Volker Zotz, promovierter Philosoph und Kulturwissenschaftler, lehrte unter anderem an Universitäten in Wien, Kyoto, Tokio und Luxemburg. Der Asienexperte lebte viele Jahre in Indien und anderen asiatischen Ländern und hat zahlreiche Bücher zum Thema asiatische Philosophien und Buddhismus veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm »Die neue Wirtschaftsmacht am Ganges« (2006) und »Konfuzius für den Westen« (2007).
Volker Zotz
Kâmasûtra im Management Inspirationen und Weisheiten aus Indien
Campus Verlag Frankfurt / New York
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Inhalt
Vor wor t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Interkulturelle Bereicherung . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Globalisierung als Chance 19 · Interkulturelles Lernen 21
Von Indien lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Die Mär vom Pessimismus 22 · Überzogene Erwartungen 24 · Die indischen Klassiker 26 · Die Veden: Besser komplett als konsistent 27 · Upanişaden: Das Geheimnis der Person 27 · Epen und Mythen: Was tun? 28 · Texte des Yoga, der Jainas und Buddhisten: Wacher werden 29 · Dichter und Philosophen: Weisheit und Wahrheit 29 · Klassische Ratgeber 30 · Weitere Quellen 30 · Praktische Fragestellung 31
Zum Aufbau dieses Buchs . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1 Kâmasûtra im Management . . . . . . . . . . . 35 Die Systematik des Kâmasûtra . . . . . . . . . . . . . . . 35 Ein verkanntes Buch 35 · Widersprüche annehmen 37 · Kulturelle Denkstile 39
Ganzheit des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Nichts ausklammern 42 · Drei Lebensziele 44
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Chronologie und Potenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Alles hat seine Zeit 46 · Der Plan 48 · Potenziale und Beschränkung 51
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Fragestellungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . 55 Ziele und Wege benennen 55 · Vollständigkeit und Widerspruch 56 · Das Scheitern einplanen 57
2 Selbstmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Wer bin ich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Selbsterkenntnis 59 · Das Menschenbild 62
Im Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Das Ungenügen 64 · Im Zyklus 67
In der Tretmühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Die Vergangenheit loslassen 70 · Typen im Kreislauf 73 · Ausgewogenes Menschsein 78
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Fragestellungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . 82 Wer bin ich? 82 · Mein Kreisen 84 · Nur Bewusstsein 85
3 Wege des Er wachens . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Wachsein ist alles! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Das Pañcatantra 87 · Der Tagträumer 88 · Aufwachen! 91
Vom Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Aspekte des Weges 93 · Grundlagen der Disziplin 95
Selbstverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Von der Haltung 101
Konzentration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Der Prototyp des Erwachten . . . . . . . . . . . . . . . . 105
I n h a lt 7
Kriterien des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Fragestellungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . 112 Zeitweiliger Verzicht 112 · Die Körperhaltung 113
4 Von der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Ballast abwerfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Innere Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Die Kraft der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Satyagraha – an der Wahrheit festhalten . . . . . . . . . . 132 Was ist Wahrheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Fragestellungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . 146 Erfahrung und Autorität 146 · Den Pfeil herausziehen 146 · Was verleiht Sicherheit? 147 · Wahrheit und Täuschung 147 · Festhalten am Wahren 148 · Pluralität der Wahrheiten 148
5 Aus der Ruhe wirken . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Der Weg in die Mitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Raum für mich schaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Mich selbst erfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Einfach nur still sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Im Atem sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Gefühl und Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Fragestellungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . 176 Achtsamkeit in allen Sinnen 176 · Achtsamkeit im Atem 177
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6 Pf licht und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Grenzen und Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Die Versuchung des Fatalismus 180 · Die Pflicht 183
Die Hindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Projektionen 185 · Der Ego-Trip 189
Der Spielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Handeln ohne Haften 191 · Hart erobern – mild besitzen 193 · Leichtigkeit im Tun 195
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Fragestellungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . 198 Pflichten erforschen 198 · Projektionen entlarven 198 · Handeln ohne Anhaften 199
Zum Ausklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Bibliograf ie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Zu den Hintergründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Klassische Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
Vo r w o r t »Wer Schranken denkend setzt, die wirklich nicht vorhanden, und dann hinweg sie denkt, der hat die Welt verstanden.« Die Weisheit des Brahmanen
Vor fast drei Jahrzehnten, im Sommer 1980, stand ich auf dem Flachdach des Green Hotel in Old Delhi. Die kleine, außen wie innen blaugrün und türkis gestrichene Herberge wurde von den Männern einer Hindu-Großfamilie geführt. Einem von ihnen leistete ich gerade Gesellschaft, während er einen Drachen steigen ließ. Es war die Saison der Papierdrachen, die sich an langen Schnüren von vielen Dächern emporhoben, um unruhig im Wind zu flattern. Der Wettbewerb mit der Nachbarschaft war in vollem Gang: Welcher Drache erreicht die weiteste Entfernung und kann sich am längsten oben halten? Zum vierten Mal wohnte ich für ein paar Wochen in diesem sonst nur von Einheimischen frequentierten Haus, als einziger Stammgast aus der Ferne mit etwas Familienanschluss. Immer wieder zog es mich auf das Dach. In heißen Nächten brachte man mein Bett aus der Kammer hier hoch, wo ich dann neben den Hoteliers mitten in der Stadt unter freiem Himmel schlief. Am Abend verbrachte ich gern einige Zeit da oben, um Notizen durchzusehen oder Briefe zu schreiben, während man von den Straßen die ferne Betriebsamkeit des nie ruhenden Verkehrs hörte. An jenem Tag konnte ich den Blick kaum von unserem Drachen lassen, der ein paar Straßenzüge weiter über einem Haus zitterte. Es war, als fürchte er sich vor einem etwas kleineren Artgenossen, den der Nachbarn, bedrohlich näherkommen ließ. Dieser Mann,
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so hatte man mir gesagt, tränkte seine Schnüre in Leim und ließ sie durch zu Pulver geriebenes Glas gleiten. Auf diese Weise werden sie zu scharfen Sägen, mit denen er die Schnüre der Konkurrenten durchtrennte. Schon mancher Drache meines Hoteliers trat darum eine Reise ohne Wiederkehr an. Während dieser sich nun bemühte, den Angriffen des Nachbarn auszuweichen, erkundigte er sich nach meinem Tag. Gerade beschäftigte ich mich mit dem Denken der Jainas, einer wohl drei Jahrtausende alten Richtung indischer Philosophie. Darum hatte ich die vergangenen Stunden in der Bibliothek eines Tempels verbracht. Ich berichtete kurz, dass ich heute über die jainistischen Lehren vom Karma las: Ausnahmslos jede Tat, ob absichtlich oder unabsichtlich, wirkt sich – sogar wenn sie unbewusst bleibt – auf die Qualität des künftigen Lebens aus. Dem Hotelier gefiel, dass ich mich mit den klassischen Texten der indischen Traditionen auseinandersetzte. Wie fast täglich, betonte er, wie wichtig diese Texte wären, um bald bei einem Thema zu sein, auf das er bei unseren Gesprächen immer wieder zurückkam: Die in Europa wie Amerika in den 70er und 80er Jahren populären indischen Gurus und ihre ausländischen Anhänger erregten seinen Unmut. Besonders der später als Osho bekannte Sri Rajneesh, zu dem Prominente aus aller Welt nach Puna pilgerten, ärgerte ihn. Im Einklang mit einem großen Teil der indischen Medien machte er sich Luft über Rajneeshs Betonung der Sexualität als Mittel geistigen Fortschritts. »Wer nur das hört, wird glauben, das Wichtigste in Indien wäre das Kâmasûtra«, meinte der Hotelier. »So wird die Welt nie erfahren, was unsere Vergangenheit ihr wirklich zu bieten hat.« Während dieses pathetisch vorgetragenen Satzes wich er mit seinem Drachen erfolgreich der Schnur des Nachbarn aus, die sich bedrohlich genähert hatte. Dann meinte er leise, als wollte er ein Geheimnis mit mir teilen: »Indien wird schon bald wieder so groß, wie es oft in der Geschichte war. Unsere heiligen Bücher
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wie die Veden, die Upanişaden und die Bhagavadgîtâ machen das möglich. Mehr als diese Texte brauchen wir nicht, um eine führende Nation zu sein.« »Dem würden die meisten europäischen Gelehrten widersprechen«, antwortete ich. »Zum Beispiel gilt ihnen die Lehre vom Karma als großes Hindernis des Fortschritts. Es macht passiv, sagen sie, wenn man sein gegenwärtiges Schicksal für vorbestimmt von den Taten früherer Leben hält.« Der Hotelier lachte. »Leider haben sie nicht viel verstanden, die Gelehrten außerhalb Indiens. Weil alles zwei Seiten hat, stimmt auch das Gegenteil: Wer weiß, dass das Schicksal des kommenden Lebens die Frucht der Taten dieses Daseins ist, wird heute besonders aktiv sein. Denn er will ja morgen viel ernten. Die Lehre vom Karma ist der Schlüssel zum Fortschritt.« Im diesem Augenblick griff der Nachbar erneut an. Die beiden Drachenschnüre kreuzten einander, um sich in den Wirbeln des Windes rasch zu verknoten. Nach wenigen Schrecksekunden, während beide Drachen gefangen und zum Absturz verdammt schienen, riss plötzlich die Schnur des Nachbarn und fiel schlaff nach unten. Offensichtlich hatte sich die mit Glasstaub bestrichene Schnur beim Kampf selbst angesägt. Mein Hotelier wiegte leicht den Kopf, wie Inder es zur Bejahung tun: »Im ewigen Auf und Ab geschieht irgendwann sicher das Gegenteil vom Erwarteten. Man muss nur durchhalten.« Der freigelassene Drache schoss ruckartig in den Himmel, sank dann in einer unregelmäßigen Spirale einige Meter abwärts und flog rasch davon, um irgendwo über den Häusern Delhis außer Sichtweite zu geraten. Ich konnte in diesem Moment nicht anders, als den Worten vom Aufstieg Indiens zu glauben. Zwar gab es keinerlei Anhaltspunkte für eine solche Entwicklung. Der seit der Unabhängigkeit 1947 versuchte »dritte Weg« zwischen Sozialismus und Marktwirtschaft hatte den Subkontinent mit seiner unter staatlichem Protektionismus stagnierenden Ökonomie isoliert. Auch politisch
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fehlte jedes Anzeichen, dass Indien eine führende Rolle in der Welt spielen sollte. Doch das Vertrauen dieses Mannes in die Potenziale der indischen Tradition hatte etwas Bestechendes. Seine leise Prophezeiung war frei gewesen von jedem nationalistischen Stolz oder einer verbitterten Forderung, Indiens verkannte Weltgeltung müsste schnellstens allgemein akzeptiert werden. Dass es wieder anders käme, hatte er so selbstverständlich gesagt, als zitiere er ein Naturgesetz. Damit folgte er einem häufigen Motiv der indischen Tradition. Zentralen Mythen des Subkontinents zufolge befindet sich die Welt in einem unaufhörlichen Prozess des Auf- und Niedergangs. Durch positive Anstrengungen der Menschen entwickelt sich eine Zivilisation auf eine höhere Stufe. Am Gipfelpunkt werden die Menschen übermütig, leben nur mehr von den Früchten früherer Anstrengungen, ohne sich weiter zu bemühen, und allerlei Unsitten greifen um sich. In der Folge geht es abwärts bis zur Zerstörung der Gesellschaft. Entweder greifen Götter am Tiefpunkt ein, wie etwa das Viśnu-Purâna – eine Schrift aus dem 7. Jahrhundert – lehrt. Oder den Menschen gelingt selber die Umkehr. Nach dem Cakkavatisihanâdasutta, einem über zweitausend Jahre alten buddhistischen Text, entschließen sich die Überlebenden des Untergangs einer Zivilisation zur bewussten Anstrengung, womit sie eine erneute Höherentwicklung einleiten. Gesetzmäßig geht es auf und ab und wieder auf, in einem Kreislauf, der kein Ende findet. »Man muss warten können«, hatte der Hotelier gesagt. Nichts bleibt auf Dauer, wie es ist. Genau ein Jahrzehnt nach jenem Gespräch beim Drachensteigen gelangte Indien wirtschaftlich an einen Tiefpunkt. Die Devisenreserven waren 1990 derart geschrumpft, dass man gerade noch für zwei Wochen dringend notwendige Einfuhren hätte bezahlten können. Kurz vor dem Kollaps vollzog die indische Politik – mit oder ohne Eingreifen der Götter – unter der Federführung des Finanz- und späteren Premierministers Manmohan Singh eine vollkommene Kurskorrektur. Im Zusammenwirken aller gesell-
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schaftlichen Kräfte kehrte man sich vom vorherigen System der Protektion ab, liberalisierte die unternehmerischen Möglichkeiten und öffnete den abgeschlossenen Markt. Seither schreibt Indien in einer zuvor ungeahnten Aufwärtsbewegung von Jahr zu Jahr eindrucksvollere Wachstumsraten. Der Hotelier lag also vor über einem Viertel Jahrhundert mit seiner damals objektiv unbegründeten Prognose durchaus richtig. Mittlerweile assoziiert man in Europa mit dem Subkontinent längst nicht mehr zuerst die Gurus mit ihrem Erleuchtungs- und Erlösungsangebot, sondern einen vielversprechenden Absatzmarkt und interessanten Standort zur Produktion und Investition. Wie steht es aber mit der Idee, die klassischen Texte würden für den Aufschwung verantwortlich sein? Vordergründig war dieser sicher durch Sachzwänge und rein ökonomische Entscheidungen ausgelöst. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass die führenden Politiker die Veden, Upanişaden, die Bhagavadgîtâ oder jainistische und buddhistische Werke nach Rezepten gegen die Wirtschaftskrise durchsuchten. Auch die Tatsache, dass viele maßgebende Persönlichkeiten des neuen Indien – so der bis 2007 amtierende Staatspräsident Abdul Kalam – tief mit der klassischen Tradition verbunden sind, erlaubt diesbezüglich keine Kurzschlüsse. Doch wissen wir andererseits – spätestens seit Max Weber seine Untersuchungen zum »Wirtschaftsprotestantismus« und den Ökonomien Asiens vorlegte – um die bedeutenden Einflüsse, die Faktoren wie Weltanschauung, Religion und kulturelle Werte ausüben. Die hiervon geprägte Mentalität eines Volkes und seiner Entscheidungsträger beeinflusst, ob und auf welche Weise auf Sachzwänge reagiert wird. Was man bewusst oder unbewusst glaubt, weil es seit Generationen die emotionale und mentale Basis des Zusammenlebens wie Handelns bietet, wirkt sich vielfältig aus. Beispiele dafür sind die indische Karma-Lehre und der ursprünglich westliche Evolutionismus. Die Karma-Lehre wurde von europäischen Beobachtern nicht ganz zu Unrecht als Hemmnis für den Fortschritt gewertet. Wer
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sein Schicksal vom Handeln früherer Leben für vorbestimmt hält, neigt eher zum Bejahen einer misslichen Lage als zum Kampf dagegen. So nahm eine Mehrheit in Indien die Kolonisierung durch Großbritannien sehr lange hin. Doch lässt es sich nicht einfach als Fatalismus bezeichnen, wenn man durch die Prägung des zyklischen Weltbildes den eigenen Tiefpunkt akzeptiert. Man lernte seine Lektionen von den neuen Herren und wartete. Der günstige Zeitpunkt zur Änderung würde kommen: »Man muss warten können.« Dieses Denken in Kreisläufen legt also ganz andere Reaktionen nahe als der in Europa dominierende Evolutionismus. Wer mit Letzterem davon ausgeht, dass es mit dem Wachstum, Fortschritt und Zugewinn in einer möglichst geraden Linie immer vorangehen muss, wird die Stagnation oder gar den Rückschlag in der Regel weniger gelassen sehen. Er wird nicht warten wollen, sondern versuchen, das Steuer ohne jede Verzögerung in die andere Richtung zu drehen. Es lässt sich nicht sagen, dass das indische Modell dem europä ischen überlegen ist oder umgekehrt. Jedes besitzt seine Vor- wie Nachteile und mag in der einen Situation besser zum Tragen kommen als in der anderen. Beide bergen gleichfalls Gefahren, wenn sie immer und unreflektiert zum Einsatz kommen. Die europä ische Strategie mag dazu führen, dass man dort lamentiert und sich auflehnt, wo Worte und Aktionen nichts bewirken. Man versäumt dann, sich zurückzulehnen, dem eigenen Anteil am missliebigen Zustand nachzuforschen und die Chance des subjektiv wie objektiv günstigen Moments für eine grundlegende Verbesserung zu verpassen. Mit der indischen Strategie hingegen harrt man vielleicht länger in einer schwierigen Situation aus, als es notwendig und angebracht wäre. Die Beispiele Karma und Evolutionismus zeigen, wie es hier nicht darum gehen kann, Indisches prinzipiell als besser zu propagieren, und einen grundsätzlichen Wechsel der Strategie vorzuschlagen. Dies wäre allein deshalb wenig zielführend, weil hinter
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einzelnen Vorgangsweisen die in den jeweiligen Kulturen selbstverständlichen Weltbilder stehen. Ein an der Idee der Evolution orientierter Europäer müsste über den Schatten seiner Erziehung und Sozialisation springen, wollte er spontan so handeln, wie es dem Hintergrund eines zyklischen Verständnisses entspricht. Heraus käme bei derartigen Versuchen nur unfruchtbares Stückwerk. Um Imitation geht es also nicht, sondern um eine notwendige Bewusstseinserweiterung. In Zeiten der Globalisierung ist es besonders für Führungskräfte ein Gebot der Stunde, sich mit den grundlegenden Haltungen zu befassen, die in anderen Kulturkreisen herrschen. Wer mit Partnern aus Asien zu tun hat und etwas von den Hintergründen ihres Denkstils weiß, zieht ganz unmittelbaren Nutzen aus dieser Erweiterung des Horizonts. Doch auch jeder, der sich nicht direkt mit Menschen und Gegebenheiten außerhalb Europas beschäftigt, profitiert erheblich, lässt er sich innerlich auf interkulturelle Begegnungen ein. Wer weiß, aus welcher Perspektive in Indien oder China empfunden, gedacht und agiert wird, wird automatisch flexibler. Er kann vertraute Sichtweisen durch andere ergänzen, womit er sich selbst und seine Aufgaben in neuem Licht erkennt. Im Hinblick darauf stellt vorliegendes Buch wichtige Motive der philosophischen und spirituellen Literatur Indiens vor. Es geht um deren Anwendbarkeit im persönlichen und geschäftlichen Alltag im heutigen Europa. Aus den klassischen Texten werden zeitlose Prinzipien abgeleitet, die sich Führungskräften – und solchen, die es werden wollen – für den Umgang mit sich selbst, mit anderen und in Belangen eines privaten wie beruflichen Managements als Inspiration anbieten. Dabei handelt es sich um kein Rezeptbuch mit vorgefertigten Lösungen für Probleme verschiedener Art. Mehr als auf detaillierte Ratschläge für jede Situation zielt die Weisheit Indiens auf persönliche Selbsterkenntnis. Sie will Menschen aus den dumpfen
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Träumen wecken, in die sie sich eingesponnen haben und zur Einsicht führen, wer sie wirklich sind. Denn aus der authentischen Erfahrung seiner selbst kann man spontan das Angemessene tun. Dieses Buch enthält darum weniger die Aufforderung, konkrete Dinge anders als bisher zu machen, als vielmehr jene, sich selbst anders – nämlich in weiterer Perspektive – zu erfahren. Der Leser wird dazu neben Anregungen, sich auf neue Weise wahrzunehmen, mit einigen philosophischen Gedanken konfrontiert. Was ab und zu etwas theoretisch klingen mag, liefert wichtige Hintergründe, die es erlauben, Inspirationen, aus indischer Weisheit auch vom Denken her, zu begreifen. Was erlebt und gedanklich eingeordnet wurde, hat tiefere Konsequenzen als bloße Anleitungen zum Handeln. Prinzipien und Strategien aus klassischen indischen Texten bewährten sich unter unterschiedlichsten Bedingungen, was ihr seit dem Altertum großer Einfluss in Asien beweist. Mit der Ausbreitung des Buddhismus kamen sie nach China und Japan, Vietnam, Laos, Kambodscha, Birma und Thailand, wo sie erheblich an der Entfaltung der Kulturen beteiligt waren. Auch das heutige Indonesien prägen wesentlich Werte aus Indien. In besonderer Weise verdankt die tibetische Kultur ihr Entstehen der alten Literatur des Subkontinents. Tibets Schrift wurde eigens für deren Übersetzung geschaffen, und mancher in Indien verlorene Text blieb auf dem Dach der Welt erhalten. In all diesen Ländern ermöglichten indische Ideen auf Basis einheimischer Gegebenheiten originelle Entwicklungen. Sie wirkten als Impulse, die bereicherten, ohne zu vereinheitlichen. Was im Osten ganze Kulturen befruchtete und ihnen die Richtung wies, verhilft auch Weiterblickenden in Europa und Amerika zu einem vertieften Verständnis der eigenen Persönlichkeit und ihrer Aufgaben. Jedoch erschließen sich klassische indische Texte dem westlichen Interessenten oft schwer. Häufig verbirgt sich ihr springender Punkt als Essenz eines langen Dialoges, der nicht als griffige De-
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finition ausgesprochen wird. Manche Literaturgattungen – etwa die buddhistischen Sûtras – sind durch ausladende Wiederholungen und Aufzählungen für viele europäische Leser keine einfache Kost. Dieses Buch macht wichtige Aussagen der Texte zugänglich, indem es die Essenz aus ihrer von europäischen Lesern oft empfundenen Weitschweifigkeit filtert. Es geht darum, genau jene springenden Punkte in den alten Schriften aufzuzeigen, die hier und heute von größtem Nutzen sind. Wer darüber hinaus indische Klassiker im Zusammenhang lesen möchte, sei auf die Literaturliste im Anhang verwiesen. Sie enthält ausgewählte deutsche Fassungen der alten Texte und Hinweise für jene, die sich tiefer über philosophische Hintergründe des hier Gesagten informieren möchten. Jedem Hauptteil dieses Buchs steht ein Zitat aus Die Weisheit des Brahmanen von Friedrich Rückert voran, das verdichtet einen Aspekt des Inhalts anklingen lässt. Der Dichter, Übersetzer und Sprachwissenschaftler Rückert (1788–1866) legte als einer der ersten Europäer Übersetzungen aus alten indischen Werken vor, darunter aus vedischen Texten und dem Mahâbârata. Seine sechsbändige Sammlung Die Weisheit des Brahmanen (1836–1839) enthält neben indischen Anregungen zur Lebensweisheit solche aus anderen Kulturen. Mir bleibt noch der Dank an jene, die zum Entstehen des Buchs beitrugen. Meine Gesprächspartner in Indien nur annähernd vollständig aufzuzählen, fehlt leider der Raum. Seit 1979 halfen mir dort akademische Kollegen wie gelehrte Swamis und Yogis beim Vertiefen meines Verständnisses der alten Literatur. Namentlich erwähnt sei lediglich ein ungewöhnlicher Inder, der ursprünglich Deutsche Ernst Lothar Hoffmann (1898–1985), der unter dem Namen Anagarika Govinda indischer Staatsbürger wurde und den großen Teil seines Lebens schreibend im Himalaja-Raum verbrachte. Durch seine Bücher trug er viel dazu bei, in Europa das Interesse an der Geisteswelt Asiens zu fördern. Die
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intensive persönliche Begegnung und langjährige Auseinandersetzung mit ihm beeinflusste meine Weise des Lesens der klassischen Literatur Indiens stark, wenn es um die Suche nach praktisch wirksamen essenziellen Aussagen ging. Jenseits der Ashrams und Universitäten durfte ich manches von den mit ihrer schriftlichen Tradition verbundenen Jainas und Hindus erfahren, etwa dem oben zitierten Hotelier. Er mag verzeihen, dass nun ausgerechnet das Kâmasûtra den inhaltlichen Ausgangspunkt dieses Buches bilden wird, das sich seinen geliebten heiligen Texten widmet. Mein Dank gilt Olaf Meier vom Campus Verlag, der mich dazu anregte, gerade jetzt ein Buch über die heutige Relevanz der alten indischen Literatur zu schreiben, und Andrea Kohlgraf für die verlegerische Betreuung des Projekts. Birgit Hutter begleitete das Entstehen des Textes von Anfang bis zum Abschluss durch vielerlei hilfreiche Unterstützung. Manches auf den folgenden Seiten Gesagte geht auf unsere Diskussionen und ihre kreative Teilnahme an meiner Arbeit zurück. Ich schreibe dieses Buch in der tibetischen Hauptstadt, also an einem stark von der klassischen indischen Kultur geprägten Ort. Dieser Genius loci, die tiefe Verwurzelung der Menschen Tibets in den alten Traditionen und ihre einzigartige Liebenswürdigkeit schenkten meiner Arbeit einen Rahmen, für den ich zutiefst dankbar bin. Lhasa, im Oktober 2007
Anmerkung zur Aussprache indischer Worte: Dieses Buch verzichtet zur leichteren Lesbarkeit auf die wissenschaftliche Transkription indischer Alphabete. Es bedient sich auch keiner rein phonetischen Wiedergabe, damit die Namen und Begriffe in ihrer in der Literatur üblichen Form erkennbar bleiben. Dabei sind â, î und û lange Vokale, ś und ş können als sch gesprochen werden, ñ wie nj in Benjamin.
Einleitung »Mit Speisen wirst du nur den Magen überladen, doch fremdes Denken kann dem eignen Denken schaden. Drum wie du issest nur soviel du kannst verdauen, so lies auch mehr nicht, als du braucht dich zu erbauen.« Die Weisheit des Brahmanen
Interkulturelle Bereicherung Globalisierung als Chance Der Einleitung eines Buchs obiges Motto »So lies auch mehr nicht …« voranzustellen, mag kontraproduktiv scheinen. Aber was Friedrich Rückerts Brahmane hier rät, muss nicht so aufgefasst werden, dass man diese Seiten sofort wieder zuklappt oder künftig die Finger von Büchern lässt. Es geht um den wichtigen Hinweis: Wie an Nahrung kann man sich leicht an geistigen Inhalten überfressen. Dass solches geschieht, ist heute noch viel wahrscheinlicher als zur Zeit der alten Brahmanen. Das Informationsangebot und die Überflutung mit Reizen wuchsen inzwischen so stark, dass es erheblich über das Maß dessen geht, was die meisten verdauen können. Die Kunst zu selektieren, was sich zur Kenntnis zu nehmen lohnt, und was man getrost auf der Seite lassen kann, gehört zum wichtigsten Rüstzeug eines erfolgreichen Lebens. Wie beim Essen – will uns dieser Spruch sagen – kommt es auf die Zusammenstellung und Dosierung an. Beim gegenwärtigen Zusammenrücken der Kulturen der Welt durch Wirtschaftsbeziehungen, Zuwanderungsströme, politische Verflechtungen und interkontinentalen Tourismus wird es zum wesentlichen Kriterium bei der Auswahl geistiger Nahrung, dass diese nicht zu regional einseitig ausfällt.
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Neben wirtschaftlichen bietet die Globalisierung nämlich geistige Chancen und Risken. Einerseits besteht die Gefahr, dass in zunehmend weltweiten Trends und Beeinflussungen die bunte und schöpferische Vielfalt der Kulturen in einem mehr oder minder einheitlichen Grau verschwimmt: Wertvolle Besonderheiten verflachen auf ein Mittelmaß und gehen schließlich verloren. Die zunehmende Uniformität der Stadtbilder, überall auf der Erde, in deren Straßen sich die Fassaden der selben FastFood- und Einzelhandelsketten aneinanderreihen, mag als Symbol für diese Form der Verarmung stehen, in der das Typische verschwindet. Andererseits ermöglicht uns die globale Kommunikation, die sich aus dem Zusammenwachsen der Kontinente unseres Planeten ergibt, zunehmend ein interkulturelles Lernen. So können Europäer heute nicht nur von dem profitieren, was sich lange auf ihrem Kontinent bewährte, sondern zugleich von über Jahrtausenden gewachsenen Erfahrungsschätzen aus China, Indien, Japan und anderen Kulturen. Der Erwerb entsprechender Kenntnisse ist in gesellschaftlicher wie persönlicher Hinsicht bereichernd, denn die einzelnen Kulturkreise fanden für die immer und überall akuten Schwierigkeiten zuweilen recht abweichende Wege der Lösung. Zudem prägten sie jeweils eigene Perspektiven aus, unter denen am einen Ort solche Dinge und Gegebenheiten als problematisch erkannt wurden, die man am anderen überhaupt nicht wahrnahm. Aus diesem Grund intensiviert der Blick über die Grenzen des Gewohnten auch im eigenen Umfeld das Gewahrsein für Situationen und Notwendigkeiten. Management – als Kunst der auf Ziele gerichteten und Erfolg versprechenden »Handhabung« der Wirklichkeit – kann daraus außerordentlichen Gewinn ziehen. Der multikulturell gebildete Manager entdeckt in seinem persönlichen Umfeld und im Wahrnehmen seiner Aufgaben Dinge, die anderen verborgen bleiben.
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Interkulturelles Lernen Es wäre zwar heillos übertrieben, wollte man sagen, dass derjenige, der sich mit indischen oder chinesischen Strategien beschäftigt, seine Handlungen und Aufgaben, Mitarbeiter und Bekannten nun wie ein Inder oder Chinese betrachtet. Doch ein wenig geht es durchaus in diese Richtung: Der vertraute Standort, den man immer schon einnahm, wird in seiner Normalität gar nicht oder kaum bemerkt. Wer ihn verlassen kann, um aus der abweichenden Perspektive einer anderen Kultur auf sich und andere zu schauen, nimmt die Verhältnisse, Wertigkeiten und Prioritäten plötzlich in neuer Weise wahr. Man beginnt, den gewohnten Standort richtig zu sehen, sobald man von einem anderen aus auf ihn blickt. So mag einem Abendländer seine Haltung, die häufig an Evolution und Fortschritt orientiert ist, in ihren Eigenarten und Folgen erst im Licht der indischen Auffassung einer zyklischen Wirklichkeit bewusst werden. Es geht dabei nicht um die Frage, ob der gewohnte oder der indische Standort, den man einzunehmen versteht, grundsätzlich besser zum Bewältigen von Problemen oder zu zielführendem Agieren taugt. Allein schon die Erkenntnisse, die sich aus der Spannung zweier Perspektiven ergeben, werden einen bewusster und weitergehender Möglichkeiten gewahr handeln lassen. Dazu wird es allerdings notwendig, sich tatsächlich mit dem Geist oder der Haltung eines anderen Kulturkreises auseinanderzusetzen und sich nicht in isolierten Einzelheiten zu verirren. Bezüglich des interkulturellen Lernens lassen sich nämlich zwei Ebenen unterscheiden. Einmal können konkrete Errungenschaften, die man übernimmt, beim Ausgleich von Defiziten des eigenen Umfeldes helfen. Bewährte Beispiele für solche Impulse sind etwa in Indien entstandene Meditationsformen, die auch in Europa zum Abbau von Stress und dem Steigern der Konzentrationsfähigkeit einsetzbar sind, oder in Japan gewachsene Metho-
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den der Qualitätskontrolle und innerbetrieblichen Kommunikation. Doch birgt eine solche praktische Übernahme auch Gefahren: Wer eine indische Meditationsübung in den Alltag integrieren will, um Stress zu lindern, findet sich durch diesen zusätzlichen Punkt im Terminkalender leicht unter noch größerem Stress. Wichtig wäre in diesem Fall, etwas von der Haltung zu verstehen, aus der heraus sich in Indien das entwickeln konnte, was man in Europa als Meditation bezeichnet. Ebenso kann der Versuch, effiziente japanische Managementmethoden im eigenen Betrieb zu imitieren, nur noch mehr Sand ins Getriebe streuen, wenn außer Acht bleibt, dass diese vor dem Hintergrund eines konfuzianischen Menschbildes entstanden. Darum ist es wichtig, dass man nicht im Nachahmen konkreter Praktiken steckenbleibt, sondern sich auf die zweite Ebene des interkulturellen Lernens konzentriert, die Begegnung mit den grundlegenden Strukturen des Denkens und Empfindens.
Von Indien lernen? Die Mär vom Pessimismus Dass ausgerechnet Indien dem Westen etwas zu bieten hat, war allerdings häufig umstritten. Das Geistesleben des Subkontinents besaß in der europäischen Wahrnehmung schon seit dem Altertum einen zwiespältigen Ruf. Einerseits rühmen bereits antike Schriften Indien als ein Land großer Weisheit. Pythagoras und andere Geistesgrößen des griechischen Kulturkreises sollen der Überlieferung zufolge wesentliche Anstöße von dort empfangen haben. Andererseits galt die indische Weisheit als mit der westlichen Lebenshaltung nicht vereinbar und für diese sogar gefährlich. Als Alexander der Große drei Jahrhunderte vor Christus sein Welt-
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reich aufbaute, das sich von Ägypten über Griechenland und Persien schließlich bis nach Indien erstreckte, begegnete er dort einem Weisen, der keinerlei Verständnis für sein Expansionsstreben aufbringen konnte. Da strengt sich jemand an, die ganze Welt zu erobern, sagte der indische Weise dem König aus dem Westen, obwohl er doch stets nur jenen Raum braucht, den seine Füße gerade einnehmen. Dass diese selbstgenügsamen indischen Weisen, die keinen Sinn für Drang nach Ausdehnung und Erweiterung des eigenen Besitzes und Machtbereichs besaßen, offenbar nicht einmal an ihrem Leben hingen und ohne jedes Empfinden von Tragik freiwillig in den Tod gehen konnten, versetzte die Griechen zusätzlich in verständnisloses Erstaunen. So bestand, seitdem man Indien im Westen wahrnahm, eine eigentümliche Spannung zwischen der Bewunderung einer bedeutenden Weisheit und dem Empfinden, diese würde sich prinzipiell nicht mit dem abendländischen Grundgefühl vertragen. War Letzteres von einer positiven Wertschätzung des Daseins getragen, dessen Qualität man auch quantitativ auskosten wollte, indem man seinen Besitz mehrt und eine lange Lebensdauer anstrebte, schien man in Indien das Nichts dem Sein vorzuziehen: Hier das Ja zum Leben, Streben nach Zugewinn und Mehrung. Dort eine Gelassenheit und Bescheidenheit, die zwar den Tod nicht zu fürchten braucht, aber dafür auch das Leben nicht annehmen und lieben kann. Dieser völlige Gegenentwurf zum eigenen Weltbild, den man in Umrissen im Osten zu sehen glaubte, faszinierte und erschreckte zugleich. Zwei bedeutende deutsche Philosophen des 19. Jahrhunderts, Georg Friedrich Wilhelm Hegel und Arthur Schopenhauer, verkörpern diese unterschiedlichen Positionen. Hegels Ideen spiegeln die Situation, in der europäische Mächte sich die Kontinente der Erde als Kolonien nahmen. Er glaubte, dass man in Indien eher träumte und im Unterschied zum Abendland noch nicht in der Realität ankam. In damals übersetzten klassischen Texten ließen sich dafür Belege finden, wenn es hieß,
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die Wirklichkeit wäre reine Täuschung, der man das Erlöschen – dies heißt »Nirvâna« wörtlich – vorziehen sollte. Für Hegels Kritiker Schopenhauer befand sich Europa mit der Konzentration auf Entwicklung und Expansion auf einem gefährlichen Irrweg. Was Hegel als dauerhafte Evolution schien, galt Schopenhauer mit Bezug auf indische Lehren als kurzfristige und unsichere Station in einem ewigen Auf und Ab, in dem sich ein Engagement nicht lohnt. Schopenhauers Pessimismus und Hegels Optimismus waren sich in ihrem Blick auf Indien einig: Die dortige Haltung ist prinzipiell fortschrittsfeindlich. Weil sich in diesem Punkt die schärfsten Kontrahenten einig waren, konnte diese Meinung lange im Westen vorherrschen. Lange glaubte darum nur eine Minderheit, die wie Schopenhauer einer pessimistischen Weltsicht folgte, dass man von Indien lernen sollte, Abstand vom Fortschrittswahn zu nehmen. Für die meisten Europäer oder Amerikaner war der Gedanke, Indien könnte für sie ernst zu nehmende Lehren bereithalten, schlicht abwegig.
Überzogene Erwartungen Freilich war dieses Urteil der Fortschrittsfeindlichkeit einseitig und ungerecht. Es ignorierte die jener Europas mindestens ebenbürtige Kulturentwicklung Indiens über Jahrtausende ebenso wie die Tatsache, dass der gepriesene abendländische Fortschritt ohne indische Impulse vielleicht ausgeblieben wäre: Schon in der Antike gab es in Indien eine hoch entwickelte Mathematik. Die Null und das Dezimalsystem, Grundlagen jeder höheren Technologie, gelangten von Indien über arabische Vermittlung nach Europa. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts stießen die sogenannten theosophischen Autoren wie Helen P. Blavatsky, Henry Steel Olcott und Annie Besant eine Strömung an, die in der indischen Tradition ein dominierendes Fortschrittsdenken erkennen wollte. Sie
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deuteten das zyklische Entstehen von Welten und Zivilisationen wie die Wiedergeburtslehre im Sinn einer rhythmischen Höherentwicklung aller Gegebenheiten und Wesen. Für diese Autoren, die einige Jahrzehnte stark auf Künstler und Intellektuelle wirkten, eignete sich das indische Denken darum erheblich besser als Grundlage der Entwicklungen in Europa als die dort heimischen Weltanschauungen. Wie Schopenhauer blickten sie suchend nach Indien, doch aus gegenteiligem Motiv: Sie wollten dort nicht die Genügsamkeit und Verneinung des Willens lernen, sondern die wahren Gesetze des Fortschritts, um die kollektive und persönliche Aufwärtsbewegung zu fördern. Diese Strömung, die in Indien das Wissen um die eigentlichen Voraussetzungen einer Höherentwicklung beheimatet sah, bereitete eine etwa hundert Jahre später einsetzende Welle des Interesses an Indien im Westen vor. Nachdem zuvor schon einzelne Außenseiter sich mit Yoga und unterschiedlichen Meditationswegen Indiens beschäftigten, folgte in den 60er und 70er Jahren die Invasion der Gurus. Spirituelle Meister Indiens wie solche, die sich dafür ausgaben, fanden in Europa und Amerika Tausende von Anhängern. Die erfolgreichsten unter ihnen sprachen nicht vom Erlöschen oder dem Beenden des Kreislaufs der Wiedergeburten, sondern versprachen Erfolg und persönliches Wachstum bis hin zur Erleuchtung. Mahârishi Mahesh Yogi, der die Menschen im Westen dadurch, dass sie täglich einige Minuten in Gedanken eine Silbe bewegten, zuerst zum »kosmischen Bewusstsein« und zur schöpferischen Intelligenz führen wollte, um ihnen danach das Fliegen durch geistige Kraft beizubringen, gehörte lange zu den erfolgreichsten Meistern auf dem Markt. Als die Beatles ihren Guru verließen und dieser erstaunt nach dem Grund fragte, soll ihm einer der Musiker entgegnet haben: »Du bist der allwissende Meister. Du musst die Antwort kennen.« Wer zu viel erhofft, wird leicht enttäuscht. Schopenhauer, die
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Theosophen und die Jünger der Gurus blickten mit zu großen Erwartungen nach Indien, von wo man sich eine Heilung all dessen erwartete, was im Abendland nicht zu stimmen schien. Wer in Indien nicht die Erleuchtung sucht, sondern eine Bereicherung seiner Perspektive, kann allerdings viel finden. Einen Schlüssel hierfür liefert die klassische Literatur.
Die indischen Klassiker Seit mehr als dreitausend Jahren produziert man in Indien Texte. Einzig in China findet sich eine vergleichbar lange literarische Tradition. Schon das alte indische Schrifttum ist überaus reich. Die erhaltenen Werke umfassen fast jedes denkbare Thema, – religiöse und philosophische Abhandlungen, Dichtungen, Epen und Fachbücher zu verschiedensten Wissensbereichen. An vielen Texten arbeiteten Generationen, bis sie in die überlieferte Form kamen. Wer nach der Lektüre einen Gedanken vermisste oder ein gutes Beispiel zur Illustration eines Gedankens kannte, fügte das Entsprechende hinzu. Schließlich hatte das Werk nach vielen Einschüben und Erweiterungen über Jahrhunderte eine Gestalt, in der es als abgeschlossen galt. Auf diese Weise sind die ältesten und wichtigsten Klassiker Gemeinschaftswerke, die einen Erfahrungsschatz integrierten, der über Einzelmeinungen weit hinausgeht. Auch deshalb spielte die in Europa so wichtige Person des Autors im alten Indien für den Ruhm des Textes kaum eine Rolle. War im Westen stets wichtig, wer etwas sagte, reichte in Indien meist das Wissen, was gesagt wurde. Von vielen bedeutenden Werken kennt man keine Autoren. Sogar dort, wo welche genannt werden, kommt ihnen eher symbolischer Charakter zu, indem man die Namen bedeutender Weiser oder Herrscher der Vergangenheit wählte. Wo identifizierbare Verfasser überliefert werden, bleiben deren Lebensumstände oft im Dunkeln.
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Bevor die kommenden Kapitel auf Basis dieser Klassiker nach Inspirationen der indischen Weisheit suchen, folgt ein kurzer Überblick über diese Schriften. Dabei wird aus der Fülle der darin anklingenden Themen jeweils ein zentrales Motiv herausgestellt, das im weiteren Buch behandelt wird.
Die Veden: Besser komplett als konsistent Die früheste Schicht der indischen Literatur bilden die Veden. Es handelt sich um vier Sammlungen – Rigveda, Sâmaveda, Yajurveda und Atharvarveda – von mythischen Dichtungen, Ritualvorschriften und kultischen Hymnen. Das Wort Veda bedeutet »Wissen«. Damit meint man priesterliches Geheimwissen, denn lange waren die Veden nicht allgemein zugänglich, sondern wurden nur innerhalb der höchsten Kaste der Brahmanen, anfänglich sogar nur mündlich, weitergegeben. Das älteste und in unserem Zusammenhang wichtigste Werk ist hier der Rigveda, dessen Kern um 1200 vor Christus entstand und der bis heute in Indien weitgehend als die ehrwürdigste Schrift gilt. Der Rigveda liefert kein geschlossenes System, sondern stellt einander widersprechende Aussagen nebeneinander. So finden sich Gebete an den höchsten Gott Indra, dessen Existenz der Text an anderer Stelle bezweifelt. Abweichende Schöpfungsmythen stehen neben Bedenken, ob die Götter überhaupt wissen, wie diese Welt zustande kam. Von Anfang an will das indische Denken lieber vollständig als konsistent sein: Man berücksichtigte alle denkbaren Möglichkeiten und versuchte nicht, sich im widerspruchsfreien Raum zu bewegen.
Upanis˛aden: Das Geheimnis der Person Die Upanişaden entstanden ab dem 8. Jahrhundert vor Christus. In diesen philosophischen Schriften treten Brahmanen und Krie-
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ger, also Angehörige der Spitze der Gesellschaft, in geschlossenen Gruppen als Fragende und Lehrende auf. Das Wort »Upani ad« bedeutet, dass man zu Füßen eines Lehrers sitzt, um vertrauliche Inhalte zu empfangen. Wie die Veden, an die sie anschließen, bieten die Upanişaden keinen einheitlichen Standpunkt. Man findet darin materialistische Positionen wie jene des Uddâlaka Âruni, für den sich höchste Erkenntnis auf die Natur bezog, und idealistische Meister wie Yâjñavalkya, der uns in diesem Buch wiederholt begegnen wird. Zwei für die indische Kultur grundlegende Motive finden sich in den Upanişaden. Das erste ist die Idee, dass die Qualität des Daseins durch das Karma – wörtlich »Wirken« oder »Handeln« – bestimmt wird. Mit anderen Worten: Jeder hat selbst in der Hand, was er aus sich macht. Das zweite Motiv betrifft die Frage nach dem Wesen des Menschen: Wer bin ich?
Epen und Mythen: Was tun? Waren in klassischer Zeit die Veden und Upaniśaden gebildeten Kreisen vorbehalten, schöpfte die breite Masse die traditionelle Lebensweisheit aus Epen, deren wichtigste das Mahâbhârata und das Râmâyana sind. Wie in diesen findeen sich mythische Stoffe in den Purânas, den Quellen der Götterlehre des Hinduismus. Das Mahâbhârata, in einem langen Prozess von etwa 500 vor bis 400 nach Christus entstanden, wird zu Recht als die indische Nationaldichtung bezeichnet. Mit weit über hunderttausend Doppelzeilen gehört es zu den umfangreichsten Werken der Weltliteratur. In die Haupthandlung, den vorgeschichtlichen Kampf zweier Fürstengeschlechter, flossen viele andere Texte zu rechtlichen, ethischen und philosophischen Themen bei. Auch die berühmte Dichtung Bhagavadgîtâ findet sich im Mahâbhârata. Das seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert über den Zeitraum von etwa 600 Jahren komponierte Râmâyana berichtet vom Hel-
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den Râma. Am bekanntesten darin ist die Episode, wie der Held seine von einem Dämonenfürsten auf die Insel Lanka entführte Frau mithilfe des göttlichen Affengenerals Hanuman befreit. Als ein zentrales Motiv begegnet uns in Mahâbhârata wie Râmâyana die Pflicht: Was habe ich zu tun? Wie soll ich mich zu meinen Aufgaben stellen?
Texte des Yoga, der Jainas und Buddhisten: Wacher werden Eine große Gruppe der klassischen Schriften widmet sich dem systematischen Weg (marga) zu einem Lebensziel. Diese Texte wollen ihre Leser »vom Leiden zur Freude« führen, wie sie es oft umschrieben. Was sie als »Weg zur Erlösung« vorstellen, enthält viele praktische Impulse für ein waches und bewusstes Leben. Hieraus ziehen wir die Yogasûtras des antiken Meisters Patañjali heran sowie aus der umfangreichen Literatur über den Buddha Gautama die Werke Majjhimanikâya und Anguttaranikâya. Aus den Schriften der Jainas werden Geschichten aus dem Werk Baratakadvâtrimśikâ erzählt. Dieses humorvolle Buch zeigt auf, wie man seinen Weg nicht gehen sollte, wenn man ein wacherer Mensch werden will.
Dichter und Philosophen: Weisheit und Wahrheit Auch klassische Dichter bieten zu den bisher angeklungenen Motiven reiche Inspiration an. Sie orientierten sich oft an den bislang angesprochenen Texten und brachten dort breit Ausgeführtes auf den Punkt. Insbesondere wenn es um unser Verhältnis zu anderen Menschen geht, werden in diesem Buch unter anderem der Dramatiker Kâlidâsa aus dem 4. Jahrhundert und der tamilische Poet Tiruvalluvar aus dem 6. Jahrhundert zitiert. Letzterer meinte: »Feinde nützen uns tausendmal mehr als Freunde, die uns nach dem Mund reden.« Ein wesentliches Thema der Dichtung, dem auch die Philoso-
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phen bedeutenden Raum geben, ist das der Wahrheit. In diesem Motiv laufen die Fäden aller anderen zusammen – die Frage nach der Selbsterkenntnis, der Pflicht und dem Weg zu einem wacheren Leben. Unter den bedeutenden Philosophen werden wir Nâgârjuna aus dem ersten Jahrhundert und Śamkara heranziehen, der um 800 lebte und schrieb: »Das Freiheitsstreben ist die Sehnsucht durch Erkenntnis der Wahrheit, jene Ketten zu sprengen, die uns der Irrtum anlegte.«
Klassische Ratgeber Die alte Literatur Indiens umfasst auch zahlreiche Fachbücher zu vielen Gebieten wie Astronomie, Mathematik, Logik, Medizin, Staatslehre und viele praktische Künste und Wissenschaften. Im Lauf dieses Buchs konsultieren wir das Arthaśâstra, ein Handbuch für Führungspersönlichkeiten, das Pañcatantra, ein als Fabel- und Märchensammlung auftretendes Lehrwerk für Regierende und den berüchtigten Ratgeber zur Liebeskunst, das Kâmasûtra, dem das folgende Kapitel gewidmet ist.
Weitere Quellen Darüber hinaus ziehen wir einzelne Inder aus den beiden vergangenen Jahrhunderten heran, welche die alten Motive auf ihre Weise in die neue Zeit brachten. Ramakrishna, ein bengalischer Weiser des 19. Jahrhunderts, zitierte viele Geschichten aus dem reichen mündlichen Überlieferungsschatz, der die klassischen Schriften volkstümlich ergänzt. Rabindranath Thakur – oft nach englischer Phonetik »Tagore« geschrieben –, der 1913 den Nobelpreis für Literatur erhielt, ist ein moderner Interpret der antiken Weisheit. Mahâtma Gandhi – der neben dem Buddha Gautama wohl bekannteste Inder – orientierte sich in seiner politischen und gesellschaftlichen Strategie weitgehend an der alten Tradition seiner Heimat.
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Praktische Fragestellung Die Veden und Upanişaden, die Bhagavadgîtâ wie jainistische, buddhistische und andere behandelte Werke besitzen tiefe spirituelle und philosophische Dimensionen. Den Autoren standen Aspekte wie die Beziehung zu höheren Wesen, die Mysterien des Lebens und Sterbens, die Suche nach letzten Wahrheiten und der Erlösung im Mittelpunkt. Das alles klammert dieses Buch mit seiner rein praktischen Zielrichtung auf das Management aus. Diese Kunst wird hier nach dem lateinischen Wortsinn als Manus agere, »an der Hand führen« verstanden. Es geht um das Leiten sozialer Organismen im Großen wie Kleinen, was stets Organisieren und Kontrollieren, Planen und Entscheiden, Kommunizieren und Motivieren erfordert. Genau in diesen Bereichen bewegen sich unsere Anfragen an die klassischen Texte. Konsultieren wir sie mit dem Fokus auf taugliche Prinzipien für die Lebenspraxis und Führungskunst im Hinblick auf die genannten sechs Erfordernisse des Managements, dürfen wir uns durchaus im Einklang mit den alten Autoren wissen. Gingen diese davon aus, höhere Wahrheiten mitzuteilen, waren sie von der universellen Relevanz ihrer Werke überzeugt, was zweifellos den Alltag einschließt. Ein praktisches Anwenden ihrer Prinzipien ist nur konsequent. Bisweilen klingt in den Texten sogar die Berechtigung einer Beschränkung auf das rein Diesseitige an. In diesem Buch wird später ausführlich ein Text aus Anguttaranikâya zitiert, in dem Gautama sinngemäß sagt: Gibt es ein Leben nach dem Tod, nützten diese Ratschläge für jene Zukunft. Gibt es kein solches, hat man doch Gewissheit, in dieser Welt ein angemessenes Leben zu führen. Ob man also einige der hier behandelten Schriften – wie die indische Tradition – im Rang von Offenbarungen sieht oder als beachtliche Dokumente der Weisheit, in denen sich Erfahrungen
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vieler Generationen niederschlugen, sie halten für aufgeschlossene Menschen aller Kulturkreise beachtliche Impulse bereit.
