Perry Rhodan
Jubiläumsband
zur Gesamtauflage von 900 Millionen Exemplaren
Verlag Arthur Moewig GmbH Rastatt
Alle R...
59 downloads
673 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Perry Rhodan
Jubiläumsband
zur Gesamtauflage von 900 Millionen Exemplaren
Verlag Arthur Moewig GmbH Rastatt
Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1984 by Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt Titelillustration: J. Bruck Verkaufpreis inkl. gesetzl. Mehrwertsteuer Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300, A-5081 Anif Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-8118-7094-7
Inhalt Vorbemerkungen Clark Darlton Der Flug nach Gateway Kurt Mahr Experiment 2984 H. G. Ewers Der weiße Schrein Ernst Vlcek Alle naselang H. G. Francis Auge in Auge Marianne Sydow Die heimlichen Herrscher Detlev G. Winter Die hundert Kinder der Gyrdie Chain Horst Hoffmann Als Grusynski kam Thomas Ziegler Star-Amore Arndt Ellmer Der Geist der Festung
Vorbemerkungen Wenn eine Serie wie PERRY RHODAN mit ihrer Weltauflage einer zehnteiligen Ziffer zusteuert (gegenwärtig sind es nach unvollständigen Ermittlungen etwas über 900 Millionen Exemplare, so dass wir hier und heute im Orwell-Jahr »erst« das Neunhunderter-Jubiläum feiern), dann spricht das zweifellos für den Beliebtheitsgrad eben dieser Serie. Spekulationen darüber, in welch hohem Maß PERRY RHODAN dazu beigetragen hat, die SF hierzulande populär zu machen, mögen müßig sein. Allerdings halten wir es für durchaus legitim, solchen Gedanken nachzuhängen und unserer und Ihrer Serie einen großen Anteil an der erfreulichen SF-Entwicklung im deutschen Sprachraum beizumessen. Eines wissen wir jedoch ganz sicher: Nach K. H. Scheer und Clark Darlton, die PERRY zu einer Zeit aus der Taufe hoben, als der Begriff »Science Fiction« den meisten bundesrepublikanischen Buchhändlern noch nicht einmal bekannt, geschweige denn geläufig war, war es Willi (William) Voltz, der die Serie zu dem machte, was sie heute ist, und der dafür sorgte, dass wir dieses Jubiläum feiern können. Band 74 (1963 erstmals veröffentlicht) stellte seinen Einstieg dar. Im Lauf der Jahre bestimmte er mehr und mehr den Kurs der Serie, die er schließlich ab Band 673 als allein verantwortlicher Exposeautor leitete. Willi Voltz ist nicht mehr unter uns. Er verstarb am 24.3.84 nach schwerer Krankheit, gegen die er mit ungebrochenem Willen mehr als zwei Jahre lang tapfer ankämpfte. Noch wenige Tage vor seinem Ableben waren seine Gedanken auf die Weiterentwicklung von PERRY RHODAN gerichtet. Er hatte sogar vor, seinen Beitrag für den vorliegenden Jubiläumsband zu leisten, doch er schaffte es nicht mehr, das Konzept in eine Story umzuwandeln.
Wir alle aus dem PERRY-RHODAN-Team trauern um Willi Voltz. Gleichzeitig sind wir uns aber der Verpflichtung bewusst, in seinem Sinn weiterzumachen. »The show must go on!« – Dieses Motto gilt, denn so wollte es Willi Voltz, unser Freund und Kollege, den wir nie vergessen werden. Dass die Show weitergeht, zeigen die nachfolgenden Stories (die Autoren sind diesmal nach dem Prinzip der Seniorität aufgelistet, also nach der Reihenfolge ihres erstmaligen Auftretens bei PR) mit ihren zur Hälfte seriösen, zur anderen Hälfte humorvollen bis grotesken Stories aus dem Jahrtausende und Lichtjahrmillionen umspannenden PR-Milieu. Die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden, und so verschiedenartig wie die Geschmäcker wirken auch die einzelnen Stories, die in diesem Band enthalten sind. Perry Rhodan, unser Hauptheld, kommt nur einmal vor, dafür figurieren Mausbiber Gucky und der unverwüstliche Bully in fünf der Erzählungen. Natürlich haben auch Dalaimoc Rorvic und Thatcher a Hainu, Lieblingsfiguren von H. G. Ewers, und Walty Klackton, der schreckliche Korporal, dessen sich Ernst Vlcek mit Vorliebe in seinen nicht-exposégebundenen PR-Arbeiten annimmt, ihre wirkungsvollen Auftritte. Selbst der ominöse »Vurguzz«, der grünliche SF-Schnaps mit über 70 Volumprozent, der unseres Wissens erstmals Anfang der fünfziger Jahre von einem Zahnarzt im oberbayerischen Raum nach einem eigenen Geheimrezept hergestellt wurde, fehlt nicht. Thomas Ziegler lässt seinen Helden diesem gefährlichen Gesöff zusprechen und vertritt gleichzeitig die Theorie, dass Gurkensalat einen Prozess spontanen Intelligentwerdens einleiten könnte. Doch genug der Worte zu den Stories! Lesen Sie nun bitte selbst, was die zehn Autoren aus Anlass des fünften PERRYRHODAN-Jubiläums zu Papier gebracht haben. Günter M. Schelwokat
Clark Darlton
Der Flug nach Gateway In den relativ ruhigen Jahren nach dem Plophoser-Aufstand wird der Ausbau der freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem Solaren Imperium und fremden Intelligenzen systematisch vorangetrieben. Das beweist auch die terranische Hilfsaktion für die Bewohner der Planeten »Gateway« und »Scherbel«, deren Sonnen rund fünfhundert Lichtjahre von Sol entfernt stehen. Die beiden Welten werden von einem Geheimnis umgeben, das es zu lüften gilt. Aus ganz bestimmten Gründen sind jedoch nur Mutanten, speziell Telekineten, dazu in der Lage. Kein Wunder also, dass Gucky und seine Ilts auf die Reise geschickt werden. Die Frage ist nur, wie effektiv erweist sich eine undisziplinierte Horde von insgesamt vierzehn Mausbibern – zumal diese mit der THUNDERBIRD unter dem berüchtigten Kapitän Thunderbolt in den Einsatz gehen …
1. Zu jener Zeit, einige Jahrzehnte vor Perry Rhodans erstem Flug zur Nachbargalaxis Andromeda, herrschte nach dem Aufstand der Kolonisten auf Plophos gegen das Solare Imperium relative Ruhe in der heimatlichen Milchstraße. Es war eine Zeit, die zum weiteren Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen Terras mit den Kolonialplaneten genutzt wurde. Scharfe Kontrollen wurden von Seiten der Behörden durchgeführt, als die Tonnage der terranischen Handelsflotte sprunghaft anstieg. Schiffe älterer Bauart, wie etwa die THUNDERBIRD des Captain Thunderbolt, waren den Überwachungsbehörden schon öfters aufgefallen, aber es gab keinerlei Beweise dafür, dass der alte Raumfahrer ungesetzlichen Handel trieb oder sich gar des Schmuggels schuldig machte. Es war aber auch die Zeit, die der Mausbiber Gucky dazu nutzte, sich auf dem Mars von den Strapazen der vergangenen Monate und Jahre gründlich zu erholen. Wenn er heute, fast zweitausend Jahre später, daran zurückdachte, kamen ihm fast die Tränen. Denn damals war er noch nicht allein. Alle überlebenden Mausbiber, die der Katastrophe im Jahre 2045 entkommen waren, als ihr Heimatplanet Tramp vernichtet wurde, befanden sich mit ihm auf dem Mars. Mit der inoffiziellen Begründung, hier könnten sie am wenigsten Unsinn anstellen. Es war Gucky völlig klar, dass sein Busenfreund Reginald Bull dahintersteckte. Deshalb war er auch so schnell bereit gewesen, sich um den Garten zu kümmern, der Guckys Bungalow am Ufer des Goshunsees umgab. Insgesamt waren es vierzehn Mausbiber, die sich auf dem Mars aufhielten. Ein wenig abseits der terranischen Siedlung hatte man ihnen ein eigenes Terrain zugeteilt, auf dem ein kleines Erho-
lungsdorf mit allen nur denkbaren Einrichtungen entstanden war. So ganz abgeschieden allerdings lebten die Ilts hier nicht. Immer wieder erschienen freundliche Besucher, meist zur ungelegenen Zeit, um sich mit den possierlichen Ilts zu unterhalten. Sie brachten kleine Geschenke mit, wohl schon allein aus dem Grund, um nicht per Telekinese aus dem Dorf befördert zu werden. Hier war es Iltu, Guckys noble Gattin, die den Verdacht äußerte, auch hinter diesem Gerücht könne vielleicht der gute Bully stecken. Aber wie dem auch sei: es war eine schöne und glückliche Zeit. Bis die erste Langeweile aufkam. Gecko, der Gucky ziemlich ähnlich sah, so dass man sie hätte für Brüder halten können, kam mit saurer Miene herbei geschlendert, beide Hände in den Taschen der Kombination. Gucky saß mit Iltu auf einem Baumstamm, der den großen Spielplatz begrenzte. Sie übten gerade mit ihrem Sohn Jumpy das Teleportieren. Der Kleine hatte noch immer ein riesiges Talent für Fehlsprünge und rematerialisierte meist dort, wo er nicht hinwollte. »Mit denen spiele ich nicht mehr Ball«, jammerte Gecko. »Wullewull und Axo schwindeln andauernd, obwohl ausgemacht war, dass Telekinese beim Spiel verboten ist.« Gucky betrachtete ihn voller Zweifel. »Und du tust das nicht?« »Iiiich…?« Geckos Gesichtsausdruck verriet einen Grad der Unschuld, der selbst eine Jungfrau vor Neid hätte erblassen lassen. »Ich schwindle nie! Ich habe noch nie einen Ball telekinetisch in das Tor des Gegners getrieben, wie die beiden das pausenlos machen.« »Dann mach es eben auch«, riet Gucky, dem die ewigen Streitereien seiner Schutzbefohlenen zum Hals heraushingen. »Zeige es ihnen, dann geben sie es bald auf. Ausgerechnet Axo, der auf Terra eine private Bierquelle hat!« Es war allgemein bekannt, dass sich Axo an einer großen Brauerei beteiligte und größten Wert auf naturreine Produkte legte.
»Er hat auch wieder einen sitzen«, petzte Gecko. »Sein Problem! Außerdem wird es halb so schlimm sein.« Nicht hundertprozentig zufrieden kehrte Gecko zu den anderen zurück, und von nun an nahm das Ballspiel einen Verlauf, der, gelinde ausgedrückt, nur noch als »wüste Holzerei« bezeichnet werden konnte, obwohl kein einziger Ilt mehr eben diesen Ball mit Händen oder Füßen berührte. Ein ahnungsloser Zuschauer wäre aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, weil die Mausbiber nur noch auf der Stelle traten und mit ihren mentalen Kräften spielten. Der Ball raste wie irrsinnig auf dem Feld hin und her, ohne auch nur noch ein einziges Mal in ein Tor zu gelangen. Jumpy sah fasziniert zu. »Darf ich da nicht mitspielen?« fragte er. Iltu wäre vor Schreck fast vom Stamm gefallen. »Nie und nimmer! Bei der Bande gerätst du unter die Räder.« »Was für Räder?« fragte Jumpy verblüfft. »Ich sehe keine Räder.« Gucky seufzte. »Wieder so ein völlig sinnloser terranischer Ausspruch, Jumpy. Daran musst du dich langsam gewöhnen.« Er stutzte plötzlich, obwohl außer den elf Ballspielern und seiner Familie nichts Außergewöhnliches zu sehen war. Dann sah er in Richtung des Dorf ausgangs, wo nur Sekunden später ein Mann erschien und zielstrebig auf sie zukam. Die etwas korpulente Gestalt in der grünen Kombination war unverkennbar. Reginald Bull! »Was will denn Bully hier?« wunderte sich Iltu und bekam wieder ihre Ahnungen. »Man wird doch nicht…« »Vielleicht doch«, unterbrach sie Gucky, entsann sich aber zum Glück schnell genug an die Abmachung mit den Terranern, nur im Notfall seine telepathischen Fähigkeiten einzusetzen. »Aber ich weiß es natürlich nicht. Warten wir’s ab.« Bully umging den Spielplatz in großem Bogen, um nicht versehentlich von dem Ball getroffen zu werden, der völlig unmoti-
vierte Kurven flog und gefährlich in seine Nähe geriet. Als der Terraner Gucky, Iltu und Jumpy erreichte, stöhnte er wie nach vollbrachter Schwerstarbeit auf und nahm ebenfalls auf dem Baumstamm Platz. »Willkommen auf dem Mars«, wurde er von Gucky begrüßt. »Was führt dich zu uns, alter Freund?« Bully sagte nur ein einziges Wort: »Thunderbolt!« Der Mausbiber widerstand der Versuchung zu espern, und erkundigte sich: »Was, bitte, ist Thunderbolt?« Wenn Bully überrascht von Guckys Ahnungslosigkeit war, so verriet er es mit keiner Miene. »Wer, solltest du fragen. Captain Thunderbolt, der Schrecken der Handelsflotte und aller ehrlichen Kaufleute. Noch nie gehört?« »Doch, entfernt«, entsann sich der Mausbiber. »Was ist denn mit ihm?« »Er wird in Kürze auf dem Mars landen. Der Raumhafen wurde vorsichtshalber schon geräumt.« »Warum denn das?« wollte Iltu wissen. »Ist er denn so gefährlich?« Bully schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Er nicht, aber sein Schiff, die THUNDERBIRD. Der Kahn kann jeden Augenblick auseinanderfallen. Wie der durch den RÜV kommt, ist uns allen ein Rätsel.« RÜV war der »Raumschiff-Überwachungs-Verein«, in den Augen mancher eine absolut überflüssige behördliche Einrichtung. »Und deshalb räumt ihr den Raumhafen?« Iltu konnte es nicht fassen. »Das kostet aber wieder eine Stange Geld.« »Immer noch billiger als eventuelle Aufräumungsarbeiten nach einer Bruchlandung der THUNDERBIRD mit nachfolgender Explosion.« Gucky stellte die entscheidende Frage: »Was hat das alles mit uns zu tun? Der Raumhafen ist zwanzig Kilometer von hier entfernt.« Und Bully gab die entscheidende Erklärung: »Thunderbolt kommt wegen euch!«
Bully musste sehr laut gesprochen haben, denn der Ball der Ilts auf dem nahen Spielfeld schien plötzlich außer Kontrolle geraten zu sein. Er schoss wie eine Rakete senkrecht in die Höhe, drehte einige Spiralen und fiel dann auf den Marsboden hinab, ohne jemand zu treffen. Die Ilts kamen herbeigelaufen. »Wer kommt wegen uns?« rief Gecko schon von weitem. »Gibt es eine Abwechslung? Wäre auch Zeit, meine ich.« »Wir auch!« ertönte es im Chor. Bully nickte entsagungsvoll. »Das dachte ich mir schon.« Er wandte sich an Gucky. »Vielleicht habe ich etwas übertrieben, als ich von Thunderbolts Schiff sprach.« »Aha!« machte der Mausbiber. »Strategischer Rückzug – so nennt man das ja wohl im Jargon der Militärs. Dann mal raus mit der Sprache, Bully!« Der aber hielt sich zurück. »Ich sage und denke nichts, Kleiner. Thunderbolt soll dir selbst erzählen, was er von euch will. Aber ich kann dir einen Tipp geben: Wenn du klug bist, schicke ihn telekinetisch in die THUNDERBIRD zurück, sobald er hier auftaucht.« »Dazu sind wir alle viel zu neugierig, stimmt’s, Freunde?« »Stimmt!« erklang es im Chor. Bully erhob sich und winkte ihnen zum Abschied zu. »Dann kann ich euch auch nicht helfen, aber um es vorwegzunehmen: Rhodans Genehmigung für das Unternehmen THUNDERBIRD liegt vor.« Ohne jede weitere Erklärung schritt er davon. Sie sahen ihm nach, aber nur für Sekunden sprachlos. Dann brach der Schwall von Fragen über Gucky herein, bis dieser sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als Iltu und Jumpy zu packen und in sein Haus zu teleportieren. »So eine Gemeinheit«, schimpfte Wullewull hinter ihm her. »Oder auch nicht«, meinte Murks, der seinen Namen nach allen bisherigen Erlebnissen zu Recht trug. Die Zweihundert-Meter-Walze THUNDERBIRD musste einst den Springern gehört haben, die diese Bauart bevorzugten. Kein
Mensch wusste, wie Thunderbolt an das Schiff gelangt war. Alle Fragen in dieser Richtung wurden mit dem Hinweis beantwortet, dass bereits sein Vater und sein Großvater die THUNDERBIRD besessen hätten, was natürlich wiederum Erkundigungen nach der Betriebssicherheit zur Folge hatte. Ein wenig schwankend, aber sonst relativ stabil, senkte sich das Schiff der Betonfläche des Raumhafens entgegen und landete mit einem heftigen Ruck. Zum Glück blieb es auf den Landestützen stehen und kippte nicht um, wie einige Mitglieder der Hafenbehörde heimlich befürchtet hatten. Wenig später verließ Captain Thunderbolt das Schiff, kletterte die ausgefahrene Metalleiter hinab und strebte mit weiten Schritten quer über die Betonfläche dem Ausgang zu, der sonst nur von Fahrzeugen benutzt wurde. Das offizielle Abfertigungsbüro ignorierte er. Einige der Beamten hatten inzwischen ihre Betonbunker verlassen und empfingen ihn beim Tor. »So geht das nicht, Captain. Sie müssen durch die Abfertigung.« »Ich bin seit mehr als hundert Jahren fertig«, knurrte ihn der Graubart an. »Was soll also der Blödsinn?« »Papiere!« erklärte der Mann eingeschüchtert. »Papiere?« schnaubte Thunderbolt verächtlich. »Seit wann denn das? Ich bin ordnungsgemäß in Terrania gestartet. Ihr könnt ja nachfragen. Die Landeerlaubnis für Mars liegt bei mir an Bord.« »Die müssen wir abstempeln.« Er warf einen Blick hinüber zum Schiff. »Woraus besteht die Ladung?« »In erster Linie aus mir, Mann. Und dann noch aus meinem Partner Josua Trängern. Spezialist für neu entdeckte Elemente.« »Sonst nichts?« Thunderbolt beherrschte sich in bewundernswerter Weise. »Der Antrieb im Heckteil, dann wäre da noch der Hangar mit einem Gleiter und einem Landfahrzeug, außerdem Einrichtungsgegenstände in den Kabinen, eine kleine Küche natürlich und…« »Wir meinen die Ladung!« wurde er unterbrochen. »Was führen Sie ein?«
»Ob ich wo was einführe?« stellte sich Thunderbolt begriffsstutzig. Der fragende Beamte war die Geduld in Person, allein schon deshalb, weil sich der Szene einige Vorgesetzte näherten, die den Vorgang mit Interesse verfolgten. »Ob Sie Waren einführen, die der Inspektionspflicht unterliegen.« »Warum sagen Sie das nicht gleich? Nein, keine Waren. Und nun lassen Sie mich endlich durch, ich habe eine dringende Verabredung.« »Mit wem?« Nun platzte dem alten Haudegen endgültig der Kragen. »Wissen Sie, was Sie das angeht? Das geht Sie einen…« »Mäßigen sie sich, Captain Thunderbolt«, griff ein höherer Beamter mit sachlich-strengem Tonfall ein. »Ihre Ankunft wurde uns von Terrania offiziell angekündigt und bestätigt, dass Sie keine Waren oder sonstigen Güter an Bord haben. Sie dürfen passieren. Stawoker, öffnen Sie das Tor.« Thunderbolt nickte dem geknickten Stawoker gnädig zu und schritt gemächlich auf die stets bereitstehenden Gleitertaxis zu, ohne sich weiter um die inzwischen zu einem vollen Dutzend angewachsene Streitkraft der Beamten zu kümmern. »Ich tat nur meine Pflicht«, wandte sich Stawoker an seinen Vorgesetzten. Der zog einen Zettel aus der Tasche, warf einen Blick, darauf und ließ ihn wieder verschwinden. »Ich weiß, ich weiß. Aber eine dienstliche Anweisung aus Terrania hat hiesigen Vorschriften gegenüber Vorrang.« Nach dieser geheimnisvollen Andeutung kehrte er in das Abfertigungsgebäude zurück, gefolgt von seinem recht irritiert wirkenden Stab. Das Lufttaxi landete mitten auf dem Spielplatz der Mausbiber. Thunderbolt arretierte die Automatik und blickte sich suchend um. Es war niemand zu sehen. Er zuckte die Schultern und ver-
ließ den Platz in Richtung der nahen Bungalows, in denen er jene zu finden hoffte, deren Hilfe er benötigte. Die Ilts, nach eindringlicher Instruktion durch Gucky im Gemeinschaftshaus versammelt, sahen ihn kommen. Ooch, außer Gucky der einzige echte Telepath, hütete sich zu espern. Gucky hätte das sofort bemerkt und seine Drohung wahr gemacht, ihn sofort in die ausbruchsichere Parazelle einzusperren, den Schrecken aller Telekineten, weil sie nicht an das elektronische Sperrschloß konnten. Thunderbolt marschierte mit den Händen auf dem Rücken verschränkt genau auf das Gemeinschaftshaus zu, das – größer als die Wohnbungalows – besonders auffiel. Dort, so hatte ihm Bully erklärt, würde er die Mausbiber sicher finden, wenn sie nicht im Freien herumtollten. Bevor er das Haus erreichen konnte, öffnete sich dessen Tür. Thunderbolt blieb stehen, denn Gucky hatte zur Begrüßung des Gastes seine Paradeuniform angezogen, obwohl er sie hasste wie die Pest. Sie war ihm zu eng, und er fühlte sich in ihr wie eine Wurst in der Pelle. »Willkommen auf dem Mars, Captain«, mit diesen Worten ging der Ilt dem Captain entgegen und reichte ihm die Pfote, die Thunderbolt geistesgegenwärtig ergriff und kräftig schüttelte. »Wir freuen uns ganz mächtig über die Abwechslung.« »Gucky, wenn ich nicht irre. Wieso Abwechslung? Hat Reginald Bull sich entsprechend geäußert?« »Er hat uns bloß neugierig gemacht. Aber komm schon mit, die anderen sind gespannt wie Flitzbogen.« Gucky duzte jeden, das war bekannt, also verzichtete Thunderbolt auf einen Protest, der ohnehin sinnlos gewesen wäre. Er nickte und folgte wortlos der Einladung. Ein einziger Mausbiber war notfalls zu bändigen, hatte man Thunderbolt informiert, aber mit vierzehn von ihnen gleichzeitig fertig zu werden, galt schon als sensationeller Dressurakt.
Aber dann siegte nach dem heillosen Durcheinander der Begrüßung doch die Neugier der Ilts. Gucky sorgte für Ruhe und stellte dann die alles entscheidende Frage: »Also, Captain, worum geht es eigentlich? Bullys Andeutungen klangen etwas seltsam, gaben aber keinen Hinweis. Er tat aber so, als sei es ungeheuer wichtig – und gefährlich.« Thunderbolt hatte in dem Sessel Platz genommen, den man ihm angeboten hatte. Er sah in die erwartungsvollen Augen der um ihn versammelten Ilts und begann: »Das Solare Imperium ist dem Volk der Torsen auf dem Planeten ,Gateway’ zu großem Dank verpflichtet, weil es einen größeren Flottenverband vor der sicheren Vernichtung bewahrte. Rhodan versprach, ihnen dafür einen Wunsch zu erfüllen, und die Torsen wünschen sich eine Ladung Kartaunik vom Planeten Scherbel II. Wir haben den Auftrag, die Ladung zu beschaffen und nach Gateway zu bringen.« »Das ist alles?« wunderte sich Gucky und widerstand der Versuchung, durch Espern zu erfahren, wo der Hase im Pfeffer oder der Hund begraben lag. »Nie von Gateway oder Scherbel gehört.« »Das ist ja der Witz bei der Sache – beide Welten gehören zu den verbotenen. Die Zusammensetzung ihrer Atmosphären ist derart, dass sich fast alle uns bekannten Elemente, wenn sie mit ihr in Berührung kommen, blitzartig in Energie umwandeln. Also auch unsere Schiffe. Die Warnung der Torsen kam rechtzeitig, als der Flottenverband zur Landung ansetzte.« »Ich fürchte, das ist nichts für uns«, deutete Gucky einen taktischen Rückzug an. »Warum holen sich diese Torsen denn nicht selbst das Zeug von Scherbel?« »Weil weder die Torsen noch die Scherbeier die Raumfahrt kennen. Beide Planeten stehen lediglich über Hyperfunk, den sie schon lange haben, in Verbindung. Die beiden Planeten sind nur acht Lichtjahre voneinander entfernt.« Iltu fragte: »Und dieses Kartaunik, was ist damit? Explodiert es denn nicht, wenn es mit unserer Atmosphäre zusammenkommt?«
»Höchstwahrscheinlich. Ausprobiert hat es noch niemand.« »Ach nein?« rief Murks in schriller Empörung. »Wir sind also die Versuchskaninchen? Ohne mich, Captain Donnerbolzen!« »Thunderbolt!« korrigierte ihn Gucky mit leichtem Vorwurf. Er wandte sich wieder an den Captain: »Und wie stellt man sich in Terrania die geplante Transaktion vor, ohne dass wir alle in die Luft fliegen?« »Ganz einfach. Die bereitgestellte Menge Kartaunik wird telekinetisch von Scherbel in eine Vakuumkammer meines Schiffes gebracht, das außerhalb der Atmosphäre den Planeten umkreist. Über Gateway erfolgt dann der umgekehrte Vorgang. Das wäre alles.« Das klang einleuchtend. »Und diese Vakuumkammer befindet sich an Bord eines Schiffes«, warf Iltu besorgt ein, denn sie erinnerte sich der Worte Bullys, »das eigentlich auf den Schrottplatz gehört?« Thunderbolt fuhr aus dem Sessel hoch. »Wer hat denn diesen Unsinn in die Welt gesetzt?« »Bully«, informierte ihn der Chor der Mausbiber. Thunderbolt setzte sich wieder, sichtlich beruhigt. »Na ja, dann! Glaubt ihr denn, Rhodan hätte sein Einverständnis zu diesem Unternehmen gegeben, wenn eine Gefahr für euch bestünde? Ich muss allerdings hinzufügen, dass die Transaktion inoffiziell stattfindet. Außerdem unterliegt sie der Geheimhaltung.« »Geheimaufträge sind unsere Spezialität«, ließ sich Fippi, Axos Freundin, im Hintergrund vernehmen. »Wann geht’s denn los?« »Sobald ihr bereit seid«, versicherte Thunderbolt und stand auf. »Ich bin jederzeit an Bord der THUNDERBIRD zu finden.« »Wir sehen uns das Schiff natürlich vorher noch an«, sagte Gucky, als er ihn zum Gleitertaxi begleitete. »Heute bereits. Du kannst mich an Bord erwarten.« Thunderbolt stieg in den Gleiter. Er nickte dem Ilt zu und startete.
Gucky sah ihm nach, bis er jenseits der roten Wüste verschwand, dann kehrte er nachdenklich zu den anderen zurück. »Bokom, du hast ein bisschen Ahnung von Technik und wirst mich begleiten. Wir inspizieren den Kahn von unten bis oben, und wenn da auch nur eine Niete nicht fest sitzt, können andere mitfliegen.« »Die Inspektoren des RUF sind im Vergleich zu uns Stümper«, behauptete Bokom großspurig, weil Hermi neben ihm auf der Matte saß, der er ständig zu imponieren versuchte. Bis in die halbe Nacht hinein überprüften sie das Schiff und seine Einrichtungen, ohne größere Mängel zu entdecken. Einigermaßen beruhigt verabschiedeten sie sich von Thunderbolt und Trängern, lediglich Bokom konnte sich nicht zurückhalten und fragte: »Und fliegen tut der Kahn auch?« Trängern, der den Namen nicht von ungefähr erhalten hatte, wischte sich über die feucht werdenden Augen, bevor jedoch Thunderbolt einen seiner berüchtigten Wutanfälle bekommen konnte, beschwichtigte ihn Gucky schnell: »War doch nur ein Spaß, Captain. Man darf Bokom nicht so ernst nehmen.« »Ich kann ohnehin einen Ilt nicht vom anderen unterscheiden«, ließ sich Thunderbolt eine kleine Spitze nicht nehmen. »Aber dich, Bokom, werde ich von nun an immer aus dem Mausbibergewühl herausfinden.« »Wir kommen morgen an Bord«, versprach Gucky hastig, ehe Bokom sich auf eine Diskussion mit Thunderbolt einlassen konnte. »Wir besorgen nur noch Spezialverpflegung für uns.« »Alles vorhanden! Dafür hat Bully schon gesorgt.« »Umso schlimmer!« erwiderte Gucky ahnungsvoll und entmaterialisierte zusammen mit Bokom, den er einfach bei der Hand genommen hatte. Josua Trängern starrte auf den leeren Fleck, nachdem er bald in das entstandene Vakuum gestolpert wäre. »Sind die anderen auch so?« fragte er mit dumpfer Stimme.
»Mehr oder weniger«, bestätigte ihm Thunderbolt und verschwand in seiner Kabine, um einen kräftigen Schluck zu sich zu nehmen. Den brauchte er auch, um seine schlimmen Ahnungen loszuwerden. Dabei ging alles viel zu glatt für seinen Geschmack. Mehr als dreiviertel der THUNDERBIRD nahmen Antrieb und Laderäume in Anspruch, der Rest bestand aus Kontrollraum, anderen technischen Einrichtungen und einigen Kabinen. Gucky, Iltu und Jumpy erhielten eine für sich, während sich die übrigen elf Mausbiber mit einem größeren Raum begnügen mussten, in dem sonst Vorräte gelagert wurden. In aller Eile waren noch auf Terrania Betten installiert worden. »Wie beim Kommiß«, beschwerte sich Wullewull und prüfte seine Matratzen. »Kannst ja zu Hause bleiben«, riet ihm Ooch wohlwollend. »Wenn Biggy auch bleibt – okay.« Biggy war Oochs spezielle Freundin. »Wüstling!« »Feigling!« »Ruhe!« Das war Gucky, der unbemerkt den Raum betreten hatte. »Ihr fangt ja gut an. Ich möchte nur noch nebenbei bemerken, dass ich zusammen mit Iltu und Jumpy durchaus in der Lage bin, den Auftrag ohne euch durchzuführen. Alles klar?« »Wir werden so lieb sein wie die Täubchen«, versicherte Ooch. Mit der trüben Erkenntnis, dass man den Frieden auch mit Drohungen herstellen und erhalten kann, verließ Gucky das Quartier der Ilts. Er kletterte hinauf zur Zentrale. Die Startvorbereitungen hatten begonnen. Die THUNDERBIRD verfügte noch über den veralteten Transitionsantrieb und konnte Sprünge über eine Entfernung von fünfzig Lichtjahren durchfüh-
ren. Es waren demnach zehn Transitionen notwendig, um Scherbel zu erreichen. Hoffentlich, dachte Gucky bei sich, überleben wir das. Thunderbolt drehte sich zu ihm um. »Ich würde an deiner Stelle nicht einfach so herumstehen, sondern mich anschnallen, wenn wir starten. Es ruckelt manchmal ein bisschen. Völlig normal, also keine Sorge.« ‘ Gucky ließ sich im dritten Kontursessel nieder und befolgte den Rat des Captains, der die letzten Handgriffe beendete. Das Summen und Vibrieren wurde lauter und kräftiger. Josua Trängern verständigte über den Interkom die Mausbiber vom unmittelbar bevorstehenden Start und wiederholte die Aufforderung zum Anschnallen. Und dann begann es im Heck derart zu donnern, dass jedermann im Umkreis von etlichen Kilometern einsehen musste, dass die alte THUNDERBIRD ihren Namen ebenso zu Recht trug wie ihr polternder Kommandant. Ruckartig löste sich das Schiff vom Betonboden und stieg nahezu senkrecht hinauf in den rötlich schimmernden Marshimmel. Die Terraner, die den Vorgang ohne technische Hilfsmittel außerhalb der Schutzbunker beobachteten, waren an einer Hand abzuzählen. Nach der ersten Transition kamen nicht nur Gucky ernsthafte Bedenken, ob das Schiff neunzehn weitere, Rückflug inbegriffen, aushalten würde. Immerhin war Thunderbolt einsichtig genug, so hatte er versichert, nach jedem Sprung eine Pause einzulegen, um den Antrieb nicht zu überlasten. In der Gemeinschaftskabine hatten die elf Ilts den Transitionsschock überwunden. Axo kramte in seinem umfangreichen Gepäck herum und förderte eine Flasche Bier mit seinem Etikett zutage. Seine Freundin Fippi sah es mit Unbehagen und ging zu ihm.
»Du solltest lieber Gymnastik machen«, riet sie und klopfte mit flacher Pfote auf seinen dicken Bauch. »Wenn du so weitermachst…« »Lieber dick und gesund, als dünn und schwach«, konterte Axo und löste den Verschluss. »Lieber reich und glücklich, als arm und…« »Lass deine Sprüche«, rief Gecko von der anderen Ecke her. »Gib uns lieber auch eine Pulle.« Axo tat verwundert. »Habt ihr denn nichts da bei? In unserer Kantine stehen noch Dutzende von Kisten herum. Geizig seid ihr, das ist es! Geizig und voller Missgunst.« Er nahm einen kräftigen Schluck. »Mann, schmeckt das gut! Ein edles Gesöff!« »Gibst du uns nun was ab oder nicht?« fragte Gecko drohend. »Fällt mir nicht ein«, lehnte Axo ab und leerte vorsichtshalber schnell die Flasche. »Dann eben nicht«, maulte Gecko und tat so, als sei es ihm egal. Außerdem hatte er gar keinen Durst. Gucky nutzte die Pause zwischen erster und zweiter Transition, um Iltu die Vakuumkammer im großen Laderaum zu zeigen. Der fest im Boden verankerte Stahlhohlblock hatte eine Kantenlänge von fünf Metern. Eine sporadisch anspringende Pumpe sorgte für das ständige Vakuum in dem Behälter, dessen Wände zwanzig Zentimeter dick waren. Eigentlich, so hatte man in Terrania Thunderbolt versichert, konnte nichts passieren, denn das absolute Vakuum verhinderte, dass das Kartaunik eine Verbindung mit der Stahlwand einging und explodierte. Gucky störte lediglich das eigentlich’ dabei. »Rhodan hätte nie seine Erlaubnis erteilt, wenn ein Risiko bestünde«, vermutete Iltu, die Guckys Bedenken erriet. »Ich würde mir keine überflüssigen Sorgen an deiner Stelle machen.« »Wir werden sehr vorsichtig sein, Iltu. Jedenfalls sieht die Kammer sehr stabil aus. Eine kleine Explosion hält sie bestimmt aus.«
»Du denkst an eine Probe von diesem Zeug?« erriet sie abermals. »Genau an das habe ich gedacht, meine Liebe«, bestätigte er. »Hast du dir eigentlich schon überlegt, mein Schatz, dass es absolut unmöglich ist, dieses Kartaunik in die Vakuumkammer zu bringen, ohne dass eine fatale Berührung mit der Schiffsatmosphäre stattfindet? Der telekinetische Transport von Scherbel bis herauf in unsere Umlaufbahn ist kein Problem, aber wie willst du denn das Zeug in die Kammer bringen, wie durch die dicken Stahlwände?« Seltsamerweise strahlte Gucky über das ganze Gesicht. Voller Anerkennung klärte er sie auf: »Ich hatte bisher vergeblich auf diese Frage gewartet und bin stolz, dass gerade du sie stellst. Sieh mal genau hin, Iltu. Links von der Kammer verläuft doch eine rechteckige Erhebung, ebenfalls aus Stahl. Sie endet in der Außenhülle. Es ist ein Tunnel, der die Kammer direkt mit dem Vakuum des Alls verbindet. Durch ihn schleusen wir das Kartaunik von draußen in die Kammer, ohne dass es mit unserer Atmosphäre in Verbindung kommt. Nun, bist du beruhigt?« »Raffiniert!« konnte sie nur dazu feststellen. Thunderbolts Stimme dröhnte aus dem Interkom: »Zweite Transition in zehn Minuten! Anschnallen!« * Sie teleportierten, um keine Zeit zu verlieren. Jumpy lag bereits auf seinem Bett. »Wird schon gut gehen«, wisperte er hoffnungsvoll. Abgesehen von etwa drei Dutzend relativ harmlosen Zwischenfällen verlief der Flug nach Scherbel reibungslos und ohne technische Schwierigkeiten. Die Zwischenfälle gingen ausschließlich auf das Konto der elf Mausbiber, deren Spieltrieb kaum zu bändigen war. Ohne Gucky wäre es leicht zu einer Katastrophe gekommen. Schließlich erschien Scherbel, der zweite Planet einer rötlichen Sonne, auf dem Bildschirm, von Thunderbolt mit einem freudi-
gen Grunzen begrüßt. Trängern machte sich an den Funkgeräten zu schaffen, nachdem er den Translator davor geschaltet hatte. Die THUNDERBIRD glitt in eine Umlaufbahn weit außerhalb der gefährlichen Atmosphäre. Der Vergrößerungsschirm holte die Oberfläche der fremden Welt so nahe heran, dass Einzelheiten zu erkennen waren. Es gab Städte und kleinere Ansiedlungen, sehr viel Vegetation, unterbrochen von großzügig ausgebauten Verkehrsverbindungen, aber nichts, was auf Luft- oder gar Raumfahrt hingedeutet hätte. Trängern bekam nach einigem Herum suchen Kontakt mit den Bewohnern Scherbeis. Die Verständigung war einwandfrei. Die üblichen Begrüßungsformalitäten wurden ausgetauscht, denen sich die Bitte anschloss, auf keinen Fall tiefer zu gehen, da selbst der Kontakt mit dünnen Resten der oberen Atmosphärenschichten eine Katastrophe auslösen könnte. Es war eine bemerkenswerte Situation, die Gucky unwillkürlich, heute, wenn er daran zurückdachte, an seine Begegnung mit den Accalauries erinnerte, den Fremden aus dem AntimaterieUniversum. Diesmal jedoch gab es keine Möglichkeit des unmittelbaren Kontaktes. Und das wiederum schloss jeden Grund zur Feindseligkeit aus. Die Scherbeier zeigten sich sehr kooperativ. Sie waren für den Transport des Kartaunik nach Gateway äußerst dankbar, da sie von den Torsen als Gegenleistung dringend benötigte technische Informationen erhielten, die funkmäßig übermittelt wurden. Als der Kontakt beendet wurde, wandte sich Thunderbolt über Interkom an seine Passagiere, um sie zu informieren: »Die Bewohner von Scherbel II haben die für Torsen bestimmte Menge Kartaunik auf dem Gipfel eines Berges deponiert, wo es leicht zu orten ist. Wie Gucky versichert, dürfte der telekinetische Transport in unsere Vakuumkammer kein Problem sein, wenn jeder bei der Ringverstärkung konzentriert mitmacht. Wir werden das Schiff über dem Lagerort stationär verankern. Den Rest übernimmt Gucky.«
Es war nicht das erste Mal, dass sich Gucky auf die Mitarbeit seiner ansonsten ziemlich disziplinlosen Iltbande verließ. Sie besaßen alle die Fähigkeit der Telekinese und konnten seine Impulse verstärken. Die THUNDERBIRD näherte sich dem bezeichneten Berggipfel, der – hundertzwanzig Kilometer unter dem Schiff – auf dem Schirm deutlich zu erkennen war. Der Gipfel hatte ein kleines Plateau, in dessen Mitte ein aufgeschütteter Haufen goldglitzernder Gesteinsbrocken lag. Keiner war größer als ein Ziegel. »Sieht wirklich aus wie Gold«, murmelte Thunderbolt und fügte bedauernd hinzu: »Antimaterie-Gold, leider.« Gucky blieb erstaunlich sachlich. »Ich benötige den Interkomschirm in dem Raum mit der Vakuumka mmer. Dieses Bild hier muss nach dort übertragen werden, da ich den optischen Anhaltspunkt benötige. Auf dem zweiten Schirm sollte die Außenöffnung des Vakuumtunnels zu sehen sein.« »Alles schon vorbereitet«, bestätigte Thunderbolt. »Schließlich haben wir das schon oft genug durchgesprochen.« »Kann man nicht oft genug«, gab Gucky zurück und begab sich zu den Mausbibern in den Gemeinschaftsraum, in dem mit schrillem Gekreische darum gestritten wurde, wer bei der bevorstehenden Ringsendung neben wem sitzen sollte, um durch Händchenhalten den Kontakt zu verstärken. Es wurde aber sofort mäuschenstill, als Gucky erschien. »Wenn ihr euch nicht einig werdet«, drohte er, »erledige ich die Angelegenheit mit Iltu und Jumpy allein. Ist das klar?« Wie meistens machte sich Gecko zum Wortführer. »Mach dir keine Sorgen, es wird schon klappen. Wir haben nur diskutiert, aber nicht gestritten.« »Der Begriff ,Diskussion’ muss aber auch schon für alles herhalten«, kritisierte Gucky und dachte dabei nicht nur an seine Mausbiber, »Schön, dann erscheint vollzählig in einer halben Stunde bei der Vakuumkammer. Dort gibt es die letzten Instruk-
tionen. Un d…«, setzte er ein wenig lauter hinzu: » … und vertragt euch, verdammt nochmal!« Als er den Raum verlassen hatte, legte Gecko seinen Zeigefinger auf den Mund und flüsterte: »Ab sofort wird nur noch leise diskutiert. Also, Wullewull, du wirst zwischen Ulto und Murks sitzen – nein, keine Widerrede! Und du, Axo…« Es dauerte dreißig Minuten, bis sie sich geeinigt hatten.
2. Die beiden Bildschirme in dem bis auf die Stahlkammer leeren Lagerraum verfügten über eine Qualität, die im Hinblick auf die übrige Einrichtung der THUNDERBIRD erstaunlich wirkte. Der Goldschimmer des Haufens auf dem Gipfelplateau schien bis ins Schiff herein zu blinken. »Ganz schöne Menge«, gab Bokom zu bedenken. Gucky erschien im Raumanzug mit geöffnetem Helm. »Was soll denn das nun schon wieder?« fragte Gecko. »Ich kann notfalls hinaus teleportieren und das Zeug mit den Händen in den Vakuumtunnel bugsieren.« »Verrückt geworden«, konstatierte Gecko respektlos. »Wenn wir auch nur ein Körnchen davon berühren…« »Du verwechselst es mit echter Antimaterie, die ist auch im Vakuum explosiv, wenn sie mit der unseren in Kontakt kommt. Aber dies hier ist anders. Im Vakuum geschieht nichts.« »Ja, wenn alles richtig ist, was man uns erzählt hat.« »Ich werde es rechtzeitig herausfinden«, versprach Gucky. Die THUNDERBIRD war nun endgültig magnetverankert. Sie drehte sich synchron mit der Rotation um den Planeten und blieb somit stets über demselben Punkt der Oberfläche »stehen«. Die Mausbiber hatten sich hingesetzt und den Kreis gebildet. Sie hielten sich bei den Händen und warteten auf Guckys Anwei-
sungen. Iltu und Jumpy waren in ihrer Kabine geblieben, um die notwendige Konzentration der Akteure nicht zu stören. Gucky klappte seinen Helm zu und schloss ihn. Die Mikrophone blieben eingeschaltet, so dass er auch jederzeit mit der Zentrale in Verbindung treten konnte. Er nickte seinen jüngeren Freunden und Artgenossen zu und gab ihnen damit das verabredete Zeichen. Er selbst konzentrierte sich auf den goldschimmernden Berg auf dem Bildschirm. Er spürte den Strom der Impulse, die seine Fähigkeiten verdoppelten und verdreifachten – und dann aktivierte er sie. Wenigstens einer der Brocken hätte sich von dem Stapel auf dem Plateau lösen müssen, aber zu Guckys Verblüffung rührte sich da unten nichts. Der Bildschirm zeigte keinerlei Veränderung, geschweige denn einen der goldenen Ziegel, der die Reise in Richtung THUNDERBIRD angetreten hätte. »Wann fangt ihr denn endlich an?« kam Thunderbolts Stimme aus den Lautsprechern. »Nie, wenn du nicht den Mund hältst!« quietschte Gecko wütend über die Unterbrechung – und aus war es mit jeder Konzentration. Gucky entspannte sich. Er wusste, warum es nicht funktionierte. »Direkte Sicht!« teilte er den anderen mit. »Ich brauche direkte Sicht auf das Objekt. Dasselbe also noch einmal, nur werde ich neben dem Schiff schweben. Und Captain Thunderbolt: bitte kein Wort mehr aus der Zentrale, sonst schalten wir den Interkom ab.« Er bekam keine Antwort, was er als positiv wertete – und als Bestätigung seiner Forderung. »Konzentriert euch, sobald ich auf dem Bildschirm das Zeichen gebe«, instruierte er die Mausbiber – und entmaterialisierte. Er schwebte dicht neben dem Schiff frei im Raum und machte die langsame Rotationsbewegung des Planeten mit. Es war nicht so einfach ohne die starke Vergrößerung des Bildschirms an Bord
der THUNDERBIRD den Berggipfel zu lokalisieren, aber mit dem kleinen Teleskop im Raumhelm schaffte er es schließlich. Das Kartaunik glänzte im Schein der roten Sonne wie ein Haufen Gold. Er blickte in Richtung der Außenkamera und gab das verabredete Zeichen. Nach einigen mentalen Unregelmäßigkeiten regulierte sich der Impulsstrom, und er konnte sich endlich erneut auf das metallene Element auf der Oberfläche von Scherbel konzentrieren. * Er ließ absichtlich nur einen einzigen Brocken heraufkommen und bugsierte ihn mit größter Vorsicht in die deutlich sichtbare Tunnelöffnung hinein. Seine letzten Zweifel schwanden, als das Kartaunik mehrmals gegen die Wandungen von Tunnel und Kammer stieß, ohne dass eine Umwandlung in Energie stattgefunden hätte. Gucky war sicher, dass er es auch ohne die Mithilfe der Mausbiber geschafft hätte, aber aus psychologischen Gründen nahm er ihre mentale Unterstützung gern in Anspruch. Das gehörte zu seinem Erziehungsprogramm. Allerdings wurde ihm noch Jahre später vorgekaut, dass er es ohne sie niemals geschafft hätte. In dieser Hinsicht tat sich besonders Gecko hervor. Beim zweiten Versuch brachte Gucky gleich zehn Klumpen Kartaunik in die Kammer, wenn er auch einige Mühe hatte, das Zeug während des Transports zusammenzuhalten. Kurz vor Ende der telekinetischen Transaktion ließ Wullewull plötzlich die Hände von Ulto und Murks los, schlug sich begeistert auf die Knie und quietschte vergnügt: »Hätte nie gedacht, dass es so gut klappen würde! Sind wir nicht großartig?« Gucky fand das keineswegs, denn die letzte Ladung Kartaunik entglitt seinem mentalen Griff und stürzte auf den Planeten zurück. Ehe er erneut – und diesmal allein gelassen – telekinetisch zupacken konnte, verglühten die restlichen Brocken des goldschimmernden Elements harmlos in der Atmosphäre Scherbeis.
