Es waren noch weitere Daltreskaner in der Nähe. Ich schlug eine Abkürzung durch den Wald ein und wartete neben dem Weg...
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Es waren noch weitere Daltreskaner in der Nähe. Ich schlug eine Abkürzung durch den Wald ein und wartete neben dem Weg. Als der erste Sklavenhändler vorbeilief, stieß ich einen Stock zwischen seine Beine; er stürzte kopfüber zu Boden. Der zweite war dichtauf, stolperte über seinen Vordermann und schlug der Länge nach hin. Der dritte stürzte sich auf mich, doch ich wich aus und verschwand wieder im Wald. Die beiden anderen rappelten sich auf, und dann setzten alle drei mir nach. Oassie schienen sie vergessen zu haben; sie war nun in Sicherheit, und ich brauchte nur noch auf mich selbst aufzupassen. Ich kannte mich im Wald gut aus und war zuversichtlich, den Sklavenhändlern entgehen zu können.
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31032 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: STARBRAT Aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Weidemann Deutsche Erstausgabe Umschlagillustration: Young Artists Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1972 by John Morressy Printed in Germany 1981 Scan by Brrazo 07/2005 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3 548 31032 X November 1981
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Morressy, John: Kind der Sterne: Science-fiction-Roman/ John Morressy. [Aus d. Amerikan. übers. von Klaus Weidemann]. – Dt. Erstausg. – Frankfurt/M; Berlin; Wien: Ullstein, 1981. (Ullstein-Buch; Nr. 31032: Ullstein 2000: Science-fiction) Einheitssacht.: Starbrat «dt.» ISBN 3-548-31032-X NE:GT
John Morressy
Kind der Sterne SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
Science Fiction
Für Harlan Ellison
BUCH I
Erziehung und Befreiung des Erlösung-aus-der-Leere Del Whitby 1
Vor der Entscheidung; ich erfahre ein Geheimnis und fasse einen Entschluß
Ich war ein Sternenkind: geboren bei fast schwerelosen 0,314 g im dreckigen, überhitzten Schiffslazarett eines verpesteten, klapprigen Intersystem-Frachters, der mit 6,8facher Lichtgeschwindigkeit aus den Randbezirken eines von Rinn-Kriegsschiffen bedrohten Raumsektors floh. Als ich sechzehn war, wußte ich erst halb soviel über mich, und das ist verdammt wenig. Vielleicht hätte es genug sein können, aber nachdem ich die Chance erhielt, mußte ich mehr wissen, und dazu bedurfte es weiter Wanderschaften und vieler Impressionen. Die Galaxis ist groß, und wer Antworten sucht, hat es schwer. Man braucht lange, um auch nur die richtigen Fragen zu finden. Manchmal ist das schon zuviel. Bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr hieß ich Erlösung-aus-der-Leere Del Whitby. Ich war das einzige Kind eines frommen, gottesfürchtigen Mannes namens Zealous-der-Eiferer Whitby und seiner Frau
Persistence-die-unbeirrbar-Rechtschaffene. Wir lebten in einem kleinen Dorf auf Gilead, einem Planet, der vor rund vier Jahrhunderten von den Erleuchteten Neu-Rudstromiten – einer Sekte aus Britannien auf der alten Erde – besiedelt worden war. Wir führten ein ruhiges und in vieler Hinsicht gutes Leben, und hätten die Dinge ihren gewohnten Lauf genommen, so lebte ich wahrscheinlich heute noch dort, trüge dunkle, selbstgewebte Kleidung, hinge düsteren Gedanken über die Ewigkeit nach, wäre mit einem Mädchen von der Nachbarsfarm verheiratet, würde Getreide anbauen, eine kleine Brintherherde versorgen, und die sternendurchsetzte Schwärze dort oben wäre mir ziemlich egal – bestenfalls würde ich mich hin und wieder fragen, welcher dieser winzigen Lichtpunkte mein wahres Zuhause hätte sein können. Aber das Leben nahm nicht seinen gewohnten Lauf. Ich wußte immer, daß ich mich von den anderen Kindern auf Gilead unterschied, aber das machte mir keinen Kummer. Schließlich war ich mir über mein Aussehen weitgehend im unklaren – Spiegel waren bei den Rudstromiten verpönt, sie sahen in ihnen Instrumente der Eitelkeit und Falschheit –; ich wußte eigentlich nur, daß ich kleiner und sehr viel schneller als meine Spielkameraden war – große, schwerfällige, rotwangige Kinder, die vor Gesundheit strotzten, zu schwerer Arbeit geboren waren und nur ernste, auf-
reibende Spiele kannten. Schon mit sechs konnte ich Bzzits, die die Brintherställe surrend umschwärmten, mit einem raschen Zugriff aus der Luft holen, und mit fortschreitendem Alter wurde ich zum Mittelpunkt in einem beliebten lokalen Spiel. Die anderen Kinder stellten sich dabei in einer Schlange vor mir auf und warfen Steine. Ich fing die Steine und warf sie doppelt so schnell zurück. Das Spiel endete, wenn jemand getroffen wurde. Ganz gleich, wie viele gegen mich antraten, ich gewann immer. Meine Geschicklichkeit nötigte ihnen zwar widerwillige Anerkennung ab, aber viel weiter gingen unsere Beziehungen nicht. Ich mochte die anderen Kinder auf Gilead nicht besonders – Cassie ausgenommen, für die ich mich später ernsthaft interessieren sollte –, daher verbrachte ich meine Freizeit meist zu Hause, wo Zealous und Persistence mir nach einem anstrengenden Arbeitstag Unterricht in Form von Lesungen aus dem Buch von der Reise erteilten. Es war ein stets gleichbleibendes Ritual. Abends nach dem dritten Mondaufgang pflegten wir vorm Feuer zu sitzen, meine Eltern auf der einen Seite des Kamins, vor sich den Buchständer, ich auf der anderen. Sie wechselten sich beim Vorlesen ab, wenngleich Zealous den Hauptanteil daran hatte. Er bevorzugte bestimmte Kapitel, auf die er immer wieder zurückzukommen pflegte, obwohl Persistence ihn
wiederholt ermahnte, daß jedes Ding seine Ordnung haben müsse und kein Kapitel vorzeitig wiederholt werden dürfe, selbst wenn man es noch so gern hörte. Mir gefielen vor allem die prophetischen Bücher mit ihren geheimnisvollen Hinweisen auf einen Mann, der auf den Winden ritt, zwischen den Sternen wanderte, das Zeichen von Rudstrom an seinem Handgelenk trug und die Geheimnisse aller Welten und Menschen in seinem Herzen barg. Zealous hingegen hatte eine Vorliebe für das Buch der Verwünschungen, und er verlas es mit großer Genugtuung und so wildem Eifer, daß seine Augen drohend funkelten und sein kurzer, graugefleckter Bart hin und her ging wie ein Brintherschwanz. »Verflucht sei der Planet des Bösen, und Schmach und Schande komme über seine Bewohner!« pflegte er mit Donnerstimme zu verkünden, und Persistence und ich pflegten zu erwidern: »Schande komme über sie!« »Verflucht seien jene, die die Reinheit des Landes beschmutzen und es verwüsten und vergiften mit ihrem frevelhaften Streben! Schmach und Schande komme über sie und ihre Nachkommen!« »Schande komme über sie!« »Verflucht sei der Planet, da sich die Werke des Stolzes erheben, und Schmach und Schande komme über die Erbauer von hohen Mauern!«
»Schande komme über sie!« »Verflucht seien jene, die das Land unter Steinwerk begraben, die Leben mit Tod zudecken, und Schmach und Schande komme über die Erbauer von Steinhäusern!« »Schande komme über sie!« Das ging so weiter, bis Zealous bei einer bestimmten Verwünschung anlangte, die mir stets Rätsel aufgab. Jedesmal, wenn er sie rezitierte, stellte ich ihm dieselbe Frage, und jedesmal gab er mir dieselbe Antwort. »Verflucht seien die Bewohner großer Städte, die die Unwissenden zu allen Arten des Lasters verführen, und Schmach und Schande komme über die verbrecherischen Statthalter des Vergnügens!« »Schande komme über sie! Vater, was ist ein Laster?« fragte ich schnell, ehe er zur nächsten Verwünschung übergehen konnte. »Das darf ein Knabe nicht wissen. Zur Zeit der Entscheidung wird man dir alles erklären.« »Wann wird das sein, Vater?« »Sie rückt mit jedem Tag und mit jeder Stunde näher, Knabe«, pflegte er zu antworten, um dann fortzufahren. »Verflucht seien die Macher von Plänen ...!« Da meine Eltern mir nicht sagen wollten, was ein Laster war oder was es mit der Zeit der Entscheidung auf sich hatte, fragte ich Cassie, meine einzige Freun-
din. Ihr voller Name lautete Feste der Beharrlichkeit Cassie Hammersmith. Sie war die jüngste Tochter unserer Nachbarn, und zwischen ihren und meinen Eltern bestand die stillschweigende Übereinkunft, daß sie und ich heiraten sollten, wenn meine Zeit der Entscheidung gekommen war. Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr hatte mich dieser Gedanke mit Abscheu erfüllt, doch als ich sechzehn wurde und Cassie inzwischen fünfzehn war, erschien er mir gar nicht so übel. Cassie war ein hübsches Mädchen, kleiner als die anderen Kinder, und paßte eigentlich recht gut zu einem schmächtigen Jungen wie mir. Sie hatte strohblondes Haar, rosige Wangen, lächelte immer fröhlich und zeigte Verständnis für die Sorgen, die mich quälten, das weit über ihr Alter hinausging. Leider wußte sie auch keine Antwort auf meine Fragen. Damals kannten wir beide noch keine Laster. Eines Abends nach dem Essen erfuhr ich, daß meine Zeit der Entscheidung kurz bevorstand – und noch einiges mehr. Ich war oben auf meinem kleinen Zimmer, als ich hörte, daß jemand das Haus betrat. Wie es der gileadischen Sitte entsprach, ging ich hinunter, um den Besucher zu begrüßen. Doch als ich vor der Tür zum Kaminzimmer stand, zögerte ich, denn ich hörte die Stimme von Kontemplator-derEwigen-Weisheit Scrooby, einem der Ältesten von Gilead. Soviel ich wußte, hatte er irgend etwas mit der
Zeit der Entscheidung zu tun. Ich überlegte, daß ich vielleicht mehr erfahren würde, wenn ich dem Gespräch unbemerkt lauschte, und versteckte mich neben dem Türpfosten. »Nachsicht und brüderliche Liebe für alle wahren Gläubigen, Bruder Whitby«, sagte Scrooby. »Möge dein Weg stets eben sein.« »Gesundheit dir und Harmonie deinem Hause und allen, die darin wohnen«, erwiderte mein Vater. »Möge ihr Leben ereignislos verstreichen.« Nachdem er dieselbe Begrüßungsformel mit meiner Mutter ausgetauscht hatte, fragte Scrooby meinen Vater unvermittelt: »Bruder Whitby, ist der Knabe namens Erlösung-aus-der-Leere im Haus?« »Das ist er, Ältester Scrooby. Er ist in das Studium des Buches vertieft. Soll ich ihn rufen?« »Später, Bruder Whitby. Zuerst müssen du und ich über seine Zukunft sprechen, denn seine Zeit der Entscheidung ist gekommen.« Ich drückte mich enger an den Riß in der Tür. Es herrschte Schweigen, bis meine Mutter den Raum verließ, und danach unterhielten die beiden sich aufreibend lange über das Getreide und das Wetter und die drohende Brintherseuche. Endlich kam Scrooby zur Sache. »Hast du den Knaben schon von der Wahrheit seiner Herkunft unterrichtet und ihm die merkwürdige
Wiege vom Himmel gezeigt und das Schriftstück, das darin ist, Bruder Whitby?« fragte er. Ich spürte eine plötzliche Beklommenheit, und eine Flut von Zweifeln stieg in mir auf. Was meinte er mit »die Wahrheit seiner Herkunft«? Konnte es sein, daß Zealous und Persistence nicht meine richtigen Eltern waren und Gilead nicht mein wahres Zuhause? »Das habe ich nicht, Ältester«, erwiderte Zealous leise. »Seine Zeit der Entscheidung ist gekommen. Noch vor dem nächsten Mondaufgang muß er alles erfahren.« »Es soll geschehen.« »Es muß geschehen, Bruder Whitby«, sagte Scrooby streng. »Als du und Schwester Persistence den Findling in eure Obhut nahmt, wußtet ihr um diese Verpflichtungen. Der Knabe war dir wie dein eigener Sohn, und du hast dich lange an ihm erfreut. Nun, da er ein Mann werden soll, mußt du ihm von seinem seltsamen Erscheinen unter uns erzählen, so er seine Entscheidung aus vollem Wissen treffen mag.« »Ich werde ihn unterrichten, Ältester«, sagte Zealous. Ich schlich mich leise davon, ging auf mein Zimmer, warf mich auf mein Lager und starrte hinaus zum Abendhimmel. Wenn Scrooby die Wahrheit sagte – und ein Ältester von Gilead konnte nichts ande-
res –, dann war ich in einer seltsamen Wiege, die geheimnisvolle Schriften barg, von irgendwo dort oben gekommen. Warum hatte man mir das nicht eher gesagt? Ich schnellte hoch und saß kerzengerade, von einer plötzlichen Wut auf die Erwachsenen erfüllt, die mir dieses Wissen jahrelang vorenthalten hatten. Und was, wenn sie mich eingeweiht hätten? überlegte ich. Was hätte ich schon tun können? Was konnte ich jetzt tun? Irgendwo dort draußen hatte ich Eltern verloren, die ich nie gekannt hatte. Sollte ich meine zweiten Eltern, die Menschen, die mich liebten und sich um mich kümmerten, nun auch verlieren? Ich ließ mich auf mein Lager zurücksinken und dachte an Cassie. Vielleicht durften wir nun nicht mehr heiraten. Vielleicht mußte ich fortgehen, dahin, wo ich hergekommen war, wo das auch sein mochte. Sollte ich jeden, den ich liebte, verlieren, ins Exil getrieben werden zu kalten, feindseligen Sternen ... für immer umherziehen, heimatlos, ohne Freunde? Ich war so tief in diese düsteren Gedanken verstrickt, daß ich Zealous nicht bemerkte. Erst als er sprach, sah ich, daß er in der Tür stand. »Auf, Junge. Es ist nicht gut, im Bett zu liegen, ehe die Schlafenszeit gekommen ist«, sagte er nachsichtig. Als ich mich erhob, fuhr er fort: »Wir wollen ein wenig Spazierengehen. Ich habe dir etwas zu sagen.« Draußen führte er mich ums Haus herum, an den Ställen und Scheunen vorbei, auf eine kleine Hütte
zu, die sich an einer entlegenen Stelle seines Landes befand. Sie war stets verschlossen gewesen, und immer, wenn ich Zealous und Persistence danach gefragt hatte, waren sie meinem Blick ausgewichen und hatten rasch das Thema gewechselt. »Dein Name, Junge: Erlösung-aus-der-Leere. Hast du dich nie nach dem Grund gefragt, aus dem er dir gegeben wurde?« fragte Zealous während des Weges. »Nein, Vater. Ich finde, es ist ein schöner Name. Hat er eine Bedeutung, die mir unbekannt ist?« Zealous brummte nur, und wir gingen eine Weile schweigend daher. Einige Zeit später fragte er: »Hast du bemerkt, Junge, daß du dich in manchen Dingen von den anderen Jungen von Gilead unterscheidest?« »Das habe ich bemerkt.« »Hast du auch bemerkt, daß die anderen Jungen ihren Eltern sehr ähnlich sehen, du aber Schwester Persistence und mir gar nicht ähnelst?« »Auch das habe ich bemerkt«, erwiderte ich. »Und doch hast du mich nie danach gefragt.« Ich schüttelte unsicher den Kopf. Vor uns kam die abgesperrte Hütte in Sicht. »Es ist an der Zeit, über diese Dinge zu reden«, sagte Zealous. Er hielt inne, und seine Stimme klang brüchig, als er fortfuhr: »Vergib mir, daß ich dir dies nicht schon vor langer Zeit gesagt habe, Junge. Ich fürchtete, dich als meinen Sohn zu verlieren.«
»Ich bin dein Sohn«, sagte ich fest und ergriff seine Hand. »Das bist du in jeder Beziehung – bis auf eine. Du mußt wissen, daß Schwester Persistence dich nicht gebar und daß ich dich nicht zeugte. Du kamst zu uns als ein Himmelskind.« Eine plötzliche, absurde Hoffnung flackerte in mir auf, und ich versuchte zu lächeln. »Ich kenne die Geschichten über die Geburt, Vater, und ich weiß auch die Wahrheit. Kinder kommen nicht vom Himmel.« Zealous starrte mich an und lachte kurz auf. Er blinzelte mehrmals und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Nein, Junge, nein, andere Kinder kommen nicht vom Himmel. Aber sieh einmal dort hinein.« Er holte einen Schlüssel hervor, öffnete das Schloß an der Hütte und zog die Tür weit auf. Drinnen, gegen eine Wand gelehnt, stand ein silberner Zylinder, fast so groß wie ich. Zealous deutete auf ihn. »In dieser Wiege, die an genau dieser Stelle landete, kamst du zu uns. Die Ältesten hielten es für ein Zeichen und gaben dich bis zu deiner Zeit der Entscheidung in unsere Obhut. Diese Zeit ist nun gekommen.« Ich stürzte in die Hütte und zog die Klappe an dem Zylinder auf. Ein winziger Sitz mit Gurten, gerade groß genug, daß ein Kleinkind darin Platz hatte, kam zum Vorschein. Ringsum befanden sich komplizierte Geräte, wie ich sie noch nie gesehen hatte; doch mir fiel so-
fort zweierlei auf: an der Rückseite der Klappe war ein Schild mit der Aufschrift »Pendelton-Basis, 106-22LC«, und auf dem Boden des Zylinders lag ein Stück Papier. Ich riß es an mich und las neugierig: »Geburt: 22723.9. 2607 GSK*. Expeditions-Intersystem-Frachter Flanders, LG 6, 8, g 0,314. Eltern: Malellanen« – der Rest war unleserlich, von einem dunklen Farbfleck bedeckt, der Blut gewesen sein konnte. »Nun weißt du soviel wie wir«, sagte Zealous. »Gar nichts weiß ich!« schrie ich. »Worte, Zahlen! Was bedeutet dieses Gekritzel?« »Du weißt, daß du nicht von Gilead stammst. Doch * Während der Frühphase der Weltraumerforschung führten die irdischen Pioniere eine allgemeine Methode der Zeitrechnung ein: den Galaktischen Standardkalender (abgekürzt GSK). Dieser basiert auf dem irdischen Tag zu vierundzwanzig gleich langen Stunden, die jeweils in sechzig gleich lange Minuten zu wiederum jeweils sechzig Sekunden unterteilt sind. 365,25 dieser TagEinheiten entsprechen jener Zeitspanne, die die Erde benötigte, um ihr Muttergestirn einmal zu umkreisen, und wurden ein Jahr genannte. Der Galaktische Standardkalender diente den Pionieren dazu, Ereignissen, die sich auf Planeten mit stark variierenden Rotations- und Umlaufzeiten vollzogen, ein allgemeingültiges, standardisiertes Datum zuzuordnen. Jeder Planet besaß zwangsläufig einen eigenen planetarischen Kalender (PK), und es war allgemein üblich, alle planetarischen Ereignisse mit einem zweifachen Datum – PK und GSK – Jedes Ereignis im Weltraum mit einem einzelnen Datum – GSK – zu versehen. Aus diesem Grund ist Dels Geburt kein planetarisches Datum zugeordnet.
wenn du es nach der Zeit der Entscheidung so willst, sollst du für immer einer von uns sein – das kann dir niemand verweigern. Diesen Zylinder wird man vergraben und vergessen. Die Ältesten und Schwester Persistence und ich werden niemals mehr davon sprechen. Du wirst Schwester Cassie heiraten und Land erhalten, das an meines angrenzt, und dort als mein Sohn leben.« »Aber ich werde stets wissen, daß ich nicht von Gilead stamme.« Zealous legte mir den Arm um die Schultern und führte mich von der Hütte fort. »Dein Körper stammt nicht von Gilead, das ist wahr, doch dein Geist und dein Charakter wurden hier geformt. Dies allein sind die Dinge, auf die es bei einem Menschen ankommt. Beim ersten Tageslicht werden wir die Ältesten aufsuchen und deine Bereitschaft bekanntgeben, die Zeit der Entscheidung anzutreten.« »Dann bin ich bereit?« »Ja. Die Ältesten werden alle Fragen über unsere Sitten und unseren Glauben beantworten. Sie haben den Schwur geleistet, die Wahrheit zu sprechen und nichts zu verschweigen. Wenn du deinen Wissensdurst gestillt hast, werden wir zurückkehren. Du wirst für eine Saatzeit zurückgezogen leben und über all dies nachdenken. Dann mußt du entscheiden, ob du bei uns bleiben oder fortgehen willst.«
»Ich werde bleiben«, erklärte ich entschlossen. Zealous schüttelte den Kopf. »Der Zeitpunkt für diese Entscheidung liegt in der Zukunft.« »Ich werde bleiben und Cassie heiraten.« »Wir würden es begrüßen.« »Darf ich mit ihr über diese Dinge reden?« fragte ich, auf die Hütte deutend. »Ich rate es dir nicht, aber ich kann es nicht verbieten. Du hast die Zeit der Entscheidung erreicht. Geh nur zu ihr, Junge, und tu, was du für richtig hältst.« Ich umarmte ihn und dankte ihm. Dann steckte ich den Zettel mit der rätselhaften Botschaft in die Tasche und lief quer über die Felder zur Farm der Hammersmiths. Cassie kam auf mein Zeichen hin aus dem Haus, und wir gingen zu einem unserer Lieblingsplätze, um über unsere Zukunft und meine neuentdeckte Vergangenheit zu sprechen. Sie war weniger überrascht, als ich geglaubt hatte. »Das war mir klar, als ich dich zum erstenmal sah. Du bist ganz anders als die anderen, lieber Del«, sagte sie lächelnd. »Es stimmt, ich bin viel kleiner –« »Aber schneller.« »Und nicht so stark wie Diener-der-Lobpreisung Dimbleby –« »Aber zehnmal klüger.« »Ich kann Brinther nicht so gut hüten wie –«
»Du bist hübscher als sie alle. O Del, lieber Del, entschließe dich, bei uns zu bleiben, und heirate mich!« Ich nahm sie in die Arme, gab ihr einen langen Kuß und schmiegte mein Gesicht an ihr weiches, lieblich duftendes Haar. In diesem Moment, an dieser Stelle begrub ich in Gedanken den silbernen Zylinder und das fremdartige Schriftstück und all die Fragen, die mich vor kurzer Zeit noch so gequält hatten, und ich wußte, daß meine Zukunft sich in dieser Nacht entschied. So geschah es – aber auf eine Weise, die ich mir nie hätte träumen lassen.
2
Die Daltreskaner kommen nach Gilead; meine Trennung von Cassie
Lange Zeit standen wir im hellen Mondlicht, hielten einander fest umschlungen, sagten nichts, weil Worte überflüssig waren. Dann plötzlich wurde ich unruhig. Ich hatte scharfe Ohren und hörte schwache Geräusche, die mich alarmierten. »Cassie«, flüsterte ich, »es sind Leute in der Gegend.« »Ich höre niemanden.« »Aber ich. Sie gehen durch den Wald.« »Wenn für einen Mann die Zeit der Entscheidung
gekommen ist, so hörte ich, versuchen die Jungen einer Siedlung manchmal, ihm Angst zu machen«, sagte sie und sah mich besorgt an. Ihre Unterscheidung zwischen »Mann« und »Jungen« gefiel mir. Ich bückte mich und sammelte mehrere Steine auf; dann nahm ich ihre Hand. »Auf dieser Seite ist niemand«, sagte ich leise. »Geh mit mir zur Stelle, wo der Weg abzweigt; von dort läufst du nach Hause.« – »Ich lasse dich nicht gern allein, Del.« »Ich kann nicht einfach weglaufen, und ich möchte nicht, daß du verletzt wirst.« – »Aber was ist mit dir?« fragte sie. »Hab keine Angst um mich. Du sahst mich das Wurfspiel mit den anderen spielen. Für sie ist die Gefahr größer als für mich.« Wir erreichten die Abzweigung. Ich konnte sie jetzt deutlich hören; es waren acht oder mehr, die schwerfällig durchs Unterholz tappten. Ich gab Cassie einen raschen Kuß und sagte: »Und nun lauf und bleib nicht stehen!« Als Cassie losgelaufen war, versteckte ich mich im Schatten und wartete, daß unsere Verfolger sich zeigten. Ich gedachte ihnen eine Lektion zu erteilen und war mir sicher, daß sie am Ende mit leeren Händen und Prellungen abziehen würden. Links von mir ertönte ein lautes Krachen, dann eine Reihe von Worten, wie ich sie auf Gilead selten gehört hatte. Ich
wurde nachdenklich. Wer immer in meiner Nähe war, es waren nicht die Jungen aus der Siedlung. Ich hielt einen Stein wurfbereit. Zwei Gestalten traten aus dem Wald ins Mondlicht, und ich wurde von einer plötzlich Angst gepackt, die mein Herz rasen ließ. Sie trugen mit Eisenplatten besetzte Lederwämse und schwere Stiefel. Es waren kräftige Männer, doppelt so groß wie ich, mit wuchtigen, struppigen Schädeln und dicken Hälsen, und beide hatten einen spitzen Treibstock in den Händen. Das waren keine Leute, die mir einen Streich spielen wollten – es waren Daltreskaner, die Sklavenhändler der Galaxis. Schon einmal in meinem Leben – ich war noch sehr klein gewesen – waren sie nach Gilead gekommen und hatten vierzig junge Männer und Frauen entführt, um sie den Statthaltern des ruchlosen Lasters auf anderen Welten zu verkaufen. Ich erinnerte mich jetzt an diesen Vorfall und wurde von Entsetzen gepackt. Doch dieses Entsetzen wich sofort grimmiger Entschlossenheit. Cassie würden sie nicht kriegen, und wenn es mich das Leben kostete. Die beiden Sklavenhändler besprachen sich eilig, und kurz darauf stieß ein dritter zu ihnen. Dieser zeigte auf den Weg, den Cassie genommen hatte, woraufhin alle drei die Verfolgung aufnahmen. Ich hörte, daß noch weitere Daltreskaner in der Nähe waren. Ich schlug eine Abkürzung durch den Wald ein
und wartete neben dem Weg. Als der erste Sklavenhändler vorbeilief, stieß ich einen Stock zwischen seine Beine; er stürzte kopfüber zu Boden. Der zweite war dichtauf, stolperte über seinen Vordermann und schlug der Länge nach hin. Der dritte stürzte sich auf mich, doch ich wich aus und verschwand wieder im Wald. Die beiden anderen rappelten sich auf, und dann setzten alle drei mir nach. Cassie schienen sie vergessen zu haben; sie war nun in Sicherheit, und ich brauchte nur noch auf mich selbst aufzupassen. Ich kannte mich im Wald gut aus und war zuversichtlich, den Sklavenhändlern entgehen zu können. Sie waren groß, schwerfällig und langsam; ich hingegen war klein und schnell und hier zu Hause. Drei konnte ich mit hart geschleuderten Steinen zu Fall bringen, doch dem Lärm nach zu urteilen, waren es mehr, als ich anfangs gedacht hatte; und sie kreisten mich ein, bildeten einen Ring um mich, der ständig enger wurde. Als sie näher kamen, versteckte ich mich hinter einem umgestürzten Baum. Kurz darauf stampfte ein Daltreskaner dicht an mir vorbei, nahe genug, daß ich ihn hätte berühren können. Ich wartete einen Moment, dann sprang ich auf, um mich in Sicherheit zu bringen. Doch ich hatte nicht mir ihren Tricks gerechnet. Der Ring, mit dem sie mich einkreisten, war ein doppelter. Ich lief einem Sklavenhändler direkt in
die Arme. Er packte mich an der Kehle, und all mein Zappeln und Treten waren umsonst. Meine Steine waren aufgebraucht, ich war hilflos. Der Sklavenhändler schüttelte mich wütend und rief seinen Kumpanen zu. Als sich alle um mich versammelt hatten, schleuderte er mich zu Boden. Ehe ich mich aufrappeln konnte, begannen sie, auf mich einzutreten und meinen Rücken und die Beine mit ihren schweren Stöcken zu bearbeiten. Mein letzter Gedanke, bevor ich das Bewußtsein verlor, galt Cassie.
3
Mein erster Kampf und seine Konsequenzen
Ich erwachte auf einem stinkenden Lumpenhaufen in einer dunklen, kleinen Zelle, die von Öl- und Schweißgeruch erfüllt war. Ein Daltreskaner stieß mir mit seinem Stock in den Rücken und schrie: »Steh auf, du kleines Bzzit! Du wirst dir die Fahrt auf diesem Schiff verdienen!« Ich erhob mich schwerfällig; mir tat alles weh. Den Schmerzen nach zu urteilen, mußte mein Körper ein einziges Mal von Prellungen und Quetschungen sein. Mein eines Auge war ganz dick und weich und die Oberlippe geschwollen. An der rechten Hand hatte ich eine Platzwunde, die ein großer Daltreskaner mit seinem Stiefelabsatz verursacht haben mußte.
»Wasser. Bitte gebt mir Wasser«, krächzte ich. Meine Kehle war wie ausgedörrt, und ich hatte einen widerlichen Blutgeschmack im Mund. Der Sklavenhändler gab mir eine Ohrfeige, packte mich an der Schulter und stieß mich in einen schmalen, dämmrig beleuchteten Gang hinaus. Mit dem Stock trieb er mich vorwärts. »Für dein Wasser mußt du arbeiten, du freche Gilead-Ratte! Deinetwegen ist uns ein hübsches kleines Ding entwischt, das uns auf Barbary ein Vermögen eingebracht hätte. Das wirst du wettmachen.« Cassie war demnach entkommen und vor weit Schlimmerem bewahrt worden, als ich geglaubt hatte. Barbary war eine Welt, die auf Gilead selten Erwähnung fand, ein Freudenplanet, auf dem unbeschreibliches Laster herrschte. Ich ließe mich jederzeit wieder verprügeln, um Cassie ein solches Schicksal zu ersparen – verprügeln und was meine Entführer mir sonst antun konnten. Ich spürte, daß ich alle Qualen erdulden konnte, und stärkte meinen geschundenen, schmerzenden Leib mit den Worten Zealous: »Wer aber streitet mit den Knechten des Bösen, in dem sei alle Stärke. So er auch leidet, wird er dennoch triumphieren, und so er auch daniedersinket vor der Macht der Verruchten, wird er dennoch über sie erhoben werden. Denn groß ist die Kraft des rechtschaffenen Mannes.« Ich hatte Zealous diese Worte häufig into-
nieren hören, und nun würde ich sie auf die Probe stellen. Ich bat kein zweites Mal um Wasser oder sonst etwas. Man machte mich zum Küchenjungen auf dem Sklavenschiff. Das war schwere Dreckarbeit, denn die Daltreskaner waren unflätige Esser, die auf den Tischen, dem Fußboden und an den Wänden der Messe eine Schweinerei zu hinterlassen pflegten. Wenn sie ihre Freßorgie beendet hatten, mußte ich den ganzen Dreck für die nächste Schicht wegmachen, und der Schiffskoch zögerte nicht, mich mit Stiefeltritten und Stockschlägen zu traktieren, um meinen Arbeitseifer anzuspornen. Ich schwieg zu allem und lauschte auf jedes Wort. Ich wußte nicht, wohin wir unterwegs waren oder wie lange die Reise dauern würde, aber ganz gleich, wo unser Ziel liegen mochte, ich war entschlossen, irgendwie einen Weg zurück nach Hause zu finden, und nur dieser Vorsatz ließ mich die entsetzlichen ersten Tage durchstehen. Ich erledigte meine Arbeit gewissenhaft, und der Koch überließ mich immer mehr mir selbst. Auch meine Prellungen gingen langsam zurück. Ich lernte die Namen aller Besatzungsmitglieder kennen und entwickelte allmählich ein Gespür für die Gegensätze und Bindungen zwischen ihnen. Die meisten Sklavenhändler waren treue Gefolgsleute des Schiffs-
kommandanten, einem vierschrötigen, grauhaarigen Riesen namens Gree, doch es gab eine Clique, deren Wortführer Agarix, ein Scheusal mit einem üblen Mundwerk, in Abwesenheit des Kapitäns häufig Stimmung gegen ihn machte, wenngleich er großen Respekt zeigte, wenn Grees unverwandter Blick auf ihm ruhte. Gree war ein schweigsamer, düsterer Mann, und ich war mir nie ganz sicher, ob er von Agarix' Stimmungsmache und Intrigen wußte. Er gab es durch nichts zu erkennen, aber er hatte ein wachsames Auge auf alles und jedermann im Schiff. Ich hätte zwar keine Träne vergossen, wenn die ganze Mannschaft übereinander hergefallen und sich bis auf den letzten Mann niedergemacht hätte, aber schon bei dem Gedanken daran war mir klar, daß meine Lage sich dadurch nur verschlimmert hätte. Meine Mitgefangenen – es gehörte zu meinen Pflichten, ihnen Essen zu bringen – waren meist Farmer wie ich, Brintherhirten, Bergleute oder Handwerker und kannten sich auf einem Raumschiff ebensowenig aus wie ich. Ohne die Daltreskaner wären wir dem Weltall auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, für alle Zeiten ausgesetzt zwischen unbekannten Sternen. Die Sklavenhändler brauchten uns lebend, um einen Profit zu erzielen; wir brauchten sie lebend, um nicht elend umzukommen. Während der neunten Woche meiner unfreiwilli-
gen Dienerschaft, als Gree und Agarix mit sieben weiteren Besatzungsmitgliedern eine Mahlzeit in der Messe einnahmen, wurde erstmals von unserer Ankunft und den an Bord befindlichen Gefangenen gesprochen, die verkauft werden sollten. Ich ging unauffällig meiner Arbeit nach, servierte Brintherfleisch auf Platten und große Becher mit Skoof, einem siedenden, dickflüssigen, schwarzen Getränk, und nahm jedes Wort in mich auf. »Der große Bergmann und die Hirten werden auf Tarquin VII den besten Preis erzielen«, sagte Gree. »Die übrigen Männer heben wir für das KeplerSystem und die Frauen für Barbary auf.« »Wir brauchen nicht alle Frauen mit nach Barbary zu nehmen«, meinte einer aus dem Lager Agarix'. »Warum nicht?« »Man verwendet auch Frauen in den Arenen. Wir haben ein paar, für die es sich nicht lohnen würde, sie den weiten Weg bis Barbary mitzuschleppen. Wir können sie auf Tarquin verschleudern und unterwegs neue an Bord nehmen.« Gree schüttelte den Kopf. »Barbary nimmt alles, was wir besorgen können. Wir verkaufen sie dort.« Ich ging gerade hinter Agarix vorbei, als Gree sprach. Agarix griff nach mir, packte mich am Hals und zerrte mich an den Tisch. »Was machen wir mit dem kleinen Teufel hier? Seinetwegen ist uns beste
Ware für Barbary entgangen. Die Kleine hätte uns die ganzen Reisekosten wieder eingebracht.« »Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte Gree. »Wir verkaufen ihn auf Kepler. Dort nimmt man Burschen seiner Größe für die Minen.« »Ich finde, wir sollten ihn für Barbary aufsparen. Soll er doch den Platz seiner kleinen Hure einnehmen. So manche alte Händlersfrau würde gut bezahlen, bekäme sie zur Abwechslung einen hübschen kleinen Kerl wie unseren Gilead-Grünschnabel hier.« »So mancher alte Händler könnte selbst Gefallen an dem Burschen finden«, sagte Agarix' Nebenmann, worauf alle in brüllendes Gelächter ausbrachen. Allein Gree blieb still; er saß ausdruckslos da, den Blick auf seinen Rivalen gerichtet. »Er geht nach Kepler«, sagte er. »Aber seine Talente werden in den Minen verkümmern«, witzelte Agarix, während er mir schmerzhaft den Hals zudrückte. Er sah mich an und sagte: »Verrat uns mal deine Tricks, Kleiner. Wie war dein Name – Erlösung-aus-der-Leere, stimmt's? Komm schon, sag uns, wovon du die plattfüßigen Bauerndirnen auf Gilead erlöst hast.« »Von gar nichts«, erwiderte ich. Ich hielt einen Skoofbecher in den Händen und war vor Schmerz – Agarix' große Hand umklammerte immer noch fest meinen Hals – nahe daran, mich mit der heißen, dik-
ken Brühe zu bekleckern, doch ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. »Von nichts? Zier dich nicht, Kleiner, du bist hier unter Männern. Wir sahen dich mit deiner kleinen Hure, ehe wir dich in jener Nacht an Bord brachten. Ich wette, du hattest was mit ihr im Sinn, und wir kamen dir dazwischen, stimmt's? Zu schade, daß sie davonkam«, murmelte er, stieß mich von sich und wandte sich seinen Kameraden zu. »Die hätte ich selbst gern mal geritten. Na, was sagst du dazu, du schielender –« Er sah zu mir, und ich schleuderte ihm den heißen Skoof ins Gesicht. Mir war sofort klar, daß ich etwas sehr Törichtes getan hatte, das leicht meinen Tod bedeuten konnte, aber ich hatte gehandelt, ohne zu überlegen. Seine Worte hatten in mir den Wunsch erweckt, ihn zu töten, und der Skoofbecher war die einzige erreichbare Waffe gewesen. Agarix brüllte vor Schmerz und Zorn. Er sprang auf und führte einen brutalen Faustschlag gegen mich, der mir wohl den Kopf von den Schultern gerissen hätte, wäre ich nicht rechtzeitig ausgewichen. Plötzlich wurde ich von hinten gepackt, und ein anderer Sklavenhändler hielt meine Arme fest. Als ich wehrlos dastand, zog Agarix sein Messer. »Kein Mann wird jemals die Hand gegen Agarix erheben und seine Tat überleben, um sich ihrer zur
rühmen – erst recht kein schmieriger Brinthersohn von einem Planet scheinheiliger, wirrköpfiger Schwächlinge. Ich werde dich zerlegen wie eine Haxopodenlende, Kleiner, und wenn –« »Moment, Agarix«, fuhr Gree dazwischen, und Agarix verstummte verblüfft. »Laß den Jungen los«, befahl Gree. Meine Arme kamen frei. »Komm mir nicht in die Quere«, grollte Agarix. »Ich habe ein Recht auf Rache.« »Das streitet dir niemand ab, Agarix. Aber wir haben ein Recht auf unseren Spaß«, erwiderte Gree. Er zog dem Sklavenhändler neben sich das Messer aus dem Gürtel und warf es mir vor die Füße. »Heb es auf, Kleiner. Zeig uns, ob du ein Mann bist.« Agarix lachte verächtlich und sah zu seinen Kameraden, um sich dann ganz unvermittelt mit einem kurzen, blitzschnellen Messerstoß auf mich zu stürzen. Ich tauchte zwischen seinen Beinen durch, schnappte mir das am Boden liegende Messer und war schon fast wieder auf den Füßen, als Agarix sich zu mir umdrehte. Ich hatte oft genug mit Messern gearbeitet, aber noch nie eines im Zorn gegen ein anderes Lebewesen gerichtet. Die daltreskanischen Kampfmesser waren hervorragende, perfekt ausbalancierte Waffen, und ich fühlte mich sofort eins mit der Klinge, die ich nun besaß. Ich mußte sie mit beiden Händen halten, eine Geste, die Agarix höhnisch
nachahmte. Mein Mangel an Körperkraft war nicht ausschlaggebend; weit mehr beunruhigte mich die fehlende Kampferfahrung, die meine Lage praktisch aussichtslos erscheinen ließ. Doch die Arena, in der ich meinen ersten Kampf austrug, war so beschaffen, daß dieses Handicap zum Teil ausgeglichen wurde. Der Speisesaal war klein und mit Möbeln verstellt. Agarix konnte mich nicht in die Enge treiben und seine überlegene Körperkraft und -masse voll zur Geltung bringen, denn ich hatte zahlreiche Ausweichmöglichkeiten. Ich konnte den Tisch umrunden, darüberspringen oder unter ihm hindurchschlüpfen, um stürmischen Angriffen und wilden Hieben zu entgehen, und diese Bewegungsfreiheit bot mir eine relative Sicherheit. Natürlich konnte ich dieses Spiel nicht endlos fortsetzen. Früher oder später mußte es zur Konfrontation kommen, und dann war mein Gegner eindeutig im Vorteil. Ich versuchte, nicht an diesen Augenblick zu denken, aber wenn die Rechtschaffenheit mir Stärke verleihen sollte, wie Zealous es so oft versprochen hatte, dann würde sie sich beeilen müssen. Immerhin hatte ich eine Waffe und konnte mich frei bewegen. Wenn ich sterben mußte, dann wenigstens in einem Kampf um mein Leben, und nicht wie ein Stück Vieh, das man schlachtet. Und noch hatte Agarix mich nicht.
Wir umkreisten einander und stürzten aufeinander los – genauer gesagt: Agarix stürzte auf mich los, während ich mich immer wieder duckte, auswich und in Sicherheit brachte. Der Kampf schien eine Ewigkeit zu dauern, obwohl in Wirklichkeit kaum mehr als eine Minute verstrich. Der verschüttete Skoof, der das ganze Geschehen ins Rollen gebracht hatte, dampfte immer noch in einer Lache auf dem Tisch, als bereits alles vorüber war. Agarix trieb mich mit einer Finte bis an den Tisch zurück und führte einen schnellen Hieb gegen meinen Hals. Ich ließ mich zu Boden fallen und rollte mich rasch zur anderen Seite des Tischs. Mein Gegner sah dieses Manöver voraus und hechtete auf die Tischplatte, um mich, wenn ich drüben hochkam, mit seiner Messerklinge aufzuspießen. Ich wartete jedoch, und Agarix rutschte, vom eigenen Schwung vorwärts getragen, über den nassen Tisch, so daß sein Kopf und die Schultern über mir zum Vorschein kamen. Ich stieß zu, und die Klinge sauste, wie von einem eigenen Willen beseelt, nach oben und drang bis zum Heft in die behaarte Kehle ein. Er stieß einen erstickten, gurgelnden Schrei aus, ein Blutstrahl schoß hervor, auf meine Hände, und dann entfiel das Messer seiner Hand, und er lag still; sein großer Kopf hing verkehrt herum und mit aufgerissenen Augen vor mir, seine muskulösen Arme baumelten schlaff hin
und her, den Fußboden streifend. Das Blut lief ihm übers Gesicht, sickerte in die klaffenden Löcher seiner Nase und tropfte in einem dünnen Rinnsal von seinem glatten Haar herab. Agarix war tot. Vor wenigen Sekunden noch hatte er gelebt; nun lag er tot auf einem schmutzigen Tisch in einem stinkenden Piratenschiff, und sein Blut klebte an meinen Händen. Er war ein daltreskanischer Sklavenhändler gewesen, der Abschaum der Galaxis, ein grausamer, mörderischer Kerl, der mir bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen und sich die schmutzigen Stiefel damit gewischt hätte, aber er war ein Mensch gewesen, und ich hatte ihn getötet. Ich kroch unter dem Tisch hervor und ließ Gree das blutige Messer vor die Füße fallen. Mir war übel. Gree hob es auf, wischte es an seinem Oberschenkel ab und warf es seinem Besitzer zu. »Gut gemacht«, sagte er. »Du gehst nach Tarquin VII. Dort wird man dich zu einem richtigen Kämpfer ausbilden. Und jetzt mach die Schweinerei hier weg.« Zwei der Sklavenhändler schleiften Agarix' Leiche zur Luftschleuse. Die übrigen verließen die Messe, ohne Gree oder mir einen Blick zu schenken. Ich holte mir Eimer und Scheuerlappen und machte mich an die Arbeit.
4
Ich werde Raphanus angeboten; Gree geht eine Wette ein
Drei Wochen später landete das daltreskanische Raumschiff auf Tarquin VII, und zwölf zum Verkauf anstehende Gefangene, darunter auch ich, wurden aneinandergekettet und unter schwerer Bewachung ins Freie geführt. Man trieb uns so schnell voran, wie es die Fesseln um unsere Beine zuließen, und obwohl ich mehr hüpfte als ging, konnte ich nicht umhin, die Menschenmassen und prächtigen Gebäude um mich zu bewundern. Dies war mein erster Anblick eines anderen Planeten, und ich sah Dinge, die mit den einfachen Farmen und kleinen Dörfern auf Gilead nichts gemein hatten. Die Straßen waren mit glattem Stein gepflastert, und auch die Häuser, manche davon zehnmal so hoch wie ein Mann von durchschnittlicher Körpergröße, waren aus Stein und glänzten weiß in der strahlenden Sonne am klaren, blauen Himmel. Überall waren Menschen. Während der ersten fünf Minuten auf Tarquin VII sah ich mehr Menschen, als ich in meinem ganzen Leben auf Gilead gesehen hatte. Der Lärm, die Unruhe und die vielen Menschen, die grellen Farben und fremdartigen Fahrzeuge machten mir ein bißchen Angst, aber dann gewann meine Neugier die Oberhand, und schließlich verdrängte die Erleichterung, endlich dem Sklavenschiff
entronnen zu sein, alle anderen Gefühle. Ich bemerkte, daß die Tarquinier von kleinerem Wuchs als die Daltreskaner waren und auch keineswegs so schmutzig und ungepflegt wirkten. Das schien mir ein gutes Zeichen zu sein. Wir wurden in ein großes Gebäude geführt und in getrennte, vergitterte Zellen gesteckt, vor denen Wachen auf und ab gingen, die darauf achteten, daß wir uns nicht unterhielten. Ich erhielt eine Mahlzeit, und nachdem ich gegessen und ergebnislos versucht hatte, den Wachen Informationen zu entlocken, streckte ich mich auf dem Zellenboden aus und schlief ein. Das war keine bravouröse Geste; ich war erschöpft. Ich wurde geweckt, wie ich es seit den letzten Monaten schon gewöhnt war: durch einen spitzen Stock, der mir in den Rücken stach, und einen Schwall von Drohungen und Flüchen. Ich sprang auf. Hinter den Gitterstäben draußen standen Gree und eine Gruppe Tarquinier. Sie waren alle kleiner als Gree und sahen sehr unterschiedlich aus. Bei ihrem Anblick schoß mir sofort ein Satz aus dem Buch der Verwünschungen durch den Kopf, und mir war fast, als hörte ich Zealous' Stimme rezitieren: »Verflucht seien jene, die ihre Leiber duften machen und ihr Fleisch mit weichen Gewändern und glitzerndem Schein umhüllen, und Schmach und Schande komme über die, deren Leben sich im Trachten nach Luxus ergeht!« Unwillkürlich
flüsterte ich die Antwortformel: »Schande komme über sie!« Einer der Tarquinier, ein älterer Mann, der sehr vornehm wirkte und besser gekleidet war als seine Begleiter, trat vor, um mich genauer zu betrachten. Als seine Neugier befriedigt schien, wandte er sich an Gree und sagte mit sanfter, müder Stimme: »Zweifellos ein hübscher Junge, Gree, obwohl er furchtbar schmutzig ist. Ich werde ihn in Betracht ziehen, aber laßt Euch gesagt sein, daß ich ihn hier nicht gebrauchen kann. Man könnte ihn dem Adjutor Auloedus zum Geschenk machen, doch muß er vorher gründlich gesäubert werden.« Er hob den Arm, um affektiert an einer kleinen, süßlich duftenden Kugel zu schnuppern, die an einer feinen Kette um sein Handgelenk baumelte. »Ich wünschte wahrhaftig, Ihr würdet uns Eure Ware in einer ansprechenderen Form präsentieren, Gree«, sagte er mit vornehmzurückhaltender Abscheu. Das meiste, was er sagte, konnte ich verstehen. Wie die Daltreskaner bediente er sich einer Sprache, die der gileadischen eng verwandt war, und nur hier und da tauchten völlig fremde Worte oder Wendungen auf, deren Bedeutung ich aber gewöhnlich aus ihrem Zusammenhang ersehen konnte. So hatte ich wenig Mühe, ihrer Unterhaltung zu folgen. Ich fand, daß ihr Dialekt sich wie eine gebrochene Version guten
Hochgileadischs anhörte, aber wichtig war, daß ich sie verstehen und so erfahren konnte, was mit mir geschehen sollte. »Ihr könnt für den Jungen eine bessere Verwendung finden«, sagte Gree. »So?« »Ja. In der Arena.« Der Tarquinier zog die Augenbrauen hoch, lächelte nachsichtig – wie ein Erwachsener ein törichtes Kind belächelt – und schüttelte den Kopf. »Ihr habt, mein lieber Gree, wie alle Daltreskaner einen äußerst derben Sinn für Humor. Dieses schmutzige, verwahrloste Kind hätte in der Arena keine größere Chance als in einer Snargraxengrube.« »Entsinnt Ihr Euch Agarix?« fragte Gree. »Der fürchterliche Kerl mit dem üblen Mundwerk?« Der Tarquinier verzog angewidert das Gesicht und führte die Duftkugel zur Nase. »Ich bin wirklich froh, daß Ihr ihn diesmal an Bord ließt. Er ekelt mich an.« »Agarix treibt mit durchschnittener Kehle irgendwo dort oben«, erklärte Gree mit sichtlichem Wohlbehagen und wies zur Decke. »Es geschehen noch Zeichen und Wunder in der Galaxis! Habt Ihr doch noch die Geduld mit ihm verloren?« »Ganz recht. Ich gab diesem kleinen Bzzit ein Messer, und er erstach Agarix in einem fairen Kampf.«
Der Tarquinier verzog das Gesicht. »Bitte, Gree. Keine Scherze mehr.« »Ich scherze nicht, Raphanus. Der Junge ist für die Arena geboren. Bedenkt, wie die Wetten stehen würden, wenn Ihr ihn gegen einen Skeggjatt oder einen Thorumbier antreten ließet! Ihr könntet an seinen ersten drei Kämpfen ein Vermögen verdienen.« »Er wäre in wenigen Sekunden erledigt, Gree. Ich habe einen guten Ruf zu wahren, und es wäre ihm gewiß nicht förderlich, wenn ich kleine Jungen in die Arena schickte, um sie gegen ausgewachsene Männer kämpfen zu lassen«, erklärte Raphanus hochmütig. »Probiert es mit ihm.« »Hört endlich auf mit diesem Unsinn, Gree!« Gree zog einen kleinen Beutel aus seinem Gewand und entnahm ihm fünf glitzernde Würfel, die jeder einen Armstrong wert waren. Er hielt sie Raphanus hin. »Das habt Ihr mir für die Hirten gezahlt. Ich setze es darauf, daß dieser Sklave Euren Trainer mit zwei von drei möglichen Treffern besiegen kann. Setzt Ihr das gleiche?« »Angenommen, aber der Sklave kommt hinzu«, sagte Raphanus. »Wenn er gewinnt, zahle ich für ihn dasselbe wie für die Hirten. Verliert er, bekomme ich ihn umsonst.« »Angenommen.« »Also gut, Gree. Aber ich gehe nur darauf ein, um
Euch eine Lektion zu erteilen.« Raphanus wandte sich an seinen Stab. »Hol Testklingen«, sagte er zu einem, und zum nächsten: »Bring Kissen und Erfrischungen zur Zuschauerloge.« Den beiden anderen befahl er: »Schrubbt ihn und ölt ihn ein und staffiert ihn anständig aus. Der Kampf beginnt in einer Stunde.« Man holte mich aus der Zelle und führte mich in einen kleinen Raum, in dessen Mitte ein Becken mit warmem Wasser eingelassen war. Nach den vielen Wochen im Dreck auf dem Sklavenschiff hatte ich es sehr eilig, in dieses Becken zu gelangen, und die beiden Diener mußten mich schließlich mit Gewalt herauszerren, damit sie mich abtrocknen und für das Einölen vorbereiten konnten. »Woher kommst du, Junge?« fragte der ältere Diener, während er mich abrieb. »Mein Zuhause ist Gilead.« »Ich habe von Gilead gehört. Wenn ich mich recht entsinne, brachten die Sklavenhändler uns vor einigen Jahren eine Schiffsladung von dieser Welt. Große, stramme Kerle waren das, aber in der Arena taugten sie nichts. Ihr seid sehr religiöse Menschen, nicht wahr?« »Ich denke schon. Jedenfalls religiöser als die Daltreskaner.« »Das ist jeder. Was für Krieger habt ihr auf Gilead?«
»Wir haben keine. Ich weiß auch gar nicht, was ein Krieger ist. Ich kenne das Wort, aber niemand hat mir seine Bedeutung erklärt.« Der zweite Diener, der den Raum während unseres Gesprächs wieder betreten hatte, stellte einen Topf mit Öl ab und sah zu seinem Kollegen. »Genau das habe ich dir damals gesagt, als sie gebracht wurden, erinnerst du dich? Ich sagte: ›Diese Menschen haben keine kriegerische Tradition. Raphanus verschwendet sein Geld.‹« Der andere zuckte die Achseln und sagte: »Du hast gehört, wen der Junge besiegt hat, oder?« Der jüngere Diener sah mich scharf an und fragte: »Hast wirklich du Agarix getötet?« »Ja.« »In einem fairen Kampf?« »Ja, in einem fairen Kampf. Ich hatte –« Ich wollte sagen, daß ich Glück gehabt hatte, aber der ehrfürchtige Ausdruck auf den Gesichtern der Diener ließ mich stocken. Ich verbesserte mich. »Ich wurde provoziert. Er zog den Namen einer Frau in den Schmutz, und ich bestrafte ihn.« »Hattest du auf Gilead oft gekämpft?« »Solche Dinge tun wir auf Gilead nicht.« »Und doch hast du Agarix besiegt«, stellte der ältere Diener fest. »Agarix war langsam und ungeschickt. Er kämpfte
leichtsinnig«, sagte ich verächtlich, als wäre ich ein erprobter Arenakämpfer. »Bald wirst du gegen Loripes kämpfen. Er ist weder langsam noch ungeschickt und vor allem niemals leichtsinnig«, erklärte der ältere Diener, während er mir Rücken und Schultern mit Öl einzureiben begann. Er hieß mich, mit den Armen zu kreisen und die Schultern rundum zu bewegen, und diskutierte mit seinem Kollegen über meinen Körperbau. Dann sagte er zu mir: »Für dein Alter bist du sehr muskulös. Ihr scheint schwer zu arbeiten auf Gilead.« »So ist es.« »Auch Loripes ist muskulös, und er hat viel Erfahrung. Er ist seit drei Jahren Trainer. Dem Jungen steht ein schwerer Kampf bevor«, bemerkte der jüngere Diener. »Wie ist dein Name?« »Del«, erwiderte ich. Mein voller Name hätte nicht zu den melodischen, klangvollen tarquinischen Namen gepaßt, die ich bisher gehört hatte, darum sagte ich nur Del. »Merk dir folgendes, Del. Wenn du Loripes besiegst, wird man dich in die Arena schicken. Verliere, dann kommst du zu dem Adjutor Auloedus. Er ist ein reicher Mann, der seine Sklaven gut behandelt, solange er mit ihnen zufrieden ist«, sagte der ältere Diener. »Nach einiger Zeit gibt er dir vielleicht sogar eine
Frau. Im Hause des Auloedus könntest du ein langes und leichtes Leben haben«, fügte der andere hinzu. »Und in der Arena könntest du schon bei deinem ersten Kampf sterben.« »Bei diesem? Mit Loripes?« erkundigte ich mich hastig. »Aber nein. Das ist nur ein Geschicklichkeitstest. Ihr werdet mit Testklingen kämpfen. Aber in der Arena werden selbstverständlich richtige Waffen verwendet, und der Kampf endet mit dem Tod eines Kontrahenten.« »Das hört sich so an, als sollte man die Arena lieber meiden«, bemerkte ich. »O ja, ganz gewiß«, sagte der ältere Diener. Er überlegte einen Moment und fügte hinzu: »Natürlich ist in der Arena immer die Möglichkeit gegeben, großen Reichtum, ja, sogar die Freiheit zu gewinnen.« »Das geschieht sehr selten«, wandte der jüngere ein. »Aber es kommt vor«, beharrte der ältere. »Wie kann man in der Arena seine Freiheit gewinnen?« fragte ich. »Man muß der Beste sein. Die Leute verfolgen die Kämpfe genau. Sie haben ihre Lieblingstruppen und Favoriten. Bei den großen Festspielen kann es vorkommen, daß sie für einen, der sich besonders hervorgetan hat, die Freiheit fordern. Und dann muß so-
gar ein so mächtiger Herr wie Raphanus sich ihrem Willen beugen.« »Trotzdem, das geschieht selten«, wandte der jüngere Diener erneut ein. »Lieber ein langes Leben im Haushalt des Auloedus als ein blutiger Tod in der Arena.« »Ich ziehe die Freiheit dem einen wie dem anderen vor«, erklärte ich. »Gewiß. Wenn du Loripes besiegst, hast du die Wahl.« Er reichte mir eine Kniehose und ein Paar kurze, weiche Stiefel. »Ich hole dir jetzt einen Umhang. Deine alten Kleider werde ich verbrennen. Möchtest du irgend etwas davon behalten?« »Nein«, erwiderte ich. Dann fiel mir der Zettel ein, den ich in der Nacht meiner Entführung eingesteckt hatte. »Doch, warte – den Zettel in der Jackentasche.« »Dieser?« Der Diener hielt ihn hoch. »Ja. Bewahre ihn für mich auf.«
5
Mein zweiter Kampf: Ich kann Loripes überrumpeln und gewinne einen neuen Freund
Als ich mit dem Ankleiden fertig war, führten mich die Diener einen kühlen, dämmrigen Korridor entlang zu einem verriegelten Tor. Dahinter lag eine kleine umwandete Plattform, auf der zwei Tarquinier
warteten. Gree und Raphanus saßen zurückgelehnt auf einem kleinen Balkon oberhalb der Plattform, wo sie das Geschehen unter sich bequem verfolgen konnten. Ich erkannte auf den ersten Blick, welcher der beiden Tarquinier Loripes sein mußte. Er war größer und jünger als sein Begleiter, vielleicht zehn Jahre älter als ich, und er war eine sehr eindrucksvolle Erscheinung. Als er seine Schultern mit einem kurzen Zucken von dem Umhang befreite, das Gewand achtlos fallen ließ, in dem Bewußtsein, daß sein Diener es auffangen würde, vibrierte seine ganze Arm- und Brustmuskulatur. Mir schien, daß diese Begegnung wesentlich schwieriger werden würde als mein Kampf mit dem eher schwerfälligen Agarix. Ich streifte meinen Umhang ab, bemüht, so viele Muskeln wie möglich spielen zu lassen, aber weder Loripes noch sonst jemand zeigte sich beeindruckt. Der Mann, der neben Loripes stand, winkte mich heran. »Dies ist ein fairer Kampf; es wird nur mit der Klinge gekämpft; Schnitt- und Stichwunden zählen«, schnarrte er mechanisch. »Sieger ist, wer zwei von drei möglichen Treffern erzielt. Wenn ich ›Mal!‹ rufe, geht ihr auseinander, um mein Urteil abzuwarten. Irgendwelche Fragen?« Loripes ließ sich zu keiner Antwort herab, und ich wußte nicht, was ich hätte fragen sollen. Der Schieds-
richter zog nun zwei merkwürdig aussehende Messer hervor und reichte jedem von uns vorsichtig eines. Beide besaßen eine schwarze Spitze und eine grüne Schneide. Diese farbigen Teile der Klinge bestanden aus einem weichen Material, ansonsten waren es jedoch gewöhnliche Messer. Ich erkannte, daß es sich um die Testklingen handeln mußte, nach denen Raphanus verlangt hatte – Spezialwaffen, die statt einer Wunde ein Mal hinterlassen sollten. Ich atmete erleichtert auf. Trotz der Versicherung des Dieners hatte ich mit Schlimmerem gerechnet. »Stimmt etwas nicht?« fragte der Schiedsrichter. »Alles in bester Ordnung«, erwiderte ich lächelnd. »Glaubst du, der Kampf wird lustig werden?« fragte Loripes. »Nein. Es tut nur gut, zu wissen, daß er nicht tödlich ausgehen wird.« »Fangen wir an«, sagte Loripes zum Schiedsrichter. Der Schiedsrichter brachte uns auseinander und trat zurück. Dann hob er die Hand, wartete einen Moment und rief: »Los!« Loripes griff blitzschnell an, fintierte gleich zweifach mit einem Aufwärts- und einem Seitenhieb und setzte, als ich zur Seite sprang, mit einem Rückhandstoß nach, der mich nur um Haaresbreite verfehlte. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und schoß vor, um mich in die Enge zu treiben. In dieser Arena
konnte ich mich nirgendwo verstecken oder hinter etwas verschanzen; mir blieb nichts übrig, als schnell zu sein, und ich war weit schneller, als ich mir zugetraut hätte. Ich blieb in ständiger Bewegung, umtänzelte Loripes und griff – wenn auch zögernd und mit großer Vorsicht – gelegentlich selbst an, um zu verhindern, daß der Kampf ganz nach dem Willen meines Gegners ablief, und um ihn zu zwingen, neben seinem Angriffsplan auch an seine Verteidigung zu denken. Wie in dem Kampf mit Agarix operierte mein Ich auf mehreren Aktionsebenen gleichzeitig. Meine Bewegungen geschahen instinktiv, wie von selbst, als wüßte mein Körper genau, was zu tun war; mein Verstand überschlug hastig komplizierte Angriffsund Verteidigungsmöglichkeiten, während ein anderer Teil meines Ichs die ganze Zeit über als unbeteiligter Beobachter fungierte, der den Kampf genau verfolgte und jede Bewegung kritisch einschätzte. Als Loripes mit einem komplizierten Hin und Her von Stößen und Hieben auf mich eindrang, ahnte ich, was er vorhatte. Ich ließ mich bis fast an die Wand zurückdrängen, und als er zu einem scheinbar tief gezielten Stoß ansetzte, statt dessen aber das Messer herumwirbelte, um einen Hieb gegen meinen Hals zu führen, tauchte ich unter ihm weg und traf ihn knapp unterhalb des Brustbeins.
»Mal!« rief der Schiedsrichter. Wir gingen auseinander, und der Schiedsrichter besah sich den schwarzen Fleck auf Loripes Brust. »Erstes Mal für den Herausforderer. Ein tödlicher Stoß. Fechtet Ihr das Urteil an?« fragte er Loripes. »Ich akzeptiere es.« »Und seid Ihr mit dem Urteil einverstanden?« fragte er mich. »Ja«, sagte ich, in der Annahme, daß das von mir erwartet wurde. »Einer von dreien an den Herausforderer«, rief er zu den Zuschauern hinauf. Gree ließ ein häßliches Lachen hören, während Raphanus dem Schiedsrichter höflich den Kopf zuneigte, an seiner Duftkugel schnupperte und ihm bedeutete, fortzufahren. »Los!« tönte es wieder, und diesmal näherte Loripes sich mir vorsichtiger. Ich griff nicht an, sondern überließ ihm die Offensive, damit ich seine Bewegungen studieren und mir einen Plan zurechtlegen konnte. Als er zu derselben Doppelfinte ansetzte, die er gleich zu Anfang des Kampfes ausprobiert hatte, ließ ich ihn nahe herankommen, dann schnellte ich an ihm vorbei und stieß ihm in den ungeschützten Rükken, knapp unterhalb der Rippen. Als meine Klinge traf, führte er einen Rückhandhieb, und sein Messer hinterließ einen langen grünen Streifen auf meinem Bauch.
»Mal!« rief der Schiedsrichter erneut. Er untersuchte uns, um dann bekanntzugeben: »Ich akzeptiere beide Treffer. Eine Verletzung für Loripes, ein tödlicher Stoß für den Herausforderer. Fechtet jemand das Urteil an?« »Nein«, erwiderten wir beide. Er wandte sich zur Zuschauerloge und erklärte: »Der Herausforderer gewinnt mit zwei zu eins.« Nachdem der Schiedsrichter unsere Messer an sich genommen hatte, hielt Loripes mir die Hand hin, und ich drückte sie in der gileadischen Geste der Freundschaft. »Du kämpfst sehr gut. Du hast mich ehrlich besiegt, und ich muß deine Geschicklichkeit loben«, sagte er freundlich. »Danke.« »Was für Erfahrungen hast du? Warst du ein Champion deines Volkes?« »Dies war mein zweiter Kampf.« »Dein zweiter?« Loripes sah mich erstaunt an. »Dann mußt du ein Naturtalent sein.« »Vermutlich. Gelehrt hat es mich niemand.« »Unglaublich. In meinen drei Jahren als Trainer habe ich nur zwei Testkämpfe verloren – diesen und den anderen gegen einen Skeggjatten, der später ein Champion des Volkes werden sollte.« »Gewann er die Freiheit?« fragte ich.
»Man bot sie ihm an und gab ihm das Juwelenschwert, doch er zog es vor, in der Arena zu bleiben. In seinem nächsten Kampf wurde er erschlagen. Er hatte einen großartigen Tod.« Ich kommentierte diese Bemerkungen mit einem unverständlichen Brummen. Loripes schien von dem Ereignis, das er mir eben geschildert hatte, sehr angetan zu sein, aber für mich war der Skeggjatt eindeutig verrückt gewesen. Böte man mir die Freiheit an, ich wäre verschwunden und nach Gilead unterwegs, während man mich noch bejubelte. Auf das Juwelenschwert würde ich dankend verzichten. Man entließ uns, und während wir von der Arena zu meinem neuen Quartier gingen, sagte Loripes: »Ich werde zu Raphanus gehen und ihn bitten, dich meiner Riege zuzuteilen. Ich könnte dich innerhalb von zwei Monaten für den Einsatz in der Arena ausbilden.« »Könnte ich nicht eher anfangen?« Loripes lachte und schlug mir auf die Schulter. »Du hast es sehr eilig. Gewöhnlich dauert die Ausbildung sechs Monate.« »Aber du sagtest, ich wäre gut.« »Das ist wahr, aber es gibt vieles zu lernen. Unser Kampf war fair – Mann gegen Mann, Klinge gegen Klinge. Du mußt den Gebrauch anderer Waffen erlernen und wie man sich gegen sie verteidigt. Vor al-
lem mußt du auf den Einsatz im unbeschränkten Mehrkampf vorbereitet werden.« »Was ist das?« fragte ich skeptisch. Loripes fing an, mich mit seinem Gerede nervös zu machen. »Ein Kampf ohne Regeln, bei dem ein Mann zwei oder mehr Gegner hat. Haakmat – der Skeggjatt, von dem ich sprach – konnte mit sechs Gegnern zugleich fertig werden. Am Tag, als er die Freiheit gewann, besiegte er sechs Männer während nur eines Durchlaufs des Stundenglases.« Ich pfiff anerkennend. »Wie viele waren nötig, um ihn zu bezwingen?« »Einer nur. Er war klein und sehr schnell – ähnlich wie du. Er stammte von einem Planeten, den die Rinn verwüstet hatten, der arme Kerl.« Loripes wurde hierauf nachdenklich, und wir schwiegen während des restlichen Weges. Als wir uns verabschiedeten, versicherte er mir nochmals, sich dafür einzusetzen, daß ich seiner Riege zugeteilt wurde.
6
Die Ausbildung: Betrachtungen über Daltreskaner, Tarquinier und Fremdweltler im allgemeinen
Loripes hatte nicht zuviel versprochen. Am nächsten Morgen wurde ich früh geweckt – von einer leisen
Glocke diesmal, keinem Stoß in die Nieren –, erhielt das beste Essen seit meiner Entführung von Gilead und wurde anschließend in eine Arena geführt, in der sich Loripes und neun andere Männer aufhielten. Sie glich weitgehend jener, in der ich am Tag zuvor gekämpft hatte, beherbergte allerdings eine kleine Armee von mannshohen, ausgestopften Puppen, die an Seilen hingen oder auf Podesten standen, und ein stattliches Aufgebot an Waffen und Rüstungen, wie man sie auf Gilead noch nie gesehen hatte. Der Diener, der mich hergebracht hatte, entfernte sich, und Loripes stellte mich den anderen Männern vor. Jeder nickte mir kurz zu, wenn er aufgerufen wurde, um dann abrupt wegzuschauen, als interessierte ihn an mir nichts weiter als mein Name. Es waren schweigsame, unzugängliche Männer, und ich begriff sehr rasch, daß Kämpfer, denen ein ungewisses Schicksal in der Arena bevorstand, nicht Freundschaft miteinander schlossen. Sie wußten, daß sie irgendwann vielleicht gegeneinander antreten mußten, und in diesem Fall konnten sich freundschaftliche Bindungen nur als hinderlich erweisen. Während der nächsten sechs Wochen wurde ich jeden Tag frühmorgens in die Trainingsarena geführt. Zuerst machten wir eine Stunde lang Leibesübungen; während des restlichen Vormittags erhielten wir Anschauungsunterricht. Nach einer leichten Mittags-
mahlzeit kam dann der praktische Teil der Ausbildung. Wenn wir unser tägliches Pensum absolviert hatten, wurden wir gebadet, massiert und mit Öl eingerieben und erhielten unsere Hauptmahlzeit, die aus vielen Gängen bestand. Man servierte uns zahlreiche exotische Gerichte und köstliche Getränke – bei letzteren war es angebracht, sich in Bescheidenheit zu üben, wie ich rasch feststellte –, und während wir aßen, unterhielt man uns mit Liedern und Erzählungen von großen Kämpfen und berühmten Kombattanten. Die Diener und die Mitglieder des Unterhaltungsensembles führten viele angeregte Gespräche mit uns, aber zwischen uns Kämpfern fiel auch bei Tisch kaum ein Wort. Ich bedauere das sehr, denn vermutlich hätte ich von meinen Mitstreitern vieles lernen können. Nach dem Essen wurden wir auf unsere Zimmer geschickt, wo wir uns weiterbilden sollten. Raphanus war nämlich der Meinung, daß ein guter Krieger nicht nur alles über sein Handwerk wissen mußte, sondern sich auch in anderen Dingen auskennen sollte. Er legte größten Wert darauf, daß seine Krieger ihm Ehre machten, in der Arena wie auch außerhalb des Schlachtfeldes, darum hielt er gute Umgangsformen für einen ebenso wichtigen Teil unserer Ausbildung wie die Kriegskunst. Er suchte uns des öfteren in unseren Zimmern auf und verwickelte uns in Ge-
spräche, um unseren Witz und Einfallsreichtum zu testen. Raphanus schien sehr zufrieden mit mir, und ich freute mich, sah ich mich doch als Edelmann behandelt. Heute weiß ich, wie sehr ihn meine Naivität amüsiert haben muß. Während der ersten Zeit meiner Ausbildung lernte ich viel über die Tarquinier. Sie stammten in gerader Linie von der Erde ab, hatten sich nie mit anderen Rassen vermischt und waren auf diese Tatsache sehr stolz. Raphanus zeichnete sich durch einen besonders großen Rassenstolz aus, rühmte er sich doch, nur Männer irdischer Herkunft in die Reihen seiner Krieger aufzunehmen. Er war aber auch willens, ein Ausnahme von dieser strengen Regel zu machen, um einem ungewöhnlich tüchtigen Mann eine Chance zu geben. Und ein Sieg seiner Truppe ließ seine Brust gar noch stärker anschwellen als der Stolz auf die Reinheit seiner Rasse. Die Tarquinier gehörten zu den Pionieren unter den Auswanderern von der Erde. Die ersten Siedler stießen bei den Ureinwohnern von Tarquin VII, dem einzigen bewohnbaren Planet im Sonnensystem, auf große Feindseligkeit. Nach mehr als hundert blutigen Kriegsjahren suchten beide Parteien einen Kompromiß, der ihr beiderseitiges Überleben sichern sollte. Man veranstaltete ein Turnier: die Sieger sollten den Planeten unangefochten für sich beanspruchen dür-
fen, die Verlierer hingegen ins Exil gehen. Die Eindringlinge konnten sich behaupten und gewannen den Planet für sich. In der Folgezeit wurden die Turniere zur Tradition, zum Wesensmerkmal der tarquinischen Gesellschaft, zum Brennpunkt, um den sich das Leben drehte. Gegenwärtig fanden das halbe Jahr über fast täglich Turniere statt, und ein guter Krieger konnte unter Umständen in jedem dritten davon in Erscheinung treten. Während der zweiten Jahreshälfte – wenn die Veranstalter neue Männer rekrutierten und die Krieger sich erholten und für die nächste Saison trainierten – diskutierten die Menschen eifrig über die zurückliegenden Kämpfe und die Aussichten für das kommende Jahr. Obwohl ein Krieger rechtlich nur die Stellung eines Sklaven innehatte, genoß er doch großes Ansehen auf Tarquin. Die besten Kämpfer waren gerngesehene Gäste in den Häusern der vornehmen Familien – woraus sich erklärte, warum Raphanus seinen Kriegern Manieren beigebracht wissen wollte. Während meiner Ausbildung fragte ich mich oft, was die Tarquinier taten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Kein Mensch sprach jemals von Arbeit, während man auf Gilead – vom Buch von der Reise einmal abgesehen – kaum ein beliebteres Gesprächsthema kannte. Ich war verstört. Ich hatte bisher zwei fremde Rassen kennengelernt, sollte in naher Zukunft
– wenn auch nicht oft bei gesellschaftlichen Anlässen – mit Vertretern von hundert anderen zusammentreffen, und ich bekam langsam, aber unausweichlich eine erste dumpfe Vorstellung von der Vielfalt und dem Artenreichtum des Lebens in der Galaxis. Zu Hause auf Gilead wurde die Existenz anderer Welten und Völker zwar nicht geleugnet – das war auch kaum möglich –, aber das Thema wurde nur ungern angeschnitten und möglichst rasch wieder fallengelassen. Fremdweltler waren auf Gilead unerwünscht. Sie kannten nicht unseren Glauben an die Rechtschaffenheit, und ihre Unwissenheit störte sie nicht im geringsten. Von Fremdweltlern durfte man sich bestenfalls ein täppisches Bemühen um guten Willen erhoffen; die meisten ließen jedoch offene Mißgunst erkennen, wie es von den Sklaven der Eitelkeit, der Täuschung und des Lasters nicht anders zu erwarten war. Ich überlegte, daß man es sich vielleicht zu leichtmachte, wenn man alle Fremdweltler über einen Kamm scherte und als gleich schlecht abtat. Zugegeben, die Daltreskaner wie auch die Tarquinier liebten ihre lasterhafte Lebensweise, aber ansonsten waren sie so verschieden voneinander wie jede der beiden Rassen von den Rudstromiten von Gilead. Die Daltreskaner waren üble und brutale Zeitgenossen mit Namen, die wie Flüche über die Lippen kamen; die
Tarquinier waren gewandt und vornehm, besaßen klangvolle Namen und eine melodische Sprache, und sie interessierten sich mehr für eine Darbietung als solche als für deren Resultat. In der Arena zollten sie einem, der gut kämpfte und verlor, größeren und länger anhaltenden Beifall als einem plumpen Sieger; und ein Athlet, der den Todesstoß furchtlos und tapfer hinnahm, konnte gewiß sein, daß sein Name nicht in Vergessenheit geriet und noch Jahre später in den Arenen besungen wurde. Für die Daltreskaner hingegen war ein Toter nur überflüssiger Ballast, der sofort über Bord geworfen und vergessen wurde. Das einzige Andenken an ihn waren seine wenigen persönlichen Habseligkeiten, die von den Überlebenden unter sich aufgeteilt wurden – ein Ritual, das oft zu neuem unnützen Ballast führte. Auch ihre Raumschiffe unterschieden sich. Die Daltreskaner benutzten große, schwerfällige Kolosse, die eine dreißigköpfige Besatzung, eine Ladung von mehr als hundert Sklaven und Vorräte für eine zweijährige Reise fassen konnten. Die Tarquinier setzten für alle Zwecke leichte, nadelförmige Einmannschiffe ein – außer für die langen transgalaktischen Expeditionen, die sie alle paar Jahre unternahmen. Die Tarquinier besaßen gewisse Eigenheiten, die ich nie ganz verstand – so ihre Namen. Wie viele andere tarquinische Bräuche ging das System der Na-
mensgebung auf das der altirdischen CäsarischEtruskischen Zivilisation zurück, jener Kultur, die seit den frühen Tagen des Dschingis Khan – dem großen Kriegspropheten des Ostens – in allen europäischen Ländern erblüht war und bis in das dekadente Zeitalter der Napoleonischen Revolutionsära hinein gewirkt hatte, die oft auch Mittelalter genannt wurde. – Bei ihrer Geburt erhielten die Tarquinier einen kurzen, einfachen Namen zur Kennzeichnung. Wenn sie ein Jahr alt waren, wurde ein Horoskop gestellt, und sie erhielten einen zweiten Namen – den eines Sterns. Zum Zeitpunkt der Mündigkeit wurden den ersten zwei Namen die der beiden Großväter angehängt (vorausgesetzt, daß diese bekannt und ehrenhaft waren). Von da an war es einem Tarquinier freigestellt, seinen Namen von Zeit zu Zeit neue hinzuzufügen, die die Leistungen und Höhepunkte seines Lebens zelebrieren sollten. So konnte ein Mann, der ein ereignisreiches Leben führte, unter Umständen genug Namen tragen, um die Einwohnerschaft einer kleineren Stadt zu benennen. Man kann sich vorstellen, wie langwierig eine Unterhaltung werden konnte, wenn einer der Gesprächspartner darauf bestand, mit seinem vollen, rechtmäßigen Namen angeredet zu werden. Ich hielt mich immer an Del – auch als mein Name zu Del Kometenfeuer-bei-Sonnenaufgang Deletriculus Blitzstoß Flinkfuß Raschmesser
Dreischmetterer angeschwollen war. Del war so viel einfacher.
7
Das Turnier der Landnahme; ich gewinne einen neuen Namen
Meine Ausbildung in der kleinen Arena dauerte sechs Wochen. Ich wurde gut genährt, trainierte viel, bekam großzügige Ruheperioden, und ich spürte, daß ich immer kräftiger, stämmiger und auch etwas größer wurde. Ich war immer noch der kleinste in Raphanus Kriegertruppe, aber ich hatte die Erfahrung gemacht, daß Körpergröße und kämpferische Leistung zwei völlig verschiedene Dinge waren. Meine Mitschüler hatten seit vier Monaten trainiert, als ich zu ihnen stieß, aber inzwischen hatte ich aufgeholt und sie alle überrundet. Keiner gestand es offen ein, aber wir wußten alle, daß ich der beste Mann in Loripes Riege war. Nach Ablauf der sechs Wochen zog unsere Riege in neue Quartiere um, und wir mußten gemeinsam mit Raphanus' gesamter Truppe, die rund zweihundert Krieger umfaßte, ein abschließendes Intensivtraining absolvieren. Der theoretische Unterricht wurde abgebrochen und unser Ausbildung ganz auf Körpertraining und Übungskämpfe konzentriert. Wir erhielten
größere Essensportionen, aber die Gerichte waren einfacher und die Zeit bei Tisch kürzer. Das Training war jetzt wichtiger als alles andere. Die Spannung wuchs, und wir waren voller Erwartung. Endlich kam der Tag meines ersten Turniers. Wir versammelten uns am Morgen auf dem großen Trainingsgelände, alle in prächtige neue Gewänder gehüllt, die die rote Kralle – das Symbol von Raphanus' Kriegertruppe – trugen, ließen eine letzte Inspektion über uns ergehen und bekamen anschließend eine Ansprache von Raphanus persönlich zu hören. Raphanus stieg auf ein flaches Podium, das man in der Mitte der Arena aufgebaut hatte, und wir stellten uns in einem Halbkreis um ihn auf. Die Trainer, Ärzte und das übrige Ausbildungspersonal – alle ebenfalls neu eingekleidet – standen der Rangordnung nach auf einem unteren Podiumsabsatz. Hinter ihnen glänzten Waffengestelle im Morgenlicht. Ich hatte eine solche Pracht noch nie gesehen und war tief beeindruckt, ja, überwältigt. Seit dem Moment, als ich den neuen Umhang anlegte, fühlte ich mich wie verwandelt, und meine Erregung wuchs ständig. Ich erfuhr, daß heute das große Fest der Landnahme stattfand, die Feier des fünfhundertvierten Jahrestages der Landung der irdischen Siedler auf Tarquin VII, das zugleich die Turniersaison eröffnete. Dem Fest der Landnahme folgten zahlreiche Feier-
lichkeiten zum Gedenken an verschiedene Helden aus der Pionierzeit, die Tage des Waffenstillstandes, die Gedenkfeiern, die Siegesfeiern und schließlich – der mit Spannung erwartete Höhepunkt – ein zehntägiges Turnier anläßlich des Jahrestages des ersten entscheidenden Sieges über die Ureinwohner. »Diesem Tag«, sagte Raphanus, »und den blutigen und ruhmreichen Tagen, die da kommen werden, galten all euer Fleiß und eure Anstrengungen. Wisset, daß die Truppe des Raphanus einem jeden Gegner ebenbürtig ist, und möget ihr jene Siege erringen, deren ihr würdig seid. Das Turnier der Landnahme wird drei Tage dauern. Jeden Tag werden sieben Riegen in der Arena antreten, und jeder von euch wird Gelegenheit haben, sich mit einem einzelnen Gegner zu messen. Möget ihr alle siegreich an dem Fest teilnehmen, das ich am dritten Tag der Landnahme veranstalten werde!« Alles jubelte und rief Raphanus' Namen. Ich war so begeistert, daß ich es kaum erwarten konnte, meinem ersten Feind gegenüberzustehen und Ruhm für mich, meine Riege und für meinen Gönner und Schutzherrn, den edlen Raphanus, zu gewinnen. Ich schrie mich heiser und platzte fast vor Stolz, als ich erfuhr, daß Loripes' Riege den Marsch in die Arena anführen sollte – ich vorneweg an der Seite unseres Trainers, und nur das Gefährt des ehrenwerten Raphanus vor uns!
Wir marschierten hocherhobenen Hauptes los, begleitet von Trompetenschmettern, und zogen durch breite Alleen, die mit Flaggen und Bannern geschmückt und von jubelnden Zuschauern gesäumt waren. Ich war wie betäubt von der Pracht um mich her, von den Menschenmengen und der Flut von Geräuschen, die auf mich eindrang. Als wir die Arena erreichten, wäre ich bereit gewesen, es mit jedem Gegner, gleich, unter welchen Bedingungen, aufzunehmen. Ich wäre sogar gegen eine Armee von Riesen angetreten. Erst sehr viel später in meiner Laufbahn als Krieger sollte ich erfahren, daß dieser Übermut einzig und allein von einem Duftstoff herrührte, mit dem man meinen neuen Umhang imprägniert hatte. Die Tarquinier verwendeten Duftstoffe zu ganz unterschiedlichen Zwecken, und jener, der Mut und wilde Entschlossenheit hervorrief, war bei den Kriegertruppen gang und gäbe. Da ich noch Anfänger war, hatte man mir eine große Dosis verabreicht, die bestens wirkte. Aber damals wußte ich das nicht. Ich fühlte mich einfach mutiger denn je. Als wir den langen Bogengang durchquerten, der in die große Arena führte, wurde der Lärm etwas gedämpft, aber gleich darauf erschallte er mit doppelter Lautstärke, und dem Gebrüll von fünfzigtausend Stimmen gesellten sich nun schmetternde Fanfarenklänge hinzu. Raphanus präsentierte seine Truppe
dem Adjutor, der das Turnier leitete, und verlas die Namen der ersten Riege von Kämpfern. Meiner ging allen übrigen voran. Wir traten einzeln vor, erwiderten den Gruß des Adjutors und gingen dann zu den Bänken hinter der Holzabsperrung, um die Aufrufe zum Kampf abzuwarten. Das Zeremoniell ging schließlich zu Ende, und der Lärm in der Zuschauermenge legte sich. Als der Herold des Adjutors aufstand, um den ersten Kampf des Turniers anzusagen, war es in der Arena völlig still. »Für die Truppe von Raphanus Dunkler-Stern Teleus Calendricus Rote-Kralle Vater-der-Krieger aus der Riege des Trainers Loripes Mondglanz Loripes Rustus Blitzhieb kämpft als erster: Del von Gilead!« Rasender Beifall ertönte, und ich legte den Umhang ab, zog meine Klinge und ging stolz zur Mitte der Arena. Indessen wurde mein Gegner angesagt, doch ich achtete nicht auf die Worte, sondern studierte seine Gangart und jede seiner Bewegungen, denn davon hing nun mein Leben ab. Mein Kontrahent war ein typischer Quespodon: etwa so groß wie ich, aber doppelt so breit, von gedrungenem, stämmigem Körperbau und haarlos. Er hatte eine fleckige Haut und helle, schlitzartige Augen. Ich sah, wie er mich mit einem abschätzenden Blick musterte, dann langsam den Kopf schüttelte und das Messer einsteckte. Ich bemerkte, daß der Herold immer noch seinen Namen
verlas und daß seine Siegestitel alle etwas mit Knochenbrüchen zu tun hatten. Raphanus hatte beschlossen, mich gleich zu Anfang gegen den besten Mann aus der gegnerischen Truppe einzusetzen. Ein wilder Stolz flammte in mir auf – der zwar von jenem Duftstoff herrührte, für mich deswegen aber nicht weniger real war –, und ich war fest entschlossen, Raphanus' Wahl und Loripes' Vertrauen in mein Können zu rechtfertigen. Ich steckte mein Messer ebenfalls in die Scheide, und die Zuschauer brachen in Beifallsrufe aus. Wir trugen einen langen, zermürbenden Kampf aus. Ich umkreiste den Quespodon und reizte ihn, indem ich ihn dicht herankommen ließ, um dem tödlichen Zugriff seiner Pranken stets um Haaresbreite zu entgehen. Schließlich wurde es mir zuviel, und ich zwang ihn, das Messer zu ziehen. Er attackierte mich sechsmal mit komplizierten Ausfällen und Stößen; ich ließ das Messer dennoch stecken. Der Lärm aus der Zuschauermenge schwoll zu einem ohrenbetäubenden Getöse an, und das veranlaßte mich zu dem heimlichen Versprechen, meine Klinge nur zu einem einzigen Stoß – dem Todesstoß – zu ziehen. Genauso geschah es. Ich ging steif und erhobenen Hauptes zu der Absperrung und trat noch zweimal in die Arena hinaus, um mich für die Ovationen aus dem Publikum zu
bedanken. Als ich wieder hinter der Absperrung verschwunden war, gaben meine Knie plötzlich nach, und ich klappte zusammen und mußte würgen. Die Wirkung des Duftstoffs war abgeklungen, und in jenem Moment war ich nur ein verschreckter Junge mit blutigen Händen, der verspätet erkannte, wie knapp er dem Tode entronnen war. Ein Diener warf mir rasch den Umhang über die Schultern, und ich gewann die Beherrschung zurück. Ich setzte mich neben Loripes, der mich zu meinem Sieg überschwenglich beglückwünschte. Selbst Raphanus kam herüber, um mir zu gratulieren, und ich bedankte mich äußerst höflich. Die nächsten drei Kämpfe waren Routinesachen, die schnell vorbei waren. Den fünften und sechsten hielt ich für spektakulär, Loripes versicherte mir jedoch, daß meine Darbietung beide übertroffen hätte. Ich wollte das nicht recht glauben, aber zu diesem Zeitpunkt hatte die Wirkung der Kampfdroge bereits stark nachgelassen, und ich hatte nicht bemerkt, wie sehr sie meine Gefühle und Reflexe beeinflußt hatte. Die restlichen sechs Kämpfe waren rasch vorbei, und am Ende der ersten Folge von Duellen war Loripes' Riege noch vollzählig. Zwei Mann hatten schwere Verletzungen davongetragen, doch auch sie hatten ihren Kampf für sich entscheiden können; allerdings würde Stap, ein großer, stummer Bursche von Rebolushchka III, nie wieder kämpfen können.
Nach der dritten Kampfesfolge gab es eine Unterhaltungspause; Akrobaten zeigten ihre Kunststücke, und Kinder der vornehmen Familien von Tarquin VII führten Tänze auf; dann gingen die Kämpfe weiter. Raphanus' Truppe hielt sich auch während der zweiten Runde gut, und am Ende des Tages konnten wir von siebzig Kämpfen vierundvierzig Siege aufweisen, ein gutes Ergebnis. Am nächsten Tag verfolgte ich die Kämpfe als Zuschauer. Am dritten und letzten Tag des Turniers der Landnahme stellten sich wesentlich mehr Menschen ein als an den vorangegangenen Tagen. Nach dem sechzigsten Kampf wurde eine zweite Unterhaltungspause eingelegt, und ich fragte Loripes, ob man für den Schluß etwas Besonderes plante. Ich entsann mich nämlich Raphanus' Ankündigung, daß für jeden Tag sieben Riegen vorgesehen seien, wußte aber, daß unsere Truppe nur zwanzig Riegen zählte. Loripes zwinkerte mir zu und bedeutete mir, abzuwarten. Geduld lag mir an dem Tag am allerwenigsten, denn mein Umhang war mit frischem Duftstoff imprägniert worden, und ich hatte die bisherigen Kämpfe mit einem Eifer verfolgt, als stünde ich selbst in der Arena. Die Fanfaren erklangen, und in der Zuschauermenge wurde es still. Der Herold erhob sich, um die Teilnehmer der Schlußkämpfe – zehn Mann aus jeder Truppe, die durch die Stimme des Volkes ausersehen waren – bekanntzugeben. Für Raphanus' Truppe fiel
mein Name an erster Stelle. Loripes grinste und schlug mir auf den Rücken. Sogar die Mitstreiter aus meiner Riege, die sich sonst sehr zurückhielten, wünschten mir Glück. Ich bestand auch den zweiten Kampf. Auf den Schultern jubelnder Zuschauer wurde ich zu Raphanus' Kriegerschule getragen; ich hatte zwei Trophäen: ein bronzenes Amulett, das mir vom Adjutor überreicht worden war, und einen neuen Namen, den mir die Männer meiner Truppe verliehen hatten. Ich hieß jetzt Deletriculus. In der alten Cäsarisch-Etruskischen Sprache, die auf Tarquin VII Amtssprache war, bedeutete das: »Kleiner Zerstörer.«
8
Raphanus belohnt mich; Loripes bestärkt mich
In jener Nacht feierten wir lang und laut und tranken viel von dem würzigen, blutroten tarquinischen Wein. Als ich schließlich aufstand, um auf mein Zimmer zu wanken, nahm Raphanus mich lächelnd beiseite und sagte: »Heute hast du dich in der Arena als Mann erwiesen; dafür sollst du belohnt werden. Heute nacht kannst du dich in deiner Kammer als Mann erweisen.« Ich dankte ihm, taumelte davon und überlegte in der Art des Betrunkenen, welche Art Belohnung mich erwarten mochte.
Als ich das Zimmer betrat, sah ich eine junge Frau auf meinem Bett sitzen. Sie kämmte ihr langes, dunkles Haar, das in der matten Deckenbeleuchtung glänzte und schimmerte. Sie schaute auf, lächelte mich an und steckte die Arme aus. »Komm zu mir, Del. Ich habe auf dich gewartet.« »Wer bist du?« »Deine Frau für diese Nacht – dein Siegespreis. Ich ging zu Raphanus und bat ihn, er möge mich dir geben.« »Mir geben?« »Ich sah deine beiden Kämpfe. Du bist sehr tapfer, Del. Komm zu mir«, sagte sie und streckte erneut die Arme nach mir aus. Ich tat einen Schritt auf sie zu, dann dachte ich an Cassie und blieb stehen. Ich konnte sie nicht schamlos betrügen. »Ich habe schon eine Frau«, sagte ich. »Sie wartet auf mich auf Gilead.« »Gilead ist fern.« »Eines Tages werde ich die Freiheit erlangen und zu ihr zurückkehren.« »Und bis dahin willst du dich von allen Frauen absondern und wie die Hüter leben? Dazu bist du zu jung, Del!« »Aber ich ... ich liebe sie«, erklärte ich verwirrt. Sie stand mit einer graziösen Bewegung auf und kam auf mich zu. Sie legte mir eine Hand auf die
Schulter und strich mir mit der anderen durchs Haar. Sie hatte eine kleine Kugel am Handgelenk, die einen intensiven süßlichen Geruch ausströmte. »Bin ich so abstoßend, Del? Können wir nicht miteinander reden?« »Nein. Doch. Ich meine, nein, du bist nicht abstoßend, du bist sehr – du bist schön. Wenn ich – wenn da nicht –« Ich konnte nicht mehr denken. Der süße Duft umnebelte meinen Verstand und lähmte meinen Willen; er zog mich hin zu der dunkelhaarigen jungen Frau, die vor mir stand und mit jedem Schlag meines Herzens schöner und begehrenswerter wurde. Ich schaute in ihre dunklen Augen und sah einen Hunger darin, den auch ich empfand, ein Verlangen, das in mir aufwallte, mich erzittern ließ und alle Gedanken an Cassie verdrängte. Ich nahm den weichen Körper, der mein Siegespreis war, in die Arme. Sie verließ meine Kammer beim ersten Tageslicht. Als ich zum zweitenmal erwachte, war ich völlig klar im Kopf und hätte mich vor Scham am liebsten in einem finsteren Winkel verkrochen. Ich hatte Cassie betrogen! Ich machte mir schwere Vorwürfe wegen meiner Schwäche, zu der der starke tarquinische Wein beigetragen hatte. Damals hatte ich noch keine Ahnung von dem höchst wirkungsvollen Liebesduftstoff, den die Kurtisanen von Tarquin VII verwendeten; ich wußte nur, daß ich meinen festen Vorsatz ge-
brochen hatte, meine Liebe keiner anderen Frau als Cassie, der mir versprochenen Braut, zu geben. Im Angesicht dieses Verrats waren die Tode, dich ich verursacht hatte, gleichsam bedeutungslos, denn nun hatte ich ein mir selbst gegebenes Versprechen gebrochen. Für einen Mann von Gilead, der seine Zeit der Entscheidung durchmachte, war das eine unwiderrufliche Abkehr vom Weg der Rechtschaffenheit. Ich hatte mich damit den Sklaven des Lasters ausgeliefert. Bisher hatten mich mein Taten wenig beunruhigt; ich hatte in den kurzen, ungestörten Augenblikken vor dem Einschlafen zwar häufig über sie nachgedacht, aber ernste Zweifel an ihrer Richtigkeit waren mir nicht gekommen. Die Erleuchteten Neu-Rudstromiten von Gilead standen galaxisweit in dem Ruf, eine unbeugsame, rechtschaffene Rasse zu sein, aber da sie in strenger Abgeschiedenheit lebten, stieß ihr Glaube auf wenig Verständnis, und Fremdweltler neigten dazu, belustigt und verächtlich auf das spröde Volk von Gilead herabzusehen. Ihre Vorfahren, bekannt als die Rudstromiten, hatten auf der Erde viel Leid ertragen müssen. Während der Blutigen Jahrhunderte – ehe der Wroblewski-Antrieb der Menschheit den Weg zu den Sternen wies – wurde ihre Heimat im Fürstentum Pennsylvania – wo sie nach vielen Verfolgungen einen letzten Zufluchtsort gefunden hatten – verwüstet,
und sie flohen in die europäischen Staaten, um sich dort neue Heimstätten zu suchen. Ein Teil von ihnen ließ sich in Britannien nieder, einer großen Insel im Westen, und lebte dort in friedlicher Abgeschiedenheit, bis der Exodus zu den fremden Welten einsetzte. Diese Gruppe, von der mein Volk abstammte, entwickelte während ihres langen Exils einen strengen Verhaltenskodex, der jedoch mit einem Minimum an allgemeinen Vorschriften auskam. So hielt man zwar an dem Glauben fest, daß Töten ein Übel sei, aber man stellte keine Normen auf, die solches Tun ausdrücklich verboten. Man tötete eben nicht und sprach nicht vom Töten als einem geeigneten Mittel, Meinungsverschiedenheiten auszutragen. Wenn jemand gegen diese Praxis verstieß, war das allein seine Sache, sein persönliches Risiko. Während meines Lebens auf Gilead hatte ich nie davon gehört, daß ein Mensch jemanden getötet oder eine andere Untat begangen hätte; aber das war einzig das Ergebnis freier Entscheidungen. Dennoch mußte die Eintracht des Lebens auf Gilead in einem Jugendlichen tiefe Spuren hinterlassen. Ich wuchs in dem Glauben auf, daß Töten etwas Böses sei, doch während der Monate, die ich fern von zu Hause verlebte, geriet mein Glaube ins Wanken, und ich begann meine Lage zu überdenken. Für einen rechtschaffenen Mann war es unerläßlich, daß sein Lebensweg eben und alle seine Tage
von völliger Ereignislosigkeit gekennzeichnet waren. Ich hatte während meiner sechzehn Lebensjahre jedes Blutvergießen vermieden, um dennoch auf einem daltreskanischen Sklavenschiff zu enden und dort ein höchst ereignisreiches Leben zu beginnen. Als ich einen Menschen tötete, wurde mein Schicksal erträglicher. Nun hatte ich wieder zwei Menschen getötet, und mein Los war erneut leichter geworden. Und ich wußte, wenn ich das Töten fortsetzte, würde ich zu Ehren gelangen und vielleicht auch die Freiheit gewinnen. Dann konnte ich nach Gilead zurückkehren und den mir zustehenden Platz und meine Braut beanspruchen. In meiner jetzigen Lage, das stand für mich fest, würde mein Leben seinen ebenen Weg nur dann finden, wenn ich das Blut anderer Menschen vergoß; folglich beging ich damit kein Unrecht. War ich wieder auf Gilead und mit Cassie vereint, hatte ich keinen Grund mehr zu töten und würde davon Abstand nehmen. Folglich beschloß ich, ein guter Krieger zu werden. Später sollte ich erfahren, daß man einen solchen Denkprozeß Rationalismus nannte, eine Philosophie, die auf der Erde weiteste Verbreitung gefunden hatte. Aber ich hatte ebenso beschlossen, Cassie treu zu sein und meine Liebe keiner anderen Frau zu geben, ganz gleich, wie lange unsere Trennung dauerte, und ich hatte diesem Grundsatz zuwidergehandelt. Das war eine große Sünde. Ich grübelte den ganzen Tag
darüber nach und konnte keine Entschuldigung für meine Tat finden. Loripes bemerkte meine Niedergeschlagenheit und fragte mich nach dem Grund. »Die Frau war dein rechtmäßiger Preis, und du nahmst ihn an. Wo liegt da das Übel?« fragte er, nachdem ich ihm mein Herz ausgeschüttet hatte. »Das Übel liegt nicht in der Frau, Loripes, es liegt in mir. Ich handelte meiner eigenen freien Entscheidung zuwider.« »Du konntest die Belohnung nicht ablehnen. Raphanus wäre beleidigt gewesen.« »Nein, aber ich hätte ... ich hätte etwas anderes tun können.« »Und das wäre?« fragte er. »Das weiß ich nicht. Ich hätte nie gedacht, daß so etwas geschehen könnte.« »Wie kannst du dir dann Vorwürfe machen? Als du diese Entscheidung trafst, wußtest du nicht, was die Zukunft bringen würde. Das Leben ist nicht statisch, Del. Manchmal müssen unsere festen Grundsätze den Tatsachen weichen.« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist nicht üblich auf Gilead.« »Tarquin VII ist nicht Gilead. Jeder Planet hat eigene Sitten und Bräuche. Wir haben ein Sprichwort: ›Bist du auf Tarquin, tu, was die Tarquinier tun.‹ Verstehst du das?«
»Ich glaube schon.« »Du mußt die Sache so sehen, Del. Es gibt Tausende von bewohnten Planeten, und jeder Planet hat andere Sitten und Bräuche. Die meisten Rassen glauben, daß ihre Bräuche die einzig richtigen sind. Wem das nicht gefällt, dem steht es frei, sich eine Welt zu suchen, deren Bräuche ihm zusagen. Wer diese Freiheit nicht hat – wie du und ich –, der erspart sich viel Kummer, wenn er die Bräuche seiner Welt akzeptiert. Ich zum Beispiel lebte einige Jahre auf dem Planet Pranchalahandrie, wo die Menschen ihre Zeit der Meditation über die 11 111 Wahren Sätze des Allwissenden Geistes widmen. Ich hielt sie für Narren, aber ich machte die Meditation mit.« »Warum tun sie das?« fragte ich. »Sie glauben, daß sie dadurch aufrechte Menschen werden.« »Und werden sie's?« Er zuckte die Achseln. »Das kann ich nicht beurteilen. Auf mich hatte das Meditieren wenig Einfluß, höchstens, daß es meine Zeit so sehr beanspruchte, daß ich kaum Gelegenheit zu Unaufrichtigkeit hatte. Aber es gab böse Menschen und schlimme Dinge auf Pranchalahandrie wie andernorts auch.« »Dann glaubst du, daß es keine Rolle spielt, was ein Mensch für Recht und Unrecht hält?« fragte ich. Ich war noch nie jemandem begegnet, der einen sol-
chen Glauben gehabt und sich offen dazu bekannt hätte, und das Thema interessierte mich. »Für mich spielt es keine Rolle«, sagte Loripes leichthin. »Loripes, ich bitte dich. Du bist mein einziger wirklicher Freund hier. Ich bin völlig durcheinander und vertrage es nicht, wenn man über meine Gefühle scherzt. Wie kannst du sagen, daß es gleichgültig ist, was ein Mensch für Recht und Unrecht hält?« »Ich sagte, für mich ist es gleichgültig. Für ihn kann es durchaus sehr wichtig sein.« »Aber ist das alles?« fragte ich, der Verzweiflung nahe. »Gibt es nur meine Meinung, deine Meinung und die eines jeden anderen? Ist da niemand, der bestimmt, was richtig oder falsch ist?« »Früher habe ich mich das auch gefragt, aber heute denke ich anders.« Ich wurde unruhig. Loripes sagte jene Dinge, vor denen Zealous und die Ältesten von Gilead immer gewarnt hatten, und ich konnte ihn nicht widerlegen. Schlimmer noch, seine Überzeugungen interessierten mich, und ich wollte mehr darüber wissen. Nach allem, was ich bisher über sie gehört hatte, schien es sich mit ihnen weit leichter leben zu lassen als mit den meinen. »Glaubst du, daß es nur uns gibt? Gibt es niemanden, der alles sieht, alles weiß und darauf achtet, was wir tun?«
Loripes zuckte hilflos mit den Schultern. »Wie soll ich das wissen, Del? Wenn ich zu den Sternen sehe und mir Gedanken über das Universum mache, dann glaube ich, daß es jemanden – oder ein Etwas – gibt, der alles sieht. Vielleicht eine Rasse von Übermenschen oder eine Maschine oder etwas so Unvorstellbares, daß ich es nicht zu ermessen vermag. Aber dann sage ich mir, daß ein so weises Geschöpf sich kaum dafür interessieren würde, ob Loripes über die 11 111 Wahren Sätze lacht oder Deletriculus mit einer Kurtisane schläft. So sehe ich die Dinge.« Nach dieser Erklärung ließ er mich allein, und ich dachte lange über seine Worte nach. Loripes Kodex war nicht so fest oder klar umrissen wie jener, nach dem ich auf Gilead gelebt hatte, aber er schien damit auszukommen. Sein Lebensweg war eben, während der meine in den letzten Monaten sehr steinig gewesen war. Je mehr ich darüber nachdachte, desto anziehender erschien mir dieser Kodex, denn in ihm war kein Platz für Schuld. Ich beschloß, es mit ihm zu versuchen, bis ich ihn widerlegen konnte. Damals hielt ich Loripes für sehr weise. Er war mein Trainer und kannte sich in der Welt der Arena genau aus – für mich die einzige Welt, die ich soweit kennengelernt hatte. Was lag also näher, als seinem Beispiel zu folgen? Heute sehe ich, daß er alles andere als weise war. Unsicherheit und Verwirrung hatten
ihn so lange beherrscht, daß er sich damit abgefunden und gelernt hatte, sein Unwissen so überzeugend zu artikulieren, daß es einem naiven, verängstigten jungen Mann wie Weisheit in den Ohren klingen mußte. Aber er verstand nicht mehr als ich.
9
Das Leben eines Kriegers; Enttäuschung und neue Hoffnung
Ich kämpfte noch viele Male in dieser Turniersaison und blieb stets Sieger, wenngleich ich ein paarmal verwundet wurde. Im letzten Turnier der Turniere trat ich gegen zwei Gegner im unbeschränkten Mehrkampf an. Ich gewann, und die Zuschauer in der großen Arena waren von der Darbietung so begeistert, daß sie aufsprangen und meinen Namen sangen. Ich ging aus der Saison mit vielen Ehrungen und neuen Namen hervor und wurde viele Male belohnt. Eine zweite und dritte Saison kamen und gingen, und mit jeder mehrte sich mein Ruhm. Ich erlernte neue Kampfestechniken und den Gebrauch neuer Waffen, darunter das Langschwert, den Wurfspieß und die Pistole, aber ich konnte noch so gut damit kämpfen, stets forderten die Zuschauer, ich solle wieder zum Messer zurückkehren. Schließlich schickte Raphanus mich nur noch mit dieser Waffe in die
Arena. Trotzdem blieb ich in Übung mit allem, was das Waffenarsenal zu bieten hatte. Das war eine Vorsichtsmaßnahme. Ein Krieger konnte nie genau wissen, was ihn in der Arena erwartete oder bei den Scheingefechten, die in den vornehmen Häusern für ein privates Publikum ausgetragen wurden. Die Männer aus Raphanus' Truppe wurden häufig in die Heime prominenter Tarquinier eingeladen, um sich dort Kämpfe zu liefern. Für Raphanus waren seine Krieger zu wertvoll, als daß er sie zum Amüsement einiger weniger, ungeachtet deren Ranges oder Ansehens, hätte abschlachten lassen, aber er inszenierte bereitwillig ausgeklügelte Scheingefechte, die den Hochwohlgeborenen die Zeit nach dem Dinner zerstreuen sollten. Als ich Mitglied dieses Ensembles wurde, genoß er einen weitreichenden Ruf, und seine Krieger waren sehr gefragt. Man betrachtete uns als Unterhaltungskünstler. Während der ersten Zwischensaison kämpfte ich in mehreren solcher Häuser und erhielt jedesmal beträchtlichen Applaus. Nach Ablauf der dritten Turniersaison war mein Ansehen so gestiegen, daß man mich zu Solovorstellungen einlud. Raphanus hatte für mich ein umfangreiches Repertoire erarbeitet, so daß ich meine Künste in einem Wettstreit mit mir selbst – und gegen die Zeit – weidlich zur Schau stellen konnte. Wenn meine Darbietung zu Ende war,
forderte man mich gewöhnlich auf, neben den edlen Herren Platz zu nehmen, um an ihrer Unterhaltung teilzunehmen und mich (aus meiner Sicht als Experte) über die unbedeutenderen Künstler zu äußern, die das Abendprogramm bestritten. Einem unerfahrenen Jungen von Gilead mußte das natürlich zu Kopf steigen, daher ist es kein Wunder, daß ich mich im Alter von zwanzig Jahren – schon um einiges eher, was der Ehrlichkeit halber gesagt werden muß – für eine ungeheuer wichtige Persönlichkeit hielt. In der Arena war ich immer noch der alte, wachsam und auf der Hut, aber außerhalb des Schlachtfeldes war ich ein aufgeblasener, eingebildeter junger Mann. Besser gesagt: noch ein Junge – ein unwissender Junge, der eine Begabung für eine Kunst besaß, die nur in einer korrupten, dekadenten Gesellschaft wie der tarquinischen zu verwerten war. In einer geistig gesunden, einer gesitteten Welt hätte man mich als Schlächter angesehen und einen weiten Bogen um mich gemacht. Jede planetarische Regierung, die diesen Titel zu Recht trug, hätte mich unverzüglich aufgefordert, ihre Welt mit dem nächsten Schiff zu verlassen. Aber auf Tarquin VII war ich eine Berühmtheit, überall willkommen, ein Mann, den man um seine Taten beneidete, reich belohnte, der von den vornehmen und mächtigen Familien umworben wurde. Es war schon verrückt.
Die edlen Herren war mir wohlgesonnen, waren sie doch selbst aufgeblasene, arrogante Zeitgenossen, die mein Benehmen als normal ansahen. »Normal« ist hier vielleicht eine unglückliche Wortwahl, da es Kriterien nahelegt, die die vornehmen Tarquinier nicht verwendeten. Die Worte »normal« und »unnormal« fielen in ihren Kreisen nicht; ihre Beurteilungsmaßstäbe waren »angenehm« und »unangenehm«, und das waren, wie ich noch erfahren sollte, sehr relative Begriffe. Damals war ich ihnen angenehm. Da ich von mir ebenfalls sehr angetan war und es als angenehm empfand, von bedeutenden Männern als angenehm empfunden zu werden, kamen wir gut miteinander aus. Am angenehmsten von allem waren für sie die Turniere und Kämpfe, und ich machte die überraschende Feststellung, daß gerade diejenigen, deren Auftreten in der Arena am unwahrscheinlichsten war, am lautesten prahlten und am meisten an der Tradition des Turniers zu loben fanden. Wir, die um unser Leben und unseren Lebensunterhalt kämpften, verhielten uns da ganz anders. Wenn wir zu kämpfen hatten, fanden wir einen Grund, der uns eine positive Einstellung ermöglichte; kämpften wir nicht, dachten wir an andere Dinge. Die edlen Herren jedoch redeten immer tapferer und mutiger daher, je älter, fetter, schwächer und kränklicher sie wurden. Die ältesten
und kränklichsten waren die tapfersten von allen – am Bankett. Eines Abends – das war zwischen meiner dritten und vierten Saison – war ich Gast von Auloedus, dem Adjutor, einem Mann von hohem Rang, edlem Geblüt und beträchtlichem Einfluß in den vornehmen Kreisen auf Tarquin. Ich respektierte Auloedus wegen dieser Vorzüge, konnte ihn aber nicht ausstehen, und ich glaube, seine Einstellung mir gegenüber war ganz ähnlich. Vermutlich verstimmte ihn das Wissen, daß ich Bediensteter in seinem Haushalt hätte sein können, wenn ich jenen Kampf mit Loripes verloren hätte. Aber ich war zu der Zeit groß in Mode und wurde darum auch in sein Haus eingeladen. Nach meiner Vorstellung setzte man mich zu drei vornehmen Herren, die mich ihrer Wertschätzung versicherten und den wahren Sinn der glorreichen Arenakämpfe mit jemandem zu erörtern wünschten, der – so die edlen Herren – ihre Ansichten gewiß zu würdigen wußte. »Welch ein Glück für dich, Deletriculus, für uns, für das Volk, ja für die Geschichte von Tarquin, daß man dich hierher brachte und nicht in den Minen von Kepler dahinsiechen ließ«, sagte Favonius, ein weißhaariger Mann mit brüchiger Stimme, der Vorgänger unseres Gastgebers und jetzigen Adjutors der Turniere gewesen war. »In nur drei Spielzeiten hast du dem Leben der Arena einen neuen Geist eingehaucht.«
»Das hat er, das hat er«, sagte Notus, sein schwergewichtiger Bruder, eine Kugel von einem Mann, dessen Leben in den letzten fünfzig Jahren ein einziges Festmahl gewesen war. Er stopfte seinen Mund mit einer Süßspeise voll, prostete mir mit dem Weinbecher zu und trank. Nach einem herzhaften Rülpser erklärte er: »Ein leuchtendes Vorbild fürs Volk. Deletriculus ist mehr wert als alle Hüter mit ihrer Beweihräucherung und ihrem Gesang zusammengenommen.« »Ich versuche nur mein Bestes«, sagte ich mit selbstgefälliger Bescheidenheit. »Das ist der große Unterschied. Du versuchst dein Bestes – im Gegensatz zum Pöbel. Wenn du dir das vor Augen hältst, Deletriculus, verstehst du, welch wichtige Rolle du auf Tarquin spielst. Wie mein Bruder schon sagte, gibst du, mehr als irgendein anderer, dem Pöbel ein Beispiel. Du zeigst ihm, was Mut und Zähigkeit sind. Das ist der Zweck des Turniers.« »Doch gewiß nicht der einzige Zweck, Favonius«, gab der dritte Tischgast zu bedenken. Er hieß Carus und war Begründer einer der großen Waffenfirmen auf Tarquin. Die meisten Turniere wurden mit Produkten aus seinem Hause ausgetragen. »Natürlich nicht. Aber dem Pöbel ein Beispiel zu geben, ist der primäre Zweck der Turniere.« Carus runzelte die Stirn und verlieh seiner Skepsis mit einer kurzen, gleichgültigen Handbewegung Aus-
druck. »Wenn man mich nach dem primären Zweck der Arena, dem Hauptnutzen der Turniere fragte, würde ich antworten ... Ich würde ihn als die gesundheitsförderlich Reinigung des Gefühlslebens durch den Anblick tapfer ausgetragener Kämpfe und tapfer erlittener Qualen bezeichnen.« »Dedecoros Definition«, murmelte Favonius mit einem höflichen Lächeln. »Geringfügig abgewandelt«, erwiderte Carus mit nicht minder höflichem Lächeln. »Dedecoro sprach von mimischem Theater und erwähnte nichts von Tapferkeit.« »Eine äußerst geringfügige Abwandlung«, bemerkte Favonius. »Jedoch von großer Bedeutung.« Notus rülpste. Die beiden sahen ihn an und nickten rücksichtsvoll; dann fuhr Carus fort: »Ich spreche von ›gesundheitsförderlicher Reinigung‹ in einem doppelten Sinn. Ich beziehe mich sowohl auf die Gesundheit der Bürger als auch auf die des Staates.« »Ah! Ich verstehe«, sagte Favonius anerkennend. »Der Bürger braucht ein harmloses Ventil für seine Spannungen, Gelegenheit zur stellvertretenden Aggressionsentladung, andernfalls könnte er in seiner Verzweiflung zu ... Ihr versteht, Favonius?« »In der Tat, Carus, in der Tat.« »Solange wir die Turniere haben, gibt es nie und
nimmer eine Revolution«, verkündete Notus gewichtig. Die beiden warfen ihm einen raschen Blick zu, um sich dann mir zuzuwenden. Favonius sagte: »Aber mein lieber Carus, wir übersehen ja völlig den eigentlichen Sinn der glorreichen Turniere: nämlich einem so großartigen und geschickten Krieger, wie es unser Deletriculus ist, Gelegenheit zu geben, seinen Heldenmut zu beweisen und Anerkennung, Ehre und Preise zu gewinnen. Gewiß ist das, und nichts anderes, der primäre Zweck der Arenakämpfe.« »Ich bin völlig Eurer Meinung. Findest du nicht auch, Deletriculus?« Meine Antwort war ein Musterbeispiel an platter, einfältiger Aufgeblasenheit und wurde von ihnen sehr aufmerksam und respektvoll entgegengenommen. Offenbar waren sie davon angetan. Jeder andere hätte laut losgelacht, aber die vornehmen Tarquinier taten so etwas selten. Ich weiß nicht, ob das daran lag, daß sie zu wohlerzogen waren, keinen Sinn für Humor hatten oder den meisten Dingen einfach nichts Komisches abgewinnen konnten. Aber ob sie es durch Lachen zeigten oder nicht, ich bin sicher, daß ich ihnen so manche Stunde vornehm-zurückhaltender Belustigung verschaffte. Trotz dieser nächtlichen Feste mußte ich tagsüber weiterhin trainieren und lernen, und je mehr ich ver-
wöhnt wurde, desto unerträglicher erschien mir diese Lebensweise. Nach der vierten Saison, als die Zuschauermenge mich zu einem der Zehn Champions des Volkes proklamierte, wurde mir schmerzhaft bewußt, daß, obwohl Raphanus mir die besten Trainer, Diener und Waffen zur Verfügung stellte, mich in den geräumigsten Zimmern unterbrachte, mich gegen die ruhmreichsten Gegner antreten ließ und mit den begehrenswertesten Frauen belohnte, immer jemand anders alle Entscheidungen für mich traf. Ich wollte endlich anfangen, selbst über mich zu bestimmen. Ich sehnte mich nach Freiheit und betrachtete Schmeicheleien als einen dürftigen Ersatz dafür. Ich sprach mit niemandem über meine wachsende Unzufriedenheit, aber mein Verhalten erfuhr eine sichtliche Veränderung. Während des Trainings war ich düster und launenhaft, zu den Leuten in meiner Umgebung unfreundlich, in der Arena verwegener denn je. Am Ende der fünften Turniersaison, als ich wiederum zum Champion des Volkes ausgerufen wurde, ließ Raphanus mich in seine Privatgemächer kommen. Wir dinierten, genossen ein umfangreiches Unterhaltungsprogramm, und als die Feierlichkeiten vorüber und wir unter uns waren, knüpfte Raphanus ein Gespräch an. Er behandelte mich wie einen Gleichgestellten, kam aber wie gewöhnlich erst auf Umwegen zur Sache.
»Loripes ist dir ein guter Freund, Deletriculus. Er kennt dich genau«, sagte er. »Er ist mein einziger guter Freund.« Raphanus zog eine Augenbraue hoch, schnupperte an seiner Duftkugel und erklärte in gekränktem Tonfall: »So? Ich hielt mich selbst immer für deinen guten Freund.« »Ein Krieger kann nicht mit dem Herrn seiner Truppe befreundet sein, Raphanus. Du hast viel für mich getan, aber wie kann ich der Freund eines Mannes sein, dem ich gehöre?« Raphanus nickte bedächtig, als hätte er eben die Bestätigung für einen Verdacht erhalten, den er schon lange hegte. »Das hätte ich mir denken können. Du willst deine Freiheit.« »Das Volk hat heute danach verlangt. Du hast die Rufe gehört, doch du mißachtest sie.« »Das Volk, das Volk«, stöhnte Raphanus. »Sag mir, was hat das Volk für dich getan, Del, daß es ein Recht hat, über deine Zukunft zu entscheiden? Was würdest du denn tun, wenn du aus meiner Truppe ausschiedest?« »Nach Gilead zurückkehren«, erwiderte ich prompt. »Wo du innerhalb eines Monats an Langeweile zugrunde gingest. Du wirst nie dein Glück auf Gilead finden, Del. Du bist ein Künstler der Arena. Wie alle
wahren Künstler mußt du deine Kunst ausüben, sonst hörst du auf, ein Mann zu sein. Brinther und ein Leben in Schmutz und Dreck sind nichts für dich.« »Auf Gilead ist eine Frau, die ich liebe.« »Unsinn. Es gab einmal ein Mädchen, das du vor langer Zeit liebtest. Jetzt bist du in eine Erinnerung vernarrt. Das mag sehr schön und romantisch sein, aber wenn du dieses Mädchen wiedersähest, würden deine süßen Träume zerstört. Überleg einmal, wie sehr du dich in den Jahren auf Tarquin VII verändert hast, Del«, sagte er und fegte den Einwand, der mir auf der Zunge lag, mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. »Denk an den Tag, als ich dich vor den Minen auf Kepler oder einem schlimmeren Schicksal auf Barbary bewahrte. Als du hierher kamst, warst du ein Junge; nun bist du ein Mann und ein Krieger. Ein großer Krieger. Glaubst du im Ernst, dieses Mädchen hätte sich nicht ebensosehr verändert?« »Woher weißt du das?« unterbrach ich ihn. Diesen Punkt hatte ich gegenüber niemandem erwähnt. »Man braucht dich nur anzuschauen. Kein Mensch auf Gilead hat eine Hautfarbe oder Gesichtszüge wie du, und schon gar nicht deine Agilität. Die Gileader sind eine schwerfällige, ernste Rasse. Für die Arena völlig ungeeignet. Das muß dir bestimmt aufgefallen sein.«
»Ich wußte immer, daß ich anders war. An jenem Tag, als die Sklavenhändler mich ergriffen, erfuhr ich, daß ich in einem kleinen Raumschiff nach Gilead gekommen war. Ich war ein Findelkind.« Raphanus sah interessiert auf. »Und woher kamst du? Weißt du etwas über deine Herkunft?« Ich nahm den Zettel aus dem Amulett um meinen Hals, wo ich ihn stets verwahrte, und reichte ihn Raphanus. Er betrachtete ihn genau, gab ihn mir zurück und sagte: »Malellane. Natürlich.« »Weißt du etwas über die Malellanen, Raphanus? Gibt es Angehörige meines Volkes auf Tarquin?« »Ich sah in meinem Leben nur einen echten Malellanen. Er besiegte Haakmat, einen meiner besten Krieger.« Eine undeutliche Erinnerung regte sich in mir. Ich hatte diesen Namen vor lange Zeit einmal gehört. Ich drängte Raphanus um Einzelheiten, und als er nachgab, fiel mir jenes Ereignis ein, das Loripes mir am Tag meiner Ankunft geschildert hatte. »Was geschah mit diesem Malellanen? Kann ich ihn irgendwo finden?« Raphanus schüttelte den Kopf. »Er gewann während der Turniersaison damals die Freiheit und verließ Tarquin, um seine Heimat zu suchen. Seither wurde er nicht mehr gesehen.« »Wie weit ist es zu seiner Heimat?«
»Ziemlich weit. Genau weiß es niemand, Del. Sie liegt in einem Teil der Galaxis, der niemals erforscht wurde, und die vorliegenden Karten sind unzulänglich. Die ganze Region wird von den Rinn heimgesucht. Vermutlich ist er ihnen in die Arme gelaufen.« »Mich werden sie nicht erwischen.« Raphanus lachte leise. »So rasch vergißt du dein Mädchen auf Gilead?« »Keineswegs. Ich hole sie ab, und dann suchen wir mein Volk.« »Und wie willst du das anstellen? Verzeih meine Neugier, aber es würde mich schon interessieren, wie du die Finanzen aufbringen willst, um ein Raumschiff zu kaufen, es zu bemannen und für eine Reise auszurüsten, die vielleicht ein Leben lang dauert.« »Ich habe die Ersparnisse aus meinen Siegen«, sagte ich. »Die reichen kaum für eine Passage nach Gilead – falls du ein Schiff finden solltest, das dorthin fliegt.« »Dann muß ich mehr hinzugewinnen.« »Das wirst du gewiß, wenn du bei meiner Truppe bleibst. Wenn du sie verläßt ...« Raphanus breitete die Hände aus und schüttelte bedächtig den Kopf. »Es gibt nicht viel, was ein Krieger tun kann, wenn er der Arena den Rücken kehrt, Del.« »Die vornehmen Familien sind mir wohlgesonnen.«
»Gewiß sind sie das. Schließlich bist du eine Berühmtheit. Wenn du in ihr Haus kommst, kommt dein Ruhm mit dir. Aber außer einem guten Essen, ein paar Schmeicheleien und einigem wertlosen Plunder können sie dir wenig bieten. Seit die Politik auf Tarquin VII abgeschafft wurde, brauchen die Adligen keine Leibwächter oder Schutzgarden mehr.« »Was ist Politik, Raphanus? Ich habe das Wort gehört und gelesen, aber seine Bedeutung nie verstanden.« Raphanus verzog angewidert das Gesicht und führte die Duftkugel zur Nase. »Politik«, sagte er langsam, als würde er rezitieren, »ist eine irdische Irrlehre, deren Anwendung dazu führt, daß die Menschen die einfachsten Dinge im Leben dermaßen komplizieren, daß –« »Solche Sachen habe ich in den Büchern gelesen, Raphanus. Ich will wissen, was eine Politik ist!« Er lachte leise und überlegte kurz, um sich eine passende Antwort zurechtzulegen. »Also gut. Ich will dir ein Beispiel geben.« Er nahm zwei Gabeln vom Tisch, spießte mit einer ein Fruchtstück auf und legte beide mit den Spitzen aneinander. »Nun stell dir folgendes vor: Die leere Gabel bist du, die mit der Frucht ist eine andere Person.« »Wer?« »Das spielt überhaupt keine Rolle, Del. Worauf es
ankommt, ist, daß die andere Person etwas hat und es behalten will. Du hast nichts und willst, was der andere hat.« »Dann mache ich es ihm streitig. Wenn er es mir nicht gibt, kämpfen wir, und anschließend nehme ich es. Ist das Politik?« Ich war ein bißchen enttäuscht. »Nein, nein, nein«, sagte Raphanus unwirsch. »Das ist Politik.« Er nahm eine dritte Gabel, steckt die Frucht darauf und verzehrte sie mit übertriebenem Genuß. Dann wischte er sich die Lippen und sagte: »Derjenige, der etwas hat, verliert es, und der, der nichts hat, bekommt auch nichts, obgleich beide darum kämpfen und vielleicht dabei sterben. Der dritte hingegen, der mit allem nichts zu tun hat, bekommt den Preis. Das ist Politik, Del. Und dies ein Politiker«, sagte er, die dritte Gabel zwischen Daumen und Zeigefinger wippend. »Und solche Leute sind immer noch unter uns, wenngleich sie heute anders genannt werden.« »Politik ist dumm – außer man ist ein Politiker«, sagte ich, und Raphanus lachte lauthals. »Etwa nicht?« fragte ich ungehalten. »Was die Menschen der Erde niemals begriffen und das Volk von Tarquin nur widerstrebend und nach zwei Jahrhunderten tiefer Wirren akzeptierten, erfaßt du in Sekundenschnelle. Ich habe einen berühmten Krieger aus dir gemacht, Del, und nun auch
noch einen Philosophen. Was kannst du mehr von mir verlangen?« »Freiheit«, erwiderte ich prompt. »Meine Güte, bist du hartnäckig, Del«, stöhnte er, und seine Miene trübte sich. »Du wirst sie bald erhalten, das verspreche ich dir; aber im Moment bist du noch nicht reif dafür. Hier auf Tarquin VII könntest du mit deinen Ersparnissen ein angenehmes Leben führen und dir jederzeit ein Zubrot als Trainer verdienen – in diesem Beruf bist du hier stets willkommen, das versteht sich von selbst –, aber du mußt wissen, daß Intersystem-Raumflug außerordentlich kostspielig ist. Wenn es dir mit deinem Vorhaben ernst ist, nach Gilead zurückzukehren und eine Expedition auszurüsten, um Malella zu suchen, dann brauchst du das Hundertfache dessen, was du jetzt besitzt.« Ich kam mir vor, als hätte man mir einen Preis entrissen, den ich schon in meinem Besitz wähnte. Ich hatte fünf Turnierzeiten gebraucht, um meine Ersparnisse auf ihren gegenwärtigen Stand zu bringen, und nun eröffnete mir Raphanus, daß ich hundertmal mehr benötigte. Fünfhundert Turnierzeiten. Ich konnte von Glück reden, diese fünf überstanden zu haben, und selbst wenn ich alle zukünftigen Gegner – ob Mensch oder Humanoide – besiegen sollte, würde mich die Zeit nach spätestens zwanzig weiteren
Spielzeiten zur Aufgabe zwingen. Ich sackte vornüber und vergrub das Gesicht in den Händen. »Was ist mit dir, Del?« fragte Raphanus freundlich. Ich schaute auf. »Wie kannst du das fragen? Gerade hast du mir erklärt, daß ich mein Leben lang ein Gefangener sein werde! Gewiß, ich könnte nach Gilead zurückkehren, aber ich würde nie erfahren, wer ich bin oder woher ich komme. Ich könnte niemals mehr Ruhe finden – und Cassie ebensowenig.« »Es war nicht meine Absicht, dich zu enttäuschen, Del. Du brauchst sehr viel Geld, das ist wahr, doch du kannst es dir verdienen.« »Wie?« »Es gibt viele Möglichkeiten. Trink noch etwas Wein, Del«, sagte er und griff nach der Karaffe. »Dieser ist wirklich eine exzellente –« »Raphanus, wie kann ich genug verdienen, um meine Heimat zu finden?« Er trank einen Schluck Wein und lehnte sich zurück. »Da die Turniersaison auf Tarquin nun zu Ende ist, steht es mir frei, Herausforderungen von Fremdweltlern zu erwägen. Es gibt sie selten, denn nur wenigen liegt daran, gegen trainierte Tarquinier anzutreten, und weniger noch würden es wagen, die Truppe von Raphanus herauszufordern. Hinzu kommt, wie ich bereits erwähnte, daß die Transportkosten für eine ganze Kampfesriege samt Ausrü-
stung, Trainern und so fort schwindelerregend hoch sind. Aus verschiedenen Gründen ist nun dennoch –« »Hat man uns herausgefordert, Raphanus?« rief ich. »Darauf komme ich noch, Del.« Er nippte wieder an seinem Weinglas, stellte es ab und zog ein Schriftstück aus seiner Tunika. »Die Thonen des SkeggjattSystems ließen mir eine Botschaft zukommen. Anscheinend bereiten sie auf einem ihrer Planeten ein Fest vor, für das mehrere Tage dauernde Kämpfe zwischen ihren herausragenden Kriegern und denen anderer Welten vorgesehen sind. Sie baten mich, ihnen eine Gruppe meiner besten Männer zu schicken. Sie zahlen einen guten Preis, und auch die Teilnehmer können große Summen gewinnen. Genug vielleicht, daß es deinen Anforderungen entspricht.« »Schick mich hin.« »Nicht so hastig, Del. Das Turnier wird ausschließlich mit Schwert und Schild ausgetragen werden, und der Schwertkampf ist nicht deine Stärke. Du würdest ein intensives Training brauchen.« »Dann trainiere ich. Schick mich hin, Raphanus.« Er willigte ein, mich für die Skeggjatt-Riege in Betracht zu ziehen. In jener Nacht schlief ich gut und träumte von Gilead und Cassie und der ungekannten Welt meiner Vorfahren. Mit standen noch viele Kämpfe bevor, aber mein Ziel zeichnete sich nun kla-
rer ab denn je, und der Tag, an dem ich meine Freiheit erlangen und dieses Ziel in Angriff nehmen würde, war in Sicht.
10
Das Skeggjatt-Turnier; Verstümmelung und Tod
Während der nächsten vier Wochen trainierte ich jeden Tag bis spät in die Nacht mit Schwert und Schild, und als die Riege für das Skeggjatt-Turnier zusammengestellt wurde, fiel auch mein Name. Wir brachen frühmorgens mit einem schlanken, schnittigen Hochgeschwindigkeits-Intersystem-Kreuzer auf, einem Modell der Dritten Phase. Die Unterkünfte waren spartanisch, das Schiff überfüllt, aber es schaffte die lange Reise in knapp drei Wochen. Der Festspielplanet erwies sich als felsiger, windgepeitschter Ort mit langen Nächten und kurzen Tagen, die ein fahles, kaltes Licht brachten – eine Welt, die mit Tarquin VII nichts gemein hatte. Wie um sich für diese feindliche Umwelt zu entschädigen, feierten die Skeggjatten ein Fest nach dem anderen in ihren großen, hölzernen Gebäuden. Die Festsäle waren in hell leuchtenden Farben gehalten und mit phantastischen Schnitzereien verziert. Mitten im Raum prasselte ein großes Feuer, das angenehme Hitze ausstrahlte und die vielen Waffen, die an allen Wänden hingen, in ei-
nen grellen, flackernden Lichtschein tauchte. Eine Woche lang trainierten wir bei Tag, während wir bei Nacht feierten. Ein Harfenist versüßte uns die Feste mit uralten Sagen der Skeggjatt-Rassen von der Erde: Legenden von Kriegern und Kriegerbräuten; von Ettinnen, Lindwürmern, feuerspeienden Drachen und Riesen; von einäugigen Göttern, die mit Blitzen kämpften; von Jungfrauen in Rüstungen auf geflügelten weißen Rössern, die gefallene Helden an einen Ort der ewigen Feste bei Nacht und ewigen Kämpfe bei Tag brachten; vom großen Baum, der das Universum trägt, und dem Frostwolf, der an seinen Wurzeln nagt; von Unholden, die in versunkenen Höhlen hausen und sich im verkrusteten Erdreich über uralten Schätzen verkriechen, die von vergessenen Rassen vom Anbeginn der Zeit dort vergraben wurden. Wenn ich an diese Tage mit den Skeggjatten zurückdenke, fallen mir fast immer Wendungen aus ihrer Kriegssprache ein, einer langatmigen, prahlerischen Form der Rede, die jede einfache Bemerkung zu einer Rhetorikübung werden ließ. Der kleinste Anstoß genügte. Eines Nachts im Festsaal fragte einer aus unserer Riege Hnaggr, einen ungeschlachten, schielenden Kerl, woher er denn sein Schwert hätte. Ich bin sicher, daß er nur höflich Konversation machen wollte, aber Hnaggr donnerte sofort los: »Laß dir gesagt sein, Fremdweltler, dieses Schwert wurde geschmiedet in lebender Flamme,
entrissen dem Herz eines sterbenden Sterns, vom dreiarmigen Schwertschmied der Riesen alter Zeiten, von Thok, dem Feuerdieb. Mit selbiger Klinge erschlug Skorri Singleslash, Bezwinger der Ettinnen und alleiniger Hüter des finsteren Tors, das graue Heer in den Drei Schlachten am Berge der Gebrochenen Gebeine, wo Xandashal Runen-Leser eine Armee geifernder Geister gegen die Feste der schlafenden Götter führte. In der machtvollen Hand von Ruri, dem Sohn des Skorri Singleslash, vernichtete dieses Schwert die feuerspeienden Drachen von Gaz, und mit einem Streich zerschmetterte es den Pfeiler, der die Brücke des Schattens trug. Und nun hängt diese Klinge, Freund eines wahren Kriegers, an der Seite Hnaggrs und harret der Zeit, da sie im Gewühl des Kampfes aufblitzen wird, blutig und glorreich, um Legenden zu schaffen, die die Söhne Hnaggrs bei den Festen kommender Zeiten besingen werden.« Nach einer Pause respektvollen Schweigens erhob sich ein anderer Skeggjatt und sagte: »Glorreich ist die Legende von Hnaggrs Schwert, doch höret nun vom Glanz des Blutvergießers, den ich, Elgi, in meiner Rechten halte, stets bereit, die Reihen jener zu lichten, die sich mir entgegenstellen. Denn dies ist das Schwert des Laef, des erwählten Champions aus dem Reich des Blauen Gottes, der sieben Leben lebte und in der mörderischen Schlacht um ...« Und so fort.
Den Rest von Elgis Ansprache bekam ich nicht mit, denn ich wandte mich an Sagro, einen der Tarquinier, und fragte ihn: »Wovon reden die eigentlich, Sagro?« »Schwertlegenden. Zur Turnierzeit ist das große Mode bei den Skeggjatten. Ich glaube, sie machen sich damit Mut«, erwiderte er mit einer Spur Verachtung in der Stimme. »Sind diese Legenden wahr?« »Natürlich nicht. Sie beziehen ihre Schwerter postenweise von Iboki III.« »Und warum geben sie so an?« »Das sagte ich schon. Es stärkt ihr Selbstvertrauen. Ich persönlich ziehe unsere Methode vor.« Ich verstand nicht, was er damit meinte, und nahm an, daß er auf die Schweigsamkeit unserer Krieger anspielte, die sich von der Großmäuligkeit der Skeggjatten wohltuend abhob. Gerede dieser Art war auf Tarquin unbekannt. War ein Mann gut in der Arena, so brauchte er kein Wort darüber zu verlieren, denn jeder wußte es; war er es nicht, dann half ihm keine noch so große Prahlerei. Aber die Skeggjatten liebten das Reden. Wenngleich in schwülstige Rhetorikformeln verpackt, faszinierten mich diese Heldengeschichten, waren sie doch so anders als die heiteren Legenden vom alten Tarquin und die finsteren Parabeln von Gilead. So war ich angenehm überrascht zu erfahren,
daß das bevorstehende Fest nach Vorlagen aus den alten Sagen inszeniert werden sollte. Mittels komplizierter Geräte, die ich nicht verstand und die zu erklären meine Gastgeber nicht für nötig hielten, würden die Menschen auf Urdur, Verdandi und Skuld, den drei bewohnten Planeten des Skeggjatt-Systems, an den Geschehnissen hier auf Vigrid visuell teilhaben – Vigrid war der Kriegsplanet, wo in den Festspieljahren die herausragenden Ereignisse der skeggjattischen Legenden neu ins Leben gerufen wurden. Daß ein Mensch von seiner Welt aus sehen konnte, was auf einer anderen vorging, erstaunte mich, und als man mir sagte, daß Menschen auf verschiedenen Planeten auch miteinander sprechen konnten, war ich schier überwältigt. Auf Gilead hatte ich von solchen Wundern nie etwas gehört, und die wenigen Maschinen, die ich auf Tarquin gesehen hatte, wurden zu einfachen, anschaulichen Arbeiten eingesetzt – etwa zum Ausheben von Gräben, zur Säuberung der Arena und zur Beförderung der Adligen zu den Turnieren. Ich hatte keinerlei Vorstellung von der unglaublichen Komplexität eines Raumschiffs; für mich war es schlicht eine größere und schnellere Version der auf Tarquin gebräuchlichen einfach Bodenfahrzeuge. Ich erkannte nun, daß Raphanus mir bei meinem Ausbildungsprozeß viele Dinge vorenthalten hatte, und nahm mir vor, den Bereich meiner Studien zu
erweitern, sobald ich zurückkehrte. Die Erkenntnis, daß ich, der soviel Wissen über die Kriegskunst besaß, so wenig über die Welt außerhalb der Arena wußte, verunsicherte mich. Die Woche verstrich, und der Tag des Kampfes kam. Als wir uns bewaffneten und am Kriegsschauplatz einfanden, überkam mich ein seltsames Gefühl – genauer gesagt, ich vermißte ein gewohntes Gefühl. Ich empfand nicht den üblichen Eifer, meinem Kontrahenten gegenüberzutreten, hatte nicht das Verlangen, unsere Begegnung zu einem Höhepunkt der Spannung zu führen, um sie in diesem Moment mit einem schnellen Hieb oder präzisen Stoß zu beenden. Ich sah dem kommenden Kampf mit einem Gefühl entgegen, das ich nie zuvor empfunden hatte; ich war von dem Wunsch beseelt, meine Waffen fortzuwerfen und vor der tödlichen Herausforderung zu fliehen. Eine Mischung aus Stolz und Scham verhinderte, daß ich diesem Drang nachgab, aber innerlich war ich zutiefst aufgewühlt. Dies war die größte Chance in meiner Laufbahn als Krieger, und zum erstenmal in meinem Leben hatte ich Angst. Ich war so verstört, daß ich die Unruhe unter den anderen Mitgliedern unserer Riege zunächst nicht bemerkte; erst nach einer Weile fiel mir auf, daß diese Männer, die während der letzten Stunden vorm Kampf gewöhnlich so schweigsam waren und jedes Gespräch mieden, sich
wie Kinder zusammengeschart hatten und mit lauten Stimmen und heftigen Gebärden aufgeregt durcheinanderredeten. Sagro, der Führer unserer Gruppe, saß abseits vorm Feuer, schärfte sein Schwert und starrte düster vor sich hin. Ich ging zu ihm, setzte mich neben ihn, doch er schenkte mir keine Beachtung. »Sagro, was ist los mit uns?« fragte ich ihn. »Ich sehe es in den anderen und spüre es in mir selbst. Etwas stimmt nicht.« Er sah mich nicht an, sondern betrachtete prüfend die Schneide seines Schwerts, wendete es mehrmals im Schein des Feuers. »Wir wurden betrogen, Del. Das stimmt nicht.« »Was? Ich – ich –« »Raphanus hat uns in den Tod geschickt.« »Das würde er nie tun, Sagro. Wir sind seine besten Männer.« »Ganz recht. Und man hat ihn gut dafür bezahlt, seine besten Krieger ohne Kampfduftstoff hierher zu schicken, damit die Skeggjatten uns in Stücke hauen und vor ihrem Volk wie Helden dastehen können.« Ich schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich verstehe nicht, Sagro. Was ist Kampfduftstoff?« Nun schaute er mich an, und ich sah aufrichtiges Bedauern und Mitleid in den blassen Augen, die in dem platten, zernarbten Gesicht schimmerten. »Armes Kind. Loripes hat es dir nie gesagt?« Ich starrte
ihn verständnislos an, und er fuhr fort. »Jedesmal, wenn wir in die Arena marschierten, trugen wir Umhänge, die mit Kampfduftstoff getränkt waren. Ich weiß nicht, was das ist oder woher es kommt, aber es wirkt. Es durchdringt einen Mann und verändert ihn eine Zeitlang. Seine Reflexe sind dann schneller. Er ist weniger schmerzempfindlich und kennt keine Furcht. Alle Truppen benutzen diesen Stoff, aber Raphanus hatte stets den besten. Darum waren wir immer so siegreich.« »Dann –« Ich mußte erst einmal schlucken, ehe ich die Frage herausbrachte. »Dann bin ich in Wahrheit kein großer Krieger?« »Vielleicht ist es keiner von uns, Del. Ich weiß es nicht. Aber wir werden es bald erfahren.« Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Fünf Jahre hatte ich in Stolz und Ruhm gelebt, und Sagros Enthüllung machte all das in einem einzigen Augenblick zunichte. Übrig blieb nichts als Furcht und das beschämende Bewußtsein, ein unglaublicher Narr gewesen zu sein. Ich empfand keinen Haß auf Raphanus wegen seines Verrats noch auf Loripes wegen seines heimlichen Betrugs; ich dachte nicht einmal an sie. Ich hatte nur einen Gedanken: die traurige Gewißheit, daß ich trotz Schild und Helm, trotz des glänzenden Schwerts an meiner Seite hilflos in den Kampf ging, meiner stärksten Waffe, meinem Selbst-
vertrauen beraubt war. Ich war der Freiheit so nahe gekommen ... und jetzt war alles vorbei. Doch keiner aus Sagros Riege drückte sich. Wir gingen vollzählig in den Kampf, marschierten ohne ein Zeichen der Schwäche oder Furcht aufs Schlachtfeld im windgepeitschten, regenüberströmten Bergland von Vigrid, und in dieser Arena sah ich meine Kameraden unter den Schwertern und Äxten der brüllenden Skeggjatten einen nach dem anderen fallen. Mir blieb immerhin noch meine Schnelligkeit und Behendigkeit, und ich wich hundert wütenden Hieben aus, die mich in zwei Hälften gespalten hätten, doch die Skeggjatten waren zu viele. Der Helm wurde mir vom Kopf geschlagen, mein Schild zerschmettert, so daß nur noch der Knauf meine Hand schützte. Ich schleuderte ihn einem zähnefletschenden Skeggjatt ins Gesicht, drückte mich mit dem Rücken gegen einen Felsblock und wartete auf das Ende. Dann ging alles sehr schnell. Ein Axthieb trennte meine Schwerthand vom Gelenk, und als ich den Stumpf ergriff, erhielt ich einen Schlag auf den Kopf und stürzte in den blutroten Schlamm zu Füßen meiner Feinde. Ich lag auf dem Rücken. Nach einiger Zeit schlug ich die Augen auf und sah zum schwarzen Himmel, der von grellen Blitzen durchzuckt wurde. Ich hatte kein Gefühl mehr und fragte mich, ob ich noch lebte.
Im kurzen, auflodernden Schein der Blitze sah ich weit oben blasse, weiße Flecke, die sich über das Schlachtfeld bewegten. Ich schloß die Augen, und als ich sie wieder aufschlug, waren die weißen Flecke zu Pferden geworden, zu großen, geflügelten Rössern, auf denen je eine Gestalt in einer Rüstung saß. Sie kreisten tief über dem Schauplatz des Todes, und die großen, weißen Flügel schlugen in einem langsamen, majestätischen Rhythmus auf und ab. Eine der Gestalten in Rüstungen deutete auf mich und hob ein Horn an die Lippen. Ein zauberhaft schöner Ton erklang. Es waren die Kriegerbräute, die die Erschlagenen zu sich holten, und sie hatten mich erwählt. Ich war wahrhaftig tot. Ich schloß die Augen und versank in Finsternis.
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Dr. Hjalti vertieft mein Wissen; Aussicht auf Rückkehr nach Gilead
Ich öffnete meine Augen einer kühlen, blauen Welt. Alles um mich war blau: Wände, Decke und das feste, aber bequeme Bett, auf dem ich in halb aufrechter Position lag. Mein rechter Arm war vom Ellbogen bis zum Handgelenk mit einem blauen Verband umwikkelt, und am Ende des Verbands schaute meine Hand, meine eigene Hand heraus, dieselbe Hand, die
mir vom Arm abgeschlagen worden war, kurz bevor ich starb. Ich ballte sie zur Faust. Ich streckte die Finger aus, machte sie krumm, bewegte sie auf und ab, so lange, bis ich nicht mehr bezweifeln konnte, daß ich meine Hand wiederhatte und sie so gut wie vorher gebrauchen konnte. Ich hielt sie in die Höhe und stieß einen heißen Freudenschrei aus, und sofort durchzuckte ein rasender Schmerz meinen Kopf. Ich mußte am Leben sein. Nur die Lebenden konnten so heftige Schmerzen empfinden. Ich lehnte mich schwer atmend zurück und schloß die Augen. Dann hörte ich ein leises Rascheln neben mir und spürte etwas Kaltes auf meiner Stirn. Ich stellte mir vor, daß eine schöne Kriegerbraut an meinem Bett stand und mit stiller Bewunderung auf ihren erwählten Helden hinabschaute. Ich lächelte und seufzte. Eine ausdruckslose, metallische Stimme sagte: »Wenn Sie Beschwerden haben, nennen Sie sie bitte.« Ich schlug die Augen auf, um sie sofort wieder zuzumachen. Neben meinem Bett stand keine Kriegerbraut. Ich schaute noch einmal hin und sah ein eckiges, glänzendes Gebilde mit einem blauen Streifen rund um den Rumpf – etwa in der Höhe, wo bei einem Menschen die Brust gewesen wäre. Aber dieses Ding glich keinem der Menschen, die ich bislang gesehen hatte. Es besaß vier vorstehende Augen, die sich unabhängig voneinander bewegten. Zwei davon waren auf mich
gerichtet. Außerdem hatte es zu viele Arme, die von Vorder- und Oberteil und beiden Seiten des Rumpfs ausgingen. Einer berührte immer noch meine Stirn, zwei glätteten das Bettzeug, zwei weitere untersuchten meinen verbundenen Arm, während die restlichen mit irgendwelchen anderen Aufgaben beschäftigt waren. Ich konnte mich nicht entsinnen, jemals etwas Ähnliches – und sei es im Traum – gesehen zu haben, aber immerhin schien das Ding sich um mich kümmern zu wollen. Jetzt sprach es wieder. »Wiederhole: wenn Sie Beschwerden haben, nennen Sie sie bitte.« »Mein Kopf tut weh«, sagte ich. Zu dem Arm, der meine Stirn berührte, kamen zwei weitere hinzu. Ich spürte, wie der Verband um meinen Kopf gelockert wurde, dann breitete sich eine angenehme Kühle über meinen Schädel aus, und die Schmerzen verschwanden. »Beschwerde beseitigt. Bitte bestätigen«, sagte das Ding. »Es tut nicht mehr weh. Danke«, erwiderte ich. »Dank überflüssig. Bitte nennen Sie sonstige Beschwerden.« »Wer bist du? Wo bin ich?« Das Gebilde klickte mehrmals, summte und sagte: »Wiederhole: bitte nennen Sie sonstige Beschwerden.« »Ich habe Durst – wenn du das meinst.«
Es klickte noch ein paarmal, summte leise, ließ ein gluckerndes Geräusch aus seinem Innern hören und brachte aus seinem Bauch eine Tasse mit einer rosaroten Flüssigkeit zum Vorschein, die es mir mit einem der Arme hinhielt. Ich wehrte ihn ab. »Ich will dein Blut nicht«, erklärte ich. Das Ding ließ eine ganze Serie von Klick-, Summ-, Klapper- und Brummtönen hören, schwieg einen Moment und sagte dann: »Mißverständnis. EXEIChirurgie enthält kein Blut.« »Wie? Und was ist das?« fragte ich, auf die Tasse deutend. »Analgetische Nährlösung Nummer 3673.« »Also kein Blut?« »EXEI-Chirurgie enthält kein Blut. Nur Assistenzund Notdienst-Einheiten enthalten Blut.« »Ist EXEI-Chirurgie dein Name?« »Bestätige.« »Warum enthältst du kein Blut? Jedermann hat Blut in sich.« Nach kurzer Geräuschentfaltung sagte das Ding: »Jedermann bezieht sich auf Lebensformen, gewöhnlich auf menschliche oder humanoide. EXEIChirurgie ist keine Lebensform; Terminologie ist daher unangemessen. Bitte trinken Sie.« »Du bist kein Mensch«, stellte ich fest. Irgendwie beruhigte mich diese Erkenntnis.
»Nein, natürlich ist er kein Mensch«, sagte eine unverkennbar menschliche Stimme, und ein großer blonder Mann in blauer Kleidung erschien neben dem eckigen Gebilde. »Berichten«, sagte er zu dem Ding, und es klickte und surrte und streckte eine lange, aus einem dünnen Material bestehende Zunge aus, die mit Markierungen versehen war. Der Mann nahm sie an sich, betrachtete sie einen Moment und sagte: »Du kannst gehen. In Bereitschaft bleiben.« EXEI-Chirurgie rollte geräuschlos zur Tür hinaus. »Ihre Verletzungen heilen bestens«, sagte der Mann zu mir, nachdem er meine Hand und den Kopf untersucht hatte. »Wir fanden Sie gerade noch rechtzeitig. Sie hatten sehr viel Blut verloren.« »Meine Hand hatte ich verloren.« »Oh, das war kein Problem. Wir haben große Erfahrung mit dem Ersatz von Gliedmaßen.« »Die Frauen auf den weißen Pferden – brachten sie mich hierher?« fragte ich. Er sah auf ein kleines Schild an meinem Handgelenk. »Sie wurden von Feld-Einheit 6 eingeliefert. Ja – das ist eine der Flugeinheiten.« »Ich dachte, sie brächten gefallene Helden nur zum Ort der ewigen Feste und Kämpfe.« Er sah mich befremdet an, dann lachte er. »Es freut mich zu sehen, daß Sie Ihren Sinn für Humor nicht
verloren haben. Im ersten Moment dachte ich, Sie sprächen im Ernst.« Ich hatte es natürlich todernst gemeint, doch um mich nicht zum Narren zu machen, lachte ich mit. Er fuhr fort. »Es ist ein umständliches Verfahren, aber die Festspieldirektion besteht darauf, daß wir die Überlebenden so und nicht anders retten. Man ist der Ansicht, der ganze Effekt des Dramas würde ruiniert, wenn das Publikum gewöhnliche AmbulanzEinheiten auf dem Schlachtfeld landen sähe. Vermutlich ist das richtig. Wenn man die Leute schon drängt, sich die alten Mythen anzuschauen, muß man ihnen auch eine möglichst authentische Darstellung bieten. Wie dem auch sei – wir haben die Ambulanzen so modifiziert, daß sie in Fahrzeuge mit Pferdegestalt hineinpassen, und das Personal als Walküren verkleidet. Sie werden deswegen immer aufgezogen, die Ärmsten.« Der Arzt – er hieß Hjalti – war ein freundlicher und sehr gesprächiger junger Mann. Nach dieser ersten Visite besuchte er mich fast täglich, um den Heilungsprozeß des Handtransplantats zu beobachten, das EXEI-Chirurgie unter seiner Anleitung operiert hatte. Er war sehr stolz darauf und brachte häufig Kollegen mit, um ihnen sein Werk zu demonstrieren. Eines Tages kam er in Begleitung eines sehr großen und hageren Mannes mit weißem Haar und erhabe-
ner Miene, den er als Meisterchirurg Ingjald-Kolsson vorstellte. Hjalti schien großen Respekt vor dem alten Mann zu haben, denn beim Hereinkommen hatte er ihm den Vortritt gelassen, sprach kaum in seiner Gegenwart und hielt sich während der ganzen Visite im Hintergrund. Ingjald-Kolsson sagte kein Wort zu mir, während er mich untersuchte. Er behandelte mich, als wäre ich lediglich ein interessantes Versuchstier, das man ihm zur Prüfung vorgelegt hatte, oder ein ungewöhnliches Handwerkserzeugnis, das einer genaueren Betrachtung wert schien. Er horchte mein Herz ab, studierte meine Krankenberichte, hob dann meinen Arm hoch, um die Narbe um das Transplantat einer eingehenden Inspektion zu unterziehen, und brummte dabei anerkennend vor sich hin. Schließlich ließ er meinen Arm los, bedachte erst Hjalti, dann mich mit einem grimmigen Blick aus seinen drohend funkelnden Augen und begann zu sprechen. Doch er redete nicht zu uns; vielmehr schien er sich an ein unsichtbares Publikum über unseren Köpfen zu wenden. »Die Fremdweltler nennen uns Barbaren, weil wir an der Tradition der Turniere festhalten«, sagte er. »Aber das beweist nur, daß es ihnen an Phantasie und Weitblick mangelt. Nur den Turnieren verdanken wir die Größe unserer heutigen Zivilisation. Allein in den letzten sieben Jahren hat unser Stab acht
neue Techniken zur Transplantation von Gliedmaßen perfektioniert, obwohl lediglich Trainingsverletzte zur Verfügung standen. Ohne die Turniere hätte man das Leben und die Hand dieses jungen Mannes niemals retten können.« »Die Fremdweltler sprechen nur von jenen, die den Tod finden«, bemerkte Hjalti. »Aus diesem Grund verdammen sie die Turniere.« »Und ist das nicht widersinnig? Selbstverständlich gibt es Tote bei den Turnieren, doch diese Männer sterben im feierlichen Ritual einer uralten Tradition. Anstatt zu altern, wie eine sterbende Eiche allmählich zu verfaulen und ihr Leben in Krankheit und Siechtum zu beenden, erstrahlen sie für einen Moment glanzvoller Pracht und sterben ruhmreich zum Nutzen anderer.« Ingjald-Kolsson senkte den Blick, und seine grimmigen Augen funkelten nun mich an. Er zeigte mit einem seiner dürren Finger auf mich, und ich zuckte unwillkürlich zusammen. »Du, junger Krieger! Wo immer du hörst, daß man uns Barbaren nennt, zeige den Narren, die so reden, deine Hand! Berichte ihnen von meinen Worten. Erkläre ihnen, wie zivilisiert die Skeggjatten sind!« Damit drehte er sich um und schritt auf seinen langen Beinen davon. Welch ein Glück, dachte ich erleichtert, daß ich in der Obhut eines Mannes wie Hjalti und eines Roboters wie EXEI-Chirurgie war. Ich
versuchte, Näheres über den Meisterchirurgen von Hjalti zu erfahren, doch er schwieg beharrlich. Ich glaube, der alte Mann jagte ihm Angst ein, und das konnte ich vollauf verstehen. Mich erschreckte er ebenfalls. Wann immer Hjalti Zeit hatte, kam er in mein Zimmer, und wir unterhielten uns stundenlang über alle möglichen Dinge. Am liebsten hätte ich ihn in einem fort reden lasen, denn er wußte so viel mehr als ich, und ich wollte lernen. Da er an meiner Lebensgeschichte jedoch ebenso sehr interessiert zu sein schien wie ich an seinem Wissen, waren unser Gesprächsanteile in etwa ausgeglichen. Dank dieser vielen Unterhaltung verging mein Aufenthalt rasch. Am Abend vor meiner Entlassung fragte Hjalti mich, welche Zukunftspläne ich hätte. »Ich werde wohl nach Tarquin VII zurückkehren«, sagte ich. »Warum? Liegt dir so viel am Leben eines Kriegers?« »Nein, jetzt nicht mehr – nicht, seit ich die Zeit hatte, darüber nachzudenken. Aber ehe Raphanus mir nicht die Freiheit gibt, bleibt mir keine Wahl.« »Aber du bist jetzt frei, Del. Hat dir das niemand gesagt?« »Frei!?« »Selbstverständlich. Freiheit für alle Überlebenden
ist oberstes Gebot der Festspiele. Ich dachte, du wüßtest das«, sagte Hjalti. »Nein, gar nichts wußte ich. Ich hätte nie damit gerechnet ... Ich kann gehen, wohin ich will?« »Du wirst das Festspiel-Verwaltungszentrum aufsuchen müssen, um deinen Preis abzuholen, aber danach kannst du dir aussuchen, wohin du gehst.« »Ich habe einen Preis gewonnen? Aber ich verlor doch, Hjalti. Ich wurde erschlagen und verstümmelt.« »Du fielst als letzter deiner Gruppe, und du hast gut gekämpft. Die Zuschauer sprachen dir eine Prämie zu.« »Dann kann ich nach Gilead zurückkehren!« rief ich, außer mir vor Freude. Hjalti legte die Stirn in Falten. »Du kannst es versuchen, Del, aber mach dir keine zu großen Hoffnungen. Es geschieht selten, daß ein Schiff in diese Richtung fliegt. Du sagtest ja selbst, daß die einzigen Raumschiffe, die du jemals auf Gilead sahst, dein eigenes kleines Boot und das daltreskanische Sklavenschiff waren. Dieser Sektor liegt zu nahe bei den Rinn, und es gibt auch keinen Handelsverkehr. Vielleicht wirst du sehr lange Zeit unterwegs sein.« »Immerhin kann ich es jetzt versuchen. Ich werde schon einen Weg finden. Danke für alles, Hjalti. Ich habe viel gelernt.« »Es war eine Freude, dich kennenzulernen, Del. Die
meisten Männer, mit denen ich zu tun habe, sind gefühllose Schlächter. Sie können es gar nicht abwarten, wieder gesund zu werden, um sich aufs neue in den Kampf zu stürzen. Mord und Totschlag scheinen die einzigen Dinge zu sein, für die sich die Menschen in der heutigen Galaxis noch interessieren«, sagte er bekümmert. »Nicht auf Gilead«, widersprach ich. »Ich habe nie erlebt, daß auf Gilead gekämpft oder auch nur ein böses Wort gesprochen wurde.« Hjalti legte mir die Hand auf die Schulter und drückte sie fest. »Dann kehre zurück nach Gilead und geh nie mehr fort. Die Galaxis ist ein Ort des Schrekkens, Del. Die Hälfte aller Schiffe im Weltall gehört Sklavenhändlern oder Piraten, und in den meisten aller bewohnten Sonnensysteme vergnügt man sich mit Turnieren ähnlich denen auf Tarquin VII oder unseren Festspielen. Manchmal scheint es, als hätten die Blutigen Jahrhunderte sich von der Erde auf die ganze Galaxis verlagert – als wären sie mit uns gereist. Fünfhundert Jahre sind vergangen, und ein Ende der Barbarei ist nicht abzusehen. Das gilt auch für mein Volk, Del. Von allen benachbarten Systemen haben wir die besten Krankenhäuser, die besten Schulen, schöne Städte ... und dennoch finden alle zehn Jahre die Festspiele für unsere alten Götter statt, zu denen wir zusammenkommen und zusehen, wie Menschen
einander in Stücke schlagen. Und danach flicken wir vielleicht ein Dutzend Überlebende wieder zusammen und prahlen damit, wie zivilisiert wir doch sind. Vielleicht sind wir alle wahnsinnig, Del. Wenn du irgendwo Vernunft finden kannst, sei es auf Gilead oder anderswo, halt sie mit beiden Händen fest.« »Das werde ich, Hjalti«, versprach ich. Wir verabschiedeten uns mit einem festen Händedruck; dann brach ich auf. Seither habe ich mich oft gefragt, ob Hjalti es wohl zum Meisterchirurg gebracht hat. Ich kann es nur hoffen.
12
Ich heuere auf der ›Antap‹ an
Das Festspiel-Verwaltungszentrum war ein atemberaubend hoher, aus fünf Flügeln bestehender Gebäudekomplex auf Verdandi, dem größten und sonnenfernsten Planeten des Skeggjatt-Systems. Ich wurde gut behandelt. Obwohl die Skeggjatten sich in vieler Hinsicht von den Tarquiniern unterschieden, so hatten sie doch eines mit ihnen gemein: sie zollten einem guten Verlierer Respekt, und das erleichterte mir die Sache beträchtlich. Ohne die bereitwillige Hilfe, die ich allerorts erhielt, hätte ich in diesem Irrgarten von Hallen und Korridoren nie von Büro zu Büro gefunden und schon gar nicht die Dutzende Formulare
ausfüllen können, die man mir vorlegte. Die Skeggjatten waren gewissenhafte Menschen. Sie händigten einem Mann nicht eine Belohnung aus, um ihn anschließend sich selbst zu überlassen. Ich erhielt Nahrung, neue Kleidung und wurde eingehend über meine Zukunftspläne befragt. Ein hoher Beamter gab sich alle Mühe, mich als Trainer für die Kämpferakademie seines Bruders zu verpflichten – die hatte man auf Verdandi auch, und die Arbeit war erheblich leichter, da ihre Festspiele nur im zehnjährigen Rhythmus stattfanden –, aber davon hatte ich die Nase voll. Ich erklärte stets aufs neue, mein einziger Wunsch sei es, nach Gilead zurückzukehren, woraufhin mir stets entgegengehalten wurde, daß kein Mensch auf Verdandi sich entsinnen könne, jemals von einem Raumschiff gehört zu haben, das Gilead angesteuert hätte. Das wurde langsam zur quälenden Routine, die ich eine Zeitlang Tag für Tag über mich ergehen lassen mußte, aber ich war entschlossen, nicht aufzugeben. Eines Tages wurde ich zu ungewöhnlich früher Stunde zum Büro für Wiedereingliederung bestellt. Ich trat ein, sagte dem Sachbearbeiter, der mir mittlerweile ein alter Bekannten geworden war, guten Tag, und er erwiderte meinen Gruß mit einem breiten Grinsen. Thrain, das wußte ich, war kein Mann, der ohne guten Grund lachte, folglich mußte er erfreuliche Nachrichten haben.
»Ich glaube, ich habe da etwas für Sie, Del«, sagte er und führte mich zu einem kleinen Konferenzraum. »Ein Pilgerschiff will das Beckley-System anfliegen, und man sucht noch Wachen. Beckley liegt in der richtigen Richtung, und auf einem Pilgerplanet treffen Sie vielleicht Leute an, die nach Gilead weiterziehen wollen.« »Wie weit hätte ich es vom Beckley-System bis nach Gilead?« erkundigte ich mich. »Nun, Sie kämen ein gutes Stück näher – vielleicht ein Viertel der Gesamtstrecke. Mir scheint, dies ist die Gelegenheit, auf die Sie gewartet haben.« »Möglich. Welche Aufgaben hat man als Raumschiffswache, Thrain?« Er machte eine unbestimmte Geste und sagte: »Die meiste Zeit hat man nichts zu tun. Wird das Schiff angegriffen, kämpft man. Die Bezahlung ist gut.« »Wer sollte ein Raumschiff angreifen?« »Sklavenhändler, Piraten, Banditen – vielleicht die Rinn, obgleich man in den letzten Jahren nichts mehr von ihnen gehört hat. Damit werden Sie im Handumdrehen fertig, Del.« Das war glatte Augenwischerei, doch ich erhob keinen Einwand. Ich wußte, daß Thrain erpicht darauf war, ein Schiff für mich zu finden, um endlich die Verantwortung für mich los zu sein. Trotzdem, dieser Vorschlag hörte sich gut an. Hier auf Verdandi saß
ich herum und hatte nichts zu tun – zudem wäre ich für den Job geeignet. Zwar hatte ich mir fest vorgenommen, nie wieder zur Unterhaltung von anderen zu kämpfen, auch wenn ich noch so sehr in der Klemme stecken sollte, aber da ich nichts anderes gelernt hatte, waren meine Beschäftigungsmöglichkeiten begrenzt. Hier war eine Tätigkeit, die ich ausüben konnte, und es war anständige Arbeit. Ich würde gute Menschen beschützen, während ich gleichzeitig Gilead und Cassie ein Stück näher kam. Wir betraten den Konferenzraum, vor dem wir diskutiert hatten, und Thrain stellte mich dem Kommandanten des Raumschiffs Antap vor. Seine äußere Erscheinung war alles andere als vertrauenerwekkend. Ich fand, daß er eher wie einer jener abgefeimten Schurken aussah, die abzuwehren mein künftiger Job sein sollte, denn wie ein Mann, dem man väterliche Fürsorge für seine Besatzung und Passagiere zutraute. Doch im Laufe des Gesprächs änderte ich meine Meinung. Er war offen und ehrlich, ein Mann, der nichts verschwieg. »Ich heiße Voit«, sagte er und hielt mir eine kräftige Hand mit kurzen, dicken Fingern hin. »Du willst also Wache auf der Antap werden?« »Ganz recht.« »Deine Zeugnisse sind gut. Ich hatte erwartet, einen Mann von doppelter Größe zu sehen«, erklärte er schroff.
»Ich wachse noch. Für die Arena war ich groß genug.« »Auf Tarquin VII wurde er zweimal zum Champion des Volkes proklamiert«, hob Thrain hervor. »Ich sah die Unterlagen. Ich will offen mit dir reden«, sagte Voit zu mir und beugte sich über den Tisch vor, als wolle er mir ein großes Geheimnis anvertrauen. »Es wird eine miese Fahrt werden. Wir laden zweihundert Pilger-Skarabäer, jeder davon so verrückt wie ein Strefrit. Sie wollen zu einem galaktischen Konvent von Fanatikern, um sich dort mit Gesang und anderem Pipapo gegenseitig in die Tasche zu jubeln. Sie meinen nämlich, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben, und jeder, der die Welt nicht durch ihre Brille sieht, ist in ihren Augen ein hoffnungsloser Narr. Dieser Konvent ist eine Riesenschau, aufgezogen von Schwindlern und finanziert von Geisteskranken. Es ist eine Schande, ein gutes Schiff mit solchem Gesindel zu verseuchen, und die meisten Wachen würden sich lieber für eine Vierjahresreise bei den Daltreskanern verpflichten, als auf einem Pilgerschiff anzuheuern, aber die Sache ist ein gutes Geschäft. Die Galaxis wimmelt nur so von Geisteskranken und Schwindlern, und die haben eine Menge Geld. Daher kann ich doppelten Lohn zahlen.« Er funkelte Thrain an und sagte barsch: »Stimmt doch, oder? Sagen Sie's ihm.«
»Das ist richtig, Del. Die Löhne sind doppelt so hoch wie normal.« »Noch etwas«, fuhr Voit fort. »Die Antap ist ein gutes Schiff, aber sie ist kein HochgeschwindigkeitsIntersystem-Kreuzer. Es wird daher eine lange Reise nach Beckley werden, und wenn man uns angreift, ist ein Fluchtversuch von vornherein aussichtslos. Dann bleibt uns nichts übrig, als zu kämpfen, und von den Skarabäern dürfen wir keine Hilfe erwarten.« »Ich verstehe«, sagte ich. »Wir könnten auch Rinn begegnen, weißt du.« »Das ist mir egal. Ich will nach Gilead, und Beckley liegt auf dem Weg. Wenn ich gegen Rinn kämpfen muß, um mein Ziel zu erreichen, dann kämpfe ich eben.« Voit sah mich einen Moment fest an, nickte kurz und sagte zu Thrain. »In Ordnung. Sie können ihn verpflichten, Thrain.« Er stand auf und ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. »Wir starten in drei Tagen. Du findest dich morgen am Hafen ein, Landefeld 71, und hilfst beim Laden.« »Wird gemacht«, sagte ich. »Und von jetzt an nennst du mich ›Commander Voit‹, ist das klar?« donnerte er. »Jawohl, Sir – Commander Voit«, sagte ich. Ich schrieb mich unter meinem alten Namen, Del Whitby, auf der Antap ein. Es war eine Erleichterung,
all die aufgeblasenen tarquinischen Titel loszuwerden, die ich mit mir herumgeschleppt hatte. Ich fand langsam zu mir selbst zurück.
13
Ich lerne Grax kennen und eine neue Fertigkeit beherrschen; Poeisten und Lovecrafter
Das Verladen war Routinearbeit. Als die Pilger an Bord kamen, sah ich sie mir genau an und bereitete mich innerlich auf eine langweilige Reise vor. Sie waren Skarabäer der Poe-Sekte mit einigen Lovecraftern darunter, blasse, scheue Menschen, die mit gesenkten Blicken und zaghaften Bewegungen dahergingen, sich unaufhörlich leise unterhielten und die Besatzung so vollständig ignorierten, als wären wir unsichtbar. Mir war es gleichgültig. Einige Besatzungsmitglieder und ein paar der anderen Wachen bedachten die Frauen mit verstohlenen Blicken, aber ich war nur daran interessiert, daß die Fahrt endlich losging und ich Cassie ein Stück näher kommen konnte. Die meisten Skarabäerfrauen waren ohnehin alles andere als reizvoll. Wir starteten fahrplanmäßig, und als wir das Skeggjatt-System hinter uns gelassen hatten, wurde der Sternenantrieb eingeschaltet. Dieser Übergang von Sub-Lichtgeschwindigkeit ins stille, dimensions-
lose Nichts gab mir ein seltsames Gefühl, und ich konnte mich nie daran gewöhnen. Es kam mir jedesmal so vor, als hörte ich während jener Sekundenbruchteile der Transition einfach auf zu bestehen, und ich konnte meine Zweifel, wieder heil und in der richtigen Dimension aus dieser Leere herauszukommen, nie ganz besänftigen. Ich teilte mir eine Kabine und die Wache mit einem mageren, schlaksigen, dunkelhäutigen Pistolenschützen namens Grax, der aus einem System im Zentrum der Galaxis stammte. Er war nur wenige Jahre älter als ich, doch er hatte viele weite Reisen hinter sich und wußte eine Menge abenteuerliche Geschichten zu erzählen, die uns die ruhigen Stunden während der Wache verkürzten. Eines Nachts, als wir die Pistolengurte umschnallten, um den Dienst anzutreten, bemerkte ich, daß er mich verstohlen musterte. »Was ist, Grax?« fragte ich. »Nichts«, sagte er und winkte ab. Nachdem wir gegessen und uns beim diensthabenden Offizier gemeldet hatten, erfuhr ich, was er auf dem Herz hatte. Grax konnte Fragen, die ihn quälten, nicht lange für sich behalten. »Del, ich muß dich mal was fragen«, begann er verlegen. »Du brauchst nicht zu antworten, wenn du nicht willst, aber die Sache interessiert mich einfach.« »Schon in Ordnung. Worum geht's?«
»Wer hat dir beigebracht, daß man so seine Schießeisen trägt?« fragte er und deutete auf die Pistolen, die lose in ihren Halftern von meinem Gurt baumelten. »Mein Trainer auf Tarquin VII.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Du meinst, daß ihr so in den Kampf gingt?« »Nein, keineswegs. Wir hatten die Waffen in den Händen.« »Von so einem Kampfstil habe ich nie gehört. Wie ging das vor sich?« »Wir wurden in ein Labyrinth geschickt. Die Zuschauer konnten uns beobachten, aber wir sahen einander nicht. Jeder hatte eine Kugel, es sei denn, es war ein Mehrkampf, bei dem ein Krieger gegen zwei oder drei andere kämpfte. In diesem Fall hatte der Einzelkämpfer so viele Kugeln wie Gegner, und diese besaßen jeweils eine. Der Trick dabei war, den Gegenspieler zu einem überhasteten Schuß zu verleiten. Man mußte sehr zielsicher sein.« Grax nickte anerkennend. »Nicht übel, aber wenn es hier Schwierigkeiten gibt, wird dir das nicht viel nützen. Wenn man uns entern sollte, zählt allein Schnelligkeit. Man weiß nie, über welche Feuerkraft der Gegner verfügt, und der Versuch, es herauszufinden, kann einem das Leben kosten. Selbstverständlich muß man zielsicher sein, aber auch schnell. Paß auf, ich will dir mal was vorführen. Erst entladen.«
Wir entluden unsere Pistolen und traten einen Schritt zurück, so daß wir einander gegenüberstanden. Dann verschränkten wir die Arme, und Grax hieß mich, das Signal zum Ziehen zu rufen. »Zieh!« schrie ich, und noch ehe meine Hände sich um die Pistolenknäufe geschlossen hatten, zeigten zwei Läufe auf meine Brust. Wir probierten es wieder und wieder, doch Grax schlug mich jedesmal. Die Pistolen schienen ihm geradezu in die Hände zu springen, sobald er danach griff. Ich machte keinen Hehl aus meiner Verblüffung. Ich hatte mich immer für sehr schnell und flink gehalten – und dies von anderen auch bestätigt bekommen –, doch Grax gab mir das Gefühl, ein alter Brombluck zu sein, der bis zu den Hüften im Sumpf feststeckte. »Reine Übungssache, Del«, sagte er. »Das mache ich schon, seit ich fünf war. Du mußt üben und nochmals üben. Und ehe du anfängst, vergewissere dich, daß deine Pistolen richtig sitzen.« »Wo hast du das gelernt, Grax?« »Mein Onkel George brachte es mir bei. Er wußte genau Bescheid über die Erde. Während der Blutigen Jahrhunderte, so sagte er mir, hatte jeder so ein Ding bei sich. Und die Leute konnten gut damit umgehen. Mußten sie auch.« Er zeigte mir, wie man die Pistolenhalfter tiefer schnallte, um die Waffen besser greifen zu können,
und daß man sie an den Beinen festband, damit sie nicht herumschlenkerten. Wir probierten es wieder, und diesmal war ich schon besser. Von da an übte ich fast unaufhörlich. Allerdings hätte ich viel lieber etwas anderes gelernt, mich mit all den Dingen beschäftigt, auf die Dr. Hjalti mich bei unseren langen Gesprächen aufmerksam gemacht hatte. Immerhin war ich nun schon fast fünf Jahre von Gilead fort, hatte mehr von der Galaxis gesehen als sonst jemand auf meiner Heimatwelt, und es wurmte mich, dennoch mit so geringen Kenntnissen heimzukehren. Bis auf die Kriegskunst besaß ich kaum verwertbares Wissen, und damit würde ich zu Hause nicht viel anfangen können. Hjalti hatte bei seiner Arbeit im Krankenhaus Männer aus Hunderten von Sonnensystemen kennengelernt, Überlebende der Festspiele oder Verletzte beim Training, die er wieder zusammenflickte, und er hatte mir von Dingen erzählt, die einfach mein Vorstellungsvermögen überstiegen. Ich wollte mehr über diese Wunder wissen, soviel wie möglich über die weite Galaxis lernen, von der mein Heimatplanet nur ein winziges, isoliertes Teilstück war. Doch an Bord der Antap gab es nicht viel zu lernen, allenfalls von den Pilgern, und die zeigten einem meist die kalte Schulter. Folglich übte ich mit den Pistolen und wurde bald fast so schnell wie Grax.
Gelegentlich versuchte ich dennoch, mich mit den Pilgern zu unterhalten, aber dabei kam nicht viel heraus. Sie waren Neo-Hoffmannsche Reformierte Galaktische Skarabäer mit einigen Poe-Lovecraftern in ihren Reihen. Ich brauchte ihnen nur eine einfache Frage zu stellen, und schon rezitierten sie endlos aus den Offenbarungen Poes, einem Mystiker, der zu Anfang der Blutigen Jahrhunderte im ostamerikanischen Stadtstaat Baltimore-Maryland gelebt und gewirkt hatte. Sie redeten von Mahlströmen, Pendeln und Raben, und obwohl oft eine Stunde dabei verging, kam ich nie dahinter, was sie überhaupt meinten. Die Lovecrafter waren noch schlimmer. Sie zitierten Poe, um anschließend Kommentare seines Schüler Lovecraft von Arkham herunterzuleiern – die Hälfte davon in Sprachen, die ich nie gehört hatte. Doch das wenige, was ich verstand, genügte, um mir einen Schauer über den Rücken zu jagen. Jedesmal, wenn ich einem der Lovecrafter zugehört hatte, träumte ich von Ghulen, Dämonen und tentakelbewehrten Unholden, die mit Ichor bedeckt waren. Was Ichor ist, wurde mir nie erklärt. Ich bin froh darüber, denn das Wort klingt scheußlich. Diese Lovecrafter raubten mir den geruhsamen Schlaf. Der enge Kontakt zu den Skarabäern warf für mich erneut die Frage nach Recht und Unrecht auf, und woran ein Mensch glauben sollte. Ich hatte bisher mehr oder weniger nach dem gileadischen Glauben
gelebt und mir Loripes Anschauung zu eigen gemacht, daß die religiösen Überzeugungen anderer Leute mich nichts angingen – außer es handelt sich um rituelle Bluttrinker von Taluma IV, thanistische Würger und ihresgleichen. Wenn die Skarabäer gern glauben wollten, daß das Universum ein finsterer Mahlstrom sei, dann konnten sie das von mir, aber ich sah nicht, daß dieser Glaube sie zu besseren oder schlechteren Menschen machte. Sie hatten Diebe und Lügner unter sich wie andere auch, und wenn sie sich an Bord der Antap auch nicht gegenseitig umbrachten, so geschah es doch mehr als einmal, daß zwischen Poeisten und Lovecraftern wegen unterschiedlicher Auslegung eines Glaubensartikels ein wütender Streit entbrannte.
14
Ein Alarm, ein Rätsel und eine verrückte Idee
Wir waren etwa auf halbem Wege nach Beckley, als ich von jenem Gefühl aus dem Schlaf gerissen wurde, das unverkennbar einen Übergang zu Sub-Lichtgeschwindigkeit anzeigte. Ich war gerade wieder am Einschlummern, als die Alarmsirenen aufheulten. Grax schnallte bereits seine Pistolenhalfter fest, während ich mich noch aufrappelte. »Beeil dich, Del«, sagte er. »Wahrscheinlich gibt es Schwierigkeiten.«
Wir steckten tatsächlich in Schwierigkeiten, doch weder Grax noch ich konnten dem abhelfen. Die Antap war zu lange mit Sternenantrieb geflogen, und eine der Antriebsspulen war durchgebrannt. Die Ruhepausen bei Sub-Lichtgeschwindigkeit waren die größte Gefahr jeder Intersystem-Reise. Denn während dieser Zeit konnte ein Schiff geortet werden und leicht in der Nähe kreuzenden Piraten, Banditen oder vereinzelten Rinnkommandos in die Hände fallen. Warum das so war, wußte ich nicht genau, und dieses Schicksal teilte ich mit den meisten Menschen – selbst die Ingenieure und leitenden Offiziere waren mit den technischen Einzelheiten wenig vertraut; sie mußten sich weitgehend auf die alten Handbücher verlassen und fehlende Hinweise durch Mutmaßungen ergänzen, denn es war seit über einem Jahrhundert kein neues Raumschiff mehr gebaut worden, und viel Wissen war verlorengegangen. Ich wußte nur soviel, daß ein Schiff, das mit Sternenantrieb flog, nicht aufgespürt werden konnte. Für Taster- und Ortungsinstrumente existierte es einfach nicht. Eine Funkverbindung nach außen kam ebenfalls nicht zustande, und wenn ein Schiff in Not geriet, mußte es auf Sub-Lichtgeschwindigkeit heruntergehen, einen Hilferuf ausstrahlen und darauf vertrauen, daß der Empfänger ein Freund war. Befand sich ein Schiff im
Normaluniversum, dann leuchtete es allerdings auf jedem Orterschirm im ganzen Raumsektor auf. Daher flogen die Piraten und Banditen knapp unterhalb der Grenze zur Sternengeschwindigkeit die intersystemaren Schiffahrtslinien ab, beobachteten die Orter genau und lauerten auf ein mögliches Opfer. Sobald ein Schiff auftauchte, das seine Antriebsspulen auskühlen lassen oder einen Funkspruch senden wollte, schlugen sie zu. Commander Voit erklärte die Lage. Die Antriebsspule mußte repariert werden; das würde mindestens einen Tag dauern, und sollten sich Komplikationen ergeben, steckten wir noch länger fest. Alle Ortungsinstrumente wurden aktiviert und die Wachen in Alarmbereitschaft versetzt. Wenn ein Angriff kam, dann kam er schnell. Die übliche Taktik war, daß ein Pirat seine Beute genau anpeilte, den Sternenantrieb einschaltete und aus dem Normaluniversum verschwand, um dann in größtmöglicher Nähe seines Opfers wieder aufzutauchen. Die Vorwarnzeit betrug gewöhnlich keine Minute. Grax und ich hielten die erste lange Wache, dann eine zweite und dritte, doch nichts geschah. Commander Voit versicherte den Skarabäern mehrfach, daß wir in kürzester Zeit wieder Lichtgeschwindigkeit aufnehmen würden, doch zur Mannschaft sagte er das nicht. In Wahrheit kam er mit der Reparatur
mehr schlecht als recht voran, und dabei wußte er natürlich, daß unsere Lage mit jeder Minute, die wir bei dieser Geschwindigkeit hier verbrachten, bedrohlicher wurde. Während der vierten Wache erschien ein Schiff auf dem Orterschirm. Grax schlug Alarm, und die Wachen rannten zu ihren Verteidigungsposten, und wir warteten darauf, daß der blasse Lichtpunkt erlosch, um Sekunden später unmittelbar vor uns wieder aufzutauchen. Doch der Lichtpunkt verschwand nicht. Er war von achtern gekommen, bewegte sich nun mit gleichbleibender Geschwindigkeit annähernd parallel zu unserem Kurs und näherte sich langsam. Voit prüfte die Ortungsergebnisse, fluchte vor sich hin, um schließlich fassungslos die stämmigen Arme hochzureißen. »Das gibt's doch nicht!« brüllte er. »Es ist ein Raumschiff und muß feindlich sein. Trotzdem schleicht es so langsam dahin, daß es erst in vier Stunden in unsere Nähe kommen wird. Kein Piratenschiff verhält sich so!« »Vielleicht ist es kein Pirat«, meinte ich. »Ausgeschlossen. Das letzte Linienschiff in diesem Sektor ist vor zwei Monaten zurückgekehrt, und das nächste ist erst in einem knappen Jahr fällig.« »Könnte es vielleicht ein Meteor sein, Sir?« fragte ein Besatzungsmitglied.
Voit schnaubte wütend und zeigte auf die Instrumente. »Kein Meteor hat jemals solche Daten geliefert. Das ist ein Raumschiff. Es kann kein Freund sein und verhält sich nicht wie ein Feind. Was also ist es?« Die Frage konnte und wollte ihm niemand beantworten. Wir wandten uns wieder dem Orterschirm zu, die anderen Wachen blieben auf Verteidigungsposten, und wir warteten ab. Der kleine Lichtpunkt wuchs langsam heran und kam schließlich in Teleskopreichweite, so daß wir ihn genauer betrachten konnten. Grax stieß einen leisen Pfiff aus. »Das Schiff ist alt, Del. Soviel kann ich dir sagen. Ein uraltes Schiff.« »Wie alt?« Er starrte auf den Bildschirm, die Stirn gerunzelt, als denke er angestrengt nach. »Frühe Zweite Phase, würde ich sagen. Siehst du die Bullaugen am Bug? Die wurden gegen Mitte der Zweiten Phase abgeschafft. Onkel George hat mir davon erzählt. Das Ding muß dreihundert Jahre alt sein.« Voit trat zum Bildschirm, betrachtete das Schiff und nickte. »Ein Wrack. Jetzt wissen wir Bescheid. Na, das macht uns keinen Kummer. Noch mal Glück gehabt.« Er rief die Wachen zusammen und setzte sie über unser Nachbarschiff ins Bild. Anschließend trug er uns auf, weiterhin den Orter zu beobachten. Als er
ging, um die Reparaturarbeiten fortzusetzen, kam mir plötzlich eine verrückte Idee. Ich rief ihm nach. »Was willst du, Whitby? Faß dich kurz«, sagte er. »Ich melde mich freiwillig, an Bord des Wracks zu gehen, Sir.« »Du bist wohl übergeschnappt. Wir sind hier nicht auf Souvenirjagd. Wir geben uns alle Mühe, die Antriebsspule hinzukriegen, um mit heiler Haut nach Beckley zu gelangen. Diese alten Kähne bringen sowieso nur Unglück. Schlag es dir aus dem Kopf.« »Aber das Wrack könnte Sachen an Bord haben, die wir brauchen – Werkzeuge, Handbücher, vielleicht sogar eine Ersatzspule.« Voit hob die Hand, deutet mit einem seiner dicken Stummelfinger auf mich, kniff dann jedoch die Brauen zusammen und schien angestrengt zu überlegen. Schließlich stupste er mich gegen die Schulter und lachte laut. »Du bist gar nicht so dumm, Whitby. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber die Möglichkeit besteht. Das Antriebsprinzip ist dasselbe; die Ersatzteile würden also passen – wenn sie während der ganzen Jahrhunderte nicht verrottet sind. Und wenn Werkzeuge da sind ... Also gut, du kannst dich schon vorbereiten. Sobald das Wrack in Reichweite ist, schicke ich dich und zwei Techniker hinüber.« »Wie wäre es mit Grax, Commander?« »Kann ihn nicht entbehren. Los, mach dich fertig.«
15
Ich entere die ›Phoenix‹ XXVII und bekomme eine Mannschaft
Eine Stunde später, als das herrenlose Schiff in Reichweite war, verließ ich die Antap. Ich hoffte tatsächlich – wie ich Voit gesagt hatte –, die richtige Ausrüstung zur Durchführung der Antriebsreparatur zu finden, aber gleichzeitig wollte ich sehen, ob ich an Bord des Wracks nicht etwas lernen konnte. Denn hier war eine Gelegenheit, die sich nur wenigen Menschen bot. Ich konnte durch ein Schiff wandern, das seit mehr als drei Jahrhunderten im All trieb, durch eine Schatzkammer, die all jenes Wissen beherbergte, das verlorengegangen war, als die Menschen während der letzten Phase galaktischer Kolonisierung aufbrachen und sich auf so fernen Sternen niederließen, daß die alten Bande zerrissen und die alten Bräuche in Vergessenheit gerieten (allerdings hatte ich zu diesem Zeitpunkt wohl noch keine ganz so klare Vorstellung von diesem Vorgang). Ich hatte noch eine andere Idee im Hinterkopf, aber die behielt ich für mich. Ich versuchte sogar, sie von mir zu schieben, weil sie allzu abenteuerlich war. Doch sie ließ sich nicht verdrängen. Die lautlose Reise über den Abgrund zwischen der Antap und dem Wrack, der Phoenix XXVII, war schon unheimlich genug, aber nichts im Vergleich zum er-
sten Schritt in die Luftschleuse und dann in den Bauch eines Totenschiffes, das aus dem Nichts kam und in die Vergessenheit reiste, mit einer Fracht trokkenen Staubs an Bord. Die Gespenstergeschichten der Poeisten und Lovecrafter spukten mir ohnehin noch im Kopf herum, und als ich den Kontrollraum betrat und die Skeletthände sah, die noch auf den Instrumenten ruhten, hätte ich mein Vorhaben fast aufgegeben. Doch ich sagte mir immer wieder, daß dies mein Schiff sein könnte, meine Transportmöglichkeit durch den Leerraum zwischen hier und Gilead, und das gab mir den nötigen Mut zurück. Die Techniker hatten sich sofort in den Maschinenraum begeben, und nachdem ich den Kontrollraum nach Sternkarten und Navigationsinstrumenten durchsucht hatte, ging ich zu ihnen. Unterwegs überprüfte ich die Vorratslager; es war genug für eine lange Reise vorhanden, und alles war noch in gutem Zustand. Meine Idee nahm langsam konkretere Formen an. Die Techniker stöberten alles durch, suchten nach den Ersatzantriebsspulen, die jedes Schiff mit sich führte – die auch die Antap mit sich geführt hätte, wenn Voit den dafür vorgesehenen Lagerraum nicht den Pilgern vermietet hätte –, doch ohne Erfolg. Ich blieb ihnen dicht auf den Fersen und quälte sie mit Fragen, und die Antworten waren allesamt ermuti-
gend. Die Maschinenanlagen waren noch funktionstüchtig, nur der Antrieb war defekt. Hier waren Reparaturen erforderlich, die viel Zeit und harte Arbeit kosten würden, doch man konnte dieses herrenlose Schiff wieder auf Sternengeschwindigkeit bringen. Reparaturanleitungen, Ersatzteile und Werkzeuge waren vorhanden. Als ich das hörte, faßte ich meinen Entschluß. Einer der Techniker riß eine Tür auf und stieß einen Freudenschrei aus. In einem kleinen Lagerraum befanden sich vier Ersatzantriebsspulen, Standardmodelle der Zweiten Phase, die für die Antap geeignet waren. Die beiden Techniker bugsierten eine heraus und machten sich damit auf den Weg zur Luftschleuse. Als sie in der Schwärze des Weltraums verschwanden, verriegelte ich das Schott von innen. Als der letzte Bolzen einrastete, wurde ich Commander Whitby, Herr der Phoenix XXVII. Ich war alleiniger Eigentümer und Operateur. Und die ganze Mannschaft. Und einziger Passagier. Als mir das durch den Kopf ging und ich an die vielen Monate der Einsamkeit im All dachte, die vor mir lagen, war ich einen Moment lag versucht, das Schott wieder aufzureißen und den Technikern nachzueilen. Aber dann dachte ich an Gilead und Cassie und wußte, daß ich hierbleiben mußte. Ich konnte mir gut vorstellen, was Voit drüben auf
der Antap zu meiner Desertion sagte, doch ich wußte, daß er mich auf keinen Fall zurückbeordern würde. Er war so schon gefährdet genug und konnte es sich nicht leisten, auch noch durch Funksprüche auf sich aufmerksam zu machen. Vermutlich verwünschte er mich in sämtlichen Sprachen der Galaxis, aber er würde es mich um keinen Preis hören lassen. Ich war endgültig abgeschrieben. Ich hatte kein schlechtes Gewissen, weil ich ihn im Stich ließ. Mit der neuen Spule konnte die Antap den restlichen Weg nach Beckley mit einem Sprung schaffen, folglich wurde ich nicht mehr gebraucht. Außerdem hatte ich nicht einen Sput von meinem Lohn kassiert. Wir waren quitt. Ich machte mich sofort an die Arbeit. Trotz der langen Zeit war die Atmosphäre der Phoenix noch atembar, und ich konnte den Raumanzug ablegen und ging zum Maschinenraum. Meine erste Aufgabe war es, das Schiff wieder dahin zu bringen, daß es Sternengeschwindigkeit aufnehmen konnte. Danach mußte ich herausfinden, wie man es steuerte. Da ich alles von Grund auf lernen mußte, war es schon viel, wenn ich eins nach dem anderen tat. Die alten Handbücher waren so leicht verständlich, daß sogar ich in kurzer Zeit begriff, wie ich die Sache anzupacken hatte. Vermutlich war das notwendig – es konnte ja sein, daß die Besatzung bei einem Un-
glück ums Leben kam und die Passagiere dann auf sich selbst angewiesen waren. Ich untersuchte das Antriebsaggregat von einem Ende zum anderen, entdeckte den Schaden und suchte mir die nötigen Werkzeuge und Ersatzteile zusammen. Es würde eine lange und schwere Arbeit für nur einen Mann werden, aber es war zu schaffen. Ich hätte am liebsten gesungen. Ich sang dann auch, jedenfalls eine Weile, aber dann fand ich, daß Singen in diesem Totenschiff irgendwie fehl am Platz war, und hörte auf. Als ich zu müde war, um noch weiter zu arbeiten, machte ich mir Essen und ging anschließend in die Kapitänskabine, um zu schlafen. Ich hatte Schwierigkeiten beim Einschlafen, aber schließlich gelang es mir doch. Als ich erwachte, war die Antap noch da, ein blasser, silberner Fleck in der Ferne. Ich verzehrte eine leichte Mahlzeit und machte mich wieder an die Arbeit. Als ich später noch einmal nachschaute, war sie immer noch da, und während ich hinübersah, verschwand sie plötzlich. Der Antrieb war repariert, und sie war wieder unterwegs. Nun war ich wirklich allein. Ich hatte nicht erwartet, daß der Anblick mich so erschüttern würde. Doch ich stand lange Zeit vorm Bullauge und schimpfte mich unzählige Male einen Narren. Nun erst wurde mir klar, was ich viel früher hätte erkennen müssen: wenn es der Besatzung nicht
gelungen war, ihr Schiff zu reparieren, dann würde ich es erst recht nicht schaffen. Und selbst wenn ich es doch irgendwie fertigbrachte, wie sollte ich nach Gilead finden? Und was geschah, wenn Piraten oder Banditen hier aufkreuzten und nachsehen wollten, ob der alte Kahn vielleicht noch wertvolle Dinge an Bord hatte? Wie sollte ich mich wehren, wenn ein Rinnschiff auftauchte? Ich hatte mich auf ein selbstmörderisches Unternehmen eingelassen, das Verrückteste getan, was ein Mensch nur tun konnte: mich freiwillig den Gefahren des Weltalls ausgesetzt. Das konnte nicht gutgehen; zweifellos stand mir ein schreckliches Ende bevor, und ich hatte es vollauf verdient. Und dann sah ich in der Ferne, an der Stelle, wo die Antap sich befunden hatte, einen winzigen Lichtfleck, der vorher nicht dagewesen war. Er kam näher, wurde langsam größer, und nach einiger Zeit konnte ich erkennen, daß es sich um einen Mann in einem Raumanzug mit Antriebsdüsen handelte. Ich winkte ihm begeistert durchs Bullauge zu, lief zur Luftschleuse, um sie zu entsichern, dann wieder zurück zum Bullauge und sah gerade noch, wie mein Besucher sich am Außenschott festklammerte. Ich glaube, ich war noch nie so glücklich im Leben wie damals, als Grax mein Schiff betrat. »Ich dachte mir, du könntest vielleicht Hilfe brauchen, Del«, sagte er, während er den Raumanzug ab-
legte. »Ich schlich mich von der Antap, kurz bevor sie Lichtgeschwindigkeit aufnahm.« »Ich hab mir'n Schiff angeschafft, Grax. Hast du Lust, anzuheuern?« »Kannst du's denn wieder in Gang bringen?« »Ich denke schon.« »Genug Essen da?« »Jede Menge.« Grax nickte bedächtig. Unter den gegebenen Umständen hatte er keine große Wahl, aber übereilte Entscheidungen lagen ihm nun einmal nicht. Schließlich sagte er: »Na ja, ich denke, ich versuch's mal auf der Phoenix. Am besten, wir sehen sie uns mal an.« Ich erklärte den Tag auf der Stelle zum Feiertag, und Grax und ich begannen die Phönix von einem Ende zum anderen zu durchforschen. Wir waren so aufgeregt wie zwei Kinder, die ein neues Spielzeug ausprobierten, und selbst die teilweise zerfallenen Skelette, die wir in den meisten Kabinen entdeckten, konnten unseren Frohsinn nicht lange trüben. Woran die Besatzung und die Passagiere der Phoenix gestorben waren, erfuhren wir nie, aber wir hatten den Eindruck, daß ihr Tod rasch und unerwartet gekommen war. Wir taten unser möglichstes, nicht darüber nachzudenken.
16
Ich beginne Geschichte zu lernen; Kurs auf Tricaps; Wroblewskis letzte Botschaft
Grax kannte sich ein bißchen mit der Reparatur von Antrieben aus, und dieses bißchen war so viel mehr, als ich wußte, daß ich die Arbeit ihm übergab und ihm nur zur Hand ging, wenn er mich brauchte; ansonsten überließ ich ihn ganz sich selbst. Fortan verbrachte ich meine Zeit zum überwiegenden Teil im Kontrollraum und lernte soviel wie möglich über die Bedienung eines Raumschiffs und die Grundlagen intersystemarer Navigation. Wenn ich nicht damit beschäftigt war, las ich, was mir sonst in die Hände fiel, und ich lernte eine ganze Menge – mehr als ich in einem zehnmal dickeren Buch als diesem darlegen könnte. Als erstes sah ich mir das Logbuch der Phoenix an. Ich schlug es auf einer Seite mit dem Datum 21. 7. 2373 auf und las: »In der Galaxis geht ein ewiger Blutregen nieder, vergossen von der barbarischen Hand des Menschen.« Das erinnerte mich unangenehm an einige der bösen Träume, die mich im Krankenhaus auf Vigrid geplagt hatten. Ich legte das Log beiseite und wandte mich anderen Werken zu. Das Schiff besaß eine ansehnliche Tonband- und Visiprismenbibliothek, die ich vollständig durchging, doch mein Hauptinteresse galt den Büchern. Es wa-
ren echte alte Bücher von der Erde, noch auf Papier gedruckt – seltene Kostbarkeiten in der heutigen Galaxis. Ich hatte nirgendwo etwas Vergleichbares gesehen, ausgenommen Das Buch von der Reise auf Gilead, und das war Jahrhunderte alt. Ich lernte vieles über das Leben auf der Erde während der Blutigen Jahrhunderte und der ersten Jahrhunderte galaktischer Raumfahrt, aber ich las auch viel Verwirrendes. Lieblingsthema der irdischen Buchautoren schien die Politik zu sein, die in ihren Werken breiten Raum einnahm. Je mehr ich über altirdische Politik las, desto besser gefiel mir jene Definition, die Raphanus mir gegeben hatte. Mit seinem einfach Beispiel hatte er alles Wesentliche darüber ausgesagt. Die Definition von Politik war nicht die einzige Ungereimtheit in den Büchern. Es schien, als könnte man sich einfach nicht über die Tatsache einig werden. So führten die Autoren ganz unterschiedliche Gründe für die Chinesisch-Afrikanischen Kriege und den Zweiten Holocaust an. Alle schrieben, daß die Bevölkerungen der atlantischen Küstenstädte gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts vom sogenannten Todesnebel ausgelöscht wurden, aber während manche ihn als Umweltkatastrophe bezeichneten, brandmarkten andere ihn als Sabotage- oder Aggressionsakt. Jene Autoren, die von Sabotage oder Aggression sprachen, konnten sich nicht über die Urhe-
ber oder den Grund für den Anschlag einigen. Man war sich sogar uneins über den richtigen Namen des Mannes, der die Geschichte verändert und der Erde einen tödlichen Aderlaß beigebracht hatte. Er hieß unstrittig Wroblewski, aber sein Vorname war bei keinen zwei Historikern derselbe. Gegen Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts erfand Wroblewski den Sternenantrieb und ebnete damit den Weg in die Galaxis. Wroblewski war Pole, gebürtig an einem Ort namens Polen auf der Erde. In manchen Büchern fand sich die Behauptung, das sei eine Universitätsstadt irgendwo in den Vereinigten Russisch-Chinesischen Republiken; andere deklarierten Polen als Teil der Neu-Europäischen Volksdemokratie, während die restlichen erst gar keinen Versuch zur Ortsbestimmung machten. Wie schon gesagt, die irdische Geschichte, insbesondere die Zeit der Blutigen Jahrhunderte, ist von Ungereimtheiten und Widersprüchen geprägt. Schon vor dreihundert Jahren gab es nicht mehr viele Unterlagen. Die Erde schien niemandem mehr viel zu bedeuten; nur Historiker und andere Gelehrte brachten noch einiges Interesse auf, und auch sie gaben sich anscheinend mit Hypothesen und Spekulationen zufrieden. Heute ist dieses Interesse total erloschen. Man könnte fast meinen, die menschliche Rasse versuche ihre Frühgeschichte ganz und gar von sich zu schieben, wenngleich im Gegen-
zug jeder Planet für seine Gesellschaftsform den Anspruch erhebt, nur sie allein entspreche der wahren irdischen Tradition, alle anderen dagegen seien Betrug. Aber auf diesen Punkt näher einzugehen, erscheint mir müßig. Der Wroblewski-Antrieb führte dazu, daß die Menschheit fremde Sterne eroberte, noch ehe sie ihr eigenes Sonnensystem hinreichend erforscht hatte. Es hatte ein Dutzend Marsexpeditionen gegeben, eine gescheiterte Venuslandung und ein paar Versuche, die anderen Planeten zu erkunden, aber die Raumforschung wurde fortlaufend von Kriegen unterbrochen. Nach dem Ende dieser blutigen Auseinandersetzungen waren die Überlebenden stets gezwungen, ganz von vorn anzufangen. Das Leben auf der alten Erde muß schon entmutigend gewesen sein. Als dann der Antrieb erfunden wurde, verloren die Menschen das Interesse an den Planeten ihres Systems. Wenn hunderttausend Lichtjahre mit unzähligen Sonnen und Welten warten, kommt es auf ein paar unerforschte Planeten nicht an. Sie sollen ohnehin nicht sehr einladend gewesen sein. Jenseits des Heimatsystems gab es Planeten genug; man brauchte nur danach zu greifen. Jedem, der das Geld für ein Schiff mit Sternenantrieb zusammenkratzen oder seiner Regierung eins stehlen konnte – wie Wroblewski –, stand es frei, sich eine eigene Welt
zu suchen und darauf zu tun, was ihm beliebte – vorausgesetzt, er fand eine, was nicht immer leicht war. Projekte, den Antrieb zunächst mittels unbemannter Raumsonden zu testen, wurden aufgegeben. Die Eroberung des Weltalls war greifbare Realität geworden, und niemand wollte auf die heile Rückkehr eines instrumentierten Testpakets warten. Der Drang zu den Sternen war stärker als die Furcht vor möglichen Gefahren. Und deren gab es viele. In jenen Tagen existierten keine zuverlässigen Sternkarten – wer sich auf das vorhandene Material verließ, konnte ebensogut blind fliegen, denn wer hier draußen ist, macht schnell die Feststellung, daß das Weltall anders aussieht und sich anders verhält, als man es sich in der Geborgenheit seiner Heimatwelt vorstellt –, und beim Navigieren wurde schlicht über den Daumen gepeilt und im übrigen aufs Glück vertraut. Diese Methode hatte in rund vierzig von hundert Fällen Erfolg. Viele der ersten Pionierschiffe verglühten in Sonnen oder zerschmetterten auf Riesenplaneten, deren Schwerkraft sie mit unwiderstehlicher Gewalt in den Tod riß. Andere wie die Phönix XXVII trieben jahrhundertelang im Weltall, ohne jemals mit einem Himmelskörper in Berührung zu kommen. Die Sternkarten sind auch heute noch unzulänglich, obgleich dreihundert Jahre vergangen sind. Die Menschen haben begriffen, daß die größte Sicherheit
im verborgenen liegt. Zu Anfang klebten sie regelrecht aufeinander, wollten sich mit ihrer neuen Umgebung vertraut machen – wie eine Schar Kinder, die ein großes, unbekanntes Haus erkundet. Doch nach einem Jahrhundert fühlten sie sich erneut eingeengt, und eine zweite Auswanderungswelle setzte ein. Viele Siedler blieben, wo sie waren, aber vor allem die jungen zog es in die Ferne, und sie machten sich davon, so schnell sie konnten. Die Raumschiffe der Zweiten Phase brachten es auf zehnfache Lichtgeschwindigkeit, fast das Vierfache dessen, was man aus den ersten Wroblewskis hatte herausholen können. Und diesmal gaben die Auswanderer kein Reiseziel an und schickten auch keine Grußbotschaft, wenn sie schließlich irgendwo gelandet waren. Danach erlebte die Reisetätigkeit in der Galaxis einen rapiden Abschwung. Die Raumschiffindustrie siechte dahin, denn ihre Kunden waren längst zwischen den Sternen verschwunden. Die Raumakademien wurden mangels Bewerbern geschlossen. Die Phoenix XXVII muß eines der letzten Schiffe gewesen sein, die während der Zweiten Phase gebaut wurden und sich diesem endgültigen Exodus anschlossen. Je mehr ich las, desto mehr Stoff zum Nachdenken bekam ich und desto mehr wollte ich wissen. Ich lernte soviel auf einmal, daß ich meinte, der Kopf müsse mir platzen, und manche Dinge waren schier über-
wältigend. So hatte ich beispielsweise nie eine rechte Vorstellung davon gehabt, welch kolossale Entfernungen bei galaktischen Reisen zurückzulegen waren und welch ungeheure Geschwindigkeiten dabei auftraten. Als ich, einem Buchverweis folgend, mich einmal daranmachte und die Strecke errechnete, die ein Schiff bei zehnfacher Lichtgeschwindigkeit während einer Sechsjahresreise zurücklegte, starrte ich eine volle Minute fassungslos auf das Resultat, ging meine Berechnungen noch einmal durch, dann ein zweites und drittes Mal, bis ich schließlich wußte, daß die fünfzehnstellige Zahl, dreihundertfünfzig Millionen Millionen und ein paar zerquetschte Meilen, stimmte. Die Galaxis war unvorstellbar groß. Und inmitten dieses gigantischen Gebildes war Del Whitby, ehemaliger Farmer, der Krieger, dann Raumschiffswache wurde und nun zum Mechaniker, Navigator und Kommandanten eines Jahrhundert alten Relikts aus der Zweiten Phase avanciert war, auf der Suche nach einem Planeten, der auf keiner der Karten der Phoenix verzeichnet war, wo er seine Braut abholen und sich anschließend dem noch aussichtsloseren Unterfangen zuwenden wollte, eine Welt aufzustöbern, die irgendwo in der Unendlichkeit liegen mochte. Ich war unwiderruflich und hoffnungslos verrückt. Und nachdem mir diese Erkenntnis gekommen war, setzte ich meine Studien fort. Mit meinem
Wahnsinn mußte ich mich abfinden, doch gegen meine Unwissenheit konnte ich etwas tun. Zum Beispiel machte ich die interessante Entdekkung, daß Poe, der große Prophet der Skarabäer, überhaupt kein Prophet war. Er war bloß Schriftsteller, vergleichbar den heutigen Barden, die von System zu System ziehen und sich Passage und Lebensunterhalt damit verdienen, daß sie alte Sagen und Legenden erzählen und zu beliebigen Anlässen Lieder und Gedichte improvisieren. Der große Unterschied lag darin, daß Poe seine Legenden zu Papier brachte. Jahrhunderte nach seinem Tod stöberte dann jemand sein Buch auf und deklarierte es als ein Werk mystischer Prophezeiung. Das war mindestens ebenso verrückt wie das, was ich tat, überlegte ich. Nach dieser Feststellung war mir wieder wohler. Es war schon komisch, manchmal auch ein wenig traurig, nachzulesen, welche Vorstellungen die Menschen von galaktischer Raumschiffahrt hatten, als sie sich noch weit davon entfernt glaubten, und auch später noch, in der Anfangsphase intersystemarer Reisen. Man war einhellig der Auffassung, die Menschen würden, sobald die Sterne in Reichweite rückten, ein ordentliches, diszipliniertes Volk sein, klarsichtige Experten in geschniegelten Uniformen, die jedermann an Bord mit »Sir« anredeten und sich die Anstandsregeln eines Buches zu eigen machten, das
damals zwar nicht existierte, aber bestimmt noch verfaßt werden und von moralisch tiefsinnigen und allumfassenden Einsichten zeugen würde. Alles würde perfekt und wie am Schnürchen laufen. Dachte man. Aber es kam ganz anders. Dieses Handbuch galaktischer Umgangsformen wurde nie geschrieben. Kein Mensch hatte Zeit dazu. Nach seiner Entdeckung wurde der Wroblewski-Antrieb von der Regierung, die über Polen herrschte, erst einmal geheimgehalten. Die altirdischen Regierungen pflegten solche Maßnahmen zu ergreifen, und schlimmere, wenn auch nur die Hälfte der Berichte die Wahrheit sagen. Doch einige Jahre später, kurz bevor er ein Raumschiff in seine Gewalt brachte und zu den Sternen flog, schickte Wroblewski seine Formel an Wissenschaftler in allen Nationen der Erde. Innerhalb eines Jahres wurden weltweit Sternenschiffe gebaut und alles drängte in die große Leere, die draußen wartete. Nach einem Jahrzehnt war die Erde kaum mehr als eine menschenleere, heruntergekommene Betonwüste, in der nur noch jene hausten, die zu alt, zu müde, zu ängstlich oder argwöhnisch waren, Menschen, deren ewiges Schicksal es ist, wie Pilzgewächse an alten, verrottenden Welten zu kleben. Es gab wenig, was die Menschen auf der Erde hätte halten können. Während der zwei Jahrhunderte vor Wroblewskis Lebzeiten hatten sie den Planet mit ihren fortwährenden
Kriegen verwüstet, ihn mit ihrem eigenen Dreck verseucht, über den Trümmern häßliche Gebäude entstehen lassen, die sie mit Menschen vollstopften, um das Spiel dann wieder von vorn zu beginnen. Wroblewski hatte den Erdenmenschen eine Tür aufgestoßen, und sie trampelten einander fast nieder, um hindurch zu gelangen, ehe ihre Regierungen sie wieder zuschlagen konnten. Dabei waren die Sterne ihnen noch keineswegs sicher. Wie ich schon sagte, eine solche Reise war gefährlich und dauerte lange. Aber immerhin konnte ein Schiff, das die andere Seite der Galaxis ansteuerte, sein Ziel in weniger als der Lebensspanne eines Menschen erreichen, und das erschien den meisten zufriedenstellend. Nachdem die Schranke der Lichtgeschwindigkeit einmal durchbrochen war, konnte nichts die Menschen mehr halten. Bis sie schließlich selbst hielten. Das war wieder so eine falsche Vorstellung, die Idee nämlich, daß der Mensch, sobald er der Erde den Rücken kehrte, nichts anderes im Sinn haben würde, als den Rest seines Lebens von Stern zu Stern zu ziehen. Damals ahnte man nicht, wie langweilig eine Intersystem-Reise sein kann – wenn sie nicht das Gegenteil, nämlich entsetzlich ist – und daß die meisten Menschen es nach den Monaten der Langeweile respektive des Entsetzens vollauf zufrieden sein würden, auf dem ersten Plane-
ten mit einigermaßen erträglichen Lebensbedingungen zu landen und sich dort niederzulassen. Die Raumschiffahrt in der heutigen Galaxis – viel gibt es nicht mehr – dient überwiegend dem Handel, mindestens die Hälfte davon illegalem; ansonsten lassen die Berufskrieger der Expedition da und dort einmal die Muskeln spielen, um irgendwelche Rinn zu beeindrucken, die vielleicht gerade zusehen. Aber die meisten Pioniere sehnten sich nach einem friedlichen Heim statt nach einem abenteuerlichen Leben. Wenn sie gefunden hatten, was sie suchten, siedelten sie sich an und überließen die Raumfahrt jenen, die noch irgendeinem Ziel nachjagten. Die Siedler lebten lange Zeit unter sich hier draußen im Weltall, und als sie schließlich Gesellschaft bekamen, waren sie ein wenig enttäuscht. Die anderen intelligenten Rassen der Galaxis waren den Menschen der Erde ziemlich ähnlich. Wer immer das Universum zusammengesetzt hat – zumindest den Teil davon, der unsere Galaxis birgt –, schien der Ansicht gewesen zu sein, daß man Intelligenzwesen am besten nach einem Grundmodell konstruiert, bei dem man auch bleibt, und lediglich geringfügige Modifikationen zuläßt, um besonderen lokalen Gegebenheiten zu entsprechen. Die einzige Ausnahme, die mir je begegnet ist, waren die Crevniten. Die Pioniere entdeckten keine überdimensionalen Amöben, keine
denkenden Energiewolken oder philosophierende Pflanzen; sie fanden nur tausend Versionen des warmblütigen, lebendgebärenden, aufrechtgehenden, vierfüßigen Säugetiers namens Mensch vor. Es gab sie in den unterschiedlichsten Körpergrößen: vom schlaksigen, spindeldürren, drei Meter hohen Lixianer, der sich am Knie kratzen konnte, ohne den Rükken krumm zu machen, bis zum flinken, gerade kniehohen Quipliden. Der einen Rasse wuchsen aus den Schultern anstelle von Armen vielleicht einige biegsame Tentakel, die andere mochte einen Greifschwanz besitzen, die nächste wiederum zwei zusätzliche Daumen oder Schwimmfüße, doch alles in allem waren die Rassen der Galaxis eine homogene Brut. Wie so mancher abenteuerlustige Pionier der Frühzeit feststellte, waren sie sogar homogen genug, um sich erfolgreich kreuzen zu können, was sie übrigens auch taten. Manche Philosophen unserer Tage sind der Ansicht, dieser endgültige, unwiderlegbare Beweis universaler Verwandtschaft sei dafür verantwortlich, daß die Menschheit ihre Jahrhunderte alte Gewohnheit, gegeneinander Krieg zu führen, abgelegt hat. Vielleicht haben sie recht damit, aber ich habe ein paar eigene Vorstellungen zu diesem Punkt. Ich bin kein Philosoph, doch ich habe einiges von der Galaxis gesehen und viele fremde Völker kennengelernt.
Mein Eindruck ist, daß die Menschen weder besser noch weiser, weder liebevoller noch gütiger als früher sind; sie haben einfach Angst, allein zu sein. Pasquale Galileo*, eines der großen Genies der Erde, sagte einmal: »Die ewige Stille dieser unendlichen Räume erschreckt mich«, und das gilt heute genauso wie damals in der Renaissance, wie das neunzehnte Jahrhundert auf der Erde genannt wird. Heutzutage, wo die Menschen zwischen den Sternen versprengt leben, spüren sie die Bande des Blutes wieder stärker. Sie befürchten, sich vielleicht allein in einer riesigen, unfreundlichen Galaxis wiederzufinden, wenn sie zu viele ihrer Artgenossen umbringen, und dieser Gedanke erschreckt sie. Und die Rinn erschrecken sie noch mehr. Niemand weiß, wer oder was die Rinn sind, doch es ist schlüssig nachgewiesen worden, daß sie Menschen, Humanoiden und deren Verbündete nicht mögen. Das schließt auch mein Volk, die Malellanen, ein, von dem anscheinend nur weniges bekannt ist. Vielleicht war es dieses fehlende Wissen über die Ma* Wissenschaftler und Begründer der Bewegungslehre im späten Cäsarisch-Etruskischen Reich; Erfinder des Fernrohrs und Autor eines Buches von Maximen mit dem Titel Pasquales Pen-Says oder Pasquales Pansies, das sich mit den philosophischen und theologischen Folgerungen eines unendlichen Universums auseinandersetzt.
lellanen, das mich veranlaßte, irdische Geschichte zu studieren. Seit dem Aufenthalt auf der Phoenix fand ich noch mehrfach Grund, mich für dieses Thema zu interessieren, aber damals könnte ich den eigentlichen Anstoß erhalten haben. Wie dem auch sein, die Rinn bleiben ein großes Rätsel. Es gab nur wenige Menschen, die über die Randsysteme (man glaubt, daß »Rinn« eine Verballhornung von »Randvolk« darstellt) hinaus vordrangen, und sie stießen dort auf Dinge, die sie nicht erklären konnten und auch nicht näher untersuchen wollten. Denn wer die Korridore auf Clotho und die Wandinschriften auf Skix studiert, läuft Gefahr, den Verstand zu verlieren. Man stellte diese Planeten unter Quarantäne, und niemand, auch kein Piraten- oder Banditenschiff, landet auf ihnen. Die vorherrschende Meinung ist, daß diese Welten Stützpunkte oder Vorposten der Rinn waren, denn kurz nachdem Menschen erstmals auf ihnen gelandet waren, setzten die Überfälle der Rinn ein, die schließlich zur Konfrontation im Großen Rinn-Krieg führten. Das war vor ungefähr zehn Jahren GSK. Seither hat die Lage sich wieder beruhigt, zu größeren Zusammenstößen kommt es nicht; dennoch weiß niemand, wo die Rinn stecken oder was sie planen, und allerorts wird geargwöhnt, daß einmal der Tag kommen könnte, an dem wir jede Hand brauchen, wenn wir unsere Galaxis retten wollen.
Was nun auch der Grund dafür sein mag, jedenfalls bringen wir einander nicht mehr massenweise um, wenngleich wir das Töten in kleinerem Maßstab fortsetzen – sei es zu Volksbelustigung wie auf Tarquin oder aus Rassenstolz wie auf Vigrid. Der Weltraum setzt eine Grenze, hinter der das Gesetz zumeist aufhört. Wer sich hier draußen Recht verschaffen will, braucht eine Pistole, genau wie während der Blutigen Jahrhunderte auf der Erde. Gesetze in galaxisweitem Maßstab durchzusetzen, ist ein schwieriges Unterfangen, und niemand gibt sich große Mühe. Die Galaxis ist einfach zu weit, zu ausgedehnt und voll von Verstecken. Kommunikation zwischen den Welten findet kaum statt, und die Menschen auf einem Planeten kümmert es wenig, was andernorts vorgeht, zumindest, solange sie von den Rinn nichts hören. Das erleichtert Sklavenhändlern, Piraten und Banditen natürlich ihr Geschäft, und ehrliche Raumreisende sind dadurch mannigfaltigen Gefahren ausgesetzt. Wie gesagt, wer sich Recht verschaffen will, muß eine Pistole bei sich haben, und die meisten tragen aus einem unerfindlichen Grund, der vielleicht mehr mit Nostalgie zu tun hat, als wir uns eingestehen, einen sechsschüssigen Revolver an der Hüfte. Ich selbst habe zwei, und ich bin gut damit. Diese Waffenart setzte sich in der Frühphase der Raumschiffahrt durch. Einige spektakuläre Ereignisse
machten nämlich deutlich, daß die Handlaser, die während des einundzwanzigsten Jahrhunderts gebräuchlich waren, in den Antriebsspulen eine Reaktion hervorriefen, die ein Sternenschiff in eine winzige Supernova verwandelte. Für die Erdenmenschen war es undenkbar, unbewaffnet auf Reisen zu gehen, und Messer, Schwert, Pfeil und Bogen erschienen ihnen auf einem Sternenschiff fehl am Platz. Eine Zeitlang war man ratlos. Dann rief ein geschichtsbewußter Waffenkundler den sechsschüssigen Revolver wieder ins Leben, und der wurde rasch zur Standardausrüstung im Weltall wie auch auf Planetenoberflächen. Wer also meint, einen Vorwand zu brauchen, kann auf diesen Sachzwang verweisen. Aber ich meine trotzdem, daß die Popularität des sechsschüssigen Revolvers viel mit Nostalgie zu tun hat. Während ich mich mit den Studien befaßte und Grax handwerklich tätig war, gingen die Wochen in der Phönix XXVII rasch dahin. Als Grax den Antrieb soweit repariert hatte, daß nur noch einige Feineinstellungen vorgenommen werden mußten, verstand ich mittlerweile genug von Navigation, um uns auf einen Kurs nach Tricaps bringen zu können. Das war ein Handelsaußenposten, wo wir dieses Relikt verkaufen wollten, um dafür einen Hochgeschwindigkeits-Kreuzer der Rinn-Expedition aus der Dritten Phase zu erstehen. Der Sprung zu Sternengeschwin-
digkeit ging ohne Komplikationen vonstatten, und aus einer verrückten Idee war Wirklichkeit geworden. Ich war auf dem Weg nach Hause mit Grax als Gast. Kurz bevor wir mit dem Landemanöver begannen, las ich ein Buch, das ich nie vergessen werde. Es handelte von der Frühgeschichte der Raumschiffahrt und enthielt die letzten bekannten Worte Wroblewskis, die zwei Jahre nach seiner Flucht von irgendwo aus dem Weltall empfangen wurden. Es waren zwei Botschaften, die in fünfminütigem Abstand eintrafen. Die erste lautete: »Ich gab euch den Schlüssel. Benutzt ihn oder fahrt zur Hölle.« Nach einer Pause kamen seine letzten Worte an: »Was ihr auch macht – fahrt trotzdem zur Hölle.« Damals fand ich das furchtbar komisch.
BUCH II
Die Reisen der ›Renegat‹ 1
Ich begegne einem bedauernswerten Wanderer
Die Ankunft der Phoenix XXVII auf Tricaps muß ein Jahrhundertereignis auf dieser geschäftigen kleinen Welt gewesen sein, nimmt man die totale Verwirrung zum Maßstab, in die wir die Leute stürzten. Sie erholten sich schnell und gingen bald wieder zur Tagesordnung über, aber eine Zeitlang brachten wir sie ganz schön aus der Fassung. Ursache des ganzen Durcheinanders war die tricapsanische Sprache, die zwar wenig unbekannte Worte und Wendungen enthielt, sich offenbar im Laufe der Zeit den Erfordernissen einer reibungslosen Geschäftsabwicklung angepaßt hatte, dafür aber so schnell gesprochen wurde, daß Grax und ich kaum folgen konnten und ein Verständigungsproblem entstand. Jedenfalls gewannen die Tricapsaten den Eindruck, wir wären die Nachkommen der Besatzung der Phoenix XXVII. Als diese Geschichte die Runde machte, wurden wir von Weltraum-Advokaten – eine zahlenmäßig starke und mächtige Gruppe auf Tricaps – umlagert, die uns ihre Dienste anboten und
uns behilflich sein wollten, unsere Rechtsansprüche auf was auch immer geltend zu machen. Als wir versuchten, die Situation richtigzustellen, vermittelten wir ihnen irgendwie den Eindruck, wir wären nicht die Nachkommen, sondern Überlebende der Besatzung – vielleicht auch deren Geister. Es dauerte eine Weile, alle Mißverständnisse aus dem Weg zu räumen, aber schließlich konnten wir einem flinken, unablässig hin und her hüpfenden kleinen Mann klarmachen, daß wir die Phoenix zu verkaufen wünschten, und ihn dazu bewegen, die nötigen Formalitäten zu erledigen. Nachdem das endlich geschafft war, machten wir uns auf die Suche nach einem neuen Schiff. Vermutlich trug unsere äußere Aufmachung ebenso sehr zur Verwirrung der Tricapsaten bei wie unsere Sprache. Grax und ich trugen nämlich aufsehenerregende alte Galauniformen, die wir in den Schließschränken der Phoenix gefunden hatten. Ich hatte zwei wunderschöne, dazu passende Pistolen aufgestöbert, ein Präsent, das Commander Adamson am Tage des Starts überreicht worden war, und die trug ich, als ich aus der Luftschleuse trat. Wir müssen tatsächlich wie Gespenster aus der Vergangenheit ausgesehen haben. Unser Haar war lang, meins im Stil der Skeggjatten zu Zöpfen geflochten, und wir hatten beide wild wuchernde Vollbärte. Die adretten, klei-
nen Tricapsaten gewöhnten sich nie an uns, wenngleich sie in ihrer hastigen, unpersönlichen Art stets höflich zu uns waren. Alles in allem waren die Tricapsaten trotz ihrer Lebhaftigkeit und ihrem besessenen Eifer ein ziemlich ödes Volk, und ich war froh, daß wir ein schnittiges, kleines Scoutschiff aus der Dritten Phase fanden, das es auf maximal fünfzigfache Lichtgeschwindigkeit bringen konnte. Der angegebene Preis lag um einiges unterhalb der Summe, die man uns für die Phoenix in Aussicht gestellt hatte. Das Schiff konnte acht, notfalls zwölf Personen befördern, doch zur Steuerung genügte ein Mann. Grax wollte erst den Antrieb untersuchen, ehe er ein Angebot machte, und während er mit dieser Arbeit beschäftigt war, wanderte ich zwei Tage in Kommerz-Stadt umher, der Hauptstadt und dem Geschäftszentrum von Tricaps. Zwei Tage waren mehr als genug. Auf dieser Welt kannte man anscheinend kein Vergnügen, das nicht unmittelbar mit Arbeit zusammenhing. Da ich von Geschäften wenig verstand und keine Lust hatte, mehr darüber zu lernen, blieb mir kaum etwas zu tun. Die Tricapsaten vertrieben sich die Zeit hauptsächlich damit, daß sie schwarzen, kochend heißen Skoof krügeweise tranken und zwischen den Schlucken übers Geschäft redeten. Ich schloß mich diesem übermäßigen Skoofkonsum an, und nach
einiger Zeit störte es mich nicht mehr, daß die tricapsanischen Geschäftsleute in ihren dunklen Anzügen jedesmal, wenn ich eines ihrer kleinen Lokale betrat, für einen Moment sprachlos verstummten, mich eingehend musterten und dann anscheinend zu der Überzeugung gelangten, daß mit dieser zottigen Gestalt, die zwar eine prächtige Uniform trug, ansonsten aber einen ziemlich verwilderten Eindruck machte, kein gewinnträchtiges Geschäft zustande kommen konnte. Ein Rest Unbehagen blieb allerdings, wenn die Skooftrinker nach dieser Inspektion ihre Konversation im Stil von Schnellfeuergewehren wieder aufnahmen und mich fortan ignorierten. Ich zog durch die belebten Straßen und entdeckte nichts, das mein Interesse erweckt hätte. Die Städte auf Tarquin und Vigrid hatten Sehenswürdigkeiten, berauschende Farben und Klänge, zahllose Sinnesreize geboten, aber Kommerz-Stadt war einfach fade. Alles, selbst die Menschen wirkten grau, und wohin ich auch ging, es war überall dasselbe. Ich sah weder Straßentheater noch Marktbuden, weder Spielhallen noch Menschenaufläufe und Fremdweltler schon gar nicht – nur die vorüberhuschenden Massen identisch gekleideter Tricapsaten, die von einem uniformen Gebäude zum nächsten eilten, alle mit demselben Ausdruck zielstrebigen Eifers auf den Gesichtern. Meine Füße waren wund vom ziellosen Umher-
streifen, mein Magen zum Platzen voll mit Skoof, als ich plötzlich eine gespenstische Erscheinung vor mir sah. Sie kam aus einer Seitengasse, blieb stehen und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an: ein zerlumpter, alter Weltenbummler in einer Uniform, die aussah und roch, als hätte er sie zur RinnExpedition angezogen und seither nicht mehr abgelegt. Sein langes schwarzes Haar wies graue Streifen auf, und sein blasses Gesicht war gefurcht und zernarbt, aber für mich war er in diesem Augenblick ein willkommener Anblick. Und anscheinend war ich ihm nicht weniger willkommen, denn er kam sofort auf mich zu und sprach mich an. Sein Dialekt ähnelte stark dem tarquinischen, so daß ich ihn mühelos verstehen konnte. »Bei den Sternen, endlich bekommt man einen anderen Raumfahrer zu Gesicht! Seit zwei Monaten hänge ich in diesem Bzzitnest herum, sehe nichts als dieses stumpfsinnige Pack von Halsabschneidern und sterbe vor Langeweile. Wer bist du, Fremder, woher kommst du und wohin führt dich dein Weg?« bestürmte er mich. »Ich heiße Del Whitby. Ich kam vom SkeggjattSystem hierher und will weiter nach Gilead.« »Gilead?« Er wirkte verdutzt und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, da bin ich noch nie gewesen. Wo liegt das?«
»Ich hoffe, es herauszufinden.« Er dachte eine Weile über diese Antwort nach, um dann laut aufzulachen. Mehrere vorbeihuschende Tricapsaten, von dem ungewohnten Geräusch aufgeschreckt, warfen uns nervöse Blicke zu und machten einen Bogen um uns. »Du kennst also dein Ziel, weißt aber nicht, wo es liegt. Deine Einstellung gefällt mir, Del. Vor langer Zeit war ich selbst einmal so. Wollte alles sehen, alles erleben, jeden Ort kennenlernen ... und ich hab's gemacht. Glaub mir, ich hab's gemacht.« Er schwieg, sah mich eindringlich an und fragte: »Hast du's eilig, Del? Oder kannst du ein bißchen Zeit erübrigen und einem alten Stromer ein Essen spendieren und dir seine Geschichten anhören?« »Ich habe Zeit«, erwiderte ich, »und Hunger ebenfalls. Suchen wir uns doch ein nettes Lokal.« Wir suchten eine ganze Weile, aber schließlich fanden wir ein Lokal, wo wir eine anständige Mahlzeit zu uns nehmen konnten, ohne vom nervenaufreibenden Geschnatter tricapsanischer Geschäftsleute allzu sehr belästigt zu werden. Mein neuer Freund – er hieß Gariv – verschlang ein Essen, das vier ausgehungerte Männer gesättigt hätte und erzählte mir dann bei einer Flasche Wein die Geschichte seiner Reisen – zumindest einen Teil davon. Den Rest bekam ich später zu hören.
2
Garivs Lebensgeschichte und neue Aspekte meiner eigenen
Gariv hatte den größten Teil seiner Jugend im Weltall verlebt. Sein Vater war ein mächtiger Kriegsfürst des Skorat-Systems, und Gariv hatte ihn bei mehreren frühen Feldzügen gegen die Rinn begleitet. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde er mit Nikkolope vermählt, der Tochter eines anderen mächtigen Kriegsfürsten, und in den folgenden Jahren verbrachte er sein Leben fast ausschließlich zu Hause und regelte die Angelegenheiten von Vater und Schwiegervater, die sich zumeist im Weltraum aufhielten. Mit sechsundzwanzig erfuhr er, daß beide Männer in einem Gefecht mit den Rinn den Tod gefunden hatten. Gariv war nun einer der mächtigsten Kriegsfürsten auf Skorat VI. Eine Zeitlang blieb er zu Hause und festigte seine Macht, doch der Gedanke an die ungesühnten Tode zehrte an ihm, und als er hörte, daß sich im zentralen Sternhaufen die Große RinnExpedition* formierte – eine gewaltige Streitmacht, * Expedition ist die Bezeichnung für eine autonome IntersystemStreitmacht, die ursprünglich zum Zweck der Verteidigung der irdischen Siedlerwelten und ihrer Verbündeten gegen die Rinn aufgestellt wurde, später jedoch den Auftrag zur totalen Vernichtung der Rinn-Zivilisation erhielt. Die amtlichen Aktivitäten der Expedition sind in drei Phasen unterteilt, die als die Erste, die Zweite und Dritte Expedition bekannt sind.
Die Erste Expedition wurde am 19. 4. 2608 GSK offiziell in Dienst gestellt und kurz nach der fast völligen Vernichtung der Rinn-Armada in der Schlacht der Drei Systeme vom 6.-28. 7. 2617 GSK wieder aufgelöst. Diese Schlacht wird manchmal als der Große Rinn-Krieg bezeichnet, doch ist dieser Terminus genauer auf die gesamte Kampagne von Feldzügen anzuwenden, die zur Konfrontation in den Drei Systemen kulminierte. Teilnehmer der Ersten Expedition bildeten unmittelbar danach eine neue, irreguläre Streitmacht, die sie als die Zweite Expedition bezeichneten. Ihr erklärtes Ziel war es, alle gegnerischen Überlebenden aus der Schlacht der Drei Systeme aufzuspüren, zu verfolgen und zu vernichten sowie den Krieg bis in den Heimatsektor der Rinn zu tragen. Die Expeditionskommandantur hatte Bedenken, die Zweite Expedition anzuerkennen, und zögerte die Entscheidung hinaus. Erst nachdem zwei erfolgreiche Angriffe auf versprengte RinnKommandos gemeldet wurden, fand am 3. 3. 2619 GSK die offizielle Indienstnahme statt. Im Laufe von zwei Jahren erhielt die Expeditionskommandantur wiederholt Bericht über Greueltaten, die kleinere Verbände der unter dem Befehl der Zweiten Expedition stehenden Rotte an Bewohnern unbeteiligter Sonnensysteme verübten und die als angebliche Straf-, Vergeltungs- und Präventivmaßnahmen ausgegeben wurden. Als der Expeditionskommandantur schlüssige Beweise für die Vernichtung von Toqal V vorlagen, wurde befohlen, die Zweite Expedition aufzulösen. Diese Order trat in Kraft am 4. 6. 2623 GSK. Wenig mehr als die Hälfte der Schiffskommandanten bestätigten die Order, und viele gaben offen zu erkennen, daß sie nicht beabsichtigten, sie zu befolgen. Die Expeditionskommandantur erklärte diese Kommandanten und ihre Besatzungen zu Geächteten. Die Dritte Expedition wurde 2651 aufgebaut. Zum Zusammenstoß mit den Rinn kam es jedoch nie.
die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Rinn aufzuspüren und die geheimnisvollen Angreifer ein für allemal zu vernichten –, beschloß er, daran teilzunehmen. Er legte die Herrschaft über Skorat VI in die Hände seiner Frau, der treuen Nikkolope, sagte seinem Sohn Lemak adieu und brach mit einer kleinen Schiffsflotte auf, um sich der Expedition anzuschließen. Er kämpfte siegreich und zeichnete sich bei der Entscheidungsschlacht zwischen den feindlichen Flotten durch besondere Tapferkeit aus. Doch als die Rinn bezwungen waren und seine Schiffe sich auf die lange Rückreise vorbereiteten, fing sein Unglück an. »Nicht der Krieg, Del, die Heimreise wurde mir zum Verhängnis«, sagte er, trank sein Glas aus, beäugte die leere Weinflasche und sah mich gierig an. Ich bestellte eine neue Flasche. Er füllte sein Glas nach und fuhr fort. »Wir zerschmetterten die größte Flotte, die man jemals im All gesehen hat, und brachen die Macht der Rinn für alle Zeiten. Ich ging als Held aus der letzten Schlacht hervor, und schau, was ich jetzt bin – ein Bettler, der mit seiner traurigen Vergangenheit hausieren geht. Seit zehn Jahren ziehe ich quer durch die Galaxis, um wieder nach Hause zu finden, und schaffe es doch nicht. Ich verlor alles, was ich besaß: meine Schiffe, meine Männer, einfach alles. Einmal war ich nur eine Tagesreise von Skorat entfernt – eine Tagesreise, Del! –, und an diesem Tag
stoppten wir, um die Antriebsspulen auskühlen zu lassen, und wurden von Sklavenhändlern gekapert. Sie verschleppten mich ans andere Ende der Galaxis und verschacherten mich den Pyramiden-Bauern. Ich konnte entkommen, doch es hat mich vier Jahre gekostet, hierher zu gelangen, und das ist nur ein kleines Stück des Weges. Manchmal frage ich mich, ob ich es jemals schaffen werde. Vielleicht hätte ich mich damals den Suchern anschließen und versuchen sollen, den Eintrittspunkt zu finden.« »Was meinst du damit?« fragte ich. »Na, du weißt schon. Die Sucher. Der Eintrittspunkt. Der Omphalos.« »Tut mir leid, davon weiß ich nichts. Was ist das alles?« »Die Sucher stammen von der Erde, glaube ich, genau weiß es niemand, aber es wird allgemein angenommen. Sie leben seit Jahrhunderten im Weltall – in einem Schiff, so groß wie ein kleiner Planet. Sie haben eine Welt für sich, genau wie die Expeditionskommandantur. Die Sucher wollen einen Punkt in der Galaxis finden, wo alle Dinge aufeinandertreffen, wo alle Orte überall und nirgends zugleich sind, wo die Zeit stillsteht und es keine Entfernungen gibt – eben den Eintrittspunkt, den Punkt ewiger, totaler Allgegenwart.« Er trank einen Schluck Wein und starrte nachdenklich an mir vorbei. »Hätte ich den Eintritts-
punkt gefunden, hätte ich mit einem Schritt in meinem Palast sein können. Die Sucher forderten mich auf, sie zu begleiten, doch ich hielt sie für Narren und lachte sie aus. Vielleicht war ich der Narr.« Garivs Geschichte ging mir nahe. Ich wußte ja selbst, wie es war, fern von zu Hause und den Menschen, die man liebte, zu leben, und der arme Kerl tat mir leid. »Wie weit ist Skorat von hier?« fragte ich. »Sehr, sehr weit, Del«, erwiderte er düster. »Skorat liegt in der Nachbarschaft von Watsons Planet, wo die große Maschine regiert. Alle paar Jahre startet ein Schiff von hier nach Watson, aber diese hartherzigen Tricapsaten würden mir den vollen Fahrpreis abverlangen, und den bringe ich nie auf. Und als Besatzungsmitglied würde ich auch nicht akzeptiert. Ich glaube, ich bin am Ende eines langen, steinigen Weges angelangt.« »Hör mal, Gariv, ich will keine voreiligen Versprechungen machen«, sagte ich, »aber vielleicht können mein Partner und ich noch Hilfe gebrauchen. Vermutlich kommen wir niemals in die Nähe von Skorat, aber es ist durchaus möglich, daß wir Welten anfliegen, auf denen du –« »Du meinst, ihr würdet mich mitnehmen?« rief er begeistert. »Wenn mein Partner einverstanden ist und wir wirklich einen dritten Mann brauchen, sehe ich
nichts, was dagegen spricht. Wir werden nicht viel Lohn zahlen können, aber –« »Das Angebot ist mir Lohn genug«, sagte Gariv und drückte mir fest den Arm. »Du hast mir Hoffnung gegeben, Del, und das ist die kostbarste Sache in der Galaxis.« »Ich wünschte, ich könnte dir mehr versprechen. Ich weiß, wie dir zumute ist, Gariv. Als ich sechzehn war, wurde ich selbst von Sklavenhändlern entführt. Seit fünf Jahren versuche ich, nach Gilead zurückzukehren.« Ich erzählte ihm meine Lebensgeschichte, und als ich geendet hatte, sah er mich forschend an und blieb lange Zeit still. Schließlich bat er mich um den Zettel, den ich aus dem Rettungsboot genommen hatte. Ich gab ihn ihm, und er betrachtete ihn genau. »Du sagtest, dieses kleine Schiff kam von der Pendelton-Basis?« fragte er. »Das stand auf dem Schild darin. Warum?« »Ich bin mir unschlüssig, ob ich darüber reden soll, Del. Ich könnte falsche Hoffnungen wecken, und das wäre grausam. So möchte ich deine Großzügigkeit auf keinen Fall vergelten.« »Sag schon. Wenn du irgend etwas weißt, will ich es hören.« »Es wäre ein unglaublicher Zufall ... Und wenn du reinrassiger Malellane bist, irre ich mich. Hier, Del,
nimm ihn zurück«, sagte er und schob mir den Zettel hin. »Nun hör mal, Gariv. Zum erstenmal rede ich mit einem Menschen, dem die Pendelton-Basis kein unbekannter Begriff ist. Sag mir, was du weißt. Wenn ich mir irgendwelche Hoffnungen mache, ist das mein Problem.« »Also gut, Del. Aber ich fürchte, ich war etwas voreilig.« »Jetzt kannst du's nicht mehr rückgängig machen.« »Da hast du recht.« Gariv seufzte und beugte sich über den Tisch vor. »Während der Rinn-Expedition lernte ich einen Mann kennen. Er war Kommandant eines Angriffsgeschwaders, der beste, dem ich je begegnet bin. Er hieß Corey. Sagt dir der Name etwas?« Ich schüttelte den Kopf. Gariv fuhr fort. »Corey hatte das Kommando über meine und drei andere Flotten. Wir bildeten das Siebte Angriffsgeschwader. Er führte uns in die riskantesten Kämpfe, die ich jemals mitgemacht habe, aber er brachte uns immer wieder heil heraus, und anschließend war kein einziger Rinn mehr übrig. Corey wurde von einem Haß getrieben, wie ich ihn selten bei einem Menschen beobachtet habe, und er kämpfte wie ein Besessener. Eines Nachts im Anschluß an eine Lagebesprechung fragte ich ihn, warum er die Rinn so sehr haßte, und er antwortete, daß sie seine Frau
und seinen kleinen Sohn beim Überfall auf die Pendelton-Basis umgebracht hätten. Corey war reinrassiger Erdenmensch, doch seine Frau eine Malellanin. Was die Rinn mit Malella anstellten, weißt du ja.« »Nein. Ich weiß gar nichts über Malella.« »Ich dachte, das wäre allgemein bekannt. Die Rinn vernichteten jeden Planeten des Systems. Sechs davon waren bewohnt, alles friedliche Welten, die mit dem Krieg nichts zu tun hatten. Die Rinn wählten sie zu einer Demonstration der Macht aus. Heute gibt es vielleicht noch ein paar Dutzend Malellanen, die über die ganze Galaxis verstreut sind. Tut mir leid, Del, aber schließlich wolltest du es wissen.« »Schon gut. Erzähl weiter.« »Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen. Ich weiß nicht, was mit Corey geschah, nachdem die Expedition sich auflöste. Ich hörte, daß er im Rahmen der Zweiten Expedition eine eigene Flotte zusammenzustellen versuchte, um die Rinn bis in ihr Heimatsystem zu verfolgen und sie endgültig zu erledigen. Aber was daraus wurde, kann ich nicht sagen.« »Du glaubst, dieser Corey könnte mein Vater sein?« fragte ich. »Ich möchte es nicht ausschließen. Es wäre durchaus möglich gewesen, ein Kleinkind noch in ein Rettungsboot zu stecken und es von Pendelton abzuschießen, ehe die Rinn zuschlugen. Sieh mal, Del, du
hast malellanische Gesichtszüge und bewegst dich wie ein Malellane, aber du bist viel zu groß. Dein Körperbau deutet auf eine irdische Abstammung hin. Wenn nun deine Mutter Malellanin und dein Vater Corey war, würde die Gleichung aufgehen.« Ich hielt ihm den Zettel vor die Nase. »Hier steht ›Eltern: Malellanen‹. Folglich kann Corey nicht mein Vater sein.« Gariv deutete auf den Zettel und schüttelte den Kopf. »Sieh dir diesen Fleck an, Del. Vielleicht verdeckt er etwas.« Dieser Gedanke war mir noch nie gekommen, aber was Gariv sagte, war immerhin möglich. »Wo könnte ich Näheres in Erfahrung bringen?« fragte ich. Gariv dachte eine Weile nach. »Seit der Ersten Expedition sind zehn Jahre vergangen. Die Teilnehmer sind längst unauffindbar geworden. Aber vielleicht weiß die Maschine etwas.« »Welche Maschine?« »Die Maschine auf Watsons Planet. Die Berichte von den Rinn-Feldzügen wurden allesamt nach Watsons Planet geleitet und in den Datenbänken gespeichert. Es könnte sein, daß man den Lebensweg der Kriegsteilnehmer weiterverfolgt hat. Es käme auf einen Versuch an.« »Das würde sich bestimmt lohnen«, entgegnete ich. Mein Entschluß stand fest. Sosehr es mich auch nach
Gilead zog, zuerst wollte ich mir Klarheit über meine wahre Identität verschaffen. Wenn dazu eine Reise nach Watsons Planet notwendig war, ließ sich das eben nicht ändern.
3
Garivs Irrfahrten durch die Galaxis
Grax hatte keine Einwände gegen einen dritten Mann. Der kleine Kreuzer begeisterte ihn so sehr, daß er wahrscheinlich zu allem ja gesagt hätte. Wir regelten den Verkauf der Phoenix XXVII, erstanden den Kreuzer und tauften ihn Renegat – der Klang des Wortes gefiel uns so gut. Nachdem wir ihn mit allem Notwendigen ausgerüstet hatten, blieb uns sogar noch ein kleiner Gewinn. Zwei Tage nach meiner Begegnung mit Gariv waren wir auf dem Weg nach Watsons Planet; allerdings war ein Abstecher nach Skorat vorgesehen. Das Schiff war fast völlig automatisiert, so daß wir reichlich Zeit hatten, uns Garivs Geschichten von seinen Wanderschaften durch die Galaxis anzuhören. Er erzählte, wie er allein, unbewaffnet, oft mit Verwundungen, häufiger noch in Ketten, stets hungrig und auf der Flucht mit zahllosen schweren Schicksalsschlägen fertig geworden war. Er war überall gewesen, selbst auf der Erde. Dieser Planet, den so viele
Menschen als Heimat betrachteten und doch nur wenige mit eigenen Augen gesehen hatten, interessierte uns besonders, doch Gariv schwieg sich über dieses Thema aus. Wir bestürmten ihn unaufhörlich mit Fragen, aber er verstand es stets, davon abzulenken. Er schilderte Lennermans Planet, das private Jagdreservat eines reichen Exzentrikers, in dem riesige Lebewesen aus allen Teilen der Galaxis, die seit Jahrmillionen als ausgestorben galten, frei umherstreiften, unter Schutz standen, während das einzige Beutetier der Mensch war; er beschrieb den Wasserplaneten, wo die Menschen auf Flößen von der Größe einer Stadt lebten und in Booten umherreisten, die von gezähmten Fischen gezogen wurden; er berichtete von der Grausamkeit der Pyramidenbauer, die aus dem Blut und den Knochen ausgezehrter Sklaven Mörtel für ihre monströsen Bauwerke herstellten, und wie er schon halb tot durch tausend Meilen Wüste gekrochen war, um ihnen zu entkommen und zurück nach Skorat zu gelangen; er beschrieb seine Retter, die Gafaal, eine grünhäutige Nomadenrasse mit goldenen Augen und zwei schlanken Tentakeln, die aus ihren Schulterblättern wuchsen, und erzählte wehmütig von Santrahaar, der Nomadenprinzessin, die ihn gesundpflegte und bitterlich weinte, als er fortging; er sprach von den Windgängern auf Triffit II, von den pelzigen, kniehohen Quipliden aus dem Farr-System,
vom Schlangenplaneten, vom Planet der Spieler, den glühenden Seen auf Y11, den verschleierten Tänzerinnen der Stillen Stadt auf Hovonor und von hundert anderen fremden, faszinierenden Dingen, doch er sprach nie von der Erde. Eine Abends schließlich, als wir beim Essen saßen und Skorat nicht mehr fern war, unternahm Grax einen letzten Versuch, ihn festzunageln. »Gariv, du hast uns Geschichten über die Hälfte der Planeten in der Galaxis erzählt, aber du hast nie ein Wort über die Erde verloren. Warum nicht?« fragte er. »Weil es nichts darüber zu erzählen gibt, Grax. Sie ist eine tote Welt.« »Aber selbst die Ruinen müssen noch großartig sein! Dort fing alles an, Gariv, von dort kamen die Pioniere!« Gariv schüttelte den Kopf und machte eine abfällige Geste. »Die Ruinen der alten Erde sind nichts als ein unansehnlicher Schutthaufen. Wenn du prachtvolle Ruinen sehen willst, geh nach Anom II. Die Türme dort sind so hoch, daß du dir den Hals verrenken mußt, um die Zinnen zu erkennen, obwohl du vielleicht noch eine ganze Tagesreise von den Stadtmauern entfernt bist. Wenn der Wind von der Wüste weht, erklingt in diesen Türmen ein Gesang, der einem Stein Tränen entlocken könnte. Als ich dort landete –«
»Gariv, erzähl uns von der Erde«, unterbrach ich ihn. »Wie soll ich das Nichts beschreiben? Stille, Verfall, Leere, überall Tod – wollt ihr, daß ich euch davon erzähle? An der Erde ist nichts Großartiges, Erhabenes oder Erleuchtendes. Sie ist seit Jahrhunderten eine tote Welt, ein gigantischer Friedhof, auf dem nichts gedeiht. Nichts! Die Meere sind ein giftiger Brei, der Himmel ein schmutzigbrauner Dunst, das Land eine rostige, mit brüchigem Stein und Leichen übersäte Stahlwüste, und man wird von Träumen geplagt – von Todesträumen. Ich war einmal mit einem Vermessungsteam eine Woche lang dort. Wir sollten ein ganzes Jahr bleiben, um die Genauigkeit des Galaktischen Standardkalenders zu überprüfen. Ich hoffte, vielleicht ein verlassenes Schiff zu finden und damit nach Skorat zurückkehren zu können, doch dazu blieb mir keine Zeit. In dieser einen Woche brachten vier Besatzungsmitglieder einander um, und der Kommandant beschloß daraufhin, das Projekt aufzugeben und sofort die Rückreise anzutreten. – Nun wißt ihr, wie es auf der Erde aussieht. Und was sie Menschen antut.« Gariv ließ uns allein, um die Überwachung der Bordinstrumente zu übernehmen. Grax legte sich aufs Ohr, und ich wählte eines der Bücher aus, die ich von der Phoenix mitgenommen hatte. Es war ein Band
mit langen Gedichten über den Ruhm der alten Erde, verfaßt von dem großen nendringischen Dichter Jaxper. Nach fünf Seiten mußte ich es beiseite legen. Garivs Worte und mehr noch der Ausdruck in seinen Augen, als er von den schrecklichen Ruinen gesprochen hatte, lenkten mich immer wieder von den eindringlichen Zeilen Jaxpers ab. Je näher wir Skorat kamen, desto häufiger erzählte Gariv von seiner Heimat und seiner Frau, der treuen Nikkolope. »Sie wartet auf mich«, pflegte er bei jeder Mahlzeit zu sagen. »Ihr werdet sehen. Sie wird mich auf den ersten Blick wiedererkennen.« Zuweilen wurde er jedoch von Bitterkeit ergriffen. »Vielleicht werde ich um mein Königreich kämpfen müssen. Diese jungen Adligen kennen keine Loyalität. Ich wette, daß Nikkolope in diesem Moment von Freiern nur so umlagert wird. Alle werden ihr einreden wollen, wie töricht sie sei, zwanzig Jahre ihres Lebens zu verschwenden, um auf einen Geist zu warten, der doch nie kommt. Diese Kerle haben es nur auf mein Königreich abgesehen. Aber Nikkolope ist nicht dumm. Sie weiß, daß ich zurückkomme. Sie wird warten und sich nichts einreden lassen. Und wenn diese Schufte sie zu einer Heirat mit einem der jungen Kriegsfürsten gezwungen haben, werden sie es sehr bald bereuen. Das kann ich euch versprechen!«
Und wenn er sich nicht gerade in müßigen Träumen über seine treue Nikkolope erging, sprach Gariv wehmütig von den Frauen, die ihm auf seinen Wanderschaften mit Trost und Hilfe zur Seite gestanden hatten. Davon hatte es eine ganze Menge gegeben. Wie übel ihm das Schicksal auch sonst mitgespielt hatte, in dieser Hinsicht konnte Gariv sich wahrlich nicht beklagen. Stets hatten schöne Frauen ihn errettet, umsorgt und geliebt, und jeder hatte es das Herz gebrochen, wenn es ihn schließlich in die Ferne zog. Das erinnerte Grax an einen alten Spruch seines Onkels George: »Selbst ein blindes Huhn findet mal ein Korn.« Nach diesen wehmütigen Rückblicken, bei denen ihm fast die Tränen in den Augen standen, pflegte Gariv unweigerlich auf Santrahaar zurückzukommen. »Die Frauen der Gafaal sind die besten in der Galaxis, das könnt ihr mir glauben. Was meint ihr, was für ein Gefühl es ist, wenn eine Frau einem die Arme um den Hals legt und man dann von weichen, flaumigen Tentakeln gestreichelt wird. Ich war ein Jahr mit Santrahaar zusammen und konnte mich doch nie daran gewöhnen. Trotzdem, sie war ein Prachtstück! Von allen anderen zog ich eigentlich nur Trannamee vom Wasserplaneten ernsthaft in Betracht. Eine Zeitlang trug ich mich mit dem Gedanken, mich niederzulassen und für immer bei ihr zu
bleiben. Aber Santrahaar war die beste von allen. Ich hätte ihr Prinz sein können.« Die Art, wie er das sagte, ließ mich zuweilen denken, daß er an einer schweren geistigen Verwirrung litt; aber wahrscheinlich waren es doch nur die Nerven, denn kurz bevor wir auf Skorat landeten, bat er Grax und mich, ihn zu begleiten und in seiner Nähe zu bleiben, falls es irgendwelche Schwierigkeiten geben sollte. Wir sagten zu. Der Ärmste war uns ans Herz gewachsen, und wir spürten fast so etwas wie Verantwortung für ihn. Gariv ließ uns in einem Versteck landen, das nur ihm bekannt war. Es war eine Art natürliches Amphitheater im Felsgestein, das von der Stadt aus nicht einsehbar war. Wir ließen die Maschinen laufen, um schnell starten zu können, falls etwas schiefging, und machten uns zu Fuß auf den Weg in die Hauptstadt. Die Renegat war schon aus kurzer Entfernung zwischen den Felsen nicht mehr zu erkennen. Grax und ich hatten Kleidungsstücke angelegt, in denen wir Garivs Meinung nach auf Skorat nicht auffallen würden. Die Pistolen trugen wir schußbereit unter weiten Jacken, die gerade lang genug waren, um die Halter zu verdecken. Wir gingen gemeinsam in die Stadt und trennten uns dort mit dem Vorsatz, uns am Abend wieder beim Schiff zu treffen.
4
Eine königliche Hochzeitsfeier mit einem unerwarteten Gast
Thak, eine der größten Städte auf dem Planeten und Residenz eines mächtigen Kriegsfürsten sowie dessen Reichshauptstadt, war alles andere als eine Augenweide. Hatte ich anfangs noch zumindest einen Hauch von Glanz und Pracht erwartet, wurde ich spätestens, als ich über herumliegende Pflastersteine stolperte, eines besseren belehrt. Die Stadt machte den Eindruck, als hätten die ersten Siedler sie in aller Eile bei Nacht errichtet und ihre Nachkommen im Laufe der Jahrhunderte lustlos und mit beliebigen Materialien nur die allernotwendigsten Reparaturen ausgeführt. Es war eine uralte Stadt, und der Unrat, der sich in den Straßen auftürmte, schien nicht wesentlich jüngeren Datums zu sein. Ich war mit Heißhunger durch die Stadttore marschiert, doch als ich den Moschusgeruch von Brintherfladen, den Schweißdunst und den Gestank offener Abwasserkanäle und faulender Müllberge einatmete, verging mir jeglicher Appetit. Grax und ich fanden eine kleines Gasthaus in den Randbezirken der Stadt, wo die Luft einigermaßen erträglich war, und bestellten eine leichte Mahlzeit. Der Wirt, ein dicklicher, bärtiger Mann, der eine schmutzige Schürze umhatte, erwies sich als überaus redselig.
»Das Essen wird sofort serviert, die Herren. Sie haben Glück, so frühzeitig gekommen zu sein. Eine Stunde später, und Sie hätten sich nicht einmal mehr zur Tür reinquetschen können. Sie sind nicht aus Thak, stimmt's?« Als wir die Köpfe schüttelten, fuhr er fort: »Das dachte ich mir. Die Stadt ist zwar groß, aber ich erkenne jeden, den ich sehe, wieder. Ich kann auf Anhieb sagen, ob jemand ein Fremder ist. Tja, im Moment wimmelt es hier von Fremden. Sie kommen wegen der Feier. Haben Sie schon eine Unterkunft?« »Wir wohnen bei einem Freund«, erwiderte ich. »Ah, da haben Sie Glück. Soviel ich weiß, ist in der ganzen Stadt kein Bett mehr frei. Von ganz Skorat kommen die Leute hierher, reisen tagelang, wissen Sie, und es wird ihnen nichts anderes übrigbleiben, als auf der Straße zu übernachten. Aber mir tun sie nicht leid. Schließlich bekommen sie etwas zu sehen, das sie noch ihren Enkeln erzählen können.« »Die Feier?« fragte Grax. Der Wirt nickte. »Seit zwanzig Jahren warten sie darauf, daß unsere geliebte Königin Nikkolope – möge sie triumphal regieren – einen Gemahl erwählt. Damals zog der alte König in den Kampf gegen die Rinn. Er schloß sich der Großen Expedition an und kehrte nie zurück.« »Ist er tot?« fragte ich. »Das muß er wohl – nach all den Jahren.«
»War das nicht Gariv?« fragte Grax unvermittelt. Der Wirt runzelte die Stirn, überlegte kurz, dann sagte er: »Ich glaube, diesen oder einen ähnlichen Namen trug er. Aber wie er nun auch hieß, auf alle Fälle ist er tot. Und auch sein Sohn Lemak lebt nicht mehr. Er starb als Junge, der Ärmste – ertrank, als sein Boot kenterte. Nun ist es höchste Zeit, daß Königin Nikkolope einen Prinzgemahl erwählt, der an Garivs Stelle tritt. Das Hochzeitsfest findet morgen statt, und die Feierlichkeiten werden sich über einen Monat hinziehen. Ein Glück, daß die Ernte schon eingebracht ist, denn an Arbeit ist für die nächste Zeit nicht zu denken, das kann ich Ihnen sagen.« Als der Wirt außer Hörweite war, meinte Grax: »Anscheinend sind wir gerade zur rechten Zeit gekommen. Um so besser für uns. Das erspart uns unnütze Warterei.« »Genau. Wenn Gariv uns morgen nicht braucht, braucht er uns überhaupt nicht«, entgegnete ich. Während des restlichen Tages wanderten wir in Thak umher, gaben uns größte Mühe, wie einfältige Fremdweltler zu wirken, fragten Straßenhändler, Gastwirte und Arbeiter aus und fanden uns langsam in der Stadt zurecht. Vor allem prägten wir uns die schnellsten Fluchtwege ein. Es war immer gut, auf alles vorbereitet zu sein. Am Abend trafen wir uns mit Gariv im Schiff und
tauschten unsere Erfahrungen aus. Gariv skizzierte uns seinen Plan, der kühn, aber einfach war. Nach einem alten Brauch würde die Königin drei Dutzend Menschen aus dem Volk in ihr Schloß einladen, wo sie stellvertretend für alle treuen Untertanen und Freunde des Königshauses am Festessen teilnehmen sollten. Gariv hatte herausbekommen, an welchem Ort Nikkolope ihre Gäste auswählen wollte, und er schlug vor, daß wir uns in die dort wartende Menschenmenge einreihen und uns so weit vordrängen sollten, daß wir der Auswahl schwerlich entgehen konnten. Sobald er auf diese Weise ins Schloß gelangt war, wollte Gariv seine Identität preisgeben, den erwählten Prinzgemahl herausfordern und Anspruch auf den Thron und die Königin erheben. Wenn alles gutging, konnten Grax und ich im Hintergrund bleiben, doch wenn die Gefolgsleute des Prinzgemahls versuchten, Gariv zum Schweigen zu bringen, oder ihn angriffen, sollten wir ihm Beistand leisten. Ich hatte eigentlich angenommen, meine Tage als Krieger seien gezählt, als ich die Stellung als Wache auf der Antap aufgab, und nun sah ich mich erneut mit einem möglichen Kampf konfrontiert. Ich überlegte in dieser Nacht hin und her und kam schließlich zu dem Ergebnis, daß es richtig war, wenn ich Gariv unterstützte. Ich würde ja nicht zur Belustigung von Zuschauern töten, sondern lediglich einem einsamen
und tapferen Mann, der viel gelitten hatte, helfen, seine rechtmäßige Stellung und seine Frau zurückzufordern. Ich würde von jedem anständigen Menschen erwarten, dasselbe für mich zu tun. Außerdem hatte ich Gariv hierhergebracht und fühlte mich verpflichtet, ihm in allen erdenklichen Notlagen beizustehen. Grax war natürlich sofort einverstanden. Die langen Monate des Nichtstuns im Weltraum hatten ihm zugesetzt, und er war von einem unbändigen Tatendrang erfüllt. Am nächsten Morgen reihten wir uns in die Menschenmenge am Tor der Neun Könige ein, und schon bald nach unserer Ankunft ging der Trubel los. Garivs Informant hatte recht gehabt: Königin Nikkolope und ihr erwählter Gemahl, Prinz Sounitan, kamen mit ihrem Gefolge in unsere Richtung, um die Hochzeitsgäste aus dem Volk auszusuchen. Aus allen umliegenden Straßen und Alleen strömten Menschen herbei, und innerhalb von Minuten hatte die Menge sich verzehnfacht. Gariv, Grax und ich schoben uns in die vorderste Reihe, sorgsam darauf bedacht, den Angehörigen der königlichen Garde nicht zu nahe zu kommen, die ausgiebig von ihren Knüppeln Gebrauch machten, um dem Königspaar den Weg freizuhalten. Die Menge tobte und raste, und nach einiger Zeit hörte ich, wie sich aus dem ohrenbetäubenden Geschrei ein immer lauter werdender Ruf her-
ausschälte: »Da! Da kommen sie!« Ich folgte der allgemeinen Blickrichtung und sah eine offene Kutsche, die von zwölf kräftigen Männern in hellen Uniformen gezogen wurde, und darin eine wunderschöne Frau und einen großen, muskulösen Mann. Beide trugen prächtige Gewänder, die Frau eine Krone. Sie saßen zurückgelehnt auf weichen Polstern, lächelten und winkten der Menge zu und erwiderten die Rufe »Möge eure Herrschaft ewig währen!« und »Mögen euch viele triumphale Jahre beschieden sein!« mit gnädigem Nicken und graziösen Gesten. Die Kutsche kam in unserer Nähe zum Stehen, und als Königin Nikkolope sich erhob, um zum Volk zu sprechen, hatte ich Gelegenheit, sie eingehend zu mustern. Sie war in der Tat eine atemberaubend schöne Frau. Als ich mir vorstellte, wie sie vor zwanzig Jahren als vielleicht neunzehnjähriges Mädchen ausgesehen haben mußte, schimpfte ich Gariv insgeheim einen unglaublichen Narren, weil er sie verlassen hatte. Gleichzeitig tat er mir jedoch leid, denn die lange Trennung mußte furchtbar für ihn gewesen sein. Ich konnte ihm nachfühlen, wie ihm zumute gewesen war, als er irgendwo auf einem fernen Planeten in Ketten lag und wehmütig an sie dachte. Im Gegensatz zu ihm brauchte ich mir keine Vorwürfe zu machen; ich war gewaltsam von Cassie getrennt und von Gilead verschleppt worden. Doch Gariv hat-
te seine junge Königin aus freiem Willen verlassen, auf der Suche nach Rache und Ruhm. Er mußte verrückt gewesen sein. Nikkolope hob die Arme, an denen zahlreiche Reife glitzerten, und das Geschrei legte sich. Sounitan sah von seinem Polstersitz lässig auf die Menschen herab, die in kurzer Zeit seine Untertanen sein würden. Dieser Blick gefiel mir nicht. Es lag viel Selbstgefälligkeit und Grausamkeit darin, ein gleichgültiger Hochmut, wie ich ihn in den Augen der Adligen von Tarquin gesehen hatte, als sie in der Arena saßen und genüßlich zuschauten, wie Menschen einander umbrachten. Ich drückte Gariv die Daumen und hoffte, daß er seinen Rivalen nicht unterschätzt hatte. Sounitan machte nicht den Eindruck, als wäre er ein guter Verlierer. Ich fand, daß er eher wie ein Mann aussah, der sich seines Sieges bereits gewiß ist. »Geliebtes Volk von Thak«, rief Nikkolope mit kehliger Stimme, die weit über den Platz hallte und die versammelten Menschen augenblicklich verstummen ließ. »Ich trete heute vor euch, um einem ehrwürdigen Brauch der königlichen Familien auf Skorat nachzukommen. Heute eheliche ich Prinz Sounitan, meinen erwählten Gemahl« – an dieser Stelle wurde sie von lautem Jubel unterbrochen, von Rufen, die ihr ein langes Leben, Triumphe und ähnliches wünschten – »und zu dieser Hochzeitsfeier will ich Repräsen-
tanten des Volkes von Thak in den Palast einladen. Ich werde nun zu euch kommen und meine Gäste auswählen.« Von einem Beifallssturm begleitet, stieg Nikkolope graziös aus der Kutsche und schritt die Menschenmenge ab; mehrere bullige Wachen bildeten einen schützenden Kordon um sie. Ihr Blick schweifte prüfend über das Volk, und von Zeit zu Zeit hielt sie vor einem Mann oder einer Frau an, die sie offenbar in die engere Wahl zog. Als sie zu Grax und mir kam, blieb sie stehen und betrachtete uns forschend. »Ihr seid keine Männer von Thak. Woher kommt ihr?« fragte sie. »Ich komme von Tarquin VII und mein Freund aus dem Carson-System. Wir reisten nach Skorat, um die königliche Hochzeitsfeier zu sehen«, antwortete ich. »Ihr werdet sie als meine Gäste sehen. Begebt euch zu den anderen und folgt uns.« Sie setzte ihren Weg fort. Eine Wache überreichte uns Plaketten, die als Nachweis der königlichen Einladung galten und um den Hals zu tragen waren. Die Wache deutete auf eine wachsende Gruppe von Menschen, die sich hinter der königlichen Kutsche versammelte. Das waren die Gäste, und wir sollten uns ihnen anschließen. Ich hatte mich schon auf eine endlose Warterei unter freiem Himmel eingerichtet, denn solche Zeremo-
nien kannte ich ja von Tarquin her, wo ich mir stundenlange Reden, begleitet von Fanfarenklängen, hatte anhören müssen; aber die Skorater hatten für solche Förmlichkeiten anscheinend nichts übrig. Nachdem die Gäste ausgesucht waren, ging es sofort zum Palast, und als wir im Festsaal waren, hielten Nikkolope und Sounitan. Ich saß auf derselben Seite ziemlich am Ende der langen Tafel dicht bei einer Wand, während Grax gegenüber Platz genommen hatte. Wir warteten darauf, daß Gariv seinen Plan in die Tat umsetzte, ließen es uns aber nicht nehmen, in der Zwischenzeit das Essen und die Weine zu genießen, den Tänzerinnen zuzuschauen, den Sängern und Barden zu lauschen und die schönen Kellnerinnen zu bewundern, die uns wie gütige Engel umschwirrten. Ich nahm gerade den zweiten Gang zu mir, eine gut durchgebratene Morgenfalkenbrust mit einer köstlichen süßen Sauce, und hoffte, daß Gariv sich bis zum Ende des Festmahls zurückhalten würde, als die Musik und die leisen Unterhaltungen der Gäste plötzlich von einer klirrenden Stimme durchschnitten wurden. »Seid still!« rief Gariv. »Ich habe wichtige Neuigkeiten für unsere geliebte Königin.« Mehrere Wachen mit kurzen Speeren setzten sich in Bewegung, als Gariv aufstand, doch Nikkolope bedeutete ihnen mit einer kurzen Handbewegung, zurückzubleiben.
»Du kannst frei sprechen, Fremder«, erklärte sie gelassen. »Sag uns deine Neuigkeiten.« »Der echte König von Skorat lebt!« verkündete Gariv stimmgewaltig und riß die Arme hoch. »Gariv ist von den Toten zurückgekehrt und beansprucht seinen Thron, sein Reich und seine Königin!« Den versammelten Gästen entfuhr ein einhelliger Ausruf des Staunens. Nikkolopes Haltung blieb unverändert gelassen. Sounitan winkte eine Wache heran und erteilte ihr leise Anweisungen. Die Wache machte auf dem Absatz kehrt und verschwand eilig hinter den Thronen. Ich spürte, daß Gefahr im Verzuge war, verließ meinen Platz an der langen Tafel und drückte mich an die Wand dicht neben einem Bogengang. Grax, auf der anderen Saalseite, folgte meinem Beispiel. »Wenn Gariv zurückgekehrt ist, soll er für sich selbst sprechen. Wo ist er?« fragte Nikkolope. »Hier! Ich bin Gariv!« Sounitan sprang auf und zeigte anklagend auf Gariv. »Du lügst! Hochstapler!« schrie er. »Usurpator!« schrie Gariv zurück und drohte mit der Faust. »Wachen, schafft diesen Bettler vor die Tore und pfählt ihn!« befahl Sounitan. Nikkolope machte keine Anstalten, einzugreifen. Zwei Wachen drangen auf Gariv ein, und dieser
wehrte sich. Die eine Wache schlug er mit einem schweren Weinkrug nieder, ergriff deren Speer und stieß ihn der zweiten mit dem stumpfen Ende in den Bauch. Dann sprang er auf den Tisch und mit dem Schrei »Tod dem Usurpator! Gariv ist zurückgekehrt!« schleuderte er den Speer auf Sounitan. Der Prinzgemahl wich mit einer Behendigkeit aus, die ich ihm nicht zugetraut hätte, schnappte sich den Speer mitten im Fluge und warf ihn zurück auf seinen Gegner. Die Waffe traf Gariv mit solcher Wucht unter dem Brustbein, daß sie ihn völlig durchbohrte und auf dreißig Zentimeter Länge aus seinem Rücken herauskam. Gariv erstarrte, dann stürzte er rückwärts zu Boden. Die Schnelligkeit des Geschehens überraschte mich so sehr, daß ich wie gelähmt neben dem Bogengang stehenblieb, bis eine Wache mich höflich anstupste und sagte: »Es besteht keine Gefahr mehr, Sir. Sie können sich wieder setzen.« Ich nickte und ging an meinen Platz zurück. Das aufgeregte Geschnatter im Saal brach ab, als Nikkolope aufstand und sich an ihre Gäste wendete. »Edle Damen und Herren, werte Gäste, Leute von Thak«, begann sie. »Ich, eure Königin, bitte euch um Verzeihung für diese Störung unserer Feier. Wir alle wissen, daß Gariv tot ist. Er gab sein Leben, um Skorat und sein Volk vor den Rinn zu erretten. Er starb
den Heldentod. Ich bedauere, daß dieser arme, verwirrte Mann euch Ungemach bereitet hat, und bitte euch, ihm zu vergeben und den Zwischenfall zu vergessen. Denn dies ist ein Tag, den wir feiern wollen.« Auf diese Bitte der treuen Nikkolope hin wandte jedermann sich pflichtschuldig wieder dem Essen und Trinken und den übrigen Festivitäten zu. Ich sah nicht einmal, ob jemand die Leiche entfernte.
5
Ein blinder Passagier auf der ›Renegat‹
Grax und ich verließen den Palast spät in der Nacht. Wir waren ein bißchen unsicher auf den Beinen, denn wir hatten ziemlich lange gefeiert. Auf dem Weg zur Renegat wechselten wir kaum ein Wort. Wir starteten noch in derselben Nacht von Skorat, und als wir die Lichtgeschwindigkeit überschritten und die Sterne erloschen, starrte Grax auf den leeren Bildschirm und fragte: »Was ist deine Meinung, Del?« »Zu was?« »Du weißt schon. War er nun Gariv oder nicht?« »Spielt das noch eine Rolle? Er ist tot.« »Hm. Vermutlich hast du recht.« »Vielleicht kann uns die Maschine auf Watsons Planet Auskunft geben. Sie soll ja angeblich alles wissen«, meinte ich.
»Eins kann sie uns mit Gewißheit nicht sagen: was sich in Nikkolopes Kopf abspielte, als Gariv aufstand und seine Enthüllung machte.« »Das wird nie jemand erfahren. Und ich habe keine Lust, mir darüber Gedanken zu machen. Ich lege mich schlafen.« »Gute Idee«, meinte Grax. Aber ich blieb noch eine Weile sitzen. Der Verdacht, der auf Gariv gefallen war, warf neues Licht auf die ganze Angelegenheit. Wenn er tatsächlich nur ein Hochstapler gewesen war, konnte er uns lauter Lügengeschichten erzählt haben. Vielleicht flogen wir Watson an, um uns von einer Maschine sagen lassen zu müssen, daß es einen Commander Corey nie gegeben hatte. Bis zu der Begegnung mit Gariv hatte mein Wissensdurst über meine wahre Herkunft sich mehr oder weniger gelegt, doch seine Hinweise auf Corey, die Pendelton-Basis und die Möglichkeit, daß ich von Eltern verschiedener Rassen abstammte, hatten ihn neu und stärker denn je entfacht. Aber selbst wenn Gariv ein Schwindler gewesen war, an der Rinn-Expedition hätte er dennoch teilgenommen haben können. Dieser Teil seiner Geschichte konnte wahr sein. Doch auch der Rest konnte wahr sein. Der unausweichliche Schluß war, daß wir nichts mit Bestimmtheit wußten. Uns blieb nichts anderes übrig, als Watson anzufliegen und uns dort Klarheit zu verschaffen.
Als ich diesen düsteren Gedanken nachhing und Grax mir gegenüber saß, die Arme auf dem Eßtisch verschränkt und den Kopf darauf gebettet, vernahm ich plötzlich ein Räuspern hinter mir. In Sekundenschnelle waren wir auf den Beinen, die Pistolen schußbereit in den Händen, und sahen uns einem merkwürdig gekleideten Mann gegenüber, der im Kabineneingang stand. Der Fremde war schlank, hatte ungefähr meine Größe und einen rotblonden Kinnbart, der stellenweise von weißen Streifen durchzogen war. Er hatte rauhe, zerfurchte Gesichtszüge, doch seine langen schmalen Hände waren nicht die eines Arbeiters. Offensichtlich waren sie dazu bestimmt, die neunzehnsaitige Linlovar zu schlagen, die an einem farbenprächtigen Gurt an seiner Schulter hing. Er trug eine enganliegende, hellgestreifte Hose, Stiefel aus weichem Leder und eine kurze karmesinrote Jacke. Er gab sich alle Mühe, ruhig und gelassen zu wirken, schaffte es aber nicht so ganz. Es gehört schon einiges dazu, die Fassung zu bewahren, wenn zwei zottige, wüst aussehende Raumfahrer die Pistolen auf einen gerichtet haben. In Anbetracht der Umstände war seine Selbstbeherrschung beeindruckend. »Meine Herrn, ich muß Sie inständig um Verzeihung bitten, hier so unvermittelt hereinzuplatzen«, sagte er und streckte die offenen Hände aus, wie um
uns zu beschwichtigen. »Wenn ich Sie erschreckt haben sollte, so tut es mir aufrichtig leid. Wie mir scheint, befinde ich mich in einer höchst peinlichen Lage. Ich begab mich in Ihr Schiff in der Annahme, daß es für die Dauer der Feierlichkeiten leer sein würde, und nun stelle ich fest, daß wir im Weltraum sind. Das ist äußerst peinlich, in der Tat.« »Ein blinder Passagier«, meinte Grax. »Mein Herr, Sie tun mir Unrecht«, sagte der Fremde und setzte eine gekränkte Miene auf. »Ich kam nach Thak wegen der Hochzeit und der Feierlichkeiten, konnte jedoch keine Unterkunft finden. Ich entdeckte Ihr Schiff durch reinen Zufall. Es war so gut versteckt, daß ich sofort annahm, seine Eigentümer planten einen langen Aufenthalt. Ich ging an Bord, um mich auszuruhen, und hatte nichts anderes im Sinn, als am frühen Morgen wieder nach Thak zu wandern und erneut mein Glück zu versuchen. Es lag durchaus nicht in meiner Absicht, mit Ihnen auf Reisen zu gehen.« »Nun, das ist jetzt aber geschehen. Was machen wir mit ihm, Del?« fragte Grax. »Wir können ihn schwerlich zurückbringen.« »Meine Herrn, bitte. Es würde mir nicht im Traum einfallen, Sie zu bitten, meinetwegen nach Skorat umzukehren. Nein, nein, kein Wort mehr davon«, sagte unser neuer Passagier und hob die Hand, als wolle er uns Schweigen gebieten, obgleich weder
Grax noch ich den Mund aufmachten. »Ich bereite Ihnen schon genug Unannehmlichkeiten. Setzen Sie mich auf dem erstbesten Planeten ab, ich werde mich schon zurechtfinden. Wohin, wenn man fragen darf, geht die Reise eigentlich?« »Nach Watson«, sagte ich. Seine Miene trübte sich. »Das ist bedauerlich. Ich fürchte, auf Watson werde ich nicht sehr willkommen sein.« »Wer macht Ihnen denn dort Kummer?« »Niemand, mein Herr. Watson macht sich selbst Kummer. Die einzige Musik auf Watsons Planet ist das Geklapper von Maschinen, die einzige Poesie unsichtbare Markierungen auf hauchdünnen Drähten, die sich durch die Innereien eines großen, seelenlosen Gehirns winden. Es ist eine saubere kleine Welt, auf der alles seine Ordnung hat. Für Weltraumbarden ist dort kein Platz.« »Demnach sind Sie ein Raumbarde.« Er machte eine Verbeugung und erklärte: »Das bin ich, meine Herren. Ich bin der größte lebende Raumbarde, dem Hunderte von Welten die großartigsten Dichtungen verdanken. Mein Name ist Alladale Hymnen-Macher. Zweifellos habt ihr ihn oft gehört.« »Noch nie«, sagte Grax. »Dann müssen Sie die falschen Sonnensysteme besucht haben. Und Ihr, mein Freund?« fragte er und
wandte sich mir zu. »Gewiß ist Ihnen der Name Alladale nicht unbekannt.« »Ich glaube, ihn ein-, zweimal gehört zu haben«, log ich, um mich ein wenig gastfreundlich zu zeigen. Grax funkelte mich zwar an, schwieg jedoch. »Ein welterfahrener Mann und ein Kenner der wahren Kunst. Ich sah es Ihnen auf den ersten Blick an, Sir. Es ist mir eine große Freude ...« Seine Stimme versagte, und er bedeckte die Augen, ging taumelnd einen Schritt zurück und lehnte sich gegen das Schott; dann schüttelte er den Kopf, wie um einer drohenden Ohnmacht entgegenzuwirken. »Fehlt Ihnen etwas?« fragte ich. »O nein, keineswegs. Es geht mir bestens. Nur ein kurzer Schwächeanfall, der wieder vorübergeht. Bei all der Herumrennerei auf Skorat kam ich nicht dazu, Nahrung zu mir zu nehmen. Es ist eine ganze Weile her, daß ich ...« »Komm her, setz dich«, seufzte Grax resigniert. »Wir holen dir was zu essen.« Alladale brauchte keine zweite Aufforderung. In Sekundenschnelle saß er am Tisch, beteuerte, er denke nicht im Traum daran, uns kostbarer Rationen zu berauben, erklärte, er könne unmöglich unsere Gastfreundschaft, Großzügigkeit und Freundlichkeit dermaßen schamlos ausnutzen, verschlang indessen jedoch zwei herzhafte Mahlzeiten. Als er zu Ende ge-
gessen hatte, lehnte er sich zurück, seufzte und rülpste klangvoll und lächelte uns freundlich an. Es war ja ganz schön, wenn ein Mensch so satt und zufrieden aussah wie Alladale in diesem Moment, doch während ich unseren neuen Gast so betrachtete, kam mir der Gedanke, ob ich nicht vielleicht eine Schwäche für jeden Habenichts in der Galaxis entwickelte. Erst Gariv, jetzt Alladale – wen würden wir als nächstes durchfüttern? Aber war das so schlimm? fragte ich mich dann. Vielleicht würden andere dasselbe für mich tun, wenn ich einmal im Dreck steckte. »Vorzüglich. Einfach köstlich«, hauchte Alladale. »Soviel Güte muß vergolten werden. Ich kann Ihnen allerdings nur eins bieten – ein Lied. Was darf es sein, meine werten Gastgeber? Ihr seht ein wenig müde aus, ein Kampflied der Skeggjatten würde euch gewiß aufmuntern.« »Nein, danke«, sagte ich. »Dann vielleicht ein Trinklied?« »Trinklieder haben wir den ganzen Tag gehört«, brummte Grax. »Davon habe ich für die nächste Zeit genug.« »Ein Liebeslied? Etwas zum Lachen? Oder vielleicht etwas Melancholisches?« »Ja. Etwas Melancholisches wäre uns jetzt recht«, sagte ich, mich Garivs und meiner wachsenden Zweifel entsinnend.
»Da habe ich genau das Richtige. Ein kurzes, einfaches und doch sehr bewegendes Lied. Ich sang es auf Trubla am Hofe des Vaters und Wohltäters aller Bekannten und Unbekannten Welten und Völker und Universellen Protektors der Rassen*. Der ganze Hof * Ein berüchtigter Despot. Die Trublaner sind ein gedrungenes, grobschlächtiges Volk altirdischer Herkunft. Die zivilisierten Rassen der Galaxis meiden die Trublaner im allgemeinen wegen ihrer bekannten Arroganz, Grausamkeit, Ignoranz, Feigheit und anstößigen Ausdrucksweise, die der lixianischen Vulgärsprache entlehnt ist. Der Herrscher, auf den hier Bezug genommen wird, ist Krankl, der sechste und grausamste der sdrat'saischbizanischen Könige, die Trubla in der Phase ihres Niedergangs regierten. Sein voller Titel lautete: Vater und Wohltäter aller Bekannten und Unbekannten Welten und Völker; Herr aller Sterne, Planeten und Satelliten, aller Himmelskörper und Räumen zwischen den Sternen; Oberster Pilot und Navigator aller Sternenschiffe; Vorbild an Freundlichkeit und Großzügigkeit Seiner Loyalen Gefolgsleute; Unerschütterlicher Turm der Erleuchtung; Inspirator aller Sucher der Wahrheit, Schönheit und eines Untadeligen Lebensweges; Erbauer der Uneinnehmbaren Festungen der Schönsten Städte auf der Zentralwelt des Universums; Mächtiger Arm und Schmied des Schwertes der Vorherrschaft; Vorkämpfer Seiner Streitkräfte; Hellster Stern im Universum; Ewiger Freund der Freunde Trublas und Unbarmherziger Verfolger Ihrer Feinde; sowie Universeller Protektor aller Rassen und Stellvertreter der Unbenennbaren Mächte, welche Alle Dinge regieren. Krankl starb unter merkwürdigen Umständen. Er erstickte im Zustand der Volltrunkenheit an einem Bzzit, das in seinen Weinkelch gefallen war. Die erste Amtshandlung seines Sohnes Fegg, der daraufhin den Thron bestieg, war, das königliche Wappen mit der Abbildung eines Bzzit zu bereichern.
weinte. Die Prinzessin aller Welten und Größte Schönheit im Universum war schier untröstlich.« »Glaub ja nicht, daß wir in Tränen ausbrechen«, knurrte Grax. »Nun, ich will nicht verschweigen, daß der Universelle Protektor den Höflingen unter Androhung der Prügelstrafe befahl zu weinen«, bekannte Alladale. »Dennoch ist das Stück sehr ergreifend. Ich nenne es ›Lied der alten Erde‹.« Er nahm die Linlovar in die Hände, zupfte die Saiten an und stellte einige nach. Dann stand er auf und begann mit dem Lied, das er mit sanften Akkorden begleitete. »Große Bäume gab es hier, hochragend, Wurzeln tief im Muttergrund sie tragend, Steckten die grünen Köpfe Lachend in den blauen Himmel. Sie sind nicht mehr, Werden nie mehr sein, Nie wieder sein. Große Häuser gab es hier, hoch und hell, Waren silber, golden und grell, Blitzten prachtvoll Unterm Bogen der Sonne. Sie sind nicht mehr,
Werden nie mehr sein, Nie wieder sein. Große Menschen gab es hier, den Blick in die Ferne, Schritten stolz über den Grund der Erde, Und ihre Seelen derweil Schwebten empor ins schwarze All. Sie sind nicht mehr, Werden nie mehr sein, Nie wieder sein.« Alladale brach mit einem leisen, langgezogenen Schlußakkord ab, und wir saßen eine Weile still da. Dann stand Grax auf, murmelte: »Leg mich aufs Ohr« und ging. »Keine melancholischen Lieder mehr, Alladale«, sagte ich. »Heute nicht mehr.« Ich überprüfte den Kurs und ging dann ebenfalls zu Bett. Alladale schlief bereits, als ich aus dem Navigationsraum zurückkam. Er lag mit dem Oberkörper auf dem Tisch, den Kopf auf die Arme gebettet, und schlummerte friedlich. Ich ließ ihn, wo er war.
6
Die Lieder Alladale Hymnen-Machers
Die Reise nach Watson verlief ereignislos, und noch ehe wir die halbe Strecke zurückgelegt hatten, waren Grax und ich froh, daß wir unseren blinden Passagier hatten. Alladale machte die Fahrt erträglich, zuweilen sogar angenehm. Er wußte ebensoviele Geschichten zu erzählen wie Gariv, und seine waren weitaus unterhaltsamer. Ich glaubte zwar nicht ein Zehntel dessen, was er sagte, aber ich genoß jedes Wort. Doch obwohl er einen ausgeprägten Sinn für Humor und ein bestechendes Talent besaß, uns mit seinen abenteuerlichen Erzählungen zum Lachen zu bringen, hatte Alladale einen Hang zur Melancholie. Er kannte fröhliche Lieder aus allen Sonnensystemen der Galaxis, aber von seinen eigenen Kompositionen hätte jede einzelne selbst den hartgesottensten daltreskanischen Sklavenhändler dazu gebracht, sich die Augen auszuweinen, noch ehe die ersten drei Strophen verklungen waren. Er trug uns ein Lied vor, das von einem Planeten handelte, wo die Sonne nur einmal in jeder Generation scheint. Ich weiß nicht, ob es eine solche Welt wirklich gibt oder ob Alladale sie sich nur ausgedacht hatte, um einen Vorwand für seine Komposition zu haben. Er nannte das Lied »Tag des Lichts«.
»Sie kommt, sie kommt! Die lange Finsternis weicht nun zurück! Sie flieht! Verschwindet! Sie wächst, sie wächst! Wir schauen auf, und es ist hell vor uns, Hell hinter uns, Helligkeit rund um uns! Wir schauen nieder, Und Farben tanzen in unseren Augen! Wir sind benommen! Sie geht, sie geht! Die Helligkeit schwindet nun dahin, Und die Schatten strecken lange dunkle Finger aus. Wir wanken, weinen, Fürchten uns. Sie ist fort!« Alladale hatte eine Vorliebe für solche traurigen Stücke. Grax mochte sie nicht, und ich konnte sie nicht ausstehen. Ich hätte ab und zu gern etwas Fröhliches gehört. Als er »Tag des Lichts« beendet hatte, bat ich ihn um ein Lied, das uns aufheitern würde. »Dieses wird euch fröhlich stimmen«, erklärte Alladale zuversichtlich. »Es handelt von der Schöpfung. Es ist ›Das Lied von Abtai, dem Windformer‹. Man singt es im Bergland von Toxxo.«
»Warum trägst du uns kein lustiges Lied vor?« fragte Grax. »Das tue ich ein andermal.« Grax machte ein empörte Geste und wandte sich mir zu. »Er verdient sich die Reise mit diesen Liedern und läßt uns nicht einmal aussuchen, was uns gefällt.« »Ein Künstler kann sein Repertoire am besten beurteilen, Grax«, erklärte Alladale gereizt. »Wen kümmert schon der Schöpfungsmythos irgendeines Bergvolkes auf Toxxo?« »Sehr viele Menschen interessieren sich dafür. ›Das Lied von Abtai‹ ist einer der faszinierendsten Schöpfungsmythen nicht nur auf Toxxo sondern schlechthin«, belehrte Alladale uns, ganz im Stil eines alten Schulmeisters, der über sein Lieblingsthema spricht und sich ärgert, daß er bei seinen Zuhörern auf so wenig Gegenliebe stößt. »Die Flachländer haben auch einige Mythen, aber die sind künstlerisch reizlos.« »Schon gut, Alladale, sing uns das Lied«, sagte ich. Er verstellte eine Linlovarsaite, bemüht, die Sache ein wenig in die Länge zu ziehen, räusperte sich dann und fing an zu singen. »Am Anfang war der Wind, der blies. Blies leise durch die Leere, dieser Wind. Blies durch die Leere, wo Abtai lang schlief, Durchs große Nichts, wo keine Dinge sind.
Dann begann der Wind zu heulen, Denn es war Zeit, daß der Wind heulte. Der heulende Wind erweckte Abtai, erweckte Abtai aus langem Schlaf. Und Abtai wußte, es war Zeit aufzustehen und ans Werk zu gehen. Denn es war Zeit, daß Dinge entstünden. Abtai stand auf, stand groß in der Leere, wo keine Dinge sind. Er streckte aus die zwanzigfingrige Hand und griff einen vorüberziehenden Wind. Abtai ergriff den Wind und wirbelte ihn, wirbelte ihn um seinen Kopf. Wirbelte ihn schneller und schneller, und Zeit verging, mehr, als man sagen kann. Der Wind wurde heiß. Er begann zu glühen. Glühte heller und heller. Abtai warf ihn weit, warf ihn hoch und gab ihm einen Platz. Der Platz ist der Himmel. Der brennende Wind hing am Himmel und gab Licht und Wärme. Das ist die Sonne. Abtai sah lang zur Sonne, die er gemacht hatte.
Dann stand er auf und streckte aus die zwanzigfingrige Hand Und griff einen neuen Wind und drückte ihn, drückte ihn fest. Drückte ihn mit seinen Händen. Er drückte den Wind, und der Wind weinte, Und die Sonne kreiste um Abtais Kopf öfter, als man sagen kann. Und der Wind weinte, weinte Wasser, und ein großer Teich entstand zu Abtais Füßen. Das ist das Meer. Abtai sah zur Sonne, sah zum Meer, sah lange zu Sonne und Meer. Dann stand er auf und streckte aus die zwanzigfingrige Hand. Und griff wieder einen Wind, ein lauter Wind, der furchtbar blies, Und drückte ihn, drückte fester als zuvor, Drückte, bis er nicht mehr weinte, Und machte einen Ball daraus Und hielt den Ball zur Sonne, daß er härtete. Das ist das Land. Dann nahm Abtai die Wasser aus dem Meer und goß sie übers Land. Die Sonne wärmte die Wasser und das Land,
Und auf dem Land wuchsen Dinge. Abtai sah zur Sonne, sah zum Meer und zum Land Und dachte nach über die Dinge, die wuchsen auf dem Land, Und er wartete. Auf einem trocknen Wind ritt die Schlange daher Und rief ›Abtai! Abtai! Warum macht du Dinge, wo keine Dinge sind?‹ Abtai kämpfte mit der Schlange, kämpfte länger, als man sagen kann, Und Abtais Blut fiel, fiel in Tropfen auf die Berge, Und das Blut der Schlange fiel, fiel mit Gift in die Täler. Wo das Blut Abtais hinfiel, Da wuchsen die Kinder Abtais, das Volk der Berge. Wo das Blut der Schlange hinfiel, wo ihr Gift hinfiel, Da entstanden die anderen, die Bösen, die Kinder der Schlange, die flaches Land bewohnen. Abtai brach der Schlange den Rücken und warf sie von sich, Und ein trockner leiser Wind trug sie davon. Dann legte Abtai sich nieder und dachte an seine Kinder, Denn die Fänge der Schlange waren in seiner Brust, und der lange Schlaf wartete.
›Wer wird meine Kinder führen und sie lehren? Wer wird sie schützen vor den Kindern der Schlange? Wer, wenn nicht Abtai?‹ Er riß die Fänge der Schlange aus seiner Brust und schrieb darauf seine Lehren, Schrieb all seine Lehren und warf die Fänge zum Gipfel des höchsten Berges. Dann schlief Abtai.« An dieser Stelle endete Alladale, und als die letzten Klänge der Linlovar verhallten, lächelte er uns an. »Im Anschluß daran kommen viertausend Zeilen mit Geboten. Ich dachte mir, ihr würdet sie vielleicht nicht so gern hören.« »Da hattest du vollkommen recht«, entgegnete ich. Grax gab zähneknirschend zu, »Das Lied von Abtai, dem Windformer« wäre gar nicht so übel, und Alladale war wieder versöhnt. Die restliche Reise verlief friedlich.
7
Der erste Kontakt mit den Watsoniern
Das Landekontrollverfahren auf Watson war kompliziert und unwahrscheinlich zeitraubend. Wir mußten sechs Stunden lang Formulare ausfüllen und unzählige Fragen beantworten, darunter einige der dümm-
sten, die man mir jemals gestellt hatte. Als wir diese Tortur überstanden hatten, mußten wir eine mündliche Befragung über uns ergehen lassen, die noch einmal vier Stunden dauerte. Schwierigkeiten gab es hierbei nicht, denn wir hatten uns vorher genau abgesprochen, was wir sagen wollten. Grax und ich hielten uns an den tatsächlichen Verlauf des Geschehens mit einer Ausnahme: Alladale war kein blinder Passagier von Skorat, sondern mein persönlicher Trainer und Assistent von Tarquin VII. Unser Hymnenmacher war einmal dort gewesen und kannte die Sprache und das Zeremoniell der Turniere gut genug, um seine Rolle überzeugend spielen zu können. Die Sache war ein wenig lästig, aber weil Barden auf Watson als unerwünschte Personen galten und wir Alladale nicht zumuten wollten, während der Dauer unseres Aufenthaltes in einer Gefängniszelle herumzuhocken, kamen wir überein, der Raumhafenbehörde diese Geschichte zu präsentieren. Die Befragungsprozedur war ein beklemmendes Erlebnis für mich, denn hier hatte ich zum erstenmal persönlichen Kontakt mit den Watsoniern. Den Angestellten des Maschinenkomplexes war es gesetzlich vorgeschrieben, bei allen geschäftlichen Zusammenkünften weiße, menschlichen Gesichtern nachgebildete Kunststoffmasken sowie blaue Uniformen zu tragen. Dadurch ähnelten sie sich wie ein Ei dem ande-
ren. Die zugrundeliegende Idee war, die Geschäfte in einer Atmosphäre absoluter Sachlichkeit und Objektivität stattfinden zu lassen. Das wollte mir nicht so recht in den Kopf, denn wirkliche Objektivität wäre ja nur dann gewährleistet, wenn die Kunden der Watsonier ebenfalls Masken und Uniformen getragen hätten. Aber schließlich war es ihr Planet, und solange sie mich mit ihren Verrücktheiten nicht weiter belästigten, konnten sie ihr Leben meinetwegen gestalten, wie es ihnen beliebte. Trotz dieser Maskerade konnten die Watsonier einander unterscheiden – wenngleich sie es selten taten –, doch für mich sahen sie alle gleich aus. Nahm ich diesen Augenschein zum Maßstab, dann traf ich während meines gesamten Aufenthalts vielleicht mit einem halben Dutzend Menschen zusammen. Es war höchst unangenehm, nie zu wissen, mit wem man sprach. Man teilte uns ein Quartier zu, ein hübsches, ordentliches, spärlich eingerichtetes Dreibettzimmer in einem riesigen Gebäude mit ähnlichen Unterkünften, das in der Nachbarschaft des MaschinenZentralgebäudes lag. Als wir eintraten, legte Alladale – der jetzt Scaevius hieß – die Finger an die Lippen und bedeutete uns zu schweigen. Dann durchstöberte er den Raum, suchte hinter, unter und in den wenigen Möbeln und Einrichtungsgegenständen und winkte uns schließlich zu einem großen, dreidimen-
sionalen Filmbild an der Wand. Es war eine Miniaturdarstellung des Watson-Systems, die die sechs Planeten und ihre einunddreißig Satelliten zeigte, wie sie mit maßstäblicher Geschwindigkeit ihre Bahnen zogen. Er deutete auf einen der Monde des zweiten Planeten und formte das Wort »Abhörgerät«. Wir nickten. An diesem Abend achteten wir genau darauf, was wir sagten. Am nächsten Morgen verließ ich Grax und Scaevius, um mich zu einer geschäftlichen Unterredung mit einem Repräsentanten der Maschine zur Informationsbürosektion des Maschinen-Zentralgebäudes zu begeben. Wieder mußte ich dasselbe Frage- und Antwortspiel über mich ergehen lassen; diesmal mit einigen neuen Marotten. Die Watsonier, das wurde mir langsam klar, wollten nicht nur Informationen verkaufen, sie waren ebensosehr daran interessiert, welche zu erhalten. Ich zeigte einem Angestellten mit weißer Gesichtsmaske meine Verabredungsmarke, der daraufhin eine komplizierte Tabelle konsultierte und mich dann in einen jener winzigen Räume führte, die das Informationsgebäude zu Hunderten oder Tausenden wabenartig durchsetzten. Er ließ mich allein, und einige Minuten später trat durch die gegenüberliegende Tür ein anderer Angestellter ein – dem Augenschein nach hätte es ebensogut derselbe sein können,
der mich hergebracht hatte –, nahm ohne ein Wort der Begrüßung gegenüber von mir an dem kleinen Tisch Platz und hielt mir die Hand hin. Ich war angenehm überrascht über diese, wie ich meinte, erste freundliche Geste seit meinem Aufenthalt auf Watson, doch ich hatte sie falsch eingeschätzt. »Ihre Marke, bitte«, sagte der Angestellte. Ich gab sie ihm. Er verglich sie mit einer Tabelle, die etwas weniger kompliziert wirkte als die seines Kollegen, und erklärte: »Sie sind Del Whitby, geboren auf Gilead, Miteigentümer und Kommandant des Sternenschiffs Renegat, welches von Skorat kommt und drei Passagiere befördert – Sie eingeschlossen.« »Der bin ich.« »Sie kamen nach Watson auf Informationssuche und möchten zu diesem Zweck die Dienste der Maschine in Anspruch nehmen.« »Das ist richtig.« »Bitte beschreiben Sie die von Ihnen gewünschten Informationen ausführlich.« »Das habe ich bereits viermal getan.« »Bitte nennen Sie sie noch einmal zwecks Verifikation.« »Dazu sehe ich keinen Anlaß«, erklärte ich gereizt. »Nach der bestehenden Verfahrensordnung müssen die Wünsche eines Interessenten einem autorisierten Repräsentanten des Informationsbüros münd-
lich erläutert werden. Ich bin Smith MR 37-864, gemäß Paragraph 84C, Abschnitt IV der Verfahrensvorschriften bevollmächtigt, die genannte Funktion auszuüben. Bitte fahren Sie fort.« Mein Gegenüber leierte diese Worte mit so ausdrucksloser und mechanischer Stimme herunter, daß ich mich fragte, ob ich vielleicht mit einem Roboter redete. Doch dann dachte ich an EXEI-Chirurgie auf Vigrid, und mir kamen Zweifel an dieser Idee. Smith MR 371-64 konnte keine Maschine sein; er benahm sich einfach zu roboterhaft. Ich gab nach. »Also schön. Ich möchte zweierlei: eine Navigationskarte, auf der Gilead verzeichnet ist, sowie sämtliche verfügbaren Informationen über Commander Corey, Leiter des Siebten Angriffsgeschwaders der RinnExpedition.« »Warum begehren Sie diese Auskünfte?« »Aus persönlichen Gründen.« »Bitte erläutern Sie sie«, schnarrte Smith mechanisch. »Ich möchte nach Gilead zurückkehren, weil meine Pflegeeltern und meine Verlobte sich dort aufhalten. Die Auskünfte über Corey möchte ich deshalb, weil ich Grund zu der Annahme habe, daß er etwas über meine wirklichen Eltern weiß.« »Die Erklärung ist zufriedenstellend. Bitte warten Sie.«
Auf einen Knopfdruck hin glitt ein Teil der Tischplatte zurück, und ein Bildschirm und mehrere Reihen Drucktasten kamen zum Vorschein. Smith begann zu tippen. Seine Finger huschten mehrere Minuten über die Tasten, und nach einer kurzen Pause begann eine Schrift über den Bildschirm zu wandern. Ich versuchte mitzulesen, doch die Worte bewegten sich zu schnell, als daß ich sie verkehrtherum hätte entziffern können. Als die letzten Buchstaben vorübergezogen waren, schaute Smith auf, und ich sah mich wieder dieser ausdruckslosen weißen Maske gegenüber. »Die von Ihnen gewünschte Information ist vorhanden und unterliegt nicht der Geheimhaltung. Sie wird Ihnen sechs Minuten nach Eingang der Bezahlung zugänglich gemacht werden. Die Gebühr beträgt zwei Patchiks, sechs Bettertons*.«
* Das intersystemare Währungssystem wurde zu Anfang des zweiten Jahrhunderts der Weltraumerforschung auf dem Planeten Gobseck (17. Monat 22 112 PK; 8. 12. 2199 GSK) ins Leben gerufen. Nach langen Beratungen wurde gegen den heftigen Protest der Karrapada, einer siebenfingrigen Rasse, die eine Zehnereinheit als unsinnig betrachtete, das irdische Dezimalsystem als Grundlage für eine universelle Währung übernommen. Zahlungsmittel wurden in sieben Hauptverrechnungseinheiten gedruckt – eine Konzession an die gekränkten Karrapada. Jede Verrechnungseinheit wurde nach einem Weltraumforscher, Bankier oder Raumschiff der Pionierzeit benannt. Die niedrigste
»Das ist ein stolzer Preis, Smith – zweihundertsechzigtausend Vanguards.« »Uns entstehen sehr hohe Unkosten. Die Gebühr ist nicht Gegenstand der Verhandlung.« »Das hatte ich auch nicht angenommen. Nun, ich werde mir überlegen müssen, wie ich das Geld beschaffe. Im Moment besitzen wir nicht einmal einen Betterton.« »Ihr Raumschiff wurde auf eineinhalb Demetrious geschätzt«, erklärte Smith. »Wir würden es in Zahlung nehmen.« »Die Renegat ist unverkäuflich. Was nützt es mir, wenn ich den Weg nach Gilead weiß, aber kein Schiff mehr habe, um dorthin zu gelangen?« »Der Einwand ist berechtigt. Verfügen Sie über keine anderen Mittel?« »Nein.« »Ist diese Information wichtig für Sie?« »Ja, selbstverständlich!« fuhr ich auf. »Glauben Sie, ich hätte die Strapazen der langen Reise nach Watson Verrechnungseinheit war der Vanguard, in der Umgangssprache als »Sput« bekannt. 10 Vanguards = 1 Staviarski 10 Staviarskis = 1 Gargarin 10 Gargarins = 1 Armstrong 10 Armstrongs = 1 Betterton 10 Bettertons = 1 Patchik 10 Patchiks = 1 Demetriou
auf mich genommen und all die blödsinnigen Fragen über mich ergehen lassen, wenn diese Auskünfte nicht von entscheidender Bedeutung für mich wären?« »Bitte bewahren Sie die Ruhe. Es besteht die Möglichkeit eines Arrangements mit unserer Abteilung für Besondere Operationen, welches Ihnen gestatten wird, im Austausch gegen Informationen Dienst zu erbringen. Erscheint Ihnen das annehmbar?« »Das kommt darauf an. Um was für Dienste handelt es sich?« »Das kann nur von einem autorisierten Repräsentanten der Abteilung für Besondere Operationen erläutert werden. Wünschen Sie, daß ich eine Unterredung vereinbare?« Ich ließ mir die Sache eine Weile durch den Kopf gehen und kam schließlich zu dem Ergebnis, daß ich nichts zu verlieren hatte. Die Renegat zu verkaufen, kam nicht in Frage. Folglich mußte ich das Geld auf andere Art beschaffen oder auf die Auskünfte verzichten. »In Ordnung«, sagte ich. Smith tippte eine kurze Botschaft in die Tasten, und diesmal kam die Antwort ohne merkliche Verzögerung. Ich hatte das Gefühl, daß man meine Zusage erwartet hatte. »Sie sollen sich in der Abteilung für Besondere Operationen, Unterabteilung VI, Sektion Blau melden. Bitte begeben Sie sich sofort dorthin.«
»Wo ist das?« »Man wird Sie führen. Gutes Funktionieren, Mr. Whitby.«
8
Zweiter Kontakt mit den Watsoniern; man macht mir ein interessantes Angebot
Smith hatte recht, ich wurde geführt. Vor der Tür wartete ein Angestellter mit weißer Gesichtsmaske, der sich wortlos in Bewegung setzte. Ich folgte ihm durch Korridore mit Interviewzellen zu beiden Seiten, endlose Rampen hinunter, über eine breite, durchscheinende Brücke, dem Verbindungsglied zwischen zwei gewaltigen, bergeshohen Gebäuden, dann durch weitere Korridore. Endlich kamen wir zum Ziel. Es war ein beträchtlicher größerer und besser ausgestatteter Raum als der im Informationsgebäude, und das Erstaunlichste von allem: ein Mann und eine Frau erwarteten mich, und keiner von beiden trug eine Maske. Sie waren wie alle Watsonier in blaue Uniformen gekleidet, doch auf diesen uniformierten Körpern saßen richtige Gesichter, die Gesichter von Menschen. Das des Mannes wirkte streng, zeigte jedoch einen freundlichen Ausdruck. Die Frau war sehr hübsch. Sie machten einen ganz vernünftigen Eindruck und behandelten mich wie einen will-
kommenen Gast. Ich überlegte, ob ich meine Meinung über Watson vielleicht ändern sollte. »Treten Sie ein, Mr. Whitby, treten Sie ein«, sagte der Mann. »Wir waren gespannt darauf, Sie persönlich kennenzulernen.« Er entließ meinen Führer, bedeutete mir, in einem komfortablen Sessel Platz zu nehmen, und fuhr fort: »Ich bin Johnson BO 43-59, und dies ist meine technische Assistentin Shaw BOZ 617. Wir haben uns mit Ihrem Werdegang befaßt und müssen gestehen, daß wir beeindruckt sind. Sehr beeindruckt, um die Wahrheit zu sagen. Wir glauben, daß Sie genau der Mann sind, den wir für diese Mission zu finden hofften.« »Danke«, sagte ich. »Um was für eine Mission handelt es sich?« »Ich bin für die technische Durchführung der Operation verantwortlich«, erklärte Shaw mit strahlendem Lächeln. »Sie werden in guten Händen sein, Mr. Whitby.« »In der Tat. Shaw ist Expertin auf ihrem Gebiet. Ihr Körper wird aller Voraussicht nach einen Effizienzfaktor von 115% des augenblicklichen Höchstwertes aufweisen, sobald Sie ihn zurückbekommen«, bemerkte Johnson. »Das freut mich. Um was für eine Mission handelt es sich?« fragte ich erneut. »Nun, im Grunde um eine ganz normale Rettungs-
operation. Sie fällt zwar unter Wagnisstufe Eins, weil es einige Komplikationen gibt, doch das steht nur auf dem Papier. Ein Mann wie Sie –« »Ist unter ›Wagnisstufe Eins‹ zu verstehen, daß derjenige, der die Mission übernimmt, wahrscheinlich getötet werden wird?« erkundigte ich mich. »Nun, rein technisch gesehen, ja«, erwiderte Johnson, sorgsam darauf bedacht, meinem Blick auszuweichen. »Doch Sie müssen bedenken, daß diese Einstufungen von Büromenschen vorgenommen werden. Solche Personen neigen dazu, die Gefahren zu überschätzen.« »Mmpf«, quetschte ich hervor und stand auf, um das Weite zu suchen. »Warten Sie, Mr. Whitby«, rief Johnson erregt. »Zugegeben, das Unternehmen ist mit einem gewissen Risiko verbunden, doch wir haben aus Ihren Unterlagen ein Psychogramm erstellt, welches eindeutig zeigt, daß durch Ihre überaus große Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit –« »– und durch Ihren Mut natürlich dieses Risiko auf ein Minimum reduziert wird. Für einen gewöhnlichen Menschen wäre diese Mission gefährlich, aber für Sie ...« Er lächelte gewinnend und machte eine wegwerfende Geste, wie um zu sagen, allein der Gedanke an Gefahr sei absurd. »Sie sind genau der richtige Mann für uns, Del«,
sagte Shaw, zog mich in den Sessel hinab und zwängte sich neben mich. »Glauben Sie?« »Sie würden sich sechs Tage GSK auf dem Planeten aufhalten. Etwas mehr als zwei Tage planetarischer Zeit. Einschließlich Vorbereitungs- und Erholungszeit würde die gesamte Mission siebenundvierzig Tage GSK dauern. Anschließend würden Sie die gewünschten Informationen sowie einen Patchik drei Bettertons erhalten. Einhundertdreißigtausend Vanguards, Mr. Whitby.« »Eine stattliche Summe«, bemerkte ich. Mir kam der Gedanke, daß ich vielleicht als recht wohlhabender Mann nach Gilead zurückkehren konnte. Ein Vorstellung, der ich nicht abgeneigt war. »Abzüglich einiger kleinerer Beträge zur Deckung entstehender Unkosten, versteht sich«, fügte Johnson hastig hinzu. »Trotzdem bliebe ein beachtlicher Rest übrig.« »Was hätte ich zu tun?« »Sie werden verstehen, daß wir erst eine feste Zusage von Ihnen haben müssen, ehe wir Sie eingehend informieren können. Aber ich kann Ihnen folgendes sagen: vor acht Monaten landete ein Untersuchungsteam von Watson auf einem Quarantäneplaneten. Als wir vier Monate lang nichts von ihm hörten, entsandten wir eine Rettungsmannschaft. Doch auch von ihr
erhielten wir keine Nachricht. Nun planen wir, eine Rettungssondereinheit zu schicken, bestehend aus einem Mann, der die Lage sondieren und – wenn möglich – die Vermißten zurückbringen soll.« »Haben Sie irgendeine Vorstellung, was den Teams zugestoßen sein könnte?« Johnson schüttelte den Kopf. »Nicht die geringste.« »Was hatten diese Leute überhaupt auf einem Quarantäneplanet zu suchen?« »Unsere Untersuchungsbeamten stellen überall Nachforschungen an, Mr. Whitby. Watson ist das Informationszentrum der Galaxis; wenn die Informationen nicht von selbst zu uns kommen, müssen sie zusammengetragen werden.« »Das mag sein, aber ein Planet, der unter Quarantäne steht –« Johnson zuckte die Achseln. »Die Beamten hatten ihre Anweisungen, Mr. Whitby. Sie waren verpflichtet, sie auszuführen. Nun sind wir unsererseits verpflichtet, nichts unversucht zu lassen, um sie zu retten.« »Und welche Rolle spiele ich dabei? Soll ich auf einem Quarantäneplaneten herumwandern und nach Leichen suchen?« »Keineswegs, Mr. Whitby. Wir kennen den Ort, wo unsere Männer gelandet sind. Sie werden ohne weiteres in der Lage sein, sie aufzuspüren. Sie werden üb-
rigens über eine große Zahl von Fähigkeiten verfügen, die Sie jetzt nicht besitzen.« »Wie meinen Sie das?« Johnson machte eine unbestimmte Geste und sah mich bekümmert an. »Leider darf ich Ihnen keine Details nennen, so gern ich es auch möchte. Vielleicht kann Shaw Ihnen in groben Zügen erklären, welche Maßnahmen geplant sind.« »Ihnen kann nichts geschehen«, begann Shaw. »Sie werden in psychologischer und physischer Hinsicht vollkommen geschützt sein.« »Einen vollkommenen Schutz gibt es nicht«, wandte ich ein. »Wer sich auf einen Quarantäneplaneten begibt, kann gewiß sein, den Tod zu finden oder unheilbar wahnsinnig zu werden.« Einige Passagen aus den alten Büchern der Phoenix hafteten mir noch deutlich im Gedächtnis. »Glauben Sie mir, Del. Sie werden auf diesem Planeten genauso sicher sein wie hier. Ihr Wahrnehmungsvermögen wird um den Faktor Fünf und Ihre Reaktionsschnelligkeit um das Dreifache erhöht sein.« »Das dürfte mein Körper kaum aushalten.« »Ihr Körper wird nicht beteiligt sein, Del. Unser Plan sieht vor –« »Das genügt, Shaw«, fuhr Johnson dazwischen. »Sie sagt die Wahrheit, Mr. Whitby, und Sie wissen
noch längst nicht alles. Wenn Sie die Mission übernehmen, werden Sie über die Verteidigungskapazität einer kleinen Armee verfügen. Sie werden Erfahrungen machen, wie sie wenigen Menschen jemals vergönnt waren. Das garantiere ich Ihnen. Außerdem werden Sie gut bezahlt werden, die Informationen erhalten, derentwegen Sie hierher kamen, und zusätzlich stellen wir Ihnen eine Transportmöglichkeit zur Verfügung, so daß Sie nach Ihrer Rückkehr reisen können, wohin Sie wünschen. Ich finde, ein so großzügiges Angebot können Sie gar nicht ausschlagen.« »Ganz meine Meinung. Dennoch möchte ich mich erst mit meinen Freunden besprechen.« »Das verstehe ich vollkommen. Genügt ein Tag?« Ich nickte. »Das genügt.« »Gut. Dann erwarten wir Sie hier morgen um dieselbe Zeit. Wenn Sie einverstanden sind, können wir sofort mit den Vorbereitungen beginnen.« »Sie werden mit uns zusammenarbeiten, nicht wahr, Del?« fragte Shaw. »Das sage ich Ihnen morgen.«
9
Grax und Scaevius in Gefahr
Als ich wieder mit Grax und Scaevius zusammentraf, wurde ich auf ungewöhnliche Weise von ihnen be-
grüßt. Ehe ich ein Wort sagen konnte, verkündeten beide lautstark, daß sie etwas Wichtiges im Schiff vergessen hätten, und bestanden darauf, daß wir sofort hingingen, um die Sachen zu holen. An Bord der Renegat stellte Grax einen laut brummenden Ventilator an, und wir setzten uns dicht zusammen. »Es soll niemand mithören«, erklärte er. »Scaevius und ich stecken in der Klemme, Del.« »Was habt ihr denn angestellt?« »Nach deinem Aufbruch heute früh gingen wir zum Info-Markt, um zu sehen, ob wir vielleicht Geld für dich auftreiben konnten. Wir hatten gehört, daß der Informationsdienst hier unglaublich teuer ist, und dachten uns, du bräuchtest vielleicht mehr, als wir haben. Raumreisende werden für Informationen gut bezahlt, weißt du, und ich dachte, ich könnte meine Erlebnisse an Bord der Antap oder der Phoenix XXVII oder auf Skorat an den Mann bringen. Scaevius hatte auch einiges zu verkaufen. Wir sahen uns zunächst ein bißchen um, und als wir am intersystemaren Fahndungsstand vorbeikamen, entdeckten wir beide unser Konterfei.« Scaevius blickte nervös um sich. »Der Schreck ist mir in alle Knochen gefahren. Ich muß von hier verschwinden, Del, und zwar schnell.« »Warum hast du uns nicht gesagt, daß du in Schwierigkeiten steckst?« fragte ich.
»Weil ich es nicht wußte! Ich schwöre es, Del. Ich hatte mal eine flüchtige Affäre mit der jüngsten Tochter des Universellen Protektors, und der läßt jetzt wegen Schändung einer Prinzessin des Königshauses nach mir fahnden. Ich soll nach Trubla gebracht und bestraft werden.« »Und welche Strafe erwartet dich?« »Daran wage ich gar nicht zu denken. Der Protektor ließ Menschen in kochendem Wasser verbrühen, nur weil sie bei der Anrede einen seiner Titel weggelassen hatten. Mir wird übel, wenn ich mir vorstelle, was er mit jemandem machen würde, der ...« Er schauderte und schloß die Augen. »Und du, Grax?« »Ich wußte Bescheid, aber ich hätte nicht gedacht, daß man so hartnäckig nach mir sucht.« »Eine schlimme Sache?« »Kommt drauf an, wie man es sieht, Del. Ich würde es jederzeit wieder tun.« »Was?« »Hab ein paar Kerle erschossen, die meine Familie umbrachten. Wir konnten uns damals nicht über die Grenzen einigen. Unser Nachbar dachte, er könnte das Problem aus der Welt schaffen, indem er uns umlegte. Eines Nachts kam er mit seinen Kumpanen an. Sie erwischten alle bis auf mich. Ich war noch ein Kind und konnte entkommen. Es hat mich neun Jahre
gekostet, aber ich stöberte sie alle einen nach dem anderen auf. Als ich den letzten erledigt hatte, war mein Nachbar, der die Sache angezettelt hatte, zum Bezirksgouverneur avanciert. Deshalb mußte ich mich schleunigst davonmachen, nachdem ich ihm seinen Lohn gegeben hatte.« Scaevius erwachte aus seiner Versunkenheit, hob beschwörend die Hände und klagte: »Warum habe ich mich bloß mit ihr eingelassen? Dabei war sie so häßlich!« Verzweifelt wandte er sich an uns. »Ich dachte doch, es würde von Gästen erwartet!« »Hör auf mit dem Gejammer. Man wird uns nicht kriegen. Wir hauen auf der Stelle ab«, sagte Grax. »In Ordnung, Del?« Nun war ich an der Reihe, mein Leid zu klagen; ich erzählte ihnen die Geschichte. Grax hatte volles Verständnis. »Ich schätze, dir bleibt nichts anderes übrig, als diese Mission zu übernehmen, worum es sich dabei auch handeln mag«, sagte er. »Ich sehe zwar nicht, wie wir die siebenundvierzig Tage auf Watson überstehen sollen, ohne entdeckt zu werden, aber wir werden es versuchen.« »Verschwinden wir lieber gleich. Wenn wir alle arbeiten, können wir das Geld beschaffen. Del kann ja später allein nach Watson zurückkehren«, meinte Scaevius.
Grax widersprach ihm. »Das können wir ihm nicht zumuten. Wir müssen eben in der Renegat bleiben und abwechselnd Wache halten.« »Nein, das kommt nicht in Frage«, sagte ich. »Ihr startet sofort, und wir treffen uns wieder, sobald ich hier fertig bin.« »Und wo sollen wir uns siebenundvierzig Tage lang verstecken?« wollte Grax wissen. »Barbary! Wir fliegen nach Barbary!« rief Scaevius begeistert. »Ich habe Freunde dort, die sich um uns kümmern werden.« »Meinetwegen. Wollte Barbary schon immer kennenlernen. Aber wie willst du dorthin kommen, Del?« »Kein Problem. Wenn die Sache vorüber ist, stellt man mir eine Transportmöglichkeit zur Verfügung. Gehört zur Abmachung.« »Dann soll es mir recht sein. Treffen wir die Vorbereitungen. Wir starten noch heute abend«, erklärte Grax. Vier Stunden später hob die Renegat ab, und Grax und Scaevius waren auf dem Weg nach Barbary. Ich war nun allein auf Watson. Aber wenigstens waren meine Freunde in Sicherheit. Ich begab mich in mein Quartier und ging zu Bett. Ich schlief gut in dieser Nacht, doch ich ahnte nicht, daß es das letzte Mal für viele Wochen sein sollte.
10
Dritter Kontakt mit den Watsoniern
Am nächsten Morgen wurde ich von einem Angestellten abgeholt, der mich zu meiner Verabredung in der Abteilung für Besondere Operationen, Unterabteilung VI, Sektion Blau brachte. Johnson empfing mich diesmal allein, und nachdem ich alle nötigen Verträge, Einverständnis- und Verzichtserklärungen unterzeichnet hatte, gingen wir zu einem Labor, wo Shaw und ein zwölfköpfiger Assistenzstab uns erwarteten. Ich wurde einer eingehenden Untersuchung unterzogen, von allen Anwesenden genauestens in Augenschein genommen, und nachdem das überstanden war, begaben wir uns in ein anderes, weitaus größeres Labor, das von drei massiven Türen gesichert wurde. Der Raum war mit Instrumenten vollgestopft, die mir völlig unbekannt waren, und in der Mitte standen Seite an Seite zwei weiße, ungleich große ellipsoide Gebilde. Das kleinere hätte bequem einen Menschen aufnehmen können, das andere war mehr als doppelt so groß. Shaw deutete auf das kleinere Gebilde und sagte: »Ihr Körper wird sich während der gesamten Dauer der Mission in diesem Behälter befinden, Del. Ihre intellektuellen und Sinnesfunktionen werden an einen Träger in dem benachbarten Behälter weitergeleitet und von dort aus in einen identischen Trägerkörper
in einem Raumschiff, das sich in einer Umlaufbahn um den Quarantäneplaneten befindet.« »Das scheint mir ein ziemlich umständliches Verfahren zu sein.« »Es ist das bei weitem einfachste. Es hat den Vorzug größerer Schnelligkeit und Sicherheit gegenüber physischem Transport, wie wir immer wieder feststellen.« »Wie sieht mein Träger aus?« erkundigte ich mich. »Nicht sehr ansprechend, fürchte ich«, antwortete Johnson. »Es handelt sich um den Körper eines Crevniten. Wir benutzen sie seit geraumer Zeit als Träger und sind sehr zufrieden damit.« »Entstehen keine Probleme bei der Übernahme?« »Nein. Die Crevniten stammen von einem Planeten mit hoher Schwerkraft und verfügen über ungewöhnliche Körperkräfte. Außerdem besitzen sie einen hochentwickelten Sinnesapparat und ein enormes Intelligenzpotential, das jedoch nur in äußerst geringem Umfang genutzt wird. Ihre tatsächlichen geistigen Fähigkeiten entsprechen etwa denen eines achtjährigen Kindes. Ein erwachsenes Intelligenzwesen kann sie leicht dominieren und ihre einzigartigen sensorischen Fähigkeiten für seine Zwecke benutzen. Sie werden jederzeit über absolute Kontrolle verfügen, Del.« »Ich hoffe, daß Sie recht haben. Sie scheinen sich
ziemlich sicher zu sein, aber schließlich bin ich derjenige, der das Wagnis auf sich nimmt.« »Dieses Verfahren ist hundertfach erprobt, Del. Ich kann Ihnen versichern, daß nicht die geringste Gefahr besteht«, sagte Shaw. »Außer wenn ich auf dem Planeten bin. Was geschieht, wenn ich nicht zurückkomme?« »Sie werden zurückkommen, Del. Der Körper eines Crevniten kann allen bekannten Handfeuerwaffen widerstehen, selbst wenn er aus nächster Nähe getroffen wird. Sie werden praktisch unzerstörbar sein.« Ich schüttelte den Kopf. »Das kümmert mich eigentlich weniger. Die wirkliche Gefahr auf einem Quarantäneplaneten ist nicht physischer Natur. Sie besteht vielmehr darin, daß man den Verstand verlieren kann.« »Dagegen werden Sie von einer besonderen Vorrichtung, der Wahnsinnssperre, geschützt werden, Del. Falls eine psychische Überlastung eintritt, wird dieser Mechanismus Sie aus dem Trägerkörper lösen und Sie in das hier befindliche Gegenstück versetzen.« »Warum nicht in meinen eigenen Körper?« »Weil das menschliche Gehirn nicht mit einer Wahnsinnssperre versehen werden kann«, erklärte Shaw. Sie ergriff meine Hände und sagte: »Vertrauen Sie uns, Del. Vertrauen Sie mir. Ich will Sie nicht verlieren. Ich möchte, daß Sie heil zurückkehren.«
»Das ist auch meine Absicht. Trotzdem würde ich gern wissen, was mit meinem Körper geschieht, falls doch etwas schiefgeht.« Johnson raffte sich zu einer Antwort auf. »Nun, Sie würden eine Art physische Unsterblichkeit erlangen. Wir würden Ihren Körper aufbewahren, um ihn gegebenenfalls bei einer ähnlichen Mission einzusetzen.« Was ich da hörte, gefiel mit gar nicht. »Soll das heißen, eines Tages könnte jemand anderer in meinem Körper herumspazieren?« »So kann man es nicht sehen«, erwiderte Johnson. »Denn es wäre dann sein Körper – genau wie der Körper des Crevniten der Ihre sein wird, solange Sie ihn bewohnen. Aber daran sollten Sie gar nicht denken, Del. Sie werden zurückkommen. Wir haben alle erdenklichen Schutzmaßnahmen getroffen und setzen größtes Vertrauen in Sie.« »Dann wollen wir anfangen. Passen Sie gut auf mich auf, solange ich fort bin«, sagte ich zu Shaw. »Das wird sie, dafür werde ich sorgen. Gutes Funktionieren, Del«, sagte Johnson, drückte mir die Hand und führte mich zu der wartenden Apparatur. Die Assistenten öffneten den kleinen Behälter. Ich zog mich aus, kletterte hinein und legte mich auf ein weiches Netz, das mich tragen sollte, bis der Behälter mit Flüssigkeit gefüllt wurde. Man führte Schläuche
in alle vorhandenen Körperöffnungen ein, befestigte Elektroden an meinen Schläfen, meinem Rückgrat und anderen Körperteilen, bis ich schließlich in einem Gewirr von Drähten und Schläuchen steckte. Zum Schluß wurde mir eine festanliegende, konusförmige Maske über Mund und Nase gestülpt. Shaws Anweisungen befolgend, atmete ich tief durch und spürte, daß ich langsam schläfrig wurde. Das letzte, woran ich mich erinnere, waren ein Gefühl des Schwebens, als Flüssigkeit in meine neue Behausung strömte und mich sanft von dem Netz hochdrückte, die Dunkelheit in dem geschlossenen, mutterleibartigen Behälter und die beruhigende Wärme, die mich umstreichelte und in süße Vergessenheit führte.
11
Die Mission von Rettungssondereinheit Renegat Blau Q3
Was während der Mission auf dem Quarantäneplaneten geschah, läßt sich schwer in Worte fassen. Ich werde es versuchen, aber für einige der Geschehnisse fehlen einfach die Begriffe. Desgleichen kann ich den Hauptakteur, den crevnitisch-malellanisch-(vielleicht) irdischen Hybriden nicht »Ich« nennen, denn er war nicht Del Whitby, aber auch kein Crevnite. Johnson taufte dieses Wesen »Rettungssondereinheit Renegat
Blau Q3«, ein zungenbrecherischer Name, doch wahrscheinlich wäre mir auch nichts Besseres eingefallen. Was ich nun zu erzählen versuche, ist die Geschichte der Mission von Rettungssondereinheit Renegat Blau Q3 auf dem Planet der Schirme. Der Einfachheit halber nenne ich ihn Q3. Das Erwachen in einem neuen, fremden Körper führte durchaus nicht zu dem Schock, den Q3 erwartet hatte. Vielmehr fühlte er sich in dem kräftigen Organismus des Crevniten sofort zu Hause, und selbst das zusätzliche Arm- und Beinpaar stellte ihn vor kein Problem, solange er sie instinktiv handhabte und nicht darüber nachdachte. Er steuerte das Raumfahrzeug zur Planetenoberfläche und unternahm einen raschen Erkundungsflug. Es war ein gewöhnlicher Planet, Watson-Kategorie 6SA4-III: zu etwas mehr als der Hälfte mit Wasser bedeckt, mit drei Kontinenten und sieben großen Inseln, polaren Eiskappen, vier Hauptgebirgszügen und einer artenreichen Flora. Auf den Kontinenten befanden sich sechzehn Großstädte und Hunderte kleinerer Siedlungen. Die Städte ließen eine hochentwickelte Architektur erkennen, und das gut ausgebaute Straßennetz deutete auf ein hohes Verkehrsaufkommen hin. Q3 sah nichts von alledem, denn Crevniten besitzen keine Augen; doch er registrierte diese
Tatsachen auf allen zur Verfügung stehenden Wahrnehmungsebenen. Er spürte weder menschliches noch tierisches Leben auf dem Planeten. Als er über der Kleinstadt anlangte, wo die watsonischen Expeditionen verschwunden waren, wurde er auf Restausstrahlungen intelligenter Wesen aufmerksam. Er konzentrierte seinen Sinnesapparat darauf und konnte zwölf Einzelquellen unterscheiden, sechs davon relativ stark, die übrigen schwach. Er stellte Berechnungen an und kam zu dem Ergebnis, daß die schwächeren Ausstrahlungen ungefähr acht Monate, die stärkeren rund vier Monate GSK alt waren, und somit zeitlich annähernd mit dem Verschwinden der beiden Expeditionen übereinstimmten. Ein zweiter Erkundungsflug um den Planeten, der vorwiegend der Untersuchung der Städte vorbehalten war, erbrachte keine weiteren Ausstrahlungen, und Q3 kehrte an seinen Bestimmungsort zurück und landete. Er machte einen raschen Rundgang durch die ganze Stadt und konzentrierte seinen Wahrnehmungsapparat auf alle Indikatoren, die ihm Auskunft über das Aussehen und die Gesellschaftsstruktur der Ureinwohner geben konnten. Er entdeckte, daß sie in Gestalt und Größe dem Menschen ähnlich waren und ein hohes kulturelles Niveau erreicht hatten. Weder hier noch andernorts konnte er Anzeichen für Krieg,
Seuchen oder eine Invasion feststellen. Die Lebensmittelvorräte waren angemessen, einige Maschinen zur Versorgung der Stadt noch intakt. Er unterzog die gesammelten Informationen einer umfassenden Einschätzung auf allen Ebenen seines Denkvermögens und kam zu dem Ergebnis, daß keine logische Erklärung für die Abwesenheit der Bewohner existierte. Damit war Q3s erstes Programm beendet. Er übermittelte seine Entdeckungen über die Wahnsinnssperre nach Watson, löschte alle tiefgreifenden Wahrnehmungsstrukturen und ruhte sich aus. Q3 begann sein zweites Programm am Ort des Verschwindens der watsonischen Expeditionen, einer weiten Fläche unter freiem Himmel, die den Stadtbewohnern als Versammlungsplatz gedient hatte. Hier entdeckte er zwei Schriftstücke. Eines war jüngeren Datums und enthielt offensichtlich die letzten Aufzeichnungen der zweiten Watson-Expedition; das andere war in der Sprache der Stadtbewohner verfaßt und erwies sich als sehr alt. Eine Analyse ergab, daß die Sprache der Stadtbewohner mit einem frühen akkitanischen Dialekt verwandt war und sich mit hinreichender Genauigkeit übersetzen ließ. Der Text lautete wie folgt: Als wir aufwachten, waren die Schirme da. Irgend jemand hatte sie während der Nacht leise, schnell
und mit großer Sorgfalt aufgestellt. Zu Anfang, als noch Unkenntnis über ihre Anzahl herrschte und jeder glaubte, es mit einem einzelnen Exemplar zu tun zu haben, hielt man die Schirme für das Werk einer kleinen Gruppe von Leuten, die sich damit einen absonderlichen Scherz leisten wollten. Erst als bekannt wurde, daß in jeder Stadt und Ortschaft auf der ganzen [Name des Planeten] über Nacht ein Schirm aufgestellt worden war, erkannte man, daß [eine große Zahl] von Händen an diesem gewaltigen Unternehmen beteiligt gewesen waren, Personen, deren Existenz niemand vermutet hätte und deren Absichten vielleicht für immer unbekannt bleiben werden. Sie waren im Grund einfache Konstruktionen. An jenem ersten Morgen, als sie hoch vor uns aufragten, ebene Flächen, die im Licht der aufgehenden Sonne loderten, betrachteten wir sie mit Ehrfurcht. Doch wir wurden schnell mutiger und untersuchten sie genauer. Wir stellten fest, daß sie dünne, aus einem glatten weißen Material bestehende Planen mit einer leicht gewölbten Oberfläche waren. Hohe, schmale Gerüste aus drei dünnen, jedoch sehr festen Standbeinen von etwas dunklerer Färbung stützten sie zu beiden Seiten. Diese Standbeine waren nicht stärker als [unübersetzbar], doch sie ließen sich nicht biegen; wenn
man sie wuchtigen Schlägen aussetzte, vibrierten sie kaum und zeigten weder Kratzer noch sonstige Spuren; [unübersetzbar; wahrscheinlich Bezeichnungen für Schneide- oder Sägewerkzeuge] ließen keine Wirkung erkennen. Sie waren so fest im Boden verankert, daß keine menschliche oder Maschinenkraft sie erschüttern konnte; sie steckten so tief in der Erde, daß alle Bohrungen und Grabungen, solange man sie auch fortsetzte, ihre Endstücke nicht zutage fördern konnten. Die Schirme selbst wirkten zwar zerbrechlich, doch sie widerstanden den heftigsten Angriffen. Selbst nachdem wir sie mit allen uns bekannten Werkzeugen und Waffen bearbeitet hatten, standen sie noch so weiß und unversehrt wie am ersten Morgen. Als deutlich wurde, daß die Schirme weder bewegt noch zerstört werden konnten, wiesen unsere Regierenden uns an, sie nicht zu beachten. Wir fanden uns daraufhin mit der Anwesenheit der Schirme ab und warteten auf die Erklärung für ihr Erscheinen. Wir warteten vergeblich, und die Spekulationen gediehen. Einige behaupteten, die Herrschenden selbst hätten die Schirme aufstellen lassen, um uns zu prüfen oder aus anderen undurchschaubaren Gründen, über die man nur mutmaßen könne. Diese Behauptung glaubten wenige, denn obgleich sie es nicht
öffentlich eingestanden, machten unsere Führer doch ganz den Eindruck, als wären ihnen Herkunft und Zweck der Schirme ein ebenso großes Rätsel wie dem Volk. Reisende erzählten uns viele Geschichten von dem Phänomen. Besonderes Aufsehen erregte ein Gerücht, wonach in einem Dorf ein Schirm umgestürzt und zerlegt worden war und seine Einwohner kurz darauf verschwanden. Man entdeckte keine Anzeichen von Zerstörung, doch von Lebewesen fehlte jede Spur. Viele Reisende sprachen von diesem Dorf, doch keiner nannte seinen Namen oder sagte, wo es zu finden war. Ebensowenig kennzeichnete jemand das Dorf, in dem, wie es hieß, der Schirm die heimlichen Verbrechen und Wünsche der ganzen Einwohnerschaft enthüllt habe. Ein junger Mann, der weit gereist war, berichtete, daß er auf seinen Wanderungen niemals zwei Schirme gesehen hatte, die so plaziert waren, daß man sie gleichzeitig betrachten konnte. Diese Beobachtung wurde von anderen bestätigt, interessierte aber kaum jemanden. Erst als die Bilder zu erscheinen begannen, wurde dies wichtig, denn wir fragten uns, ob auf allen Schirmen dasselbe Bild gleichzeitig erschien. Die Reisenden wurden von da an genauestens befragt, doch man kam zu keinem brauchbaren Ergebnis. Manchmal schienen die
Antworten darauf hinzudeuten, daß alle Schirme in der Tat dasselbe Bild zur gleichen Zeit zeigten, doch stets fand sich irgendeine Abweichung in den Schilderungen, eine Ungereimtheit, die einfach nicht zu klären war. Wir konnten nicht herausbringen, ob nun wirklich ein Unterschied – gleichgültig welcher Größenordnung – zwischen den Bildern bestand oder ob wir uns ungenauem Beobachten, unpräziser Ausdrucksweise, Mißverständnissen oder vielleicht sogar einem absichtlichen Versuch, uns irrezuführen, gegenübersahen. Wir blieben weiterhin im Ungewissen. Die Natur der Bilder trug zu diesem Problem erheblich bei. Nie zuvor hatten wir etwas Ähnliches gesehen. Es waren ineinanderfließende, wirbelnde Farbmuster und formlose Schemen, die sich jeder Beschreibung entzogen, jedoch starke Assoziationen wachriefen und eine geradezu hypnotische Anziehungskraft ausübten. Niemand konnte an ihnen vorübergehen, ohne in ihren Bann zu geraten, oder sich ihrer Beeinflussung erwehren. Dasselbe Bild konnte den einen Zuschauer veranlassen, entsetzt zu schreien, den zweiten, schallend zu lachen, den dritten, zu weinen, den vierten, [unübersetzbar]. Und danach vermochte niemand sein Erlebnis anderen mitzuteilen oder seine Reaktion zu erklären. Ein Versuch zu beschreiben, was man auf dem
Schirm gesehen hatte, endete stets in hilflosem Gestikulieren und vergeblichem Suchen nach Worten. Manchmal waren die Schirme [eine Zeitangabe] weiß; dann wieder waren die fließenden Schemen und Farben [eine Zeitangabe] oder länger ohne Unterbrechung zu sehen. Einige behaupteten, Geräusche zu hören, die aus den Schirmen kamen, wenn die Bilder da waren, doch auch hier gelangte man zu keinem übereinstimmenden Ergebnis. Manche hörten Stimmen, einige Musik, andere wiederum einen mißtönenden Lärm, der in unregelmäßigen Abständen lauter und leiser wurde. Ich persönlich hörte nichts, doch ich will die Darstellung der anderen nicht in Zweifel ziehen. An manchen Orten wurden die Schirme zum Gegenstand der Verehrung. Besonders in den Großstädten entstand ein weitverbreiteter Kult. Reisende berichteten, daß die Menschen in unserer Hauptstadt sich zu [eine große Zahl] vor einem der Schirme versammelten (die Städte besaßen oft mehrere Schirme, doch nie befand sich einer in Sichtweite eines anderen), mit hingerissenem Gesichtsausdruck davor saßen, knieten oder lagen und ihn fasziniert anstarrten. Solche Szenen ereigneten sich selbst dann, wenn die Schirme weiß waren, und das vielleicht schon seit [eine Zeitangabe]. Auf Fragen antworteten die Kultanhänger, die auf-
tretenden Schemen offenbarten ihnen manchmal Wahrheiten, die nicht mitteilbar seien. Nicht alle, die in diesen Momenten der Offenbarung zugegen waren, konnten die Bedeutung des Gesehenen begreifen, und die große Masse der Kultanhänger bemerkte diese Erscheinungen überhaupt nicht; einigen besonders Talentierten eröffneten sie jedoch einen flüchtigen Blick auf [unübersetzbar], das die Menschen seit Anbeginn des Denkens gesucht hatten. Viel akzeptierten diese Erklärung und richteten sich darauf ein, ihr Leben der stillen Meditation vor dem Schirm zu widmen. An manchen Orten wurden diese Kultisten auseinandergetrieben, oft auch verfolgt, und eine Reihe von ihnen fand einen qualvollen Tod, doch in der Regel wurden sie geduldet, und die Menschen aus der Umgebung versorgten sie sogar mit Nahrungsmitteln und Kleidung. Einige der Meditierenden genossen große Verehrung; man schrieb ihnen prophetische Gaben oder wundersame Heilkräfte zu. Die Schirme wurden Teil unseres Alltagslebens, was sich auch durch eine Anzahl Redewendungen in unserer Umgangssprache niederschlug. Bald konnte sich kaum noch jemand an die Zeit erinnern, als der Schirm noch nicht auf unserem Dorfplatz gestanden hatte; ja, eine ganze neue Generation wuchs heran, für die der Schirm ebenso Be-
standteil der Natur war wie die Jahreszeiten und die Sterne. Er existierte, und wenn man seinen Zweck auch nicht kannte, so fügte er doch niemandem Schaden zu. Als wir heute morgen aufwachten, bemerkten wir, daß der Schirm verschwunden war. Wir fanden nicht die geringste Spur, nicht einmal Abdrükke im Boden, wo die langen, dünnen, unglaublich widerstandsfähigen Standbeine all unseren Bemühungen getrotzt hatten. An anderen Orten ist dasselbe geschehen, und an der Stelle des Schirms befindet sich jetzt ein kleines Gebilde von so merkwürdiger Form, daß ich es nicht beschreiben kann. Bemerkenswert ist, daß es Linien trägt, die ich für die Umrisse einer Tür halte. Keiner von uns wagt hineinzugehen. Wir haben Angst. Wir wissen nicht, was darin sein mag, und fürchten den Augenblick, da es herauskommen wird. Hier endete das erste Schriftstück. Das andere, das die Untersuchungsbeamten von Watson zurückgelassen hatten, bereitete erhebliche Schwierigkeiten. Es umfaßte insgesamt 247 Seiten aus sehr dünnem Schreibmaterial. Die ersten 197 Seiten befaßten sich mit den Beobachtungen der Expedition über den Planeten und seine Bewohner und stimmten
in allen wesentlichen Punkten mit denen von Q3 überein. Seite 198 schilderte die Entdeckung des alten Schriftstücks, und die Seiten 199–224 enthielten eine vollständige Übersetzung davon mit umfangreichen Anmerkungen. Diese Übersetzung stimmte weitgehend mit derjenigen Q3s überein. Die restlichen Seiten des watsonischen Berichts waren völlig unzusammenhängend mit Ausnahme zweier Abschnitte: S. 231: »Sanders glaubt an rinnsche Herkunft*, Absicht destruktiv. Martin widerspricht dem, ist wie ich der Meinung, daß Objekt eine Art DimensionsTor darstellt, möglicherweise extragalaktischer Herkunft. Eingang oder Ausgang? Bestimmung unmöglich.« S. 240: »Martin unter Beruhigungsmitteln, phantasiert immer noch. Sanders, Taylor, Milman und Hope vermißt. Warum jetzt aufgetaucht? Der Laut ist überall. Die Dunkelheit bewegt sich. Pforte noch offen, muß aber widerstehen.« Die letzte Seite des Berichts war wiederum völlig unzusammenhängend. Q3 löschte alle unbrauchbaren * Es ist zweifelsfrei nachgewiesen worden, daß die Schirme nichtrinnschen Ursprungs waren. Ihre wahre Herkunft und ihr Zweck sind weiterhin unbekannt.
Strukturen, analysierte die verbleibenden und stellte eine Hypothese auf: das Objekt, welches in den Schlußzeilen des älteren Dokuments erwähnt wurde, stand in Zusammenhang mit dem Verschwinden der Ureinwohner; bei der Ankunft der Watsonier tauchte dieses Objekt entweder wieder auf oder es wurde reaktiviert oder ein ähnliches Objekt tauchte auf; dies war der Grund oder ein wesentlicher Faktor für das Verschwinden der Watsonier. Eine Hypothese bezüglich der Natur, Erscheinungsform, Herkunft oder des Zwecks des Objekts war unmöglich. Damit war das zweite Programm beendet. Q3 stellte auf primäre Wahrnehmung um und wartete. Von diesem Punkt an sollte er aus eigener Initiative handeln. Das Objekt erschien, und Q3 schaltete sofort auf Höchstleistung auf allen Funktionsebenen um. Das Objekt war nicht aus einer wahrnehmbaren Richtung an seinem gegenwärtigen Standort eingetroffen; es hatte einfach an einem Platz zu existieren begonnen, an dem es einen Augenblick zuvor nicht existiert hatte. Das Objekt konnte nur als anwesend wahrgenommen werden; trotz aller Bemühungen Q3s war eine Bestimmung unmöglich. Q3 ging auf das Objekt zu, um es aus der Nähe zu untersuchen. Die Sinneseindrücke wurden widersprüchlich. Das Objekt rief einander ausschließende Wahrnehmungen gleichzeitig hervor. Auf einer oder auf vielen Seiten erschien
eine Pforte, hinter der undurchdringliche Schwärze lag. Q3 näherte sich und konzentrierte seinen Wahrnehmungsapparat auf einen Punkt in der Schwärze. Er spürte, daß er hineingezogen wurde, leistete Widerstand und stellte fest, daß die Schwärze im Innern sich ausdehnte, um ihn zu verschlingen. Er machte kehrt und entdeckte, daß er dem Objekt erneut gegenüberstand oder ein anderes, identisches Objekt vor sich wahrnahm. Die Schwärze war nun überwältigend und lähmend. Ein hoher, schriller Ton setzte ein, schwoll gleichmäßig an und wurde rasch unerträglich. Die Wahrnehmungskontrolle wankte, die Sinneseindrücke verzerrten sich. Etwas Heißes und Grelles flammte tief im Innern Q3s auf, ein Gefühl der Entzweiung, das an ihm riß –
12
Letzter Kontakt mit den Watsoniern
– und ich war wieder auf Watson, lag wach in der Geborgenheit des künstlichen Mutterleibes. Licht flutete herein, als der Deckel hochgeklappt wurde, und man hob mich sanft, aber mit großer Eile heraus. Die Schläuche und Elektroden wurden augenblicklich entfernt, und man legte mich auf eine flache, weiche Unterlage und brachte mich in einen dämmrigen, ruhigen Raum, dessen Luft einen süßen Geruch hatte.
Als ich einschlief, hörte ich meine eigene Stimme; sie schien eine separate Entität zu sein, ohne jegliche Verbindung zu mir, völlig meiner Kontrolle entglitten. Sie schrie unverständliche Worte. Ich habe vage und unzusammenhängende Erinnerungen an eine lange Ruhezeit, die dann folgte, an weißmaskierte Gestalten, die leise zu mir sprachen, und an meine Stimme, die nun wieder mir gehörte und kontrolliert auf Fragen antwortete, jedoch mit Worten, die ich nicht verstand; an Shaw und Johnson; dann nur noch an Johnson und fortwährend an die süße, schwere Luft, die mich beruhigte und entspannte und die diffusen Ängste vertrieb, die, allmählich nachlassend, an den Zipfeln meines Gedächtnisses rupften, und die mich immer wieder in selige Vergessenheit hineintauchte. Dann kam ein Zeitpunkt, an dem ich das Bewußtsein wiedererlangte. Ich richtete mich auf, war völlig klar im Kopf und fühlte mich kräftig. Meine Umgebung war beengt, und die Luft hatte einen vertrauten Geruch. Johnson erschien augenblicklich. »Del, sind Sie endlich wieder bei Sinnen?« fragte er in besorgtem Tonfall. »Ja. Was ist mit mir geschehen?« »Wir durchbrachen die Wahnsinnssperre. Sie kehrten sofort zurück. Es war ein großer Schock für Ihr Nervensystem.«
»Aber weshalb? Ich erinnere mich ... an Schwärze. Sie griff ... sie umgab mich völlig. Ich konnte nicht –« Er fiel mir abrupt ins Wort: »Denken Sie nicht daran. Die Sache ist vorüber, und Sie haben sie heil überstanden. Wir verloren den Crevniten, doch Sie konnten wir retten.« »Was geschah mit ihm?« »Wir wissen es nicht, Del. Die Akte über Mission 1 der Rettungssondereinheit Renegat Blau Q3 ist offiziell abgeschlossen. Ich rate Ihnen, das Geschehen zu vergessen. Das ist nur zu Ihrem Besten.« Ich drückte mir gegen die Schläfen. »Ich erinnere mich nur an weniges.« »Es ist besser, wenn Sie sich an gar nichts erinnern. Sie haben ein schlimmes Erlebnis hinter sich, das nicht viele Menschen überlebt hätten.« »Wie lange bin ich schon hier?« fragte ich, mich in der kleinen Kammer umsehend. »Wo sind wir eigentlich, Johnson?« »In einem Orbit über Watson. Sobald Sie reisefertig sind, übergebe ich Ihnen das Schiff. Die Maschine wird es wieder zurückführen.« Er hielt mir zwei Briefumschläge hin. »Der große enthält die Auskünfte, die Sie wünschten, der kleine Ihr Honorar. Noch Fragen?« »Ja. Seit wann bin ich zurück?« »Seit siebenundzwanzig Tagen. Ihre Genesung hat
lange gedauert, Del, aber Sie haben sich wieder gut erholt. Shaw tat, was ihr möglich war.« »Wo ist Shaw? Ich dachte, sie würde ... nun ja, sie wirkte irgendwie besorgt.« »Sie wurde versetzt, Del«, erklärte Johnson knapp. »Aber ihr Auftrag lautete, mich bis zum Ende der Mission zu betreuen. Was ist vorgefallen? Rücken Sie raus mit der Sprache, Johnson.« Er blickte nervös um sich, bedeutete mir dann, ihm zu folgen. Wir gingen ins Navigationsdeck. Johnson aktivierte einen Nahbereichs-Taster, dessen lautes Brummen unser Gespräch übertönen sollte, dann sagte er leise: »Sie war in der Tat um Sie besorgt, Del. Sie hatte große Zuneigung zu Ihnen gefaßt. Doch Ihr Psychogramm zeigte extreme unwatsonische Charakterzüge auf, die sehr tief sitzen. Ihre Versetzung hatte den Zweck, den Kontakt mit Ihnen zu unterbinden. Es tut mir leid.« »Was sind ›unwatsonische Charakterzüge‹?« forschte ich. »Starke Ichbezogenheit, übertriebene Initiative, exzentrische Verhaltensweisen, die in ausgeprägtem Individualismus gipfeln. Sie verkörpern den archetypischen Anti-Watsonier.« Johnson grinste schuldbewußt. »Als die Behörden erfuhren, daß Sie kurz vor der Genesung standen, verlangten sie, daß wir Sie in eine Umlaufbahn brachten, damit Ihre gefährlichen
Geisteshaltungen nicht noch mehr Schaden anrichten konnten. Sie machen sich Ihretwegen fast in die Hosen.« »Sie hatten keine Bedenken, mich für ihre Zwecke einzuspannen«, sagte ich verächtlich. »Selbstverständlich nicht. Unwatsonische Charakterzüge sind für Besondere Operationen unerläßlich. Ohne Leute wie Sie könnte unsere Abteilung dichtmachen. Aber ein paar von Ihrer Sorte würden Watson innerhalb weniger Tage in einen Aufruhr stürzen.« »Vielleicht komme ich eines Tages zurück und probiere das mal. Shaw tut mir leid.« »Sie hatte ihre Anweisungen, Del, und ich die meinen. Ich bin froh, daß wir Sie heil zurückgebracht haben.« »Sagen Sie Shaw, es tut mir leid, daß wir uns nicht mehr sehen konnten.« »Ich werde es ihr ausrichten, Del. Noch etwas«, sagte Johnson. Er sah sich verstohlen um, stellte den Taster lauter und flüsterte: »Ihre Freunde sind in Sicherheit. Ich habe das Abfangkommando irregeleitet.« »Abfang –« fuhr ich wütend auf, doch er brachte mich mit einer entsetzten Geste zum Schweigen. »Ich würde konditioniert, wenn man es herausfindet! Verraten Sie kein Wort. Ihre Freunde wurden auf
dem Info-Markt erkannt. Am Abend wurde ein Hygiene-Kommando entsandt, um sie festzunehmen, doch sie hatten Watson bereits verlassen. Als ich von dem Plan erfuhr, sie im Raum abzufangen, ließ ich die Befehle ändern.« Er sah mich aus angstvollen Augen an. »Ich habe so etwas noch nie getan, aber ich fand es nicht richtig, daß Ihre Freunde inhaftiert werden sollten, während Sie Ihr Leben riskierten.« »Das war es auch nicht. Danke, Johnson. Ich werde es für mich behalten.« »Es wird Zeit, daß ich gehe. Gutes Funktionieren, Del.«
13
Ich erfahre etwas über Commander Corey
Welche Unzulänglichkeiten die Watsonier in menschlicher Hinsicht auch besitzen mochten, ihre Tüchtigkeit war unbestreitbar. Die Karten, die sie mir zur Verfügung gestellt hatten, ließen mir die Wahl zwischen achtundsechzig verschiedenen Routen von Watson nach Gilead. Offenbar waren sie sich nicht sicher gewesen, wie viele Planeten ich unterwegs besichtigen wollte, und um allen Eventualitäten vorzubeugen, hatten sie jedes erdenkliche Sonnensystem in die eine oder andere Route miteinbezogen. Die Informationen über Commander Corey waren
weniger zufriedenstellend. Seine Laufbahn wurde zwar in allen Einzelheiten dargestellt, und die Liste seiner erfolgreichen Schlachten im Zuge der Ersten Rinn-Expedition war trotz des farblosen watsonischen Prosastils spannende Lektüre, doch jener Teil, der mich interessierte, nämlich Details über seine Reise von Malella an Bord der Flanders, war aufreizend knapp und wenig aufschlußreich. Fest stand, daß Coreys Frau, die älteste Tochter eines malellanischen Wasserhüters, während der Reise zur Pendelton-Basis einen Sohn geboren hatte – doch dasselbe galt für fünf andere malellanische Frauen, die alle mit Malellanen verheiratet gewesen waren. Ich hatte immer noch keinen hieb- und stichfesten Beweis für die Identität meiner Eltern, aber immerhin kam ich der Sache schon näher. Die Chancen standen nur noch fünf zu eins. Im Anschluß daran kam eine beeindruckende Zahl von Berichten über Coreys waghalsige Überfälle auf versprengte Rinn unter dem Banner der Zweiten Expedition. Es war schwierig, aus der unpersönlichen Auflistung von Fakten irgendwelche Schlüsse zu ziehen, doch als ich weiterlas und die Berichte von Übergriffen und Greueltaten an unschuldigen Planeten sich häuften, wurde mir klar, daß die locker organisierte Zweite Expedition zum überwiegenden Teil aus Männern bestehend, die auf Rache, Plünderun-
gen oder beides aus waren, sehr rasch zu einer Flotte von Raumpiraten degeneriert war. Es wurden zwar keine direkten Beschuldigungen gegen Corey ausgesprochen, doch ein kritischer Leser wäre auf zahlreiche Indizien gestoßen, auf die er eine überzeugende Anklage hätte aufbauen können. Das machte mich wütend. Corey hatte fast dreißig Jahre im Weltall gekämpft und sein Leben riskiert; dennoch wurden alle seine Großtaten von den Handlungen einiger weniger Männer seiner Flotte überschattet, von denen die meisten nicht einmal seinem direkten Kommando unterstanden hatten. Ich fand es gemein und ungerecht, einen Mann, der erwiesenermaßen ein Held war, auf diese Weise ins schlechte Licht zu setzen. Die Tatsache, daß ich mir fast sicher war, Coreys Sohn zu sein, hatte mit meinen Gefühlen nicht das geringste zu tun. Die Aufzeichnungen über Coreys Karriere als Raumfahrer endeten mit einer knappen, provozierenden Auskunft: »4. 6. 2623: Offizielle Entlassung aller Schiffe der Zweiten Expedition und Erklärung des Endes der Kampfhandlungen durch die Kommandantur der Zweiten Rinn-Expedition. 8. 10. 2623: Im Hauptquartier der Zweiten RinnExpeditions-Kommandantur geht folgende Bot-
schaft ein: ›Steckt euch die Entlassung an den Hut. Solange Rinn leben, herrscht für mich Krieg – Corey.‹ Keine weiteren Informationen zum Thema eingegangen.« Ende des Berichts. Das war also alles, was man über Corey wußte. Vielleicht lebte er noch und jagte irgendwo draußen im Weltall zusammen mit ein paar zähen Kriegsveteranen in einem zerschrammten Sternenschiff die letzten Rinn. Oder er war nur noch ein winziger Staubfleck, der am Himmel irgendeiner fremden Welt hing, ausgelöscht von einer unvorstellbaren Waffe aus dem Arsenal der Rinn; oder ins Nichts hineingezogen worden von einem höllischen Ding ähnlich jenem Gebilde, dem Q3 auf dem Quarantäneplaneten begegnet war und das ich trotz Johnsons Warnungen nie vergessen würde. Ich hatte viel Stoff zum Nachdenken auf dem Weg nach Barbary. Nicht zuletzt über die Entdeckung, daß der kleinere Umschlag wenig mehr als fünf Armstrongs enthielt, in kleinen Scheinen, damit es nach mehr aussah. Es waren genau fünftausendzweihundert Vanguards. Jetzt wußte ich, was Johnson mit »abzüglich entstehender Unkosten, versteht sich« gemeint hatte.
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Grax trifft einen alten Freund; wir machen eine Bekanntschaft
Barbary war ein unansehnlicher Felsbrocken ohne natürliche Ressourcen, landschaftlich und klimatisch das Scheußlichste, was mir auf einem bewohnten Planeten jemals begegnet ist, aber nichtsdestoweniger eine blühende Welt erster Güte. Barbary war in der Vergnügungsbranche tätig. Wozu immer man Lust hatte, auf Barbary konnte man es tun – mit, an, auf, vor jemandem –, vorausgesetzt, man konnte den Preis bezahlen, der gewöhnlich phantastisch war. Doch das barbarysche Unternehmertum hätte seine Preise getrost verdoppeln können – was es im Laufe seiner Geschichte auch mehrmals getan hatte –, ohne die geringste Umsatzeinbuße befürchten zu müssen. Man war stets rund um die Uhr ausgebucht. Irgendwo in den großen Kuppelstädten fand der interessierte Kunde unweigerlich den Ort, wo er seinen Gelüsten bis zum Überdruß und bis zur physischen Erschöpfung nachgehen konnte, und wenn ihn dann immer noch nach Sinnesreizen dürstete, konnte er gegen Bezahlung anderen bei ihrer Spezialität zuschauen. Es war schon eine Welt. Weit weg von Gilead, nicht nur den Sternkarten nach. Ich schob mich durch die Menge von Straßenhändlern, die sich am Raumhafen scharten, und ging zum
vereinbarten Treffpunkt. Alladale führte ein blühendes Geschäft mit unanständigen Balladen, die er aus dem Stegreif vortrug, und konnte keine Zeit erübrigen, darum zogen Grax und ich allein los. Er führte mich zuerst in eine schäbige kleine Kneipe, wo Hiski verkauft wurde, ein stark berauschendes Getränk, das angeblich nach einem uralten druidischen Rezept der Erde zusammengebraut wurde. Der Barkeeper behauptete, es würde aus Getreide hergestellt. Das mochte stimmen, aber ich fand, es schmeckte wie die Brühe, die man im Anschluß an einen transgalaktischen Sprung vielleicht aus einer Antriebsspule herausquetschen würde. Grax ließ mich wissen, das sei ein beliebter Durstlöscher der großen irdischen Helden gewesen – von Wild Bill Bonney, Buffalo Jack, Jimmy the Kid und sogar dem großen White Earp. Sein Onkel George hatte ihm das gesagt. Grax' Trinkfreudigkeit steckte mich an, und während ich lang und breit von meinen Abenteuern auf Watson und dem Quarantäneplaneten erzählte, leerten wir fast eine ganze Flasche Hiski. Wir kamen tüchtig in Stimmung und zogen los, um zu sehen, was die Nacht auf Barbary uns zu bieten hatte. Grax schenkte seiner Umgebung keine Beachtung, ich kannte mich hier natürlich nicht aus, und so wanderten wir nach einiger Zeit ziellos durch einen dämmrigen und schmutzigen Stadtteil an der Peripherie der Kuppel, wo alles menschliche und huma-
noide Strandgut, von der Vision auf schnellen Reichtum aus der ganzen Galaxis nach Barbary gespült, sich verkrochen hatte, um Pläne zu schmieden oder wieder gesund zu werden. Kein vernünftiger Mensch hätte diese Gegend ohne ein Aufgebot von Leibwächtern betreten, aber Grax und ich hatten beide Waffen – Pistolen und nicht zuletzt hiskigestärktes Selbstbewußtsein –, und wir schritten durch die dreckigen Gassen, ohne uns umzusehen. Wir waren eine Weile gegangen und etwas nüchterner geworden, als wir abrupt stehenblieben. Aus einer Sackgasse kamen unverkennbare Kampfgeräusche. Ich konnte in dem Dunkel nichts erkennen, aber Grax warf einen raschen Blick in die Gasse, packte meinen Arm und sagte: »Den Burschen kenne ich. Komm mit. Er braucht Hilfe.« Wir näherten uns einem muskulösen, riesenhaften Mann, auf dessen Schultern ein kugelrunder Kopf saß. Vier Lixianer hatten ihn in eine Ecke gedrängt und griffen ihn mit Messern an. Ich hatte einiges vom Zeitvertreib* der Lixianer gehört, mißbilligte ihr Tun aufs äu* Del erzählte mir später, was er über lixianische Grausamkeit gehört hatte. Die Geschichten waren stark übertrieben. In dem hier genannten Fall, an den ich nur mit Scham zurückdenken kann, war ich an die Befehle meines Kaisers und seines obersten Landaufsehers gebunden und hatte nicht die Wahl, meinen Gegner zu einem Duell herauszufordern.
ßerste und begrüßte die Gelegenheit, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Der Riese konnte sich seine Angreifer gerade so vom Leibe halten, indem er ein gewaltiges Bowiemesser hin und her schwang. Die andere Hand war, mit seiner Jacke umwickelt, und er fing damit die Messerstöße seiner Gegner ab. Ein einfallsloser Kampfstil, der in der Arena kaum Anklang finden würde, überlegte ich, aber unter den gegebenen Umständen ganz brauchbar. Wir schlichen uns keineswegs leise an. Unser Auftritt auf der Bühne wurde von hallenden Schritten und lautem Scharren angekündigt, doch die Lixianer drehten sich nicht einmal um. So viel Zielstrebigkeit war mir einigermaßen rätselhaft; erst als von hinten angesprungen wurde, begriff ich, warum die Lixianer sich völlig auf die vor ihnen liegende Aufgabe konzentrieren konnten. Sie hatten eine solide Rückendeckung. Es wurde ziemlich lebhaft in der engen Gasse, und während der folgenden paar Minuten hatte ich dutzendmal Grund, mich für die malellanische Flinkheit zu bedanken, die ich von meiner Mutter geerbt hatte. Das häßliche Zischen von Messern erfüllte die Luft und hörte erst auf, als ich vier der Angreifer unter Zuhilfenahme von Faust, Knie, Stiefel und Pistolenknauf außer Gefecht gesetzt hatte. Grax wurde im selben Moment fertig, als ich meinen vierten Lixianer
flachlegte, und wir konnten uns wieder dem riesenhaften Mann zuwenden. Er hatte die Zahl seiner Gegner halbiert, während wir anderweitig beschäftigt gewesen waren, doch sein linker Arm war von der Schulter bis zum Ellbogen blutverschmiert, und die beiden restlichen Lixianer drangen auf ihn ein. Sie hätten ihn fast erwischt, doch einer von ihnen wurde unvorsichtig und kam zu nahe. Das machte die Sache zu einem Duell. Grax und ich blieben stehen, um den Ausgang abzuwarten; wir sahen keinen Grund, uns in einen nunmehr fairen Kampf einzumischen. Ich war, offen gesagt, auch neugierig, wie ein Lixianer sich verhielt, wenn er nicht im Vorteil war. Wenn sie zu dritt gegen jemanden vorgingen, konnten sie den Betreffenden in wenigen Sekunden in einen unansehnlichen Farbfleck auf dem Boden verwandeln, und drei oder mehr gegen einen war ihr üblicher Kampfstil. Die beiden Opponenten führten Hiebe und Stöße, fintierten, umkreisten einander langsam im Uhrzeigersinn, jeder auf die entscheidende Gelegenheit lauernd. Dann änderte sich das Kräfteverhältnis von einem Augenblick zum anderen. Als der große Mann uns den Rücken zukehrte, raffte einer der am Boden liegenden Lixianer sich auf und hob den Arm zu einem Messerwurf. Für einen Warnruf war keine Zeit mehr; ich reagierte instinktiv und feuerte einen Schuß
ab in der Hoffnung, den Lixianer zu erschrecken, war jedoch verblüffter als er, als mein Schuß ihm die Klinge glatt aus der Hand riß. Das war ihm zuviel. Er rannte an uns vorbei, bog um die Ecke der Sackgasse und war verschwunden. Der letzte Lixianer, der größte von allen, stand in kampfbereiter Stellung da, das Messer seines Gegners im Auge behaltend. Der linke Schwinger traf ihn völlig überraschend. Er plumpste wie ein Sack Bleem zu Boden. Überzeugt, daß der andere Lixianer ein paar Dutzend Mann Verstärkung holen würde, machten wir uns davon. Der große Mann hieß Bull. Er schüttelte kurz den Arm mit der klaffenden Wunde, dann begann er ganz gemütlich zu plaudern, als wären wir ihm gerade in einer Hiskbar begegnet. Er und Grax hatten vor einigen Jahren als Wachen an einer wissenschaftlichen Expedition zum Yokimyshym-System teilgenommen. Bull war jetzt freiberuflich tätig. »Was macht man so in deinem Beruf, Bull?« fragte ich. »Was am besten bezahlt wird«, erwiderte er. »Bis vor ein paar Wochen habe ich für den lixianischen Kaiser gearbeitet.« »Ich dachte, du hättest etwas gegen Lixianer«, bemerkte Grax. »Ich habe nichts gegen ihr Geld. Jemand entführte den Sohn des Kaisers. Er sagte mir, wenn ich ihn zu-
rückbrächte, könnte ich mein Honorar selbst bestimmen.« »Hast du ihn zurückgebracht?« »Na klar. Und als ich mein Honorar nannte, überreichte der Kaiser mir eine Schriftrolle, in der er mir seinen persönlichen Dank aussprach. Er sagte, das wäre weitaus seltener und kostbarer als bloße Trinkgelder*. Darauf sagte ich, wenn er nichts dagegen hätte, würde ich lieber die Trinkgelder nehmen.« »Und war er einverstanden?« »Nein. Er sagte mir, seine Dankbarkeit würde bis zum Ende des Tages andauern. Wenn ich dann noch auf seinem Planeten wäre, würde er mir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen lassen.« »Hätte er gemacht«, bemerkte Grax. »Das war mir klar. Darum bin auch abgehauen. Blieb mir schließlich nichts anderes übrig.« Bull grinste uns an. »Vorher habe ich natürlich seinen Palast in die Luft gesprengt. Deswegen war dieses Pack hinter mir her. Und sie hätten mich erwischt, wenn ihr nicht aufgekreuzt wärt. Ich verdanke euch meine Haut.« »Und jetzt sind sie vermutlich auch hinter uns her«, sagte ich. »Ist anzunehmen«, erwiderte Bull gleichgültig. * Eine solche, vom Kaiser eigenhändig geschriebene Ehrenbezeugung, wie Del sie hier erwähnt, wäre für einen Lixianer von unschätzbarem Wert. Leider war Bull kein Lixianer.
»Da ist schon einer«, sagte Grax. »Seht euch nicht um. Jemand folgt uns.« »Wie viele?« fragte ich. »Einer nur.« »Den knöpfen wir uns gleich vor«, erklärte Bull. Wir bogen an der nächsten Seitengasse ab und warteten. Einige Sekunden später hastete ein kleiner, schmächtiger Mann um die Ecke, blieb abrupt stehen und riß entsetzt die Augen auf, als Bull ihm die Spitze seines langen Messers unters Kinn setzte. »Sie wollten uns etwas sagen?« erkundigte Bull sich gemächlich. »Ja. Ja, in der Tat, meine Herren. Ich bin unbewaffnet«, schnatterte er und zeigte die leeren Hände vor. »Ich möchte, daß Sie mir helfen.« »Wobei?« »Mein Volk zu retten.« Wir sahen einander an. Bull steckte das Bowiemesser in die Scheide und sagte: »Da sind Sie an der falschen Adresse, Mister. Wir sind keine Ärzte und Heilige schon gar nicht. Machen Sie, daß Sie weiterkommen.« »Sie sind Kämpfer. Genau das brauchen wir.« »Kämpfer retten keine Menschen. Sie töten sie.« »Warten Sie bitte. Ich sah Ihren Kampf mit den Lixianern. Sie drei haben elf Gegner besiegt.« »Mehr«, sagte Bull.
»Zweifellos. Ich sah jedoch nur elf. Die anderen sind sicherlich geflüchtet. Wie Sie mit dem Messer umgingen ... einfach unglaublich!« Der kleine Mann wandte sich mir zu und starrte mich ehrfürchtig an. »Und dieser Schuß von Ihnen. Einmalig! So was habe ich noch nie gesehen.« »Na ja, es war nicht übel«, sagte ich gelassen. Grax sah mich scharf an, doch er schwieg. »Reden wir nicht auf der Straße übers Geschäft«, sagte er und nahm den Fremden beim Arm. »Ich kenne eine Hiskbar in der Nähe, wo wir uns ungestört unterhalten können. Gehen wir.«
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Stebans Geschichte: Der Krieg der Feder und seine Folgen
Bei einer Flasche des besten erhältlichen Hiskis (komisch – diesmal schmeckte er besser. Ich glaube, man mußte sich erst daran gewöhnen) erzählte der kleine Mann uns seine Geschichte. Er stammte von Mazat, einer freundlichen kleinen Welt, die zu einem der Randsysteme gehörte. Ihre Bewohner ernährten sich vom Ackerbau und hatten seit vielen Jahrhunderten ein friedliches Leben geführt. Doch in den letzten drei Jahrzehnten war ihr Planet sechsmal von Piraten überfallen worden, die fast sämtliche Lebensmittel-
vorräte raubten und den Mazatlanern gerade soviel ließen, daß sie sich bis zur nächsten Erntesaison durchschlagen konnten. Außerdem entführten sie alle Frauen, die ihnen gefielen – die Frauen seines Planeten, so versicherte er uns, wären ungewöhnlich hübsch –, brachten alle Männer um, die ihnen mißfielen, und versetzten die friedliche Welt in Angst und Schrecken. Nun hieß es, daß die Piraten, hungrig diesmal, wütend und zu allen Schandtaten bereit, wieder unterwegs wären, um Mazat einen neuen Besuch abzustatten. »Wie viele sind es?« fragte Grax. »Ungefähr sechzig. Aber ihr Schiff faßt mehr.« »Und wie viele kräftige Männer gibt es auf Ihrem Planeten?« Der Mann furchte nachdenklich die Stirn. »Schwer zu sagen, Sir. Wir leben in weit voneinander entfernt liegenden Gemeinden. Es gibt wenig Kontakt.« »Schätzen Sie«, drängte Grax. »Vielleicht dreißigtausend.« Wir starrten ihn sprachlos an, tauschten verwirrte Blicke aus, um uns dann wieder ihm zuzuwenden. Schließlich sagte Bull: »Fünfhundert Mann auf einen Piraten, und ihr braucht uns, um für euch zu kämpfen? Kauft euch eine Schiffsladung Geschütze und schießt sie in Fetzen, wenn sie landen.« »Aber das können wir nicht«, sagte der kleine
Mann. »Seit dem Krieg der Feder hat unser Volk verlernt, wie man kämpft.« »Was zum Henker ist der Krieg der Feder?« brüllte Bull aufgebracht. »Trinken wir noch einen, während er uns davon erzählt«, warf ich ein, füllte mein Glas und das des schmächtigen Mannes nach und schob Grax die Flasche zu. »Wie heißen Sie übrigens?« fragte ich ihn. »Steban«, sagte er. Ich stellte mich und meine Gefährten vor, dann fuhr Steban fort und erzählte uns vom Krieg der Feder. »Vor siebenundvierzig Generationen«, begann er, »war unsere Welt reich und voller Menschen. Wir waren eine Rasse von Kriegern, die zahlreiche Eroberungen gemacht hatte. Unsere Sternenschiffe flogen viele Planeten an, die uns tributpflichtig waren. Wir wurden von weisen und gerechten Königen regiert und führten lange Zeit ein glückliches Leben. Dann kam es zwischen zwei der Könige – es waren Zwillingsbrüder – zu einem Zerwürfnis. Diese beiden Könige regierten gemeinsam, teilten sich die Macht, und jeder war mit seinem Anteil zufrieden. Doch ihre Berater waren ehrgeizige Männer, die nach mehr Reichtümern strebten und ihre Herren drängten, alle Macht an sich zu reißen. Eines Abends bei einem Bankett erhielten die Berater ihre Chance.
Der König des Westens gab einen Empfang für den König des Ostens. Im Laufe der Festlichkeiten und nach einigen Unterhaltungsprogrammen begab man sich ans königliche Bankett, und das Hauptgericht wurde aufgetischt. Als der Tafelmeister den Deckel von der Servierschüssel hob, stellte sich heraus, daß eine Feder des Sheeli-Vogels in der Sauce schwamm. Der Tafelmeister deckte die Schüssel sofort wieder zu, doch es war bereits zu spät. Beide Könige hatten die Feder gesehen und waren außer sich vor Wut.« »Was ist so schlimm an der Feder eines SheeliVogels?« fragte ich. »Der Sheeli ist ein unschönes Tier, das seine Eier in die Nester anderer Vögel legt.« »Ja und?« fragte Bull. Steban senkte schamhaft den Blick. »Auf unserer Welt wird die Feder eines Sheeli-Vogels einem Manne gegeben, dessen Frau ihr Vergnügen bei anderen Männern sucht. Es ist die schwerste aller Beleidigungen.« Wir nickten einmütig, und Steban fuhr fort. »Beide Könige hatten sich kürzlich eine Frau genommen, und jeder glaube, daß der andere ihn zum Gespött machen wollte. Das Fest wurde fortgesetzt, doch die Könige sprachen kein Wort mehr miteinander, und ihr Abschied an diesem Abend war kühl und förmlich. Die Berater gingen unverzüglich ans
Werk und brachten die Brüder immer mehr gegeneinander auf. Schließlich kam es zum Krieg. Nach seinem Ende waren die großen Städte allesamt dem Erdboden gleichgemacht und die meisten Menschen tot.« »Was geschah mit den beiden Königen?« fragte Grax. »Die Überlebenden ließen sie und ihre Berater vierteilen.« »Geschieht ihnen recht«, brummte Bull. »Das mag sein, doch mein Volk war in großer Sorge. Die Menschen führten sich vor Augen, was sie einander angetan hatten, und schworen sich, von diesem Tage an nie wieder zu töten. Seit siebenundvierzig Generationen hat mein Volk Gewalt und Blutvergießen um jeden Preis vermieden, und selbst das Erscheinen der Rasse von der Erde konnte es nicht von seinem Weg abbringen. Wir haben unseren Schwur gehalten.« »Wie habt ihr es überhaupt geschafft zu überleben?« fragte Bull. »Niemand belästigte uns, bis die Piraten kamen. Als sie Essen verlangten, gaben wir ihnen, soviel sie wollten. Als sie unsere Frauen entführten, trösteten wir uns mit dem Gedanken, daß ihre Gesellschaft einen läuternden Einfluß auf die Piraten haben würde. Doch als sie töteten, wußten wir keine Antwort mehr.
Wir waren ratlos. Ein paar von uns taten sich zusammen, um einen Weg zu ersinnen, wie wir die Piraten vertreiben konnten, doch nach siebenundvierzig Generationen haben wir allen Kampfeswillen verloren. Wir haben keine Waffen und wissen nicht, wie man sie herstellt. Und selbst wenn wir welche herstellen könnten oder sie kauften, so hätten wir doch nicht das Geschick oder den Willen, um sie anzuwenden.« »Darum wollt ihr, daß wir für euch kämpfen«, stellte Grax fest. Steban nickte. »Wenn ihr es nicht tut, wird man uns vernichten.« »Was soll das heißen ›vernichten‹? Piraten wissen eine sichere Einkommensquelle zu schätzen. Sie werden euch Unannehmlichkeiten machen, euch vielleicht ein bißchen hart anpacken, aber warum sollten sie euch vernichten?« fragte ich. »Weil wir ihnen nichts geben können. Mein Volk hat alle Überschüsse verkauft, damit ich die Reise antreten und Hilfe holen konnte. Wenn die Piraten diesmal kommen, werden sie uns alles nehmen und uns umbringen, weil wir es wagten, sie zu enttäuschen.« »Ich glaube, er hat recht«, sagte Grax. Er, Bull und ich sahen einander geraume Zeit an, ohne ein Wort zu sagen, doch unsere Blicke sprachen eine deutliche und unmißverständliche Sprache. Schließlich räus-
perte ich mich, nahm einen kräftigen Schluck Hiski und fragte Steban, wann die Piraten erwartet würden. »In einundvierzig Tagen GSK«, antwortete er. »Rund dreißig Barbary-Tage.« »Und wie lange dauert die Reise zu deinem Planeten?« »Dreiundzwanzig Tage GSK.« Ich sah Grax an. »Das können wir schaffen«, sagte er. »Wir drei?« erkundigte Bull sich vorsichtig. »Unser Schiff hat Platz für ein Dutzend Männer«, sagte ich ihm. »Wir können hier auf Barbary eine Mannschaft zusammenstellen.« »Mein Volk wird euch ewig dankbar sein«, sagte Steban. »Wie dankbar?« fragte Bull. »Ich finde, wir sollten diesen Punkt klären, bevor wir anfangen, Pläne zu schmieden.« »Wir werden euch geben, was ihr verlangt.« »Auf so ein Angebot bin ich kürzlich erst hereingefallen. Wir wollen Zahlen hören«, sagte Bull. Wir feilschten eine Weile um das Honorar und einigten uns schließlich auf eine Summe, die in Stebans Augen ein Vermögen darstellen mußte, tatsächlich aber fast ein Spottpreis für eine Aufgabe dieser Art war. Obwohl ich praktisch pleite war und nach all den Jahren im Weltall mit weniger als einem Betterton Bargeld
heimkehren würde, war ich geneigt, Steban ein wenig entgegenzukommen. Er war ein harmloser, ehrlicher Mensch, und seinem Volk drohte große Gefahr. Mazat schien viel mit Gilead gemein zu haben, und ich hätte von jedem, der wie ich dazu in der Lage war, erwartet, meiner Heimatwelt in einer ähnlichen Situation beizustehen. Außerdem war es kein allzu großer Umweg, vielleicht ein paar Wochen zusätzliche Reisezeit, und der Kurs wurde von einer der watsonischen Karten abgedeckt. Schließlich sorgte noch der Hiski dafür, daß mein Verantwortungsgefühl sich meldete. »In Ordnung«, sagte Bull, nachdem das Honorar vereinbart war. »Jetzt zu deinen Leuten – werden sie tun, was wir ihnen sagen?« »Sie sind außerstande zu töten«, sagte Steban. »Davon rede ich nicht. Sie sind Farmer – können sie Gräben ausheben? Felder überfluten? Bäume fällen?« »O ja, natürlich.« »Gut.« Er wandte sich an uns. »Was habt ihr gesagt, wieviel Mann euer Schiff faßt? Ein Dutzend?« »Wenn wir uns dünn machen«, sagte Grax. »Angenommen, wir machen uns nicht dünn.« »Dann acht«, erwiderte Grax. Bull sah mich fragend an; ich nickte. »Das bedeutet, daß wir noch vier Mann brauchen. Habt ihr eine Idee, woher wir sie kriegen?«
»Wir haben keine Zeit, die Galaxis zu durchstöbern. Ich finde, wir sollten uns hier auf Barbary umsehen«, sagte ich. »Was meinst du, Grax?« fragte Bull. »Ich denke, er hat recht.« »Der Meinung bin ich auch. Morgen gehen wir zum Hafen und sehen uns die Leute an. Ich werde das Angebot unters Volk bringen. Und jetzt führen wir uns noch eine Flasche Hiski zu Gemüte.«
16
Eine Begegnung mit Daltreskanern; unser erster Rekrut
Während der nächsten drei Tage brachten Bull, Grax und ich das Angebot unter die Leute, aber wir fanden keine Interessenten. Es gab genug Männer auf Barbary, die stark und verwegen aussahen und sich ihres Mutes rühmten, doch von einem Kampf gegen sechzig Piraten mit knurrenden Mägen und Mordlust in den Augen wollte keiner etwas wissen. Ehrlich gesagt, ihr Standpunkt war nicht schwer zu verstehen, sobald einem der Hiski nicht mehr die Sinne umnebelte. Aber wir hatten Steban unser Wort gegeben und konnten nicht mehr zurück. Wenn wir die zusätzlichen vier Mann nicht fanden, mußten wir es allein mit den Piraten aufnehmen. Keine erfreuliche Aussicht.
Am vierten Tag unserer Suche gegen Einbruch der Nacht saßen wir in einem Lokal am Raumhafen, leerten schwere Krüge mit heißem Skoof und verwünschten unser Pech, als es in unserer Umgebung plötzlich merkwürdig still wurde. Etwas lag in der Luft, eine Spannung, deren Ursache nicht sofort erkennbar war. Wir bezahlten unsere Rechnung, verließen unauffällig das Lokal und sahen uns draußen aufmerksam um. Bull deutete auf eine Gruppe Hafenarbeiter, die sich verstohlen und mit vielen nervösen Blicken über die Schulter in einen entlegenen Winkel des Raumhafens zurückzogen. Wir folgten ihnen behutsam und in angemessenem Abstand. Der Grund, warum jedermann es plötzlich sehr eilig zu haben schien, das Weite zu suchen, war offenbar ein gedrungenes, dunkles Schiff, das gerade auf dem Landefeld niederging. »Daltreskaner«, flüsterte Bull und drängte uns in den Schatten zwischen den zwei Lagerhäusern. Schon beim Klang dieses Wortes juckte es mir in den Fingern. Die schwerfälligen daltreskanischen Schiffe waren in den meisten Sonnensystemen unerwünscht, und selbst hier auf Barbary, wo das Gesetz lascher gehandhabt wurde als anderswo, sah man die Sklavenhändler nicht gern – allenfalls in gewissen Freudenhäusern und Kneipen, die man, wie ich gehört hatte, vorzugsweise nicht allein und unbewaff-
net aufsuchen sollte, wenn man Wert darauf legte, sein Leben nicht in absehbarer Zeit in den Arenen, Bergwerken oder anderen Geschäftszweigen zu verlieren, die von den Daltreskanern mit Arbeitskräften beliefert wurden. Wenn ich mir vor Augen führte, was ich bisher von Barbary gesehen hatte, bezweifelte ich nicht, daß diese Gerüchte zutrafen. »Was glaubst du, was sie vorhaben?« flüsterte Grax. »Auftanken vielleicht. Sie könnten natürlich auch Fracht bringen.« »Oder eine abholen«, warf ich ein. »Wir werden es bald erfahren. Die verlieren keine Zeit«, erwiderte Bull. Ich ahnte es bereits und hoffte, daß ich mich irrte, aber die Daltreskaner waren tatsächlich gelandet, um Fracht an Bord zu nehmen. Aus einem Schuppen kamen acht Sklavenhändler zum Vorschein, die drei Männer in schweren Ketten zum Schiff trieben. Sie bearbeiteten sie fachmännisch mit ihren Treibstöcken und sparten nicht mit Tritten und Faustschlägen. Zwei der Männer in Ketten, die sich unter den niederhagelnden Schlägen krümmten, schlurften so rasch sie konnten vorwärts, doch der dritte Gefangene, ein großer, stämmiger Bursche mit blondem Haar, der gerade erst dem Jungenalter entwachsen zu sein schien, war den Treibern nicht schnell genug. Das
mißfiel den Daltreskanern natürlich, die stets Gehorsam und Unterwürfigkeit von ihren ›Schützlingen‹ erwarteten. Einer von ihnen bückte sich plötzlich, riß an der Beinfessel des Gefangenen und brachte ihn zu Fall. Dann begannen er und zwei andere den am Boden Liegenden mit Tritten zu bearbeiten. Ich rief mir meine letzte Nacht auf Gilead in Erinnerung; die Methoden der Sklavenhändler hatten sich nicht geändert. Die Daltreskaner konnten es noch so eilig haben, wenn es darum ging, einen widerspenstigen Gefangenen zu verprügeln, hatten sie immer Zeit. Hinter mir im Dunkel hörte ich, wie Grax mit den Zähnen knirschte und Bull mit erstickter Stimme einen Schwall von Flüchen von allen Planeten der Galaxis ausstieß. Ich stupste ihn an. »Wir müssen etwas unternehmen, Bull«, sagte ich. »Werden wir auch. Wartet hier«, entgegnete er und verschwand. Ich sah ihm nach und versuchte festzustellen, in welche Richtung er ging, doch in diesem Moment wurde ich auf eine plötzliche Bewegung aufmerksam. Der Gefangene, der die Prügel bezogen hatte, war wieder auf die Füße gezerrt worden. Er stand unsicher da, dann schlang er mit einer Bewegung, die zu schnell war, als daß ich ihr hätte folgen können, die Kette seiner Handfessel einem seiner Treiber um den Hals. Das helle Krachen berstender Knochen hallte
bis zu unserem Standort. Er löste die Kette von dem zusammenbrechenden Körper, schleuderte sie dem zweiten Treiber, der gerade auf ihn losging, ins Gesicht und brachte ihn zu Fall. Als der dritte Sklavenhändler seinen Kumpanen nacheilte, um sie zu Hilfe zu holen, humpelte der Gefangene genau auf die dunkle Gasse zu, wo Grax und ich standen. »Hierher«, rief Grax ihm zu. Der lange Blonde schaute erschrocken auf, doch er blieb nicht stehen. Grax deutet auf eine Nische in der Wand dicht hinter uns, und der Blonde kam der wortlosen Aufforderung nach, so schnell seine Beinfesseln es zuließen. Grax sagte: »Rede du mit ihnen, Del. Ich gebe dir Rückendeckung.« Dann zog er sich ins Dunkel zurück. Ich hatte lange darauf gewartet, einer Gruppe Daltreskanern mit einer besseren Waffe als einer Handvoll Steinen gegenübertreten zu können. Ich ging hinaus in den sanften Lichtschein, den Barbarys zwei Monde warfen, und sah fünf der sechs noch aktionsfähigen Treiber auf mich zukommen. Sie bewegten sich rasch und zielsicher, ließen die Stöcke rhythmisch in die flachen Hände klatschen und machten ganz den Eindruck von Männern, die genau wußten, wohin sie wollten und was sie an ihrem Bestimmungsort zu unternehmen gedachten. Als sie sich bis auf zwanzig Schritte genähert hatten, trat ich ihnen in
den Weg, die Hände dicht über den Pistolenknäufen. Ich wollte einigen Abstand zwischen ihnen und mir wahren, denn die Daltreskaner konnten ihre Treibstöcke mit tödlicher Zielgenauigkeit einsetzen, wenn man sie zu nahe herankommen ließ. Sie blieben stehen und verteilten sich. »Wo ist der Große hin?« fragte einer der Treiber. »Welcher Große?« »Der geflohene Gefangene«, sagte ein anderer Daltreskaner. »Er lief genau in diese Richtung.« »Ich habe keinen geflohenen Gefangenen gesehen.« »Sie sind ein Lügner. Er kam hier vorbei«, sagte der erste Sprecher. »Komm, laß sein –« begann der andere, verstummte jedoch, als Grax aus dem Schatten hinter mir trat. »Ich glaube, Sie haben einen Fehler gemacht. Ich meine Sie – mit dem großen Maul«, sagte er. »Der Gefangene kam hier vorbei«, beharrte der Daltreskaner. »Davon rede ich nicht. Sie haben meinen Partner einen Lügner genannt. Das war ein Fehler.« »Er sagte, er hätte unseren Gefangenen nicht gesehen, dabei wissen wir genau, daß er hier entlang –« »Das war kein Gefangener. Das war ein entkommener Sklave«, sagte ich. »Er ist ein Mörder, der zwei Menschen umgebracht hat. Einem zertrümmerte er den Schädel, einem an-
deren brach er das Genick. Wir müssen ihn fassen«, sagte der erste Daltreskaner. »Hört mal, Jungs, wir wollen keinen Ärger mit euch, wir wollen nur unseren Job erledigen.« Grax spuckte in weitem Bogen aus, dem Sprecher genau vor die Füße. »Der große Bursche hat keine Menschen umgebracht, er hat zwei daltreskanische Sklavenhändler erledigt. Dafür verdient er einen Orden. Jeder, der ein paar Daltreskaner vertilgt, erweist der Galaxis einen Dienst.« Manchmal hatte ich das Gefühl, daß Grax in kritischen Situationen etwas zu hitzig auftrat. Ich mochte die Daltreskaner ebensowenig wie er – aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen mit ihnen wahrscheinlich noch um einiges weniger –, trotzdem wollte ich sie nicht unbedingt zum Kampf zwingen. Im Grunde ging es mir hier nur um das Schicksal der Sklaven. Nach Grax Worten herrschte für einen Moment Schweigen, dann trat der größte der fünf Treiber vor und sagte: »Wir können auf den Großen verzichten. Schnappen wir uns dafür diese beiden hier. Im Laderaum ist Platz genug.« »Reicht er auch für drei?« tönte Bulls dröhnende Stimme. Die fünf Sklavenhändler schauten sich hastig um. Bull war während unseres Wortwechsels um das Lagerhaus herumgeschlichen. Ich war froh, daß er in diesem Moment in Erscheinung trat.
Die Daltreskaner zögerten. Keiner von uns rührte sich. Ich glaube, sie hätte klein beigegeben, doch in diesem Moment fiel ein Lichtstrahl vom Schiff aufs Landefeld; die Luke war aufgegangen, und ein Dutzend Männer sprang heraus. Der sechste Sklavenhändler, der zur Bewachung der beiden anderen Gefangen zurückgeblieben war, hatte den Ärger anscheinend vorausgesehen und vom Schiff Verstärkung geholt. Das gab den Daltreskanern den Mut zurück; sie stürzten sich auf uns. Bull zog sein Bowiemesser und stellte sich dem größten der Sklavenhändler. Grax zog und schoß einen Angreifer nieder. Indessen war der lange Blonde aus seinem Versteck gekommen und schwang seine Kette wie eine Sense. »Wir werden mit ihnen fertig. Kümmere du dich um die anderen«, rief Grax mir zu. Ich umrundete die Kämpfenden, ließ mich, als ich freie Sicht hatte, auf ein Knie nieder und zielte auf den vordersten der zwölf über das Landefeld rennenden Männer. Als neun von ihnen reglos am Boden lagen und hinter mir alles ruhig war bis auf vereinzeltes Stöhnen und Kettenrasseln, standen die drei überlebenden Sklavenhändler stocksteif, waffenlos und mit erhobenen Händen vor mir. Sie begannen aufgeregt zu plappern. Ich möchte bezweifeln, daß irgendein Sterblicher jemals so herzzerreißende Geschichten vernommen hat, wie sie nun
aus den Mündern der drei breitschultrigen, stiernackigen Sklaventreiber mit den runden, glänzenden Augen ertönten, die mich inbrünstig um Nachsicht anflehten. Nichts war ihnen mehr zuwider als der Sklavenhandel, versicherten sie; sie waren hart arbeitende Männer, die sich, vom Pech verfolgt, nur auf dieses schmutzige Geschäft eingelassen hatten, weil sie eine alternde Mutter, eine kranke Ehefrau oder ein verkrüppeltes Kind ernähren mußten. Nie hatten sie einen Gefangenen mißhandelt. Sie ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil, sie hatten sogar ihren Kopf riskiert, um den Unglücklichen, die ihren ehrlosen Schiffsgenossen in die Klauen fielen, das Los zu erleichtern. Es waren die anderen, die Prügel austeilten, Rationen kürzten und Unruhestifter zur Luftschleuse hinausstießen, um ein Exempel zu statuieren. Aber nicht sie. Sie führten nur Befehle aus, und auch das nur widerwillig; und immer glomm in ihrer behaarten Brust der Funke galaktischer Brüderlichkeit. Schließlich befahl ich ihnen, den Mund zu halten, bevor mir übel würde. »Was machen wir mit denen?« fragte ich Bull, der neben mich trat, um mein Werk zu begutachten. »Ist mir gleich. Fragen wir doch den Jungen nach seinen Vorstellungen.« Seiner Fesseln entledigt, neigte der lange Blonde – ganz so jung war er doch nicht, wie ich bemerkte – zu dem Standpunkt leben und leben lassen.
»Warum lassen wir sie nicht einbuchten?« fragte Grax. »Wenn wir uns ins barbarysche Gesetz einmischen, sind wir diejenigen, die hinter Gittern landen. Das solltest du eigentlich wissen«, sagte Bull. Er wandte sich an die drei Sklavenhändler. »Wie viele Sklaven habt ihr an Bord?« »Keinen, Sir!« beeilten sie sich zu antworten. »Es stimmt. Ich hörte sie darüber reden«, sagte der Blonde. Bull nickte. »Also gut. Sammelt eure Freunde ein und verschwindet von hier. Und haltet euch Barbary fern. Wenn ihr klug seid, sucht ihr euch einen anderen Beruf.« »Ja, Sir! Vielen Dank, Sir!« schnatterten sie. Die beiden anderen Gefangenen hatten während des ganzen Getümmels totenstill am Boden gelegen. Nun hoben sie vorsichtig die Köpfe, standen auf und kamen ängstlich auf uns zugehüpft. Sie waren schmächtige Burschen, schlechte Beute für einen Sklavenhändler; ich bezweifle, daß sie auch nur eine Schicht in den Schwefelzechen überstanden oder einen guten Kampf in der Arena geliefert hätten. Der eine war ein wortkarger Farmer von Elgar II, der Besitzanteile an einem Asteroiden verkauft hatte, um sich auf Barbary endlich einmal austoben zu können; der andere war Waffenhändler, hatte sich in einer
Kneipe einen letzten Drink genehmigen wollen und war in Ketten aufgewacht. Beide überschütteten uns mit ihrem Dank. Auf dem Rückweg in die Stadt schilderte uns der große blonde Bursche – er hieß Ronin –, wie er beim Schürfen nach Bodenschätzen in einem toten Sternsystem von Raumpiraten gefangengenommen und nach Barbary gebracht worden war, wo man ihn den Sklavenhändlern übergeben hatte. Seine gesamte Ausrüstung einschließlich des Spezial-Einmann-Prosektorschiffs war von den Piraten gestohlen oder zerstört worden. »Diese Piraten haben dir wahrhaftig übel mitgespielt«, sagte Bull, den großen, glänzenden Kopf schüttelnd. »Ich wette, du würdest es ihnen gern heimzahlen, stimmt's?« fragte ich. »Und ob. Ich weiß noch nicht wie, aber mir fällt schon etwas ein. Sie sind fast sechzig Mann, und ich bin allein und völlig abgebrannt; ich weiß aber, wo sie hinwollen.« Bull sah mich an. »Nämlich?« »Sie steuern Mazat, einen Farmerplanet, an. Dort wollen sie sich Vorräte beschaffen und eine Weile ausruhen. Sie müßten in ungefähr vierzig Tagen ankommen.« Bull, Grax und ich starrten einander an, fingen an
zu lachen, versetzten einander freundschaftliche Knüffe, sahen Ronin an, um dann die Köpfe zu schütteln und weiterzulachen. Ronin sah unserem Gebaren wortlos zu, doch ich bin sicher, daß er sich verblüfft fragte, was wohl in uns gefahren war. Als wir uns beruhigt hatten, erzählte ich ihm Stebans Geschichte. Er hörte aufmerksam zu und reichte anschließend jedem von uns die Hand. Jetzt waren wir zu viert.
17
Grax und ich begegnen einem Meister
Schon am nächsten Tag fanden Grax und ich den nächsten Rekruten; Bull und Ronin stöberten ebenfalls einen auf. Diesmal war unsere Aufgabe leichter. Grax und ich gingen eine Hauptverkehrsstraße entlang, als wir plötzlich auf eine Menschenmenge vorm Eingang eines Vergnügungssalons aufmerksam wurden, der rund um die Uhr Gewalt anbot: Nehmen, Geben, Zusehen, alles ein Preis, keine Wartezeit, keine Beschränkungen. Solche Stätten waren auf Barbary sehr beliebt, doch hier herrschte ungewöhnlich großer Andrang. Über den allgemeinen Lärm hinweg hörten wir einen Mann seine Ansage machen. Auf Barbary wimmelte es von Leuten, die todsichere Gewinnlose feilboten, garantiert wirkende Potenzsteige-
rungsmittel und echte Artefakte von der Erde (die allesamt auf den geschäftigen Industriewelten Iboki I und III hergestellt wurden), doch dieser Ansager erregte unsere Neugier, denn er hörte sich anders an. Seine Stimme war so ausdruckslos, so gelangweilt und so gleichgültig, daß sie Grax und mich in den Bann schlug. Wir näherten uns, bis wir die Worte verstehen konnten. »Dieser Ring mißt etwa fünf mal fünf Meter«, leierte er her. »Ich stehe in der Mitte in einem ein mal ein Meter großen Quadrat, und zwölf Männer können versuchen, mich mit einem Messer oder Schlagstock ihrer Wahl niederzustrecken. Wenn ich nach einem Durchlauf der Sanduhr noch auf den Füßen bin, gewinne ich alle Einsätze. Wenn ich zu Boden gehe oder aus dem Quadrat gedrängt werde, gewinnt derjenige, der mich bezwingt. Ich kämpfe waffenlos und wende reine Verteidigungstaktiken an. Wer will es probieren?« Zwei stämmige Männer traten vor und meldeten sich. Drei weitere schlossen sich ihnen an, dann noch mehr, und nach kurzer Zeit hatte der Ansager seine zwölf Gegner beisammen. Er knöpfte seinen Umhang auf, zog die Stiefel aus und stand, abgesehen von einem Lendenschurz und einer breiten Schärpe um seine Taille, die zu einem merkwürdigen Knoten gebunden war, so nackt und wehrlos in der Mitte der
kleinen Arena wie ein neugeborenes Frinkl. Er war ein mageres Kerlchen, kleiner als Grax und ich oder der schmächtigste seiner zwölf Gegner. Er besaß kein Gramm Fett zuviel und schien trotz seiner zwergenhaften Gestalt ein einziges Muskelpaket zu sein. »Das wird interessant«, meinte Grax, der sich durch die Menschenmenge schob. »Er ist ein Meister des Sechzehnten Grades.« »Von was?« »Von Ti-Kama-No, der Wissenschaft von den Gekräuselten Wellen. Das ist eine Technik waffenloser Selbstverteidigung, die auf Iboki VI gelehrt wird. Es heißt, sie ging auf Japan auf der Erde zurück.« »Wer war Japan?« fragte ich. »Eine Stadt in den Pazifischen Staaten, glaube ich. Jedenfalls hatte man sich dort auf Selbstverteidigungstechniken spezialisiert. Man stellte auch Fotoapparate her.« »Woher weißt du das alles?« »Ich tat mal Dienst mit jemand, der ein Meister des Dritten Grades war. Muß dir bei Gelegenheit von ihm und den sieben Daltreskanern erzählen.« Er zog mich hinter sich her. »Komm. Das sehen wir uns an.« Die dreizehn Männer nahmen ihre Positionen ein, dann wurde die Sanduhr umgedreht, und der Kampf fing an. Das Dutzend Herausforderer stürzte sich, die Waffen schwingend, sofort auf den Meister, und für
ein paar Sekunden glaubte ich, wir würden Zeugen eines Massakers. Aber dann erhaschte ich durch das wilde Knäuel von Armen und Beinen einen Blick von dem Kleinen, und dieser eine Blick genügte, um meine Befürchtungen zu zerstreuen. Er tänzelte hin und her, wand sich, duckte sich, sprang zur Seite, ging in die Hocke, wehrte Messerstöße und Stockschläge mit gekonnten Bewegungen seiner Ellbogen ab, und der Ausdruck völliger Gelassenheit und Lageweile wich für keinen Sekundenbruchteil von seinem Gesicht. Als der Sand durchgelaufen war und der Zeitnehmer »Halt!« schrie, schwitzte der Meister nicht einmal, während seine zwölf erfolglosen Angreifer keuchten und schnauften, als hätten sie einen Berggipfel erklommen. Sie machten den Ring frei, und der Meister rief nach zwölf neuen Herausforderern. Keine Reaktion. Er erbot sich, es mit vierzehn, dann mit fünfzehn Gegnern aufzunehmen. Immer noch keine Reaktion. Er verkündete, mit gebundenen Armen gegen sechzehn Mann antreten zu wollen, doch die Menge begann sich unter Murren und Kopfschütteln zu zerstreuen. Darauf zog er mit ausdrucksloser Miene seine Stiefel an, warf sich den Umhang über und fing an, die Sanduhr und die Ringmarkierungen einzupacken. Grax und ich gingen zu ihm hinüber. »Hätten Sie eine Minute Zeit?« fragte Grax.
»Die Vorstellung ist zu Ende«, bekam er zur Antwort. »Ich weiß, darüber wollte ich auch nicht mit Ihnen reden. Ich würde mich hüten, es mit einem Meister des Sechzehnten Grades aufzunehmen, selbst wenn er an Armen und Beinen gefesselt wäre und die Augen verbunden hätte.« Der Meister schaute auf. »Die Augen verbunden? Daran habe ich noch nie gedacht. Woher wissen Sie, daß ich ein Meister des Sechzehnten Grades bin?« »Ich sehe es an der Schärpe und dem Knoten. Ich kannte einmal einen Meister des Dritten Grades, der mir die Bedeutung der Zeichen erklärte. Es gibt nicht mehr viele von euch.« »Ganze vier. Und bald wird es keinen mehr geben. Die Anwendungsmöglichkeiten der Wissenschaft sind begrenzt; sie taugt gerade noch für Straßenvorstellungen wie diese.« »Vielleicht könnten wir Ihnen eine interessantere Tätigkeit anbieten«, sagte Grax. »Was? Einen Zirkus vielleicht?« Er sah uns verächtlich an. »Nein, nichts dergleichen«, sagte ich und erzählte ihm von Stebans Volk und seinem Problem. Er hörte mir schweigend zu; Augen und Gesicht blieben völlig ausdruckslos. Als ich geendet hatte, fragte er lediglich: »Sechzig Mann?«
»In etwa.« »Es könnten mehr sein«, bemerkte Grax. »Bewaffnet?« »Bis an die Zähne«, versicherte ich ihm. »Ich mache mit. Wann brechen wir auf?« »Morgen abend«, sagte ich. »Ich werde beim zweiten Mondaufgang am Hafen sein. Ich finde euch schon.« »In Ordnung«, sagte Grax. Der Meister hob seine Tasche und ging. Grax rief ihm nach: »He, wie ist Ihr Name?« »Nennt mich Slip«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Und das ergab fünf.
18
Unsere Mannschaft wird unerwartet komplett
Am Abend trafen wir uns mit Bull und Ronin. Sie hatten einen Fremden bei sich, unseren sechsten Rekruten, einen grauhaarigen Ex-Legionär namens Carter. Er und Bull kannten sich von der RinnExpedition her, und wie sich herausstellte, hatte er früher unter jenem Mann gedient, der aller Wahrscheinlichkeit nach mein Vater war – Commander Corey. Als er den Namen erwähnte, bekam Bull große
Augen. »Du hast unter Corey gedient? Das wußte ich nicht.« »Es ist lange her, Bull«, sagte Carter. »Nachdem man unsere Kampfgruppe aufgelöst hatte, wurde ich auf sein Schiff abkommandiert. Männer wie ihn findet man heute kaum noch, das sage ich euch.« Er schüttelte den Kopf und schwieg. »Wo habt ihr gekämpft, Carter?« fragte ich. »Überall, wo es Rinn gab. Corey kommandierte das Siebte Angriffsgeschwader, und Angriff ist hier wahrlich nicht zuviel gesagt. Wir waren immer in vorderster Front zu finden. Corey pflegte in eine RinnFormation hineinzustoßen, wie ein Snargraxe sich auf eine Brintherherde stürzt. Er hatte wahrhaftig Grund, sie zu hassen, der Ärmste. Seine Frau war eine der letzten lebenden Malellaninnen. Ein hübsches Ding. Er zeigte mir mal ein Foto von ihr, ein kleines Filmbild, das er immer in einem Amulett bei sich trug.« Er schwieg, starrte auf den Tisch, schaute dann auf. »Was die Rinn mit Malella anstellten, wißt ihr ja.« Wir nickten stumm. Daß die Rinn das malellanische Sonnensystem verwüstet hatten, wußte jede Rasse der Galaxis und inzwischen auch ich. »Er suchte die Überlebenden zusammen und brachte sie zur Pendelton-Basis«, fuhr Carter fort. »Damals war das eine lange Reise. Seine Frau bekam unterwegs einen Sohn, und Corey beschloß darauf-
hin, den Dienst zu quittieren und eine Heimat zu suchen, wenn sie Pendelton erreichten. Er hätte sich niederlassen können, wo er wollte. Hundert Planeten hätten ihn zum König gekrönt, wenn er nur ein Wort gesagt hätte. Doch die Rinn waren ihnen auf der Spur. Am Tag nach ihrer Landung tauchten sie auf. Corey startete und verwickelte sie in eine Gefecht. Als er zurückkehrte, war der Stützpunkt zerstört. Danach hatte er nichts anderes mehr im Sinn, als die Rinn zu vernichten.« Unerwartet erhielt ich hier eine Bestätigung, und zwar von einem Menschen statt einer Maschine, von einem Mann, der Corey persönlich gekannt und mit ihm gesprochen hatte. Gariv hatte zwar dasselbe behauptet, doch Carter erschien mir wesentlich glaubwürdiger. Obwohl ich vor Neugier fast platzte, hielt ich mich zurück. Ich wollte nichts von meiner Geschichte verlauten lassen, ehe ich mir nicht einiger weiterer Tatsachen sicher sein konnte. Ich fragte Carter, was aus seinem Kommandanten geworden war. »Das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen«, erwiderte er. »Zuletzt hörte ich, daß er im Zuge der Zweiten Expedition ein Freiwilligenkorps führte. Sie räumten mit den letzten Rinn auf. Das muß neun oder zehn Jahre her sein. Es heißt ja, daß die Zweite Expedition zerfiel und viele der Teilnehmer zu Bandi-
ten wurden. Aber ich glaube nicht, daß Corey diesen Weg einschlug. Tja, wenn wir so einen Mann hätten, dann wäre es überhaupt kein Problem, die Piraten auf Mazat zu erledigen.« »Glaubst du –« begann Ronin, unterbrach sich jedoch, als ein großer Lixianer auf unseren Tisch zukam. Er blieb ein paar Schritte davor stehen und richtete die schmalen Augen auf Bull. Bulls Hand glitt zum Messer, doch das war seine einzige Reaktion; wir andern verhielten uns still. Der Lixianer hob die langen Arme, die Handflächen nach außen gekehrt, berührte mit den Fingerspitzen die Stirn, verschränkte die Arme und berührte die Schultern, dann die Knie. Als Lixianer brauchte er sich dabei nicht zu bücken. Ich erkannte in der Gestik das Herausforderungsritual, Bull ebenfalls. Die Lixianer waren ein interessantes Volk. Sie gehörten zu den ersten humanoiden Rassen, deren Bekanntschaft die irdischen Siedler machten. Nachdem sie ihre Ehrfurcht vor der Körpergröße der Fremden überwanden – ein erwachsener Lixianer brachte es oft auf über drei Meter Länge –, stellten sie fest, daß es ansonsten wenige grundlegende Unterschiede zwischen Menschen und Lixianern gab. Lixis war ein Planet mit niedriger Schwerkraft und einer dünnen Atmosphäre. Dementsprechend hatten die Lixianer sich entwickelt: sie waren groß und spindeldürr, be-
saßen lange, dünne, überaus kräftige Arme und Beine und einen riesigen Brustkasten, der sich nach unten stark verjüngte, die Taille kaum erkennen ließ und in knabenhafte Hüften und ein winziges Becken mündete. Der Kopf war diesen Körperproportionen angeglichen, klein und keilförmig, und wies animalische und menschliche Züge auf. Besonders die großen beweglichen Ohren, zum Hören auf einer Welt wie Lixis gut geeignet, verunsicherten die Erdenmenschen und sorgten dafür, daß der Kontakt zwischen den beiden Rassen sich auf ein Minimum beschränkte. Die Stimmen der Lixianer hatten es mir angetan. Auf einem Planeten mit normaler Atmosphäre brachten ihre gewaltigen Brustkästen tiefe, grollende Töne hervor, die stets an die Stimmen legendärer Helden gemahnten. Der lixianische Kodex war im Prinzip sehr einfach, konnte jedoch dermaßen verwirrende Formen annehmen, daß kein Außenstehender hoffen durfte, ihn zu enträtseln. Zuweilen verwirrte er sogar die Lixianer selbst. Auf Lixis gab es einen Obersten Herrscher, dem alle Lixianer Gefolgschaft bis in den Tod schuldeten. Dann kamen der Rangordnung nach sieben Kaiser, einige Dutzend Könige und etwa hundert Landaufseher. Jedem dieser Unterherrscher unterstanden eine Anzahl Stammesführer, Clanväter und Kriegsvasallen, von denen jeder wiederum eine eige-
ne Anhängerschaft besaß. Diese Gruppierungen verzweigten sich weiter nach unten, bis sie den gemeinen Untertanen erreichten. Jeder Lixianer auf einer beliebigen Stufe dieser Hierarchie schuldete sowohl seinem unmittelbaren Herrn Gefolgschaft als auch dessen Herrn und dem nächst Höherstehenden, und das so fort bis hinauf zum Obersten Herrscher. Nach jahrhundertelangen Kriegen, Bündnissen, Verträgen, Machtwechseln, Revolutionen und Kompromissen, nach Generationen der Mischehen zwischen den Stufen der Hierarchie und dem Aufkommen einer neuen Religion, die etliche zusätzliche Treuepflichten mit sich brachte, waren die Gefolgschaftsverhältnisse dermaßen kompliziert geworden, daß ein Lixianer unter Umständen in die Lage geraten konnte, seine Söhne – oder gar sich selbst – zugleich töten und beschützen zu müssen. Die lixianische Ehre hing von der Genauigkeit ab, mit der man diese labyrinthischen Treue- und Gehorsamspflichten erfüllte. Oft entzog sich der Betreffende seinen widersprüchlichen Verpflichtungen und ging ins Exil in der Hoffnung, in der Ferne genug Ruhm zu erlangen, um seine Vergehen oder Versäumnisse auf Lixis wiedergutmachen zu können. Die Hauptalternative war Selbstmord nach lixianischem Stil, eine schmutzige, qualvolle Sache, die die ganze Familie des Betreffenden einschloß – in manchen Fällen wa-
ren das mehrere tausend Personen, denn die Lixianer faßten den Verwandtschaftsbegriff sehr weit – und die sich über Tage hinzog. Gewöhnlich wurde jedoch das Exil gewählt. Die meisten Lixianer, denen man in der Galaxis begegnete, jagten denn auch dem Ruhme nach, um sich das Recht zu verschaffen, heimkehren und einen ehrenvollen Rang unter ihrem Volk bekleiden zu dürfen. Dadurch waren sie zwar sehr eifrige Kämpfer, jedoch ziemlich langweilige Gesprächspartner.* Der große Bursche vor unserem Tisch schien genau in diese Kategorie zu passen. »Ich habe dich gesucht, um meine Ehre wiederherzustellen«, sagte er mit dröhnender Baßstimme zu Bull und sah dann Grax und mich an. Bull betrachtete ihn forschend, dann entgegnete er: »Bist du nicht einer von der Bande, die mich neulich überfallen hat?« »So ist es.« »Wo stecken deine Freunde? Lixianer kämpfen nicht allein.« * Dieser kurze Abriß der Lixianer und ihrer Lebensweise ist, wenngleich wenig schmeichelhaft, in seinen Grundzügen richtig. Ich möchte nur eine Korrektur anbringen: Del bezeichnet die lixianische Methode der Selbsttötung als »schmutzige Sache« und spielt damit anscheinend auf übertriebenes Blutvergießen an. Das ist jedoch unzutreffend. Der Vorgang wird in die Länge gezogen und ist unerträglich qualvoll, doch es fließt kein Blut dabei.
»Ich schon.« »Freut mich für dich. Allerdings würde ich mit meinen Freunden gern einen trinken, wenn es dir und deinem erhabenen Kaiser recht ist.« »Dann werde ich warten, bis du dich zum Kampf bequemst«, erwiderte der Lixianer. Bull seufzte, lehnte sich zurück und sah zu seinem Herausforderer auf. »Hör mal, Stretch, ich bin im Moment mit anderen Dingen beschäftigt, ich kann mir nicht den Kopf über deine Probleme zerbrechen. Warum haust du nicht einfach ab?« »Ich lud Schande auf mich, als ich vor dir und deinen Kameraden floh«, sagte der Lixianer. »Entweder du kämpft mit mir, oder ich muß euch alle töten, um meine Ehre wiederzugewinnen.« »Ehre?« höhnte Bull. »Wo kommst du her, daß du von Ehre redest? Du bist nichts als ein gedungener Mörder im Dienst eines betrügerischen Kaisers.« »Jetzt nicht mehr«, erwiderte der Lixianer gleichmütig. Ich hatte gehört, daß Lixianer hart im Nehmen waren, doch an diesem prallte alles ab. Im Vergleich zu ihm schaute Slip wie ein freundlicher Betrunkener aus. »Was soll das heißen: jetzt nicht mehr?« »Als ich dich angriff, glaubte ich, du hättest meinen Kaiser betrogen, doch man hat mich getäuscht. Darum steht es mir nun frei, dich zum Duell herauszu-
fordern. Entweder ich werde mit unbefleckter Ehre meiner Wege gehen oder beim Versuch, sie wiederzugewinnen, sterben.« »Was nützt dir die Ehre, wenn du sterben mußt, um sie zu bekommen?« fragte Grax ihn. »Ehre ist alles, was ein Lixianer in diesem Leben besitzt. Einen ehrenvollen Tod zu sterben, bedeutet, jenseitiges Leben zu gewinnen.« »Nun, wenn dir soviel daran liegt, dann –« sagte Bull und machte Anstalten aufzustehen. Ronin hielt ihn jedoch zurück und wandte sich an den Lixianer. »Wir wollen nichts überstürzen. Setz dich zu uns, Stretch. Ich glaube, ich weiß einen Weg, wie du deine Ehre zurückgewinnen kannst.« »Forderst du mich heraus?« »Nein, keineswegs. Komm, setz dich.« Der Lixianer zog einen niedrigen Stuhl heran und nahm Platz. Er überragte uns immer noch. Ronin sah zu ihm auf und sagte: »Du willst deine Ehre wiederherstellen und suchst eine passende Gelegenheit. Wir wollen einen Planet vor Raumpiraten retten und suchen noch einen Krieger, der uns dabei hilft. Das ist eine ehrenvolle Aufgabe, findest du nicht?« Der Lixianer bejahte. »Nun, du könntest dich uns anschließen«, sagte Ronin vorsichtig. »Aber es liegt Schande auf mir. Ich muß viel Ehre
gewinnen, denn ich habe einem schlechten Kaiser gedient und bin von meinen Gegnern entwaffnet worden.« »Wenn du Ehre beim Kampf gegen die Raumpiraten gewinnst, würde das doch die Schande, einem schlechten Kaiser gedient zu haben, aufwiegen, oder?« »Das ist wahr«, räumte der Lixianer ein. »Doch meine Schande vor diesen Männern bleibt bestehen.« Ronin sah Bull scharf an. Es lag nun ganz an ihm. Wenn er wollte, konnte er die Ehre des Lixianers mit ein paar Worten wiederherstellen, doch ich wußte, wie stur er war und wie gering er die Lixianer schätzte. Doch dieser hier hatte Mut, er konnte kämpfen. Er wäre uns eine Hilfe. »Deine Ehre ist unversehrt, soweit es mich angeht«, sagte Bull mit erheblicher Mühe. Grax und ich bestätigten die Aussage. »Dann schließe ich mich euch an«, sagte der Lixianer prompt. »Ich schwöre, zur Ehre unseres Vorhabens beizutragen, und wenn es uns das Leben kostet.« »Stretch – wenn es nicht zuviel verlangt ist, würde ich es vorziehen, mit heiler Haut davonzukommen und die Ehre zu genießen«, bemerkte Carter. Er sprach uns aus der Seele. Ich glaube, das galt sogar für Stretch.
19
Wir erreichen Mazat und bereiten einen Empfang vor
Am nächsten Tag klapperten wir Lebensmittelgeschäfte, Krämer- und Waffenläden ab und deckten uns mit Vorräten und Ausrüstungsgegenständen für die lange Reise und die vor uns liegende Aufgabe ein. Beim zweiten Mondaufgang trafen wir uns am Raumhafen. Slip erschien pünktlich. Eine Stunde später waren wir unterwegs nach Mazat. Ich erwartete, während der dreiundzwanzigtägigen Fahrt genug Zeit zu finden, Carter sein Wissen über Commander Corey zu entlocken, doch Carter erwies sich als Raumveteran der alten Garde. Er mochte ein Rauf- und Trunkenbold sein, wenn er den Boden eines Planeten unter den Füßen hatte, doch an Bord eines Sternenschiffes war er die Gewissenhaftigkeit in Person. Wenn er nicht gerade aß, schlief oder die Vorräte überprüfte, beobachtete er unablässig die Instrumente. Es interessierte ihn nicht, daß jeder intelligente Sechsjährige dieses Schiff sicher hätte steuern können. Während der Rinn-Expedition hatte er gelernt, immer auf der Hut zu sein, und ich glaube, diese Gewohnheit war so tief in ihm verwurzelt, daß er sich, obgleich sie überflüssig geworden war, nicht darüber hinwegsetzen konnte. Er war so einsilbig, daß ich nach einigen erfolglosen Versuchen, ein Gespräch in Gang zu bringen, be-
schloß, mit meinen Fragen bis nach der Landung zu warten. Schließlich hatte ich so lange gewartet, daß es auf ein paar Wochen mehr auch nicht mehr ankam. Bull stand Carter in nichts nach; stets war er beschäftigt und nie ansprechbar. Slip und Stretch wechselten während der ganzen Fahrt kein Dutzend Worte miteinander. Beide beschäftigten sich auf ihre Weise: Slip mit seinen Übungen, Stretch mit seinen langen Meditationen. Ich schlug die Zeit tot, indem ich mit meinen Waffen übte und mich mit dem neuen Paar Pistolen vertraut machte, das der Waffenhändler mir für meinen Anteil an seiner Befreiung aus den Händen der Daltreskaner geschenkt hatte. Wenn mir das zu langweilig wurde, spielte ich mit Grax und Ronin Quist. Ich war froh, als der dreiundzwanzigste Tag anbrach und Mazat auf den Bildschirmen aufleuchtete. Die Mazatlaner bereiteten uns einen großartigen Empfang. Sie waren kleine, schlanke Menschen, die sich voller Anmut bewegten und wegen ihrer großen, runden Augen aussahen, als wären sie ständig am Staunen. Sie waren sanftmütig und freundlich, und ich faßte beinahe sofort Zuneigung zu ihnen. Sie mochten schlechte Krieger sein, aber sie waren die besten Gastgeber, denen ich jemals begegnet bin. Bull und Carter stellten eine Scanneranlage auf, und als die Instrumente anzeigten, daß die Warnvorrichtung zufriedenstellend funktionierte, ließen wir zu, daß die
Mazatlaner uns ein Fest gaben. Sie übertrafen sich selbst, jeder machte mit. Slip führte nach ein paar Gläsern des hiesigen Weins einen Tanz von solcher Wildheit auf, daß allen die Augen übergingen. Ronin schnappte sich eine Linlovar und entlockte ihr eine hämmernde Begleitmusik zu einer Reihe irdischer Lieder, die er aus den Bergarbeiterlagern kannte, in denen er seine Jugend verlebt hatte. Bull, Carter und Grax steuerten ebenfalls einige Lieder bei. Ein paar der Kinder stellten eine rotierende Zielscheibe auf, und ich veranstaltete ein kleines Schauschießen für sie. Die Mazatlaner sahen begeistert, und ich glaube, auch mit einiger Erleichterung zu. Wenn sie bisher vielleicht geglaubt hatten, Steban könnte ihnen einen Haufen Trunkenbolde aus einem wandernden Weltraumzirkus gebracht haben, konnten sie sich nun davon überzeugen, daß wir durchaus in der Lage waren, die Piraten zu bekämpfen. Nachdem ich wieder an meinen Platz gegangen war und mich neben ein reizendes mazatlanisches Mädchen gesetzt hatte – sie waren tatsächlich so hübsch, wie Steban behauptet hatte, und zudem sehr entgegenkommend –, stand Stretch auf, schlang sich zwei Gurte mit Finger-Messern über die breiten Schultern und führte uns seine Künste vor. Sein Messerwerfen übertraf alles, was ich jemals gesehen hatte. Verstohlen beobachtete ich Bull und erwischte ihn zweimal dabei, wie er sich die Lippen leckte und sich
mit seinem schmutzigen alten Halstuch über den Schädel wischte. Ich bin sicher, er stellte sich vor, wie der Kampf in jener Gasse auf Barbary hätte ausgehen können, wenn Stretch genug Platz gehabt hätte, um die Finger-Messer zu benutzen. Am Ende der Vorführung war er der erste, der dem großen Lixianer die Hand reichte, und er schüttelte sie, als wäre Stretch sein lange verloren geglaubter Bruder. Am nächsten Morgen, nachdem Hata, meine kleine Mazatlanerin, mir Frühstück gebracht hatte, begab ich mich auf den Marktplatz in der Dorfmitte. Alle arbeitsfähigen Männer hatten sich hier, mit Werkzeugen ausgerüstet, versammelt, und Bull teilte sie in sieben Arbeitsgruppen auf, eine für jeden von uns. Er hatte, für jedermann sichtbar, eine große Karte des Dorfs aufgestellt und zeigte die Stellen auf, wo Fallgruben und Gräben ausgehoben, Stolperdrähte gespannt, Rauchbomben vergraben und Brücken und Straßenkreuzungen vermint werden sollten. Sein Plan war einfach und direkt. Er baute auf die Tatsache auf, daß die Piraten stets auf Haxopoden ritten, sechsbeinigen mazatlanischen Last- und Reittieren, die schnell waren wie der Wind, aber nicht einmal ihre halbe Körperlänge überspringen konnten.* Bulls * Der Haxopod ist nicht nur auf Mazat heimisch, vielmehr trifft man ihn in der ganzen Galaxis an. Einer Schätzung zufolge existiert eine Abart des Haxopoden, die sich durch eine Vielzahl von Muta-
Plan sah vor, die ganze Siedlung mit einem Graben zu umgehen – die Piraten, auf keinen Widerstand seitens der Eingeborenen gefaßt, würden ihn für einen tionen den jeweiligen lokalen Gegebenheiten angepaßt hat, auf rund drei von vier bewohnten Planeten mit Landmassen. Auf reinen Wasserwelten kommt er den vorliegenden Aufzeichnungen zufolge hingegen nicht vor. Die Rasse, die Del hier beschreibt, ist eine Eigentümlichkeit Mazats, wo die Tiere zur Feldarbeit und zur Beförderung über kurze Distanzen eingesetzt werden. Eine ähnliche Haxopodenart findet sich auf den meisten Agrikulturwelten. Auf Wüstenplaneten haben die Haxopoden breitflächige Füße sowie die Fähigkeit entwickelt, längere Zeit ohne Feuchtigkeit auszukommen. Die Haxopoden der kalten Welten besitzen dickes, struppiges Fell und scharfe, gefurchte Hufe, die ihnen Geländegängigkeit auf glattem Eis ermöglichen. Eine noch stärker modifizierte Haxopodenart trifft man auf Planeten mit gemäßigtem Klima an, wo die Tiere nur vier Beine besitzen und die vorderen Gliedmaßen stark verkümmert und gekrümmt, »zum flehentlichen Gebet erhoben« sind, wie Alladale Hymnen-Macher sie in einem unbedeutenden Gedicht vielleicht etwas zu phantasievoll umschreibt. Der Ursprung des Haxopoden ist noch immer unbekannt, doch sind die Forscher, die sich mit dieser Frage befaßt haben, einhellig der Auffassung, daß dieses Tier zu den ältesten Lebensformen in der Galaxis zählt. Man vermutet, daß die untergegangene Rasse, bekannt als die Ersten Reisenden, die Ur-Haxopoden von ihrer Heimatwelt mitbrachte und die Tiere sich mit verwandten Arten auf den neuen Welten kreuzen ließ. Dies geschah in dem Zeitraum zwischen –2 600 000 000 und –2 450 000 000 GSK, aus dem keinerlei Unterlagen existieren. Ein Großteil dieser Erkenntnisse geht auf Professor Doktor Portteus zurück, dem ich hiermit meinen Dank ausspreche.
Bewässerungskanal halten – und die Brücken zu sprengen, sobald die Angreifer auf dem offenen Marktplatz waren, so daß sie in der Falle saßen. Danach würde es nicht schwer sein, sie zu erledigen. Wir gestanden uns eine Woche für diese Arbeiten zu, wurden jedoch in sechs Tagen fertig. Zum Glück, denn am siebten Tag sprachen alle Orter gleichzeitig an. Ein Objekt steuerte Mazat an, und es näherte sich rasch. Nach kurzer Zeit erschien das Piratenschiff auf dem Orterschirm, und wir konnten es eingehend betrachten. Es war eine Augenweide, ein langer, schlanker Kreuzer, der die ganze Galaxis umrunden konnte, ohne die Antriebsspulen zu überhitzen oder eine Zwischenlandung machen zu müssen, um Vorräte aufzunehmen. Kein Wunder, daß sie Mazat nur alle paar Jahre überfielen, dachte ich. Bei einem Schiff dieser Größe mußten sie einem Planet schon Zeit für mehrere Ernten geben, wenn die Überschüsse ihre Laderäume füllen sollten. »Gut, bereiten wir uns auf den Empfang vor«, sagte Bull und wandte sich vom Bildschirm ab. Carter starrte immer noch hingerissen das Schiff an, und Bull packte ihn am Gürtel und zerrte ihn weg. »In ein, zwei Tagen kannst du es dir von innen ansehen, Carter. Aber jetzt gibt es Arbeit für uns«, sagte er. Wir stellten uns vor die große Dorfkarte, und Bull wies uns unsere Posten zu. Carter und Ronin sollten
die Brücken übernehmen und sie zerstören, wenn der letzte Pirat sie passiert hatte. Stretch sollte oberhalb der Hauptbrücke im Innern des Dorfes Posten beziehen, um sich etwaiger Nachzügler anzunehmen, die auf das Geräusch berstender Balken aufmerksam werden könnten. Grax und Slip sollten sich am anderen Ende des Marktplatzes postieren, um die Rückendeckung zu übernehmen, und Bull und ich waren das Empfangskomitee. Wir gingen davon aus, daß wir beide den ersten Angriff auf uns ziehen würden, und sobald es dazu kam, sollten die anderen den Kreis enger ziehen. In gewisser Hinsicht war ich stolz darauf, daß Bull, der die ganze Zeit unser Führer gewesen war, mich als Partner zu Bewältigung der gefährlichsten Aufgabe ausgesucht hatte; aber ich weiß nicht, ob ich nicht bereitwillig mit jedem anderen getauscht hätte. Dann verteilten wir uns. Bull und ich stellten uns vor eine niedrige Mauer, die mit Schießscharten versehen war. Wir hatten die helle mazatlanische Sonne genau im Rücken, so daß sie die Piraten blenden würde. Wenn die Lage brenzlig wurde, konnten wir mit einem Satz über die Mauer springen und in aller Ruhe das Feuer eröffnen. Für die Haxopoden war schon ein hüfthohes Hindernis unüberwindbar, und wir würden schießen, ehe auch nur ein Pirat aus dem Sattel kam. Es war ohnehin schwierig, von einem Haxopod absteigen; mitten im Kampfgewühl würde es
die ganze Aufmerksamkeit des Reiters erfordern. So wie Bull die Sache erklärte, war alles ganz leicht und problemlos. Ein anstrengender Tag lag vor uns, dann ein bißchen Aufräumarbeit, und anschließend konnten wir nach Hause ziehen, die Taschen voller Geld und des Dankes eines freundlichen Volkes gewiß. Eine Kleinigkeit, nicht der Rede wert. Trotzdem, als wir auf das Erscheinen der Piraten warteten, spürte ich, wie mir der Schweiß über den Rücken und die Rippen rann. Und so heiß war es auf Mazat nicht. Eine Stunde verging, dann noch eine. Nichts rührte sich, die Spannung wuchs. Ich überprüfte meine Pistolen mindestens ein dutzendmal. Das war eine langwierige, zeitraubende Prozedur, denn ich hatte mich für eine Belagerung gerüstet: ich hatte mein Messer, Commander Adamsons Pistolen steckten in meinen Halftern, das Paar von dem Waffenhändler in meinem Gürtel, und auf der anderen Seite der Mauer hingen griffbereit an Nägeln vier weitere Pistolen. Bull hingegen war so ruhig wie ein Mann, der mit seiner Familie bei Tisch sitzt. Er unterzog seine Messer und Pistolen einer kurzen Prüfung, setzte sich dann mit dem Rükken gegen die Mauer, holte ein Päckchen Zaff-Blätter hervor, zog eines heraus und stopfte es sich in den Mund. »Auch eins?« fragte er und hielt mir das Päckchen hin.
»Nein danke, Bull.« Hätte ich die Wahl gehabt, ich hätte ein gründliches Bad in Raphanus Kampfduftstoff vorgezogen. Zaff-Blätter waren ein schlechter Ersatz. Außerdem schmeckten sie scheußlich. »Das hält dich wach«, meinte Bull lächelnd. »Ich bin wach.« Er lachte. »Das kann man wohl sagen. Entspann dich, Del. Auf Tarquin hast du doch auch allein gegen drei Gegner gekämpft, nicht wahr? Nun, dies ist nicht viel anders.« »Nur daß dieses Mal die Übermacht noch rund dreimal größer ist.« »Ich habe gesehen, wie du mit den Pistolen umgehen kannst. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« »Ich mache mir keine Sorgen. Ich will nur, daß es endlich losgeht. Die Warterei geht mit auf die Nerven.« »Es dauert nicht mehr lange. Behalte Stretch im Auge. Er gibt uns das Zeichen.« Ich folgte der Richtung seines Fingers und sah fern am Dorfrand die schlanke Gestalt auf einem Häuserdach sitzen und die Hauptstraße beobachten. Ich blickte noch viele Male zu Stretch während der endlosen Wartezeit, und endlich sah ich seine langen Arme einen Bogen beschreiben. Bull winkte ihm zu, dann verschwand Stretch, um sich langsam an seinen Kampfposten zu begeben.
»Sie werden gleich hier sein. Ich rede mit ihnen. Du paßt auf sie auf. Wenn einer zur Waffe greift oder eine verdächtige Bewegung macht, schieß sofort«, sagte Bull. Er setzte sich auf die niedrige Mauer, und ich stand neben ihm, den Blick auf den engen Durchgang am anderen Ende des Marktplatzes geheftet, wo die Banditen zum Vorschein kommen würden.
20
Ein Palaver mit Raumpiraten
Kurze Zeit später hörten wir das erste ferne Getrappel, den gleichmäßigen Trab der spreizfüßigen Haxopoden. Es kam näher, schwoll, als die Tiere die lange Brücke ins Dorf passierten, zu einem dumpfen Donnern an, und dann kamen die Piraten in Sicht. Sie ritten schnell, überfluteten den Marktplatz wie ein reißender Strom ein eingetrocknetes Flußbett. Sie waren ein gemischter Haufen, hatten nichts miteinander gemein bis auf die bösen Gesichter und die zerlumpte Kleidung. Alle waren bewaffnet, jeder mit einem anderen, seinem bevorzugten Tötungsinstrument. Ich erkannte Daltreskaner, an deren Gürteln überdimensionale Treibstöcke hingen; Skeggjatten mit ihren traditionellen doppelschneidigen Streitäxten; einen Lixianer, gebeugt unter einer schweren Last FingerMessergurte; ein paar haarlose, gefleckte Quespodo-
nen, die mit kleinen Messern bewaffnet waren, im übrigen jedoch auf ihre Körperkräfte vertrauten; ein halbes Dutzend Quipliden, die hintereinander auf einem Reittier saßen und Doppel-Klingen in den Händen hielten; dazu eine Vielzahl von Humanoiden mit Körperformen und Hautfarben, die ich weder vom Sehen noch vom Hörensagen kannte. Da gab es rotäugige, kohlrabenschwarze Ungeheuer mit Bizeps vom Umfang meiner Brust, blauhäutige Riesen mit stummelfingrigen, keulenartigen Händen und drei oder vier Rassen, die ich lieber nicht beschreiben, ihnen höchstens das Prädikat häßlich und bedrohlich verleihen möchte. Kurzum: sie waren der übelste, scheußlichste Haufen Weltraumdreck, den ich je an einem Ort versammelt gesehen hatte – und ich habe vieles gesehen. Eine Zeitlang ritten sie auf dem Marktplatz umher, grölten, johlten, schossen in die Fenster, um jedem, der es vielleicht immer noch nicht bemerkt hatte, klarzumachen, daß sie angekommen waren. Dann erspähten sie Bull und mich. Eine Vierergruppe löste sich aus dem Haufen, ritt geradewegs auf uns zu und machte dicht vor uns halt. Die anderen kreisten uns von beiden Seiten ein. Ich nahm an, daß die Vierergruppe der Anführer, sein Stellvertreter und ihre Leibwachen waren. Zwei von ihnen, die sich außen postiert hatten, waren
kraftvolle, blauhäutige Riesen. Zwischen ihnen befand sich ein Mann irdischer Abstammung in einem schmutzigen Umhang, den er nun über die Schultern zurückwarf und eine makellose blutrote Uniform mit schwarzen Streifen enthüllte. Er hatte einen kurzen, glatten, grauschwarzen Bart und trug eine schwarze Brille, die seine obere Gesichtspartie verdeckte. An seiner Seite war ein magerer, fast skeletthafter Mann mit einer Gesichtshaut so weiß wie Sternenlicht, einer langen, feuerroten Mähne, die bis an seine Taille reichte, und den wildesten, tollwütigsten Augen, die ich jemals in einem menschlichen Gesicht gesehen habe. Ich hatte von den Bleachies gehört; sie waren Abkömmlinge einer Pionierrasse, die aufgrund einer immer noch ungeklärten physiologischen Reaktion auf kosmische Strahlung mutiert war, aber dies war der erste, den ich zu Gesicht bekam. Bleachies waren wegen ihrer Wildheit berüchtigt, und ein Blick in die Augen vor mir überzeugte mich, daß sämtliche Horrorgeschichten, die ich über sie gehört hatte, noch untertrieben waren. Der Uniformierte zeigte auf Bull. »He, du da. Was ist hier los? Wo sind die Dörfler? Wir haben Geschäftliches mit ihnen zu besprechen.« Bull wartete, bis das Gelächter sich legte, dann erhob er sich langsam von der Mauer, musterte das bunte Vierergespann und stemmte die Hände in die
Hüften. »Sie haben heute ihren freien Tag«, sagte er leichthin. »Was das Geschäft angeht – wir vertreten sie.« Der Bleachie stieß ein schallendes Lachen aus, bei dem ich eine Gänsehaut bekam, doch die anderen schwiegen. Der Anführer schaute umher und verkündete lautstark: »Die Erdwürmer in dieser Ecke der Galaxis fangen an, mich zu ärgern. Wir werden Mazat dieselbe Lektion erteilen müssen wir den andern.« Er sah Bull an, lehnte sich vor und sagte: »Du und dein junger Freund macht euch jetzt an die Arbeit. Wir wollen sämtlichen Proviant, der hier gelagert ist. Wenn ihr euch beim Laden hübsch beeilt, lassen wir euch vielleicht leben – wenn ihr noch leben wollt, wenn wir mit euch fertig sind.« Bull mahlte mit den Kiefern, spuckte aus und schüttelte den Kopf. »Wenn es Arbeit für uns gibt, dann bestimmt nicht beim Verladen von Proviant. Es ist nämlich keiner da. Ich rate dir und deiner Mannschaft, von hier zu verschwinden.« Wieder blickte der Anführer um sich. Die schwarze Brille verbarg seine Miene, doch seine Haltung drückte gespieltes Staunen aus. Mit einem knappen Lächeln sah er auf Bull herab. »Ich habe wohl nicht richtig gehört. Sagtest du, ich soll von hier verschwinden?« Bull nickte. »Ganz recht.«
»Und wenn wir es nicht tun, bringt ihr uns alle um, nehme ich an?« »Alle vielleicht nicht. Wir werden ein paar brauchen, die die Schweinerei wegmachen, wenn wir euch erledigt haben.« Der Anführer lachte laut auf, und seine drei Begleiter fielen ein. Das hohe, irre Gackern des Bleachies schrillte mir in den Ohren. Abrupt hob der Anführer die Hand und gebot ihnen Schweigen. Er sah mich an, dann Bull, und für einen Sekundenbruchteil meinte ich, so etwas wie Anerkennung in seinem Blick zu lesen, dann sagte er jedoch: »Ihr zwei wollt es mit Sechsundsechzig von uns aufnehmen? Ihr seid verrückt – so verrückt, daß man euch fast schon gern haben muß. Ich glaube, ich lasse euch bei uns mitmachen. Was haltet ihr davon?« Bull kratzte sich den glänzenden Schädel – das Signal zum Kampf – dann legte er die Hände an den Gürtel. »Wir machen bei niemandem mit. Und jetzt macht, daß ihr verschwindet.«
21
Die Schlacht auf dem Marktplatz
Der blaue Riese dicht vor mir reagierte als erster. Ich zog, schoß ihm in die Stirn, drehte mich zur Seite und schoß zwei andere nieder, bevor ich über die Mauer
setzte. Bull sprang unmittelbar nach mir. Wortlos begannen wir durch die Schießscharten in die aufgebrachte Tier- und Menschenmenge vor uns zu feuern. Die reiterlosen Haxopoden gingen durch, bäumten sich auf und stoben in panischer Angst auseinander. Die Piraten gaben inmitten des Durcheinanders gute Zielscheiben ab. Sie faßten sich schnell, schienen jedoch einen Augenblick unschlüssig zu sein, doch dann befahl ihnen der Anführer, sich zurückzuziehen, und sie galoppierten über den Marktplatz. Ich lud eilig nach, denn ich rechnete mir aus, daß sie umkehren würden, wenn sie Grax, Stretch und den anderen in die Arme liefen. »Wie viele hast du erwischt?« fragte Bull, während er nachlud. Er war so ruhig wie immer. »Sieben, glaube ich. Und du?« »Sechs. Hoffentlich erledigen die andern ebenso viele.« Eine Zeitlang schien es, als würden unsere Gefährten ihre Sache gut machen. Ich konnte Grax nirgends entdecken und seine Schüsse aus dem Lärm auch nicht heraushören, doch ich erblickte Slip inmitten des Kampfgetümmels, der allen Angriffen auswich, während er mit einer langstieligen skeggjattischen Streitaxt einen tödlichen Hieb nach dem andern austeilte. Stretch saß auf einem Dach, und seine Arme verschwammen fast, so schnell bewegte er sie, als er
einen tödlichen Regen der kleinen, dreikantigen Finger-Messer niedergehen ließ, die die Lixianer im offenen Kampf so geschickt einzusetzen verstanden. Von Ronin oder Carter war nichts zu sehen. Als ich mit dem Laden fertig war, beobachtete ich Slip, der gerade einem Daltreskaner den Schädel spaltete, einem wuchtigen Schlag von einem der blauen Riesen auswich, den Angreifer dann mit einem Rückhandhieb enthauptete, unter ein Haxopod schnellte und einem schwarzen Ungeheuer, das sich auf ihn stürzen wollte, den Bauch aufschlitzte und dann plötzlich den Kopf zurückwarf. Als er sich umdrehte, sah ich einen roten Fleck auf seiner Brust. Er ging in die Knie und sackte vornüber. Der Bleachie ritt über ihn hinweg. »Sie haben Slip erwischt«, sagte ich. »Ich hab's gesehen. Er hat sein Teil getan, Del. Er wußte, daß es Dinge gab, die selbst er nicht meistern konnte. Gib acht. Sie kommen zurück.« Die Schüsse fielen jetzt in kürzeren Abständen, und die Piraten zogen sich zurück. Ihre Reihen waren zwar um etwa die Hälfte gelichtet, doch die restlichen waren jetzt verzweifelt und gefährlicher als zu Anfang. Der Überraschungseffekt war dahin, und mittlerweile mußten sie sich ausrechnen können, wie wenige wir waren. Sie schlichen geduckt auf uns zu, die Leiber der toten Haxopoden als Deckung benutzend.
»Schieß erst, wenn sie nahe heran sind«, riet mir Bull. »Was ist, wenn sie sich alle auf einmal auf uns stürzen?« »Das können sie nicht riskieren. Jemand muß ihnen Feuerschutz geben.« »Ich glaube nicht –« setzte ich an, brach jedoch ab, als ein Lixianer hochschnellte und einen Schwarm Finger-Messer schleuderte. Ich erwischte ihn, ehe er in Deckung gehen konnte, doch nun bewarfen uns drei andere. Als wir auf sie anlegten, liefen sechs weitere Lixianer zu einem niedrigen Gebäude zu meiner Linken. Bull schoß einen nieder, doch die anderen rannten die verschlossene Tür ein und verschwanden im Innern. Bull fluchte. »Wenn sie auf die Dächer gelangen, steht es schlimm um uns. Einer muß ihnen nach. Kannst du die Stellung halten?« »Ich denke schon«, erwiderte ich. »Gut. Dann knöpfe ich mir die fünf vor.« Bull kroch auf allen vieren davon und verschwand in dem Gebäude neben uns. Ich konzentrierte mich auf das Geschehen vor mir, wartete jedoch, bis ich einen sicheren Schuß anbringen konnte. Plötzlich bemerkte ich, daß einer der toten Haxopoden erzitterte und sich auf mich zu bewegte; bei einem anderen beobachtete ich dasselbe. Die Piraten schoben die
Leiber vor sich her, in verschiedene Richtungen, um mich von zwei Seiten anzugreifen, wenn sie nahe genug heran waren. Zwei meiner Pistolen waren leer, und ich hatte keine Zeit, sie nachzuladen. Ich warf sie beiseite, nahm zwei geladene, sprang auf die Mauer, schoß auf die ungedeckten Beine der Piraten und ging rasch wieder in Deckung. Ich hörte zwar ein paar laute Flüche, aber der Vormarsch ging weiter. Auf der anderen Seite des Marktplatzes wurde es still. Ich hoffte, Grax, Ronin, Carter und Stretch würden erkennen, daß sie hier gebraucht wurden, und mir zu Hilfe kommen, ehe die Piraten angriffen. Von links, aus der Richtung, in der Bull verschwunden war, um die Lixianer abzufangen, ertönte plötzlich eine Salve dumpfer Pistolenschüsse. Als wäre das ein Signal, wurden die Kadaver der Haxopoden ein letztes Mal vorgeschoben, und dann kamen die Piraten hinter den Leibern zum Vorschein, ein ganzer Schwarm, der sich auf mich stürzte. Sie brüllten, fluchten und schwangen ihre tödlichen Waffen. Drei von ihnen hatten Pistolen, doch sie waren schlechte Schützen. Ich eröffnete das Feuer und streckte die Pistolenschützen, die gefährlichsten des ganzen Haufens, nieder, aber dann waren meine Magazine leer, und die restlichen Angreifer waren immer noch zu viele, als daß ich allein mit ihnen hätte fertig werden können. Ich
nahm die letzten zwei Pistolen an mich und schlich zu dem Türeingang zu meiner Linken. Auf der Schwelle stolperte ich über Bulls Leiche und schlug der Länge nach hin. Die Pistolen schlitterten über den Fußboden und verschwanden irgendwo im Dunkel. Ich raffte mich auf, zog mein Messer und stellte mich neben die Tür. Es war still, nichts rührte sich, und für einen Moment glaubte ich fast, daß mir niemand folgte, aber dann sausten zwei Quipliden mit gebogenen Doppel-Klingen durch den Eingang. Ich kannte ihre Tricks – sie sollten mir die Kniesehnen durchtrennen, damit ich, bewegungsunfähig, leichte Beute für ihre Kumpanen sein würde. Der zweite Quiplide erblickte mich und griff sofort an. Ich sprang hoch, über seine Klinge hinweg, und drückte ihm beim Landen mit dem Stiefel den breiten, flachen Schädel ein. Der andere konnte mir bei seinem Ansturm eine Wunde dicht unterm Knie beibringen, doch dabei kam er in Reichweite meines Messers. Ich hob den Körper, der trotz seiner Zwergenhaftigkeit überraschend schwer war, auf und schleuderte ihn einem großen Skeggjatt ins Gesicht, der sich gerade auf mich stürzen wollte. Dann setzte ich den Angreifer mit einem Messerstoß außer Gefecht. Als die anderen keine Schüsse hörten, faßten sie Mut. Sie stürmten im selben Moment herein, als der Skeggjatt zusammenbrach.
In dem kleinen, finsteren Raum, dessen Boden mit Leichen übersät und glitschig von frischem Blut war, nützte ihnen ihre Übermacht nicht viel. Ich duckte mich, teilte Messerstöße aus und hielt sie mir vom Leibe, solange ich konnte, aber schließlich gab mein verletztes Bein nach, und ich fiel zu Boden. Die Piraten kreisten mich ein. »Wartet! Laßt ihn leben!« rief eine schrille Stimme. Sie hörten auf, mich mit Tritten und Schlägen zu bearbeiten, und traten zurück. Im Schatten sah ich den Bleachie, der grinsend auf mich herabblickte. »Wir nehmen ihn als Geisel, um hier rauszukommen.« »Er hat meinen Bruder umgebracht. Ich will ihn haben«, sagte ein Quiplide. »Wenn wir in Sicherheit sind, kannst du mit ihm machen, was du willst. Jetzt schafft ihn zur Tür«, befahl der Bleachie. Sie zerrten mich auf die Füße und schoben mich in die Türfüllung. Ein Daltreskaner postierte sich links, ein blauer Riese rechts von mir, und hinter mir stand noch jemand. Alle drückten mir eine Messerspitze in den Leib. »Laß mich ihm wenigstens die Kniesehnen durchtrennen. Dann macht er uns weniger Ärger«, maulte der Quiplide. »Du wartest, bis wir von hier verschwunden sind, hast du verstanden?« herrschte der Bleachie ihn an.
Dann trat er ins Freie, hob die Hände hoch und rief: »Nicht schießen. Wir kommen jetzt heraus. Wir haben euren Freund.« Er kam zurück, um auf Antwort zu warten. Nichts rührte sich. Die Piraten begannen daraufhin über den Grund der Stille zu debattieren. Schließlich löste der Bleachie das Problem, indem er einem der Gefallenen den Umhang abnahm, ihn mir über die Schultern warf und mich ins Freie schob, um zu sehen, ob jemand das Feuer eröffnete. Kein Schuß ertönte. Ich fiel hin, rappelte mich wieder auf, überblickte die Szenerie und sah nichts, das sich regte. Der Marktplatz war mit den Leichen von Menschen und Tieren übersät, der staubige Erdboden voller Blutlachen. Das leise, qualvolle Stöhnen der Sterbenden vermischte sich mit den Rufen der Aasfresser, die langsam am Himmel kreisten und vorsichtig tiefergingen. Es war ein Bild der Verwüstung. Ich sank zu Boden und vergrub das Gesicht in den Armen. Der Bleachie versetzte mir einen Tritt in die Seite, und ich kullerte auf den Rücken. »Es scheint, als wären deine Freunde alle tot«, sagte er. »Wir brauchen dich nicht mehr. Pech für dich.« Er wandte sich an seine Kumpane. »Ihr könnte ihn fertigmachen. Und keine Eile. Wir haben massig Zeit.« Während die Piraten sich mir näherten, holte der Bleachie, der jetzt ihr Anführer war, einen Stuhl aus
dem Innern des Raums und machte es sich darauf bequem, um meiner Exekution zuzusehen. Ich drehte den Kopf ruckartig nach allen Seiten, suchte eine Waffe, irgend etwas, und wenn es ein Stein wäre, aber es war nichts zu sehen. Ich war am Ende. Ich schloß die Augen und versuchte an Gilead zu denken, die Heimat, die ich nie mehr wiedersehen würde. Plötzlich erhob sich ein wildes Geschrei, und von überall her tauchten Mazatlaner auf. Ein Dutzend von ihnen stürzte sich von den Dächern auf die Piraten, und vom Marktplatz her kamen sie in Massen gelaufen, brüllten, schwangen behelfsmäßige Waffen oder eigneten sich die der Gefallenen an. Sie rannten die Piraten nieder, überrollten sie buchstäblich, schlugen, traten, hackten auf sie ein, und ihr wütendes Knurren erstickte die Flüche und Todesschreie der Banditen. Endlich ließen die Mazatlaner erschöpft von ihren Opfern ab und stellten mich auf die Füße. Ich besah mir das Blutbad, das sie angerichtet hatten, und mich packte das kalte Grausen. Ich wurde ohnmächtig.
22
Preise und Ehrungen
Als ich erwachte, wusch Hata die klaffende Wunde an meinem Bein aus, während Steban mich besorgt
beobachtete. Kaum daß ich die Augen aufgeschlagen hatte, eilte er zu mir und reichte mir ein kühles Getränk. Während ich trank, erzählte er mir von der Schlacht. »Ihr habt unseren Planet befreit, Del! Die Piraten sind tot – jeder einzelne. Ihre Leichen werden jetzt außerhalb des Dorfes verbrannt.« »Alle tot? Viele waren doch nur verwundet.« Steban senkte den Blick und machte eine hilflose Geste. »Jetzt sind sie alle tot, Del. Du mußt verstehen – mein Volk hatte viel unter ihnen gelitten. Es ließ sich nicht zurückhalten.« Ich dachte an das Bild des Grauens, das ich vor meiner Ohnmacht noch gesehen hatte, und nickte stumm. »Was ist mit meinen Freunden?« fragte ich. »Der Lange ist verwundet. Die andern sind tot«, sagte er schlicht. »Alle?« »Alle.« Ich lehnte mich fassungslos zurück. Uns allen war klar gewesen, welches Risiko wir auf uns nahmen und welcher Übermacht wir gegenüberstehen würden, aber die nackten Tatsachen waren dennoch erschütternd. Es erschien mir unvorstellbar, daß diese Männer, mit denen ich vor wenigen Stunden noch gesprochen hatte, die ich gern gehabt und denen ich vertraut hatte, nun tot sein sollten. Vielleicht hatten
sie in ihren letzten Sekunden ein wenig Trost in dem Wissen gefunden, daß sie ihr Leben einer guten Sache opferten, doch bezweifelte ich das. Keine noch so gute Sache, so empfand ich es damals, war es wert, daß meine Freunde ihr Leben dafür hingaben. »Ich sah Slip fallen und Bulls leblosen Körper. Wie kamen die andern um?« fragte ich. »Der mit dem hellen Haar ... ich weiß seinen Namen nicht –« »Ronin.« »Richtig, Ronin. Er und Carter starben, noch ehe die Schlacht begann. Die Brücke stürzte ein und zerschmetterte sie.« Ich stieß einen leisen Pfiff aus. »Dann haben wir also nur zu fünft gekämpft. Gut, daß ich das nicht wußte. Und Grax?« »Er hielt sich tapfer, aber sie überwältigten ihn. Mit seiner letzten Kugel tötete er den Anführer, den Mann in Rot, und dann benutzte er die leergeschossenen Pistolen als Keulen, aber die Piraten waren in der Überzahl.« »Armer Grax. Er war mein bester Freund, Steban.« »Er gab sein Leben für uns. Sein Name und die Namen der anderen werden in aller Ewigkeit auf Mazat geehrt werden.« Ich lächelte nicht ohne einige Bitterkeit über diese hochtrabende Prophezeiung. Ihre Namen sollten auf
ewig geehrt werden, doch einige waren anscheinend bereits in Vergessenheit geraten. »Woher weißt du das alles?« forschte ich. »Der Lange hat alles gesehen. Er hat es uns gesagt.« »Er heißt Stretch. Nenn ihn nicht ›den Langen‹. Und nenn Ronin nicht ›den mit dem hellen Haar‹. Wenn ihr sie für immer im Gedächtnis behalten wollt, dann nennt sie bei ihren Namen.« »Selbstverständlich. Entschuldige, Del«, erwiderte er bestürzt. »Kann ich irgend etwas für dich tun?« »Bring mir noch Wasser«, sagte ich und hielt ihm die Schale hin. Als er hinauseilte, wandte ich mich an Hata. »Du bist eine gute Krankenschwester. Es tut überhaupt nicht weh.« »Ich haben eine schmerzlindernde Salbe genommen, die ich kannte. Die Wunde wird rasch heilen.« »Danke.« Sie schaute auf und sagte erregt: »Als sie dich brachten, glaubte ich, du wärest schwer verwundet. Du warst über und über mit Blut beschmiert. Ich dachte schon, du würdest sterben!« »Das dachte ich auch. Wenn dein Volk nicht eingegriffen hätte – wie kommt es eigentlich, daß sie kämpften, Hata? Ich dachte, das könnten sie nicht.« Sie machte eine nichtssagende Geste und wandte sich hastig wieder meinem Bein zu. In dem Moment kam Steban zurück, reichte mir das Wasser und er-
klärte: »Hata sagte uns, wir müßten euch helfen, sonst würdet ihr alle elend umkommen. Wir kamen gerade noch rechtzeitig, um dich und den Langen ... und Stretch retten zu können.« »Dann verdanke ich dir mein Leben, Hata«, sagte ich zu ihr. »Die Männer haben dich gerettet. Ich habe nur geredet. Gekämpft haben sie.« »Aber wenn du nicht geredet hättest, hätten sie nicht gekämpft, oder?« »Nein.« Sie sah mich mit tränenüberströmten Augen an und sagte: »Du lebst, wir sind frei, und die Mazatlaner haben das Töten wieder erlernt!« Sie rannte hinaus und stieß in ihrer Eile den Topf mit der Salbe um. »Ich bin selbstverständlich heilfroh, daß ich noch lebe, Steban. Aber vielleicht werdet ihr einen hohen Preis dafür zahlen müssen.« »Bestimmt nicht, Del. Eine Schlacht macht noch keinen Krieger.« Ich dachte an Agarix, wie er schlaff auf dem blutverschmierten Tisch gelegen hatte, doch ich verschwieg Steban meine Zweifel. »Das Sprechen hat mich angestrengt. Ich brauche jetzt Ruhe«, sagte ich und drehte den Kopf zur Seite. Steban ging, und ich schlief. Ein paar Tage später wurde ein Fest veranstaltet.
Stretch und ich hatten einen Ehrenplatz: wir saßen Seite an Seite auf zwei behelfsmäßigen Thronen. Mein Bein war verbunden, Stretchs Arm geschient; die Kugel eines Piraten hatte seinen Ellbogen zersplittert. Wir waren die einzigen Überlebenden der dreiundsiebzig Menschen und Humanoiden, die sich auf dem Marktplatz eine Schlacht geliefert hatten. »Du bist nicht glücklich«, sagte Stretch, während die Mazatlaner um uns tanzten und sangen. »Nein. Ich fühle mich elend.« »Schmerzt dein Bein?« »Nicht der Rede wert. Ich habe Schlimmeres erlebt.« »Du warst der letzte unserer Truppe, der bezwungen wurde. Du hast bis zum Schluß durchgehalten. Dadurch hast du viel Ehre gewonnen.« Ich hatte nicht das Gefühl, irgend etwas gewonnen zu haben, Ehre schon gar nicht. Während der Ruhetage vor dem Fest, als ich an das Bild der Verwüstung auf dem Marktplatz gedacht hatte, war mir der Gedanke gekommen, daß es vielleicht überhaupt keine Möglichkeit gab und auch nicht geben konnte, Menschen auf ehrenhafte, ruhmreiche oder edle Weise zu töten. Töten war nichts als ein schmutziges Geschäft – und ein Geschäft war es allemal: ganze Industrien hingen davon ab, Waffen waren die wichtigsten Exportartikel, kurzum, es war das Erbe der blut-
durchtränkten alten Erde, das sich über die ganze Galaxis ausgebreitet hatte. Es spielte keine Rolle, wo und wofür man tötete. Ob in einer Arena für Geld, ob in einer schmutzigen Hintergasse aus Rache oder auf einem staubigen, von der Sonne ausgedörrten Marktplatz: Töten war Töten, ein Fluch, der so alt war wie die Geschichte und so aktuell wie das frisch vergossene Blut, das noch im Staub unter den Füßen der Tanzenden trocknete. Ich hatte genug davon. Wenn ich mir vorstellte, wie ein bunt zusammengewürfelter Haufen Sternfahrer nach Mazat gekommen war und diesem sanftmütigen Volk, das seit vielen Generationen in Frieden gelebt hatte, das Töten wieder beigebracht hatte, wurde mir ganz elend. Von dieser Art Ruhm wollte ich nichts mehr wissen. Hata ließ sich zu meinen Füßen nieder, ein Tablett voller Leckerbissen in der Hand, die sie mir unaufhörlich aufdrängte. Sie sah hübscher aus denn je. Ihr langes, schwarzes Haar und ihre goldene Haut glänzten im Feuerschein, und ihre großen, dunklen Augen, die zu mir aufschauten, schienen ein eigenes, warmes Licht auszustrahlen. Sie lehnte den Kopf an mein verletztes Knie und sang eine leise, liebliche mazatlanische Melodie. Ich beugte mich vor und streichelte ihr Haar, und in diesem Moment kam mir der Gedanke, daß der alte Traum eines jeden Sternfahrers für mich in Erfül-
lung gehen konnte: einen friedlichen Planet zu finden, auf dem ein Mann sich eine Brintherherde und ein paar Haxopoden halten, Getreide anbauen, in der Sonne Spazierengehen und frische Luft einatmen konnte und festen Boden unter den Füßen hatte; eine schöne Frau zu heiraten und unter Menschen zu leben, die zu ihm als Befreier und Held aufsahen. Hier saß ich, kaum Mitte Zwanzig, und konnte alles das haben. Ich brauchte nur ein Wort zu sagen und wäre König von Mazat. Aber ich dachte an Cassie, die auf mich wartete, sich um mich sorgte und die langen Jahre in Einsamkeit ausgeharrt hatte, und ich wußte, daß ich nicht hierbleiben konnte. Aber während ich an sie dachte, wurde ich mir eines inneren Zwiespalts bewußt. Hier saß ich, war Gilead näher als zu irgendeinem Zeitpunkt im Laufe von fast acht Jahren, konnte jederzeit heimkehren und Cassie heiraten, und trotzdem ging mir nichts anderes im Kopf herum als das reizende junge Mädchen – denn viel mehr war Hata nicht –, das zu meinen Füßen saß und mir ein größeres Glücksgefühl gab, als ich es in den vielen Jahren der Wanderschaft kennengelernt hatte. Seit ich Tarquin verlassen und nicht mehr unter dem Einfluß jenes Liebesduftstoffes gestanden hatte, der den Willen lähmte, war ich Cassie mehr oder weniger treu gewesen – natürlich hatte es an den Orten,
die ich danach aufgesucht hatte, auch kaum Gelegenheit zu Untreue gegeben –, und bis auf ein paar unbedeutende Begegnungen, die nicht der Rede wert waren, hatte ich nichts vor ihr zu verbergen. Ich würde nicht heimkehren wie Gariv, der eine kleine Armee von Frauen, Geliebten und Kindern in der ganzen Galaxis zurückgelassen hatte. Aber wieso verglich ich mich eigentlich mit Gariv? »Du gehst fort von uns«, sagte Hata plötzlich und bereitete meinen trübsinnigen Träumen ein Ende. »Ja. Ich muß nach Gilead zurückkehren. Das ist meine Heimat, Hata. Seit ich ein Junge war, habe ich sie nicht mehr gesehen.« »Dies könnte deine Heimat sein.« »Ich habe mit dem Gedanken gespielt. Vielleicht ... Ich muß nach Gilead zurückkehren, Hata. Aber ich werde versuchen, eines Tages nach Mazat zurückzukommen.« »Bald?« »Sobald ich kann.« »Es wird bald sein«, sagte sie in sehr sanftem Ton, der absolutes Vertrauen ausdrückte. »Du wirst bald zu uns zurückkommen.« In dieser Nacht, die eine der großartigsten meines Lebens hätte sein sollen, war ich zutiefst niedergeschlagen. Ich fühlte mich einfach scheußlich. Einerseits wollte ich zu Cassie zurückkehren, andererseits
drängte es mich, für immer hier bei Hata zu bleiben. Vielleicht war alles, was ich am Ende ausrichten würde, sie beide zu verletzen. Hata ließ mich eine Weile allein. Als Stretch sah, daß wir unter uns waren und niemand uns zuhören konnte, sagte er: »Du trauerst um deinen Bruder Grax.« »Er war nicht mein Bruder, Stretch, sondern mein Freund. Der beste, den ich je hatte.« »Du solltest nicht um ihn trauern. Er starb höchst ehrenvoll, inmitten eines Kreises gefallener Feinde. Sein Tod war der edelste von allen. Er fiel wie ein echter Krieger – an einem Tag, wie es ihn in hundert Lebzeiten nur einmal gibt. Du solltest deine Kameraden bejubeln, Del, besonders Grax. Grax war es, der den Anführer der Piraten, den Mann in Rot, mit seiner letzten Kugel tötete und dann mit den bloßen Händen weiterkämpfte. So sollte ein Mann sterben.« Stretch sah die Dinge anders, soviel stand fest. Grax hatte mir oft die Geschichten seines Onkels George über die großartigen Pioniertage auf der Erde erzählt, jener Zeit, als man zu immer neuen Grenzen vorgestoßen war. Ich hatte kein Wort davon geglaubt, aber für Grax waren sie die reine Wahrheit gewesen, und er hatte sein Leben lang versucht, sie wahr zu machen. Er war zwischen den Sternen umhergereist auf der Suche nach seiner eigenen Grenze, jener, an
der er leben, kämpfen und sterben konnte wie die Menschen der Erde vor Hunderten von Jahren, und auf Mazat hatte er diese Grenze letztlich gefunden. Hätte man ihn vor die Wahl gestellt, Grax hätte sich vermutlich genau diesen Ort, diese Gegner und diese Kameraden für seinen letzten Kampf ausgesucht. Vielleicht war die Sache am Ende so traurig nicht. »Vielleicht hast du recht, Stretch«, sagte ich. »Trotzdem, er ist tot. Vielleicht hasse ich es einfach, einen Freund zu verlieren.« »Aber du hast viele neue Freunde gewonnen. Alle Menschen von Mazat bejubeln dich. Sie wollen, daß du König wirst.« »Meinetwegen kannst du ihr König werden, Stretch. Ich kehre heim.« »Ich bin ein Krieger, Del, ich tauge nicht zum König. Du aber könntest ein großer König werden.« »Nicht in einer Million Jahre, Stretch.« Wie sich zeigte, dauerte es keine Million Jahre. Schon am nächsten Tag fand eine Versammlung der Dorfbewohner, darunter Repräsentanten aus allen Städten und Dörfern auf Mazat, statt, und ich wurde zum König von Mazat ausgerufen, Stretch zum Ersten Verteidiger des Planeten ernannt. Ich sagte ihnen, daß ich nicht ihr König sein wollte; ich sagte ihnen, ich wäre nichts weiter als ein Weltenbummler mit einem Paar Pistolen, der das Amt eines Königs
ebensowenig ausfüllen könnte, wie er sein Inneres nach außen kehren oder im Kreis herumfliegen konnte; ich sagte ihnen, sobald mein Bein geheilt wäre, würde ich nach Gilead fliegen und lange Zeit, vielleicht für immer fortbleiben. Sie hörten mich respektvoll an, verneigten sich tief und überreichten mir die Krone. Wenn ich Fehler machte, so war ihnen das recht; wenn ich sie verließ, so war ihnen das auch recht, denn sie wußten, daß ich zurückkommen würde. Da ich sie von ihrem Vorhaben nicht abbringen konnte und es mir widerstrebte, sie zu enttäuschen, nahm ich an. In der folgenden Woche, während der zahllose Zeremonien und Feste stattfanden, tat ich mein möglichstes, um Hata aus dem Weg zu gehen. Danach bereitete ich mich auf die Rückkehr nach Gilead vor. Ich ernannte Stretch für die Dauer meiner Abwesenheit zum Regenten, und er schwor, so zu regieren, daß es uns beiden zur Ehre gereichen würde. Ich wußte, daß ich ihm trauen konnte. Stretch bat mich dann noch um einen Gefallen, um eine Formalität für den Fall, daß er den Wunsch verspüren sollte, seine gesellschaftliche Stellung auf Lixis zurückzufordern. Er bat um ein Zertifikat seiner Taten in der Schlacht auf Mazat, damit er den Herrschenden bei sich zu Hause den Beweis seiner Ehre vorlegen konnte. Als ich einen ausführlichen Bericht seiner Taten in unserem
Kampf gegen die Raumpiraten niederschrieb und mit meiner ganzen Batterie von Namen und Titeln unterzeichnete, war er hell begeistert. »Del I., König von Mazat, gebürtiger Erlösung-ausder-Leere Whitby, bekannt als Del Kometenfeuer-beiSonnenaufgang Deletriculus Blitzstoß Flinkfuß Raschmesser Dreischmetterer, zweimaliger Champion des Volkes von Tarquin VII bestätigt hiermit die Wahrheit der hier geschilderten Taten«, las er vor und rief: »Welche Ehre nun mein ist! Mein Zeuge ist ein König und ein Champion von Tarquin!« »Meine Championzeit liegt ein paar Jahre zurück, Stretch«, erinnerte ich ihn. »Wahre Ehre vergeht niemals. Sie wird meinen Namen ewig erstrahlen lassen. Ich danke dir, mein König.« Stretch liebte solche förmlichen Floskeln. Ich glaube immer noch, daß er einen weit besseren König abgegeben hätte als ich, doch leider konnte ich weder ihn noch die Mazatlaner davon überzeugen. Ich stahl mich davon, ohne jemandem Lebewohl zu sagen. Ich wollte keine Abschiedsszenen, schon gar nicht mit Hata. Das wäre zu schmerzlich gewesen. Als ich die Renegat erreichte, wartete dort Steban. »Willst du uns verlassen, Del?« fragte er. »Ich muß. Das weißt du, Steban. Du wußtest es bereits, als ich kam.«
»Aber die Lage hat sich verändert. Du bist jetzt König von Mazat!« »Es gibt hier nicht viel zu tun für einen König. Außerdem kann Stretch mich sehr gut vertreten.« Steban schüttelte den Kopf. »Der Erste Verteidiger ist sehr tapfer, aber wir brauchen jemand wie dich, der uns führt. Du hast gesehen, was die Schlacht aus uns gemacht hat. Nach siebenundvierzig Generationen haben wir das Töten wieder erlernt, und es gab viele, die Spaß daran fanden. Wie ich hörte, schwärmen die jungen Männer schon von den großen Zeiten des Mazatlanischen Imperiums. Einige reden sogar davon, Waffen herstellen zu wollen. Du mußt uns helfen.« »Wie kann ich euch helfen? An meinen Händen klebt Blut, Steban. Ich tauge nicht mehr als die Piraten. Der Zufall wollte es, daß ich auf eurer statt auf ihrer Seite stand – das ist der einzige Unterschied.« »Aber du hast dich geändert. Du sagtest, daß du nicht mehr töten willst.« »Das habe ich gesagt, und es ist mir ernst damit. Aber so etwas läßt sich leicht sagen, Steban. Ich stehe erst seit zwölf Tagen zu meinem Wort, dein Volk hingegen seit siebenundvierzig Generationen.« »Trotzdem, wir brauchen dich. Komm zu uns zurück.« Ich bekam immer mehr das Gefühl, daß er recht
hatte. Es mag sein, daß Eitelkeit eine große Rolle dabei spielte, aber ich glaube nicht, daß dies mein einziger Beweggrund war. Ich hatte die Mazatlaner aufrichtig gern und fühlte mich verantwortlich für diesen neuen Zug sich abzeichnender Brutalität in ihrem Wesen. Ich konnte mich nicht länger um die Entscheidung herumdrücken. »Also gut, Steban. Ich werde zurückkommen«, sagte ich. »Ich soll dir von Hata etwas ausrichten. Sie sagt, daß sie auf dich warten wird.« Ich nickte, schlug ihm auf die Schulter und ging an Bord. Es gab nichts weiter zu sagen.
23
Ich kehre nach Gilead zurück; der Schlußstrich unter das Rätsel meiner Herkunft
Ich holte das letzte aus der Renegat heraus und erreichte Gilead in siebenundzwanzig Tagen. Eine Stunde nach der Landung schritt ich über denselben Waldweg, den ich damals in meiner letzten Nacht zu Hause mit Cassie gegangen war. Als ich die Abzweigung erreichte, stieß ich auf eine Gruppe von Männern mit Beilen, Sensen und Heugabeln in den Händen. Ich rief ihnen einen frohen Gruß entgegen. Zu meiner Überraschung nahmen sie eine drohende Haltung ein und begannen mich einzukreisen.
»Begrüßen die Menschen von Gilead heutzutage so einen ihrer Brüder?« fragte ich empört. »Raumpiraten sind nicht unsere Brüder!« grollte ein großer Bursche, während seine Begleiter zustimmend brummten. »Ich bin kein Raumpirat. Ich bin Erlösung-aus-derLeere Whitby. Vor fast acht Jahren, am Vorabend meiner Zeit der Entscheidung, wurde ich an genau dieser Stelle entführt. Ich kämpfte mich durch die halbe Galaxis, um nach Hause zu finden, und nun bereitet ihr mir ein solches Willkommen?« Die Männer, die mich einkreisten, tauschten unschlüssige Blicke aus, dann betrachteten sie mich forschend. »Ich erinnere mich an einen solchen Vorfall«, sagte einer von ihnen. »Doch das ist lange her. Ganz bestimmt länger als acht Jahre.« »Du behauptest, von Gilead zu sein, aber deine Tracht ist die eines Piraten!« hielt mir der Große vor, während er seine Heugabel drohend auf mich richtete. Ich hatte eine passende Antwort parat, einen von Zealous Lieblingssprüchen, den ich auch prompt vorbrachte. »›Menschen sind Menschen, Kleider sind Kleider, und nur der Narr verwechselt das eine mit dem anderen.‹ So steht es im Buch von der Reise. Ich kleide mich, wie ich es für richtig halte.« »Kein Raumpirat kennt das Buch von der Reise«, sagte einer.
»Wahrlich. Er ist der, der er zu sein behauptet«, sagte ein anderer und setzte die Sense ab, die er geschwungen hatte. »Es könnte ein Trick sein mit dem Ziel, einen Spion bei uns einzuschmuggeln. Wir wollen ihn auf die Probe stellen«, sagte einer, der schon sehr alt war. Ich verschränkte die Arme. »Wie ihr wollt. Ich war das Pflegekind der Whitbys. Die Dorfältesten gaben mich in ihre Obhut. Der Name meines Vaters ist Zealous-der-Eiferer, und meine Mutter ist Persistencedie-unbeirrbar-Rechtschaffene. Ihre Farm liegt am Ende dieses Weges. Sie ist die zweite auf der rechten Seite.« »Wie kamst du nach Gilead?« forschte der Alte. »In einem kleinen Rettungsboot mit dem Schild ›Pendelton-Basis‹. Es befindet sich in einem abgesperrten Schuppen auf der Rückseite des Gartens der Whitbys.« »Er spricht die Wahrheit. Komm, Bruder Whitby. Laß mich dich anschauen«, sagte er. Ich trat vor, und er forschte in meinem Gesicht, betrachtete meine Hände, ging um mich herum und besah mich von allen Seiten. »Du bist groß geworden«, sagte er argwöhnisch. »Der Jüngling Whitby war klein.« »Ich war der Kleinste im ganzen Dorf, aber auch der Schnellste. Wenn wir das Wurfspiel spielten, war ich immer Sieger«, sagte ich. Mehrere der jüngeren
Männer grinsten und kratzten sich an lange vergessenen Narben. Plötzlich erkannte ich den Fragesteller wieder und zeigte auf ihn. »Ältester Scrooby, du warst am selben Abend in meinem Haus, als ich entführt wurde. Du sprachst mit meinem Vater über meine Herkunft. Glaubst du mir jetzt?« »Ja, mein Sohn, ja«, sagte er und breitete die Arme aus und drückte mich an sich. Die anderen umarmten mich ebenfalls und überhäuften mich mit Willkommensgrüßen. Trotzdem waren sie merkwürdig zurückhaltend; irgend etwas schien sie zu bedrücken. »Warum dieser Empfang?« fragte ich in der Absicht, dem Grund für ihr Verhalten auf die Spur zu kommen. »Noch nie reisten die Menschen von Gilead in bewaffneten Gruppen umher.« »Raumpiraten«, sagte einer. Ich seufzte, nickte und wartete auf das Hilfeersuchen, das unweigerlich kommen mußte. Mittlerweile hatte ich mich mit meiner Rolle als intersystemarer Revolverheld abgefunden, und anscheinend sollte ich selbst hier auf Gilead, meiner endlich wiedergefundenen Heimat, diesem Schicksal nicht entgehen. Es war fast schon zu einem Ritual geworden: Ich landete auf einem Planet, unterhielt mich mit jemand, hörte von Leid, Ungerechtigkeit und Unterdrückung und wurde gebeten, meine Pistolen doch noch ein letztes Mal für eine gute Sache einzusetzen. Ich hatte gehofft, daß es
zumindest hier nicht so sein würde. Und wie sich herausstellte, waren meine Befürchtungen verfrüht. »Vor zwei Monaten landeten sie hier und verlangten Essen und Vorräte von uns. Wir weigerten uns. Sie drohten, daß sie jeden Tag eine Familie umbringen würden, bis ihr Schiff beladen würde, und das haben sie wahr gemacht«, sagte Scrooby ernst. »Aber wir verbrannten die Vorräte und vertrieben das Vieh, und dann versteckten wir uns in den Wäldern«, sagte der stämmige junge Mann. »Sie mußten mit leeren Bäuchen abziehen.« »Das ist wahr, doch vorher vollendeten sie ihr lasterhaftes Werk.« Scrooby legte mir die Hände auf die Schultern. »Mein armer Junge, du kommst zu spät. Die Whitbys gehörten zu den ersten Opfern. Die Piraten erschlugen sie beide und brannten ihre Farm nieder.« Ich hatte das Weinen vor langem verlernt, doch nun war ich nahe daran. Ich umfaßte Scroobys Hand und nickte. »Geleitet mich dorthin«, sagte ich. Das einzige Heim, das ich je gekannt hatte, war ein erbärmlicher, verkohlter Schutthaufen. Im Garten neben den Überresten der Hütte, die einst mein Rettungsboot beherbergt hatte, zeugten zwei rechteckige weiße Steinplatten von den Gräbern meiner Eltern. Ich stand eine Weile stumm davor, dann drehte ich mich zu Scrooby um.
»Leben die Hammersmiths noch?« »Die Hammersmiths starben vor vielen Jahren, Bruder Del.« »Und Cassie? Feste-der-Beharrlichkeit, ihre Tochter – ist sie auch tot?« Jemand räusperte sich und sagte: »Sie ist wohlauf. Sie lebt jetzt anderswo.« »Ich muß sie sehen.« »Wir werden dich zu ihr führen«, sagte Scrooby. »Erzählt mir von den Piraten, die meine Mutter und meinen Vater töteten.« »Sie waren viele. Sechzig, würde ich sagen.« »Mehr. Mehr als sechzig«, murmelten die anderen. »Wurden sie von einem Bleachie und einem Mann in einer roten Uniform angeführt?« fragte ich. Sie begannen alle auf einmal zu reden, doch Scrooby brachte sie zum Schweigen. »Hast du sie gesehen, Bruder Del? Sind sie zurückgekehrt?« »Ich habe sie in der Tat gesehen. Sie werden niemals mehr zurückkehren, denn sie sind tot. Jeder einzelne von ihnen ist auf Mazat begraben.« Ich schilderte ihnen unseren Kampf mit den Piraten, und sie wirkten sehr erleichtert. Sogar die Männer, die Blutvergießen verabscheuten, lauschten meinem Bericht mit sichtlicher Genugtuung. Die Piraten hatten sich gründlich verhaßt gemacht. »Dann sind wir fortan sicher«, sagte Scrooby. »Das
ist wahrlich eine Erlösung, Bruder Del. Du trägst deinen Namen zu Recht. Sie waren böse Menschen, die sich an ihren Greueltaten erfreuten. Der Mann in Rot, den sie Corey nannten, lachte, als er deinen Vater erschlug.« »Corey?« stieß ich hervor. Ich spürte, wie mich das nackte Entsetzen packte. »Der Weißhäutige nannte ihn so. Sie sagten, er wäre einst ein edler Krieger gewesen, der heldenhaft gegen die Rinn gekämpft hätte, aber –« Ich stieß einen Schrei aus, der ihnen wohl das Blut in den Adern gerinnen ließ, warf mich auf die Grabsteine, schlug um mich, krallte mir die Finger blutig, wütete und schrie wie ein Besessener. Das Universum stürzte über mir ein und begrub mich unter Alptraumvisionen. Ich kroch durch leichenübersäte Abgründe des Alls, durch einen ewigen Blutregen, der in der Galaxis niederging und wie ein reißender, nie versiegender Strom durch die Leere zischte und Menschen, Planeten und Sonnen, ja den Weltraum selbst mit dem süßlich-faulen Geruch des Todes durchtränkte. Jedes Ding machte eine grausige Metamorphose durch, verwandelte sich in ein Instrument der Gewalt und des Todes; Kometen blitzten auf wie Messer in den Händen von Wahnsinnigen; jeder Lichtpunkt war ein glänzender Schädel, und alle liefen auf einen Punkt zu, der ich selbst war, und ge-
mahnten mich an das Blut, das ich vergossen hatte, an all die Leichen, die meinen Lebensweg pflasterten, an all das Böse und den Tod und die Korruption, die der Mensch zwischen Millionen Millionen Sternen gesät hatte, und ich konnte mich des Ansturms nicht erwehren. Der Regen prasselte nieder, und ein Meer aus Blut stieg um mich auf, das schäumte und brodelte wie ein gigantischer Mahlstrom. Köpfe, Gliedmaßen und Gesichter von Sterbenden hoben und senkten sich in der Flut, und ein ständig anschwellendes Getöse erstickte das Stöhnen, die Schreie und Flüche der Opfer, die mit mir um den blutigen Trichter herumgewirbelt wurden, der uns alle ins Nichts hinabzog.
24
Ich sehe Cassie wieder und bin wieder unter meinem Volk
Ich erwachte in einem Raum, der mich an einen im Hause der Whitbys erinnerte. Zu beiden Seiten meines Betts saßen je ein stämmiger Mann, und am Fußende war Cassie, die lächelnd zu mir herabschaute. Sie hatte sich sehr verändert, aber ich erkannte sie sofort. »Geht es dir jetzt wieder gut, Del?« fragte sie. »Ja, Cassie«, erwiderte ich, obgleich ich mich noch sehr matt fühlte. Langsam gewöhnte ich mich daran,
in einem Krankenbett aufzuwachen und von Leuten gepflegt zu werden, die befürchteten, ich würde mich nicht mehr erholen. »Du mußt schreckliche Träume gehabt haben. Du schriest laut und schlugst wild um dich. Wenn Diener und Steadfast dich nicht gehalten hätten, ich weiß nicht, was geschehen wäre.« »Danke für eure Hilfe«, sagte ich zu den zwei Männern. Ich wollte ihnen die Hand zum Gruß reichen und merkte erst jetzt, daß beide Hände in dikken Bandagen steckten. Einer der Männer kam mir bekannt vor. Er erinnerte mich an einen Jungen, den ich einmal gekannt, aber nicht besonders gemocht hatte. Wenn ich mich richtig entsann, war er damals ein Rivale um Cassies Gunst gewesen. »Bist du nicht Diener-der-Lobpreisung Dimbleby?« fragte ich ihn. »So ist es, Del. Ich erinnere mich gut an dich. Sieh her«, sagte er und schob sich das Haar aus der Stirn, so daß eine kleine, weiße Narbe zum Vorschein kam. »Wir spielten einmal das Wurfspiel zusammen, und dieses eine Mal reichte mir.« »Das tut mir leid, Diener.« »Wir waren Jungen, Del. Es geschah beim Spiel.« »Laßt uns jetzt allein und geht an eure Arbeit«, sagte Cassie. »Del braucht Ruhe, und er kommt jetzt ohne euch aus. Aber zuerst muß ich ihm zu essen geben, denn er hat seit zwei Tagen nichts bekommen.«
»Zwei Tage?« Ich war verblüfft. »Vor zwei Tagen trugen wir dich von der WhitbyFarm hierher. Einige glaubten, du wärest von Dämonen besessen«, sagte Diener. »Vielleicht war ich das auch. Aber nun sind sie fort. Danke, daß ihr mich hergebracht habt.« Als sie gegangen waren, setzte Cassie sich neben mich und fütterte mich mit einer heißen, dicken Suppe. Ich aß mit Heißhunger, und wir wechselten kein Wort miteinander, bis die Schale leer war. Dann umfaßte sie meine bandagierte Hand und sagte: »Ich teile dein Leid, Del. Die Whitbys standen mir so nahe wie meine eigenen Eltern.« »Sie waren meine Eltern. Ich hatte nie andere und will auch keine anderen«, sagte ich. Es gelang mir nur mit größter Mühe, meine Stimme nicht zittern zu lassen. »Der alte Mann brachte mir bei, wie man richtig lebt, Cassie, aber ich verstand ihn erst, als ich hierher zurückkehrte und sah, wie er gestorben war. Er war der wahre Held und nicht dieser verruchte ... und nicht die andern«, verbesserte ich mich ungeschickt. Cassie sah mich verwundert an. »Was für andere?« »Niemand, den du kennst, Cassie. Es fiel mir nur so ein.« Sie holte kaltes Wasser und wischte mir die Stirn ab. Trotz der Zärtlichkeit, mit der sie dabei vorging, konnte ich die Kluft spüren, die in den vielen Jahren
zwischen uns entstanden war. Cassie behandelte mich nicht wie einen wiedergefunden Geliebten; sie bemutterte mich. Sie machte in der Tat einen mutterhaften Eindruck und sah viel älter aus als ich, obwohl sie ja ein Jahr jünger war. Wenn sie sich vorbeugte, konnte ich weiße Strähnen in ihrem blonden Haar erkennen. Ich bedauerte sie wegen der furchtbaren Schicksalsschläge, die sie hatte ertragen müssen; doch dann fiel mir ein, daß auch Diener sehr alt, fast wie ein Vierzigjähriger ausgesehen hatte, dabei konnte er höchstens fünf Jahre älter sein als ich. Und der Älteste Scrooby war abgemagert und ergraut; er war viel stärker gealtert, als ich erwartet hätte. Genau: jeder hier sah viel älter aus, als ich mir vorgestellt hatte; es war fast so, als wäre ich nicht acht sondern sechzehn Jahre oder noch länger fort gewesen. Als Cassie frisches Wasser in die Schüssel goß, sagte sie: »Del, ich hätte nie damit gerechnet, dich in diesem Leben noch einmal wiederzusehen. Wen die Sklavenhändler holen, der kehrt nie zurück.« »Ich habe selbst oft bezweifelt, daß ich es schaffe, Cassie. Es hat mich fast acht Jahre gekostet.« »Acht? O Del, was sagst du da? Es ist neunzehn Jahre her, daß sie dich mir fortnahmen!« Zu viele Dinge waren in zu kurzer Zeit über mich hereingebrochen; ich brachte es nicht fertig, Überraschung zu empfinden. Im Gegenteil, mein Verstand
war völlig klar, mein Erinnerungsvermögen einwandfrei, und ich konnte nüchtern und logisch denken. Ich entsann mich der alten Bücher an Bord der Phoenix und jener verwirrenden Passagen, durch die ich mich hindurchzuarbeiten versucht hatte, das Unterfangen aber aufgegeben hatte, als ich von so unsinnigen Dingen las wie dem Dilatationseffekt und der Behauptung, Reisende, die sich mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegten, würden langsamer altern als Planetenbewohner. Das war unverständliches Kauderwelsch, lauter Tricks und Lügen, mit denen Experten leichtgläubige Menschen beeindrucken wollten. Hatte ich gedacht. Aber es war die Wahrheit. »Ich habe auf dich gewartet, Del. Alle sagten, ich wäre dumm und halsstarrig, aber ich wartete trotzdem. Doch drei Jahre, nachdem ich dich verlor, starben meine Eltern, und ich stand allein da«, sagte Cassie leise. Sie mied meinen Blick. Ich spürte, was sie mir mitteilen wollte, und sprach es für sie aus. »Darum hast du Diener Dimbleby geheiratet.« »Er hat mich während all der Jahre gut behandelt, Del. Wir haben sechs kräftige Kinder. Unser Weg ist eben gewesen. Wenn ich das geahnt hätte, wenn meine Eltern gelebt hätten – ich hätte ewig auf dich gewartet. Glaub mir, Del.« »Ich glaube dir, Cassie.«
Darauf ließ sie mich allein, damit ich ruhen konnte. Ich war froh, daß sie ging. Denn wäre sie geblieben, hätten wir uns weiter unterhalten und dabei vielleicht unheilbare Wunden aufgerissen. Ich hatte alles erfahren, was ich mir erhofft hatte, und meine Reisen waren nun vorbei. Bis auf eine. Als ich Gilead verließ, begleitete mich die halbe Einwohnerschaft des Dorfes zur Renegat. Die Nachricht von meiner Rückkehr und meinem schrecklichen Anfall am Grab der Whitbys hatte sich schnell herumgesprochen. Meine Besessenheit wurde dem Kummer zugeschrieben und erhielt dadurch sogar eine nachträgliche Würdigung. Auf Gilead war lautstarkes Wehklagen ein beliebter Brauch, und wer am Grab seiner Angehörigen wütete und schrie, bewies damit, daß seine Trauer aufrichtig war. Ich war froh, daß diese Interpretation für mein Verhalten herhalten konnte. Es waren noch andere Geschichten verbreitet worden. Einige eifrige Studenten von dem Buch von der Reise hatten sich der prophetischen Bücher angenommen und waren auf eine Reihe bedeutungsvoller Passagen gestoßen. »Er, der zwischen den Sternen geboren wurde, wird ihr Rächer sein. Er wird still und bei Nacht zu ihnen kommen und unerkannt als kleinster und schwächster unter ihnen leben, und er wird von ihnen fortgehen und vergessen werden.
Doch in der Stunde der Not, wenn die Statthalter des Lasters das Blut von Gilead vergießen, wird er den Arm der Rache führen, so er auch fern und verlassen ist«, wurde mir feierlich vorgetragen, und obwohl ich mich natürlich geschmeichelt fühlte, nahm ich diese Prophezeiung nicht sonderlich ernst. Im Hinblick auf die Zukunft rezitierte jemand: »Er, der keiner von uns ist, aber einer der unseren werden wird; er, der zwischen den Sternen geboren ist und wiedergeboren ist auf Gilead, wird am Tage des Schreckens zu uns kommen, um uns zu den Sternen zu führen.« Ich enthielt mich jeden Kommentars zu diesen oder anderen, dunkleren Passagen, die in aller Munde waren. Sollten sie glauben, was sie wollten. Ich sagte jedem Lebewohl, stieg zur Luke hinauf und hielt noch eine kurze Ansprache. »Ich bin nun der König von Mazat, doch Gilead ist mein erstes Zuhause. Ich werde es niemals vergessen. Wenn ihr mich jemals braucht, kommt nach Mazat. Ihr seid stets willkommen.« Und dann kehrte ich nach Mazat zurück, wo Hata und mein Volk auf ihren König warteten.
BUCH III
Die lange Reise 1
Einige Schlaglichter auf die jüngste mazatlanische Geschichte
Zweiundzwanzig Jahre sind vergangen, seit ich nach Mazat zurückkehrte und mich hier niederließ, und ich habe diese Entscheidung niemals bedauert. Es sind glückliche Jahre gewesen, weitaus glücklichere, als ich sie mir jemals erhofft hatte. Sie waren nicht aufregend wie die Zeit meiner Wanderschaften; nein, das waren sie gewiß nicht; sie waren ruhige, dankbare Jahre, die ich nicht missen möchte. Mein Weg ist eben, mein Leben ereignislos gewesen, wenn auch nicht immer. Das hätte ich nicht ertragen können. Hata hat mich nie gefragt, was auf Gilead geschah, und ich habe es ihr nie gesagt. Wir sind sehr glücklich gewesen. Hata war mir immer eine gute Frau. Stretch, dieser schweigsame Riese, dessen Streben einst allein dem Gewinn von Ehre galt, hat sich als echter und wertvoller Freund erwiesen. Er neigt immer noch zu förmlichen Floskeln, aber er hat in dieser Hinsicht erhebliche Fortschritte gemacht. Es hat mich sechs Jahre gekostet*, ihn davon zu überzeugen, daß wir * Genau fünf Jahre, zehn Monate und einen Tag GSK.
einander nicht mit »Ehrwürdiger und Mächtiger Monarch von Mazat« und »Erster Verteidiger des Planeten, Vorbild der Unverbrüchlichen Treue und Schild des Königreiches« anzureden brauchten. Wir sagen jetzt wieder »Del« und »Stretch« zueinander, und ihm unterläuft selten ein Ausrutscher. Dasselbe kann ich von mir sagen. Stretch hat nahezu diese ganzen Jahre gebraucht, um sich darüber klarzuwerden, ob er nicht doch nach Lixis zurückkehren und dort Anspruch auf einen ehrenvollen Platz erheben sollte. Eines Abends kam er zu mir und ersuchte mich um die Erlaubnis, seinem Stande gemäß, das heißt, nach lixianischem Stil heiraten zu dürfen. Selbstverständlich gab ich ihm die Erlaubnis, war dann aber doch ein bißchen erschüttert, als ich erfuhr, daß sie ihn berechtigte, sich elf Ehefrauen zu nehmen. Heute ist er Vater von hundertsieben Kindern, und es läßt sich nicht leugnen, daß sie hübsche Rangen sind. Die Mazatlixer, wie wir sie nennen, scheinen die besten Eigenschaften beider Elternteile in sich zu vereinigen. Die Vaterschaft hat Stretch solide gemacht. Er will auf Mazat bleiben. Bei der Geburt seines vierundachtzigsten Kindes vertraute er mir in sehr ernstem Ton an: »Dies ist ein guter Ort, um eine Familie zu gründen.« Ich erkannte bald, daß man Stretchs Fähigkeiten nicht unterschätzen durfte. Auf Lixis und auf seinen
Wanderschaften hatte der strenge lixianische Kodex, der unverbrüchliche Treue und Gehorsam verlangte, Stretch so sehr auf die Erhaltung seiner Ehre fixiert, daß ihm kaum Zeit zum Nachdenken geblieben war. Doch hier auf Mazat, wo er frei von diesen hemmenden Beschränkungen war, ist sein Intellekt erblüht. Als beispielsweise die Mazatlaner darauf bestanden, einen Turm der Sieben Befreier zum Gedenken an unsere Schlacht zu errichten, übte Stretch die Funktion des leitenden Architekten und Baumeisters aus. Er beschloß aus eigener Initiative das oberste Geschoß zu einem prunkvollen Thronsaal zu machen. Ich benutze ihn selten, eigentlich nur für Besucher, die sich durch einen weniger formellen Empfang herabgesetzt fühlen könnten, und um das alljährliche einwöchige Fest zum Jahrestag der Schlacht gegen die Raumpiraten zu eröffnen. Aber wenn ich mich darin aufhalte, komme ich mir vor, agiere und rede sogar wie ein richtiger König. Ich glaube, Stretch hat durch seine Raffinesse dafür gesorgt, daß mir auch gar nichts anderes übrigbleibt. In meinen Jahren auf Mazat habe ich oft über meinen Glauben nachgedacht, und Stretch hat zu diesem Thema sehr viel Interessantes beizusteuern gewußt. Die lixianische Auffassung der Absorption in das Unendliche* kann mich nicht überzeugen, aber Stretch * Hier streift Del das einzige Gebiet, über das wir uns nie wirksam verständigen konnten. Er war stets der Meinung, ich würde – wie
findet volle Zufriedenheit darin, und in jüngster Zeit hat diese Anschauung auch bei vielen Mazatlanern großen Anklang gefunden. Hata hat versucht, mir den alten mazatlanischen Glauben verständlich zu machen, jedoch mit sehr mäßigem Erfolg. Man kann ihn nämlich nicht erklären, sondern muß ihn fühlen, und das bringen nur gebürtige Mazatlaner fertig. Ich meine, in vieler Hinsicht immer noch ein Rudstromit zu sein, wenngleich einige Sätze dieses Glaubens mich stören. So kann ich beispielsweise immer noch keine Antwort auf die eine Frage finden: Wo Portteus – versuchen, ihm meinen Glauben aufzuzwingen. Dabei verkannte er, daß der lixianische Weg nur einem Lixianer offensteht. Die Mazatlaner geben sich Mühe, doch sie sind außerstande, ihn gänzlich zu verstehen. Die Lixianer kennen seit langem die einfache Wahrheit, daß Alles Eins ist. Wir kommen aus dem Unendlichen, überschreiten die Schattengrenze von Zeit, Dimension und Raum und werden, wenn wir uns durch ein ehrenvolles Leben als würdig erwiesen haben, vom Unendlichen wieder aufgenommen. So ist es bei den Lixianern. Andere Rassen werden aus anderen Gründen aus dem Unendlichen ausgestoßen, einige davon ohne zu verstehen, warum. Manchen bleibt die Rückkehr versagt. Andere, uns überlegene Wesen bleiben ewig mit dem Alles vereinigt. Wir glauben diese Dinge und suchen nicht nach Gründen, denn wir könnten sie nicht begreifen. Wenn wir Ehre erlangt haben und mit dem Unendlichen wiedervereinigt sind, werden wir alles verstehen. Ehre ist das Mittel, das zum Ziel aller Lixianer, der Vereinigung mit dem Unendlichen, führt. Andere müssen ihren eigenen Weg finden.
war der Universelle Beschützer des Ebenen Weges, als die Malellanen vernichtet wurden? Sie hatten bestimmt nicht den einmütigen Beschluß gefaßt, sich auslöschen zu lassen, und bestimmt waren sie auch nicht allesamt Sklaven des Lasters gewesen. Aber sie starben trotzdem. Dieses Ereignis läßt mir keine Ruhe, denn ich kann keine Rechtfertigung dafür finden. Portteus – mehr von ihm später – hat versucht, mich zu seiner Weltanschauung zu bekehren, aber die kann ich mir am allerwenigstens zu eigen machen. Er ist ein Neuer Galaktischer Mechanist, der erste, mit dem ich mich unterhalten habe, obgleich ich häufig von ihnen gehört hatte. Auf Gilead, als ich noch ein Junge war, sprach man von ihnen mit einer Art betäubten Entsetzens. Portteus versuchte mir den Kerngedanken des Mechanismus folgendermaßen zu erklären: »Stell dir eine Maschine von unbeschreiblicher Komplexität vor, die sich aus einer Milliarde Komponenten zusammensetzt. Jede Komponente setzt sich ihrerseits aus einer Milliarde Sub-Komponenten zusammen, und jeder dieser Sub-Komponenten besteht wiederum aus einer Milliarde Teile. Jedes Teil unterscheidet sich der Form und Funktion nach von jedem der andern; ebenso sind auch die Sub-Komponenten und Komponenten völlig anders als ihre jeweiligen Milliarden Gegenstücke. Jedes Einzelstück dieser gigantischen
Maschine ist so verschieden von allen anderen, daß jemand, der nur ein Teil, meinetwegen auch eine ganze Sub-Komponente sieht, unmöglich begreifen kann, in welcher Beziehung dieses Teil oder diese Sub-Komponente zu den anderen steht. Und keinesfalls könnte er daraus auf die Beschaffenheit oder den Zweck der Maschine schließen.« »Ich kann mir nicht einmal –« stotterte ich verwirrt. »Laß mich fortfahren«, sagte Portteus. »Nun übertrage dieses Konzept der unendlichen Maschine auf das galaktische Leben. Nimm einmal an, daß alles menschliche Wirken auf der Erde ein solches winziges Teil darstellt. Die Historien der anderen Planeten konstituieren ebenfalls solche Teile, und unsere Galaxis, als Ganzes betrachtet, ist, ebenso wie alle anderen Galaxien, seien sie bekannt oder unbekannt, eine der Sub-Komponenten der großen Maschine.« Ich schüttelte verständnislos den Kopf. »Andererseits«, fuhr Portteus fort, »kann unsere Galaxis, vielleicht sogar das ganze Universum, nur ein winziges und unbedeutendes Teil irgendeiner Sub-Komponente der großen Maschine sein, und wir –« »Hör auf! Hör auf damit!« schrie ich, mir die Ohren zuhaltend. Er sah mich gekränkt an. »Ich habe nur deine Frage beantwortet.«
»Manchmal wollen die Menschen keine Antwort haben, Doc, manchmal wollen sie nur die Frage stellen.« »Solche Menschen können niemals Mechanisten werden.« Folglich bleibe ich ein Rudstromit – in gewisser Hinsicht. Hata geht den alten mazatlanischen Riten nach, während Stretch, wenn seine Pflichten es zulassen, nach lixianischer Art meditiert. Stretch hat auch die Federführung bei der Neuen Geschichtsschreibung von Mazat. Ungefähr ein Jahr nach meiner Rückkehr trat er mit dieser Idee an mich heran, denn er hatte zu seiner Bestürzung erfahren, daß Geschichten über unsere Schlacht kursierten, in denen wir wie legendäre Helden aus irgendwelchen altirdischen Sagen oder skeggjattischen Mythen dargestellt wurden. Als Lixianer achtete er auf genauen und sorgsamen Umgang mit der Wahrheit, und Entstellungen, wie sie in Hinweisen auf magische Schwerter, blutige Duelle, schöne Kriegerbräute und so fort zum Ausdruck kamen, erzürnten ihn. Besonders aufgebracht war er über eine Version, der zufolge wir mit bloßen Händen gegen zehntausend Piraten gekämpft haben sollten. Als wir sahen, wie stark unsere Taten innerhalb eines Jahres aufgebauscht worden waren, erschauderten wir bei dem Gedanken, welche Geschichten kursieren mochten, wenn wir
einmal nicht mehr da waren, um den tatsächlichen Hergang der Ereignisse zu schildern. Ich trug Stretch auf, einen autorisierten Bericht zu verfassen, und als er ihn mir vorlegte, fanden wir, bei der Gelegenheit könnten wir auch gleich eine neue mazatlanische Geschichtsschreibung ins Leben rufen. Zu diesem Zeitpunkt gab ich das Vorhaben auf, das Tagebuch, welches die vorangegangenen Seiten füllt, weiterzuführen. Was nach meiner Rückkehr auf Mazat geschah, wurde Bestandteil der Chroniken, und ich sah keine Veranlassung, zusätzlich persönliche Aufzeichnungen zu machen. Bis vor kurzem. Stretch und ich bemühten uns, so viel wie möglich über jene Epoche herauszubringen, die die Mazatlaner die Stille Zeit nennen, jene siebenundvierzig Generationen des Friedens, die unserer Ankunft vorangingen, doch ohne nennenswertes Ergebnis. Anscheinend gibt es weder schriftliche noch mündliche Überlieferungen aus dieser Zeit. Ein spektakuläres Ergebnis zeitigten unsere Nachforschungen jedoch: Wir fanden die Überreste des ersten Raumschiffs von der Erde, das auf Mazat landete. Das war vor fünf Jahren, und wir sind immer noch mit der Auswertung des Materials beschäftigt; vor allem versuchen wir herauszufinden, was den Menschen an Bord zustieß. Denn es fehlt jede Spur von ihnen. Es ist eine faszinierende Geschichte, aber da sie in den Chroniken
festgehalten ist, will ich hier nicht darauf eingehen. Es wäre unsinnig, eine Thematik darzulegen, die von Stretch bereits ausführlich und erschöpfend behandelt worden ist. Wir hatten einige interessante Besucher, so Alladale, der während des dritten Jahrs meiner Herrschaft hierher kam und ein Jahr blieb. Er verdiente sich den Lebensunterhalt mit seinen Kompositionen, darunter eine sehr lange und stellenweise sehr bewegende Dichtung über unsere Schlacht. Er nannte sie »Das Lied der Sieben« und trug sie bei jeder Gelegenheit vom Anfang bis zum Ende vor. Obwohl sie sehr schöne Abschnitte enthielt, war sie, wie gesagt, sehr lang, und mehrmals wünschte ich, er hätte seine Bewunderung gezügelt. Er verließ uns mit dem Versprechen, unsere Geschichte in der ganzen Galaxis zu verbreiten. Stretch war von der Aussicht auf soviel Ehre angetan, aber ich hatte Bedenken. Ich spürte wenig Neigung, mich meiner Rolle in diesem blutigen Gemetzel zu rühmen, und wollte auch nicht, daß andere davon prahlten. Wenn die Geschichte schon erzählt werden mußte, dann wahrheitsgemäß, so wie sie sich zugetragen hatte. In den Chroniken liest sie sich sehr sachlich und nüchtern, aber Alladales Dichtung stellt sie als einen ruhmreichen Feldzug dar, angefüllt mit dramatischen Reden. Dabei war sie alles andere als das. Es war die Geschichte einer Handvoll
verzweifelter Männer, die eine Schlacht austrugen, auf die sie sich am liebsten erst gar nicht eingelassen hätten, eine dreckige, blutige Schlächterei auf einem kleinen Marktplatz. Wenn die Menschen diese Version zu hören bekämen, würden sie sich vielleicht ein paar ernsthafte Gedanken übers Blutvergießen machen. Und neben diesen ethischen Erwägungen hatte ich auch ganz praktische Bedenken. Mir schien, daß wir durch Alladale geradezu eine Einladung an die Adresse aller noch übriggebliebenen Raumpiratenbanden schicken könnten, eine indirekte Herausforderung, Mazat zu überfallen und zu sehen, was zwei alternde Helden noch vermochten. Ich hätte Alladale befehlen können, auf Mazat zu bleiben – als mein Hofnarr oder wie immer man den Musiker eines Königs nannte –, aber ich wollte kein Tyrann sein. Ich nahm ihm nur das Versprechen ab, nichts über die Örtlichkeit Mazats zu verraten. Wir sind nicht belästigt worden. Der interessanteste Neuankömmling auf Mazat – heute ein angesehener Bewohner unserer wachsenden Stadt – ist Professor Doktor Portteus. Die Chroniken sind gespickt mit seinen Anmerkungen, und seine Aufzeichnungen würden meinen Thronsaal füllen. Ich glaube, man könnte ihn einen Wissenschaftler nennen, aber er ist auch ein Philosoph, ein Student eines jeden Fachgebiets und ein großer Redner. Er
mag ein schlechter Zuhörer sein, aber ein großer Redner ist er gewiß. Eines Tages wanderte er über die neue Brücke, in seinem Gefolge einen nervösen Assistenten und eine Wagenladung wissenschaftlicher Instrumente, stellte den Leuten auf dem Dorfplatz ein paar rätselhafte Fragen und brachte seine Besitztümer auf dem Hof eines leerstehenden Hauses unter. Am darauffolgenden Tag bat er um Erlaubnis, sich hier niederzulassen und seinen Studien nachgehen zu dürfen. Innerhalb eines Jahres gründete er eine Schule, und sie ist heute die beste auf Mazat. Stretch ist von Portteus fasziniert, und dieser wiederum zeigt großes Interesse für Stretch, dem ersten Lixianer, dem er je begegnet ist. Sie verbringen viele Stunden zusammen, gehen an den Stadtmauern spazieren, in den Feldern und Bergen oder suchen einander zu Hause auf, um lautstark über das Prinzip der Kontrollierten Variablen, das Gesetz der Unterbrochenen Oberflächen und andere Dinge zu diskutieren, deren Bedeutung ich nicht einmal ansatzweise verstehe. Sie bedienen sich dabei eines fortlaufenden lauten, kontrapunktischen wechselseitigen Monologs, der mit irgendeiner Streitfrage beginnt und kein absehbares Ende findet. Ich halte mich da ganz raus, denn ich mußte einsehen, daß mir das Verständnis für wissenschaftliche Dinge einfach abgeht. Mein Spezialgebiet ist irdische
Geschichte. Manchmal gesellt Hata sich zu mir, und wir lesen gemeinsam, doch im Grund interessiert sie nur die irdische Poesie (sie ist der Meinung, daß sie der Alladales weit überlegen ist, und ich teile ihre Überzeugung, wenngleich ich es nicht zugebe). Der wahre Historiker hier ist jedoch mein ältester Sohn Delgrax. Er hat alles gelesen und kennt in- und auswendig, was ich an Material über die Erde in meiner Bibliothek habe. Die Schriften über Gesetze und Regieren interessieren ihn besonders, denn er ist der Meinung, daß sie unverzichtbares Wissen für einen Mann sind, der eines Tages König sein wird. Ich hätte es gern gesehen, wenn er ein bißchen mehr Reiselust gezeigt hätte, aber ich dränge ihn nicht. Er hat seine Interessen, ich die meinen. Ich hoffe, daß Delgrax wenigstens einmal Gilead aufsucht. Die Dimblebys haben eine Tochter, die etwa in seinem Alter ist – ich wohnte mehrmals bei ihnen, wenn ich auf Handelsmissionen nach Gilead kam –, und ich finde, sie würden gut zueinander passen. Aber hier ist nicht der Ort, um auf solche Dinge einzugehen. Ich merke, daß ich vom Thema abkomme. Der Grund, warum ich diesen letzten Teil meiner Geschichte niederschreibe – und dies ist der letzte –, ist die Ankunft eines Besuchers, eines Repräsentanten der Dritten Rinn-Expedition, der kürzlich zu mir kam. Sein Erscheinen beunruhigt mich, und meine
Reaktion darauf beunruhigt mich noch mehr. Er hat Dinge aus der Vergangenheit in mir wachgerufen, die ich vor langer Zeit begraben und zu vergessen gesucht hatte. Es waren häßliche Dinge, und meine Reaktion war nicht weniger häßlich. Zum erstenmal seit vielen Jahren trug ich wieder meine Pistolen, und Stretch schlang sich die Gurte mit den FingerMessern über die Schultern.
2
Commander Dzik von der Dritten RinnExpedition trifft ein und reist überstürzt ab
Unser Besucher war Commander Dzik vom Dritten Verteidigungsgeschwader. Er kam mit zwei Adjutanten, drei Beratern und zwanzig Leibwachen und ersuchte um eine sofortige Unterredung mit dem König wegen einer Angelegenheit von größter Dringlichkeit. Ich ließ ihn eine Weile warten, und er entsandte einen zweiten Boten, um mich davon in Kenntnis zu setzen, daß das Überleben allen zivilisierten Lebens in der Galaxis von meiner Mithilfe abhängen könne. Das war in der Tat eine beeindruckende Nachricht; wer so gewichtige Behauptungen aufstellte, dachte ich, konnte nicht bluffen. Ich ließ den Boten wissen, daß ich Commander Dzik in zwei Stunden im Thronsaal empfangen würde. Er sollte allein kommen.
Ich wandte mich an Stretch. »Du hast diesen Dzik gesehen. Was für einen Eindruck hast du von ihm?« »Er erinnert mich an einen Kekket«, sagte Stretch. Delgrax, der neben mir saß, lachte und verlieh seiner Zustimmung Ausdruck. Seit dem vergangenen Jahr ließ ich ihn an Konferenzen über Staatsgeschäfte teilnehmen, und das nicht nur seiner Ausbildung wegen. Er besaß eine scharfe Beobachtungsgabe, und ich schätzte sein Urteil. »Ist das eine treffende Charakterisierung?« fragte ich ihn. »Ich denke schon. Der Kekket hat ein furchtbares Aussehen, aber er ist feige. Er beschafft sich Nahrung, indem er andere Tiere anknurrt und sie durch Scheinattacken von ihrer Beute zu vertreiben sucht.« »Und du glaubst, der Commander ist nicht mehr als ein solcher Angeber?« »Das bleibt abzuwarten. Tatsache ist, daß er in kriegsmäßiger Aufmachung hierher kommt und erschreckende Nachrichten verbreitet, um eine Audienz von dir zu ergattern. Genauso würde sich ein Kekket verhalten. Ich an deiner Stelle, Vater, würde diesen Mann mit größter Vorsicht behandeln«, sagte Delgrax. »Was meinst du, Stretch?« »Der Prinz hat alles gesagt, was ich sagen könnte.« »Also gut. Dann will ich euch beide bei mir haben,
falls die Sache sich doch als wichtig herausstellt. Außerdem möchte ich, daß auch Portteus sich einfindet.« »Das klingt, als würdest du dieser Besprechung eine gewisse Bedeutung beimessen«, bemerkte Delgrax. »Das ist richtig. Dzik mag eine unwichtige Person, nicht mehr als ein Bote sein, doch ein Expeditionsschiff würde nicht ohne guten Grund hier landen. Diesen Grund müssen wir herausbekommen. Darum will ich, daß meine besten Berater dabei sind und genau zuhören und die Augen offenhalten.« Wir begaben uns in den Thronsaal, um unseren Besucher zu empfangen. Er kam mit seinem ganzen Gefolge, seinen Adjutanten, Beratern und Leibwachen, und machte ziemliches Theater, als man ihn hieß, allein einzutreten. Doch ich hatte »allein« gesagt, und das meinte ich auch. Nachdem er sich noch einmal förmlich gegen diese Auflage verwahrte, betrat er den Thronsaal dann doch allein. Commander Dzik war ein großer stattlicher Mann, ungefähr in meinem Alter, sauber rasiert und besaß kurzes, stoppliges Haar von grau-schwarzer Färbung. Sein Gesicht war eine starre Maske – das Gesicht eines Mannes, der geschult war, sich eisern in der Gewalt zu haben –, doch die knochigen Wagen und die spitze, schmale Nase deuteten auf Aggressivität und
Entschlossenheit hin. Er trug eine grüne Expeditionsuniform mit roten Streifen, die wie eine zweite Haut an ihm anlag. Seine Stimme war rauh, aber zugleich ausdruckslos und mechanisch. Mir fiel sofort eine gewisse Ähnlichkeit mit dem stoppligen, grünhäutigen Kekket auf. Ich warf Stretch einen Blick zu, doch mein Erster Verteidiger stand mit verschränkten Armen da und starrte Dzik unbewegt an. »Ich überbringe dem König von Mazat, der Königsfamilie, dem Ersten Verteidiger und allen königlichen Beratern die Grüße und die Hochachtung der Dritten Rinn-Expedition«, sagte Dzik mit einer tiefen Verbeugung. »Wir danken Euch und erwidern Eure Grüße. Desgleichen sprechen wir der Dritten Rinn-Expedition unsere Hochachtung und Grüße aus. Ihr dürft Euch setzen, Commander.« Als er vor uns Platz genommen hatte, fuhr ich fort: »Wir sind gespannt zu erfahren, aus welchem Grund die Leiter der Expedition uns mit einem Besuch eines hohen Offiziers beehren. Wollt Ihr Euch dazu äußern?« »Nur zu gern, Eure Majestät. Ihr habt gewiß erfahren, daß die Rinn ihre Streitkräfte zu einem Angriff formieren.« »Ich habe von diesem Gerücht gehört, doch ich kann ihm keinen Glauben schenken«, erwiderte ich. »Es ist kein Gerücht, Eure Majestät. Wir haben
Grund zu der Annahme, daß die größte Kriegsflotte der Rinn, die jemals im All versammelt war, sich in diesem Moment Eurem Sektor nähert.« »Und was begründet diese Eure Annahme?« »Ich bitte um Nachsicht, Eure Majestät. Ich darf unsere Informationsquelle nicht preisgeben.« »Ich verstehe. Dann müssen wir uns auf Euer Wort verlassen, daß diese Rinn-Armada existiert«, sagte ich. »So ist es, Eure Majestät.« Ich bedachte meine Berater der Reihe nach mit einem Blick, starrte nachdenklich zur Decke und sagte nach einer Weile: »Die Situation gibt mir Rätsel auf, Commander. Vor einigen Jahren wurde die Erste Expedition entsandt, um die Rinn aufzustöbern und ihre Macht für alle Zeiten zu brechen. Sämtlichen Berichten zufolge, die ich vernommen habe, war die Expedition ein voller Erfolg.« Dzik nickte eifrig. »Es war ein glorreicher Sieg, Eure Majestät.« »Das ist uns bekannt. Und die Zweite RinnExpedition, der locker organisierte Nachfolger der Ersten, hatte sich zum Ziel gesetzt, alle überlebenden Rinn-Streitkräfte zu vernichten. Auch sie war erfolgreich.« »Genauso ist es. Eure Majestät ist in der Tat gut informiert.«
Das war selbstverständlich eine unsinnige Höflichkeitsfloskel. Die Aktionen der Ersten und der Zweiten Rinn-Expedition waren mittlerweile galaktisches Allgemeinwissen. Ich war nicht besser informiert als irgendein Schulkind auf Mazat. »Wir danken Euch«, sagte ich. »Doch nun, nachdem alle Streitkräfte der Rinn nicht einmal, sondern sogar zweimal vernichtet wurden, kommt Ihr zu mir und berichtet mir von der mächtigsten Rinn-Armada, die es jemals gegeben hat. Das ist einigermaßen verwirrend.« Dzik zögerte, dann antwortete er: »Es ist schwer zu erklären. Dennoch ist es die Wahrheit.« Ich sah ihn erstaunt an. »Ich verstehe – die Erste und die Zweite Expedition waren also doch Fehlschläge.« »O nein, Eure Majestät, keineswegs. Sie waren großartige Siege.« Portteus lehnte sich zu mir herüber und flüsterte laut genug, daß Dzik mithören konnte: »Es könnte zur Klärung der Sachlage beitragen, wenn Eure Majestät die Tatsache berücksichtigt, daß die Begriff ›glorreicher Sieg‹ und ›schmähliche Niederlage‹ in der Terminologie der Expedition gleichbedeutend sind.« »Es hat ganz den Anschein«, sagte ich. »Und in diesem Fall ist es wohl sinnlos, die Angelegenheit weiter zu erörtern. Commander Dzik, wir danken Euch für
Eure Warnung. Ihr dürft den Kommandanten der Dritten Rinn-Expedition unseren Dank aussprechen.« Als ich mich vom Thron erhob, rief Dzik: »Wartet, Eure Majestät! Es gibt noch viel zu besprechen!« Ich zögerte, ließ mir meinen Unwillen deutlich anmerken und nahm dann wieder Platz. »Wir Mazatlaner sind einfache Menschen, Commander. Bei uns hat ein Wort nur eine Bedeutung, nicht mehrere, und keinesfalls eine widersprüchliche. Wenn Ihr noch mehr zu sagen habt, drückt euch deutlich aus«, sagte ich zu Dzik. »Eure Majestät, ich kann mein Ersuchen in sehr einfache Worte kleiden. Die Expedition braucht Eure Unterstützung. Wir bitten Euch um vierhundert Männer und sechzig Demetrious.« »Die Expedition bittet uns, unsere Untertanen fortzuschicken und unsere Staatskassen zu leeren, um einen Feind zu vernichten, den sie bereits vernichtet hat? Einen Feind, den wir noch nie gesehen haben?« Ich schüttelte den Kopf, dann sah ich Dzik scharf an. »Sag mir, Commander, habt Ihr jemals einen Rinn gesehen?« »Man braucht sie nicht gesehen zu haben, um sie zu hassen«, entgegnete Dzik eisig. Für einen Moment wich seine starre Maske, und blanker Haß starrte mir entgegen. »Das ist gewiß richtig. Oft ist es dadurch sogar
leichter. Kennt Ihr irgend jemanden, der einen Krieger der Rinn gesehen hat?« »Nein, Eure Majestät. Aber jeder hat ihr schändliches Werk gesehen. Gewiß kennt Ihr das System der Malellanen.« »Ich hörte davon.« »Dann wißt Ihr, was die Rinn anrichten können. Sie müssen vernichtet werden, Eure Majestät.« »Das sagt Ihr nun zum wiederholten Mal. Aber wir Mazatlaner sind keine Krieger. Seit siebenundvierzig Generationen leben wir in Frieden miteinander und unseren Nachbarn. Das soll so bleiben.« »Aber Eure Majestät sind ein großer Krieger. Es ist wohlbekannt, daß der König von Mazat und sein Erster Verteidiger jene Sieben anführten, die eine Armee Raumpiraten zerschlugen. Die Geschichte wird in allen Systemen erzählt.« Stretch und ich wechselten einen Blick. Er verzog keine Miene, aber ich konnte nicht umhin zu lächeln. »Die Geschichte wird oft fälschlich wiedergegeben. Im übrigen, Commander, ist das lange her. Seither hat Friede geherrscht.« »Dann ist es um so wichtiger, daß die Rinn jetzt vernichtet werden! Denn wenn sie zuschlügen, wären die Mazatlaner unvorbereitet.« Dzik beugte sich vor und sah uns der Reihe nach an. Dann, als wäre er zu dem Entschluß gekommen, daß er uns ins Vertrauen
ziehen könnte, erklärte er: »Eure Majestät, ich bin ein Gesandter der Expeditions-Kommandantur und ermächtigt, in ihrem Namen Zusicherungen zu machen. Wenn Ihr uns unterstützt, garantiere ich für die Sicherheit Eures Volkes. Alle Mazatlaner werden an einen sicheren Ort gebracht werden –« »Wir sind hier sicher«, unterbrach ich. »Aber nicht mehr lange, Eure Majestät. Wir haben einen Plan. Wenn Mazat und alle Nachbarsysteme evakuiert sind, werden wir den ganzen Raumsektor in eine gigantische Todesfalle verwandeln. Sobald die Rinn hier eindringen, werden wir den Sektor und alle darin befindlichen Sonnensysteme zur Detonation bringen und die Rinn-Gefahr für alle Zeiten bannen. Die Mittel dazu existieren.« »Dabei würde Mazat zerstört. Ihr könnt gewiß sein, daß ich der Vernichtung meines Planeten niemals zustimmen werde.« Dzik fuhr hoch und riß den Mund auf, um zu protestieren. »Bleibt sitzen, Commander!« herrschte ich ihn in majestätischem Zorn an, und Dzik nahm eilig wieder Platz. Ich fuhr fort: »Euer Vorschlag ist blanker Wahnsinn, und ich will nichts damit zu tun haben. Wenn die Expedition keinen besseren Weg weiß, ihre Verbündeten zu beschützen, versuche ich mein Glück lieber bei den Rinn.« Dzik schaute entsetzt drein. »Eure Majestät belieben zu scherzen!«
Ich stand auf und herrschte ihn an: »Seid Ihr nach Mazat gekommen, um den König der Mazatlaner einen Spaßvogel zu nennen?« »Nein, gewiß nicht, Eure Majestät! Nichts liegt mir ferner. Ich bitte um Vergebung für meine Worte. Aber als ich Euch von den Rinn sprechen hörte – ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen.« »Auch ich glaubte nicht richtig zu hören, als Ihr vorschlugt, ich sollte mich mit denjenigen verbünden, die meinen Planet zerstören wollen.« »Es handelt sich dabei keineswegs um einen wirren Plan, Eure Majestät«, fuhr Dzik hastig fort. »Dieses Verfahren wurde schon einmal erprobt, und mit großem Erfolg. Seither haben wir unsere Methoden perfektioniert und unsere Vernichtungskraft um das Zehntausendfache gesteigert.« »Wann wurde es erprobt?« »In der Ersten Expedition, als die Pendelton-Basis überfallen wurde.« »Was war mit der Pendelton-Basis?« fragte ich. Seit mehr als zwanzig Jahren hatte ich den Namen nicht mehr gehört, und obwohl ich den Zettel aus dem Rettungsboot immer noch in einem Amulett um meinen Hals trug, hatte ich mir seit meiner Rückkehr nach Mazat kaum noch Gedanken über meine Herkunft gemacht. Als Dzik nun davon sprach, wurde ich plötzlich von Angst gepackt, doch ich ließ mir nichts anmerken.
»Der Planet wurde von einem starken Verband angegriffen. Die Pendelton-Basis war von großer strategischer Bedeutung, und ihre Verteidigungsstreitkräfte waren zum überwiegenden Teil auf Rettungsmissionen unterwegs. Sie wäre den Rinn mit Sicherheit in die Hände gefallen, und das hätte den ganzen Feldzug gefährdet. Folglich wurde beschlossen, den Planet zu sprengen, wodurch auch der Hauptteil des Rinn-Verbandes vernichtet wurde.« Dzik sah mich triumphierend an. »In der Pendelton-Basis befanden sich malellanische Flüchtlinge – Frauen und Kinder«, sagte ich. »Ein paar, Eure Majestät.« »Ihr habt das Todesurteil über sie ausgesprochen.« »Wir mußten sie töten, um sie vor den Rinn zu retten!« Als ich mich zu keiner Erwiderung auf diese Begründung herabließ, machte Dzik eine beiläufige Geste, wie um ein nebensächliches Detail abzutun, das unserer Aufmerksamkeit nicht wert war. »Als Herrscher eines Planeten weiß Eure Majestät, daß es manchmal erforderlich ist, einige wenige für das Wohl der großen Masse zu opfern.« Es war diese nachlässige Geste, die Nonchalance, mit der Dzik mehrere hundert Menschenleben kurzerhand beiseite fegte, die das Faß zum Überlaufen brachte. Für einen Sekundenbruchteil meinte ich, wieder jenen Blutregen zu sehen und sein Zischen zu
hören, als er die Sterne mit Tod überflutete. Ich stand ganz langsam auf und ging auf ihn zu. Dzik erbleichte und stieß, als er zurückwich, seinen Stuhl um. Mein Gesichtsausdruck muß mörderisch gewesen sein. Ich spürte den festen Druck zweier kräftiger Hände auf meinen Armen und bemerkte, daß Delgrax und Stretch mich festhielten. Das brachte mich wieder zur Besinnung. »In Ordnung. Ihr könnt mich jetzt wieder loslassen«, sagte ich. Sie kamen der Aufforderung nach, blieben jedoch neben mir stehen. Ich streckte den Arm aus und sagte zu Dzik: »Ihr verlaßt Mazat bei Einbruch der Nacht. Wenn du oder sonst ein Schlächter von der Expedition jemals wieder den Fuß auf diesen Planet setzt, ergeht es euch wie den Piraten. Sag das deinen Herren.« Als Dzik sich eilends entfernte, ging ich zum Trophäensaal und nahm Adamsons Pistolen von der Wand. »Stretch, nimm deine Messer und komm mit. Ich will mich vergewissern, daß sie wirklich starten«, sagte ich. »Wie du willst«, erwiderte Stretch. Wir brachen sofort auf und ritten ohne Rast einzulegen zu einer Bergspitze, von wo aus wir den Landeplatz überblicken konnten. Kurz vor Einbruch der Dämmerung hob der Expeditions-Kreuzer ab. Wir ritten wortlos zurück.
3
Eine Konferenz
An diesem Abend erzählte ich Hata, Delgrax, Stretch und Portteus die ganze Geschichte. Sie hörten schweigend zu, als ich von jenen Einzelheiten meiner Herkunft sprach, die ich all die Jahre ungesagt gelassen hatte, und als ich endete, kam Hata zu mir und umarmte mich. Sie weinte. »O Del, mein armer Del, mein Liebster! Warum hast du in den vielen Jahren unseres Zusammenseins allein gelitten? Du hättest dieses Wissen mit mir teilen sollen, dann hätte ich dir helfen können, die Last zu tragen«, sagte sie und drückte mich an sich. »Ich habe nicht gelitten, Hata. Ich hatte deine Liebe, mehr wollte ich nicht. Ich glaubte, all das hinter mir zu haben, und war der Meinung, ich hätte kein Recht, dich in die Sache hineinzuziehen. Und auch dich nicht, mein Sohn«, sagte ich zu Delgrax. »Mutter hat recht. Du hättest uns ins Vertrauen ziehen sollen«, sagte er. Er machte keine Anstalten, zu mir zu kommen oder sich abzuwenden; er sah mich nur an – wie jemand, der einen Fremden mustert. »Vielleicht hätte ich es euch sagen sollen. Ich weiß es nicht. Aber ich habe es euch jetzt gesagt.« »Es war schwer, solche Dinge auszusprechen. So etwas kostet großen Mut«, sagte Stretch anerkennend.
»Aber warum?« fragte Portteus, und alle Augen richteten sich auf ihn. »Was hat dich dazu getrieben, diese Beichte vor uns zu machen? Ich kann verstehen, daß du deine Familie einweihen wolltest, aber warum Stretch und mich?« »Weil ich euer Urteil schätze. Auf dem Rückritt hierher ließ ich mir einiges durch den Kopf gehen, und ich möchte wissen, was ihr von meinen Plänen haltet. Ich habe beschlossen, den Thron zu räumen und Delgrax die Herrschaft zu übergeben.« Mein Sohn schreckte überrascht auf, und ich gebot ihm mit einer entschiedenen Geste zu schweigen. »Keinen Widerspruch. Du bist bereit dafür, und du wirst ein besserer König sein, als ich es war. Nach meiner heutigen Handlungsweise, der Art, wie ich Dzik abgefertigt habe, sind künftige Verhandlungen zwischen Mazat und der Expedition unmöglich, solange ich König bin, und es könnte sein, daß wir sie eines Tages brauchen. Du, mein Sohn, wirst besser mit ihnen zurechtkommen.« »Niemals werde ich mich mit Schlächtern wie Dzik und den Expeditonsführern einlassen! Mazat wird seinen Weg allein machen«, erklärte Delgrax aufgebracht. »Du sprichst wie ein echter König«, sagte ich. »Mazat kann unter deiner Führung sorglos in die Zukunft blicken.«
»Du bist der König«, widersprach Delgrax und kam an meine Seite. »Und das wirst du sein, solange du lebst. Verlaß uns jetzt nicht, Vater.« »Was gibt dir das Gefühl, zurücktreten zu müssen?« fragte Portteus, der auch in emotionsgeladenen Situationen stets einen kühlen Kopf behielt. »Wenn ihr es unbedingt wissen müßt: der Grund ist, ich halte mich für ungeeignet, das Amt des Königs von Mazat weiterhin auszuüben. Seit der Schlacht mit den Piraten habe ich keine Waffe mehr in die Hand genommen und auch sonst niemand auf diesem Planet – bis heute. Zwanzig Jahre lang habe ich den Frieden aufrechterhalten und mir vorgemacht, ich könnte das auch weiterhin. Aber ich habe mich nicht geändert. Heute nachmittag war ich bereit, Dzik auf der Stelle zu töten. Wenn Stretch und Delgrax mich nicht zurückgehalten hätten – ich hätte ihn umgebracht. Ich habe irdisches Blut in den Adern, und an dieser Tatsache läßt sich nicht rütteln.« »Dein Blut ist auch in meinen Adern«, sagte Delgrax. »Aber du bist ein halber Mazatlaner, mein Sohn. Und du bist hier aufgewachsen, nicht in der Arena. Du bist nicht zum Berufsmörder ausgebildet worden. Das Volk deiner Mutter ist zivilisiert, und du schlägst ihm nach. Ich hingegen bin ein halber Wilder.« »Man kann die irdische Rasse wohl kaum als Wilde bezeichnen, Del«, wandte Portteus ein.
»Wirklich nicht? Alles Böse und alle Grausamkeit in dieser Galaxis stammt entweder direkt von der Erde oder wurde von ihrer Brut übernommen und zur Perfektion getrieben. Die Turniere der Tarquinier und der Skeggjatten – sie stammen von der Erde. Die Daltreskaner wurden erst zu Sklavenhändlern, nachdem sie sich mit irdischen Pionieren vermischten. Alle die verruchten kleinen planetarischen Tyrannen eifern Hitler nach oder Stalin, oder Hsaio oder Moran. Sogar die Piraten –« »Du siehst die Sache zu einseitig, Del«, warf Portteus ein. »Schließlich waren es die Menschen der Erde, die uns die Philosophie brachten, die Kunst, die Wissenschaft, die Gesetze – all die Merkmale einer Zivilisation.« »Ich kenn mich mit Geschichte aus, Doc. Einige Menschen versuchten gute Gesetze zu machen, und der Rest brach sie. Ein paar Menschen schufen Schönheit, und die andern zerstörten sie. Einige wenige suchten ihr Leben lang nach Mitteln, wie sie ihre Brüder daran hindern konnten, sich gegenseitig umzubringen, und wenn sie tot waren – und die meisten starben keines natürlichen Todes, sondern wurden von einer rasenden Menschenmenge oder einem Wahnsinnigen niedergemacht –, eigneten andere sich ihr Lebenswerk an und verdrehten es in eine Rechtfertigung für die Morde, die sie im Namen der Nächstenliebe oder der
Gerechtigkeit oder Gottes begingen. Ihre Wissenschaft war überragend, das ist mir klar; wir stehen staunend wie Kinder davor. Es wird Jahrhunderte dauern, ehe Mazat auch nur die einfachsten Geräte an Bord der Phoenix nachbauen kann. Aber selbst ihre Wissenschaft machten sie zu einem Instrument der Vernichtung. Denk an die Blutigen Jahrhunderte.« »Sie haben die Sterne erobert, Del«, sagte Portteus ehrfürchtig. »Nur, um sie zu besudeln«, konterte ich wütend. »Es ist kaum sechshundert Jahre her, daß die ersten Schiffe von der Erde starteten, und in dieser relativ kurzen Zeitspanne haben sie den Weltraum vergiftet. An zehntausend Welten haftet der Gestank nach Tod und Korruption altirdischer Prägung. Die Expedition tut nichts anderes als das, was während der Blutigen Jahrhunderte geschah, auf einem größeren Schlachtfeld fortzusetzen. Statt andere Erdenmenschen umzubringen, töten sie die Rinn; statt unschuldige Nationen der Erde zu verwüsten, zerstören sie unschuldige Sonnensysteme im All. Es ist dasselbe alte Lied, Doc, und ich gehöre mit zum Chor. Wenn die Expedition Mazat bedrohen würde, ich wäre bereit, sie allein zu bekämpfen und – wenn ich könnte – sie bis auf den letzten Mann niederzumachen. Ich bin nicht anders als sie, und Männer wie wir sollten nicht regieren.« »Du hast mehr als zwanzig Jahre gerecht regiert.
Du hast diesem Planet viel Gutes gebracht«, sagte Hata. »Bleibe. Der heutige Tag war eine Prüfung für dich, aber du hast sie bestanden.« Stretch stand auf und sagte ernst: »Königin Hata hat recht. Zweiundzwanzig Jahre gerechter Herrschaft können nicht durch einen Moment des Zorns zunichte gemacht werden. Du mußt bleiben.« »Aber es war nicht bloß ein Moment des Zorns. Versteht ihr nicht?« Ich sah sie der Reihe nach verzweifelt an, doch sie schienen nicht zu begreifen, was ich mit meinen wirren Worten auszudrücken versuchte. »Hört zu. Dieser Corey, der Pirat, mein Vater. Man hielt ihn für einen großen Mann, für einen Helden. Er war ein Held – er hätte König von hundert Planeten sein können, wenn er gewollt hätte – das sagte man mir. Er hatte eine Frau und einen Sohn, und er liebte sie wahrscheinlich ebenso sehr, wie ich meine Familie liebe. Und bedenkt, was aus ihm wurde. Er endete als Anführer einer Mörderbande. Er lachte, als er einen harmlosen alten Mann erschlug. Vielleicht bin ich ein guter König gewesen, aber ich war ebenso ein Corey. Ich weiß nicht, welcher der beiden ich wirklich bin, und ich möchte Mazat verlassen, bevor ich es herausfinde.« »Vielleicht bist du nichts anderes als Del Whitby, der Sohn dieses guten Menschen und seiner Frau von Gilead«, sagte Portteus.
»Das habe ich mir oft gewünscht.« Portteus, der meinen Einwand voraussah, sagte hastig: »Ich weiß natürlich, daß du nicht ihr leibliches Kind bist, aber du kannst auch nicht mit Bestimmtheit sagen, daß du Coreys Sohn bist. Du hast so lange daran geglaubt, daß du es für erwiesen hältst, aber in Wahrheit ist es höchst fragwürdig. Zugegeben, die Indizien sind überzeugend für jemand, der gern daran glauben möchte, aber sie ergeben keinen schlüssigen Beweis. Man weiß von Malellanen, die ebenso groß, ja noch größer waren als du, wenngleich das die Ausnahme ist. Deine Größe allein ist folglich kein Beweis dafür, daß du irdisches Blut in den Adern hast. Und deine Gesichtszüge und deine Hautfarbe sind die eines reinrassigen Malellanen. Und selbst wenn du mit Sicherheit wüßtest, daß Corey dein Vater ist – was ich stark bezweifle –, übersiehst du die Tatsache, Del, daß du von Rudstromiten großgezogen wurdest, einem frommen irdischen Volk, das schon vor Beginn der Blutigen Jahrhunderte auf jede Gewaltanwendung verzichtet hat. Dieser Einfluß muß sich bei dir niedergeschlagen haben.« »Das will ich nicht bestreiten. Aber er kann nicht das Erbe des Blutes auslöschen.« »Du könntest reinrassiger Malellane sein.« »Vielleicht. Aber die Malellanen waren kein kriegerisches Volk.« Portteus lächelte und schüttelte nach-
sichtig den Kopf. »Das ist eine unzulässige Verallgemeinerung, Del. Du selbst hast mir von einem Malellanen auf Tarquin erzählt, der so gut kämpfte, daß er die Freiheit gewann.« »Das stimmt.« Er hatte mich widerlegt, und ich geriet ins Wanken. »Trotzdem ... Wer immer ich bin, Doc, ich habe viele Menschen getötet, und heute war ich wieder bereit zu töten. Ob ich nun irdischer Abstammung bin oder nicht, auf alle Fälle bin ich den Erdenmenschen ähnlich genug, daß ich eine Gefahr für mein Volk darstelle. Ich möchte diesen Planet – diese Galaxis, wenn ich könnte – verlassen und ganz von vorn beginnen.« Portteus legte mir die Hand auf den Unterarm und sah mir fest in die Augen. »Dann warte, Del. Verlaß uns noch nicht. Warte ab und vertraue mir.« »Ja, warte noch, Vater«, sagte auch Delgrax. »Ich habe ein paar Ideen, wie wir mit der Expedition und auch den Rinn fertig werden können, aber ich brauche deinen Rat.« »Hör auf sie, Del. Bleibe bei uns«, sagte Hata. Stretch hob den Arm in einer Geste der Bejahung. Das Votum war einstimmig.
4
Über den letzten weiten Abgrund
Drei Jahre sind seit Dziks Besuch vergangen, und wir sind weder von Expeditionsschiffen noch von den Rinn belästigt worden. Auf Mazat ist eine neue Epoche angebrochen. Delgrax, Portteus und ich nahmen das Projekt in Angriff, auf einen Zusammenschluß der Planeten in unserem Sektor hinzuwirken, und dank der Anstrengungen meines Sohnes ist Mazat heute der Sitz der Planetarischen Liga. Wir haben sechs Mitglieder, und die Qattandri, unser jüngstes Mitglied, sind das zur Zeit vielleicht wichtigste Volk in der Galaxis. Sie pflegen seit nahezu zwanzig Jahren Kontakte mit den Rinn, und sie versichern uns, daß die Rinn verhandlungsbereit sind und auf einen dauerhaften Frieden in der Galaxis hinarbeiten möchten. Unter den Repräsentanten der Liga, die hier ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben, befinden sich der Älteste Dimbleby von Gilead und seine Familie. Seine jüngste Tochter hat einen nachhaltigen Eindruck bei Delgrax hinterlassen. Ich habe das Gefühl, daß Delgrax, sobald ein Friedensabkommen mit den Rinn erzielt ist und er wieder Zeit hat, sich seinem Privatleben zu widmen, an mich herantreten wird, um mit mir über die zukünftige Königin von Mazat zu sprechen.
Und er wird früher König werden, als er glaubt. Vor einigen Wochen platzte Portteus, ganz aufgeregt vor Begeisterung, bei mir herein und knallte einen Stapel Berechnungen auf den Tisch, die mich zwar sehr beeindruckten, aber völlig unverständlich waren. Nach langem Hin und Her brachte ich heraus, daß er einen fertigen Konstruktionsplan für einen baureifen, neuen Sternenantrieb, eine Abwandlung des Wroblewski-Antriebs, erarbeitet hatte. Er glaubt, dieser Antrieb wird einem Schiff den letzten großen Sprung über den Abgrund zwischen den Galaxien ermöglichen. Ich holte sämtliche Einwände hervor, die ich jemals gehört hatte, und Portteus hatte auf alles eine Antwort parat: das wissen wir nicht, weil es noch niemand versucht hat. Aber jetzt können wir es versuchen. So begann ich unauffällig eine Expedition für die erste lange Reise zwischen den Galaxien auszurüsten. Diese Fahrt wird sich von allen meinen bisherigen unterscheiden. Wir nehmen keine berufsmäßigen Mörder mit, keine Pistolenschützen, ja nicht einmal Waffen. Niemand bringt etwas anderes als Hoffnung mit auf die Reise. Hata fürchtete sich zuerst ein bißchen, dann wurde sie weniger ängstlich, und jetzt ist sie begeistert. Unsere Kinder werden auf Mazat bleiben. Sie brauchen keine neue Galaxis; sie haben hier
eine Zukunft. Dies ist eine Reise für Menschen, die ihre Fehler hinter sich lassen und einen Neubeginn machen wollen. Das Universum liegt nun griffbereit vor uns. Die Galaxien warten. Vielleicht können wir es diesmal richtig machen.
Nachwort Es ist nun vierzig Jahre her, seit das intergalaktische Raumschiff Zealous-der-Eiferer Mazat verließ mit unserer geliebten Königin Hata an Bord, einer Schar von Freiwilligen von den sechs Planeten der Planetarischen Liga, siebzig an der Zahl, und seinem Kommandanten, König Del I, gebürtiger Erlösung-ausder-Leere Whitby von Gilead, bekannt als Del Kometenfeuer-bei-Sonnenaufgang Deletriculus Blitzstoß Flinkfuß Raschmesser Dreischmetterer, zweimaliger Champion des Volkes von Tarquin VII, Befreier und Ehrwürdiger und Mächtiger Monarch von Mazat und Erster Reisender zu den Fernen Galaxien. Das Zepter über Mazat hält nun König Del II, der Enkel Del I und der Sohn von Delgrax, einem weisen und edlen König, dessen Herrschaft von tragisch kurzer Dauer war. König Del II kam in zartem Alter zum Thron. Während der ersten Jahre seiner Regentschaft erledigte ich die Staatsgeschäfte für ihn. Heute ist er ein Mann, und mein jüngster Sohn Solandel steht ihm als Erster Verteidiger des Planeten zur Seite. Solandel ist ein starker und treuer junger Mann. Möge ihm große Ehre beschieden sein. Auf Mazat hat sich vieles verändert seit dem Tag, an welchem Del und ich und unsere Kameraden die
Mazatlaner vom Joch der Raumpiraten befreiten. Der Marktplatz, auf dem wir kämpften, ist heute das Zentrum unserer Hauptstadt. In seiner Mitte befindet sich ein Brunnen, der von sieben Säulen umgeben ist. Rund um den Platz erheben sich hohe Gebäude. Überall sind Menschen. Die Aktivitäten der Planetarischen Liga auf Mazat und die aufblühende Raumschiffindustrie haben uns eine Einwanderungswelle beschert, und die Menschen sind sehr geschäftig. Der Liga gehören jetzt zwölf Planeten an, und sie ist das wichtigste Verbindungsglied zwischen den Rinn und der restlichen Galaxis. Auf Mazat gibt es heutzutage viel zu tun, doch ich überlasse meine Pflichten zunehmend meinen Kindern und wende mich in steigendem Maße der Meditation zu. Meine Jahre haben die gewöhnliche lixianische Lebensspanne längst überschritten. Meine Bewegungen sind langsam geworden, und in kühlen Nächten schmerzen meine alten Wunden. Es ist zu ertragen. Es kommt die Zeit auf mich zu, da ich alle meine Ehre um mich anhäufen und in jene letzte Meditation eintreten werde, die mich für immer mit dem Unendlichen vereinigen wird. Zehn meiner Frauen und sechzehn meiner Kinder sind vor mir gegangen; ich werde nicht einsam sein. Auch mein weiser und geliebter Freund Portteus hat sich mit dem Unendlichen vereinigt. Seit seinem Tod vor vier planetarischen
Jahren habe ich niemand mehr gehabt, mit dem ich debattieren konnte, und mein Leben ist öde geworden. Die heutigen Mazatlaner interessieren sich nicht für Gedankenspielereien. Sie sind ein pragmatisches Volk geworden. Meine Kinder beschäftigen sich mit Dingen, die ich nicht verstehe und auch nicht verstehen möchte. Ich zehre von der Vergangenheit. Ich frage mich oft, ob Del vor mir gegangen ist und mich nach meiner letzten Meditation begrüßen wird. Portteus und ich erörterten diesen Punkt häufig, und seiner Meinung nach werden wir Dels Gesellschaft für eine lange Zeitspanne missen. Er vertrat die Auffassung, die Besatzung der Zealous-der-Eiferer werde infolge des Zeitdilatations-Effekts ihren Bestimmungsort erreichen, ohne merklich gealtert zu sein. Ich teile seine Überzeugung nicht, hoffe aber, daß er recht behält. Del war ein tapferer Krieger, ein großer und ehrenhafter König, der von seinem Volk geliebt wurde, und ein echter Freund. Er war ein viel besserer Mensch, als er von sich selbst glaubte. Es betrübte mich sehr, ihn an der Überzeugung leiden zu sehen, sein Blut-Vater wäre ein Mörder gewesen. Die Lixianer haben ein Sprichwort: »Ehre schafft ihre eigene Abstammung«, und diese einfache Wahrheit gilt für König Del I mehr als für jeden Lixianer, Mensch oder sonst eine Kreatur in der Galaxis.
Ich danke ihm für diese letzte Ehre, das Privileg, sein Chronist sein zu dürfen. Ich habe sämtliche Ereignisse in der Form wiedergegeben, wie Del sie niederschrieb, auch jene Passagen, die ein sehr unvorteilhaftes Licht auf mich und mein Volk werfen. Del hat in seinen Aufzeichnungen nichts zu beschönigen versucht, und für mich wäre ein solches Unterfangen in höchstem Maße unehrenhaft. Ich lasse das Manuskript, wie es ist, damit es in jenem Geist verstanden wird, in dem es geschrieben wurde. Möge König Del I, mein Herrscher und Freund, für lange Zeit in ehrenvoller Erinnerung bleiben. Er war der beste Mensch, den ich je kannte. 2. 6. 2693 GSK gezeichnet Der Königliche Chronist von Mazat.