Tages ist es ein Mann. Dann ist es ein Dämonen-Mann. Er gehört nicht zum Stamm. Lass es jetzt sterben. Gib es den Sumpf-Männern. Das ist das Beste.« »Die Sumpf-Männer sind Freunde«, sagte Yova. »Wollen wir sie zu Feinden machen? Das ist nicht gut. Gib ihnen das Baby.« »Ich sage Nein«, sagte Bodu. »Das Baby stirbt – es stirbt. Das ist ein Ding. Wir geben es den Sumpf-Männern – wir sagen: ›Nehmt es. Tötet es.‹ Das ist ein anderes
Ding. Das kann ich nicht tun.« »Bodu, das ist dumm«, sagte Zara. »Dieses ein Ding, ein anderes Ding. Es ist dasselbe. Das Baby ist tot. Sagst du zu ihm: ›Lebe‹, Bodu? Du hast Milch. Gibst du sie dem Dämonen-Baby?« Mana hatte inzwischen zu weinen begonnen. Durch ihre Tränen sah sie Bodu an. Die Stirn über dem runden, fröhlichen Gesicht war gerunzelt. Bodu hatte seit mehr als einem Mond gut gegessen und vermutlich hatte sie überschüssige Milch, aber nicht genug für zwei Babys. Und das zweite noch dazu ein Dämonen-Baby? Mana sah, wie sich Bodu mit Zaras Frage plagte und sich nicht dazu durchringen konnte, Ja zu sagen. Es war zu viel verlangt. Mana schien nur eines übrig zu bleiben, obwohl es schlimmer als alles war, das sie sich vorgestellt hatte. Sie stand auf. »Ich mache es allein«, krächzte sie. »Es ist mein Ding. Ich gehe fort. Ich gehe weit und weit. Das Baby stirbt. Auch das ist mein Ding.« Hinter den Frauen ertönte eine Stimme. Ko. Mana war sich nicht bewusst gewesen, dass er zugehört hatte. »Mana, ich komme mit. Dein Ding ist mein Ding. Ich, Ko, sage das.« Während ihr von neuem die Tränen kamen, hörte sie Tinus leises Gemurmel. »Tinu kommt, ich komme«, sagte Nar. Mana konnte hören, dass er sich einen Ruck hatte geben müssen, um es zu sagen. »Suth jagt«, sagte Bodu langsam. »In meinem Herzen weiß ich, dass er sagt: ›Wir gehen mit Mana.‹« »Das ist dumm, dumm!«, schrie Zara. »Nar, mein Sohn,
du gehst nicht mit! Das ist nicht dein Ding!« »Wartet«, sagte eine Stimme. Alle schwiegen. Sie ließen ihre Arbeit fallen, wandten sich um und starrten Noli an. Sie hatte sich mit dem Rücken an einem Baumstamm gesetzt und Amola gestillt, doch das Baby hatte die Brustwarze losgelassen und wartete wie alle anderen, als hätte es ebenfalls die Stimme von Mondfalke erkannt. Nach einer langen Pause ertönte die Stimme noch einmal. Es war nicht mehr als ein Flüstern, schien aber den ganzen schattigen Raum unter den Bäumen auszufüllen und weit über die dahinter liegende, sonnenbeschienene Ebene zu fließen. »Sein Name ist Okern.« Laute des Erstaunens drangen aus den Mündern, dann trat wieder Stille ein. In jedem Stamm gab es einen Menschen, zu dem das jeweilige Erste Wesen kam, und dieser Mensch wählte die Namen für die Neugeborenen aus. Auf diese Weise hatte Noli Ogad benannt und auch Amola, ihre eigene Tochter, und vor langer Zeit hatte sie Tor seinen Namen gegeben, nachdem die Mondfalken ihn gerettet und in den Stamm aufgenommen hatten. Sie hatte es mit ihrer eigenen Stimme getan, nicht mit der von Mondfalke. Doch es war nicht nur so, dass sie diesmal mit der Stimme von Mondfalke gesprochen hatte. Es war vor allem der Name, den sie gewählt hatte. Die Namen der Babys begannen, wenn es ein Junge war, mit einem O und, wenn es ein Mädchen war, mit einem A. Sobald die Babys zu Kleinen wurden, ließ man diese Laute fort. Mana hatte früher also Amana geheißen und Tan Otan. Wenn es so weit wäre, hießen Ogad Gad und Amola Mola. Und Okern würde Kern heißen.
Es wurden immer wieder dieselben Namen vergeben. Das musste so sein. Es gab nicht genug Namen für alle. Vor Mana hatte es viele andere Manas gegeben. Von manchen wusste sie, von manchen nicht. Normalerweise aber lagen einige Generationen dazwischen. Mana hatte noch nie erlebt, dass ein Name so schnell wieder aufgegriffen worden war, fast sofort, wo sich doch alle noch an einen Kern erinnern konnten, den sie gekannt und geliebt hatten – einen Kern, der dann auf schreckliche Weise getötet worden war. Einer seiner Mörder konnte sehr gut der Vater des Babys sein, das nun seinen Namen trug. Schließlich stand Tun auf, der neben den SumpfMännern gesessen und sie wie Ehrengäste behandelt hatte. »Mondfalke sprach«, sagte er feierlich. »Dieser Junge heißt Okern. Er ist Mondfalke. Sein Blut ist unser Blut. Das ist gut. Ich sage es jetzt den Sumpf-Männern. Wir verlassen diesen Jagdgrund. Wir gehen weit und weit. Sie sehen uns nicht wieder.« Er wandte sich wieder den Sumpf-Männern zu. Mana stand noch immer am selben Fleck, zu verwirrt, um denken zu können, zu blind vor Tränen, um etwas sehen zu können. Das Baby strampelte jetzt und schien gleich losbrüllen zu wollen. Jemand berührte Mana am Arm. »Mana, gib ihn mir«, flüsterte Bodu. »Ich habe Milch. Er lebt.«
URSAGE
Der Schwur wird gelöst Die Ersten Wesen sprachen zu ihren Stämmen. Sie sagten: »Geht jetzt nach Odutu, Odutu im Schatten des Berges. Schlange und Warzenschwein gehen dorthin. Sie lösen den Kriegsschwur. Seht ihnen zu. Es soll vor euren Augen geschehen. Dann feiert.« Die Stämme jagten. Sie sammelten. Die Ersten Wesen trieben den Männern das Wild in die Arme. Sie ließen die Bäume außer der Jahreszeit Nüsse tragen. Sie ließen die Beeren an den Büschen reif werden und die Samen der Gräser. Sie ließen die dicken Wurzeln anschwellen. Die Stämme zogen nach Odutu. Ihre Kürbisflaschen waren schwer. Vor ihnen standen die Männer von Schlange und die Männer von Warzenschwein. Sie gingen immer zu zweit zum Felsen, immer jeweils einer von jedem Stamm. Sie legten ihre Hände auf den Felsen. Sie lösten den Kriegsschwur. Die Stämme frohlockten. Sie sammelten Feuerholz. Sie entfachten große Feuer. Sie rösteten Fleisch, sie buken
Samenbrei, sie ließen Nüsse zerplatzen. Sie sagten: »Kommt, nun feiern wir. Der Krieg ist zu Ende.« Doch die Männer von Warzenschwein sagten: »Das ist nicht genug. Wir haben noch Schande. Wir töteten eine Frau. Wir töteten zuerst.« Sie ließen Mott vortreten. Sie nahmen ihm den Grabstock ab. Sie sagten zu den Männern von Schlange: »Tötet ihn.« Doch die Männer von Schlange sagten: »Nein. Unsere Schande ist größer. Motts Herz war von Wut erfüllt. Er sah nichts, er dachte nicht nach, er schlug zu. Ziul tat es mit Absicht. Er sah Dipu. Er sagte in seinem Herzen zu sich selbst: Ich töte eine Frau. Es ist die Rache für Meena.« Sie ließen Ziul vortreten. Sie nahmen ihm den Grabstock ab. Sie sagten zu den Männern von Warzenschwein: »Tötet ihn.« Warzenschwein und Schlange verbargen sich im hohen Gras. Sie sahen, was geschah. Sie gingen zu Schwarzer Antilope. Sie sagten: »Sorge dafür, dass es keine Tode mehr gibt.« Schwarze Antilope legte seine Nüstern auf die ihren. Er blies seinen Atem hinein. Er gab ihnen ihre Kraft zurück. Warzenschwein und Schlange machten sich unsichtbar. Sie gingen zu ihren Stämmen. Niemand sah sie. Warzenschwein versteckte Mott. Schlange versteckte Ziul. Sie versteckten sie auf diese Art: Seht diesen Berg. Eine Wolke liegt darauf. Ein Mann klettert. Er ist in der Wolke. Sie wirbelt um ihn herum, sie ist kalt, Wasser bedeckt seine Haut. Er kann den Weg nicht mehr sehen. Er hat sich verirrt. Auf diese Weise wurden Mott und Ziul versteckt. Dann
trugen Warzenschwein und Schlange sie weit und weit. Sie wurden nie mehr gesehen. Dann feierten die Stämme. Sie waren glücklich. Die Ersten Wesen kehrten zum Berg zurück, dem Berg über Odutu. Auch sie feierten und waren glücklich. Doch Schwarze Antilope sagte zu Schlange und Warzenschwein: »Lasst in den Jagdgründen eurer Stämme kein Steinkraut mehr wachsen.« So geschah es. So ist es bis auf den heutigen Tag.