Zum Aufbau dieses Buchs Die ersten vier Kapitel sind den oben genannten zentralen Motiven der indische Klassiker gewidmet. 1. Kâmasûtra im Management: Dieses Kapitel geht vom außerhalb des Subkontinents berühmtesten indischen Buch aus, um einen Rahmen für das Weitere vorzugeben. Das Kâmasûtra beginnt mit dem ebenso banalen wie meist unbeachteten Gedanken: Es gilt, die begrenzte Lebenszeit gut zu nutzen, um seine wesentlichen Ziele zu erreichen. 2. Selbstmanagement: Hier steht die grundlegende Frage im Mittelpunkt: Wer bin ich, und wo stehe ich? In der Chândogya-Upanişad heißt es: »Wer das eigene Wesen fand und erkannte, gewinnt alle Welten und die Erfüllung sämtlicher Wünsche.« Nur wer sich selbst kennt, kann andere effektiv führen. Wer gar nicht sieht, wo er sich befindet, vermag keine realistischen Ziele anzupeilen. 3. Wege des Erwachens: Das dritte Kapitel behandelt Anforderungen an die persönliche Entwicklung, die ein intensiviertes Bewusstsein und damit im Sinn unserer Fragestellung eine Steigerung der Führungsqualitäten hervorbringen. Hierzu muss man die Ganzheit aller Lebensaspekte und damit verbundenen Konsequenzen beachten, wie Śamkara sagt: »Umsonst sind die ersten Schritte, wird der Weg nicht zu Ende gegangen.« 4. Von der Wahrheit: Viele indische Klassiker betonen die Bedeutung der Wahrheit für den Weg zur Selbsterkenntnis und für ein wirksames Handeln. Selbst authentisch zu sein, lässt sich
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durch keinen materiellen Einsatz kompensieren, gerade wenn es um Kommunikation und Motivation geht. Im Râmâyana heißt es: »Tausend Pferde und die Wahrheit wurden gegeneinander gewogen, worauf ich sah: Die Wahrheit wiegt schwerer.« Die beiden folgenden Kapitel richten sich besonders auf die vier weiteren genannten Erfordernisse des Managens: 5. Aus der Ruhe wirken: Ein tiefes Bewusstsein seiner selbst und ein waches Dasein im Augenblick sind Voraussetzungen jenes echten Überblicks, den alles Organisieren und Kontrollieren erfordert. Man muss selbst organisiert sein und sich kontrollieren können, um entsprechend nach außen zu wirken. 6. Pflicht und Freiheit: Was muss ich leisten? Was setzt mir Limits? Wie fülle ich meine Spielräume aus? – Wer sich sinnvoll einem Planen und Entscheiden widmen will, hat sich diesen Fragen zu stellen. Je klarer seine Antwort ausfällt, umso mehr wird er trotz aller Sachzwänge zum Gestalter. Kâlidâsa schrieb im 5. Akt seines Dramas Śakuntalâ: »Vollkommene Menschen tragen ihr Wohlergehen in eigenen Händen.«
Zusammenfassung • Die Globalisierung bietet eine Chance zur Erweiterung des Bewusstseins und individuellen Handlungsspielraums durch interkulturelles Lernen. Wer sich Weisheiten, Strategien und Prinzipien anderer Kulturkreise aneignet, relativiert eingefahrene Gleise und gewinnt größere Flexibilität. • Effektives interkulturelles Lernen bedeutet kein Imitieren von Formen und Abläufen aus anderen Regionen. Es geht um eine Weitung des persönlichen Horizonts im Denken, Empfinden und Agieren, indem man sich zu den gewohnten andere Weisen aneignet, die Wirklichkeit wahrzunehmen und mit ihr umzugehen.
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• Von Indien lässt sich in dieser Hinsicht viel lernen, wenn man sich von überkommenen Vorurteilen frei hält. Die indische Weisheit ist weder pessimistisch, noch verspricht sie spektakuläre Erleuchtungserlebnisse. Doch bietet sie dem dafür Offenen reiche Inspiration für die eigene Lebens- und Führungspraxis. • Klassiker der indischen Literatur verfolgen ein Prinzip der Vielseitigkeit, das Widersprüche nicht fürchtet. Es geht ihnen um die Suche nach der Wahrheit eines authentischen Daseins, die Selbsterkenntnis auf einem Weg zu gesteigertem Wachsein und die Frage nach den eigenen Pflichten und Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf sich und andere. Dieses Buch befragt die alten Texte im Hinblick auf eine Führungskunst, die Organisieren und Kontrollieren, Planen und Entscheiden, Kommunizieren und Motivieren erfordert.
Kapitel 1
Kâmasûtra im Management »Freust Du auf Künft’ges dich, so sieh doch zu, weswegen? Ob du nur hier dich weg, ob dort dich freust entgegen?« Die Weisheit des Brahmanen
Die Systematik des Kâmasûtra Ein verkanntes Buch Von allen klassischen Texten Indiens ist in Europa das Kâmasûtra am bekanntesten. Seinen legendären Ruf verdankt es der Tatsache, dass es die Sexualität zum Thema macht. Viele, die es nie lasen, halten das Kâmasûtra für ein pornografisches Werk, einen Ratgeber für allerlei ausgefallene Stellungen beim Geschlechtsverkehr oder zumindest für eine Art erotischer Stimulans. Noch 1963 strengte die Staatsanwaltschaft im bayrischen Kempten einen Prozess gegen die Veröffentlichung einer neuen Übersetzung des Kâmasûtra an. Zu gefährlich für die moralische Unversehrtheit Europas schien den Sittenwächtern, was der Inder Mallanaga Vatsyayana mehr als eineinhalb Jahrtausende zuvor notierte. Wahrscheinlich hatten sie es nur oberflächlich gelesen. Denn obwohl Vatsyayana ganz ungezwungen von Penis und Vagina, dem ehelichen wie außerehelichen Verkehr, der Verführung argloser Angehöriger des anderen Geschlechts sowie allen Arten des Küssens, Beißens und Schlagens beim Geschlechtsverkehr schreibt, will beim Leser keine rechte Erregung aufkommen. Vermutlich aus diesem Grund wurde das reichhaltige Angebot an Übersetzungen, die man heute im Buchhandel findet, von den
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Verlagen üppig mit erotischen Farbbildern aus dem alten Indien bebildert. Was sich der Käufer vergeblich vom Text verspricht, sollen die Illustrationen gewährleisten, auch wenn diese oft rein gar nichts mit dem Inhalt des Buches zu tun haben. Warum wirkt dieser »Lehrtext der Sinnlichkeit«, wie man den Titel Kâmasûtra übersetzen kann, auf den Leser so überhaupt nicht sinnlich? Die Antwort verweist auf ein wesentliches Charakteristikum vieler Texte der klassischen indischen Literatur: Es liegt an der peniblen Systematik, mit welcher die Autoren ihre Gegenstände behandeln. Vatsyayana wollte eine vollständige Abhandlung über die Sinnlichkeit (Kama) schreiben, die möglichst keinen ihrer Aspekte ausklammert. Dabei war er um eine realistische Perspektive bemüht. Er tabuisiert keinesfalls das gesellschaftlich nicht oder weniger Akzeptierte. Strategien zum Seitensprung und die Angebote gewerblicher Lustdiener finden gleichfalls ihren Platz. Es gibt Interpreten, die Vatsyayana aus diesem Grund zeit- und sozialkritische Motive unterstellen. Solche mögen da und dort zwischen den Zeilen eine Rolle spielen. Doch erheblich deutlicher kommt die Absicht zum Tragen, ein lückenloses Spektrum der Spielarten der Lust zu zeichnen. Weil es eher einem Katalog oder einer objektiven Auflistung gleicht, ist dieses Buch über die Sinnlichkeit selbst kein sinnliches Buch. Man stelle sich zum Vergleich ein Handbuch für Konditoren vor, das möglichst umfassend die Rezepte aller gängigen Torten und ihrer Zutaten auflisten wollte. Die Lektüre der Anzahl zu verwendender Eigelbe, der Grammangaben bei Mehl wie Zuckerguss und der Dauer des Knetens eines Teigs würde wohl nur wenigen Leuten eine Lust auf Süßspeisen vermitteln. Vatsyayanas Handbuch erfüllt im Grund den gleichen Zweck wie ein solches Verzeichnis von Tortenrezepten. Dieses Bestreben nach Vollständigkeit kennzeichnet viele der philosophischen Klassiker und Ratgeber der Lebenskunst im
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alten Indien. Um welches theoretische oder praktische Anliegen es auch immer gehen mag, man erfasst es nach Vorstellung der Autoren nur wirklich und verfügt damit über eine sichere Grundlage des Handelns, wenn man jeden denkbaren Aspekt in Betracht zieht. Stets ist deshalb eine Kenntnis der Ganzheit des Gegenstandes notwendig, bei Alltagsbelangen wie der Sexualität ebenso wie bei den großen Fragen nach dem Wesen von Welt und Wirklichkeit oder der Begründung eines bestimmten Führungsstils. Der Titel des Buchs Dhammasanganî, eines Werks in der Pâli-Sprache, lässt sich als »Zusammenfassung der Gegebenheiten« übersetzen. Der Text wagt das ehrgeizige Unternehmen, alles, was in der Welt vorkommt, auf letzte Kategorien zurückzuführen und diese in einer kompletten Liste zu präsentieren. Die Autoren wollten ein lückenloses Verzeichnis aller Elemente der Wirklichkeit anlegen, das dazu dienen sollte, das Funktionieren der Welt restlos zu durchschauen. Das genannte Werk ist ein Beispiel für viele indische Projekte, die Welt zu begreifen, indem man keine Möglichkeit außer Acht lässt. Solche Versuche führen zu Aussagen, die dem traditionell denkenden Abendländer auf den ersten Blick als absurd erscheinen können.
Widersprüche annehmen So wird in Majjhimanikâya wiederholt auf folgende Weise gefragt, was mit einem bestimmten Menschen nach seinem Tod geschieht: »Existiert er dann noch? Existiert er dann nicht mehr? Treffen dann sowohl Existenz wie Nichtexistenz zu? Oder trifft dann beides nicht zu?« Hier besteht offensichtlich keine Angst, scheinbar Undenkbares doch zu denken. Über einen Zustand von zugleich Existenz und Nichtexistenz oder weder Existenz noch Nichtexistenz zu sprechen, ist nach europäischen Vorstellungen widersinnig. Entweder
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es ist etwas, oder es ist nicht. Befindet sich auf dem Tisch eine Flasche? Die Frage erlaubt gewöhnlich nur zwei Antworten. Auf dem Tisch steht eine Flasche, oder eben keine Flasche. Der indische Denkstil fasst das Spektrum weiter: Bei zwei Optionen lautet die Frage nicht nur Entweder-Oder, sondern auch beides zugleich oder keins davon. Im Durchspielen aller Kombinationen, sogar der absurd scheinenden, öffnen sich Möglichkeiten zu Einsichten über das herkömmliche Denken hinaus. Der Erkenntnis wird viel zugetraut, bleibt sie nur mutig und akzeptiert keine engen Grenzen. »Schön und gut, – aber auf dem Tisch steht trotzdem entweder eine Flasche oder keine Flasche!« – Physiker würden diesem Einwand widersprechen, um festzustellen, dass hier sowohl eine wie keine Flasche steht: Was als fester Gegenstand erscheint, ist eigentlich ein komplexer Prozess, den viele dynamische kleinste Teilchen zustande bringen. Die Wirklichkeit der Physik darf einem zwar gleichgültig sein, solange man sich aus der Flasche nur ein Viertel einschenkt. Hat aber jemand mit der Entwicklung neuer Technologien zu tun, rückt in den Vordergrund, dass Dinge ganz anders beschaffen sind, als sie erscheinen. Wer die Eindeutigkeit liebt, hat es bloß oberflächlich leichter. Weil er vieles ausklammert, denkt er eindimensional und wird der umfassenden Wirklichkeit nicht gerecht, um die es der indischen Methode geht. Dies zeigt sich gleichfalls beim Nachdenken über menschliche Beziehungen. Mag ich jemanden oder mag ich ihn nicht? Die Antwort wird meist entweder für das Mögen oder das Nicht-Mögen sowie für die Aussage ausfallen, dass einem die entsprechende Person mehr oder weniger gleichgültig ist. Die vierte Option, dass man jemanden sowohl mag als auch nicht mag, erscheint auf den ersten Blick abwegig. Dennoch ist dies wahrscheinlich sogar in engeren Beziehungen eine der häufigsten Situationen. Man kann beim anderen zu vielem Ja sagen, doch ebenso vieles bleibt suspekt, unheimlich oder erregt schlechte
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Empfindungen. Ein Verhältnis ist selten eindeutig, was man spätestens bemerkt, wenn es zum Ende kommt. Dass zuvor geschätzte Eigenschaften und Gewohnheiten plötzlich in ganz negativem Licht gesehen werden und man meint, sie gingen einem schon immer auf die Nerven, liegt nicht allein am nachträglichen Anpassen der Erinnerung an die neue Situation der Trennung. Die Zwiespältigkeit war schon zuvor gegeben. Nur wurde meistens das Störende ausgeklammert, um scheinbar erträglicher in einer eindeutigen Situation zu leben. Dadurch nahm man sich wertvolle Gelegenheiten, an den Herausforderungen zu wachsen, die man sich gegenseitig bot. Die größten Chancen, um weiterzukommen, bieten meist jene Aspekte, die man am liebsten beiseite schiebt. Das hat weitgehende Konsequenzen für die Personalführung. Manager, die Mitarbeitern Raum und Zeit gewähren, widersprüchliche Potenziale zu entfalten, akzeptieren diese in ihrer Vollständigkeit. Sie legen keinen auf jene Rolle fest, die am gefälligsten wäre, und schütteln nicht den Kopf, wenn Mitarbeiter ein Verhalten zeigen, das sogar auf den zweiten Blick noch nicht gradlinig erscheinen will. Sie werden dann ebenso hellhörig wie in Situationen, in denen ihren eigenen Standpunkten widersprochen wird. Wer nach der indischen Methode die Menschen und Dinge ganzheitlich betrachtet, macht es sich kurzfristig zwar nicht unbedingt bequemer. Doch wird sich seine umfassende Sicht auf längere Perspektive als realistischer erweisen, wodurch auch sein Handeln effektiver wirkt. Der indische Stil des Erkennens hat mit seinem Widersprüche einschließenden Anspruch auf Vollständigkeit eine deutlich andere Akzentuierung als der europäische und der chinesische.
Kulturelle Denkstile In Europa suchte man nicht nur in menschlichen Beziehungen die Eindeutigkeit: Entweder es ist so oder so. Ein Sowohl-als-auch
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kam eher selten in Betracht. Entweder gibt es einen Gott oder viele Götter. Darum löste im Abendland in der Spätantike der christliche Monotheismus den Polytheismus vollständig ab. Die indische Situation macht es einem Religionswissenschaftler, der in europäischen Mustern denkt, schwer: Brahman, das Absolute, das Einzige, der Urgrund, aus dem alles hervorging, steht im sogenannten Hinduismus neben den unzählbaren Göttern, von denen Vishnu und Shiva die bekanntesten sind. Ist dies Monotheismus oder Polytheismus? In Indien stellt sich diese Entscheidungsfrage gar nicht: Einheit und Vielheit stehen in der Liste des Möglichen nebeneinander, um in jeglicher Weise systematisch und logisch miteinander in Einklang gebracht zu werden. Der gläubige Mensch besitzt die Wahl, sich dem Einen hinzugeben oder sich mehreren göttlichen Wesen zuzuwenden. In der jüngeren Geschichte schien die Wahl zwischen Marktwirtschaft oder Sozialismus zu bestehen, Freiheit oder Sozialismus, wie es auch ängstlich ausgedrückt wurde, entweder das Eine oder das Andere. In der indischen Systematik, wo das Weder-noch und Sowohl-als-auch gleichfalls in Betracht kommen, wählte man unter dem Premierminister Jaharwalal Nehru nach der Unabhängigkeit 1947 einen »dritten Weg«, der sozialistische Planwirtschaft und Markt vereinen wollte. Das klassische chinesische Denken wiederum entspricht gleichfalls nicht dem westlichen Schema des Entweder-Oder, indem es Gegensätze nicht starr trennt: Im bekannten Yin-Yang-Symbol gibt es die Polarität eines schwarzen und eines weißen Feldes. Doch findet sich im schwarzen Feld ein weißer Punkt und im weißen ein schwarzer. Gegensätze bedingen sich, gehen auseinander hervor und brauchen einander. Dies ermöglichte wie in Indien ein Zusammensein des Verschiedenen. Daoismus, Konfuzianismus und Buddhismus konnten miteinander bestehen. In der Neuzeit kam noch der Marxismus maoistischer Prägung hinzu. Wenngleich der konfuzianisch bestimmte Staat den Buddhismus zeitweilig verfolgte, und später der
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Konfuzianismus wie der Buddhismus durch kulturrevolutionäre Bestrebungen des Maoismus in Bedrängnis kamen, wurde immer wieder der Einklang hergestellt. Heute spricht die mit den alten Werten versöhnte kommunistische Regierung Chinas in konfuzianischer Terminologie vom Ziel der »harmonischen Gesellschaft« und bestätigt durch ihre Religionsbehörde wie selbstverständlich Kinder als authentische Wiedergeburten buddhistischer Lamas. Allerdings besteht zwischen dem indischen und dem chinesischen Miteinander eine Diskrepanz. Der chinesische Ansatz beinhaltet kein systematisches Aufreihen aller Möglichkeiten und deren Kombinationen nach logischen Regeln. Er ist nicht so wortreich wie in Indien, sondern eher wortkarg, beruht nicht auf begrifflicher Vollständigkeit und Kombination, sondern auf der Intuition. In Indien wollte man alles für die Menschen Relevante nicht nur erkennen, sondern auch sprachlich ausdrücken. Generationen von Gelehrten arbeiteten an der Grammatik des Sanskrit, in der die meisten Klassiker verfasst sind. Sie wollten eine detailreiche Sprache entwickeln, die jede Erkenntnis wiedergeben kann. Bedeutende Logiker wie Dignâga und Dharmakîrti bemühten sich seit der Antike, die Regeln eines folgerichtigen Denkens zu ergründen. Sogar für Erfahrungen, die sich gar nicht formulieren lassen, suchte man das Wort: So steht in religiösen Traditionen Indiens die Silbe OM für das Höchste, das Unbeschreibliche, das Göttliche. Es ist ein Wort, zu dem man greift, wenn andere Worte versagen. Als man Ende des 8. Jahrhunderts in Tibet überlegte, ob man sich mehr an indischer oder chinesischer Kultur orientieren sollte, stritten während eines Konzils in Lhasa die Gelehrten miteinander. Jene aus China sprachen von blitzartiger Erkenntnis, die überraschend kommt wie der zuvor hinter Wolken verborgene Mond plötzlich am Himmel auftaucht und für die es keine Worte gibt. Die Inder hielten entgegen, dass Einsichten nie spontan erreicht würden, sondern klar unterscheid- und
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ausdrückbare Erkenntnisschritte erforderten. Dem tibetischen König schien Letzteres einsichtiger. Heute bereichern der chinesische und der indische Weg viele Menschen in Europa. Die intuitive Erkenntnis, die Gegensätze einschließt, und das systematische Denken, das einander Widersprechendem Berechtigung zugesteht, kann ein allzu erstarrtes Denken des Entweder-Oder aufweichen
Ganzheit des Lebens Nichts ausklammern Wo nichts spontan oder von selbst geschieht, lassen sich stets Gesetzmäßigkeiten und Abläufe finden, die man systematisch aufschlüsseln kann. Das gilt für die Schritte, die zu einer Einsicht führen, wie für die Elemente eines gelungenen Lebens. Im Mythos vom künftigen Buddha durchläuft dieser verschiedenste Stationen, bis er zur höchsten Erkenntnis gelangt. Er hat Frau und Kind, verfügt über politische Macht und Reichtum, ist ein geübter Krieger. Dann entsagt er allem, kasteit und erniedrigt sich so tief, dass er wie ein Tier lebt. Schließlich fastet er derart konsequent, dass er zum Skelett abmagert und nur knapp dem Tod entgeht. Es wird ein Lebensgang gezeichnet, der nichts auslässt. Reichtum, Luxus, prächtige Paläste, Frauen und sinnliche Lust kontrastieren mit Verzicht und harter Askese. Alles Wissen, jedes Glück und jeden Schmerz erfährt er im Superlativ. Im Buch Lalitavistara lässt er in Kindertagen den Lehrer staunen, weil er jede bekannte Sprache beherrscht. Systematisch wird so aufgeschlüsselt, was alles an Freude und Leid, Errungenschaften und Verlusten geschehen kann. Ein vollkommenes oder gelungenes Leben klammert keinen Bereich aus: Nur wer alles besitzt, kann alles verlieren; nur wer nichts hat,
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kann alles gewinnen. Das vollkommene Loslassen allen Besitzes und jeder Bindung, das einen Menschen zum Heiligen macht, setzt gerade Reichtum und Gebundensein voraus. Wer nichts hat, kann nichts aufgeben. Angeborene Armut ist deshalb weder eine Tugend, noch eine Bereicherung. Wer von Geburt an keine oder wenig Mittel besitzt, würde sein Leben vervollständigen, indem er dazugewinnt und vermehrt. Die Dimensionen eines gelungenen Daseins können so in verschiedener Reihenfolge auftreten. Der Buddha lebte 29 Jahre im Luxus. Es folgten sechs Jahre der Askese und Qual, denen sich 45 Jahre heiterer Gelassenheit und eines aktiven Lebens als Lehrer anschließen. Das für Hindus autoritative alte Gesetzbuch des Manu (Manusmriti) und viele weitere Texte sehen eine solche Reihenfolge als ideal an. Sie definieren für die Angehörigen der oberen Kasten vier dem fortschreitenden Alter entsprechende Phasen des Lebens. Nach einer Zeit als Lernender in der Jugend wird man reif, um in einer zweiten Periode eine Familie zu führen. Man erwirbt nun Wohlstand, um den Seinen Sicherheit zu schenken und selbst das Leben zu genießen. Sind die Kinder erwachsen, zieht man sich in einer dritten Phase von den aktiven Geschäften zurück, um als Ratgeber und Lehrer für andere zur Verfügung zu stehen. Im höheren Alter widmet man sich schließlich ganz der Vorsorge für das Leben nach dem Tod oder die Erlösung. Nehmen und Geben, Lernen und Lehren, Erwerb und Entsagung halten sich in solchen Entwürfen gegenseitig im Gleichgewicht. Ob synchron oder chronologisch, die Systematik eines ganzheitlichen Lebens bedeutet im indischen Sinn eine Fülle, die in ihrem Alles sogar das Nichts einschließt. Es geht dabei um keine vage, geahnte oder unausdrückbare Ganzheit, sondern eine solche, die sich in abstrakten Listen wie in konkreten bildhaften Erzählungen verbal darstellen lässt. Vatsyayana schrieb sein Kâmasûtra in dieser Tradition. Darum
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wollte er nicht nur vollständig sein, was die Sinneslust als sein engeres Thema angeht, sondern er bettete diese in einen weiteren systematischen Zusammenhang ein. Kama, betont er einer verbreiteten Vorstellung entsprechend, ist mit Artha und Dharma eine von drei Facetten, die ein gelungenes Leben ausmachen.
Drei Lebensziele Kama, die Sinnlichkeit, beschränkt sich nicht auf den Aspekt der Sexualität und geschlechtlichen Liebe. Es umfasst die gesamte Sphäre der Sinne. Klassische Texte bezeichnen unsere stoffliche Welt, die wir sehen, hören, riechen, schmecken und angreifen können als Kamaloka, die »Welt der Sinne«. Sie sprechen damit eine Sphäre an, die alle leiblichen und mit dem Körper erfassbaren Freuden umfasst. Dazu gehören das Essen und Trinken, der ästhetische Genuss, Tanz und Musik, ein blühender Garten wie das Rauschen der Bäume im Wald. Den alten Autoren ist ohne die Grundlage des Leibes nichts Höheres denkbar. Empfehlen sie dem Weisen die Loslösung von den Dingen der Welt, wissen sie doch, dass man nur verlassen kann, was man intensiv kennt und ausgeschöpft hat. Darum raten sie, die Bedürfnisse der Körpers nicht zu verdrängen, sondern in angemessener Weise auszuleben. Im Kâmasûtra heißt es: »Falsch wäre, den Liebesgenuss abzulehnen, weil man ihn missbrauchen kann. Es würde keinem Klugen einfallen, das Kochen aufzugeben, weil vielleicht ein Bettler um Essen bittet, oder die Aussaat zu lassen, weil die Sprösslinge erfrieren könnten.« Artha, der zweite Aspekt eines gelungenen Daseins, bezeichnet im weitesten Sinn die Errungenschaften des Erfolges. Darunter fallen materielle Güter, geschäftliches Vorankommen, ein rechtmäßig erworbenes Vermögen und das Ansehen, das man aufgrund seiner Erfolge genießt. Ein Mensch lebt auch deshalb, damit er auf seinen Gebieten Triumphe feiert. Er soll es zu Wohlstand bringen, der ihm erlaubt, sich selbst, seinen Angehörigen und Menschen,
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die Hilfe brauchen, Sicherheit und Glück zu schenken. In diesem Sinn dokumentiert sich ein gelungenes Dasein nicht zuletzt in Haus und Grund, guter Kleidung, kostbarem Schmuck und erlesener Nahrung. Zu diesen handfesten Manifestationen von Artha kommen damit verknüpfte gesellschaftliche Wirkungen. Der Erfolgreiche erlangt aufgrund seines Fleißes und dessen Früchten die Achtung der Mitmenschen. Es werden ihm – auch weil er es sich leisten kann, wohltätig zu sein – allerlei Ehren zuteil. Zum ganzheitlichen Leben gehören also eine entfaltete Sinnlichkeit und materieller Wohlstand. Wenn es nichts gibt, das man hinter sich lassen könnte, wird Entsagung unmöglich. Erwerb und Loslassen müssen im Gleichgewicht stehen. Diese Regel ergibt sich für die indischen Denker aus einem universellen Gesetz: Zerstörung setzt Schöpfung voraus. Oder: Man kann nicht ausatmen, ohne zuvor eingeatmet zu haben. Damit ist bereits der Dharma gestreift, was je nach Zusammenhang als »Gesetz«, »Pflicht«, »Wahrheit« oder im Plural als letzte »Elemente der Wirklichkeit« übersetzt wird. Im Wort Dharma steckt die Bedeutung das »Tragende«. Es bezeichnet das, was dem Leben festen Grund gibt, um nicht ins Bodenlose zu fallen, eine Orientierung, die verhindert, dass man abrutscht. Indem Dharma dem Dasein Ordnung und einen Rhythmus verleiht, erhalten Kama oder Artha eine tiefere Dimension. Indem der Dharma den Menschen an die Wahrheit »rückbindet«, besitzt er eine religiöse Komponente. Man wird in die Pflicht genommen, an Gesetzen und Erfordernissen gemessen, in denen man von Natur aus steht, und deren Nichtbeachten das Gelingen des Lebens verhindert. Vom Dharma leiten sich Anleitungen zum Handeln ab. bringen. Sinnlicher Genuss (Kama), das Erwerben von Wohlstand und Achtung (Artha), bleiben nur durch Einklang mit der grundlegenden Gesetzmäßigkeit im rechten Maß. Der Mensch erkennt seine Pflicht gegenüber dem Ganzen, was sein Leben mit den grundlegenden Rhythmen des Daseins harmonisiert.
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Die Dreiheit von Kama, Artha und Dharma erscheint in der Literatur bisweilen als ein Nacheinander. Auch das Kâmasûtra verknüpft sie mit Lebensphasen vom Lernenden über den Genießenden bis zum Entsagenden und lehrt: »Man braucht nicht alle drei Ziele des Lebens zugleich im Auge zu haben. Es ist gut, sich Kama so zu widmen, dass man Dharma und Artha nicht vergisst.« Die Chronologie lässt sich als Metapher lesen, die zwecks besserer Illustration in verschiedenen Lebensstationen ansiedelt, was eine synchrone Ganzheit bilden sollte. Ein harmonisches Dasein bringt alles in Gleichgewicht, Anstrengung wie Lust, Erwerb wie Entsagung, Fülle wie Opfer. Wer einen Aspekt der Gesamtheit ausklammert, wegschiebt oder verdrängt, verhindert diesen Einklang. Es mangelt einem dann nicht bloß an Lust (Kama) oder Ordnung (Dharma). Fehlt das eine als Korrektiv, kann das andere nicht ins rechte Maß kommen: Lust ohne Regel pervertiert ebenso wie Regel ohne Lust.
Chronologie und Potenzial Alles hat seine Zeit Weil es problematisch wäre, alles Unterschiedliche gleichzeitig zu erfahren, kommt der Chronologie eine wichtige Bedeutung zu. Mancher indische Klassiker widmet sich der Frage, in welcher Reihenfolge ein gelungenes und den eigenen Idealen treues Leben ablaufen sollte. Das Daśabhûmikasûtra beschreibt den Weg zum wachen und vollständigen Menschen als Reise durch zehn Länder, in dem jeder bestimmte Hindernisse überwindet und hilfreiche Eigenschaften erwirbt. Am Ende der langen Fahrt gelangt man aus einem Dasein in Schlummer und Traum schrittweise zum wachen Gewahrsein der Realität mit allen ihren Möglichkeiten. Zum Beispiel wird im ersten Land die plumpe Habsucht über-
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wunden, im dritten vollkommene Geduld erworben, im sechsten tiefe Weisheit entfaltet, die alles durchschauen lässt. Am Ende erfolgt »vollkommenes Erwachen«, das einem das gesamte Potenzial bewusst werden lässt. Solche Texte wollen zeigen, wie das Dasein auf eine große Erfahrung der Totalität hinausläuft, wobei auf dem Weg dorthin alles seinen besonderen Ort hat. Deshalb gilt es, keinen notwendigen Schritt zu überspringen. Wer nicht auf einer früheren Stufe die blinde Gier überwand, kann später keine Weisheit erlangen. Im weiteren Sinn bedeutet dies, dass vieles im Leben seine ganz bestimmte Zeit hat. Für manche Erfahrung scheint es zwar nie zu spät zu sein: Wer während seines ganzen Lebens keine wirkliche Partnerschaft erlebte, mag vielleicht im Rentenalter noch seine große Liebe finden. Aber es wäre vor dem Hintergrund der indischen Klassiker ein Fehler, wollte man daraus ableiten, es wäre »nie zu spät«. Man wird nämlich als Teenager anders lieben als mit dreißig, vierzig oder sechzig Jahren. Wie sich der mit fünfzehn erstmals Verliebte fühlt, lässt sich mit vierzig gewiss nicht nachholen, wie auch der Fünfzehnjährige im Rausch erster und durchaus ernst zu nehmender Verliebtheit gar nicht nachempfinden kann, was es heißt, einen Menschen nach Jahrzehnten des Zusammenseins immer noch aus tiefster Zuneigung anzunehmen. Jedes Alter, alle Lebensstationen haben ihre spezifischen Möglichkeiten, die Erfahrung des Daseins einzigartig zu vertiefen. Wurde die Station passiert, sind mit ihr verbundene Angebote definitiv vorüber. Ein Beispiel ist »das erste Mal« – wovon auch immer. Jedes zweite und weitere Mal wird vom Vorangegangen geprägt. Das gilt für die erste Begegnung mit Menschen, für die erste Reise in ein unbekanntes Land wie den ersten Löffel eines nie geschmeckten Gerichts. Wie die Dinge ihre Zeit haben, wird an der Möglichkeit zur Mutterschaft deutlich, die an vergängliche biologische Gegebenheiten gebunden ist. Sogar wenn heute manche Ärzte Frauen
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in fortgeschrittenem Alter durch Hormonbehandlungen eine Schwangerschaft ermöglichen, wird die späte Mutter ihrem pubertierenden Kind mit 75 Jahren anders begegnen, als sie es mit 35 getan hätte. »Weise Menschen freuen sich nicht an Dingen, die erst nach dem rechten Moment geschehen«, heißt es im zwölften Teil des Mahâbhârata. Mit anderen Worten: Alles hat seine Zeit, und es kommt darauf an, diese nicht zu versäumen und sich der Bedeutung des Augenblicks bewusst zu sein. Das rasche Fließen der Zeit gebietet, den Moment zu nutzen. Daraus folgt keinesfalls die Notwendigkeit, jede nur denkbare Erfahrung zum möglichen Zeitpunkt zu machen, nur um nichts zu versäumen. Nicht jeder muss sich als Teenager erstmals verlieben, nicht jede Frau Mutter werden, nicht jeder seine Muskeln beizeiten so trainieren, dass er ein erfolgreicher Bodybuilder, Schauspieler und in der Folge zum Gouverneur von Kalifornien wird. Wichtig ist allerdings das Gewahrsein, dass jeder stets über eine Vielzahl von Möglichkeiten verfügt, wie es mit seinem Leben weitergehen kann. Das gilt sogar für Personen ohne großen materiellen Spielraum, die zumindest durch Nachdenken an ihrer Einstellung arbeiten und so mittelbar Änderungen einleiten können. Umso mehr stimmt es für jene, die über genug materielle Ressourcen verfügen, um ihre Wege unmittelbar in andere Bahnen zu lenken.
Der Plan Wie man vom einen zum anderen Augenblick seine Chancen wahrnimmt, kann unterschiedlichen Prinzipien folgen. Ein chinesischer Daoist würde vorschlagen, unbelastet von der Vergangenheit und fixen Zielvorstellungen auf die Intuitionen zu hören, die sich aus den momentanen Umständen von selbst einstellen. Die Mehrzahl der indischen Klassiker hält nichts von solchen Ideen, sich treiben zu lassen. Sie bevorzugen klar gezeichnete Lebensent-
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würfe, die nach dem Ursprung fragen, die gegenwärtige Situation berücksichtigen und ein deutlich umrissenes Ziel kennen. Gerade weil immer ein breites Spektrum denkbarer Schritte besteht, bedarf es zum Überblick einer Landkarte mit Streckenzeichnung. Wer keinen Generalplan besitzt, wie sein Leben verlaufen soll, und von Schritt zu Schritt entscheidet, ändert stets unbewusst die Richtung. Er dreht sich im Kreis und wird von den Umständen getrieben, statt selbst etwas zu betreiben. Das bedeutet nicht, dass die Spontaneität keinen Raum hätte, und man nicht Vorteile aus Zufällen ziehen und die Chancen des Augenblicks nutzten kann. Denn ein ausschließliches Bekenntnis zu Zufall und Chaos schließt das Planen entschiedener aus, als dies umgekehrt zutrifft. Jedes vernünftige Planen erkennt die Bedeutung von Zufall und Chaos an. Wer mit dem Auto von Berlin eine zweiwöchige Reise ins Blaue vorhat, kann bei seinem Aufbruch nach Südwesten nicht vorhersagen, ob er in Rom, Paris oder Madrid landet. Ein Stau auf der Autobahn, ein verheißungsvoll klingender Name auf einem Hinweisschild einer Abzweigung oder die lukullischen Verlockungen am Wegesrand mögen über Tempo und Richtung entscheiden. Wer dagegen den Plan fasste, auf jeden Fall Madrid zu erreichen, weiß genau, wann er sich den Pyrenäen nähern muss, um im abgesteckten Zeitrahmen zu bleiben. Ist er Realist, kennt er die Unwägbarkeiten der verstopften Straßen, eventueller Motorschäden oder eines verdorbenen Magens, der zur unfreiwilligen Rast zwingt. Alle Zufälle werden ihm zur Herausforderung, durch Umwege und geschicktes Handhaben einer Panne den Bestimmungsort noch zu erreichen. Wer vorgezeichneten Wegen folgt, kann dennoch trotz bester Absichten und Anstrengungen nicht ankommen. Mehr oder weniger ohne End- und Etappenziele unterwegs zu sein, hat andererseits den zweifelhaften Vorteil, in dieser Hinsicht nicht versagen zu können. Will ich nichts erreichen, kann ich nichts verfehlen.
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Doch beraubt sich der Planlose der Möglichkeit des Scheiterns und damit der vielfältigen Chancen eines Lernens aus dem eigenen Ungenügen. Wer ein Ziel kennt, mag dort vielleicht niemals eintreffen, weiß aber um seine eigene Richtung, von der er abweichen und die er wieder aufnehmen kann. Sein Leben folgt einer Orientierung, angesichts derer das oft unvermeidliche Scheitern ebenso wertvoll wird wie das tatsächliche Ankommen. Es ist ein Prozess, der im Erfolg des Erreichens wie im Lernen durch Versagen bereichert. »Der Weg ist das Ziel«, diese von Werbung und Lebenshilfeliteratur inzwischen reichlich abgedroschene Phrase, ergibt mehr Sinn, versteht man unter dem Weg statt dem Nacheinander zufälliger Stationen, an die einen der Wind der Umstände bläst, eine zielgerichtete Bewegung. Ob das letzte Ziel jemals erreicht wird, ist von sekundärer Bedeutung. Wesentlich ist eine Orientierung, die jeden Schritt bedeutungsvoll macht. Gibt es ein Ziel, kommt jeder Etappe etwas von dessen Charakter zu. Stationen und Schritte besitzen so einen Zweck in sich. Genau dies hebt die orientierte Fortbewegung vom planlosen Kreisen ab. Wie könnte der Weg das Ziel sein, also einzelnen Schritten die Qualität von Zielen zukommen, wenn man das Konzept des Ziels für den gesamten Weg verneint? Viele Führungskräfte glauben, sie hätten klare Fern- und Etappenziele vor Augen, die sich in ihrer Praktikabilität von den unrealistischen Fünfjahresplänen der einstigen kommunistischen Herrscher Osteuropas unterscheiden. Aber dem ist nicht zwingend so. Verantwortliche in Unternehmen, Universitätsrektoren oder führende Politiker lassen sich nicht seltener von den Umständen durchs Leben schieben wie der viel beschworene Mann auf der Straße. Sie glauben, Dinge abzusehen und Veränderungen in die Wege zu leiten, indem sie sich auf abstrakt und wohl formulierte Leitbilder und Visionen berufen. Dabei lassen sie sich und andere glauben, sie wären Täter und nicht Opfer von Sachzwängen. Trotzdem gleicht ihr Handeln mehr der Fahrt ins Blaue als jener nach Madrid. Vielleicht erkennen sie die Gemeinplätze noch
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bei anderen. Aber wer merkt bei sich selbst, dass die Berufung auf Innovation, Expansion oder die Beschränkung auf Kernkompetenzen keinem absichtsvollen Plan entspringt, sondern nicht selten ohnmächtigen Reaktionen auf das, was man als unvermeidlich hinnimmt? Die alte indische Literatur hält viele Entwürfe für Angehörige aller Gesellschaftsschichten und Wertsysteme bereit, wie sie durchs Leben gehen und Geschäfte verrichten sollten, um ihre Ziele zu erreichen. Für heutige Europäer, die von indischer Weisheit profitieren möchten, geht es nicht um das Imitieren solcher konkreten Strategien und Vorgaben. Die Frage lautet vielmehr: Kann ich überhaupt einen detaillierten Plan nennen, der mir aufzeigt, wo ich im Augenblick stehe und wohin ich will?
Potenziale und Beschränkung Ein tauglicher Plan schließt nach indischem Verständnis ein, dass ich weiß, wohin ich nicht will. Um mich absichtsvoll für einen bestimmten Weg zu entscheiden und nicht doch bloß dem Zufall zu folgen, bedarf es der Kenntnis, zu welchen Stationen und Zielen mich andere Richtungen führen würden. Aus diesem Grund streben indische Klassiker wie das oben erwähnte Dhammasanganî nach einer vollständigen Darstellung aller Möglichkeiten. Indem das Kâmasûtra jede denkbare Variante im Reich der Lust beleuchtet, soll der Leser seinen weiteren Weg frei wählen. Nur die komplette Darstellung erlaubt wahre Einsichten und echte Entscheidungen, was ein Beispiel aus dem fünften Teil des Kâmasûtra zeigen mag. Dort wird ausführlich behandelt, wie Männer durch Verführung, Tücke und List zum Geschlechtsverkehr mit Frauen kommen, die anderweitig gebunden sind. Ein ganzer Abschnitt erläutert die Möglichkeiten exponierter Persönlichkeiten, sich Frauen gefügig zu machen. Es wird aufgezählt, wie man materielle Bedürftigkeit ausnutzen, Intrigen gegen Partner der Frauen spinnen oder hinterhältig seine Machtposition ausspielen kann. Den weitesten Spielraum hat
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der König, indem er Männer, die ihm im Wege stehen, oder die begehrte Frau unter einem Vorwand in Haft nehmen kann. Am Ende dieses Abschnitts heißt es: »So kann jeder König fremde Frauen besitzen. Doch groß ist wahrhaft, wer absichtlich auf solche Vorteile verzichtet. Nur jener wird König über die Liebe und Hass, Geiz und Übermut, Stolz und Glück, der die Herrschaft über die Welt anzielt.« Der Rat ist deutlich: Eine Führungspersönlichkeit sollte im Detail die Versuchungen kennen, die ihre Funktion mit sich bringt. Sie muss über all dies sogar genau Bescheid wissen, um nicht unbewusst auf Abwege zu geraten. Absichtlich verzichtet sie dann auf das, was sie vom Eigentlichen ablenken und unnötige Probleme verursachen würde. Die Besinnung auf das Ziel, hier symbolisch für den König als »Herrschaft über die Welt beschrieben«, erlaubt den Sieg über schwankende Gefühle und Neigungen. Die von vielen technischen Hinweisen begleitete Erörterung der Verführung gebundener Frauen wird schließlich mit Gedanken abgeschlossen, die in unserem Zusammenhang als zentrale Botschaft des Kâmasûtra bezeichnet werden können: »Männer, die alle notwendigen Informationen und Mittel besitzen, wie man andere Frauen verführt, werden von den eigenen Frauen nie hintergangen. Doch es ist unweise, diese Mittel und Fertigkeiten der Verführung bei anderen Frauen anzuwenden, weil man damit den Dharma und Artha stört. Der Zweck sinnlicher Künste besteht nicht darin, die Freuden anderer zu vernichten, sondern sich selbst Freuden zu schaffen oder zu verstärken. Nicht andere Frauen soll man verführen, sondern die eigenen glücklich machen.« Es finden sich hier zwei Punkte, die sich auf jeden Lebens- und Arbeitsbereich anwenden lassen: Zum ersten braucht jener, der auf seinem Gebiet um alle Möglichkeiten weiß, weniger Angst vor bösen Überraschungen zu haben. Dass man dem Kenner der Materie allzu übel mitspielt, ist unwahrscheinlich. Zum anderen bringt die Beschränkung auf das, was für die eigenen Ziele und Interessen wirklich zählt, auch die besten Erfolge und tiefste Befriedigung.
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Das Prinzip lautet: Ich könnte viel mehr, als ich tue, anstatt viel mehr zu tun, als ich letztlich kann. Bewusst konzentriere ich mich auf den einmal gefassten Plan und dessen Ziele. Die Beschränkung ergibt den Zugewinn, sogar wenn es langsam vorangeht, wie Tiruvalluvar schrieb: »Der schmale Zufluss bringt keine Gefahr, solange der Abfluss nicht breiter wird.« Mehr zu wissen und zu können, als man ausführt, vertieft das jeweils Getane. Man reduziert die quantitative Breite zugunsten der Qualität des Wesentlichen. Sich bestimmter Dinge zu enthalten, die man im Hinblick auf den eigenen Dharma als kontraproduktiv erkannte, setzt zudem große Energien frei. Von der Antike bis in die Moderne findet sich diese Idee bei indischen Weisen. Von Mahâvîra, dem Gründer der Jainas, und Gautama, dem Buddha, erzählen die alten Mythen, dass sie Allwissenheit erlangten. Nichts wäre ihnen unmöglich gewesen, doch bevorzugten sie ein auf wesentliche Grundbedürfnisse reduziertes Dasein und erlangten beispiellose Breitenwirkung. In ähnlicher Weise propagierte und praktizierte Mahâtma Gandhi »ein simples Leben bei anspruchsvollem Denken«, wodurch er auf der weltpolitischen Bühne Beachtliches bewegte. Ganzheitliches Dasein im Sinn des Kâmasûtra und anderer indischer Klassiker heißt nicht nur, Kâma, Artha und Dharma ausgewogen und angemessen Raum zu geben, sondern in all dem aus einem großen Potenzial zu schöpfen. Man setzt nicht allzu viele Dinge um, die Stückwerk bleiben müssen und kaum etwas bewegen, sondern konzentriert sich auf das, was man vollenden kann und will.
Zusammenfassung • Für alles, was man beabsichtigt, ist das möglichst vollständige Erkennen der jeweils denkbaren Varianten wichtig. Je umfassender eine diesbezügliche Liste ausfällt, umso größer wird die
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Freiheit der Entscheidung sein, die man auf deren Grundlage treffen kann. Nur wer viel absieht, kann wirklich absichtlich handeln. Zur Vollständigkeit gehört das Akzeptieren von Widersprüchen. Einem Sachverhalt, Problem oder Menschen wird man erst gerecht, urteilt man nicht mehr nach dem bequemen Prinzip von Entweder-Oder. Dazu braucht es Mut, sogar das Gegenteil des Selbstverständlichen und dessen Konsequenzen zu denken: »Ich will diesen Karriereschritt, aber wünsche ihn mir eigentlich gar nicht.« Die erkannte Spannung erlaubt das kraftvolle Entscheiden. Ob es um Lebens- oder Geschäftsvorhaben geht, man trifft nur dann eine realistische Entscheidung, wenn man seinen Plan mit den notwendigen Schritten deutlich ausdrücken kann. Was man noch nicht zu sagen vermag, darüber ist man sich nicht im Klaren. Wo der Ausgangspunkt, einzelne Etappen und das Ziel nicht formulierbar sind, gibt es weder einen echten Entschluss, noch einen wirklichen Plan. In drei Daseinsfeldern ist jeweils ein Plan zu fassen: in der Sinnlichkeit (Kâma), dem materiellen und sozialen Erfolg (Artha) sowie in Sinn und Orientierung (Dharma). Ein gelungenes Leben mag hier die Schwerpunkte unterschiedlich setzen, kann die Gleichzeitigkeit oder eine Abfolge der einzelnen Felder anstreben, wird jedoch keines gänzlich ausklammern. Ein effizientes Planen berücksichtigt die Tatsache, dass kein Augenblick zurückkehrt. Alles im Leben hat seine Zeit. Gerade weil sich kein Moment wiederholen lässt, wird das Gewahrsein bedeutend, dass es jederzeit möglich ist, bewusst Veränderungen vorzunehmen. Wenn die äußeren Gegebenheiten keinen Spielraum zuzugestehen scheinen, lässt sich doch das Denken darüber ändern. Das systematische und vollständige Erfassen der vielfältigen eigenen Möglichkeiten in ihren Chancen, Widersprüchen und Irrwegen wie Abgründen erschafft ein starkes inneres Poten-
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zial. Man erkennt, dass man viel tun könnte, doch konzentriert sich auf den als wirklich sinnvoll und erfüllend erkannten Plan: Besser einige Dinge vollkommen ausführen als allzu vieles nur anreißen.
Fragestellungen für die Praxis Ziele und Wege benennen Habe ich in Bezug auf die drei Lebensfelder klare Pläne, die mir zeigen, wohin ich mit welchen konkreten Schritten gelangen will? Wenn dem schon so ist, müsste ich diese ohne allzu langes Nachdenken in einer halben Stunde einigermaßen ausführlich niederschreiben oder diktieren können. Die indische Forderung, alles mit Worten auszudrücken, erlaubt mir nicht, im Vagen zu bleiben. Wer nicht in der Lage ist, seine Ziele und wichtige Etappen verbal darzustellen, weiß weder, wo er jetzt steht, noch wohin er morgen möchte. Daran gibt es nichts zu beschönigen, und die einzige Ausrede, die das Gewissen des Verantwortungsvollen wirklich beruhigt, mag jene sein, dass er es gar nicht wissen will. Ansonsten führt nichts am Erforschen der eigenen Absichten und Vorhaben vorbei. Also – eine halbe Stunde zum Diktieren: Wo stehe ich heute im Leben, welche Ziele peile ich für die Zukunft an, und welche ganz konkreten Schritte führen mich nach dort? – Entweder ich weiß es, dann wird zumindest mich selbst überzeugen, was ich mir zu Papier oder Gehör bringe. Oder ich darf endlich beginnen, mich den zentralen Fragen über mein Leben zu stellen und meinen Plan zu zeichnen. Es ist ratsam, mit dem umfassenden Entwurf in seinen groben Umrissen zu beginnen. Ich muss wissen, was ich mit meinem Dasein anfangen will. Wer keine Vision besitzt, was er mit seinem Leben tun soll, lässt besser die Finger davon, die Geschicke einer
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Firma, Bildungsstätte oder eines Landes mitzulenken. Keine Institution, kein Einzelner und keine Gruppe verdient es, von Personen geführt zu werden, die vor der Konfrontation mit sich selbst davonlaufen.
Vollständigkeit und Widerspruch Bei einem Planen, das sich von indischen Quellen inspirieren lässt, gelten Prinzipien, die leicht ausklammern, wer im abendländischen Kontext denken lernte. Wesentlich sind in diesem Zusammenhang vor allem eine ganzheitliche Betrachtung der Möglichkeiten und das Zulassen von Aspekten, die zunächst widersprüchlich erscheinen mögen. Jeder Plan, der wirklich erstellt und nicht im Nachhinein als beschönigende Rechtfertigung eigener Reaktion auf Umstände und Sachzwänge ersonnen wird, beruht auf Absicht und Entschluss. Sich wirklich zu entschließen, bedeutet, verschiedene Varianten abzusehen und sich innerhalb dieser für jenen Weg zu entscheiden, den man für wünschenswert hält. Dass ich die für mich jeweils beste Möglichkeit auswählen sollte, ist zugegebenermaßen eine an Banalität kaum zu übertreffende Binsenweisheit. Aber – Hand aufs Herz – wie häufig spüre ich wirklich die Gewissheit, mich auf meinem Lebensweg zwischen unterschiedlichen Angeboten zu entscheiden? Wie oft am Tag, in der Woche, im Jahr treffe ich einen freien Entschluss? Kann ich mich überhaupt an einen solchen erinnern? Um die größte mögliche Freiheit für mich herzustellen, ist beim Bedenken der Optionen, die sich mir bieten, Vollständigkeit die höchste Notwendigkeit. Es besteht im konkreten Fall nicht nur die Wahl, eine Beförderung oder Versetzung anzustreben oder zu vermeiden, sondern etwa auch jene, das Unternehmen zu verlassen. Neben jedem Ja oder Nein auf einer bestimmten Strecke, lassen sich immer ganz andere Richtungen einschlagen – und sei es nur in der Haltung, die ich bezüglich einer Sache einnehme.
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Selbstverständlich hat fast jede Änderung der Orientierung ihren Preis. Das Unternehmen zu verlassen, mag für mich schon wegen der finanziellen Einbußen, die ich dadurch erleiden würde, nicht infrage kommen. Aber indem ich mir möglichst viele Abzweigungen vor Augen halte, die sich auf dem Weg auftun, wächst der Grad meiner Freiheit. In und aus der Ganzheit zu leben, schließt ein Bewusstsein dessen ein, worauf ich – sei es wehmütig oder nur allzu gerne – verzichten muss, wenn ich einen Weg einschlage oder fortsetze. Vielleicht habe ich Angst, mich unfreier zu fühlen, sobald mir das ganze Ausmaß dessen bewusst wird, worauf ich bei jeder Entscheidung für etwas verzichte. Doch genau darin besteht Freiheit – im besten Wissen, worum es jeweils geht, bewusst anzunehmen oder abzulehnen. Indem man aber das Abgelehnte bei einer bewussten Entscheidung reflektiert und nicht verdrängt, wird es zu einem Teil des Weges.