Wütend kehrte Gucky ins Schiff zurück, nachdem er die Aussenklappe des Vakuumtunnels geschlossen hatte, um nicht noch mehr Kartaunik zu verlieren. »Ich war so stolz auf uns«, erklärte Wullewull zerknirscht, als Gucky den Helm öffnete und wütend auf ihn zu watschelte. »Sind ja nur ein paar Brocken, die verlorengingen.« »Es geht um das Prinzip!« belehrte ihn Gucky, schon wieder halb versöhnt. »Wenn das nochmal passiert…« Er ließ offen, was dann geschehen würde, warf einen letzten Blick auf die Kammer und begab sich in die Zentrale, wo er Thunderbolt mit Schweißtropfen auf der Stirn vorfand. »Ist doch alles nach Plan verlaufen, Captain. Kein Grund zur Aufregung oder zum Transpirieren.« »Hast du eine Ahnung, Kleiner! Schließlich haben wir nur das Wort der Torsen, dass im Vakuum keine Umwandlung in Energie stattfindet. Wir alle, auch Rhodan und Bull, konnten uns nur darauf verlassen. Stell dir vor, die Torsen hätten sich geirrt…!« »Sie haben sich aber nicht«, hielt Gucky ihm mit gespielter Lä ssigkeit vor und verließ die Zentrale, um sich zu den Seinen zu begeben. Draußen im Gang wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Heimlich, versteht sich. Nachdem es Ooch tatsächlich gelungen war, dem schlafenden Axo aus seinem Gepäck, das dieser vorsorglich unter dem Bett verstaut hatte, telekinetisch eine der hübsch anzuschauenden Flaschen zu entwenden und unter der Decke genüsslich auszutrinken, bekam er erst einmal Krach mit seiner Freundin Biggy, und dann einen erheblich größeren mit dem Bestohlenen. Die übrigen Ilts ergriffen Partei, so dass es zu einer richtigen Keilerei kam, die erst durch das Hereinstürmen Guckys jäh beendet werden konnte. »Kann man euch nicht eine Minute allein lassen?« fuhr er sie wütend an, wobei sich sein Nackenpelz bedrohlich aufstellte. »Der zweite Teil unserer Aufgabe liegt vor uns, und ihr veran-
staltet eine wüste Kissenschlacht. Und das alles wegen einer Flasche mit diesem Giftzeug.« »Ich muss doch sehr bitten!« empörte sich Axo. »Beste Qualität wird garantiert, außerdem…« »… außerdem finde ich deinen Geiz nicht kameradschaftlich«, kam Gucky dem grinsenden Dieb zu Hilfe. »Ja, natürlich!« Axo war nicht kleinzukriegen. »Ich hätte dich mal gern gehört, wenn dir jemand eine Dose Karottensaft geklaut hätte!« Nun sträubten sich auch noch Guckys Schwanzhaare, was als äußerst bedrohliches Zeichen angesehen werden musste. Axo verschwand blitzschnell unter dem Bettgestell. Ooch allerdings auch, als ihn der Blick Guckys traf. Der aber sagte nur: »Wir stehen über Gateway. Findet euch in einer Stunde bei der Vakuumkammer ein. Muss aber nicht sein, ganz wie ihr wollt. Ich schaffe es jetzt auch allein.« Er verschwand, ohne eine Entgegnung abzuwarten. Der Sprung über nur acht Lichtjahre war ein Klacks gewesen. Gateway bot einen ähnlichen Anblick wie Scherbel. Auch hier funktionierte die Verständigung problemlos. Es war erstaunlich, dass die Torsen, wie auch die Bewohner Scherbeis, einen so hohen funktechnischen Stand erreicht hatten, ohne gleichzeitig zumindest die Luftfahrt zu entwickeln. Allerdings wurde bei dem Kontakt kein Bild übermittelt. Ebenso wie die Scherbeier waren auch die Torsen nicht überrascht. Thunderbolt äußerte den Verdacht, dass Terrania schon längere Zeit Funkkontakt mit den beiden Planeten hatte. »Würde mich nicht wundern«, schloss sich Gucky der Meinung des Captains an. »Schließlich muss es ja Beratungen darüber gegeben haben, wie das Kartaunik von der einen zur anderen Welt gebracht werden soll, ohne dass wir damit oder mit den Atmosphären in Berührung kommen.« »Und da ist noch etwas«, fiel es Thunderbolt ein. »Wenn du ablädst, lass einen Brocken von dem Zeug in der Kammer.« Gucky starrte ihn verblüfft an. »Was soll ich? Bist du übergeschnappt?«
»Weiß ich nicht. Aber die Anordnung stammt von Rhodan persönlich.« Josua Trängern bekam schon wieder feuchte Augen. »Aber Boss, das ist doch glatter Selbstmord!« »Wenn die Kammer nur das Kartaunik und ein Vakuum enthält kaum. Wir kehren damit zur Erde zurück, und was dann geschieht, ist nicht mehr unser Problem.« Gucky zuckte die Schultern. »Ich bin sicher, dass Rhodan weiß, was er tut. Nur ärgerlich, dass man nicht eingeweiht wird. Der kriegt was von mir zu hören!« Die Torsen hatten für die Ablagerung des begehrten Elements einen freien Platz in der Nähe riesiger Werksanlagen vorgeschlagen. Sie fanden ihn und verankerten die THUNDERBIRD mit der gleichen Methode wie zuvor über Scherbel. Das Team der Mausbiber machte sich an die Arbeit. Ein ziegelsteingroßer Brocken blieb in der Vakuumkammer zurück, als sie schließlich den Rückflug nach Terra antraten. »Ich werde aus der ganzen Sache nicht schlau«, gestand Gucky Iltu und Jumpy, als sie allein in ihrer Kabine waren. »Sie ergibt einfach keinen Sinn. Zuerst diese fast übertrieben erscheinenden Vorsichtsmaßnahmen, und dann sollen wir ein Stück von dem gefährlichen Zeug zur Erde bringen. Will man es vielleicht analysieren? Aber wie denn, wenn es mit nichts in Kontakt kommen darf – außer im Vakuum?« »Man wird es eben im Vakuum analysieren«, vermutete Iltu. »Wäre möglich«, gab Gucky zu. »Aber wie das Ergebnis auch ausfällt, wir werden niemals etwas mit Kartaunik anfangen können.« Er sah plötzlich sehr nachdenklich aus, als er hinzufügte: »Vorausgesetzt, die ganze Geschichte mit Scherbel und Gateway stimmt.« »Du meinst doch nicht etwa…?« begann Iltu, verstummte dann aber, als wage sie ihren Verdacht nicht auszusprechen. Gucky nickte ihr zu.
»Doch, ich meine, dass man uns nicht die ganze Wahrheit erzählt hat, oder man hat uns schlicht und einfach belogen. Darum also auch das Verbot zu espern, aber Bully hatte sich ohnehin gut abgeschirmt.« »Und warum das alles?« Gucky hob die Pfoten und ließ sie wieder sinken. »Frag mich was Leichteres«, bat er seine kluge Gattin.
3. Der Rückflug verlief ziemlich eintönig, denn das Wissen um die tödliche Ladung in der Vakuumkammer dämpfte sogar den Übermut der elf Ilts in der Gemeinschaftskabine. Das Gefühl der Verbundenheit im Angesicht einer vielleicht drohenden Gefahr ging sogar soweit, dass Axo seine restlichen Flaschen freiwillig verteilte, eine derart ungewöhnliche Geste, dass selbst seine besten Freunde an seinem Verstand zu zweifeln begannen. Thunderbolt verbrachte die meiste Zeit in der Zentrale und tauschte Vermutungen mit seinem Partner aus, aber auch ihre Überlegungen blieben fruchtlos. Als Trängern die Daten für die letzte Transition programmierte, schielte der Captain verstohlen in Richtung des altertümlichen Tresors, in dem er seine persönlichen Kostbarkeiten verwahrte, und dachte an den versiegelten Umschlag, der ihm von Bully übergeben worden war. Er sollte ihn öffnen, sobald sie das Sonnensystem erreichten. Thunderbolt hatte allen Grund, sich selbst wegen seiner Beherrschung zu bewundern, denn mehr als einmal hatte ihn die Neugier so geplagt, dass es kaum noch auszuhalten war. War der Inhalt des Umschlags auch die Lösung des Problems oder enthielt er nur letzte Landeanweisungen?
Letzteres erschien ihm am wahrscheinlichsten, denn er konnte mit dem Kartaunik weder auf dem Mars noch auf der Erde niedergehen. Oder doch? Eine große Beruhigung war für ihn die Tatsache, dass sich sämtliche Mausbiber an Bord seines Schiffes befanden. Niemals würde Rhodan das Risiko eingehen, sie einer echten Gefahr auszusetzen, also musste er auch eine absolut sichere Methode erarbeitet haben, das Kartaunik untersuchen zu lassen, ohne eine Katastrophe heraufzubeschwören. Wieder schielte er hinüber zum Safe, und diesmal bemerkte es sein Partner. »Juckt dich wohl mächtig, Boss? Ich meine den Liebesbrief von Bully« »Ein bisschen schon«, gab Thunderbolt etwas verlegen zu. »Aber wir erreichen ja bald das Sonnensystem, und dann ist die verdammte Ungewissheit zu Ende.« »Oder sie fängt erst an«, meinte Trängern ahnungsvoll. Die elf Mausbiber in der Gemeinschaftskabine quietschten vor Vergnügen, als sie nach der letzten Transition mitten im Sonnensystem rematerialisierten. Die THUNDERBIRD befand sich nun zwischen Jupiter und Asteroidengürtel und setzte den Flug mit Unterlicht fort. »Das wurde aber auch Zeit«, äußerte Strizi gequält. Der Transitionsschmerz saß ihr noch in allen Knochen. »Das nächste Mal nehmen wir ein Schiff mit Linearantrieb.« »Kann sich der olle Donnerbolzen nicht erlauben«, behauptete Murks respektlos und versuchte ein paar ungeschickte Freiübungen. »Das ist bei dem eine Sache der Tradition«, klärte Gecko ihn auf, der stets alles besser wusste. »Schon sein Vater hatte diesen Kahn, und auch sein Großvater…« »… und seine Urenkel werden ebenfalls mit der THUNDERBIRD das Universum unsicher machen«, befürchtete Murks, der
es endlich geschafft hatte, in einer Ecke des Raumes auf dem Kopf zu stehen, ohne gleich wieder umzufallen. »Wir können uns nicht beschweren«, schwächte Axo die unheilvolle Vision ab. »Ist doch alles bestens gelaufen.« »Und das blöde Zeug in der Vakuumkammer?«, erinnerte ihn Murks und fiel endgültig um. Wütend piepste er: »Wer war das?« Da sich niemand meldete, bekam er nie heraus, wer ihm da telekinetisch einen Stoß versetzt hatte, der ihn das Gleichgewicht verlieren ließ. Alle sahen zur Tür, als Gucky hereinkam und mit keiner Miene verriet, ob er sich über den in der Ecke liegenden Murks wunderte oder nicht. »In fünf Minuten wird der Captain eine wichtige Bekanntmachung über Interkom durchgeben. Seid dann still und hört gut zu.« »Was für eine Bekanntmachung?« fragte Axo, neugierig wie immer. »Dumme Frage! Wenn das jemand von uns wüsste, brauchte er sie nicht durchzugeben. Du solltest deine Brauereianteile verkaufen.« Er war aus dem Raum, ehe Axo den Dialog fortsetzen konnte. Die fünf Minuten vergingen wider Erwarten schnell, und pünktlich kam die dröhnende Stimme Thunderbolts aus dem Lautsprecher des veralteten Interkoms: »Ich hatte die Anweisung, eine geheime Order von Terrania erst jetzt zur Kenntnis zu nehmen. Regt euch also nicht unnötig auf, ich kannte den Befehl genauso wenig wie ihr.« »Was hat er nicht gewusst?« flüsterte Murks, als der Captain recht wirkungsvoll eine kurze Pause einlegte. Man hörte nur das Rascheln von Papier. Gecko warf Murks nur einen mitleidigen Blick zu und tippte sich gegen die Stirn. Ehe Murks wütend werden konnte, fuhr Thunderbolt fort:
»Ich lese euch jetzt die Anweisung vor, die zweifellos direkt von Rhodan stammt, er hat sie auch selbst unterzeichnet. Also: Die Anordnung, ein Stück Kartaunik mitzubringen, erging mündlich an Captain Thunderbolt. Der hier schriftlich niedergelegte Befehl besagt, dass die THUNDERBIRD nach dem Eintritt in das Sonnensystem auf dem nicht konditionierten und daher unbewohnten Planetoiden mit der Kodebezeichnung A-175 landet. Die gesamte Besatzung hat das Schiff zu verlassen und wird von einer Einheit der Wachflotte zum Mars gebracht. Sie wird dort von Reginald Bull erwartet, der alle offenen Fragen beantwortet. Gez. Perry Rhodan Das wär’s, verehrte Freunde. Und nun tut mir den Gefallen und fragt mir nicht die Seele aus dem Leib. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was das alles bedeuten soll.« »Ist doch völlig klar!« schrie Bokom begeistert, als der Interkom sein ,aus’ knackte. »A-175 hat keine Atmosphäre!« »Das klang in der Tat plausibel, aber schließlich war Bokom auch der wissenschaftlich begabteste der Ilts – von Gucky abgesehen. Und wie groß ist dieser Felsbrocken?« wollte Ooch wissen. »Fünf oder sechs Kilometer Durchmesser, wenn ich mich recht entsinne«. »Hoffentlich findet Thunderbolt ihn«, meinte Murks skeptisch und verzichtete auf weitere Kopfstandversuche. Das war auch gut so, denn Wullewull beobachtete ihn mit unverhohlenem Interesse… Thunderbolt gelang eine mustergültige Landung auf dem Asteroiden, dessen Gravitation nahezu Null war. In geringer Entfernung standen zwei Space-Jets auf ihren Landestützen, deren funktechnische Navigationshilfe das Auffinden von A-175 erleichtert hatte. Bevor er mit Trängern und den Ilts sein Schiff verließ, nahm er noch einmal Kontakt auf: »Was geschieht mit meinem Schiff?«
»Es bleibt hier, bis das endgültige Resultat der Analyse abgeschlossen ist, Captain. Die Kartaunikprobe wird hier entnommen. Sobald wir uns davon überzeugt haben, dass kein einziges Gramm in Ihrer Vakuumkammer zurückblieb, werden Sie hierher zurückgebracht und erhalten Landeerlaubnis für Terrania. Alles klar?« »Noch längst nicht, aber den Rest kann mir Reginald Bull erklären«. »Er freut sich schon darauf«, kam es trocken zurück. Angetan mit Raumanzügen, fand der Wechsel hinüber zu der einen Space-Jet statt, wobei einige der Ilts die schwerelose Situation für akrobatische Kunststücke ausnutzten. Gucky hingegen beobachtete die zweite Space-Jet, die gerade entladen wurde. Unter den Geräten, die aus der Luke gehievt wurden, befand sich auch ein großer Würfel, der viel Ähnlichkeit mit der Kammer an Bord der THUNDERBIRD besaß. Viel Platz gab es an Bord der Space-Jet nicht, aber für den kurzen Flug zum Mars reichte es trotz der Ilts. Der Kommandant machte nicht den Eindruck, als wolle er sich auf der Nase herumtanzen lassen. Er machte Gucky für jeden Unsinn, der vielleicht angestellt würde,’ schon jetzt verantwortlich. »Die Warnung stammt doch sicher von Bull?« vergewisserte er sich, und als er keine Antwort erhielt, esperte er. Natürlich hatte er recht. Die Space-Jet landete nach ereignislosem Flug nahe der Mausbibersiedlung und startete sofort wieder. Thunderbolt sah ihr nach. »Und nun?« fragte er. »Da kommt Bully«, nahm Gucky ihm die Ungewissheit. »Gehen wir ihm entgegen.« j Die anderen Ilts waren längst in ihren Behausungen verschwunden, nur Iltu war noch geblieben. Sie erreichten Bully, der sie mit Handschlag begrüßte und auf eine der Bänke deutete. »Setzen wir uns. Ich nehme an, ihr habt ein paar Fragen.« »Ein paar?« dröhnte Thunderbolt. »Mindestens zwei Dutzend.« Bully lächelte verständnisvoll.
»Lasst mich kurz erklären: Nachdem unsere Flotte den Planeten Gateway entdeckt und von seiner Gefährlichkeit erfahren hatte, waren wir den Torsen natürlich für ihre rechtzeitige Warnung dankbar und bereit, ihre Bitte zu erfüllen. Unsere Wissenschaftler nehmen an, dass sämtliche Materie der beiden Welten rein physikalisch zwischen Materie in unserem Sinn und Antimaterie einzuordnen ist. Auch dieses Kartaunik, von dem wir eine Probe benötigen, um eine endgültige Antwort zu erhalten.« »Schön und gut«, polterte Thunderbolt, als Bully kurz Luft holte. »Warum aber die Geheimnistuerei?« »Weil NATHAN mit seinen Wahrscheinlichkeitsanalysen noch nicht fertig war. Dem Positronengehirn fehlten noch letzte Informationen.« »Und die bekommt es durch den Brocken, den wir mitbrachten?« »Genauso ist es, Captain.« Gucky esperte vergeblich, darum fragte er: »Eine Wahrscheinlichkeitsanalyse, sagst du? Darf ich mich in aller Höflichkeit erkundigen, um welche Wahrscheinlichkeit es denn da geht?« Bully grinste und tippte sich mit dem Zeigefinger mitten in sein borstiges Haar. »Kommst wohl nicht darauf, was? Kein Wunder, denn so genau weiß ich es nämlich auch nicht. Ich weiß nur, dass Rhodan keine andere sichere Methode als Telekinese kannte, um eine Probe Materie von den Planeten zu bekommen. Und die Torsen haben nicht gelogen, als sie sagten, im Vakuum sei der Kontakt ungefährlich.« »Und wei te r… ?« »Bully war ernst geworden und lächelte nicht mehr. Uns geht es darum zu erfahren, ob die Torsen und Scherbeier vielleicht in anderer Hinsicht die Unwahrheit sagten.« »In welcher?« fragte Thunderbolt ohne Umschweife.
»In welcher…?«, dehnte Bully und warf einen kurzen Blick auf sein Alizweckgerät am Handgelenk. »Ich denke, die Antwort darauf kann jeden Augenblick hier eintreffen.« »Spannend wie ‘ne Oper«, kommentierte Gucky, von der sogenannten »Aufklärung« Bullys durchaus nicht befriedigt. »Mir scheint, man will mehr über diese beiden Planeten und ihre Bevölkerung wissen, und ihr hättet das Ergebnis schon jetzt haben können, wenn ich einfach mal hinunter teleportiert wäre – aber eben das ging ja nicht. Ich hätte mich in Energie verwandelt, und das wäre doch schade gewesen.« »Genau das war der springende Punkt.« Bully nickte ihm zu. »Unsere Vermutungen mussten geheim bleiben, um deinen oft waghalsigen Unternehmungsgeist zu bändigen. Das verstehst du doch sicher.« »Aber ich verstehe nichts«, wagte Josua Trängern einzuwerfen. »Du kannst ja auch nicht teleportieren«, hielt Gucky ihm vor. »Genau richtig!« sagte Bully und blickte hinauf in den Himmel. In der gleichen Sekunde summte sein Telekom. Er meldete sich. »Kommandant Farrow, Space-Jet 785. Wir landen in wenigen Minuten, um Captain Thunderbolt nach A-175 zurückzubringen.« »Haben wir schon ein Resultat?« »Liegt bei unserer Landung vor.« Bully erhob sich und übersah geflissentlich, dass Thunderbolt vor Neugier fast platzte. Am Himmel erschien ein winziger Punkt, der schnell größer wurde, bis er die Diskusform einer Space-Jet annahm. Sie landete sanft auf ihren vier Teleskopstützen. Wenig später stieg Kommandant Farrow aus der unteren Hangarluke. In der einen Hand hielt er seine Aktentasche, offensichtlich ziemlich schwer und ein wenig ausgebeult. »Es ging schneller, als wir erwarteten«, sagte er nach der Begrüßung. »Nach dem ersten Versuch konnte uns NATHAN das Ergebnis sofort mitteilen. Rhodans Vermutung stimmt.«
»Setzen wir uns«, schlug Bully vor, »und dann berichte der Reihe nach, alter Freund und Kupferstecher«. Farrow stellte seine Tasche auf den Boden zwischen seine Füße. »Es war nicht schwer, das Kartaunik aus der Vakuumkammer der THUNDERBIRD in unsere transportable Kammer zu befördern, da sich der Vorgang im Vakuum abspielte. Dann schickten wir die Kammer mit dem eingebauten Eigenantrieb auf die Reise. Sie war hundert Kilometer entfernt, als wir ferngesteuert die ebenfalls in der’ Kammer befindliche Pressluftflasche öffneten und den Raum unter Druck setzten. In der Kammer herrschten nun exakt atmosphärische Erdbedingungen.« »Und dann knallte es ganz furchtbar«, nahm Iltu die Schlußpointe vorweg. Farrow schüttelte den Kopf, bückte sich und öffnete die Tasche. Er nahm den Brocken Kartaunik heraus und wog ihn in der Hand. »Es knallte nicht, und es blitzte nicht. Es passierte überhaupt nichts.« Er reichte Bully das goldschimmernde Stück Metall. »Du kannst es ohne Gefahr zur Erde bringen, Bully. Die Analyse garantiert absolute Ungefährlichkeit – aber es darf nicht mit Wasser in Berührung kommen. Wenigstens nicht der ganze Brocken.« »NATHAN?« fragte Bully »Ja. Ein Gramm von dem Zeug bringt eine Tonne Wasser zum Kochen, und das solange, bis es verdunstet ist. Nun wissen wir auch, warum die Torsen so scharf auf Kartaunik sind. Energie!« Gucky kam nicht darüber hinweg. »Eigentlich eine Gemeinheit von euch, uns im ungewissen zu lassen. Die ganze Zeit über haben wir geglaubt, in ständiger Lebensgefahr zu schweben, und nun das!« Er tippte gegen das Kartaunik, zog aber die Pfote schnell wieder zurück. »Ist ja warm, das Zeug!« Bully legte es vorsichtig auf den Boden. »Ich merke es jetzt auch. Ich dachte, es wäre Einbildung.« »Ist es nicht«, klärte Farrow ihn auf. »Deine Hände sich feucht, Bully, und diese winzige Menge Feuchtigkeit genügt bereits, eine
Reaktion hervorzurufen.« Er bückte sich und packte den Brocken wieder in die Tasche. »So, nun wisst ihr alles. Captain Thunderbolt, wir können dann starten. Rhodan möchte sich noch mit Ihnen unterhalten.« , »Ich hoffe, er verlängert mein RÜF-Zertifikat um weitere hundert Jahre«, knurrte Thunderbolt und nickte den anderen zu, als er sich erhob. »Und dir, Gucky, möchte ich danken. Deine Ilts haben sich vorbildlich benommen, und ich hatte schon Alpträume, als ich den Auftrag erhielt, vierzehn von deiner Sorte mit auf den Trip zu nehmen.« »War auch mächtig anstrengend, sie im Zaum zu halten. Hoffentlich können wir wieder mal eine gemeinsame Reise unternehmen.« »Hm«, machte Thunderbolt, aber es hörte sich nicht nach einem Versprechen an. Er gab Trängern einen Stoß in die Rippen. »Nun komm schon, Josua, ehe du in Tränen ausbrichst. Ist ja kein Abschied für immer.« Ehe Farrow ihnen folgte, sagte er noch: »Wir haben ihm zehn Gramm von dem Zeug im Schiff gelassen. Davon kann er sich noch jahrelang seinen Kaffee kochen.« Bully sah ihm nach. »Nun mal ehrlich«, sagte Gucky, als sie wieder saßen. »Wozu das alles? Warum haben uns die Torsen an der Nase herumgeführt?« »Keine Ahnung. Rhodan nahm von Anfang an an, dass sie keinen näheren Kontakt mit uns wollen. Wir werden das auch respektieren, sie aber darüber aufklären, dass wir den Schwindel durchschaut haben. Um da s zu demonstrieren, schicken wir ihnen ein unbemanntes Beiboot mit einigen nützlichen Geschenken.« »Sachen gibt’s,« meinte Gucky kopfschüttelnd, »die gibt es gar nicht«. Bully stand auf. »Gehen wir zu den anderen. Die sind doch sicher neugierig.«
»Jetzt nicht mehr, Bully. Außer mir ist Ooch der einzige Telepath von uns. Die Bande weiß schon alles.« Bully setzte sich wieder. »Na schön, dann kann ich ja auch hier auf den Gleiter warten, der mich zum Raumhafen bringt.« Einige Wochen später glitt ein unbemanntes Beiboot aus dem Hangar eines Kreuzers und senkte sich der Oberfläche Gateways entgegen. In seinem Innern befand sich Rhodans Friedensbotschaft, Pläne zum Bau von einfachen Luftfahrzeugen und viele praktische Gebrauchsgegenstände, von denen man annahm, dass sie auf Gateway fehlten. Das Beiboot näherte sich den oberen Schichten der Atmosphäre, und dann passierte es. Der Explosionsblitz war so gewaltig und grell, dass sich die Blende im Kommandoraum des Kreuzers automatisch schlossen. Eine kurz Unterhaltung über Funk klärte die Torsen darüber auf, dass es sie nicht um einen kriegerischen Akt handelte, sondern um ein Missverständnis. Auf dem irdischen Mond aber erhielt das Positronengehirn neue Arbeit. Es war das erste Mal in der langen Geschichte des Solaren Imperiums, dass auch NATHAN keine Erklärung für ein Phänomen fand.
Kurt Mahr
Experiment 2984 In den letzten Jahrhunderten des dritten Jahrtausends war die Einrichtung von Strafkolonien eine beliebte Methode des terranischen Strafvollzugs. Man erinnerte sich dabei wohl an den Erfolg, den das Vereinigte Königreich bei der Etablierung der Kolonie Australien gehabt hatte. In der Tat wurde dieses Vorgehen von Gegnern der Methode das Austral-Syndrom genannt. Schwerverbrecher wurden von der Justiz des ausgehenden 3. Jahrtausends zunächst abgeurteilt und dann in ein Rekonstituierungslager überwiesen. Die Rekonstituierung war psychologischer Art. Man brachte dem Verbrecher die Unrichtigkeit seines Verhaltens nahe und »erzog« ihn zu einem normalen Bürger. Nach abgeschlossener Erziehung wurde er dem einen oder anderen Siedlertrupp zugeteilt, dessen Aufgabe es war, einen für die Kolonisation geeigneten Planeten zu erschließen und in eine Kolonie des Solaren Imperiums zu verwandeln. Die Siedlertrecks waren in technischer Hinsicht vorzüglich ausgestattet. Sie verfügten über ausreichenden Proviant, um die ersten zwei Jahre ohne Hilfe von außen zu überstehen. Es wurde ihnen Saatgut mitgegeben, das sie in die Lage versetzte, die Grundnahrungsmittel aus eigener Kraft zu erzeugen. Das Siedlerschiff war vollgeladen mit Bauteilen für Fertigbau-Häuser. Den Kolonisten wurde also, wenn sie nur bereit waren, die Hände zu rühren, derselbe Komfort geboten, den sie von der Erde her gewöhnt waren. Die Mehrzahl der Siedlungsunternehmen wurde, allen Kritikern zum Trotz, tatsächlich ein Erfolg. Im Jahr 3000 blickt das Solare Imperium auf insgesamt 386 Welten, die von Strafkolonisten erschlossen wurden. Aber es kam auch zu Pannen. Wie zum Beispiel im Fall Durboj. Serg Mivlak hatte seine Vorkehrungen getroffen. Er würde keine Kolonie aus zweitausend rekonstituierten Verbrechern einrichten, ohne sicher zu sein, dass sie niemals zu ihren alten Ge-
wohnheiten zurückkehren könnten. Dreizehn Tage waren seit dem Start der SEQUOIA von Terra vergangen – dreizehn Tage, die Serg Mivlak weidlich genützt hatte, um die Bestandteile der Fertigbauhäuser, die den Kolonisten als Unterkünfte dienen würden, mit Kommunikationsanschlüssen für SERVISYNG zu versehen. Keine Bewegung seiner zweitausend Untertanen würde ihm entgehen. Mördern, Räubern und Frauenschändern durfte man nicht trauen, auch wenn sie rekonstituiert waren. In seinen Überlegungen spielte es keine Rolle, dass auch er selbst wegen schweren Raubes vor Gericht gestellt und zur Rekonstitution verurteilt worden war. Er war seiner Sache sicher. Er würde keinen Rückfall erleiden. Aber die anderen! Wie sollte er ihnen trauen? Die SEQUOIA war ein altes Schiff mit einem rachitischen Lineartriebwerk, das stotternd funktionierte und mehrere mal zu spontanem, im Fahrplan nicht vorgesehenem Auftauchen aus dem Linearraum Anlass gegeben hatte. Natürlich – warum sollte auch die Verwaltung der Strafkolonien ihre Sträflinge mit teuren, modernen Fahrzeugen ausstatten? Diese Fahrt der SEQUOIA war ihre letzte. Zwölf Stunden nach der Landung auf der Kolonialwelt DURBOJ würde sie sich selbst vernichten. Für solche Zwecke setzte man kein zeitgenössisches Gerät ein. Manchmal fragte sich Serg Mivlak voller Sorge, ob es die SEQUOIA überhaupt bis nach Durboj schaffen würde. Die Astrogation geschah automatisch. Wer weiß, was zweitausend zur Strafkolonisation verurteilte Männer und Frauen sonst mit dem Schiff angestellt hätten. Jeder Versuch, den Kurs manuell zu beeinflussen, führte zur sofortigen Explosion der SEQUOIA. So hatte man es ihnen erklärt, und Serg Mivlak sah keinen Grund, an der Aufrichtigkeit der Beamten in der Strafkolonie-Verwaltung zu zweifeln. Während der vergangenen dreizehn Tage hatte sich niemand auch nur in die Nähe der vollrobotisierten Kommandozentrale gewagt. Mivlak war offiziell der Anführer der Siedlerexpedition. Er war von der Verwaltung dazu ernannt worden. Er besaß eine akade-
mische Ausbildung und genoss beträchtliches Ansehen unter seinen zweitausend Mitsiedlern. Wie er sich durchsetzte, war den Leuten der Strafkolonie-Verwaltung gleichgültig, sobald die SEQUOIA den Erdorbit verließ. Serg Mivlak jedoch lag sein Posten am Herzen. Er wollte ihn behalten. Es schwebte ihm so etwas wie das Amt eines Präsidenten auf Lebenszeit vor. SERVISYNC sollte ihm dazu verhelfen. Liebevoll fuhr er mit der Hand über die glatte Oberfläche der Plastikkisten, die die Bestandteile des Computers enthielten. Zum Schluss war trotz der ruckeligen, mit vielen Unterbrechungen durchsetzten Reise doch noch alles gutgegangen. Die SEQUOIA befand sich im Landeanflug auf Durboj. Vor einer halben Stunde hatte sie aus dem Orbit zu fallen begonnen. Auf dem kleinen Bildschirm in seiner Kabine, die er stolz sein Hauptquartier nannte, sah Serg Mivlak ein Stück Oberfläche: die Küste entlang eines breiten Meeresarms, grünes, flaches Land mit unterschiedlichen Schattierungen – Wälder und Grassteppe, nahm er an – und weiter im Norden die Konturen eines Gebirges mit glänzenden Schneefeldern auf den Flanken der höchsten Gipfel. Die fremde Sonne übergoss das Land mit verschwenderischer Lichtfülle. Der Vergleich mit dem Garten Eden kam einem unwillkürlich in den Sinn. Serg Mivlak rieb sich die Hände. Nach den langen, tristen Monaten der Rekonstitution sah es so aus, als würde es sich wieder lohnen zu leben. Am 24. März 2984 allgemeiner Zeitrechnung war die SEQUOIA auf Durboj gelandet. Innerhalb von acht Stunden war die gesamte Ladung des Schiffes an einen zwölf Kilometer vom Landeplatz entfernten Ort unmittelbar an der Küste transportiert worden. Zwölf Stunden nach der Landung war die SEQUOIA planmäßig explodiert. Die Kolonisten waren gefangen. Irgendwann in der unbestimmbaren Zukunft würde eine Patrouille der Solaren Flotte den Planeten anfliegen, um sich über das Wohlergehen der Ausquartierten zu informieren. Niemand wusste, wann das sein
würde. Die Versuche, den Hyperkom der SEQUOIA noch in letzter Minute auszubauen, waren fehlgeschlagen. Es gab auch keine Funkverbindung mehr mit der Außenwelt. Seitdem waren vier Wochen vergangen. Zehn Tage hatte es gedauert, bis die Fertighäuser zusammengebaut waren. Sie waren allesamt von einheitlicher Form und Größe, nur eines war größer als die anderen. Das hatte Serg Mivlak erhalten, der sich seit der Landung »Vorsitzender« nennen ließ. Welchem Gremium er vorsaß, blieb der Mehrheit der Siedler ein Rätsel. Denn er regierte autoritär und mit eiserner Hand. Er war der einzige, der Entscheidungen traf. Er hatte sich mit einer Gruppe von Schlägertypen umgeben, die er seine Sicherheitstruppe nannte. Sie waren mit Knütteln ausgerüstet; Waffen waren den Strafkolonisten nicht mitgegeben worden. Die Sicherheitstruppe sorgte dafür, dass Mivlaks Anordnungen ausgeführt wurden. Er machte sich mit solchen Maßnahmen unter den Siedlern nicht eben beliebt. Aber da er die mitgebrachten Proviantvorräte kontrollierte und die Aussaat für die erste Ernte, deren Ausbeute frühestens in acht Monaten zu erwarten war, eben erst begann, benahm sich das Siedlervolk botmäßig und leistete Serg Mivlak keinen Widerstand. Casto Orvidez hatte die Entwicklung der vergangenen Wochen bei wachem Bewusstsein miterlebt. Bis jetzt hatte er keinen Grund, stolz auf seine Rolle zu sein. Er galt als Serg Mivlaks Vertrauter, als sein Assistent und Stellvertreter. Er wusste genau, worauf Mivlak aus war. Aber er besaß die Mittel nicht, um ihm das Handwerk zu legen. Serg hatte eine Reihe von Vorschriften erlassen, die darauf abzielten, seine Alleinherrschaft zu stärken. Jeder, der ihnen zuwiderhandelte, wurde streng bestraft. Das allein war es nicht, Was Casto störte. In den vergangenen Tagen hatte Mivlak eine nahezu magische Fähigkeit entwickelt, einzelnen Siedlern Verstöße gegen die genannten Vorschriften nachzuweisen. Es war fast so, als könne er aus der Ferne in ihre Häuser hineinsehen und sie bei ihren privaten Gesprächen belauschen. (Denn einige der Vorschriften bezogen sich darauf, dass
über die Person des Vorsitzenden keine abfälligen Bemerkungen gemacht werden durften – weder öffentlich noch privat.) Die Schuldigen waren von der Sicherheitstruppe einkassiert und eingesperrt worden. Sie harrten der Aburteilung. Das Gefängnis befand sich in einer der Höhlen der nördlich gelegenen Berge. Die Gefangenen lebten dort unter barbarischen Bedingungen. Casto Orvidez wusste es aus eigener Anschauung: Er hatte an einer der Fahrten teilgenommen, die die »Staatsverräter«, wie Mivlak sie nannte, mit Proviant versorgte. (Zu der Ausstattung des Siedlungsunternehmens gehörten mehrere Gleiter, die der Vorsitzende sämtlich mit Beschlag belegt hatte.) Serg Mivlak war dabei, Sondergerichte zu etablieren, vor denen gegen die Staatsverräter verhandelt werden sollte. Das hörte sich merkwürdig an, da es in der jungen Kolonie normale Gerichte, wie sie von den Statuten vorgeschrieben waren, noch nicht gab. Die Entwicklung beunruhigte Casto Orvidez. Er sah, dass Mivlak sich auf dem besten Weg befand, sich zum Tyrannen aufzuschwingen. Casto war ein friedlicher Mann. Er war wegen Vergewaltigung verurteilt worden. Er hielt sich für unschuldig. Nach seiner Ansicht hatte das Ereignis, auf dem seine Verurteilung beruhte, in beiderseitigem Einverständnis stattgefunden. Das Gericht hatte ihm keinen Glauben geschenkt. Er war rekonstituiert worden, obwohl es nach seiner Meinung an ihm nichts zu rekonstituieren gab. Die einzige Wirkung, die der Rekonstitutionsprozeß erzeugte, bestand darin, dass Casto Orvidez seitdem womöglich noch friedliebender geworden war, noch mehr auf seine Unabhängigkeit bedacht. Er hasste es, wenn jemand ihm Vorschriften machen wollte. Serg Mivlak hatte auch ihn unter seiner Kontrolle; aber Casto war fest entschlossen, etwas dagegen zu unternehmen. Er liebte die Natur. Tag für Tag, soweit es seine Zeit erlaubte, unternahm er Ausflüge in die Umgebung von Gobdrop, wie Serg Mivlak die Siedlung getauft hatte. Er kannte die Tiere und Pflanzen des jungfräulichen Planeten besser als irgendjemand sonst. Falls Mivlak es ihm jemals erlaubte, seinen Computer zu benüt-
zen, den er in einem kleinen Nebenraum seiner Wohnung verborgen hatte und so behandelte, als ob er ein Heiligtum wäre, dann würde er eine Datei anlegen, die alle Ergebnisse seiner Forschungen enthielt. Irgendwann in der fernen Zukunft mussten sie eine Schule einrichten. Die Kinder sollten lernen, was es mit ihrer Welt auf sich hatte. Und den Erwachsenen schadete ein bisschen Wissen um die Eigenheiten der fremden Natur gewiss auch nichts. Er war auch heute wieder draußen gewesen, aber jetzt wurde es allmählich Zeit, dass er zur Siedlung zurückkehrte. Die Sonne stand nahe dem Horizont. Es ging das Gerücht, dass es auf Durboj vampirähnliche Tiere gäbe, so groß wie ein ausgewachsener Adler, die in der Nacht auf Jagd gingen und die Kühnheit besaßen, selbst Menschen anzufallen. Casto wusste nicht, was er von solchen Schauergeschichten halten sollte, zumal er mit noch niemand gesprochen hatte, der selbst einem Vampir begegnet war. Aber er nahm die Sache nicht auf die leichte Schulter. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass zur einheimischen Fauna Tiere von erstaunlicher Größe zählten – warum nicht auch geflügelte Geschöpfe? Die Siedlung war entlang einer primitiven Straße errichtet, die nach Serg Mivlaks Willen den Keim eines planetenweiten Verkehrsnetzes darstellte. Es dunkelte, als Casto Orvidez seine anspruchslose Behausung betrat. Er richtete sich aus den Vorräten, die er zu Beginn der Woche erhalten hatte, ein frugales Mahl her und verzehrte es ohne Begeisterung. Den Rest des Abends gedachte er, auf die übliche Weise zu verbringen. Von dem wenigen, das ihm nach der Rekonstitution übriggeblieben war, hatte er sich ein modernes Sende- und Empfangsgerät gekauft. Es arbeitete nach herkömmlichen Prinzipien, d. h. auf elektromagnetischer Basis. Im Grunde genommen war es ein denkbar sinnloser Einkauf gewesen, denn es gab auf Durboj niemand, mit dem Casto sich hätte unterhalten können. Indes, die Leidenschaft des Amateurfunkers saß ihm noch im Blut. Er konnte stundenlang an seinem Empfänger sitzen, die Fre-
quenzen ab kurbeln und den geheimnisvollen Störgeräuschen lauschen, die aus dem fremden Raum kamen, ohne dass ihm dabei langweilig wurde. Heute Abend war es anders. Er empfing ein durchdringendes Fiepen, das von einer Störquelle in nächster Nähe kommen musste. Erstaunt horchte Casto auf. Jemand sendete. Während der Fahrt nach Durboj hatte er sich umgehört, ob es außer ihm unter den Strafkolonisten noch weitere »Harns« gebe. Die Umfrage war negativ ausgefallen. Aber irgendeiner unter den Befragten hatte ihm wohl nicht die Wahrheit gesagt. Der Sender, der ihm den Empfang verdarb, stand im Umkreis von nicht mehr als zwanzig Metern, darauf hätte er einen Eid geleistet. Casto ging systematisch vor. Zunächst vergewisserte er sich, dass nicht Stimme, sondern Daten übertragen wurden. Dann nahm er seine Meßsonde und machte sich daran, die Richtung zu ermitteln, in der sich der unbekannte Sender befand. Die Ergebnisse, die er dabei erzielte, verwirrten ihn. Er brauchte nur ein paar Schritte zu tun, und die Peillinie war um annähernd 180 Grad verdreht. Er ging ein paarmal hin und her, bis ihm der Grund seiner Verwirrung endlich klarwurde: Der Sender befand sich in seiner eigenen Behausung! Von da an hatte er leichtes Spiel. Er fand das Mikrosendegerät, das geschickt in der Trennwand zwischen den beiden Räumen seines Hauses verborgen war. Damit nicht genug. Er entdeckte eine Batterie miniaturisierter Kameras, die beide Räume bis in den hintersten Winkel bestrichen, und eine Serie von winzigen Mikrophonen, die jeden Laut aufzeichneten, der hier gesprochen wurde. Zorn stieg in ihm auf. Es gab keinen Zweifel, dass Serg Mivlak hinter dieser Infamie steckte. Wahrscheinlich waren alle Häuser der Siedlung auf diese Weise präpariert. Daher also hatte Mivlak die Informationen, die er brauchte, um diesen oder jenen zum Staatsverräter zu erklären und ins Gefängnis zu sperren. Castos erster Impuls war, dem Sender, den Kameras und den Mikrophonen mit einem Hammer zu Leib zu rücken. Aber noch
während er unter seinen Werkzeugen nach einem geeigneten Hammer suchte, besann er sich eines Besseren. Was erreichte er damit, dass er Mivlaks Spioneinrichtung zertrümmerte? In spätestens einer halben Stunde wäre eine Abteilung der Sicherheitstruppe vor seiner Tür und nähme ihn fest. Einen plausiblen Grund für eine Verhaftung würde Serg schon finden – Beschädigung von Staatseigentum etwa oder etwas Ähnliches. Wäre den anderen Siedlern damit geholfen? Nein. Serg Mivlak hätte sich eines gefährlichen Widersachers entledigt, und dem Rest der Siedler gegenüber gebärdete er sich nach wie vor als Tyrann – als Despot, der über jede Phase des Alltagslebens seiner Untertanen informiert war. Die Sache musste ganz anders angegangen werden. Casto war sich wohl darüber im Klaren, dass Mivlak ihn die ganze Zeit über beobachtet hatte – oder doch zumindest die Möglichkeit besaß, die Aufzeichnung, die sein Computer angefertigt hatte, abzurufen und einzusehen. Es wurde ein gehöriges Stück Schauspielkunst von Casto verlangt. Er schloss den Deckel seiner Werkzeugkiste und murmelte: »Man muss das aber auch aus einem anderen Blickwinkel sehen können. Er hat es schließlich mit einer Horde labiler Charaktere zu tun.« Mochte Mivlak daraus machen, was er wollte. Casto Orvidez jedenfalls brachte die Wandverkleidung wieder an. Sender, Kameras und Mikrophone waren unbeschädigt. Aber Casto wusste jetzt, auf welche Weise Serg Mivlak die, die er als seine Untertanen bezeichnete, unter der Knute hielt. Ein Plan nahm in seinem Bewusstsein Gestalt an. Am nächsten Morgen kurz nach Sonnenaufgang fand Casto sich in Serg Mivlaks Amtsgebäude ein, wie es seine Pflicht war. Der Vorsitzende empfing ihn noch halb verschlafenen Blickes. Aber er brachte die Sprache sofort auf das kritische Thema. »Du verstehst also meine Vorgehensweise?« erkundigte er sich. Casto tat so, als müsse er erst darüber nachdenken, worum es ging. Dann nickte er hastig.
»Du kannst nicht anders handeln«, sagte er. »Die Lage ist zu unsicher.« »Ich bin froh, dass du die Sache so siehst«, meinte Mivlak. Er versuchte, ein freundliches Lächeln zuwege zu bringen, aber stattdessen verzog sich sein Gesicht zu einer hämischen Grimasse. »Unsere Zusammenarbeit wird sich von jetzt an wesentlich reibungsloser gestalten. Ich habe ein paar Aufgaben für dich…« Den Vormittag verbrachte Casto Orvidez damit, verschiedene Projekte zu inspizieren, die zum vorgeschriebenen Arbeitsprogramm der Siedler gehörten. Dazu gehörten der Bau eines Gezeitenkraftwerks, die Errichtung einer Hyperkom-Antenne, die Konstruktion einer Poliklinik. Er oblag seinen Pflichten mit halber Aufmerksamkeit. Unterwegs begegnete er des öfteren kleinen, fünf- bis sechsköpfigen Gruppen der Sicherheitstruppe, die einen Staatsverräter abschleppten. Es wunderte ihn nicht, dass sich der Bauleiter des Gezeitenkraftwerks über Mangel an Arbeitskräften beklagte. Serg Mivlak in seinem Verfolgungswahn würde bald die ganze Siedlung eingekerkert haben. Die Hyperkom-Antenne war noch am weitesten fortgeschritten. Sie war freilich auch die einfachste Konstruktion. Es war nicht vorgesehen, dass Durboj regen Hyperfunkverkehr mit dem Rest der Milchstraße unterhalten solle. Der Hypersender durfte nur in Betrieb genommen werden, wenn der Kolonie ernsthafte Gefahr drohte. Nach der dritten Sendung würde er sich von selbst auflösen. Auf diese Weise hatte sich die Strafkolonie-Verwaltung gegen Missbrauch gesichert. Castos Plan hatte inzwischen feste Gestalt angenommen. Zu lösen blieb nur noch ein kleines taktisches Problem: Er musste Serg Mivlak ein paar Stunden lang ausschalten. Der Tag auf Durboj war lang, 38 Standardstunden insgesamt. Jedermann legte um Mittag eine Ruhepause ein, eine mehrstündige Siesta. Es wäre Casto leicht gefallen, sich zur Zeit der Mittagsruhe in Sergs Quartier zu schleichen und ihm einen Knüttel über den Schädel zu hauen. Aber so einfach durfte eres sich nicht machen. Mivlak hätte, wenn er aus der Bewusstlosigkeit erwachte, sofort geahnt,
dass das Ziel des Attentäters in unmittelbarer Nähe lag. Nein – wenn dem Vorsitzenden etwas zustieß, dann musste es weit von seiner Behausung entfernt geschehen. Der Zufall kam Casto zu Hilfe. Es ging auf Mittag. Die fremde Sonne brannte unbarmherzig. Über der Grasebene, die die kleine Siedlung auf drei Seiten umgab, flimmerte die Luft. Casto näherte sich müden Schrittes dem letzten Bauprojekt, das er zu inspizieren hatte. Es handelte sich um einen Entwässerungsgraben, der an der Ostseite von Gobdrop entlang in Richtung der Küste verlief. Man wusste, dass es in dieser Gegend tropische Regenzeiten gab. Wenn der Regen einsetzte, sollte die Siedlung nicht überschwemmt werden. Dafür sorgten Entwässerungsgräben – einer im Osten und einer im Westen. Das bisher fertiggestellte Grabenstück zog sich wie ein schwarzer Strich durch das grüne Grasland. Casto blieb stehen, um sich zu orientieren. Die Baumannschaft befand sich weiter rechts, der Küste zu. Was aber war das für eine Gestalt, die sich geradeswegs vor ihm am Grabenrand herumtrieb? Casto schlich sich näher. Er benützte ein paar Büsche als Deckung und kam schließlich dem Graben so nahe, dass er in der eifrig auf und ab turnenden Gestalt Serg Mivlak erkannte. Wa s hatte der Vorsitzende hier zu suchen? Der Bautrupp arbeitete einen knappen Kilometer weiter südlich. Casto sah Mivlak eine Zeitlang zu und kam zu dem Schluss, dass es diesem darum ging, sich von der Qualität der geleisteten Arbeit zu überzeugen. Grabenwände und -sohle waren mit einem harten Überzug aus Spritzkonkrit zu versehen. War der Überzug nicht fugenlos, dann würden die Flutwasser ihn abtragen und den Graben einreißen. Es sah Serg Mivlak ähnlich, dass er in dieser Stunde nichts Besseres zu tun hatte, als sich mit einer derartigen Lappalie zu beschäftigen. Erregung packte Casto, als er seine Chance erkannte. Er sah sich nach einer Waffe um. Es gab weiter nichts als die Steinbrocken, die in so großer Zahl umherlagen, als hätte vor kurzem jemand hier sein Schotterfuhrwerk entleert. Casto griff sich einen davon. Serg Mivlak war mit seiner Pedanterie so beschäftigt, dass er den
Herannahenden nicht bemerkte. Casto schlug kräftig zu. Mivlak gab ein ächzendes Geräusch von sich und ging auf der Sohle des Grabens bewusstlos zu Boden. Drei oder vier Stunden, schätzte Casto, würde er brauchen, bis er wieder zu sich kam. Die Gegend war verlassen; der Bautrupp bewegte sich in der entgegengesetzten Richtung. Niemand würde Mivlak finden. Mit aller Hast, aber ohne die gebotene Vorsicht zu vernachlässigen, machte Casto sich auf den Weg. Als er die Siedlung erreichte, hatte die Siesta bereits begonnen. Die staubige Straße lag einsam und verlassen im Sonnenglast. Er schlich sich von der Rückseite an Serg Mivlaks »Verwaltungszentrum« heran und verschaffte sich Zutritt, ohne dass es jemand anders bemerkte. In Sergs Wohnräumen hielt er sich nicht auf. Ohne Mühe fand er das Computerlabor. Im Laufe einer halben Stunde machte er sich mit dem System vertraut. Das fiel ihm nicht schwer. So wie ihn die Amateurfunkerei begeisterte, war er schon immer ein Jünger der Computertechnik gewesen. Auf dem Gebiet der Hardware kannte er sich ebenso gut aus wie im Bereich der Software. Er war, wie man das in Eingeweihtenkreisen nannte, ein echter Hacker. Das System leistete ihm keinen Widerstand. Serg Mivlak war seiner Sache so sicher gewesen, dass er an eine Sperrung mit Kennwort- oder ähnlichem Zugriff nicht gedacht hatte. Die Grundzüge des Programms, das er einzugeben gedachte, waren Casto schon am vergangenen Abend klargeworden. Mit Hilfe des Vorprozessors verlieh er seiner Idee Detail. Er hätte den Kode akustisch eingeben können; aber er war nicht sicher, ob sich nicht irgendwo in der Nähe ein Registriergerät befand, das seine Worte aufzeichnete. Also bediente er sich der Tastatur der Konsole und nahm den damit verbundenen Zeitverlust gerne in Kauf, da er sicher war, dass Serg Mivlak noch lange nicht wieder zu sich kommen würde. Er nannte sein Programm COPOPS – Casto Orvidez Procedure against Orwellian Program Systems. Er hatte irgendwo, irgend-
wann eine alte Geschichte gelesen, in der es darum ging, dass ein einzelner Bürger sich gegen die Bevormundung durch big brother sträubte. Der Autor hieß Orwell. In einer ähnlichen Situation war Casto. Zu Probeläufen fehlte ihm die Gelegenheit. Er hätte warten müssen, bis die in den Häusern verteilten Monitoren und Sender ihre Tätigkeit wiederaufnahmen, um zu sehen, ob die Daten tatsächlich in der gewünschten Weise verwurstelt und vertauscht wurden. Dazu blieb ihm jedoch keine Zeit. Stattdessen tat er etwas anderes. Er legte eine Datenakte mit dem Kennbegriff Mivlak, Serg an. Des weiteren wies er den Computer an, alle Daten, mit denen er aufgrund der COPOPS-Routine nichts mehr anzufangen wusste, in dieser Akte abzulegen. Viel versprach sich Casto nicht von dieser Maßnahme. Sie war eher das Resultat einer Augenblickslaune, ein Dummerjungenstreich. Aber wer mochte wissen – vielleicht bekam Serg von seiner eigenen Medizin zu schmecken. Sodann verzog Casto sich nach draußen und machte es sich an einem schattigen Plätzchen neben der Haustür bequem. In der lähmenden Hitze des Mittags schlief er tatsächlich eine Zeitlang ein. Er war jedoch sofort wieder hellwach, als Schritte sich näherten. Serg Mivlak war grimmigster Stimmung. Er hatte eine Beule am Hinterkopf, die sich sehen lassen konnte. Ab und zu strich er vorsichtig mit der Hand darüber. Dann verzog er schmerzlich das Gesicht und stieß einen groben Fluch aus. Inzwischen war Casto auf die Beine gekommen. »Alle Aufgaben ausgeführt«, meldete er. »Wenn du willst, erstatte ich dir… mein Gott, was hast du angestellt?« »Geht dich nichts an!« knurrte Serg wütend. »Verschwinde. Ich brauche deinen Bericht nicht.« »Keine Aufträge für den Nachmittag?« erkundigte sich Casto scheinheilig.
»Verschwinde, habe ich gesagt!« schrie Mivlak wütend. Da stahl Casto Orvidez sich davon. Er tat gedrückt und gedemütigt, aber in Wirklichkeit schmunzelte er. Somit begann für Serg Mivlak eine merkwürdige Zeit. Noch während der Siesta an diesem Tag schickte er die Sicherheitstruppe von Haus zu Haus und ließ sie jeden einzelnen Bürger befragen, wo er oder sie sich zur fraglichen Zeit – zur Zeit nämlich, da Serg niedergeschlagen worden war – aufgehalten hatte. Wie nicht anders zu erwarten, verlief die Befragung ergebnislos. Schlimmer noch: Roche Nesbit, Anführer der Truppe, ein breitschultriger, stiernackiger Schlägertyp, wusste zu berichten: »Es kam mir verdammt so vor, als wüssten die meisten schon, worum es ging. Sie hatten ein verdächtiges Glitzern in den Augen. Ich glaube, es bereitet ihnen Vergnügen, dass dir jemand einen Stein auf den Schädel gedonnert hat.« Dass man in der Siedlung von Serg Mivlaks »Unfall« wusste, war natürlich auf Casto Orvidez zurückzuführen, der noch während der größten Mittagshitze die Runde gemacht hatte, um seine Mitbürger zu warnen, dass aller Wahrscheinlichkeit nach eine hochnotpeinliche Untersuchung auf sie zukomme. Die Ergebnislosigkeit der Befragung verstärkte Serg Mivlaks Zorn, obwohl er sie hatte erwarten müssen. Er nahm sich vor, mit dem heimtückischen Attentäter auf andere Weise abzurechnen. Irgendwie würde er ihn fassen, und wenn dabei auch ein paar andere, Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen wurden, so spielte dies doch nur eine vernachlässigbar geringe Rolle im Vergleich mit der Würde des Amtes des Vorsitzenden, die es zu wahren galt. Mivlak zog sich in den Raum zurück, den er sein interius sanctum nannte – denselben, in dem vor wenigen Stunden Casto Orvidez auf so spitzbübische Art und Weise tätig gewesen war. Wenn der Vorsitzende die Schwelle des Computerlabors überschritt, da kam ihn ein neues Gefühl an, das er draußen nicht empfand – ein Gefühl der Majestät, ein Empfinden der Voll-
kommenheit, die Gewissheit, dass sein Amt von Gottes Gnaden sei. Hier, in der Nähe des Computers, erlebte er die Fülle seiner Macht und bestärkte sich von neuem in der Überzeugung, dass in Gobdrop kein Steinchen rollen, kein Ziegel zittern, kein Wort geäußert werden könne, ohne dass er davon erfuhr. Er war der unumschränkte Herr. Es geschah nichts ohne seinen Willen. Er ließ sich in dem Sessel vor der Konsole nieder. Ein paar Augenblicke lang überlegte er, nach welchem. Schema er vorgehen solle. Es fiel ihm nichts Gescheites ein, daher entschied er sich für das Prinzip der Wahllosigkeit. Es gab 834 Häuser in Gobdrop. Mivlak hatte jedes mit einer Nummer versehen. Aufs Geratewohl tippte er einen Nummernkode in die Tastatur. Die Videofläche leuchtete auf. Dem Allgewaltigen bot sich ein seltsames Bild. Ein Junge und ein Mädchen waren damit beschäftigt, einen spärlich ausgestatteten Wohnraum zu reinigen. Sie hatten die wenigen Möbel beiseitegeschoben und gingen dem glatten Fußboden mit Wasser und einem schäumenden Reinigungsmittel zu Leibe. Ein alltägliches Bild, gewiss, nur erschienen die Bewegungen der beiden jungen Menschen eckig und viel zu schnell, als seien sie im Zeitraffertempo aufgenommen. Junge und Mädchen unterhielten sich während der Arbeit; Mivlak konnte sehen, wie ihre Lippen sich bewegten. Aber die Stimmen, die er hörte, kamen nicht von ihnen. Sie schallten aus dem Hintergrund. Es waren die Stimmen erwachsener Männer, und Serg Mivlak wurde Zeuge folgenden Gesprächs: »Es regnet nicht, es regnet nicht – daran ist nur der Vorsitzende schuld.« »Es kommen keine Kinder zur Welt, woran mag das liegen?« »Ich sage dir, wir hätten eine bessere Verteidigung gebraucht, dann wären wir nicht hierher verschickt worden.« »Wenn mir mehr Zeit geblieben wäre, hätte ich mein Haus günstiger verkaufen können.« Die Unterhaltung war ohne Sinn und Ziel. Serg Mivlak empfand sie als äußerst verwirrend. Es kam ihm vor, als ob inkon-
gruente Gesprächsfetzen zu einer künstlichen und sinnlosen Konversation synthetisiert worden seien – und das war ja, unter dem Einfluss des Programms namens COPOPS, auch tatsächlich der Fall. Aber letzten Endes hatte ihn das nicht zu interessieren. Im ersten Satz war ein Vorwurf gegen ihn laut geworden. Der Vorsitzende war daran schuld, dass es nicht regnete. Ein lächerlicher Vorwurf, gewiss, aber einer, den er nicht ungeahndet auf sich sitzen lassen durfte. Ein Problem stellte sich ihm indes. Die Batterie der Miniaturkameras erfasste selbst den hintersten Winkel des Hauses, bis in die kleine Hygienekammer drang sie vor. Aber die beiden Sprecher waren nirgendwo zu sehen. Mivlak konnte sie nicht identifizieren. Er nahm an, dass sie sich aus irgendeinem Grund in den flachen, nur kriechend begehbaren Raum zwischen der Decke des Wohngeländes und dem Dach des Gebäudes zurückgezogen hatten. Aber auch das war von geringer Bedeutung. Er rief die eingetippte Adresse ab und ließ sie sich übersetzen. Es war Sid Langwys Haus, in das er Einblick genommen hatte. Sicher doch war Sid Langwy für das verantwortlich, was in seinem Haus vorging. Er drückte eine rote Taste. Minuten später summte der Türmelder. Serg Mivlak ging nach vorne und betätigte den Öffnungsmechanismus. Roche Nesbits gerötetes Gesicht blickte ihn an. »Sid Langwy«, sagte Mivlak. »Greif ihn dir.« Casto Orvidez hatte sich ein paar Stunden der Ruhe gegönnt. Danach erfrischte er sich mit einer kalten Dusche. Er überlegte, ob er heute wieder einen seiner Naturausflüge unternehmen oder lieber an der Montur arbeiten solle, die ihn in die Lage versetzen würde, auch nachts – zur Zeit der Vampire – im Freien zu bleiben. Er entschied sich für das erstere. Der Tag hatte noch mehr als fünf Stunden, da gab es noch viel zu erfahren und zu lernen draußen im Buschland und in den Küstenwäldern.
Er kleidete sich an und machte sich auf den Weg. Er war noch keine hundert Meter die Straße hinab, da bemerkte er eine Gruppe von Sicherheitspolizisten, die sich um Sid Langwys Haus scharte. Es musste sich um eine wichtige Sache handeln, denn Roche Nesbit, der Anführer der Sicherheitstruppe, war mit dabei. Casto trat auf ihn zu und fragte: »Was geht hier vor?« »Das ist nicht deine Angelegenheit«, antwortete Nesbit grob. Aber Casto ließ sich nicht abweisen. »Ihr wollt nicht etwa Sid verhaften?« erkundigte er sich. »Und wenn es so wäre?« bleckte Nesbit ihn an. »Sid Langwy ist erstens der loyalste aller Bürger, der sich niemals etwas zuschulden kommen lassen wird, und zweitens ist er den ganzen Tag über nicht zu Hause. Er arbeitet draußen am Gezeitenkraftwerk.« Roche Nesbit trat zurück. »Lasst ab, Männer!« rief er seinen Leuten zu. »Langwy ist draußen beim Kraftwerk.« Casto hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Aber dann kam ihm zu Bewusstsein, dass der Fehler, den er begangen hatte, so schwerwiegend nicht war. In zwei oder drei Stunden wäre Sid ohnehin nach Hause zurückgekehrt. Mit seinem losen Mundwerk hatte er den Vorgang nur ein wenig beschleunigt. Er sah den davon marschierenden Sicherheitspolizisten nach. Zur Kenntlichmachung ihrer Funktion trugen sie ein weißes Band am linken Arm. Er konnte sich nicht vorstellen, was geschehen war. So früh am Tag pflegte Serg Mivlak seinen Computer nicht in Betrieb zu nehmen. Außerdem war inzwischen COPOPS installiert worden. Er hätte nur noch unsinnige Resultate erhalten dürfen. Casto schwante Unheil. Er vergaß seinen Ausflug in die Wildnis und wandte sich stattdessen in Richtung des Hauses, das Serg Mivlak bewohnte. Der Vorsitzende befand sich im Zustand hochgradiger Erregung. »Haben sie Langwy schon gefasst?« rief er.
Casto schüttelte den Kopf. »Du wirst deine Geduld zügeln müssen«, sagte er. »Sid arbeitet draußen am Kraftwerk. Die Polizisten sind hinter ihm her. Was hast du gegen ihn?« »Er hat die Würde des Vorsitzenden verletzt«, knurrte Mivlak. »Wie?« »Das geht dich nichts an.« Casto verlegte sich aufs Bitten. »Sei nicht so störrisch«, sagte er. »Ich kenne deinen Überwachungsmechanismus. Vor mir brauchst du keine Geheimnisse mehr zu haben. Vielleicht kann ich dir sogar behilflich sein. Ich verstehe ein wenig von Computern. Also, wie wär’s?« Mivlak ließ sich schließlich erweichen. So weit, Casto Zutritt zum Computerlabor zu gewähren, ging et allerdings nicht. Er holte die Aufzeichnung und spielte sie auf einem Wiedergabegerät im Wohnzimmer ab. Casto lief es kalt und heiß über den Rücken. COPOPS funktionierte, aber Mivlak in seiner Verblendung erkannte nicht, dass er sinnlose, statistisch zusammengewürfelte Daten erhielt. »Daraufhin lässt du Langwy verhaften?« fragte er im Tone eines Mannes, der drauf und dran ist, am Verstand seines Gesprächspartners zu zweifeln. »Es ist nicht einmal seine Stimme dabei!« »Du kennst seine Stimme so gut?« erkundigte sich Mivlak misstrauisch. »Wir waren während der Fahrt in derselben Kabine untergebracht.« Mivlak machte eine entschlossene Handbewegung. »Spielt keine Rolle. Die Worte fielen in Langwys Haus. Die Würde des Vorsitzendenamts muss gewahrt werden. Ich denke dabei nicht nur an mich, sondern auch an die, die mir in dieser Funktion nachfolgen. Wo kä men wir hin, wenn sich jeder ungestraft abfällig über den Vorsitzenden äußern könnte.« Seine Miene nahm einen lauernden Ausdruck an. »Du hast die Stimmen nicht etwa erkannt?« fragte er.
»Nein«, antwortete Casto entschlossen. »Außerdem gibt es in Sid Langwys Haus keine zwei Kinder. Ich habe das Gefühl, dein Computer ist verwirrt.« »Ausgeschlossen«, behauptete Mivlak. »Ein Produkt modernster Technologie, mit allen möglichen Garantien versehen. Aber auf eine Idee hast du mich gebracht…« Niedergeschlagen verbrachte Casto Orvidez den Rest des Nachmittags in seiner kleinen, schäbigen Behausung. Sein Coup war fehlgeschlagen – schlimmer noch: das Resultat hatte sich in das Gegenteil des Geplanten verkehrt. Anstatt anzuerkennen, dass sein Computer nicht mehr richtig funktionierte, war Serg Mivlak nun noch versessener darauf, denen, die die Würde seines Amtes verletzten, an den Kragen zu fahren. Damit hatte Casto nicht gerechnet: Mivlak litt an Verfolgungswahn. Als er COPOPS entwickelte und implementierte, war er davon ausgegangen, dass sein Gegenspieler ein zwar egozentrischer und vom Wert der eigenen Person in unproportionalem Maße überzeugter, ansonsten aber normaler Mensch sei. Das war sein Fehler gewesen. Mivlak war nicht normal. Sein Verstand war gestört. Er hatte es mit einem Verrückten zu tun. COPOPS war eine denkbar einfache Routine. Sie erzeugte Worte und Bilder nicht selbst, sondern nahm die, die von Mivlaks Überwachungssystem eingesammelt worden waren, und mischte sie so durcheinander, dass sich ein völlig sinnloser Wirrwarr ergab. Casto hatte erwartet, dass Mivlak die Sinnlosigkeit seines Datenmaterials beizeiten erkennen und die Überwachung einstellen würde. Da er jedoch keinerlei derartige Neigung zeigte, wurde die Lage der Bürger von Gobdrop nach der Implementierung von COPOPS umso prekärer. Denn jedermann machte dann und wann eine abfällige Bemerkung über den Vorsitzenden. Und da COPOS die Äußerungen kräftig untereinander mischte, würde Mivlak immer wieder Anlass finden, diesen oder jenen zu verhaften – nach dem Grundsatz, dass der, in dessen Haus die Würde des Vorsitzenden verletzt worden war, dafür verantwortlich
zu halten sei. Im Lauf der Zeit würden alle Kolonisten in der Höhle in den nördlichen Bergen landend. Und dann? Casto suchte nach Auswegen. Er konnte hingehen und Mivlaks Computer demolieren. Aber damit erwiese er der Kolonie einen schlimmen Dienst. Denn das Gerät, von der StrafkolonieVerwaltung zur Verfügung gestellt, hatte eigentlich die Aufgabe, der wachsenden Kolonie in administrativen und statistischen Dingen von Nutzen zu sein. Die Verwaltung ging von der Annahme aus, dass sich Strafkolonien – ähnlich wie Australien es einst getan hatte – zu blühenden Welten entwickeln würden. Je mehr die Bevölkerung zunahm, je verzweigter die Anliegen und die Tätigkeitsbereiche der Siedler sich gestalteten, desto dringender wurde ein leistungsfähiger Computer gebraucht, der die alltäglichen Aufgaben der Buchführung, der Koordinierung, der Verteilung und der auf statistischen Daten beruhenden Vorhersage übernahm. Also gut: Die Möglichkeit, den Computer zu demolieren, schied aus. Er konnte COPOPS entfernen. Das hätte zur Folge, dass von da an wieder nur diejenigen verhaftet und abgeschleppt würden, die tatsächlich abfällige Bemerkungen über den Vorsitzenden gemacht hatten. Darin sah Casto eine Gefahr. Es würde dazu führen, dass die Menschen sich in ihren eigenen Heimen nicht mehr frei zu sprechen getrauten. Auf der anderen Seite brachte der weitere Einsatz von COPOPS einen taktischen Vorteil. Wenn immer mehr Siedler grundlos verhaftet wurden – nur weil die anstößige Bemerkung angeblich aus ihrem Haus kam – dann würde sich allmählich Widerstand gegen das Regime des Vorsitzenden bilden. Die Menschen hatten eine merkwürdige Einstellung der Autorität gegenüber. Wenn sie tatsächlich etwas Schlechtes über Serg Mivlak gesagt hatten und deswegen festgenommen wurden, nun gut, dann konnten sie sich einreden, sie hätten es verdient. Wenn aber der Vorsitzende wahllos verhaften ließ, dann entstand Widerwille. Wer war Serg Mivlak schon? Und selbst wenn man seine zweihundert Mann Schutztruppe hinzurechnete, blieben immer noch achtzehnhundert Siedler, die
ihn im Nu hinwegfegen konnten, wenn sie sich nur auf eine Vorgehensweise einigten. Casto beschloss, alles so zu lassen, wie es war. Mochte COPOPS weiterhin die Daten verwursteln. Je schlimmer Serg Mivlak es trieb, desto aufnahmebereiter wurde der Boden für die Saat der Revolution. Inzwischen würde er selbst sich ein wenig unter den Siedlern umhören und, wo sich eine Gelegenheit ergab, die Stimmung schüren. Ihm haftete ein Makel an, weil er als Serg Mivlaks Assistent und Stellvertreter galt. Er würde die Kolonisten vorsichtig und behutsam davon überzeugen müssen, dass er deswegen Mivlaks Vorgehensweise noch lange nicht billigte. Später am Abend erfuhr Casto, was Mivlak gemeint hatte, als er sagte, er habe ihn auf eine Idee gebracht. Der Türmelder summte. Als Casto hinausblickte, sah er zwei Männer, von denen er wusste, dass sie zur Sicherheitstruppe gehörten. »Ich habe nichts verbrochen«, sagte er, nachdem er die Tür geöffnet hatte. »Oh, das wissen wir«, grinste einer der beiden und schritt, ohne eingeladen zu sein, über die Schwelle. »Du bist schließlich die rechte Hand des Vorsitzenden. Du würdest dir nichts zuschulden kommen lassen, wie?« Nicht bewusst, dachte Casto. Aber der Himmel mochte wissen, was COPOPS mit ihm anstellen würde. »Was wollt ihr also?« fragte er. Einer der beiden legte ein kleines Aufnahmegerät auf den Tisch. »Wir möchten, dass du einen Satz sprichst«, sagte er. »Welchen Satz, und zu welchem Zweck?« »Der Bär brummt immer am Ofen über den obergärigen Griesbrei.« »Was ist das für ein Quatsch?« »Nur ein Testsatz.« »Wozu?« »Wenn du es bis jetzt noch nicht begriffen hast, muss ich deinem Verstand nachhelfen. Der Vorsitzende legt Stimmuster aller Siedler an. Falls bei der Kommunikation die Bildübertragung
einmal ausfällt, will er mit Hilfe des Voxanalysators die Identität seines Gesprächspartners ermitteln.« Casto Orvidez begriff. Das also war die Idee, auf die er Serg Mivlak gebracht hatte. Die Stimmen, die er während der Aufzeichnung aus Sid Langwys Haus gehört hatte, waren unidentifizierbar gewesen. Hätte er Stimmuster sämtlicher Kolonisten besessen, hätte er sie mit diesen vergleichen und die Identität der Sprecher ermitteln können. Diese Versäumnis wollte er nun nachholen. Casto wurde schwül zumute. Stimmenanalyse war eine lang erprobte und zuverlässige Methode; Von jetzt an würde Mivlak nicht nur den verhaften lassen, in dessen Haus die abfälligen Äußerungen angeblich gesprochen worden waren, er würde auch den Sprecher selbst ermitteln. »Nun?«, drängte der eine der beiden Sicherheitspolizisten. »Der Bär brummt immer am Ofen über den obergärigen Griesbrei«, sagte Casto. »Danke, das genügt«, sagte der Polizist, nahm das Gerät wieder auf und schob es sich unter den Arm. »Wir werden Serg Mivlak berichten, dass du keinerlei Widerstand geleistet hast.« »Mehr könnte ich nicht erwarten«, antwortete Casto dumpf und schloss die Tür hinter den beiden Sicherheitsmännern. Im Lauf der nächsten zwei Tage wurden mehr als zweihundert Siedler verhaftet und zur Höhle abtransportiert. Zur Bewachung der Höhle waren inzwischen fünfzig Mann der Sicherheitstruppe abgestellt. Es war genau so gekommen, wie Casto Orvidez befürchtet hatte. Versehen mit den Stimmaufzeichnungen sämtlicher Bürger, ließ Serg Mivlak nicht nur diejenigen festnehmen, aus deren Haus die entwürdigenden Bemerkungen kamen, sondern auch jene, die er anhand der Stimmenanalyse identifiziert zu haben glaubte. Castos Rechnung ging nicht auf. Die Saat der Revolution weigerte sich zu sprießen. Die Sicherheitstruppe war allgegenwärtig. Falls die Bürger jemals den Mut gehabt hatten, sich gegen Serg Mivlak zu erheben, so wurde ihre Initiative im Keim erstickt. Sie hatten inzwischen begriffen, dass jedes Wort, das sie innerhalb
ihrer vier Wände sprachen, Mivlak auf irgendeine Art und Weise zu Ohren kam. Und bald lernten sie obendrein, dass selbst totales Schweigen sie nicht vor Unheil bewahrte. Denn Mivlak schlug zu, wo immer COPOPS tückischer Zeiger hinwies. Die Bürgerschaft war verunsichert. Verabredungen wurden mit dem Zusatz getroffen: »Wenn ich bis dahin noch da bin.« Jedermann rechnete damit, dass die Sicherheitstruppe im nächsten Augenblick seinen Türsummer betätigen könne. Der Aufstand gegen den Tyrannen materialisierte nicht. So ging es eine Woche lang. Die Besatzung der Höhle wuchs, die Bewohnerzahl der Siedlung schrumpfte. Schon waren die Arbeiten an den Entwässerungsgräben aus Mangel an Arbeitskräften eingestellt worden, und der Bau des Gezeitenkraftwerks ging nur noch mit halber Kraft vorwärts. Der Augenblick nahte, da mehr als die Hälfte der Siedler sich in Gefangenschaft befinden würde – und noch immer hatte Serg Mivlak kein einziges Sondergericht benannt, das über die vermeintlichen Untaten der Gefangenen entscheiden sollte. Für Casto Orvidez war dies eine Zeit der Verzweiflung. Er war mitschuldig an dem Unheil, das über die Bürger der Siedlung hereinbrach. Hätte er COPOPS nicht implementiert, gäbe es womöglich fünfzig Prozent weniger Verhaftete. Aber selbst wenn er seine Routine rückgängig machte, würde Mivlaks Wüten nicht enden. Es lag inzwischen klar auf der Hand, dass der Vorsitzende geisteskrank war. Mancher andere mochte das ebenfalls erkannt haben; aber sobald er sich darüber äußerte, wurde er einkassiert. Eine geraume Zeitlang wusste Casto nicht, was er unternehmen sollte. Er fühlte sich schuldig wegen seiner Untätigkeit. Aber dann kam der Anstoß, dessen er bedurft hatte. Eines Morgens, als er noch über seinem frugalen Frühstück saß, ertönte der Türsummer. Durch das Guckloch sah er Roche Nesbit draußen stehen. Er öffnete. Nesbit hatte einen Knüttel schlagbereit in der Hand. Seine Miene war finster. »Kommst du freiwillig mit?« fragte er barsch.
»Wohin?« wollte Casto wissen. »Zum Verwaltungszentrum.« Mit diesem hochtrabenden Titel belegte Serg Mivlak seine Unterkunft. »Schickt dich Serg?« erkundigte sich Casto. »Ja.« »Ich sehe keinen Grund, ihm seinen Willen zu verweigern«, sagte Casto und zog die Tür hinter sich ins Schloss. »Also gehen wir«. Als sie Serg Mivlaks Behausung erreichten, stand dort die Tür offen, und der Vorsitzende war damit beschäftigt, in seinem Wohnraum voller Erregung auf und ab zu gehen. Er entließ Roche Nesbit mit einer herrischen Handbewegung. Nachdem die Tür sich geschlossen hatte, baute er sich vor Casto auf. »Solches hätte ich von dir nicht erwartet!« donnerte er. »Es wäre nützlich«, sagte Casto, so standhaft es ging, »wenn du mir erklärtest, worum es überhaupt geht.« Mivlak wies auf das kleine Wiedergabegerät, das wie üblich auf dem Wohnzimmertisch stand. »Du sollst es hören«, grollte er. Er setzte das Gerät in Betrieb. Zunächst waren ein paar zwitschernde Laute zu hören, dann fielen menschliche Stimmen ein. »Nein, nicht so«, sagte eine Frau. »Wenn wir nicht mehr Arbeitskräfte bekommen, ist das Kraftwerk in einem Jahr noch nicht fertig«, sagte ein Mann. »Daran ist nur der Vorsitzende schuld«, meldete sich eine hohe Stimme. »Mein Gott – der Kuchen verbrennt.« »Ich habe dich schon mehrmals darauf hingewiesen: Der Boden muss dreimal umgegraben und mit dem Kunstdünger durchsetzt werden.« » Ja, so ist es besser.« Das schien wieder die Stimme der Frau zu sein. Mivlak schaltete das Gerät ab. »An dem Mangel an Arbeitskräften bin ich also schuld«, sagte er zornig.
Casto breitete die Arme aus. »Das habe ich nicht gesagt«, beteuerte er. »Die ganze Konversation ist völlig ohne Zusammenhang, merkst du das nicht?« »Aber sie kommt aus deinem Haus«, dröhnte Mivlak. »Ich werde die Stimmen noch analysieren lassen. Aber vorläufig steht fest, dass in deinem Haus eine abfällige Äußerung über den Vorsitzenden gemacht wurde.« Casto stand reglos. In einer Situation wie dieser waren Widerworte ohne Sinn. »Ich mache eine Ausnahme«, sagte Serg Mivlak. »Du bist mein Assistent und Stellvertreter. Unter den Stimmen auf dem Band kann ich die deine nicht erkennen. Ich sollte dich festnehmen und abschleppen lassen, aber ich glaube nicht, dass du mir gegenüber feindliche Gefühle hegst.« Er hob die Hand und drohte mit dem Zeigefinger. »Aber lass so etwas nicht hoch einmal geschehen. Die Würde der Funktion des Vorsitzenden muss gewahrt bleiben. Höre ich solches noch einmal aus deinem Haus, dann bliebe mir nichts anderes übrig, als auch dich verhaften zu lassen.« Benommen kehrte Casto Orvidez zu seiner Unterkunft zurück. Die Stunde der Entscheidung hatte geschlagen. Er wartete ungeduldig, bis die Sonne in den Zenit stieg und die Bewohner der Siedlung sich der Siesta hingaben. Dann schlich er sich die leere, staubige Straße entlang bis zu der Hütte, in der der Hyperkom untergebracht war. Eigentlich hätte ein Posten davorstehen sollen; aber der hatte sich wahrscheinlich davongemacht und irgendwo ein schattiges Plätzchen für seine Mittagsruhe gefunden. Casto ließ die Keule, die er mitgebracht hatte, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein, achtlos fallen. Es kostete ihn nicht viel Mühe, das Aggregat in Betrieb zu nehmen. Sein Funkspruch, dreimal wiederholt, bestand nur aus zwei Worten: HILFE. TYRANNEI. Als die Alarmsirene aufheulte, machte Casto Orvidez sich auf den Weg zum Verwaltungsgebäude, wie es seine Pflicht war. Er
fand Serg Mivlak im Zustand höchster Aufregung. Das Funkgerät hatte angesprochen. Es funktionierte auf elektromagnetischer Basis, also musste die Sendung, die es empfing, von der Oberfläche oder der unmittelbaren Nähe des Planeten ausgehen. »Hör dir das an!« schnaufte Mivlak. »Der Kerl sendet in einem fort.« Er drehte die Lautstärke höher. Untermalt von dem Knattern und Knistern der Störgeräusche war eine Männerstimme zu hören: »Mayday! Mayday! Beiboot CARIBOU des havarierten Frachters NORTH SLOPE. Ich habe nur noch für wenige Minuten Treibstoff. Muss Notlandung bauen. Gibt es da unten intelligentes Leben? Meldet euch. Mayday, Mayday…« »Hast du ihm schon geantwortet?« fragte Casto. Mivlak schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob wir einen Fremden in unserer Siedlung brauchen«, sagte er unsicher. »Der Mann kommt um, wenn er irgendwo in der Wildnis landet«, brauste Casto auf. »Willst du an seinem Tod schuldig sein?« Er hangelte das Mikrophon zu sich heran. Mivlak ließ ihn gewähren. Castos Argument schien ihn überzeugt zu haben. »Siedlung Gobdrop an CARIBQU«, sprach Casto. »Du hast Glück. Wir liegen auf acht Grad nördlicher Breite am Ufer eines Meeresarms, der sich in der Form eines Horns zwischen dem Festland und einer vorgelagerten Insel dahinzieht. Unsere Siedlung befindet sich an der Festlandküste. Bei uns ist vor zwei Stunden die Sonne aufgegangen. Suche knapp zwanzig Grad östlich des Terminators.« Die Antwort kam sofort. »Gott segne euch. Ich hab’ das Hörn gefunden und halte darauf zu. Mein Treibstoff muss jede Sekunde zu Ende gehen. Sagt ein Gebet für m ich …« »Religiös ist er auch noch«, knurrte Mivlak. »Lass zwei Gleiter startbereit machen«, empfahl ihm Casto. »Jeder nimmt einen Medotechniker und entsprechendes Gerät mit. Los, Mann, beweg dich! Es bleiben nur noch ein paar Minuten.«
Er eilte hinaus. Der Lärm der Sirene war inzwischen verstummt. Nahezu die gesamte Sicherheitstruppe hatte sich vor Mivlaks Haus eingefunden. Casto klärte sie mit knappen Worten auf. Kurze Zeit später kam auch Mivlak zum Vorschein. Er erteilte Anweisungen in Castos Sinn. Zwei Gleiter wurden herbeigeholt und mit medotechnischem Gerät beladen. Inzwischen war Casto die staubige Straße entlang bis zum Ufer geeilt. Dabei kam er an dem Gebäude vorbei, in dem der Hyperkom untergebracht war. Starr und grotesk in ihrer vielfach gewundenen Form ragte die Antenne in den wolkenlosen Himmel. Fünf Tage war es her, seit Casto seinen verzweifelten Hyperspruch abgesetzt hatte, und in dieser Zeitspanne waren dreihundert weitere Siedler verhaftet worden. Castos Tat war nicht entdeckt worden. Man hatte nicht einmal bemerkt, dass der Hypersender überhaupt in Betrieb genommen worden war. Im Innern des Gebäudes gab es ein Zählwerk, das anzeigte, wie oft der Hyperkom noch in Betrieb genommen werden durfte, bevor er sich selbst desaktivierte. Als Casto seinen Spruch absetzte, hatte sich die Anzeige des Zählwerks um eins verringert. Aber niemand betrat das Innere des Gebäudes. Despoten lieben die Abgeschlossenheit. Geräte, die die Kommunikation mit dem Rest der Welt ermöglichen, sind ihnen ein Dorn im Auge. Serg Mivlak hätte den Hyperserider gar nicht erst aufstellen lassen, wenn ihm nicht bange gewesen wäre, dass er eines Tages wegen einer Naturkatastrophe, wegen Nahrungsmangels oder sonst einer Krise um Hilfe würde bitten müssen. Ein helles Singen ließ Casto aufhorchen. Er spähte in den blauen Himmel hinauf und gewahrte ein glitzerndes Etwas, das mit bedeutender Geschwindigkeit von Westen herabschoss. Er hatte das Ufer inzwischen erreicht. Einhundert Meter vor ihm lag die Bauruine des Gezeitenkraftwerks. Vorgestern waren die Arbeiten wegen Mangel an Arbeitskräften auch hier eingestellt worden. Das flinke Gefährt schoss antriebslos über die Siedlung hinweg. Mehrere Kilometer östlich von Gobdrop legte es sich in eine steile Kurve. Der Pilot verstand sein Geschäft, dachte Casto anerken-
nend. Die Bahn; die er eingeschlagen hatte, brachte ihn ein Stück weit übers Festland. Das Land hatte sich inzwischen unter den Strahlen der Sonne erwärmt. Aufsteigende Warmluft bildete eine Thermik, die einen weiteren Höhenverlust des Fahrzeugs verhinderte. Die CARIBOU bewegte sich in vierhundert Metern Höhe, als sie die Küste von neuem überflog und mit westsüdwestlichem Kurs auf die Wasserfläche hinaus steuerte. Die beiden Gleiter schössen in geringer Höhe über Casto hinweg. Die CARIBOU war ein scheibenförmiges Fahrzeug mit hervorragenden Gleiteigenschaften. Der Pilot drückte sie jetzt scharf nach unten, um zusätzliche Fahrt zu gewinnen. Dicht über der Wasserfläche richtete er sie noch einmal auf. Die CARIBOU verlor abrupt an Fahrt. Ihre Gleitfähigkeit versagte. Aus fünf Metern Höhe stürzte sie ins Wasser. Sekunden später drang ein lautes Platschen zu Casto herüber. Ein Luk öffnete sich. Die Gestalt eines Menschen erschien auf der Oberfläche des Bootes. Er winkte hastig mit den Armen. Die beiden Gleiter hielten auf ihn zu. Einer kam dicht über ihm zum Stillstand, der andere umkreiste die Szene in langsamer Fahrt. Eine Strickleiter wurde aus dem ersten Fahrzeug zu dem Notgelandeten hinuntergelassen. Der ergriff sie mit sichtlicher Hast und hangelte sich hinauf. Sekunden später wurde offenbar, dass seine Eile nicht grundlos gewesen war. Die CARIBOU legte sich auf die Seite und sank noch im selben Augenblick. »Irgendwann«, sagte der Mann, der seinen Namen als Edgar Veisich angegeben hatte, »werden sie eine Suchaktion veranstalten. Das Unheil kam so rasch, dass die NORTH SLOPE keinen Hilferuf mehr abstrahlen konnte. Man wird sie vermissen und ihren Kurs nachverfolgen. Es gibt heutzutage schlaue Methoden, mit denen man die Spuren eines explodierten Raumschiffs noch nach Jahren feststellen kann. Wahrscheinlich wird man auch hier vorbeisehen. Dann seid ihr mich wieder los.«
»Bis dahin können, wie du sagst, Jahre verstreichen«, erklärte Serg Mivlak mit ungewöhnlichem Ernst. »Inzwischen wirst du dich in unsere Gesellschaft einfügen. Du befindest dich auf einer Strafkolonie. Ich bin der Vorsitzende; bis wir Gelegenheit haben, uns eine demokratische Verfassung zu geben, gilt mein Wort. Du wirst dich zu den üblichen Arbeiten einteilen lassen und darauf achten, dass die Würde des Amtes des Vorsitzenden nicht beschmutzt wird.« »Alles, was du sagst«, antwortete Edgar Veisich seufzend. »Vorerst bin ich froh, mit dem Leben davongekommen zu sein.« »Casto, du bringst den Mann unter«, befahl Mivlak. »Am Südende der Stadt gibt es ein paar leere Häuser.« Kein Wunder, dachte Casto grimmig. Nachdem du die Bewohner hast einsperren lassen. Er führte Edgar Veisich die Stra ße hinab. Unterwegs musterte er den Mann unauffällig. Veisich war von mittlerer Größe und stämmig gebaut. Er hatte wasserhelle Augen und schwarzes Haar, das ihm in langen, sanften Wellen bis auf die Schultern herabfiel. Er trug die übliche Montur der kommerziellen Raumschifffahrt. Sein Name war über der linken oberen Brusttasche eingeprägt. »Euer Vorsitzender scheint mir recht stark von sich selbst eingenommen«, sagte er, nachdem sie sich weit genug von Mivlaks Haus entfernt hatten. Casto blickte sich um. Von den Sicherheitstrupplern war keiner in Sicht. »Wir waren zweitausend, als wir hier ankamen«, antwortete er. »Zweihundert davon hat Mivlak zu seiner Schlägerbrigade gemacht. Von den übrigen achtzehnhundert sitzt die Hälfte im Gefängnis.« »Oho! Weil sie die Würde des Amtes des Vorsitzenden beschmutzt hat?« »Genau deswegen. Sag ein einziges abfälliges Wort über Mivlak, und sie haben dich am Kanthaken.« »Wie sollen sie es hören?«
»Sämtliche Häuser sind präpariert. Es gibt Kameras, Mikrophone und einen Sender, der alles Aufgezeichnete an Mivlaks Computer überträgt. Mivlak hört sich die Aufzeichnungen ab, und wo er ein unfreundliches Wort hört, findet kurz darauf eine Verhaftung statt.« »Neunzehnhundertvierundachtzig. Der große Bruder«, murmelte Veisich. »Wie bitte?« »Nichts. Man sollte meinen, die Siedler hätten inzwischen gelernt, den Mund zu halten.« An dieser Stelle sah Casto sich gezwungen, über COPOPS zu berichten, die Routine, die bewirkte, dass auch Unschuldige zu Opfern des Mivlakschen Zorns wurden. Er machte keinen Hehl daraus, dass er selbst es war, der das unselige Programm implementiert hatte. »Mach dir deswegen keine Vorwürfe«, meinte Veisich und hieb ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Ich an deiner Stelle hätte wahrscheinlich etwas Ähnliches versucht. Und der Erfolg kann letzten Endes auch nicht ausbleiben. COPOPS bewirkt, dass Mivlak über kurz oder lang auch die Mitglieder seiner Sicherheitstruppe verdächtigen muss, nicht wahr?« Daran hatte Casto noch nicht gedacht. Solche Fälle musste es in der Vergangenheit schon gegeben haben. Wahrscheinlich war Mivlak mit ihnen so verfahren wie mit ihm selbst: eine Warnung, und wenn es ein zweites Mal passierte – ab in die Höhle. Sie hatten inzwischen das Südende der Siedlung erreicht. »Dort ist dein Haus«, sagte Casto und deutete auf ein Gebäude, dessen gesamte Bewohnerschaft am Vortag verhaftet worden war. »Gut«, seufzte Edgar Veilich. »Wa s ich als erstes brauche, sind ein Bad und ein paar Stunden Schlaf.« Er wollte auf die Tür zugehen, aber Casto hielt ihn fest. »Ich gebe mein Leben in deine Hand«, sagte er ernst, »aber ich muss dir diese eine Frage stellen. Vor fünf Tagen habe ich wegen Mivlaks Tyrannei über Hyperkom einen Hilferuf ausgestahlt. Er
lautete HILFE, TYRANNEI. Sag mir: Bist du etwa die Antwort auf diesen Ruf?« Da huschte ein kurzes Lächeln über Veisichs Gesicht. »Ja, das bin ich«, sagte er. Zwei Tage verstrichen. Inzwischen hatte Serg Mivlak eingesehen, dass weitere Serienverhaftungen nur dazu beitrugen, die Aussichten für die Zukunft trüber zu gestalten. An sämtlichen Projekten, mit Ausnahme der Aussaat, war inzwischen die Arbeit eingestellt worden. Auf der anderen Seite ging der Treibstoff, mit dem die Generatoren betrieben wurden, allmählich zur Neige. Wenn das Kraftwerk nicht rechtzeitig fertiggestellt wurde, müsste die Siedlung ohne Energie auskommen. Die Regenzeit nahte. Wenn die Entwässerungsgräben nicht bis zum Meer vorgetrieben wurden, würde es zu Überschwemmungen kommen. Die Gefangenen mussten wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden. Dort droben in der Höhle verbrauchten sie nur kostbaren Proviant – so wenig ihnen auch davon zugestanden wurde –, ohne produktiv zu sein. Serg Mivlak konstituierte also seine Sondergerichte. Sie bestanden ohne Ausnahme aus Mitgliedern der Sicherheitstruppe, und die Urteile, die sie fällen würden, ließen sich ohne viel Phantasie voraussehen: Zwangsarbeit, Entzug des persönlichen Besitztums, Unterbringung in Gefangenenlagern. Es geschah am zweiten Tag nach der Notlandung der CARIBOU, dass Mivlak seinen Assistenten und Stellvertreter zu sich rief. »Der neue Mann macht mir Sorge«, sagte er. »Hör dir das an.« Er schaltete das Wiedergabegerät ein. »Der Vorsitzende ist ein geistesgestörter Armleuchter«, sagte es aus dem Lautsprecher. Casto zuckte zusammen. Das war eindeutig Edgar Veisichs Stimme! »Er bildet sich ein, hier auf Durboj den großen Mann spielen zu können, dabei verstößt er tagtäglich gegen alle Vorschriften, die ihm von der Verwaltung der Strafkolonien mitgegeben worden sind.«
»Aber ich sage dir: Natriumbikarbonat ist kein vollwertiger Ersatz für Hefe«, erklärte eine andere Stimme. Und eine dritte fügte hinzu: »Wenn ein Dreizehnjähriger das Bett nässt, dann ist das ein Fall für die Medotechniker.« Mivlak schaltete die Wiedergabe ab. »Was sagst du nun?« fragte er »Das ist das übliche Durcheinander, das du in letzter Zeit empfängst«, antwortete Casto. »Ich behaupte noch immer, dass dein Computer nicht richtig funktioniert.« Mit einer wischenden Handbewegung gab Mivlak zu verstehen, dass er Castos Argument für wertlos hielt. »Aber das ist Veisichs Stimme, nicht wahr?« fragte er. Casto zuckte mit den Schultern. Es lag ihm nichts daran, sich unnötigerweise verdächtig zu machen. »Es hört sich so an«, gestand er. »Also werden wir Veisich verhaften und in die Höhle sperren!« triumphierte Mivlak. Casto hatte dazu nichts zu sagen. Um so eifriger war Serg Mivlak am Reden. »Ein Trupp Sicherheitspolizisten steht bereit«, sprudelte er hervor. »Du wirst mit ihnen gehen, wenn sie Veisich abholen.« »Hat er mich also endlich gehört?« grinste Edgar Veisich, als ihm die Festnehmungsorder vorgelesen wurde. »Weiß Gott, es dauert lange, bis man auf dieser schönen Welt verhaftet wird.« »Nimm die Sache nicht auf die leichte Schulter«, warnte ihn Casto. »Es ist dem Mann bitter ernst, und die Höhle ist alles andere als ein angenehmer Aufenthaltsort.« Veisich winkte ab. Er zog ein kleines Kästchen aus der Tasche. Die Oberfläche war mit mehreren Tasten versehen. Er drückte eine davon. Weiter kam er nicht. Roche Nesbit trat hinzu und riss ihm das Gerät aus der Hand. »Was ist das?« wollte er wissen. »Schlau wie ihr seid, werdet ihr’s schon von selbst herausfinden«, spottete Veisich.
Nesbit nahm das Gerät an sich. Er gab Veisich einen derben Stoß ins Kreuz, der ihn auf den gewünschten Kurs brachte. Langsam trottete der kleine Trupp die Straße hinauf. Es war früher Nachmittag, und die Mehrzahl der Bürger gab sich noch der Siesta hin. Casto war enttäuscht. Edgar Veisich war der, den sie ihm auf seinen Hilferuf hin geschickt hatten. Wenn Mivlak ihn in die Höhle stecken ließ, welche Hoffnung blieb ihm dann? Veisich wurde in Mivlaks Wohnzimmer geführt. Roche Nesbit und seine sechs Sicherheitspolizisten nahmen Positionen an der vorderen Wand ein. Serg Mivlak hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt. Die Szene machte ihm offenbar Spaß. »Du hast dir meine Worte nicht zu Herzen genommen«, begann er. »Welche?« fragte Veisich. »Diejenigen, die sich auf die Würde des Vorsitzendenamts bezogen.« »Oh doch«, sagte Veisich. »Ich habe in der Öffentlichkeit keinerlei abfällige Äußerungen von mir gegeben.« »Aber in der Privatsphäre deines Heims.« »Was geht das dich an?« »Sehr viel. Die Würde des Amtes muss gewahrt bleiben. Es darf nichts Negatives über den Vorsitzenden gesagt werden – weder in der Öffentlichkeit noch innerhalb der eigenen vier Wände.« »Dann möchte ich dich fragen, woher du weißt, dass ich mich in meinem Haus abfällig über dich geäußert habe.« »Das spielt keine Rolle. Ich weiß es. Nur das ist wichtig.« »Durboj ist eine Strafkolonie, nicht wahr?« erkundigte sich Veisich. »Was hat das damit zü tun?« »Den Kolonisten sind von der Strafkolonie-Verwaltung Grundregeln mitgegeben worden, nach denen sie ihr Leben einzurichten haben.« »Das ist unwichtig«, brauste Serg Mivlak auf. »Die Beamten der Verwaltung sitzen am grünen Tisch. Sie haben keine Ahnung, wie es in der Wirklichkeit zugeht… «
Edgar Veisichs Stimme übertönte die des Vorsitzenden mühelos. »Eine dieser Grundregeln heißt: Der Bürger ist in seiner Person, seiner Wohnung, seinen Besitztümern und seinen Äußerungen sicher vor wahlloser Fahndung und Durchsuchung. Serg Mivlak, ich klage dich an, diese Regel gebrochen zu haben.« Ein spöttisches Grinsen erschien auf dem Gesicht des Vorsitzenden. »Und wenn schon?« Er wandte sich an Roche Nesbit. »Der Mann redet zu viel. Schafft ihn fort.« »Einen Augenblick noch«, verlangte Veisich. Er griff in die Tasche, und als er die Hand wieder zum Vorschein brachte, hielt sie einen kleinen, kurzläufigen Strahler. »Für Leute, die ein absolutistisches Regime unterhalten möchten, stellt ihr euch dämlich an. Zumindest hättet ihr mich nach meiner Landung durchsuchen müssen.« Serg Mivlak war bleich geworden und zwei Schritte zurückgewichen. »Das… das nützt dir nichts«, stotterte er. »Du hast neun Mann gegen dich. Den einen oder anderen magst du vielleicht beseitigen, aber der Rest… « »Der erste bist du, Mivlak«, fuhr ihm Edgar Veisich in die Parade. »Und jetzt lass sehen, wie tapfer du bist.« Serg Mivlak hatte den ersten Schock der Überraschung überwunden. »Also gut, für den Augenblick behältst du die Oberhand, Veisich«, sagte er. »Aber wie lange, glaubst du, wird das so bleiben. Du bist einer, wir sind zweihundert. Irgendwann musst du schlafen, dann nützt dir die schönste Waffe nichts mehr… « Edgar Veisich schüttelte lächelnd den Kopf. »Irrtum, Mivlak«, antwortete er. »Wir machen dem Spuk gleich jetzt ein Ende. Lass dir das Gerät zeigen, das Nesbit mir abgenommen hat.«
Nesbit trat vor und reichte Serg Mivlak das Kästchen, das er Veisich aus der Hand gerissen hatte. Mivlak drehte es hin und her und musterte es misstrauisch. »Was ist es?« wollte er wissen. »Ein Kodegeber«, antwortete Veisich bereitwillig. »Mit ihm habe ich meine Leute herbeigerufen.« »Deine Leute?« »Die Geschichte mit der havarierten NORTH SLOPE war eine Erfindung. Ich kam hierher, um Vorwürfe der Tyrannei zu überprüfen. Die NORTH SLOPE ist in Wirklichkeit ein Schwerer Kreuzer des Solaren Imperiums, der sich in stabilem Orbit um diesen Planeten befindet. Mein Stoßtrupp muss inzwischen gelandet sein.« Mivlak fuhr zurück. »Nichts als Lüge!« kreischte er. »Er will uns einschüchtern. Greift ihn, Leute! Er darf uns nicht… « Mit der freien Hand griff Edgar Veisich in seinen üppigen, schwarzen Haarschopf. Ein Ruck, und die Fülle der dunklen Locken lösten sich. Mivlak hatte sich vor Staunen mitten im Satz unterbrochen. Veisich ließ die Perücke achtlos zu Boden fallen. Unter ihr war eine unordentliche, rötliche Borstenfrisur zum Vorschein gekommen. »Gestatten«, sagte der Fremde mit einer ironischen Verbeugung: »Der wahre Name ist Reginald Bull.« Er bewegte sich in Richtung der Tür. Dabei schlenkerte er die Mündung des Blasters hin und her, so dass Nesbit und seine Männer entsetzt zur Seite wichen. Er stieß die Tür auf. »War auch Zeit, dass ihr euch endlich sehen ließet«, rief er den zehn Mann entgegen, die die staubige Straße heraufkamen. »Es ist erstaunlich«, sagte Bull, »dass dies sich genau eintausend Jahre nach dem Jahr zuträgt, für das Orwell uns den Verlust aller Freiheit vorhergesagt hatte. Natürlich sind Mivlaks Handlungen ein müder Abklatsch dessen, was Orwell dem Großen Bruder angedichtet hat, aber immerhin… «
Das Gespräch fand in Serg Mivlaks Wohnzimmer statt. Reginald Bulls Zuhörer waren Casto Orvidez und ein ausgemergelter, älterer Mann, den die in der Höhle Gefangenen zu ihrem Sprecher ernannt hatten. Mivlak selbst, Roche Nesbit und drei weitere Rädelsführer der Sicherheitstruppe befanden sich seit zehn Stunden an Bord der NORTH SLOPE. Sie würden zur Erde gebracht und dort von neuem vor Gericht gestellt werden. »Neunzehnhundertvierundachtzig kann sich heute nicht mehr ereignen«, fuhr Bull in seinem Monolog fort. »Wisst ihr auch warum nicht?« Als er von keinem seiner beiden Zuhörer eine Antwort erhielt, sprach er weiter: »Die Diktatur erfordert eine Konzentration der Machtmittel in der Hand des Herrschenden und Unwissenheit auf der Seite der Beherrschten. Eine solche Polarisation war früher einmal möglich. Heute lässt sie sich nicht mehr erzielen. Der Bürger weiß zu viel. Er lässt sich nicht mehr einspinnen. Nehmt Casto hier als Beispiel. Als er hinter Mivlaks Trick kam, schlich er sich an den Computer und implementierte die Routine COPOPS. Gewiss, sie erzielte nicht auf Anhieb die Resultate, die er erwartet hatte; aber auf lange Sicht wäre sie vermutlich erfolgreich gewesen. Und wenn es Casto oder irgendeinem anderen von euch zu dumm geworden wäre, dann hätte er sich wahrscheinlich von neuem an den Computer gemacht und ihm entweder eine neue Programmierung eingegeben oder ihn demoliert. Und als es gar nicht mehr anders ging, setzte Casto den Hyperkom in Betrieb und strahlte einen Hilferuf ab. All diese Möglichkeiten standen den Unterdrückten in Orwells Roman nicht zur Verfügung. Sie waren unwissend. Das Wissen konzentrierte sich in den Köpfen der Herrschenden. Deswegen sind umfassende Erz iehung und Ausbildung Kennzeichen der Demokratie. Einem, der Bescheid weiß, kann man keine Diktatur über die Ohren ziehen.« Er war aufgestanden, und seine beiden Zuhörer hatten sich ebenfalls erhoben.
»Was wird jetzt aus uns?« fragte der Ausgemergelte. »Ihr?« lachte Reginald Bull. »Ihr seid rechtsmäßig abgeurteilt und rekonstituiert. Ihr bleibt hier und seht zu, wie ihr zurechtkommt. Die schlimmste Gefahr ist entfernt. Übers Jahr kehre ich zurück und sehe nach, ob womöglich noch einem von euch diktatorische Gelüste angekommen sind.« Die Vorstellung schien ihn so sehr zu erheitern, dass er in Gelächter ausbrach.
H. G. Ewers
Der weiße Schrein In der irrealen Welt (lt. Asimov, der es wissen muss) des Jahres 1984 entwickelten die Geschehnisse zunehmend schizoide Züge. So wurde von den Verantwortlichen der beiden großen irdischen Machtblöcke so viel von Friedenssicherung geredet wie nie zuvor, während sie zugleich wie nie zuvor die Vorbereitungen zur Vernichtung der Menschheit forcierten. Auch der Umweltschutz genoss bei diesem Menschenschlag immer größere Priorität – jedenfalls dann, wenn sie mit beredten Zungen darum fochten, sich von sogenannten mündigen Wählern in ihren politischen Positionen bestätigen zu lassen, beziehungsweise andere ehrenwerte Kollegen von ihren Futterkrippen zu verdrängen, bis sie die angestrebten Pfründe erobert hatten und an partieller Amnesie erkrankten. Unter diesen Umständen erscheint es nicht verwunderlich, dass der bekannte Wissenschaftler Professor Retll Abeg Tsurf die Hypothese aufstellte, die offenkundige Schizophrenie der Ereignisse hätte ihre Ursache in der Aufspaltung unseres Universums in zwei Paralleluniversen, die sich immer weiter auseinander entwickelten und sich schlussendlich in einem Chaos auflösen müssten. In der realen Welt des Jahres 427 NGZ ahnte niemand etwas von diesem verhängnisvollen Entwicklungstrend, denn die im Grauen Korridor gefangene Menschheit hatte verständlicherweise andere Sorgen, als sich um etwas zu kümmern, von dem sie nicht einmal etwas ahnte. Dennoch waren die Ereignisse in der irrealen und der realen Welt durch eine Art Möbiusschen Kausalstreifen scheinbar untrennbar miteinander verknüpft. Nur die Superintelligenz ES erkannte die teuflische Falle, die von ihrer Gegenspielerin Seth-Apophis gestellt worden war. Doch sogar ES war dagegen machtlos, es sei denn, es gelänge ihr, aus ihrem Bewusstseinsreservoir zwei Wesenheiten zu rekrutieren, die sich gegenseitig so spinnefeind gegenüberstanden wie die beiden Superintelligenzen und gerade deshalb positiv handeln konnten. Die Wahl von ES fiel auf Dalaimoc Rorvic und Tatcher a Hainu.
1. Es war eine Zumutung! Das war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf ging, als ich mich in einem absolut stofflichen Projektionskörper auf der Schnittfläche von EDEN II wiederfand – in einer Nebelsuppe, die schlimmer war als alle bisherigen Nebelsuppen, die ich jemals bei einer Wachperiode auf dieser unwirtlichen Kunstwelt vorgefunden hatte. Ich fragte mich noch, warum ES mir das angetan hatte, mir, einem Marsianer der a-Klasse, der an ein extrem trockenes Klima gewöhnt war, als ich etwas entdeckte, bei dessen Anblick meine Galle sich explosiv entleerte. Im ersten Augenblick erinnerte das Ding an einen Menschen – noch dazu von hinten und im Nebel. Doch dann brach die Kunstsonne durch, und ich vermochte die extreme Größe und Korpulenz der Gestalt sowie den blütenweißen Kahlkopf zu erkennen und wusste, was ich sofort geahnt hatte. Dieses Ding war nichts anderes als Dalaimoc Rorvic. »Das alte Scheusal!« entfuhr es mir. Im nächsten Augenblick bereute ich meine Gesprächigkeit, denn das Ungeheuer drehte sich mit dem entnervenden Phlegma um, zu dem nur der Halbcyno imstande war, und im Schein der Kunstsonne erwachte auf dem bleichen Mondgesicht ein Grinsen, bei dem sogar dem Marquis de Sade das Mark in den Knochen gefroren wäre. »Siehe da, unser marsianischer Staubfresser!« grollte eine tiefe, unendlich gelangweilt klingende Stimme auf. »Was schleichen Sie hinter meinem Rücken herum, Hainu?« »a Hainu!« protestierte ich matt. »Immerhin bin ich ein Marsianer der a-Klasse!« »Sir!« grollte das rotäugige Scheusal drohend. »Wiederholen Sie das, Captain Hainu!« »Pah!« machte ich. »Wir sind hier nicht auf einem terranischen Raumschiff – und ich bin kein Captain mehr, sondern Bestandteil
des Milliardenbewusstseins. Sie können einer Projektion nicht drohen, Sie Projektion!« »Das werden wir sehen, Captain!« gab Rorvic boshaft zurück. Ich zuckte zusammen, als ein mentales Gelächter durch mein . Bewusstsein brauste. Aber auch Rorvic zuckte zusammen. Schluss damit! teilte ES uns mit. Tatcher a Hainu und Dalaimoc Rorvic, ihr seid diesmal nicht nur Projektionen, sondern existiert in euren Originalkörpern. Nein, es ist zwecklos, Fragen zu stellen. Ihr würdet die Antworten nicht verstehen. Nur so viel: Ihr werdet gebraucht – und zwar als Psychoteam. ES legte eine Pause ein. Wahrscheinlich wollte die Superintelligenz unsere Reaktionen miteinander vergleichen. Doch ich dachte nicht daran, Rorvic zu beschämen. Wir hassten uns zwar, aber wir liebten uns auch. Nun, gut! fuhr ES fort. Ihr habt also keine Einwände. Wie ihr wisst, hat Ernst Ellert uns verlassen, um durch den Grauen Korridor zur Erde zu gehen und der Menschheit zu helfen. Er beging dabei einen Fehler, der sich verhängnisvoll auswirken muss, wenn er nicht korrigiert wird. Deshalb müsst ihr zu ihm und ihm eine Nachricht überbringen. Da ihr den Grauen Korridor nicht durchdringen könnt, habe ich euch ein Hilfsmittel beschafft. Es handelt sich um einen Temporalumsetzer, der nur mit Hilfe eurer koordinierten Geisteskräfte geschaltet werden kann. Mit ihm werdet ihr euch in die Zeit des Untergangs von Atlantis einfädeln. Von dort aus existiert für kurze Zeit eine temporale Querverbindung zum Zeitturm Stein Nachtlichts. Ihr werdet sie rechtzeitig erkennen und über sie auf die im Grauen Korridor gefangene Erde überwechseln – beziehungsweise in die betreffende Zeit. Dort trefft ihr auf Ernst Ellert. Sagt ihm, dass er Gorgengol nicht ohne Begleitung eines Blues betreten darf. Damit ihm auch ein Blue zur Verfügung steht, werde ich dafür sorgen, dass der Temporalumsetzer während seiner ersten Arbeitsphase einen Angehörigen dieser Völkerfamilie einfängt. Sorgt dafür, dass er euch nicht verlorengeht! Und nun: Viel Glück! Die mentale Stimme verstummte, und ich fühlte, dass Rorvic und ich uns selbst überlassen waren.
»Worauf wartest du noch?« drängte das rotäugige Scheusal. »Was ist ein Zeitturm?« fragte ich. »Und wer ist Stein Nachtlicht?« »Du solltest lieber darüber nachdenken, was eine Kopfnuss ist!« schimpfte Rorvic. »Die erwartet dich nämlich, wenn du nicht endlich in den Temporalumsetzer steigst, du marsianischer Staubwedel.« Er bewegte sich plötzlich sehr schnell, packte mich am Kragen, drehte mich um und stieß mich vorwärts. Ich stolperte und zog unwillkürlich den Kopf ein, als vor mir eine Öffnung in einem metallisch schimmernden Objekt auftauchte, das die ungefähre Form einer vorsintflutlichen Raumkapsel besaß. Etwas rammte mich von hinten. Ich segelte in eine Art Kammer und schaffte es gerade noch, mich im Flug umzudrehen und mich spontan an den Kreuzgurten von Rorvics Montur festzuhalten, bevor ich mit der Sitzfläche auf einer Tastatur landete. »Konzentrieren!« keuchte Rorvic, während seine zwei Doppelzentner auf mir landeten und mich fast erdrückten. Ein Geistesblitz sagte mir, dass wir uns im Temporalumsetzer befanden. Mit der einem Marsianer der a-Klasse eigenen Schnelligkeit stellte ich mich auf die Situation ein und konzentrierte mich auf die Zeit des Untergangs von Atlantis. Leider schlich sich im entscheidenden Moment der Name Algonkin-Yatta in meine Gedanken, ein Name, den Atlan einmal erwähnt hatte. Ich merkte sofort, dass etwas schiefging, doch da war es auch schon passiert. Ein helles Leuchten erfüllte das Innere des Temporalumsetzers – und erlosch wieder. Dalaimoc wälzte seine Fleischmassen von meinem zarten Körper und bewegte sich schnaufend irgendwohin. »Die rote Meerkreatur soll mich verschlingen!« zwitscherte er. »Was ist das?« »Was ist was?« erkundigte ich mich. Erst dann wurde mir klar, dass es gar nicht Rorvic gewesen war, der gesprochen hatte. Ich rappelte mich auf – und da sah ich
den Blue in seinem gelben Overall auf dem Boden der Kapsel sitzen und mit allen vier Schlitzaugen seines Tellerkopfs um sich starren. Dalaimoc Rorvic dagegen war spurlos verschwunden – dachte ich, bis ich ihn phlegmatisch grollen hörte: »Dieses marsianische Dörrgemüse hat es wieder mal geschafft! Wir sind mitten unter mutiertem Federvieh gelandet!« »Bei der blauen Kreatur der Heimtücke!« zwitscherte der Blue. »Sie ist weißhäutig und hat rote Augen«, korrigierte ich ihn und kroch auf allen vieren an ihm vorbei, denn ich war auf das mutierte Federvieh gespannt, von dem Rorvic geredet hatte. Ich hatte die Öffnung des Temporalumsetzers soeben erreicht, als ich etwas hörte, das mich an das aufgeregte Gackern einer erschreckten Hühnerschar erinnerte. Verwundert blinzelte ich in die grünlich getönte Helligkeit. Außerhalb der Kapsel lag ein lockerer Baumbestand, durch den eine Art Trampelpfad führte. Am Rand des Pfades hockte der Halbcyno und streckte die Hände beschwörend einer Gruppe von Lebewesen entgegen, die trotz ihres Federschmucks weder Hühner noch anderes »Federvieh« waren. Es handelte sich vielmehr um Menschen, die Federn als Kopfschmuck trugen und auch ansonsten recht primitiv gekleidet waren. In den Händen hielten sie Bögen und Pfeile, und sie schienen den Tibeter als jagdbares Wild zu betrachten, denn sie hatten ihre Pfeile auf ihn angelegt. »Worauf wartet ihr!« rief ich ihnen zu. »Das Scheusal verträgt ein Dutzend Pfeile spielend.« Die Jäger starrten mich an, als ob sie kein Interkosmo verstünden. Im nächsten Augenblick schrien sie erschrocken auf, warfen ihre Waffen fort und stoben in wilder Panik davon. Zuerst dachte ich, sie fürchteten sich vor mir, einem harmlosen Marsianer, doch als ich den Kopf wandte und den Blue im Freien stehen sah, wusste ich, dass sie sich vor ihm erschrocken hatten. Rorvic raffte sich auf und wankte auf mich zu. »Was war das für Volk?« erkundigte er sich angewidert.
»Atlanter natürlich«, antwortete ich. »Es waren Indianer«, behauptete der Blue allen Ernstes. Ich schüttelte den Kopf. Woher wollte ein Blue wissen, wie Indianer aussahen! Doch bevor ich ihm widersprechen konnte, drängte Rorvic uns mit der Masse seines Körpers wieder in die Kapsel. Dort packte er mich am Hals und würgte mich. »Du hast uns alles vermasselt, du marsianischer Hexenbesen!« fuhr er mich mit ekelhaft feuchter Aussprache an. »Diesmal wirst du dich besser konzentrieren.« Er ließ meinen Hals los und verabreichte mir eine Kopfnuss, dass ich die Engel im Himmel singen hörte. »Los, fang an!« Ich gab mir alle Mühe, aber mit dröhnendem Schädel kann man sich nicht ausreichend konzentrieren. Abermals erfüllte das helle Leuchten die Kapsel und erlosch wieder. Ich blickte zur Öffnung und kniff die Augen zusammen. Draußen schien es Nacht zu sein; dennoch blitzte ununterbrochen grelles, zuckendes Licht auf. »Vorwärts, Marsch!« befahl Rorvic und versetzte mir einen Stoß, der mich durch die Öffnung der Kapsel beförderte. Während meine Beine einen Wettlauf mit meinen Füßen vollführten, erkannte ich ringsumher Anzeichen dafür, dass wir in einem geschlossenen Raum gelandet waren – beziehungsweise in einem dunklen Saal, durch dessen hohe Fenster die Lichtblitze bunter Leuchtreklameschriften fielen. Meine Zähne schlugen heftig aufeinander, als ich einen Humanoiden mit mächtigem Federkopfputz erblickte, der in einer Hand einen grellbemalten Schild trug und in der anderen einen Speer, mit dem er zum Wurf ausholte. Im nächsten Moment prallte ich gegen eine Wand, sah Sterne kreisen und hörte ein hohles Dröhnen. Meine Hände tasteten ziellos umher und fanden etwas, bei dessen Berührung es »klick« machte. Sofort verwandelte sich das hohle Dröhnen in das Klopfen gespenstischer Trommeln. Gleichzeitig wurde es fast taghell. Er-
schrocken starrte ich auf die überall herumstehenden Totempfähle, die Statue eines holzgeschnitzten Indianerhäuptlings und auf Vitrinen mit jeder Menge Mokassins, Waffen, Pfeifen und Schmuck – und nicht zuletzt auf ein Bronzeschild, das mir verriet, an welchem Ort wir angekommen waren. Jemand wollte hysterisch zirpend und zwitschernd an mir vorbeirennen, aber ich stellte ihm ein Bein, so dass er lang hinschlug. »Was ist hier los?« grollte es dumpf und drohend aus den Trümmern zweier Glasvitrinen. Gegen meinen Willen kicherte ich. »Wir hatten Glück im Unglück, Sir«, erläuterte ich anschließend mit dem der Lage gebührenden Ernst. »Diesen Ort kenne ich. Es ist das Museum of the American Indian am Broadway von Old New York. Mein Großvater väterlicherseits besaß einen Videofilm von diesem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts geschlossenen Insti… Oh!« »Oh!« hallte es gleich einem Echo aus Rorvics Richtung. »Was haben Sie da nur angerichtet, Captain Hainu? Unser Ziel war Atlantis und nicht dieses Sündenbabel des zwanzigsten Jahrhunderts!« »Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte ich zerknirscht. »Aber mein Unterbewusstsein stellte eine starke Assoziation zwischen Atlantis und dem Arkoniden her, nach dem dieser Kontinent benannt worden war – und bei dem Namen Atlan musste ich an den Kosmischen Kundschafter Algonkin-Yatta denken, von dem Atlan mir einmal berichtet hatte. Algonkin-Yattas fernste Urahnen wiederum waren angeblich blutsverwandt mit den terranischen Algonkin-Indianern – und der Broadway von Old New York wiederum soll von den Algonkins als Pfad benutzt worden sein. Vielleicht war es auch umgekehrt, Sir. Ich meine, dass der Broadway dort gebaut wurde, wo die Algonkins einmal entlang pfadeten oder so.« »Oder so!« äffte das leichenhäutige Scheusal mich nach. »Ich begreife von Ihrem ganzen Gefasel nur eines: Wir sind statt in
der Untergangszeit von Atlantis im zwanzigsten Jahrhundert gelandet. Wie, um alles in der Welt, kommen Sie zu der Behauptung, wir hätten Glück im Unglück gehabt?« »Deshalb, Sir«, antwortete ich und deutete auf eines der Fenster, durch das die Lichtreklame herein flackerte. »Weil es Nacht ist. Sonst wären wir nämlich unter Hunderten von Museumsbesuchern materialisiert. So finden wir Zeit, uns zu verkrümeln und darüber nachzudenken, wie wir den Fehler wieder ausbügeln können.« »Bei der weißen Kreatur der Wahrheit!« flötete der Blue und erinnerte uns daran, dass er ein weiteres Problem darstellte.
2. Natürlich versuchten wir zuerst das Naheliegende, nämlich, uns mit Hilfe des Temporalumsetzers zu verkrümeln. Leider reagierte die verflixte Zeitmaschine auf alle unsere Bemühungen nicht stärker als eine ägyptische Mumie auf die Umgarnungsversuche eines Heiratsschwindlers. Infolgedessen blieb uns nichts weiter übrig, als uns auf einen zeitweiligen Zwangsaufenthalt auf der Erde während der Aufbauphase des Solaren Imperiums einzurichten. Diese Zeit war nicht schwer zu bestimmen, da wir innerhalb des dreistöckigen Museums drei Wandkalender vorfanden, die den 25. Januar, den 11. Februar und den 2. März anzeigten. Das waren zwar drei verschiedene Tage, aber die Jahreszahl stimmte in allen drei Fällen überein: 1984. Der Blue stellte sich übrigens als gatasischer Pharmakologe mit dem schönen Namen Jürliy Tükkütiy vor. Er war es auch, der uns nach der Überwindung des ersten Schocks darauf brachte, dass der Temporalumsetzer sich spielend leicht in seine Einzelteile zerlegen ließ, so dass wir ihn in drei handlichen Paketen aus dem Museum schaffen konnten. Blieb nur die Frage: Wohin?
An dieser Frage schieden sich die Geister. Während Tükkütiy und ich dafür plädierten, die Dienststellen der Dritten Macht beziehungsweise des Solaren Imperiums aus dem Spiel zu lassen, um jedem eventuellen Zeitparadoxon vorzubeugen, beharrte Dalaimoc Rorvic darauf, uns deren Unterstützung zu sichern. Alles andere wäre ein Hasardspiel, meinte er. Mit der ihm eigenen Sturheit setzte er sich über unsere Bedenken hinweg. Homer G. Adams, behauptete er, wäre genau der richtige Mann für uns – mit der weitverzweigten Organisation seiner General Cosmic Company im Hintergrund. Nachdem er dem Nachtwächter des Museums mit Hilfe seiner Paragaben die körperliche Anwesenheit einer Sakti vorgegaukelt und ihn damit in erotische Phantasien versetzt hatte, suchte er im Telefonbuch die Nummer des Hauptsitzes der GCC. Er fluchte über die Schlamperei der Fernsprechgesellschaft, als er sie nicht fand. Doch als auch seine Bemühungen, die Nummer anderer Dienststellen des Solaren Imperiums zu finden, fruchtlos blieben und die Auskunft sogar standhaft behauptete, es gäbe keine Stadt Terrania und auch keine andere terranische Hauptstadt, beschlich uns die dumpfe Ahnung, dass wir nicht nur in eine falsche Zeit, sondern auch auf eine falsche Erde verschlagen worden waren. Selbstverständlich versuchten wir fieberhaft, Beweise für das Gegenteil zu finden. Das misslang uns nicht nur, sondern wir fanden in Form von mehreren Zeitungen und Illustrierten immer mehr Informationen, die unseren Verdacht erhärteten. Diese Erde war eine Parallelerde, auf der aber auch alles schiefgegangen war. Die Menschheit hatte zwar eine bescheidene Raumfahrt entwickelt, sie hatte sogar ein paar Astronauten zum Erdmond und zurück gebracht, aber sie hatte kein gestrandetes Arkonidenschiff entdeckt. Ja, sie schien nicht einmal einen Perry Rhodan hervorgebracht zu haben. Infolgedessen war sie vom Regen in die Traufe gekommen und hatte sich mit Rüstung, Nachrüstung und Nachnachrüstung an den Rand des atomaren Suizids manövriert.
Darüber regten Rorvic, Tükkütiy und ich uns allerdings nur kurz auf. Fehlentwicklungen müssen eben aus der Evolution ausscheiden. Was uns ärgerte, war die Erkenntnis, dass wir uns für einige Zeit mit diesem abartigen Abklatsch unserer Menschheit arrangieren müssten, das hieß, wir würden Geld verdienen müssen, um zu überleben. Als Rorvic und ich soweit mit unseren Gedanken gekommen waren, verspürten wir – in momentaner geistiger Verwirrung natürlich nur – Appetit auf Bluesfleisch. Sekunden später lachten wir darüber, denn da zeigte uns Tükkütiy ein zigarettenschachtelgroßes Gerät und erklärte uns, dass es sich dabei um einen Hypnoprojektor handelte, wie er »schon« im Jahre 2327 von der Galaktischen Abwehr zu Spionagezwecken auf Blueswelten eingesetzt worden war. Seine Ausstrahlung konnte einen Menschen als Blue erscheinen lassen, bei entsprechender Umpolung aber auch den gegenteiligen Effekt bewirken. Tükkütiy führte es uns vor – und ähnelte plötzlich einem Terraner chinesischer Abstammung. Was Dalaimoc Rorvic zu dem spontanen Vorschlag animierte, wir sollten unseren Lebensunterhalt als Betreiber eines ChinaRestaurants verdienen. Nach ursprünglicher Verblüffung griffen Tükkütiy und ich diese Idee begierig auf, denn ihre Realisierung würde uns ein größeres Maß an Freiheit bewahren als ein abhängiges Arbeitsverhältnis – und wir würden vor allem das kochen können, was uns am besten schmeckte. Und so kam es schließlich dazu, dass wir – nach Überwindung eines ganzen Fragmentraumers voller Schwierigkeiten und der Anwendung einiger parapsychischer Tricks des Tibeters und vor allem dank meiner Findigkeit – ein paar Tage später in der Mulberry Street in Chinatown-Manhattan das China-Restaurant Der weiße Schrein eröffneten…
3. Wie jedes Mal, wenn ich den Lebensmittelladen des alten Mr. Doo Leng-Schii betrat, ließ ich Amerika hinter mir zurück, obwohl die Bowery nur einen Katzensprung weit entfernt war. Es roch stark und fremd, die zahllosen Delikatessen boten einen ungenießbaren Anblick, und mir drehte sich das Herz in der Hose herum. Dennoch blieb ich standhaft, denn Jung Tüküng, wie Jürliy Tükkütiy sich in diesem Sündenbabel nannte, hatte darauf bestanden, dass ich die Lebensmittel für seine »chinesische Küche« bei Doo Leng-Schii einkaufte. Nur mit diesen widerlichen Ingredienzien konnte er nach seinen Eastside-Rezepten »originalchinesische« Gerichte zubereiten. Während ich verschiedene »Leckereien« aussuchte und in meinen Einkaufskorb packte, verfolgten mich aus dem düsteren Hintergrund des Ladens die kohlschwarzen Augen des klapperdürren Inhabers. Ich lächelte gezwungen und summte ein altes marsianisches Liedchen vor mich hin, um den Chinesen aufzuheitern. Doch sein Gesicht blieb todernst wie immer. Überhaupt hatte ich festgestellt, dass die Ladenbesitzer und Verkäufer in Chinatown niemals lächelten, ganz im Gegensatz zu den Chinesen, die ich im Solaren Imperium kennengelernt hatte. Mir verging die Lust am Summen. Mit wachsender Verärgerung packte ich meinen Korb ziemlich wahllos voll und stellte meinen Einkauf vor Leng-Schii ab. »Macht siebzehn Dollar und dreißig Cent«, fistelte der Alte. Ich unterdrückte den Impuls, ihn zu fragen, wie er für sein stinkendes Zeug einen derartigen Wucherpreis verlangen könnte, und öffnete stattdessen meine Geldbörse, um den Betrag abzuzählen. »Schönes Wetter heute, Mister Tatsching«, sagte Leng-Schii nachdem er das Geld eingestrichen hatte. Mit »Tatsching« meinte er natürlich mich, denn ich nannte mich hier Hano Tatsching. Dennoch zuckte ich heftig zusammen, denn es war das erste Mal, dass Doo Leng-Schii mir gegenüber eine
private Bemerkung gemacht hatte, ganz abgesehen davon, dass es draussen Bindfäden regnete. »Zu nass für meinen Geschmack«, gab ich unwirsch zurück. »Ja, ja!« machte der Alte tiefsinnig. Dann fügte er überraschend hinzu: »In Indien ist es wärmer. Habe ich recht?« »Beim großen Black Hole!« entfuhr es mir. »Wie kommen Sie auf Indien, Mister Leng-Schii?« Der Alte streckte die rechte Hand aus und berührte mit der Handfläche den Boden, während sein Blick sich nach oben richtete und in unendliche Fernen zu schweifen schien. Mir wurde ganz schwummerig zumute, denn genau diese Geste pflegte Rorvic anzuwenden, wenn er mir klarmachen wollte, dass er im Gegensatz zu mir der Erleuchtung teilhaftig geworden sei. »Man sieht nicht, was man sieht, sondern man sieht, was man nicht sieht«, sagte er in eigenartigem Singsang und in dem schauderhaften Englisch dieser Gegend. »Haben Sie schon von Grandpa Kwengpau gehört, mein Sohn?« »Von Grandpa Kwengpau?« echote ich. »Kein Marswind pfiff mir je diesen Namen.« »Marswind?« echote der Alte verblüfft, was mir eine gewisse Befriedigung verschaffte. Er wackelte mit dem Greisenhaupt. »Treiben Sie niemals Scherze mit einem alten Mann, Mister Tatsching!« Er nahm ein bronzenes Glöckchen und läutete dezent damit. Hinter ihm raschelte es, dann teilte sich ein Vorhang aus Gla sperlenschnüren. Ein etwas üppig gebautes weibliches Wesen mit puppenhaften bemaltem Gesicht und rotgoldenem Kimono trippelte hervor und erstarrte dann zu einer Statue. »Feyü!« lispelte der Alte und deutete flüchtig auf die Dame. »Meine jüngste Enkelin. Wie gefällt sie Ihnen, Mister Tatsching?« »Das kann ich so nicht sagen«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich sehe ja kaum etwas von ihr.« Doo Leng-Schii zischte etwas in einer mir unbekannten Sprache. Vielleicht war es Chinesisch. Daraufhin tauchte Feyü hinter dem Glasperlenvorhang unter.
»Zügellose Begierde ist ein Zeichen von Unkultur«, sagte der Alte giftig. »Eine Verbindung zwischen unseren Familien hätte Grandpa Kwengpau vielleicht milde gestimmt, aber ich werde nicht zulassen, dass meine Lieblingsenkelin einem Barbaren gegeben wird.« Ich merkte, wie meine Galle revoltierte. »Einem Barbaren!« empörte ich mich. »Ich bin ein Marsianer, Sie wandelnde Mumie, ein Marsianer der a-Klasse! Aber das sagt Ihnen natürlich nichts, weil Sie diesen stinkenden Planeten noverlassenlassen haben.« Ich raffte meinen Korb an mich, trat nach einer fetten Ratte, die mir vor die Füße lief, und verließ hocherhobenen Hauptes die Stätte der Fäulnis. Als ich ins rötliche Halbdunkel unseres China-Restaurant eintauchte, winkte Rorvic, der mit einem schmuddeligen Lappen die Theke polierte, mir ungeduldig zu. Der weiße Schrein kam mir überfüllt vor, jedenfalls verglichen mit anderen Tagen am frühen Abend. Mindestens fünf Gäste bevölkerten das Lokal. Mir taten schon die Füße weh, wenn ich bloß daran dachte, welcher Betrieb erst zwei Stunden später herrschen würde, wenn das Nachtessen fällig war. Rorvic, der sich hier Taifu Tschi nannte, bewegte sich viel zu phlegmatisch, um als Bedienung fungieren zu können. Außerdem hatte er von Anfang an die Rolle des Chefs für sich gepachtet. Tükkütiy wiederum war in der Küche unentbehrlich. Nur ein Blue brachte es fertig, aus den unappetitlichen Delikatessen chinesischer Lebensmittelläden verführerisch aussehende genießbare Gerichte zuzubereiten. Folglich war mir die undankbare Rolle des Oberkellners, Kellners und Hilfskellners in einer Person zugefallen. Ich sah ja ein, dass wir keine einheimischen Hilfskräfte einstellen durften, deren Neugier uns gefährlich werden könnte, aber meine Füße würden die Schufterei nicht mehr lange mitmachen.
»Dicke Luft!« raunte der Tibeter mir zu, während er mich in die Küche begleitete, wo unser »chinesischer Koch« den Inhalt einiger Dosen mit Katzenfutter in einen Topf leerte. »Das ist noch gar nichts gegen den Laden von Doo Leng-Schii«, erwiderte ich und knallte den Korb auf einen Tisch. »Aber wenn es nur das wäre! Stell dir vor, die alte Mumie hat heute versucht, mich mit seiner Enkelin zu verkuppeln!« Rorvic lachte meckernd. Dann stieß er mir einen Ellbogen zwischen die Rippen, dass mir Hören und Sehen verging. »Und?« trompetete er in mein linkes Ohr. »Hast du?« Ich schüttelte den Kopf, bis meine partielle Taubheit verging, dann erwiderte ich entrüstet: »Ein Marsianer der a-Klasse kauft doch nicht die Katze im Sack, Sir. »Und genau das war sie. Als ich ihre Maskerade bemängelte, nannte die Mumie das ,zügellose Begierde’, und mich nannte er einen Barbaren. Na, ich habe ihm gesagt, dass er das mit einem Marsianer der a-Klasse nicht machen kann!« »Pstschscht!« zischelte Rorvic entsetzt. »Sie haben wirklich nur eine vertrocknete Kichererbse statt eines Gehirns in Ihrem Schädel, Captain Hainu! Die Wahrheit auszuposaunen! Wo wir sowieso schon unter Verdacht geraten sind.« »Verdacht?« erkundigte ich mich und praktizierte etwas von dem Rattenfilet, das Tükkütiy zubereitet hatte, hinten in Rorvics Hemd. »Wer würde mir schon glauben, dass ich ein Marsianer bin?« »Das natürlich nicht, Sie krepierter Blindgänger!« gab das Scheusal zurück und tastete mit einer Wurstfingerpranke seinen Hemdrücken ab. »Es ist viel schlimmer. Während Ihrer Abwesenheit hatten wir einen Gast namens Ping Leiüng, einen Mitarbeiter der chinesischen UNO-Botschaft. Da Sie des Müßiggangs pflegten, musste ich bedienen. Er hat versucht, mich auszuhorchen. Ich fürchte, er ist ein Mitarbeiter des chinesischen Geheimdiensts und hält uns für russische Spione.« Fasziniert beobachtete ich, wie das Rattenfilet seine äquatoriale Gürtelzone passierte und in seine weite Hose rutschte. Er schlen-
kerte das Gesäß hin und her, um den Fremdkörper endgültig zu entfernen. Dabei musste ihm ein Fehlschlenker unterlaufen sein, denn mit einem Mal bekam sein Gesicht einen Stich ins Grünliche, während seine Augen erschreckend vorquollen. »Russische Spione!« sagte ich verächtlich. »Heiße ich etwa Tatcherow a Hainuwitsch! Kommen Sie mir nie wieder mit solchen Albernheiten, Sir!« Kopfschüttelnd blickte ich dem Tibeter nach, wie er völlig unphlegmatisch in Richtung unserer Privaträume davon galoppierte, dann vertauschte ich meine Lederjacke mit dem dunkelweißen Kellnerjackett, hängte mir eine weißgefleckte Serviette über den linken Arm und tänzelte in den Gastraum, um meine Fronarbeit aufzunehmen. Zu den fünf Gästen, die bei meiner Ankunft dagewesen waren, hatte sich ein Neuzugang gesellt, ein noch relativ junger Terraner, der in Kleidung und Gehabe eigentlich nicht zu unserem üblichen Kundenkreis passte. Ich ging zu ihm, wedelte mit meiner Serviette über seinen Tisch und erkundigte mich nach seinem Begehr. Er starrte mich neugierig und, wie es mir schien, ein wenig verlegen an und erklärte dann in holprigem Englisch: »Ich würde gern chinesisch essen.« So ein Früchtchen! Kommt in ein China-Restaurant und sagt, er würde gern chinesisch essen! »Warum nicht marsianisch?« konterte ich. »Hahahaha! Oder Eastside-Spezialitäten?« Er glotzte mich ganz komisch an, schluckte ein paarmal trocken und flüsterte dann vertraulich: »Ich vermute, dass Sie ebenfalls Perry Rhodan lesen, Mister?« Ich fühlte mich wie von einem Marsgewitter auf dem Gipfel des Nix Olympica überrascht. Alle Nachforschungen bei Behörden, in Archiven und bei Zeitungen hatten klipp und klar ergeben, dass diese Parallelerde niemals einen Perry Rhodan hervorgebracht hatte – und nun tauchte dieser Mensch in unserem Weißen
Schrein auf und nannte den Erben des Universums ungeniert bei seinem Namen! Das gab es doch nicht! Oder war er ebenfalls ein gestrandeter Zeitreisender? »What’s your name, Sir?« erkundigte ich mich mit diplomatischer Behutsamkeit. »My name is Uwe Clarsen«, antwortete er bereitwillig. »I am a tourist from Germany.« Ich schüttelte den Kopf. Uwe Clarsen! Den Namen hatte ich nie gehört. Er stammte also zumindest nicht aus dem Kreis der Zellaktivatorträger oder anderer Vertrauter Perry Rhodans. Aber woher kannte er dann den Namen? Ich entschloss mich zu einer anderen Taktik. »Wer hat noch nicht von Perry Rhodan gehört!« sagte ich wie beiläufig. »Was darf es denn nun sein? Möchten Sie Kantonesisch essen oder Mandarin oder nach Setschuan-Art? Unser Koch ist ein wahres Genie der chinesischen Küche.« »Mandarin?« echote Clarsen mit schräggestelltem Kopf. »Ach, ja, geben Sie mir eine Mandarine! Dor Magen jeht nich an.« Ich fasste das so auf, dass er keinen Appetit hatte. Kein Wunder! Tükkütiy produzierte in seiner Hexenküche wieder Gerüche, dass einem der Magen auf die Zunge geliftet wurde. Einerseits war mir das Recht, weil es einen zu starken Andrang von Gästen verhinderte, andererseits brauchten wir Einnahmen, um verschiedene elektronische Teile kaufen zu können, die unserer Meinung nach beim Zeitumsetzer durchgebrannt waren. Also holte ich eine angeschimmelte Mandarine aus der Küche, rieb unterwegs den Schimmel an meiner Hose ab und servierte sie Uwe Clarsen auf einem Teller, den eine unserer Katzen (Phobos und Deimos mochten wissen, wie wir zu einem guten Dutzend dieser Viecher gekommen waren!) blitzblank geschleckt hatte. »Danke, Mister!« hauchte Uwe errötend, »Darf ich, äh, Ihren Namen wissen?«
»Tatsching«, antwortete ich – schon nicht mehr bei der Sache, weil zwei Typen unser Restaurant betraten, die mir höchst verdächtig vorkamen –, »Hano a Tatchering.« Ich verbeugte mich – ein Marsia-ner der a-Klasse weiß stets, was sich gehört – und wandte mich dann den beiden Typen zu. Es handelte sich um Chinesen, das sah ein Blinder mit dem Krückstock. Sie hatten Schlitzaugen, eine gelbliche Gesichtsfarbe und schwarzes Haar, deren Glanz auf die letzte Ölung á la Little Italy hindeutete. Allerdings rochen sie nicht nach Oregano, sondern nach Hasch. Gekleidet waren sie in Anzüge, deren Zuschnitt mir trotz der messerscharfen Bügelfalten verriet, dass sie vor circa zwei Jahrzehnten modern gewesen waren. Oh, ja, ich kannte mich inzwischen aus! Ich stellte mich ihnen in den Weg, hielt jedoch Distanz, denn rein körperlich überragten sie meine 152 Zentimeter um zwei Gesichtslängen. »Wir kochen hier nur Kittekantonesisch, die Herren«, erklärte ich abweisend. »Sandwiches bekommen Sie ein paar Straßen weiter.« Die Typen stoppten wie zwei auf Hochglanz polierte Panzer der US-Army vor einem frischgejauchten Acker. Ihre rotgeränderten Augen unterzogen mich einer abschätzenden Musterung, die anscheinend ihr Selbstbewusstsein stärkte, denn sie spuckten mir ihre Kaugummis synchron vor die Füße. »Hast du schon von Grandpa Kwengpau gehört, Zwerg?« kaute der eine Typ mit schwarzen Zähnen. »Sind Sie das?« erkundigte ich mich und blickte missbilligend auf die Gummikleckse. Worauf sie wie zwei halskranke Mulis wieherten. (Ich weiß nicht, ob Mulis wiehern, aber ich bin ja auch kein Terraner.) »Ich bin Hafuda«, erklärte der eine schließlich – der mit der korpulenten Figur; der andere war so dürr wie abgenagte Rippchen.
»Und ich bin Kunglu«, offenbarte der Dürre und kam auf mich zu, wobei er eine Art Veitstanz vollführte, dessen Höhepunkt ein Fußtritt gegen mein Kinn war. Ich wich gerade so weit zurück, dass sein ungeputzter Schuh ins Leere ging, überwand meinen Ekel, packte seinen Fuß mit beiden Händen und drehte ihn um hundertachtzig Grad. Kunglu quietschte wie ein Spanferkel und plumpste auf seine vier Buchstaben. Ich säuberte meine Hände sorgfältig an meiner weißgefleckten Serviette, als Hafuda sich entschloss, Dampflokomotive zu spielen. Jedenfalls stampfte er gleich einer solchen auf mich zu, die Arme und geballten Fäuste gleich Pleuelstangen vor- und zurückstoßend. Da ich mit dem Rücken zu einem Tisch stand, an dem ein zivilisiert wirkender Gast seinen Orangensaft schlürfte, reagierte ich entgegenkommend, was zur Folge hatte, dass Hafudas Fäuste sich hinter mir trafen. Das Knacken ihres Rendezvous vermischte sich mit dem dumpfen Laut der Kollision meines Marsianerschädels mit Hafudas Zwerchfell. Der Typ war jedoch absolut humorlos. Anstatt zu lachen, ächzte er verstimmt und nahm neben seinem Kumpel auf dem Boden Platz. In diesem Augenblick verstieß unser Gast namens Uwe Clarsen gegen das elementarste Gebot der Vorsicht, denn er klatschte vehement Beifall. Es kam, wie es kommen musste. Die beiden Typen sahen eine Möglichkeit, ihre blamable Niederlage zu kaschieren, und nahmen sie wahr. Uwe Clarsen wurde noch um eine Schattierung blasser, als sie sich aufrappelten und mit finsteren Mienen auf seinen Tisch zu stapften. Ich dachte noch darüber nach, ob ich die Unruhestifter mit etwas zerlassenem Tran aus der Küche einfetten oder die Haltbarkeit meiner Lackschuhe an ihnen testen sollte, als Dalaimoc Rorvic gleich einem Tornado Furioso aus der Küche ins Restaurant gefegt kam, drei Tische samt Stühlen und darauf sitzenden Gästen umriss und über die bedauernswerten Typen herfiel.
Mit seinen 2,10 Meter Körpergröße, seinem gewaltigen Leibesumfang und seinen rotglühenden Augen bot der Tibeter schon einen furchterregenden Anblick. Seine Körperkräfte standen dem aber keineswegs nach. Kunglu und Hafuda waren gerade dabei, Clarsens Gesicht mit der Mandarine einzureiben, als seine Pranken sie am Schlafittchen packten. Sie zappelten hilflos gleich zwei eingefangenen Karnickeln in seinem Griff, während er sie zur Tür trug, diese mit dem Fuß aufstieß und die Typen in hohem Bogen auf die Straße beförderte. Sich die Hände abklopfend, kehrte das Scheusal ins Restaurant zurück. »So macht man das, Sie marsianische Dörrpflaume!« raunte er mir mit grinsendem Mondgesicht zu, als er an mir vorbeistampfte. Ich hörte jemanden »Oh, oh!« stammeln und aus dem Lokal schleichen. Es war Uwe Clarsen. Irgendetwas schien ihm zu schaffen zu machen. Er hatte sogar vergessen, seine Mandarine zu bezahlen. Nun, er hatte sie schließlich auch nicht gegessen. Ärgerlich war es dennoch, denn ich würde sie aus meiner Tasche bezahlen dürfen, wie ich unseren Boss kannte.
4. Seit diesem unbedeutenden Zwischenfall waren einige Tage ins Land und wieder hinausgegangen. Viel Wasser war unterdessen die Rinnsteine Chinatowns hinab gelaufen und gurgelnd in den halbverstopften Gullys versickert. Der weiße Schrein schien während dieser Zeit zum Schnittpunkt mysteriöser Kräfte und Mächte geworden zu sein. Oh, ich könnte eine Menge darüber berichten, aber die Hektik der Ereignisse lässt mir leider nur Zeit für ein paar storyhafte Notizen, obwohl ihre Schilderung ein ganzes Taschenbuch füllen würde.
Es kam der Tag, an dem ich das alles nicht mehr ertrug: nicht mehr die scharfsauren Gerüche von Tükkütiys chinesischen Eastside-Delikatessen, nicht mehr die rüden Anpflaumereien des leichenhäutigen Halbcynos und nicht mehr die dummdreisten Aushorchversuche von Chinesen, die uns einmal für Russen, einmal für Inder oder Italiener oder Deutsche hielten, und schon gar nicht die Anspielungen von Geheimagenten aller Coleur, die uns abwechselnd zu verstehen gaben, wir seien russische, rotchinesische, israelische, arabische, kubanische und/oder monegassische Spione. Vor allem aber wollte ich den Himmel nicht länger nur scheibchenweise vom Grund der Canons sehen, durch die der brüllende, kreischende und röhrende Mahlstrom des Verkehrs sich wälzte, nicht an diesem Tag; an dem er mir so klar, strahlend und sauber dünkte wie ein Föhnhimmel über Argyre Planitia auf meinem wunderschönen Mars. Ich ließ mich wahllos von der Menge durch das Bankenviertel schieben, an dem vornehmen Rathaus von 1812 vorbei und in einen der senkrecht aufragenden Bürogiganten hinein. Der Expreßlift schoss mit mir an die hundert Stockwerke hoch, das Trommelfell knackte – und dann lag die schönste und hässlichste Metropole Terras tief unter mir. In langen, geraden Reihen schlichen Taxis gleich gelben Marssandkäfern dahin, mit bösartig bellenden Hupen und karzinogenen Auspuffwolken. Die Schneisen der Avenues erdolchten den Horizont. Dazwischen der grüne Schimmelfleck des Central Parks. Korrodierte Drahtseilartistik in Form von Brücken legte Klammern von Manhattan über den East River nach Queens und Brooklyn. Auf einer nackten Insel in der Bay reckte Gott einen Zeigefinger warnend empor: die Freiheitsstatue. »Kommt zu mir, die ihr verrückt genug seid, einem Cowboy zu folgen, der statt Mustangs Atombomben einreiten will!« flüsterte ich.
Jemand räusperte sich hinter mir, und schon wollte ich vorsichtshalber eine Kritik an Ronalds roten Brüdern loslassen, da hörte ich eine bekannte Stimme sagen: »Commander Rorvic ist, psionisch gesehen, ein Genie. Und wie alle Genies bewegt er sich ständig am Rand des Wahnsinns entlang.« Ich fuhr herum und starrte in Uwe Clarsens blasses Gesicht und in ein Paar angst- und zugleich hoffnungsvoll flackernde Augen. »Macht zehn Cent«, sagte ich. »W… w … w … was?« stotterte das Bürschlein. »Die Mandarine«, erinnerte ich ihn. »Sie hatten vergessen, sie zu bezahlen.« Clarsens Gesicht lief rot an, und in seine Augen trat ein Funkeln, das mir verriet, dass hier soeben eine Persönlichkeit über sich hinauswuchs. »Sie können mich nicht ablenken, Captain a Hainu!« erklärte Clarsen energisch. »Und Sie können auch nicht leugnen, dass ich Sie soeben wortwörtlich zitiert habe.« Ich schüttelte seufzend den Kopf. »So etwas habe ich nie gesagt, Mister Clarsen.« »Oh, doch!« trumpfte er auf. »Perry-Rhodan-Band 745, Seite 36 oben. Tatcher a Hainu zu dem Roboter Isaac.« »Perry-Rhodan-Band?« fragte ich entgeistert, während mir ein Lichtlein aufging. »Von H. G. Ewers«, setzte Clarsen seine Belehrung fort. »Ihr geistiger Vater. Und mein Sorgenkind, denn er lässt mich immer mit seinen Autogrammen hängen… « Seine Augen weiteten sich bei seinen letzten Worten immer mehr. Ich gewann den Eindruck, dass ihm ebenfalls ein Lichtlein aufging -und als gewiefter Marsianer der a-Klasse ergriff ich meinen taktischen Vorteil unverzüglich beim Schopf. »Uwe, Uwe!« sagte ich mit müdem Tadel. »Wie kann jemand wirklich existieren, der nur einen geistigen Vater hat!« Als Clarsens Augen aufleuchteten, wusste ich, dass ich einen Fehler begangen hatte.
»Uwe!« rief er verklärt. »Du hast mich Uwe genannt. Darf ich Tatcher zu dir sagen?« Das rührte mich so tief, dass ich ihm die Hand hinhielt, in die er sofort ungestüm einschlug. »Einverstanden, Uwe«, erklärte ich. »Du scheinst allerdings… « »Ich liebe dich, Tatcher!« jubelte er. »Und Dalaimoc auch! Aber wie kommt ihr… wieso seid ihr… wer hat euch auf diese Erde gebracht?« Ich räusperte mich verlegen. »Keine Ahnung«, sagte ich nicht ganz wahrheitsgemäßaber wenigstens zweckmäßig, wie ich hoffte. »Hör mal, ich fürchte, deine Phantasie ist mit dir durchgegangen. Wenn ich dich richtig verstanden habe, verwechselst du mich mit einer literarischen Figur.« »Oh, nicht gerade mit einer literarischen Figur«, wehrte er ab, ebenfalls verlegen werdend. »Die Serie ist reine Trivialliteratur.« »Trivialliteratur?« echote ich nachdenklich. »Du sagst das ein wenig abfällig. Aber kommt ,trivial’ nicht von ,Trivium’, den drei sprachlichen Fächern der sieben freien Künste: Grammatik, Rhetorik und Dialektik? Sind die denn nicht Bestandteile jeder Literatur?« »Aber ja!« rief Uwe erleichtert. »Das muss ich noch heute an die LKS schreiben. Es wird den Verleumdern der Perry-Rhodan-Serie den Wind aus den Segeln nehmen.« Sein Blick wurde ratlos. »Aber wer bist du denn nun wirklich, wenn Tatcher a Hainu, Dalaimoc Rorvic und Perry Rhodan nur literarische Figuren sind?« Ich hätte es ihm gern gesagt, aber ich wusste nicht, ob ich soweit gehen durfte – dem Bewohner einer Erde gegenüber, die niemals von Perry Rhodan errettet werden würde. Ganz abgesehen davon, dass Rorvic mich zur Schnecke machen würde, wenn er davon erführe. »Mein lieber Uwe«, sagte ich mitfühlend. »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde… «
» … von denen unsere Schulweisheit nicht einmal zu träumen wagt«, ergänzte er bitter enttäuscht. »Ich hätte nie gedacht, dass du mich mit einer trivialen Redensart abspeisen würdest, Tatcher.« Er wandte sich um und schlurfte niedergeschlagen davon. »Aber ich werde schon noch dahinterkommen!« muckte er auf, bevor er aus meiner Hörweite verschwand. »So wahr ich aus Dormagen bin, ich kriege die Wahrheit heraus – und dann lade ich die ganze Bande ins Em Höttche-Am Kamin ein!« »Em Höttche-Am Kamin!« wiederholte ich wehmütig, denn es klang irgendwie anheimelnd. » Oh, Uwe, du wirst dein blaues Wunder erleben!« Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass wir – das RorvicScheusal, Delikatessen-Tükkütiy und ich – unser blaues Wunder erleben würden.
5. »Eine Romanserie über Perry Rhodan und uns?« fragte Dalaimoc Rorvic und tippte sich an die Stirn. »Dir sind wohl wieder einmal die Marsheupferde durchgegangen, Captain Hainu!« »Die gelbe Kreatur der Phantasie hält ihn in ihren Klauen!« zwitscherte Jürliy Tükkütiy und rieb sich schadenfroh die Hände. »Ha!« rief ich frohlockend. »Ha!« Wir saßen nach Lokalschluß in der Küche und tranken das hiesige Dünnbier. Ich nahm noch einen großen Schluck, dann stand ich auf und ging in den Verschlag, den meine Kollegen mir als Schlafkammer zugebilligt hatten. Ein alter Seesack barg den Schatz, den ich am Kennedy Airport einer Dame abgekauft hatte, die damit geradewegs von Germany über den Atlantik gejetet war. Ich schleifte den Sack ins Restaurant, öffnete ihn und schüttete seinen bunten Inhalt auf den Boden. Der Tibeter rührte mit seinen Pranken darin herum.
»Groschenheftchen!« knurrte er abfällig. »Babylektüre!« Plötzlich weiteten sich seine Augen. »Was steht da? Perry Rhodan, der Erbe des Universums? Woher wissen die denn das?« Unser Blue nahm mit spitzen Fingern eines der Heftchen auf. »Perry Rhodan!« zirpte er. »Das andere ist unleserlich. Kein Interkosmo!« »Es ist Deutsch«, erklärte ich. »Ein Regionaldialekt, den Dalai und ich uns einmal angeeignet hatten.« Auch Rorvic fischte sich ein Heftchen heraus. »DAS BABEL-SYNDROM«, las er grinsend den Titel. »Da haben wir es! Oder haben Sie jemals etwas von einem BABELSYNDROM gehört, Captain Hainu? Die Geschichte hat sich jemand aus den Fingern gesogen.« »Und was steht darunter – unter dem Titel?« fragte ich lauernd. »Chaos in Terrania – der Sturz in den Grauen Korridor beginnt«, las das rotäugige Scheusal vor. Sein Grinsen gefror förmlich. »Der Graue Korridor! Verflixt! Deswegen sind wir doch hier!« »Obwohl wir ganz woanders sein sollten«, korrigierte ich betrübt, nahm ihm das Heft aus der Hand und blätterte darin. »Da haben wir es! Der Autor heißt H. G. Ewers, unser geistiger Vater.« Ich blätterte eine Seite weiter. »Aha, jetzt kommen wir! Hauptpersonen des Romans: Lassel Domaschek. Kenne ich nicht. Chthon. Kenne ich nicht. Digitalis Aura. Kenne ich nicht. Reginald Bull und Galbraith Deighton. Bei allen Schwarmgötzen! Bully und Gal! Aber keine Silbe von uns! Ja, ist denn dieser Ewers von allen guten Geistern verlassen!« »Hm!« brummte Rorvic. »Was ha ben wir denn da noch? HÖLLE AUF ERDEN, KAMPF UM TERRA, INVASION DER FAIRY QUEENS, VISHNA-FIEBER, EINSTEINS TRÄNEN, TRIUMPH DER KOSMOKRATIN. Das ist Verrat! Wer hatdiesen Unglücksraben der Parallelerde verraten, dass es Kosmokraten gibt?« Er blätterte. »Ein gewisser Arndt Ellmer. Und wieder werden wir nicht erwähnt.« Ich hob einen Zeigefinger.
»Ich weiß warum, Sir. Wir sind doch in ES aufgegangen und damit weg vom Fenster. Also können wir doch in den Romanen nach diesem Ereignis nicht mehr auftauchen.« »Eine Schande!« schimpfte Rorvic erbost. »Ein Beweis«, behauptete Tükkütiy. »Der Beweis dafür, dass der Verräter in unserem Universum sitzt. Er sammelt die Tatsachen und schmuggelt sie dann auf diese Parallelerde, wo sich eine Schar sensationsgieriger Autoren darauf stürzt und Romanhandlungenlungen verarbeitet, um sie dann als ihre eigenen Ideen auszugeben.« »Ein interuniverselles Komplott!« schnaufte Rorvic. »Eine gefährliche Verschwörung. Sieh nach, Tatcher!« »Ich?« fragte ich erschrocken. »Aber wie soll ich denn die undichte Stelle zwischen den Parallelwelten herausfinden, Sir? Dazu wären Sie als Mutant doch viel besser geeignet.« Das leichenhäutige Scheusal rollte mit den Augen. »Du sollst nachsehen, wer an die Tür geklopft hat, du gehirnamputierter Marszwerg!« grollte er. »Oder soll ich dir Beine machen!« »Oh!« entfuhr es mir, denn soeben klopfte es abermals – und diesmal hörte ich es. Ich sprang auf, eilte zur Tür und schob das Dutzend Stahlriegel beiseite, mit dem Tükkütiy sie jedes Mal nach Feierabend sicherte. Im rötlichen Schein unserer Sparbeleuchtung sah ich eine untersetzte Gestalt, zweifellos ein Terraner, der einen ungebügelten Straßenanzug mit ausgebeulten Hosenbeinen trug. Am auffälligsten aber war das Gesicht des Mannes. Es war breit und aufgeschwemmt. Kleine Augen saßen tief in dunklen Höhlen. Der Schädel war abnormal groß und völlig kahl. Alles in allem wirkte die Erscheinung unheimlich. »Wer sind Sie?« erkundigte ich mich mit flacher Stimme. In den Augenhöhlen glommen zwei Lichter auf. »Ich bin Onkel Clifford«, sagte eine dumpfe Stimme. »Wie heißt du denn, mein Kleiner?«
Normalerweise hätte die plump-vertrauliche Anrede mich in Harnisch gebracht. Seltsamerweise war das diesmal nicht der Fall. Im Gegenteil. Ich wusste plötzlich, dass Onkel Clifford ein sympathischer Bursche war, dessen Besuch nur Gutes bedeuten konnte. »Ich bin Captain a Hainu vom Solaren Mutantenkorps«, antwortete ich bereitwillig. »Vielmehr vom ehemaligen Solaren Mutantenkorps. Aber tritt doch näher, Onkel Clifford! Dalaimoc und Jürliy werden sich auch über deinen Besuch freuen.« »Bist du des Teufels, Tatcher!« gellte aus dem Restaurant Rorvics Stimme auf. In ihr schien Panik mitzuschwingen. »Das ist Clifford Monterny, der Overhead!« Eine Klingel schlug irgendwo in meinem Gehirn an. Sie verstummte jedoch, als ich tief in Onkel Cliffords Augen sah. Ich ließ den Besucher herein, schloss die Tür und schob die Riegel wieder vor, dann folgte ich dem freundlichen Menschen. Zu meiner Verwunderung saßen Dalaimoc Rorvic und Jürliy Tükkütiy steif und starr auf ihren Stühlen. Neben ihren Füßen lagen die als SF-Romane getarnten Tatsachenberichte aus unserem Universum. Onkel Clifford lachte kehlig, trat an den Tibeter heran und erstarrte ebenfalls, als seine zugreifenden Hände durch die Gestalt Rorvics hindurch glitten, als bestünde sie aus Yak-Butter. Ich begriff, dass mein ehemaliger Vorgesetzter sich einen Scherz erlaubt und eine Projektion von sich auf den Stuhl getrickst hatte, während er wahrscheinlich in die Küche geschlichen war, um sich den Wanst mit Delikatessen vollzuschlagen. »Aber Sir!« rief ich entrüstet. »Sie verstoßen gegen die elementarsten Regeln der Gastfreundschaft. Ihr Verhalten würde auf dem Mars fast als Sakrileg gelten.« »Auf dem Mars?« rief Onkel Clifford und fuhr zu mir herum. »Soll das heißen, dass du gar kein Mensch, sondern ein Marsianer bist?« »Ein Marsianer der a-Klasse!« korrigierte ich ihn voller Stolz. »Das heißt, dass meine Ahnen den Mars in erster Generation be-
siedelten, als das Terraforming erst begonnen hatte. Deswegen bin ich dennoch ein Mensch, wenn auch kein ungehobelter Terraner.« »Der Mars ist besiedelt?« röchelte Onkel Clifford. Mit einem Mal war sein Gesicht schweißbedeckt. »Aber wie ist das möglich? Ich habe doch diesen Emporkömmling gestoppt und seine Dritte Macht in mein Werkzeug umfunktioniert.« Er schwankte plötzlich, dann wandte er sich an Tükkütiy, der infolge des aktivierten Hypnoprojektors einem Chinesen kantonesischer Herkunft glich. »Du bist nicht der, der du zu sein scheinst«, stellte er mit dumpfer Stimme fest. »Zeige dein wahres Gesicht!« Folgsam griff Tükkütiy in seine Brusttasche und schaltete den darin verstauten Hypnoprojektor aus. Onkel Clifford taumelte rückwärts, als hätte ein Pferd ihn getreten, als er den schlangenhaften langen Hals und den darauf sitzenden großen Tellerkopf des Blues sah. Er gewann seine Fassung jedoch überraschend schnell zurück. »Ausgeburt der Hölle!« stieß er bebend hervor und streckte die Hände abwehrend von sich. »Kehre zurück in den Schoß der Tiefe! Verwandle dich in Rauch und Schwefel!« Tükkütiy begann zu zittern. »Die schwarze Kreatur des Weltraums stehe mir bei!« jammerte er. »Hab Erbarmen mit mir, du Mächtiger! Meine zweihundertsiebzig Kinder brauchen ihren Vater.« »Versinke im Boden!« schrie Onkel Clifford. Ein höhnisches Lachen war die Antwort. Es schien von überall zugleich zu kommen. Das Restaurant war plötzlich in ein seltsames bläuliches Leuchten getaucht. An der angelehnten Küchentür vorbei schlichen alle unsere zugelaufenen Katzen herein. Sie fauchten Onkel Clifford an und strichen danach mit klagendem Maunzen um Tükkütiys schlotternde Beine. Wenn etwas das Herz eines Marsianers zutiefst anrührt, dann das klagende Maunzen von Katzen. Ich fühlte, wie sich etwas in mir veränderte – zuerst in meinem Empfinden und danach in
meinem Verstand. Onkel Clifford erschien mir plötzlich nicht mehr als Glücksbringer, sondern als Sendbote des Unheils. Ich erinnerte mich daran, dass Rorvic ihn als Overhead bezeichnet hatte – und bruchstückweise schoben sich die Informationen in mein Bewusstsein, die mir einst beim Geschichtsunterricht über den Overhead übermittelt worden waren. Clifford Monterny, Sohn eines Wissenschaftlers, der bei der Versuchsexplosion einer Atombombe in der Wüste von Alamogordo infolge einer Panne Strahlenschäden erlitt, die sich bei einem Versuchsreaktorunfall noch potenzierten. Die daraus resultierende Veränderungen seines genetischen Codes bewirkten eine tiefgreifende Mutation seines Nachwuchses. Clifford war ein Mutant – ein positiver Mutant im biologischen Sinn, denn er war nicht nur lebensfähig in seiner normalen Umwelt, sondern entwickelte auch Fähigkeiten, die seine Überlebensqualifikation weit über das Durchschnittsmaß hinaus steigerten. Zudem war er hochintelligent. Negativ war nur seine Psyche, denn er kannte weder moralische noch ethische Hemmungen, sondern war extrem egozentrisch geprägt. Kurzum, er war ein hochgradiger Psychopath. Mit Hilfe seiner telepathischen und hypnosuggestiven Fähigkeiten spürte er andere parapsychisch begabte Menschen auf und unterwarf sie seinem Willen. Er schuf sich ein Mutantenkorps wie Perry Rhodan auch, aber im Gegensatz zu Rhodan ließ er seinen Mitgliedern nicht die Freiheit der moralischen und ethischen Entscheidungen, sondern machte sie zu seinen ihm hörigen Sklaven. Er war der Overhead. Sein Ziel war, die Ausschaltung der General Cosmic Company und der Dritten Macht und die Unterwerfung der gesamten Menschheit. Dafür war ihm jedes Mittel recht. Im Jahre 1981 standen bereits alle wichtigen Konzerne der Erde unter seiner Kontrolle – und er holte zum entscheidenden Schlag gegen die Dritte Macht aus. Aber der dadurch entfesselte Kampf endete mit seinem Tod und mit der Befreiung der von ihm versklavten Mutanten. Es
konnte in diesem Jahr 1984 keinen Overhead namens Clifford Monterny mehr geben. Dennoch stand er in diesen Märztagen von 1984 hier in unserem China-Restaurant in New York. Das Unmögliche war Realität – so schien es mir, bis mir wieder einfiel, dass Rorvic, Tükkütiy und ich uns nicht auf unserer Erde befanden, sondern auf einer Parallelerde. In mir keimte eine Ahnung von dem auf, was sich irgendwann im Jahre 1981 oder 1982 abgespielt haben musste – unbemerkt von uns allen, eingeschlossen Perry Rhodan, und mein Entsetzen darüber war so groß, dass ich einen Schock erlitt. Das Folgende erlebte ich, als wäre ich gar nicht körperlich existent.
6. Clifford Monterny schien zu einem ähnlichen Schluss gekommen zu sein wie ich, vielleicht durch das aufreizende Lachen, das unverändert anhielt und sogar die stärksten Nerven einer furchtbarem Zerreißprobe unterwerfen musste. Er stieß sich von der Wand ab, gegen die er getaumelt war. Seine Augen sandten ein grelles Leuchten aus. Mit verzerrtem Gesicht stapfte er auf Tükkütiy zu, stieß ihn zur Seite und ging weiter zur Küche. Ich ahnte, was sein Ziel war, denn hinter der Küche befand sich das Lebensmittellager – und dort stand auch der Zeitumsetzer, an dem wir die ganzen Tage lang fieberhaft gearbeitet hatten, um den Fehler zu finden und zu beseitigen, der uns auf der Parallelerde hatte stranden lassen. Der Overhead musste es aus meinen Gedanken erfahren haben. Mit einer mühelos wirkenden Handbewegung riss Monterny die Küchentür aus den Angeln, ein Beweis für den emotionalen Sturm, der in ihm tobte. Krachend fiel sie zu Boden. Wie betäubt hörte ich das Splittern von Porzellan. Clifford Monterny war
nicht mehr fähig, Hindernisse zu umgehen, die zwischen seinem Ziel und ihm lagen. Er räumte sie beiseite und ich ahnte, dass er auch uns – den Tibeter, den Blue und mich – einfach beiseite räumen würde. Ein Psychopath wie er kannte keine Rücksicht, wenn alles für ihn auf dem Spiel stand. Mit weichen Knien folgte ich ihm. Als ich die Küche betrat, hatte der Overhead bereits die Tür zum Lebensmittellager aufgerissen. Doch er ging nicht weiter. Anscheinend war er fasziniert vom Anblick des Zeitumsetzers, auch wenn das Gerät halbzerlegt war. Aber als ich ihn einholte und an ihm vorbeisehen konnte, wurde mir klar, weshalb Monterny nicht weiter ging. Denn es gab keinen Zeitumsetzer mehr. An seiner Stelle hockte Dalaimoc Rorvic mit untergeschlagenen Beinen gleich einem überfettem Buddha auf dem Boden, die Augen halb geschlossen und offensichtlich in tiefe Meditation versunken. Dieser Anblick ließ meine Galle überlaufen. Schließlich kannte ich das leichenhäutige Scheusal gut genug, um zu wissen, dass er die Meditation nur vortäuschte, um sein Phlegma zu kaschieren. Zu einem Zeitpunkt, an dem über Sein und Nichtsein der positiven Erde und der positiven Kräfte des Universums entschieden wurde, war er zu faul, um auch nur einen Finger zu rühren. Bebend vor Zorn trat ich gegen einen mit schmutzigem Geschirr überladenen Tisch. Das Krachen, Klirren und Bersten, mit dem Tisch und Geschirr zu Bruch gingen, verschaffte mir jedoch keine Erleichterung, sondern stachelte meinen Zorn noch stärker an. Ich riss einen Wandschrank auf und durchwühlte seinen Inhalt auf der Suche nach einem Gegenstand, der für mich schon fast zur Reliquie geworden war. Endlich hielt ich sie in meinen zitternden Händen: die uralte zerbeulte Kanne, in der schon Neandertaler ihren Kaffee gekocht hatten. Plötzlich wurde ich ganz ruhig. Ich erhob mich und ging an Clifford Monterny vorbei, der noch immer unter der Tür zum Lebensmittellager stand – scheinbar so
untätig wie der Tibeter. Erst, als ich an ihm vorbei war, spürte ich die Energien eines psionischen Spannungsfelds, das sich zwischen den beiden monströsen Lebewesen aufgebaut hatte. Sie zerrissen mich fast. Ich hatte das Gefühl, als wühlten Stahlfinger in meinem Gedärm. Aber meine Wut auf das schlafmützige Scheusal war stärker als alles andere. Durch den imaginären Glutodem eines ebenso imaginären Hochofens schritt ich zu Dalaimoc Rorvic. Meine Augen sahen nur noch den nackten Schädel des Halbcynos. Die Hand, die die Kanne hielt, entwickelte ein gespenstisches Eigenleben. Sie holte weit aus, dann schmetterte sie den Kannenboden auf Rorvics Schädeldach. Im selben Moment gab es einen Donnerschlag, der das Ende der Welt anzukündigen schien. Dort, wo eben noch der Tibeter gehockt hatte, lagen plötzlich die Einzelteile des Zeitumsetzers. Eine spiralförmige, bläuliche Rauchfahne stieg von ihnen auf und vermischte sich mit einer annähernd gleichen Rauchfahne, die durch mich drang, als existierte ich nicht körperlich. Ein Schrei ertönte – so grauenhaft, dass ich das Bewusstsein verlor… Als ich wieder zu mir kam, brannten meine Wangen, und ich hörte klatschende Geräusche. Ein unwilliges Grunzen entrang sich meiner Kehle. »Na, bitte!« sagte jemand mit aufreizendem Phlegma. »Da ist er wieder und verrät auch gleich seine wahre Natur.« Ein letztes Klatschen ertönte, und diesmal merkte ich, dass es von einer Ohrfeige herrührte, die auf einer meiner Wangen gelandet war. Ich riss die Augen auf. Wie erwartet, »schwamm« Rorvics Mondgesicht schräg über mir. »Aufhören!« schrie ich. »Diesmal werde ich Sie wegen Misshandlung eines Captains im Dienst belangen, Sir! Sie sind entschieden zu weit gegangen, Sie Cyno-Verschnitt!«
Dalaimoc Rorvic seufzte entsagungsvoll und betastete eine Stelle an seinem Hinterkopf. Sie schien zu schmerzen, denn er verzog das Gesicht zu einer weinerlichen Grimasse. »Wer hier zu weit gegangen ist, sei diesmal dahingestellt, Sie marsianisches Hängebauchschwein!« grollte der Tibeter gar nicht weinerlich. Plötzlich erinnerte ich mich wieder an alles, und ich konnte ein triumphierendes Lächeln nicht unterdrücken. »Ich habe den Overhead besiegt, indem ich Sie aus Ihrem Dösen befreite und zur Mobilisierung Ihrer psionischen Kräfte zwang, Sir«, erklärte ich. Rorvic lachte höhnisch. »Hör dir das Großmaul an, Jürliy!« sagte er, ohne die Stimme zu heben. »Nur weil er einen dünnen Marswind abgelassen hat, bildet er sich ein, das Universum gerettet zu haben.« Er wandte sich wieder mir zu, und diesmal lächelte er heuchlerisch-gütig. »Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass optimale Resultate nur durch vorausschauendes Denken und planvolles Handeln zu erreichen sind, mein lieber Tatcher.« »Aus dir spricht die weiße Kreatur der Wahrheit, Großer Rorvic!« zwitscherte unser Blue. »Großer Rorvic!« rief ich sarkastisch. »Wo war denn der ,Große Rorvic’, als Clifford Monterny die Erde in zwei Parallelwelten aufspaltete und damit Perry Rhodan und die Menschheit in trügerische Sicherheit wiegte, während er auf der negativen Parallelerde seine Macht festigte und darauf hinarbeitete, die positive Parallelerde mit ihrer Menschheit in seine Welt des Bösen eingehen zu lassen? Er hat ,meditiert’!« »Bei allen Sandkreaturen!« entfuhr es Tükkütiy. »Woher weiß er das, Dalaimoc?« Der Tibeter wiegte den Kopf und seufzte. »Er hat es erraten«, behauptete er wider besseres Wissen. »Dieser marsianische Sandkratzer rät doch immer nur herum, und manchmal trifft er zufällig die Wahrheit. Ganz im Gegensatz zu mir, der durch logisches Denken die Ereignisse über ihre Kausal-
glieder bis auf ihren Ausgangspunkt zurückverfolgt und dadurch zur Wahrheitsfindung kommt.« »Mein Schluss war also richtig?« rief ich in ehrlicher Selbstbewunderung. »Sie haben richtig geraten«, korrigierte der Tibeter mich schulmeisterhaft. »Jedenfalls, was die vordergründigen Fakten angeht. Jetzt sollten Sie aber Ihren Schönheitsschlaf nicht fortsetzen, sondern Ihre Siebensachen zusammenpacken! Während Jürliy und ich den Zeitumsetzer repariert haben und Sie schlummerten, sind die beiden Parallelwelten nämlich wieder zu einer verschmolzen – und wir befinden uns auf einer Erde, auf der Perry Rhodan und das Solare Imperium Realität sind und auf der die Entwicklung so weitergehen wird, wie wir sie kennen.« »Oh, ja!« sagte ich, noch etwas benommen. »Aus der PerryRhodan-Serie!« »Umgekehrt!« schnauzte das Scheusal mich an. »Los, beeilen Sie sich, Captain! Hier gibt es nämlich ein Solares Mutantenkorps – und es kann nicht mehr lange dauern, bis seine Telepathen uns aufgespürt haben.« Stöhnend rappelte ich mich auf und suchte meine Habseligkeiten zusammen. Dabei streichelte ich verstohlen die verbeulte Kanne. Plötzlich fiel mir etwas ein. »Der Graue Korridor!« stammelte ich. »Wir müssen hinein, um Ernst Ellert die Nachricht und den Blue zu überbringen! Nur, werden wir es diesmal schaffen?« Rorvic versetzte mir einen Stoß, der mich zwischen zerdeppertem Geschirr landen ließ. »Benutzen Sie den Fliegendreck, den Sie Ihr Gehirn nennen, endlich einmal zum Denken!« raunzte er. »Dann begreifen Sie vielleicht auch, das ES uns einen Scheinauftrag nannte, damit wir die wirkliche Mission unbefangen erfüllen konnten. Hätte die Superintelligenz uns die Wahrheit gesagt, dann wären wir angesichts der kosmischen Bedeutung dieser Aufgabe zusammengebrochen.«
Er riss mich hoch und stieß mich durch die Öffnung des Zeitumsetzers, in dem Jürliy Tükkütiy bereits wartete. »Dann ist es gut, dass Sie nicht von Anfang an logisch gedacht und planvoll gehandelt haben, Sir«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. »Die weiße Kreatur der Wahrheit ist unser Zeuge!« pflichtete der Blue mir diesmal bei. »Oh, ihr schwarzen Kreaturen der Heimtücke!« tobte Rorvic. »Sie sind blau, Sir!« korrigierte Tükkütiy ihn, während es in der Kapsel hell und wieder dunkel wurde. Ob Uwe Clarsen wohl seine Autogramme noch bekommt? schoss es mir durch den Kopf. Das homerische Gelächter von ES beendete auch diese Überlegungen…
Ernst Vlcek
Alle naselang
Die SYLPHIDIA war ein Medo-Schiff der USO ganz besonderer Art. Am Beginn des 25. Jahrhunderts als Prototyp gebaut, wurde es für Transporte von Psi-Talenten eingesetzt, die zur Behandlung nach Tahun, der Medo-Welt der United Stars Organisation, gebracht werden sollten. Mannschaftsführer und Kapitän war Erno Phramot, der etwa folgende Beschreibung seines Schiffes abgeben würde: »Die SYLPHIDIA ist auf der Zelle eines 200-Meter-Kreuzers aufgebaut. Die innere Schiffszelle mit dem Maschinenraum und der Steuerzentrale ist der fünfzigköpfigen Mannschaft vorbehalten und hermetisch von der rundum liegenden Irrenanstalt, äh, ich meine, Krankenabteilung abgeriegelt. Während die Mannschaftssektion sehr spartanisch gehalten ist, hat man die Krankenabteilung überaus luxuriös ausgestattet. Es leuchtet ein, dass man bei der medo-technischen Einrichtung nicht gespart hat, aber warum, so frage ich mich, müssen wir uns in enge Kabinen zwängen, während die Patienten in fürstlichen Gemächern logieren. Und wo wir uns mit Pillenkost begnügen, dürfen die drei Ärzte mit ihren Patienten wahre Schlemmerorgien feiern. Das ist verrückt -aber ich bin auch Kommandant eines Irrenschiffs.« Dagegen würde Dr. Elhound Cree, der Parapsychologe im dreiköpfigen Therapeutenteam, berechtigten Einspruch erheben: »Die SYLPHIDIA ist kein Irrenschiff. Wir befördern keine Geistesgestörten, sondern nur Wesen, die paraabstrakte Phänomene aufzuweisen haben. Wenn man so will, Mutanten, deren psychisches Gleichgewicht unter den parapsychischen Fähigkeiten gelitten hat. Oder die ihre Mutantenfähigkeiten verloren haben. Oder bei denen sich bisher latente Begabungen bemerkbar gemacht haben, die eine ärztliche Kontrolle erfordern. Es ist wohl klar, dass wir solchen Patienten ein entsprechendes Ambiente bieten müssen.« Professor Fasten Brybrack, seines Zeichens Para-Psychobiologe: »Wir haben im Augenblick rund hundert solche irgendwie parapsychisch Geschädigte an Bord. Ich will nur einen Fall stellvertretend für die anderen nennen. Lora Carthom stammt von der
Pionierwelt Tramboll. Das achtzehnjährige Mädchen ist die einzige Überlebende einer Dreißig-Seelen-Siedlung. Sie steht unter Schock und kann nicht berichten, wie es zum Verschwinden der anderen kam. Möglich, dass sogar sie dafür verantwortlich ist. In diesem Fall muss sie über unglaublich starke Psi-Fähigkeiten verfügen. Wir haben nur folgende Fakten: In einem anderen Dorf auf Tramboll, hundert Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt, wurde ein verzweifelter Funkspruch empfangen. Er lautete wortwörtlich: » … Lora ist zur Furie geworden. Sie schickt uns einen nach dem anderen zur Hölle. Helft…« Als die Helfer eintrafen, fanden sie nur noch Lora vor. Keine Spur von den anderen. Keine Leichen, keine Anzeichen einer Gewalttat, nichts. Nur Lora, ein bildhübsches Mädchen, völlig zerrüttet, depressiv. Vielleicht können wir noch vor Erreichen Tahuns ihr Geheimnis lüften, möglich aber auch, dass wir ihr überhaupt nicht helfen können …« »Wie etwa diesem Klack-Klack!« müsste der Dritte im Bunde, der Para-Psychogenetiker Holward Abbo, an dieser Stelle einhaken. »Diesem USO-Korporal Walty Klackton mit dem unglaublichsten Zinken im Gesicht ist einfach nicht zu helfen. Er wird als Instinkthandler und Para-Teleschizomat eingestuft, weil seine gespaltene Persönlichkeit unbewusst paraabstrakte Phänomene hervorruft, gegen die sein Ich machtlos ist. In seiner Akte wird er als GV, als Generalversager, bezeichnet, weil er tollpatschig ist, alles falsch macht und stets ins Fettnäpfchen tritt. Gleichzeitig wird er aber auch als Spezialist zur besonderen Verwendung geführt. Dieser Widerspruch erklärt sich damit, dass er eine Serie destruktiver Handlungen mit einem positiven Ergebnis abschließt. Wenn er mir etwa den Arm bricht, dann könnte er damit verhindert haben, dass ich mir beim nächsten Schritt das Genick breche. Das wäre dann ein sogenanntes destruktives Positivum. Aber Klackton hat Liebeskummer, der alles, was an ihm positiv gewesen sein mochte, zerstört hat. Denn seit dieser Klack-Klack an Bord ist, hat er alle naselang Katastrophen ohne die geringsten positiven Nebeneffekte herbeigeführt. Er ist gemeingefährlich!«
1. Professor Holward Abbo war ganz schön geladen. Nicht nur weil der ihn behandelnde Medo-Roboter tatsächlich verlangte, dass er einen Revers unterschrieb; dabei waren die Gesichtsverletzungen gut ausgeheilt, und die Hautplastik war angewachsen. Darüber hinaus grollte er Walty Klackton immer noch, dass er ihm zu dieser Behandlung verholfen hatte. Zum Glück hatte ihm Klackton nur die halbe Kanne heißen Kaffee übers Gesicht geschüttet. Aber – dass er es überhaupt getan hatte! Man verbrüht jemanden doch nicht gleich mit kochendem Kaffee, nur weil er einem die wohlgemeinte Frage stellt: »Na, Walty, sind Sie über. Ihren Liebeskummer hinweg? « Klackton schon! Nachdem Abbo den Revers unterschrieben hatte, stürzte er sich sofort in die Arbeit, ohne seine Kollegen zu informieren. Mit einem Medo-Roboter begab er sich auf Visite. Dabei hoffte er, dass ihm Klackton nicht über den Weg lief, damit er nicht sofort wieder dort landete, von wo er gerade kam. »Besser, ich gehe ihm aus dem Weg«, murmelte er vor sich hin. Das schnappte der Medo-Roboter auf und erkundigte sich: »Wollen Sie Vyriz auf ihrer Visite auslassen, Sir?« »Wie?« Abbo war verwirrt. Dann erst merkte er, dass sie das Krankenzimmer des schielenden Blues erreicht hatten. »Nein, keineswegs. Mach schon auf!« Vyriz war ein ungewöhnlicher Fall. Er hatte einen Geburtsfehler. Seine vier Katzenaugen waren nicht, wie bei jedem anderen Blue, rund um den Linsenkopf verteilt. Sie standen vielmehr so eng beisammen, dass er einen mit allen vier Augen gleichzeitig ansehen konnte! Damit allein wäre er natürlich noch längst kein Fall für die SYLPHIDIA gewesen. Aber durch die besondere Augenstellung hatte Vyriz vor kurzem hypnotische Fähigkeiten entwickelt, die er nicht kontrollieren konnte – er hypnotisierte einfach alles, was ihm über den Weg lief. Das ging natürlich nicht an, und darum hatte man ihm eine Prismenbrille konstruiert, die
seinen Blickwinkel veränderte und die Fähigkeit der Hypnose neutralisierte. Abbo folgte dem Medo-Roboter ins Krankenzimmer. Aber es war leer. Abbo dachte sich nichts weiter dabei, denn er vermutete, dass einer seiner beiden Kollegen den Blue zur Behandlung geholt hätte. »Nehmen wir uns den nächsten Patienten vor«, beschloß der Para-Psychogenetiker daher. Der Fall des Unithers Golmof war auch nicht ohne. Er behauptete nämlich, seinen Zwillingsbruder Harlob, weil er ihm übel mitgespielt hatte, in einem Anfall von blinder Wut in die Zukunft geschleudert zu haben. Und Harlob war tatsächlich spurlos verschwunden. Darum war Golmor voller Schuldgefühle. Das könnte erklären, warum seine Fähigkeit der Extra-TemporalenPerzeption blockiert war und er keinerlei Ansätze mehr zu parapsychischer Veranlagung zeigte. Abbo war jedenfalls sehr darum bemüht, Golmors Schuldkomplex abzubauen, um wenigstens herauszubekommen, wie er mit dem Unither dran war. Während seiner kurzen Rekonvaleszenz hatte er sich bereits die Taktik für die nächste Sitzung zurechtgelegt… Aber der Unither war nicht auf seinem Zimmer. Dafür stach dem Para-Psychogenetiker sofort die grünleuchtende Zeile vom Monitor ins Auge. Er ging näher und las laut: »Brüderlein fein, Brüderlein fein«, muss nicht lang’ mehr geschieden sein.« Abbo ertappte sich dabei, wie er beim Lesen unwillkürlich in die richtige Melodie verfiel. Und der Medo-Robot summte mit. »Verdammt, Golmor ist abgehauen!« rief Abbo entsetzt aus, als er die Bedeutung dieser Nachricht erfasste. Er rief augenblicklich in der Medozentrale an. Auf dem Bildschirm erschien das rundliche, von schlohweißem Haar umrahmte Gesicht von Elhound Cree. Der Parapsychologe zeigte, wie stets, ein freundliches Lächeln. »Na, sind Sie wieder wohlauf, Hol?« begrüßte er ihn herzlich. »Sie sehen ja prächtig aus.«
»Das täuscht«, erwiderte Abbo. »Ich bin in Golmors Kabine, aber der Unither ist nicht da. Ich bin besorgt, denn ich habe Grund zu der Annahme, dass er seine ETP-Fähigkeit zurückbekommen hat und sich in die Zukunft auf die Suche nach seinem Bruder Harlob begab. Hören Sie sich seine Nachricht an.« Und Abbo begann, »Brüderlein fein« zu singen. »Was halten Sie davon, El?« fragte er dann. »Wenn ich Ihnen einen freundschaftlichen Rat geben darf, versuchen Sie sich nicht als Sängerknabe«, antwortete Cree grinsend. »Es geht um Golmor!« rief Abbo ungehalten. »Er ist weg!« »Aber nicht weit«, erwiderte Abbo schmunzelnd. »Sie können sich wieder beruhigen, Hol. Golmor wurde nur einer Gruppentherapie zugeteilt.« »Golmor ist mein Patient!« erregte sich Abbo. Es gefiel ihm nicht, dass seine Kollegen, kaum dass er kurzfristig nicht präsent war, über seinen Kopf hinweg entschieden hatten. »Man hätte wenigstens meine Zustimmung einholen können.« »Es handelt sich doch nur um einen Versuch«, sagte Cree beschwichtigend. »Wir wollen es bei einigen harmloseren Fällen mit Gruppendynamik versuchen. Das ist doch keine so üble Idee, nicht wahr? Die Patienten aus der Isolation zu führen und ihre soziale Distanz zueinander und zur Umwelt abzubauen, das kann sicherlich nicht schaden, wenn es schon nichts nützt. Und ich habe wirklich nur harmlose Fälle für dieses Experiment zugelassen.« »Golmor und harmlos!« rief Abbo aus. »Wenn er ein ETP-Mann ist und seine Fähigkeit zurückbekommt, noch ehe er das seelische Gleichgewicht wiedergefunden hat, dann… Und überhaupt! Was versteht denn Fasten schon von Gruppendynamik!« »Wie kommen Sie denn auf Professor Brybrack?« sagte Cree und zwinkerte nervös; sein Lächeln verblasste ein wenig. »Das ist doch ganz einfach«, sagte Abbo. »Wenn Sie in der Zentrale sind und ich hier bin, dann bleibt doch nur noch Fasten als gruppendynamischer Leiter übrig. Oder haben Sie gar Kapitän Phramot hinzugezogen?«
»Wo denken Sie denn hin, Hol!« Crees Lachen klang gekünstelt. »Was dann?« »Die Sache ist die«, begann Cree umständlich, und seine fröhliche Miene verflüchtigte sich noch mehr, »nämlich die, dass ich es für eine sehr gute Idee hielt, als man mit dem Vorschlag an mich herantrat, es bei einigen Patienten mit Beschäftigungstherapie zu versuchen, sie aus der Isolation zu holen und sie durch Hinführung an gemeinsame Aufgaben zu primären Gruppen zu formen, sie, indem man ihre soziale Distanz abbaut, zu Aktivität und Kontaktaufnahme und Sympathiekundgebung zu animieren, so dass…« »Genug mit dem Schmus!« fiel Abbo ihm zornig ins Wort. »Wer ist man! Und diesmal möchte ich keine Ausflüchte mehr hören, sondern einen Namen. Los, sagen Sie’s schon, wer Ihnen diese Schnapsidee eingegeben hat.« »Das ist alles andere als eine Schnapsidee. Mit Gruppendynamik lässt sich eine ganze Menge erreichen.« »Den Namen will ich hören!« »Korporal Walty Klackton«, sagte Dr. Elhound Cree kleinlaut. Abbo hätte am liebsten laut aufgeschrien, aber er schluckte diesen harten Brocken hinunter. Nicht alle Wunden, die Klackton schlägt, sind sichtbar! dachte er verbittert. Äußerlich blieb er ganz ruhig, als er fragte: »Und wie stellt sich Fasten zu diesem Narrenstreich?« »Neutral.« »Das glaube ich nicht. Ich weiß zufällig, dass Fasten von Klackton wahrscheinlich noch weniger hält als ich. Was hat er also gesagt?« »Er kann im Moment nicht sprechen.« Abbo zuckte erschrocken zusammen. »Was hat dieser Schurke ihm angetan?« »Walty? Er kann überhaupt nichts dafür«, behauptete Cree. »Fasten trägt die alleinige Schuld. Im Ernst, Hol, Fasten hat sich selbst ausgeschaltet.« »Und wie kam das?« »Es war eine wirklich gemütliche Teestunde«, schilderte Cree
im Ton eines Märchenerzählers. »Fasten setzte gerade die Tasse an den Mund, als Walty die Bitte vortrug, ob es ihm gestattet wäre, jnit einigen Patienten Gruppendyna mik zu machen. Man kann Walty vermutlich ein ellenlanges Sündenregister vorhalten, aber dafür, dass unser Kollege Fasten beinahe seine Tasse verschluckte und sich dabei das Gaumenzäpfchen verletzte, dafür kann er nun wirklich nichts. Er hat Fasten sogar noch vor dem Ersticken gerettet.« »Wie denn?« fragte Abbo hä misch und hatte auch sofort eine Antwort parat. »Indem er ihm die Faust in den Schlund rammte und die Tasse in Trümmern herausholte?« Cree senkte betreten den Blick, was Abbo als Bestätigung dafür wertete, dass er mit seinem makabren Scherz ins Schwarze getroffen hatte. »Wie dem auch sei«, sagte Cree rasch, während Abbo noch um seine Fassung rang, »Walty macht seine Sache sehr gut. Ehe Sie vorschnell urteilen, sollten Sie sich erst einmal ansehen, was er mit seiner Therapie alles erreicht hat. Phänomenal, sage ich Ihnen. Tun Sie ihm – mir – diesen Gefallen.« »Aber nur aus sicherer Distanz!« sagte Abbo. Er verstand nicht, warum der Parapsychologe einen solchen Narren an diesem Unheilstifter gefressen hatte. »Sie sind ein unverbesserlicher Optimist, El. Ich wünsche Ihnen wirklich nichts Böses, aber vielleicht täte es Ihnen gut, von Klack-Klack mal eine ordentliche Abreibung zu erhalten. Was muss denn noch alles passieren, damit Sie erkennen, dass sein parapsychisch orientiertes Unterbewusstsein nur noch destruktiv« agiert!« »Vielleicht war das bis vor kurzem noch so«, sagte Cree und zeigte wieder sein einnehmendstes Lächeln. »Aber das ist jetzt ganz anders. Wa ltys Leiden hieß Schwermut, doch ist die auf einmal wie weggeblasen.« »Wie das?« fragte Abbo ungläubig. »Durch Gruppendynamik«, antwortete Cree stolz. »Er geht in seiner Arbeit auf, ist förmlich aufgeblüht. Aber überzeugen Sie sich selbst davon.«
2. Walty Klackton war mit seiner »Rasselbande«, wie er seine Schützlinge liebevoll nannte, im Solarium schwimmen gewesen; morgen wollte er mit ihnen in die Turnhalle zur Körperertüchtigung. Das entspannte, ließ Probleme vergessen, verdrängte Komplexe – oder baute sie sogar ab – ebenso wie den Frust. Walty fühlte sich selbst schon wohler. Aber Schwimmen war natürlich nicht jedermanns Sache. Tebi etwa brachte nicht einmal die körperlichen Voraussetzungen mit. Tebi war nämlich ein Posbi und ein telepathischer Posbi noch dazu. Er hatte einen Tick. Er konnte nicht anders, als die Gedanken anderer, die sein mutierter Plasmazusatz empfing, laut von sich zu geben. So kam es gelegentlich zu Mißverständnissen. Etwa als Tebi im Solarium verkündete: »Ich kann das nicht, das schaffe ich einfach nicht. Ich bin zu schwer zum Schwimmen.« »Brauchst du auch nicht, Tebi«, hatte ihn Walty getröstet. »Du machst den Bademeister.« Es stellte sich aber heraus, dass der Posbi die Gedanken des Riesensiganesen Sharman Cass wiedergegeben hatte, der, seit er innerhalb kürzester Zeit von 20 Zentimeter auf 120 gewachsen war, unter Minderwertigkeitskomplexen litt. Die anderen hatten das Bad unter der Kunstsonne jedoch genossen. Selbst Chaiselongue schien daran Wohlgefallen gefunden zu haben, obwohl er sich nicht dazu äußerte. Aber der Mattenwilly, der glaubte, in einem früheren Leben eine solche Liege gewesen zu sein, nach der man ihn nannte, und der deshalb stur diese Form beibehielt, sprach nie viel. Sie hatten Chaiselongue einfach ins Wasser gezogen, und er war still vor sich hingetrieben. Für eine Liege kann das nur Ausdruck von Behaglichkeit sein. Den Rückweg zum Freizeitraum trat der Mattenwilly allerdings auf seinen Pseudopodien an. Vyriz, der Blue mit den eng beieinanderstehenden Augen, hatte zum Schwimmen seine Prismenbrille abnehmen wollen, aber
Walty hatte ihn darauf hingewiesen, dass er sie dann vielleicht alle hypnotisierte und sie sich als Fische fühlen würden. Der Scherz war gut angekommen. Nur Golmor hatte nicht lachen können. Er wollte von Walty wissen, ob er hier seinen in die Zukunft verschlagenen Bruder Harlob finden könne. Walty musste den Unither vertrösten. Golmor war ziemlich humorlos, ihn erheiterte es nicht einmal, wenn sich Walty unfreiwillig mit den Beinen verhedderte und auf die Nase fiel. Lora konnte dagegen über solche Einlagen herzhaft lachen, und das freute Walty besonders. Er mochte dieses blasse Mädchen mit dem langen Rothaar und den grünschillernden Augen besonders. Er liebte sie wie eine Tochter, und sie erinnerte ihn etwas wehmütig daran, dass er mit Annemy längst eine solche Tochter haben könnte, wenn sie nicht… Nicht daran denken. Dieses Kapitel war abgeschlossen! Er hatte seinen Liebeskummer überwunden. Aus. Schluss. Ende. Lora war im Wasser flink und grazil wie eine Forelle, ihr seidiges rotes Haar bildete dabei auf der Oberfläche einen zarten, vor Wasserperlen funkelnden Fächer. Sie wirkte so verloren, aber manchmal brachte er sie zum Lachen. Er hätte gerne gewusst, was ihre Depressionen verursachte, und ihr liebend gerne geholfen. Als Lora in der künstlich angelegten Lagune des Solariums aus dem Wasser gestiegen war und Walty ihr behilflich sein wollte, hatte sie plötzlich schallend zu lachen begonnen. Tebi verriet ihre Gedanken mit lauter Stimme: »Was er nur für ein komisches Gestell hat, wie eine trambollische Bohnenstange mit einem Kaktus oben… Er ist allerliebst… Ich liebe ihn…« Sie waren beide rot geworden. Walty, weil er seinen Körper nicht gerne entblößte und die Kombination, die er vorsichtshalber angelassen hatte, zerknittert an seinem mageren Körper klebte. Lora vermutlich, weil der vorlaute Tebi ihre geheime Zuneigung ausplauderte. Danach war sie wieder sehr still und in sich
gekehrt, Walty konnte sie durch nichts aus der Reserve locken. »Was machen wir jetzt?« fragte Walty seine Rasselbande, als es Zeit wurde, das Solarium wieder zu verlassen. »Wollt ihr wieder auf eure Zimmer zurück, oder machen wir noch eine Bastelstunde?« »Bastelstunde! Bastelstunde!« riefen alle im Chor, bis auf den Mattenwilly Chaiselongue und Lora. Walty klatschte in die Hände und rief: »Brova-brova!« »Brova-brova!« echoten alle ausgelassen im Chor. Das gefiel ihm weniger. »Wir wollen aber keine Gruppenarbeit«, verlangte Vyriz, der Blue, und rückte sein Prismenglas zurecht. »Ich zumindest möchte meiner eigenen Beschäftigung nachgehen.« »Wie ihr wollt,« stimmte Walty launisch zu. »Jeder kann tun und lassen, was er will. Aber die Aufsicht müsst ihr mir schon zugestehen.« Sie blickten einander an, und Golmor sagte: »Wir sind einverstanden.« Walty war stolz darauf, diese Gruppe von so unterschiedlichen und individuellen Wesen dazu gebracht zu haben, dass sie die Gegensätze abgebaut und zueinander gefunden hatten. Sie waren inzwischen eine verschworene Gemeinschaft. Freizeitgestaltung – Beschäftigungstherapie – Gruppensitzungen. Das war es, was Walty unter Gruppendynamik verstand, und das praktizierte er. Nach der sogenannten Bastelstunde würden sie sich zusammensetzen und miteinander reden. Denn löste man die Zunge eines Probanden, öffnete man auch sein Herz und befreite seinen Geist. Sie erreichten den Gemeinschaftsraum, ohne dass Waltys Unterbewusstsein ihm auch nur einen Streich gespielt hätte. Als er Loras enttäuschtes Gesicht sah, zuckte er bedauernd die Schultern. Brova-brova!« rief Vyriz und fuchtelte aufgeregt mit den Compu-
ter-Sticks durch die Luft. »Ich hab’ das Muster. Jetzt brauche ich es nur noch umzusetzen.« Walty eilte zu dem Blue. »Wie oft soll ich noch sagen, dass ihr mir nicht alles nachzuplappern braucht«, schalt er Vyriz. »Es ist zwar lobenswert, dass wir uns als zusammengehörige Gruppe auch durch einen eigenen, unverkennbaren Idiolekt kennzeichnen. Aber das braucht nicht so weit zu gehen, dass ihr auch meinen Sprachfehler annehmt. Wenn ich brova sage, meine ich eigentlich brova.« »Sag’ ich ja: Brova-brova«, meinte Vyriz verdutzt. »Das sollst du eben nicht«, sagte Walty verzweifelt. »Sieh mal, ich kann nicht anders als brova sagen, meine jedoch ein anderes, sinnvolles Wort, nämlich… Nein, ich sag’s nicht.« »Aber ich: Brova. Es gefällt mir.« »Ja, aber brova bedeutet nichts. Du musst die beiden Selbstlaute miteinander vertauschen, damit du das richtige Wort bekommst.« Der Blue dachte nach, und auf einmal erhellte sich sein Gesicht. »Jetzt weiß ich, was du meinst – aber brova gefällt mir trotzdem besser«, erklärte er. Er deutete mit seiner siebenfingrigen Hand auf den Monitor. »Willst du dir nicht mein Muster ansehen, das ich mit den Sticks gestrickt habe?« »Aber sicher.« Walty blickte auf den Bildschirm, der von unten nach oben mit einem Streifen aus ineinander verflochtenen Fäden überzogen war. Das Muster erinnerte tatsächlich an etwas Gestricktes, nur war es so kompliziert, schimmerte und funkelte dazu noch auf so eigenartige Weise, dass man es mit den Blicken einfach nicht erfassen konnte. »Schön…«, begann Wa lty. Plötzlich verschlug es ihm die Sprache. Das Muster veränderte sich, nahm die Form eines Gesichts an. Das Gesicht wurde immer realistischer, fleischlicher und bekam bekannte Züge… Und auf einmal blickte ihm Annemy entgegen. Sie lächelte ihn verführerisch an… Walty riss sich gewaltsam von diesem Anblick los. War er noch immer nicht aus dem Bann dieser Hexe – ja, Hexe –, die er abgöt-
tisch, wenn auch heimlich geliebt hatte und die ihm diese Liebe mit schändlichem Verrat vergalt? Er glaubte sogar ihre rauchige Stimme sagen zu hören: »Brova-brova, Klack-Klack.« »Was ist los, Walty?« fragte Vyriz besorgt. »Gefällt dir das Muster nicht? Darf ich den Schal nicht stricken?« »Schal? Wozu?« fragte Walty benommen. Dann blickte er auf den langen dünnen Hals des Blue und hatte Verständnis. Bis jetzt war ihn noch nie der Gedanke gekommen, dass Blues ihre langen Hälse schützen mussten, um nicht zu frieren. Welcher Terraner hatte jemals schon daran gedacht! »Du brauchst nie wieder zu frieren, Vyriz«, sagte Walty und führte den Blue zum Syntheser, einem Gerät, mit dem man nicht nur eine Reihe von Grundstoffen miteinander vermischen, sondern ihnen auch die gewünschte Form geben konnte. Die Möglichkeiten waren weitgespannt genug, so dass Vyriz sich ein Strickmaterial nach eigenem Gutdünken zurecht mischen konnte. »Ich komme schon allein zurecht«, sagte der Blue, als er vor der Tastatur stand, und es schien durch die Prismenbrille, als bekämen seine Katzenaugen einen eigenen Glanz. Walty zog sich zurück. Als er an Tebi vorbeikam, hörte er den telepathischen Posbi murmeln: »…und jetzt lässt er den schielenden Blue auch noch stricken … Was soll da schon anderes herauskommen als Unsinn … Man müsste diesem gemeingefährlichen Idioten augenblicklich das Handwerk legen…« Tebi unterbrach sich, als Walty sich zu ihm gesellte. »Sprich nur weiter, Tebi«, forderte ihn Walty auf. »Ich kann mir schon denken, wessen Gedanken du von dir gibst. So kann nur Professor Abbo über mich denken. Sicher beobachtet er uns und erwartet, dass ich auf der ganzen Linie versage.« »Tut mir leid, Walty«, sagte der Posbi. »Aber ich kann nicht anders als… Was will er von dem Posbi? Ihn darüber aushorchen, was wir denken, El?… als die Gedanken anderer wiedergeben. Das liegt wie ein Fluch über mir.« »Ich könnte dich von diesem Fluch befreien, Tebi«, sagte Walty.
»Es ist nur ein kleiner Eingriff nötig. Ich bin sicher, dass der Fehler an deinem Bioponblock liegt. Ich habe ein…« »Nein, das lasse ich nicht zu!« rief Tebi aus, entschuldigte sich aber sofort wieder. »Tut mir leid, das waren nicht meine Gedanken, Walty. Ich möchte… Besser nicht! Ich schaffe es nicht einmal, einen von mir fehlprogrammierten Gauchoroboter zu reparieren. Wer weiß, was ich dann erst Tebi antue, wenn ich mich an ihm vergreife …« Als Wa lty erkannte, dass der Posbi seine eigenen Gedanken wie ein Echo wiedergab, entfernte er sich rasch. »Verschieben wir es auf ein andermal«, sagte er und wollte sich Lora zuwenden, die an einem der Simulationscomputer stand. Sie wirkte konzentriert und machte ein geradezu verkniffenes Gesicht, was ihm nicht recht gefallen wollte. Aber während er herumschwenkte, übersah er Chaiselongue und fiel über den Mattenwilly. »Da siehst du wenigstens, was ich in meinem früheren Leben mitgemacht habe«, beschwerte sich der Mattenwilly. »Ich könnte dir Geschichten erzählen! Glaube ja nicht, dass du der einzige Tollpatsch bist, der in meinem langen Leben über mich gestolpert ist. Ich war nämlich robust, einfach nicht umzubringen. Und jetzt muss ich diesen Leidensweg noch einmal durchmachen. Hoffentlich lande ich nicht in irgendeinem Museum.« »Wenn dir unbedingt danach ist, könnte ich unsere Gruppe dazu aufrufen, dich kaputt zu sitzen«, schlug Walty vor. »Aber das tut vermutlich weh.« »Ich werde mir das Angebot ernsthaft überlegen«, sagte der Mattenwilly. »Denn was kann schon schlimmer sein als die Leiden einer Chaiselongue, die die Jahrhunderte überdauert.« »Gib mir also Bescheid«, sagte Walty. »Wenn nötig, kann ich auch Erno Phramot und seine Mannschaft anfordern, um dich klein zu kriegen.« »Ja, kaputtsitzen, das wäre vielleicht die Lösung…«, vernahm Walty die verloren klingende Stimme des Mattenwillys, während er sich entfernte. Er machte einen Bogen um den Unither, der ebenfalls an einem Simulationscomputer stand und auf der Suche
nach seinem Bruder vermutlich alle möglichen Zukunften durchspielte. Walty hatte ihm, vielleicht etwas voreilig, wie er zugeben musste, versprochen, sein Problem durch Gruppendynamik zu lösen. »Hallo, Lora, wie geht’s?« fragte er, als er das Mädchen erreichte. Sie entspannte sich nicht, sondern zog die schmalen Schultern nur noch mehr an. Er bückte an ihr vorbei auf den Bildschirm. Darauf war ein weites Kornfeld zu sehen, das sich golden vor einem gewitterschweren Himmel abhob. Die Ähren beugten sich schwer unter ihrem Gewicht und gehorchten nur träge dem Wind. »Womit beschäftigst du dich, Lora?« »Das ist Tramboll«, sagte das Mädchen. Das Kornfeld glitt wie im Flug dahin, eine Reihe von Häusern kam ins Bild. Dazwischen tauchten vereinzelt Menschen auf, die irgendwelchen Beschäftigungen nachgingen. Ein einzelnes Haus verdrängte die anderen. Es war ein schmuckes Haus, mit einer überdachten Veranda und Blumentrögen an jedem Fenster. Irgendwie erinnerte es Walty an sein Farmhaus auf Rustoner – eine schmerzliche Erinnerung. Über die Treppe der Terrasse stieg ein Mann, er kam ganz ins Bild. Er war groß und muskulös, hatte ein sehr männliches, wettergegerbtes Gesicht. Er trug Arbeitskleidung, aber von der Art, mit der man sich auch nach Feierabend überall hinwagen konnte. Als er vor dem Eingang stehen blieb, sich eine Zigarette anzündete und den Rauch tief inhalierte, traten seine Backenknochen weit hervor, auf seinem Kinn bildete sich ein Grübchen. Walty war verblüfft, welche Einzelheiten der Bildschirm erkennen ließ. »Wer ist das, Lora?« fragte er. »Dein Vater?« »Tom Corlik – mein Geliebter!« presste Lora hervor. Walty riss sich vom Bildschirm los und blickte Lora an. Er war entsetzt, als er ihr Gesicht sah – es war eine Maske des Hasses. Walty wollte Lora beruhigen, ihr die Hand auf die Schulter legen oder irgend etwas von der Art. Aber er unterließ es. Er ahnte, dass in Lora etwas erwacht war, eine furchtbare Erinnerung, die über die Geschehnisse auf Tramboll Auskunft geben konnte. Er musste sie gewähren lassen. Wenn sie das, was auf ihrer Hei-
matwelt vorgefallen war, auf dem Bildschirm simulierte, bot sie damit vielleicht auch den Schlüssel zu ihrem Geheimnis. In Walty verkrampfte sich etwas, als er sah, welche Szene Lora auf dem Bildschirm nachvollzog. Der gutaussehende Mann, ihr Liebhaber Tom Corlik, war längst im Haus. Er betrat ein Schlafzimmer mit einem Bett, in dem sich eine nackte Frau rekelte. Am Fenster im Hintergrund tauchte ein Gesicht auf. Lora Carthom! Das Gesicht füllte den ganzen Bildschirm aus. War es zuerst maskenhaft vor ungläubigem Entsetzen, verformte es sich nun zu einer wahren Fratze, wurde zum Spiegelbild von Loras eigenem Gesicht. »Fahr zur Hölle, Liebling!« presste Lora hervor. Walty glaubte, dass der Zeitpunkt gekommen sei, Lora Einhalt zu gebieten, so wertvoll es vielleicht auch für ihre Behandlung sein mochte, sie weitermachen zu lassen. Aber er wollte sie nicht leiden sehen. Während er noch nach ihr griff, sie vom Computer wegzerren wollte, ging die Simulation weiter. Walty packte das Mädchen an den Schultern, zog sie zu sich. Dabei verlor er jedoch das Gleichgewicht und fiel mit dem Kopf auf die Konsole. Er war durch den Aufprall benommen, alle Kraft war ihm aus den Gliedern gefahren, und er konnte sich nicht bewegen. Aber seine Sehkraft behielt er, und, so nahe wie er dem Bildschirm war, schien er in diesen Mahlstrom hineingerissen zu werden. Die Schrecken, die Lora nun simulierte, waren kein Spiel mehr. Die Szene hatte gewechselt. Wieder war die Siedlung mit allen Häusern und der bis zum Horizont reichenden Ebene zu sehen. Aber es gab kein goldenes Kornfeld mehr, die Häuser waren von beginnendem Verfall gezeichnet. Menschen tauchten scheinbar aus dem Nichts auf, irrten durch eine immer abscheulichere Schrecken gebierende Alptraumlandschaft. Zwischen sich unglaublich rasch emporrankenden Schlingpflanzen taumelte ein schrecklich gealterter Tom Corlik. Er trug den reglosen Körper einer Frau in den Armen. Und während hinter ihm die Hölle immer furchtbarere Formen annahm, blickte Tom Corlik aus dem
Bildschirm, sah Lora anklagend an, hielt ihr den Leichnam der Frau, mit der er sie hintergangen hatte, wie als Opfergabe hin. Jetzt hast du deinen Triumph, Lora! Deutlicher konnte man es gär nicht sagen. Etwas sank schwer auf Waltys Schulter. Es war Lora. Sie bettete ihren Kopf auf seiner Schulter und schluchzte lautlos. »Hast du das wirklich getan, was du mir eben gezeigt hast?« fragte er beklommen. Er konnte es noch immer nicht glauben. Lora hatte irgendeine Fähigkeit, die sie mit der Computergraphik zu einem unglaublich dichten und realistischen Bild kombinieren konnte. Sie hatte zu erkennen gegeben, dass sie, was immer sie auch angestellt hatte, es aus verschmähter Liebe getan hatte. Das war ein erster Schritt. Aber etwas stimmte nicht. Lora hatte Tramboll nicht zu einer Höllenwelt gemacht. Man hatte sie einsam und verloren inmitten der verlassenen Siedlung gefunden. »Das war die Hölle«, flüsterte ihm Lora ins Ohr. »Möchtest du jetzt das Paradies kennenlernen?« Walty ruckte so abrupt hoch, dass sie mit einem Laut des Entsetzens zurückfuhr. »Vielleicht möchte ich später weitere Bilder sehen«, sagte Walty. »Aber jetzt sollten wir zuerst miteinander reden.« »Lass mich noch einen kleinen Versuch machen«, bat Lora und strich ihm dabei zärtlich über seine Hängenase. »Ich möchte nur mal aufzeigen, wie es hätte kommen können.« »Gut«, gab Walty nach. »Aber wenn ich es sage, musst du aufhören. Ich möchte nicht, dass…« »Keine Gefahr«, sagte sie und bereitete bereits die nächste Simulation vor. Wieder erschien das Kornfeld unter gewitterverhangenem Himmel. Aber die dunklen Wolken lösten sich auf, die Sonne kam durch. Das einzelne schmucke Haus war diesmal etwas in die Ferne gerückt. Tom Corlik tauchte auf, schritt über die steinige Straße auf jenes Haus zu. Zehn Schritte davor stolperte er und stürzte. Er wollte wieder aufstehen, kippte aber mit schmerzver-
zerrtem Gesicht um und hielt sich den Knöchel des linken Beines. Aus dem Hintergrund tauchte eine schlanke Gestalt mit wallenden Röcken auf, erreichte den Verletzten und kümmerte sich fürsorglich um ihn. Als das Mädchen den Kopf hob, blickte Walty in Loras Gesicht. Sie lächelte, blinzelte ihm vom Bildschirm zu. Tom Corlik war der beabsichtigte Seitensprung vermasselt worden! »Genug!« verlangte Walty, und Lora schaltete den Computer ab. Sie erwiderte seinen bohrenden Blick aus großen unschuldigen Augen. Er aber sagte streng: »Ich fürchte, du wirst nicht umhin können, mir ein paar Fragen zu beantworten, Lora. Was du auch getan hast, du hattest kein ausreichendes Motiv. Auch andere Leute haben Liebeskummer und schicken ihre Widersacher nicht gleich in die Hölle.« »Weil sie es nicht können«, sagte Lora schalkhaft und stupste seine Nase. Sie war wie ausgewechselt, keine Spur von depressiv. Sie fuhr fort: »Ich weiß, dass es dir ähnlich ergangen ist, Walty. Das gemeinsame Schicksal verbindet uns. Wir gehören zusammen.« Waltys Adamsapfel begann konvulsivisch zu hüpfen, er wollte etwas sagen, brachte aber vor Aufregung kein Wort hervor. In der Absicht, eine genügend große Distanz zwischen sich und Lora zu schaffen, machte er einen unkontrollierten Schritt rückwärts. Dabei drohte er das Gleichgewicht zu verlieren, und als er das andere Bein zur Unterstützung des Standbeins nachzog, trat er sich gegen das Knie. Im Fallen machte er noch eine halbe Drehung, so dass er zu allem Übel auch noch mit dem Gesicht aufschlug. So schmerzhaft das für ihn selbst war, hatte er zumindest Lora als Lacher für sich gewonnen. Walty wollte sich aufrappeln. Aber da stand eine schlanke, wohlproportionierte Gestalt in der Uniform eines USO-Leutnants vor ihm. Er blickte ungläubig hoch und sah in das spöttische Gesicht von Annemy Traphunter, seiner verlorenen Geliebten. »Brova-brova!« verhöhnte sie ihn. Gleich darauf löste sich Annemy jedoch in Nichts auf, an ihrer Statt erblickte Walty den Riesensiganesen Sharman Cass. Hinter
ihm war Vyriz aufgetaucht, der dem Siganesen gerade eine Art Schal abnahm. »Passt Ihnen ganz ausgezeichnet, Herr Cass«, zirpte Vyriz dabei. »Ich glaube, meine Schals sind dazu angetan, jeden an Bord der SYLPHIDIA zu schmücken. Willst du einen anprobieren, Walty? Würde auch dir schmeicheln.« »Nein, nein!« rief Walty entsetzt. »Nur weg damit. Du wirst niemanden von uns mit einem deiner verhängnisvollen Schals behängen. Weißt du Unglückseliger, was du da eigentlich gestrickt hast?« Vyriz rückte sich das Prismenglas zurecht und wandte sich gekränkt ab. Walty wollte ihm nachsetzen, um ihn über die Wirkung seiner Strickerei aufzuklären, doch da kam ihm Golmor in die Quere. Der Unither packte Walty mit dem feinnervigen Ende des Rüssels an der Nase und sagte: »Mir war doch eben, als hätte ich hier meinen Bruder Harlob gesehen. Wo ist er?« »Du bist einer Täuschung aufgesessen«, antwortete Walty und wollte Vyriz nachfolgen. Er hatte keine Zeit für lange Erklärungen und konnte Golmor nicht in wenigen Worten klarmachen, dass Vyriz Schal hypnotische Wirkung hatte, dass jeder Betrachter vom Träger eines solchen Schals ein Wunschbild projiziert bekam. So wie er Annemy in Sharman Cass gesehen hatte – Also liebe ich sie unterbewusst immer noch! – hatte Golmor seinen verschollenen Bruder zu sehen geglaubt. »Ich habe mich nicht getäuscht!« behauptete Golmor. Walty versuchte, seine Nase aus dem Rüssel zu befreien. Der Versuch endete kläglich, nämlich damit, dass sie sich beide über den Boden wälzten. Als es Walty endlich gelang, sich aufzurappeln, sah er Professor Abbo und Doc Cree den Raum betreten. »Jetzt ist aber Schluss mit diesem Theater!« donnerte der ParaPsychogenetiker. Er war so aufgebracht, dass er ein puterrotes Gesicht hatte und nach Atem rang. Der aufgestaute Ärger hatte ihn so erschöpft, dass er sich auf Chaiselongue sinken ließ. »Ja, kaputtsitzen!« rief der Mattenwilly erfreut. »Kaputtsitzen
ist meine Rettung.« Abbo wollte wie von der Tarantel gestochen hochfahren. Doch da tauchte Vyriz hinter ihm auf und fragte: »Darf ich Ihnen diesen von mir gestrickten Schal anprobieren, Professor?« Abbo schnitt eine Grimasse, mit der er Freundlichkeit heucheln wollte, und senkte sogar zuvorkommend den Kopf, damit ihm der Blue den Schal umhängen konnte. Der Para-Psychogenetiker wollte offenbar nicht als Spaßverderber dastehen, darum machte er gute Miene. Und er hatte ja wirklich nichts gegen seine Patienten im Allgemeinen, sein Groll galt nur einem einzigen. »Nein, nicht!« rief Wa lty, doch seine Warnung kam zu spät. Dabei konnte er nicht einmal ahnen, welches Verhängnis mit dem Schalanlegen über sie alle kommen würde. Schließlich konnte er nicht wissen, dass der hypnotische Schal bei den Betrachtern nicht nur Wunschbilder erweckte, sondern auch gut für Feindbilder war. »Fahr zur Hölle, Liebling!« gellte da Loras hasserfüllte Stimme durch den Raum. Und es geschah. Zumindest verschwand Professor Abbo augenblicklich. Nur der Hypno-Schal lag an der Stelle der Chaiselongue, wo er gesessen hatte. Der verdutzte Dr. Elhound Cree handelte wohl im Effekt, als er nach dem Schal griff und ihn an sich nahm. Die Wirkung blieb nicht aus. »Fahr auch du zur Hölle!« rief Lora Carthom. Und so passierte es, dass sich Wa lty Klackton und die anderen Patienten plötzlich ohne ärztliche Aufsicht sahen. Das Verhängnis konnte seinen Lauf nehmen.
3. Der Gemeinschaftsraum wurde zum Tollhaus. »Ich will, dass man mich kaputtsitzt!« rief Chaiselongue. »He, Walty, wo bleibt die Mannschaft. Es soll mir erspart bleiben, in irgendeinem Museum zu landen und dort als Prunkstück die Jahrhunderte zu überdauern.« Golmor peitschte seinen Rüssel durch die Luft, um auf sein Problem aufmerksam zu machen. »Jetzt habe ich Harlob schon wiederholt gesehen«, rief er außer sich. »Ich lasse es mir nicht nehmen, dass er sich hier irgendwo versteckt. Harlob! Harlob!« »Ihr Banausen!« rief Vyriz anklagend. »Da ihr meine Strickkünste nicht würdigen könnt, muss ich zu drastischeren Mitteln greifen. Ich werde meine Prismenbrille abnehmen und euch alle hypnotisieren. Ihr werdet noch um meine Schals betteln.« Sharman Cass, der Hundertzwanzig-Zentimeter-Siganese, hatte sich in einer Ecke zusammengerollt und hielt sich abwechselnd die Augen, die Ohren und den Mund zu. Tebi marschierte gemessenen Schrittes durch den Gemeinschaftsraum und gab die auf ihn einstürmenden Gedanken von sich: »Harlob! Harlob…! Mache doch wenigstens jemand mal eine Sitzprobe… Nichts sehen! Nichts hören! Nichts sagen! … Was mache ich nur? Muß Vyriz daran hindern, die Brille abzunehmen … Ich mache euch alle zu Trägern meiner Schals … Kommt schon und besetzt mich, nur Mut …! Brüderlein fein … Ach, sind sie nicht lieb. Ich werde ihnen helfen …« Walty tauchte unter dem Rüssel von Golmor durch, der ihm nachstellte, um von ihm das Versteck seines Bruders zu erfahren. Dabei rammte er dem Unither versehentlich den Ellenbogen in den Leib. Er sah Vyriz drei Schritte hinter Chaiselongue, wie er gerade seine siebenfingrigen Hände zur Prismenbrille hob. »Tu es nicht, Vyriz!« rief Walty entsetzt und sprang auf Chaiselongue.
»Ja, so ist es gut!« rief der Mattenwilly erfreut. Walty sprang zu Boden und erreichte den Blue, bevor er die Brille abnehmen konnte, die seine hypnotischen Fähigkeiten neutralisierte. Bei dem folgenden Gerangel verwickelte er sich jedoch in den Hypno-Schal und strangulierte sich beinahe damit. Von irgendwo her erklang die apokalyptische Drohung: »Fahr zur Hölle, Liebling!« Und auf einmal lag Walty auf dem Boden, schnappte nach Luft. Sein Hals schmerzte, in seinem Kopf war ein dumpfes Dröhnen, und er meinte, er würde ihm unter dem Druck der einander jagenden Gedanken platzen. Alles drehte sich um ihn. Allmählich klärten sich seine Sinne, und er merkte, wie still es um ihn geworden war. Als er den Kopf hob, sah er sich von seinen Schützlingen umringt. Sie machten betroffene Gesichter. Tebi zeigte seine Betroffenheit auf seine Weise, indem er schweigend über die Gedanken der anderen hinwegging. »Seht nur, was ihr beinahe angerichtet hättet«, sagte Lora anklagend. »Walty ist der einzige, der euch – uns – helfen kann. Und ihr hättet beinahe das Verderben über ihn gebracht.« Sie beugte sich zu ihm hinunter und küsste zärtlich seine Nasenspitze. Er hörte sie mit dem Finger schnippen und sagen: »Damit habe ich alles wieder ins Lot gebracht.« Walty kam auf die Beine. Er verstand nicht, wie sich das eskalierende Chaos plötzlich in Wohlgefallen hatte auflösen können. Aber er war froh, dass es so gekommen war. »Ich glaube, wir machen Schluss für heute«, sagte er müde. »Geht auf eure Zimmer. Nach einer ausreichenden Ruhepause werden wir uns zusammensetzen und die Vorfälle zu analysieren versuchen.« »Okay, Walty! Ich werde mich vorerst mit meiner Größe abfinden.« »In Ordnung, suchen wir meinen Bruder das nächstemal.« »Schon gut, ich packe meinen Schal vorerst weg.« »Schön, verschieben wir die Sache mit dem Kaputtsitzen.« Sie zogen sich nacheinander zurück, der Mattenwilly trippelte
als Chaiselongue auf seinen Pseudopodien davon. Als sich Lora den anderen anschließen wollte, hielt Walty sie an der Hand zurück. »Wir haben noch miteinander zu reden«, sagte er. Sie nickte mit gesenktem Kopf. Walty fuhr fort: »Aber nicht hier. Gehen wir in die Messe, dort ist es gemütlicher.« Wieder nickte sie ergeben, und als er sie an der Hand mit sich zog, folgte sie wie eine artige Tochter. Walty hatte jedoch das beklemmende Gefühl, dass sie sich nicht als solche sah. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander. Schließlich hielt es Walty nicht länger aus und fragte: »Hast du Doc Cree und Professor Abbo wirklich und wahrhaftig… weggeschickt?« »Ich habe Tom Corlik zur Hölle geschickt«, sagte sie fast trotzig. Walty erinnerte sich daran, wie er sich mit dem Hypno-Schal fast strangulierte und dabei Loras Drohung gehört hatte. Sie musste auch in ihm Tom Corlik gesehen haben – und dennoch hatte sie ihn nicht in diese sogenannte »Hölle« deportiert. »Und warum nicht auch mich?« fragte er. Sie schenkte ihm einen so seltsamen Blick, dass er sich errötend abwandte. »Ich habe mich besonnen«, sagte sie, und es klang, als hätte sie das große Überwindung gekostet. »Man kann nicht ewig hassen. Und dich liebe ich. Auf uns beide wartet das Paradies.« »Sei nicht voreilig, Lora«, sagte er schnell. »Unternimm nichts, was du später bereuen könntest. Du könntest damit nicht wieder gutzuma chenden Schaden an dir anrichten.« »Es ist schon geschehen«, sagte sie. »Aber es gibt so viele Existenzlinien, dass man immer auf eine bessere ausweichen kann.« Walty hatte auf einmal einen Kloß in der Kehle, an dem er vergeblich würgte. »Ein hervorragendes Mahl«, sagte Lora und lehnte sich zurück. »Wir hätten Kapitän Phramot dazu einladen sollen. Er tut mir leid. Es ist sicher nicht das reine Vergnügen, in der Kommando-
zelle eingeschlossen zu sein und zu darben, während es uns draußen an nichts fehlt. Warum verbrüdern wir uns nicht einfach mit der ganzen Mannschaft?« »Besser nicht«, sagte Walty, der kaum einen Bissen heruntergebracht hatte, weil er immer noch an dem Kloß würgte. »Phramot ist nicht gut auf mich zu sprechen…« »Hasst er dich?« fragte Lora, und ein Funkeln trat in ihre Augen. »Nein, nein«, beschwichtigte Walty sie. »Es ist nur so, dass ich ihm schon ein paar Streiche gespielt habe. Er ist mit Recht auf mich sauer. Wir brauchen ihn nicht. Willst du nicht lieber mit mir alleine sein?« »Gewiss, aber wir müssen an die Zukunft denken.« »Wie stellst du sie dir vor?« »Ich wünsche mir«, sagte sie, und in ihre Augen kam ein verträumter Ausdruck, »dass wir so schnell wie möglich eine idyllische Welt anfliegen und uns dort niederlassen. Und natürlich wünsche ich mir, dass diese Welt uns und unseren Freunden allein gehört. Alle anderen, die nicht wahre Freunde sind, werden wir nicht dulden. Wir werden sie zur…« »Sprich es nicht aus«, bat Walty. »Ich möchte nicht, dass du wieder zornig wirst.« t Ihr Gesicht klärte sich, und sie sah ihn verwundert an. »Du brauchst doch meinen Zorn nicht zu fürchten, Walty. Du doch nicht! Du kannst mich glücklich machen… Ich will nur noch glücklich sein und Gutes tun.« »Das freut mich«, sagte er und versuchte, seiner Stimme den passenden Klang zu geben. Unvermittelt fragte er: »Kannst du dir alle deine Wünsche erfüllen? Kannst du machen, dass deine Träume Wirklichkeit werden?« »Ja, ich denke schon«, sagte sie etwas zweifelnd. Sie machte ein Gesicht, als erforsche sie ihr Inneres und die Bedeutung ihrer eigenen Worte. Sie fuhr fort: »Aber so einfach lässt sich das nicht sagen, es ist etwas komplizierter. So kompliziert, dass ich nicht die richtigen Worte finde. Bis vor kurzem wusste ich gar nicht,
wozu ich fähig bin. Und ich hatte glatt vergessen, was ich auf Tramboll tat. Wie ist das möglich?« »Die einzige Erklärung, die mir dazu einfällt, ist die, dass du dich für deine Tat selbst bestraft hast«, sagte Walty. »Als du sahst, was du angerichtet hast, dass du in deinem blinden Liebesschmerz deinen ganzen Heimatort entvölkert hast, da wolltest du für diese Tat sühnen. Darum hast du einfach alles vergessen. Nun hast du deine Erinnerung aber zurückbekommen, und damit auch deine Fähigkeit. Ich möchte wissen, was auf Tramboll wirklich geschehen ist.« »Aber das weißt du doch«, sagte sie. »Ich habe es auf dem Simulationscomputer nachvollzogen.« »Tramboll ist nicht zu der Höllenwelt geworden, die du mir gezeigt hast«, sagte Walty. »Doch, drüben, auf der anderen Seite, auf einer anderen Ebene, dort ist Tramboll jetzt eine Höllenwelt«, sagte Lora. »Das ist doch nicht so schwer zu verstehen.« »Für mich schon, ich bin etwas schwerer von Begriff als du«, sagte Walty mit entschuldigendem Grinsen. Dabei begann sich für ihn der Sachverhalt allmählich herauszukristallisieren. Es konnte nicht anders sein, als dass Lora schon immer über ein latentes Para-Talent verfügt hatte. Durch den Schock, als sie Zeuge von Tom Corliks schmählichem Verrat an ihrer Liebe wurde, brach diese Fähigkeit durch. Und als sie ihn dafür zur Hölle wünschte, realisierte sich ihr Wunsch – vermutlich zu ihrer eigenen Überraschung. In ihrer blinden Wut wandte sie sich gegen alle, die sich scheinbar gegen sie stellten – sie wünschte sie alle zur Hölle. Und als sich dann ihre Sinne klärten und sie erkannte, was sie angerichtet hatte, strafte sie sich durch Vergessen. Vom psychologischen Standpunkt war die Sache für Walty klar, Lora hatte im Affekt gehandelt und war an sich selbst zerbrochen. Nur der parapsychologische Aspekt war noch unklar. Welcher Art war Loras Fähigkeit? Es gab auch dafür einige Anhaltspunkte, etwa, dass sie von »Existenzlinien« gesprochen hatte und dass Tramboll nur auf der »anderen Ebene« eine Höllenwelt war.
Es schien so, dass Lora mit Wahrscheinlichkeiten, mit möglichen Entwicklungen manipulieren und sie Realität werden fassen konnte. Aber darüber musste sich Walty Klarheit verschaffen, sonst war ihr – und ihren Opfern – nicht zu helfen. »Kannst du mir erklären, wie du das gemacht hast?« fragte er. »Du machst es mir vielleicht schwer«, sagte sie, griff über den Tisch nach seinen Händen und drückte sie. Sie seufzte. »Es tut mir inzwischen ja leid, was ich auf Tramboll angerichtet habe. Es hätte, wenn ich bei Sinnen gewesen wäre, auch andere Möglichkeiten gegeben. Aber ich habe nicht klar gedacht, und ich habe nicht gewusst, was ich alles kann – dass ich alles kann! Außerdem wäre eine andere Lösung Selbstbetrug gewesen. Ich will glücklich sein, aber nicht um jeden Preis.« »Was für eine andere Lösung hätte es gegeben?« fragte Walty. »Ich habe sie am Simulationscomputer aufgezeigt«, antwortete Lora, die des langen Erklärens offenbar allmählich müde wurde. »Ich habe gewusst, wohin Tom gehen wollte. Ich hätte es, vorausgesetzt, dass ich meine Kräfte bereits gekannt hätte, verhindern können. Oft genügt ein kleiner Stein des Anstoßes, um den Lauf der Dinge völlig zu verändern. Und es gibt so viele Kreuzwege der Wahrscheinlichkeiten, dass man stets die Möglichkeit hat, das Steuer herumzureißen.« »Kannst du konkreter werden?« fragte Walty. Lora seufzte wieder. »Du bist aber wirklich begriffsstutzig, Walty«, sagte sie. »Aber meinetwegen. Siehst du, wenn Tom auf dem Weg zu dieser Schlampe über einen Stein gestolpert wäre und sich den Fuß verstaucht hätte, wäre mir die Chance gegeben gewesen, mich um ihn zu kümmern. Vielleicht hätten wir geheiratet und viele Kinder bekommen… Bestimmt hätten wir das, wenn ich meine Fähigkeit damals in der Gewalt gehabt hätte. Ich hätte sie dazu nützen können, allen Widernissen aus zu weichen. Es wäre jedes Mal nur ein kleiner Schritt auf eine andere Wahrscheinlichkeitsebene gewesen, um den Kurs auf der gewünschten Existenzlinie zu halten.«
Das war es also. Lora ließ ihr Wunschdenken Realität werden, indem sie von den unzähligen wahrscheinlichen Entwicklungen immer jene auswählte, die ihr am genehmsten war. »Ich kann jetzt meine Fähigkeiten klar kontrollieren«, sagte Lora und schenkte ihm ein herzliches Lächeln, bevor sie fortfuhr: »Das habe ich dir zu verdanken, Walty. Du hast mir als einziger ehrliche Gefühle entgegengebracht. Darum liebe ich dich. Wir werden miteinander glücklich sein.« »Auf unserem Glück liegt ein Schatten«, erwiderte Walty. Er war sich klar, dass er seine Worte sehr gut wählen musste, um Lora nicht zu verletzen und sie so nicht dazu zu treiben, die Weichen für eine andere Wahrscheinlichkeitsebene zu stellen. »Kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, dass Tom Corlik und die anderen und Doc Cree und Professor Abbo in der Hölle leben müssen?« »Dummerchen«, sagte sie, beugte sich über den Tisch und küsste seine Nasenspitze. »Mein Glück wird auch das Glück der anderen sein. Ich bin großzügig geworden, ich kann es mir leisten, und ich werde verzeihen. Die Höllenwelt, in der Tom Corlik lebt, wird sich allmählich wieder normalisieren. Die Weichen für die verschiedenen Existenzlinien, die die Welt durchlaufen muss, sind bereits gestellt. Und um die beiden Medizinmänner mach dir nur keine Sorgen. Jeder von ihnen befindet sich auf einer Wahrscheinlichkeitsebene, die ihm am genehmsten ist.« »Bist du sicher?« fragte Walty zweifelnd. Der Kloß in seiner Kehle war größer geworden, er meinte, daran ersticken zu müssen. »Ganz sicher«, behauptete Lora. »Überlege mal, was etwa Professor Abbo am liebsten wäre? Ist doch nicht schwer: Er wünscht sich, dass auf der SYLPHIDIA alles klappt, dass er sich nicht mit einem tollpatschigen Klack-Klack herumärgern muss und ihm die böse Lora keine Magengeschwüre verursacht. Er hat bekommen, was er wollte, ein Medo-Schiff ohne solche Störenfriede.« Walty wurde fast übel, dass Lora ihr Glück nach Belieben formen konnte und, weil sie ihn darin einbezog, auch sein Geschick
nach Wunsch steuerte. Aber das war nur die Spitze des Eisbergs! Das Bildsprechgerät schlug an, gleich darauf erhellte sich der Bildschirm, und Doc Crees strahlendes Gesicht erschien darauf. »Ich störe doch hoffentlich nicht«, sagte er mit fast demütiger Höflichkeit. »Aber falls ihr euer Souper noch nicht beendet habt…« Walty war sprachlos. Er deutete entgeistert auf den Monitor des Bildsprechgeräts und starrte Lora fassungslos an. Sie lächelte nachsichtig und sagte: »Natürlich kommt unsere SYLPHIDIA ohne Ärzte nicht aus. Aber keine Bange, sie sind genau so, wie wir sie uns wünschen.« Das war zu viel. Walty konnte diese Entwicklung nicht länger mehr gutheißen. Er konnte es nicht dulden, dass Lora ihrer aller Schicksal manipulierte, nur um eine Traumwelt zu schaffen. Er war fest entschlossen, hart durchzugreifen. Er wollte ordentlich auf den Tisch hauen und Lora aus ihren Träumen zurück in die Realität holen. Doch da machte ihm sein paraorientiertes Unterbewusstsein einen Strich durch die Rechnung. Er verspürte einen Stich im linken Bein, es ruckte hoch und stieß schmerzhaft gegen die Unterseite des Tisches. Walty fuhr mit einem Schmerzensschrei zurück, kippte vom Sessel und schlug auf dem Boden auf. Der Aufprall war so hart, dass er benommen liegenblieb. Erst durch Loras Hilfe kam er wieder auf die Beine. »Was war das, was ich gerade sagen wollte?« fragte er. »Nicht so wichtig«, redete ihm Lora besänftigend zu. »Jetzt lassen wir dich erst einmal vom Onkel Medo-Robot untersuchen. Hoffentlich ist nichts gebrochen.« »Ich bin sicher, dass ich nichts gebrochen habe«, sagte Walty unter Schmerzen, und in Gedanken fügte er hinzu: Denn es gibt unter den unzähligen Wahrscheinlichkeitsebenen genügend viele, in denen mein Sturz glimpflich verlaufen ist.
4. Walty sah keinen anderen Ausweg aus diesem Teufelskreis als den des gemeinen Verrats an Lora Carthom. Er schämte sich dieser schändlichen Intrige, gleichzeitig hoffte er, dass es noch nicht zu spät war für die Durchführung seines Planes. Es waren gewisse Voraussetzungen dafür nötig, die Lora, wüsste sie davon, spielend eliminieren könnte, indem sie einfach in die entsprechenden Wahrscheinlichkeitsebenen wechselte. Lora hielt das Schicksalsruder fest in der Hand und steuerte ihrer beider Leben an allen Widernissen vorbei. Sie tat es nur in der besten Absicht, ihr Glück zu schmieden, aber sie tat es auch kompromisslos und ließ nicht mit sich reden. Walty war sich inzwischen sicher, dass sie schon in der Messe einfach eine andere Existenzlinie angesteuert hatte,’als ihr das angeschnittene Thema unangenehm wurde. Sie wollte einfach keine Gegenargumente hören. Und wenn Walty damit angefangen hätte, wäre es ihr ein leichtes gewesen, durch einen Wechsel der Wahrscheinlichkeit diese Hürde zu umgehen. Darum verzichtete Walty wohlweislich auf jede weitere Diskussion. Da Lora sich der Wahrheit verschloss, musste Walty ein falsches Spiel mit ihr treiben. Er kam sich dabei so gemein vor, dass er sich nicht einmal mehr im Spiegel sehen mochte. Aber es ging nicht anders. Er musste seine wahren Absichten verheimlichen und versuchen, Lora dahin zu bringen, wo er sie haben wollte. Ihre Liebe war sein Werkzeug. Es kostete Walty sehr viel moralische Überwindung, an seiner Marschroute festzuhalten. Ebenso schwer war es aber auch, die wichtigen Dinge im Auge zu behalten und sich nicht von den Geschehnissen ablenken zu lassen. Er musste sich immer nur sagen, dass es nicht unwiderrufliche Realität war, sondern nur eine von vielen Wahrscheinlichkeitslinien. Als erstes setzte er sich die Aufgabe, den telepathischen Posbi von seiner Eigenart zu heilen, anderer Leute Gedanken auszuplaudern. Andernfalls konnte es passieren, dass er Wa lty verriet.
Bei der nächsten Gelegenheit brachte er dieses Thema zur Sprache. Wusstest du, dass Tebi die Abkürzung für telepathischer Posbi ist, Lora?« fragte Klackton. Ich habe mir noch keine Gedanken darüber gemacht«, erwiderte sie. Sie entspannten sich auf Chaiselongue, der längst nicht mehr ans Kaputtsitzen dachte, und sie spielte mit Waltys Nase, die sie auch allerliebster, rasierter Kaktus« nannte. »Wieso, ist es von irgendeiner Bedeutung?« »Nein, eigentlich nicht. Vergiss es.« »Was ist, Walty? Irgendetwas bedrückt dich wegen Tebi. Sag es schon.« »Es ist wirklich belanglos«, sagte Walty. Er liel3 sich noch eine Weile von Lora bedrängen, bis er scheinbar widerwillig mit der Sprache herausrückte. »Es gab mal eine Zeit, da war es mein größter Wunsch, ihn von seinem Leiden zu heilen. Es wäre nur ein kleiner Eingriff notwendig, und ich dachte immer, dass ich es schaffen könnte. Aber wahrscheinlich könnte ich es doch nicht. Es ist also besser, wenn ich es lasse.« »Du schaffst es bestimmt«, sagte Lora. »Du musst es nur versuchen.« Sie brachte ihn dazu, dass er den Eingriff an Tebi vornahm. Es war eine unglaublich lange Prozedur, während der Walty immer wieder Rückschläge erlitt. Aber stets, wenn er in einer Sackgasse landete, kam er beim nächsten Versuch um einen Schritt weiter. Da er auf die Vorzeichen achtete, wusste er, dass Lora ihm dadurch half, dass sie immer wieder auf andere Wahrscheinlichkeitsebenen überwechselte, bis sie eine fand, in der Walty erfolgreich war. Danach fühlte sich Walty noch elender. Und er konnte gar nicht über Doc Crees Lob glücklich sein, das er nach der Demonstration des geheilten Tebi vom Parapsychologen bekam. Er sah sogar großzügig darüber hinweg, dass Tebi von nun an in Reimen sprach. Sie tauften ihn darum auf Dibi um, weil er nunmehr ein dichtender Posbi war. Doc Cree war so von Walty angetan, dass er ihm anbot: »Nennen Sie mich von nun an El, Walty.« Und er
machte ihm den Vorschlag: »Wollen Sie nicht die Gruppentherapie fortsetzen?« Walty zierte sich, aber Lora ermunterte ihn dazu: »Du könntest zumindest solange weitermachen, bis wir einen geeigneten Planeten gefunden haben, auf dem wir uns niederlassen.« Das klang in Waltys Ohren wie ein Alarmsignal, das ihm sagte, dass er nicht mehr viel Zeit zur Verfügung hatte. Also scharte er wieder seine »Rasselbande« um sich, ging mit ihnen schwimmen, in den Turnsaal und beschäftigte sie im Gemeinschaftsraum. Lora machte überall mit, und obwohl sie unbekümmert wirkte und auch nicht wie eine Klette an ihm hing, fühlte sich Walty von ihr beobachtet und manipuliert. Seinen ersten größeren Erfolg konnte Walty mit Chaiselongue verzeichnen. Es kam ganz plötzlich, dass der Mattenwilly seine Gestalt veränderte und sich sicher war, dass er in keinem seiner früheren Leben eine solche Liege gewesen war. »Ich habe mich geirrt«, gestand er. »Ich war ein Schreibtisch.« Und fortan präsentierte er sich nur noch als antiker terranischer Schreibtisch, was zumindest den Vorteil hatte, dass er mit seinen vier langen Beinen schneller unterwegs war und damit sogar schwimmen konnte. Bis auf Vyriz war Walty eigentlich mit allen seinen Schützlingen zufrieden, und El vertraute ihm ein weiteres halbes Dutzend an. Aber wir können es uns ersparen, auf diese näher einzugehen, denn sie sind für diese Geschichte ohne Bedeutung. Wenn sie erwähnt werden, dann nur um aufzuzeigen, dass Walty unter Loras Fittichen von einem hoffnungslosen Tollpatsch zu einem hoffnungsvollen Erfolgsmenschen wurde. »Was ist los mit dir, Vyriz«, erkundigte sich Walty beim schielenden Blue. »Ich merke schon die ganze Zeit, dass du nicht bei der Sache bist. Hast du Kummer?« »Ich möchte wieder stricken«, sagte Vyriz geradeheraus. »Das darfst du auch wieder, aber erst wenn wir deine hypnotische Fähigkeit unter Kontrolle gebracht haben«, erwiderte Walty. »Aber vielleicht will ich dann nicht mehr stricken.«
»Wir werden schon was anderes finden.« »Und warum darf ich auf einmal meiner Lieblingsbeschäftigung nicht mehr nachgehen?« erkundigte sich Vyriz. Walty nahm in beiseite und sagte vertraulich: »Weil deine HypnoSchals zu gefährlich sind.« »Wieso denn auf einmal?« »Na, stell dir vor, Lora würde einen solchen Schal anlegen…« »Würde ihr gut stehen.« Ohne Zweifel. Aber die Sache ist die, dass ich mir meiner Liebe zu ihr noch nicht ganz sicher bin. Stell dir vor, was passiert, wenn ich in ihr eine andere Frau sähe – sie bei einem falschen Namen nennen würde.« Sie würde dich zur Hölle schicken.« ^Eben. Willst du das?« Nein, wir sind doch Freunde.« Dann denke nicht mehr ans Stricken.« Vyriz gab klein bei, aber glücklicher wurde er trotz Waltys aufklärender Worte nicht. Wenig später sprach Lora Walty auf Vyriz an. »Was fehlt unserem Prismenträger?« wollte sie wissen. »Nichts von Bedeutung«, antwortete Walty. »Er weiß sich im Moment mit der Freizeit nichts anzufangen. Aber ich werde für ihn schon eine Beschäftigung finden.« »Warum lässt du ihn nicht wieder stricken?« Walty wurde nervös, er druckste herum, gebrauchte alle möglichen Ausreden und Ausflüchte, die Lora nicht gelten ließ, so dass er schließlich nachgeben musste. Lora schien ihren Triumph aber nicht zu genießen. Sie war danach sogar ziemlich abweisend. Als er sie später in der Messe traf, war sie noch verschlossener. Sie antwortete auf keine seiner Fragen, sondern zeigte ihm ein eisiges Lächeln. Erst als er sich nach den Ärzten und Kapitän Phramot erkundigte, gab sie ihm Antwort. »Wir soupieren diesmal allein. Und Vyriz wird servieren.« Walty lachte gekünstelt. »Wieso ausgerechnet Vyriz. Der ist doch womöglich noch ungeschickter als ich.«
»Es kommt nicht darauf an, wie er serviert, sondern was er uns aufwarten wird.« Danach herrschte wieder eisiges Schweigen zwischen ihnen, das Walty auch nicht mit seinen besten Einlagen auftauen konnte. Endlich kam Vyriz mit einem großen Tablett, auf dem er einen runden Untersatz mit einer großen silbernen Glocke balancierte. »Was gibt es denn Leckeres?« erkundigte sich Wa lty, nachdem der Blue das Tablett abgestellt hatte. »Sieh doch mal nach«, forderte ihn Lora auf, und sie lächelte lauernd. Als Walty zögerte, herrschte sie ihn an: »Du sollst nachsehen!« Eilfertig hob er die Silberglocke in die Höhe. Die Glocke entfiel seinen zitternden Händen, als er sah, was auf dem Untersatz statt des erwarteten Gerichts lag. »Aber… aber das sind Hypno-Schals«, stotterte er und hätte beinahe seinen Adamsapfel verschluckt. »Was sollen wir damit?« Er warf Vyriz, der sich in einen Winkel zurückgezogen hatte und sich ganz klein machte, einen zurechtweisenden Blick zu und schalt ihn: »Das war kein guter Scherz.« »Es war meine Idee«, sagte Lora und blickte Walty scharf in die Augen. »Ich habe mir gedacht, dass es nichts schaden könnte, wenn wir unsere Gefühle zueinander einmal überprüfen würden. Liebst du mich denn wirklich, Walty?« »Wie kannst du nur daran zweifeln!« »Dann ist es ja gut«, sagte Lora, griff schnell nach einem der beiden Schals und legte ihn sich um den Hals, ehe es Wa lty verhindern konnte. – ’ »Tu das besser nicht…«, konnte er noch rufen, aber Loras Namen brachte er nicht mehr über die Lippen. Denn er sah auf einmal eine ganz andere vor sich. »Annemy…«, stammelte er fassungslos. »Wie kommst du auf einmal hierher. Ich habe… ich dachte…« Sie hatte die Ellenbogen auf den Tisch gestützt und das Kinn auf die Hände gebettet. Ihr voller Mund war etwas gekräuselt,
ihre strahlend blauen Augen blitzten ihn spöttisch an. Als sie den Mund zum Sprechen öffnete und die Lippen spitzte, erwartete er ein vernichtendes »Brova-brova«. Aber stattdessen sagte sie: »Fahr zur Hölle, Liebling!« Da war Walty klar, dass es das Ende des grausamen Spiels war, das er mit Lora Carthom getrieben hatte. Die Situation an Bord der SYLPHIDIA begann sich allmählich wieder zu normalisieren. Die Veränderungen, die durch den Wechsel auf verschiedene Wahrscheinlichkeitslinien stattgefunden hatten, wurden sukzessive aufgehoben, bis der Status quo wieder erreicht war. Walty hatte lange um ihr aller Schicksal bangen müssen, denn er hörte in seinem Geist Loras hasserfülltes »Fahr zur Hölle, Liebling!« nachklingen. Erst als er keinerlei Veränderungen mehr um sich feststellen konnte, da wusste er, dass Lora sie zu ihrer ursprünglichen Existenzebene zurückgeführt hatte. Sie hatte ihn in ihre paradiesische Traumwelt entführen wollen, doch als er sich ihrer Liebe unwürdig erwies, hatte sie ihn in die Hölle« seiner eigenen Realität verbannt. Und sich selbst auch. Was für ein großartiges Mädchen du bist, Lora«, sagte er in ihrer Abwesenheit – er traute sich ihr nicht mehr unter die Augen. Er fühlte sich schmutzig und beschämt, und er bezweifelte, dass er ein solches Opfer wie sie hätte bringen können. Sein paraorientiertes Unterbewusstsein jedenfalls spielte jenen, gegen die es eine Aversion hatte, viel übler mit. Lora war jedoch mit ihrer Fähigkeit gewachsen, sie war reifer geworden und hegte keine Rachsucht mehr. Aber erst später, fast am Ende ihrer Reise, erfuhr er die wahre Größe dieses Mädchens. Es war während eines vertraulichen Gesprächs mit Dr. Elhound Cree, als Walty seinen ganzen Mut zusammennahm und dieses Thema anschnitt. Er erklärte sehr umständlich Loras Fähigkeit, mit den verschiedenen Wahrscheinlichkeitsebenen jonglieren zu. können, und seine Ausführungen wurden immer konfuser, je stärker Dr. Crees Ungläubigkeit hervortrat. Als Walty schließlich auf die von Lora
in die »Hölle« verbannten Leute von Tramboll zu sprechen kam, wurde es dem Parapsychologen zu bunt. Er sagte: »Wie kommen Sie darauf, dass diese Leute verschollen sind – und das noch dazu auf Lora Carthoms parapsychisches Wirken?« »Was dann?« »Diese dreißig Personen hatten ein kurzes visionäres Erlebnis vom Leben in einer Alptraumwelt, zugegeben. Aber sie sind alle wohlbehalten in ihrem Heimatort. Sie waren nie wirklich in dieser Alptraumwelt, nicht einmal für den Bruchteil einer Nanosekunde. Einzig Lorna hat dieses Erlebnis nicht verkraftet und einen Schock davongetragen. Möglich, dass sie als Katalysator irgendwelcher Psi-Kräfte gewirkt hat… Wir werden es auf Tahun herausfinden.« Die Wahrheit werdet ihr nie herausfinden! dachte Walty. Er war der einzige, der wusste, dass Lora Carthom eine geringfügige Manipulation der Wahrscheinlichkeiten vorgenommen hatte, um ihr Verbrechen aus Liebe wiedergutzumachen. Er kannte die Wahrheit, aber er würde sie für sich behalten. Und auch Lora würde schweigen, weil man ihr durch Heilung ihre einmalige Fähigkeit nehmen würde.
H. G. Francis
Auge in Auge Die Zahl der für Terraner erschließbaren Planeten in der Milchstraße ist unübersehbar groß, so dass selbst in Jahrzehntausenden nicht alle erfasst werden können. Entsprechend umfangreich sind auch die Möglichkeiten für terranische Auswanderer, Kolonien auf fernen Welten in der Galaxis zu gründen, Staatsgebilde zu schaffen, die nur noch dem Namen nach mit Terra, der Liga Freier Terraner oder der GAVÖK zu tun haben. Terra, die LFT und die Kosmische Hanse haben nie irgendetwas unternommen, um die Besiedlung neuer Planeten durch Terraner oder die Vertreter anderer Völker zu verhindern. Dennoch hat die UNITED STARS ORGANISATION stets ein wachsames Auge auf solche Welten gehabt. Ihr Anliegen ist immer gewesen, die Freiheit der Menschen auf allen von Terranern bewohnten Planeten zu erhalten. Doch das war zuweilen recht schwierig. Da sich ein militärisches Engagement von vornherein verbot, musste die USO in manchen Fällen zu recht ungewöhnlichen Mitteln greifen, um zum Ziel zu kommen.
Algdred Robbs spähte durch die Infrarotbrille in die Nacht hinaus. Leichter Nebel lag über dem Flusstal und verschlechterte die Sicht erheblich. Zugleich erhöhte sich durch ihn jedoch die Chance, ein Chamotok zu Gesicht zu bekommen. Die scheuen Tiere stellten so hohe Ansprüche an den Jäger, wie sonst kein Wild auf dem Planeten Voegamur. Die amphibischen Wesen lebten in Mulden an den Ufern der großen Flüsse, dort, wo das Wasser brackig und das Meer nahe war. Mit ihrer Mimikry waren Chamotoks jedem anderen Tier überlegen, das Robbs kannte. Ihr Rücken war mit langen Borsten bedeckt, die sich in Farbe und Bewegung dem Gras am Fluss vollkommen anpassen konnten, so dass kein menschliches Auge in der Lage war, sie von echten Gräsern zu unterscheiden. Da Chamotoks sich Mulden gruben und sich deren Ränder mit ihrem Rücken in perfekter Weise anglichen, konnte man über sie hinwegschreiten, ohne sie zu entdecken. Nur nachts kamen die Amphibien aus ihren Mulden. Dann machten sie entweder am Flussufer Beute, wobei sie blitzschnell aus ihren Verstecken hervorkamen und ihre Opfer überwältigten, oder sie jagten im Wasser nach Fischen. Ein Mensch, der sich in der Dunkelheit in die Nähe des Ufers wagte, war unweigerlich verloren. Algdred Robbs kannte die Gefahr. Doch er fühlte sich ziemlich sicher, denn er saß etwa drei Meter über dem Gras auf einer Antigravplattform in einem bequemen Sessel. Das Jagdgewehr ruhte entsichert auf seinen Oberschenkeln. Ein ausgewachsener Chamotok konnte ihn zwar erreichen, jedoch nicht auf Anhieb überwältigen, da er mit seinen Pranken höchstens bis an den Rand der Plattform kommen konnte und sich dann daran hochziehen musste. Doch Algdred Robbs hatte schon oft am Fluß gejagt, und er war selten in echter Gefahr gewesen. Eben das reizte ihn an diesen Nächten. Einerseits war die Möglichkeit nicht ganz auszuschließen, dass doch irgendwann einmal etwas passierte, auf der anderen Seite blieb ihm Zeit, auf einen Angriff zu reagieren.
Robbs spürte plötzlich, dass sich ihm jemand näherte. Verärgert blickte er zur Seite. Eine Plattform glitt heran. Auf ihr saß Nostro Artz, sein engster Mitarbeiter, ein asketischer, kleiner Mann, der vor Ehrgeiz brannte, ihm jedoch geradezu sklavisch ergeben war; und der aus diesem Grund niemals auf den Gedanken kommen würde, ihn zu verdrängen und seine Nachfolge anzutreten. »Was ist los?« fragte Robbs ungehalten. »Warum störst du mich? Willst du die Jagd aufs Spiel setzen? Die Chamotoks kommen nicht, wenn es zu unruhig ist.« »Es ist wichtig, Algdred«, erwiderte Artz. »In einer halben Stunde sollen Tremon Kort und Eva Veres hingerichtet werden.« »Ja und?« fragte er. »Es sind Zweifel aufgekommen, ob sie die Tat wirklich begangen haben, für die sie verurteilt worden sind. Das ist der Grund, weshalb ich komme. Ich würde einen Aufschub empfehlen.« »Kommt nicht in Frage.« »Und wenn sie unschuldig sind?« »Sie sind verurteilt worden, also wird es auch hinreichend Gründe dafür gegeben haben. Und jetzt ist Schluss. Was glaubst du eigentlich, was ich hier will, he?« »Sie könnten unschuldig sein«, wiederholte Artz. »Ich frage mich, wie die Bürger reagieren werden, wenn Unschuldige hingerichtet werden.« »Sie werden vorsichtiger sein, weniger Straftaten begehen und mehr Staatstreue beweisen.« Nostro Artz wollte noch etwas sagen, aber Algdred Robbs, der Grand Leader von Voegamur, wie er sich nennen ließ, brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Sein Vertrauter wusste, dass es sinnlos gewesen wäre, jetzt noch weiter in ihn zu dringen. Die beiden Verurteilten waren verloren. Algdred Robbs wollte sich nicht mehr mit ihnen beschäftigen, und er würde es auch nicht tun. Nostro Artz zog sich lautlos zurück, und der Grand Leader blickte stumm in den Nebel hinaus. Er hatte die beiden Delinquenten vergessen. Er glaubte eine Bewegung am Fluss beobach-
tet zu haben, und das Jagdfieber packte ihn. Er dachte daran, dass seine Späher, die fortwährend auf dem ganzen Planeten Voegamur unterwegs waren, um nach interessantem Wild für ihn zu suchen, von ganz besonders großen und gefährlichen Chamotoks gesprochen hatten. »Es sind die größten Exemplare, die wir jemals beobachten konnten«, hatten sie gesagt. Algdred Robbs war ein fülliger, gutmütig wirkender Mann. Er machte den Eindruck eines Weinfreundes, der die täglichen Probleme nicht gar so ernst nimmt und stets für einen Scherz zu haben ist. Seine eng beieinander stehenden Augen verschwanden fast unter den dicken Lidern, und sie wurden umsäumt von einem Netz von Fältchen. Die Nase war groß und kräftig, die Lippen voll und das Kinn rund. Schütteres, blondes Haar bedeckte den Schädel und fiel ihm seidig weich in die Stirn. Er hatte kleine, emsige Hände, an denen er vier blitzende Howalgoniumringe trug. Auch jetzt konnte er die Hände nicht ruhig halten. Immer wieder strich er sich über den kräftig gewölbten Bauch, um die Falten in seiner Jacke glattzustreichen. Die Jagd war gestört. Die Spannung war dahin, und die Natur hatte ihren Zauber für Robbs verloren. Er blieb noch über eine Stunde auf seinem Posten, dann brach er die Jagd enttäuscht ab, da sich das begehrte Wild nicht gezeigt hatte. Er lenkte die Plattform zu der kleinen Anhöhe, auf der seine Mitarbeiter warteten. »Wir fliegen nach Haus«, rief er ihnen zu. »Hier tut sich nichts mehr.« Nostro Artz kannte den Grand Leader, und er wusste ihn zu nehmen. Algdred Robbs hatte zwei große Leidenschaften. Die Jagd und das Spiel. Wenn das eine zum Missvergnügen geworden war, so konnte das andere seine Stimmung wieder heben. Nostro Artz wartete einige Minuten, bis die schwebende Plattform in einem Lastengleiter verstaut war. Dann gesellte er sich zu Algdred Robbs. »Fast hätte ich es vergessen«, sagte er beiläufig. »Mir ist zu Oh-
ren gekommen, dass ein Spieler nach Voegamur kommt.« »Bei uns gibt es viele Spieler.« »Kein gewöhnlicher Spieler. Dieser Mann ist etwas Besonderes.« »So?« »Ja, wirklich. Er nennt sich der Galaktische Spieler.« Algdred Robbs horchte auf. »Ein anspruchsvoller Name.« »Von diesem Mann sagt man, dass er noch nie ein Spiel verloren hat.« Algdred Robbs lächelte. »Ach, tatsächlich?« Sein Interesse war geweckt. Der Roboter hatte ein lachendes Gesicht, und seine Linsen, die wie die Augen eines Menschen aussahen, waren beweglich. Sie konnten in alle Richtungen blicken und sogar freundlich blinzeln. Ronald Tekener lief es kalt über den Rücken beim Anblick dieses1 Roboters. Er erschien ihm wie die Inkarnation des Bösen. Die Maschine stand an einer Straßenecke, von wo er die Fußwege, die’ Terrasse des Hotels und einen Parkplatz für Antigravgleiter überwachen konnte. Der Galaktische Spieler war erst seit zwei Stunden auf Voegamur. Während dieser Zeit hatte er mehrere Kontrollen über sich ergehen! lassen müssen. Doch damit hatte er gerechnet. Er wusste, dass er einen Planeten betrat, der von einem totalitären Regime beherrscht wurde. Von der Wirkung dieses Roboters aber wurde er überrascht. Er war sonst völlig unbefangen gegenüber diesen Maschinen. Doch dieser Roboter löste ein Unbehagen in ihm aus, wie er es bisher noch nicht gekannt hatte, und er ertappte sich dabei, dass er ausweichend zur Seite blickte, als sich die Augen des Automaten auf ihn richteten. »Verdammte Spitzel«, sagte eine bekannte Stimme hinter ihm. »Man sollte ihnen die Linsen einschlagen.« Der Lächler drehte sich um. Breit grinsend streckte ihm Acta Liazza die Hand entgegen. Der alte Mann war zusammen mit ihm im Linienraumer vom Vorsyke-Sonnensystem gekommen,
und sie hatten einige Zeit zusammen an Bord verbracht. Liazza war schon über zweihundert Jahre alt, hielt sich aber dennoch aufrecht wie ein junger Mann. Ein schlohweißer Bart zierte seine Oberlippe, und über den rosigen Bäckchen funkelten zwei braune Augen, in denen sich ewige Jugend eingenistet zu haben schien. »Recht hast du, Acta«, erwiderte Tekener. »Dieses lachende Gesicht und diese freundlichen Augen gehen einem auf den Geist.« »Vor allem, weil man weiß, dass dahinter alles mögliche steckt. Komm. Ich lade dich zu einer Tasse Kaffee ein. Auf der Hotelterrasse ist noch Platz.« »Ich würde lieber woanders hingehen.« Acta Liazza lachte. »Sei kein Narr, Ronald«, sagte er. »Diese Roboter gibt es überall auf Voegamur. Sie stehen an jeder Straßenecke, in jeder Bar, in den Hotels, auf den Fußballplätzen und auf den Toiletten. Der Grand Leader überwacht sein Volk perfekt. Es gibt keine Lücke. Du könntest ihn auch den Großen Bruder nennen. Du kannst dich irgendwo unbelauscht unterhalten. Auch jetzt hört man uns. Also setzen wir uns auf die Terrasse. Der Kaffee soll hier gut sein.« Tekener war einverstanden. Er nahm seine Reisetasche auf und betrat mit dem Alten die Terrasse. Er suchte einen Tisch aus und wollte sich gerade setzen, als eine blonde, rotuniformierte Frau an ihren Tisch trat. »Gehört der alte Mann zu dir?« fragte sie Tekener. »Natürlich. Das siehst du doch«, erwiderte der Galaktische Spieler. Bring uns zwei Kaffee.« »Tut mir leid. Alte Menschen dürfen Hotel und Restaurant nicht betreten.« »Wie bitte?« »Alte verboten.« »Du wolltest sagen: Hunde verboten?« »Nein. Ich sprach von alten Menschen. Für sie ist kein Platz unter unseren Gästen. Die jungen Menschen wollen unter sich sein.
Also, mach keinem Aufheben. Schick den Alten weg.« »Ich denke gar nicht daran.« »Sei doch vernünftig. Das Alter passt nicht in unser optimistisches Zukunftsbild. Es gibt die Stadt der Alten. Soll er doch dorthin gehen.« »Sehr richtig«, bemerkte ein junges Mädchen am Nebentisch. »Wer will denn weiße Haare sehen?« »Komm«, sagte Tekener zu Liazza. Die beiden Männer verließen die Terrasse und kehrten zu dem Gleiter zurück, mit dem Tekener vom Raumhafen gekommen war. »Wir versuchen es woanders, Acta.« »Sinnlos, Ronald. Das habe ich schon getan. Man hat mich überall rausgeworfen. Alte haben keinen Zutritt. Fehlt nur noch, dass die robotische Straßenkehrmaschine dort hinten mich aufnimmt und zum Müll wirft.« »Mach dir nichts draus. Wir werden schon was finden, wo man uns einen Kaffee serviert.« »Ich habe auf der Bank zu tun«, erwiderte Acta Liazza. »Ich war dumm genug, mein Geld hier anzulegen, obwohl eine Reise nach Voegamur mehr kostet, als ich an Zinsen kassieren konnte. Ich hebe mein Geld ab und verschwinde wieder – vorausgesetzt, am Eingang der Bank steht nicht auch: Zutritt für Alte verboten.« »Wir gehen zusammen. Ich habe sowieso nichts anderes vor.« Ein eigenartig drohendes Lächeln glitt über das von LashatNarben entstellte Gesicht Tekeners. Acta Liazza blickte ihn verwundert an. Er erhob keinen Widerspruch, denn er wusste, dass er Hilfe gebrauchen konnte. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen. Am Eingang der Bank befand sich ein Schild, auf dem stand: Zutritt für Alte verboten. »Alte sind schon immer lästig gewesen«, stellte er resignierend fest. »Glaube nur nicht, dass das auf anderen Planeten anders ist. Man sagt es uns nur nicht so deutlich ins Gesicht.« Er lächelte traurig. »Ich werde in die Stadt der Alten gehen und dort nach einer Bank suchen.«
»Wir gehen in diese Bank und holen dein Geld.« »Das ist doch sinnlos.« »Wir lassen uns nicht abweisen.« »Wir? Du bist jung, mein Lieber, obgleich du mit deinem Gesicht so aussiehst, als wärst du viel älter als ich«, versuchte Liazza zu scherzen. »Bin ich auch, Acta. Viel älter.« Acta Liazza lachte laut auf. »Nun erzähle mir nur noch, dass du Aktivatorträger bist, dann lache ich mich tot.« »Ich bin Aktivatorträger.« Acta Liazza bog sich vor Lachen. Er glaubte Tekener kein Wort, und er tat, als fühle er sich durch das Verbotsschild für alte Menschen nicht gedemütigt und beleidigt. Er boxte Tekener die Faust in die Seite und begleitete ihn in die Bank. »Das ist der beste Witz, den ich je gehört habe«, sagte er mühsam nach Atem ringend. »Du bist eine verrückte Nudel, aber irgendwie mag ich dich.« Ronald Tekener lächelte. Acta Liazza hätte vermutlich noch viel mehr gelacht, wenn er gewusst hätte, dass er tatsächlich Aktivatorträger und mehr als fünfmal so alt war wie er. Mit versteinertem Gesicht kam ihnen der einzige Angestellte der Bank, in der es sonst nur Automaten gab, entgegen. »Ihr scheint nicht gelesen zu haben, was draußen steht«, sagte er. »Tut mir leid. Alte haben keinen Zutritt.« »Dann wirf uns hinaus«, forderte Ronald Tekener ihn auf. Der Banker bückte in das von Lashat-Narben entstellte Gesicht und erkannte schnell, dass er diesem Mann nicht gewachsen war. Er trat den Rückzug an. Ich habe diese Bestimmungen nicht erlassen«, beteuerte er. »Acta, sag ihm, was du von der Bank willst. Er wird alles tun, was du von ihm verlangst, und zwar sehr schnell, weil er ein kluger Mann ist und weiß, dass wir sofort wieder gehen, wenn alles erledigt ist.« Acta Liazza kicherte vergnügt. Er legte dem Angestellten ein Bündel bedruckter und unterzeichneter Folien vor, und nach
kurzem Zögern nahm dieser sie an. Er schob sie in eine Positronik, löste aber gleichzeitig – wie Ronald Tekener sehr wohl bemerkte – einen Alarm aus. Das Bankgeschäft war nach 28 Sekunden abgeschlossen, die Roboter mit dem lächelnden Gesicht benötigten 30 Sekunden. Dann betraten sie die Halle der Bank und stürzten sich brutal auf Tekener und Liazza, der sich ebenso verzweifelt wie vergeblich wehrte. Dem Galaktischen Spieler gelang es immerhin, zwei der Roboter mit Dagor-Tricks auszuhebeln und schwer zu beschädigen. Die Maschinen blieben mit heftig zuckenden Armen und stoßenden Beinen auf dem Boden liegen. Dann paralysierte ihm der dritte Roboter die Beine und schaltete ihn damit aus. Tekener stürzte über Acta Liazza, konnte die Arme und den Oberkörper aber noch bewegen. Er schob sich zur Seite. »Dafür wird irgendjemand bezahlen«, sagte er. »Sobald ich wieder auf den Beinen stehe, werde ich die Banker um wenigstens die Hälfte ihres Vermögens bringen.« »Wie willst du das anstellen?« fragte Liazza, den die Roboter nicht paralysiert hatten, als man sie beide hinaus schleifte. »Ganz einfach, mein Freund. Am Spieltisch bin ich unschlagbar. Ich setze 10 Millionen, dass ich die Bank dafür bluten lasse.« »Teufel auch«, erwiderte er. »Ich glaube, du meinst es wirklich ernst.« »Darauf kannst du dich verlassen.« Mit kleinen, tückisch glitzernden Augen blickte der Mann Ronald Tekener durch das Prallfeld der Zelle an. »Wie wär’s, wenn wir uns die Langeweile mit einem Spielchen vertreiben würden?« fragte er. Der Lächler erhob sich von der Liege, auf der er geruht hatte. »Um Langeweile ist es mir noch nie gegangen«, antwortete er wobei er den Wärter abschätzend anblickte. »Wenn du spielen willst, musst du schon einen Einsatz bieten.« »Gut. Spielen wir um 1000 Vokos. Das ist ein Monatslohn für
mich. Was setzt du dagegen?« »100.000 Vokos für dich, wenn ich verliere, Freiheit für mich, wenn ich gewinne.« »Das würde mich den Kopf kosten. Du hast keine Ahnung, wie schnell hier bei uns die Todesstrafe verhängt wird.« »Vergiss es.« Tekener ließ sich auf den Rücken sinken. »Mein Leben gegen 100.000 Vokos? Bist du verrückt?« »Eine Million.« »Du hast Geld. Für dich spielt das keine Rolle. Ich habe deine Papiere gesehen. Wenn du eine Million verlierst, lachst du drüber. Aber ich habe nur ein Leben.« »10 Millionen.« »Gegen mein Leben?« »Vergiss es. Du hast keine Ahnung vom Spiel.« »Ich bin der beste Spieler der Stadt.« »Und willst ohne Risiko spielen? Wie langweilig.« »Also gut. 10 Millionen gegen deine Freiheit und mein Leben.« Der Wärter legte blau schimmernde Stäbchen auf den Tisch vor der Zelle. »Ich hoffe, du kennst das Spiel?« »Du wirst es mir beibringen.« Ronald Tekener erhob sich. Der Wärter schuf eine Lücke im Prallfeld, so dass der Galaktische Spieler seine Hände hindurch strecken und die Stäbchen erreichen konnte. Dann erklärte er ihm das Spiel, bei dem es vor allem auf logisches und strategisches Denken ankam. Eine Stunde später hatte der Lächler seinen Gegner nach allen Regeln der Kunst geschlagen und ihm zugleich das Gefühl vermittelt, ein blutiger Anfänger zu sein. »Ich hole dich raus«, versprach der Wärter, als er sich mit den blauen Stäbchen davonmachte. »Bis später.« Ronald Tekener lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. Er wusste, dass der Wärter sein Versprechen nicht halten würde, aber darauf kam es gar nicht an. Um seine Freiheit machte er sich keine Sorgen. Wenn er gewollt hätte, wäre
er längst ausgebrochen. Er war auf Voegamur, um die Gewaltherrschaft des Diktators Algdred Robbs mit unblutigen Mitteln zu beenden. Robbs war der USO nicht nur als Schreckensherrscher, sondern auch als leidenschaftlicher Spieler bekannt. Ronald Tekener hatte ihm einen Köder hingeworfen, und Robbs hatte angebissen. Das allein war wichtig. Drei Stunden später wurde Tekener dem Richter vorgeführt und zu einer Buße von 10 Vokos verurteilt. Acta Liazza erhielt eine Strafe in Höhe von 1000 Vokos, die Tekener für ihn auslegte, da er nicht über so viel Bargeld verfügte. Danach konnten die beiden Männer gehen. »Wer bist du eigentlich?« fragte der Alte, als sie das Gerichtsgebäude verließen. »Ein Spieler. Nichts Besonderes.« »Ein Spieler? Ein Phänomen. Du hast Trakhas geschlagen.« Tekener lächelte. »Trakhas? Den Wärter? Ach ja. Er sagte mir, er sei der beste Spieler der Stadt.« »Der Stadt? Junge, Junge, du hast keine Ahnung. Die anderen Wärter haben es mir erzählt. Trakhas ist der absolut beste Spieler des Planeten Voegamur. Er führt seit acht Jahren die Rangliste in diesem Stäbchenspiel an, und du hast ihn bis auf die Knochen blamiert.« In der folgenden Nacht – kurz nachdem er sich von Liazza am Raumhafen verabschiedet hatte – absolvierte Tekener den nächsten Test. In der Bar des Hotels, in dem er untergekommen war, tauchte ein bärtiger Mann auf und behauptete, vom Stäbchenspiel im Gefängnis und dessen sensationellem Ausgang gehört zu haben. Er bot Tekener ein Spiel mit Karten an und war bereit, bis zu einer Million Vokos zu setzen. Tekener nahm die Herausforderung an, überzeugt davon, dass sein Gegner zu ihm geschickt worden war, um seine Qualitäten als Spieler zu prüfen. Das Spiel begann unter den Augen der anderen Gäste, und der Terraner merkte sehr schnell, dass er es mit
einem Spitzenkönner zu tun hatte. Er brauchte zwei Stunden, um ihn zu schlagen. Kühl lächelnd nahm er einen Scheck über eine Million Vokos entgegen. »Du bist der beste Spieler, der mir jemals begegnet ist«, sagte sein Gegner. »Ich kenne nur noch einen, der besser ist als du.« »Ach, tatsächlich? Wen denn?« »Algdred Robbs.« »Er ist nicht besser als ich. Niemand ist das.« Am nächsten Morgen erhielt Tekener eine Einladung. Sie war von Algdred Robbs unterzeichnet. Mit Nostro Artz, der sie ihm über-, bracht hatte, flog er in den Palast des Grand Leaders, einem Prunkbau, der mehr als dreihundert Kilometer von der Stadt und dem Raumhafen entfernt auf einer Insel errichtet worden war. Algdred Robbs empfing ihn auf einer Terrasse, wo er ein zweites Frühstück einnahm. »Wir werden spielen«, sagte der Diktator, nachdem er Tekener begrüßt und ihm ein Glas Wein eingeschenkt hatte. »Um was?« »Um Geld. Um viel Geld.« Der Galaktische Spieler winkte lächelnd ab. »Davon habe ich genug. Das Spiel muss einen Reiz haben. Und den hat es nur, wenn es um etwas geht.« »Was schlägst du vor?« »Der Einsatz muss hoch sein. Jeder soll etwas einsetzen, was ihm das Wichtigste überhaupt ist.« »Ich verstehe.« Robbs strich sich das Haar aus der Stirn. Sein Mund lächelte, aber die Augen blieben kalt und distanziert. Sie musterten Tekener in einer Weise, die jeden anderen in Angst und Schrecken versetzt hätten. »Du willst ein wirklich großes Spiel.« »Ein großes oder gar keins.« »Was setzt du ein?« »Mein Leben.« »Dein Leben?« Algdred Robbs lachte dröhnend. »Das ist nicht
viel Wert auf Voegamur.« Er legte seine Hand auf einige Papiere, die vor dem Tisch lagen. »Zwölf Todesurteile«, erklärte er. »Ich habe sie gerade unterzeichnet. Und du bietest mir dein Leben an?« »Für mich ist es der höchste Einsatz. Wenn ich verliere, sollst du mich in einer Live-Show vor den Augen der Öffentlichkeit mit einem Energiestrahler erschießen. Wir werden uns gegenüber stehen, keine zwei Meter voneinander entfernt.« Es wird mir ein Vergnügen sein, dich zu töten.« Er hob die Todesurteile hoch. Nostro Artz eilte aus dem Haus heran und nahm ihm die Papiere ab. Hast du dir das Urteil gegen Elsa Mels angesehen?« fragte er. »ich habe mir keines angesehen. Ich habe sie nur unterzeichnet. Von mir hat keiner Gnade zu erwarten.« Während Robbs das sagte, blickte er Tekener unverwandt an, und dieser dachte an die Berichte, die er in Quinto-Center gelesen und gesehen hatte. Vor einem Jahr war der Grand Leader in einer Fernsehshow aufgetreten und hatte per Knopfdruck vier Menschen hingerichtet, die sich viertausend Kilometer vom Studio entfernt in einer Todeszelle befanden. Er hatte keine Sekunde gezögert, den Knopf zu drücken. Fast beiläufig hatte er es getan, so als ob er gar nicht wisse, welche Wirkung der Knopfdruck für die Delinquenten hatte. »Lass uns in Ruhe«, befahl er seinem Vertrauten. »Wir haben noch etwas zu klären.« Er wartete, bis sie wieder allein waren. Dann fragte er: »Und was soll ich setzen?« »Biete mir etwas an.« »Was könnte das sein?« »Zum Beispiel das, was dir alles bedeutet. Macht.« »Macht? Wie soll ich das verstehen?« »Wenn du verlierst…« »Ich werde nicht verlieren.« »Wenn du verlierst, wirst du Voegamur verlassen und niemals mehr hierher zurückkehren.« Algdred Robbs blickte ihn über-
rascht an. »Ein bisschen viel verlangt.« »Ich setze mein Leben. Wenn es dir leichter fällt, ebenfalls deinen Kopf einzusetzen, dann nimm den.« Robbs sprang auf. In seinem Gesicht arbeitete es. Er ging zum Rand der Terrasse und blickte aufs Meer hinaus. Ronald Tekener wusste, dass er den Grand Leader genau da hatte, wo er ihn haben wollte. Robbs war ein Spieler, er konnte nicht mehr zurück. »Was hast du davon, wenn ich Voegamur verlasse?« fragte er, als er an den Tisch zurückgekehrt war. »Überhaupt nichts. Es ist mir sogar ziemlich egal, ob du gehst oder nicht. Ich will nur einen Gegner im Spiel haben, der alles aufbietet, was in ihm steckt. Nur dann wird das Spiel für mich interessant. Aber ich mache dich darauf aufmerksam, dass ich noch niemals verloren habe.« Robbs schlug die flache Hand auf den Tisch. Mit funkelnden Augen« blickte er den Galaktischen Spieler an. »Dann wirst du jetzt verlieren.« »Ich weiß ja noch gar nicht, ob es zu einem Spiel kommt.« »Warum nicht?« »Weil du noch nicht gesagt hast, was du setzen willst,« »Für den unvorstellbaren Fall, dass du gewinnen solltest, werde ich Voegamur verlassen und niemals mehr zurückkehren.« Er hielt Tekener die Hand entgegen, der Lächler schlug ein. »Und ich setze mein Leben dagegen. Du wirst mich vor den Augen der Öffentlichkeit töten, wenn du gewinnst.« »Das werde ich. Verlass dich drauf. Wir werden vor der Fernsehkamera, mit allen Bewohnern des Planeten Voegamur als Zuschauer, gegeneinander kämpfen. Wir werden über 500 Millionen Zeugen haben. Es wird die bitterste und letzte Stunde deines Lebens werden.« Tekener lächelte. Er war am Ziel. Das Duell wurde nur dadurch kompliziert, dass der Grand Leader gar nicht daran dachte, seine Spielschuld einzulösen, falls er verlor. Daran bestand für Tekener nicht der geringste Zweifel.
Das Spiel begann zwei Wochen später, nachdem die umfangreichen Vorbereitungen abgeschlossen waren. In dieser Zeit hatte Ronald Tekener Zeit, sich mit dem Spiel – einem positronischen Kombina tionsspiel – und den Spielbedingungen vertraut zu machen, die von Algdred Robbs und seinen Beratern festgelegt worden waren. Der USO-Spezialist verbrachte die Wartezeit in der Hauptstadt von Voegamur und sah seinen Gegner lediglich auf den vielen überlebensgroßen Porträts, die überall in der Stadt angebracht waren, oder wenn im Fernsehen über ihn berichtet wurde. Dennoch lernte er ihn in dieser Zeit noch besser kennen, und er erfuhr manches über ihn, was er in Quinto-Center aus den dort vorhandenen Unterlagen nicht hatte erarbeiten können. Algdred Robbs war ranghöchster Offizier unter der demokratischen Regierung von Voegamur gewesen. Durch einen Putsch war er an die Macht gekommen, die er seit nunmehr über zwanzig Jahren hielt In der von ihm ausgearbeiteten Verfassung war verankert, dass er Grand Leader auf Lebenszeit war. Er lebte in seinem schlossähnlichen Regierungssitz mit mehreren Frauen und zahlreichen Kindern zusammen, doch davon drang kaum etwas an die Öffentlichkeit. Hier galt er als ein unbestechlicher, überaus harter Mann, der bei dem geringsten Widerspruch bereit war, drakonische Strafen zu verhängen und der Todesurteile verhängte, wann immer er es für nötig hielt – und das war oft schon bei Vergehen der Fall, für die es unter einer anderen Regierung höchstens eine Geldstrafe gegeben hätte. Wollte man der Presse glauben, wurde er dennoch geliebt und verehrt wie kein anderer Herrscher vor ihm. Tekener wusste aus zuverlässiger Quelle, dass er tatsächlich verhasst war, und dass bereits mehrere Anschläge auf ihn versucht worden waren. Er war ihnen unverletzt entgangen. Die Täter waren gefasst und abgeurteilt worden. Die Spielbedingungen verrieten, dass Algdred Robbs keineswegs so selbstbewusst und furchtlos war, wie er sich gab. Sie
offenbarten im Gegenteil ein übertriebenes Sicherheitsbedürfnis und ließen erkennen, wie hoch er seinen Gegner einstufte. Robbs war ein Spieler, der sich nicht gern auf sich selbst verließ, sondern sich auf einen Unterbau von Helfern stützte, die seinen Erfolg erst möglich machten. Am Spieltisch aber würde er Tekener allein gegenübersitzen, wenn es auf taktisches Können, logisches Denken, Glück und ein fast fotographisches Gedächtnis ankam. Das Spiel würde zu einem echten Duell werden, bei dem sich keiner der beiden Kontrahenten mehr rückversichern konnte. Robbs ließ im Fernsehen für das Spiel werben. Ganz Voegamur sollte dabei sein, wenn er als Grand Leader den besten Spieler der Galaxis in Grund und Boden spielte. Er gab die Spielbedingungen und die Einsätze bekannt, was zur Folge hatte, dass am Tag des Spiels – von wenigen Ausnahmen abgesehen – alle Bürger von Voegamur an den Fernsehgeräten saßen. 500 Millionen Menschen hofften, dass an diesem Tag die Schreckensherrschaft von Algdred Robbs auf unblutige Weise zu Ende gehen würde und dass mit ihm auch die lächelnden Roboter von den Straßen verschwinden würden. Die Sympathien lagen eindeutig bei dem Mann mit dem von Lashat-Narben entstellten Gesicht, bei dem Mann, der sich der Galaktische Spieler nannte und von dem es hieß, dass er noch niemals ein Spiel verloren habe. Algdred Robbs war blass und machte einen angespannten, nervösen Eindruck auf Tekener, als sie sich am Spieltisch gegenüberstanden. »Wie fühlt man sich, wenn man weiß, dass man in spätestens einer Stunde tot ist?« fragte er den Lächler. »Ich hoffe, du hast die Fahrkarten schon bestellt«, erwiderte dieser. »Es wäre gar zu bedauerlich, wenn du deine Ehrenschulden bezahlen willst, aber keinen Platz auf einem der Passagierraumer erhältst.« »Ich werde Voegamur niemals verlassen«, erklärte der Diktator scharf und akzentuiert, »Dennoch steht meine Raumjacht bereit.
In einer Stunde werde ich dich entweder töten, oder ich starte und kehre niemals wieder.« »Ich hoffe auf ein gutes Spiel.« Tekener setzte sich an den Tisch, der mitten im Studio aufgestellt worden war. Auf den steil ansteigenden Rängen saßen die prominentesten Bürger von Voegamur – Politiker, Künstler, Wissenschaftler, Militärs, Unternehmer. Dutzende von Fernsehkameras erfassten das Geschehen, hielten jeden Lidschlag, jedes Lächeln, nervöse Zucken oder die Reaktionen der Pupillen fest, erfassten jeden Schweißtropfen im Gesicht der Duellanten. Mikrophone machten jedes Wort, jeden Atemzug, ja, sogar den Herzschlag der beiden Kontrahenten hörbar. Auf einer Konsole neben dem Tisch lag neben einem silbrig schimmernden Modell eines kugelförmigen Raumschiffs eine Energiestrahlwaffe. Durch diese beiden Dinge wurde deutlich, um was es ging bei diesem Spiel – Tod für Tekener oder ewige Verbannung von Voegamur für Robbs. Der Kampf begann. Robbs brachte Tekener gleich zu Anfang mit einigen wütenden Attacken in Bedrängnis, verlor dann aber doch die ersten drei Runden des Spiels. Sichtlich nervös taktierte er danach vorsichtiger, und es gelang ihm, zum 3:3 auszugleichen, weil Tekener Fehler machte. Atemlose Stille herrschte im Studio. Da war niemand, der es gewagt hätte, zu husten oder sich zu räuspern, mit den Füßen zu scharren oder sich unruhig zu bewegen. Die Menschen auf den Rängen schienen zu Puppen erstarrt zu sein. Algdred Robbs gewann die nächsten vier Spiele, erreichte sieben Punkte und war damit seinem Ziel von neun Punkten bedrohlich nahe gekommen. Doch dann holte Ronald Tekener geradezu mühelos auf, glich aus und ging mit 8:7 in Führung. Der Diktator blickte ihn an. Feiner Schweiß bedeckte seine Stirn. Algdred Robbs sah sich vor einem Abgrund stehen. Seine Hände zitterten leicht, als er das nächste Spiel begann. Ronald Tekener beging absichtlich einen Fehler, und triumphie-
rend schloss Robbs zum 8:8 auf. »Das letzte Spiel«, sagte der Terraner gelassen. »Wer den nächsten Punkt macht, hat gewonnen«, bestätigte Robbs. Tekener lehnte sich in seinem Sessel zurück. Algdred Robbs schwitzte. Ihm war anzusehen, dass er den Kampf jetzt am liebsten abgebrochen hätte. Er sah sich allein einem Gegner gegenüber, der ihn in einigen Runden mit spielerischer Leichtigkeit ausgespielt und der dann wiederum Fehler gemacht hatte, die sein eigenes, strategisches Konzept durcheinander gebracht hatten. Wie würde Tekener sich in der nächsten und letzten Runde verhalten? Würden ihm noch einmal Leichtsinnsfehler unterlaufen? Algdred Robbs griff nervös nach einem Glas Wa sser. Er rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her. Tekener konnte ihm ansehen, dass er sich niemals auf dieses Spiel eingelassen hätte, wenn er geahnt hätte, wie schwer der Kampf für ihn werden würde. Robbs hatte sich überschätzt, und er hatte begriffen, dass Tekener das Spiel für sich hätte entscheiden können. »Du warst dicht vor dem Ziel«, sagte der Grand Leader. »Du hättest es schaffen können. Jetzt ist es zu spät.« »Wirklich?« Ronald Tekener lächelte in der eigenartig drohenden Weise, die ihm den Namen der Lächler eingetragen hatte. Algdred Robbs hielt seinem Blick nicht stand. Er wich ihm aus. »Spielen wir weiter«, forderte er mit belegter Stimme. »Einverstanden.« Die letzte Runde begann, und während die ersten Runden im Durchschnitt zehn Minuten gedauert hatte, nahm sie fast eine Stunde in Anspruch, eine für Robbs zermürbend lange Stunde. Dabei wechselten die Vorteile. Mal lag Robbs vorn und schien einem Sieg nahe, mal schien er kurz vor dem Aus zu stehen. Dann aber machte Ronald Tekener einen Zug, der ihn schlagartig den Sieg kostete. Algdred Robbs sprang mit einem Aufschrei auf. Und im nächs-
ten Moment tobte die Menge im Studio. Die Anhänger des Grand Leaders brüllten ihren Beifall heraus – jeder in dem Bewusstsein, dass er die Privilegien, die ihm das Regime verschaffte, auch weiterhin genießen durfte. Die Männer und Frauen umringten Algdred Robbs und beglückwünschten ihn, und die Kommentatoren an den Mikrophonen suchten verzweifelt nach einer Erklärung für die unerwartete Wende, die das Spiel genommen hatte. Sie bemühten sich, entweder Tekener oder Robbs zu sprechen, aber nur der Terraner war zu einer kurzen Bemerkung bereit. »Ich habe noch nicht verloren«, verkündete er zur Verblüffung der Reporter. Etwa zehn Minuten lang dauerte der Trubel im Studio, dann drängte Algdred Robbs seine Freunde zur Seite und ging mit ausgestreckter Hand auf Ronald Tekener zu. Es wurde still. Der Galaktische Spieler ergriff die Hand, und wieder lächelte er in einer Weise, die seinem Gegenüber einen kalten Schauder der Furcht über den Rücken jagte. »Es ist soweit«, sagte Tekener laut. »Dort liegt die Waffe. Töten ist ja nichts Neues für dich. Du hast täglich Männer, Frauen und Kinder zum Tode verurteilt, und sogar – per Knopfdruck – selbst den Henker gespielt. Also tu es wieder. Dort liegt die Waffe.« Robbs blickte ihn fassungslos an. »Du willst, dass ich dich töte? Nein, es war ein großartiger Kampf. Ich schenke dir dein Leben.« »Wenn du meine Ehrenschuld nicht annimmst, dann bestehe ich darauf, dass du Voegamur verlässt und niemals wieder zurückkehrst.« »Du bist wahnsinnig.« »Geh deine Koffer packen.« »Na gut. Du hast es nicht anders gewollt.« Der Grand Leader ging zu dem Podest und nahm den Energiestrahler auf. Aufgeregt flüsternd wich die Menge zurück. Die Kameras fuhren heran, bis sie Tekener und Robbs aus nächster Nähe erfassten.
Der Galaktische Spieler lächelte. Seine Blicke waren auf die Augen Robbs gerichtet, und sie ließen sie nicht mehr frei. Der Grand Leader kam bis auf zwei Schritte an Tekener heran. Er hob den Energiestrahler und zielte auf die Stirn des Terraners. Und Ronald Tekener lächelte. Es war ein drohendes, kaltes Latein das schlimmer für Robbs war, als es viele Worte gewesen wären. Der Schweiß lief dem Grand Leader über das Gesicht. Seine Augen waren geweitet, und er atmete laut und keuchend. Seine Hand bebte. Aus den Lautsprechern dröhnte sein hämmernder Herzschlag. Und plötzlich begriff Algdred Robbs. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Er hatte das Spiel nicht gewonnen. Sieger war Tekener, denn dieser hatte ihn ins Scheinwerferlicht des Studios gezerrt und wollte ihn jetzt zu einem Mord vor den Augen der Öffentlichkeit zwingen. Er wollte ihm den Stempel des Mörders aufdrücken und ihn auf diese Weise vernichten. Tekener hatte ihn erkannt. Er wusste besser als jeder andere, wie es in ihm aussah. Seit Jahren wies Robbs jedes Gnadengesuch der zum Tode verurteilten Gefangenen zurück. Oft genug hatte er per Federstrich oder per Knopfdruck getötet. Aber wen denn? Irgendeinen anonymen Menschen, weit von ihm entfernt, durch nichts mit ihm verbunden, für ihn kein lebendes Geschöpf, sondern eher eine Sache, austauschbar, unwichtig, ein Wegwerfartikel. Er hatte nie darüber nachgedacht, was es für diese Menschen bedeutete, das Leben zu verlieren. Er hatte nie einem Verurteilten in die Augen gesehen, war niemals direkter Zeuge einer Hinrichtung gewesen. Und jetzt stand er vor einem Menschen, der ihn in einem psychologischen Spiel sondergleichen in die Enge getrieben hatte. 500 Millionen Menschen waren Zeuge. Sie sahen sein verschwitztes Gesicht auf ihren Bildschirmen, beobachteten, dass er zitterte, hörten seinen wild hämmernden Herzschlag, der mehr als alles
andere verriet, wie es in ihm aussah, und erfassten gleichzeitig mit ihm, dass er der Verlierer war – und nicht Tekener. Er befand sich in einer ausweglosen Situation. Wenn er schoss und Tekener tötete, war er ein Mörder, und er konnte sich ausrechnen, dass seine bisherigen Mitläufer ihn sehr bald umbringen würden, weil ein solcher Mann an der Spitze selbst einer solchen Regierung einfach untragbar war. Schoß er jedoch nicht, stand er als Versager und Feigling da. Dann blieb ihm nur noch der sofortige Rückzug von Voegamur. Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke. Ich werde verschwinden! Ich starte sofort. An Bord meiner Jacht ist alles, was ich brauche, und ich rette mein Leben. Die anderen aber, die ich für meine Freunde gehalten habe, werden sich keine drei Tage mehr an der Macht halten. Man wird sie hinwegfegen, aber ich habe immerhin mein Leben gerettet. Er ließ die Waffe sinken und warf sie dann achtlos auf den Boden. Wenn ich schieße, lassen sie mich vielleicht noch zwei oder drei Tage leben. Dann bringen sie mich um und halten sich darüber hinaus selbst an der Macht, während ich der große Verlierer bin. »Du hast gewonnen«, brachte er mühsam hervor. »Ich habe noch nie verloren«, erwiderte Tekener. Algdred Robbs verließ fluchtartig das Studio. Er startete eine Stunde später mit seiner Raumjacht, zusammen mit seinen Frauen und Kindern. Zu dieser Zeit drängten sich bereits 500 Millionen Menschen auf die Straßen hinaus, um die Flucht des Grand Leaders zu feiern. Eine Lawine kam ins Rollen, die durch nichts mehr aufzuhalten war. Als Ronald Tekener sieben Tage später den Linienraumer nach Terra betrat, hatte Voegamur eine neue Regierung. Von dem alten Regime des Grand Leaders war nichts mehr vorhanden. Die lächelnden Roboter waren verschwunden.
Marianne Sydow»
Die heimlichen Herrscher Am 4. August des Jahres 2326 zerstörte der USO-Spezialist Lemy Danger auf dem Planeten Eysal versehentlich einen Zellaktivator, und das sollte wahrhaft schreckliche Folgen nach sich ziehen. Die Impulse, die bei dieser Gelegenheit entstanden, setzten nämlich eine uralte technische Anlage in Betrieb, die ihrerseits Impulse in die ganze Milchstraße abstrahlte. Das, was der »gravitationsenergetische Stoßfrontgenerator« da von sich gab, war unglücklicherweise bestens dazu geeignet, erstens die Eier der Schreckwürmer zu aktivieren, so dass ein paar hundert Planeten von Hornschrecken überschwemmt wurden. Zweitens weckte es das Suprahet. Dieses wiederum erzeugte Störungen im Hyperraum, die nicht nur den Funkverkehr beeinträchtigten, sondern vor allem auch eine verheerende Wirkung auf Raumschiffe ausübten, die über Transitionstriebwerke verfügten und während des Hypersprungs von diesen Störungen erfasst wurden. Am schlimmsten wurde es auf dem Höhepunkt der Katastrophe: Als das Suprahet im Januar des Jahres 2327 zerstört wurde,- verschwanden Hunderte von Raumschiffen, und von den meisten hat man nie wieder etwas gesehen oder gehört. Man fand sich mit der Tatsache ab, dass diese Schiffe während der Transition zerstört wurden – und im Hyperraum nach Überlebenden zu suchen, das war ungefähr so aussichtsreich wie der Versuch, eine Hornschrecke in einem Kaninchenkäfig gefangenzuhalten. Für all jene, die mit diesem Vergleich nichts anfangen können: Eine solche Suche war im wahrsten Sinne des Wortes unmöglich und weder theoretisch noch praktisch durchführbar. Aber offenbar wurden doch nicht alle Schiffe, die damals verlorengingen, wirklich zerstört. Einige tauchten nämlich wieder auf – allerdings nicht an jenen Zielen, die sie vor dem Sprung anvisiert hatten …
Eines Morgens ging Vater in den Dschungel, um eine bestimmte Sorte von Blättern zu holen, von denen wir wussten, dass sie die Kühe vor Milchfieber schützten – und Juwel machte ganz den Eindruck, als wollte sie sich diese Krankheit in Kürze zulegen. Als er nach einer Stunde noch immer nicht zurückkehrte, wurde ich unruhig, und nach einer zweiten Stunde begab ich mich auf die Suche nach ihm. Ich fand nichts, nicht einmal Spuren. Es hatte zwei Wochen lang geregnet, und der Boden war schlammig. Ich betrachtete meine eigenen Spuren – sie liefen schon innerhalb einer Minute voll Wasser, und wenig später waren sie beim besten Willen nicht mehr zu erkennen. So ist das auf Belnoquur häufig. Die Büsche, von denen wir die heilenden Blätter holten, wuchsen etwa eine halbe Stunde von unserem Haus entfernt. Sie waren unversehrt, was aber nicht viel bedeuten musste. Die Pflanzen von Belnoquur können sich erstaunlich schnell regenerieren, und nach zwei Stunden waren kleinere Verletzungen einfach nicht mehr als frisch zu erkennen. Ich versuchte, den Busch, der am günstigsten stand, zu einer Auskunft zu bewegen, aber er konnte oder wollte mir nicht antworten. Als ich ihn um ein Bündel Blätter für Juwel bat, senkten sich einige Zweige, und als ich die Blattstiele berührte, brachen einige davon bereitwillig ab. Damit war zwar Juwel geholfen, aber ich wusste immer noch nicht, was mit meinem Vater geschehen war. Ich versuchte es noch an einigen anderen Stellen, aber die Pflanzen hatten entweder wirklich niemanden gesehen, oder sie stellten sich stur. Vater hatte mir seit meiner Geburt eingehämmert, dass es sinnlos war, im Dschungel von Belnoquur nach einem Menschen zu suchen, der die Absicht hatte, sich nicht finden zu lassen. Ein solcher Mensch hatte die Pflanzen entweder gegen oder für sich. Wenn er sie gegen sich hatte, dann blieb ohnehin nichts von ihm übrig, und wenn sie ihn schützten und verbargen, würde man ihn erst recht nicht finden. Vater hatte die Pflanzen von Belnoquur stets auf seiner Seite, und er war auf diesem Gebiet besser als ich. Es war für mich un-
vorstellbar, dass eines der Gewächse – noch dazu hier, in unmittelbarer Umgebung der Farm – sich an ihm vergriffen hatte. Daraus schloss ich, dass Vater absichtlich verschwunden war. Wahrscheinlich hatte er ein paar Pookys getroffen, die ihm eine neue Spur vom Schiff unserer Vorfahren zeigen wollten. Er konnte gut mit den Pookys umgehen, und sie akzeptierten ihn, weil er sich mit den Pflanzen verständigen konnte. Wir hatten sogar einen Sonnenstein im Haus, und in unserem Garten entfalteten sich an jedem trüben Tag die Himmelsblüten der Belnoqs. Wir waren die einzigen Siedler, die es auf einer Dschungelfarm aushielten, und daher auch die einzigen, bei denen die empfindsamen Belnoqs gediehen. Die Pookys betrachten jeden, der wenigstens eine Belnoq gesund erhalten kann, als ihres gleichen oder so etwas Ähnliches – es war einfach unvorstellbar, dass sie meinen Vater angegriffen hätten. Ich kehrte also zur Farm zurück, versorgte Juwel und machte mich dann an all die Arbeiten, die gerade zu erledigen waren. Es gab sehr viel zu tun, besonders im Garten, in dem wir eine ganze Reihe von irdischen Pflanzen zogen. Draußen auf den größeren Feldern wuchsen ausschließlich einheimische Gewächse; und die können meistens recht gut für sich selbst sorgen. Außerdem sagen sie sehr deutlich, was sie brauchen, und man kommt bei ihnen nie in Verlegenheit, sich über den richtigen Erntetermin den Kopf zu zerbrechen. Sie wissen selbst sehr genau, wieviel Blätter, Früchte oder Wurzelknollen sie entbehren können. Wenn man sie gut pflegt, ihnen Kompost bietet und ihnen beweist, dass man auch ihren Nachwuchs aufzuziehen versteht, sind sie außerordentlich entgegenkommend. Die irdischen Pflanzen dagegen bereiten uns immer wieder Schwierigkeiten, und wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir kurzerhand auf sie verzichtet. Leider ging es aber nicht nach mir, sondern Vater bestand darauf, dass wir auf Mutter Rücksicht nehmen. Ich hätte gar nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn Mutter wenigstens hier und da bewiesen hätte, dass sie auch Rücksicht auf uns nahm. Leider war das Gegenteil der Fall.
Mutter stammte aus der Ebene. Die meisten Siedler lebten dort, weil es dort ungefährlicher war. In der Ebene regnete es bei weitem nicht so oft wie bei uns in den Hügeln, und die einheimischen Pflanzen, die dort wuchsen, waren nicht wesentlich intelligenter als die irdischen Arten. Dicky pflegte sie als ordinäres Unkraut zu bezeichnen, und damit hatte er wahrscheinlich recht. Wenn man von Geburt an im Dschungel lebt, dann fühlt man sich in der Ebene fremd – und umgekehrt. Für mich waren die großen, eintönigen Felder voll dummer, reaktionsloser Gewächse der reinste Alptraum. Es wurde noch schlimmer, nachdem man mich einmal ausgerechnet zur Erntezeit in die Ebene schickte. Da war ich zwölf und ich sollte den Jungen kennenlernen, den ich später heiraten sollte. Der Bursche hieß Tom, war zwei Jahre älter als ich und überragte mich um mindestens zwanzig Zentimeter. Ich hasste ihn vom ersten Augenblick an, ohne recht zu wissen, warum. Nach zehn Minuten konnte ich bereits triftige Gründe für meinen Hass anführen. Auf Belnoquur gediehen viele irdische Gewächse, wenn man sie sorgfältig genug pflegte, aber von den Haustierrassen, die unsere Vorfahren mitgebracht hatten, waren nur ganz wenige unserer neuen Heimat gewachsen. Auf unserer Dschungelfarm hatten wir Schweine, Kühe, Kaninchen und Hühner, und in der Ebene ga b es außerdem noch Schafe und ein paar Ziegen. Aus irgendeinem Grund hatten unsere Tiere im Dschungel mehr männliche als weibliche Nachkommen, während es in der Ebene genau umgekehrt war. Da wir dank unserem Fliegenfresser Dicky meistens reichlich mit Fleisch versorgt waren, hatten wir es nur selten nötig, eines der irdischen Tiere zu töten – wir konnten sie viel gewinnbringender in der Ebene zum Tausch anbieten. Wenn wir aber mal eines schlachten mussten, dann taten wir das schnell und schmerzlos. Toms Methode, ein Kaninchen umzubringen, war für mich ebenso neu wie entsetzlich, und am liebsten hätte ich ihn gegen die nächste Wand geknallt, nur damit er merkte, wie sich so etwas anfühlte. Noch viel entsetzter war ich jedoch, als ich feststellen musste, dass man die kleinen, empfindsamen Softys in der Ebene als Viehfutter und
Düngemittel betrachtete. Softys sind unauffällige, bescheidene Gewächse, die wohl nur einen Wunsch haben: Es möglichst allen anderen Pflanzen in ihrer Umgebung recht zu machen. Sie wirken ausgleichend zwischen Gewächsen, die sich sonst nicht miteinander vertragen würden, und außerdem verzehren sie allerlei kleines Ungeziefer. Zu Hause hegten und pflegten wir sie, denn je zufriedener die Softys waren, desto wohler fühlten sich auch alle anderen Bewohner der Farm. Und hier in der Ebene riss man sie nach der Ernte aus und verfütterte sie an die Schweine! »Ich werde Tom nicht heiraten«, sagte ich zu meinem Vater, als ich von meinem Besuch zurückkehrte. »Ich werde überhaupt niemanden aus der Ebene heiraten. Wenn man mich dazu zwingen will, gehe ich in den Dschungel und komme nie mehr zurück.« Vater war klug – er nickte nur, und wenig später kam Tom für eine Weile auf unsere Farm, um von uns zu lernen. Aber er war ein miserabler Schüler, und Vater schickte ihn nach zwei Monaten in die Ebene zurück. Ein paar Tage später ging er selbst diesen Weg, und er nahm einen jungen Hahn und ein männliches Ferkel mit. Damit war meine Verlobung mit Tom hinfällig. Von da an nahm Vater mich jedes Mal mit, wenn er eines unserer Tiere gegen andere Waren eintauschte, und ich lernte eine ganze Reihe von Farmersfamilien kennen, darunter auch die Johannsons, die eine Randfarm betrieben, also in der Nähe des Dschungels lebten, und daher gezwungen waren, sich den Verhältnissen auf Belnoquur besser anzupassen, als es bei den Bewohnern der Ebene der Fall war. Die Johannsons waren eine sehr große Familie. Die Söhne waren bis auf eine Ausnahme bereits verlobt oder verheiratet. Die »Ausnahme« hieß Jan, war gut zehn Jahre älter als ich und ein Ausbund an Hässlichkeit. Das fiel umso mehr auf, als seine Brüder samt und sonders sehr ansehnlich waren. Die Johannsons wussten natürlich, warum Vater mich in der Gegend herumschleppte. Früher, als es noch viele Dschungelfarmen gegeben hatte, waren es die Söhne und Töchter der Familien im Dschungel gewesen, um die man warb – jetzt war es um-
gekehrt, aber niemand war glücklich darüber. Es musste Dschungelfarmer geben – wegen der männlichen Zuchttiere, die von dort kamen, und wegen der Pookys, die die Menschen auf ihrer Welt nur duldeten, wenn wenigstens einige von uns sich an ihre Gesetze hielten. Wer sich nicht mit den einheimischen Pflanzen verständigen kann, der ist im Dschungel verloren, und die Belnoqs wachsen nur auf kultivierten Böden. Damit nicht genug -die Belnoqs beanspruchen ein hohes Maß an Sympathie und Zuneigung von Seiten eines Dschungelfarmers. Wenn sie bekommen, was sie brauchen, gedeiht die Farm. Gehen sie leer aus, dann helfen nicht einmal mehr die Softys und die Fliegenfresser – die Felder verwildern, Ungeziefer überflutet das Haus, und die Pookys kommen und holen die Belnoqs in eines ihrer Dörfer zurück. Wenn die Belnoqs aber fort sind, ist das Schicksal einer Dschungelfarm endgültig besiegelt. Vater hatte leider das Pech gehabt, dass man ihn mit der falschen Frau verheiratet hatte, denn meine Mutter fand, dass die Geburt eines Kindes mit unerträglichen Strapazen verbunden war. Ich hatte keine Geschwister, und ich würde wohl auch kaum noch welche bekommen ~ zumindest nicht innerhalb einer vertretbaren Zeitspanne. Theoretisch hatte Vater das Recht, sich eine andere Frau zu nehmen, aber in der Praxis waren die Damen aus der Ebene einfach nicht bereit, auf eine Dschungelfarm umzuziehen. Ich wusste, dass der Rat unserer kleinen Kolonie große Anteilnahme am Schicksal unserer Familie zeigte – wenn ich nicht bald einen geeigneten Partner fand, würde man meinem Vater wahrscheinlich zwangsweise eine andere Frau verpassen. Wie er darüber dachte, war für die Leute im Rat völlig unerheblich, denn es ging um unser aller Überleben. Die Gabe, mit den Pflanzen zu sprechen, war nur in geringem Maß auf gewisse Erbfaktoren zurückzuführen. Man konnte diese Fähigkeit nur dann entwickeln, wenn man im Dschungel aufwuchs und von Anfang an entsprechend erzogen wurde. Mit anderen Worten: Es gab nur noch zwei Menschen, die künftige Dschungelfarmer aufziehen konnten – meinen Vater und mich. Wenn wir starben, ohne aus-
gebildete Nachkommen zu hinterlassen, dann starb mit uns auch diese kleine, unfreiwillig gegründete Kolonie, denn die Pookys würden keinen von uns a m Leben lassen. In der Ebene selbst hatte man mir stets die Söhne schmackhaft machen wollen, die man anderweitig kaum noch unterbringen konnte. In den Dschungel zu ziehen, das war gleichbedeutend mit Verbannung . Die Johannsons dachten und fühlten anders – Jan stellten sie mir gar nicht erst vor. Ich lernte ihn durch einen Zufall kennen. Ich war daran gewöhnt, vor Sonnenaufgang wach zu sein, um den Sonnenstein mit Himmelsblüten zu versorgen, wenn es erforderlich war. Als ich an diesem Morgen erwachte, war der Himmel trübe – aber bei den Johannsons gab es weder einen Sonnenstein, noch die Belnoqs, die die Himmelsblüten hervorbrachten. Ich erkundigte mich bei dem für dieses Haus zuständigen Fliegenfresser danach, wann man hier ein Frühstück bekommen konnte, und er teilte mir mit, dass Jan bereits in der Küche war. Ich ging hinunter, und Jan stand am Herd und bereitete einen Eierkuchen zu. Als er mich sah, stellte er eine zweite Pfanne aufs Feuer und goss etwas Teig hinein. Der Fliegenfresser bewegte sich ungeduldig vor dem Fenster, und ich nahm mir vor, ihm meine erste Portion zu geben. Aber Jan machte mir einen Strich durch die Rechnung, indem er den ersten fertigen Eierkuchen ans Fenster hielt und mit den Fingern schnippte. Einen gesunden Fliegenfresser braucht man niemals zweimal zu Tisch zu bitten… Die Farmer in der Ebene hielten es meistens für überflüssig, einen Fliegenfresser zu füttern, sobald er alt genug war, um das zu tun, weswegen man ihn an ein Haus lockte. Fliegenfresser sind Pflanzen, die Ungeziefer aller Art vertilgen. Da auf Belnoquur die Pflanzen die dominierende Rolle spielen, hatten die Tiere niemals Gelegenheit, entwicklungsgeschichtliche Höhenflüge zu unternehmen. Die meisten von ihnen sind höchst unangenehme Gesellen: Sie riechen und schmecken so ekelhaft, wie sie aussehen. Die einzige rühmliche Ausnahme bilden die Fleischlinge. Das sind
überdimensionale Raupen. Sie kommen in verschiedenen Größen und Farben vor, und im Dschungel sind sie ziemlich häufig. Gut erzogene Fliegenfresser vertilgen stets nur wenige Fleischlinge und liefern den Rest an die Bewohner des Hauses ab. In der Ebene kommen ihnen allerdings nur sehr selten Fleischlinge unter die Tentakel, und darum fressen sie sie dort meistens auf. Darum brauchen die Siedler das Fleisch der irdischen Tiere. Im Dschungel sind Fleischlinge häufig, aber die Fliegenfresser würden auch dort keinen von ihnen freiwillig herausrücken, wenn sie nicht über diesen Verlust hinweggetröstet würden. Alle Fliegenfresser lieben süße Speise und Hühnereier über alles. Süße Eierkuchen, möglichst noch mit dem etwas scharfen, vanilleartigen Aroma der reifen Kuruut-Beeren gewürzt, sind geradezu ihre Leib- und Magenspeise. Für uns Menschen ist das eine ziemlich gefährliche Vorliebe, denn mit einer Kuruut ist nicht zu spaßen: Wenn man ihre Früchte zu früh oder zu spät zu ernten versucht, muss man meistens feststellen, dass die Kuruuts ein sehr gieriges Völkchen sind. Eine wilde Kuruut sieht wie ein junger Fliegenfresser aus, und wenn man nicht genau aufpaßt, dann landet man in einer tödlichen Umarmung, ehe man bis drei zählen kann. Ich will nicht behaupten, dass ich mich in Jan verliebte. Aber immerhin hatte ich endlich einen Partner gefunden, der den Pflanzen Verständnis entgegenbrachte. Wenn ich nun schon unbedingt heiraten und Kinder bekommen musste, dann von ihm. Vater war glücklich, der Rat gab sich zufrieden, und Jan kam auf unsere Farm, um sich an seine künftige Rolle als Dschungelfarmer zu gewöhnen. Er bewährte sich glänzend, und ich gewöhnte mich an ihn. Einen Monat vor Vaters Verschwinden starb Jan jedoch. Es war ein tragischer Unfall, der mir einen schlimmen Schock versetzt hatte: Leo, unser jüngstes Stierkalb, rollte sich mit ungeahntem Geschick unter dem Weidegatter hindurch und unternahm einen Ausflug in den Dschungel. Jan liebte dieses Kalb über alles. Er folgte der Spur und übersah dabei, dass eine Kuruut in das kritische Stadium gelangt war. Die Pflanze hatte
Leo ungeschoren lassen, aber als Jan ihre Zweige auch nur streifte, schlug sie zu. Wir fanden nichts mehr von ihm, wenn man einmal von seinen Sandalen absieht, die er von seiner Heimatfarm mitgebracht hatte. Sie waren aus Weizenstroh geflochten und für die Kuruut unverdaulich. Leo stand nur wenige Meter entfernt auf einer winzigen Lichtung und kaute zufrieden vor sich hin. Nie zuvor war ich so nahe daran, ein anderes Lebewesen aus Trauer und Rache zu töten. Auf Belnoquur lernt man am besten schon sehr früh, dass das Leben weitergeht. Jan war tot, mein Vater war verschwunden. Vielleicht war auch er bereits tot. Wenn es so war, dann trug ich eine um so größere Verantwortung, und ich wurde mir dessen langsam, aber sicher bewusst. Ich hütete den Sonnenstein und die Belnoqs, bis die Pookys kamen und beide über Nacht wegbrachten. Dicky hatte mich nicht gewarnt. Ich erwachte vor Sonnenaufgang, ging in den Garten und sah anstelle der Himmelsblüten nur aufgewühlte Erde. Ich wusste sofort, was das bedeutete. Verzweifelt rannte ich ins Haus – auch der Sonnenstein und die flache, mit Wasser gefüllte Schale waren verschwunden. Ich hockte mich auf die Veranda und dachte nach. Dicky bewachte noch immer das Haus, aber ich wusste nicht, ob ich mich auch noch in Zukunft auf ihn verlassen durfte. »Gib mir einen Rat«, bat ich den Fliegenfresser. »Was soll ich tun?« Dicky meinte, dass ich wohl gut daran täte, meine Mutter und die Tiere von der Farm zu schaffen. Dieser Vorschlag gefiel mir gar nicht, aber ich sah ein, dass Dicky recht hatte. Also ging ich in den Stau, steckte die Hühner und Kaninchen in leichte Käfige und warf allen Tieren genug Futter vor, damit sie mir unterwegs keinen – Ärger bereiteten – es kann sehr peinliche Folgen haben, wenn eine Kuh es sich in den Kopf setzt, von der falschen Pflanze zu naschen. Dann suchte ich Mutter auf und überbrachte ihr die unangenehme Neuigkeit. Sie nahm es sehr gelassen auf, und wahrscheinlich freute sie sich sogar darüber, dass sie endlich aus dem Dschungel heraus-
kam. Sie hat sich auf der Farm niemals wohl gefühlt. Nur eines gefiel ihr nicht: Sie hatte zu wenig Zeit zum Packen, und ich musste ihr außerdem klarmachen, dass sie nicht viel mitnehmen konnte. Wir hatten keinen Wagen, und selbst wenn wir einen besessen hätten, wären wir damit auf dem schmalen, schlammigen Weg nicht vorwärtsgekommen. Ich konnte den Kühen einen Teil der Käfige aufladen – sie waren daran gewöhnt, