Carola Flad Jugend im Dokumentarfilm
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Carola Flad Jugend im Dokumentarfilm
VS RESEARCH Forschung und Entwicklung in der Erziehungswissenschaft Herausgegeben von Prof. Dr. Rainer Treptow, Universität Tübingen
Carola Flad
Jugend im Dokumentarfilm Sozialpädagogischfilmanalytische Fallstudien zur Lebensbewältigung
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Rainer Treptow
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Universität Tübingen, 2009
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Verena Metzger / Dr. Tatjana Rollnik-Manke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17475-4
Geleitwort
Dokumentarfilm kann als eine Form der Sozialreportage verstanden werden, als eine journalistisch-künstlerische Praxis, deren Aussagekraft aus einer anderen Quelle gespeist wird, als sie der Sozialpädagogik gemeinhin zur Verfügung steht. Umso ungewöhnlicher ist, dass Carola Flad es unternimmt, Sozialpädagogik und Dokumentarfilm miteinander in Beziehung zu setzen und sich dabei für jeweilige Besonderheiten beider Erkenntnis- und Darstellungsweisen zu interessieren. Ist beiden das Thema Jugend geläufig, so unterscheiden sie sich doch in vielerlei Hinsicht. Während Sozialpädagogik die sozialwissenschaftlich und administrativ gerahmte Aufhellung und Gestaltung sozialer Unterstützungsprozesse übernimmt, so widmet sich der Dokumentarfilm der journalistischen und filmästhetisch gestalteten Rekonstruktion von Situationen des Aufwachsens und damit vor allem seiner audio-visuellen Darstellung. Beide, Film und Wissenschaft, so kann Carola Flad zeigen, haben eigene Erkenntnisstile und Kommunikationsformen. Gemeinsam ist ihnen, Lebenssituationen Jugendlicher und ihre soziokulturellen Entwicklungskontexte zu „beschreiben“, ihre Hintergründe zu analysieren, Schlussfolgerungen für und über fachliches Handeln und alltagskulturelle Haltungen zu ziehen. Der Dokumentarfilm ist im Unterschied zu sensationsheischenden Medienproduktionen mit Erwartungen an gründliche Recherche und einem verantwortungsbewussteren Journalismus verknüpft. Gemeinsam ist aber auch, dass Filmschaffende und Sozialpädagogen zu wenig über einander wissen. Hier setzt Carola Flad, selbst als Sozialpädagogin und Kamerafrau tätig, an. Ihre Arbeit will einen Pfad zwischen bislang kaum verbundenen dokumentarischen Welten bauen, will zwischen unterschiedlichen Potentialen vermitteln. Mit der Frage nach Jugendhilfethemen in dokumentarischen Filmen untersucht sie zwei „Logiken“: sozialpädagogisches Fallverstehen und Unterstützung bei der Bewältigung von Lebensschwierigkeiten und ästhetisch-dokumentarische Aufarbeitung jugendhilferelevanter Themen im Kontext journalistischer Recherche und audio-visueller Präsentation. Die Relevanz einer solchen Untersuchung lässt sich leicht erkennen, wenn die Vielzahl von dokumentarischen Fernsehproduktionen in den Blick genommen wird, die sich in unterschiedlichen Formaten mit zu „Fällen“ gewordenen Kindern und Jugendlichen und Erwachsenen befassen. Ausgehend von einem Befund, der ein Nebeneinander dokumentarischer und sozialpädagogischer Prak-
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Geleitwort
tiken feststellt, fragt die Autorin nach den grundlegenden Konstruktionsweisen von Fallbeschreibung, nach Kontextbezug und dem Verlauf sozialer Auseinandersetzungen: Kinder, die Erwartungen erfüllen sollen, aber es nicht tun; Jugendliche, die gewalttätig wurden, und in einem Umfeld elterlicher und nachbarschaftlicher Orientierungen handeln, das bloß vordergründige Ablehnung von Gewalt gegenüber Schwächeren und Ausgegrenzten signalisieren. Und sie folgt der Spur der filmästhetischen Strukturierung von Zeit, Raum, Sprache, Musik, den Formen der Verfremdung, der Bildmontage und der Erzählweisen. In aufwendiger Recherche legt sie zunächst die Materialgrundlage für ihre Filmanalyse. Die zu diesem Zweck zusammengestellte Grundgesamtheit bildet einen „Filmkorpus“ von 114 dokumentarischen Fernsehfilmen. Nachdem sie die Grundgesamtheit einer aufwendigen thematischen Kodierung unterzogen hat wählt sie im Sinne einer fallanalytisch interessierten Tiefenanalyse drei Dokumentarfilme aus. Bevor sie dieses methodische Verfahren weiter erläutert, nähert sie sich ihren Frageinteressen durch eine sorgfältige Aufarbeitung der Diskurse über mediale Darstellung sozialer Themen als Gegenstand sozialpädagogischer Forschung und Theoriebildung. Dann akzentuiert sie die, wie sie es bezeichnet, „signifikant andere Praxis“ der Medienöffentlichkeiten, um die Tatsache zu verdeutlichen, dass es sich sowohl bei der Visualisierung des Sozialen durch Dokumentarfilme als auch bei der sozialpädagogischen Bearbeitung von Fällen um (Re)Konstruktionsprozesse von für die Kinder- und Jugendhilfe relevanter Situationen handelt. Statistische Datensätze über Themenfelder werden ebenso herangezogen wie die Ergebnisse eigenständiger Archivrecherchen sowie der Sichtung preisgekrönter Filmarbeiten durch einschlägige Fachgesellschaften der Sozialen Arbeit. Mit bemerkenswerter Genauigkeit wird die sukzessive Eingrenzung der Grundgesamtheit nach drei Strukturdimensionen (Alltag vs. Sondersituation, Allgemeinheit vs. Besonderheit, Bedarf vs. Hilfe) beschrieben, ein Auswahlprozess, der schließlich drei Werke für die filmanalytische Untersuchung zutage fördert. Deren Konzepte werden im Einzelnen referiert und mit den Maximen qualitativer Fallinterpretation vermittelt. Mit Hilfe der Auswertung von Sequenzprotokollen wird es möglich, die je individuelle Gestaltungslogik der einzelnen Dokumentarfilme auf allgemeine Strukturierungsformen durchzumustern und dabei das Prinzip der „maximalen Kontrastierung“ zu beachten. In jeder einzelnen Fallanalyse durchdringt die Verfasserin die formale Seite von Bildschnitt und die jeweils inhaltliche Seite der sozialen Konstruktion, wie sie aus Sicht des Dokumentarischen vorgenommen wird. Zugleich aber interpretiert sie die so angelegte Visualisierung des Sozialen im Horizont jugendhilfespezifischer Fachlichkeit, d.h. sie bedient sich des Theorie- und Deutungswissens der Jugend- und Famili-
Geleitwort
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ensoziologie, des Sozialraums, der biographischen Zeit, der pädagogischen Intervention. Es sind nicht allein Strukturdifferenzen, die freigelegt werden; vielmehr entwickelt Carola Flad den Rahmen für einen empirisch eingefassten Reflexionsraum, der bislang so noch nicht vorliegt. Denn nun, in der Zusammenziehung von Erzählstruktur, Montage, akustischer Begleitung sowie Interpretation biographischer Spannungsmomente, sozialstruktureller Rahmungen und intergenerationeller Beziehungen, werden dokumentarisches und sozialpädagogisches Denken wechselseitig kontrastiert, die jeweiligen Geltungsreichweiten umrissen und die besonderen Potentiale kritisch abgeschätzt. Die audiovisuell konstruierte Dokumentation z.B. einer Jugendlichen, die in Konflikt mit ihrer sozialen Umwelt verhält, wird einer in der Visualisierung nicht vorkommenden Kontrastierung mit sozialpädagogischem Wissen unterzogen. Die aus fachlicher Sicht problematischen Verkürzungen, Verzerrungen, Vereinfachungen werden ebenso sichtbar wie das in der sozialpädagogischen Fachsprache enthaltende Moment einer, durchaus auch problematisierbaren, Abstraktion vom Konkreten. Die dadurch gewonnene Dichte wird aus dem Fundus des jeweils einzelnen Dokumentarfilms zusammengetragen und es entstehen Muster raumzeitlicher Anordnungen. Die Fachlogik des audiovisuellen Darstellens und Vermittelns von Inhalten und die Fachlogik der „rekonstruktiven Sozialpädagogik“ werden in ein überzeugend vermitteltes Verhältnis gebracht. Rainer Treptow
Vorwort
Nahezu jeden Tag können die, die mit Heranwachsenden beruflich zu tun haben, die AdressatInnen ihrer Arbeit auch als ProtagonistInnen dokumentarischer Fernsehfilme sehen. Es handelt sich um Geschichten und Bilderflüsse, die Milieus beschreiben, Lebensgefühle vermitteln und Perspektiven auftun. Aus der Spannung heraus, das etwas noch nicht so ist, wie es sein könnte oder sollte, fördern sie öffentliches Bewusstsein für eine soziale Entwicklungsphase und handeln vom Prozess zunehmender gesellschaftlicher Integration. Dieses filmische Geschehen mit Methode und interdisziplinär zu betrachten, ist – knapp gesagt – Ziel der vorliegenden Untersuchung. Es geht darum, die filmischen Konstruktionsprozesse für sozialpädagogisches Denken zugänglich zu machen, denn auch sie bilden einen elementaren Kontext für fachliches Handeln. Die vorliegende Untersuchung wurde von mir im Dezember 2008 als Dissertation an der Fakultät für Sozial und Verhaltenswissenschaften der EberhardKarls-Universität Tübingen eingereicht. „Man sollte nicht gleich ´ne Doktorarbeit daraus machen“ habe ich in letzter Zeit öfter als geflügeltes Wort gehört. Der Appell erscheint mir kurios, da ich diese Phase gerade hinter mir habe und unterscheiden kann zwischen den gemeinhin schnellen Abläufen und Bewältigungsnotwendigkeiten der Arbeitswelt und den zumeist Zeit beanspruchenden Denkbewegungen im Rahmen der eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Mit etwas Abstand wird mir das Besondere dieses Projekts deutlich: Für die notwendige Unterstützung, so intensiv und weitgehend unabhängig an der eigenen Fragestellung arbeiten zu können, möchte ich mich bei verschiedenen Personen bedanken. Zuerst bei Prof. Dr. Rainer Treptow, dem wichtigsten Berater und Ideengeber, der mich dabei unterstützt hat, den Denkraum abzustecken. Prof. Dr. Susanne Maurer danke ich für die Vermittlung der Grundlagen im wissenschaftlichen Nachdenken über Film während meines Studiums wie auch für die Übernahme des Zweitgutachtens. Dr. Eberhard Bolay und Prof. Dr. Sabine Schneider waren mir während des gesamten Projekts treue und optimistische Diskussionspartner. Dafür danke ich Ihnen. Bei Martin Alber und Jutta Konzelmann bedanke ich mich dafür, dass sie den Text in redaktioneller Hinsicht kritisch durchgearbeitet haben. Frau Dr. Tatjana Rollnik-Manke vom VS-Verlag danke ich für die freundliche Unterstützung bei der Erstellung der Druckfassung. Gretafilm und allen Assoziierten danke ich dafür, dass sie mir die Kamera anvertraut haben und
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Vorwort
wir filmisch arbeitend ein Stück gemeinsamen Weges gehen konnten. Meiner Familie, allen Freundinnen und Freunden danke für die Durchhalteparolen. Bleibt noch meiner Freundin Simone Heyder für den langen Atem. Carola Flad
Inhaltsverzeichnis
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Hinführung………………………………………………………………. 17 1.1 Problemstellung und Begründung der Untersuchungsidee................. 1.1.1 Mediale Darstellungen von sozialen Themen als Gegenstand sozialpädagogischer Forschung und Theoriebildung………….. 1.1.2 Sozialpädagogik und Medienöffentlichkeiten – Bezug auf eine ‚signifikant andere’ Praxis…………………………...…… 1.1.3 Sozialpädagogische Forschung als (Re-) Konstruktionsprozess sozialpädagogischer Situationen……………………………..... 1.2 Zusammenfassung und Untersuchungsziel…………………………. 1.3 Arbeitsprogramm und konkrete Fragestellungen…………………… 1.4 Lesehinweis………………………………………………………….
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Darstellen und Vermitteln von Inhalten im Dokumentarfilm ………. 39 2.1 Definitionen von Dokumentarfilm und offene Darstellungsweisen.... 40 2.1.1 Definition zentraler Eigenschaften des Dokumentarfilms….…. 40 2.1.2 Definition einer sozialen Funktion des Dokumentarfilms….…. 42 2.1.3 Definition des Dokumentarfilms als offenes Konzept.……...… 44 2.1.4 Darstellungsweisen, die Fremdheitserfahrungen hervorrufen – zur Aufgabe kultureller Bildung……………………………….. 47 2.2 Wissensvermittlung durch Dokumentarfilm und situationszentrierte Darstellungsweisen………………………………………………….. 48 2.2.1 Fernsehen als Zugangsmuster zu sozialen Situationen…...…… 50 2.2.2 Das Konzept der „Erfahrungsbildung“ durch Dokumentarfilme 52 2.2.3 Handlungsorientierte Filmarbeit in der Medienpädagogik…….. 56 2.3 Dokumentarfilm als Erzählung und narrative Darstellungsweisen…. 57 2.3.1 Merkmale und Funktion der narrativen Form…………………. 57 2.3.2 „Narratives als Erkenntnisquelle für Pädagogen“……………... 62 2.4 Zusammenfassung und Vorausblick……………………………...… 63
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Inhaltsverzeichnis
Konzeptueller Rahmen der Untersuchung……………………………. 65 3.1 Gegenüberstellung sozialpädagogischer Fachlichkeit und dokumentarischer Filme………………………………………….…. 65 3.1.1 ‚Hilfeakt’ vs. ‚Zeigeakt’……………………………………….. 65 3.1.2 Das Problem der „Pseudokonkretheit“ und das Freilegen von Gestaltungsalternativen…………………………………… 71 3.2 Untersuchungskategorie Raum……………………………………… 76 3.2.1 Sozialraum und seine Gestaltung……………………………… 76 3.2.2 Filmischer Raum und seine Gestaltung……………………...… 79 3.2.3 Bedeutung und Anwendungsperspektive……………………… 85 3.3 Untersuchungskategorie Zeit…………………………………...…… 89 3.3.1 Erleben und Gestalten von Zeit und darauf bezogene sozialpädagogische Aufgaben…………………………………. 89 3.3.2 Darstellung sozialen und subjektiven Zeiterlebens als filmische Gestaltungsaufgabe………………………………….. 93 3.3.3 Bedeutung und Anwendungsperspektive…………………..… 106 3.4 Untersuchungskategorie ProtagonistIn…………………………..… 108 3.4.1 Gestaltung sozialer Beziehungen zur Ermöglichung von Subjektivität……………………………………………........... 109 3.4.2 Konstruktion von Subjektivität und Fensterblicke auf Lebenswelten in dokumentarischen Filmen………………..… 113 3.4.3 Bedeutung und Anwendungsperspektive…………………….. 135 3.5 Kategorienbezogene Synopse……………………………………… 138
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Empirisch-methodisches Vorgehen……………………………...…… 145 4.1 Begründung der Filmauswahl………………………………...…… 145 4.1.1 Verortung des Themenbereichs – Erstellung eines Sendeplatzschemas………………...………………………..... 147 4.1.2 Umfang des Themenbereichs – Erstellung eines Filmkorpus... 151 4.1.3 Strukturierung des Themenbereichs – inhaltsanalytische Auswertung der Beiträge und Kategorienbildung……………. 155 4.1.4 Gezielte Auswahl von Filmen……………………………...… 165 4.2 Methode der Filmanalyse und -interpretation…………………….. 168 4.2.1 Bezugspunkte der Filmanalyse……………………………….. 169 4.2.2 Methodische Vorgehensweise……………………………...… 176 4.2.3 Zur Darstellung von Filmanalyse und -interpretation……...… 182
Inhaltsverzeichnis
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Filmanalyse I: „Ich war das perfekte Kind“…………………………. 185 5.1 Beschreibung des Inhalts im Rahmen seiner Formalstruktur……… 185 5.1.1 Inhaltlicher Überblick………………………………………… 185 5.1.2 Formale Ordnungsstruktur……………………………………. 186 5.2 Analyse der filmischen Einheiten………………………………….. 187 5.2.1 Prolog – die ersten drei Sequenzen........................................... 187 5.2.2 Erste Einheit: Punkerin und Stofftiermaus? – Hier stimmt was nicht!................................................................................... 188 5.2.3 Zweite Einheit: Die (Lebens-)Lage differenziert sich………... 200 5.2.4 Dritte Einheit: Ziele werden ins Auge gefasst und ein Hund kommt in die Familie................................................. 209 5.3 Konstruktion einer Suche nach dem „richtigen“ Raum…………… 212 5.3.1 Räumliche Veränderungen: „... nach Amsterdam über Karlsruhe, Köln, Düsseldorf, Gleis 3…“ – die Spur verliert sich….. 212 5.3.2 Arten von Räumen und deren Qualität……………………….. 216 5.4 Zeit als Darstellungsmittel inneren Erlebens………………………. 221 5.4.1 Gestaltung der Filmzeit: Zeit für Bilanzierungen………......… 222 5.4.2 Erzählte Zeit: Perspektiventypische Zeitintervalle…………… 225 5.4.3 Prozessstrukturen der Reise: „Eingesperrt sein“ – „Suchen“/ Reisen – „sich treiben lassen“ – „Bleiben wollen“................... 230 5.5 Protagonistin sucht Balance von Ich und Welt……………….…… 233 5.5.1 Figurenopposition innerhalb eines Registers an Ich-Aussagen. 234 5.5.2 Protagonistinnenerzählung: „Erzähle dich selbst“…………… 237 5.5.3 Die Befindlichkeiten des Selbst als konjunktiver Erfahrungsraum………………………………………………. 241 5.6 Schlussüberlegungen zum Zusammenhang von Bildung und Bewältigung……………………………………………………...… 244
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Filmanalyse II: „Schule des Lebens“………………………………… 247 6.1 Beschreibung des Inhalts im Rahmen seiner Formalstruktur……… 247 6.1.1 Inhaltlicher Überblick………………………………………… 247 6.1.2 Formale Ordnungsstruktur – „Und dann am nächsten Morgen ist halt ein neuer Tag“………………………………………… 249 6.2 Analyse der Handlung im Kontext von Erzählstruktur und Filmsprache……………………………………………………...… 251 6.2.1 Erzählweise: Episoden/ Szenen/ Ellipsen…………………….. 252 6.2.2 Filmische Präsentation: Kameraeinsatz während des Spaziergangs………………………………………………….. 255
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6.2.3
Erzählweise: „Erzähl doch einfach ein bisschen von Dir“ – Besonderheiten der szenischen Darstellung………………….. 257 6.2.4 Erzählweise: Parallele Interaktionsmilieus………………....… 261 6.2.5 Filmische Präsentation: Was sind Dokumente?........................ 268 6.2.6 Filmsprachliche Umsetzung: Aufbau eines situativen Verlaufs………………………………………………………. 270 6.2.7 Filmische Präsentation: Expressive Gestaltungselemente als Besonderheit………………………………………………. 274 6.2.8 Erzählweise: Kontextabhängigkeit von Problemen………...… 277 6.3 Konstruktion von Raum als Interaktionskontext………………...… 280 6.3.1 Milieus und Raumqualitäten: Verhältnis der ProtagonistInnen zu ihrer Umwelt………………………………………………. 281 6.3.2 Räumliche Veränderung: Antiheldengeschichte mit Hilfskonstruktion…………………………………………...… 292 6.4 Darstellungsmittel des Ungleichzeitigen…………………………... 294 6.4.1 Varianzen in der Gestaltung von Filmzeit……………………. 295 6.4.2 Erzählte Zeit: Unterschiedliche Zeithorizonte der ProtagonistInnen……………………………………………… 297 6.4.3 Prozessstrukturen: Unterschiede im subjektiven Zeiterleben von Sarah und Simeon………………………………………... 303 6.5 Übungen, ProtagonistIn des eigenen Lebens zu sein……………… 306 6.5.1 Identitätsarbeit als Grundlage für eine Figurenopposition…… 306 6.5.2 Konjunktive Erfahrungen, Einübung sozialen Handelns und performatives Wissen………………………………………… 309 6.6 Schlussüberlegungen zu Bewältigungshilfen……………………… 314 7
Filmanalyse III: „Der Kick“………………………………………...… 317 7.1 Beschreibung des Inhalts im Rahmen seiner Formalstruktur……… 317 7.1.1 Inhaltlicher Überblick………………………………………… 317 7.1.2 Vorbemerkung – Besonderheiten des vorliegenden dokumentarischen Inhalts…………………………………….. 320 7.1.3 Formale Ordnungsstruktur……………………………………. 322 7.2 Analyse der filmischen Entwicklung im Kontext der Inszenierungsform…………………………………………………. 324 7.2.1 Marinus Schöberl – Absolutheit des Verbrechens…………… 324 7.2.2 Marcel Schönfeld – Trennung von Person und Delikt……….. 333 7.2.3 Marco Schönfeld – Bewältigungskrise……………………….. 338 7.2.4 Zusammenfassung der Inszenierungsform…………………… 348
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7.3 Zwei Konstruktionsschichten von Raum als Besonderheit……...… 7.3.1 Festhalten an Raumbindungen: Der erzählte Raum und sozialräumliche Qualität……………………………………… 7.3.2 Räumliche Veränderung: Der Spielraum als Positionsschema. 7.3.3 Fazit: Die Umkehrung des Verhältnisses von Struktur und Handlung…………………………………………………...… 7.4 Zeit als ‚argumentierende’ Erzähltechnik…………………………. 7.4.1 Anordnung erzählter Zeit: Darstellungsgang vom singulären Ereignis zur mehrfachen Verlaufskurvendynamik…………… 7.4.2 Montage gegenläufiger Zeitschienen: Sinnlosigkeit…………. 7.5 Keine ProtagonistInnen……………………………………………. 7.5.1 Dekonstruktion von Subjektivität durch das Prinzip der Rollenbesetzung……………………………………………… 7.5.2 Prozesse, die nicht zu steuern sind – Generationenbeziehung ohne Figurenopposition………………………………………. 7.5.3 Prozesse, die nicht zu steuern sind – Negation eines konjunktiven Erfahrungsraums………………………………. 7.6 Schlussüberlegungen zu einer stellvertretenden Krisenbewältigung 8
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350 353 355 361 362 364 366 369 369 370 374 378
Resümee………………………………………………………………… 383 8.1 Kontingenz in der Darstellung von Lebensbewältigung………...… 383 8.1.1 Drei Ebenen von Lebensbewältigung………………………… 386 8.1.2 Strukturtypen der filmsprachlich-narrativen Vermittlung……. 390 8.2 Darstellungsweisen der Dissonanz und sozialpädagogisches Fallverstehen………………………………………………………. 392 8.3 Erleben, Ausdruck und Verstehen – Ebenen eines Ergänzungsverhältnisses………………………………………...… 398 8.3.1 Vergleich auf der Ebene des Erlebens……………………...… 401 8.3.2 Vergleich auf der Ebene des Verstehens…………………...… 403 8.3.3 Vergleich auf der Ebene des Ausdrucks……………………… 405 8.3.4 Quintessenz…………………………………………………… 407 8.3.5 Praktische Schwierigkeiten eines Ergänzungsverhältnisses….. 408 8.4 Konsequenzen für eine sozialpädagogische Theorie des dokumentarischen Films…………………………………………… 411
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Inhaltsverzeichnis
Ausblick……………………………………………………………………… 415 Quellenverzeichnis………………………………………………………….. 419 Wissenschaftliche Literatur…………………………………………...… 419 Weitere Literatur und Informationsquellen…………………………...… 430
1 Hinführung
Trenderscheinungen Mittwoch, 20. Februar 2008: Die Fernsehprogrammzeitschrift Gong listet den Abend bei RTL. In der Prime-Time-Zone liegt auf 20:15 Uhr „Deutschland sucht den Superstar“. Angekündigt werden 120 aufgeregte junge Frauen und Männer, die in der Casting-Show inzwischen in die zweite Runde gekommen sind und ihre telegene Wirkung und Gesangsstimme erneut unter Beweis stellen. Danach folgt um 21:15 Uhr die Doku-Soap „Die Ausreißer – Der Weg zurück“. Es handelt sich um ein neues Format, das in der ersten Staffel läuft, an diesem Abend jedoch bereits die fünfte und vorerst letzte Folge über Jugendliche zeigt, die sich an den Rand der Gesellschaft manövriert haben und mit Hilfe des Streetworkers Thomas Sonnenburg an gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten wiedergewinnen sollen – so sie denn wollen und seine Hilfe annehmen. In dieser letzten Folge gilt das Angebot der Ausreißerin „Jessica“. Daran schließt um 22:15 Uhr – an diesem Abend inhaltlich nahtlos – das Magazin „sternTV“ an: „David“, der Junge, über dessen Lebenssituation in der ersten Folge der Doku-Soap berichtet wurde, ist inzwischen gestorben. Diese Information ist natürlich nicht in der Programmankündigung enthalten. Moderator Jauch leitet die Magazinausgabe mit dem anonymen Hinweis ein, den der Sender vor einigen Tagen bekommen habe und der inzwischen geprüft wurde: Der Junge ist zu Tode gekommen und es gibt Anhaltspunkte dafür, dass er sich selbst das Leben genommen hat; ein Grund den „RTL-Streetworker“ Sonnenburg als ersten Gesprächspartner zu positionieren. Der gesamte Abend mit RTL gilt seriell aufbereiteten Jugendthemen. Im Stundenrhythmus werden Möglichkeiten und Zukunftsoptionen der jeweiligen jugendlichen ProtagonistInnen – einmal mehr im Showstil, dann mehr als Reportage und schließlich im Gestus der Aufklärung – gestreift. Man könnte das Pogramm wohlwollend und entspannt als Jugendförderung auffassen, die das Fernsehen im eigenen Kosmos und mittels eigener Möglichkeiten betreibt.1 Der TV1 Bei den drei aufeinanderfolgenden Formaten handelt es sich interessanterweise um ganz typische und originäre Programmelemente des „Deutschen Fernsehens“ in der Bundesrepublik. Hickethier (1998: 80ff) unterscheidet mit Blick auf die Entstehung der Programmgenres Ende der 1940er Jahre drei ursprüngliche Sendungsformen: Mit „die Welt im Gehäuse“ bezeichnet er einen Typus des Gesprächsfernsehens, in dem das Studio Zentrum des Weltgeschehens ist und in dessen Nachfolge u.a.
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1 Hinführung
Abend stellt sich jedoch als weitaus brisanter und aufschlussreicher dar, wenn man ihn kritisch betrachtet: So ist die Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten (KJM) einen Tag zuvor zu dem Ergebnis gekommen, RTL mit einer Geldbuße von 100.000 Euro für die erneuten Verstöße von „Deutschland sucht den Superstar“ gegen die Jugendschutzbestimmungen abzumahnen sowie ein Ordnungswidrigkeiten-Verfahren einzuleiten. Geprüft wurde – auch aufgrund einer Vielzahl von Beschwerden aus der Bevölkerung –, inwieweit das Format die jugendlichen Kandidatinnen und Kandidaten vorführt, bloß stellt und der öffentlichen Belustigung preisgibt. Die Prüfung kam zu dem Ergebnis, „dass aufgrund der Inszenierung durch RTL eine Entwicklungsbeeinträchtigung von Kindern unter 12 Jahren vorliegt. Neben dem herabwertenden Verhalten der Jury problematisierte die KJM insbesondere auch die redaktionelle Gestaltung der Casting-Auftritte durch RTL, die die Kandidaten gezielt lächerlich machte und damit dem Spott eines Millionenpublikums aussetzte. Dies erfolgt zum Großteil durch die Einblendung von Untertiteln und Animationen durch die Redaktion“ (KJM 2008).
Eine weitere voraussetzungsvolle Besonderheit ist im Programmfluss der drei Sendungen gegeben: im Hinblick auf die Zuschauerbindung liegt es an diesem RTL-Mittwoch nahe, eine Verbindung zwischen der Reportage und dem anschließenden Magazin herzustellen und auszubauen. Der Tod des Protagonisten der Pilotfolge „David“ bildet den ersten Magazinbeitrag und setzt sich als Inhalt des Studiogesprächs fort. Die Verbindung zwischen Serienkonzept und Nachricht ist jedoch nicht unproblematisch, da die Dramaturgie der Serie besagt, dass die jugendlichen Ausreißer natürlich „den Weg zurück“ in ein geregeltes Leben beschreiten – dementsprechend ist der Ausgang der Reportage konzipiert. Die Realität ernüchtert hingegen, indem einiges darauf hinweist, dass es der ehemalige Protagonist auch mit aufgezeigter sozialpädagogischer Unterstützung nicht geschafft hat, eine Perspektive für sich zu finden. So betrachtet konfligieren zwei Problemunterstellungen, die zum einen den Streetworker und zum anderen die TV-Macher jeweils in ihrer Fachlichkeit betreffen. Der Moderator Jauch spielt den sachimmanenten Konflikt jedoch nicht aus. Im Studiogespräch werden weder die journalistische Sorgfaltspflicht, über die in diesem Fall zu diskutieren wäre (d.h. zu fragen, inwieweit es für den Jugendlichen eine Zumutung war, sein die heutigen Magazinsendungen gesehen werden können. „Live dabeisein“ ist ein zweiter originärer Typus, in dem das Fernsehen die Funktion einer „Vermittlungsinstanz zur Welt“ durch Außenübertragungen etwa von Sportereignissen und Bundestagsdebatten erfüllt. Dieses mobile Berichten ist Vorläufer des Reportage-Fernsehens. Es erlaubt der ZuschauerIn, Ereignisse und Orte kennen zu lernen, die ihr anders nicht ohne weiteres zugänglich wären. Ein dritter Typus umfasst Sendungsformen der „Unterhaltung und Fiktion“, die sich in „Bunte Abende“, „Kleinkunstdarstellungen“, Quiz-, Kabarett- und neuerdings Casting-Shows und dergleichen entfalteten.
1 Hinführung
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Leben in Form eines ‚Aufmerksamkeits-Rushs’ öffentlich zu machen)2, noch die möglicherweise falsche Einschätzung und verfehlte Hilfe des Sozialarbeiters angesprochen. Stattdessen läuft die Unterhaltung auf den wahrscheinlichen Suizid hinaus, ein Thema, über das Journalisten, die sich dem publizistischen Grundsätzen des Pressekodex verpflichtet fühlen, aus ethischen Gründen gemeinhin nicht oder nur sehr zurückhaltend berichten. Die realisierte Verbindung zwischen beiden Sendungen ist einmal mehr Anlass dafür, nach den Qualitätsunterschieden von öffentlich-rechtlichen Sendern gegenüber dem Privatfernsehen zu fragen. Neben Fragen der freiwilligen Selbstkontrolle des Fernsehens impliziert das Programm jedoch auch Anhaltspunkte für einen thematisch neuartigen Trend. Das mittlere Stück im Programmablauf, die Reportage über „Jessica“, die mit 16 ausreißt und in einen Drogenalltag abrutscht, bildet das eigentlich überraschende Moment. Nicht weil die Reportage in ihrer Machart auf Anhieb Kritik auslösen würde, sondern weil sie zeigt, dass Jugendhilfethemen in der „Mitte der Gesellschaft“ angekommen sind. Das markwirtschaftlich gesteuerte Privatfernsehen hat erkannt, dass sich damit Quote machen lässt. Nach Angaben einer Presseagentur erreichte „Die Ausreißer“ in der Zielgruppe der 14 bis 49jährigen an genanntem Sendungstermin einen Marktanteil von 20%, was einer hohen Einschaltquote entspricht. Auch die vorausgegangenen Ausstrahlungen erzielten ähnliche Ergebnisse. Insgesamt lag RTL an diesem Mittwochabend mit 13 Prozent bezogen auf das Gesamtpublikum noch vor dem ZDF (12,7 %) und der ARD (12,4 %) (vgl. na 2008). Weit wichtiger als das ermittelte Zuschauerinteresse ist jedoch etwas anderes – und damit nähert sich die hier aufgezeigte Programmkonstellation dem Interesse und Arbeitsprogramm dieser Untersuchung an: Die Reflexion eines Sozialarbeiters wird im narrativen Konzept der Doku-Serie „Die Ausreißer“ als leitende Erzählinstanz eingesetzt, seine situationsbezogenen Deutungen und die Suche nach weiteren Informationen über die besondere soziale Konstellation „des Falls“ steuern den Erzählfluss. Ihm beigeordnet ist ein zusammenfassender Kommentar, der über die wesentlichen Schritte im Hilfeprozess, die zwischen den punktuellen filmischen Einblicken erfolgen, informiert. Die Serie setzt also auf typische bzw. fachliche Vorgehensweisen innerhalb von Jugendhilfesettings. Was aus einer Fernsehlogik heraus als Ausdehnung und Weiterentwicklung sogenannter „Lebenshilfethemen“ (Hickethier 1998) in Gestalt neuer Trendformate zwischen serieller Unterhaltung, Sozialexperiment und Information begriffen werden kann, stellt für die Sozialpädagogik in dem Moment, in dem sich dramaturgisches Konzept und fachliche Vorgehensweisen im Rahmen sozialpäda2 Im Sinne der Pressegesetze der Länder, die die Sorgfaltspflicht der Presse beinhalten, hat eine JournalistIn stets auch zu prüfen, inwieweit der Inhalt einer Nachricht den Betroffenen belastet (vgl. Knapp 2006/ 2007: 9).
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1 Hinführung
gogischer Hilfen dermaßen annähern, eine Herausforderung dar oder provoziert zumindest die Frage, inwieweit und mit welchem Ergebnis beides zusammengehen kann. Eine sozialpädagogische Beurteilung ist geradezu herausgefordert. Erster Umriss der Untersuchungsidee Im Rahmen der vorliegenden empirischen Studie werden dokumentarische Filme untersucht und daraufhin befragt, wie sie sozialpädagogische Themen im Bereich der Jugendhilfe darstellen, welche Konzepte der Darstellung zu erkennen sind und wie sich diese Konzepte zu Konzepten sozialpädagogischer Fachlichkeit verhalten. Ein erster Grund für diese Untersuchungsabsicht – das sollte mit der Hinführung plausibel werden – liegt in der Verbreitungsform durch das Fernsehen, durch die die dargestellten Inhalte ein Publikum erreichen, das die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe bei weitem in keinem ihrer Arbeitsfelder erreichen kann.3 Gerade die erwähnte Serie ist ein gutes Beispiel, an dem die ‚Marktfähigkeit’ eines Themas nachvollzogen werden kann, denn sie entspricht einem neuen Trend von seriellen Konzepten zu Erziehungsfragen und Bewältigungshilfen, die als dokumentarische Mischform aus Sozialexperiment und Reportage im Programm der privaten und öffentlich-rechtlichen Sender angeboten werden und die sich in letzter Zeit sehr erfolgreich durchgesetzt haben. Bestünde das Interesse der Untersuchung nun darin, gerade diesen neuen Typus von Sozialreportage in seiner Popularität einerseits und seiner marktrationalen Gestaltung und inhaltlichen Durchdringung von ökonomischen Kalkülen andererseits zu verstehen und zu beurteilen, dann wäre „Die Ausreißer“ ein geeignetes Untersuchungsobjekt. Die Forschungsidee setzt jedoch anders an und liegt in Distanz zu solchen Trenderscheinungen, die immer auch einem enggefassten ‚marketypischen’ Zuschnitt entsprechen müssen und gleichförmig konzipiert sind. Stattdessen ist der Darstellungs- und Gestaltungsspielraum in der Visualisierung des Sozialen von 3 Dieses Argument kann durch folgendes Beispiel unterstrichen werden, das die ARD in einem aktuellen Rechenschaftsbericht als Erfolg herausstellt. Dort heißt es in Bezug auf ein Themengebiet aus dem medizinisch-psychosozialen Bereich: „Mit der Themenwoche Krebs im April 2006 hat die ARD ihre Leistungsfähigkeit im Bereich der allgemein verständlichen Vermittlung von neuesten Forschungsergebnissen und wissenschaftlichen Methoden sowie praktischer Beratung und Lebenshilfe gezeigt (...). Die ARD setzte hier erstmals alle ihre medialen Möglichkeiten ein, um in Dokumentationen, Fernsehfilmen, Talkshows, Reportagen, Telenovelas, Internet-Chats und Podiumsdiskussionen ein gesellschaftlich relevantes Thema nachhaltig ins öffentliche Bewusstsein zu rücken (...) Nach Auswertung der ARD-Medienforschung sahen 48,37 Millionen Menschen mindestens eine Sendung der Themenwoche im Fernsehen, also rund zwei Drittel der Bevölkerung (65,9%)“ (ARD 2006: 23). 2007 wurde die so konzipierte Themenwoche mit dem Motto „Kinder sind Zukunft“ auf die Situation von in Deutschland lebenden Kindern und Familien bezogen.
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Interesse: erforscht werden dokumentarische Darstellungsweisen, um spezifische Darstellungskompetenzen in der Vermittlung von Jugendhilfethemen zu erörtern. Demzufolge werden Filmbeispiele berücksichtigt, die, durch ihren Sendeplatz bedingt, ein breites Potenzial an Darstellungsmöglichkeiten nutzen können. Der Anspruch an ein individuelles Konzept der gestalterischen Umsetzung eines Themas soll gegeben sein und die Frage nach Darstellungsalternativen („so oder anders?“) soll einen vergleichsweise höheren Stellenwert haben als bei Trenderscheinungen. Die untersuchten Filme Auf der Basis eines für die Untersuchung entwickelten Filmkorpus von 114 Beiträgen werden drei dokumentarische Filme umfassend analysiert und interpretiert. Erstens ist das die 45minütige Dokumentation „Ich war das perfekte Kind“ von Heidi und Bernd Umbreit, die für die WDR-Redaktion „Menschen hautnah“ 2005 entstand und zudem auf dem ARD Sendeplatz „Dokumentation am Montag“, „dem wichtigsten wöchentlichen Format für Filmserien im nicht-fiktiven Bereich“ (ARD 2006: 15) erstausgestrahlt wurde. Der ARD-Sendeplatz ist überwiegend für zeitgeschichtlich orientierte Mehrteiler und Portraits namhafter Personen der Zeitgeschichte reserviert4 und soll eine zweistellige Quote einspielen (vgl. Wolf 2005b: 20). Demzufolge versprechen sich die ProgrammplanerInnen gerade von den wenigen hinzugenommenen Einzelsendungen, zu denen der untersuchte Beitrag zählt, eine ähnliche Zuschauerresonanz.5 Das WDR-Format „Menschen hautnah“, das den Beitrag produziert hat, zählt zu den offen formatierten dokumentarischen Sendeplätzen, die wenig Vorgaben machen und dabei vor allem auf eine intensive Kameraarbeit wie auch eine besondere Handschrift der AutorInnen setzen (vgl. WDR 2008, Wolf 2003: 62). Ein Jahr lang begleitet das Filmemacherduo eine junge Frau, die mit 15 zum erstenmal von zuhause ausgerissen ist, seitdem einem freiheitlichen Leben auf der Straße nachgeht und dabei in Tagebuchaufschrieben die Passagen ihrer Suchbewegung nach selbstbestimmten Verhältnissen immer wieder bilanziert. 4 Im Vorfeld und unmittelbar nach der Ausstrahlung des untersuchten Beitrags liefen z.B. Mehrteiler wie „Abenteuer 1990“, „Die Gestapo“, „Hitlers Geheimwaffen“, „Legenden“, „Damals in der DDR“, die z.T. auch im Zusammenhang mit dem 60ten Jahrestags des Kriegsendes zu sehen sind. 5 Wenig später wurde der Beitrag auf dem WDR-Sendeplatz „Menschen hautnah“ gezeigt. Nach Auskunft der Redaktion betrugen die tatsächlichen Einschaltquoten des Beitrags im Rahmen der ARDAusstrahlung 10,7%, d.h. sie erreichte 2.650.000 ZuschauerInnen; im Rahmen der WDR-Ausstrahlung lag der Marktanteil bei 6,2%. Der durchschnittliche Marktanteil des Formats „Menschen hautnah“ für 2007 lag ebenfalls bei 6,2%.
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Zweitens wurde der 102minütige Dokumentarfilm „Schule des Lebens“ von Petra Mäussnest in die Untersuchung einbezogen. Dabei handelt es sich um eine Produktion für die ZDF-Redaktion „Das kleine Fernsehspiel“, die bereits seit Gründung des ZDF 1963 als Entwicklungswerkstatt für junge Filmschaffende im Bereich von Spiel- und Dokumentarfilm gilt. Der Weg zum Filmdebüt wird von der Redaktion dramaturgisch betreut, zugleich wird „Freiraum für Originalität und Eigenheit“ (vgl. ZDF 2005) gewährleistet.6 In Mäussnests Film stehen drei Jugendliche im Mittelpunkt, die die neunte Klasse einer Schule für Erziehungshilfe besuchen. Wenige Monate vor dem Hauptschulabschluss setzt die filmische Erzählung ein und begibt sich mit den ProtagonistInnen in eine aufwühlende, von Veränderungsdruck geprägte Zeit. Drittens wurde „Der Kick“ von Andres Veiel untersucht. Ein 82minütiger Dokumentarfilm, der für das Kino produziert wurde und in der Fachöffentlichkeit mit Kinostart im September 2006 große Anerkennung fand, gemessen an den Besucherzahlen jedoch nicht besonders erfolgreich abschnitt.7 Inzwischen wurde er mehrfach auf dem ZDF Theaterkanal ausgestrahlt, der den Film mitproduzierte. Als Formexperiment zwischen Theaterstück und dokumentarischem Interviewfilm stellt „der Kick“ eine außergewöhnliche Annäherung an einen in der rechtsextremen Jugendszene verübten Mord an einem 16jährigen Jungen aus dem brandenburgischen Potzlow dar.8 1.1 Problemstellung und Begründung der Untersuchungsidee Im Folgenden wird die Untersuchungsidee und das Interesse an prinzipiellen Darstellungsspielräumen bzw. konkret realisierten Darstellungsweisen von drei Blickwinkeln her begründet: erstens mit Blick auf die bislang erzielten Forschungsergebnisse der Sozialpädagogik zu medialen Darstellungsformen sozialer Themen und unterscheidbaren Forschungsfoki; zweitens mit Blick auf die unterschiedlichen Handlungslogiken von dokumentarischen Darstellungsweisen und sozialpädagogischer Fachlichkeit, Unterschiede also, die das Untersuchungsvorhaben grundlegend zu berücksichtigen hat und die den ‚Reiz des Unternehmens’ ausmachen; drittens mit Blick auf eine mögliche Vergleichsbasis beider Hand6 Die Erstaustrahlung von „Schule des Lebens“ am 21. November 2005 erreichte 0,2 Millionen Zuschauer, was einem Marktanteil von 5,3 Prozent entspricht (vgl. ZDF 2008). 7 Die Filmförderungsanstalt (Bundesanstalt des öffentlichen Rechts) erfasst im Rahmen ihres Auftrags fortlaufend die Besucherzahlen deutscher Kinofilme und veröffentlicht sie jährlich in Form der 100 meistgesehenen deutschen Kinoproduktionen (vgl. FFA info 1/07, 2/06). 8 Eine ausführliche Begründung, warum diese Filme ausgewählt wurden und eine kategoriale Unterscheidung, für was sie jeweils stehen, findet sich in Kapitel 4.1 zur Filmauswahl. Ein knapper inhaltlicher Überblick ist jeder Filmanalyse und -interpretation jeweils vorangestellt.
1.1 Problemstellung und Begründung der Untersuchungsidee
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lungsfelder, die darin besteht, dass beide Praxen sowohl Rekonstruktionen wie auch Konstruktionen sozialer Wirklichkeit vornehmen. Im Anschluss daran werden das Untersuchungsziel, die konkreten Fragestellungen und das Arbeitsprogramm vorgestellt. 1.1.1 Mediale Darstellungen von sozialen Themen als Gegenstand sozialpädagogischer Forschung und Theoriebildung Innerhalb der letzten drei Jahrzehnte lassen sich im Rahmen sozialpädagogischer Fachdiskurse mehrere Versuche erkennen, mediale Darstellungen von sozialen Themen in Bezug zu sozialpädagogischer Fachlichkeit zu setzen. Von Versuchen ist deswegen die Rede, weil die Forschungsansätze nicht kontinuierlich weiterverfolgt wurden und kaum zu einer Theoriebildung geführt haben (vgl. Hamburger/Otto 1999: 8f). Das innerhalb der sporadischen Ansätze erkennbare Interesse macht drei – auch zeitgeschichtlich beeinflusste – Kontexte unterscheidbar, die im Folgenden entwickelt werden. Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit Den historischen Ausgangspunkt für sozialpädagogische Theoriebildung und Praxis, die sich mit medialen Darstellungen beschäftigt, bilden ideologiekritische Medientheorien der 1970er Jahre (z.B. Negt/Kluge 1972), die zugleich das Potenzial für eine Praxis der Gegenöffentlichkeit in der ‚authentischen Erfahrung’ jenseits eines massenmedial überformten Alltagsbewusstseins entdeckten. Eine massenmedial gesteuerte Herrschafts-Öffentlichkeit und eine normativ bestimmte, demokratische Gegenöffentlichkeit wurden dabei gegeneinander in Stellung gebracht.9 Innerhalb der Sozialpädagogik haben sich von dort aus immer wieder Thematisierungen ihres Selbstverständnisses zur Aufgabe ‚Öffentlichkeit herzustellen’ entwickelt (z.B. Marchal/Spura 1981) und sich hin zu der Frage verdichtet, welche Bedeutung mediale Darstellungsweisen sozialpädago9 Infolgedessen konzentrierte sich ideologiekritische Medienforschung z.B. bei Wember (1972) auf die Frage nach der Sachangemessenheit der filmischen Form und führte damit zu einer (aus heutiger Sicht unproduktiven) Dichotomie von richtigen gegenüber falschen Darstellungen. Als Beispiel einer Praxis der Gegenöffentlichkeit können Filme wie „Bambule“, für den Ulrike Meinhof Drehbuch schrieb, angeführt werden. Darin wird in kritischer Absicht die autoritäre Form der Heimerziehung als ein Inhalt erschlossen, der bis dahin weder Thema der medialen Berichterstattung noch Thema im öffentlichen Bewusstsein war. Die geplante Fernsehausstrahlung des 1970 fertig gestellten Fernsehfilms konnte allerdings erst wesentlich später, in den neunziger Jahren nachgeholt werden (Kroth 2008).
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gisch relevanter Themen für deren Stellung und Funktion haben (Winkler 1999, Treptow 2001b).10 Im näheren Umfeld der Sozialpädagogik und in enger Verschränkung mit ihren Handlungsfeldern entwickelt die Medienpädagogik einen direkten Anwendungsbezug. Mit ihrem Paradigmenwechsel Mitte der 1970er Jahre hat sie eine Wende von der Kontroll- hin zur Handlungsorientierung vollzogen und sich damit ihre wissenschaftliche Grundlage erarbeitet. Medien gelten als Artikulations- und Kommunikationsinstrument und werden auf eine emanzipatorische Praxis hin befragt (zusammenfassend Schorb 1995). Öffentlichkeit herzustellen wird als pädagogisches Programm verstanden und in Formen medienbezogener Praxis übersetzt. Diese sind primär im Feld der außerschulischen Kinder- und Jugendbildung verortet und beziehen sich auf regionale Teilöffentlichkeiten.11 Maßgebliche Überlegungen, die das Verhältnis einer medienpädagogischen Sozialarbeit zu Medienöffentlichkeiten als Gegenöffentlichkeit theoretisierten, orientierten sich an einer Umkehrung des Verhältnisses von Produzent und Rezipient und damit einer teilhabeorientierten Aktivierung und Emanzipation des Individuums aus Bewusstseinszwängen. Verwertungsinteressen Die Normalisierung der Sozialen Arbeit als „lebenswelt- und dienstleitungsorientierte Infrastruktur des Sozialstaates“ (Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 12) macht Medienöffentlichkeit in anderer Hinsicht interessant: Normalisierung meint eine umfassende Ausdifferenzierung der Angebotsstruktur und eine sozialrechtliche Modernisierung der Leistungsformen der Sozialpädagogik, die als Reaktionen auf die Pluralisierung und Enttraditionalisierung moderner Gesellschaften erfolgt, in denen viele Menschen im Realisieren ‚normaler Lebensentwürfe’ an Grenzen stoßen und Sozialpädagogik mit lebenslagenunterstützenden,
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Das Verhältnis der Sozialpädagogik zur medialen Öffentlichkeit wurde zuletzt als Querschnittsthema und dementsprechend ausführlich im Anschluss an einen von der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 1998 ausgetragenen Kongress „Medien-Generation“ behandelt. Im Ankündigungstext zum Symposium „Öffentlichkeit – Medialer Handlungsdruck und Erfahrungsrahmen einer reflexiven Sozialpädagogik“ heißt es, dass Öffentlichkeit ein „notwendiges Reflexionspotential“ wie auch einen „Mobilisierungsfaktor“ für Sozialpädagogik darstellt (vgl. Gogolin 1998: 36). Sozialpädagogik sei dazu aufgefordert, einen kritischen Beitrag in der Ausbildung eines öffentlichen Bewusstseins zu leisten ebenso wie sie die über Massenmedien verbreitete Information zu beurteilen habe. 11 Hierzu zählt auch die Entstehung von sogenannten Bürgermedien in unterschiedlichen Formen und auf verschiedenen Plattformen: als offene Kanäle, als Freies Radio, als Podcast, Blog oder Domain im world wide web.
1.1 Problemstellung und Begründung der Untersuchungsidee
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sozialintegrativen und präventiven Angeboten zunehmend nachgefragt wird.12 Diese verstärkte öffentliche Relevanz fordert zugleich zu einer Bilanz des öffentlich verfügbaren Wissens und damit des Bilds der Sozialpädagogik in den Medien heraus. Die öffentliche Wahrnehmung und das Verständnis von sozialen Problemlagen, individuellen Bewältigungsmustern und gesellschaftlich organisierten Hilfe- und Bildungsmöglichkeiten werden in hohem Maße von der Darstellung und Vermittlung dieser Themen im Fernsehen geprägt. Sie bilden gewissermaßen eine Außenperspektive auf die fachliche Praxis der Sozialpädagogik bzw. auf das, mit dem sie befasst ist. Den Anspruch der Selbstbeobachtung in medienöffentlichen Diskursen verfolgen mehrere empirische Studien: Zunächst ist Flössers 1992 durchgeführte ‚Public-Image’-Studie zu nennen, die die „Entwicklung der Jugendhilfe von einer Fürsorge- hin zu einer Dienstleistungsmentalität“ (Flösser 1994: 48) im öffentlichen Meinungsbild untersucht. Sie deutet ihre Befunde, die weitgehend gegen eine Normalisierung der Jugendhilfe sprechen, auch vor dem Hintergrund der Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Medien, die gerade zu einem ‚erzeugten Nichtwissen’ der Laienöffentlichkeit beitragen würden – ohne dies aber empirisch zu belegen – und erkennt einen Bedarf an facheigener Öffentlichkeitsarbeit. Ähnlich argumentieren Puhl (2002) und Straub (1999), die zwischen Beteiligungsformen der Sozialen Arbeit an öffentlichen Diskursen und ihrem negativen Bild in den Medien einen direkten Zusammenhang behaupten.13 Interessant ist, dass diese Ansätze inzwischen mit einem anderen Modell von Öffentlichkeit operieren. Nicht mehr wird – wie im kulturkritischen Ansatz – an die normative Bedeutungsschicht des Öffentlichkeitsbegriffs angeknüpft, sondern an den instrumentellen Charakter der 12 Dies drückt sich beispielsweise in der Ausweitung sozialpädagogischer AdressatInnenkreise (Thole 2002: 47) sowie in den steigenden Zahlen der in den Sozialen Berufen beschäftigten Personen aus (Rauschenbach/Züchner 2001). 13 Auch die Medienanalyse von Hamburger u.a. kann ergänzend angeführt werden, die sich als „explorative Sondierung“ auf die Darstellung der Sozialen Arbeit in Tageszeitungen konzentriert (Hamburger 1999: 81). Eine in diesem Kontext weiterhin aufschlussreiche empirische Studie stammt aus dem US-amerikanischen Raum und bezieht sich auf den Spielfilm. Freeman und Valentine (2004) untersuchen 47 Hollywoodproduktionen, die in der Zeit zwischen 1938 und 1998 entstanden sind, auf das in ihnen repräsentierte Bild Sozialer Arbeit. Ergebnis ist ein konservatives Bild der Sozialen Arbeit, indem die Fachkräfte in der Hauptsache mit kontrollierend-fürsorgerischem Handeln in Verbindung gebracht werden, Aspekte ihrer berufsbezogenen Professionalität vernachlässigt und strukturelle Zusammenhänge zwischen Problemlagen von AdressatInnen und Sozialstaatlichkeit dethematisiert werden. Mit Bezug auf eine Studie von Korff (1997) zur Ikonografie von Armut schließt Thiersch darauf, dass es offensichtlich schwer fällt, Alltagszuständigkeit in Form vielfältiger Dienstleitungen (Programme, Services etc.) zu verstehen und deswegen „altüberkommene Klischees“ (Thiersch 1999: 95) wie etwa des Bettlers mit ausgestrecktem Arm oder die im Bild einer Mutter Theresa gegebene Unmittelbarkeit von Hilfstätigkeit nach wie vor öffentliche Darstellungsweisen prägen. Diese auf Unmittelbarkeit von Hilfe setzende Darstellungsstrategie sei jedoch häufig auch Ankerpunkt der Werbestrategien von caritativen Organisationen.
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Medienberichterstattung im Sinn von eigenen Verwertungsinteressen, sprich eigener Öffentlichkeitsarbeit (vgl. Hamburger/Otto 1999: 8). Konkurrenzen Mit dem Begriff der „Entgrenzung“ werden derzeit mehrere Herausforderungen und theoretisch denkbare Neuausrichtungen diskutiert, die zum einen mit dem Verhältnis der Sozialpädagogik zum Sozialstaat und seiner Entwicklung zu tun haben, und die zum anderen auf Auflösungserscheinungen klassischer Problembezüge reagieren, die für die sozialpädagogischen Arbeitsfelder lange Zeit orientierend waren (vgl. Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 13ff). „Entgrenzung“ bezeichnet eine neue Unschärfe hinsichtlich sozialpädagogischer Zuständigkeiten und Problembezüge, die in Konkurrenzen zu oder auch in Arbeitsbündnisse mit anderen Kompetenzprofilen führen kann. Dies betrifft auch eine Entgrenzung der Bildungsorte und der Orte, an denen Bewältigungskompetenzen erfahren und angeeignet werden können. In diesem Entgrenzungsprozess stehen die „Vermittlungs- und Konstruktionsleistungen der Individuen“ (ebd. 190) hinsichtlich ihres Wissens, das sie in diversen Tätigkeits- und Lernfeldern aufnehmen, im Mittelpunkt. Wissenserwerb und Erfahrungsbildung sind damit entinstitutionalisiert und an Gelegenheiten zur Kompetenzentwicklung gebunden. Parallel dazu gewinnt die ‚soziale Funktion’ des Fernsehens heute an Bedeutung, weil – unterstützt durch die diversen Formatierungsprozesse der Programme, die eine Publikumsbindung bewirken sollen (vgl. Wolf 2003) – „pädagogisch strukturierte Wissensvermittlung“ nahezu in allen Genres gegenwärtig ist (vgl. Kade/Lüders 1996). Eine Facette der „Entgrenzung“ des Pädagogischen stellen also auch Fernsehangebote dar und damit hat die Frage nach dem Bezug von sozialpädagogischer Fachlichkeit auf Medienöffentlichkeiten erneut eine andere Wendung bekommen. Es geht nun darum, sich in Auseinandersetzung mit dem Medienangebot der Exklusivität (sozial-)pädagogischer Handlungskompetenz zu vergewissern (vgl. Winkler 1999, Lüders/Kade/Hornstein 1995). Die Auseinandersetzung mit Medienöffentlichkeiten beinhaltet in diesem Zuschnitt eine Konkurrenzperspektive. „Entgrenzung“ meint dann erstens eine Zunahme an Gelegenheiten, (sozial-)pädagogisch strukturierte Bewältigungshilfen außerhalb der klassischen institutionalisierten Formen und in exemplarischer Nachahmung durch das Fernsehen rezipieren zu können.14 Zweitens steigt mit den Entstrukturierungserschei14
Ein aktuelles Beispiel dafür ist neben der eingangs erwähnten Reportage auch Katharina Saalfrank als „Super Nanny“ in der gleichnamigen RTL Doku-Soap. Das Konzept der erfolgreichen TV-Serie besteht darin, dass Familien mit Erziehungsschwierigkeiten sich an den Fernsehsender wenden können und bei ‚Problemeignung’ die TV-Pädagogin als Coach bei den Problemen in der Eltern-Kind-
1.1 Problemstellung und Begründung der Untersuchungsidee
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nungen institutioneller Sozialpädagogik die Notwendigkeit, Deprofessionalisierungstendenzen in der Bereitstellung von (anders legitimierten) Unterstützungsleistungen aufzudecken und zu problematisieren.15 Systematisierung erkennbarer Erkenntnisinteressen Utopie einer unabhängigen Öffentlichkeit, Verwertungsinteresse an medialen Darstellungsformen und Konkurrenz im Hinblick auf Bewältigungshilfen und Bildungsangebote – alle drei Thematisierungsweisen belegen die Bedeutung der mit dem Untersuchungsvorhaben aufgeworfenen Frage nach Darstellungsspielräumen in der Visualisierung des Sozialen. Auch das Interesse der Praxis an einer kontinuierlichen Diskussion zur Darstellung des Sozialen, die auf die Identifikation hochwertiger Medienbeiträge hinausläuft, unterstreicht diese Bedeutung: so z.B. der von der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ) ausgeschriebene ‚Medienpreis der Jugendhilfe’, der journalistische Arbeiten zu Jugend- und Jugendhilfethemen auszeichnet oder der Medienpreis der freien Wohlfahrtspflege, der in den Bereichen Hörfunk, Fernsehen, Print und Sozialfotografie für herausragende journalistische Arbeiten zu sozialen Themen vergeben wird. Die aufgezeigten Perspektiven verweisen zugleich auf die Problemstellung, dass ein institutionalisierter medienbezogener Fachdiskurs im Rahmen von Sozialpädagogik und Erziehungswissenschaft zwar notwendig, die empirische Basis dafür hinsichtlich der verschiedenen Genres des Fernsehens aber noch längst nicht geschaffen ist. Dieses Manko beschreibt nicht nur den quantitativen Umfang bislang vorliegender Befunde, sondern auch die Systematisierung des WisBeziehung zur Seite gestellt bekommen. Eine Erhebung zur Nutzung und Bewertung der Serie zeigt, dass sie überwiegend ein Publikum junger Frauen ohne höheren Bildungsabschluss und mit ausgeprägtem Interesse an Erziehungsthemen anspricht. Die Schlussfolgerungen, die die Forschergruppe vom Zuschauerprofil ableitet, z.B. dass das Format nicht nur als medienökonomischer sondern auch als Erfolg einer demokratischen Fernsehkultur interpretiert werden müsse (vgl. Grimm: 2007), sind m.E. zu kurz gegriffen. 15 In diesem Kontext stehen Überlegungen von Winkler (1999) und Kade/Lüders (1996). Winkler untersucht, inwieweit sozialpädagogische Themen durch eine ‚Fremdthematisierung’ in diversen TVFormaten im Prozess der Ausdifferenzierung der Fernsehlandschaft überhaupt noch als solche identifizierbar und einem fachlichen Bezugssystems (Sozialpädagogik) zuzuordnen sind. Wo dies nicht mehr gelingt, besteht die Gefahr der Individualisierung von Problemlagen auf Seiten der AdressatInnen und der Trivialisierung ihres Sujets auf Seiten der sozialpädagogischen Professionalität. Ausgehend von der These und empirischen Rekonstruktion, dass „pädagogisch strukturierte Wissensvermittlung heute vor allem im Fernsehen nahezu allgegenwärtig ist“ (ebd.: 889) fragen Kade und Lüders nach den Implikationen für eine pädagogische Professionstheorie und kommen zu dem Ergebnis, dass wesentliche Elemente sozialpädagogischer Professionalität z.B. interaktive Aushandlungsprozesse in medialen Vermittlungsprozessen (gerade aufgrund der Struktureigenschaften der Medien) nicht realisiert werden können.
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sensstands. Die thematische Anbindung medienbezogener Forschung an sozialpädagogische Untersuchungsfelder verdeutlicht gerade erst den Nutzen fürs eigene Fach, präzisiert das jeweilige Erkenntnisinteresse und macht klar, welche empirischen Fragestellungen, Forschungszuschnitte und Untersuchungsdesigns notwendig sind. Eine erste Systematisierung des bisherigen Forschungstands lässt drei Forschungsfoki erkennen, die im Folgenden beispielhaft auf Jugendhilfe bezogen sind: Ein erster Forschungsfokus ergibt sich aus einem auf Parteilichkeit gründenden Interesse an der Darstellung von AdressatInnen der Jugendhilfe. Zu fragen ist, wie sie und ihre Lebenssituation dargestellt sind. Es kann dabei angenommen werden, dass sich in der medialen Situationsdeutung z.B. von Jugendlichen in prekären Lebenslagen zugleich Zuschreibungsprozesse realisieren, die indirekt zurückwirken auf die gesellschaftlichen Verwirklichungsmöglichkeiten dieser Jugendlichen. Eine solche Perspektive schließt sich an aktuelle Überlegungen zu einer erweiterten Adressatenforschung an (vgl. Bitzan/Bolay/Thiersch 2006). Mediale Darstellungen wären damit ein weiterer Kontext neben den Selbstdeutungen von AdressatInnen, der Erforschung ihrer Lebenswirklichkeit, ihrer Selbstthematisierung als AdressatInnen von Hilfe resp. – in einem engeren Sinn – ihrer Nutzungsperspektiven auf Angebote der Jugendhilfe. Der mediale Kontext zielt analytisch auf die Konstruktion einer ‚öffentlichen AdressatIn’ der Jugendhilfe und damit einer spezifischen Vergesellschaftungsform von JugendhilfeadressatInnen. Im Mittelpunkt stünde dabei die mediale Konstruktion von Bewältigungskonstellationen, von Verläufen postmoderner Bewältigungsaufgaben und darauf bezogenen Risikolagen, wie sie als öffentlicher Belang und als öffentliche Aufgabe thematisiert werden. Ein zweiter Forschungsfokus resultiert aus dem Bild der Jugendhilfe, das im Rahmen medialer Darstellungen geschaffen wird und im Verhältnis steht zu facheigenen Formen der Öffentlichkeitsarbeit. Die leitenden Interessen gelten hier dem werbenden Charakter und der Information zu Jugendhilfezuständigkeiten und -kompetenzen, die ein ‚Fremdbericht’ mehr oder weniger beinhaltet. Ein dritter Forschungsfokus ergibt sich aus einem generalisierten sozialpolitischen Interesse der Sozialpädagogik, strukturelle Probleme und Ungleichheitsverhältnisse innerhalb der Gesellschaft öffentlich zu thematisieren und Medialität dabei als Zugangsressource zu betrachten, damit „Privatheit nicht nur reserviert, sondern mit Hilfe des Prinzips von Öffentlichkeit auch diskutiert werden kann“ (Richter 2001: 1303). Nicht nur der Medieninhalt und seine Thematisierungsweise, sondern auch die ‚SprecherInnen’ und ihre Interessen spielen in dieser Perspektive eine Rolle. Im Fokus stehen hierbei Repräsentationspolitiken und dominierende Normalitätskonzepte, die durch Medienveröffentlichungen als strategischer Durchsetzungsoption nachhaltig etabliert werden.
1.1 Problemstellung und Begründung der Untersuchungsidee
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Der Zuschnitt der vorliegenden Forschungsarbeit entspricht dem erstgenannten Forschungsfokus wie noch genauer zu zeigen sein wird (vgl. Kapitel 4.1). Bei jeder thematischen Anbindung medienbezogener Forschung an sozialpädagogische Fragestellungen geht es darum, Medienbeiträge angemessen beurteilen zu können. Damit verbindet sich die Notwendigkeit, der jeweiligen ‚Textsorte’ gerecht zu werden, d.h. die filmsprachlich angelegte Entfaltung von Textstrukturen bei der Rezeption zu berücksichtigen. Im Folgenden geht es um diesen tendenziell vernachlässigten Aspekt in der sozialpädagogischen Medienforschung. Vernachlässigung der Rezeptionsästhetik Der aufgezeigte Forschungsstand demonstriert ambige Bezüge zwischen einer Nutzbarmachung medialer Darstellungen und der Kritik an denselben und damit verbunden auch an ihrer führenden Rolle in der Vermittlung sozialer Themen. Umso zentraler sind daher – angesichts der benannten Forschungslücke – analytische Möglichkeiten zur Untersuchung und Beurteilung nicht nur der dargestellten Inhalte, sondern insbesondere der Darstellungsformen. Damit ist eine weitere Leerstelle angesprochen. Treptow benennt dieses Problem als „Vernachlässigung der ästhetisch-erlebnisorientierten Dimension in der Sozialpädagogik“ (Treptow 1993: 6). Mit Blick auf jugendkulturelle Interessen argumentiert er folgendermaßen: Sozialpädagogik hält keine ästhetische Theorie bereit, die ermöglichen würde, die Eigenlogik medialer Darstellungen und damit die stoffliche Charakteristik spezifischer medialer Erlebnisformen als Beweggrund für deren rezeptive Aneignung zu untersuchen. Angesichts dieser Leerstelle entwickelt Treptow einen theoretischen Rahmen, der das Verständnis jugendkulturell relevanter Ereignisse kategorial erweitert. Zentral ist der Zusammenhang zwischen film- und medienästhetischen Strukturierungsformen und den darin angelegten Erlebnisformen, die Jugendliche gezielt suchen. Dieses jugendkulturelle Interesse kann verallgemeinert werden als Interesse an „Bewegung“. „Bewegung“ bildet einerseits einen „Schlüsselbegriff für das Verständnis von Jugendkultur“ (Treptow 1993: 11) und ist anderseits als Rezeptionsästhetik populärer Medieninszenierungen – als Strukturierungsprinzip des Actionkinos, des Videospiels oder der Pop- und Rockmusik – angelegt. Die Studie von Treptow (1993) beinhaltet einen medienästhetisch interessierten und deswegen im Rahmen von sozialpädagogischem Denken markanten Zugang zu medialen Darstellungsformen. „Bewegung“ als Filmprinzip zu sehen macht es notwendig, das Arrangieren von zeitlichen und räumlichen Struktur-
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mustern zu fokussieren und damit solche Gestaltungsprozesse zu untersuchen, über die professionelle Unterhaltungsformen ihre intendierte Wirkung entfalten. Mediale Inszenierungen sind in dieser Perspektive nicht als Entgrenzungserscheinungen von Interesse, sondern im Gegensatz dazu als spezifisch begrenzte und strukturierte Ereignisareale (vgl. ebd.: 157). Gerade aufgrund des ausgeprägten Interesses für mediale Rezeptionsästhetiken, d.h. für die Sinnentfaltung ästhetischer Strukturierungen in der Rezeption, ist dieser Zugang beispielhaft für die vorliegende Untersuchung. Auch für den Untersuchungsbereich dokumentarischer Fernsehbeiträge soll dieser Zugang übernommen werden, indem an den zeiträumlichen Strukturierungsformen der Filme angesetzt wird. Die Studie von Treptow fördert schließlich ein Bewusstsein für den Übersetzungs- und Gestaltungsprozess von lebensweltlichen Interessen und Problemstellungen im Film. Mit solchen Übersetzungsfragen ist die Handlungslogik filmsprachlicher Gestaltung angesprochen, die sich von einer sozialpädagogischen Handlungslogik grundlegend unterscheidet. Damit verbindet sich eine weitere Begründungsfacette, die den Zuschnitt der vorliegenden Untersuchung bedingt. Im Folgenden wird darauf eingegangen. 1.1.2 Sozialpädagogik und Medienöffentlichkeiten – Bezug auf eine ‚signifikant andere’ Praxis An Jugend, Jugendlichen und Jugendthemen richten sich zum einen Konzepte der medialen Darstellung und zum anderen Konzepte der fachlichen Intervention und Unterstützung im Rahmen von Jugendhilfe aus. Charakteristisch für den hier gewählten Überschneidungsbereich sind jedoch nicht nur gleiche Themenfelder sondern auch strukturelle Unterschiede zwischen beiden Praxen. Das heißt, gerade weil dokumentarische Fernsehfilme und sozialpädagogische Fachlichkeit ihre Handlungsweisen an unterschiedlichen Grundlagen orientieren, entsteht bei thematischen Überschneidungen zwangsläufig ein spannungsreiches Verhältnis (vgl. Treptow 2001b). Diese unterschiedlichen Grundlagen sollen vorläufig auf zwei Differenzmerkmale bezogen werden, die in einem folgenden Kapitel (3.1) noch genauer ausgearbeitet werden: Erstens – Mediale Darstellungen zielen von ihren Grundsätzen her auf öffentliche Kommunikation und bilden unabhängig davon, für welche gesellschaftlichen Gruppen sie offen sind und für welche nicht, Themen von allgemeinem Interesse bzw. stellen Angebote öffentlicher Meinung dar. Dabei arbeiten sie untereinander in einem Konkurrenzverhältnis um Aufmerksamkeit und Zustimmung (vgl. Neidhardt 1994: 36). Für Sozialpädagogik in ihren Handlungsfeldern gilt dies nicht. Hier ist die Ausgestaltung von Binnenbeziehungen der so-
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zialen Dienstleistung zentral, die sich an „kommunikativem Handeln“ ausrichtet, d.h. einer Interaktionsform, die auf eine kommunikative Ethik der Verständigungsorientierung zurückzuführen (vgl. Rauschenbach/Treptow 1984) und damit auf eine gegenüber den Medien grundständig andere Kommunikationssituation zentriert ist.16 Zweitens – Mediale Darstellungen haben ihre Professionalität darin, ein Repertoire an Darstellungsformen anzuwenden, dabei vor allem auch symbolische Präsentationsweisen zur Deutung und Sinninterpretation gesellschaftlicher Realität einzusetzen. Ihr Bezugsfeld ist also ein ästhetisches und ihre Funktion liegt in der Vermittlung von Aussagen über einen bestimmten gesellschaftlichen Ausschnitt. Die diskursiven Mittel der Vermittlung werden in der Filmphilologie als „visueller Sprechakt“ (Kanzog 1991: 68) und in Bezug auf den Dokumentarfilm als „visuelle Rhetorik, die hauptsächlich mit dem Bild argumentiert“ (Zimmermann 1990: 107) begriffen. Ein sozialpädagogisches Professionalitätsverständnis kann demgegenüber als „fallbezogene Verwendung wissenschaftlichen Wissens in Prozessen einer stellvertretenden Deutung komplexer Problemlagen“ (Dewe u.a. 2001: 12) aufgefasst werden. Es geht also nicht darum, Deutungen mit Hilfe angemessener ästhetischer Ausdrucksformen vorzunehmen, sondern situationsund kontextbezogen und vor allem an den Plausibilitäten der Betroffenen orientiert Begründungszusammenhänge anzubieten, um mit ihnen gemeinsam Handlungsalternativen zu entwickeln (vgl. Dewe/Otto 2001: 1413), d.h. konkrete Veränderungen zu unterstützen.17 Aufgrund der Tatsache, dass es wie oben gezeigt aus mehreren Gründen sinnvoll und wichtig ist, dass sich sozialpädagogische Fachlichkeit auf mediale Darstellungsweisen von Jugendhilfe relevanten Themen bezieht, und zum anderen diese Darstellungsweisen offensichtlich durch anders liegende Kompetenzen und fachliche Ansprüche hervorgebracht sind und einen anderen gesellschaftlichen Ort haben, lässt sich von einer ‚signifikant anderen’ Praxis sprechen, die z.B. die eingangs angeführte Fernsehreportage für sozialpädagogische Fachlichkeit darstellt. Die Untersuchungsidee basiert auf der grundlegenden Unter16
Zur Rolle facheigener Veröffentlichungen lässt sich Folgendes hinzufügen: Diese sind in der Regel entweder für ein Fachpublikum verfasst oder entstehen als Situationsberichte im Auftrag der Politik, um gesellschaftliche Veränderungstendenzen in den Fachbereichen der Kinder- und Jugendhilfe empirisch zu erfassen und beurteilen zu können (Kinder- und Jugendbericht, Bildungsbericht, Bericht zur Kinderarmut). Veröffentlichung – so ein Vorschlag von Schaarschuch – kann aber auch als ein innerhalb der Institution realisiertes Prinzip demokratischer Öffentlichkeit verstanden und umgesetzt werden (vgl. Schaarschuch 1999: 48). 17 Ein ästhetisches Bezugsfeld kann zwar eingebettet sein in einzelne Arbeitsfelder z.B. die Kulturpädagogik, ist dann aber nicht leitend für pädagogisches Handeln und strukturiert es nicht, sondern ist als Lerngegenstand, an dem sich freiheitliches Denken und Urteilsfähigkeit über Deutungskonventionen hinaus ausbilden kann, denkbar (vgl. Mollenhauer 1990).
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schiedlichkeit der beiden Handlungspraxen und Fachlogiken; erst dadurch macht es Sinn, nach den Konstruktionsprozessen zu fragen, die in der genauen Analyse von einzelnen dokumentarischen Filmen aufzuschlüsseln sind. Dadurch entsteht jedoch auch eine weitere, methodologische Problemstellung, die sich auf die Erforschung einer anders liegenden Kompetenz bezieht. Denn Öffentlichkeitsrelevanz und ästhetisches Bezugsfeld sind nicht nur auf der Ebene des Ergebnisses (Quote, Produktästhetik) zu berücksichtigen, sondern auch auf der Ebene der Hervorbringung (als in den Gestaltungsprozess integrierte Fragen der Handlungskompetenz – „so oder anders?“). Um den unterschiedlichen fachlichen Grundlagen gerecht zu werden, erscheint eine fallbezogen hermeneutische Vorgehensweise, die die Strukturierungsformen des einzelnen Medienbeitrags in der Vermittlung von Jugendhilfethemen herausarbeitet, ein geeigneter methodischer Weg. Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist, Gemeinsamkeiten im Unterschiedlichen zu erkennen. Begreift man die beiden Fachlogiken als spezifische Zugänge zu sozialer Wirklichkeit, heißt das, zwischen verschiedenen rekonstruktiven Ansätzen Verbindungen herzustellen. Dieser Begründungsaspekt wird im Folgenden näher betrachtet. 1.1.3 Sozialpädagogische Forschung als (Re-)Konstruktionsprozess sozialpädagogischer Situationen Anfang der 1990er Jahre erscheint im Sammelband „Der Sozialpädagogische Blick“ von Rauschenbach, Ortmann und Karsten ein Beitrag mit dem Titel „Wie die Wirklichkeit sozialpädagogisch wird“ (Stickelmann 1993). Stickelmann richtet sich darin in kritischer Absicht an die eigene Fachöffentlichkeit, um für mehr Ganzheitlichkeit und Methodenpluralität in der sozialpädagogischen Forschung zu plädieren. Forschungsmethoden stellen einen Schlüssel in der Herstellung von Fachwissen dar und begrenzen zugleich den Blick. „Sozialpädagogik als wissenschaftliche Disziplin ist der Versuch, Situationen unter dem Blickwinkel sozialpädagogischen Wissens ‚herzustellen’“ (ebd.: 175f, Herv. C.F.). Stickelmann beschreibt einen Kreislauf in der Generierung von Wissen, das sich zunehmend in Form von subjekt- und situationsunabhängigen Tatsachen von den Bedingungen sozialpädagogischen Handelns und solchen Erfahrungen entfernen würde, die nicht anschlussfähig an bestehende Typisierungen sind. Dieser Kreislauf führe dann zu einseitigen (Re-)Konstruktionen von sozialpädagogischen Situationen, wenn ausschließlich begrifflich bereits erschlossene Segmente sozialpädagogischer Wirklichkeit identifiziert werden, die selektiven Interpretationsleistungen sich also im Rahmen eines bestehenden Wissensgefü-
1.1 Problemstellung und Begründung der Untersuchungsidee
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ges bewegten und „ungeklärt bleibt (..), inwieweit die wissenschaftlichen Kategorien und Theoriesegmente den zu betrachtenden, den zu erklärenden Fall abdecken“ können (ebd.: 183). Demgegenüber müsse sich sozialpädagogische Forschung an der prinzipiellen Unabgeschlossenheit von Erfahrung orientieren. „Dieser Unabgeschlossenheit als Konstruktionsprinzip haben auch die Methoden Rechnung zu tragen, indem mit ihnen auf Entschlüsselung des Materials gesetzt wird, das das vorhandene Wissen erweitert (im Gegensatz zum methodischen Vorgehen des Unterordnens von Wissen unter bereits vorhandene Konstruktionen)“ (ebd.: 186). Diesem Anliegen wird mit dem Begriff der „Rekonstruktiven Sozialpädagogik“ (Wensierski/Jakob 1997), der einige Jahre später zentralen Einfluss auf die sozialpädagogische Methodenfrage genommen hat, entsprochen. Darunter wird eine Grundfigur in Forschung und Praxis gefasst, die auf das Verstehen „einer von handelnden Subjekten sinnhaft konstruierten und intersubjektiv vermittelten Wirklichkeit“ zielt (ebd.: 9).18 Verstehen bezieht sich auf Sinnkonstruktionen der Befragten (rekonstruktives Interesse) und beinhaltet zugleich konstruktive Anteile, die im Moment der intersubjektiven Vermittlung entstehen. Rekonstruktion und Konstruktion bedingen sich also im Rahmen sozialpädagogischer Methodik gegenseitig. Das Vorhaben der Rekonstruktion beinhaltet immer auch Schritte der Konstruktion, da beim Versuch des Sinnverstehens stets auch Handlungen des Konstruierens eine Rolle spielen, die sich aus dem Bezug zur eigenen Fachlichkeit ergeben. Diese Überlegungen sind für die Begründung des Untersuchungsvorhabens in verschiedener Hinsicht relevant: Erstens wird daran besonders deutlich, dass Sozialpädagogik in Theorie und Praxis Konstruktionsprozesse vornimmt, um ihre fachlichen Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln und zu begründen. Analog dazu stellen dokumentarische Filme Konstrukte dar, die in der Absicht, die soziale Wirklichkeit von Heranwachsenden treffend auszudrücken, gestaltet wurden. Sie können daher als der Versuch angesehen werden, Situationen unter dem Blickwinkel von allgemeinen 18
Ein solches Ziel setzt sich z.B. eine konstruktivistisch orientierte psychosoziale Diagnostik, die die Vorabdefinition diagnostischer Merkmale ablehnt, um dem Zustandekommen eines sozialen Tatbestands in aktuellen Interpretationsprozessen der Beteiligten Rechnung zu tragen (vgl. Heiner 2001: 255). Auch in der ethnographisch orientierten Erforschung sozialpädagogischer Professionalität liegt die Aufmerksamkeit auf dem Herstellen von Bedeutungen. Eine aktuelle Studie zur Kinder- und Jugendarbeit, die konkretes pädagogisches Handeln rekonstruieren will, hat folgende Herangehensweise: „Die zentrale Perspektive des hier vorgestellten Projekts ist die Frage nach der gemeinsamen Herstellung der Kinder- und Jugendarbeit, kurz nach der Koproduktivität von Kindern, Jugendlichen und PädagogInnen“ (Cloos u.a. 2007: 14). Ein Konstruktionsprozess wird hierbei im situativen Herstellen von Unterstützungsprozessen, die sich nicht unmittelbar aus theoretisch generalisierten Strukturmerkmalen erklären lassen, gesehen.
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1 Hinführung
Interessen (Öffentlichkeitsrelevanz) und der Erfahrung ausgehend von alltäglichen Verstehensleistungen (Alltagsmethoden) ‚herzustellen’. Beide Konstruktionsprozesse, wenn sie auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, gleichen sich im Prozess, indem sie alltagsweltliche Wirklichkeit unter ihrem je speziellen Blickwinkel „zusammensetzen“ und reflektieren. Zweitens ergibt sich daraus, dass beide Prozesse der (Re-)Konstruktion eine Beurteilung nach aussagekräftigen Momenten vornehmen. Wie also sozialpädagogische Forschung und Theoriebildung als selektive Interpretationsleistung angesehen werden kann, können auch dokumentarische Darstellungsweisen – auf den Ebenen der Kamera und der Montage – als eine Folge von Bildentscheidungen betrachtet werden. Drittens hängt damit zusammen, dass beide Konstruktionsprozesse auch im Umgang mit Rohmaterial parallel gesehen werden können. Dokumentarische Filme sind nicht Datenspeicher technisch ermöglichter audiovisueller Aufzeichnung sondern beinhalten einen reflexiven Umgang mit Rohmaterial. Aufgrund dieser Voraussetzung können sie mit anderen reflexiv zustande gekommenen „Versionen“ (Flick 2000: 185)19 sozialer Erfahrungszusammenhänge verglichen werden. Viertens wird schließlich anhand der aufgezeigten Überlegungen eine weitere Problemstellung deutlich, die zunächst einmal mit dokumentarischen Darstellungsweisen nichts zu tun hat. Es wird betont, dass für sozialpädagogisches Wissen, das durch Rekonstruktion zustande kommt, über den reinen Subsumptionszweck hinaus wichtig sei, dass es rückgebunden bleibt an alltägliche Erlebnisformen der Professionellen wie auch der AdressatInnen, d.h. auf eine (vorwissenschaftliche) Ebene der Konstruktion, die durch Erfahrung zustande kommt, denn nur so könne es für Praxis sinnstiftend sein (vgl. Stickelmann 1993: 182f). Wissenschaft in ihrer orientierenden Funktion für Praxis muss daher für Methoden oder Methodenkombinationen offen sein, die zumindest punktuell über die Mustererkennung und Übertragung gesicherten Wissens hinausreichen und das vorhandene Wissen in Relation zu praxisnahen Formen der Erkenntnis diskutieren. Hierauf bezogen wäre zu fragen, ob dokumentarische Filme eine sinnvolle Rolle spielen könnten und wenn ja, welche.
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Nach Flick ist die wissenschaftliche Fallrekonstruktion, die das Besondere vor dem Hintergrund allgemeiner Bedingungen untersucht, in methodischer Hinsicht nie frei von zusätzlichen Konstruktionen durch die Forschenden, die zur Interpretation sozialer Erfahrung „Texte als Versionen der Welt“ herstellen (Flick 2000: 191).
1.3 Arbeitsprogramm und konkrete Fragestellungen
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1.2 Zusammenfassung und Untersuchungsziel Die vorliegende Untersuchung kann nach aufgezeigten Problemstellungen und Begründungsfacetten genauer beschrieben werden. Der Untersuchungsansatz besteht in einer Gegenüberstellung dokumentarischer Darstellungsweisen und sozialpädagogischer Fachlichkeit. Das übergeordnete methodische Arbeitsprinzip entwickelt Anschlussstellen und Differenzen zwischen den beiden Fachlogiken. Im Zentrum steht die Ausarbeitung eines Untersuchungsinstrumentariums und dessen Anwendung auf drei methodisch begründet ausgewählte Filme, die auf AdressatInnen der Jugendhilfe fokussiert sind. An den Untersuchungsobjekten werden filmische Konstruktionsprozesse analysiert und in Verbindung mit sozialpädagogischen bzw. sozialwissenschaftlichen Konzepten gebracht. Auf diese Weise werden die analysierten Darstellungen an einen Sinnkontext angeschlossen, der über alltagsweltliche Verstehensleistungen hinausgeht und auf regelgeleitet generiertem (Erklärungs-)Wissen beruht. Damit entsteht eine Möglichkeit, sie mit Hilfe solcher theoretischer Konzepte zu deuten, an denen sich potenziell auch sozialpädagogische Fachlichkeit orientiert. Das Untersuchungsziel dabei ist, eine basale Einschätzung und Beurteilung von Konstruktionsprozessen in dokumentarischen Filmen ausgehend von sozialpädagogischen Relevanzen und Orientierungspunkten zu erarbeiten. Es lässt sich als Klärung folgender Zentralfrage zusammenfassen: Wie kann sich Sozialpädagogik in produktiver Weise auf dokumentarische Darstellungsweisen beziehen, dabei die ‚andere Praxis’ in ihren prinzipiellen Möglichkeiten (Darstellungsspielräumen) einschätzen und punktuell mit den eigenen Geltungs- und Gestaltungsaufgaben – im Sinne eines Zugewinns an Darstellungskompetenz – in Einklang bringen? Schließlich geht es auch darum, die untersuchte Praxis in Differenzen zur eigenen zu sehen und danach zu fragen, welche grundlegenden Unterschiede zwischen beiden Praxen weiterhin bestehen. 1.3 Arbeitsprogramm und konkrete Fragestellungen Die Arbeitsschritte, die im Rahmen der Untersuchung nacheinander vollzogen wurden, bewegen sich zwischen Theoriebildung und der Auswertung von empirischem Material. Theoriediskussion und Filmanalyse haben sich in einem parallelen Prozess mit teilweise rekursiven Schritten gegenseitig gefordert und bereichert. In der Darstellung wird dieser parallele Prozess in ein logisches Nacheinander aufgelöst. Vor den Filmanalysen werden also eine Reihe von theoretischen Konzepten und Untersuchungskategorien entwickelt und in Form von
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1 Hinführung
Leitfragen zur Übertragung auf die Filme vorbereitet. Dieser erste große Untersuchungsschritt erfolgt in den Kapiteln zwei und drei. Kapitel zwei setzt im Bereich der Dokumentarfilmforschung an und greift ausgewählte Theoriezusammenhänge auf, um den Zentralbegriff ‚dokumentarische Darstellungsweisen’ in Facetten zu bestimmen. Dies geschieht über drei Zugängen: In einem ersten Zugang wird ausgehend von theoretischen Abgrenzungsversuchen des Dokumentarfilms von anderen filmischen Formen die in Definitionen enthaltenen Erwartung an bestimmte Darstellungsweisen herausgearbeitet. In einem zweiten Zugang wird der Zusammenhang zwischen dokumentarischen Darstellungsweisen und der Vermittlung von Wissen im dokumentarischen Film fokussiert. Ein dritter Zugang klärt die Implikationen narrativer Darstellungsweisen bei der Vermittlung von Inhalten. Das Untersuchungsvorhaben konzentriert sich nicht zuletzt deswegen auf dokumentarische Filme als Ausschnitt einer komplexen Fernsehprogrammlandschaft, weil sie sich von je her in besonderer Weise der Information und Bildung sowie der Thematisierung gesellschaftspolitisch brisanter Themen verpflichten und als Funktionsträger demokratischer Öffentlichkeit begreifen (vgl. Hickethier 1998: 167ff). Die „anschauliche Vermittlung“ stellt dabei ein journalistisches Kriterium dar (vgl. ARD 2006: 8). Neben einer Begriffsbestimmung geht es deswegen in Kapitel zwei vor allem auch um eine Abwägung des Potenzials dokumentarischer Darstellungsweisen. In einzelnen theoretischen Brückenschlägen zur Pädagogik kann gezeigt werden, dass darstellungsbezogene Fragen in der Dokumentarfilmtheorie auch in pädagogischen Bildungs-, Erziehungs- und Forschungsprozessen als Frage nach der Strukturierung von Erfahrung eine Rolle spielen. Die Fragestellung, die Kapitel zwei verfolgt, kann folgendermaßen formuliert werden: Was ist unter dokumentarischen Darstellungsweisen zu verstehen und worin besteht ihr Potenzial, auf das in pädagogischer Absicht bereits Bezug genommen wird? Kapitel drei etabliert den konzeptuellen Rahmen der Untersuchung und beinhaltet fünf Teilschritte. Die Herausforderung besteht zunächst darin, Kategorien zu entwickeln, die ‚Nahtstellen’ in der Gestaltung sozialpädagogischer Fachlichkeit und dokumentarischer Darstellungsweisen bilden. Das sind die Kategorien ‚Raum’, ‚Zeit’ und ‚ProtagonistIn’. In Kapitel 3.1 werden sie anhand einer Gegenüberstellung von Geltungs- und Gestaltungsbereichen beider Praxen hergeleitet. In den folgenden Kapiteln 3.2, 3.3, 3.4 werden sie als Untersuchungskategorien ausgearbeitet, d.h. zunächst in ihrer lebensweltlichen Bedeutung umrissen und dann in filmsprachliche und narrative Konzepte aufgeschlüsselt. Korrespondierend entwickelt sich ein Set an analytischen Fragerichtungen für die gegenstandsbezogene Filmanalyse. Eine synoptische Zusammenfassung soll Verbindungslinien in der kategorienbezogenen Annäherung von sozialpäda-
1.3 Arbeitsprogramm und konkrete Fragestellungen
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gogischer und (dokumentar-) filmischer Fachlogik deutlich machen (Kap. 3.5). Kapitel drei lässt sich unter folgender Fragestellung zusammenfassen: Worin bestehen gemeinsame Gestaltungsbereiche von dokumentarischen Darstellungsweisen und sozialpädagogischer Fachlichkeit? Kapitel vier behandelt relevante methodische Fragen der Filmuntersuchung. Zunächst wird die Auswahl der Filme begründet (Kap. 4.1). Dazu wird eine thematische Strukturierung infragekommender Beiträge erarbeitet, die eine Kategorienbildung als Grundlage einer gezielten Filmauswahl ermöglicht. In einem folgenden Schritt (Kap. 4.2) wird die Methode der Filmanalyse und -interpretation als strukturanalytisches Verfahren vorgestellt. Die leitende Fragestellung gilt hier der gegenstandsbezogenen Angemessenheit des empirisch-methodischen Vorgehens. In Kapitel fünf, sechs und sieben werden die drei ausgewählten dokumentarischen Filme ausführlich analysiert und interpretiert. Der filmische Aufbau und die Handlungsentwicklung (Metakonstruktion) sind innerhalb der Auswertung ebenso von Interesse wie die drei analytischen Fluchtpunkte ‚Raum’, ‚Zeit’ und ‚ProtagonistIn’. Die entdeckten Darstellungskonzepte werden aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeiten zu fachtheoretischen Argumentationen auf diese bezogen und interpretiert. Die drei Kapitel verbindet folgende Fragestellung: Welche Anschlussmöglichkeiten lassen sich ausgehend von der Analyse konkreter filmischer Konstruktionen von ‚Raum’, ‚Zeit’ und ‚ProtagonistIn’ zwischen dokumentarischen Darstellungsweisen und sozialpädagogischen Bezugstheorien finden? In der Konsequenz eines so angelegten Forschungsprozesses stehen am Ende eine Reihe von Ergebnissen zu strukturähnlichen Konstruktionsweisen, die mittels der gemeinsamen Kategorien ‚Raum’, ‚Zeit’ und ‚ProtagonistIn’ erkannt werden konnten. Das sind zum einen strukturell ähnliche Darstellungen im Vergleich der drei Filme untereinander und zum anderen strukturähnliche Konstruktionsweisen von filmischer Darstellung und Fachtheorie. Kapitel acht leistet eine analytische Verdichtung der einzelnen Befunde in beide Richtungen: Um dokumentarische Darstellungsweisen und sozialpädagogische Fachlichkeit schließlich in einem Ergänzungsverhältnis zu thematisieren (siehe Untersuchungsziel), ist nicht nur die Frage entscheidend, inwieweit beide Praxen gleiche oder ähnliche Konstruktionsleistungen vornehmen. Entscheidend sind nach wie vor auch die Unterschiede. Die Folie, auf der ein Ergänzungsverhältnis entwickelt wird, greift auf den methodologischen Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen (vgl. Dilthey 1981: 99) zurück, der sich als geeignet erweist, um Homologes und Differentes zu erkennen. Die Fragestellungen dieses abschließenden Kapitels lauten folgendermaßen: Worin bestehen strukturelle Merkmale dokumentarischer Darstellungsweisen in der Vermittlung von Jugendhilfethemen? Welche
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1 Hinführung
Strukturähnlichkeiten lassen sich in sozialpädagogischer Fachlichkeit finden? Wie lassen sich Reichweiten und Grenzen dokumentarischer Darstellungsweisen gegenüber sozialpädagogischem Fallverstehen bestimmen? Welche Konsequenzen zeigen sich im Hinblick auf eine sozialpädagogische Theorie des dokumentarischen Films? In einem Ausblick wird schließlich nach den praktischen Anschlussstellen gefragt, d.h. nach Möglichkeiten und Anlässen, die Befunde rückzubinden an sozialpädagogische Deutungs- und Darstellungskompetenzen. 1.4 Lesehinweis Immer wieder wird im Text auf Filme Bezug genommen, deren Bekanntheit nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Sie werden als illustrierende Beispiele der Nachvollziehbarkeit wegen angeführt. Es handelt sich dabei überwiegend um Filme, die Teil der eigens für die Untersuchung angelegten Filmsammlung sind (vgl. Kap. 4.1.2). Darüber hinaus aber auch um Filme außerhalb des engeren Themenzuschnitts. Per Fußnote wird der Entstehungszusammenhang jeweils kurz erläutert und bei bekannteren Filmen auf ihren Stellenwert in der Filmgeschichte eingegangen. Des Weiteren sei auf die Verwendung folgender zentraler Begrifflichkeiten verwiesen: Ist die Theorie und Forschung zum Gegenstandbereich Thema, so wird der in den Filmwissenschaften etablierte Fachbegriff des „Dokumentarfilms“ gebraucht. Geht es jedoch um die empirische Formenvielfalt des Gegenstands im Fernsehen wird von „dokumentarischen Filmen“ als Überbegriff für den Dokumentarfilm, die Dokumentation, die Filmreportage, das Fernsehfeature wie auch für neue dokumentarische Formate im Genremix gesprochen. Nicht gemeint sind dokumentarische Kurzfilme unter einer Mindestlänge von 25 Minuten, z.B. Magazin- oder Nachrichtenbeiträge. Die Begriffe „Darstellungsweise“, „filmische (Meta-) Konstruktion“ und „Darstellungskonzept“ bzw. „-strategie“ werden ähnlich verwendet, wobei „Darstellungsweise“ als der umfassendste Begriff mit dem in Kapitel 2 entfalteten Begriffshintergrund verstanden wird. „Konstruktion“ betont die Herstellung eines spezifischen Aussagesinns mittels filmsprachlicher und narrativer Mittel. „Darstellungskonzept“ und „-strategie“ beziehen sich auf die begründete Absicht der FilmemacherIn, soziale Aspekte „so und nicht anders“ zu vermitteln.
2 Darstellen und Vermitteln von Inhalten im Dokumentarfilm
Kapitel 2 beschäftigt sich mit ausgewählten Fragestellungen, die den Dokumentarfilm in Theorie und Forschung betreffen und die im Kontext dieser Untersuchung vorab zu klären sind (insbesondere um typischen Missverständnissen vorzubeugen). Mit dieser Klärung werden zugleich die Vermittlungsaufgaben dokumentarischer Filme wie auch der Begriff der ‚Darstellungsweise’, der ein Schlüsselbegriff in diesem Untersuchungsvorhaben ist, näher bestimmt. Fragt man danach, wovon es abhängt, dass ein bestimmter Inhalt in einem Spielfilm so und nicht anders dargestellt wird, liegt die Antwort nahe, dass es sich im Einzelfall immer um ein individuelles Konzept der Darstellung handelt, das die Filmschaffenden in Abhängigkeit vom konkreten Stoff, den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und den im Rahmen der Produktion gegebenen Bedingungen entwickelt und umgesetzt haben. Fragt man hingegen, wovon es abhängt, wie in dokumentarischen Filmen Inhalte dargestellt sind, müsste man wahrscheinlich zusätzlich betonen, dass zu jeder Art der Darstellung eines Inhalts prinzipiell auch Alternativen denkbar sind. Dass also der Dokumentarfilm als Filmgenre nicht schon die Frage nach der Präsentation seiner Inhalte überflüssig macht. Von dokumentarischen Darstellungsweisen zu reden ist daher erläuterungsbedürftig. Die Fragestellungen in diesem Kapitel setzen folgendermaßen an: Erstens wird ganz grundlegend nach der Definition des Dokumentarfilms gefragt (Kap. 2.1). Zweitens wird der Zusammenhang zwischen Dokumentarfilm und Wissensvermittlung betrachtet (Kap. 2.2). Drittens wird die Narrativität von dokumentarischen Filmen in der Vermittlung von Inhalten thematisiert (Kap. 2.3). Bei allen drei Zugängen geht es darum, die Konsequenzen für dokumentarische Darstellungsweisen zu betrachten und damit deren prinzipielle Potenziale aufzuzeigen. Die Ergebnisse dieser drei Erörterungen werden jeweils um pädagogische Überlegungen ergänzt. Mit dieser Erweiterung soll gezeigt werden, dass die erkannten Potenziale der Darstellung und Vermittlung auch in pädagogischen Bezügen, dort allerdings nicht bezogen auf den Dokumentarfilm, als Strukturierung von Erfahrung eine Rolle spielen.
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Darstellen und Vermitteln von Inhalten im Dokumentarfilm
2.1 Definitionen von Dokumentarfilm und offene Darstellungsweisen Die Potenziale dokumentarischer Darstellungsweisen im Bezugsfeld von Jugendhilfethemen zu ergründen, setzt voraus, einen dokumentarischen von einem nichtdokumentarischen Film abgrenzen zu können, denn erst dann ist die Annahme sinnvoll, es gäbe so etwas wie einen dokumentarischen Zugang zu den Lebenswelten Jugendlicher. Eine Definition des dokumentarischen Films ist also ein notwendiger Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung. Inwiefern werden aber über eine Definition zugleich Darstellungsspielräume umrissen bzw. Regeln der Darstellung festgelegt? Im Folgenden geht es um diese Fragestellung. Es werden einige Definitionsansätze angeführt, um die damit verbundenen Darstellungsregeln erkennbar zu machen.20 2.1.1 Definition zentraler Eigenschaften des Dokumentarfilms Der US-amerikanische Dokumentarfilmtheoretiker Nichols formuliert folgenden Anspruch an eine Theorie des Dokumentarfilms: „Documentary film theory should be capable of addressing the full range of documentary film practice, the entire structure and all the elements of a given work, both recent and antecedent films and the relations between them“ (Nichols 1991: xii). Damit ist v.a. die Notwenigkeit einer universell geltenden theoretischen Bestimmung des Dokumentarfilms betont. Lassen sich sämtliche dokumentarischen Filme, die in einer Zusammenschau ganz unterschiedliche Darstellungsweisen und Vermittlungsformen aufweisen, tatsächlich auf zentrale theoretische Grundbausteine zurückführen? Die Frage, wann ein Film als dokumentarischer Film gilt, wird in der Theorie häufig als Klärung zentraler Eigenschaften behandelt. Die folgenden, exemplarisch herangezogenen Bestimmungen versuchen den formulierten Anspruch einzulösen: x Documentary is „the creative treatment of actuality“ (Grierson 1966, zit. n. Plantinga 1987: 44);
20 Versuche, den Dokumentarfilm theoretisch zu bestimmen, sind in Filmgeschichte und -theorie zahlreich vorhanden. Den jeweiligen Vorschlägen wurde jedoch auch regelmäßig nachgewiesen, zu kurz gedacht, problematisch einseitig oder auf einen normativen Idealtypus des Dokumentarischen (bzw. seiner Funktion) beschränkt zu sein. Anhand von drei Überblickstexten zum Stand der Dokumentarfilmtheorie – von Ende der 1980er bis Ende der 1990er Jahre – wird auf verschiedene Definitionsansätze eingegangen und nach impliziten Aussagen zu Darstellungsregeln bzw. -konventionen gefragt. Diese Beiträge von Schillemans (1992), Hohenberger (1998) und Plantinga (1987) betonen insgesamt vergleichbare Zäsuren innerhalb der Theorie und Geschichte des Dokumentarfilms, setzen im Einzelnen jedoch unterschiedliche Akzente.
2.1 Definitionen von Dokumentarfilm und offene Darstellungsweisen
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„Der Dokumentarfilm [...] gehört der Klasse gesellschaftlicher Diskurse an [...], die darum bemüht sind, die tatsächlichen Begebenheiten der phänomenologischen Welt zu erklären. Sie verweisen auf Ereignisse, die wahrnehmbar sind, die beobachtet worden sind und die in Raum und Zeit genau situierbar sind“ (Guynn 1981, zit. n. Schillemans 1995: 17); „Als Dokumentarfilm anerkannt wird in der Regel ein Film, der Ereignisse abbildet, die auch ohne die Anwesenheit der Kamera stattgefunden hätten, in dem reale Personen in ihrem Alltag auftreten – ein Film also, der sich an das Gefundene hält (Roth 1982: 185); „Der Dokumentarfilm ist die subjektive Darstellung objektiver Fakten in Bild und Ton“ (Brandt 1987: 6); „Bei sog. Dokumentarfilmen geht es im Wesentlichen um den Umgang der Filmemacher mit dem, was sie als ‚authentisch’ vermitteln wollen, und um das, was wir als ‚authentisch’ anerkennen“ (Kanzog 1991: 65).
Diesen Beispielen zufolge sind zwei Eigenschaften zentral. Eine erste Eigenschaft bezieht sich auf den Gegenstand dokumentarischer Filme. Sie sollen Bezug nehmen auf „Wirklichkeit“, auf „tatsächliche Begebenheiten“, auf „reale Personen in ihrem Alltag“, auf „objektive Fakten“ oder auch auf das, was von den ZuschauerInnen als „authentisch“ aufgefasst wird. Die zweite Eigenschaft bezieht sich auf die diesbezügliche Vermittlung als „creative treatment“, als „erklärend“, „abbildend“, „subjektiv darstellend“ oder „authentisch vermittelnd“. Schillemans (1995) weißt darauf hin, dass gerade diese Eigenschaften Ausdruck einer beschränkten Theoriedebatte zum Dokumentarfilm sind. Diese Theoriedebatte stützt sich, wie Schillemans rekonstruiert, auf zwei Bezugspunkte: Realismus und Objektivität (vgl. Schillemans 1995: 16). Theoretische Bestimmungen des Dokumentarfilms im Bereich des Realismus argumentieren mit der Ähnlichkeit zwischen dokumentarischem Filmbild und der Realität. Diese Ähnlichkeitsbeziehung basiert auf „realistischen Ausdrucksmitteln“ (ebd.: 17) bzw. auf den Möglichkeiten einer „natürlichen Filmsprache“ (ebd.: 18). Ein dokumentarischer Film könne sich – so die Annahme der Realismus-VertreterInnen – dadurch, dass er auf Ästhetisierung verzichte, so direkt wie möglich auf die Darstellung realer Vorgänge konzentrieren (vgl. ebd.: 19). Vor allem im Bereich der wissenschaftlich-ethnographischen Filmarbeit habe diese Richtlinie zu etwa folgenden Aufnahmekonventionen geführt: „Naheinstellungen sollen vermieden werden und statt dessen halbnahe Einstellungen bevorzugt werden; Tiefenschärfe und Kameraperspektive sollen nur minimal verändert werden; auch sollen die Einstellungen möglichst lang sein, nicht unter drei Minuten“ (ebd.: 19).
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Darstellen und Vermitteln von Inhalten im Dokumentarfilm
Andere theoretische Bestimmungen nehmen nicht die Ähnlichkeit der Abbildung, sondern die Objektivität, in der über reale Vorgänge berichtet wird, zum Ausgangspunkt. Schillemans fasst mehrere Möglichkeiten zusammen, wie im Dokumentarfilm Objektivität erzielt werden soll (vgl. ebd.: 19ff): durch eine neutrale Haltung der FilmemacherIn, durch eine notwendige Informationsausgewogenheit oder aber auch durch eine geregelte Vorgehensweise in der Erarbeitung eines Themas. Objektivität im Dokumentarfilm beinhaltet also zugleich normative Ansprüche wie auch spezifische Gestaltungsweisen. So gilt eine ausgewogene Gegenüberstellung von mitunter widersprüchlichen Positionen und Argumenten als objektivierende Darstellung und dient der Wahrheitsfindung. Die Anwendung einer „festgelegten Recherchemethode“ (ebd.: 20) gilt insbesondere dann, wenn die FilmemacherInnen ihre methodischen Überlegungen in den Film mit einfließen lassen, als Ausweis von (reflexiver) Objektivität (vgl. ebd.: 21). Die Versuche, dokumentarische Filme über zentrale Eigenschaften zu definieren, tendieren demnach zu einer Verschränkung von normativen Ansprüchen und Darstellungskonventionen. Diese Verschränkung drückt sich in der Frage nach dem vermeintlich richtigen Verhältnis von Dargestelltem und den ‚Spuren’ der Darstellung aus: Eine ‚realistische’ Darstellung „entfernt die Spuren des Filmemachers“ (ebd.) und konzentriert sich auf die ungestörte Abfolge realer Begebenheiten. Eine ‚objektive’ Darstellung leitet ihre Vorgehensweise von journalistisch-ethischen Prinzipien wie Neutralität und Informationsausgewogenheit ab oder aber akzentuiert die ‚Spuren’ der Herstellung zur weiteren Steigerung von Objektivität. 2.1.2 Definition einer sozialen Funktion des Dokumentarfilms Die Frage, was einen Dokumentarfilm ausmacht, kann auch als Frage nach seiner sozialen bzw. gesellschaftspolitischen Funktion akzentuiert werden. Hohenberger nimmt diese Perspektive in einem einleitenden Aufsatz zu ihrem Band zur Dokumentarfilmtheorie (1998) ein. Zunächst betrachtet sie die filmtheoretisch verdichteten Praxisansätze von Vertov, Grierson und Wildenhahn21 und stellt die jeweils propagierte soziale Funktion in den Zusammenhang mit einer jeweiligen 21
Der Filmemacher und Publizist Grierson gilt als Vorreiter der britischen Dokumentarfilmschule in den 20er Jahren und als erster, der den Begriff „documentary“ programmatisch verwendete (vgl. Schändlinger 1994: 23f). Der Filmemacher und -theoretiker Vertov zählt zu der sowjetischen FilmAvantgarde. Er arbeitete etwa zur gleichen Zeit wie Grierson in Russland an experimentellen Montageformen, für die er bekannt wurde (vgl. Monaco 2000: 300). Der Dokumentarfilmer Wildenhahn war Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk. Von ihm gingen in den 1970er Jahren zentrale Impulse für die Theoriebildung des Dokumentarfilms in der BRD aus (vgl. Hattendorf 1994: 32).
2.1 Definitionen von Dokumentarfilm und offene Darstellungsweisen
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ästhetischen Strategie. Die erkennbare „interventionistische soziale Funktion“ (ebd.: 9), die dem Dokumentarfilm jeweils zugerechnet wird, unterschiedet sich folgendermaßen: Bei Vertov hilft der „Film der Fakten“ dabei, „mit den Umbrüchen der Realität“ umzugehen. Er „motiviert [die revolutionäre Gegenwart], organisiert sie und gibt ihr ein Bild von sich selbst, das über die Gegenwart hinausweisen kann“ (ebd.: 10). Diese sozial aktivierende Funktion setzt die „Revolutionierung der künstlerischen Mittel“ (ebd.) voraus und lässt sich in Vertovs Konzept über eine experimentelle Filmform erreichen. Grierson war zu seiner Zeit stark beeinflusst durch den dramatisierenden Erzählstil Flahertys, den er in seiner Filmarbeit übernahm.22 Seine Interessen lagen jedoch auf der Erfahrbarkeit gesellschaftlicher Realität in ihren alltäglichen Bezügen und nicht in der Exotik der Fremde. Die soziale Funktion, die er mit seiner theoretischen Bestimmung, Dokumentarfilm sei „creative treatment of actuality“ und mit der eigenen Filmarbeit verfolgte, lag in der Stärkung demokratischer Staatsbürgerlichkeit und der Unterstützung eines öffentlichen Bewusstseins (vgl. ebd.: 14f). Wildenhahn als deutscher Vertreter des Direct Cinema23 vertritt die Auffassung, der Dokumentarfilm sei in den Dienst gesellschaftskritischer Aufklärung zu stellen und habe als Antibewegung zu den Massenmedien die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu vertreten und damit einen Beitrag gegen die „Herrschaft des Kapitals“ (ebd.: 17) zu erbringen. Stilistisch am Direct Cinema orientiert, plädierte er für ästhetischen Purismus bzw. für eine „Ästhetik des Realen“. Zentral dabei ist, dass der Inhalt die Form bestimmt und dass sowohl die Unmittelbarkeit in der filmischen Abbildung wie auch eine Nicht-Geschlossenheit der filmischen Narration angestrebt wird. Für solche Theorien, die den Dokumentarfilm über eine soziale Funktion bestimmen, kann festgehalten werden, dass mit der jeweiligen sozialen Funktion zugleich eine präferierte ästhetische Vermittlungsstrategie festgeschrieben wird, über die der Film seinen Zweck erfüllen soll. 22
Flaherty wurde mit seinem ersten Film „Nanook of the North“ von 1922 bekannt. In diesem wie auch in weiteren Filmen beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Mensch und Natur (vgl. Steinhardt/Turhan 1995: 29). Die besondere Leistung, die mit Flaherty assoziiert wird, ist, dass er eine für das Zielpublikum fremde Lebenswelt vorführt und dabei auf in westlichen Kulturen bekannte kulturelle Vermittlungsstile baut (vgl. Kiener 2001: 45). 23 Direct Cinema bezeichnet eine Stilrichtung, die sich in den USA Anfang der 60er Jahre entwickelte. Bekannt unter dem Namen „Drew-Associates“ haben eine Hand voll Filmemacher in ihren dokumentarischen Filmen insbesondere Personen der gegenwärtigen Zeitgeschichte z.B. im Wahlkampf oder auf einer Konzerttournee begleitet. Das Motto der Filmarbeit war das Nichteingreifen: die Kamera registriert lediglich, die Filmschaffenden stellen keine Fragen, geben keine Anweisungen und vermeiden in der Aufnahme die direkte Kommunikation (vgl. Beyerle 1991: 30).
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Darstellen und Vermitteln von Inhalten im Dokumentarfilm
Für Theorien des Dokumentarfilms, die nicht von der praktischen Filmarbeit sondern von der wissenschaftlichen Filmtheorie ausgehen, scheint die soziale Funktion des Films und eine ihr zugeordnete Ästhetik unwesentlich. Hohenberger zeigt dies anhand der lange Zeit vorherrschenden Dominanz semiotischer Filmtheorie, die sich ausschließlich auf textimmanente Merkmale konzentriert. Erst durch den Einfluss pragmatischer Ansätze gewinnt die soziale Dimension dokumentarischer Filme in der theoretischen Diskussion wieder an Bedeutung. „In der Perspektive der Pragmatik lautet die Begriffsbestimmung des Dokumentarfilms (..) schlicht: Er ist, als was er erkannt wird, oder die Frage der Definition ‚WAS ist ein Dokumentarfilm?’ wird ersetzt durch die Frage ‚WHEN is a Documentary’’ (Hohenberger 1998: 26 mit Bezug auf Eitzen 1995). Gerade durch diese Ausweitung der Theorie auf Prozesse der Filmkommunikation und Rezeption, gewinnen Fragen zu ökonomischen Bedingungen und zur sozialen Funktion des Dokumentarfilms wieder an Gewicht (vgl. ebd.: 26). Damit verbunden werden Fragen der Darstellung und Vermittlung von Inhalten in dieser Perspektive als Wirkungsfragen unter dem Gesichtspunkt von Authentizität diskutiert. Im Folgenden wird auf die pragmatischen Ansätze näher eingegangen. 2.1.3 Definition des Dokumentarfilms als offenes Konzept Im Überblick, den Plantinga 1987 gibt, geht es wie bei vielen anderen Abhandlungen zur Theorie des Dokumentarfilms darum, den Dokumentarfilm in Differenz zum Spielfilm zu erfassen. Plantingas Rekonstruktion zeigt zunächst, dass die Versuche entsprechend dem eingangs zitierten Anspruch von Nichols, den Dokumentarfilm über zentrale Eigenschaften zu definieren, regelmäßig auf Probleme gestoßen sind. Diese Schwierigkeit zeichnet sich jedoch mehr als ein wissenschaftliches Problem ab und weniger als ein Problem, das die Produktion und Rezeption betrifft. Er zieht daraus den Schluss, dass es nicht möglich ist, einen universellen Typus des Dokumentarfilms zu definieren. „Perhaps we should come to the conclusion that the attempt to define the documentary in the traditional sense, that is, to list its necessary and sufficient properties, is itself wrongheaded” (Plantinga 1987: 46). Möglich ist es jedoch zu definieren, welcher Film als Dokumentarfilm angesehen wird und damit dessen Bestimmung in Abhängigkeit von einem kulturellen und zeitgeschichtlichen Verständnis vorzunehmen. Dieser Zugang schafft die Basis dafür, in den dynamischen, sich verändernden Ausprägungen des Dokumentarfilms wie auch seiner Rezeption den eigentlichen Kern einer Definition zu sehen. Er bezieht sich dabei auf den Sprachphilosophen Wittgenstein: “Wittgenstein writes of what we call ‘games’ that there is no prop-
2.1 Definitionen von Dokumentarfilm und offene Darstellungsweisen
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erty that they all have in common. Rather, there is ‘a complicated network of similarities overlapping and crisscrossing,’ or what the philosopher calls ‘family resemblances’” (ebd.). Wie das „Spiel“ sei auch der Dokumentarfilm als „offenes Konzept“ zu begreifen. Mit der Denkfigur des „offenen Konzepts“ wird darauf verzichtet, einer Gattung – in ihren diversen Ausprägungen – eine Zentraleigenschaft bzw. ein Set an Eigenschaften zuzuweisen. Vielmehr lassen sich “family resemblances” (partielle Ähnlichkeit neben Differenzen) feststellen, die – und das ist entscheidend – in Bezug auf den Zeitpunkt, den Ort und die Gewohnheiten in der Betrachtung flexibel ausfallen. Regeln dokumentarischen Arbeitens, d.h. der Darstellung und Vermittlung können sich also durchaus zeit- und ortsgebunden verschieben, ohne dass dadurch der Funktionsunterschied zwischen Dokumentar- und Spielfilm aufgehoben würde. Dieser basiere auf einer Einstellung („Stance“) des Films, die entweder erklärend („assertive“) oder fiktionalisierend („fictional“) ist, und die sich auf eine Einstellung der ZuschauerInnen gegenüber dem Film überträgt. Dabei wird eine Art indirekt stattfindender Klärungsprozess zwischen Publikum und Filmschaffenden angenommen (vgl. ebd.: 50). Diese Ansicht teilt Plantinga mit einer Reihe weiterer DokumentarfilmtheoretikerInnen, die der Richtung der Semiopragmatik zugeordnet werden.24 So z.B. Odin, der davon ausgeht, dass jeder Film unter einem bestimmten Blickwinkel als dokumentarischer Film angesehen werden kann. Eine Unterscheidung zwischen Spiel- und Dokumentarfilm, stelle sich erst während der Rezeption durch eine „dokumentarisierende Lektüre“ ein (Odin 1984 in Hohenberger 1998). Der hiermit vorgestellte Definitionsvorschlag des „offenen Konzepts“ sucht nach der Bedeutung des Films bei den ZuschauerInnen. Was heißt dies nun für die Art der Darstellung? Semiopragmatische Ansätze untersuchen Filme auf die in der Darstellung angelegten Hinweise auf einen dokumentarischen Zugang. Hattendorf (1994) beschäftigt sich mit diesem Problem ausführlich. Im Mittelpunkt seiner empirischen Untersuchung steht der Begriff der Authentizität. Damit ist eine Wirkung beschrieben, die sich während der Filmrezeption entfaltet. Sie gründet auf sogenannten „Authentisierungsstrategien“, deren sich die Filmschaffende bedient und die Teil der ästhetischen Gestaltung sind. „Die ‚Glaubwürdigkeit’ eines dargestellten Ereignisses ist damit abhängig von der Wirkung filmischer Strategien im
24 Charakteristisch für die Semiopragmatik ist ihr „Ausgangspunkt in der Textsemiotik“ und die „Verbindung zwischen Film und Zuschauer“ als „Konstruktion des Films durch den Zuschauer und (..) Konstruktion eines impliziten Zuschauers durch den Film“ (Schillemans 1995: 23). Pragmatische Ansätze weisen in der Gegenbewegung zu rein semiotischen einen starken Bezug zur Haltung auf, in der Dokumentarfilmschaffende ihr Publikum ansprechen wollen.
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Darstellen und Vermitteln von Inhalten im Dokumentarfilm
Augenblick der Rezeption. Die Authentizität liegt gleichermaßen in der formalen Gestaltung wie der Rezeption begründet“ (Hattendorf 1994: 67). Die ästhetische Dimension von dokumentarischen Filmen erschöpft sich jedoch keineswegs in diesen etablierten Signalen der Authentisierung, auch wenn sie wichtige Darstellungskomponenten eines dokumentarischen Films sind. Sie sind Teil der ästhetischen Gestaltung, machen diese jedoch nicht gänzlich aus. Schließlich leitet sich die Notwendigkeit und Angemessenheit, Dokumentarfilm als „offenes Konzept“ zu theoretisieren, von der empirischen Tatsache ab, dass dokumentarische Filme sich im Laufe der Filmgeschichte immer wieder neu und anders erfunden haben, sich von Traditionen entfernt, aber auch bereits abgelegte Darstellungsstile modifiziert wieder aufgegriffen haben. Sie erfordern diese Offenheit also gerade auch in Bezug auf ihre Darstellungsweisen. Anstelle von Darstellungsregeln beansprucht der Dokumentarfilm als „offenes Konzept“ Darstellungsmöglichkeiten, die sich in einem nicht-festgelegten, im Einzelfall sinnstiftenden Bezug zum Thema entfalten. Wie kontraproduktiv sich beispielsweise redundante Darstellungskonventionen auf die Vermittlung von Inhalten auswirken können, gibt Wolf am Beispiel des „Geschichts-Fernsehens“ zu bedenken, das derzeit in starker Weise durch Mischformen zwischen Faktenbezogenheit und Fiktionalisierung (z.B. Integration nachgespielter Szenen) bestimmt ist: „Indem das Fernsehen [hier fokussiert auf das dokumentarische Fernsehen, C.F.] als Geschichtserzähler das historische Material in Genres abpackt, die den Zuschauern bekannt sind, verschiebt es auch den Blick auf die Geschichte. Genres bieten den Rahmen für vertraute, bekannte Abläufe, die Zuordnungen erleichtern. Das vertraute Narrativ ersetzt die historische Konstellation, ja die historische Besonderheit und macht sie allen anderen Medien-Erlebnisarten gleich. Es dramatisiert und fiktionalisiert und hebt auf, was die Geschichte fremd macht. Es verhindert Lernen. Es beschäftigt mit Ablenkung und versöhnt mit der Geschichte, welche immer es sei“ (Wolf 2005: 32).
Die vorliegende Untersuchung nimmt diesen pragmatischen Definitionsansatz des „offenen Konzepts“, bei dem nach dem Kriterium der Authentizität dokumentarischer Film von anderen filmischen Formen abgegrenzt wird, für sich in Anspruch. Für das Verständnis dokumentarischer Darstellungsweisen heißt das, dass sie in ihrer jeweils eigenlogischen Konzeption stets auch der Aufgabe nachkommen, Authentizität zu vermitteln.
2.1 Definitionen von Dokumentarfilm und offene Darstellungsweisen
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2.1.4 Darstellungsweisen, die Fremdheitserfahrungen hervorrufen – zur Aufgabe kultureller Bildung Im Folgenden wird ein gedanklicher Sprung in das Theoriegebiet kultureller Bildung gemacht und auf Überlegungen von Treptow (2001a) Bezug genommen. Diese Überlegungen sind v.a. deswegen anschlussfähig an die Diskussion zur theoretischen Bestimmung des Dokumentarfilms, weil sie die Vorraussetzungen für kulturelle Bildung nicht in den konventionalisierten ästhetischen Darstellungen bzw. individuell bevorzugten Kulturerlebnissen suchen, sondern „im Umgang mit denjenigen Erfahrungen, die man macht, wenn man auf Differenzen zum Eigenen trifft“ (Treptow 2001a: 128). Treptow fragt nach der Aufgabe kultureller Bildung, die, wie die Kultursoziologie zeigt, nicht entlang von allgemeinen ästhetischen Prinzipien bestimmt werden kann. Die empirschen Formationen der „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze), in denen sich kulturelle Milieus und Geschmacksvorlieben differenzieren, machen deutlich, dass kulturelle Bildung nicht Orientierung für die Aneignung von Kultur an sich geben kann und soll. Orientierend ist sie vielmehr für die geforderte Anstrengung, im Kulturerleben aus prinzipiellen Selbstverständlichkeiten herauszutreten. „Voraussetzung dafür bildet die Beziehung zwischen Erleben und Urteilen, wie sie in der ästhetischen Theorie getroffen wird“ (ebd.: 129). Die beiden Begriffe sind komplementär, da das Urteilen aus dem Erleben hervorgeht, diesem dann aber zugleich die Eindeutigkeit nimmt (vgl. ebd.: 140). Erleben als Gefühlsdimension ist umgekehrt auch auf (kritische) Urteilskraft angewiesen, da „Urteilskraft eine rückwirkende Bedingung dafür ist, den eigenen Bildungsprozess zu erweitern für Erlebnisformen, in denen (..) vorher kein Sinn erkannt“ wurde (ebd.: 141). Während Erleben sich ‚begrifflos’ und unmittelbar erschließt, greift das Urteilen auf vorausgehendes Wissen zurück, auf „Hintergrundsannahmen“, „die plötzlich einsetzen, wenn wir etwas nicht verstehen, es also von unseren Theorien abweicht“ (ebd.: 139). „Urteilskraft“ hat also etwas damit zu tun, „wie man sich seinen eigenen Erlebnissen zuwendet“ (ebd.: 128). Mit Bezug auf Kant unterscheidet Treptow die „bestimmende“ und die „reflektierende Urteilskraft“ (ebd.: 139). Erstere wendet eine gegebene Verbindung zwischen einem konkretem Gegenstand und einem allgemeinen Verständnis über den Gegenstand an, zweite sucht erst noch die Möglichkeiten der Verallgemeinerung des Konkreten. Die Frage, wie beide (das Besondere und das Allgemeine) zusammenhängen, wird so zu einer Schlüsselfrage des Beurteilens. Aus der Dissonanz der beiden Vorgänge „Erleben“ und „Urteilen“ entstünde das Gefühl von Fremdheit (z.B. in der Kunstbetrachtung) bzw. wird das „Aushalten des Ungewissen“ (ebd.: 142) notwendig. Die Bereitschaft, sich Dissonanzen
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Darstellen und Vermitteln von Inhalten im Dokumentarfilm
zwischen Erlebnis und Beurteilung auszusetzen, gilt es im Rahmen von kulturellen Bildungsprozessen zu fördern. Bindet man diese weitergehenden Überlegungen zurück an die Diskussion zur theoretischen Bestimmung des Dokumentarfilms, lässt sich annehmen, dass gerade dann „Urteilskraft“ bzw. ein Prozess der inhaltlichen Auseinandersetzung mit einem Filmthema hervorgerufen wird, wenn keine erwartbaren, filmsprachlich-narrativ konventionalisierten Erlebnisformen durch den Film abgerufen werden. Offene Darstellungsweisen, jenseits von Konventionalismus, wie auch Darstellungsweisen, die außerhalb des kulturell gewohnten und eingeübten Blicks liegen, fordern dazu auf, explorierend eine Beziehung zwischen Besonderem und Allgemeinen herzustellen. Die Erfahrungsbildung durch dokumentarische Filme, die hier in ihrer Abhängigkeit von der subjektiven Bereitschaft der ZuschauerInnen für „Differenzerfahrungen“ (Treptow 1993: 256ff) betrachtet wurde, wird im folgenden Kapitel durch eine dokumentarfilmtheoretische Position ergänzt. Wird Erfahrungsbildung als ein Modus der filmischen Wissensvermittlung verstanden, geht es dabei um die Gestaltung von Sekundärerfahrungen. 2.2 Wissensvermittlung durch Dokumentarfilm und situationszentrierte Darstellungsweisen Zwar fachlich naheliegend, jedoch nicht im Interesse dieser Untersuchung sind Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche und Lehrfilme aller Art, die auf ihr didaktisches Konzept hin untersucht werden könnten. Dieser hier nicht relevante Zugang zu dokumentarischen Filmen liegt dann nahe, wenn man das pädagogische Interesse am Film auf die Behandlung von Sachfragen verkürzt. Das heißt, dokumentarischer Film verstanden als ‚Sachfilm’ wird mit einer instruierenden Form der Wissensvermittlung in Verbindung gebracht. Eine solche Perspektive auf Film ist nicht unbegründet, wie ein Blick in die bundesdeutsche Fernsehgeschichte zeigt.25 Dadurch, dass das Fernsehen in der BRD historisch betrachtet eng mit der Idee einer alltagsnahen Breitenbildung, wie sie die Volkshochschule vertritt, verbunden war,26 können verschiedene Impulse und Bil25 Die folgenden Aspekte gehen lediglich punktuell auf die Entwicklung des bundesdeutschen Fernsehens ein und besitzen einleitenden Charakter. Sie haben deswegen nicht den Anspruch einer differenzierten Darstellung, die die Anfänge des Fernsehens in der DDR ebenso berücksichtigen müsste. Folgt man den Ausführungen Hickethiers (1998) stellt diese sich grundsätzlich anders dar. 26 So ist das nach dem ehemaligen Generaldirektor des Nordwestdeutschen Rundfunks, Adolf Grimme, benannte Institut in Marl aus der praktischen Zusammenarbeit zwischen Volkshochschule und Fernsehen entstanden. Bekannt ist es v.a. für den von der Volkshochschule auf den Weg gebrachten Fernsehpreis, aber auch für die 30 Marler Thesen zum Bildungsfernsehen (vgl. Krüger 2005).
2.2 Wissensvermittlung durch Dokumentarfilm und situationszentrierte Darstellungsweisen
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dungsformate des Fernsehens tatsächlich auf diese Intension zurückgeführt werden. Im Folgenden wird entlang von drei Stichworten der instruierende Charakter des Bildungsfernsehens in der BRD der 60er und 70er Jahre verdeutlicht, um davon dann einen alternativen Modus der Wissensvermittlung durch dokumentarische Filme unterscheiden zu können. x Mit dem Pädagogen Klaus Holzamer als erstem ZDF-Intendanten Anfang der 60er Jahre wurde dem Fernsehen eine explizite Bildungsfunktion zugewiesen, die „dort anfange, wo die institutionalisierten Bildungseinrichtungen aufhörten, [und] die er als eine im weitesten Sinn verstandene politische Bildung ansah“ (Hickethier 1998: 216). Bildung und Unterhaltung stellten in Holzamers Konzept der Fernsehbildung keinen Widerspruch dar. Beides war vermittelt über die „Programmidee“ der „Lebenshilfe“ (ebd.: 217) möglich. Lebenshilfe umfasst Ratgeber- und Wissenschaftsmagazine wie auch alltagspraktische Reihen27 und ermöglicht „die Eingewöhnung in die verwandelte technische Welt“ der 60er Jahre (Holzamer zit. nach Hickethier 1998: 217). An dieser Auffassung wird schließlich der instrumentelle Charakter einer so verstandenen Breitenbildung durch das Fernsehen deutlich. x Mit dem Ausbau der dritten Programme von Mitte bis Ende der 60er Jahre erfolgte eine Konzentration auf Bildung und Kultur. Jedes dritte Programm bildete in einer Mischung aus Lehrprogrammen, Kultur- und dokumentarischen Formaten und Regionalbezug ein eigenes Profil heraus (vgl. ebd.: 225f). Nicht mehr in Abgrenzung, sondern nun in gemeinsamer Anstrengung mit den öffentlichen Bildungseinrichtungen entwickelte sich im Rahmen der dritten Programme das Schulfernsehen. „Der Einsatz des Fernsehens als Unterrichtsmittel schien notwendig angesichts einer bevorstehenden ‚Bildungsnot’, wie sie der Pädagoge Georg Picht 1964 prognostiziert hatte, und einer ‚Bildungskatastrophe’, wie sie die Wirtschaft befürchtete“ (ebd.: 225). x Waren für die Zielgruppe der Kinder in den 1950er Jahren zunächst rigide geleitete Bastel- oder Bewegungs-‚Mitmachprogramme’ konzipiert (vgl. Hickethier 1998: 83), änderte sich der Charakter der Kinder- und Jugendsendungen Anfang der 1970er Jahre deutlich. Das Fernsehen sollte wie für die Erwachsenen auch für die Kinder eine Funktion als „Lebenshilfe“ erfüllen, d.h. als Sozialisationsinstanz konzipiert werden (vgl. ebd.: 233). Eine dementsprechende Entwicklung der Kinderprogramme setzte mit der Diskussion um die Frage ein, ob ein nach US-amerikanischem Vorbild gestaltetes Vor27
Dazu gehörte beispielweise auch die Fernseh-Elternschule im ZDF (1964), „in deren 22 Folgen Grundkenntnisse moderner Kinderpsychologie und Pädagogik vermittelt wurden. Filmsequenzen zeigten Konfliktszenen und Tobias Brocher, Klaus Katz und Hertha Sturm interpretierten diese im Gespräch“ (Hickethier 1998: 228).
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Darstellen und Vermitteln von Inhalten im Dokumentarfilm
schulerziehungsprogramm, sprich die Adaption der Vorschulserie „Sesame Street“ ins bundesdeutsche Fernsehprogramm erfolgen sollte. Im Zusammenhang mit dieser Diskussion bildete sich ein neuer Fokus auf das Kinderfernsehen heraus: Das Interesse am ‚Sachfilm’ dockte an Überlegungen der kompensatorischen Erziehung an. Vorschulfernsehen sollte Lerngelegenheiten und damit Chancengleichheit für strukturell benachteiligte Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern ermöglichen – so z.B. die „Sach- und Lachgeschichten mit der Maus“ oder „Das feuerrote Spielmobil“ (vgl. ebd.: 234). Mit der Anpassung der ‚freundlichen Textilmonster’ aus der „Sesame Street“ an den bundesdeutschen Bedarf wurde zugleich ein Lernzielkatalog festgelegt, an dem sich die Sendung ausrichten sollte (vgl. ebd.). Insgesamt machen diese Stichworte zu den Anfängen des Bildungsfernsehens deutlich, dass sowohl das Bildungsfernsehen für Erwachsene, die „Sach- und Lachgeschichten“ für Kinder wie auch das Schulfernsehen von der Idee her eine gezielte Wissensvermittlung in stark didaktisierter Form verfolgten. Demgegenüber kann Fernsehen in einer medientheoretischen Betrachtungsperspektive über didaktische Gestaltungsprinzipien hinaus als ein universeller Typus der Wissensvermittlung konzeptualisiert werden. Ein entsprechender Ansatz wurde von Meyrowitz in „Überall und nirgends dabei. Die Fernsehgesellschaft“ (1990) entwickelt. 2.2.1 Fernsehen als Zugangsmuster zu sozialen Situationen Meyrowitz beschäftigt sich ganz allgemein mit der Fernseh-Gesellschaft, ohne dabei die Programmgenres zu unterscheiden. Seine Annahmen gelten daher genauso für Quizshows wie auch für dokumentarische Formate. Eine zentrale Überlegung besteht darin, Fernsehen als kulturelle Umwelt zu betrachten, die wiederum Einfluss nimmt auf die „soziale Landschaft“ der Menschen (Meyrowitz 1900: 249). Durch die Partizipation an der Fernseh-Gesellschaft verbinden sich für Menschen ehemals voneinander getrennte Informationswelten. Die neuartigen Möglichkeiten im Zugang zu Wissen führen insgesamt zu sozialen Veränderungen im Hinblick auf Gruppenidentitäten, Generationenbeziehungen und die Bedeutung von Autoritäten. Für diese Veränderungen ist nicht die Aufbereitung des Medieninhalts verantwortlich zu machen, sondern die Involviertheit der ZuschauerInnen in soziale Kommunikationssituationen im Fernsehen. „Der situative Ansatz, wie er hier vertreten wird, beschreibt, wie sich elektronische Medien auf soziales Verhalten auswirken: nicht kraft ihrer Inhalte, sondern indem die sozialen Umwelten, in denen sich Menschen zueinander verhalten, neu gestaltet werden und die einstmals starke
2.2 Wissensvermittlung durch Dokumentarfilm und situationszentrierte Darstellungsweisen
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Beziehung zwischen physischem Ort und sozialem ‚Ort’ geschwächt wird (...) Die Fernseh-Gesellschaft beschreibt, wie wir – indem wir unseren alten ‚Ortssinn’ verlieren – neue Vorstellungen darüber entwickeln, wie angemessenes soziales Verhalten und wie unsere Identität aussehen sollte“ (ebd.: 13).
Der theoretische Ausgangspunkt dieser Annahme verbindet die medientheoretische Position McLuhans mit der Handlungssoziologie Goffmans – speziell dessen Ausführungen zur Bedeutung des Situativen (Framing) in der Interaktion (vgl. ebd.: 25ff). Mit Bezug auf McLuhan (1968), der mit der These „das Medium ist die Botschaft“ die zentralen Auswirkungen von elektronischen Medientechnologien in neuen Verhältnismäßigkeiten der Menschen zu Raum und Zeit erkannte, entwickelt Meyrowitz den Gedanken einer veränderten „Situations-Geographie“ im Fernsehen (Meyrowitz 1990: 31). Von Goffman kann Meyrowitz Überlegungen zur Gebundenheit menschlichen Handelns an rahmenden Situationen übernehmen. Über die kulturellen Regeln, die einem Ort eingeschrieben sind, beeinflussen Situationen die jeweilige Interaktion. Massenmedien besitzen keinen physischen Ort, aber einen sozialen, der sich als „Muster des Informationsflusses“ (ebd.: 87) erfassen lässt. Insofern sind Fernsehangebote als spezifische ortsungebundene Informationssysteme zu sehen. Sie beinhalten dennoch soziale Information, die sich zu Kenntnissen darüber, „was Menschen über ihr eigenes Verhalten und das der anderen wissen können“ (ebd.: 88), formieren. Fernsehen und somit auch dokumentarische Filme werden daher als spezifische „Zugangs-Muster zu sozialen Informationen und zum Verhalten anderer Menschen“ verstanden (ebd.: 89). In der Bestimmung von sozialen Situationen als Informationssysteme, unabhängig von einer sie definierenden physischen Umgebung, ist das Potenzial für die Wissensvermittlung zu verorten: Medial vermittelte Kommunikation beinhaltet neben ihrem konkreten Inhalt soziale Information, die in der Rezeptionssituation erzeugt wird, und setzt dabei eine Art von Wissen frei, das „den Zugang zum Sozialverhalten (...) der anderen Menschen“ erlaubt. Es kann deshalb als „soziale Erfahrung“ bezeichnet werden (ebd.). Überträgt man diesen allgemeinen medientheoretischen Gedanken auf die Möglichkeiten des Dokumentarfilms, Wissen zu vermitteln, ergibt sich folgende Perspektive: Die Darstellungsweisen eines Dokumentarfilms realisieren einen bestimmten Zugang zu sozialen Situationen, die von den ZuschauerInnen aufgrund der inhärenten Struktur des Informationsflusses verstanden werden. Durch die Typik des jeweiligen Informationsflusses und durch die Involviertheit in die Kommunikationssituationen, in denen man anderen Menschen gewissermaßen begegnet, werden „soziale Erfahrungen“ gemacht. Im Folgenden wird eine dokumentarfilmspezifische Untersuchung vorgestellt, die sich auf diesen Gedanken der Erfahrungsbildung konzentriert.
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Darstellen und Vermitteln von Inhalten im Dokumentarfilm
2.2.2 Das Konzept der „Erfahrungsbildung“ durch Dokumentarfilme Das Konzept der „Erfahrungsbildung“ von Schändlinger (1994) steht im Zusammenhang mit einer Reihe von Ansätzen, die eine konzeptionelle Verbindung von audiovisuell gestützten Forschungsmethoden und dokumentarischer Filmarbeit, wie sie z.B. der ethnographische Film eingeht, erforschen. Charakteristisch für diese Ansätze ist, dass sie Fragen der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und Wissensvermittlung eng mit Filmarbeit verknüpft sehen.28 So geht z.B. Schändlinger von einer „tiefenstrukturellen Affinität“ (Schändlinger 1994: 1) zwischen qualitativer sozialwissenschaftlicher Forschung und dokumentarischer Filmarbeit aus. Diese „Affinität“ konkretisiert er mit dem Begriff der „Erfahrungsbildung“ und nimmt dabei eine doppelte Perspektive ein: „Die konkrete Gestaltung des audiovisuellen Materials [wird] als Vergegenständlichung einer Erfahrungsbildung verstanden, die ihrerseits Ausgangspunkt einer rezeptiven Erfahrungsbildung für den Zuschauer werden kann“ (ebd.: 348). „Erfahrungsbildung“ ergibt sich also zum einen aus dem Erkenntnisgewinn der FilmemacherInnen während der Bearbeitung einer Themenstellung und zum anderen aus den Darstellungsweisen, entlang derer diese Primärerfahrungen vermittelt werden sollen. In Bezug auf beide Vorgänge, die Erkenntnisgewinnung wie auch die Erfahrungsvermittlung, erkennt er Parallelen zu wissenschaftlichen Forschungsmethoden. Nachstehend werden diese beiden Perspektiven auf Erfahrungsbildung erläutert. „Serendipity“ – Erkenntnisgewinnung und Erfahrungsbildung Eine erste Parallele zwischen Filmarbeit und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung gründet in der Haltung gegenüber der unmittelbaren Umwelt, die für wesentlich angesehen wird, um Entdeckungen zu machen. Rabiger (1987) beschreibt die dokumentarische Kameraarbeit als eine „serendipitous activity“ (Rabiger zit. n. Schändlinger 1994: 154). Damit ist eine Metapher für den produktiven Umgang mit Unvorhersehbarem während der Filmaufnahmen gemeint.29 Eine ähnliche Umschreibung findet sich bei dem Soziologen Merton (1968), der im 28 Im deutschsprachigen Raum beschäftigen sich z.B. die wissenschaftlichen Arbeiten von Hohenberger (1988) und Mohn (2002) mit dieser Schnittstelle zwischen Dokumentarfilm und ethnographischer Forschung. 29 Vgl. hierzu auch die Arbeit von Mohn. Sie beschreibt als ein Kernelement sogenannten starken Dokumentierens die Abhängigkeit vom Zufall: „In der Verfassung des Noch-nicht-Wissens konzipieren die untersuchten Dokumentarfilmer ihren Gegenstand als permanenten Zufall. Es ist von Bedeutung, plötzlich ein Konzept zu haben. Die Berichte führen eine Methodologie des Zufalls vor“ (Mohn 2002: 37).
2.2 Wissensvermittlung durch Dokumentarfilm und situationszentrierte Darstellungsweisen
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Kontext von Forschungsmethoden von einem „serendipitous pattern“ (Schändlinger 1994: 155) spricht.30 Eine begriffliche Klärung ergibt Folgendes: „’Serendipity’ beschreibt (..) die Fähigkeit, glückliche und unerwartete Entdeckungen durch Zufall zu machen und die Bedeutung dieser Entdeckungen wahrnehmen und einschätzen zu können“ (ebd.: 156). Diese Kompetenz wird also im Bereich des Dokumentarfilmschaffens wie auch in der soziologischen Empirie für weiterführend gehalten. Zugleich ist damit aber auch folgende Problemstellung gegeben: Es handelt sich um ein vom Zufall abhängiges wissenschaftliches bzw. filmisches Verfahren, das sich als wenig formalisierbar erweist. Die auf diesem Weg vollzogene Theoriebildung ist abhängig von der situativen Aufmerksamkeit für Abseitiges und Unvorhersehbares und ähnlich wie eine Indiziensuche strukturiert. „Es handelt sich um Formen eines Wissens, das sich auf die Beschreibung und Analyse von Einzelfällen richtet, die sich nur durch Spuren, Symptome, Indizien rekonstruieren lassen. Einen Rest von Unsicherheit kann eine Indizienwissenschaft nicht ausschließen, weil sie das Individuelle an Fällen, Situationen und Dokumenten thematisiert“ (ebd.: 158).
„Serendipity“ als Erkenntnismethode liegt quer zu sämtlichen Gewissheiten qualitativer Sozialforschung: weder kann es in Übereinstimmung mit verfahrensgeleiteter Feldforschung gebracht werden, denn Serendipity entspricht keinem geregelten Verfahren, noch kann es bewusst herbeigeführt werden, da die ‚Serendipity’-Haltung nicht auf Forschung abzielt, sondern sich dann offen zeigt, wenn die BeobachterIn „von den Phänomenen überrascht“ wird (vgl. ebd. 162). Es bleibt schließlich nach dem Ertrag bzw. nach der Generalisierbarkeit von ‚Daten’ zu fragen, die aus einem solchen Konzept der Erkenntnisgewinnung hervorgehen, das auf eine sinnliche Erfassung unmittelbarer Vorgänge angewiesen ist. Wo liegt der Gewinn einer solchen (Nicht-)Methode? Nach Schändlinger ist dieser in den Möglichkeiten der Erfahrungsvermittlung zu sehen. Im Folgenden geht es um die Methode, wie Erfahrungen in ihrem Charakter als Entdeckungen bewahrt werden können. Auch dies macht Schändlinger an einer Parallele zur wissenschaftlichen Empirie deutlich. Sekundärerfahrungen – Erfahrungsvermittlung und Darstellungsstrategien Um die spezifische Qualität des Dokumentarfilms als Medium in der (wissenschaftlichen) Erfahrungsbildung zu klären, nimmt Schändlinger zunächst eine Abgrenzung von objektivistischen Argumentationsweisen vor. 30
Bude übersetzt den Begriff als „Muster des Spürsinns“ (2000: 569).
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Darstellen und Vermitteln von Inhalten im Dokumentarfilm „Diese Objektivität trifft nicht den Kern dokumentarischer Erfahrungsbildung. Die spezifische Qualität dokumentarischer Erfahrungsbildung besteht im Gegenteil darin, daß sie exakt an der Schnittstelle entsteht und angesiedelt ist, wo subjektive Empfindungen und Erlebnisse zur Erfahrung transformiert und symbolisch dargestellt werden. Die Herausforderung technikgestützter dokumentarischer Verfahren besteht nicht darin, daß die subjektiven Anteile an der Realitätsaneignung eliminiert werden können, sondern darin, daß die Vielzahl der Erscheinungen, Empfindungen und Erlebnisse nicht in gleichem Maß reduziert wird wie bei begrifflichtypologisierenden oder mathematisch-statistischen Verfahren“ (ebd.: 3).
Dokumentarische Filme sind hier also als ‚Kondensat’ eines subjektiven Unmittelbarkeitserlebens konzipiert. Das heißt, die Art von Wissen, die Schändlicher interessiert, ist ein Wissen, das möglichst facettenreich, in vollem Umfang und auf dem Weg einer symbolischen Bearbeitung weitergegeben wird. Denn „die Filme selbst und nicht das Verhalten des Filmemachers während der Aufnahme sind die dem Zuschauer zugänglichen Produkte einer Erfahrungsverarbeitung, die er zum Ausgangspunkt seiner eigenen Erfahrungsbildung machen kann“ (ebd.: 142). Deshalb kommt den Darstellungsstrategien eines Dokumentarfilms eine besondere Aufgabe im Hinblick auf den Erhalt dieser ursprünglichen Erfahrung der Filmschaffenden mit dem ‚Stoff’ zu. Aufgabe der Filmschaffenden wäre es demnach, Möglichkeiten zu eruieren, wie ein ursprüngliches Erleben in der Begegnung mit sozialer Realität in den Sekundärerfahrungen der ZuschauerInnen ‚wach’ gehalten werden kann. In diesem Zusammenhang ist der Einfluss der Romantik sowohl auf dokumentarische Darstellungsstrategien wie auch auf soziologische Forschungsstrategien bedeutend (vgl. ebd. 148ff). Nach Gouldner, dem es um die Demokratisierung wissenschaftlicher Daten geht, spielt sich der Einfluss der Romantik vor allem in der Perspektivierung von Realität ab: „Das Gewöhnliche, das Alltägliche, das Niedere, das Fleischliche und das Abweichende galt es vor dem Zugriff von Routine, Ignoranz und Verdinglichung zu entziehen, indem man sie aus einem Blickwinkel anschaute, der ihnen neuen und gesteigerten Wert verlieh. Romantisieren bedeutete, wie sich Novalis ausdrückte, im Endlichen das Unendliche, oder mit Blake’s Worten, im Sandkorn den Kosmos zu erkennen (...) Es gab nichts, was an sich zu gering gewesen wäre, sondern nur Betrachtungsweisen der Welt, die zu flach waren. Die ‚klassische’ Sicht der Welt hatte bestimmte Enklaven der Realität ausgegrenzt, deren Vernachlässigung ihr aber ohne jedes Zögern gerechtfertigt erschien. Aus romantischer Sicht erschien die Unbedeutendheit der Dinge einem Mangel an Einbildungskraft geschuldet“ (Gouldner 1984, zit. n. Schändlinger 1994: 150, Herv. i.O.).
Gouldners Vorstellung einer „soziologischen Phantasie“ (ebd.: 151) ist nicht als willkürliche Zuwendung zu Details der Realität zu verstehen, sondern lässt sich v.a. auf das methodische Verfahren der Multiperspektivität beziehen. Dadurch, dass eine soziale Erscheinung immer wieder neu und anders gezeigt wird, nähert
2.2 Wissensvermittlung durch Dokumentarfilm und situationszentrierte Darstellungsweisen
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man sich dem Ziel, „den konkreten Reichtum der Wirklichkeit aus einer Vielzahl von Perspektiven zu betrachten“ (ebd.).31 Romantische Ideale sind auch in der dokumentarischen Filmpraxis anzutreffen.32 Das Wissen, das ein nach romantischen Idealen gestalteter Film hervorbringt, ist deshalb ein alternatives Wissen: es geht erstens aus einer alternativen Perspektive hervor, zweitens beinhaltet es einen alternativen „Datenbegriff“ (Gouldner) und drittens wird es durch alternative Darstellungsstrategien vermittelt. Die Annahmen des Realismus bezüglich einer „natürlichen Filmsprache“ (Schillemans 1995: 18), wie im vorherigen Kapitel 2.1 angeführt, sind dieser Position fern. Zusammenfassend: Wissenserwerb besteht hier in Sekundärerfahrungen. Wissenserwerb und Erfahrungsbildung sind im Wesentlichen an Fragen der Darstellung gebunden, aus der heraus sich ergibt, in welchen Dimensionen eine Themenstellung begriffen wird. Das Konzept der Erfahrungsbildung beruht auf einem starken Einfluss durch die Filmschaffenden, von deren Beobachtungskompetenz es abhängt, was als Sekundärerfahrung vermittelt werden kann. Auch ist deren Darstellungskompetenz ausschlaggebend dafür, in welchen Aspekten sie ihre Primärerfahrungen weitergeben. Notwendig ist daher ein reflexiver Umgang mit Rohmaterial und Darstellungsweisen in der Filmarbeit. Interessant ist nun festzustellen, dass ähnliche Überlegungen im Rahmen von medienpädagogischer Jugendforschung eine Rolle spielen. Auch hier geht das Forschungsinteresse über pädagogisch strukturierte Wissensvermittlung hinaus. Untersucht wird, welche Erfahrungen Jugendliche im Rahmen von medialen
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Dieser notwendige Kunstgriff erinnert an die von Geertz entwickelte dichte Beschreibung, einem intellektuellen Verfahren, das sich zwischen den Prozessen des Beobachtens und des Darstellens realisiert (vgl. Geertz 1983: 26). Es werden dabei interpretative Verknüpfungen von Darstellungsebenen, die aus jeweils verschiedenen lokalen Bedeutungen resultieren, hergestellt (vgl. ebd.: 306f). Der Einfluss der Romantik auf sozialwissenschaftliches Denken lässt sich also zugleich als Bewusstsein für Fragen der Darstellung empirisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse auffassen. 32 So kommt das Versprechen auf ein romantisierendes Weltentdecken tatsächlich im Leitbild von dokumentarischen Sendeplätzen zum Ausdruck: - Das WDR-Format ‚die story’ will anstatt „im Sandkorn die Welt entdecken“ zu lassen, „die Welt wie in einem Wassertropfen“ zeigen; - Die ZDF-Redaktion 37 Grad beschreibt ihre Aufgabe mit den Worten: „an der Schnittstelle von Kultur, Religion und Gesellschaft ein Stück Kontrastfernsehen schaffen“. Dabei „über Grundbefindlichkeiten des Daseins“ und „die existenzielle Seite der Kultur“ berichten anhand von „exemplarische(n), außergewöhnliche(n), aber auch ganz alltägliche(n) Geschichten“; - Schließlich verspricht die Selbstdarstellung der MacherInnen von „Menschen hautnah“ (ebenfalls WDR) „einzigartig“ darin zu sein, „Menschen in Lebenssituationen, die uns berühren“ – so etwa „die turbulente Drillingsfamilie und die einsame alte Frau, die sich an nichts mehr erinnern kann“ –, mit der Überzeugung zu portraitieren, dass „deren Entwicklung aufschlussreich ist für unsere gesellschaftliche Wirklichkeit“ (vgl. Dokumentarfilminitiative NRW 2003).
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Darstellen und Vermitteln von Inhalten im Dokumentarfilm
Eigenproduktionen von sich mitteilen. Entscheidend ist auch hierbei, dass begrifflich-typologisierende Verfahren bei dieser Fragestellung zu kurz greifen. 2.2.3 Handlungsorientierte Filmarbeit in der Medienpädagogik Medienpädagogische Forschung und Praxis differenziert sich in verschiedene Bereiche. Als Mediennutzungsforschung umfasst sie Programmanalysen, die Erhebung von Mediennutzungsdaten und Rezeptionsforschung. Diese Richtung von Forschungsansätzen interessiert sich dafür, welche Programmangebote Kindern- und Jugendlichen öffentlich zugänglich gemacht werden und wie Heranwachsende diese vor dem Hintergrund jugendkultureller Rezeptionsästhetiken und als Mittel der Lebensbewältigung aneignen und nutzen.33 Gegenüber diesen rezeptionsorientierten Ansätzen findet Medienpädagogik aber auch als praktische Medienarbeit statt bzw. ist praktische Medienarbeit Bestandteil von Forschung. Mit der Aufforderung zu filmischen Eigenproduktionen werden bei Kindern und Jugendlichen thematische Auseinandersetzungen z.B. mit ihrem soziokulturellen Lebensumfeld angeregt. Diese Form der handlungsorientierten Filmarbeit ist vergleichbar mit dem Ansatz des „indigenen Filmens“, der von Worth und Adair (1972) im Rahmen der ethnographischen Forschung als konzeptioneller Zugang zu fremden Kulturkreisen entwickelt wurde (vgl. Hohenberger 1988: 138f, Schändlinger 1994: 12). Handlungsorientierte Filmarbeit stellt auch eine wichtige Grundlage für sogenannte sozialvideographische Ansätze in der pädagogischen Jugendforschung dar. Hierbei handelt es sich um eine Forschungsrichtung, deren Ziel es ist, die sozialwissenschaftlichen Zugänge in der Jugendforschung um visuelle Methoden zu erweitern. Die Filme, die Jugendliche machen, sind dann der Gegenstand, auf den sich Forschung bezieht. Von Interesse sind insbesondere Zugänge zu jugendkulturellen Symbolmilieus. Mit dem Begriff des Symbolmilieus ist eine spezifische Verschränkung in der Milieubildung bei Jugendlichen gemeint, die sich sowohl aus sozialräumlich lokalen Raum- und Zeitbezügen wie auch aus medienvermittelten Sinn- und Symbolwelten konstituiert. Wie im Ansatz von Meyrowitz wird auch hier angenommen, dass sich die Aneignung „von Welt“ und die Erfahrungsbildung mitunter ortsungebunden vollziehen. Medienästhetische Angebote wie auch spezifisch geprägte Medienkommunikationen tragen zu einem symbolisch vermittelten Prozess der Stilbildung und Selbstfindung bei. Das spezifische Erkenntnisinteresse dieser visuellen Methode liegt dann in der 33 Vgl. hierzu die Untersuchungen und Veröffentlichungen von Theunert u.a. zur Wahrnehmung und Verarbeitung von Fernsehinhalten bei Kindern und Jugendlichen (JFF – Institut für Medienpädagogik 2008).
2.3 Dokumentarfilm als Erzählung und narrative Darstellungsweisen
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Dokumentation dieser subjektiven Repräsentationsformen von Jugendlichen, d.h. wie Jugendliche als Filmschaffende ihre Erfahrungswelten in z.B. nonverbalen, körperbezogenen Kommunikationsstilen, sinnlichen Gegenstands-Erfahrungen und Handlungsbezügen zum Ausdruck bringen. Auch hier wird – wie im Konzept der Erfahrungsbildung durch Dokumentarfilm – auf die Erweiterung sprachlicher Ausdrucksfähigkeit durch eine präsentative Symbolik gesetzt (zusammenfassend Niesyto 2001: 92ff). 2.3 Dokumentarfilm als Erzählung und narrative Darstellungsweisen Im Folgenden wird der Zusammenhang zwischen dokumentarischen Filmen und narrativen Strukturen in der Vermittlung filmischer Inhalte näher betrachtet. Es wird gezeigt, dass narrative Darstellungsweisen insbesondere dazu auffordern, von einem individuellen Handlungsschema auf verallgemeinerbare Strukturen zu schließen. Spitzt man den anvisierten Zusammenhang auf die Frage zu: „Erzählen Dokumentarfilme Geschichten?“ wird aber zunächst ein Klärungsbedarf offensichtlich. Das Erzählen ist charakteristisch für den Spielfilm und trifft hier auf die Bereitschaft des Publikums, sich Illusionen hinzugeben oder auch auf die Hoffnung, die Alltagsnormalität zu überwinden. Die Erwartungen an einen Dokumentarfilm sind gegensätzlich dazu. Nicht Fiktionen, sondern Tatsachen und alltagsfundierte Sichtweisen sind überwiegend Gegenstand dokumentarischer Filme. „Schon ganz oberflächlich betrachtet liegt also das Thema ‚Erzählen im Dokumentarfilm’ in einem Spannungsfeld, gilt doch im dokumentarischen Genre das Geschichtenerzählen als Widerspruch zur Funktion des Dokumentierens und Aufzeigens“ (Kiener 1999: 59). Will der Dokumentarfilm sich sozialer Realität annähern, wäre zu erwarten, dass er sich dabei eher an analytisch beschreibenden Verfahren als am Geschichtenerzählen orientiert. Um zu zeigen, dass ein inhaltlicher Fokus nicht zwangsläufig an eine bestimmte Diskursform gebunden ist, wird zunächst der Unterschied zwischen dem inhaltsbezogenen Begriff „nicht-fiktional“ und dem darstellungsbezogenen Begriff „narrativ“ verdeutlicht. Von da aus werden die Merkmale der narrativen Form und eine mit dem Erzählen verbundene Funktion beschrieben. 2.3.1 Merkmale und Funktion der narrativen Form Kiener (1999), die sich explizit mit dem narrativen Dokumentarfilm beschäftigt, erachtet es als notwendig, begrifflich zwischen Narrativität und Nichtfiktionalität zu unterscheiden. Es handelt sich bei den beiden Begriffen um Antworten auf
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Darstellen und Vermitteln von Inhalten im Dokumentarfilm
unterschiedliche Fragen: Nichtfiktionalität ist die Antwort auf die Frage nach den Sachverhalten oder Begebenheiten, die z.B. ein Film konkret aufgreift. Narrativität ist eine Antwort auf die Frage, wie die dargebotenen Inhalte vermittelt werden können. Während die Bestimmung eines Textes als „fiktional“ bzw. „nicht-fiktional“ also ausschließlich „durch die Frage nach dem Referenzobjekt des Textes“ (ebd.: 38) vorgenommen werden kann, spielt sich die Bestimmung von filmischen Darstellungsweisen als „narrativ“ oder „nicht-narrativ“ im filminternen Rahmen ab. In der Gleichsetzung von „narrativ“ und „fiktional“ liege der Ursprung einer lange Zeit blockierten Diskussion zum Dokumentarfilm (vgl. ebd.: 26ff). Diese Gleichsetzung ist nicht nur Ergebnis von Sehgewohnheiten und filmischen Konventionen, sondern bilde auch eine normative Position in der theoretischen Beschäftigung mit dem Dokumentarfilm ab (vgl. ebd.: 38). Wodurch zeichnen sich narrative Darstellungsweisen gegenüber nicht-narrativen aus? Dies macht die literaturwissenschaftliche Erzählforschung (Narratologie) deutlich. Kiener fasst mit Bezug auf Bal (1985) die strukturellen Textmerkmale der Erzählung folgendermaßen zusammen: „Ein narrativer Text beruht auf einer narrativen Struktur seines Inhalts. Die inhaltliche Struktur (..) ist nur dann narrativ, wenn sie eine Serie von logisch und chronologisch verbundenen Ereignissen aufweist, in die Akteure involviert sind. Unter einem Ereignis versteht man den Übergang von einem Zustand in einen anderen Zustand. Akteure sind anthropomorphe Figuren, die Handlungen vollziehen. Daraus ergeben sich auf der Tiefenstruktur eines narrativen Textes vier konstitutive Elemente: Ereignis, Akteur, Zeit und Raum“ (Kiener 1999: 146).
Die Narrativität eines Textes kann unterschiedlich ausgeprägt sein und ist im Wesentlichen an das Vorhandensein einer Ereignisstruktur gebunden. Dabei gilt: je mehr sich die Darstellung auf die Abfolge von Ereignissen und damit auf die Dynamik der Handlung konzentriert, umso höher ist der narrative Grad. Zielt die Darstellung dagegen auf Beschreibungen, Reflexionen oder philosophische Betrachtungen, die nicht unmittelbar im Zusammenspiel von Ursache und Wirkung stehen, ist der Text durch diese statischen Anteile weniger narrativ (vgl. ebd.). Weist ein Text kein Ereignis bzw. keine Ereignisfolge – unabhängig davon, ob real oder fiktiv – auf, handelt es sich nicht um eine Erzählung, sondern um eine Beschreibung (vgl. ebd.: 149). Auf die Textmerkmale Raum, Zeit und Akteur wird in Kapitel 3 auch in erzähltheoretischer Perspektive ausführlich eingegangen. Deshalb werden sie an dieser Stelle nicht weiter erläutert. Um sich die Bedeutung von narrativen Darstellungsweisen für die Vermittlung von Inhalten klar zu machen, reicht es jedoch nicht aus, sich mit der Textstruktur der Erzählung zu befassen. Vielmehr sind die Funktionen zu betrachten, die sich mit dem Erzählen verbinden. Eine zentrale Funktion der Erzählung liegt
2.3 Dokumentarfilm als Erzählung und narrative Darstellungsweisen
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in der Herstellung einer Ordnung, in der der Sachverhalt aufbereitet und rezipierbar wird. Erzählung als modellhaftes Ordnungssystem Da die Erzählung nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern in zahlreichen weiteren wissenschaftlichen Disziplinen behandelt wird (z.B. in der Geschichtswissenschaft, der Ethnologie oder in der Volkskunde), ist davon auszugehen, dass sich ihre Funktion auch allgemein bestimmen lässt. Kiener nimmt eine solche übergreifende Perspektive ein und beschreibt die Aufgabe der Erzählung folgendermaßen: „Die Erzählung wäre als konventionelles Ordnungsmuster zu sehen, worin Eindrücke und Fakten eingereiht werden, um ihnen dadurch Sinnhaftigkeit und Zusammenhang zu verleihen“ (ebd.: 81, Herv. C.F.). Diese Aussage verweist bereits auf die Vorteile wie auch auf die Gefahren narrativer Darstellungsweisen. Im Folgenden werden beide Seiten beleuchtet, angefangen mit der Kehrseite, d.h. mit der Problematik, die entsteht, wenn reale Begebenheiten in einer narrativen Form dargestellt werden: Wurde in Kapitel 2.1 auf das Potenzial offener Darstellungsweisen hingewiesen, kann das Aufgreifen von narrativen Formen in dokumentarischen Filmen wiederum als Trend zu konventionalisierten Ordnungsmustern in der Vermittlung von Inhalten verstanden werden. Bedient werden dadurch v.a. „kulturell geprägte Erwartungsstrukturen“ (ebd.: 92). Narrative Ordnungsmuster befinden sich prinzipiell also im Widerspruch zu offen konzipierten Darstellungsweisen, da sie, wie in Kapitel 2.1 bemerkt, in der Gefahr stehen, Sachverhalte auf bekannte Formen des Erlebens – von z.B. Spannung und deren Auflösung – einzudämmen. Besonders kritisch wird dieses Problem in der Zuwendung der Geschichtswissenschaft zur Erzählung gesehen.34 Der Geschichtswissenschaftler White kreist diese Problematik folgendermaßen ein: „Die Erzählung wird erst dann zum Problem, wenn wir realen Ereignissen die Form einer Geschichte geben wollen. Gerade weil reale Ereignisse sich nicht in der Form von Geschichten darbieten, ist es so schwierig, sie zu erzählen“ (White 1990: 14). Kern der Kritik ist die Annahme, die Erzählung stülpe den historischen Tatsachen eine unspezifi34
„Gleich den audiovisuellen Genres Dokumentarfilm, Reportage oder aktuelle Berichterstattung versteht sich die Historiographie als ein nicht-fiktionaler Diskurs und ebenso wie dokumentarische und journalistische Aufzeichnungen sind auch geschichtswissenschaftliche Darstellungen von narrativen Strukturen durchdrungen. Nun waren die Historiker die ersten unter den Geisteswissenschaftlern, die sich selbstbewusst zum Geschichtenerzählen bekannt hatten. (..) Sie übernahmen deshalb auch die Vorhut darin, die Dienstbarkeit des narrativen Modells als Darstellungsform in den Humanwissenschaften einzuschätzen“ (Kiener 1999: 102f).
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sche und konventionelle Form über (vgl. White 1990: 12) bzw., Form und Inhalt seien derart eng miteinander verwoben, dass die formale Darstellung bereits eine inhaltsrelevante Aussage treffen würde (vgl. Kiener 1999: 105). Dem ist entgegenzuhalten, dass die narrative Form nicht zum Ausschluss von deskriptiven Darstellungsformen führt. Kiener macht deutlich, dass insbesondere dann, wenn Prozesse dargestellt werden, Erzählung und Beschreibung sich einander annähern. In diesem Fall dient die Beschreibung „der Vertiefung der Ereignisstruktur“ (ebd.: 110). Erzählung und Beschreibung als zwei Darstellungsmöglichkeiten sind schließlich auch kombinierbar. Warum sich aber beispielsweise die Geschichtswissenschaft, die Volkskunde und – wie im folgenden Kapitel gezeigt wird – auch die Pädagogik mit Erzählungen beschäftigt, hat mit den Vorteilen zu tun, die entstehen, wenn Erfahrungen und historische Tatsachen als Erzählungen vermittelt werden. Die beiden dafür relevanten Stichworte wurden bereits genannt: es geht um „Sinnhaftigkeit“ und „Zusammenhang“. Die erzählerische Form bildet stets ein sinnvolles Ganzes. Nach White erfüllt die Erzählung eine kulturelle Funktion und ist ein „Metacode“ (White 1990: 11) dafür, Erfahrungen Sinn zuzusprechen. Es müsse ein besonderer „Reiz in der Narrativität als einer Form der Darstellung von Ereignissen [liegen, C.F.], die als real statt imaginär gedeutet werden“ (ebd.: 15). Um die „Bedeutung von Narrativität in der Darstellung von Wirklichkeit“ zu klären, bezieht er sich u.a. auf einen von Kant formulierten Zusammenhang: „Kant nämlich geht davon aus, daß historische Erzählungen ohne Analyse leer, historische Analysen ohne Erzählung hingegen blind sind. Wir dürfen somit fragen: Welcherart ist die durch eine Erzählung vermittelte Einsicht in die Natur eines realen Geschehens? Welcherart ist jene qua Narrativität zu heilende Blindheit gegenüber der Realität?“ (ebd.: 16). White vergleicht die erzählerische Form mit ihren Alternativen, den Analen und der Chronik, und akzentuiert die Erzählung als Versuch, dem „erörterten Geschehen eine moralische Dimension zu verleihen“ (ebd.: 26).
Erst das Kontroverse innerhalb einer Sachlage macht die erzählerische Form notwendig (vgl. ebd.: 32). Die „Kohärenz, Integrität, Fülle und Geschlossenheit“ (ebd.: 37), die die narrative Form anstrebt, ermöglicht es, sich diskursiv auf historische Tatsachen zu beziehen. Sie zerfallen nicht in Einzelelemente, sondern werden durch die Erzählung sinnhaft zusammengehalten. Merkmale eines narrativen Sinnzusammenhangs Auf der Grundlage eines weit gefassten Begriffs der Erzählung, der über einzelwissenschaftliche Zugänge hinausgeht, fasst Kiener die Merkmale der narrativen Darstellung in fünf Aspekten zusammen (vgl. Kiener 1999: 75ff).
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Ein erstes Merkmal bezieht sich auf die Zeitbezüge einer Erzählung: In der Regel beinhaltet eine Erzählung Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen. Sie spannt also einen Bogen über zurückliegende Begebenheiten, die vom Erzähl-Zeitpunkt aus organisiert werden (vgl. Kap. 3.3). Das zweite Merkmal bezieht sich auf den Verlauf, den jede Erzählung beinhaltet. Kennzeichnend dafür ist, dass sich der Anfangs- vom Endzustand unterscheidet. Die Transformation innerhalb dieses Verlaufs ist kausal mit einer Handlungsnotwendigkeit begründet. Eine besondere Bedeutung kommt dem Verlauf einer Geschichte auch deshalb zu, weil er das narrative Schema, wie die ZuschauerInnen Informationen behalten und wiedergeben, begünstigt (vgl. ebd.: 91). Geschichten werden in diesem Sinne von den ZuschauerInnen als Aktionsschemata aufgefasst und nach den darin zu lösenden Probleme bzw. Problemlösehandlungen ausgewertet. Jede Erzählung basiert – so das dritte Merkmal – auf konkreten Umständen, d.h. auf einer räumlichen wie auch zeitlichen Lokalisierung und konkreten Handlungsträgern. Es findet also eine Bindung des Themas an Raum, Zeit und an AkteurInnen statt. Das vierte Merkmal bezieht sich auf den Ereignischarakter einer Erzählung. Sie muss nicht-vorhersehbare bzw. unerwartete Informationen enthalten. Typische Handlungsabläufe haben hingegen kein Erzählpotenzial (vgl. Kap. 3.2). Jede Erzählung setzt – fünftens – eine ErzählerIn voraus, die als vermittelnde Instanz zwischen der „erzählten Welt“ und den RezipientInnen angesiedelt ist (vgl. Kap. 3.4). Ihr kommt die Deutungshoheit über die Begebenheiten einer Geschichte zu.
Von diesen allgemeinen Merkmalen lässt sich nun auch das spezifische Darstellungspotenzial ableiten, das sich mit der narrativen Form verbindet. Es besteht zusammenfassend in Folgendem: Durch das Schaffen einer Verlaufsperspektive findet eine Verzeitlichung eines Sachverhalts statt. Der Verlauf ist zudem mit einem Handlungsschema verbunden, das mit unerwarteten Informationen bzw. Ereignissen konfrontiert ist und deswegen vornehmlich als Problemlösungshandeln rezipiert wird. Mit der Konkretisierung der Umstände ergibt sich v.a. auch eine Personalisierung des Geschehens. Damit liegt ein spezifisches Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem vor: eine strukturelle Problemstellung (Strukturkonflikt im Rahmen einer spezifischen sozialen und politischen Ordnung) wird in einen Handlungskonflikt überführt und als individuelles Aktionsschema gelöst.
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Darstellen und Vermitteln von Inhalten im Dokumentarfilm
2.3.2 „Narratives als Erkenntnisquelle für Pädagogen“ Baacke vertritt in einem Aufsatz von 1979 die Auffassung, dass Geschichten eine für pädagogisches Handeln zentrale Erschließungsstruktur von sozialen Kontellationen ermöglichen.35 Unter Geschichten versteht er das, was Personen von sich und über andere Personen erzählen. Im Fokus stehen die beim Erzählen entstehenden Verbindungen verschiedenster sozialer Daten (vgl. ebd.: 30f). Die Beschäftigung mit Erzählungen wird von ihm als Überscheidungsbereich praktischer und wissenschaftlicher Pädagogik entworfen. „Narratives als Erkenntnisquelle für Pädagogen“ (ebd.: 44) meint, dass Erzählungen ergänzend zu gesicherten empirischen Daten zum Zustandekommen von pädagogischen Erkenntnissen beitragen und pädagogisches Handeln ermöglichen. Sie sind jedoch weit mehr als eine bestimmte Form von Daten, die es zu deuten gilt, denn sie sollen als „Ereigniskette oder „Erlebnisstrom mit allen Details sinnlicher Konkretheit wahrgenommen werden“ (ebd.: 19). Baacke spricht auch von einer „Komplexion von Daten“ (ebd.: 27).36 Gerade diese Form der facettenreichen Darstellung verhindert schnelle verallgemeinernde Typisierungen und einen „Verlust von Welt“ (ebd.: 24). Stattdessen sensibilisiert sie z.B. für (im Rahmen von wissenschaftlichen Routinen) Untypisches, für Uneindeutigkeiten, für die historische Gebundenheit der erzählten Inhalte oder auch für die Situationsspezifik von Kommunikationssituationen (vgl. ebd.: 20ff). Im Rekurs auf kulturwissenschaftliche, psychoanalytische und soziologische Erklärungszusammenhänge und schließlich auch mit Bezug auf hermeneutische Textwissenschaften zeigt er, dass darin immer wieder die gleiche Bewegung zwischen Besonderem und Allgemeinem bzw. eine Perspektivenverlagerung zwischen „Ausschnitt“ und „Ganzem“ stattfindet (vgl. ebd.: 44). Diese mache schließlich auch den Kern dessen aus, wodurch die Pädagogik aus Geschichten lernen könne: Geschichten sind sprachliche Darstellungsverfahren die temporäre Ordnungen herstellen (vgl. ebd.: 30). Diese Ordnungen betreffen einen lokalen und subjektiv gefärbten Ausschnitt, der zugleich dazu auffordert, im strukturellen Gesamtzusammenhang gesehen und erklärt zu werden. In dieser Zuwendung zum Narrativen liegt nach Baacke eine Grundgestalt pädagogischen Handelns (vgl. ebd.: 46). Pädagogik als Handlungswissenschaft be35 Der Aufsatz entstand in einer Zeit, in der sich die Erziehungswissenschaft zwar zunehmend sozialwissenschaftlich orientierte (vgl. Baacke 1979: 44f), der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Modernisierung, Individualisierung, der Konstruktion von Biographie und einem demzufolge verstärkten Forschungsinteresse an biographischen Erzählungen (vgl. Bitzan/Bolay/Thiersch 2006: 259f) aber noch nicht aktuell war. 36 Er unterscheidet drei Textsorten, auf die seine Ausführungen gleichermaßen bezogen sind: die fiktiven (z.B. literarische) und die dokumentierenden Texte (z.B. Biographien) sowie Dokumente z.B. in Form von Interviewtranskripten (vgl. Baacke 1979: 25).
2.4 Zusammenfassung und Vorausblick
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wegt sich stets zwischen dem Interesse für den Einzelfall und dem Interesse für Generalisierungen (vgl. ebd.: 49). Er plädiert daher für ein „sozialwissenschaftliches Verständnis von erzählenden Texten“ (ebd.: 11) bzw. für eine „sozialwissenschaftliche Hermeneutik“ (ebd.: 45). Kennzeichnend für diese ist der Zusammenhang zwischen Verstehen und Erklären, den es für die Pädagogik zu stärken gelte (vgl. ebd.: 49). In diesem Sinne sind nun auch narrative Darstellungsweisen in dokumentarischen Filmen zu verstehen: sie schaffen verdichtete und spezifisch begrenzte Ausschnitte sozialer Realität. Damit bieten sie zugleich die Möglichkeit, einen Strukturkonflikt anders und zwar in einer verzeitlichten Ereignisstruktur und personalisiert als Handlungskonflikt nachzuvollziehen. Wichtig ist aber auch Folgendes: Narrative Darstellungsweisen in dokumentarischen Filmen sind nicht absolut zu setzen, sondern als Elemente in Kombination mit anderen Diskursformen denkbar. Wie auch die Pädagogik, die sich mit Geschichten beschäftigt, integrieren dokumentarische Filme auch anders charakterisierte soziale Daten und Dokumente, die es erst ermöglichen, sich in der Rezeption gedanklich zwischen einem individuellen Verlauf und allgemeinen Konstellationen zu bewegen. 2.4 Zusammenfassung und Vorausblick Die Beschäftigung mit Dokumentarfilmtheorie beschränkt sich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung auf die Absicht, ‚dokumentarische Darstellungsweisen’ und ‚Vermittlung’ von Inhalten als zentrale Begrifflichkeiten einzuführen. Drei exemplarische Zugänge wurden dafür gewählt: x Entlang von Ansätzen zur theoretischen Bestimmung von Dokumentarfilmen wurde auf das Verhältnis zwischen den Eigenschaften und Funktionen von dokumentarischen Filmen einerseits und den Darstellungsweisen andererseits eingegangen. Es wurde gezeigt, dass ein konzeptionell offener Zusammenhang zwischen beiden, erstens eine Grundlage dafür schafft, die diversen zeitgeschichtlich- und ortsgebundenen Strömungen des Dokumentarfilms in ihren (partiellen) Übereinstimmungen wie auch Gegensätzlichkeiten in einem Kontext zu sehen. Zweitens – und das ist für das Folgende von Interesse – bildet er die Grundlage für potenziell neuartige Erfahrungen der ZuschauerInnen. Darstellungsweisen, die sich nicht an Konventionen orientieren, sondern offen konzipiert sind und im Vermitteln eines Inhalts – etwa in der Dissonanz zwischen „Erleben“ und „Urteilen“ – auch Fremdheitserfahrungen bei den ZuschauerInnen hervorrufen, bieten gute Chancen auf eine weitreichende inhaltliche Auseinandersetzung.
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Wissensvermittlung durch Dokumentarfilm erschöpft sich nicht in didaktisch aufbereiteter Information. Folgt man Schändlinger liegt das spezifische Potenzial dokumentarischer Filme in der „Erfahrungsbildung“ durch einen Gestaltungsprozess. Wesentlich ist dabei, dass die filmschaffende Person ihre situativen Erfahrungen möglichst facettenreich durch symbolische Bearbeitung transformiert. Ein reflexiver Umgang mit dem aufgezeichneten Rohmaterial ist daher Voraussetzung für den erlebenden Nachvollzug spezifisch strukturierter Situationen und damit für Sekundärerfahrungen. Narrative Darstellungsweisen sind – wie zuvor gezeigt – nicht auf fiktionale Darstellungsinhalte begrenzt. Wie die Geschichtswissenschaft klar macht, sind sie auch ein wichtiger Bezugspunkt in der Übermittlung historischer Fakten und Erfahrungen. Mit der Ordnungsfunktion der narrativen Form wird unter den verstreuten Fragmenten zurückliegender Gegebenheiten vor allem Zusammenhang und Sinnhaftigkeit gefördert. Das Potenzial narrativer Darstellungsweisen liegt darin, einen Strukturkonflikt als Handlungskonflikt begreifbar und nachvollziehbar zu machen.
Auf diese Ergebnisse wird an verschiedenen Stellen der Untersuchung zurückzukommen sein. Im Resümee erfahren sie schließlich auf der Basis der empirischen Ergebnisse eine Konkretisierung: Darstellungsweisen, die bewusst Irritationen zwischen Erleben und Urteilen bewirken, werden auf drei Konstruktionsweisen, die Dissonanzen hervorrufen, verdichtet (vgl. Kap. 8.2 und Kap. 8.3). Die Bedeutung situationszentrierter Darstellungsweisen für die Wissensvermittlung (gerade auch im sozialpädagogischen Kontext), wird v.a. am Untersuchungsfilm „Schule des Lebens“ (vgl. Kap. 6) verdeutlicht. Von dieser Filminterpretation ausgehend werden sie als ein Strukturtypus der Vermittlung verallgemeinert (vgl. Kap. 8.1). Narrative Darstellungsweisen spielen insbesondere bei der Entwicklung der drei Untersuchungskategorie ‚Raum’, ‚Zeit’ und ‚ProtagonistIn’ eine Rolle (vgl. Kap. 3.2, 3.3, 3.4). Der Grund dafür liegt in der mit der Narration gegebenen Verzeitlichung und Personalisierung eines Themas in ein raumzeitliches Handlungsschema. Damit sind schließlich auch wesentliche Voraussetzungen im filmischen Verstehensprozess beschrieben (vgl. Kap. 8.3). Ausgangspunkt von Kapitel 2 war die Logik des Darstellens und Vermittelns von Inhalten. Diese Fachlogik des filmischen Mediums wurde am dokumentarischen Film konkretisiert. Im folgenden Kapitel 3 wird die Perspektive grundlegend verändert. Ausgangspunkt ist dann die Fachlogik der Sozialpädagogik, von der ausgehend Anknüpfungspunkte in der dokumentarischen Filmarbeit gesucht werden.
3 Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
3.1 Gegenüberstellung sozialpädagogischer Fachlichkeit und dokumentarischer Filme Die folgenden Überlegungen knüpfen an die in der Hinführung begonnene Gegenüberstellung von sozialpädagogischer Fachlichkeit und dokumentarischen Filmen an und führen sie weiter. Bestand eingangs das Ziel darin, den originären Ansatz im Vergleich beider Praxen zu beschreiben und zu begründen, geht es nun um die systematische Erarbeitung einer konzeptuellen Vergleichsbasis. Die Grundannahme dabei ist, dass sich sowohl in der Gegenüberstellung von Geltungsbereichen, d.h. der Betrachtung möglichst allgemein zu formulierender Interessen, Zuständigkeiten und Wirkungen beider Praxen, vor allem aber auch in der Gegenüberstellung ihrer Gestaltungsbereiche sinnvolle und interessante Vergleichsaspekte finden lassen. Im Folgenden werden solche ‚Nahtstellen’ in der Pendelbewegung zwischen beiden Bereichen entwickelt. 3.1.1 ‚Hilfeakt’ vs. ‚Zeigeakt’ Sozialpädagogische Fragestellungen entstehen mitunter in der Absicht, die Angemessenheit von Unterstützungsleistungen für die AdressatInnen sozialer Dienste begründen und beurteilen zu können bzw. die Nichtangemessenheit zu kritisieren und Hilfeleistungen zu verbessern (vgl. Lüders/Rauschenbach 2001: 566). Die Relation zwischen den Konstitutionsbedingungen als professionellem Hilfe- und Erziehungssystem und dem Verstehen der Lebenszusammenhänge jener, die mit Hilfeangeboten erreicht werden sollen, spielt deshalb für die Sozialpädagogik eine wesentliche Rolle (vgl. Grunwald/Thiersch 2004: 22). Subjektivität und Strukturbedingungen Theorie und Forschung der Sozialpädagogik haben in vielfältigen Bezügen diese Relation aufgeklärt, so dass nicht einfach ‚soziale Tatsachen’ zum Bezugspunkt sozialpädagogischen Handelns wie auch infrastruktureller Gestaltung werden,
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
sondern zugleich eine mit der subjektiven Lebenswirklichkeit von AdressatInnen vermittelte Sichtweise Fachlichkeit bestimmt.37 Was heißt subjektive Lebenswirklichkeit von AdressatInnen? Typisierbare Anforderungen im Lebenslauf, wie z.B. der Übergang von einer Schulform in eine andere – als Thema des zweiten Untersuchungsfilms „Schule des Lebens“ (vgl. Kap. 6) –, werden von den Subjekten individuell und als neuartig erlebt. Sie bilden im Spektrum ihrer bisherigen Erfahrungen Sondersituationen im Lebensvollzug, auch wenn sie allgemein betrachtet Ausdruck gesellschaftlich bedingter, typischer Konstellationen sind. Menschen, die den Arbeitplatz verlieren, wie z.B. der Vater der jugendlichen Straftäter im dritten Untersuchungsfilm „Der Kick“ (vgl. Kap. 7), sind nicht abstrakt von rückgängigen Beschäftigungszahlen betroffen. Ihre Betroffenheit hat vielmehr mit ihrer eigenen Lebensgeschichte zu tun, die sich an solchen Ereignissen in der Bilanz eigener Erfahrungen, Ansprüche und konkreter Ressourcen aktualisiert und individuell unterschiedliche Reaktionsweisen bedingt. Würde man all diese Bedeutungen übersehen, wäre sozialpädagogische Hilfe per se nicht hilfreich. Subjektive Bewältigungsstrategien von ‚Betroffenen’ sind gleichermaßen Bezugspunkt sozialpädagogischer Fachlichkeit wie auch strukturbezogene Deutungen ihrer Betroffenheit, die im sozialen Wandel, in neu ausgebildeten sozialen Ungleichheiten wie auch in Risikostrukturen einer „reflexiven Moderne“ (Beck 1986) gründen. Dieses doppelte Interesse an Subjektivität wie auch an Strukturbedingungen ist in drei Richtungen weitergehend zu differenzieren: x Sozialpädagogische Fachlichkeit geht erstens davon aus, dass strukturell bedingte Konfliktlagen sich im Selbstbild und Handlungsvermögen von Subjekten niederschlagen; sie findet ihren praktischen Ansatzpunkt daher oftmals in Handlungskonflikten (Strukturkonflikte bedingen Handlungskonflikte). x Zweitens geht sie davon aus, dass Subjekte ihre Erfahrungen auslegen und dass das fachliche Erschließen von Handlungskonflikten auf subjektiven Konstruktionen der Subjekte beruht,38 die auf sozialwissenschaftliche Konstruktionen bezogen werden (Aufeinanderfolge von Konstruktionen). Der Begriff der „rekonstruktiven Sozialpädagogik“ (Wensierski/Jakob 1997) fokussiert diese auf sozialwissenschaftliche Methoden beruhende Orientierung. 37 Am deutlichsten ist dieser notwendige Zusammenhang im theoretischen Konzept der Lebensweltorientierung (Thiersch 1992) ausformuliert, auf das nachfolgend (vgl. Kap. 3.1.2) eingegangen wird. 38 Damit ist eine Spezifik der Sozialwissenschaften insgesamt angesprochen, indem „Sozialwissenschaften es mit einem Objekt zu tun haben, das selbst die Operationen des Definierens und Unterscheidens, des Beschreibens und Erklärens beherrscht und dabei seinen Sinn produziert. Vor allem in der phänomenologischen Soziologie wird dies herausgearbeitet“ (Hamburger 2008: 101).
3.1 Gegenüberstellung sozialpädagogischer Fachlichkeit und dokumentarischer Filme
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Drittens resultiert aus diesem Zusammenhang eine Typik sozialpädagogischer Theoriebildung, die Kraimer folgendermaßen akzentuiert: „Die fallförmige Strukturiertheit der Sozialen Arbeit provoziert gleichsam eine fallrekonstruktive Theoriebildung; die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse können in das Soziale (das Allgemeine) und in das subjektiv Gültige (das Besondere) gleichermaßen Einsicht verschaffen“ (Kraimer 2000: 37, Herv. C.F.).
Was heißt Hilfe leisten vor diesem Hintergrund? Im theoretischen Konzept der Lebensbewältigung (Böhnisch 1994, 2001b) laufen die eben entwickelten Perspektiven zusammen. „Sozialpädagogische Hilfen lassen sich als gesellschaftlich institutionalisierte, lebensweltlich orientierte Reaktion auf psychosoziale Bewältigungsprobleme in der Folge gesellschaftlichen Wandels und darin enthaltener Desintegrationstendenzen verstehen“ (Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 103). Praktisch geht es um Hilfe zur Lebensbewältigung. Gegebene Lebensverhältnisse werden dabei nicht schematisierend behandelt, stattdessen wird an der subjektiven Bedeutung von Problemen angesetzt (vgl. ebd.: 123). AdressatInnen werden in ihrem Bewältigungsverhalten verstanden. Das kann z.B. Silvia, die Protagonistin des ersten Untersuchungsfilms sein, die sich im Alter von 15 Jahren aus freien Stücken für ein Leben auf der Straße entscheidet (vgl. Kap. 5). Auf das begriffliche Konstrukt „Lebensbewältigung“ – als Fokus sozialpädagogischer Hilfe – wird in den Filmanalysen mehrfach zurückzukommen sein. Schließlich wird es im Resümee in den Aspekten entfaltet, die Anknüpfungspunkte für die Ergebnisse der Filmuntersuchung bilden (vgl. Kap. 8.1). Sozialpädagogische Fachlichkeit, die ihren Ausgangspunkt in der Rekonstruktion von Lebenswelt hat, besitzt jedoch nicht nur einen analytischen, sondern zugleich einen normativen Problem- und Handlungsbezug. Das Grundmuster sozialpädagogischer Professionalität kann als „Hilfe zur Lebensbewältigung im Horizont sozialer Gerechtigkeit“ beschrieben werden (Böhnisch/Schröer/ Thiersch 2005: 15). Subjektive Lebenswelten und Lebensbewältigung als mediales Thema Stellt man der sozialpädagogischen Perspektive nun die Perspektive von dokumentarischen Filmen gegenüber und fragt danach, welche Rolle subjektive Erfahrungen im Verhältnis zu Strukturbedingungen hier spielen, zeigt sich Folgendes: Dokumentarische Filme stehen zwar nicht in der Pflicht, auf krisenhafte Situationen, in denen sich Menschen befinden, so einzuwirken, dass sie darin gezielte
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
Hilfe erfahren. Sie behandeln und interpretieren aber solche Situationen neben anderen Themen. Hierbei sind sie zwar nicht an sozialwissenschaftliche Konstruktionen, jedoch an Regeln und Formen der Berichterstattung gebunden, die vorgeben wann und wie ein Themenzuschnitt von gesellschaftlichem Belang ist (Selektions- und Präsentationskriterien). Im medialen Fachverständnis spielt die Relation zwischen Öffentlichkeit und Privatheit eine maßgebliche Rolle. Dokumentarische Filme können als ‚Zeigeakt’ begriffen werden, als Medium der Öffentlichkeit, das wiederum Einfluss nimmt auf einen öffentlichen Diskurs, über den impulsgebende Themen gesetzt werden und Meinungsbildung stattfindet.39 Das ist schließlich auch der Sinn der Vorgänge des Darstellens und Vermittelns von Inhalten, um die es in Kapitel 2 ging. Öffentlichkeit ist der zentrale Begriff der Aufklärung (vgl. Klaus 2001: 16). Im Sinne einer bürgerlichen Öffentlichkeit wird darunter ein gesellschaftlicher Ort verstanden, an dem Themen von allgemeinem Interesse diskutiert und ausgehandelt werden. Dieser Diskurs der öffentlichen Kommunikation unterstützt die Bildung von Zeitgeist und öffentlicher Meinung, d.h. „was moralisch gebilligt und nicht gebilligt wird“ (Noelle-Neumann 1997: 378). Öffentlichkeit kann daher als „Verständigungsprozess der Gesellschaft über sich selbst“ (Klaus 2001: 20) aufgefasst werden. Zugleich ist Öffentlichkeit ein Oppositionsbegriff zur Privatheit. Das Verhältnis beider gesellschaftlicher Sphären hat sich durch Fragen sozialer Gerechtigkeit, kulturkritische Forderungen nach Ganzheitlichkeit und neuen Formen der Zivilgesellschaft wie auch durch die Differenzierung moderner Massenmedien von einer strikten Trennung hin zu komplexen gegenseitigen Verschränkungen entwickelt. So kann heute medial geprägte Öffentlichkeit unter zwei Perspektiven betrachtet werden: der Tendenz zur Veröffentlichung des Privaten wie auch der Tendenz zu einer Privatisierung des Öffentlichen (vgl. Imhof/Schulz 1998). Die Anforderungen an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bestehen aufgrund dieser Voraussetzungen in zwei widersprüchlichen Aspekten: im Pluralitätsprinzip (im Sinne publizistischer Vielfalt und Ausgewogenheit in der Be-
39 Auch innerhalb allgemeinpädagogischer Reflexionen wird dem ‚Zeigeakt’ Aufmerksamkeit geschenkt. Prange schlägt das Zeigen als eine Grundfigur erzieherischen Handelns vor (Prange 1995). „Operative Pädagogik“ fokussiert daher die immanente Zeigestruktur innerhalb von intentionalen Erziehungsvorgängen. Neben dezidierten „Zeigegebärden“ (auf etwas zeigen, etwas vormachen) sind alle Anstrengungen, den AdressatInnen etwas erkennbar zu machen, das sie zuvor nicht (so) gesehen haben, als Zeigen zu verstehen (vgl. ebd.: 71). Zeigen und Lernen sind komplementär; das erste ermöglicht das zweite und ist in diesem Bezug von Bedeutung (vgl. ebd.: 67). Interessant ist der Vergleich mit der „operativen Pädagogik“ schließlich deswegen, weil die Artikulation bzw. Inszenierung des Zeigens und damit seine Verzeitlichung fokussiert wird (vgl. ebd.: 74). Auch diese Perspektive könnte man auf dokumentarische Filme übertragen.
3.1 Gegenüberstellung sozialpädagogischer Fachlichkeit und dokumentarischer Filme
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richterstattung) und der Integrationsaufgaben einerseits und im „Wettbewerb um das knappe Gut ‚Aufmerksamkeit’“ andererseits (ebd.: 11).40 Bezogen auf dokumentarische Filme zu Jugendhilfethemen, die im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen, lässt sich vorab bereits eine spezifische Variante der Verschränkung von öffentlicher und privater Kommunikation feststellen, die nicht frei ist von aufgezeigtem Widerspruch: Professionalisierte Medienöffentlichkeit nimmt Privatheit im Sinne lebensweltlicher Thematisierungen in ihre veröffentlichten Inhalte auf. Dabei werden die Struktureigenschaften privater Kommunikation zur Gestaltungsaufgabe professioneller öffentlicher Kommunikation. Klaus fasst die Eigenschaften privater Kommunikation folgendermaßen zusammen (vgl. ebd.: 25f): x Private Kommunikation ist an persönliche Erlebnisse und sinnliche Erfahrungen geknüpft. x Ihr Geltungsbereich beschränkt sich auf partikulare Einzelinteressen. x Persönliche Lebensäußerungen gelten zumeist einem eingeschränkten Adressatenkreis wie Freunden, Verwandten und Bekannten. x Private Kommunikation entwickelt sich in Begegnungen im Nahbereich. x Ihre Kommunikationsform ist direkt und unmittelbar. x Die Verallgemeinerbarkeit und gesellschaftliche Bedeutung der Kommunikationsinhalte ist nicht im Blick. Wie verändern sich diese Struktureigenschaften durch die mediale Situation? Die Filme realisieren eine Verbindung von Privatheit und Öffentlichkeit, die gerade den „sozialen Charakter der individuellen Lebensprozesse“ (ebd.: 26) vermitteln will. Zugleich werden in der Veröffentlichung des privaten Lebens und subjektiver Sichtweisen aber auch Begrenzungen privater Kommunikationsformen aufgehoben. Dies geschieht vor allem dadurch, dass sich der Adressatenkreis in ein Publikum vergrößert und dass sich der Geltungsbereich der Kommunikationen erweitert, indem private Erfahrungen auf ihre Verallgemeinerbarkeit hin befragt werden (vgl. ebd.).
40 Gerade weil Aufmerksamkeit ein zentraler Bezugspunkt für die öffentliche Kommunikation der Massenmedien ist, ist sie auf ‚privatere Foren’ und Teilöffentlichkeiten angewiesen, um die alltagsweltliche Relevanz wie auch die Glaubwürdigkeit der Medieninhalte beim Publikum zu ermitteln (vgl. Klaus 2001: 23). „Privatheit und Öffentlichkeit sind (..) relative Begriffe mit fließenden Grenzen“ (ebd.: 20), die in der Unterscheidung nach Klaus analytisch in einfache Öffentlichkeiten (z.B. alltägliche Gesprächsforen), mittlere Öffentlichkeiten (z.B. Präsenzöffentlichkeiten wie Versammlungen und Vorträge) und komplexe Öffentlichkeiten (Massenmedien) eingeteilt werden können. Insgesamt stehen die unterschiedlichen Foren von Öffentlichkeit allerdings in einem hierarchischen Verhältnis, in dem komplexen Öffentlichkeiten mehr Gewicht im Sinne von Durchsetzungskraft zukommt als den ‚privateren’ Foren (vgl. ebd.: 24f).
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
Gerade weil die lebensweltlichen Inhalte, die behandelt werden, nicht aus sich heraus, sondern erst in einen allgemeineren Bezug gestellt, verständlich werden, erhofft man sich von dokumentarischen Filmen eine angemessene Darstellung dieser komplexen Zusammenhänge: eine Darstellungskompetenz, die sowohl einen Sinn für die Öffentlichkeitsrelevanz wie auch für den lebensweltlichen Eigensinn des Thematisierten hat. Dokumentarische Filme stehen jedoch nicht für sich, sondern im Zusammenhang mit ‚auflagenstarken’ Medien und einem Mediensystem, das sich nicht nur an eine breite Öffentlichkeit richtet sondern zugleich an ZuschauerInnenzahlen misst. Damit ist die andere Seite der Medaille angesprochen. Beiträge können nur bedingt im Gegenlicht von Quotenerfolgen entworfen werden, wenn sie einen Platz im dokumentarischen Fernsehen finden sollen. Wie eingangs aufgezeigt erlebt das dokumentarische Fernsehen aufgrund neuartig kombinierter Erzählweisen, die Unterhaltungsdramaturgie und Information gekonnt verbinden, derzeit eine Konjunktur. Diese Formexperimente geraten dann aber auch zunehmend in die Kritik, wenn sie einseitig werden und eine „Privatisierung des Öffentlichen“ (Imhof/Schulz 1998) betreiben, d.h. menschliche Schicksale anstatt Strukturbedingungen entblößen, Lebenslagen individualisieren und dabei komplexe und in sich ambivalente Sachverhalte auf triviale Thesen reduzieren. Der „Tabubruch als Programm“ (Herrmann/Lünenborg 2001) kann deshalb zum einen als eine Verkehrung von emanzipatorischen Bestrebungen in der Offenlegung von Verdeckungszusammenhängen im Privaten angesehen werden. Nämlich dann, wenn private Verhältnisse in der Kindererziehung41 und der Hausarbeit42 unter solchen vereinfachten Thematisierungsstrategien zu populären und trivialen Inhalten dokumentarischer Serien werden. Zum anderen verwischen in hybriden „Real-Life-Formaten“ (Wolf 2005: 11) nicht nur die Grenzen zwischen Dokumentation und Sozialexperimenten, sondern auch zwischen dem Interesse an sozialen Zusammenhängen und dem Interesse an seriell konzipierbaren Tabubrüchen43, die ‚gescripted’, ‚gecastet’ und ‚gestaged’ gerade für den Nachvollzug subjektiver Erfahrungen kaum Möglichkeiten bieten. Dass Medienwissenschaft und -publizistik in diese Richtung Kritik üben, konfrontiert dokumentarische Formate einmal mehr mit dem Anspruch, einen Problembezug zugleich in seiner Dynamik für das Individuum sowie in seiner Dynamik für die Allgemeinheit verstehbar zu machen, d.h. in Relation zu strukturellen Entwicklungen zu setzen.
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Z.B. die RTL-„Supernanny“ Z.B. auf VOX die Doku-Serien „Deco-Soap“ oder „Ab in die Beete“ Z.B. auf RTL2 „Das Experiment – 30 Tage obdachlos“
3.1 Gegenüberstellung sozialpädagogischer Fachlichkeit und dokumentarischer Filme
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Erstes Zwischenergebnis der Gegenüberstellung Sozialpädagogik bildet eine Schnittstelle zwischen Lebenswelt und Gesellschaft. Für dokumentarische Filme liegt diese Schnittstelle zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Die anders akzentuierten Wirkungsbereiche sind dennoch ähnlich strukturiert. Eine erste Nahtstelle in der Parallelführung von sozialpädagogischer Fachlichkeit und dokumentarischer Darstellungsweisen liegt zum einen „im Aufforderungscharakter sozialer Probleme“ (Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 17) und zum anderen in deren Entschlüsselung als subjektive Erfahrungen vor dem Hintergrund von Strukturbedingungen. Beide Fachlogiken orientieren sich gleichermaßen daran. Dass damit zugleich eine gemeinsame normative Grundlage beider Handlungssysteme gegeben ist, muss bezweifelt werden. Schrödter macht darauf aufmerksam, dass feststellbare Überschneidungen der Sozialen Arbeit mit anderen Handlungssystemen (z.B. Medizin, Polizei) im Erfüllen einer Funktion nicht zwangsläufig einen identischen gesellschaftlichen Auftrag bzw. selbstgesetzten Zweck voraussetzen. Dieser ergebe sich immer aus einer fachinternen Wertefrage (vgl. Schrödter 2007: 6ff). Vorsichtig formuliert, (d.h. ohne diesen Aspekt genauer zu untersuchen) kann folgender Unterschied im Hinblick auf die normative Basis beider Handlungssysteme angenommen werden: Für die Sozialpädagogik lässt sich soziale Gerechtigkeit – als Zugangsgerechtigkeit oder Gerechtigkeit bezogen auf die Gewährleistung von Verwirklichungschancen (Schrödter 2007) – als historisch durchgängige und aktuelle Wertehaltung nachzeichnen (vgl. Böhnisch/Schröer/ Thiersch 2005: 15). Im Gegensatz dazu scheint sich für dokumentarische Filme ein zentraler Wert aus dem übergeordneten filmischen Bezug zu ergeben. Ein Hinweis dafür ergibt sich aus Folgendem: Nach Wulff liegt der allgemeine Zweck, den filmische Formen erfüllen, in einer Verständigungshandlung. Das ästhetische Bezugsfeld diene letztendlich dem Zustandekommen von Verständigung, indem filmische Formen „einen auszusagenden Inhalt für einen Verstehensprozess vorbereiten“ (Wulff 1999: 11). Diese kommunikative Verständigung, die mit dem Prinzip der Veröffentlichung angestrebt wird, kann sich dann fortsetzen und mit der normativen Bedeutung von Öffentlichkeit als „Verständigungsprozess einer Gesellschaft über sich selbst“ (s.o.) korrespondieren. 3.1.2 Das Problem der „Pseudokonkretheit“ und das Freilegen von Gestaltungsalternativen Im sozialpädagogischen Rahmenkonzept der Lebensweltorientierung (vgl. zusammenfassend Grunwald/Thiersch 2004) kommt der Rekonstruktion von Le-
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benswelten ein zentraler Stellenwert zu. Sie bildet das bevorzugte Zugangsmuster zu den AdressatInnen und deren Lebensverhältnissen gegenüber „Traditionen Sozialer Arbeit, die im Namen und Auftrag allgemeiner Normen Anpassung, Sozialdisziplinierung und Stigmatisierung praktizieren“ (ebd.: 24). Konstitutiv für die Lebensweltorientierung ist, dass sie sich mit den Erfahrungsbereichen der Subjekte als Basis für die Gestaltung sozialpädagogischer Aufgaben befasst. Lebenswelt hat die Bedeutung einer subjektiven Wirklichkeit, die direkt und unmittelbar erfahren wird, orientierende Sicherheit bietet und die sich in materiellen und symbolischen Erfahrungssegmenten niederschlägt. Diese Erfahrungssegmente bündeln sich in die Dimensionen sozialer Raum, soziale Zeit und soziale Beziehungen, die auf spezifische Weise erlebt werden (vgl. ebd.: 20). In diesen Dimensionen konkretisiert sich individuelle Erfahrung, die dann die Grundlage für einen jeweiligen Wirklichkeitsentwurf bildet. Dieser notwendige, weil orientierende Wirklichkeitsentwurf steht jedoch auch in der Gefahr, subjektive Selbstbegrenzungen wie auch die Dethematisierung seiner Bedingungen zu bewirken, was im Fall von belasteten Lebensverhältnissen schwer wiegen kann und den Blick auf freiere Lebensformen gar nicht erst frei gibt (vgl. ebd.: 21). Die Bereiche also, die einerseits zur sozialen Sicherheit über ‚das Gegebene’ führen, verweisen ebenso auf eine Problemstellung, die das alltägliche Leben in seinen alternativen Möglichkeiten betrifft, welche unhinterfragt bleiben. Kosik (1986) führt dieses Problem unter dem Begriff der „Pseudokonkretheit“ von Alltag aus. Ein „pseudokonkreter“ Alltag verstelle die Möglichkeiten „konkreter“ Praxis, die immer mit dem Prozess ihrer „Realisierung“ zu begreifen sei. Pseudokonkretheit impliziert die Negation, dass hinter gegebenen Verhältnissen Prozesse ihrer Gestaltung liegen, dass „die Erscheinungsform der Sache (...) für das Wesen selbst gehalten“ wird (Kosik 1986: 10) und dass mit der dadurch gewonnenen Anschaulichkeit der eigenen Lebensverhältnisse diese auf jenes äußerliche Erscheinungsbild fixiert bleiben könnten. Sozialpädagogische Fachlichkeit hat stets mit dieser Doppeldeutigkeit zu tun. Das heißt, die Lebenskompetenz und das ‚Zurechtkommen’ der AdressatInnen zu respektieren, zugleich aber auf mehr Verwirklichungschancen hinzuwirken, also „die gegebenen Verhältnisse in ihrer Ambivalenz mit ihren eigenen Möglichkeiten im Zeichen von sozialer Gerechtigkeit zu konfrontieren“ (Grunwald/Thiersch 2004: 24). Handlungsalternativen in den Blick zu rücken bedeutet deswegen auch, Erfahrungsalternativen in den Schlüsselbereichen Raum, Zeit und soziale Beziehungen im Rahmen sozialpädagogischer Angebote zu ermöglichen. Für dokumentarische Filme stellt sich dieses Problem der „Pseudokonkretheit“ anders dar. Dokumentarische Filme nutzen Raum und Zeit ebenso wie ein ‚erlebendes Ich’, das in Beziehung zur FilmemacherIn oder zu anderen Personen steht, als (technisch ermöglichte) Gestaltungselemente. Sie beziehen sich also,
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wenn sie sich einer sozialen Themenstellung zuwenden, von vorne herein auf eine Gestaltungsaufgabe und greifen dadurch in eine gegebene Integrität lebensweltlicher Bezüge ein: Über den Kameraausschnitt wird ein räumliches Blickfeld geöffnet, in dem sich ein bestimmter Bildaufbau ausdrückt. Um einen Sozialraum darzustellen muss ein neuer, filmischer Raum bzw. eine Folge von Räumen geschaffen werden, die dann im Einzelnen als soziale, intersubjektiv bedeutungsvolle Räume gelten sollen. In der Verbindung von Szenen schaffen die FilmemacherInnen die Disposition zur Wahrnehmung einer zusammenhängenden Szenerie, aber auch eines zusammenhängenden Zeitbezugs, eines eigenständigen ‚Jetzt’, das unabhängig von seinem historischen Entstehungsprozess eine bestimmte soziale Zeit (d.h. Zeit in ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung) markieren soll. Um aber soziale Gegenwart zu verdeutlichen, müssen individuelle und soziale Entwicklungen und Ereignisse zeitlich gewichtet bzw. in einen Verlauf gestellt werden, der ein Vorher und ein Nachher erkennbar macht. Indem soziale AkteurInnen als Handlungsträger integriert werden, erlangt ein Thema subjektive Dimensionen. Aus der Anordnung der AkteurInnen, die über eine Problemstellung aufeinander bezogen werden, entsteht ein Relevanzhorizont aus subjektiven Sicht- und Erlebensweisen. Das heißt, in dokumentarischen Filmen stehen konkrete räumliche und zeitliche Verhältnisse wie auch subjektive Sichtweisen in Relation zur übergeordneten Vermittlungsaufgabe, die ein filmisches Darstellungskonzept erfüllt. Für die Thematisierung lebensweltlicher Inhalte ist damit eine besondere Voraussetzung gegeben, die das Verhältnis von Menschen zu ihrer sozialen Umwelt explizit macht bzw. die Filmarbeit an eine auslegende Gestaltungsaufgabe bindet: wie nämlich das Verhältnis zwischen ProtagonistInnen und ihrer Umwelt in ein gestalterisches Konzept zu bringen ist. In diesem Sinne sind dokumentarische Filme als Neuetablierung räumlicher, zeitlicher und subjektiver Bezüge zu sehen. Sie bauen soziale AkteurInnen und deren lebensweltliche Bezüge zwar ein, keineswegs sind sie aber an die Kontinuitäten der Lebenswelt gebunden. Durch räumliche und zeitliche Sprünge nutzen sie einen Gestaltungsspielraum, der eine lebensweltliche Variationsbreite bei Weitem übersteigt. Zwar kann man die ikonische Qualität44 des Filmbildes – und mehr noch eines Filmbildes, das den Anspruch hat zu dokumentieren – als ‚pseudokonkrete Rhetorik’ auffassen. Die filmische Metakonstruktion hat jedoch insgesamt die Chance, scheinbar gefügte Verhältnisse – nicht in ihrer Bedeutung für die einzelnen Betroffenen, aber in der Bedeutungsvermittlung an die ZuschauerInnen – zu durchbrechen und ihnen den Status vorläufiger Konstruktionen zu geben. Wo dies nicht gelingt und Menschen auf Bedeutung festgelegt 44 Gemeint ist die Ähnlichkeitsbeziehung, die im Filmbild zwischen Bezeichnendem („Signifikant“) und Bezeichnetem („Signifikat“) gegeben ist und wodurch es als eine Art „Kurzschluss-Zeichen“ rezipiert wird (Monaco 2000: 165).
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werden, ihre „Erscheinungsform“ im Film „für das Wesen selbst gehalten“ wird, entsteht eine filmisch erzeugte Pseudokonkretheit. Diese Gefahr ist in folgendem kritischen Zitat einer dekonstruktivistischen Filmemacherin besonders hervorgehoben: „Die schweigenden einfachen Leute – die, die ‚nie zu Wort kommen’, es sei denn, jemand kommt, um sie zu erlösen, und gibt ihnen die Gelegenheit, ihre Gedanken zu äußern – sind permanent dazu aufgerufen, die reale Welt zu bedeuten. Sie sind der grundlegende Referent des Sozialen. (...) Mit anderen Worten: wenn das sogenannte ‚Soziale’ regiert, dann gibt es einfach keine Diskussion darüber, wie diese Menschen (wir) in den Medien repräsentiert werden, wie ihrem (unserem) Leben Bedeutung gegeben wird, wie ihre (unsere) Wahrheit konstruiert wird“ (Trinh 1993: 311).
Das Problem der filmischen Pseudokonkretheit entsteht also mit der Rezeption eines Films: dann, wenn die Prozesse der Filmgestaltung im Film selbst keine Bedeutung haben und der Film so zu einer intransparenten Einengung von Handlungsalternativen der Betroffenen führt. Die Notwendigkeit, zwischen filmischen und lebensweltlichen Modi zu trennen, kann mit der bereits angeführten Studie zum Wandel jugendlicher Selbstbehauptung (vgl. Kap. 1.1) noch einmal anders akzentuiert verdeutlicht werden. Zur Rezeption fremdstrukturierter Erlebnisformen und deren lebensweltlicher Bedeutung Die Studie von Treptow (1993) gibt Antworten darauf, wie das Interesse von Jugendlichen an trivialen Unterhaltungsmedien und populären Rezeptionsästhetiken anders als defizitär verstanden werden kann, nämlich als „Vergewisserung eigener Bewegungssouveränität“ (Treptow 1993: 14). Es werden Schlüsselfragen der Jugendtheorie – die Frage der Raumaneignung und Fragen des Zeiterlebens in der Jugend – auf die Erzeugung dynamischer Strukturen im Film und anderen medialen Inszenierungsformen übertragen. Gegenstand der Studie sind damit Erfahrungsbereiche, die zunächst nicht lebensweltlich, sondern technisch-artifiziell hervorgebracht und strukturiert sind. Somit sind sie nicht an lebensweltliche Kontinuitäten gebunden, werden aber lebensweltlich angeeignet und sind dadurch für den subjektiven Lebenszusammenhang bedeutungsvoll (vgl. ebd.: 148). In dieser auf Filmrezeption konzentrierten Perspektive lässt sich zwischen der Sozial- und der Sachdimension unterscheiden: Die Sozialdimension der Rezeption liegt in der „sozialen Erlebnisdeutung“ (ebd.: 150) und ist daher dem Filmerleben nachgeordnet. Die Sachdimension liegt in der Vergegenständlichung von bewegten Ereignissen über Verzeitlichung („Zeitobjekte“). Bedin-
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gung dafür, dass solche fremdstrukturierten Ereignisse subjektiv interessant erscheinen und als Erlebnisse angeeignet werden, sind Entsprechungen zwischen den Objektstrukturen des Rezeptionsgegenstands und subjektiven Konstitutionen, v.a. der „temporalen Kompetenzen, die auf der Ebene der allgemeinen Sozialisation des Zeiterlebens liegen“ (ebd.: 276). Dieser Zusammenhang stellt die Grundlage für das Erleben von symbolischen Räumen und artifiziellen Zeitobjekten dar, die ein dezidiert anderes Raum- und Zeiterleben als das alltägliche ermöglichen. Innerhalb des imaginären Handlungsraums entwickeln sich eigengesetzlich strukturierte Bewegungsfolgen und Ereignisse. Eine so strukturierte Welt ist dann grundsätzlich zu unterscheiden von der Lebenswelt, dem konkreten Handlungsraum und den darin realisierbaren Bewegungsweisen. Diese Herangehensweise zeigt, dass die lebensweltliche Bedeutung des Filmischen allein von den räumlichen und zeitlichen Strukturierungen her – und damit von der Formgebundenheit des Mediums – erschlossen werden kann; der Handlungsaspekt im Film wird dabei zur Nebensache (vgl. ebd.: 165). Aus der Form ergibt sich die lebensweltliche Bedeutung und nicht daraus, dass der dargestellte Inhalt direkt auf den alltäglichen Lebenszusammenhang übertragen wird. Anders formuliert: Nicht weil sich filmische Darstellungen alltäglichen Geschehensabläufen angleichen, sondern weil sie sich davon unterscheiden, erweitern sie subjektives Gegenwartserleben. Bezogen auf den Action-Film ist dies sofort einleuchtend. Bezogen auf dokumentarische Filme gilt dies ebenso, wenn auch hier dem Inhalt ein wesentlich höherer Stellenwert zukommt, da er lebensweltliche Umstände thematisiert. Zweites Zwischenergebnis der Gegenüberstellung Die an dieser Stelle nur angedeuteten Kategorien „Raum“, „Zeit“ und „AkteurIn“ bzw. „ProtagonistIn“ sind elementare Gestaltungsdimensionen der Filmarbeit, aber auch einer lebensweltorientierten sozialpädagogischen Fachlichkeit. Mit ihnen sind zentrale analytische Nahtstellen gefunden, die sowohl sozialpädagogische Fachlichkeit wie auch dokumentarische Darstellungsweisen erschließen. Zugleich zeigt sich die Herausforderung – das sollte in diesem Abschnitt bereits deutlich werden –, dass die Begriffe in einer sozialpädagogischen resp. filmsprachlichen Logik als Gestaltungsaufgaben jeweils Unterschiedliches meinen. Der filmische Raumbegriff ist also nicht ohne weiteres auf den sozialwissenschaftlichen zu beziehen. Ein Zusammenhang muss vielmehr erst im Ausformulieren der jeweiligen Gestaltungsaufgaben entwickelt werden. Im Folgenden geht es explizit darum. Die drei Schlüsselkategorien werden im Einzelnen von beiden Fachlogiken her als Gestaltungsbegriffe entwickelt. Beide Bedeutungs-
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schichten werden für die anschließende filmanalytische Untersuchung gebraucht: die filmische Gestaltungslogik zur Gewinnung von analytischen Perspektiven auf die untersuchten Filme; die sozialpädagogische zur Interpretation der analysierten Darstellungskonstrukte im Bezugsfeld subjekt- und lebensweltorientierter Theorien. Damit verfolgt die kategorienbezogene Gegenüberstellung der unterschiedlichen theoretischen Bezugsebenen zwei Ziele: x zum einen ein praktisches Ziel, indem der Entwicklung der Untersuchungskategorien „Raum“, „Zeit“ und „ProtagonistIn“ eine Anwendungsperspektive folgt. Es werden in jeder Kategorie Fragen identifiziert, die an die Untersuchungsfilme zu richten sind, um die räumlichen, zeitlichen und personellen Strukturierungsformen zu erschließen (analytische Vorstrukturierung der gegenstandsbezogenen Untersuchung). x Zum anderen mündet dieser Untersuchungsschritt in die Synopse einer eigenständigen theoretischen Betrachtung (Kap. 3.5). Ziel ist hierbei, gemeinsame Bedeutungsschichten in der kategorienbezogenen Annäherung von sozialpädagogischer und (dokumentar-) filmischer Fachlogik zu erkennen. 3.2 Untersuchungskategorie Raum Die Entwicklung der Kategorie „Raum“ – und analog dazu der Kategorien „Zeit“ und „ProtagonistIn“ in den folgenden zwei Kapiteln – erfolgt in drei Arbeitsschritten: In einem ersten Schritt werden auf Sozialraum bezogene sozialpädagogische Gestaltungsaufgaben beschrieben. Dabei handelt es sich um einen exemplarischen Zugang, der im Hinblick auf Verbindungen zu den folgenden filmischen Bedeutungskomponenten gewählt wurde. In einem zweiten Schritt wird dann der Raumbegriff von der filmischen Seite her – d.h. filmsprachlich und narrativ – entwickelt. Die filmische Kategorie wird zunächst als Phänomen umrissen. Dann folgen analytische Aufschlüsselungen, die einzelne Teilperspektiven deutlich machen. In einem dritten Schritt wird die filmanalytische Bedeutung und die Übertragbarkeit auf dokumentarische Filme konkretisiert. 3.2.1 Sozialraum und seine Gestaltung Sozialräume als Stadtteile, soziale Brennpunkte, alternative Wohnquartiere etc. sind mehr als territoriale Gebiete. Sie sind „Realisierungen“ von lebensweltlichen Vorstellungen und konstituieren sich aus dem Handeln sozialer AkteurInnen. Zugleich sind sie Erfahrungsquelle, wie sich einzelne in konkreten gesellschaftlichen Strukturen erleben, d.h. sich zu vorstrukturierten, sozialen Hand-
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lungs- und Nutzungsformen verhalten, diesen mit Ansprüchen, Gestaltungsideen und Wünschen eines sozialen Zusammenlebens entgegentreten und Raum in einem für sie typischen Aktionsradius nutzen. Sozialraum als genutzter Raum bietet den Lebensvollzügen der AkteurInnen eine konkrete Infrastruktur und bedeutet, dass sich darin subjektive Erfahrungen reproduzieren oder auch transformieren. Als räumlicher Handlungskontext bietet er Möglichkeiten sowohl für eine typische, zweckkonforme wie auch eine alternative Raumaneignung. Ein subjektiver Sinn trifft so auf einen Kollektivsinn, bezogen auf die jeweils geltend gemachten, räumlichen Möglichkeiten, die in einem Prozess der Aushandlung stehen. In sozialpädagogischen Diskussionen zur Sozialraumorientierung v.a. in der Jugendhilfe sind fachtheoretisch unterschiedliche Bezugsebenen entwickelt. Einige Beispiele: Anknüpfend an den Gedanken einer Infrastruktur werden Sozialräume als Planungsgebiete behandelt, mit dem Ziel, eine angemessene soziale Infrastruktur innerhalb definierter Gebiete, in denen Kinder und Jugendliche aufwachsen, zu erreichen. Um soziales Zusammenleben zu fördern, ist es notwendig, solche Rahmenbedingungen zu schaffen, die der Pluralität von Lebensverhältnissen gerecht werden. Neben einer angemessenen Ausstattung mit sozialpädagogischen Angeboten zählt hierzu auch die Förderung eines gemeinwesenorientierten Verständnisses der in einem jeweiligen Bezugsgebiet zuständigen Institutionen wie z.B. der Schule als lebensweltbezogener Stadtteilschule (Mack/Raab/Rademacker 2003: 22f, 51). Mit der Umstrukturierung von Fachdiensten zu dezentralisierten, miteinander verwobenen Angeboten will man abkommen von einer reinen Problemzuständigkeit und sich für die Belange von Zielgruppen insgesamt öffnen. Sozialraumorientierte sozialpädagogische Angebote verstehen sich als Teil einer Netzwerkstruktur (Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 219). Anknüpfend an den Gedanken der Raumnutzung bzw. Aushandlung von Nutzungsmöglichkeiten stellt Sozialraumorientierung beispielsweise für die mobile Jugendarbeit eine fachliche Grundlage dar. „Jugend ist durch ein typisches Kriterium soziokultureller Differenzierung gekennzeichnet: Sie zeigt ein subkulturelles Sozialverhalten und hat ein stark auf die Gegenwart hin orientiertes Zeitverständnis. In dem diese Bedürfnisse sich in Familie und Bildungsinstitutionen nur sehr bedingt entfalten können, ist Jugend auf Räume außerhalb der Institutionen verwiesen (Deinet/Krisch 2002). Die Straße ist der Raum solcher institutioneller Regelung und Kontrolle entzogener Lebensmöglichkeiten. Mit der Straße verbindet sich traditionell das Bild räumlicher Auffälligkeit“ (Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 217).
Aufsuchende Jugendarbeit verfolgt das Ziel, ausgegrenzte bzw. sich selbst ausgrenzende Jugendliche mittels der im Sozialraum gegebenen Möglichkeiten zu integrieren, d.h. nicht nur Konflikte zu moderieren, sondern auch den Jugendli-
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chen in ihren selbstgewählten Raumnutzungsformen zu ihrem Recht zu verhelfen. Schließlich zählt dazu auch, die Gestaltungsbedingungen eines Sozialraums für die Interessen der Heranwachsenden zu öffnen. Anknüpfend an den Gedanken der Raumaneignung stellt eine „Pädagogik des Jugendraums“ (Böhnisch/Münchmeier 1990) alternative Erfahrungen des Selbst wie auch Aneignungsprozesse in den Mittelpunkt. Jugendraum ist zunächst einmal nichtgestalteter bzw. nicht vorstrukturierter Raum und soll erst zur Gestaltung durch die Heranwachsenden auffordern, Inszenierungsformen anregen und Selbstthematisierung (z.B. das Empfinden von Begrenzungen) ermöglichen. Der Einhegung geschlechts- und milieuspezifischer Erlebnisweisen in realen Raumverhältnissen wird ein erweiterter Handlungsspielraum entgegengestellt. Sich selbst ins Unbekannte zu entwerfen wird vor dem Hintergrund der Individualisierung und Biographisierung von Lebensverläufen als besondere Kompetenz zur Lebensgestaltung begriffen. Zwei zentrale Gestaltungsakzente in der Sozialpädagogik Die exemplarischen Ausführungen zeigen, dass sozialpädagogische Fachlichkeit ein explizites Interesse an räumlicher Gestaltung verfolgt. In den unterschiedenen Variationen einer Sozialraumorientierung scheinen zwei Akzente auf: ein erster Akzent beschreibt eine notwendige Gestaltungsaufgabe konkreter, räumlich zu erschließender Verhältnisse. Die Verbesserung einer sozialräumlichen Infrastruktur stellt eine Verbesserung von Lebensverhältnissen bzw. Teilhabemöglichkeiten an lokalen Öffentlichkeiten dar. Eine optimierte Infrastruktur des Heranwachsens bereitzustellen wird als kommunale Gemeinschaftsaufgabe angesehen. Jugendhilfe versteht sich dabei als eine von mehreren sozialen AkteurInnen, die Raum mitgestalten und Prozesse lokaler Raumaushandlung befördern. Dieser erste Akzent soll an dieser Stelle prägnant als ‚Qualität von Raum’ festgehalten werden. Ein zweiter Akzent setzt an der subjektiven Interpretation von Raum an. Die Zielbestimmung der Raumaneignung steht in Verbindung mit der Thematisierung von Bewältigungsanforderungen. Damit Raum in neuer Qualität erlebt und angeeignet werden kann, bedarf es einer nicht gestalteten, sondern gestaltbaren Umgebung, die ins Aufgabenbewusstsein von Jugendarbeit gerückt ist. Dieser zweite Akzent soll hier als ‚Veränderbarkeit von Raum’ bezeichnet werden. Wenn es darum geht, Tendenzen zur Segregation und Verhäuslichung bei Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken (vgl. Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 216), spielt nicht primär die Veränderbarkeit von Raum eine Rolle, sondern die Überschreitung des gewohnten Terrains, räumliche Veränderungen also.
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Sozialraum vs. filmischer Raum Immer liegt der sozialpädagogischen Gestaltungsperspektive ein Raumverständnis des konkreten Handlungsraums zugrunde. Anders beim Film. Hier konzentriert sich das Raumverständnis auf den symbolischen und damit auf einen für die Zielgruppe handlungsentlasteten Raum (vgl. Treptow 1993: 134). Auf der Ebene der Wahrnehmung unterscheiden sich konkreter Handlungsraum und symbolischer Raum bereits erheblich: Die Perspektive auf konkreten Handlungsraum ist aktionsorientiert. Die Qualität des konkreten Handlungsraums entfaltet sich als Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten. Raumerweiterung bedeutet in diesem Zusammenhang „Verräumlichung“ durch Selbstbewegung (vgl. ebd.: 275). Ästhetische Geschehensabläufe zielen hingegen auf „Zustandsveränderungen“ auf knappem Raum (vgl. ebd.: 227). Es kommt dadurch zu einer Steigerung der Erlebnisqualität, die physisch begrenzter Raum bieten kann. Die Qualität des Films als „dynamisches Areal“ (ebd.: 150) ist nicht über das eigene Tun, sondern durch beobachtende Wahrnehmung zugänglich. Filmischer Raum stellt damit eine Art künstliche Enklave im Umgebungsraum dar: Raum, der abgegrenzt und spezifisch modelliert ist und die Imagination der ZuschauerInnen mit einschließt. Dieser Wahrnehmung gehen Gestaltungsprozesse voraus. Im Folgenden wird die Gestaltungslogik des filmischen Raums untersucht und damit die Grundlage für eine gegenstandsbezogene Analyse von räumlichen Strukturierungsformen erarbeitet. 3.2.2 Filmischer Raum und seine Gestaltung Um den Begriff des „filmischen Raums“ zu klären, ist zunächst die auf Rohmer (1980) zurückgehende Unterscheidung von drei aufeinander aufbauenden Bedeutungsschichten hilfreich: der „Bildraum“, der „architektonische Raum“ und der „filmische Raum“. Eine Besonderheit in der Wahrnehmung filmischer Bilder – die sie mit anderen darstellenden Künsten gemein haben – liegt darin, dass sie den Eindruck von Räumlichkeit erzeugen und dabei die Zweidimensionalität des Filmbildes als projizierte Fläche (Bildraum) vergessen machen. Beim Betrachten eines Films werden also alle wahrnehmbaren Raumindizien kombiniert, um die in filmischen Einstellungen abgebildeten Elemente in einem räumlichen Verhältnis zu begreifen. Es entsteht der Eindruck eines „architektonischen Raums“ (vgl. Borstnar/Pabst/Wulff 2002: 104 mit Bezug auf Rohmer 1980). Dieser ist durch die spezifischen Blickmöglichkeiten der Kamera festgelegt und im ‚Point of View’, der Blickführung durch die Kamera(-handlung), in der Dimension ‚Nähe und Distanz’ (bzw. auf filmische Figuren bezogen in der Übernahme in-
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nerfilmischer Blickstrukturen) gestaltet (vgl. Kanzog 1991: 46). „Durch den Point of View wird der Zuschauer zudem in das Bild ‚hineingezogen’; er kann sich dann mit der Kamera mitten im Raum befinden“ (ebd.: 28). Auf einfache Weise werden dadurch Relationen unter den abgebildeten Objekten und Figuren wie auch „Aufmerksamkeitszentren und -peripherien“ (Borstnar/Pabst/Wulff 2002: 100) im Bild manifestiert. Neben räumlichen Staffelungen in die Tiefe, Objektivbrennweite und Motiv- wie auch Kamerabewegungen trägt schließlich auch die Akustik des Originaltons zur Raumwirkung bei. Über diesen Eindruck von Räumlichkeit hinaus wird mit dem Begriff des „filmischen Raums“ ein weiteres und komplexeres Raumerleben beschrieben: Im filmischen Raum werden „einzelne Filmeinstellungen oder Einstellungsteile zu einem größeren, kontinuierlichen Raum [ergänzt]. Dieser filmische Raum ist notwendigerweise nie vollständig abbildbar, sondern entsteht nur durch die filmischen Konstruktionen im Kopf des Zuschauers, der die Vollständigkeit, die Homogenität und die potenzielle Abbildbarkeit dieses Raums immer voraussetzt. Der filmische Raum bezieht daher das außerhalb des Bildes liegende Feld, das Off, mit ein“ (ebd.: 106).
Die ZuschauerInnen leisten eine Synthese, indem sie bereits Wahrgenommenes über das, was die Kamera aktuell abbildet hinaus, gedanklich in Verbindung bringen. Filmischer Raum baut auf dieser Imaginationsleistung der ZuschauerInnen auf. In dem bisher Dargestellten können zwei Grundmomente in der Gestaltung filmischen Raums unterschieden werden: x Zeigen als gelenkter Kamerablick im Raum (Deixis) – Die Kameraführung ist ganz entscheidend an der Konstitution des filmischen Raums beteiligt. Filmische Bilder geben – wie eben bereits verdeutlicht – den Blick auf eine Szenerie nicht einfach frei. Sie lenken ihn vielmehr auf spezifische Weise. Damit reproduziert die Kamera nicht nur ‚Abbilder’, sondern schafft Bilder und Bildverläufe und trifft damit zugleich Aussagen über die fokussierten Objekte (vgl. Kanzog 1991: 45). Der hauptsächlich in der Linguistik gebräuchliche Begriff der Deixis kann auf diese „Rhetorik der Kamera“ (ebd.: 58) übertragen werden. Die Kamerahandlung gilt dann als räumlicher Zeigeakt (Deixis). Sie öffnet ein „Zeigefeld“ (ebd.: 57) und gibt zugleich Blickstrukturen und damit Aufmerksamkeitszentren vor. Bei dokumentarischen Filmen entsteht oft – aber nicht zwangsläufig – mit den deiktischen Hinweisen auf die Rahmensituation eines Geschehens ein Zusammenhang zwischen innerfilmischem und außerfilmischem Raumschema, d.h. das Zeigen gilt dann dem Verweis auf einen faktischen Lebensraum. x Etablieren einer eigenständigen ‚Welt’ (Diegese) – Inhaltlich betrachtet zielt die Imaginationsleistung der ZuschauerInnen stets auf einen in sich ge-
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schlossenen Handlungsraum, der gedanklich entsteht. Der Geschehensablauf und der räumliche Kontext sind eng miteinander verknüpft, so dass sich das erzählte Ereignis nicht ohne weiteres in ein anderes Setting verlagern ließe. „Territoriale Markierungen und kognitive Grenzsetzungen, thematische Einund Ausschließungen haben zur Folge, daß ein und dasselbe Ereignis in einem anderen räumlichen Kontext nicht mehr das gleiche ist und auch nicht sein soll. Der räumliche Kontext selbst gehört konstitutiv zum Ereignis“ (Treptow 1993: 279). In der Erzähltheorie wird dafür der Begriff Diegese verwendet. Er bezeichnet die Welt des erzählten Geschehens und bezieht sich auf das Raum-Zeit-Kontinuum, das im Film entsteht und eine in sich geschlossene ‚Welt’ dargestellt, d.h. einen eigenen Sinnbezug zugesprochen bekommt (vgl. Schändlinger 1994: 67f). Der filmische Raum stellt die räumliche Komponente der Diegese dar (vgl. Borstnar/ Pabst/Wulff 2002: 106). Diese beiden allgemeinen Grundmomente, das Zeigen und das Etablieren einer eigenständigen Welt, bilden die Voraussetzungen dafür, über räumliche Verhältnisse im Film inhaltlich-thematische Bedeutungen zu schaffen. Im Folgenden wird ein raumtheoretisch argumentierendes Modell aus dem Bereich der Literaturwissenschaft dargestellt, mit dem die bedeutungsschaffenden Möglichkeiten in der Konstruktion von filmischem Raum aufgezeigt werden können. Dieses von Lotman entwickelte topologische Modell zur Analyse kultureller Texte ist an literarischen Texten entwickelt, lässt sich jedoch grundsätzlich auch auf Film übertragen (vgl. Borstnar/ Pabst/Wulff 2002: 154ff; Kanzog 1991: 28ff). Der Kerngedanke dabei ist, dass künstlerische Darstellungsformen Räume benutzen bzw. sich einer „räumlichen Metaphorik“ bedienen, um nicht-räumliche Gegebenheiten wie z.B. Politik, Soziales und Wertefragen zu thematisieren. Über die Konstruktion von Raum finden gerade abstrakte Sachverhalte und Aussageabsichten einen Weg der Vermittlung. Entscheidend dabei ist, dass über die Gestaltung von Raum Ordnungsverhältnisse eines sozialen Geschehens hergestellt, aber auch in Frage gestellt werden können. Semantisierung von Raum Lotman geht von der Beobachtung aus, dass Menschen, wenn sie sich orientieren, räumliche Relationen nutzen, bzw. in räumlichen Verhältnissen und Perspektiven denken. Die Auffassung von Welt, die jeder Einzelne und jede Einzelne entwickelt, hänge eng mit der Orientierungstätigkeit mittels räumlicher Strukturen zusammen:
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung „Der dem Menschen eigene besondere Charakter der visuellen Wahrnehmung der Welt hat zur Folge, daß für den Menschen in der Mehrzahl der Fälle die Denotate verbaler Zeichen irgendwelche räumlichen, sichtbaren Objekte sind, und das führt zu einer spezifischen Rezeption verbalisierter Modelle. Auch diesen Modellen ist das iconische Prinzip, die Anschauung durchweg eigentümlich“ (Lotman 1993: 312).
Diese Ausgangsüberlegung besagt, dass konkrete wie auch abstrakte sprachliche Begriffe in der Vorstellung der RezipientInnen mit Hilfe von Mengenverhältnissen, Ausdehnungen und Relationierungen verstanden werden. Daher gewinnt der Raum als ein die jeweiligen Objekte umfassendes und sie relationierendes Modell auch für menschliche Kultur im Allgemeinen und literarische Texte im Besonderen an Bedeutung, denn „daraus ergibt sich die Möglichkeit der Darstellung von Begriffen, die an sich nicht räumlicher Natur sind, in räumlichen Modellen“ (ebd.: 313). Nicht nur in naturwissenschaftlichen Modellen wird der Raum zur Hilfskonstruktion für komplexe Sachverhalte, sondern auch in der Deutung gesellschaftlicher Verhältnisse, wie beispielsweise politischer Orientierungen (‚rechts’, ‚links’), soziologischer Gesellschaftsanalysen (‚oben’ vs. ‚unten’), in der Vorstellung religiös-transzendenter Bezüge wie auch im Verstehen alltagsweltlicher Modelle (‚nah’ = naheliegend, ‚fern’ = fremd, nicht vertraut). Diese räumlichen Metaphern sind jedoch nicht universell sondern historisch und kulturspezifisch zu begreifen (vgl. ebd.).45 Ein erster wesentlicher Punkt im Ansatz von Lotman besteht also darin, dass topografische Räume in künstlerischen Texten (Literatur, Film etc.) semantisiert, d.h. mit nicht-räumlichen Merkmalen konstitutiv verknüpft werden und zwar nicht nur mit jeweils einem singulären sondern zumeist mit einem ganzen Bündel von Merkmalen. Das Gegenständliche bekommt dadurch über seinen unmittelbar materiellen einen weiterreichenden, abstrakten Sinn zugeschrieben. „Dabei ist es unwesentlich, daß manchmal (...) diese Füllung des Raums der Tendenz folgt, sich maximal der alltäglichen Umwelt des Autors und seiner Leser anzunähern, während in anderen Fällen (...) die Tendenz besteht, sich grundsätzlich von der gewohnten ‚gegenständlichen’ Realität zu distanzieren. Wichtig ist etwas anderes: hinter der Darstellung von Sachen und Objekten, in deren Umgebung die Figuren des Textes agieren, zeichnet sich ein System räumlicher Relationen ab, die Struktur des Topos. Diese Struktur des Topos ist einerseits das Prinzip der Organisation und der Verteilung der Figuren im künstlerischen Kontinuum und 45 Wenn räumliche Strukturen in literarischen und filmischen Darstellungsformen bedeutungsschaffend verwendet werden, besitzen die Korrelationen mit den ihnen zugewiesenen nicht-räumlichen Merkmalskomplexen (z.B. ‚oben’ = ‚frei’, ‚schöpferisch’, ‚bewegt’ etc.) zunächst nur Gültigkeit für den je konkreten Text oder auch eine Reihe von Texten einer AutorIn. Dass es immer wieder neue Verbindungen sind, die zwischen konkreter Räumlichkeit und abstrakter Idee hergestellt werden, weist Lotman anhand der Analyse zahlreicher russischer Gedichte nach (vgl. Lotman 1993: 314ff). Er stellt dabei auch den Einfluss einschneidender gesellschaftlich-historischer Ereignisse wie z.B. Krieg und Vertreibung in der semantischen Besetzung der räumlichen Komponenten fest und schließt auf Erfahrungen einer sozialen Zeit, die sich in den eben beschriebenen Gestaltungsmitteln spiegeln.
3.2 Untersuchungskategorie Raum
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fungiert andererseits als Sprache für den Ausdruck anderer, nichträumlicher Relationen des Textes. Darin liegt die besondere modellbildende Rolle des künstlerischen Raumes im Text“ (Lotman 1993: 329f).
Bedeutung der Grenze Ein zweiter entscheidender Gedanke zur räumlichen Struktur des Textes liegt in der Bedeutung der Grenze, „dem wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes“, deren wiederum „wichtigste Eigenschaft (..) die Unüberschreitbarkeit“ ist (ebd.: 327). Diese Unüberschreitbarkeit drückt sich in Merkmals-Oppositionen (wie ‚oben’ und ‚unten’, ‚offen’ und ‚geschlossen’) aus. Besonders sinnfällig wird die hermetische Aufteilung des filmischen Raums, wenn man handelnde Figuren hinzudenkt und sich nachweisen lässt, dass sie in jeweils spezifischen Territorien agieren (Raumbindungen) und sich dadurch ihre gesellschaftlichen Positionen ausdrücken. Das Raumschema kann jedoch auch komplexer ausfallen, indem bestimmte Personenkreise jeweils nicht nur einem Teilraum fest zugeordnet sind, sondern mehreren, die allerdings als unvereinbar gelten bzw. aus der Sicht der ProtagonistInnen eine alternative Raumaufteilung notwendig machen würden. Dadurch „entsteht sozusagen eine Polyphonie der Räume, ein Spiel mit den verschiedensten Arten ihrer Aufteilung“ (ebd.: 328f). Borstnar, Pabst und Wulff weisen in Anlehnung an Renner (1987) auf die besondere Funktion von „Extremräumen“ hin, „welche die Merkmale des semantischen Raumes in besonders hoher Dichte oder besonderer Qualität ausprägen“ (2002: 160f). Ein so beschaffener Extrempunkt kann sich in drei Bereichen situieren: erstens im konzentrischen Inneren eines Raumes z.B. im Kern des Atoms, im geheimen Tagebuch als Wesensgehalt der Intimsphäre; zweitens an der Peripherie eines Raumes z.B. am Ende einer Sackgasse, eines Aussichtsturms; drittens an „der Grenze der Diegese“ (ebd. 161), z.B. dann, wenn Sterben dargestellt wird. Die Erzählung führt die ProtagonistInnen an diese Extrempunkte als „‚Brennpunkte des Geschehens’, da sich hier die Inkonsistenz einer Situation besonders deutlich abzeichnet“ (ebd.: 160). Mit dem Prinzip der voneinander abgegrenzten Raumsegmente, die jeweils anders strukturiert sind, wird insbesondere die Qualität des jeweiligen Teilraums für die daran gebundenen Figuren deutlich. Wenn diese Qualität nicht positiv beschaffen ist, entsteht der Bedarf nach Veränderung. Räumliche Veränderung Die oben beschriebenen zwei Strukturelemente, d.h. die Semantisierung von Raum und seine Begrenzungen, beziehen sich auf statische Verhältnisse bzw.
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
Zustände eines filmischen (oder literarischen) Raums. Für einen Film mit rein deskriptiver Absicht würde es genügen, diese Verhältnisse aufzuzeigen, die jeweiligen Milieus aufzusuchen und beispielsweise ‚arm’ mit der räumlichen Metaphorik von ‚reich’ zu kontrastieren ohne dabei allerdings die Ordnungslogiken der beiden Teilräume zu verletzen. Sie erfahren vielmehr Bestätigung (vgl. Lotman 1993: 337). Wenn nun aber beispielweise Michael Moore in seinem Film „Fahrenheit 9’11“46 die Mutter eines im zweiten Golfkrieg getöteten jungen Soldaten dazu bringt, ihre Trauer und Wut, die sich gegen den Kader der Bushregierung richtet, in Washington vor dem Weißen Haus vorzutragen, dann hat er bzw. seine Figur damit in gewisser Weise einen Normverstoß begangen, indem sie die Grenzen ihrer häuslich-familiären Welt, der sie bislang zugeordnet wurde, überschreitet und in eine ihr fremde Welt vorzudringen versucht. Damit ist in Lotmans Schema eine Dynamisierung im Raum erreicht bzw. ein „Ereignis“ innerhalb der filmischen Handlung geschaffen. „Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“ (Lotman 1993: 332). Ein Ereignis ist demzufolge immer an eine Anomalie bzw. eine Regelverletzung der im aktuellen Handlungsraum gültigen Ordnung gebunden. Dass die Protagonistin im angeführten Beispiel scheitert, wird im Bild als empörende Ohnmacht klar, denn die Machtzentrale der USA ist für die Frau nicht annähernd erreichbar und sie kann sich in den semantischen Raum des expertokratisch fundierten Regierungsapparats in keiner Weise einbringen. Insofern legt Moore das Ereignis nur an, die Handlung bleibt jedoch im Vorfeld einer möglichen Konfrontation der jeweiligen Ordnungslogiken. Ein anderer Typus der Konfrontation oppositioneller semantischer Felder findet sich in Reidemeisters „Von wegen Schicksal“47 aus dem Jahr 1979. Die Begegnung zwischen Mutter und Tochter Carmen im Film, die in anderer Weise nicht stattgefunden hätte, basiert auf einem fiktiven Dialog zwischen beiden, der über den Weg der Montage zu einer abgeschlossenen Sequenz zusammengefügt wurde (vgl. Hohenberger 1992). Dadurch gelingt es der Filmemacherin nicht nur, einen Ersatz für das direkte Gespräch, in dem beide anwesend sind, zu fin46 Dokumentarfilm von Michael Moore, USA/ Kanada, 2004, 122 Minuten. Inhalt: „Der amerikanische Autor und Filmemacher Michael Moore zieht im Wahljahr 2004 eine vernichtende Bilanz der bisherigen Präsidentschaft George W. Bushs. Mit den satirischen Mitteln des Polit-Kabaretts zeichnet er das Bild eines überforderten Politikers, der sich sein Amt erschlichen und das Land aus eigensüchtigen Motiven in den Irak-Krieg gestürzt hat“ (Kroth 2008). 47 Dokumentarfilm, BRD 1978/1979, Inhalt: „Irene Rakowitz, 48, Mutter von vier Kindern, lässt sich nach zwanzig Ehejahren von ihrem Mann Richard scheiden, um ihr eigenes Leben zu führen. (...) Der Film schildert Irenes Kampf um ein selbstbestimmtes Leben, ihre Sorge um die Zukunft der Familie und ihre Auseinandersetzung mit den Kindern, die ihr teilweise mit Hass begegnen“ (Deutsches Filminstitut 2008).
3.2 Untersuchungskategorie Raum
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den, sondern die ihnen jeweils zugeordneten Räume in einer Doppelstruktur Präsenz zu verleihen und damit eine umso größere Härte in der gegenseitigen Ablehnung der Weltbilder von Mutter und Tochter kenntlich zu machen (Betonung der Grenze). Ein wesentlicher Impuls dieses Dokumentarfilms geht gerade von jenen ‚ereignishaften’ Konfrontationen aus (vgl. Hohenberger 1992). Die Ereignisse erschließen sich dabei als ‚innere Ereignisse’ der Protagonistin Irene Rakowitz. Es wird also ein drittes Strukturmerkmal der Kategorie ‚Raum’ im Film erkennbar: Nach Lotman entwickelt sich das „Sujet“ (der Ereignischarakter) eines Textes stets auf der Basis einer gültigen Ordnung und zugleich als deren Überschreitung. „Der sujethaltige Text wird auf der Basis des sujetlosen errichtet als dessen Negation“ (Lotman 1993: 338). Ereignischarakter besitzen also solche Veränderungen, die Normverletzungen in Bezug auf eine geltende Ordnung beinhalten.48 Die Darstellung des Modells benötigt spätestens an dieser Stelle eine Ergänzung um den Begriff der „Figur“ und deren Bewegung sowie um den Begriff der Handlung. „In Beziehung zur Grenze des (semantischen) Sujet-Feldes tritt der Handlungsträger als derjenige auf, der sie überwindet, und die Grenze in Beziehung zu ihm als Hindernis“ (ebd.: 342). Da den „Figuren“, ihrem Handeln, ihren sozialen Beziehungen untereinander wie auch ihren Gesellschaftsbezügen innerhalb einer eigenen Untersuchungskategorie Aufmerksamkeit zukommt, wird das Modell nicht hier, sondern an anderer Stelle (vgl. Kap. 3.4) weitergehend dargestellt. Im Folgenden soll die Bedeutung des bisher Erarbeiteten umrissen wie auch eine Anwendungsperspektive eingenommen und an weiteren Filmbeispielen verdeutlicht werden. 3.2.3
Bedeutung und Anwendungsperspektive
Interessant ist zunächst, dass sich die Grundidee des raumtheoretischen Modells von Lotman auf die zuvor herausgehobenen Akzente einer sozialpädagogischen Gestaltungslogik beziehen lässt: ‚Qualität von Raum’ und ‚räumliche Veränderung’ sind in beiden Fachlogiken Gestaltungsperspektiven. Durch die Semantisierung und durch interne Begrenzungen von Raum entstehen im Film unterschiedlich qualifizierte Teilräume. Die Situation, in der sich eine filmische Figur befindet, wird darüber charakterisiert: je prägnanter die Raumstruktur (Extrem48
Lotman macht dies am Prinzip der Tageszeitung deutlich. Vergleicht man die in Zeitungen als Tagesereignisse ausgewiesenen Meldungen, so spiegeln sich darin zugleich Zeitgeist und Weltbild. „Was in diese Rubrik gerät ist eine bedeutsame Abweichung von der Norm (d.h. ein Ereignis in unserem Sinne, da die Einhaltung der Norm kein Ereignis ist)“ (Lotman 1993: 333).
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
räume), umso deutlicher die Situationskennzeichnung. Mittels räumlicher Konstellationen werden auch Veränderungsnotwendigkeiten plausibel gemacht. Konventionelle Raumbindungen werden alternativen Raumaneignungen entgegengestellt. In dieser Spannung stehen die Figuren als Handlungsträger. Folgende Bedeutung kann daraus abgeleitet werden: Die Konstruktion von filmischen Räumen schafft einen Ausdruck für die Ambivalenz von ursprünglichen Verhältnissen und subjektiven Perspektiven. Anwendungsperspektive Für die Untersuchung der räumlichen Strukturierungsformen von dokumentarischen Filmen ergeben sich mehrere Anknüpfungspunkte. Im Hinblick auf die statische Ordnung der im Film aufgezeigten Verhältnisse (Raumqualitäten) erscheinen insbesondere die beiden folgenden analytischen Perspektiven besonders nützlich: x Rekonstruktion von Ordnungsstrukturen: Gemeint ist die Analyse der im Film präsentierten topografischen Räume und ihrer räumlichen Kennzeichen. Der dokumentarische Filmbeitrag wird auf die Quantität unterschiedlich gekennzeichneter Teilräume, ihrer Berührungspunkte untereinander und ggf. ihrer Schnittmengen untersucht. Weiter interessieren die über die räumlich-konkrete Anordnung hinausgehenden Bedeutungsgehalte, für die die Teilräume funktionalisiert werden. Schließlich ist von Interesse, welcher Zusammenhang zwischen den Filmfiguren und der räumlichen Ordnung besteht, d.h. welche Raumbindungen und welche Raumqualitäten erkennbar werden (Milieubindung, Zweckräume/Institutionenbindung). Dabei gilt es folgende Bedeutungsebenen zu berücksichtigen: „Bei dem Versuch, die Raumordnung eines Films zu ermitteln, wird man immer zugleich Bildkonstellationen, szenische Konstellationen und Handlungsräume im Auge haben“ (Kanzog 1991: 31). x Durchlässigkeit: Eine zweite Perspektive konzentriert sich auf Raumbegrenzungen und die im Film vermittelte Notwendigkeit, die angelegten Grundordnungen zu überschreiten. Zu fragen ist, wie durchlässig die Ordnungsstrukturen der Teilräume jeweils sind. Übertragen auf soziale Kontexte könnten sich hier beispielsweise Hinweise auf Liberalität oder einen Zustand von Anomie ergeben. Mit Blick auf die dynamischen Raumveränderungen innerhalb einer filmischen Entwicklung ergeben sich folgende Aufmerksamkeitspunkte:
3.2 Untersuchungskategorie Raum
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Rekonstruktion des „Sujets“ eines Filmbeitrags: Da nach Lotman das Sujet immer mit der Hauptepisode des Films zusammenhängt, in der die Überschreitung der grundlegenden topologischen Grenze in der Raumstruktur erkennbar wird, gibt die Rekonstruktion dieses zentralen Ereignisses Aufschluss über die Thematik des Filmbeitrags. Damit ist eine spezielle Perspektive auf die Thematisierung eines Inhalts in der Polarität von Ordnung und Veränderung eingenommen und zwar in der Hinsicht, dass eine bestehende Ordnung gestört ist und auf dieser Basis Veränderung in Form einer Grenzüberschreitung eintritt. Diese Grenze kann in Unterschiedlichem bestehen. Oft geben die Filmtitel bereits Hinweise auf die Grenzüberschreitung, die den Kern eines Filmthemas bilden. Einige Beispiele: „Mit 17 hinter Gittern“, „Und raus bist Du“, „Von Gambia in die Pfalz“, „Streetwork“, „Zwischen Rap und Ramadan“, „Wenn Kinder abhauen“, „Reise nach Mongolien“, „Zum Limit und zurück – Extremsport als Lektion fürs Leben“, „Helldorado“, „Angelique – Leben gegen den Strich“, „Flügge“, „Manchmal hab’ ich Heimweh“.49 Rekonstruktion der Ereignis-Exposition: Ausgehend von Lotmans Ansatz der Grenzüberschreitung, aus der eine ereignishafte Struktur resultiert, sind mehrere Möglichkeiten denkbar, die filmische Erzählung an einem Ereignis auszurichten. Zum Beispiel kann die Grenzüberschreitung bereits stattgefunden haben oder sie findet im Rahmen der Filmarbeit statt oder beides trifft zu, d.h. es werden mehrere Ereignisse aufeinander bezogen. Die Grenzüberschreitung kann also in einem unterschiedlichen Zeitbezug zur Phase der Filmarbeit stehen. Die oben zitierte filmische Sequenz in „Fahrenheit 9’11“ ist ein Beispiel für einen Erzählbogen innerhalb der Filmarbeit, in dem ein Ereignis (ein Grenzübertritt) dezidiert herbeigeführt wird. Das potenzielle Ereignis hätte es ohne die Filmarbeit wahrscheinlich nicht gegeben. Davon zu unterscheiden sind dokumentarische Filme, die anstatt auf das Ereignis im Film hinzuarbeiten, ein Ereignis zum Ausgangspunkt eines Films machen. In diesem Fall handelt es sich um rekonstruktive dokumentarische Filme wie z.B. der Film „Amok in der Schule, die Tat des Robert Steinhäuser“ (Schadt/Beulich 2004, Filmkorpus). Der Beitrag aus dem WDR-Sendeformat „die Story“‚ „War doch nur ein Obdachloser – wenn Kinder töten“ (Voigt 2004, Filmkorpus) bezieht sich ebenfalls auf das vorausgegangene Ereignis, nämlich die Tötung eines Obdachlosen durch eine Gruppe von Kindern. Die Extremereignisse, die die beiden dokumentarischen Filme behandeln, unterscheiden sich zwar im Grad ihrer öffentlichen Bekanntheit
Hierbei handelt es sich um diverse Filmbeiträge, die im Filmkorpus erfasst sind (vgl. Kap. 4.1.2).
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
und ihrer diskursiven Verarbeitung.50 Beide Filme müssen jedoch das Zentralereignis zunächst erzählen. Hohenberger merkt an, dass Dokumentarfilme im Unterschied zum alltäglichen Erzählen und zum Amateurfilm, auch wenn sie an gesellschaftlichen Ereignissen ansetzen, nicht umhin können, das jeweilige Ereignis im Modus des Erzählens filmisch herzustellen, da die kommunikative Vermittlung durch den Dokumentarfilm „eine gemeinsame Erfahrung des erzählten Ereignisses“ nicht einfach aktualisieren kann, sondern einer „referenziellen Absicherung“ bedarf (Hohenberger 1988: 83). Das bedeutet für die Analyse von Dokumentarfilmen, dass sie auch nach der Art ihrer Ereignis-Exposition untersucht werden können. Zu fragen wäre, mit welchen Mitteln, mit welchen narrativen Formen und in welcher Perspektive an das nichtfilmische Ereignis angeknüpft wird. Im Vergleich von „Fahrenheit 9’11“ und „Amok in der Schule“ liegt ein entscheidender Unterschied darin, dass im ersten Fall die Grenzüberschreitung registrierend aufgezeichnet wird, im zweiten dagegen rekonstruiert, d.h. in einer Art ‚Ersatzkonstruktion’ etabliert werden muss. Eine häufig anzutreffende Variante stellen dokumentarische Interviewfilme dar, in denen die relevanten Ereignisse nacherzählt werden. Mit Blick auf die zuvor beschriebene deiktische Funktion der Kamera ist die Gestaltung eines weiteren Raumbezugs interessant: Die Möglichkeiten und Aufgaben dokumentarischer Filme hinsichtlich der räumlichen Konstruktion liegen im Unterschied zu anderen narrativen Sparten in einer Doppelfunktion: sie entwickeln ein internes räumliches Bezugssystem (narrativ-diegetische Komponente) und sie beschreiben bzw. dokumentieren einen außerfilmischen Lebensraum, in dem sie ihre ProtagonistInnen vorfinden (deiktische Komponente). In beiden Funktionen können sich konkrete Darstellungen mit symbolischen Versinnbildlichungen mischen. Auch dieses Verhältnis von innerfilmischem und außerfilmischem Raumschema kann aufschlussreich sein.51 Es erschließt sich z.B. durch die drei folgenden Perspektiven: x Außerfilmischer Lebensraum wird in einen filmischen Raum stets durch Prozesse der Selektion und der Typisierung transformiert. Dies geschieht hauptsächlich durch die Wahl von Drehorten, die in ihrem Bezug zur Le50 Während die Tötung des Obdachlosen zwar für überregionale Nachrichtenmeldungen sorgte und die betreffende regionale Teilöffentlichkeit längere Zeit beschäftigte, hat sie nicht dieselbe öffentliche Aufmerksamkeit nach sich gezogen, wie der Amoklauf an der Erfurter Schule. Dieser bestimmte nicht nur die öffentliche Diskussion, sondern nahm darüber hinaus den Stellenwert eines universellen Signums – eines Bezugspunkts hinsichtlich der gesellschaftlichen Verständigung über die Gewaltbereitschaft der Heranwachsenden – ein. 51 Dies wird insbesondere in Kapitel 7 anhand der Raumanalyse von „Der Kick“ gezeigt werden.
3.3 Untersuchungskategorie Zeit
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benswelt der ProtagonistInnen, aber auch in ihrem symbolisch-ästhetischen Raumeindruck, wahrnehmbar werden. Dokumentarische Filme unterscheiden sich je nach Machart im Grad an Unmittelbarkeit, der zu den realen Ereignissen vor Ort entsteht. Die Reportage grenzt sich definitionsgemäß hierüber von der Dokumentation ab; sie strebt eine möglichst unmittelbare Augenzeugenschaft an (vgl. Hickethier 2007: 202) während andere dokumentarische Genres wie die Dokumentation mehr Distanz zu den Ereignissen einnehmen. Schließlich kann der Verweis auf faktischen Lebensraum auch den Stellenwert eines Dokuments im Film haben. Fotos oder das von der Kamera begleitete Aufsuchen von Orten, an denen sich Ereignisse vollzogen haben, können die Funktion räumlicher Dokumente erfüllen.
‚Raum’ und ‚Zeit’ gelten als basale Organisationsmethoden von künstlerischen Texten bzw. Filmen. Monaco spricht von der „Syntax“ des Films, die „sowohl die Entwicklung in der Zeit als auch die im Raum mit einschließt“ (Monaco 2000: 176). Nachfolgend wird die Perspektive auf das zweite syntaktische Mittel, auf die die Gestaltung von Zeit also verlagert. 3.3 Untersuchungskategorie Zeit Im Folgenden wird die Untersuchungsdimension Zeit anlog zur raumbezogenen Untersuchungsperspektive entwickelt. Ausgehend von einem sozialpädagogischen Begriffs- und Aufgabenverständnis werden drei relevante Zeitbegriffe – soziale, biographische und vergegenständlichte Zeit – unterschieden (Kap. 3.3.1). Im Anschluss daran werden Grundbegriffe der (dokumentar-)filmischen Gestaltung von Zeit erläutert: Filmzeit, erzählte bzw. filmische und nichtfilmische Zeit (Kap. 3.3.2). In einer Gegenüberstellung der Arbeitsbegriffe werden Entsprechungen zwischen den beiden Fachlogiken verdeutlicht und von da aus die Anwendungsperspektive auf die Untersuchungsfilme formuliert (Kap. 3.3.3). 3.3.1 Erleben und Gestalten von Zeit und darauf bezogene sozialpädagogische Aufgaben Neben der Gestaltung von Raum liegt eine weitere sozialpädagogische Aufgabe in der Unterstützung von biographischen Übergängen der AdressatInnen und der Förderung ihrer biographischen Kompetenz. Bezugspunkt ist damit eine primär von den AdressatInnen zu leistende Lebensaufgabe, nämlich die Planung und
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
Gestaltung individueller Lebenszeit. Sozialpädagogische Fachlichkeit versteht sich darauf bezogen als „Flankierung der subjektiven Biographieaufgaben“ (Bitzan/Bolay/Thiersch 2006: 267). Erleben sozialer Zeit in der Gegenwart und biographische Selbstthematisierung Während die Gestaltung von Raum schon immer im Aufgabenbewusstsein der Sozialpädagogik war (vgl. Hamburger 2008: 132), ist die Bezugnahme auf ein subjektives Zeitverständnis und damit biographisches Zeitmanagement der AdressatInnen an neuere gesellschaftliche Entwicklungen gebunden. Hamburger erkennt eine Stärke sozialpädagogischer Theoriebildung gerade darin, dass sie „den beschleunigten sozialen Wandel moderner Gesellschaften verarbeiten kann bzw. sich dieser Herausforderung stellt, weil sie sonst ihren Gegenstand nicht mehr begreifen könnte“ (Hamburger 2008: 103). Die Selbstthematisierung der Subjekte als Thematisierung ihres biographischen Gewordenseins steht im Zusammenhang mit der Beschleunigung des sozialen Wandels in der Gegenwart. Damit sind Veränderungsprozesse angesprochen, die soziale Zeit, d.h. Zeit in ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung, charakterisieren und die zugleich personale und soziale Integrität von Menschen beeinträchtigen können: Soziale Zeit verliert an übereinstimmender Erfahrung. Mit Blick auf die individuelle Vergangenheit sind es nicht-realisierte Lebenswege, die als verpasste Chancen erlebt werden können; mit Blick auf die individuelle Zukunft ist es eine prinzipielle Offenheit, die Perspektiven zu fassen erschwert. Biographie ist also eine Lebenskonstruktion, die zeitlich gestaltet und im Kontext von Individualisierungsprozessen zu sehen ist. Für die Subjekte geht es darum, individuelle Lösungen im Rahmen genereller Anforderungen zu finden, die kaum auf die Übereinstimmung mit klaren gesellschaftlichen Erwartungen hinarbeiten können, sondern sich in der eigenen subjektiven Bilanz als sinnvoll erweisen müssen. Der Grund dafür liegt in einer Abschwächung traditioneller Konzepte und Lebensrhythmen wie Generation, Familie, Arbeit, Bildung und soziale Zugehörigkeit, die lebensweltliche Gewissheiten mit Unverbindlichkeiten und Undurchsichtigkeiten konfrontiert (vgl. Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 251). Schumann (2008, 1994) fasst die Kernaktivitäten einer daraus resultierenden biographischen Arbeit der Individuen in vier Punkten zusammen: x „biographische Arbeit als Explorationsarbeit, d.h. als Vertiefung des biographischen Reflexionsniveaus durch erhöhte Aufmerksamkeit der eigenen Lebenssituation gegenüber (Selbstthematisierung und Situationsdeutung) x biographische Arbeit als Imagination, d.h. als Entwicklung von alternativen Optionen auf dem Hintergrund eines verbreiteteren Interaktionstableaus
3.3 Untersuchungskategorie Zeit
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biographische Arbeit als Experiment, d.h. als experimentelle Selbstdarstellung und als experimenteller Umgang mit Rollen, Skripts zur Erprobung potentieller Identitäten biographische Arbeit als commitments, d.h. als Entscheidung für bestimmte Optionen, als Strukturierung von Zeitvorstellungen und als Synthetisierung der Optionen zu einem Lebensentwurf“ (Schumann 2008: 11, vgl. auch Schumann 1994: 469f).
Charakteristisch für diese Aufgaben sei, dass sie in der Lebensentwicklung wiederkehrend zu leisten sind. Biographische Zeit und deren sprachliche Gestaltung Das sozialpädagogische Interesse an der Biographie der AdressatInnen gründet auf diesen modernisierungstheoretischen Annahmen und ist als individuierender Zugang zu den AdressatInnen und zur subjektiven Relevanz von sozialer Zeit zu verstehen. Im Mittelpunkt stehen individuelle Erzählungen, wie – und als was – Passagen des Lebens erlebt wurden. Biographische Zeit konturiert sich darin als Zeit im eigenen Verfügungsbereich. Neben den Inhalten interessieren insbesondere die sprachlichen Gestaltungsformen, in denen Erlebnisse und Erfahrungen zum Ausdruck gebracht werden. Fokussiert werden dabei die Verwobenheit des individuellen ‚Zeitmanagements’ mit sozialen Konstruktionen und kulturellen Mustern, die herangezogen werden, um für das biographische Gewordensein Verständnis zu erzeugen und darin Anerkennung zu erfahren. Unter dieser Voraussetzung werden Zeitbezüge als Verschränkungen von unmittelbarer Gegenwart, subjektiv geordneter Vergangenheit und noch ungeordneter Zukunft zu einer Schlüsselperspektive, um einen verstehenden Zugang zu Heranwachsenden zu erhalten. Die biographische Erzählung findet sowohl in der sozialpädagogischen Forschung wie auch im Kontext praktischer Einzelfallhilfen Berücksichtigung.52 52 Im Rahmen sozialpädagogischer Forschung dienen biographieorientierte Konzepte der Erforschung der Lebenswelten von AdressatInnen. Sie sind aber auch in der Rekonstruktion der AdressatInnenperspektive auf individuelle Hilfen aufschlussreich. Adressatenforschung rekonstruiert beispielsweise die biographische Relevanz von Hilfeangeboten durch die Untersuchung biographischer Materialien (einen Überblick geben Bitzan/Bolay/Thiersch 2006). In der Praxis der Einzelfallhilfen bedeutet die Orientierung an Biographie, diese jeweils in den Mittelpunkt der Hilfeplanung zu rücken (Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 263). In Form einer biographie- und ressourcenorientierten Fallarbeit erlangen Erzählepisoden, in denen Adressaten sich als selbstwirksam erleben oder nichtrealisierte Interessen zum Ausdruck bringen, hohe Aufmerksamkeit. Ein solcher Zugang erfordert entsprechende Kompetenz seitens der Professionellen: „Diagnosen müssen z.B. als Ansatz zur Rekonstruktion von
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
Erleben von Zustandsveränderungen an technisch-ästhetischen Zeitobjekten In dem bislang aufgezeigten sozialpädagogischen Aufgabenverständnis ist mit Zeit stets biographische Zeit gemeint, die subjektiv erlebt und als eigene Zeit (sprachlich) gestaltet wird. Darüber hinaus nimmt eine „zeit- und bewegungsbezogen argumentierende Jugendkulturarbeit“ (Treptow 1993: 13) ihren Ausgangspunkt in einer anderen Kategorie von Zeit. „Erlebnisse können nicht nur von den Bedingungen subjektiver Konstitution, sondern von der Strukturiertheit, vom ‚Objekt’ her, als Ereignis verstanden werden. Es handelt sich in der Regel um eine auf Gegenstände und Themen bezogene ‚Modellierung’ von Zeit“ (ebd.: 149). In den Blick rückt damit optisch und akustisch gestaltete Zeit, die rezeptiv angeeignet wird. Subjektive Erlebnisbereitschaften treffen auf ästhetisch inszenierte Ereignisse, die ihren Spielraum in technisch ermöglichter Temporalität haben. Dabei entstehen zeitlich verfasste Ereignisqualitäten: Erlebt werden Zustandsveränderungen, die sich zeitlich an einem Gegenstand vollziehen (vgl. ebd.: 144) und die bei den RezipientInnen, in der Simultanstruktur von Ereignis und Erlebnis, zur Intensitätssteigerung des gegenwärtigen Moments führen (vgl. ebd.: 139). Hinzu kommt die Qualität der Verfügbarkeit über solche ästhetischen Ereignisse bzw. zeitlich verfassten Erlebnisse und damit über Gegenwartserleben. Diese steht im Zusammenhang mit einer Ausweitung und Differenzierung kommerziell angebotener Erlebnisräume (vgl. ebd.: 148). Die „hohe Autonomie der Verwendung“ (ebd.: 142) zeigt sich in einer selbstbestimmten Aufmerksamkeitssteuerung, in temporären Loslösungen von vorgegebenen Zeitrationalitäten und lebensweltlich gebundenen Handlungsmöglichkeiten. Beide Qualitätsaspekte ergänzen sich zu dem, was unter „Bewegungssouveränität“ verstanden wird. Sozialpädagogische Jugendkulturarbeit bezieht sich auf diese „jugendliche Bewegungssouveränität: den aktiven wie rezeptiven Aspekt von Bewegung und Zeitgestaltung“ (ebd.: 13f, Herv.i.O.). Und: Sie „bestimmt ihren Bezug zum jugendlichen Alltagsleben über die Frage, welche Zeitlichkeitsmuster und Bewegungsweisen inszeniert, welche Selbstbewegungen möglich, welche Fremdbewegungen erlebt werden und entwickelt Möglichkeiten zur kritischen Betrachtung derselben; sie geht aber darüber hinaus, indem sie sowohl den Erlebnis- und Gestaltungshorizont Jugendlicher zu erweitern sucht als auch andere Möglichkeiten erschließt, Bewegung – und Ruhe! – zu erleben. Sie ermöglicht durch bestimmte Formen der Werkstattarbeit ‚Differenzerfahrungen’“ (ebd.: 14, Herv.i.O.). Geschichten verstanden werden, die als Klärung der Ausgangssituation ebenso wie als sich entwickelnde Lern- und Bildungsgeschichten Menschen in der Auseinandersetzung mit ihren lebensweltlichen Verhältnissen sehen“ (ebd.: 133f). Die dafür erforderliche fallanalytische Kompetenz sucht nach den Variationen innerhalb der sprachlichen Gestaltungsformen, um daran ressourcenaktivierend ansetzen zu können (vgl. Griese/Griesenhop 2007: 74ff).
3.3 Untersuchungskategorie Zeit
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Dieser Ansatz in der Sozialpädagogik reflektiert bereits den ‚Bruch’, der zwischen einem lebensweltlich gebundenen Zeiterleben und dem Erleben ästhetischer Zeitlichkeitsmuster entsteht und der in dieser Gegenüberstellung von sozialpädagogischer und filmischer Fachlogik zunächst betont werden soll. Auch Filmereignisse spielen als Zeitobjekte eine Rolle. Da sie zeitlich verfasst sind, ist es möglich, sie „als Bewegungsweisen zu begreifen, (...) die die ‚Herstellung von Zeit’ – und damit von Erlebnissen – an das bindet, was in und zwischen Bildern geschieht“ (ebd.: 160). Im Folgenden wird dieser, wie auch weitere Aspekte, die für die Gestaltung von Zeit in dokumentarischen Filmen von Bedeutung sind, näher betrachtet. 3.3.2 Darstellung sozialen und subjektiven Zeiterlebens als filmische Gestaltungsaufgabe Ruttmann hat 1927 den Versuch unternommen, im Film das Leben oder besser das Pulsieren der Großstadt an einem gewöhnlichen Tag in der Geschichte Berlins festzuhalten. Der Film „Berlin – die Sinfonie der Großstadt“ reihte sich damit in einen „Zyklus der Großstadt-Sinfonien“ (Musser 1998a: 85) ein, dem die dokumentarische Absicht zugrunde lag, das charakteristische Bild einer Metropole auf Essenzen hin zu deuten.53 Der Film kommt dabei ohne zusätzlichen Kommentar und ohne Dialoge aus. Er wird an vielen Stellen als Beispiel dafür angeführt, wie mit genuin filmischen Mitteln eine Entsprechung für das großstädtische Zeiterleben in jener Zeit gefunden wurde (vgl. Korte 2001: 46ff, Borstnar/Pabst/Wulff 2002: 38). Im Mittelpunkt steht dabei neben der Musik als eigenständiger Ausdruckform, das Montageprinzip, das Ruttmann anwendete. Die Schnittfrequenz orientiert sich dabei an der Tageszeit, nimmt z.B. die Hektik der Rushhour oder den Stillstand der Produktionsmaschinerie zur Mittagszeit auf und steigt mit der Darstellung kommerzieller Vergnügungsformen in den Abendstunden an.54 „Trotz des Eindrucks einer stets fließenden, an- und abschwellenden Bewegung besteht der Film aber fast ausschließlich aus statischen Einstellungen, und generell sind die einzelnen Bilder oder Realitätsausschnitte an sich wenig spektakulär. Sie geben die tagtäglich erfahrenen Ansichten einer Großstadt wieder, so daß sich daraus kaum die gerade auch von den Zeitge53 Nach Musser orientiert sich Ruttmanns gesellschaftskritischer Blick auf Berlin an der Soziologie Simmels und konfrontiert die Möglichkeit zur Subjektivität mit den zugleich wirkenden Tendenzen der Entpersonalisierung (vgl. Musser 1998a: 86). 54 Eine detaillierte Analyse der Schnittfrequenz in „Berlin – die Sinfonie der Großstadt“ wurde durch Korte 1991 unternommen (vgl. auch Korte 2001: 46ff). Das Werk besteht immerhin aus 1009 Einstellungen, was einer durchschnittlichen Einstellungsdauer von nur 3,7 Sekunden entspricht (vgl. ebd.).
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung nossen wahrgenommene starke Faszinationskraft erklären läßt, die diesen gut einstündigen Dokumentarfilm in Konkurrenz zu den publikumswirksamen Spielfilmen bestehen und sogar zum Kassenschlager werden ließ. Ausgangspunkt der Analyse war daher die Vermutung, daß dafür vorrangig das zugrundeliegende Montageprinzip, die Abfolge von gegenläufigen Bewegungsrichtungen verbunden mit der rhythmischen Variation des Schnitttempos verantwortlich ist“ (Korte 2001: 47).
Die im Film vermittelte Logik des urbanen Zeiterlebens ist nicht nur ein Dokument der Lebensrealität der BewohnerInnen Berlins zu jener Zeit. Sie stellt zugleich die Voraussetzung dafür dar, ein entsprechendes Darstellungsmittel anzuwenden und als Mittel der Verständigung einzusetzen. Das heißt, nicht nur Zeitrationalität und Gegenwartserleben ändern sich, sondern zugleich erweitern sich die Methoden, diese gestaltend reflektieren zu können (vgl. Treptow 1993: 136ff, 162). Dem einführenden Filmbeispiel lassen sich bereits die drei Zeitbegriffe entnehmen, die im Folgenden eine Rolle spielen: x Die Filmzeit als quantifizierbare Zeit der Präsentation: Gesamtdauer ca. 60min.; durchschnittlichen Einstellungsdauer 3,7 Sekunden.55 x Die filmische Zeit als die im Film erzählte Zeit: ein Tag im Berlin der 1920er Jahre. x Die nichtfilmische Zeit als referentielle Zeit des filmischen Geschehens: das historische Berlin der 1920er Jahre.56 An diesen Grundbegriffen orientieren sich die folgenden Ausführungen. Sie werden sukzessive näher erläutert. Die wichtigste Überlegung dabei ist, dass aus dem Verhältnis der Zeitdimensionen zueinander filmische Dynamik (Wahrnehmungsrhythmus, Handlungsdynamik) über Zeitgestaltung entsteht.
55 Die Unterscheidung von Filmzeit und filmischer Zeit geht zurück auf die in der Erzähltheorie getroffene Unterscheidung von „Erzählzeit“ und „erzählter Zeit“ (vgl. Borstnar/Pabst/Wulff 2002: 152). 56 Der Begriff „nichtfilmisch“ wurde von Hohenberger übernommen, die die „nichtfilmische Realität“ als Bezugsrealität des Dokumentarfilms in zweierlei Hinsicht bestimmt: Erstens gibt sie in ihrer Komplexität das Reservoir an filmisch abbildbarer Realität vor – „in Auseinandersetzung mit ihr entscheidet der Filmer, was er zeigen will“ (Hohenberger 1988: 29) – und zweitens ist sie „auch die Realität, die der Produzent als mögliche Rezeptionsrealität intendiert, auf die er hinarbeitet“ (ebd.). Die nichtfilmische Realität unterscheidet Hohenberger insbesondere von der vorfilmischen Realität, die ausschließlich für den Zeitraum der Dreharbeiten Gültigkeit besitzt.
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Verhältnis von Filmzeit und filmischer Zeit – Aufmerksamkeitslenkung via Montage Das einführende Beispiel hat gezeigt, dass die Filmmontage eine zentrale Funktion in der Organisation filmischer Zeit erfüllt. So wie die Techniken der Mise en scène den filmischen Raum bei den ZuschauerInnen evozieren, erfahren reale zeitliche Verläufe eine Transformation in eine filmische Zeit. Die Montage leistet hinsichtlich dieser Umwandlung grundsätzlich immer zweierlei: „die ‚Fragmentation’ und ‚Kombination’ von Kamerablicken oder von Bild-Objekten. Dieser doppelte Aspekt von ‚Schnitt’ und ‚Montage’ kommt auch in den unterschiedlichen fremdsprachigen Begriffsbildungen (engl. cutting/editing; franz. découpage/montage) zum Ausdruck“ (Kanzog 1991: 53, Herv. i. O.). Bei Arnheim stehen Fragen der zeitlichen Manipulation im Film im Zentrum seiner Argumentation. Er erkennt darin die Ursache, warum sich Weltbild und Filmbild systematisch unterscheiden (vgl. Arnheim 1974: 35ff). Dem Film sei es im Unterschied zu jeder anderen Art der Beobachtung möglich, auf komplexe Weise mehrere in sich geschlossene Zeitverhältnisse und -abläufe zu kombinieren und dadurch Handlungen zu verschachteln, die für sich genommen einen je eigenen Zeitbezug besitzen. Er vollzieht dadurch Zeitsprünge, die die Realität nicht erlauben würde. Für den Filmtheoretiker Bazin war dies ein Grund, sich gegen die Montage auszusprechen und für die Beibehaltung zeitlicher Kontinuität und damit die Integrität der Wirklichkeit einzutreten (vgl. Peters 1999: 45f). Ähnliche Positionen sind auch in der Geschichte und Theoriebildung des Dokumentarfilms anzutreffen. Lange Einstellungen, behutsames Schwenken und distanzwahrende Kamerapositionen zur beobachteten Realität sind teilweise auch heute noch Leitbild für dokumentarisches Arbeiten. Während Arnheim und auch Bazin die Bedeutung des Schnitts im „Wegfall der raum-zeitlichen Kontinuität“ (ebd.: 35) erkannten, betonen andere Filmtheorien das mit dem Film neu entstehende zeitliche Kontinuum: die im Inneren des Films festgeschriebenen autonomen Gesetzmäßigkeiten der filmischen Zeit. Über Montage hergestellte Zeitbezüge haben also diegetische Funktion. Sie unterstützen die imaginierte Welt der Erzählung, indem filmische Einstellungen zu einem sinnstiftenden Zusammenhang kombiniert werden (Diegese). Dieser löst sich von den zeitlichen Faktoren der Materialerhebung (Dreharbeiten, Recherche) und wird in seiner Eigenständigkeit rezipiert. Die Filmzeit hingegen beinhaltet immer eine zeitliche Präsentationsstruktur, die nach Maßgabe der Echtzeit beurteilt wird. Weil längst nicht jede Einheit in gleichem Zeitumfang dargestellt ist – die Involviertheit der ZuschauerInnen gerade auch aus dem Wechsel zwischen längeren und kürzeren Einstellungslängen resultiert –, kommt der daraus entstehenden rhythmischen Ordnung eines Films
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eine bedeutungstragende Rolle zu. Der Schnittrhythmus entwickelt eine Formalspannung, die mit inhaltsbezogenen Mitteilungen und anderen formalen Gestaltungsprinzipien korrespondiert. „Dabei ist die rhythmische Montage in erster Linie eine zusätzliche Qualität der temporalen Ordnung des aufgenommenen Materials“ (Peters 1999: 43). Nach Peters wirkt sich die Rhythmisierung eines Films durch die Montage in zweifacher Hinsicht aus: „Einerseits sorgt eine rhythmische Ordnung für die Gliederung (das Maß), das Tempo, die Dauer, den Gefühlston und den Spannungsverlauf der dargestellten Ereignisse; andererseits übernimmt der Rhythmus die Funktion eines Erzählaktes, vertritt er die Aufmerksamkeit, die Abständlichkeit, die Partizipation, die Ruhe oder das Tempo, das Innehalten oder das Hingerissenwerden der erzählenden Instanz“ (ebd.).
Das Verhältnis von Filmzeit und filmischer Zeit lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Bei Betrachtung einer einzelnen Einstellung ist noch kein bedeutender Unterschied zwischen Filmzeit und filmischer Zeit erkennbar. Erst mit der Montage, indem reale Ereignisse aus ihrer Dauer und Chronologie gelöst werden, entstehen sinnstiftende Zusammenhänge zwischen beiden Zeitbezügen. Sie verhalten sich wie zwei Konstruktionsschichten zueinander, indem eine formale auf eine inhaltliche Komponente trifft und ein spezifischer Wahrnehmungsrhythmus erzeugt wird.57 Die Wahrnehmung von Inhalten wird in spezifischer Weise verzeitlicht. Dadurch wird vorgegeben, wie etwas wahrzunehmen ist. Verhältnis von filmischen und nichtfilmischen Zeitbezügen – filmischer Zeithorizont, Zeitmarken und Zeitintervalle Bisher wurde zwischen der filmischen Zeit und der Filmzeit unterschieden. Beide Zeitbezüge sind jeweils nur für den konkreten Film zu bestimmen. Im Folgenden sollen die Zeitbezüge von dokumentarischen Filmen um ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ergänzt werden: um die nichtfilmische Zeit im Sinne historischer Zeit. Diese dem Film äußerliche Zeit stellt ein wichtiges Referenzsystem für dokumentarische Filme dar, sofern sie als Dokumente einer soziohistorischen Konstellation gelten sollen. Die nichtfilmische Zeit liege jedoch keineswegs objektiv vor (vgl. Hohenberger 1988: 31ff), sondern erlangt erst in den jeweiligen gesellschaftlichen und individuellen Bezügen und in Prozessen sozialen Wandels 57 Da im Film Bedeutungen linear entstehen, ist es wichtig, die Struktur der Filmzeit – das Nacheinander der Einstellungen und Sequenzen also – analytisch nachzuvollziehen. Aus diesem Grund basieren die meisten Methoden der interpretativen Filmanalyse auf einer temporalen Analyse der Filmzeit, indem sie auf der Grundlage eines Einstellungs- bzw. Sequenzprotokolls eine bestimmte Einheit mit Bezug zu vorangestellten und nachfolgenden Einheiten untersuchen. So wird der Gesamtaufbau eines Films in erster Linie mit seiner temporalen Strukturiertheit in Verbindung gebracht.
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und individueller Entwicklung an Bedeutung. Deshalb wird sie hauptsächlich als biographische Zeit der ProtagonistInnen, als politische Zeit der Umbrüche oder als Generationenverhältnis thematisch eingeholt, d.h. in filmische Zeit übersetzt. Das Verhältnis von filmischer und nichtfilmischer Zeit ist auch dadurch bestimmt, dass alles was ein Dokumentarfilm zeigt, per se der Vergangenheit angehört, da die Dreharbeiten der Ausstrahlung des Films immer vorausgehen. Je nach Filmziel wird dies mehr oder weniger deutlich gemacht. Eine Dokumentation zum 60sten Jahrestag des Kriegsendes, betont den Abstand zwischen den Ereignissen und Heute und baut auf dem Gedanken der Historisierung auf („damals“). Eine filmische Gegenwart muss nicht etabliert werden. Anders verhält es sich mit einer filmischen Langzeitbeobachtung, die dem Konzept nach über lange Zeitstrecken (in der Regel über Jahre hinweg) Filmmaterial sicherstellt, so dass die Entwicklung in der Zeit das eigentliche Thema bildet. Durch die Vergleichsperspektive „früher-heute“ wird die filmisch definierte Gegenwart immer als Gegenwart im Unterschied zu davor liegenden Entwicklungsstationen betont, auch wenn die Fertigstellung des Films Jahre zurückliegt. Die zwei Beispiele unterscheiden sich also im Nachdruck, mit dem sie ein ‚Jetzt’ als orientierende Zeitmarke einführen, von dem aus sich ein filmischer Zeithorizont ausbreiten kann. Wo dokumentarische Filme ihre Haupterzählzeit konstituieren, kann demnach unterschiedlich sein ebenso wie der Bezug zur historischen Gegenwart (als Zeitpunkt der Filmentstehung). Abbildung 1 soll die unterschiedenen Zeitbezüge (Filmzeit, filmische Zeit, historische Zeit) dokumentarischer Filme verdeutlichen:
Abbildung 1:
Zeitbezüge dokumentarischer Filme
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
Filmischer Zeithorizont Die historische Zeit wird im Film in der filmischen Zeit aufgegriffen und in eine Gegenwart, eine Vergangenheit und eine Zukunft dimensioniert. Dazu muss eine Haupterzählzeit zumeist als Gegenwart (der Befragung, der Kamerabeobachtung etc.) definiert werden, von der aus sich relevante vergangene Zeitabschnitte und Perspektiven für die Zukunft ergeben. Möglich ist jedoch auch, dass die Haupterzählzeit in der Vergangenheit liegt und durch interviewte Zeitzeugen reaktualisiert wird. In diesem Fall ist nicht der Zeitpunkt, an dem sie befragt werden von Interesse, sondern der, auf den sich die geschichtliche Darstellung bezieht. Zeitmarken und -intervalle Hinweisgebend für eine zeitliche Struktur sind identifizierbare Zeitmarken (im Schaubild als A-D markiert), die für Veränderungen (z.B. Arbeitsplatzwechsel, Krankheitsdiagnose etc.) im gewohnten Alltag der ProtagonistInnen stehen und auf die sich der Film bezieht. Diese die Filmentwicklung strukturierenden Zeitpunkte kann der Film in unterschiedlichen Vermittlungsformen einbauen: durch Interview-Erzählungen, in Form einer Reportage als Live-Dabei-Sein, durch einen überlagerten Kommentar, der Zeitpunkte exakt benennt und einordnet, durch die Anmutung des Filmmaterials, das z.B. historische Aufnahmen als solche visuell erkennbar macht etc. Die Verweisungsmöglichkeiten zwischen den Zeitmarken, die historisch verortet sind, und ihrem Aufgreifen in einer filmischen Zeit können eine komplexe Form annehmen, insbesondere dann, wenn die filmische Entwicklung nicht chronologisch bzw. linear aufgebaut ist. Dies ist z.B. immer dann der Fall, wenn mehrere ProtagonistInnen im eigenen (biographischen) Zeitschema mit individuellen Zeitmarken eingeführt werden. Die Erzählung verändert dann mit der ProtagonistInnenerzählung auch ihren momentanen Zeitbezug. Ein Beispiel soll das verdeutlichen: In der bereits angeführten Dokumentation, „War doch nur ein Obdachloser. Wenn Kinder töten“ (Voigt 2004) umfasst die Haupterzählzeit den Zeitraum zwischen dem Ende der polizeilichen Ermittlungen bis zur gerichtlichen Verurteilung der Schuldigen. In dieser Zeit liegen die Interviews, die mit verschiedenen AkteurInnen wie etwa den ermittelnden Beamten, den Angehörigen des Getöteten oder den SchullehrerInnen der als schuldig befundenen Kinder geführt wurden. Im Gespräch mit diesen vor Ort involvierten Personen erweitert sich die Haupterzählzeit. Es entsteht ein Spektrum an subjektiv relevanten Intervallen: Das weitest gefasste Intervall wird durch die Schwestern des getöteten Obdachlosen entwickelt, die seine Biographie von der Kindheit bis ins Erwach-
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senenalter, als sich die Geschwister aus den Augen verloren haben, in Bezug setzen zu seinem kurz zurückliegenden Tod. Für die Kripobeamten spielen wiederum andere, zeitlich versetzte Marken eine Rolle, die mit der telefonischen Verständigung: „ein Toter liege im Wald“, beginnen und mit Abschluss der Ermittlungen einen Endpunkt finden. Für die befragten Lehrkräfte, wie auch für den Bürgermeister der Gemeinde beginnt die ‚Katastrophe’ erst mit dem Nachweis bzw. dem Schuldeingeständnis der verdächtigten Kinder und erstreckt sich auf eine zeitlich nicht präzise umrissene Spanne, in der die Handlungsverunsicherung und das Finden einer angemessenen professionellen Haltung hinsichtlich der schockierenden Geschehnisse thematisiert werden. Diese Zeitspanne ist mit dem Ende der Dokumentation keineswegs abgeschlossen, sondern in die Zukunft offen, so dass klar wird, dass der Totschlag nicht pragmatisch zu bewältigen ist. An diesem Beispiel soll auch klar gemacht werden, dass der Ausstrahlungsbzw. Rezeptionszeitpunkt als ein weiterer Zeitbezug des Dokumentarfilms (vgl. Abbildung 1) ebenfalls Einfluss auf die Lesart eines Films hat. Liegt er – wie im Beispiel – zwischen filmisch definierter Gegenwart und filmisch definierter Zukunft, erhöht sich die Brisanz der Thematik als zeitgenössischer Problemstellung. Bildet der Film einen in sich geschlossenen Zeithorizont ab und liegt der Rezeptionszeitpunkt außerhalb dieses Horizonts, wird das Dokument als historisches Dokument kenntlich gemacht. Dokumentarische Filme können es sich zur Stärke machen, einen an faktischen Zusammenhängen gewonnenen Einblick in historische Zeit in wiederum erlebnisbezogenen Wahrnehmungsformen zu gestalten – etwa in Tempoveränderungen, Rhythmen, kanonartigen Überlagerungen, die dann auf der Ebene der Filmzeit gestaltet sind. In Abbildung 1 ist dies durch die gepunkteten Verbindungslinien zwischen „Filmzeit“ und „Historischer Zeit“ angedeutet. Nachfolgend geht es um die entsprechenden Techniken. Erzähltechniken, um eine historische in eine filmische Zeit bzw. in Filmzeit zu transformieren Um den bislang entwickelten Bezugsrahmen zur Untersuchung von Zeit zu erweitern und zu präzisieren soll im Folgenden eine Systematik zeitlicher Erzähltechniken aufgegriffen werden, die aus der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung nach Genette (1972) stammt und die Kiener (1999) auf den Dokumentarfilm überträgt. Die Systematik unterscheidet drei temporale Haupttechniken in der Erzählung, die als „Dissonanzen zum gleichmäßigen, chronologisch-linearen Zeitablauf“ (Kiener 1999: 182) eines dem Film äußerlichen Geschehens betrach-
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tet werden: „narrative Einschübe“, „narrative Tempi“ und „narrative Frequenzen“. Sie werden im Folgenden erklärt. Unter „narrativen Einschüben“ ist die Verwendung von zeitlichen Rückgriffen und Vorschauen in Bezug auf die Anordnung von Sequenzen innerhalb der „Basiserzählung“ gemeint. Es handelt sich um Rück- bzw. Voraussprünge, die der chronologischen Erzählweise, des „und dann...“ gegenläufig sind. Sie sind in fiktiven wie auch in dokumentarischen Erzählungen anzutreffen und „führen zu Anachronien“ (ebd.: 182). Vorausgesetzt ist dabei eine Erzählgegenwart, die im Moment des Einschubs bewusst verlassen wird und von der aus sich das erwähnte spätere Ereignis („Prolepse“) wie auch das erinnerte Ereignis („Analepse“) bestimmen lassen.58 Über „narrative Tempi“ bestimmt sich die Dauer, die im Erzählakt für ein Ereignis aufgewendet wird und die im Zusammenhang steht mit einer Abwägung von Ausführlichkeit, die bestimmten Episoden inhaltlich zukommen soll. Es bestehen die folgenden Möglichkeiten in der Lenkung der Erzählgeschwindigkeit: Ein Ereignis kann zusammenfassend erzählt werden, was einer zeitlichen Raffung entspricht und ausschließlich auf wenige Eckpunkte des Geschehens rekurrieren („summary“). Ein Ereignis kann in einer ungefähren Entsprechung von Realzeit und Erzählzeit dargestellt werden, so dass Handlungsvollzüge zeitgenau registriert sind („Szene“). Lässt eine Erzählung ganze Zeitstrecken, die zwischen zwei Zeitpunkten einer Handlung liegen, aus, so wird dies mit dem Begriff der „Ellipse“ gekennzeichnet. Eine vierte Variante besteht darin, dass der Erzählfluss durch rein ausschmückende, beschreibende Details angehalten ist („Pause“) und die Aufmerksamkeit auf einer nicht näher bestimmten Nachdenklichkeit (Nachsinnen) der Figuren liegt, für die Filmzeit reserviert wird, ohne dass dadurch ein Handlungsfortschritt („und dann...“) erkennbar werden würde (vgl. ebd. 183). Anhand von einer exemplarischen Filmanalyse macht Kiener deutlich, wie sich der Einsatz von Erzähltempi auf den Inhalt auswirkt: Eine anfangs stark geraffte und durch Rückblenden charakterisierte Erzählung verändert sich in eine ausführliche Darstellung. Die Autorin gibt dazu folgende Erklärung: „Die ‚Geschichte’ wird nun interessant genug für die ‚Erzählung’. Und dies beeinflusst die Erzählgeschwindigkeit, sie wird langsamer, Szenen und Pausen herrschen vor“ (ebd.: 194). In „narrativen Frequenzen“ drückt sich schließlich die Intensität eines Ereignisses aus, indem nach der Häufigkeit seines tatsächlichen Vorkommens und der Häufigkeit seiner Wiederholung gefragt wird. Dabei können vier Möglichkeiten der Verdichtung unterschieden werden: 58
Diese zeitlichen Umschichtungen werden ferner nach ihrem Anlass unterschieden: leitet eine Interviewaussage die Rückblende ein, so ist sie subjektiv motiviert; gibt die Metaerzählung sie vor, so wird sie als objektive Analepse begriffen (vgl. ebd.: 198).
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„Es wird einmal erwähnt, was sich öfters zugetragen hat; es wird einmal erzählt, was sich ein einziges Mal ereignet hat; es wird mehrmals geschildert, was verschiedene Male vorgekommen ist; es wird mehr als einmal erzählt, was sich nur einmal zugetragen hat“ (ebd.: 183f).
Für die erste Situation ist das Eigenschaftswort „iterativ" gebräuchlich; die zweite Situation wird als „singulative“, die Dritte als „ikonische“ und die Vierte als „repetitive“ Szene bezeichnet. Was bedeutet das? „Singulative“ Szenen können den inhaltlichen Status von bedeutungsvollen Schlüsselszenen einnehmen (vgl. ebd.: 191), „ikonische“ Darstellungen können Alltäglichkeit repräsentieren und dabei Ausführlichkeit in der Darstellung betonen (vgl. ebd.: 194f) im Gegensatz zu „iterativen“ Szenen, die ein stellvertretendes Ereignis zeigen und dabei zugleich eine ganze Reihe von Fortsetzungshandlungen zusammenfassen bzw. einen Gesamtkontext markieren. „Repetitive“ Szenen können ihren Sinn schließlich darin haben, die ZuschauerInnen zur Neubetrachtung einer bereits gesehenen Szene sowie zu deren Reinterpretation auf der Grundlage des bis dahin erworbenen Wissen aufzufordern (vgl. ebd.: 199). Im Hinblick auf diese Erzähltechniken ist grundsätzlich zu unterscheiden, ob sie von einer figürlichen Erzählinstanz oder über die Montage als filmsprachlicher Erzählinstanz angewendet werden. Je nach dem wird ein anderes Verhältnis in den Blick genommen: Die Schnittfrequenz, das Schnitttempo wie auch Rückblenden setzen am Verhältnis von nichtfilmischer Zeit und Filmzeit an. Dies kann am Beispiel des eingangs beschriebenen Klassikers „Berlin – Symphonie der Großstadt“ klar gemacht werden. Die Montage reproduziert historisch vergesellschaftete Wahrnehmungsformen. Über sprachliches Erzählen – z.B. die Protagonistenerzählung (vgl. Kap. 3.4) – strukturieren diese Techniken hingegen das Verhältnis von filmischer und nichtfilmischer Zeit. Dokumentarfilmspezifische Ergänzungen Nach Kiener (1999) seien diese ursprünglich an literarischen Texten entwickelten Techniken, wenn sie auf Film übertragen werden, v.a. durch die Parallelmontage wie auch durch den Dokumentcharakter, den das Filmmaterial haben kann, zu ergänzen: Über die Parallelmontage sowie die alternierende Montage entsteht eine Simultanstruktur als besondere filmische Strukturierung von Zeit.
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung „Das alternierende Syntagma ist dem parallelen Syntagma sehr ähnlich, abgesehen davon, daß das parallele Syntagma zwei verschiedene Szenen oder Sequenzen anbietet, die durch die Erzählung nicht verbunden sind, während das alternierende Syntagma parallele oder alternierende Elemente anbietet, die verbunden sind. Die Wirkung ist hierbei Gleichzeitigkeit, wie in Verfolgungsszenen, in denen die Montage zwischen Aufnahmen von Verfolger und Verfolgtem wechselt“ (Monaco 2000: 224 mit Bezug auf Metz 1972).
Kiener ergänzt deshalb die Parallelmontage als „Methode der elegant verwischten, zeitlichen Straffung“ bzw. der „impliziten Ellipse“ (Kiener 1999: 194f), die inhaltlich die Gleichzeitigkeit von Handlungen an unterschiedlichen Orten betont. Auch über das Filmmaterial können Zeitbezüge hergestellt werden: „Allein die starke Körnigkeit des Materials, sein geringer Kontrastumfang, die fehlende Schärfe, die fehlende Farbe oder die verfälschte Farbe – alles technische Bestimmungen – werden beim Filmschauen sofort temporal interpretiert. Archivbilder enthalten im Vergleich zu neuem Bildmaterial den Ausdruck der Vorzeitigkeit“ (ebd.: 199).
Eine Erweiterung scheint mir ferner für den als „Pause“ bezeichneten Narrationstempus sinnvoll: Das Prinzip der „Pause“ ist bezogen auf den Dokumentarfilm nicht als Stillstand aller filmischen Bewegung in einem technischen Sinn zu begreifen, sondern vornehmlich in Interviewpassagen oder Nebenhandlungen anzutreffen, die Personen oder Kontexte charakterisieren. „Man kann also sagen, daß in den Interviews zur Kamera mit kommentierendem und resümierendem Charakter eine Pause insofern gegeben ist, als die Zeit nur auf der Ebene des Äußerungsaktes (des Erzählens, Redens, Gestikulierens) verstreicht, während die eigentliche Handlung an dem Punkt wieder aufgenommen werden kann, wo sie verlassen wurde“ (ebd.: 196).
In dieser Hinsicht muss der Interpretationsrahmen zur temporalen Analyse des Dokumentarfilms m.E. zumindest mikrostrukturell um die Zeitbezüge, auf die sich die Interviewaussagen beziehen, erweitert werden. Auf die Frage: „Und was geschah dann?“ geben resümierende Einschätzungen und ausschmückende Kommentare zwar keine Antwort. Jedoch können auch solchen Statements unterschiedliche zeitliche Perspektiven hinterlegt sein. Wieder am Filmbeispiel „War doch nur ein Obdachloser“ soll dies verdeutlicht werden: Im Film bilanzieren unterschiedliche Figuren die Tat. Dabei macht es einen Unterschied, ob ein Schulleiter zukunftsbezogen die Tat der Kinder resümiert und damit als Pädagoge seinem Handlungsauftrag gemäß ihre prospektiven Entwicklungsmöglichkeiten im Blick behält oder ob ein Kripobeamter seiner Aufgabe entsprechend (nämlich die Kinder als Täter zu überführen) den Tathergang retrospektiv kommentiert. Im Begriff der „Pause“, der erzähltheoretisch für beide Statements zutreffen würde, werden weder die Zukunftsorientierung des Pädagogen, noch die Vergangenheitsorientierung des Ermittlers berücksichtigt. Beide Zeitbezüge fär-
3.3 Untersuchungskategorie Zeit
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ben aber das Ausgangsereignis auf je unterschiedliche Weise und zeigen Konsequenzen auf unterschiedlichen Ebenen an. Für dokumentarische Filme, die hauptsächlich aus der Aufeinanderfolge von ‚Talking-Heads’ bestehen und die durch einen überwiegend beschreibenden und reflektierenden Charakter als nur schwach narrativ einzustufen sind (vgl. ebd.: 146), gilt dieser Einwand im Besonderen. Ein Hauptargument, die „Pause“ nicht als solche zu werten, liegt aber darin, dass aus sozialwissenschaftlicher Perspektive gerade das Verhältnis von subjektiv empfundener Zeit und offizieller Zeitschreibung besonders aufschlussreich ist. Das zeigt die soziologisch orientierte Biographieforschung nach Schütze (vgl. Schütze 1983). Im Folgenden sollen die bisher erarbeiteten Möglichkeiten zur temporalen Analyse um Erkenntnisse aus der soziologisch orientierten Biographieanalyse nach Schütze erweitert werden. Damit wird für die Kategorie Zeit eine erste gemeinsame Bedeutungsschicht (vgl. Kap. 3.5) zwischen sozialpädagogischem und filmischem Begriffsverständnis entwickelt. Prozessstrukturen als Ausdruck subjektiven Zeiterlebens Kieners Systematik liefert ein rein deskriptives Schema zur Analyse von Erzähltechniken im Modus der Zeit. Sie zeigt, wie durch die Manipulation von Realzeit in einer kalkulierten Struktur ein neues Erscheinungsbild historischer Zeit gestaltet wird. Welche Bedeutung allerdings in einer solchen temporalen Neuordnung liegt, ist noch weitgehend offen. Mit Bezug auf die Biographieforschung kann diese Bedeutung als filmischer Ausdruck subjektiven Zeiterlebens der ProtagonistInnen beschrieben werden. Schützes analytische Kategorien zu Prozessstrukturen des Lebenslaufs werden deswegen herangezogen, weil sie erstens darauf gründen, dass „die biographischen Deutungsmuster und Interpretationen des Biographieträgers nur im Zusammenhang mit seiner rekonstruierten Lebensgeschichte interessieren“ und nicht jenseits dieses Zusammenhangs (Schütze 1983: 284). Die Analyseschritte oszillieren daher zwischen den faktischen Abschnitten der Lebensgeschichte und den „inneren Reaktionen“ darauf wie auch deren „interpretativer Verarbeitung in Deutungsmustern“ (ebd.: 286). Erst durch die Kenntnis dieses Zusammenhangs kann die Bestimmtheit von Lebenssituationen hinreichend geklärt werden. Auch hier geht es also um das Verhältnis zweier Zeitbegriffe – biographische und soziale Zeit. Der für dokumentarische Filme konstitutive Zusammenhang zwischen filmischer und nichtfilmischer Zeit ist insofern vergleichbar mit der in der Biographieforschung relevanten „Unterscheidung von erzähltem und erlebtem Leben“ (Rosenthal/Fischer-Rosenthal 200: 460).
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Zweitens wird Schützes narrationsanalytisches Konzept aufgegriffen, weil darin der zeitlichen Ordnung, wie sie die Biographieträger durch so genannte „Rahmenschaltelemente“ herstellen, ein dezidiertes Interesse gilt. Untersucht wird „die sequentielle Struktur der Lebensgeschichte“ ebenso wie „die interne Abfolge von äußeren und inneren Ereignissen und Zuständen zwischen dem Anfangs- und dem Endpunkt“ (Schütze 1983: 284).59 Unterschieden werden vier erfahrungsdominante Prozessstrukturen, die in biographischen Selbstthematisierungen ein Rolle spielen können: Lebenssituationen können primär institutionell bestimmt erfahren werden, durch Ereignisverstrickungen erlitten werden (Verlaufskurve), durch biographische Wandlungen beeinflusst oder auch Ergebnis einer intendierten Handlungsstrategie sein (vgl. ebd.). Die jeweilige Prozessstruktur erschließt sich ausgehend von der formalen, sequenzbildenden Gestaltung des Narrationsinhalts durch den Biographieträger. Schütze geht es mit dem narrationsanalytischen Ansatz also auch darum, subjekttheoretische Erklärungen für Handlungsmöglichkeiten, die sich aus den bislang aufgeschichteten Lebenserfahrungen in den Dimensionen dieser Prozessstrukturen ergeben, zu finden. Die Idee ist nun, diese vier Grundbestimmungen, wie Zeit erfahren werden kann, auf filmische Zeitgestaltung zu übertragen. Die Rede ist dann von filmischen Prozessstrukturen. Um diese Perspektive einzunehmen, muss zunächst die Ebene geklärt werden: Handelt es sich um einen Film, in dem die ProtagonistInnen in starkem Maß sich selbst thematisieren, so kann die Analyseperspektive direkt auf die in aller Regel montierten Aussagen der ProtagonistInnen angewendet werden. Allerdings gilt die Einschränkung, dass weder die Vollständigkeit noch der Verzicht auf die Gesprächslenkung eingehalten sind, die für die Interviewführung im Rahmen dieses Forschungsansatzes nach Schütze vorgegeben sind. Eine weitere Übertragungsmöglichkeit fokussiert nicht einzelne ProtagonistInnen sondern die filmische Erzählung insgesamt: Gefragt wird, wie sich der jeweilige Dokumentarfilm auf Ereignisverkettungen in einer historischen Zeit bezieht, diese arrangiert und dem Film dadurch als soziohistorischem Dokument Bedeutung gibt. Das heißt, die von Schütze unterschiedenen lebensgeschichtlichen Prozessstrukturen, die einen unterschiedlichen Grad von Handlungssouveränität (Intentionalität, Innen- vs. Außensteuerung, Handlungsfähigkeit vs. Lei59
Im Unterschied zu Schützes Untersuchungsgegenstand steht bei der Analyse von dokumentarischen Filmen nicht die „Stegreiferzählung“ im Mittelpunkt, in der sich die Sequenzierung einer Lebensgeschichte realisiert. Von Interesse ist das vermittlungsorientierte Erzählen in Filmen, das wesentlich stärker auf die Wahl von Darstellungsmitteln durchdacht ist. Folglich organisiert der Dokumentarfilm Kommunikation, um diese zu strukturieren bzw. in strukturierter Weise wiederzugeben. Die Biographieforschung organisiert demgegenüber Kommunikation, um in den Aussagen des Biographieträgers Strukturen zu erkennen, genauer: „erfahrungsdominante Prozessstrukturen, die einzelne Lebensabschnitte“ prägen (ebd.: 286).
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densprozesse) implizieren, können dazu verwendet werden, die Tendenz eines dokumentarischen Films in der Darstellung zukünftiger Lebensoptionen von ProtagonistInnen zu untersuchen. Analysiert werden die Hintergrundkonstruktionen, die der Dokumentarfilm zum Verständnis sozialer Praxis anbietet. Organisiert der Film eine Verlaufskurvendynamik, werden die ProtagonistInnen als von äußerlichen Umständen ‚getrieben’ veranschaulicht: „Verlaufskurven (stehen) für das Prinzip des Getriebenwerdens durch sozialstrukturelle und äußerlichschicksalhafte Bedingungen der Existenz“ (ebd.: 288). Kombiniert der Film diese Verlaufskurvendynamik mit einem parallelen biographischen (souveränen) Handlungsschema, so ist dadurch filmintern eine Kontroverse und unauflösbare Spannung angelegt. Unter dieser analytischen Perspektive kann z.B. die Dokumentation „Vorwurf Kindesverwahrlosung“ (Plogstedt, WDR 2004, Filmkorpus) gedeutet werden: Während das Ehepaar Schmitz, Eltern von 13 Kindern, ein gewolltes Familienmodell zum Ausdruck bringt und Frau Schmitz den Wunsch nach vielen Kindern biographisch – ausgehend von der eigenen Erfahrung als Heimkind – begründet, gerät das Ehepaar unter den Verdacht der planlosen Familienerweiterung und einer damit einhergehenden unzureichenden Sorgfalt in der Erziehung ihrer 13 Kinder. Die Fremdinterpretationen der Familiengeschichte zeichnen also ein gegenläufiges Handlungspotenzial: „Sie hätten die Situation, in die sich die Eheleute manövriert haben, nicht mehr im Griff“. So wird die Lage durch das nachbarschaftliche Umfeld interpretiert. „Man kennt solche Verläufe doch – aus den Kindern kann nichts besseres werden als Sozialhilfeempfänger, für die die Gemeinschaft künftig aufkommen muss“, äußert sich eine Nachbarin skeptisch. Die Verlaufskurvendynamik wird auch von institutioneller Seite aus, durch eine Vertreterin des Jugendamts, bekräftigt. Die kognitive Entwicklung der Kinder sei in diesem Umfeld beeinträchtigt, was sich am retardierten Sprachvermögen einer 12jährigen Tochter zeige. Was ist zu tun? Diese Frage mutet der Film schließlich dem Publikum zu, das in der Ambivalenz zwischen dem Recht aus Selbstbestimmung der Eheleute und dem von Rechtswegen angezeigten Interventionsbedarf durch ein professionelles Hilfesystem hin und her gerissen ist und schließlich selbst zu einem Urteil kommen muss. Formal betrachtet resultiert diese Ambivalenz gerade aus dem Gegeneinanderstellen von Prozessstrukturen, die in dem Fall nicht die Vergangenheit erklären, sondern auf die Zukunft ausgerichtet sind. Mit dieser Ergänzung der temporalen Erzähltechniken werden schließlich gegenläufige Beurteilungen von Handlungspotenzial – v.a. in der Opposition zwischen Verlaufskurvendynamik und biographischem Handlungsschema – in der Verquickung von mehreren zeitlichen Relevanzstrukturen gestaltbar.
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3.3.3 Bedeutung und Anwendungsperspektive Abbildung 2 stellt die bisher entwickelten Grundbegrifflichkeiten in drei Begriffspaaren einander gegenüber. Die Idee dabei ist, dass die Begriffe für lebensweltlichen Erfahrungsdimensionen und für die Zeitbezüge des dokumentarischen Filmes miteinander verglichen werden können: Nichtfilmische Zeit bildet ein Reservoir für den Film. Es ist die Zeit, auf die er sich bezieht und die er in seinen Darstellungsweisen ‚durchscheinen’ lässt (z.B. das ‚Pulsieren’ der Großstadt in den 20ern). Dies leistet er in der Gestaltung der erzählten Zeit (durch Selektion), aber auch durch die Strukturierung der Filmzeit (als über Schnittfrequenzen gesteuerte Aufmerksamkeit für die erzählte Zeit). Lebensweltliche Erfahrungsdimensionen sind ebenso in Verhältnissen zu begreifen. Indem soziale und subjektive Zeit in ihrer Bedeutung auseinander treten und soziale Zeit keine eindeutigen Maßstäbe vorgibt, sondern in biographischer Arbeit auf individuelle Möglichkeiten gedeutet wird, stellt auch soziale Zeit ein Reservoir für biographisch bearbeitete Zeit dar. Zeit im eigenen Verfügungsbereich (biographische Zeit) strukturiert sich schließlich auch durch technisch-ästhetisch induzierte Zustandsveränderungen (Zeitobjekte), die z.B. als Filmereignisse erlebt werden. In der Zuwendung zu solchen vergegenständlichten ‚Zeitereignissen’ liegt eine Strukturierung von Gegenwartserleben.
Abbildung 2:
Gegenüberstellung der Arbeitsbegriffe zur Kategorie Zeit
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Die Bedeutung der Zeitgestaltungsmodi von dokumentarischen Filmen liegt nun darin, dass sie soziales und subjektives Zeiterleben darstellen können. Aus den bisherigen Überlegungen ergeben sich zwei Möglichkeiten dafür: x Schnittfrequenzen steuern die Aufmerksamkeit. Der entstehende Wahrnehmungsrhythmus wird sozial gedeutet: als Pendant zum Gegenwartserleben der ZuschauerInnen oder als situative Erfahrung der FilmemacherIn im Moment der Aufnahme (vgl. Kap. 2.2). x Erzählte Zeit verdeutlicht soziale und subjektive Zeitbezüge der ProtagonistInnen: Es werden z.B. subjektiv bedeutungsvolle Zeithorizonte abgesteckt. Die Gestaltung filmischer Prozessstrukturen macht Varianzen in der Erfahrung von sozialer Zeit erkennbar. Anwendungsperspektive Aus den Überlegungen zur Kategorie ‚Zeit’ lassen sich nun mehrere Teilperspektiven und Fragen für eine zeitbezogene Filmanalyse ableiten. Im Hinblick auf die Gestaltung der Filmzeit interessieren die beiden folgenden Aspekte: x Sequenzielle Analyse des Gesamtaufbaus: Mit Hilfe von quantifizierenden Untersuchungsverfahren sind die zeitliche Präsentationsstruktur des Films wie auch filminterne Veränderungsverläufe in der temporalen Gestaltung zu ermitteln (vgl. Kap. 4.2.2). x Montage als eigenständiger Ausdruck: Weiter ist zu klären, inwieweit das Arrangieren von Zeit zu einer rhythmischen Ordnung als eigenständige Aussage zu werten ist, d.h. nicht ausschließlich inhaltsunterstützend wirkt, sondern sich als eigendynamische Erlebnisform entfaltet. Im Hinblick auf das Verhältnis von historischer und filmischer Zeit erscheinen die folgenden drei Punkte aufschlussreich: x Identifizieren des filmischen Zeithorizonts: Da die filmische Zeit einen Ausschnitt aus der historischen Zeit bildet, ist nach den Begrenzungen und Auslassungen in der Gegenwart, der Zukunft und der Vergangenheit zu fragen. So kann der Zeithorizont, der überhaupt nur relevant für die filmische Handlung ist, ermittelt werden. Interessant sind auch die Hinweise, über die soziale Zeit in der filmischen Zeit charakterisiert ist. x Rekonstruktion von Zeitmarken: Zeitmarken bilden gewissermaßen das Gerüst eines dokumentarischen Films in Bezug auf den historischen Zeitabschnitt und seine interne Strukturierung. Durch Zeitmarken werden die In-
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halte in eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft dimensioniert. Von Interesse ist, welche Zeitmarken nach welchen Kriterien jeweils ‚gesetzt’ werden.60 Die Rekonstruktion der angewendeten Erzähltechniken kann hier weiterführend sein. Rekonstruktion von Veränderungen und Prozessstrukturen: Worin bestehen die filmisch behaupteten Veränderungsprozesse? Wie werden sie subjektiv von den ProtagonistInnen bilanziert? Wie werden sie durch filmisch gestaltete Prozessstrukturen kommentiert? Diese Frageperspektiven bilden schließlich einen weiteren zeitbezogenen Untersuchungskomplex.
Nun zur dritten und letzten Untersuchungskategorie. Das Hauptaugenmerk gilt hier den personellen Strukturierungsformen in dokumentarischen Filmen. 3.4 Untersuchungskategorie ProtagonistIn Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf die Beziehungen von Subjekt und Umwelt. Zunächst werden diese Beziehungen in sozialpädagogischer Perspektive als Gestaltung von Erziehungsverhältnissen und sozialpädagogischen Unterstützungsbeziehungen entwickelt, die ihr Ziel immer in der Ermöglichung von Subjektivität haben. Dabei wird auf verschiedene Bedeutungsfacetten von Subjektivität abgehoben: Subjektivität im Rahmen von Sozialität, Identität als Selbstthematisierung des Subjekts, AkteurIn als handlungsmächtiges Subjekt (Kap. 3.4.1). Das Stichwort Subjektivität wird dann im Kontext der filmischen Gestaltung aufgegriffen. Es werden zunächst Unterscheidungsmöglichkeiten der personalen Strukturierungsformen in dokumentarischen Filmen entwickelt. Konkret werden Figuren und ProtagonistInnen differenziert und ein Konzept der filmischen ProtagonistIn erarbeitet. Auf dieser Grundlage wird dann das Verhältnis von ProtagonistInnen zu ihrer Umwelt typisiert. In einer weiteren Überlegung wird auf das Konzept des konjunktiven Erfahrungsraums eingegangen, mit dem erklärt werden kann, wie für filmische ProtagonistInnen unabhängig von ihrer besonderen Situation Verständnis erzeugt werden kann (Kap. 3.4.2). Im Anschluss daran wird die filmanalytische Bedeutung, auf die diese Argumentationslinie hinausläuft, veranschaulicht und eine Anwendungsperspektive formuliert (Kap. 3.4.3).
60
Hilfreich erscheint hierzu Kieners Einteilung in Zeitphasen (vgl. Kiener 1999: 190). Die Chronologie der realen Ereignisse wird rekonstruiert und in Phasen eingeteilt. Diese historisch geordnete zeitliche Linie wird dann mit der in der Filmerzählung realisierten Sequenzabfolge verglichen.
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3.4.1 Gestaltung sozialer Beziehungen zur Ermöglichung von Subjektivität Soziale Beziehungen werden im Rahmen sozialpädagogischer Theoriebildung, ähnlich wie auch die Behandlung von Zeit (als biographischer Zeit) und Raum (als Aneignungsmöglichkeit), abhängig von einem organisierenden Subjekt thematisiert. Besonders deutlich wird dies an zwei zentralen Theoriebegriffen, die die Beziehungen des Subjekts fokussieren: Sozialisation und Generation. Mehr noch als im Fall von Raum und Zeit beansprucht der Begriff der sozialen Beziehung jedoch den Subjektbegriff, gerade auch um sozialpädagogische Beziehungsformen von unreflektierten Statusgefällen und herabsetzenden Zuschreibungsmechanismen (etwa zwischen Helfermacht und Hilfsbedürftigkeit) auszunehmen. In der Konsequenz heißt das, dass ‚In-Beziehung-Sein’ und ‚SubjektSein’ im Fachdiskurs als kaum trennbare Perspektiven erscheinen. Zunächst ein theoretischer Zugang, der dies verdeutlicht. Postmoderne Subjektkonstruktionen und narrative Identität Aktuelle sozialwissenschaftliche Subjekttheorien (vgl. zusammenfassend Keupp/ Hohl 2006) gehen teilweise davon aus, das Subjektsein im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Prozessen des gesellschaftlichen Strukturwandels nicht als statische Gegebenheit, sondern als eine prozesshafte Entwicklung angesehen werden müsse. So entwickeln Keupp und Hohl folgende These: „Unter den Bedingungen der modernisierten bzw. reflexiven Moderne ist eine Veränderung nicht nur der institutionellen Strukturen, sondern auch der Handlungs- und Subjektkonzeptionen zu erwarten. Wie diese Veränderungen aussehen, ist umstritten, aber ein Subjektkonzept, in dessen Zentrum das moderne, autonome ‚Kernsubjekt’ steht, reicht zur Erklärung der Phänomene reflexiver Modernisierung auf der Akteursebene sicher nicht mehr aus“ (Keupp/Hohl 2006: 9). Infolgedessen wird eine epochenspezifische Sichtweise auf das Subjekt und Subjektivität plausibel, die heute in Richtung einer „Dezentrierung“ geht, d.h. mit „Konzepten wie Kontingenz, Diskontinuität, Fragmentierung, Bruch und Reflexivität“ in Verbindung gebracht wird (ebd.: 15, vgl. Maurer 1996: 103ff). Dies hat Auswirkungen auf die Identität von Subjekten, insbesondere auf eine erfahrungsbasierte Identität, die sich nicht über vereindeutigende Zuschreibung, sondern aus der Erfahrung „wechselnder Selbstverhältnisse“ politisch konstituiert (Maurer 2001: 382). An die Stelle einer widerspruchsfreien, ausschließlichen Identität treten Diversifikation bzw. individuelle „identitätspolitische Strategien“ (ebd.). Identität wird von Keupp als „innere Selbstthematisierung des Subjekts“ (Keupp 2001: 805) gefasst. Diese entwickelt sich zunehmend auch zu einer „narrativen Identität“
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(Lucius-Hoene/Deppermann 2004), also einer ins Außen verlagerten Absicherung von Identitätsentwürfen. Vor diesem Hintergrund sind gerade soziale Beziehungen als Bezugspunkte für soziale Verortung und für die Entfaltung von Identität bedeutend. Sozialpädagogische Anforderungen an die Gestaltung von sozialen Beziehungen „Das Subjekt der Pädagogik“ konstituiert sich im Unterschied zum Subjektbegriff anderer Disziplinen ausgehend von der Frage nach seiner Bildsamkeit und der Idee eines „Lern- und Bildungsprozesses in Kommunikation mit anderen“ (Maurer 1996: 116). Die enge Verwobenheit des Subjektbegriffs mit dem Begriff des Sozialen im Rahmen sozialpädagogischer Fachdiskurse machen Maurer wie auch Hamburger an Winklers „Theorie der Sozialpädagogik“ (1988) deutlich: „Die Pädagogik der Moderne verwendet den Subjektbegriff, weil sie die Notwendigkeit von Erziehung mit dem Ziel der Ermöglichung von Subjektivität begründet“ (Hamburger 2008: 123). Subjektivität als „Sprach-, Handlungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit“ (Peuckert/Scherr 2003: 320) einer Person gründet demnach auf dem erzieherischen Einwirken durch andere Personen im Rahmen sozialer Beziehungen. Erst in diesem Beziehungsgeflecht wird die Aneignung der sozialen Welt für das Bildungssubjekt möglich: „Das Subjekt bezieht sich auf die es umgebende Welt reflektierend und gewinnt eine Vorstellung von sich selbst, dadurch dass es sich selbst der Welt entgegenstellt. Es kann sich einerseits aus seinen sozialen Beziehungen nicht wirklich herauslösen, (...) andererseits macht sich das Subjekt die Welt bewusst von seinem eigenen Standpunkt aus, der von allen anderen Standpunkten unterschieden ist. Weil es sich hier aber nicht nur um Denken, Bewusstwerden und Erfahrung handelt, sondern weil das Verhältnis zur Welt in seiner Gesamtheit das Handeln des Menschen ausmacht, geht es um die Aneignung der Welt durch das Subjekt“ (Hamburger 2008: 123f, Herv. i.O.).
Die spezifische Aufgabe der Sozialpädagogik bezieht sich auf Aneignungsprobleme, die nicht durch Suchbewegungen und Selbstkorrektur der Bildungssubjekte behoben werden können, so dass Subjektivität im Aneignungshandeln grundlegend gefährdet ist (vgl. ebd.: 125). Erziehung und auch sozialpädagogische Unterstützung werden in sozialen Beziehungsformen realisiert, die besondere Anforderungen zu berücksichtigen haben: „Das Modell des Sozialen, an dem sich die subjektivitätstheoretische Fassung der Sozialpädagogik orientiert, wird an den Grundbestimmungen des sozialpädagogischen Handelns noch einmal deutlich: Die Anerkennung der Adressaten als Subjekte macht sie gleich, die Anerkennung in ihrer Subjektivität begründet ihre individuelle Einmaligkeit. Gleichheit und Differenz sind konstitutiv für das Soziale“ (ebd.: 127).
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Der Kerngedanke, der aus dieser hier nur rudimentär dargestellten Theorie gewonnen werden kann, besteht in diesen Anforderungen an soziale Beziehungen: Subjektivität kann demnach als ein Modus in sozialen Beziehungen angesehen werden, der den Umgang mit Differenz verlangt. Subjekt-Sein als Statuseigenschaft von Menschen, die zueinander in Beziehung stehen, verlangt hingegen Gleichheit im Sinne von Gleichstellung und Mitbestimmung. Erst unter Berücksichtigung dieser beiden Facetten kann sich in sozialen Beziehungen die Freiheit des Subjekts realisieren (vgl. ebd.: 124). Aus diesem theoretischen Zusammenhang ergibt sich die Bedeutung sozialer Beziehungen für das Subjekt. Sie stellen eine Ermöglichungsstruktur von Subjektivität dar. Exemplarische Konzeptionen von Erziehungs- und Hilfebeziehungen Soziale Beziehungen sind erstens Voraussetzung, Bedingung und Umstand des Aufwachsens und zweitens Arbeitsgrundlage in Hilfe- und Unterstützungsprozessen im Rahmen von Jugendhilfe. Die erste Bedeutungskomponente kann exemplarisch am Begriff „Generationenbeziehung“ verdeutlicht werden, auf den auch im Rahmen filmischer Personenkonstellationen zurückzukommen sein wird. Die zweite wird am Begriff des sozialpädagogischen „Arbeitsbündnisses“ darlegt. Der Begriff „Generationenbeziehung“ meint die Beziehungen der Generationen untereinander. „Es geht in den Generationenbeziehungen zwischen Eltern und Kindern und – allgemeiner – zwischen Älteren und Jüngeren um eine natürliche Voraussetzung des Lebens und zugleich um ein Element der Entwicklung von Person und Gesellschaft sowie deren wechselseitige Bedingtheit“ (Lüscher/Liegle 2003: 238). Die Entwicklungsfähigkeit von Individuen wird demzufolge an die anthropologische Voraussetzung der Koexistenz von mindestens zwei Generationen gebunden, die sich in ihren sozialen und gesellschaftlichen Möglichkeiten unterscheiden. Lüscher und Liegle schlagen für diese durch Differenzen gekennzeichnete Erziehungsbeziehung das Konzept der Ambivalenz vor, um die Dynamik zwischen den Generationen in all ihren Muster bildenden Aspekten untersuchen zu können. Es erfasst Generationenbeziehungen in ihrer Regelhaftigkeit und berücksichtigt sowohl antagonistische (Generationenkonflikte) wie auch unterstützende Aspekte (Generationensolidarität). „Von Ambivalenzen soll dann gesprochen werden, wenn gleichzeitige Gegensätze des Fühlens, Denkens, Wollens, Handelns und der Beziehungsgestaltung, die für die Konstitution individueller und kollektiver Identitäten relevant sind, zeitweise oder dauernd als unlösbar interpretiert werden“ (ebd.: 288). In der Analyse, aber auch der Gestaltung von Generationenbeziehungen spielt daher der Umgang mit Ambivalenzen, die lebenspraktisch erfahren werden, eine herausragende Rolle (vgl. ebd.: 305f).
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Prinzipiell gelten diese Überlegungen auch für die berufsförmigen sozialen Beziehungsformen zwischen Fachkräften und AdressatInnen der Jugendhilfe. Ihre Interaktionen sind grundsätzlich durch ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Generationen charakterisiert. Darüber hinaus erfordern sozialpädagogische Interaktionsverhältnisse im Besonderen, die Situation und den Subjektstatus der adressierten Personen zu reflektieren und in der Beziehungsgestaltung zu berücksichtigen. Dies kann z.B. am Begriff des Arbeitsbündnisses nachvollzogen werden. Die notwendige Konstitution der Arbeitsbeziehung zwischen Fachkraft und AdressatIn im Fallbezug wird von Müller (1991) als Arbeitsbündnis präzisiert. Sie ist keine gegebene Voraussetzung sondern muss mit dem Sachbezug des Falls und der Zuständigkeitsbegrenzung im gemeinsamen Handeln geklärt werden (vgl. Müller 2001: 1201). Die Fachlichkeit einer solchen Arbeitsbeziehung liegt also gerade nicht in einem expertokratischen Zuständigkeitsmodell, das von vorneherein Person und Problem trennt, sondern in einem Klärungsprozess, der die adressierte Person aktiv mit einbezieht, ihre Subjektivität dabei nicht eliminiert, stattdessen „die Fähigkeit, das eigene Nichtverstehen und die Fremdheit des Gegenübers nicht zuzudecken, sondern auszuhalten“ zeigt (Müller 1991: 88). Es handelt sich dabei um ein Rahmenmodell, das die „Kooperation und Koproduktion mit den Adressaten in den Mittelpunkt“ rückt (Müller 2001: 1201). Wie eingangs angeführt geht es in sozialpädagogischen Beziehungsformen und somit auch bei Arbeitsbündnissen um die Berücksichtigung von Differenz und Gleichheit, was in den beiden angeführten Zitaten von Müller noch einmal deutlich zum Ausdruck kommt. „Nutzer“ und „Akteur“ – Betonung des Subjektstatus von AdressatInnen sozialer Hilfen Auf kategorialer Ebene führt die Reflexion von sozialpädagogischen Arbeitsbeziehungen bzw. von „Erbringungskontexten“ auch immer wieder dazu, den Subjektstatus sozialpädagogischer AdressatInnen begrifflich zu fixieren. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen: Mit dem Begriff der NutzerIn wird der „Gebrauchswert“ sozialpädagogischer Angebote für die AdressatInnen fokussiert. „Ihren theoretisch-konzeptionellen Ausgangspunkt nimmt sie [die sozialpädagogische Nutzerforschung, C.F.] von dienstleistungstheoretischen Grundannahmen mit der Kategorie der aktiven Aneignung durch die NutzerInnen als Kern“ (Oelerich/Schaarschuch 2006: 210). Eine ähnliche Wendung ist auch in der Betonung des BürgerInnenstatus der AdressatInnen anstatt ihres KlientInnenstatus zu erkennen (vgl. Böhnisch/ Schröer/Thiersch 2005: 223). In einer zivilgesellschaftlichen Perspektive werden
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so Selbstzuständigkeit und Selbstorganisationspotenzial als soziale und politische Elemente der Mitgestaltung am Sozialen anstatt eines Anspruchs auf Schutz in einem Unterordnungsverhältnis hervorgehoben (vgl. Hamburger 2008: 84). Für diese aktive Rolle wird neuerdings der Begriff des Akteurs (als Neuperspektivierung einer kritischen Adressatenorientierung) vorgeschlagen (vgl. Homfeldt/ Schröer/Schweppe 2008). Die Anregung einer begrifflichen Neufassung: ‚Vom Adressaten zum Akteur’ „ist somit der Beobachtung geschuldet, dass gegenwärtig in vielen praktischen und theoretischen Konzepten der Sozialen Arbeit und zudem in der Sozialpolitik einerseits immer wieder von einer Adressatenorientierung die Rede ist, andererseits die damit grundlegend verbundene Perspektive einer systematischen Begründung der Handlungsoptionen der betroffenen Akteure aber kaum differenziert entwickelt ist“ (ebd.: 7).
Anstelle der Definition von Zielgruppen, die immer ausgehend von einer Angebotslogik und damit von „sozialstaatlichen Institutionalisierungsprozessen“ erfolgt, sollen unter Bezug auf das „soziale Phänomen agency“, zunächst die Voraussetzungen der „Handlungsmächtigkeit der Akteure in ihrem sozialen Umfeld“ Beachtung finden. Entsprechend sind „soziale Konstellationen, soziale Netzwerke und Übergangskonstellationen, allgemein soziale Prozesse der Stärkung der Handlungsmächtigkeit“ in den Blick zu nehmen (ebd.: 8). Eine zentrale Anforderung für die Jugendhilfe und ihre Forschung liege schließlich in einem ausbalancierten Subjektbezug, der sowohl die Handlungspotenziale wie auch das subjektive Angewiesensein auf Unterstützung in der Grundierung einer Arbeitsbeziehung bzw. in der Erforschung von lebensweltlichen Bezügen berücksichtigt (vgl. Stauber/Kaschuba 2006). Beim Begriff der AkteurIn angelangt, soll der Rahmen nun gewechselt werden und im Gestaltungsbereich dokumentarischer Filme mit dem konzeptionell ähnlichen Begriff der ‚ProtagonistIn’ weitergemacht werden. 3.4.2 Konstruktion von Subjektivität und Fensterblicke auf Lebenswelten in dokumentarischen Filmen Gefragt wird zunächst nach der Bedeutung, die im Auftreten von ProtagonistInnen in dokumentarischen Filmen liegt, und nach der Gestaltungsaufgabe, die damit verbunden ist. Die Frage nach der Gestaltungsperspektive scheint erklärungsbedürftig. Leuchtet es bei räumlichen Aspekten unmittelbar ein, dass Film hier modulierend und selektierend vorgeht ebenso wie er Zeitverläufe pointiert, so scheint es doch fragwürdig, inwieweit auf ProtagonistInnen als ‚aus dem Leben gegriffenen’ Personen im dokumentarischen Arbeiten gestaltend Einfluss genommen wird. Was für den Spielfilm gilt, schließt sich für den Dokumentar-
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film auf den ersten Blick aus. So findet sich in klassischen Untersuchungsmethoden von Spielfilmen z.B. bei Faulstich die Untersuchungskategorie „Charaktere“. Sie zielt darauf, die Konstellationen der Hauptfiguren, ihre jeweilige Charakterisierung, Rollenmuster und Typisierungen und Figurenwandlungen zu bestimmen, v.a. aber auch die Bedeutung in der Besetzung der Rollen durch bestimmte SchauspielerInnen zu klären (vgl. Faulstich 2002: 95ff). Zentral ist im Bereich des Spielfilms also, wie überzeugend die Charaktere als „Wahrnehmungszentren“ (ebd.) im Film durch schauspielerisches Können verkörpert werden. Bezogen auf dokumentarische Filme scheint sich eine charakterorientierte Analyse geradezu zu verbieten, die die ProtagonistInnen nach dem Grad ihrer schauspielerischen Leistung beurteilt und ihre Aussagen vollkommen in das Licht einer RegisseurIn stellt. Als Publikum dokumentarischer Filme erwarten wir, dass die ProtagonistInnen sie selbst sind oder sich selbst in einer oder mehreren ihrer alltagsweltlichen Rollen spielen. Es scheint also eher eine Frage der Annäherung an diese „Originale“ zu sein, als eine Frage der Rolle, die ProtagonistInnen in dokumentarischen Filmen einnehmen können. Nähe und Distanz Aus Sicht der ZuschauerInnen ist zunächst bemerkenswert, dass ihnen durch den dokumentarischen Film ein privilegierter Betrachtungsstandpunkt zuteil wird, den sie durch die Anstrengungen des/der Filmschaffenden einnehmen können und den ihre Alltagswahrnehmung nicht ohne weiteres ermöglichen würde. So wird schließlich auch der Erfolg dokumentarischer Unterhaltungsserien begründet, die in Bezug auf sämtliche technischen Aspekte auf die Nähe zu den ProtagonistInnen spezialisiert sind (vgl. Wolf 1999: 5). Aber nicht nur in technischen Aspekten, sondern auch in Kategorien wie Vertrauen streben Filmschaffende einen Grad an Nähe zu ‚ihren’ ProtagonistInnen an, der gewissermaßen ihren Zugang zur Themenstellung als gelungen ausweist und ihren Film unter anderen hervortreten lässt bzw. zur Kritik auffordert: „Eine der entscheidenden Fragen, die in Diskussionen über Dokumentarfilme erörtert wird, ist die vorhandene oder nicht vorhandene Nähe zu den ProtagonistInnen. Im Allgemeinen wird dabei die Faustregel aufgestellt, Intensität im Dokumentarischen heißt, (mit Kamera und Tonband) möglichst nahe an die Menschen heranzukommen. Ist in einem Dokumentarfilm diese Hauptforderung augenscheinlich nicht erfüllt, sieht man sich schnell der Kritik gegenüber, zum Sujet zu große Distanz gehabt zu haben. ‚Diesmal bist Du aber nicht richtig rangekommen’ heißt es dann“ (Schadt 2002: 61).
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Das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz zu den ProtagonistInnen ist also ein nicht unwesentliches Beurteilungskriterium unter professionellen Dokumentarfilmschaffenden.61 In dem hier anklingenden Ideal einer exklusiven Annäherung an die ProtagonistInnen spiegeln sich zugleich zwei wesentliche Aspekte: Erstens nehmen ProtagonistInnen eine Schlüsselfunktion für die zu entfaltende Themenstellung des Films ein, denn es kommt wie Schadt bemerkt darauf an, über ein vertrauensbasiertes Verhältnis intensive Sequenzen und unverstellte Äußerungen zum Thema zu erreichen, die implizieren, eine Angelegenheit im Kern getroffen zu haben. Zweitens geht es bei dokumentarischen Filmen um den Vorgang des Beobachtens. Beobachten wiederum verweist auf ein erkenntnissuchendes Verfahren. Das heißt, die ProtagonistInnen sind einem Dokumentarfilm zunächst äußerlich; der Beitrag, den sie für den Film leisten, kann, bevor eine Zusammenarbeit stattgefunden hat, noch nicht in seiner Substanz ausgemacht werden. Der Film muss dafür offen sein und der/die Filmschaffende muss es verstehen, diese Offenheit gekonnt einzusetzen und im Endprodukt als authentisches Moment einfließen zu lassen. Neben dieser interaktionistischen Dimension in den Dreharbeiten, die als Authentisierung wirkt, lassen sich pauschal jedoch auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die Figuren dokumentarischer Filme feststellen, bezogen darauf, wie und für was sie jeweils gesucht und gefunden werden: So sind die Sachverständige, der Zeitzeuge, die Betroffene, der Kritiker für einen Großteil dokumentarischer Filme als ‚Sozialcharaktere’ ebenso obligatorisch, wie eine erzählende Instanz, die in unterschiedlichen Varianten – als hörbare KommentatorIn, als im Bild auftretende InvestigativjournalistIn oder als expressiv bildgestaltende AutorIn – den Erzählfluss voranbringt. Existieren festgelegte Rollen also nicht auch für den Dokumentarfilm, wenn auch nicht in der konkreten Form, in der etwa in der commedia dell’arte auf ein immer gleiches Register an Personen zurückgegriffen wird?
61 Für die Dokumentarfilmpraxis ist der Stellenwert von ProtagonistInnen in der Filmarbeit ein aktuelles Thema. Im Herbst 2006 fand dazu ein von der Dokumentarfilminitiative NRW veranstaltetes Symposium statt. Im Programmtext heißt es: „Der Dokumentarfilm hat sich in den letzten Jahren sehr personenzentriert entwickelt. Die verbesserten Marktchancen des Dokumentarfilms, seine Industrialisierung, führen – so scheint es – zu vorhersehbaren Ergebnissen. Emotionen und telegene Präsenz der Protagonisten und ihrer Geschichten dominieren die dokumentarische Form. Das verändert auch die Stellung der Protagonisten im Dokumentarfilm. Zum ersten Mal werden umfassend die sensiblen Fragen zu Protagonisten im Dokumentarfilm verhandelt“ (Dokumentarfilminitiative NRW 2006). Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen rechtliche und ethische Fragen.
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Notwendige Differenzierung von Figur und ProtagonistIn Um das Auftreten von Personen in dokumentarischen Filmen adäquat beschreiben und untersuchen zu können, ist m.E. eine konzeptuelle Differenzierung in die beiden Begriffe ‚Figur’ und ‚ProtagonistIn’ notwendig. Im Folgenden wird diese Trennung eingeführt und an verschiedenen Beispielen fundiert. Zunächst der grundlegende Unterschied: Die oben erwähnten modellhaften ‚Sozialcharaktere’ haben bereits unabhängig von ihrem konkreten inhaltlichen Beitrag eine Bedeutung für den Film, indem sie das Schema seiner Thematisierungsweise konstituieren – wie etwa „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“62. Deshalb wird der Begriff der Figur im Folgenden für die Handlungsträger eines Dokumentarfilms gebraucht, die eine spezifische sachliche Funktion zur Entfaltung der Thematik erfüllen (Figuren verdeutlichen primär Sachaspekte). Demgegenüber wird von ProtagonistInnen gesprochen, wenn die Individualität von Personen im Film in Betracht gezogen wird, wenn also die Anteile ihrer Persönlichkeit und Biographie, entscheidende Mitteilungsaspekte eines Themas bilden (ProtagonistInnen verdeutlichen Subjektivität). ProtagonistIn-Sein kann daher als zusätzliche Qualität des Figur-Seins bzw. als weitergehende Vermittlungsdimension aufgefasst werden. So kann z.B. Irene Rakowitz in „Von wegen Schicksal“63 einerseits als Figur des Films untersucht und andererseits als Protagonistin in den Blick genommen werden. Als Figur ist sie als emanzipationsbestrebte Frau und Mutter dem Arbeitermilieu angehörend gekennzeichnet. In den Fokus ‚Figur’ fallen auch typisierte soziale Beziehungen, die sie zu ihrem familialen Umfeld hat sowie die Anlage jener Konflikte (um das bürgerliche Ideal einer Mutter), die den Film bestimmen. Gerade „Von wegen Schicksal“ verfolgt allerdings keine soziologisch abstrakte Analyse, sondern entstand – auch mit Blick auf seine filmästhetische Gestaltung – unter dem Einfluss der Bemühungen, das Private im Modus des Politischen zu behandeln. „Den gesellschaftlichen Widersprüchen sollte gerade in den vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossenen Bereichen nachgespürt und die sozialen Deformationen ‚am eigenen Leib’ exemplifiziert werden“ (Hohenberger 1992: 81). Diese und weitere politische Ansprüche begründeten eine ‚eingreifende’ Filmarbeit, für die die französisch geprägte Variante des Cinéma Vérité64 Patin stand und die „die Anwendung soziologischer Untersuchungs62
Spielfilm von Peter Greenaway, England/Frankreich/Niederlande 1989, 125 Minuten. Siehe Fußnote 48. 64 Mit Cinéma Vérité wird eine neuartige Etappe in der dokumentarischen Filmarbeit bezeichnet, die auf den technischen Fortschritt tragbarer 16mm-Kameras mit synchroner Tonaufzeichnung im Jahr 1960 zurückgeht. Die konzeptionelle Ausrichtung dieser Filmarbeit wird zumeist mit dem Ethnologen Rouch und dem Soziologen Morin in Verbindung gebracht und gestaltet sich wie oben beschrieben (vgl. Musser 1998b: 481ff). 63
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methoden (...) oder eine Art psychodramatischer Interaktion zwischen den Personen vor und hinter der Kamera (...) wie die Betrachtungsweise der Kamera als Katalysator, der die Personen zur Sprache treibt und den Film zur Wahrheit“ (ebd.: 82), befürwortete. Das heißt, in „Von wegen Schicksal“ entsteht die Entwicklung des Sujets nicht allein durch die Setzung der Figur Irene Rakowitz, sondern durch die über die Gefühlswelt der Protagonistin erlebbaren Ambivalenzen und Brüche in ihrer Selbstkonstitution. Aufgrund dieses provokativen Vorgehens ist es verständlich, dass die Kritik an Reidemeisters Film sich insbesondere an jenen Sequenzen festmachte, die durch die Emotionalität der Protagonistin bestimmt sind (vgl. ebd.: 86).65 Die konzeptuelle Differenzierung von ‚Figur’ und ‚ProtagonistIn’ scheint m.E. aus mehreren Gründen sinnvoll und nützlich. Ein weiteres, bereits eingeführtes Filmbeispiel soll dies verdeutlichen: Als ‚da und doch abwesend’ kann man die Wirkung beschreiben, die der Filmemacher in „War doch nur ein Obdachloser – wenn Kinder töten“ in Bezug auf die Schlüsselpersonen zur Tat erzeugt. Mit der eingeführten Differenzierung lässt sich die Darstellungsweise präziser fassen. Die Kinder sind ausschließlich auf der Figurenebene, nicht aber als ProtagonistInnen eingesetzt. Konkret heißt das, dass der Filmemacher darauf verzichtet, die minderjährigen Täter im Film zu zeigen. Zu ihrem Schutz – das ist einleuchtend – geht er so vor. Stattdessen lässt Voigt die Schauspieler-Kinder die Aussagen der real involvierten Kinder aus den Vernehmungsprotokollen rezitieren. Ein schwarzer Vorhang als Hintergrund wie auch eine offensichtliche Kunstlichtausleuchtung unterstreichen den Inszenierungscharakter ihrer bildlichen Repräsentation. Als ZuschauerInnen schließen wir wegen dieses Bildes umgehend aus, dass es sich bei den Kindern um die wirklichen Personen handelt. Die lebensweltlichen Umstände der Kinder, deren Gefühlswelt und vor allem die Erwartung der ZuschauerInnen nach einer eindeutigen Zuordnung – wer spricht hier? – werden damit gezielt negiert. Welche Verallgemeinerungen lassen sich aus diesem eher untypischen Beispiel ableiten? x Erstens lässt sich daraus schlussfolgern, dass nicht alle in einem Dokumentarfilm vorkommenden Personen mit dem Anspruch einer umfassenden und eindringlichen Darstellung ihrer Persönlichkeit eingeführt werden. Oft dienen ihre Präsenz und ihr inhaltlicher Beitrag ausschließlich dem Zweck einer alternativen Perspektivierung. Kiener spricht an dieser Stelle von sogenannten „Reflektorfiguren“, von deren „Wahrnehmungsstandpunkt aus Situationen und andere Personen geschildert werden“ (Kiener 1999: 208). Was 65
In Anbetracht der stark polarisierten Reaktionen auf den Film ist zweifelhaft, ob ein solches Vorgehen seiner Zielsetzung gerecht werden kann, gesellschaftliche Widersprüche in der Biographie einer Protagonistin zu pointieren. Denn schließlich lässt sich anhand der kritischen Stimmen beobachten, dass die „ausagierten Konflikte den Individuen an(haften) und nicht der Gesellschaft“ (ebd.: 83).
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man von einer Person im Dokumentarfilm erfährt, hängt also mehr als vom Grad der Ausführlichkeit ihrer Darstellung von ihrem Status als entweder Figur oder ProtagonistIn ab. Zweitens unterstreicht das obige Beispiel, dass sich gerade in der Betrachtung von dokumentarischen Filmen zu gesellschaftlichen Themen eine Spannung ergibt. Diese entsteht aus Erwartetem und dann Dargestelltem, beispielsweise aus der schematischen Vorstellung über soziale Rollen einerseits und der Art und Weise, wie ProtagonistInnen andererseits Präsenz vor der Kamera erlangen, die von pragmatischen Deutungsmustern wegführt. Eine Persönlichkeit im kriminellen S-Bahn-Surfer, in der magersüchtigen Dreizehnjährigen, in der Hochbegabten in der Asylunterkunft, im Neunjährigen, der sich um die psychisch kranke Mutter kümmert, zu entdecken, wird zum besonderen Reiz in der Rezeption, weil der Film ein Bild jenseits unserer engeren Vorstellungswelt verspricht. Dieser Moment der Überraschung – der sich als Konstruktion von Subjektivität fassen lässt - wird in diesem Filmbeispiel gerade verwehrt. So wirken die ProtagonistInnen im angeführten Beispiel gerade nicht schillernd und es ist auch keine Offenheit ihnen gegenüber als einmaligen Personen gefordert. ‚ProtagonistIn’ und ‚Figur’ sind daher Konstruktionsbegriffe dokumentarischer Filme und spielen in Fragen der Inszenierung hinein: Der Modus ‚ProtagonistIn’ nutzt die Fläche zur Differenzierung und Mehrdeutigkeit. Es geht darum, „Charisma“ zu inszenieren, indem sich die „so inszenierte Person immer stärker als eigene Botschaft herauslöst“ (Häusermann 2001: 8) und durch die Anteile ihrer Persönlichkeit den Sachverhalt teilweise überdeckt. Der Modus ‚Figur’ ist dagegen nicht charismatisch, sondern unterstützt in ihrem Auftreten den Sachinhalt und trägt zu mehr (geordneter) Information bei. Eine solche Irritation zwischen ProtagonistInnen- und Figurenseite wie im obigen Beispiel zu schaffen, geschieht eher selten. Anders als der fiktive kann der dokumentarische Film zwischen Film- und Lebenswelt nur schwer trennen, da er ständig auf zweite als bedeutungstragender Welt der ProtagonistInnen verweisen will. Lebenswelt wiederum ist die einzige uns zugängliche Wirklichkeit und kann nicht vom Dokumentarfilm, sondern ausschließlich von dem aus, der sie als seine gültige Realität beschreibt, gestaltet werden. Die besondere Gestaltungsaufgabe des dokumentarischen Films besteht also darin, die Lebenswelt im filmischen Aufbau durchscheinen zu lassen. Er schafft Fenster dafür. „If the narrator wants to keep up the pretence that it relates true facts, it can never represent the thoughts of actors other than itself“ (Bal 1985, zit. n. Kiener 1999: 215). Kiener hält daher die ProtagonistInnenerzählung im Dokumentarfilm für unabkömmlich und nicht zu ersetzen,
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wenn die/der Filmschaffende den subjektiven Standpunkt der ProtagonistInnen verstanden wissen will. Demnach ist drittens ein gestaltender Einfluss der Filmschaffenden auf der Ebene der Figuren durchaus denkbar (siehe nächster Abschnitt), nicht jedoch auf der Ebene der ProtagonistInnen. Denn es geht darum, ihre Subjektivität zu erhalten und sie gezielt und mit kalkuliertem Effekt einzusetzen. Auch aus diesem Grund ist eine Unterscheidung in die beiden Facetten notwendig. Im Folgenden sollen diese Überlegungen, die der Differenzierung von Figur und ProtagonistIn zugrunde liegen, in zwei unterschiedlichen Perspektiven vertieft werden. Eine produktionsbezogene, temporal orientierte Perspektive plausibilisiert anhand eines Phasenmodells die Unterscheidung zwischen Figur und ProtagonistIn. Es leitet sich aus allgemeinen Überlegungen zur Produktionsrealität von dokumentarischen Filmen ab und versteht sich als vorläufige Klärung der wesentlichen vorfilmischen Arbeitsschritte, die durch empirische Beobachtungen zu ergänzen und zu differenzieren wären. Hier wird also eine Antwort darauf gefunden, welche Bedeutung ProtagonistInnen im Produktionsprozess eines dokumentarischen Films haben. Davon unterscheidet sich eine zweite, konzeptbezogene Perspektive, die Sprechhandlungen im Dokumentarfilm in ihren Bedeutungen zwischen „Reflektorfigur“ und „Protagonistenerzähler“ aufschlüsselt. Diese Systematisierung geht auf Kiener (1999) zurück, die eine Typologie des Erzählens im Dokumentarfilm entwickelt. Diese Typologie fundiert insbesondere deshalb die Differenzierung von Figur und ProtagonistIn, weil daran klar gemacht werden kann, unter welchen Bedingungen die Aussagen von Figuren in der Qualität von ProtagonistInnen zu einem autarken Moment in der dokumentarischen Narration werden. Im Mittelpunkt steht hier die Bedeutung von ProtagonistInnen als Erzählenden. Zunächst aber Überlegungen zur Produktionsrealität. Phasenmodell über die Genese von ProtagonistInnen Setzt ein dokumentarischer Film auf die Wirkung starker Persönlichkeiten, die ganz ‚bei sich’ sind und ihre Auffassung von Welt kohärent vertreten können, kann man auch fragen, wie und wann diese Wirkung zustande kommt. ProtagonistInnen werden nicht wie im Spielfilm angewiesen, wie sie sich geben sollen. Schon gar nicht werden ihnen Rollen vorgegeben. ProtagonistIn-sein ist deshalb eine Wirkungsfrage und kann als Konstruktionsprozess nachvollzogen werden. Zunächst komme es darauf an, überhaupt in Kommunikation mit den ‚Thementrägern’ zu treten und eine Ebene der Verständigung zu finden. So würden Dokumentarfilmschaffende argumentieren, die an ‚authentischen’ Augenblicken In-
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teresse haben und diese als maßgeblich für eine gelungene Annäherung an ein Stoffgebiet auffassen (vgl. Schadt 2002: 10ff). „Seien Sie einfach so, wie Sie immer sind und tun Sie das, was Sie immer tun“ – mit einer solchen Erklärung könnte beispielweise eine Filmschaffende verdeutlichen, was sie von der ProtagonistIn konkret will. Er oder sie sollen nicht lenkbare Figur sein, sondern ProtagonistIn im Sinne der zuvor getroffenen Unterscheidung. Sontag formuliert diese Form der Zustimmung zum und des Einverständnisses mit dem realen Lauf der Begebenheiten beim Fotografieren folgendermaßen: „Fotografieren bedeutet, an den Dingen, wie sie nun einmal sind, interessiert zu sein, daran, dass ihr Status quo unverändert bleibt (wenigstens so lange, wie man zu einer ‚guten’ Aufnahme braucht). Es bedeutet, im Komplott mit allem zu sein, was ein Objekt interessant, fotografierenswert macht, auch – wenn das gerade von Interesse ist – mit dem Leid und Unglück eines anderen Menschen“ (Sontag 1980: 18). Im Benutzen der Kamera liegt demnach ein Moment der Unterordnung gegenüber der Situation; ein Gebot der Zurückhaltung gegenüber dem Eigensinn der ProtagonistInnen, möglicherweise aber auch gegenüber ethisch abzulehnenden Bildinhalten. Der so beschriebene Moment bleibt noch unreflektiert. Nimmt man nicht nur die Dreharbeiten sondern eine weitere Strecke der Produktion in Betracht, werden Brüche in der oben beschriebenen Unmittelbarkeit, die den Umgang mit ProtagonistInnen kennzeichnet, offensichtlich. Das fängt damit an, dass beim ‚Filmwerden’ der Personen, auf die sich das filmische Interesse richtet, eine Selektion stattfindet. Ausgesucht werden solche Personen, die aus verschiedenen Gründen für den Film und seine Thematisierungsstrategie richtig erscheinen und die sich dann bereit erklären, – ggf. unter Berücksichtigung bestimmter Prämissen und Eigeninteressen – ihren Beitrag zu leisten. Möglicherweise wird in dieser Phase also die Fähigkeit zur Unmittelbarkeit, die etwa eine betroffene Person als Figur besitzen sollte, kalkuliert. Die Dreharbeiten erfordern wie bereits dargestellt anderes. Sie erfordern‚ Person und Handlung in einer vor Ort gegebenen Ursprünglichkeit zu belassen und v.a. den ProtagonistInnen ein hohes Maß an Selbstausdruck zuzugestehen, der gerade nicht kalkuliert werden kann, denn sonst wäre er nicht charismatisch. Diese Haltung ist charakteristisch für die vorfilmische Realität, in der es um die „dokumentarische Materialbeschaffung“ (Hohenberger 1988: 34) geht und gilt nur so lange, wie der direkte Kontakt und die Zusammenarbeit mit den ProtagonistInnen anhält. Während der Filmmontage, die in der Regel den Dreharbeiten folgt, wird die interaktionistische Fundierung der Filmidee nachrangig. Das zeigt sich konkret z.B. darin, dass häufig Fragen der InterviewerIn im Schnitt eliminiert und dadurch Aufnahmesituationen so gestaltet werden, dass die Aufmerksamkeit
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ganz bei den Befragten und nicht auf dem Interaktionsmoment zwischen FilmemacherIn und ProtagonistIn liegt. Antworten werden dann zu Statements (vgl. Hattendorf 1994: 151), die in ihrer Pointierung Anschlussmöglichkeiten für folgende Einstellungen liefern. Weil aber nicht jeder dokumentarische Film darauf verzichtet, die interaktionistische Dimension der ‚Materialerhebung’ herauszustellen (vgl. nächster Abschnitt), wird es in der Produktionsphase Schnitt zu einer Frage der Kalkulation und des Konzepts, in welchem Umfang und in welchen Aspekten die Kontextualisierung der Aufnahmesituation im Endprodukt beibehalten wird. Dessen ungeachtet werden im Schneideraum die realen Personen zunehmend als Kunstfiguren behandelt, indem ihre Aussagen auf den Videospuren des Schnittprogramms hin- und her verschoben und in Verbindung gebracht werden mit Aussagen anderer ProtagonistInnen, möglicherweise ohne dass diese Begegnung im realen Leben dieser Menschen je von Bedeutung wäre oder u.U. ganz anders verlaufen würde. Hier verlagert sich die Perspektive also wieder auf die Sachebene. Diese Betrachtungsweise, die zunächst einmal nur den Stellenwert einer begründeten Spekulation einnimmt und empirisch zu verifizieren wäre, zeigt, dass Filmschaffende phasenweise stärker unter Figuren-Aspekten denken und in anderen Produktionsabschnitten ganz unter ProtagonistInnen-Aspekten. Im ersten Fall kalkulieren sie die Wirkung von Teilelementen in Bezug zum gesamten Film. Im zweiten Fall geben sie die Steuerung eines Erzählflusses temporär aus der Hand, um einer grundsätzlich nicht zu kalkulierenden Wirkung von ProtagonistInnen Raum zu geben. Ein dokumentarischer Film entstünde somit stets aus der Balance zwischen zwei Bestrebungen: einmal dem Eigensinn der ProtagonistInnen freien Lauf zu lassen (spontane Dramaturgie, Alltagsnähe) und zum anderen in der Vor- und Nacharbeit, diesen Eigensinn als Sach-Funktion für den Film zu behandeln. Die notwendige Differenzierung zwischen Figur und ProtagonistIn stellt sich in der produktionsbezogenen Betrachtung daher als phasenweise Verschiebung der aktuellen Aufgaben und Zielsetzungen der Filmschaffenden dar. Tabelle 1 fasst die Überlegungen zusammen. Die hier in drei Phasen gefasste Entwicklung schildert also einen Verlauf, x der die Beziehung zwischen Filmschaffenden und ProtagonistInnen betrifft, x der die Bedeutung von Schlüsselpersonen (Zugang zum Thema in der Recherche) auf Schlüsselaussagen (thematische Verdichtung durch temporäre ProtagonistInnenerzählung) verschiebt, x der zwischen (naiver) Unmittelbarkeit und reflexiver Überarbeitung von Aufnahmematerial unterscheidet und x der pragmatische Brechungen in der Behandlung von Personen als ProtagonistInnen und als Figuren im Entwickeln eines Films notwendig macht.
122
Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
Stand der Filmentwicklung
Aufgabenfokus
Ziel der / des Filmschaffenden
Funktion der Figuren / ProtagonistInnen
Phase 1
Recherche / Themenentwicklung
Figurensuche; Selektion
Suche nach geeigneten Trägern des Themas, die zur Selbstinszenierung in der Lage sind
Ruf nach ‚starken’ ProtagonistInnen; herausragende Persönlichkeiten; Fähigkeit zur Unmittelbarkeit
Phase 2
Dreharbeiten Face-to-Face„Im Komplott sein“ Beziehung zwi- (Sontag) mit den schen FilmProtagonistInnen schaffenden und ProtagonistInnen
ProtagonistInnen sind sie selbst und stellen ihren gesamten Erfahrungsreichtum zur Verfügung, der sie innerhalb der Produktion legitimiert und autorisiert; sie agieren als ‚authentische’ Personen
Phase 3
Schnitt
ProtagonistInnen werden als ,Kunstfiguren’ behandelt, Wirkung temporärer ProtagonistInnenerzählung
Interpretation der ProtagonistInnenaussagen im Kontext des gesamten Films
Reflexive Überformung der ProtagonistInnenaussagen; es resultieren kalkulierte Sprechakte
Tabelle 1: Funktionsverschiebungen innerhalb der Produktionsphasen Dagegen einzuwenden wäre, dass bei Weitem nicht alle dokumentarischen Filme das Wort von Betroffenen in gleicher Weise in den Mittelpunkt stellen. Auch darauf bezogen gilt das Prinzip, Dokumentarfilm als offenes Konzept (vgl. Kap. 2.1) zu begreifen. In erster Linie ist es eine Frage des Konzepts, welcher Stellenwert welcher ‚Stimme’ gegeben wird. Die Sprechhandlungen von Figuren bzw. ProtagonistInnen in dokumentarischen Filmen werden nun in konzeptuellen Varianten besprochen. Konzepte und Bedeutung der ProtagonistInnenerzählung Kiener (1999) unterscheidet zur Bestimmung des Erzähltyps in dokumentarischen Filmen sieben empirisch relevante Typen der Erzählgestaltung. Im Einzelnen sind das der „nüchterne“, der „expressive“, der „Reporter-“, der „investigative“, der „Protagonisten-“, der „autobiographische“ und schließlich der „fiktionalisierte“ Erzähler. Eine Erzählfunktion können grundsätzlich verschiedene Instanzen erfüllen: die AutorIn, eine im Film figürlich präsente ErzählerIn oder auch ProtagonistInnen. Kiener interessiert das hierarchische Verhältnis, das unter
3.4 Untersuchungskategorie ProtagonistIn
123
ihnen entsteht, wenn von mehreren Instanzen aus erzählt wird. In ihrem Schema drücken sich also sieben Kommunikationssituationen aus, die anhand des Redekriteriums „Wer spricht?“ unterschieden sind. Das Schema soll hier nicht grundständig referiert, sondern nur in den Aspekten ausgeführt werden, die bedeutend für die ProtagonistInnenerzählung sind. Dazu ist vorab folgendes Verständnis notwendig (vgl. Kiener 1999: 236): Die Unterscheidung von Erzähltypen basiert nach Kiener auf vier analytischen Kriterien. Diese Kriterien machen Aussagen über die Positionen der erzählenden Instanzen: x So kann die erzählende Person an den geschilderten Ereignissen in der erzählten Welt (Diegese) als AkteurIn bzw. BeobachterIn beteiligt sein („homodiegetisch“). x Oder – und das schließt dann die erste Position aus – er/sie kann unbeteiligt an den Geschehnissen über sie berichten („heterodiegetisch“). Diese beiden Grundpositionen kombinieren sich mit einer der folgenden Varianten: x Entweder der Erzählende ist durch den Akt des Erzählens – wie in den Märchen aus tausend und einer Nacht – ebenso Gegenstand der Geschichte, wie die einzelnen Ereignisse und Figuren („intradiegetisch“) oder x Erzählhandlung und -person entziehen sich der Darstellung („extradiegetisch“). Die AutorIn eines Dokumentarfilms wird stets als ErzählerIn „erster Stufe“ angesehen (ebd.: 237), d.h. sie ist als „extradiegetische“ Erzählperson schon allein durch die Bildgestaltung und die Montage (als organisiertem Diskurs) analytisch zu berücksichtigen. Ist in einem Dokumentarfilm nun zusätzlich eine weitere Erzählfigur „intradiegetisch“, d.h. visuell und/oder auditiv präsent, die identisch oder nichtidentisch mit dem Autor sein kann – existieren also zwei Erzählinstanzen – hält Kiener das hierachische Verhältnis der beiden zueinander für aufschlussreich zur Bestimmung des Erzähltyps (vgl. ebd.: 238).66 Grundsätzlich kann also jeder dokumentarische Film auf die Ausprägung der verschiedenen Erzählinstanzen befragt werden. Auf der Grundlage dieser Unterscheidungen ist es möglich, die Konstellationen, in denen ProtagonistInnen die Funktion der Erzählsteuerung übernehmen ebenso wie das Verhältnis, das sie zu
66
Da Kiener systematisch nach der dominierenden Ebene sucht, von der aus der Erzählfluss gesteuert wird - z.B., ob eine expressive Filmgestaltung einer implementierten Erzählerfigur untergeordnet ist oder umgekehrt -, drückt sich in den sieben Erzähltypen jeweils eine Autoritätensetzung aus. Diese Perspektive erlaubt es, die visuelle Gestaltung als eigenständigen „visuellen Sprechakt“ (Kanzog 1991: 68) anzusehen und damit im Verhältnis zur wörtlichen Rede zu untersuchen.
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
„extradiegetischen“ bzw. zu weiteren figürlichen Erzählinstanzen einnehmen, zu erkennen.67 Tabelle 2 bietet eine Übersicht: Erzählinstanzen Erzählung via Filmsprache „Nüchterner Erzähler“ 1 ...ist in der Erzählung abwesend
-Verzicht auf alles, was die ZuschauerIn bewegen könnte, Rohmaterialcharakter
++ „Expressiver Erzähler“ „Filmsprachlich inter2 pretatives Formenre...wird mit pertoir“ wird in erzähAutorIn lender Absicht genutzt, gleichgesetzt Überformung des Rohmaterials, interpretativ, typisierend, metaphorisch
Erzählung via figürli- Erzählung via Protachem Erzähler gonistInnen
Erzähltyp
Extradie--getisch Entpersonifizierung agierende Figuren und und der Erzählinstanz, ist Figurenrede, dadurch heterowird allerdings der nicht als Figur implementiert, Kommentar Informationsfluss we- diegetisch der gesteuert noch ist z.B. via Schrifteinein biographisches Inblendungen oder teresse an den PerProfisprecherIn sonen gegeben
--
--
Erzählende Instanz, die sich formal z.B. durch assoziativen Schnitt, poetischen Kommentar, Untermalungsmusik, nicht aber als Figur einbringt
agierende Figuren und Figurenrede, jedoch keine ProtagonistInnenerzählung
Extradiegetisch und heterodiegetisch
++ „ReporterIntradiege-+Erzählinstanz ist fiErzähler“ tisch konventionalisierter agierende Figuren 3 und Stil der journalistischen gürlich und audiovi- und Figurenrede, teilsuell präsent, steuert ...ist flexibel heteroBerichterstattung weise auch Protaden Erzählfluss, in der AdgonistInnenerzählung, diegetisch ‚erteilt Stimme’ an ressierung jedoch in der Steueandere Figuren, chavon Publikum rung des Informatirakterlich unbeund filminteronsflusses grundsätzschrieben, ohne indinen Figuren lich dem Reporter viduelles Profil untergeordnet „Investigati++ ver Erzähler“ Kommentar ist eindeutig 4 subjektiviert (ich/wir...sucht nach Form), Herstellung des weiteren Er- Films wird inszeniert, zählern z.T. wird ProtagonistInnen-Rede filmsprachlich 67
++ AutorIn häufig figürlich präsent. Durch eine Dramatisierung der Erzählhandlung ist sie eigentliche Hauptfigur, ihre Suche nach Infor-
++ ProtagonistenErzählerInnen, die der AutorIn als investigative ErzählerInnen gleichgestellt sind
Intradiegetisch und heterodiegetisch
Die Inhalte der folgenden Darstellung gehen auf Kiener 1999, Seite 239-267 zurück. Die Darstellung an sich weicht jedoch von Kieners Herangehensweise ab und systematisiert die Befunde neu.
3.4 Untersuchungskategorie ProtagonistIn
125
überformt als kritische mation bildet roten FaKommentierung den „Protago+nistenFilmsprache ordnet sich Erzähler“ den ProtagonistInnen 5 unter, unterstreicht ...spricht ihre Innensicht z.B. scheinbar au- durch subjektive Kametark über sich raführung, häufig Verzicht auf Kommentar, stattdessen ‚Voice-Over’ der ProtagonistInnenerzählung „Autobiogra++ phischer Ersubjektivierter zähler“ Kommentar (Ich-Form, 6 „subjektives Gedächt...sucht nach nis“), Filmsprache untereigenem Ich streicht Innensicht der AutorIn „Fiktionalisierter Erzähler“ 7 ...agiert ohne die Verantwortung der AutorIn
-nicht vorhanden
++ IntradiegeProtagonisten-Erzäh- tisch und lerIn steuert Informa- homodietionsfluss, spricht getisch über sich selbst, Autorität durch Selbstbezug, dominiert gegenüber extradiegetischen Erzähleinflüssen aufgrund audiovisueller Präsenz
++ AutorIn erzählt über sich selbst und ist dadurch ProtagonistIn des eigenen Films, „andere Figuren spielen die Rolle von Helfern... werden nicht zu eigenständigen ErzählerInnen“
++ ++ Figur, die den Über Filmsprache zeigt AutorIn, dass sie keine Eindruck macht, sie Verantwortung für Er- wäre die AutorIn, Position des Erzählers zählung übernimmt. Unterstreicht Doppel- wird als „Rolle“ fiktiobödigkeit von Anschein nalisiert, das dokumentierte Milieu wird und wahrer Absicht nicht fiktionalisiert
--
Intradiegetisch und homodiegetisch
Intradiegetisch und homodiegetisch
Tabelle 2: Erzählkonzepte: „--“ nicht relevant/„+-“ z.T. relevant/„++“ relevant als Erzählinstanz Eine ProtagonistInnenerzählung liegt nach Kiener dann vor, wenn „erzählendes“ und „erlebendes Ich“ auf eine Figur fallen. In dieser Konstellation ordnen sich die anderen, gleichzeitig vorhandenen Erzählinstanzen ihr unter. Dies trifft für die grau hinterlegten Zeilen fünf und sechs – und eingeschränkt auch für Zeile vier – in Tabelle 2 zu. In der Unterscheidung von jenen Erzähltypen, in denen Protagonisten-ErzählerInnen eine Rolle spielen (graue Zeilen) und den restlichen Erzählkonzepten fällt Folgendes auf:
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
Eine Figurenrede wird nur dann zur leitenden Erzählinstanz, wenn sich die Figur ihrer Vermittlungsfunktion bewusst ist. Protagonisten-ErzählerInnen unterscheiden sich also von Reflektorfiguren dadurch, dass sie gezielt eine Vermittlungsfunktion erfüllen, indem sie über sich sprechen und sich erklären. Reflektorfiguren tun dies nicht (vgl. Kiener 1999: 254). Damit rückt ein Kriterium in den Blick, das in dieser Deutlichkeit bislang noch nicht aufschien: Nach Kiener weisen Protagonisten-ErzählerInnen einen ausgesprochenen Selbstbezug auf. ProtagonistInnen sind solche Figuren, die sich selbst als „erlebendes Ich“ zum Thema machen und darin einen Vermittlungssinn erkennen; ihre Erzählmotivation ist dadurch biographisch begründet und evident. Andere Figuren, die nicht in der Prominenz von Protagonisten-ErzählerInnen auftreten, weisen demnach einen geringeren Grad an Selbstbezüglichkeit auf. Die AutorIn ist per se Erzählerinstanz. Sie kann sich zudem figürlich z.B. als InvestigativjournalistIn einbringen oder aber als autobiographische ErzählerIn in der Qualität der ProtagonistInnenerzählung. In dem Moment macht sie ihre eigene Identität zum Thema und kann daraus Erzählimpulse schöpfen. In der Funktion einer ausschließlich „heterodiegetischen“ Erzählinstanz ist ihr das nicht möglich, denn dann ist ihre Identität unbedeutend. Die Suche nach der dominanten Erzählinstanz gibt auch Anlass, auf den Grad der emotionalen Beteilung bei den ZuschauerInnen zu schließen. Handelt es sich um eine Protagonisten-ErzählerIn liegt in der Regel eine „Innenperspektive“ vor (vgl. ebd.: 270), ein „Modus, der es den Zuschauern leicht macht, an der Erlebniswelt der Protagonisten teilzunehmen“ (ebd.: 234). Von einer „Innenperspektive“ wird dann gesprochen, wenn sich die AutorIn nicht durch ein Mehr an Wissen gegenüber den ProtagonistInnen auszeichnet. Bedingt durch dieses Merkmal grenzt sie sich von der „Übersicht“ ebenso wie von einer „Außenperspektive“ ab. Auf visueller Ebene ist eine solche Sequenz zumeist durch eine subjektive Kameraführung gegeben und vermittelt sich daher nicht durch einen intensiven Kamerablick auf die Figur, sondern den Blick der Figur auf die sie umgebende filmische Außenwelt.68 Eine weitere und wichtige Möglichkeit liegt im Einsatz des (sozial-
68 Dem Dokumentarfilm sind in dieser Hinsicht Grenzen gesetzt, denn eine subjektive Kameraführung setzt einen Überblick über das vermittelte Geschehen bereits voraus und realisiert sich in einer geplanten Regieführung, die die situativen Gegebenheiten vor der Kamera aufbricht und neu zusammensetzt. Dieses bereits reflexive Vorgehen ist in der spontanen Wahrnehmung einer Szene unmöglich. Eine begleitende Reportagekamera, die unmittelbar den Geschehnissen folgt, kann ohne den Zusammenhang zu verlieren keinen subjektiven Standpunkt einnehmen. Diese Möglichkeit ist rekonstruierenden Ansätzen vorbehalten, die nach einer Form suchen, vergangene Ereignisse aus der Sicht von Betroffenen zu rekontextualisieren. Kiener gibt hierzu folgendes Beispiel: „In den allermeisten Dokumentarfilmen mit historischen Themen ist die subjektive Kamera nicht wegzudenken. Beliebt
3.4 Untersuchungskategorie ProtagonistIn
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wissenschaftlich orientierten qualitativen) Interviews, das neben Handlungsund Situationsbeschreibungen auch Handlungsbegründungen der ProtagonistInnen einholt. Eine „intern fokussierte“ Erzählung schafft insbesondere die Möglichkeit zur Identifikation des Zuschauers mit der Figur, die ihre Sichtweise einbringt (vgl. ebd.: 215). Der Typus des „investigativen Erzählers“ ist deshalb speziell, weil er die Möglichkeit zur Kritik an den Aussagen von ProtagonistInnen beinhaltet. Das Kritisieren besteht nicht in der Zensur, d.h. in der Auslassung nichtopportuner Aussageinhalte, sondern wird aktiv gestaltet, indem die Bildgestaltung eine nichtharmonische Beziehung mit der ProtagonistInnenerzählung eingeht. Es kommt daher zu einer konkurrierenden Situation zwischen allen drei relevanten Erzählinstanzen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in der Regel zwar die AutorIn für die Erzählung ebenso wie für den dargestellten Inhalt verantwortlich ist, diese Verantwortungsträgerschaft aber teilweise und konzeptbedingt maskiert ist.69 Mit dem Einsatz von Figuren entstehen in dokumentarischen Filmen also weitere Möglichkeiten zur Steuerung des Erzählflusses. Wird eine Figur als ErzählerIn eingesetzt, ist es nicht mehr maßgeblich die AutorIn, die sich dem Publikum zuwendet, sondern diese Figur. Fällt die Erzählinstanz dominant auf einen (oder auch mehrere) ausgewählte ProtagonistInnen, weicht die AutorIn hinter die Auffassungen und Erzählautorität der Betroffenen zurück. Die ProtagonistInnen scheinen unmittelbar und autark als ExpertInnen in eigener Sache zu sprechen. Wie bereits dargestellt, sind es aber nur ‚Fenster zur Lebenswelt’, die der Dokumentarfilm öffnet und auch wieder schließt. Das zuvor entwickelte Phasenmodell zeigt in seiner diachronen Perspektive, dass das Potenzial von ProtagonistInnen im Moment der Aufnahme zum Ausdruck kommt. Im weiteren Produktionsablauf geht die interaktionsorientierte Basis in eine synthetische Behandlung von Figuren über. In der Figur des „Protagonistenerzählers“ liegt eine konsistente Gedankenwelt demnach nur scheinbar vor bzw. ist zumindest in Anteilen durch die AutorIn beeinflusst, indem seine Aussagen gelöst wurden vom originären Entstehungskontext. So kann – wenn gewollt – der Eindruck von individueller Entwicklung hervorgerufen werden, indem Interviewpassagen thematisch so geordnet und im Film platziert werden, dass man meint, die Figur habe sich im Laufe der umrissenen Zeit gewandelt. Der skizzierte Anfangszustand ist dann nicht mehr mit dem Endzustand überein zu bringen. Diese Möglichkeit führt zu sind mit wackliger Kamera ausgeführte Gänge durch Wäldchen und Straßenfluchten, Wiesen und Wälder in schwankendem Schritt durchmessen füllen lang geratene Textstellen“ (ebd.: 214). 69 Im Erzähltypus des „fiktionalisierten Erzählers“ ist dies offensichtlich der Fall, wodurch eine Möglichkeit zur Ironie im Dokumentarfilm entsteht (vgl. ebd.: 263ff).
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
einer weiteren Teilfragestellung auf der Suche nach der Bedeutung, die im Auftreten von ProtagonistInnen liegt. Sie sind ‚Agenten’ von Veränderung. Welcher Veränderung? Figur, soziales Umfeld und Veränderung – Figurenoppositionen Eine weitere Wendung nimmt die Differenzierung von Figur und ProtagonistIn mit Bezug auf Lotmans erzähltheoretischen Ansatz (vgl. Kap. 3.2.2), in dem ebenfalls zwei Typen von Figuren differenziert werden: Figuren, die ein System repräsentieren und Figuren, die ein System kritisieren bzw. seine Ordnung in Frage stellen. Im Folgenden wird gezeigt, dass ihre jeweiligen Eigenschaften zum einen tendenziell eher für die als Sozialcharaktere definierten und zum anderen mehr für die als ProtagonistInnen bezeichneten Personen in dokumentarischen Filmen zutreffen. Der Ertrag der erzähltheoretischen Perspektive geht jedoch über die Unterscheidung der beiden Gruppierungen hinaus. Wesentlich ist, dass damit die Grundlage für Veränderungen innerhalb von Erzählungen strukturell erklärt wird. Diese Grundlage basiert im sozialen Bezugssystem der Figuren. Das heißt, ein isolierter Blick auf Figuren und ProtagonistInnen, wie er bisher entwickelt wurde, wird damit um die sozialen Kontexte, Bindungen und Bezüge, in denen sich Figuren bewegen, erweitert. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Ausgangssituation und welche Veränderungsperspektive in der Anordnung von Figuren innerhalb eines Textes angelegt sind. Wie anhand der Entwicklung der Kategorie ‚Raum’ bereits dargestellt, sind es Figuren, die durch ihr Handeln Ereignisse innerhalb eines Textes evozieren und zwar durch räumliche Grenzüberschreitungen. Lotman spricht von der Personifizierung der Sujetfunktion (vgl. Lotman 1993: 345). Um ein geltendes Normsystem zu irritieren bzw. zu verändern sind oft nur wenige Figuren notwendig: solche, die das System repräsentieren und solche, die es verletzen, weil sie einer anderen, einer eigenen Logik folgen. Dies bedeutet, dass der Ausgangspunkt eines Textes in der „Herstellung einer Relation der Differenz und der gegenseitigen Freiheit zwischen dem Helden als Handlungsträger und dem ihn umgebenden semantischen Feld“ (ebd.: 341f) liegt. Ausschlaggebend dafür sind die Handlungspotenziale der Figuren. Um bedeutungsvoll für den Fortgang der erzählten Begebenheiten zu sein, müssen Handlungsträger unkonventionell, oppositionell bzw. durchsetzungsfähig sein und durch ihre Unabhängigkeit überzeugen. Diese Eigenschaften benötigen sie, um den Übergang aus ihrer normierten natürlichen Umgebung in eine andere Sphäre zu schaffen und damit die Hindernisse, die sich an dieser Grenze konzentrieren (vgl. ebd.), zu überwinden. Diese Handlungspotenziale charakterisieren auch ihre Beziehung zur Umwelt. Ihr Unabhängigkeits-
3.4 Untersuchungskategorie ProtagonistIn
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streben ist stärker ausgeprägt als ihre Raumbindungen, die sie von möglichen Grenzüberschreitungen abhalten würden. Die Freiheit der Hauptfiguren gegenüber ihrer Umgebung liegt in ihrer Beweglichkeit, die sie von anderen, unbeweglichen Figuren unterscheidet. Nach Lotman findet sich stets eine binäre Figurenaufteilung in Unbewegliche und Bewegliche: „Die Unbeweglichen sind der Struktur des allgemeinen sujetlosen Typs unterworfen. Sie gehören zur Klassifikation und dienen selbst als deren Bestätigung. Die Grenzüberschreitung ist für sie verboten. Eine bewegliche Figur ist eine, die das Recht hat, die Grenze zu überschreiten“ (ebd.: 338).
Während die unbeweglichen Figuren also – ähnlich wie andere den semantischen Raum ausstattende Aspekte – Passivität verkörpern, kommt den Handlungsträgern eine aktive Funktion zu. Ihre Aktivität ist jedoch erst ab dem Moment von Belang, wenn sie ein vorgezeichnetes Bewegungsschema verlassen.70 Der Ansatz konzentriert sich damit auf ein Grundmuster gegeneinander wirkender Kräfte im Sinne von Normalität und Abweichung und auf daran gebundene personale Zuschreibungsprozesse. Ereignisse werden hier als Nichterfüllen einer vorherrschenden Norm interpretiert. Um dies deutlich zu machen unterscheidet Lotman zwei Ebenen des Handelns: den „typisierten Handlungsablauf im Rahmen der gegebenen Struktur“ und die „konkrete Handlung“ (ebd.: 341). Mit dieser Unterscheidungsmöglichkeit kann eine konkrete Handlungsweise in ihrem Verhältnis zu ihrer sozialen Erwartbarkeit beurteilt werden. Darüber hinaus können Figuren über das bloße Vorhandensein solcher Richtlinien sozialer Erwartbarkeit charakterisiert werden. Der Text weist dann bereits im Vorfeld von tatsächlich grenzüberschreitenden Aktionen bestimmten Figuren besondere Entwicklungsmöglichkeiten zu, weil sie sich offenkundig von ihrer Umwelt abheben. „Wenn der Held seinem Wesen nach mit seiner Umwelt übereinstimmt oder nicht mit der Fähigkeit ausgestattet ist, sich von ihr abzuheben, so ist die Entwicklung des Sujets unmöglich. Der Handlungsträger braucht nicht unbedingt zu handeln: das Schiff kann im Hafen liegen bleiben, der Mörder braucht keinen Mord zu begehen (...) Aber der Charakter ihrer Beziehung zur Umwelt bezeugt, daß sie untätige Täter sind“ (ebd.: 342).71
70 Dies erinnert an ein bereits früher von Campbell (1949) entwickeltes narratives Modell. Mit “The Hero with a Thousend Faces” ist eine Untersuchung der Struktur von Sagen und Legenden überschrieben, deren Grundmuster in einer Reise besteht. Der Ablauf dieser Reise richtet sich nach genau festgelegten Regeln. Während die ‚Heldenreise’ auf die Abenteuerfahrt fokussiert ist und dabei die intertextuelle Wiederkehr verschiedener Stationen in den Blick nimmt (vgl. Krützen 2004: 65), konzentriert sich Lotmans Ansatz auf ein anderes Grundmuster. 71 Schafft eine Figur den Übertritt in ein semantisches Gegenfeld, so ergeben sich folgende Möglichkeiten für den Fortgang des Textes: sie etabliert sich im Gegenfeld und verwandelt sich von einer beweglichen in eine unbewegliche Figur – die ‚Heldenreise’ wäre damit beendet –, oder sie kehrt unter veränderten Reaktionen der Umwelt auf sie in die ursprüngliche Sphäre zurück (vgl. ebd.: 342f).
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
Was heißt das nun übertragen auf dokumentarische Filme? Die Figurenopposition, die Lotman vorsieht, entspricht nicht unmittelbar der Unterscheidung in ProtagonistInnen und Figuren, denn im strukturanalytisch-narrativen Modell geht es um eine Gegenüberstellung von aktiven und passiven Figuren. In der Differenzierung von Figur und ProtagonistIn geht es hingegen um den Unterschied von Selbstmitteilung und Sachmitteilung. Die Wirkung, die daraus entsteht, ist jedoch eine ähnliche: sowohl Handlungsträger wie auch ProtagonistInnen heben sich durch Individualität von ihrer Umwelt ab und verfügen über Handlungsmacht (handeln nach ihrem individuellen Plan) bzw. Erzählautorität (sprechen mit Autorität über das eigene Selbst). Interessant ist diese Parallelität v.a. dann, wenn man sich klar macht, dass in dokumentarischen Filmen x Ereignisse, die aus dem Handeln von Figuren resultieren, x Beziehungen die Hauptfiguren zu ihrer Umwelt haben, wie auch x ihre Verortung in Figurenoppositionen nicht frei entworfen sondern aus real vorhandenen, sozialen Konstellationen herausdestilliert werden. Daraus ergeben sich mehrere Annahmen: Erstens sind reale Personen, die in dieses Figurenschema passen – sich qua Lebensstil, qua Lebenslage oder durch ihr Entwicklungspotenzial von ihrer Umgebung unterscheiden –, als ProtagonistInnen besonders geeignet. Zweitens wird die lebensweltliche Situiertheit von ProtagonistInnen tendenziell immer auf Veränderungspotenziale befragt. Auch sie selbst und ihre biographische Entwicklung sind insbesondere im Hinblick auf bereits erlebte Veränderungen und die Offenheit gegenüber zukünftigen Veränderungen von Interesse. Drittens sind Umgebungen interessant, die nach klaren Reglements strukturiert sind und sich von anderen semantischen Feldern deutlich abgrenzen. Viertens resultieren Figurenoppositionen aus solchen sozialen Beziehungsgefügen, die im Leben der ProtagonistInnen tatsächlich eine Rolle spielen. Im Folgenden wird gezeigt, dass sozialwissenschaftliche Theorien, die das Konzept der Generation fokussieren, ein mit dem strukturanalytisch-narrativen Ansatz vergleichbares Dichotomiedenken beinhalten. Damit wird eine erste gemeinsame Bedeutungsschicht zwischen lebensweltlich-erzieherischen und filmischen Personenkonstellationen deutlich.
Renners Weiterentwicklung des Lotmanschen Ansatzes erwähnt als weitere Möglichkeit die Tilgung bzw. Zerstörung der ursprünglichen Umwelt (vgl. Borstnar/Pabst/Wulff 2002: 159).
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Generationenbeziehungen als typische Figurenopposition Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass in dokumentarischen Filmen mit Jugendhilfethemen die alltagsweltliche Dynamik zwischen den Generationen (z.B. im familiären oder schulischen Kontext) als Konstruktionsprinzip bedeutend ist. Damit wird Generation bzw. Generationenambivalenz zu einem filmischen Gestaltungsmoment, das dem der Figurenopposition ähnlich ist. Diese strukturelle Ähnlichkeit zeigt sich in mehreren Aspekten: x Wie im Strukturmodell der Erzählung werden auch in Generationentheorien die VertreterInnen der Generationen binär gegeneinander in Stellung gebracht: Jüngere gegen Ältere. In beiden Erklärungszusammenhängen stellt also eine Dichotomie zwischen zwei gesellschaftlichen Gruppen die Grundlage für überindividuelle Veränderungsprozesse dar: Die Ereignisstruktur eines Textes ist ursächlich an das Handeln von Figuren gebunden und impliziert Grenzüberschreitungen. Diese Abweichungen von vorgezeichneten Strukturen werden von den einen als nichterlaubte Übertritte bzw. als Rücksichtslosigkeit gegenüber tradierten Prinzipien gesehen und von den anderen als notwendige Veränderung bzw. nächster logischer Schritt aufgefasst. Ähnlich betont Bude, Generation sei kein „Fortschreibungs-, sondern ein Unterbrechungsbegriff“ (Bude 2000: 190). Thematisiert werden stets grundlegende Erfahrungen der Subjekte, die sich durch die Wahrnehmung sozialer Zeit als „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ (Pinder 1928 in Lüscher/Liegle 2003: 59) diversifizieren. Auf diese „chronologisch gegeneinander versetzten Muster der Weltwahrnehmung“ (Matthes 1985 in Lüscher/Liegle 2003: 249) sind die stete Dynamik sowie der soziale Wandel einer Gesellschaft mit zurückzuführen, die zu einem immerzu „neuartigen Zugang zum akkumulierten Kulturgut“ (ebd.) führen. x In beiden Bezügen bildet sich eine grundlegende Dichotomie zwischen Passivität und Aktivität bzw. zwischen Erhalt und Erneuerung ab. Handlungspotenzial wird stets als Potenzial für Strukturinnovation konzipiert: Figurenoppositionen (als Erzählkonstrukte) entstehen in Abhängigkeit von einem relevanten Normen- bzw. „Klassifikationssystem“. Dieses beschreibt Strukturen und dient der Angabe normalisierter, regelmäßiger Aktionen. Darauf bezogen ist zwischen passiven Repräsentanten des Normensystems und aktiven Dissidenten zu unterscheiden. Wo sich jemand positionieren kann, ist nach Maßgabe vorhandener Raumbindungen, d.h. dem VerhaftetSein im Gegebenen, möglich. Wird das Generationenkonstrukt zur Analyse von Gesellschaft herangezogen, werden elementare Erfahrungen von Zugehörigkeit und Differenz in den Blick genommen („Generationenidentität“, „Generationendifferenz“). Generationenzugehörigkeit wird subjektiv, auf
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
der Grundlage von Generationendifferenzen angeeignet (vgl. Lüscher/Liegle 2003: 52) und fördert somit ein Bewusstsein über einen spezifischen Standpunkt gegenüber dem Gegebenen. Subjekte werden in ihrer Generationenzugehörigkeit stets als gesellschaftliche AkteurInnen charakterisiert. Dadurch ist Generation ein Deutungsmuster für das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Interessenlagen wie auch für die Erneuerung etablierter gesellschaftlicher Werte (z.B. durch Jugendproteste) (vgl. ebd.: 252). Schließlich spielt sich in beiden Bezügen die Dichotomie zwischen den Personengruppen auf der Ebene konkreter Beziehungen und im Ausagieren konkreter Konflikte ab. Filmanalytisch von Bedeutung ist daher, dass die Figurenopposition vergleichbar mit der zuvor skizzierten, durch Generationenambivalenzen geprägten Erziehungsbeziehung ist. (Kap. 3.4.1): Im Strukturmodell der Erzählung werden die Beziehungen der Handlungsträger zu ihrer Umwelt fokussiert und nach den Eigenschaften, durch die sie sich von ihrer konkreten Umwelt abheben. Die wichtigste dieser Eigenschaften ist ihre Beweglichkeit und ein damit verbundenes Unabhängigkeitsstreben. Auch Generationenbeziehungen sind, wie zuvor dargestellt, durch kontroverse Eigenschaften gekennzeichnet. Auf Seiten der jüngeren Generation spielt Beweglichkeit im Sinne von Lern- und Entwicklungsfähigkeit eine zentrale Rolle. Angesichts der ambivalenten, d.h. (noch) nicht etablierten Stellung von Heranwachsenden innerhalb ihres ursprünglichen Umfelds nehmen Generationenbeziehungen aber auch die spezifische Gestalt des Generationenkonflikts an. Thematisch konzentriert sich dieser auf Ablösungsfragen.
Die Entwicklungsdynamik, die ein dokumentarischer Film mit diesem Inszenierungs- und Deutungsrahmen aufgreift, ist weitreichend. Typische Erfahrungen, die in Generationenbeziehungen gemacht werden, oder typische Generationen-bedingte Erfahrungen können auch ikonisch inszeniert werden. Damit entsteht eine weitere Möglichkeit, über ProtagonistInnen sozialen Sinn zu erzeugen. Generation wird auf diese Weise als Rezeptionsästhetik genutzt, um auf ein gemeinsames Erfahrungswissen, das ZuschauerInnen und ProtagonistInnen teilen, anzuspielen. Dieses Wissen liegt zwar nicht als identischer Erfahrungsinhalt vor, kann jedoch als biographisch erworbene „strukturidentische Erfahrung“ (Schäffer 2003) vorausgesetzt werden. Im Folgenden wird diese letzte und wichtige Ergänzung zur Kategorie ‚ProtagonistIn’ näher erläutert.
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Konjunktive Erfahrungsräume als Verständigungsmöglichkeit zwischen Film und ZuschauerIn In den wissenssoziologischen Studien von Mannheim wird der Zusammenhang zwischen einer Theorie der Generationen und standortspezifischen Wissensbeständen, die für die Vertreter einer Generation interessensteuernd und handlungsleitend sind, explizit formuliert.72 Es handelt sich dabei um Wissensformen, die milieuspezifische und handlungspraktische Bedeutung haben. Bohnsack, Nentwig-Gresemann und Nohl, die gestützt auf den von Mannheim entwickelten Begriff des „konjunktiven Erfahrungsraums“ eine Methodologie der Erforschung „konjunktiven Wissens“ erarbeitet haben, gehen grundsätzlich davon aus, dass dieses Wissen den Ausgangspunkt für habitualisiertes Handeln darstellt (vgl. Bohnsack/Nentwig-Gresemann/Nohl 2001: 15).73 In der Forschung geht es darum, den kollektiven Erfahrungsraum zu erschließen, der diese impliziten Selbstverständlichkeiten erzeugt (vgl. ebd.). Was dieser Ansatz übertragen auf filmische Darstellungskontexte bedeuteten kann, erklärt Schäffer. Er entwickelt am konkreten Gegenstand von filmisch inszenierten Blickwechseln zwischen Lehrern und Schülern im Klassenzimmer eine Untersuchungsperspektive, die ermittelt, wie „pädagogische Generationenbeziehungen in ihrer habituellen Qualität je unterschiedlich ausgestaltet werden“ (Schäffer 2003: 415). Dabei nimmt er an, dass ein Vorgang relevant ist, den er als „transkonjunktive Codierung“ bezeichnet und durch den einmal die Gestaltungsbemühungen der Filmschaffenden und zum anderen die Erwartungen des Publikums an genretypische Produktionen in ihrer Bezogenheit aufeinander fassbar werden. Beide seien in einem kollektiven Wissen fundiert, das als gemeinsamer Nenner einer medialen Verständigung wirkt. Im Mittelpunkt des wissenssoziologischen Ansatzes stehen – wie auch bei Bohnsack, Nentwig-Gresemann und Nohl – die Überlegungen Mannheims zu konjunktiven Erfahrungsräumen.
72 Ausgangspunkt für diese Theorie war der frühe Essay zum „Problem der Generationen“ (1928), in dem Mannheim den Begriff der „Lagerung im sozialen Raum“ als Verschränkung von sozial-zeitlichen und sozial-räumlichen Erfahrungssettings entwickelt (vgl. Lüscher/Liegle 2003: 246f). 73 Die Spezifik konjunktiven Wissens erklären sie folgendermaßen: „Bezeichnungen und Äußerungen haben einerseits eine öffentliche gesellschaftliche und andererseits eine nicht-öffentliche oder milieuspezifische Bedeutung. So ist uns die öffentliche oder auch wörtliche Bedeutung des Begriffs ‚Familie’ unproblematisch gegeben, da wir alle ein Wissen um die Institution Familie haben. Wir sprechen hier – im Anschluss an Mannheim – von einem kommunikativen oder auch kommunikativ-generalisierten Wissen. Dies ermöglicht uns aber noch keinen Zugang zum Erfahrungsraum der je konkreten Familie in ihrer milieuspezifischen oder auch individuell-fallspezifischen (gruppenspezifischen) Besonderheit. Wir sprechen hier von einem konjunktiven Wissen und von konjunktiven Erfahrungsräumen“ (Bohnsack/Nentwig-Gresemann/Nohl 2001: 14, Herv. i.O.).
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung „Ein konjunktiver, also verbindender, Erfahrungsraum basiert auf gemeinsamen biographischen und kollektivbiographischen Erlebniszusammenhängen derjenigen, die diesem Erfahrungsraum angehören. Er konstituiert sich in verschiedenen, einander bedingenden, dynamisch miteinander verkoppelten Erfahrungsdimensionen, etwa die Erfahrungen der Herkunftsmilieus und die der Geschlechtszugehörigkeit, diejenigen im Beruf und im Bildungssystem sowie der ethnischen Zugehörigkeit und auch die der Zugehörigkeit zu einer Generation“ (ebd.: 399, Herv. i. O.).
Gebunden an diesen Erfahrungsraum bildet sich nun ein spezifisches Wissen aus. Dieses „konjunktive Wissen“ stellt Schäffer einer anderen Form von Wissen, der „kommunikativ-generalisierten Information“ gegenüber. Konjunktives Wissen sei habituelles Wissen und muss innerhalb des Erfahrungsraums nicht interpretativ entschlüsselt werden: „(man) versteht (..) sich im Medium milieuspezifischer Selbstverständlichkeiten“ (ebd.). Kommunikativ-generalisierte Wissensbestände seien demgegenüber eine erfahrungsungebundene Ressource, vergleichbar mit dem von Schütz (1972) so bezeichneten „gut informierten Bürger“. Im Unterschied zu kommunikativ-generalisierten Informationen stehe konjunktives Wissen in einer weitaus stärkeren Abhängigkeit von seiner Quelle, also den Erlebniszusammenhängen, in denen es erworben wurde. Die Möglichkeit, dass das Wissen seine Milieugrenzen überwindet und dadurch exterritorial von Bestand sein kann, sieht Schäffer nun in einer im filmischen Medium gestalteten Transformation. „Es werden Teilbestände konjunktiven Wissens aufgegriffen und metaphorisch in geraffter, kondensierter, konzentrierter und damit auch stereotypisierter Form dargeboten“ (ebd.: 400). In dem Moment, in dem es sich von den konkreten Personen löst, an deren Erfahrungen es geknüpft ist und deren Handeln es leitet, liege es als „soziale Information“ vor. Die ursprünglich konjunktiven Wissensbestände würden dadurch ihre Qualität verändern, behielten aber gegenüber kommunikativ-generalisiertem Wissen ihre ‚Quellenverweise’ als „konjunktive Informationen über Erfahrungen“ bei (ebd.: 402, Herv. i. O.). Schäffer nimmt an, dass der Spielfilm durch die Inszenierung „typischer Interaktionsszenerien“ auf dieses erfahrungsgebundene Wissen verweisen will und dabei die habituellen Aspekte besonders fokussiert, so dass es zu Wiedererkennungseffekten bei den ZuschauerInnen kommen kann (vgl. ebd.): „Als wäre das meine Erfahrung!“.74 Filmanalytisch interessant ist, diese Möglichkeit auf dokumentarische Filme zu beziehen und ikonische Inszenierungsformen auf die Vermittlung von „konjunktiver Information“ hin zu untersuchen. Es ist anzunehmen, dass die Bedeutungsvermittlung in der Weise, geschieht, wie Schäffer sie für den Spielfilm be74
Mehr noch geht er davon aus, dass der Prozess des Codierens – entsprechend dem medienbezogenen Forschungsansatz der cultural studies – eine autonome Fortsetzung bei den ZuschauerInnen findet, die die Inhalte transkonjunktiver Information decodieren, d.h. wieder einpassen in einen ihrer je spezifischen Erfahrungsräume (vgl. ebd.: 401).
3.4 Untersuchungskategorie ProtagonistIn
135
schreibt, nämlich in habituellen Komponenten, die in typischen Interaktionsszenen emergieren. Weiter ist anzunehmen, dass sich das beschriebene Erfahrungswissen nicht ausschließlich in Interaktionen zwischen ProtagonistInnen zeigt, sondern ebenso die ProtagonistInnenerzählung betrifft. Diese stellt also eine weitere Möglichkeit dar, konjunktive Informationen in Form des Erzählens darzustellen. Dabei ist nicht der gesprochene Informationsinhalt, sondern das Charisma, das ProtagonistInnen haben – wie sie reden, welche milieuspezifische Sprache sie gebrauchen, nicht zuletzt welche Emotionen sie den Fragestellern entgegenbringen –, aufschlussreich. Die Unterscheidung von Figur und ProtagonistIn kann damit um einen weiteren substanziellen Parameter ergänzt werden: Eine ProtagonistIn definiert sich als Träger eines spezifischen, konjunktiven Wissens. Identitätsbezogene Fragen werden – und das ist m.E. entscheidend – so thematisiert, dass sie am Einzelfall entwickelt stets auf eine Kollektivbiographie verweisen. Die Funktion einer Figur besteht darin, eine entsprechende (soziologisch definierbare) Konstellation, z.B. ‚SchülerIn-Sein’ anzuzeigen. Erst über ProtagonistInnenhandlungen aber, z.B. Blickwechsel zwischen LehrerIn und SchülerIn, entfaltet sich strukturidentisches Wissen authentisch ohne dabei begrifflich-theoretisch expliziert werden zu müssen. 3.4.3 Bedeutung und Anwendungsperspektive In Abbildung 3 sind die für die Untersuchungskategorie ProtagonistIn relevanten Arbeitsbegriffe aufeinander bezogen. Mit den drei Begriffspaaren sollen die Übertragungsmöglichkeiten der personellen Strukturierungsformen innerhalb sozialpädagogischer Theoriekonzepte auf dokumentarische Filme verdeutlicht werden. x Die Begriffe Subjektivät und ProtagonistIn sind durch den Gedanken der Ermöglichung von Differenz verbunden. Im Kontext sozialpädagogischer Theorie wurde Subjektivität als Modus in sozialen Beziehungen beschrieben, der den Umgang mit Differenz verlangt. Im Kontext dokumentarischer Filme wurde das Wahrnehmen von ProtagistInnen als charismatische Wirkung definiert. Die Wahrnehmungsqualität „ProtagonistIn“ bietet dem Film Fläche zur Differenzierung und Mehrdeutigkeit. Die gemeinsame Bedeutungsschicht zwischen beiden Konzepten kann treffend mit dem Begriff der Individualität zum Ausdruck gebracht werden: „Individualität bezieht sich auf die individuelle Besonderheit. Der Mensch wird als Einzelwesen in seiner einmaligen Existenz und mit unverwechselbaren Merkmalen wahrgenommen“ (Keupp 2001: 804). Hinterlegt ist dieser Wirkung von Subjektivität bzw. Individualität im Film jedoch der Übergang von einer Subjekt- in
136
Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
eine Objektposition, der die (Wirkung von) Subjektivität der ProtagonistIn in besonderer Weise ermöglicht (vgl. Maurer 1996: 133f).
Lebenswelt
Subjektivität Identität Generationenambivalenz
Dokumentarischer Film
Ermöglichung/Wirkung von Differenz Selbstthematisierung Handlungspotenzial in sozialen Konstellationen
ProtagonistIn Protagonistenerzählung Figurenopposition
Konjunktiver Erfahrungsraum
Abbildung 3: x
Gegenüberstellung der Arbeitsbegriffe „Kategorie ProtagonistIn“
Das Begriffspaar Identität und ProtagonistInnenerzählung kann konzeptionell über den Gedanken der Selbstthematisierung verbunden werden. Im Kontext sozialwissenschaftlicher Identitätstheorien erlangt das theoretische Konstrukt einer „narrativen Identität“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004) zunehmend an Bedeutung. Beschrieben wird damit ein Identitätsbildungsprozess, in dem sich das Subjekt seiner selbst durch autobiographische Erzählungen vergewissert. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass Identität heute prozesshaft und in der fragmentarischen Übernahme diverser kultureller Möglichkeiten zustande kommt. Selbstthematisierungen haben in dokumentarischen Filmen – mit dem Erzählkonzept der ProtagonistInnenerzählung – einen vergleichbaren Stellenwert wie in den Sozialwissenschaften: Eine ProtagonistIn besitzt zwar Erzählautorität, da erlebendes und erzählendes Ich auf eine Person fallen, ihre Gedankenwelt wird im filmischen Prozess aber erst (mehr oder weniger) konsistent gemacht. Sie liegt also nicht schon vor, sondern muss erarbeitet werden. Subjektivität im Film ist daher eine wahrnehmungsbezogene Wirkung, die hergestellt ist und v.a. in Selbstthematisierungen der ProtagonistInnen gründet.
3.4 Untersuchungskategorie ProtagonistIn
x
x
137
Die gemeinsame Bedeutungsschicht, die sich zwischen den Begriffen der Generationenambivalenz und der Figurenopposition entdecken lässt, wurde bereits weiter vorne in verschiedenen Aspekten erläutert. Verbindend ist v.a. die Idee eines sich in sozialen Konstellationen entfaltenden Handlungspotenzials, durch das Bewegung und Ereignisse entstehen. Schließlich wurde auch das Konzept des konjunktiven Erfahrungsraums bereits in beiden Bezügen dargestellt. Zentral dabei ist der filmische Effekt, dass die ZuschauerIn sich punktuell in der ProtagonistIn erkennen kann.
Anwendungsperspektive Grundlegend für die Kategorie ‚ProtagonistIn’ ist die Differenzierung zwischen Figur und ProtagonistIn. Eine wesentliche Annahme dabei ist, dass sich mit ProtagonistInnen eine wahrnehmungsbezogene Qualität verbindet, die einen lebensweltlichen Modus in der Themenbehandlung erzeugt. Darin liegt ihre Bedeutung für die vorliegende Untersuchung. Anhand dieses roten Fadens konnten systematisch Aspekte des ProtagonistIn-Seins aus unterschiedlichen Perspektiven ergänzt werden. Nachfolgend werden sie in Form von analytisch-leitenden Teilfragestellungen zusammengetragen: x Betrachtet man einen dokumentarischen Film zunächst hinsichtlich seiner Aufteilung in Figuren und ProtagonistInnen, so ist Folgendes zu untersuchen: Welche Figuren eines dokumentarischen Films sind in der Qualität von ProtagonistInnen eingesetzt? Welche Sachbezüge klären Figuren, die nicht ProtagonistInnen sind (z.B. Reflektorfiguren)? Wie lässt sich die charismatische Wirkung von ProtagonistInnen, die sich „als eigene Botschaft herauslösen“, konkret beschreiben? x Ein weiterer analytischer Anknüpfungspunkt bezieht sich auf die ProtagonistInnenerzählung. In diesem Fall liegt eine besondere Erzählsteuerung vor, dadurch dass den ProtagonistInnen volle Erzählautorität zukommt. Die untersuchten Filme sollen auf ihre Erzählsteuerung hin befragt werden, insbesondere auf den Umfang und die Intensität, in der ProtagonistInnenerzählungen eingesetzt sind. Da in der ProtagonistInnenerzählung erzählendes und erlebendes Ich auf eine Person fallen, kann nach den Erlebnisinhalten und deren subjektiven Bedeutungen gefragt werden. Zu ermitteln ist auch, wie eine „Innenperspektive“, d.h. ein autonomes Wissen der ProtagonistInnen über sich selbst, filmisch konstruiert wird. x Figurenoppositionen stellen in einer strukturanalytischen Perspektive auf Erzählungen die Grundlage von Veränderungen bzw. Ereignissen dar. ProtagonistInnen bilden jene Gruppe von Figuren, deren Veränderungs- bzw.
138
x
Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
Entwicklungspotenzial im Mittelpunkt steht. Ein dokumentarischer Film lässt sich unter dieser Perspektive folgendermaßen untersuchen: Welche Ausgangssituation und welche Veränderungsperspektive ist in der Anordnung von Figuren angelegt? Durch welche Figuren wird das Normensystem repräsentiert und durch welche Instanz wurde es hervorgebracht? Welche Beziehungen haben ProtagonistInnen zu ihrer Umwelt und wodurch heben sie sich von dieser ab? Aus welchen sozialen Beziehungsgeflechten heraus entwickeln sich Figurenoppositionen? Welche sind das? In welchem Verhältnis stehen die Vertreter unterschiedlicher Generationen zueinander? Welche Rolle spielt die Ambivalenz in Generationenbeziehungen thematisch? Wie ist eine generationenbedingte Figurenopposition bildlich repräsentiert und welche Wirkungen entstehen dadurch? Indem dokumentarische Filme konjunktive Erfahrungsräume öffnen, können ZuschauerInnen in ihren eigenen Erfahrungen angesprochen werden. Der Link zwischen ProtagonistInnen und ZuschauerInnen kann an generationenspezifisches Wissen gebunden sein. Es können aber auch, wie am Beispiel des ‚Schüler-Seins’ deutlich wurde, generationenübergreifende, biographische Erfahrungen ausschlaggebend dafür sein, dass ZuschauerInnen sich in den Erfahrungen der ProtagonistInnen wiederfinden. Welche Erfahrungen sind das jeweils? Wie werden aus der Beobachtung des habituellen Verhaltens der ProtagonistInnen ikonische Inszenierungen?
In einer abschließenden Zusammenfassung dieses ersten Untersuchungsschritts (kategorienbezogene Gegenüberstellung von filmischen und sozialpädagogischen Bezugsebenen) wird nun noch einmal auf alle drei Schlüsselkategorien eingegangen. 3.5 Kategorienbezogene Synopse Kapitel drei gilt der Frage, welche gemeinsamen Gestaltungsbereiche zwischen sozialpädagogischer und filmischer Fachlogik auszumachen sind. Mit den drei Untersuchungskategorien wurden solche gemeinsamen Gestaltungsbereiche ausformuliert. Hier soll nun auf knappem Raum verglichen werden, in welchen Aspekten grundlegende Gestaltungsunterschiede bestehen und welche gemeinsamen Bedeutungsschichten in einer jeweils an Raum, Zeit und ProtagonistIn ausgerichteten Gestaltung liegen. Es werden dazu die bereits bekannten Arbeitsbegriffe und ihre konzeptionellen Verbindungen aufgegriffen. In Tabelle 3 werden sie in eine Gesamtübersicht gebracht und teils um einige Stichworte ergänzt.
Zeit
Raum
3.5 Kategorienbezogene Synopse
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Filmsprachliche und narrative Konzepte
Sozialwissenschaftliche Konzepte
Raumqualität Teilräume, Ordnungsstrukturen, Raumbindungen, Raumqualitäten im Vergleich
Raumqualität Milieu, Milieubildung, Netzwerk, Integration, Segregation, Aktivierung
Räumliche Veränderung Identifikation einer Grenze, Ereignisse als Grenzüberschreitungen
Räumliche Veränderung Ausgrenzung, Erfahrungs- und Interessenbildung, Sozialisation
Filmzeit Zeitliche Präsentationsstruktur eines Films, Aufmerksamkeitssteuerung via Montage
Zeitobjekte Lebensweltliche Aneignung, Strukturierung von Gegenwartserleben
Filmische resp. erzählte Zeit Filmische Zeit als ‚Akupunktur’ historischer Zeit, filmischer Zeithorizont, Zeitintervalle, Zeitmarken, modulierende Erzähltechniken
Biographische Zeit Erleben sozialer Zeit und biograph. Arbeit, Zeit im eigenen Verfügungsbereich, individuelles Zeitmanagement und soziale Sinnkonstrukte
Erfahrungsdominante Prozessstrukturen Filmische Prozessstrukturen Konstruktion von Ereignisverkettungen und Prozessstrukturen des Lebenslaufs in der biographischen Erzählung Verlaufskurven durch extradiegetische Erzählinstanz
ProtagonistIn
ProtagonistInnen im Unterschied zu Figuren, charismatische Wirkung, Fensterblicke auf Lebenswelten
Subjektivität im Unterschied zu sozialen Rollen (Sozialcharaktere), Subjektivität durch Ermöglichung von Differenz, Betonung des Subjektstatus von JugendhilfeadressatInnen
Identität als innere Selbstthematisierung ProtagonistInnenerzählung (biogr. motivierte) Selbstmitteilung, autarke Narrative Identität, Dezentrierung des Subjekts Steuerung des Erzählflusses innerhalb einer und Identitätsarbeit konsistent gemachten Gedankenwelt, filmische Innenperspektive Figurenopposition Angelegte Veränderungsperspektive, Beziehungen der ProtagonistInnen zu ihrer Umwelt, Beweglichkeit der Handlungsträger, Handeln im Kontext von Norm- und Abweichung
Generationenambivalenz Generation als Unterbrechungsbegriff, Generationenbeziehungen und Generationenkonflikt, Lern- und Entwicklungspotenzial der zu Erziehenden, Handeln im Kontext von Erhalt und Erneuerung
Konjunktive Erfahrungsräume Filmisch verdichtete, ikonisch inszenierte, strukturidentische Erfahrung
Konjunktive Erfahrungsräume Milieuspezifisches, habituelles Wissen
Tabelle 3: Gegenüberstellung filmsprachlich-narrativer und sozialwissenschaftlicher Konzepte und Arbeitsbegriffe.
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Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
Filmsprachlich-narrative Gestaltungslogik: Fokus auf Veränderung Insgesamt betrachtet zeigt sich, dass in einer filmsprachlich-narrativen Gestaltungslogik die Kategorien ‚Raum’, ‚Zeit’ und ‚ProtagonistIn’ als Prozess- und Entwicklungskategorien Bedeutung haben:75 Im Fall von ‚Raum’ ist es die Dialektik zwischen einer statischen Raumordnung, die als Herkunftsraum eine spezifische Qualität für filmische Figuren erfüllt, und einer räumlichen Veränderung, aus der heraus sich der Ereignischarakter der filmischen Erzählung entwickelt. Entscheidend sind dabei Grenzen und deren Überschreitung. Im Fall von ‚Zeit’ ergibt sich aus drei unterscheidbaren Dynamiken ein filmischer Entwicklungsverlauf: Das sind ein Filmzeit modulierender Montagerhythmus, der den Gesamtaufbau des Films in seiner zeitlichen Präsentationsstruktur prägt (1.). Aufschlussreich ist zudem das Verhältnis zwischen filmischer und nichtfilmischer Zeit. Die filmische Zeit bildet immer eine Auswahl nichtfilmischer Zeit, indem sie Zeitmarken setzt, die im Sinne einer ‚Akupunktur’ von sozialer Zeit gedeutet werden können. Dies geschieht durch Erzähltechniken (zusammenfassend, auslassend, rückblickend, vorgreifend, wiederholend etc.), die eine erzählte bzw. filmische Zeit strukturieren. Die filmische Zeit kann unterschiedlich weite Zeithorizonte etablieren, innerhalb derer sich die Handlung entfaltet. Dabei kann sie gegeneinander versetzte Zeitintervalle integrieren, die Alternativen im Erleben dieser (filmisch etablierten) Zeit verdeutlichen (2.). Schließlich kann der Film auch dadurch, dass er Ereignisse in spezifischer Weise verkettet, bewertende Tendenzaussagen über Prozessverläufe treffen (3.). Im Fall von ‚ProtagonistIn’ ist es vor allem die Dynamik, die aus einer Figurenopposition heraus entsteht. Durch ihre Beweglichkeit bzw. ihr Handlungspotenzial, überwinden ProtagonistInnen Grenzen, verletzen Normen und lösen Ereignisse aus. In der ProtagonistInnenerzählung steuern sie den Erzählfluss. Die zum Ausdruck kommende Subjektivität führt weg von pragmatischen Deutungsmustern und erzeugt mitunter auch Spannung. Durch strukturidentische Erfahrungen baut sich eine spezifische Verbindung zwischen ProtagonistInnen und ZuschauerInnen auf. Wird nun nach einem Pendant zu diesen Facetten einer filmsprachlichen und narrativen Gestaltungslogik in sozialwissenschaftlichen bzw. sozialpädagogischen Fachkontexten gesucht, lässt sich zunächst eine Fokus-Verlagerung feststellen.
75 Vgl. hierzu das in Kapitel 2.3.1 festgestellte Potenzial narrativer Darstellungsformen: Ein Strukturkonflikt wird als Handlungskonflikt (d.h. als personenbezogenes Problemlösehandeln) rezipierbar.
3.5 Kategorienbezogene Synopse
141
Sozialpädagogische Gestaltungslogik: Fokus auf Ressourcen Eine sozialpädagogische Gestaltungslogik nimmt ihren Ausgangspunkt in der Subjekt- bzw. Lebensweltorientierung. Es geht dabei nur begrenzt um eine vorausgehende Gestaltung, die dann von AdressatInnen in Anspruch genommen werden kann, sondern um die Unterstützung ihrer Selbsttätigkeit und damit um eine „selbstbestimmte Ressourcenerschließung“ (Hamburger 2008: 134). Dies hat zur Konsequenz, dass über sozialpädagogische Gestaltungsaufgaben Veränderungen nicht unmittelbar bewirkt werden. In den exemplarischen Ausführungen der drei Kategorien hat sich immer wieder die Wichtigkeit der Selbsttätigkeit sozialpädagogischer AdressatInnen gezeigt. Sozialpädagogische Gestaltungsaufgaben sind flankierend zu sehen, sie machen Gestaltbarkeit erfahrbar und regen zu Selbstthematisierungen an. Die Begriffe „AkteurIn“ und „Empowerment“ sind hierfür treffend. „Empowerment meint die Befähigung der KlientInnen, einen eigenen Beitrag zur Problemlösung erbringen und dafür auch verfügbare soziale Unterstützung (...) aktivieren zu können“ (Böhnisch 2001b: 289). „AkteurIn“ betont die Selbstorganisationsfähigkeit und Selbstzuständigkeit der Menschen in sozialräumlichen Netzwerken. Diese gilt es zu stärken. Gemeinsame Bedeutungsschichten Interessant ist, dass trotz dieser unterschiedlichen Foki bzw. Gestaltungslogiken gemeinsame Bedeutungsschichten gegeben sind: Raum ist eine Ressource für Handlungsfähigkeit, indem darin z.B. bislang übergangene Potenziale aktiviert und Kompetenzen entwickelt werden können. Aus sozialisatorischer Perspektive spielt die Loslösung und Überschreitung von Herkunftsraum v.a. für das junge Erwachsenenalter eine Rolle. Das heißt, hier sind Überschreitungen eine Perspektive. Raum hat demgegenüber (als geschützter, übersichtlicher Raum) auch stabilisierende Funktion, in dem Anerkennung und Vertrauen erfahren werden können. Eine sozialpädagogische Perspektive geht daher über eine ausschließlich auf Veränderungsprozesse zielende Konzipierung von Sozialraum hinaus. Auch Stabilität in einer gegebenen Ordnung kann ein sinnvolles Ziel beschreiben. Demgegenüber wird in einer filmsprachlich-narrativen Gestaltungslogik eine Ordnung lediglich als Ausgangspunkt für Veränderungsprozesse etabliert. In stabilen Verhältnissen liegen grob gesagt keine filmischen Themen. Trotz dieser Diskrepanz bildet das Begriffspaar ‚Raumqualität’ und ‚räumliche Veränderung’ eine gemeinsame begriffliche Basis. Die Begrenzungen und internen Strukturierungen, die eine gegebene räumliche Ordnung ausmachen und die
142
Konzeptueller Rahmen der Untersuchung
Konfliktlinien vorgeben (Ausgangpunkt der Sujetentwicklung), können auf ein sozialpädagogisches Grundinteresse an Raum vor dem Hintergrund von Integration und Ausgrenzung bezogen werden. Zeit als biographische Zeit stellt zunächst eine Aufgabe, aber auch eine Ressource für die Handlungsfähigkeit des Individuums dar.76 Als Ressource verstanden ist der Kontrast zwischen Lebenslauf und biographischer Zeit zentral. Betont das Konzept des Lebenslaufs die standardisierte, institutionengebundene Abfolge von Lebensphasen – eine Schematisierung von Zeiträumen also –, markiert das Konzept der Biographie die Offenheit innerhalb der Lebenslaufstandardisierung. Aus dieser Offenheit ergeben sich die hier relevanten, gemeinsamen Bedeutungsschichten mit den filmischen Strukturierungsformen von Zeit: In der rezeptiven Aneignung von Zeitobjekten mit hoher Erlebnisqualität (z.B. mediale Bewegungskonstrukte) liegen Möglichkeiten, Gegenwartserleben in selbstdosierter Erlebnisdichte zu strukturieren. Ähnlich wird innerhalb eines Films die Aufmerksamkeit durch den Schnittrhythmus gesteuert (1.). Wie bereits verdeutlicht liegt im Erzählen der Biographie ein zentraler Schlüssel zur Lebenserfahrung von AdressatInnen (vgl. Kap. 3.3.2). Biographieorientierte Analysen rekonstruieren erfahrungsdominante Prozessstrukturen im Kontrast zu objektiven Zeitbezügen. Auch dokumentarische Filme nehmen spezifische Ereignisverkettungen vor und konstruieren Verlaufskurven. Dadurch schaffen sie eine Hintergrundkonstellation, vor der Zukunftsoptionen der ProtagonistInnen erwartbar gemacht werden (2.). Indem sozialpädagogische Fachlichkeit Selbststeuerungskompetenzen unterstützt, formuliert sie nicht nur ihre Hilfeleistungen, sondern auch das Bild ihrer AdressatInnen als HerstellerInnen eigener Zeithorizonte und -intervalle (3.). Im Unterschied zur filmischen Zeit, die in ihrem entfalteten Zeithorizont immer begrenzt bzw. abgeschlossen wird, ist biographische Zeit mit einer kontingenten Zukunft konfrontiert. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Gestaltungsvoraussetzungen grundlegend. Auch soziale Beziehungen sind, wie in Kapitel 3.4.1 gezeigt, als Ressourcen für die Entwicklung von Subjektivität und Handlungsfähigkeit zu begreifen: Subjektivität, die kein gegenüber der Umwelt „autonomes Kernsubjekt“ (Keupp/ Hohl 2006: 9) zum Ausgangspunkt nimmt, schöpft ihre Ressourcen zur Handlungsfähigkeit aus sozialen Konstellationen und Beziehungsgeflechten. Auch hier zeigt sich eine Parallele zur Freiheit der ProtagonistInnen. Die Freiheit von ProtagonistInnen gegenüber der sozialen Umwelt ist zwar durch ihr Handlungs76
Verstanden als Aufgabe und Kompetenz meint Biographie die Gestaltungsaufgabe des individuellen Lebens „zwischen Anpassung und widerständiger Selbstbehauptung“ (Bitzan/Bolay/Thiersch 2006: 259). Schumann (2008) spricht in diesem Zusammenhang von „biographischer Arbeit“. Mit „Biographizität“ ist die Fähigkeit gemeint, „Unvorhersehbares, Überraschendes, Neues biographisch zu integrieren“ (Stauber/Kaschuba 2006: 240 mit Bezug auf Alheit/Dausien 1999).
3.5 Kategorienbezogene Synopse
143
potenzial ermöglicht. Ihre Handlungsautonomie wird jedoch erst in Relation zu den Personen thematisierbar, die ihre Differenzen anerkennen (1.). Schließlich ist das Handlungspotenzial von ProtagonistInnen mit dem von AkteurInnen in einer bürgerrechtlichen AdressatInnenperspektive vergleichbar. Um das zu verdeutlichen, kann auch hier auf den Begriff des Empowerments zurückgegriffen werden: „Empowerment meint schließlich auch die Stärkung der Selbstorganisationsfähigkeit und Aktivierung der AdressatInnen. Dazu zählen „Raum zur Selbstthematisierung“ wie auch eine in einem „kooperativen Interventionsverständnis“ strukturierte Arbeitsbeziehung zwischen Fachkraft und AdressatIn (vgl. Böhnisch 2001b: 295). Die Arbeitsbeziehungen von FilmemacherIn und ProtagonistIn und von Fachkraft und AkteurIn sind diesbezüglich ähnlich strukturiert. Beide Beziehungsformen basieren auf einer koproduktiven Basis, die die Anerkennung des Gegenübers als betroffener Person (Mangel an Handlungsmöglichkeiten) und zugleich Person mit Bürgerstatus (Handlungsmächtigkeit), als ExpertIn in eigener Sache (Selbstdeutungen) und SelbstdarstellerIn verlangt (2.). Die Gegenüberstellung von diesen Konzepten und Arbeitsbegriffen hat das Ziel, eine Idee von dem Potenzial zu entwickeln, das in dokumentarischen Darstellungsweisen für sozialpädagogische Fragestellungen enthalten sein könnte. Der fundierte Nachvollzug, wie also räumliche, zeitliche und protagonistInnenbezogene Darstellungen mit sozialwissenschaftlichen bzw. sozialpädagogischen Begriffen zusammenhängen, ist jedoch im konkreten Fall zu leisten. Dies stellt die Herausforderung für die drei exemplarischen Filmanalysen in den Kapiteln 5, 6 und 7 dar. Zuvor wird jedoch das empirisch-methodische Vorgehen der filmanalytischen Untersuchung dargestellt.
4 Empirisch-methodisches Vorgehen
Im Folgenden werden die Überlegungen vorgestellt, die zur Auswahl der drei Untersuchungsfilme geführt haben (Kap 4.1). Ferner wird die filmanalytische Methodik in ihrer theoretischen Reichweite abgesteckt und ihre konkrete Anwendung auf die Untersuchungsfilme nachvollzogen (Kap. 4.2). 4.1 Begründung der Filmauswahl Im Mittelpunkt der Studie stehen drei ausgewählte dokumentarische Filme: „Ich war das perfekte Kind“ von Heidi und Bernd Umbreit, produziert für die WDRRedaktion „Menschen hautnah“ 2005, „Schule des Lebens“, ein Film von Petra Mäussnest für die ZDF-Redaktion ‚Das kleine Fernsehspiel’ 2005 und „Der Kick“, ein Kinofilm von Andres Veiel, der vom ZDF Theaterkanal 2006 koproduziert wurde. Mit der Auswahl dieser drei konkreten Beiträge erfuhr die Untersuchung einen wesentlichen Zuschnitt, da die Darstellungsweisen dieser und nicht anderer Filme zum Bezugspunkt gemacht wurden. Das heißt, an dieser engen Eingrenzung des Gegenstands wurde – entsprechend der Untersuchungsidee (vgl. Kap. 1) – der Darstellungs- und Gestaltungsspielraum von dokumentarischen Filmen empirisch untersucht und eingeschätzt. Deshalb ist wichtig, die Auswahlüberlegungen offen zu legen und zu zeigen, für welche Kategorien die Filme jeweils stehen. Dies gilt v.a. im Hinblick auf die Verallgemeinerungsmöglichkeiten der Ergebnisse. Im Folgenden werden die leitenden Überlegungen ausführlich dargestellt. Ihr Ausgangspunkt liegt in einer theoretischen Samplingstrategie. Die Auswahl der Filme orientierte sich – da eine theoretische Samplingstrategie zugrunde gelegt wurde – an konkret-inhaltlichen und nicht an abstraktmethodologischen Auswahlüberlegungen, die vorab festgelegt sind (vgl. Flick 1995: 85). Die damit gegebenen Möglichkeiten im Rahmen qualitativer Forschungsstudien lassen sich am deutlichsten am Konzept der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996) klar machen. Nach Überlegungen der Grounded Theory entwickelt sich eine Samplingstrategie entlang des gegenstandbezogenen Theoriebildungsprozesses und der sich darin schrittweise herauskristallisierenden Erkenntnisse. Diese Erkenntnisse werden logisch dafür genutzt zu entscheiden,
146
Empirisch-methodisches Vorgehen
welche Fälle weiterhin einzubeziehen sind, um den Theoriebildungsprozess von seinem aktuellen Stand aus weiterzubringen. Neue Untersuchungseinheiten werden „nach ihrem (zu erwarteten) Gehalt an Neuem für die zu entwickelnde Theorie“ aufgenommen (Flick 1995: 82). Eine solche Strategie wird als theoretisches Sampling bezeichnet (ausführlich in Strauss/Corbin 1996: 148ff). Flick hebt mit Bezug auf Wiedemann (1991) folgende Eigenschaften des theoretischen Samplings hervor: Im Unterschied zu einer vorab festgelegten, statischen Samplingstruktur sind der Umfang der Grundgesamtheit von möglichen Untersuchungseinheiten (Ereignissen, Gruppen, Institutionen etc.) wie auch Merkmale der Grundgesamtheit vorab unbekannt. Gegenüber einem statischen Sampling erfolgt die Stichprobenziehung nicht einmalig, sondern es wird mehrfach im Forschungsverlauf nach „jeweils neu festzulegenden Kriterien“ eine Fallauswahl getroffen. Die Stichprobengröße ist nicht wie beim statischen Sampling vorab definiert und das Sampling kommt dann zu einem Ende, wenn eine theoretische Sättigung erreicht ist und nicht erst, wenn die gesamte Stichprobe untersucht ist (vgl. Flick 1995: 83). An diesen Eigenschaften wird der Vorteil einer solchen schrittweisen Vorgehensweise der Auswahl kenntlich: Er besteht darin, dass eine dynamische Samplingstruktur bereits theoriebildend wirkt, d.h. zu Erkenntnissen über die Grundgesamtheit, die den Forschungsgegenstand ausmacht, führt. Da bislang kein gesichertes Wissen über den Umfang und die Ausprägung von Dokumentarfilmthemen zu Fragen der Jugendhilfe und sozialpädagogischer Jugendtheorie existiert – und somit zur Festlegung einer Stichprobe nicht auf entsprechende Vorarbeiten zurückgegriffen werden kann –, ist es sinnvoll den eben beschriebenen Effekt des theoretischen Samplings zu nutzen. Konkret bedeutete das, dass mit der Erarbeitung der Stichprobe erstens Auskunft über den Umfang der Grundgesamtheit erlangt werden sollte. Das heißt, es sollte aufgeklärt werden, wie viele Filme in welcher Häufigkeit zum relevanten Themenbereich überhaupt produziert und im Fernsehen innerhalb eines bestimmten Zeitraums ausgestrahlt wurden. Zweitens sollten Merkmale der Grundgesamtheit erkennbar werden, d.h. die Masse der Filme, die als Grundgesamtheit angesehen werden, sollte intern nach theorierelevanten Kriterien strukturiert bzw. typisiert werden. Drittens war die Verortung der Filme, die eine Grundgesamtheit bilden, noch unbekannt und musste zunächst festgestellt werden. Dazu waren mehrere vorbereitende Schritte notwendig: Zunächst wurde ein Sendeplatzschema entwickelt, um die Verortung der Themen festzustellen (vgl. Kap. 4.1.1). Weiter wurde ein Filmkorpus der relevanten Beiträge angelegt und fortgeschrieben, um ihren zahlenmäßigen Umfang abzuklären (vgl. Kap. 4.1.2). Nachdem die Relevanz von Jugendhilfethemen im dokumentarischen Fernsehen auf
4.1 Begründung der Filmauswahl
147
diese Weise eingeschätzt werden konnte, sollten inhaltliche Aspekte berücksichtigt werden. Auf der Grundlage einer zusammenfassenden Inhaltsbeschreibung war dann eine thematische Strukturierung und Kategorisierung der zusammengestellten Fernsehbeiträge möglich (vgl. Kap. 4.1.3). Vor diesem Hintergrund wurde eine konkrete Filmauswahl getroffen. Die Arbeitsschritte gestalteten sich im Einzelnen folgendermaßen: 4.1.1 Verortung des Themenbereichs – Erstellung eines Sendeplatzschemas Thematisch konzentriert sich die Filmauswahl auf Beiträge, die dem Aufgabenund Wissensgebiet der Kinder- und Jugendhilfe zugeordnet werden können: Beiträge also, die über konkrete und potenzielle AdressatInnen – deren Lebenslagen und Bewältigungsstrategien –, über Hilfe- und Unterstützungsformen – professionelle und ehrenamtliche – sowie über institutionelle und infrastrukturelle Gestaltungsprozesse berichten (kurz: Jugendhilfethemen). Ihr Verbreitungsort ist das deutsche Fernsehen. Wo in der Programmlogik des Fernsehens sind derlei Themen nun verortet? An welchen Stellen im Programmablauf der einzelnen Sender sind sie zu finden? Gibt es für die Thematisierung ‚jugendbezogener sozialer Themen’ eigens reservierte Sendeplätze bzw. in welches umfassendere Stoffgebiet sind sie integriert? Das Fernsehen selbst bzw. seine beobachtenden Institutionen führen bislang keine öffentlich zugängliche Statistik über die Häufigkeit und Verortung bestimmter Themen im dokumentarischen Fernsehen. Im Vorwort einer Studie zur „Ausdifferenzierung des Dokumentarischen im Fernsehen“ wird allerdings betont, dass aufgrund von gegenwärtigen Trends und bemerkbaren Veränderungen ein detaillierter Einblick in die Programmentwicklung der dokumentarischen Formen im Fernsehen sinnvoll und notwendig sei.77 Zwei Befunde, die im Rahmen der genannten Studie erzielt wurden, sind für die hier zu treffende, theoretisch begründete Filmauswahl weiterführend: Erstens ist der Einfluss der Redaktionen auf die Produkte, die im Rahmen eines Sendeformats gezeigt werden, als zunehmend bedeutsam einzuschätzen. Dieser Prozess wird als „Formatierung“ bzw. „Formatbildung“ bezeichnet: „Ein Format umfasst alle Elemente des Erscheinungsbildes einer Sendung. Die Formatierung des Programms dient der quotenbezogenen Optimierung der Inhalte, ihrer Präsentationsformen 77 Die Studie wurde 2003 im Auftrag des Grimme-Instituts durchführt und von der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen veröffentlicht. Untersucht wurde das Programmangebot im Oktober 2002. Dazu wurden alle im Stichprobenmonat ausgestrahlten Dokumentationen – 1481 an der Zahl erfasst. Im Abstand von zwei Jahren wurde die Ersterhebung mittels aktueller Daten fortgeschrieben (Wolf 2003 und 2005).
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Empirisch-methodisches Vorgehen und der Zuschaueradressierung. (...) Formate sind also spezialisierte und optimierte Sendeplätze, die mit Filmen geeigneter Machart gefüllt werden. Dabei muss man auch mit Konjunkturen rechnen, thematisch wie ästhetisch“ (Wolf 2005: 3f).
Der beschriebene Formatierungsprozess bedingt, dass die Formreinheit von unterschiedlichen dokumentarischen Genres wie die Reportage, die Dokumentation, das Feature sich zugunsten einer stärkeren Bindung der einzelnen Beiträge an ihr „Sendungsformat“ auflöst. Der Effekt dieser Veränderung liegt in ‚marketypischen’ Kombinationen von Thema und Machart, die einen bestimmten Stil der Aufbereitung charakterisieren. Als eingängiges Beispiel dafür führt Wolf die zeitgeschichtlichen Sendeplätze des ZDF aus der Redaktion von Guido Knopp an (vgl. Wolf 2003: 62). Inwieweit Formatvorgaben einzelne Beiträge standardisieren, sei Sendeplatz abhängig (vgl. Wolf 2003: 62). Bereits in der Ersterhebung 2002 erkennt Wolf eine Tendenz zu sogenannten Hybridformaten. Anhand der 2004 und 2005 erhobenen Daten schält sich diese Tendenz noch deutlicher heraus. Hybridformate bezeichnen neuartige Mischungen von Erzählformen, die traditionell nicht miteinander kombiniert werden. Häufig sollen diese Innovationen den Unterhaltungswert eines Themas steigern, z.B. in der „Doku-Soap“ durch die Kombination von Reportage und fiktionaler TV-Serie oder in der „Living history“ durch die Kombination von Dokumentation und szenischer Nachstellung (vgl. ebd.: 69ff). Für die Filmauswahl leiteten sich davon formale Konsequenzen ab: War zunächst geplant, die Untersuchung auf einheitliche, in der Fachliteratur definierte ‚Textsorten’ zu begrenzen (konkret auf die Reportage und Dokumentation), erschien dies in Kenntnis der Ergebnisse von Wolf als nicht sinnvoll. Demgegenüber sollten der Sendeplatz und die diesbezüglich geltenden Formatvorgaben grundlegend berücksichtigt werden, da sie dokumentarische Beiträge in der Praxis stärker beeinflussen als fachtheoretisch markierte Grundformen dies tun. Folgende formalen Kriterien wurden für eine zu treffende Filmauswahl festgelegt: x In Frage kommen Dokumentarfilme, Dokumentationen, Fernsehreportagen und Mischformen dokumentarischer Genres in einer Mindestlänge von 25 Minuten.78 x Die Beiträge sollen im Rahmen eines definierten Sendeformats, einer Programmreihe oder als Einzelfilm im deutschsprachigen Fernsehen ausgestrahlt worden sein. Moderierte Magazinsendungen, Nachrichtenberichterstattung sowie Reality-Shows werden nicht berücksichtigt.
78 Mit Bezug auf Wolf (2003: 15f) stellt eine Filmlänge von 25 Minuten eine Untergrenze für eigenständige Formate im dokumentarischen Fernsehen dar.
4.1 Begründung der Filmauswahl
x x
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Die konkrete Auswahl soll sich auf aktuelle Filme der letzten drei Jahre (2005-2008) beziehen. Eigenproduktionen der Redaktionen sind ebenso von Interesse wie auch (kofinanzierte) Auftragsproduktionen.
Neben dem zu beachtenden Einfluss der Redaktionen sind zweitens die statistischen Befunde der Untersuchung zum dokumentarischen Fernsehen von Interesse. Sie geben teilweise Aufschluss über die Verbreitung des hier relevanten Inhalts. Unter anderem befragt Wolf seine Stichprobe nach den darin vertretenen Themenfeldern. Er unterscheidet im Vorfeld 12 Rubriken, denen er die erfassten Sendungen zuordnet. Darunter sind vier Rubriken, die er mit „Gesellschaft“ überschreibt und innerhalb derer er – wie folgende Erklärung zeigt – auch soziale Themen verortet: „Dem Bereich Gesellschaft sind vier Themenfelder zugeordnet. Die Unterscheidung orientiert sich in diesem Fall am Beispiel der Studie ‚Programmalltag in Deutschland’ von Hans-Jürgen Weiß. Weiß unterscheidet dabei für die Themenstruktur der Fernsehpublizistik die Kategorien ‚Politische und andere gesellschaftlich kontroverse Themen’, ‚Nicht-politische Sachthemen’, ‚Human-Touch-Themen’ (wie Personality, Kriminalität) und ‚Lebensweltthemen’ (wie Verbraucher, Physis- und Psychothemen)“ (ebd. 37). Folgende Tabelle 4, die der Studie entnommen ist, verdeutlicht den Stellenwert der angeführten Themenfelder: Themenfelder nach Häufigkeit Themenfeld
Anzahl der Sendungen
Reise/Kultur Gesellschaft/Politisch Tier Gesellschaft/Lebenswelt Kunst/Kultur Zeitgeschichte Gesellschaft/Human-Touch-Themen Gesellschaft/Nicht-politische Sachthemen Wissenschaft/Technik Geschichte Natur Reise/Natur nicht einzuordnen
375 199 171 124 122 116 106 94 63 58 21 20 12
Gesamt
1481
Tabelle 4: Wolf 2003, Seite 39
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Empirisch-methodisches Vorgehen
Die Auflistung kann so interpretiert werden, dass soziale Themen zwar ein typischer Stoff für dokumentarische Filme sind, jedoch nicht als eigenständiges Themengebiet erfasst werden. Hinweise auf ein Themenfeld Jugend fehlen. Es ist davon auszugehen, dass es Subthema innerhalb der sozialen Themen ist. Das heißt, die Relevanz von Jugendhilfethemen bleibt ungeklärt, der gesuchte Themenzuschnitt kann lediglich vage eingekreist werden. Die themenbezogene Auswertung, die Wolf vornimmt, erwies sich zwar als hilfreiche, aber noch unzureichende Spur, um zu erkennen, welche Sendeformate für Jugendhilfethemen aufgeschlossen sind. Deshalb waren diese weiteren Arbeitsschritte notwendig: x Eine Programmbeobachtung mit dem Ziel, ein wöchentliches Sendeschema zu finden, das die thematisch zentralen Programmformate der Sendeanstalten beinhaltet. x Eine Inhaltsrecherche zu den Programmformaten und -plätzen, die überwiegend soziale Themen behandeln. Das Ergebnis dieser beiden Arbeitsschritte ist folgendes Sendeplatzschema: Es basiert auf einer Programmbeobachtung und der Sendeplatzauflistung, die Wolf als Serviceteil seiner Expertise anfügt (vgl. ebd.: 185-229). Insgesamt erwiesen sich – neben Einzelsendungen und mehrteiligen Reihen – folgende Formate als besonders relevant: 79 Sa
So
Mo
3sat -Doku. ARD - Doku. BR - „Lebenslinien“ 3sat - Re- arte - The3sat - Doku. port. menabend
Di
Mi
Do
Fr
ZDF - „37 Grad“
3sat - Doku.
3sat - Doku.
-
WDR - „Men- 3sat - „MädSWR - „Men- schen hautnah“ chengeschichschen unter ten“ 3sat - Dok. WDR -„die story“ ARD - Doku. uns“ Film Kabel 1 - K1 SWR - „Betrifft“ Pro7 - Report. Reportage VOX - „süddeutSWR - „Junger sche TV“ Dok.film“; ZDF - „Das kleine MDR - „Nah Fernsehspiel“ dran“
Tabelle 5: Relevante Sendeplätze im Programmbeobachtungszeitraum 2004
79 Die einzelnen Sendeplätze werden an dieser Stelle nicht näher beschrieben. Eine aufschlussreiche Übersicht bietet die Handreichung „Schema F – Dokumentarische Formate im Fernsehen“ zum gleichnamigen Symposium der Dokumentarfilminitiative NRW 2003.
4.1 Begründung der Filmauswahl
151
Im Rahmen der Programmbeobachtung - die nachstehend noch genauer beschrieben wird – zeigte sich, dass Jugendhilfethemen quer zu den unterschiedlichen Redaktionen, Sendungsformaten und Programmreihen des dokumentarischen Fernsehens liegen und in der Logik der Sendeanstalten unter die weite Rubrik der ‚gesellschaftlichen Themen’ fallen. Grundsätzlich bestätigen sich in der Erarbeitung des Sendeplatzschemas auch die Feststellungen, die Wolf allgemein trifft: der überwiegende Teil dokumentarischer Sendungen ist im Programm der öffentlich-rechtlichen Sender verortet (vgl. ebd.: 18).80 Kurze Formatlängen, d.h. 30 oder 45minütige Sendungen dominieren gegenüber dokumentarischen Sendungen, die 60 Minuten oder länger sind (vgl. ebd.: 24). Etwa zwei Drittel der dokumentarischen Sendungen sind durch die Sendeplatz- bzw. die Reihenbindung in ihrer Form beeinflusst;81 demgegenüber sind ein Drittel der Filme als „Einzelstück“ ins Programm eingebunden (vgl. ebd.: 28). Die Erarbeitung dieses Sendeschemas hat sich mit der Erstellung des Filmkorpus überschnitten. Auch diesem nachfolgend beschriebenen Arbeitsschritt ging die Themenrecherche in den Archiven der Redaktionen voraus. 4.1.2 Umfang des Themenbereichs – Erstellung eines Filmkorpus Ein Filmkorpus, d.h. der Ausschnitt von Filmen, auf die argumentativ Bezug genommen wird, ist ein notwendiger Bestandteil einer jeden theoriebildenden Arbeit zum Thema Film (vgl. Schillmanns 1995: 13f). Es kann sich dabei um ein Genre von Filmen handeln, aktuelle Filme der letzten Jahre oder auch Filme, die den gleichen kulturellen oder wirtschaftlichen Entstehungskontext aufweisen. Im Kontext dieser Untersuchung ist es das Thema eines dokumentarischen Fernsehfilms, das über die Aufnahme in das Korpus entscheidet. Die berücksichtigten Filme bilden implizit, als lose gedankliche Gruppierung, oder explizit, als intersubjektiv nachvollziehbarer Materialbestand, ein Filmkorpus. Im Unterschied zu einer rein theoretisch bestimmten Grundgesamtheit von Untersuchungseinheiten meint das Filmkorpus einen konkreten Katalog von Filmen, die den Gegenstand der Auseinandersetzung bilden. Im Rahmen dieser Forschungsarbeit, die sich auf die Interpretation weniger Einzelfilme konzentriert, kommen der Zusammenstellung eines solchen Katalogs zwei Funktionen zu: Sie ist erstens zunächst ein notwendiger Zwischenschritt 80 Inzwischen haben Privatsender im Bereich von erzieherischen Fragen durch Formate wie die Prime-Time-Doku „Super Nanny“, die in drei Ländern (Großbritannien, Deutschland und Österreich) erfolgreich läuft, einen Bedeutungszuwachs erlangt (vgl. Grimm 2007 zur Popularität ders.). 81 Teilweise sind hier auch die Kirchenredaktionen der Sender Mitgestalter der Programmplätze, z.B. von 37 Grad (ZDF), von „Menschen unter uns“ (SWR) und von „nah dran“ (MDR).
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Empirisch-methodisches Vorgehen
zur Bestimmung der exemplarischen Filme. Das heißt, nicht alle Filme des Materialkorpus werden interpretiert, könnten jedoch potenziell zur Interpretation herangezogen werden. Die tatsächlich ausgewählten Filme erfüllen eine stellvertretende Funktion für die größere Zusammenstellung im Hintergrund. Anhand dieses Bezugsfelds konturiert sich zweitens der Umfang des Themenbereichs im dokumentarischen Fernsehen. Es entwickeln sich Hinweise darauf, wie häufig und in welcher Regelmäßigkeit entsprechende Beiträge ausgestrahlt werden. Diese Kenntnisse tragen wiederum zur Legitimation der Untersuchungsidee bei. Im Folgenden werden das Filmkorpus sowie seine Erarbeitung beschrieben. Das Filmkorpus verweist auf 114 Filme, die katalogisiert wurden. Neben formalen Angaben wie Filmtitel, Sender, Sendeplatz, Format, Länge, Ausstrahlungsdatum und FilmemacherIn, sind der Inhalt des Beitrags in Stichworten, Besonderheiten, die den Beitrag betreffen (z.B. eine Filmförderung, Nominierung oder Auszeichnung mit einem Preis), und der Recherche-Status, d.h. in welcher Form der Inhalt zugänglich ist, erfasst. In Bezug auf letztgenanntes Beschreibungsmerkmal wird zwischen einer kurzen Programmankündigung, wie sie in Fernsehzeitschriften oder Tageszeitungen üblich ist, einer ausführlicheren Begleitinformation zum Film, die zumeist über die Redaktion bzw. den Filmverleih zugänglich ist und der Aufzeichnung des Filmbeitrags unterschieden. Wurde der aufgezeichnete Beitrag zudem gesichtet, ist auch das vermerkt. Die farbliche Kennzeichnung der Inhaltsbezeichnung bezieht sich auf die im folgenden Kapitel 4.1.3 entwickelten Themenkategorien, die auf diese Weise unterschieden sind. Der Katalog umfasst Filme, die zwischen 1991 und 2007 ausgestrahlt wurden. Dieser relativ lange Zeitraum wurde jedoch nicht gleichermaßen ausführlich ausgewertet. Intensiv betrachtet wurde die Zeit zwischen Juni und Oktober 2004. Mit Hilfe des oben vorgestellten Sendeschemas wurde das Programm über den Zeitraum hinaus selektiv nach Sendeplätzen ausgewertet und entsprechende ‚Treffer’ in das Filmkorpus aufgenommen. Ebenso wurden die Archive dieser Sendeplätze nach relevanten Sendungen, die vor dem Programmbeobachtungszeitraum ausgestrahlt wurden, durchsucht. Hinzugekommen sind weiterhin Beiträge, die auch außerhalb dieses, zumeist drei bis vier Jahre zurückreichenden Archivierungshorizonts liegen. Diese älteren Filme konnten über externe Archive sondiert werden. Die Erarbeitung des Filmkorpus gestaltete sich wie im Folgenden beschrieben. x Arbeitsschritt 1: wöchentliche Programmbeobachtung Im Rahmen einer wöchentlichen Programmrecherche wurde nach Dokumentarfilmen Dokumentationen und Fernsehreportagen in einer Mindestlänge von 25 Minuten gesucht, die Jugendhilfe relevante Themen behandeln. Dazu wurde eine Fernsehprogrammzeitschrift mit ausführlichen Programmankündigungen ge-
4.1 Begründung der Filmauswahl
153
nutzt. 22 Wochen lang, in der Zeit von Juni bis Oktober 2004 wurde das Fernsehprogramm auf diese Weise komplett durchgearbeitet. Die entsprechenden Beiträge wurden aufgezeichnet, zur Hälfte gesichtet und mit ihrem Begleittext, der auf den Internetseiten der Redaktionen zugänglich ist, dokumentiert. Die Entscheidung, ob ein Beitrag inhaltlich relevant ist, wurde im Einzelnen anhand der Programmankündigung und vor dem Hintergrund meines Überblickwissens zur Jugendhilfe getroffen. Rund ein Drittel der im Filmkorpus aufgelisteten Beiträge (37 Filme) wurden in diesem Zeitraum erfasst. Durchschnittlich sind das ein bis zwei Filme pro Woche.82 Weitere zwei Drittel gehen auf Archivrecherchen zurück. x Arbeitsschritt 2: Archivrecherchen Mehrere Archive wurden herangezogen. Das Sendeplatzschema diente als Selektionsmuster. Das heißt, die darin verzeichneten Sendeplätze wurden mittels der Informationsseiten, die im Internet bereitgestellt sind, in der Programmvorschau auf kommende Sendungen ebenso wie im Rückblick auf zurückliegende Sendungen durchsucht. Zusätzlich zu den Archiven der Sender wurden externe Datenbanken wie auch weitere Archive genutzt. Das waren zum einen die Datendank des „Haus des Dokumentarfilms“ und die Datenbank der „Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg“, die kombiniert online abgefragt werden können, zum anderen das Filmarchiv der Medienabteilung der Universität Tübingen.83 Da diese Datenbanken über Suchwortabfragen (Schlagwort- und Volltextsuche) funktionieren, war es notwendig, zunächst ein Begriffsfeld zu definieren, nach dem die Filmbeschreibungen durchsucht werden konnten. Dazu wurden die Wortstämme „erzieh*“, „Jugend*“, „sozial*“, „pädago*“ eingesetzt und um die Begriffe „Mädchen“ und „Junge“ ergänzt.
82
Vergleicht man diese Zahl mit Wolfs Erhebung im Stichprobenmonat Oktober 2002 erscheint sie verschwindend gering. Wolfs Daten ergeben etwa 329 Sendungen pro Woche. Darin enthalten sind jedoch etliche Wiederholungen wie auch Mehrfachausstrahlungen in den dritten Programmen (vgl. Wolf 2003: 17), die hier nicht gzählt wurden. Ein Unterschied besteht auch darin, dass Wolf das Programm der ganzen Bundesrepublik im Stichprobenmonat erfasst hat. Hier wurden die im Empfangsbereich des Providers Kabel Bawü über Kabel verbreiteten Fernsehprogramme berücksichtigt. 83 Diese letztgenannte Filmsammlung beinhaltet hauptsächlich klassische Dokumentarfilme älteren Jahrgangs, wie z.B. Filme des Direct Cinema und des Cinema Verité, die in der Dokumentarfilmtheorie mitunter als Meilensteine Erwähnung finden. Sie wurden aufgrund ihres Entstehungsdatums für den Filmkatalog nicht berücksichtigt, ergänzten als Anschauungsbeispiele jedoch sinnvoll die Theorielektüre.
154
Empirisch-methodisches Vorgehen
x Arbeitschritt 3: Recherche nach Jugendhilfe-preisgekrönten Filmen Ein dritter Zugang zu Filmen mit Jugendhilfe relevanter Themenstellung wurde über die sozialpädagogische Fachöffentlichkeit gesucht. Da Sozialpädagogik resp. Jugendhilfe ein Eigeninteresse daran hat, dass über fachliche Themenstellungen in angemessener Weise öffentlich berichtet wird84, ist der Dialog mit den Medien wesentlich. Dieser kann beispielsweise in Form von Auszeichnungen für Produktionen, die unter fachlichen Gesichtpunkten besonders zu begrüßen sind, stattfinden. Die Auszeichnungen von zwei Dachverbänden erwiesen sich innerhalb dieses Rechercheschritts als relevant: Erstens der von der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ) ausgeschriebene ‚Medienpreis der Jugendhilfe’, der journalistische Arbeiten auszeichnet, die „abseits von schlagzeilenträchtiger und oberflächlicher Vermarktung von ‚Jugendthemen’ fundiert, einfühlsam und mit kritischem Blick Jugend und Kinder- und Jugendhilfe zum Thema machen. Die Breite der Arbeitsfelder, die Vielfalt der Trägerlandschaft, das große Engagement der ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe soll mehr Bürgerinnen und Bürgern bekannt gemacht werden. Der Deutsche Kinder- und Jugendhilfepreis soll Journalistinnen und Journalisten in diesem Sinne in ihrer Arbeit motivieren und bestärken“ (Vorstand der AGJ 2006). Zweitens lobt die Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege e.V. mit dem „Deutschen Sozialpreis“ bereits seit 1971 fachlich herausragende Medienproduktionen aus. „Dabei steht die Wirkung auf das gesellschaftliche Bewußtsein im Mittelpunkt. Ausgezeichnet werden Beiträge in den Sparten Print, Hörfunk und Fernsehen, die sich mit den besonderen Situationen oder Problemen Not leidender und sozial benachteiligter Menschen in Deutschland auseinander setzen“ (BAGFW 2007). Die via Internet zugänglichen Preisträgerlisten beider Ausschreibungen wurden auf entsprechende Beiträge durchgesehen und einige preisgekrönte Filme wurden auf diese Weise – auch wenn ihr Entstehungsdatum relativ weit zurück liegt – in den Filmkatalog aufgenommen. 84
Das Verhältnis der Sozialpädagogik zur medialen Öffentlichkeit wurde zuletzt ausführlich im Anschluss an einen von der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 1998 veranstalteten Kongress „Medien-Generation“ behandelt. Im Ankündigungstext zum Symposium „Öffentlichkeit – Medialer Handlungsdruck und Erfahrungsrahmen einer reflexiven Sozialpädagogik“ heißt es, dass Öffentlichkeit ein „notwendiges Reflexionspotential“ wie auch einen „Mobilisierungsfaktor“ für eine Sozialpädagogik darstellt (vgl. Gogolin 1998: 36). Sozialpädagogik sei dazu aufgefordert, einen kritischen Beitrag in der Ausbildung eines öffentlichen Bewusstseins zu leisten ebenso wie sie die über Massenmedien verbreitete Information zu beurteilen hat. Die Beiträge des Symposiums wurden von Hamburger und Otto in einem Sammelband unter dem Titel „Sozialpädagogik und Öffentlichkeit. Systematisierungen zwischen marktorientierter Publizität und sozialer Dienstleistung“ publiziert (Hamburger/Otto 1999).
4.1 Begründung der Filmauswahl
155
Diese die Filmauswahl vorbereitenden Arbeitschritte ergaben ein heterogenes Filmkorpus von über 100 thematisch interessanten Beiträgen als empirischer Materialbasis. Darin bilden sich nun auch jene Sendeplätze ab, die eine ‚Spitzenreiter’-Position in der Thematisierung von Jugendhilfe relevanten Inhalten einnehmen: das sind das ZDF-Format „37 Grad“ und das WDR-Format „Menschen hautnah“. Allein aufgrund des Umfangs und der Produktionsmerkmale, aller im Filmkatalog verzeichneten Beiträge lässt sich jedoch noch keine sinnvolle, d.h. theoretisch begründete Filmauswahl treffen. Ein weiterer wichtiger Schritt war notwendig, der eine inhaltsbezogene Strukturierung ermöglicht. Die konkrete Auswahl der eingangs genannten Filmbeispiele stützte sich also im Wesentlichen auf den letzten Auswertungsprozess des Samplings, der im Folgenden beschrieben wird. 4.1.3 Strukturierung des Themenbereichs – inhaltsanalytische Auswertung der Beiträge und Kategorienbildung Die Sondierung von Filmen, die in das Filmkorpus aufgenommen wurden, erfolgte nach dem einfachen Muster der Stichwortsuche und einer groben Einordnung auf der Grundlage eines fachlichen Überblickwissens über Jugendhilfe und sozialpädagogische Jugendtheorie. Wenn das Thema eines indizierten Dokumentarfilms inhaltlich passend erschien, wurde der Film in den Katalog aufgenommen. Um die auf diese Weise zustande gekommene Sammlung von 114 Beiträgen und damit 114 Einzelthemen thematisch zu ordnen, so dass inhaltliche Relevanzen deutlich werden, war eine genauere Betrachtung der einzelnen Beiträge notwendig. Gerade auf diese Vorstrukturierungsleistung stützt sich eine theoretisch begründete Filmauswahl. Im dritten Arbeitschritt wurde deshalb die synoptisch aufbereitete Filmsammlung weitergehend systematisiert, mit dem Ziel einer typisierenden Strukturierung und der Kategorienbildung. Dazu wurde auf das Verfahren von Mayring (2003) zur qualitativen Inhaltsanalyse zurückgegriffen, das zunächst allgemein in seinen Möglichkeiten dargestellt wird. Die qualitative Inhaltsanalyse ist eine vielseitig einsetzbare Methode und insbesondere für die explorative, d.h. felderschließende Phase einer Untersuchung geeignet, indem sie zur Kategorienbildung eingesetzt werden kann (vgl. Lamnek 1995: 198). Als kommunikationswissenschaftliche Methode wurde sie entwickelt, um die Textbeschaffenheit von Massenmedien oder auch die mediale Präsenz bestimmter Inhalte, Themen und Personenkreise zu untersuchen (vgl. Mayring 2000: 469, Lamnek 1995: 180). Sie ist jedoch nicht auf Forschungsfragen der Medienwissenschaft begrenzt, sondern stellt auch für die Sozialwissenschaften ein wichtiges Instrumentarium dar, um Interviewtexte und andere
156
Empirisch-methodisches Vorgehen
sprachliche Quellmaterialien zu menschlichem Verhalten und sozialem Handeln zu analysieren. Mayrings Ansatz unterscheidet ganz allgemein drei Grundformen des Interpretierens, die auch für die qualitative Inhaltsanalyse gelten und unterschiedliche Erkenntnisziele unterstützen (vgl. Mayring 2003: 56ff): die zusammenfassende Inhaltsanalyse ermöglicht eine Reduktion des Materials, indem der Text abstrahiert und auf wesentliche Inhalte verknappt wird; die Inhaltsanalyse mit dem Ziel der induktiven Kategorienbildung ist eine Sonderform der zusammenfassenden Inhaltsanalyse; sie gewinnt am Text darin enthaltene Kategorien und erhärtet sie im weiteren Analyseprozess (1), die explizierende Inhaltsanalyse fokussiert Details und untersucht sie im Kontext (entweder anhand textimmanenter oder externer Kontextinformationen) (2); schließlich will die strukturierende Inhaltsanalyse „bestimmte Aspekte aus dem Material herausfiltern, will unter vorher festgelegten Ordnungskriterien einen Querschnitt durch das Material legen oder das Material unter bestimmten Kriterien einschätzen“ (ebd.: 58) (3). Diese Analysearten sind je nach Forschungsgegenstand ausschließlich oder in Kombination miteinander anwendbar (vgl. ebd.). Um die aufgezeigten methodischen Möglichkeiten auf den hier vorliegenden Forschungsgegenstand zu übertragen und darin die Zielsetzung der qualitativen Inhaltsanalyse klar zu machen, muss zunächst das Ausgangsproblem kenntlich gemacht werden. Dieses lässt sich auf die Frage zuspitzen: „Was ist der Fall?“ Im Rahmen sozialpädagogischer Kasuistik kommt die Frage nach dem Fall einer absichtlich herbeigeführten, temporären Verunsicherung gleich. Es geht darum, das Fallverstehen, von dem aus die Steuerung von Hilfeprozessen erfolgt, zunächst zu problematisieren und darin vorkommende „Konstruktionsleistungen“ schließlich zu erkennen und fachlich zu begründen (Hörster 2001: 919). Diese für die Regelgeleitetheit sozialpädagogischer Einzelhilfen so wichtige Perspektive wird auch als „Fall zweiter Ordnung“ (ebd.) bezeichnet. Ein „Fall zweiter Ordnung“ beinhaltet also den Verstehensprozess einer sozialen Problematik (durch sozialpädagogische Fachkräfte) und die dazu notwendigen Bezugspunkte. Übertragen auf die Inhaltsanalyse der gesammelten dokumentarischen Fernsehbeiträge liegt ein ähnliches Ausgangsproblem vor und es kann ebenso danach gefragt werden, was bezogen auf den Einzelfilm der Fall ist. Diese Idee stützt sich auf die Annahme, dass die Konstruktionsweise des jeweils im Medienbeitrag entfalteten Themas sich von einer sozialpädagogischen Falleinschätzung höchstwahrscheinlich unterscheidet, da hier andere Praxisrelevanzen vorliegen, d.h. nicht die Einmündung in einen Unterstützungsprozess und die direkte Arbeit mit Zielgruppen, sondern die Vermittlung einer sozialen ‚Geschichte’ mit gesellschaftlicher Relevanz im Mittelpunkt stehen (vgl. Kap. 3.1.1). Inwieweit beide Konstruktionsweisen miteinander korrespondieren – sich überschneiden und dif-
4.1 Begründung der Filmauswahl
157
ferenzieren – wird eine zentrale Auswertungsperspektive der exemplarischen Filminterpretationen und damit ein Hauptergebnis der Studie sein. An dieser Stelle, wo es um die theoretische Begründung einer Filmauswahl geht, genügt zunächst, die Sammlung der Filmbeiträge soweit zu sondieren, dass sich zwischen Filmthemen und sozialpädagogischem Fallverstehen – auf allgemeinster Ebene – gemeinsame Grundkonstellationen finden lassen. Methodisch eignet sich für diese Annäherung an ein gemeinsames ‚Fallverständnis’ die strukturierende Inhaltsanalyse, wie sie Mayring beschreibt (s.o.). Mit ihrer Hilfe sollen Grundkonstellationen definiert werden, nach denen die Materialsammlung geordnet werden kann. Bevor die strukturierende Inhaltsanalyse durchgeführt wurde, musste ein methodischer Umgang mit der vorliegenden, großen Datenmenge gefunden werden, sprich der Filmkorpus von 114 Einzelbeiträgen in einer Gesamtlänge von 5.048 Minuten musste in einen handhabbaren Materialbestand überführt werden. Angesichts dieser Notwendigkeit wurden nicht die Filme selbst inhaltlich analysiert, sondern die synoptisch aufbereiteten Begleittexte, die in der Regel von den Redaktionen erstellt werden und die als Programmankündigungen dienen. Die Analyse bezog sich daher auf eine Datengrundlage, die bereits das Ergebnis einer inhaltlichen Zusammenfassung im Sinne einer nichtwissenschaftlichen, „alltagsweltlichen Inhaltsanalyse“ (Lamnek 1995: 174f) darstellt. Der dabei gegebenen ‚Unschärfe’, dass ein beschreibender Text über einen Film nur ansatzweise den Film selbst wiedergibt, wurde dadurch begegnet, dass etwa die Hälfte der Filme zusätzlich gesichtet wurde. Auf diese Weise hätten bedeutsame Abweichungen zwischen Film und Text zum Film festgestellt werden können, die jedoch nicht vorlagen. Die Vorgehensweise der strukturierenden Inhaltsanalyse gliedert sich in acht Arbeitsschritte (vgl. Mayring 2003: 82ff), deren Anwendung auf das Material im Folgenden nachvollziehbar gemacht wird. Vorgehensweise Ein erster Schritt besteht in der „Bestimmung der Analyseeinheiten“ und fällt hier auf die Erfassung der 114 Beiträge. In einem zweiten Schritt werden die „Strukturierungsdimensionen“ festgelegt, die – entsprechend einem deduktiven Verfahren – auf das Material angewendet werden. „Die grundsätzlichen Strukturierungsdimensionen müssen genau bestimmt werden, sie müssen aus der Fragestellung abgeleitet und theoretisch begründet werden“ (ebd.: 83). Ausgehend von der für diesen Abschnitt der Untersuchung relevanten Fragestellung, „was ist der Fall?“ wurden drei, das Fachlichkeitsverständnis von Jugendhilfe ‚aufschließen-
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Empirisch-methodisches Vorgehen
de’ Fragen entwickelt, die jeweils eine Strukturierungsdimension enthalten. Sie werden im Folgenden ausgeführt: x Erste Strukturierungsdimension ‚Alltag vs. Sondersituation’: Bezieht sich der thematische Zuschnitt des Filmbeitrags überwiegend auf junge Menschen in ihrem lebensweltlichen Alltag oder auf Sondersituationen, die sie bewältigen müssen? Mit dieser ersten Frage soll grundlegend die filmisch fokussierte Lebenssituation von Heranwachsenden resp. JugendhilfeadressatInnen unterschieden werden können. Unter dem Stichwort von Alltäglichkeit werden thematische Aspekte berücksichtigt, die auf die Alltagsführung von Heranwachsenden bezogen sind und auf darin angelegte Kontinuitäten: die Kontinuität von gesellschaftlichen Strukturen und die Regelmäßigkeit in familiären und gleichaltrigen Beziehungen oder Kontinuität in anderen Sozialformen z.B. dem Bezug zu sozialpädagogischen Fachkräften (Unterstützung in alltäglichen Bezügen). Unter dem Stichwort der Sondersituation werden gesellschaftliche Umbruchssituationen, z.B. durch Krieg und Vertreibung, individuelle Krisen durch z.B. Krankheit oder Traumatisierung oder auch Hilfen in diesen Krisen, Krisenmanagement und Resozialisationsprozesse gefasst. x Zweite Strukturierungsdimension ‚Allgemeinheit vs. Besonderheit’: Werden die ProtagonistInnen einer Allgemeinheit von Jugendlichen zugerechnet oder vertreten sie eine besondere Gruppierung? Die mit dieser zweiten Frage eröffnete dialektische Anschauung zielt auf den binären Gegensatz von Normalität und Abweichung als Kontext des Aufwachsens. Unterschieden wird zwischen einer unproblematische Jugend im Allgemeinen und einer spezifischen problematischen Jugend. Die erste Facette umfasst Thematisierungen von Jugendlichen, die auf Normalitätskonstruktionen von Kindheit und Jugend, auf Rechtsformen dieser Lebensphase und auf einer gesetzgeberisch vorgegebenen allgemeinen Prävention beruhen. Die zweite Facette umfasst Thematisierungen von Jugendlichen, die unter besonderen und schwierigen Umständen aufwachsen, deren zukünftige soziale und berufliche Integration gefährdet erscheint, die abweichende Bewältigungsstrategien zeigen, die spezielle Präventionsmaßnahmen, spezielle Hilfsangebote und Fachdienste in Anspruch nehmen. x Dritte Strukturierungsdimension ‚Bedarf vs. Hilfe’: Fokussiert der Filmbeitrag eine Bedarfslage bzw. Problemsituation oder stellt er bereits darauf bezogene Lösungsansätze ins Zentrum?
4.1 Begründung der Filmauswahl
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Diese dritte Frage verfolgt eine Prozessperspektive. Ausgehend von einer Sequenzialität, in der sozialpädagogisches Wissen auf einen Fall angewendet und überprüft wird, nämlich von der Anamnese über die Diagnose über die Intervention zur Evaluation (vgl. Hörster 2001: 920), werden der Zeitpunkt und die damit thematisierten fachlichen Handlungsmöglichkeiten unterschieden. Konzentriert sich die Themenstellung eines Beitrags auf eine Bedarfslage, so ist sie noch im Vorfeld sozialpädagogischer Hilfeformen angesiedelt und kommt möglicherweise ohne Bezug auf Jugendhilfepraxis aus, die im Film dann keine Rolle spielt oder aber als Ausbleiben von fachlichen Reaktionen (z.B. Handlungsversäumnisse des Jugendamts) thematisiert wird. Behandelt ein Film demgegenüber Hilfe- und Unterstützungsleistungen, ist Jugendhilfepraxis ein zentraler Bestandteil des Films und wird in ihren Möglichkeiten und Lösungsansätzen konzeptionell zu betrachten sein. Anhand dieser drei idealtypischen Strukturierungsdimensionen, die jeweils ein Gegensatzpaar beinhalten (insgesamt also sechs Merkmale), lassen sich nun eine Vielzahl denkbarer Themenstellungen durch die Kombination der einzelnen Indikatoren entwickeln. Tabelle 6 hebt in exemplarischer Absicht sieben Merkmalskombinationen hervor und weist ihnen Themen der Jugendhilfe zu: Erste Strukturierungsdimension
Zweite Strukturie- Dritte Struktu- Beispiele zu der jeweiligen Verknüpfung rungsdimension rierungsdimension
Alltäglichkeit
im Allgemeinen
Alltag von Kindern und Jugendlich1en
Alltäglichkeit
im Besonderen
Alltag in besonderen Lebenslagen
Alltäglichkeit
von Hilfe
Formen professioneller/ehrenamtlicher Kinder- und Jugendhilfe: Handeln, Organisationen, Konzepte, Berufsbild SozialarbeiterIn
Alltäglichkeit
von Bedarf
Armut, Modernisierungsfolgen, Privatisierung von Risiken
..Sondersituation
Hilfe in einer.. Krisenintervention, Sofortprogramme ..Allgemeinen
Bedarf im..
Erziehung, Bildung, Jugendschutz, Prävention
..Besonderen
Bedarf im..
KJHG, Armutsberichte, Hilfepläne
Tabelle 6: Exemplarische Kombination von Strukturierungsmerkmalen In einem ausführlichen Materialdurchgang wurde jeder einzelne Filmbeitrag anhand der drei Dimensionen eingeschätzt und jeweils einem Pol der aufgeworfe-
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Empirisch-methodisches Vorgehen
nen Frage zugeordnet, sofern dies eindeutig möglich war. Diese Zuordnung war jedoch vorläufig und sollte durch die analytische Auseinandersetzung mit den jeweils entdeckten Passungen und Nichtpassungen zu einer Überarbeitung der idealtypischen, d.h. materialfremden Strukturierungsdimensionen führen. Den Datenbestand in dieser Weise anhand sozialpädagogischer Relevanzbereiche ‚aufzuschlüsseln’, war daher mit dem Ziel verbunden, die ursprünglichen Strukturierungsdimensionen zur Herausbildung von ‚materialgesättigten’ Kategorien zu nutzen, deren empirische Relevanz damit gesichert war. Dies geschah in einem dritten und zentralen Analyseschritt. In der Konfrontation des theoretisch entwickelten Ordnungsmusters mit den einzelnen Filmbeschreibungen, sprich durch ein permanentes Zuordnen und Vergleichen, ließen sich Typisierungen im Sinne typischer Merkmalskombinationen, die hier als Grundkonstellationen bezeichnet werden, ausfindig machen. Bei Mayring wird dieser Schritt als Zusammenstellung des Kategoriensystems bezeichnet, das während des Materialdurchlaufs (5. und 6. Schritt) permanent überarbeitet und in Bezug auf die Kategorien korrigiert wird (7. Schritt). Mit der vollständigen Durcharbeitung des Datenmaterials wurde eine endgültige Fassung der Kategorien möglich, d.h. jede empirisch belegte Kategorie wurde definiert, ihr wurde ein Ankerbeispiel zugeordnet und es wurden Regelungen für die kategoriale Erfassung von mehrdeutigen bzw. für mehrfach zuordenbare Materialstellen gefunden (4. Schritt). In der vorliegenden Untersuchung konnten vier empirisch relevante Kategorien bzw. Grundkonstellationen differenziert werden. Diese vier Kategorien stellen gegenüber den Ausgangsdimensionen analytische Präzisierungen dar und sind nur noch bedingt auf die anfänglichen Strukturparameter zurückzuführen. Im Folgenden werden sie vorgestellt (8. Schritt): Kategorie 1: ‚Coming of age’85 – typische Entwicklungsaufgaben im Jugendalter Diese Kategorie wird folgendermaßen definiert: Das Thema des Dokumentarfilms ist inhaltlich bestimmt durch die kollektiven Erfahrungen einer Alterskohorte oder auch durch lebenslaufbezogene und typische Entwicklungsaufgaben im Jugendalter. Dazu zählen die Abgrenzung und emotionale Unabhängigkeit von den Eltern, das Erleben von Eigenständigkeit, die Thematisierung des eigenen Aussehens und das Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung, das 85
‚Coming of age’ ist mittlerweile ein gängiger Begriff in der Filmbranche, um Spiel- und auch Dokumentarfilme zu überschreiben, die explizit Jugendthemen behandeln. Er findet beispielweise häufig in der Filmkritik Verwendung.
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Eingehen von ersten Partnerschaftsbeziehungen oder auch ethische Werte zu vertreten und danach zu handeln. Es wird mitunter danach gefragt, inwieweit Jugendliche bereit sind, sozial verantwortlich zu handeln. Ihre Entwicklungsaufgaben vollziehen sich auch als umkämpfte Freiheitsansprüche, d.h. in der Rebellion gegen die Eltern, in der Durchsetzung eigener biographischer Entscheidungen, in der eigenständigen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben (Konsum, Fortbewegung, Gelderwerb). Ihre Bewältigungskompetenz drückt sich in Metaphern der Reifung oder der Entwicklung aus, personale und soziale Ressourcen bedingen diese Entwicklung. Im Rahmen einer solchen Normalentwicklung stellen sich mitunter auch Alltagsprobleme wie z.B. schlechte Noten, verliebt sein, sich einsam fühlen, Streit mit LehrerInnen, Eltern und Freunden, das Austesten riskanter Lebensstile. Die gemeinsame Grundkonstellation liegt darin, dass die ProtagonistInnen, sich in eigenständigem Denken und Handeln erproben. Innerhalb des Filmkorpus konnten 16 Filme dieser thematischen Grundkonstellation zugeordnet werden. Darunter ist folgender Film, der als Ankerbeispiel dargestellt wird: „Leben 16“ (Samir Nasr, Debüt im Dritten, SWR, 2004): Der Inhalt dieses Film stellt das sechzehnte Lebensjahr aus der Perspektive Gleichaltriger dar. Das ‚Coming of age’ oder die psychosoziale Restrukturierung von Identität stehen im Mittelpunkt der Darstellung. „Leben 16“ lässt sich alle Zeit der Welt, um das Lebensgefühl von sieben Jugendlichen einer Stuttgarter Gymnasialklasse filmisch nachzuempfinden. Im Verzicht auf dramatische Momente und heikle Krisen interpretiert der Filmemacher Samir Nasr dieses Alter. Seine Beobachtung gilt der Alltäglichkeit, dem heimlichen Lachen hinter den gelben Reklam Heften. Die Dinge werden für sich genommen – das Haustier findet ebenso Beachtung wie die Weltanschauung, die die ProtagonistInnen bis dahin gewonnen haben.
Kategorie 2: ‚Gesellschaftliche Bewältigung und Bearbeitung von Abweichung im Jugendalter’ Diese Kategorie wird wie folgt definiert: Innerhalb dieser Kategorie liegt die Grundkonstellation in einem gegen gesellschaftliche Normen gerichteten Verhalten bzw. einer entsprechenden Verhaltensdisposition. Die dadurch bedingte Selbst- bzw. Fremdgefährdung nötigt zu einer gesellschaftlichen Reaktion in Form einer Sanktionierung oder einem besonderen pädagogischen Programm. Zum einen bildet sich darin die Figurenopposition von Opfer und Täter ab sowie die Thematisierung von Schuld: ursächliche Schuld, warum Jugendliche auf die ‚schiefe Bahn’ geraten sind, Schuld als Frage nach der angemessenen Bestrafung von Heranwachsenden und Schuld, die individuell bewältigt werden muss. Die darunter gefassten Einzelthemen lassen sich auf die zentrale Frage nach der moralischen Entwicklung von entweder Jugendlichen oder Eltern im Bezug zu ihren
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Empirisch-methodisches Vorgehen
Kindern zuspitzen. Zum anderen handelt es sich um Themen, die Verweigerungshaltungen von Jugendlichen nachgehen. 30 Filme im Filmkorpus konnten dieser thematischen Grundkonstellation zugeordnet werden. Folgender Film kann als Ankerbeispiel gelten: "War doch nur ein Obdachloser. Wenn Kinder töten." (Jochen Voigt, die story, WDR, 2004): „Am 16. Oktober [2003] stirbt der 54-jährige Johann Babies einen grausamen Tod. Der Obdachlose wird von Kindern und Jugendlichen über zwei Stunden lang zusammengetreten, gequält, gedemütigt, bis er noch in der Nacht in einem Waldstück an den Folgen der Verletzungen und an Unterkühlung stirbt. Die acht Täter der 6.000-Seelen-Gemeinde Neulussheim gehen währenddessen weiter in die Schule und prahlen dort sogar damit, dass sie den Obdachlosen "fertig gemacht" haben. Am Tag nach der Tat verabreden sie sich am Tatort, ‚um den Penner zu töten, falls er noch leben sollte’. Aber Johann Babies ist tot. Gestorben an den Schlägen und Tritten junger Menschen aus gutbürgerlichen Elternhäusern. Das Dorf ist zerrissen wegen der Ereignisse im letzten Oktober. Die einen fordern eine harte Bestrafung, die anderen sagen, man könne die Kinder doch nicht für alle Zeit brandmarken“ (WDR 2004a).
Kategorie 3:‚Besondere Lebensformen und Lebenslagen von Jugendlichen und ihren Familien’ Diese Kategorie lässt sich so definieren: Diese Filme thematisieren besondere Bedingungen des Aufwachsens, die sich als Zusammenhang von sozialen Lebensverhältnissen und den Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensführung zeigen. Das heißt, nicht individuelle Verhaltensweisen sondern besondere soziale Gefüge und Sozialformen werden in den Filmbeiträgen fokussiert. Dazu zählen besondere familiäre Konstellationen wie die Ein-Eltern-Familie, besonderer erzieherischer Bedarf von Jugendlichen, besondere Unterbringungsformen, die Entwicklung von Lebensstilen deprivierter Jugendlicher oder Leben in Armut. Die Grundkonstellation innerhalb der Beiträge bezieht sich darauf, dass diese Jugendlichen anders leben als gewöhnliche Jugendliche. Häufig, aber nicht zwangsläufig, werden die aufgezeigten Lebensformen mit Fragen nach den Chancen auf eine zukünftige gesellschaftliche Integration verbunden. Ein Teil der Filme innerhalb dieser Kategorie konzentriert sich auf Zuwanderung und Integration, Geschlechtsidentität und Integration, Behinderung und Integration. Es werden sowohl Lebensformen in gesellschaftlicher Randstellung bzw. mit eingeschränkten Verwirklichungsmöglichkeiten aufgezeigt wie auch emanzipierte Lebensformen, die sich gegen gesellschaftliche Zuweisungen und Zuschreibungsprozesse richten. Innerhalb des Filmkorpus konnten 41 Filme dieser thematischen Grundkonstellation zugeordnet werden. Darunter ist folgender Film, der für diese Kategorie Ankerbeispiel ist:
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"Vorwurf Kindesverwahrlosung" (Sibylle Plogstedt, „Menschen hautnah“, WDR, 2004): „’Wir bekommen doch nicht so viele Kinder, um sie dann ins Heim zu stecken’, sagt Herr Schmitz, Vater von 13 Kindern. Nachbarn haben sich massiv über die Familie beschwert. Die Kinder würden betteln, bekämen nicht genügend zu essen und zu trinken, hätten auch keine ausreichende Kleidung. Das Bonner Jugendamt reagiert, weist zwei Kinder ins Heim ein, will noch weitere acht Kinder den Eltern entziehen. Doch die wehren sich und haben einen Teilerfolg beim Familiengericht: Die beiden Jungen bleiben im Heim, alle übrigen zunächst zu Hause. Eine schwierige Situation. Wie wird das Wohl der Kinder gewährleistet, wie sollen die Eltern mit den Vorwürfen umgehen, wie weitere Fehler vermeiden, die vor Gericht entscheidend sein können? Tatsächlich können die Kinder im Schulalter kaum lesen, fehlen häufig im Unterricht. Sie sind mental zurück geblieben“ (WDR 2004b).
Kategorie 4: ‚Fragen von Jugendschutz, Jugendpolitik und pädagogischen Konzepten’ Die letzte Kategorie wird folgendermaßen erklärt: Bei dieser Kategorie handelt es sich um eine Sammelkategorie. Sie vereint Beiträge zum Thema Jugendschutz und Jugendpolitik sowie explizite Beiträge zu pädagogischen Konzepten. Unter Jugendschutz werden Bestimmungen im Sinne des Jugendschutzgesetzes verstanden, v.a. in Bezug auf den Schutz vor legalen Drogen und vor jugendgefährdenden Medieninhalten. Unter dem Stichwort Jugendpolitik werden sowohl eine Interessensvertretung jugendlicher Belange gegenüber Gesellschaft und Politik – auch in Form von Jugendbewegungen – als auch die Verhandlung jugendpolitischer Aspekte in unterschiedlichen Politikbereichen (Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Familienpolitik) begriffen. Die Darstellung pädagogischer Konzepte umfasst drei Gewichtungen: die Vorstellung einzelner pädagogischer Einrichtungen, die Zentrierung auf eine pädagogische Fachkraft, die einen konzeptionell bemerkenswerten pädagogischen Stil oder Weg vertritt, und das Aufzeigen innovativer Projekte, die als Antwort auf eine besondere Herausforderung in der pädagogischen Arbeit zu werten sind. Der Grund, warum diese Inhalte zusammengefasst wurden, liegt darin, dass sie den gesellschaftlichen Auftrag zur Erziehung, Bildung und Integration von Heranwachsenden in den Mittelpunkt stellen. Dieser wird in drei erkennbaren Bereichen thematisiert: als konzeptionelle Frage öffentlicher Bildung und Erziehung, als Verhandlungs- und Gestaltungsfrage, die unterschiedliche Politikfelder betrifft und auch als Kontrolle über erzieherische Bestimmungen des Jugendschutzgesetzes. Die Grundkonstellation dieser Kategorie liegt also in der Thematisierung der öffentlichen Verantwortung und Gestaltung des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen. Die Thematisierungsbereiche, auf die diese Grundkonstellation zutrifft, sind jedoch vergleichsweise heterogen gegenüber den anderen Kategorien.
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Empirisch-methodisches Vorgehen
Innerhalb des Filmkorpus konnten 27 Filme dieser thematischen Grundkonstellation zugeordnet werden. Sie unterteilen sich in sechs Filme zu Jugendschutzthemen, vier Filme im Themenbereich von Jugendpolitik und 17 Filme, die eine pädagogische Einrichtung, ein innovatives Projekt oder eine engagierte pädagogische Fachkraft vorstellen. Auf letztgenannte Option bezieht sich folgendes Ankerbeispiel: "Planet Hasenbergl" (Claus Strigel, 2002): „’Tiefer fallen geht nicht’, sagt der Schuldirektor des Förderzentrums München Nord. 60 Prozent der Grundschüler hier im Norden des Stadtteils benötigen sozial- oder sonderpädagogische Hilfe. Im Förderzentrum werden die aufgenommen, die in der Regelschule keinerlei Chance haben. Ob lernbehindert, verhaltensgestört, gewaltbereit, milieugeschädigt, misshandelt, entwurzelt oder einfach der deutschen Sprache nicht mächtig: Die Förderschule ist eine der Endstationen schlimmer Schicksale (…). Täglich mit der Not und der Wut der Kinder konfrontiert, hat die Pädagogin Susanne Korbmacher-Schulz einen ganzen Strauß von Initiativen ins Leben gerufen, der den Kindern und Jugendlichen ihren Selbstwert entdecken hilft. (...) In fast bedrohlicher Rastlosigkeit kurbelt Susanne Korbmacher Rap-Gruppen, BreakDance-Kurse, Theater-/Musikaufführungen, und andere LichttalerProjekte an, nervt Sponsoren, sammelt Sachspenden, informiert die Presse, und knüpft Kontakte zwischen allen Ebenen“ (DENKmal-Film GmbH).
Anmerkungen zur methodischen Vorgehensweise Wenn sich auch alle Filmbeiträge den vier Kategorien zuordnen ließen, so gestaltete sich dies für einzelne Filme doch schwierig, da ihre inhaltliche Beschreibung mehrfache Zuordnungen zuließ. Dies war z.B. in Bezug auf Filme zu jugendkulturellen Phänomenen und Jugendbewegungen der Fall, die grundsätzlich sowohl in die erste wie auch in die vierte Kategorie einbezogen werden können. Graduelle Unterschiede – ob der Themenzuschnitt also mehr jugendkulturelle Praktiken und Gesellungsformen fokussiert oder aber politisch motivierte Zielsetzungen eines protestativen Verhaltens in den Vordergrund rückt – stellen für dieses Abgrenzungsproblem die einzige Lösung dar. Dies anhand des Begleittextes zu entscheiden, war nicht immer möglich. Gleiches gilt für die Darstellung riskanter Lebensstile von Jugendlichen, die sowohl Ausdruck von Experimentierverhalten in der Pubertät wie auch Indikator für schwierige Lebensverhältnisse sein können. Die Aussagekraft des Datenmaterials wie auch die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse kommen hier an ihre Grenzen, denn eine solche Unterscheidung kann nicht anhand des festgestellten Themenzuschnitts getroffen werden. Stattdessen bedarf es einer sequenziellen Methodik, die die Thematisierungsweise eines Beitrags erfasst. Dazu würde sich ein diskursanalytischer Zugang eignen, der den Beitrag in seiner sequenziell aufgebauten Argumentation und auf darin ent-
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haltenen Repräsentationen von geltenden Normen und Werten wie auch kulturellen Schlüsselkonzepten untersucht (vgl. Denzin 2000: 417).86 Die Vorrecherchen zur Untersuchung haben dennoch wichtige Ergebnisse bereitgestellt, indem sie den Gegenstandsbereich thematisch aufgeschlüsselt haben und eine theoretisch begründete Auswahl der zur Filminterpretation herangezogenen Einzelfilme schließlich ermöglichen. 4.1.4 Gezielte Auswahl von Filmen Mit dem vorangegangenen Schritt wurde die Variationsbreite möglicher Themenstellungen in Bezug auf die Grundgesamtheit des Filmkorpus geklärt. In Kenntnis der vier Kategorien konnten nun gezielt Filme ausgewählt werden, die je einer anderen Kategorie angehören und somit die unterschiedlichen thematischen Grundkonstellationen berücksichtigt werden. Damit wird nicht der Anspruch an ein repräsentatives Datensample erreicht. Die Grundgesamtheit wird durch den Ausschnitt der Stichprobe als nicht exakt repräsentiert. Vielmehr geht es darum sicherzustellen, dass die im Filmkorpus angelegte Variationsbreite durch die Auswahl der Filme reichhaltig und breit ausgeschöpft wird. Diese Absicht wird bei Flick als „Maximalkontrastierung von Fällen“ bezeichnet (Flick 1995: 86). Dadurch dass festgelegt wurde, Filmbeispiele aus unterschiedlichen Kategorien auszuwählen, sollte die Aussagekraft der Vergleiche zwischen den Filminterpretationen erhöht werden. Festgestellte Übereinstimmungen in den Konstruktionsweisen können über eine spezifische thematische Grundkonstellation hinaus generalisiert werden. Festgestellte Unterschiede hingegen können in Bezug gesetzt werden zur thematischen Grundkonstellation, wodurch eine zusätzliche Erklärungsmöglichkeit gewonnen ist. Neben diesem ersten Kriterium der Kategorienzugehörigkeit war ein zweites Kriterium ausschlaggebend. Ebenfalls nach dem Prinzip der Maximalkontrastierung sollten die Filme schrittweise bestimmt und dabei auf ihre formalästheti86
Eine diskursanalytische Lesart von Filmen geht über die „Autorität des Textes“ (Mikos 2003b: 139) in seiner dramaturgisch geleiteten Lesrichtung hinaus und verknüpft ihn mit soziokulturellen Konzepten einer Gesellschaft (vgl. Denzin 2000: 423ff). Wegbereitend hierfür sind die Grundannahmen der Cultural Studies zur Analyse kulturellen Materials, wie sie von Hall (1980) und Fiske (1987) formuliert wurden. Im Unterschied zur formalästhetischen Medienanalyse thematisieren die Cultural Studies die ZuschauerIn als soziales Subjekt und nicht als ein durch den Filmtext konstruiertes (vgl. Winter 2003: 153). Die Frage, wie ein Film bzw. eine filmische Botschaft Bedeutung erlangt, ist primär eine Frage der Nutzung und Integration des Medienbeitrags in den Alltag. Ein Film als ‚Material des Alltags’ ist daher unabgeschlossen und polysem, d.h. für vielfältige Bedeutungszuschreibungen im Rahmen historischer und sozialer Bedingungen offen. Erst in der Auseinandersetzung konkreter Zuschauer mit dem Filminhalt kommt es „zu temporären Fixierungen von Bedeutungen“ (ebd.: 156).
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Empirisch-methodisches Vorgehen
sche und stilistische Unterschiedlichkeit geachtet werden. In welchen Aspekten diese Unterschiedlichkeit gegeben sein sollte, wurde jeweils ausgehend vom zuletzt untersuchten Film bestimmt. Lag also im ersten Film eine ausgeprägte expressionistische Erzählsteuerung vor, sollte dies für den nachfolgend berücksichtigten Film gerade nicht der Fall sein. Die Anwendung dieser beiden Kriterien auf die drei ausgewählten Filme sieht somit folgendermaßen aus: x „Ich war das perfekte Kind“ wurde als erster Film und als typisches Beispiel für Kategorie 1 ausgewählt und interpretiert. Deren Grundkonstellation liegt wie oben definiert darin, dass Jugendliche ihre Eigenständigkeit erproben und Ablösungsprozesse von den Eltern stattfinden. Als Dokumentation innerhalb des WDR-Sendeformats „Menschen hautnah“ ist er einem Format zuzurechnen, das vergleichsweise häufig jugendhilferelevante Themenstellungen behandelt. Die Erstsichtung machte zudem deutlich, dass der Film komplex, d.h. auf diversen Ebenen gestaltet ist, die zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Analyse bieten. x Nachdem die Interpretation von „Ich war das perfekte Kind“ weitgehend abgeschlossen war, wurde „Schule des Lebens“ als zweiter Film ausgewählt. Seine Thematik fällt in Kategorie 3 und behandelt damit besondere Lebensformen und Lebenslagen, die in Abhängigkeit von sozialen Ressourcen und Integrationsrisiken stehen. Er wurde gegenüber der ersten 45minütigen Dokumentation als Langfilm im Rahmen des Sendeplatzformats „Das kleine Fernsehspiel“ ausgesucht. Die ZDF-Redaktion ist ihrem Selbstanspruch nach als Nachwuchsredaktion in besonderer Weise für innovative Stile und neue Formate aufgeschlossen. Aus der Erstsichtung ging bereits hervor, dass mit „Schule des Lebens“ ein sich in der Form stark vom ersten Film unterscheidender Filmbeitrag gefunden war. Dies betrifft die Kameraführung, den Einsatz von kommentierenden Elementen und das narrative Konzept. x „Der Kick“ wurde nach Abschluss der zweiten Filminterpretation als damals neuer Dokumentarfilm an der Grenze zur Fiktion entdeckt. Sein Thema lässt sich Kategorie 2 zuordnen, deren Grundkonstellation in der Bewältigung und Bearbeitung von abweichendem Verhalten im Jugendalter liegt. Im Unterschied zu den beiden vorangegangenen Filmbeispielen wurde „der Kick“ als Kinofilm konzipiert und hatte sich dadurch nicht an Formatvorgaben auszurichten. Besonders interessant – und grenzwertig als dokumentarischer Filmbeitrag – ist „der Kick“ durch den Verzicht auf die Darstellung einer realen Szenerie und realer Personen, auf die sich der erzählte Inhalt bezieht. Die Vorkommnisse wurden stattdessen mittels der abstrakten Ausdrucksformen des Theaters dokumentiert. Schließlich unterstützte ein weiteres Argument die Wahl. Bereits bevor „der Kick“ in den Kinos anlief, wurde unter
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dem Titel „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ ein preisgekrönter Dokumentarfilm zu exakt den gleichen Ereignissen, die in „der Kick“ behandelt werden, im Fernsehen ausgestrahlt. Dadurch war eine besondere Möglichkeit gegeben, punktuell zwischen beiden Filmen vergleichen zu können. Kategorie 4 ist damit in der Filmauswahl nicht berücksichtigt. Dies hat mit folgender Abwägung zu tun: Da die Erfahrung mit den Filmen zeigte, dass eine intensive Interpretation zwar viel Zeit in Anspruch nimmt, der Detailblick jedoch zu zahlreichen Ergebnissen führt, wurde auf das Hinzuziehen weiterer Filmbeispiele – zugunsten einer eingehenden Auswertung der genannten Beispiele – verzichtet. In der Konsequenz werden also solche Filme berücksichtigt, in denen jugendliche ProtagonistInnen als AdressatInnen der Jugendhilfe im Mittelpunkt stehen. Demgegenüber werden Filme, die die Darstellung pädagogischer und jugendpolitischer Konzepte fokussieren, nicht berücksichtigt. Diese praktische Konsequenz ist allerdings mit Bezug auf die in Kapitel 1 unterschiedenen medienbezogenen Forschungsfoki der Sozialpädagogik auch konzeptionell begründbar. Die Darstellung von AdressatInnen (verstanden als Teil der Adressatenforschung) wurde von einem sozialpädagogischen Untersuchungsinteresse am Bild der Jugendhilfe in den Medien und von einem sozialpolitischen Interesse an Medienöffentlichkeit bezüglich sozialer Belange unterschieden. Mit den empirischen Ergebnissen der Fernsehrecherchen zeigt sich nun, dass drei der empirischen Kategorien (‚Coming of age’, besondere Lebenslagen, Abweichung im Jugendalter) auf die erste Forschungsperspektive fallen, während die Kategorie vier (zu Jugendschutz, Jugendpolitik und pädagogischen Konzepten) im Schnittfeld der Forschungsperspektiven zwei und drei liegt. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, die Filmanalyse im Rahmen einer einheitlichen Forschungsperspektive anzulegen. Die Entscheidung für Filme über jugendliche AdressatInnen und nicht über pädagogische Praxis hatte vor allem jedoch mit dem dadurch ermöglichten Vergleich zweier unterschiedlicher Perspektiven (sozialpädagogisch vs. dokumentarfilmisch) auf eine vermeintlich gleiche Gruppe (JugendhilfeadressatInnen) zu tun. Hiermit war schließlich die Grundlage für das spezifische Untersuchungsinteresse gegeben, die Konstruktionsweisen sozialpädagogischer Fachlichkeit und dokumentarischer Filme aufeinander zu beziehen. Zusammenfassend und abschließend lassen sich die ausgewählten Filme x als Beispiele je spezifischer Fernsehformate, x als Teil einer intersubjektiv nachvollziehbaren Filmsammlung (Filmkorpus), die als Materialgrundlage der Untersuchung erstellt wurde, x als Beispiele für thematisch unterscheidbare Filme und x als Filme über JugendhilfeadressatInnen klassifizieren.
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Im Folgenden wird die Methode der Filmanalyse und -interpretation vorgestellt, mit der die ausgewählten Filme untersucht wurden. 4.2 Methode der Filmanalyse und -interpretation Die meisten Filme richten sich an ein Laienpublikum. Das heißt, es sind keine Vorkenntnisse zum Verständnis des Films notwendig. Ein Film kann und soll seine Wirkung unter den Voraussetzungen entfalten, die auch für den täglichen Fernsehkonsum oder den freizeitlichen Kinobesuch gelten. Die alltägliche Rezeptionskompetenz als Teil von Medienkompetenz – darauf macht die Medienpädagogik aufmerksam (Baacke 1997) – kann mehr oder weniger ausgebildet sein, was zu unterschiedlichen Nutzungsstilen von Fernsehangeboten führt. So können beispielsweise Jugendliche, die sich umfassend durch Medien informieren von Jugendlichen, die Medien nicht zur Erweiterung ihres Wissens nutzen, anhand ihrer TV-Inhaltspräferenzen unterschieden werden (Schorb/Theunert 2000: 183ff). Nicht nur welche, sondern auch wie Fernsehangebote angeeignet werden („kontextuelle Rezeptionskompetenz“) unterscheidet die ‚geschulte SeherIn’ von der weniger geschulten (Kutschera 2001: 457ff). Beide sind sie jedoch Teil des Laienpublikums, das Film in seiner Erlebnisqualität rezipiert. Die Ambitionen der wissenschaftlichen Filmanalyse heben sich davon ab. Hohenberger erklärt dies so: „Der Filmanalytiker verfährt in seiner ‚Lektüre’ in etwa parallel zu der des Zuschauers, jedoch mit dem Ziel, das Funktionieren des Textes explizit zu machen, sein System zu rekonstruieren. Somit ist die Lektüre des Analytikers als ‚Metalektüre’ beschreibbar, da sie nicht nur verstehen, sondern das Verstandene als Prinzip, als Kohärenz oder logisches Prinzip, vom Text abheben will“ (Hohenberger 1988: 65). Die Filmanalyse als „Metalektüre“ setzt wie auch das alltägliche Film-Sehen auf ein erlebendes Ich, das durch den Film angesprochen wird. Anders wäre der Film in seinem Sinnangebot nicht zugänglich. Zudem verwendet sie jedoch weitere Techniken des methodisch geleiteten Sehens, die nicht nur an die Erlebnisqualität des Films gebunden sind. Filmanalyse meint also keine per se privilegierte Sichtweise gegenüber dem Filmerleben und Filmverstehen des Laienpublikums, sondern eine Sichtweise, die aus der Involviertheit in die filmische Zeit („wie geht es weiter?“) und damit auch aus der Flüchtigkeit des Sehens heraustritt. Welche methodischen Möglichkeiten und Ziele innerhalb der wissenschaftlichen Filmanalyse bestehen, soll zunächst geklärt werden (Kap. 4.2.1), bevor die hier angewandte Methode in ihrer Absicht und in der Abfolge ihrer Arbeitsphasen
4.2 Methode der Filmanalyse und -interpretation
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vorgestellt wird (Kap. 4.2.2). Kapitel 4.2.3 erklärt den Aufbau der sich anschließenden Filminterpretationen. 4.2.1 Bezugspunkte der Filmanalyse Im Folgenden werden anhand von methodologischen Ordnungskriterien verschieden akzentuierte Zugänge und Ansätze der wissenschaftlichen Filmanalyse zu einer Übersicht verknüpft. Ausgehend von diesen Bezugspunkten soll es gelingen, den hier zugrundegelegten Ansatz in seiner theoretischen Absicht und gespiegelt an der Fragestellung der Untersuchung darzulegen. Die Diskussion der unterschiedlichen Ansätze läuft nicht auf eine systematische Abbildung eines Methodenspektrums hinaus. Stattdessen werden in einer Art Einkreisungsprozess ausgewählte Ansätze bzw. auch Richtungen der Filmanalyse einander gegenübergestellt, um dabei den Blick für das hier gewählte Verfahren zu schärfen und dessen Implikationen zu verdeutlichen. Eine erste Weichenstellung entsteht mit der Frage, inwieweit Kontexte eines Films in der Untersuchung mitberücksichtigt werden sollen. Film und Kontext Filmanalyse ist keine spezielle wissenschaftliche Disziplin sondern ein Feld, das vielfältige und heterogene Interessen aufnimmt (vgl. Wulff 1999: 13). Es gibt daher nicht die eine Methode der wissenschaftlichen Filmanalyse, vielmehr existieren zahlreiche Ansätze, die unterschiedlichen Fächern entstammen, z.B. den Kulturwissenschaften, der Soziologie, der Ethnologie oder der Medienpädagogik. Dabei ist zwischen Verfahren zu unterscheiden, die eher werkimmanent bleiben, also in der Hauptsache den Einzelfilm untersuchen, und solchen Ansätzen, die Kontexte des Einzelfilms oder auch einer Gesamtheit von Filmen systematisch mit heranziehen, z.B. die Zeitgeschichte der Entstehung, die produktionsökonomische Seite oder die Rezeption. Faulstich (1988) hat eine häufig aufgegriffene Unterscheidung von Methoden der Filminterpretation nach disziplinären Schwerpunkten vorgenommen und unterscheidet die strukturalistische (Einzelwerk), die biographische (Autor und Werk), die literatur- oder filmhistorische (Film als Zitat), die soziologische (Film und Gesellschaft), die psychologische (Film und das Unbewusste der ZuschauerIn) und die genrespezifische (Film im Kontext konventionalisierter Muster) Filminterpretation (vgl. Faulstich 1988: 14). Einen anderen Strukturierungsvorschlag macht Hickethier. Er unterscheidet die Richtungen der Filmanalyse „sektorial“ d.h. im Kontext eines Pro-
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Empirisch-methodisches Vorgehen
duktions- und Distributionsablaufs (Hickethier 2003: 335). Korte differenziert schließlich die folgenden vier Dimensionen der Filmanalyse:
Abbildung 4:
Dimensionen der Filmanalyse (Korte 2001: 21)
Die unterschiedenen Dimensionen greifen Grundfragen der wissenschaftlichen Filmanalyse auf. Sie beeinflussen allesamt den Film bzw. seine Präsentationsstruktur und sind darüber miteinander verbunden. Die Analyse eines Films „ist immer im Spannungsverhältnis von historisch-gesellschaftlichen Einflüssen und den realen Rezeptionen zu sehen“ (ebd.). Kernbestandteil einer jeden Filmuntersuchung ist die filmimmanente Analyse („Filmrealität“). Sie wird je nach Fragestellung um externe Kontextfaktoren, d.h. auch um zusätzliche Datenquellen zur Rezeption, zur gesellschaftlichen Aktualität eines Themas oder zu fachlichen Erkenntnissen zum behandelten Inhalt, erweitert. Ob eine Analyse dabei eher durch das stofflich behandelte Kontextproblem, durch den Publikumserfolg eines Films oder durch seine Machart motiviert ist, zeichnet die jeweilige Fragestellung vor. Für die vorliegende Untersuchung wurde ein werkimmanenter Zugang gewählt, der partiell Fragen der „Bezugsrealität“ aufgreift. Die Begründung dafür erfolgt am Ende von Kapitel 4.2.1 mit Bezug auf die Fragestellung. Zuvor wird der gewählte Zugang durch weitere Unterscheidungen näher präzisiert.
4.2 Methode der Filmanalyse und -interpretation
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Kategoriale Bezugspunkte der Analyse: Inhalt, Form und Bedeutungsvermittlung Das hier vertretene Konzept der Filmanalyse, an dem sich die methodische Vorgehensweise ausrichtet, wird anhand von drei Eckpunkten entwickelt, die m.E. kategoriale Bezugspunkte einer werkimmanenten Filmanalyse darstellen. Das sind die Bezugspunkte Inhalt, Form und Bedeutungsvermittlung des Einzelfilms. Es mag banal klingen, wenn am Ende dieses Abschnitts als zentrales Ergebnis darauf hingewiesen wird, dass die Konstruktionsweisen der untersuchten Filme aus der Verknüpfung der drei Elemente hervorgehen. Im Folgenden wird jedoch anhand einer Reihe von Abgrenzungen gezeigt, dass es durchaus auch anders orientierte Ansätze der Filmanalyse gibt, die sich nicht im Mittelfeld dieser drei Bezugspunkte verorten, sondern auf einen der Bezugspunkte im Besonderen spezialisiert sind. In Abbildung 5 sind unterschiedlich fokussierte filmanalytische (inhaltsanalytische, hermeneutische, funktionale etc.) Ansätze um die erwähnten Bezugspunkte positioniert.
Abbildung 5:
Grundelemente der Filmanalyse
x Inhalt vs. Inhalt und Form Im Vergleich von medien- und sozialwissenschaftlichen Forschungsdesigns zum Film lässt sich ein erster, gradueller Unterschied im Hinblick auf das Verhältnis von Inhalt und Form erkennen. Die Filmanalyse – wie sie in der Medienwissenschaft als Teil der Geisteswissenschaften vorkommt – wird in der Regel als hermeneutisches Verfahren konzipiert, um zu untersuchen, wie im Film Bedeutun-
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gen und Wirkungen entstehen. Das Besondere dieser Form der Textauslegung ist, dass sie zirkulär vorgeht, d.h. den Text aus unterschiedlichen Perspektiven befragt und bereits gewonnene Einzelbefunde kontrollierend auf ihn rückbezieht, um so zu einem tieferen Verstehen zu gelangen. Im Unterschied zu einer hermeneutischen Methodik setzen sozialwissenschaftliche Untersuchungsansätze andere Schwerpunkte (Hickethier 2007: 29). Sie untersuchen das empirische Erscheinungsbild bestimmter medialer Vorkommnisse durch Inhaltsanalysen von Filmen und anderen Medienarten. Die Forschungsdesigns sind zumeist hypothesengeleitet und dienen der Beantwortung enggefasster Fragestellungen. Ergebnisse bilden inhaltsanalytische Quantifizierungen bestimmter Merkmale und Strukturen in Bezug auf größere Produktmengen (vgl. ebd: 30f). Das Zusammenspiel zwischen Inhalt und formaler Gestaltung, wie es sich über die Filmsequenzen hin entwickelt, fällt nicht in das Interesse einer solchen Perspektive; in das der hermeneutischen Interpretation jedoch schon.87 Eine medienwissenschaftlich fundierte Filmanalyse ist mehr als eine Inhaltsanalyse des Films, weil immer der Inhalt in Bezug zur formalen Gestaltung betrachtet wird. Darin liegt eine wesentliche Erwartung an die Filmanalyse: den Inhalt in Abhängigkeit von der Form bzw. die Form in Abhängigkeit vom Inhalt zu beschreiben. Eine Reihe von Untersuchungsansätzen zur medialen Repräsentation bestimmter Inhalte und Fragestellungen, die sich ideologiekritisch verstehen und speziell für den Dokumentarfilm entwickelt wurden (Wember 1972, Schaaf 1980), haben mittlerweile an Bedeutung verloren, da sich der ihnen zugrundeliegende inhaltsanalytische Zugang als zu kurz erweist, um das Medium Film angemessen zu behandeln. Die filmische Inhaltsanalyse von Wember beispielsweise unterliegt einer Verkürzung, in dem sie von einer objektiven Abbildbarkeit beobachteter Realität ausgeht und damit den gestaltenden Verarbeitungsprozess negiert bzw. einseitig als Vortäuschung und Manipulation thematisiert (vgl. Maier 1995: 235f, Hohenberger 1988: 286). Die filmische Realität wird direkt auf die empirische Wirklichkeit als ihrem einzigen und objektiven Referenzpunkt bezogen. Der Versuch eines spezifischen für dokumentarische Filme entwickelten Verfahrens wirft grundsätzlich die Frage auf, ob dokumentarische Filme angemessen mittels filmanalytischer Verfahren, die am Spielfilm erprobt wurden, untersucht werden können. Vorausgesetzt ist dieser Frage die Annahme, dass dokumentarische Filme nicht nur weniger selbstreferenziell als Spielfilme anzusehen, sondern auch weniger durch filmsprachliche Formen als durch Inhalte gesteuert sind. Folgt man semiologischen Ansätzen zur Filminterpretation 87
Nichtberücksichtigt sind in dieser groben Unterscheidung von Hickthier qualitative sozialwissenschaftliche Konzepte des Filmverstehens (vgl. z.B. Denzin 2000) ebenso wie ethnographische Konzepte der Interpretation filmischer Daten (vgl. z.B. Maier 1995), die auch zirkulär vorgehen und das Methodenrepertoire der Filmanalyse zweifelsohne sinnvoll erweitern (siehe nächster Abschnitt).
4.2 Methode der Filmanalyse und -interpretation
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so wird in der Analyse filmsprachlicher Mittel zwischen fiktionalen und dokumentarischen Filmen nicht unterschieden bzw. wird ein autonomes System von bedeutungstragenden Komponenten speziell dokumentarischer Filme zurückgewiesen. Sie würden sich primär durch ihre „soziale Bestimmung und ihren substanziellen Inhalt“ vom fiktionalen Film unterscheiden, nicht jedoch im Hinblick auf filmsprachliche Mittel (Maier1995: 232f, mit Bezug auf Metz 1972).88 Etablierte Verfahren der Filmanalyse wie etwa von Faulstich (1994) oder Korte (2001) sind zwar am Spielfilm erklärt, schließen jedoch Dokumentar- oder Experimentalfilme als Gegenstand nicht aus. Das heißt, auch die Interpretation dokumentarischer Filme basiert in der Aufschlüsselung des Entsprechungsverhältnisses von Inhalt und Form, wenn auch dokumentarische Filme – wie Maier (ebd.: 233) annimmt – „mehr Zufallsvariablen“ in der Aufnahmesituation ausgesetzt sind. Entsprechend bezieht das hier angewandte hermeneutische Verfahren die in Inhalt und Form angelegten Bedeutungsschichten aufeinander. x Inhalt und Bedeutungsvermittlung Das Entsprechungsverhältnis von filmischem Inhalt und empirischer Wirklichkeit (s.o.) kann hingegen dann ein sinnvoller Bezugspunkt der Analyse – nicht nur von Dokumentarfilmen – sein, wenn ihm keine exklusive Bedeutung beigemessen, sondern die Verhältnisbestimmung als heuristisches Prinzip eingesetzt wird. Denzins sozialwissenschaftliches Konzept der Filmanalyse beispielsweise ist in dieser Absicht zu verstehen. Er entwickelt ein dialektisches Verhältnis zwischen zweierlei Lesarten des zu untersuchenden Films (vgl. Denzin 2000: 423ff). Die „realistische Lesart“ setzt voraus, dass das filmisch Dargestellte als getreues Abbild eines Wirklichkeitsausschnittes aufgefasst wird, wodurch es einen Wahrheitsanspruch erlangt. Die Bedeutung des dargestellten Inhalts entfaltet sich dadurch, dass die Erzählung aufmerksam und genau verfolgt wird. „Realistische Lesarten“ suchen nach Möglichkeiten der Verallgemeinerung und Übertragung der Plausibilitäten des Films auf außerfilmische Bezüge. „Subversive Lesarten“ hingegen brechen mit dem realistischen Eindruck des visuellen Materials, suchen vielmehr nach dem „Standpunkt des Betrachters“ (ebd.: 424) und nehmen an, dass in Filmproduktionen jeweils „begrenzte und unterschiedliche menschliche Erfahrungen“ (ebd.) einfließen. Daher fokussiert die „subversive Lesart“ Kontexte, die im Film immanent sind und anhand derer sich bestimmte Aussageabsichten des Filmschaffenden auf seine/ihre Wert- und Normvorstellungen sowie auf seine/ihre Haltung gegenüber kulturellen Schlüsselkonzepten zurückführen lassen. Nach Denzin kommt die eine Lesart nicht ohne die andere aus. Ein Film kann demnach in seinen vielfältigen Bedeutungsstrukturen nur durch die Kombi88
Vgl. Kapitel 2.1.2.
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Empirisch-methodisches Vorgehen
nation von wort- und bildgetreuer Interpretation und einer Interpretation, die auf soziokulturelle Konzepte einer Gesellschaft zurückgreift, angemessen gedeutet werden, sofern er als „sozialwissenschaftliches Erfahrungsmaterial“ verstanden werden soll. In der Analyse der hier ausgewählten Filme wurde die heuristische Frage nach dem Verhältnis von Inhalt und ‚Nicht-Inhalt’ (d.h. welche Ausschnitte eines Themenfeldes sind repräsentiert und welche nicht) immer wieder zur Ermittlung der Bedeutung des Films gestellt. x Form vs. Form und Bedeutung Ein weiterer gradueller Unterschied zur Verortung des hier vertretenen Analysekonzepts liegt in einem unterscheidbaren Interesse an der filmsprachlichen Gestaltung. Hickethier unterscheidet unter den interpretativen Verfahren nochmals zwischen eher formal und eher hermeneutisch ausgerichteten Konzepten (vgl. Hickethier 2003: 342). Sie verfolgen unterschiedliche Erklärungsabsichten: Eine formal ausgerichtete Filmanalyse untersucht ästhetische Gestaltungselemente, die Inhalt und Wirkungen bedingen, in der Absicht, diese kategorial zu bestimmen. Einer solchen „klassifikatorischen Bestimmung“ filmsprachlicher Mittel dient beispielsweise Kanzogs Ansatz der Filmphilologie (1991). Kanzog selbst versteht seinen Ansatz als notwendige Ergänzung bestehender Verfahren der Filmanalyse mit dem Ziel, eine „angemessene Rede über Filme zu ermöglichen“ (Kanzog 1991: 7), d.h. analytische Betrachtungsweisen v.a. begrifflich zu qualifizieren.89 Innerhalb Kanzogs Filmphilologie steht deswegen die Deskription von Formen und Strukturen eines Films im Mittelpunkt. Hermeneutische Konzepte sind hingegen darin bestrebt, Filmwirkungen aufzuschließen: „Die Analyse soll also vorhandene kulturelle Bedeutungspotenziale des einzelnen Medienprodukts sichtbar machen, wobei gerade auch in unterschiedlichen ästhetischen Merkmalen der Produkte Bedeutungstraditionen eingeschrieben sind, die, wenn auch nicht offenkundig, wohl aber wirksam sind“ (Hickethier 2003: 342). Das Ergebnis einer hermeneutischen Filminterpretation sind nicht disparate Einzelmerkmale des Films, sondern das Auftun eines konsistenten Sinnkontextes, im Rahmen dessen die Einzelbefunde interpretiert werden (vgl. ebd.).90 89
„Die vorliegende Einführung in die Filmphilologie will zu den bekannten und bewährten ‚Einführungen in die Filmanalyse’ nicht in Konkurrenz treten. Sie behandelt zwar die gleiche Sache, unterscheidet sich aber von diesen Einführungen durch die stärkere Ausrichtung auf die sprachlichen, speziell terminologischen Probleme der Versuche, filmische Eindrücke in Worte zu fassen“ (Kanzog 1991:7, Herv. i. O.). Kanzogs Beitrag liegt daher in einem differenzierten Vokabular zur Beobachtung und Beschreibung von filmischen Formen. Ähnlich stellt auch das Standardwerk „Film verstehen“ von Monaco (2000) ein begriffliches Nachschlagewerk zur Beschreibung filmischer Zeichen dar. 90 Kritik an der Ausarbeitung einer widerspruchsfreien, konsistenten Interpretation wird von Vertretern einer dekonstruktivistischen Analyse geübt, die die Gleichzeitigkeit von Sinnbezügen, die unver-
4.2 Methode der Filmanalyse und -interpretation
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Eine weitere filmanalytische Richtung betont den kommunikativen Prozess, durch den sich im Film angelegte Sinnstrukturen erst entfalten. Die Analyse ist daher in zwei Richtungen offen, hin zu den im Film angelegten bedeutungsgebenden Gestaltungselementen und hin zu einem „idealen Zuschauer“ (Meyer 1996: 59), der diese Hinweise kognitiv verarbeitet.91 Wulff setzt diese Aufmerksamkeit für den Prozess des Filmverstehens von anderen Untersuchungsperspektiven als „funktionale Filmanalyse“ ab und erklärt ihren Schwerpunkt folgendermaßen: „Die Strukturen des Werks (...) sind eingebunden in ein kommunikatives Verhältnis, sind Elemente einer Verständigungshandlung. Dieser Rahmen darf von der Strukturbeschreibung nicht abgezogen werden, dann würde man aus den Augen verlieren, daß der filmische Formenbau nicht allein aus ästhetischen Gründen erklärt werden kann und nicht allein darum von Belang und Interesse ist, um ein isoliertes Formkriterium zu erfüllen, sondern bezogen ist darauf, Bedingungen für das Zustandekommen von Verständigung herzustellen. Filmische Formen sind in dieser Hinsicht Wozu-Dinge (Schapp), die einen auszusagenden Inhalt für einen Verstehensprozess vorbereiten“ (Wulff 1999: 11, Herv. i.O.). In der funktionalen Filmanalyse geht es darum, die in der Filmgestaltung angelegte Rezeptionsästhetik zu rekonstruieren.92 Es wird dabei angenommen, dass sich Bedeutungen, wie sie im Film angelegt worden sind, auch vermitteln. Wulff spricht deswegen von einem „Vorgriff“ auf den Verstehensakt (ebd.: 16). Ob der Film tatsächlich so oder anders rezipiert wird, d.h. welche Varianzen sich in Bezug auf den Rezeptionsakt feststellen lassen, wird nicht untersucht. Diese Fragestellung ist vielmehr im Kontext der Mediennutzungsforschung bzw. der diskursanalytisch orientierten Cultural Studies verortet, die nicht die Vorfixierung sondern eine Pluralität von Lesarten voraussetzen. Filmanalyse berücksichtigt daher jene intendierten Prozesse der Filmwahrnehmung, die ein Film evoziert.
einbar sind, innerhalb eines Films für konstitutiv erachten. Aufgabe einer Analyse ist daher, die disparaten Elemente als unterschiedliche Argumentationslinien herauszuarbeiten und damit die Analyse an der Mehrdeutigkeit eines Films auszurichten (vgl. Hickethier 2003: 344f). 91 Dieser Ansatz wird im englischsprachigen Raum v.a. durch Bordwells Theorie des Filmverstehens (1989) und im deutschsprachigen Raum v.a. durch Wuss Brückenschlag zwischen „Filmanalyse und Psychologie“ (1993) vertreten. In einem Vergleich beider Theorieansätze arbeitet Meyer (1996) die gemeinsame Basis beider Modelle der Filmwahrnehmung sowie ihre Unterschiede heraus. 92 Der literaturwissenschaftlich geprägte Begriff der Rezeptionsästhetik bringt die Absicht einer „funktionalen Filmanalyse“, wie sie u.a. Wulff (1999) vertritt, zum Ausdruck. Dabei wird die Beziehung zwischen Text und LeserIn als ein Interaktionsverhältnis aufgefasst und der Text „als eine auf ‚Konkretisation’ angelegte Struktur“ (Müller 2003: 286) beschrieben. Von besonderem Interesse ist dabei die Sinnentfaltung von Textstrukturen, die die Funktion der Leselenkung einnehmen. Grundannahme dieser theoretischen Position ist, dass erst durch die Rezeption eines Textes dieser als ästhetischer Gegenstand konstituiert wird (vgl. ebd.).
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Empirisch-methodisches Vorgehen
In der Schnittmenge aller angesprochenen Ansätze und Richtungen der Filmanalyse bilden sich die drei Bezugspunkte ab, die in ihrem Verhältnis zueinander den Kern der Filmanalyse, wie sie hier verstanden wird, ausmachen (vgl. Abbildung 5): der Inhalt, der in einer spezifischen Form dargestellt wird, die wiederum funktional zur Vermittlung von Bedeutungen eingesetzt wird. Das heißt, die Ebene des Inhalts, die Ebene der ästhetisch-filmsprachlichen Gestaltung und Narrationsstruktur wie auch die Ebene der Bedeutungsproduktion werden im Prozess der Filminterpretation analytisch aufeinander bezogen. Auf diese Weise sollen in der vorliegenden Untersuchung solche Bedeutungsgehalte des Einzelstücks erschlossen werden, die sich im ‚flüchtigen Sehen’ der Erstrezeption nur bruchstückhaft ermitteln lassen. Überträgt man die Fragestellung der Untersuchung auf den Zusammenhang dieser drei Bezugspunkte, lässt sich das Ziel der Filmanalyse konkreter umreißen: Die Analyse der drei ausgewählten Filme bezieht sich auf eine Umsetzungsfrage, wie nämlich Jugendhilfethemen der sondierten Inhaltskategorien bedeutungsvoll dargestellt werden. Die Filme werden sowohl im Hinblick auf ihre Metakonstruktion als auch in Bezug auf vereinzelte Stilmittel auf erkennbare Lösungen befragt. Bedeutungsvermittlung wird innerhalb dieser Untersuchung auf die Deutung eines möglichen sozialwissenschaftlichen Sinngehalts, der sich aus Struktur, Form und Inhalt erschließt, fokussiert. Vorbereitet ist diese Perspektive durch die selektiven Untersuchungskategorien ‚Raum’, ‚Zeit’ und ‚ProtagonistIn’, auf die sich die Analyse konzentriert und die zuvor (vgl. Kap. 3.2, 3.3 und 3.4) als Nahtstellen in der Gestaltung sozialpädagogischer Fachlichkeit und dokumentarischer Darstellungsweisen herausgearbeitet wurden. Besondere Berücksichtigung findet der oben aufgezeigte Zusammenhang zwischen Inhalt, Form und Wirkung bzw. Bedeutungsvermittlung im Ansatz der „systematischen Filmanalyse“ nach Korte. Diese hält ein strukturanalytisches Instrumentarium bereit, mit dem die Konvergenz von Inhalt und Gestaltung und somit die Bedeutungsproduktion des Films sequenziell ermittelt wird. Im Folgenden wird die „systematische Filmanalyse“ vorgestellt, da sie als methodischer Rahmen der vorliegenden Filmanalyse herangezogen wurde. 4.2.2 Methodische Vorgehensweise Kortes Ansatz stellt ein konkretes Untersuchungsverfahren vor und bietet zudem ein „offenes System an Analysewerkzeugen“ (Korte 2001: 9). Die Aufmerksamkeit liegt primär auf dem Filmprodukt, das über „Mikroanalysen der filmischen Präsentationsstruktur auf die ästhetischen Wirkungsfaktoren und ihr Zusammenspiel“ (ebd.) hin befragt wird. Die eingesetzten Analysetechniken stellen eine
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Kombination aus qualitativen und quantifizierenden Vorgehensweisen dar. Spezifisch am Untersuchungsverfahren Kortes ist der Einsatz von strukturierenden Grafiken, die bestimmte Abfolgemuster innerhalb eines Films erst auswertbar machen: „Vielfach können auf diesem Wege überhaupt erst für die Wirkung des Films wesentliche Strukturen und Verbindungen sichtbar gemacht werden, die auf der Ebene bloßer Anschauung analytisch gar nicht fassbar sind“ (ebd.: 16). Bei Korte sind lediglich grobe Arbeitsphasen in ihrem Nacheinander beschrieben (vgl. ebd.: 54). Vorgeschlagen wird, das konkrete Vorgehen im Einzelfall der Untersuchungsfrage anzupassen. Die im Folgenden beschriebene Analysetätigkeit stellt bereits eine an den lokalen Untersuchungskontext angepasste Vorgehensweise dar. Arbeitsphase 1: Erstsichtung des Films und Memo schreiben Nachdem der ausgewählte Film erstmalig, vollständig und ohne Unterbrechung gesichtet wurde, ging es darum, die gewonnenen Eindrücke in einem Memo festzuhalten. Der Sinn einer solchen Niederschrift ist weniger mit einem Gedächtnisprotokoll zu vergleichen als mit einer unmittelbaren Assoziationsmöglichkeit. Das Memo durfte unsystematisch sein, Fragen neben Thesen formulieren, Schlüsselstellen hervorheben und spontan Zusammenhänge entwickeln. Dabei spielten besonders Fragen der Filmwirkung, die man sich selbst als durchschnittlicher Rezipientin stellt, eine Rolle: Warum hat mich der Film angesprochen? Welche Erfahrung habe ich mit dem Thema? Was repräsentiert der Film? Was sind Schlüsselstellen? Was blieb unklar? Bei diesem Schritt geht es v.a. um die Erlebnisqualität während der Filmwahrnehmung. Diese subjektive Seite der individuellen Rezeption geht erfahrungsgemäß im Fortgang der Analyse verloren, ist jedoch für die Filminterpretation – im Sinne eines konservierten Zugangs zum eigenen Filmverstehen – als Wissensbestand heranzuziehen. In dieser ersten Phase wird der Film immer in seiner Gesamtheit betrachtet. Korte bezeichnet das Fixieren erster Eindrücke als vorbereitenden Untersuchungsschritt (vgl. ebd.: 54). Arbeitsphase 2: Filmtranskription Die Arbeitsphase der Filmtranskription meint v.a. die Trennung überlagerter Schichten von filmischen Zeichen, die im Filmverlauf simultan gegeben sind und nun im Einzelnen voneinander gelöst werden. Der filmische Ablauf wird in diesem Arbeitsgang aus seinem Fluss genommen und in ein schriftliches Protokoll übersetzt, das nach signifikanten Einheiten vorgeht. Der Filmstatus ändert sich
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Empirisch-methodisches Vorgehen
dadurch. Er ist aus der filminternen Ablauflogik herausgenommen, liegt in Papierform vor und bildet darin ein neuartiges Gesamt. Korte unterscheidet das Einstellungs- und das Sequenzprotokoll (vgl. Korte 2001: 32ff). Während das Einstellungsprotokoll das Dargestellte zwischen zwei Filmschnitten erfasst, bezieht sich das Sequenzprotokoll auf dramaturgische Einheiten. Für die vorliegende Untersuchung wurde ein ausführliches Sequenzprotokoll bevorzugt, in dem der Film vollständig transkribiert wurde.93 Anders als von Korte vorgeschlagen berücksichtigt dieses etwa gleich viele Gestaltungsebenen wie ein Einstellungsprotokoll, bezieht diese jedoch auf umfassendere Sinneinheiten. Eine Sequenz wird als Folge von inhaltlich zusammenhängenden Einstellungen begriffen. Ein Ortwechsel, ein Figurenwechsel oder ein Wechsel in der Erzählzeit markieren den Sequenzbeginn. Diese Detailarbeit erwies sich zwar als sehr zeitintensiv, währenddessen entstanden jedoch unzählige Beobachtungsnotizen und Hypothesen, warum die identifizierten filmischen Mittel so und nicht anders eingesetzt sind. Für die Notation der Kameraaktivität und die Beschreibung des Bildinhalts wurde auf Standardwerke zur Filmsprache (v.a. Monaco 2000, Kanzog 1991) zurückgegriffen. Tabelle 7 zeigt einen Ausschnitt aus dem Sequenzprotokoll von „Schule des Lebens“ (zweite Filminterpretation) und lässt die berücksichtigten Gestaltungsebenen und Merkmale erkennen. Wenn auch die Erarbeitung des Sequenzprotokolls ‚stoische Geduld’ verlangt und Ideen zu möglichen Zusammenhängen zwar entstehen lässt, deren Überprüfung aber auf ein Später verschiebt, ist mit seiner Vervollständigung doch eine wichtige Basis gewonnen. Erst das vollständige Sequenzprotokoll bietet analytische Möglichkeiten, einen Überblick über den Gesamtaufbau des Films zu erlangen und einzelnen Gestaltungselementen in ihrem gezielten Einsatz nachzugehen. Dies wiederum ist Aufgabe der sequenziellen Filmanalyse. Arbeitsphase 3: Sequenzielle Filmanalyse Mittels des Sequenzprotokolls konnten Hypothesen über die Ordnungsstrukturen, die der Film herstellt, überprüft, formal-ästhetische Veränderungen im Ablauf festgestellt und Wiederholungsstrukturen erkannt werden. Drei Techniken erwiesen sich dabei als besonders nützlich: Die analytische Tätigkeit setzte an der kleinsten Einheit des Film, der Einstellung, an und stellte sukzessive für den Film typische Kombinationen von Gestaltungsmerkmalen fest (sequenzielles Vorgehen). Hierzu wurden das Sequenzprotokoll wie auch Kurzpassagen bzw. Standbilder des Films genutzt. Parallel zu diesen, sich sequenziell vorarbeitenden 93
100 Minuten Filmen entsprechen durchschnittlich 42 Protokollseiten.
4.2 Methode der Filmanalyse und -interpretation
Tabelle 7: Ausschnitt Sequenzprotokoll
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Empirisch-methodisches Vorgehen
Detailauswertungen begann die Formulierung eines rein deskriptiven, knappen Überblicks über den Film im Hinblick darauf, wie sich sein Inhalt und parallel dazu seine filmische Form aufbauen (zusammenfassendes Vorgehen). Grundlage dafür war das Sequenzprotokoll und das Memo. Ergänzt wurde das sequenzielle und das zusammenfassende Vorgehen durch die selektive Analyse, die auf dem Anfertigen von Hilfsmitteln, sprich strukturierenden Grafiken aufbaut, die ihre Datenbasis ebenfalls im Sequenzprotokoll haben. Mit Bezug auf Korte kann erklärt werden, worum es dabei ging; Kortes Untersuchungsansatz legt einen Schwerpunkt auf die Ermittlung der „zeitlichen Präsentationsstruktur“ eines Films (ebd.: 14).94 Er stellt hierzu vier grafische Darstellungsweisen vor, die quantifizierende Anteile der insgesamt qualitativ ausgerichteten Gesamtanalyse darstellen: Erstens ist das die Sequenzgrafik, die den Film nach der Dauer der Sequenzlängen segmentiert, dabei Handlungsabschnitte gegeneinander absetzt und Gesetzmäßigkeiten in der Sequenzabfolge einsichtig macht. Zweitens dienen Einstellungsgrafiken der Analyse der Formalspannung, also der durch die Schnitttaktung hervorgerufenen Spannung: „Erkennbar wird die Feinstruktur des Films, die metrische Montage, die begründete Aussagen über den spezifischen Zusammenhang von formaler Spannung und inhaltlich erlebter Spannung ermöglicht“ (ebd.: 42). Drittens vermittelt die Schnittfrequenzgrafik (alternativ zur Einstellungsgrafik) einen konzentrierten Eindruck über den Schnittrhythmus und damit über den „Verlauf der Formalspannung eines Films“ (ebd.: 46). Viertens wird das Darstellungsprinzip der Zeitachse als „summarische Visualisierung des Filmablaufs“ (ebd.: 49) nach spezifischen Merkmalen wie z.B. Handlungsorten beschrieben. Sie ermöglicht die Einordnungen von formalen Besonderheiten und/oder von Handlungshöhepunkten auf der zeitlichen Linie des gesamten Films und macht dadurch Wiederholungsstrukturen schnell erfassbar. Diese vier Varianten stellen Möglichkeiten in der Ermittlung einer „zeitlichen Präsentationsstruktur“ dar. Korte ermuntert dazu, sie aus der Logik der leitenden Fragestellung heraus zu modifizieren, gegebenenfalls zu ergänzen (vgl. ebd. 53) und sie insgesamt als eine Art „Skizzenbuch“ (ebd. 49) zu verwenden. Zentral dabei ist, dass die quantifizierenden Grafiken argumentativ in die Gesamtauswertung eingebunden werden, denn als isolierte Einzelbeobachtungen sind sie nicht weiterführend. Für jeden der untersuchten Filme wurden diverse grafische Skizzen angefertigt, die teilweise auch in den Haupttext aufgenommen sind und dort der Nachvollziehbarkeit der Interpretation dienen. Richtungsweisend waren dabei die drei Untersuchungskategorien ‚Raum’, ‚Zeit’ und ‚ProtagonistIn’ mit den jeweils entwickelten Sets an Teilfragestellungen. Die analytischen Untersuchungsschritte wa94
Wie zuvor in Kapitel 3.3 zur Untersuchungskategorie Zeit ausgeführt, erschließen sich über die temporale Gestaltung Erzähltechniken des Dokumentarfilms.
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ren primär darauf ausgerichtet, die Konzepte von Raum, Zeit und ProtagonistIn zu rekonstruieren und zu überprüfen, in welchem Zusammenhang diese zur Metakonstruktion des Films stehen. Bei den strukturierenden Grafiken handelt es sich überwiegend um Varianten der „Zeitachse“. Es werden also Merkmale wie Redezeiten pro ProtagonistIn oder räumliche Positionen in ihrer temporalen Abfolge ins Verhältnis zu ihren Anteilen an der Filmzeit gesetzt. In einem ergänzenden Schritt wurde Kontextwissen zum Film recherchiert, das in Bezug auf „Ich war das perfekte Kind“ (Filmanalyse 1) und „Schule des Lebens“ (Filmanalyse 2) auf Angaben zur FilmemacherIn, zum Sendeformat und Daten zur Rezeption begrenzt wurde. Für den Film „Der Kick“ (Filmanalyse 3) erschien darüber hinaus eine Kontextanalyse in größerem Umfang, sprich zur Rezeption des Films in der Fachöffentlichkeit, zur Intention des Filmemachers und schließlich zum verarbeiteten Stoff, dem Mordfall in Potzlow, unerlässlich, da der untypische Stil des Films in Kombination mit dem realen Geschehen m.E. eine genauere Einschätzung der Entstehungsgeschichte verlangte. Arbeitsphase 4: Formulierung der Filminterpretation als kulturelles Vernetzen Ein wesentliches Kennzeichen der Filmanalyse als hermeneutischer Interpretation des Films liegt in der Zirkularität der Betrachtungsweise. Der Vorgang des Interpretierens erfolgt im Wechsel zwischen Detail- und Gesamtsicht. Im Prozess werden Teilauswertungen in modifizierter Weise wiederholt, um so die Auslegung des Films als Sinneinheit (abstrahierte Idee) durch ein genaueres Verständnis seiner Details (konkrete Gestaltung) stets zu korrigieren. Das Vorgehen während des Interpretierens ist also mit einer Art des kulturellen Vernetzens95 zu vergleichen. Konkret heißt das: Innerhalb der Arbeitsphase der Interpretation waren die diversen Befunde und Beobachtungen zum vorliegenden Film nun aufeinander zu beziehen, nach jeweiligen Bedeutungen zu fragen und diese schließlich mit theoretischen Ideen anzureichern. In der schriftlichen Abfassung der Interpretation wurde versucht, diese Denkbewegungen zwischen mehreren Wissensbeständen und das Oszillieren zwischen einer Gesamt- und einer Detailsicht als das wesentliche Charakteristikum einer hermeneutischen Vorgehensweise beizubehalten.
95
Von kulturellem Vernetzen zu sprechen ist m.E. im Kontext der vorliegenden Untersuchung deshalb sinnvoll, weil es darum ging, interpretative Verbindung zwischen dokumentarischen Darstellungsweisen und sozialpädagogischen Theorien zu schaffen. Dies bedeutet, einen Bezug zwischen unterschiedlichen Fachkulturen herzustellen.
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Empirisch-methodisches Vorgehen
4.2.3 Zur Darstellung von Filmanalyse und -interpretation Die folgenden drei Filminterpretationen sind nach einem ähnlichen Schema aufgebaut und jeweils in vier Teile gegliedert: Ein erster Teil vermittelt einen Überblick über den Film. Der Inhalt wird auf knappem Raum wiedergegeben und daran anschließend wird die formale Struktur des Films vorgestellt. Es handelt sich dabei um rein deskriptive Beschreibungen, die am Anfang einen Überblick geben sollen. Teil zwei fokussiert die Korrespondenz zwischen Form und Inhalt. Die Handlungsentwicklung des Films wird im Ineinandergreifen von filmsprachlichen und inhaltlichen Narrationstechniken sukzessive verfolgt. Diese, eine sequenzielle Logik beibehaltende Form der Ergebnisaufbereitung soll den Entdeckungscharakter der Filmrezeption widerspiegeln und die Metakonstruktion des Films im Verhältnis dazu entschlüsseln. Sprachlich orientiert sich die Interpretation an einem Wechselspiel in der Perspektivierung des Materials (‚erlebendes Ich’ vs. systematisierender Blick) und einer dazu eingenommenen Distanz.96 Die zuvor entwickelten Untersuchungskategorien ‚Raum’, ‚Zeit’ und ‚ProtagonistIn’ bilden den Analyse-Leitfaden für den dritten Teil. Es werden die jeweils realisierten Konzepte einer raum-, zeit- und subjektbezogenen Entwicklung innerhalb des Films herausgearbeitet, um deren formale Organisation auf jugendhilfetheoretische bzw. sozialwissenschaftliche Konzepte zu beziehen. Ein vierter Teil fasst die Interpretation zusammen. Zum Umgang mit Fachtheorie bzw. theoretischen Konzepten Im Rahmen qualitativer sozialwissenschaftlicher Forschung entsteht früher oder später im Auswertungsprozess die Frage, wie man die erhobenen und analysierten Daten mit Theorien in Verbindung bringt (vgl. Reichertz 2000: 279). Im vorliegenden Untersuchungskontext entsteht zusätzlich die Frage, zu welchen theoretischen Konzepten Anschluss gefunden werden soll. Die drei leitenden Untersuchungskategorien haben bereits Korridore zwischen literatur- bzw. filmwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen bzw. sozialpädagogischen Theorien aufgetan. Eine weitere Eingrenzung auf eine einzelne Bezugstheorie war nicht möglich und auch nicht sinnvoll. Das heißt, in den Kapiteln 3.2, 3.3 und 96 Die Darstellung der Filmanalyse und -interpretation ist mit ähnlichen Schwierigkeiten wie auch die ethnographische Forschung konfrontiert. Der Film selbst liegt materiell nicht vor und kann daher nicht Bestandteil der Darstellung sein. Er muss in seiner Charakteristik auf der Basis sprachlicher Möglichkeiten erst (wieder) hergestellt werden. Auch diese Wiederherstellung beinhaltet eine Konstruktionsleistung, die bereits als Teil der Deutung zu sehen ist (vgl. Flick 2000: 191).
4.2 Methode der Filmanalyse und -interpretation
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3.4 wurden Theorien nicht insgesamt auf eine Problemstellung übertragen, sondern es wurden einzelne theoretische Konzepte aufeinander bezogen. Ähnliches gilt nun auch im Anwendungsbezug: Die hermeneutische Filminterpretation entwickelt sich nicht ausgehend von einem konsistenten theoretischen Bezugsfeld, sondern ausgehend von strukturellen Ähnlichkeiten zwischen analysierter Filmsequenz und theoretischen Argumenten. Auf diese Weise realisiert die Untersuchung ihre Zielsetzung: Die Interpretation der analysierten Darstellungsweisen stellt einen Bezug zu verschiedenen sozialpädagogisch relevanten Fachtheorien her und untersucht damit ein Film-Fachlichkeits-Verhältnis, das in der Darstellungsweise begründet ist. Der formale Aufbau, das filmisch realisierte Raumkonzept, der Umgang mit biographischer Zeit innerhalb der Filmzeit etc. werden mit Entsprechungen in den Fachtheorien in Verbindung gebracht, um dadurch inhaltsbezogene Deutungsmöglichkeiten zu erlangen. Die hergestellten Passungen sind nicht ausschließlich zu verstehen, sondern verdeutlichen eine Interpretationsmöglichkeit, die als inhaltlich weiterführend für die Aufklärung jeweiliger filmisch-narrativer Thematisierungsweisen angesehen wird.
5 Filmanalyse I: „Ich war das perfekte Kind“
Filmdaten Autoren Heidi und Bernd Umbreit Redaktion WDR Menschen hautnah, Ulrike Schweitzer Filmlänge 44 min. Erstausstrahlung 27. Juni 2005, das Erste 5.1 Beschreibung des Inhalts im Rahmen seiner Formalstruktur 5.1.1 Inhaltlicher Überblick Silvia, ein Mädchen aus der fränkischen Provinz, entschließt sich mit 15 Jahren von zu Hause abzuhauen. Zu diesem Zeitpunkt ist sie bereits inspiriert durch die Lebenshaltung ‚Punk’. Groß geworden in einem gutbürgerlichen Haushalt – der Vater ist Ingenieur und die Mutter ist Lehrerin – hat sie die Vorteile einer behüteten, bildungsintensiven und glücklichen Kindheit, wie sie selbst sagt, genießen können. Die Geister zwischen Tochter und Eltern scheiden sich in der Pubertät. Silvia sucht nach neuen Möglichkeiten des Zusammenlebens, bereist fast alle deutschen Städte, kommt immer wieder zurück ins elterliche Zuhause und kehrt, nachdem sie nebenbei und trotz einem Übermaß an schulischen Fehlzeiten ihr Abitur besteht, dem elterlichen Daheim endgültig den Rücken. Der gesellschaftliche Ausstieg, der aus Silvias Überzeugung einzig folgerichtig ist, um authentisch leben zu können, führt sie ohne festen Wohnsitz in die Illegalität von Wohnungsbesetzern, schließt sie in die Zielgruppe ‚auffällige Jugendliche’ ein, prädestiniert sie für Angebote der Straßensozialarbeit und führt sie nicht zuletzt in die Armut. Diese Umstände sind der Protagonistin allemal lieber als ein Dasein in einer zwanghaften innerlich-geistigen Selbstbeschränkung zu fristen; für ihre Eltern ein vollkommen unverständlicher Entwurf, der ihnen seit damals schmerzlichen Kummer bereitet und der die Tochter aus deren Sicht schließlich auch nicht glücklich machen könne. Um Boden unter den Füßen zu gewinnen entschließt sich Silvia, das Angebot einer Anlaufstelle für Straßenkinder anzuneh-
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Filmanalyse I: „Ich war das perfekte Kind“
men und sich in einem dreiwöchigen Praktikum in einer Kinderzirkusschule auszuprobieren. Sie selbst wählt diesen Bereich, der sie einem Wirkungskreis näher bringt, der ihr interessant erscheint – Straßenkunst und Straßenkünstler. Sie erweitert ihre Selbsterfahrung und tritt im öffentlichen Raum als Jongleurartistin auf. Nicht genug damit: Sie bewirbt sich um die Aufnahme an einer Theaterschule für Akrobatik und besteht. Ob sie auch die ersten drei Monate der Ausbildung durchstehen wird und ihre Alltagsgewohnheiten eines unsteten Lebenswandels mit den schulischen Anforderungen in Einklang bringen kann, ist für Silvia noch eine offene Frage. Der Film endet an dieser Stelle. 5.1.2 Formale Ordnungsstruktur Um einen Film zu verstehen, ist seine interne Ordnung eines der wichtigsten Hilfsmittel, die der ZuschauerIn angeboten wird, denn die Form des Gesamtaufbaus unterstützt den Inhalt nachhaltig. Deswegen soll an dieser Stelle eine knappe Beschreibung der filmischen Makrostruktur gegeben werden, auf die sich die nachfolgenden Analysen stützen können. Welche formale Gliederungsstruktur bietet der hier vorliegende Film an und mit welchen Kennungen realisiert er diese Einteilung? Ein einfachstes filmisches Mitteln, die Schwarzblende, ist als Signal eingesetzt. Der Film ist dadurch schlicht in vier Teile gegliedert. Signifikant ist die Schwarzblende insofern, als dass sie ausschließlich für die Funktion, die Einheiten voneinander zu trennen, vorgesehen ist, an keiner anderen Stelle verwendet wird und deshalb als Trennmarke erkennbar ist. Die vier Segmente fallen in ihrem Darstellungsumfang unterschiedlich aus: Die erste Etappe bildet mit 50 Sekunden das kleinste filmische Teilsegment (1,87% der Gesamtlänge). Sie wird im Folgenden als Prolog bezeichnet. Die sich daran anschließende erste Haupteinheit ist mit 24:48 Minuten bedeutend länger und nimmt effektiv mehr als die Hälfte der Filmzeit in Anspruch (56,71%). Die folgende zweite Haupteinheit erstreckt sich auf eine Filmzeit von 14 Minuten, was einem Anteil von 32,01 Prozent entspricht. Schließlich wird die filmische Erzählung in der dritten Haupteinheit in einer Dauer von 4:06 Minuten (9,38%) abgeschlossen. Weil der Film insgesamt auf einen erklärenden Kommentar verzichtet, werden auch die Trennmarken nicht extradiegetisch vor- oder nachbereitet. Der formal eingeleitete Wechsel der Einheiten erschließt sich sukzessive sowohl inhaltlich als auch filmsprachlich durch ein Hinzunehmen bzw. Verzichten auf bestimmte thematische Stränge und deren Stilelemente. Welchen Zweck dieser filmische Aufbau verfolgt ist eine Frage an die thematische Metakonstruktion der hier vor-
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liegenden dokumentarischen Erzählung. Ihre Beantwortung soll an dieser Stelle noch nicht vorweggenommen, sondern in Auseinandersetzung zwischen filmischen Codes und Inhalt im folgenden zweiten Kapitel detailliert nachvollzogen werden.97 5.2 Analyse der filmischen Einheiten 5.2.1 Prolog – die ersten drei Sequenzen Das „klassisches Suchbild nach der Exposition von Handlung, Zeit und Ort“ (Kanzog 1991: 89) gehört zu den obligatorischen Aufgaben einer Analyse. Es ist die Identifizierung einer „Grundsituation“, von der aus sich alles entwickelt. Geht man davon aus, dass die Exposition einer Erzählung eine für das „Verstehen des Stückes notwendige einführende Information über die Ausgangssituation und Hauptcharaktere“ (Bantel/Schaefer 1983: 49) zu leisten hat, stellt sich die Frage, welche Art von Übersicht bzw. Einsicht dieser Film in seiner ersten formal gekennzeichneten Einheit vermittelt. Der sogenannte Establishing Shot zeigt in einer Panorama-Einstellung (der einzigen!) einen leicht ansteigenden grasigen Hügel im unteren Bildbereich, der sich über seine Kontur vom sonst vollkommen bewölkten Horizont abhebt – grün in grau in einer ausgeglichenen Spannung (Mikunda 1986). Eine detaillierte Struktur ist nicht zu erkennen. Lediglich zwei Informationen beschreiben das Bild: auf der Tonebene ein böiges Windrauschen und im Bild eine weit entfernte menschliche Figur, die sich auf Wanderschaft befindet. Sie durchquert, wie wir die Zeilen eines Buches lesen, von links nach rechts ein Stück der Szenerie. Ihre Bewegung ist rein optisch bedeutungsvoll, weil sie die Linienführung der Bildkomposition betont, weil sie an- und nicht absteigt und weil sich in dieser Bewegung ein westliches Kulturschema wiederfindet: Bedeutung erschließt sich in der Lesrichtung von links nach rechts. Im Voice over bekommt unsere lesende Beobachtung einen Sinn: „Ich fühle mich ausgesetzt, fertig; ausgebotet von einer Welt, die von normalen Menschen lebt. Gibt es auch eine Welt für mich? Ich suche. Es stört mich nicht“. Wir kennen diese Stimme, sie gehört der Schauspiele97
Das Sequenzprotokoll bildete den Ausgangspunkt dafür. Wie in Kapitel 4.2 dargestellt, wird unter einer Sequenz die Folge von inhaltlich zusammenhängenden Einstellungen verstanden. An sechs Stellen war es für den vorliegenden Film zudem sinnvoll Subsequenzen zu bilden: dann, wenn die Filmmusik offensichtlich differierende Passagen absichtsvoll zusammenhält und dann, wenn Sequenzen sowohl als eigenständige Kleineinheiten wie auch als Teilelemente größerer Bezugsgrößen angesehen werden können.
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rin Nina Hoss. Sie ‚leiht’ ihre Stimme einer anderen Figur, die wir als Protagonistin wahrnehmen. In der zweiten Sequenz bekommt die Figur einen Namen und ein Gesicht – Silvia. Riesig erscheint sie auf dem Bildschirm und ohne die Möglichkeit zur Distanz blicken wir sie an, während sie erklärt, mit 15 Jahren zum ersten Mal von zuhause abgehauen zu sein. Die Bildeinstellung hat ihre Gründe, wie später zu zeigen sein wird. Mit Abschluss der dritten Sequenz schließlich, nach 50 Sekunden, sind die drei wesentlichen Linien des Themas ausgebreitet: Die autobiographische Fragestellung „Gibt es eine Welt für mich?“, die Konkretion und die Umstände der Suche – von einem Zuhause abhauen, andernorts was erleben – und die dritte Linie, die der Film qua Titel (in der dritten Sequenz) besonders herausstellt: „Ich war das perfekte Kind“ – eine Klammer für all das, was danach, im Anschluss an das Ereignis an Folgewirkungen entsteht. Der Prolog blendet sich schwarz aus und leitet in die erste Haupteinheit über. 5.2.2 Erste Einheit: Punkerin und Stofftiermaus? – Hier stimmt was nicht! Während der den drei Haupteinheiten vorangestellte Prolog eine Einsicht in die Fragestellung der jugendlichen Protagonistin gibt, die den roten Faden durch den Film bildet, beginnt die erste Einheit mit der Exposition einer damit verflochtenen Themenstellung – der Klärung einer Familiengeschichte. Tochter, Vater, Mutter sind hier ProtagonistInnen. Von der vierten bis zur 36ten Sequenz (bis zu Minute 25:38) haben wir es mit einer Verkettung von Erzählpassagen zu tun, die bis auf einige Ausnahmen (fünf von 27 Übergängen) durch Überblendungen miteinander verbunden sind. Die Passagen bilden ein alternierendes Muster zwischen in schwarz-weiß gehaltenen und farbigen Bildstrecken. Eingearbeitet in dieses visuelle Erzählmuster sind die Dokumente, die der Film als solche ausweist und die unbearbeitet in ihrem Originalzustand belassen sind. Zusätzlich zu den überlappenden Bildübergängen bindet die hier eingesetzte Filmmusik einzelne Sequenzen aneinander, indem sie den Bildübergang noch einmal weiter durch ihre Ein- bzw. Ausblendung umfasst. In einzelnen Fällen bewirkt der Musikeinsatz auch das Gegenteil. Er verhindert die Synthese der Sequenzen, weist eine Verbindung durch abrupte Blenden schroff zurück. Anhand dieser vier Konstruktionsweisen – Farbe, schwarz-weiß, Dokumentmaterial, Musik – wird der Inhalt der ersten Einheit nun analysiert.
5.2 Analyse der filmischen Einheiten
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Farbige Bildstrecken: ProtagonistInnenerzählung98 Der Film arbeitet in dieser ersten Einheit mit primär zwei Elementen der Bildgestaltung. Dem Wechsel von Schwarz-weiß und Farbe und zum zweiten einer gezielten Schärfenführung, die alterniert zwischen kurzen Schärfenbereichen und einer Bildkomposition, die in die Tiefe gestaltet. Die kurzen Schärfenbereiche betreffen insbesondere die ProtagonistInnenerzählung. Hier wird plakativ der Bildvordergrund gegen den -hintergrund ausgespielt, einen Bildmittelgrund gibt es nicht. Gegenüber dem Nahbereich, auf dem eine kurze Schärfe liegt, erscheint der Hintergrund visuell ausradiert. Er ist diffus weil ohne Struktur und verschafft sich lediglich als eine in einer bestimmten Lichttemperatur eingefärbten Fläche Geltung. Gewichtig sind demgegenüber die in großen bis sehr großen Einstellungen aufgenommenen Gesichter – Gesichter werden so zu eigenständigen Landschaften, die unabhängig von einem räumlich konkreten Kontext zu verstehen sind. Sie haben fest zugewiesene Bildanteile, die sich erst mit der Einstellung in Sequenz 18 (Minuten 9:37) flexibilisieren. Die Einstellung, in der Silva gezeigt wird ist linksbetont, ihr Blick ist in einem Annäherungswinkel von 45° nach rechts gerichtet.99 Demgegenüber ist der Vater eher mittig positioniert, sein Blick ist in einem Annäherungswinkel von 10° nach rechts gerichtet. Die Einstellungen der Mutter sind spiegelbildlich zu Silvias Einstellungen aufgenommen. Über diese Anordnung im Bildkader und über die Blickkonstruktion im Raum wird die Familie vorläufig etabliert. Der in dieser Weise gestaltete Bildvordergrund bereitet einen Effekt vor, der jedoch erst in der Syntagmatik im Umfeld der ersten Einstellungen Einfluss gewinnt: Der Bildvordergrund ist einer Inszenierung der physiognomischen Ähnlichkeit zwischen der Tochter und dem Vater vorbehalten: die gleichen fülligen Lippen, die gleiche nach unten hin breit werdende Nase, eine nahezu gleich geschnittene Augenpartie. Die Mutter fällt heraus, sie kann bei dieser Ähnlichkeit nicht mithalten. Die Großaufnahme an sich, die das Publikum in die „Trance des Imaginären“ (Koch 2005) versetzt – indem sie eine Projektionsfläche anbietet, die ZuschauerInnen zu Ko-Konstrukteuren der Dokumentation macht100 –, und 98
Die folgende Auswertung bezieht sich auf die Sequenzen 5, 7, 9, 11, 12, 14, 16, 18, 20, 24, 26, 29, 30, 33, 36. Mit „Annäherungswinkel“ wird der Kamerastandpunkt über den Winkel definiert, den die beiden gedachten Linien – einmal die Blickrichtung des abgebildeten Augenpaars und zum anderen die Linie zwischen Objektiv und abgebildetem Motiv – bilden. 100 Diese Idee ist mit Bezug auf die filmexperimentellen Arbeiten von Kuleschow gemeint. Nach Ansicht des russischen Filmwissenschaftlers (1899-1970) liegt das Wesen des Films in der Verkettung von Fragmenten (vgl. Beller 1999: 20). Insbesondere die unter dem Namen Kuleschow-Effekt bekannt gewordene Versuchsanordnung zeigt, welche Suggestionskraft zwischen Großaufnahmen von Gesichtern und anderen aussagekräftigen Motiven entstehen kann. Eine Versuchsanordnung bei Ku99
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der darin prägnante Verweis auf die äußerliche Ähnlichkeit von Tochter und Vater, kann an dieser Stelle mit Rückgriff auf die Ergebnisse aus der Generationenforschung interpretiert werden. Die relevanten theoretischen Gesichtspunkte werden kurz zusammengefasst, um sie dann auf die Darstellungsweise zu beziehen: Mit Bezug auf die neuere Bindungstheorie101 stellen Lüscher und Liegle drei Qualitätsmomente von Eltern-Kind-Beziehungen in den Mittelpunkt, denen eine „besondere Bedeutung für die Identitätsentwicklung“ des Kindes zukommt (Lüscher/Liegle 2003: 188). Das ist erstens „Verlässlichkeit“, die das Kind als stete, fürsorgliche Nähe erlebt und woraufhin es „Vertrauen in die Welt sowie in die eigene Person“ (ebd.) entwickelt. Das ist zweitens „Dauerhaftigkeit“, die es in der Beziehung mit den Eltern zeitlich erfährt und drittens „Reziprozität“, die das Kind als Prinzip des Gebens und Nehmens kennenlernt. Aus diesen generalisierten Wahrnehmungen bzw. Beziehungserfahrungen resultieren schließlich die „Ausbildung von autonomer Handlungsfähigkeit und von Gemeinschaftsfähigkeit“ des Kindes in seiner weiteren Entwicklung (ebd.: 191). Entscheidend ist nun der Schluss, den Lüscher und Liegle aus diesem Zusammenhang ziehen: All jene Beziehungserfahrungen, die ein Kind machen kann, beinhalten irgendwann im Prozess der Entwicklung ein „unvermeidliche(s) Spannungsverhältnis zwischen Verbundenheit und Autonomie (..). Die konstruktive Verarbeitung dieses Spannungsverhältnisses wird begünstigt, wenn auf Seiten der erwachsenen Bezugspersonen Bindung mit Freigabe und Loslassen und auf Seiten der Kinder die Erfahrung der Verbundenheit mit der Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Autonomie einhergeht. In dieser Perspektive stellt nicht nur ein Mangel an Bindung, sondern auch ein Übermaß an Bindung („overprotection“) ein Entwicklungsrisiko dar“ (ebd.). Eben an solchen ambivalenten Anforderungen an eine intergenerationale Beziehungsgestaltung orientiert sich die Theorie über Generationenbeziehungen, die die Autoren entwickeln. Grundlegend für das Verständnis einer Theorie der Generationenambivalenz ist folgende im Ambivalenz-Begriff enthaltene Idee: Ambivalenz spielt sich im Fühlen, Denken, Wollen und Handeln ab und akzentuiert die Gleichzeitigkeit leschow zeigt, wie sich das faktisch immer gleiche Portraitbild des Schauspielers Mossuchin in einer Schnittfolge mit anderen Bildern laufend verändert. Geht dem Portrait das Bild eines Tellers mit Suppe, bzw. eines Kindersargs, bzw. einer nur leicht bekleideten Frau voraus, entsteht der Effekt eines wechselnden Gesichtsausdrucks von Hunger, Trauer und Begierde (vgl. ebd.: 22, 157f, Monaco 2000: 429). 101 Frühkindliche Bindungen zwischen Eltern und Kind sind verantwortlich für die spätere Bereitschaft des Kindes zur Exploration seiner Umwelt, seine Beziehungsfähigkeit wie auch den Bindungsstil, den es unter Umständen an die eigenen Kinder einmal weitergeben wird. Die Bindungsforschung unterscheidet vier Bindungsstile, die klassifiziert sind als ‚sicher’, ‚unsicher-vermeidend’, unsicherambivalent’, ‚desorganisiert’ (vgl. Lüscher/Liegle: 189).
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zweier nicht miteinander zu vereinbarender Eigenschaften, Zustände, Emotionen etc., die sich jedoch – und das ist konstitutiv – auf gleicher Skala befinden (z.B. warm und kalt, nicht jedoch warm und blau). „Ambivalenz betont die Unausweichlichkeit oder Alternativlosigkeit eines Gegensatzes“ (ebd.: 287). Ausgehend von einer allgemeinen Definition umfassen soziale Beziehungen stets mindestens zwei Subjekte, die involviert sind und die als Personen einander eine gewisse Anziehung bzw. ein Distanzverhalten entgegenbringen. Insofern sind soziale Beziehungen „personal“. „Damit soll gemeint sein, dass die Gestaltung von Beziehungen zwischen Eltern und Kindern mitbeeinflusst ist von Vorstellungen großer Ähnlichkeit oder eben der Verschiedenheit, die sich im äußeren Aussehen zeigen kann, aber auch – umgangssprachlich formuliert – in gleichen oder eben stark verschiedenen Zügen des ‚Charakters’, des ‚Wesens’ zum Ausdruck kommen“ (ebd.: 290). Der Film schafft nun einen Indikator für Ambivalenz über die Inszenierung der physiognomischen Ähnlichkeiten in Kombination mit der inhaltlichen ProtagonistInnen-Rede. Er wählt diese Strategie des ‚Sowohl-Als-Auch’, die wie eben gezeigt werden konnte, theoretische Bezüge zur Spezifität von Generationenbeziehungen aufweist, zweifelsohne um in die Familiengeschichte einzuführen und sie in ihrer personalen Dynamik vor Augen zu führen. Der Film zeigt so die Zwiespältigkeit von Ähnlichkeit und Verschiedenheit zwischen Tochter und Vater durch die Interdependenz von Bild und Wort. Um weitergehend zu erkennen, worin die Ambivalenz besteht, müssen die aufeinander bezogenen Erzählpassagen, die einen Informationsfluss bilden, genauer betrachtet werden. Worum geht es in den zwischen Vater und Tochter alternierenden Erzählpassagen, in die die Mutter nur schwach eingebunden ist? Silvias Erzählstrang beginnt bereits im Prolog (Silvia1) und setzt sich in Einheit eins (Silvia2 und 3) folgendermaßen fort: Silvia1: „Das erste Mal bin ich mit 15 von zuhause abgehauen, weil ich mich eingesperrt gefühlt hab, weil meine Freunde immer mehr durften als ich. Ich habe das auch alles genau geplant. Ich wollte einfach mal was erleben.“ Silvia2: „Also meine Kindheit war ziemlich schön. Meine Eltern haben viel mit mir unternommen, sind mit mir in den Urlaub gefahren, haben Sport mit mir gemacht – also mein Vater eher. Mein Vater hat mir auch immer Geschichten erzählt, die er sich selber ausgedacht hat. Meine Mutter hat mir fast die halbe Kinderbücherei vorgelesen, als ich noch nicht richtig lesen konnte, war mit mir im Krankenhaus als es mir schlecht ging, Tag und Nacht. Naja.“ Silvia3: Meine Eltern haben mich zu viel kontrolliert. Meine Mutter hat sogar mein Tagebuch gelesen, teilweise. Sie hatten keinerlei Vertrauen in mich und haben immer nur zu mir gesagt, wenn ich eigene Ideen oder Wünsche hatte, Pläne, dass kannst Du nicht, hierfür bist Du nicht begabt genug und so weiter und so fort. Sie haben mich lediglich darin bestärkt, in dem Weg, den sie für mich vorgesehen hatten, also Schule, Studium, schöner Beruf später.“
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Mit der ersten Aussage zeigt sich Silvia als Managerin der eigenen Entwicklung. Das Korsett der elterlichen Fürsorge war ihr zu eng, im Vergleich zu den Freunden hat sie mehr Spielraum entdeckt, den sie für sich gewinnen will. Die zweite Aussage bestätigt, was schon zu vermuten war: Sie hatte eine „schöne“ Kindheit, die sie retrospektiv an einem ungemein hohen Aufwand der Eltern festmacht. In der dritten Aussage äußert sie schließlich eine vernichtende Kritik an den Eltern. Ein Zuviel an Kontrolle, die Verletzung der Intimsphäre, Demotivierung und schließlich das Aufdrängen der elterlichen Vorstellungen. Die drei Aussagen bergen in sich ein hohes Maß an Ambivalenz, die in einem freiheitsberaubenden Gefühl der Involviertheit der Eltern in Silvias Entwicklung besteht und die die Möglichkeit, autonom zu handeln, bislang nur ungenügend erlaubte. Bei aller Verbundenheit – „naja“ – fehlt doch was. Die Mutter, die, wie bereits erwähnt, gegenüber der Fixierung auf das dyadische Verhältnis von Tochter und Vater seltsam unbestimmt bleibt, kommt innerhalb der ersten Einheit insgesamt nur an zwei Stellen zu Wort. Sie ist dem Vater vielmehr beigeordnet, indem das Bild während er erzählt umschneidet auf das Bild der Mutter – stillschweigende Blicke. Dadurch, dass die eine Figur linkszentriert und die andere rechtszentriert ist, wirkt es, als würde sie ihn anschauen während er spricht. In diesem Bezug der beiden Figuren aufeinander ist die Farbgebung des Hintergrunds hinweisgebend. Während er vor einem dunklen Hintergrund spricht, ist sie von einer hellen, ins Türkis gehenden Fläche eingerahmt und damit von einer eher kalten Farbtemperatur umgeben. Ihr inhaltlicher Beitrag, der in einer Abfolge mit zuvor zitierten Aussagen Silvias steht, bestätigt das vorab nur in Zwischenschnitten wahrgenommene, stille Bild der Mutter: Mutter: „Ja man überlegt sich natürlich was man falsch gemacht hat. Waren wir zu streng mit ihr? Oder waren wir vielleicht auch… haben wir ihr viel zu viel Freiheit gelassen? Gab es zuhause zuviel Streit? War sie damit überfordert? Oder haben wir sonst von ihr etwas verlangt, was sie nicht erfüllen konnte? Man zerbricht sich den Kopf und denkt nach, immer wieder und kommt doch zu keinem Ergebnis.“
Sie ist knapper, weniger impulsiv als der Vater und versucht, das eigene Verhalten rational auf Fehler zu überdenken. Dabei wird erkennbar, dass sie kein Bewusstsein für die Ambivalenz hat, die Silvia schildert. Der unausgeglichene Zustand, der die radikale Abkehr der Tochter bedingt hat, könnte in vielen erzieherischen Aspekten liegen. Die filmische Fixierung auf das Vater-Tochter-Verhältnis, die den ganzen Film über aufrechterhalten wird, entsteht schließlich erst mit dem Eindruck, den der Vater vermittelt und der im Unterschied zu Mutter und Tochter, was den Bildaufbau und die Blickrichtung anbelangt, zentriert ist. In einer emotional gekennzeichneten Ersterzählpassage des Vaters (mit 77 Sekunden längster Redeabschnitt des Vaters) schildert er, wie er und seine Frau den Freitag, an dem Silvia
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verschwand, sowie die Folgetage erlebt haben. Die Erzählung bricht abrupt ab, als den an sich sachlichen Erzähler die Tränen überkommen. Damit nicht genug: Er setzt den Taumel der Gefühle, den die Eltern im Umfeld jenes Tages erlebt haben in der zweiten Erzählpassage fort und bilanziert dann im dritten Redeabschnitt: Vater: „Es war danach nie mehr so wie vorher. Immer die Sorge, sie könnte vielleicht einmal nicht mehr kommen, sie könnte einmal wirklich verschwunden sein.“
Im Vater wird also eine Protagonistenfigur angelegt, deren Ich-Aussagen in diesem hier relevanten Abschnitt hauptsächlich durch Verlustangst und Ungewissheit geprägt sind. Die äußerliche Ähnlichkeit mit der Tochter betont gerade den geäußerten Verlust an Verbundenheit, die einmal war. Er ist dadurch als Konterpart zur Tochter eingeführt, der es um einen Gewinn an Autonomie geht. Schlüssig ist daher auch der Ausgang der ersten Einheit mit einer Redepassage von ihm, in der er die Unzugänglichkeit der Tochter beklagt und gleichzeitig betont, immer für sie da zu sein. Dadurch wird dem Thema Verlust nachhaltig sprachliches Gewicht verliehen. Es lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die visuelle Eindringlichkeit der beschriebenen Großaufnahmen, kombiniert mit einer Erzählsteuerung durch die ProtagonistInnenerzählung, eine hohe Aufmerksamkeit auf die Figurenopposition zwischen Tochter und hauptsächlich Vater lenkt. Unterstützt wird diese Aufmerksamkeitslenkung durch den Verzicht auf Zwischenschnitte bzw. ein Overvoice102-Prinzip der einzelnen Redebeiträge. So kommt es zu einer Intensivierung bzw. „intradiegetische“ Dominanz (vgl. Kiener 1999: 254) der ProtagonistInnenerzählung, die sich deutlich von den weiteren Erzählweisen des Films unterscheidet. Beispielsweise sind die schwarz-weiß gehaltenen Bildstrecken grundsätzlich anders geschnitten. Hier liegt eine expressive Erzählsteuerung vor. Schwarz-weiße Bildstrecken: Die Figur, die den Eltern den Rücken zukehrt103 Die erste Einheit ist das reinste ‚Blendwerk’, könnte man sagen. In z.T. bis zu 100 Einzelbildern umfassenden Überblendzeiten findet ein steter Wechsel zwischen zwei Erzählmethoden statt – der ProtagonistInnenerzählung (s.o.) und einer Erzählform, um die es im Folgenden geht. Interessant dabei ist zunächst, dass 102
Overvoice (überlagerter Ton) wird in diesem Zusammenhang verstanden als Beibehaltung eines Sprechtons (Interview, Kommentar) während das Bild sich von der sprechenden Person löst und assoziierte oder konkrete, der Umgebung entnommene Bilderstrecken zeigt. 103 Die folgende Analyse bezieht sich zunächst auf die Sequenzen 4, 6, 8, 10, 13, 15; dann auf die Sequenzen 17, 19, 21, 23, 25, 27, 28, 32, 34, 35.
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durch die Überblendungen eine interdependente Verbindung zwischen den Strängen gesucht wurde. Da sie hier ein zentrales Stilmittel ist, soll zunächst nach ihrer allgemeinen Bestimmung und typischen Anwendungen gefragt werden: Monaco, der anhand der Interpunktionsregeln der schriftsprachlichen Grammatik die Bedeutung einzelner Schnitttechniken beschreibt, hält fest: „All diese verschiedenen Gliederungen (gemeint sind Schnitttechniken, C.F.) entsprechen dem Punkt.(...) Die Überblendung jedoch (...) verbindet. Wenn es im Film ein Komma zwischen diesen verschiedenen Punkten gibt, ist es die Überblendung“ (Monaco 2000: 228). Die Bilder der einen Erzählmethode hängen der anderen an, bzw. leiten sich von ihr ab, was schließlich eine Korrespondenz im Inhalt unmittelbar suggeriert. Was bedeutet es nun, wenn der ProtagonistInnenerzählung eine zweite, expressive Erzählinstanz104 angehängt wird oder umgekehrt? Welches Mehr an Information entsteht daraus? Nach Monaco ist das Anwendungsziel der Überblendung nicht festgelegt, jedoch leitet sie häufig Rückblenden ein (vgl. ebd., vgl. auch Korte 2001: 27). Eine häufige und konventionalisierte Bedeutung von schwarz-weißen Bildebenen im Film liegt im Anzeigen einer Traumwelt oder eines Vergangenheitsbezugs (vgl. Kiener 1999: 199). Beide filmischen Codes lenken also die Aufmerksamkeit in die gleiche Richtung: Es liegt nahe, dass die schwarz-weiß gehaltenen Bildstrecken darauf abzielen, die in der Vergangenheit liegenden Ereignisse, um die die ProtagonistenerzählerInnen kreisen, ins Bild zu setzen. Das Jugendzimmer wird gezeigt und eine Figur, die das elterliche Zuhause verlässt, sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewegt, während die Eltern zunächst telefonierend, dann ratlos in der Wohnstube stehen. Gezeigt werden also Szenen, die auf Ereignisse verweisen, die unmöglich in der vorfilmischen Phase – aus dem Pressetext zum Film ist bekannt, dass den Dreharbeiten zum Film ein Jahr eingeräumt wurde – stattgefunden haben können, sondern davor – die Ereignisse wurden vielmehr nachgestellt.105 Auf die Bedeutung der Nachinszenierung in dokumentarischen Formaten geht Wolf ein: Unter dem Begriff des „Re-Enactment“ wird ein Erzählmittel doku104
Wie in Kapitel 3.4.2 ausgeführt, kann eine Erzählung grundsätzlich durch drei Erzählinstanzen gesteuert werden: durch die Protagonistenerzählung, durch eine im Film präsente figürliche ErzählerIn (z.B. ReporterIn) und schließlich durch filmsprachliche Gestaltung. Die letztgenannte Erzählinstanz wird von Kiener (1999) als „expressiver Erzähler“ bezeichnet. Die Erzählsteuerung liegt hier bei der AutorIn des Films, die das Rohmaterial interpretativ, typisierend und metaphorisch überformt. 105 Der Begriff „vorfilmisch“ geht auf Hohenberger (1988) zurück. Sie bezeichnet damit den Realitätsbezug des Dokumentarfilms, der ausschließlich für den Zeitraum der Dreharbeiten Gültigkeit besitzt und fokussiert damit den Moment der Aufnahme. Die „vorfilmische Realität“ ist das Ergebnis der Auswahl von Ausschnitten einer „nichtfilmischen Realität“, die die Filmschaffenden treffen. Davon unterscheiden sich eine „nichtfilmische Realität“, eine „Realität Film“, eine „filmische Realität“ und schließlich eine „nachfilmische Realität“ (Hohenberger 1988: 28-64).
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mentarischer Filme verstanden, das Ereignisse und Verhältnisse nachinszeniert. Das Integrieren dieser fiktionalen Elemente trifft insbesondere auf solche Themenfelder zu, „wo ohnehin ein dokumentarischer Zugang nicht so unmittelbar möglich ist“ (Wolf 2005: 37) – nach Wolf sind das Sujets, denen es an Sichtbarem mangelt und die in der Wissenschaft, der Zukunft und der Vergangenheit zu finden sind. Im Hinblick auf zeitgeschichtliche Dokumentationen versteht er den Trend zum Re-Enactment als Gegensatz zur „klassische(n) kulturhistorische(n) Methode“. Dieser Trend verdränge eine Form der dokumentarischen Rekonstruktion, die weitgehend aus historischen Dokumenten und Fundstellen ihre Aussagekraft bezieht (vgl. ebd.: 29). Nicht immer ziele die Nachinszenierung jedoch auf eine durch die Ereignisse vorgegebene Logik, mitunter spielen auch andere Interessen, z.B. die zu erzeugende Spannung, eine Rolle. Mit Bezug auf unser Filmbeispiel trifft es ebenso zu, dass die Nachinszenierung zu anderen Zwecken als zur Rekapitulation eines Ereignishergangs eingesetzt ist, denn wir haben es zunächst einmal mit offensichtlich ‚falschen’ Bildern zu tun. x Die Sequenzen 4, 6, 8, 10, 13, 15 Das Täuschungsmanöver beginnt in der vierten Sequenz, dem Anfang der Erzählung. Ein langer Schwenk in weitwinkliger Perspektive zeigt uns die Landschaft eines Jugendzimmers. Gleichmäßig streift die Kamera über eine Vielzahl von Verweisen auf einen plakativen Alltag, der in diesem Zimmer stattfand – wir wissen bereits aus dem Prolog, dass Silvia diesen Ort verlassen hat. Zunehmend wird der Schwenk durchbrochen von Aufnahmen kurzer Handlungen, in denen kleine Hände ein Stofftier, eine Maus an einen Rucksack anbinden, einen Geldbeutel füllen und den Reißverschluss des Rucksacks schließen. Im gesprochenen Text, dessen Quelle benannt wird als Silvias Tagebuch, erfahren wir von einem Kind – „ich“ –, das als „Wunschkind“ „gehegt und gepflegt“ wurde und den Übergang von der Grundschule aufs Gymnasium mit „1,0“ meisterte. Der Titel des Films und seine Stoßrichtung werden erklärt: „Ich war das perfekte Kind. Es konnte nur noch schlimmer werden.“ Die Rede ist Vorbote für einen wohl schwierigen Teil des Films. Die farbige Szene übersprungen setzt sich die Erzählung in der sechsten Sequenz in einer nun deutlichen Parallelmontage fort – wir erkennen es an der Stofftiermaus. Eine Figur, die den Rucksack trägt, an der das Stofftier baumelt, steigt die Treppen zu einem Bahngleis hoch, Finger tippen auf Telefontasten, dann wieder der Rucksack mit der Maus dran, die Figur geht entlang einer Wartelinie am Bahngleis, der Hörer wird aufgelegt. Nun – immer noch in der Schnittfolge der sechsten Sequenz – erleben wir eine erste Irritation: am Rucksack hängen nun zusätzlich zur Stofftiermaus Kinderschuhe, die in die Kamera
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baumeln. Immer noch nicht erkennen wir, wer diese Figur ist, wohl aber ahnen wir, wer es sein soll. Die achte, die zehnte und die dreizehnte Sequenz setzen die Parallelmontage fort. Sie endet damit, dass die Figur nach wie vor von hinten, fokussiert auf das Stofftier inmitten einer Menschenmenge gezeigt wird, parallel zum Vater, der an einem kleinen, verlassenen Bahnsteig steht und wartet. Dieses zuletzt genannte Bild beinhaltet eine jener Fluchtperspektiven, die in einem starken Gegensatz zu den mit flacher Schärfe konzipierten Bildern stehen. Betont wird dadurch die Umgebung wie auch die Blickrichtung des Vaters in Richtung der Schienen – sinnbildlich für eine nicht enden wollende Ungewissheit. Schließlich sorgt Sequenz 15, wenn auch drastisch, für Klarheit. Wir sehen über die Schulter einer jungen Frau, die Klavier spielt, dann eine Reihe von abgefilmten Kinderbildern von Silvia, auf den Armen der Eltern, als kleine Klavierspielerin etc. Diese Bilder sind gerahmt durch das wiederkehrende Bild auf eine fiktive Karussellfahrt, in der Kinder vergnügt kreischen, wenn sie über die kleinen Auf und Abs der Karussellbahn fahren. Abrupt und noch im Hall des letzten Akkordanschlags blendet die Einstellung über auf eine Sicht in die Tiefe eines Durchgangs zu Hinterhäusern – typisch Berliner Altbaustil. Silvia ist im Bildvordergrund frontal abgebildet, zum ersten Mal überhaupt sehen wir sie als ganze Figur in ihrem Punk-Look. Der visuelle Höhepunkt verflüchtigt sich jedoch rasch. Bald schon wird sie im Bildvordergrund aus- und im Bildhintergrund als kleine Figur – gewissermaßen zurückversetzt – wieder eingeblendet. Diese letzte surreale Blende bedeutet die Negation all dessen, was wir bislang verfolgt haben. So sieht Silvia aus ohne Stofftiermaus und Kinderschuhe am Backpack. Die beiden Einstellungen desavouieren den Wahrheitsgehalt der vorausgegangenen Bilder, denn die Accessoires des Kindlichen sind als Dokumente über die Ausreißerin schlicht falsch. Was bedeutet dies nun? Durch die filmische Methode des Re-Enactments wird hier nicht behauptet, dass Ereignisse so gewesen sind, sondern festgestellt, dass sie zum Zeitpunkt des Interviews so erinnert und wieder erlebt werden. Gleichzeitig werden alternative Sichtweisen in Aussicht gestellt. Das Re-Enactment ist zwar als „Standard des Geschichts-Fernsehens“ (Wolf 2005: 38) konventionalisiert, stellt aber immer nur eine fiktionalisierte Wiederbelebung und damit eine Version von Vergangenheit dar. Insofern implementiert der Film in Form der Nachinszenierung eine Wahrnehmungsebene, die subjektive Perspektiven miteinander konfrontiert. Eine subjektive Kameraführung, die den Blick des Vaters wiedergibt (auf die Figur, die uns immer den Rücken zugekehrt hat), konsolidiert dies. Das Bild des Vaters von seiner Tochter wird relativiert und zugleich wird deutlich, wenn wir uns an das Eingangszitat erinnern, dass Kraft seiner Vorstellung „alles schlimmer wurde“.
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x Die Sequenzen 17, 19, 21, 23, 25, 27, 28, 29b, 32, 34, 35 Inzwischen sind wir mit Beginn von Sequenz 17 bei Filmminute 8:33 angelangt. Die expressive Erzählung ist nun anders perspektiviert. Silvia sieht und denkt. Wenn eine subjektive Kameraführung eingesetzt wird, stellt sie ihre Sicht dar. Dies ist dreifach der Fall und immer richtet sich der Blick auf einen mehr oder weniger bewölkten Himmel. Die folgenden Sequenzen, die sich weiterhin mit den ProtagonistInnenerzählungen abwechseln, sind überwiegend durch gesprochene Tagebuchnotizen Silvias bestimmt und stellen eine Sicht dar, die sich dem Wahrnehmungshorizont des Vaters entzieht. Sie bilden allerdings keinen eigenständigen Erzählstrang, wie dies zuvor der Fall war. Vielmehr stehen sie in einem dialektischen Verhältnis zueinander wie auch zu den Selbstaussagen, die Silvia als Protagonistin im Interview trifft. Sie befördern in ihrer Zusammenschau einen Eindruck vom Gemütszustand Silvias, der die Zeit vor allem nach ihrem endgültigen Weggang wiedergibt. Ihre Selbstaussagen werden jedoch an anderer Stelle noch genauer betrachtet (vgl. Kap. 5.5.1). An dieser Stelle interessiert zunächst der Perspektivwechsel, den die expressive Erzählinstanz hier einfädelt. Dazu wird Sequenz 21 (Minute 10:55), die eine Schlüsselstelle in diesem Kontext bildet, analysiert: Die Sequenz beginnt mit einer Einstellung, die wir bereits kennen – eine Fluchtperspektive entlang der Zugschienen des kleinen menschenleeren Bahnsteigs. Im Unterschied zu Sequenz 10 ist die Szene nun in Abenddämmerung getaucht, die Gleislichter leuchten hell in der Ferne. Der Umschnitt zeigt das Gesicht des Vaters, der an ihnen entlang blickt – er wartet immer noch. Zugleich hören wir mit der Tagebuchstimme die Reprise der ersten Botschaft aus dem Prolog „Gibt es eine Welt für mich? Ich suche. Es stört mich nicht.“ Durch die Wiederaufnahme der beiden Elemente (repetitive Szene) wird ein Status quo zementiert, der zusammenfällt mit einem einschneidenden zeitlichen Ereignis in der Erzählung: „Nach bestandenem Abitur – Note 2,6 – verlässt Silvia endgültig ihre Heimatstadt“. Diese Einstellung ist auch insofern bemerkenswert, als dass hier an der einzigen Stelle im Film ein erklärender Kommentar als Texteinblendung eingesetzt wird. Der Film markiert diese Tatsache als besonders bedeutungsvoll und zieht daraus filmsprachliche Konsequenzen. Der, der mit seinen Blicken sucht (subjektive Kameraführung ‚Vater’) und die, die mit ihren Blicken in die Weite schweift (subjektive Kameraführung ‚Tochter’) – diese beiden Blickkonstruktionen werden innerhalb der Schnittfolge direkt aufeinander bezogen, indem sich an die Bahnhofssituation ein aus tiefer Untersicht gefilmter Blick in den Himmel anschließt. Die Kamera dreht sich dabei leicht um die eigene Achse und zeigt im Anschnitt die Fassaden hoher Mietshäuser. Mit Bezug auf Kiener, die die subjektive Kamera als Methode der filmischen Innensicht begreift (vgl. Kap. 3.3.2), wechselt mit dem Ort also auch das ‚Erle-
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bende Ich’. Die Großstadt – wahrscheinlich Berlin – ist Schauplatz alles Weiteren. Die erste Handlung, die wir von Silvia an diesem neuen Ort sehen, ist das Aufbrechen einer Türe zu einem alten baufälligen Mietshaus. Zusammen mit einer Begleiterin setzt sie das Brecheisen im Türrahmen an. Silvia steht in diesen Sequenzen Modell für den „expressiven Erzähler“, sie ist Figur ihrer eigenen Gedanken. Welches Bild wird darin entwickelt? Während ihre Gedanken geprägt sind von Selbstzweifel, unbefriedigten Bedürfnissen wie auch Ideen, die sich ableiten von einer Weltsicht im Kontext von „A“ wie Anarchie, zeigt die Kamera – nicht nur, aber deshalb umso eindrücklichere – Großaufnahmen dieser Figur. Sie inszeniert ein Antlitz, das im Rahmen der Modefotografie entstanden sein könnte, und spielt auf die Sehnsüchte an, die diese Ästhetik einer tiefgründigen Sentimentalität auslösen kann. Die primäre Bildinformation betont vor allem eins: Silvia ist allein mit sich und den Gedanken, die sich ihr aufdrängen. Quell-Dokumente In der bisherigen Auswertung wurde bereits festgestellt, dass der Film Dokumente benutzt. Fragt man nun, welche Dokumentarten das sind und was sie jeweils dokumentieren, so ergibt sich folgendes Resultat: Dokumentcharakter besitzen erstens die Photos aus Silvias Kindheit und frühen Jugend, die sowohl ihre äußerliche Veränderung wie auch die – und das hängt miteinander zusammen – ehemals stolzen Eltern als Fotografen und auch Bildmotive darstellen. Dokumente einer anderen Art bilden Silvias Tagebucheintragungen, die immer wieder einfließen, indem sich die Kamera über die handschriftlichen Textpassagen hinwegbewegt. In einem fast statisch fotografierten Film fallen diese Bewegungen regelmäßig auf und können als filmsprachlicher Kommentar gelesen werden, der sagt: dieser Text ist zwar niedergeschrieben, aber sein Inhalt keineswegs festgeschrieben, er ist in Veränderung begriffen, wartet ab bis zur nächsten Passage. Um den Nachweis der Quellen bemüht wird in steter Regelmäßigkeit per Texteinblendung erklärt, dass es sich um einen Text „aus Silvias Tagebuch“ handelt. Da der Text durch die Schauspielerin Nina Hoss gelesen wird, entsteht die Frage, warum diese Doppelung von Hören und Sehen notwendig ist. Die Wirkung der professionellen Sprecherinnenstimme erzeugt zweierlei: in der Stimme einer erwachsenen Frau klingen die Passagen erstens unweigerlich reifer und zweitens vermitteln sie so den Eindruck, absichtsvoll an ein Publikum
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gerichtet zu sein. Aus beiden Gründen erscheint es umso wichtiger, die Autorenschaft und Herkunft immer wieder simultan zu erinnern.106 Der Film arbeitet also auf der Grundlage von zwei Dokumentarten, die zweierlei belegen: Silvias äußere Veränderung und Silvias innere Veränderung. Zu beobachten ist weiterhin, dass die Dokumente nicht als eigenständige Einheiten eingebunden, sondern den Perspektiven der ProtagonistInnen jeweils zugeordnet sind. So steht die Reihe mit Kinderbildern im Kontext der subjektiven Sicht des Vaters und die mit der Kamera gestreiften Tagebucheintragungen beanspruchen Gültigkeit für die Inszenierung von Silvias Gedankenwelt. Als Dokumente sind sie schließlich zu erkennen, weil sie in ihrer originalen Anmutung als Farbfotos bzw. als mit Kuli geschriebene Notizen auf Zetteln belassen sind. Sie unterbrechen die schwarz-weißen Bildstrecken. Nebengeräusche und Moll-Klänge In den schwarz-weißen Sequenzen, die vergangenheitsbezogene Perspektiven behandeln, entwickeln sich wie oben gezeigt werden konnte, Assoziationsreihen. Diese sind schließlich nicht allein auf den Bildinhalt zurückzuführen, sondern werden mitunter auch durch die Tonebene implementiert. So in Sequenz 13: Hier hören wir als einzige Geräuschquelle eine Uhr aufdringlich laut ticken, können sie im Bild allerdings nicht ausfindig machen. Dann in Sequenz 21: Wir hören einen einfahrenden Zug, demgegenüber zeigt das Bild ein leeres Gleis. Die Einstellung wurde bereits analysiert und dabei wurde auf die Bedeutung der Zeitmarke „Silvia (verlässt) endgültig ihre Heimatstadt“ hingewiesen – es ist ihr Zug. Oder schließlich Sequenz 17, in der Silvia bei Schneefall trampend an einer vielbefahrenen Landstraße steht und simultan eine Lautsprecherdurchsage zu hören ist „Intercityexpress nach Amsterdam über Karlsruhe, Köln...“. Bereits Krakauer unterscheidet zwischen zwei Sorten des Filmtons: Den Ton, der logisch zum Bild gehöre, bezeichnet er als „aktuellen Ton“ und jener Ton, für den das nicht gilt, ist demgegenüber „kommentierender Ton“ (vgl. Monaco 2000: 216f). Das heißt, auch über die akustischen Informationen von Nebengeräuschen liefert uns die expressive Erzählinstanz Hilfestellungen, die Bilder als Elemente innerer Vorstellungswelten wahrzunehmen. Während die Nebengeräusche als ein eher subtiles Hilfsmittel anzusehen sind, ist der Einsatz von Filmmusik vordergründiger: Die Trauer der Eltern, ihr Unverständnis gegenüber der Tochter haftet den Bildern der ersten Einheit des Films an. Dieser Eindruck entsteht insbesondere durch ein musikalisches Leit106
Auf die Bedeutung der Tagebucheintragungen wird an späterer Stelle ausführlich eingegangen (vgl. Kap. 5.5.3).
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motiv bestehend aus simplen Klavierakkorden in Moll. In langsamem Satz spielt die linke Hand ein strenges Ostinato der Bassakkorde, während die rechte Hand eine einfache Melodie anführt. Dieses Leitmotiv wird bereits in Sequenz vier eingeführt und in Sequenz 15 dann erklärt. Es stellt eine mögliche Abwandlung der Klavieretüden dar, die Silvia als Grundschülerin auf dem Klavier in der elterlichen Wohnstube eingeübt hat. Die Serie mit Kinderfotos zeigt Silvia u.a. wie sie am Klavier spielt und verschmitzt in die Fotokamera lacht. Wir hören auf einem verstimmten Klavier ein Lied in ternärem Takt, einfache Harmonien ohne dramatische Entwicklung – eben ein Stück aus einer Klavierfibel für gehobene Anfänger. Bereits in Sequenz 13 fällt dieses Klavier auf, vor dem Mutter und Vater sprachlos angeordnet sind. In dieser Sequenz erklingt keine Musik, lediglich eine Standuhr tickt – wie oben erwähnt – aufdringlich laut. Die traurigen einfachen Klänge nehmen daher Bezug auf dieses Milieu, dem Silvia nicht mehr angehören will. Unzählige Male wird dieses Leitmotiv angelegt, bis zur Sequenz 20 ausschließlich verwendet und erst mit dem Wechsel in die filmische Gegenwart (zweite Einheit) beiseite gelegt. Dass für Silvia innerhalb dieser ersten Einheit kein eigenständiges Musikmotiv eingeführt wird, bestätigt die Interpretation, dass in der ersten Einheit der Verlust eines familiären Zusammenhalts thematisiert wird – eben durch eine einheitlich musikalische Prägung. Lediglich an zwei Stellen dringen abweichende Klänge als musikalische ‚Fetzen’ in die Erzählung ein. Schnelle Skamusik in Sequenz 23 steckt die Mädchen an, die Wände in einer leerstehenden Wohnung zu bemalen und ist einer eindeutigen bildimmanenten Geräuschquelle, einem Kassettenrekorder zugeordnet. In späterer Sequenz 31 ist es melodiöser Punkrock, der kräftig nach dem ‚Lamento’ des Vaters einsetzt und die Attitüde der Punks ausdrückt, in Konfrontation mit der ‚Normalgesellschaft’ zu gehen. Die abweichenden Klänge fallen aus dem dominanten Erzählschema insofern heraus, als dass sie jeweils irritierend und im Gegensatz zu den klammernden Bögen, die das Leitmotiv leistet, abrupt enden. Sie werden mit der Punk-Community in Verbindung gebracht, die jedoch in dieser ersten Erzähleinheit noch fast keine Rolle spielt. Anders in der im Folgenden analysierten zweiten Einheit. 5.2.3 Zweite Einheit: Die (Lebens-)Lage differenziert sich Die zweite Einheit umfasst die Sequenzen 37 bis 58. Was hat sich nun gegenüber der ersten Einheit verändert? Um eine Antwort zu finden soll zunächst die einfache Statistik bemüht werden: Abbildung 6 zeigt das Resultat einer quantitativen Auswertung der Erzählzeit aller Figuren. Mit Erzählzeit ist hier die tatsächliche
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Abbildung 6:
Quantitative Auswertung der Erzählzeit.
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Zeit gemeint, die durch Figuren sprachlich gestaltet wird und die dadurch den Informationsfluss voranbringt. Die Abbildung unterscheidet in einer horizontalen Sortierung die vier Einheiten (Prolog, Haupteinheiten 1-3) des Films. Die Darstellungsgröße (Länge der Balken) ist dabei proportional zur effektiven Zeitdauer der Einheiten gewählt. Eine vertikale Sortierung unterscheidet fünf Sprecher, die entsprechend ihrer Gesamtredezeit aufgelistet sind: Silvias Alter Ego107, Silvia, ihr Vater, Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, ihre Mutter und andere Personen. An dieser Abbildung kann nun einführend mehreres klar gemacht werden: Zunächst stellt sie eine Übersicht über alle Sprecher, die überhaupt zu Wort kommen, dar. Es mag überraschen, dass die Auflistung sich auf so wenige Personen(kreise) beschränkt. Der Film setzt eindeutige Akzente, was die Auswahl seiner ProtagonistInnen und Reflektorfiguren anbelangt. Mit Bezug auf das vorangegangenen Kapitel (5.2.2) bestätigt sich darin eine Konzentration auf die Eltern in Einheit eins: die Redeanteile des Vaters wie auch der Mutter sind dort um ein vielfaches höher als in den restlichen Segmenten. Demgegenüber beschränkt sich die Redezeit der außerhalb der Familie stehenden Personen auf eine 37 Sekunden lange Stellungnahme eines Sozialpädagogen, der retrospektiv Silvias redaktionelle Mitarbeit an einem Magazin für „jugendliche Ein- und Aussteiger“ einschätzt. In der zweiten Einheit – die hier im Vordergrund steht und die mit 14 Minuten deutlich kürzer ist als die erste Haupteinheit (24:48 min.) – mehren sich nun die Sprecher. Es kommen Passagen von einem Hausmeister eines illegal bewohnten Sanierungsobjekts (in der Abbildung unter ‚Andere’ erfasst), eines Streetworkers und der Projektleiterin einer Kinderzirkusschule hinzu. Mit Blick auf Silvia wird kenntlich, dass unabhängig vom Ende der schwarz-weißen Bildoberfläche (s.u.), die Form ihrer Tagebucherzählung fortgeführt wird und zwar in einem annähernd gleichen Verhältnis zur ProtagonistInnenerzählung wie in Einheit eins.108 Weil sich die Redeanteile der anderen Figuren jedoch gleichmäßig verteilen und hier abweichend von der ersten Einheit keine Figur neben Silvia dominiert, stehen ihre Erzählpassagen in dieser Einheit nun deutlich im Vordergrund. Aber nicht nur in der Frage ‚Wer erzählt?’ sondern auch in den filmischen Codes der Aufnahme und Montage zeigen sich Veränderungen. Auffällig ist der Verzicht auf das zuvor eingesetzte schwarz-weiße Bild. Ebenso werden die Bild107
Der Begriff des Alter Egos wird an späterer Stelle eingeführt und erklärt (vgl. Kap. 5.5.2). In der hier vorweg gegriffenen Verwendung reicht es, ihn als Synonym für die gesprochenen Tagebucheinträge verständlich zu machen. 108 In Einheit eins stellt die Erzählzeit von Silvias Alter ego 22,14% und die Erzählzeit von Silvia 16,9% bezogen auf ein Gesamt von 24:48 Minuten (100%) dar. In Einheit zwei liegt der erste Prozentwert bei 23,05% und der zweite Prozentwert bei 16,26% bezogen auf 14 Minuten (100%).
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übergänge nicht mehr durch Überblendungen realisiert, sondern durch einfache Anschlussschnitte, mit Ausnahme der Einbindung der Tagebuchaufzeichnungen als Dokument. Auch die filmischen Codes der Aufnahmen lassen auf Veränderungen schließen. Erinnern wir das Bild der Protagonistin während der ersten Einheit: Sie wurde darin als weitgehend kontaktlos, alleine109 und in gesellschaftlichen Randzonen schwarz-weiß gezeichnet. Dies waren Schaubilder für das Lossagen und die Abkehr von sozialen Präfigurationen, wie sie in einem engeren Sinn das Mädchen mit kindlichen Accessoires und in einem umfassenderen Sinn der elterliche Entwurf einer Zukunft der Tochter darstellt. In der zweiten Einheit ist demgegenüber eine Kamera eingesetzt, die nach Tatsachen sucht. Der Tatsachenblick registriert zweckgebundene Handlungen und Tätigkeiten, die im Alltag der Punkerin von Relevanz sind. Die Aufnahmen sind durch verstärkte Unmittelbarkeit gekennzeichnet, vor allem dadurch, dass Interaktionen gezeigt werden und sich die Orte der ProtagonistInnenerzählung gegenüber der ersten Einheit stellenweise konkretisieren. In den Aufnahmeperspektiven geht es nicht mehr so sehr darum, „die Charakteristik einer Form spürbar zu machen“ (Mikunda 1986: 82) – z.B. äußerliche Ähnlichkeiten oder die Dimension von Ferne –, sondern Kontext zu zeigen. Der Zugewinn an Kontext bezieht sich sowohl auf die Aufnahmen von Silvia als auch auf die des Vaters in diesem Abschnitt. Mehrere filmsprachliche Codes zusammengenommen lässt sich aus dem Stil von Einheit zwei auf Folgendes schließen: Durch den Verzicht auf schwarz-weiße Bildstrecken, durch die gelegentliche Insertierung eines Aufnahmedatums – z.B. „Juni 2004“ – und durch eine kontextualisierende Kamera wird im Unterschied zur ersten Einheit eine filmische Gegenwart behauptet. Inhaltlich korrespondiert diese gewandelte Form, die die Gegenwart behauptet mit Fragestellungen des Alltags: Wie lebt Silvia? Wovon ernährt sie sich? Woher bezieht sie Hilfestellungen? Welche finanziellen Mittel stehen ihr zur Verfügung? Wie beurteilt sie selbst ihre Lage? Der Film errichtet in dieser zweiten Haupterzählung ein Tableau für derartige Fragen der Lebensgestaltung. In dieser Form der Metakonstruktion, in der Abfolge der Haupteinheiten eins und zwei, liegt bereits ein wesentliches Ergebnis, dass für den Film insgesamt bedeutend ist: Der Film argumentiert in seiner Darstellungsstrategie (Metakonstruktion) damit, dass zunächst die Beweggründe für die Abkehr der jungen Frau verstanden werden müssen, um dann in die Umstände ihrer Lebensführung Einsicht zu geben. Das heißt, nicht das Punkermilieu in seiner Anziehungskraft auf die Protagonistin wird verantwortlich erklärt für 109
Mit Ausnahme der jungen Frau, mit der zusammen sich Silvia Zugang zum leerstehenden Miethaus verschafft.
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Silvias gegenwärtige Situation, sondern das Milieu ihrer Herkunft und der damit verbundene Mix aus Bildungsintensität und mangelnder Autonomie.110 Daraus leitete sich nun auch die Lesrichtung der zweiten Einheit ab. Sie steht im Kontext der Frage nach einem Zugewinn an Handlungsautonomie in Bezug auf die konkreten Umstände, in denen Silvia lebt. In dieser Perspektive sind drei thematische Erzählstrecken hervorzuheben, die im folgenden dargestellt und auf die gerade entwickelte Fragestellung hin analysiert werden: Gewinnt Silvia an Handlungsautonomie in ihren selbst eingerichteten Verhältnissen? Sozialer Abstieg Mit Böhnisch (1982) kann unter Lebenslage die sozioökonomische Situation einzelner in der Bilanz wirtschaftlicher Entwicklung und sozialstaatlicher Intervention verstanden werden. Lebenslage als Strukturkategorie stellt eine „Zwischenkategorie zwischen subjektivem Verhalten und objektiven sozialen Verhältnissen dar“ (Böhnisch 1992: 90) und beinhaltet demzufolge die Optionen bzw. Ressourcen zur Bewältigung belastender Lebensereignisse wie auch zur individuellen Lebensgestaltung. Zugleich werden Lebenslagen nicht nur individuell erschlossen sondern auch gesellschaftlich institutionell ausgedeutet. Daraus leiten sich sozialstaatliche Vergesellschaftungsprozesse ab. Ausgehend von diesem Verständnis kann die Protagonistin als in einer prekären Lebenslage befindlich und auf Formen von Hilfe- und Unterstützung angewiesen angesehen werden – sie ist wohnungslos. Der Film implementiert diesen Gedanken in der Manier des Tatsachenblicks: Gleich mit Beginn der zweiten Einheit spielen unterschiedliche Unterstützungsformen eine Rolle. Die Erzählung steigt mit einem konkreten Ereignis ein. Eine Schwarzaufblende eröffnet einen Einblick in die Privatsphäre einer Gemeinschaft jugendlicher Punks, unter denen auch Silvia ist. Sie reden in unterschiedlichen Sprachen miteinander, hören Musik und schlafen. Die Schnittfolge innerhalb dieser Sequenz konnotiert die Jugendlichen mit dem Zustand, in dem sich ihr Rückzugsort befindet: Nahrungsmittel auf versifften Oberflächen, chaotisch angeordnete Provisorien, Müllberge, um die herumgestiegen werden muss. Des Weiteren ist der Bilderreihe das Datum „Februar 2004“ zugewiesen. Darauf folgt die Aussage eines verantwortlichen Hauswarts:
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Damit lässt die Argumentation keinen Zweifel an der Richtigkeit von Silvias Suche aufkommen bzw. sind alle Zweifel auf eine Seite gekehrt, nämlich auf die der Eltern, die mit Wehklagen die Abkehr der Tochter für falsch erklären.
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„Wir könnten die Wohnung jetzt sofort räumen lassen, aber aufgrund der Witterungsbedingungen haben wir uns entschieden, die noch bis Ende des Monats hier wohnen zu lassen und dann muss die Wohnung aber geräumt werden.“
Er ist als Reflektorfigur eingesetzt, die ihre Funktion und ihren Standpunkt kenntlich macht, darüber hinaus aber auch Einsicht zeigt. Kraft seiner Befugnis unterstützt er die Jugendlichen in einer passiven Form durch die befristete Duldung. Silvia, der die Terminierung der Wohnungsräumung wenig Spielraum verschafft, macht auf eine zweite Unterstützungsform aufmerksam: die Aktivierung des ihr zur Verfügung stehenden sozialen Netzes der Punk-Community. „Wo wir hin sollen wissen wir auch noch nicht. Die einzige Möglichkeit ist wahrscheinlich wieder mal ein bisschen enger zu wohnen und eben bei irgendwelchen Freunden, die gerade das Glück haben, eine Wohnung zu haben, unterzukommen.“
Neben diesen inoffiziellen Unterstützungsformen wird schließlich in Sequenz 42 als dritte und offizielle Unterstützungsform ein sozialpädagogisches Angebot ausführlich dargestellt. Eine Anlaufstelle für Straßenkinder mit Café-Atmosphäre kommt Silvias Bedürfnissen mehrfach entgegen – sie kann essen, Wäsche waschen und sich auf der Couch sitzend von einer Mitarbeiterin beraten lassen. Die Kamera ist unmittelbar bei diesem Gespräch dabei, registriert die Szene anstatt über sie zusammenfassend zu berichten. Daran schließt sich eine resümierende Stellungnahme eines Streetworkers an, die den Erzählfluss zunächst einmal unterbricht, aber eine zentrale Information für die sozialpädagogische Beurteilung von Silvias Lebensumständen gibt. Silvia gehöre insofern zum typischen Klientel der Einrichtung, als dass immer mehr Jugendliche wie sie mit relativ hohen Bildungsabschlüssen auf der Straße leben – sie ist keine Ausnahme. Silvias soziale Lage ist somit durch eine extreme Diskrepanz zwischen Bildungsvoraussetzungen einerseits und materiell-wirtschaftlichen Verfügbarkeiten andererseits gekennzeichnet. Von hier an wechselt der Film den Blick von Silvias Bedürftigkeit hin zur Thematisierung ihrer Handlungsautonomie. In Sequenz 44 wird Silvia als Kleinstverdienerin gezeigt, wie sie auf einem Trottoir mit drei Jonglierbällen wirft und eine Münze erntet. „Lolita, komm her“ ruft sie ihren Hund und zieht mit ihrem vollgepackten Armeerucksack weiter zu einem Spendencontainer für Altkleider. Sie prüft die Ware und nimmt sich das Beste daraus mit. In der darauffolgenden Sequenz 45 erfahren wir in einer Redepassage des Vaters darüber, dass Silvia den Unterhalt, den die Eltern zu zahlen bereit sind, nicht annimmt. Sequenz 46 zeigt erneut eine Tatsache, die damit zusammenhängt: Auf dem Hinterhof eines Firmengebäudes holt sich Silvia aus einem Container, der gefüllt ist mit alten Backwaren, Brot heraus und packt es in ihren Rucksack. Im Aufbau dieser The-
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menstrecke entsteht der Eindruck, dass es in Silvias Bestimmungssouveränität liegt, ihr Leben gewollt in solchen Armutsverhältnissen zu gestalten und wie eine solche Randexistenz – angewiesen auf Gelegenheitsstrukturen – möglich ist. In den daran anschließenden beiden Sequenzen 47 und 48 wird dieser Eindruck jäh gebrochen, indem nun Mutter und Vater aus ihrem Milieu heraus bilanzieren. Mutter: „Die Bilder von der Konfirmation schaue ich mir äußerst selten und ungern an, weil es tut einfach weh.“
Ein Schwenk über mehrere weichgezeichnete Portraitfotos von der Konfirmandin Silvia, wie sie in einem Fotografenstudio vor mediterran stilisierten Kulissen posiert, gibt Silvias heutigem Dasein eine verblüffende Alternative. Was der Film hier in der emotional gefärbten Perspektive der Mutter einfügt, ist vor allem als Verlust eines äußeren Erscheinungsbildes zu begreifen, der sich vermengt mit der Gottlosigkeit und dem fehlenden Halt, der ihrem heutigen Lebensvollzug zugeschrieben wird – der insertierte Konfirmationsspruch111 unterstreicht dies. Dass für Silvia de facto keine Alternative mehr besteht, wird in der Zuspitzung auf folgende Aussage deutlich: Vater: „Damals hat man gedacht, aus ihr wird mal was. Sie hatte doch alle Voraussetzungen.“
In den Augen des Vaters ist aus der Tochter nichts geworden. Der Verlust einer benennbaren Existenz wird also dem Eindruck von Handlungsautonomie als polarer Auffassung entgegengestellt. Der Film baut hier eine ambivalente Diskrepanz auf zwischen dem Anspruch auf ein Leben, das sich an selbstgewählten Standards ausrichtet und der Fremdbeurteilung desselben, die – wie wir später sehen werden – dynamisiert wird durch die innere Auseinandersetzung Silvias (vgl. Kap. 5.5.1 u. 5.5.3). Abbrechen oder Durchhalten Sequenz 50 unterteilt sich in fünf Subsequenzen, die in ihrer Verkettung eine neue Fragestellung nach Handlungsautonomie in sich bergen. Sie spielen auf Silvias Verhalten gegenüber Institutionen an, die sie fördern. Zunächst rekurriert die Passage auf eine Information, die bereits in der ersten Einheit mitgeteilt wurde, dort allerdings noch unspezifisch zur Kenntnis geriet: In Sequenz 34c konstatiert der Sozialpädagoge des Straßenmagazins ‚Zeitdruck’ Silvias Abbruch des Angebots. „Leider konnte sie nicht die ganze Zeit durchhalten und hat abgebrochen“. Hier wird das Abbrechen des Unterstützungsangebots aus sozialpäda111
Dieser lautet: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“.
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gogisch-fachlicher Sicht als Frage an das Durchhaltevermögen aufgefasst, dem die Jugendliche nicht standzuhalten vermochte. In Sequenz 50 erfährt dieser Aspekt in Silvias gegenwärtiger Situation nun genauere Betrachtung. Es wird in einer Parallelmontage gearbeitet, die damit beginnt, dass Silvia in einer Totalen mit mehreren Kindern zusammen in einem großen hellen Raum das Balancieren einer Scheibe auf einem langen Stab einübt. Sie versetzt die Scheibe in schnelle Umdrehungen, so dass sie stabil auf dem Stab dreht, spielt sie dann einem Mädchen zu, der es gelingt die Bewegung eine zeitlang fortzuführen. Silvia ist Anleiterin der Kindergruppe, die Jonglieren übt. Eine Texteinblendung erklärt den Rahmen: „Kindercircusschule. Ufa Fabrik Berlin.“ Eine zweite Groß-Einstellung führt die verantwortliche Projektleiterin als Reflektorfigur ein, die erklärt, dass Silvia als Praktikantin tätig ist und sich zunächst auf beeindruckende Weise eingebracht hat. Jedoch habe sie sich in Silvia getäuscht, ist „auf ihr Selbstbewusstsein reingefallen“, was ihre Möglichkeiten, in der offenen Struktur des Projekts zurechtzukommen, anbelangt. Eine dritte Subsequenz wechselt wieder zu Silvia und kontrastiert in einer Schnittfolge die ihr vertraute Umgebung der Bahnhöfe, wie sie an einem Pfeiler lehnt, jeden Moment in einen Zug steigen und alles hinter sich lassen könnte, mit einer neuen Herausforderung. Diese besteht darin, mit Kindern im Rahmen einer Institution zu arbeiten. Eine Einstellung genügt hier, um Silvias Verantwortung zu verdeutlichen, die sie in dem Moment für ein Kind trägt, das auf ihren Füßen in der Schwebe gehalten wird. Eine vierte Einstellung geht zurück zu den Schilderungen der Projektleiterin, die der visuell vorbereiteten Unstetigkeit Silvias nun einen konkreten Verlauf, gibt. Silvias Praktikum ist kein Normalfall. Vier Monate müssen ihr eingeräumt werden, um die drei Wochen Vollzeitpraktikum zu absolvieren. Die entscheidende Information dieser Erzählung liegt aber darin, dass die Protagonistin eine zweite Chance bekommen hat, ihr Praktikum zu beenden, nachdem sie praktisch schon abgebrochen hatte. Der Verlauf der Begebenheiten stellt insbesondere Silvias Angewiesenheit auf das Wohlwollen ihrer Umgebung bzw. auf das professionelle Verständnis, das die Projektleiterin ihrer Situation entgegenbringt, dar. Weil sie erkennt, wie Silvia Entscheidungen trifft, ist sie bereit dazu, eine neue Abmachung mit ihr zu schließen. Wäre die Projektleiterin dazu nicht in der Lage, bedeutete Silvias Art und Weise ein K.o.-Kriterium für das Bestehen innerhalb dieser institutionellen Abläufe. Nicht ohne weiteres kann sich Silvia also mit ihrer autonomen Praxis in institutionelle Settings einbringen. Es bedarf der Vermittlung durch einsichtige Menschen.
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Revidieren des sozialen Bezugssystems Nachdem nun das Prinzip, wie Bedürftigkeit und Handlungsautonomie miteinander verschränkt sein können, schon an zwei Beispielen erläutert wurde, soll nun eine dritte und abschließende Erzählstrecke der zweiten Einheit betrachtet werden. Diese stellt ebenfalls die Frage der Handlungsautonomie. Sie beinhaltet schließlich das erzählerische Hauptereignis des Films, seinen dramaturgischen Höhepunkt. Die als solche betrachtete Veränderung nimmt Bezug auf die Familie. Ausgangspunkt der Familiendarstellung war ursprünglich der Verlust eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Diese Lesrichtung verändert sich nun. Wieder schafft eine Parallelmontage den sinnstiftenden Zusammenhang. Sequenz 54 zeigt Silvias Vater in untypischer Umgebung. Er sitzt auf der Kante des Jugendbetts in ihrem ehemaligen Zimmer und blickt in den Raum. Die Einstellung ist in einer weitwinkligen Totale aufgenommen, die die Figur an die Umgebung bindet. In einer nächsten Sequenz sehen wir Silvia auf einem Platz in einer Großstadt, wie sie jongliert und sich zugleich per Aufschrift auf einem Klappschild als Obdachlose präsentiert. Der Szene ist auditiv eine Tagebuchnotiz hinterlegt, die erkennen lässt, dass Silvias Suche ein neues Ziel ins Auge gefasst hat: die Straßenkunst – wegen der Anziehungskraft der Leute, die sie betreiben. Wieder springen wir zum Vater ins ehemalige Jugendzimmer, der zu verstehen gibt: „Silvias Zimmer ist ja noch so, wie sie es verlassen hat. Sie kann ja jederzeit heimkommen“. Dann wieder Silvia in der Stadt, wie der Blick auf sie immer wieder unterbrochen wird durch einen im Bildvordergrund vorbeirauschenden Zug. Im Anschluss daran sehen wir wieder unkommentiert und ohne Worte, wie der Vater die Post aus dem Briefkasten nimmt und sich auf die Kamera zu in Richtung Hauseingang bewegt. Die Kamera ist so aufgebaut, dass die Einstellung am Ende den Hausschuh des Vaters ‚in groß’ zeigt, wie er ins Bild ‚gelatscht’ kommt. Es stellt sich die Frage, worauf diese Reihung hinaus will: Der Kontrastbogen zwischen der Tochter, die kaum noch zu sehen, und dem Vater, der auf das Eigenheim fixiert ist, könnte kaum größer sein. Der filmische Verlauf schafft damit einen visuellen Kontrast für eine Entfremdung zwischen Tochter und Vater: er, der mit mittlerweile ‚routiniertem Schrecken’ die Post auf schlechte Neuigkeiten von Silvia hin durchsortiert und sie, die die Suche nach positiven sozialen Verhältnissen und wahrhaften Beziehungen auf eine neue Spur bringt bzw. in ein anderes Milieu führt. Die Familie als Konzeptidee des Films, mit der er die Thematik eröffnete, droht spätestens an dieser Stelle vollkommen unbedeutend zu werden, weil die familialen Bande keine realistische Haltekraft mehr aufzuweisen vermögen. Bevor sich diese Situation jedoch ins Gegenteil kehrt, ist Sequenz 57 bedeutsam. Sie zeigt Silvia in ganz großer Einstellung, wie sie ihre Selbstveränderung bilanziert:
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„Also ich hab das Feld so ein bisschen von hinten aufgerollt, ich habe überall so meine Feindesbilder gehabt, zuerst waren es meine Eltern, die das Schlimmste auf der Erde waren. Und dann eben die Schule, die Dörfergegend und so weiter. Bis ich dann erkannt habe, dass es wirkliche Feinde gibt, die mich in meiner Existenz als Menschen bedrohen – sei es jetzt aus der Wirtschaft oder aus der Politik – von daher ist es umso kontraproduktiver und umso schwachsinniger, sich ständig mit den Leuten, die dich lieben und die du eigentlich liebst, zu bekämpfen, das ist reine Energieverschwendung.“
Diese Interviewpassage ist eine Schlüsselstelle, da zum ersten Mal überhaupt die Zuwendung zu den Eltern als sinnvoll herausgestellt wird und damit der Horizont einer Beziehungsführung im Gegensatz zu einer Beziehungsnegation von Silvia betont wird. Das gilt primär für die elterliche Beziehung, aber auch für alle anderen von Silvia angesprochenen regelhaften Kontakte, die nur dann Erwähnung fanden, wenn sie ihr unbrauchbar erschienen. Silvia gibt sich als junge Frau zu erkennen, die in Distanz zu einer vergangenen Überzeugung spricht. Sie ist über sich selbst hinausgewachsen und hat mehr Übersicht gewonnen, so dass sie ihr soziales Bezugssystem neu betrachten und im Sinne eines Zugewinns an Handlungsautonomie nutzen kann. In Sequenz 58 vergewissern wir uns mit ihr der Liebe, die ihr die Eltern immer noch entgegenbringen. Zum ersten Mal sind die Familienangehörigen in einer gemeinsamen Einstellung zu sehen. Zusammen mit ihrem Hund besucht Silvia die Eltern. Die Kamera zeigt das Geschehen am Hauseingang aus Silvias Richtung, ihre Perspektive führt ins Haus hinein. Ein entscheidender Wechsel ist hiermit angedeutet: Silvia kommt. 5.2.4 Dritte Einheit: Ziele werden ins Auge gefasst und ein Hund kommt in die Familie Eine abschließende letzte Einheit umfasst die Sequenzen 59 bis 64. Auf kurzer Strecke vermittelt uns der Film die Informationen, ohne die wir die Geschichte ungern verlassen würden. Gegenstand der Erzählung ist ein möglicher Zukunftsentwurf Silvias. Wie auch in der vorangegangenen zweiten Einheit wird auf Überblendungen und schwarz-weiß Bilder verzichtet. Die Tagebucherzählerin spielt nur noch eine untergeordnete Rolle, denn es geht um eine Gegenwart, die noch nicht geschrieben sein kann, weil sie auf die konkrete, nicht auf eine utopische Zukunft verweist. Silvia ist gerade dabei, diese Zukunft in die Wege zu leiten – hiervon handelt diese dritte Einheit. Das erste was wir in Sequenz 60 darüber erfahren ist, wie Silvia in einem unbekannten Raum – es könnte überall sein – bei geöffnetem Fenster an einem Tisch sitzt und schreibt. Nicht in ihr Notizbuch, sondern in ein Magazin. Sie
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formuliert eine Annonce, die uns die Tagebuchsprecherin vorliest und die wir im Bildumschnitt wenig später in ihrem abgedruckten Zustand zu sehen bekommen. Annonce: „Punkerin und nette Hündin suchen neues Zuhause in WG, kreativ, lebendig, dem Chaos zugeneigt, solltet ihr sein und auch verrückt und experimentell. Freue mich auf Euch!“
Parallel zum Aufbruch, den Silvia damit wagt, bereitet der Film das Schlussbild der Eltern vor. Tragisch, komisch und versöhnlich zugleich arrangiert der Film die Verabschiedung der Eltern aus der Erzählung. Tragisch ist, dass sie bis zum Ende der Dokumentation Silvias Werdegang verkennen, der sie über so viele Stationen zu einem Zukunftsentwurf gebracht hat. Die permanente Klage über den Verlust des perfekten Kindes ist auch nach dem filmischen Höhepunkt der Familienbegegnung am Ende der zweiten Einheit nicht völlig ausgeräumt. „Warum macht sie sich ihr Leben so schwer, wo sie es doch so einfach haben könnte?“ ist die zentrale Frage des Vaters während der ersten Einheit. In der zweiten Einheit fragt er nicht mehr, sondern attestiert kalt und enttäuscht, „damals hat man gedacht aus ihr wird mal was. Sie hatte doch alle Voraussetzungen“ und macht damit jegliche Anstrengung Silvias, aus sich was zu machen, zunichte. Nachdem nun mit dem Wechsel von der Gegenwart in eine mögliche Zukunft (dritte Einheit) auf überraschende Weise ein Bild von der Familie entsteht, die sich zuvor als Konzeptidee des Films aufzulösen drohte, ist das Kommen und nicht mehr das Gehen der Tochter Gegenstand der Erzählung. Die dritte und abschließende Einheit wird mit den Worten des Vaters begonnen: „Silvia war jetzt nach längerer Zeit mal wieder daheim. Sie hat uns auch jetzt ihren Hund anvertraut. Sie will sich jetzt vorbereiten auf die Aufnahmeprüfung auf eine Artistikschule. Vielleicht ist das ja die Welt, die sie immer gesucht hat, in der sie dann glücklich wird. Wir hoffen natürlich, dass sie das alles durchsteht und dass es ihr auch gelingt, sich aus dem Umfeld etwas zu lösen, indem sie sich jetzt gerade bewegt.“
Ob Silvias Entwurf trägt, ist zweifelhaft. Ob sie ihm standhält ebenso. Das Zweifeln der Eltern, das Silvia ihnen zu Beginn des Films zum Vorwurf macht, drückt sich auch hier in dieser letzten Erzählpassage des Vaters aus, wenn auch als angebracht realistisches Fragezeichen. Ein Vertrauen in die Tochter ist also auch im letzten O-Ton des Vaters nicht gegeben. Dennoch finden die Eltern eine Möglichkeit, ihrer angestauten Liebe zur Tochter Ausdruck zu verleihen, denn in dieser Erzählpassage ist etwas anderes wichtig – und hier begegnen wir einer gewissen Komik: Noch bevor es darum geht, wie Silvia weitermachen wird, spricht der Vater von einer wirklich neuen Erfahrung: „Sie hat uns ihren Hund anvertraut“. War zuvor der Entzug jeglicher Erklärungen und Möglichkeiten, Silvia zu unterstützen charakteristisch für ihre Beziehung – etwa: „den Unterhalt, den wir zahlen würden, den nimmt sie gar nicht in
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Anspruch“ – so haben sich mit dem Hund die Vorzeichen der Beziehung geändert. Nach Lüscher und Liegle (vgl. 2003: 275ff.) wäre dieser Umstand deshalb als bedeutungsvoll einzuschätzen, weil hier zum ersten Mal ein Anzeichen für Reziprozität in der Beziehungsgestaltung zu erkennen ist. Darüber hinaus bringt der Hund ein Stück Normalität in die Familie, wenn auch nur dadurch, dass er als Überbleibsel einer normalen Jugend und normalen Ablösung vom Elternhaus behandelt werden kann. Entsprechend versöhnlich ist die letzte Einstellung mit den Eltern gestaltet (Sequenz 61). In einer Totalen in einem vollkommen neuen Umfeld, an einer tiefgrünen Flußau sind die Eheleute an einem warmen Tag mit dem Hund unterwegs. Die Mutter hat der Kamera den Rücken zugekehrt, sie sitzt auf einem Baumstumpf oder einer Bank während ihr Mann den bellenden Aufforderungen des Hundes folgt und ihm ein Stöckchen weit in den Fluss hinein wirft. Wieder zurück zu Silvia. Sie tritt inzwischen in komplexen Choreographien auf öffentlichen Plätzen mit schwierig zu handhabenden Jonglage-Accessoires auf. Euros fallen in die ausgelegte Mütze und ihr Auftritt zieht in Sequenz 62 die Bewunderung eines jungen Mädchens auf sich. Sie ist gut geworden. Klaviermusik verleiht der Szene Stimmung. Eine Ballade in Dur setzt überzeugt mit einem pittoresken Vorspiel ein und wandelt sich schließlich in einen zweiten, ruhigeren Teil, der die nächste Sub-Sequenz überdauert. Auch diese gehört zur Schlussbilanz, die der Film zieht: „Wegen meiner Anzeige, wegen der WG-Suche hat sich bis jetzt noch keiner gemeldet. Ich glaube einfach, mit jemandem wie mir will keiner zusammenleben.“
Der schlechten Nachricht folgt eine gute. Silvia berichtet in der letzten und längsten ProtagonistInnenerzählung des Films von den nächsten Schritten, die sie gehen wird. Ihr Ziel ist nun konkret. An einer Schule für Artistik in Berlin beginnt sie eine dreijährige Ausbildung, vorausgesetzt sie schafft die ersten drei Ausbildungsmonate und alles weitere. Für Silvia verbinden sich damit in konkreter Weise zentrale Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben. Noch ein letztes Mal setzt der Film einen Anschlussschnitt und zeigt frontal in einer Totalen eine regennasse Brücke, die an einer auffallenden Stahlträgerkonstruktion aufgehängt ist. Silvia geht mit ihrem Hund, der sie wieder begleitet, über diese Brücke und entfernt sich aus dem Blickfeld der Kamera. Dieses Bild verfolgt einen metaphorischen Zweck. Die Protagonistin geht nun ihrer Zukunft entgegen. Noch bevor der Abspann einsetzt wird eine als „letzter Tagebucheintrag“ gekennzeichnete Passage vorgetragen: „Ich will nicht mehr die Welt verändern, sondern nur noch mich.“ Die Suche ist damit beendet – die filmische Klammerkonstruktion geschlossen worden.
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Nachdem nun die inhaltlich-formale Analyse des Filmbeitrags vorliegt – der Film damit in seiner spezifischen Konstruktionslogik begriffen ist –, sollen die zuvor entwickelten drei Untersuchungskategorien Raum, Zeit, ProtagonistIn eine selektive Interpretation anleiten. Die folgenden drei Kapitel behandeln jeweils eine Untersuchungskategorie. 5.3 Konstruktion einer Suche nach dem „richtigen“ Raum Wie in Kapitel 3.2.2 dargestellt, werden Räume benutzt, um nicht-räumliche Aspekte zu verdeutlichen. Raum dient dazu, einem sozialen Geschehen Ordnungsverhältnisse zu geben, damit es begriffen werden kann. In sozialräumlichen Relationen drücken sich strukturelle Ideen der filmischen Metakonstruktion aus. Dabei erweisen sich Einhegungen und Raumbindungen als besonders aufschlussreich. Im Folgenden geht es um die faktische Raumkonstitution in „Ich war das perfekte Kind“. Ein erster Zugang fragt nach der topographischen Grundkonstellation des filmischen Raums. Ein zweiter Zugang verfeinert die Frage nach dem Raum dahingehend, dass Arten von filmischen Räumen bestimmt und in ihrer Qualität für die Erzählung beschrieben werden. Ausgangspunkt für beide Abschnitte bildet die elementare Fragestellung, mit der der Film ansetzt: „Gibt es auch eine Welt für mich? Ich suche.“ Weil die Suche mit einer räumlichen Veränderung zusammenfällt wird in diesem Kapitel von einer Reise gesprochen, die die Protagonistin während des Films unternimmt. Die erste Einstellung konsolidiert diese Leserichtung (s.o.). 5.3.1 Räumliche Veränderungen: „... nach Amsterdam über Karlsruhe, Köln, Düsseldorf, Gleis 3…“ – die Spur verliert sich Ein Bestimmungsmerkmal jeder Reise ist die räumliche Veränderung, der Wechsel von Orten in einer zeitlichen Perspektive also, die der/die Reisende mit Inkrafttreten der Unternehmung anstrebt: Die Weltreise etwa unterscheidet sich dem allgemeinen Verständnis nach von z.B. der Geschäftsreise dadurch, dass den Wegstrecken eine andere Bedeutung zukommt. Sie werden dem ‚Abenteuer’ schon zugerechnet und es wird nicht versucht, die Wegstrecken auf eine zeitlich am besten zu vernachlässigende Komponente der Reise zu reduzieren. Von dieser Überlegung ausgehend, dass Komponenten einer räumlichen Veränderung je nach Konzept unterschiedliche Beachtung im Erzählen erfahren, wurde der Film
5.3 Konstruktion einer Suche nach dem „richtigen“ Raum
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im Hinblick auf die dargestellten Orte systematisch untersucht, um zu ermitteln, welches Konzept der Film für Silvias Reise vorsieht. Interessant ist deswegen zunächst, dass die Hauptereignisse der Erzählung, die der Film (wieder-)herstellt bzw. inszeniert, räumlicher Natur sind: Silvia reißt von Zuhause aus, um andernorts mehr Entscheidungs- und Gestaltungsraum zu gewinnen. Spezifisch für diese Form der Reise ist deshalb ein hohes Maß an Ungewissheit, gerade weil kein eindeutiges Ziel in einem geografischen Sinn besteht. Das Ziel liegt vielmehr in einem Zugewinn an Handlungsautonomie und es ist unsicher, ob eine räumliche Veränderung dem dienlich ist. Daneben ist mit dieser Ausgangslage eine erste räumliche Alternative zwischen einem Zuhause und einem Nichtzuhause eingeführt. Der Film beginnt mit dem Nichtzuhause und verbindet es mit der Figur Silvia, während er die Figuren Vater und Mutter auf das ehemalige Zuhause der Tochter fixiert. Visuell werden die Eltern an das Milieu gebunden, das die Tochter hinter sich zu lassen trachtet und das den Grund ihrer Reise beinhaltet. Aus der vorangegangenen Analyse des Gesamtaufbaus wissen wir bereits, dass diese räumlichen Zuweisungen bis auf zwei Ausnahmen strikt beibehalten werden und die Ausnahmen deshalb umso mehr aus dem Konzept fallen: Silvias Heimkehr in Sequenz 58 und der Ausflug der Eltern mit dem Hund an die grüne Flußau in Sequenz 61. Wir haben es deshalb mit drei Grenzübertritten (Lotman) zu tun, die jeweils eine bedeutungstragende Wendung signalisieren: Erstens das erste Ausreißen Silvias, zweitens ihr Heimkommen und drittens die Befreiung der Eltern aus der scheinbar endlosen Wartehaltung in der häuslichen Umgebung. Die erste Grenzüberschreitung begeht Silvia aus einem Gefühl heraus, das sie wie folgt umschreibt: „Ich wollte einfach mal was erleben“. Konfrontiert wird dieser jugendliche Leichtsinn mit der Folgenschwere, die das Ausreißen für die Eltern mit sich bringt. Das adoleszente Ego wendet sich gegen eine Ordnung, die primär die nahestehenden Erwachsenen aber auch das weitergehende Umfeld, die Nachbarschaft zu verantworten haben. Das Gemeinwesen, um das es geht, bekommt allerdings keinen Namen und auch keine Ansicht. Es genügt zu wissen, dass es sich um eine fränkische Kleinstadt handelt – es könnte jede sein. Aus Silvias Beschreibungen geht hervor, dass das provinzielle Milieu durch ein hohes Maß an sozialer Kontrolle bestimmt ist, die durch die Eltern auf sie einwirkt. Weil der Film keine konkreten Bilder für die provinziellen Verhältnisse finden will, bleibt die Aufrechterhaltung der Ordnungsmacht ein behauptetes kulturelles Prinzip. In Sequenz 20 legt Silvia ausführlich dar, in welchen Aspekten sie die kleinstädtische Mentalität kritisiert und in welcher Verflechtung die Eltern sich dazu befinden:
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Filmanalyse I: „Ich war das perfekte Kind“ Silvia: „...Und ehm in dieser Kleinstadt hat mich diese ganze Mentalität eben angekotzt, die meine Eltern eben auch ausgeübt haben, nämlich nach außen hin immer den guten Schein wahren: wir sind die guten Bürger, haben einen tollen Beruf, alles super, Garten sauber, aber nach innen immer familiären Kleinkrieg geführt haben, wie meine Eltern eben. Und diese absolut verlogene Doppelmoral, die da vorgeherrscht hat, die fand ich eben so schlimm, dass ich so schnell wie möglich nicht nur von meinen Eltern sondern auch von dieser ganzen Kleinstadt und Dörferidylle verschwinden wollte.“
Wohin verlässt Silvia nun das elterliche Zuhause? Aus den Erzählungen des Vaters wie auch aus Silvias Erzählungen lässt sich ihre Route in Ansätzen verfolgen: Als sie das erste Mal abhaut sucht sie die Großeltern in Nürnberg auf. Dem folgt in Minute 9:37 eine zusammenfassende Angabe: „Ich bin dann ziemlich viel in Städten herumgereist, ich war fast in allen deutschen Städten“. Zwei der deutschen Städte werden namentlich erwähnt – Berlin, die Stadt, aus der Silvia anreist, um Abiturprüfung zu machen und in der sie ein Praktikum absolviert sowie Osnabrück, eine Stadt, die Silvia als alternatives Ziel ins Auge fasst. Bei diesen Informationen belässt es der Film. Die geografische Konkretheit verliert sich und wir wissen nicht, wohin es Silvia für wie lange räumlich ‚verschlägt’. Trotz der kargen Information wird der Eindruck ihrer Reise permanent aufrechterhalten. Ein Beispiel dafür ist die repetitiv eingesetzte Lautsprecherdurchsage „Intercityexpress nach Amsterdam über Karlsruhe, Köln, Düsseldorf, Dortmund, 15:35, Gleis 3…“. Der Bahnhof wird so zu einer Metapher ihres Unternehmens. Immer wieder wird Silvia in oder in der Nähe von Bahnhöfen aufgenommen. Aber nicht nur diese Orte bilden einen visuellen Gegensatz zum elterlichen Wohnsitz. Im Rahmen der Analyse der ersten Haupteinheit tauchte bereits der Kontrast zwischen Provinz und Großstadt als Konstruktionsweise auf. Gegenüber der alten strukturiert sich die neue Welt demzufolge zunächst einmal durch Anonymität und das damit verbundene Fehlen von personalen Zumutungen und von eindeutig festgelegten Regeln. Dass Silvia und ihre Begleiterin sich in Sequenz 21 illegalen Zutritt zu einem leerstehenden Mietshaus verschaffen, wird filmisch nicht als Frage möglicher Sanktionen thematisiert, sondern als Möglichkeit des neu gewonnenen Raums beschrieben. Es bleibt aus, dass sie jemand mit dem Regelverstoß konfrontierte. Entscheidend für die Gegenüberstellung der räumlichen Ordnungsstruktur von ‚alter’ und ‚neuer Welt’ ist deswegen erstens die Überwindung einer Raumbindung und zweitens die Offenheit der ausgewählten Aufenthaltsorte, die in ihren Möglichkeiten erprobt werden können. In diesem Kontext können auch die sozialpädagogischen Institutionen verortet werden, deren Angebote Silvia temporär in Anspruch nimmt. Diese Art der ‚selbstdosierten’ Raumbindung, die der Film behauptet, ist vor allem auf Silvias Selbstaussagen gestützt und geht nicht über sie hinaus. Die Räume also, die die Protagonistin nicht reflektiert oder die ihr faktisch verwehrt sind z.B. aufgrund ihrer Lebenslage, spielen als filmisches Konstruktionselement keine Rolle. Lediglich
5.3 Konstruktion einer Suche nach dem „richtigen“ Raum
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an einer Stelle wird auf eine neue Form der Vergemeinschaftung eingegangen, nämlich in der bereits zitierten Eröffnungssequenz der zweiten Haupteinheit, die das Zusammenleben der Punks zeigt. Weitere Hinweise auf eine soziale Strukturiertheit des alternativen Milieus und wie sie darin als junge Frau zurechtkommt bleiben außen vor. Auch daran kann man also feststellen, dass der Film die Reise konzeptionell als individuelle Suchbewegung anlegt. Anstatt zwei oder mehr Milieus einander gegenüber zu stellen, konstruiert der Film entlang der Prinzipien ‚Abgeschlossenheit’ und ‚Offenheit’ seine räumliche Entwicklung und orientiert sich dabei an den Bewertungen der Protagonistin. Erst dadurch wird es sinnvoll, dass die Reise zurück ins elterliche Zuhause führt und Silvia diesen Ort jenseits seiner bedrohlichen Abgeschlossenheit neu erleben kann. Eine ehemalige Eindeutigkeit wird also variabel bzw. umkehrbar. Die Umkehrung dieses bis dahin geltenden räumlichen Modells, die Tilgung der bedrohlichen Ordnungsstruktur der alten Welt, ist als innerliche Veränderung der Protagonistin zu deuten, denn faktisch hat sich an der elterlichen Umgebung nichts geändert. Bestätigung erfährt dies durch die letzte Aussage im Film. Silvia: „Ich will nicht mehr die Welt verändern, sondern nur noch mich“.
Die anfangs festgestellte Nichtpassung zwischen Ich und Welt, die Grund dafür ist, dass Silvia nach einer alternativen Welt sucht, wird in dieser Aussage handlungstheoretisch ausgehöhlt. Silvia erkennt nun in der Selbstveränderung ein Potenzial, das sie gegen die Gesetzmäßigkeiten des Äußeren, die auf sie einwirken, einsetzen kann. Bedeutend ist zudem der Ort, an dem diese Aussage getroffen wird, nämlich im Tagebuch. Es stellt – wie in Kapitel 3.2.2 beschrieben – einen „Extremraum“ dar, d.h. einen Ort, an dem sich ein Thema besonders verdichtet. Die Konstruktionsweise des filmischen Raums unterstützt also einerseits Silvias Experiment in Bezug auf die Frage nach den Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit eine Existenz jenseits der Negation bestehender Verhältnisse, möglich ist. Andererseits nimmt die Raumkonstruktion im Vorsprung zu Silvias Erkenntnisprozess aber auch schon vorweg, dass die innerlichen Veränderungen während der Reise essenziellere Auswirkungen haben werden als die geografische und auch die soziokulturelle Dimension ihrer Reise. Mit Bezug auf den Identitätsbegriff kann erklärt werden, worauf der Film damit hinaus will: Identität gründet im Konzept soziologischer Handlungstheorie auf der „Selbsttätigkeit des Individuums, auf deren Grundlage es sich in ein Verhältnis zur Welt der Dinge und Personen setzt und diese äußere Welt zu einer inneren Welt der Vorstellungen (Repräsentationen) transformiert“ (Lüscher/Liegle 2003: 56). Am Vorgang, die äußere Welt in ein inneres Modell der Repräsentati-
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Filmanalyse I: „Ich war das perfekte Kind“
onen zu überführen, bildet sich also personale Identität in einem lebenslangen Prozess aus. Personale Identität ist in dieser Konzeption wiederum Schnittstelle dafür, dass ein Individuum die Befähigung sich zu orientieren und zu handeln besitzt. Insofern steht die letzte Aussage, die vorbereitet wurde durch die überraschende, das Raumschema durchbrechende Heimkehr der Tochter, im Kontext eines Zugewinns an Handlungsfähigkeit und Möglichkeiten, sich in äußeren Verhältnissen selbstbestimmt zu verorten. Zwischen den zwei programmatischen Aussagen des Films bzw. zwischen Eröffnungs- und Schlussszene liegen rund 42 Filmminuten, die im Folgenden als Wegstrecken in ihrer Qualität für Silvias Selbstveränderung untersucht werden sollen. Abbildung 7 erfasst in groben Zügen den räumlichen Aufbau und die Abfolge von Ortswechseln innerhalb des Films.112 Darin wird deutlich, dass zwar immer wieder neue Räume eingeführt werden, diese sich jedoch in ihrer Qualität zu vier Bereichen gruppieren lassen. 5.3.2 Arten von Räumen und deren Qualität Der Kontrast zwischen den räumlichen Konstruktionsprinzipien ‚Abgeschlossenheit’ und ‚Offenheit’, der oben herausgestellt wurde, ist weiter zu differenzieren, wenn man die Abfolge der räumlichen Szenarien genauer betrachtet. Abbildung 7 unterscheidet vier für Silvias Reise ausschlaggebende Arten von Räumen. Das ist erstens – blau umrandet – das Elternhaus, das an drei Erzählinhalte gebunden ist: die Bezugnahme auf Silvias Kindheit als einem abgeschlossenen biographischen Abschnitt; die Tatsache, dass Silvia diesen Ort verlassen hat; die Dynamik zwischen den ProtagonistInnen, die in hohem Maße durch gegenseitiges Nichtverständnis und partielle Ablehnung der jeweiligen Lebensstile geprägt ist. Das Elternhaus stellt in diesem Sinne eine ‚alte Welt’ dar, die rückwärtsgewandt immer wieder auf den Bruch im Familienleben verweist. Zweitens werden, in einem allerdings äußerst begrenzten Umfang, institutionelle Räume – gelb gekennzeichnet – eingeführt. So z.B. in Sequenz 34, in der eine Computertastatur im Anschnitt fokussiert wird, auf der Silvia schreibt. Der
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In Abbildung 7 wurden nur solche Orte vermerkt, an denen einer der Protagonisten tatsächlich gezeigt wird. Darin nicht aufgenommen wurden also z.B. die Schule, die Kleinstadt, Osnabrück etc., über die Silvia nur berichtet. Ebenso wurden die dekontextualisierten Räume, die für die Protagonistenerzählung typisch sind, nicht hinzugenommen, weil diese sich gerade durch eine weitgehende räumliche Neutralität auszeichnen. Schließlich wurde drittens darauf verzichtet, die Orte an denen Reflektorfiguren ihre Aussagen treffen, gesondert darzustellen. Diese sind vielmehr integriert in die Benennungen ‚besetzte Wohnung’, ‚Jugendeinrichtung für Straßenkinder’ und ‚Kinderzirkusschule’.
5.3 Konstruktion einer Suche nach dem „richtigen“ Raum
Abbildung 7:
Räumliche Entwicklung
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Filmanalyse I: „Ich war das perfekte Kind“
Umschnitt auf ihre Person aus leichter Untersicht liefert darüber hinaus keine weitergehende Information zum Raum, lediglich der eingeblendete Text „Praktikum bei Zeitdruck“ erhellt den Kontext, der rasch durch die Überblendung auf eine gepflasterte Straße wieder verlassen wird. In Sequenz 42 ist die Raumatmosphäre dagegen gewollt eingefangen. Aus einer Art Verschlag heraus filmt die Kamera abständig von Silvia die Szene im ‚Klik’- „einer Anlaufstelle für Straßenkinder“. Der großzügige hohe Raum mit den großen verglasten Flächen zur Straße hin und der lange Tisch, an dem sich Leute unterhalten, erinnern an ein Café. Erst auf den zweiten Blick ist Silvia an einem PC sitzend zu erkennen. Sie hält sich hier auf, isst, wäscht ihre Kleider und lässt sich von einer Sozialarbeiterin im Hinblick auf eine mögliche Praktikumsstelle beraten. Was dabei rauskommt zeigt Sequenz 50 in Ansätzen. Wieder klärt eine Texteinblendung den Raum: „Kindercircusschule Ufa, Berlin“. Silvia ist von Kindern umgeben und jongliert zusammen mit einem Mädchen. Schließlich wird die Artistikschule, auf die Silvia aufgenommen wurde, in Sequenz 63 von außen gezeigt. Diese Quersicht zeigt, dass es sich um einen bestimmten Typus von Institution handelt, den Silvia immer wieder betritt und verlässt. Es sind Einrichtungen mit freiwilligem Charakter, die Gelegenheitsstrukturen anzubieten haben und die im Vergleich zu den anderen filmischen Orten ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Integration bzw. Partizipation beinhalten.113 Dementsprechend verweilt die Protagonistin jeweils auch nur solange, wie die Einrichtung ihr etwas bieten kann. Die bisher beschriebenen Raumarten sind jedoch in der Minderzahl gegenüber jenen Räumen, die sich drittens als Durchgangsorte und viertens als selbstangeeignete Bleibeorte zusammenfassen lassen und die als Wegmarken Silvias Reise illustrieren. Zunächst zu den Durchgangsorten: Im vorangegangenen Abschnitt wurde der Bahnhof bereits als metaphorischer Ort für Silvias Projekt (der Suche) herausgestellt. Zum Bahnhof, der in Abbildung 7 grün markiert ist, kommen noch weitere räumliche Inszenierungen hinzu, die sich in ihrer Gesamtheit als Durchgangsorte begreifen lassen. Während die Bahn ein typisches Transportmittel des öffentlichen Verkehrs darstellt und auf den Ortswechsel verweist,114 kommt der Straße,
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Eine Ausnahme stellt in dieser Perspektive die Artistikschule als regulärem Ausbildungsbetrieb dar, die gerade kein niederschwelliges Angebot (Aufnahmeprüfung) bereithält. 114 Der Bahnhof könnte anders konnotiert auch als Milieu für Prostitution, als Drogenumschlagplatz oder als Ort für Taschendiebstahl verstanden werden. In diesem Fall ist die Inszenierung eine andere. Dies macht sich vor allem an Silvias Blickkonstruktion fest: ihr Blick läuft ins Leere und sie ist nicht auf Interaktion aus. Sie hat stets ihr Gepäck mit sich, ist also selbst Reisende. Sie beobachtet die Züge, wie sie fahren und nicht die Menschen, wie sie auf sie warten. Schließlich ist sie thematisch als Aussteigerin eingeführt, die ihr Leben gerade an moralisch höheren Werten in radikalerer Weise
5.3 Konstruktion einer Suche nach dem „richtigen“ Raum
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dem Pflaster, dem Gehsteig, die immer wieder wenn auch nur kurz eingesetzt sind, ein anderer Stellenwert zu: Die braun gekennzeichneten Durchgangsorte verweisen direkt auf den Status der Protagonistin – sie ist ‚Straßenkind’ bzw. wird sozialpolitisch so wahrgenommen. Daneben sind weitere Räume zu beobachten, die eindeutig als Durchgangsorte zu bezeichnen sind, allerdings in ihrer kontextuellen Einbettung keinen eindeutigen Zweck für das Weiterkommen der Protagonistin erfüllen. So z.B. der ansteigende Hügel, mit dem der Film beginnt und der weder ein Ziel noch einen Anlass für die Überquerung klarmacht. Auch ist der Ort zu neutral und abstrakt, als dass sich darüber eine gesellschaftliche Verortung ablesen ließe. In der Abbildung als orangene Felder markiert, erfüllen wie der Hügel auch der Flur eines unbestimmten öffentlichen Gebäudes in Sequenz 19 sowie die Brücken in den Sequenzen 53 und 64 eine rein symbolische Funktion. Die Bedeutung liegt hier nicht auf den abstrahierten Räumen, sondern auf dem Vorgang selbst, ihrem Passieren durch die Protagonistin. Interessant ist nun zu sehen, dass das Passieren jeweils anders dargestellt wird. Im Eröffnungsbild als einigermaßen beschwerlicher Anstieg, dessen Ende nicht ansehbar ist, obwohl wir in einer Panorama-Einstellung die Szenerie beurteilen können. Dann im langen Flur des öffentlichen Gebäudes als ungerichtetes Entlanglaufen und wieder Zurückkehren. In Sequenz 53 als Stehenbleiben inmitten der Brücke und schließlich in der Abschlussszene als zielstrebiges Passieren einer weiteren Brücke. Bislang kann also festgestellt werden, dass die farblich verschieden gekennzeichneten Räume sich in ihrer Qualität im Kontext von Silvias Reise als einem Unternehmen der Selbstveränderung unterscheiden. Die blauen Felder bilden den Ausgangspunkt der Reise, der bis ans Filmende trotz seiner weitgehenden Abgeschlossenheit immer wieder aufgegriffen wird. Die gelben Felder verweisen auf institutionelle Räume, sind selten und dennoch als wiederkehrende Stationen von Qualität für die Protagonistin, weil sie Silvia mit ideellen, mitunter auch materiellen Ressourcen versorgen. Die in drei Farben gekennzeichneten Durchgangsorte stellen die Reise selbst dar, die in der Ortsveränderung, der Statusveränderung und einer mehr oder weniger zielgerichteten Suchbewegung besteht. Wenn die Suche wie zuvor interpretiert einer Reise gleichkommt, dann ist auch immer wieder die Bilanz des Kurses notwendig oder auch einer Bilanz darüber, inwieweit ein momentanes Ziel dem idealen Reiseziel entspricht. Solche Bilanzen trifft Silvia vornehmlich an selbstangeeigneten Bleibeorten. Das schon mehrfach erwähnte, mit dem Brecheisen in der Tür aufgesperrte Mietshaus ist ein erster solcher Ort, den der Film einführt. Er ist mit einer beobachtenden Szene verbunden, die Silvia und ihre Begleiterin dabei zeigen, wie messen will, als dies ihre Eltern tun, denen sie Doppelmoral vorwirft. Aus diesen Gründen kann eine ‚geschäftige’ Nutzung des Bahnhofareals im obigen Sinne ausgeschlossen werden.
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sie sich einrichten. Silvia trägt mit einem dicken Pinsel die Weisheit, „das Leben ist kein Ponyhof“ auf die Wand eines Zimmers auf – sie verstehen ihr Vorhaben programmatisch. Als ein nächster Bleibeort kommt ein alter umgebauter Transporter-Bus in Frage. Silvia lebt darin für eine Zeit bei winterlichen Temperaturen. Ihre Bilanz fällt folgendermaßen aus: Tagebucheintrag: „Leben im Bus. Lange habe ich auf diesen Moment gewartet. Einmal Ruhe in der Kälte. In dieser wahnwitzigen Idee, die ich hatte und nun durchhalten muss, weil ich stark sein will. Ich bin alles andere als stark. In meinem Kopf läuft ein völlig anderer Film. Ich bin total kaputt, habe keine Heizung. Alles geht schief, ich kann nicht mehr. Ich sehne mich nach Sex, Liebe und Revolution - verdammte Scheiße. Ich lebe ja wirklich wie eine Ratte. Selbstmitleid ist wie in die Hose pinkeln; für kurze Zeit warm und angenehm und dann kalt und ekelig.“
Widersprüchlich, ihre eigenen Ziele negierend und das Eingeständnis von Schwäche als Selbstmitleid dechiffrierend erleben wir Silvia als Kritikerin ihrer eigenen Lebenswirklichkeit. In ihrem Lager auf dem Dach eines Gebäudes in der darauffolgenden Sequenz 28 attestiert sie sich eine ähnliche widersprüchliche Unzulänglichkeit: Trotz ihres aus ihrer Sicht abgehobenen Lebensstils, unterscheidet sie sich in ihrem Wissen und Können keineswegs vom Rest der Menschheit. In Sequenz 35 sucht sie einen Platz inmitten von Häuserruinen auf einem verlassenen Gelände auf. Sie und ihr Hund kennen den Weg dorthin gut. Ihr Aufenthalt am ‚Geheimplatz’ ist mit dem Geständnis verbunden, nicht mehr zu wissen, wohin ihre Reise geht, einem Mangel an Steuerungskompetenz also: „Ich bin auf einer Suche und weiß nicht wohin ich treibe“. Im eigenen Fahrwasser ohne Kurs? Das Risikoverhalten, das mit ihrem Unternehmen verbunden ist, drückt sich also besonders im Kontext jener selbstangeeigneten Bleibeorte aus. Dies bringt die Frage auf, welcher Stellenwert der Aneignung von Räumen universell im Heranwachsen von Jungen und Mädchen theoretisch zugebilligt wird. Die sozialpädagogische Jugendtheorie, namentlich Böhnisch, spricht von obligaten Experimentierräumen, durch die sich Jugendliche in ihrer Selbstständigkeit erproben können. Experimentierräume sind hier verstanden als Gelegenheitsstrukturen, die lebensaltertypisch genutzt werden (vgl. Böhnisch 2001b: 149). Jugendrelevante Räume sind selbstredend auch in einem sozialräumlichen wie auch in einem virtuellen Sinn zu begreifen. Dabei sind aus pädagogischer Sicht weniger territoriale Eroberungen und Behauptungen entwicklungsförderlich als die mit neuen Räumen verbundenen Möglichkeiten, über ein passageres Selbst hinauszugehen, „sich personal zu öffnen und sich in dieser bewussten Personalität sozial zu entfalten“ (ebd.: 157). Soziale Räume geben schließlich auch Aufschluss über Befindlichkeiten, da sich personale „Befindlichkeiten nicht in
5.4 Zeit als Darstellungsmittel inneren Erlebens
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den Funktionsausübungen oder im Rollenhandeln ausdrücken, sondern in den sozialräumlichen Bezügen der Aneignung und Ausgrenzung“ (ebd.: 303). Mit Blick auf sozialpädagogische Fachlichkeit verbindet sich damit der Anspruch eines „beobachtenden Erfahrens“ auf der Grundlage eines „sozialräumlichen Zugangs zu diesen Befindlichkeiten“ (ebd.). Interessant ist also, dass die filmische Rauminszenierung eine ähnliche Strategie wählt, wie sie im sozialpädagogischen Handeln vorkommt. Sie trifft Aussagen über die Befindlichkeit der Protagonistin in ihrem risikoreichen Projekt, orientiert sich dabei an der autobiographisch gedeuteten Möglichkeit sozialer Integration und zeigt gleichzeitig einen unmittelbar verständlichen Strukturkontext. Zumindest gilt dies für jene Raumkontexte, die in diese vierte Gruppierung der selbstangeeigneten Bleibeorte fallen. Auch in diesem Punkt muss erneut festgestellt werden, dass die Gleichaltrigengruppe in der filmischen Darstellung keinen Einfluss nimmt auf Silvias Aneignung von Räumen. Ungeachtet dieses jugendtheoretisch fundierten Einflussbereichs (vgl. ebd.: 153) zeigt der Film Silvias Suche nach räumlichen Alternativen als hauptsächlich individuelles Projekt auf. Er konzentriert sich dabei auf die Selbstthematisierungen der Protagonistin, wie sie für sie Gültigkeit besitzen, verlässt dieses Deutungsschema nicht, zeigt darin jedoch Veränderungen auf, die er auch mittels der Rauminszenierung herausarbeitet, insbesondere durch das veränderte Zielbewusstsein im Durchqueren der abstrakten Durchgangsorte. Auf die Konsequenz dieser Darstellungsweise wird an späterer Stelle (Kap. 5.5.3) eingegangen. Im nächsten Abschnitt werden die Selbstthematisierungen der Protagonistin in einer zeitlichen Prozessperspektive untersucht. 5.4 Zeit als Darstellungsmittel inneren Erlebens In Kapitel 3.3.2 wurde die Filmzeit von der filmischen resp. erzählten Zeit unterschieden. Aus dieser Unterscheidung ergibt sich ein wesentliches Prinzip filmischer Bedeutungsproduktion: Film fragmentiert und kombiniert Zeitverläufe, so dass mit jedem Film ein jeweils spezifischer Zeitverlauf entsteht. Dieser neu geschaffene Zeitverlauf ist in dreierlei Hinsicht aufschlussreich: Erstens resultiert aus ihm eine innere Ordnung der Narration. Durch den Schnittrhythmus entwickelt sich ein Zeitgefühl. Inhaltlich liegt der temporalen Präsentationsstruktur eine Bemessung zugrunde, aus der hervorgeht, wie lange ein Aspekt braucht, um erzählt zu werden und in welchen Intervallen ein jeweiliger Erzählstrang aufgegriffen wird. Zweitens verweist die filmische Zeit permanent auf die historische Zeit, aus der das filmisch Thematisierte seine Gültigkeit bezieht. Aus dem Vergleich historischer und erzählter Zeit ergeben sich wiederum Verhältnismäßigkeiten, die ein-
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Filmanalyse I: „Ich war das perfekte Kind“
malig sind und Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft neuartig und folgewirksam aufeinander beziehen. Drittens stehen die Schwerpunkte der filmischen Erzählung, die durch Zeitmarken umfasst sind – z.B. Tag X in der Vergangenheit –, auch in der Bilanz zu subjektiv erlebten Prozessstrukturen und damit in Verkettung mit den Deutungsschemata der ProtagonistInnen. Diese Deutungsschemata finden sich sowohl in der wörtlichen Rede als auch in den filmisch inszenierten Bewegungsweisen. Diese Arten, einen filmischen Zeitverlauf zu untersuchen, finden sich in den folgenden drei Abschnitten. Zunächst steht die Filmzeit als interne Struktur der Narration im Zentrum. 5.4.1 Gestaltung der Filmzeit: Zeit für Bilanzierungen Korte und andere FilmwissenschaftlerInnen sehen einen Schwerpunkt der Filmanalyse in der Ermittlung der temporalen Gestaltung eines Films (vgl. Korte 2001: 24). Es geht dabei vor allem um die Rekonstruktion eines formalen Spannungsverlaufs und damit um die durch die Montage hergestellte Aufmerksamkeitslenkung. Soll der ganze Film betrachtet werden, so bietet sich die Hilfskonstruktion der Sequenzgrafik an, um sein Bauprinzip zu erfassen (vgl. ebd. 39). Abbildung 8 zeigt die Abfolge der Sequenzen innerhalb der vier filmischen Einheiten. Jede der vier Abfolgen kann so gelesen werden: je steiler die ‚Treppe’ absteigt, je kürzer sind die aufeinander folgenden Sequenzen oder je schneller erzählt der Film via signifikanter Orts- und Zeitwechsel. Die Darstellungsgröße der einzelnen Treppenstufen (Einzelsequenzen) ist dabei proportional zu ihrer zeitlichen Dauer gewählt.115 Subsequenzen sind als eigenständige Passagen (Rechtecke) eingefügt. In der untenstehenden Zeile ist jeder ‚Treppenbewegung’ ein Durchschnittsmaß zugeordnet, das die durchschnittliche Zeit einer Sequenz in Sekunden angibt. Diejenigen ‚Treppenstufen’ (Sequenzen), die mehr als doppelt so lang sind als die durchschnittliche Sequenzdauer innerhalb der jeweiligen Einheit, sind mit Pfeilen, einer Angabe in Sekunden und einem erläuternden Text hervorgehoben. Dabei handelt es sich also um besonders zeitintensive Sequenzen.
115
Z.B. ist das erste Rechteck unter Einheit eins im Din-A4-Original 46mm lang, da die Sequenz die es darstellt 46 Sekunden andauert, darauf folgt als Sequenz 5 mit einer effektiven Länge von 77 Sekunden ein 77mm langes Rechteck etc.
5.4 Zeit als Darstellungsmittel inneren Erlebens
Abbildung 8:
Sequenzgrafik
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Filmanalyse I: „Ich war das perfekte Kind“
Anhand dieser Darstellung kann nun Folgendes festgestellt werden: x Insgesamt stellen die Sequenzabfolgen weitgehend ausgeglichene Verläufe dar. Im Ergebnis zeigen sich zwar keine in gleichem Winkel absteigenden Linien, so dass jede Sequenz in einer annähernd gleichen Dauer präsentiert würde. Jedoch zeigt der wellenförmige Verlauf, dass längere Passagen immer wieder durch kürzere abgewechselt werden, so dass über längere Strecken ein ausgeglichenes Erzähltempo erkennbar wird. Ausnahmen bilden in dieser Betrachtungsweise die visuell hervorgehobenen Sequenzen. x Diese als besonders zeitintensiv markierten Sequenzen treten als die Wellenlinie stärker unterbrechende Absätze hervor (insb. Bilanz 4 und Bilanz 6). Hier haben wir es mit Passagen zu tun, die das Erzähltempo formal verlangsamen. Von Interesse ist deshalb ein Blick auf die Inhalte, die hier in Bild und Wort präsentiert werden. In Abbildung 8 sind sie bereits als ‚Bilanzen’ bezeichnet, d.h. es handelt sich durchweg um solche Stellen, an denen Antworten auf Fragen, die sich aus Silvias Projekt der Selbstfindung ergeben, gesucht werden. Aufschlussreich ist, dass stets die Protagonistin und keine andere Figur diese Antworten entweder in Interviewpassagen (Bilanz 1, 5 und 6) oder in ‚Tagebuch-Inszenierungen’ (Bilanz 2, 3 und 4) liefert. x Im Einzelnen sind das folgende Bilanzierungen: In der 91sekündigen ersten Bilanz handelt Silvia den Grund für ihr Ausreißen ab. Diese Bilanz ist deswegen aufschlussreich, weil hier ein Zusammenhang zwischen elterlichem Erziehungsverhalten und Stellung der Eltern in einer kleinstädtischen Umgebung ersichtlich wird, woraus sich die Konflikte zwischen Eltern und Tochter speisen. In der darauf folgenden überdurchschnittlich langen Passage bilanziert Silvia die „Dächerwelt“116 als guten Ort, weil abgehoben von gesellschaftlichen Zumutungen und Prozessen des Zusammenlebens. Allerdings ist es kein Ort, an dem sich jugendlicher Gestaltungsdrang entfalten kann, sondern ein Ort jenseits jeglicher Eitelkeit, der die eigene Existenz bescheiden erscheinen lässt. In Bilanz 3 findet Silvia eine Antwort auf die Frage nach der Zielgerichtetheit ihres Unternehmens: sie lässt sich treiben. Diese lange Passage ist deswegen bemerkenswert, weil der Anteil an gesprochenem Text in einem ungewöhnlichen Verhältnis zur Sequenzdauer steht: er ist gering. Hier sind es vor allem bildliche Repräsentationen, die im Vordergrund und für sich stehen. An keinem anderen Ort wird dem Antlitz der Protagonistin also soviel Aufmerksamkeit geschenkt, wie inmitten dieser Häuserruinen. Die BetrachterIn wird so zur Beobachtung der Protagonistin, die sich selbst beobachtet, aufgefordert. Innerhalb von Einheit 2 finden sich 116
Gemeint ist tatsächlich das Leben auf unbenutzten Flachdächern städtischer Hochhäuser, auf denen sich die Protagonistin eine überdachte Schlafstelle einrichtet.
5.4 Zeit als Darstellungsmittel inneren Erlebens
x
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dabei zwei überdurchschnittlich lange Sequenzen, eine erste, in der Silvia die eigene Gemütslage als kollektiven Zustand betont und in der sie den Wunsch nach Heimat äußert, sowie eine zweite, in der sie das Zusammenleben im alternativen Milieu der Punks kritisiert und für ihre Bedürfnisse nach Veränderung als unangemessen ausweist – Heimat ist also nicht in Sicht. Innerhalb von Einheit 3 findet sich schließlich eine letzte überdurchschnittlich intensive Bilanz. Hier stehen die Ressourcen, die Silvia zur Realisierung ihres Selbstentwurfs zur Verfügung stehen, zur Debatte. Diese sechs Stationen sind ob ihrer Länge innerhalb der Erzählung besonders hervorgehoben. Formal interessant ist ferner das ‚Crescendo’ im letzten Viertel der Sequenzabfolge von Einheit 2. Die kurzen aufeinander folgenden Passagen dienen hier der Spannungserzeugung, die dem filmischen Höhepunkt, dem Heimkommen vorausgeht.
Insgesamt bestätigen sich mittels dieser grafischen Darstellung der Sequenzabfolge also die zuvor herausgearbeiteten und anhand anderer Befunde belegten Interpretationsergebnisse. Allerdings bleiben diese Erkenntnisse auf den formalanalytischen Bereich begrenzt und dementsprechend blass, weil der Bezug zur historischen Zeit, den die einzelnen langen oder auch kurzen Sequenzen innehaben, anhand dieses Musters nicht geklärt werden kann. Deshalb soll im nächsten Abschnitt der Zeitverlauf des Films als Verhältnis zwischen erzählter und historischer Zeit untersucht werden. 5.4.2 Erzählte Zeit: Perspektiventypische Zeitintervalle Die folgende Auswertung basiert in der Hauptsache auf Abbildung 9, die einen Überblick über die erzählte Zeit, geordnet nach ErzählerInnen, gibt. Bevor mithilfe der Abbildung die Ergebnisse dieser Zeitauswertung nachvollzogen werden, bedarf die Darstellung einiger Erläuterungen: Die Abbildung ist von links nach rechts zu lesen. Das erste erzählerisch relevante Datum liegt am linken Seitenrand und das letzte dementsprechend am weitesten rechts. Alle dazwischen liegenden Zeitpunkte und -phasen sind also chronologisch von links nach rechts angeordnet. Sie sind auf fünf Spuren verteilt, entsprechend der fünf unterschiedenen ErzählerInnen, die in unterschiedlichem Umfang Zeitmarken setzen. Silvia ist auf einer ersten und breitesten Spur angeordnet, da sie als Protagonistenerzählerin per Tagebuchnotizen die meisten zeitlichen Eckpunkte absteckt.
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Abbildung 9:
Filmanalyse I: „Ich war das perfekte Kind“
Erzählte Zeit
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Insgesamt sind es 14 verschiedene Zeitpunkte. Acht davon fließen über Tagebucherzählungen (Markierungen von oben her auf die Spur ‚Silvia’) und sechs über Interviewpassagen (Markierungen von unten her auf die Spur ‚Silvia’) ein. Silvia setzt nicht nur die meisten, sondern auch die am weitesten auseinander liegenden Zeitmarken – angefangen bei ihrer Geburt bis hin zur Aufnahme in die Artistikschule, dem letzten Ereignis, von dem der Film berichtet. Die Zeitmarken sind entsprechend ihrem Nacheinander in der Filmzeit nummeriert. Neben exakten Zeitpunkten werden mitunter auch unscharfe bzw. grob umrissene Zeitspannen erwähnt. Diese sind entsprechend anders gekennzeichnet. Ebenso wie die ‚Spur Silvia’ sind auch die Spuren aller weiteren Figuren zu lesen. Die unterste Spur ist mit ‚expressive Erzähler (Autoren)’ bezeichnet. Hier werden filmsprachlich, über Texteinblendungen gesetzte Zeitmarken angeführt. Drei exponierte Zeitmarken, die als vertikale Linien 1-3 eingefügt sind, wurden als übergreifend herausgestellt, weil sie die filmischen Ereignisse grundlegend strukturieren: Das ist der Tag, an dem die Protagonistin zum ersten Mal ausgerissen ist und der von Silvia wie auch ihrem Vater benannt wird. Dann der Tag, an dem sie ihre Heimatstadt endgültig verlässt. Dieses Datum wird filmisch kommentiert. Und schließlich der Tag, an dem sie seit Längerem wieder heimkommt. Auf diesen filmischen Höhepunkt wird – wie weiter oben festgestellt – durch den Vater Bezug genommen. Eine letzte Erläuterung bezieht sich auf die kalendarische Zeiteinordnung. Mit relativer Sicherheit – aufgrund der Einblendung von Monat und Jahreszahl – können die Ereignisse in Einheit 2 und 3 dem Jahr 2004 zugerechnet werden.117 Der Beginn der Dreharbeiten würde nach dieser Logik etwa mit der zweiten Erzähleinheit, die zuvor als filmische Gegenwart erkannt wurde, zusammenfallen. Dies würde schließlich auch erklären, warum der Film erst hier und nicht schon zuvor im Verlauf eindeutige Zeitmarken über Texteinblendungen setzt. Denn gegenüber den Zeitmarken 2 und 3 des „expressiven Erzählers“ trägt die erste Zeitmarke der Autoren keine Datierung. Dies könnte darauf hinweisen, dass das Ereignis ‚Silvia verlässt endgültig ihre Heimatstadt’, einerseits außerhalb der unmittelbaren filmischen Zugänglichkeit stattgefunden hat, anderseits aber für unverzichtbar für das Verständnis der Geschichte befunden wurde, so dass es zwar ohne registrierende Zeitdatierung, jedoch in Form des Re-Enactments (s.o.) einfließt. Über diesen schwachen Hinweis hinaus sind im Film keine weiteren Verweise auf eine vorfilmische Phase gegeben.
117
Weil wir den Zeitpunkt der Erstausstrahlung des Beitrags auf Juni 2005 datieren können und wissen, dass die Dreharbeiten zum Film ein Jahr dauerten (vgl. WDR-Pressetext zum Film), kommen dafür nur weite Strecken des Jahres 2004 in Frage.
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Welche inhaltlichen Fragen können nun mithilfe dieser Übersicht beantwortet werden? Anhand der Zeitmarken auf den unterschiedenen ‚Erzähler-Spuren’ können zunächst die einzelnen ErzählerInnen untereinander verglichen werden. Optisch auffallend sind in Abbildung 9 die sieben dicht aufeinander gedrängten Zeitmarken, die der Vater setzt und die einen Zeitrahmen von lediglich fünf Tagen umfassen. An keiner anderen Stelle im Film kommt eine vergleichbar intensive Zeitschilderung zum tragen. Daran wird schließlich das Extremereignis, d.h. ihr unvermitteltes Ausreißen, erkennbar, das die Handlungsmöglichkeiten der Eltern zu diesem Zeitpunkt auf die Probe stellt. Es zeigt sich darin das Paradox, schnell handeln zu müssen bei einem Handlungsziel, das außerhalb des Erreichbaren liegt, wie die retrospektive Erzählung verdeutlicht. Interessant ist, dass dieselbe Datierung auch von Silvia gleich in ihrer ersten Erzählpassage einfließt. Hier allerdings abgekürzt auf einen Satz – „Das erste mal bin ich mit 15 von zuhause abgehauen (...)“ – und bezogen auf ein Lebensalter, dementsprechend also viel allgemeiner und unaufgeregter erzählt wird. Mit dieser Unterscheidung, die bereits innerhalb der ersten Filmminuten getroffen wird, werden zwei Pole der Erzählung gesetzt: ein emotional nachvollziehender und ein kühl bilanzierender, verteilt auf die beiden ProtagonistInnen Vater und Tochter. Die Mutter fügt demgegenüber lediglich eine Zeitmarkierung in den filmischen Zeitverlauf ein – ein Zeichen ihrer filmischen Unterrepräsentation gegenüber dem Vater, aber auch ein Zeichen für einen anderen Erzählstil, der insoweit zusammenfassend ist, dass konkrete Zeitpunkte nur in einem Fall eine strukturierende Rolle spielen, nämlich gerade dann, wenn die Erzählerin emotionale Betroffenheit zu verstehen gibt: „Die Bilder der Konfirmation schaue ich mir äußerst selten und ungern an, weil es tut einfach weh“. Mit Blick auf die Dramaturgie ist interessant, dass diese Verschiebung des Emotionalen auf die Mutter erst relativ spät und im Kontext der filmischen Gegenwart stattfindet, der Film hier also in überraschender Weise die Spannung zwischen der Betroffenheit der Eltern und der Abgeklärtheit der Tochter reaktualisiert. Die restlichen Zeitangaben, die auf den Vater zurückzuführen sind, sind nicht genau zu datieren („Irgendwann“, „früh schon“ und „jederzeit“). Eine Ausnahme dazu bildet die letzte Zeitmarke, die zwar kein Kalenderdatum trägt, jedoch mit dem Elternbesuch Silvias, dessen Beginn wir unmittelbar mitverfolgen können, zusammenfällt und der wichtig ist, da er eine Wende der Themenstellung – vom Gehen zum Kommen – herbeiführt und somit formal die Funktion der elterlichen Erzählung abschließt. Eine zweite inhaltliche Perspektive der Abbildung ergibt sich aus folgender Überlegung: Weil Zeitmarken als Eckpunkte der Erzählung den Verlauf biographischer bzw. sozialer Zeit lediglich punktuell darstellen und somit eine konstante Gegebenheit von Zeit unterbrechen, kann auch zwischen nicht-explizit er-
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zählter und explizit erzählter Zeit unterschieden werden. Einfacher gesagt meint das, dass wir auch indirekt etwas über die Zeit, die zwischen den nummerierten Eckpunkten liegt, erfahren und zwar insofern, als dass dies Zeitabschnitte sind, die „irgendwie“ vergehen, die bezüglich des filmischen Erzählvorhabens unspektakulär erlebt werden und die dementsprechend unwichtige Ereignisse beinhalten. Nach dieser Beurteilung fallen darunter z.B. sämtliche politischen Aktivitäten und auch sämtliche zwischenmenschlichen Begegnungen, die Silvia erlebt. Obwohl sich Silvia als Aktivistin versteht, weist sie dieser Praxis keine zeitliche Verortung zu. Der Film fragt nicht danach, wie Demonstrationen und Protestaktionen Silvias Leben bestimmt haben, weist stattdessen über ein collagiertes Hintergrundbild den Bereich der politischen Aktivität als Begleitumstand aus, ohne dass daraus eine erzählerisch weiterführende Handlung gewonnen würde. Ebenso verhält es sich mit den Menschen, die ihr begegnet sind und die sie beeinflusst haben. Anhand der Struktur von Abbildung 9 können ferner die temporalen Erzähltechniken der Geschichte bilanziert werden: In welcher Weise konstruiert der Film eine Chronologie? Erzählt er vorwärts- bzw. rückwärtsgewandt oder steht die Unmittelbarkeit im Zentrum? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Erzähltempo und -inhalt? Und welche Wiederholungsstruktur führt er ein? Betrachtet man die erzählten Ereignisse, wie sie sich auf die drei Haupterzähleinheiten verteilen, so wird daraus schnell ersichtlich, dass mit Abstand die meisten erzählten Zeitpunkte und Phasen in Einheit 1 liegen, also vor der filmischen Gegenwart. Die Erzählung ist eindeutig vergangenheitsorientiert und hat einen Schwerpunkt in der Rekonstruktion der Geschehnisse, wie sie sich ab dem Zeitpunkt 1 – „Tag des Verschwindens“ – entwickelt haben. Formalästhetisch ist diese rückbezogene Erzählweise durch eine filmische Ebene des Re-Enactments gestützt. Die Zeitpunkte vor und nach dem „Tag des Verschwindens“ unterscheiden sich stark in ihrer narrativen Geschwindigkeit: die genannten Ereignisse zuvor werden gestreift jedoch nicht näher erläutert. Besonders auffallend ist dies in Silvias Erzählung. Als Elemente einer reinen Aufzählung fließen die chronologisch ersten vier Zeitpunkte (2-5) ein. Demgegenüber tragen die meisten Tagebucheintragungen, die auf die Zeit danach verweisen ein festes Datum und sind somit als prägnante Eindrücke eines Momenterlebens rezipierbar. Die Gedankenarbeit eines Tages wird so zum Ereignis in Schreibgeschwindigkeit. Demgegenüber ist die Erfahrung, die notwendig war, damit sich die Erzählerin so äußert, in den Passagen nicht enthalten, weil die Tagebuchnotizen im Unter-
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schied zur ProtagonistInnenerzählung fast ausschließlich gegenwarts- und zukunftsbezogen sind.118 Neben einer mehr und weniger stark zusammenfassenden Zeitraffung in der ProtagonistInnenerzählung finden sich Elemente eines elliptischen Erzählens vor allem in den drei Einsätzen der Parallelmontage. Die Parallelmontage, die stets auf das Kontrastmittel Bahn in ikonischer Wiederholungsstruktur zurückgreift, kann in ihrer Funktion als elliptisches Erzählmittel also auch als Symbol für abgebrochene Zeitverläufe gedeutet werden. Silvia entzieht sich immer wieder Situationen bzw. bewegt sich als Figur immer wieder aus dem Horizont der ‚signifikant Anderen’. Insgesamt kann also hinsichtlich der narrativen Tempi festgestellt werden: die größten zeitlichen Raffungen innerhalb der erzählten Zeit betreffen Silvias Kindheit und Jugend vor ihrem Ausreißen; unterschiedliche narrative Tempi werden gegeneinander gestellt, um Personen (Vater und Tochter) zu charakterisieren; die Tagebucherzählungen fokussieren den Moment. Sie haben keine Verlaufsperspektive, sondern pointieren momentane Befindlichkeiten. Erst mit der letzten und dritten Erzähleinheit löst sich diese Simultanstruktur zugunsten einer vorausblickenden Perspektive auf. Im Folgenden wird die Aussagestruktur Silvias vor dem Hintergrund erfahrener Prozessstrukturen näher betrachtet. 5.4.3
Prozessstrukturen der Reise: „Eingesperrt sein“ – „Suchen“/Reisen – „sich treiben lassen“ – „Bleiben wollen“
In der Erarbeitung der Untersuchungskategorie Zeit (vgl. Kap. 3.3.2) wurde auch die Möglichkeit erörtert, die in den Aussagen der Erzählenden enthaltenen Zeitmarken als biographisch gedeutete Prozessstrukturen zu analysieren. Dieser methodisch-analytische Vorschlag verbindet temporale Gesichtspunkte der Filmerzählung mit den Relevanzstrukturen der Figuren bzw. ProtagonistInnen. Welche äußerlichen Zeitpunkte finden Erwähnung und wie werden diese innerlich erlebt? Aus dieser sinnstiftenden Verknüpfung lassen sich Rückschlüsse auf biographisch erlebte Prozessstrukturen ziehen, die nach Maßgaben soziologischer Biographieforschung vier Richtungen zugeordnet werden können: Handeln kann 118
Silvia spricht mit sich als einer alltäglichen Begleiterin. Die Interviewerzählung ist demgegenüber überwiegend vergangenheitsbezogen. Silvia adressiert hier die Filmemacher, die ein rekonstruierendes Interesse verfolgen. Das per Interview zeitlich am ausführlichsten besprochene Ereignis ist die Beendigung von Silvias Schulzeit, die anhand von drei Zeitpunkten geschildert wird. Eine Ausnahme von der Vergangenheitsorientierung bildet die letzte Interviewpassage, die ausgehend von der unweit zurückliegenden bestandenen Aufnahmeprüfung auf die Artistikschule inhaltlich auf die Zukunft gerichtet ist: zunächst auf die unmittelbare Zukunft der nächsten drei Monate, die geschafft werden müssen und dann auf die Zukunft, die nach der dreijährigen Ausbildung liegen wird.
5.4 Zeit als Darstellungsmittel inneren Erlebens
231
retrospektiv erstens als institutionell bestimmt, zweitens als in eine Verlaufskurvendynamik involviert, drittens als durch eine biographische Wandlung auf veränderte Grundlage gestellt und viertens als einer intendierten Handlungsstrategie folgend erfahren werden (vgl. Schütze 1983: 286). Mit Bezug auf die hier vorliegende Filmerzählung bieten sich zunächst zwei Möglichkeiten an, Prozessstrukturen als Gestaltungselemente einer filmischen Erzählung zu untersuchen. Erstens ein Vergleich unter den Filmfiguren und zweitens ein Vergleich in der Perspektive einer Figur. Ein interpersonaler Vergleich macht – wie Abbildung 9 verdeutlicht – nur zwischen Silvia und ihrem Vater Sinn, denn alle anderen Figuren tragen lediglich in beschränktem Maß über Zeitmarkierungen zum Zustandekommen eines rezipierbaren Zeitverlaufs bei und können deswegen nicht sinnvoll verglichen werden. Jedoch erweist sich auch die Analyse der Prozessstrukturen jener beiden ProtagonistInnen als zu wenig substanziell. Zwar kann wie im obigen Abschnitt hervorgehoben der „Tag des Verschwindens“ in der retrospektiven Bilanz beider verglichen und dabei festgestellt werden, dass die Tochter einer intendierten Handlungsstrategie gefolgt ist, während sich in die Erinnerung des Vaters eine Verlaufskurve skizziert, der er vollkommen ausgeliefert war. Hier enden aber auch schon die Möglichkeiten, die Prozessstrukturen im Erleben jener Figuren jeweils anhand entsprechender Ereignissen zu vergleichen, weil der Vater im Folgenden kaum seine eigenen Hintergrundkonstruktionen als vielmehr jene, die er Silvia zuspricht, formuliert. Diese Fremdzuschreibungen sind mehr durch Fragen als durch Gewissheiten geprägt. Mit anderen Worten: Silvias Vater weiß zu wenig über die Beweggründe seiner Tochter, die ihr Handeln anleiten, als dass seine Ausführungen sinnvoll zu einem Vergleich herangezogen werden könnten. Bleibt also die Möglichkeit, Silvias Aussagen in sich zu untersuchen, was sich als aufschlussreich erweist, denn wie schon kenntlich wurde, verläuft ihre Reise kompliziert. Um die Prozessstrukturen, die Silvias Aussagen hinterlegt sind, in einer Art ‚Klangabfolge’ zu begreifen, wurde Abbildung 10 angefertigt. Sie weist jeder Aussage der Protagonistin (1-30) – unabhängig davon, ob sie einen Zeitverweis beinhaltet oder nicht – einen Typus der von Schütze beschriebenen Dynamiken zu. Im Ergebnis zeigen sich nun beachtliche Unterschiede im Zuge der erzählten Zeit: Besonders interessant ist das Mittelfeld der Darstellung, Nummerierung 12 bis 20. Im Unterscheid zu allen anderen Aussagen konnten diese nicht eindeutig einer erlebten Dynamik zugeordnet werden, denn sie bringen ein ‚Sowohl-Als-Auch’ von Verlaufskurvendynamik und intendierter Handlungsstrategie zum Ausdruck. Als Beispiel sei die mit 13 nummerierte Aussage angeführt:
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Abbildung 10: Prozessstrukturen
Filmanalyse I: „Ich war das perfekte Kind“
5.5 Protagonistin sucht Balance von Ich und Welt
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Tagebuch: „Die Dächerwelt hat es mir angetan, hier erreiche ich fast den Zustand der Zufriedenheit. Den Lärm der Straße höre ich nur gedämpft. Ansehen muss ich mir das tägliche Elend zum Glück nicht. Alleine und auch nicht so stickig eingepfercht in das Boxen- und Schachtelsystem namens Wohnung geht es mir hier wirklich ganz gut. Und du erkennst, dass du eigentlich nichts bist, nichts kannst und alles was Du weißt, wissen andere schon längst. Aus dir hätte einmal soviel werden können“.
Diese wie auch alle sich daran anschließenden Aussagen sind durch die Durchmischtheit von absichtvoller Planung und Undurchsichtigkeit geprägt. Jede Eindeutigkeit, die die Erzählerin zuvor bis zum endgültigen Verlassen ihrer Heimatstadt noch anführen konnte, verliert sich mit ihrem Weggang, denn die verhängnisvolle Verkettung beginnt exakt nach diesem Ereignis mit Aussage 12 „Leben im Bus...“ und endet mit Aussage 18 „bin auf einer Suche und weiß nicht wohin ich treibe...“. In der Perspektive von Prozessverläufen stellt sich Silvias Reise in dieser Phase als verlustreiches Unterfangen dar: Aus der ursprünglich intendierten Befreiung vom ‚Sich-Eingesperrt-Fühlen’, über das ‚Suchen’, das sich in ein ‚Getrieben-Werden’ wendet, hin zu einem Wunsch ‚nicht mehr wandern, sondern heimkommen’ zu wollen. Eine vorläufige Wiederherstellung von Eindeutigkeit schafft die Protagonistin in einer gedanklichen Konstruktion, die im Konjunktiv gründet. Sie verlässt ihren Zeithorizont und entwirft sich in andere soziale Zeiten, die klischeehaft das kolportieren, wonach sie sich sehnt – eindeutige Verhältnisse von einer richtigen und einer falschen Seite, auf der man stehen kann. Die Grundlagen ihrer Selbstpositionierung werden im Folgenden genauer betrachtet. Im Mittelpunkt steht somit nun die Subjektivität der Protagonistin. 5.5 Protagonistin sucht Balance von Ich und Welt Wir wissen bereits mit der ersten Einstellung aus gesprochenem Text und Bild, dass die Reise eine Suchbewegung darstellt, eine Suche nach einer anderen Welt sogar. Mit der Analyse des filmischen Raums ist bereits deutlich geworden, dass „Welt“ im Plan der Protagonistin nicht in einem naturwissenschaftlichen Sinn gemeint ist, sondern mit Bezug auf ihre soziale Strukturiertheit angeeignet und erlebt wird. Deshalb vollzieht der Film diese Perspektive gerade nicht geografisch nach, sondern thematisiert sie als innere Perspektive. Wo die gesuchte (alternative) Welt anfängt dokumentiert keine Landkarte, dies muss durch die Protagonistin selbst beurteilt werden. Mit Bezug auf Lotman heißt das, die Hauptfigur verlässt einen Raum in der Hoffnung, in eine Sphäre zu gelangen, in der grundsätzlich andere Gesetzmäßigkeiten gelten. Im Kontext der Tagebuchaufschriebe zeichnet sich eine als existenziell empfundene Motivation dafür ab:
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Filmanalyse I: „Ich war das perfekte Kind“
Gesetzmäßigkeiten konfigurieren ein Leben. Insbesondere die in Sequenz 22 vorgetragene Tagebuchnotiz macht dies deutlich: „Ich bin nur so, wie ich bin und handle so, wie ich es tue, weil dies meine Überlebenslücke im real existierenden Kapitalismus darstellt. In einem anderen System wäre ich ein anderer Mensch, ganz sicher“. Zugleich wird damit der Stellenwert deutlich, den der Film Silvias Selbstreflexion einräumt. In den folgenden drei Abschnitten geht es darum, das Verhältnis von Ich und Welt, das als Quelle der Subjektivität und der Selbstveränderung der Protagonistin anzusehen ist, in verschiedene Dimensionen aufzuschlüsseln: erstens in eine inhaltliche Bilanz, die Silvia zieht, zweitens in die methodische Form, die sie dafür wählt und drittens mit Blick auf die filmische Klarheit, in der dieses Projekt der Selbstfindung dargestellt wird. 5.5.1 Figurenopposition innerhalb eines Registers an Ich-Aussagen In der Handlungsanalyse der ersten Einheit wurde ausführlich auf die Figurenopposition zwischen Silvia und ihrem Vater eingegangen. Die Generationenambivalenz entwickelt sich aus der äußerlichen Ähnlichkeit (Kamerakonzept der Interviewaufnahmen) und differenter Perspektiven auf Silvias Weggehen (ProtagonistInnenerzählung). Die Untersuchung des filmischen Raums bestätigt diese Figurenopposition, indem die Beweglichkeit der Tochter und die Unbeweglichkeit der Eltern vor Augen geführt werden. Interessanterweise findet sich jedoch eine weitere Figurenopposition in der Erzählhandlung. Die Protagonistin thematisiert sich selbst in einer Figurenopposition, d.h. sie stellt ihr eigenes Projekt in den Kontext von Norm und Abweichung. Im Folgenden geht es darum. „Ich fühle mich ausgesetzt, fertig; ausgebootet von einer Welt, die von normalen Menschen lebt“ – mit diesen Worten fängt der Film die nun schon bekannte Erzählhandlung an. Dabei verweisen diese Worte für sich genommen bereits auf eine Problemstellung, die in der sozialen Desintegration der Erzählerin besteht. Die Fragen nach den Möglichkeiten sozialer Integration und einem bildenden Verhältnis von Ich und Welt, die in einem sozialwissenschaftlichen Kontext unter die Stichworte von Lebenskompetenz und Persönlichkeitsbildung fallen,119 sind in diesem Eröffnungsstatement bereits enthalten. Auch die Frage nach der in der Jugendentwicklung zwingenden Selbsterfahrung ‚ich bin anders’, die den Spielraum zwischen Negationen und unabhängigen Zukunftsentwürfen begünstigt, ist Thema. 119
So werden z.B. im zwölften Kinder- und Jugendbericht Bildungsziele als Erwerb von Kompetenzen formuliert (vgl. Bundesregierung 2005: 110ff).
5.5 Protagonistin sucht Balance von Ich und Welt
235
Die Quintessenz am Ende des Films lautet, „ich will nicht mehr die Welt verändern sondern nur noch mich“. Interessant ist zunächst, dass der Film an keiner vorausgehenden Stelle darüber berichtet, was die Protagonistin konkret in der Außenwelt verändert, in welcher konkreten Form sie dies im Rahmen ihrer Bezüge leistet und wie sie sich in eine Gemeinschaft einbringt, um ihre politischen Ziele zu verfolgen. Die Taten bleiben behauptet. Der Film konzentriert sich demgegenüber auf Silvias Reflexion über die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen. Es geht also nicht um die Ziele selbst, sondern um die Bilanz deren Erreichung. Insofern kreist der Film mit seinen zwei Ebenen der Ich-Erzählung um die Frage, was es heißt, ein Leben an selbstgewählten Standards zu erproben. All die Themenstränge, die der Film im weiteren Verlauf verfolgt, beinhalten Ich-Formulierungen in einem diskursiven wie auch einem präsentativen Sinn, d.h. in Form schriftlicher Reflexion, die die Protagonistin vornimmt und in Form von Posen, die die expressive Bildgestaltung entwickelt. Mit Ausnahme von zwei Stellen gibt es im Film also keine Passage, in der sich Silvia als Erzählerin nicht in der Ich-Form einbringt.120 Auch im Bild machen wir Silvia als solitäre Aktivistin aus, die nur selten in Begleitung oder Gemeinschaft ist. Silvias Erzählung ist insoweit eindeutig auf sie selbst konzentriert und im Sinne von Kiener als ProtagonistInnenerzählung auszumachen. Wenn, wie oben festgestellt, keine andere Instanz als die Protagonistin selbst die möglichen Veränderungen, die in der Geschichte angelegt sind, bilanzieren kann, kommt Silvas Selbstaussagen ein zentraler ‚seismographischer’ Stellenwert zu. Welche Art von Aussagen trifft die Protagonistin also und welche Welterfahrungen zeigen sich darin? Silvias Aussagen, die sie im Interview macht, sind einheitlich durch einen erläuternden Argumentationsstil geprägt. Demgegenüber zeigt die systematische Betrachtung der Struktur ihrer Aussagen als Tagebucherzählerin ein komplexes Muster an einerseits Aussagetypen und andererseits Aussageinhalten. Die sich inhaltlich durchziehenden Themen lassen sich vier Bereichen zuordnen: x dem Erleben von Desintegration (1.), x dem Bilanzieren von Ressourcen unterschiedlicher Art, die im Kontext eines Verhältnisses von Ich und Welt stehen (2.), x drittens der bewertenden Selbsterfahrung von Alleinsein bzw. von Gemeinschaft (3.), x der Graduation von der Ablehnung bis hin zur Akzeptanz äußerer Umstände wie auch innerer Befindlichkeiten (4.).
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Eine Gegenprobe zeigt, dass das Sprechen in der Kollektivform ‚wir’ lediglich in Sequenz 39 vorliegt und eine im Passiv formulierte Aussage in Sequenz 32 ebenso vereinzelt erfolgt.
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Filmanalyse I: „Ich war das perfekte Kind“
Die Aussagetypen, der sich Silvia vornehmlich im Tagebuchschreiben bedient, fallen ebenfalls in vier Kategorien: x Negationen – „Eigentlich wollte ich gar nicht auf die Welt kommen“; „Unter meinen Füßen spüre ich den Boden eurer Zivilisation. Nein, das ist nicht meine Welt“ etc. (1.) x Fragen – „Warum? Wofür? Weshalb? Bin etwas durcheinander… Eigentlich weiß ich gar nichts“ etc. (2.) x Widersprüche – „Ich bin auf einer Suche und weiß nicht wohin ich treibe“ etc. (3.) x Aussagen im Konjunktiv – „Aus dir hätte einmal soviel werden können“ etc. (4.) Ein Abgleich der Kombination von Aussageinhalten und Aussagetypen zeigt nun ein unregelmäßiges Muster: Die Negation als Aussagetypus dominiert zwar gegenüber der Frage, dem Widerspruch und dem Konjunktiv, jedoch werden Ressourcen gleichermaßen negiert, infrage gestellt, als widersprüchlich weil ungenutzt dargestellt und schließlich als potenzielles Mittel zur sozialen Anerkennung erkannt. Das Entscheidende in der filmischen Wirkung der Ich-Aussagen ist also nicht darin zu sehen, dass eine bestimmte Passung zwischen Inhalts- und Formkategorie erkennbar wird – z.B. die eigenen Befindlichkeiten immer abgelehnt oder Ressourcen immer infrage gestellt würden, – sondern dass die Aussagetypen gekoppelt an diese elementaren Gewissheiten über sich selbst in hohem Maße Umkehrungen erlauben. Alle vier Aussagetypen zeichnen sich dadurch aus, dass sie der Erzählerin Umkehrungen im Denken erlauben: Die Aufgabe des Widerspruchs ist es, Unvereinbares in einen vereinenden Bezug zu bringen; „Fragen kann man doch!“ – das Potenzial der Frage liegt in ihrer unverfänglichen Möglichkeit zur Neugierde. Die Negation ist insofern speziell, als dass sie im Unterschied zur bejahenden Aussage, den Akt der Verneinung betont. Der Konjunktiv verändert die Basis, auf der ein Aussageinhalt gründet, vollkommen. Bezogen auf die Ausgangsfrage, welche Art von Aussagen die Protagonistin trifft und welche Welterfahrungen sich darin zeigen, kann deshalb festgestellt werden, dass Silvias Erfahrungen ihr Freiräume im flexiblen Denken einräumen. Mit Mannheim gesprochen drückt sich darin eine Kompetenz zur „Lebensdistanzierung“ aus, „die es den Menschen gestattet, mit den Anforderungen der Modernisierung selbstbewusst umzugehen“ (Lüscher/Liegle 2003: 247). Lebensdistanzierung als Voraussetzung eines reflexiven Selbstbewusstseins meint nun: „Man erlebt sich selbst als ein Etwas, das auch anders sein könnte (...) Das bedeutet: Man nimmt die Variabilität des Verhältnisses seiner selbst in das Erlebnis mit hinein. Es wird nicht mehr gesucht, sondern erlebt. Man erlebt, indem man bei jedem Akt der Freundschaft die Möglichkeit der Andersgestaltung der
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Freundschaft mit hinein nimmt. (...) Lebensdistanzierung geht einher mit dem Reflexiv-Werden von Gesellschaft“ (ebd.: 248). In den Tagebucherzählungen bringt Silvia demnach ein hohes Maß an Lebensdistanzierung zum Ausdruck. Inwiefern die filmische Erzählung es der Figur Silvia zugesteht, sich als Selbst, „das auch anders sein könnte“ zu erleben, wird im folgenden Abschnitt betrachtet. 5.5.2 Protagonistinnenerzählung: „Erzähle dich selbst“ Silvias Tagebuch-Erzählung hat einen besonderen Stellenwert innerhalb des Films. Nicht allein durch das Diktum der Geheimhaltung des Tagebuchschreibens, das der Film bricht. Wir können darauf schließen, dass die Gedanken der Protagonistin zunächst einmal keinem anderen Publikum als ihr selbst gewidmet sind, denn in einer der ersten Interviewaussagen legt Silvia unmissverständlich ihrer Mutter zur Last, „sogar mein Tagebuch gelesen [zu haben], teilweise“ – aus Silvias Sicht ein Indiz dafür, dass die Eltern ihr erstens kein Vertrauen entgegenbringen und sich demzufolge zweitens ihr gegenüber kontrollierend verhalten (s.o.). Noch ein zweiter Grund macht den besonderen Stellenwert der Tagebuchaufzeichnungen aus. Der Film weist ihnen den Status von Quell-Dokumenten zu. Sie sind also nicht durch den Film veranlasst und erfüllen einen Zweck, der außerhalb der filmischen Erzählung liegt. Diesen Zweck muss der Film verdeutlichen, also klären, warum und für was sie Dokumente sind. Die Frage nach dem filmexternen Zweck der Tagebucherzählung soll im Folgenden vertieft und dann auf ihr Erscheinungsbild im Film bezogen werden. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die philosophischen Überlegungen von Thomä zur Bedeutung der autobiographischen Erzählung für den Lebensvollzug. Die Abhandlung des Autors geht im Vorfeld von zwei sich widerstreitenden Ansprüchen der Selbsterzählung aus: „zu erfahren, wie ich bin, und zu entwerfen, worauf es bei mir ankommt“ (Thomä 1998: 15). Sich selbst zu erzählen trägt demnach zur Selbsterkenntnis bei, jedoch nicht in einem Fakten schürfenden, nach Wahrheit suchenden, sondern einem assoziativen Verständnis (vgl. ebd.: 13). Erzählung ist hier weit gefasst, nicht literaturwissenschaftlich bestimmt und beinhaltet in Thomäs Auffassung eine situationsspezifische sprachliche Gestaltung des eigenen Lebens, die den Handlungsvollzügen folgt oder vorausgeht und somit rekonstruiert oder entwirft, was lebbar ist (vgl. ebd. 238). „Die Zuwendung zum eigenen Leben ist nicht Selbstzweck, sondern steht im Dienst eines weltbezogenen Lebensvollzugs“ (ebd.: 255). Erzählen ist insofern Bestandteil und da-
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her bedeutungsvoll für den Alltag, als dass der Autor im Erzählen eine unmittelbar wirkende Selbsthilfe zum Leben erkennt. Man könnte auch sagen eine Bewältigungsstrategie, da sein Konzept von der Krise ausgeht (vgl. ebd.: 252): Nicht die „bornierte“ erzählende Fortschreibung eines kohärenten Verlaufs interessiert ihn, sondern der chaotische Zustand, in dem Fortsetzung als bedrückend und falsch empfunden wird – in der Krise. Borniert ist eine Erzählung dann, wenn immer nur ein logisch nächster Schritt eine einzige Lebenserzählung folgerichtig fortführen kann (vgl. ebd.: 248). Demgegenüber gewinnt eine Erzählung an Komplexität, wenn darin „ästhetische Kompetenz“ als Variationsbreite zum Ausdruck kommt (vgl. ebd.). Nicht gemeint ist damit, dass sich die Erzählung durch ästhetische Kompetenz der Differenziertheit des Lebens anpassen könnte: „Gerade indem die Erzählung, ästhetisch aufgewertet, lebensähnlicher zu werden vorgibt, entfernt sie sich von dem Leben, das jetzt, so oder so, zu führen ist; (...). Sie entfaltet ihre Wirkung nicht aufgrund ihrer Identität mit dem Leben, sondern aufgrund ihrer Differenz zu ihm“ (ebd.). Thomä nennt dies an anderer Stelle mit Bezug auf die ErzählerIn ein exzentrisches Verhältnis, das sie zur Erzählung einnimmt. Ein wesentliches Ergebnis seiner Abhandlung ist also darin zusehen, dass im ‚nichtbornierten’ Erzählen ein größtmöglicher Abstand zum Lebenszusammenhang, der ja gerade in der Erzählung verarbeitet wird, entsteht und die ErzählerIn sich exzentrisch (d.h. abständig zum Selbst) zur Erzählung ins Verhältnis setzt. Worin liegt nun der Nutzen einer exzentrisch motivierten Erzählung für das eigene Leben? Thomäs Ziel ist es, eine Beschreibung dessen zu geben, „wie jemand, der mit sich selbst auszukommen sucht, sich der Erzählung bedient“ (ebd.: 236). Er trachtet hier nach einem Nutzen, der jenseits des Biographie-Schreibens liegt (vgl. ebd. 259) und gerade nicht in der formalen Bestätigung des Lebenslaufs einer Person besteht.121 Im Mittelpunkt steht vielmehr das Verhältnis, das jemand zu sich selbst hat. In diesem Zusammenhang interessiert ihn Benjamins Theorie über die Erzählung. Diese stützt sich im Wesentlichen auf zwei Voraussetzungen bzw. vorausgesetzte Offenheiten der Erzählung: Im Unterschied zur Information liege die Qualität der Erzählung darin, „daß sie das Geschilderte ausdeutbar hält“ und nicht eine „unmittelbar nutzbare Information“ geliefert wird (ebd.: 229). Darüber hinaus ‚verkettet’ sich die Erzählung nicht wie der Roman in die Historizität der Ereignisse, sondern ermöglicht, „alles, was von einem Leben erzählt wird, in ei121
Thomä nimmt mit seinem Ansatz eine Gegenposition zu jenen Ansätzen ein, die eine enge Verbindung zwischen Erzählung und Lebensgeschichte behaupten, erkennt in solchen überzogene Geltungsansprüche und betont demgegenüber Fragmentierung anstatt Kohärenz in Bezug auf das eigene Leben, wie es der Erzählung überhaupt nur zugänglich werden kann (vgl. ebd.: 159ff).
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nem anderen Kontext brauchbar zu machen“ (ebd.: 230), der Erzähler müsse es aufgreifbar machen. Benjamins Ansatz ist als Kritik zu verstehen und wendet sich als Protest gegen eine zeitliche Festlegung des Lebenslaufs. Er stellt demgegenüber die Möglichkeit in Aussicht, einen neuartigen „Dialog mit der Vergangenheit, in dem die trennende Macht der Zeit gebrochen ist“, einzugehen. „Darin gibt der Erzähler, ausgehend von der gegenwärtigen Situation, das Bedürfnis nach der Einbeziehung anderer Erfahrungen zu erkennen – und auch seine Vergangenheit begegnet ihm als ein ‚anderes seiner selbst’“ (ebd.: 235). Benjamin ist für Thomäs Vorhaben deshalb interessant, weil hier die Erzählung einen eindeutigen Nutzen erfüllt: sie spendet Rat. Dem autobiographischen Erzähler ginge es um einen assoziativen Umgang mit seiner Vergangenheit, weil er darin ausgehend von seiner aktuellen Situation Rat sucht (vgl. ebd.). „In der Konsequenz der assoziativen Beziehung zu sich selbst, die Benjamin skizziert, liegt eine Umdeutung der Identität, des Selbst, das als von der Erzählung zu bringende Leistung suspekt geworden ist (...) Er beschreibt eine Dezentrierung des ‚Ich’, der Instanz, die auf selbstverständliche Weise den Alltag steuert; (...) Das Extrem dieses Sich-selbst-Aussetzens bilden Erfahrungen, in denen man aus jener Gewohnheit herausgerissen wird, ‚seltne’ Bilder, in deren Mittelpunkt dann doch ‚stets wir selbst’ stehen“ (ebd.).
Wesentlich für eine praktische Beziehung zu sich selbst, die sich in der Erzählung realisiert, ist also der Spielraum, den die ErzählerIn zu einem passageren Selbst gewinnt und der Plattform ist für interne Interaktion (vgl. ebd.: 167). Der Autor betrachtet „das Empfinden und Beurteilen seiner selbst, die Distanz, in der man sich zu sich selbst verhält, als Sonderfall der Interaktion“ (ebd.: 168). Weiter hält er – mit Bezug auf Honneths Formen sozialer Anerkennung – die aus Liebe und Freundschaft hervorgehenden Interaktionen kennzeichnend für die Selbstbeziehung, die die Erzählung kenntlich macht. Thomä kommt so auf das Konzept der Selbstliebe, das er als Möglichkeit einer „Überbietung des Gegebenen“ (ebd.: 171) und somit einer Überbietung des alltäglichen Selbst im Modus der Erzählung entwirft. Um nun zu zeigen, wie dieses Konzept der Selbsterzählung mit der hier vorliegenden Form der Inszenierung von Tagebucherzählungen zusammenhängt, soll auf eine doppelte Metapher zurückgegriffen werden, die Thomä einleitend verwendet und die besonders gut zu dem hier vorliegenden Filmbeispiel passt: Die Selbsterzählung kann einerseits mit dem Anliegen, „auf eigenen Füßen zu stehen“ und andererseits mit dem Wunsch, „festen Boden unter den Füßen zu spüren“, umrissen werden (ebd.: 15). Nach Thomä bilden die gegenläufigen Bedürfnisse keinen Widerspruch, da sie situationsabhängig empfunden werden (vgl. ebd.: 259). Die Protagonistin Silvia bringt ihre autobiographisch erzählten Freiheitsgefühle nun passagenweise in der Skala von ‚auf eigenen Füßen zu stehen’ bis zu ‚festen
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Boden unter den Füßen zu gewinnen’ zum Ausdruck. Die darin auszumachende Beziehung zu sich selbst variiert dementsprechend. Ausgehend vom Inhalt der Passagen werden darin mehrere Typen von Aussagen kenntlich: Es sind Fragen, die sie sich stellt, es sind Widersprüche, auf die sie sich aufmerksam macht und es sind Aussagen im Konjunktiv, die sie sich im Spiegel vorhält – zusammengenommen also Formen der Distanzierungen vom eigenen Leben, die das AlltagsSelbst, das unmittelbar involviert ist, nicht vornimmt. Wie das Brecheisen innerhalb von Sequenz 21122 verschafft nun auch die Tagebucherzählung der Protagonistin Zugang zu ihren eigenen Erlebensformen, indem sie sie aus der Distanz betrachten kann. Darauf kommt es schließlich auch an, wie Thomä in seinen Schlussfolgerungen deutlich macht: „Man greift zurück auf die Erzählung in einer bestimmten Situation, die nach ‚Weiterung’ verlangt: diese ‚Weiterung’ kann entweder negativ erforderlich sein, um einer aktuellen Irritation oder Komplikation beizukommen oder sie kann positiv dem Ausdehnen, Auskosten von Erfahrungen dienen“ (ebd.: 254f). Die filmische Erzählung verdeutlicht diese Prozesse durch die Funktion, die das Tagebucherzählen übernimmt. Unklar ist, aus wie vielen Tagebucheintragungen der Film eine Auswahl treffen konnte und in welcher Logik eine Zusammenstellung erfolgte. Deshalb kann es hier auch ausschließlich darum gehen, diese getroffene Selektion in ihrer Abfolge als filmisches Gestaltungselement zu begreifen. Die Integration der Tagebucherzählungen in den filmischen Gesamtaufbau erfolgt in Form eines steten Neuansetzens, Justierens und veränderten Bezugnehmens und weist in diesem Fall auf die Bearbeitung einer Krise hin. Das assoziative Verhältnis zu sich selbst in seiner – nach Benjamin – ratgebenden Funktion implementiert der Film also in erster Linie durch die Art, wie die Tagebucherzählungen eingefügt sind: als zweite Ebene der Erzählung und als wiederkehrende Motive, die immer neuen Belangen und krisenhaften Fragestellungen Terrain verschaffen – die Aspekte des Themas werden dadurch breit gehalten. Einzelne Passagen sind als Fragmente in die Gesamterzählung eingebunden und stellen darin weit mehr als die ProtagonistInnenerzählung es kann prägnante Zuspitzungen dar. Die z.T. sehr kurzen Passagen – und das ist entscheidend – sind jeweils verknüpft mit situativen Eindrücken, so dass es nicht nur der Text ist, der aus sich selbst heraus spricht, sondern das Zusammenwirken von konkreten Orten, einer konkreten Figur und einer konkreten Stimme, die den Text vorträgt und zu einer ästhetischen Aufwertung beiträgt. Dabei sucht die Visualisierung eine enge Verbindung zum Text, schafft Objektivierungen, gibt den Gedanken Anschauung – 122
Hier brechen die Protagonistin und eine Freundin die Tür zu einem leerstehenden, baufälligen Haus auf.
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sowohl den konkreten wie auch den abstrakten Begriffen.123 Sie verstärkt mit dieser Identifizierung von Idee und Selbstausdruck, den Eindruck, eine Wahrheit über sich selbst zum Ausdruck zu bringen (vgl. ebd.: 245). Wie wir allerdings aus dem ersten Teil wissen, kann es sich dabei auch um Trugbilder (von Silvias Ausreißen mit dem Stofftier am Rucksack) handeln. Im Besonderen leistet der Film also – neben der Einführung einer eigenständigen Erzählebene – Unterstützung für diese Lesart des Tagebuchschreibens, indem er eine eigenständige Figur dafür einsetzt. Die mit Thomä als Exzentrizität verstehbare Distanz der Selbsterzählung zur Lebensgeschichte wird in aller Deutlichkeit fortgeführt und weitergetrieben, indem die filmische Erzählung der Protagonistin ein literarisches Alter Ego als zweite Figur zur Seite stellt. Diese zweite Figur – und nur sie – sucht der Kamerablick in zumeist nahen Einstellungsgrößen oder in Fluchtperspektiven, wie sie sich wegbewegt. Obwohl es natürlich in beiden Fällen Silvia ist, die fotografiert wurde, liegt doch ein Unterschied vor: Im Bereich der Tagebucherzählung spielt sie sich selbst und zwar nicht wie eine Protagonistin, sondern wie eine Schauspielerin es tut. Es sind illusionäre Ansichten von Silvia, die visuell das Hauptmotiv ihrer Suche nachvollziehen: die Suche nach sich selbst, die auf kritische Betrachtung und Bilanz angewiesen ist. Anders formuliert: Silvia betrachtet sich selbst, indem sie per Tagebucherzählung eine neue Figur ihrer selbst entwirft – in der Haltung der Selbstliebe kann man mit Thomä ergänzen, auf produktive Weise. Der Film liefert, um uns das verständlich zu machen, ebenso illusionistische Ansichten von Silvia. Die Kamera ist dabei fixiert auf das Gesicht der Jugendlichen und schafft der Modefotografie ähnliche Inszenierungen. Eine Rolle spielt bei diesem ‚Zur-Schau-Tragen’ auch die Varianz im Aussehen des Alter Egos, das wechselt und uns dadurch den Facettenreichtum der Ideen über sich selbst verdeutlicht. 5.5.3 Die Befindlichkeiten des Selbst als konjunktiver Erfahrungsraum Fassen wir einmal zusammen, was wir in diesem dokumentarischen Film nicht sehen: Wir sehen nicht die Entwicklung eines Mädchens zur jungen Frau in einer geschlechtertypisierenden Perspektive. Das heißt, ein Vergleichsrahmen, durch den die Zuschreibung mädchenspezifischer Bedürfnis- und Verhaltensdispositionen im Gegensatz zu jungenspezifischen möglich wäre, wird nicht aufgetan. Deswegen spielt es auch keine Rolle, dass Silvias Reise noch mehr aus dem Rahmen typischer Sozialisationsbedingungen fällt, als wenn sie ein Junge unternommen hätte. Auch wird die Tatsache des Tagebuchschreibens nicht als eher 123
Mit Ausnahme von Sequenz 22 wurde für alle Textpassagen eine sozialräumliche Kulisse geschaffen.
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mädchenspezifisch pointiert. Normalität oder Besonderheit werden hinsichtlich dieses Aspekts des Seins nicht behauptet; dies höchstwahrscheinlich aus einem Grund, der sich bisher schon mehrfach bestätigt hat: In die Inszenierung der Selbstthematisierungen durch Silvia und ihren Vater wird nichts hineingetragen, was nicht schon darin angelegt wäre. Die Metakonstruktion des Films nimmt diese zwei Pole strikt zum Ausgangspunkt. Erstens den Erlebnisgehalt des Vaters, der als emotionaler Pol definiert ist. Und zweitens den selbstbilanzierenden Pol, der mit der Verarbeitung der explorierenden Suchbewegung von Silvia verbunden ist. Der zweite erlangt gegenüber dem ersten Pol mehr Gewicht, weil er durch eine räumliche wie auch temporale Darstellung unterstützt ist. Jedoch erlangen wir – obwohl in den Aussagen von Silvia wie auch ihrem Vater durchaus thematisiert – nur in Ansätzen einen Einblick in das jugendkulturelle Milieu der Punks. Hier lässt der Film weg, was er als Potenzial ausbauen könnte. Silvias Geschichte ist eigenwillig erzählt, indem wesentliche Beurteilungen und Entscheidungen individuell von der Protagonistin getroffen werden. Der Zusammenhang zur Punk-Community ist ein loser, ein Rahmen, auf den sich die filmische Darstellung vermutlich aus strategischen Gründen nicht festlegen kann, weil sich die Protagonistin schließlich auch wieder davon distanziert und die Oberflächlichkeit eines politischen Bewusstseins als reine Lifestyle-Attitüde kritisiert. Also auch in diesem Aspekt folgt der Film strikt dem Werturteil der Protagonistin: Das Punker-Milieu in seiner Öffentlichkeitswirksamkeit wird wenig differenziert und klischeehaft auf zwei knappe collagierte Schnittfolgen zusammengefasst. Schließlich sehen wir auch kein Familienleben, obwohl die Familienmitglieder alle ihre Rolle spielen. Dies liegt vor allem daran, dass für die Familie keine Gegenwart geschaffen wird, weil die Zeitbezüge zu weitläufig gestreut sind, als dass daraus ein alltäglicher Umgang miteinander vorstellbar wäre. Am meisten scheint noch die Kindheit von Silvia an Kontur zu gewinnen, wenn ihre Erzählungen dieser Zeit und die Fotos zu einem Typus perfekter Kindheit zusammenwirken, die schließlich im Filmtitel zum Ausdruck gebracht ist. Dass die Familie Probleme hat, wird spätestens mit dem Wunsch des Vaters offenkundig, über alles, was im Argen liegt, einmal zu reden. Auch für diese unausgesprochenen Problematiken findet der Film keine Entsprechung, weil wir nicht begreifen können, wie die Figuren sich zueinander in einem konkreten Kontext verhalten. Worauf will diese Auflistung des Nichtgezeigten nun hinaus? Sie bereitet die Frage nach einem möglichen konjunktiven Erfahrungsraum vor, der die Protagonistin als Wissende ausweisen würde. Aus welcher Art von Erfahrung speist sich nun ihr Wissen, das sie primär über habituelle Komponenten zu verstehen gibt? Und vor allem: Welcher Erfahrungsgemeinschaft, wenn nicht der der Familie, wenn nicht der der Punk-Community, wenn nicht der, als Mäd-
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chen aufgewachsen zu sein, verpflichtete sich dieses Wissen? Und schließlich: welche Kollektivbiographie steht dahinter? Im Gemenge dieser Fragen scheint eine Antwort schwierig. Möglicherweise erzeugt der Film kein konjunktives Wissen in dem Sinne, wie es in Kapitel 3.4.2 konzeptionell erarbeitet wurde. Dem kann jedoch der stete Eindruck entgegengehalten werden, dass Silvias Geschichte zwar individuell erzählt, dramatisiert durch die paradoxe Zerrissenheit einer ‚guten’ Familie, außergewöhnlich ist, deswegen aber keineswegs auf sich selbst beschränkt bleibt. Sie weist über sich hinaus, verallgemeinert jedoch nicht das deviante Moment in Silvias Unternehmen – dazu müssten andere Stimmen hinzugenommen werden und die Metapher der Reise als Selbstprojekt nicht so weitgehend beansprucht werden wie im Film geschehen –, sie verallgemeinert vielmehr das Experiment selbst. Um diese Interpretation zu stützen, muss zunächst mithilfe der Ergebnisse der Analyse des filmischen Raums geklärt werden, auf welche habituellen Komponenten sich der Film in seiner Darstellung jener Suchbewegung als Reise konzentriert. Oder anders ausgedrückt: Was macht Silvia an den Orten, mit denen sie filmisch in Verbindung gebracht wird? Sie befindet sich nicht in Interaktion, sondern ist „allein mit (m)einem Stift“, sie sucht Rückzug vor gesellschaftlichen Zumutungen, denen sie sich erwehren will, sie denkt über ihre Existenz nach und schreibt in ihr Tagebuch, sie schreibt über das, was sie ablehnt, was sich ihr als Frage oder Widerspruch aufdrängt und über ihr Selbst im Konjunktiv. Warum verstehen wir das als Zuschauende ohne weitergehende Erklärung? Weil es im Kern eine typische Erfahrung der Jugendzeit ist, die sämtliche Ungewissheiten der Gegenwart wie auch der Zukunft bewältigen muss. Silvias Erfahrungen – obwohl es extreme Erfahrungen sozialer Desintegration sind – sind strukturidentisch mit gewöhnlichen Erfahrungen des Jugendalters. Den Befindlichkeiten eines adoleszenten Selbst sind habituelle Komponenten zuzurechnen, die im Rückzug, in der darstellenden vorläufigen Skizze, im Anprangern gesellschaftlicher Zustände und in der Ablehnung deren Übertragung auf das eigene Leben bestehen. Mit Böhnischs Bewältigungsansatz kann das konjunktive Wissen als Erfahrung, die aus „biographischer Integritätsarbeit“ (Böhnisch 2001b: 140) entsteht, begriffen werden. Mit Bezug auf Zukunft heißt das, Jugend befindet sich in einem „diffusen Wartestand“ (ebd.), der darauf ausgerichtet ist zu überprüfen, ob die akkumulierten Selbstressourcen in Zukunftsfähigkeit eingelöst werden können. Mit Bezug auf Gegenwart heißt das, Jugend muss in Eigenregie konstituiert werden und Heranwachsende sind daher mit der Anforderung konfrontiert, sich auf „die Suche nach Jugend als lebbarer Gegenwart“ (ebd.: 141) zu begeben. Nichts anderes thematisiert der Film anhand des Wissens der Protagonistin. Er präsentiert in Form einer exzeptionellen Rahmung (Ausreißen von zuhause, Straßen-
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Filmanalyse I: „Ich war das perfekte Kind“
kindheit, Punk-Community) die Normalität der Bewältigungsaufgaben in den Dimensionen sozialer Integration und individueller Handlungsfähigkeit. Böhnisch nimmt an, dass eine Auswirkung von Jugend als einem individuellen Risikoprojekt darin besteht, dass „der lebensaltertypische Überschuss von Widerständigkeit und rücksichtsloser Gestaltungsphantasie der Jugend“ (ebd.: 140) gewissermaßen zum lebenspraktischen Luxus gerät, weil der Zwang zur Biographisierung eine Kosten-Nutzen bedachte Selbstentwicklung einfordert. Anders in „Ich war das perfekte Kind". Der Film baut beide Komponenten aus: egozentrierte Kalkulation auf der einen Seite und der Willen zum Boykott und zum gesellschaftlichen Gegenentwurf elementarer Werte auf der anderen. Die Gelegenheit dazu bietet die Protagonistin, weil sie sich diesen Luxus leisten kann, weil sie in ausreichendem Maße über Selbstressourcen verfügt und ausgehend von biographischen Brüchen neue Weichen stellen kann. Sie bleibt nicht auf bestimmte (Selbst-)Gestaltungsformen festgelegt. An diesem Gelingen biographischer Integritätsarbeit orientiert sich die filmische Erzählung, nicht an dem, was dabei schief geht. 5.6 Schlussüberlegungen zum Zusammenhang von Bildung und Bewältigung In diesem Filmbeispiel geht es um soziale Integration, das Verhältnis von Ich und Welt, darum, wie sich ein Mädchen zur jungen Frau entwickelt und darin von einem subjektiv unpassend erscheinenden zu einem tragfähigen Lebensentwurf kommt. In dieser Suchbewegung zeigt sie Risikoverhalten. Typische Themenstellungen für Heranwachsende also, die im Korsett einer Geschichte erzählt werden, die schon in der Bibel vorkommt. Aber es ist keine postmoderne Interpretation des verlorenen Sohns, weil weder der Erfolg in der Fremde, noch die versöhnliche Haltung des Vaters und auch nicht die Idee von Gerechtigkeit zu einer moralischen Beurteilung von Silvias Unternehmen herangezogen werden. Der Film reflektiert die innere Wandlung von Silvia anhand ihrer Tagebuchaufzeichnungen, die nachvollziehbar machen, wie die Protagonistin ihr Leben an selbstgewählten moralischen Standards auszurichten versucht. Unterstützt wird sie darin durch Angebote der Sozialen Arbeit, die es der Protagonistin ermöglichen, ihren Vorstellungen eine annähernd adäquate Praxis zu geben. Der Film hat ein leichtes Spiel, könnte man meinen, da die relevanten Selbstthematisierungen der Protagonistin bereits in Form von Tagebuch-Beschreibungen vorliegen. Ein sekundärer Akt der Bearbeitung durch ihre Sprecherin Nina Hoss trägt zur Veredelung der ‚Ready mades’ bei. Interessant ist allerdings, dass er in seinem sequenziellen Aufbau in Bezug auf diese Tagebuchein-
5.6 Schlussüberlegungen zum Zusammenhang von Bildung und Bewältigung
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tragungen in Kombination mit den eingeschobenen ProtagonistInnenerzählungen eine Klangfolge konstruiert, die der Jugendforschung nicht fremd ist und insofern eine Kompetenz für die jugendpädagogische Beurteilung der Situation erkennen lässt. Böhnisch weist darauf hin, dass Jugendliche auf sie zukommende soziale Probleme in der Logik ihrer Entwicklungsphase bewältigen, die der Jugendforscher als „Zustand der Schwebe“ markiert. Kennzeichnend dafür ist, dass bestimmte Gewissheiten wie auch Konventionalismus noch fehlen (vgl. Böhnisch 2001a: 1998). „Sie sind nach außen – im Umgang mit neuen Dingen, in der Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Alten und in den Formen ihrer Abgrenzung von der Erwachsenkultur – selbstständig und selbstbewusst, aber sie leben dazwischen, sind noch nicht fertig und haben noch lange nicht ihren Platz in der Gesellschaft gefunden“ (ebd.). Wörtlich entspricht dies dem zermürbenden Problem, das Silvia in ihr Tagebuch einträgt. Silvia: „Und eigentlich bin ich total tief traurig ohne wirklichen Anlass, nur so, weil ich meinen Platz noch nicht gefunden habe, meinen Auftrag noch nicht kenne und einfach mal heimkommen will, nicht mehr wandern“.
Die konflikthafte Besonderheit von Silvias Ausreißen wird im Rahmen eines lebensaltertypischen Lern- und Bewältigungsmodells konstruiert und dadurch verallgemeinert. Dabei ist interessant, dass der Film die Typik dieser Jugend in einer dynamischen Struktur rekonstruiert. Der filmische Aufbau setzt gerade die Dyade von jugendlicher Bedürftigkeit und übersteigerter Selbstwirksamkeitseinschätzungen, in der sich Silvias Entwicklung abspielt, fort. Inhaltlich betrachtet ist die Stringenz zwischen Aussagen, die von Gewissheit geprägt sind und solchen, die erschütternde Selbstzweifel ausdrücken, auffallend. Vor allem über das filmische Mittel der Parallelmontage werden die inneren Entscheidungsprozesse, die Eckpunkte ihrer Selbstveränderung sind, herausgehoben. Der Zusammenhang, der über Parallelmontagen geschaffen wird, ist immer ein ähnlicher.124 Inhaltlich geht es um die Entscheidungen ‚Bleiben oder Gehen’, bzw. ‚Wegbleiben oder Zurückkommen’. Anstatt die besonderen Ereignisse der (doch eher) außergewöhnlichen Jugendbiographie zu fokussieren, setzt die Dokumentation auf die ‚inneren Erlebnisse’ der Protagonistin. Durch diesen filmisch intendierten Subjektbezug ent124
Sie wird in drei Passagen verwendet. Erstens im Kontext der Suche der Eltern nach ihrer Tochter, zweitens im Kontext des Praktikums von Silvia und drittens in der Vorbereitung des filmischen Höhepunkts, Silvias Heimkommen. Während des ersten Einsatzes werden in einer räumlichen Perspektive Bahnhof und Wohnstube der Eltern kombiniert; im zweiten Fall sind es die Einrichtungsräume der Kinderzirkusschule und der Bahnhof; im dritten Fall sind es das Elternhauses, der Bahnhof und der öffentliche städtische Platz.
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Filmanalyse I: „Ich war das perfekte Kind“
steht eine auffallende Gratwanderung zwischen existenzieller Not und einem gleichzeitigen Zugewinn an Entscheidungssouveränität. Der Film zeigt Bewältigungskonstellationen, die in konkreten Alltagsverhältnissen liegen, die aber dann unmittelbar in Bildungsprozesse übergehen. In dieser Form der Konstruktion „kann das Eingeständnis des eigenen Scheiterns noch Ausdruck von Bildung sein“ (Winkler 2001: 179). Hinweisgebend dafür sind die im Erzählfluss „expressionistisch“ hervorgehobenen „Aneignungen“, „Objektivierungen“ und „Distanzierungen“ der Protagonistin. Nach Winkler sind damit Übergangsmomente vom Lernen in pädagogischen Situationen zur Selbstreflexivität und „gebildeten Subjektivität“ bezeichnet (vgl. ebd.). Aneignung bedeutet, im Erschließen von ‚Welt’ und in den dadurch entstehenden Bezügen zwischen Ich und Welt, den eigenen Stellenwert reflektieren und verändern zu können. Objektivierung meint, dass ich für mein Tun in der mir eigenen Weise soziale Resonanz erlangte. Distanzierung heißt, als Subjekt neben sich zu treten und Gewissheiten kurzzeitig fremd erscheinen zu lassen (vgl. ebd.: 178f). Wie bereits gezeigt spielen alle drei Momente in den Darstellungsweisen des Films eine Rolle. Man kann auch sagen, der Film selbst stellt eine Objektivierung von Silvias innerer Veränderung dar bzw. gibt ihrer Gedankenwelt soziale Resonanz. Er klinkt sich damit selbst funktional in das Skizzenbuch der Protagonistin ein. Dieses Darstellungskonzept hängt einer Idee der Selbstfindung an, die wahrscheinlich für einen Großteil aller Straßenkinder nicht zutrifft, da ihnen schlicht die Ressourcen, d.h. Zugänge und Unterstützungen dafür fehlen und sie eben keine „perfekte Kindheit“ als Grundlage haben. Die utopische Selbstüberschreitung, die der Protagonistin (gerade auch durch ihre positiven Voraussetzungen) mehrfach gelingt, erstens zu erkennen und zweitens in den Mittelpunkt der Erzählung zu stellen und dafür Bilder zu finden, ist die Kernleistung dieses Films.
6 Filmanalyse II: „Schule des Lebens“
Filmdaten Autorin Petra Mäussnest Redaktion ZDF Das kleine Fernsehspiel, Claudia Tronnier Filmlänge 103 min. Erstausstrahlung 21. November 2005, ZDF 6.1 Beschreibung des Inhalts im Rahmen seiner Formalstruktur 6.1.1 Inhaltlicher Überblick ‚Schule des Lebens’ zu sein nimmt die Schule für Erziehungshilfe Trossingen für sich in Anspruch. Sven Grupp, 16 Jahre alt, besucht die Hauptschulabschlussklasse. Seine Zwillingsschwester Sarah Grupp und ihr Freund Simeon gehen auf die Gotthilf-Vollert-Schule Tuttlingen, der die Trossinger Schule angegliedert ist. Auch für sie steht der Hauptschulabschluss in der Sonderschulform an. Im zweiten Schulhalbjahr, in der Fasnachtszeit steigt die filmische Erzählung ein und zeigt die drei Jugendlichen, wie sie mit ihren jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen auf diese Hürde in ihrer schulischen Laufbahn zusteuern. Simeons Familienname wird im Film nicht genannt. Die Zeit im Elternhaus nahm für ihn im Alter von elf Jahren ein abruptes Ende, als er, übersäht mit Hämatomen, aus der Familie genommen und in einem Heim untergebracht wurde. Die Misshandlungen durch den Vater haben für den Jungen weitere Spuren hinterlassen. Getrieben von Gewaltphantasien entwickelt er sich zum Schläger, bedroht Schüler auf dem Schulhof mit dem Messer, worauf er von der Realschule fliegt, verprügelt jüngere Heimkinder und wird schließlich im Zuge einer intensivpädagogischen Maßnahme für einige Zeit nach Südafrika geschickt. Diese biographischen Hintergründe erfahren wir allerdings erst in der zweiten Hälfte des Films. In der filmischen Gegenwart geht es um noch immer die gleichen Veränderungsnotwendigkeiten in seinem Leben: Die Schule soll erneut gewechselt werden, dieses Mal jedoch nach einem zu erwartenden guten Hauptschulabschluss auf die Werkrealschule. Eine Ausbildung wäre Simeon lieber, doch hat
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Filmanalyse II: „Schule des Lebens“
er sich nicht ernsthaft darum bemüht. Um das Jugendamt zu ärgern, könne er schließlich ja auch Medizin studieren wollen, scherzt er mit Frau Grupp, Sarahs und Svens Mutter. Eine zweite notwendige Veränderung betrifft seine Wohnsituation. Das Verhältnis zwischen Simeon und dem Betreuungspersonal seines derzeitigen Heims ist vertrackt. Simeon fühlt sich nicht zuletzt deshalb unwohl, weil das Heim ihm nicht mehr die Chance einräumt, sich im Fall von Fehlverhalten zu rehabilitieren. Ein erstes Gespräch für einen Umzug ins betreute Wohnen wird geführt. Die Bezugspersonen aus der Schule und dem Jugendhilfesystem bringen ihm für beide Veränderungen das notwendige Zutrauen entgegen. Manchmal, zumeist an den Wochenenden, ist ihm Familie Grupp Ersatzfamilie, aber nur dann, wenn Sarah nicht mit ihm in Streit gerät. Die gegenseitige Zuneigung der beiden ist offensichtlich. Sie haben im Vollrausch zueinander gefunden, als Sarah den Krankenwagen verständigt hat und beide daraufhin mit Alkoholvergiftung ins Krankenhaus kamen. Seitdem kümmern sie sich in den kleinen Dingen des Lebens umeinander. Beziehungen zu führen, die den üblichen Konventionen entsprechen, ist für die Jugendlichen nicht ohne weiteres möglich. Ob sie ein Liebespaar sind lassen Sarah und Simeon offen, wenn sie darauf angesprochen werden. Sarah lebt im Unterschied zu Simeon in einer großen Familie. Sie hat sieben Geschwister, Vater und Mutter. Die innerfamiliären Beziehungen sind problematisch, besonders zur Mutter. Ihr Suchtberater kommentiert ein Telefonat zwischen Mutter und Tochter so, dass nicht klar sei „wer jetzt die Mutter und wer die Tochter ist“. Weil für Sarah die Unfähigkeiten der Mutter eher im Mittelpunkt stehen als ihre eigene Lebensführung und sie die Krisen, die immer wieder kommen, mit Alkohol und dem kurzzeitigen Schmerz von Schnittwunden betäubt, arbeitet ihre sozialpädagogische Betreuerin vor allem daran, dass auch Sarah eine Zeit lang in eine Wohngemeinschaft des betreuten Jugendwohnens umzieht. Auch ihre Deutschlehrerin unterstützt Sarah darin. Diese fühlt sich, als wollte man sie abschieben. Bevor Sarah jedoch umziehen wird, stehen die Prüfungen an und die Zwillingsgeschwister werden 17. Sven, Vaters Liebling mangelt es nicht an Selbstzutrauen. Er redet gern und überzeugt Menschen von sich. „Du könntest Lehrer sein“, meint ein Berufsberater zu Sven, lässt sich jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter den großen Sprüchen ein ‚bescheidenes’ Ergebnis zu erwarten ist. Sven gehört zu den eher Leistungsschwächeren, für die es knapp werden könnte mit dem Erreichen des Hauptschulabschlusses. Er macht seine Defizite als ‚show off’ auf komödiantische Weise wett. Das Schuljahresende naht und die Abschlussklasse aus Tuttlingen macht einen Ausflug zur KZ-Gedenkstätte bei Schorzingen, dem Ort, in dem Simeons Eltern noch heute leben. Er nutzt die Gelegenheit, um ihnen nach langer Zeit die Meinung zu sagen und hat dazu einen Brief verfasst, in dem er mit seiner Familie ab-
6.1 Beschreibung des Inhalts im Rahmen seiner Formalstruktur
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rechnet. Sarah zieht um und bekommt ein schönes Zimmer in einer WG; ihre Mutter begleitet sie dabei. Auf der Schulentlassfeier der beiden Schulen Trossingen und Tuttlingen bekommen Simeon wie auch Sven ihre Zeugnisse feierlich überreicht. Sarah sitzt im Publikum. Wie sich nach der Feier herausstellt, hat sie den Abschluss nicht geschafft und muss in einer anderen Schule wiederholen. Für Simeon steht eine letzte Verhandlung an. Er schließt am runden Tisch unter den Augen sämtlicher Vertreter der Systeme Schule und Jugendhilfe einen Verhaltensvertrag mit seinem neuen Lehrer des Werkrealschulzugs in Spaichingen ab. Auch für Sarah läuft es inzwischen nicht schlecht in der WG. Der Film zeigt die Jugendlichen, wie sie in kleinen Etappen ihr Leben voranbringen. Erst im Abspann werden die über 100 Minuten lang angedeuteten Perspektiven der drei Jugendlichen in einem Abstand von einem Jahr faktisch bilanziert. Dort heißt es: „Sarah hat den Hauptschulabschluss im zweiten Anlauf geschafft und macht ein Praktikum auf einem Reiterhof. Simeon war bester Schüler seiner Klasse an der Realschule und wird auf das Gymnasium wechseln. Sven jobbt und sucht eine Lehrstelle.“ 6.1.2 Formale Ordnungsstruktur – „Und dann am nächsten Morgen ist halt ein neuer Tag“ Der Film ist 103 Minuten lang. Er lässt sich in 42 Sequenzen einteilen, also Segmente, die durch signifikante Orts- und Zeitveränderungen voneinander getrennt sind. Davon sind acht Sequenzen nochmals in jeweils zwei bis sechs Untereinheiten (Subsequenzen) zu unterscheiden, die zusammengehörend zu verstehen sind, jedoch je Subsequenz andere Akzente setzen. Die innerfilmische Entwicklung in einem gröberen Raster zu erfassen – um damit hinter eine sinngebende Ordnung zu kommen –, ist aus mehreren Gründen nicht ganz einfach: So bleibt ein einfachster Hinweisgeber durch eine Variation filmsprachlich eingesetzter Stilelemente aus.125 Inhaltlich zeigen sich verschiedene Möglichkeiten einer Segmentierung, was damit zu tun hat, dass drei Jugendliche mit wechselnder Aufmerksamkeit in unterschiedlichen und denselben Situationen gezeigt werden, deren Lebenssituation also sowohl zusammenhängt als auch in verschiedene Themenstellungen zerfließt. Insofern trägt der filmische Aufbau Züge eines Episodenfilms. Dieser Wechsel findet ständig, jedoch in keinem vereinheitlichten Muster statt. Während wir den Film sehen, gewinnen wir keine Einschätzung darüber, worin die nächste inhaltliche ‚Offenbarung’ bestehen wird und wen sie betrifft. Wo hier in dieser Offenheit Unterbrechungen 125
Auf die wenigen Ausnahmen wird noch eingegangen werden.
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Filmanalyse II: „Schule des Lebens“
durch trennende Schnitte nachvollziehen, denen die Erzählstrategie gerade entgegenwirken will, indem sie Zusammenhänge erst entfaltet und immer Neues in einen größer werdenden Sinnkomplex integriert? Sind es Zeiteinheiten, sind es Erzählinhalte, sind es räumliche Bezüge oder der Figurenwechsel, über die eine ‚Interpunktion’ des Filmverlaufs erreicht wird? Der Film setzt keine eindeutigen Zeichen. Grobstruktur In der zweifachen Wiederholung einer bestimmten inhaltlich gleichen Szene findet sich ein Element, das in der Funktion einer Trennmarke innerhalb der 103minütigen Erzählung begriffen werden kann: Der Weg am Morgen in die Schule, den eine der Hauptfiguren wortlos und durch Filmmusik unterstützt beschreitet. Er findet sich insgesamt drei Mal im Film, wodurch vier Teile unterschiedlicher Länge markiert sind. Der morgendliche Aufbruch ist deshalb sinngebend, weil es den Erfahrungen der Jugendlichen entspricht, stets neue Chancen zu bekommen, um verantwortlich zu handeln. Simeon bringt diese Erwartung folgendermaßen zum Ausdruck: Simeon: „Ich fände es eigentlich normal – ich war ja schon in vielen Einrichtungen – dass man sagt, man schläft drüber und dann ist es wieder okay, so auf die Art. Und dann am nächsten Morgen ist halt ein neuer Tag“.
Der neue Tag mit neuen Chancen wird im Film dreifach inszeniert, obwohl der Film über einen wesentlich längeren Zeitraum berichtet. Auch kann diesen Tagen nicht immer ein besonderes Ereignis zugeordnet werden. Nach einem im Dunkeln gehaltenen Prolog auf einer Faschingsveranstaltung, der die Ausgelassenheit zusehends abhanden kommt (2,3% der Gesamtfilmlänge), beginnt ein erster Tag – und damit erster Teil – mit Sarah, die schlaftrunken von einem Bus in die Schule gebracht wird (31,3 % der Gesamtfilmlänge). Nacheinander werden die Jugendlichen in schulischen, erzieherischen, therapeutischen und familiär-freizeitlichen Kontexten gezeigt. Es wird jeweils geklärt, wo sie im Leben stehen und wie es mit ihnen weitergehen könnte. Die Aufmerksamkeit von der einen zur anderen Person wird langsam verlagert, immer durch eine verbindende Situation, in der zumindest zwei Hauptfiguren anwesend sind. Damit werden neben individuellen Fokussierungen auch die Beziehungen unter den jugendlichen ProtagonistInnen thematisiert. Ab Sequenz 14 (34:33 min.) wiederholt sich der Weg zur Schule ein erstes Mal. Sven fährt ihn auf seinem Mountainbike. Erzählstränge, die in Teil eins angelegt wurden, werden nun weitergeführt, teilweise werden auch neue Themen in
6.2 Analyse der Handlung im Kontext von Erzählstruktur und Filmsprache
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kleineren Erzählbogen eingeführt. In diesem langen zweiten Teil (51:12 Minuten, 49,8% der Gesamtfilmlänge) stehen die Leistungen der Jugendlichen im Zentrum, die sie im Kontext ihrer Lebensbewältigung erbringen müssen bzw. schon erbracht haben. Die Übergänge von einer zur anderen Hauptfigur sind nicht mehr über gemeinsame Situationen vermittelt, die Sequenzen werden stattdessen direkt aneinander gereiht. Wieder beginnt der Tag in der Schule und entwickelt sich zur schulfreien Zeit. In seinem Ereignischarakter ist der zweite Teil turbulenter als der erste und von Krisen und Veränderungen geprägt. Im Mittelpunkt steht der 17. Mai, der Tag der Matheprüfung und zugleich Geburtstag der Zwillinge. Ein dritter Teil umfasst schließlich 16,5 Prozent (16:58 Minuten) der gesamten Filmlänge und beginnt in Sequenz 34 (ab 85:45 min.) damit, dass sich Sarah mit dem Rad auf den Weg zur Schule macht. Mit dieser veränderten Dynamik gegenüber dem Beginn der ersten Einheit geht die Erzählung dem Ende zu und thematisiert das von den jugendlichen ProtagonistInnen Geleistete. Im Mittelpunkt stehen die Hauptschulabschlussfeier und ihre Nachwirkungen für Sarah und Simeon. Im folgenden Kapitel wird die Erzählhandlung in Auseinandersetzungen mit der Erzählweise und filmischen Präsentation untersucht. Die Darstellung dieses Untersuchungsschritts variiert gegenüber Filmanalyse I, gründet jedoch auf der gleichen analytischen Vorgehensweise. Mit der veränderten Darstellung sollen Redundanzen vermieden werden, die deswegen entstehen würden, weil der hier vorliegende dokumentarische Film ein filmsprachliches und erzählerisches Gesamtkonzept verfolgt, das sich nicht in gleicher Weise wie der Inhalt entwickelt, sondern von der ersten bis zur letzten Sequenz gleichförmig gestaltet ist. Diese generellen Gestaltungsprinzipien werden deshalb sukzessive jeweils an Beispielen aus der fortlaufenden Handlung erläutert, gelten aber prinzipiell für den gesamten Film (könnten also auch an anderen Passagen klar gemacht werden). 6.2 Analyse der Handlung im Kontext von Erzählstruktur und Filmsprache Handlung: Prolog Der Film bremst uns in unseren Erwartungen einer zügigen Erfassung des Sachverhalts. Die Exposition des Themas beginnt bei Nacht an einer Straßenkreuzung an einem Ortsausgang. Low-Light-Aufnahmen zeigen ein Mädchen, Sarah, und einen Jungen, Simeon, die einander zugewandt stehen, miteinander reden und
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Filmanalyse II: „Schule des Lebens“
sich küssen. Ob sie warten oder einfach planlos sind, bleibt unklar. Sie beziehen sich nicht auf die Kamera, die etwa einen Meter neben ihnen auf Brusthöhe geführt wird. Ebenso ‚zwielichtig’ wie die Aufnahmen ist auch der Inhalt ihres Dialogs. Das Mädchen ist leicht überdreht und hat etwas im Sinn, das dem ernster wirkenden Jungen nicht zusagt. Er vermutet, dass sie sich betrinken will. In einer nächsten Sequenz zeigt die Kamera die beiden im Profil, wie sie auf einer Bank inmitten einer Faschingsgesellschaft einander zugewandt sitzen, sich küssen und wie in Zeitlupe einen angedeuteten Boxkampf beginnen. Dann eine Schwarzblende mit der Nennung der Produzenten des Films und wieder eine Einstellung, die beide in der dörflichen Faschingsgesellschaft zeigt. Sarah schunkelt zur LiveMusik, Simeon zupft am Etikett seiner Bierflasche. Dann die Titeleinblendung und wieder zurück in die Halle. Ein Trommelwirbel der Unterhaltungsmusiker lässt das Publikum auf die Tische schlagen, Sarah macht mit. Ihre Hand in Großaufnahme schlägt mehrfach auf den Tisch, greift zur Bierflasche und setzt sie auf ex an. Die Kamera – auf diesen nahen Bereich eingestellt – folgt ihrer Bewegung, die Musik wirbelt weiter und Sarah lässt das Bier 25 Sekunden in sich fließen. Wie sieht das Gesicht eines Mädchens aus, das sturzbetrunken ist? Ein Blick von Sarah direkt in die Kamera ist eine wortlose Vorrede auf das, was noch kommt. Wieder eine Titelblende, in der sich die Filmemacherin nennt. Die beschriebene Handlung dauert 2:24 Minuten. 6.2.1 Erzählweise: Episoden/ Szenen/ Ellipsen Die Unterscheidung der vier Filmteile markiert die Grobstruktur des Films. Mit Ausnahme des Prologs beinhalten die Teile intern mehrere Episoden, die jeweils an die drei ProtagonistInnen oder an übergreifende Ereignisse wie die Matheprüfung oder die Schulabschlussfeier gebunden sind. Der Prolog stellt eine singuläre Episode dar.126 Episoden sind Handlungsfragmente, die wie Container die filmi126
Den filmischen Aufbau mit einem Episodenfilm in Verbindung zu bringen mag verwirren, da der Begriff des Episodenfilms für eine Form des Spielfilms gebraucht wird, die auf einer parallelen Handlungsstruktur gründet, in der die einzelnen Erzählungen über Bezugspunkte mehr oder weniger verknüpft sind. Er stellt eine Abweichung von einer eher linearen Erzählweise dar, indem mehrere Handlungen zugleich geltend gemacht werden, die sich nicht logisch aufeinander beziehen müssen, sich jedoch gleichzeitig entwickeln. Für dokumentarische Filme stellt sich die Frage von Linearität bzw. nach einer nonlinearen Erzählweise anders, da häufig Mischformen von Erzähltypen festzustellen sind. Beispielweise können sich Kommentar- und Interviewpassagen abwechseln oder eine Mehrfachstruktur der ProtagonistInnenerzählung vorliegen wie z.B. in „Ich war das perfekte Kind“. Die Fortführung einer Erzählung liegt nicht zwangsläufig in einem „Und dann...“-Prinzip, sondern kann auch darin bestehen, die Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Perspektiven zu betonen. Linearität ergibt sich dabei mit Blick auf den leitenden Gedanken, der zwei Sequenzen aufeinander bezieht, nicht jedoch mit Blick auf Anschlusshandlungen bzw. auf Erzählungen über Anschlusshandlungen.
6.2 Analyse der Handlung im Kontext von Erzählstruktur und Filmsprache
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schen Themen beinhalten und diese zugleich in einer spezifischen Form präsentieren, die sich aus dem Grundgedanken des Episodenfilms ergibt: Die Themen werden nicht kausal aufeinander bezogen, sondern das Entdecken ihres Zusammenhangs wird zur Entwicklungsaufgabe gemacht.127 Grundlage für ein Erzählen in Episoden und wichtigstes Konstruktionsmerkmal des Films insgesamt ist die Darstellung in Szenen. Mehrere Szenen bilden also eine Episode.128 Eine auf Szenen basierende filmische Darstellungsweise wird über den gesamten Film hinweg eingehalten. Alles ist szenisch bis auf wenige Sequenzen, die keine inhaltliche Entwicklung bewirken, sondern ausschließlich räumliche Veränderungen betonen. Dazu gehören die bereits erwähnten Fahrten zur Schule. Obwohl diese Ausnahmen körperliche oder maschinelle Bewegung inszenieren, sind sie unterkomplex und als Pause im Strom des Inhalts aufzufassen. Nach der Erzähltheorie Genettes bezeichnet die Szene einen narrativen Tempus, bei dem eine Entsprechung von Erzählzeit und erzählter Zeit angestrebt wird (vgl. Kiener 1999: 184). Dadurch wird die Illusion eines zusammenhängenden Verlaufs geschaffen, in dem der interne Schnitt im Idealfall kaum mehr als ein Augenlidschlag an Geschehen verpassen lässt. Auslassungen durch Schnitte innerhalb einer Szene werden durch inhaltliche Kontinuität kaschiert. Es handelt sich um ein langsames Erzähltempo, das der situativen Entwicklung des Geschehens Raum und Bedeutung verschafft. Auf eine offensichtlich geraffte Form der zeitlichen Gestaltung (z.B. durch zusammenfassenden Kommentar oder Interviewpassagen) wird in „Schule des Lebens“ weitgehend verzichtet. ‚Pausen’ als eine weitere zeitliche Modulation der Erzählung bilden – wie schon erwähnt – die wenigen Sequenzen einer expliziten Raumveränderung, innerhalb derer keine inhaltliche Entwicklung stattfindet. Das Erzähltempo ist damit insgesamt in einem gleichmäßigen, langsamen Fluss, an manchen Stellen wird es noch weiter verlangsamt. Auf Grund der Tatsache, dass sich die episodischen Handlungen aus einer Aneinanderreihung von Szenen ergeben, die intern Kontinuität erzeugen wollen, entsteht mehr als in anders gestalteten dokumentarischen Filmen die Frage nach der Logik der Handlungsfortsetzung. Wird der in der Szene aufgebaute Inhalt in der Folge weitergeführt oder nicht? Wenn ja, wird er in einer unmittelbaren Anschlusshandlung weitergeführt oder wird ein raumzeitlicher Sprung eingebaut, In Bezug auf das hier vorliegende Beispiel ist jedoch tatsächlich eine Form des episodenhaften Erzählens festzustellen, wie es im Spielfilm vorkommt. 127 An Spielfilmen von z.B. David Lynch kann deutlich gemacht werden, wie sehr wir in der Rezeption solcher episodisch erzählender Filme eine Auflösung von Zusammenhängen, die sogar als Rätsel empfunden werden, erwarten. Lynchs Filme sind dafür bekannt, dass sie diese Auflösung gerade nicht bieten. 128 In wenigen Ausnahmefällen besteht eine Episode aus einer singulären Szene.
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Filmanalyse II: „Schule des Lebens“
was einer Ellipse gleich käme? 129 Obwohl 103 Minuten lang, kann „Schule des Lebens“ gar nicht auf Auslassungen verzichten und muss zwangsläufig mit Sprüngen arbeiten, wenn der szenische Charakter beibehalten werden und wenn über etwa ein halbes Jahr im Leben der Jugendlichen berichtet werden soll. Die Szenen sind demnach elliptisch miteinander verbunden. Die ausgelassene Zeit, die dadurch erzählerisch unberücksichtigt bleibt, schwankt zwischen Minuten, Stunden und Tagen, die dazwischen vergehen. Oft ist der einzige Hinweis ein Kleidungswechsel der Jugendlichen, der annehmen lässt, dass eine Anschlussszene nicht unmittelbar auf eine gerade gesehene Szene folgt. Der Film realisiert demnach unterschiedliche Montagestile: innerhalb von Szenen wird Kontinuität zwischen einzelnen Einstellungen hergestellt, der Schnitt soll unauffällig sein, Auslassungen werden durch den Eindruck eines beständigen Verlaufs kaschiert. Innerhalb von Episoden werden Szenen überwiegend elliptisch verbunden. Zeitspannen, die dabei ausgelassen werden, bleiben für die Zuschauerinnen und Zuschauer spekulativ. Ungehindert davon bauen die verbundenen Szenen aufeinander auf und tragen zur inhaltlichen Weiterentwicklung des thematischen Strangs einer Episode bei. Mit einem Episodenwechsel wird ein assoziativer Sprung zu einer anderen Figur vollzogen, der in Teil eins intensiver vorbereitet wird als in den Teilen zwei und drei. Die Frage der Auslassung spielt hierbei keine Rolle, denn ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen den Episoden muss erst noch gefunden werden. Auf die Frage danach, wie Anschlüsse im Film organisiert werden, kann also erstens ein Kontrast angeführt werden zwischen eher demonstrierten und eher kaschierten Auslassungen und zweitens auf Verbindungen verwiesen werden, die im Moment ihrer Realisierung noch ungeklärt sind. Auf der Grundlage dieser Konstruktionsweise kommt den Szenen eine hohe Bedeutung zu, denn darin realisiert sich eine besondere Genauigkeit und Ausführlichkeit, Inhalte werden manifest. Mehr noch: Szenen werden zu Mehrfachträgern von Inhalten, indem sich Inhaltsebenen kumulieren, was noch zu zeigen sein wird. Um dies nachvollziehen zu können, ist ein Weiteres von Bedeutung: Es handelt sich um dialogische Szenen. Anders ausgedrückt: Die Kommunikationen unter den Filmfiguren gestalten diese Szenen und strukturieren damit den Filminhalt. Auch ist jede Form der Bilanzierung dieser Gespräche den Szenen 129
Im Rahmen einer sequenziellen Analyse, wie sie etwa die objektive Hermeneutik und auch die Konversationsanalyse vornehmen, besteht das methodische Vorgehensmuster darin, Sequenzen in ihrer Aufeinanderfolge zu betrachten. Bedeutsam sind dabei die Zwischenschritte, in denen plurale Hypothesen über mögliche Anschlüsse gedanklich entworfen werden, die sodann mit den realisierten Anschlusshandlungen verglichen werden. Die jeweils plausibelsten Annahmen bzw. Deutungen über Sinnkontexte kristallisieren sich so zu einer Fallstruktur (vgl. Oevermann 2000: 69f). Eine Übertragung dieser Frageperspektive auf die hier vorliegende Filmanalyse erwies sich zur Erkennung der Formalstruktur als hilfreich.
6.2 Analyse der Handlung im Kontext von Erzählstruktur und Filmsprache
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immanent und damit nicht Teil einer Metaerzählung, z.B. eines Kommentars. Der Inhalt wird also nicht behauptet, sondern entwickelt sich in diesen interaktiven Gesprächspassagen. Handlung: Teil eins Mit dem Bus zur Schule. Ein erster Teil in der Länge von 32:09 Minuten macht es sich zur Aufgabe, die Jugendlichen im Kontext ihrer Schule und ihrer Familien vorzustellen; dies in drei Episoden. Erste Episode: Womit könnte ein Tag in der Schule anfangen? Mit einer ersten Unterrichtsstunde, mit dem Treffen der Klassenkameraden im Schulflur oder einem Gespräch mit der Lehrerin? Simeon – und nach ihm Sarah – sind ins Arbeitszimmer des Rektors einbestellt, der Tag beginnt höchst offiziell. Beide haben unentschuldigt gefehlt, werden dafür kritisiert und zu einer schriftlichen Stellungnahme aufgefordert. Nicht gerade bereitwillig erklären sie sich gegenüber dem Rektor damit einverstanden. Ein erster Unterschied zwischen den beiden Jugendlichen wird durch die nacheinander stattfindenden Gespräche deutlich: Für Simeon scheint das Erlangen des Schulabschlusses außer Frage zu stehen, für Sarah steht die Zulassung zur Prüfung noch auf dem Spiel. Szenenwechsel. Mit den Worten „Gott wie sehen Sie denn aus! (...) Das sieht aber schrecklich aus“ begrüßt Sarah ihre sozialpädagogische Betreuerin (die offensichtlich eine neue Frisur hat). Ein anderer Stil als zwischen Schülerin und Rektor ist zwischen beiden üblich, die sich offensichtlich regelmäßig und häufig treffen. Sie gehen spazieren, mal die eine voraus, mal im Gleichschritt, bewegen sie sich in eine schon leicht blühende Frühjahrslandschaft. Die Sozialpädagogin Petra weiß um Sarahs aktuelle schulische Fehlzeiten und debattiert mit ihr über ihren Hauptschulabschluss, ihre Situation in der Familie und ihr Alkoholproblem – drei Themen, die aufeinander bezogen werden und Sarah in Rage bringen. „Egal!“ – schließlich löst sich das Gespräch in Albernheiten auf. Szenenwechsel... 6.2.2 Filmische Präsentation: Kameraeinsatz während des Spaziergangs Die Kamera agiert und bewegt sich als weitere Person während des Spaziergangs etwa in gleichem Abstand zu den beiden Figuren, den diese untereinander haben. Sie ist auf beide fixiert, versucht sie möglichst zentral im Bild auszurichten, was nicht gelingen kann, da sie sich ohne Aufmerksamkeit für die Kameraarbeit bewegen. Deshalb entlässt die Kamera die beiden immer wieder entsprechend ihrer
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Filmanalyse II: „Schule des Lebens“
Bewegungsweisen aus dem Bild oder schwenkt auf eine der beiden Frauen. Zurückgeschwenkt wird nicht, so dass immer nur eine entscheidende Bildveränderung pro Einstellung zu verzeichnen ist. In den nie abschließend kadrierten Bildeinstellungen wird der Handlungsdruck, in der Kameraführung den Anschluss nicht zu verlieren, spürbar. Auch der Schnitt als sekundäre Bearbeitung realisiert eine permanente Refokussierung, ohne auf die Umgebung ausweichende Zwischenbilder einzubauen. Erst in der letzten Einstellung entlässt die Kamera die beiden Figuren aus ihrem Nahbereich in eine Totale am Ende des Spazierwegs, wie sie auf die ersten wieder sichtbaren Häuser zugehen. Die Kameraführung evoziert in dieser Passage den Eindruck, schnell sein zu müssen, um der Dynamik der Interaktionen gerecht zu werden. Muss sie das wirklich? Oder ist dieser Eindruck nicht vielmehr aus den zumeist nahen Einstellungsgrößen gewonnen, die wesengemäß die Bewegung verstärken und so die Strukturiertheit einer Einheit nicht zugänglich machen? Würde die Kamera sich abständiger zum Geschehen verhalten, könnte sie auch ruhiger werden. Durch den dynamischen Effekt der bewegten Kamera wird schließlich der Eindruck ebenso bewegter Inhalte erweckt. Handlungsfortsetzung ...Wieder in der Schule, Matheunterricht, die wenigen Jugendlichen im Raum werden zur Teamarbeit aufgefordert. Sarah als Leistungsstärkere macht Jessika nicht gerade diplomatisch auf einen Fehler im Rechenweg aufmerksam. Szenenwechsel. „Lass es große Pause werden“ seufzt Jessika, als Rektor Schmidt in der Tür zur Klasse lehnt und Sarah zu sich her ruft. Die Mutter habe kein Papier gehabt, um eine Entschuldigung zu schreiben, weil die Nichte alles Papier bemalt hat, mit der Stellungnahme werde sogleich begonnen. Schmidt nimmt Sarah beim Wort, lässt der Mutter Briefpapier zukommen und mit der Mathelehrerin wird besprochen, dass Sarah im Anschluss die Möglichkeit zum Verfassen einer Stellungnahme hat. Szenenwechsel. Sarah, den Oberkörper auf den Arbeitstisch abgelegt, spielt mit dem Stift zwischen den Fingern. Zu Jessika gewandt: „Hey, warum will ich den Hauptschulabschluss machen? Warum machst ihn Du, hä?“ Offensichtlich weiß sie nicht, was sie schreiben soll. Simeon, der vor ihr sitzt wendet sich zu ihr, gibt ihr sein Schreiben als Vorlage und verlässt kurz darauf den Klassenraum. Szenenwechsel. Er hat ein Gespräch mit einem Berufsberater und wird von der Lehrerin begleitet. Ausbildung oder Werkrealschule? Beides wäre theoretisch möglich. Simeon hat Chancen und beherrscht das Gespräch mit dem Berufsberater. Szenen-
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wechsel. Gewissermaßen im ‚Off’ bilanziert Simeon die eben getroffene Vereinbarung in der Freiarbeitsstunde mit Patrick, dem Nebensitzer: Werkrealschule. Sarah sucht immer noch nach richtigen Worten für ihre Stellungnahme. „Schreib ab!“ fordert Simeon sie mit Verweis auf sein Schreiben auf. Szenenwechsel. Suchtberatungsstelle Tuttlingen – auch Sarahs Therapeut interessiert sich für den Stand der Dinge kurz vor den Prüfungen. Ein nicht zu übersehendes Cutting auf Sarahs Unterarm, das bereits in den Einstellungen zuvor zu sehen war, liefert ihm den Impuls zur Nachfrage: „Was hast Du da?“ Jeden weiteren Impuls, der von Sarah ausgeht, greift er ebenso interessiert auf. Schließlich bilanziert er seinen Eindruck: Suchtberater: „Ein Teil von mir denkt schon: ah, die Sarah, starker Wille, das zeichnet sie aus, die macht die Prüfung. Gleichzeitig frage ich mich so: ’ne Woche, hält sie das noch so lange… bleibt sie noch bei dieser Entscheidung? (...) 70:30 würde ich sagen – und Du?“....
6.2.3 Erzählweise: „Erzähl doch einfach ein bisschen von Dir“130 – Besonderheiten der szenischen Darstellung Der Impuls, die Lebensgeschichte zum Thema zu machen, kommt überraschenderweise nicht von der Filmemacherin. Der Film greift vielmehr ein sozialpädagogisches Interesse auf, das als wiederkehrende Aufforderung an die ProtagonistInnen mehrfach inszeniert wird. Die Inszenierung beruht auf szenischen Darstellungen der Interaktionen zwischen pädagogischen Fachkräften und Sarah, Simeon und Sven, die ein immenses Gewicht innerhalb der filmischen Erzählung erlangen. Ausgedrückt in Zeitanteilen nehmen diese 19 Interaktionsszenen mit insgesamt 52 Minuten gegenüber anderen Kontexten bei weitem den größten Umfang ein. Sie prägen etwa die Hälfte der Filmzeit. Auch mit Blick auf ihre durchschnittliche Länge lässt sich die größte Ausführlichkeit beobachten (durchschnittlich 2:44 min.). Was macht diesen Szenetypus aus? Eine filmische Erzählung aus dem Motor sozialpädagogischer Interaktionen heraus zu gestalten scheint schier unmöglich. Machen doch diese oft langwierigen, unspektakulären Sitzungen mit Zielen, deren Erreichung sich der filmischen Kenntnis zwangsläufig entziehen muss, den Verdacht groß, dass ein dokumentarischer Film mit einem zu großen Gewicht auf solchen Interaktionen zwischen AdressatInnen und professionellen HelferInnen einen Aufmerksamkeitsverlust erfährt. Dem ist nicht so in ‚Schule des Lebens’, da der Film durch seine Erzählweise Aufmerksamkeit erzwingt. Dies liegt vor allem in der Steuerung von Information 130
Mitarbeiter des betreuten Jugendwohnens.
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begründet. Springen wir an den Anfang: Der Film beginnt mysteriös bei Nacht und wir wissen nichts über die Jugendlichen, die wir sehen. Kein Überblick und keine Möglichkeit zur Einordnung wird erzeugt. Als außenstehenden BeobachterInnen wird uns nicht einmal eine mögliche Beobachtungsaufgabe durch den Film vorgegeben. Diese externe Fokussierung, die wir mit dem Kamerablick übernehmen, verändert sich maßgeblich dann, wenn die pädagogischen Fachkräfte in Szene treten. Im Dialog zwischen Jugendlichen und Fachkräften alterniert die Fokussierung zwischen extern und intern (vgl. Kiener 1999: 208), d.h. indem sich die Fachkräfte wissenssuchend auf die Jugendlichen beziehen, wird eine Möglichkeit realisiert, deren Gedanken und Wahrnehmungen zu erschließen. Wie gut dies gelingt, ist Teil der Spannung, aus der diese Szenen schöpfen. Die externe Fokussierung wird innerhalb dieser Szenen aktiv gestaltet (wissenssuchend) und überlagert die beobachtende Kamera, die sich weit weniger insistierend einbringt, als die Gesprächsimpulse der Figuren. Was ist nun in diesen Versuchen, die Erfahrungswelt der Jugendlichen zu entschlüsseln, zu entdecken? Es sind mehrere Ebenen der Information, die relevant werden: Erstens: Die Kommunikationen zwischen professionellen Helfern und den Jugendlichen finden anlassbezogen statt. Projekte und Probleme der Jugendlichen kommen zur Sprache. Es geht z.B. um die anstehende Abschlussprüfung, um den Übergang in eine weiterführende Schule, um eine aktuelle Lebenskrise, um den anstehenden Auszug aus dem Elternhaus etc. Sie ‚akupunktieren’ die Lebensumstände der Jugendlichen, forcieren bestimmte Veränderungen oder deeskalieren Zustände, die zu selbstdestruktiven Handlungsweisen führen könnten. Zweitens: Die Kommunikationen zielen auf die Selbstwahrnehmung der Jugendlichen. Liest man die Transkriptionen der Dialoge intensiv, so zeigen sich darin eine Unmenge an Fragen der Professionellen an die Jugendlichen. Entscheidend dabei ist, dass sie in der Logik sozialpädagogischer bzw. schulpädagogischer Fachlichkeit gestellt werden. So werden die PädagogInnen durch die Filmgestaltung als Interviewer eingesetzt, die anhand der Fragen vorgehen, die sie innerhalb ihrer fachlichen Aufgabe zu interessieren haben. Eine erste Distanz zu und Reflexionsmöglichkeit über die ProtagonistInnen gewinnen wir demnach durch die pädagogischen Profis. Zugleich beschränken sich die Gesprächsinterventionen nicht auf den Informationsgewinn, denn sie beinhalten auch eine erzieherische Absicht, die sie wiederum relativieren. Drittens: Protagonistin in diesem Film zu sein ist gleichbedeutend mit Adressatin sozialpädagogischer Hilfe zu sein. Wir lernen ein spezifisches Interaktionsmilieu kennen. Die Dialoge entfalten sich entfernt von Lehrbüchern und wirken authentisch, gewollt werden Übersprechungen während der Aufnahme dieser Gespräche zugelassen. Die SozialpädagoInnen und Lehrkräfte zeigen sich
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in ihren beruflichen Rollen, dem dazugehörigen Verständnis und sind damit zugleich Provokateure von Reaktionen der Jugendlichen auf sie. Ihre Reaktionen geben Hinweise darauf, wie es sein muss, mit solchen Jugendlichen zu tun zu haben. Sie sind Indizien der Begegnung Ungleicher. Was kann anhand von Dialog-Situationen besser gezeigt werden als durch eine ErzählerIn? Der Schlüssel bzw. das filmstrategische Argument ist wohl darin zu sehen, dass Situationen eine andere Beurteilung abverlangen als Zusammenfassungen. Die unmittelbare Interaktion ist in der verstehenden Soziologie Realisierung aller Verständigung über Normalität und konsensbasierte Anwendung von Regeln und Werten. Noch basaler angesetzt, ist das Aufzeigen dieser Situationen bereits Ergebnis eines gelungenen Zugangs zu den Jugendlichen. Daneben reihen sich Szenen ein, in denen dieser Zugang nicht gelingt, z.B. Sarah sich verweigert oder sich der Situation entzieht. Das heißt, die soziale Information bzw. die Strukturiertheit des Informationsflusses innerhalb einer solchen Situation (vgl. Meyrowitz 1990: 88) stehen im Vordergrund. Sich unzähligen Fragen zu stellen und dabei zwischen ironischem Abtun und ernsthafter Antwort zu entscheiden, ist die eine Erfahrungsdimension; aus einer prinzipiellen Offenheit heraus auf Verbindlichkeiten hin zu arbeiten, Vereinbarungen mit ‚Chaoten’ zu treffen, die andere. Wir realisieren in der Verfolgung der Gesprächsverläufe die enervierende Dynamik, in der solche Gespräche und mühsamen Auseinandersetzungen für beide Seiten ablaufen. Wenn diese Interaktionsszenen nun etwa die Hälfte der Filmzeit ausmachen, welche alternativen Kontexte unterscheiden sich dann davon und wie sind sie integriert? Handlung: Fortsetzung Teil eins, Episode zwei und drei ...Sven hängt in einem Stuhl im Wartebereich der Suchtberatungsstelle, die Beine breit aufgestellt und mit einer Fernbedienung auf ein Gerät zielend: „Ich habe den Fernseher neu eingestellt“, der Umschnitt zeigt ein verrauschtes Bild ohne Signal. Sarah übernimmt die Fernbedienung und versucht ihren Verdacht zu bestätigen, dass der Bruder den Empfang komplett verstellt hat. Der Therapeut weiß nicht recht, was sagen und bittet darum, das Gerät auszustellen. Episode zwei: Sven schiebt einen Rasenmäher über das Außengelände der Trossinger Schule für Erziehungshilfe, seiner Schule. Ein Mitschüler ruft ihm zu, dass Zigaretten wieder teurer geworden sind, er mäht den Rasen, offensichtlich eine schulische Aufgabe. Szenenwechsel. Sven sitzt vor einem PC in der Schule in einem kleinen Raum. Der Umschnitt auf die Maske des Bildschirms zeigt die Eingabeaufforderung zur Anmeldung in einem Chatroom. Sven tippt „‚big joe“
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und trägt als Profil ein: „Suche Freundin“. Szenenwechsel. Der Pädagoge im Büro lacht über Sven und raucht seine Zigarette. Er will nicht wirklich wissen, was die Chatbekanntschaft in der ersten von mehreren SMS an Sven geschrieben hat. Sven trägt es dennoch vor und gibt ihm den Rat, „immer die Frauen telefonieren lassen“. Szenenwechsel. Im Vorgarten der Familie Grupp. Frau Grupp steht, ein Bein aufgestellt, im Bildvordergrund und zieht einen der letzten Züge an ihrer heruntergerauchten Zigarette. Dahinter ist Sarah, die auf das klingelnde Mobiltelefon, das sie in der Hand hat, reagiert. Es ist die „0174...“ für Sven. Er ruft zurück und stellt auf laut, so dass Sarah und seine Mutter mithören können: Mädchen am Telefon: „Ja mir geht’s gut und selber (Sven: gut) Wer ist gerade an dein Handy gegangen? (Meine Zwillingsschwester) Ach hast Du eine Zwillingsschwester? (Sven: ja nicht bloß… also ich hab noch eine Zwillingsschwester, dann… insgesamt sind wir acht Kinder) Ich habe auch eine Zwillingsschwester (cool) Seid ihr eineiig oder zweieiig? (Sven: zweieiig würde ich sagen, ich bin der Schönere).“ (...) Sven: „Ja acht Kinder. Meine Mutter hat gemeint, sie müsste mit 16 gleich das erste Mal, wenn schon richtig gleich Kinder schmeißen. Mädchen am Telefon: Wir sind nur vier, aber das reicht mir auch. Sven: Ah ja, gut. Meine älteste Schwester ist 31, da kannst du dir ausrechnen, wie alt meine Mutter ist, uralt. (Mädchen am Telefon: uralt.) Mutter: Danke. Mädchen am Telefon: Hört sie nicht mit oder? Sven: Weiß nicht… natürlich hört sie mit, wir haben da ein offenes Verhältnis.“ (...) Sven: „Sieben Minuten, guck mal, was das gekostet hat. Sarah: 2,56 Mutter: Bestimmt mehr. Sven: 1,68.“
Nicht der Gesprächsverlauf zwischen Sven und dem Mädchen am anderen Ende der Leitung, sondern die Involviertheit von Mutter und Schwester in Svens Angelegenheiten überraschen an dieser Stelle und charakterisieren Familie Grupp als soziales Gefüge, in dem zwischen Mutter und Sohn keine rollenbedingte Distanz vorherrscht. Ein Gespräch unter Gleichgesinnten, das ein altersübergreifendes Verhaltensmodell andeutet. Episode drei: Zwei weiße Schwäne in Ufernähe des Sees, die Sonne scheint und Sarah watet knietief ins Wasser. Ihre Trainingshose wird dabei nass, was sie nicht stört. Sie wirft einen Stein in die Nähe der Schwäne. Auf dem Fußweg zum Campingmobil telefoniert sie mit ihrem Zwillingsbruder, der im Begriff ist nachzukommen. Die anderen Familienmitglieder sind schon versammelt. Im Wohnwagen gibt es Sport im TV. Auch Simeon ist in der Runde. Mutter Grupp sitzt und raucht, unterhält sich einmal nur mit Simeon und spielt mit der ältesten Tochter Scrabble. Im Schatten der Markise des Wohnmobils findet das Familien-
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Wochenende statt. Herr Grupp betritt wie aus Versehen das Bild und läuft aus dem Kamerabereich, entfernt sich vom Wohnmobil. Die kleine Nichte Celine beschäftigt die Geschwister. Szenenwechsel. Sarah und Simeon nutzen die Weite der Freizeitwiese auf dem Campingplatz und kicken sich in einem Abstand von etwa 30 Metern gekonnt Bälle zu. Celine, die noch kaum spricht, aber in ihren Plastikwindeln schon flott laufen kann, kommt ins Bild. Die Jugendlichen liegen nun einander zugewandt auf der Wiese. Simeon hat sich den Fußball unters TShirt geschoben, Sarah zu ihm: „Was? Bist du schwanger oder? (ja) Welcher Monat? (siebter) Aber nicht von mir, oder? (doch).“ Sie kokettieren geschwind mit der Idee, eine eigene Familie zu gründen. In der nächsten Einstellung machen sich Simeon und Celine einen Platz auf der Affenschaukel zurecht, Simeon bietet der Kleinen seitlich neben sich den Unterarm als Kopfstütze an, sie schmiegt sich schließlich an seinen Oberkörper. Die Szene hat sich verändert. Simeon adressiert die Filmemacherin, die wir nun zum ersten mal überhaupt wahrnehmen und in Kameranähe vermuten. Simeon erklärt ihr, dass er keine Kinder haben will, weil er annimmt, das Schlagen der Kinder in seiner Familie habe sich auf ihn vererbt. Ein Blick von Simeon direkt in die Kamera zeigt das Gesicht eines Jungen, der Angst hat Kinder zu schlagen. Die Einstellung steht auffallend lang und setzt einen Kontrapunkt zu dem bisher gezeigten wortkargen, gelassenen und zum Sarkasmus neigenden Jungen. 6.2.4 Erzählweise: Parallele Interaktionsmilieus Im Fortgang der Handlung wird deutlich, dass sich die Kontexte, in denen die Jugendlichen agieren und damit auch die Kommunikationspartner, die diese Kontexte mitbestimmen, erweitern. Szenen, in denen sich ein bestimmtes Interaktionsmilieu aus der Kommunikation zwischen Jugendlichen und pädagogischen Fachkräften herauszuschälen beginnt, werden innerhalb einer Episode abgelöst von Szenen im Unterricht oder in der Familie, die durch andere soziale Gefüge und habituelle Umgangsformen geprägt sind. Abbildung 11 unterscheidet neun Interaktionsmilieus im Überblick. Sie werden im Folgenden kurz erläutert und eingeführt, so dass sie an späteren Stellen sukzessive weiter ausgearbeitet werden können:131
131
Leserichtung im Uhrzeigersinn.
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Abbildung 11: Interaktionsmilieus (gleiche Farbgruppe = gleiche Episode)
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x Szenen - Sarah/Simeon Vier Szenen des Dokumentarfilms (in einer addierten Gesamtlänge von ca. acht Minuten) konzentrieren sich auf die Interaktion zwischen Sarah und Simeon. Einen besonderen Stellenwert erlangen sie durch ihre Positionierung am Filmbeginn und als letzte Szene am Ende des Films. Darüber hinaus findet sich sowohl in Teil eins die eben beschriebene Szene auf der Liegewiese des Campingplatzes als auch in Teil zwei eine Szene, in der beide eine Bootsfahrt unternehmen. Insgesamt ziehen sich diese Szenen also wie ein roter Faden durch den Film. Im Vergleich untereinander zeigen sich Parallelen: Die gemeinsame Unternehmung, die gegenseitige körperliche Zuneigung und eine Umwelt, die nur ‚Sonntagsregeln’ vorgibt. Das Boot zu lenken geht leicht wie ein Kinderspiel, „das treibt oder lenke ich?“ (Simeon). Die Leichtigkeit, mit der die zwei, die nicht mehr voneinander wegkommen, in diesen Szenen agieren, bildet einen Kontrast zu den anderen Szenen und Interaktionsmilieus. Es sind Ausnahmebilder, die einen Kontrapunkt zum schulischen und familiären Alltag darstellen. x Szenen – Familie An insgesamt sieben Stellen im Film wird das Familienleben der Grupps gezeigt. Der zeitliche Anteil dieser Passagen macht 16 Minuten aus und bildet damit den zweitgrößten Block. Der Vorgarten des Wohnhauses und der Campingplatz in Seenähe sind die Schauplätze dieser Szenen. Das Interagieren der Familienmitglieder untereinander wird uns im halböffentlichen Bereich, so wie es Nachbarn einsehbar wäre, zugänglich. Während in Teil eins die bereits beschriebenen Szenen auf entspannte Momente des Zusammenlebens schließen lassen, zeigen die Szenen des zweiten Teils kritische Situationen, in denen Türen knallen, Gegenstände umherfliegen und geschrieen wird. Sarah sorgt für diese Turbulenzen und adressiert vor allem die Mutter, die raucht und hilflos wirkt. Teil drei enthält keine Szenen in der Familie. x Szenen – pädagogische Fachkräfte Dieser dominierende Szenentypus nimmt insgesamt 52 Filmminuten ein. Inhaltlich wurde er unter der Überschrift „Besonderheiten der szenischen Darstellung“ bereits erläutert. Mit Ausnahme des Prologs verteilen sich diese Szenen gleichmäßig auf alle drei Filmteile. Ein Vergleich der zugerechneten Szenen zeigt leichte Varianzen: Überwiegend sind es Dialoge zwischen einem Jugendlichen und einer pädagogischen Fachkraft an einem dafür vorgesehenen ungestörten Ort. Teilweise sind die Fachkräfte jedoch auch in der Überzahl und die Gespräche haben dann den Charakter von runden Tischen, an denen eine diplomatische Annäherung und themenbezogene Übereinkunft stattfindet. Charakteristisch ist ferner ihre abgeschlossene Inszenierung, d.h. es wird in den meisten Fällen ein
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Gesprächsauftakt, eine Phase des Austauschs sowie eine Gesprächsbeendigung inszeniert. Damit weisen sich diese Szenen als geregelter gegenüber den Parallelkontexten aus, in die wir lediglich fragmentarische Einblicke bekommen. x Szenen – Filmemacherin Szenen, in denen die Filmemacherin als Figur eine Rolle spielt, sind rar und speziell für den Erzählkontext Simeon vorgesehen. An zwei Stellen – einmal in Teil eins und einmal in Teil zwei – in einer gesamten Länge von etwa drei Minuten reagiert Simeon vor laufender Kamera auf die Filmemacherin. Sie ist weder zu sehen noch bringt sie sich – außer einer kurzen Frage „Was?“ – verbal ein. Dennoch ist durch Simeons Blickrichtung zur Kamera hin deutlich, dass er sie adressiert. Die beiden Szenen sind umso bemerkenswerter, da sie eine filmische Methode einführen, die die Wahrnehmung aller übrigen Aufnahmen beeinflusst. Die Methode ist darauf ausgelegt, Erzählinhalte zu aktivieren, die ohne eine teilnehmende Kameraarbeit132 nicht einzuholen wären. Simeon hat keinen Ansprechpartner, dem er diese Inhalte mitteilen würde bzw. mitgeteilt hat. Der Umkehrschluss legt nahe, dass alle übrigen Inhalte nicht dieser Sondermethode bedurften und damit nicht speziell für die Kamera arrangiert wurden, sondern ebenso ohne ihre Anwesenheit stattgefunden haben könnten. Insofern wirken sich die beiden genannten Szenen als Authentisierungsstrategie auf den gesamten Film aus. x Szenen – nichtunterrichtliche Schulzeit Der Schulalltag stellt neben Unterricht und intensiven Gesprächen mit pädagogischen Fachkräften ein weiteres Segment der filmischen Erzählung dar. Sie rangieren im Zeitanteil an dritter Stelle noch vor den Szenen, die die Beziehung zwischen Sarah und Simeon behandeln (s.o.). Die insgesamt elf Szenen in einer Gesamtlänge von etwa neun Minuten zeigen informelle Momente des Schullebens. Ausgenommen davon ist die Hauptschulabschlussfeier, an der die Urkunden der bestandenen Prüfung überreicht werden. In ihren unterschiedlichen Akzenten und diversen dargestellten Aktionsformen tragen sie zu einem Eindruck über Selbstverständlichkeiten des schulischen Miteinanders bei, an dem die Jugendlichen aktiv teilhaben. x Szenen – Unterricht Mathe, Englisch, Deutsch – drei Szenen geben uns in insgesamt vier Minuten einen kurzen Einblick in das unterrichtliche Geschehen in Klasse neun der Schule für Erziehungshilfe in Tuttlingen. Es ist Sarahs und Simeons Klasse, die in den 132
Den Ausdruck ‚teilnehmenden Kameraarbeit’ benutze ich in Anlehnung an wissenschaftliche Beobachtungsverfahren, die je nachdem, ob die BeobachterIn aktiver Teil des beobachteten Feldes ist oder nicht, als teilnehmend oder nicht-teilnehmend klassifiziert werden (vgl. Flick 1995: 152).
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Hauptfächern unterrichtet wird. Dass es sich um eine besondere Gestaltung des Unterrichts handelt wird daran deutlich, dass nur etwa sieben Jugendliche die Klasse besuchen, dass Patrick, der Nebensitzer von Simeon, einen Kopfhörer trägt und sich offensichtlich durch noch anders als die Lehrerin berieseln lässt, dass anstatt von Frontalunterricht individuelle Lernphasen und Teamarbeit vorherrschen und die Lehrerin sich zwischen den Lernenden hin und her bewegt und schließlich dass eine weitere Fachkraft einem Jungen während des Deutschunterrichts die Schultern massiert. x Szenen – Prüfung In zeitlich geringstem Umfang (ca. 2,5 min.) finden sich in Teil 2 zwei Szenen, die nahtlos ineinander übergehen und die Matheprüfung zuerst an der Schule in Tuttlingen und dann in Trossingen zeigen. Die beiden Szenen bilden einen Block und enden etwa zur Hälfte der Filmzeit. Während wir in der ersten Szene den Prüfungsbeginn mitbekommen, sehen wir in der zweiten Szene Sven, der als einzelner die Matheprüfungsarbeit schreibt und sich zum Abgeben entschließt. Die stille Konzentration löst sich damit wieder in die übliche Plauderei zwischen Sven und den Lehrkräften auf. x Szenen – Peers Szenen, die explizit die Umgangsformen unter Peers zeigen, sind selten und verweisen darauf, dass der Film die inhaltliche Ausarbeitung des Themas auf bestimmte Beziehungsformen konzentriert, zu denen die Gleichaltrigengruppe nicht gehört. In Teil 2 findet sich eine Szene, in der Simeon und Sarah mit Freunden am Rande des Schulgeländes stehen und über Drogen reden, die ihnen für den Moment passend erscheinen. Sie scherzen miteinander und das heimliche Bier unter der Jacke wandert unter ihnen umher. Eine weitere Szene in Teil 2 zeigt Simeon im Kontakt mit einer alten Freundin aus seiner Zeit im Kinderheim. Simeon besucht sie und beide freuen sich, einander wieder zu sehen. Insgesamt haben diese Szenen in einer Gesamtlänge von 2,5 Minuten einen marginalen Stellenwert. x Szenen – ohne Dialog Schließlich gleichen sich fünf Szenen darin, dass sie ohne Dialog auskommen und durch Musik dominiert sind. Sie sind also expressiv gestaltet und weisen eine Gesamtlänge von 3,5 Minuten auf. Im Einzelnen handelt es sich um - die Fahrten zur Schule am Anfang jedes Teils, - eine Zugfahrt Simeons nach Sigmaringen und - eine Szene, in der ein Rückschnitt auf jene Szene erfolgt, die Simeons Aufbruch in seine Vergangenheit (in Sigmaringen) voranging.
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Die beiden zuletzt genannten Szenen bilden eine Klammer um die inhaltliche (nicht filmische!) Rückblende in Simeons Lebensgeschichte. Diese fünf Szenen sind dezidiert als ‚Transitstrecken’ eingesetzt, die zwar die Handlung inhaltlich nicht voranbringen, jedoch einen Spurwechsel in der Perspektivierung vorbereiten. Sie beinhalten kein Interaktionsmilieu. Was kann aus der Mischung von Szenen und Interaktionsmilieus geschlossen werden? Erstens gilt Absicht, den Milieuwechsel zu zeigen, d.h. vor allem im zweiten und längsten Teil wechseln die Milieus innerhalb der Szenenfolge (Episode) häufig. Zweitens gilt, dass kein Interaktionskontext in annähernd gleicher Intensität wie die Szenen mit den pädagogischen Fachkräften dargestellt wird. Jene Szenen werden durch andere lediglich unterbrochen, die seltener sind oder Ausnahmekontexte zeigen (z.B. Prüfungsszene, Szenen mit Filmemacherin). Was bedeutet das? Die Frage richtet sich an die Metakonstruktion des Films. Mit dieser Vorgehensweise wird vermieden, im Film ein essentialistisches Bild über die drei Jugendlichen zu schaffen. Sie zeigen sich immer wieder anders, je nach Interaktionsmilieu. Der Film macht nicht das Sein, sondern das Verstehen dieser Jugendlichen zum Thema und blockiert damit die Möglichkeit, sie vorschnell von der Idee einer positiven ‚Karriere’ auszuschließen. Dabei ist klar, es handelt sich um ausgewählte Szenen, die jeweils ein hohes Potenzial an sozialräumlicher Ausdrucksstärke beinhalten (vgl. Kap. 6.3 zur Analyse von Raum). Die Zusammenstellung ist also keineswegs zu verwechseln mit realen Tagesabläufen der Jugendlichen, in denen Komponenten von Beratung und Unterstützung durch pädagogische Fachkräfte faktisch eine viel geringere Rolle spielen. Die überproportionale Darstellung und dadurch bedingte Übertreibung ist nicht einem Realismus verpflichtet, sondern dient als Konstruktionsmerkmal einem dialektischen Prinzip, das vorläufige Gewissheiten mit Ungewissheiten konfrontiert und in Ambivalenzen auflöst. Handlung: Teil zwei Auf dem Weg zur Schule. Svens Tag in der Schule beginnt damit, dass er im Lehrerzimmer eine Flasche Sekt ankündigt. Szenenwechsel. Der Mathelehrer macht es spannend, was in der Mathearbeit für Svens Mitschüler herausgekommen ist: Der Junge hat ein sehr gutes Ergebnis erzielt. „Jetzt kommt das große Problem“; Sven ist gemeint, er hat die Arbeit vermasselt. Der Lehrer kniet an seinem Arbeitstisch und macht die Mankos in der Arbeit deutlich: „wirre Zahlen, keine Rechnung, nichts“. Sven will besser sein, der Lehrer gibt ihm zu verstehen, dass dies nicht ohne Anstrengung gelingen kann. „Fang an mit Aufgabe 22 und
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23“. Die Seiten des Mathebuchs gleiten an Svens Daumen entlang, die Ausfluchtbewegung zeugt von Enttäuschung. Episodenwechsel. Sarah schläft mit dem Kopf auf dem Unterarm, der auf dem Schultisch abgelegt ist. Die Kamera beobachtet sie eine ganze Weile wie eine Nebensitzerin, bis Sarah aufblickt und die visuelle Aufmerksamkeit auf die vorlesende Jessika fällt. Deutsch. Deutschlehrerin: „Gut, was steht da drin? Sarah: Keine Ahnung, die hat viel zu schnell gelesen. Jessika: Ja dann lies doch du. Sarah: Ich kann wenigstens lesen, im Gegenteil zu Dir. Jessika: Lies vor! Sarah: Ne, ich lese nicht vor. Deutschlehrerin: Sarah, liest Du? Sarah: Ich habe aber kein Buch und ich lese auch nicht.“
Von allen Seiten bekommt sie Bücher gereicht und Gelächter hebt die Stimmung in der tristen Deutschstunde für kurze Zeit an. Sarah liest. Szenenwechsel. „Ich bring mich einfach um.“ Sarah und ihre Deutschlehrerin sitzen eng beieinander auf einer Bank an der Wand des leeren Schulflurs. Sarah schaut die Lehrerin nicht an, ihr Blick ist auf ein Päckchen Rasierklingen in ihren Händen gerichtet, während sie widerspenstig erklärt, Angst davor zu haben, dass sie mit einem Auszug aus dem Elternhaus die Möglichkeiten einer besseren Beziehung zur Familie und zu sich selbst verspielen würde. Die Lehrerin versteht die Krise und macht ihr Mut, das Risiko einzugehen. Sarahs Finger greifen das Rasierklingenpäcken immer wieder so an, als wollten sie eine Klinge herausschieben. Die Kamera kommt wiederkehrend darauf zurück, indem sie das Bild dieser bewegten Finger als dritten Aufmerksamkeitspunkt nimmt. „Ich spiele nicht, ich baue Stress ab.“ Sarah versteht, warum sie das gerade tut. Die Lehrerin fordert sie zu einer Alternative auf und will mit ihr die restlichen sieben Minuten einmal um den Block laufen. Die beiden hatten eine feste Verabredung. Die Krise hat sich im Rahmen einer üblichen Einzelberatungsstunde abgespielt. Aus schlummernden werden in Teil zwei also akute Probleme. Episodenwechsel. Zuerst Sven, dann Sarah und nun Simeon – worin besteht sein Problem? Die Haare schwarz gefärbt sitzt er im selben Zimmer wie in Szene sieben, am gleichen Platz. Mit am Tisch sitzen der Rektor und Herr Strohm vom ‚Betreuten Jugendwohnen’. Der Rektor beginnt das Gespräch, indem er zusammen mit Simeon einen aktuellen Stand zu dessen Wohnsituation zusammenfasst. Das Treffen wird als Vorstellungsgespräch kenntlich, mit Simeon als Anwerber auf einen Platz im ‚Betreuten Jugendwohnen’. Der Rektor verabschiedet sich nachdem der formale Rahmen geklärt ist. Strohm fordert Simeon dazu auf, seinen bisherigen Werdegang darzustellen. Simeon beginnt eine Aufzählung von in seiner Bilanz misslungenen Unterbringungsversuchen in stationären Jugendhilfeeinrichtungen.
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Im Schuss-Gegenschuss-Verfahren verfolgen wir die Nüchternheit und Distanziertheit, in der Simeon seine ‚Heimkarriere’ vorbringt – „dann (ist es) halt voll ganz ausgeartet“ – und wie der Sozialpädagoge schließlich darauf reagiert: „Zutrauen, denke ich, kann man dir das jetzt.“ Episodenwechsel und Temperatursprung. Wieder an einem See umringt von flachen Bergen in warmem Sonnenlicht sehen wir Simeon und Sarah einander umarmend auf einen Bootsverleih zusteuern und schließlich ‚in See stechen’, Simeon am Lenkrad und Sarah bald mit dem Kopf an seinem unteren Rücken liegend. Das Fahrwasser springt ihr über die ausgestreckte Hand, die sie ins Wasser hält. Simeon ist als Fahrer aufgekratzt und will alles richtig machen. Sarah genießt die Situation mit ihrem Freund – ‚auf dem See’.133 6.2.5 Filmische Präsentation: Was sind Dokumente? Im Filmverlauf werden keine Dokumente, die über den Zustand der Jugendlichen berichten würden, eingespielt z.B. psychologische Gutachten eines BorderlineSyndroms oder einer posttraumatischen Störung, Aktenvermerke, Resümees von Hilfeverläufen, Fotos der Misshandlungen Simeons durch seine leiblichen Eltern. Wenn nicht über manifeste Dokumente, über welche Quellen authentisiert „Schule des Lebens“ dann seinen Inhalt? Mit Bezug auf die ethnographische Forschung kann hierzu eine Idee gewonnen werden. Mohn beschäftigt sich in ihrer Studie ‚Filming Culture – Spielarten des Dokumentierens nach der Repräsentationskrise’ mit (wissenschaftlichen) „Kulturtechniken einer methodischen Herstellung von Sichtbarkeit“ (Mohn 2002: 10). Sie bewegt sich in ihrer Argumentation zwischen wissenschaftlichem und dokumentarfilmischem Handlungsverständnis. Ein von ihr zugrunde gelegtes Konzept des Dokumentierens geht davon aus, dass Dokumentieren einer alltäglichen Handlung entspricht, die wir in interaktiven Situationen vollziehen, indem wir Sinn zuweisen. „Es geht bei den untersuchten Konzepten des Dokumentierens um verschiedene Vorgänge des Verwirklichens“, Dokumentieren ist so verstanden eine „Prozesskategorie sozialer Interaktion“ (ebd.: 11). Entsprechend besitzen auch Dokumente flüchtigen Charakter, da sie konstitutiv auf „soziale Praktiken, etwas als Dokument zu betrachten“, angewiesen sind. Verzichtet „Schule des Lebens“ nun auf manifeste Dokumente, bedeutet das, dass der Film auf die Festschreibung der Sinngültigkeit seiner Aussagen zwar nicht verzichtet, sie jedoch verzeitlicht. Die Interaktionen in den unterschiedlichen Milieus sind situa133
Die Assoziation zum gleichnamigen Goethe-Gedichts der „Sturm und Drang“-Dichtung entsteht, weil in dieser Szene die ProtagonistInnen im Gegensatz zu vielen anderen frei von ihren Alltagssorgen und Streitereien ganz bei sich und ihren Ideen zu sein scheinen.
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tionsbezogen emergierende Dokumente, die durch die Regie des situativen Verlaufs, an Aussagekraft gewinnen. Die dem vorliegenden Filmbeispiel nahegelegte Wirkungsabsicht134 wird von Mohn treffend an einer ethnomethodologischen Idee deutlich gemacht. „Garfinkel setzte sich zum Ziel, etwas zu untersuchen, was nur in seinem Vollzug in Erscheinung tritt und sprach davon, ‚to catch the work of ‚fact production’ in flight’“ (ebd. 15). Handlung: Zweiter Teil, Episode fünf ... Ein besonderer Tag verlangt besondere Drogen, keine „schwulen Tabletten“, Joints sind besser. Eine Zigarre hat Simeon für nach der Prüfung besorgt. Mit Sekt und Bier pushed sich die Clique – irgendwo vor der Schule muss es sein – zur Matheprüfung. Sarah hat Geburtstag; ein rot glänzendes Hemd, ein dicker Stoffhase und Gratulationen der Mitschüler und - in der Szene darauf - der Lehrerinnen im gewohnten Klassenzimmer dokumentieren das vollendete siebzehnte Lebensjahr. Der Stoffhase, den Simeon ihr geschenkt hat, geht reihum. Szenenwechsel. Neuer Raum, geordneter Abstand – die Mathelehrerin eröffnet den Zeitrahmen der schriftlichen Prüfung etwas bange: „Es klappt schon“ und teilt die Aufgaben aus. Sie will das Beste für Ihre Schützlinge. Szenenwechsel. Trossingen. Sven über die geometrischen Prüfungsaufgaben gebeugt. Am Kiefertisch gegenüber sitzen sein Mathelehrer und dessen Kollegin. Offensichtlich ist Sven der einzige Schüler, der Mathe schreibt. Liegt eine besondere Kontrollnotwendigkeit vor, die das Aufgebot von zwei Lehrkräften im Abstand von weniger als einem Meter zum Prüfling rechtfertigt? Sven gibt ab. „Sicher Sven?“ Es kommt zu einer Wette zwischen der Lehrerin und Sven, der auf den Hinterbeinen seines Stuhls wippt und ansagt: besser als viereins. Sollte er verlieren, kommt er einen Tag im Kleid in die Schule. Szenenwechsel. Sarah sitzt auf den Steinstufen des Treppenhauses in der Schule. Sie gestikuliert heftig und ihre Beine stehen nicht still vor Nervosität. Die Verschuldungen der Mutter geben Anlass ‚Dampf abzulassen’. Eine Mutter, die dann auch noch bei den Kindern Schulden macht „ist nicht ganz beieinander“. Die Deutschlehrerin hört zu und will darauf hinaus, dass dies nicht Sarahs Probleme sind und sie sich nicht dafür zuständig fühlen sollte. Die Mathelehrerin hält es für nicht richtig, dass ein solcher Tag von Sorgen überschattet wird. Die Matheprüfung sei schließlich geschafft. Sie wünscht ihr einen schönen Geburtstag. Episodenwechsel. 134
Möglicherweise sind es ausschließlich ästhetische Gründe, die zu einem Verzicht auf Quelldokumente führten.
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Dumpfe Technobässe rahmen ein Bild von Sarah zuhause, die entfernt im Fensterrahmen sitzt und auf einen Moment lauert, erneut auszurasten. Unverständliches schreit sie aus dem Fenster auf ihre Mutter und Simeon hinunter, der im Auto von Frau Grupp sitzt. Die Hilflosigkeit der sich nur schwach wehrenden Mutter scheint sie noch rasender zu machen. Wie eine Furie kommt sie zur Haustüre heraus, läuft im Bildhintergrund am Haus entlang, während Simeon im Bildvordergrund lethargisch im Auto kauert. Ein weinroter Opel Rekord Kombi hupt kurz und fährt auf das Haus zu. Es sind Dunja, die älteste Schwester und Sven, die unwissend in die Szene hineinplatzen. Sarah klärt die Umstände, indem sie ein Brett an die Hauswand schleudert und wieder Richtung Haus stürmt. Immer noch Geburtstag. Simeon hat Sarahs Fahrrad geschrottet, worauf sie sich weigert den geplanten Ausflug an den Bodensee mitzumachen. Die Wut projiziert sie auf die Mutter, die den Freund schließlich aus dem Auto werfen solle. Simeon geht, Celine tippelt ihm hinterher, Dunja überlegt, ihm Asyl übers Wochenende anzubieten. Sarah pfeffert ihren Rucksack in den Kofferraum des Pandas, der Ausflug beginnt, ohne Simeon. Szenenwechsel. Das Gegenlicht zeichnet die Konturen der Mädchen in Badeanzügen ab, wie sie sich gegenüberstehen und Steine jeweils kurz vor der anderen ins Wasser werfen. „Was soll das werden? Ein Kinderspiel oder was, hier?“ ruft Sarah der anderen, ihrer Nichte Alice zu und jagt sie aus dem Wasser. In Handtücher gehüllt stehen sie am Strand, Alice beginnt die Jungen aufzuzählen, die sie bisher hatte. „So etwa hundert“ kürzt Sarah die Kinderei ab und will was essen gehen. Szenenwechsel. Vor dem Wohnwagen sitzend wirft Sarah einen Stein nach dem anderen und spricht folgende Worte wie ein Mantra vor sich hin, Alice sitzt daneben: Sarah: „Ich gehe jetzt vor, ein Cola trinken, danach ein Cola-Weizen und da danach zwei Wodka und da danach gehe ich ins Krankenhaus und da danach komme ich wieder hierher und da danach gehe ich in die Klapse und da danach schickt mich meine Mutter sowieso dahin und da danach gehe ich vor Gericht und da danach verklage ich dann die Bullen und da danach komme ich dann sowieso in den Knast und da danach verschlage ich die Bullen schon wieder und da danach bin ich schon wieder im Knast und dann komme ich nicht mehr raus.“
6.2.6 Filmsprachliche Umsetzung: Aufbau eines situativen Verlaufs Der überwiegende Teil der filmischen Aufnahmen ist mit der Handkamera realisiert.135 Dieser Vorgehensweise entspricht eine bestimmte Art der bewegten Kameraführung, die ergänzt ist durch die Neutralität des Filmteams während der 135 Man erkennt die flexible Schulterkamera vor allem daran, dass zwischen den Einstellungen einer Szene die Kadrierungen gleicher Personen stets leicht variieren, woraus sich schließen lässt, dass der Kamerastandort inzwischen verlagert wurde.
6.2 Analyse der Handlung im Kontext von Erzählstruktur und Filmsprache
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Aufnahme. In der Stilrichtung des Direct Cinema wurde diese Haltung als Motto des Nichteingreifens verallgemeinert. Die Filmschaffenden stellen keine Fragen, geben keine Anweisungen und vermeiden in der Aufnahme die direkte Kommunikation (vgl. Beyerle 1991: 30). Die Inhalte entwickeln sich scheinbar aus der Situationsdynamik heraus, die Kamera registriert sie.136 Ein Rückblick in die Filmgeschichte zeigt, dass mit dieser Methode eine besondere Auswahl der Sujets einhergeht. Eine hohe Affinität für die Methode haben Themen mit „Crisis structure“, die z.B. Erfolg und Misserfolg, Gewinnen und Verlieren oder Wettbewerbssituationen beinhalten. Menschen in solch brisanten Kontexten sind auf ihr Vorhaben konzentriert und nicht auf eine sie begleitende Kamera (vgl. ebd.: 34). Auf ihre Ignoranz gegenüber der Kamera ist die Methode nämlich ebenso angewiesen. „Als Beobachtende unproblematisch zu werden erfordert Arbeit an der situativen Dethematisierung des Beobachtens“ (Mohn 2002: 84). Mohn bringt diese Vorleistung in Verbindung mit einem Ansatz, den sie als „starkes Dokumentieren“ bezeichnet und der mit der Frage verbunden ist, wer eigentlich Regie führt. Die Kameraführung in „Schule des Lebens“ sowie das Schnittprinzip sollen nun unter diesem Aspekt betrachtet werden.137 Was heißt starkes Dokumentieren? Zunächst ist damit ein Kontrast zur Erzeugung von Selbstverständlichkeiten gemeint. „Starkes“ im Unterschied zu „schnellem“ Dokumentieren (ebd.: 20) erzeugt nicht-selbstverständliche Erkenntnis und verfolgt insofern die gleichen Absichten wie empirisch-wissenschaftliche Zugänge. In der Haltung von Noch-Nicht-Wissenden setzt man sich dem Beobachtungsfeld aus und diszipliniert sich darin, nicht vorschnell zu interpretieren, denn Sinnstiftung soll gerade verzögert werden, so Mohns Quintessenz. Anhand von mehreren Merkmalen charakterisiert die Autorin diese herbeigeführte künstliche Sinnstiftungsaskese. Ein Merkmal ist die Frage der Regieführung: „Der Augenblick der Beobachtung wird zu einer normativen Instanz starken Dokumentierens“ (ebd.: 31). Die Kameraführung steht daher unter einer kurzfristigen Planung, die „ Elemente der Situation als Regieanweisung“ (ebd.: 30) einsetzt. Theorielos und geleitet durch immanente Impulse soll das Material auch durch den Schnitt ‚an sich selbst’ ausgerichtet werden. Das Material an sich selbst ausrichten bedeutet für „Schule des Lebens“, Kommunikationsstrukturen nachzuvollziehen. Es sind keine starken und beeindruckenden Bilder, die dieser Film präsentiert. Eine Bildkomposition, die die 136
Das Direct Cinema wird zumeist mit technischer Innovation in Verbindung gebracht, die ein neues Verhältnis zwischen Filmern und Gefilmten erlaubt. Dieses Verhältnis dimensioniert sich über physische Zugänglichkeit und Abständigkeit und damit auch über eine Anpassungsfähigkeit gegenüber situativer Dynamik. Handkamera und Synchronton sind die beiden entscheidenden Techniken eines „direkten Kontakts mit und der Erfassung von Realität“ – so die Idee (Schillemans 1995: 15f). 137 Vgl. Mohn 2002: 25-66.
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Filmanalyse II: „Schule des Lebens“
Gegenstände im Sichtbereich in ein wohlgeordnetes Bild versetzen würde (in ausgeglichener Spannung), wird in den meisten Einstellungen vernachlässigt. Chaotisch und visuell missachtet erscheinen die Dinge im Raum, die sich unsystematisch staffeln und ihn in die Tiefe, Breite und Höhe entwickeln. Was heißt das? Zunächst wird der Anschein einer Amateurkameraführung erweckt – dabei sein ist alles. Im Unterschied zur Amateurkamera ist diese Kameraführung weder mit sich selbst beschäftigt – es sei denn die Schärfe muss nachgezogen werden –, noch setzt sie sich über die Szene hinweg, indem beispielsweise eigensinnige Verläufe konstruiert würden. Die Kameraführung folgt offensichtlich keinen vorherbestimmten Zeigeabsichten,138 sondern orientiert sich am Situationsverlauf. Damit ist gemeint, dass die Kameraführung überwiegend und in den meisten Szenen einer der Bezugssituation immanenten ‚Spur’ folgt, dabei als dritte Person dokumentiert und damit die Offenheit und Vagheit der Situation peu à peu in Verständlichkeit (Gewissheit) – abhängig von ihren Möglichkeiten des Verstehens – überführt. Die Kamera, als anwesende Akteurin, zeigt sich als organisierendes Subjekt in unmittelbarer Unkenntnis der Situationsdynamik. Was tun? Ihre Aufgabe wird thematisiert. Um der Situation folgen zu können muss die Kamera Muster entdecken. Indem sie sich an diesen Mustern orientiert, führt sie formale Strukturen ein, die sie dann immer wieder benutzt. Damit dokumentiert sie die Situation als spezifischen Vollzug einer Interaktion. Worin bestehen nun, ausgehend von dem was wir sehen, diese Muster? Die entdeckten Muster, auf die sie reagiert, liegen im Zuhören, im Wechsel der Aufmerksamkeiten der Sprecher, im Bemühen um Verstehbarkeit, im Warten auf den abschließenden Handschlag, der die Sinnstiftung vorläufig konsolidiert. Im Film wird in immerhin elf Szenen das ‚Shake Hands’ zwischen pädagogischen Fachkräften und den Jugendlichen hervorgehoben. Anders dagegen funktioniert die eben beschriebene krisenhafte Auseinandersetzung im Vorgarten. Die Kamera weicht hier ab von ihrem gewohnten Skript: Totale, Halbtotale, Halbtotale, Totale etc. – sie geht also erstens auf Abstand und benutzte ‚kalte Nähe’, arbeitet mit dem Zoom. Die interne Montage dieser Szene zielt zweitens auf ein polyphones Bild, d.h. immer mehr Stimmen von hinzukommenden Figuren werden integriert und zugleich reagieren die Figuren nur verhalten aufeinander. Sarah schreit, Simeon entzieht sich der Situation, die Mutter greift zu den Zigaretten, die große Schwester runzelt die Stirn etc. Ein gemeinsames Verständnis besteht darin, dass Sarah „mal wieder spinnt“. Sarahs 138
Ein Duktus des Zeigens bestünde beispielweise im Schwenken über umgebende Landschaften, in aufeinander aufbauenden Einstellungen, die sich in einen bekannten Raum hineinentwickeln oder diesen vom Detail zum Gesamt ‚aufziehen’. Räumlichkeit wird jedoch nicht aufgebaut, die Kamera ist vielmehr anwesend, Gast in der Szene, die sie freundlicherweise übersieht, von der sie sich jedoch anstecken lässt.
6.2 Analyse der Handlung im Kontext von Erzählstruktur und Filmsprache
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Verhalten wird ein Ausnahmestatus zugewiesen, die Anwesenden gehen kaum genauer darauf ein. Kamera und Schnitt folgen so dem diffusen Empfinden der Familienmehrheit, Sarah allerdings bleibt von diesem Konsens ausgeschlossen, ebenso wie ihr destruktives Verhalten uninterpretiert bleibt. Schließlich ist die Szene drittens frei von Ritualen, die Auseinandersetzung bleibt ungelöst. Handlung: Teil zwei, siebte Episode (nach der Halbzeit) Der Film organisiert im Folgenden einen Exkurs. Simeon schaut aus dem Zugfenster auf eine vorbeirauschende Landschaft. Gitarrenmusik treibt die Sequenz zusätzlich an. Er fährt rückwärts. Angekommen in einer Kleinstadt sucht er sein ehemaliges Heim auf. Jessica, eine alte Freundin empfängt ihn. Die längste Szene des Films (7:10 min.) beginnt mit dem Hinzukommen der ehemaligen Betreuerin Simeons. Mal stehen sie, mal sitzen sie und reden darüber, wie alles war, damals als Simeon ins Heim kam und schließlich wieder gehen musste, weil eine intensivere pädagogische Intervention notwendig war. Simeons Vergangenheit aggregiert sich anhand der erwähnten Details zu einer Erfolgsgeschichte sondergleichen. Es scheint so, als habe sich sein Leben entscheidend gewandelt, indem er die erlebte Gewalt hinter sich gelassen hat: „Da sind Welten dazwischen. Welten zwischen vor Südafrika und heute. Und das freut mich“ (ehemalige Betreuerin). Sentimental stimmende Gitarrenmusik verknüpft im Nachklang dieser abschließenden Worte die Szene in Sigmaringen mit dem Ausklang von Sarahs Geburtstag. Rücksprung in die sechste Episode. Beide Mädchen sitzen bei Dunkelheit am Seeufer, angezogen von dem Schauspiel eines kleinen Feuers, das sie sich angezündet haben. Episodenwechsel. Sarah im Reitstall. Sie bringt die Systematisierung, wann welches Heu zu füttern ist, sofort in Verbindung mit der Vermeidung von Koliken bei den Pferden. Die Reitlehrerin ist überrascht und macht einen Zeitsprung nach vorn: „Das wäre der richtige Job für dich.“ Episodenwechsel. Am runden Tisch mit Petra und den Leuten vom betreuten Jugendwohnen wird schließlich nach einem Termin gesucht, an dem Sarah sich die WG anschauen kommt. Der morgige Tag geht nicht, denn es ist Schulausflug. Die Kleinklasse fährt nach Schorzingen. Simeon zeigt aus dem Fenster des Kleinbusses auf das Haus der Eltern. Pflichtbesuch KZ-Gedenkstätte. Dann wieder Sondersituation. Simeon adressiert die Kamera direkt, er öffnet einen Brief, den er an seine Eltern geschrieben hat, albern vorbildlich und trägt den Inhalt zunächst mehr, dann weniger affektiert vor.
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Filmanalyse II: „Schule des Lebens“
6.2.7 Filmische Präsentation: Expressive Gestaltungselemente als Besonderheit Wenn Simeon sich auf einen der vielen Grabsteine auf einem Friedhof setzt, dann ist in diesem Moment eine symbolische Inszenierung geschaffen, die über den Grad an symbolischer Verdichtung in anderen Szenen hinausgeht. Nicht nur weil ein Friedhof ein ritueller Ort ist, an dem spirituelle Handlungen vollzogen werden, sondern auch weil es sich um die zweite Szene handelt, in der die Filmemacherin ihre Anwesenheit Preis gibt und Ansprechperson für Simeon ist, liegt eine Besonderheit vor. Der Interaktionstypus zwischen beiden ist keineswegs nur durch den Jungen beeinflusst, der sich bewusst auf die Kamera bezieht und sich zunächst affektiert gibt, sondern auch durch die Filmemacherin, die ihn bewusst in Szene setzt. Wie? Die zahlreichen steinernen Grabkreuze in Reihe machen rasch klar, dass es sich um die Grabstätte der Opfer des Naziregimes in dieser Region des Donautals handelt. Die vorausgegangene Szene legt dies nahe.139 Simeon, der sich auf ein solches Grabkreuz setzt, löst eine mehrdeutige Assoziation aus: Er stört die Totenruhe und er weckt mit seinem Vorhaben „die Leichen“ seiner Vergangenheit. Auch er fühlt sich als Opfer und will Abschied nehmen von denen, die er als Peiniger ansieht, seine Familie. In diesem Doppelsinn liegt eine Verstärkung seines Vorhabens durch den räumlich-symbolischen Kontext. Die Filmemacherin entlässt Simeons Worte an die Eltern in das Assoziationsfeld der Gedenkstätte: Ungerechtigkeit, Schuld und ein Leben ohne Wiedergutmachung. Die Kulisse gibt seinem Brief Ernsthaftigkeit und dramatisiert den Inhalt zusätzlich. Erinnern wir uns an die erste Szene, in der Simeon die Filmemacherin adressiert, dann zeigt sich ein ähnlicher Effekt: Simeon, mit der kleinen Nichte Celine an seinen Köper geschmiegt, will nie Vater werden. Diese Einstellung präsentiert ein kontrastierendes Zusammenwirken von Wort und Bild, indem das Bild eine Idee präsentiert, die in der Planung des Jungen nicht in Frage kommt. Der Moment wirkt paradox, weil nicht vorstellbar ist, dass der Junge zuschlägt. Der Film behandelt also durchaus auch Themen, die nicht an der Oberfläche des visuell Nachvollziehbaren liegen und wählt dafür eine abweichende Inszenierungsform, die zwar an den Lauf des Geschehens anschließt, jedoch durch die Anwesenheit der Filmemacherin und durch symbolische Posen und Handlungen markiert ist. Ein Grund für diese Abweichung könnte darin bestehen, dass das kaschierte Familienthema aktuell nicht pädagogisch bearbeitet wird, für die fil139
Es ist die Rede von 549 Leichen, die in einem Massengrab gefunden wurden. Auf ihre Identität wird nicht genauer eingegangen. Da es sich um Grabkreuze handelt, ist davon auszugehen, dass es sich nicht um jüdische Menschen handelte, sondern um aus anderen Motiven Verfolgte oder um Euthanasieopfer.
6.2 Analyse der Handlung im Kontext von Erzählstruktur und Filmsprache
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mische Erzählung allerdings eingeholt werden soll. Es wird also rekonstruiert anstatt registriert. Damit überschreitet das Filmprojekt die Zurückhaltung, an die es sich zumeist hält. Ein weiteres Element der expressiven Filmgestaltung liegt im Einsatz von Filmmusik, die sich an insgesamt neun Stellen mit dem Originalton vermischt. Es handelt sich um eine einfache Komposition im Stil melancholischer Rockmusik, die in Variationen aufgegriffen wird und im Verlauf des Films an Substanz gewinnt. Dumpfe einzelne Klänge werden anfänglich eingesetzt und überlagern die erste Transitstrecke in die Schule. Die Instrumentals schmiegen sich an das jeweilige Bild, z.B. des schlafenden Mädchens, der sinnierenden Sarah im Unterricht, des Sommertags am Seeufer und des knisternden Lagerfeuers etc. Als zweite Konstruktionsschicht versehen sie die Ansicht der Jugendlichen mit emotionalem Sinn.140 Die Gitarren-Jams wirken vertraut, indem sie ein einfaches harmonisches Schema benutzen. Schlicht nach dem Motto ‚weniger ist mehr’ hebt z.B. eine verzerrte einzelne Sologitarre den Fluss der Dinge auf ein leicht abgehobenes, der ‚Realität’ entrücktes Niveau. Es ist nicht die Musik, die die Jugendlichen hören und die Ihnen einen Kick verschaffen könnte, dem Publikum jedoch schon – ‚und dann sind sie Helden für nur einen Tag’141 – wann endlich? Die Musik ist nicht nur Kompliment an die drei Jugendlichen sondern auch Statement der Filmemacherin: Sie tritt für sie ein. Indem die Musik weitgehend an alternative Bilder gebunden ist, trägt sie zu einem alternativen Deutungsschemata im Film bei und normalisiert die Jugendlichen durch Aufbruch, Romantik und auf der Suche nach guten Gefühlen. Handlungsfortsetzung: Teil zwei, zehnte und elfte Episode ... Sarah zieht aus. Das Bild zeigt einen im Wohngebiet der Grupps vorfahrenden Kangoo, der für solche Fälle praktisch ist. Ein Sozialarbeiter übernimmt das Stapeln im Innenraum des Wagens, Sven und Pascal bringen die Umzugskartons herbei. Ein zweiter Wagen parkt. Es ist Sarahs Betreuerin Petra, die in schwarzem Kleid aus dem weißen Jeep steigt und den Vorgarten, das Terrain der Grupps also, betritt. Zum ersten Mal in der filmischen Erzählung kommen die zuvor szenisch voneinander getrennten Interaktionsmilieus miteinander in Kontakt und – wie sollte es anders sein – die Figuren reagieren aufeinander, in der Hauptsache Sven, durch seinen Bruder Pascal unterstützt. Ein latenter Macht140
Mikunda beschreibt die emotionale Wirkung von Filmmusik als eine gegenseitige Verstärkung von Musikrhythmus und Bewegungsrhythmus im Bild, „...so daß alles dazu neigt, mit dem Rhythmus zur Übereinstimung gebracht zu werden“ (Kreitler/Kreitler, zit. in Mikunda 1986: 194). 141 Liedzeile aus David Bowies Stück „Heroes“ aus dem Jahr 1977.
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kampf entwickelt sich zwischen beiden. Die Einmischung der Pädagogin in den Ablauf des Auszugs kanalisiert sich für Sven auf den Vorsatz: sie darf nicht ins Haus kommen, das Haus ist tabu. In entsprechendem Gebärdenspiel mit einem Kantholz in der Hand versucht er sie zurückzuhalten. Er wird ausgelacht: „Oh, der starke Sven“. Damit nicht genug, sie mischt sich selbst in sein Ding mit Pascal ein, der im ersten Stock damit Aufmerksamkeit erheischt, dass er den Rollladen knallen lässt. Die Sozialpädagogin verbal zurechtweisend sagt Sven: „Was geht Sie an, was ich gegen mein Haus schmeiß?“ Wieder ein Auflachen. Was jetzt? Die Aufmerksamkeit verlagert sich auf die bisher zurückgenommene Sarah, die den kurzen gespannten Moment nutzt, um gegen die Mutter ‚loszuschießen’: „Was will ich mit einem Schuh, wenn der andere Schuh nachher im Mülleimer liegt. Die Frau, die kotzt mich so an“. Der Umzug wird mit Kaffeetrinken in Sarahs neuen vier Wänden abgeschlossen und ein Vorausblick wird in der Runde von Jugendhilfefachkräften, Frau Grupp und Sarah gewagt: Nein, es komme zu keiner Entspannung bei den Grupps, solange Sven noch da ist, Sarah jedoch ist zumindest unter der Woche aus dem „Schussfeld“. Episodenwechsel. Sven sitzt am Verhandlungstisch mit einem Berufsschullehrer. Wohlmeinend unterbricht Sven dessen Bedenken: „Das Wort eines Grupps gilt“. Der Lehrer weist ihn und seine zum Handschlag ausgestreckte Hand zurück. Lehrer: „Ich sage noch ein paar Sachen, dann überlegst Du dir noch mal, ob das Wort noch gilt. (...) Jeder, der von einem BVJ kommt oder einen schlechten Hauptschulabschluss hat von der Hauptschule, der hat einfach schlechte Karten, ja? Also auf dem Zeugnispapier überzeugst Du niemanden. Von daher muss es andere Sachen geben, um dich zu nehmen und dann muss man sich halt auch um Dinge kümmern, oder um Berufe kümmern, die vielleicht auch manchmal… die nicht Traumberufe sind, verstehst Du? Jeder zweite erzählt mir was vom Kfz-Mechaniker, da kommen mir die Tränen, das schafft hier kein Mensch, sage ich mal. Die können alle super Autos schrauben, die können aber nicht eins und eins zusammenzählen“.
Die Verhandlung am Tisch verläuft anders als durch die vorhergehenden erwartet. Svens unrealistische Selbsteinschätzung wird hier mit drastischen Argumenten entblößt, seine soziale Kompetenz, sich in Gesprächssituationen mit Erwachsenen zum ‚MC’ aufzuspielen fliegt als ‚Nicht-Richtig-Zuhören-Können’ auf und zugleich wird seine jetzige Schule – in der dies immer wieder funktioniert hat – als Schonraum kenntlich, den er in ein System mit mehr sozialer Härte verlassen wird. Es ist zu vermuten, dass der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt für Sven schwierig werden wird und – so ließe sich die Szene weiter ausdeuten – die institutionelle Trennung von Bildungs- und Arbeitsmarktsystem diesen schwierigen Übergang mitbedingt, denn das Potenzial zur Integration, das Sven bisher für den alten Kontext Schule nutzte, ist im neuen Kontext Arbeitswelt scheinbar nicht mehr von Wert – „auf dem Zeugnispapier überzeugst Du niemanden“.
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6.2.8 Erzählweise: Kontextabhängigkeit von Problemen Bislang wurden zwei Merkmale beschrieben, die den Eindruck unterstützen, der Film entledige sich teilweise seiner Autorität als erzählende Instanz und verlagere die Regiefunktion vielmehr in die Handlungsvollzüge der Figuren: Ein filmsprachliches Merkmal bezog sich auf die Kameraführung, die sich an der jeweiligen Situationsdynamik orientiert. Gerade durch die Schwierigkeiten, die eigene Beobachtung aus dem Geschehen vor der Kamera rauszuhalten (schnell sein müssen, nicht abschließend kadrierte Einstellungen in Kauf nehmen, Refokussieren etc.), entsteht der Eindruck, dass die Kamerahandlungen situationsspezifische Vollzüge von Interaktionen als dynamische Formen reproduzieren. Darüber hinaus tauchen besondere Akzentuierungen an Stellen auf, in denen ein direkter Blick in die Kamera zu verzeichnen ist. Dadurch wird die Situation, gefilmt zu werden zusätzlich thematisiert. Als weiteres Merkmal wurde ein Interesse für die szenischen Darstellungen der Interaktionen zwischen jugendlichen ProtagonistInnen und pädagogischen Fachkräften festgestellt. Der Film benutzt eine dialogische Erzählweise, die ähnlich wie die Kameraführung immer doppeltes thematisiert – einen besprochenen Inhalt wie auch die Herstellung von Dokumenten über die Möglichkeiten einer kommunikativen Verständigung zweier ungleicher Personengruppen. Ein drittes Merkmal, das ebenso eine übergeordnete Instanz im Handeln der Figuren sucht und auch die Erzählweise betrifft, liegt schließlich darin, dass die zahlreichen Problemstellungen der Jugendlichen in ihrem originären Entstehungskontext belassen werden, so dass keine Möglichkeit zur Verallgemeinerung entsteht. Wann wird ein Problem problematisch? Die Szene zwischen Sven und dem Berufsberater ist ein Beispiel für die Eingrenzung von Problemen auf ihren Kontext. Erst indem Sven auf einen ‚Agenten der Arbeitswelt’ trifft, werden seine Kompetenzen, sich sozial zu integrieren als mangelhaft beurteilt. In anderen Kontexten war dies nicht der Fall, da die Pädagogen dort auf seine Scherze eingingen. Während der Szene entsteht die Frage, ob Sven den Unterschied zwischen beiden Kontexten begreifen und handhaben kann. Weitere Beispiele für diese Erzählstrategie, die sich gegen eine abstrakte Problembetroffenheit richtet: Die riesigen Buchstaben auf Sarahs Unterarm werden in der Sitzung mit dem Therapeuten in Zusammenhang mit selbstverletzendem Verhalten gebracht, denn es ist seine Aufgabe auf solche Zeichen zu achten. Im Fortgang der Handlung werden diese ausschließlich als kontextbedingte Handlungsoptionen weiterthematisiert: Die Rasierklingen sind Sarah in zwei akuten psychischen Krisen zur Hand, einmal ausgelöst durch den Druck von zuhause auszuziehen und zum anderen durch die nichtbestandene Abschlussprüfung. Am offensichtlichsten ist diese Vorgehensweise jedoch bei der Figur Simeon, dessen problematische fami-
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liäre Hintergründe auf nahezu eine Szene konzentriert werden. Um den originären Kontext des Problems zu beschreiben wird ein Zeit- und Raumsprung inszeniert. Simeon war im Kinderheim, als es ihm am schlechtesten erging. Dort – nun in der Rolle eines Besuchers – rekonstruiert er zusammen mit der ehemaligen Betreuerin den ‚Berg’ an Problemen, der damals zu bewältigen war und verlässt den Ort wieder. Es lässt sich daher verallgemeinern, dass der Film die diversen Kommunikations- und Interaktionsmilieus (vgl. Abbildung 11) nutzt, um Problemstellungen auf den Zustand ihrer Bearbeitung oder ihrer Entstehung zu begrenzen. Die Erzählung ermöglicht damit ein hohes Maß an Reversibilität bezogen auf die Belastungssituation der Jugendlichen insgesamt. Die Erzählintention zielt nicht auf eine inhaltliche Verdichtung, trägt also nicht dazu bei, mehr über eine Problemstellung zu erfahren, sondern zielt auf eine Relativierung von Problemen im Kontext der Lebensgeschichte wie auch im Kontext der Summe der aktuellen Lebensthemen der Jugendlichen.142 Handlungsfortsetzung bis zum Filmende ... Sarah greift zum Schlüsselbund, schließt ihr Zimmer ab und verlässt das WGHaus. Sie macht sich auf den Weg zur Schule. Erste Bilanz: Sarah hat sich in neuen Wohnverhältnissen eingerichtet. Musikalisch verbunden ist diese Szene mit einer nächsten, in der eine Naheinstellung den Rumpf einer Person zeigt, die sich das Kleid vorne zuknöpft – Humor als weiteres situatives Gestaltungsprinzip. Die Lehrkräfte reagieren amüsiert auf Svens Erscheinen im Kleid und fotografieren sich mit ihm. Zweite Bilanz: Svens Prüfungsarbeit ist schlechter als 4,0 ausgefallen. Szenenwechsel. Ein geschlossener roter Bühnenvorhang öffnet sich und Schlagzeugstöcke kündigen die Schulband an. Peinlichkeit – kindliche Jungen präsentieren sich in einer Rolle, die ihnen eigentlich nicht zu Gesicht steht. Verklemmt machen sie Rockmusik, konzentrieren sich darauf, nichts falsch zu machen und mit der Bühnensituation zu Recht zu kommen. „Hauptschulabschluss, Hauptschulabschluss...“ singt einer der Jungen in wechselnden Tonhöhen ins Mikrophon. Zwei Lehrer unterstützen die Band an Bass und Gitarre. Kriegen sie die einfa142
Der Unterschied zwischen den aufgezeigten Varianten liegt darin: Anstatt ein universelles Problem (negatives Phänomen wie z.B. Schulmüdigkeit) in seiner Auswirkung auf Betroffene zu fokussieren und deren Unterlegenheit als Problemgruppe (Benachteiligte) aufzuzeigen, wird das die Probleme managende Subjekt thematisiert. Ein solcher Perspektivenwechsel findet sich im Rahmen jugendhilfetheoretischer Zugänge zur Lebenswirklichkeit von Heranwachsenden beispielsweise in einer kritischen Betrachtung im Sprechen über ‚soziale Benachteiligung’(vgl. Stauber/Walther 1999: 30f).
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chen Riffs nicht selbstständig hin? Warum singen sie so monoton? Die versammelte Schülerschaft gibt ihnen großzügig Beifall. Die Ansprache des Rektors im Anschluss macht schließlich klar, dass die SchülerInnen, die heute ihre Urkunden bekommen, sich diese auf der Basis schlechter Voraussetzungen erarbeitet haben. Ein vernünftiges Argument und dennoch ist es so leicht, die Jugendlichen abzuwerten – wir werden mit unserer eigenen Überheblichkeit konfrontiert. Dritte Bilanz: Es ist, je nach Perspektive, viel oder auch nicht viel, was erreicht wurde und Sarah hat nicht mal das geschafft. Das Mädchen ist sich selbst jedoch die größte Kritikerin und fügt sich vor den Augen der Lehrerinnen und anderer auf dem Pausenhof einen etwa 20 Zentimeter langen Schnitt auf der Innenseite ihres Unterarms zu, leicht versetzt hätte es die Pulsader erwischt mit dem Effekt „dass ich endlich tot bin“. „Alte Leier“ murmelt die Mathelehrerin von Sarah abgewandt. Klar, sie muss Sarah in diesem Zustand schon öfter erlebt haben. Aus pädagogischer Sicht muss nun ein Ausgleich geschaffen werden. Nachfolgend testen Sarah und Simeon ihre Kraft an der Kletterwand. Für Sarah ist es ein Leichtes, die Wand hochzusteigen, ihr Körper verteilt die Kraft optimal, nicht so bei Simeon. Er tut sich schwer, verwechselt links und rechts, wenn ihm die Fachkräfte von unten die nächstbeste Griffposition zurufen. Mühevoll schafft auch er die Wand. Episodenwechsel. Simeon sitzt zu einer letzten Verhandlung am Tisch in einer großen Runde. Für den Übergang von der Hauptschulklasse in die Werkrealschule ist ein Verhaltensvertrag zu schließen. Der neue Lehrer benennt seine Erwartungen an Simeon und dieser geht darauf ein. Mit einem Fingerabdruck besiegeln sie ihr Abkommen. Episodenwechsel. Sarah sitzt einem Jugendamtsmitarbeiter gegenüber, nicht alleine, Ute Keck, die Betreuerin der WG sitzt ihr zur Seite, ebenso die Deutschlehrerin und der Sozialarbeiter, der schon beim Umzug behilflich war. Bilanz: Der Schulabschluss hat nicht geklappt, an der Prüfung hat Sarah jedoch teilgenommen und der Umzug in die Wohngemeinschaft war erfolgreich, Sarah sei eine Bereicherung für die Gruppe. Verhalten stellt die Gruppe mehr Plus als Minus fest, weil klar wird, dass Sarah Lob nur in gewisser Dosis verträgt. Letzte Episode. Das Paar befindet sich auf einer Anhöhe im Grünen. Erst sitzen sie, dann springen sie weiter und finden eine Kröte, die Sarah fasziniert in den Händen hält. Auch Simeon beobachtet sie gebannt. Die Kröte muss es einfach tun: Sarah „froh“ machen mit der gesammelten Luft in ihren Backen, die sie auf einmal ausstoßen kann. Sie tut es. Mit der infantilen Aktion im Naturraum steht diese Szene am Ende einer Reihe von Szenen, in denen sich das Mädchen und der Junge immer weiter entfernen von gesellschaftlichen Kontexten und erwartbaren Verhaltensmustern. Durch die Dethematisierung des Kontextes wirken
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die beiden unschuldig wie Kinder. Sie ziehen weiter, die Kamera entlässt sie aus dem Nahbereich – es könnte ein Märchen gewesen sein. 6.3 Konstruktion von Raum als Interaktionskontext In der Herleitung der Untersuchungskategorie Raum wurden zwei wesentliche Funktionen des filmischen Raums unterschieden, die beide einen unverzichtbaren Beitrag für die Gesamterzählung leisten: Erstens markieren räumliche Verhältnisse die Geordnetheit des Raums bzw. von Teilräumen. Ihre statischen Attribute verallgemeinern sich z.B. zu Regeln jeweiliger sozialer Gefüge. Sie legen einen sozialen Ausgangszustand fest – so wie es ist – und verweisen auf die Grenzen und damit Schwierigkeiten, mit denen solche Figuren konfrontiert werden, die nach der Überwindung des ihnen durch die Autorität der Ordnung zugewiesenen Raums trachten. Zweitens strukturieren Ereignisse die filmische Erzählung gerade dadurch, dass Figuren sich über Grenzen bewegen und sich dadurch von überdauernden Raumbindungen lösen. Ihr nicht konformes Handeln bezieht semantische Felder konflikthaft aufeinander. Der entstehende Strukturkonflikt wird als individueller Konflikt der handelnden Figuren thematisiert. In „Schule des Lebens“ haben wir es – diese Funktionen beachtend – mit einer Mehrfachstruktur zu tun: Drei jugendliche ProtagonistInnen werden betrachtet, die sich in unterscheidbaren Teilräumen bewegen und sich auf die in den Teilräumen typischen Personenkreise beziehen. Im Vorfeld wurde zur Beschreibung dieser Anlage des Films bereits auf den Bergriff des Milieus zurückgegriffen, der immer schon eine Bündelung der auf Handlungssituationen Einfluss nehmenden Umweltkomponenten meint. Der Milieubegriff ist im Zusammenhang mit der Untersuchung des filmischen Raums deswegen geeignet, weil er – positiv formuliert – die sozialintegrativen Aspekte einer Raumbindung und – in negativer Annahme – die determinierenden bzw. objektiv bedingten Prozesse der Prägung individueller Lebensweisen durch die Umwelt fokussiert (vgl. Hradil 1992: 15ff). Der Begriff des Milieus ist demnach ein zwischen subjektiven und objektiven Faktoren vermittelndes Konzept und beschreibt die gruppentypische Beurteilung gegebener Umweltbedingungen/Lebensbedingungen durch die Subjekte (vgl. ebd.: 31). Die typischen Aktivitäten bzw. „aktiven Stilisierungen des eigenen Lebens“ (ebd.: 29), die daraus resultieren, werden mit dem Parallelbegriff des ‚Lebensstils’ gefasst. Wie anhand der Analyse der filmischen Erzählweise gezeigt werden konnte, sind es typische, immer wiederkehrende interaktive Prozesse, die die Milieus voneinander abheben. Weitergehend stellt sich die Frage, ob und wie die filmsprach-
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liche Gestaltung Milieus kennzeichnet bzw. welche Umweltkomponenten sie herausstellt, die Einfluss auf die Jugendlichen nehmen. Im Folgenden soll der mit dem Milieubegriff gewählte Zugang zum filmischen Raum vertieft und die Raumqualität der jeweiligen Teilräume als Erfahrungsterrain der ProtagonistInnen analysiert werden. Dazu wird der zuvor eingeführte Überblick über die neun Interaktionsmilieus in modifizierter Weise aufgegriffen (Abbildung 12). 6.3.1 Milieus und Raumqualitäten: Verhältnis der ProtagonistInnen zu ihrer Umwelt Interessant ist zunächst, wie der Film Milieus abbildet. „Bei dem Versuch, die Raumordnung eines Films zu ermitteln, wird man immer zugleich Bildkonstellationen, szenische Konstellationen und Handlungsräume im Auge haben“ (Kanzog 1991: 31). Kanzogs Aussage erinnert daran, dass zur Feststellung einer Raumordnung mehrere Aspekte relevant sind. Diese Aspekte sollen Ausgangspunkt sein für die folgende Betrachtung der unterscheidbaren, als Milieus verstandenen Vergemeinschaftungsformen: Milieus als spezifisch geordnete Räume – so die Annahme – entschlüsseln sich als filmische Perspektivierung (und damit Typisierung) des Raums und seiner Elemente, als Anwesenheit von Figuren in einem Raum und deren Bezugnahme aufeinander sowie als Handlungsweisen dieser Figuren im Verhältnis zu den Möglichkeiten des Raums. Abbildung 12143 dokumentiert bereits ein erstes Ergebnis. In der chronologischen Abfolge der unterschiedenen Interaktionsmilieus bildet sich eine Wiederholungsstruktur ab. Das heißt, der Film wiederholt räumliche Gegebenheiten und typisiert damit die Interaktionsformen. Im Wesentlichen sind drei Raumsegmente zu unterscheiden: der Naturraum (vgl. Abb. 12, grünes und blaues Farbspektrum), der halbprivate Familienraum (vgl. Abb. 12, pinkfarbenes Spektrum), ein pädagogisch institutioneller Raum (vgl. Abb. 2, gelb, rot, orange, braun). Diese Raumsegmente werden nun genauer betrachtet. 143
Lesehinweis: Abbildung 12 beinhaltet mehrere Informationen. Bedeutend ist zunächst der mittlere Bereich zwischen den vertikalen blauen Pfeilen: hier sind die filmischen Räume in ihrer chronologischen Abfolge von oben nach unten aufgelistet. Dem ist eine zweite Sortiermöglichkeit hinzugefügt: Außerhalb der blauen Pfeile sind aufbauend auf dem Milieuraster von Abbildung 11 die Räume nochmals (teilweise spezifischer bezeichnet) aufgeführt. Die Balkenlänge ist mit der Filmzeit korreliert, so dass deutlich wird, wie ausführlich die jeweiligen Szenen sind. Die Verästelungen (feine graue Linien) stellen den Bezug zwischen beiden Sortierlogiken her. Eine weitere Information ergibt sich aus der Farbgebung der Balken. Gleiche Farbgruppen z.B. ‚gelb- rot-braun’ lassen sich jeweils zu einem Raumsegment zusammenführen. Die farblich nicht-ausgefüllten Balken sind in den folgenden Ausführungen nicht berücksichtigt, da sie bezogen auf die Handlung nicht wesentlich sind.
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Abbildung 12: Räume (aufbauend auf Abbildung 11) a) Naturraum als Interaktionsmilieu von Sarah und Simeon Legt man eine gängige Definition von Milieus zugrunde, dann charakterisieren sich diese als „Gesamtheit von natürlichen, sozialen (sozioökonomischen, politisch-administrativen und sozio-kulturellen) sowie geistigen Umweltkomponenten (..), die auf eine konkrete Gruppe von Menschen einwirkt und deren Denken und Handeln prägt“ (Hradil 1992: 21). Interessant ist nun, dass jene Szenen, die Sarah und Simeon in Zweisamkeit inszenieren, einen besonderen Verlauf nehmen, der räumlich hervortritt. Obwohl alle Szenen im Freizeitbereich liegen, lösen sie sich zusehends von gemeinschaftlichen Gesellungsformen ab und dethematisieren dadurch die soziale Gruppenzugehörigkeit der beiden Jugendlichen.
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Parallel zur Dethematisierung der Gruppenzugehörigkeit werden auch genormte sozio-kulturelle Muster der Freizeitgestaltung in einem abnehmenden Verlauf konstruiert. Die Faschingsveranstaltung, mit der diese Reihe von Szenen beginnt, zeigt ein konventionelles Bild eines vergnüglichen Zusammenseins in einer Großgruppe. Sarah und Simeon gehören dieser Gruppe formal an, indem das Mädchen andeutungsweise verkleidet ist und beide inmitten der ‚Schunkelveranstaltung’ platziert sind. Die Kamerahandlung vernachlässigt jedoch während dieser Szene die Faschingsgesellschaft und ist demgegenüber fix auf die Jugendlichen eingestellt. Ihr Bewegungsradius innerhalb dieser Umgebung ist gering. Diese Bilder werfen die Frage auf, ob die Jugendlichen darin überhaupt einen Platz haben (sollten). Die weiteren Szenen zeigen das Paar im Naturraum, am Sonntag auf der Spielwiese am See, ohne andere Menschen und auf sich bezogen, dann auf dem See zu zweit in einem Boot mit nur wenigen einfachen Regeln des Bootsbetriebs konfrontiert und schließlich auf einer Anhöhe inmitten einer Umwelt, die nichts vorgibt und auf keinen vergemeinschafteten Nutzungssinn schließen lässt. Ihr Bewegungsraum wird sukzessive größer. Die objektiven Lebensbedingungen der Jugendlichen spielen in diese Szenen nicht hinein, so dass das Ausleben von Freiheit und Ungebundenheit dadurch unbeeinflusst ist. Sie nutzen die frei gewählten Orte im Abstand zu gesellschaftlichen Einflüssen und sind sich selbst genug. Die Szenen weisen einem soziologischen Verständnis nach also gerade keine Typisierungen auf und besitzen demnach wenig Aussagekraft als soziales Milieu. Die Filmgestaltung akzentuiert jedoch durch ihre Naturgebundenheit die romantischen Komponenten der Figuren im Raum und legt ein reichhaltiges Assoziationsfeld, entrückt vom Alltagsleben, frei. Die Märchenwelt wie auch die „Sturm und Drang“-Dichtung klangen in der Beschreibung der Handlung bereits an. Schließlich fügen sich ein hoher Freiheits- und Selbstbestimmungsgrad wie auch ein zunehmender Verzicht auf utilitaristische zugunsten von spontanen, erlebnisorientierten Motiven der Raumnutzung zum Gesamteindruck einer kreativen Szenerie, in der sich die Jugendlichen in positiver Weise auf sich selbst wie auch auf die andere Person beziehen können. Ganz anders die Skizzierung der Familie Grupp. b) Halbprivates Interaktionsmilieu der Familie Grupp Ein weiteres homologes Raumsegment bildet die Kulisse für das Familienleben der Grupps. Wie der Abbildung 12 zu entnehmen ist, ereignen sich die Familienszenen abwechselnd an zwei Orten, dem Vorgarten des Grupp-Reihenhauses und einem Terrain auf dem Campingplatz, auf dem das Campingmobil abgestellt ist.
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In beiden Fällen handelt es sich um einen halböffentlichen Raum. Die Gestaltung dieser einsehbaren Bereiche ist zweckgebunden und konventionell, das Wohnhaus ist bis in die Details hinein an die Nachbarschaft angepasst. Der Film lenkt die Aufmerksamkeit also auf einen mäßigen Besitzstand ebenso wie einen freizeitbezogenen Lebensstil ohne verstiegene Konsumansprüche. Kostenbewusstsein kommt bereits in der ersten dieser Szenen zum Ausdruck, indem Svens Telefonat von allen drei anwesenden Familienmitgliedern auf seinen Preis geschätzt wird. Neben den Örtlichkeiten sind die Szenen durch das familiäre Beisammensein gekennzeichnet. Es handelt sich um Szenen, in denen zumeist mehrere Familienmitglieder zugegen sind. Die dargestellte Konstitution der Familie ist frauendominiert – Frau Grupp sowie ihre älteste Tochter Dunja haben ihre Kinder um sich, fahren die Autos und spielen im schattigsten Bereich unter der Markise Scrabble. Beide gleichen sich in ihrer Art und bringen einen altersübergreifenden Stil zum Ausdruck. Die Väter der Familien sind hingegen abwesend. Frau Grupp verhält sich partnerschaftlich zu ihren Kindern, ein Autoritätsproblem durch fehlenden Respekt ihr gegenüber ist offensichtlich. Bemerkenswert am Bildaufbau der beiden ersten Szenen ist die Anordnung der Mutter. Zentriert im Bild, die Schwere ihres Körpers durch ihre abgestützte Stellung betont und kräftig an ihrer Zigarette ziehend, nehmen wir zunächst die Mutter und dann erst durch die Perspektivverlagerung ihre Kinder sowie die Umgebung wahr. Alternativ dazu beginnt die dritte Szene in dieser Reihe mit einem Blick auf die entfernte Sarah, der dann durch die den Bildvordergrund passierende Frau Grupp unterbrochen wird. Die Mutter dominiert das Bild auf eigentümliche Weise, indem sie als Familienoberhaupt zurückgenommen und schwach wirkt und gleichsam den Blick auf die Tochter Sarah verstellt bzw. unterbricht. Auch als es am Geburtstag der Zwillinge zum Streit zwischen Sarah und ihrer Mutter kommt, verändern sich die Bewegungsweisen der Mutter kaum, während sich die Tochter auf dem kleinen Terrain des Vorgartens aggressiv austobt. Sarahs ausagierte Aggressionen gegen die Mutter, die ihr verbal kaum Gegenrede bietet, machen sich schließlich an diesem visuellen Eindruck von Frau Grupp fest. Sven als Gleichaltriger hat diese Schwierigkeiten mit der Mutter nicht – so zumindest die Ausschnitte des Familienlebens, die dargestellt werden. Die ‚Spielflächen’ der Familienszenen lassen insgesamt betrachtet auf ein kleinstädtisch traditionelles Milieu schließen. Die Grupps leben sparsam und an die Umgebung angepasst, gehen kostenbewusst mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen um, gönnen sich schließlich kleine, gesellschaftlich konforme Laster wie das Rauchen und praktizieren einen eher kleinbürgerlich-funktionalen denn ästhetisch ausgefeilten Stil der Lebensführung. Die Großfamilie hat offensichtlich Gefallen daran, sich auf kleinem Raum zu arrangieren. Und
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auch das Wohnmobil fährt nicht, um die Welt zu entdecken, sondern ist dauergeparkt. Man ist mit dem zufrieden, was man hat. In der Abfolge der FamilienSzenen beeinträchtigen jedoch mehr und mehr Friktionen das so typisierte Bild und sorgen für Irritationen: Eine erste Irritation entsteht in Bezug auf ein harmonisches Familienleben, das im räumlichen Arrangement zwar angelegt, durch die Interaktionen der Familienmitglieder jedoch zusehends in Frage gestellt ist. Die räumliche Anordnung – das enge Beieinandersitzen beispielsweise – verweist auf einen Gruppenzusammenhalt, der sich aus der Bezugnahme der Familienmitglieder aufeinander nicht erklärt. Klar wird dies wiederum am Streit im Vorgarten, indem Sarah – wie vorne gezeigt – zur Außenseiterin wird, dadurch dass sich ihr niemand als streitbarer Partner anbietet. Besonders unangemessen wirkt jedoch die Szene, in der Sarah mit der Nichte Alice am Badesee ihren siebzehnten Geburtstag verbringt, da sich die beiden in ihren altersbedingten Interessen fremd sind. Irritierend ambivalent ist auch die Figur von Frau Grupp in Szene gesetzt. Einerseits zeigt sie sich z.B. als offen gegenüber der Unterstützung durch die Jugendhilfe, denkt über ihr Milieu hinaus und argumentiert aufstiegsorientiert, wenn sie Simeon zu mehr Ehrgeiz rät, um schließlich einmal Arzt zu werden. Trotz dieser Offenheit steht sie Sarah (in einigen Bildanordnungen) geradezu im Weg. Für Irritationen sorgt schließlich auch die Spannung zwischen einer Anpassung an die Nachbarschaft, die nicht präsent ist, und dem lautstarken Chaos, das sich in den beiden letzten Szenen im Vorgarten ereignet. Das Bemühen um geordnete Verhältnisse kann nicht eingehalten werden, da niemand sich für die Ordnungsleistung verantwortlich zeigt. Die Irritationen laufen schließlich darauf hinaus, dass Sarah beginnt, sich als Fremdkörper inmitten ihrer Familie abzuzeichnen und sich zunehmend widerständig auf die familiäre Umwelt bezieht. Mit ihrem Auszug aus dem Elternhaus endet die Darstellung des familiären Milieus. Die ausgewählten Szenen aus dem Familienleben wirken daher als Katalysator für Sarahs räumliche Veränderung, die wir als richtig empfinden, ohne allerdings die Gründe für die innerfamiliären Dynamiken zu verstehen. Entsprechend der Kameraposition erlangen wir ausschließlich einen rudimentären Einblick in das Familienleben, der größtenteils durch oberflächliche Elemente des Lebensstils gekennzeichnet ist, die jedoch in keinem kausalen Bezug zu den Beziehungsproblemen zwischen Sarah und ihrer Mutter stehen. Raumdarstellung und Inhalt zusammengenommen bewirken eine Informationslücke, die auch als Pseudokonkretheit des Alltags aufgefasst werden kann: Wir erlangen zwar einen Einblick in die Formen des Zusammenlebens, erhalten jedoch keine Information über die sozialstrukturellen Hintergründe der Familie, so z.B. den Beruf der Eltern, ihre Bildungslaufbahn, ebenso wenig über die psychodynamischen Hintergründe der Eltern-Kind-Beziehung.
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c) Pädagogisches Milieu und Schulleben Abbildung 12 zeigt, dass sich ein drittes und umfangreichstes Raumsegment zu einem pädagogisch institutionellen Raum fügt. Im wiederholten Wechsel befinden sich die jugendlichen ProtagonistInnen im Klassenzimmer, in Besprechungsräumen und Büros, auf dem Schulgelände und im Schulgebäude. Zu geringerem Anteil zählen dazu auch Gruppenräume von Erziehungshilfeeinrichtungen z.B. des Betreuten Wohnens, des Kinderheims oder ein für Therapie genutzter Raum der Suchtberatungsstelle. Die Kamera typisiert dadurch ein schulisches und sozialtherapeutisches Ambiente. Diesen Räumen ist nichts abzugewinnen, besonders die teilweise beengten Räumlichkeiten sozialer Arbeit zeugen von der Pragmatik, mit vergleichsweise wenig Geld umzugehen und dennoch Menschenfreundlichkeit auszustrahlen. Auch daraus macht der Film keine Umstände, arrangiert keine bildkompositorisch optimalen Umgebungen, dreht Material zwischen Tischen, Stühlen und Sofas. Deswegen ist die Rauminformation nicht weniger wichtig. Tische spielen beispielsweise eine zentrale Rolle. Sie sind charakteristisch für die Art der Raumbindung und Plattform der Verhandlungen, die die Jugendlichen mit den Professionellen führen. Gegenstand der Verhandlungen sind dynamische Schritte im Leben der Jugendlichen, über die sie sich mehr oder weniger bewusst sind. Neben klärenden Gesprächen sind schließlich Unterrichts- und schulische Pflichtaufgaben an Tischen zu erfüllen. Bei den ‚Tischszenen’ handelt es sich also um Arbeitskontexte der Jugendlichen, die den zuvor ausgeführten Freizeitkontexten gegenüberstehen. Eine zweite Kennzeichnung ergibt sich aus der Betonung der Institutionen, die durch die Texteinblendungen erzielt wird. Gerade weil nur wenige Texteinblendungen eingesetzt werden und diese – abgesehen von Titel und Abspann – ausschließlich räumliche Kontexte bezeichnen, erfüllen sie eine besonders hinweisgebende Funktion. Sie benennen die Schule für Erziehungshilfe in Tuttlingen, deren Außenstelle in Trossingen, eine Suchtberatungsstelle in Tuttlingen sowie ein Kinderheim in Sigmaringen. Der Film führt die Problemstellungen der Jugendlichen über Institutionen ein. Demgegenüber werden die Fachkräfte der Institutionen weder namentlich noch in ihrer Funktion vorgestellt. Auch zu anderen Orten erfolgt keine zusätzliche Information. Dies lässt sich so verstehen, dass institutionalisierte Kontexte im Film anders behandelt werden als weniger institutionalisierte. Dem formalen Aspekt von Institutionenzugehörigkeit kommt dabei mehr Aufmerksamkeit zu als ihrer sozialen, pädagogischen und therapeutischen Bestimmung. Es wird durch ihre Bezeichnung ein Effekt erzielt, der für das Leben der Jugendlichen von Bedeutung ist: Sie werden als Heimkind, als suchtmittelabhängig und als Sonderschüler begriffen und damit mit individuellen
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Beeinträchtigungen in ihren Fähigkeiten sowie Problemstellungen in ihrer Lebenssituation in Verbindung gebracht. Was bedeutet dies? Die Jugendlichen haben es nötig, diese Institutionen zu besuchen, die immer zweierlei bewirken – eine besondere Zuwendung und erzieherische Unterstützung wie auch eine Stigmatisierung ihrer AdressatInnen.144 Der für Baden-Württemberg gültige Bildungsplan für die Schule für Erziehungshilfe führt das spezifische Anforderungsprofil einer solchen schulischen Arbeit vor Augen: Mehr als die allgemeinen Schulen solle die Schule für Erziehungshilfe ihren erzieherischen Auftrag neben ihrem Bildungsauftrag verfolgen. Eine besondere erzieherische Zuwendung sei deshalb notwendig, weil die Mädchen und Jungen, die diese Sonderschule besuchen, unter ihren „psychischen Erlebnis- und Verarbeitungsweisen“ leiden, so dass Lernprozesse und soziales Handeln gestört sind. Sie lernen zwar nach den Bildungsplänen für Grund- und Hauptschulen, erfahren darüber hinaus jedoch eine individuelle Förderung unter Berücksichtigung ihrer Lebensumstände. Die Handicaps der Heranwachsenden, die schließlich erzieherische Probleme hervorrufen, werden darin folgendermaßen spezifiziert: „Störungen der Motivation, unangemessene soziale Verhaltensweisen, ungesteuerte Affekte und Handlungen, Störungen der Kommunikation durch regressive Verhaltensmuster, Wahrnehmungs- und Bewegungsbeeinträchtigungen, Hypermotorik, Konzentrationsstörungen“.145 Erforderlich seien daher neben Arbeits- und Unterrichtssituationen auch solche Beziehungsformen zwischen Lehrkräften und SchülerInnen, die psychosoziale Entwicklungen bei den Jugendlichen befördern. Der Schulalltag solle den Jugendlichen Regelmäßigkeit und feste Orientierungspunkte bieten. Lehrkräfte sollen sich den Jugendlichen als vertrauensvolle Bezugspersonen anbieten. Interessant ist nun festzustellen, dass das Zulassen von Störungen im Unterricht ebenso wie die Kultivierung persönlicher Gespräche zwischen Lehrkräften und SchülerInnen reflektierte Elemente einer pädagogischen Ordnung an der Schule für Erziehungshilfe und zugleich auch Konstruktionselemente der filmischen Darstellung des Schullebens sind. Die Kamera spezialisiert sich demnach auf das Typische dieser Schulform. Das Typische bzw. Besondere in Abgrenzung zu anderen Schulformen liegt in der Zuwendung des schulischen Personals, realisiert sich interaktiv zwischen Erwachsenen und Jugendlichen und passt sich
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Die aktuellen Diskussionen zur Auflösung von Sonderschulen wie auch bestimmter Formen der stationären Jugendhilfe ist von Befürwortern mit dem Ziel verbunden, eine Integration in ‚Normalverhältnisse’ für die Jugendlichen zu erreichen, anstatt sie in einer Sonderform der Beschulung auszugrenzen. 145 Ministerium für Kultus und Sport Baden-Württemberg: Bildungsplan für die Schule für Erziehungshilfe (1996: 11).
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insofern in die Anlage der filmischen Erzählung ein, die auf der Gegenüberstellung von Interaktionsmilieus basiert. Mittels einer strukturtheoretischen Perspektive auf Schule können die hier vorliegenden Besonderheiten der institutionellen Umwelt Schule deutlich gemacht werden: ‚Schüler-Sein’ entspricht einer gesellschaftlich konstruierten Lebenslage, die über institutionelle Arrangements strukturiert wird (vgl. Oelerich 1996). Schulische Strukturen sind funktional auf die Erbringung von Lehr- und Lernleistungen ausgerichtet. Für die Schülerinnen und Schüler drücken sich diese Strukturen in altershomogenen Vergemeinschaftungen aus, in einem Zurückstellen spontaner Bedürfnisse zugunsten des Einhaltens genereller Verhaltensregeln, in einer Spannung zwischen struktureller Zukunftsbezogenheit schulischer Leistungserbringung und der Gegenwartsbezogenheit von Schule als einem sozialen Ort, in einseitigen, durch Erwachsene dominierte Bewertungsmuster von Leistung, in einer Ungewissheit in Bezug auf den Übergang in nachschulische Systeme, der mit Erlangen eines formalen Bildungstitels nicht unbedingt garantiert ist (vgl. Bolay u.a. 1999: 18f). Schließlich erfordert die Bewältigung dieser strukturellen Anforderungen eine Subjektleistung der Schülerinnen und Schüler, für die die Schule in der Regel nicht in systematischer Weise Sorge trägt. „Sie [die Schule, d.V.] ist nicht in der Lage, das Ausmaß der Lern- und Leistungsfähigkeit wiederherzustellen, das sie verbraucht“ (ebd.: 19). „Schulfähigkeit“ aufrechtzuerhalten ist daher als zusätzliche Leistung zu betrachten, die die Schülerinnen und Schüler permanent erbringen müssen. Überträgt man diese theoretischen Annahmen auf die filmische Darstellung des Schullebens, wird Folgendes deutlich: Der Film stellt den institutionellen Kontext Schule in eine besondere Verantwortung für die Schülerinnen und Schüler. Diese weist über ein begrenztes Verständnis der Schülerrolle hinaus, indem Verantwortliche zugleich die sozialen Ressourcen reflektieren, die die Jugendlichen benötigen, um eine entsprechende Motivation für das schulisch abverlangte Leistungs- und Sozialverhalten aufzubringen. Die Schule für Erziehungshilfe als „Schule des Lebens“ bildet daher einen aus ihrer Strukturiertheit heraus begründeten alternativen Erfahrungsraum für die jugendlichen ProtagonistInnen. Was sie erfahren grenzt sich ab von einer herkömmlichen, auf die Leistungsbilanz der Lernenden konzentrierten Schule, indem vor allem die gegenwartsbezogene Bedeutung von Schule als sozialem Ort ebenso wie das unterstützende Handeln der Fachkräfte an der Erarbeitung von „Schulfähigkeit“ aufgezeigt wird. Insofern passt der Milieubegriff auf diese Art von Schulleben, denn im Mittelpunkt steht die Sozialintegration der Jugendlichen, die durch ein strukturelles Arrangement, das Vorhandensein offener Kontingente für akute und langfristige Einzelhilfen sowie durch eine „typische Gegenseitigkeitsstruktur“ (Böhnisch 1994: 217) erzielt wird. Gegenüber einem soziologischen Milieubegriff ist zugleich das spezi-
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fisch pädagogisch-handlungsorientierte Milieukonzept entfaltet. Bei Böhnisch ist das die Förderung „offener Milieus“ (ebd.: 222). Diese Aktivierungsstrategie wird um die Perspektive der Netzwerkbildung ergänzt. Sie zielt nicht nur auf emotionale Stabilität und Sozialintegration innerhalb des Milieus, sondern auch auf Milieu überschreitendes, nach außen hin wirkendes (Selbst-)Bewusstsein über gemeinsame Interessen und Möglichkeiten (vgl. ebd.: 232). Schul- und sozialpädagogische Professionalität wird als zusammenhängender Kontext dargestellt. Die förderliche Ordnung der „Schule des Lebens“ wird durch die Konstruktion abgeschlossener Szenen filmisch untermauert, indem der Aufbau (sozial-)pädagogischer Einzelgesprächssituationen festen Regeln folgt (Kommen, Begrüßung, Reden, Verabschiedung, Gehen). Dadurch grenzt sich diese pädagogische Form der Zuwendung schließlich auch von Szenen des Familienlebens ab, die keine abgeschlossene und auch keine intensive Form der Zuwendung beinhalten. Neben ihrer formalen Bedeutung tragen die pädagogischen Interaktionen außerhalb des Unterrichts wesentlich zur inhaltlichen Information über Hintergründe und Problembezüge der Jugendlichen bei. Der Inhalt ist jedoch an die Form der Interaktion durch die (Sozial-)Pädagoginnen und Pädagogen gebunden, indem diese uns vormachen, wie mit den Informationen umzugehen ist. Trotz aller Begleitung und Unterstützung ist die Schule auch der Ort, an dem die Jugendlichen sich leistungsbereit zeigen müssen. Dieser Aspekt ist vor allem durch die Darstellung der Matheprüfung hervorgehoben. Der das Bild dominierenden, strengen Sitzordnung geht nun aber eine andere Facette des Schullebens voraus, die die Fremdanforderung mit dem Eigensinn der Jugendlichen kontrastiert. Am Rande des Schulgeländes, dort wo die Ordnung der Schule schon nicht mehr ganz greift, stehen die Prüflinge dicht beieinander und trinken sich ungesehen von den Pädagoginnen und Pädagogen in Stimmung. Diese kontrastreiche Abfolge erinnert an die von Zinnecker (1978) auf die Schule übertragene Unterscheidung zwischen einer ‚Vorder’- und einer ‚Hinterbühne’. Während die schulische ‚Vorderbühne’ durch die institutionelle Erwartung und Zumutung von Verhaltensregeln geprägt sei, eröffne die Hinterbühne einen auf diese Zumutungen bezogenen subversiven Verhaltensraum. Indem der Film, wenn auch nur randständig, solche Szenen der Peer-Group einbaut, fügt er damit eine Ebene der Ambivalenz zwischen regelkonformem und opponierendem Verhalten der Schülerinnen und Schüler ein und relativiert das Projekt ‚Schule des Lebens’ dadurch.
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Zusammenfassung Im Folgenden werden die drei ausführlich beschriebenen Raumsegmente auf ihre wesentlichen Aussagegehalte hin zusammengefasst. Für alle drei Segmente gilt, dass sie durch einen typisierenden Kamerablick in sich strukturiert werden: Erstes Raumsegment: ist märchenhaft-romantisch, lässt den Figuren Bewegungsfreiheit, löst sie von Fragen nach gesellschaftlich realisierbaren Lebensmustern und -‚gehäusen’, lässt sie aufatmen zwischen Bewältigungs- und Integrationsaufgaben, beschreibt jedoch gerade kein Milieu, denn die Verhältnisse gelten nicht überdauernd, es werden Ausnahmen vom Alltagsleben gezeigt, die zugleich auf eine erstrebenswerte Lebensform und sorgenfreie Existenz Ausblick geben. Es sind Bilder im Konjunktiv. Zweites Raumsegment: Konturiert wird ein traditionelles Milieu, das in sich nicht stimmt. Die Familie ist mehr Schicksalsgemeinschaft denn selbstbestimmte Lebensform, – wollen die überhaupt so leben? Was sind ihre normativen Bezugspunkte? – denn zusehends mischt sich Aggression ins Bild. Aufgeworfen werden Fragen nach einer entlastenden Stabilität jenseits von traditionellen Lebensformen. Eine der wenigen manifesten Beschreibungen betrifft die Inszenierung der Mutter, die als Vertreterin der Elterngeneration selbst Halt und Sicherheit sucht anstatt diese ihren Kindern zu geben. Die Selbstverständlichkeit der Übertragung von Lebensstilen von der Mutter auf die Tochtergeneration (Figurenanordnung Frau Grupp und älteste Tochter Dunja) wirkt bedrückend, da sich in ihr die Schwere und Unhinterfragtheit dieser familienbezogenen Lebensform ausdrückt, mit der eine Abwertung der Mutterfigur, die die Kinder reproduzieren, einhergeht. Es sind in sich spannungsgeladene Bilder im Vorgarten und unter dem Dach des Campingmobils, die den Kontrast zwischen der modernen Aufgabe, ‚etwas aus sich zu machen’ und der ‚Schicksalsfalle’, tradierte Lebensstile unhinterfragt zu übernehmen, vor Augen führt. Besonders prekär ist dieses Dilemma durch die Platzierung am unteren Rand des Bildungssystems. „Ha wenn Du dich hinsetzen tust, dann schaffst Du das [Mediziner zu werden, C.F.] (...) entwickle mal deinen Ehrgeiz ein bisschen“ (Frau Grupp zu Simeon). Naiv und die Begleitumstände des Aufstiegsprojekts Simeons vollkommen unterschätzend erscheint das Zuraten von Frau Grupp, als wäre es allein eine Frage von individuellem Ehrgeiz, der die Allokation gesellschaftlicher Positionen steuert. Eine solche kritische Beurteilung wiederum diktiert die Milieuzugehörigkeit der beiden Figuren, die die Kamera typisierend herausarbeitet und die uns dadurch in weitere Ambivalenzen des Beurteilens versetzt. Drittes Raumsegment: kombiniert sich zu einem für die Jugendlichen förderlichen Milieu, indem sie Zuwendung durch Erwachsene erfahren und unterstützt werden, die notwendige Leistungs- und Verhaltensbereitschaft für die
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strukturbedingten Anforderungen von Schule aufzubringen. Schulopponierendes Verhalten der Schülerinnen und Schüler begrenzt sich auf die extreme Anforderung der Matheprüfung. Schul- und sozialpädagogische Professionalität werden in einen Gesamtkontext gestellt und können durch den Interaktionsstil der jeweiligen Fachkräfte nicht unterschieden werden. Typisch für das pädagogische Milieu ist das Arrangement um Tische, das prinzipiell den Regeln einer lösungsorientierten Aushandlung folgt. Indem versucht wurde, die drei wesentlichen Raumsegmente mit dem Milieubegriff zu erfassen, können nun abschließend mittels der damit erzielten Befunde drei Effekte der Raumgestaltung hervorgehoben werden, die den Film insgesamt in seiner Konstruktionsweise betreffen: x Der Film produziert absichtsvoll Verstehensprobleme – Die in „Schule des Lebens“ gezeichneten Milieus werden überwiegend über performative Akte hauptsächlich der Kommunikation (Interaktionsmilieus) bestimmt. Es lässt sich insgesamt feststellen, dass die Lebenswelt der Jugendlichen mehr in sozialen und damit den Subjekten äußerlichen Formen (im ‚Wie’ einer Verhaltensweise) zugänglich gemacht wird, als über zusammenhängende Inhalte (im ‚Was’ ihrer Themen), so dass es zu der paradoxen Situation kommt, dass wir anhand einer formalen Darstellung (Interaktionsverlauf) etwas begreifen sollen, das im Inhalt nicht substanziell entwickelt ist. Vor dieser Aufgabe stehen die Pädagoginnen und Pädagogen ebenso, die sich den Jugendlichen hauptsächlich wissenssuchend zuwenden, um ihr Verhalten einordnen und verstehen zu können. x Umweltstrukturen prägen Interaktionsweisen – „Der Milieubegriff verweist auf das Angewiesensein auf emotional strukturierte sozialräumliche (lokale) Gemeinschaftsgebilde bzw. Gegenseitigkeitsstrukturen (Böhnisch 1994: 213). Vor allem in Bezug auf diese „Gegenseitigkeitsstrukturen“ – nicht so sehr in Bezug auf die objektive Seite sozialer Situiertheit – schafft der Film durch die Gegenüberstellung von pädagogischem und familiärem Milieu einen Kontrast, indem die ProtagonistInnen ihre Bedürfnisse, Sorgen und Wünsche je anders ausagieren. x Keine Abwertung des Elternhauses – Dadurch, dass der Film den Lebensalltag der Jugendlichen in Kollektivformen (Milieus) einbettet, schützt er davor, einzelne Figuren in ihrem Handeln zu denunzieren. Vor allem in Bezug auf die Teilerzählung der Protagonistenfigur Sarah und der dargestellten Mutter-Tochter-Beziehung wird einer einseitigen personenbezogenen Verursachung der aufkommenden Konflikte entgegengewirkt. Das Elternhaus wird nicht abgewertet, um den Konflikt erzählen zu können.
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Aufbauend auf diese Bilanz wird nun die dynamische, Milieuüberschreitende Dimension betrachtet. Welche Loslösungen von Raumbindungen und welche räumlichen Übergänge werden in Bezug auf welche Figuren dargestellt? 6.3.2 Räumliche Veränderung: Antiheldengeschichte mit Hilfskonstruktion Lotmans Konzept der Erzählung unterscheidet Figuren nach ihrem Bewegungspotenzial, d.h. er unterscheidet unbewegliche und bewegliche Figuren. Helden einer Geschichte sind deswegen Veränderungsagenten, weil sie aufgrund ihrer Unabhängigkeit und Beweglichkeit Übergänge zwischen verschieden strukturierten Umgebungen schaffen. Sie besitzen die Kompetenz, sich von Raumbindungen zu lösen. Ausgehend von dieser Untersuchungsperspektive kann festgestellt werden, dass „Schule des Lebens“ eine besondere Konstellation vorgibt. Alle drei Protagonistenfiguren sind gewissermaßen Antihelden, die es gerade nicht aus eigenem Antrieb heraus schaffen, die Begrenztheit ursprünglicher Verhältnisse zu überwinden. Immer wieder wird deutlich, dass sie weder eine utopische noch eine realistische Alternative zur Gegenwart in ihren Vorstellungen parat haben. Erst mit Hilfe sozialpädagogischer Maßnahmen verändern sich (Leidens-)Zustände der Jugendlichen auf mehr oder weniger extreme Weise. Auf diese Veränderungsagenten sind nicht nur die Jugendlichen, sondern auch und vor allem die Erzählung angewiesen. Je nach ProtagonistIn gelangen andere biographische Wendungen in die Erzählung. §§ 42 SGB VIII: Simeon wird mit elf Jahren aus seiner Familie genommen und in einem Kinderheim fremduntergebracht. Diese Veränderung, die auf einer juristisch begründeten Krisenintervention bei Kindeswohlgefährdung beruht, stellt einen harten rechtsstaatlichen Eingriff in die Autonomie der Familie und den Schutz des Elternrechts dar. §§ 34 SGB VIII: Er wird vom Elternhaus entfernt stationär untergebracht, der Kontakt zu den Eltern zerbricht abrupt. Für den Jungen war diese von außen gesetzte Veränderung schwierig zu bewältigen: „Das haben wir auch immer gemacht – weißt Du noch? -, am Wochenende, am Haus vorbeigefahren, weil die Sehnsucht so groß war, einfach mal zum Fenster gucken“ erinnert sich seine ehemalige Betreuerin mit ihm. §§ 35 SGB VIII: Da das erzieherische Einwirken nicht ausreicht, um den sozial desorientierten Jungen an normalisierte Verhaltensweisen heranzuführen, wird eine intensivpädagogische Maßnahme mit Auslandsaufenthalt geplant, Simeon soll innerhalb von 15 Monaten in Südafrika abseits von seinem gewohnten Umfeld und integriert in einen neuen Familienzusammenhang zu sich selbst finden. Der ‚magic trip’ stellt eine Wende im Leben des Jungen dar. „Da sind Welten dazwischen. Welten zwi-
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schen vor Südafrika und heute“ merkt die ehemalige Betreuerin im Gespräch mit Simeon an und beide sind sich einig. Der einsilbige Junge kann seinen Veränderungsprozess nicht wesentlich genauer beschreiben: „Ich glaube, das hat dann auch gut getan als ich bei der Familie war, die hatten ja… also ich war der älteste dort, die kleine Tochter war ja gerade erst mal fünf Jahre alt“. Und so bleiben die Grenzen für die filmische Erzählung unzugänglich, die Simeon damals überschritten hat und die es ihm heute ermöglichen, eine bemerkenswerte Bildungskarriere einzuschlagen. „Simeon war bester Schüler seiner Klasse an der Realschule und wird auf das Gymnasium wechseln“, kommentiert der Film Simeons Teilerzählung abschließend. Sarah steht dem Projekt einer räumlichen Veränderung ambivalent gegenüber. Mit vielen Argumenten und durch viel Zureden ihrer Betreuerin Petra und ihrer Deutschlehrerin kommt es zum Auszug aus dem Elternhaus. Wozu? Sie soll Abstand gewinnen zu der innerfamiliären Dynamik, sich weniger involvieren in die Probleme der Mutter und schließlich ihr eigenes junges Leben zum Projekt machen. Interessant ist, dass die filmische Erzählung auf zwei Ebenen auf diesen Höhepunkt zuarbeitet. Einmal sehen wir die Interaktionsformen zwischen Sarah und ihrer Mutter direkt und ‚ungefiltert’ mit dem Ergebnis, dass wir diese Beziehung zwar nicht als harmonisch einschätzen, jedoch gerade weil sie durch den Film gesetzt ist, als Spannungsmoment nicht aufgeben wollen. Ergänzt wird diese Darstellungsebene durch die analytische und umfassendere Perspektive der Jugendhilfefachkräfte auf die Situation. In ihr zeigt sich sowohl Verständnis für das Mädchen als auch ein Vorausblick auf Alternativen zum dauernden Streit, der mit so viel Anstrengungen verbunden ist, und Stressbewältigungsformen nahe legt, die Sarah vor allem im Alkoholkonsum findet. Auf dieser Ebene erlangen wir also eine Möglichkeit, Sarahs Situation im Zusammenhang einzuschätzen. Die Konstellation, die für Sarah in der Entscheidung angelegt ist, reproduziert sich in formaler Weise im Film: Sie hat sich zwischen Aufgeben, Verlieren und neu Hinzugewinnen zu entscheiden. Wir sind in diesen Entscheidungsprozess involviert, der zum Hauptgegenstand der Teilerzählung ‚Sarah’ wird. Sarahs Veränderung wird daher grundsätzlich anders nachvollzogen als die ihres Freundes Simeon. Welche Veränderung betrifft Sven? Sven bleibt in der Familie und trägt weiterhin seinen Teil zu den innerfamiliären Spannungen bei. Darin verändert sich sein Leben also nicht. Spannend ist vielmehr, ob der Junge, der seine schulische Leistungsschwäche gekonnt tarnt, den Schulabschluss schaffen wird. Als er an der Hauptschulabschlussfeier zur Überreichung der Urkunde aufgerufen wird, ist klar, dass er den Abschluss zwar geschafft hat, dass seine Leistungsbilanz allerdings schlecht ausgefallen sein muss. Ein für Svens Zukunft bedeutender Richtungswechsel deutet sich allerdings schon an früherer Stelle im Film an. Als
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Sven wegen seiner nachschulischen Anschlussmöglichkeiten mit einem Jugendberufshelfer zu tun hat, wird klar, dass er außerhalb des geschützten Raums der Schule für Erziehungshilfe zunehmend mit Schwierigkeiten, die durch seine Art verursacht sind, konfrontiert sein wird. Der Jugendberufshelfer lässt ihn auflaufen und führt ihm die Zukunft eines im besten Fall gut bezahlten Hilfsarbeiters vor Augen. Die Veränderung, die Sven betrifft, liegt in der Überschreitung eines Umfeldes, das ihm bislang Verständnis und Toleranz für seine Art entgegengebracht hat, in eine neue Umgebung, die ihn mit sozialer Kälte und leistungsbezogenen Ansprüchen empfängt, denen er nicht gewachsen zu sein scheint. Ob er die notwendige Beweglichkeit aufbringt, sich darin zurecht zu finden, wird schließlich nur vage durch den Film geklärt: „Sven jobbt und sucht eine Lehrstelle“. Sven verliert in der Veränderung an Souveränität, während die anderen beiden Jugendlichen gewinnen. Das Sujet der Erzählung, das sich, theoretisch betrachtet, immer aus der in ihr angelegten räumlichen Veränderung ergibt, führt daher einen Kontrast zwischen drei Jugendlichen vor Augen, die sich zwar in ähnlichen Milieus aufhalten, im Leben jedoch ganz unterschiedlich gestellt sind. Bildlich gesprochen tut sich v.a. eine Schere zwischen Simeon und seinem bezeichnenden Bildungsaufstieg und Sven, der eine prekäre Existenz repräsentiert, auf. Sarah befindet sich zwischen beiden. 6.4 Darstellungsmittel des Ungleichzeitigen In der Analyse der filmischen Handlung (vgl. Kap. 6.2) wurden bereits wesentliche Befunde zur Gestaltung der Filmzeit bzw. der filmischen Zeit erarbeitet. Sie werden hier noch einmal zusammengefasst und leicht ergänzt: x Die filmische Gegenwart (als die Zeit, in der die Jugendlichen durch das Kamerateam begleitet wurden) erstreckt sich über ein knappes halbes Jahr von der Fasnachtszeit bis zum Ende des zweiten Schulhalbjahres. x In der Anlage als Episodenfilm verweist die Erzählung auf die Gleichzeitigkeit paralleler Entwicklungen der drei ProtagonistInnen. x Die temporale Gestaltung des Films beruht auf dialogischen Szenen, die entweder als direkte Anschlussszenen montiert oder elliptisch miteinander verbunden sind. Das Erzähltempo ist daher langsam und betont situationsbedingte Entwicklungen. Insgesamt sind Zeitmarken innerhalb des erzählten Zeitraums punktuell selegiert: für relevant befundene Inhalte werden szenisch genau dargestellt, andere Inhalte werden hingegen unkommentiert ausgelassen. Auf inhaltliche Zusammenfassungen der Handlung wird weitgehend verzichtet.
6.4 Darstellungsmittel des Ungleichzeitigen
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Pausen sind als dialogfreie Sequenzen partiell eingefügt und trennen u.a. drei Hauptphasen des Films: Teil eins, der die drei ProtagonistInnen vorstellt und ihre Beziehungen untereinander klärt; Teil zwei, der die zu erbringenden Leistungen und Bewältigungsaufgaben in den Mittelpunkt rückt; Teil drei, der bezüglich des Geleisteten Bilanz zieht. Die Matheprüfung und die Schulabschlussfeier erlangen als Ereignisse einen übergeordneten Stellenwert in der episodischen Erzählung. Es sind Knotenpunkte, an denen die Teilstränge der Erzählung zusammenlaufen. Sie führen ferner formale Bezugspunkte des Lebenslaufs im Muster von ‚Leistung und Belohnung’ ein.
Die angeführten Aspekte gelten allgemein für den Film und beschreiben seinen Grundaufbau. Betrachtet man indessen die drei Protagonistenfiguren im Einzelnen und im Vergleich zueinander, werden Unterschiede erkennbar, die auf drei Ebenen liegen: x auf der Ebene der temporalen Gestaltung der Teilerzählungen x auf der Ebene der eröffneten Zeithorizonte jeder Figur x auf der Ebene ihres subjektiven Zeiterlebens Generation als ein Begriff für Zeit (vgl. Kapitel 3.4.1) meint, dass die Zugehörigkeit zu einer Generation in Verbindung steht mit einem bestimmten Zeiterleben, das sich von dem anderer Generationen unterscheidet. Der Vergleich der drei Jugendlichen untereinander führt nun interessanterweise nicht dazu, dieses Zeiterleben als einheitlichen Ausdruck einer bestimmten Lebenseinstellung und eines kollektiven Bewusstseins über eine soziale Zeit auszubauen. Vielmehr werden – wie zu zeigen ist – Ungleichzeitigkeiten unter ihnen als Angehörige einer Generation betont und mit den Chancen in Verbindung gebracht, die Anforderungen im Übergang in eine nachschulische Zeit zu bestehen. Im Folgenden wird die protagonistenbezogene Gestaltungsweise von Zeit und Zeiterleben näher bestimmt. 6.4.1 Varianzen in der Gestaltung von Filmzeit Spätestens an dieser Stelle, unter dem analytischen Blickwinkel der temporalen Gestaltung, muss auf ein Ungleichgewicht unter den drei ProtagonistInnen hingewiesen werden. Auch wenn der Film, wie eingangs dargelegt, die Aufmerksamkeit so verlagert, dass immer wieder eine andere der drei Hauptfiguren in den Mittelpunkt rückt, werden Sarah, Simeon und Sven nicht in gleicher Ausführlichkeit dargestellt. Eine Auszählung der Zeitanteile der Figuren belegt diesen
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Eindruck. So ist Sarah mit insgesamt ca. 67 Minuten im Film am meisten präsent. Davon ist sie ca. 34 Minuten als einzige Protagonistin, knappe 19 Minuten zusammen mit Simeon, ca. 9 Minuten zusammen mit Sven und schließlich knappe 5 Minuten zusammen mit beiden zu sehen. Simeon erlangt die zweitgrößte Präsenz. Er ist insgesamt ca. 57 Minuten und davon knappe 24 Minuten alleine zu sehen. Sven hingegen ist nur insgesamt ca. 29 Minuten anwesend und davon knappe 15 Minuten ohne die anderen beiden Protagonisten im Bild. Sarah ist also eindeutig die präsenteste der drei ProtagonistInnen. Der Unterschied zwischen ihr und Simeon fällt jedoch nicht so groß aus wie der zwischen Simeon und Sven. Sven ist gegenüber den beiden anderen also deutlich unterrepräsentiert. Aufmerksamkeitssteuerung Ein weiterer, eher subtiler Unterschied zeichnet sich in der Betrachtung der Schnittfrequenzen innerhalb der 42 Sequenzen ab. Insgesamt ist der Film im Schnitttempo gleichmäßig gestaltet. Ermittelt man die durchschnittlichen Einstellungslängen der in Abbildung 11 unterschiedenen Interaktionsmilieus, zeigt sich die größte Diskrepanz zwischen den nichtunterrichtlichen Schulszenen und den Prüfungsszenen. Letztere sind mit durchschnittlichen 20,35 Sekunden am wenigsten unterschnitten und gewinnen dadurch an Intensität gegenüber dem Schulalltag (innerhalb dieses Szenentypus liegt die durchschnittliche Einstellungslänge bei 9,9 Sekunden). Auf den gesamten Film bezogen liegen die Einstellungslängen im Einzelnen zwischen 6 und 53,5 Sekunden. Die Szenen, die diese Eckwerte aufweisen sind beide Szenen, in denen Sven vorkommt. Sven sorgt also von den drei Jugendlichen am ehesten für Tempo, d.h. für kurze Einstellungen in Folge ebenso wie für lang stehende Einstellungen, die kaum unterschnitten sind. Diese Rhythmisierung ist jedoch nicht durchgängig in Bezug auf die Figur Sven umgesetzt, sondern markiert rhythmische Ausreißer, die insgesamt an vier Stellen zu beobachten sind und in denen sich der Schnittrhythmus extrem verlangsamt. Anders ausgedrückt: innerhalb dieser vier Szenen wird darauf verzichtet, Inhalt zu kürzen und Svens Verhalten erlangt dadurch - staunenden Auges - ungebrochene Aufmerksamkeit. Der Tendenz nach lässt sich also festhalten, dass Sven unter den drei Protagonistenfiguren am wenigsten zeitliche Gesamtpräsenz, in den Szenen, in denen er vorkommt, jedoch ungebrochene Aufmerksamkeit erhält. Sarah erlangt im Unterschied zu ihrem Zwillingsbruder dadurch Aufmerksamkeit, dass ihre Probleme ständig virulent sind und sich wie ein roter Faden durch die Erzählung ziehen. Ihr Aufmerksamkeitsschema liegt in einer Wiederholungs-
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struktur ikonischer Szenen, die immer wieder am gleichen Thema anknüpfen: Sarahs schwieriger Beziehung zur Mutter. Schließlich ist auch für die Figur Simeon eine spezifische, temporal gestaltete Aufmerksamkeitsstruktur auszumachen. Der Aufbau der Figur ist raffiniert angelegt und nutzt die introvertierte Art des Jungen. Es bleibt lange Geheimnis, was seine Hintergründe sind. Erst mit Beginn der zweiten Hälfte des Films wird in Form einer rekonstruktiven Wende ein intensiver Blick in Simeons Vergangenheit arrangiert, ohne dabei jedoch von der filmischen Form einer interaktiven Aushandlung von Gesprächsinhalten abzukommen. Es liegt also keine Rückblende vor, sondern ein dialogorientierter Rückblick, der zugleich mit einer Länge von 430 Sekunden mit weitem Abstand der längsten szenischen Einheit des Films entspricht. Des Weiteren liegt eine besondere Aufmerksamkeit dadurch auf Simeon, dass er durch die Filmemacherin direkt angesprochen ist. Sie will vom ihm wissen, was auf andere Art für den Film nicht herausgefunden werden konnte. Die Aufmerksamkeit für die Jugendlichen wird daher auf unterschiedliche Weise erzeugt. Die zuletzt dargestellte Methode, die für Simeon festzustellen ist, weist über die Effekte einer Gestaltung durch Rhythmus hinaus und betrifft die individuell eröffneten Zeithorizonte in Bezug auf die Biographien der Jugendlichen. Im Folgenden wird diese Perspektive vertieft. 6.4.2 Erzählte Zeit: Unterschiedliche Zeithorizonte der ProtagonistInnen Durch das räumliche Arrangement im Film und in den Milieubezügen wirken die drei ProtagonistInnen ähnlich situiert. Das Konstruktionselement Zeit schafft hingegen Differenzen im Vergleich unter ihnen. Am deutlichsten werden diese Differenzen mit Blick auf die zeitliche Aufeinanderfolge von Geschehnissen im Leben der einzelnen: Die Abbildungen 13 bis 15 bieten jeweils einen grafischen Überblick pro ProtagonistIn. Sie sind nach dem gleichen Schema angeordnet und folgendermaßen zu verstehen: Die farbige Linie stellt die Timeline dar (Abbildung der Gesamtfilmlänge); darauf sind mit ‚X’ jeweils aufeinander folgende Stellen im Film gekennzeichnet, an denen in den Dialogen deutliche Realzeitverweise erfolgen. Diese Verweise auf die Realzeit können sowohl innerhalb als auch außerhalb der filmischen Gegenwart (Haupterzählzeit) liegen. Liegen sie außerhalb der filmischen Gegenwart (also außerhalb des halben Jahres, in dem die Filmaufnahmen entstanden sind), sind sie entweder links (Vergangenheitsbezug) oder rechts (Zukunftsbezug) von der Timeline angeordnet. In jeder Abbildung liegt jeweils der letzte relevante Aussagezeitpunkt ebenfalls außerhalb der Timeline. Mit dem
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letzten ‚X’ auf der Achse ist der Abschlusskommentar des Films bezeichnet, der im Abstand von einem Jahr zu den Filmaufnahmen über den (nach)schulischen Werdegang der Jugendlichen knapp informiert. Die Zeitmarken, auf die die Pfeile hinlaufen, können sowohl auf Lebensveränderungen, auf besondere Ereignisse als auch auf einen für den Aussagezeitpunkt typischen Zustand verweisen. Schließlich ist in den Abbildungen eine weitere Unterscheidung vorgenommen: Sie unterscheiden objektive von subjektiven Zeitpunkten in der Narration. Mit objektiven Zeitpunkten sind Ergebnisse und Veränderungen gemeint, die in irgendeiner Weise dokumentiert sind und sich damit ‚offiziell’ im Leben der Jugendlichen (im Einzelfall auch der Eltern) ereignet haben wie z.B. der 17te Geburtstag, Zeitpunkte, die durch andere Personen festgestellt wurden wie z.B. Sarahs Schnittwunden durch den Therapeuten oder Zeitpunkte, die ‚institutionell’ in der Planung stehen, wie z.B. das Erreichen des Abiturs mit Simeons Wechsel auf das Gymnasium. Subjektive Zeitpunkte meinen für die Subjekte relevante Erinnerungen, Gegenwartsbeschreibungen bzw. Vorausschauen auf ihre biographische Entwicklung. Unterhalb der Timeline sind die objektiven Zeitpunkte angeordnet, auf die durchgehende Pfeile zulaufen, nach oben hin ist die Timeline durch gestrichelte Pfeile mit den subjektiven Zeitpunkten verbunden. Ein Vergleich der Abbildungen 13 bis 15 zeigt zunächst Folgendes: x Ein jeweiliger Zeithorizont der ProtagonistInnen ist in ganz unterschiedlicher Weise entwickelt, für Simeon am intensivsten und für Sven nur rudimentär. x Während im Fall von Simeon und Sarah an einem Aussagezeitpunkt X häufig Bezug auf mehrere Zeitpunkte genommen wird und dadurch tendenziell Kausalzusammenhänge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entstehen, ist dies bei Sven nicht der Fall, seine Zeitbezüge sind eindimensional. x In der Gegenüberstellung von Sarahs und Simeons Timeline treten zwei extreme Unterschiede auf: erstens liegen fast alle für die Erzählung relevanten Zeitpunkte im Fall von Sarah innerhalb der filmischen Gegenwart und im Fall von Simeon außerhalb derselben. Zweitens entwickelt sich Simeons Zeithorizont etwa gleichmäßig in die Vergangenheit wie auch in die Zukunft; dies gilt für die subjektiven wie auch für die objektiven Zeitpunkte. x Sarahs Zeithorizont entwickelt sich auf objektiver Seite partiell aus der unmittelbaren Vergangenheit in die nähere Zukunft. Auf subjektiver Seite liegen die Zeitpunkte diffus in der Zukunft, nicht jedoch in der Gegenwart bzw. Vergangenheit. Sarahs Vergangenheit ist für die filmische Erzählung ebenso tabu, wie die von Sven.
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Abbildung 13: Timeline Simeon; X1-Seq4, X2-Seq7, X3-Seq8, X4-Seq13c, X5Seq13, X6-Seq19, X7-Seq25c, X8-Seq31, X9-Seq39, X10-Seq42
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Abbildung 14: Timeline Sarah; X1-Seq4, X2-Seq5, X3-Seq6c, X4-Seq9a, X5Seq18, X6-Seq21a, X7-Seq22, X8-Seq24, X9-Seq28, X10Seq32a, X11-Seq40, X12-Seq42
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Abbildung 15: Timeline Sven; X1-Seq11b, X2-Seq12, X3-Seq15, X4-Seq21d, X5-Seq23, X6-Seq33, X7-Seq42
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x
x
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Wesentlich erscheint daher die Abfolge, in der der Film über die ‚Karrieren’ der Jugendlichen informiert. Vor allem im Fall von Simeon verstehen wir erst spät, dass er noch bis vor kurzem äußerst unangenehm, unzugänglich und getrieben von Gewaltphantasien war. Er gewinnt also an dunkler Vergangenheit und zugleich an aussichtsreicher Zukunft. Die Figur Sarah hingegen wird konträr dazu dargestellt. Der Umzug ins ‚Betreute Jugendwohnen’ wird im Vorausblick wie auch in der Rückschau mehrfach zum Bezugspunkt, ebenso der angestrebte und nicht geschaffte Hauptschulabschluss. Überraschend ist der starke Problembezug, der in den Zeithorizonten, wenn auch in Varianten, insgesamt hervortritt: Sarahs Probleme und deren interne Verstrickungsind sofort virulent, Svens Probleme – hat er denn überhaupt welche? – sind durch seine Persönlichkeit kaschiert und durch ihn überspielt, sie benötigen daher einer Konfrontation, die im letzten Drittel des Films hart ausfällt. Simeons Probleme sind weitgehend überstanden und für den Jugendlichen nur mehr rekonstruktiv zugänglich.
Die filmische Erzählung wirft also ausgehend von dieser Betrachtungsperspektive an unterschiedlichen Stellen Anker: Sarah wird in ihrer gegenwärtigen Situation fokussiert. Simeon ist in der Reichweite zwischen Vergangenheit und sich eröffnenden Optionen für die Zukunft dargestellt. Fokussiert werden hier also Zeitpunkte, die außerhalb der Haupterzählzeit liegen. Sven wird schließlich nur am Rande in lebensgeschichtlichen Bezügen gezeigt. Bei ihm interessiert insbesondere die Diskrepanz zwischen einer subjektiv optimistischen Zukunftsperspektive und einer objektiv sich abzeichnenden ungewissen Zukunft, die erst gegen Ende des Films entsteht. In den so aufgebauten Zeithorizonten der ProtagonistInnen wird also zugleich eine jeweils plausible individuelle Entwicklung der Jugendlichen angelegt. Sarah und Simeon sind dabei Entwicklungsgewinner. Simeon ist dies, indem er Distanz zu seiner schwierigen Kindheit erlangen konnte und seinem subjektiv so daher geredeten Ziel eines Medizinstudiums einen realen Bildungsaufstieg folgen lässt, durch den die Voraussetzungen dafür annähernd erworben sind. Sarahs Entwicklung verläuft dadurch positiv, dass sie bereits in der filmischen Gegenwart einen Schritt in Richtung ihrer Verselbstständigung unternimmt, indem sie in eine betreute Jugendwohngruppe umzieht und den Hauptschulabschluss schließlich im zweiten Anlauf schafft. Diese Veränderungen sind wie auch im Fall der beiden Jungen besonders im Kontrast zwischen objektiven und subjektiven Zeitbezügen interessant. Betrachtet man Sarahs subjektiven Zukunftsentwurf, dann zeigt sich, dass überwiegend solche Szenarien gewählt sind, die eine Zuspitzung
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einer ausweglosen Situation beinhalten. Von allen drei ProtagonistInnen äußert sie die negativste Zukunftsperspektive. Im folgenden Abschnitt wird auf die Unterschiede im subjektiven Zeiterleben zweier der ProtagonistInnen näher eingegangen.146 6.4.3 Prozessstrukturen: Unterschiede im subjektiven Zeiterleben von Sarah und Simeon Die im Film aufeinander folgenden Sequenzen stellen eine Auswahl möglicher Aussagekontexte dar, die prinzipiell auch anders zusammengesetzt sein könnten. Wie in der Analyse der Handlung gezeigt, orientiert sich diese Auswahl insgesamt an keinem streng linearen Aufbau des Themas, stattdessen beinhaltet sie Unterbrechungen durch den Wechsel von Episoden. Auch könnte man das filmische Interesse an den Dialog-Szenen unter den Filmfiguren als ungerichtete Suche nach faktischer Information ansehen – ein Interviewfilm hätte demgegenüber gezielter und kontextungebundener nach Antworten gesucht. Fällt das Interesse allerdings auf die Lebenssituation, in der sich die ProtagonistInnen aktuell sehen, stellen die aufgezeigten sozialen Kontexte dafür wesentliche Rahmendaten bereit. Die filmische Suche nach Information ist ‚sozial abgefedert’, indem sie Kommunikationszusammenhänge verwendet, um die daraus entstehende Informationen intersubjektiv zu validieren. Durch dieses Konstruktionselement werden mögliche Unterschiede im subjektiven Zeiterleben zwischen den Gesprächspartnern kenntlich. In der Exposition des Themas wird diese Vergleichsperspektive bereits eingeführt und damit akzentuiert. Die filmische Handlung steigt mit folgendem Dialog zwischen Sarah und Simeon ein: Sarah: „Ich habe noch Zeit heute Abend.“ Simeon: „Dann sauf doch, wenn du ’s nicht lassen kannst“ (…) Sarah: „Mein Gott, Fasnacht“ Simeon: „Ja, nicht Fasnacht, das ganze Jahr“ Sarah: „Wer? Du? Oder wir beide? Ich muss dann sowieso aufhören mit dem Scheiß. Nach Fasnacht, ja. Vorher nicht.“
Sarahs Vorhaben ist unausgesprochen. Simeon ahnt, was Sarah möchte. Die beiden sind unterschiedlicher Meinung und legen jeweils einen anderen Beurteilungsmaßstab an Sarahs Idee an. Sarah geht es um das Jetzt, das sie mit Simeon erleben möchte, das im Zeichen der Fasnachtszeit steht und das sie ihm zur Of146
Der Protagonist Sven wird in diesem Abschnitt nicht gesondert betrachtet, da er in ungleich geringerem Umfang dargestellt ist und weit weniger Aussagen über sich selbst tätigt.
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ferte macht. Nach Fasnacht hört sie mit dem „Scheiß“ auf, „vorher nicht“. Sie bewahrt den Moment vor Veränderungen, während Simeon zwischen jetzt und nachher nicht unterscheidet und auf einen immer gleichen Zustand ihrer Schwäche anspielt; das Jetzt darf keine Ausnahme bilden. In diesem kurzen Dialog, der den Einstieg in den Film darstellt, wird ein grundlegender Unterschied im Zeiterleben der beiden ProtagonistInnen deutlich: Simeon denkt in größeren Zeitbezügen, in einer zeitlichen Kontinuität, während seine Freundin Sarah den Moment für sich nutzen will und die Bewältigung der damit verbundenen Unannehmlichkeiten – Aufhören zu „saufen“ – wie eine Last in die Zukunft schiebt. Die Zukunft ist ihr, bildlich gesprochen, ein Abstellgleis für alles Problematische. Diese Sichtweise tritt in den Interaktionen, in denen Sarah im Mittelpunkt steht, immer wieder zutage und somit wird zugleich deutlich, dass Sarahs Spielraum in der Gegenwart liegt. Einer Planung der Zukunft widersetzt sie sich – „Hey, warum will ich den Hauptschulabschluss machen? Warum machst ihn Du?“. Sie flüchtet sich stattdessen in Negativszenarien. Welche Aussage lässt der Film nun aber darüber zu, wie Sarah ihre derzeitige Lebenssituation tatsächlich wahrnimmt? Kann sie sich in der Gegenwart behaupten? Der mehrfach inszenierte Bruch zwischen Gegenwart und Zukunft in Sarahs Zeithorizont (vgl. auch Abbildung 14) lässt eine Darstellungsform erkennen, die in den Begriffen narrativer Biographieforschung als Verlaufskurvendynamik bezeichnet wird.147 Die Protagonistin problematisiert ihre eigene Gefährdung, indem sie deutlich macht, von Ereignissen überwältigt zu werden. Folgende Aussage macht ihr empfundenes Ausgeliefertsein besonders deutlich: Sarah: „Ich gehe jetzt vor ein Cola trinken, (dann geh) danach ein Cola- Weizen und da danach zwei Wodka und da danach gehe ich ins Krankenhaus und da danach komme ich wieder hierher und da danach (müssen wir heim) gehe ich in die Klapse und da danach schickt mich meine Mutter sowieso dahin und da danach gehe ich vor Gericht und da danach verklage ich dann die Bullen und da danach komme ich dann sowieso in den Knast und da danach verschlage ich die Bullen schon wieder und da danach bin ich schon wieder im Knast und dann komme ich nicht mehr raus.“
In dieser Erzählpassage ordnet Sarah zwar nicht zurückliegende Erfahrungen ihrer Lebensgeschichte und rekonstruiert sie in Form eines Erleidensprozesses. Dennoch kann aber, ausgehend von einer solchen Konstruktion der Zukunft, auf ihre derzeitige Lebenshaltung geschlossen werden, die ihr ausreichend Erfahrungen liefert, eine solche Verlaufskurvendynamik zu entwerfen. Sarah konstruiert mit den Aussagen über sich selbst eine labile Person, die möglicherweise 147 Der Ansatz einer soziologisch orientierten Biographieanalyse, wie er zuvor beschrieben wurde (vgl. Kap. 3.3.2), unterscheidet sprachliche Äußerungen nach dem darin enthaltenen Grad an Handlungssouveränität (Intentionalität, Selbst- vs. Fremdbestimmung, Erleiden vs. Steuern).
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mehr als ihr Umfeld fundamental an sich selbst zweifelt.148 Sie versteht es „Stress abzubauen“, indem sie sich kurzzeitigen Schmerz kalkuliert zufügt – nur warum? Ein unausgesprochener Hinweis auf eine unerträgliche Gegenwart. Unter Bezugnahme auf die salutogenetische Gesundheitstheorie erklärt Stumpp die Funktion von selbstverletzendem Verhalten bei Mädchen (vgl. Stumpp 2006: 113ff).149 Selbstverletzungen – z.B. Cutting – können in ihrer subjektiven Bedeutung als gesundheitserhaltende Widerstandsressource angesehen werden. Die negative Symptomatik erweist sich als funktionale „körperbezogene Entlastung in unerträglichen Situationen“ (ebd.: 116), indem sie ein gewisses Maß an Situationskontrolle ermöglicht. Das Handeln der pädagogischen Fachkräfte steht im Zusammenhang mit Sarahs subjektivem Zeiterleben und den gezeigten selbstgefährdenden Verhaltensweisen. Fachlich gilt es, die Gegenwart für Sarah zu verbessern, da sie von ihr destruktiv genutzt wird. Ein einziger Schritt steht im Horizont allen pädagogischen Bemühens – der zeitweilige Auszug aus dem Elternhaus und die Unterbringung in einer betreuten Wohngemeinschaft. Darauf bezogen wird eine breite Übereinstimmung unter den sozialpädagogischen Fachkräften aufgeboten. Alle Fachkräfte ziehen am selben Strang. Dies ist auch nötig angesichts der Risiken, denen sich die Protagonistin gesundheitlich aussetzt. Ein Mikrokosmos, der durch die Dynamik der pädagogischen Interaktionsverläufe bestimmt ist, wird aufgezeigt. Simeons Zeiterleben ist konträr dazu. Er bezieht die Ereignisse in seinem Leben, das was war und was auf ihn zukommt, in anderer Weise aufeinander als seine Freundin. Charakteristisch für seine lebensgeschichtliche Erzählung ist ein Wandlungsprozess, der mit der Fremdunterbringung in Südafrika zusammenfällt. Die entsprechende Passage wurde bereits weiter vorne als ‚magic trip’ interpretiert. Diese Prozessstruktur, in der er seinen Lebenslauf rekonstruiert, schließt sich unmittelbar an die zuvor zitierte Verlaufskurvendynamik (Sarah) an. Die Konfrontation beider Prozessstrukturen schärft den Eindruck einer „Ungleich148
Inwieweit dieses subjektive Gegenwartserleben der Protagonistin auch Ausdruck lebensgeschichtlich zurückliegender Erfahrungen ist, lässt der Film gänzlich offen. Wie schon an früherer Stelle hervorgehoben bleibt Sarahs Vergangenheit Leerstelle innerhalb der Erzählung. 149 Das Konzept der Salutogenese sucht im Unterschied zur Pathogenese nicht nach objektiven Ursachen für Erkrankungen, sondern erklärt, wie es Menschen gelingt, sich als gesund zu begreifen bzw. gesund zu sein. Fokussiert werden „heilsame Ressourcen“ (Antonovsky 1993, zit. n. Stumpp 2006: 110), über die ein Individuum verfügt und die gegen Stressoren und Belastungen des Alltags wirken. Die in Kindheit und Jugend gesammelten Erfahrungen bedingen ein „Kohärenzgefühl“ als Vertrautsein mit der Strukturiertheit der Umwelt und Vertrauen in die eigenen Problemlösekompetenzen (vgl. ebd). „Je stärker dieses Kohärenzgefühl ausgeprägt ist, um so eher sollte der Mensch in der Lage sein, flexibel, d.h. gesundheitserhaltend, auf Anforderungen zu reagieren, bzw. um so eher sollte er in der Lage sein, wieder gesund zu werden“ (ebd.). Entscheidend für die Erklärung selbstverletzenden Verhaltens ist, dass Gesundheit und Krankheit nicht als sich gegenseitig ausschließende Zustände auftreten, sondern Krankheit auch funktional zur Wiederherstellung von Gesundheit sein kann.
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zeitigkeit des Gleichzeitigen“, die sich hier nicht wie bei Pinder als Ausdruck des Nebeneinanders der Generationen (vgl. Kap. 3.4.2) zeigt, sondern als Unterscheidung der Lebensbewältigungsaufgaben Gleichaltriger herausgearbeitet ist. Für Simeon ist die Gegenwart das Sprungbrett in seine Zukunft. Dies wird immer wieder thematisiert. Bereits im ersten Gespräch mit dem Rektor, der ihn wegen der Fehlzeiten rügt, kommt seine Einstellung zum Ausdruck: „Es ist doch nicht mehr lang“. 6.5 Übungen, ProtagonistIn des eigenen Lebens zu sein In der Herleitung der Untersuchungskategorie ‚ProtagonistIn’ ging es um die Frage, durch welche Instanz die Erzählung eines dokumentarischen Films primär gesteuert wird – kurz: wer erzählt? Dann, wenn ‚erzählendes’ und ‚erlebendes Ich’ auf eine Figur fallen, liegt eine ProtagonistInnenerzählung vor. Überprüft man „Schule des Lebens“ auf diesen Zusammenhang, ist festzustellen, dass hier keine gerichtete Erzählung durch die ProtagonistInnen vorkommt. Sie sprechen nicht in der Absicht zur Kamera, über sich zu erzählen. Der Film basiert auf einem narrativen Grundgerüst, das keine Ich-bezogene Form der (Identitäts)Erzählung nutzt, sondern durch kommunikative Prozesse (Dialoge) erzählt und daher der literarischen Grundform des Dramas entspricht (vgl. Pfister 2000: 23f). In dem durch Dialoge dominierten Film kommt – wie Abbildung 11 zeigt – dialogfreien Sequenzen eine Randstellung zu. Da die Dialoge durch keinen Kommentar überlagert werden, besitzen sie Erzählautorität. Diese Tatsache wirft zwei Fragen auf, die im Folgenden weiterverfolgt werden: Erstens entsteht die Frage, warum diese dialogorientierte Erzählform gewählt wurde und an welche fachtheoretischen Überlegungen sie anschlussfähig ist (Kap. 6.5.1). Zweitens wäre zu klären, welches konjunktive Wissen die Erzählung gerade durch diese Form aktualisiert (Kap. 6.5.2). 6.5.1 Identitätsarbeit als Grundlage für eine Figurenopposition Die Idee der Figurenopposition basiert auf der Annahme, dass die Personengruppen, die sich in sozialen Beziehungen gegenüberstehen, über unterschiedliche Voraussetzungen verfügen. Die Handlungsdynamik einer Erzählung ist an die Beweglichkeit gebunden, die nur der einen Gruppe zugesprochen wird. „Schule des Lebens“ führt nun eine Konstellation vor Augen, in der sich zwar Figuren oppositionell gegenüber stehen, die ProtagonistInnen aber noch nicht in ausreichendem Maß über die Beweglichkeit bzw. Veränderungsbereitschaft ver-
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fügen, die von ihnen erwartet wird. Ihre Identität als Handlungsträger der eigenen Geschichte ist noch nicht ausgebildet. Dies führt zum sozialwissenschaftlichen Konzept der Identitätsarbeit. Keupp u.a. heben verschiedene Spannungsfelder hervor, die gegenwärtige Identitätstheorien beeinflussen. Sie ergeben sich aus der Herausforderung, die „Umbruchserfahrungen in spätmodernen Gesellschaften“ auf die Identitätsentwicklung der Subjekte zu beziehen (vgl. Keupp u.a. 1999: 46). Aus diesen Spannungsfeldern resultiert schließlich auch das empirische Konzept der „Identitätsarbeit“, das von Keupp u.a. entwickelt wurde.150 Mit Bezug auf den vorliegenden Film ist es interessant, zwei Spannungsfelder auf die analysierte dialogische Inszenierungsform zu beziehen. Erstens die Frage, inwieweit Identitätsentwicklung auf Alterität angewiesen ist. Dieser Zusammenhang wurde bereits in Kapitel 3.4.1 diskutiert und auf die Formel gebracht: Soziale Beziehungen sind eine Ermöglichungsstruktur von Subjektivität. In ähnlicher Weise formulieren Keupp u.a. den Zusammenhang von Identität und Alterität: „Identität und Alterität stehen in einem unauflösbaren Zusammenhang. Deutlich wird diese enge Verbindung auch im Begriffspaar von Autonomie und sozialer Anerkennung. Eine Autonomie als völlige Unabhängigkeit von anderen hat den Preis des Fehlens sozialer Anerkennung. Sie kann also nur in sozialen Anerkennungsverhältnissen gelebt werden, nicht unabhängig von ihnen“ (ebd.: 67). Eine zweite Frage ist, wie Identität hergestellt wird. Anstatt Identität als innerpsychischen Prozess anzusehen, wird angenommen, sie konstituiere sich über Sprache und sei als narrative Identität schließlich auch sozial hergestellt (vgl. ebd. 69). „Identität (...) ist ein Konstruktionsprozeß geworden, der sich in der dialogischen Erfahrung in sozialen Netzwerken vollzieht“ (ebd.: 99). Auch Alltagshandeln im Einzelnen kann in der Perspektive einer narrativen Identitätsarbeit in sozialen Prozessen eine Bedeutung für die Ausbildung von Identität haben (vgl. ebd.: 100). Eine besondere Bedeutung fällt auf situative Selbstthematisierungen, in denen es immer wieder darum geht, zu erzählen, was einen beschäftigt und wer man ist (vgl. ebd.: 102). „Das Konzept einer formbaren, sozial vermittelten, narrativen Identität“ (ebd.: 101) erklärt Identität damit als einen für Außenstehende punktuell einsehbaren Prozess. Hier liegen die Chancen für den dokumentarischen Film. Der Film gibt Einblick in die Identitätsarbeit der drei ProtagonistInnen, die erst noch an Auto150
„Identitätsarbeit“ ist ein Begriff, den Keupp u.a. wählen, um die Bewältigungs- und die damit verbundenen Konstruktionsleistungen Heranwachsender angemessen zu beschreiben. Die immer wieder neu herzustellenden Passungen zwischen ‚innerer’ und ‚äußerer’ Welt stehen dabei im Zentrum (vgl. Keupp u.a. 1999: 7). Identitätsarbeit geschehe projektförmig und habe Teilidentitäten zum Ergebnis. Das Gelingen von Identitätsprojekten hänge von drei Kernprozessen bzw. Syntheseleistungen ab: a) von der Herstellung von Kohärenz, b) der Erfahrung von Anerkennung und Autonomie und c) dem Erleben von Authentizität (vgl. ebd.: 266f).
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nomie gewinnen müssen, um in sozialen Kontexten als Figuren kenntlich zu werden, die selbstbewusst und beweglich, d.h. veränderungsbereit auftreten. Figurenoppositionen werden in dieser spezifischen Konstellation als alltägliche Übungen sichtbar. Nach Keupp u.a. lassen sich drei Merkmale als kennzeichnend für den Herstellungsprozess von Identität hervorheben: der Situationsbezug, die Heterogenität von Selbsterfahrungen und die Passungsarbeit (vgl. ebd.: 107f). Alle drei Merkmale realisieren sich in der gewählten Inszenierungsform des Films. x Situationsbezug Wie bereits mehrfach erwähnt, nutzt der Film hauptsächlich die pädagogischen Fachkräfte, um die Gedankenwelt der Jugendlichen zu erschließen. Demgegenüber bleiben die Szenen in den weiteren Interaktionsmilieus häufig auf eine oberflächliche Beobachtung beschränkt. Wir sehen beispielsweise eine Konflikteskalation, ohne die Konfliktursachen erschließen zu können. Gerade durch diesen Milieukontrast wird klar, dass es der Aufforderung bedarf, damit die Jugendlichen sich mitteilen und als Konfliktpartner auch in ihren Positionen deutlich werden. Die Kamera ist als direkter Indikator für die Zugänglichkeit zu den Jugendlichen eingesetzt (je nachdem als periphere oder als involvierte Beobachterin). Über diesen Point of View vermitteln sich zentrale Informationen der jeweiligen Situation. Es ergeben sich Graduationen zwischen Verstehen und Nichtverstehen und damit auch zwischen den Möglichkeiten Anerkennung zu zeigen bzw. nicht zu zeigen. x Heterogenität von Selbsterfahrungen Die Auswahl von Szenen und ihre Aufeinanderfolge kontrastiert fortlaufend Milieus und damit Erfahrungswelten der Jugendlichen. Besonders ausgeprägt ist dies an der Figur Sarah zu beobachten, deren aktuelle Lebenssituation in diverse Kontexte aufgeschlüsselt wird. Immer scheint sie in andere Rollen zu fallen. Mit Hilfe des Konzepts der Identitätsarbeit kann erklärt werden, was der Film hier zeigt. Es handelt sich um Teilidentitäten der Protagonistin, in denen sie einen unterschiedlichen Grad an Autonomie, sozialer Anerkennung und Handlungsfähigkeit erleben. Handlungsfähigkeit als „die Verfügbarkeit und Gestaltbarkeit von Lebensbedingungen“ steht im Gegensatz „zu Gefühlen des Ausgeliefertseins an die Verhältnisse“ (ebd.: 236). Für Sarahs derzeitige Teilprojekte scheint gerade keine Balance zwischen den beiden Erfahrungsgegensätzen vorzuliegen, sondern ein Überwiegen der negativen Seite. Ein Beispiel: Sarah kann nicht darauf antworten, warum sie den Hauptschulabschluss macht. Dem Projekt Schule und Ausbildung schenkt sie momentan kaum Aufmerksamkeit. Demgegenüber okkupiert ihre Stellung in der Familie sowie ihr Verhältnis zur Mutter ihre ganze
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Aufmerksamkeit. Das wohl schwierigste Teilprojekt blockiert damit sämtliche anderen. Um in dieser Situation Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen, sind zwei Dinge notwendig: Prioritäten zu setzen und eine Balance zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Teilprojekten zu finden. Auf diese beiden Aspekte wirken die pädagogischen Fachkräfte im Gespräch hin. Aber auch die filmische Konstruktion trägt dazu bei und verstärkt eine ausgeglichene Sicht auf Sarahs Handlungsfähigkeit – selbst dann, wenn Krisen und Selbstgefährdung zunehmen. x Passungsarbeit zwischen Fremd- und Selbstbild Die Figur Simeon wird im Unterschied zu den beiden anderen ProtagonistInnen mehrfach von pädagogischer Seite her und auch von der Filmemacherin dazu aufgefordert, seinen Werdegang zu erzählen. Anhand von Abbildung 13, dem Zeithorizont der Figur Simeon, kann klar gemacht werden, worum es dabei geht. Simeons Biographie ist sowohl in die Vergangenheit wie auch in die Zukunft filmisch entwickelt. In der Unterscheidung von objektiven und subjektiven Zeitmarken fällt auf, dass sich Ereignisse teilweise doppeln. So ist z.B. der 15monatige Afrikaaufenthalt sowohl als subjektiv erlebte Zeit wie auch als objektive Zeitmarke bedeutend. Für den Protagonisten geht es grob gesprochen um das Einpassen der in der Vergangenheit liegenden, chaotischen und fremdbestimmten Ereignisse in einen subjektiv sinnhaften Zusammenhang, der für die Zukunft Perspektiven bietet. Dies bezeichnen Keupp u.a. als Kohärenzgefühl: „Wie wir in der Analyse des Kohärenzgefühls gesehen haben, besteht die für das Subjekt zentrale Frage (...) darin, auch bei sehr unterschiedlichen Identitätsprojekten ein Gefühl des Sinnhaften (das Alte war nicht sinnlos, und das Neue macht Sinn), des Verstehbaren (beispielsweise warum die Veränderung eines Identitätsprojekts notwendig wurde) und der eigenen Gestaltbarkeit (das neue Identitätsprojekt ist Teil eines selbstrealisierten Entwurfs) zu haben“ (ebd.: 245f). Die Erzählaufforderungen unterstützen diesen Prozess bei Simeon. Der Film involviert die ZuschauerInnen zunehmend in diesen subjektiven Sinnzusammenhang des Protagonisten. 6.5.2 Konjunktive Erfahrungen, Einübung sozialen Handelns und performatives Wissen Um zeigen zu können, inwiefern die filmische Darstellung über konjunktive Erfahrungsräume eine Brücke zwischen ProtagonistInnen und ZuschauerInnen herstellt, sind vorab einige theoretische Überlegungen darzulegen. Diese werden schließlich auf die Konstruktionsweise des vorliegenden Films bezogen.
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Konjunktive Erfahrung im nachahmenden Lernen In der Literaturwissenschaft werden epische und dramatische Darstellungsweisen als zwei grundständig verschiedene Kommunikationssituationen unterschieden. „Die performative, dialogische Darstellung des Schauspiels (‚mimesis’) weist eine Position weniger im Kommunikationsmodell auf als die berichtende oder ‚erzählende’ Rede (‚diegesis’). Die mimetische Darstellung entfaltet sich ohne auf eine ErzählerIn angewiesen zu sein. Obzwar das Drama wie die literarische Erzählung eines Autors bedarf, um überhaupt zustande zu kommen, scheint sich das dramatische Geschehen für sich selbst darzustellen; es hat den Anschein, auch ungeachtet der Notwendigkeit eines Regisseurs, als ob die Akteure alleine das Geschehen direkt vor den Augen des Zuschauers verwirklichen und das Publikum dazu unverstellten Zugang hätte“ (Kiener 1999: 164). In dieser Präsentationsform (des Dramas), in der sich „die Figuren (..) als Redende selbst darstellen“, erfolgt eine Konzentration auf die sozialen Handlungen, indem die vermittelnde Handlung der Narration ausgelassen wird (Pfister 2000: 23). Der in der griechischen Antike entstandene Begriff der ‚Mimesis’ meint die Nachahmung von Handlungen sowohl in Bezug auf die (symbolisch darstellenden) Künste wie auch anthropologisch als lernender Zugang zu sozialem Handeln (vgl. Wulf 2005: 21). Der erstgenannte Begriffssinn gründet im zweitgenannten, d.h. im menschlichen Bedürfnis und der Fähigkeit zur Nachahmung. Daher sorgt eine mimetische Darstellung von z.B. dialogischen Sprechhandlungen für eine emotionale Involviertheit des Publikums. Es kann sich gerade aufgrund der strukturellen Ähnlichkeiten, die es in der Nachahmung entdeckt, einfühlen. In der szenisch-dialogischen Anordnung in „Schule des Lebens“ ist daher eine besondere Aufforderung, sich in den Situationsverlauf einzufühlen, gegeben. Im Unterschied zum Drama entwickelt sich die Darstellung jedoch nicht entlang eines vorgegebenen Skripts. Dieses ist vielmehr im Entstehen begriffen. Die Aussagereichweite dieser Form resultiert aus den Möglichkeiten der Selbstdarstellung, die in dialogischen Szenen gegenüber eher erzählenden (Selbst-) Darstellungen anders strukturiert sind. Die Subjektleistungen, die damit in Verbindung stehen, können aus einem theoretischen Ansatz von Wulf „zur Genese des Sozialen“ abgeleitet werden. Der Erziehungswissenschaftler rückt drei Komponenten in den Mittelpunkt, deren Zusammenwirken soziales Handeln in seiner Vielfalt erklären kann: Mimesis, Performativität und Ritual. Die drei gewählten Kernbegriffe bauen aufeinander auf: In der begrifflichen Konzeption von Mimesis sind die ‚Darsteller’ als lernende Subjekte impliziert. Sie werden jedoch nicht isoliert betrachtet, denn „Mimesis ist immer eine Angelegenheit eines Beziehungsgeflechts von Personen“ (ebd.: 23). Der Lernvorgang realisiert sich, indem die Figuren sich in soziale Hand-
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lungssituationen begeben und soziale Beziehungen – in Reaktion auf andere und in der eigenen körperlichen Performanz – zum Ausdruck bringen. Sie orientieren sich im sozialen Handeln an diversen Vorerfahrungen und Vorbildern. Zugleich ist das Handeln keine bloße Nachahmung, sondern beinhaltet eine kreative „Anähnlichung“ (ebd.: 72). Ein zunehmendes Gefühl der Ähnlichkeit zwischen innerer und äußerer Welt entsteht. Die rezipierbaren Mimesis-Leistungen sind daher bedeutsam für die individuelle Entwicklung und Selbstbildung von Jugendlichen (vgl. ebd.: 73). Mit dem Begriff Performativität ist die Subjektleistung gemeint, Gegenseitigkeit zu erzeugen, indem man sich im Sprechen und Handeln aufeinander bezieht. Wie der Körper dabei eingesetzt wird, trägt wesentlich zur Definition sozialer Beziehungen bei (vgl. ebd.: 11f). Performatives Wissen ist mimetisch erworbenes, praktisches Wissen körperlich-darstellender Natur (vgl. ebd.: 94ff). Mit dem Ritual-Begriff wird schließlich die Ebene des Subjekts in eine Gemeinschaft eingelagert. Rituelles Handeln ist expressives institutionalisiertes Handeln und konstituiert sich u.a. durch Alterität. Es gründet auf der Einübung mimetisch erworbenen, performativen Wissens. (Institutionalisierte) Rituale bilden ein Gefüge regelhafter sozialer Handlungen. Es lassen sich beispielsweise unterschiedliche Ritualtypen (z.B. Übergangsrituale, Jahreszeit-Rituale) unterscheiden (vgl. ebd.: 118). Im Folgenden werden diese theoretischen Zusammenhänge auf die Darstellungsweisen von „Schule des Lebens“ bezogen. Rituale vs. Konventionen Werden die dialogischen Szenen des Films, die in den unterscheidbaren Milieus spielen, auf ihren Ritualgehalt befragt, zeigt sich ein aufschlussreicher Unterschied. In der filmisch montierten Gegenüberstellung des pädagogischen und des familiären Interaktionsmilieus ist in beiden Fällen eine Wiederholungsstruktur ähnlicher Situationen gegeben. Während der eine Typus von Szenen im pädagogischen Milieu ganz eindeutig Ritualcharakter besitzt, ist es im Fall der Familienszenen eher Konvention, die das soziale Beisammensein steuert. An der zeitlichen Struktur, der räumlichen Inszenierung und im Umgang mit Differenz wird dies besonders deutlich. Zeitliche Struktur: Rituelle Handlungen haben einen Anfang und ein Ende und damit eine zeitliche Struktur (vgl. ebd.: 104ff). In eben dieser in sich geschlossenen Weise werden die mehr oder weniger formalisierten Beratungsgespräche inszeniert. Die performativen Handlungen des Händeschüttelns zur Begrüßung und zum Abschied, des Mützen Auf- und Absetzens, des einander zugewandten Sitzens, verbunden mit den sprachlichen Handlungen des Erzählauf-
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takts, der Ausarbeitung einer Anschlussperspektive, der Formel zur Gesprächsbeendigung sind Beispiele, die in der Analyse der Filmeinheiten bereits mehrfach erwähnt wurden. Dieser Vollständigkeit und Abgeschlossenheit entbehren die Familienszenen. Räumliche Inszenierung: „In den meisten Familien gehören Tischgespräche zu den wichtigsten Formen familiärer Erziehung. Unter den vielen dort täglich verhandelten Themen nimmt der Erfolg bzw. Misserfolg der Kinder in der Schule eine zentrale Stelle ein. (...) Für die Inkorporierung der familiären Werte, Einstellungen und Vorstellungen ist der rituelle Charakter dieser Tischgespräche unerlässlich“ (ebd.: 15). Diese Aussage von Wulf ist besonders interessant auf den vorliegenden Film zu übertragen, denn deutlich wird, dass in „Schule des Lebens“ nicht der Tisch im familiären Umfeld und damit die Verständigung zwischen Eltern- und Kindergeneration gezeigt wird, sondern gewissermaßen als Ersatzkonstruktion, die Tischgespräche zwischen pädagogischen Fachkräften und Heranwachsenden eine ähnliche erzieherische Funktion erfüllen. Das heißt, in der Institution Schule ist ein Ort geschaffen, an dem die subjektive Sichtweise der Jugendlichen auf ihre Schullaufbahn Gehör wie auch Konfrontation mit den Erziehungszielen der Professionellen findet. Die Anwendung von Ritualen ist in diesem Sinne ordnungsbildend bzw. stabilisiert die Jugendlichen in ihrem Schülersein. Neben jenen alltäglichen Interaktionsritualen in der Schule, weist die Rede des Rektors an der Schulabschlussfeier den höchsten Ritualisierungsgrad auf. Im Sinne eines Übergangsrituals würdigt er die Bildungsanstrengungen der Schulabgänger angesichts ihrer sozialen Voraussetzungen im Besonderen. Umgang mit Differenz:151 „Rituale sind soziale Dramen, in denen Differenz bearbeitet wird“ (ebd.: 15). Differenzen zu bearbeiten bedeutet, in den beteiligten Personen liegende unterschiedliche Erwartungen sowie Deutungen und Wahrnehmungen eines Rituals durch eine gemeinsame Praxis auszugleichen, ohne solche Differenzen jedoch in Abrede zu stellen (vgl. ebd.: 92). Auf der Anerkennung von Differenzen unter den Schülerinnen und Schülern basiert nun insgesamt die Gestaltung der Schule für Erziehungshilfe, wie weiter vorne anhand des Bildungsplanauszugs dargestellt wurde. Die Organisation der Schule wie auch die Qualifikation der Fachkräfte ist daran ausgerichtet, dass die Kinder und Jugendlichen verhaltensauffällig sind und einer individuellen Bildungs- und Hilfeplanung bedürfen. Insofern ist Differenz eine konstitutive Grundlage dieser Schule. Anders im Fall der Familie. Wie wird hier mit Differenz umgegangen? Einige Szenen geben Hinweise darauf: Die Ähnlichkeit von Mutter und ältester Tochter, ihr nahezu identischer Stil verweist auf Gleichheit als einer wichtigen Grundlage von Zusammengehörigkeit in dieser Familie. Differenz sorgt hinge151
Vergleiche hierzu auch Kapitel 3.4.1 Dort wurde die Berücksichtigung von Differenz und Gleichheit als Anforderung an soziale Beziehungen formuliert.
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gen für Ausgrenzung. Dies wird im Familienstreit an Sarahs Geburtstag deutlich, einer Szene, die aufgrund des Ehrentags noch am ehesten rituelles Handeln vermuten ließe. Der gemeinsame Familienausflug scheitert jedoch, weil „die zwischen den Personen bestehenden Spannungen und Aggressionen die Oberhand gewinnen“ (ebd.: 92). Die subtile Brüchigkeit, auf die an anderen Stellen der Analyse schon eingegangen wurde, resultiert aus dem primär auf Konvention beruhenden Gemeinsinn. Im Unterschied zur Schule ist in der Familie kein konstruktiver Umgang mit Differenz zu erkennen. Sich mitteilen als performatives Wissen Wie üben sich die jugendlichen ProtagonistInnen nun in sozialem Handeln und damit der Fähigkeit zur Selbstgestaltung? Das filmische Thema baut auf der produktiven Seite von rituellem Handeln auf, indem Rituale Gemeinschaften konstituieren, d.h. bei der Anerkennung von Differenz zugleich Gemeinsamkeit erlauben. Ausgehend von der Gegenüberstellung von pädagogischem und familiärem Milieu liegt der Befund nahe, dass die Familie wenig zur Einübung sozialen Handelns beiträgt, da sie keine Rituale inszeniert, die diesen Lernvorgang unterstützen würden. Anders im pädagogischen Milieu: Hier üben sich die Jugendlichen im sozialen Handeln mit Erwachsenen. In den dargestellten Szenen ist jedoch eine nicht zu übersehende Einseitigkeit angelegt. Es geht immer nur um die Situation der Jugendlichen, kaum um die der Erwachsenen. Daher lernen sie in diesen Gesprächen vor allem über sich und ihre Probleme nachzudenken, diese sprechend mitzuteilen, einzuschätzen und im Zusammenhang zu sehen. Die pädagogischen Fachkräfte machen ihnen dies vor, indem sie das Verhalten der Jugendlichen zum Gegenstand der Handlungssituationen machen. Interessant ist ferner, dass der Film zwar mehrheitlich das Sprechen über Probleme bzw. problematisches Verhalten vorgibt (etwa Simeons problematische Wohnsituation, Sarahs Selbstverletzungen, Svens schulische Leistungsschwäche), jedoch punktuell und begrenzt auf die Figur Sarah die gemeinten Verhaltensweisen tatsächlich auch zeigt. So konfrontiert uns die filmische Erzählung gleich zu Beginn mit einer Handlung, in der sich Sarah betrinkt. In einer späteren Sequenz spielt sie mit Rasierklingen, während die Deutschlehrerin auf ihre aktuelle Gefühlslage sprachlich einwirkt. In einer gegen Ende des Films eingebauten Sequenz überwiegen hingegen die Affekte und Sarah schneidet sich mit einer Rasierklinge im Beisein der Pädagoginnen in den Unterarm. In dieser Gegenüberstellung der riskanten Verhaltensweisen und deren kommunikativer Bearbeitung in sozialen Situationen wird die Option der Protagonistin thematisiert, zwischen regressiven und kommunikativ offenen Situationssteue-
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rungen zu wählen. Simeon steht nicht mehr im Zwang, zwischen beiden Alternativen wählen zu müssen: „Ich glaube, ich kann es heute gar nicht mehr“ antwortet er auf die Frage seiner ehemaligen Heimbetreuerin, die ihn fragt, ob er sich noch körperlich aggressiv gegenüber Kindern verhalte. Sich kommunikativ mitteilen zu können ist ein Zugewinn an performativem Wissen und erweitert das Handlungsrepertoire der Jugendlichen. Zusammenfassend lässt sich also feststellen: Die dialogisch-szenischen Darstellungen haben einen zweifachen Wert. Erstens ergibt sich daraus eine besondere Wirkung auf das Publikum. Durch die mimetische Qualität der Darstellung wird ein Einfühlen in die dargestellten Prozesse gefördert. Zweitens hat die Mimesis einen außerfilmischen Eigenwert für die ProtagonistInnen als sozial Lernende. Die Szenen werden so als mehr oder weniger gelingende Prozesseinheiten von überdauernden Lernvorgängen erkennbar. Je mehr sie ritualisiert sind, umso eher halten wir sie für ‚studierbar’ und nützlich für die drei Jugendlichen. Der unterschiedliche Grad an Ritualisierung der Szenen ist jedoch filmisch erzeugt und damit eine Frage der Inszenierung und nicht der szenischen Handlungen an sich. So ergibt sich – wie vorne beschrieben – durch die Abgeschlossenheit der Szenen im pädagogischen Milieu, durch die wiederkehrende Inszenierung von Tischgesprächen ebenso wie durch den unterscheidbaren Umgang mit Differenz eine graduelle Stufung lernförderlicher und lernhinderlicher Umgebungen. Dementsprechend unterscheiden sich auch die dargestellten Verhaltensweisen der Jugendlichen ebenso wie die Qualität der sozialen Begegnungen. 6.6 Schlussüberlegungen zu Bewältigungshilfen Die Idee, die Mäussnests Film zugrunde liegt, ist einfach und raffiniert zugleich. Sie schafft ein Kontinuum zwischen Interesse und Ablehnung, zwischen Anziehung und Abstoßung in Bezug auf drei ProtagonistInnen. Wie sie untereinander in Beziehungen stehen ist geschickt gewählt, denn gerade über die Beziehungen drückt sich die Ambivalenz ihrer derzeitigen Situation kurz vor dem Schulabschluss aus. Ziel des Films ist es, unmittelbaren Zuschreibungen und der Aburteilung der drei Jugendlichen systematisch entgegenzuwirken. Das heißt, der Film liefert zunächst Gründe, warum wir die Jugendlichen ablehnen könnten, führt Mängel ihrer sozialen Kompetenzen vor, zeigt Peinlichkeit und rekonstruiert ihr destruktives Verhalten gegenüber sich selbst und anderen, zeigt ihre geringen Chancen, zukünftig eine gesellschaftlich verantwortungsvolle Position einzunehmen. Er zeigt jedoch zugleich, dass sie selbst sich die größten Kritiker sind, diese Sichtweise also internalisiert haben und gerade neben all den schwierigen Seiten auch ihre Erfolge gering schätzen. Dies wird durch das Einwirken
6.6 Schlussüberlegungen zu Bewältigungshilfen
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der pädagogischen Fachkräfte, die auf das Gegenteil hinarbeiten, deutlich. Die Darstellungsweisen, die dieses Hin-und-her-geworfen-Sein in der Beurteilung unterstützen, lassen sich in folgenden Aspekten zusammenfassen: Metakonstruktion Die Besonderheiten des untersuchten Films ergeben sich aus drei Konstruktionselementen: 1. Der Film basiert auf einem narrativen Grundgerüst, das keine Ich-bezogene Form der (Identitäts-)Erzählung nutzt, sondern durch kommunikative Prozesse erzählt. 2. Die filmische Erzählung greift auf verschieden strukturierte Milieus zurück, die unterscheidbare Interaktionsformen aufweisen und in ihrer Bedeutung als entweder lernförderlich oder lernhemmend entworfen werden. 3. Drei Protagonistenfiguren kommen vor und werden in einen intersubjektiven Vergleich gesetzt; es wird eine „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ konstruiert. Verhältnis von Form und Inhalt Der Film geht offensiv mit Informationslücken um. In weiten Teilen finden dargestellte Inhalte keine substanzielle Erklärung, so z.B. Sarahs familiäre Beziehungen, Svens Rolle in der Familie, Simeons Wandlung in Südafrika etc. Dies hat zur Folge, dass bestimmte Verstehensleistungen rein auf der formbezogenen Darstellung beruhen und nicht inhaltlich aufgeklärt werden. Es ist kein Film, der sich in der Pflicht der Aufklärung wähnt. Stattdessen reproduziert er natürliche Formen des Situativen, des Zusammenlebens, betreibt ein Stück weit Mimesis wie auch seine ProtagonistInnen. Die Hintergrundinformationen fehlen zumeist und es wird nicht klar, wer da mit am Tisch sitzt und mit Sarah verhandelt. Das heißt, wir werden nicht über das Prinzip Hilfeplanverfahren informiert, was erklären würde, warum Sarah immer wieder in die Meinungsbildung der Profis miteinbezogen wird. Es wird auch nicht deutlich, in welchen Abständen diese Gespräche geführt werden und wer sie veranlasst hat. Diese Vorgehensweise ist dann zu kritisieren, wenn man die Erwartung an den Film hat, er möge in fachlich angemessener Weise über Aufgaben, Ziele, Kompetenzen und Rahmenbedingungen wie auch die hinterlegten professionellen Standards aufklären. Denn diese Informationen bleiben auf ganzer Linie aus. Der Film trägt also nicht dazu bei, Jugendhilfe in ihrer differenzierten Verfahrenslogik zu verstehen, weil ent-
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scheidende operationale und strukturelle Zusammenhänge nicht geklärt werden. Vorsichtiger formuliert kann man fragen, warum der Film denn überhaupt das pädagogische Personal für unverzichtbar hält und wozu er es nutzt, wenn nicht zur diagnostischen Aufbereitung der Problemstellung und zur Begründung? Knotenpunkte der Informationssteuerung oder auch Hilfe zur Lebensbewältigung Die pädagogischen Fachkräfte sind in fast jeder filmischen Situation einfach anwesend, gehören zur mise en scène und beeinflussen die Interaktionsdynamik. Darüber schließlich steckt der Film einen Rahmen ab, anhand dessen wir die Entwicklung der Jugendlichen abschätzen können. Es ist ein Film, der sozialpädagogischem Handeln eine sehr wertschätzende Haltung entgegenbringt, diesem sogar eine Schlüsselposition für das Verständnis von Zusammenhängen zuweist: was vergangene Erlebnisse – so sie denn erzählt werden – mit einer möglichen Zukunftsplanung zu tun haben oder wie sich verschiedene Lebensumstände und anforderungen gegenseitig blockieren. Professionelle Handlungsweisen, wie etwa die Fachkräfte methodengeleitet auf die Jugendlichen eingehen, sind dabei unwesentlich, ebenso die Unterscheidung von schulpädagogischen gegenüber sozialpädagogischen Fachkräften. Demgegenüber kommt es auf ihre Anwesenheit an. Als „andere Erwachsene“ (Böhnisch 1998) machen sie sich den Jugendlichen zugänglich, unterbreiten ihnen Angebote, geben ihnen eine zweite Chance, sind ihnen aber auch ein kritisches Gegenüber, leisten insgesamt also Hilfestellung in Bezug auf deren Lebensbewältigung. Ihr Selbstverständnis erschöpft sich daher nicht in einer funktionalen Zuständigkeit für einen bestimmten Aspekt der Hilfe. „Die pädagogische Interaktion ist also von Seiten der Erziehenden nicht nur funktional ausgerichtet (Erzieherrolle), sondern ist – eben im Sinne dieses Pädagogischen Bezugs – personale Teilhabe der Erwachsenen an der Entwicklungsthematik Jugend wie Teilhabe der Jugendlichen an der Thematik des Erwachsenseins in der sensiblen Balance von jugendkultureller Distanz und personaler Nähe“ (ebd.: 162). Den ZuschauerInnen wird also eine Verstehensleistung zugemutet, die in der pädagogischen Arbeit mit solchen Jugendlichen Berufsalltag ausmacht. Die Informationssteuerung des Films imitiert daher die Form, wie pädagogische Fachkräfte Informationen suchen, auf deren Basis sie dann Unterstützung leisten können.
7 Filmanalyse III: „Der Kick“
Filmdaten Autor Andres Veiel Redaktion ZDF Theaterkanal, Meike Klingenberg, Wolfgang Bergmann DarstellerInnen Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch Filmlänge 82 min. Erstausstrahlung 02. Juni 2007, ZDF Theaterkanal 7.1 Beschreibung des Inhalts im Rahmen seiner Formalstruktur 7.1.1 Inhaltlicher Überblick Ein einleitender Text nimmt das Ereignis sowie einige wesentliche Zusammenhänge vorweg, die der Film im Folgenden differenziert entwickelt. Danach beschäftigt sich die Erzählung mit einer Gewalttat mit tödlicher Folge. Sie wird von drei männlichen Jugendlichen an einem vierten Jugendlichen in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli 2002 verübt. Die folgende Erzählung macht deutlich, dass der 16jährige auf besonders grausame Weise getötet wurde und vor seinem Tod Misshandlungen, die sich über mehrere Stunden erstreckten, qualvoll erleiden musste. Am Ende des perfiden Verlaufs wurde der Mord einer Hinrichtung gleich verübt. Er imitierte den „Bordsteinkick“ aus einem US-amerikanischen Spielfilm: Einer der Täter sprang dem am Boden knienden Opfer, das in eine Betonkante beißen musste, auf den Hinterkopf und erschlug den Jungen, der nur noch schwache Lebenszeichen von sich gab, anschließend mit einem Stein. Die Leiche vergruben sie unweit des Tatorts in einer ehemaligen Jauchegrube. Vier Monate später wurde der bis dahin als vermisst gemeldete Marinus Schöberl gefunden, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und die Täter in Haft genommen. Das zuständige Landgericht Neuruppin verurteilte die Täter Marcel und Marco Schönfeld sowie den befreundeten Sebastian Fink Ende Oktober 2003 zu unterschiedlich langen Freiheitsstrafen. Der juristischen Rekonstruktion des Tathergangs stellt die filmische Erzählung ein zweites Interesse gegenüber: Das Schwerstverbrechen wird im Kontext des
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Sozialraums, in dem es stattfand, betrachtet. Es folgen Stimmen über Stimmen: Erzählungen der Eltern von Marcel und Marco Schönfeld geben Einblicke in die Zeit nach bekannt werden der Tat und in die soziale Situation der Familie. Deutlich wir das soziale Klima wie auch das Selbstverständnis, mit dem die Eltern ihre Söhne erzogen haben. Die Mutter des Opfers, Frau Schöberl, spricht über ihren Sohn und seine Persönlichkeit. Sie berichtet über die Unerträglichkeit des Wartens auf ihn, nachdem er nicht nach Hause kam. Und sie beklagt die ausbleibenden Reaktionen auf sein Verschwinden bis zur Todesnachricht. Schließlich drückt sie ihre Enttäuschung über eine als unangemessen empfundene öffentliche Reaktion auf das Verbrechen aus. Ein erwachsener Bekannter von Opfer und Tätern führt die letzte Zigarette an, die er sich mit dem Opfer am Abend des Verbrechens geteilt hat. Ein Freund des Getöteten spricht über die Fragen und Gedanken, die sein Verschwinden beim ihm auslösten. Er war es schließlich auch, der Marinus Schöberls sterbliche Überreste entdeckt hat. Nach Ansicht des Bürgermeisters ist Potzlow eine Vorzeigekommune, wenn auch das Verbrechen auf eine rohe Jugendkultur verweist. Die Grabrede des Pfarrers verurteilt die Tat als rechtsgerichtetes Verbrechen und stellt sie in den Kollektivzusammenhang des Dorfes. Auch die beiden Täter Marcel und Marco Schönfeld äußern sich gegenüber dem Filmemacher. Marcel Schönfeld erzählt, wie er in der Jugendzeit Ausgrenzungsprozesse erfuhr. Als sein großer Bruder zum ersten Mal in den Strafvollzug kam, ‚konvertierte’ er vom ‚Fascho’-Look zum Hip-Hopper-Style. Auch von dem für ihn erschreckenden Anblick seiner Mutter nach einer Tumoroperation und von den Verletzungen, die ihn selbst nach einer Anfeindung mit einem Kumpel ins Krankenhaus brachten, erzählt er. Ein Bekannter aus der rechten Szene berichtet über das aus seiner Sicht überraschende Bekenntnis Marcels zur Fascho-Szene kurz bevor sein Bruder aus der Haft entlassen wird. Er erklärt, dass Marcel seine rechte Gesinnung mit einer besonderen Härte vertreten hätte. Ein Ausbilder von Marcel Schönfeld glaubt dagegen nicht, dass der Junge ernsthaft eine rechte politische Orientierung vertritt. Marco Schönfeld rekapituliert es als fatale Fehlentscheidung, nicht umgehend nach seiner Haftentlassung nach Arbeit gesucht zu haben. Er blieb vor Ort bei seiner Freundin. Nur aus diesem Grund sei es schließlich dazu gekommen, dass er einige Tage später tatbeteiligt gewesen war. Er wollte an diesem Abend Spaß daran haben, Marinus Schöberl zu quälen. Die Handlungsweise des Bruders, den tödlichen Sprung auf den Hinterkopf, war für ihn jedoch nicht nachvollziehbar. Ein gerichtliches Gutachten zu Marco Schönfelds Person weist ihn als seriellen Täter aus, der schon kurze Zeit nach dem Mord wegen Raub und einem Über-
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griff auf einen Schwarzafrikaner in Untersuchungshaft gekommen ist. Marco Schönfelds Freundin schließlich gibt zu verstehen, ihn trotz seiner Schuld am Tod von Marinus Schöberl zu lieben und auf eine gemeinsame Zukunft zu bauen. Die fragmentarischen Erzählpassagen der angeführten Personen führen in die familiären, nachbarschaftlichen und gleichaltrigen Beziehungen zwischen den vor Ort lebenden Menschen, klären generationenübergreifende Themen wie Perspektivlosigkeit und lokalen Zusammenhalt und geben der brandenburgischen Kommune eine Geschichte. Die Sichtweisen der Befragten auf die Tat werden nicht nur untereinander kontrastiert, sondern auch mit den Inhalten des Beschuldigtenverhörs kombiniert. Die Darstellung der juristischen Erkenntnissuche konzentriert sich auf den Tathergang. Demgegenüber holt die Befragung des Filmemachers sozialgeschichtliche und familienbiographische Inhalte ein. Beide Thematisierungsweisen sind im Verlauf des Films zeitlich verschachtelt. Dabei wird deutlich, dass das Umfeld von Tätern und Opfer durch das Schwerstverbrechen in wesentlich stärkerem Maße als die Justiz zur Bewältigung der Tat herausgefordert ist. Während die Justiz ein rechtsextremistisches Gedankengut hinter der Tat erkennt, liegt für die Betroffenen darin kein akzeptables Erklärungsmodell, denn schließlich unterschied sich das Opfer in seiner Herkunft nicht von den Tätern und war in dem Sinne nicht fremd. Anstelle von einer absichtsvollen Handlung sehen die Angehörigen und kommunalen Funktionsträger ein willkürliches Zustandekommen des Verbrechens, das auch in umgekehrter Rollenbesetzung begangen worden sein könnte: das Opfer war „zur falschen Zeit am falschen Ort“. Schließlich werden vorsichtig auch Meinungen geäußert, die das Opfer als Mitverursacher sehen. Wenngleich das Interesse beider Aussagekontexte übereinstimmend im Verstehen der Ursachen einer solchen menschenverachtenden Tat liegt, bestimmen doch andere Fragen die Auseinandersetzung. Das hat zur Folge, dass sich beide Thematisierungsstränge inhaltlich im Verlauf des Films zusehends voneinander entfernen. Sie scheinen fast unterschiedliche Geschichten zu erzählen. Während das Justizsystem darauf hinarbeitet, einen Zusammenhang zwischen dem Tathergang und einem Tatmotiv nachzuweisen, belegen die Aussagen der am Tatort lebenden Menschen weder die Eindeutigkeit, mit der die Justiz Täter und Opfer unterscheidet bzw. unterscheiden muss, noch finden die linearen Schlussfolgerungen, die die Ermittlungen erlauben, darin Bestätigung. Verblüffend und provozierend ist mit dem Ausgang der Erzählung deswegen die Gleichzeitigkeit einer Schuldsprechung und einem nur teilweise vorhandenen Unrechtsbewusstsein der interviewten Personen.
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7.1.2 Vorbemerkung – Besonderheiten des vorliegenden dokumentarischen Inhalts In einer der letzten Einstellungen des Films ergreift Frau Schöberl das Wort vor Gericht und plädiert für einen gerechten Urteilsspruch, der den Tätern keine Gnade einräumt. In einer übernächsten Sequenz erklärt eine Sprechstimme aus dem Off, dass die Mutter des Opfers am Tag der Urteilsverkündung an einem Krebsleiden verstorben ist. Veiels Recherchen zum Film beginnen erst danach. Weder konnte er also mit Frau Schöberl ein Gespräch führen noch konnte er ihren Auftritt vor Gericht aufnehmen. Es stellt sich an diesem Beispiel die Frage, in welcher Weise die angeführten Personen im Film vertreten sind. Die Erzählung über die Tat ruft spontan Bilder hervor, ohne dass man sich dabei der eigenen Vorstellungskraft verweigern könnte. Es mache jedoch einen Unterschied – so der Filmemacher –, ob diese inneren Vorstellungen auf ein „naturalistisches“ Bildangebot treffen oder sich vor einer neutralen Bühne entfalten (Arne Höhne Presse 2008: 6). Erst durch die Distanzierung von abrufbaren, ‚sozialen’ Bildern entstehe die Möglichkeit einer differenzierten Annäherung an den Fall. Diese und weitere Überlegungen bestimmten die Stoffbearbeitung des Filmemachers, der es ablehnt, mit konkreten bzw. ‚sozialen’ Bildern zu arbeiten, stattdessen eine künstlich hergestellte Wiedergabe journalistisch gewonnener Aussagen und Einsichten realisiert (vgl. ebd.). Dies betrifft schließlich auch die Verkörperung der dargestellten Personen durch eine Schauspielerin und einen Schauspieler. Neben dem Verzicht auf eine reale Szenerie und auf die Präsenz der aussagenden Personen vor der Kamera weist dieser dokumentarische Film eine weitere Besonderheit auf: „Der Kick“ ist ein Film, ein Theaterstück und ein Buch. Alle drei Medienarten gehen zurück auf die Recherchen, die der Filmemacher Andres Veiel und die Dramaturgin Gesine Schmidt zu dem rechtsextremistisch motivierten Mord an dem 16jährigen im brandenburgischen Potzlow angestellt haben. Die folgende Analyse konzentriert sich auf Veiels Film, der im Jahr 2006 entstand, dem das Theaterstück vorausgeht und das Buch folgt. Veiel hat dazu das dokumentarische Stück nach dem Skript, wie es für das Theater aufbereitet wurde, in neuer Form, aber gleicher Besetzung inszeniert (vgl. Glombitza 2006). Das Projekt umfasst so mehrere Erscheinungsformen und prozessuale Wandlungen. Interessant daran ist die Abfolge der Bearbeitungsweisen: Zunächst steht die vorsichtige Annäherung an die medienüberdrüssigen Bewohner des Dorfes verbunden mit dem langwierigen Versuch, ihre Gesprächsbereitschaft zu gewinnen, im Mittelpunkt. Dem folgt eine akribische Analyse von Daten wie z.B. Aussageprotokollen oder des Interviews, das eine Journalistin des RBB mit Frau Schöberl noch zu Lebzeiten führen konnte. In einem nächsten Schritt wird schließlich
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ein gigantischer Reduktionsprozess unternommen. Die differenzierte Datenlage und Einsichten werden von 1.500 Seiten Material auf 40 Skript-Seiten für zwei Schauspieler getrimmt (vgl. Ertle 2006). Die Sprechrollen, die der Bühnentext beinhaltet, werden durch die Schauspielerin Susanne-Marie Wrage und den Schauspieler Markus Lerch im Wechsel besetzt. Ein nächster Schritt bezieht filmsprachliche Möglichkeiten auf diese abstrakte Inszenierungsform. Dadurch gewinnt die Verkörperung der Rollen zusätzlich an Intensität. Das Buch als folgender Schritt trägt dann schließlich die Unterzeile „ein Lehrstück über Gewalt“. Hierin bietet Veiel Erklärungszusammenhänge an und eröffnet Deutungsrahmen wie etwa in der Familiengeschichte liegende Traumatisierungen oder typische Auflösungserscheinungen von dörflichen Strukturen mit der Wiedervereinigung, die zum Gewaltakt geführt haben könnten. Schicht für Schicht bleibt der jeweilige Charakter der Medialität erhalten – journalistische Spurensuche, Theater, Dynamisierung von Raum und Zeit. Die Wandlung des Materials bis hin zum Filmtext führt schließlich auch in der Fachöffentlichkeit zu unterschiedlichen Einschätzungen, um welche Art von Film es sich handle. So wurde „Der Kick“ dreifach ausgezeichnet und gewann dabei in verschiedenen Kategorien. Die Jury der evangelischen Filmarbeit gibt in einer Pressemitteilung vom Januar 2007 bekannt: „Die Jury der Evangelischen Filmarbeit hat den „Film des Jahres“ 2006 gewählt. Ausgezeichnet wurde der Dokumentarfilm „Der Kick“ von Andres Veiel.“ Auf dem „Achtung Berlin“ FilmFestival 2006 läuft „Der Kick“ im Wettbewerb für Filme aus Berlin-Brandenburg und gewinnt den Preis als bester Spielfilm. Als Film, der die Grenzen zwischen dem Fiktionalen und dem Wirklichen in Frage stellt, wird „Der Kick“ schließlich auf dem Schweizer Filmfestival „Visions du Reel“ in Nyon 2006 als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet.152 Die Irritation, welchem Filmgenre „Der Kick“ zuzurechnen ist, verwundert nicht, sind doch entscheidende Kennungen eines dokumentarischen Films hier nur teilweise gegeben. Der Ort des Geschehens wie auch die Betroffenen und Beteiligten werden nicht gezeigt, stattdessen wird der Schauplatz in einen geschlossenen Theaterraum verlegt und die journalistische Spurensuche in ein einstudiertes Rollenspiel verändert. Mit Bezug auf die Untersuchungskategorien dieser Arbeit 152 In der Programmankündigung wird die Produktion folgendermaßen beschrieben: „Basierend auf der wahren Geschichte eines grausamen Mords an dem Jugendlichen Marinus Schöberl im brandenburgischen Potzlow erarbeitete Andres Veiel zunächst ein Bühnenstück, das er zu einem Dokumentarfilm weiter entwickelte. Gepackt von der schier unfassbaren Geschichte, reiste er mehrfach nach Potzlow, studierte Akten, Plädoyers und Verhörprotokolle, sprach mit Tätern, Familienmitgliedern, Freunden und Dorfbewohnern sowie staatlichen Stellen und sozialen Einrichtungen. Mit stilistischer Radikalität lässt Veiel die verschiedenen Aussagen von lediglich zwei Schauspielern als ‚Dokumentartheater‘ in die Kamera sprechen und liefert damit einmal mehr tiefe Einblicke in gesellschaftlichsoziale Abgründe der heutigen Bundesrepublik“ (vgl. Piffl-Medien 2008).
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sind demnach die Einheit von Person und Umwelt und damit die Bedeutung des Raums für das Handeln von Menschen (Idee des Sozialraums) aufgehoben bzw., wie noch zu zeigen sein wird, in abstrakten Relationen dargestellt. Ebenso erfüllen die vorkommenden Personen eine Stellvertreterfunktion. Wie in Kapitel 7.5 gezeigt wird, spielen sie ihre Rollen jedoch so, dass dabei gerade nicht der Eindruck authentischer Subjektivität entsteht. Sie treten als Figuren, d.h. als Sozialcharaktere, nicht aber in der Qualität von ProtagonistInnen auf. Gerade aufgrund der Auslassung der Darstellungs- und Konstruktionselemente ‚Sozialraum’ und ‚ProtagonistIn’ ist „Der Kick“ ein Film, der mehr als andere dokumentarische Filme eine Abstraktion vom Konkreten realisiert. Wenn man davon ausgeht, dass sich ‚das Dokumentarische’ eines Films stets als Anwendung von Darstellungsweisen ausdrückt (vgl. Kap. 2.1), stellt sich für das vorliegende Beispiel auch die Frage, wie die dokumentarische Form in der Kombination mit durchgängig fiktionalisierten Formelementen erkennbar bleiben kann. 7.1.3 Formale Ordnungsstruktur Der Film ist 82 Minuten lang, in denen sich lediglich die ersten zwei (2:14 min.) und die letzten zweieinhalb (2:23 min.) Minuten vom Rest dadurch unterscheiden, dass keine Figur im Bild spricht und überwiegend Texteinblendungen das Bühnenbild überlagern bzw. auf schwarzem Hintergrund erscheinen. Diese kurzen Abschnitte können als Intro und Outro betrachtet werden. Darüber hinaus weist der Film formal keine voneinander abgesetzten Einheiten auf. Ein erstes Konstruktionsprinzip liegt also in einer Gleichförmigkeit des filmischen Verlaufs. Der Film unterteilt sich in insgesamt 49 Sequenzen, in denen mehrheitlich einzelne Personen verkörpert werden. Sie befinden sich jeweils in einer Gesprächssituation mit einem nichteingeführten Gesprächsgegenüber in Kameranähe. Weitere Gesprächssituationen erklären sich teilweise als polizeiliche Vernehmung, als Aussage bzw. Plädoyer vor Gericht oder als Trauerrede. Insgesamt sind 17 Äußerungsinstanzen zu unterscheiden, die überwiegend mehrfach zu Wort kommen. Die Aussageinstanzen verteilen sich etwa in gleicher Anzahl auf die Schauspielerin (7 Rollen) und auf den Schauspieler (10 Rollen). Nur selten kommt es vor, dass die Schauspieler sich innerhalb einer Sequenz aufeinander beziehen: etwa in den wiederkehrenden Verhörszenen – hier spielt die männliche Figur den Ermittler und die weibliche den verhörten Marcel Schönfeld – und im Gespräch mit den Eheleuten Schönfeld, deren Redepassagen sich ergänzen. Die
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Beendigung einer Sequenz wird durch einen jeweiligen Rollenwechsel ausgelöst.153 Bei genauerer Betrachtung deuten die Kombinationen der aufeinander bezogenen Rollen im Verlauf des Stücks inhaltliche Verschiebungen an. Sie lassen eine perspektivische Verlagerung vom Opfer auf die Täter erkennen, zunächst auf Marcel und dann auf Marco Schönfeld, die selbst zu Wort kommen. Die Abfolge der Einzelaussagen konzentriert sich in einem ersten Teil also auf Aussagen zum Opfer Marinus Schöberl. Dieser wird einerseits als Person beschrieben und andererseits über die Beurteilung der Tat in seinem Opferstatus herausgestellt. Dieser erste Teil umfasst die Sequenzen drei bis 16 und dauert insgesamt 31:11 Minuten. Innerhalb von Sequenz 16 stellt sich bereits eine Veränderung ein: Während sie sprechen sind die Figuren bisher festen Positionen im Raum zugeordnet, erst für den Rollenwechsel verlassen sie die Positionen und bewegen sich gezielt auf einen neuen Aussageort zu. Dies ändert sich als sich die Schauspielerin vom Bildhintergrund in den -mittelgrund bewegt während der Schauspieler als Pfarrer am Grab spricht. Durch eine Naheinstellung gewinnt die neue Figur zudem an Aufmerksamkeit: Marcel Schönfeld wird parallel zur Grabrede etabliert. In Sequenz 17 ist er ein erstes Mal als Person, die sich im Gespräch zum Filmemacher äußert, verkörpert. Die folgenden Aussageinstanzen setzen sich zu einem Bild über den Jungen in unterschiedlichen Kontexten zusammen, die über das Verbrechen hinausgehen. Dieser zweite Teil ist mit 20:21 Minuten um ein Drittel kürzer als der erste und endet mit Sequenz 30. Auf Marco Schönfeld – als bisher nur knapp angedeuteter Figur – verschiebt sich die Aufmerksamkeit ab Sequenz 31. In diesem dritten Teil des Films gewinnt seine Beziehung zu den Eltern und zur Freundin an Substanz. Der dritte Teil beinhaltet 15 Sequenzen, die sich zeitlich über 25:27 Minuten erstrecken. Die sich verschiebenden Fokussierungen auf die drei Jugendlichen sind mit einer sich linear fortentwickelnden Vernehmung von Marcel Schönfeld zum Tathergang verwoben. Im Folgenden wird die filmische Entwicklung differenziert nachvollzogen.
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Die Bezeichnung der Figuren innerhalb der Filmanalyse nutzt in der Regel den Vor- und Zunamen der Person, die für den Sprechinhalt verantwortlich ist (z.B. Marco Schönfeld erklärt...). Wird jedoch die Verkörperung der Rollen durch die SchauspielerInnen beschrieben, wird dies folgendermaßen berücksichtigt: die Schauspielerin nimmt erneut die Körperhaltung der Figur ‚Marco Schönfeld’ ein. Dadurch, dass zwei der Täter und das Opfer sehr ähnlich klingende Namen haben (Marcel Schönfeld, Marco Schönfeld, Marinus Schöberl), ist die Lektüre der Filmanalyse anfangs, während der komprimierten Überblicksbeschreibung erschwert.
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7.2 Analyse der filmischen Entwicklung im Kontext der Inszenierungsform 7.2.1 Marinus Schöberl – Absolutheit des Verbrechens Eine Frau tritt mit einem bestimmten Schritt ins Bild, das bisher einen Aufriss an wechselnden, teilweise schemenhaften Posen von Figuren in einem von Licht und Dunkel gefüllten Großraum präsentierte (2:20 min.). Sie selbst sagt ihre Rolle an, „Jutta Schönfeld, Mutter von Marco und Marcel“. Die Figur ‚Mutter Schönfeld’ ist neutral ausgeleuchtet und blickt leicht links neben die Kamera, die nahe vor ihr auf Augenhöhe aufgebaut ist. Sie spricht unaufgeregt zu jemanden, den man nicht sieht und der sich dafür interessiert, wie sie die Zeit erlebt hat, die durch die Tat ihrer Söhne bestimmt war. Ihre Worte sind so gewählt, dass sie neben informierenden Angaben auch die Stimmungen wiedergeben, die sich im Nachhinein für Frau Schönfeld mit den erinnerten Situationen verknüpfen. Sie gibt mit der Erwähnung des 12. Juli das Stichwort für einen folgenden Schnitt und eine sich anschließende Erzählpassage von „Birgit Schöberl, Mutter von Marinus“: „Am 12. Juli ist der Marinus mal wieder nach Potzlow gefahren...“. Der Umschnitt zeigt nun in gleicher Einstellung und mit gleicher Blickrichtung die Mutter des Opfers, die durch den Schauspieler verkörpert wird. Als sie darüber spricht, dass ihr Sohn nicht wie gewohnt nach Hause gekommen ist, wechselt die Bildeinstellung von der Nahen in eine weitwinklige Totale. Der bislang nur partiell abgetastete oder verdunkelt wahrgenommene Spielraum zeigt sich nun als leere Halle mit nur wenigen Elementen darin. Grafische Geordnetheit bestimmt das Bild. Zwei Reihen mit runden Stützbalken durchziehen die Halle von vorne nach hinten, die ringsum mit kleinkassettigen Fenstern wie auch einem Oberlicht ausgestattet ist. Der Raum zwischen den Balken bildet einen Hauptbereich, in dem einige wenige Kreidemarkierungen zu sehen sind und der lediglich zwei Elemente aufweist: eine Bank im linken Vordergrund und eine auf Metallstelzen stehende, unausgestattete Kabine, die nach vorne hin durch eine Glasscheibe einsichtig ist. Sie wirkt wie ein gesonderter Regieraum im Raum. Dieser im Folgenden als Quader bezeichnete Raum befindet sich am gegenüberliegenden Ende der Balkenreihe kurz vor der Außenwand. Noch vor der im Bildvordergrund befindlichen Bank stehen die beiden Mutter-Figuren auf einer gedachten Querlinie nebeneinander. Sie sind einheitlich schwarz in Pullover und Hose gekleidet. Beide sind blond. Der Schauspieler hat kurzes fransiges und die Schauspielerin längeres zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar. Sie stehen aufrecht mit hängenden Armen und dem Blick nach vorne gerichtet. Ein doppelter Schattenwurf pro Figur verweist auf die mehrfachen Lichtquellen, die sie ausleuchten.
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Die Parallelsetzung der beiden Figuren kommt der Aufforderung gleich, ihre Erfahrungen zu vergleichen, Erfahrungen, die zum einen der Täterseite und zum anderen der Opferseite zugeordnet werden können und die die Tat durch ein jeweiliges Vorher und ein Nachher umkreisen; sie selbst bleibt unausgesprochen. „Und plötzlich ist man es selber“, Person von öffentlichem Interesse und damit Zielscheibe der Medien, Adressatin anonymer Anrufe: „Mörder, Mörder“, und macht die Erfahrung von Ablehnung aus dem Bekanntenkreis. Was sich nach bekannt werden des Verbrechens konkretisierte, war für Jutta Schönfeld am Abend der Tat diffus spürbar: „Ich wusste, dass was passiert (...), diese Unruhe“. Wie konnte sie es ahnen? Eine zeitliche Klammer um das Verbrechen ist auch in Birgit Schöberls Redepassage enthalten. Ihr Sohn hat sich wie immer von der Mutter mit einer zugeworfenen Kusshand verabschiedet und seine Wiederkehr auf den kommenden Sonntag datiert. Er kam nicht wie angekündigt wieder. Nicht sofort, eher schleichend überkam seine Mutter der Verdacht, dass etwas nicht stimmte, sie gab eine Vermisstenanzeige auf. „Und dann passierte gar nichts“. Dieser collagierte inhaltliche Einstieg setzt kontroverse Gefühlslagen gegeneinander, führt in der Passage von ‚Mutter Schöberl’ von einer gefühlten Sicherheit zur langsam anschwellenden Angst, unterscheidet öffentliche Resonanzen, die in einem Fall eruptiv, ohne eigenes Zutun über einen hereinbrechen und im anderen das Ausbleiben jeglicher Reaktion auf eine Gefahrenanzeige thematisieren. Das Verbrechen wird so von beiden Figuren als unberechenbarer, unheilvoller Verlauf erfahren. Die eben etablierten Rollenidentitäten werden nun gleich wieder aufgelöst. In einer Zwischeneinstellung wendet sich die Schauspielerin von der Kamera ab und schreitet entlang der Balkenreihen in den Raumhintergrund. Der folgende Umschnitt präsentiert in einer anders konzipierten weitwinkligen Totale neue statische Verhältnisse. Die Halle ist dunkler als zuvor. Durch die Fenster tritt von außen bläuliches Licht herein. Zwei neue Teilräume im Raum werden etabliert: Das Oberlicht wirft eine Lichtfläche mittig auf den Hallenboden. An ihrer hinteren Kante steht eine Figur mit dem Rücken zur Kamera. Ihr Schatten bildet sich auf dem erhellten Hallenboden in starkem Kontrast ab. Sie blickt auf den im Inneren hell erleuchteten Quader, in den die Schauspielerin eintritt und sich als Sprechgegenüber positioniert. Die Kamera ist in einem Abstand von etlichen Metern aufgebaut. Die Diagonalkomposition der leicht versetzt stehenden Figuren – verstärkt durch die begrenzten Lichtflächen – setzt die Person im Bildmittelgrund ins Verhältnis zur Person im Bildhintergrund. Das Beschuldigtenverhör von Marcel Schönfeld beginnt. Die Identitäten von Täter und Opfer werden festgestellt und die Aufforderung zur Schilderung des Tathergangs erfolgt durch den Ermittlungsbeamten außerhalb des Quaders. Währenddessen nähern wir uns in
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einem Einstellungswechsel in einer Halbtotalen der Szene an. Der Beamte hat sich allerdings bereits abgewandt und leitet die Befragung mit dem Rücken zum Quader und der Figur, auf der die visuelle Aufmerksamkeit liegt. „Mir wurde an dieser Stelle mitgeteilt, dass ich im dringenden Tatverdacht stehe, an der Tötung eines Menschen beteiligt gewesen zu sein. Ich kann dazu folgende Aussage machen“. Sind das die Worte von Marcel Schönfeld? In befremdlichem Amtsdeutsch äußert sich der Beschuldigte. Die rezitierten Worte stellen ein Gemenge aus Protokollstil und sprachlichem Ausdruck des Verhörten dar. Die rechtsstaatliche Bearbeitung des Mordes ist in den Aussagen der Schauspielerin (als Marcel Schönfeld) somit bereits impliziert. Dies allerdings steht im Widerspruch zur Inszenierung eines sich gerade entwickelnden Dialogs. Hierdurch entsteht die Irritation zwischen einem Vorher und einem Nachher im Prozess der Wahrheitsfindung. Der sich entwickelnde Dialog ist durch die Vorwegnahme seiner endgültigen Form im Polizeiprotokoll gestört. Drei Zeitebenen sind zugleich aktualisiert: erstens die unmittelbare Zeit vor der Tat, die in der Aussage des Beschuldigten einen Anfangspunkt erhalten hat „Es war der 12. Juli 2002. Nachmittags...“; zweitens die Zeit während des Beschuldigtenverhörs, die durch die Interaktion der Figuren, durch Frage und Antwort dargestellt ist, jedoch durch die Abwendung des Beamten vom Beschuldigten relativiert wird; drittens die Dokumentation und Objektivierung der Aussagen, die durch die verfremdete Sprache als verwalterischer Akt wirkt. Die Statik und damit auch die Rollenidentitäten werden erneut aufgehoben, als die Schauspielerin, die begonnen hat den Tathergang von Anfang an zu rekonstruieren, die Begegnung zwischen Tätern und Opfer auf dem Hof von Achim Fibranz schildert. Sie wendet sich ab von der Kamera, die sie in Naheinstellung zeigt, verlässt den Quader und schreitet mit den Händen in den Hosentaschen in die Mitte der Halle. Die Lichtverhältnisse bleiben gleich. Die Geste zeigt an, dass sie inzwischen eine neue Figur verkörpert: Achim Fibranz. Das aufgegriffene Stichwort ruft den Dorfbewohner auf den Plan. „Gebe ich ehrlich zu, ich habe die dritte Klasse dreimal wiederholt“. Seine Erzählung beginnt unvermittelt und setzt offenkundig nicht die Schilderung des Tathergangs fort. Stolz erklärt er, mit Hilfe eines Buches über Werkzeugbau in der Steinzeit, die Kinder aus der Region angeleitet zu haben, Kanus zu bauen. Den getöteten Marinus hat er unter ihnen besonders gern gehabt und als talentierten Jungen eingeschätzt. Er war der Freund seiner Tochter, die seinen Tod noch nicht verkraftet hat. Auch er drückt seine Wut gegen die Schönfeldbrüder aus. Bis nach Mitternacht trank der arbeitslose Vater von mehreren Kindern mit den Tätern und dem Opfer Bier. Er unterband dabei den Streit, den Marco Schönfeld suchte. Bevor
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die Jungen weiter zogen teilte er sich mit Marinus Schörberl eine Zigarette, „seine Henkerszigarette“. Die verhältnismäßig lange Sequenz verändert sich fließend mit dem Ausblenden des Lichts im Mittelgrund und einer synchronen Schärfenverlagerung ins Innere des Quaders. Darin befindet sich bereits seit geraumer Zeit eine neue Figur, die mit der Neufokussierung als „Staatsanwalt“ den Spielraum bestimmt. Seine Anklage resümiert den sozialen Kontext des Verbrechens und zielt auf die Untätigkeit und Apathie der nächtlichen Zeugen. Als destruktiv bewertet er die durch Alkohol bestimmten Gesellungsformen und die dadurch hervorgerufene Haltung der Verantwortungslosigkeit eines deprivierten Milieus, „dem Dorf fehlt der zivilisatorische Standard“. Das Statement des Anklägers wirkt als Replik auf die Erzählung des Vorredners Achim Fibranz. Das verstehende und faktische Nachvollziehen, das bisher durch die Erzählungen gefördert wurde, müssen wir als ZuschauerInnen nun ein erstes Mal in Frage stellen. Durch den Ankläger, der den Schweregrad des Verbrechens in Erinnerung ruft, entsteht die Frage, in welchem Maß Verständnis überhaupt angebracht ist. Befürwortet eine verständnisvolle Haltung nicht eher eine Selbstentmündigung der Mitverantwortlichen, die die Tat nicht verhindert haben, als dass sie zu einem notwendigen Unrechtsbewusstsein bei ihnen führen würde? „Keiner hat was getan“ (ebd.) ist die Wahrheit, die gegenüber den Ausflüchten der Dorfbewohner zähle. Die Figur wendet sich ab und verlässt den Quader. Ein Umschnitt in die Totale zeigt die Schauspielerin, die immer noch als „Achim Fibranz“ an einem Balken lehnt. Aus dem dunklen Bildhintergrund an ihr vorbei kommt der Schauspieler als Träger einer neuen Rolle: „Matthias Muchow, Freund von Marinus“. Marinus sei wie er selbst gewesen. Mit dieser neuen Rolle gelingt eine maximale Annäherung an den Ermordeten. Der Schauspieler als Matthias Muchow bewegt sich zügig mit den Händen in den Hosentaschen, mit leichtem Rundrücken und hochgezogenen Schultern in den Raumvordergrund und lehnt sich ebenfalls an einen der Balken links versetzt, so dass beide Figuren in diagonaler Anordnung zu sehen sind. Er erzählt, wie er seinen Freund am Tatabend das letzte Mal gesehen hat, wie er darauf gewartet hat, ihn wieder zu sehen, obwohl sein Rucksack und das Ladegerät des Handys gefunden wurden und wie bei ihm allmählich der Verdacht entstand, dass Marinus tot sei. Matthias Muchow war derjenige, der nach der Leiche des Ermordeten gesucht und sie in einer ehemaligen Jauchegrube schließlich ausgegraben hat. Sein Tod gebe ihm nach wie vor Fragen auf. Das Licht im Bildvordergrund blendet aus und die beiden Figuren organisieren sich neu. Sie haben auf der Bank Platz genommen und ihre Identität wird als Jutta und Jürgen Schönfeld angesagt. Der Perspektivwechsel schließt inhaltlich-chronologisch an den Fund der Leiche an. Die Eheleute wechseln sich im
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Sprechen ab, wenn sie von der für sie überraschenden Festnahme ihres Sohns Marcel berichten, dessen Gefasstheit sich erst im Nachhinein für sie erklärt. Sein Verschweigen der Geschehnisse löste bei der Mutter schließlich eine tiefe Krise aus. Sie könne nicht glauben, dass ihr Sohn Marcel und nicht sein älterer Bruder Marco sich als Hauptverantwortlicher für die Tat zeigen muss. „An den Marcel klammere ich mich, das ist ja jetzt wie wenn du einem nach der Entbindung das Kind wegnimmst, den Marco, den habe ich schon früher verloren, der hat sich seine eigene Welt aufgebaut, die gibt es gar nicht“. An der Unterscheidung der Beziehungsqualität zu beiden Söhnen drückt die Mutter ihren Verlustschmerz aus. Die Wagenburgmentalität in der Familie kann schließlich das fatale Handeln der Söhne integrieren. Es muss dafür jedoch bagatellisiert werden. Auch übernehmen die Eltern keinerlei Verantwortung dafür: „Es bleiben unsere Kinder“, „Natürlich haben sie Mist gemacht“, „Aber es bleiben unsere Kinder. Wir haben sie ja nicht hoch geschickt in den Stall“. Die Parteilichkeit für die Söhne behauptet die Täter als Kinder einer ‚intakten Familie’. Wie sie unter diesen Rahmenbedingungen zur Tat schreiten konnten, ist daher umso erklärungsbedürftiger. Dies bleibt innerhalb der Erzählung der Eltern allerdings eine Leerstelle. Die Rekonstruktion verlagert sich vom Raumvordergrund in den -hintergrund. Wieder die Pose des Staatsanwalts einnehmend, steht der Schauspieler im Quader. Auf eine Ansage der bereits bekannten Rolle wird verzichtet. Es wird ausgesprochen, was zu vermuten ist. Ein aus dem Diskurswissen um rechte Gewalt bekannter Kausalzusammenhang wird entfaltet. Motiviert durch eine rechtsextreme Denke habe nicht nur die Bereitschaft, vielmehr der Wille gewalttätig zu agieren bei den jugendlichen Tätern dazu geführt, sich ein variables Feindbild zu konstruieren, das lediglich zwei Bedingungen zu erfüllen habe: anders zu sein und Schwäche zu zeigen. Marinus Schöberl erfülle diese Bedingungen als ‚HipHop’ Junge mit Sprachfehler und als schwaches Opfer, das nicht in der Lage war, die Anfeindungen zu beenden. Während der Staatsanwalt spricht, zeigt ein Umschnitt in die Totale die Schauspielerin, die immer noch Jutta Schönfeld auf der Bank sitzend darstellt. Als würde sie die Beschreibung des Vorredners fortsetzen, spricht sie anschließend über Marinus Schöberl, seinen Sprachfehler, seine Zurückgenommenheit und seine aus ihrer Sicht getrübte Freundschaft zu ihrem Sohn Marcel. Es sei zu vermuten, dass er Marcels Moped geklaut hat. Aus dem schwachen Jungen, wird ein Junge mit einer Schwäche fürs Klauen, „immer und überall“. Inzwischen sitzt die Figur ‚Jürgen Schönfeld’ wieder neben ihr. „Jetzt sagen die Leute, können sie den Schuppen wieder offen lassen...“. Mit dem Versuch, die Tat zu rationalisieren, fällt also eine Mitschuld auf das Opfer. Dies wird in der anschließend szenisch wieder aufgenommenen Verhörsituation noch verstärkt. Marinus habe zugegeben, das Moped geklaut zu haben: „Deswegen habe ich ihm in der Nacht
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auf die Fresse gehauen“; deswegen Marinus.154 Die Sequenz wird schwarz ausgeblendet. Anschließend sitzt die Figur ‚Mutter Schöberl’ auf der Bank und nimmt die Schilderung der ungewissen Zeit, nachdem Marinus weg war, in der längsten Sequenz des Films (224 Sek.) wieder auf. Der schleichende Prozess, bis sie und ihre Familie Gewissheit erlangten, setzte sich bis zu ihrem Geburtstag vier Monate nach der Tat fort. Polizisten überbrachten ihr die Todesnachricht, ihr Mann erlitt einen Zusammenbruch. Die Passage ist jedoch nicht nur durch den erläuternden Inhalt dominiert, sondern vielmehr durch direkte und indirekte Fragen, die die Mutter des Opfers in den Raum stellt: Warum hat niemand auf die frisch umgegrabene Stelle reagiert? Welche Schuld kommt ihr selbst zu, die verhindert hat, dass Marinus die Ferien andernorts verbringt? Was, wenn er wieder kommt und sie ist nicht da? Und schließlich: Warum Marinus, der „gut gebaut und groß“ war und sein Leben noch vor sich hatte? Sie rethematisiert damit eine bereits abgehandelte Frage. Die wiederkehrende Vorstellung darüber, wie Marinus gequält wurde, bringe sie schließlich um. Der gefühlten Ohnmacht folgt eine objektivierte Beschreibung der Misshandlungen an Marinus Schöberl. Ein einfacher Schnitt verbindet den gesenkten Blick des Schauspielers mit einer Großaufnahme des verhörten Marcel Schönfeld, der ebenfalls zu Boden blickt. Der Straftatbestand gewinnt an Substanz und zugleich werden die abscheulichen Details in ihrem Nacheinander klar: In Anwesenheit zweier Erwachsener, zu deren Haus sich die Jungen rabiat Zutritt verschafften, wurde Marinus Schöberl zunächst beschimpft, ins Gesicht geschlagen, mit Alkohol ‚abgefüllt’, „angepisst“, verprügelt. Und immer wieder sollte er sich „Jude“ nennen, was den Initiator Marco Schönfeld weiter anstachelte. Die Ausführungen werden akustisch durch den Einwurf einer neuen Rolle abgebrochen: „Bürgermeister, Bürgermeister eins“. Wieder ist die neue Rolle durch einen Lichtwechsel und eine Neukadrierung des Bildausschnitts unterstützt. Im Raummittelgrund spricht der definiert ausgeleuchtete Schauspieler als Bürgermeister eins und zwei.155 Ein eklatanter Unterschied tut sich zwischen den beiden Aussagen der Kommunalverwaltung auf: Einerseits die Ehre, einmal den Titel „schönstes Dorf des Jahres“ beansprucht zu haben, andererseits das Einge154
Zick und Küpper bezeichnen diesen Mechanismus, mit dem sich die Täterseite entlastete, als „Schuldumkehr“. Die Vorurteile, die gegen bestimmte Menschengruppen bzw. Opfer von Diskriminierung gehegt werden, werden als selbst verursacht betrachtet – „die sind selber schuld, wenn man was gegen sie hat!“ (vgl. Zick/ Küpper 2005: 129). Der Untersuchungsansatz, ob und inwieweit die Opferwerdung sich aus der Beziehung zwischen Täter und Opfer bzw. aus einer Opferdisposition heraus erklärt, ist in der Viktimologie umstritten. Fragwürdig seien v.a. Ansätze, die den Beitrag des Opfers zur Tat untersuchen (vgl. Janssen 1991: 231). 155 Es erschließt sich aus dem Inhalt nicht, ob mit der Betitelung zwei unterschiedliche Aussagen desselben Bürgermeisters oder Aussagen von zwei unterschiedlichen Bürgermeistern gemeint sind.
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ständnis eines normalen Gewaltpotenzials unter Jugendlichen: „das hätte ebenso gut einen anderen treffen können... wie das heute is’ unter Jugendlichen“. Der Neuaufstellung der nächsten Sequenz wird Zeit eingeräumt, jedoch geht auch hier ein akustisches Initial voraus. Erstmalig wird dem Sprechinhalt eine zusätzliche Kontextinformation zugefügt, eine einzelne Frauenstimme summt die Melodie des Passionslieds „Oh Haupt voll Blut und Wunden“. Die Kamera nimmt einen bislang ungekannten Winkel ein und zeigt eine Aufsicht in der Totalen von links oben auf die Szenerie im rechten hinteren Hallenteil. Wie von einer kirchlichen Empore herab sehen wir den Schauspieler als Pfarrer die Trauerrede zur Urnenbeisetzung halten. Er ist es, der die ungleich härteste Missbilligung des Verbrechens zum Ausdruck bringt, indem er den Tätern als „Kreaturen des Todes“ jegliche Menschlichkeit abspricht und in deren Gefolgschaft auch die ignoranten Dorfbewohner verurteilt. Vervielfältigung von Täter- und Opferbildern Die inhaltliche Verbindung der einzelnen, in sich fragmentierten Perspektiven der RednerInnen widerspricht einer einheitlichen Sichtweise auf die Tat. Die Interviewmontage – nicht die visuelle Präsentation –, auf die diese Wirkung zurückzuführen ist, gleicht einem Verfahren, das stilbildend in den Filmen von Eberhard Fechner war. Fechners Interviewfilmen wird nachgesagt, in besonders eindringlicher Weise deutsche Sozialgeschichte zu vermitteln, wenn auch nur über die Darstellung jener, die erzählen. Die Montage ihrer Redebeiträge beginnt am Schreibtisch mit dem Papierschnitt, d.h. der Zusammenfügung von Passagen aus dem transkribierten Interviewmaterial. Der entstehende imaginäre Dialog beinhaltet feinsinnige Übergänge zwischen den Sprechenden, so dass ein Satz von einer Person begonnen und von einer weiteren zu Ende geführt werden kann, ohne dabei den jeweils ursprünglichen Gesprächszusammenhang zu verfälschen. So entstehen thematisch gebündelte Collagen, die selten eindimensional sondern so montiert sind, dass die Interviewten einander durchaus widersprechen oder sich ins Wort fallen (vgl. Netenjakob 1989: 136ff, 173f). Eben dieser Effekt eines künstlichen Dialogs entsteht während der ersten dreißig Minuten des Films. Er läuft auf eine mehrperspektivische, nicht mehr zu vereinheitlichende Sichtweise auf die Tat hinaus: Konzentriert auf das Wort der Sprechenden, unterstützt durch eine Mimik, Gestik und Stimme professioneller Darsteller, nüchtern und unabgelenkt durch weitere Kontexte wächst mit der Information über das Verbrechen die Konstruiertheit desselben. Es entsteht ein Spektrum an Täterprofilen: Unmenschliche Kreaturen, Rowdies, rechtsextremistisch motivierte Aggressoren, einsozialisiert in eine werte- und verantwortungslose Er-
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wachsenengeneration. Ebenso erlangt auch das Opfer an Facetten: Feiner Junge, Freund, Sprachbehinderter Hip-Hopper, Dieb, liebenswerter Sohn, einer, dem schließlich Trauer und Verzweiflung gilt. Interessant ist, dass der Film mit einer anfänglichen Parallelstellung der Mütterfiguren beginnt, die beide ihre Söhne unwissend in die Tatnacht haben gehen lassen, und sich zur Pluralisierung von Täter- und Opferbildern weiterentwickelt. In den verschiedenen Perspektiven vervielfältigt sich die Tat, ereignet sich zigmal in einer jeweils anderen Kombination einer Täter- und einer Opferfigur. Sie wird so zu einem Gedankenspiel. Rekonstruktionsweise als Suche nach Kontrasten Um die beschriebene Darstellungsform der Vervielfältigung von Täter- und Opferbildern in ihrem Einfluss auf den erzählten Inhalt einzuschätzen, soll ein Blick auf lösungsorientierte Bewältigungshilfen von Straftaten im Rahmen der sozialpädagogischen Praxis gerichtet werden. Die Fachtheorie beschäftigt sich insbesondere mit diesem hier in der Filmform angelegten Problem und steht vor ähnlichen Fragestellungen wie auch der Film: Welche Perspektiven gibt es auf das Verbrechen? Wie können sie zusammengeführt werden? Und welche Einsicht ermöglicht eine solche Perspektiventriangulation? Derlei Fragen sind Teil von außergerichtlichen Konfliktschlichtungsverfahren, die durch Mediations- und Vermittlungsmethoden mit Hilfe einer unbeteiligten dritten Person professionell unterstützt werden (vgl. Messmer 2001). Der zugrundeliegende Konflikt wird auf das Vorhandensein unterschiedlicher Perspektiven und Interessen der jeweiligen Konfliktparteien zurückgeführt. Eine angestrebte Einigung im Konfliktfall läuft zumeist auf einen Schadensausgleich hinaus (vgl. ebd.: 1171). Der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) stellt eines dieser auf Freiwilligkeit basierenden Verfahren dar. Er wird im Bereich der leichten und mittelschweren Kriminalität eingesetzt und hat – wenn das Verfahren tatsächlich eingeleitet wird – hohe Erfolgsaussichten (vgl. ebd.: 1172). Derzeit wird im Rahmen der Jugendgerichtshilfe innerhalb der außergerichtlichen Konfliktregelung ein für Deutschland neuer Ansatz der „Restorative Justice“, der „Wiedergutmachungskonferenz“ diskutiert.156 Ausgangsüberlegung für die Wiedergutmachungskonferenz ist, dass nicht nur die Täter und Opfer als Personen mit der Bewältigung der Straftat zu tun haben, sondern diese sich auch auf das soziale Umfeld beider Seiten auswirkt. Die von den beiden Seiten bestimmten „Caring others“, also Unterstützungspersonen, werden auf die Vorgehensweise und Abfolge von Tataufarbeitung, Wiedergutmachungslösung und deren 156
Gespräch mit TOA-Team, Jugendgerichtshilfe im Jugendamt Stuttgart, Mai 2007.
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Umsetzung gezielt vorbereitet. Sie erklären sich in einem Gespräch im Vorfeld der Konferenz zur Teilnahme bereit. Die Konferenz wird als ein transparentes und strukturiertes Forum gestaltet, in dem alle Betroffenen ihre Sichtweise auf die Tat darstellen und über ihre Erfahrung mit den Konsequenzen berichten können. Ziel ist die Rehabilitation des Opfers wie auch eine Reintegration des Täters. Sie schließt die Aufarbeitung der Lebenssituation dadurch ein, dass ein ganzes Bezugssystem präsent wird. Schließlich sollen damit auch die bislang wenig berücksichtigten Bewältigungsleistungen der Bezugspersonen Unterstützung finden. Mehr noch als beim Täter-Opfer-Ausgleich stellt sich für die Wiedergutmachungskonferenz die Frage, anhand welcher Kriterien darüber zu entscheiden ist, ob eine solche Anstrengung gerechtfertigt ist und eine Konferenz mit guten Gründen eingeleitet werden soll. Wichtig ist daher, dass die Erfolgsaussichten auf eine gelingende Wiedergutmachung im Vorfeld positiv eingeschätzt werden. Beide Verfahren gehen zurück auf Kohlbergs „Just Community“-Ansatz, der wiederum auf dessen Stufentheorie der moralischen Entwicklung fußt. Wesentliche Überlegungen gelten dabei dem Verhältnis zwischen Rahmenbedingungen und Möglichkeiten zur Entwicklung moralischer Urteilskompetenz bei Jugendlichen. „Just Community“ als Ansatz, der vor allem in US-amerikanischen Schulen und Jugendvollzugsanstalten erprobt wurde, setzt auf die diskutierende Gemeinschaft, die soziale Konflikte bis hin zur Sanktionsfrage eines Normübertritts erörtert und dabei das hierarchische Gefälle zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, Schülern und Lehrern, Inhaftierten und Vollzugsbeamten etc. außer Kraft setzt (vgl. Brumlik 1992: 261f). Nach Kohlbergs Moraltheorie entscheidet die Haltung, in der etwas als gerecht empfunden wird – moralische Urteile also – darüber, auf welcher moralischen Entwicklungsstufe ein Mensch steht. Eine Höherentwicklung zur nächsten moralischen Stufe geht einher mit einer Weiterentwicklung der Sozialperspektive, d.h. den Möglichkeiten zur Perspektivübernahme und zur Antizipation von Erwartungen, die andere an einen richten oder die als allgemeines Interesse gelten. Eine finale Form des moralischen Urteilens wird mit der Einnahme eines „moral point of view“ beschrieben, d.h., die urteilende Person vermag es, von den eigenen legitimen Interessen teilweise abzusehen und sie mit den legitimen Interessen anderer zu vermitteln, um so gerecht zu urteilen (vgl. ebd. 264f). Ein solches Modell rationaler Gerechtigkeit entwickelt die Bühnenhandlung gerade nicht. Zwar ist der Rollenwechsel konstitutives Moment in all dem, was wir sehen und damit als Darstellungsweise leitend: Scheinbar perfekt mit hoher Wiedererkennungsgenauigkeit verwandeln sich die Schauspieler innerhalb ihrer jeweiligen Rollenzuordnungen. Gerade dadurch entsteht jedoch ein Widerspruch zu den rezitierten Redepassagen, die zunehmend die Unmöglichkeit und
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Unvereinbarkeit der jeweiligen Perspektiven verdeutlichen. Eine Perspektivenübernahme einer jeweils anderen Sichtweise ist durch die filmische Form zwar in Aussicht gestellt, in den erzählten Inhalten aber nicht im Ansatz gegeben. Es sind vielmehr absolute Aussagen, die miteinander thematisch verkettet sind. Sie isolieren die einzelnen Figuren, statt die Möglichkeit eines konstruktiven Dialogs zu eröffnen. Der inhaltlich erzeugte Kontrast wird insbesondere durch die Lichtsetzung unterstützt, die in jeder einzelnen Sequenz als extremes Hell-DunkelSchema angelegt ist. 7.2.2 Marcel Schönfeld – Trennung von Person und Delikt In Sequenz 17 steht dann die Figur ‚Marcel Schönfeld’ in der Raummitte. Mit nach vorne gefallenen Schultern, eingezogenem Nacken und leicht gesenktem Kopf spricht er in kurzen deskriptiven Sätzen über den Verlauf seiner frühen Jugend in Potzlow, den Ort, in den er mit neun Jahren zog: Baumhäuser bauen, ein erster Schnaps, regelmäßiges Trinken und Alkohol besorgen mit Gleichaltrigen, erste Springerstiefel, Ablehnungserfahrungen durch Gleichaltrige, der große Bruder als Vertrauter, der in Haft kommt. Die Reihe an Bezugspunkten seiner Entwicklung wird durch die nachfolgende Passage fortgesetzt. Mit der Aufrichtung ihrer Körperhaltung und einer leichten Entspannung der Gesichtszüge verwandelt sich die Schauspielerin zügig in die Figur ‚Mutter Schönfeld’: als Reaktion auf den Verlust des Bruders konsumiert Marcel weiche Drogen und ängstigt die Mutter durch sein dadurch beeinträchtigtes Verhalten. Diese erfährt zu der Zeit, dass sie einen Tumor hat und verliert an Kraft, den Alltag zu bewältigen. Durch eine wiederholt zügige Verwandlung erklärt nun wieder Marcel Schönfeld, wie ihn die Krankheit der Mutter, ihre Verunstaltung und körperliche Einschränkung nach einer Operation verunsicherte. Ein Schnitt stellt die Verhörsituation in gewohnter Position der Figuren wieder her. Der Tathergang wird fortschreitend deutlich: Die Schläger zogen weiter, Marinus Schöberl sollte nicht zurückgelassen werden. Erneute Schläge zwangen ihn zum Mitkommen. Er heulte. Am Schweinestall solle ihm weiter Angst eingejagt werden, bestimmte Marco Schönfeld. Das Licht im Quader blendet aus, die Schauspielerin verlässt ihre Position darin und läuft an der Figur des Ermittlungsbeamten vorbei in den Bildvordergrund. Sie verwandelt sich vom beschuldigten in den erzählenden Marcel Schönfeld. Er berichtet von einem handgreiflichen Streit mit einem Kumpel, aus dem er als Unterlegener mit zahlreichen Verletzungen hervorging. Er fühlte sich wehrlos. Mit der erneuten körperlichen Aufrichtung zur Mutter wird der Vorfall als Hinweis dafür gewertet, dass ebenso die Brüder Schönfeld Opfer sein könn-
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ten. Der nach hinten versetzt stehende, unscharf gezeichnete Schauspieler wirft als „Erzieher, Bildungseinrichtung“ ein, wie er von Marcel Schönfeld nach der Prügelei das erstemal von dessen bislang verschwiegenem Bruder im Knast erfuhr. In der Zweiereinstellung übernimmt nun wieder der nach vorne versetzt stehende Marcel Schönfeld das Wort und drückt seine Angst davor aus, wieder unter den strengen Einfluss des Bruders zu geraten. Die Gestaffeltheit des Raums wird durch einen Lichtwechsel aufgehoben. Es existiert nur noch der Vordergrund, in dem die Schauspielerin vor einem einheitlichen Dunkel definiert ausgeleuchtet ist. Sie verändert sich in den Lehrling Heiko Gäbler, der von Marcel Schönfelds überraschendem Gesinnungswandel ‚nach rechts’ kurz vor der Haftentlassung seines Bruders berichtet. Während Marcel Schönfeld aus Sicht des Lehrlings allerdings nur Mitläufer sei, vertrete er selbst eine aufrichtige rechte Haltung. Eine Lichtveränderung auf allen drei Raumebenen tritt ein: die Lichtquelle, die das Gesicht beleuchtet, geht aus. Das Licht im Quader geht an und der Mittelgrund wird definiert auf den Sprecher ausgeleuchtet, der die dritte Beschuldigtenvernehmung ankündigt. Gegenstand ist die Beziehung zwischen den Brüdern: Marcel Schönfeld verneint, gänzlich unter dem Einfluss des Bruders zu stehen. Wieder verändert das Licht den Kontext, indem die Quaderbeleuchtung ausgeht. Die Arme des Schauspielers, der eben noch Beamter war, hängen locker an den Seiten herab, ein minimaler Anflug von Beweglichkeit tritt in seinen Körper. Er spricht als Ausbilder in einer Erziehungseinrichtung: „Also für mich ist der Marcel ein ganz normaler Jugendlicher, der nach Orientierung gesucht hat“. In den weiteren Ausführungen gestikuliert er auffallend mehr als alle anderen verkörperten Figuren. Seine Aufgabe ist zu relativieren. Während er erklärt, in Marcel Schönfeld keinen rechten Jugendlichen zu sehen, zeigt ein Umschnitt die Figur ‚Marcel Schönfeld’ in halbtotaler Einstellung im dunklen Quader stehen. Marcels Verhalten dürfe nicht zu früh bewertet werden, dem Heranwachsenden müsse riskantes Verhalten zugestanden werden, mit dem Vertrauen darauf, dass er sich selbst korrigiere. Die nachfolgende Totale, in der wieder beide Figuren zu sehen sind, schneidet nach den Worten des Pädagogen auf eine Großeinstellung des verhörten Marcel Schönfeld um: „Im Stall ging es dann mit Schlagen weiter...“ bis hin zum tödlichen Sprung auf Marinus Schöberls Kopf. „Zu diesem Zeitpunkt trug ich meine schwarzen Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln, Größe 43. Die stehen jetzt bei mir auf der Kellertreppe“. Eklatant fügen sich die beiden Aussagen einmal zur Person von Marcel Schönfeld und zum anderen zu dem von ihm verübten Gewaltakt aneinander. Unausgesprochen drängt die Zusammenstellung die Frage auf, ob die Einschätzung des Pädagogen richtig ist, nachdem die äußerste Brutalität des Verbrechens, zu der Marcel Schönfeld in der Lage war, aufgedeckt ist. Die Szene wird schwarz ausgeblendet.
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Die folgende Sequenz zeigt die Figur ‚Mutter Schönfeld’ auf der Bank sitzend. Sie spricht über die öffentliche Reaktion auf den Tod ihres Sohns. Zwar besuchte sie der Ministerpräsident. Dessen bekundetes Mitgefühl stehe jedoch in keinem angemessenen Verhältnis zu der wirtschaftlichen Hilfe, die ihre Familie benötigt hätte, aber nicht bekommen habe. Sie erklärt, dass sie ihren Anspruch auf die Sozialwohnung verlor, die nach Berechnung des Wohnungsamtes nunmehr zu groß sei für die Familie, mit einer Person weniger. Der empfundene Hohn ergibt sich jedoch aus der Deutung, dass der Tod eines deutschen Jugendlichen vergleichsweise wenig gelte. Auch sie als Vertreterin der Elterngeneration argumentiert rassistisch, indem sie es als legitim betrachtet, dass deutsche und nichtdeutsche Gewaltopfer unterschiedlich behandelt werden sollten. Sie macht angenommene „Etabliertenvorrechte“ geltend.157 Die folgende letzte Sequenz dieses Themenabschnitts braucht Vorbereitung und beansprucht die Längendimension des Raums: Ein Umschnitt zeigt wie die Schauspielerin aus dem Quader tritt und auf den Schauspieler zuläuft, beide bringen sich in Position und beginnen einen Standardtanz: „eins, zwei, cha cha cha“ spricht sie als Jutta Schönfeld zu den Tanzschritten und Drehungen im Raummittelgrund. Er als Jürgen Schönfeld beginnt, während sie tanzen, amüsiert über die Freizeitmöglichkeiten in Potzlow zu seiner Jugendzeit in den 60ern zu berichten. Sie beenden den Tanz, laufen in den Vordergrund auf die Bank zu und nehmen Platz. Damals sei der Ort kulturell und sozial belebt gewesen – Kino, Maitanz, Lebensmittelladen, Bäcker, Fleischer und Friseur. Heute gleiche er einem „Naturreservat“, in dem nur noch zwei von ehemals 700 LPGlern ihre Existenz erwirtschaften können. Mit dem Zuzug in den 90er Jahren habe die Familie vor Ort ein Klima gegenseitiger Fremdheit erfahren. Dies sei überraschend, da sich der Ort nach dem Krieg gerade durch die zahlreichen Umsiedlungen aus dem Osten neu strukturiert hat und daher mehrheitlich gleiche Erfahrungshintergründe vorhanden seien. Damit endet der zweite Teil. Vergleicht man nun die Konstruktionsweisen des ersten und zweiten Teils zeigt sich Folgendes: Die Erzählung hat an Tempo gewonnen, dadurch, dass vergleichsweise weniger Aufmerksamkeit dem Umpositionieren der Schauspieler zukommt. Nicht nur der Eindruck einer anderen Erzählgeschwindigkeit, auch ein anderes Prinzip des Erzählens stellt sich ein. Die aufeinander aufbauenden Redepassagen ergänzen sich handlungsfortsetzend zu einer multiperspektivischen Verlaufszeichnung. Die Bedeutung der Sprecher ist im Vergleich zum ersten Teil relativiert. Den zentralen Inhalt bildet Marcel Schönfelds Jugendzeit. Diese ist 157
Im Konzept ‚Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit’ werden demonstrative von verdeckten Formen der Abwertung und Ungleichbehandlung unterschieden. Sogenannte Etabliertenvorrechte sind eine weit verbreitete Legitimisierungsstrategie der Ungleichwertigkeit von Menschengruppen (vgl. Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung 2007).
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entlang von wenigen, jedoch extremen Ereignissen dargestellt. Darunter erlangt ein Bezugspunkt außerordentliche Aufmerksamkeit: Die Haftentlassung des großen Bruders und die Zeit davor. Für die Beschreibung der Person Marcel Schönfeld wurde also ein eigenes Sub-Ereignis etabliert; Marco Schönfelds Rückkehr. Dieses Sub-Ereignis steht nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tat. Aufgrund unserer Informiertheit nehmen wir es jedoch als wesentlichen Kontext wahr. Dass auch Marcel Schönfeld Wehrlosigkeit erfahren musste, dass er Angst vor dem Krebs-Tod der Mutter hatte, dass er nicht frei über seinen Lebensstil entscheiden konnte, sondern dem Einfluss des Bruders gehorchte, all diese Faktoren relativieren seine Überlegenheit gegenüber dem Opfer. Sie relativieren jedoch nicht die Tat. Diese Ambivalenz wird durch die Montage akzentuiert. Dem formalen Ablauf nach ist zwar zu erwarten, dass die Schilderung des Tötungsaktes im Rahmen der Ermittlungs-Szenen erfolgen wird, nicht jedoch an der tatsächlich platzierten Stelle. Im Anschluss an die Aussage des Pädagogen fällt sie vollkommen aus der inhaltlichen Verlaufszeichnung heraus. Trennung von Person und Delikt Mit der Frage, mit welcher Offenheit Beschuldigten im Rahmen strafrechtlicher Prozesse begegnet werden kann und soll, beschäftigt sich auch sozialpädagogische Fachlichkeit. Enke (2003) beschreibt ein bewältigungstheoretisch fundiertes Interventionskonzept im pädagogischen Umgang mit delinquenten Jugendlichen. Diesem Konzept nach liegt in der Trennung von Person und Delikt der Kern einer pädagogischen Bezugnahme auf das delinquente Verhalten (vgl. Enke 2003: 152). „Durch die Kombination von einfühlendem Verständnis gegenüber dem Jugendlichen und ablehnender Haltung gegenüber seinem Delikt konnte überhaupt erst über destruktive Eigenanteile des Subjekts und entsprechende Verhaltenskorrektive gesprochen werden“ (ebd.: 153), so eine wesentliche Bewertung des Konzepts. Um in der Straffälligenpädagogik die Möglichkeit zu schaffen, dass delinquente Jugendliche ihre Tat darstellen und um darin eine Bewältigungsdimension erkennen zu können, ist ein akzeptierendes Verstehen ihrer Person ebenso notwendig, wie eine eindeutige Ablehnung der Tat und der ihr zugrundeliegenden Motive (vgl. ebd. 167). Zwischen filmischer Darstellung und sozialpädagogischem Ansatz lässt sich eine auffallende strukturelle Ähnlichkeit feststellen. „Der Kick“ realisiert die beschriebene notwendige Trennung in konzeptioneller Weise dadurch, dass SchauspielerInnen anstelle der Betroffenen agieren. Entscheidend ist die Art, wie sie die Gesprächspartner darstellen: Beide schwarz angezogen mimen sie die realen Personen und legen dabei die mentale Konstruktion der Rollen offen, indem sie
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ihren Körper als Ausdrucksfläche für die Transformation zwischen Figuren beobachtbar machen. Kein Kostümwechsel, kein Bühnenumbau, keine Neukadrierung der Kamera sind notwendig, kein inhärentes Mann-Frau-Schema, wer wer sein kann. Reduziert auf wenig Bewegung und Körperkorrektur wird ein Rollentausch signalisiert. Damit bleibt die Persönlichkeit der Sprechenden unberücksichtigt. Das Verhältnis zwischen Sprechinhalt und Verkörperung des Sprechenden ist relativ und nur temporär erfassbar. Dies kann als grundlegende Technik, um Zuschreibungsprozesse zu verhindern, interpretiert werden. Zuschreibungen beziehen sich immer auf Personen und nicht auf Redeinhalte. Daher sind sie durch die im Film ‚fluiden’ Rollenidentitäten wesentlich gestört. Durch das Konstruktionsmerkmal der Depersonalisierung, das alle im Film zu Wort kommenden AkteurInnen betrifft, vermeidet der Film Zuschreibungsprozesse insgesamt.158 So ist es nicht Mutter Schöberl, die wir als Rassistin ansehen, sondern der Rassismus bezieht sich auf eine spezielle Aussage, die sie trifft. Die Frau selbst kann gar nicht adressiert werden, da sie vor der Kamera nicht präsent ist. Gleiches gilt für Marcel Schönfeld. Er ist weder im Film physisch präsent, noch ist er als ‚Unmensch’ gespielt. Die Unmenschlichkeit drückt sich vielmehr in den rezitierten Ermittlungsakten aus und wird darauf begrenzt. Das heißt, der Film nutzt hier eine Methode, um aus dem Mechanismus, über den er berichtet, herauszutreten. Dieser Mechanismus beinhaltet genau betrachtet zwei Arten von Zuschreibungsprozessen: einerseits die Gleichsetzung von Tätern und Tat und andererseits die Gleichsetzung von Person und Opferrolle. Dieser zweite Aspekt wird in der Kriminologie als Viktimisierung bezeichnet (vgl. Janssen 1991). Durch den Einbau der Ermittlungs-Szenen wird gerade deutlich, dass der Ermordung von Marinus Schöberl ein Viktimisierungsprozess vorausging. Die filmische Methode der Depersonalisierung hat schließlich noch eine weitere Bedeutung: Dadurch dass die Persönlichkeit der Befragten nicht Teil der Darstellung ist, wird eine stärker analytische Betrachtung ihrer Aussagen angeregt. In diesem Zusammenhang fällt der analytische Blick im zweiten Teil des Films auch auf eine Tendenz zur Verharmlosung der Tat. Diese ergibt sich aus der Selbstsicht der Befragten, die sich selbst als Opfer sehen. Eine solche Selbstsicht als Opfer ist z.B. in den Aussagen von Marcel Schönfeld, von seinen Eltern und schließlich auch von Birgit Schöberl enthalten. Opfer zu sein ist jedoch keine Entschuldigung dafür, Täter zu werden. Besonders deutlich wird dies in oben beschriebenem, scharfem Kontrast zwischen Sequenz 27 (Einschätzung des Pädagogen) und 28 (Beschreibung der Tötung). In der Schockierung, die sich aus dem Zusammenhang beider Sequenzen entwickelt, weist der Film auf die Gefahr der Verharmlosung hin. Diese Gefahr wird durch den Abbruch einer bis dahin in 158
Neben der Depersonalisierung sind noch weitere Techniken zu beobachten, die in Kapitel 7.2.4 als Dekonstruktionstechniken genauer beschrieben werden.
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Teil zwei entwickelten, latenten Sinnstruktur verdeutlicht: Die Details in den Aussagen der unterschiedlichen Figuren spielen ineinander, bauen aufeinander auf, erzeugen Verständnis, rekonstruieren ein So-Geworden-Sein, das jedoch in dem Moment an Überzeugungskraft verliert, in dem der Tötungsakt geschildert wird. Zusammenfassend gilt: Die eingeführte Trennung zwischen Person und Delikt ist zwar notwendig, aber schwer zu handhaben. Insbesondere beinhaltet sie die Gefahr, die Tat unangemessen zu relativieren. 7.2.3 Marco Schönfeld – Bewältigungskrise Die Schauspielerin verwandelt sich in Sequenz 31 von ihrer Sprechrolle als Jutta Schönfeld in Marco Schönfeld. Auf der Bank sitzend stellt sie ihre Beine etwas breiter auf, stützt sich mit den Unterarmen auf den Knien ab und starrt zu Boden. Langsam und zögerlich erfahren wir von der Figur, dass der Großvater Bezugsperson in der Kindheit war. Sie schaut nur selten auf. Ein Umschnitt zeigt den Schauspieler, der bislang als Jürgen Schönfeld daneben saß, hinter Marco Schönfeld stehend und einen Gutachter darstellend. Anfang 2001 sei der Beschuldigte bereits an 17 Straftaten beteiligt gewesen, zumeist Diebstahl- und Verkehrsdelikte. Die Mittäterschaft am Mord von Marinus Schöberl sei gerahmt durch eine dreijährige Haftstrafe kurz vor dem Mord und eine erneute zweijährige Haftstrafe in Folge eines Autoklaus und gewalttätigen Übergriffs auf einen Schwarzafrikaner vier Wochen danach. Er befindet sich also bereits wieder in Haft als ihm die Mittäterschaft am Mord vorgeworfen wird. „Er verweigert dazu jede Aussage.“ Wieder als Eltern sitzen die beiden Darsteller auf der Bank und rehabilitieren das Sozialverhalten des älteren Sohns. Alkohol sei Katalysator, wenn er sich gewalttätig zur Wehr setzt, insgesamt sei er ein „lieber Mensch“, jedoch unzugänglich. Mit 14 Jahren und neu in Potzlow habe der Sohn ein traumatisches Erlebnis machen müssen. Als „Willkommen in Potzlow“ wurde er körperlich misshandelt und sexuell belästigt. Erst zwei Jahre später erzählt er der Mutter von dem beschämenden Erlebnis, die seine in sich gekehrte Art damit erklärt. Jürgen Schönfeld macht einen Gedankensprung und kommt auf seinen Vater zu sprechen, der als Kind miterleben musste, wie die Eltern von russischen Soldaten erhängt wurden und wie seine Anstrengungen, nach dem Krieg eine landwirtschaftliche Existenz aufzubauen, durch die staatliche Übernahme des Privatbesitzes in Volkseigentum zunichte gemacht wurden. Unausgesprochene Wut und Ohnmachtsehrfahrungen belasten sowohl den Großvater als auch Marcel Schönfeld. Die Szene wird schwarz abgeblendet. Im Anschluss wird das Verhör in den gewohnten begrenzten Flächen von Ermittler und Verhörtem wieder aufgenommen: „Was passierte, nachdem sie Marinus Schöberl auf den Kopf
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gesprungen sind?“. Die aufeinander aufbauenden Einstellungen sind hier insgesamt ‚totaler’, d.h. wählen größere Bildausschnitte als in den Verhörpassagen zuvor. Marcel Schönfeld korrigiert seine Aussage, nachdem er durch den Ermittler dazu aufgefordert wurde: Marinus Schöberl sei nach dem Sprung noch am Leben gewesen, seine Tötung wurde durch die Brüder nun endgültig beschlossen. Aus dem Ermittler wird Jürgen Schönfeld, der sich auf die Bank zubewegt. Die Figur ‚Jutta Schönfeld’ kommt hinzu. Er beschreibt die wirtschaftliche Situation der Familie zu DDR-Zeiten. „Der Papa hat gut verdient“: Mit Nebenerwerbstätigkeiten am Wochenende kam die Familie auf 3000 Ostmark, was ihnen Wohlstand in Form von Ausflügen und Reisen erlaubte. Die Sequenz wird aufgelöst, indem sich die Darsteller umpositionieren: sie nimmt die Haltung von Marco Schönfeld ein, er tritt dahinter an die Stelle des Gutachters und gibt Marco Schönfelds Beschreibung seiner Schullaufbahn wieder. Dem Besuch einer Sprachheilschule folgt die Versetzung auf eine Gesamtschule nach der vierten Klasse. Er muss wiederholen und „schmeißt“ die Schule noch vor Beendigung der sechsten Klasse. Bildhinter- und Vordergrund, die in dieser gestaffelten Zweiereinstellung miteinander korrespondieren, treten in ein umgekehrtes Verhältnis, als sich die Schauspielerin erhebt und mit extremer Aufrichtung und leicht in den Nacken gelegtem Kopf als „Sandra Birke, Freundin von Marco“ ein nationalistisches Lied zu singen beginnt. Sie erzählt daraufhin, wie sie ihren Freund kennen gelernt habe, dass er stottert und ihr sensibel und zart vorkommt. Wieder setzen sich beide als Eheleute nebeneinander. Marco sei ausgerastet, habe die Eltern als Feinde angesehen, habe das häusliche Mobiliar zerstört, so dass sie die Polizei rufen mussten. Ein Gedankensprung lässt den Vater auf die rechte Gesinnung des Sohns zu sprechen kommen: „Ich habe zu Marco gesagt mit seiner Glatze: Marco wir mussten früher als Jugendliche alle KZ-Besuch machen. Das war so in der DDR Pflichtprogramm. Wir mussten uns angucken in der Schule „nackt unter Wölfen“, da ist keiner von den Nazis mit einer Glatze rumgelaufen, die haben alle einen vernünftigen Haarschnitt gehabt. Die einzigen, die mit einer Glatze rumgelaufen sind, das waren die Kommunisten und die Juden, die sie umgebracht haben“.
Die Gewaltbereitschaft des Sohnes fasst der Vater schließlich – in einem weiteren Gedankensprung – als verständliche Reaktion einer heranwachsenden Generation mit geringen Chancen auf Beruf und Einkommen auf. Er erkennt sein eigenes Schicksal wieder in der Generation der perspektivlosen jungen Erwachsenen. Ausgeschlossen vom Erwerbssystem und unterlegen in der Verteidigung seines Anspruchs auf soziale Unterstützung, fühlt er sich gedemütigt. Eine Wucherung am Rückenmark bedingt seine Arbeitsunfähigkeit nach 30jähriger Er-
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werbstätigkeit. Jutta Schönfeld ergänzt ihren Mann und beschreibt, wie er kollabierte, nachdem er erfahren musste, ohne wirtschaftliche Hilfe auskommen zu müssen, da die Rente seiner Frau minimal über dem zulässigen Höchstsatz lag. Wie gelähmt registrierte sie seine Hilflosigkeit. Die Raumbeleuchtung verdunkelt sich und die Personen verlassen ihre sitzende Position. Eine halbnahe frontale Einstellung aus leichter Untersicht zeigt Sandra Birke im Vordergrund stehend. Marco Schönfeld saß bereits ein, als auch sie zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt wurde, nachdem sie einer anderen Szene-Frau das Nasenbein „zerschlagen“ hat. Geschickt habe sie eine Haftverlegung nach Luckau bewirken können, um dort ihren Freund Marco Schönfeld während des Küchendienstes täglich sehen zu können. Ursprünglich hatte das Paar geplant, in die noch auszubauende Dachwohnung der Eltern Schönfeld zu ziehen. Marco Schönfeld sei auch „nach dem, was da im Stall passiert ist“ ihre „große Liebe“. Ab hier spricht sie im Konjunktiv über ihre Wunschträume von einer Familiengründung, von einer Arbeitsstelle und dem Erwerb des Führerscheins. Die aufrechte Körperstellung der Schauspielerin verändert sich in die gekrümmte Haltung von Marco Schönfeld. Er erklärt, wie es zu seiner Beteiligung an der Tat kommen konnte. Er ist nicht wie geplant nach Bremen zum Jobben, sondern in die nahgelegene Vollzugsanstalt zur Freundin gefahren. Nach dieser Erklärung stellt sich auf der Spielfläche eine überraschende Veränderung ein. Der Quader wird nach vorne in die Raummitte befördert, wodurch sich die bislang geltende statische Raumordnung auflöst. Eine letzte Wiederaufnahme des Verhörs schließt sich an. Darin werden der Todeszeitpunkt von Marinus Schöberl und das Vergraben des Leichnams rekonstruiert. Der verhörte Marcel Schönfeld erklärt weiter, wie die drei Täter die Leugnung, etwas über sein Verschwinden zu wissen, beschlossen haben. „Dann haben wir uns schlafen gelegt“. Marcel Schönfeld wandelt sich wieder in Sandra Birke, die im kalten Licht des Quaders von einem Telefonat berichtet, in dem ihr Freund angedeutet hat, ins Gefängnis zu ihr zurückzukommen. Ein verkrampftes Verschränken der Arme vor dem Oberkörper zeigt nun Marco Schönfeld, der die Tat aus seiner Perspektive erklärt: Angestaute Aggression musste sich Raum verschaffen und „hätte jeden treffen können“. „Ich wollte den nicht umbringen, ich hab den auch nicht umgebracht, ich wollte den nur quälen und ärgern. Das ist eben aus der Situation heraus entstanden und dann macht man das eben, weil es Spaß macht und weil man auch nicht weiß, was man sonst machen soll“.
Der Sprung des Bruders wie auch der Anblick des zertrümmerten Gesichts haben ihn schockiert.
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Die Veränderung der Körperhaltung signalisiert die Figur ‚Jutta Schönfeld’. Sie erklärt für die Söhne „bis auf den letzten Tropfen“ zu „kämpfen“, weil dies ihre Aufgabe als Mutter sei. Ihre Perspektive konzentriert sich dann auf die Pläne des Dachausbaus zu einem modernen Loft, in dem ihr Sohn Marcel einmal leben könnte. Sie stellt sich die Wohnung, wie sie einmal aussehen könnte, vor. Währenddessen zeigt das Bild Birgit Schöberl mit gefalteten Händen auf der Bank sitzen. Momentan sei der Ausbau aufgrund ihrer Krankheit und der ihres Mannes jedoch unrealistisch. Trotz Krankheit und finanzieller Nöte hält sie an dem fest, was sie glaubt, der Voraussetzung nach erreicht zu haben: ein harmonisches Zusammenleben mit ihren Kindern. Die brutale Ermordung von Marinus Schöberl durch ihre Söhne kommt in ihren Gedanken nicht vor. Die letzte dargestellte Redepassage des Films ist den Gerichtsprotokollen entnommen. Frau Schöberl erhebt die Stimme, während wir noch das Gesicht der Figur ‚Jutta Schönfeld’ sehen. Der Umschnitt in die Totale zeigt die Mutter des Opfers auf der Bank sitzend und die Mutter der Täter im Quader stehend. Frau Schöberl appelliert an das Gewissen der Rechtsvertreter, die das Wesentliche nicht aus den Augen verlieren sollten, nämlich die Art und Weise, wie ihr Sohn zu Tode kam und das Ausbleiben von „Reue oder Bedauern“ der Täter. Sie hätten eine Familie zerstört, in der der Getötete die Rolle eines geliebten Menschen eingenommen habe. Sie fordert eine der Tat gleichkommende Bestrafung. In Sequenz 46 bewegt sich der Quader auf der nun unbespielten Fläche wieder zurück in die ursprüngliche Position und der Raum verdunkelt sich. In der anschließenden Sequenz 47 gibt die Sprechstimme des Schauspielers – ohne dass man ihn sehen würde – bekannt, dass „Birgit Schöberl (..) am Tag der Urteilsverkündung an einem Krebsleiden (verstarb)“. Ebenfalls im Nachklang zur Spielhandlung, immer noch vor der Kulisse des Raumes, werden in einer nächsten Sequenz in drei schriftlichen Textpassagen die Strafen der drei Schuldiggesprochenen angeführt. Das Licht blendet aus und vor schwarzem Hintergrund setzt der Abspann ein. Auffallend an diesem dritten Teil der Rekonstruktion sind vor allem die folgenden Veränderungen: Die Inszenierung hat sich dahingehend verändert, dass die Figuren überwiegend sitzen und sich die bislang starre Raumordnung auflöst, indem der Quader nach vorne in die Raummitte befördert wird. Der Großraum verengt sich dadurch ebenso wie sich die bisher vollzogene Trennung zwischen Verhörraum und lebensweltlicher Kulisse, d.h. zwischen hoch funktionalisierten und wenig funktionalisierten Sprechorten, aufhebt. Dieser dritte Teil löst sich dadurch von der Frage des Standpunkts, von dem aus ein Redebeitrag erfolgt. Wenn es bisher wichtig war und die Rollenidentifikation unterstützte, wo die Redenden standen, gilt dieser Indikator nun nicht mehr. Die Enge des Quaders, nicht seine absolute Raumposition, korrespondiert ab nun mit den Aussagen der
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Redenden und wirkt als Begrenztheit ihrer Perspektiven und Wahlfreiheiten: Sandra Birke, die inhaftiert ist, Marco Schönfeld, der keine konstruktiven Wege nach der Haftentlassung finden kann und aggressiven Trieben folgt, Jutta Schönfeld, deren Bewegungsfreiheit durch die eigene Krankheit wie auch durch den zunehmenden körperlichen Verschleiß ihres Mannes deutlich eingeschränkt ist. Schließlich plädiert Birgit Schöberl, nicht aufrecht stehend sondern verschränkt sitzend, für Gerechtigkeit. Kurz darauf wird ihr Versterben bekannt gegeben. So dargestellt kommt dieser Appell der sitzenden Frau dem Ausdruck schwindender Körperkraft in der Krankheit gleich. Dies gilt auch für die Eheleute, die an die Bank ‚gefesselt’ von traumatisierenden Erlebnissen und Krankheit in der Familie berichten. Um diese Inszenierungsweise deuten zu können, ist der Inhalt und Verlauf der Redepassagen zu klären, den die Verkörperung der Rollen unterstützt. Während der erste Teil durch absolute Positionen ebenso wie durch Aussagen, die die Tat umkreisen, geprägt ist, im zweiten Teil sich Rollen übergreifende Themenstränge herausbilden, fallen in diesem dritten Teil mehr oder weniger unvermittelte thematische Sprünge innerhalb von Sequenzen auf. So entwickelt sich die Erzählung über Marco Schönfelds Gewalterfahrung zur erlebten Gewalt des Großvaters; so wird die Figur ‚Sandra Birke’ mit einem rechten Liedtext eingeführt und spricht dann über die Zärtlichkeit ihres Freundes; so beschreiben die Eltern einen Moment, in dem sie sich kaum noch gegen die Zerstörungswut ihres Sohns Marco wehren konnten und enden mit der Schilderung einer als strukturell erlebten Gewalt in der Vorenthaltung sozialer Hilfe durch die Behörden. Wenn auch die SchauspielerInnen die Passagen so vortragen, als wären sie genau so der fortlaufenden Interviewerzählung entnommen, entsteht dennoch die Unsicherheit, welche Aussageinstanz die unvermittelten Inhalte zusammendenkt. Dass es sich dabei eher um Leistungen der filmischen Erzählung als um Gedankensprünge der GesprächspartnerInnen handelt, legt die damit jeweils erreichte Prägnanz im Sinne einer irritierenden thematischen Dichte nahe. Damit verbunden entsteht die Frage nach dem Stellenwert des Faktenmaterials im Rahmen der ästhetisch-expressiven Darstellungsform. Eine Idee dazu kann aus den Grundüberlegungen des Dokumentartheaters gewonnen werden. Grenzen von Subjektivität im Dokumentartheater Die Form, die „Der Kick“ als Bühnenstück aufweist, ist teilweise vergleichbar mit den Stilmitteln des Dokumentartheaters. Ein bekanntes Beispiel für diese Richtung des Theaters ist Peter Weiss 1965 entstandenes Stück „Die Ermittlung“, in dem er eine Auswahl an Protokollen zum ersten Ausschwitzprozess in
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Frankfurt getroffen und in einer Bühnenhandlung verarbeitet hat.159 Charakteristisch für das Dokumentartheater ist nach Barton (1987) eine explizite Beziehung zwischen historischen Dokumenten und ästhetischer Umsetzung als zugleich Bindung an das und Lösung vom Dokument (vgl. Barton 1987: 3). Das heißt, in der Umsetzung eines historischen Stoffs erhebt das Stück keinen Anspruch auf Autonomie, ist stattdessen abhängig und bezogen auf seine dokumentarischen Quellen. Die Stilmittel ergeben sich aus der politischen Absicht des Dokumentartheaters, die nicht neutral ist, sondern Partei ergreift. Es bezieht sich auf aktuelle oder nahe zurückliegende gesellschaftliche Konstellationen. Dadurch ist es stärker zeitgebunden als andere Formen des Theaters. In der „belegbaren Qualität des Faktenmaterials“ liegt ein entscheidendes Argument, sie wird daher „zur unentbehrlichen Vorraussetzung für die Darstellung und Analyse“ der Gegenwart (ebd.). Ziel ist jedoch nicht eine dokumentgetreue Wiedergabe relevanter Fakten, sondern eine selektive Auswahl und Konzentration auf musterbildende Faktoren. Ein dokumentarisches Theaterstück stellt deswegen ein Destillat einer Materialsammlung dar. Diese Art der Deutung durch Auswahl erlaubt eine kritische (Neu-)Beurteilung der dargestellten Ereignisse, geht jedoch nicht so weit, dass „alternative politische Lösungen oder Zukunftsperspektiven“ (ebd.: 4) aufgezeigt würden. An diese Zielsetzung sind nun zwei wesentliche Stilmittel gebunden: Ein wichtiges Merkmal ist die Auswahl von Zitaten und deren Montage (vgl. ebd.: 4, 17). Ebenso wichtig ist, dass die Authentizität des Dokuments im Modus des Schauspiels erkennbar bleibt. Kritisch kann man nun fragen, wie beides zusammengehen soll. Denn eine Interviewaussage kann nur dann authentisch sein, wenn sie im Verhältnis steht zum subjektiv gemeinten Sinn der interviewten Person. Barton macht in folgender Aussage deutlich, dass die Absicht des Dokumentartheaters nicht in der Rekonstruktion von Subjektivität liegt, sondern in einem allgemeineren Geltungsanspruch: „In welchem Sinne aber, wenn überhaupt, kann ein Dokument ‚authentisch’ bleiben, nachdem es aus seinem ursprünglichen Zusammenhang gerissen, vereinfacht, zusammengefaßt, umgeschrieben, erklärt, ergänzt und von einem Schauspieler auf der Bühne gesprochen wurde? (...) Die Destillation von Fakten, die ein Dokumentarstück enthält (...), schafft eine neue Art von Beweismaterial, das aus historischen Quellen entnommen wurde und auf diese Quellen verweist, das aber einen anderen Zusammenhang und einen anderen Zweck bekommt. Indem der Autor seine Eingriffe auf die Bearbeitung der Dokumente und die Verdeutlichung ihres Sinnes
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Mit „die Ermittlung“ ein „Oratorium in elf Gesängen“ ist der Schriftsteller Peter Weiss über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt geworden (vgl. Willberg 1972: 152). „Der Kick“ weist v.a. durch die starke Reduktion auf sprachliche Vermittlung, durch die inhaltliche Analogie in der Thematisierung rechter Gewaltverbrechen wie auch durch den Einbau von Verhörszenen eine strukturellen Nähe zu „Die Ermittlung“ auf.
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Filmanalyse III: „Der Kick“ beschränkt, versucht er ‚die Form sowohl eines strengeren als auch umfassenderen Zeitdokuments’ (...) zu erreichen“ (ebd., Herv. i. O.).
Auch in „Der Kick“ wird Subjektivität als Quelle, nicht jedoch als Ergebnis angesehen. In der Darstellung der Inhalte ist der Bezug auf die Datenerhebung kontinuierlich präsent: So sind es Einzelerzählpassagen und kaum Dialoge der Figuren untereinander, die auf die ursprüngliche Interviewsituation zwischen Filmemacher und den am Tatort lebenden Menschen verweisen. In der Darstellung der Tat wird der Quellenverweis auf das Vernehmungsprotokoll sprachlich beibehalten (siehe oben). Zugleich muss davon ausgegangen werden – dies wird im dritten Teil besonders deutlich –, dass es sich um ein „selektives Zitieren“ (ebd.: 4) jener Momente, in denen ein Dokument entstanden ist, handelt. Dieses selektive Zitieren verfolgt das Interesse, über das Konkrete einer Aussage und die subjektive Sicht, in der sie getroffen wird, hinaus neue Aussagegehalte zu erkennen: „durch die Bearbeitung der Dokumente und die Anwendung ästhetischer Formen wird das Problem der beschränkten Aussagekraft isolierter Tatsachen überwunden“ (ebd.: 10). Der Film nimmt in diesem dritten Teil die kritischste Position gegenüber den Einzelaussagen ein, indem er sich über subjektive Sinnzusammenhänge – die Autonomie der Erzählenden – hinwegsetzt und Aufmerksamkeit auf ethische Fragen lenkt. Diese ruft er durch eine Verdichtung und Neuzusammenstellung ihrer Aussagen hervor. Der Inhalt ist weniger den Menschen, die die Aussagen treffen, verpflichtet als einem externen Deutungsangebot über die Ereignisse, in die sie verstrickt sind. Er interpretiert sie als typische Ereignisse einer sozialen Zeit. Diese soziale Zeit ist – wie die Zusammensetzung der Erzählpassagen verdeutlicht – in besonderer Weise durch Gewalterlebnisse geprägt. In welchen Deutungszusammenhang werden die Gewalterfahrungen nun gestellt? Sozialstrukturelle Erklärung von Gewalthandeln Normlosigkeit sowie das Fehlen moralischer Gebote und Überzeugungen tritt innerhalb der (auf die oben beschriebene Art) verknüpften Redeinhalte besonders hervor. Wir erfahren, dass Marco Schönfeld scheinbar unaufhaltsam einer kriminellen Karriere folgt, dass seine Freundin Sandra Birke ohne Unrechtsbewusstsein darüber berichtet, wie sie einer anderen Frau das Nasenbein zerschlug, dass die Brüder Marinus Schöberls Tötung letztendlich kaltblütig beschlossen haben, dass sich Marco Schönfelds Aggressivität auch gegen die eigenen Eltern richtete, dass er Spaß daran hat, andere zu quälen. Zugleich erfahren wir, dass das gewalttätige Paar ein gewöhnliches, tradiertes Lebensmodell anstrebt. Sie wollen heiraten, Kinder bekommen, den Führerschein erwerben und arbeiten. Aus den Erzäh-
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lungen der Eltern Schönfeld ergibt sich eine Genealogie der Gewalterfahrung, angefangen beim Großvater, über den Vater bis zum Sohn Marco. Alle können sie darüber nur bedingt reden, verinnerlichen stattdessen Wut, Scham und Aggression. Die kollektive, über Generationen hinweg bestehende Unfähigkeit, solche Erlebnisse produktiv zu bewältigen, ist das Spannungsfeld, in dem die Erzählung den Mord an Marinus Schöberl verortet.160 Die Herausarbeitung dieses Spannungsfelds innerhalb des dritten Teils verweist auf einen als Anomie bezeichneten sozialen Zustand, der auf einen Verlust kollektiver Strukturen und Orientierungen zurückzuführen ist. Anomische Strukturen entstehen in Folge von gesellschaftlichen Umbrüchen und können abweichendes Verhalten als sozialstrukturell bedingtes Verhalten in Extremformen wie Gewalt und Kriminalität hervorbringen (vgl. Böhnisch 2001c: 52). Mit dem Anomie-Konzept werden Bewältigungsprobleme also in ihrem gesellschaftlichen Entstehungskontext erklärt. Es geht von bestimmten Ziel-Mittel-Beziehungen aus, die abweichendes Verhalten begründen. Das Ziel liegt in der Befriedigung gesellschaftlich erzeugter Bedürfnisse, die jedoch nicht auf legitime Art erreicht werden können. Das heißt, Einzelne verfügen nicht über die entsprechenden sozialen Zugänge zu den notwendigen legitimen Mitteln. Dieser Zustand wird als Regellosigkeit empfunden. In diesem Sinn entsteht eine gesellschaftliche Desintegration, die nach einer Anpassungsleistung an die Ressourcenarmut verlangt: entweder im Verzicht auf die kulturellen Ziele, im Ergreifen von illegitimen Mitteln oder in der Abkehr vom erzeugenden gesellschaftlichen Bezugssystem. Die Unterscheidung im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in System und Lebenswelt klärt die zu erbringende Anpassungsleistung angesichts anomischer Zustände weiter auf: Böhnisch spricht von einem modernen Anomieproblem, das in der Entkoppelung von System- und Sozialintegration besteht. Das heißt, gesellschaftliche Unübersichtlichkeit und damit Regellosigkeit ergeben sich nicht primär aus dem Nichterfüllen einer legitimen Ziel-Mittel-Relation, sondern aus einer krisenhaften Sozialintegration, die in die Alleinstellung des Individuums gegenüber systemisch vermittelten Anforderungen mündet. Dadurch kann eine „lebensweltliche Akzeptanz und tendenzielle Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Normen“ (Böhnisch 1994: 153) gerade nicht mehr vorausgesetzt werden.
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Wieder setzt die filmische Erzählung einen Kontrapunkt zum behandelten Inhalt: Wird inhaltlich gerade die Sprachbarriere von Marco Schönfeld als Schüler einer Sprachheilschule und als verschlossenem Jungen, der sich erst unter dem Einfluss von Alkohol mitteilt, herausgestellt (Sprache als Defizit), sind die Mittel der Erzählung weitgehend auf eine sprachliche Rekonstruktion ausgerichtet (Sprache als Mittel der Wahrheitsfindung). Dabei zeigt sich erst im Ergebnis die Beschränkheit der Reflexionsleistungen einzelner Standpunkte.
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Filmanalyse III: „Der Kick“ „Diese in den Sozialwissenschaften als ‚Biografisierung’ bezeichnete Entwicklung (...) zur Entstehung multikomplexer und biografisierter sozialintegrativer Zonen in einer tendenziell anomischen und sozial desintegrierten Gesamtgesellschaft findet ihren spektakulären Ausdruck im sozialintegrativen Gehalt des postmodernen Gewaltphänomens: Untersuchungen in den 90er Jahren (...) zeigen, dass über Gewalt sozialer Anschluss und soziale Geborgenheit gesucht wird, Gewalt (...) zum (negativen, weil sozial destruktiven) sozialintegrativen Handlungsmuster wird“ (Böhnisch 2001c: 57f, vgl. auch ders. 1994: 148f.).
Auf eben jenen Ausdruck von ausgeübter oder erfahrener Gewalt und gleichzeitiger sozialer Desintegration sind die rezitierten Erfahrungen spezialisiert: die Erfahrungen des Großvaters mit Kriegsende, die Erfahrungen des beschäftigungsunfähigen Vaters mit strukturell erlebter Gewalt in der Verweigerung von staatlicher Hilfe, erfahrene physische und psychische Gewalt des Sohns als Zugezogenem, die Erfahrung der Freundin als Gewalttäterin, die Erfahrung der Mutter als die, die um eine intakte Familie als Lebenssinn „kämpfen“ muss. Gewalterfahrungen und Gewalthandeln werden im Zusammenwirken dieses Aussagenbündels normalisiert. Besonders deutlich wird dies an der Vereinbarkeit von familienbezogenen Werten wie Zusammenhalt und gegenseitiges Verständnis einerseits und Gewalttätigkeit anderseits. Die Familie wirkt als Gegengewicht zu einer gesellschaftlichen (schulischen, arbeitsmarktbezogenen, freiheitsrechtlich eingeschränkten) Desintegration. Selbst dann, wenn sich die Gewalt gegen die Familie selbst richtet, bringt Jürgen Schönfeld noch ein hohes Maß an Verständnis gegenüber seinem Sohn auf, der sich aufgrund von verwehrten Chancen – berechtigt also – gegen das Establishment richtet. Die Familie und insbesondere die Eltern erweisen sich also keineswegs als Korrektiv für die Gewalttätigkeit des Sohnes. „Dort wo Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit potentiell und aktuell die einzigen bzw. letzten Möglichkeiten der Selbstwertschöpfung und Selbstbehauptung sind, wo kommunikative und auf Gegenseitigkeit abzielende Deutungs- und Handlungsalternativen fehlen (...), besteht also die Gefahr, daß Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit als sozialintegrative Chance (...) sozial umgesetzt werden. Gewalt als ‚sozialintegrative Chance’ enthält dann den Status der Normalität, der Selbstverständlichkeit, die nicht mehr jedes Mal neu begründet werden muss. Sie wird Lebensstil“ (Böhnisch 1994: 155): so etwa in der Zugehörigkeit zu einer rechten Jugendszene.
Böhnischs Argumentation, die die Genese von Gewalthandeln v.a. im sozialen Klima wie auch in milieubedingt eingeschränkten Bewältigungsressourcen erkennt, kann durch Ergebnisse zu Täterprofilen rechtsextremistischer Straftäter bekräftigt werden. Eine Untersuchung von Willems u.a. (1993) zeigt, dass „nur ca. 15-20% der polizeilich Ermittelten bzw. rechtskräftig Verurteilten ein klares rechtsextremistisches Weltbild hatten“. Daneben zeichnen sich die Täterprofile des „Mitläufers“, des „Schlägers“ und des „Ethnozentristen“ ab (Merten 2001: 1471). Rechtsextremistische Motive alleine erklären Marcos Gewaltbereitschaft
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nicht, sie kanalisieren sein Gewalthandeln und geben ihm eine praktische Bedeutung. Darüber hinaus wird die Gewaltbereitschaft in diesem letzten Teil des Films jedoch als Ausdruck einer Bewältigungskrise, die sich über Generationen erstreckt und immer mit dem Verlust von Handlungsfähigkeit im weitesten Sinn zu tun hat (Enteignung, Arbeitsunfähigkeit, keine Beschäftigungsperspektive), dargestellt. Marco Schönfeld musste diese Handlungsunfähigkeit individualisiert bereits in früher Jugend als Beschämungserfahrung kennen lernen. Böhnisch erklärt die Normalisierung von Gewalttätigkeit zusätzlich zu diesem sozialstrukturellen Zugang tiefenpsychologisch, im Zwang zur Verachtung der eigenen Hilflosigkeit, indem man diese Erfahrung auf andere, vermeintlich Schwache überträgt (vgl. Böhnisch 1994: 159). Im Rahmen eines solchen Deutungszusammenhangs, den die filmische Form des stark selektiven Zitierens nahe legt, ist das Verbrechen an Marinus Schöberl in den sozialgeschichtlichen Kontext der brandenburgischen Gemeinde gestellt. Politische und wirtschaftliche Umbrüche und Auflösungserscheinungen sozialintegrativer Muster gehen einher mit strukturell erlebter Gewalt, die sich innerhalb der Familienbiographie normalisiert. Gerade die Erwachsenengeneration betont eine empfundene Ungerechtigkeit. Der Erfahrungshorizont der Familie beinhaltet sowohl eine unabgeschlossene Vergangenheitsbewältigung wie auch das aktuelle Erleben von anomischen Strukturen. Aus ihm heraus könnten Bewältigungsformen, die nicht im Einklang mit gesellschaftlichen Normen und Werten stehen, erklärt werden. Diesen Erklärungsanspruch verfolgt die filmische Erzählung jedoch nicht direkt, denn die Ermordung an Marinus Schöberl tritt in diesem dritten Teil in den Hintergrund. Sie passt nicht in das Bedürfnisschema von Marco Schönfeld: „Ich wollte den nicht umbringen, ich hab den auch nicht umgebracht“. Statt in ‚quasi-wissenschaftliche’, alltagsweltliche Erklärungsketten zu münden, spitzen sich die Erzählpassagen im letzten Teil auf die zukunftsbezogenen Perspektiven der einzelnen Figuren zu. Es wird deutlich, dass die Befragten das Verbrechen zwar auszuklammern versuchen und an dem festhalten, was ihnen einen Lebenssinn vermittelt, ihre Aussichten insgesamt jedoch beschränkt sind: Sandra Birke wird mit ihrem Freund keine eigene Familie auf absehbare Zeit gründen und das erdachte harmonische Zusammenleben in der Großfamilie scheitert am gesundheitlichen Zustand des Ehepaars Schönfeld. Für die Bewältigungskrise, die Jürgen und Marco Schönfeld formulieren – „da komm ich nicht drüber hinweg, dass man weg ist vom Fenster“ und das „Bild habe ich heute noch vor Augen, wie der dann aussah, wie der dann zur Seite gekippt ist, da hast Du überhaupt nichts mehr erkannt im Gesicht“ –, ergibt sich keine Lösungsperspektive.
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7.2.4 Zusammenfassung der Inszenierungsform Bereits im ersten Teil der Analyse wurde auf die Gleichförmigkeit des filmischen Verlaufs aufmerksam gemacht: In fortlaufenden Redepassagen äußern sich zahlreiche Personen zu den Ereignissen. Sie teilen sich gezielt mit. Diese Sequenzen ähneln einander in erster Linie dadurch, dass sie in immer der gleichen Umgebung von immer den gleichen Schauspielern dominiert sind. Würde der Dokumentarfilm auf diese besondere Inszenierung verzichten, dann würde eine interne Unterscheidung von zwei Typen von Aussagesituationen im Bild wesentlich deutlicher hervortreten: Zu unterscheiden sind nämlich Sequenzen, die Interviewsituationen zwischen Filmemacher und Befragten darstellen und Sequenzen, die als teilnehmende Beobachtung von Situationen entstanden sind, die der Filmemacher nicht initiiert hat. Der zweite Typus umfasst die Rede des Pfarrers, die Verhörsituationen, die Aussagen des Staatsanwalts und der Mutter des Opfers vor Gericht. Innerhalb dieses zweiten Typus von Aussagesituationen geht es thematisch um Recht und Gerechtigkeit. Der Film integriert diesen Strang der Rechtssprechung zwar, insgesamt will er jedoch nicht darauf hinaus. Dies zeigt sich im Aufbau. Die Analyse der drei Filmteile lässt erkennen, dass die Erzählung im Wesentlichen drei Fragestellungen behandelt: x Der erste Teil konzentriert sich auf die Frage, ob es eine Möglichkeit gibt, zwischen den unterschiedlichen Perspektiven zu vermitteln; x Der zweite Teil fragt nach Möglichkeiten, die Tat zu relativieren; x Der dritte Teil stellt die Frage, ob die Tat zu bewältigen ist. Die Antwort auf die jeweils aufgeworfene Frage besteht in einer Negation. Im Einzelnen heißt das: Es gibt keinen „Moral point of View“, der sich als Aspekt der Verständigung unter den Betroffenen ausmachen lässt. Ebenso wenig lässt sich die Tat als Konsequenz der Umstände, die den Haupttäter Marcel Schönfeld prägen, direkt begreifen. In der Alleinstellung von Gewalt als sozialintegrativem Handlungsmuster und in ihrer Normalisierung wird schließlich drittens deutlich, dass der Mord unter diesen Voraussetzungen nicht zu bewältigen ist. Die Klarheit, mit der diese drei Fragestellungen thematisiert werden, hängt maßgeblich mit der Art der Inszenierung zusammen, die sich zum einen als stark reduzierte Darstellung und zum anderen als Anwendung von Dekonstruktionstechniken zusammenfassen lässt: Elemente der Reduktion – diese liegen insbesondere in einem mittelbaren Zugang zu den Sprechtexten (stellvertretende Rede), die ausschließlicher Inhalt der Bühnenhandlung sind. Durch die Rollenverteilung der 17 Aussageinstanzen auf zwei Sprechstimmen relativiert sich die Bedeutung der Persönlichkeit hinter den sprachlichen Aussagen. In der Verkörperung der Figuren mittels eines redu-
7.2 Analyse der filmischen Entwicklung im Kontext der Inszenierungsform
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zierten Mimenspiels ohne Gestik und Bewegung und im Wechsel der Schauspieler zwischen den Rollen wird ein einfaches Wiedererkennungsprinzip realisiert, das sich auf überzeichnete, äußerliche Merkmale der Körperhaltung und des Blickkontakts beschränkt. Diese einfachen, körpersprachlichen Aussagen sind nicht nur als Reduktion, als ein Weglassen von weiteren personenbezogenen Merkmalen (Differenzierung) zu betrachten, sondern als eine Verallgemeinerung zu einem überindividuell gültigen, symbolischen Ausdruck der Kraft beispielsweise, mit der jemand im Leben steht und des Selbstvertrauens, das jemand hat. Kamera- und Lichtführung sind stringent eingesetzt, um den analytischen Blick des Publikums auf das Schauspiel zu unterstützen. Dies geschieht durch fast ausschließlich statische Einstellungen, die ein festes Blickfeld vorgeben und durch die Ausblendung von nicht-relevantem Raum. Die Aufmerksamkeit des Publikums wird streng gelenkt und kann kaum eigenständig Schwerpunkte bilden. Eine lebensweltbezogene Darstellung dagegen, die auf situativen Kontexten und sozialen Interaktionsformen aufbauen würde, hätte ein solches konzentriertes Zusammenspiel von symbolischem Ausdruck und konkreter Rede bzw. der Gleichzeitigkeit einer überindividuellen und einer individuellen Dimension vermutlich nicht erlaubt. Als Technik der Dekonstruktion können mehrere gestalterische Aspekte beschrieben werden: Erstens sind das Auflösungserscheinungen, die bisher in Bezug auf Rollenidentitäten festgestellt wurden, die aber auch für die Handlungsabfolge wie auch für den Raum gelten bis hin zur Auflösung eines einheitlichen Sinnkontextes in der Figurenrede in Teil drei. Am Beispiel der Rollenidentität zeigt sich einerseits ein stabiles Rollenschema, d.h. mehrfach auftretende Figuren sind durchweg gleich besetzt. Andererseits erlangt die Auflösung der Rollen an Gewicht, wird bewusst zur Schau gestellt, beobachtbar gemacht und verhindert insgesamt Zuschreibungsprozesse. Eine zweite Dekonstruktionstechnik ergibt sich aus der Darstellung der Verhörsituation. Diese wirkt ‚unecht’ und die Ambitionen, die Wahrheit zu ermitteln, erscheinen fragwürdig. Auf den ganzen Film bezogen entsteht immer dann die Wirkung einer Dekonstruktion, wenn Bild und Sprechhandlung gegenläufige Aussagen machen, wenn also über eine Gewalthandlung berichtet wird, die inszenatorisch nicht stattfindet, wenn über Gemeinschaft gesprochen wird, die sich im Bild als Isolation widerspiegelt, wenn das Bild von der redenden Figur unvermittelt auf die schweigende umschneidet etc. Das Hauptstilmittel Sprache (sprachliche Rekonstruktion) wird schließlich als begrenztes Mittel in der Lösung des zugrundeliegenden Problems kenntlich: Das sprachliche Ausdrucksvermögen der Befragten ist begrenzt. Die mangelhafte Bewältigung der Ereignisse wird darin überdeutlich. Obwohl sie über die Ereignisse sprechen, bleibt die Tat unberührt und eine Leerstelle. Dekonstruktionen
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Filmanalyse III: „Der Kick“
entwickeln sich also aus dem Aufeinandertreffen von zwei Konstruktionsschichten, die disharmonisch zusammenwirken. Entlang der Untersuchungskategorien Raum, Zeit und Figur bildet sich dieses Prinzip der doppelten Konstruktion besonders markant ab. Die folgenden drei Kapitel gehen darauf ein. 7.3
Zwei Konstruktionsschichten von Raum als Besonderheit
Die Untersuchung der Konstruktionsweisen von filmischem Raum fokussiert zwei Fragerichtungen. Ausgehend von den statischen Verhältnissen des filmischen Raums ist das erstens die Frage nach den jeweiligen Raumqualitäten. Von Interesse sind die im Raum anzutreffenden sozialen Ordnungsprinzipien und die daraus resultierenden Raumbindungen. Zweitens gilt es nach den räumlichen Veränderungen im filmischen Verlauf zu fragen, die sich für die ProtagonistInnen und ihre Handlungen ergeben. Diesen beiden Fragerichtungen ist die theoretisch begründete Annahme hinterlegt, dass sich in der Konstruktion von filmischen Räumen eine charakteristische Ambivalenz ausdrücken lässt, die sich für Heranwachsende zwischen den als ursprünglich erlebten Verhältnissen und subjektiven Perspektiven entwickelt (vgl. Kap. 3.2.3) – ein Sozialisationsprozess im Aufeinandertreffen von Ich und Welt (vgl. Kap. 3.4.1). In Bezug auf den vorliegenden Film können beide Fragerichtungen nicht ohne weiteres verfolgt werden, da eine Doppelstruktur des Raums bzw. eine zweifache Konstruktion vorliegt. In einem ersten Schritt wird diese Besonderheit nachvollzogen. Danach werden beide Konstruktionsschichten im Einzelnen auf die Frage nach Raumqualität und räumlicher Veränderung untersucht. In einem abschließenden Schritt wird nach der Bedeutung ihres Zusammenwirkens gefragt. Die Besonderheit von „Der Kick“ als dokumentarischem Film liegt darin, dass der dokumentarische Inhalt teilweise in einer fiktionalisierten Form präsentiert wird, d.h. einer Form, die autonom ist und keine Ähnlichkeit mit authentischen Formen beansprucht.161 Somit ist mit dieser Darstellungsweise eine besondere Voraussetzung für die Funktion von filmischen Räumen zur Verdeutlichung nicht-räumlicher Aspekte erzielt. Weil der Ort, an dem sich der dokumentarische Inhalt entfaltet (beliebiger Schauspielort), in keinem Bezug zu den erzählten Räumen (Potzlow, LPG-Gelände, Gehöfte, See etc.) steht, können wir nicht von einem einfachen Verhältnis zwischen Bildraum und Metapher – einer Doppelbödigkeit der filmischen Bilder also, die zugleich konkret und allgemein zu lesen sind – ausgehen. Denn was gezeigt wird, unterscheidet sich konstitutiv vom ge161
Dies gilt nicht – wie weiter vorne im Abschnitt über Parallelen zum Dokumentartheater gezeigt – für die Bindung an das Quellenmaterial in der Figurenrede.
7.3 Zwei Konstruktionsschichten von Raum als Besonderheit
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sprochenen Inhalt. Der filmische Raum zerfällt so in die zwei Dimensionen ‚Sozialraum’ als erzähltem Raum und ‚Bildraum’ bzw. ‚Spielraum’ als Bühne der stellvertretenden Erzählung. Um diese wichtige Voraussetzung im Unterschied zu anderen dokumentarischen Darstellungen klarer fassen zu können, soll im Folgenden eine Alternative beschrieben werden. Exkurs: „Zur falschen Zeit am falschen Ort“162 Tamara Milosevic drehte 2005 den Dokumentarfilm „Zur falschen Zeit am falschen Ort“. Der Film behandelt ebenfalls den Vorfall in Potzlow und setzt sich mit den am Tatort lebenden Menschen auseinander. Im Titel übernimmt die Autorin das bereits angeführte Zitat des Bürgermeisters. Im Unterschied zu Veiels Konzept reist die Filmstudentin mit Kameraausrüstung und Drehteam nach Potzlow. Die ersten fünf Minuten des Dokumentarfilms (00:00 bis 05:00) lassen sich folgendermaßen beschreiben: 00:00 bis 00:05: Eine totale Einstellung zeigt die Biegung einer kleinen Straße ohne Mittelstreifen, die auf beiden Seiten von Büschen und Bäumen gesäumt ist. Dahinter liegt ein brach liegendes Feld. Starker Nebel macht die Landschaft undurchsichtig und verursacht ein Kamerabild mit gedämpften Kontrasten. Es könnte sich um ein Kalenderblatt des Monats November handeln. 00:06 bis 00:12: Eine erneute Landschaftseinstellung zeigt ein landwirtschaftliches Feld, das sich bis weit in den nebelgrauen Horizont erstreckt. Die Erde weist noch vereinzelt Rillen auf, die landwirtschaftlichen Maschinen erzeugt haben. Im Vordergrund befinden sich helle kleine Äste, die wie Knochen auf dem Umgegrabenen liegen. Der Titel erscheint als Insert. 0:12 bis 0:20: Eine nächste Einstellung zeigt das Geäst eines größeren Baums zur Hälfte in das sonst nebelgraue Bild ranken. Die unbedeckte Seite wird für die Einblendung des „Ein Film von...“ verwendet. 0:20 bis 0:28: In einem nächsten Bild betont die weiß markierte Fahrbahnbegrenzung eine gerade Linie vom Bildvorder- in den Hintergrund. Die Straße, die im Horizont verschwindet, bildet den linken Bildrand, rechts davon liegt ein Feld. Ein Baum, eine Leitblanke und ein Freileitungsmast bilden nahe zusammenstehende einzelne Bildelemente. Das Krähen eines Vogels ist der Bilderreihe hinterlegt, die sich zu einem Arrangement einer ländlichen Szenerie im Nebel verdichtet. 0:28 bis 0:41: Eine Panoramaeinstellung auf ein Dorf im Morgengrauen schließt sich an. Mittig ragt eine dicke Kirchturmkuppel in den Himmel noch vor Sonnenaufgang. Ein bellender Hund und Vogelgezwitscher sind zu hören. 0:41 bis 1:09: Ein nächstes und noch dunkleres Bild zeigt eine Nebenstra162 Der Film wurde in der Reihe „junger Dokumentarfilm“ im Südwestrundfunk im April 2006 erstausgestrahlt.
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ße im Ort, die an einem Haus vorbeiführt, das leicht durch eine von vielen Straßenlaternen am rechten Gehweg angeleuchtet wird. Ab 0:51 min. setzt eine Kommentarstimme ein und berichtet über das bereits bekannte Verbrechen in der Nacht vom 12. auf 13. Juli 2002. 1:09 bis 1:31 zeigt ein weiteres Stück Straße im nächtlichen Dorf, das von einer Allee von Straßenlaternen beleuchtet ist. Die aufeinanderfolgenden Einstellungen 1:31 bis 1:51 und 1:51 bis 2:05 zeigen weitere Impressionen eines Dorfes bei Nacht. 2:05 bis 2:16: „Als kurz nach vier die Dämmerung einsetzte...“ Mit dem Kommentartext wird in einer ausgeprägten Zentralperspektive der Weg hoch zum LPG-Gelände gezeigt, auf dem Marinus Schöberl zu Tode kam. Inzwischen ist es außen hell. 2:16 bis 2:25: Mit der nächsten Einstellung wird Windrauschen akustisch hervorgehoben und wir befinden uns im Inneren einer der Gebäuderuinen auf dem verwilderten Gelände. Durch milchig-dreckiges Fensterglas sind im Wind wehende Sträucher zu sehen. Ein Stück Glas ist herausgebrochen und gibt einen klaren, kontrastreichen Blick auf das Außen frei. 2:25 bis 2:40: Eine zerfallene, offen stehende Tür ermöglicht den Eintritt in den ehemaligen Schweinestall. Der Kamerablick geht von innen nach außen durch die metallenen Viehgitter hindurch. 2:40 bis 2:49: Die Einstellung zeigt eine ehemalige Jauchegrube auf dem Gehöft, die leer und mit Gräsern bewachsen ist. 2:49 bis 2:55: Der Kamerablick geht von außen in eines der offen stehenden Gebäuderuinen und durchdringt das dunkle Innere bis zu einem Fenster an der Stirnseite, das wieder Licht zeigt. 2:55 bis 3:01: Die Einstellung zielt auf einen nahen Bretterverschlag an einem Gebäude. Auf Putz laufen altertümliche Leitungen. 3:01 bis 3:11: Eine Totale zeigt einen verwilderten Fahrweg durch die Gebäude der ehemaligen LPG. Akustisch deutete sich bereits eine Veränderung an, indem der Wind abklingt und Vogelgezwitscher einsetzt. 3:11 bis 3:18 zeigt eine Nebenstraße im Dorf. Es ist Tag und die Sonne scheint. An den zwei Häuserfassaden konturieren sich Schatten gegenüberliegender großer Bäume. 3:19 bis 3:28: Ein Junge in Baggy Pants und T-Shirt sitzt auf einem Sofa, vor ihm ein Couchtisch und neben ihm ein eingeschaltes Fernsehgerät, das Werbung zeigt. Eine Texteinblendung stellt ihn als „Matthias, bester Freund von Marinus“ vor. 3:28 bis 5:04: Eine Naheinstellung zeigt Matthias Muchow in einem Annäherungswinkel von 45 Grad. Er erzählt, wie es dazu kam, dass er die Leiche seines besten Freundes ausgrub. Er spricht den Tränen nahe. Die gleichmäßig getaktete Standbild-Reihe nähert sich dem Tatort des Verbrechens allmählich an. Es sind Stimmungsbilder, die Verlassenheit, Kälte und Verfall ausdrücken und die zugleich in Korrespondenz mit dem Kommentartext eine Verbindung mit den Misshandlungen und dem Mord als finstere Straßen, dunkle Ecken und verbotenes Gelände eingehen. Die gezeigten Orte, die an sich keinen hohen Wiedererkennungswert haben, werden zu markanten Stellen,
7.3 Zwei Konstruktionsschichten von Raum als Besonderheit
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indem sie zunehmend einen Sinn zugewiesen bekommen. Ästhetischer und sozialer Raum nähern sich binnen weniger Minuten einander vollkommen an und bilden eine Einheit, die fortan nicht mehr unterschieden wird. Diesen Prozess stellen wir in „Der Kick“ gerade nicht fest – der Theaterraum bleibt Spielraum und der Sozialraum bleibt Konstruktion in den Erzählungen der Befragten. Indem beide Konstruktionsschichten gleichzeitig existieren, liegt ein doppeltes Raumschema vor. Bevor nun auf die darin liegende Bedeutung geschlossen wird, soll die Unterschiedlichkeit beider Konstruktionsweisen von Raum genauer betrachtet werden. 7.3.1 Festhalten an Raumbindungen: Der erzählte Raum und sozialräumliche Qualität Im Text, der dem Film vorangestellt ist, heißt es: „Täter und Opfer kennen sich. Sie kommen aus Potzlow, einem Dorf sechzig Kilometer nördlich von Berlin“. Berlin ist nicht ohne Grund als orientierender Bezugspunkt gewählt. Die Information legt das Verbrechen ins Umfeld der Bundeshauptstadt und rückt seine politische Dimension damit ins Zentrum der Gesellschaft. Ein Kontrast zwischen dem kleinen Dorf und der Metropole wird nicht weiter aufgebaut; Berlin findet nur noch am Rande, als Ausflugsziel in der Kindheit der Täter Erwähnung. Stattdessen verweisen die Erzählungen in der Figurenrede auf ein grobmaschiges Netz an umliegenden Gehöften, Gemeinden und Kleinstädten: Strehlow, Gerswalde, Pinnow, Prenzlau, Warnitz etc. Der erzählte Raum überschreitet den Radius von 15 Kilometern kaum. Dass es sich um ein ländliches Gebiet mit geringer Einwohnerdichte und schwacher Infrastruktur handelt, wird vor allem an zwei Aspekten deutlich: Die Jungen besuchen Internatsschulen, was auf die Zusammenlegung von Schulen aufgrund von jeweils geringen Schülerzahlen in den Gemeinden und Teilorten hinweist. Ferner fällt im Kontext des Verbrechens auf, dass die zuständige Polizeistation in Templin wie auch das zuständige Gericht Neuruppin verhältnismäßig weit entfernt, außerhalb des gewohnten Bewegungsradius liegen. Raumqualität Im Unterschied zur Abwanderung und einem dadurch begründeten Rückgang der Bevölkerungszahl im Umland, ist Potzlow nach der Wende laut Bürgermeister gewachsen: „Vor der Wende hatten wir 500 Einwohner, jetzt 600. Das ist doch auch was.“ Wodurch sich die leichte Zuwanderungsrate in der strukturschwachen
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Region erklärt, bleibt uneindeutig. Nach den Beschreibungen der Einwohnerinnen und Einwohner zu urteilen, handelt es sich um einen Lebensraum mit teilweise positiven und teilweise negativen Qualitäten. Die Lage der Gemeinde in einer ländlichen Region und Seenlandschaft bietet einerseits Freizeitmöglichkeiten und der See ist ein fester Bezugsort im Aufwachsen der Jugendlichen. Gleichzeitig eröffnen die Erzählungen v.a. des Ehepaars Schönfeld andererseits Einblicke in die sozialen und kulturellen Deformationen, die der Ort in Folge der Wiedervereinigung erlitt. Der Verlust an selbstständiger Existenzsicherung steht dabei im Vordergrund. In krasser Weise bewahrheitet sich an dieser Konstellation die theoretische Annahme, dass mit einer Schwächung des Sozialstaats eine Verschiebung sozialer Konflikte in den lokalen Raum stattfindet (vgl. Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 216): Die stillgelegte LPG – als Kern des Verfalls – ist zugleich Tatort für den Mord an Marinus Schöberl. Wanner (2006), die rechte Alltagskultur am Beispiel Jugendlicher im brandenburgischen Spree-Neiße-Kreis untersucht, beurteilt die empirischen Ergebnisse ihrer Studie mittels der lebenslagentheoretischen Kategorie Landjugend. Damit setzt sie die Entstehung politischer Orientierungen ins Verhältnis zu den sozialräumlichen Ressourcen des Aufwachsens. Nicht ein ursächlicher Zusammenhang, sondern ein voraussetzungsvolles Zusammenspielen von Selbstauffassungen der befragten rechten Jugendlichen stellt das Hauptergebnis der Studie dar (vgl. Wanner 2006: 251-275): Strukturbildend für eine rechte Alltagskultur unter Jugendlichen seien eine subjektiv hohe Zufriedenheit mit dem Leben auf dem Land (Überschaubarkeit, Vertrautheit, Gemeinschaft), ein Abwanderungsdruck aufgrund einer angespannten wirtschaftlichen Lage (fragwürdige „regionale Sozialchancen“) und damit eine unsichere persönliche Zukunft, „und schließlich zeigen sich auch jene fatalen, aber identitätsstiftenden Einkapselungs- und Ausgrenzungstendenzen, bei denen zwischen Eigenem und Fremdem geschieden wird“, konkret heißt das zwischen „West und Ost, Stadt und Land, Neuem und Bestehendem, Einheimischen und Zugezogenen, Deutschen und AusländerInnen“ (ebd.: 274). Wanner schließt daraus auf einen Alltag, der nicht nur Vertrautes enthält und Sicherheit spendet, sondern zugleich Enge und Beschränktheit produziert. Interessant sind die Ergebnisse dieser Studie v.a. im Hinblick auf die Dimension der räumlichen Veränderungen: Abwanderung als Suche nach besseren Möglichkeiten für eine wirtschaftliche Selbstständigkeit ist für die befragten Jugendlichen keine bevorzugte Perspektive: „Die gefühlsmäßige Bindung an Eltern, an FreundInnen und die Verbundenheit mit der Heimatregion sind stark ausgeprägt. Der Wunsch, bleiben zu können, beeinflusst auch die Berufswahl-
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entscheidungen“ (ebd.: 266).163 Einen wesentlichen Hintergrund für diese Einstellung erkennt Wanner in der Bedeutung, die eine räumliche Veränderung für die Befragten besitzt: In den Westen zu gehen – andere Optionen kommen offensichtlich nicht in Frage – ist gleichbedeutend mit subjektiv empfundener Benachteiligung und dem Gefühl von Minderwertigkeit (vgl. ebd. 267). Räumliche Veränderung in der Figurenrede Potzlow ist ein Ort der Zuwanderung. Sowohl die Familie der Täter wie auch die des Opfers ist zugezogen und die Jungen wurden in jeweils anderen Orten geboren. Darüber hinaus macht Jürgen Schönfeld einen größeren Kontext kenntlich: „Wir waren ja alle mal fremd hier. Die Hälfte sind Umsiedler. Nach dem Krieg sind sie gekommen aus Polen, Pommern, Ostpreußen“ (kick/spk.: 17). Eine entscheidende räumliche Veränderung liegt daher in der Vergangenheit und nicht in der Erzählgegenwart. In der Erzählgegenwart geht es hingegen nicht um Raumüberschreitungen, sondern um das Festhalten an Raumbindungen ebenso wie um ein unfreiwilliges Verlassen ursprünglicher Verhältnisse durch die Haftstrafen der Söhne – eine Tendenz also, die den oben zitierten Befragungsergebnissen entspricht und die zugleich eine besondere, nämlich negative Entwicklungsoption darstellt. Was sehen wir im Bild? 7.3.2 Räumliche Veränderung: Der Spielraum als Positionsschema Die in wechselndem Licht ausgeleuchtete Produktionshalle, wo auch immer ihr geografischer Ort ist und was auch immer ihr ursprünglicher Zweck war (ein Schlachthof, eine Lagerstätte, eine Fabrik etc.), zeichnet sich im Film lediglich 163
Als keineswegs vergleichbar stelle sich die Situation für Jugendliche in ländlichen Regionen im Westen gegenüber ostdeutschen Landkreisen resp. des Spree-Neiße-Kreises dar (vgl. Wanner 2006: 265). Dies liegt u.a. an einer gänzlich unterschiedlichen Bedeutung des ländlichen Raums in der Geschichte der deutschen Staaten: Spezifisch für Ostdeutschland sei eine unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg und der Staatsgründung eingesetzte intensive Entwicklung der ländlichen Gebiete. Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften bildeten die neuen nicht nur wirtschaftlichen sondern auch organisatorischen, sozialen und kulturellen Zentren, die gegenüber urbanen Arbeits- und Lebensformen im sozialen Versorgungsgrad nicht schlechter gestellt sein sollten (vgl. Wanner 2006: 86 mit Bezug auf Böhnisch 1997). Dennoch setzte in der DDR insbesondere unter jungen Menschen eine Abwanderung ein, die auf die LPG als unattraktivem Arbeitsort zurückzuführen sei. Auch habe sich eine spezifische ländliche Jugendkultur unter den Bedingungen staatliche Steuerung kaum entwickeln können. Interessant ist, dass sich in Folge der Wiedervereinigung dieses Verhältnis von Raumbindung und wirtschaftlichen Möglichkeiten bei den Heranwachsenden offensichtlich umgekehrt hat.
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durch ihre grafische Ordnung aus. Sie soll sich als wandelbar erweisen und die Abfolge imaginierter Räume unterstützen. In ihrer Ausstattung ist sie mit wenigen Elementen neutral gehalten, die der Ausbildung temporärer Zentren der Spielhandlung dienen und ihnen Statik verleihen – auf der Bank sitzend, im Quader stehend, an die Balken gelehnt. Darüber hinaus sollen sie wenig Einfluss auf die wesentlichen, den Erzählungen immanenten Vorgänge nehmen. Sie stellen kein räumliches Abbild der erzählten Szenerie dar, verweisen nicht auf einen sozial ausgehandelten Nutzungssinn. Der konkrete Raum, der sich in den Aussagen der Figuren konturiert, entsteht ausschließlich in der Vorstellungswelt des Publikums. Durch das Hinzunehmen von zwei raumbezogenen Elementen, von Geräuschen und Licht, konnotiert der physische Raum das Spiel der Figuren. Im Intro werden beide Elemente aussagekräftig eingeführt: Ton Der zunächst still beginnende Film wird in der zweiten Einstellung durch einen einzelnen Atemzug wesentlich bestimmt. Der akustische Impuls, der durch weit entfernte, diffuse Geräusche begleitet ist, rückt uns unmittelbar nah an die Figur heran, die wir zwar in Großaufnahme sehen, jedoch durch eine fehlende Ausleuchtung nur im Umriss ausmachen können. Der hörbare Atem drückt jedoch nicht nur extreme Nähe sondern auch einen Zustand angespannter Ruhe aus. Alle weiteren Geräusche während der Erzählungen und Aussagen sind hintergründig eingesetzt und hauptsächlich auf metallische und durch Elektrik erzeugte Klänge beschränkt. Eine Ausnahme bildet die eingespielte Melodie eines Passionslieds in Sequenz 16, das durch eine Frau gesungen wird. Die Geräuschkulisse verstärkt insgesamt den Positionswechsel im Raum v.a. durch Trittschall und das Öffnen und Schließen des Quaders durch den Klang einer schwer ins Schloss fallenden Metalltüre. Darüber hinaus entstehen jedoch auch surreale Klangbilder, z.B. das Umfallen eines einer Schaufel ähnlich klingenden Werkzeugs auf harten Boden oder das dumpfe, gleichmäßige und zugleich fast unmerkliche Surren mächtiger Turbinen. Es sind jeweils unterschiedliche Kräfteverhältnisse zwischen Mensch und Umgebung, die akustisch herausgehoben werden und die Erzählhandlungen unterstützen. Licht Licht ist ein zweiter Parameter, der die Relation von Raum und Figuren bestimmt. Über die Beleuchtung werden zunächst Raumbindungen geschaffen. Die
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partielle Ausleuchtung des Raums etabliert temporäre Teilräume, die als jeweilige Spielflächenbegrenzung eingesetzt sind. Mit der Veränderung ihrer Ausleuchtung verlieren sie an Gültigkeit. Gleiches gilt für die Sprechautorität, die den Schauspielern durch ihre Ausleuchtung gegeben bzw. wieder genommen wird. Dies gilt auch für die gesamte Halle, die als geschlossener Raum betont ist, wenn durch die Fenster von außen Licht herein tritt. Als offener Raum wirkt sie, wenn sich die Randzonen in Dunkelheit verlieren, von Außen also kein Licht entgegenwirkt. Die variierenden Beleuchtungsverhältnisse schaffen darüber hinaus Temperaturwechsel, die die jeweils geltende Situationen atmosphärisch unterstützen, so z.B. den erzählten Todeszeitpunkt von Marinus Schöberl in der Dämmerung. Im ausgeleuchteten Quader herrscht kalt empfundenes Kunstlicht, der Scheinwerfer über der Bank besitzt demgegenüber ein Lichtspektrum mit hohem Gelbanteil. Auf diese Weise entstehende Temperaturwechsel stellen abstrakte Situationsattribute der Figurenrede dar bis hin zu überzeichneten Helligkeitswerten, die künstlich einen Kontrast zwischen zwei Figuren herstellen. Licht und Ton leisten also Wesentliches für die Kennzeichnung der Sprechsituationen. Ferner zeigen sie räumliche Übergänge an, indem sie den Bewegungen der Schauspieler oft leicht vorausgehen. Es handelt sich jedoch nicht um Personenmerkmale, die darüber entstünden, sondern um Attribute des Teilraums und der Übergänge. Welchen Teilräumen sind welche Attribute bzw. Qualitäten beigefügt? Raumqualität – ein Spielplan Die folgende Analyse bezieht sich auf Abbildung 16. Sie gibt den Ablauf des Films in seinen drei Hauptteilen wieder. Die Anordnung der Karrees ist reihenweise von links nach rechts zu verstehen. Die in der rechten oberen Ecke vermerkte Zahl zeigt die Sequenznummer und der farbige Balken in der linken oberen Ecke die proportional dargestellte Zeitdauer der jeweiligen Sequenz an. Um sie optisch besser erfassen zu können, sind die 14 Sequenzen des ersten Teils, die 14 Sequenzen des zweiten Teils und die 15 Sequenzen des dritten Teils in drei Blöcken sowie einem Endfeld voneinander abgesetzt. Das Besondere ist, dass jedes Karree die Bühne in jeder einzelnen der 42 Sequenzen bzw. die Position der sprechenden Figuren wiedergibt. Dabei zeigt sich eine stringente Wiederholung von drei Sprechpositionen: im Raumvorder-, -mittel- und -hintergrund.164 164
Abbildung 16 orientiert sich an der absoluten Position im Raum. Die Relation zur Bildeinstellung wurde dabei nicht weiter berücksichtigt, d.h. der hier bezeichnete Raumvorder-, -mittel- und -hintergrund ist in einer totalen Kameraeinstellung identisch mit dem Bildvorder-, -mittel- und -hintergrund, nicht jedoch in halbnahen, nahen oder Großeinstellungen.
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Abbildung 16: Positionsschema
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Das Positionsschema in Abbildung 16 vollzieht den Wechsel der drei Standorte nach, indem der Name der sprechenden Figur unter, zwischen oder über den – durch Kreise – angedeuteten Alternativpositionen steht.165 Es können nun drei analytische Beobachtungen mit Hilfe dieser Skizze gemacht werden; die erste betrifft Raumqualitäten, die beiden anderen räumliche Veränderungen. (1) Bedeutung der Raumpositionen Um zu erkennen, welchen Zweck die inszenierte Unterscheidung von drei Raumpositionen erfüllt, ist zunächst nach der Regelhaftigkeit in der Besetzung der Spielorte zu fragen. Es zeigt sich, dass den einzelnen Figuren überwiegend aber nicht durchgehend eindeutige Sprechpositionen zugeordnet sind (z.B. ist die Figur ‚Mutter Schönfeld’ sowohl im Raumvorder- als auch -mittelgrund vertreten). Nicht die Figuren sollen also an bestimmte Positionen gebunden werden, sondern die jeweiligen Sprechinhalte. Daher stellt sich weiter die Frage, welche Qualität die Aussagen, die jeweils an einem Spielort getätigt werden, haben. Mehreres ist festzustellen: Raumvordergrund - im Raumvordergrund entwickelt sich die geringste Distanz zum Verbrechen; zugleich ist die Tat tabu bzw. zeigt sich als nicht verarbeitet; in diesem Nahbereich entfalten sich sprachlich affektive Beziehungen; es werden Grenzen im Verstehen und Widersprüche im Argumentieren deutlich, ebenso wie irrationale Vorstellungen ausgedrückt; es ist ein Ort, geprägt von Unrechtsbewusstsein und Opfermentalität; Raummittelgrund - im Raummittelgrund wird ein Ort der Vermittlung und zugleich der Ermittlung geschaffen; Erklärungen werden angeboten, vermittelnde Sichtweisen aufgezeigt, Fragen gestellt; die Betroffenheit des Dorfbewohners Fibranz, die Bitte um Verständnis des Bürgermeisters, die Expertise des Gutachters werden auf einer Ebene behandelt; Raumhintergrund - im Raumhintergrund wird das Verbrechen als linearer Handlungsvollzug dargestellt, zwar sachlich am konkretesten, sprachlich jedoch distanziert auf der Grundlage generalisierter Beziehungen; die Bearbeitung ist fortgeschritten, indem Rechte geklärt, Aussagen gemacht, Protokolle erstellt werden; für die Verarbeitung’ des Verbrechens gilt dies ebenso, indem Recht gesprochen, Schuld zugewiesen und Konsequenzen geschaffen werden; es sind ge165
Die Verhörsituation bildet eine offensichtliche Ausnahme, indem hier ein Dialog von zwei Sprechpersonen in der Korrespondenz zweier Standorte geführt wird (z.B. Karree 5). Ist der Ermittlungsbeamte nicht im Bild, sondern nur der verhörte Marcel Schönfeld, wird dies wie in Karree 12 im Unterschied zu Karree 5 notiert.
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sellschaftlich vorgesehene Handlungsoptionen, die sich an offizieller Stelle bzw. in einem hoch funktionalisierten Raum entfalten. In der immer gleichen Wiederholung dieser drei Positionen verfestigt sich folgende Sichtweise: es handelt sich um ein Spiel mit wenig Bewegung. (2) Bedeutung der Bewegung im Raum – Anordnung in Figurationen Im Folgenden soll das Geschehen zwischen den Sequenzen bzw. die Veränderung des Figurenstandpunkts von einer in eine nächste Sequenz betrachtet werden. Abbildung 16 zeigt, wann und wohin die Schauspieler ihren Standpunkt im Verlauf des Films verlagern. Zwischen Sequenz sechs, sieben und acht beispielsweise zeigen sich mannigfache Umpositionierungen: Sie kommt in den Raummittelgrund als Achim Fibranz, er begibt sich in den Raumhintergrund. In sieben bleiben sie gleich positioniert, es verkehren sich allerdings Aktiv und Passiv. In acht verlässt er den Hintergrund und kommt an ihr vorbei in den Vordergrund etc. In den beschriebenen Zwischenzeiten setzt also Bewegung und Veränderung ein. Betrachtet man diesen Wechsel als rein visuelles Geschehen, zeigt sich, dass sich im Laufe des Films permanent neue Figurationen ausbilden, d.h. Muster der Figuren untereinander. Eine weiterführende Idee liegt nun im Verweis auf die soziologische Bedeutung der Figuration: Die Besonderheit des soziologischen Begriffs ‚soziale Figuration’ liegt darin, dass er zwischen Individuum und Gesellschaft angesiedelt ist, d.h. weder allein vom gesellschaftlichen System noch rein vom Individuum her argumentiert, stattdessen Figurationen als unmittelbar gesellschaftsbildend erkennt (vgl. Elias 2006: 172f). Im Verhältnis von Gesellschaft und Individuum wird eine „relative Autonomie“ beider Seiten angenommen. Das heißt, Gesellschaft ist nicht etwas grundsätzlich anderes als Individualität und individuelles Handeln, sondern entsteht aus „Verflechtungen der Handlungen einer Gruppe interdependenter Individuen“ (ebd.). Soziale Figurationen fokussieren die Beziehungen, in denen Individuen untereinander stehen, sogenannte „Interdependenzen“. Daher sind Figurationen ebenso „konkret“ thematisierbar wie Individuen es sind (ebd.: 173). Das Erkenntnisziel dieses Ansatzes richtet sich auf die Bindungen, die Figurationen zusammenhalten. Mit dem soziologischen Konzept der Figuration erlangt der Bildaufbau in seinen Wandlungen der gestaffelten Zweiereinstellungen eine mögliche, wenn auch negative Bedeutung. „Das Zusammenleben von Menschen in Gesellschaften hat immer, selbst im Chaos, im Zerfall, in der allergrößten sozialen Unordnung, eine ganz bestimmte Gestalt. Das ist es, was der Begriff der Figuration zum Ausdruck bringt“ (Elias 2003: 90). Demnach bilden die sich wandelnden
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Figurationen in dem, was sie darstellen, eine Antithese zur Figurenrede: Der Anordnung in Figurationen, die als Prozess beobachtbar ist, führt nicht zu einem Beziehungsaufbau der Figuren untereinander, sondern zu ihrer Alleinstellung. Sie reagieren nicht aufeinander.166 Die in der Figurenrede thematisierten Beziehungen werden somit verneint, ihre Bindungslosigkeit und Abgewandtheit dagegen behauptet. Schließlich wird eine Gesellschaft ohne „sozialen Kitt“ vor Augen geführt. (3) Bedeutung der Raumverengung Eine letzte analytische Beobachtung zum Spielraum bezieht sich auf eine zwischen Sequenz 40 und 41 eintretende Dynamik: der Raum selbst und nicht die Figuren verändert sich. Wie Abbildung 16 zeigt, schrumpft der Raum auf zwei anstatt der bisher bespielten drei Positionsebenen. Die unvermittelt einsetzende und irrationale Veränderung kann metaphorisch als Auflösungserscheinung des Raums, als räumliche Enge und zusätzliche Bewegungseinschränkung aufgefasst werden und ist damit anschlussfähig an die Schlussfolgerung der oben angeführten Untersuchung von Wanner (2006). 7.3.3 Fazit: Die Umkehrung des Verhältnisses von Struktur und Handlung In der besonderen Konstellation von „Der Kick“ entwickelt sich ein Spannungsverhältnis zwischen zwei Bedeutungsebenen von Raum. Gerade weil der erzählte Raum und der Bildraum nicht identisch sind und ihre Bedeutungen sich teilweise ambivalent gegenüberstehen, verbinden sich innerfilmisches und außerfilmisches Raumschema nicht, werden stattdessen als eigenständige Konstruktionsschichten ausgebaut. Das Auseinanderhalten beider Schemata unterstützt den Eindruck, dass wesentliche Ereignisse der filmischen Erzählung nicht von den Figuren als Handlungsträgern ausgehen und somit nicht individuell bestimmt, sondern struktureller Art sind. Beide Konstruktionsschichten liefern Hinweise dafür: x Das erzählte Hauptereignis, der Mord an Marinus Schöberl, ist zunächst kein räumliches Ereignis, da es, in der Art wie es rekonstruiert wird, keine Grenzziehungen innerhalb einer bestehenden räumlichen Ordnung verletzt bzw. überwindet. Der Tatort liegt inmitten der sozialräumlichen Szenerie 166
Einzige Ausnahmen stellen die als Paar auftretenden Eheleute Schönfeld und die Figur des Erziehers dar. Die Eheleute sind aufeinander bezogen und ergänzen sich in ihren Ausführungen. Der Erzieher wendet sich in Sequenz 27 während seiner Ausführungen mit einer Körperdrehung dem angeklagten Marcel Schönfeld zu, der hinter ihm im Quader steht.
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und stellt darin eine uneindeutige Grauzone dar. Erst in einer zeitgeschichtlichen Betrachtung fällt die Bedeutungsumkehr durch den Verlust des ursprünglichen Stellenwerts auf: Der Raum hat sich von einem ehemals existenzsichernden Arbeitsplatz in ein durch Arbeitsplatzverlust belasteten Ort gewendet. Das heißt, nicht die Figuren überwinden ihre Raumbindungen, sondern der Raum, in dem sie sich befinden, hat sich verändert. Es handelt sich um strukturelle Veränderungsprozesse, die mit zu berücksichtigen sind, um den Überschreitungscharakter des erzählten Sujets fassen zu können. Für den Bildraum spielen strukturelle Veränderungen eine noch viel größere Rolle. Die Figuren sind beschränkt auf einen jeweiligen Standpunkt und die Grenzen ihrer Möglichkeiten sind damit sehr eng gezogen. Ereignischarakter kommt dem Raum selbst zu, indem er sich verschiebt, seine gültige Ordnung verliert und sich tendenziell auflöst. Die Figuren werden dadurch weiter eingeengt. Der hiermit gegebenen Umkehrung – der Raum bewegt sich und nicht die Handlungsträger – kommt eine weitreichende Bedeutung zu: Nicht ein Strukturkonflikt wird zum Ausgangspunkt genommen, um einen Handlungskonflikt zu erzählen, sondern umgekehrt wird an einem Handlungskonflikt angesetzt, um diesen in einen Strukturkonflikt zu überführen. Der Tendenz nach liegt in der Raumkonstruktion eine Umkehrung des Verhältnisses von Struktur und Handlung vor, indem das Handeln eine untergeordnete Rolle spielt und ein Hauptziel im Erkennen von determinierenden Strukturen liegt. Da Figurationen symbolischer Ausdruck dieser Strukturen sind, wird zugleich in der Relation der einzelnen Figuren ein dynamisches Moment von Struktur, sprich eine Veränderungsoption konzipiert.
7.4 Zeit als ‚argumentierende’ Erzähltechnik In der Analyse der filmischen Entwicklung konnten drei filmische Einheiten erkannt werden, die jeweils unterschiedliche thematische Zentren aufweisen, d.h. unterschiedliche Fragestellungen behandeln und sich dabei auf unterschiedliche Figuren konzentrieren. Filmsprachlich und inszenatorisch ist diese Dreiteilung nur insoweit unterstützt, dass durch fortlaufende Reduktions- und Negationstechniken die jeweiligen Themen an Klarheit gewinnen. Gestalterische Unterschiede zur Absetzung der Einheiten untereinander sind nicht auszumachen; im Hinblick auf die Erzähltechnik ‚Zeit’ jedoch schon. Die Gestaltungskategorie Zeit verdeutlicht die drei filmischen Einheiten in ihrer Unterschiedlichkeit. Das heißt, in dem, wie der Filmemacher die Aussagen der Befragten anordnet, im Arrangieren von Zeitbezügen also, liegt ein extrem gestaltender Einfluss auf den Film. Über die – teilweise kontroversen – Aussagen der einzelnen Figuren hi-
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Abbildung 17: Anordnung erzählter Zeit
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naus entsteht auf diese Weise eine eigenständige Argumentation. Auf der Grundlage von Abbildung 17 wird erstens gezeigt, dass jede Einheit durch ein spezifisches Arrangement von Zeitbezügen gekennzeichnet ist. Zweitens wird gezeigt, dass auch in Bezug auf Zeit zwei gegenläufige Konstruktionsschichten einander beeinflussen. Zur Leseart von Abbildung 17: Die grau verlaufenden Querbalken unterteilen die Abbildung entsprechend der drei Einheiten in drei untereinander liegende Felder. Die längs verlaufenden Balken markieren chronologisch nacheinander liegende Zeitpunkte, die während des gesamten Films relevant sind: der mit „1990“ bezeichnete, erste und links liegende Balken meint die Deutsche Wiedervereinigung, „1994“ steht für den Zuzug der Schönfelds nach Potzlow, „1999“ bezeichnet das Ereignis, dass Marco Schönfeld zum ersten Mal ins Gefängnis kommt, „Tat“ umfasst die Tatnacht, „Verhör“ steht für das Ermittlungsverfahren, „Gericht“ meint die Gerichtsverhandlung bis hin zum Urteilsspruch. Die Abstände der Balken konnten aus Platzgründen nicht proportional zur Echtzeit gewählt werden. Mit roten Punkten sind eindeutige Zeitpunkte innerhalb der Erzählpassagen vermerkt, ohne dabei allerdings die Sprecher zu unterscheiden. Die roten Klammern kennzeichnen einen Zeitraum, auf den eine Aussage Bezug nimmt. Die Anordnung ist zeilenartig von oben nach unten zu verstehen. Die Nummer neben den roten Markern gibt die jeweilige Sequenznummer an. 7.4.1 Anordnung erzählter Zeit: Darstellungsgang vom singulären Ereignis zur mehrfachen Verlaufskurvendynamik Mit Blick auf das obere Drittel der Abbildung (erste Einheit) zeigt sich eine Ballung der angesprochenen Zeitpunkte und -räume dicht um die Tat herum. Zumeist sind zwei Zeitpunkte innerhalb einer Einzelaussage angesprochen, die die Tatnacht in ein Vorher und ein Nachher einklammern. Das Erzähltempo ist durch diese Ellipsen bestimmt, deren Charakter in der Auslassung liegt. Die temporale Gestaltung organisiert ein Pendeln zwischen einem Zustand vor der Tat und einem Zustand nach der Tat. Anstelle einer ausführlichen Heranführung ergänzen sich die Aussagen zu einer punktuellen Informationsskizze. Die Tat selbst bleibt häufig unausgesprochen. Die durch diese Auslassung entstehenden Lücken wirken jedoch ähnlich wie die Entdeckung eines Schwarzen Lochs: man kann es im Weltall nur deswegen bestimmen, weil Sterne in der Umgebung darum herum liegen und somit die Lücke als Leerstelle betonen. Die Ermittlungsszenen (Sequenzen 5, 12, 14) wie auch die Aussage des Bürgermeisters und des Pfarrers nehmen direkt auf die Ereignisse in der Nacht vom 12. Juli 2002 Bezug. Dadurch ist ein „repetitives“ narratives Frequenzmuster eingeführt: es wird mehrmals er-
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zählt, was sich nur einmal zugetragen hat (vgl. Kap. 3.3.2). Das Ereignis ist somit allein dadurch intensiv dargestellt, dass man stets zu seiner Neubetrachtung aufgefordert wird. Wie bereits in Kapitel 7.2.1 beschrieben, entsteht inhaltlich eine Pluralisierung von Täter-Opfer-Deutungen, ohne dass ein Übereinkommen der unterschiedlichen Sichtweisen absehbar wird. Die zweite filmische Einheit stellt sich grundsätzlich anders dar und weist eine alternative temporale Gestaltung auf. In der Narration ist ein systematischer Rückblick auf einen definierten Zeitraum zwischen dem Zuzug der Schönfelds 1994 und der Tatnacht bzw. ihrer Rekonstruktion in der polizeilichen Ermittlung gegeben. Marcel Schönfeld steht im Mittelpunkt. Das narrative Tempo ändert sich von der „Ellipse“ zur zusammenfassenden Darstellung, die zunächst größere Zeitstrecken zusammenfasst und von Sequenz 21 bis 25 auf einen singulären Zeitpunkt zusteuert, der auf Marco Schönfelds Haftentlassung fällt. Die aufeinander folgenden Erzählpassagen ergänzen sich, indem sie gleiche zeitliche Ereignisse aufgreifen. In diesem zeitlichen ‚Zoom’ auf die Wiederkehr des großen Bruders wird die Abhängigkeitsbeziehung von Marcel Schönfeld zu ihm besonders hervorgehoben. Abweichend von den sonstigen Verhörpassagen wird auch in Sequenz 26 nicht die Tat sondern die Bruder-Beziehung fokussiert. Die Anordnung der erzählten Zeit zielt daher auf die Rekonstruktion einer biographischen Entwicklung mit besonderem Bezug auf die Beziehung zwischen den Schönfeld-Brüdern. Mehrere Aussagen verschiedener Figuren laufen auf einen einheitlichen Sinn hinaus. Wie bereits herausgestellt kommt es in Sequenz 28 jedoch zu einem Bruch, indem die Figur ‚Marcel Schönfeld’ den Mord in erster Person (Ich) und als aktives Handlungsschema darstellt: vorsätzlich, kaltblütig, aggressiv und unbeeinflusst durch den ‚kriminellen’ Bruder. Der Sinnbezug ist nicht mehr gegeben. Die Sequenzen 29 und 30 entfernen sich von dem Themenstrang und leiten über zum dritten Teil, in dem eine erneute Veränderung der filmisch gestalteten Ereignisverkettung festzustellen ist. In der Anordnung der erzählten Zeit entwickelt sich beginnend mit Sequenz 29 zunehmend eine Verlaufskurvendynamik. „Verlaufskurven (stehen) für das Prinzip des Getriebenwerdens durch sozialstrukturelle und äußerlich-schicksalhafte Bedingungen der Existenz“ (Schütze 1983: 288). Entscheidend an dieser Beobachtung ist, dass es sich nicht um eine Verlaufskurvendynamik eines einzelnen Biographieträgers bezogen auf einen bestimmten Lebensabschnitt handelt, sondern um eine überindividuelle Verlaufskurvendynamik, die sich aus den einzelnen Erzählpassagen, aus der Tendenz mehrerer Abwärtsbewegungen heraus entwickelt: In Sequenz 29 schildert Frau Schöberl den Wohnungsverlust und wirtschaftliche Schwierigkeiten nach dem Tod ihres Sohnes. In Sequenz 30 wird über das Verschwinden einer sozialen Infrastruktur und damit eines positiven Klimas des Zusammenlebens berichtet. Die
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Sequenzen 32 und 43 stellen den Jugendlichen als unkontrollierbaren, haltlosen Serientäter dar. Sequenz 33 stellt die Gewalterfahrung des Großvaters in einen Zusammenhang mit der von Marco Schönfeld. Die Sequenzen 35 und 38 bilden zusammengenommen eine Abwärtskurve von Beschäftigung und Wohlstand. Sequenz 36 zeigt Marco Schönfeld als Bildungsverlierer. Die Sequenzen 39, 42 und 48 beschreiben den Freiheitsverlust durch Haftstrafen. Sequenzen 31, 44 und 47 verdichten sich zu einer Abwärtskurve der Gesundheit, die körperlichen Verschleiß, chronische Krankheit und Tod bedingt. Diesem generationenübergreifenden Dilemma und sozialen Abwärtstrend stehen vereinzelte persönliche Gestaltungsideen gegenüber, wie z.B. Marco Schönfelds Heiratsantrag, von dem die Figur ‚Sandra Birke’ in Sequenz 39 berichtet, oder die Idee vom Dachausbau zum modernen Loft, in dem die Söhne nach ihrer Haft Platz finden könnten. Die Ohnmacht dieses parallelen biographischen Handlungsschemas, das trotz der schwerwiegenden Veränderungen in den Lebensumständen – insbesondere durch die nichtbewältigte Gewaltausschreitung –, weiterhin an bürgerlichen Lebensstilelementen festhält, scheint ebenso schicksalhaft wie die Verhältnisse selbst. 7.4.2 Montage gegenläufiger Zeitschienen: Sinnlosigkeit Der Filmtitel „Der Kick“ ist doppeldeutig. Verstanden als „Bordsteinkick“ bedeutet er die planvolle Nachahmung einer Hinrichtungsmethode. Verstanden als etwas, das einen zum Handeln anspornt, benennt er eine Antriebskraft, die sich von etwas anderem auf das eigene Handeln überträgt. In beiden Bedeutungsschichten ist damit ein singulärer Moment bezeichnet, der existenzielle Auswirkungen hat, der einen Wendepunkt darstellt und der Zukunft und Vergangenheit scheidet. Die temporale Filmgestaltung macht diesen doppeldeutigen Titel zum Programm, d.h. die parallel eingeführten, konträren Handlungsparadigmen des planvollen versus irrationalen Agierens werden als widersprüchliche Gleichzeitigkeit herausgearbeitet. Basal für diesen Effekt ist das Verhältnis von zwei gegenläufigen Zeitschienen: Die eine erzählt auf das Hauptereignis hinführend und kann in diesem Sinn als progressiv bezeichnet werden; die andere umkreist das Hauptereignis zwar, entfernt sich jedoch zunehmend davon, richtet sich in die Vergangenheit und kann deswegen als retrospektiv, bzw. im Hinblick auf die sich abzeichnende inhaltliche Entwicklung als regressiv bezeichnet werden. Abbildung 18 hebt den eben beschriebenen Unterschied hervor, indem die progressive Erzählrichtung farblich hervorgehoben ist. Es handelt sich dabei um die wiederkehrend in den Verlauf
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Abbildung 18: Progressive Erzählrichtung
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eingebauten Verhörpassagen, die die sich fortsetzende, detailgenaue Handlungsabfolge darstellen. Äußerst präzise werden die einzelnen Handlungen den beteiligten Akteure zugeordnet und als aktives Handlungsschema entfaltet.167 Dieser progressive Handlungsstrang bezieht sich auf die Tatnacht und umfasst damit einen relativ engen Zeithorizont. Der linear rekonstruierte Tatverlauf erlangt gerade durch das passagenweise Erzählen an Bedeutung. Im Gegensatz dazu wird eine zweite, regressive Konstruktion angelegt, die sich wie oben beschrieben von Teil eins bis drei zunehmend in die Vergangenheit zurückarbeitet und damit einen weiten Zeithorizont aufbaut. Er reicht bis ans Ende des zweiten Weltkriegs. Es ist jedoch keine Linearität zu erkennen. Die Rückbezüge finden sporadisch statt. Auch handelt es sich häufig nicht um eindeutige Zeitpunkte sondern um Zeiträume, die den Vergangenheitsbezug ausmachen. Am deutlichsten unterscheidet sich die in die Vergangenheit gerichtete Perspektive durch ihr passives Handlungsschema. Gegenstand der Aussagen ist die Beschreibung einer sozialen Zeit, in der sich die Personen situieren und deren Möglichkeiten bzw. Vorenthaltungen sie sich anpassen. Dabei verliert die Tat als Referenzpunkt der Erzählung ihre Eindeutigkeit im Vergleich zur progressiven Zeitschiene. Wo der Zeitpunkt ihrer Entstehung liegt, wird durch den Vergangenheitsbezug nicht geklärt und bleibt somit offen. Auch durch die wenigen Ausblicke auf ein zukünftiges Leben der befragten Personen zeigt sich, dass sie im passiven Handlungsschema des sich Anpassens verhaftet bleiben. Durch die vergangenheitsbezogene Konstruktion entsteht insgesamt der Eindruck, dass die Figuren eine Regression erleben und am Ende ihrer Zukunft angelangt sind. Dieser Eindruck verstärkt sich gerade auch dadurch, dass die progressive Zeitschiene kein Gegengewicht schaffen kann. Die Tat bildet sich vor diesem Hintergrund als irrationale und zugleich pervertierte Handlung ab. Das aktive Handlungsschema ist aus der Perspektive der passiven Entwicklungsdynamiken massiv infrage zu stellen. Innerhalb seiner Eigendynamik steuert es direkt auf ein juristisches Geständnis zu und bildet somit die Grundlage für die folgenden Haftstrafen. Dieser Kunstgriff des Auseinanderführens von Vergangenem und Zukünftigem macht einen sinnstiftenden Zusammenhang zwischen beidem gerade unmöglich, d.h., die Vergangenheit steht in keinem sinnvollen Bezug zur Gegenwart, wodurch die Optionen auf eine positive d.h. selbstbestimmte Zukunft schwinden (Mangel an Kohärenz).
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Eine Ausnahme bestätigt die Regel: In Sequenz 26 wird der Grad an selbstbestimmtem Handeln bei Marcel Schönfeld geprüft. Er wird danach gefragt, inwieweit er sich durch den Bruder beeinflussen lässt. Indem er diesen Einfluss weitgehend zurückweist, bestätigt sich damit das aktive Handlungsschema, das diesen Erzählstrang ausmacht.
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7.5 Keine ProtagonistInnen Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Deutung des vorliegenden Films ist die Beobachtung, dass es dem Bild an ‚Subjektivität’ fehlt. Man braucht dem Film nicht lange folgen, um festzustellen, dass die Sprachdokumente einerseits sehr nah an ein ‚erlebendes Ich’ heranführen, andererseits jedoch in der Inszenierung eine große Distanz zum erzählten, überwiegend persönlichen Inhalt hergestellt und aufrechterhalten wird. Welche Möglichkeiten durch diese besondere Darstellungsweise für die Thematisierung des Inhalts entstehen, soll im Folgenden untersucht werden. 7.5.1 Dekonstruktion von Subjektivität durch das Prinzip der Rollenbesetzung Es liegt auf der Hand, warum der Filmemacher auf SchauspielerInnen zurückgreift: die realen Personen wollen nicht vor die Kamera und sollen aus ethischen Gründen auch nicht weiteren Blicken ausgesetzt werden: Blicke, die – wie es bei Fahndungsbildern passiert – das erzählte Gewaltereignis mit den Gesichtern verknüpfen. Die Schauspieler sind jedoch nicht nur stellvertretend für die realen Personen eingesetzt. Wäre das die Absicht des Filmemachers, so müsste jede Person im Einzelnen besetzt sein und durch individuelles Aussehen und Spiel die ProtagonistInnen individuierend nachahmen. Mehrfach wurde in der Analyse bereits herausgestellt, dass dies gerade nicht der Fall ist und das Prinzip der Rollenbesetzung allenfalls temporär auszumachende Figuren zulässt, ohne dabei eine tiefergehende Ausdrucksdimension zu beinhalten. Mit Bezug auf die in Kapitel 3.4.2 entwickelte Trennung zwischen Figur und ProtagonistIn lässt sich deshalb festhalten, dass „Der Kick“ nicht die Qualität von ‚ProtagonistInnen’, d.h. den Verweis auf lebensweltliche Bezüge und den Ausdruck von Subjektivität nutzt. Die Intention des Films ist nicht darauf gerichtet, die Personen als selbstbestimmungsfähige Einzelne, die ihre Umwelt gestalten, ins Bild zu setzen. Ebenfalls in Kapitel 3.4.2 wurden auch Erzähltypen dokumentarischer Filme aufgezeigt, die ohne ProtagonistInnen auskommen, z.B. der „nüchterne“, der „expressive“ und der „Reporter-Erzähler“. Der Erzählfluss wird in diesen Konstellationen nicht von den im Film auftretenden Personen bestimmt und in der Regel kommt ihnen auch kein biographisches Interesse zu. Die Voraussetzung, nach der von einer ProtagonistInnenerzählung gesprochen werden kann, wurde auf folgenden Aspekt bezogen: Wenn „erzählendes“ und „erlebendes Ich“ auf eine Figur fallen, liegt eine ProtagonistInnenerzählung vor. ProtagonistInnen sind solche Figuren, die sich selbst als „erlebendes Ich“ zum Thema machen und
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darin einen Vermittlungssinn erkennen; ihre Erzählmotivation ist dadurch biographisch begründet und evident. Dieser Festlegung nach ist „Der Kick“ uneindeutig. Wenn auch im Bild keine ProtagonistInnenerzählung vorliegt, so doch in Bezug auf den gesprochenen Inhalt, der zwar offensichtlich aus einem ursprünglichen Redefluss genommen und neu zusammengestellt wurde, jedoch eindeutig seinen Quellen treu bleibt. Die dadurch gegebene Irritation schafft Distanz zur visuellen Wirkung von ProtagonistInnen und baut dennoch auf subjektiven Standpunkten, die mit Erzählautorität hervorgebracht werden, auf. Anknüpfend an das in der Philosophie mit dem Subjektbegriff thematisierte Verhältnis von Individuum und sozialer Wirklichkeit, lässt sich in dem beobachtbaren doppelten Bezug eine ‚gebrochene’ Subjektivität erkennen, d.h. die einzelnen Personen sind mehr oder weniger zur Reflexion fähig (Text), nicht aber zur Modifikation ihrer Umwelt (Bild). In der philosophischen Ausrichtung des deutschen Idealismus werden die Begriffe ‚Subjekt’ und ‚Subjektivität’ gebraucht, um die Freiheit des Denkens, Empfindens und Handelns von Individuen gegenüber den determinierenden Auswirkungen sozialer und biologischer Gesetzmäßigkeiten zu betonen (vgl. Scherr 2003: 135). Der ‚Zoom’ vom konkreten Text eines ‚erlebenden Ichs’ zum abstrakten Spiel, das v.a. durch die Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten und Rollenauflösungen bestimmt ist, dekonstruiert die im Text vorhandene Subjektivität im obigen Sinn und lenkt die Aufmerksamkeit auf Prozesse, die nicht zu steuern sind. Im Folgenden wird dies anhand von zwei Krisen der subjektiven Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung durchgespielt: die erste entsteht im Zusammenhang mit der erzählten Generationenbeziehung, die zweite bezieht sich auf den konjunktiven Erfahrungsraum, auf den die Erzählung anspielt. 7.5.2 Prozesse, die nicht zu steuern sind – Generationenbeziehung ohne Figurenopposition Figurenoppositionen stellen – in der strukturanalytischen Erzähltheorie nach Lotman – die Grundlage von Veränderungen und Ereignissen innerhalb einer Erzählung dar (vgl. Kap. 3.4.2). Sie entwickeln sich aus sozialen Beziehungsgeflechten heraus. Wie in den beiden vorausgehenden Filmuntersuchungen deutlich wurde, enthalten Generationenbeziehungen thematisch aufschlussreiche Gegensätzlichkeiten, die deswegen in der filmischen Erzählung aufgegriffen sind. Im vorliegenden Film ist eine Figurenopposition zwischen Eltern und Kindern jedoch nicht feststellbar. Die Gegensätze zwischen den Generationen reduzieren sich darauf, dass sich die Kinder schuldig gemacht haben, die Eltern nicht. Dies wiederum kann weder aus ihrer Unterschiedlichkeit noch aus ihren Beziehungen
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und Beziehungsformen heraus erklärt werden. Die Zusammenstellung der Erzählpassagen erweckt den Eindruck, es handle sich bei Marco Schönfeld, Marcel Schönfeld und Marinus Schöberl um Angehörige einer „pragmatischen Generation“ wie sie eine aktuelle Jugendstudie beschreibt. Die „pragmatische Generation“ hält an der Herkunftsfamilie fest, geht enge familiäre Bindungen ein, sucht den Zusammenhalt und teilt als Familie ein Wertesystem. Unterstützt wird diese Einstellung durch eine hohe und konfliktfreie Familienorientierung: „Die Familie vermittelt Stabilität, Kontinuität und emotionalen Rückhalt. Zudem wird sie in wirtschaftlich schwierigen Zeiten als Ressource gesehen, die durch ökonomische und soziale Unterstützung hilft, sich den Bedingungen des Arbeitsmarktes anzupassen“ (Deutsche Shell 2006: 16). Indikatoren dafür sind ein langes Verbleiben in den Strukturen der Herkunftsfamilie verbunden mit einer hohen Akzeptanz des elterlichen Erziehungsverhaltens. Das Pendant dazu entwickelt sich in den Aussagen der Eltern Schönfeld: eine Kinderzentriertheit in der Elternschaft. Die Kinder finden darin Verständnis ohne kritische Resonanz. Die folgenden O-Töne verdeutlichen dies: Mann / Schönfeld: „Wir haben nichts falsch gemacht, wir haben unsere Kinder gut erzogen. Frau / Schönfeld: Die Kinder stehen an erster Stelle, erst dann kommt der Partner. Mann / Schönfeld: Es bleiben unsere Kinder. Frau / Schönfeld: Natürlich haben sie Mist gemacht. Mann / Schönfeld: Aber es bleiben unsere Kinder. Wir haben sie ja nicht hoch geschickt in den Stall“. Frau / Schönfeld: „Einen alten Anzug, wenn der nicht mehr passt, den kannst Du wegwerfen, aber Kinder sind da, sag ich, egal was kommt. Also ich kämpfe bis auf den letzten Tropfen“.
Trotz der unterschiedlichen Generationenzugehörigkeit und trotz der Differenz, dass die einen Nicht-Täter und die anderen Täter sind, haben Eltern und Söhne offensichtlich eine identische moralische Haltung. Sie scheinen hinsichtlich ihrer moralischen Entwicklung auf gleicher Stufe zu stehen. Kein Mehr an Einsichtsfähigkeit ist bei den Eltern zu erkennen und auch kein Versuch, den subjektiven Standpunkt zu reflektieren und zu überschreiten. Sequenz 33 führt gegenüber dieser allgemeinen Deutung einen besonderen familiären Zusammenhang ein, der als Schlüssel hinsichtlich der familiären Bindungen gedeutet werden kann. Die zusammengestellten Erzählfragmente lassen den Eindruck entstehen, es handle sich in Bezug auf das Hauptereignis um vererbte Gewalt: Mann / Schönfeld: „Mein Vater, der hat mir das erzählt kurz bevor er gestorben ist, da haben wir hier gesessen, da hat er mir erzählt, was er mitgemacht hat als kleiner Junge im Weltkrieg, dass die Russen dann kamen. Und rein ins Haus der Russe und will meinem Großvater die Uhr abnehmen. Der hat gesagt, er rückt nichts raus, wollten sie ihm die Uhr mit Gewalt abnehmen, aber er hat nichts rausgerückt und dann wurden sie stranguliert, beide, mein Großvater und meine Großmutter, vor den Augen meines Vaters, der muss alles mitangesehen haben, Schreie
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Filmanalyse III: „Der Kick“ gehört und solche Sachen. Kurz vor Ende des Krieges war das. Nach dem Krieg hier alles aufgebaut in Potzlow, Hof, Wirtschaft. Und dann 1960 kam die Enteignung, wurde das Vieh rausgeholt aus dem Stall, Kühe und Rinder, wurde eine Genossenschaft daraus. Mussten wir unterschreiben, was an Pferden rausgegangen ist, das hieß jetzt Volkseigentum, das gehört jetzt allen. Das war nur eine Umschreibung dafür, dass wir jetzt gar nichts mehr hatten. Doch ein Schwein hatten wir zum Schlachten, das war aber auch alles, was willst Du dich dagegen wehren. Die Wut, die saß drin bei meinem Vater, das ist klar, aber der hat sich nie was anmerken lassen, nie was gesagt, mir gegenüber nicht, nie“.
In der Erforschung von Traumata und psychotischem Verhalten richtet die Psychologie Aufmerksamkeit auf sogenannte Familiengeheimnisse, d.h. auf Geheimgehaltenes, das innerhalb einer Familie überwiegend unbemerkt tradiert wird. Ein Ansatz von Tisseron (1998) beschäftigt sich mit der Weitergabe pathogener, d.h. solcher Geheimnisse, die psychische Probleme bewirken. Er hat dabei die Eltern-Kind-Beziehung innerhalb von drei Generationen im Blick. Typisch für die sich entwickelnde Beziehungsstörung zwischen erster und zweiter Generation seien Sprachtabus, die der Geheimnisträger zum Selbstschutz einhält (vgl. Tisseron 1998: 88), da er immer noch mit den emotionalen Folgen des Geheimnisses zu tun hat, die weiterhin sein Verhalten bestimmen. Für die Kinder in der zweiten Generation entstünde so ein unergründbares, ambivalentes Verhalten der Bezugsperson (vgl. ebd.: 79). Sie spricht nicht über das Geheimnis, symbolisiert es aber dennoch. Entscheidend seien daher die Symbolisierungen der Geheimhaltung, die eine Bezugsperson dem Kind gegenüber – wenn auch unbewusst – zugänglich macht. Sie zeigen sich gerade nicht sprachlich, sondern v.a. in Gesten und Verhaltensweisen. Auf diese Weise würde eine Botschaft ohne Inhalt vermittelt (vgl. ebd.: 77). Der Grund etwas geheim zu halten kann in vielem liegen. Zumeist handle es sich bei den Geheimnissen um unzureichend verarbeitete Traumata. Durch ihre Geheimhaltung übertragen sie sich auf die zweite Generation, stets in Verbindung mit Scham wie auch Schuldgefühlen (vgl. ebd.: 76). Mann / Schönfeld: „Also der Marco hat noch nie gelogen, das steht fest. Das hat man ihm immer gleich angesehen, wenn der was gemacht hat. Das kann ich 100% sagen, dass der Marco ehrlich war und noch ist. Wir haben den zur Gewaltlosigkeit erzogen. Bei uns hat noch nie einer zurückgeschlagen und der Marco auch nicht, jedenfalls nicht wenn er nüchtern ist. Der Marco, der ist jetzt jemand, der schlägt zurück im Suff, aber sonst ist das der liebste Mensch und das sagt er selber, der liebste Mensch“.
Die Beziehung zwischen zweiter und dritter Generation könnte durch ein „zwiespältiges Erziehungsschema“ (ebd.: 80) geprägt sein, insofern es hier um die Vermeidung „unnötiger Schuldgefühle“ gehen kann. Charakteristisch für das Geheimnis, das sich wiederum auf die Beziehung auswirkt, sei, dass es inzwischen „unbenennbar“ ist.
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Frau / Schönfeld: „Das hat ja kein Mensch begriffen, da ist der mitten mit dem Kopf durch die Glastür und dann war er so in Rage, dann hat er gedacht, dass wir die Täter sind, dass wir die Bösen sind. Dann ist er so auf uns zu und... Mann / Schönfeld: … ja gebrüllt hat er und die Augen verdreht (hat alles zusammengeschlagen) in der Veranda. Mit der Faust hat er auf die Möbel drauf geschlagen, da war die Lehne ab gewesen. Ich habe gesagt, das ist doch nicht unser Marco und bevor dir war passiert, ich ruf die Polizei. Nachher ist er dann freiwillig mitgekommen. Am nächsten Tag da hat er nichts mehr gewusst davon“.
„In der dritten Generation wird das zunächst „unaussprechbare“, dann „unbenennbare“ Ereignis buchstäblich „undenkbar“ (ebd.: 91). Die Gefühle und Handlungsanreize, die die Kinder der dritten Generation wahrnehmen, erscheinen bizarr und dem eigenen Seelenleben fremd (vgl. ebd.: 92). Auch die Bezugsperson in der zweiten Generation kann sich das Verhalten nicht erklären. Die Folgen, die ausgehend von der gestörten Beziehung entstehen, können in dieser Generation noch gravierender ausfallen: „Für diese [Schädigungen] ist im allgemeinen charakteristisch, daß ihnen jeglicher Sinnzusammenhang abhanden gekommen ist. Es handelt sich vor allem um psychotische Störungen, schwere Formen des Schwachsinns und unterschiedliche Arten von kriminellem oder Suchtverhalten, die es dem Betreffenden schwer machen, sich im Leben zurechtzufinden“ (ebd.). Besonders mit Sequenz 33 wird ein familiäres Dilemma extrapoliert, das darin besteht, dass die Familie – zumindest in der männlichen Linie – die Erfahrung von Gewalt nicht ‚abstreifen’ kann und stattdessen in beschriebener Aufeinanderfolge weitergibt. Diese Weitergabe findet unbewusst (und damit außerhalb der über Reflexion zugänglichen Verstehensmöglichkeiten) statt und verläuft daher irrational. Vergleicht man Bild und Figurenrede an dieser Stelle (Sequenz 33), dann zeigt sich wiederum eine Gegensätzlichkeit: während das geheim gehaltene Erlebnis sprachlich inszeniert, d.h. ausgesprochen wird, sehen wird im Bild Schweigen. Wenn also Jutta Schönfeld über die Misshandlungen an Marco berichtet, wird auf Jürgen Schönfeld umgeschnitten. Spricht er über oben zitierte Erlebnisse des Vaters, kommt sie ins Bild. Die Arbeit mit Zwischenschnitten ist zwar nicht ausschließlich innerhalb dieser Sequenz zu beobachten, an keiner Stelle jedoch so auffallend eingesetzt. Damit ist eine Art „Doppelbödigkeit“ erreicht, die zuvor schon in Bezug auf die Konstruktion von Raum und Zeit feststellbar war. Zugleich wird über die Inszenierung des Schweigens die Unmöglichkeit einer sprachlichen Rekonstruktion der Ereignisse klar, denn die Aufmerksamkeit liegt auf dem, was nicht gesagt wird, was wir in die Nahaufnahme des jeweils Schweigenden nur hineindeuten können, ohne es jemals genauer herauszufinden.
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7.5.3 Prozesse, die nicht zu steuern sind – Negation eines konjunktiven Erfahrungsraums Wurden im vorhergehenden Abschnitt die im Film angelegten Hinweise auf fehlende Selbstbestimmung als familiäre Krise durchgespielt, finden sich in der Inszenierung weitere Zeichen, die als kulturelle Krise ausgedeutet werden können. Im Folgenden geht es darum. Kulturelle Vernetzungen Die filmische Inszenierung ist wie weiter vorne bemerkt minimalistisch konzipiert und kommt weitgehend ohne das Hinzuziehen von Effekten wie z.B. Musik, das Einspielen von Videoaufnahmen, wechselnde Bühnenausstattungen etc. aus. Nur rudimentär lässt die Inszenierung kulturelle Vernetzungen erkennen: Einmal im Einsatz der Singstimme, die der Grabrede des Pfarrers vorangeht, und zum anderen in der Art und Weise, wie die Dorfgemeinschaft eingeführt wird. Das erste Element bildet deswegen einen Fremdkörper, weil die Singstimme nicht eindeutig einer der beiden Figuren zugewiesen werden kann. Es handelt sich dabei um das Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“ von Hans Leo Haßler, das als musikalischer Inbegriff für den Leidensweg Christi gilt. Als Zitat verstanden, spielt es auf die Misshandlungen an Marinus Schöberl an und bindet die Umstände seines qualvollen Todes an einen christlichen Deutungskontext, der die Möglichkeit bereithält, im Leid und Schmerz auch Gutes (ein Opfer) zu erkennen. Zugleich stellt sich mit dieser Assoziation die Frage, für wen er Opfer sein soll. Ein zweites Zitat, das sich allerdings bereits aus den dokumentierten Fakten ergibt, in der Inszenierung jedoch besonders deutlich herausgearbeitet ist, konzentriert das Erklärungspotenzial, das aus dem sozialräumlichen Umfeld und dessen Strukturiertheit entsteht. Der Film führt dazu eine Dorfgemeinschaft ein, die von vorne herein unter dem Verdacht der Mitschuld steht und wegen fehlender erzieherischer Steuerung und fehlender Zivilcourage beschuldigt wird. Der Schriftsteller Max Frisch hat in seinem Theaterstück „Andorra“ den Tod eines jungen Manns erzählt, der fatalerweise von sich gesagt hat, er sei Jude, jedoch keiner war. „Andorra“, das Dorf, hat ihn über Zuschreibungsprozesse in seiner Identität so bestärkt, dass er selbst besseren Wissens die Sicht auf sich selbst nicht korrigieren konnte und schließlich den Tod fand (vgl. Frisch 1975). Die Frage nach einer Kollektivschuld begleitet auch dieses Stück und in beiden Fällen heißt es, ohne eindeutige Grenzen zwischen Tätern, Opfern und Zeugen auskommen zu müssen. In der Betrachtung entstehen Gewissensfragen.
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Auf solche Gewissenfragen wird im Rahmen von kulturellen Bildungsprozessen gesetzt, sei es in der schulischen oder außerschulischen Pädagogik. Bildungserfahrungen im Sinne symbolischer Bearbeitungen durch in einer Kultur angelegte Deutungsmöglichkeiten sollen Einstellungen von Jugendlichen im Umgang mit Heterogenität unterstützen (vgl. Treptow 2004). Diese beziehen sich darauf, Differenzen zwischen sich und anderen vorurteilsfrei wahrzunehmen und kulturelle Vielfalt als wichtige Grundlage auch der eigenen Selbstentfaltung wertzuschätzen. Gleichzeitig sind solche Gewissensfragen Lerngegenstand der politischen Bildung bzw. einer Demokratie- und Menschenrechtserziehung. Historisches ‚Unrecht’ wird im Horizont kulturellen Wissens und Bewusstseins bewahrt und beispielsweise im Rahmen schulischer Allgemeinbildung vermittelt. Die Wiederholung und Nachahmung von Gewalt in symbolischen Darstellungen erfüllt eine Umkehrfunktion. Das „Inszenierungsmodell eines Werte- und Verhaltenskonflikts“ ist geprägt durch die Struktur des Tabubruchs (Philippi 2006: 28) und ist von jeher durch das Ziel des Befreit-Werdens und der Reinigung legitimiert (vgl. ebd.: 41). Jede Schülerin und jeder Schüler weiß aus Büchern wie „Das Tagebuch der Anne Frank“ oder „Onkel Toms Hütte“ oder nach dem Besuch einer KZ-Gedenkstätte über die Mechanismen systematischer Gewalt und der Erzeugung von Ohnmacht und kann daraus Unrechtsbewusstsein entwickeln. Die über diese Form des kulturellen Lernens angelegte Wirkung basiert auf den Fehlern und dem Bewältigungsversagen einer betroffenen Generation, aus der folgende Generationen lernen. So soll der Gedenkstättenbesuch nicht nur Trauer symbolisieren und Vergangenheit konservieren sondern Lernen ermöglichen, indem nach der Bedeutung für die Gegenwart gefragt wird. In einem so vermittelten Lehr-Lernprozess haben konjunktive Erfahrungsräume als normativer Richtwert eine zentrale Bedeutung. Gerade durch individuelle Erlebnisse in der Rezeption von symbolischen (Gewalt-)Darstellungen soll ein verbindender Erfahrungsraum geschaffen werden, der zugleich kollektives Lernen und kulturelle Identität fördert,168 die eine Grundlage für die Wahrnehmung und den Umgang mit aktuellen gesellschaftlichen Ereignissen darstellt. Kollektives Lernen ist in diesem Sinne nicht wertfrei, sondern entwickelt sich zielgerichtet und bezieht sich dabei auf anzustrebende Moral- und Wertvorstellungen innerhalb einer dominierenden politischen Kultur. Gerade aufgrund dieser Vorausset-
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Kulturelle Identität ist nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit einer sogenannten Leitkultur, sondern kann auch die Identität in der kulturellen Offenheit meinen. Es kommt also auf den Kulturbegriff an. Fuchs beispielsweise schlägt für die Kulturpädagogik einen Kulturbegriff vor, der Pluralität, Interaktivität resp. Dynamik und die Tatsache des Interkulturellen als Grundlage für pädagogische Anknüpfungen beschreibt (vgl. Fuchs 2004: 175).
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zung können sich jedoch auch Probleme in der Aneignung eines konjunktiven, also geteilten kulturellen Bewusstseins ergeben. In starkem Kontrast zum eben beschriebenen Diskurs innerhalb des Films entwickelt sich thematisch aus der emotionalen Dimension der Eltern-KindBeziehungen heraus eine Antwort auf das Potenzial kulturellen Lernens: Wie wir der Erzählung von „Jürgen Schönfeld“ entnehmen können gehörte es in der ehemaligen DDR zum Standardprogramm antifaschistischer Erziehung Konzentrationslager zu besichtigen. In Sequenz 38 stellen wir einen gravierenden Bruch fest zwischen eben beschriebenem Ideal einer kulturell vermittelten Bildung und ihrem praktischen Erfolg. „Jürgen Schönfeld“ gibt seine Lernerfahrungen an seinen Sohn weiter, der sein Haar abrasiert hat: „Wir mussten uns angucken in der Schule ‚nackt unter Wölfen’, da ist keiner von den Nazis mit einer Glatze rumgelaufen, die haben alle einen vernünftigen Haarschnitt gehabt. Die einzigen, die mit einer Glatze rumgelaufen sind, das waren die Kommunisten und die Juden, die sie umgebracht haben“.
Seine Annährung an den Faschismus sei fehlerhaft, er sagt nicht, dass sie falsch sei und bietet ihm damit keine Gegenposition. Hornstein wirft mit Bezug auf die Gewaltphänomene im wiedervereinigten Deutschland Anfang der neunziger Jahre folgende Frage auf: „Welche Voraussetzungen bringen wir eigentlich aufgrund unserer kollektiven Lerngeschichte als Gesellschaft mit, um die Probleme, vor die uns eine völlig veränderte Situation nach der deutsch-deutschen Einigung und nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme im Osten stellt, zu lösen“? (Hornstein 1995: 44f).
Er spricht dezidiert von einer kollektiven Lerngeschichte und nicht von den individuellen Möglichkeiten, aktuelle Probleme zu bewältigen. In der Perspektive auf kollektives Lernen und Bewältigen „wäre dann Gewalthandeln nicht nur als Ausdruck der Lebenssituation Jugendlicher zu sehen, sondern als Ausdruck allgemeiner, generationenübergreifender gesellschaftlicher Strukturen, vorausgegangener oder eben auch vorenthaltener Lernprozesse“ (ebd.). Eine Voraussetzung für diese vorenthaltenen Lernprozesse liege bezogen auf die ehemalige DDR, möglicherweise in einer „höchst ritualisierte(n) Form des Umgangs mit dem Faschismus, aber keine(r) eigentliche(n) Aufarbeitung“ (ebd.: 48). Bezogen auf den Film heißt das: Die subjektive Erfahrungen, die „Jürgen Schönfeld“ seinem Sohn vermittelt, verallgemeinern sich in dieser Perspektive zu einem allgemeinen Dilemma. Statt einer wirklichen Aneignung kommt es zu bloßer schema-
7.5 Keine ProtagonistInnen
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tischer Erfahrung. „Richtige Nazis tragen keine Glatzen“ pointiert das Schiefgehen eines kollektiven Lernprozesses.169 Zu fragen bleibt, warum kulturelles Lernen nicht in intendierter Weise zu konjunktivem Wissen d.h. einem Wissen, das mit Erfahrungen und Erlebnissen verbunden ist, führt. Fehlt es den Tätern als ‚Bildungsschwachen’ gerade an oben beschriebenen Lernprozessen? Ist damit gemeint, dass Gewalt unter bestimmten Voraussetzungen eine Alternative zu Lernprozessen bildet? Nach Hornstein bleiben Lernprozesse nicht einfach aus; zu fragen sei vielmehr, „wie und was gelernt wird und zu welchen Ergebnissen dieses Lernen führt (...) und im Sinne welcher Werte gelernt wird“ (ebd.: 49). Defizitäre Lernprozesse resultieren aus ungünstigen Lernkonstellationen, die Dispositionen zum Gewalthandeln anstatt aufzuarbeiten eher verstärken: Dazu zählen die Bedingungen „regressiven Lernens“ bzw. ein politisches Klima, das für eine „Unwilligkeit zu lernen“ steht. Indem die Möglichkeiten kulturellen Lernens unter den Bedingungen gesellschaftlicher Umbrüche und fehlender Zukunftshaltungen dermaßen in Frage gestellt werden, hat dies auch Konsequenzen für den Film und sein Wirken als Dokumentarfilm. Er kann nicht ohne weiteres als symbolische Darstellung verstanden werden, die unmittelbar Lernprozesse bewirken würde, sondern kann nur als Hinweis auf eine „Lernaufgabe“ thematisiert werden und hat damit ähnliche Möglichkeiten wie die Pädagogik (vgl. ebd.: 53f): gesellschaftliche Lernaufgaben wie auch Lernblockaden sichtbar und öffentlich zu machen, Zusammenhänge zwischen individuellen Lerngeschichten und gesellschaftlich-kollektiven Lernvorgängen aufzuzeigen, moralisierende und individualisierende Thematisierungsweisen als politisch ungenügend zu kritisieren. Auf die Thematisierung einer Möglichkeit anstatt einer Moral laufen die parallel vorhandenen Schichten der Rekonstruktion und der Dekonstruktion, d.h. der Anspielung auf einen objektiven Sinngehalt und dessen partielle Negation, die sich schließlich auch in Bezug auf die Frage nach dem konjunktiven Wissen zeigen, hinaus. Im Folgenden wird das mehrfach erkannte Prinzip des Films (Metakonstruktion) noch einmal abschließend beschrieben.
169
Ein weiteres Moment defizitären Lernens spiegelt sich schließlich auch in einem Tatbestand wieder, der nicht unmittelbar im Film thematisiert ist, jedoch teilweise in den Berichten über „Der Kick“ als wichtige Information behandelt wurde (vgl. z.B. Lüdeke 2007): Die Nachahmung der Tötungsart geht von einem Film aus („American History X“), der als antifaschistischer Beitrag verstanden werden soll, d.h. der durch seine Darstellung das Ausüben von Gewalt gerade verhindern will und im vorliegenden Fall die Gewalt gerade angeleitet hat.
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Filmanalyse III: „Der Kick“
7.6 Schlussüberlegungen zu einer stellvertretenden Krisenbewältigung Das Hauptereignis der Erzählung ist an sich unerklärlich. Ein Film, der ein solches Ereignis in den Mittelpunkt stellt, trifft deswegen auf besondere Erwartungen und wird als Chance auf einleuchtende Erklärungen verstanden. Das Ergebnis der 82minütigen Erkenntnissuche ist auf diese Erwartung bezogen keineswegs befriedigend, denn es entfaltet sich trotz einer juristisch eindeutig gelösten Schuldfrage in der Rezeption des Films ein Dilemma, nämlich nicht zu wissen, wo denn nun die Ursachen des Ganzen liegen. Weder konnten auf individueller Ebene die handlungsleitenden Gründe des Mordes geklärt, noch konnte durch einen erweiterten Rückgriff auf sozialgeschichtliche Veränderungsprozesse im Lebensraum der Betroffenen ein erklärender Bedingungszusammenhang eindeutig in den Mittelpunkt gestellt werden. Welche Einsichten kann der Film überhaupt vermitteln, wenn sein Ergebnis nicht ‚beherzt’ einem Entstehungszusammenhang nachgeht und stattdessen in Spielarten immer wieder an Grenzen des ‚Verstehbarmachens’ führt? Der Film verwehrt es, die Gewaltausschreitung in einen allgemeineren Kontext zu stellen. Das besondere Ereignis wird also nicht als typische Ausprägung eines allgemeineren Vorkommens erklärt. Deswegen haben auch erklärende Expertenstimmen im Film nur einen begrenzten Ort. Das zeigt sich in der Raumaufteilung in die drei beschriebenen Raumpositionen. Der „hintergründige“ Spielort wird ebenso wie der unmittelbar „vordergründige“ nur relativ gesetzt, d.h. nichtprivilegiert behandelt. Dennoch rekonstruiert die filmische Erzählung, „wie der Fall seine spezifische Wirklichkeit im Kontext allgemeiner Bedingungen konstruiert hat“ (Flick 2000: 179). Er nutzt dafür jedoch eine andere Erschließungspraxis als die der Zuordnung zu bereits bekannten Phänomenen. Sie kann in Anlehnung an das Modell der objektiven Hermeneutik zur Fallrekonstruktion verdeutlicht werden. Die Analogie drückt sich in mehreren Punkten aus: Protokolle – Die grundlegende Informationsquelle des Films stellen Protokolle dar. Anhand der ‚freigestellten’ Aussagen der Befragten geraten subjektive Sichtweisen zu einem zentralen Inhalt des Films. Ebenso werden darin die Grenzen einer subjektorientierten Perspektive deutlich, indem den Interviewten eine Reflexion über den subjektiven Standpunkt hinaus nicht möglich ist. „Protokolle“ werden auch in der objektiven Hermeneutik als „authentische“ „Ausdrucksgestalten“ einer Fallstruktur bzw. einer für den Fall zutreffenden objektiven Sinnstruktur behandelt (vgl. Oevermann 2000: 79). Sie bilden einen prägnanten Verlauf ab (vgl. ebd.: 77). Sequenzialität – Das sequenzanalytische Vorgehen der objektiven Hermeneutik verfolgt diesen „naturwüchsigen“ Verlauf als Kette von realisierten Anschlusshandlungen. Menschliche Handlungsweisen oder deren Reflexion werden
7.6 Schlussüberlegungen zu einer stellvertretenden Krisenbewältigung
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in ihrer Sequenzialität untersucht. Gefragt wird, wie, ausgehend von objektiv bestimmten Regeln („pragmatische Erfüllungsbedingungen“ bzw. „objektive Möglichkeiten“), eine „subjektiv disponierte Auswahl“ (ebd.: 68) getroffen wird, die sich als latente Sinnstruktur in der Folge von Aussagen oder Handlungen bestätigt. Den Interviewten ist diese Sinnstruktur, die einen eigenlogischen Zusammenhang bildet, nicht notwendigerweise bewusst (vgl. ebd.: 69). In den drei filmischen Einheiten wird jeweils ein anderer Schwerpunkt gesetzt, d.h. es wird in der Verkettung diverser Aussagen eine jeweils andere Fallstruktur bestimmbar: ‚Marinus’, ‚Marcel’, ‚Marco’. Die jeweiligen Thematisierungsstränge und ihre interne Verkettung sind jedoch keineswegs naturwüchsig, sondern Ergebnis des Montageprinzips. Die realisierten Anschlüsse eröffnen den ZuschauerInnen die Möglichkeit, eine solche latente Struktur, d.h. Bedeutungsstrukturen, die nicht unmittelbar und manifest im Bewusstsein der SprecherInnen gegeben sind, selbstständig zu erschließen. Dieses selbständige Erschließen wurde durch ein selektives Zitieren der Sprachdokumente vorbereitet. Erzeugungsformel – Ziel der objektiv hermeneutischen Interpretation ist die Strukturgeneralisierung, d.h. eine aus dem Protokollverlauf erschlossene Fallstruktur wird auf ihre „Erzeugungsformel“ bzw. „Fallstrukturgesetzlichkeit“ hin befragt: „Diese ist nichts anderes als die Explikation der Systematik und Regelmäßigkeit, mit der die immer wieder erkennbare konkrete Fallstruktur sich sequenziell reproduktiv entfaltet und von der die mögliche Transformation ihren Ausgang nimmt“ (ebd.: 119). Bezogen auf die Ergebnisse der verschiedenen sequenziellen Entwicklungen in „Der Kick“ liegt diese „Erzeugungsformel“ in strukturellen Konflikten, die die Möglichkeiten eines Sozialraums nachhaltig beeinträchtigen und zu einer ‚beschädigten’ Sozialintegration der vor Ort lebenden Menschen führen. Nun wurde allerdings in der Analyse des Films immer wieder festgestellt, dass eine sich allmählich abzeichnende Sinnstruktur partiell auch wieder dekonstruiert wird. Dieses Zusammentreffen der beiden Aussagetypen (Sinnstiftung und Negation) kann auf zwei Ebenen beobachtet werden: auf der Ebene des narrativen Stoffaufbaus (1.) und auf der Ebene des Verhältnisses von Figurenrede und bildlicher Inszenierung (2.). Irritationen werden geschaffen. (1.) Irritation durch die Inszenierung von „Situationspathologien“ Auf der Ebene des narrativen Stoffaufbaus werden in drei Passagen (Filmeinheiten) unterschiedliche Möglichkeiten, dem Verbrechen fragend d.h. erkenntnissuchend zu begegnen, durchgespielt und jeweils negiert (Moderation der Perspektiven?, Relativierung der Tat?, Bewältigung der Tat?). Die Negation entsteht da-
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Filmanalyse III: „Der Kick“
bei durch die Verkettung von Aussagen und ist daher als Montageprinzip realisiert: ein größerer, außerhalb der Subjekte und ihrer Handlungsfähigkeit liegender Zusammenhang wird entwickelt bzw. rekonstruiert und schließlich mit dem Erleben der einzelnen Figuren widersprüchlich konfrontiert; die ‚O-Töne’ verwehren sich einer direkten Einpassung in den sich eröffnenden Strukturzusammenhang. So fügen sich die im ersten Teil aufeinander bezogenen Redepassagen weder zu einem einheitlichen Erfahrungszusammenhang noch erweisen sie sich als integrierbar in ein multiperspektivisch entstehendes Modell rationaler Gerechtigkeit. Im zweiten Teil wird der sukzessive Aufbau von Verständnis für die Lebensumstände des Haupttäters abrupt mit der ganz konkreten Schilderung der Tötung des Opfers konfrontiert und damit der Möglichkeit Einhalt geboten, mit der Person des Täters auch die Tat zu relativieren. Schließlich setzt der dritte Teil eine weitere Pointe: Gewalthandeln wird anhand zahlreicher, freigestellter Extremaussagen über Gewalt als sozialhistorische Erscheinung, die unter spezifizierbaren Bedingungen zustande kommt, expliziert. Nicht das Verbrechen wird jedoch ins Licht eines solchen gewaltbejahenden Lebensstils gestellt, sondern die Zukunftsaussichten der involvierten Personen. In diese Reihe widersprüchlicher Einheiten integriert sich schließlich auch die fortlaufende Gegenüberstellung von Gerichtsbarkeit als einem Strang der Erzählung, der die ritualisierte gesellschaftliche Bewältigungsaufgabe thematisiert, und dem auf Subjektebene fehlenden Unrechtsbewusstsein als einem weiteren Strang der Figurenrede, der Bewältigungsunfähigkeit demonstriert. So wird einerseits – als übereinstimmendes Ergebnis der Untersuchungsfluchtpunkte ‚Raum’, ‚Zeit’ und ‚ProtagonistIn’ – die abnehmende Handlungsfähigkeit der Täter und ihrer Bezugspersonen erklärt und andererseits die Tat als aktives Handlungsschema und Perversion sinngeleiteten Handelns präsentiert. In der Logik der objektiven Hermeneutik handelt es sich dann um „Situationspathologien“. Das heißt, die durch allgemeingültige Regel bestimmten, objektiven Möglichkeiten können nicht mehr mit dem tatsächlichen Verlauf des Handelns oder des Argumentierens in Übereinstimmung gebracht werden. Die Interpretation der „latenten Sinnstruktur“ (hier: das Überhandnehmen sozialräumlich determinierender Faktoren) ist dann nicht falsch, sondern befindet sich im Konflikt mit der „inneren Realität“ der Interviewten, d.h. mit nichtgesellschaftlich determinierten Erzeugungsregeln (vgl. ebd.: 70). Mittels der Irritation durch solche Situationspathologien im filmischen Verlauf wird das Verbrechen mit einer ‚Restkategorie innerer Wirklichkeit’ in Verbindung gebracht, anstatt es vollständig in gesellschaftlichen Verhältnissen aufzuklären.
7.6 Schlussüberlegungen zu einer stellvertretenden Krisenbewältigung
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(2.) Irritation einer „natürlichen Ausdrucksgestalt“ Die objektive Hermeneutik geht davon, dass „latente Sinnstrukturen“ immer in „authentischen“ „Ausdrucksgestalten“ enthalten sind. „Der Kick“ löst diese „authentische Ausdrucksgestalt“ in zwei Schichten auf, die sich ambivalent zueinander verhalten. Dieses Verhältnis entsteht zwischen Figurenrede und bildlicher Inszenierung: Reden vs. Schweigen; die Unfähigkeit, den eigenen Standpunkt zu überschreiten vs. das permanente Flottieren von Rollenidentitäten; sozialräumliche Gestaltung vs. grafische Ordnung; personenbeschreibende Merkmale vs. symbolische Haltungen; Verständnis erzeugen vs. Ungereimtheiten verursachen etc. Die Art und Weise, wie sich Bild und Sprechtext der Figuren zueinander verhalten, wurde bereits an früherer Stelle als Negationstechnik (vgl. Kap. 7.2.4) zusammengefasst und in den Kapiteln zu Raum und ProtagonistInnen als zwei sich überlagernde Konstruktionsschichten interpretiert. Bei dieser zweiten, bildlichen Konstruktionsschicht handelt es sich um eine symbolische Ebene, die die sprachliche Ebene kommentiert. Es wird der einen, scheinbar „naturwüchsigen“ Ausdrucksgestalt eine zweite, offensichtlich künstliche hinzugefügt. Im Verhältnis der beiden zueinander ergeben sich neue Bedeutungen. In Anlehnung an den Begriff der „Pseudokonkretheit“ von Kosik (1986: 9) ist durch diese Darstellungsweise die Beziehung zwischen Wesen und Erscheinung gestört. Im Film wird an Stelle einer konkreten, eine abweichende und zugleich leichter durchschaubare, teilweise widersprüchliche Erscheinungsform gewählt. Deutlich wird durch diese Alternative, dass es Ordnungsverhältnisse und Strukturen sind, denen sich die Figuren hingeben. Keine „stellvertretende Krisenbewältigung“ – zur Aufgabe des Films Der Begriff der Krise wird in der objektiven Hermeneutik auf Entscheidungen bezogen, die im Realisieren von Anschlusshandlungen begründet sind. Aus Sicht der Forschung bedeutet jede Entscheidung eine Auswahl aus zig möglichen Optionen zu treffen, wodurch alternative Möglichkeiten unwiederbringlich ausscheiden (vgl. Oevermann 2000: 133). Aus Sicht der praktisch Handelnden stellt das Realisieren von Anschlusshandlungen überwiegend jedoch keine krisenhafte Situation dar, sondern ist Ausdruck von Routine. Sie treffen Entscheidungen also überwiegend aus der Routine heraus, die sich bewährt hat: „Die Routine geht aus der Krisenlösung hervor, sofern diese sich bewährt hat“ (ebd.: 134). Forschung und professionalisierte Handlungspraxis (z.B. in sozialpädagogischen Situationen) können allerdings nur deshalb „stellvertretende Krisenbewältigung“ leisten, weil sie sich von einer solchen pragmatischen Perspektivübernahme distanzieren.
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Filmanalyse III: „Der Kick“
Dann, wenn „der Klient eine Lebenskrise als von ihm selbst nicht lösbar empfindet (Leidensdruck)“ sorgt professionalisierte Krisenbewältigung dafür, dass „routinehafte Handlungsmuster des Klienten problematisiert und aufgebrochen werden auf der Folie eines Krisenkonzepts, das über die subjektive Krisenempfindung des Klienten hinausgeht“ (ebd.: 135). Gerade ein solch lösungsorientiertes Krisenkonzept entwickelt der Film nicht. Demgegenüber könnte man seine Aufgabe folgendermaßen formulieren: Er stellt eine Instanz dar, die sich stellvertretend und öffentlich mit dem Verbrechen auseinandersetzt, die Grenzen seiner sprachlichen Rekonstruktion vor Augen führt, dabei partiell Verständnis für die Personen ermöglicht, ihr Denken und Handeln aber zugleich ablehnt. Der Film demonstriert den Umgang mit Ambivalenz, die in geordneten Bahnen auf einer Bühne inszeniert wird. Er legt Sequenzstrecken an, aus denen sich einzelne Erklärungen, jedoch kein Gesamtbild ergeben, denn nicht immer decken sich objektive Sinnstrukturen mit subjektiv motiviertem Handeln. In diesem Sinn löst der Film das behandelte Dilemma nicht, sondern reproduziert es auf einer anderen Zugangsebene. Nach Auffassung der objektiven Hermeneutik sei ein solches fallbeschreibendes Vorgehen im streng wissenschaftlichen Sinn „belanglos“, da methodologisch und theoretisch „unaufschlussreich“ (vgl. Oevermann 2000: 62). Die Darstellung von Ambivalenzen folgt jedoch gegenüber der Zuspitzung auf ein Erklärungsmodell, das die Tat relativieren, einen bestimmten Ursachenzusammenhang induzieren oder verdeckte Strukturen explizieren könnte, einem alternativen Ziel. Die vorbereitete Entdeckung einer Sinnstruktur wie auch darauf bezogene Ambivalenzen stellen Herausforderungen für die ZuschauerInnen dar, die auf diese Weise in den Interpretationsprozess einbezogen sind. Nicht der Filmemacher sondern sie schließen aus der spezifischen Verkettung von Einzelaussagen auf latente Sinnstrukturen. Die Darstellungsweise gibt Aufgaben auf. „Der Kick“ ist Mitmachtheater, das einen an der Hand nimmt und in die Krise führt.
8 Resümee
Das Ziel der Untersuchung besteht darin, strukturelle Merkmale dokumentarischer Darstellungsweisen zu rekonstruieren, die sich auf die Vermittlung von Jugendhilfethemen beziehen. Drei gezielt ausgewählte Filme wurden daraufhin untersucht, wie die Konstruktionen von Raum, Zeit und ProtagonistIn im Film die Darstellung einer Thematik jeweils unterstützen. Diese drei zentralen analytischen Untersuchungskategorien wurden zuvor als Konzeptbegriffe in der Schnittmenge von filmischer und sozialpädagogischer Gestaltungslogik entwickelt. Mit den Ergebnissen sollen schließlich Voraussetzungen für die Einschätzung und Beurteilung von Konstruktionsprozessen in dokumentarischen Filmen, ausgehend von sozialpädagogischen Relevanzen, geschaffen werden. In diesem abschließenden Teil der Untersuchung werden die zentralen Ergebnisse der Filmanalysen zusammengetragen und auf strukturelle Merkmale hin befragt. Zwei Stichworte sind Aufhänger der Ergebnisbilanz: Aufgegriffen wird die eingangs gestellte Frage nach den Darstellungsspielräumen dokumentarischer Filme wie auch die Frage nach einem sinnvollen Ergänzungsverhältnis zwischen dokumentarischen Darstellungsweisen und sozialpädagogischer Fachlichkeit. Ausgangspunkt ist jeweils der Vergleich der Filme untereinander, der in einer Differenzperspektive und mit Bezug auf das Lebensbewältigungskonzept Darstellungsspielräume erkennbar macht (Kap. 8.1). Ausgehend von gleichartigen Konstruktionsweisen, die sich in allen Filmen nachweisen lassen, wird dann auf verallgemeinerbare Strukturmerkmale der Darstellung geschlossen, die Homologien zum Prozess des sozialpädagogischen Fallverstehens aufweisen (Kap. 8.2). Auf der Grundlage dieser konkreten Befunde werden in einer abschließenden Gegenüberstellung von dokumentarischen Darstellungsweisen und sozialpädagogischer Fachlichkeit im Fallbezug Ebenen eines Ergänzungsverhältnisses erörtert (Kap. 8.3). Daran schließen sich Thesen zu den Konsequenzen für eine sozialpädagogische Theorie des dokumentarischen Films an (Kap. 8.4). 8.1 Kontingenz in der Darstellung von Lebensbewältigung Die drei filmischen Metakonstruktionen werden zunächst zusammengefasst und auf zentrale Aspekte verdichtet. Mit Bezug auf das Konzept der Lebensbewälti-
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Resümee
gung (vgl. Kap. 3.1.1) wird verdeutlicht, welche Schwerpunkte die Darstellungsstrategien der drei Filme jeweils setzen. Ausgehend von dieser Differenzierung werden die realisierten Darstellungsspielräume als drei Strukturtypen der filmsprachlich-narrativen Vermittlung konzeptualisiert. „Ich war das perfekte Kind“ Eine sehr ausführlich dargestellte Figurenopposition am Anfang der Dokumentation zeigt Eltern, die das ‚Projekt’ ihrer Tochter Silvia in keiner Weise verstehen und als schmerzlichen Verlust erfahren. Kühl lässt Silvia das Elternhaus in seiner kleinbürgerlichen Enge hinter sich. Auf der Suche nach selbstbestimmten Lebensverhältnissen steht die junge Frau dann mehrfach vor der Herausforderung, Handlungsautonomie und soziale Integration subjektiv sinnvoll zu vereinbaren. Die Besonderheiten dieses allgemeinen, in der Adoleszenz besonders wichtigen Strukturkonflikts (zwischen Abgrenzung, Besonderung und sozialer Anerkennung) bestehen darin, dass Silvia bereits „mit 15 Jahren zum ersten Mal von zuhause abgehauen“ ist und kollektive Lebensformen, verbunden mit Armut und Unbeständigkeit, verteilt auf sämtliche Städte Deutschlands, erprobt hat, um ihrem Ziel von Freiheit näher zu kommen. Sie wählt also extreme Handlungsformen, die gesellschaftlich abweichend sein sollen. Der Film hält dafür ein Darstellungskonzept bereit, das soziale Aspekte des Zusammenlebens weitgehend ausklammert. Es konzentriert sich auf die innere Entwicklung der Protagonistin, die basierend auf ihren eigenen Gedanken und Entscheidungen ihr Leben auf der Straße in eine offene Zukunft hinein steuert. Durch den Film entwickelt sich eine Verstärkung des expressiven Charakters ihres Lebensstils, wie sie Orte aneignet, Gedanken im Tagebuch objektiviert und damit zugleich zu der Person, die sie zu sein glaubt, auf Distanz geht. Die filmische Konstruktion lässt einen progressiven Bilder- und Narrationsfluss zwischen Bildung und Lebensbewältigung entstehen, in dem mehrfach deutlich wird, wie die Protagonistin zeitweilige Gewissheiten überschreitet. Dementsprechend entwickelt sich auch das filmsprachlich-narrative Konzept mit dem Inhalt weiter, d.h. es verändert sich im Verlauf des Films und gleicht sich als offensichtliche Konstruktion den facettenreichen Selbstentwürfen der Protagonistin an. „Schule des Lebens“ „Schule des Lebens“ ist ein Episodenfilm, der in dieser Erzählform verschiedene Interaktionsmilieus und jugendliche ProtagonistInnen in ein Verhältnis zueinan-
8.1 Kontingenz in der Darstellung von Lebensbewältigung
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der setzt. Auf einen übergeordneten Erzählstandpunkt wird verzichtet, so dass die überwiegend dialogischen Szenen zu einer starken situativen Involviertheit der ZuschauerInnen führen. Die Kameraführung unterstützt dies, indem sie sich auf soziale Interaktionsprozesse konzentriert und diese mimetisch nachvollzieht. Randständig sind hingegen expressive, symbolkräftige Bilder. Eine registrierende Kameraführung korrespondiert mit der Aufforderung zur Beobachtung und zum Vergleich der drei jugendlichen ProtagonistInnen. Allgemein beschreibbare Problembezüge, die aus Lebenslagen wie z.B. ‚Sonderschüler-Sein’ hervorgehen, entwickeln sich unmittelbar zu konkreten Handlungskonflikten, die einen Teil der Szenen bestimmen. Dann, wenn pädagogische Fachkräfte als InteraktionspartnerInnen Teil dieser Szenen sind, wird den Problematiken auf den Grund gegangen, sonst nicht. Sie sind daher ‚Reflektorfiguren’ im Film und leisten zugleich Hilfe zur Lebensbewältigung im Leben der drei ProtagonistInnen. Die Problemstellungen überschatten den dargestellten Alltag der ProtagonistInnen jedoch nicht gänzlich; sie werden vielmehr durch den ständigen Wechsel der Milieus immer wieder relativiert. Grundlage dafür ist ein gleichbleibendes filmsprachliches Konzept. Die Darstellungsweise beinhaltet eine realistisch progressive Entwicklungsperspektive auf die Jugendlichen, deren Schwerpunkt auf der Beobachtung der Gegenwart liegt. „Der Kick“ Der Film hebt sich von dem Zentralereignis, über das er berichtet, ab. Der Mord an einem Gleichaltrigen, den drei junge Männer aus der rechten Szene zu verantworten haben, bildet als Tathergang nur einen dünnen Strang innerhalb der filmischen Entwicklung, auf den allerdings immer wieder zurückgekommen wird. Gegenüber diesem aktiven und pervertierten Handlungsschema gewinnen die strukturellen Faktoren im Zusammenleben der Menschen am Tatort zunehmend an Gewicht. Das besonders Perverse an dem Ereignis in Potzlow wird jedoch nicht auf allgemeine Erfahrungen zurückgeführt. Stattdessen führt die rekonstruktive Erschließungsstruktur in eine Krise, die die Zukunftsfähigkeit aller Betroffenen generell anzweifelt. Die Darstellungsstrategie, die diese Interpretation unterstützt, nutzt vornehmlich zwei Techniken: Sie reduziert, d.h. schränkt das dokumentarische Material auf Sprechtexte ein, verzichtet in ihrer Rezitation auf personenbezogene Merkmale, konzentriert die Aufmerksamkeit der ZuschauerInnen zudem durch ein lediglich grafisch geordnetes Bild und eine gezielte Lichtführung; sie dekonstruiert, d.h. sorgt für zwei simultane Konstruktionsschichten, die sich disharmonisch zueinander verhalten, baut also Irritationen in eine unmittelbar situative Entwicklung der Verhörszenen ein, produziert ge-
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Resümee
genläufige Aussagen zwischen Sprechhandlungen und Bild, demonstriert die Auflösung von Rollenidentitäten etc. Indirekt thematisiert „Der Kick“ durch den immer wieder begrenzten Versuch der Rekonstruktion auch seine eigenen Möglichkeiten als Film. An Stelle einer „stellvertretenden Krisenbewältigung“ mutet er die bestehende Krise den ZuschauerInnen zu. 8.1.1 Drei Ebenen von Lebensbewältigung Interessant ist – darauf sind die Zusammenfassungen zugespitzt –, dass die drei Filme in ihrem Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem jeweils einen anderen Schwerpunkt setzen, der mit dem Bewältigungskonzept genauer bestimmt werden kann. Im Folgenden wird dies zunächst begrifflich-theoretisch und dann übertragen auf die Darstellungskonzepte gezeigt. Lebensbewältigung lässt sich analytisch auf drei Ebenen beziehen: auf eine Ebene der Symptomatik, auf eine psychodynamische Ebene des Individuums und auf eine soziodynamische Ebene der Lebenswelt. „Das Problem der Handlungsfähigkeit“ steht dabei im Mittelpunkt (Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 98) und verweist die struktur- und handlungstheoretische Ebene aufeinander. Auf der Ebene der Symptomatik wird alltägliches Bewältigungshandeln empirisch beobachtbar. Es ist Ausdruck von Handlungsfähigkeit und von Verhaltensweisen. Zugleich drückt sich auf dieser Ebene die Erfahrbarkeit von Sozialintegration in einem jeweiligen Set an Sozialbezügen aus. Bewältigungshandeln und Sozialbezüge sind nicht zwangsläufig gleich zu setzen mit sozial verträglichem Handeln und normalisierten Sozialformen, sondern können ihre Bedeutung auch in abweichenden Formen erlangen (vgl. ebd.: 126 sowie Böhnisch 2001b: 34f). Auf der innerpsychischen Ebene bedingt das Bedürfnis nach Selbstwert, sozialer Anerkennung und Selbstwirksamkeit im Rahmen eines psychosozialen Gleichgewichts das Streben nach Handlungsfähigkeit. Diese „emotionale Antriebsdynamik“, (vgl. Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 126) erklärt die innere Voraussetzung für das Zustandekommen von Bewältigungsstrategien (Streben nach Handlungsfähigkeit), die sich jedoch nicht alleine aus dem Anforderungscharakter der aktuellen Situation ergeben, sondern auch biographisch (d.h. durch bereits gemachte Bewältigungserfahrungen) strukturiert sind. Auf der Strukturebene werden der gesellschaftliche Kontext, d.h. die dem Subjekt äußerlichen, gesellschaftlichen Prozesse und Strukturen, in ihrem Einfluss auf subjektive Handlungsfähigkeit (Vergesellschaftung und Individualisierung) in Rechnung gestellt. Böhnisch geht dabei von einer latenten Krisenhaftigkeit bzw. von einem durch die jeweiligen Lebenslagen (d.h. auch sozialpolitisch)
8.1 Kontingenz in der Darstellung von Lebensbewältigung
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regulierten Zustandekommen von individuellen Handlungsproblemen bzw. -konflikten aus (vgl. Böhnisch 2001a: 1119f). „Im Bewältigungskonzept ist somit ein Akteurmodell enthalten, das von einer gesellschaftlichen Verfasstheit von Handlungsspielräumen zur Lebensbewältigung ausgeht“ (Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 126). Der Verlust von Handlungsfähigkeit wie auch die Gefahren der sozialen Desintegration werden „durch die sozial kontingente Struktur der Risikogesellschaft verstärkt“ (Böhnisch 2001b: 33).170 Auf allen drei Ebenen ist ein Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem angelegt: auf der Ebene des manifesten Verhaltens als Situationsdeutung subjektiven Handelns vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Erwartungen, die sich in der Interaktion von AdressatInnen und Fachkräften realisiert; auf der psychodynamischen Ebene im Zusammenspiel zwischen besonderem Bewältigungshandeln und einem situationsübergreifenden, permanenten Streben nach Handlungsfähigkeit, auf der soziodynamischen Ebene als konkreter Grad der Sozialintegration, die ein Subjekt bedingt durch seine Ressourcenlagen und angesichts einer strukturellen Krise der Sozialintegration erreicht hat. Darstellungsoptionen von Lebensbewältigung Der erste Film „Ich war das perfekte Kind“ setzt einen Schwerpunkt auf der psychodynamischen Ebene, indem er das Spannungsverhältnis zwischen Lebensbewältigung und Bildung, d.h. zwischen subjektiven Befindlichkeiten und dem Bedürfnis nach Veränderung und Erweiterung des Selbst an einem außergewöhnlichen Verlauf einer Jugendbiographie thematisiert. Silvias Streben nach Handlungsfähigkeit wird in der Offenheit der Möglichkeiten mehrfach umorganisiert, neu ausgerichtet und bilanziert. Das filmische Interesse fällt nicht darauf, wie die Protagonistin in den selbstgewählten Lebensumständen tatsächlich zurechtkommt, sondern wie sie glaubt, ihren eigenen Bedürfnissen mit ihrem ‚biographischen Risikounternehmen’ gerecht zu werden. Diesen Zuschnitt auf die Befindlichkeiten des Selbst wie auch auf die „innere Antriebsdynamik“, die die Protagonistin voranbringt, filmisch darzustellen, erfordert eine eigenständige Ausdrucksstruktur. Die Dokumentation greift dabei die expressiven Selbstthematisierungen und reflexiv verarbeiteten Erfahrungen der Protagonistin auf und 170
Mit dem Begriff der Anomie erklärt Böhnisch die Auswirkung dieser kontingenten Strukturen auf das Verhalten der Menschen: Obwohl sie über Schlüsselaspekte der Vergesellschaftung wie z.B. Schule, Erwerbsarbeit oder Konsum in das gesellschaftliche System integriert sind, ist darin keine soziale Integration im Sinne von kollektiven Übereinkommen, Wertebindungen und Gemeinschaftsformen enthalten (vgl. Böhnisch 1994: 65), die die Qualität von sozialem Rückhalt, Orientierung, Selbtwertschöpfung und Normalisierung besitzen würde (vgl. Böhnisch 2001: 46).
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verstärkt sie zu einer mehrschichtigen ProtagonistInnenerzählung (Vater, Tochter, Alter Ego). Das hohe Maß an Reversibilität in den Selbstthematisierungen findet sich v.a. in einer symbolischen, teilweise überhöhten, teilweise auf den extremen Nahbereich eingestellten, aber auch – auf die Welt der Eltern bezogenen – nüchternen Bildsprache wieder. Der zweite Film „Schule des Lebens“ hat seinen Schwerpunkt in der Interaktion, d.h. auf der Ebene der Symptomatik. Die Kameraführung reproduziert die Interaktionsmuster und ist Indikator für die Situationsdynamik. Die Verhaltensweisen der jugendlichen ProtagonistInnen werden zu einem Beobachtungsthema. Normale Tage, die mit dem Weg zur Schule beginnen und sich in ihrem Anforderungscharakter verändern, sind in einer Wiederholungsstruktur Aufhänger des filmischen Interesses. Dabei orientiert sich die Perspektive der Beobachtung zunehmend an den sozialpädagogischen Fachkräften, die nachvollziehbar auf die Jugendlichen reagieren. Im Situationsbezug entwickelt sich zweierlei: erstens der Versuch, die subjektiven Sichtweisen der Jugendlichen zu verstehen, zweitens ihrem Handeln sozialen Rückhalt zu geben, also Hilfe zur Lebensbewältigung zu leisten. Mit dem Milieuwechsel entsteht ein Kontrastbogen zwischen sozial kompetenten Interaktionen und solchen, die durch dissoziales Verhalten geprägt sind und im Einzelfall zur sozialen Ausgrenzung tendieren. Auf diese Weise werden Zustände lebensweltlicher Integriertheit, die einmal mehr auf Anerkennung (innerhalb des pädagogischen Milieus) und zum anderen mehr auf Konventionen (innerhalb der Familie) beruhen, gegeneinander gestellt. Die Situationen, die zu beobachten sind, steigern sich im Verlauf des Films in der Schwierigkeit, das Verhalten als Bewältigungshandeln einzuschätzen. Der dritte Film „Der Kick“ dokumentiert hauptsächlich die soziodynamische Ebene. Anomische Strukturen werden in abstrakten Bühnenhandlungen, die den Subjektstandpunkt im dokumentierten Interviewmaterial überschatten, zum Ausdruck gebracht. Es sind verschiedene Auflösungserscheinungen, die in der Inszenierung eine Rolle spielen. Zunächst ist es die Auflösung der Rollenidentitäten, die die beiden Schauspieler dezidiert zur Schau stellen. Dann sind es die Figurationen, die sich zwischen beiden bilden und die Ausdruck von Beziehungslosigkeit und fehlendem sozialen Zusammenhalt sind. Zudem ist es der Raum, der sich statt der Figuren bewegt, mit der Folge, dass sich ihr (Handlungs)Spielraum weiter einschränkt. Vor diesem szenischen Hintergrund verketten sich Interviewaussagen zu Verlaufskurven bzw. zu Prozessen, die nicht mehr steuerbar erscheinen. Mit Bezug auf die filmische Zeit kann festgestellt werden, dass Zukunftsperspektiven schwinden. Eine progressive Thematisierung von Zeit läuft auf die Haftstrafen hinaus, eine retrospektive und zugleich regressive Betrachtung betont die nunmehr verstellten Möglichkeiten einer früher noch aussichtsreich geglaubten Zukunft. Der Film stellt insgesamt die Abstraktion einer
8.1 Kontingenz in der Darstellung von Lebensbewältigung
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anhaltenden Krise dar und bettet darin den Mord als „Situationspathologie“ ein, d.h. ohne ihn in einem logischen Zusammenhang aufzuklären. Trotz des hohen analytischen Gehalts entzieht sich der Film einer stellvertretenden Krisenbewältigung. Diese Unterscheidungen – auch wenn sie zunächst nur auf die Darstellung von Lebensbewältigung bezogen sind – stellen für die Untersuchung insgesamt ein wichtiges Ergebnis dar. Insbesondere auf die Frage nach Darstellungsspielräumen ergeben sich daraus Antworten: Erstens: die Darstellungsweisen dokumentarischer Filme sind keineswegs auf inhaltlich oberflächliche Spannungsverhältnisse begrenzt. Ein Problembezug kann vielmehr sowohl in der Subjektperspektive, in der Perspektive der Interaktion wie auch fokussiert auf seine strukturellen Hintergründe vermittelt werden. Zweitens: Gerade im Vergleich des ersten und des zweiten Films wird der Spielraum deutlich, den FilmemacherInnen haben. „Ich war das perfekte Kind“ als Geschichte einer Ausreißerin und Wohnungslosen könnte ebenso gut als Film konzipiert sein, der die Begegnung mit dem ‚rauen’ Lebensstil unmittelbar fokussiert und die Protagonistin in ihrem besonderen Alltag begleitet. Um für diese alternative Schwerpunktsetzung eine Vorstellung zu bekommen, kann an die ganz am Anfang dieser Untersuchung angeführte Reportageserie „Die Ausreißer“ erinnert werden. Auch im Fall von „Der Kick“ hat sich mit dem kurzen Exkurs zu Milosovics Film „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ bereits eine Alternative angedeutet (vgl. Kap. 7.3). Hier reist die Filmemacherin tatsächlich nach Potzlow, begegnet den Betroffenen und nimmt partiell am Jugendalltag teil. Drittens: Interessant ist, dass die gewählten Schwerpunktsetzungen sich auch im Umgang mit den Dokumenten, die ein Film benutzt, ausdrücken: So fließen in den ersten Film manifeste Dokumente wie abgefilmte Kinderbilder und Tagebucheintragungen ein. Sie werden allerdings den ProtagonistInnen zugeordnet, für die sie subjektiv den Stellenwert eines Dokuments besitzen. Im zweiten Film handelt es sich um situationsbezogen emergierende Dokumente wie mündliche Kontrakte und konsensfähige Absprachen, die als Ergebnis der Interaktionen – teilweise rituell per Handschlag – festgehalten werden. Im dritten Film bilden sämtliche Sprechhandlungen die Dokumente des Films. Sie verweisen auf die im Film abwesenden und zugleich involvierten Personen. Bedeutung als Dokumente haben sie nur aufgrund der reduzierten und fiktionalisierten Darstellung. Das heißt, auch auf der Ebene des Dokumentenmaterials findet eine reflexive Einpassung ins Darstellungskonzept statt. Darstellungsspielräume tangieren also auch den Kern dessen, was als Dokument angesehen wird.
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Resümee
8.1.2 Strukturtypen der filmsprachlich-narrativen Vermittlung Abstrahiert man diese Darstellungsfoki weiter und lässt dabei den Inhalt der Filme ebenso wie den Bezug zum Lebensbewältigungskonzept unberücksichtigt, dann kristallisieren sich drei unterschiedliche Strukturtypen der filmsprachlichnarrativen Vermittlung heraus. Sie werden im Folgenden beschrieben. Typus der expressiven Subjektivität Zentral für diesen Typus der Vermittlung sind Darstellungsweisen, die die Ausdrucksstruktur eines Themas verstärken. Damit ist mehr als die Abbildung (Deskription) eines Inhalts gemeint. Es geht vielmehr um dessen Versinnbildlichungen (Symbolisierungen), die sich im Spielraum eines jeweiligen kulturellen Kontextes entwickeln. Ist die Thematisierung eines Inhalts an Personen gebunden, sind ihre Symbolisierungshandlungen ein filmischer Anknüpfungspunkt. Der Zugang zum Thema wird dann über die Subjektivität von ProtagonistInnen hergestellt. Ähnlich wie beim psychologischen Begriff der „Individuation“ wird die Herausbildung einer individuellen Besonderheit (vgl. Keupp 2001: 804) filmsprachlich und narrativ fokussiert und als Prozess nachgebildet. In dieser Transformation einer ursprünglichen in eine filmisch rezipierbare Ausdrucksstruktur ist eine Verlaufsperspektive enthalten. Demzufolge unterscheiden sich der filmisch etablierte Anfangs- und Endzustand. Dadurch entsteht bei den ZuschauerInnen die Wirkung eines Prozessverlaufs oder einer persönlichen Entwicklung. In „Ich war das perfekte Kind“ ist es eine Reise, die als Prozess der Selbstveränderung genutzt wurde. Theoretisch sind alle Arten von Übergangskonstellationen in der biographischen Entwicklung denkbar, die mit diesem Darstellungskonzept realisiert werden können. Typus der Begegnung Dieser Typus der filmsprachlich-narrativen Vermittlung kann als ‚aufsuchende’ Filmarbeit charakterisiert werden und ist mit dem filmischen Ziel verbunden, Lebenswelten zu explorieren. Im Mittelpunkt stehen das Inszenieren einer Begegnung und das Bekanntwerden mit anderen Menschen und deren Lebensformen. Die Begegnung kann sich zwischen Filmteam und ProtagonistInnen oder zwischen anderen Personengruppen ereignen. Im Untersuchungsfilm „Schule des Lebens“ ist es das wiederkehrende Zusammentreffen von pädagogischen Fachkräften und jugendlichen ProtagonistInnen. In diesen Begegnungssituationen
8.1 Kontingenz in der Darstellung von Lebensbewältigung
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trägt die Strukturiertheit des entstehenden Informationsflusses zur Erfahrungsbildung bei. Denkbar ist auch eine Begegnung zwischen unterschiedlichen ProtagonistInnen, die entweder fiktiv, d.h. via Montage, oder durch den Film veranlasst, zustande kommt. Die Aufgabe des Filmteams besteht dann, wie auch in „Schule des Lebens“, darin, das Projekt zu begleiten. In all diesen Konstellationen ist die ‚Dramaturgie des Augenblicks’ bzw. der Verlauf einer interaktiven Sequenz ausschlaggebend für den Informationsgewinn. Dieser besteht im Wesentlichen aus sozialen Erfahrungen, die sich aus der Strukturiertheit des Situationsverlaufs ergeben. In der Filmarbeit ist daher ein hohes Maß an situativer Offenheit gefordert. Die dokumentarische Vermittlung konzentriert sich auf diese Art der Erfahrungsbildung. Typus der Abstraktion Auch für diesen Typus der Vermittlung ist eine spezifische Ausdrucksstruktur zentral. Sie orientiert sich allerdings nicht wie der Typus der expressiven Subjektivität an einer originären Ausdrucksstruktur der ProtagonistInnen, sondern an deren Selbstbegrenzungen. Etwas sichtbar zu machen, was sich im Handeln von Menschen nicht ausdrückt, erfordert eine Erschließungsstruktur, die sich über den subjektiven Standpunkt hinwegsetzt. Erst dadurch kann das Verhältnis von Handeln und Bedingungen des Handelns thematisiert werden. Filmsprachlichnarrativ sind dafür zwei Konstruktionsschichten zu schaffen, über die sich Begrenztheiten und Unzulänglichkeiten herausschälen lassen und auf deren Grundaussage eventuell auch eine kritische Kommentierung bezogen sein kann. Der Strukturtyp setzt an der Krise an, d.h. an solchen Situationen, in denen Routine verhaftetes Handeln nicht greift. Während die Routine „gleichbedeutend mit der Schließung einer Krisensituation ist“ bedeutet die Krise „die Öffnung, das Aufbrechen einer Routine“ (Oevermann 2000: 134). Dieses Darstellungskonzept lässt sich von „Der Kick“ ableiten, einem Dokumentarfilm im Grenzbereich zum Theater und zum Spielfilm. Es ist zu vermuten, dass „Der Kick“ in seiner Konstruktionsweise eine Ausnahme bildet und dass andere dokumentarische Filme, die einen Schwerpunkt auf die Rekonstruktion sozialstruktureller Lebensbedingungen legen, das erkannte Prinzip der zwei Konstruktionsschichten überwiegend anders erfüllen, nämlich in der Kombination von O-Ton und Kommentartext. Inwieweit diese Strukturtypen der Vermittlung verallgemeinerbar sind, müsste unter Berücksichtigung weiterer Filme und über weitere Filmanalysen untersucht werden. Dabei ließen sich vermutlich weitere Konstellationen und Typen differenzieren. In einem größeren Sample könnte nicht nur überprüft wer-
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Resümee
den, inwieweit sich die drei extrahierten Strukturtypen bestätigen, sondern auch inwieweit sie mit den in Kapitel 4.1.3 inhaltsanalytisch entwickelten Kategorien x ‚Coming of age – typische Entwicklungsaufgaben im Jugendalter’, x ‚Gesellschaftliche Bewältigung und Bearbeitung von Abweichung im Jugendalter’, x ‚Besondere Lebensformen und Lebenslagen von Jugendlichen und ihren Familien’, in Verbindung zu bringen sind. Fallen die unterschiedenen Strukturtypen auf jeweils eine inhaltliche Kategorie? Die Differenzanalyse der Filme soll an dieser Stelle abgeschlossen und eine neue Perspektive eingenommen werden. Im Folgenden fällt der resümierende Blick auf solche Darstellungsaspekte, die sich in allen drei untersuchten Filmen als prinzipiell gleichartig wiederfinden. Auch diese werden wiederum mit Bezug auf sozialpädagogische Theorie konzeptualisiert. 8.2 Darstellungsweisen der Dissonanz und sozialpädagogisches Fallverstehen Die zweite Ergebnisbilanz geht zunächst von drei Beobachtungen aus: Erste Beobachtung: In allen drei Filmen lernen die ZuschauerInnen jugendliche ProtagonistInnen kennen und nehmen Einblick in ihr Leben. „Schule des Lebens“ zeigt u.a. authentische Momentaufnahmen von Sarah, die z.B. im Unterricht schläft oder von ihrem Bruder Sven, der einen Schülerdienst ausführt. Authentisch wirken vor allem die Szenen, in denen Konflikte eskalieren. Diese sind nicht gestellt, sondern folgen offensichtlich einem alltagstypischen Skript. Gerade durch die Wiederholung räumlicher Kontexte (z.B. immer wieder Schule) werden Interaktionsformen typisiert. In „Der Kick“ wird nicht ausschließlich über die Täter berichtet, sondern zwei der Täter kommen selbst zu Wort. Ihre Aufgeschossenheit gegenüber dem Filmemacher trägt dazu bei, Verständnis für sie zu entwickeln und sie in Folge der Tat als nunmehr belastete Personen wahrzunehmen. Der Filmtitel „Ich war das perfekte Kind“ bildet sich in einer Reihe von Kinderaufnahmen von der Protagonistin ab. Im Kontrast dazu sehen wir Bilder der Straßenkindheit, die am Rand der Gesellschaft stattfindet und auf soziale Unterstützung angewiesen ist. So unbeschwert war es also einmal und in so ein beschwertes Leben hat sich die Protagonistin jetzt manövriert. Diese essentialistischen Abbilder des Alltags werden allerdings in allen drei Filmen durch einen anderen Typus von Bildern wieder zurückgenommen: Eine subjektive Kameraführung spielt in extremen Fluchtperspektiven auf die subjektive
8.2 Darstellungsweisen der Dissonanz und sozialpädagogisches Fallverstehen
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Vorstellungswelt des Vaters an, in deren Kontext sich auch die Kinderaufnahmen des „perfekten Kinds“ befinden. Seine Erinnerung an das Ausreißen der Tochter wird durch Schwarz-Weiß-Bilder von anderen Sichtweisen getrennt und somit als subjektive Konstruktion von Vergangenheit kenntlich gemacht. Auch Dissonanzen zwischen Bild und akustischem Umgebungston weisen auf den künstlichen Charakter dessen, was wir sehen und hören, hin. In „Schule des Lebens“ fließen immer wieder Bilder ‚im Konjunktiv’ ein, die die ProtagonistInnen aus dem Alltagsleben herauslösen und isolieren. Damit ist diesen alternativen Bildern die Bemessungsgrundlage (bestehend in gesellschaftlichen Erwartungen) entzogen. Sie sind gewissermaßen von der Realität befreit. Die Hervorhebung eines künstlichen Bildcharakters ist in „Der Kick“ wohl am deutlichsten ausgeprägt. Kristallisieren sich in den Sprechtexten Personen mit eigenen Wahrnehmungen heraus, findet im Bild eine Depersonalisierung statt: an Stelle von ProtagonistInnen verkörpern SchauspielerInnen die Figuren, die anstatt personenbezogener Eigenschaften lediglich symbolische Haltungen darstellen und die jeweilige Rollenidentität auf kurze Zeiten begrenzen und dann auflösen. Die gleiche Irritation betrifft den Ort des Geschehens, der als erzählter Raum vorstellbar wird, im Bildraum jedoch keine Entsprechung findet. Diese erste Beobachtung kann als Dissonanz zwischen einer essentialistischen Alltagsauffassung und einem darauf bezogenen künstlichen Charakter von Bildern festgehalten werden. Zweite Beobachtung: Ein wesentliches Merkmal der Inszenierung von „Der Kick“ besteht darin, dass die jeweilige Aussagesituation in der Darstellung mit enthalten ist. Die Figuren sprechen zur Kamera hin, als würden sie unmittelbar interviewt werden. In „Ich war das perfekte Kind“ stellt sich nach kurzer Zeit ein verblüffender Effekt ein: die physiognomische Ähnlichkeit zwischen Tochter und Vater kombiniert sich mit zugleich unvereinbaren subjektiven Perspektiven und Bedürfnissen. „In Schule des Lebens“ liegt schließlich ein konzeptioneller Schwerpunkt auf dialogischen Szenen, deren Spannung aus der unmittelbar zu beobachtenden Entwicklung und der darin eingelagerten Verständigung über Normalität entsteht. Diese Unmittelbarkeit, die die Filme gezielt nutzen, trifft in der Darstellung durchgehend aber auch auf einen Gegenpol. So werden in „Schule des Lebens“ auch die Grenzen einer unmittelbaren Beobachtung vor Augen geführt. Dies geschieht vornehmlich dann, wenn der Film das pädagogische Milieu verlässt, dadurch die Analytik aus den Szenen entschwindet und die ZuschauerInnen nur mehr als Zaungäste z.B. den Streit im Vorgarten beobachten, dabei dessen Sinn nicht erschließen, sondern die Szene lediglich als Spektakel wahrnehmen. In „Der Kick“ ist die Unmittelbarkeit einer szenischen Entwicklung ebenso gestört. Sie betrifft die Schilderung des Tathergangs im Verhör. Die Akten ‚sprechen’
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Resümee
und verhindern das Aufkommen eines kriminalistischen ‚Mitmachspürsinns’. Die mit Beginn stark ausgeprägte Unmittelbarkeit in „Ich war das perfekte Kind“ verliert sich zunehmend und begrenzt sich auf die Abgeschlossenheit der häuslichen Umgebung der Eltern. Die jugendliche Protagonistin bewegt sich hingegen an offenen, gesellschaftlich ‚ausgemusterten’ oder ungenutzten Orten. Als Reflexionsorte erlauben sie der Protagonistin ein hohes Maß an Umkehrbarkeit im Denken. Das unmittelbare Erschließen von Sinn wird in allen Filmen zusätzlich noch durch eine zweite Technik des Verlangsamens unterbunden. Eine Verlangsamung findet in „Ich war das perfekte Kind“ ganz offensichtlich dadurch statt, dass Silvia erst nach sieben Filmminuten als ganze Person wahrnehmbar wird, zuvor lediglich extrem weit entfernt, in extremer Naheinstellung oder mit dem Rücken zur Kamera erscheint. „Der Kick“ verlangsamt durch Unterbrechungen, die einmal die Beschreibung des Tathergangs betreffen und zum anderen durch die Inszenierung des Rollenwechsels entstehen. „Schule des Lebens“ ist ein Episodenfilm. Auch diese Struktur führt zur Verlangsamung einer unmittelbaren Sinnzuschreibung, denn das Entdecken eines Zusammenhangs zwischen den assoziativen Sprüngen von einem zum anderen Themenstrang wird zur Entwicklungsaufgabe gemacht. Die zweite Beobachtung kann als Dissonanz zwischen der Darstellung von Unmittelbarkeit und einer Relativierung von Unmittelbarkeit und Verlangsamung von Sinnzuschreibungen bezeichnet werden. Dritte Beobachtung: Der Bühnenraum in „Der Kick“ ist in drei relevante Spielzonen geordnet. Mit dem Raummittelgrund wird ein spezifischer Ort der Vermittlung und zugleich Ermittlung geschaffen: Erklärungen werden angeboten, vermittelnde Sichtweisen aufgezeigt und aufklärende Fragen gestellt. Über diese Vermittlungsebene sollen Erfahrungshintergründe aufgedeckt werden. Es geht hier um das Verstehen von Einzelwahrnehmungen und von Zusammenhängen. In „Schule des Lebens“ übernehmen pädagogische Fachkräfte die Aufgabe von „Reflektorfiguren“. Sie leiten Möglichkeiten ein, die Jugendlichen in ihren Projekten und Problemen zu verstehen, ermitteln als Gesprächspartnerinnen deren Selbstwahrnehmungen und machen im Kontakt zu den Jugendlichen vorstellbar, was es heißt AdressatIn von Jugendhilfe zu sein. Die formale Zugehörigkeit zu sozialpädagogischen Institutionen – als Heimkind, Drogenabhängige und Sonderschüler – wird durch Erfahrungen aus Interaktionen erweitert. Die längste thematische Einheit in „Ich war das perfekte Kind“ zielt darauf, die Motive für Silvias Weggehen verstehbar zu machen und ihr Bedürfnis nach mehr Autonomie und Selbstverantwortung zunächst anzuerkennen. Erst dann wendet sich die Erzählung den tatsächlichen Umständen der Straßenkindheit zu.
8.2 Darstellungsweisen der Dissonanz und sozialpädagogisches Fallverstehen
395
Die Filme setzen jedoch nicht nur Schwerpunkte darin, was verstanden werden soll. Sie betonen teilweise auch fehlendes Verständnis und belassen es bei Informationslücken. So werden in „Schule des Lebens“ weder die rechtlichen Hintergründe der Jugendhilfeinterventionen aufgeklärt, noch wird auf die psychosozialen Diagnosen der Jugendlichen eingegangen, noch wird Einsicht in die sozialstrukturellen Hintergründe von Familie Grupp gegeben. Einerseits liegt eine Detailgenauigkeit auf ausgewählten Szenen, andererseits werden weite Zeitstrecken unkommentiert übersprungen. In „Ich war das perfekte Kind“ wird das gegenseitige Nichtverstehen von Eltern und Tochter wie auch die Ablehnung des jeweiligen Lebensstils durchgängig betont. „Der Kick“ kommt mit viel Anstrengung nicht bis zu dem Punkt, der die Tat erklären würde. Sie kann nur pathologisch verstanden werden. Die abnorme Weltsicht der Täter ist jedoch nicht Thema des Films. Der Film inszeniert unabhängig vom Spiel der Figuren schließlich eine Verengung des Bildraums. Auch das kann nicht ohne weiteres verstanden werden. Eine dritte Dissonanz kann also zwischen filmisch unterstützten Verstehensmöglichkeiten und nichtgefördertem Verstehen bzw. einem nicht ermöglichten Überblick und teilweise irritierenden Informationslücken ausgemacht werden. Fragt man danach, wozu diese Dissonanzen innerhalb der filmischen Handlungsentwicklung organisiert werden, lässt sich mit Bezug auf zwei der Filminterpretationen171 mit einer Vermeidung von personalen Zuschreibungsprozessen antworten. Das Aufschließen einer Thematik geht mit einer geforderten Offenheit für die ProtagonistInnen einher. In allen drei Filmen werden die ProtagonistInnen nicht auf Bedeutungen festgelegt. Aus dieser Offenheit resultieren schließlich auch die Spannungsmomente des dokumentarischen Verlaufs. Es handelt sich um eine Art Spiel mit der Beurteilung der filmisch ausgebreiteten Sachebenen. Dieser Aufforderungscharakter zur Neubetrachtung der vermeintlich klaren Sachlagen fordert gerade auch die in Kapitel 2.1.4 beschriebene Bereitschaft beim Publikum, sich Dissonanzen zwischen „Erleben und Urteilen“ auszusetzen. Er ist in den drei Filmen in unterschiedlicher Weise operationalisiert: In „Ich war das perfekte Kind“ erfüllt diesbezüglich die Parallelmontage eine zentrale Funktion, in „Schule des Lebens“ hingegen der organisierte Milieuwechsel. In „Der Kick“ liegt diese Funktion in der Inszenierung von zwei simultan präsenten Konstruktionsschichten. Interessant ist nun, die Vermeidung von Zuschreibungsprozessen im Film mit den strukturellen Merkmalen sozialpädagogischen Fallverstehens in Verbindung zu bringen, denn auch hier ist ein ähnliches Ziel handlungsleitend. In der Sozialen Arbeit, so Hörster, ginge es seit jeher darum, sozialpädagogisches Verstehen als Beteiligungsverfahren und in171 Gemeint sind die Interpretationen von „Der Kick“ und „Schule des Lebens“, in denen die Vermeidung von Zuschreibungsprozessen als Teilergebnis festgehalten wurde (vg. Kap. 5.6 und Kap. 6.2.4).
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Resümee
terpersonale Verständigung zu konzeptualisieren, d.h. die Beurteilung bzw. Diagnose des Falls nicht nach einem klinischen Modell (Klassifikation einer Symptomatik) zu betreiben, sondern erörternd unter Einbeziehung verschiedener Perspektiven (vgl. Hörster 2002: 549f). Dahinter verberge sich die „Angst vor einer stigmatisierenden Diagnostik“ (Hörster 2004: 113) d.h. einer Praxis, die unreflektiert und ohne sich die eigenen Bedingungen zu vergegenwärtigen eine expertokratische Haltung gegenüber den AdressatInnen einnimmt. Kasuistik wird in diesem Zusammenhang zu einem wichtigen Kontrollinstrument der Professionellen: „Im kasuistischen Raum der Sozialpädagogen sei es angebracht, Diagnostik als eine verstehende Perspektive zu begreifen, die sich auf der Seite der Professionellen abspielt und die der Kontrolle von deren Wahrnehmung und Beurteilung dient“ (ebd.). Kasuistik ist daher eine zentrale Möglichkeit, die Urteilskraft im professionellen Handeln zu stärken und eine stigmatisierende Diagnostik zu vermeiden.172 Wichtiger noch als zu fragen, was durch methodische Kontrolle verhindert werden soll, ist die Frage danach, was jeweils erreicht werden soll. Im sozialpädagogischen Fallbezug ist es die Rekonstruktion „alltäglichen Fallverstehens“ (vgl. Hörster 2001: 919), im Prozess des Filmverstehens eine Rezeptionsästhetik, die sich zwischen erlebendem Nachvollziehen und Beurteilungsproblemen bewegt und den Rezeptionsprozess auf diese Weise dynamisiert. Beide Verfahren sollen einen Verstehensprozess strukturieren. Bevor diese Homologie in der Ermöglichung von Verstehen nun weiter entfaltet wird, werden zunächst einige strukturelle Merkmale sozialpädagogischer Kasuistik, die sich als relevant erweisen, benannt: x Kasuistik kann als ein „zu erkundendes Verstehensproblem“ begriffen werden (vgl. Hörster 2002: 552, Herv. C.F.). x Sie „bezieht sich insgesamt auf das Verstehen des alltäglichen Falles. Sie überführt den ursprünglichen Fall erster Ordnung in einen anderen Raum (...) Das alltägliche Fallverständnis wird dabei zum Fall der kasuistischen Tätigkeit, zum ‚Fall zweiter Ordnung’“ (ebd.: 551f, Herv. C.F.). x „Sie hat das Ziel, den alltäglichen Fall erster Ordnung anders erscheinen zu lassen (...) In diesem Zusammenhang ist es überaus wichtig zu betonen, dass die kasuistische Tätigkeit alltägliches Fallverstehen in einem Text symbolisch darstellt.
172
Nach Hörster spielen kasuistische Tätigkeiten inzwischen in vielen Bereichen der Sozialpädagogik eine Rolle: „Man begegnet ihnen sowohl im berufsvorbereitenden Ausbildungsprozess als auch im Berufsfeld selbst, in der Forschungswerkstatt und im Fallseminar, während der Selbstevaluation und Praxisforschung, in Teambesprechung und Supervision, in der Beratung unter Kolleginnen und im Rahmen von Organisationsentwicklung“ (Hörster 2002: 550).
8.2 Darstellungsweisen der Dissonanz und sozialpädagogisches Fallverstehen
x
397
Diese Darstellung ist Teil einer Verschiebung des Falles in den kasuistischen Raum, in dem die ihn betreffende Entscheidung bzw. Bearbeitung auch zeitlich aufgeschoben wird. Ich bezeichne deshalb die sozialpädagogische Kasuistik als eine Tätigkeit im Aufschub“ (ebd.: 552, Herv. C.F).
Wie diese Aspekte sozialpädagogischer Kasuistik mit den oben aufgezeigten Dissonanzen in dokumentarischen Darstellungsweisen zusammenhängen, soll mit der folgenden tabellarischen Zuordnung verdeutlicht werden: „Fallverschiebendes Fremdverstehen“ Fall erster Ordnung
Verschiebung:
Fall zweiter Ordnung
Parallelmontage, Milieuwechsel, zwei Konstruktionsschichten Essentialistisches Abbild
als symbolische Darstellung
Hervorhebung des künstlichen (Bild-)Charakters
Unmittelbarkeit benutzen
als zeitlicher Aufschub
Unmittelbarkeit relativieren, Verlangsamen
Verstehen
zur Erkundung eines Verstehensproblems
(Noch-)Nicht-Verstehen
Tabelle 8: Einordnung filmischer Dissonanzen in ein „fallverschiebendes Fremdverstehen“ (Hörster 2001: 919) im Rahmen von sozialpädagogischer Kasuistik Das, was Hörster als strukturelle Merkmale der kasuistischen Tätigkeit ausweist, ist in den untersuchten Filmen bereits als Darstellungsweisen von Dissonanz enthalten. Die für das Fremdverstehen grundlegende Fallverschiebung findet sich in folgenden Aspekten wieder: x die Veränderung der Darstellung, d.h. von der Aufmerksamkeit im Alltag (essentialistisches Abbild) zu einer symbolischen Darstellung (Hervorhebung des künstlichen Charakters), x die Veränderung der Bedingungen des Verstehens durch einen zeitlichen Aufschub (von der Unmittelbarkeit zu einer mittelbaren, verlangsamten und unterbrochenen Wahrnehmung und Aufmerksamkeit), x das Ausmachen eines Verstehensproblems, d.h. einem fehlenden Überblick und einer Ungewissheit, umfassend informiert zu sein.
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Resümee
Mit Bezug auf den kasuistischen Ansatz von Körner und Ludwig-Körner komme es während der kasuistischen Fallerschließung darauf an, „sich in der Differenz zwischen dem primären alltäglichen Material des ‚Falles erster Ordnung’ und dem rekonstruierten Geschehen des ‚Falles zweiter Ordnung’ methodisch bewegen zu können“ (Hörster 2001: 920). Eine Verlaufsspur dieser Pendelbewegung ist mit den Dissonanzen in der filmischen Entwicklung vorgezeichnet. Die sich abbildende Homologie kann durch eine weitere Differenzierung ergänzt werden: Geht es darum, durch kasuistische Tätigkeiten den „Fall im Fall“ herauszuarbeiten (Analyse des Verstehens), handelt es sich nach Hörster um eine dekonstruierende Kasuistik, die z.B. in Fallseminaren eingeübt wird. Ist hingegen die Selbstreflexion der schreibenden Person (die zugleich am Verstehensprozess des Falls erster Ordnung beteiligt war) bereits in der Falldarstellung enthalten, spricht er von einer praxeologischen Kasuistik (vgl. Hörster 2002: 556). Die RezipientInnen eines solchen, nach kasuistischen Merkmalen bereits durchgearbeiteten Fallberichts müssen den „Fall im Fall“ nicht erst suchen, sondern „ nur nachempfinden“ (vgl. Hörster 2001: 923). Aus sozialpädagogischer Sicht kann die Qualität dokumentarischer Darstellungsweisen in Bezug auf das Fallverstehen also gerade in diesen Dissonanzen ausgemacht werden. Dieses Ergebnis führt zu der weiteren Frage, ob denn nun dokumentarische Filme mit solchen Eigenschaften als kasuistisches Verfahren des praxeologischen Typus angesehen werden sollten. Um zu erkennen, wie die entwickelte Homologie zu werten ist bzw. um zu zeigen, warum dokumentarische Filme kein kasuistisches Verfahren sind, wird in einem nächsten Schritt auf ein hermeneutisches Modell des Verstehens Bezug genommen, mit dessen Hilfe die Ebenen unterschieden werden können, auf denen dokumentarische Darstellungsweisen und kasuistische Verfahren jeweils ihre Qualität entwickeln. 8.3 Erleben, Ausdruck und Verstehen – Ebenen eines Ergänzungsverhältnisses Eine letzte und abschließende Gegenüberstellung von dokumentarischen Darstellungsweisen und sozialpädagogischer Fachlichkeit bezieht sich auf den Anspruch eines verstehenden Nachvollzugs lebensweltlicher Erfahrungszusammenhänge (Raum, Zeit, ProtagonistIn-Sein). Diese hermeneutische Kompetenz spielt – wie oben gezeigt – in beiden Bereichen eine Rolle.173 Konkret geht es um die 173
Ausgeklammert wird bei dieser Gegenüberstellung, dass sozialpädagogisches Fallverstehen wie auch die Struktur von Verstehensprozessen in dokumentarischen Filmen immer im Kontext ihrer organisatorischen Bedingungen zu sehen sind. Für die Sozialpädagogik sind in dieser Hinsicht jeweils gegebene Angebotsstrukturen maßgeblich (vgl. Treptow 2006: 179). Auch für dokumentarische Fil-
8.3 Erleben, Ausdruck und Verstehen – Ebenen eines Ergänzungsverhältnisses
399
beiden Fragestellungen, worin die Stärken dokumentarischer Darstellungsweisen gegenüber sozialpädagogischen Erschließungsstrukturen von Jugendhilfethemen bestehen und welche Grenzen ihnen im Fallverstehen (gerade durch ihre Vermittlungsaufgabe) gesetzt sind. Diese Abwägungen eines Ergänzungsverhältnisses sollen mit Hilfe der Kategorien „Erleben“, „Ausdruck“ und „Verstehen“ gelingen, die bei Dilthey zu einem grundlegenden methodologischen Zusammenhang des hermeneutischen Sinnverstehens ausgearbeitet sind. Zum Begriff des Verstehens bei Dilthey Dilthey hat einen Verstehensbegriff entwickelt, der als Grundlage für alle Geisteswissenschaften gelten soll und den Objektbereich dieser Wissenschaften in Abgrenzung zu den naturwissenschaftlichen Disziplinen kategorial bestimmt. Verstehen – als Kern der Geisteswissenschaften – bezieht sich auf Tätigkeiten des Geistes und auf ein „Äußeres“, in dem sich diese geistigen Tätigkeiten objektiviert haben (vgl. Dilthey 1981: 141). Demgegenüber werden im Rahmen der Naturwissenschaften Erscheinungen der Natur mittels allgemeiner Gesetze am Modell erklärt und leiten instrumentelles Handeln an. Im ersten Bezug geht es also um Verstehen, im zweiten um Erklären. Verstehen bezieht sich auf geistige Objektivationen, Erklären auf Vorkommnisse die (unabhängig vom menschlichen Geist) in der Natur vorkommen. Ausschlaggebend für die Unterscheidung beider Methodologien ist die Stellung eines „erlebenden Subjekts“, das im Erkenntnisprozess der Naturwissenschaften ausgeklammert ist, in der Hermeneutik des Verstehens hingegen einen grundlegenden Zugang zum Verstehen ermöglicht (vgl. Habermas 1977: 180ff). Im Unterschied zur Erklärung am Modell sind in den „Geisteswissenschaften (...) die Ebene der Theorie und die Ebene der Daten noch nicht in dieser Weise auseinandergetreten. Begriffe und theoretische Ansätze sind weniger Kunstprodukte als vielmehr mimetische Nachkonstruktionen“ (ebd.: 183). Die Geisteswissenschaften zielen auf eine „Transposition, eine Rückübertragung der geistigen Objektivationen ins nachvollziehende Erleben“ (ebd. 183). Ihr grundlegendes Verfahren ist die Explikation von Erfahrungszusammenhängen (vgl. ebd.: 184). Zentral dafür ist das Verhältnis von „Erleben“, „Objektivation“ (Ausdruck, Lebensäußerungen) und „Verstehen“. Es handelt sich dabei um einen universellen Begriff des Ausdrucksverstehens, der in alltäglichen Prozessen ebenso wie in wissenschaftlich-hermeneutischen Interpretationen – hier in methodisch ausgebildeter Form – eine Rolle spielt (vgl. ebd.: 188). me gelten institutionelle ‚Auflagen’ wie z.B. das Längenformat eines Beitrags, die thematische Auseinandersetzungen und Verstehensprozesse praktisch begrenzen.
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Resümee
Zusammenhang von Erleben, Verstehen und Erlebnisausdruck Für die Erörterung eines Ergänzungsverhältnisses beider Bereiche ist die von Dilthey zentral aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen, den jede Form der geisteswissenschaftlichen Tätigkeit zu klären habe, weiterführend (vgl. Dilthey 1981: 99). Dilthey entwirft diesen Zusammenhang folgendermaßen: Verstehen ist ein methodisches Verhalten (vgl. ebd.: 140). Der Gegenstand, auf den es sich bezieht, ist das in der Außenwelt objektivierte Geistige. Neben das Verstehen stellt Dilthey den Begriff des Erlebens. Durch beide zugleich erschließen sich der Sinn und die Bedeutung des objektivierten Geistigen (vgl. ebd.: 141f). Erleben und Verstehen „bilden zwei Seiten des logischen Vorgangs, die ineinander greifen“ (ebd.: 278). Sie leisten jedoch Unterschiedliches: „Das Verstehen setzt ein Erleben voraus, und das Erlebnis wird erst zu einer Lebenserfahrung dadurch, daß das Verstehen aus der Enge und Subjektivität des Erlebens hinausführt in die Region des Ganzen und des Allgemeinen“, ebenso ist „das systematische Wissen abhängig (..) von dem erlebenden Erfassen der einzelnen Lebenseinheit“ (ebd.: 173). Das hier beschriebene Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem gründet also auf einem – wie Dilthey es nennt – „lebensgesättigten“ Zusammenhang der „geistigen Welt“ (ebd.: 142). Auf dieser Grundlage ist Fremdverstehen möglich. Welche Rolle spielt nun die dritte Komponente? Dem Ausdruck bzw. der Objektivation kommt ein besonderer Stellenwert zu, „denn das Verstehen dringt in die fremden Lebensäußerungen durch eine Transposition aus der Fülle eigener Erlebnisse“ (ebd.: 140). Der Ausdruck stellt also prinzipiell eine Aufforderung dar, eigene Erlebnisse in das Erschließen von Bedeutungen und Sinn mit hinein zu nehmen. Gerade dadurch erweitern sich eigene Erlebnisse zu Lebenserfahrungen, d.h. es entstehen Möglichkeiten, sich selbst über den Erlebnisausdruck zu erfahren. Zugleich bildet sich darüber das Verstehen fremder Lebensäußerungen und Personen aus (vgl. ebd.: 252). Der Ausdruck als dauerhaft fixierte Lebensäußerung ermöglicht deshalb eine spezifische Art von Reflexion. Daran anknüpfend sollen nun die eingangs in diesem Kapitel aufgeworfenen Fragestellungen nach den Stärken dokumentarischer Darstellungsweisen und ihren Grenzen erörtert werden. Die drei der Hermeneutik immanenten Tätigkeiten: das Erleben, der Erlebnisausdruck wie auch das Verstehen eignen sich dafür als Bezugspunkte eines Vergleichs von dokumentarischer Filmarbeit und sozialpädagogischem Fallverstehen. Sie werden jeweils gesondert betrachtet. Die These hierbei ist, dass die zentrale Reflexionsleistung von dokumentarischen Filmen auf der Ausdrucksebene liegt; die von sozialpädagogischem Fallverstehen hingegen auf der Verstehensebene. Über diese unterschiedlich gelagerten Reflexi-
8.3 Erleben, Ausdruck und Verstehen – Ebenen eines Ergänzungsverhältnisses
401
onspotenziale lässt sich ein Ergänzungsverhältnis begründen. Im Folgenden wird dieser angenommene Unterschied verdeutlicht. Methodisch sei angemerkt, dass es hier nicht um eine grundlegende und umfassende Erörterung z.B. des Begriffs des „sozialpädagogischen Verstehens“ gehen kann, sondern lediglich um einzelne Überlegungen, die vermittelt über die eingeführten Grundbegrifflichkeiten der Hermeneutik aufeinander bezogen werden. Der folgende Vergleich geht daher nicht systematisch auf Fachtheorie ein, sondern strukturiert sich über die bisher bereits berücksichtigten Grundlagen innerhalb der Untersuchung. Diese werden dadurch noch einmal in spezifischer Weise gebündelt. 8.3.1 Vergleich auf der Ebene des Erlebens Zunächst ist zu klären, was Erleben im Rahmen von dokumentarischen Filmen und von sozialpädagogischem Fallverstehen jeweils meinen kann: Im filmischen Zusammenhang findet Erleben auf mehreren Wahrnehmungsebenen statt. Die Filmanalysen zeigen, dass sowohl das situative Erleben der ProtagonistInnen, die Reflexion ihres Erlebens in der ProtagonistInnenerzählung aber auch die Reflexion der FilmemacherIn über die erlebte Lebenswelt der ProtagonistInnen im Film enthalten sein können. Indem diese Erlebnisformen veröffentlicht werden, wird schließlich ein erlebendes Nachvollziehen der entfalteten Thematik durch die ZuschauerInnen möglich. In diesem Zusammenhang spielt das Konzept der ortsungebundenen sozialen Information von Meyrowitz (vgl. Kap. 2.2) eine Rolle. Dokumentarische Filme (wie auch das Fernsehen insgesamt) werden als „kulturelle Umwelt“ (Meyrowitz 1990: 47) angesehen und erlauben den ZuschauerInnen den erlebenden Nachvollzug diverser, unterschiedlich strukturierter Situationen. Durch das Erkennen einer spezifischen Struktur des Informationsflusses sind sie in die filmisch dargebotenen zwischenmenschlichen Interaktionsmuster involviert. Besonders der Untersuchungsfilm „Schule des Lebens“ setzt auf dieses nachvollziehende Erleben von sozialen Situationen (vgl. Kap. 6.2). Im Rahmen von sozialpädagogischem Fallverstehen sind ebenfalls mehrere Wahrnehmungsebenen zu differenzieren. Wie in den Ausführungen zu sozialpädagogischen Arbeitsbündnissen deutlich wurde (vgl. Kap. 3.4.1), ist für diese Form der subjektorientierten Arbeitsbeziehung zum einen zentral, wie die AdressatIn sich und ihre aktuelle Lebenssituation erlebt und dieses Erleben reflektierend darstellt. Zum anderen ist auch das Erleben der sozialpädagogischen Fachkraft im direkten Kontakt zu der betroffenen Person wichtig. Müller formuliert es als professionelle Fähigkeit, ein mögliches Erleben von Fremdheit, „nicht zu-
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zudecken sondern auszuhalten“ (Müller 1991: 88). Über die unmittelbare Ebene sozialpädagogischer Interaktionen hinaus trage ein beobachtendes Wahrnehmen und Erfahren von Befindlichkeiten anderer im sozialräumlichen Zugang zum Verstehen der AdressatInnnen bei: „Die biografisch-sozialräumliche Orientierung schärft auch die Sinne für ein methodisches Vorgehen, das in der klassischen maßnahmenzentrierten Sozialarbeit immer ein Stiefkind geblieben ist: das der Beobachtung. Das beobachtende Erfahren und weniger die rollentrainierte Klassifikation ist das professionelle Plus der Sozialpädagogik, das sie den institutionell gebundenen Berufen des schulischen Bildungsbereichs und des Erwerbssektors voraus hat“ (Böhnisch 2001: 303, Herv. C.F.). Es zeigt sich in dieser Gegenüberstellung, dass auf der Ebene des Erlebens allenfalls methodische aber keine kategorialen Unterschiede zwischen den beiden Bereichen festzustellen sind. In beiden Bezügen wird ein Nacherleben von Ereigniszusammenhängen, angestrebt. Dilthey misst dem eine wesentliche Bedeutung bei: Das Nacherleben wird als eine Form der Aneignung von solchen Erfahrungen angesehen, die im eigenen Lebenszusammenhang ausgeschlossen sind. Dadurch gelinge eine Überwindung per se beschränkter Lebenserfahrung (vgl. ebd.: 265f). Im Nacherleben zeigen sich bereits Bezüge zwischen Erleben und Verstehen. Sozialräumliche Beobachtungen, Selbsterzählungen oder das Nachvollziehen von Situationsdynamiken stellen nach Dilthey elementare Formen des Verstehens dar. „Das Verstehen erwächst zunächst in den Interessen des praktischen Lebens. Hier sind die Personen auf den Verkehr miteinander angewiesen. Sie müssen sich gegenseitig verständlich machen“ (ebd.: 255). Diese Verstehensleistung zielt jedoch nicht darauf, das spezifische Erleben als Teil eines ganzen (Lebens-)Zusammenhangs zu begreifen (vgl. ebd.). Dies ist ein Gedankenschritt der erst innerhalb der höheren Formen des Verstehens eine Rolle spielt. Typisch dafür ist „die innere Distanz zwischen einer gegebenen Lebensäußerung und dem Verstehenden“ (ebd.: 258f). Es kann daher kein „normaler“ Zusammenhang zwischen Ausdruck und Bedeutung hergestellt werden. Infolgedessen entstehen Zweifel, die dazu führen, „andere Lebensäußerungen heranzuziehen oder auf den ganzen Lebenszusammenhang zurückzugehen“ (ebd.: 259). Eine solche produktive Verunsicherung ist in der von Müller (s.o.) beschriebenen professionellen Fähigkeit enthalten. Diese besteht darin, dem Erleben von Fremdheit und Nichtverstehen gegenüber der Problemdarstellung der AdressatIn Beachtung zu schenken. Es wird dann nicht versucht, das dargestellte Problem zu ‚vereindeutigen’, um es einer allgemeinen Symptomatik zuordnen zu können, sondern es wird eine umfassende Klärung angestrebt. Damit ist auch schon die Ebene des sozialpädagogischen Verstehens angesprochen.
8.3 Erleben, Ausdruck und Verstehen – Ebenen eines Ergänzungsverhältnisses
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8.3.2 Vergleich auf der Ebene des Verstehens Sozialpädagogisches Verstehen als höhere Form des Verstehens bedingt zwei zentrale Reflexionsleistungen: die Selbstreflexion der Fachkräfte und einen reflexiven Umgang mit Fachtheorie. Beide Aspekte werden zunächst dargestellt. Fragen der beruflichen Selbstvergewisserung waren nach Wensierski und Jakob (1997) wegweisend für die Modernisierung der Sozialpädagogik in den letzten Jahrzehnten. Sie deuten diesen Modernisierungsprozess hauptsächlich als Methodenklärung, die dazu führt, sozialpädagogisches Verstehen fachlich zu fundieren: „Gefragt sind insbesondere Methoden, die in der Lage sind, sozialpädagogisches Handeln als Prozeß zu verstehen; die der Komplexität des beruflichen Alltags der Sozialen Arbeit gerecht werden und die vor allem die subjektive Perspektive und lebenspraktische Autonomie der Klienten als notwendige Voraussetzung für jede sozialarbeiterische Intervention in Rechnung stellen“ (Wensierski/Jakob 1997: 7). Mit dem Begriff der „rekonstruktiven Sozialpädagogik“ (vgl. Kap. 1.1.3) überschreiben sie eine spezifische Ausrichtung sozialpädagogischer Handlungskompetenz.174 Deren Spezifikum besteht darin, rekonstruktive Methoden qualitativer Forschung, wie sie in der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik bereitliegen, auf praktisches, selbstreflexives Handeln zu übertragen. Der Kern dieser Handlungskompetenz wird hier also in einer hermeneutischen Erschließungsstruktur gesehen, deren Bezugspunkt die „sozialen Sinnwelten“ der AdressatInnen sind. Charakteristisch für eine so entworfene analytische und selbstreflexive Handlungspraxis sei, dass sie „alltäglichem Handlungsdruck“ ausgesetzt sei und zugleich „Selbstdistanzierung“ und „gedankliches Heraustreten aus den eigenen Berufsvollzügen“ notwendig mache (ebd.: 13). Methodisches Handeln, das sich auf Verstehen konzentriert, erfordert daher zudem ein hohes Maß an methodisch kontrollierter Praxisreflexion, d.h. an Selbstreflexion und Selbstevaluation der Fachkräfte (vgl. ebd.: 11). Im Unterschied zur qualitativen Forschung und auch zu dokumentarischen Filmen läuft sozialpädagogisches Verstehen bzw. Fallverstehen stets auf die Frage hinaus, was aus sozialpädagogischer Sicht im jeweiligen Fall zu tun ist. Es dient daher der Absicherung von angemessenen Interventionen. Das Entwickeln von geeigneten Problemlösungen alterniert zwischen den verschiedenen fachlichen Schritten der Anamnese, Diagnose, Intervention und Evaluation, – basiert also überwiegend auf reflexiven Tätigkeiten – und bildet eine Spiralbewegung (vgl. Müller 2004: 63). Dieser reflexive Prozess ist jedoch nicht nur auf die Selbstreflexion der Fachkräfte gestellt, sondern geschieht im Anschluss an Fachwissen, das an den 174
In diesem Zusammenhang lässt sich u.a. sozialpädagogische Kasuistik verorten (vgl. ebd.: 9).
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Resümee
Fall herangetragen wird. Die Übertragung allgemeiner Elemente auf den Einzelfall meint den Einbezug von fachlichem Wissen, das reflexiv auf den besonderen Fall bezogen wird. Anhand verschieden akzentuierter sozialpädagogischer Kasuistiken wird deutlich, dass das „fallverschiebende Fremdverstehen“ immer mit Bezug auf professionstypisches Wissen geschieht. Gegenstand der kasuistischen Tätigkeit ist z.B. bei Terhardt die Übertragung allgemeiner Ausbildungsinhalte auf eine spezifisch gelagerte Fallstruktur wie auch die Ausbildung einer allgemeinen „Übertragungskompetenz“ (vgl. Hörster 2001: 918). Bei Müller ist es die probeweise Erörterung fachlicher Betrachtungsstandpunkte und Maßstäbe (vgl. ebd.: 920). Kasuistik ist in diesem Sinne „krisenhafte Bildung“ (Hörster 2002: 554) bzw. beschreibt eine Übungsanordnung, die der Förderung und Stärkung von Urteilskraft dient. Während sozialpädagogisches Fallverstehen auf den Binnenraum fachlichen Handelns bezogen ist, konstituiert sich filmisches Verstehen immer als Verständigung in der Öffentlichkeit (vgl. Kap. 3.1.1). Deshalb meint filmisches Verstehen die Vorbereitung eines Verstehensprozesses bei den ZuschauerInnen. Die Ergebnisse der Filmanalysen lassen sich diesbezüglich auf drei Aspekte zuspitzen: Erstens wird filmisches Verstehen sequenziell organisiert. Nicht schon am Beginn eines Beitrags ist klar, worin die Ergebnisse der filmischen Bearbeitung des Themas bestehen. Indem ein Strukturkonflikt in einen Handlungskonflikt überführt wird, findet eine Verzeitlichung des Inhalts statt. Der Verstehensprozess durchläuft verschiedene filmische Etappen mit unterscheidbaren themenbezogenen Schwerpunkten. Dies lässt sich am Gesamtaufbau aller drei Untersuchungsfilme zeigen. Zudem konnte im vorherigen Kapitel erkannt werden, dass Verstehen durch die Konstruktionsweise von Dissonanzen beeinflusst ist, d.h. durch filmsprachlich und narrativ veranlasste ‚Verschiebungen’ zwischen unmittelbar einleuchtenden und fassbaren Aspekten und solchen, die noch nicht erfassbar sind, ‚konstruiert’ wirken oder Beurteilungsprobleme (vgl. auch Kap. 2.1.4) evozieren. Bezogen auf die filmischen Inhalte bewirkt dies ein Changieren zwischen entgegengesetzten inhaltlichen Tendenzaussagen: x bezogen auf die ProtagonistInnen: zwischen deren persönlichem Scheitern und ihrem individuellen Erfolg, x bezogen auf die Perspektivierung des Themas: zwischen unterschiedlichen Reflektorfiguren, x bezogen auf eine Konstruktion von JugendhilfeadressatInnen: zwischen Problemfall und Normalbiographie. Das Herausarbeiten von kritischen Punkten und Gewissensfragen spielt in dem so vorbereiteten Verstehensprozess eine zentrale Rolle.
8.3 Erleben, Ausdruck und Verstehen – Ebenen eines Ergänzungsverhältnisses
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Zweitens weisen die untersuchten Filme – mit Ausnahme von „Der Kick“ – eine spezifische Normalisierungs- bzw. Verallgemeinerungsstrategie auf. Durch Anspielung auf strukturidentische Erfahrungen wird Verständnis für die jugendlichen ProtagonistInnen geweckt (vgl. Kap. 3.4.2). Konjunktive Erfahrungsräume fördern im Besonderen den Nachvollzug von deren Gefühlslagen. Die Verallgemeinerung setzt hier an habituellen Verhaltensweisen an, die akzentuiert dargestellt sind. Die Übertragung allgemeiner Elemente auf den Einzelfall fällt bei dieser Vorgehensweise grundsätzlich anders aus als beim Übertragen von theoretischen Erklärungen auf eine spezifische soziale Konstellation. Nicht kommunikativ-generalisiertes Theoriewissen, sondern erfahrungsabhängiges habituelles Wissen trägt zum Verstehen bei. Drittens kann Verstehen, das dem Einzelfall gerecht werden will, auch auf die filmische Themenerschließung bezogen werden. Der Begriff der „Erfahrungsbildung“ (Schändlinger 1994) fokussiert die verstehende Auseinandersetzung, die eine filmschaffende Person zum Thema sucht. „Erfahrungsbildung“ meint bei Schändlinger einen Gestaltungsprozess. Die Erfahrungen, die eine FilmemacherIn mit der erkundeten Lebenswelt gemacht hat, wird möglichst situationsnah und facettenreich durch symbolische Bearbeitung erhalten, so dass sie in der Rezeption wiederum zum Ausgangspunkt der eigenen Erfahrungsbildung der ZuschauerInnen werden können (vgl. Kap. 2.2.2). Alle drei Aspekte zusammengefasst, lässt sich feststellen, dass filmisches Verstehen auf der Grundlage einer spezifischen Rezeptionsästhetik vorbereitet wird (vgl. Kap. 4.2.1). Damit ist jedoch längst nicht die Ausführlichkeit und Reflexivität, die sich im Bereich sozialpädagogischen Fallverstehens entwickelt, erreicht. Filmisches Verstehen hat nicht die Reichweite des oben aufgezeigten Theorie-Praxis-Verhältnisses. Hingegen haben fachliche Erschließungsstrukturen nicht die Reichweite des Ausdrucks, den dokumentarische Darstellungen nutzen. Dies wird im Folgenden zu zeigen sein. 8.3.3 Vergleich auf der Ebene des Ausdrucks Dokumentarische Filme stellen per se dauerhaft fixierte Objektivationen dar. Die Filmschaffenden treten am Ende hinter das Produkt zurück. Gegenstand der Rezeption ist allein der Film in seiner spezifischen Gestalt. Demgegenüber ist sozialpädagogisches Fallverstehen ein Handlungs- und Reflexionsprozess, in dem Objektivationen nur teilweise eine Rolle spielen. Aufgrund dieser Ungleichheit ist es nicht sinnvoll, beide Bereiche in diesem grundlegenden Bezug zu vergleichen. Ein geeigneterer Ansatzpunkt, um dokumentarische Filme und sozialpäda-
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Resümee
gogisches Fallverstehen auf der Ausdrucksebene zu vergleichen, ist hingegen ihr jeweiliger Umgang mit Rohmaterial (vgl. Kap. 1.1.3). Im filmischen Kontext spielen in erster Linie die in Kapitel 3 ausgearbeiteten Gestaltungsfragen, die mit den gewählten Untersuchungskategorien impliziert sind, eine Rolle. Deutlich wird daran, dass ein reflexiver Umgang mit Rohmaterial im Anschluss an ein ästhetisches Bezugsfeld geschieht, d.h. durch weitere Wahrnehmungsmöglichkeiten und v.a. ästhetische Wirkungen angereichert wird. Mit Bezug auf Dilthey ist damit ein besonderes Kohärenzerleben erreicht. Er beschreibt dies an der Charakteristik des musikalischen Verstehens: „Ton folgt auf Ton und tritt neben ihn nach den Gesetzen unseres Tonsystems; aber innerhalb dessen liegen unendliche Möglichkeiten, und in der Richtung von einer derselben gehen Töne so vorwärts, daß die früheren bedingt sind durch die späteren (...). Nirgends in diesem Bedingen eine Notwendigkeit. Es ist wie ein freies Einverständnis sich zustrebender und wieder abwendender Gestalten (...). Das Sosein-Müssen darin ist nicht Notwendigkeit, sondern es ist Realisation eines ästhetischen Wertes“ (Dilthey 1981: 273).
Die hier beschriebenen freien Möglichkeiten, einen kohärenten Zusammenhang zu schaffen, sind jedoch – zumindest was Film anbelangt – immer auf die Verständigung in der Öffentlichkeit zu beziehen. Film als „Verständigungshandlung“ verknüpft Darstellen und Mitteilen (vgl. Kapitel 4.2.1). Die zu schaffende Ausdrucksstruktur führt in eine spezifische Rezeptionsästhetik, in der die Sinnentfaltung von Textstrukturen angelegt ist. Welche Darstellungsweisen dafür gewählt werden, unterliegt jedoch keinem unmittelbaren Sachzwang (vgl. Kap. 2.1). Deshalb ist im zu schaffenden Verhältnis von sozialen Informationen, die im Rohmaterial enthalten sind, und der ästhetischen Ausdrucksstruktur, in die es gebracht wird, die zentrale Reflexionsleistung des Films zu verorten. Nach Dilthey liegt in dieser ästhetischen Umformung eine Aufklärung: ein „dunkles“ und „unbestimmtes“ Wahrnehmen gelangt zu einem „kristallklaren Ausdruck“ (ebd.: 274). Ganz anders der Umgang mit Rohmaterial im Bereich „rekonstruktiver Sozialpädagogik“, die sich am methodisch kontrollierten Verstehen der qualitativen Sozialforschung orientiert. Nach Flick (2000) sei die Fallrekonstruktion eine Textwissenschaft. Um Erkenntnisse über einen Fall zu gewinnen, müssen also zunächst Texte angefertigt werden. Das Dokumentieren eines Falls hat hier die Funktion, Daten zu speichern. Audiovisuelle Medien sind hierfür geeignet. Sie werden als technische Dokumentationsformen mit dem Ziel eingesetzt, daraus per Transkription detaillierte Texte zu erstellen (vgl. ebd.: 182).175 Diese Form 175
Sie sind in diesem Sinn auch problematische Aufzeichnungstechnologien, da zu viele Informationen simultan transportiert werden, die die Textproduktion eher erschwert als erleichtert, bzw. „den Blick auf die Gestalt des Textes verstellen kann“ (Flick 2000: 183).
8.3 Erleben, Ausdruck und Verstehen – Ebenen eines Ergänzungsverhältnisses
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der Objektivation bezeichnet einen temporären Zwischenstand und hat den Stellenwert eines Hilfsmittels im Erkenntnisprozess. Für Flick erfordert dieses Verhältnis von Text und Wirklichkeit eine methodologische Klärung (vgl. ebd.). Er verweist mit Bezug auf die Objektive Hermeneutik auf den darin enthaltenen „methodologischen Realismus“ (ebd.: 179), indem das angefertigte Protokoll als „gültige Ausdrucksgestalt der Sache selbst“ (ebd.: 185) behandelt wird.176 Gegenüber dieser ‚puristischen’, auf Text beschränkten Dokumentationsform gelten ‚darstellungsreichere’ Verfahren als unterkomplex. So unterscheidet Oevermann einen auf Vermittlung konzentrierten und einen methodisch erschließenden Fallbezug folgendermaßen: „Fallbeschreibungen – und seien sie noch so detailliert und ‚dicht’ – können deshalb nicht mehr leisten als Illustrationen und Exemplifizierungen. Sie schließen an der erfahrbaren Wirklichkeit nichts auf. Deshalb sind sie methodologisch und theoretisch ‚unaufschlussreich’, d.h. belanglos, sie erfüllen allenfalls die Funktion der Übermittlung“ (Oevermann 2000: 60ff). Auch Hörster, der sich im Kontext der sozialpädagogischen Kasuistik auf die wissenschaftliche Fallrekonstruktion (namentlich Hildenbrand 1995) beruft, führt die Sozialreportage als Bearbeitungskontext an, in dem das Allgemeine, in der Annahme ausgeklammert würde, der Fall expliziere sich selbst (vgl. Hörster 2001: 917). Das Allgemeine wird hier verstanden als sprachliche Verdeutlichung einer allgemeinen Relevanz (vgl. Hörster 2002: 553). Dass ein Fall, den die Sozialreportage behandelt, sich keineswegs selbst expliziert, sondern ebenfalls einen reflexiven Umgang mit Rohmaterial voraussetzt, wird dabei übersehen. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass Objektivationen im Rahmen rekonstruktiver Sozialpädagogik – und damit auch symbolische Darstellungen von alltäglichem Fallverstehen in der Kasuistik – auf sprachliche Äußerungsformen begrenzt sind. 8.3.4 Quintessenz „Was ein Fall ist, hängt vom jeweiligen Bearbeitungskontext ab, in dem er situiert ist“ (Hörster 2001: 917). Die beiden hier verglichenen Bearbeitungskontexte unterscheiden sich nach dieser Erörterung erheblich: Während eine „rekonstruktive Sozialpädagogik“ eindeutig in ihrem Ausdrucksvermögen begrenzt und reduziert ist auf sprachliche Objektivationen, greifen dokumentarische Darstellungen diesbezüglich auf ein ästhetisches Bezugssystem zurück, das freie Ausdrucksmöglichkeiten bietet. Die entstehenden Objektivationen sind klar und zugleich ästhetisch komplex. Dagegen liegen die Grenzen dokumentarischer 176 Die ‚unnatürliche’ Wirkung einer solchen reduzierenden Vorgehensweise in einem nichtwissenschaftlichen Kontext wird in der Analyse von „Der Kick“ deutlich.
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Resümee
Darstellungen in den Verstehensmöglichkeiten sozialer Konstellationen. Verstehen resultiert aus der erarbeiteten Rezeptionsästhetik, ist also im internen Zusammenhang zwischen Erleben, Ausdruck und Verstehen verhaftet. Sozialpädagogisches Fallverstehen sucht die Erweiterung durch den Bezug auf theoretisches Wissen. Kommt es aufgrund dieser unterschiedlich gelagerten Reichweiten bzw. Grenzen also zu unterschiedlichen Definitionen, was der Fall jeweils ist? Die in den Filmanalysen immer wieder gelungene interpretative Erweiterung der analysierten Darstellungsweisen durch fachtheoretische Aspekte weist m.E. eher auf einen prinzipiell ähnlichen Fallbezug hin, der sich dadurch begründet, dass in beiden Bearbeitungskontexten die Erfahrungsbereiche der Subjekte Ausgangspunkt der Gestaltung bzw. Rekonstruktion sind und im Ergebnis daher zu strukturellen Ähnlichkeiten führen. Auf dieser Grundlage können sich beide Bearbeitungskontexte potenziell gegenseitig ergänzen. Ein zentraler Stellenwert dokumentarischer Filme ergibt sich aus den über filmische Formen unterstützten Verstehensprozessen bei den ZuschauerInnen. Diese Rezeptionsästhetik kann aber auch problematisch sein. Im Folgenden wird dies begründet. 8.3.5 Praktische Schwierigkeiten eines Ergänzungsverhältnisses Neben den fokussierten Ähnlichkeiten zwischen sozialpädagogischem Fallverstehen und filmischer Rezeptionsästhetik existieren zugleich auch unüberbrückbare Gegensätze in Bezug auf die Behandlung eines Falles. Sie wurden an verschiedenen Stellen dieser Untersuchung bereits als Differenzen vermerkt und lassen sich nun abschließend auf zwei Komplexe zuspitzen: Ein erster fachlicher Gegensatz läuft auf die Veröffentlichung von Subjektivität hinaus, die aus einer sozialpädagogischen Fachperspektive u.U. problematisch ist. Der Grund dafür liegt in Folgendem: Dokumentarische Falldarstellungen konzentrieren sich auf einen ‚Zeigeakt’, während ein sozialpädagogisches Fallverstehen auf einen ‚Hilfeakt’ bezogen ist. Demzufolge adressieren dokumentarische Filme Öffentlichkeit, orientieren sich dabei an Verständlichkeit und an Allgemeininteressen. Sozialpädagogische Fallbearbeitungen adressieren hingegen konkrete Menschen in ihrer Entwicklung bzw. in schwierigen Lebensumständen.177 Während Filme produktorientiert auf eine Veröffentlichung (zumeist Fernsehausstrahlung) zielen, stehen auf Seiten der Sozialpädagogik Prozessorientierung und Fallverläufe im Mittelpunkt, die zumeist in Akten, d.h. in einem 177
Im Konzept des multiperspektivischen Fallverstehens ist der Beziehungsaspekt („Fall mit...“) als eigenständige Dimension des Fallbezugs erfasst (vgl. Müller 2004: 56)
8.3 Erleben, Ausdruck und Verstehen – Ebenen eines Ergänzungsverhältnisses
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(daten)geschützten Bereich dokumentiert werden.178 Auf der Ebene der Arbeitsbeziehung lässt sich für dokumentarische Filmarbeit ein begrenzter Kontakt zu den ProtagonistInnen während der ‚Materialerhebung’ beobachten, der jedoch in dieser Filmphase eine Vertrauensbasis zwischen Filmschaffenden und ProtagonistInnen erfordert (vgl. Kap. 3.4.2). Dagegen gründet sozialpädagogische Fallarbeit in verlässlichen Kontakten. Das heißt, die Begleitung und Unterstützung von Personen endet nicht abrupt, sondern erst dann, wenn z.B. Verselbstständigungsprozesse erkennbar sind. Insofern kollidiert hier zwangsläufig eine Fachlichkeit des geschützten Erzählraums mit einer Fachlichkeit, die auf die Veröffentlichung von Subjektivität zielt. Regeln der Privatkommunikation vermischen sich mit Regeln der öffentlichen Kommunikation. Gerade weil hierdurch entscheidende Prinzipien der Fallarbeit und Gestaltung von Arbeitsbeziehung – v.a. in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre – offensichtlich in der dokumentarischen Filmarbeit einen anderen Umgang verlangen, könnte Sozialpädagogik ein Problem mit dokumentarischen Darstellungsweisen haben, bzw. muss sich diese Gegensätzlichkeit bewusst machen. Ein zweiter fachlicher Gegensatz lässt sich an den Begriffen Lösungsorientierung, Anamnese und Diagnose entfalten. Wie mit den Konstruktionsdimensionen Raum, Zeit und ProtagonistIn gezeigt wurde, sind dokumentarische Filme in der Regel ereigniszentriert und nehmen eine Verlaufs- und Entwicklungsperspektive ein (vgl. Kap. 3.5). Eine Sozialpädagogische ‚Verlaufszeichnung’ hingegen vermerkt nicht nur Ereignisse, sondern hat ebenso Kontinuitäten und stabile Verhältnisse als mögliche Zielperspektiven im Blick. Dieser Unterschied lässt sich auf eine jeweils andere Lösungsorientierung zurückführen. Jeder Film setzt mit seinem Ausgang einen Status Quo, entlässt die Thematik oder die ProtagonistInnen in eine bestimmte Richtung. Diese Lösung bzw. Sinnstiftung am Ende ist verglichen mit sozialpädagogischer Fachlichkeit im Fallbezug nur eine Scheinlösung, da sie sich nicht an realen Wirkungen messen muss, sondern im Bereich des ‚Angedeuteten’ bleiben kann. Eine sozialpädagogische Lösungsorientierung beinhaltet dagegen wiederkehrende Evaluationsmomente. In die gleiche „Klärungsspirale“ (Müller 2004) sind die Begriffe Anamnese und Diagnose eingebunden. Es handelt sich dabei um zwei gegenläufige Denkbewegungen. Mit der Anamnese werden über die unmittelbare Sachebene hinaus weitere und hintergründige Handlungskontexte erschlossen, der Blick also erweitert. Die Diagnose sorgt hingegen für Eindeutigkeit und Festlegung, indem sie Aspekte fokus178
Auch in offenen Formen der Jugendhilfe, z.B. in der Kinder- und Jugendarbeit, ist Fallarbeit eingelagert. Im Gegensatz zu klassischen Beratungssettings, ist „die Fallbearbeitung nicht unter den Bedingungen der Separation und des Schutzes“ realisiert. „Fallarbeit in der sozialpädagogischen Arena der Kinder- und Jugendarbeit findet dagegen zunächst einmal im öffentlichen Raum statt und kann deshalb Auswirkungen auf die Beziehungsgestalt zu anderen haben“ (Cloos u.a. 2007: 24).
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Resümee
siert, die Entscheidungen begründen (vgl. Müller 2004: 62f). Da dokumentarische Darstellungsweisen ihren Schwerpunkt in der Ausdrucksstruktur haben, sind sie nur bedingt anamnese- und diagnosefähig. Dies liegt daran, dass sie keine Alternative zu sich selbst entwickeln können. Dokumentarische Darstellungsweisen stellen zwar einen reflexiven Umgang mit Rohmaterial dar, aber keinen reflexiven Umgang mit der eigenen Erscheinungsform und deren themenbezogener Angemessenheit. Die Frage „So oder anders?“ stellt sich als notwendige vorausgehende Klärung und ist meistens nicht Teil des Films. In der Filmrezeption ist also weder die Begründungsebene noch die Ebene der Alternativen enthalten. Dem Einzelfall gerecht zu werden bedeutet dann, eine schlüssige Ausdrucksstruktur entwickelt zu haben. Das heißt nicht, dass dokumentarische Filme nur eindimensional darstellen könnten, im Gegenteil. Multiperspektivität (alternative Sachebenen) wie auch Polarisierungen anderer Art werden permanent eingebaut und tragen zur Stringenz eines Entwicklungsverlaufs bei, nicht jedoch zu alternativen Verläufen. Diese müssen im sozialpädagogischen Fallbezug immer mitgedacht werden. Die Anforderungen des Konzepts multiperspektivischen Fallverstehens (zusammenfassend Müller 2004) gehen über die Perspektiventriangulation hinaus, in dem es die Gleichzeitigkeit und Rückbezüglichkeit von Handlungsschritten notwendig macht. Der Fall als offene Sachfrage wird nicht erst diagnostisch rekonstruiert, um dann daran die konsequente Interventionsfolge anzuschließen. Intervenierende Schritte stellen vielmehr Gelegenheiten zur weiteren Sachklärung dar. Es handelt sich also um einen parallelen Prozess und die „professionelle Qualität“ einer Entscheidung (zur Intervention) hängt auch „von ihrer Revidierbarkeit“ ab (ebd.: 61, vgl. auch Hörster 2004). Im sozialpädagogischen Fallbezug sind Methodenalternativen also stets zu berücksichtigen, in dokumentarischen Filmen werden Darstellungsalternativen notwendigerweise unterschlagen, wenn sie auch in der Produktionsphase eine wichtige Rolle spielen. Begrenztheit der vorliegenden Untersuchung Mit dieser Untersuchung konnte gezeigt werden, dass dokumentarische Filme Gestaltungsspielräume nutzen, die sich in der Subjektperspektive als Darstellungsvarianten von Lebensbewältigung konzeptualisieren lassen. Mit dem Bezug auf Lebensbewältigung wurde dezidiert auf einen zentralen Ansatz innerhalb sozialpädagogischer Theorie zurückgegriffen. Er reicht in viele handlungsfeldbezogene Fachtheorien der Sozialpädagogik hinein und ist an aktuelle Theorien der Adressatenorientierung anschlussfähig. Das heißt, es wurde eine Gegenüberstellung in einem möglichst allgemeinen Bezug gesucht. Gleiches gilt für die Ge-
8.4 Konsequenzen für eine sozialpädagogische Theorie des dokumentarischen Films
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genüberstellung von dokumentarischen Darstellungsweisen und sozialpädagogischem Fallverstehen bzw. einer „rekonstruktiven Sozialpädagogik“. Die Erörterung ihrer jeweiligen Reichweiten und Begrenzungen hat ein Ergänzungsverhältnis beider Bearbeitungskontexte im Ansatz deutlich gemacht. Damit sind die Grenzen dieser Untersuchung angesprochen: Es ging zunächst darum, diese Anschlussmöglichkeiten idealtypisch zu entwerfen. Die Voraussetzungen, unter denen das sinnvoll ist, konnten dabei nicht systematisch in den Blick genommen werden. Das heißt, nicht alle dokumentarischen Filme sind vermutlich in gleicher Weise, wie die hier untersuchten dazu geeignet, sozialpädagogisches Fallverstehen zu bereichern oder darin die Visualisierung eines theoretischen Konstrukts wie Lebensbewältigung erkennen zu können. Die Bedingungen dafür wären in einer formatvergleichenden Filmanalyse empirisch zu konkretisieren. 8.4 Konsequenzen für eine sozialpädagogische Theorie des dokumentarischen Films Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde eine Perspektive auf dokumentarische Filme entwickelt, die sozialpädagogisches Denken mit einbezieht. Mit dieser Perspektive und den damit erzielten empirischen Ergebnissen lassen sich nun Konsequenzen für eine sozialpädagogische Theorie des dokumentarischen Films formulieren. Sie sollen hier thesenhaft zusammengefasst werden. Zwei Fachlogiken sind für die vorliegende Untersuchung konstitutiv: Die eine Fachlogik ist die des Darstellens und Vermittelns von Inhalten. Sie überschreibt den Konstruktionsprozess, im Rahmen dessen dokumentarische Filme soziale Wirklichkeit erschließen. Ihr Geltungsbereich besteht in einem ‚Zeigeakt’, d.h. in einer Visualisierung des Sozialen, die auf öffentliche Verständigung zielt. Die zweite Fachlogik kann mit dem Begriff der „rekonstruktiven Sozialpädagogik“ überschrieben werden. Sie gründet in einem subjekt- und lebensweltorientierten Verständnis von strukturellen Problemlagen und Unterstützungsbedarfen. Impliziert ist damit ein ‚Hilfeakt’ an der Schnittstelle zwischen Lebenswelt und Gesellschaft bzw. gesellschaftlichem Wandel. Damit sind zwei Argumentationslinien vorgezeichnet, die sich zum einen aus der Anwendung dokumentarfilmischer Prinzipien auf sozialpädagogisches Denken und zum anderen aus der Anwendung sozialpädagogischer Kriterien auf dokumentarische Filme ergeben. Anhand dieser doppelten Figur lassen sich die Konsequenzen der Untersuchungsergebnisse folgendermaßen skizzieren:
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Resümee
Zeit
Abbildung 19: Theoretische Konsequenzen in zwei Richtungen Wird ausgehend von der Fachlogik des Darstellens und Vermittelns in dokumentarischen Filmen nach der Bedeutung der Befunde für eine „Rekonstruktive Sozialpädagogik“ gefragt, ist damit ein erkenntnismethodischer Aspekt angesprochen: Was bedeutet es, wenn Visualisierungen des Sozialen als Teil bzw. methodische Prinzip der Rekonstruktion subjektiver Sinnstrukturen begriffen werden? These 1: Dokumentarische Filme eröffnen der Sozialpädagogik ein neuartiges Verhältnis von Konstruktion und Rekonstruktion. Aspekten der Konstruktion (als Vorgehensweise der Übersetzung lebensweltlicher Themen in eine eigenständige Ausdrucksstruktur) wird innerhalb einer rekonstruktiven Orientierung der Sozialpädagogik kaum Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Kap. 8.3.3). In der Erschließungsstruktur dokumentarischer Filme hingegen bilden Rekonstruktion (Bezug auf lebensweltliche Erfahrungen) und Konstruktion (treffender Ausdruck) eine funktionale Beziehung. Werden dokumentarische Darstellungsweisen als eigenständiges Ausdrucksmaterial mit ähnlichem Gegenstandsbezug in den Prozess methodisch kontrollierter Praxisreflexion integriert, ergibt sich dabei für Fachkräfte eine Distanzierungsmöglichkeit vom eigenen Blick auf Praxis. Diese Distanzierungsmöglichkeit ist spezifisch, weil sie auf einem Bruch zwischen lebensweltlichen und filmischen Modi basiert. Wie sieht Lebensbewältigung aus? Damit ist ein grundsätzlich anderer Zugang zu professionstypischem Wissen verlangt als mit der Frage, wie sich Lebensbewältigung im Handeln von AdressatInnen zeigt. Nicht weil sich dokumentarische Filme im Bereich von Jugendhilfethemen einer fachlichen Perspek-
8.4 Konsequenzen für eine sozialpädagogische Theorie des dokumentarischen Films
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tive auf Alltagswelten angleichen, sondern weil sie eine verständliche Form für abstrakte Erklärungszusammenhänge finden, sind sie für eine rekonstruktive Sozialpädagogik von Interesse. These 2: Mit den Ergebnissen der Filmanalysen kann der Beitrag dokumentarischer Filme zu einer „Rekonstruktiven Sozialpädagogik“ nicht nur allgemein behauptet, sondern als drei Rekonstruktionsmuster von lebensweltlichen Zusammenhängen konkretisiert werden. Die innerhalb der filmischen Logik ausgewiesenen Strukturtypen der Vermittlung stellen übertragen auf sozialpädagogisches Denken spezifische Rekonstruktionsmuster dar. Gefragt werden kann, welche Bedeutung die Darstellungsfoki ‚expressive Subjektivität’, ‚Begegnung’ und ‚Abstraktion’ als Rekonstruktionsmuster lebensweltlicher Zusammenhänge haben könnten, und mit welchen sozialpädagogischen Rekonstruktionspraxen sie sich bereits überschneiden. Geht man hingehen von der Sozialpädagogik aus und fragt, welche Bedeutung eine sozialpädagogische Erschließungsstruktur sozialer Konstellationen für dokumentarische Filme haben kann, so spielen zunächst folgende Überschneidungen eine Rolle: sowohl für die Sozialpädagogik wie auch für dokumentarische Filme haben soziale Problemstellungen einen Aufforderungscharakter. Ihre Veröffentlichung wie auch darauf bezogene Unterstützungsformen erfolgen unter der Berücksichtigung von subjektiven Perspektiven und Strukturbedingungen (vgl. Kap. 3.1.1). Die vorliegende Studie schafft vor diesem Hintergrund eine Basis für die Sozialpädagogik, dokumentarische Filme in ihrer Eigenlogik zu untersuchen. Genauer gesagt wurde eine Möglichkeit ausgearbeitet, die inhaltliche Seite sozialpädagogischer Fragestellungen auf filmsprachlich-narrative Darstellungsweisen, auf die Visualisierung des Sozialen also, zu beziehen. In diesem Zusammenhang kann an den eingangs formulierten Bedarf an Kriterien zur Beurteilung filmischer Darstellungen von Jugendhilfethemen erinnert werden (vgl. Kap. 1). Auf allgemeiner Ebene liegen diese Kriterien in der Anforderung, ein Jugendhilfethema sowohl in der Dynamik für die ProtagonistInnen wie auch in der Dynamik für die Allgemeinheit zu erschließen. Spezifischere sozialpädagogische Kriterien ergeben sich jedoch mit dem Aufgabenkonstrukt der „Destruktion von Pseudokonkretheit“ im Rahmen lebensweltorientierter Sozialpädagogik (vgl. Kap. 3.1.2). Dazu zwei weitere Thesen:
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Resümee
These 3: Darstellungen von Jugendhilfethemen sind für die Sozialpädagogik dann aufschlussreich, wenn sie der Voraussetzung nach „Pseudokonkretheit“ dekonstruieren, d.h. eine Variabilität der Verhältnisse von ProtagonistIn und Umwelt in der Darstellungsform erkennbar machen. Die gegenstandsbezogenen Untersuchungsergebnisse zeigen, dass die drei analysierten Filme die Möglichkeit dazu bieten. Genauer gesagt sind es filmisch erzeugte Dissonanzen, die einen Ausdruck von „Pseudokronkretheit“ zunächst schaffen, dann aber auch dekonstruieren. So kann in sozialpädagogischer Perspektive zwischen mehr oder weniger aussagekräftigen Filmbeiträgen unterschieden werden. Der aussagekräftige dokumentarische Film beinhaltet zum einen eine thematische Entwicklung in den Kategorien Raum, Zeit und ProtagonistIn. Konkret heißt das: dokumentarische Filme erkennen die Ambivalenzen ursprünglicher Verhältnisse und zeigen subjektive Veränderungen auf (Raum). Sie schaffen filmische Prozessstrukturen, die sich von vermeintlichen Sachzwängen abheben (Zeit). Sie konzentrieren sich auf Grenzüberschreitungen und das Handlungspotenzial, das ProtagonistInnen dafür aufbringen. Sie bieten der Selbstthematisierung von ProtagonistInnen keinen Raum in dem Sinne, wie es die Endlos-Talk-Schleifen in vielen Nachmittagsprogrammen machen. Selbstauffassungen finden vielmehr in strukturell ambivalenten Figurenoppositionen einen sozialen Resonanzkörper und sind somit Ausdruck sozialer Entwicklung (ProtagonistIn). Wichtig ist zum anderen ein zweiter Aspekt: Der Anspruch der Dekonstruktion entfaltet sich als in der Rezeptionsästhetik angelegter Suchprozess. Als temporäre Verunsicherung im unmittelbaren Verstehen, als Vermeidung von personalen Zuschreibungsprozessen und insgesamt als vorstrukturierte Variabilität in der Sichtweise auf einen Sachverhalt. These 4: Filmanalyse kann als Methode zur Dekonstruktion von Pseudokonkretheit konzeptualisiert werden. Dokumentarische Filme nach den genannten Merkmalen zu beurteilen, setzt einen geschulten Blick voraus. Deswegen bedarf eine sozialpädagogische Theorie des dokumentarischen Films einer filmanalytischen Methodik. Deren Leistung liegt jedoch nicht in der Auswertung visueller Materialien – das wäre ein zu unspezifischer Anspruch –, sondern in der Rekonstruktion von Darstellungs- und Vermittlungskonzepten, die in einem ganz praktischen Sinn auf Verständigung zielen. Rekonstruiert werden Formen des Zeigens, die mehr oder weniger dazu in der Lage sind, auch Ambivalenz und Mehrdeutigkeit erfahrungsnah und im Konzept der Erzählung (diegetisch begrenzt) nachvollziehbar zu machen. So wäre der Anspruch an eine auf die Visualisierung des Sozialen konzentrierte Methode zur Dekonstruktion von Pseudokonkretheit ganz allgemein zu formulieren.
Ausblick
Abschließend sollen drei Perspektiven aufgezeigt werden, die den Ertrag und die praktischen Anschlussstellen der Untersuchungsergebnisse verdeutlichen. 1. Dokumentarische Filme als Material sozialpädagogischer Forschung Wie eingangs dargestellt, wird die Untersuchung als Beitrag zur sozialpädagogischen Adressatenforschung begriffen. Die Relevanz der Ergebnisse ergibt sich mit der Rekonstruktion einer ‚öffentlichen JugendhilfeadressatIn’. Voraussetzung dafür ist der Geltungsbereich dokumentarischer Fernsehfilme. Sie sind Medien der Verständigung im öffentlichen Raum. Als Kommunikationsprozesse angelegt, zielen sie darauf, allgemeinen Interessen an gesellschaftlichen Entwicklungen im Ausschnitt einzelner Geschichten auf anschauliche Weise nachzukommen. Indem ein Bewusstsein für die Lebenssituationen und Lebenswelten von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien entstehen kann, werden Meinungsbildungsprozesse unterstützt. Die Analyse medialer Konstruktionen bedeutet einen Zugewinn an Wissen, das wiederum für die Bemühungen der Fachverbände um eine Stärkung der öffentlichen Berichterstattung über Jugend und Themen aus dem Bereich der Kinderund Jugendhilfe nutzbar gemacht werden kann. Die hier vorliegende Arbeit bildet dabei längst nicht alle relevanten Fragestellungen ab, kann jedoch als ein Baustein angesehen werden, aus dem sich in einem weiteren Prozess Kriterien für ein produktives Ergänzungsverhältnis zwischen dokumentarischen Darstellungsweisen und sozialpädagogischer Fachlichkeit ableiten lassen. Um die Beurteilungsmöglichkeiten dokumentarischen Fernsehens aus sozialpädagogischer Perspektive auf eine profunde Basis zu stellen, müsste es allerdings zu einer Ausweitung der Forschung kommen. Denkbar sind Einzelarbeiten zu spezifischen Fragestellungen in der Jugendhilfe, quantitative Untersuchungen zum Vorkommen von Themen und Adressatengruppen, Forschungen zu neuen Trends im ‚Genremix’, die ganz unmittelbar Lebenshilfe geben wollen etc. Bislang ungeklärt ist vor allem, wie die ZuschauerInneninteressen zu qualifizieren sind, die sich hinter den ermittelten Einschaltquoten verbergen, und wie Meinungsbildung über solche dokumentarisch vermittelten Prozesse des Fallverstehens stattfindet.
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Ausblick
2. Dokumentarische Filme als Praxis des Dokumentierens Eine aktuelle Herausforderung sozialpädagogischer Fachlichkeit besteht im Dokumentieren von Veränderungen im Hilfeprozess. Sie spielt z.B. in der Beurteilung von Fallverläufen im Rahmen erzieherischer Hilfen eine Rolle. Ein anderer Bereich ist die frühe Bildungsförderung: ErzieherInnen in Kindertageseinrichtungen sollen kontinuierlich den Entwicklungsstand und -fortschritt der Kinder beobachten und dokumentieren. „Die verpflichtende Dokumentation von Entwicklungsverläufen und Bildungsprozessen setzt die Schriftform der Beobachtungsergebnisse voraus. Das Entwicklungstempo, die Potenziale und Talente eines Kindes werden respektiert und in der Entwicklungsdokumentation zum sichtbaren Ausdruck seines Bildungsverlaufs und seiner Bildungserfolge (...) Weitere Dokumente, wie z.B. Werke des Kindes, Gesprächsaufzeichnungen, Fotos von Schlüsselszenen oder Videosequenzen bilden zusammen mit den Entwicklungsbeobachtungen der Erzieherinnen in Entwicklungstagebüchern oder Portfolios greifbare Lernspuren eines persönlichen Bildungsbiografie“ (Orientierungsplan für Bildung und Erziehung für die baden-württembergischen Kindergärten 2006: 51, Herv. C.F.). Dieses anspruchsvolle Ziel erfordert einen reflexiven Umgang mit Rohmaterial und Dokumenten und setzt beim Fachpersonal „ethnographische Kompetenz“ (Lindner 2000) zur Beobachtung und Entdeckung voraus, Eigenschaften also, die prinzipiell auch für die Dokumentarfilmpraxis eine Rolle spielen (vgl. insb. Kapitel 2.2 und Kapitel 3.4.2). Dokumentieren heißt ausgehend von den hier berücksichtigten Filmbeispielen, das auszubauen, was im Material angelegt ist. Es beschreibt einen Deutungsprozess, der in eine Ausdrucksstruktur mündet. Interessant ist deswegen vor allem die im Orientierungsplan formulierte Notwendigkeit eines „sichtbaren Ausdrucks“ und „greifbarer Lernspuren“, denen ein Entwicklungstagebuch gerecht werden soll. Gefordert sind also erfahrungsnahe Darstellungsweisen. Gerade dafür könnten die hier ausgearbeiteten Untersuchungskategorien und die abgeleiteten Fragestellungen hilfreich sein. So können „Lernspuren“ beispielsweise in einer räumlichen Perspektive rekonstruiert und Schlüsselszenen als räumliche Überschreitungen dokumentiert werden. Ebenso kann der institutionell geordnete Kontext Kindertageseinrichtung daraufhin befragt werden, inwieweit er das Aneignungshandeln des Kindes unterstützt hat. So kann das „Entwicklungstempo“ als individueller Lernzeithorizont nachgezeichnet werden, indem objektive zu subjektiven Zeitmarken ins Verhältnis gesetzt werden. Schließlich kann das Kind auch als Protagonist seiner Bildungsbiographie und damit des Entwicklungsberichts angesehen werden. Das bedeutet dann, sein Entwicklungspotenzial in Verbindung zu bringen mit seinen Beziehungen zur Umwelt, seine Ausdrucksformen als zentralen Zugang zu seiner Lebenswelt
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zu verstehen und genau darin die Referenzpunkte einer individuellen Bildungsbiographie zu setzen. 3. Dokumentarische Filme zur Ausbildung professioneller Deutungskompetenz Dokumentarische Filme sind für die Sozialpädagogik auch aufgrund der festgestellten Homologie im Prozess des Fallverstehens interessant, dies in einem ganz praktischen Sinn: als Übungsmaterial. Selbstreflexive Kompetenzen in der Ausbildung zu fördern und berufsbegleitend zu trainieren ist für die Arbeit in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern zentral. Nach Müller besteht eine erste Lernaufgabe für Studierende darin, bereits erworbene praktische Erfahrungen mit sozialpädagogischer Arbeit auswertend zu reflektieren und eigene Alltagstheorien dabei zu hinterfragen (vgl. Müller 1997: 209ff). Im Rahmen von sozialpädagogischer Kasuistik lernen Studierende in Arbeitsgruppen erstens, über zurückliegende Praxiserfahrungen ‚erlebensgetreu’ zu berichten bzw. sich in die Erlebnisberichte anderer hineinzuversetzen, und zweitens, ausgehend von diesen Fallschilderungen einen gemeinsame Beobachtungsstandpunkt zu entwickeln und den Fall fachlich (unter Einbezug von Fachwissen also, das sich in der Situation aktualisiert) zu erörtern (vgl. ebd.). Dokumentarische Filme könnten ein sinnvoller Bestandteil dieser Einübung eines fachtheoretisch reflektierten Blicks auf Praxis sein. Eine besondere Chance würde darin liegen, die Ausdruckskompetenz dokumentarischer Darstellungsweisen dafür zu nutzen, dass sich Studierende in einen Fall hineinversetzen und emotional involvieren können. Davon ausgehend bestünde dann eine Herausforderung darin, sich von dieser auf Vermittlung ausgerichteten Falldarstellung zu lösen und einen alternativen Fallbezug zu entwickeln – z.B. von einer problemzentrierten Darstellung zu einer lösungsorientierten Handlungsperspektive zu gelangen. Oder ausgehend von dem konstitutiven Wissen, das ein dokumentarischer Film über einen Fall vermittelt, nach dem nichtmitgeteilten Wissen zu fragen oder auch über die Grenzen sozialpädagogischer Handlungsmöglichkeiten fallbezogen nachzudenken. Schließlich wären das Übungen, die mit dem sozialpädagogischen Begriff von Anamnese, wie ihn Müller versteht, zusammenfallen. Das heißt, einen Fall stets als offene Sachfrage zu behandeln und bei der Klärung der vermeintlichen Problemstellung anstatt auf angebliche Sachzwänge auf alternative Sachebenen zu setzen (vgl. Müller 2004: 62). Ein solches Vorgehen würde schließlich auch ein Bewusstsein für die spezifischen Konstruktionsprozesse von sozialer Wirklichkeit, die die Sozialpädagogik begründeterweise bevorzugt, stärken.
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