ELF Einige Monde später sah Mana Okern zu, der Amola fangen wollte. Das war schwierig, denn er konnte sich nur rollen, während Amola schon krabbelte. Sie war mit Amola-Dingen beschäftigt. Meist entdeckte sie etwas, das sie interessierte, und krabbelte darauf zu, um es sich zu schnappen und auszuprobieren, ob es gut schmeckte – sie wusste also nicht, was Okern vorhatte. Aber er wusste es. Er probierte es noch einmal. Beim letzten Mal hätte er sie fast gehabt, doch dann war sie losgekrabbelt, um ein totes Blatt zu untersuchen. Als sie sich aufgemacht hatte, war er noch gerollt, und als er wieder nach ihr geschaut hatte, war sie fort gewesen. Mana sah, wie er die Stirn runzelte und sich umschaute, wobei er seinen hübschen, dunklen Kopf wie ein Insekt mit abrupten Bewegungen hin- und herdrehte. Ah, da war sie. Geduldig streckte er sich aus, um noch einmal loszurollen. Er konnte sich noch nicht geradeaus rollen, also näherte er sich seinem Ziel durch eine Reihe von Kurven und bewegte sich oft in die falsche Richtung. Aber er hielt immer wieder an, sah sich um und berichtigte seinen Kurs. Er war ein äußerst entschlossenes Baby. Das ist ein Männer-Ding, dachte Mana lächelnd. Er hat diese Idee in seinem Kopf. Er lässt sie nicht los. So sind Männer. Dann erstarrte sie plötzlich. Es war die neue Version eines alten Gedanken, den sie im Hinterkopf gehabt hatte, seit der Stamm Okern aufgenommen hatte. Manchmal, wie jetzt auch, fiel es ihr wieder ein und sie war beunruhigt. Oder ist es die Sache der Dämonen-Männer? Macht
Okern Jagd auf Amola? Eines Tages wäre er ein Mann. Was für ein Mann würde er sein? Ein wilder MenschenTöter wie sein Vater? Oder stark und sanft wie Kern, dessen Namen er trug? Er war ein sehr gutes Baby. Das sagte selbst Chogi – zumindest sagte sie: »Gut für einen Jungen. Ein Mädchen ist besser.« Er weinte selten, und wenn, dann nur leise vor sich hin, obwohl er oft darauf warten musste, gestillt zu werden, bis Bodu und Noli sicher waren, dass ihre Babys genug hatten. Mana musste es ausgleichen, indem sie das Essen vorkaute und dann in seinen Mund schob. Zuerst hatte er es gleich wieder ausgespuckt, aber schließlich hatte er sich daran gewöhnt und sie hatte Dinge gefunden, die ihm zu schmecken schienen und von denen er nicht ständig Durchfall bekam. Sie fütterte ihn gerne selbst, denn es war eine Art ihm zu sagen, dass er zu ihr gehörte. Er schien schon früh entschieden zu haben, dass sie zu ihm gehörte, und sobald ihn eine der anderen Mütter gestillt hatte, kam er fröhlich zu ihr zurück. Ein Gebet formte sich in ihrem Geist. Sie flüsterte es lautlos. Mondfalke, ich lobe. Mondfalke, ich danke. Sieh Okern, Mondfalke. Du gabst ihm diesen Namen. Lass ihn Mondfalke sein wie Kern. Lass ihn kein Dämon sein. Ich, Mana, bitte. Sie seufzte und schaute sich um. Dies war ein neuer Lagerplatz, ganz am äußersten Rand des Nordhangs vom
riesigen Tal gelegen. Von ihrem Platz aus konnte Mana die Hügelkette sehen, die sie beim Verlassen der Sümpfe überquert hatten. Sie zog sich viele Tagesreisen weit am Horizont entlang. Doch sie waren auf einem großen Umweg hierher gelangt, weil sie sich um Okerns willen vom Südhang fern hielten, den die zurückgekehrten Sumpf-Menschen wieder für sich beanspruchten. Als sie diese neue Gegend erkundet hatten, waren sie ein oder zwei Mal auf eine der ängstlichen, kleinen schwarzen Frauen gestoßen, auf Männer jedoch nicht. Davon abgesehen schien hier niemand zu leben. Das war seltsam. Es war ein guter Jagdgrund, wenn auch nicht so reichhaltig wie der Südhang. Beispielsweise dieser Lagerplatz. Es war ein gutes Lager, mit zwei Höhlen und einem Bach in der Nähe. Warum gab es keine Anzeichen dafür, dass jemand ihn benutzte? »Dieser Jagdgrund gehörte den kleinen Menschen«, hatte Chogi vermutet. »Die Dämonen-Männer kamen. Sie töteten die Männer. Sie raubten die Frauen. Alle sind verschwunden.« Das war die beste Erklärung, die sie finden konnten. Weiter als das Lager waren sie bisher noch nicht vorgedrungen und es hatte auch den Anschein, als wäre dies eine Grenze. Vor ihnen lag eine richtige Bergkette, bekrönt von weißem Schnee. Wie immer, wenn sie sich an einem neuen Lagerplatz niederließen, hatte Tun Kundschafter ausgesandt, die sich auf die Suche nach möglichen Gefahren und guten Jagdgründen machten. Die Mütter, einschließlich Mana, waren mit ihren Babys dageblieben, um in der Nähe nach Nahrung zu suchen, Brennholz zu sammeln und das Essen für den Abend vorzubereiten. Die Sonne ging unter, alle Kundschafter waren
zurückgekehrt und das Essen war fertig, nur Suth und Tor fehlten noch. Schließlich trafen sie ein. Beide schienen wohlauf zu sein, doch Suth wollte nicht erzählen, wo sie gewesen waren. Er war merkwürdig ernst und schweigsam und Tor schüttelte immer wieder besorgt den Kopf. Als sie gegessen hatten, stand jeweils der Anführer einer Gruppe von Kundschaftern auf und berichtete, wo sie gewesen waren und was sie entdeckt hatten. Suth war der Jüngste, also war er zuletzt an der Reihe. »Ich, Suth, spreche«, sagte er. »Ich ging mit Tor. Wir gingen diesen Weg …« Er zeigte direkt auf die Berge und fuhr fort, alles zu beschreiben, was für den Stamm von Interesse war, Gegenden mit Pflanzennahrung, eine Stelle mit der richtigen Art von Ameisennestern, Hirschspuren, Flüsse und so fort. »Dann fanden wir einen Pfad«, sagte er. »Es war ein Menschen-Pfad. Wir folgten ihm. Wir waren vorsichtig, vorsichtig. Niemand kam, niemand ging. Wir kamen in die Berge. Der Pfad stieg an. Wir stiegen hoch hinauf. Dort waren viele Bäume. Sie hörten auf. Wir kamen zu einem Tal. Es lag in den Bergen. Dort fanden wir ein Ding. Ich erzähle es euch noch nicht – ich habe keine Wörter dafür. Morgen seht ihr es. Noli kommt. Es ist ein Ding der Ersten Wesen.« Mehr wollte er nicht sagen, doch anstatt zu seinem Platz zwischen den Männern zurückzukehren, winkte er Noli und entfernte sich mit ihr ein Stück vom Feuer. Sie ließen sich nieder und sprachen eine ganze Weile leise miteinander. Als Noli zum Feuer zurückkam, wirkte sie verwirrt und ängstlich. Sobald am nächsten Morgen alles bereit war, brachen sie auf und zogen auf dem Weg, den Suth beschrieben hatte,
nach Osten. Sie hielten nicht an, um die Gegend zu erkunden, wie er und Tor es getan hatten, kamen also rasch voran und erreichten den Pfad, von dem er ihnen berichtet hatte, noch weit vor dem Mittag. Es war ein oft begangener Pfad und so breit, dass zwei Menschen nebeneinander gehen konnten. Spuren kürzlicher Benutzung waren allerdings nicht zu entdecken. Hätten sie sich nach links gewandt, dann wären sie auf das Südende des Tals zugegangen, doch sie schlugen die andere Richtung ein, die direkt in die Berge führte. In den vergangenen Monden hatte Mana die weißen Gipfel oft gesehen. Sie schienen unerreichbar weit fort zu sein. Nun hatte sie einen davon vor Augen, und zwar so dicht, dass er unmittelbar über ihr aufzuragen schien. Der Pfad begann anzusteigen und schlängelte sich hin und her. Immer noch höher steigend betraten sie ein Waldgebiet – nicht einen dichten, fast unbegehbaren und dampfenden Wald wie jenen, der in den Neuen Guten Jagdgründen am Ufer des Flusses lag, sondern einen, der kühl war und voll süßer Düfte und wo sich zwischen den Bäumen immer wieder Lichtungen auftaten. Net und Tor liefen als Kundschafter voran, Tun und Suth führten den Stamm. Mana, Noli und der Rest von Suths »Familie« folgten ihnen dicht auf den Fersen und hinter ihnen schlängelte sich der übrige Stamm den Pfad entlang. Manchmal, wenn sie eine Biegung umrundet hatte, konnte Mana einen Blick nach unten werfen und sehen, wie sich das Ende der Menschenschlange auf einem schon hinter ihr liegenden Abschnitt des Pfades zwischen den Baumstämmen hindurchwand. Ganz plötzlich hielt Noli an und erstarrte. Ruckartig kamen alle anderen hinter ihr zum Stehen. Suth und Tun hörten die leichte Unruhe und blickten sich um.
»Goma ist hier«, sagte Noli leise. Sie starrten sie an und warfen sich verwirrte Blicke zu. Goma gehörte zum Stamm von Stachelschwein, mit dem der Stamm die Neuen Guten Jagdgründe geteilt hatte. Sie war eine enge Freundin von Noli gewesen, weil sie jener Mensch war, zu dem Stachelschwein, ihr Erstes Wesen, kam. Doch abgesehen von Tor, Nolis Gefährten, der zu den Stachelschweinen gehörte, hatte der Stamm keinen von ihnen gesehen, seit sie sich aufgeteilt hatten, um nordwärts an beiden Seiten des Flusses entlangzuziehen und der Dürre zu entkommen, die die Neuen Guten Jagdgründe zerstört hatte. Wie konnte es sein, dass sich Goma nach all der Zeit, die verstrichen war, hier befand? »Ko«, sagte Noli wieder mit leiser Stimme. »Lauf. Such Tor. Hol ihn.« Ko sauste los. Noli wartete und musterte den Hang über dem Pfad. »Sie kommt«, sagte sie. »Andere kommen mit ihr.« Sie stieß den Ich komme-Laut der Stachelschweine aus und begann, den Hang hinaufzuklettern. Sie war noch nicht weit gekommen, als sich hinter den höher gelegenen Bäumen kurz jemand zeigte, einen raschen Blick hinabwarf, einen Freudenschrei ausstieß und sich hinunterrutschen ließ. Es war eine Frau. Sie warf ihre Arme um Noli und beide umarmten einander lachend und weinend. Erst als beide ein Stück zurücktraten und sich anschauten, konnte Mana erkennen, dass es sich tatsächlich um Goma handelte. Inzwischen waren drei weitere Frauen aufgetaucht. Mana erkannte zwei von ihnen wieder, sie waren Stachelschwein. Sie wirkten viel ängstlicher und unsicherer als Goma, bis sie sahen, dass die Menschen auf dem Pfad ihre alten Freunde vom Stamm waren, und
hinunterkletterten, um sie zu begrüßen. Dann eilten Net, Tor und Ko herbei und wieder wurden Begrüßungen und Freudenschreie ausgetauscht. Mana stimmte nicht ein, denn sie beobachtete noch immer Noli und Goma. Sie sah, wie Goma Amola bewunderte, und im selben Moment fiel ihr auf, dass Gomas kleiner Sohn fehlte. Sie hörte Nolis fragendes Grunzen. Gomas Gesicht wurde von Trauer überschattet und Noli begann zu weinen. Mana begriff, dass er tot war, und begann ebenfalls zu weinen. Danach standen die zwei Frauen eine Weile da, berührten und streichelten einander und murmelten leise, bis sie schließlich zu den anderen hinabstiegen, die auf dem Pfad standen. »Was passiert Goma?«, sagte Noli, als sie weitergingen. »Ich weiß es nicht. Ich spüre schlechte Zeiten. Ich spüre Trauer. Ich spüre Angst, Blut, noch mehr Trauer. Dies ist mein Gedanke. Die Stachelschweine ziehen um die Sümpfe herum. Sie finden kaum Nahrung. Manche sterben. Männer kommen. Sie kämpfen mit den Männern von Stachelschwein. Sie töten sie. Sie rauben Frauen, auch Goma. Sie bringen sie an diesen Ort. Sie hat Angst, Angst. Sie hat keine Angst vor den Männern. Sie gehen. Sie kehren nicht zurück. Diese Frauen sind bei ihr. Sie laufen fort. Wir finden sie. Sie hat immer noch Angst. Ich spüre ihre Angst. Ich spüre das Ding, das ihr Angst macht. Es ist ein Dämonen-Ding, schlecht, schlecht. Auch Suth sagt das.« Sie gingen weiter bergauf, wachsamer, obwohl nichts darauf hindeutete, dass der Pfad vor kurzem benutzt worden war. Dann wurde der Hang weniger steil und sie traten auf eine große, schmale Lichtung. Sie bildete den Boden eines Tals, das zwischen zwei steilen Bergflanken lag. Zu beiden Seiten klammerten sich Bäume an die
Hänge, überragt von dunklen Felsvorsprüngen. Ein kleiner Bach durchzog das Tal. Ein Stückchen weiter vorn, links von ihnen, fielen die Felsen steil zur Lichtung ab. Vor der Felswand befand sich ein niedriger, baumloser Hügel. Am Waldrand hielten sie an und starrten. Mana konnte keine Anzeichen von Gefahr erkennen, doch sie spürte etwas. Es schien, als wäre die Luft erfüllt von flüsternden Stimmen, die sie nicht ganz verstehen konnte, als betasteten unsichtbare Finger ihre Haut so sanft, dass sie es kaum fühlte. Sie erschauderte und warf einen Blick auf Okern, doch er schlief fest im Netz, das Tinu für ihn geknüpft hatte. Sein kleines Gesicht war entspannt. Noli wandte sich Yova zu. Sie atmete mit tiefen Zügen, wie es manchmal der Fall war, kurz bevor Mondfalke sie besuchte, doch es hatte sich kein Schaum auf ihren Lippen gebildet und sie schien ihren Körper ganz unter Kontrolle zu haben. »Yova, du nimmst Amola«, sagte sie. »Dies ist mein Ding. Es ist Gomas Ding. Wir gehen vor.« Goma stand schon neben ihr. Sie wirkte ängstlich, ergriff aber Nolis Hand und gemeinsam gingen sie voran. Der Stamm folgte dicht zusammengedrängt, doch die drei Frauen, die zusammen mit Goma im Wald gewesen waren, weigerten sich weiterzugehen. Der Pfad lief geradewegs auf den Hügel zu, der hinter einer leichten Erhebung lag, so dass sie nur die obere Hälfte erkennen konnten, bis sie schließlich auf der Erhebung selbst standen, keine zehn Schritte vom Ziel entfernt. Mit einem Schlag wurde ihnen die Bedeutung des Hügels bewusst. Genau vor ihnen lagen zwei große Felsbrocken, die einen Eingang bildeten. Auf jedem von ihnen lag ein menschlicher Schädel. Ringe von Schädeln lagen vor den
Brocken auf der Erde. Dahinter führten zwei Reihen Pfähle, ebenfalls von Schädeln bekrönt, zum Hügel hinab, der von weiteren Pfählen und Schädeln umgeben war. Dort, wo der Pfad den Hügel erreichte, befand sich eine niedrige Felsplatte. Dahinter, im Hügel selbst, gähnte eine schwarze Öffnung. Noli hielt inne, nicht jedoch, weil sie unsicher war. Sie schien auf etwas zu warten. Sie sah Goma an, die inzwischen einen selbstsichereren Eindruck machte. Sie nickten, als hätte eine von ihnen gesprochen. »Mondfalke ist hier«, sagte Noli, immer noch mit leiser Stimme. »Stachelschwein auch. Er schläft. Jetzt erwacht er.« Die zwei Frauen gingen auf den Hügel zu, einander immer noch bei den Händen haltend. Der Stamm folgte, wobei er sich zu beiden Seiten des Pfades zu einer Linie formierte. Suth und Tun jedoch blieben auf dem Weg und Mana ging hinter ihnen. Als Noli und Goma zehn und noch einmal zehn Schritte weit von der Felsplatte entfernt waren, tauchte ein Mann aus der dahinter liegenden Öffnung auf. Er war alt. Sein Haar war weiß, die Augen rot gerändert und von einer trüben Schicht überzogen und er benutzte beim Gehen einen Stock, obgleich er sich so gerade hielt wie ein Jüngling. Mana erkannte sofort, dass es ein DämonenMann war. Dazu brauchte sie gar nicht erst einen Blick auf seine Haut oder die Schädel zu werfen, die an seinem Gürtel baumelten. Sie erkannte es an seiner Art zu gehen, an seinem Gesichtsausdruck, an seiner Ausstrahlung. Obwohl er alt und gebrechlich war, machte er einen furchterregenderen Eindruck als jeder der wilden, jungen Jäger, gegen die sie in den Sümpfen gekämpft hatten. Die rot geränderten Augen starrten die Neuankömmlinge
an. Der Mann hob seinen Stock und stieß einen rauen, krächzenden Schrei aus, der von den über ihm liegenden Felswänden widerhallte. Er wartete, bis das Echo verklungen war, dann schrie er noch einmal und noch einmal. Jedes Mal wiederholten die Felswände den Schrei. Manas Magen krampfte sich zusammen. Die Echos schienen mehr als nur Echos zu sein. Es hörte sich an, als riefe der Dämon selbst von den Felsen. Im Stamm erhob sich unruhiges Gemurmel. Vermutlich dachten sie dasselbe und hatten dieselbe Angst. Da bewegte sich Okern an ihrer Seite. Sie schaute hinab und sah, dass er aufgewacht war und mit verwirrt gerunzelter Stirn um sich blickte. Hatte der Dämonen-Mann zu ihm gesprochen? Nur zu ihm? Ihn gerufen? Nein! Da wusste Mana, was sie zu tun hatte und weshalb sie hier war. Sie trat vor und Ko wollte ihr folgen. »Warte«, flüsterte sie. »Dies ist mein Ding. Es ist gut.« Sie ging immer weiter, vorbei an Tun und Suth, vorbei an Noli und Goma, bis zur Felsplatte. Die verrückten alten Augen starrten sie wütend an, dann erblickten sie Okern. Der Gesichtsausdruck des Mannes veränderte sich ganz und gar. Sein Mund verzog sich zu einem furchtbaren Grinsen und ein paar gelbe Zähne kamen zum Vorschein. Er gab einen pustenden Laut von sich und begann um die Felsplatte herumzuhumpeln. Mana wartete und wich nicht vom Fleck, bis er ihr gegenüberstand. »Nein, er gehört dir nicht«, sagte sie entschlossen. »Gehört dir nicht«, flüsterten die Felswände.
Der alte Mann streckte ihr seinen Kopf entgegen und wies wütend auf die Felsplatte – ›Leg den Jungen dorthin.‹ »Nein«, wiederholte Mana und die Felswände antworteten: »Nein.« Der Mann tat einen stolpernden Schritt auf sie zu und streckte einen Arm aus, um Okern zu packen. Mana riss den Arm beiseite. Sie war plötzlich von Wut erfüllt, einer Wut auf diesen Furcht einflößenden alten Mann, auf alle Dämonen-Männer und das, was sie waren – was sie aus sich hatten werden lassen. Es war ihre eigene Entscheidung gewesen. Der Dämon steckte in ihnen. Sie hatten sich für ihn entschieden. »Nein!«, schrie sie. »Er gehört dir nicht! Er gehört mir! Er ist Mondfalke!« »Mondfalke«, riefen die Felswände. Der alte Mann kam ins Stolpern. Es schien, als habe ihm das Echo selbst einen heftigen Schlag versetzt. Er klammerte sich mit beiden Händen an seinen Stock und rang um sein Gleichgewicht. Sein Mund war weit aufgerissen. Ein kratzender Laut entrang sich seiner Kehle. Er stolperte noch einmal, als sei ihm ein weiterer Schlag versetzt worden, und brach dann vor Manas Füßen zusammen. Sie blieb, wo sie war, presste Okern fest an sich und starrte auf den Greis hinab, bis Tun herbeikam, sich bückte und den alten Mann auf den Rücken rollte. »Er ist tot«, verkündete er. »Tot«, stimmten die Felswände ihm nüchtern zu. Sie schafften den Leichnam durch die Öffnung in den Hügel, wobei sie sich vorsichtig bewegten und leise sprachen, um das Echo nicht zu wecken. In der Höhle
fanden sie einige Dinge, die sie hinausschleppten – alte Kampfstöcke, Antilopenhörner, gewundene Baumwurzeln und Stränge trockenen Grases, die zu merkwürdigen Formen geflochten worden waren. An fast jedem dieser Gegenstände war mindestens ein Schädel befestigt worden. Sie legten die Schädel beiseite und häuften alles andere vor dem Eingang zur Höhle auf. Dann zogen sie die Pfähle, die den Hügel umgaben und den Pfad säumten, aus der Erde und warfen sie auf den Haufen, wobei sie die Schädel wiederum beiseite legten. Schließlich zündeten sie ihn an. Zunächst machte Mana bei alldem nicht mit, sondern saß da und hielt Okern im Arm, berührte und streichelte ihn und murmelte ihm leise etwas zu, wie sie es so oft bei den Stachelschwein-Müttern beobachtet hatte. Langsam begriff sie, dass eine Veränderung in ihr vorgegangen war. Ihre Wunde war geheilt, jene Wunde in ihrem Geist, die sie sich zugefügt hatte, als sie in den Sümpfen den Dämonen-Mann getötet hatte. Ein neuer Geist hatte die Wunde verschlossen, ohne eine Narbe zu hinterlassen. Sie war geheilt worden, weil sie Okern gefunden hatte – ihn vor den Sumpf-Männern gerettet hatte, wie eine Mutter zu ihm war, für ihn sorgte und über ihn wachte, während er in sein eigenes Leben hineinwuchs – und weil sie ihn schließlich hierher gebracht, dem alten Dämonen-Mann und dem Dämon selbst entgegengetreten war und sie besiegt hatte. Sie hatte einen Mann getötet. Er war schlecht gewesen, schlecht, aber auch er war ein Mensch gewesen. Doch sie hatte einen Menschen gerettet und sie hatte ihn nicht nur vor dem Tod bewahrt. Wenn der Stamm nie gegen die Dämonen-Männer gekämpft hätte oder wenn die
Dämonen-Männer als Sieger aus dem Krieg hervorgegangen wären, dann wäre Okern trotzdem geboren worden. Doch er hätte nie einen Namen bekommen. Er wäre älter geworden und hätte gelernt, ein Dämonen-Mann zu sein wie sein Vater. Er wäre zu dem geworden, was sein Vater war, ein Menschen-Jäger, ein wilder Menschen-Töter. Doch nun würde er vielleicht zu etwas anderem werden. Heimlich hatte Mana lange die Befürchtung gehegt, dass der Mann, den sie getötet hatte, der Vater von Okern gewesen war. Nun hoffte sie sogar, dass es so wäre, obwohl sie es niemals genau wissen konnte. Dies, glaubte sie, musste das sein, was Mondfalke mit seiner Bitte zu warten gemeint hatte. Nach einer Weile kam Noli, um Okern zu stillen. Mana reichte ihn ihr und ging zu den anderen, um ihnen zu helfen, die Schädel in sicherer Entfernung vom Hügel aufzustapeln. Sie waren fast fertig, als Noli zurückkehrte und ihr Okern gab. Sobald Mana ihn wieder in den Armen hielt, schmiegte er sich an sie, seufzte und schlief ein. »Noli«, sagte sie. »Ich danke. Und ich sage dies. Meine Sorge ist verschwunden. Es geht mir gut.« »Das ist gut«, sagte Noli. »Nun tanzen wir den Totentanz. Mana, du tanzt mit den Frauen.« Also schloss sich Mana der Reihe auf einer Seite des Schädelhaufens an, stampfte mit den Füßen und stimmte in das lang gedehnte, auf- und abschwellende Trauergeheul ein, das alle Geister, die sich noch in diesem von Dämonen heimgesuchten Tal befanden, befreite und ihnen erlaubte, dorthin zu gehen, wo auch immer sie auf Geheiß ihres Ersten Wesens hingehen mussten, egal welches Wesen es sein mochte. Selbst in dieser Entfernung lösten ihre Stimmen ein Echo an den
Felswänden aus, so dass es an ihrem Ritual teilzunehmen schien. Als sie schließlich fertig waren, begann es schon dunkel zu werden. Die Nahrung, die sie mitgenommen hatten, hatte für die Mittagsrast gereicht, doch sie hatten weder gesammelt noch gejagt und es war kaum etwas übrig. Hier, in diesem von Dämonen verseuchten Jagdgrund, wollten sie nichts nehmen, geschweige denn die Nacht verbringen, also gingen sie im Dunkeln ein Stück zurück, bis sie zu einem kleinen, unterhalb des Waldes fließenden Bach kamen. Dort tranken sie und schlugen ihr Nachtlager auf. Beim Schlafen presste Mana Okern dicht an sich, beschützte ihn mit ihrem Körper, wärmte ihn mit ihrer Wärme, und sie schlief tief und traumlos. Einige Monde später hielt sich der Stamm wieder bei den Zwei Höhlen auf. Die meisten der Guten Jagdgründe, die sich auf den nördlichen Hängen befanden, hatten inzwischen einen Namen erhalten. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Mana zugehört, wie Ko Tan eine wunderbare Geschichte erzählt hatte, die erklärte, wie der Schlangenhaut-Hügel zu seinem Namen gekommen war. Es war nicht der wirkliche Grund, sondern irgendetwas, das Ko geträumt hatte. Er steckte immer voller Träume. Inzwischen konnte Amola stehen und begann zu laufen, während Okern so schnell und mit so großer Entschlossenheit krabbelte, dass Mana ihn, wenn er nicht schlief, die ganze Zeit über im Auge behalten musste. Er schien weder Angst zu kennen noch einen Sinn für Gefahr zu besitzen. Noli und Mana waren allein im Lager. Noli war geblieben, um eine Blauwurzel, die sie gefunden hatte,
einzuweichen und zu zerstampfen, damit sie für das Fest des großen Mondes fertig wäre, das am nächsten Abend stattfände – ein wichtiges Fest, denn für Nar war der morgige Tag sein letzter als Kind. Am Morgen darauf trüge er die ersten Männernarben auf den Wangen, würde zum Mann werden, und Tinu und er könnten richtige Gefährten sein. Mana war im Lager geblieben, um Noli Gesellschaft zu leisten. Noli hatte das ganz besonders nötig, denn Tor war schon seit einiger Zeit fort. Er war zusammen mit Goma in Richtung Süden aufgebrochen, wo sie nach weiteren Stachelschweinen suchen wollten, die sich noch an den Rändern der Sümpfe aufhielten. Es war ihre zweite Expedition. Beim ersten Mal hatten sie ein Paar von Gefährten gefunden, Mann und Frau, die es irgendwie geschafft hatten, gemeinsam mit ihren Kindern zu überleben. Noli war sich sicher, dass es noch mehr gab. Mana begriff nicht ganz, wie sie darauf kommen konnte – es war eine Sache der Ersten Wesen. Als Mana dem alten Dämonen-Mann am Ort-von-dem-nicht-gesprochen-wird gegenübergetreten war, hatte Noli gesagt, dass Stachelschwein da sei. Die Dämonen-Männer hatten Goma und die anderen Frauen in das Tal gebracht, damit sie sich um den alten Mann kümmerten, und der Dämon, der in den Felswänden hauste, war zu stark für Stachelschwein gewesen, weil sein Volk in alle Winde verstreut war. Trotzdem war er noch in der Nähe gewesen und mit Mondfalkes Hilfe zurückgekehrt. Mana glaubte, dass er das nicht geschafft hätte, wenn alle außer Goma und den anderen beiden Frauen tot gewesen wären. Also half Mana Noli jetzt bei der Verarbeitung der Blauwurzel und auch Amola half auf ihre Weise, indem sie ein Stück Rinde mit einem Stein zerklopfte, den Noli
ihr gegeben hatte. Natürlich musste auch Okern einen Stein haben, doch ihm war es egal, was er zerstampfte, vorausgesetzt, er konnte richtig zuschlagen. Noli hielt inne, um die Blauwurzel auf dem flachen Stein, den sie als Mörser benutzte, zu einem Haufen zusammenzuschieben. Amola nahm die Unterbrechung des regelmäßigen Klopfens wahr und sah auf. Ihre Lippen bewegten sich. Mana konnte sehen, dass sie versuchte, eine Frage zu stellen. Noli lachte erfreut. »Mana, Amola hat Wörter!«, rief sie. »Sie sagt: ›Ma?‹ Sie fragt: ›Mutter, warum hörst du auf?‹ Oh, sie hat Wörter, Mana, sie hat Wörter!« Das war eine Frage, die der Stamm seit Amolas Geburt immer wieder diskutiert hatte, ganz besonders, seit sie kein runzliges Baby mehr war und ein eigenes Gesicht entwickelte. Es wurde deutlich, dass sie in mancher Hinsicht Tor glich und seine hohen Wangenknochen, ja überhaupt seine dünnen Knochen geerbt hatte, zugleich aber Nolis Mund und Kinn. Ihre Hautfarbe schwankte zwischen denjenigen der zwei Gefährten. Würde Amola also Noli gleichen und Wörter haben oder wie Tor sein und keine Wörter haben oder irgendetwas dazwischen und mit wenigen Wörtern auskommen müssen? Nach dieser einen Silbe war sich Noli der Antwort sicher. Mana lachte mit ihr und war glücklich über ihre Freude. Dann fiel ihr Blick auf Okern, der seinen Stein mit zur Höhle genommen hatte und auf die Felswand einschlug. Er würde den Hügel kurz und klein schlagen, wenn er könnte, dachte sie. Ja, das könnte er, aber würde er je sprechen können? Er wird niemals Ma zu mir sagen, dachte sie. Sie senkte den Kopf und biss sich auf die Lippe.
»Mana, du bist traurig«, sagte Noli. »Warum?« »Okern hat keine Wörter«, sagte Mana. »Er ist klug. Er ist stark. Er ist tapfer. Er ist schön«, sagte Noli. »Noli, das stimmt«, sagte Mana. Tatsächlich war sie sehr stolz auf Okerns gutes Aussehen. Aber sie schüttelte wieder den Kopf. »Höre mich, Noli«, sagte sie zögernd und dachte beim Sprechen über ihre Worte nach. »Sage in deinem Herzen zu dir selbst: ›Okern hat Wörter.‹ Dann sage dies: ›Eines Tages ist Okern ein Kleiner. Dann heißt er Kern. Er versteht wenig. Er wird groß, er ist ein Junge. Nun versteht er mehr. Mana sagt zu ihm: Kern, ich bin nicht deine richtige Mutter. Sie ist tot. Sie tat diese und jene Dinge. Dein Vater ist tot. Er tat diese und jene Dinge.‹ (Noli, ich sage nicht: ›Deine Mutter war eine DämonenFrau. Dein Vater war ein Dämonen-Mann.‹) Dann sagt Mana: Ich fand dich. Mondfalke nahm dich auf. Jetzt wähle, Kern. Wozu gehörst du? Bist du wie deine Mutter und dein Vater? Bist du Mondfalke wie ich? Denke, Kern. Dann entscheide dich.‹ Noli, das kann ich ihm niemals sagen. Er kann sich niemals entscheiden. Er hat keine Wörter.« Noli legte ihren Stein ab, kam zu ihr herüber, hockte sich neben sie und ergriff ihre Hand. »Mana«, sagte sie. »Okern ist ein Mensch. Eines Tages entscheidet er. Sieh Goma. Sie ist gut, gut. Sie sagt in ihrem Herzen zu sich selbst: ›Das ist gut. Ich tue es. Das ist schlecht. Ich tue es nicht.‹ Dazu braucht sie keine Wörter. Sie ist ein Mensch. Mana, gut ist ein Wort. Schlecht ist ein Wort. Aber sie sind mehr, mehr. Sie sind … Ich weiß nicht, was sie sind, aber sie sind ein Menschen-Ding.«
Mana schaute Okern an. Ja, er war ein Mensch, dachte sie. Und Noli hatte Recht. Sie erinnerte sich an die plötzliche Wut, die sie am Ort-von-dem-nicht-gesprochenwird bei dem Gedanken überfallen hatte, dass die Dämonen-Menschen sich entschieden hatten, so zu sein, wie sie waren. Diese Wut hatte ihr Mondfalke geschickt, glaubte sie. Sie hatte ihr die Kraft dazu gegeben, dem alten Dämonen-Mann standzuhalten und ihm ihren Trotz ins Gesicht zu brüllen. Ja, gut oder schlecht – ob er nun die Wahrheit über seine Eltern erführe oder nicht –, eines Tages würde Okern entscheiden. Das war ein Menschen-Ding.