Das Scheitern einplanen Schon indem für die indischen Klassiker in einem gelungenen Lebensgang Kama, Artha und Dharma Platz finden sollten, geht es nicht um vordergründige Gradlinigkeit und Konsistenz. Ein volles Dasein, das Gefühle und Hoffnungen, Liebe und Triebe, Glaube und Verzweiflung umfasst, schließt nichts nach logischen Gesetzen der Widerspruchsfreiheit aus. Sinnlichkeit und Entsagung, Verzicht und Fülle bedürfen einander. Man kann mithilfe dessen, was sich als Regeln der Vernunft durchsetzte, sicher zweckvoll über das Leben nachdenken. Doch das Leben selbst ist nicht vernünftig. Aus diesem Grund können Erfolg und Scheitern ebenso zusammenfallen wie das Erreichen das Ziels und sein Aufgeben, das Loslassen. Das Scheitern ist ohnehin der ständige Begleiter alles Planens und Gewinnens. Unverzichtbar wird daher mein Gewahrsein, dass ich mit einem sorgfältig überlegten Plan zwar sou-
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verän entscheide, was ich will, aber ganz sicher nicht, was dann tatsächlich geschieht. Von der Absicht und dem freien Entschluss Gebrauch zu machen, heißt keinesfalls, dass ich die Wirklichkeit zwingen kann, genau so zu werden, wie ich sie haben will. Hier lehren mich die indischen Klassiker Gelassenheit: Einerseits verfolge ich meinen Plan und gestalte, was immer ich mir vornehme. Andererseits akzeptiere ich mein Scheitern. Ich habe Ziele, und nichts in der Welt bringt mich davon ab, in ihre Richtung zu gehen. Doch letztlich hänge ich so wenig an ihnen, dass es mich nicht aus der Fassung bringt, wenn sie sich mit jedem Schritt nur noch weiter von mir entfernen und letztlich unerreichbar werden. Ein derart gelassenes Selbstmanagement setzt voraus, dass man sich zuerst der wichtigsten aller persönlichen Fragen stellt: Wer bin ich?
Kapitel 2
Selbstmanagement
»So mancher klagt und sagt, dass ihn die Welt verkennt; Doch kann er sagen wohl, dass er sich selber kennt? Kennst du dich nicht, woran erkennst du mein Verkennen? Wer nicht verkannt will sein, muss erst selbst erkennen.« Die Weisheit des Brahmanen
Wer bin ich? Selbsterkenntnis Sie haben ein Ziel, das Sie erreichen möchten? Oder: Sie haben keine wirkliche Orientierung und fragen sich gelegentlich, was Sie eigentlich aus diesem Leben machen sollten? – Sie sind glücklich und wollen es bleiben? Oder: Sie sind unglücklich und wollen das dringend ändern? – Sie haben einen guten Draht zu anderen Menschen, und das soll so bleiben? Oder: Sie wünschen sich, dass nicht immer alle Ihre Beziehungen zu anderen in Konflikten und persönlichen Katastrophen enden? Gleichgültig, wo man im Augenblick steht und was man im Konkreten erhalten, loswerden oder noch erreichen möchte, klassische indische Texte kommen immer wieder auf einen Ausgangspunkt für ein gelingendes Dasein zu sprechen, nämlich der Klärung der Frage: Wer bin ich? Der bengalische Weise Ramakrishna erzählte folgende Geschichte: »Ein hochträchtiges Tigerweibchen hatte lange nichts gefressen. Schon völlig geschwächt sah es eine Ziegenherde, auf die es mit letzter Kraft zusprang. Die Wucht des Sprungs löste sogleich
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die Geburt aus, und ein kleiner Tiger kam zur Welt. Unmittelbar danach starb das Weibchen. Der junge Tiger stand inmitten der Herde, die ihn aufnahm. Er wurde mit Ziegenmilch aufgezogen und lernte alles, was ein Zicklein können muss. Er meckerte unbeholfen, imitierte die Sprünge der Ziegen und fraß Graß und Blätter. Nach einiger Zeit jagte ein Tiger die Herde und riss eine der Ziegen. Während die anderen flohen, stand der kleine Tiger erstarrt vor seinem großen Artgenossen. Dieser wunderte sich über das Junge, das Gras im Maul hatte. Er packte und schüttelte es, doch wurde als Antwort wie von einer Ziege angemeckert. Nun brachte er ihn an den Rand eine Gewässers und ließ ihn hineinschauen: ›Sieh dein Spiegelbild. Du siehst aus wie ich! Warum spielst du Ziege, frisst Grünzeug und meckerst?‹ Der kleine Tiger verstand die fauchende Sprache des Großen nicht und meckerte wieder wie ein Zicklein. Da schleppte ihn jener zu der Ziege, die er gerade gerissen hatte und bedeutete ihm zu essen. Das Junge ekelte sich vor der ungewohnten Nahrung und nahm schließlich unter Zwang und erbärmlichem Meckern einen Bissen. Kaum war dieser verschlungen, spürte es die unbändige Lust auf mehr. Es fraß gierig und als es gesättigt war, fühlte es sich, als wäre es eben aus langem Schlummer erwacht. Ohne dass es wusste, wie ihm geschah, brüllte er plötzlich wie ein Löwe. ›Jetzt ist dir klar, dass du wie ich bist‹, sagte der alte Tiger. ›Nun gehe in den Dschungel, damit du lernst der Tiger zu werden, der du bist.‹« Es genügt nicht, dass man ist, wer man ist. Man muss es auch wissen. Ansonsten spielt man eine Rolle, der man nie gerecht werden kann: Man geht einer Beschäftigung nach, die nicht wirklich erfüllt ist, und meckert schlecht, während man gut brüllen könnte. Darum muss ich unbedingt wissen, wer ich bin. Die indische Tradition steht nicht allein damit, ausgerechnet dieser Frage eine zentrale Bedeutung beizumessen. Über dem Tor
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zum Orakel von Delphi stand »Erkenne dich selbst«, und Sokrates wollte seinen Schülern eine Erfahrung ihres innersten Wesens vermitteln, indem er durch immer weiteres Nachdenken in sie drang. Ein konsequentes Verfolgen der Frage »Wer bin ich?« ließ und lässt dabei sehr schnell äußerliche Einzelheiten hinter sich. Wie man heißt, wie alt man ist, was man beruflich tut, und was man besitzt, ist in diesem Zusammenhang völlig unerheblich. Ich könnte mir andere Namen zulegen, den Beruf wechseln und allen Besitz verlieren; mein Alter ändert sich ohnehin fortwährend. Doch bleibt immer die Frage: Wer bin ich in all dem? Ramakrishna, der obige Geschichte erzählte, wusste aus Erfahrung, dass unterschiedliche Lebenswege, die man einschlagen kann, wenig mit der Antwort auf diese Frage zu tun haben. Der geborene Hindu lebte aus experimentellen Gründen längere Zeit streng jeweils nach islamischen und christlichen Regeln, um festzustellen: »Ein Teich mit vielen Badetreppen. Auf einer schöpfen Hindus das Wasser in Krügen und nennen es »Jal«; auf einer anderen schöpfen Muslime in Lederschläuchen und nennen es »Pani«; auf einer dritten die Christen und nennen es Water.« – Ziege oder Tiger? Diese Frage zielt auf eine andere Dimension als jene des Glaubens oder der Sprache. Es geht auch nicht darum, ob ich schüchtern oder forsch, intelligent oder schwer von Begriff, hübsch oder hässlich bin. Ich kann eine sehr unzutreffende Selbsteinschätzung haben, und ein großer Teil meiner Eigenschaften mag mir im Detail gar nicht bewusst sein. Doch sogar, wenn ich ein vollkommen realistisches Bild meiner charakterlichen Disposition gewinnen könnte, beantwortet dies nicht die Frage, wer ich bin. Ob diese tatsächlich im letzten Sinn zu beantworten wäre, spielt in unserem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle. Wichtiger wird die Erkenntnis, dass jeder bereits eine Antwort darauf besitzt, die er vielleicht nur noch nicht kennt. Denn niemand könnte existieren, ohne zu wissen oder zu ahnen, wer er ist, mag dieses Wissen noch so dumpf sein. Der kleine Tiger interpretierte sich
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selbst als Ziege, ohne dass ihm das vor dem Blick in den Spiegel klar war. Die Antwort, die man sich selbst – vielleicht unbewusst – gibt, kann also ganz danebenliegen oder der Wahrheit nahekommen. In jedem Fall beeinflusst sie unser Verhalten: Wir veranstalten Bocksprünge, obwohl eigentlich die weiten und eleganten Sätze des Tigers unsere Sache wären.
Das Menschenbild Selbsterkenntnis erfordert also die Klärung zweier Fragen: Wofür halte ich mich? und Wer bin ich? Man muss das Unzutreffende loslassen, um zu wissen, wer man ist. Nur wer weiß, wer er ist, vermag es wirklich zu werden. Effektives Planen und das Erreichen eigener Ziele werden realistisch, sobald das persönliche Selbstverständnis und die Wahrheit in Einklang kommen. Meist übernahm man das Gerüst des eigenen Selbstverständnisses dem Menschenbild der Kultur, in der man sozialisiert wurde. Für heutige Europäer bedeutet dies gewöhnlich, in einem spannungsgeladenen Selbstgefühl aus überlieferten und jüngeren Elementen zu leben. Allerdings wird diese Tatsache oft nicht in ihrer ganzen Tragweite bedacht. Viele sind überzeugt, traditionellen Werten fern zu stehen, obwohl sie davon ebenso tief wie frühere Generationen geprägt sind. Bei aller Distanz zu Institutionen wurden oft nur Etiketten vertauscht. Man nennt sich »ungläubig«, doch prinzipielle Grundmuster wirken weiter. Nach biblischer Lehre gilt der Mensch als Ebenbild Gottes. Die Theologie sprach von der unsterblichen Vernunftseele mit freiem Willen, die nach ihrem Aufenthalt auf Erden an ihrer Haltung und ihren Taten beurteilt wird. Ging der Glaube an Gott zwar im heutigen Europa zurück, blieb das darauf gegründete Menschbild erhalten: Der Einzelne ist eine unantastbare Persönlichkeit mit dem unbestreitbaren Recht auf ihre Verwirklichung. Obwohl
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viele sich nicht mehr als Geschöpfe sehen, blieb ihnen das Selbstverständnis als »Krone der Schöpfung«. Allerdings gab es einen Bruch, als man Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge von Industrialisierung und Säkularisierung den Menschen neu erfand. Charles Darwin erklärte ihn zum Bruder des Affen, als Tier unter Tieren. Das Denkvermögen, einst Ausdruck der Vernunftseele, verblasste zum Produkt der biologischen Evolution. Karl Marx deutete darauf das Geistesleben als materiellen Prozess, der ökonomischen Gesetzen folgt. Sah er die Kultur noch als Wert, galt sie Friedrich Nietzsche wie die Moral als Instrument der Unterdrückung. Sigmund Freud leistete auf dieser Basis seinen einflussreichen Beitrag zum jüngeren Bild vom Menschen: Er ist ein primär von Trieben bestimmtes Wesen. Das nachwirkende Selbstverständnis, ein von Vernunft gesteuertes Ebenbild Gottes mit entsprechender Würde zu sein, und der spätere Entwurf des von Materie und Trieben gesteuerten Naturoder Zufallsprodukts Mensch bilden schroffe Gegensätze. Für jene, die nicht gelernt haben, Widersprüche bewusst anzunehmen und ins Leben zu integrieren, mag dieses spannungsgeladene Bild zu einem Selbstverständnis mit vielen Rissen führen. Zu den kulturbedingten Mustern treten viele bewusste und unbewusste Faktoren der persönlichen Biografie. Wie die Schalen einer Zwiebel liegen so unterschiedlichste Elemente übereinander und tragen zu unserem Selbstverständnis bei. Dabei gehört auch das von der Wahrheit Abweichende zur eigenen Wirklichkeit: Der junge Tiger war in Wahrheit keine Ziege, doch die Wirklichkeit seines Verhaltens entsprach – wenngleich schlecht – einer solchen. Die Wahrheit des eigenen Wesens zu erkennen, ist vor diesem Hintergrund nicht leicht, wie es in der Kathaka-Upanişad heißt: »Es gelingt nicht vielen, davon zu hören. Von denen, die davon hören, erkennen viele es trotzdem nicht. Einem Wunder gleicht, wer es kundig erklären kann, und einem Wunder gleicht ein Verständnisvoller, den ein Kundiger belehrt.«
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Die Komplexität der vielfältigen Schichten ist sicher ein Grund dieser Schwierigkeit. Doch das größere Problem stellt wohl die Selbstverständlichkeit unseres Selbstverständnisses das: Mit derselben Notwendigkeit wie die Luft, die wir atmen und nicht wahrnehmen, begleitet jeden unserer Schritte das, was wir sind und zu sein glauben. Das eigene Wesen – und was wir dafür halten – ist darum das Intimste und Unmittelbarste eines Menschen. Trotzdem würde sich fast jeder äußerst schwertun, es mit auch nur wenigen Worten zu charakterisieren, während man zu Themen, die einem erheblich ferner liegen, spontan eine ganze Menge sagen könnte. Das, was sich »Ich« nennt, die eigentliche Dimension unseres Daseins, ist sich selbst offenbar das größte Geheimnis. Doch wer die Frage nach sich selbst übergeht oder meint, sie wäre belanglos, verspielt die Chance seines Lebens. Er sieht nicht, wer er ist und wohin er auf welchen Bahnen gelangen könnte. Denn ich selbst bin der Ausgangspunkt aller meiner Wege.
Im Kreislauf Das Ungenügen Da sich der Ausgangspunkt des Weges, das eigene Ich, nur schwer wahrnehmen und beschreiben lässt, soll zunächst lokalisiert werden, wo sich dieser im Augenblick befindet. Wir nähern uns dem Problem Wer bin ich? auf diese Weise über die Frage Wo bin ich? Es geht dabei keinesfalls darum, den persönlichen Standort im geografischen Sinn zu beschreiben. Die Tatsache, dass man sich in Südtirol, Berlin-Pankow oder auf Geschäftsreise in New Delhi aufhält, hilft nur wenig beim Lokalisieren unserer derzeitigen Station auf dem Lebensweg. Auch bleiben das Alter und die Sprosse, die man auf der Karriereleiter erreicht hat, relativ belanglos. Denn ich mag kurz vor der Pensionierung stehen und trotzdem das Ge-
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fühl haben, seit meiner Jugend und Ausbildungszeit keinen Schritt vorangekommen zu sein. Vor einiger Zeit schrieb ein Leser an den Verfasser: »Ich habe kürzlich meine Tagebücher und Aufzeichnungen aus der Schulzeit gefunden. Es war bestürzend zu sehen, dass mich vor Jahrzehnten schon dieselben Probleme beschäftigten wie heute, dieselben Fragen quälten und dass ich damals schon an dieselben Grenzen stieß, vor denen ich immer noch stehe. Ich habe seither eine Ausbildung abgeschlossen, es zum Abteilungsleiter gebracht, zu einem Sohn, einer Tochter und zwei Häusern. Aber seit ich diese alten Notizen las, empfinde ich ganz klar und einigermaßen schmerzhaft, dass ich es seit meiner Pubertät in den Dingen, die mich wirklich beschäftigen, eigentlich gar nicht weiter gebracht habe.« Es gibt, so empfinden viele Menschen, über das hinaus, was ich äußerlich erreiche, neben den materiellen und ideellen Werten, die konventionell einem gelungenem Leben zugerechnet werden, so etwas wie eine innere Aufgabe. Es ist eine nur schwer zu konkretisierende Forderung: Man muss mit seinem Leben etwas anfangen, das sich nicht allein in Kontoständen und Kinderzahlen, Quadratmetern des Grundbesitzes, glücklichen Ehejahren oder der Frequenz der erotischen Abenteuer messen lässt. Wir mögen älter werden oder auf unserer Lebensleiter planmäßig höher steigen, um zum vorgesehenen Zeitpunkt zuerst akademische Titel, dann interessante und lukrative Positionen und schließlich wohltuende Achtung zu erlangen. Ganz offenbar hat all dies nichts damit zu tun, ob wir tatsächlich mit dem weiterkamen, was sich uns als innere Aufgabe stellte. Worin diese besteht, lässt sich selten positiv ausdrücken. Man spürt diese Aufgabe nicht als Forderung, in einem gewissen Zeitraum etwas ganz Bestimmtes zu erledigen. Vielmehr erscheint sie als kontinuierliches Empfinden eines Mangels – so, als bestünde ein Vakuum, das gefüllt werden will und aller Bemühung zum Trotz nie verschwindet. Sogar nach der Abarbeitung einer denkbar langen To-Do-Liste stellt sich keine dauerhafte Befriedigung ein.
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Dieses Gefühl, dass nichts ausreicht, nichts jemals genug ist, findet sich als ein häufiges Motiv bei den indischen Klassikern. Sogar der schönste Moment gilt angesichts seiner Vergänglichkeit als unzureichend. Da nichts vollkommen ist, könnte es für die meisten von allem immer noch ein bisschen mehr sein. Durch die Upanişaden zieht sich der Gedanke, das Ungenügen rühre daher, dass man immer nur Vereinzeltes und nie das Ganze erfasst. Die Brhadâranyaka-Upanişad verwendet hierfür den Vergleich von den Tönen einer geschlagenen Trommel. Keinen von ihnen kann man jemals fangen und festhalten. Es wäre angesagt, die ganze Trommel zu nehmen, will man alle möglichen Töne besitzen. Aber was genau ist in meinem Leben die Trommel? Die Aufgabe unseres Daseins besteht jedenfalls aus keinem Einzelposten, den wir erledigen könnten, indem wir irgendetwas erreichen. Alles, was zunächst die Erfüllung jedes Hoffens und Verlangens verspricht, erweist sich früher oder später als unvollständig. Manchem erscheint die Begegnung mit einem Traumpartner als Erfüllung seines Lebens. Anfänglich überglücklich und auf Wolke sieben erfährt er jedoch bald, dass einem kein anderer Mensch dauerhaft die Unruhe der Suche nach der eigenen Lebensaufgabe nehmen kann. Im günstigen Fall merkt man dann, wie jede Beziehung permanenten Einsatz verlangt, wenn sie gedeihen soll. Im ungünstigen wird man nach einer Trennung zum Versuch getrieben, in der nächsten großen Liebe Erlösung von der Forderung der schwer fassbaren Aufgabe zu finden. Andere versprechen sich vom Wohlstand dauerhafte Befriedigung des inneren Getriebenseins, das sich jedoch im Wachsen des Reichtums nie einstellt. Immer mehr Menschen spüren, dass ihnen das Verfolgen einzelner Töne ihres Lebens keine Befreiung bringt, und wollen die Trommel finden, auf welcher der Rhythmus ihres Daseins geschlagen wird. Doch führt der Aufbruch oft nicht zur Sinnfindung im befreienden Gefühl beim Wesentlichen des eigenen Lebens an-
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gekommen zu sein, sondern häufig in frustrierende Labyrinthe. Der Psychotherapeut reißt mit dem Versuch, die Probleme durch Analyse der Kindheitserfahrungen zu lösen, dann mehr Wunden auf als er heilt. Die Leiter all der Yoga-, Tai-Chi- und sonstigen Kurse, die man besucht, lehren strukturierte Methoden, die oft auf unausgesprochenen Glaubenssystemen beruhen, die man sich überstülpen müsste. Der Pfarrer, bei dem man von traditionellen Antworten der eigenen Kultur Wegweisung erhofft, mag nicht einmal die Frage verstehen, mit der man kommt. Es soll damit nicht gegen Psychotherapie, Yogakurse oder den Gang zum Pfarrer plädiert werden. Viele Menschen brauchen sogar die Hilfe anderer, weil sie sich nicht selber an den Haaren aus einem Sumpf ziehen können, in dem sie durch persönliches oder fremdes Verschulden zu versinken drohen. In Ramakrishnas Geschichte verhalf der ältere Artgenosse dem kleinen Tiger zur wichtigen Erkenntnis. Aber es gibt Anforderungen, denen man sich nur selber stellen kann, jene grundlegenden Aufgaben, die das Leben an einen heranträgt. Der kleine Tiger musste in den Dschungel gehen, um leben zu lernen, wie es ihm entsprach.
Im Zyklus Die Frage Wo bin ich? bezieht sich darauf, wo ich hier und heute in Bezug auf meine Lebensaufgabe stehe. Habe ich überhaupt schon einen Schimmer von dieser Aufgabe wahrgenommen? Treibt mich die Suche danach wie ein innerer Motor von Tat zu Tat? Oder beunruhigt mich die Tatsache, dass ich sie gar nicht kenne, so stark, dass mir Fluchtwege wie Konsum oder Drogen helfen, gar nicht darüber nachzudenken? Gleichgültig, ob man sich angesichts dieser Herausforderung blind durchs Leben hetzen lässt oder ihr durch Betäubung entgehen möchte, man scheint in einem Kreislauf gefangen, der immer wieder an denselben Ausgangsort führt oder überhaupt auf der
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Stelle tritt. Eben deshalb haben viele Menschen im reiferen Alter das Empfinden, in ihrem Zugewinn an Erkenntnis nicht über den Stand der Pubertät hinausgelangt zu sein. In diesem Sinn antworten auf die Frage Wo bin ich? viele indische Klassiker: Du drehst dich im Kreis und gelangst so – obwohl du dich bewegst – immer wieder an die gleichen Orte. Diese existenzielle Grunderfahrung des Kreislaufs prägte die Kultur und das Denken Indiens tief, bis man schließlich im Zyklus eine Art Grundgesetz der Welt sah. Nach den indischen Mythen entstehen Kosmen, entfalten sich über Jahrmillionen, um zu erlöschen und neuen Universen Raum zu geben. Zivilisationen entwickeln sich bis zur kulturellen und moralischen Hochblüte, um allmählich wieder zu zerfallen. Eine von Werden, Vergehen, Neuwerden und Wiedervergehen bestimmte Welt kennt nichts Einzigartiges. Alle Wesen, Dinge und denkbaren Situationen waren in vielerlei Varianten ungezählte Male schon da. Dies spiegeln die indischen Religionen wider. Gott wurde nicht – wie im Christentum – ein einziges Mal Mensch, sondern immer wieder. Vishnu, der die Welt erhaltende Gott, erschien unter anderem als Krishna und Râma in menschlicher Gestalt auf der Erde. Auch die buddhistische Tradition sieht ihren Stifter nicht als einmalige Erscheinung. In vielen vorangehenden Weltperioden und Zeitaltern gab es Buddhas, und für die ferne Zukunft erwartet man mit Maitreya einen weiteren. Wahrscheinlich trug die Naturbeobachtung dazu bei, dass die Idee des Kreislaufs diese zentrale Stellung einnahm. Ausgeprägte Regenzeiten mit Überschwemmungen zwangen dazu, zerstörte Behausungen wieder zu errichten und Grenzen von Feldern neu einzuteilen. Man erlebte den Wechsel der Jahreszeiten nicht nur als Temperaturschwankung und gewandelte Vegetation, sondern als regelmäßiges Ende, das zum Neubeginn nötigte. Indem die gesamte Wirklichkeit als zyklisch galt, wurde die Idee, ein Wesen lebe nicht bloß einmal, zum zentralen Bestandteil
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der Religionen und philosophischen Systeme: Immer wieder wird man geboren, als Mensch, als Tier oder in anderen Gestalten. Ursprünglich war dieser Mythos mit Optimismus verknüpft. Man dankte den Göttern, dass sie einem nach dem Tod ein neues Dasein gewährten. Die Wiedergeburtslehre glich der Auferstehungshoffnung. Wie die Natur nie ganz stirbt, sondern immer neu erwacht, wird niemand jemals ausgelöscht. Zunehmend gewann jedoch ein tragischer Beigeschmack die Oberhand. Sollte es erstrebenswert sein, die immer gleichen Dinge zu erleben? Man bindet sich und wird getrennt, baut etwas auf und muss es hergeben, lernt und erwirbt Erfahrungen, um im Tod alles zu vergessen. So verschwand die positive Wertung des Kreislaufs, worauf indische Weise vor alle die Frage nach seinem Aufhören beschäftigte: Wie lässt sich für den Einzelnen die Befreiung aus einer Bewegung erlangen, bei der er nicht vorankommt? Als vor mehr als 2500 Jahren die Autoren der Upanişaden, Mahâvîra und der Buddha Gautama wirkten, beherrschte genau dieses Problem jene damals fortschrittlichsten Denker Indiens. Sie wollten das Gefühl der Vergeblichkeit überwinden, die Einsamkeit des Menschen, der wie ein Hamster sein Laufrad kreisen lässt. Eine Runde folgt der nächsten, und doch tritt er bloß auf der Stelle. Obwohl er immer wieder andere Sprossen seines Rades unter den Füßen hat, macht er die Drehungen des Rades selbst nicht mit. Er ist nicht einmal oben und dann wieder unten, sondern strampelt sich unverändert am gleichen Ort ab, ohne jemals einen Schritt voran zu kommen. Wenn man auf diese Weise glaubt, sich zu bewegen, aber nicht tatsächlich unterwegs ist, kommt man seiner wesentlichen Lebensaufgabe nie näher. Man muss aus dem fatalen Zwang ausbrechen, immer wieder nach demselben Muster zu funktionieren, – aufhören Gras zu fressen und zu meckern, um beherzt den Sprung des Tigers zu wählen. Vor diesem Hintergrund wird der indische Mythos von der
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Wiedergeburt zur Metapher unserer existenziellen Situation. Er bezieht sich dann nicht auf eine Abfolge von Leben, sondern hilft beim Beantworten der Frage Wo bin ich? Ich trete auf der Stelle oder drehe mich im Kreis, ohne wahrhaft voranzukommen. Selten bin ich da, wo ich sein möchte, und ich weiß – sollte ich keinen klaren und genauen Plan haben – nicht einmal, wo das wäre.
In der Tretmühle Die Vergangenheit loslassen Diese indische Sicht der Wiedergeburt als sinnlose Tretmühle weicht von Anschauungen ab, die mit den Esoterikmoden in Europa aufkamen. Wollte man in Indien die Tretmühle anhalten oder verlassen, weil sie nichts Neues bietet, besitzt die Idee wiederholter Leben inzwischen für viele westliche Menschen eine starke Faszination. Zahlreiche Berater bieten heute vorgebliche Rückführungen in frühere Leben an. Der Verfasser dieses Buches wurde vor einigen Jahren in Benares Zeuge eines Gesprächs zwischen einem Yoga-Meister und einer Europäerin, die sich ihm als Schülerin aufdrängen wollte. Die Frau erklärte mit sichtlichem Stolz, wie sie in einer viele Sitzungen währenden Rückführung bei einem sogenannten Reinkarnationstherapeuten erfuhr, sie hätte ihre vergangenen sieben Leben mit spirituellen Schulungen in Indien verbracht. Unbedingt müsste sie diesen Faden im jetzigen Dasein wieder aufnehmen. Der Yogi lachte und meinte: »Wie wenig Sie aus Ihren indischen Leben lernten! Hätten Sie das Gelernte verstanden, wüssten Sie, dass Sie die Vergangenheit am besten vergessen, weil Sie sich der Gegenwart stellen müssen. Wenn Sie jetzt in Europa geboren wurden, liegen ihre Aufgaben dort. Sie dürfen, wenn Sie wollen, ein paar Tage bei mir blieben. Vielleicht kann ich Ihnen den einen
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oder anderen Rat geben. Aber bitte verschonen Sie mich und sich selbst mit Ihren Träumen von der Vergangenheit.« Was der Yogi über das Verhältnis zur Vergangenheit sagte, begegnet uns oft bei den indischen Klassikern: Geht es um Selbsterkenntnis, ist nicht das Gewesene von Interesse, sondern die Gegenwart. Man soll erkennen, wer man jetzt und hier ist, indem man die Vergangenheit loslässt. In Majjhimanikâya heißt es sinngemäß: »Hänge nicht Verflossenem nach, und fantasiere nicht über das, was noch nicht eintraf. Vergangenes ist vorüber und Künftiges noch nicht erreicht. Durchschaue hier und jetzt das Gegenwärtige.« Anstatt sich zu besinnen, wer man ist und was man genau in diesem Augenblick könnte, beschäftigt sich das Bewusstsein in der Regel mit Vergangenem oder Künftigen: Dem unangenehmen Vorfall von gestern, den man für morgen wieder befürchtet, widmet man mehr Gedanken und Gefühle als der Wahrheit dieses Moments mit allen seinen Chancen. Auf diese Weise beschäftigt man sich zwar mental und emotional, bewegt sich also für das eigene Empfinden, kommt aber in Bezug auf seine Lebensaufgabe nicht weiter. Man wiederholt denjenigen, der man gestern war, heute im Geist und erwartet auch morgen nichts anderes als nur wieder ihn. Der kleine Tiger sollte jedoch unmittelbar sehen, wer er ist. Dann wird er seinen mächtigen Sprung in die Zukunft wagen. Solange er sich mit seiner Vergangenheit als Zicklein beschäftigt, daran denkt, wie er gestern Gras kaute, und überlegt, wo er heute den nächsten Halm findet, wird er über Bocksprünge nicht hinausgelangen. Er bleibt wo er ist, anstatt zu werden, wer er ist. In Europa wird Selbsterkenntnis oft mit dem Ergründen der Vergangenheit in Zusammenhang gebracht. Man fragt, wie Menschen zu dem wurden, was sie sind, und versucht, sich selbst aus seiner Biografie zu verstehen: Welche Kindheitserfahrungen und Jugenderlebnisse entschieden darüber, dass man heute ist, wie man ist? Dann erkennt man – möglicherweise ganz richtig – in einem
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strengen Vater, einer dominierenden Mutter oder einem ganz bestimmten traumatischen Ereignis die Ursache für bestimmte Probleme oder Charakterzüge. Aus indischer Sicht besteht zwar kein Zweifel, dass meine augenblickliche Situation aus zuvor Gewesenem entsteht und davon bestimmt wird. Die Lehre vom Karma beruht schließlich darauf, dass früher Geschehenes die Gegenwart prägt. Allerdings geht man in Indien stets davon aus, dass eine Konzentration auf vergangene Ursachen und deren Analyse ein gutes Leben nicht fördert. All die Details, die mich zu dem machten, was ich bin, wären in ihrer Masse und ihrem Zusammenspiel gar nicht nachvollziehbar. Man könnte sich sein Leben lang innerlich mit dem Ordnen und Analysieren seiner Kindheit und Jugend beschäftigen, ohne jemals ein Ende abzusehen. Damit der kleine Tiger sein kann, wer er ist, braucht er jedoch gar nicht zu wissen, warum er in eine Ziegenherde geriet oder wie er sich fühlte, als er das erste Mal einen Grashalm fraß. Ganz im Gegenteil: Er muss die Vergangenheit aufgeben, die ihn von sich selbst entfremdete, um sich endlich frei zu bewegen und die Chancen des Augenblicks zu erkennen und nach Wunsch zu ergreifen. Doch wie kann man Vergangenes loslassen? Ramakrishnas Geschichte nennt eine wesentliche Bedingung. Es genügt nicht, auf der Wasseroberfläche in Umrissen zu sehen, wer man ist und sein will. Ein solcher Blick in den Spiegel ist wichtig. Er entspricht dem Erkennen der Ziele des Lebensplans, wovon im vorangehenden Kapitel die Rede war. Man sieht vor sich, wohin man möchte, um genau der zu werden, der man im Grunde ist. Aber um sich wirklich nicht mehr vom Vergangenen bestimmen zu lassen, muss man vom Planen zum Handeln übergehen. Nur im Tun kommt man auf den Geschmack des neuen Lebens, ganz so, wie es dem kleinen Tiger ging, als er etwas anderes als das nur Gewohnte fraß. Es ist aus indischer Perspektive nämlich vor allem das Karma, was wörtlich »Handeln« bedeutet, das mich zu dem macht, der
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ich bin. Was ich aus der Vergangenheit übernehme und immerfort wiederhole, gestaltet mein Selbstverständnis und meine Wirklichkeit. Majjhimanikâya: »Die Wesen sind die Eigentümer und die Erben ihrer Taten. Die Taten sind der Mutterschoß, der ihnen Geburt schenkt, ihre Freunde und Zuflucht. Welche Taten sie vollbringen mögen, gute oder schlechte, deren Erben werden sie sein.« Die Handlungen erschaffen das eigene Selbstverständnis, das dann der innersten Wahrheit nur wenig entsprechen mag. Wer tut, was Ziegen tun, lebt tatsächlich in einer Herde mit entsprechender Selbsteinschätzung, sogar wenn er die Anlagen des Tigers besitzt. Deshalb ist es so wichtig, alte Gewohnheiten aufzugeben, sobald man seine Richtung erkannt hat und seinen Weg plant. Die Vergangenheit wird mit dem ersten Bissen zurückgelassen, der einem Appetit auf ein Leben macht, das einem besser entspricht.
Typen im Kreislauf Um vor diesem Hintergrund zu sehen, welche Rolle ich derzeit spiele, frage ich nicht, wie und warum ich in diese schlüpfte. Ich analysiere nicht Vergangenes, sondern werde mir schlicht darüber klar, in welcher Situation ich mich im Augenblick befinde, will also den Ort erkennen, an dem ich vielleicht schon viel zu lange auf der Stelle trete. Meist erfolgt die Wiederholung der Vergangenheit unbewusst. Sobald mir gewahr wird, wer ich gewohnheitsmäßig zu sein glaube, schärft sich im Kontrast der Blick auf meine echten Aufgaben und Ziele. Zur Erkenntnis der Rollen, die ich einnehme, dienen archetypische Bilder, die sich in den Mythologien indischer Klassiker finden. Der Mythos von der Wiedergeburt kennt nach einer einflussreichen Variante »sechs Daseinsbereiche«, in die ein Wesen geraten kann. Sie werden in die Reiche der Götter, Dämonen, Gespenster, Tiere, der Unterwelt und der Menschen eingeteilt. In metaphorischer Weise finden sich deren jeweilige Bewohner als
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die Typen des Genießers, des Kämpfers, des Anhaftenden, des Angstvollen, des Gequälten und des Ausgewogenen beschrieben. Jeder schlüpft während seines Lebens aus einer dieser Rollen in die nächste. Mitunter schwankt er zwischen zweien, oder er bleibt in einer von ihnen gefangen, die ihn nicht loszulassen scheint, die aber er selbst in Wahrheit nicht loslässt. Der Typ des Genießers begegnet uns in den Göttern der Mythologie. Er steht für das Glück und die Zufriedenheit, die sich daraus ergeben, dass man genau das tut, was man möchte. In vielfältigen Geschichten erfreuen sich die Götter an sinnlichen Vergnügen wie Musik, Tanz und erotischen Abenteuern. Manche von ihnen und können sich selbst alles das erschaffen, was ihnen Befriedigung schenkt. Sie genießen ihre Macht und ihre Fähigkeiten. Wieder anderen bereitet schon ihre bloße Existenz das höchste Vergnügen, und sie bedürfen darum nicht einmal der Sinne und äußerer Objekte, um vollends glücklich zu sein. So erstrebenswert es auf den ersten Blick zu sein scheint, jeden Trieb unmittelbar befriedigen zu können, so tragisch schildern insbesondere die klassischen Texte des indischen Buddhismus das Schicksal dieser Götter: Sie vergessen im Freudenrausch sich selbst und die Tatsache, dass ihr Zustand zwar sehr lange, allerdings nicht ewig dauern wird. Weil sie ihren Genuss immer weniger durch Leistung rechtfertigen, fallen sie früher oder später von ihren Wolken herab, um sich in leidvollen Rollen wiederzufinden. Die Metaphorik ist leicht zu deuten: Wer die Möglichkeit hat, sich jeden Wunsch zu erfüllen und dies auch tut, weil ihm der Genuss das höchste Lebensziel wurde, mag irgendwann dahin kommen, dass er sich selbst genug erscheint. Er isoliert sich so von den Bedingungen und Grundlagen seines Genusses und von anderen Menschen, indem er selbst und sein Glück immer mehr ins Zentrum der eigenen Aufmerksamkeit rücken. Gerade in Führungspositionen besteht die Gefahr, genau dieser Rolle zu verfallen, indem man dem Rausch der eigenen Macht
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und ihrer Früchte erliegt. Sobald man allzu sehr genießt, was man ist, programmiert man seinen Sturz vor. An diesem arbeiten bereits Angehörige vom Typus des Kämpfers, welche die alten Texte als »Dämonen« bezeichnen. Nach dem indischen Mythos tobt ein ewiger Krieg zwischen Dämonen und Göttern. Dieser entbrannte um einen Baum, der Früchte trägt, die alle Wünsche erfüllen. Er wurzelt im Reich der Dämonen, doch der Stamm wächst so hoch, dass sich die Krone in der Sphäre der Götter entfaltet. Weil allein diese die Früchte genießen, die sie nicht teilen wollen, kämpfen die Dämonen. Sie wollen erobern, was ihnen von der Wurzel her zusteht. Man erkennt in diesem Mythos das ewige Muster der Revolution. Die Basis fordert ihren Teil der Früchte. Die Dämonen scheinen aus redlichen Motiven gegen die Selbstsucht jener zu kämpfen, die niemandem etwas abgeben wollen. Doch indem der Antrieb der Angreifer Neid und Gier ist, stehen auch sie im Mythos nicht auf der guten Seite. Sie führen einen aussichtslosen Krieg, bei dem sogar ihr Sieg nichts verändern könnte: Nur eine andere Gruppe würde dann die Früchte für sich reklamieren, ohne sie mit den Besiegten zu teilen. Der Typus des Kämpfers streitet, weil es ihm Spaß macht, spielt aggressive Rollen und trägt meist eine Rüstung. Worum er jeweils Krieg führt und ob die Aussicht auf Gewinn besteht, wird zweitrangig. Auch dieser Typus taucht nicht selten unter Menschen in leitenden Positionen auf. Seine Vertreter können im günstigsten Fall durch ihre ständige Kritik und Angriffshaltung Fehlerquellen aufzeigen und Entwicklungen vorantreiben. Daher wirken sie destruktiv. Der Typus der Anhaftenden tritt in den Mythen symbolisch als Gespenst auf. Wer spukt, begreift nicht, dass er nicht mehr ist, was er einmal war. Gespenster hängen in den entsprechenden Geschichten an Orten und Zimmern, in denen sie umgehen. Sie wollen nicht wahrhaben, dass keiner sie wahrnimmt und sie nichts mehr bewirken. Oft suchen sie nach Rache, weil noch
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Rechnungen offen sind. Die Metaphorik ist leicht deutbar: Wer so lebt, kann nicht loslassen und hängt an Dingen, die nicht mehr zu seiner Realität gehören. Er will Räume einnehmen, an denen er inzwischen fehl am Platz ist und mit Personen in Kontakt treten, die ihn eigentlich ignorieren. So befindet er sich dauernd im falschen Film. Das Problem dieses Typus besteht darin, dass er keinen Abschied nehmen kann. Obgleich er äußerlich längst eine Position oder eine Beziehung verloren hat, bleibt er im Geist darin hängen. Oft haften Angehörige dieses Typus an noch aufrechten Funktionen, in denen sie fehl am Platz sind, weil sie nichts mehr voranbringen. Sie hätten weiter gehen müssen, doch spuken sie in ihrer Firma oder Institution, denn sie schaffen es nicht, äußerlich zu vollziehen, dass innerlich längst ein weiter Abstand besteht. Werden sie überhaupt noch echt wahrgenommen, lösen solche Gespenster leichtes Erschrecken oder gar blankes Entsetzen aus. Diese Beziehungslosigkeit von Innenleben und Außenwelt mit der damit verbundenen Wirkungslosigkeit ist leidvoll. Diese Rolle hat darum nichts von der Daseinslust der beiden vorhergehenden Typen. Der Typus der Angstvollen spielt gleichfalls eine überwiegend leidvolle Rolle. Das Bild des Tieres steht im Mythos für die Unbewusstheit und eine daraus resultierende Furcht. Viele Tiere laufen instinktiv davon, ohne zu wissen, weshalb und wovor. Sie können nicht den harmlosen Wanderer vom Jäger unterscheiden. Jedes unvertraute Geräusch löst Panik aus und gebietet unverzüglich Flucht. So charakterisiert diesen Typus, dass er inneren Programmen folgt, ohne zu hinterfragen, ob sie gerade nützlich sind. Eine Erzählung der Textsammlung Udâna verwendet das Gleichnis von den Motten, die zwanghaft in die Öllampe fliegen, in der sie verbrennen. Mit derselben unreflektierten Automatik, heißt es, folgen viele Menschen ihren inneren Mustern, sogar wenn diese zerstörerisch wirken.
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Wer sich von Instinkten und Programmierungen steuern lässt, gibt damit oft der Feigheit nach. Mit dem, wozu es einen innerlich drängt, scheint man auf Nummer sicher zu gehen. Bewusst vom Weg abzuweichen, den der unmittelbare Impuls gebietet, erfordert tatsächlich Mut. Der Typus der Angstvollen schreckt genau hiervor zurück. Entscheidungsschwach folgt er dem Programm und der Routine. Er reagiert auf die Umstände, anstatt sie agierend zu gestalten. Vor Herausforderungen, dem Betreten von Neuland, läuft er davon. Mit Problemen, denen er nicht ausweichen kann, konfrontiert er sich nicht, sondern steckt wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand, um mit mäßig verdrängter Furcht abzuwarten, was weiter geschieht. Den Typus der Gequälten siedeln die mythischen Bilder in den Reichen der Unterwelt an. Indische Texte beschreiben diese wortreich in grellsten Farben. Wer hierhin geraten ist, wird gebraten, gekocht oder gekühlt, zerstückelt oder zersägt. Die Unterwelt symbolisiert den Zustand jener, die ihre Situation als so schrecklich erleben, dass sie sich als hilflose Opfer empfinden. Vielleicht gehen sie davon aus, dass sie eine Vergeltung für frühere Fehler erleben, oder sie fühlen sich vollkommen unschuldig in ein tragisches Schicksal verbannt. Möglicherweise gehen sie auch ganz in ihrem Leid auf, wodurch sie gar nicht mehr darüber nachdenken, ob sie selbst verursachten, was ihnen widerfährt oder grundlos in tragische Umstände gerieten. Die Opferrolle ist ebenso qualvoll wie bequem: Wer sich als von anderen, den Umständen oder dem Schicksal schlecht behandelt sieht, entledigt sich der Verantwortung für sein Leben und Handeln. Die Würfel scheinen ihm endgültig gefallen, weshalb er nicht mehr eigenen Instinkten oder Impulsen folgt, sondern sich in hilfloser Passivität dem ergibt, was mit ihm geschieht. Entweder ist er ganz auf sein Leid konzentriert oder bastelt sich Theorien, wie es durch eigene Versäumnisse, unabänderliche Zufälle oder die Bosheit anderer dazu kam. Indem er alle Aufmerksamkeit seiner
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Qual zuwendet, sieht er keinen Ausweg aus seiner Pein, nicht einmal die Flucht.
Ausgewogenes Menschsein Der sechste Typus im Kreislauf des Daseins ist der Mensch, der Ausgewogene. Dieser vereinigt in sich die Möglichkeit zu den fünf zuvor genannten Rollen. Er kann genießen, kämpfen, durch den falschen Film spuken und sich von Angst oder Qual bestimmen lassen. Alles das gehört auch zum gelingenden Menschsein. Man muss genießen und kämpfen können. Bisweilen durch falsche Positionen zu geistern, hilft dem zur Korrektur Bereiten erheblich beim Lernen. Die Angst besitzt die Funktion, vor Irrtümern und übereiltem Vorgehen zu bewahren. Zudem ist es wichtig, leidensfähig zu sein, indem man Schmerz wie auch Kummer nicht ausblendet. Ein Mensch wird umso menschlicher, je weniger er in den fünf zuvor genannten Rollen derart aufgeht, dass andere Optionen aus seinem Blickfeld geraten. Menschsein ist dadurch gekennzeichnet, in der Mitte zu stehen und die Wahl zu haben. Anstatt wie das Gespenst stets fehl am Platz zu sein, kann ein Mensch sich immer genau nach dort begeben, wo er am richtigen Ort die Position einnimmt, in die er für sich selbst und die anderen am besten passt. Indem er einen klaren Plan hat, sieht er, wo er steht, wo er herkommt, wohin er möchte und was er jetzt dafür tun und lassen kann. Er kann – in der Sprache des Mythos – den Kreislauf durchbrechen, indem er die Extreme der fünf Typen meidet. Diese Möglichkeit, ein im tiefsten Sinn absichtsvoller Mensch zu werden, der sich dem Prozess des Rollenspiels bewusst wird, bezeichnen die indischen Klassiker als Mokşa, was soviel wie Befreiung bedeutet. In vielen Texten tritt Mokşa als viertes Element eines wahrhaft guten Lebens neben Kama, Artha und Dharma. Wie diese innere Freiheit hergestellt werden kann, beschäftigte viele indische Denker, darunter jene aus der Schule des Vijñâna-
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vâda. Die Bezeichnung bedeutet »Lehre vom Bewusstsein«. Ihre bekanntesten Philosophen Asanga und Vasubandhu sprachen im 4. Jahrhundert vom Bewusstsein als einziger Wirklichkeit. Von allem, was man weiß, erkennt oder erlebt, lässt sich letztlich nur mit Sicherheit sagen, dass es einem bewusst wird. Der eigene Körper, die Flasche auf dem Tisch wie der Tisch selber, jeder Klang und Geruch, restlos alles hat gemeinsam, dass es bewusst wird. Wie die Dinge und Umstände unabhängig davon existieren, dass sie unsere Bewusstseinsinhalte sind, lässt sich nicht feststellen. Wegen dieser zentralen Rolle des Bewusstseins für den Menschen suchten die Denker des Vijñânavâda hier auch die Lösung aller Probleme. Die Frage, ob ich mit der »Wahrnehmung« tatsächlich objektiv »wahre« Dinge ins Bewusstsein hinein»nehme«, und wie diese eigentlich beschaffen sind, galt ihnen als Beginn frucht- wie endloser Gedankenspiele. Statt auf die objektive Welt konzentrierten sie sich auf die subjektive Wirklichkeit, das jeweilige Bewusstsein, in dem man lebt. Letztlich nimmt man gar nicht »wahr«, meinten diese Philosophen, sondern man hält Dinge für wahr, die man im Bewusstwerden selbst gestaltet. Sogar wenn es eine objektive Außenwelt mit eigenen Bedingungen und Gesetzen gibt, ist der subjektive Anteil an der Wirklichkeit nicht zu unterschätzen. Im Sinne des Vijñânavâda gelten alle Lebensumstände immer als größtenteils eigene Schöpfungen. Die Arbeitshypothese lautet: Ich selbst bin verantwortlich dafür, dass es im Augenblick so ist, und kein anderer als ich kann es ändern. Es geht dabei nicht um Spekulationen zur Frage: »Womit nur habe ich das verdient?« Meist wird diese ohnehin nur rhetorisch gestellt, wobei die Antwort schon mitschwingt: »Natürlich habe ich das nicht verdient!« Nach der Arbeitshypothese des Vijñânavâda gehe ich davon aus, dass ich genau in der Welt lebe, die ich verdiene. Ich muss mich gar nicht fragen, wie ich da hineingeraten bin, schon die Tatsache, dass ich noch hier bin und mich noch nicht umdrehte und weiterging, beweist meine Verantwortung.
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Fühle ich mich nach der Metapher des Mythos in der Unterwelt von Quälgeistern schikaniert, mag ich den Partner oder die Kollegen für die erlebte Ehe- und Arbeitshölle verantwortlich machen. Ich delegiere an andere, was eigentlich meine Sache ist. Sogar wenn deren Anteil an meiner Misere erheblich wäre, wird für mich ausschließlich mein eigener von echtem Interesse sein. Nur hier kann ich Veränderungen ansetzen. Die Beschäftigung mit dem Quäler und seinen Motiven ist reine Zeitverschwendung. Er verschwindet aus meinem Blickfeld, sobald ich mich umdrehe, um ihn aus meinem Bewusstsein zu entlassen. Die Philosophen des Vijñânavâda würden sagen: Ich habe ihn geschaffen oder engagiert. Damit ist nicht gesagt, man könnte jedes Element selbst entwor fener Wirklichkeit auslöschen, als wäre nichts gewesen. Sogar wenn sich eigene Schöpfungen als zu zäh erweisen, um grundlegend korrigiert zu werden, lässt sich die Haltung zu dem, was als äußerer Umstand erfahren wird, ändern. Man kann tiefer erleben und weiter denken, um auf diese Weise das, was an Quantität als zu wenig, zu schlecht oder zu kurz scheint, an Qualität zu vermehren. Auch wenn unverrückbar feststünde, was uns im Leben widerfährt und gar kein Spielraum zur Beeinflussung bestünde, lässt sich den Umständen in dieser Weise mit einer anderen Haltung begegnen. Bliebe äußerlich alles, wie es ist, verwandelt allein die veränderte Perspektive das Leben. Werden zum Beispiel nur Widerstände gegen das momentan Störende aufgegeben, erhält das scheinbar nicht Änderbare plötzlich einen neuen Glanz. Alles darf dann so sein, wie es ohnehin gerade ist, was für den notorischen Kämpfer eine große Befreiung wäre. Aber es geht um kein passives Leben des Hinnehmens oder der Resignation. Man kann viel mehr als seine Haltung ändern, obwohl dies allein schon sehr viel wäre. Man kann, so die indischen Klassiker, tatsächlich die Umstände selbst ändern oder überhaupt die Tretmühle verlassen. Als Erstes brauche ich hierzu die Erkenntnis, dass ich genau
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in der Welt lebe, die ich verdiene. Dies führt zu einer Verhaltensänderung. Wenn ich als Tiger meckere und Gras fresse, entscheide ich mich in diesem Augenblick selbst für das Dasein als Ziege. Zweitens muss ich mir meiner Absichten bewusst werden. Ohne genauen Plan, wer, wo, wie und was ich sein möchte, gelingt der Sprung von der Weide in den Dschungel nicht. Und drittens muss ich die Arbeitshypothese, dass ich für die Welt, die ich erlebe, zum großen Teil selbst verantwortlich bin, ausschließlich auf mich selbst beziehen. Würde ich die Not und das Leid anderer mit einem »selber schuld« kommentieren, um mich wieder dem eigenen Genuss zuzuwenden, schaffe ich mir ein selbstherrliches Imperium, aus dem es früher oder später ein böses Erwachen gibt. Mir, nicht anderen muss ich den Spiegel vorhalten.
Zusammenfassung • Selbsterkenntnis lässt mich der Spannung gewahr werden, die zwischen dem besteht, wofür ich mich halte und dem, der ich bin. Die Antwort auf die Frage Wer bin ich? erschließt sich in der Erfahrung dessen, was ich wirklich will, in meinen Plänen. Wofür ich mich halte, zeigt sich in meinem augenblicklichen Befinden. • Die im kulturellen Erbe überlieferten Menschenbilder geben vielen heute nicht mehr unmittelbare Orientierungshilfe, weil sie durch Fortschritt und Globalisierung an allgemeiner Gütigkeit verloren haben. Der Einzelne muss sich in der Regel selber positionieren, seinen Ort und seine Aufgabe finden, um Sinn zu erfahren. • Das Leben erscheint als Kreislauf oder Tretmühle, solange man sich nicht über seine ganz persönliche Lebensaufgabe klar wird. Sie ist die eigentliche Antwort auf die Frage Wer bin ich?, die entsprechend auch lauten könnte: Wohin will ich?
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• Für jede Veränderung muss ich meinen Ausgangspunkt kennen. Doch hilft die Analyse, wie ich dorthin komme, oft nicht viel. Das Zerlegen der Vergangenheit kann mich leicht vom Weitergehen abhalten. Wichtig ist: Ich muss wissen, wo ich jetzt stehe, und wohin ich will. • Der beste Weg, um Vergangenes loszulassen, ist die gezielte Veränderung. Indem ich einfach den ersten Schritt weitergehe und auf den Geschmack dessen komme, was mir mehr entspricht, entlässt mich Früheres aus seinem Bann. • Ich muss wissen, welche Rolle ich im Augenblick spiele, um sie bewusst loszulassen und erste entscheidende Schritte zu gehen. Bin ich ein Genießer, Kämpfer oder Anhaftender, ein Angstvoller oder Gequälter? • Menschsein im tiefsten Sinn bedeutet Bewusstsein. Es entscheidet sich aus der Mitte vieler Möglichkeiten, welche Wirklichkeit es für sich erschaffen will, und übernimmt Verantwortung für die jeweils erlebte Welt. Man weiß, dass man sie selbst wählt und viele andere Optionen hätte.
Fragestellungen für die Praxis Wer bin ich? Die Antwort auf die Frage Wer bin ich? erschließt sich mir am klarsten aus dem, wonach ich mich sehne. Meine innersten Absichten verraten mir, wohin ich im Leben und Arbeiten gelangen möchte. Falls ich es geschafft habe, wie im vorangegangenen Kapitel angeregt, mit deutlichen Worten einen Plan zu formulieren, der mir zeigt, wie ich meiner Lebensaufgabe gerecht werden könnte, ist der erste wichtige Schritt zur Selbsterkenntnis schon getan. Doch vielleicht gelang mir dies nicht und trotz des Versuchs blieb schleierhaft, was ich eigentlich wirklich will. Nicht jeder Tiger, der unfreiwillig zur Ziege wurde, sieht unmittelbar, dass
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er lieber im Dschungel seine Abenteuer erleben möchte. Mancher empfindet zwar ein Ungenügen an seinem eigentümlichen Dasein auf der Weide, aber gewöhnte sich mittlerweile daran, dass Gras nicht wirklich schmeckt und niemand das eigene Gemecker versteht, mit dem man sich so gerne verständlich machen möchte. In diesem Fall gilt es, bei dem Gefühl des Ungenügens einzuhaken: Ich kann mich fragen, was alles am gegenwärtigen Zustand unerwünscht und ungeliebt ist. Was konkret gefällt mir nicht? Indem man zunächst herausfindet, worauf man gerne verzichten würde, formuliert man auf gewisse Weise schon seine Ziele. Diese haben jedoch den Nachteil, dass sie festlegen, was man nicht will, also dahin gehen, etwas zu lassen, anstatt etwas anderes zu tun. Würde Ramakrishnas Tiger lediglich kein Gras mehr fressen, ohne zu wissen, was er stattdessen zu sich nehmen soll, müsste er verhungern. Aus den negativ formulierten Zielen müssen darum positive werden. Es reicht nicht, wenn ich nur weiß, dass mir etwas auf die Nerven geht, ich etwas aufgeben oder verlassen möchte. Ich sollte unbedingt wissen, wohin ich stattdessen will. Die manchmal naheliegende Idee, dass es überall besser ist als dort, wo man gerade ist, stimmt keinesfalls immer. Man könnte nach der indischen Methode eine komplette Liste aller Möglichkeiten erstellen, die einem einfallen. Man geht vor wie Vatsyayana, der in seinem Kâmasûtra viele Varianten aufzählt, damit der Leser von dem, was ihm nicht zusagt, zu jenem gelangen kann, was er wünscht. Führt man sich die denkbaren Wege vor Augen und gewinnt dennoch keine ganz deutliche Zielvorstellung, experimentiert man am besten mit dem, was einem am meisten tauglich oder am wenigsten untauglich erscheint. Man darf nicht vergessen, dass man vielleicht – ganz wie der kleine Tiger – erst auf den Geschmack dessen kommen muss, was einem bislang fehlte. Was man noch nicht wirklich kennen lernte und zunächst nur erahnt, bedarf der Erfahrung, um zu wirken. Die Selbsterkenntnis ist für jene, die
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nicht ganz genau wissen, was sie wollen, eine Reise mit offenem Ausgang.
Mein Kreisen Wirklicher Fortschritt im Leben ergibt sich aus der Spannung dessen, wo ich jetzt stehe, zum Ziel, was ich wirklich sein will. Um meine augenblickliche Position zu orten, muss ich also erkennen, inwieweit ich vielleicht insgesamt oder auch nur in einzelnen Aspekten meines Lebens in einer Tretmühle gefangen bin. Der Kreislauf kann einem als solcher bewusst werden, indem man wirklich das Gefühl hat, nie dahin zu kommen, wohin man möchte. Er mag einem aber auch gar nicht bewusst sein, weil man sich so rasch dreht, dass man niemals recht zur Besinnung findet. Äußerlich gesehen kann so ein Kreislauf aus dem unausgesetzten Wiederholen von Erfolgen bestehen. Hyperaktiv hastet man dann in seinem Rad von Tat zu Tat, von Erfolg zu Erfolg, ohne jemals Atem zu schöpfen, richtig zu genießen oder die Frage zu stellen, ob man all das überhaupt noch braucht oder so will, wie man es tut. Es gilt, diese Kreisläufe im eigenen Leben aufzuspüren. Erlebe ich jeden Tag das Gleiche vom Aufstehen bis zum Zubettgehen? Ist die Attraktion eines neuen Partners schnell verflogen, und ich suche den nächsten? Mache ich in persönlichen oder geschäftlichen Angelegenheiten immer wieder dieselben Fehler? Vielleicht hilft es beim Finden von Antworten, wenn man die Typologie des indischen Mythos als Erkenntnismittel verwendet: Spiele ich die Rolle des Genießers, des Kämpfers, des Anhaftenden, des Ängstlichen, des Gequälten? Habe ich mich aus der Mitte meines bewussten Menschseins für diese Rolle entschieden, oder fühle ich mich eher als ihr Gefangener? Solange ich unfreiwillig auf der Stelle trete, bringt mir in Bezug auf meine Lebensaufgabe keine Aktivität echten Fortschritt. Im bengalischen Werk Hitopadeśa schreibt der Weise Nârâyâna: »Eine am falschen Ort vollbrachte Tat trägt keine Früchte.«
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Erst wenn man entdeckt, wo man auf der Stelle rotiert, kann man ausbrechen. Die eigenen Ziele und der nach diesen formulierte Plan sind hierzu die idealen Wegweiser. Sie zeigen die Richtung, die einzuschlagen ist. Wurde man sich jedoch über den richtigen Ort, wo das Tun Früchte trägt, noch nicht klar, hilft schon das Experimentieren beim Verlangsamen des Laufrades: Man hört einfach auf und tut etwas anderes. Dieser Rat klingt nicht nur banal, er ist es selbstverständlich auch. Viele Menschen glauben, dass er sogar viel zu simpel ist, um zu funktionieren, und stellen ihn darum nie auf die Probe. Aber in aller Regel erweist er sich beim echten Versuch als äußerst wirkungsvoll: Gehen mir die immergleichen Dialoge mit meinem Geschäfts- oder Lebenspartner auf die Nerven, sollte ich sie beenden. Ich antworte nicht mehr mit den üblichen Sätzen, wollen diese auch noch so rasch über die Zunge kommen. Ich schweige einfach und bringe ganz bewusst von Zeit zu Zeit ein neues Thema ins Gespräch. Ich muss mir bewusst machen, dass es in jedem Augenblick mindestens einen Weg gibt, der aus dem üblichen Trott herausführt. Ungezählte Male stehe ich jeden Tag vor der Wahl, wie bisher weiterzumachen oder eine andere Richtung einzuschlagen. Ich kann heute wie seit Jahren jeden Abend dieselben Leute treffen und die gleichen Gespräche führen oder daheim bleiben und mit dem Lesen eines Romans von Tolstoi beginnen. Ich kann morgen wie immer zustimmen, weitere zusätzliche Arbeit zu übernehmen, die mich am Wochenende noch beschäftigt. Oder ich kann den Kollegen sagen: »Dies muss ein anderer tun, ich bin völlig ausgelastet.« Dass es wirklich einen freien Willen gibt, mag man objektiv nicht beweisen können, aber subjektiv ist er leicht erfahrbar, bricht man nur einmal aus dem Gewohnten aus.
Nur Bewusstsein Als äußerst hilfreich erweist sich für diesen Versuch, aus vertrauten Mustern auszubrechen und neue Wege zu gehen, der philoso-
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phische Lehrsatz des Vijñânavâda als Arbeitshypothese: Nur auf das Bewusstsein kommt es an! Wann immer ich merke, dass mir Situationen nicht gefallen, mich andere Menschen unglücklich machen, ich mich mit einer Arbeit oder privaten Aktivität unwohl fühle, kann mir dieser Satz einfallen: Alles, was mich betrifft, spielt sich in meinem Bewusstsein ab. Mein ganzes Erleben gründet darin. Ich habe mir – zumindest zu erheblichen Teilen – die Wirklichkeit, wie ich sie erfahre, selbst gestaltet. Eigentlich geht mir niemand auf die Nerven. Vielmehr lasse ich zu, dass mich gewisse Menschen oder Dinge aufregen. Wird mir das bewusst, habe ich viele Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Ich könnte über das, was mich innerlich erregt, zum Beispiel lachen. Es wäre auch denkbar, diejenigen zu bedauern, bei denen ich gewohnheitsmäßig zulasse, dass sie mich verletzen. Mein Bewusstsein ist nur verletzbar, solange ich dies zulasse. So, wie ich die Dinge wahrnehme und fühle, wird meine Welt sein. Meinem eigenen Anteil an der von mir erlebten Wirklichkeit sind kaum Grenzen gesetzt. Er erschöpft sich nicht darin, dass ich heute über den lache, der mich gestern noch aufregte. Indem ich meine innere Einstellung wandle, verändern sich meine Reaktionen auf andere. Dies beeinflusst wiederum diese in ihrem Verhalten mir gegenüber. Indem ich an meiner Haltung arbeite, löse ich darum im ganzen mir bewussten Umfeld Wandlungen aus. Gleichgültig, ob es um scheinbar verfahrene häusliche Situationen oder aus meiner Sicht unfähige Mitarbeiter und Vorgesetzte geht, die meine Ambitionen hintertreiben, immer gibt es den eigenen Anteil an der Schöpfung dieser leidvollen Wirklichkeit, den ich bewusst verändern kann. Die indische Tradition lehrt uns, dass der Mensch nicht festgelegt und nach vielen Seiten hin offen ist: Ich kann mehr bewirken, als ich gewohnheitsmäßig glaube.
Kapitel 3
We g e d e s E r w a c h e n s
»Du strebest Tag für Tag durch Lernen wie durch Lehren, durch Denken wie durch Tun, den Kern des Ichs zu mehren. Der Edelstein bedarf viel Mittel, sich zu schleifen; viel Nahrungsmittel braucht der Samen, um zu reifen. Wer kann zuletzt mit Lust im fert’gen Ich beruhn? Wer nichts hinzutut, was er wieder weg muss tun.« Die Weisheit des Brahmanen
Wachsein ist alles! Das Pañcatantra Das nach dem 3. Jahrhundert entstandene Pañcatantra, ein »Gewebe« (tantra) aus fünf (pañca) Büchern, wird dem Autor Visnuśarman zugeschrieben. Das Werk, das in verschiedenen Fassungen vorliegt, ist eine wahrhaft unerschöpfliche Quelle der Weisheit. Schon früh faszinierte es Menschen außerhalb Indiens. Im 6. Jahrhundert gab es bereits eine persische Übersetzung, im 8. eine arabische, im frühen 12. eine griechische und im 13. Jahrhundert eine lateinische Fassung. Diese war die Grundlage der ersten deutschsprachigen Ausgabe, die schon 1482 erschien. Viele der Erzählungen des Pañcatantra fanden seither Eingang in europäische Märchensammlungen und andere Literatur. Dies liegt nicht zuletzt an zahlreichen, oft als spaßig empfundenen Tiergeschichten, die das Buch enthält. Doch der Autor wollte es vor allem als Lehrwerk der Regierungskunst verstanden wissen. Wie es in der Einführung heißt, gab es einen König mit drei
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stumpfsinnigen Söhnen, die zudem an ihren Pflichten uninteressiert waren. Der weise Greis Visnuśarman erbot sich, die Prinzen innerhalb eines halben Jahres in die Lebensklugheit einzuweisen. Er nahm sie in sein Haus und schrieb jene fünf Bücher für sie, die das Pañcatantra umfasst. Sie sollen dadurch tatsächlich zu tauglichen Regenten geworden sein. Es handelt sich also um ein Lehrbuch der Nîti, der Staats- und Führungskunst, was auf den ersten Blick nicht unbedingt deutlich wird. Denn die vielen Geschichten – wie die gleich folgende – lesen sich äußerst kurzweilig, und nicht immer stimmt die bisweilen lustige Pointe mit der Lehre überein, die Visnuśarman weitergeben wollte. Auch erschließt sich die Beziehung zur Kunst des Regierens und Leitens nicht immer sofort, denn die äußerlich simplen Handlungen haben – wie in der folgenden Erzählung – viele Ebenen.
Der Tagträumer »Ein Brahmane hatte Reisbrei in einem Topf gesammelt, den er am Abend über seinem Bett aufhängte. Bei Nacht schaute er hinauf zum Topf, der bis zum Rand angefüllt war, und begann zu fantasieren: ›Wenn nun plötzlich eine Hungersnot kommt und jeder verzweifelt Nahrung sucht, was ist mein Topf dann wert! Ich werde sicher hundert Silberstücke dafür bekommen. Dafür kaufe ich mir einen Ziegenbock und eine Geiß. Weil die alle zehn Monate Nachwuchs bekommen, habe ich bald eine große Ziegenherde beisammen. Diese tausche ich gegen Rinder ein, denn die sind wertvoller. Ich gebe die Kälber teuer weiter, schaffe vom Erlös noch Büffel an und schließlich Zuchtstuten. Dadurch habe ich viele Fohlen und endlich große Rossherden. Als Pferdehändler bin ich reich. Also kann ich mir ein prächtiges Haus mit Innenhof leisten. Weil ich so viel Geld und Eigentum habe, bin ich natürlich ein
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sehr begehrenswerter Junggeselle. Ohne Probleme nehme ich mir ein schönes Mädchen, das eine stattliche Mitgift einbringt, zur Ehefrau. Selbstverständlich schenkt mir eine so gute Frau bald einen hoffnungsvollen Sohn.‹ In seinem Tagtraum sah sich der Brahmane schließlich im Innenhof seines stattlichen Anwesens sitzen. ›Ich halte dort ein Buch in der Hand und bin beim Lesen, wenn mein kleiner Sohn kommt, der schon laufen kann. Sobald er mich sieht, will er natürlich zu mir, weil er es gerne hat, wenn ich ihn auf den Knien wiege. Doch was muss ich sehen! Wenn das Kind direkt über den Hof auf mich zuläuft, muss es viel zu dicht an den Pferden vorbei. Da wird noch das Schlimmste geschehen!‹ Aus Angst um seinen Sohn ruft er nach seiner Frau, die das Kind sofort anhalten soll. Doch weil sie im Haus beschäftigt ist, merkt die Frau gar nicht, welche Gefahr sich draußen anbahnt. Voller Wut strampelt der Brahmane mit den Füßen. Da trifft er seinen Topf, der ins Schwanken gerät und kippt, worauf der gesamte Reisbrei sich über ihn ergießt.« Diese Geschichte greift ein wichtiges Thema der indischen Weisheitsliteratur auf: Wachsein ist alles. Die Aussage hat sicher einen ganz vordergründigen psychologischen und auch moralischen Aspekt. Wenn wir uns in Tagträume verspinnen, wie sich aus kleinem Kapital riesige Gewinne schlagen lassen, laufen wir Gefahr, es rascher zu verspielen, als es eingesammelt wurde. Der Brahmane hatte den Topf wahrscheinlich auf einer Pilgerfahrt gefüllt, indem er auf seinem Weg Menschen um eine Nahrungsspende bat, die man in Indien frommen Wanderern nicht vorenthält. Er hatte dabei viel Erfolg und mehr Nahrung erhalten, als er brauchte. War es ein Wunder, dass er ins Denken kam, wie man das einmal Gewonnene auf die beste Weise vermehren könnte? Man könnte meinen, dass er einfach nur versuchte, positiv zu denken, wie es heute von vielen als der Schlüssel zu großen Erfolgen gefeiert wird. In der Tat würden viele der klassischen indischen Weisen den
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modernen Vertretern des sogenannten positiven Denkens beipflichten. Die alte Spruchsammlung Dhammapada setzt geradezu mit dem Gedanken ein: »Den Dingen geht das Denken voran; sie sind entworfen und geformt vom Denken.« Was ich denke, so wird das Thema dort weiter ausgeführt, wirkt sich auf meine Worte und Taten aus. Auf diese Weise habe ich es durch bewusste Lenkung meiner Gedanken in der Hand, welche Art von Wirklichkeit ich mir erschaffe. Wie es in Dhammapada weiter heißt, folgt aus beschmutztem Denken so zwingend das Leid »wie dem Zugtier der Wagen« und aus gereinigtem die Freude wie ein »niemals weichender Schatten«. Der Brahmane in unserer Geschichte hat allerdings sämtliche Gesetze indischen und sonstigen »positiven Denkens« verletzt. Dabei geht es gar nicht darum, dass er vielleicht insgesamt zu hoch hinaus wollte. Weshalb nicht von stattlichen Viehherden auf der Weide, einem schönen Haus, einem Partner und Nachwuchs träumen, wenn man darin die Erfüllung seines Lebens sieht? Gedankenspiele helfen dabei zu sehen, wohin man möchte und sich entsprechend auszurichten. Doch schon der Ausgangspunkt des Träumers im Pañcatantra hat zwei offensichtliche Haken. Einmal geht er von einer ganz unrealistischen Voraussetzung aus: Eine Hungersnot ist nicht in Sicht. Die Menschen hätten ihm nicht so reichlich von ihrer Nahrung abgegeben, wenn die Entwicklung auf irgendeinen Mangel zuliefe. Sollte aber nach langer Zeit doch eine Hungersnot kommen, wäre der Reisbrei im Topf längst verdorben. Zum anderen ist der Gedankengang unseres Tagträumers ethisch mehr als fragwürdig. Indem er eine Hungerkatastrophe als Ausgangspunkt seines Wohlstandes sieht, will er die Not anderer zu seinem Vorteil nutzen. Bekanntlich lässt sich darauf selten etwas Bleibendes gründen, sogar wenn die Spekulationen realistisch wären. Schließlich ließ sich der Brahmane von seinen sehnsuchtsvollen Gedanken derart überwältigen, dass er sich selbst in seinen
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Gedanken nicht mehr unter Kontrolle hatte. Er wagte sich mit seinem ersonnenen Reichtum in Dimensionen, die ihm keine Übersicht mehr erlaubten. Zu ausgedehnt war der Hof, zu viele Pferde befanden sich darin, dass er seinen Sohn noch mit ein paar Schritten hätte retten und auf den Schoß nehmen können. Seine unkontrollierte Fantasie musste kippen, um vom Größenwahn in eine Horrorvision zu münden. Hätte er mit Gewahrsein Bilder dessen im Geist bewegt, was er sich wünschte, wäre es ganz anders gewesen. Der bewusst gelenkte schöne Traum vom prosperierenden Hof und der glücklichen Familie hätten eher Überlegungen zu Taten angeregt, durch die man all dies erreichen kann. Beim Visualisieren der eigenen Pläne und entsprechenden Tagträumen gilt darum, dass Wachsein alles ist: Man muss sich dessen bewusst bleiben, was man träumerisch plant, wenn man nicht in irreale Ängste oder ethisch nicht vertretbare Überlegungen abgleiten möchte.
Aufwachen! Neben diesem moralischen und psychologischen Aspekt erlaubt die Episode des Pañcatantra vor dem Hintergrund der indischen Tradition allerdings eine weitere Deutung. Der Brahmane kann durchaus stellvertretend für die meisten Menschen stehen. Er ist geradezu das Muster des in der Tretmühle Gefangenen: Er fällt vom dämonischen Drang, alles zu besitzen, über das göttergleiche Schwelgen im Genuss seines Eigentums in die Angst des Tieres, alles zu verlieren. Wahrscheinlich spukt er in Gedanken – sogar nachdem der Topf kippte und der Traum endgültig aus war – gelegentlich noch als Gespenst durch den mit Pferden gefüllten Innenhof, der niemals zur Wirklichkeit wurde. Ansonsten erleidet er die Hölle eines einsamen und armen Lebens ohne Frau und Kind, Haus und Hof. Stattdessen könnte er tun, was am nächsten liegt, nämlich einfach ein Mensch sein. Dann würde er sich selbst mit dem Reisbrei
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stärken und, da er für sich selbst zu viel hat, den Rest mit anderen teilen. Auf diese Weise knüpfte er Kontakte auf seiner Pilgerfahrt und machte sich Freunde, die ihm bei der Verwirklichung seiner Pläne weiterhelfen könnten. Auch ist das natürlich nur eine Spekulation, doch eine tausendfach realistischere als der lediglich erträumte Reichtum aus dem Topf. Dieser Brahmane symbolisiert im Grunde mich selbst: Entweder habe ich meinen Topf noch über mir und träume, was alles daraus werden könnte. Oder ich habe den Brei schon auf mich geschüttet, liege nun begossen und enttäuscht da, bis ich mir den nächsten Topf übers Bett hänge und weiter fantasiere. Für die indischen Klassiker ist das Leben der meisten Menschen ein solcher Traum. Man befindet sich nicht im wirklichen Leben, dämmert in einem unrealistischen Zustand, bewegt in sich das Ferne und versäumt darum ständig das, was naheliegt. Es ist die geträumte Reise von einem Daseinsbereich in den nächsten. Große indische Denker wie Yâjñavalkya, Mahâvîra und Gautama lehrten, dass man aus dem Traum erwacht, indem man seine wahre Natur erkennt, also ein Mensch im tiefsten Sinn des Wortes wird. Der indische Titel für den vollkommen Menschen, »Buddha«, also »Erwachter«, soll genau das zeigen: Es geht darum, vom Traum in die Wahrheit zu gelangen. Das Erwachen aus unseren oft nur halbbewussten Träumen ist allerdings nicht einfach. Da wir fast unser ganzes Leben unter Töpfen mit Reisbrei verbrachten, gelingt es nur sehr schwer, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. Wir bewegen in uns Gedanken über noch nicht existierende Geschäfte, während wir die dringlichen vergessen. Wir hängen an der Vergangenheit, träumen von der Zukunft und vernachlässigen dabei den Augenblick. Um ganz in die reale Gegenwart zu gelangen, bedarf es eines Weges (marga), der den ganzen Menschen fordert, um ihn bei jedem Schritt etwas wacher zu rütteln.
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Vom Weg Aspekte des Weges Die indische Tradition kennt eine Vielzahl solcher Wege, die oft von großer Systematik geprägt sind. Geht man den Weg nicht mit allen seinen Aspekten wie Körper, Gefühl, Denken, Rede, Tun, führt er kaum zum Ziel. Darum wird jede Facette des menschlichen Daseins systematisch berücksichtigt. Wachsein, so die Botschaft unserer Autoren, kann man eigentlich nur ganz, mit jeder Faser seines Daseins. Wer nur etwas wach wäre, bewegte sich immer noch im Traumland. Zwei bekannte systematische Skizzen solcher Wege zum Erwachen sind Gautamas Edler Achtfacher Pfad und die Yogasûtras des Patañjali. Gautamas Pfad umfasst (1.) vollkommene Einsicht, (2.) vollkommene Gesinnung, (3.) vollkommene Rede, (4.) vollkommenes Wirken, (5.) vollkommener Lebensunterhalt, (6.) vollkommene Anstrengung, (7.) vollkommenes Vergegenwärtigen und (8.) vollkommene Sammlung. Einsicht steht am Beginn, weil sich nur derjenige auf einen mit manchen Unbequemlichkeiten verbundenen Weg macht, der von dessen Notwendigkeit überzeugt ist. Ich muss einsehen, dass es mir nichts bringt, mich länger im Kreise zu drehen, und es dringend geraten wäre, mich meiner Lebensaufgabe zu stellen. Zu dieser Erkenntnis kann ich auf verschiedene Weise gelangen. Majjhimanikâya zitiert Gautama mit der Aussage: »Es gibt zwei Bedingungen für das Aufsteigen vollkommener Einsicht, Belehrung durch einen anderen und eigens weises Erwägen.« Ob mich ein anderer zum Aufbruch anregt oder mir selbst das Dasein in der Tretmühle reicht, spielt keine Rolle, wichtig ist der Entschluss. Der nächste Schritt auf dem Pfad, die Arbeit an der Gesinnung, bedeutet eine Korrektur der persönlichen Grundhaltungen. Man muss sich etwa frei von Gefühlsaufwallungen des blinden Ableh-
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nens oder Hassens von Menschen und Dingen machen. Nur wenn ich mich mit einer inneren Friedfertigkeit gelassen zurücklehnen kann, wird es mir gelingen, die weiteren Schritte zu nehmen. Die sodann geforderte Korrektur der Rede soll das persönliche Verhalten in der Kommunikation in Einklang mit der Wahrheit bringen. Von Gautama wird die Aussage überliefert, dass derjenige, der noch zu einer kleinen Lüge fähig ist, auch zum Verüben jedes Vergehens in der Lage wäre. Solange ich es gegenüber anderen mit der Wahrheit nicht genau nehme, erschaffe ich mir selbst eine Traumwelt außerhalb der Realität, in der ich unmerklich stets gefährdet bin, das Falsche zu tun. Das eigene Wirken wird auf dem Weg auf die Grundlage klarer ethischer Prinzipien gestellt. Das Erwachen ist für Gautama grundsätzlich eine Frage der Disziplin. Sich gehen zu lassen, schläfert ein. »Die Trägen sind schon wie Tote«, liest man in Dhammapada. Die Art des Lebensunterhalts muss auf dem Weg insofern stimmen, dass man nicht auf Kosten und zum Nachteil anderer existiert. Zudem darf man keine ethisch bedenklichen Tätigkeiten ausüben, bei denen man allzu viel verdrängen muss. Wach wird nur, wer sich seiner ganzen Wahrheit stellen kann. Mit Anstrengung soll man sich selbst unter Kontrolle haben. Negative Eigenschaften, die man entdeckt, überwindet man zielstrebig. Positive Eigenschaften weckt man und stabilisiert sie willentlich. Vollkommenes Vergegenwärtigen umfasst Methoden eines Geistestrainings, die unmittelbar aus dem Haften an der Vergangenheit und dem Träumen von der Zukunft ins Jetzt führen sollen. Mit Sammlung ist ein Training der Konzentration angesprochen, die geboten ist, wenn man sich selbst als das, was man wirklich ist, erfahren möchte. Der damit skizzierte achtfache Pfad des Gautama zeigt, wie den indischen Autoren daran gelegen war, den Weg zum Erwachen als einen ganzheitlichen darzustellen, der nichts am Men-
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schen ausklammert. Dies soll nachfolgend etwas ausführlicher an den Yogasûtras gezeigt werden, dem einflussreichsten klassischen Yoga-Lehrbuch Indiens. Der antike Yoga-Meister Patañjali, der das Werk verfasste, konnte von der Forschung nicht genau datiert werden. Er mag in den ersten Jahrhunderten nach Christus gelebt haben. Mit seinen Yogasûtras legte er das System des »Aştanga Yoga« vor, eines »achtfachen Yoga«, der bis heute autoritativ für viele Yoga-Meister Indiens ist. Der Weg der Yogasûtras besteht aus acht Prinzipien, die wir hier in etwas freier Übersetzung umschreiben: (1.) ethische Disziplin (Yama), (2.) persönliche Disziplin (Niyama), (3.) Körperhaltung (Âsana), (4.) Atemkontrolle (Prânayâma), (5.) Kontrolle der Sinne (Pratyâharâ), (6.) Konzentration (Dharana), (7.) Vertiefung (Dhyâna), (8.) Sammlung (Samâdhi). Patañjali zeigt mit diesem umfassenden Lebensentwurf, dass es beim authentischen indischen Yoga um weitaus mehr geht als um Körper und Atemübungen. Was heute in vielen europäischen Yoga-Instituten gelehrt wird, stellt – womit nichts gegen den Nutzen und die Wirksamkeit gesagt ist – zum großen Teil eine erhebliche Verkürzung der ursprünglichen Absichten dar. Gesundheitsförderung und »Wellness« war für diese allenfalls eine Begleiterscheinung auf dem Weg zu einer grundlegenden Wandlung zur wachen Persönlichkeit. Patañjali hat allerdings keine Übungen im Auge, die nur mein eigenes Wohlbefinden steigern oder nur meine Wachheit fördern sollen. Von Anfang an geht er davon aus, dass wir als Menschen soziale Wesen sind, die nicht für uns allein einen Weg gehen können. Stets müssen wir unsere Handlungen mit den Bedürfnissen anderer, die mit uns zu tun haben, harmonisieren.
Grundlagen der Disziplin Das erste Prinzip Yama ist darum der Frage gewidmet, wie wir andere behandeln. Es werden dabei fünf wesentliche Aspekte
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unterschieden. Als ersten nennen die Yogasûtras die Gewaltfreiheit, die in vielen indischen Quellen eine herausragende Stellung einnimmt. Auch Tiruvalluvar sagt: »Höchste Tugend ist Gewaltfreiheit.« Der Sanskrit-Begriff hierfür, Ahimsa, und die damit verbundenen Grundgedanken wurden durch Mahâtma Gandhi in der ganzen Welt bekannt. Wer mit anderen gewaltsam kämpfen möchte, hat schon von vornherein verloren. Es geht nicht nur darum, dass man sich physischer Brutalitäten enthält und niemand anderen schlägt oder bedrängt. Der im tiefsten Wesen gewaltfreie Mensch ist, wie das Beispiel Gandhis zeigt, alles andere als ein Feigling. Er überzeugt andere für seine Ziele nicht durch Nötigung, sondern allein kraft dessen, wer er ist und was er zu sagen hat. Ahimsa bedeutet deswegen nicht, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Man kann, ja soll Unrecht und Irrtümer erkennen und benennen. Man muss auch verschiedene Meinungen austragen, wenn diese dem einträchtigen Zusammenleben und Arbeiten im Wege stehen. Doch kommt es auf die Streitkultur an: Im Mittelpunkt muss das Anliegen stehen, um das es uns geht, nicht unser Wille zum Kampf. Viele Verbalattacken gegen andere dienen in Wahrheit gar nicht der Sache, sondern der eigenen Befriedigung. Man tut sich nach Patañjali selbst den größten Gefallen, wenn man am Anfang des Weges seine Aggressivität entlarvt und in den Griff bekommt. Wer gewaltfrei im Frieden mit sich selber ist, sich und andere nicht schiebt, drängt und nötigt, lässt die Rolle des Kämpfers hinter sich, von der im letzten Kapitel die Rede war. Der zweite Aspekt der Disziplin in Bezug auf andere, ist die Wahrheit (satya). Die großen Lebenslügen müssen ebenso freigelegt werden, wie die kleinen gewohnheitsmäßigen Unwahrhaftigkeiten, die in der Summe eine Wirklichkeit mit ausgesprochener Schieflage hervorbringen. Wer sich verleugnen lässt, statt offen zu sagen, dass er einen anderen nicht sprechen will oder kann, entzieht sich zwar einer ihm unangenehmen Konfrontation. Doch
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schafft er sich damit zugleich eine Welt, in der er wenig souverän aus einem Versteck agiert. Auf den für die indischen Klassiker wesentlichen Punkt der Wahrheit wird später noch ausführlicher einzugehen sein. Der dritte Aspekt ist das Nicht-Stehlen. Wie vielleicht schon bei jenem der Gewaltfreiheit, könnte man leicht glauben, dass einen dieser Hinweis der Yogasûtras nicht betrifft. Doch es geht um weit mehr, als keine Eigentumsdelikte im juristischen Sinn zu begehen. Wer auf dem Weg zur Wachheit herausfinden möchte, wer er selbst ist, muss ständig reflektieren, wo die Grenzen dessen liegen, was ihm zusteht. Er darf das Gleichgewicht von Geben und Nehmen nie außer Acht lassen. Der vierte Aspekt der Disziplin in Bezug auf andere heißt im Sanskrit Brahmacharya, was etwa mit »göttlicher Wandel« übersetzt werden kann. Im alten Indien war damit ungefähr das gemeint, was das deutsche Wort »Keuschheit« ursprünglich aussagte. Keuschheit wird oft irrtümlicherweise als sexuelle Enthaltsamkeit gedeutet. Aber das Wort ist dem englischen »conscious« verwandt, was »bewusst« bedeutet. Der Keusche bleibt in allen geschlechtlichen Aktivitäten bei Bewusstsein. Er weiß, was er tut. Unter denen, die Patañjalis Weg folgten, waren Asketen und Menschen, die in sexuellen Beziehungen lebten. Worum es hier geht, ist, seine Triebe beherrschen zu lernen und nicht von ihnen beherrscht zu werden. Der fünfte Aspekt fordert die Besitzlosigkeit. Viele Menschen, die in Indien den von den Yogasûtras gezeichneten Weg gingen, waren jedoch durchaus wohlhabend. Wie passt dies zusammen? Besitzlosigkeit lässt sich neben einem wörtlichen Verständnis als eine innere Haltung verstehen. Der in diesem Sinn Besitzlose hängt nicht an dem, was er hat. Er weiß, dass letztlich alles geliehen ist. Vor allem erschafft er sich mit dem Anhäufen von Besitz kein Gefängnis, in dem er festsitzt. So umgibt sich mancher mit einer Masse von Dingen, um sich zu betäuben: Die viel zu vielen Quadratmeter, auf denen er umher-
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irren darf, und die zahllosen Gegenstände und Sammlungen, die er um sich herum aufbaut, lenken ihn von der Frage ab, wer er ist und was seine Aufgabe wäre. Doch die Quantität des Habens kann die Qualität des Seins oder Werdens nie ersetzen. Alexander der Große begegnete, wie im ersten Kapitel schon angesprochen, auf seinem Feldzug nach Indien einem Weisen, den die Griechen Dandamos nannten. Dieser fragte, aus welchem Grund der König mit großem Aufwand einen derart weiten Feldzug unternimmt. Wenn einem auch die ganze Erde gehört, erklärte er, könnte man doch immer nur auf einer so großen Stelle stehen, die zwei Füße einnehmen. Man mag sich alle Flüsse aneignen und kann doch nicht mehr Wasser trinken, als jeder Mensch braucht. »Nur wer nichts will, besitzt alles«, kommentierte der indische Weise den großen Eroberungszug der Griechen.
Selbstverwirklichung Beim zweiten Prinzip auf dem Weg Patañjalis, Niyama, stehen die Haltung und die Übung gegenüber sich selbst im Vordergrund. Wiederum gibt es fünf Punkte, deren erster die Reinheit fordert. Eine grundlegende innere Reinheit ergibt sich aus der Praxis der fünf zu Yama gehörenden Anweisungen. Wer sich seiner Verbindung mit anderen bewusst ist und entsprechend handelt, läutert sich. Darüber hinaus spricht der Yoga-Meister über die Reinheit im engeren Sinn, die körperliche Sauberkeit und jene der Nahrung. Zum bewussten Leben gehört die Achtsamkeit in allen Dingen des Alltags. Wer seinen Körper vergisst und meist nicht weiß, woher die Nahrung kommt, die er zu sich nimmt, und wie sie zubereitet wurde, geht keinen Weg zur Wachheit. Der zweite Punkt betrifft die Zufriedenheit oder Genügsamkeit. Gerade wer Pläne hat und etwas erreichen will, muss sich hierin üben. Was schon bei der Gewaltlosigkeit gesagt wurde und
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im Hinblick auf die Besitzlosigkeit anklang, gilt gleichfalls hier: Wer zurücktreten kann, nichts forcieren möchte und letztlich nichts für sich verlangt, hat die besten Chancen, viel zu bewegen und zu erlangen. Wer Ballast abwirft, gewinnt Freiheit. Wer frei ist, bewegt sich besser und schneller. Er kommt weiter. Der dritte Punkt Tapas bezeichnet die Askese im eigentlichen Sinn, den freiwilligen Verzicht auf Genüsse, Besitz, Sexualität, Nahrung und manches mehr. Auch wenn man nicht als ungebundener armer Yogi durch das Land ziehen möchte, ist dieser Punkt überaus bedenkenswert. Sogar dem nur zeitweiligen Verzicht, darin sind sich viele indische Klassiker einig, entspringt ein bedeutender Gewinn. Dies wird jeder bestätigen können, der einige Zeit fastete, vom geliebten Bier oder von gewohnten Medien Abstand nahm. Allein die Selbstüberwindung stärkt den Menschen, ganz davon abgesehen, dass man Dinge, auf die man verzichtete, danach in ganz neuer Weise kennen lernen darf und vertieft genießen kann. Zuweilen stellt sich auch die Erkenntnis ein, dass man etwas gar nicht braucht, an dem man nur aus der vertrauten Routine der täglichen Tretmühle festhielt. Tapas bezeichnet nicht nur die Praxis des Asketen, sondern auch deren Frucht. In diesem Sinn ist das Wort als »innere Hitze« wiederzugeben. Den klassischen Yoga-Texten zufolge akkumuliert nämlich der bewusste Verzicht eine körperlich spürbare Energie. Der Mensch lädt sich selbst auf wie eine Batterie, indem er weniger an sich heran und in sich hinein lässt, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Mit dem vierten Punkt der Regeln schreiben die Yogasûtras dem Schüler eine Beschäftigung mit den klassischen Texten vor. Genau hierzu möchte dieses Buch in einem europäischen Kontext ermuntern. Ein Zweck dieser Regel besteht zweifellos darin, Irrwege zu vermeiden. Die indischen Klassiker legen großen Wert auf die Tradition: Besser als das Rad neu zu erfinden, ist es, zu erfahrenen Wagenbauern in die Lehre zu gehen. Dies erspart manchen Achsenbruch.
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Legt Patañjali dem Schüler das Studium der Klassiker ans Herz, regt er damit an, sich an tausendfach bewährten Grundmustern zu orientieren. Die alten Texte sind nicht bloß eine Quelle der Inspiration, sondern bilden zugleich eine wichtige Herausforderung: Halte ich mich auf meinem Weg zur Selbsterkenntnis und Wachheit vor allem an mich selbst, komme ich wahrscheinlich kaum von der Stelle. Die Schritte, die ich für mich plane, entspringen dem beschränkten Blickwinkel, den ich gerade einnehme. Wichtige Anforderungen des Weges lasse ich dann unter den Tisch fallen. Setze ich mich dagegen mit objektiven Vorgaben auseinander, die ich auf mein Leben anwenden kann, besteht die größere Chance auf Fortschritt. Den fünften Punkt der Selbstdisziplinierung nennen die Yoga sûtras Iśvarapranidhâna, was man ungefähr als Gottergebenheit übersetzen kann. Iśvara bedeutet »der Herr« oder Gott, Pranidhâna ist ein Gebet oder Gelübde. An dieser Stelle wird deutlich, dass alle indischen Wege der Selbsterkenntnis einen sehr deutlichen religiösen Bezug aufweisen. Doch muss man keinesfalls an einen persönlichen Gott glauben, an irgendein höheres Wesen oder überhaupt an eine Form des Transzendenten, wenn man diese Regel des Patañjali ernst nehmen möchte. Es geht hier um das, was bereits im ersten Kapitel im Zusammenhang mit dem Begriff Dharma angesprochen wurde. Es ist wichtig, dass ich mein Leben als etwas verstehen kann, das in einen größeren Zusammenhang eingebettet ist, der meinem eigenen Weg eine Ordnung und einen Rhythmus verleiht. Ob dies der Glaube an die Bhagavadgîtâ, die Bibel, eine Richtung des Buddhismus oder den dialektischen Materialismus ist, darf in unserem Zusammenhang als zweitrangig gelten. Die Prinzipien des Yoga verbanden sich in Indien mit sehr widersprüchlichen religiösen und philosophischen Grundhaltungen. Aber es geht immer darum, dass der Mensch, der seinem gegenwärtigen Zustand täglichen Trotts entkommen möchte, über sich
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hinausblicken muss und sich nicht selbst für die letzte Instanz halten darf.
Von der Haltung Âsana, das dritte Prinzip des achtfachen Weges bei Patañjali, umfasst die Körperstellungen, also das, was viele Menschen in Europa spontan mit dem Begriff des Yoga verbinden. Manche Yoga-Meister lehren bis zu zweihundert verschiedene Körperstellungen, andere konzentrieren sich auf einige wenige. Über den gesundheitlichen Nutzen der Yoga-Âsanas ist viel geforscht und geschrieben worden, was hier nicht wiederholt werden soll. Man muss jedoch keinen Yoga-Kurs buchen oder nach der Anleitung eines Buches die entsprechenden Körperstellungen einüben, um von den grundsätzlichen Gedanken dieses Prinzips auf dem Weg zu profitieren. Von den vielschichtigen Gedanken, die hinter der Übung der Âsana stehen, soll hier ein einziger betrachtet werden: Die Haltung, die ich körperlich einnehme, korrespondiert mit meiner jeweiligen inneren Haltung. Wenn ich verschüchtert bin, möchte ich mich möglichst klein machen, damit niemand mich sieht. Also komme ich gebückt daher. Bin ich mir – mit welcher Berechtigung auch immer – meiner Bedeutung bewusst, betrete ich aufrecht und, wie man so schön sagt, mit geschwollener Brust den Raum. Es ist kein Geheimnis, dass der geübte Menschenkenner schon an der Körperhaltung sieht, mit wem er es zu tun hat. Das Üben der Âsanas dreht diese Funktion um. Indem ich bestimmte Stellungen einnehme, bewirke ich in mir heilsame Veränderungen. Dass dies funktioniert, kann jeder leicht experimentell herausfinden. Beobachtet man sich selbst ab und zu am Tag, um zu sehen, wie die Gemütsverfassung mit der Körperhaltung korrespondiert, lässt sich unmittelbar eine Korrektur durchführen. Gehe ich gekrümmt, kann ich mich aufrichten, und schon ist meine Selbstwahrnehmung eine andere.
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Später wird noch von Übungen, die den Körper betreffen, die Rede sein. Hier belassen wir es bei der Feststellung, dass der Weg zur Selbsterkenntnis und Wachheit ohne ein Einbeziehen des physischen Aspektes gar nicht möglich ist.
Konzentration Das vierte Prinzip Prânâyama bedeutet im klassischen Yoga der Sûtras die Kontrolle des Atems. Diesem kommt in der indischen Tradition eine derart bedeutende Rolle zu, dass wir uns ein wenig ausführlicher damit beschäftigen müssen. Eine einflussreiche Bewegung des frühen indischen Denkens sah die Luft als Grundlage des Bewusstseins. Sie ging vom Atmen als dem Schlüssel der Selbsterfahrung aus. Ob man schlief, träumte oder wachte, immer floss der Atem. Geschah dies sogar im Wachen meist unbewusst, ließ sich sein Rhythmus doch willentlich ändern, sobald man ihm Aufmerksamkeit zuwandte. Dies unterschied Atmen von anderen physischen Automatismen, wie etwa dem Herzschlag oder der Verdauung, deren Geschwindigkeit sich nicht über Bewusstseinsprozesse regeln lässt. Das unmittelbarste Kennzeichen des Lebens, der Atem, erwies sich damit als eine Brücke zwischen dem Unbewussten im Menschen, das einfach geschieht, und dem Absichtlichen, das der Kontrolle des Bewusstseins unterliegt. Mochte schon in Ekstasepraktiken der drawidischen Ureinwohner Indiens die Manipulation des Atemrhythmus eine Rolle gespielt haben, so kam jedenfalls sehr früh die Idee auf, dass der Atem durch seine Unterdrückung beherrschbar würde. Was könnte mehr als Meisterschaft über das Lebensprinzip gelten als die Tatsache, dass man es nach Belieben möglichst lange pausieren lassen kann. Das Buch Majjhimanikâya berichtet, dass Gautama dies einige Zeit versuchte, als er noch nicht zum Buddha geworden war.
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Er hielt die Luft solange ein, bis ihm schien, sie entwiche statt aus Nase oder Mund anderen Körperteilen. Die Übung war von starken Schmerzen begleitet, als ob »ein starker Mann mit dem Dolch den Schädel anbohrte«, als schnitte »ein Metzger mit dem Schlachtmesser den Bauch auf« oder als würde er »in eine Grube glühender Kohlen geworfen«. Gautama gab diese Art des Übens als gefährlichen Irrweg wieder auf. Doch für viele vor und nach ihm galt das Prinzip: Meisterschaft der Atmung bedeutet die Beherrschung des Daseins. Dies korrespondierte mit einer Theorie von fünf mit Bewusstsein verbundenen unmittelbaren Lebensfunktionen, nämlich dem Sprechen, dem Hören, dem Denken, dem Geschlechtstrieb und dem Atmen. Dass jeder von diesen außer dem Atmen wegfallen konnte, ohne die Existenz zu beenden, sprach für diesen als das dem Dasein zugrunde liegende Prinzip. Schläft der Mensch, so glaubte man, treten Sprechen, Hören, Denken und Geschlechtstrieb in den weiter fließenden Atem ein, um beim Aufwachen erneut aus ihm hervorzugehen. Die Chândogya-Upanişad überträgt diese Idee auf die objektive Welt: Alle Dinge entspringen dem Wind, der sie bei ihrem Aufhören wieder aufnimmt und fortweht. Dem Wehen und Atmen entsprungen, erwies sich jedes Wesen und Ding als Modifikation eines rhythmischen Prinzips, womit man die tiefste Wahrheit von Welt und Menschsein als Bewegung erfasste. Was sich im eigenen Wahrnehmen, Denken und Trieb vom Rest der Welt gesondert erfuhr, war nur Begleitumstand des allumfassenden Wehens. Das Ich und die Welt entspringen damit als vorübergehende Erscheinungen einer unaufhaltsamen Bewegung. Was sich subjektiv als beharrendes Wesen erlebt, ist objektiv Teil einer dynamischen Wirklichkeit. Das fünfte bis siebte Prinzip im achtfachen Weg Patañjalis sind Mentaltechniken. Wie bei den Körperhaltungen und den Atemübungen zeigt sich, dass der Weg mehr erfordert als intellektuelle Betrachtungen. Alles zielt grundsätzlich immer auf die Erfahrung
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durch Praxis, auch wenn es bei den letzten Stufen des Weges um Yogaübungen geht, die nur wenigen in Europa von Nutzen sein dürften. Das fünfte Prinzip rät zum Trainieren eines »Rückzugs der Sinne« (Pratyâhâra). Damit ist gemeint, dass man eine Konzentration auf sich selbst erlernt, um sich von äußeren Störungen abzuschotten. Man schließt die Pforten der Wahrnehmung, um die Angebote von Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tastsinn für einige Zeit nicht anzunehmen. Es mag durch das Zuklappen der Augenlider einfach sein, keine optischen Eindrücke mehr wahrzunehmen. Anders verhält es sich mit Lauten, die an mein Ohr dringen, ob ich will oder nicht. Hier gilt es, das Weghören zu erlernen. Dies ist, wie bei den anderen Sinneseindrücken auch, eine Trainingsfrage. Man gibt dem Eindruck nicht nach, dass die Hose drückt und beachtet nicht den Kaffeeduft, der von irgendwo in die Nase dringt. Auf diese Weise ist man ganz mit sich selbst zufrieden. Der angestrebte Zustand ist in gewisser Hinsicht dem Schlaf vergleichbar. Auch wenn ich schlafe, ignoriere ich die Sinneseindrücke, die um mich herum potenziell bestehen. Doch während der traumlose Schlaf ein unbewusster Zustand ist, bleibt man sich seiner selbst beim Rückzug der Sinne gewahr. Dieser Rückzug bildet die Voraussetzung für das sechste Prinzip bei Patañjali: Dharana bezeichnet die vollkommene Konzentration auf ein Objekt. Klassische Mittel waren hierfür ein Bild oder Klangobjekt (Mantra), die jeweils die ganze Aufmerksamkeit binden. Doch kann im Grunde alles zu einem Objekt der Konzentration werden. Ist man bis hierher gekommen, tritt ein, was die Yogasûtras als siebtes Prinzip vorstellen, die Vertiefung (Dhyâna). Diese setzt ein, wenn im zuvor beschriebenen Vorgang die Fixierung auf das Objekt abklingt und die reine Konzentration bestehen bleibt. Das achte Prinzip im Yoga des Patañjali entspricht begrifflich dem letzten Glied in Gautamas achtfachem Pfad: Samâdhi. Mit
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diesem Wort der »Sammlung« oder »Ganzwerdung« beschreiben die verschiedenen indischen Traditionen das letzte Ziel jeden Trainings. Für Patañjali eine Art Einheit von Ich und All, nicht unähnlich dem Konzept des Yâjñavalkya, der die Einheit von Âtman und Brahma lehrte. Gautama beschreibt Samâdhi als »Einspitzigkeit des Bewusstseins«, einen Zustand des gerichteten Gewahrseins, der alle Arten von Konzentration und Vertiefung begleitet.
Der Prototyp des Erwachten Denkt man in Europa an indische Wege zum Erwachen und Übungen der Konzentration im oben geschilderten Stil, fällt den meisten Menschen zuerst Gautama ein. Der Buddha ist von seiner Geschichte her, aber auch so wie er in ruhig sitzender Haltung dargestellt wird, so etwas wie das Urbild des Menschen geworden, der sich seiner selbst bewusst ist. Manuskripte in der Pâli-Sprache, aus denen in diesem Buch schon einige Aussagen zitiert wurden, enthalten die ältesten Fassungen der Unterweisungen, die er vor 2500 Jahren in Indien gegeben haben soll. Dazu kommen klassische Biografien wie Nidhânakathâ und Lalitavistara, die ausführlich von seinen Taten berichten. Asiens Buddhisten zweifelten lange nicht an Gautamas Weg und Wirken, wie diese Texte berichten. Auch den Gelehrten Asiens galt diese Überlieferung über die Jahrtausende als unhinterfragbar echt, ebenso wie die Gelehrten des Abendlandes bis in die Neuzeit hinein glaubten, Jesus Leben hätte sich so zugetragen, wie die Bibel es bezeugt. Klassische indische Autoren waren selten auf der Suche nach historischen Wahrheiten in dem Sinn, wie sich frühere Ereignisse tatsächlich zugetragen hätten. Diese Dimension der Wirklichkeit trat hinter metaphysischen und psychologischen Anliegen zurück. Das Historische wird dem Prinzipiellen untergeordnet: Der Werdegang eines bedeutenden Meisters, der grundsätzliche Fragen des
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menschlichen Lebens löste, wurde so erzählt, dass sich darin auch alle wesentlichen Aspekte des Menschseins spiegelten. Europäische Autoren hingegen wollen in der Regel Fakten wiedergeben, die sie sorgsam von dem zu trennen versuchen, was ihnen als spätere Zutat scheint. Die klassischen indischen Schriftsteller wollen zeigen, was ein konkretes Faktum potenziell einschließt. Gestalten sie daher geschichtliche Vorkommnisse zu Mythen, ist dies kein Unvermögen zur Geschichtsschreibung, wie manche abendländischen Analytiker meinten, sondern eine eigene Methode des Umgangs mit der Wirklichkeit: Ein Faktum wird bei gründlicher Betrachtung immer mehr, als dem nüchternen Blick zunächst erscheinen mag: Wer nur das sieht, was sichtbar wird, verengt die Wirklichkeit. Bei Gautama geht es darum, einen Menschen zu zeigen, der immer aus der Wachheit heraus handelt. Nachfolgend wird eine typische Unterredung Gautamas aus dem Buch Anguttaranikâya wiedergegeben, seine berühmte »Rede an die Kâlâmer«. Es geht darin um die Unsicherheit der Menschen, und woran sie sich angesichts konkurrierender Weltbilder und Erlösungsangebote halten können. Gautama verweist die Menschen auf ihr eigenes Urteilsund Unterscheidungsvermögen. Auch in der stark paraphrasierten und gekürzten Form, in der er hier zitiert wird, macht dieser Text etwas vom typischen systematischen und von zahlreichen Wiederholungen geprägten Stil der Reden des Buddha und überhaupt der klassischen indischen Literatur deutlich.
Kriterien des Urteils Einst kam der Erhabene wandernd mit einer großen Schar von Schülern in eine Stadt des Stammes der Kâlâmer. Diese hörten: »Der Asket Gautama aus einem Kriegergeschlecht, der in die Hauslosigkeit zog, ist eingetroffen. Diesem geht der gute Ruf
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voraus: ›Dies ist wahrhaft der Erhabene, der Heilige, der vollkommen Erwachte, der in Kenntnis und Wirken Bewährte, der Gesegnete, der Kenner der Welt, der unvergleichbare Führer der nach Anleitung Suchenden, der Lehrer der Götter und Menschen, der Erwachte, der Erhabene.‹ Er erklärt diese Welt der guten und bösen Geister, der Brahma-Götter, der Asketen und Priester, der Götter und Menschen, weil er sie selber durchschaute. Er legt eine Lehre dar, die am Beginn, in der Folge und bis ans Ende gut ist. Er verkündet nach Wort und Sinn den vollkommenen Weg zur Reinheit. Es ist angesagt, solchen Heiligen zu begegnen.« Also begaben sich die Kâlâmer zum Ort, an dem sich der Erhabene aufhielt. Dort bezeugten einige ihm Verehrung und setzten sich zu ihm; einige tauschten Grußformeln mit ihm und setzen sich zu ihm; andere falteten zum Gruß des Erhabenen die Hände und setzten sich zu ihm; andere nannten ihren Namen und setzten sich zu ihm; einige setzten sich schweigend zu ihm. Als sie bei ihm saßen, sprachen die Kâlâmer folgendermaßen zum Erhabenen: »Es kommen Asketen und Brahmanen in unsere Stadt, die ihre eigenen Lehren in leuchtenden und glänzenden Farben darstellen, jedoch die Ansichten anderer tadeln, herabsetzen, verächtlich machen und zurückweisen. Darum sind wir uns nicht klar darüber und zweifeln, wer unter den verschiedenen Asketen und Brahmanen das Wahre und wer das Falsche lehrt.« Gautama antwortete: »Es ist richtig, dass ihr in dieser Angelegenheit Zweifel habt, denn tatsächlich muss man sich hier im Unklaren sein. Richtet euch nicht nach dem bloßen Hörensagen, nicht nach Traditionen, nicht nach aktuellen Meinungen, nicht nach der Autorität heiliger Schriften, nicht nach rein vernünftigen Erwägungen und gedanklichen Schlüssen, nicht nach ersonnenen Theorien und Meinungen, die euch gelegen kommen, nicht nach dem rein persönlichen Eindruck von einem Menschen und nicht nach dem Ruf, den ein Meister genießt. Wenn ihr selber durchschaut: ›Dies ist unheilvoll und verwerflich, wird von den Klugen vermieden, weil es zum Schaden und Leiden führt‹, dann solltet
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ihr etwas aufgeben. Was denkt ihr, führt etwa die im Menschen aufsteigende Gier zum Nutzen oder zum Schaden?« »Wohl zum Schaden.« »Von der Gier überwältigt und mit von Gier benebeltem Geist wird Lebendes getötet, wird genommen, was einem nicht gegeben ist, wird in der Partnerschaft betrogen, werden die Lüge gesprochen und andere zur Unwahrhaftigkeit verleitet. Dies führt auf lange Sicht zum Schaden und Leiden.« »Das stimmt.« »Was denkt ihr, führen der Hass und die Verblendung, die im Menschen aufsteigen, zum Nutzen oder Schaden?« »Wohl zum Schaden.« »Aus Hass und Verblendung, und mit davon benebeltem Geist wird Lebendes getötet, wird genommen, was einem nicht gegeben ist, wird in der Partnerschaft betrogen, werden Lügen gesprochen und andere zur Unwahrhaftigkeit verleitet. Dies führt auf lange Sicht zum Schaden und Leiden.« »Das stimmt.« »Was denkt ihr, sind diese Taten heilsam oder unheilsam?« »Wohl unheilsam.« »Verwerflich oder auszuführen?« »Wohl verwerflich.« »Werden sie von Klugen empfohlen oder zurückgewiesen?« »Wohl zurückgewiesen.« »Führen ihr Begehen zu Schaden und Leid oder nicht?« »Sie führen zu Schaden und Leid, denken wir.« »Genau deshalb sagte ich: Richtet euch nicht nach dem bloßen Hörensagen, nicht nach Traditionen, nicht nach aktuellen Meinungen, nicht nach der Autorität heiliger Schriften, nicht nach rein vernünftigen Erwägungen und gedanklichen Schlüssen, nicht nach ersonnenen Theorien und Meinungen, die euch gelegen kommen, nicht nach dem rein persönlichen Eindruck von einem Menschen und nicht nach dem Ruf, den ein Meister genießt. Wenn ihr selber durchschaut: ›Dies ist unheilvoll und verwerflich, wird von
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den Klugen vermieden, weil es zum Schaden und Leiden führt‹, dann solltet ihr etwas aufgeben. Richtet euch nicht nach dem bloßen Hörensagen, nicht nach Traditionen, nicht nach aktuellen Meinungen, nicht nach der Autorität heiliger Schriften, nicht nach rein vernünftigen Erwägungen und gedanklichen Schlüssen, nicht nach ersonnenen Theorien und Meinungen, die euch gelegen kommen, nicht nach dem rein persönlichen Eindruck von einem Menschen und nicht nach dem Ruf, den ein Meister genießt. Wenn ihr selber durchschaut: ›Dies ist heilsvoll und empfehlenswert, wird von den Klugen empfohlen, weil es zum Nutzen und Wohl führt‹, dann solltet ihr etwas annehmen. Was denkt ihr, führt etwa die im Menschen aufsteigende Gierlosigkeit zum Nutzen oder zum Schaden?« »Wohl zum Nutzen.« »Gierfrei, ohne einen von Gier benebelten Geist wird Lebendes nicht getötet, wird nicht genommen, was einem nicht gegeben ist, wird nicht in der Partnerschaft betrogen, werden keine Lügen gesprochen und nicht andere zur Unwahrhaftigkeit verleitet. Dies führt auf lange Sicht zum Nutzen und Wohl.« »Das stimmt.« »Was denkt ihr, führt die Freiheit von Hass und Verblendung, die im Menschen aufsteigt, ihm zum Nutzen oder zum Schaden?« »Wohl zum Nutzen.« »Frei von Hass und Verblendung, ohne einen davon benebelten Geist wird Lebendes nicht getötet, wird nicht genommen, was einem nicht gegeben ist, wird nicht in der Partnerschaft betrogen, werden keine Lügen gesprochen und nicht andere zur Unwahrhaftigkeit verleitet. Dies führt auf lange Sicht zum Nutzen und Wohl.« »Das stimmt.« »Was denkt ihr, sind diese Taten heilsam oder unheilsam?« »Wohl heilsam.«
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»Verwerflich oder auszuführen?« »Wohl auszuführen.« »Werden sie von Klugen empfohlen oder zurückgewiesen?« »Wohl empfohlen.« »Führen diese Taten, wenn man sie begeht, zu Nutzen und Wohl oder nicht?« »Sie führen zum Nutzen und Wohl, denken wir.« »Genau deshalb sagte ich: Richtet euch nicht nach dem bloßen Hörensagen, nicht nach Traditionen, nicht nach aktuellen Meinungen, nicht nach der Autorität heiliger Schriften, nicht nach rein vernünftigen Erwägungen und gedanklichen Schlüssen, nicht nach ersonnenen Theorien und Meinungen, die euch gelegen kommen, nicht nach dem rein persönlichen Eindruck von einem Menschen und nicht nach dem Ruf, den ein Meister genießt. Wenn ihr selber durchschaut: ›Dies ist heilsvoll und empfehlenswert, wird von den Klugen empfohlen, weil es zum Nutzen und Wohl führt‹, dann solltet ihr etwas annehmen. Wer so von Gier und Hass befreit, unverblendet, klar erkennend und gegenwärtig ist, durchdringt mit Liebe, Mitleid, Mitfreude und Gleichmut alle Himmelsrichtungen sowie die ganze Welt nach oben, unten und in der Mitte. Mit dieser Haltung hat man bei Lebzeiten eine vierfache Gewissheit: ›Sollte es eine andere Welt geben und eine Vergeltung guter und schlechter Taten, werde ich beim Zerfall des Körpers nach dem Tode in einem glücklichen Daseinsbereich erscheinen.‹ Dessen kann man sich gewiss sein. ›Sollte es keine andere Welt und keine Vergeltung guter oder schlechter Taten geben, dann führe ich eben in dieser Welt ein leidfreies und glückliches Dasein ohne Hass und Übelwollen.‹ Dessen kann man sich gewiss sein. ›Erfährt ein Übeltäter viel Schlechtes, während ich gegen keinen etwas Schlechtes im Sinn führe, wird mir viel Übel fernbleiben.‹ Dessen kann man sich gewiss sein.
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›Sogar wenn ein Übeltäter nichts Schlechtes erfahren sollte, weiß ich mich trotzdem rein vom Üblen.‹ Dessen kann man sich gewiss sein. Diese vierfache Gewissheit hat, wer sich von Hass und Übelwollen befreite, um mit einem unbeschwerten und reinen Geiste zu leben.« »Genau so ist es, Erhabener. Diese vierfache Gewissheit hat, wer sich von Hass und Übelwollen befreite, um mit einem unbeschwerten und reinen Geiste zu leben. Ausgezeichnet, wirklich ausgezeichnet. Als ob man Gestürztes aufrichtet, Verborgenes enthüllt, Irrenden den Weg weist oder ein Licht ins Dunkel bringt, damit sehen kann, wer Augen hat, so hat uns der Erhabene vielfältig belehrt. Unsere Zuflucht nehmen wir beim Erhabenen, seiner Lehre und Gemeinschaft. Er möge uns als Schüler betrachten, die ihm zeitlebens folgen.«
Zusammenfassung • Tagträumen kann beim Visualisieren von Zukunftsplänen hilfreich sein, solange man realistisch bleibt und die Kontrolle behält. Ansonsten sind leicht Übermut und ein ethisch zweifelhaftes Verhalten die Folge. • Besser ist es, aus Träumen zu erwachen und sich ganz der Gegenwart zu widmen, wie sie ist. Dies wird auf einem ganzheitlichen, alle Aspekte des Menschen umfassenden Weg erreicht, der Körper und Aktivitäten, Emotionen und Denken sowie die Kommunikation einschließt. Das eigene Leben vollzieht sich nie isoliert, sondern stets in einen größeren Zusammenhang eingebettet. • Die indische Tradition kennt viele Wege zum Erwachen. Zu den bekanntesten zählen Gautamas achtfacher Pfad sowie die Prinzipien des Patañjali. Dessen Yogasûtras umfassen den Umgang mit anderen und persönliche Disziplin durch Körperhal-
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tung, Kontrolle des Atems, Kontrolle der Sinne, Konzentration, Vertiefung und Sammlung. Wachheit ist ganzheitlich, sie muss in allen Sinnen und in jeder Faser des Körpers sein. Nur ein wenig wach sein kann man nicht. Wer es nicht völlig ist, steckt immer noch im Traumland. • Aus der Wachheit zu handeln bedeutet, sich nicht allein auf Traditionen, populäre Theorien oder die persönliche Meinung zu verlassen, sondern auf das eigene Urteilsvermögen zu hören. Es gilt, die Dinge kritisch zu hinterfragen und auf ihren Nutzen oder Sinn hin zu prüfen.
Fragestellungen für die Praxis Zeitweiliger Verzicht Auch wenn es nicht darum geht, die asketische Disziplin eines indischen Yogi zu versuchen, kann der zeitweilige Verzicht auf Dinge, die gewohnt und wichtig sind, die Selbstkontrolle trainieren. Man braucht sich nicht zu überfordern. Eine Woche oder ein Monat des Abstandes von etwas Gewohntem kann tiefe Erkenntnisse über uns selbst bescheren. Für manchen mag bereits ein Tag des Verzichts auf etwas Geschätztes einen eindrucksvollen Lernprozess ermöglichen: Er ist zwar davon überzeugt, dass er sich die Flexibilität zutraut, eine Abteilung zu leiten, bringt aber nicht einmal die Disziplin auf, für kurze Zeit auf eine kleine Angewohnheit zu verzichten, die ihm selbst schon lange auf die Nerven geht. Wenn man sich dennoch selbst überwindet, zieht man daraus beachtlichen Nutzen: Die Übung schenkt neue Kraft, wenn ein Verzicht durchgehalten wird. Man erfährt unmittelbar, dass man in der Lage ist, Prozesse zu beenden oder zumindest zu unterbrechen, denen man sich zuvor unbewusst aussetzte.
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Die Körperhaltung Im Zusammenhang mit der Âsana des Yoga war davon die Rede, dass die äußere Haltung der inneren entspricht. Bin ich ganz aufmerksam, sitze ich in der Regel aufgerichtet und fühle mich voller Energie. Wenn ich mich dagegen als niedergeschlagen oder schlaff erfahre, sitze ich auch gekrümmt und lasse die Arme hängen. Man kann sich diese Erkenntnis einfach zunutze machen, indem man sich jedes Mal, sobald man merkt, dass man in eine schwache Phase gerät und sich Niedergeschlagenheit breitmacht, ganz bewusst aufrichtet und dabei spürt, wie frische Energie in den Körper einzieht.
Kapitel 4
Vo n d e r Wa h r h e i t »Wahrheiten hängen nicht zusammen wie Korallen, die man kann an der Schnur herzählen nach Gefallen. Oft ist das Wahre gar vom Falschen nicht zu scheiden, wie Fäden eines Zeugs, halb wollen und halb seiden. Von Wahrheit einen Kern schließt jeder Irrtum ein, Und jede Wahrheit kann des Irrtums Same sein.« Die Weisheit des Brahmanen
Ballast abwerfen Am Ende des vorangegangenen Kapitels stand eine Rede Gautamas, die von der Orientierungslosigkeit seiner Gesprächspartner ausging: Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Erklärungen der Welt und darauf basierend recht abweichende Anleitungen zum Handeln. Die Vertreter jeder dieser Ansichten halten jeweils ihre eigene für einzig richtig. Plausibel klingen viele der Darlegungen wie deren Widerlegungen. Woran sollten wir uns halten? Das Thema, das hier zur Sprache kommt, lässt sich auf nahezu alle Gebiete anwenden. Woran soll man sich ausrichten, wenn man ein Problem nicht vollständig durchschaut und zur Lösung gegensätzliche Positionen zur Verfügung stehen? Gautama geht in seiner Antwort gar nicht auf das Thema der einander widersprechenden Vertreter diverser Meinungen ein, sondern schließt zunächst alles das aus, was aus seiner Perspektive keine gesicherten Kriterien sind, um etwas zu akzeptieren. Man soll sich nicht nur deshalb nach etwas richten, weil es irgendwer vorschlägt oder weil es der Brauch oder die Mode ist. Auch die angenommene Kompetenz eines allgemein respektier-
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ten Textes oder renommierten Experten lässt er nicht als an sich schon überzeugend gelten. Indem Gautama alle äußeren Autoritäten wie die öffentliche Meinung, die Tradition, die besondere Aktualität, die Literatur und die Fachleute für unsichere Referenzen hält, könnte man meinen, dass er den Einzelnen auf sich selber verweist. Tatsächlich sagt er: »Wenn ihr selber durchschaut…« Doch heißt das nicht, man solle sich auf das verlassen, was man vorschnell für die eigene Vernunft hält. Deutlich relativiert Gautama diese inneren Instanzen, die trügen können und warnt vor der unreflektierten persönlichen Meinung ebenso wie vor der überzeugenden Theorie. Stattdessen führt er sehr praktische Kriterien ein: Gereicht mir etwas zum Nutzen oder zum Schaden, zum Wohl oder zum Leiden? Das Durchschauen, von dem er spricht, ist Einsicht aus praktischer Erfahrung. Nicht auf die Quelle einer Aussage kommt es an, sondern darauf, wie sich diese in der Umsetzung bewährt. Prinzipiell erfährt man zwar nur am eigenen Leib, ob einem etwas wirklich nutzt oder schadet. Da aber, gerade wenn etwas Neues versucht wird, das eigene Urteil über Nutzen und Schaden nicht unbedingt sicher ist, rät Gautama auch zum Blick auf andere, die man – wieder ein Kriterium der Erfahrung – für klug hält. Nun kann der Hinweis Gautamas als recht banal erscheinen: Halte dich an das, was sich für dich und vertrauenswürdige andere in der Praxis bewährt. Dieser Rat ist so selbstverständlich, dass wahrscheinlich nahezu jeder von sich glaubt, dass er ihn ohnehin immer und grundsätzlich beherzigt. Wer würde von sich selbst sagen, dass er auf Dauer irgendetwas übernimmt, was sich für ihn nicht bewährt, oder dass er Leute imitiert, zu denen er kein Vertrauen hat? Die Selbsttäuschung dürfte hier allerdings groß sein. Der Kreislauf durch die Daseinsbereiche beziehungsweise die Tretmühle besteht doch genau darin, dass man mit verbissener Zähigkeit immer
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wieder Dinge tut, die von keinem oder nur beschränktem Nutzen sind. Man wiederholt die stets gleichen Fehler, steht immer wieder vor denselben Problemen und Konflikten. In der Realität hält sich fast niemand, gleich in welcher Position er sich befindet, an diesen simplen Rat. Sogar Menschen, von denen man aufgrund ihrer Stellung erwartet, dass sie ihre Entscheidungen auf eigene Erfahrungen gründen, folgen Autoritäten, die nicht die klügsten sind. Von Politikern erwartet man heute kaum mehr anderes, als dass sie sich an den wechselnden Launen der öffentlichen Meinung und aktuellen Trends orientieren. Wer wiedergewählt werden möchte, kann sich gar nicht leisten, Unpopuläres zu tun, von dem er aus Erfahrung und Einsicht eigentlich weiß, dass es die richtige Option wäre. Er zieht es vor, im Rampenlicht zu stehen, anstatt der Mensch zu sein, der er ist. Wahrscheinlich weiß er in vielen Fällen gar nicht, was gut und nützlich wäre. Aber das braucht er sich gar nicht einzugestehen. Denn indem er sich nach den Trends und dem Rat von Fachleuten richtet, ist ihm die Entscheidung weitgehend abgenommen. Er ist eine exponierte Persönlichkeit, die Macht auszuüben scheint, doch er handelt weniger souverän als ein nur wenigen Nachbarn bekannter Bauer, der aus eigener Erfahrung sieht, wann die Zeit zur Aussaat oder Ernte gekommen ist und auf dieser Grundlage selbst die notwendigen Entscheidungen trifft. Das Delegieren von Entscheidungen an andere mag bei manchen Politikern und Führungskräften, die ihre Position nicht verlieren möchten, aus bewusstem Kalkül geschehen. Verbreiteter ist wahrscheinlich der entgegengesetzte Fall: Man glaubt zu führen und merkt gar nicht, von welchen Prinzipien man geführt wird. Man glaubt anzuleiten und sieht nicht, welche Kriterien einen selbst leiten. Man glaubt, man hätte Einfluss und erkennt nicht, wie stark man selbst beeinflusst wird. Die eigene Erfahrung wird zugunsten anderer Instanzen hintan gestellt. Man hat Angst, das zu tun, was aus Einsicht, die der eige-
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nen Praxis folgt, unmittelbar richtig wäre. Stattdessen versteckt man sich hinter Trends, Prophezeiungen, Berechnungen und Expertisen. Man lässt denken und macht Dinge zum Maßstab des Handelns, die man selbst gar nicht versteht. Hier setzt die Kritik Gautamas an: Wenn die eigene Erfahrung, ergänzt durch die anderer, denen man wiederum aus eigener Erfahrung vertraut, die einzig taugliche Grundlage alles Entscheidens und Handelns darstellt, darf ich eigentlich nur dort entscheiden und agieren, wo ich überblicke, worum es geht. Sonst verhalte ich mich wie ein Spieler, der in Kauf nehmen muss, dass die Kugel mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Rot wie auf Schwarz liegen bleibt. Natürlich besitzt niemand Kenntnisse und Erfahrungen in allen Bereichen des Lebens. Jede Führungskraft braucht die Hilfe von Experten. Wer einen Betrieb leitet, kann unmöglich alle Wissenschaften und Handwerke beherrschen, die in die Produktion involviert sind. Doch derartige Spezialisierungen fallen gar nicht in den unmittelbaren Bereich des Leitenden, der als Generalist die Fäden in der Hand hält, verschiedene Abteilungen koordiniert und dem Ganzen die Richtung vorgibt. Hier ist die Frage, ob er in genau dieser Aufgabe mehr aus dem Zentrum der eigenen Erfahrung des Nützlichen und Guten entscheidet oder sich überwiegend anderen Instanzen überlässt. Schiebt er selbst oder wird er geschoben? Weiß er wirklich, wer er ist und was er tut? Ein Anzeichen, dass man wirklich aus der Mitte eigener Erfahrungen heraus handelt, ist die Fähigkeit, ohne allzu viel geistigen Ballast auszukommen. Die eigenen Erfahrungen sind immer etwas sehr simples, sind Teil unseres Wesens und stehen unmittelbar zur Verfügung. Man muss sie nicht deuten wie einen Expertenbericht und nicht analysieren wie Daten, die als Entscheidungshilfe auf den Tisch kommen. Sie ermöglichen ein oft spontanes Agieren im Bereich der direkten Aufgaben und Verantwortungen. Meist regiert jedoch der Ballast. Nach Gautama neigt der
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Mensch stark dazu, sich aus seinen unmittelbaren Aufgaben und Verantwortungen fortzustehlen, indem er diese spekulativ überbaut und damit verdeckt, worum es eigentlich geht. Man glaubt, sich mit wichtigen Hintergründen für eigene Entscheidungen zu beschäftigen, konstruiert aber in Wahrheit komplexe Systeme, in die man vor der eigenen Verantwortung flüchtet. Das Buch Majjhimanikâya enthält diesbezüglich ein Gleichnis: Ein Mann wurde von einem giftigen Pfeil getroffen. Als endlich ein Arzt eintrifft, um das Geschoss aus dem Körper zu entfernen, protestiert der Verletzte: »Ich lasse mir diesen Pfeil solange nicht herausziehen, bis ich weiß, ob mich ein Krieger, Brahmane, Händler oder Landmann traf. Ich möchte seinen Vor- und Zunamen kennen und wissen, ob er groß, klein oder von mittlerem Wuchs ist, ob seine Haut schwarz, braun oder hell ist und aus welchem Dorf oder welcher Stadt er kommt. Auch muss ich wissen, ob er mit einem Bogen oder mit einer Armbrust schoss, von welcher Machart die Sehne und der Pfeil sind und ob die Federn am Pfeil von einem Geier, einem Reiher, einem Habicht, einem Hahn oder irgendeinem anderen Vogel stammen. Ich möchte auch erfahren, ob die Sehne vom Rind, vom Büffel, vom Hirsch oder einem anderen Tier stammt und von welcher Art die Pfeilspitze ist.« Natürlich muss der Verwundete an dem giftigen Geschoss zugrunde gehen, bevor nur eine dieser Fragen zu klären wäre. Genau in dieser Situation sah Gautama viele Menschen: Die Zeit ist äußerst knapp, doch beschäftigt man sich mit allerlei Themen, die einem in keiner Weise helfen. Das Gleichnis des vom Giftpfeil Getroffenen findet sich in Majjhimanikâya als Antwort an einen Mann, der über die Fragen grübelte, ob die Welt ewig oder vergänglich wäre, begrenzt oder unendlich, ob Körper und Wesen dasselbe sind oder voneinander getrennt. Wer sich auf derartige Probleme einlässt, verirrt sich heillos in einem Gestrüpp von Theorien und Meinungen. Sogar wenn er die richtige Antwort fände, bleibt sie letztlich unüber-
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prüfbar – und vor allem: Sie hilft ihm im Leben mit seinen konkreten Aufgaben und Forderungen keinen Schritt weiter. Da sind all die vielen Giftpfeile, die uns herausfordern, doch wir befassen uns so ausführlich mit dem Entfernten, dass wir gar nicht mehr hören, wie in unmittelbarer Nähe die Erfahrung und der Menschenverstand die einzig sinnvolle Forderung stellen: Herausziehen! Das Tückische am geistigen Ballast, den wir mit uns tragen und beständig vermehren, ist die Tatsache, dass er in der Regel eine Beziehung zu unserem Leben und unseren Aufgaben hat. Alle Fragen, die der vom Pfeil Getroffene stellte, haben mit dem Pfeil selbst und dem Schützen zu tun. Er ist wirklich beim Thema, das über die Frage seines Lebens oder Sterbens entscheidet. Doch er hat sich zu sehr vom Unmittelbaren entfernt. Durch den direkten thematischen Zusammenhang des geistigen Ballastes mit unseren Anliegen und Aufgaben kann er uns von diesen ablenken und gleichzeitig im Glauben wiegen, dass wir uns intensiv damit beschäftigen. Es ist dies ein sehr typisches Symptom des unwachen Daseins in der Tretmühle. Vielleicht brauche ich tatsächlich jede einzelne dieser Expertisen und Berichte, die sich auf meinem Schreibtisch türmen, um eine gute und nutzbringende Entscheidung zu treffen. Der mentale Ballast kann hausgemacht und unsichtbar sein: Warum denke ich viel über jene Kollegen der anderen Abteilung nach, von denen ich weiß, dass sie meine Entscheidung, von der ich nach wie vor überzeugt bin, skeptisch betrachten? Dabei weiß ich genau, dass ich diesen in meinem Kopf keinesfalls auf die Spur komme. Ich weiß sogar, dass die einzige Möglichkeit, sie zu überzeugen, darin besteht, dass ich meine Vorhaben möglichst rasch umsetze und die Ergebnisse sprechen lasse. Was hält mich davon ab? Gautamas Position ist radikal: Alles Erwägen, das keinen Bezug zur aktuellen Praxis hat und alles Wissen, das sich nicht umsetzen lässt, ist im Grunde wertlos. – Braucht nicht jeder gelegentlich diese Radikalität, um zur Besinnung zu kommen? Immer wieder
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ist die Frage angesagt, worum es mir hier, heute und überhaupt eigentlich geht. Ich muss das Gestrüpp, das in meinem Geist wuchert zurückschneiden, um wieder klar das Einfache zu sehen: Welches sind die Erfahrungen, auf die ich sicher bauen kann, was nutzt mir, und was schadet mir wirklich?
Innere Sicherheit In seiner ausführlich zitierten Unterhaltung mit den Leuten aus dem Stamm der Kâlâmer wendet Gautama seine Kriterien von Nutzen oder Schaden, Wohl oder Leiden auf Gier, Hass und Verblendung an. Mit diesen drei Begriffen charakterisiert er den Menschen in der Tretmühle. Gier ist ein starkes Wort, das bei Gautama für das Besitzstreben im weitesten Sinn steht: Wir wollen sowohl materielle Dinge wie immaterielle und einen guten Ruf oder Anerkennung; wir wollen andere Personen besitzen, die für uns genau so sein sollen, wie wir sie möchten. Läuft alles, wie wir es wollen, hängen wir uns eifersüchtig daran und hoffen, dass keine Änderung eintritt. Selbstverständlich gibt es verschiedene Schattierungen der so verstandenen Gier. Manchmal kommt sie grob und auf den ersten Blick erkennbar daher. Aber nicht immer fällt sie mit der Tür ins Haus. Oft berechnet unser Haben-Wollen geschickt, wie es am besten seine Ziele erlangt und tarnt sich gern hinter dem Motiv, nur das Beste für andere oder gar die ganze Welt im Auge zu haben. Hass bezeichnet die gegenläufige Bewegung in der Dynamik der Persönlichkeit: Menschen, Dinge oder Situationen, die wir nicht wollen, lehnen wir innerlich und nach Möglichkeit auch äußerlich ab. Dies muss keinesfalls lautstark vor sich gehen. Hass, das Nicht-Wollen im weitesten Sinn, kann nach Gautamas Verständnis sehr subtile Formen annehmen. So stecken wir einfach den Kopf in den Sand, um die ganz unangenehmen Wahrheiten
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gar nicht erst aufzunehmen. Das beginnt dort, wo wir einen uns lästigen Hilferuf überhören und geht bis zum Vermeiden einer innerlichen Konfrontation mit unserer eigenen Vergänglichkeit. Jedes Verdrängen ist im Sinne Gautamas eine Gestalt des Hasses. Verblendung entsteht im Zusammenspiel des gierigen Anziehens von Gewolltem und hassvollen Abstoßens des Ungewollten. Indem das Bewusstsein einiges annimmt und festhält, anderes aber ablehnt und ausscheidet, definiert sich das eigene Dasein durch Identifikation und Abgrenzung. Es entsteht eine Persönlichkeit mit festen Umrissen, die für sich selbst Dauer im Sinne ihrer Vorlieben und Abneigungen wünscht. Doch müssen die Objekte der Gier früher oder später ebenso vergehen, wie solche des Hasses nicht vom eigenen Lebensweg fernzuhalten sind. Der in Gier, Hass und Verblendung gefangene Mensch, so Gautama, muss sein Leben als mehr oder weniger leidvoll erleben. Der Ausweg wäre, die Frage »Wer bin ich?« in ihrer ganzen Konsequenz zu stellen und zu beantworten. Gautamas Gesprächspartner bei den Kâlâmern verstanden wahrscheinlich ohne diese psychologischen und philosophischen Hintergründe, was Gier, Hass und Verblendung sind. Sie konnten einsehen, dass sie das persönliche Verhalten häufig zu Konflikten und Problemen führt, also zu Schaden und Leid, statt zu Nutzen und Wohl. Wer von Gier, Hass und Verblendung frei ist, fuhr Gautama in seiner Rede an die Kâlâmer fort, dessen Geist durchdringe die ganze Welt mit Liebe, Mitleid, Mitfreude und Gleichmut. Das sind starke Worte, die ein in anderen Texten weiter ausgeführtes Programm der Ethik und Meditation andeuten. Allerdings lassen sich diese Worte hier ganz simpel verstehen: Wer sich wirklich durchschaut, seinen Ballast abwirft, sich auf die unmittelbaren Aufgaben konzentriert und diese erfüllt, verwirklicht eine tiefe Harmonie mit allem, was ist. Diese Harmonie sieht Gautama von jener vierfachen Gewissheit begleitet, die er am Ende des Gesprächs erwähnt: (1.) Wenn
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der Welt eine tiefere Dimension unterliegt und die Religionen Recht haben, dass man nach dem Tod zur Rechenschaft gezogen wird, hätte man das Gebotene erfüllt. (2.) Haben die Religionen Unrecht, bin ich doch in diesem einzigen Leben im Einklang mit dem, was mir und anderen nur zum Nutzen und Wohl gereichen kann. (3.) Wenn diejenigen, die in Gier, Hass und Verblendung handeln, im Leben leidvolle Folgen erleben, bleibe ich von solchen verschont. (4.) Aber auch wenn jenen gar nichts geschieht, weiß ich mich auf dem richtigen und glücklichen Weg. Wie man sieht, will Gautama denen, die von einer höheren oder auch nur den Naturgesetzen der Welt immanenten Gerechtigkeit überzeugt sind, diesen Glauben nicht nehmen. Aber von größter Bedeutung ist die vierte Gewissheit: Es geht nicht um Lohn oder Strafe, sondern eine innere Wahrhaftigkeit, die dem Menschen tatsächlich versichert, in Einklang mit dem eigenen Wesen und dadurch der Ordnung der Welt zu leben. Dass es eine solche Weltordnung gibt, ist ein alter und selbstverständlicher Bestandteil der indischen Tradition. Bereits im Rigveda, dem ältesten klassischen Text, klang diese Idee an, wenngleich im Dunkeln blieb, wer diese Ordnung erließ und ob sie überhaupt einen Schöpfer hat. Dieses Rita genannte Prinzip sah man im menschlichen wie im kosmischen Leben am Wirken. Es konnte als Wille der Götter bezeichnet werden oder einfach als gegebenes Prinzip ohne erkennbare Ursache. Dass jedoch die Wirklichkeit von klaren und dem Menschen erkennbaren Gesetzmäßigkeiten durchdrungen ist, stand außer Zweifel: Der Mensch kann erfassen, was im Einklang mit dem kosmischen Geschehen, den Gesetzen der Natur oder dem Willen der Götter ist und sich entsprechend verhalten. Indem nach dem vedischen Verständnis Rita in allem Existierenden waltete, stand das menschliche Handeln letztlich mit jeder anderen Gegebenheit im Universum in Zusammenhang. Wich ein Mensch von der rituellen Norm ab, störte er die Harmonie der Weltordnung in persönlicher, sozialer oder gar kosmi-
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scher Dimension. Bewusstes Kontrollieren und Korrigieren des eigenen Tuns und Lassens durch die Kenntnis der Regeln und Riten war gefordert. Weil ein Mensch immer am Abgrund stand, an dem ein geordneter Kosmos zum Chaos werden kann, half nur die Wachheit dabei, in der Ordnung zu bleiben oder sie nach ihrem Verlust wiederherzustellen. Die Abwesenheit des ordnenden Prinzips personifizierte die vedische Göttin Nirriti, deren Name eine Verneinung von Rita bedeutet. Ein solches Verbinden von Chaos mit Weiblichkeit zeigt, wie Männer als Träger vedischer Überlieferung die Sexualität als Abweichen von der Ordnung erlebten. Wie den Schlaf und den Tod, die das kontrollierende Bewusstsein ausschalten, ordnete man die Geschlechtlichkeit der Sphäre der Göttin Nirriti zu. Hierin gründet die Sexualfeindlichkeit und Forderung strenger Askese in vielen indischen Yoga- und Meditationswegen. Aber auch die Betonung praktizierter Sexualität in einigen der sogenannten tantrischen Richtungen der indischen Tradition hängt hiermit zusammen: Wenn es gelingt, die Sexualität aus der unbewussten Triebhaftigkeit zu befreien und ihre Ausübung mit Wachheit zu verbinden, hat der Kosmos über das Chaos gesiegt. Hinzu trat in der indischen Kultur schon vor Jahrtausenden ein Empfinden individueller Verantwortung neben die kollektiven Pflichten, die sich aus Berufs- und Gruppenzugehörigkeiten ergaben. Bereits im Rigveda findet sich ein Gebet an den Gott Varuna, das um Befreiung von Schuld bittet. Dies dokumentiert ein Gewahrwerden der persönlichen Verantwortung für das eigene Tun, das negative Konsequenzen mit sich führt, sobald es von der erkannten Ordnung abweicht. Gautama folgt dem alten vedischen Motiv der universellen Ordnung, wenn er eine die Wirklichkeit tragende Gesetzmäßigkeit (Dharma) lehrt. Die Fragen Wer bin ich?, jene nach dem Wesen der Welt und nach den Gesetzen, welche die Welt und das persönliche Dasein
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bestimmen, münden in dieser Hinsicht für die indische Tradition in der einen Frage nach der Wahrheit. Von der Bedeutung der Wahrheit für die Praxis des Menschen war bereits im Zusammenhang mit den Yogasûtras des Patañjali die Rede. Das betrifft nicht nur Aufrufe, nicht zu lügen und andere ethische Hinweise für das persönliche Leben. Schon der systematische Stil und die vielen Aufzählungen in der Literatur lassen sich als Versuch deuten, der Wahrheit gerecht zu werden, indem man nichts Existierendes außer Acht lässt. Satya, der Sanskritbegriff für »Wahrheit«, hängt unmittelbar mit dem Wort »Sat« zusammen, das »Sein« bedeutet. Wahrheit wird als das verstanden, was eigentlich ist. Jedes Abweichen von ihr im Denken, Sprechen und Handeln entfernt sich vom tatsächlichen Sein. Es erschafft individuelle Scheinwelten, die auf nichts gegründet sind und darum immer mit der Wahrheit in Konflikt geraten müssen. Die persönliche Wirklichkeit, in der ein Mensch lebt, ist weitgehend erträumt, erdacht oder fantasiert. Man vergisst, dass man vorab nur den Topf mit verderblichem Reisbrei besitzt und nicht all das, was man gerne darauf gegründet hätte. Ein großer Teil des Eindrucks, den man von sich selbst und der Welt gewinnt, ist darum gar keine »Wahrnehmung«, sondern das Gegenteil – ein Nehmen dessen, was nicht ist, also des Unwahren. Darum betonen klassische Autoren des Yoga, des Buddhismus und anderer indischer Richtungen den Wert der Unterscheidungskraft (Viveka): Man muss lernen, Ordnung und Unordnung, Wahrheit und Unwahrheit auseinanderzuhalten. Śamkara, ein bedeutender religiöser Philosoph des 8./9. Jahrhunderts, genießt im heutigen Hinduismus größte Verehrung. Eines seiner zentralen Themen betraf dieses wichtige Vermögen, die Dinge klar zu unterscheiden. Wie das, was fälschlicherweise als gefährliche Schlange gefürchtet wurde, bei genauerem Hinschauen als ein nützliches Seil gesehen wird, lassen sich im Hinblick auf die letzte Wahrheit das Sein und der Schein in einer von Unterscheidungskraft getragenen Erkenntnis klar trennen.
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Diese Wahrheit im höchsten Sinn bedeutet für Śamkara in der Tradition Yâjñanvalkyas das allem Existierenden zugrunde liegende Brahma. Ihm kommen mit Sat, dem Sein, Chit, dem Bewusstsein und Ânanda, der Glückseligkeit oder Freude, drei erkennbare Eigenschaften zu. Das Sein, das Bewusstsein und eine tiefe Freude gehören im indischen Verständnis von Wahrheit unmittelbar zusammen. Wer genau das sieht, was wahrhaft ist, erfährt intensivstes Bewusstsein. Sein Einklang mit den letzten Ordnungen und Gesetzen – und damit zugleich die Abwesenheit von Schein und Chaos – bescheren ihm ein tiefes Glücksempfinden. Dass echte Unterscheidungskraft bei der Erkenntnis der Wahrheit am Werk ist, merkt man also daran, wie man von der Dumpfheit zu stärkerer Wachheit findet, wobei das Leiden abnimmt und die Freude am Dasein zunimmt. Gautama drückt in seiner Rede an die Kâlâmer Ähnliches aus, wenn er auf die innere Gewissheit hinweist, die sich dem einstellt, der ohne Rücksicht auf Lohn oder Strafe weiß, dass er das Richtige tut.
Die Kraft der Wahrheit Das Werk Milindapañha berichtet von dem griechischen König Menandros, der im 2. Jahrhundert vor Christus in der Folge der Eroberungen Alexanders des Großen ein Territorium im Westen Indiens regierte. Das bald nach dem Tod des Königs entstandene Werk stellt diesen als wissbegierigen und diskussionsfreudigen Mann vor, der ganz in der Tradition griechischen Philosophierens den erhellenden Dialog suchte. Er hatte das Gefühl, in dieser Beziehung nicht auf seine Kosten zu kommen, soll er doch Milindapañha zufolge geklagt haben: »Überall in Indien gibt es nur eitles Geschwätz, und keiner kann auf meine Fragen eingehen.« Da taucht der Weise Nâgasena bei ihm auf, mit dem er lange Gespräche führt, die den Gegenstand des Buches bilden. Na-
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türlich geht Nâgasena auf die große Bedeutung des Prinzips der Wahrheit ein, wie sie in Indien gesehen wurde. Zur Illustration, welche Macht der Wahrheit innewohnt, erzählt der Weise dem Menandros folgende Geschichte: Einst weilte der tugendhafte Herrscher Aśoka, begleitet von vielem Volk aus Stadt und Land, seinen Ratgebern, Soldaten und anderen Honoratioren am Ufer des Ganges. Da fiel sein Blick auf den langen und breiten Strom, der voll mit frischem Wasser dahinfloss. Der Herrscher fragte: »Ob es wohl möglich wäre, dass es jemand schafft, diesen gewaltigen Ganges stromaufwärts fließen zu lassen?« Seine Ratgeber antworteten ihm, dass dies wohl nicht sein könnte. Eine Prostituierte, die Bindumatî hieß, erfuhr von dieser Frage des Aśoka und meinte: »Zwar bin ich nur eine Frau, die ihren Leib verkauft und so auf sehr niedrige Weise ihren Unterhalt bestreitet. Dennoch will ich vor dem Herrscher einen Akt der Wahrhaftigkeit ausführen.« Sie übte diesen aus, worauf sofort vor den vielen Zeugen der ständig mächtige Ganges stromaufwärts floss. Als der Herrscher das laute Geräusch hörte, das sich durch die Turbulenzen und Wogen bei der Umkehr des Ganges ergab, staunte er außerordentlich. Verwundert fragte er seine Ratgeber, wie der Ganges plötzlich doch stromaufwärts fließen könnte. Sie antworteten ihm: »Eine Prostituierte mit Namen Bindumatî soll nach deiner Frage einen Akt der Wahrheit ausgeübt haben. Darum fließt der Ganges jetzt stromaufwärts.« Aufgeregt und in Eile lief der Herrscher zur Prostituierten, um sie zu fragen: »Stimmt es wirklich? Du brachtest den mächtigen Ganges durch einen Akt der Wahrheit dazu, dass er nun stromaufwärts fließt?« Als sie bejahte, fragte der Herrscher: »Wie kannst du solche Kraft besitzen? Niemand, der nicht verrückt wäre, würde jemals auf dich hören. Wie konntest du dem mächtigen Ganges Befehle erteilen?«
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Sie antwortete: »Durch die Macht der Wahrheit.« Aśoka zweifelte: »Wie kann eine ausschweifende und unsittliche Hure, die schamlos und betrügerisch den verblendeten Männern ihr Geld raubt, im Besitz der Kraft der Wahrheit sein?« Sie antwortete: »Es stimmt zwar, dass ich alles das bin. Trotzdem besitze ich die Kraft der Wahrheit, mit der ich sogar die ganze Welt und alle Götter stürzen könnte.« Als der Herrscher wissen wollte, worin ihre kraftvolle Wahrheit besteht, antwortete sie: »Ob mir ein Krieger, Brahmane, Händler oder Arbeiter Geld gibt, ich bediene jeden von ihnen ganz gleich. Weder bevorzuge ich den Krieger, noch verachte ich den Arbeiter. Ohne Zu- und Abneigung diene ich jedem, der mich bezahlt. Dies ist mein Akt der Wahrheit. So zwinge ich diesen mächtigen Ganges, stromaufwärts zu fließen.« Nâgasena vermittelte dem König Menandros mit dieser Geschichte unter anderem Folgendes: Lebt ein Mensch im Einklang mit sich selber, indem er sich vor sich und anderen zu dem bekennt, was er ist und tut, lässt er zudem mit Gleichmut unterschiedslos jedem Gerechtigkeit widerfahren, dann lebt er vollkommen in der Wahrheit. Er ist ein authentischer Mensch, sogar wenn er das macht, was anderen als denkbar niedrigste Tätigkeit gilt. Aśoka, vor dem die Prostituierte stand, gilt als der mächtigste Herrscher der indischen Antike. Er schuf im 3. Jahrhundert vor Christus das erste Großreich auf dem Subkontinent und wurde im Lauf der Geschichte von Hindus, Buddhisten und Jainas gleichermaßen gerühmt. In der Literatur verkörpert er die höchste politische wie militärische Macht, die Idee der gerechten Herrschaft, verbunden mit religiöser Verwirklichung. Doch das von ihm verachtete käufliche Mädchen schafft alles, wovon er nur träumen kann, weil es authentisch genau das ist, was es ist. War es im Abendland nach einem Wort der Bibel der Glaube, der Berge versetzt, ist es im indischen Kontext die Wahrheit, die den Ganges zur Umkehr zwingt. Wer im Einklang mit der Wahr-
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heit lebt – und sei es nach den Konventionen der Welt auch der geringste aller Menschen –, hat die Kraft, sogar die stärksten Entwicklungen in ihr Gegenteil zu wenden. In vielen alten Texten finden wir den Gedanken entwickelt, dass allein das Aussprechen der Wahrheit schon Glück, Nutzen oder Heilung bringt. So schickt im Buch Majjhimanikâya Gautama einen seiner Schüler zu einer kranken Frau, um diese zu retten, indem er nur den einen wahren Satz sagt: »Seit er Schüler Gautamas ist, hat er nicht mehr wissentlich getötet.« – Der Mann war, bevor er zu Gautama stieß, ein berüchtigter Raubmörder. Wie das Aussprechen der Wahrheit unmittelbar wirkt und die Gesetze der Natur aus den Angeln zu heben vermag, davon berichten viele Episoden der klassischen Literatur. In verschiedenen Varianten ist die folgende in Umlauf, die der Verfasser vor etwa drei Jahrzehnten nach den Worten eines Geschichtenerzählers aufzeichnete, der sein Publikum auf einem Platz in Patna im indischen Bundesstaat Bihar unterhielt: Ein Brahmane ist zur Mitwirkung an einem Opferritus in einem entfernten Dorf eingeladen. Um nach dort zu gelangen, muss er einen weiten Weg durch den Urwald nehmen. Weil er sich fürchtet, allein in die Nähe all der gefährlichen Tiere zu gehen, sucht er sich Reisegefährten. Glücklicherweise will eine Familie zu einem Fest in dieselbe Richtung aufbrechen. So schließen sich dem Brahmanen ein Händler, dessen Frau und deren einziger Sohn an. Es ist gut, dass dieses Kind dabei ist, Kinder sind laut und vertreiben die wilden Tiere. Auf dem langen Weg erzählen die drei Erwachsenen einander Geschichten. Der Brahmane legt in aller Ausführlichkeit dar, wie geschickt er alle Opferriten auszuführen vermag, dass man überall nach ihm fragt, wenn man einen guten Priester braucht. Wenn er den Göttern ein Opferfeuer bereitet und die vorgeschriebene Formel aus den Veden rezitiert, tritt garantiert ein, was sich seine Auftraggeber wünschen. Erst kürzlich habe er für ein kinderloses
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Ehepaar ein Opfer veranstaltet und die Götter angerufen, und nur wenige Wochen später war die Frau schwanger. Der Brahmane war sich sicher, dass sie einen kräftigen Sohn zur Welt bringen würde. Der Händler berichtet nun von den vortrefflichen Waren, die er in seinem Sortiment führt. Überall wären seine Lieferungen begehrt, und vor allem würden die Kunden die gute Beratung schätzen, die sie bei ihm erfahren. Wer einmal etwas bei ihm kauft, kommt garantiert wieder, so wäre das immer. Die Frau des Händlers erzählt dann, welche große Achtung sie in ihrem Heimatdorf genießt. Wenn andere Hausfrauen Fragen oder Sorgen haben, kommen sie gern zu ihr, denn jedem ist wohl bekannt, wie nur sie am besten weiß, wie man seinen Ehemann wirklich glücklich macht und einen wohlgeratenen Sohn erzieht. Die drei Wanderer sind guter Dinge und loben gegenseitig ihre außergewöhnlichen Vorzüge. Als der Brahmane die Erziehungskunst der Mutter in höchsten Tönen preist, geht diese stolz und hoch erhobenen Hauptes durch den Urwald. Sie merkt nicht, wie ihr Kind vom Trampelpfad abkommt und hier und dort nach den Pflanzen greift. Erst als sie es plötzlich schreien hört, sieht sie, wie das Kind eine Schlange aufstört, die sofort zubeißt. Als es gleich zitternd zu Boden sinkt, wissen der Händler und seine Frau, dass es zum Sterben verurteilt ist. Sie fallen zunächst in ein großes Wehklagen, doch schließlich fragen sie den Brahmanen, ob er nicht eine Formel, einen Ritus oder irgendein anderes wirksames Mittel gegen Schlangengift kennt. Von den Eltern bedrängt, überlegt der Brahmane lange. Dann sagt er, dass er in den heiligen Schriften nur von einem einzigen Mittel gelesen habe, das immer und unfehlbar gegen jede Art von Nöten hilft, die Wahrheit. Jeder der drei Erwachsenen müsse jetzt eine bisher verborgene Wahrheit seines Lebens aussprechen, dann bestünde eine Chance, das Kind zu retten. »Doch ein jeder von uns muss wirklich ganz ehrlich sein. Die kleinste Lüge, heißt es, verstärkt die Wirkung des Gifts. Doch die reine Wahrheit befreit von allem Leid.«
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Sofort macht der verzweifelte Vater den Anfang: »Alle halten mich als Händler für einen Ehrenmann, und ich tue alles, um als solcher zu erscheinen. Doch meine Preise sind immer zu hoch, und niemals stimmt, was ich den Kunden über den Wert und die Qualität meiner Waren erzähle. Ich kaufe das Minderwertigste in einem Land und verkaufe es im anderen teuer, weil man es dort nicht kennt. Es ist verwunderlich, dass mich noch niemand einen Betrüger schimpft.« Dann ergreift die Mutter das Wort: »Alle halten mich für eine vorbildliche Ehefrau. Aber sobald mein Mann auf der Reise ist, öffne ich dem Nachbarn die Tür und verbringe mit ihm wunderbare Nächte. Wenn mein Ehemann durch seine Geschäfte nicht so viel Geld nach Hause brächte, hätte ich ihn wohl längst vergiftet. Ich habe oft daran gedacht. Aber hätte ich als Witwe überhaupt eine Chance, die Frau des Nachbarn zu werden? Wenn er seine Frau vergiftet und wir uns dann offen vereinen, könnte das leicht jemandem auffallen. So treffen wir uns weiter in aller Heimlichkeit, denn mein Mann ist glücklicherweise oft unterwegs.« Von der Aufrichtigkeit der Eltern ermutigt, spricht nun der Brahmane die Wahrheit aus: »Ich glaube nicht an die Götter, denen ich opfere. Wahrscheinlich gibt es sie gar nicht, denn ich sehe nicht, dass die Riten, die ich ausführe, nur die geringste Wirkung haben. Alles das tue nur der Bezahlung wegen. Aber was sollte ich sonst arbeiten? Ich habe von meinem Vater nichts anderes gelernt, womit ich mir meinen Lebensunterhalt verdienen könnte. Also entzünde ich Opferfeuer und rezitiere zwecklose Litaneien.« Kaum waren die drei Bekenntnisse ausgesprochen, bewegte sich das Kind, das schon starr am Boden lag – gerettet durch die Kraft der Wahrheit. Es mag scheinen, dass in dieser Geschichte die magische Wirkung der Wahrheit, die den Sohn vor dem Tod bewahrte, die Existenzen der Eltern und des Brahmanen zerstörte. Jener wurde als Scharla-
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tan entlarvt, der Händler als gemeiner Betrüger, und die Ehefrau ist völlig entehrt. Doch handelt diese Geschichte im Grunde von der Rettung der drei Erwachsenen. Wirklich ruiniert ist lediglich ihr Ruf. Das bringt zweifellos manche Unannehmlichkeit mit sich. Der Brahmane mag, wenn sich sein Bekenntnis herumspricht, kaum mehr für ein Ritual engagiert und reich dafür entlohnt werden. Der Händler wird für seine minderwertige Ware keine gut zahlenden Kunden mehr finden, und untreuen Frauen winkte im alten Indien sicher kein leichtes Schicksal. Doch indem die drei Menschen ihren Ruf zerstörten, haben sie sich befreit, weil sie sich in Einklang mit der Wahrheit brachten. Dadurch sind sie nach indischer Vorstellung ungleich mächtiger geworden, als sie es zuvor in ihren Scheinwelten sein konnten. Ihren Ruf hatten sie bis dahin so sorgfältig gepflegt, dass sie schließlich selbst daran glaubten. Obwohl sie einerseits wussten, was sie in Wahrheit taten, wollten sie über sich selbst genau das hören, was sie den anderen vermittelten. Die Ehefrau in der Geschichte ging mit stolz geschwollener Brust ihren Weg, als der Brahmane ihre Fähigkeiten als Mutter lobte. Sie wollte in diesem Augenblick, in dem sie ihr Kind gerade vergessen hatte, an das Gegenteil glauben und schaffte es auch: Sie war die beste Mutter ganz Indiens. Wer andere täuscht, so zeigt diese Geschichte, begibt sich vor allen Dingen in eine gewaltige Selbsttäuschung. Er lebt in einer seltsamen gebrochenen Welt, in der er das Echte und das Falsche nicht mehr wirklich auseinanderhalten kann. Der Brahmane mit dem Breitopf aus dem Pañcatantra hatte für sich allein von Glück und Reichtum geträumt und alles wieder verloren. Sein Schicksal zeigte den autistischen Aspekt unserer Selbsttäuschung. Die Erzählung vom Schlangenbiss weist darüber hinaus auf deren sozialen Aspekte hin. Wir verlangen von unseren Mitmenschen, dass sie uns in unserer Täuschung, unseren haltlosen Träumen, unserem unwachen
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Agieren bestärken. Sie tun das in der Regel nur zu gerne, weil sie von uns das Gleiche wünschen: Jeder möchte das hören, was nicht stimmt, um im Spiegel der anderen vor sich selbst besser dazustehen. Träumt man vom Reichtum aus dem Reisbrei, besteht die Chance, ein wenig wacher zu werden, wenn man endlich begossen im Bett liegt. Ermuntern einen andere in seinem Wahn, wird das Unwahre zur quasi objektiven Realität, aus der man immer schwerer herausfindet. Die wechselseitige Unterstützung bei einem Scheinleben ist nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel. Fast jede Beziehung dient der gegenseitigen Hilfe beim Verharren in der Selbsttäuschung. Allein oder kollektiv träumen Menschen ihre mehr oder minder wirren Geschichten, in denen sie sich abstrampeln, aber nicht wirklich weiterkommen. Ob man dabei von einem Daseinsbereich in den anderen fällt – heute Gott und morgen Tier – oder nur im immer gleichen Gespensterreich auf der Stelle tritt, man kommt dabei weder selbst voran, noch bringt man andere weiter. Um Tretmühlen und Kreisläufe zu verlassen und wirklich etwas zu bewegen, muss man in Einklang mit sich selbst kommen, zur Wahrheit finden – und das ist vor allem jene über seine eigene Persönlichkeit. Der Weg vom passiven Träumer zum Erwachten, diese Empfehlung zieht sich durch viele der indischen Klassiker, besteht im simplen Annehmen der Wahrheit. Wer dies schafft, dem ist wie der Prostituierten aus dem Buch Milindapañha kein Ding unmöglich.
Satyagraha – an der Wahrheit festhalten In moderner Zeit gestaltete Mahâtma Gandhi aus diesen Ideen ein politisches Kampfinstrument. Er nannte es Satyagraha, was soviel wie »Festhalten an der Wahrheit« bedeutet. Gandhi ging vor dem Hintergrund der alten Literatur seiner Heimat von der prinzipiellen Durchsetzungskraft der Wahrheit aus: Besteht die
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Wahrheit im Einklang mit den fundamentalen Gesetzen des Daseins, also dem was wir als Dharma oder Rita kennen lernten, muss sie in allen denkbaren Auseinandersetzungen letztlich immer Siegerin bleiben. Denn die Dinge sind schlicht und einfach so, wie sie sind – also wahr – und werden nicht anders, nur weil man sie gerne anders hätte oder sich und andere über die Sachverhalte täuscht. Man kann einige Zeit träumen, dass man reich wäre, obwohl man nur einen vollen Topf mit Brei hat, oder sich schmeicheln lassen, die beste Mutter der Erde zu sein, obgleich man sein Kind in genau diesem Augenblick wieder einmal vergaß. Früher oder später wird man von der Wahrheit eingeholt, von der eigenen Wahrheit und jener der umfassenden Gesetze. Es kann manchmal länger dauern, bis sich die Wahrheit durchsetzt. Es gibt geschickte Lügner, die vor sich selbst und anderen mächtige Systeme mit großer Suggestivkraft errichten. Doch jedes Lügengebäude, so Mahâtma Gandhi – für den dazu auch eine ungerechtfertigte politische Herrschaft gehörte –, stürzt früher oder später zwingend in sich zusammen. Satyagraha muss sich deswegen keiner physischen oder strukturellen Gewalt gegen andere bedienen. Vielmehr beruht sie auf der Weisheit, der Geduld: Im Grunde könnte man warten, denn jedes Lügenkonstrukt wird ohnehin von der Wahrheit eingeholt und zerstört. Auf der Seite der Wahrheit darf man sich daher ganz sicher unter die künftigen Sieger zählen. Allerdings besteht Satyagraha nicht im reinen Aushalten oder Ausharren. Es wäre kein Kampfinstrument, hätte Gandhi damit nicht offensiv auf das Überwinden seiner Gegner gezielt. Gerade weil es ihm darum ging, den Untergang der Lüge und den Durchbruch der Wahrheit möglichst wirkungsvoll zu beschleunigen, fand er den im Westen oft gebrauchten Begriff des »passiven Widerstands« als nicht ganz passend für seine Methode. Satyagraha besitzt zwar durchaus passive Aspekte: Man verweigert sich der Lüge und wirkt in keiner Weise an ihr mit. So
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unterstützt man auf Unwahrheit gründende Herrschaftsformen nicht, indem den Gesetzen und Befehlen ihrer Vertreter unter keinen Umständen gehorcht wird. Besonders wichtig sind jedoch die aktiven Maßmahnen, für die ein Beispiel stehen mag: Die britischen Kolonialherrscher ließen in Indien keine eigene Tuchindustrie aufkommen, um englische Arbeitsplätze zu sichern. Die Bewohner des Subkontinents mussten, um sich zu kleiden, relativ teures Tuch aus Fabriken in Manchester kaufen. Für Gandhi befanden sich derartige Vorschriften im eklatanten Widerspruch zur Wahrheit, dass nämlich jeder Mensch und jedes Volk gleich viel wert sind und das selbstverständliche Recht besitzen, für ihre eigene Kleidung auf eine ihnen genehme Weise zu sorgen. Also propagierte er im ganzen Land das häusliche Spinnen und Weben von Tuch. Jeder Inder sollte das, was er am Leib trug, selber herstellen, um so die Textilimporte aus England überflüssig zu machen. Direkte gewaltsame Maßnahmen gegen die Stoffimporte schieden für Gandhi schon allein deshalb aus, weil man sich seiner Sache nie ganz sicher sein darf. »Satyagraha«, schrieb er am 23. März 1921 in der Zeitung Young India, »schließt Gewalt aus, weil kein Mensch in der Lage ist, die absolute Wahrheit zu kennen und darum nicht dazu qualifiziert ist, zu strafen.« Es geht bei Gandhis Methode also darum, vor allem sich selbst in Einklang mit dem zu bringen, was man als Wahrheit erkannt zu haben glaubt. Wenn es die Wahrheit ist, wird es sich mit Sicherheit durchsetzen. Wenn man im Einklang mit dem, was wahr ist, denkt, spricht und handelt, zwingt man darum jeden Gegner in die Knie, der sich bewusst oder unbewusst in der Lüge einrichtet. Es braucht gar nicht darum zu gehen, andere mit ihrer eigenen Wahrheit zu konfrontieren. Diese können sie letztlich nur selbst finden. Vielmehr ist angesagt, selber authentisch und dadurch unschlagbar zu werden. Gandhi beschrieb seinen Weg in die eigene Wahrheit in einer Autobiografie, deren erster Band 1927 erschien.
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Im Vorwort teilt er den Einwand eines Freundes mit, der ihm dringend abriet, sich mit einer solchen Selbstdarstellung in Buchform zu beschäftigen: »Eine Autobiografie zu schreiben, ist eine Eigentümlichkeit des Westens. Ich kenne niemanden im Osten, der eine geschrieben hat, ausgenommen unter denen, die unter westlichen Einfluss kamen.« Gandhi nahm diesen Einwand sehr ernst. Tatsächlich setzte er sich mit einer Autobiografie von allen klassischen Autoren Indiens und der auf ihnen gründenden Traditionen ab. Keinem der großen Philosophen Indiens, deren Werke man seit Jahrhunderten in Ehren hält, keinem buddhistischen oder jainistischen Meister, wäre der Gedanke gekommen, ein Buch über das eigene Leben zu verfassen. Man nahm seinen Lebensgang nicht so wichtig, um ihn der Nachwelt zu erhalten, sondern schrieb lieber über wesentliche Dinge, die hinter den einzelnen Wesen und Erscheinungen standen. Dazu gehörte zwar das zentrale Problem: Wer bin ich? Doch glaubte niemand, diese Frage mit äußeren Daten oder Darstellungen der eigenen Erfolge und Misserfolge im persönlichen Leben beantworten zu können. Von welcher Bedeutung sollte das Konservieren des erlittenen Liebesschmerzes oder der gelungenen Eroberungen sein? Man wollte nicht die Tretmühle dokumentieren, nicht den Kreislauf durch die Daseinsbereiche, sondern zum Wesen vordringen. Dabei halfen allgemein gültige Systeme, die alle Möglichkeiten von Glück, Erfolg, Kummer und Leid klassifizierten, damit jeder seine Position im Rad des Lebens finden konnte. Im heutigen Europa greifen Sportler, Schlagersänger und Politiker, an die sich zwei Jahrzehnte später kaum mehr jemand erinnert, zur Feder, um – meist unterstützt von Ghostwritern – der Nachwelt ihre mäßig denkwürdigen Erinnerungen zu erhalten. Eine solche Autobiografie hatte Gandhi jedoch nicht im Sinn. Zwar dürfte er sich seiner historischen Bedeutung bewusst gewesen sein. Aber es ging ihm keinesfalls darum, seine Errungenschaften und Triumphe festzuschreiben und zur Legitimation
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eines künftigen Programms oder des Nachruhmes zu machen. Er nannte seine Autobiografie: Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit. Genau so verstand er sein Leben, als eine Versuchsreihe, in der er darum rang, ein authentischer Mensch zu werden. Indem er versucht, wirklich die Wahrheit über sich selbst preiszugeben, verschont der Mahâtma seine Leser nicht mit offenen Bekenntnissen wie diesem: Als sein schwerkranker Vater nur mehr wenige Tage zu leben hatte, musste er als Sohn Wache am Krankenbett halten und dem Leidenden die Beine massieren. Während dieser Pflichtübung waren seine Gedanken jedoch nicht beim Vater, sondern drehten sich ganz um seine junge Frau im Schlafzimmer. In der Nacht, als der Vater starb, ließ er sich vom Onkel am Krankenbett ablösen, um möglichst rasch zu seiner Frau zu gehen, weil er Lust hatte, mit ihr zu schlafen. Darum war er im Augenblick des Todes nicht bei seinem Vater. In Indien, wo die Pflichten gegenüber den Eltern einen ungleich höheren Stellenwert einnehmen als in Europa, war dies eine ungeheuerliche Erzählung, die ein höchst befremdliches Licht auf ihren Helden wirft. Gandhi berichtet dies auch nicht, um im Kontrast zu zeigen, dass er inzwischen längst über jeden moralischen Zweifel erhaben wäre. Gandhi beschließt seine Autobiografie mit dem keinesfalls rhetorischen Bekenntnis, dass noch viel Ungutes versteckt in ihm lebt und dass ihm noch harte Kämpfe bevorstehen. Nicht nur, was seine persönliche Moral anbelangt, auch bezüglich seiner eher professionellen Fähigkeiten wollte er sein Leben ungeschminkt offenlegen. Er erzählt, wie er gleich beim ersten Fall, den er als Rechtsanwalt übernahm, vollends versagte. Im Gerichtssaal bekam er kein Wort heraus, um den Standpunkt seines Mandanten darzulegen, und rannte in Panik aus der Verhandlung. Diese Autobiografie erschien zwanzig Jahre bevor unter Gandhis Führung die Unabhängigkeit Indiens erstritten wurde. Die Menschen sollten wissen, wem sie das Schicksal ihrer Nation an-
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vertrauten. Jemandem, der um die Wahrheit rang, sich zu seinen Mängeln und Fehlern wahrheitsgemäß bekannte, der zwar höchst entschlossen war, gegen diese anzukämpfen, andererseits jedoch wusste, dass er immer wieder straucheln wird. Machte Gandhi sich verwundbar, indem er alles offenlegte? Das Gegenteil sollte der Fall sein: Indem er seine Schwächen und Niederlagen jedermann zugänglich machte, war er auf diesem Gebiet schwer angreifbar. Selbstverständlich setzt man sich der Gefahr aus, von vielen nicht akzeptiert zu werden, wenn man manches nicht hinter einer schillernden Fassade verbergen möchte. Viele seiner Zeitgenossen in Indien fanden Gandhi und seine Bekenntnisse ebenso unappetitlich wie der britische Premierminister Winston Churchill, der angesichts des Mahâtma den damals berühmten Satz vom »Übelkeit erregenden und erniedrigenden Schaustück« des »aufrührerischen Fakirs« formulierte. Das Festhalten an der Wahrheit macht auch verletzbar. Wer authentisch ist und im Einklang mit der Wahrheit lebt, steht den indischen Klassikern zufolge auch dann zu seinem Wort, wenn dies gegen die eigenen Interessen verstößt. Im Mahâbhârata, dem großen klassischen Epos, findet sich das Schicksal des Helden Karna. Dieser konnte von niemandem besiegt werden, denn ein Panzerhemd und Ohrringe, die schon seit der Geburt mit seinem Körper verbunden waren, machten ihn unverwundbar. Eines Tages, als Karna in einer Stadt einzog, erfüllte ihn angesichts des Jubels, der ihn empfing, solches Glück, dass er spontan ein feierliches Gelübde ablegte. Er gelobte, niemandem etwas zu verweigern, worum er gebeten würde, bis er seinen Gegner Arjuna im Kampf besiegte. Der Gott Indra, der zu Arjuna hielt und diesem helfen wollte, entschloss sich, Karna um sein Panzerhemd und die Ohrringe zu bitten. Würde er sich an sein gegebenes Wort halten, wäre es mit seiner Unverwundbarkeit vorbei. Der Sonnengott Surya erschien vor Karna, um diesen zu warnen: Würde bald ein Brahmane zu ihm kommen, um das Hemd und die Ringe zu fordern,
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wäre dies Indra. Der Held müsse dessen Ansinnen unbedingt ablehnen. Doch Karna wollte nicht kneifen: Er müsse bei der Wahrheit dessen bleiben, was er einmal versprochen hätte. Weil er sich nicht der Lüge ergeben könne, hätte er sogar sein eigenes Leben zu opfern, würde dies jemand von ihm fordern. Als später Indra in Gestalt eines Brahmanen um die Ringe und das Hemd bittet, versucht der Held zunächst zu verhandeln. Er bietet dem Gott alles, was er sonst besitzt, als Ersatz für das Begehrte an. Doch als Indra Karna an sein gegebenes Wort erinnert, löst er es der Wahrheit gemäß ein. Allerdings erspart er dem mächtigen Gott nicht den Vorwurf, dass normalerweise die Sterblichen ihre Wünsche den Göttern vortragen, um erhört zu werden, doch nicht umgekehrt. So erhält er von Indra quasi im Tausch eine unfehlbare Waffe, die er jedoch nur einmal in Lebensgefahr verwenden darf. Als es dann zur großen Schlacht kommt, wird der einst unverwundbare Karna von Arjuna getötet, nachdem er die Waffe einmal verwendet hatte. Das Mahâbhârata schildert die wunderbaren Vorkommnisse bei der Niederlage dieses Helden, der trotz der damit verbundenen Gefahr zum gegebenen Wort stand. Sein Tod hob die ganze Natur aus den Angeln: Die Sonne versank, während ein Stern so groß und hell wie der Mond erschien; das Strömen der Flüsse stand still; es war, als wäre der Firmament auf die Erde gestürzt. Der Wind toste und die Meere brausten, während zahlreiche Kometen am Himmel sichtbar wurden. Die mächtige Sprache deutet symbolhaft auf eine simple wie tiefe Weisheit: Die Wahrheit macht zwar verwundbar; man verliert seinen Panzer, sobald man sich dazu durchringt, ein einmal gegebenes Wort zu halten. Aber man bewegt als Verwundbarer unglaublich viel mehr als mit Panzer, bringt die Ströme zum Stillstand oder lässt den Ganges rückwärts fließen. 1930 unternahm Mahâtma Gandhi seinen gefeierten Salzmarsch. Die britische Regierung hatte in Indien eine Salzsteuer
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eingeführt. Obwohl die Menschen überall an den Küsten des Subkontinents ihr Salz leicht aus dem Meer gewinnen konnten, wie sie es vor der britischen Herrschaft stets getan hatten, war dies inzwischen verboten. Dass etwas, das von Natur aus gratis und im Überfluss für alle vorhanden ist, sogar von den Ärmsten hoch besteuert gekauft werden musste, nahm Gandhi zum Anlass, mit vielen seiner Anhänger zum Meer zu ziehen. Dort brach er öffentlich die Salzgesetze, indem er selbst Salz aus dem Meer gewann und alle Menschen aufrief, es ihm gleichzutun. Als er wegen dieses Vergehens, das er zuvor den Behörden angekündigt hatte, im Gefängnis saß, schrieb er dort Briefe an seine Mitarbeiter, in denen er grundsätzliche Prinzipien erläuterte. Selbstverständlich widmen sich diese immer wieder seinem zentralen Thema: »Es sollte Wahrheit im Denken, Wahrheit im Reden und Wahrheit im Handeln sein. Für einen Menschen, der diese Wahrheit in ihrer Vollständigkeit verstanden hat, gibt es nichts sonst zu wissen, denn alles Wissen ist notwendig darin eingeschlossen. Was nicht darin eingeschlossen ist, ist nicht Wahrheit und darum kein wahres Wissen. Wenn wir erst lernten den unfehlbaren Test der Wahrheit anzuwenden, werden wir sofort herausfinden können, was wert ist getan zu werden, was es wert ist, gesehen zu werden, was es wert ist, gelesen zu werden.« Dann wirft der Mahâtma die Frage auf, wie man diese Wahrheit finden könnte und schreibt: »Durch zielstrebige Hingabe und Gleichmütigkeit gegenüber allen anderen Interessen im Leben, antwortet die Bhagavadgîtâ. Jedoch mag trotz solcher Hingabe das, was der einen Person als Wahrheit erscheint, einer anderen Person oft als Unwahrheit erscheinen. Aber darüber sorgt sich der Suchende nicht. Wo ehrliche Anstrengung ist, wird man erkennen, dass das, was verschiedene Wahrheiten zu sein scheinen, wie die zahllosen und offenbar verschiedenen Blätter desselben Baumes sind.« Hier ist eine bedeutende Facette im indischen Motiv der Wahrheit berührt, die in ihrer Konsequenz eine große Herausforde-
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rung für überlieferte europäische Denkweisen darstellt: Obwohl man die Wahrheit suchen und zur Richtschnur seines Denkens, Redens und Handelns machen sollte, gibt es eine Pluralität der Wahrheiten. Mit dieser Idee hat sich der antike Denker Nâgârjuna in besonderer Weise beschäftigt.
Was ist Wahrheit? Nâgârjuna, der um die Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert wirkte, gehört zu den bedeutendsten und einflussreichsten Autoren Indiens. Die Werke dieses Philosophen erlangten weit über seine Heimat hinaus große Wertschätzung. In China, Tibet und Japan wurde und wird Nâgârjuna von vielen als einer der wichtigsten Denker der Menschheit geschätzt. Der Überlieferung zufolge war er ein Brahmane aus Südindien, der sich in seiner Jugend hauptsächlich sinnlichen Freuden hingab. Dabei kannte er offenbar keine Tabus und unterhielt schließlich sogar ein intimes Verhältnis mit einer Frau des königlichen Harems. Um der drohenden Hinrichtung zu entgehen, schloss sich Nâgârjuna dem buddhistischen Mönchsorden an. In dieser neuen Identität widmete er sich ganz der Philosophie. Besonders die Frage nach der Wahrheit beschäftigte ihn. Nâgârjuna war zutiefst überzeugt, dass Wahrheit im höchsten und letzten Sinn eine Kategorie der reinen Erfahrung wäre, die man nicht in Worte fassen kann. Ein Meister des Ch’an in China beziehungsweise des Zen in Japan hätte es nach dieser Erkenntnis vorgezogen, sich für den Rest seines Lebens in Schweigen zu hüllen. Doch Nâgârjuna steht ganz in der Tradition indischer Autoren, denn er geht offensichtlich davon aus, dass es vieler Worte und Erklärungen sowie der Systematik und Vollständigkeit bedarf, um diese Tatsache zu klären. Man muss in einem aufwändigen negativen Verfahren die Wahrheit im letzten Sinn transparent werden lassen, indem man aufzeigt, was sie alles nicht ist.
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Um zu zeigen, dass die letzte Wahrheit sich nicht verbal ausdrücken lässt, konzentriert Nâgârjuna sich entsprechend auf das Widerlegen aller Formulierungen von Wahrheit. Derart geht er – in dieser Hinsicht Sokrates verwandt – davon aus, dass er keine eigene Lehre hat, sondern nur andere zurückweist. In seinem Werk Vigrahavyâvartanî meint er, dass er als Einziger unter allen Autoren nicht von anderen zu widerlegen wäre: Wo könnte jemand Angriffsflächen bieten, der nur die Inkonsistenzen anderer behandelt, ohne selbst irgendetwas zu behaupten? Wie Nâgârjuna bei der Widerlegung aller Konzepte vorgeht, soll nur an einem Beispiel aus seinem Werk Mûlamadhyamakakârikâ gezeigt werden. Alle Menschen sprechen ganz selbstverständlich davon, dass Dinge entstehen. Aber mit welchem Recht eigentlich, fragt der Philosoph, und macht sich daran, das Konzept des Entstehens zu widerlegen. Grundsätzlich, so meint er, wären vier Arten des Entstehens denkbar. Eine Sache könnte (1.) aus sich selbst entstehen, (2.) aus einer Ursache, (3.) aus sich selbst und einer Ursache oder (4.) ohne jede Ursache. Das Entstehen einer Gegebenheit aus sich selbst hält der Philosoph für widersinnig: Etwas, das bereits existiert, kann nicht mehr aus sich selbst hervorkommen, weil es ja schon da ist. Darüber hinaus ist jedes Entstehen ein Prozess des Werdens und muss selbst entstanden sein. Nimmt man vor diesem Hintergrund den Vorgang eines Entstehens aus sich selbst an, gelangt man entweder zu einer unendlichen Reihe des aus sich selbst Entstehens, die keinen Sinn ergibt, oder man behauptet ein als Erstes Entstandenes, wodurch man wieder am Anfang steht und dessen Existenz aus sich selbst heraus verständlich machen muss. Dass die Dinge aus Ursachen bestehen, ist die verbreitete Annahme der Kausalität: Das Rollen der Kugel entsteht aus deren Anstoßen, die Salatpflanze aus dem Samen und der Regen aus den Wolken. Nâgârjuna hält dem entgegen, dass ein widerspruchsfreies Denken auf der Basis des Modells von Ursache und Wir-
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kung allerdings unmöglich wäre. Jede Ursache kann nur in Bezug auf eine Wirkung als solche bezeichnet werden. Ohne eingetretene Wirkung lässt sie sich nicht als Ursache bezeichnen. Aus diesem Grunde, so Nâgârjuna, setzt eigentlich die Ursache ihre Wirkung voraus. Liegt die Wirkung aber vor der Ursache, bedarf sie deren nicht als Grund ihres Entstehens. Nâgârjuna geht auch davon aus, dass sich über das Verhältnis von Ursache und Wirkung keine wirklich sinnvolle theoretische Aussage machen lässt. Entweder existiert die Wirkung schon in der Ursache. Das würde letztlich deren Identität bedeuten, also den bereits als unmöglich erkannten Fall eines Entstehens aus sich selbst. Geht man aber davon aus, dass die Wirkung etwas nicht in der Ursache enthaltenes Neues ist, lässt sich das nicht mit der offensichtlichen Beobachtung vereinbaren, dass jede Ursache gesetzmäßig bestimmbare Wirkungen zeigt: Aus einem Salatsamen entsteht sicher ein Salatkopf und keine Eiche. Ist (1.) das Hervorkommen einer Sache aus sich selbst ebenso ausgeschlossen wie (2.) ihr Entstehen aus Ursachen schließt sich für Nâgârjuna auch (3.) jede Kombination aus beidem aus. Die vierte Möglichkeit, dass etwas ohne Ursachen entsteht, ist jedoch auch ausgeschlossen. Der Mensch erfährt eine Welt, in der geregelte Abfolgen regieren und in der nicht plötzlich einem »Hasen Hörner« wachsen, wie eine in der indischen Literatur gängige Metapher für das Unmögliche lautet. Nâgârjuna möchte auf vielerlei Weise zeigen, wie die Welt nicht das sein kann, als was sie dem Menschen erscheint. So bedarf im von uns erlebten Universum jede Gegebenheit eines Gegensatzes, um existieren zu können: Licht besteht nur im Gegensatz zur Dunkelheit, Ruhe im Kotrast zur Bewegung, Sein im Unterschied zum Nicht-Sein. Hierdurch jedoch, so der Philosoph, kommt das Denken in neue Verlegenheiten: Sein, Licht oder Ruhe können jeweils nur da sein, wo Nicht-Sein, Finsternis oder Bewegung abwesend sind. Damit hängen aber Gegebenheiten voneinander ab, die einander ausschließen.
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Man mag Nâgârjunas Argumente für spitzfindig halten, und mancher versuchte mit gutem Recht, ihm Trugschlüsse vorzuhalten. Doch worum es ihm wesentlich geht, ist der Hinweis auf die Relativität aller Konzepte und Theorien, auf die wir uns stützen. Was immer wir ersinnen, um die Welt zu erklären, unser Verhalten zu beschreiben oder irgendwelche Forderungen zu stellen, es sind letztlich Lügengebäude, wenn wir es mit einer Wirklichkeit zu tun haben, in der Dinge voneinander abhängig sind, die sich gegenseitig ausschließen und nicht einmal das so selbstverständliche Konzept der Kausalität in Wahrheit einen Sinn ergibt. Möchte Nâgârjuna die Ohnmacht aller Theorien zeigen, geht es ihm keinesfalls um die Aussage, dass alle Konzepte unbrauchbar oder überflüssig wären. Die Widersprüchlichkeiten, in die jedes konsequente Denken früher oder später führt, zeigen vor allem, dass die Wahrheit immer ganz anders ist, als es sich ausdrücken lässt. Mit anderen Worten: Jede Aussage über die Wahrheit ist an sich schon falsch, weil sie eine Aussage ist. Nâgârjuna wollte also zeigen, wie alle Anschauungsweisen der Wahrheit, die Menschen jemals ersannen, bei konsequenter Analyse haltlos werden und wie Kartenhäuser in sich zusammenstürzen. Mit anderen Worten: Jede Theorie kann als inkonsistent entlarvt werden – und muss dies sogar, ist einem tatsächlich an einer Erkenntnis der Wahrheit gelegen. Der Philosoph sprach vor diesem Hintergrund von der »zweifachen Wahrheit« oder »zwei Wahrheiten« (Satyadvaya), der letzten Wahrheit einer Gegebenheit oder eines Wesens, die allenfalls erlebt werden könnte, und der konventionellen Wahrheit des alltäglichen Erlebens, über das sich Aussagen wie Sein, Nicht-Sein, Ruhe und Bewegung, Entstehen und Nicht-Entstehen machen lassen. Die gewöhnliche Wahrheit, wie das konventionelle Erleben sie auffasst, schlägt sich in Ansichten nieder, die von der Spaltung in Subjekt und Objekt geprägt sind. Das erkennende Subjekt und das aufgefasste Objekt sind dabei voneinander getrennt. Nur so
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lassen sich objektive Aussagen machen. Diese sind zwar immer falsch, aber deswegen keinesfalls wertlos. Denn ebenso wie sich sagen lässt, jede auch noch so durchdachte Aussage ist im Hinblick auf die erlebte eigentliche Wahrheit absolut falsch, lässt sich auch sagen, dass sie relativ richtig ist. Nâgârjunas Kritik und Destruktion aller Theorien will darum zeigen, dass jedes menschliche Reflektieren und Formulieren immer – und sei es noch so schwach – von Gier, Hass und Verblendung getragen wird. Bereits die Tatsache, wie ein ganz bestimmtes Subjekt an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit formuliert, was es als Wahrheit erkennt, zeigt, wie unterschiedliche und zwangsläufig verengte Perspektiven im Spiel sein müssen. Doch können in einer Welt, in der Bewegung und Ruhe einander zwar brauchen, um zu existieren, sich aber gleichzeitig ausschließen, auch einander widersprechende Theorien in praktischen Belangen hilfreich sein. Die Kausalität hört nicht deshalb auf, ein taugliches Denkmodell zu sein, weil sich viele Argumente gegen die Existenz einer Abfolge von Ursache und Wirkung vorbringen lassen. Wir haben gar keine Alternative, als in diesen Kategorien zu denken, auch wenn ihnen nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle mehr zukommt, sobald ich eine unmittelbare Erfahrung einer – oder meiner – Wahrheit mache. In der Konsequenz bedeutet dies, dass jede wirklich durchdachte Theorie ihre Berechtigung hat und einen Teil der Wahrheit erklärt. Vor ein paar Jahren hörte der Verfasser dieses Buches in einem indischen Yoga-Ashram folgende Geschichte: Ein junger Mann war auf der Suche nach der Wahrheit. Er kam nach Benares, wo er die Weisen am Ufer des Ganges beobachtete. Wen sollte er sich als Lehrer wählen? Er wollte einen Meister finden, der ihn möglichst rasch von der Täuschung zur Wahrheit führte. Seine Entscheidung fiel schließlich auf einen Mann, der bewegungslos direkt am Wasser saß und dessen Augen auf der Oberfläche des großen Stroms ruhten. Gewiss war er ein bedeutender Yogi, denn sein Körper schien
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kräftig und seine Muskeln stark. Auch wirkte er abgeklärt und völlig zufrieden. Niemals hatte der junge Mann ein solch glückliches Gesicht gesehen. Er näherte sich diesem Meister, berührte ehrfurchtsvoll mit der Stirn den Boden und bat, als Schüler angenommen zu werden. Der Meister fragte: »Wonach hast du das tiefste Verlangen?« Der Schüler antwortete: »Ich suche nur nach der Wahrheit.« Der Meister fragte: »Du brauchst sonst wirklich nichts auf der Welt?« »Nur die Wahrheit«, bekräftigte der Schüler. »Für sie würde ich alles hingeben, sogar mein Leben.« Da nahm ihn der starke Yogi bei den Schultern und drückte ihn mit aller Kraft in den Ganges. Er hielt ihn so lange unter Wasser, dass alle Umstehenden glaubten, er wolle ihn töten. Doch in letzter Sekunde zog der Meister ihn wieder heraus. Als der junge Mann endlich zu sich gekommen war und immer noch nach Luft rang, fragte der Yogi: »Was war dein tiefstes Verlangen, als du unter Wasser warst?« Der Mann antwortete: »Luft.« Der Yogi lächelte: »Du hast tatsächlich schnell deine Wahrheit gefunden! Du bist ein guter, schneller Schüler und darfst deswegen schon wieder weitergehen.« Die Wahrheit ist in diesem Sinne keine besondere oder abgehobene Gegebenheit. Immer hat sie mit dem unmittelbaren Leben zu tun, findet sich in dem, was wir sind und wollen. Im Untertauchen war tatsächlich die Luft das Einzige, woran der Schüler denken konnte – seine Wahrheit.
Zusammenfassung • Wer entscheiden muss, braucht die Hilfe und das Wissen von Experten. Das Handeln selbst jedoch muss aus dem Zentrum der eigenen Erfahrungen bestimmt werden. Dabei ist es wich-
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tig, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und sich von unnötigem geistigen Ballast zu befreien. • Um innere Sicherheit zu erfahren, muss man sich selbst durchschauen. Wer lernt, Wahrheit von Unwahrheit und Ordnung von Unordnung zu trennen, wird in Einklang mit sich selbst und der Weltordnung gelangen. Diese Harmonie zeigt sich in der Freude am eigenen Handeln und dem Gefühl größerer Bewusstheit. • In der Wahrheit zu leben und authentisch zu sein, bedeutet, ehrlich zu sich selbst zu sein und sich zu dem zu bekennen, was man ist – vor sich selbst und vor anderen.
Fragestellungen für die Praxis Erfahrung und Autorität Gautama stellte den Satz auf: »Halte dich an das, was sich für dich und vertrauenswürdige andere in der Praxis bewährte.« Auf welche Autoritäten außer dieser eigenen Erfahrung gründe ich mein Urteil und mein Handeln? Kann ich überhaupt Kriterien nennen, die mich leiten? Überlasse ich viel dem Zufall? Orientiere ich mich an konkreten anderen? Bin ich auf der Suche nach der Wahrheit über mich selbst, hilft mir, in meinem Denken und Handeln eine wichtige Grenze ausfindig zu machen: Wo hört die Selbstständigkeit meines Urteilens und Einschätzens auf? Welchen Autoritäten folge ich ab dieser Grenzlinie? Besonders sollte es mir zu denken und forschen geben, wenn ich auf diese Fragen gar keine Antworten zu geben weiß.
Den Pfeil herausziehen Wo trifft das Gleichnis vom Mann, der sich den giftigen Pfeil nicht herausziehen lässt, bevor er nicht allerlei in dieser Situation überflüssige Antworten erhält, auf mein Leben zu?
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Wo ist der unsichtbare mentale Ballast, mit dem ich mich aus den jeweiligen akuten Notwendigkeiten hinausdenke und im Geist Nebenschauplätze eröffne? Beschäftigt mich die Angst, wie andere mein Handeln einschätzen? Denke ich über Motive anderer nach, die ich durch Überlegungen gar nicht herausfinden kann und deren Kenntnis mir auch nicht weiterhelfen würde? Oft genügt es, diesen Ballast einmal zu erkennen und zu benennen, um einen ersten Schritt aus dem »Gestrüpp der Meinungen« in die Wahrheit meiner selbst zu tun.
Was verleiht Sicherheit? Viele indische Klassiker gehen davon aus, dass eine tiefe innere Sicherheit aus der Übereinstimmung meines eigenen Lebens mit objektiven Gesetzen und Rhythmen des Daseins resultiert. Hierzu muss ich das Richtige und Angemessene vom Falschen und Unangemessenen unterscheiden können. Nach welchen Kriterien unterscheide ich? Kann ich überhaupt welche benennen? Wenn echte Unterscheidungskraft am Werk ist, merkt man das daran, dass man von der Dumpfheit zu stärkerer Wachheit und Bewusstheit gelangt, dass die Freude am eigenen Tun zunimmt und man etwas von der Wahrheit seiner selbst erfährt.
Wahrheit und Täuschung Aus einer Position der Wahrheit heraus kann man der Symbolsprache der alten indischen Quellen zufolge nahezu alles bewirken. Voraussetzung dafür ist, dass man auch dem sozialen Netz der Unwahrheit und Täuschung entflieht, in das man sich eingesponnen hat. Man muss aufhören, die positiven – oder gelegentlich negativen – Geschichten über sich, die man anderen suggeriert, selbst zu glauben. Wenn es gelingt, aus dem Teufelskreis der wechselseitigen Unterstützung beim Verharren in der Selbsttäuschung auszubrechen, entkommt man der Tretmühle.
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Zumindest einmal wöchentlich wäre eine kritische Bestandsaufnahme angesagt: Wo wirke ich besser als ich bin? Was verschweige ich derzeit vor anderen so gut und erfolgreich, dass ich es dadurch schon selbst vergesse? Gibt es familiär, im Freundeskreis oder beruflich Beziehungen, die wesentlich der gegenseitigen Bestätigung dienen? Wie gerechtfertigt ist diese Bestätigung dann?
Festhalten am Wahren Mahâtma Gandhi empfahl den konsequenten Einsatz der Wahrheit als quasi unfehlbares Instrument zum Erreichen seiner Ziele. Damit ließe sich experimentieren. Indem ich zunächst mir gegenüber aufrichtig bin, kann ich es allmählich auf andere ausdehnen. So ließe sich als Versuch gelegentlich einmal offen zugeben, wenn ich etwas nicht weiß oder nicht kann. Wer an der Wahrheit festhält, mag einerseits – wie der Held Karna – seinen Panzer verlieren und auf gewisse Weise verwundbar werden. Auf der anderen Seite wird er aber auch unangreifbar: Wenn ich von vornherein meine derzeitigen Grenzen bekenne, kann keiner ernsthaft von mir erwarten, dass ich sie ohne Weiteres übersteige.
Pluralität der Wahrheiten Was Wahrheit im letzten Sinn bedeutet, lässt sich nicht allgemein gültig formulieren, sondern nur erleben. Aus diesem Grund bleiben alle Aussagen relativ. Diese Erkenntnis kann mich einerseits duldsamer machen: Jede wirklich durchdachte Position hat etwas für sich, erhellt einen Aspekt des Ganzen und sollte deswegen nicht allzu rasch vom Tisch gewischt werden. Andererseits kann ich die Wahrheit über mich nicht in Theorien finden. Die Frage Wer bin ich? kann ich nur lösen, indem ich vom Wort zum Erlebnis komme.
Kapitel 5
A u s d e r R u h e w i r ke n »Den Spruch: Erkenne dich! Sollst du nicht übertreiben; lass immer unbekannt dir in dir etwas bleiben. Den Grund, aus welchem quillt dein Dasein, musst du fühlen; zerstören wirst du ihn, wenn du ihn auf willst wühlen. Die reine Quelle wird, frech aufgewühlt, ein Sumpf; Nicht wer sich nicht erkennt, wer sich nicht fühlt, ist dumpf.« Die Weisheit des Brahmanen
Der Weg in die Mitte Der klassischen indischen Weisheit wurde von europäischen Interpreten oft Fatalismus oder Pessimismus vorgeworfen. Doch was als negative und fortschrittsfeindliche Einstellung erscheinen kann und zweifellos derartige Gefahren birgt, lässt sich auch ganz anders sehen: Texte wie die Bhagavadgîta vermitteln eine Haltung, die nicht gegen das ankämpfen möchte, was nicht zu ändern ist, die dafür aber um so klarer das fokussieren kann, was erreichbar ist. Es geht um innere Ruhe und Selbstbeschränkung auf das vernünftig erreichbare Maß, um für das frei zu werden, worauf es eigentlich ankommt. In den vorangegangenen Kapiteln war viel von der Frage des Wer bin ich? die Rede. Was aber als philosophische Frage erscheinen mag, ist im Grunde der Aufruf zum praktischen Experiment im Sinne Gandhis. Es geht nicht darum, in einer abstrakten Weise zu wissen, wer man ist, sondern es direkt zu erfahren. So kann man viel darüber grübeln, wie man das Leben in Harmonie mit den Gesetzen des Daseins gestalten kann, also mit dem, was man in Indien Dharma oder Rita nennt. Das kann oft direkte
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ethische Folgen haben. Man bemüht sich dann, sein Leben diesen plausiblen Gesetzen entsprechend zu verändern. Solange wir uns in dieser Weise gedankliche Impulse geben müssen, erfahren wir noch nicht wirklich, ob es unserem innersten Wesen entspricht, allgemein anerkannte Pflichten zu erfüllen. Als ihr wichtigstes Anliegen verstanden die indischen Klassiker darum nicht die Vermittlung von Wissen oder theoretischen Konzepten. Dies galt ihnen lediglich als – allerdings notwendige – Vorstufe zum unmittelbaren Erleben. Sobald ich unmittelbar die Wahrheit dessen erlebe, wer ich bin, schlage ich ohne die Notwendigkeit gedanklicher Impulse die mir entsprechende richtige – also wahre – Richtung ein. Was in einem bestimmten Augenblick meine Pflichten sind oder dass ich vieles nicht festhalten kann, erfahre ich dann spontan. Das Leben wird zum Experiment mit der Wahrheit, bei dem man sich selbst immer mehr in Einklang mit dieser bringt. Obwohl es bei diesem Prozess nicht ganz ohne Denken geht, sind jene Aspekte unverzichtbar, die uns in den Lehren Gautamas und Patañjalis mit den Begriffen der Vertiefung (Dhyâna) und der Ganzwerdung oder Sammlung (Samâdhi) begegnen. Beide Worte weisen in ihrer Bildhaftigkeit auf Vorgänge, durch die man eine Mitte gewinnt oder herstellt: Bei der Vertiefung in mein eigenes Wesen gelange ich von dessen Oberfläche in sein Inneres. Bei der Sammlung, dem Gegenteil der Zerstreuung, ordne ich mich um ein inneres Zentrum. Es geht also um das, was man im europäischen Kontext meist mit dem lateinischen Begriff der Meditation bezeichnet, der gleichfalls das Gelangen in die Mitte ausdrückt. Mitte steht hier gleichbedeutend für den Überblick: Vom Zentrum her werden alle Richtungen in gleicher Weise überschaubar. Man sieht die weiteren Zusammenhänge, in die man eingebettet ist. Darum symbolisiert die Übersicht aus der Mitte zugleich Freiheit. Erkenne ich alle Wege um mich herum, habe ich tatsächlich die Wahl, wohin ich gehen möchte. Wirklich absichtlich kann ich
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eine Richtung nur einschlagen, wenn ich alle Möglichkeiten absehe. In der Mitte zu sein, bedeutet darum, sich wahrhaft entscheiden zu können. Die indische Kunst stellt die Reise in das eigene Zentrum in Form von Mandalas dar, Kreisen, die als geistige Landkarten dienen: Es gilt, den Weg vom Rand seines Daseins in die Mitte des Lebens zu finden. Nur in dieser besitzt man die größte mögliche Freiheit zum Beobachten und Handeln. Sie bieten den Ausweg aus allen drängenden Problemen. Dieses Bild ist kein typisch indisches, sondern durchaus universell. In Dantes Göttlicher Komödie findet sich der Gedanke, dass der Ausgang aus der Hölle genau in ihrer Mitte liegt: Auch in scheinbar ausweglosen Situationen lassen sich Lösungen gewinnen, wenn es gelingt, zum Kern der Sache vorzudringen. Man muss aufhören, dauernd an der Peripherie seines Daseins im Kreis zu laufen, muss die Tretmühle anhalten. Dann werden Wege und Ausgänge erkennbar, die einen in Einklang mit dem innersten Wesen wirklich weiterführen. Wer in die Mitte gelangt, wird freier, weil er sich in einer Ganzheit erfährt, als lebendiger Teil vielfältiger Beziehungen und Bedingungen, die einen zu dem machen, was man ist. Wer sich selbst aus einem Zentrum erfährt, von dem aus alle Höhen, Tiefen und Weiten bewusst werden können, beschränkt sich nicht bloß auf einen kleinen Punkt seines Lebens, sondern lebt in einer Fülle von Möglichkeiten. Doch wann bin ich jemals im Mittelpunkt meiner eigenen Welt und erfahre tatsächlich, dass ich lebe und was ich wahrnehme? So seltsam dies für viele klingen mag, die persönliche Anwesenheit im eigenen Leben ist etwas durchaus Seltenes. Gerade gehe ich durch den Gang im dritten Stock des Bürohauses. Halb bewusst nehme ich wahr, wohin meine Schritte mich führen, damit ich nicht gegen einen der Aktenschränke stoße, die hier stehen. Doch ich erlebe mich nicht wirklich als Gehenden. Von der Bewegung meiner Beine bekomme ich nichts mit, und von
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meinen Füßen spüre ich schon gar nichts. Ich könnte eine knappe Stunde später nicht einmal sagen, ob ich schnell oder langsam unterwegs war und ob meine Füße über einen weichen Teppichboden oder einen harten Kunststoffbelag gingen. Dabei komme ich mindestens einmal in der Woche in dieses Stockwerk. Aber ich wüsste auch nicht zu sagen, welche Farbe die Wand hat, welche Bilder daran hängen, oder ob es überhaupt welche gibt. Konnte ich mich nicht mit der Wahrnehmung des Flurs im dritten Stock beschäftigen, weil ich wichtige Gedanken in mir bewegte? Vielleicht war dies der Fall und ich habe mich innerlich damit beschäftigt, mit welchen eindeutigen Worten ich dem Kollegen gleich klarmachen werde, dass die Vorgänge, die ich weiter zu bearbeiten habe, erheblich zu lange in seinem Büro bleiben. Doch wahrscheinlicher ist, dass ich gar nicht so konzentriert über einen bestimmten Sachverhalt nachdachte. Eine ganze Rolle von Assoziationen spulte sich vielmehr auf dem Weg durch den Gang in meinem Kopf ab: Der Ärger über die Langsamkeit des Kollegen brachte meine Gedanken darauf, dass ich derzeit überhaupt nur Ärger habe. Zum Beispiel mit meiner Frau, die das schulische Problem unserer Tochter nicht in den Griff bekommt und sich einbildet, ich müsse mich in meiner knappen Zeit um das kümmern, was sie den ganzen Tag nicht schafft. Beim Gedanken an meine Tochter fällt mir die neue Sekretärin meines Büronachbarn ein, die gewisse Ähnlichkeiten mit ihr hat. Muss ich deshalb ab und zu an diese Neue denken, oder ist es wegen ihrer Stimme, die irgendwie interessant klingt? Nein! Eigentlich habe ich gar keine Zeit, jetzt an Frauen zu denken, ich muss ja noch bis zur Mittagspause die Exportunterlagen durchsehen. Dann gehe ich vielleicht auf einen Sprung in diesem portugiesischen Fischrestaurant vorbei, in dem Dieter oft isst. Wenn er dort wäre, könnten wir über den geplanten Segelausflug sprechen. Ach ja, um meinen Segelschein muss ich mich auch noch kümmern …
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So, wie ich nicht sagen kann, wie es im dritten Stock wirklich aussieht und mit welchen Bewegungen ich unterwegs war, verschwindet alles, was in mir vorging. Eine Stunde später habe ich die Kette wirrer und meist belangloser Verknüpfungen in meinem Geist vergessen. Mein Gewahrsein hatte sich auf dem Weg gespalten. Ein Teil blieb in der Außenwelt, damit ich nirgendwo anstoße und die richtige Tür finde. Ein anderer hatte sich in Tagträume und gedankliche Spielereien versponnen. Schon als ich das Büro des Kollegen wieder verließ, nahm ich keinen einzigen der Gedanken von vorher wieder auf. Vielmehr entwickelte sich eine neue Assoziationskette in meinem Kopf, die ursprünglich von der freundlichen Reaktion auf meine Beschwerde ausging, um über die Frage, warum die Schwester meiner Frau schon lange nicht mehr anrief, bei der Überlegung anzukommen, die Flüge für den Sommerurlaub auf den Seychellen sollten dringend gebucht werden. Weil ich mich an die Zeit des Weges durch den Flur im dritten Stock gar nicht erinnern kann, ist sie für mein bewusstes Dasein nicht existent. Diese Zeit bedeutet mir nichts, fast so, als wäre sie nie gewesen. Keiner der Gedanken, die aufblitzten, wird Konsequenzen haben. Ich werde nicht mit meiner Frau über die Tochter reden, die Mittagspause wegen der Exportpapiere ausfallen lassen und sicher keine Flüge auf die Seychellen buchen. Trotz der inhaltlichen Vergeblichkeit aller meiner Gedanken auf diesem Weg, wirkt sich die Zeit doch insofern erheblich aus, als sie meinen unwachen Zustand weiter stabilisiert. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier sagt man. Darum stärke ich jedes Mal, wenn ich mir erlaube, nicht wirklich ganz in der Mitte eines Augenblicks zu sein, meine unwache Existenz. Ich pflege auf meine Weise den Topf mit Reisbrei, der über dem Bett hängt. Wäre es bloß der Gang durch den Flur im Bürohaus! Doch dieser steht hier als Sinnbild für einen großen Teil des Lebenswegs, der auf die geschilderte Weise dumpf gegangen wird. Jedes Verzichten auf eine volle Teilnahme am Moment bringt uns um ein
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Stück unseres Daseins, das uns keine Macht der Welt und keine Willensanstrengung unsererseits zurückgeben kann. Für viele Menschen sind jene Augenblicke, in denen sie wirklich in der Mitte ihres Daseins stehen und deshalb vollkommen am Geschehen beteiligt sind, äußerst rar. Man erlebt dann sich selbst, das eigene Fühlen und Denken, und nimmt all das wahr, was einen umgibt. Diese wertvollen Momente, in denen man ganz dabei ist, zeichnen sich oft dadurch aus, dass man sie noch lange später im Gedächtnis behält. Die Routine des Alltags ist eigentlich reizlos, hinterlässt keinen tieferen Eindruck und verblasst bald. Das Außergewöhnliche lässt sich leicht zurückrufen und bleibt auf diese Weise bewusst. Die Momente, in denen es mich im tiefsten Sinne gibt, sind also einzigartige Augenblicke. Existieren bedeutet wörtlich »Herausragen«. Schon in diesem sprachlichen Sinn bin ich nur wirklich da, wenn ich mich über das Gewöhnliche erhebe. Doch ist es nicht naturgemäß so, dass es nur wenige wirklich herausragende Momente gibt und das Dasein vor allem aus Alltäglichem besteht? Kann man denn – und sollte man überhaupt – den Weg durch den Flur des dritten Stockwerks zum einzigartigen Ereignis werden lassen? Grundsätzlich ist eine einfache Tatsache festzuhalten. Ich brauche nicht jeden Augenblick zu einem einzigartigen machen, denn er ist es schon! Jede Sekunde, um die man sich selbst betrügt, weil man sie in unbewusster Dumpfheit verstreichen lässt, ist darum eine Verschwendung wertvoller Lebenszeit. Wichtig ist: Es geht hier um eine Frage des Bewusstseins und nicht der Effektivität! Ich kann meine Zeit in einem quantifizierbaren Sinn sehr produktiv verbringen, ohne dass ich irgendetwas Bleibendes davon habe. Das gilt nicht nur für den Arbeiter am Fließband, der seinen wertvollen Beitrag zum Entstehen von Kraftfahrzeugen leistet, während er vielleicht lange Assoziationenketten und Tragträume in sich vorbeifließen lässt, die bei Feierabend allesamt vergessen sind. Die Führungskraft, die im Sinn ihrer Routine
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gut funktioniert, alle Abläufe ihrer Abteilung bestens im Griff hat, ist derselben Gefahr ausgesetzt, gar nicht mehr zu erleben, was in ihr und um sie vorgeht. Es geschieht etwas, an dem ein Teil von mir irgendwie Anteil hat, aber ich bin nicht wirklich dabei. Ich bin zur gleichen Zeit auch nicht anderswo, sondern aufgespalten in verschiedene Kanäle der Aufmerksamkeit, die nicht zusammenfinden. Irgendwann fragt man sich vielleicht: Wo ist meine Zeit geblieben? Alles, woran ich mich erinnere ist eine Routine, die meine Erinnerung in einem Tag unterbringen konnte. Womit verbrachte ich all die Jahre? Um diesbezüglich Katzenjammer oder eine totale Verdrängung zugunsten gefälliger Lügengebäude zu vermeiden, hilft es nur, den Augenblick anzunehmen. Ich selbst muss ins Zentrum meines Lebens treten, möglichst in die Mitte vieler einzelner Augenblicke, die in der Summe mein Dasein ergeben. Dazu muss ich lernen, den Moment als Chance zum wahren Leben zu ergreifen, indem ich erkenne: Er ist einzigartig, und wenn ich ihn jetzt nicht bewusst erfahre, habe ich mich um ein Stück meines Lebens gebracht. Ist jeder Augenblick zwar einzigartig, wird er deswegen noch lange nicht zum herausragenden Ereignis, wenn ich ihn mit Routinevorgängen verbringen muss, für die es in meiner Lebenssituation keine Alternative gibt. Aber, um nochmals den Wortsinn des Begriffes »Existieren« aufzugreifen, es ist gar nicht das Problem, dass nicht jeder einzelne Moment aus allen anderen besonders herausragt. Ich selbst bin es, der existieren und aus dem für die meisten unbewussten Fluss des Lebens herausragen muss. Ich selbst muss zu meiner Wahrheit erwachen, mit ihr übereinstimmen und tatsächlich da sein. Dann bekommt jeder Augenblick eine neue Qualität und wird tatsächlich zu einem außergewöhnlichen Ereignis. Man muss sich dieses Wort auf der Zunge zergehen lassen: »außergewöhnlich«. Wir verwenden es meist in einer objektiven Perspektive, indem wir die seltenen Dinge mit diesem Adjektiv bezeichnen, die nicht dem üblichen Lauf unseres Erfahrens entspre-
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chen. Die meisten Gegebenheiten erscheinen uns jedoch durchaus gewöhnlich, weil wir sie zu kennen glauben. Hier liegt der Irrtum! Eigentlich weiß ich gar nicht, was mir gewohnt oder normal erscheint. Die objektiven Dinge, die auf mich zukommen, entsprechen in keiner Weise einer Gewohnheit. Vielmehr ist es meine Art, wie ich mit ihnen umgehe oder sie gar nicht wirklich zur Kenntnis nehme. Nach dem üblichen Gang durch den Flur des dritten Stocks konnte ich gar nicht sagen, ob meine Füße über einen harten oder weichen Boden gingen. Auch blieb mir bislang verborgen, dass da ein recht großes Bild mit dem Motiv einer Seeschlacht hängt. Aber nicht nur die objektiven Gegebenheiten blieben mir auf dem Weg im dritten Stock verborgen, sondern gleichfalls die subjektiven. Mein Innenleben aus einer Assoziationskette, die ich passiv ablaufen ließ und selbst nur so dumpf wahrnahm, verschwand gleich der Umgebung in eine Sphäre außerhalb meiner bewussten Existenz. Will ich die Forderung des großen Erwachens, wie die indischen Klassiker sie erheben, auf mein Leben anwenden, muss ich mir vornehmen, dass es außergewöhnlich werden soll. Auf der Stelle zu treten oder sich im Kreise zu drehen, sind Gewohnheiten. Ich muss mich der normalen Situation entwöhnen, dass ich nicht wirklich inmitten meines Daseins stehe.
Raum für mich schaffen Wir können dem, was uns als normale Wahrnehmung oder Handlung gilt, eine neue Erlebnisqualität verleihen. Gedanklich bereiten wir dies vor, indem wir uns bewusst machen, wie jede Sekunde tatsächlich einzigartig ist und wir ihr die entsprechende Kostbarkeit zugestehen sollten. Wir müssen uns ganz deutlich vor Augen halten: Womit wir uns in jedem einzelnen Augenblick befassen. Der Moment prägt unser weiteres Leben. Entweder wir verharren
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in unserer gewohnheitsmäßigen Dumpfheit, oder wir werden uns der Chance bewusst und gewinnen wertvolle Lebenszeit. Den Gang durch den dritten Stock begleitete nur so wenig Aufmerksamkeit, dass ich nicht stolperte oder anstieß und schließlich zur richtigen Tür gelangte. Während das mechanisch ablief, zog sich der größere Teil des Bewusstseins nach innen zurück, um sich Grübeleien, Erinnerungsfetzen und Emotionen hinzugeben. Ein derart gespaltenes Wahrnehmen musste dumpf bleiben, weil es keine innere Mitte besaß. Ich war eigentlich nicht dabei. Weder der Weg durch den Flur noch die inneren Vorgänge wurden deswegen zur bleibenden Erfahrung. Machte man sich mit dem Gedanken vertraut, dass man jeden Moment nur einmal besitzt und deswegen wirklich erleben sollte, gälte es, Gewohnheiten durch Aufmerksamkeit zu besiegen. Immer mehr Dinge, die man nur zu kennen glaubt, aber im Grunde nie wahrnahm, sollten gezielt beachtet werden. Der Flur im dritten Stock ist also überall: Ich liege im Schlafzimmer und könnte mich gleich der gewohnten Nachtlektüre widmen. Aber ich frage mich: Kenne ich mein Schlafzimmer überhaupt? Welches Muster hat die Tapete? Wie sind die Türen des Schranks gemasert? – Habe ich die anderen Räume meines Hauses jemals zur Kenntnis genommen? Wie sieht genau die Türklinke aus, die ich jeden Morgen herunterdrücke, wenn ich ins Bad gehe? Das eigene Zuhause kennt man im Grunde oft gar nicht. Die engste Umgebung wird zur Gewohnheit und damit zur Unbekannten wie vielleicht der Partner, von dem man sich allmorgendlich verabschiedet, um ihn allabendlich wieder zu begrüßen. Nähe macht blind, weil Gewohnheit benebelt. Wie wir aus den klassischen Schriften Indiens erfuhren, gilt diese am meisten für uns selbst. Das scheinbar Selbstverständliche bleibt uns am unverständlichsten. Natürlich gibt es wichtigere Fragen, als jene wie die Türklinke zum Badezimmer, die Schlafzimmertapete oder das Bild im Flur des dritten Stocks aussehen. Aber es geht uns hier nicht um die
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objektive Wichtigkeit dieser Gegebenheiten, sondern um unseren offensichtlichen Mangel an Aufmerksamkeit. Es ist ein Training, das wir in Angriff nehmen müssen, um wacher zu werden. Wir schulen unsere Achtsamkeit durch interessierte Konzentration. Inter-esse bedeutet wörtlich »darin sein«, also mit echter Beteiligung wahrzunehmen und zu handeln: Ich bin ganz in der Mitte meiner Wirklichkeit. Bewusst sage ich mir, dass ich im vertrauten Bereich mehr als nur das Notwendigste erkennen möchte. Bislang gab ich mich damit zufrieden, dass ich nicht gegen die Mauer laufe, überhaupt meine Zahnbürste finde und in die halbwegs zutreffende Richtung blicke, wenn ich jemandem »Auf Wiedersehen« sage. Ab sofort will ich so intensiv wahrnehmen, wie es möglich ist. Es ist, als ob ich jedes Zimmer zum ersten Mal betrete.
Mich selbst erfahren Doch wie gelangt man zur Wachheit, die einen im Augenblick frei entscheiden lässt, was man wahrnehmen und worüber man nachdenken möchte? Es gelingt nicht durch den Kraftakt, möglichst viel auf einmal ins Bewusstsein aufzunehmen. Dies würde eher zu weiterer Zerstreuung führen. Indische Weise wie Gautama und Patañjali lehren eine zwanglose Konzentration auf eine Sache, die uns zur Mitte des augenblicklichen Bewusstseins wird. Wer eine Gegebenheit wirklich so erfährt, wie sie ist, steht schon an der Schwelle, die ganze Fülle der Wahrheit zu erleben. Dazu muss man sich Zeit nehmen und den Willen aufbringen, an der Erfahrung seiner selbst zu arbeiten. Die Konzentration, von der hier die Rede ist, muss sich nicht auf bestimmte Objekte richten. Alles, was sich wahrnehmen lässt, taugt im Grunde zur Übung. Man beginnt mit einem Objekt, das man möglichst bewusst wahrnimmt, und erfasst vom ersten kleinen Ausschnitt fortschreitend immer weitere Aspekte der Wahr-
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heit. Was um einen geschieht und in einem vorgeht, erschließt sich zunehmend, wodurch die eigene Wirklichkeit immer mehr in Einklang mit der umfassenderen Wahrheit kommt. Was vorher vielleicht als Chaos erschien, wird zur überschaubaren Ganzheit. Wenn man ein wenig übt, seine Wahrnehmung, wie oben geschildert, nach außen zu wenden, empfiehlt sich als nächster Schritt die Beschäftigung mit einem speziellen Aspekt der Frage Wer bin ich?, nämlich mit unserem Körper: Er steht meist außerhalb des Bewusstseins. Gleichgültig, was wir denken, sehen oder hören, was immer unsere Aufmerksamkeit beansprucht, wir vergessen dabei unseren Körper. Er ist nicht präsent, während wir in diesem Buch lesen, er wird vergessen, während wir Auto fahren, und sogar bei einer ganz fleischlichen Tätigkeit wie dem Essen ist er selten im Bewusstsein. Wir reservieren uns nun zehn Minuten am Tag, um uns über das Medium des Körpers an uns selbst zu erinnern. Dabei kehren wir die Aufmerksamkeit, die sonst häufig nach außen oder auf einzelne Gedanken gerichtet ist, derart um, dass wir selber zu deren Objekt werden. Dabei folgen wir Gautama, der im Buch Majjhimanikâya das oben schon kurz erwähnte Experiment vorschlägt, einige Zeit den Fluss des Atems zu verfolgen: »Im Wald, unter einem Baum oder im leeren Raum sitzt man, den Oberkörper gerade, und man beginnt mit dem Üben der Achtsamkeit. Achtsam atmet man ein und aus. Atmet man lang ein, ist man sich bewusst, wie man lang einatmet; atmet man kurz ein, ist man sich bewusst, wie man kurz einatmet; atmet man lang oder kurz aus, ist man sich bewusst, wie man lang oder kurz ausatmet.« Die Übung wirkt äußerst simpel. Man sitzt einfach einige Minuten ungestört und erfährt aufmerksam, wie man atmet. Ist es flach oder kurz, tief oder lang? Dabei soll der Atem in keiner Weise manipuliert werden. Er wird lediglich so beobachtet und registriert, wie er kommt und geht. Wer es wirklich versucht, wird merken, wie schwer doch ist,
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was auf den ersten Blick so einfach scheint. Vielleicht will es nicht einmal gelingen, wenige Minuten still zu sitzen, um sich dem Atem zuzuwenden. Schafft man das Sitzen, ohne allzu zappelig zu werden, mag man sich vielleicht kurz auf das Fließen des Atems konzentrieren. Aber wie schnell findet man sich in seinen Tagträumen und üblichen Assoziationsketten wieder? Und wenn es gelungen ist, die Aufmerksamkeit tatsächlich ganz beim Fließen des Atmens zu halten, will es plötzlich mit dem reinen Beobachten nichts werden. Obwohl man weiß, dass es nicht Zweck der Übung ist, verändert man den Rhythmus des Atems. Die Veränderung, die man vermeiden möchte, schleicht sich dennoch ein, und es will gar nicht gelingen, einfach nur zu spüren: Ich atme ein und atme aus. Weshalb diese Schwierigkeit, wenn wir einen einfachen Vorgang bei uns selbst beobachten wollen? Vielleicht finden wir unseren eigenen Atem und die Tatsache unserer körperlichen Existenz nicht spannend genug, dass wir uns tatsächlich damit beschäftigen wollen. Einiges spricht dafür. Wir scheinen alles andere mehr zu schätzen als unser bloßes Dasein. Während wir nach äußeren Sensationen Ausschau halten, haben wir vergessen, welches Wunder unsere eigene Existenz darstellt. Wir befinden uns sogar eher auf der Flucht vor uns selbst, vor unserer Wahrheit, in einen buntem Wirbel von Wahrnehmungen, Gedanken, Erinnerungen und Tagträumen. Beim stillen Sitzen und reinen Beobachten unseres Atems wären wir ganz allein mit unserer Gegenwart. Wir hätten nur uns selbst und diesen einzigartigen Moment. Aber genau das ist zu viel für uns. Wir würden lieber aufstehen und einige Belanglosigkeiten mit irgendjemandem austauschen oder uns als pflichtbewusste Zeitgenossen einer produktiven Arbeit widmen, bei der wir uns selbst vergessen dürfen, als mit uns alleine zu sein, um das eigene Wesen kennen zu lernen. Meine Angst vor mir selbst ist so groß, dass sie mich glauben lässt, ich könnte anderes tatsächlich in einer tiefen Weise wahr-
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nehmen und verstehen, obwohl ich es nicht einmal schaffe, mein elementares körperliches Dasein zur Kenntnis zu nehmen. Ich höre dem Kollegen gebannt zu und verfolge im Fernsehen den Börsenbericht. Aber dieses Ich, was all dies tut, mag sich selbst nicht wahrnehmen. Dabei wäre das Erleben meiner eigenen Gegenwart die innere Mitte, von der alles andere weitaus überschaubarer, klarer, deutlicher und bewusster würde. Doch weshalb soll ausgerechnet mein Ein- und Ausatmen so geeignet sein, diese innere Mitte herzustellen? In der Tat könnte es auch irgendeine andere Tätigkeit wie das Joggen sein, in der ich ganz mit mir und bei mir bin. Allerdings hält die klassische Literatur Indiens den Atem aus vielerlei Gründen für besonders geeignet. Davon war bereits im Kapitel über die Wege des Erwachens die Rede. Ein Mythos aus den Upaniśaden taugt hier zur Illustration: Einst lagen das Sehen, das Hören, das Denken, der Geschlechtstrieb und das Atmen im Streit miteinander. Jeder von ihnen behauptete, am wichtigsten für das Leben zu sein. Weil sie sich nicht einigen konnten und jeder auf seiner Bedeutung beharrte, kamen sie schließlich überein, dass nacheinander jeder für ein Jahr den Körper verlassen sollte. Auf diese Weise würde sich herausstellen, auf wen man am ehesten verzichten könnte. Als das Sehen und das Hören austraten, erschwerten Blindheit und Taubheit das Dasein, doch es ließ sich leben. Auch konnte man es ohne das Denken – was vielleicht mancher gar nicht vermisste – und sogar frei vom Trieb aushalten. Aber als schließlich der Atem den Leib auf ein Jahr verlassen wollte, protestierten die anderen vier in Panik. Sie wussten, dass es das Ende aller gewesen wäre. Der Mythos zeigt, wie man in Indien den Atem für die zentrale Funktion unseres Lebens hält, weil er die kontinuierliche Grundlage alles anderen bildet. Ich kann fasten und einige Zeit ohne Nahrung sein, ohne dass Gefahr droht. Doch gleichgültig, ob
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ich wache oder schlafe, ich muss atmen. Versiegt dieser unmittelbarste Ausdruck des Lebenswillens, endet mein Dasein. Ich bin immer ein Atmender, jede andere Rolle spiele ich nur vorübergehend. Aus diesem Grunde würde mancher indische Meister sagen, dass nicht »ich atme«, sondern das Dasein »mich atmet«. Dies hat auch insofern Berechtigung, als der Atem immer dahinfließt, ohne dass ich absichtlich etwas dafür tun oder mich in irgendeiner Weise anstrengen müsste. Zwar gibt es weitere notwendige Prozesse für das Funktionieren des Körpers. So schlägt das Herz während der ganzen Zeit meines Lebens. Doch unterscheidet sich der Atem durch seine Zwitterstellung von allen anderen Vorgängen. Einerseits vollzieht er sich ohne meine Mitwirkung unbemerkt und automatisch: Denke ich nicht an ihn, fließt er tief und ruhig oder kurz und hektisch, wie es gerade meinem physischen und emotionalen Befinden entspricht. Andererseits bin ich aber in der Lage, ihn absichtlich zu steuern, wenn ich ihm meine Aufmerksamkeit zuwende. Dies entspricht ganz meiner Wirklichkeit als Mensch, in der ich stets an der Grenze zwischen Passivität und Aktivität in die eine oder andere Richtung schreite. Mein Befinden schwankt zwischen den Empfindungen, das Leben frei zu gestalten und ein Opfer von Zwängen und Umständen zu sein. Derart bietet sich der Atem als Übungsobjekt an, wenn ich in die Mitte meines eigenen Daseins gelangen möchte. Als grundlegende und immerwährende Lebensfunktion wie als Brücke zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein, Automatismus und absichtlicher Steuerung bildet er das natürliche Zentrum meines Daseins. In der oben nach Gautama geschilderten Übung wird das Fließen des Atems betrachtet, ohne ihn zu manipulieren. Man möchte im bloßen Beobachten des Vollzugs Wachheit und Freiheit erfahren, indem man erlebt, was man jetzt, immer und unmittelbar ist: Ich sitze hier als Atmender, also in genau der Rolle, die ich spielen werde, solange es mich gibt. Ungeteilte Aufmerksamkeit begleitet das Strömen der Luft in den Leib und wieder heraus. Obwohl ich
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weiß, dass ich den Atem verändern könnte, lasse ich doch nur das geschehen, was von selbst passiert. In dieser reinen Gegenwart führt mich das Atmen unabhängig vom begrifflichen Denken in die Mitte der Wahrheit meines Lebens. Es zeigt mir, indem es ein dynamischer Prozess ist, wie ich immer im Werden und niemals »fertig« bin: Wie der Atem bleibt nichts in mir jemals stehen oder erreicht ein absolutes Ende. Wenn ich mich so erlebe, klärt sich frei von jeder Theorie auf unmittelbare Art ein Grundgesetz menschlichen Daseins: Mein Wesen ist von seiner Natur her Bewegung, besteht im Wandel. Ich bin niemals auf meine Gewohnheiten festgelegt, sondern habe stets zahlreiche Möglichkeiten, mich in verschiedenster Weise zu verändern. Im Atmen zeigt sich mir der Rhythmus dieser Dynamik des Daseins: Wie ich ausgewogen ein- und ausatme, hält sich in meinem Leben Nehmen und Geben überall die Waage: Flüssigkeit und Nahrung werden aufgenommen und verlassen den Körper in gewandelter Form. Besteht kein Gleichgewicht zwischen Anund Entspannung, passivem Wahrnehmen der Welt und Agieren, fühle ich mich unwohl. Sammle ich nur Besitz an, ohne ihn zu verwenden und etwas davon weiterzureichen, breche ich unter einer schweren Last zusammen. Stets gilt das Gesetz des Atems: Aufgreifen – Wandeln – Zurückgeben. Was ich aufgreife, verwandelt mich, wie ich es seinerseits verwandle. Wollte ich es dann festhalten, würde ich mich der Wahrheit verschließen, dass ich immer im Werden und in meiner Entfaltung niemals abgeschlossen bin, solange ich existiere. Wenn ich mich so atmend erfahre, erlebe ich ganz unmittelbar, was sich nach langem Nachdenken nur oberflächlich erschließt: Ich bin ein dynamisches Wesen, das nicht auf seine Gewohnheiten festgelegt ist. Soweit der Idealzustand der Übung, die allerdings eines systematischen Trainings bedarf.
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Einfach nur still sein Die Voraussetzung des meditativen Experiments der Atembeobachtung ist ein ruhiges Sitzen, bei dem ich von Ablenkungen weitgehend frei bleibe. Ich könnte diese Übung fast überall vornehmen: Nach dem Aufstehen auf der Bettkante, auf dem Bürostuhl am Schreibtisch, während der Mittagspause auf einer Parkbank. Die ersten Male, wenn ich noch besonders anfällig für Ablenkungen bin, werde ich darauf achten, dass mich kein Lärm stört. Ich nehme eine Sitzhaltung ein, die mir ermöglicht, ohne Anstrengung wach und konzentriert zu bleiben. Sie soll weder so entspannt sein, dass ich einschlafen könnte, noch so angespannt, dass meine Aufmerksamkeit vom Betrachten des Atems auf die zwanghafte Sitzhaltung gelenkt werden könnte. Nervösen und unruhigen Menschen fällt dies besonders schwer. Für manche Menschen unterstützt die klassische Meditationshaltung mit untergeschlagenen Beinen am Boden, wie sie in Indien gepflegt wird, das Üben. Beim Sitzen auf einem Stuhl nimmt der Körper vom Kopf bis zu den Füßen einen weiten Raum ein. Beim Sitzen am Boden findet er dagegen im Bereich der Lunge seine Mitte, genau dort, wohin die Achtsamkeit gelenkt werden soll. Das könnte der Konzentration helfen. Allerdings ist der Sitz am Boden in Europa nicht jedermanns Sache. Leicht kommt es zum Überdehnen der Sehnen oder Bänder, und der Druck auf die Gefäße hindert die Blutabfuhr aus den Beinen. So förderlich das Sitzen am Boden für denjenigen sein mag, der es leicht bewerkstelligen kann, so hinderlich ist es für jene, denen es zum schmerzhaften Zwang würde. Es stellt jedenfalls keine notwendige Bedingung dar und wäre im Gegenteil der Konzentration abträglich, wenn man sich Gewalt antun müsste. Es geht nur darum, in einen Zustand wacher Stille zu finden. Man sitzt dazu aufrecht, ohne den Rücken anzulehnen. Ein Anlehnen würde vielleicht zu stark entspannen und statt der erwünschten Konzentration könnte sich Schläfrigkeit einstellen. Die
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Wirbelsäule ist aufgerichtet, wobei ich durch ein sanftes Hin- und Herpendeln des Körpers in eine Haltung finde, in der ich frei von Anstrengung einige Minuten gerade sitzen kann. Der Kopf hängt nicht nach unten und wird nicht nach oben geneigt, sondern ruht in zwangloser Weise gerade auf den Schultern. Die Hände liegen im Schoß oder auf den Oberschenkeln, wobei die Arme weder total schlaff nach unten hängen, noch angespannt werden. Hat man diese wache Ruhe gefunden, kann man unverzüglich die Aufmerksamkeit auf den Atem lenken. Doch ist es häufig so, dass der Körper sich dagegen sträubt, einfach nur still dazusitzen. Er will sich bewegen, zappelt, lässt hier und da einen Juckreiz spüren, gegen den man sofort durch Kratzen vorgehen möchte. Mancher würde am liebsten sofort wieder aufstehen. Die Tatsache, dass wir dazu neigen, vor unserer eigenen Gegenwart davonzulaufen, macht sich auf diese Weise bereits beim Versuch eines einfachen Stillsitzens bemerkbar. Es stört uns, wenn wir uns nicht einer Tätigkeit widmen, bei der wir uns selbst vergessen können, indem die Aufmerksamkeit nach außen gerichtet ist. Uns selbst zu betrachten, widerspricht unserer Gewohnheit. Weil die innere Beschäftigung mit dem eigenen Körper die Unruhe also verstärken könnte, widmet man seine Aufmerksamkeit zunächst dem, was einen umgibt: Ich sitze einfach still und nehme wahr, was mein unmittelbares Blickfeld bietet. Um die Konzentration zu fördern, erzähle ich mir selbst in gedachten Worten, was ich sehe: Vor mir der Bildschirm meines Computers, dahinter an der Wand ein Foto hinter Glas in einem silbernen Rahmen. Es ist wichtig, wirklich nur zu sehen und zu beschreiben, was man sieht und sich nicht auf gedankliche Assoziationen einzulassen. Ich stelle fest, dass sich vor mir der Bildschirm befindet, ohne Überlegungen anzustellen, dass ich mich später an diesem Bildschirm dem jüngsten Exportbericht widmen werde. Auch das Bild an der Wand, wird einfach nur als das gesehen, was es ist. Das Motiv des Segelschiffs verleitet mich nicht dazu, Erinnerungen an vergangene Urlaube nachzugehen und dadurch in Tagträume ab-
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zugleiten. Ich bin bei meinem stillen Sitzen weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, sondern konzentriere mich rein auf das, was in diesem Augenblick ist: Hier sitze ich in genau dieser Umgebung. Nachdem ich eine oder zwei Minuten meine Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmungen des Blickfeldes gerichtet habe, gehe ich einen Schritt weiter auf dem Weg nach innen. Ich schließe die Augen. Allerdings konzentriere ich mich noch nicht sofort auf mich selbst, sondern widme mich zunächst dem, was an Geräuschen hörbar wird. Auch das registriere ich in Gedanken, ohne mich einem weiteren Nachdenken darüber zu ergeben: Ich höre das leise Summen des Druckers, der auf dem Tisch neben mir steht; vom Flur draußen vernehme ich Stimmen; durch das geöffnete Fenster kommt der Lärm eines startenden Motorrades herein. Nein, ich lasse mich nicht auf irgendeinen Gedanken ein, der sich mir anbietet: Der Frage, auf welche Motorradmarke das Startgeräusch hindeutet, gehe ich genauso wenig nach wie der Überlegung, weshalb ich selbst seit langer Zeit nicht mehr Motorrad gefahren bin. Wieder nehme ich einfach nur das wahr, was ist: Ich sitze hier, während ich dies und das höre. Vergangenheit und Zukunft interessieren mich in diesem Augenblick nicht. Allein mit mir und dem einzigartigen Moment gehöre ich ganz der Gegenwart – und sie gehört ganz mir. Man sollte für eine oder zwei Wochen täglich auf die geschilderte Weise verfahren, bevor man zur Aufmerksamkeit auf den Atem übergeht. Wenn man jeden Tag nur fünf Minuten dem stillen Sitzen und Wahrnehmen der Gegenwart reserviert, steigert sich rasch die Fähigkeit einer ruhigen Konzentration auf den Augenblick. Wichtig ist dabei die Regelmäßigkeit: Jeden Tag fünf Minuten zur gleichen Zeit helfen mehr, als einmal am Wochenende zwei Stunden zu versuchen, die Aufmerksamkeit auf den Moment zu zwingen. Es sollte bei diesem Experiment überhaupt nichts erzwungen werden. Nur still zu sitzen und einfach da zu sein, ist im
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Grunde die natürlichste Sache der Welt … wäre da nicht unsere Gewohnheit. Oft scheint es, der Körper unternähme alles, um zu verhindern, dass er fünf Minuten ruhig sitzen soll. Zum Juckreiz tritt plötzlich der geradezu zwanghafte Wunsch, die Beine auszustrecken. Ich komme gar nicht dazu, die Gegenstände in meinem Blickfeld gedanklich zu registrieren, weil sich ständig der Körper meldet, um mir zu signalisieren, wie unangenehm ich doch sitze und wie dringend ich hier Korrekturen vornehmen muss. Es gilt, in dieser Situation ganz gelassen zu bleiben. Wenn wir über uns selbst ärgerlich werden, weil wir nicht einige Momente in Ruhe verharren können, wird die Übung kontraproduktiv. Es geht keinesfalls darum, den vielen als unangenehm empfundenen Situationen, die das Leben bereithält, eine weitere hinzuzufügen. Darum soll man nicht gegen den Juckreiz oder den Bewegungsdrang mit innerer Gewalt ankämpfen. Es ist eher Humor gefragt: Darf das denn wahr sein, dass ausgerechnet ich nicht in der Lage bin, drei Minuten still zu sitzen, um nur zu sehen und zu hören, was mich umgibt? Bin ich nicht schon mit größeren Herausforderungen fertig geworden als der, kurz ruhig zu sein und mich trotzdem nicht innerlich auf Gedanken, Erinnerungen, Planungen oder Tagträume einzulassen? In der Tat ist es eine Herausforderung, die es anzunehmen gilt. Sind wir böse auf uns selbst, weil wir das nicht schaffen, ist das nichts anderes als eine weitere Flucht aus der unmittelbaren Gegenwart. Wir stehen uns dann bei der Suche nach unserer Wahrheit selbst im Weg. Statt uns über äußere oder selbst produzierte Störungen zu ärgern, bauen wir sie darum besser als unterstützende Elemente in die Übungen ein. Tritt ein starkes Jucken am Oberschenkel auf, werde ich nicht wütend darüber, dass ich mich schon wieder von meiner eigentlichen Aufgabe ablenken möchte. Ich nehme statt des Bildes mit dem Silberrahmen an der Wand vor mir nun einfach diesen Juckreiz wahr. Er ist ein Element meiner unmittelbaren Gegenwart wie jedes andere auch. Er gehört sogar mehr zu mir, zu meiner
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Wahrheit, als der Bildschirm auf meinem Tisch oder das startende Motorrad vor dem Fenster. Ich krümme nicht sofort die Finger, um die entsprechende Stelle am Oberschenkel zu kratzen, sondern beobachte den Reiz. Wo genau sitzt er? Wie fühlt er sich an? Wird er schwächer oder stärker, wenn ich ihn beobachte? – Auf diese Weise tue ich mit ihm genau das, wovon er mich ablenken möchte: Ich sitze wach in der Gegenwart und beobachte einfach das, was ist, um meine unmittelbare Wahrheit dieses Augenblicks zu erfahren. Wird der Juckreiz dennoch so stark, dass ich glaube, es gar nicht mehr ohne Kratzen aushalten zu können, werde ich immer noch nicht ärgerlich über meine innere Unruhe. Ich nehme wiederum einfach wahr, was gerade los ist und registriere es in Gedanken: Der Juckreiz wird immer stärker, und ich werde darum gleich meine rechte Hand bewegen, um diese Stelle am Bein zu kratzen. Dann bringe ich allerdings nicht hastig die Hand zum Einsatz, um der unerwünschten Störung ein rasches Ende zu bereiten, sondern nehme die entsprechenden Bewegungen bewusst langsam vor, um mit voller Aufmerksamkeit zu erleben, wie der Reiz verschwindet, oder welche sonstigen Empfindungen sich einstellen. Das Verlangsamen hilft beim bewussten Erfahren aller Vorgänge. Was sich gewöhnlich als unbemerkter Reflex abspielt, wird während der Übung zu einem Objekt bewusster Achtsamkeit. Immer wird das, was uns von der Konzentration ablenken könnte, selbst zu deren Thema und trägt so zu ihrem Aufrechterhalten bei. Gerade die scheinbaren Hindernisse können einen auf diese Weise voranbringen. Das gilt selbstverständlich gleichfalls für den Ärger, der aufsteigen kann, wenn die Übung nicht nach dem Idealplan gelingen will. Er ist zwar unerwünscht, aber nicht unerlaubt. Wenn ich ihm meine Aufmerksamkeit als Beobachter zuwende, sollte er schwächer werden, um schließlich ganz zu verschwinden. Genau an diesem Punkt zeigt sich, ob ich tatsächlich nur das beobachte,
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was ist, oder mich auf das Beobachtete mit meinen Gedanken und Gefühlen einlasse. Wende ich meine Achtsamkeit dem Ärger zu, dann nehme ich ihn lediglich wahr und registriere ihn: »Da ist ein ärgerliches Gefühl in mir.« Ich empfinde seine Intensität und erkenne die Inhalte, mit denen er verbunden ist. Aber ich nehme wirklich nur das wahr, was ist und lasse mich bewusst nicht darauf ein, knüpfe keine Gedankenreihen. Auf diese Weise wird der Ärger ein Objekt meiner Wahrnehmung. Ich sehe ihn, aber identifiziere mich nicht mit ihm. So gleicht er dann dem Bild mit dem Silberahmen an der Wand vor mir. Mein Blick kann darauf fokussiert sein oder sich auf den Bildschirm konzentrieren, der sich gleichfalls im Gesichtsfeld anbietet. Ich bin frei zu wählen, was ich wahrnehme. Sitzt man auf die geschilderte Weise täglich ein paar Minuten still, wirkt sich dies bereits auf das Wohlbefinden aus. Die Neigung zur Nervosität und Aufgeregtheit klingt ab. Man merkt, wie es gelingt, in Situationen Ruhe zu bewahren, in denen zuvor leicht die Wut aufstieg. Zudem schärft das Trainieren der Aufmerksamkeit die Fähigkeit zum bewussten Wahrnehmen. Als überaus wertvoller Nutzen wird sich beim regelmäßigen Versuch dieser Übung die Haltung einstellen, dass man das, was einem als Hindernis erscheint, ganz gut gebrauchen kann, um voranzukommen.
Im Atem sein Wird dabei täglich nur für zehn Minuten ruhig die Achtsamkeit auf das Atmen gelenkt, nimmt die Fähigkeit zur Konzentration mit Sicherheit zu. Immer intensiver lernt man sich selbst kennen, wenn man still sitzt, um sich zugleich Subjekt und Objekt sein. Man gelangt auf eine Weise mit seiner Wahrheit, seinem Existieren in Berührung, von der die klassischen Texte Indiens sagen, dass sie sich der Theorie und der Beschreibung entzieht. Einen ganz praktischen Nutzen wird die Übung darüber hinaus
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zeigen: Man kann klarer denken und absichtsvoller handeln. Wer lernt, bei der Sache zu bleiben, seine Aufmerksamkeit willentlich in diese oder jene Richtung zu lenken und dort nach Wunsch verweilen zu lassen, kann sehr viel leichter störende Gewohnheiten überwinden, wie etwa negative Gedanken durch positive zu ersetzen. Diese Atemübung, die so schwer und einfach zugleich ist, klärt mehr als jede Theorie, wer wir sind, und wie wir angemessen mit uns umgehen. Wichtig ist das Prinzip, Störungen in Hilfsmittel verwandeln zu können. Vorstellungen und Gedankenketten, die zeigen, dass die Konzentration das Atmen verließ, dürfen einen nicht verärgern. Das Bewusstwerden der Tatsache, dass man den Faden der Übung verlor, schenkt die Möglichkeit, wieder neu zu beginnen. Man registriert, was einen ablenkte, wodurch man es auch schon zur Seite legt und zwanglos zum Atmen zurückkehrt. Ich muss nicht alles annehmen, was an Vorstellungen oder Gedanken in meinem Bewusstsein auftaucht, sondern kann frei auswählen, womit ich mich beschäftigen möchte. Wie man in Bezug auf die Außenwelt weghören oder wegsehen kann, lässt sich im Inneren die Aufmerksamkeit von Gedanken und Tagträumen abziehen und auf andere Objekte konzentrieren. Es ist nicht zu umgehen, dass während der Atemübungen verschiedenste Vorstellungen aufsteigen, denn unser Bewusstsein ist immer in Bewegung. Gedanken kommen hervor, bewusste oder unbewusste Wahrnehmungen lassen innere Bilder entstehen. Wollte man diesen natürlichen Prozess unterdrücken, würde man einen ebenso aufreibenden wie unsinnigen Kampf aufnehmen. Ein sanfterer Weg ist angesagt: Allein meine Schwäche veranlasst mich, aufsteigende Vorstellungen anzunehmen und zum Ausgangspunkt langer Tagträume und wirrer Assoziationen zu machen. Ich habe jedoch die Freiheit, schlicht festzustellen: »Diesen Gedanken habe ich unabsichtlich aufgegriffen. Ich lasse ihn los und wende meine Aufmerksamkeit wieder dem Atmen zu.« Dieser Impuls wird mich ohne innere Kraftakte zu meiner ursprünglichen Absicht zu-
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rückführen. Sogar wenn einem die Übung inzwischen vertrauter ist, mag man immer wieder entdecken, dass man den Atem vergisst, um in Erinnerungen, Sorgen, Träume und Gedanken abzugleiten. Es kann auch geschehen, dass man durch Durststrecken zu gehen glaubt, Lust am Üben verliert und aufgeben will. Dann sollte man sich die Herausforderung bewusst machen, vor der man kneift: Ich bin sicher nicht Herr meiner selbst, wenn ich meine Aufmerksamkeit nicht auf den natürlichsten Vorgang in meinem Körper lenken kann. Die Aufmerksamkeit auf den Atem zu richten, ist ebenso ungefährlich wie wirksam. Nur wenn ernsthafte physische oder psychische Schwierigkeiten bestehen, die sich auf den Atemrhythmus oder die Lunge auswirken, sollte man die Absicht zur Übung mit seinem Arzt besprechen. Da keine natürlichen Vorgänge gewaltsam manipuliert werden, kann die Übung im Grunde jedermann ohne irgendwelche negativen Folgen vornehmen. Es geht nur darum, das zu erkennen, was ohnehin da ist.
Gefühl und Gedanken Die Aufmerksamkeit, die man beim Atmen trainiert, lässt sich, wie im Zusammenhang mit der Übung wiederholt angesprochen, auf viele Aspekte unseres Innenlebens richten, um Erkenntnisse über uns zu gewinnen. Die folgenden Gedanken dazu gründen auf Ratschlägen Gautamas aus dem Buch Majjhimanikâya. Zu verschiedenen Gelegenheiten kann man sich fragen: »Wie fühle ich mich gerade?« Die Antwort soll dabei nicht in weitschweifigen Analysen münden, weshalb wir uns so oder so fühlen. Wieder geht es nur um das Registrieren dessen, was ist. Fühlt man sich angenehm oder unangenehm, oder befindet man sich in einem neutralen Zustand, der weder als positiv noch als negativ empfunden wird?
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Das bloße Bewusstwerden, ohne zu werten oder zu verändern, was man erkennt, ist wiederum schwieriger als man vermuten würde. Fühlen wir uns schlecht, neigen wir dazu, einem bestimmten Umstand oder Menschen die Schuld daran zuzuschreiben. Indem wir die Verantwortung für unser Gefühl nach außen delegieren, fliehen wir vor dessen bewusstem Erfahren und lassen zudem wenig hilfreiche Gedanken der Wut oder des Hasses zu. Es kommt dann leicht zu einem Teufelskreis aus übler Laune und dem Ärger darüber, der die Laune weiter verschlechtert. Auch negative Gefühle, die sich tatsächlich als Folge äußerer Umstände einstellen, sind letztlich nicht anderes als die eigene Reaktion auf das Geschehene. Wir können nicht erzwingen, dass die Umstände unseren Wünschen entsprechen und sich jeder so verhält, dass seine Worte und Handlungen immer gehobene Stimmung bei mir bewirken. Doch ich kann ganz sicher an meinen Gefühlen arbeiten. Jedes Gefühl verändert unser Wahrnehmen und färbt unser Denken, Reden und Handeln auf seine Weise. Leichter als bei mir selbst erkenne ich oft bei anderen, dass sie übel gelaunt sind. Doch wie ich es bei ihnen beobachte, handele ich selbst ebenso aus negativen oder positiven Stimmungen heraus. Wahrscheinlich halten mich andere deswegen für ungerecht oder unberechenbar. Aus einer angenehmen Stimmung neige ich wahrscheinlich eher zum Akzeptieren von Dingen, die ich bei übler Laune von mir weise. Ein unangenehmer Gefühlszustand lässt mich sogar die Menschen, die mir am nächsten stehen, ungnädig behandeln. Natürlich mache ich mir das nicht bewusst. Ich will das Schwanken meiner Gefühle gar nicht als eigenes Problem wahrnehmen, sondern flüchte mich in allerlei Begründungen. Allerdings hat mich tatsächlich noch nie ein anderer Mensch oder ein bestimmter Umstand geärgert oder gefreut. Ich bin es, der die entsprechenden Empfindungen aufkommen lässt. Gautama regte an, Stimmung einfach so zu erfahren, wie sie
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ist. Ohne den Blick nach rückwärts, der in einer Schuldzuweisung endet, und ohne Flucht nach vorwärts in blindes Handeln. Ich frage mich mehrmals täglich: »Wie fühle ich mich?« Dann stelle ich nüchtern fest, ob die Antwort »neutral«, »gut« oder »schlecht« lautet. Ich kann mein Gefühl dann bewusst erleben, so wie ich den Atem erfahre. Ich bin bei mir und erlebe meine Wahrheit, ohne sie zu analysieren, zu begründen oder komplizierte Gebäude darum zu errichten. Es genügt, die Aufmerksamkeit grundsätzlich auf diese Dimension unserer Wahrheit zu lenken. Nach einiger Zeit wird die Frage, wie ich mich fühle, gar nicht mehr gestellt werden müssen. Zunehmend wird mir zu verschiedensten Anlässen bewusst, wie ich mich fühle. Unangebrachte Euphorie wird von selbst gedämpft, ebenso die schlechten Launen. Das zu den Gefühlen Gesagte lässt sich auf alles anwenden, was in mir vorgeht. Welche Vorstellungen, Tagträume und Erinnerungen beschäftigen mich? Was denke ich momentan eigentlich? Gerade in Zeiten, in denen ich mechanisch sehr vertrauten Beschäftigungen nachgehe, lohnt sich die Frage: »Was geht in mir vor?« Meine Gedanken und Absichten tragen wesentlich dazu bei, dass ich zu dem werde, der ich bin. Wird es zu meiner Grundhaltung, den Blick nach innen zu richten, um ohne Bewerten und Verändern einfach zu sehen, was in mir vorgeht, wird das Leben wacher. Ich erfahre, wer ich wirklich bin. Mein Inneres wird nicht zur Spielwiese sich aufdrängender Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gedanken. Ich entscheide frei, welche Motive mit Absicht aufgenommen und verfolgt werden. Diese bewusst gewählten Impulse richten unser ganzes Denken, Reden und Handeln entsprechend aus. Die tägliche Zeit der Meditation dient dem Vertiefen des Gewahrwerdens und dem Finden meiner Mitte. Was ich hier erfahre, lässt sich zunehmend auf andere Momente des Lebens ausdehnen. Wie das Atmen, obwohl es die Basis meines Daseins ist,
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meist unbewusst vollzogen wird, gibt es viele Handlungen, die normalerweise kaum beachtet werden, aber wichtige Elemente meines Lebens sind. Weil jeder Augenblick einzigartig und unwiederbringlich ist, erhält jede kleine Tätigkeit eine große Bedeutung. In aller Routine kann ich mich deshalb fragen: »Was tue ich eigentlich gerade? Wie tue ich es? Wie fühle ich mich dabei?« Wenn ich am Morgen die Tube meiner Zahnpasta aufschraube, bin ich mir des Vorgangs in der Regel ebenso wenig bewusst wie wenn ich zum Einschalten meines Computers den entsprechenden Knopf drücke. Es sind kleine – scheinbar ganz unwichtige – Tätigkeiten, bloße Mittel zum Zweck. Aber zu welchem Zweck? Wahrscheinlich habe ich noch nicht darüber nachgedacht, wie viel Zeit meines Lebens ich damit zubringe, den Schraubverschluss der Zahnpasta zuzudrehen und den Computer einzuschalten. Würde ich diese täglichen Sekunden addieren, käme ich auf Stunden oder gar Tage, die diesen Mitteln zum Zweck gewidmet sind. Und wenn ich viele andere Mittel noch dazu zählen würde wie das Binden der Schuhe, das Umlegen des Lichtschalters, das Duschen, Verstellen des Thermostates … Wenn ich all die Zeit, die ich solchen Mitteln zum Zweck widmen muss, unbewusst verstreichen lasse, bringe ich mich um den großen Teil meines Lebens. Es geht dabei nicht um die Frage, ob man sich stets jeder lästigen Pflicht klar bewusst werden soll. Das morgendliche Drehen des Schraubverschlusses ist sicher kein herausragendes Erlebnis. Aber herausragen, existieren, muss ich! Vielleicht bereite ich beim Drehen des Schraubverschlusses jeden Morgen bewusst wichtige Gesprächstermine vor und kann dem Tun meiner Hände deswegen keine Aufmerksamkeit widmen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass ich – sobald ich das Bad verlasse – weder weiß, wie meine Hände den Schraubverschluss bewegten, noch die geringste Ahnung davon habe, was ich vor während und nach dem Zähneputzen dachte. Das messbare Ergebnis ist gegeben: Die
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Zähne sind sauber. Aber die Lebenszeit ist verschwunden, als wäre sie nie gewesen. Es ist meine freie Entscheidung, wie ich mein Innenleben gestalte. Ich kann die Zeit verfliegen lassen, obwohl ich doch immer etwas schaffe, was man vorzeigen kann. Ich kann aber auch in der Mitte dessen sein, was ich gerade mache. Wenn mir das morgendliche Drehen des Tubenverschlusses nicht zum Anlass eines Freudengefühls wird, dass es mich überhaupt gibt, ist dies ebenso meine Wahl wie das Missbehagen darüber, dass mein Partner heute frei hat und länger schlafen kann. Ich könnte ihm das in meiner inneren Freiheit auch von Herzen gönnen und würde mich sicher wohler dabei fühlen. Unser Leben gleicht einem Mosaik aus vielen einzelnen Teilen. Wir haben uns zur Gewohnheit gemacht, die wenigen großen Steine – das Wesentliche – zu schätzen und den vielen kleinen Steinchen, ohne die das Bild unserer Wahrheit nur stümperhaftes Stückwerk bliebe, wenig oder keine Aufmerksamkeit zu widmen.
Zusammenfassung • Nur wenn ich alle Möglichkeiten kenne, habe ich die freie Wahl. Statt mich in vielen parallelen Wahrnehmungen zu verlieren, ist es wichtig, das Bewusstsein zu konzentrieren und in das Zentrum dessen zu gelangen, was geschieht. Wer nicht aus der Mitte seines voll erlebten Daseins agiert, wird öfter das Opfer seiner eigenen Fehlentscheidungen sein. • Jeder Moment, den man verstreichen lässt, ohne sich dessen Einzigartigkeit bewusst zu sein, ist verlorene Lebenszeit. Wer wacher wurde, zur eigenen Wahrheit fand und mit ihr im Einklang steht, erlebt den Augenblick bewusster und in neuer Qualität. • Jede Tätigkeit, bei der ich ganz im Einklang mit mir stehe, hilft mir, den Weg in die Mitte zu finden. Besonders geeignet zur
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Übung ist hierfür das Atmen, das eine zentrale Funktion unseres Lebens darstellt. Bewusstes Atmen verbessert die Konzentration, schärft das Denken und stärkt das Handlungsbewusstsein.
Fragestellungen für die Praxis Achtsamkeit in allen Sinnen Wenn ich meine Achtsamkeit trainieren möchte, sollte ich dies mit allen Sinnesorganen tun, indem ich gerade das mir Vertraute in neuer Weise erfahre: Wie klingt die Stimme des Partners eigentlich? Vielleicht so gewohnt wie der aktuelle Klingelton meines Telefons. Ich muss endlich wieder richtig hinhören. Wahrscheinlich muss ich auch einmal wieder hinschmecken: Denn mir fällt nur noch auf, wenn etwas außergewöhnlich gut oder außergewöhnlich schlecht schmeckt. Das Gewohnte ist vielleicht längst vergessen. Man sollte es eine Woche mit einem solchen Training versuchen, indem man sich mehrfach am Tag fragt, wie die unmittelbare Umgebung beschaffen ist. Welche Wände haben die Räume, die ich betrete, wie fühlt es sich an, auf gerade diesem Sessel zu sitzen, wie sieht die Tastatur des Computers aus, auf der ich so selbstverständlich schreibe? Wie klingen die gewohnten Stimmen und Töne, wie sitzen die Kleider? Wo bin ich gerade, und wie ist eigentlich das Treppengeländer beschaffen, das meine Hand seit Jahren ganz selbstverständlich berührt? Das Ziel ist nicht, ab sofort bei jedem Gang durch den dritten Stock besonders das Bild der Seeschlacht zu bewundern oder bei allen Notizen, die wir uns machen, stets genauestens zu registrieren, wie sich der Kugelschreiber anfühlt. Aber indem wir grundsätzlich lernen, die Aufmerksamkeit auf bislang nicht wirklich Wahrgenommenes zu richten, ändern wir unsere grundle-
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gende Einstellung: Wir schaffen uns selbst Raum in der Mitte des Lebens, melden uns als Anwesende in solchen Augenblicken, in denen wir bislang meist als Abwesende glänzten. Wenn wir ein- oder zweimal den Flur des Bürohauses, die Schlafzimmertapete oder die Türklinke aufmerksam wahrnahmen, dürfen sie wirklich uninteressant für uns werden. Bei routinemäßigen Wegen ist es oft höchst angebracht, wenn unsere Gedanken ganz andere Bahnen gehen. Doch steigert der gelegentliche Augenmerk auf Alltägliches unser Bewusstsein für den Wert eines jeden Moments und erhöht unsere Wachheit. Auf diese Weise gewinnen wir auch das Vermögen, mit unseren Gedanken bei der Sache zu bleiben und uns nicht in einer wilden Kette dumpfer Tagträume zu verlieren. Es gilt, dahin zu kommen, dass wir wirklich entscheiden können, wohin wir unsere Achtsamkeit wenden wollen. Wir sind dann nicht mehr in heillos viele Wahrnehmungen aufgesplittert, sondern ordnen alles aus jener Mitte, die uns Überblick schenkt.
Achtsamkeit im Atem Wer es mit der oben geschilderten Atemübung versuchen möchte, findet nachfolgend noch einige Anregungen zur Praxis. Wahrscheinlich wird es schwierig sein, ein unmittelbares Gewahrsein des Atemflusses herbeizuführen, weil man diesen, sobald sich die Aufmerksamkeit auf ihn richtet, verändern will. Dann wieder schafft man es gar nicht erst, überhaupt konzentriert beim Ein- und Ausatmen zu bleiben. Oft bemerkt man erst nach längerer Zeit, wie man gar nicht mehr bei sich ist, sondern sich gerade fragt, warum die Kollegin aus dem Büro gegenüber heute morgen so viel weniger freundlich als gewohnt grüßte. Bevor man sich deswegen ganz auf den Atemfluss selbst konzen triert, kann es hilfreich sein, einen Zwischenschritt einzuschalten, der die Konzentration fördert. Man zählt still die einzelnen Atemzüge. Indem dabei Zahlen, also Begriffe, verwendet werden, han-
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delt es sich um kein unmittelbares Gewahrsein des Atems. Doch soll die geringe gedankliche Aktivität vorbeugen, dass man allzu weit vom Objekt der Konzentration abkommt oder sich mit einer Veränderung des Atemflusses beschäftigt. Man zählt beim ersten bewussten Einatmen innerlich »Eins«, beim Ausatmen »Zwei«, beim nächsten Einatmen »Drei«, beim Ausatmen »Vier«, bis man bei »Zehn« ankommt. Dann beginnt man das Zählen wieder bei »Eins«. Das jeweilige Ein- und Ausatmen soll mit der entsprechenden Zahl wahrgenommen und registriert werden, um auf diese Weise das Auftauchen, Aufgreifen und Weiterspinnen anderer Inhalte auszuschließen. Ist das Bewusstsein vom Zuordnen einer Zahl eingenommen, muss es sich nicht mit Korrekturen im Rhythmus des Atemflusses befassen. Ärger über das eigene Unvermögen zur Konzentration ist nicht angebracht. Dass man auf diese Weise während der fünf Minuten, die man sich täglich für diese Übung reservierte, immer wieder neu einsetzen muss, mag in der Anfangsphase nicht die Ausnahme sein, sondern die Regel. Es lohnt sich aber, diese Herausforderung anzunehmen und sich nicht schon nach drei Tagen geschlagen zu geben. Eine echte Erkenntnis der eigenen Wahrheit ist es bereits, wenn man sieht, wie schwer einem fällt, was eigentlich ganz einfach sein sollte: Solange es mich gibt, atme ich. Nun möchte ich mir lediglich etwas bewusst machen, das schon immer zu mir gehörte. Auf die gleiche Weise, wie ich aufmerksam einen Film verfolgen kann, müsste ich eigentlich auch das ohne Zwang und Willensanstrengung schaffen. Fällt es mir dennoch schwer, zeigt mir das, wie weit ich vor meiner eigenen Wahrheit davon gelaufen bin. Sobald ich das Zählen als Brücke zur Konzentration aufgeben kann, rückt das Fließen des Atmens in die Mitte der Aufmerksamkeit. Ich erlebe mich in den Minuten des Übens ganz als atmender Mensch, wobei alles andere als unwichtig zurücktritt. Es war oben davon die Rede, dass der Ärger durch seine reine
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Wahrnehmung objektiviert wird und damit als ein Gegenstand erscheint, dem ich mich – so wie dem Bild an der Wand – widmen kann oder auch nicht. Beim Wahrnehmen des Atmens gibt es diese Spaltung in Subjekt und Objekt nicht. Ich kann mich nicht davon trennen. Der Beobachter und das Beobachtete sind eine natürliche Einheit: Ich erlebe mich als Atmender, bin selbst dieses Atmen. »Ich atme« stimmt ebenso wie »Es atmet mich«. In klassischen Übungsanweisungen finden sich verschiedene Möglichkeiten, wie man derart konzentriert im Atemfluss sein kann. Man mag das leichte Heben und Senken der Bauchdecke oder des Brustkorbes erfahren oder die Atemluft am Nasenflügel spüren. Auch kann man bewusst den Weg der Luft in die Lunge und wieder heraus verfolgen. Man muss hier seinen eigenen Zugang finden. Ob man dies geschafft hat, wird sich darin zeigen, dass man einige Atemzüge lang nur diese im Fokus der Aufmerksamkeit hat, ohne dass andere Bewusstseinsinhalte eine Rolle spielen. Diese mögen weiterhin vorhanden sein. Man registriert die Stimmen aus der Ferne, aber sie bleiben weit weg und bilden keine Versuchung, über ihre Urheber nachzudenken. Je länger es gelingt, ganz im oder mit dem Atem zu sein, umso tiefer gelangt man in seine eigene Wahrheit, in die Mitte seiner selbst. Am Anfang ist es schon ein Erfolg, das zwei- oder dreimalige Ein- und Ausatmen ohne die Hilfe des Zählens bewusst zu erfahren. Vielleicht kann man einige Wochen oder Monate später fünf oder zehn Minuten die Aufmerksamkeit mehr oder weniger zwanglos beim Atmen halten. Auf diese Weise erfahre ich zunehmend, wer ich bin. Die Atemübung verspricht keine nach kurzer Zeit messbaren Erfolge oder an äußeren Errungenschaften unfehlbar erkennbaren Resultate. Aber die erstrebte Selbsterkenntnis stellt sich durch die regelmäßige Praxis ein. Es nützt wenig, sich einmal im Monat einer Gewaltkur im mehrstündigen Stillsitzen zu unterwerfen. Man kann sich nicht gezwungen auf den Atem konzentrieren.
Kapitel 6
Pflicht und Freiheit
»Nichts hast du schlecht gemacht, auch was du machtest schlecht, es half dir, dass du nur was andres machtest recht. Du hättest nur vielleicht dem Unverstand verschweigen das Eine sollen und allein das Andere zeigen. Man sieht den Weg dich gehen, nicht bloß am Ziel dich stehn, und immer lehrreich ist, auch jenes anzusehn.« Die Weisheit des Brahmanen
Grenzen und Möglichkeiten Die Versuchung des Fatalismus Das Mahâbhârata wird dem Weisen Vyâsa zugeschrieben, der selbst in der Handlung des Werks vorkommt. Historisch gesehen erstreckt sich die Entstehung des monumentalen Epos jedoch über mehr als acht Jahrhunderte, bis es vor 1600 Jahren in der heutigen Gestalt vorlag. Was Barden auf öffentlichen Plätzen sangen und oft bearbeiteter Stoff bedeutender Dichter von Kâlidâsa bis Thakur war, liefert in Indien bis heute Material für Fernsehsendungen und Kinofilme. Die Beliebtheit des Epos hängt am Reichtum der Handlung wie an den vielfältigen Anregungen, die davon für alle Lebensbereiche ausgehen. Das Epos schildert in der Haupthandlung den Konflikt zwischen den eng verwandten Geschlechtern der Kaurava und Pândava. Die Feindschaft beider Familienzweige, die im Lauf der Geschichte immer dramatischer wird, mag auf Kriegen in der Frühzeit der Geschichte des Subkontinents beruhen. Doch wurde sie im Lauf der Ausgestaltung des Epos immer mehr zu einer Metapher für den
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Kampf zwischen Wahrem und Falschem, Gutem und Schlechten sowie für den sogenannten Lebenskampf überhaupt. Alle zentralen Motive der Tradition und Philosophie Indiens fanden während der langen Entstehungsgeschichte Eingang in die Dichtung. Die Konfliktpartei der Pândava wird von fünf Brüdern angeführt, deren ältester, König Yudhisthira, ein Gelübde ablegte, niemals vor einer Herausforderung zu kneifen. Dies machten sich die Kaurava zunutze und luden ihn zu einem Würfelspiel ein, bei dem sie ihm durch Betrug alles abnehmen wollten, was er besaß. Wegen seines Gelübdes musste er die Herausforderung zum Spiel annehmen. Das böse Vorhaben gelingt, und die Pândava-Brüder verlieren alles, was sie besitzen, ihr Königreich samt Hab und Gut. Als Verlierer müssen sie sich zudem für zwölf Jahre in den Wald zurückziehen. Eine Szene im dritten Buch des Mahâbhârata handelt von ihrem bescheidenen Leben im Wald, die als ein inhaltlicher Schlüssel der ganzen Geschichte erscheinen kann. Während Yudhisthira sich mit seinem Schicksal als Besiegter abzufinden scheint, redet seine Frau Draupadi ihm ins Gewissen: »Jene, die an Vorbestimmung glauben, und jene, die auf den Zufall spekulieren, irren sich, denn sie lassen die Anstrengung außer Acht.« Etwas später erklärt sie dann: »Drei Kräfte bringen ein Resultat zustande: Schicksal, Zufall und Anstrengung. Die Anstrengung ist die Bedingung alles Guten.« Draupadi möchte den König und seine Brüder motivieren, für das verlorene Reich und die Wiederherstellung der Gerechtigkeit zu kämpfen. Es mag Bestimmung und Zufall geben, die einem ein hartes Los auferlegen. Oft ist es notwendig, in einer unliebsamen Situation einfach auszuhalten. Doch immer lassen sich durch eigene Anstrengungen sogar Umstände retten, die aussichtslos erscheinen, wenn man der Versuchung des Fatalismus widersteht. Der bengalische Weise Ramakrishna erzählte diesbezüglich folgende Geschichte: »Drei Männer gingen durch den Urwald, als plötzlich ein wilder Tiger auftauchte, der sie offensichtlich angreifen wollte.
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Der erste Mann klagte: ›Unser Schicksal steht fest. Dieser Tiger wird uns alle zerreißen.‹ Der zweite sprach: ›Lasst uns gemeinsam beten, damit Gott uns rettet.‹ Der dritte meinte: ›Wozu Gott belästigen? Wir wollen schnell auf Bäume klettern!‹« Weder der Fatalist, noch der Fromme hätte eine Chance zum Überleben gehabt, sondern allein jener, der im Auge behielt, was man unmittelbar tun konnte. Die bescheidenste Aktion ist stets der Resignation und dem Fatalismus vorzuziehen. »Tu dein dir zukommendes Werk, denn Tun ist besser als Untätigkeit«, heißt es in der Bhagavadgîtâ, die ein Teil des Mahâbhârata ist. Was das konkrete menschliche Handeln betrifft, gibt es vor dem Hintergrund der indischen Klassiker im Grunde genommen drei Fragen, de sich jeder stellen muss: 1. Was muss oder soll ich tun? Hier ist die Leistung angesprochen, die ich zu erbringen habe, die Erwartungen, die andere und ich selbst an mich stellen. Es geht um meine Pflichten im weitesten Sinn: Von meiner Lebensaufgabe, der ich folgen muss, um ein gelungenes Dasein zu verwirklichen, bis hin zu den Aufträgen, die meine soziale Stellung und meine berufliche Position mit sich bringen. 2. Was setzt mir Grenzen? Selbstverständlich kann ich, sogar wenn ich meine Aufgaben vollends im Blick habe, nicht alles ausführen, wie ich will. Schließlich gibt es immer Limits und Beschränkungen, das Schicksal und den Zufall, von denen Draupadi im obigen Zitat sprach. Es gibt ebenso die Neider, die unsere Ehrlichkeit ausnutzen, um uns mit betrügerischen Methoden im Würfelspiel zu besiegen und wie wilde Tiger im Urwald auflauern. 3. Wie gestalte ich meinen Spielraum? Die dritte Frage widmet sich den Möglichkeiten, die ich im Spannungsfeld meiner Aufgaben und den jeweils gegebenen Beschränkungen habe. Ich kann
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den mich bedrohenden Tiger nicht wegzaubern und das verlorene Würfelspiel nicht ungeschehen machen, aber ich kann über die mir gegebenen Mittel nachdenken.
Die Pflicht Dass ich Pflichten habe und diese erkenne, ist ein wesentliches Motiv der indischen Klassiker. In den vorangegangenen Kapiteln war diesbezüglich wiederholt von der Lebensaufgabe die Rede, die ich entdecken und verfolgen muss, damit mein Dasein gelingt. Neben dieser sehr individuellen Herausforderung gibt es jedoch objektive Erfordernisse und Aufgaben, die von den alten Autoren betont werden. Im Mahâbhârata nach der Übersetzung von Friedrich Rückert lesen wir: »Pflicht ist das höchste Band, das hier die Guten bindet, Pflicht ist der Weg, auf dem man Glück und Ruhe findet.« Wer seine Pflichten nicht erfüllt, hat demnach keine Chance auf ein erfülltes Leben. Als wesentlicher Aspekt von Pflicht erscheint, dass man seinen Teil dazu beiträgt, das Leben und die Gesellschaft am Laufen zu halten. Entsprechend heißt es in der Bhagavadgîtâ: »Wer nicht hilft, das bewegte Rad der Welt weiterzudrehen, ist von schlechtem Wesen.« Die großen indischen Epen kreisen darum in vielfältiger Weise um das Thema der Pflicht. Die Bhagavadgîtâ berichtet vom Zweifel des Helden Arjuna vor der großen Entscheidungsschlacht zwischen den Kaurava und Pândava: Auch wenn es um vielfache Schmach wie das im Würfelspiel verlorene Reich geht, rechtfertigt das den Kampf? Der Lenker des Streitwagens, in dem Arjuna zur Schlacht fährt, ist kein geringerer als der Gott Krishna. Dieser belehrt Arjuna über die unbedingte Notwendigkeit der Pflichterfüllung: Als Angehöriger der Kriegerkaste darf er sich seiner Aufgabe nicht entziehen. Um die eheliche Pflicht geht es im großen Epos Ramayana. Sita, die Frau des Königs Rama wird auf die Insel Lanka ent-
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führt. Rama gelingt es zwar mithilfe des Affengottes Hanumans und seiner Affenheere, Sita zu befreien. Bald jedoch zweifelt er an Sitas Treue während der Zeit bei ihrem Entführer und trennt sich von ihr. Die Unschuldige und inzwischen Schwangere erträgt dies geduldig, ohne sich von ihrem Gatten loszusagen. Unbedingte Loyalität und Treue zum Partner, gerade bei Ungerechtigkeiten und Problemen ist die Botschaft dieses Werks. Diese beiden berühmten Beispiele für Pflichterfüllung sind natürlich stark von der indischen Kultur dieser Zeit geprägt, doch lassen sie sich auch metaphorisch lesen: Man hat eine bestimmte Rolle aus freien Stücken eingenommen, ist in den Kampf gezogen oder hat ein Jawort gegeben. Nun muss man zu seiner übernommenen Aufgabe stehen. Im dritten Buch des Mahâbhârata heißt es: »Wenn das Herz einen Plan beschloss und das Wort ihn bekannt gab, muss das Handeln ihn auch ausführen.« Das ist ein ganz wichtiges Motiv im indischen Denken: Es gibt keine unverbindlichen Funktionen und Positionen. Wer eine Rolle für sich bewusst akzeptierte und die Konsequenzen scheut, ergibt sich der Angst oder Bequemlichkeit. Gleichgütig, ob es die Rolle als Führungskraft mit bestimmten Aufgaben, als Partner, als Elternteil, als Mitglied einer Gemeinschaft ist, das Wort, das man sich und anderen gab, ist bindend. Man muss sich genau dort bewähren, wo man sich positioniert hat. Wer sich ständig anders besinnt, wird vor anderen und – was fast noch schlimmer ist – vor sich selbst unglaubwürdig. Mit der Untugend, dauernd neu anzufangen, entwertet man jeden Beginn. Schließlich glaubt man selbst nicht mehr, dass man in der Lage ist, etwas vollständig auszuführen, das man einmal übernommen hat. Niemand kann einem diese eigene Pflicht abnehmen, wovon das dritte Buch der Bhagavadgîtâ spricht: »Besser ist es, seine eigene Pflicht, wenn auch mit schwachen Kräften zu erfüllen, als die Pflicht eines anderen, wenn auch noch so vortrefflich zu tun. Besser ist es in Erfüllung der eigenen Pflicht zu sterben, als in der Furcht vor ihr zu leben.«
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Die Hindernisse Projektionen Wenn ich die Limits erwäge, die mich in der Erfüllung meiner Pflichten beschränken, fallen mir vielleicht zunächst die verschiedensten äußeren Umstände ein: Die Mittel sind zu knapp, die Zeit ist immer zu kurz, die Störungen zu zahlreich, und der Feind schläft nicht. Allerdings, das darf man nie vergessen, sind wir uns selbst oft das größte Hindernis. Im Pañcatantra findet sich folgende Geschichte: »Ein König heuerte neue Soldaten an. Unter den Kandidaten war ein Mann, der ihm durch eine eindrucksvolle Narbe auf der Stirn auffiel. Der König war überzeugt, dass es sich bei einem Mann, der sich solch eine Verletzung zuzog, nicht nur um einen erfahrenen Krieger, sondern ganz sicher um einen Helden handeln musste. Er verfügte, dass man den Mann ins Heer aufnahm und ihm einen höheren Sold als den Üblichen zahlte. Als nach einiger Zeit ein Krieg begann, ließ der König seine Soldaten antreten, um sie vor der Schlacht zu inspizieren. Vor jenem Mann angekommen, den er für einen Helden hielt, fragte er leise: ›In welcher Schlacht hast du dir diese Stirnwunde zugezogen?‹ Der Mann erzählte nun ehrlich seine Geschichte: Er war nie Soldat, sondern eigentlich Töpfer von Beruf. Als er einmal betrunken und zu schnell aus seinem Haus lief, fiel er mit dem Gesicht in ein zerbrochenes Tongefäß und verletzte sich an der Stirn. Da die Wunde falsch behandelt wurde, blieb die mächtige Narbe zurück. Weil nun in seinem Land Hunger herrschte, hatte er sich in diesem Königreich beim Heer gemeldet. Als der König diese Geschichte hörte, fühlte er sich von dem Mann schwer hintergangen. Der mutige Veteran war in Wirklichkeit ein trunksüchtiger Töpfer! – Er ließ ihn von den anderen Soldaten packen und gab Befehl, ihn zu vertreiben.«
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Der König in dieser Geschichte wurde zum Opfer seiner Projektionen. Er hielt jenen Mann, ohne mit ihm gesprochen zu haben und seine Hintergründe zu kennen für jemanden, der er gar nicht war. Dieser Mann wollte ihn nicht täuschen und war ganz unschuldig daran, dass der König ihn anders sah, als er wirklich war. Doch der König suchte die Täuschung nicht bei sich, sondern schob sie diesem Mann unter. In einem früheren Kapitel war von der Philosophie des Vijñanavâda die Rede: Das Bewusstsein gestaltet unsere Wirklichkeit. Dieses Prinzip wirkt sich segensreich auf unser Leben aus, wenn wir es gezielt einsetzen: Niemand ärgert mich, sondern ich lasse mich von anderen ärgern. Laufen dieselben Prozesse unabsichtlich ab, ist man immer in Gefahr, Projektionen zu erliegen. Man sieht dann, was man sehen will, oder, wenn man zaghafter veranlagt ist, wovor man sich fürchtet. In diesem Sinn besteht ein großer Teil dessen, was wir für Wahrnehmung halten aus Fehlinterpretationen der eigentlichen Umstände. Dies hindert uns allerdings selten daran, unsere Sicht der Dinge als einzig richtige zu behaupten und verbissen zu verteidigen. Das kann sogar zum Hindernis werden, wenn man gar nicht projiziert, sondern tatsächlich korrekt wahrnimmt, wie Ramakrishna in der folgenden Episode erzählt: »Zwei Wanderer waren unterwegs und kamen zu einer Hütte, über der eine Palme aufragte. Der eine schaute nach oben und fragte: ›Hast du das schöne rote Chamäleon dort oben gesehen?‹ Der andere blickte hinauf, suchte mit den Augen das Tier und widersprach dann heftig: ›Das Chamäleon ist nicht rot, sondern blau.‹ Die beiden sahen dann nicht mehr weiter auf das Tier, sondern gerieten in einen heftigen Streit über seine Farbe. Als der Bewohner der Hütte nach draußen trat, wollten sie ihn zum Schiedsrichter ihres Streits machen. ›Das Chamäleon auf der Palme über deiner Hütte ist rot, nicht wahr?‹ fragte der erste Wanderer.
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›Ja. Es ist rot‹, antwortete der Mann aus der Hütte. ›Was für eine Behauptung!‹ empörte sich der zweite Wanderer. ›Das Tier ist doch eindeutig blau.‹ Der Mann aus der Hütte, der den Farbwechsel des Chamäleons schon lange kannte, antwortete: ›Ja sicher. Es ist blau.‹ Da blickten sich die beiden Streitenden in raschem Einverständnis an: Dieser Mann kann nicht ganz bei Sinnen sein. Sie ließen ihn stehen, gingen in neuer Eintracht weiter und dachten nicht länger über das Chamäleon und seine Farbe nach.« Zwei richtige Wahrnehmungen standen hier am Anfang: Das Chamäleon ist rot, und es ist blau. Doch die korrekten Feststellungen führten nicht zu einer ebensolchen Erkenntnis. Man traute nämlich ausschließlich dem, was man selbst zu sehen glaubte – und tatsächlich richtig sah, worauf man der Perspektive des anderen jede Berechtigung absprach. Als der Dritte die Wahrheit sagte, hielt man schließlich diesen für verrückt und stellte die Eintracht der Unwissenden wieder her. Dass mein Bewusstsein meine Wirklichkeit gestaltet, birgt Gefahren, wenn ich es absolut setze und mich nicht von anderen korrigieren lasse. Ich muss stets für Kritik bereit sein, wenn ich mir in meinem Beharren auf das mir Offensichtliche nicht selbst zum größten Hindernis werden möchte. Widerspruch sollte mir immer willkommen sein, gibt er mir doch eine Möglichkeit über den kleinen Ausschnitt, den ich bislang sehen kann, hinauszugelangen und meine Perspektive zu erweitern. Allerdings darf man beim Hören auf andere weder ängstlich noch leichtgläubig sein, wie der Verfasser vor vielen Jahren auf einem Platz in Patna von einem Geschichtenerzähler hörte: »Ein Kranich ließ sich am Ufer eines fischreichen Sees nieder und schmeichelte sich bei den Fischen ein. Er sagte ihnen weise, wie sehr ihm an ihrem Wohlergehen gelegen wäre. Dann legte er den Fischen nahe, ihn zum König zu wählen.
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Nach einiger Zeit sprach er zu den Fischen: ›Euer König, der euch liebt, erfuhr, dass bald eine große Dürre hereinbrechen wird, die unseren schönen See zum Austrocknen bringt. Ich will jeden von euch einzeln in meinen Schnabel nehmen und zu einem viel tieferen See über den Bergen fliegen, der sicher von dieser Katastrophe verschont bleibt.‹ Die Fische waren sehr gerührt über die Güte ihres Königs und fühlten sich bestätigt, die richtige Wahl getroffen zu haben. Der Kranich flog nun, immer wenn er Hunger hatte, zum Ufer. Dort musste er nur seinen Schnabel öffnen, und schon drängten die Fische hinein. Ein Krebs, der ab und zu aus dem Wasser schaute, hatte alles beobachtet und wollte dem üblen Treiben ein Ende bereiten. So bot er sich dem Kranich für den nächsten Flug an. Der Kranich dachte, etwas Krebsfleisch wäre zur Abwechslung ganz gut und stimmte zu. ›Ich werde dir zu schwer im Schnabel. Darum möchte ich mich mit meinen Scheren an deinen Hals hängen‹, sagte der Krebs. Als sie eine kurze Strecke geflogen waren, dachte der Kranich, die Zeit für das Mahl wäre reif. Er bat den Krebs, den Hals wegen einer Gewichtsverlagerung freizugeben und sich eine Weile im Schnabel tragen zu lassen. Der Krebs, der unter sich die vielen Fischgräten von den früheren Mahlzeiten des Kranichs sah, sprach: ›Sobald du mich im Schnabel hast, wirst du mich fallen lassen. Dann platzt mein Panzer auf den Steinen auf und du wirst mich fressen.‹ ›Richtig‹, meinte der Kranich. ›Du wirst ohnehin sterben. Also lass ruhig los.‹ ›Wenn ich sterbe‹, antwortete der Krebs, ›stirbst du auch, denn ich schneide dir mit meinen Scheren den Hals durch.‹ Der Kranich bot an, den Krebs zum See zurückzubringen, wenn er sein Leben verschonen würde. Jener stimmte zwar zu, trennte aber dem Kranich, als er ihn am Ufer abgesetzt hatte, dennoch den Kopf ab.«
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Und die Moral von der Geschichte? Es geht nicht darum, das Misstrauen, das man gegenüber sich selbst haben sollte, mit einem allzu großen Vertrauen gegenüber anderen auszugleichen. So sehr ich für das Korrektiv und die Hilfe anderer offen bin, darf ich nie vergessen, dass sie – wie ich – sehr oft vor allem ihrem eigenen Nutzen verpflichtet sind. Bisweilen ist es besser, ein wachsamer Krebs zu sein als ein Fisch, der mit dem Schwarm schwimmt und sich vor nicht bestehenden Gefahren retten möchte. Wer sich mit der Masse in Sicherheit bringen will, erreicht leicht das Gegenteil.
Der Ego-Trip Das Werk Baratakadvâtrimśikâ ist eine Streitschrift, die ein gelehrter Jaina im 15. Jahrhundert gegen Asketen verfasste, die den Gott Shiva verehrten. Sie zeigt in vielfältigen Episoden auf, wie man sich ohne Korrektiv in seine eigenen Bilder von der Welt und den Menschen derart verspinnen kann, dass man immer wieder mit der Realität in Konflikt geraten muss. »Einst lebte im Dorf Malânaka ein langhaariger Shiva-Asket mit Namen Nissanga. Gegen Ende seines Lebens wollte er ein ehrlicher Mann werden und eignete sich nur mehr an, was ihm von anderen freiwillig gegebenen wurde. Eines Tages kam er an einer Zuckerrohrplantage vorbei. Als er die Zuckerstängel sah, bekam er Lust, sich ein paar davon zu nehmen. Da ihm sein guter Vorsatz zur Besinnung kam, sich nicht mehr ohne Erlaubnis anzueignen, fragte er: ›Werte Plantage, darf ich mir drei oder vier Stängel von diesem Zuckerrohr nehmen?‹ Da die Plantage nichts antwortete, lieh er ihr seine eigene Stimme: ›Nimm dir doch gleich fünf oder sechs.‹ Nur allzu gerne tat er das dann. Weil es gar so gut schmeckte, wiederholte er sein Tun täglich. Nach einiger Zeit merkte der Eigentümer der Plantage, wie seine erwartete Ernte beharrlich abnahm. Er legte sich auf die Lauer und wartete, bis der Asket wieder erschien, um sich wieder von dem Zuckerrohr zu nehmen.
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Zur Rede gestellt, verteidigte sich der Asket: ›Immer habe ich um Erlaubnis gebeten, bevor ich mir etwas von dieser Plantage genommen habe.‹ Auf Rückfrage schilderte er dem Eigentümer genau, wie sich alles abgespielt hatte. Jener wurde darauf sehr wütend, packte den Asketen, fesselte ihn und zog ihn hinter sich her bis zum Bewässerungsbrunnen. Dort sprach er: ›Werter Brunnen, soll ich diesen Menschen drei- oder viermal in dir untertauchen?‹ – ›Tauch ihn doch gleich fünf- oder sechsmal unter‹, ließ er den Brunnen sagen und drückte den Asketen sogleich unter Wasser.« Die Geschichte zeigt, mit welcher Perfektion man sich in verschobene Wirklichkeiten einzuleben vermag, bis einen die Realität einholt. Man steht hinter einer Regel oder Pflicht, möchte dann aber doch die Dinge so haben, wie sie einem passen. Leicht findet man Rechtfertigungen dafür, warum man akzeptierte Pflichten modifizieren darf. Wer auf diese Weise Kompromisse mit sich selbst eingeht, hält den Schein aufrecht, angenommene Regeln und Pflichten ernst zu nehmen. Nicht immer holen einen Geschädigte wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, wie in der gerade angeführten Geschichte. Wenn man selbst der Geschädigte ist, spielt man für andere allenfalls die Rolle des Narren, der nicht aus seinem Kreislauf ausbrechen kann. Eine weitere Episode des Buches Baratakadvâtrimśikâ berichtet dies vom Asketen Sômaka, der seine Hütte für die Regenzeit frisch mit Stroh gedeckt hatte. Um das Stroh noch mit Stricken zu befestigen, damit es nicht vom Sturm abgedeckt würde, stieg er noch einmal auf das Dach. Doch beim Anbinden eines Stricks stürzte er herunter und zog sich einige schwere Wunden und Prellungen zu. Als Menschen vorbeikamen und seinen bedauernswerten Zustand sahen, wollten sie ihn trösten und fragten, was geschehen wäre. Darauf quälte Sômaka sich nochmals auf das Dach und zeigte den Leuten genau, wie sich alles zugetragen hatte. Bei der Demonstration des Sturzes holte er sich dann weitere Verletzungen.
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Und weil er jedem, der vorbeikam, den ganzen Vorfall erneut darstellen wollte, konnte er sich vor Pein bald gar nicht mehr rühren. Als dann wieder Menschen kamen und ihn fragten, was mit ihm geschehen wäre, schrie er sie an: »Geht weg, und lasst es euch von jemand anderem erzählen.« Sômaka litt unter Widerholungszwang, gab anderen die Schuld und wollte niemanden mehr sehen. Ich muss mir meiner hausgemachten Hindernisse bewusst werden, der Projektionen, des Beharrens auf Standpunkten, des Übermaßes an Misstrauen anderen gegenüber wie einer übertriebenen Gutgläubigkeit. Wenn ich zudem die Gefahren des Wiederholungszwangs nicht verdränge, dem ich mich – meist ganz fälschlich – vonseiten anderer ausgesetzt fühle, erweitert sich mein Spielraum erheblich.
Der Spielraum Handeln ohne Haften Je weniger ich mir selbst im Weg stehe, umso mehr wird mein Blick auf die sogenannten objektiven Hindernisse frei, die es tatsächlich in reicher Zahl gibt. Gelder können knapp werden, die Zeit mag ganz und gar nicht ausreichen, Widersacher werden vielleicht versuchen, meine Pläne durch Intrigen zu hintertreiben und mir Fallen stellen. Vielleicht sind auch meine wenigen Mitarbeiter nicht genügend qualifiziert, und ich habe allein gegen eine Unzahl von Störfällen anzukämpfen. Ich werde jedoch leichter mit all dem fertig, wenn ich bewusst am Ausräumen jener Beschränkungen arbeite, durch die ich mich selbst limitiere. Der Mensch kann, solange er lebt, gar nicht anders, als zu handeln, wie es im dritten Buch der Bhagavadgîtâ heißt: »Kein Lebewesen vermag nur einen Augenblick zu existieren, ohne zu handeln. Jeder wird durch die natürlich entstehenden Impulse
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zum Tun veranlasst, ohne dass er etwas dagegen unternehmen könnte.« Handeln oder Wirken (Karma) wird hier im weitesten Sinn verstanden. Es fällt darunter nicht nur das, was ich mit den Händen mache, sondern gleichfalls das Denken und Sprechen. Die meisten dieser Aktivitäten vollziehen wir mechanisch, indem wir auf entsprechende Impulse reagieren. Die Auswirkungen solcher Handlungen stabilisieren in der Regel den schon bestehenden Zustand, aus dem heraus sie erfolgen. Damit mein Wirken etwas in meinem Leben verändert, muss es mir bewusst sein. Gautama betonte, dass ein wirksames Handeln immer mit einer Absicht verbunden ist. Nur wenn ich mir darüber im Klaren bin, was ich tue und was ich damit bezwecke, also absehe, was ich bewirken will, kann ich durch meine Aktivitäten Kreisläufe durchbrechen und neue Wege einschlagen. Freiheit im Handeln ist hier gleichbedeutend mit Bewusstheit. Die Bhagavadgîtâ betont in ihrem Begriff eines freien Handelns darüber hinaus einen weiteren Aspekt: Man soll seine Aktivitäten von daraus zu erwartenden Ergebnissen befreien. Entsprechend heißt es: »Deine Bestimmung liegt ganz im Handeln, nicht in dessen Lohn. Lass dir nicht den Lohn deines Handelns zum Antrieb werden. Verfalle auch nicht der Untätigkeit.« Wirklich freies Tun, geschieht also um seiner selbst willen. Natürlich ist es einerseits mit Absichten verbunden: Man kämpft, um zu siegen, macht Geschäfte, um Gewinne zu erzielen, und bestellt das Feld, um zu ernten. Alles andere wäre widersinnig. Hätte man in seinem Tun keine Ziele und Richtungen, wäre es völlig gleichgültig, was man macht, und die Rede von der Pflicht hätte keinerlei sinnvolle Bedeutung. Doch obwohl die Aktivitäten einer Zielrichtung folgen, geht es im Augenblick nur um das Erfüllen der damit verbundenen Pflicht. Man kämpft, betreibt sein Geschäft oder bestellt sein Feld mit vollkommener Hingabe. Selbstverständlich will man siegen, tut man doch sein Bestes. Aber man würde genauso sein Bestes geben,
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wenn die Aussicht auf den Sieg gering wäre. Man berechnet unterwegs gar nicht, ob die Chancen groß oder klein sind, sondern geht den Weg beherzt zu Ende, nachdem die ersten Schritte erfolgten. Dieses von Kalkül freie Handeln erhält dann eine ganz neue Qualität. Ohne Zagen und Zaudern gibt man in jedem Augenblick alles, was man kann und weicht auch dann nicht vor seiner Pflicht zurück, wenn die Aussichten sich trüben. Obwohl man siegen möchte, geht es mindestens ebenso ums richtige Tun wie um den Sieg: »Wer jedes Haften an der Frucht seines Handelns hinter sich ließ, stets zufrieden ist und an nichts hängt, der tut nichts, obgleich er immer handelt.« Man tut nichts, obwohl man handelt. Diese Aussage der Bhagavadgîtâ greift zum Paradox, um diesen Zustand der Freiheit zu beschreiben, in welchem man durch das richtige Gehen des Weges schon bereichert wurde, sogar wenn man das Ziel verfehlte. »Wer im Handeln das Nichthandeln erkennt und das Handeln im Nichthandeln, ist ein weiser Mensch, ein Yogi, ein sein ganzes Werk Vollbringender.«
Hart erobern – mild besitzen Wer bei seinen Taten zwar eine Richtung verfolgt, aber nicht an den Erwartungen hängt, wird immer flexibler. Er ist nicht auf das erwünschte Ergebnis fixiert, sondern entscheidet in jeder Lage der Situation angemessen. »Wessen Unternehmungen von Verlangen frei sind, wessen Wirken im Feuer der Weisheit verbrennt, bezeichnen Kenner als einen Weisen«, sagt die Bhagavadgîtâ. Die hier angedeutete Flexibilität findet in manchen klassischen Texten Indiens ihren Niederschlag insofern, dass sogar die wichtigsten Prinzipien auf die eine oder andere Weise aufgeweicht werden. So heißt es im ersten Kapitel des Kâmasûtra, dass zwar der Dharma immer vor Kâma und Artha komme, aber es dennoch zwei wichtige Ausnahmen gäbe, nämlich die Prostituierten und die Herrscher. Prostituierte müssen Kâma in den Mittelpunkt
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ihres Tuns stellen, die Herrscher Artha, also den Erfolg und Gewinn. »Der Herrscher hat sich stets zuerst um Artha zu kümmern, hängen doch hiervon das Dasein und Wohlergehen seines Volkes ab«, begründet das Kâmasûtra. Eigene Lehr- und Handbücher für Könige führen dies näher aus, von denen das Kautilîya Arthaśâstra als das bedeutendste gilt. In diesem Werk heiligt der Zweck alle Mittel, wenn es dem König zur Erweiterung seines Herrschaftsbereichs dient. Es soll ein Agentennetz unterhalten, um seine Gegner auszuspionieren. Das Buch empfiehlt, attraktive Frauen zu Zwecken der Informationsbeschaffung als Spioninnen auszubilden. Auch im Krieg kann er sich aller denkbarer Listen bedienen, um die Festungen seiner Gegner einzunehmen. Jedes Täuschungsmanöver ist dabei erlaubt. Das Kautilîya Arthaśâstra meint, der König solle sogar lügen, dass er mit den Göttern im Bund stehe, wenn dies einen Eindruck macht, der seinen geplanten Eroberungen nutzt. Man erwartet aus diesen Hinweisen zum Ausdehnen des eigenen Gebietes vielleicht, dass danach mit eiserner Faust regiert werden soll, um die Herrschaft zu befestigen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Wurde der Gegner erst besiegt, empfiehlt das Werk dem König, liberaler und sozialer zu handeln als die früheren Regierenden. Alle Kriegsgefangenen, so das Kautilîya Arthaśâstra müssen freigelassen werden. Sodann sind eine Sozialfürsorge für die Armen einzurichten und die Steuern zu senken. Auf jeden Fall müssen die Bräuche und Sitten der eroberten Region bewahrt bleiben. Alle Beteiligten sollen sich besser fühlen als zuvor. Der Autor des Kautilîya Arthaśâstra soll ein Minister des Königs Chandragupta gewesen sein. Dessen Enkel, der bedeutende Kaiser Aśôka, von dem im Kapitel über die Wahrheit die Rede war, vollzog das diesem Werk Vorgeschlagene. Nachdem Aśôka mit brutaler Gewalt einen großen Teil Indiens eroberte, versuchte er ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens zu verwirklichen. Bis heute erhaltene Edikte, die in Felsen gemeißelt wurden, zeugen von dieser Bemühung.
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In ihnen verkündet der Herrscher: »Wo es keine Kräuter, Wurzeln und Früchte als Arzneimittel für Mensch und Tier gab, ließ der König solche einführen und anpflanzen. An den Straßen wurden zu deren Erfrischung Brunnen gebaut und Bäume gepflanzt.« Im sechsten Edikt meint er: »Es ist meine Pflicht, für das Wohl aller Menschen zu wirken. Dazu muss angestrengt gearbeitet werden, und jede Sache ist schnellstens zu erledigen.« Im zehnten Edikt heißt es: »Der Herrscher denkt nicht, dass der Ruhm zu Lebzeiten und danach eine wesentliche Bedeutung besitzt, wenn nicht die Menschen durch ihre Anstrengungen jetzt und in Zukunft veranlasst würden, dem Dharma gemäß zu wirken.« Die entsprechende Botschaft des Kautilîya Arthaśâstra an die Herrschenden lautet: Wer nichts verbessern will oder kann, besitzt kein Recht auf Übernahmen oder Eroberungen. Nur derjenige darf seinen Einflussbereich erweitern, der zur Zufriedenheit der Beteiligten wirkt. Das heißt in diesem Zusammenhang: Wer mit ganzem Einsatz und vollkommener Hingabe kämpft, um etwas zu gewinnen, besitzt es nur, wenn er es wieder loslassen kann. Dieses Nichtbesitzen im Erobern hängt mit dem Nichthandeln im Handeln zusammen, von dem die Bhagavadgîtâ sprach.
Leichtigkeit im Tun Wer mit vollkommener Hingabe tut, was zu tun ist, ohne zu berechnen, was dabei herauskommt, vollzieht seine Handlungen mit einer ungeahnten Leichtigkeit. Ramakrishna erzählte dazu folgende Geschichte: »Ein Brahmane hatte sein Haus am Ufer eines breiten und tiefen Flusses. Jeden Tag kam vom anderen Ufer die Tochter eines Hirten, um ihm seine Milch zu liefern. Der Brahmane legte großen Wert auf Pünktlichkeit und einen geregelten Ablauf aller Dinge. Als das Mädchen einige Tage hin-
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tereinander später als sonst mit der Milch gekommen war, stellte er es verärgert zur Rede. Das Mädchen entschuldigte sich damit, dass der Fährmann verspätet gewesen wäre. ›Welch ein Unsinn!‹ schrie der Brahmane. ›Immer haben die Leute ihre Ausreden für alles. Diesmal ist es also die Fähre. Liebes Mädchen, wer wie ich den Namen Gottes im Herzen hat, kann sogar den wilden Ozean von Geburt und Tod überqueren, um wie viel leichter dann einen solchen Fluss.‹ Das Mädchen war von der Rüge des heiligen Mannes tief betroffen und berührte ehrfürchtig den Staub zu seinen Füßen. An den folgenden Tagen brachte es stets die Milch pünktlich zum Haus des Brahmanen, und dieser war tief befriedigt. Irgendwann fragte er das Mädchen: ›Wie kommt es, dass du jetzt immer rechtzeitig kommst?‹ Es antwortete: ›Heiliger Mann, ich halte mich einfach an deine Anweisung. Mit dem Namen Gottes im Herzen überquere ich den Fluss und muss deswegen nicht mehr auf die Fähre warten.‹ Der Brahmane – insgeheim höchst verwundert – dachte: ›Wenn das bei diesem unwissenden Wesen gelingt, um wie viel mehr muss es dann bei einem Heiligen wie mir funktionieren. Dann sprach er zu dem Mädchen: ›Komm mit, lass uns gemeinsam über den Fluss gehen.‹ Als sie das Ufer erreichten ging das Mädchen einfach gerade über das Wasser weiter. Staunend sah der Brahmane, wie der schnelle Strom einfach unter seinen Füßen hinwegfloss, ohne dass es diese auch nur zu berühren schien. Der Brahmane hob den Saum seines Gewandes, murmelte den Namen Gottes und setzte einen Fuß auf die Oberfläche des Wassers. Kaum zog er den zweiten Fuß nach, versank er schon in der Flut. Das Mädchen drehte sich um und rief ihm lachend zu: ›Wenn dir ein trockenes Gewand wichtiger ist als der Name des Herrn, gelingt es natürlich nicht.‹«
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Zusammenfassung • Es gilt, seine Pflichten zu erforschen und zu erkennen, was einen bei der Ausübung behindert. In der Spannung zwischen dem, was man leisten soll, und dem, was einen begrenzt, wird der bestehende Spielraum zum Handeln deutlich. Bevor man äußere Hindernisse beseitigen will, empfiehlt es sich, nachzuforschen, wo man sich selbst im Wege steht. • Hat man seine Pflichten erkannt und sich positioniert, ist Konsequenz angesagt. Durch einen wiederholten Neubeginn wird man vor sich selbst leicht unglaubhaft. Dies gilt auch für die Fälle, in denen man nachträglich die Regeln ändert oder seine ursprünglichen Absichten gefälliger interpretiert. • Beschränkungen, die man sich selbst setzt, bestehen in Projektionen, welche die Wahrnehmung verzerren, im Beharren auf einmal gefasste Ansichten, die kein Korrektiv erlauben sowie überzogenem Misstrauen und Vertrauen gegenüber anderen. • Den größten inneren Spielraum für sein Tun gewinnt man, wenn man die Handlungen, die man ausführt, von den Erwartungen befreit, die man damit verbindet. Aktivitäten können um ihrer selbst willen mit Hingabe ausgeführt werden, auch wenn sie keine Zielrichtung verfolgen. Wer sich nicht vom Ergebnis abhängig macht, tut in jeder Situation das Beste. • Nachdem man sich ganz für das Erreichen seines Zieles eingesetzt hat, erhält man seinen Gewinn an Macht, Mitteln und Einfluss am besten, wenn man sich nicht daran klammert sondern auch für andere Verbesserungen damit bewirkt. • Mit ungeteilter Hingabe und ohne kleinliche Berechnungen hat man die besten Chancen, mit Leichtigkeit auch schwere Aufgaben wahrzunehmen.
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Fragestellungen für die Praxis Pflichten erforschen Es gibt zwei Arten von Pflichten, die ich zu erfüllen habe. Die einen ergeben sich aus meinem Weg zur Selbsterkenntnis. Je intensiver ich mir darüber klar werde, wer ich bin und was meine Lebensaufgabe ist, umso mehr verpflichte ich mich den damit verbundenen Zielen, die von sehr individueller Natur sind. Die Pflichten der zweiten Art folgen aus meinen sozialen und beruflichen Funktionen. Ich bin Partner, Elternteil, fülle bestimmte Positionen im Zusammenhang mit meiner Arbeit aus und gehe vielleicht weitere gesellschaftliche Verpflichtungen ein. Eine im indischen Sinn vollständige Liste all dessen, dem ich verpflichtet bin, könnte mir hilfreich sein. Diese Liste könnte die verschiedenen Pflichten nach Prioritäten ordnen und dabei auch der Erkenntnis dienen, ob hier in irgendeiner Weise Interessenkonflikte bestehen. Nehmen gewisse Pflichten mehr Raum und Zeit ein, als ich ihnen in der idealen Rangordnung zukommen lassen möchte? In der Prioritätenliste vieler Führungskräfte steht die Familie an oberster Stelle, obwohl ihr in der Realität kaum Zeit gewidmet wird. An diesem Beispiel zeigt sich, dass dringend hinterfragt werden muss, wie echt oder verlogen das eigene Pflichtempfinden ist.
Projektionen entlarven Die Geschichte vom König, der den Töpfer für einen Kriegshelden hielt, war ein Gleichnis für die Projektionen, die mich die Wirklichkeit nicht wahrnehmen und nach meinem eigenen Gutdünken interpretieren lassen. Diese Fälle kann man bei sich selbst nur schwer aufspüren, hält man doch für offensichtlich, was man meint, und ist darum überzeugt von dem, was man denkt. Eine hilfreiche Übung ist es hier, bewusst zu versuchen, Men-
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schen, die einem nahestehen, so zu erleben versuchen, als würde man sie gerade kennen lernen. Man nimmt sich vor, dem Partner, den Kindern oder Arbeitskollegen wirklich zuzuhören. Man überlegt sich eine Frage über etwas, das man wirklich nicht weiß, und hört der Antwort zu. Was hast du eigentlich getan, bevor du in die Firma kamst? Wo bist du in die Schule gegangen? Warum trägst du ausgerechnet diese Kleider? Man schafft auf diese Weise bei sich selbst das Bewusstsein dafür, dass man eigentlich nicht wirklich weiß, wer der andere ist, und die eigenen Meinungen eben nur Meinungen sind, die der Realität oft nicht standhalten können.
Handeln ohne Anhaften Einen Tag will ich bewusst versuchen, was die Bhagavadgîtâ vorschlägt, ein Handeln ohne Fixierung auf die Ergebnisse. Ich unterhalte mich mit meinem Nachbarn um des Sprechens willen, ohne erreichen zu wollen, dass man sich nach zwei Sätzen wieder verabschiedet. Ich esse nicht, weil ich satt werden möchte, sondern um jeden Bissen zu schmecken. Ich arbeite nicht, um möglichst rasch fertig zu werden und die Dinge erledigt zu haben, sondern freue mich an jedem einzelnen Handgriff und erlebe die sonst als langweilig empfundenen Zeilen, die ich lesen muss, als aufschlussreich. Obwohl alles, was ich tue, von Absichten ausgeht, Ziele hat und Zwecke erfüllt, rücke ich das Tun selbst und alles, was unmittelbar damit in Zusammenhang steht, in den Mittelpunkt: Der Mensch, der in mein Büro kommt ist kein Fall, den ich abzuwickeln habe, sondern ein interessanter Gesprächspartner, obwohl ich mich auch um sein Anliegen kümmere. All dies vollziehe ich unverkrampft und ohne inneren Zwang durch eine einfache Verlagerung der Aufmerksamkeit. Wenn mir dieser eintägige Versuch gute Erfahrungen vermittelt, lohnt es sich, regelmäßig auf diese Weise neu zu handeln.
Zum Ausklang »Zwar ist Vollkommenheit ein Ziel, das stets entweicht, doch soll es auch erstrebt nur werden, nicht erreicht. Erst denkst du nicht daran, wie weit es sei zum Ziel; schon ist es halb getan, nun ist der Rest ein Spiel.« Die Weisheit des Brahmanen
Indische Weisheit möchte den Menschen zur Selbsterfahrung durch Wachheit führen. Obwohl sie nicht mit Worten spart und überaus reich an Theorien, Konzepten und Bildern ist, soll all dies zum unmittelbaren Erlebnis der Wahrheit dessen führen, wer ich bin. Entsprechend heißt es im zweiten Teil des Râmâyana: »Die Wahrheit ist der Herr der Welt; auf der Wahrheit beruht alles Recht; in der Wahrheit hat alles seinen Grund; nichts Höheres als die Wahrheit kann erreicht werden.« Bei allen Idealen darf man nie vergessen, dass die eigene Wahrheit eigentlich etwas ganz Schlichtes ist: Ich atme, liebe, arbeite, freue mich oder trauere. Wenn ich in meiner Gegenwart lebe, ohne Träumen und Berechnungen zu erliegen, um des Handelns willen handle und doch ein Ziel habe, erfahre ich etwas von jenem Weg, von dem die in diesem Buch zitierten indischen Weisen sprachen. Worte, große Worte, dienen als Wegweiser zur Selbsterkenntnis. Doch am Ziel steht die ebenso simple wie tiefe Erfahrung meiner selbst und der Wirklichkeit, in der ich existiere. Sie lässt sich erleben, jedoch nie erschöpfend deuten, wie Rabindranath Thakur in einem Gleichnis schrieb: »Ich erwachte und fand seinen Brief mit dem Morgen. Ich weiß nicht, was er sagt, denn ich kann nicht lesen. Ich werde den weisen Mann in Ruhe lassen mit seinen Büchern,
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ich werde ihn nicht stören, denn wer weiß, ob er lesen kann, was der Brief sagt. Lass ihn mich auf meine Stirne halten und an mein Herz drücken. Wenn die Nacht still sein wird und die Sterne hervorkommen, einer nach dem andern, will ich ihn ausbreiten auf meinen Schoß und stumm verharren. Die flüsternden Blätter werden ihn mir lesen, der rauschende Strom wird ihn singen, und die sieben weisen Sterne werden mir ihn künden vom Himmel. Ich kann nicht finden, was ich suche, ich kann nicht verstehen, was ich lernen möchte; aber dieser ungelesene Brief hat meine Last leicht gemacht und meine Gedanken in Gesang gewandelt.«
Bibliografie »Zu lehren glaubt ich oft, was ich an mir erfuhr, Und sah dann: Ich umschrieb ein altes Sprichwort nur. Das eben ist die Art des Sprichworts; wir gewahren Erst seinen Sinn, wenn wir ihn an uns selbst erfahren.« Die Weisheit des Brahmanen
Zu den Hintergründen Frauwallner, Erich: Geschichte der indischen Philosophie. 2 Bände. Aachen 2003 (Salzburg 11953–56). Mylius, Klaus: Geschichte der Literatur im alten Indien. Leipzig 1983. Zotz, Volker: Geschichte der buddhistischen Philosophie. Reinbek bei Hamburg 1996.
Klassische Texte Bäumer, Bettina (Hg): Upanishaden. Die heiligen Schriften Indiens meditieren. Aus dem Sanskrit übersetzt und mit spirituellen Kommentaren. Mit einem Vorw. von Raimon Panikkar. München 1997. Easwaran, Eknath (Hg): Die Upanischaden. Eingeleitet und übersetzt. Aus dem Englischen von Peter Kobbe. München 2008. Geldner, Friedrich: Der Rig-Veda. Aus d. Sanskrit ins Deutsche übersetzt und mit einem laufenden Kommentar versehen. Vier Bände. Cambridge, Mass. und Wiesbaden 1951–57. Grassmann, Hermann: Rig-Veda. In zwei Theilen übersetzt und mit kritischen und erläuternden Anmerkungen versehen. Zwei Bände. Frankfurt am Main 1990 (11876–77). Hertel, Johannes: Upanischaden. Die alte Weisheit Indiens. Eine Auswahl aus den ältesten Texten aus dem Sanskrit übersetzt und erläutert. München 2005.
B i b l i o g r a f i e 203 Hillebrandt, Alfred: Upanishaden. Die Geheimlehre der Inder. Übertragen und eingeleitet. Mit einem Vorwort von Helmuth von Glasenapp. München 1998. Jacobi, Hermann: Das Râmâyana. Geschichte und Inhalt nebst Concordanz der gedruckten Recensionen. Bonn 1893. Neudruck Darmstadt 1976. Lommel, Herrmann (Übers.): Gedichte des Rig-Veda. München-Planegg 1955. Meinck, Wille: Das Ramayana. Nach dem Epos des Valmiki neu erzählt. Berlin 51985. Michaels, Axel: Die Weisheit der Upanishaden. Aus dem Sanskrit von Karl Friedrich Geldner. München 2006. Schmitt, Kurt: Buddhas Reden. Majjhimanikaya. Die Sammlung der mittleren Texte des buddhistischen Pali-Kanons. Berlin 1978. Schmitt, Rüdiger (Hg): Die Erzählung vom großen Affen Hanumat. Râmâyana, Buch 5. Deutsche Übertragung von Richard Simon. Saarbrücken 1977. Schmölders, Claudia (Übers.): Ramayana. Die Geschichte vom Prinzen Rama, der schönen Sita und dem großen Affen Hanuman. Mit einem Nachwort von Günter Metken. Kreuzlingen und München 2004. Thieme, Paul: Gedichte aus dem Rig-Veda. Aus dem Sanskrit übertragen und erläutert. Stuttgart 1993. Witzel, Michael E. J. et al (Hg): Rig-Veda. Das heilige Wissen. Erster und zweiter Liederkreis. Frankfurt am Main 2007.
Wilhelm Schmid-Bode Maß und Zeit Entdecken Sie die neue Kraft der klösterlichen Werte und Rituale 2008 · 251 Seiten · Gebunden ISBN 978-3-593-38506-8
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