Matthias Becher
Karl der Grosse München 1999 Verlag C.H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe 2120
Einleitung Wie kein...
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Matthias Becher
Karl der Grosse München 1999 Verlag C.H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe 2120
Einleitung Wie kein anderer mittelalterlicher Herrscher ist Karl der Große auch heute noch einem breiteren Publikum bekannt. Mit seiner Person verbindet man fast automatisch die Vorstellung von historischer Größe. In anderen europäischen Sprachen sind Name und Beiname sogar zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen: Charlemagne oder Carolomagno. Ohne Zweifel war er ein bedeutender Herrscher, wie ist es aber um seine Persönlichkeit bestellt? Was wissen wir über den Charakter und die menschlichen Qualitäten des „großen Karl“? Anders als bei anderen Herrschern ist für die Beantwortung dieser Frage die Quellenlage für Karl vergleichsweise gut. Besitzen wir doch aus der Feder eines engen Vertrauten eine Lebensbeschreibung Karls, die nahezu zeitgenössisch ist. Der aus einem ostfränkischen Adelsgeschlecht stammende und umfassend gebildete Einhard war Ende des 8. Jahrhunderts an Karls Hof gekommen und hatte rasch Karriere gemacht. Seine Vita Karoli magni verfaßte er wohl wenige Jahre nach dem Tod des Kaisers. Allgemein beschränkten sich mittelalterliche Beobachter eines Monarchen zumeist darauf, ihn als einen idealen Herrscher darzustellen, der einem allgemeingültigen christlichen Tugendkatalog vorbildlich entsprach. Der individuelle Charakter war dagegen uninteressant. Einhard verzichtete zwar auf die Hervorhebung der christlichen Tugenden, betonte aber auch seinerseits allgemeingültige, statische Eigenschaften: Karl habe etwa „alle Herrscher seiner Zeit an Weisheit und Seelengröße“ überragt. Seine Ausführungen über das Privat– und Familienleben des Kaisers leitete Einhard mit einem Verweis auf dessen Beständigkeit in Glück und Unglück ein. Die Feindschaft der byzantinischen Kaiser habe er ebenfalls mit großer Geduld und Seelengröße ertragen. Daneben zeichnet Einhard aber auch ein äußerst lebendiges Bild Karls des Großen: Er war von breitem und kräftigem Körperbau, hervorragender Größe, die jedoch das richtige Maß nicht überschritt – denn seine Länge betrug, wie man weiß, sieben seiner Füße –, das Oberteil seines Kopfes war rund, seine Augen sehr groß und lebhaft, die Nase ging etwas über das Mittelmaß, er hatte schönes graues Haar und ein freundliches, heiteres Gesicht. So bot seine Gestalt im Stehen wie im Sitzen eine höchst würdige und stattliche Erscheinung, wiewohl sein Nacken feist und zu kurz, sein Bauch etwas hervorzutreten schien: das Ebenmaß der andern Glieder verdeckte das. Er hatte einen festen Gang, eine durchaus männliche Haltung des Körpers und eine helle Stimme, die jedoch zu der ganzen Gestalt nicht recht passen wollte; seine Gesundheit war gut, außer daß er in den vier Jahren vor seinem Tode häufig von Fiebern ergriffen wurde und zuletzt auch mit einem Fuße hinkte. Aber auch damals folgte er mehr seinem eigenen Gutdünken als dem Rat der Ärzte, die ihm beinahe verhaßt waren, weil sie ihm rieten, dem Braten, den er zu speisen pflegte, zu entsagen und sich an gesottenes Fleisch zu halten. Beständig übte er sich im Reiten und Jagen, wie es die Sitte seines Volkes war. (...) Sehr angenehm waren ihm auch die Dämpfe warmer Quellen; er übte sich fleißig im Schwimmen und verstand das so trefflich, daß man ihm keinen
darin vorziehen konnte. Darum erbaute er sich auch zu Aachen einen Königspalast und wohnte in seinen letzten Lebensjahren bis zu seinem Tode beständig darin. Und er lud nicht bloß seine Söhne, sondern auch die Vornehmen und seine Freunde, nicht selten auch sein Gefolge und seine Leibwächter zum Bade, so daß bisweilen hundert und mehr Menschen mit ihm badeten.1 So groß wird das Gedränge vielleicht doch nicht gewesen sein, da Einhard zu Übertreibungen neigte, oft zugunsten seines Helden und zu dessen Idealisierung. Einhard lehnte sich zudem in seinen Formulierungen eng an die Viten, die Lebensbeschreibungen, der römischen Kaiser aus der Feder des antiken Autors Sueton an. Nur wenige Details hat er frei formuliert. Seine Angabe über Karls Körpergröße wurde durch Messungen an dessen Skelett in etwa bestätigt; der Kaiser war tatsächlich über 1,80 Meter groß, entsprechend sieben Fuß. Immerhin erwähnte er kleine äußerliche Makel des großen Herrschers: die Riesennase, den kurzen Hals, den Hängebauch und die Fistelstimme, so daß vielleicht auch anderen Angaben zu trauen ist. Den Charakter des Herrschers thematisiert unser Gewährsmann nicht eigens, doch lassen sich manche Schwächen zumindest erahnen – Eigensinn, die Neigung zur Völlerei und der Drang, ständig im Mittelpunkt einer großen Gesellschaft stehen zu müssen. Das spiegelt sich in Einhards Feststellung, daß Karl leicht Freundschaften geschlossen habe, also ein sehr offener Mensch gewesen sei. Die Vorliebe für gutes Essen muß sehr eindrücklich gewesen sein, denn Einhard betonte auch an anderer Stelle den Appetit des Kaisers: „Im Essen jedoch konnte er nicht so enthaltsam sein, vielmehr klagte er häufig, das Fasten schade seinem Körper“. Trunkenheit jedoch habe er stets verabscheut, nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei anderen. Auch andere persönliche Züge läßt Einhard aufscheinen, so etwa eine gewisse Redseligkeit: „Reich und überströmend floß ihm die Rede vom Munde, und was er wollte, konnte er leicht und klar ausdrücken. (... ) Er war so beredt, daß er sogar geschwätzig erscheinen konnte“. Dieser nach außen gewandte Charakter zeigte sich besonders deutlich bei traurigen Anlässen. Karl habe den Tod seiner Söhne und einer Tochter „mit weitaus weniger Fassung (ertragen), als man bei der bewundernswerten Größe seines Geistes erwartet hätte. Seine Vaterliebe war so groß, und er vergoß viele Tränen. Auch damals, als er vom Tode des römischen Papstes Hadrian erfuhr, den er von allen seinen Freunden am meisten geliebt hatte, weinte er so sehr, als habe er einen Bruder oder seinen liebsten Sohn verloren“. Die Liebe zu seinen Töchtern sei so groß gewesen, daß er ihnen nicht gestattet habe zu heiraten. Das Bild eines geselligen Patriarchen entsteht vor unseren Augen, der in persönlichen Angelegenheiten auch bescheiden sein konnte; so habe Karl große Gastmähler nur an hohen Festtagen veranstaltet, fast immer einfache Kleidung getragen und nur bei feierlichen Gelegenheiten entsprechende Gewänder oder gar fremdländische Roben angelegt. Weiter pflegte Karl laut Einhard einen unregelmäßigen Lebenswandel, der stark an den des ersten römischen Kaisers Augustus erinnert: Während er Übersetzung nach R. Rau, Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Teil 1, (Freiherr vom Stein–Gedächtnisausgabe 5), 1955, S. 192 u. 194. 1
im Sommer nach dem Mittagessen zwei bis drei Stunden ruhte, unterbrach er nachts „den Schlaf vier– oder fünfmal, indem er nicht bloß aufwachte, sondern auch aufstand. Während er Schuhe und Kleider anzog, ließ er nicht allein seine Freunde vor, sondern wenn der Pfalzgraf von einem Rechtsstreite sprach, der nicht ohne seinen Ausspruch entschieden werden könne, so hieß er die streitenden Parteien sofort hereinführen und sprach nach Untersuchung des Falls das Urteil, als säße er auf dem Richterstuhl; und das war nicht das einzige, sondern was er für diesen Tag von Geschäften zu tun und einem seiner Diener aufzutragen gab, das besorgte er zu dieser Stunde“. Des Nachts soll Karl auch das Schreiben geübt haben, allerdings mit wenig Erfolg. Schreiben und Lesen bildeten im Mittelalter keine Einheit; so ist es umstritten, wie weit Karls Lesekünste reichten. Seine Wißbegierde trieb ihn jedenfalls dazu, sich mit den Wissenschaften seiner Zeit zu beschäftigen. Selbst für die Astronomie und den Lauf der Gestirne interessierte er sich, und bei Tisch ließ er sich gar aus den Werken des heiligen Augustin vorlesen. Ob er allerdings sehr tief in die höhere Bildung eindrang, muß dahingestellt bleiben. Zur Tischlektüre gehörten immerhin laut Einhard auch „die Geschichten und Taten der Alten“, und auch Musik wurde zu Gehör gebracht. Mit beidem konnte der Herrscher vermutlich mehr anfangen als mit jenen hochgelehrten Traktaten. Trotz der eindrücklichen Beschreibung seines Äußeren und mancher Charakterzüge Karls wird es nicht möglich sein, eine Biographie über ihn zu schreiben, die modernen Anforderungen genügt; zu sehr ist Einhards Darstellung bestimmten Stereotypen verhaftet, und zudem fehlen persönliche Dokumente, die über Karls Denken und Fühlen Auskunft geben könnten. Erhalten haben sich lediglich Quellen, die seine Handlungen einigermaßen ausführlich schildern und daher eine politische Biographie zulassen. Doch auch mit diesem reduzierten Anspruch stößt der moderne Historiker bald an seine Grenzen: Über seine Motive schweigen sich die Quellen meist aus. Daher ist etwa auch die Frage nach seinem Erfolg letztlich nicht eindeutig zu beantworten. Sicherlich war etwa die Eroberung Sachsens ein Gewinn für das Frankenreich; aber war es ein Erfolg angesichts der Opfer und angesichts der Tatsache, daß Karl hierfür rund 30 Jahre benötigte? So ist dieses Bändchen wie jede andere moderne Biographie eines früh– und hochmittelalterlichen Herrschers eine individuelle Interpretation, die auf einer jahrelangen Beschäftigung mit den Quellen und der Literatur beruht.
1. Der Höhepunkt einer Regierung: Die Kaiserkrönung Karls am Weihnachtstag des Jahres 800 Das Fest der Geburt Jesu im Jahr 800: Am Morgen des Weihnachtstages betrat Karl der Große St. Peter in Rom, um an der dritten Weihnachtsmesse teilzunehmen, die der Papst dort nach altem Brauch feierte. Liegend betete man die Oratio. Als Karl sich erhob, nahm Leo III. eine Krone und setzte sie dem Frankenkönig aufs Haupt. Den anwesenden Römern war die Bedeutung dieser Handlung sogleich bewußt, denn sie akklamierten Karl als Kaiser, indem sie dreimal unter Anrufung der Heiligen riefen: Carolo, piissimo Augusto, a Deo coronato, magno et pacifico imperatore, vita et victoria! – „Karl, dem allergnädigsten Augustus, dem von Gott gekrönten großen und Frieden
stiftenden Kaiser, Leben und Sieg!“ Nach altem Herkommen ehrte der Papst den neuen Kaiser mit einem Fußfall. Die Ereignisse des Weihnachtstages 800 waren spektakulär und hatten weitreichende Folgen. Damals wurde das mittelalterliche Kaisertum gegründet, das in Form des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bis zum Jahr 1806 fortbestehen sollte. Zugleich wurde dieses Kaisertum eng an das Papsttum gebunden, obschon Karl dies keinesfalls so beabsichtigt hatte. Auch den Zeitgenossen muß die Bedeutung dieses Aktes bewußt gewesen sein; denn mit ihm forderte Karl Byzanz heraus, das sich als bruchlose Fortsetzung des alten Imperium Romanum verstand. Bislang war der in Konstantinopel residierende oströmische Kaiser auch im Westen Europas der allgemein anerkannte Inhaber der höchsten weltlichen Gewalt gewesen. Kein fränkischer, langobardischer oder gotischer König hatte jemals ernsthaft diesen Vorrang bestritten. Auch für die Päpste war der Kaiser bis zu Leos Vorgänger Hadrian in theologischen Angelegenheiten der wichtigste Partner geblieben, während der Frankenkönig den weltlichen Schutz des Papstes und der Stadt Rom übernehmen durfte. Karl blieb ohne den Kaisertitel bei aller realen Macht zweitrangig und mußte hinter den alten höchsten Repräsentanten der geistlichen und der weltlichen Gewalt, dem Papst und dem Kaiser im Osten, zurückstehen. Indes standen Unruhen in der Ewigen Stadt am Anfang einer Entwicklung, die schließlich zur Kaiserkrönung Karls führen sollte. Im Jahr 795 war Papst Hadrian gestorben. Sein Nachfolger Leo III. entstammte im Gegensatz zu seinem Vorgänger nicht den adligen Führungsschichten der Stadt Rom, sondern verdankte seinen Aufstieg ausschließlich dem Dienst in der römischen Kirche. Schon bald kam es zu Spannungen zwischen dem neuen Papst und der Aristokratie, über die uns die zeitgenössischen Quellen im Unklaren lassen, doch dürfte es um die Verteilung von Macht und Einfluß innerhalb der Stadt Rom und in ihrem Umland gegangen sein. An der Spitze der Unzufriedenen standen Paschalis, ein Neffe Hadrians, und Campulus, beide hohe päpstliche Verwaltungsbeamte, die bereits Hadrian gedient hatten. Am Markustag, dem 25. April, des Jahres 799 nutzten die Aufrührer eine Prozession durch Rom, um einen Umsturz herbeizuführen. Der Papst wurde ergriffen und mißhandelt, ja man wollte ihn sogar blenden und ihm die Zunge herausschneiden. Solche Verstümmelungen dienten dem Ziel, das Opfer auf Dauer amtsunfähig zu machen. Tatsächlich wurde dem Papst wohl auch in der Kirche des Klosters San Silvestro in Capite ein förmlicher Absetzungsprozeß gemacht. Anschließend wurde er zunächst dort, dann im Kloster San Erasmo in Monte Celio inhaftiert. Doch die Verschwörer wagten nicht, einen neuen Papst einzusetzen, ohne zuvor den Frankenkönig Karl eingeschaltet zu haben, der Ober– und Mittelitalien machtpolitisch beherrschte. Er hatte Leo schließlich förmlich anerkannt, der ihm sogar anläßlich seiner Wahl die Schlüssel zum Grab des hl. Petrus und das Banner der Stadt Rom übersandt hatte und so Karls Rolle als Schutzherr Roms unübersehbar herausgestellt hatte; ihn durften die Umstürzler nicht übergehen, wenn sie mit ihrem Vorhaben Erfolg haben wollten. Paschalis und Campulus mußten die notwendigen Konsultationen nicht fürchten, repräsentierten sie doch auf Grund ihrer Nähe zu dem von Karl geschätzten Papst Hadrian eine Gruppierung, die am fränkischen Hof
vermutlich wohlgelitten war. In der Tat erschienen im Frühsommer fränkische Abgesandte in der Ewigen Stadt. Freilich gestaltete sich das weitere Geschehen nicht so, wie es sich die Verschwörer erhofft hatten. Es kam vermutlich zu Spannungen zwischen ihnen und den Vertretern Karls. Zudem hatte deren Anwesenheit, möglicherweise sogar ihr Eingreifen, Leos Befreiung ermöglicht. Die Situation war derart kompliziert geworden, daß nur Karl selbst die Angelegenheit entscheiden konnte. Der Papst und möglicherweise auch eine Abordnung seiner Gegner wurden daher nach Norden geleitet, um ihre Standpunkte am fränkischen Hof zu verteidigen. König Karl hatte trotz der Nachricht vom Umsturz seinen für 799 anstehenden Zug nach Sachsen nicht aufgegeben, obwohl er zeitweise geplant hatte, in Rom zu erscheinen. Stattdessen überquerte er von Aachen aus den Rhein und verbrachte den Sommer in der Pfalz Paderborn, während sein Sohn Karl weiter zur Elbe zog und die aufständischen Sachsen bekriegte. Solange der Papst und seine Feinde unterwegs waren, wurde am fränkischen Hof über das weitere Vorgehen intensiv beraten, wie wir aus den Briefen Alkuins, des Leiters der Hofschule Karls, erfahren. Alkuin machte sich einen Rechtssatz der berüchtigten „Symmachianischen Fälschungen“ aus dem Anfang des 6. Jahrhunderts zu eigen: Prima sedes a nemine iudicatur, „der erste Sitz (gemeint ist der Papst) wird von niemandem gerichtet“. Am Königshof standen dagegen zeitweise Leo selbst und seine Stellung als Papst zur Debatte. Ankläger – wohl Abgesandte der römischen Verschwörer – traten auf, die Leo Ehebruch und Meineid vorwarfen. Die Vorwürfe waren derart gravierend und brisant, daß Alkuin einen Brief darüber verbrannte, „damit nicht etwa durch eine Nachlässigkeit des Briefbewahrers ein Ärgernis entstehen könne“. Doch schließlich setzten sich die ,Verteidiger’ des Papstes durch. Zudem wird man davon ausgehen können, daß Leo auf jede erdenkliche Weise versuchte, Karl auf seine Seite zu ziehen. Zu bieten hatte er – das Kaisertum. Am Ende des 8. Jahrhunderts war in der päpstlichen Kanzlei das Constitutum Constantini entstanden, die sogenannte Konstantinische Schenkung. Der römische Kaiser Konstantin der Große (306–337) soll einst der Legende nach aus Dankbarkeit für seine Heilung vom Aussatz dem römischen Bischof Silvester folgende Zugeständnisse gemacht haben: Er erkannte den Vorrang Roms über alle Kirchen an, verlieh dem römischen Oberhirten die kaiserlichen Abzeichen, schenkte ihm den Lateranpalast und außerdem die Stadt Rom sowie Italien und die abendländischen Provinzen. Anschließend habe sich der Kaiser in die nach ihm benannte Stadt am Bosporus zurückgezogen und sich mit der Herrschaft über den Osten begnügt. Wenn der Papst tatsächlich diese Vorstellungen teilte, dann war es nicht weit zu dem Gedanken, daß ihm bei der Vergabe des Kaisertums ein gewichtiges Mitspracherecht einzuräumen sei. Auch Karl muß dies nicht von vornherein abgelehnt haben, hatte sich doch bereits sein Vater Pippin an Rom gewandt, als er seinen merowingischen Vorgänger stürzen wollte, um selbst die Königswürde zu erwerben. Mochten auch Pippin und Karl dem Willen des Papstes nur dann folgen, wenn es ihnen politisch opportun schien, und ansonsten selbstherrlich ihr Reich und dessen Kirchen regieren – zur Legitimierung neuer Würden war ihnen der Nachfolger des hl. Petrus stets willkommen. Schließlich war der Papst weitgehend auf sein großes
geistliches Ansehen beschränkt und von daher keine Gefahr für die reale Macht der Karolinger. Seine Hinwendung zu den Franken machte Leo III. in Rom selbst symbolisch deutlich. Das Triclinium des Lateran und damit den wichtigsten päpstlichen Repräsentationssaal ließ er wohl gerade in dieser Zeit mit bemerkenswerten Mosaiken schmücken. In der Apsis war die Aussendung der Apostel durch Christus zu sehen. Die Stirnwand links daneben zeigte vermutlich den thronenden Christus, der dem aus seiner Sicht rechts neben ihm knienden hl. Petrus als Zeichen seiner Würde das Pallium (eine Stola) und dem links neben ihm knienden Kaiser Konstantin dem Großen das Labarum (die Kaiserstandarte) verlieh. Entsprechend war auf der rechten Seite der Apsis der thronende hl. Petrus abgebildet, der dem Papst Leo das Pallium, dem König Karl ein vexillum, eine Fahnenlanze, überreichte. Die Inschrift darunter lautete: „Heiliger Petrus gib Papst Leo das Leben und König Karl den Sieg.“ Peter Classen hat die Mosaiken folgendermaßen gedeutet: „Hier stellte man wie den Papst zum heiligen Petrus, so den Frankenkönig mit Krone und Schwert in Parallele zu Konstantin, dem Begründer des christlichen Kaisertums, man ließ ihn das Zeichen des weltlichen Schutzes vom heiligen Petrus empfangen. Das war kein Ausdruck staatsrechtlicher Hoheit, wohl aber eine Proklamation, daß der Schutz – d. h. der unmittelbare, von Gott und dem heiligen Petrus herrührende Schutz für die Römische Kirche, den Papst und die Stadt Rom selbst nicht den Nachfolgern Konstantins im Osten, sondern dem König der Franken aufgegeben war ... Rom brachte mit diesem Bild in aller Deutlichkeit zum Ausdruck, daß es sich von Konstantinopel ab– und den Franken zugewandt hatte, daß Karl an die Stelle Konstantins getreten war.“ Dagegen zeigt der weitere Fortgang der Ereignisse, wie es um die realen Machtverhältnisse bestellt war. Karl bereinigte die Vorwürfe gegen den Papst nicht sofort, sondern behandelte sie gleichsam als Faustpfand. Zwar begleiteten in seinem Auftrag zahlreiche fränkische Bischöfe den Papst noch im Herbst 799 nach Rom und führten dort auch eine Untersuchung durch – bezeichnenderweise im Triclinium des Lateran –, doch das Ergebnis war aus Sicht des Papstes enttäuschend: Die Verschwörer wurden lediglich ins fränkische Exil geschickt und die Vorwürfe gegen ihn nicht endgültig ausgeräumt. Nach wie vor war Leo von der Sympathie und der Hilfe Karls abhängig. Karl selbst war von Paderborn nach Aachen zurückgekehrt. Anfang des Jahres 800 entließ er eine Gesandtschaft des Patriarchen von Jerusalem, die ihm Reliquien vom hl. Grab überbracht hatte. Als Begleitung gab er ihr den Priester Zacharias mit, der kurz vor der Kaiserkrönung in Rom erschien und seinem König Bericht erstattete. Zacharias hat also möglicherweise schon bei Antritt seiner Reise gewußt, daß sich Karl am Ende des Jahres in Rom aufhalten würde. Auch Karls Aktivitäten während des Jahres 800 weisen darauf hin, daß er große Ziele verfolgte. Im Frühjahr unternahm er eine Rundreise durch sein Reich. In Tours traf er sich nicht nur mit Alkuin, sondern hielt auch eine Art Familienkonferenz mit seinen drei Söhnen Karl, Pippin und Ludwig ab. Ausdrücklich vermerkt der anonyme Biograph Ludwigs, daß das Treffen der Planung des Italienzuges gedient habe.
Eine leichte Verzögerung mag eingetreten sein, weil Karls Gemahlin Liutgard am 4. Juni in Tours starb. Anfang August hielt Karl in Mainz eine Versammlung ab und brach dann nach Italien auf. In Ravenna legte er eine Pause von sieben Tagen ein und entsandte seinen Sohn Pippin in das unabhängige Fürstentum Benevent, um dort Beute zu machen. Er selbst zog nach Rom und wurde vom Papst und den Römern am 23. November in Mentana, zwölf Meilen vor Rom, feierlich empfangen. Nach einem gemeinsamen Essen zog der Papst dem König voraus nach Rom und schickte ihm zu seinem Einzug am nächsten Tag die Fahnen der Stadt entgegen. Er ließ „an den entsprechenden Stellen Scharen von Fremden und Bürgern“ Aufstellung nehmen, die Karl mit Lobgesängen willkommen hießen, während er selbst zusammen mit der Geistlichkeit und den Bischöfen Karl auf den Stufen von St. Peter empfing. Bereits dieses Zeremoniell war eines Kaisers würdig, denn einem Kaiser zog der Papst üblicherweise bis zum sechsten Meilenstein vor der Stadt entgegen, nun sogar bis zum zwölften. Karl selbst war bislang in seiner Eigenschaft als patricius Romanorum, als Schutzherr Roms, am ersten Meilenstein und nicht vom Papst selber empfangen worden. Alle Beteiligten müssen sich über diese Veränderung und ihre Bedeutung im klaren gewesen sein. Doch Karl wurde in Rom nicht nur wie ein Kaiser empfangen, er verhielt sich auch schon vor seiner Krönung gerade so wie der höchste Inhaber der weltlichen Gewalt auf Erden. Eine Woche nach seiner Ankunft rief er die anwesenden geistlichen und weltlichen Großen zu einer Synode zusammen, und das auf dem Boden der alten Kaiserstadt Rom am Sitz des Papstes. Auch der wichtigste Gegenstand der Konzilsverhandlungen war eines Kaisers würdig: Verhandelt wurden die Vorwürfe gegen Papst Leo III., die ja – möglicherweise gemäß den Wünschen Karls – noch immer nicht vollständig aus der Welt geschafft waren. Diese Verhandlungen zogen sich wochenlang hin. Anscheinend konnte die versammelte Elite des Frankenreiches und Roms das wichtigste Problem nicht lösen: die Klärung der gegen den Papst erhobenen Vorwürfe. Niemand wollte ihre Richtigkeit beweisen oder gar als Ankläger gegen den Papst auftreten. Auf der anderen Seite mußten diese Anschuldigungen entkräftet werden, wenn in Rom wieder Ruhe einkehren sollte. Schließlich bequemte sich Leo zu einem Reinigungseid. Am 23. Dezember bestieg er den Ambo – die Kanzel – der Peterskirche und erklärte feierlich, während er die Evangelien hochhielt, daß die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht zuträfen. Damit waren die Anklagen auf jeden Fall erledigt, denn ein solcher, korrekt und ohne formalen Fehler gesprochener Eid bewies für die Zeitgenossen unzweifelhaft die Richtigkeit der beschworenen Aussage. Die Erleichterung der Kirchenversammlung war so groß, daß sie sogleich einen Dankgottesdienst abhielt. Das Verfahren kehrte sich nun jedoch nicht etwa gegen die römischen Verschwörer, deren Anschuldigungen Leo mit seinem Eid als falsch erwiesen hatte, sondern die Kirchenversammlung behandelte ein anderes Thema. Nach dem Bericht der Annalen aus der bedeutenden Abtei Lorsch beschloß das Konzil im Anschluß an den Reinigungseid des Papstes mit diesem als Wortführer, „daß man Karl, den König der Franken, Kaiser nennen müsse“. Aufschlußreich sind die Motive, die der Annalist für diesen Beschluß nennt:
Zunächst sei das nomen imperatoris, der Kaisername oder –titel, bei den Byzantinern vakant, da dort seit 797 eine Frau herrschte. Dagegen hätte Gott „Rom, wo die Cäsaren immer zu residieren gepflegt hatten, und die übrigen Kaiserresidenzen in Italien, Gallien und Germanien ... in Karls Gewalt gegeben“. Den Bitten der Versammlung habe Karl sich nicht verschließen können und am Weihnachtstag den Kaisertitel zusammen mit der Weihe durch den Papst empfangen. Als einzige zeitgenössische Quelle sprechen die Lorscher Annalen die weltpolitischen Folgen der Kaisererhebung an, die doch eine Herausforderung an das Byzantinische Reich darstellte. Indem Römer und Franken der Kaiserin Irene wegen ihres Geschlechts die Herrschaftsfähigkeit absprachen, schufen sie die argumentative Voraussetzung für die Erhebung Karls zum Kaiser. Mit dem Hinweis auf das nomen imperatoris schloß sich der Autor einem verbreiteten Argumentationsmuster an, das letztlich auf die Kirchenlehrer Augustinus (354–430) und Isidor von Sevilla (560–636) zurückgeht und von der modernen Forschung als Nomen– bzw. Namentheorie bezeichnet wird. Demnach mußte ein Herrscher die mit seinem Titel verbundenen Pflichten auch erfüllen, wenn er diesen Titel, diesen Namen zu Recht führen wollte. Tat er es nicht, war das ein Grund für die Erhebung eines neuen Königs oder Kaisers. In diesem Sinne wiesen die Annalen auch auf die Tatsache hin, daß Karl weite Teile des ehemaligen Römerreiches beherrschte und deshalb der wahre Nachfolger der antiken Cäsaren sei. Ein weiterer Grund, den der Annalist aber nur als Folge der Kaiserkrönung anspricht, war die Bereinigung des Zerwürfnisses innerhalb der römischen Kirche: Gemeint war der Aufstand gegen den Papst. Selbst wenn Karl bereits zuvor als König und patricius die Macht gehabt hatte, gegen die Verschwörer gerichtlich vorzugehen, so besaß er als Kaiser unzweifelhaft die Berechtigung dazu. Die ungenauen Bemerkungen der Lorscher Annalisten werden von den übrigen Quellen nahezu einhellig konkretisiert. Wenige Tage nach seiner Erhebung zum Kaiser stellte Karl die Verschwörer vor Gericht und verurteilte sie nach römischem Recht zum Tode. Der Papst trat jedoch für sie ein und erreichte, daß sie begnadigt und lediglich in die Verbannung geschickt wurden, so die offiziöse fränkische Version, während die päpstliche Seite bezeichnenderweise die Intervention des Papstes verschweigt. Eventuell besaßen nur die Franken ein Interesse an dieser Begnadigung. Vielleicht sollten Paschalis und Campulus auf Grund ihrer verwandtschaftlichen Nähe zu dem von Karl geschätzten Papst Hadrian geschont werden. Immerhin überstanden sie wohlbehalten das fränkische Exil und konnten nach Leos Tod im Jahr 816 nach Rom zurückkehren. Vieles deutet also darauf hin, daß Karl selbst die treibende Kraft bei seiner Erhebung zum Kaiser gewesen ist. Auf der anderen Seite steht das Zeugnis Einhards, seines Biographen: „Er kam also nach Rom und brauchte daselbst den ganzen Winter, um die Kirche aus der überaus großen Zerrüttung, in die sie verfallen war, zu reißen. Damals war es, daß er die Benennung Kaiser und Augustus empfing; das war ihm zuerst so zuwider, daß er versicherte, er würde an jenem Tage, obgleich es ein hohes Fest war, die Kirche nicht betreten haben, wenn er des Papstes Absicht hätte vorherwissen können“. Doch Einhard schrieb fast eine Generation nach diesem Ereignis. Manche Entwicklung nach 800 mag ihn zu dieser Einschätzung gebracht haben.
Zudem könnte der an antiken Bildungsidealen geschulte Einhard eine wichtige, nach den Lehren der Rhetorik und dem Vorbild antiker römischer Cäsaren gebotene Verhaltensweise seines Helden vermißt haben: die mit publikumswirksamer Geste der Bescheidenheit vorgebrachte Ablehnung der ihm angetragenen hohen Würde. Vielleicht hat sich Einhard also nur bemüßigt gefühlt, dieses Manko im nachhinein auszugleichen. Auf jeden Fall war Karl eine Zeit lang über die künftige Benennung seines Reiches unsicher. Doch schon seit Mai 801 führte Karl einen Titel, der den Ansprüchen seiner wichtigsten Völker gerecht wurde: Karolus serenissimus augustus a Deo coronatus magnus, pacificus imperator, Romanum gubernans Imperium, qui et per misericordiam Dei rex Francorum atque Langobardorum, „Karl, allergnädigster, erhabener, von Gott gekrönter, großer friedebringender Kaiser, der das Römische Reich regiert und der durch Gottes Barmherzigkeit auch König der Franken und Langobarden (ist)“. Das Attentat auf den Papst im Frühsommer 799 hat den Aufstieg Karls zur Kaiserwürde beschleunigt. Doch auch ohne die sich durch die Schwäche des Papsttums bietende Gelegenheit hätte er wahrscheinlich eine Aufwertung seiner Position gegenüber dem alten, oströmischen Kaiserreich angestrebt. Wie auch immer, das Kaisertum bildete nun die symbolische Klammer für sein riesiges Reich, das er in zahlreichen Kriegen zum größten Reich in Westeuropa seit den Tagen des Imperium Romanum erweitert hatte. Ob dies bei seinen militärischen Unternehmungen in den heutigen Staaten Italien, Spanien, Deutschland, Österreich und Ungarn tatsächlich auch sein übergeordnetes Ziel war, muß auf Grund mangelnder Aussagen der Quellen zu seinen Absichten dahingestellt bleiben. Seine innenpolitischen Maßnahmen, die einer Stärkung der herrscherlichen Stellung dienen sollten, lassen allerdings ebenfalls das Vorbild des untergegangenen bzw. im Osten noch existierenden Römerreiches vermuten. Die Kaiserkrönung am Weihnachtstage des Jahres 800 symbolisiert aber auf jeden Fall den Höhepunkt seiner Regierung, ja der gesamten fränkischen Geschichte überhaupt.
2. Vom Untergang des Römischen Reiches im Westen bis zu Karls Herrschaftsantritt 768: Eine kurze Geschichte des Frankenreiches Schon als Karl 768 die Herrschaft antrat, war das Frankenreich die wichtigste Macht in Europa. Noch drei Jahrhunderte zuvor, als im Jahre 476 das Römische Reich im Westen Europas untergegangen war, konnte niemand ahnen, daß das Frankenreich sein Erbe antreten würde. Vollzogen war diese Entwicklung mit der Kaiserkrönung Karls des Großen. Angekündigt hatte sie sich schon lange vorher, denn bereits seit der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts war das Frankenreich die Vormacht auf dem Boden des ehemaligen Imperium Romanum. Dennoch war es aus der Rückschau ein langer, von etlichen Rückschlägen geprägter Weg, bis die Franken endgültig als Erben Roms etabliert waren. Die Franken werden in römischen Quellen seit der Mitte des 3. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den großen germanischen Invasionen erwähnt, die zwischen den fünfziger und den siebziger Jahren das Imperium
Romanum erschütterten. Der Name „Franken“ – wohl die „Mutigen, Kühnen, Ungestümen“ – war vermutlich ein von außen auf verschiedene, zwischen Rhein und Weser siedelnde Völkerschaften übertragener Sammelbegriff. Aus diesen formierte kriegerische Gefolgschaften drangen in das Römische Reich ein, um Beute zu machen und militärischen Ruhm zu erlangen. Sie wurden entweder von den Römern vernichtet oder aber als Wehrbauern, als Laeten, vor allem in Nordgallien angesiedelt, manche auch als Soldaten für das römische Heer rekrutiert. Besonders seit der Mitte des 4. Jahrhunderts wurden fränkische oder andere germanische Gruppen zu bestimmten Bedingungen in Gallien aufgenommen und zu militärdienstpflichtigen Untertanen des Imperium gemacht. Die Integration der Franken in das Imperium Romanum ging so weit, daß etliche von ihnen Spitzenpositionen im Reichsheer bekleideten. Nach der Mitte des 5. Jahrhunderts gab der Zusammenbruch der römischen Reichsgewalt in Gallien den Franken Gelegenheit zu einer weiträumigen Expansion in Nordgallien. Köln und Trier fielen in ihre Hände. Ein Teilstamm der Franken eroberte unter der Führung seines Königs Chlodio damals das Gebiet von Cambrai und drang bis zur Somme vor. Nach späterer, sagenhafter Überlieferung beginnt mit Chlodio bzw. seinem Sohn Merowech die Reihe der merowingischen Könige, die ihre Herkunft auf die Götter zurückführten. Zudem traten die frühen Merowinger wie andere Germanenkönige als Vertreter der römischen Staatsgewalt auf und legitimierten so ihre Herrschaft über die gallo–römische Bevölkerung. 482 betrat Merowechs Enkel Chlodwig die politische Bühne. Er unterwarf zunächst die römischen Restherrschaften im Norden Galliens, insbesondere die Stadt Soissons. Damit fielen auch die noch funktionsfähigen Reste römischer Staatlichkeit in seine Hand: Staatsland, Münzwesen, Steuerverwaltung und – noch wichtiger – die Reste des römischen Heerwesens, wie Waffenfabriken und Garnisonen. 496/97 traf Chlodwig eine außerordentlich folgenreiche Entscheidung: Er brach mit den heidnischen Traditionen seines Volkes und trat zum Christentum über. Er wählte die katholische Form der neuen Religion, der auch die gallo–römische Bevölkerung anhing. Damit schuf er die wichtigste Voraussetzung für das Verschmelzen seiner Franken mit den Romanen, der großen Mehrheit in seinem Reich. Das Frankenreich Chlodwigs unterschied sich in diesem Punkt entscheidend von den anderen germanischen Großreichen auf ehemals römischem Boden. Die Goten, Burgunder und Vandalen waren zwar ebenfalls Christen geworden, doch folgten sie wenigstens zunächst noch der arianischen, nicht der katholischen Lehre. Chlodwig wurde wegen seines Übertritts zum Christentum schon bald als „neuer Konstantin“ verehrt. Seine Entscheidung für den Katholizismus begründete letztlich die Überlegenheit der fränkischen Reichsbildung gegenüber allen anderen germanischen Herrschaftsgebilden auf römischem Boden. In den letzten Jahren seiner Herrschaft dehnte Chlodwig das Reich weiter aus und besiegte spätestens im Jahr 506 die Alemannen endgültig. Der fränkische Einfluß erstreckte sich nun über den Oberrhein bis hin zur Donau. 507 schlug er die Westgoten unter ihrem König Alarich II. bei Vouillé im Gebiet von Poitiers und eroberte ein Jahr später dessen Hauptstadt Toulouse. In diese Zeit dürfte auch das dauerhafte Ausschalten der übrigen
fränkischen (Klein–) Könige fallen. Chlodwig war damit der König aller Franken. Seine Erfolge wurden selbst in Konstantinopel zur Kenntnis genommen. Der oströmische Kaiser Anastasius I. sanktionierte Chlodwigs Herrschaft, indem er ihn 508 in Tours durch eine Gesandtschaft zum Ehrenkonsul erheben und ihm die Insignien königlicher Würde (Purpurtunika, Mantel und Diadem) überbringen ließ. Diese Anerkennung lenkte den Herrschaftsstil Chlodwigs gleichsam in imperiale Bahnen. Wohl in Nachahmung der römischen Kaiser gab er sich als Gesetzgeber und ließ 508 das bis dahin allein mündlich tradierte Recht seines Volkes als Lex Salica aufzeichnen. In dieser Tradition hielt er 511 auch ein erstes fränkisches Reichskonzil in Orléans ab, bei dem der fränkische König und die überwiegend der römischen Oberschicht angehörenden Bischöfe Galliens erstmals eng zusammenarbeiteten. Chlodwig starb 511 im Alter von etwa 46 Jahren. Sein Reich, das sich vom Rhein bis an die Pyrenäen erstreckte, wurde unter seinen vier Söhnen geteilt. Einer von ihnen starb nur wenige Jahre später, und so kam es zu einer Dreiteilung des Reiches. Die Expansionskraft der Franken war vorerst ungebrochen. Um 530 gewannen sie das Thüringerreich hinzu. 532 unterlagen die Burgunder, und ihr Reich wurde zwei Jahre später zwischen Chlodwigs Söhnen geteilt. 537 traten die von Byzanz angegriffenen Ostgoten die Provence ab und erkauften sich so fränkische Waffenhilfe. Die Franken erlangten dadurch dauerhaft Zugang zum Mittelmeer, dem zentralen Wirtschaftsraum der damaligen Zeit. Diese Erfolge stärkten das fränkische Selbstbewußtsein. Theudebert († 548), ein Enkel Chlodwigs, imitierte demonstrativ kaiserliche Herrschaftsformen und intervenierte seit 539 mehrfach in Italien. Nördlich der Alpen dehnte er sein Reich bis hin nach Pannonien aus. Stolz wies er den oströmischen Kaiser Justinian (527–565), der Italien nur nach jahrzehntelangen Kämpfen unterwerfen konnte, auf diese Erfolge hin. Der Machtentfaltung nach außen entsprach die Stellung der merowingischen Könige im Innern. Personell beruhte ihre Macht vor allem auf der Verfügungsgewalt über große militärische Gefolgschaften, deren Mitglieder ihnen Dienst und Treue gelobt hatten. Daneben galten die Könige als Garanten der Rechtsordnung und des äußeren und inneren Friedens. So traten auch einige der Nachfolger Chlodwigs als Gesetzgeber hervor und ergänzten die Lex Salica um etliche Bestimmungen. Auf Grund der großen Zahl der Gallo–Romanen waren die Überreste der römischen Staatlichkeit von zentraler Bedeutung für die Stellung der Merowinger im Innern ihres Reiches. Die materiellen Grundlagen ihrer Herrschaft bestanden im wesentlichen aus den riesigen Landgütern des ehemaligen römischen Fiskus. Sie beerbten hier die römischen Kaiser und deren Beamte und erhoben in weiten Teilen Galliens die römischen Steuern und Zölle, wodurch sie sich erhebliche Geldeinnahmen verschafften. Das Herrschaftszentrum des Reiches war der Königshof, der ebenfalls nach römischem Vorbild organisiert war. Die Amtsträger führten den Titel eines comes. So war der comes stabuli für das gesamte Transportwesen zuständig. Daneben gab es die Ämter des thesaurarius, des Schatzmeisters, und des cubicularius, des Kämmerers. Die königliche Kanzlei wurde von Referendaren geleitet, die nach Bedarf auch weitere Aufgaben übernehmen konnten.
Schließlich ist das Amt des maior domus, des Hausmeiers, zu nennen. Wie der Name schon sagt, verwaltete er ursprünglich das königliche Haus. In der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts gewannen diese Amtsträger kontinuierlich an Machtfülle, da oft minderjährige Könige an die Regierung kamen. Die faktische Kontrolle über solche Herrscher führte schließlich dazu, daß die Hausmeier die mächtigsten Amtsträger des gesamten Reiches wurden. Der königliche Hof hielt sich einerseits in bedeutenden Städten auf, blieb andererseits aber auch wochenlang in ländlichen Pfalzen rund um diese Residenzen. Hier wie dort dienten öffentliche Gebäude aus der Römerzeit als Herrschaftssitze. Die wichtigsten Königsstädte waren im Osten Reims und Metz, im Westen Paris, Soissons und Rouen und in Burgund zunächst Orléans, dann Chalon–sur–Saône. Die regionale Verwaltung des Großreiches beruhte im wesentlichen auf spätantiken Grundlagen, wenngleich die ehemalige römische Provinzeinteilung keine Rolle mehr spielte. Die nächste Verwaltungseinheit darunter waren die civitates, die Städte mit ihrem Umland. Hier amtierte der comes, ein Graf, als ständiger Repräsentant des Königs. Er war zuständig für das Gerichtswesen sowie für die Militär– und Zivilverwaltung. Nach diesem Vorbild wurden in den wenig urbanisierten Räumen Nordgalliens ebenfalls Grafen eingesetzt, deren Verwaltungsbezirke allerdings pagi, Gaue, hießen. In allen Teilen des Reiches konnten mehrere Grafen einem dux, einem Herzog, unterstellt werden; ein solcher Herzog übte dann vor allem die höchste militärische Gewalt aus. Östlich des Rheins und in Teilen Südgalliens und Burgunds wurden diese Dukate zu Dauereinrichtungen und damit zu bedeutenden Machtzentren. Besonderes Gewicht kam den Herzogtümern zu, wenn mit ihrer Hilfe Völker organisiert wurden, die einstmals selbständig gewesen waren wie die Alemannen, Thüringer oder Bayern. Die civitates bewahrten in der Regel auch ihre ökonomischen Funktionen. Zum einen hatte sich hier eine gewerbliche Produktion erhalten, zum anderen existierte auch weiterhin ein Markt für die zur Versorgung der Städte notwendigen Lebensmittel. Die agrarische Produktion wurde nicht nur von den Latifundien der gallo–römischen Aristokratie bestimmt, die dank ihrer zahlreichen Sklaven eine spezialisierte Anbauweise betreiben konnte, sondern es gab daneben auch Kleinbauern, die teils abhängig, teils unabhängig von großen Grundbesitzern waren. Diese Strukturen waren nördlich einer Linie Le Mans – Paris – Meaux zusammengebrochen. Hier wirtschafteten römische Kleinbauern, die von den Höfen des Königs sowie von geistlichen und weltlichen Großen abhängig waren. Die Franken selbst waren in der Hauptsache kleine, unabhängige Bauern; nur wenige von ihnen gehörten zur Schicht der weltlichen Großgrundbesitzer. Sie siedelten in kleinen Dörfern und nützten nur die besseren Böden, so daß weite Gebiete Ost– und Nordgalliens seit dem 5. Jahrhundert unkultiviert blieben. Nur an wenigen Orten bestand ein spezialisiertes Handwerk fort. In der Regel wurden die Dinge des täglichen Bedarfs auf den Bauernhöfen selbst gefertigt. Diese Rahmenbedingungen führten zu einer starken Reduzierung der Geldwirtschaft. Die Sozialstrukturen des Merowingerreiches waren äußerst heterogen. In der alten Francia, dem fränkischen Kernland, existierte dem Zeugnis der Lex
Salica zufolge eine breite, bäuerlich wirtschaftende Schicht von ingenui, Freien. Sie waren berechtigt, Waffen zu tragen, und konnten sich selbständig vor Gericht vertreten. Ihre lokalen Probleme regelten sie im Verband benachbarter dörflicher Siedlungen. Ihr Wergeld – also jene Buße, die vom Täter für die Tötung eines Freien an dessen Verwandte zu zahlen war – betrug 200 Schilling. Nur eingeschränkt nahmen die von Freien abhängigen Liten, Halbfreie, am öffentlichen Leben teil. Wie die Römer waren sie durch ein Wergeld von 100 Schillingen geschützt. Nicht zu unterschätzen ist die Zahl der Sklaven, die nach frühmittelalterlicher Rechtsauffassung Tieren und Sachen näher standen als Menschen. Ein fränkischer Adel wird in der Lex Salica nicht erwähnt. Dennoch kannten die Franken eine durch Geburt privilegierte Aristokratie. Die Angehörigen dieser Schicht konnten sich kraft ihres Reichtums an Land und Leuten wie die Könige mit militärischen Gefolgschaften umgeben und erlangten erhebliches politisches Gewicht. Südlich der Loire konnten die alten gallorömischen Adelsfamilien, die Senatoren, ihren politischen, sozialen und wirtschaftlichen Vorrang überwiegend zumindest bis in das 7. Jahrhundert bewahren. Die Mittelpunkte des adligen Lebens waren die Königshöfe der verschiedenen gleichzeitig herrschenden Merowinger. Die Väter beteiligten sich in verschiedenen Funktionen und Ämtern an der Regierung, während die Söhne erzogen und auf ihre spätere Rolle vorbereitet wurden. Der Königsdienst bot aber auch einfachen Freien und sogar manchen Unfreien die Möglichkeit zu einem raschen sozialen Aufstieg, genauso wie Unzuverlässigkeit oder gar Ungehorsam manchem adligen Amtsträger zum Verhängnis wurde und zum sozialen Abstieg seiner Familie führen konnte. Die gallische Kirche hatte außer im äußersten Norden und teilweise im Osten den Untergang des Imperium Romanum und die Errichtung des fränkischen Großreiches weitgehend unbeschadet überstanden. Wie überall im Imperium war sie nach den spätantiken Verwaltungseinheiten organisiert. Eine civitas im Sinne von Stadt nebst Umland war daher in der Regel identisch mit dem Bistum, das vom jeweiligen Bischof gleichsam im monarchischen Stil geleitet wurde, und die Provinz mit der Kirchenprovinz, an deren Spitze ein Metropolit stand. Dieser war an den Bischofserhebungen beteiligt und leitete die Provinzialsynoden. In Gallien gab es im 6. Jahrhundert elf Metropolitanverbände und 128 Bistümer. Die Bedeutung der Metropoliten sank, als seit dem 6. Jahrhundert der Einfluß der Könige auf die Kirchenpolitik wuchs. Die Bischöfe beaufsichtigten alle Kirchen, kirchlichen Institutionen, kirchlichen Güter und die Armenfürsorge. Schon seit der Spätantike beteiligten sie sich auch vermehrt an der weltlichen Verwaltung ihrer civitas. Hinzu kommt, daß die Bischöfe vielfach der senatorischen Oberschicht angehörten. Vor allem in Südgallien zogen die Bischöfe so viele weltliche Aufgaben an sich, daß man zu Recht von „Bischofsherrschaften“ spricht. Die Folge war, daß die Könige bald Kandidaten ihres Vertrauens zu Bischöfen machten und sich um die kanonische Form der Wahl durch Klerus und Volk kaum kümmerten. Sie berücksichtigten auch weiterhin den senatorischen, also gallo–römischen Adel, doch im Laufe der Zeit interessierten sich auch fränkische Aristokraten für eine kirchliche Karriere. Die Bindung der Kirche an die Merowinger zeigte sich vor allem in den zahlreichen fränkischen Synoden seit dem bereits
erwähnten Konzil von Orléans 511, auf denen Fragen des Rechts, der Verwaltung und des Kultes geregelt wurden. Die Orientierung auf Rom ging dagegen nicht über die Verehrung des hl. Petrus hinaus. Genealogische Zufälle führten unter dem letzten überlebenden Sohn Chlodwigs, Chlothar I., zu einer kurzzeitigen Wiedervereinigung des Frankenreiches. Als er 561 starb, hinterließ er wie sein Vater vier Söhne. Wieder wurde das Reich entsprechend geteilt, und wieder wurde aufgrund des frühen Todes eines der Brüder aus der Vier– eine Dreiteilung, die vergleichsweise lange Bestand haben sollte. Die damalige Grenzziehung war daher die Grundlage der sich nun ausbildenden Teilreiche Austrasien (im Osten) mit der Hauptstadt Reims, Neustrien (im Westen) mit der Hauptstadt Paris und Burgund mit der Hauptstadt Orléans. Die blutigen Kämpfe zwischen den Söhnen Chlothars und ihren Nachfahren stürzten das Frankenreich bis 613 in einen praktisch ununterbrochenen Bruderkrieg. Die miteinander rivalisierenden Könige waren auf die Unterstützung des Adels angewiesen, weshalb dieser als der eigentliche Sieger der Auseinandersetzung anzusehen ist. Da die einzelnen Adelsgruppen sich im Zuge der Kämpfe immer stärker auf eines der genannten Teilreiche konzentrierten, war deren Stabilisierung eine weitere Folge der Auseinandersetzungen innerhalb der merowingischen Dynastie. Im Jahr 613 übernahm Chlothar II., ein Enkel Chlothars I., nach dem Sieg über seine rivalisierenden Vettern die alleinige Herrschaft über das Frankenreich. Mit seinem Namen ist der Aufstieg der beiden karolingischen Stammväter verbunden: Arnulf, der den König 613 nach Austrasien gerufen hatte, stieg zum Bischof der austrasischen Hauptstadt Metz auf, während der mit ihm gemeinsam agierende Pippin I. zunächst im Hintergrund blieb. Chlothar regierte bevorzugt in Paris, das – so wie schon einmal zu Zeiten Chlothars I. – wieder zur Hauptstadt des Gesamtreiches wurde. An der Eigenständigkeit der Teilreiche konnte und wollte der König jedoch nichts ändern. So kam Chlothar dem austrasischen Adel entgegen, indem er 623 seinen ältesten Sohn Dagobert in Austrasien als König einsetzte. Als Berater standen diesem der zum Hausmeier aufgestiegene Pippin und Bischof Arnulf von Metz zur Seite. Nach Chlothars Tod 629 wurde Dagobert Alleinherrscher und residierte wie sein Vater hauptsächlich in Paris. Auch er kam dem Eigenbewußtsein des austrasischen Adels entgegen, indem er 633 seinen zweijährigen Sohn Sigibert III. zum (Unter–) König im östlichen Teilreich erhob. Mit Dagoberts Tod 639 begann der Abstieg der merowingischen Dynastie, weil seine meist minderjährigen oder heranwachsenden Nachfolger kaum noch Einfluß auf die Politik nehmen konnten. Statt der rois fainéants, der untätigen Könige, bestimmten jetzt Adelsgruppen die Geschicke des Reiches. Ihre führenden Repräsentanten strebten nach dem Amt des Hausmeiers, das ihnen die Kontrolle über die handlungsunfähigen Könige garantierte, die gleichwohl als Legitimationsträger unverzichtbar waren. Diese heftigen Auseinandersetzungen innerhalb des Fränkischen Reiches bewirkten, daß sich die Spaltung in Neustrien und Austrasien vertiefte. Die so geschwächten Franken konnten die aquitanischen und rechtsrheinischen Gebiete nicht mehr wirksam kontrollieren. Es entstanden dort nahezu unabhängige Herzogtümer.
Auf Dagobert folgten seine minderjährigen Söhne Sigibert III. in Austrasien und Chlodwig II. in Neustroburgund. Nach einem Machtkampf mit rivalisierenden Adligen konnte sich Pippins Sohn Grimoald in Austrasien als Hausmeier durchsetzen. Sigibert starb bereits im Jahr 656. Grimoald ließ nun dessen kleinen Sohn Dagobert ins irische Exil bringen und erhob Childebert „den Adoptierten“ zum König. Dieser war vielleicht der Sohn Grimoalds, der von Sigibert adoptiert worden war, möglicherweise aber auch der zweite leibliche Sohn Sigiberts, dessen sich Grimoald bediente, um seine Stellung in Austrasien weiter zu festigen. Erneut kam es zu inneraustrasischen Auseinandersetzungen. Schließlich stellten sich auch die Neustrier unter ihrer Königin Balthild, der Witwe Chlodwigs II., sowie ihrem Hausmeier Ebroin gegen Grimoald und beseitigten ihn. König Childebert wurde 662 durch Childerich II., einen Sohn Balthilds, ersetzt. Bereits um 675 konnte freilich Pippin der Mittlere, der Neffe und Erbe Grimoalds, wieder nach der Macht in Austrasien greifen. Pippins große Stunde kam, als ihm Auseinandersetzungen innerhalb des neustrischen Adels den Weg nach Westen ebneten. 687 besiegte er den neustrischen Hausmeier Berchar in der Schlacht bei Tertry an der Somme. Die Ermordung seines Rivalen ein Jahr später machte Pippin zum faktischen Alleinherrscher im Frankenreich. Er selbst zog sich nach Austrasien zurück und ließ den in Neustrien residierenden, aber über das Gesamtreich herrschenden König Theuderich III. von seinen Gewährsleuten überwachen. Die Machtkämpfe im fränkischen Kernland gaben freilich den Herzögen der fränkischen Randregionen wie Aquitanien, Alemannien, Bayern oder Thüringen Gelegenheit, ihre faktische Unabhängigkeit zu untermauern. Lediglich in Alemannien konnte Pippin Erbstreitigkeiten nach dem Tod Herzog Gottfrieds zu mehreren kriegerischen Einfällen zwischen 709 und 712 nutzen und dort seinen Einfluß verstärken. Entscheidend für Pippins Erfolg war nicht zuletzt seine Ehe mit Plectrud, die einem mächtigen austrasischen Adelsgeschlecht entstammte. Plectruds Söhnen Drogo und Grimoald gab Pippin schon früh verantwortungsvolle Aufgaben in Burgund bzw. Neustrien und bestimmte sie damit erkennbar zu seinen politischen Erben. Hinter ihnen mußte Karl, der Sohn Pippins aus einer Verbindung mit der ebenfalls aus einflußreicher Familie stammenden Chalpaida, zunächst zurückstehen. Doch Drogo starb bereits 708, und Grimoald wurde 714 ermordet. Die nun fällige Nachfolgeregelung wurde maßgeblich von Plectrud mitbestimmt, die als Regentin für ihre heranwachsenden Enkel die Regierung führen wollte. Als Pippin im Dezember 714 starb, wandten sich jedoch zahlreiche Adelsgruppen gegen Plectruds Herrschaft. Entscheidend war, daß deren neustrische Gegner ihren Enkel Theudoald 715 bei Compiègne schlugen und den Merowingerkönig unter ihre Kontrolle bringen konnten. Wie früher verlief die Frontlinie zwischen Austrasiern und Neustriern. Letztere drangen 716 unter ihrem Hausmeier Raganfred bis zur Maas und sogar bis Köln vor. Nun verließen viele Austrasier die Witwe Pippins des Mittleren und unterstellten sich dessen Sohn Karl, der seit dem 9. Jahrhundert wegen seiner kriegerischen Energie den Beinamen martellus, der Hammer, erhielt. Dieser unterwarf 717/718 die Neustrier und brachte den Merowingerkönig in seine Gewalt, der dann als Marionette seine Herrschaft legitimierte.
Karl Martell regierte das Frankenreich mit eiserner Hand und hielt seine Gegner machtvoll nieder. So unterwarf er auch zahlreiche civitates in Burgund, die sich unter ihren einheimischen Bischöfen nahezu verselbständigt hatten. Auch Teile des Kirchengutes fielen in seine Hand. Im 9. Jahrhundert, lange nach seinem Tod, als die politischen Hintergründe seiner Herrschaftspraxis zum großen Teil vergessen waren, wurde er in kirchlichen Kreisen heftig dafür kritisiert. Tatsächlich trieb er eine recht kluge Kirchenpolitik und lavierte geschickt zwischen den verschiedenen Gruppen innerhalb der fränkischen Kirche. Er unterstützte zwar die Reformer angelsächsischer Herkunft um Willibrord und Bonifatius, setzte aber seine guten Beziehungen zu den arrivierten und teilweise sehr verweltlichten Bischöfen wie Milo von Trier nicht aufs Spiel. Gerade Milo aber wurde von Bonifatius, der seit 719 als Missionsbischof unter Karls Schutz stand, nachgerade verteufelt. Karl gab sich jedoch mit seinen Erfolgen im Innern nicht zufrieden und suchte der Zentralgewalt auch in den Randgebieten des Frankenreiches wieder Geltung zu verschaffen. Es gelang ihm, die Herrschaften von Herzögen in Thüringen, dem Elsaß und in Alemannien zu beseitigen und Friesland zu unterwerfen. In Bayern konnte er Streitigkeiten innerhalb der herzoglichen Familie zu mehreren Einfällen nützen. 725 brachte er von einem dieser Züge die bayerische Prinzessin Swanahild mit ins Frankenreich, die der verwitwete Hausmeier dann zur Frau nahm. 736 konnte er mit Odilo einen von ihm abhängigen und mit Swanahild eng verwandten Herzog in Bayern einsetzen. Zur Absicherung seiner alemannischen und bayerischen Politik unterhielt Karl gute Beziehungen zu dem Langobardenkönig Liutprand (712–744); dieses Bündnis kam ihm darüber hinaus auch im Kampf gegen die Araber zustatten. Nachdem die Araber 711 das spanische Westgotenreich erobert hatten, überschritten sie immer häufiger die Pyrenäen und bedrohten Aquitanien. 732 besiegten sie den aquitanischen Herzog Eudo, der ihnen bis dahin erfolgreich Widerstand geleistet hatte, und drangen weiter nach Norden vor. Auf Bitten Eudos stellte sich Karl Martell den Eindringlingen entgegen. Zwischen Tours und Poitiers schlug er sie zurück. Die Zeitgenossen feierten diesen Sieg als Triumph des Christentums über die Heiden. Gleichwohl ist es übertrieben, von einer Rettung des Abendlandes zu sprechen, auch wenn Karl den Vormarsch der Sarazenen, wie man im Westen die Muslime nannte, zum Stehen brachte. Immerhin konnte Karl drei Jahre später Aquitanien seiner Oberherrschaft unterwerfen. Er manifestierte den fränkischen Einfluß im südlichen Burgund und der Provence gegen einheimische und islamische Kräfte. Auf ein Eingreifen in Italien verzichtete er jedoch. Hier wurde der Papst in Rom ständig von den Langobarden bedrängt, die die Ewige Stadt unter ihre Kontrolle bringen wollten. Als Gregor III. Karl 739/740 um Hilfe bat und ihm die Schutzherrschaft über Rom anbot, zog dieser sein Bündnis mit König Liutprand den päpstlichen Versprechungen vor. Schließlich gehörte die Stadt Rom damals noch zum byzantinischen Staatsgebiet; ein Eingreifen Karls hätte daher den oströmischen Kaiser zumindest irritieren können. Immerhin zeigt das Angebot des Papstes, daß Karls Erfolge dem Frankenreich seine frühere Geltung wiederverschafft hatten. Entsprechend
stark war die Stellung des Hausmeiers auch im Innern. Von Erfolgen verwöhnt, regierte Karl Martell das Frankenreich am Ende seines Lebens königsgleich. Der von ihm eingesetzte Merowinger Theuderich IV. stand vollkommen unter seiner Kontrolle, und Karl verzichtete nach dessen Tod 737 sogar darauf, einen neuen König erheben zu lassen. Im Gegensatz zu den Hausmeiern vor ihm benötigte er keinen Schattenkönig mehr zur Legitimation seiner Stellung. Nach innen und außen war er der oberste Repräsentant des Frankenreiches, auch ohne den Königstitel. Strebte Karl nun nach dem Königtum für sich oder wenigstens für seine Söhne? Er sandte seinen zweiten Sohn Pippin ins Langobardenreich und ließ ihn von König Liutprand adoptieren. Ob der so zum Königssohn gewordene Pippin später einmal höhere Aufgaben übernehmen sollte, läßt sich nicht belegen. Wie auch immer, Karl hatte seine Familie fest an der Spitze des Frankenreiches etabliert und dieses zugleich erfolgreich aus den Krisen der zweiten Hälfte des 7. und der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts geführt. Freilich führte Karls Erbregelung zu neuen Auseinandersetzungen. Er hatte seine älteren Söhne aus erster Ehe, Karlmann und Pippin, sowie Grifo, den Sohn Swanahilds, zur Nachfolge bestimmt. Das Reich sollte unter ihnen geteilt werden, doch beide Seiten beanspruchten nach Karls Tod im Oktober 741 mehr, als ihnen zugedacht war. Grifo und seine Mutter suchten Unterstützung bei Odilo von Bayern, der um diese Zeit mit Swanahilds Hilfe Karl Martells Tochter aus erster Ehe, Hiltrud, zur Frau nahm. Doch Karlmann und Pippin reagierten rasch, besiegten Halbbruder und Stiefmutter noch 741 und setzten beide gefangen. 742 teilten sie dann das Reich erneut. Beide erhielten Teile von Neustrien und Austrasien, wohl um den alten Gegensatz zwischen den beiden Reichsteilen zu überwinden. Auch sonst hielten die Brüder zusammen, denn Alemannen, Bayern und Aquitanier hatten sich gegen ihre Herrschaft erhoben. Die Lage war derart gefährlich geworden, daß Karlmann und Pippin 743 wieder einen Merowinger namens Childerich III. zum König erhoben, um ihre Legitimationsbasis zu stärken. Noch im selben Jahr konnten sie ihren gefährlichsten Gegenspieler Odilo von Bayern besiegen. Bis 745 brachten sie auch ihre übrigen Gegner wieder unter ihre Botmäßigkeit. In kirchlichen Belangen forcierten Karlmann und Pippin die Zusammenarbeit mit Bonifatius, der sich für eine enge Bindung der fränkischen Kirche an Rom einsetzte. Anfang der vierziger Jahre des 8. Jahrhunderts gründete er mit päpstlicher Zustimmung drei neue Bistümer in seinem thüringisch–hessischen Missionsgebiet: Erfurt, Würzburg und Büraburg. Damals berief er zusammen mit den beiden Hausmeiern auch mehrere fränkische Synoden ein. Auf der Tagesordnung standen die Rückerstattung der den Kirchen und Klöstern entfremdeten Güter bzw. deren Entschädigung in Form von Abgaben. Außerdem sollte die bischöfliche Kontrolle über ihre jeweilige Diözese verbessert und die kirchliche Hierarchie durch die (Wieder–) Einführung des erzbischöflichen Amtes stärker mit Rom verbunden werden. Der Erzbischof trat im Westen der Christenheit als Leiter einer Kirchenprovinz an die Stelle des Metropoliten. Das Zeichen seiner Würde war das Pallium, das aber nur der Papst verleihen konnte. Auf diesem Wege wurde eine engere Bindung der verschiedenen Landeskirchen
an Rom erreicht. Entgegen Bonifatius’ Absichten wurden außer ihm keine weiteren Erzbischöfe ernannt, und sein Nachfolger in dieser Würde, Chrodegang von Metz, verstand sich eher als Helfer der fränkischen Zentralgewalt denn als Beauftragter des Papstes. Er und die übrigen reformfreundlichen Kräfte führten aber das Werk des Bonifatius nach dessen Tod 754 erfolgreich weiter. Karlmann und Pippin hatten auch bei der Kirchenreform brüderlich zusammengearbeitet, wenngleich Karlmann hier offensiver vorging als sein Bruder und sein Verhältnis zu Bonifatius besser war. Was sich in diesem Bereich bereits andeutete, wurde schließlich auch allgemein spürbar: Karlmann und Pippin begannen, unterschiedliche Interessen zu verfolgen. Die Entfremdung der Brüder gipfelte 747 in Karlmanns Abdankung. Aus religiösen Motiven, so hieß es jedenfalls wenig später in der Umgebung Pippins, zog sich Karlmann von der Herrschaft zurück und setzte seinen ältesten Sohn Drogo als Erben und Nachfolger ein. Karlmann ging zunächst als Kleriker nach Rom und wurde wenig später Mönch in Monte Cassino. Pippins Ambitionen wuchsen ebenso wie sein Rückhalt bei den eigenen Anhängern, als ihm seine Gemahlin Bertrada nach vierjähriger Ehe am 2. April 748 einen Sohn gebar, der nach seinem Großvater Karl genannt wurde. Gegen Pippin konnte sich Karlmanns Sohn Drogo nicht lange als Teilhaber der Macht an der Herrschaft halten. Auch Grifo, den Pippin zwar freigelassen, der sich dann aber gegen seinen Halbbruder gewandt hatte, unterlag diesem militärisch, hielt aber seine Ansprüche auf eine Beteiligung an der Herrschaft aufrecht. Ähnlich dürften sich auch Drogo und seine jüngeren Brüder verhalten haben. Die Lage im Frankenreich war also noch ungeklärt, als Pippin seine berühmte Anfrage an Papst Zacharias richtete, „wegen der Könige im Frankenreich, die damals keine Macht als Könige hatten, ob das gut sei oder nicht“. Der Nachfolger des hl. Petrus benötigte damals gerade wieder Bundesgenossen gegen die Langobarden und gab die gewünschte, verneinende Antwort. Ermutigt durch diese Stellungnahme ließ sich Pippin 751 in Soissons zum König erheben. Zunächst akklamierten und huldigten ihm die Franken. Dann wurde Pippin mit heiligem Öl nach alttestamentarischem Vorbild gesalbt, um sein Königtum „von Gottes Gnaden“ symbolisch zu legitimieren. Der Merowinger Childerich wurde abgesetzt, zum Mönch geschoren und in einem Kloster inhaftiert. Damit war der fast ein Jahrhundert dauernde Prozeß der Ablösung der Merowinger durch die Karolinger abgeschlossen. Mit Pippin regierte wieder ein Herrscher das Frankenreich, der nicht nur dem Namen, sondern auch der Sache nach König war. Als der neue Papst Stephan II. weiterhin vom Langobardenkönig Aistulf schwer bedrängt wurde, lud Pippin ihn 753 in sein Reich ein. Damit nutzte er die Gelegenheit, das Ansehen seines noch jungen Königtums durch eine Begegnung mit dem Stellvertreter des hl. Petrus weiter zu steigern. Stephan folgte der Einladung, und Pippin sandte ihm seinen ältesten Sohn Karl entgegen, damals noch nicht einmal sechs Jahre alt. Am 6. Januar 754 empfing er selbst den Papst feierlich in der Pfalz Ponthion. Aistulf reagierte, indem er Karlmann ins Frankenreich entsandte, um gegen das drohende päpstlich–fränkische Bündnis zu opponieren. Auch der Gedanke an die
Enterbung seiner Söhne mag den ehemaligen Hausmeier zu diesem Schritt bewogen haben. Doch obwohl etliche fränkische Große sich tatsächlich gegen Pippin erhoben, konnte dieser sich durchsetzen. Karlmann wurde gefangengenommen, und beinahe zur gleichen Zeit wurden auch seine Söhne endgültig ausgeschaltet und zwangsweise zu Mönchen geschoren. Karlmann, der ja bereits Mönch war, erkrankte wenig später und starb im August 754 in Vienne in der Obhut seiner Schwägerin Bertrada. Wohl im selben Jahr fiel auch Grifo im Kampf gegen Grenztruppen seines Bruders. Er hatte versucht, die Alpen zu überqueren, um bei den Langobarden Zuflucht zu finden. Fast auf einen Schlag war Pippin damit von den Konkurrenten innerhalb der eigenen Familie befreit. Doch er strebte nach einer zusätzlichen Absicherung seines Königtums und der Rechte seiner Nachkommen: Ende Juli 754 ließ er sich erneut und diesmal vom Papst höchstpersönlich zusammen mit seinen Söhnen Karl und Karlmann (geb. 751) salben. Zudem ordnete Stephan II. damals möglicherweise an, daß die Franken künftig keinen König mehr aus einem anderen Geschlecht erheben sollten. Das richtete sich gegen die Merowinger, aber auch gegen alle Verwandten aus den Seitenlinien der regierenden Karolinger. In diesem Sinne spendete der Papst Pippins Söhnen das Firmsakrament und knüpfte dadurch zusätzlich das Band einer geistlichen Verwandtschaft, der compaternitas, zu der neuen fränkischen Dynastie. Pippin erfuhr noch eine weitere Aufwertung, indem der Papst ihm den Ehrentitel eines patricius Romanorum, eines Schutzherrn der Römer, übertrug. Pippin wurde dieser besonderen Verantwortung gegenüber der Ewigen Stadt, aber auch gegenüber dem Apostelfürsten Petrus voll und ganz gerecht. Schon im April hatte er während einer Versammlung in Quierzy dem Papst in der „Pippinischen Schenkung“ urkundlich große Teile Mittelitaliens versprochen, die freilich den Langobarden erst noch abgenommen werden mußten. Zu diesem Zweck überschritt er im Spätsommer 754 die Alpen. Obwohl er wegen der innerfränkischen Widerstände nur ein kleines Heer hatte aufbieten können, besiegte er Aistulf und schloß ihn in seiner Hauptstadt Pavia ein. Der Langobardenkönig mußte die Gebiete, die er erst jüngst den Byzantinern abgenommen hatte, insbesondere Ravenna, herausgeben und die fränkische Oberhoheit anerkennen. 756 war Pippin neuerlich gezwungen, in Italien zu erscheinen, um Aistulf zur Einhaltung der Friedensbedingungen zu zwingen. Neben der Begründung des karolingischen Königtums und der Annäherung an das Papsttum war Pippins größte Leistung die Eroberung Aquitaniens. Zwar hatte bereits Karl Martell die fränkische Oberhoheit über diesen Dukat durchgesetzt, die Pippin gemeinsam mit seinem Bruder Karlmann verstärken konnte. Nun aber machte er sich an die endgültige Unterwerfung; seit 760 unternahm er fast Jahr für Jahr blutige Kriegszüge nach Aquitanien, die das Land schließlich in die Knie zwangen. 768 wurde Waifar, der letzte Herzog, von seinen eigenen Gefolgsleuten ermordet. Nutznießer und wohl auch Anstifter dieser Tat war Pippin, der bald darauf das Land ins Frankenreich eingliederte. Doch der inzwischen 54jährige Pippin konnte sich nicht lange an diesem Erfolg erfreuen; er starb am 24. September desselben Jahres.
3. Karls Jugend und erste Regierungsjahre: Vom Sohn eines Hausmeiers zum Eroberer Italiens Unter bestimmten Gesichtspunkten kann es von Nachteil sein, wenn sich bereits die Zeitgenossen intensiv mit der Vita einer bedeutenden Persönlichkeit auseinandersetzen. Ein schlagendes Beispiel dafür ist Einhards Vita Karoli, die unser Wissen über Karl lange Zeit bestimmt hat. Über Karls Anfänge schrieb Einhard: „Über seine Geburt und Kindheit wie auch seine Knabenjahre zu schreiben halte ich für töricht, weil nirgends etwas darüber schriftlich aufgezeichnet ist und man niemand mehr am Leben findet, der Kenntnis davon zu besitzen behaupten könnte“. An einer anderen Stelle seines Werkes notierte Einhard dann aber doch, Karl sei am 28. Januar 814 im Alter von 72 Jahren gestorben. Sollte er das Geburtsjahr also trotz angeblich mangelhafter Informationslage gekannt haben? Allerdings ist seine Angabe des Datums falsch, denn es haben sich sogar bis heute Nachrichten über Karls Geburt am 2. April 748 erhalten. Und ebenso falsch sind Einhards Bemerkungen, daß niemand mehr etwas über die Kindheit Karls wüßte; immerhin geben Quellen, die Einhard sicherlich bekannt waren, darüber Auskunft, daß Karl ja bereits Ende 753 dem Papst entgegengereist war. Einhards Äußerungen sind also mit Vorsicht zu genießen, da sie wahrscheinlich von anderen Motiven als einer unbedingten Wahrheitsliebe bestimmt waren. So gab er für Karl immerhin ein genaues Sterbealter an, weil dies auch sein literarisches Vorbild Sueton – der römische Geschichtsschreiber – in seinen Viten der antiken Cäsaren getan hatte. Auf die Beschreibung von Kindheit und Jugend seines Helden verzichtete er aber, weil er sonst an die heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Dynastie zwischen Pippin, Grifo und Karlmann nebst seinen Söhnen erinnert hätte; die hätten allerdings kaum in das harmonische Bild gepaßt, das Einhard von Karl und dessen Vater zu zeichnen gedachte. Was wissen wir tatsächlich über Karls Geburt, Kindheit und Jugend? Als er am 2. April 748 geboren wurde, war er der älteste Sohn seines Vaters Pippin, aber lange Zeit war nicht absehbar, daß er dereinst als König über das Frankenreich herrschen würde. Sein Vater war zwar damals der mächtigste Hausmeier, aber nicht der einzige, denn noch gab es seinen Vetter Drogo, der in der Nachfolge seines Vaters Karlmann die Hausmeierwürde ebenfalls beanspruchen konnte. Auch die Brüder Karls und der Halbbruder seines Vaters, Grifo, konnten legitime Ansprüche auf eine Teilhabe an der Herrschaft anmelden. Wie bereits dargelegt, gelang es Pippin jedoch, all diese Konkurrenten aus der eigenen Familie und darüber hinaus den Merowingerkönig selbst auszuschalten, um Alleinherrscher, schließlich sogar König zu werden. Das waren die entscheidenden Voraussetzungen für Karls Erfolg, wenn er auch die Macht im Frankenreich zunächst mit seinem 751 geborenen Bruder Karlmann teilen mußte. Den Namen „Karl“ wählte Pippin für seinen Erstgeborenen sicherlich mit Bedacht, erinnerte er doch an Karl Martell, den Großvater des Knaben. Pippin wollte damit signalisieren, daß sein Sohn gleichsam in die Fußstapfen des großen Hausmeiers treten würde, und reklamierte damit dessen Ansehen für sich. Das wog um so schwerer, als sein Bruder Karlmann zumindest seinen ältesten Sohn Drogo nicht in diese Traditionslinie gestellt
hatte. Das lag wohl daran, daß Karl Martell bei Drogos Geburt noch lebte und die Nachbenennung nach einem Lebenden in der Regel vermieden wurde. Was aber bedeutet nun der Name „Karl“, der in damaliger Zeit zumindest ungewöhnlich war? Bisweilen wurde er von dem Gattungswort „der Kerl“ abgeleitet, was als „Freier ohne Erbgut“ oder einfach als „Mann, Ehemann, Geliebter“ gedeutet wurde. Damit untermauerte man die heute überholte These einer einfachen Herkunft von Karl Martells Mutter Chalpaida. Die moderne Namenforschung sieht in „Karl“ die romanisierte Form von „Hariolus“, einer Koseform des Kurznamens „Chario“, der als Bestandteil etwa auch in dem Namen „Charibert“ erscheint, der immerhin von zwei merowingischen Königen getragen wurde. Auch eine Abwandlung des Namens „Crallo“ wird diskutiert. So hieß der Vater des mit Pippin dem Älteren eng verbundenen Bischofs Kunibert von Köln. Jedenfalls haftete dem Namen „Karl“ Ende des 7. Jahrhunderts nichts Negatives an, und nach der erfolgreichen Herrschaft Karl Martells wäre jeglicher Makel ohnehin getilgt gewesen. So ist es kein Wunder, daß Pippin auch seinen zweiten Sohn Karlmann in diese Namenstradition stellte. Tatsächlich ist unser Wissen über die ersten Lebensjahre Karls nur spärlich – wenn auch nicht so gering, wie sein Biograph Einhard versucht glauben zu machen. Erstmals trat er beim Empfang Papst Stephans II. Ende des Jahres 753 öffentlich in Erscheinung. Im Juli 754 wurde er zusammen mit seinem Vater und seinem damals dreijährigen Bruder Karlmann vom Papst zum König gesalbt. Allerdings führten weder er noch Karlmann den Königstitel vor dem Tod des Vaters. Fast genau ein Jahr später, am 25. Juli 755, nahmen der König und seine beiden Söhne an der Überführung der Reliquien des hl. Germanus teil. Das Geschehen machte so tiefen Eindruck auf Karl, daß er noch im Alter davon erzählte. Zumindest die beiden erstgenannten Ereignisse fallen in Karls infantia, seine Kindheit, die nach damaligem Verständnis bis ins siebte Lebensjahr reichte. Im allgemeinen verbrachten adlige Kinder ihre ersten Lebensjahre in der Obhut ihrer Mutter, wobei sie allerdings zunächst von ihren Ammen, dann von Erziehern betreut wurden. Mit etwa sechs Jahren begann ihre „Ausbildung“: Die Söhne des Adels erlernten das Reiten, den Umgang mit Waffen und die Jagd. Ein Autor des 9. Jahrhunderts schrieb, „daß Kinder und Jugendliche in den Häusern der Großen dazu erzogen werden, Härten und Widrigkeiten wie Hunger, Kälte und Sonnenglut zu ertragen. Ein uns bekanntes volkstümliches Sprichwort sagt: ,Wer nicht bis zur Pubertät im Reiterkampf fertig ausgebildet ist, wird diese Fähigkeit in höherem Alter, wenn überhaupt, nur mit großer Mühe erlangen’“. Karl selbst soll darüber hinaus „in aller Klugheit der Welt“ erzogen worden sein, wie wir aus der Vita seines Vetters Adalhard erfahren. Damit war wohl weniger eine intensive Schulbildung gemeint als das Wissen, wie man sich in der adligen Gesellschaft, insbesondere bei Hofe und im Rat des Königs, zu verhalten hatte. Diese Phase der pueritia, des Knabenalters, dauerte etwa bis ins 15. Lebensjahr. Nun folgte die adolescentia, die vom 14. bis zum 28. Lebensjahr dauerte – also die Zeit der Jugend, der heute verbreiteten Vorstellung nicht unähnlich. Die Mündigkeit erreichte man im frühen Mittelalter allerdings bereits gegen Ende der pueritia. Nach der Lex Salica galt man mit zwölf Jahren als
rechtsfähig, nach der Lex Ribuaria, einem anderen Recht der Franken, mit 15 Jahren. Diese Zahlen zeigen, wie ,jugendlich’ die weltliche Gesellschaft war. Solange sie im Haus des Vaters lebten, unterstanden allerdings auch die rechtsfähigen Söhne der vormundschaftlichen Gewalt des Vaters. Erst wenn dieser sie abschichtete, d. h. mit einem eigenen Hausstand ausstattete, erlangten sie die volle Handlungsfreiheit, zumindest theoretisch. Oft wurde die Heirat der Söhne zum Anlaß für eine solche Abschichtung genommen. Doch schon vorher mußte sich ein König Gedanken machen, wie er seine Söhne auf ihre künftige Aufgabe vorbereiten konnte. Pippin tat dies, indem er spätestens seit 760 zunächst Karl und dann auch Karlmann vermehrt an seinen öffentlichen Funktionen teilhaben ließ. So unterstellte er im Juni 760 das Kloster Saint–Calais bei Le Mans nicht nur seinem, sondern auch dem Schutz Karls. Ein Jahr später nahm Pippin seinen älteren Sohn mit auf einen Kriegszug nach Aquitanien, 762 auch den jüngeren. Wiederum im Jahr 762 stimmten beide ausdrücklich einer Urkunde ihrer Eltern für das Kloster Prüm zu. Sie sollten sich also durch persönliche Anschauung mit der Ausübung des königlichen Amtes vertraut machen. Schon bald ließ Pippin sie auch selbständiger agieren. 763 übergab er ihnen während einer Versammlung in Worms einige Grafschaften zur Verwaltung. Leider wird nicht gesagt, wo diese lagen. Wahrscheinlich aber erhielt Karl das Gebiet um Le Mans, wo er ja bereits für das Kloster Saint–Calais Verantwortung übernommen hatte. Diese Region lag am Rande der eigentlichen königlichen Einflußzone. In ihr gaben Adlige den Ton an, die einer oppositionellen Haltung zuneigten. So hatte hier bereits Karls Onkel Grifo Unterstützung gefunden. Eine solche Aufgabe stellte zweifellos eine wirkliche Bewährungsprobe für einen 15jährigen dar. In Worms wurde wohl auch der Eintritt der beiden Königssöhne in die Welt der Erwachsenen vollzogen. Aus diesem Anlaß übergab ein Vater seinem Sohn in der Regel ein Schwert und beendete mit dieser Zeremonie symbolisch dessen Ausbildung zum Krieger. Sogar Papst Paul I. hatte den Brüdern damals Geschenke übersandt, die allerdings unterwegs verlorengegangen waren. In einem Brief vom Anfang des nächsten Jahres behandelte der Papst die beiden Königssöhne beinahe wie Mitregenten ihres Vaters. Aber erst kurz vor seinem Tod regelte Pippin die Herrschaftsnachfolge in allen Einzelheiten. Im Frühherbst des Jahres 768 kehrte er von seinem letzten Kriegszug in Aquitanien nach Saint–Denis zurück. Der 54jährige König war schwer erkrankt und fühlte wohl sein Ende nahen. Zahlreiche geistliche und weltliche Würdenträger hatten sich um den Sterbenden versammelt und pflichteten seiner Entscheidung einer Erbregelung bei. Er teilte sein Reich in geographischer Hinsicht so, wie er und sein Bruder Karlmann es im Jahre 742 getan hatten. Die alten Reichsteile Neustrien und Austrasien wurden folglich abermals getrennt. Ebenso geschah es mit dem neuerworbenen Aquitanien. Karl erhielt die westlichen und nördlichen Teile der drei Gebiete. Sein Teilreich reichte von den südwestlichen Pyrenäen bis an den Rhein und darüber hinaus und verlief im Halbkreis um das Teilreich seines Bruders herum. Am 24. September 768 starb Pippin und wurde wie sein Vater Karl Martell in Saint–Denis, der wichtigsten Grablege der von ihm abgesetzten merowingischen Dynastie, beigesetzt. Zwei Wochen später, am 9. Oktober,
dem Tag des hl. Dionysius, des Schutzpatrons der fränkischen Herrscher, wurden seine Söhne zu Königen erhoben. Das geschah in den benachbarten Städten Noyon (Karl) und Soissons (Karlmann). Dieses koordinierte Vorgehen zeigt, daß es vielleicht noch zu Pippins Lebzeiten abgesprochen worden war. Doch schon ein Jahr später setzten sich die Brüder über die väterlichen Anordnungen hinweg. Durch einen Losentscheid soll Karl damals ganz Aquitanien erhalten haben, und am Besitz Aquitaniens sollte sich kurz darauf der Konflikt der Brüder entzünden. Aber auch im Elsaß, wo Karl auf privatrechtlicher Basis das Kloster Saint–Dié mitten im Gebiet seines Bruders erhalten hatte, könnte es weitere Reibungspunkte gegeben haben; immerhin schenkte Karl dieses Vogesenkloster im Januar 769 an Saint–Denis und sicherte sich so seine Bestattung in der alten königlichen Grablege, die ihrerseits jedoch in Karlmanns Teilreich lag. Vielleicht hatte sich Karl durch die väterliche Teilungsanordnung etwas benachteiligt gefühlt, weil sein jüngerer Bruder mit Saint–Denis die königliche Grabstätte schlechthin und mit Soissons eine weitere alte Königsstadt erhalten hatte. Zudem war Karl räumlich von Italien abgeschnitten und damit auch von Rom und dem Papsttum. Aquitanien erwies sich als problematisches Erbe: Dort hatte sich Hunald, ein Sohn Waifars, gegen die fränkischen Besatzer erhoben. Rasch reagierte Karl auf die Rebellion und drang im Frühjahr 769 in Aquitanien ein. Vergeblich bat er seinen Bruder um Unterstützung. Selbst ein persönliches Treffen in Duasdives (in der Nähe von Vienne) blieb erfolglos. Dennoch konnte Karl den Krieg siegreich beenden. Unklar bleibt, warum Karlmann sich seinem Bruder verweigerte. Hatte Karl entgegen den Verfügungen seines Vaters widerrechtlich das gesamte Land an sich gebracht? Forderte Karlmann für seine Hilfe einen Preis, den Karl nicht zahlen wollte? Oder war ihr Verhältnis aus früherer Zeit schon so belastet, daß eine Unterstützung des Bruders für ihn nicht in Frage kam? Wie dem auch sei – kurz darauf kam es noch einmal zu einer (vorübergehenden) Versöhnung, über die sich selbst Stephan III. im fernen Rom erfreut zeigte. Der Papst hoffte, daß Karl und Karlmann ihn gegen den Langobardenkönig Desiderius unterstützen würden, freilich vergebens, denn die wiederauflebenden Spannungen zwischen den Frankenkönigen ließen eine gemeinsame Aktion nicht zu. Die Rivalität der Brüder zeigte sich auch auf einem anderen Gebiet. Beide heirateten recht früh und nannten den ersten Sohn aus diesen Verbindungen jeweils nach ihrem Vater „Pippin“. Die Brüder beriefen sich damit auf das große Vorbild des Vaters und auf seine erfolgreichen Vorgänger und stellten sich dadurch zudem ihren Gefolgsleuten gegenüber als Garanten für eine Fortsetzung dieser Tradition auch in der kommenden Generation dar. Karl war in diesem Wettstreit um die Kontinuität der Dynastie zunächst im Vorteil. Seine Gemahlin Himiltrud gebar 769/70 einen Knaben, so daß ihr Sohn der ältere Pippin–Enkel war. Auf Grund einer möglicherweise erst später aufgetretenen Verwachsung bekam er im nachhinein den Beinamen „der Bucklige“. 770 gebar dann Karlmanns Frau Gerberga ebenfalls einen Sohn, der völlig gesund war. Daß Karlmann nun den eigentlich bereits besetzten Namen „Pippin“ wiederverwandte, darf man schon als eine ernste Provokation werten. Denn mit dieser Namenwahl trat Karlmann in Konkurrenz zu seinem Bruder. Die Zukunft würde zeigen,
welcher Pippin sich als herrschaftsfähig erweisen würde. Karlmann wurde noch ein weiterer Sohn geboren, dessen Namen und Geburtsjahr wir allerdings nicht kennen. Auf jeden Fall ging es in dem Wettstreit um Söhne letztlich um die Frage, welcher der Brüder die Führung in der karolingischen Dynastie beanspruchen konnte. Die sich andeutende Eskalation des Konflikts rief nun Bertrada, Pippins Witwe und Mutter von Karl und Karlmann, auf den Plan. Sie entwickelte eine für damalige Frauen, selbst für Königinnen, ungewöhnliche Aktivität, um den Zusammenstoß ihrer Söhne zu vermeiden, wobei sie anscheinend Karl bevorzugte. Im Mai 770 traf sie pacis causa, des Friedens wegen, mit Karlmann in Selz im Elsaß zusammen, doch blieb das Treffen offenbar ohne Ergebnis. Nun faßte die Königin den Plan, daß Karl eine Tochter des Langobardenkönigs Desiderius heiraten sollte. Seine Verbindung mit Himiltrud war hierbei kaum ein Problem, denn noch hatte die Kirche die Unauflöslichkeit der Ehe nicht durchsetzen können. Mit dieser Heirat sollte natürlich ein politisches Bündnis einhergehen, das Karlmann isolieren würde. Sein Teilreich konnte nun von Karl und Desiderius von Norden, Westen und Süden her bedroht werden. Es blieb allein der Osten, und bezeichnenderweise machte sich Bertrada zur Umsetzung ihres Planes zuerst nach Bayern auf und konferierte mit Herzog Tassilo III. von Bayern. Dieser war ein Vetter Karls und Karlmanns und hatte außerdem Liutbirg, eine andere Tochter des Langobardenkönigs, geheiratet. Schloß auch er sich dem Bündnis gegen Karlmann an, war dessen Einkreisung besiegelt. Mit der Annäherung an die Langobarden brachen Bertrada und Karl mit der Italienpolitik Pippins, der ja stets den Papst gegen die Langobarden geschützt hatte. In der Tat reagierte Papst Stephan III. äußerst ungehalten. Da er noch nicht wußte, welcher der beiden Frankenkönige die Langobardin heiraten sollte, schrieb er an beide und riet von einer Verbindung „mit dem treulosen und stinkendsten Volk der Langobarden“ ab, „das in der Zahl der Völker keineswegs zählt und aus dessen Sippschaft sicherlich das Geschlecht der Aussätzigen hervorgeht“. Diese groben Worte erklären sich aus dem starken Druck, den die Langobarden damals erneut auf Rom ausübten. Das Heiratsprojekt hätte diesen Druck verstärkt, und daher verstand der Papst es als Bruch des Bündnisses, das Pippin und seine Söhne einst mit dem Nachfolger des Apostelfürsten geschlossen hatten. Karlmann reagierte sofort, sah er doch die Chance, seinerseits einen Bündnispartner zu gewinnen bzw. zu behalten. Er schickte eine hochrangige Gesandtschaft nach Rom und bot dem Papst die Taufpatenschaft für seinen gerade geborenen zweiten Sohn an. Das Band der geistlichen Verwandtschaft mit dem Papst sollte Karls reale Verwandtschaft mit dem Langobardenkönig wettmachen. Doch Karl und insbesondere Bertrada wollten es nicht zu einem Bündnis Karlmanns mit dem Papst kommen lassen. Als die Königin in Pavia mit Desiderius verhandelte, bewegte sie ihn zu erheblichen Konzessionen gegenüber dem Papst. Dann zog Bertrada nach Rom weiter und konnte Stephan III. dazu bringen, das Bündnis zwischen Karl und Desiderius sowie das damit verbundene Heiratsprojekt zu billigen. Der Papst verzichtete darauf, Taufpate des Karlmann–Sohnes zu werden. Weiter zeugen die Briefe, die Stephan in der Folgezeit an Karl und Bertrada schrieb, von einem guten
Verhältnis. Auch Desiderius hielt seine in Pavia gegebenen Versprechen überwiegend ein. Möglicherweise machte Bertrada auf ihrem Rückweg ins Frankenreich erneut Station in der Hauptstadt der Langobarden und nahm die künftige Gemahlin Karls gleich mit nach Hause; ihr Name ist allerdings nicht überliefert. Zwar unterblieb die von Desiderius gewünschte Heirat seines Sohnes Adelchis mit Gisela, der damals dreizehnjährigen Schwester Karls, aber dies tat dem Einvernehmen keinen Abbruch. Karlmann stand nun allein gegen seinen Bruder und seine Nachbarn im Süden und Osten. Karlmann suchte seine politische Handlungsfähigkeit wiederherzustellen, indem er in Rom intervenierte. Er beorderte einen Vertrauten nach Rom, um den Papst – mit welchen Mitteln auch immer – umzustimmen. Dieser gewann zunächst die Unterstützung einflußreicher Kreise am päpstlichen Hof, was Desiderius so stark beunruhigte, daß er in der Fastenzeit des Jahres 771 mit einem Heer vor Rom erschien und diese Bemühungen zunichte machte. Als Reaktion darauf soll Karlmann sogar einen Angriff auf Rom und Papst Stephan III. geplant haben. War die Lage schon in Rom und Italien derart gespannt, so kann das Frankenreich davon nicht unberührt geblieben sein. Jedenfalls unternahmen damals weder Karl noch Karlmann militärische Aktionen gegen äußere Feinde; und beide hielten sich im Herbst 771 an den Grenzen ihrer Teilreiche auf. Daß sie einen Krieg gegeneinander vorbereiteten, muß zwar Spekulation bleiben, aber immerhin berichtet Einhard von Kriegstreibern, die er als Biograph Karls des Großen selbstverständlich nur in Karlmanns Umgebung ausmacht. Doch die Dinge sollten einen anderen Verlauf nehmen. Am 4. Dezember 771 starb Karlmann im jugendlichen Alter von nur zwanzig Jahren in der Pfalz Samoussy bei Laon. Karl allein zog allen Nutzen aus dem Tod des Bruders und war auf einen Schlag der alleinige Herrscher im Frankenreich. Dieser plötzliche Tod schuf eine völlig veränderte Lage. Auf die Nachricht vom Tode Karlmanns reagierte er sofort. Er eilte in die Gegend von Laon und empfing bei Corbeny die Großen seines verstorbenen Bruders unter Führung des Erzbischofs Wilchar von Sens, des höchsten geistlichen Würdenträgers im Frankenreich, und des Abtes Fulrad von Saint–Denis, der unter Pippin und später unter Karlmann die Hofkapelle geleitet hatte. Karl nahm ihre Huldigung entgegen und stellte so die Einheit des Frankenreiches wieder her, obwohl sein Bruder ja zwei Söhne als Erben hinterlassen hatte. Doch Karlmanns Witwe Gerberga wagte keinen Machtkampf, sondern floh nach der Bestattung ihres Gatten in Reims mit ihren Kindern und wenigen Getreuen zu dem einzigen König in der Nachbarschaft der Franken, der ihr Schutz gewähren konnte, zu König Desiderius, Karls Schwiegervater. Ein Kampf wäre aussichtslos gewesen, denn, vor die Wahl gestellt zwischen einem 23jährigen, vergleichsweise erfolgreichen König und einem Kleinkind, hätten sich die Großen des Reiches ohnehin für den Erfahrenen entschieden. Wie schon oft in der fränkischen Geschichte konnte sich der erwachsene Onkel gegen die Rechte des minderjährigen Neffen durchsetzen. Nach Karlmanns Tod kam es rasch zu einer vollständigen Umkehrung der Allianzen: Desiderius nahm Gerberga und ihre Kinder bei sich auf. Er war zwar ein Gegner Karlmanns gewesen, mußte aber zugleich auch daran interessiert sein, daß die Teilung des Frankenreiches fortbestand – ein Zustand, der für ihn ungleich günstiger war als die Konzentration der Macht
in den Händen eines einzigen Herrschers. Auch war Desiderius der einzige, der Karlmanns Witwe und ihren Söhnen zu ihrem Recht verhelfen konnte, denn als Schwiegervater Karls und Tassilos war er damals der mächtigste König im westlichen Europa und beherrschte zudem die Stadt Rom und damit indirekt das Papsttum. Karl verstand das Asyl, das man Gerberga und ihren Kindern am langobardischen Hof gewährte, als Kampfansage und verstieß nach nur rund einjähriger Ehe die Tochter des Desiderius, was in etwa einer Kriegserklärung an den Langobardenkönig gleichkam. Trotz dieser Provokationen unternahmen beide Kontrahenten 772 überraschenderweise nichts gegeneinander. Vielmehr suchten sie zunächst, ihre eigenen Positionen zu stärken. Desiderius versuchte, den neuen, Anfang Februar 772 gewählten Papst Hadrian zu einer Fortsetzung der pro– langobardischen Politik seines Vorgängers Stephan zu bewegen, und verlangte zudem von ihm, Karlmanns Söhne zu Königen der Franken zu weihen. Damit hätte er den beiden Knaben nicht nur zu einem unerhörten Prestigegewinn verholfen, der sie zu ernsthaften Konkurrenten Karls gemacht hätte, sondern auch eine Erneuerung der gegen die Langobarden gerichteten Allianz des Papstes mit dem ungeteilten Frankenreich auf absehbare Zeit verhindert. Ein Blick auf die Reaktionen, die die Entlassung seiner Tochter im Frankenreich ausgelöst hatte, zeigt, daß Desiderius’ politisches Vorgehen nicht ganz aussichtslos war. Dagegen suchte Karl zunächst eine neue Gemahlin, deren Familie politisch so mächtig sein mußte, daß diese Verbindung einen Ersatz für die aufgelöste Ehe mit der Tochter des Desiderius darstellen konnte. Seine dritte Gemahlin Hildegard stammte mütterlicherseits aus dem alten alemannischen Herzogshaus und war zudem eine Kusine des Bayernherzogs Tassilo. Auch dieser hat als Schwiegersohn des Desiderius schwerlich die Verstoßung seiner Schwägerin durch Karl gutgeheißen. Indem Karl nun ein anderes familiäres Band zwischen ihnen knüpfte, konnte er den mächtigen Bayernherzog in der bevorstehenden Auseinandersetzung wenigstens zu einer neutralen Haltung bewegen. Im gleichen Jahr wurde Karl militärisch aktiv und wandte sich gegen die Sachsen, was auf den ersten Blick nichts mit den jüngsten Entwicklungen zu tun zu haben schien. Unter anderem zerstörte er die Irminsul, ein zentrales Heiligtum der heidnischen Sachsen. Man könnte meinen, Karl hätte seine Kräfte unnötig verzettelt und eine neue Front eröffnet, bevor sein gestörtes Verhältnis zu Desiderius in der einen oder anderen Weise geklärt war. Aber Karl zog auch für diese Auseinandersetzung erhebliche Vorteile aus seinem ersten Sachsenzug. Er bot damit seinem Adel nach dem Sieg über die aufständischen Aquitanier erneut Gelegenheit zu einem erfolgreichen kriegerischen Unternehmen, und dies wiederum stärkte seine Stellung als König. Er brachte die bei der Irminsul gesammelten Opfergaben der Sachsen, insbesondere Gold und Silber, an sich und ließ sie ins Frankenreich transportieren. Damit hatte er aber nicht einfach reiche Beute gemacht, sondern auch seinen Königsschatz als wichtiges Herrschaftsinstrument erheblich vergrößert. So konnte er sich für die Treue erkenntlich zeigen, die ihm seine Gefolgsleute während der Spannungen mit Karlmann erwiesen hatten. Diese hatte er ja nicht mit Ländereien aus dem Herrschaftsgebiet seines Bruders belohnen können, da sich der dort
ansässige Adel Karl aus freien Stücken angeschlossen hatte. Dennoch erwartete die treue Gefolgschaft Karls eine Belohnung für ihre Haltung. Karl konnte den sächsischen Schatz also gut gebrauchen, um diese „Schulden“ zu begleichen. In der Tat mußte Karl damals sehr daran interessiert sein, möglichst viele Adlige hinter sich zu scharen. Er war in dieser Zeit auf die Treue seiner Gefolgsleute besonders angewiesen, denn sein Kurswechsel gegenüber den Langobarden hatte auch ernstzunehmende Kritik hervorgerufen. Selbst seine Mutter Bertrada billigte Karls Entscheidung nicht, hatte sie doch das Bündnis mit Desiderius ausgehandelt. Auch Karls Vetter Adalhard zog sich aus Verärgerung über dessen Politik vom Hof zurück und trat in das Kloster Corbie ein. Nicht zu unterschätzen war die Tatsache, daß Gerberga und ihre Söhne von einigen Großen Karlmanns ins Exil begleitet worden waren, auch wenn es laut Karls Hofhistoriographen nur wenige gewesen sein sollen; dennoch konnten sie zur Keimzelle einer wirkungsvollen Opposition werden. Mit dem Sieg über die Sachsen aber vergrößerte Karl sein Prestige als König, und mit der Sachsenbeute verfügte er über genügend Mittel, um den skizzierten Bedrohungen entgegenwirken zu können und sich die Loyalität seiner Anhänger auch für die Zukunft zu sichern. Bereits Anfang des Jahres 773 erreichte Karl ein Hilferuf Papst Hadrians, der inzwischen die langobardische Partei in Rom entmachtet hatte und sich weigerte, die Söhne Karlmanns zu Königen zu weihen. Infolgedessen wurde er immer härter von Desiderius bedrängt, der zeitweilig sogar römisches Gebiet besetzte. Hadrian mußte angeblich sogar mit dem Kirchenbann drohen, um den Langobardenkönig von einem Angriff auf Rom abzuhalten. Dieser hielt seine Machtposition wohl für unangreifbar, denn er lehnte mehrere Verhandlungsangebote Karls ab. Dessen Konzilianz könnte ein Indiz dafür sein, daß er wie einst sein Vater Pippin Rücksicht auf eine pro– langobardische Partei in den eigenen Reihen nehmen mußte. Diese dürfte ihre Bedenken gegen ein militärisches Vorgehen erst zurückgestellt haben, nachdem sich Desiderius in keiner Weise kompromißbereit gezeigt hatte. So zogen die Franken erst im Spätsommer 773 über die Alpen. Karl hatte sein Heer bei Genf gesammelt und in zwei Abteilungen gruppiert. Mit der ersten zog er selbst über den Mont Cenis nach Italien, sein Onkel Bernhard kam mit der zweiten über den Großen St. Bernhard. Desiderius trat ihnen bei den langobardischen Clusen, den starken Grenzbefestigungen in der Gegend von Susa, entgegen. Erneut unternahm Karl einen Verhandlungsversuch, den Desiderius jedoch abblockte. Ein fränkisches Einkreisungsmanöver zwang ihn dann allerdings zum Rückzug. Der Langobardenkönig verließ sich nun auf die starken Mauern seiner Hauptstadt Pavia, die von Karl eingeschlossen wurde. Als Adelchis, der Sohn des Desiderius, sich zusammen mit der Familie Karlmanns in Verona verschanzte, beließ der Frankenkönig seine Hauptmacht vor Pavia und marschierte mit einer kleinen Einheit nach Verona. Obwohl es sich dabei einem Zeitgenossen zufolge um die am besten befestigte Stadt des Langobardenreiches handelte, sollen sich Gerberga und die Ihren freiwillig ergeben haben. Da es aber anscheinend zu keinen Kampfhandlungen gekommen war und die Langobarden weiterhin Verona kontrollierten, hat Adelchis wahrscheinlich Karlmanns Familie ausgeliefert, um Karl zum
Rückzug zu bewegen. Zur Frage, was mit den Neffen des Königs und seiner Schwägerin weiter geschah, schweigen die Quellen. Obwohl die Franken bald andere Städte Oberitaliens eroberten, fiel die Entscheidung doch in Pavia, wohin Karl von Verona aus zurückkehrte. Eine gut befestigte Stadt wie Pavia zu nehmen, war ein fast aussichtsloses Unterfangen, selbst für die fränkischen Truppen, die unter Karls Vater Pippin Aquitanien vor allem dank ihrer überlegenen Belagerungstechnik hatten erobern können. Die Einschließung Pavias begann im September und mußte über Herbst und Winter fortgesetzt werden. Sie zermürbte nicht nur die Verteidiger, sondern auch die Angreifer. Nachdem die Belagerung bereits ein halbes Jahr gedauert hatte, begab sich Karl zu Ostern 774 mit einem beträchtlichen Teil seines Heeres nach Rom. Dort empfing ihn Hadrian mit den protokollarischen Ehren eines Exarchen von Ravenna, des ehemaligen Statthalters des byzantinischen Kaisers in Italien, und betonte damit in besonderer Weise Karls Funktion als patricius Romanorum, als Schutzherr Roms. Das feierliche Osterfest an den Gräbern der Apostel dürfte den fränkischen Kriegern neuen Mut gegeben und ihre Motivation zu neuen Taten erhöht haben. Doch Karl verfolgte mit seiner ersten Romreise auch einen politischen Zweck. Der Papst und der Frankenkönig bekräftigten damals ein von ihren Vorgängern 754 geschlossenes Bündnis, und Karl erneuerte die „Pippinische Schenkung“. Damit garantierte er die päpstlichen Besitzungen in Mittelitalien. Fraglich ist, ob dies im Blick auf eine künftige Bedrohung des Papstes als Karls Bundesgenosse durch die Langobarden geschah oder ob Karl sich schon damals aus eigenem Interesse dazu entschlossen hatte, das Langobardenreich zu beseitigen. Der langandauernde Widerstand, den Desiderius in Pavia leistete, mag ihn davon überzeugt haben, nur auf militärische Weise die Probleme in Italien ein für allemal lösen zu können. Jedenfalls kehrte Karl noch im April nach Pavia zurück und verstärkte die Belagerung der Stadt, die schließlich durch Hunger und Seuchen bezwungen wurde. Anfang Juni, nach insgesamt neunmonatiger Belagerung, konnte Karl die Kapitulation des Desiderius entgegennehmen. Dieser wurde in ein fränkisches Kloster verbannt; sein Sohn Adelchis konnte sich jedoch in das Byzantinische Reich absetzen. Damit eröffnete sich Karl spätestens jetzt eine Möglichkeit, mit der er selbst bis zum Beginn des Krieges nicht gerechnet hatte. Er bemächtigte sich des langobardischen Königsschatzes und übernahm ohne förmlichen Wahlakt die langobardische Königswürde. Spätestens seit dem 5. Juni 774 führte Karl den Titel eines rex Francorum et Langobardorum, eines Königs der Franken und Langobarden. Damit hatte Karl die Selbständigkeit des letzten größeren nichtfränkischen Königreiches in Kontinentaleuropa beendet. Ober– sowie Mittelitalien fielen faktisch an das Frankenreich, während sich im Süden der Halbinsel das selbständige langobardische Fürstentum von Benevent halten konnte. Im übrigen Italien galt es, noch einige Aufstände niederzuschlagen. Zahlreiche langobardische Adlige zogen nördlich der Alpen ins Exil. Dafür kamen fränkische, alemannische und burgundische, später auch bayerische Amtsträger ins Land und verwalteten im Auftrag des neuen Herrschers das alte Langobardenreich.
Warum aber war dieses so schnell zusammengebrochen? Wie ist Karls vergleichsweise müheloser Erfolg zu erklären, der ihn zum Herrn Ober– und Mittelitaliens machte? Sicherlich bildete auf der einen Seite die militärische Überlegenheit der Franken einen wichtigen Faktor, verstärkt durch die Fähigkeiten Karls, sowohl rasche taktische Erfolge zu erzielen als auch langwierige Operationen siegreich abzuschließen. Auf der anderen Seite aber war das Langobardenreich offenbar viel schwächer als es den Anschein hatte. Die innere Einheit des Adels war im Laufe der Zeit verlorengegangen; viele langobardische Herzöge betrieben spätestens seit dem Tod König Liutprands 744 eine eigene Politik und opponierten offen oder insgeheim gegen die Zentralgewalt. Die Erfolge, die Aistulf oder Desiderius gegen die Byzantiner oder die Stadt Rom und den Papst hatten erringen können, überdeckten lediglich diese innere Schwäche. So orientierten sich bereits vor dem fränkischen Einfall in Italien etliche langobardische Adlige auf Karl hin. Nachdem es Desiderius bei den Clusen nicht gelungen war, die Franken aufzuhalten, liefen zahlreiche Langobarden zum Papst über. So konnte Hadrian etwa in Spoleto sogar einen Herzog seiner Wahl einsetzen. Verantwortlich für den raschen Fall des Langobardenreiches waren daher sowohl die unbestreitbaren Fähigkeiten Karls als Politiker und Feldherr als auch die innere Schwäche dieses Staatswesens. Mit der Eroberung des Langobardenreiches hatte Karl seine „Lehrjahre“ erfolgreich beendet. Vom Königssohn und vergleichsweise unsicheren jungen König, den seine Mutter noch sozusagen am Gängelband führte, war er zum Sieger über Aquitanier, Sachsen und Langobarden und zum Eroberer Italiens geworden. Seine entschlossene, zupackende Art hatte sich in den Auseinandersetzungen mit den äußeren Feinden als ein entscheidender Vorteil erwiesen. Auch nach dem Tod seines Bruders hatte er nicht gezögert. In der Auseinandersetzung mit den Langobarden zeigte er eine für einen Herrscher wohl noch wichtigere Eigenschaft, nämlich Stehvermögen, das ihm dazu verhalf, selbst eine neunmonatige Belagerung erfolgreich durchzuführen.
4. Die Ausdehnung des Frankenreiches nach Osten: Sachsen, Bayern und Awaren 772 unternahm Karl vom Mittelrhein aus seinen ersten militärischen Vorstoß gegen die Sachsen. Zwar meinte Einhard, eine Bestrafung der Sachsen für ihre dauernden Überfälle habe für Karl bei diesem Feldzug im Vordergrund gestanden, aber innenpolitische Gründe und die Vorbereitung auf den Krieg in Italien spielten, wie erwähnt, ebenfalls eine große Rolle. Karl rückte bis zur oberen Weser vor und ließ sich von den Besiegten zwölf Geiseln stellen. Hatte sich damit die Gesamtheit des Sachsenvolkes oder nur Teile davon unterworfen? Diese Frage ist kaum zu beantworten, denn das Besondere des Verbandes der Sachsen war, daß sie von keinem König beherrscht wurden. Vielmehr zerfielen sie in eine Vielzahl von Völkerschaften und Gruppen, die ihrerseits jeweils einen Anführer hatten. Diese Anführer wurden von den schreibenden Zeitgenossen aus dem Frankenreich und der britischen Insel nicht als „Könige“ bezeichnet, aber der Sache nach können sie durchaus so angesprochen werden. Natürlich waren sie mit dem Frankenkönig oder den angelsächsischen Herrschern
nicht zu vergleichen, aber oberste Repräsentanten ihrer Völkerschaft waren sie gleichwohl, zumal ihnen möglicherweise sogar kultische Verehrung entgegengebracht wurde. Das einigende Band zwischen den Sachsen war eine jährliche Versammlung in Marklo an der Weser, die von den Königen und ihren Gefolgschaften besucht wurde. Eine weitere institutionelle Klammer der sächsischen Stämme bildete der Oberbefehl, der im Kriegsfall einem ihrer Führer übertragen wurde. Doch gerade in der langjährigen Auseinandersetzung mit Karl hatten die Sachsen anscheinend keine militärische Spitze. Heterogenität sollte die große Stärke der Sachsen in ihrem Abwehrkampf gegen die Franken sein. Als Karl 773/74 das Langobardenreich in Italien unterwarf, nahmen die Sachsen Rache für den fränkischen Angriff von 772 und überfielen zahlreiche christliche Kirchen im nördlichen Hessen, darunter auch das Kloster Fritzlar und den zeitweiligen Bischofssitz Büraburg. Im Herbst 774 kehrte Karl aus Italien zurück und entsandte vier Heeresabteilungen gegen die Sachsen. Auf der Reichsversammlung von Quierzy beschloß er im Januar 775 eine neue Strategie zu verfolgen, nämlich „den ungläubigen und vertragsbrüchigen Stamm der Sachsen mit Krieg zu überziehen und so lange durchzuhalten, bis sie entweder besiegt und der christlichen Religion unterworfen oder aber gänzlich ausgerottet sind“; so heißt es in einem nach Karls Tod am fränkischen Hof entstandenen Annalenwerk. Diese Programmatik beschreibt die damalige Lage wohl sehr treffend: Da die Sachsen christliche Kirchen zerstört hatten, war Karl in seiner vornehmsten Aufgabe als Herrscher gefordert – als Beschützer der Christenheit. Spätestens jetzt wurde aus einem Geplänkel an der Grenze eine Auseinandersetzung, bei der es auch um den Glauben ging. Die Sachsen hingen noch ihrer alten Religion an; sie bekannten sich zu Göttern wie Saxnot und Wodan. Eine wichtige Rolle in ihrer Religion spielte anscheinend die Irminsul, eine Kultstätte in Gestalt einer Baumsäule, die als Stütze des Alls verehrt wurde, wie ein späterer Geschichtsschreiber berichtet. Wahrscheinlich war es eben jene Zerstörung der Irminsul im Jahre 772, die eine größere Gruppe von Sachsen veranlaßte, ins Frankenreich einzudringen und als Vergeltungsmaßnahme christliche Kirchen zu zerstören. Dafür wollte nun wiederum Karl Rache nehmen, und die Eskalation der Gewalt nahm ihren Lauf. Wußte aber der erfolgverwöhnte König, worauf er sich einließ? Zielte seine Politik gegen alle sächsischen Völkerschaften oder nur gegen diejenigen, die sich ihm zunächst ergeben, dann aber den Krieg in sein Reich getragen hatten? Waren diese beiden Gruppen identisch, oder hatte nur ein sächsischer Teilstamm die Zerstörung der Irminsul gerächt, ohne sich darum zu kümmern, daß andere Sachsen sich den Franken unterworfen hatten? Diese Fragen sind angesichts der Zersplitterung der Sachsen nur schwer zu beantworten. Karl und die Franken hatten anscheinend kein großes Interesse zu differenzieren und fragten nicht weiter nach den Verhältnissen in Sachsen, sondern wählten ohne Umschweife die an ihr Reich grenzenden Gebiete im Süden des Landes als Operationsziel. Auf der anderen Seite wurde das mächtige Frankenreich sicherlich gerade von den sächsischen Völkerschaften in unmittelbarer Nachbarschaft schon seit längerer Zeit als ernsthafte Bedrohung empfunden. Im Abwehrkampf standen diese dann noch enger zusammen, so daß die vorrückenden
Franken zunächst vor allem drei Großgruppen wahrnahmen, die Westfalen im Westen, die Engern im Wesergebiet und die Ostfalen im Osten. Die Umsetzung des Beschlusses von Quierzy folgte auf dem Fuße: Karl marschierte im Frühjahr 775 vom Niederrhein aus über die Eresburg an die Weser. Nachdem er den Übergang über diesen Fluß erzwungen hatte, stieß er anschließend bis zur Oker vor. Hier erschienen die Ostfalen unter der Führung eines gewissen Hessi vor dem König, stellten Geiseln und leisteten Treueide. Auf dem Rückmarsch unterwarfen sich Karl die Engern mit Brun an der Spitze. Inzwischen hatten die Westfalen wohl unter dem Kommando Widukinds eine fränkische Abteilung, die den Übergang über die Weser sichern sollte, angegriffen und geschlagen. Karl glich diesen Rückschlag mit seinem Sieg bei Lübbeke aus, der auch die Westfalen veranlaßte, sich zu unterwerfen und Geiseln zu stellen. Vieles spricht dafür, daß Karl damals die Gegend vom Rhein entlang der Lippe bis hin zur Eresburg annektierte. Als Folge dieses Feldzugs hatten die Franken die Kontrolle über den Hellweg und damit eine wichtige Verbindungsstraße nach Hessen und Thüringen gewonnen, die zeitraubende Umwege über die Mittelgebirge überflüssig machte. Dieser Feldzug war also ein großer Erfolg. Aber Karl muß ihn mit solcher Grausamkeit geführt haben, daß es in Northumbrien in England hieß, er habe mit Feuer und Schwert derart gewütet, daß man an seinem Geisteszustand zweifeln könne. Dagegen ist in keiner Quelle von Missionierung die Rede. Mit anderen Worten: Nach dem in Quierzy gefaßten Plan sollten die Sachsen vor allem der fränkischen Herrschaft unterworfen werden, ganz egal mit welchen Mitteln; die Christianisierung spielte bei diesem Vorhaben – wenn überhaupt – nur eine sehr untergeordnete Rolle. 776 mußte Karl erneut nach Italien eilen, um dort abtrünnige langobardische Oppositionelle zu unterwerfen. Diese Gelegenheit nutzten seine sächsischen Gegner, um sich zu erheben und die fränkischen Eroberungen im südlichen Sachsen heimzusuchen. Doch Karl gelang es, in ein– und demselben Jahr nach Italien zu ziehen, dort den langobardischen Aufstand niederzuschlagen, die Alpen erneut zu überschreiten und in Sachsen einzufallen. Von dieser Schnelligkeit überrascht, wagte niemand Widerstand. Bei den Lippequellen in der Nähe von Paderborn erschienen Sachsen „aus allen Gegenden“ und versprachen eidlich, sowohl Christen zu werden als auch die Herrschaft Karls und der Franken anzuerkennen. Für den Bestand dieser Unterwerfung boten sie ihre patria, ihr Vaterland, als Pfand. Gerade diese Formulierung der an Karls Hof entstandenen Reichsannalen verrät dessen Absichten: Hielten sich die Sachsen an ihre Treueide, blieben sie den Franken untergeben; hielten sie sich nicht daran, konnten die Franken mit Fug und Recht das Gebiet der Sachsen heimsuchen und sie als Verräter behandeln. Weiter berichten die Quellen von der Errichtung eines fränkischen Stützpunktes, der den Namen ,Karlsburg’ erhielt. Über die Bedeutung dieser Karlsburg, gemeinhin mit Paderborn identifiziert, wurde viel gerätselt. Bemerkenswert ist auf jeden Fall, daß dieser Ort seinen Namen nach dem Vorbild ,Konstantinopel’ (wörtlich: Stadt Konstantins) erhalten hat, daß Karl sich also in der Tradition des ersten christlichen Kaisers sah. Nach Paderborn berief Karl im folgenden Jahr eine große Reichsversammlung ein, ein Novum, denn fränkische Reichsversammlungen fanden üblicherweise auf
fränkischem Boden statt. Offenbar war Karl der Ansicht, daß die Sachsen endgültig unterworfen wären. Schließlich wurden zahlreiche von ihnen getauft, und die Weihe einer Erlöserkirche sollte die planmäßige Mission des Landes einleiten. Karl fühlte sich zu diesem Zeitpunkt so sicher, daß er der Bitte des muslimischen Statthalters von Zaragossa bereitwillig Folge leistete, ihn gegen den Emir von Cordoba zu unterstützen. Im folgenden Jahr erschien Karl tatsächlich in Spanien, doch hatten sich die Verhältnisse dort bereits entscheidend verändert. Er stieß bis Zaragossa vor; wo aber sein Verbündeter nicht mehr herrschte. Da er die Stadt selbst nicht nehmen konnte, kehrte Karl um. Unterwegs ließ er die Befestigungen der Stadt Pamplona schleifen, was die darüber erbosten christlichen Basken dazu veranlaßte, die fränkische Nachhut in den Pyrenäen anzugreifen und aufzureiben. Dieses Gefecht ist vor allem durch das im 12. Jahrhundert aufgezeichnete Rolandslied berühmt geworden, nach dem unter den Gefallenen der Befehlshaber der bretonischen Mark namens Hruodland oder Roland eine besondere Rolle spielte. Die zeitgenössischen Geschichtsschreiber sahen dagegen keinen Anlaß zu einer solchen Verklärung. Vielmehr schweigen die hofnahen Reichsannalen völlig über diesen Vorfall; bezeichnenderweise konnte darüber erst unter Karls Sohn Ludwig dem Frommen wieder berichtet werden. Peinlich für den König war einmal die Niederlage an sich, dann aber vor allem, daß er diese Niederlage ausgerechnet im Rahmen eines Unternehmens gegen die heidnischen Araber erlitten hatte. Karl war also der vornehmsten Aufgabe eines christlichen Herrschers, der Ausbreitung und Verteidigung des Glaubens, nicht gerecht geworden. Zu allem Unglück hatten auch die Sachsen Karls Abwesenheit erneut ausgenutzt und sich erhoben, dieses Mal unter der Führung des westfälischen Adligen Widukind, der im Jahr zuvor noch zum König der Dänen geflüchtet war. Die Sachsen zerstörten nun die mit so großen Ambitionen errichtete Karlsburg und stießen sogar bei Deutz bis an den Rhein vor. Dort machten sie Beute und zerstörten zahlreiche Kirchen. „Nach Jahren des scheinbar unaufhaltsamen Aufstiegs wurden schlagartig Grenzen der karolingischen Macht sichtbar“ (R. Schieffer). Zu Recht gilt daher 778 als das erste Krisenjahr der Herrschaft Karls. Es ist interessant, daß er sich gerade damals auf die Merowinger berief, auf das alte, von seinem Vater gestürzte Königsgeschlecht der Franken. Während seiner Abwesenheit hatte ihm seine dritte Gemahlin Hildegard Zwillingsbrüder geboren, die neben dem ältesten Sohn aus dieser Ehe, Karl, und dem buckligen Pippin den Fortbestand der neuen Dynastie sichern sollten. Den neugeborenen Söhnen gab Karl bezeichnende Namen: Ludwig (Chlodwig) und Lothar (Chlothar). Mit dieser Namengebung knüpfte Karl an zwei berühmte Merowinger an: an Chlodwig I., der das Reich nach Süden, nach Aquitanien hin erweitert hatte, und an Chlothar I., der einst die Sachsen besiegt hatte. Karl beschwor also die siegreichen Tage des merowingischen Frankenreiches, um die Krise seines Reiches zu überwinden und sich der Loyalität möglicherweise wankelmütig gewordener Franken wieder zu versichern. Eventuell werteten es aber schon die Zeitgenossen als böses Omen für den Konflikt mit den Sachsen, daß der kleine Lothar schon bald verstarb.
Karl reagierte natürlich auch militärisch auf die schwierige Situation. Schon bei Auxerre hörte er von den Erfolgen der Sachsen und entsandte eiligst Truppen an den Rhein. Die Sachsen zogen sich über den Lahngau zurück, wurden aber an der Eder bei Leisa gestellt und besiegt. Die Route ihres Rückzuges zeigt, daß die Sachsen wohl das gesamte rechte Rheinufer bis nach Koblenz geplündert hatten. Sogar die Mönche von Fulda brachten damals die Reliquien des hl. Bonifatius über die Rhön in Sicherheit. Nach Hans–Dietrich Kahl machte erst dieser Aufstand den Krieg gegen die Sachsen zu der überaus grausamen Angelegenheit, als die er in die Geschichte eingegangen ist: Mit ihrem Aufstand und ihrem Vordringen auf fränkisches Gebiet gaben die Sachsen, die in den Jahren zuvor wenigstens in Teilen zum Christentum übergetreten waren und dem fränkischen König die Treue geschworen hatten, den Franken die formale Berechtigung zu einem noch härteren Vorgehen. 779 hielt Karl mit seinem Heer eine Versammlung in Düren ab und überquerte dann den Rhein bei Lippeham (an der Mündung der Lippe?). Bei Bocholt kam es zu einer offenen Schlacht, die mit einem Sieg Karls endete; damit war der Weg nach Sachsen hinein frei. Den Reichsannalen zufolge wurden alle Westfalen zu Gefangenen gemacht, womit wohl eine bedingungslose Unterwerfung gemeint war. Karl zog weiter bis an die Weser, wo er die Treueide der Engern und Ostfalen entgegennahm, die darüber hinaus Geiseln stellen mußten. Die Franken glaubten abermals, daß die Sachsen vollständig besiegt wären, denn im folgenden Jahr versuchten sie, das Land nach ihren Vorstellungen zu ordnen und einzuteilen, sowohl in geistlicher als auch in weltlicher Hinsicht. Ein zeitgenössischer Annalist berichtet, die Sachsen hätten sich damals unterworfen; dann habe Karl das Land zwischen Bischöfen, Priestern und Äbten aufgeteilt, damit sie dort tauften und predigten. Auch habe er Freie und Liten, Halbfreie, als Geiseln empfangen. Gerade diese Nachricht nennt in all ihrer Kürze einen wichtigen Grund, warum die Sachsen so intensiv Widerstand leisten konnten – ihr Kampf wurde nicht nur von den Angehörigen der adligen Oberschicht getragen, die wegen ihrer verwandtschaftlichen und sonstigen Beziehungen ins Frankenreich wohl eher zu Kompromissen neigten, sondern vor allem auch von der breiten Bevölkerungsmehrheit des freien und halbfreien Standes. Als auch diese Schichten sich zu fügen schienen, war Karl zufrieden und verzichtete 781 darauf, persönlich in Sachsen zu erscheinen. 782 hielt Karl eine Versammlung an den Lippequellen ab, auf der alle Sachsen und sogar Boten des Dänenkönigs Sigifrid erschienen sein sollen. Allein Widukind hielt sich abseits. Karl kam den sächsischen Führungsschichten soweit entgegen, daß er sächsische Adlige als Grafen einsetzte und damit für ihre loyale Haltung belohnte. Anschließend kehrte er ins Frankenreich zurück, hörte dann aber von einem slawischen Überfall auf Thüringer und Sachsen. Als Reaktion darauf wollte der König ein fränkisch– sächsisches Aufgebot gegen die Eindringlinge entsenden. Das zeigt ebenso wie die Einsetzung der Grafen in aller Deutlichkeit, daß Karl Sachsen nun als festen Bestandteil seines Reiches betrachtete. Doch da erhoben sich erneut große Teile der Sachsen unter der Führung Widukinds. An der Nordseite des Süntelgebirges kam es zur Schlacht. Die unlängst gegen die Slawen in Marsch gesetzten fränkischen Truppen unterlagen wegen der
Uneinigkeit ihrer Führer. Und nicht nur das – sie wurden fast bis auf den letzten Mann niedergemacht. Sogar einige Grafen, ja selbst der Kämmerer und der Marschall des Herrschers mußten ihr Leben lassen. Alle bis dahin erzielten Erfolge in Sachsen waren auf einen Schlag wieder zunichte gemacht. Dem Ernst der Lage angemessen, drang Karl selbst mit seinen Mannen in Eilmärschen bis zur Weser vor. An der Mündung der Aller versammelten sich die Sachsen, unterwarfen sich und lieferten alle Aufständischen aus; 4.500 von ihnen wurden hingerichtet. Nur Widukind gelang abermals die Flucht zu den Dänen. Über dieses sogenannte Blutbad von Verden ist viel diskutiert worden, und es zeigt sicherlich in aller Deutlichkeit die Brutalität der damaligen Kriegsführung, wenngleich die Zahlenangabe „4.500“ eine maßlose Übertreibung der Reichsannalen gewesen sein dürfte. Zu den Berichten über die härtere und grausamere Vorgehensweise der Franken paßt, daß 782 auch erstmals Teile der sächsischen Bevölkerung deportiert wurden. Karls Reaktion zeigt, wie sehr ihn die abermalige Erhebung der Sachsen überrascht hatte. Er hatte geglaubt, das Land seinem Reich eingegliedert zu haben, und nun mußte er selbst den größten Aufstand der Sachsen seit Beginn der Auseinandersetzungen niederschlagen. Damals erließ Karl die berüchtigte Capitulatio de partibus Saxoniae, mit der die Verweigerung der Taufe, die Zerstörung von Kirchen, die Verschwörung gegen Christen, der Treubruch gegen den König, Verstöße gegen das Zehnt– und das Fastengebot mit dem Tode bedroht wurden. Es handelte sich dabei also um brutales Besatzungsrecht, obschon manche Bestimmungen nicht ganz so drakonisch waren, wie man dem ersten Anschein nach glauben möchte. So war die mit der Todesstrafe belegte Brandbestattung, die gegen die Prinzipien eines christlichen Begräbnisses verstieß, nach archäologischen Untersuchungen in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ohnehin in Sachsen kaum noch verbreitet. Die vor allem beim sächsischen Adel übliche Bestattungsform in Grabhügeln war nicht mit der Todesstrafe bedroht; Karl „befahl“ lediglich die Bestattung auf Kirchhöfen, ohne eine Strafe anzudrohen. Immerhin mußten die Mitglieder der sächsischen Führungsschicht damit auf ein wichtiges weithin sichtbares Merkmal ihres sozialen Ranges in der nicht–christlichen Gesellschaft verzichten. Auf Kannibalismus und das Darbringen von Menschenopfern stand auch andernorts die Todesstrafe. Dies galt auch für Mord und Kirchenraub. Einige Bräuche der sächsischen Religion wie die Verehrung heiliger Stätten in der Natur und Gastmähler zu Ehren der Götter wurden überhaupt nicht mit dem Tode bedroht. Bei der Bewertung der Strafen sollte auch nicht außer acht bleiben, daß das überkommene sächsische Recht seinerseits ein sehr strenges, durch zahlreiche Leib– und Lebensstrafen charakterisiertes Regelwerk darstellte. Im Endeffekt dürfte die Capitulatio einer nachhaltigen Christianisierung aber eher hinderlich gewesen sein, setzte Karl doch die christliche Religion als Mittel zur Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung ein. Die Kirche betrachtete er nicht als Bundesgenossen, sondern als Herrschaftsinstrument. So sollten die Bewohner eines Kirchsprengels die Pfarrkirche auch materiell ausstatten. Dieses Denken steht eher in einer Linie mit Beute und Beuterecht als mit Mission – oder, wie es E. Schubert
formulierte, „erst die Kirchenabgabe und dann die Kirche“. Wie aber sollte die praktische Arbeit der betreffenden Geistlichen aussehen in einem Land, in dem man erst zwei Jahre zuvor mit der Einteilung von Missionssprengeln begonnen hatte? Die Priester waren um ihre Aufgabe nicht zu beneiden; sie mußten ihre Gemeinde vom Sinn der materiellen Ausstattung und des Zehnten sowie der Stellung von Knechten und Mägden überzeugen, bevor sie seelsorgerisch tätig werden konnten. Zumindest am Ende des 8. Jahrhunderts kritisierte die Geistlichkeit diese Missionspraxis mitunter sehr heftig. Immerhin war die Capitulatio insofern konsequent, als das Asyl in einer Kirche den einzigen legalen Schutz im Falle der oben geschilderten, mit der Todesstrafe bedrohten Vergehen bot: „Von der Todesstrafe in vorstehenden Fällen kann nach Zeugnis des Geistlichen abgesehen werden, falls der Betreffende freiwillig zum Priester geflohen war und die heimlich begangenen Taten gebeichtet hatte und Buße leisten wollte“. Aber ob diese besondere Stellung der Geistlichkeit tatsächlich ihre Akzeptanz bei den Sachsen erhöhte, ist zumindest zweifelhaft, zumal die materiellen Belastungen für die Ausstattung und den Unterhalt der Pfarrkirchen gewaltig waren. All die Siege und Maßnahmen Karls konnten den Widerstand der Sachsen vorerst nicht völlig brechen. Auch 783 mußte er militärisch massiv in Sachsen eingreifen. Damals zog er zunächst mit wenigen Franken nach Detmold und besiegte dort die Sachsen in einer der seltenen offenen Schlachten dieses Krieges. Freilich kann sein Sieg nicht sehr eindeutig gewesen sein, denn er rückte nicht etwa weiter vor, sondern zog sich in das befestigte Paderborn zurück, um dort weitere Truppen zu sammeln. Erst dann ging der König wirklich in die Offensive. Er drang nach Norden bis zur Hase vor und besiegte die Sachsen erneut. Karl wandte sich nun nach Osten, überquerte die Weser und gelangte bis zur Elbe. Dort beendete er den Feldzug und kehrte in sicheres fränkisches Gebiet am Rhein zurück. In der Pfalz Herstal feierte er sowohl das Weihnachts– als auch das Osterfest. Einmal mehr nutzten die Sachsen die Abwesenheit des Königs, um zusammen mit einem Teil der Friesen den Aufstand zu proben. Und wiederum setzte Karl über den Rhein, wiederum überzog er das Land mit Krieg. In Petershagen (bei Minden) konnte er jedoch nicht weiter, weil die Weser Hochwasser führte. Daher entschloß sich Karl, über Thüringen nach Ostfalen vorzustoßen, während sein gleichnamiger Sohn die Westfalen niederhalten sollte. Abermals gelangte Karl bis zur Elbe, erreichte dort ein Abkommen mit einigen ostfälischen Gruppen und kehrte dann in die Francia nach Worms zurück. Währenddessen hatte sein Sohn Karl die Westfalen geschlagen und sich daraufhin ebenfalls nach Worms begeben. Dort faßte eine fränkische Reichsversammlung den Beschluß, daß der König den Winter in Sachsen verbringen sollte. Seine Präsenz im Land sollte vermutlich sowohl seine einheimischen Gegner verunsichern als auch seine Anhänger in ihrer Haltung bestärken. Auch ersparte sich der König im folgenden Jahr den Anmarschweg. Andererseits ging er ein erhebliches persönliches Risiko ein, das vermutlich dadurch klein gehalten werden sollte, daß er auf der festen Eresburg überwinterte. Selbst seine vierte Gemahlin Fastrada und seine Kinder ließ er nachkommen, um mit ihnen dort das Osterfest zu begehen. Seine rund um die Eresburg lagernden Truppen sandte er auch
während der schlechten Jahreszeit ständig gegen die Sachsen aus. Im Frühjahr hielt Karl eine Reichsversammlung im nahen Paderborn ab. Dort erschien auch sein damals siebenjähriger dritter Sohn Ludwig zusammen mit einem aquitanischen Aufgebot. Karl konzentrierte also die Kräfte seines Reiches für den entscheidenden Kampf. Mit allen seinen Truppen durchzog der Frankenkönig das Land bis hin zur Elbe, ohne auf Gegenwehr zu stoßen, weil die Straßen frei waren, wie die Reichsannalen fast schon zynisch bemerken. Karl hatte also jeden einheimischen Widerstand gebrochen. Nur Widukind hatte sich mit seinem Schwiegersohn Abbio dem fränkischen Zugriff entzogen und harrte nördlich der Elbe aus. Karl schlug ihm gegenüber nun den Verhandlungsweg ein und bot ein persönliches Treffen an. Widukind und Abbio zeigten sich angesichts der fränkischen Übermacht kompromißbereit und nahmen Karls Angebot an, in die Francia zu kommen. Allerdings verlangten sie für ihre persönliche Sicherheit die Stellung fränkischer Geiseln. Als diese Bedingung erfüllt war, folgten Widukind und Abbio dem Frankenkönig über den Rhein. In Attigny ließen sie sich an Weihnachten 785 taufen, wobei Karl als Taufpate fungierte und Widukind mit reichen Geschenken ehrte. Hier zeigte Karl politisches Gespür, indem er Widukind nicht bis zum bitteren Ende verfolgte, sondern ihm die Möglichkeit einer ehrenvollen Kapitulation ließ. Der Sachsenführer durfte sich nun auf seine Besitzungen zurückziehen und erhielt möglicherweise sogar eine hohe Stellung in der fränkischen Ämterhierarchie wie schon etliche seiner Standesgenossen vor ihm. Auch um den christlichen Glauben soll er sich verdient gemacht und beispielsweise die Kirche von Enger gegründet haben, wo er auch begraben sein soll. Sein Mythos verselbständigte sich; spätere Jahrhunderte verklärten einerseits seinen Widerstand gegen die (christlichen) Franken, verehrten ihn andererseits aber auch als Heiligen. Widukinds Taufe schien ein Fanal für den fränkischen Sieg zu sein. Etwas voreilig meldeten die um 790 abgefaßten Reichsannalen: et tunc tota Saxonia subiugata est, „und da war nun ganz Sachsen unterworfen“. Auch Karl teilte diese Einschätzung, denn er bat Papst Hadrian, in der ganzen Christenheit Dankgebete für die Unterwerfung der Sachsen anzuordnen. Man kann sich das Hochgefühl gut vorstellen, das dieser Sieg nach immerhin 13 Jahren blutiger Auseinandersetzungen auslöste. Karl hatte nicht zuletzt dank seines erheblichen persönlichen Einsatzes diesen langwierigen Kleinkrieg zu einem (vorläufig) erfolgreichen Ende geführt. Die Ruhepause im Nordosten seines Reiches nutzte Karl, um sich dem Südosten zuzuwenden. Dabei sollte er sich gegenüber Herzog Tassilo III. von Bayern nicht so großzügig zeigen wie gegenüber dem Sachsen Widukind. Jener, über seine Mutter ein Vetter Karls, war nicht bloßer Verwalter seines bayerischen Herzogtums, sondern beherrschte es königsgleich: Er kontrollierte die bayerische Kirche und hielt Synoden ab. Er gründete Klöster und stattete diese mit reichem Grundbesitz aus. Zudem bemühte er sich um die Verbreitung des Glaubens, insbesondere bei den benachbarten Karantanen, und erfüllte damit eine eher imperiale Aufgabe. Vor allem aber trieb er eine eigenständige Außenpolitik und pflegte gute Beziehungen zu den benachbarten Mächten. Seine Gemahlin Liutbirg war eine Tochter des Langobardenkönigs Desiderius, und Arichis, der Fürst von Benevent, war
sein Schwager. Seine Kusine väterlicherseits, Hildegard, war seit 771 mit Karl dem Großen vermählt und garantierte daher die guten Beziehungen des Herzogs zum Frankenkönig. Tassilo erreichte sogar, daß der Papst im Jahr 772 seinen Sohn und künftigen Erben Theodo aus der Taufe hob. Damit war sein machtpolitisches Gewicht von der höchsten moralischen Autorität im Abendland anerkannt worden – offenbar mit Karls Einverständnis. Als Hildegard 783 starb, verschlechterten sich die Beziehungen der beiden Vettern zusehends. 784 kam es zu ersten militärischen Auseinandersetzungen im Alpenraum. 787 marschierte Karl schließlich mit drei Heeren in Bayern ein. Tassilo unterwarf sich auf dem Lechfeld, leistete einen Treueid und nahm sein Herzogtum vom König zu Lehen. Als Sicherheit stellte er zwölf vornehme Geiseln und seinen Sohn Theodo als dreizehnte. Ein Jahr später erschien Tassilo dann in Ingelheim, und es kam zu dem bekannten, vieldiskutierten Schauprozeß gegen ihn. Während sich der Herzog bei ihm aufhielt, ließ Karl dessen Familie und dessen Schatz in seine Gewalt bringen und konnte ihn damit isolieren und gefahrlos festnehmen. Nun begann der Prozeß: Königstreue Bayern traten als Ankläger auf und beschuldigten den Herzog des Treubruchs: Er habe Verbindungen zu den heidnischen Awaren im Osten Bayerns aufgenommen. Und noch ein weiteres angebliches Vergehen Tassilos kam zur Sprache: Man behauptete, er hätte 763, also 25 Jahre zuvor, während eines Aquitanienfeldzugs Pippins unerlaubt das fränkische Heer verlassen und damit das Verbrechen des harisliz, der Heerflucht, begangen. Ernsthaft konnte diese längst verjährte Tat nicht zur Grundlage eines Urteils gemacht werden, zumal Karl und Tassilo sich ja zwischenzeitlich einander angenähert hatten. Ob die übrigen Anklagepunkte ganz oder teilweise berechtigt waren, ist ebenfalls keineswegs sicher. Immerhin hatte Tassilo bis 787 wie ein König über Bayern geherrscht und mochte sich daher berechtigt gefühlt haben, weiterhin Kontakte zu den Awaren zu pflegen. Er hätte sich auch im Recht fühlen können, einen gewaltsam erzwungenen Eid zu brechen. Doch dann wäre er wohl nicht in Ingelheim erschienen, sondern in seiner Heimat geblieben. Aus seinem subjektiven Empfinden heraus und nach allem, was wir den objektiven Gegebenheiten nach über seine Verurteilung wissen, war Tassilo höchstwahrscheinlich unschuldig. Dennoch wurde er zu lebenslanger Klosterhaft verurteilt, wodurch Bayern an Karl fiel. Dieser brach alsbald nach Regensburg auf, wo er für mehrere Jahre sein Hauptquartier aufschlug und das Land seiner Herrschaft unterwarf. In Bayern erhielt das Frankenreich einen neuen, scheinbar mächtigen Nachbarn: die Awaren, die, ursprünglich aus Zentralasien kommend, im 6. Jahrhundert ein großes Reich in der ungarischen Tiefebene errichtet hatten. Als Reiterkrieger hatten sie seither ihre Nachbarn im Westen und Süden ständig in Unruhe versetzt, ausgeplündert und zu Tributzahlungen gezwungen. Selbst das Byzantinische Reich hatten sie wiederholt und durchaus erfolgreich angegriffen. Im 8. Jahrhundert war ihre Macht und ihre Expansionskraft dann allmählich schwächer geworden. Gleichwohl spielten sie weiterhin eine wichtige Rolle auf dem mitteleuropäischen Schauplatz. Im Jahr 788 fielen die Awaren in Italien und Bayern ein. Vielleicht hatte Tassilo sie tatsächlich gerufen, möglicherweise wollten sie aber auch nur die instabile Lage nach seinem Sturz ausnutzen.
Drei Jahre später, als seine Herrschaft in Bayern gesichert war, unternahm Karl seinen ersten Awarenzug. Das fränkische Heer drang bis jenseits der Enns vor, während die Awaren zurückwichen, ohne sich einer Schlacht zu stellen, so daß dem Feldzug im Grunde kein Erfolg beschieden war. Um sich besser auf die militärische Taktik der Awaren einstellen zu können, ließ Karl 792 eine bewegliche Brücke bauen, die auf Schiffen donauabwärts gebracht werden konnte und ein wiederholtes Überqueren des Flusses erleichtern sollte. Damals versuchte er auch, einen Rhein–Main–Donau–Kanal zu errichten, um die beiden Brennpunkte seines Reiches im Norden und Osten zu verbinden. Das ehrgeizige Projekt scheiterte, weil die damit verbundenen logistischen Probleme nicht zu lösen waren. Doch davon ließ Karl sich nicht beirren. Während er selbst 795 erneut gegen die Sachsen vorging, erhielten sein Sohn Pippin von Italien, der bayerische Präfekt Gerold und Markgraf Erich von Friaul den Befehl, die Awaren zu bekämpfen. Diese waren inzwischen durch innere Streitigkeiten geschwächt, so daß es Erich gelang, bis zu den „Ringburgen“ der Awaren, die in der Pußtaebene jenseits der Raab lagen, vorzudringen und den Hauptring einzunehmen. 796 gelang auch Pippin ein Vorstoß dorthin, und er nahm die Unterwerfung des awarischen Herrschers entgegen. Damals fielen unermeßliche Schätze in die Hände der Sieger – Beutegut und Tribute aus Jahrhunderten awarischer Herrschaft. Die Beute wurde zum großen Teil an den Adel verteilt oder der Kirche geschenkt. Besonders reich wurde Papst Leo III. bedacht, dessen Wahlanzeige ungefähr gleichzeitig mit den awarischen Schätzen in Aachen eingetroffen war. Wie aber sah es auf dem sächsischen Kriegsschauplatz aus? Nach 785 hatte hier für mehrere Jahre Ruhe geherrscht, die Karl für den Erwerb Bayerns genutzt hatte. Die Sachsen schienen sich mit der fränkischen Herrschaft abgefunden zu haben und beteiligten sich sogar an den Kriegszügen Karls, z. B. gegen die Awaren im Jahr 791. Als dieser erfolglos verlief, war das für die Sachsen das Signal zum erneuten Aufstand. Denn mit diesem Fehlschlag hatte Karls Ruf als stets siegreicher Heerführer erheblich Schaden genommen. Erschüttert wurde dadurch der Glaube der Sachsen an die Überlegenheit des Christengottes, da die Awaren – wie sie selbst bis vor kurzem und in ihrem Innersten wahrscheinlich noch immer – keine Christen waren. Die Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf den Norden Sachsens, auf Wigmodien zwischen unterer Weser und unterer Elbe, auf den Bardengau und auf das Gebiet nördlich der Elbe, Nordalbingien genannt. Schon bald schienen die alten fränkischen Erfolge fast völlig aufgehoben. 793 wurde eine größere fränkische Abteilung an der Wesermündung aufgerieben. Karl verschwieg die Größe des Verlusts, gab aber den damals geplanten weiteren Zug gegen die Awaren auf und wandte sich stattdessen dem Bau eines Kanals zwischen Rednitz und Altmühl zu. Ein solcher Kanal hätte sicherlich die Verbindung zwischen den wichtigsten Krisenherden seines Reiches – dem Sachsen– und dem Awarengebiet – erheblich verkürzt. Doch das Vorhaben scheiterte wegen des anhaltenden Regens. Als weitere schlechte Nachrichten aus Sachsen eintrafen, zog sich Karl zurück.
Erst nach Ostern begann Karl erneut den Krieg gegen die Sachsen. Zwei Armeen zogen gegen das Land; eine unter seinem Befehl nahm den direkten Weg, die zweite unter seinem gleichnamigen Sohn zog über Köln. Die Sachsen sammelten sich im Sintfeld südlich von Paderborn, vermieden dann aber doch den Kampf gegen den von zwei Seiten anrückenden, übermächtigen Gegner und unterwarfen sich. 795 erhoben sie sich jedoch nach altbekanntem Muster erneut, woraufhin Karl von Mainz aus nach Norden zog. Dieses Mal erreichte er die Elbe; und wieder unterwarfen sich die Sachsen. Im folgenden Jahr fiel Karl erneut ein. 797 drang er gar bis an die Nordseeküste bei Hadeln vor und nahm wiederum die Unterwerfung angeblich des gesamten Sachsenvolkes entgegen. Nachdem andere Aufgaben ihn zurück in die Francia geführt hatten, hielt Karl in Aachen eine Reichsversammlung ab. Hier erließ er ein zweites sächsisches Kapitular, das Capitulare Saxonicum. Darin räumte er Westfalen, Engern und Ostfalen die Beteiligung an der Gesetzgebung ein und stellte sie so den restlichen Völkern des Frankenreiches gleich. Wahrscheinlich belohnte er so die zuerst von ihm angegriffenen und ihm inzwischen treu ergebenen Sachsen im Süden des Landes, während die nördlichen Völkerschaften davon ausgeschlossen blieben. So verwundert es nicht, daß das Capitulare Saxonicum nicht zur Befriedung des ganzen Landes ausreichte. Mitte November 797 erschien Karl daher wieder in Sachsen, um dort zu überwintern und das Land neu zu ordnen. Südlich von Höxter wurde ein Lager errichtet, dem Karl den Namen Heristelle gab. Aber auch diesmal kamen die Sachsen nicht zur Ruhe. 798 erhoben sich die Nordleute. Karl verbündete sich mit den Abodriten und errang weitere militärische Erfolge. Nun unterwarfen sich auch die Nordleute und stellten Geiseln. In Paderborn empfing er 799 den aus Rom geflüchteten Papst Leo III., während sein Sohn Karl die versprochenen Geiseln der Nordleute in Empfang nahm. Nach seiner Kaiserkrönung im Jahre 800 in Rom ließ Karl die Rechte aller seiner Völker aufzeichnen – auch das der Sachsen, die Lex Saxonum. Trotz dieser Manifestation seiner Herrschaft mußte Karl 804 nochmals in Sachsen eingreifen. Damals ließ er die Bevölkerung Wigmodiens, der Gegend um das heutige Bremen, und die nördlich der Elbe lebenden Menschen deportieren. Das Land jenseits dieses Flusses überließ er den Abodriten, seinen alten Verbündeten. Damit war die Eroberung Sachsens nach einem für damalige Verhältnisse unvorstellbar langen Zeitraum besiegelt. Dreißig Jahre seines Lebens hatte Karl dafür aufwenden müssen, also eine größere Zeitspanne, als viele mittelalterliche Herrscher überhaupt regierten. Mit 24 Jahren hatte er die Grenze der Sachsen zum ersten Mal überschritten und die Irminsul zerstört. Mit 56 Jahren, in einem Alter, das nur wenige seiner Zeitgenossen überhaupt erreichten, hatte er die Sachsen schließlich niedergekämpft. Warum hatte dieser Kampf so lange gedauert, warum hatten die Sachsen, die sich auf keinem Feld mit den Franken messen konnten, so lange Widerstand leisten können? Der wichtigste Grund war wohl ihre politische Zersplitterung: Es gab keine handlungsfähige zentrale Gewalt, mit der die Franken einen Vertrag hätten schließen können. Es gab keine Hauptstadt, deren Eroberung den Widerstand des gesamten Landes hätte brechen können. Es gab keinen König oder Herzog, dessen Gefangennahme das Volk
weitgehend handlungsunfähig gemacht hätte. Kurz – die scheinbare Rückständigkeit der Sachsen war ihre Stärke. Die zahllosen Unterwerfungshandlungen, Treueidleistungen und Geiselstellungen banden jeweils nur einige sächsische Gruppen oder Völkerschaften, niemals aber die Gesamtheit der Sachsen, wie Karl und die Franken glauben mochten. So waren die erzielten Erfolge schnell dahin, wenn sich im folgenden Jahr andere Sachsen gegen die Franken stellten und möglicherweise mit Anfangserfolgen auch die zuvor Unterworfenen mitrissen. Allerdings konnten die Sachsen niemals hoffen, den Krieg militärisch zu gewinnen, dazu war die fränkische Übermacht und kriegstechnische Überlegenheit zu groß. Immerhin hatte der langwierige, blutige Krieg zur Befriedung aller sächsischen Stämme Karl und den Franken das Äußerste abverlangt. Einhard interpretierte die endgültige Eingliederung Sachsens in das Frankenreich rückblickend als einen Friedensschluß unter der Bedingung, „daß sie den heidnischen Götzendienst und den heimischen Religionsgebräuchen entsagten, die Sakramente des christlichen Glaubens annahmen und mit den Franken zu einem Volk sich verbanden“. In der Tat waren die Veränderungen in Sachsen nicht nur auf religiösem Gebiet gravierend. Sie verloren ihre eigenen, gemeinschaftsstiftenden Institutionen, ihre heidnischen Bräuche und die rudimentär ausgebildete politische Organisation. Das Land wurde von den Siegern unterdrückt, indem sowohl die christliche Religion, die zugehörigen kirchlich–administrativen Strukturen sowie die fränkische Grafschaftsverfassung eingeführt wurden. Zahlreiche Konfiskationen dienten der materiellen Ausstattung sowohl der geistlichen als auch der weltlichen Amtsträger. Mit der Einsetzung einheimischer Grafen griff der König auch in das soziale Gefüge ein, denn ein zum Grafen aufgestiegener sächsischer Adliger konnte seine soziale Position in aller Regel verbessern, auf jeden Fall aber halten, während andere vor allem dann, wenn sie an ihrer frankenfeindlichen Haltung festhielten, um ihre Stellung bangen mußten. Ein Beispiel für eine gelungene Anpassung an die neuen Verhältnisse ist Hessi, 775 der Anführer der Ostfalen. Er trat in fränkische Dienste ein, wurde Graf und mehrte seinen Reichtum. Seine Tochter mußte, wie wir beiläufig erfahren, ständig reisen, um den ererbten Besitz zu verwalten. Mit der Lex Saxonum vergrößerte Karl zudem den sozialen Abstand zwischen den Adligen und dem Rest der Bevölkerung. Weiter sind die zahlreichen Deportationen zu nennen, die Karl anordnete. Auch sie erschütterten das soziale Gefüge erheblich, ganz abgesehen von dem Leid, das sie über die Betroffenen brachten. Die Franken führten wahrscheinlich völlig neue Organisationsformen des Großgrundbesitzes ein, zumal kirchliche Institutionen und der König selbst nun neben den weltlichen Adel traten. Die Errichtung von Bischofssitzen in der Endphase der Auseinandersetzung und vor allem in den ersten Jahren danach veränderte das Siedlungsbild erheblich. Nun gab es neue zentrale Orte mit einer völlig anderen Architektur, insbesondere mit imposanten, aus Stein errichteten Kirchen. Die Unterwerfung der Sachsen durch die Franken führte also in allen Lebensbereichen zu Veränderungen, die man sich nicht dramatisch und einschneidend genug vorstellen kann.
5. Karl, das Papsttum und der byzantinische Kaiser
Kurz vor seiner Kaiserkrönung war Karl dank seiner außenpolitischen Erfolge der mächtigste christliche Herrscher auf Erden – mit Ausnahme des oströmischen Kaisers, der in Konstantinopel (Byzanz) seinen Sitz hatte. Das oströmische Reich stand und verstand sich in ungebrochener Tradition des Imperium Romanum, das im Westen 476 untergegangen war; daher beanspruchte Konstantinopel zumindest eine ideelle Führungsstellung in der damaligen Christenheit. Diese hatten sämtliche germanischen Herrscher des Westens anerkannt, denn keiner von ihnen hatte bislang den Kaisertitel beansprucht. Alle hatten sich stets nur als Könige bezeichnet. Die Erschütterung der bisherigen Machtstrukturen durch den Aufstieg Karls, der durch die Kaiserkrönung bestätigt wurde, spielt im Verhältnis zu Byzanz eine wichtige Rolle. Betroffen war davon vor allem das Papsttum, das besondere Beziehungen zu beiden Mächten unterhielt. Politisch war das oströmische Reich auch im Westen stets präsent, da es dank der Eroberungen Kaiser Justinians Italien, Nordafrika und Südspanien beherrscht hatte. Diese Eroberungen gingen nach und nach an die Westgoten, die Langobarden und vor allem an die Araber wieder verloren. Im 8. Jahrhundert war das byzantinische Herrschaftsgebiet im Westen auf einige Stützpunkte an den Küsten Dalmatiens und Italiens zusammengeschmolzen; zu diesen Vorposten gehörten Venedig, Neapel, Amalfi sowie die Spitzen der Halbinseln Kalabrien und Apulien. Die bedeutendsten Besitzungen waren aber sicherlich Sizilien und der Exarchat von Ravenna, bestehend aus der Stadt Ravenna und den umliegenden Gebieten. Sie waren durch einen schmalen Landstreifen quer über den Apennin hinweg mit dem ebenfalls byzantinischen Dukat von Rom verbunden. Der Exarch, der den hohen byzantinischen Rangtitel eines patricius führte, war der oberste Repräsentant des Kaisers im Westen, eine Art Vizekaiser, zuständig auch für Rom. Dieser staatsrechtlichen Zuordnung gemäß hatten die Päpste bis in die erste Hälfte des 8. Jahrhunderts im Kaiser im Prinzip ihren Oberherrn gesehen, wie beispielsweise an der Anzeige ihrer Wahl deutlich wird. Gleichwohl konnten die Päpste in der Stadt Rom selbst allmählich die Konkurrenz byzantinischer Beamter zurückdrängen, denn die Bevölkerung, vor allem aber die Aristokratie der Ewigen Stadt, ordnete sich lieber dem eigenen Bischof als einem fremden kaiserlichen Beauftragten unter. Zudem entstammten die Päpste häufig der stadtrömischen Aristokratie. Die Abneigung gegen die Macht im Osten wurde durch Streitigkeiten über die hohen Steuerlasten vergrößert. Die Beziehungen zwischen dem Papsttum und Konstantinopel verschlechterten sich schließlich zusehends, als Kaiser Leo III. (717–741) eine scharfe kirchenpolitische Wende vollzog und in seinem Reich die Verehrung der Heiligenbilder verbot (Ikonoklasmus), während der Papst daran festhielt. Schon früher hatte es ähnliche Streitigkeiten zwischen Rom und Konstantinopel gegeben, doch kamen in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts zwei Momente hinzu, die zu der endgültigen Entfremdung beitrugen. Zum einen entzog der Kaiser dem Papst die geistliche Jurisdiktionsgewalt über die zu seinem Reich gehörenden Gebiete auf der Balkanhalbinsel und im südlichen Italien, wo er zudem die reichen Besitztümer der römischen Kirche konfiszierte. Indes entsprachen seine realen Machtmittel diesem autokratischen Gebaren nicht. Zum
anderen nämlich konnte der Kaiser den Papst und die Stadt Rom wegen seiner Kämpfe gegen die Araber seit ca. 720 nicht mehr gegen die Expansion der Langobarden militärisch unterstützen. Daher hatte sich Papst Gregor III. 738/39 mit der Bitte um Hilfe an den fränkischen Hausmeier Karl Martell gewandt, allerdings vergebens. Selbst seine wichtigste Position in Italien konnte das Kaiserreich schließlich nicht mehr halten: 751 eroberten die Langobarden den Exarchat von Ravenna. Im selben Jahr wurde Karl Martells Sohn Pippin mit Hilfe des Papstes zum König der Franken erhoben. Damit zeichnete sich die bereits behandelte Allianz zwischen Papst und Frankenkönig ab, die in der Einsetzung Pippins zum patricius Romanorum und der Übergabe Ravennas an den Papst nach Pippins Sieg über die Langobarden gipfelte. Der Protest einer byzantinischen Gesandtschaft blieb unbeachtet. Allerdings löste Pippin nicht alle dem Papst 754 gegebenen Versprechungen ein. Große Teile des eigentlichen Langobardenreiches hatte der König zugesagt, verzichtete nun aber auf deren Eroberung. Stephan II. konnte dennoch mit dem Erreichten zufrieden sein, da sich dank der Franken die Stellung des Papsttums sowohl gegenüber den alten Feinden, also den Langobarden, als auch gegenüber dem alten Oberherrn, dem byzantinischen Kaiser, erheblich verbessert hatte. Die Angst vor der Expansionskraft der einen und den Ansprüchen des anderen bestimmte gleichwohl weiterhin die päpstliche Politik. Den geänderten Machtverhältnissen trugen die Päpste Paul I. und Konstantin (II.) Rechnung; sie zeigten 757 bzw. 767 dem Frankenkönig offiziell ihre Wahl an, wie es bis dahin nur dem Kaiser gegenüber geschehen war. Paul sah mit Recht im fränkischen König den einzigen, der ihn vor einem byzantinischen Eingreifen in Rom schützen konnte. Auf der anderen Seite folgte man der traditionellen Bindung an Byzanz, indem man die Urkunden in Rom weiterhin nach dem Kaiser datierte und kaiserliche Goldmünzen prägte. Doch der Druck, dem Rom in der Folgezeit von seiten des Langobardenkönigs ausgesetzt war, veranlaßte Hadrian, erneut im Frankenreich um Unterstützung zu bitten. Hier regierte Karl inzwischen unangefochten. Wie wir gesehen haben, griff er nicht ganz uneigennützig in Italien ein und unterwarf das Langobardenreich seiner Herrschaft. Während der entscheidenden Belagerung Pavias erschien er im Frühjahr 774 in Rom, um dort das Osterfest zu feiern. Papst Hadrian war seinem Biographen zufolge sehr erschrocken über diesen Besuch. Einerseits war Karl sein Bundesgenosse, andererseits barg dessen rasches Ausgreifen auf Italien auch eine Gefahr für die politische Unabhängigkeit des Papsttums. Trotzdem oder gerade deswegen empfing ihn der Papst mit den protokollarischen Ehren, die einem Exarchen oder patricius zustanden. Bislang hatten weder Karl noch sein Vater Pippin den ihnen zustehenden Titel eines patricius Romanorum geführt. Lediglich die Päpste benutzten in ihren Briefen an die Frankenkönige diese Anrede. Nun wurde Karl vom Papst auch wie ein solcher empfangen. Aber anders als der Exarch in früheren Zeiten durfte er nicht in der Stadt selbst nächtigen, sondern mußte sein Quartier vor der Stadt bei St. Peter nehmen. Der Papst duldete also keinen weltlichen Herrscher mehr neben sich. Auch mußte Karl noch vor den Osterfeierlichkeiten einen Sicherheitseid in der Petersgruft leisten. Bei dieser Gelegenheit erneuerte er das von seinem Vater Papst Stephan II. 754 in
Quierzy gegebene Versprechen, also die Pippinische Schenkung. Wiederum eröffneten sich dem Papst Aussichten auf den Gewinn weiter Gebiete Mittelitaliens. Doch wie bereits sein Vater hat auch Karl sich nicht an dieses Versprechen gehalten. Der Papst erhielt nach dem Sieg über die Langobarden nur unbedeutende Gebiete. Und selbst im Exarchat war seine Herrschaft nicht unbestritten, denn vor allem der Erzbischof von Ravenna pochte gegenüber dem römischen Amtsbruder auf seine Eigenständigkeit und lehnte sich sogar zeitweise eng an die Franken an. Als Herr der größten Teile Italiens, als rex Francorum et Langobardorum begann Karl nun aber, auch den Titel eines patricius Romanorum zu führen. Dieser Rang hatte aus Sicht der Päpste bislang vor allem betonen sollen, daß die Frankenkönige im päpstlichen Auftrag die römische Kirche zu beschützen hatten. Nun herrschte Karl in unmittelbarer Nachbarschaft zur Ewigen Stadt als König, und der Patricius–Titel sollte damit auch einen Herrschaftsanspruch untermauern. Dieser intendierte Bedeutungswandel blieb auch Hadrian sicherlich nicht verborgen, der sehr auf seine Eigenständigkeit bedacht war. Mit seinem Pontifikat verschwand der Name des byzantinischen Kaisers endgültig aus den päpstlichen Urkunden und Münzen. Das mußte diesen herausfordern. Die Stadt Rom unterstand trotz der faktischen Herrschaft des Papstes offiziell noch dem Kaiser in Konstantinopel, zumindest nach dessen Vorstellungen. Vom Streben des Papstes nach Unabhängigkeit in weltlichen Dingen waren aber auch die Franken als enge Bundesgenossen und Helfer nicht ausgenommen. Dies kam in der sogenannten Konstantinischen Schenkung zum Ausdruck, einer damals am päpstlichen Hof entstandenen Fälschung, derzufolge der erste christliche Kaiser dem Papst die Herrschaft über die westlichen Provinzen des römischen Reiches überlassen hätte. Die Eroberung des Langobardenreiches rückte nicht nur den Frankenkönig näher an Rom, sondern veränderte auch von Grund auf die bislang guten Beziehungen der Franken zu Konstantinopel. Bereits Karls Vater Pippin hatte sich 757 dem Kaiser angenähert, um einen Freundschaftspakt mit ihm zu schließen, obwohl er ihm die Rückgabe des rechtlich zum oströmischen Reich gehörenden Exarchats von Ravenna verweigerte. Die byzantinische Gegengesandtschaft überbrachte möglicherweise die kaiserliche Bestätigung der Ernennung Pippins zum patricius durch den Papst. In den folgenden Jahren verhandelten beide Seiten sogar über ein Eheprojekt: Der Sohn des Kaisers sollte Pippins Tochter Gisela heiraten. Nach der Niederwerfung des Langobardenreiches durch Karl aber flüchtete Adelchis, der Sohn und Mitkönig des Desiderius, nach Konstantinopel. Er erhielt vom Kaiser den Titel eines patricius, was ihn aus byzantinischer Sicht auf dieselbe Rangstufe stellte wie den Frankenkönig – eine gegen Karl gerichtete Provokation. Schon im Herbst 775 soll es zu einem Bündnis der Byzantiner mit den langobardischen Herzögen von Benevent, Spoleto, Friaul und Tuszien gekommen sein mit dem Ziel, die Franken aus Italien zu vertreiben und Adelchis auf den Thron seines Vaters zu setzen; Rom aber sollte wieder der Herrschaft des Kaisers unterworfen werden. Papst Hadrian hatte davon erfahren und Karl in einem Brief informiert. Dieser erschien sogleich in Oberitalien und unterdrückte den Aufstand in Friaul. Gegen die anderen Herzöge ging er jedoch nicht vor und zog auch trotz einer
entsprechenden päpstlichen Bitte nicht nach Rom. Dennoch war seine Herrschaft über das Langobardenreich gesichert, denn die Byzantiner verzichteten auf ein Eingreifen, und auch Adelchis blieb im sicheren Konstantinopel. In den folgenden Jahren war es der Papst selbst, der für Unruhe sorgte. 778 ließ Hadrian den ersten Angriffskrieg des Papsttums führen und eroberte Terracina, das zum Dukat von Neapel gehörte und damit Hoheitsgebiet der Byzantiner war. Aus Furcht vor deren Reaktion suchte Hadrian erneut, Karl zu einem offensiven Eingreifen zu bewegen. Doch der Frankenkönig war durch sein spanisches Abenteuer und einen Aufstand der Sachsen gebunden. Aber auch in Konstantinopel hatte man dringlichere Probleme, als den Papst in die Schranken zu weisen. Erst drei Jahre später, zu Ostern 781, erschien Karl in Rom, und zwar nicht nur orationis causa, zum Zwecke des Gebets. Damals wurde vor allem der politische Bund zwischen Papst und Frankenkönig gefestigt. Hadrian salbte und krönte Pippin und Ludwig, die jüngeren Söhne Karls, am Ostermontag zu Königen. Ludwig war von seinem Vater zur Herrschaft über die Aquitanier vorgesehen, Pippin über die Langobarden. Indem Hadrian auch die Stelle des Taufpaten übernahm, entstand wie schon zu Zeiten Pippins die enge geistliche Verwandtschaft der compaternitas zwischen dem römischen Bischof und dem Frankenkönig. Weiter wurden die Probleme im Zusammenhang mit der Pippinischen Schenkung geklärt. Der Papst erhielt Einkünfte bzw. Gebiete in Tuszien und dem Herzogtum Spoleto, verzichtete aber auf die Einhaltung der bislang nicht erfüllten Zusagen, insbesondere auf die Herrschaft über ganz Tuszien und Spoleto. Karl hatte sich als der Stärkere erwiesen und nur wenig nachgegeben, obwohl ihm der Papst auf einem anderen Gebiet entgegengekommen war. Er bezog Stellung gegen Tassilo von Bayern, der bis dahin ebenfalls gute Beziehungen zu Rom gepflegt hatte. Eine päpstlich–fränkische Gesandtschaft reiste zum Herzog, um diesen an seine Verpflichtungen gegenüber dem König zu erinnern. Freilich ließ sich Tassilo lediglich dazu herab, im August desselben Jahres vor Karl in Worms zu erscheinen und damit wenigstens seine formelle Zugehörigkeit zum Frankenreich anzuerkennen. Hatte Hadrian bei der Pippinischen Schenkung und in der bayerischen Frage seinen Willen zur Zusammenarbeit bewiesen, so revanchierte Karl sich nicht auf die erwartete Weise. Der Papst hatte gehofft, die Franken würden in Süditalien intervenieren, um dort seine Ansprüche gegen den oströmischen Kaiser militärisch durchzusetzen. Stattdessen schloß Karl 781 ein Bündnis mit Byzanz, das durch eine Heirat von Karls Tochter Rotrud mit dem jungen Kaiser Konstantin VI. abgesichert werden sollte. Am Bosporus regierte seit 780 die Kaiserin Irene als Regentin für ihren minderjährigen Sohn. Sie sah sich damals mit arabischen Angriffen auf Kleinasien konfrontiert und benötigte ruhige Verhältnisse im Westen. Wohl aus diesem Grund war sie bereit, die überragende Machtstellung der Franken in Italien einschließlich der Schutzherrschaft über Rom und das Papsttum anzuerkennen. So konnten die Franken glauben, die Gleichberechtigung mit dem altehrwürdigen oströmischen Reich nahezu erreicht zu haben. Aus Sicht Hadrians war damit wenigstens das Ende der byzantinischen Bedrohung Roms verbunden. Nur den Byzantinern nützte dieser Ausgleich wenig, denn noch im Frühjahr 781 erhob sich der Statthalter von Sizilien gegen die
Kaiserin, und Irene war nun doch gezwungen, Truppen nach Westen zu senden. Wenige Jahre später entschloß sich Karl zu einem militärischen Eingreifen in Süditalien. Allerdings folgte er damit weniger den Interessen des Papstes als vielmehr seinen eigenen. Inzwischen hatte sich nämlich das Fürstentum von Benevent als langobardisches Rückzugsgebiet zu einer echten Bedrohung nicht nur für Rom, sondern auch für die Franken selbst entwickelt. Arichis von Benevent führte den Titel eines princeps und fühlte sich wie Tassilo von Bayern als unabhängiger Herrscher. Wie dieser war er übrigens ein Schwiegersohn des letzten Langobardenkönigs Desiderius und damit ein Schwager des in Konstantinopel lebenden Thronprätendenten Adelchis. Im März 787 rückte Karl in das Fürstentum ein, und Arichis verzichtete schon bald auf jeden Widerstand. Er erkannte Karls Oberhoheit eidlich an und stellte unter anderem seinen Sohn Grimoald als Geisel. Angesichts dieses Erfolges glaubte Karl möglicherweise, auf das Bündnis mit Byzanz nicht mehr angewiesen zu sein. Als eine kaiserliche Gesandtschaft vor ihm erschien, um seine Tochter zum Kaiser nach Konstantinopel zu geleiten, weigerte er sich, Rotrud herauszugeben. Mit dieser beispiellosen Provokation gegen den vornehmsten Herrscher der Christenheit und dem Feldzug gegen den Herzog von Benevent drängte Karl allerdings beide zu einer gegen die Franken gerichteten Allianz. Tatsächlich schloß Arichis noch im selben Jahr ein Bündnis mit Byzanz und versprach gegen territoriale Leistungen seine Unterwerfung unter dessen Oberhoheit. Außerdem aktivierte die Kaiserin Irene den seit langem in Konstantinopel im Exil lebenden Langobardenkönig Adelchis und entsandte ihn nach Süditalien, wo ein byzantinisches Heer zusammengezogen wurde. Dieses Mal kam Karl eine glückliche Fügung zu Hilfe. Im August 787 starb Arichis von Benevent. Erbe des Fürstentums war sein Sohn Grimoald, der sich als Geisel in Karls Gewalt befand. Gegen den Rat des Papstes entließ ihn Karl nach Hause, und Grimoald dankte es ihm: Im Jahr darauf besiegte er zusammen mit dem Herzog von Spoleto die byzantinischen Truppen. Grimoald näherte sich zwar später wieder Byzanz an, doch die großen Ambitionen des Kaiserreiches waren in sich zusammengebrochen ebenso wie die des Adelchis, der den Rest seines Lebens in Konstantinopel verbrachte. Der eigentliche Grund für den politisch etwas unklugen Bruch Karls mit Byzanz dürfte in seinen enttäuschten Erwartungen zu suchen sein. Entgegen seinen Hoffnungen behandelte das Kaiserreich den Frankenkönig immer noch wie einen nachgeordneten Barbarenkönig. Die Eheabsprache hatte daran nichts geändert, zumal eine auswärtige Heirat für einen byzantinischen Kaiser nicht ungewöhnlich war. So war die Großmutter Konstantins VI. eine chazarische Prinzessin gewesen, also eine Angehörige eines im nördlichen Kaukasus beheimateten Nomadenvolkes, das mehrheitlich nicht einmal dem Christentum anhing. Es war aus oströmischer Sicht nur konsequent, als der Kaiser für 787 ein allgemeines Konzil nach Nikaia einberief und dazu zwar eine Abordnung des Papstes, nicht aber der Franken einlud. Karl wurde wohl mit einem Mal deutlich, daß ihm alle militärischen Erfolge und das politische Bündnis mit Byzanz doch niemals die Gleichberechtigung mit dem alten Kaiserstaat bringen würden. Er, der mächtigste König der westlichen Christenheit, hatte wie ein kleiner
angelsächsischer König die Ergebnisse dieses Konzils abzuwarten und untertänigst entgegenzunehmen. Das wollte Karl nicht länger hinnehmen und brach die Beziehungen kurzerhand ab. Das Konzil von Nikaia verfolgte allerdings ein Ziel, das nicht nur im kaiserlichen, sondern im allgemeinen Interesse lag. Konstantin VI. und Irene ließen nämlich die Bilderverehrung wieder zu und beseitigten so einen theologischen Gegensatz, der die Kirche für Jahrzehnte gespalten hatte. Papst Hadrian begrüßte diese Absicht und entsandte seine Legaten nach Nikaia. Auch er scheint sich an der Mißachtung Konstantinopels gegenüber den Franken nicht gestört zu haben, entsprach diese Praxis doch einer Tradition, die seit den Tagen Konstantins des Großen üblich gewesen war: Als einzigem weltlichen Herrscher war es nur dem Kaiser gestattet, in Angelegenheiten der Gesamtkirche mitzuentscheiden. Als Patriarch des Westens nahm er, der Papst, gleichsam auch die Vertretung der Franken wahr. Diese hatten schließlich noch vor wenigen Jahren um kirchenrechtliche und liturgische Texte gebeten, um ihre Kirche überhaupt reformieren und auf den rechten Weg bringen zu können. Auf diese Barbaren sollte er, der Nachfolger des hl. Petrus, Rücksicht nehmen und ihre Beteiligung an einem Ökumenischen Konzil zulassen? Dagegen richtete sich Karls Argumentation indirekt auch gegen Hadrian: Da keine fränkischen Bischöfe anwesend waren, könne das Konzil nicht als ökumenisch gelten. Zudem hätten die Franken in der Frage der Bilderverehrung seit jeher die richtige Position vertreten. Im übrigen dauerte es Jahre, bis der fränkische Hof eine Übersetzung der Konzilsakten erhielt, die in Rom angefertigt worden war, nachdem der Papst die Ergebnisse gebilligt hatte. Dennoch beharrte Karl auf seiner Position und betonte bei dieser Gelegenheit seine politische Zuständigkeit für Gallien, Germanien und Italien. In den sogenannten Libri Carolini legten die Hoftheologen des Frankenkönigs dessen Auffassung mit aller Deutlichkeit dar: Die Ergebnisse des Konzils von Nikaia seien ebenso wie der von diesem abgeschaffte Ikonoklasmus abzulehnen. Hadrian dagegen drängte auf die Annahme dieser Beschlüsse, während Karl lediglich auf die Publikation der Libri Carolini verzichtete. Im Verlauf dieser Verhandlungen bot der Papst einen Kompromiß zu Lasten des Kaisers und zum eigenen Vorteil an. Er wollte Konstantin VI. trotz seiner Rückkehr zum rechten Glauben zum Häretiker erklären, wenn dieser nicht das Unrecht wiedergutmachte, das sein Urgroßvater Leo III. dem Verbot der Bilderverehrung hatte folgen lassen: Der Kaiser sollte der römischen Kirche die damals entzogenen Besitzungen und Rechte restituieren. „Die Wendung Roms vom Osten, von der griechischen Kirche und vom Römischen Reiche fort und hin zu den Franken oder richtiger zu der päpstlichen Territorialherrschaft, deren Bestand die Franken schützten und garantierten, konnte nicht deutlicher ausgedrückt werden. Die erneuerte Glaubenseinheit mit den Griechen galt wenig, solange die Franken Roms Autonomie schützten und die Griechen sie verachteten“ (P. Classen). Vor diesem Hintergrund mußte der Papst es aber auch akzeptieren, daß Karl seine Kirchenherrschaft mit einem Nachdruck betonte, der sehr an den byzantinischen Kaiser erinnerte. Im Jahr 794 berief der Frankenkönig ein Konzil nach Frankfurt ein. Daß sich damals die fränkischen Bischöfe um
ihren König versammelten, war an sich nicht ungewöhnlich, doch beherrschte Karl inzwischen auch das ehemalige Langobardenreich. Damit waren auf der Synode bereits die alten römischen Provinzen Gallien, Germanien und Italien repräsentiert; dazu kamen Abgesandte der angelsächsischen Kirche aus Britannien und sogar Legaten des Papstes. Das wichtigste Thema war wie in Nikaia 787 die Bekämpfung einer Irrlehre. In Spanien hatte sich eine neue Ansicht über die wahre Natur Christi entwikkelt; Jesus sei nicht der leibliche, wohl aber der Adoptivsohn Gottes. Die Franken lehnten ebenso wie der Papst diese Lehre entschieden ab, und entsprechend nahm das Frankfurter Konzil Stellung. Das Konzil von Nikaia kam ebenfalls zur Sprache, mit dem Ergebnis, daß seine Beschlüsse verworfen wurden. Damit wies Karl auch den Papst erkennbar in die Schranken, denn seine Gesandten trugen diesen Beschluß mit, obwohl Hadrian doch über die Richtigkeit und Wirksamkeit der Regelungen des Konzils von Nikaia völlig anderer Meinung war. Wohl um sein Gesicht zu wahren, bestätigte der Papst schließlich weder die Frankfurter Beschlüsse noch die von Nikaia. Karl hatte seinen Anspruch auf Gleichberechtigung mit dem Kaiser in aller Form deutlich gemacht. Papst Hadrian starb an Weihnachten 795. Karl betrauerte den Verlust seines langjährigen Partners aufrichtig. Einhard berichtet, die Nachricht von Hadrians Tod habe den König zu Tränen gerührt. Karl ließ in der Peterskirche eine Grabplatte aus schwarzem Marmor anbringen, auf der man noch heute ein von Alkuin, dem Leiter der Hofschule Karls, verfaßtes Grabgedicht lesen kann: „Um den Vater vergieße ich Tränen, ihm ließ ich, Karl, diese Verse schreiben. Du, meine innige Liebe, dich Vater beweine ich jetzt. Die Namen vereine ich glänzend mit Titeln: Hadrian und Karl, König ich, Vater du. Beter, der du die Verse demütigen Sinnes liest, sprich ,Gott, sei gnädig, erbarme dich beider!’“ Hatte Karl bereits gegenüber dem geachteten Hadrian auf seine überragende Position gepocht, so tat er dies erst recht bei dessen Nachfolger Leo III., dem er allein die Aufgabe des Betens zuwies, während er selbst die römische Kirche schützen und die Christen gegen Heiden und Ungläubige verteidigen wollte. Karl schrieb dies Leo III. im Jahre 796 anläßlich seines Sieges über die heidnischen Awaren. Dieser militärische und politische Erfolg bot die Gelegenheit, den Papst an die Aufgabenverteilung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt zu erinnern. Insgesamt steigerte der Sieg über die einst als Geißel der Christenheit gefürchteten Awaren das Selbstwertgefühl des fränkischen Hofes erheblich. So bezeichnete Alkuin, Karls gelehrter Vertrauter, das Reich des Frankenkönigs aus diesem Anlaß als imperiale regnum, als kaiserliche Königsherrschaft. Es sollten nur noch vier Jahre vergehen, bis Karl im Westen eine wirkliche Kaiserherrschaft errichten konnte. In Byzanz hatte während des fränkischen Triumphs über die Awaren Konstantin VI. seine Mutter Irene entmachtet. 797 allerdings gelang es der Kaiserin, ihren Sohn abzusetzen und durch Blendung amtsunfähig zu machen, worauf sie im eigenen Namen herrschte. Einer vereinzelten Nachricht zufolge soll eine Partei in Byzanz, möglicherweise sogar die Kaiserin selbst, Karl 798 die Kaiserwürde angeboten haben. Sicherlich verstärkten diese Vorgänge Karls Entschlossenheit, bei passender Gelegenheit nach der höchsten weltlichen Würde zu greifen. Der römische
Aufstand gegen den Papst Leo III. 799 brachte endlich die gewünschte Gelegenheit. Alkuin schrieb damals angesichts der unerhörten Vorgänge im alten und im neuen Rom an seinen Herrn: „Drei Personen nahmen auf der Welt bisher die höchste Stelle ein, nämlich der Papst in Rom, der den Stuhl des hl. Apostelfürsten Petrus als Stellvertreter innehat, dann die kaiserliche Würde und die weltliche Macht des zweiten Roms, an dritter Stelle die königliche Würde, zu der Euch, als Lenker des christlichen Volkes, mächtiger als die genannten, hehrer an Weisheit, erhabener durch die Würde des Reiches, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus erhoben hat. Auf Dir allein beruht das ganze Wohl der Kirchen Christi.“ Diese Zeilen spiegeln das gesteigerte Selbstbewußtsein Karls in jenen Tagen wider. Ohne unnötige Hast, aber mit großer Konsequenz verfolgte er nun das Ziel, nicht nur faktisch, sondern auch dem Titel nach an der Spitze der Christenheit zu stehen. Karls Erhebung zum Kaiser am Weihnachtstag des Jahres 800 wurde in Byzanz als Provokation empfunden. Insbesondere die tragende Rolle, die der Papst hierbei gespielt hatte, wurde übel vermerkt, da in Konstantinopel die Krönung durch den Patriarchen nur geistliches Beiwerk des an sich rein weltlichen Aktes der Erhebung zum Kaiser war; entsprechend karikierend beschrieb denn auch der Geschichtsschreiber Theophanes eine in den westlichen Quellen nicht belegte Salbung Karls gerade nicht wie eine Herrscherweihe, sondern wie die letzte Ölung eines Sterbenden. Dieser Spott sollte aber nur verdecken, wie tief man am Bosporus getroffen war, ja wie bedroht man sich fühlte. Schon in der Vergangenheit hatte es etliche Usurpationen gegeben, und manche Gegenkaiser waren in Italien, ja sogar in Rom erhoben worden. Sie alle waren Reichsuntertanen gewesen und hatten nach der Herrschaft im Byzantinischen Reich gestrebt. Nun erkühnte sich ein Barbar, nach der römischen Kaiserwürde zu greifen, und der byzantinische Hof wußte nicht recht, welche Folgen zu erwarten waren. Wollte Karl das oströmische Reich angreifen, um schließlich auch Konstantinopel, die wahre Hauptstadt des Römischen Reiches, zu erobern und so seine Usurpation mit letzter Konsequenz zu Ende zu führen? Da aber nichts dergleichen geschah, schickte Kaiserin Irene eine Gesandtschaft in den Westen, die Karls Absichten erkunden sollte. Mit einer Antwort zogen fränkische und päpstliche Boten nach Konstantinopel. Möglicherweise kamen damals die Gerüchte von einem Eheprojekt zwischen Karl und Irene auf, die zwar jeder Grundlage entbehrten, jedoch die ältliche Kaiserin, die mit dem barbarischen Usurpator verhandelte, statt ihn zu bekämpfen, in den Augen ihrer Gegner kompromittierten. So ist es vielleicht kein Zufall, daß die Kaiserin Ende Oktober 802 gestürzt wurde, noch während sich die westlichen Gesandten an ihrem Hof aufhielten. Das Haupt dieser Verschwörung, der hohe Hofbeamte Nikephoros, bestieg nun den Thron. Doch auch er beschritt den Verhandlungsweg; im Sommer 803 erschien erneut eine byzantinische Gesandtschaft bei Karl, der ihr den schriftlichen Entwurf eines Friedensvertrages übergab. Auch wenn dieser nicht erhalten ist, wird man davon ausgehen können, daß Karl seine Anerkennung als Kaiser forderte. Machtpolitisch dürfte Karl den Erhalt des Status quo angestrebt haben. Die Bestätigung der Kaiserwürde kam für Nikephoros aber nicht in Frage, und so ließ er Karls Vorschlag
unbeantwortet. Allerdings war ihm diese Rangfrage auch keinen Angriffskrieg wert; zu militärischen Auseinandersetzungen kam es erst wegen handfester territorialer Interessen. In Venedig, das dem Byzantinischen Reich unterstand, nach innen aber weitgehend autonom war, kam es damals zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen. Die verschiedenen Parteien suchten Anlehnung entweder bei den Franken oder den Byzantinern. Als Karl 806 Venedig und Dalmatien formal seinem Reich einverleibte, konnte dies Nikephoros nicht hinnehmen. Es kam zum Krieg, der sich vier Jahre hinzog. Während die Franken zu Lande übermächtig waren, beherrschten die Byzantiner das Meer. Daher konnte sich keine der beiden Seiten bis 810 einen entscheidenden Vorteil verschaffen. Damals plante Nikephoros einen Krieg gegen die Bulgaren, die ständig seine Hauptstadt bedrängten. Daher entsandte er Boten zu den Franken, um die kriegerische Auseinandersetzung mit ihnen zu beenden. Karl ergriff die Gelegenheit, um auch in der Frage seiner Anerkennung als Kaiser eine Lösung herbeizuführen. Um die Voraussetzung dafür zu schaffen, war er sogar bereit, auf Venedig zu verzichten. Als die fränkischen Gesandten in Konstantinopel eintrafen, war Nikephoros jedoch bereits tot. Er war im Juli 811 gegen die Bulgaren gefallen. Sein Schwiegersohn und Nachfolger Michael I. führte die Verhandlungen weiter und erkannte Karls Kaisertum schließlich an. Im Sinne der byzantinischen Auffassung der grundsätzlichen Überlegenheit des eigenen Reiches als Fortsetzung des Imperium Romanum interpretierte er Karls Kaisertum jedoch als bloße Rangerhöhung für einen König, der zahlreiche Völker beherrschte. Um diesen Unterschied deutlich zu machen, nahm Michael einen eindeutigen Hinweis auf den römischen Charakter in die offizielle byzantinische Kaisertitulatur auf: Nicht allein ,Kaiser’, sondern ,Kaiser der Römer’ nannten sich fortan die im zweiten Rom am Bosporus residierenden Herrscher. Karl aber wurde im Sommer 812 in Aachen von byzantinischen Gesandten als Kaiser akklamiert. Nach zwölf Jahren war er am Ziel und hatte die Anerkennung seiner neuen Würde durch Konstantinopel erreicht. Diese äußere Anerkennung seines Status darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß Karl sich selbst seit dem Weihnachtstag des Jahres 800 als Kaiser betrachtet hatte. Dies wurde besonders deutlich in einer kirchenpolitischen Frage, von der sowohl der Osten als auch der Westen betroffen waren: In Jerusalem, als dessen Schutzherr sich der neue westliche Kaiser verstehen konnte, war ein theologischer Streit zwischen griechischen und fränkischen Mönchen ausgebrochen, weil die Franken über den Wortlaut des gemeinsamen Glaubensbekenntnisses hinaus lehrten, der Heilige Geist sei vom Vater und vom Sohn ausgegangen, ex patre filioque procedit. Karl ließ 809 den Filioque–Streit auf der Synode von Aachen in einer Art und Weise entscheiden, die sehr an die fränkische Stellungnahme zum Bilderstreit auf dem Frankfurter Konzil 794 erinnert. Die fränkische Kirchenversammlung forderte den Papst auf, diesen Zusatz in das Glaubensbekenntnis einzufügen. Leo III. lehnte dies ab, da damit die Einheit zwischen östlicher und westlicher Kirche gestört worden wäre. In dieser Forderung zeigte sich aber das neue Selbstwertgefühl der Franken, die sich selbst in kirchlichen Fragen dem Papst nicht mehr unterordnen wollten. Denn obwohl der Papst das alte Glaubensbekenntnis in der auf dem
Konzil von Nicäa 381 beschlossenen Form auf beiden Seiten der Gruft des Apostels Petrus in lateinischer und in griechischer Sprache aufhängen ließ, wurde das Glaubensbekenntnis im Frankenreich weiterhin mit dem Zusatz filioque gesungen. Karl hatte nun eine Stellung erreicht, wie sie seit den Tagen der weströmischen Kaiser kein Herrscher mehr im Westen der Christenheit erlangt hatte. Er regierte als Kaiser ein Reich, das vom Kanal bis nach Süditalien, von der Elbe bis über die Pyrenäen reichte. Der Papst unterstand seiner politischen Herrschaft und konnte selbst die kirchlichen Entscheidungen der Franken nicht bestimmen. Der byzantinische Kaiser hatte mit ihm erstmalig einen Barbarenherrscher als gleichberechtigt anerkannt. Sogar mit dem arabischen Kalifen im fernen Bagdad tauschte Karl Gesandte aus, pflegte also ganz selbstverständlichen Umgang mit der dritten Großmacht im Mittelmeerraum. Ein Resultat dieser Beziehungen war, daß der Kalif Harun–al–Raschid Karl 802 die Verfügungsgewalt über das Grab Christi überließ. Dadurch aber wurde das Prestige des westlichen Kaisers gewaltig gesteigert: Nicht der oströmische Kaiser, der sich seit Jahrzehnten in der Defensive gegenüber dem Islam befand, sondern der Herrscher des Westens sollte der Schutzherr der Christen an den Heiligen Stätten in Jerusalem sein. Karl hatte das Frankenreich auf einen einzigartigen Höhepunkt seiner Macht geführt.
6. Die Lenkung des Reiches Karls Erhebung zum Kaiser besaß nicht nur eine außenpolitische Dimension, sondern zeitigte auch erhebliche Auswirkungen auf seine Herrschaftsausübung im Innern. Der neuerworbene Titel war in Karls Augen eben nicht nur eine bloße Formalität, sondern er veränderte seine Stellung im Reich auch qualitativ. Nichts verdeutlicht dies mehr als die Tatsache, daß Karl im Jahr 802 eine Vereidigung der gesamten Reichsbevölkerung verfügte, die auf das nomen Caesaris, auf den Kaisertitel, erfolgen sollte. Dies war die zweite allgemeine Huldigung seit 789, ein Jahr nach dem Sturz Herzog Tassilos von Bayern. Damals hatten in fideles homines, untreue Leute, als Entschuldigung für einen Aufstand angegeben, sie hätten dem König keinen Treueid geschworen. Diese Entschuldigung sollte niemand jemals mehr vorbringen können – alle freien Männer, die das zwölfte Lebensjahr vollendet hatten, mußten dem König nun Treue schwören. 802 ging der Kaiser im Vergleich zu 789 einen Schritt weiter, indem er den sehr dehnbaren Begriff der Treue näher definierte. In der Vergangenheit war offenbar die Auffassung vertreten worden, daß es zur Erfüllung der Treueverpflichtung genügte, das Leben des Herrschers nicht zu bedrohen und keine Feinde in dessen Reich zu rufen. Karl verlangte nun mehr von seinen Untertanen. Alle sollten sich den Geboten Gottes entsprechend verhalten, den gesamten Besitz des Kaisers respektieren, seine Schutzherrschaft über Kirchen, alle Schwachen und insbesondere Witwen und Waisen anerkennen sowie den kaiserlichen Befehlen gehorchen. Diese Forderungen erscheinen uns heute merkwürdig, da sie teils nicht dem staatlichen Bereich zugehörig, teils selbstverständlich scheinen. In der Zeit Karls des Großen waren sie es nicht, und das zeigt, wie wenig die Herrschaft entwickelt war und wie schwierig es gewesen sein muß, staatliche Autorität
im heutigen Sinne durchzusetzen. Der andere Teil seiner Forderungen ergibt sich aus Karls Selbstverständnis als christlicher König. Die Schwierigkeiten eines mittelalterlichen Herrschers, seine Autorität zur Geltung zu bringen, läßt sich an einem Beispiel aus Aquitanien verdeutlichen. Dort hatte Karl 781 Ludwig, seinen dritten Sohn aus der Ehe mit Hildegard, als Unterkönig eingesetzt. Anläßlich eines Besuches beim Vater machte Ludwig ihm erst auf dessen ausdrücklichen Befehl hin ein angemessenes Geschenk. Über die Gründe befragt, berichtete Ludwig, er befände sich in einer schwierigen Lage, weil seine Großen ohne Ausnahme nach ihrem eigenen Vorteil strebten. Einerseits vernachlässigten sie die öffentlichen Güter, andererseits wandelten sie diese sogar in privaten Besitz um. Er, Ludwig, sei nur dem Namen nach Herr. Die Reaktion Karls auf diese skandalös anmutenden Zustände fiel überraschend milde aus. Er unterstellte lediglich die ehemaligen königlichen Güter wieder der herrscherlichen Verfügungsgewalt und verzichtete auf jede Strafmaßnahme. Er wollte wohl den aquitanischen Großen eine willentliche Schädigung der Königsgüter nicht vorwerfen, da sie dies womöglich in die offene Rebellion getrieben hätte. Obwohl sie in keiner Weise aufrührerisch, sondern – wenigstens nach ihrer eigenen Überzeugung – loyal waren, gefährdete ihr Egoismus doch die Stellung ihres Königs. Sie zu disziplinieren, gestaltete sich auf lange Sicht ähnlich schwierig wie der Kampf gegen erklärte Feinde. Daß Karl die Reichsbevölkerung durch den Eid dazu verpflichtete, den kaiserlichen Besitz unangetastet zu lassen, war ein Versuch, vor allem den Adel zur Anerkennung der besonderen Stellung des Herrschers zu zwingen, ohne einen Konfrontationskurs einzuschlagen. Insgesamt zeigen die Bestimmungen zur allgemeinen Vereidigung, wie schwach entwickelt die herrscherliche Autorität im Innern war. Während seiner gesamten Regierungszeit bemühte Karl sich, dieser Geltung zu verschaffen. Als bleibende Dokumente dafür sind zahlreiche Kapitularien erhalten – in Kapitel eingeteilte Texte, die etwa zwischen Gesetzen und Verordnungen einzustufen sind. Schon bald nach der ersten ernsthaften Krise seiner Herrschaft, nach seinem erfolglos verlaufenen Spanienfeldzug des Jahres 778 und den Rückschlägen in Sachsen, erließ er im Jahr 779 in Herstal das bedeutendste Kapitular seiner frühen Regierungszeit: Vor allem Kapitel 16 geht schon auf das Problem der Treue ein, denn Karl untersagte sogenannte Gilden und Schwurfreundschaften. In solchen Gemeinschaften wurde eine eidliche Bindung ihrer Angehörigen geschaffen, die im Falle eines Konfliktes der Treue gegen den König vorgezogen werden konnte. Auch das nächste bedeutende Kapitular, die sogenannte Admonitio generalis, die allgemeine Ermahnung, von 789 erließ Karl kurz nach einer Krise, nämlich nach dem Aufstand Hardrads und der Absetzung Tassilos von Bayern. In diesem Kapitular gebärdete sich Karl unter dem Einfluß des gelehrten Angelsachsen Alkuin von York als Lenker des Christenvolkes, indem er allen Untertanen überwiegend kirchenrechtliche Bestimmungen, etwa die Heiligung des Sonntags, einschärfte. Bezeichnend sind einige wenige Bestimmungen, die man als Hinweise auf den allgemeinen Treueid versteht. Karl untersagte den Meineid insbesondere dann, wenn über den Evangelien, dem Altar oder Reliquien geschworen wurde, sowie wenn mehrere Personen gemeinsam den Eid leisteten. Gerade letzteres ist für den
allgemeinen Treueid relevant, da dieser ja in Gruppen vor den königlichen Amtsträgern geleistet wurde. Die nächste bedeutende gesetzgeberische Tätigkeit vollzog Karl während der wichtigen Synode von Frankfurt 794, die in ihren geistlichen Beschlüssen auf die in Spanien entstandene Lehre des Adoptianismus, Christus sei lediglich ein in besonderer Weise von Gottes Geist erfüllter Mensch gewesen, und auf das oströmische Konzil von Nikaia reagierte, in ihren weltlichen Teilen aber wiederum eine Antwort auf die innere Schwäche des Reiches darstellte: 792/93 hatte sich der älteste Sohn Karls, Pippin der Bucklige, gegen seinen Vater erhoben. Pippin, den sein Vater praktisch von der Erbfolge ausgeschlossen hatte, fand zahlreiche hochadlige Anhänger. Die Vermutung liegt nahe, daß darunter auch Bayern waren, die Tassilo aus dem Kloster zurückholen wollten. Der Aufstand schlug fehl, so daß auch Pippin für den Rest seines Lebens hinter Klostermauern verschwand, während Tassilo kurz darauf in Frankfurt zum letzten Mal in seinem Leben öffentlich auftrat, um auch im Namen seiner Nachkommen auf sämtliche Herrschaftsrechte über Bayern zu verzichten. Erst damit konnte Karl seine Herrschaft in Bayern wirklich als gesichert betrachten, denn der „Schauprozeß“ des Jahres 788 war kaum eine legitime Basis für die Absetzung des Herzogs gewesen. Die Durchsetzung seiner Herrschaft nach innen gestaltete sich schwieriger, als es Karls zahlreiche außenpolitische Erfolge vermuten lassen. Vor diesem Hintergrund brachte die Kaiserkrönung nicht nur einen Gewinn an Macht und vor allem an Ansehen mit sich, sondern auch eine reale Gefahr. Der fränkische Adel war findig, wenn es darum ging, die Autorität des Herrschers zu unterlaufen. So kann man sich leicht vorstellen, was als Nächstes drohte. Wer, wie die Teilnehmer an der Hardrad–Verschwörung 786, damit argumentierte, er sei dem König nicht verpflichtet, weil er keinen Treueid geleistet habe, der konnte eine neuerliche Gehorsamsverweigerung leicht damit begründen, er habe dem König, aber eben nicht dem Kaiser die Treue geschworen. Die Vereidigung von 802 war daher schon aus diesen Gründen aus der Sicht Karls unbedingt notwendig. Die oben skizzierte Erweiterung des Treuebegriffs sollte dabei eine wirksame Durchsetzung der herrscherlichen Ansprüche unterstützen. Vieles von dem, was Karl auf dem Gebiet der Loyalität seiner Untertanen erreichen wollte, stand nur auf dem Pergament, konnte aber niemals durchgesetzt werden. Vielmehr mußte Karl sich die Loyalität seiner Großen, wie alle seine Vorgänger, auf dem üblichen Weg erkaufen – durch Schenkungen, sonstige Gunstbeweise und vor allem mit der Übertragung wichtiger Aufgaben. Aber Karl gab sich damit in Gegensatz zu seinen Vorgängern nicht zufrieden. Seinem Selbstverständnis nach wollte er Herrscher sein wie die Kaiser der Antike oder die byzantinischen Kaiser seiner Zeit. Ihr Wort war Gesetz, und zumindest der Theorie nach mußten sie sich nicht mit widerspenstigen Großen abgeben. Es zeugt daher von Karls großem Beharrungsvermögen, daß er sein Ziel trotz der erheblichen Schwierigkeiten und Widerstände nicht aus den Augen verlor, indem er seine Vorstellungen immer wieder in Form von Kapitularien bekanntmachen ließ. Schon durch den Akt, solche schriftlichen Direktiven zu erlassen, kopierte der Frankenherrscher seine großen römischen Vorbilder.
Karl ließ im Jahr 802 nicht nur die Reichsbevölkerung vereidigen, sondern er entwickelte damals, kurz nach der Kaiserkrönung, auch eine intensive gesetzgeberische Tätigkeit. Zusammenfassend berichten die Lorscher Annalen: „Und im Monat Oktober versammelte der Kaiser eine allgemeine Synode am genannten Ort (Aachen) und ließ dort die Bischöfe mit den Priestern und Diakonen alle Kanones lesen, die die heilige Synode annahm, sowie die Dekrete der Päpste, und er befahl, daß sie ihnen vollständig übersetzt wurden vor allen Bischöfen, Priestern und Diakonen. In ähnlicher Weise versammelte er auf der Synode Mönche und Äbte, die anwesend waren, und sie traten zusammen und lasen die Regel des heiligen Vaters Benedikt und übersetzten sie vor allen Äbten und Mönchen. (...) Und der Kaiser selbst versammelte während dieser Synode die Herzöge, Grafen und das übrige christliche Volk mit den Rechtskundigen und ließ alle Gesetze in seinem Reich verlesen und übersetzen, einem jeden Mann sein Gesetz, und er ließ verbessern, was immer notwendig war, und das verbesserte Gesetz aufzeichnen, damit die Richter auf Grund des geschriebenen Rechtes urteilen sollten und keine Geschenke annehmen, damit alle Menschen, Arme und Reiche, Gerechtigkeit hätten.“ Betrachten wir zunächst den weltlichen Bereich dieser Gesetzgebung etwas näher. Karl ließ die Volksrechte der Franken, Friesen, Sachsen und Thüringer überarbeiten oder neu aufzeichnen. Die Rechte der Bayern und Alamannen ergänzte er in Form von Kapitularien. Gerade den unterworfenen Völkern räumte er so eine gewisse Eigenständigkeit ein, wenn auch gerade diese Volksrechte in vielen Einzelheiten vom fränkischen Recht entscheidend beeinflußt waren. Eine Verschriftlichung der Gesetzgebung für die Völker, die bislang ohne Schrift ausgekommen waren, bedeutete zudem einen erheblichen Eingriff in ihre Traditionen. Karl wollte mit seiner Gesetzgebung einerseits das Rechtsleben in seinem Reich systematisieren und dieses damit leichter regierbar machen, und andererseits seine eigene Autorität im gesamten Reich steigern. Es verwundert daher nicht, daß er etwa in Sachsen noch im 13. Jahrhundert als der Gesetzgeber schlechthin galt. Die Gesetze mußten aber auch in die Praxis umgesetzt werden. Zu diesem Zweck wurde die Grafschaft als Verwaltungseinheit sogar in die frisch unterworfenen Gebiete exportiert, um auch auf diesem Gebiet eine Strukturierung des Reiches zu erreichen. Wie der comes der Merowingerzeit, befehligte der karolingische Graf das Heeresaufgebot und führte den Vorsitz bei Gericht. Beide Funktionen bargen erhebliche wirtschaftliche Möglichkeiten in sich, denn ein Teil der bei Gerichtsurteilen fälligen Bußzahlungen kamen den Grafen zugute, und die entscheidende Rolle beim Heerwesen eröffnete ihnen die Möglichkeit, freie Bauern in Abhängigkeit zu bringen. Das System der Grafschaften konnte aber niemals lückenlos das gesamte Reich erfassen, da bereits seit merowingischer Zeit etliche geistliche Immunitäten (vom Herrscher garantierte Hoheitsräume) und adlige Eigenherrschaften existierten. Und sogar die Grafen selbst, die Karl als seine Amtsträger betrachtete, versuchten sich der herrscherlichen Kontrolle zu entziehen. Bei ihrer Ernennung war der Herrscher auch nicht völlig frei, da er Rücksicht auf angestammte familiäre Ansprüche und örtliche Machtverhältnisse nehmen mußte. Zudem waren die Entfernungen zwischen dem Kaiserhof und den einzelnen Grafschaften zum Teil sehr groß, so daß es
allein deswegen schon nicht einfach war, die Vorstellungen der Zentrale draußen im Lande umzusetzen. Gleichwohl bemühte sich Karl um eine positive Veränderung der Verhältnisse. So griff er in das Gerichtswesen mit dem Ziel ein, die Stellung der Ärmeren und Machtlosen zu verbessern. In karolingischer Zeit war das Zusammenleben zum Teil von enormer Gewalttätigkeit geprägt. Die Verfolgung von Straftätern konnte angesichts der rudimentären Verwaltung, der beispielsweise ein Polizeiapparat fehlte, nur sehr beschränkt erfolgreich sein. Selbsthilfe und Blutrache waren an der Tagesordnung. Wenigstens der Theorie nach schränkte Karl diese ein, denn er bestand darauf, daß ein vom Schuldigen angebotenes Sühnegeld angenommen werden müsse. Das geschah üblicherweise im Rahmen eines Gerichtsverfahrens. Die Grafen oder ihre Vertreter führten im Namen des Königs den Vorsitz und vollstreckten das Urteil, während rechtserfahrene Männer aus dem Volk die Gesetze auslegten. Sie wurden von Fall zu Fall gewählt, bis Karl bestimmte, daß es in jedem Gerichtsbezirk ständig amtierende scabini, Schöffen, geben sollte. Nördlich der Alpen gehörten sie zur Schicht der wohlhabenden Grundbesitzer, in Italien dagegen zu den professionellen Notaren. Gleichzeitig wurde die Verpflichtung der Freien, bei Gericht anwesend zu sein, auf drei Termine im Jahr beschränkt. Weiter führte Karl sogenannte Rügezeugen ein, die Straftaten dann vor Gericht zu bringen hatten, wenn die Geschädigten dies nicht selbst taten. Ob Karl allerdings seine Vorstellungen flächendeckend durchsetzen und das gesteckte Ziel, der Gerechtigkeit öfters zum Durchbruch zu verhelfen, erreichen konnte, muß bei allen guten Ansätzen bezweifelt werden. Alkuin beschreibt treffend die Schwierigkeiten, die selbst der große Karl nicht beseitigen konnte: „Ich bin vom guten Willen des Königs überzeugt, nur gibt es leider mehr Leute, die ihm Hindernisse in den Weg legen, als solche, die ihn unterstützen“. Eine Möglichkeit, die verschiedenen Amtsträger wenigstens persönlich enger an den Herrscher zu binden, bestand in der Vasallität bzw. dem Lehnswesen. Das Wort vassus ist keltischen Ursprungs und bezeichnet den Untergebenen eines Herrn. In merowingischer Zeit wurden sowohl abhängige Freie als auch Unfreie vassi genannt. Die abhängigen Freien bzw. ihre Vorfahren hatten sich zumeist aufgrund einer wirtschaftlichen Notlage oder auf Druck ihres künftigen Herrn in dessen Abhängigkeit begeben. Symbolisiert wurde dies durch die commendatio, den Handgang. Dabei legte der Untergebene seine Hände in die Hände seines Herrn und versprach servitium vel obsequium, Dienst und Gehorsam. Auf der anderen Seite war der Herr dazu verpflichtet, für den Lebensunterhalt des Kommendierten zu sorgen. Das geschah oft dadurch, daß ihm der Herr gegen Abgaben ein Stück Land zur Bewirtschaftung überließ. Dieses formalisierte Abhängigkeitsverhältnis fand allmählich auch Eingang in höhere soziale Schichten, doch blieben seine Ursprünge noch lange Zeit im allgemeinen Bewußtsein. Karl hatte den bayerischen Herzog Tassilo also auf das Äußerste erniedrigt, als er ihn 787 zwang, sein Vasall zu werden und Bayern von ihm als Lehen zu nehmen. Dieser Vorgang trug wohl entscheidend dazu bei, daß die Vasallität im ausgehenden 8. und beginnenden 9. Jahrhundert schließlich „gesellschaftsfähig“ wurde. Oft stiegen nun Personen zu Grafen auf, die als
junge Männer etwa zur Erziehung an den Hof des Königs gekommen und dort in dessen Vasallität eingetreten waren. Bei diesen vassi dominici, den Vasallen des Herrn (Königs), handelte es sich selbstverständlich um Adlige, deren Väter in der Regel bereits eine Grafschaft verwalteten. Vertraute der Herrscher ihnen, dann bot er ihnen nach Jahren des treuen Dienstes die Grafschaft ihres Vaters oder auch eine andere an. So blieben sie seine Vasallen und ihm dadurch besonders eng verbunden. Im Laufe der Zeit verschmolzen beide Funktionen, und es wurde der Normalfall, daß ein Graf oder sonstiger Amtsträger zugleich auch Vasall des Königs war. Mit diesem sozialen Aufstieg wandelten sich auch die Inhalte der Vasallität, insbesondere der Verpflichtungen des Vasallen. Nicht mehr servitium vel obsequium wurde von ihnen erwartet, sondern consilium et auxilium, Rat und Hilfe. Mit anderen Worten – die Bindungen lockerten sich ganz erheblich und erweiterten den Spielraum der Vasallen ihrem Herrn gegenüber. Ein anderer Weg, um die Verwaltung des Reiches zu verbessern, war die Einrichtung einer Zwischeninstanz mit der Aufgabe, die lokalen Amtsträger zu beaufsichtigen. Zu diesem Zweck sandte der König missi dominici aus, die sogenannten Königsboten. Diese traten meist zu zweit auf – ein Geistlicher und ein Laie – und bereisten einmal jährlich einen Bezirk aus mehreren Grafschaften und Bistümern, „um überall kontrollierend und schlichtend zugunsten des Königs zu wirken“ (R. Schieffer). Aber ihre Autorität hing stark von ihrem Rang und ihrem Ansehen ab, was dazu führte, daß sie ebenso wie die zu kontrollierenden Grafen durchweg dem höchsten Adel angehörten. Das führte zu Interessenkollisionen. Außerdem war es nicht völlig zu verhindern, daß diese außerordentliche Befugnis bestimmter Bischöfe und Grafen mit ihrem eigentlichen Amt verschmolz, weshalb die Funktion des Königsboten ihren ursprünglichen Sinn allmählich verlor. Die wirksamste Kontrolle der Amtsträger konnte daher nur der Herrscher selbst ausüben. Deshalb war Karl fast ständig unterwegs. Sein Hof machte auf den zahlreichen ländlichen Königspfalzen, in Klöstern oder auch am Hof eines Bischofs Station. Unter den Königspfalzen sind zunächst die alten merowingischen Aufenthaltsorte wie Compiègne, Quierzy (nördlich Paris) oder Attigny (bei Reims) zu nennen, die noch Karls Vater Pippin bevorzugt besucht hatte. Unter Karl rückten neue Pfalzen ins Rampenlicht, die zeigen, daß sich der Schwerpunkt des Reiches nach Osten verlagert hatte: Frankfurt, Ingelheim, Diedenhofen, Worms und schließlich Aachen, das seit etwa 795 die ausschließliche Winterpfalz Karls war. Aachen wurde nach dem Vorbild Ravennas und Pavias ausgebaut. Über die Gründe für Karls Wahl kann man nur spekulieren, denn manche Vorzüge Aachens hätte er sicherlich auch anderswo finden können. In den warmen Quellen Aachens konnte der alternde Karl schwimmen und in den großen Wäldern weiter westlich der Jagd nachgehen, dem standesgemäßen Zeitvertreib eines Adligen. Hierher ließ Karl auch 801 die Statue Theoderichs des Großen aus Ravenna transportieren. Er suchte damit den Anschluß an den großen Gotenkönig, der – ein Barbar wie er selbst – weite Teile des ehemaligen Römischen Reiches beherrscht hatte. Die Organisation des Königshofes wurde von den Merowingern übernommen. Allerdings verschwand das Amt des Hausmeiers, das es den Karolingern einst auf Grund seiner Machtfülle erst ermöglicht hatte, die
merowingischen Könige zu entmachten. Gleichwohl blieben weiterhin vier Hofämter: der Mundschenk, der Marschall, der Seneschall, der für die Verpflegung des Hofes und auch für die Verwaltung des Reichsgutes zuständig war, sowie der Kämmerer, dem die Verwaltung des Hofes oblag. Weiter wirkte der Pfalzgraf an der königlichen Gerichtsbarkeit mit. Die Funktionen der merowingischen Kanzlei wurden von der königlichen Hofkapelle übernommen. Die Kapelle war ursprünglich der Ort, an dem die cappa, der Mantel, des fränkischen Reichsheiligen Martin aufbewahrt wurde. Die Geistlichen, die dort ihren Dienst versahen, hießen dementsprechend capellani. Ihr Vorsteher, später Erzkapellan genannt, überwachte die Ausfertigung königlicher Urkunden und Briefe. Die Kapelle diente zudem als Aufbewahrungsort wichtiger Dokumente. So übertrug sich der Name des Ortes auf die Gesamtheit der Geistlichen, die in der Kapelle Dienst taten. Neben den missi dominici sorgten auch die Reichsversammlungen, die Karl regelmäßig abhielt, dafür, daß die Verbindung zwischen dem Herrscher und seinen geistlichen und weltlichen Großen erhalten blieb. Der theoretischen Schrift De ordine palatii, Über die Palastordnung, des Reimser Erzbischofs Hinkmar, ist zu entnehmen, daß jährlich zwei Reichsversammlungen abgehalten werden sollten, eine allgemeine im Frühjahr und eine kleinere im Herbst, zu der lediglich die hohen Amtsträger zu erscheinen hatten. Hier wurden die Unternehmungen des kommenden Jahres geplant. Die allgemeinen Versammlungen hielt Karl oft erst in den Sommermonaten ab, am Anfang seiner Herrschaft öfters in Worms oder Ingelheim, später dann meistens in Aachen. Oft standen allgemeine Probleme wie Kornpreise und Münzverhältnisse oder einfach nur die Sammlung des Heeres auf der Tagesordnung, aber auch Gerichtsverhandlungen und der Empfang fremder Gesandter. Bisweilen erweiterte sich eine solche Versammlung auch zu einem kirchlichen Konzil wie in Frankfurt 794. Die materielle Basis der Königsherrschaft war das Königsgut. Es setzte sich aus altem karolingischen Hausgut im späteren Lothringen und dem Moselgebiet sowie dem merowingischen Königsgut besonders in der Isle de France und im Gebiet um Soissons zusammen. Um 800 ließ Karl das Königsgut im gesamten Reich beschreiben und aufnehmen, d. h. bis hin zum letzten hölzernen Rechen wurde der Gebäude– und Viehbestand sowie das ganze Inventar der königlichen Höfe in Listen aufgenommen. Nur noch kleine Reste dieser Maßnahme sind erhalten, die jedoch unsere wichtigsten Quellen für die Landwirtschaft der Karolingerzeit sind. In diesen Zusammenhang gehört auch das Capitulare de villis, eine an die Verwalter der Königsgüter gerichtete detaillierte Anweisung. Sie enthält Vorschriften über die Anpflanzung von Obstbäumen und Weinreben, die Pflege des Waldes durch Rodung und Wiederaufforstung, den Anbau bestimmter, genau benannter Gemüse, Kräuter und Gewürze, die Aufzucht von Großvieh und von Kleintieren, besonders von Geflügel. Der König verlangte vom Verwalter nicht nur genau festgelegte Lieferungen der Produkte des Hofes, sondern erwartete auch, daß eventuelle Überschüsse gelagert oder verkauft wurden und daß über die erzielten Gewinne genaue Rechenschaft abgelegt wurde. Karl suchte die Verwaltung der königlichen Güter bis hin zu den kleinsten Kleinigkeiten zu regeln und dürfte hier wie in der Verwaltung des gesamten Reiches an dem Egoismus seiner Amtsträger gescheitert sein.
Auch diese Verordnung ist vermutlich auf eine Krise zurückzuführen, die Hungersnot von 792/93. Auch auf anderen Gebieten strebte Karl eine Reform und Neuordnung an. Besonders dauerhaft waren seine Maßnahmen im Bereich des Geldwesens. Es gelang ihm, das alleinige Recht des Königs zur Münzprägung wieder zur Geltung zu bringen, so daß Münzen nur noch in königlichen Prägestätten und anderswo allenfalls mit königlicher Zustimmung geprägt werden durften. Auf Vorarbeiten seines Vaters Pippin aufbauend, führte Karl einen einheitlichen Münzfuß ein, der für lange Zeit die Basis der Währungsordnung blieb. Aus einem Pfund Silber sollten 20 Schillinge entsprechend 240 Pfennigen geschlagen werden. Zwölf Pfennige oder Denare hatten den Wert von einem Schilling oder Solidus. Hierbei handelte es sich um sogenanntes Rechengeld, d. h. der Solidus wurde im allgemeinen nicht geprägt, da er in dieser agrarisch geprägten Gesellschaft im täglichen Leben ohnehin keine Verwendung gefunden hätte. Der einzige erhaltene Goldsolidus Karls, der erst vor wenigen Jahren bei Ausgrabungen in Ingelheim gefunden wurde, wurde bezeichnenderweise in Arles in der Provence geprägt. Auch aus Italien sind Goldmünzen mit einem geringeren Wert bekannt. Wahrscheinlich war die Wirtschaft im Einzugsgebiet des Mittelmeeres um 800 derart auf den Fernhandel und die Geldwirtschaft ausgerichtet, daß solch hochwertige Münzen in Umlauf gebracht werden konnten. Vor dem Hintergrund seiner großen militärischen Anstrengungen sind Karls Maßnahmen zur Reorganisation der Heerfolgepflicht der freien Leute, der liberi homines, zu betrachten. Die Größe des Besitzes sollte ausschlaggebend dafür sein, wie oft bzw. intensiv der einzelne zum Heeresdienst herangezogen werden konnte. Zu diesen Maßnahmen kam es, weil 805 infolge einer Hungersnot die Aufstellung eines Heeres im Gebiet zwischen Seine und Loire gescheitert war. Deshalb bestimmte Karl, daß jeder Besitzer von drei bis fünf sogenannten Hufen (Hofstellen) ebenso wie der Inhaber eines Leihegutes gegen den Feind zu ziehen hätte. Ein Besitzer zweier Hufen sollte sich mit einem anderen zusammenschließen; derjenige von beiden, der eher dazu in der Lage war, sollte ins Feld ziehen, während der andere ihm dies wirtschaftlich zu ermöglichen hatte. Eine entsprechende Regelung galt für zwei Freie, von denen der eine zwei und der andere eine Hufe besaß. Zu einer Dreiergruppe durfte sich zusammenschließen, wer lediglich eine Hufe sein eigen nannte; derjenige, der am ehesten abkömmlich war, sollte von den beiden anderen ausgerüstet werden. Die Besitzer einer halben Hufe wurden angewiesen, zu fünft dem sechsten die Teilnahme am Feldzug zu ermöglichen. So verfügte es Karl auch für diejenigen Freien, die über keinen Landbesitz, wohl aber über eine gewisse Barschaft verfügten. Nur wenige Jahre später wurde die Richtgröße für Landbesitz, der zum Heeresdienst verpflichtete, von drei auf vier Hufen erhöht. Diese Bestimmungen galten der Forschung lange Zeit als Beweis für den wirtschaftlichen Niedergang der Freien – diese hätten die hohen Kosten für den Kriegsdienst nicht mehr allein tragen können, weil die fränkische Kriegsführung im Verlauf der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts auf gepanzerte Reiterei umgestellt worden sei. Die freien Bauern hätten sich weder die dafür notwendigen Pferde noch die teuere Ausrüstung leisten
können. Irritierend ist jedoch, daß selbst im 9. Jahrhundert das Gros der fränkischen Heere aus Fußtruppen bestand. Weiter mutet die Annahme einer allgemeinen Dienstpflicht allzu modern an. Sie setzt voraus, daß die angeblich auf Freiheit und Gleichheit beruhende Gesellschaftsordnung der grauen Vorzeit bis in das späte 8. Jahrhundert hinein bestanden hätte. Doch die Verhältnisse lagen damals erheblich anders, als von der älteren Forschung angenommen wurde. Bereits im 6. Jahrhundert stellten die Großen mit ihren Gefolgschaften das Rückgrat der merowingischen Truppen. Die zahlreichen Bruderkriege der zweiten Hälfte des 7. und der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts wurden ebenfalls ausschließlich von adligen Gefolgschaftsverbänden ausgetragen. Eine allgemeine Dienstpflicht bestand also faktisch bis in die Zeit Karls des Großen hinein gar nicht. Vielmehr war er es, der sie eingeführt hat und dabei in der geschilderten Art und Weise Rücksicht auf die ärmeren Freien nehmen mußte, um sie überhaupt rekrutieren zu können. Diese Bestimmungen waren wohl notwendig, da das karolingische Imperium um 800 die Grenzen seiner Expansionsfähigkeit erreichte. Bei seinen Eroberungskriegen hatte sich Karl hauptsächlich auf den Adel mit seinen kriegerischen Gefolgschaften stützen können. Kleine Bauern, die mehr oder minder gezwungen in die Fremde gezogen wären, weil sie ihre Felder auf unbestimmte Zeit im Stich hätten lassen müssen, wären dabei nicht von Nutzen gewesen. Der Adel aber konnte sich solche Unternehmungen leisten, zumal er an der Beute überproportional partizipierte. Nun aber wurde das Frankenreich seinerseits zum Opfer beutegieriger Plünderer. Seit dem ersten Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts machten die Normannen die fränkischen Küsten unsicher und drangen auf der Suche nach Beute zum Teil schon ins Landesinnere vor. Gegen sie mußte ein Verteidigungskrieg geführt werden, an dem der Adel kein Interesse hatte, weil dabei nichts zu gewinnen war. Es ist daher nicht verwunderlich, daß im Zusammenhang mit der Dienstpflicht der einfachen Freien regelmäßig von der defensio patriae, der Verteidigung der Heimat, die Rede ist. Nur die direkt von den Angriffen betroffenen Freien waren gewillt, sich den Eindringlingen zu stellen, während die in vielen Provinzen des Reiches begüterten Adligen diesem Problem ausweichen konnten. Karl nahm sich aber nicht nur der Wirtschaft, der Verwaltung und des Militärwesens an, sondern auch der Bildung und der Wissenschaft. An seinem Hof wirkten die bedeutendsten Gelehrten der westlichen Christenheit, die sich anfangs nicht nur aus seinem eigenen ausgedehnten Reich rekrutierten: der Angelsachse Alkuin, der Westgote Theodulf von Orléans, die Langobarden Paulinus von Aquileja und Paulus Diaconus sowie der Ire Dungal. Sie alle hatten in ihrer jeweiligen Heimat eine hervorragende Ausbildung genossen. Augenscheinlich konnte zunächst kein Franke mit ihnen konkurrieren. Karls Reich war in der Tat gleichsam ein bildungspolitisches Notstandsgebiet – eine Folge des Niedergangs in der spätmerowingischen Epoche, der sich insbesondere auf Bildung und Wissenschaften verheerend ausgewirkt hatte. Erst allmählich stießen auch Franken zu dieser Elite, allen voran Einhard, der Verfasser der Vita Karoli magni.
In diesem Kreis dürfte der Gedanke aufgekommen sein, die antike Bildung zum Maßstab nicht nur der eigenen Werke, sondern auch sämtlicher geschriebener Texte zu erheben. Das geschah nicht zum Selbstzweck, sondern sollte vor allem ein besseres Verständnis der christlichen Lehre erzeugen und einem ordnungsgemäßen Vollzug des Gottesdienstes zugute kommen. Regional entwickelte Unterschiede in der Liturgie standen dem gewünschten allgemeingültigen Kult entgegen. Und mehr noch: Die lateinische Sprache, in der alle geschriebenen Texte verfaßt wurden, zerfaserte in Sonderentwicklungen, und es entstanden allmählich verschiedene romanische Sprachen. Die Folge waren Verständigungsprobleme, auf die etwa auch die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung einer einheitlichen Liturgie zurückgingen. Die Reform der kirchlichen Verhältnisse war Karl daher ebenso ein Anliegen wie die weltliche Ordnung seines Reiches. Bei seinen Bemühungen konnte er auf den Vorarbeiten des Bonifatius und des Chrodegang von Metz aufbauen. Karl nahm dabei maßgebliche Texte zu Hilfe, die Roms Bedeutung für die fränkische Kirchenreform zutage treten lassen. Bereits 774 bat er Papst Hadrian um eine Kirchenrechtssammlung, die im 6. Jahrhundert von Dionysius Exiguus angelegt worden war und die Hadrian selbst hatte erweitern lassen. Diese Dionysio Hadriana wurde dann im Frankenreich eifrig benutzt. Ebenfalls aus Rom erbat der König ein Sakramentar (Meßbuch) Papst Gregors des Großen, das als Grundlage einer einheitlichen Liturgie dienen sollte. Weiter besorgte sich Karl bald nach 787 ein Exemplar der Regel des Benedikt von Nursia, und zwar eine Abschrift des damals in Monte Cassino angeblich noch vorhandenen Originals. Die Benediktsregel ihrerseits war eng mit dem römischen Mönchtum verbunden und ging möglicherweise gar auf Papst Gregor den Großen selbst zurück. Wenngleich noch zahlreiche weitere Schriften folgten, so bildeten diese drei Texte doch die Basis von Karls kirchlichen Reformbemühungen. Einer der zentralen Gedanken der Reform war die Sorge um den rechten Text, der allein für eine richtige und einheitliche Organisation des kirchlichen Lebens im gesamten Frankenreich sorgen könne, wie Karl in dem an seine Bischöfe gerichteten Rundschreiben De litteris colendis, Über die Pflege der Studien, deutlich sagt. Die wichtigste Voraussetzung hierfür war die Einrichtung von Schulen an Bischofskirchen und in Klöstern, um eine Grundausbildung zu gewährleisten. „Gutes Tun ist besser als gutes Wissen, doch geht das Wissen dem Tun voraus“, so lautete Karls Maxime. An diesen Schulen wurden Geistliche und Mönche ausgebildet, die mit den genannten Büchern überhaupt etwas anfangen konnten, die sie darüber hinaus abschrieben und so weiter verbreiteten. Um die bisherigen Verständigungsprobleme zu vermeiden, drängte Karl auf den Gebrauch des klassischen Latein. So entstand im Westen eine reine, nahezu ausschließlich von gebildeten Geistlichen gebrauchte Sprache, von der sich die romanischen Sprachen immer weiter entfernten. Im Westen des Reiches entstand sogar eine neue Schrift, die sogenannte karolingische Minuskel. Mit der Vereinheitlichung der Schrift war eine wichtige Voraussetzung für die Verbreitung der neuen Ideen und alten Schriften gegeben. Die größte individuelle Leistung in diesem Zusammenhang wurde von Alkuin erbracht. Auf Bitten Karls fertigte er einen revidierten, von vielen Fehlern und
Barbarismen befreiten und vor allem in der leicht lesbaren karolingischen Minuskel geschriebenen Text der Bibel an, der in der Folgezeit maßgeblich wurde, obschon er wie die anderen karolingischen Texte keine vollständige Allgemeingültigkeit erreichte. Karl förderte indes nicht nur die Bildung, sondern er ermahnte seine Untertanen auch zur Einhaltung der christlichen Gebote und zur vollständigen Abkehr vom Heidentum. Besonders nachhaltig tat er dies in der Admonitio generalis von 789, in der er ausdrücklich dem stets um die innere Ordnung seines Reiches besorgten biblischen König Josias nacheiferte. Karl forderte von Klerikern und Mönchen ein christliches Leben, damit sie ihrer Funktion als Vorbilder und Hirten ihrer Herde gerecht werden könnten. Bereits Karlmann und Pippin waren unter dem Einfluß des Bonifatius das Problem des verweltlichten Klerus angegangen, hatten aber letztlich nur halbherzig gehandelt, da sie die politische Unterstützung dieser Geistlichen benötigten. Nur sehr vorsichtig versuchten Karlmann und Pippin, die Trennung der weltlichen und geistlichen Funktionen der Bischöfe anzugehen. In diesem sensiblen Bereich ging Karl ebenfalls behutsam vor, obgleich er stärker als seine Vorgänger wiederholt auf die Einhaltung der kanonischen Satzungen und altehrwürdigen Traditionen drängte. „Möglichst alle Zeit sollten die Bischöfe an ihren Bischofssitzen und in ihren Sprengeln verbringen; nie durften mehrere Diözesen in einer Bischofshand vereint sein. Ihr vornehmliches Augenmerk hatten sie auf den Klerus und die Seelsorge zu richten ... Zur Hebung der Seelsorgstätigkeit wurden Diözesansynoden mit Schulung und Überprüfung des Klerus abgehalten. Überall und in allem hatte der Bischof nach dem Rechten zu sehen: was die Priester lehrten, wie sie Gottesdienst feierten und ob sie sich des rechten Lebenswandels befleißigten. Seine Gemeinden sollte der Bischof regelmäßig visitieren, das Leben der dortigen Christen überprüfen und den Heranwachsenden die Firmung spenden“ (A. Angenendt). Wem soviel Verantwortung überlassen wurde wie den Bischöfen, der bedurfte selbst der Kontrolle. Dafür waren die Erzbischöfe vorgesehen. Doch Karl forcierte die Wiederherstellung der Metropolitanverbände nicht, sondern ging sie erst allmählich an. In seinen ersten Regierungsjahren fungierte im Frankenreich als Nachfolger Chrodegangs von Metz nur ein einziger Erzbischof, Wilchar von Sens. Erst nach dessen Tod 786/87 erhöht sich die Zahl der Erzbischöfe, bis wir schließlich in Karls Testament aus dem Jahre 811 einundzwanzig Metropolen, Erzsitze, aufgezählt finden. In seinen Kapitularien, insbesondere der Admonitio generalis, ging Karl bereits von einem Funktionieren der Metropolitanverfassung aus. Eingeschränkt wurde diese nur durch Karl selbst, der nach wie vor Reichssynoden abhielt und so das Recht der Erzbischöfe, die Bischöfe der jeweiligen Kirchenprovinz um sich zu versammeln, konterkarierte. Ebenfalls nicht vorgesehen war eigentlich die Ernennung von Bischöfen und Äbten durch den Herrscher, die Karl aber weiterhin nach eigenem Belieben vornahm. Bisweilen ließ er ein Bistum sogar unbesetzt, um dessen Güter selbst nutzen zu können. Die wahre Spitze der fränkischen Kirche war also nach wie vor der König. Der Drang Karls, das Reich in seinem Sinn zu ordnen, entsprang nicht nur seiner Persönlichkeit oder reinen Sachzwängen, sondern war zumindest mittelbar auch eine Folge des Aufschwungs von Bildung und Wissenschaft
an seinem Hof. Denn mit seinen Bemühungen erfüllte Karl die Forderungen, die in den Fürstenspiegeln seiner Zeit an den idealen Herrscher gerichtet wurden. Alkuin tat sich hier besonders hervor und erinnerte Karl öfters an die wichtigste Aufgabe des Königs, die correctio, die Leitung der Untertanen. Letztlich gingen diese Vorstellungen auf Augustin zurück und waren durch die im Alten Testament überlieferten Mahnreden an die israelitischen Könige inspiriert. Besonders einflußreich war auch die dem Kirchenlehrer Cyprian zugeschriebene Schrift De XII abusivis et saeculi, Über die zwölf Laster der Welt, die um 700 in Irland entstand. Darin wurde die Verpflichtung des Königs zur correctio betont. Auch durfte er sich nicht der ungerechten Unterdrückung seiner Untertanen schuldig machen, sondern war zu einem gerechten Urteil ohne Ansehen der Person verpflichtet. Zu seinen Obliegenheiten zählten unter anderem der Schutz von Kirchen, Witwen und Waisen, der Kampf gegen Diebstahl und andere Verbrechen, die Sorge für die Armen, die Bestellung guter Räte und Amtsträger sowie die Bekämpfung des Aberglaubens. Diese Gedankengänge kommen immer wieder hinter den innenpolitischen Maßnahmen Karls zum Vorschein. Die innere Ordnung des Frankenreiches unter Karl ist weitgehend geprägt durch eine erhebliche Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit. Nach aktuellen Schätzungen umfaßte Karls Reich nach 800 etwa 1 Million km2 mit 180 Diözesen (ohne den sich bildenden Kirchenstaat), 700 Abteien, 750 Königsgutbezirken (fisci), in denen 150 Pfalzen mit 25 ausgebauten Residenzen lagen, 150 Gauen in Italien, 20 im fränkischen Spanien, 500 in Gallien und östlich des Rheins. „Regierbar“ war dieses unvorstellbar große Reich wohl nur deshalb, weil die Erwartungen der Zeitgenossen an ein Staatswesen längst nicht so weit reichten wie in unseren Tagen. Aber Karl selbst war damit nicht zufrieden. Vielmehr suchte er, seine weitergehenden Vorstellungen immer wieder zur Geltung zu bringen. Allein die Realität in seinem Reich sah anders aus, wie er wohl auch selbst erkannte, denn er ordnete für das Jahr 813, also am Ende seiner Herrschaft, gleich fünf Synoden in verschiedenen Städten seines Reiches an, die sich mit den Mißständen zu befassen hatten. Karl scheiterte an dem Eigeninteresse der Adligen, das er wohl erkannte, aber nicht wirkungsvoll beschränken konnte, da er auf diese Personengruppe bei der Verwaltung seines Reiches angewiesen war. Traditionell besaß der Adel den Anspruch, dem König an vornehmster Stelle dienen zu dürfen. Dem mußte auch Karl Rechnung tragen, zumal er die großen Eroberungen niemals ohne die Unterstützung des Adels hätte erringen können. So hatten nur wenige Maßnahmen Karls zur Ordnung seines Reiches Bestand.
7. Karls Familie und die Regelung seiner Nachfolge Entscheidend hatte zum Erfolg der frühen Karolinger beigetragen, daß sie sich auf ihre jeweilige Familie, insbesondere die männlichen Mitglieder, verlassen konnten. Weder Pippin der Mittlere noch Karl Martell noch Pippin der Jüngere sahen sich mit einer Auflehnung ihrer Söhne konfrontiert. Allerdings hatten sich Karl Martell und Pippin der Jüngere mit anderen Verwandten auseinanderzusetzen, bevor sie ihre alleinige Herrschaft im Frankenreich durchsetzen konnten. Gleiches gilt auch für Karl den Großen, dessen Konflikt mit seinem Bruder Karlmann nur deshalb nicht militärisch
ausgefochten wurde, weil letzterer vorher verstarb. Anders als seine Vorgänger mußte sich Karl jedoch zusätzlich mit der Verschwörung eines seiner Söhne auseinandersetzen. Einhard schildert diese Begebenheit wie folgt: „Er hatte von einer Konkubine einen Sohn mit Namen Pippin ..., schön von Angesicht, aber bucklig. Der stellte sich, während sein Vater mit dem Krieg gegen die Hunnen (Awaren) beschäftigt den Winter in Bayern zubrachte, krank und verschwor sich mit einigen fränkischen Großen, die ihn durch eitle Hoffnungen auf das Königtum verführt hatten, gegen seinen Vater. Nach Aufdeckung des Anschlags und Verurteilung der Verschworenen ließ Karl ihn scheren und nach seinem Willen im Kloster Prüm ein gottgeweihtes Leben führen.“ Pippins Ziel war also angeblich die Königsherrschaft. Doch stand ihm als Sohn einer Konkubine dieser Anspruch überhaupt zu? Einhards kurzer und, wie sich zeigen wird, ziemlich verschleiernder Bericht führt mitten hinein in die Themenbereiche „Familie“ und „Nachfolge“. Betrachten wir zunächst Karls Verhältnis zu Frauen, genauer zu seinen Ehefrauen und Konkubinen. Nach 763 ging Karl eine Verbindung mit einem adeligen Mädchen namens Himiltrud ein, aus der Pippin der Bucklige hervorging. 770 heiratete er auf Anraten seiner Mutter die namentlich unbekannte Tochter des langobardischen Königs Desiderius. Wie bereits erwähnt, protestierte Papst Stephan III. gegen diese Ehe, indem er einwandte, daß Karl bereits rechtmäßig verheiratet sei. Im Gegensatz zu Einhards Darstellung war Pippin der Bucklige also nicht der Sohn einer Konkubine, sondern entstammte – zumindest nach Auffassung des damaligen Papstes – einer rechtmäßigen Ehe. Das hinderte Karl indessen nicht daran, Himiltrud zu entlassen. Ihr Skelett wurde vor einiger Zeit im Kloster Nivelles gefunden und eine Untersuchung ergab, daß sie erst lange nach 770 gestorben ist. Die langobardische Prinzessin schickte Karl aus politischen Gründen nach etwa einem Jahr wieder zu ihrem Vater zurück und heiratete vielleicht noch 771 Hildegard, die mütterlicherseits dem alemannischen Herzogsgeschlecht entstammte und mit Tassilo von Bayern nah verwandt war. Zudem besaß ihr Vater Gerold im Reichsteil von Karls Bruder Karlmann große Besitzungen. Diese Verbindung war langfristig gesehen politisch am bedeutsamsten, denn sie stärkte Karls Position in den östlich des Rheins gelegenen Gebieten. Auch für die Erhaltung der Dynastie war dies die wichtigste Ehe Karls, denn Hildegard schenkte ihm drei weitere Söhne, die das Erwachsenenalter erreichten: Karl, Pippin und Ludwig. Neben seiner Ehe unterhielt der König eine Verbindung zu einer vermutlich adeligen Konkubine. Hildegard starb Ende April 783, kurz nach der Geburt einer Tochter, die ihrerseits nach wenigen Wochen verschied. Karl heiratete noch im selben Jahr in Worms Fastrada, eine Tochter des ostfränkischen Grafen Radulf, die nach Einhard großen politischen Einfluß ausübte. Angeblich soll ihr harsches Auftreten ihren Stiefsohn Pippin den Buckligen wie zuvor schon Hardrad in die Rebellion getrieben haben. Nach dem Tod der Fastrada 794 nahm Karl die Alemannin Liutgard zur Frau. Sie starb jedoch schon im Jahr 800, noch vor der Kaiserkrönung. Danach schloß Karl keine Ehe mehr. Die drei uns bekannten Konkubinen waren von gesellschaftlich unbedeutender, wenn nicht unfreier Herkunft; eine davon stammte aus dem gerade erst unterworfenen Sachsen.
Karls Umgang mit Frauen hatte in seiner Familie durchaus Tradition, wie man an Karl Martell und Pippin dem Mittleren sehen kann. Nur Karls Vater Pippin hielt sich in seiner Ehe mit Bertrada an kirchliche Weisungen. Pippin plante zwar zeitweise eine Scheidung, doch hielten ihn wohl die Ermahnungen des Papstes davon ab. Seine Gesetzgebung folgte in Ehefragen ebenfalls den kirchlichen Vorstellungen, da er uneheliche Kinder vom Erbe ausschloß. Die Handlungsweise Karls widersprach dagegen diametral der christlichen Eheauffassung. Das zeitweise Nebeneinander von mehreren Frauen und die willkürlichen Trennungen stehen in deutlicher Diskrepanz zu den Vorschriften der Kirche. Doch erst nach Karls Hinscheiden wagte man von dieser Seite, offen Kritik an seinem Lebensstil zu formulieren. So soll ein Mönch des Klosters Reichenau die Vision gehabt haben, Karl müßte seine zahllosen fleischlichen Sünden im Jenseits grausam büßen – trotz seiner Verdienste um die Verteidigung des Glaubens und die Leitung der Kirche. Wie die merowingischen Könige lebte Karl also polygam in rechtlich nicht genau definierten Verbindungen. Zu einer vollgültigen Ehe kam es nur mit Frauen, die mehr oder weniger ebenbürtigen Geschlechtern entstammten. Die Heiraten hatten dann auch die politische Funktion, diese Familien noch enger an das Herrschergeschlecht zu binden. Die Verwandten von Karls Gemahlinnen spielten daher eine entsprechende Rolle an seinem Hof. Gerold, den Bruder der Hildegard, machte er nach Tassilos Sturz gar zum Präfekten von Bayern, so daß er faktisch die Rolle des ehemaligen Herzogs übernahm. Aber auch Ehefrauen waren nicht davor gefeit, entlassen zu werden, wie das Beispiel von Himiltrud zeigt. Wir wissen zwar so gut wie nichts über ihre Familie, können aber mit Sicherheit sagen, daß diese politische Verbindung bei weitem nicht so tragend war wie das angestrebte Bündnis mit den Langobarden. Auch Karls Heiratspolitik für seine beiden jüngeren Söhne diente der Herrschaftskonsolidierung, da sie relativ früh mit adeligen Damen aus ihren Unterkönigreichen Italien und Aquitanien vermählt wurden. Warum Karl, der älteste Sohn und eigentliche Thronerbe, bis zu seinem Tod 811 im Alter von immerhin fast 40 Jahren nicht geheiratet hatte, ist unerklärlich, gerade wenn man sein Verhalten mit dem seiner Zeitgenossen vergleicht. Den Wünschen seines Vaters dürfte dies nicht entsprochen haben, wie an der 789 geplanten Ehe Karls mit der Tochter des angelsächsischen Königs Offa von Mercia deutlich wird. Dieses Projekt scheiterte allerdings am Wunsch Offas, Karls Tochter Bertha solle im Gegenzug seinen Sohn und Thronerben Ecfrith heiraten. Karl hatte andere Vorstellungen und behielt seine sämtlich unverheirateten Töchter in seiner Munt, seiner väterlichen Gewalt. Die Heirat mit einer seiner Töchter hätte den etwaigen Ehemann und dessen Familie allzusehr aufgewertet, von den zu erwartenden Ansprüchen eines Enkels ganz zu schweigen. So untermauerte Karl die Sonderstellung seiner Familie und hielt den Adel auf Distanz. Eine solche Zurückhaltung erschien Karl auch im Hinblick auf den König von Mercia geboten, der im Vergleich zum Frankenkönig ein unbedeutender Herrscher war. Nur im Falle des byzantinischen Kaisers Konstantin VI. war Karl ausnahmsweise bereit, dessen Heirat mit Rotrud zu gestatten, die dann aber wegen der Entfremdung beider Reiche doch nicht zustande kam. Dieser Plan zeigt, daß
Einhards Behauptung, Karl habe seine Töchter derart geliebt, daß er sie nicht missen wollte und daher unverheiratet ließ, nicht ganz ins Schwarze trifft. In dem Bemühen, seine Töchter nicht mit fränkischen Adligen zu verheiraten, stand Karl in der Tradition der Merowinger, die häufiger ihre unverheirateten Töchter in ein Kloster gegeben hatten. Dieser Brauch ist auch noch unter Karls Nachfolgern zu beobachten. Karl selbst jedoch gestattete seinen insgesamt acht Töchtern – von Hildegard drei und von verschiedenen Konkubinen fünf – jedoch den Aufenthalt bei Hof. Auch die fünf Töchter seines verstorbenen Sohnes Pippin nahm er bei sich auf. Aus späterer Sicht kam es zu skandalösen Verhältnissen, da seine Töchter in eheähnlichen Verbindungen lebten und Kinder hatten. Alkuin warnte einen Schüler vor den Prinzessinnen: „Daß die gekrönten Tauben, die durch die Räume des Palastes flattern, nicht an deine Fenster kommen“. Theodulf von Orléans berichtet, daß sie an allen wichtigen Akten herrscherlicher Repräsentation teilnahmen, an Festen, Banketten und Jagden. Auch im Jahr 800 begleiteten sie den Vater nach Rom und wohnten seiner Erhebung zum Kaiser bei. Möglicherweise übten sie in Karls Spätzeit auch erheblichen politischen Einfluß auf den alternden Vater aus und nahmen gleichsam kollektiv die Funktion der Königin wahr. Karl scheint sich weder an ihrem Verhalten noch an ihrer Rolle gestört zu haben, während Ludwig der Fromme bezeichnenderweise nach seinem Regierungsantritt 814 seine Schwestern sofort des Hofes verwies, wohl weniger aus moralischer Empörung über ihren Lebenswandel als vielmehr, um ihren Einfluß zu beschneiden. Das politische Gewicht einer frühmittelalterlichen Königin ist nicht zu unterschätzen. Sie stand der königlichen Hofhaltung vor und war daher etwa an der Entscheidung beteiligt, wo der Hof Station machte; so erkundigte sich Alkuin einmal bei der Königin Liutgard, wo Karl den Winter zu verbringen gedenke. Die Königin war weiter verantwortlich für die Schatzkammer und kontrollierte damit ein wichtiges Herrschaftsinstrument. Bei Abwesenheit des Herrschers vertrat sie diesen in der Regel, wobei sie engen Kontakt hielten. Der einzige erhaltene persönliche Brief Karls ist an Fastrada gerichtet, in dem er ihr im September 791 über seinen Feldzug gegen die Awaren und von einem dreitägigen Fasten für das Gelingen dieser Unternehmung berichtete. Sie sollte am Hof von Regensburg das gleiche veranlassen. Karl berichtete ihr weiter von den kriegerischen Erfolgen ihres Stiefsohnes Pippin von Italien gegen die Awaren, an denen sie anscheinend besonders interessiert war. Damals sandte Karl auch seinen jüngsten Sohn Ludwig den Frommen, der kurze Zeit am Kriegszug gegen die Awaren teilgenommen hatte, zu ihr und vertraute ihn ihrer Obhut an. Die Königin nahm also regen Anteil an den wichtigen politischen Vorgängen der Zeit und sorgte dafür, daß der Hof auch während der Abwesenheit des Herrschers reibungslos funktionierte. Daher sprach nicht nur der Ehemann, sondern auch der Herrscher aus Karl, als er sich am Ende jenes Briefes an Fastrada darüber beschwerte, daß er seit seiner Abreise aus Regensburg noch keine Nachricht von ihr erhalten hatte. Schon früh bereitete Karl seine Söhne auf die Nachfolge vor. Bereits 781 erhob er seine jüngeren Söhne aus der Ehe mit Hildegard, Karlmann und Ludwig, zu Unterkönigen von Italien und Aquitanien. Anläßlich der Weihe
durch den Papst erhielt Karlmann den neuen Namen Pippin. Damit gab es in Karls Familie zwei Träger dieses Namens; zu Pippin dem Buckligen trat nun noch Pippin von Italien hinzu. Man könnte vermuten, daß dies auf Bestrebungen Karls hindeutet, dem mißgestalteten Sohn der Himiltrud die Thronrechte zu entziehen. Der Namenwechsel des neuen Königs von Italien erfolgte aber vermutlich auch in Erinnerung und als Mahnung an die papstfreundliche Politik seines Großvaters Pippin. Zudem war dieser um das Jahr 738 von dem damaligen Langobardenkönig Liutprand adoptiert worden. Der Name ,Pippin’ stand also für die vielfältigen Beziehungen der Franken nach Süden. Der älteste Sohn Hildegards, der nach dem Vater benannt war, war zusammen mit seinem älteren Halbbruder Pippin dem Buckligen als Erbe des eigentlichen Frankenreiches vorgesehen. Als der Vater allmählich von seinem ältesten Sohn abrückte, trieb ihn dies und nicht in erster Linie die Mißgunst seiner Stiefmutter Fastrada 792/93 in eine Verschwörung gegen den Vater. Karl der Jüngere trat nun immer öfter an die Seite des Vaters oder wirkte bei wichtigen Feldzügen als dessen Stellvertreter. Er erhielt im Jahr 789 einen Anteil Neustriens zur Regierung, wurde aber erst am 25. Dezember des Jahres 800, also am Tag der Kaiserkrönung seines Vaters, von Papst Leo III. zum König gesalbt und gekrönt. In diesem Jahr entschloß sich Karl zur endgültigen und schriftlich fixierten Regelung seiner Nachfolge, der Divisio regnorum, der Teilung der Reiche. Dies geschah in Form eines Kapitulars oder Gesetzes und orientierte sich an den schon früher getroffenen Maßnahmen. Karl der Jüngere sollte den gesamten fränkischen Kernraum von der Loire bis an den Rhein und die neuerworbenen Gebiete bis an die Elbe und die Donau erhalten, Pippin Italien, das er ja bereits regierte, vermehrt um Bayern und das südliche Alemannien. Für Ludwig waren schließlich nicht nur Aquitanien, sondern auch Septimanien, die Provence und Teile Burgunds vorgesehen. Es fällt auf, daß anders als bei früheren Teilungen das fränkische Kerngebiet nicht zergliedert wurde. Karl der Jüngere sollte also den karolingischen Familienbesitz in Austrasien, die alten Königsgüter in Neustrien sowie die besonders eng mit den Karolingern verbundenen Kirchen und Klöster in beiden ehemaligen Teilreichen ganz allein übernehmen. Dies ist als deutlicher Hinweis darauf zu werten, daß er der Haupterbe seines Vaters sein sollte, obschon die Reiche seiner Brüder vom Umfang her kaum kleiner waren. Alle drei erhielten zudem Grenzregionen, so daß die Last der Verteidigung gegen äußere Feinde gleichmäßig verteilt war. Von weiteren Eroberungen war nicht die Rede; in der Tat war das Frankenreich schon längst an die Grenzen seiner Expansionsfähigkeit gelangt. Als gemeinsame Aufgabe wurde den drei Brüdern vor allem anderen der Schutz der römischen Kirche ans Herz gelegt, weshalb jeder der Brüder einen Anteil an den Alpenübergängen erhielt. Sogar der Papst wurde eingebunden. Einhard überbrachte ihm damals ein Exemplar der Divisio, das Leo III. gegenzeichnete. Der Adel stimmte ebenfalls zu, und die gesamte Reichsbevölkerung wurde auf Karls Teilungsanordnung vereidigt. Karl begnügte sich aber nicht damit, seine eigene Nachfolge zu regeln, er dachte bereits an die folgende Generation. Falls einer seiner Söhne verstarb, sollte dessen Teilreich gleichmäßig unter seine beiden Brüder aufgeteilt
werden. Bereits jetzt legte Karl die möglichen Grenzlinien für diese drei Eventualfälle fest. Die Teilungslinien muten „eigenartig rationalistisch“ (P. Classen) an, denn sie nehmen keine Rücksicht auf geographische oder historische Zusammenhänge. Italien und Aquitanien etwa, also zwei historisch gewachsene und politisch geschlossene Reiche, deren Eigenständigkeit Karl selbst noch mit der Einsetzung seiner jüngeren Söhne anerkannt hatte, wären jeweils geteilt worden. Diese Planungen benachteiligten die Enkel, die nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Adels zum Zuge kommen konnten. Pippin von Italien und Ludwig von Aquitanien besaßen bereits Söhne, deren Erbrecht auf diese Weise eingeschränkt wurde. Man hat solche Vorstellungen vom Vorrang der älteren Generation für alte fränkische Vorstellungen gehalten, doch ist die besondere Situation des Jahres 806 zu berücksichtigen. Bezeichnend ist, daß sich Karl Gedanken darüber machte, wie seine Söhne nach seinem Ableben mit den Angehörigen der nächstfolgenden Generation umgehen sollten: „Über unsere Enkel, die Söhne unserer vorgenannten Söhne, die bereits geboren sind, und diejenigen, die vielleicht noch geboren werden, gefällt es uns zu befehlen, daß keiner von ihnen und bei keinerlei Gelegenheit getötet oder verstümmelt oder geblendet oder gegen ihren Willen geschoren wird ohne gerechte Verhandlung und Untersuchung ..., sondern wir wollen, daß sie von ihren Vätern und Oheimen geachtet werden, und sie selbst sollen diesen in aller Ergebenheit gehorchen, wie es sich für den gehört, der zu einer solchen Verwandtschaft gehört“. Eine solche Verpflichtung besonders den Oheimen gegenüber war auch notwendig, da Karl ja seinen Enkeln zumutete, im Erbfalle hinter diesen zurückzustehen. Hier sprach aber auch der Vater und Onkel, den das Schicksal seines ältesten, in Klosterhaft befindlichen Sohnes und seiner Neffen nicht losließ. So diente der Hinweis auf die Pflichten seiner Enkel gegenüber seinen Söhnen auch zur Beruhigung des eigenen Gewissens, denn Pippin der Bucklige hatte sich gegen den Vater erhoben und die Söhne Karlmanns waren eine akute Bedrohung für Karls Herrschaft gewesen. Aber das war, wie Karl wohl selbst am besten wußte, nur ein Teil der Wahrheit, denn er selbst hatte Pippin allmählich aus dem Erbe gedrängt, und seine Neffen waren noch unmündige Kinder gewesen ... Dieses Nachdenken über die Enkel, die Neffen und Söhne der künftigen Herrscher, zeigt, daß zur Familie des Herrschers nicht nur seine Frauen und Kinder, sondern auch weitere Verwandte gehörten. Zu erinnern ist zunächst an die überragende politische Rolle von Karls Mutter Bertrada in seinen ersten Regierungsjahren. Bis zu ihrem Tod im Juli 783 blieb sie an seinem Hof. Karls Schwester Gisela, von ihrem Vater einst als Gemahlin des byzantinischen Thronerben vorgesehen, wirkte als Äbtissin des Hausklosters Chelles, wo wohl unter ihrer Leitung ein wichtiges Geschichtswerk zusammengestellt wurde. Sein Onkel Bernhard, ein unehelicher Sohn Karl Martells, erscheint als Heerführer gegen die Langobarden. Er war wohl mit einer adligen sächsischen Dame verheiratet. Seine Kinder waren gern gesehene Gäste bei Hof. Karls Kusine Gundrada beispielsweise stand Karl sehr nahe, obwohl sie seine Lebensauffassung nicht teilte. Sie bewahrte „inmitten der glühenden Liebschaften am Hofe und umgeben von männlicher Jugend und Schönheit“ ihre Tugend, so jedenfalls der Biograph
ihres Bruders Adalhard. Dieser Adalhard wurde zusammen mit Karl am Hof seines Onkels Pippin erzogen. Aus Verärgerung über die Scheidung Karls von der langobardischen Königstochter soll er sich vom Hof zurückgezogen haben, erfreute sich später aber wieder der Gunst des Herrschers. Er wurde Abt von Corbie und gründete schließlich das Kloster Corvey in der sächsischen Heimat seiner Mutter. Wala, ein weiterer Sohn Bernhards und Vetter Karls, spielte ebenfalls eine wichtige Rolle bei Hof. Unter Ludwig dem Frommen verloren beide ihre einflußreichen Stellungen. Karl ließ in der Divisio regnorum eine überaus bedeutsame Frage offen: Welcher seiner Söhne sollte ihm als Kaiser nachfolgen? Im Unterschied zum fränkischen Königtum war das Kaisertum als Universalgewalt seinem Wesen nach unteilbar. Das hatte ja auch zu den Schwierigkeiten mit Byzanz nach Karls Erhebung zum Kaiser geführt; die fränkische Seite hatte sich auf den Standpunkt gestellt, daß in Konstantinopel kein Kaiser mehr regierte, weshalb die Erhebung eines neuen Kaisers – also Karls – rechtens war. Freilich war man sich wohl auch an Karls Hof bewußt, daß die eigene Argumentation nicht völlig stichhaltig war. Faktisch gab es nun zwei römische Kaiser, was ein unhaltbarer Zustand war, zumindest solange sich beide nicht gegenseitig anerkannten. Wohl aus diesem Grund unterließ Karl es im Jahre 806, auch seine Nachfolge als Kaiser zu regeln, denn zuvor mußte er zu einer Einigung mit dem byzantinischen Kaiser gelangen. Als im Jahr 812 der oströmische Kaiser Karl als gleichberechtigt anerkannte, konnte dieser endlich seine Nachfolge in der Kaiserwürde offiziell regeln. Doch Karl der Jüngere war bereits ein Jahr zuvor und Pippin von Italien schon 810 gestorben. Allein Ludwig von Aquitanien, von dem Karl anscheinend weniger hielt als von seinen älteren Söhnen, war als Erbe übriggeblieben. Diesen Sohn setzte Karl im September 813 nach oströmischem Vorbild zum Mitkaiser ein, ohne den Papst an diesem Akt zu beteiligen: Nach einem gemeinsamen Gebet in der Aachener Pfalzkapelle und einer längeren Ermahnung, gut für seine Schwestern, seine Halbbrüder und Verwandten zu sorgen, befahl der greise Kaiser seinem Sohn, sich selbst zum Kaiser zu krönen. Zuvor waren allerdings längere Beratungen mit den Großen des Reiches notwendig gewesen, um diese von der doch an sich naheliegenden Nachfolgeregelung zu überzeugen. Anscheinend gab es Widerstände gegen Ludwig. In die gleiche Richtung weist auch die Tatsache, daß Karl im Jahr zuvor seinen Enkel Bernhard, den Sohn Pippins von Italien, entgegen den Bestimmungen der Divisio regnorum zum Nachfolger seines Vaters im ehemaligen Langobardenreich bestimmt hatte. Die Regentschaft für den jungen König sollten Karls Vettern Adalhard und Wala führen, die ebenfalls nicht zu Ludwigs Freunden zählten. Karls privates Testament von 811 unterschied sich erheblich von seinen politischen Verfügungen. Sein gesamtes Eigentum einschließlich aller Kleinode teilte er zunächst in drei Teile, von denen zwei wiederum in je 21 Teile gegliedert wurden – die Zahl der Metropolen seines Reiches. Das übrige Drittel aber sollte bis zu seinem Hinscheiden oder freiwilligen Rückzug aus dem weltlichen Leben für den Unterhalt des Kaisers verwandt werden. Nach seinem Ende sollten auch die Gebrauchsgegenstände hinzukommen: Gefäße und Gerätschaften aus Erz, Eisen oder Edelmetallen, dazu die Waffen, Kleider und anderer Hausrat, gleich ob kostbar oder nicht, wie Vorhänge,
Decken, Teppiche, Filz– und Lederwerk sowie Mantelsäcke. Dann sollte dieses Drittel in vier Teile geteilt werden. Ein Viertel sollte ebenfalls den Metropolen zugute kommen; das zweite Viertel an seine Söhne und Töchter sowie an die Söhne und Töchter seiner Söhne fallen und von diesen gerecht und billig unter sich aufgeteilt werden. Das dritte Viertel war „nach hergebrachter christlicher Sitte“ für die Armen bestimmt. Das letzte Viertel sollte in ähnlicher Weise zur Fürsorge für die im Palast dienenden Knechte und Mägde verwendet werden. Der Hofkapelle bestätigte er den ungeteilten Besitz aller Dinge, die er ihr gestiftet hatte. Die Bücher seiner Bibliothek sollten an Interessenten „um den richtigen Preis“ verkauft werden und der Erlös den Armen zufallen. Ein zweites Testament, in dem er u. a. seine Konkubinenkinder bedenken wollte, hatte Karl zwar begonnen, doch starb er vor der Fertigstellung. Den Winter 813/14 verbrachte Karl, wie in seinen letzten Jahren üblich, in Aachen. Einhard zufolge jagte er im Herbst bis Anfang November in der Nähe seiner Lieblingspfalz. Im Januar wurde er von einem heftigen Fieber ergriffen und mußte das Bett hüten. Um die Krankheit zu besiegen oder wenigstens zu lindern, begann er zu fasten. Am Morgen des 28. Januar 814, des siebten Tages seiner Krankheit, starb er im Alter von – so Einhard – 72 Jahren; tatsächlich war er 66 Jahre alt geworden. Nachdem sein Leichnam gewaschen und hergerichtet worden war, wurde er noch am selben Tag in der Marienkirche zu Aachen bestattet. Einhard schreibt, Karl hätte keine Verfügung über seine letzte Ruhestätte hinterlassen. Das entspricht nicht den Tatsachen, da Karl kurz nach seinem Herrschaftsantritt für ein Begräbnis in Saint–Denis gesorgt hatte. Doch da inzwischen mehr als 40 Jahre vergangen waren, konnte und wollte man sich in Aachen vielleicht nicht mehr daran erinnern. An dieser Entscheidung waren sicherlich Karls Töchter beteiligt, die ihrem Bruder, dem neuen Alleinherrscher Ludwig dem Frommen, möglicherweise vorgreifen wollten. Doch kann auf der anderen Seite von einer ungewöhnlichen Eile bei Karls Beerdigung keine Rede sein, da eine Bestattung noch am Tag des Ablebens nicht ungewöhnlich war. Über seinem Grab, das wohl in der Vorhalle der Kirche lag, wurde ein vergoldeter Bogen mit seinem Bild und folgender Inschrift errichtet: „Hier liegt der Leib Karls, des großen und rechtgläubigen Kaisers, der das Reich der Franken herrlich vergrößert und 47 Jahre regiert hat. Er starb als Siebziger im Jahre des Herrn 814, in der siebten Indiktion, am 28. Januar“.
8. Held und Heiliger. Das Nachleben Karls im Mittelalter Als Karl starb, war er fast 66 Jahre alt; nahezu 46 Jahre lang war er König der Franken gewesen und hatte in diesem langen Zeitraum eine Epoche geprägt. Den Zeitgenossen muß ein Leben ohne Karl unvorstellbar gewesen sein. Die großen Erfolge steigerten sein Ansehen ins Unermeßliche. Seine Mythisierung setzte daher im Grunde genommen bereits zu seinen Lebzeiten ein. Insbesondere die Mitglieder seiner sogenannten Hofschule, allen voran Alkuin und Theodulf von Orléans, rühmten den Herrscher über alle Maßen. In ihren panegyrischen Gedichten wird hervorgehoben, daß Karls Bildung, Weitsicht und Klugheit alles überstrahlte. Ein anderer Dichter nannte Karl „Vater Europas“ und „ehrwürdiger Leuchtturm Europas“. Einhard widmete
ein vollständiges Kapitel den Vorzeichen, die Karls Tod angekündigt hatten, und unterstrich so Karls Bedeutung, die weit jenseits der normaler Zeitgenossen lag. War Einhards Vita Karoli noch geprägt von einer zwar verklärenden, im ganzen aber noch realistischen Beschreibung des großen Frankenherrschers, so zeichnete Notker der Stammler in seinen Gesta Karoli, den Taten Karls, bereits 883 ein legendenumwobenes Bild. Gewidmet war dieses Werk Karls Urenkel Karl III., der das Reich seines Urgroßvaters noch einmal vereinigt hatte. Notker verarbeitete in ihm Volkserzählungen über Leben und Taten Karls. Das Ansehen Karls bei der Nachwelt hing sicherlich auch damit zusammen, daß er seit dem 12. Jahrhundert zum Kreuzfahrer und Heiligen stilisiert wurde. Die Wurzeln dieser Erzählungen reichen indes weiter zurück. Bereits im 10. Jahrhundert berichtete Andreas von Monte Soratte, Karl sei als Pilger nach Konstantinopel und nach Jerusalem gezogen. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts, also nach dem ersten Kreuzzug, verfaßte ein Mönch aus Saint–Denis einen Bericht über die Kreuzfahrt Karls des Großen. Beide Mönche wollten mit ihren Legenden erklären, wie zentrale Reliquien in ihr jeweiliges Kloster gelangt waren: nach Monte Soratte die Gebeine des heiligen Apostels Andreas, nach Saint–Denis ein Nagel vom Kreuz Christi und die Dornenkrone. Im 12. Jahrhundert entstand in Frankreich das Rolandslied, Chanson de Roland, über den unglücklichen Feldzug Karls des Großen nach Spanien im Jahre 778. Der unbekannte Dichter stilisiert diese Niederlage zu einem heldenmütigen und ruhmreichen Kampf christlicher Ritter gegen die zahlenmäßig überlegenen Ungläubigen. Karls angeblicher Neffe Roland und seine Mitstreiter fallen als Märtyrer für ihren Glauben. Diese Darstellung einer längst vergangenen Auseinandersetzung entsprach der Mentalität der Kreuzzugszeit. Aber auch aufkommendes französisches Nationalgefühl kam darin zum Ausdruck, da Karl als großer französischer Herrscher galt. In Deutschland sorgte die Nachdichtung durch den sogenannten Pfaffen Konrad in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts für die Verbreitung des Rolandsliedes. In zahlreichen weiteren Werken der höfischen Literatur ist Karl als idealer Herrscher zu finden. In diesem Sinne wurde Karl auch in der damals entstandenen Chronik des sogenannten Pseudo–Turpin dargestellt. Als ihr Verfasser galt Erzbischof Turpin von Reims, ein Zeitgenosse Karls. So galt dieses Werk als besonders authentisch. Es war noch weiter verbreitet als die Vita Einhards. In dieser Chronik verschmelzen kirchlich– legendenhafte Züge mit volkstümlichen Sagenelementen. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, daß die französischen und deutschen Herrscher sich seit dem 12. Jahrhundert zunehmend auf Karl beriefen. Die Heiligsprechung Karls des Großen im Jahre 1165 war die Antwort Kaiser Friedrich Barbarossas auf die Versuche des französischen Königtums, den Franken für sich in Anspruch zu nehmen. Als 1180 Philipp II. den Thron bestieg, dessen Eltern sich beide auf Karl zurückführten, wurde dies als reditus regni Francorum ad stirpem Caroli gefeiert, als Rückkehr des Frankenreiches zum Geschlecht Karls. In Saint–Denis entdeckte man nun auch ein lange aufbewahrtes Schwert, das Karl dem Großen gehört haben soll und das bald zu den Krönungsinsignien der französischen Könige zählte.
Im späten Mittelalter galt Karl besonders in Deutschland als Gesetzgeber und als Gründer zahlreicher Institutionen – der Universitäten, des Kurfürstenkollegs, der deutschen Bistumsverfassung und der Grafschaften. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts bemühte sich Kaiser Karl IV. zur Pflege der Reichstradition um eine Intensivierung der Verehrung seines Namensvetters. Sein Neffe Karl V. von Frankreich eiferte ihm hierin nach. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erreichte die Verehrung Karls in Frankreich ihren Höhepunkt und wurde zugleich vor dem Hintergrund eines stetig wachsenden Nationalgefühls in Frankreich immer stärker instrumentalisiert. König Ludwig XI. ordnete unter Androhung der Todesstrafe die Verehrung des heiligen Kaisers an und versuchte, den Kult zu einer Art Staatsreligion zu machen. Während des „deutsch–französischen Gegensatzes“ am Ende des 15. Jahrhunderts hob Maximilian I. seinerseits seine Abstammung von Karl dem Großen in Konkurrenz zu den Königen von Frankreich hervor. Auch in der Neuzeit sollte der Streit um die nationale Zugehörigkeit Karls weitergehen. Noch Napoleon, der 1804 die Karlsgruft in Aachen besuchte, sah sich als Nachfolger des Begründers des westlichen Kaisertums. 1806 schrieb er an den Papst: „Je suis Charlemagne“, ich bin Karl der Große. Erst in unserem Jahrhundert hat man sich allmählich von einer derartigen Vereinnahmung Karls für persönliche oder nationale Ziele gelöst und den großen Franken dafür zum Stammvater Europas gekürt. Seit 1950 vergibt die Stadt Aachen den Karlspreis an Persönlichkeiten, die sich um die Einigung Europas verdient gemacht haben. In diesem Sinne wurde ihm 1965, zum 800. Jahrestag seiner Heiligsprechung, ebenfalls in Aachen eine große Ausstellung unter der Schirmherrschaft des Europarates gewidmet. Im Vorwort des Ausstellungskataloges wurde die zunächst nur äußerliche Tatsache betont, daß sein Reich sich territorial „im großen und ganzen mit der heutigen EWG“ decke. Auch die jüngste Ausstellung über die (merowingischen) Franken in Mannheim, Berlin und Paris 1996 stand ganz unter dem Aspekt der historischen Wurzeln Europas. Doch ist die moderne Forschung bemüht, selbst bei solch publikumswirksamen Projekten streng zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu trennen. Bei aller aktuellen Rückbesinnung bleibt es eine lohnende Aufgabe, uns um ein möglichst objektives Bild Karls zu bemühen.
Kommentierte Kurzbibliographie Gesamtdarstellungen Die jüngsten Darstellungen der Herrschaft Karls im Rahmen übergreifender Werke stammen von Johannes Fried, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024, Berlin 1994 (Taschenbuch–Ausgabe: Berlin 1998), sowie von Rudolf Schieffer, Die Karolinger, Stuttgart u. a. 1992 (21997); außerdem sei verwiesen auf Pierre Riché, Les Carolingiens. Une famille qui fit l’Europe, Paris 1983 (dt. Ausgabe: Die Karolinger. Eine Familie formt Europa Stuttgart 1987; Taschenbuch–Ausgabe: München 1991), Hans K. Schulze, Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen. Merowinger und Karolinger, Berlin 1987. Lesenswert sind nach wie vor die älteren Darstellungen von Heinrich Fichtenau, Das karolingische Imperium. Soziale und geistige Probleme eines Großreiches, Zürich 1949, Josef Fleckenstein,
Karl der Große, 3., überarb. Aufl., Göttingen 1990, und Donald Bullough, The Age of Charlemagne, London 1965 (dt. Ausgabe: Karl der Große und seine Zeit, Wiesbaden 1966; Taschenbuch–Ausgabe: München 1979). Grundlegend bleibt das anläßlich der großen Karls–Ausstellung 1965 in Aachen erarbeitete sog. Karls–Werk: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, hg. von Wolfgang Braunfels, 5 Bde. Düsseldorf 1965–68. Zu übergreifenden Einzelaspekten siehe Arnold Angenendt, Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, Stuttgart u. a. 1990 (21995), und Pierre Riché, La vie quotidienne dans l’empire Carolingien, Paris 1973 (dt. Ausgabe: Die Welt der Karolinger, Stuttgart 1981).
Literatur zu ausgewählten Einzelaspekten Für die Geschichte des Frankenreiches unter den Merowingern sei verwiesen auf Eugen Ewig, Die Merowinger und das Frankenreich, Stuttgart u.a. 1988 (31997), Patrick Geary, Before France and Germany. The Creation and Transformation of tbe Merovingian World, New York, Oxford 1988 (dt. Ausgabe: Die Merowinger. Europa vor Karl dem Großen, München 1996), Reinhold Kaiser, Das römische Erbe und das Merowingerreich, München 1993 (21997). Zum Aufstieg der frühen Karolinger vgl. Karl Martell in seiner Zeit, hg. v. Jörg Jarnut u. a., Sigmaringen 1994; außerdem Waltraud Joch, Die Erbregelungen Pippins II. und die Anfänge Karl Martells, Diss. phil. Paderborn 1998 (45ff. zum Namen „Karl“); zur Bedeutung der bayerischen Herzogsfamilie der Agilolfinger vgl. Jörg Jarnut, Genealogie und politische Bedeutung der agilolfingischen Herzöge, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 99, 1991, 1–22. Zu Karls Geburt und Jugend Matthias Becher, Neue Überlegungen zum Geburtsdatum Karls des Großen, in: Francia 19/1, 1992, 37–60; zum Dynastiewechsel von 751 und zum Verhältnis Karls d. Gr. zu seinem Bruder Karlmann siehe neuerdings Michael Richter, Die „lange Machtergreifung“ der Karolinger. Der Staatsstreich gegen die Merowinger in den Jahren 747–771, in: Große Verschwörungen. Staatsstreich und Tyrannensturz von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Uwe Schulz, München 1998, 48–59; zum Verhältnis zu Karlmann auch Jörg Jarnut, Ein Bruderkampf und seine Folgen: Die Krise des Frankenreiches 768–771, in: Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Friedrich Prinz zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1993, 165–176. Zu Sachsen vor der Eroberung durch die Franken siehe neuerdings Studien zur Sacbsenforschung 12, hg. v. Hans–Jürgen Hässler Oldenburg 1999; zur Dynamik dieser Auseinandersetzung Hans–Dietrich Kahl, Karl der Große und die Sachsen. Stufen und Motive einer historischen „Eskalation“, in: Politik, Gesellschaft, Geschichtsschreibung. Giessener Festgabe für Frantisek Graus zum 60. Geburtstag, hg. v. Herbert Ludat und Christoph Schwinges, Köln – Wien 1982, 49–130; zu Karls Maßnahmen in Sachsen speziell Ernst Schubert, Die Capitulatio de partibus Saxoniae, in: Geschichte in der Region. Zum 65. Geburtstag v. Heinrich Schmidt, hg. v. Dieter Brosius u. a., Hannover 1993, 3–28. Zum Verhältnis zum Papsttum und zu Byzanz sowie zur Kaiserkrönung Peter Classen, Karl der Große, das Papsttum und Byzanz. Die Begründung
des karolingischen Kaisertums, Sigmaringen 1985, sowie vorerst meinen Beitrag zum Katalog der Ausstellung in Paderborn 1999; ich werde das Thema noch gesondert behandeln; zum Konzil von Frankfurt Das Frankfurter Konzil von 794. Kristallisationspunkt karolingischer Kultur, hg. v. Rainer Berndt, Mainz 1997. Zu den Familienverhältnissen der Karolinger Brigitte Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger– und Karolingerzeit, Hannover 1997; zur Erbregelung Karls des Großen: Peter Classen, Karl der Große und die Thronfolge im Frankenreich, in: Festschrift für Hermann Heimpel, Bd. 3, Göttingen 1972, 205–229; zu Karls Nachfolger: Egon Boshof, Ludwig der Fromme, Darmstadt 1996. Zum Nachleben Karls siehe Karl der Große als vielberufener Vorfahr. Sein Bild in der Kunst der Fürsten, Kirchen und Städte, hg. v. Lieselotte E. Saurma–Jeltsch, Sigmaringen 1994; zur nationalen Vereinnahmung Karls: Karl Ferdinand Werner, Karl der Große oder Charlemagne. Von der Aktualität einer überholten Fragestellung, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil.–hist. KI., Heft 4, München 1995.
Zeittafel 482–511 511/561 613 656 687 714 717/18 732 737 741 743 747 748 751 754 756 760–768 768
Chlodwig I., Gründer des fränkischen Großreiches Reichsteilungen Chlothar II. einigt das Frankenreich unter Mithilfe Arnulfs von Metz und Pippins des Älteren Sogenannter Staatsstreich Grimoalds Pippin der Mittlere faktisch Alleinherrscher nach seinem Sieg bei Tertry Tod Pippins des Mittleren, anschließend Kämpfe um seine Nachfolge Karl Martell Alleinherrscher Sieg Karl Martells bei Poitiers über die Araber Karl Martell verzichtet auf die Einsetzung eines Merowingerkönigs Tod Karl Martells; Karlmann und Pippin der Jüngere schalten ihren Halbbruder Grifo aus Karlmann und Pippin setzen den Merowinger Childerich III. als König ein Abdankung Karlmanns 2. April Geburt Karls des Großen Königserhebung Pippins Reise Papst Stephans II. ins Frankenreich, erster Zug Pippins gegen die Langobarden Zweiter Zug Pippms gegen die Langobarden Eroberung Aquitaniens Tod Pippins, Nachfolger: seine Söhne Karl der Große und
771 772 773/74 775–780 778 781 782
783–785 785 787
788 789 791 792–799 792/93 794 795/96 797 799 800 802
804 806 810 811 812 813 814
Karlmann Tod Karlmanns, Karl der Große Alleinherrscher Erster Zug gegen die Sachsen, Zerstörung der Irminsul Eroberung des Langobardenreichs, erster Romzug Feldzüge gegen die Sachsen Zug nach Spanien Zweiter Romzug, Karls Söhne Pippin und Ludwig von Papst Hadrian zu Königen gesalbt und gekrönt Aufstand der Sachsen unter Widukind, Schlacht am Süntel, Blutbad von Verden an der Aller, Capitulatio de partibus Saxoniae Erneute Unterwerfung der Sachsen Taufe Widukinds in Attigny Dritter Romzug, Feldzug gegen Arichis von Benevent, Feldzug gegen Herzog Tassilo III. von Bayern, der Karls Lehnsmann wird; Konzil von Nikaia Prozeß gegen Tassilo in Ingelheim Admonitio generalis, erste allgemeine Vereidigung der Reichsbevölkerung Erster Zug gegen die Awaren Erneute Aufstände in Sachsen Aufstand Pippins des Buckligen gegen seinen Vater Karl den Großen Synode von Frankfurt Erfolgreiche Züge gegen die Awaren unter dem Markgrafen Erich von Friaul und König Pippin von Italien Capitulare Saxonicum Flucht Papst Leos III. vor seinen römischen Gegnern zu Karl nach Paderborn Vierter Romzug, 25. Dezember Kaiserkrönung Karls des Großen in der Peterskirche Reichsversammlung in Aachen, Erlaß wichtiger Reformkapitularien, zweite allgemeine Vereidigung der Reichsbevölkerung Letzter Sachsenfeldzug Divisio regnorum Tod Pippins von Italien Tod Karls des Jüngeren Anerkennung von Karls Kaisertum durch den byzantinischen Kaiser Michael I. Erhebung Ludwigs des Frommen in Aachen zum Mitkaiser 27. Januar: Tod Karl des Großen in Aachen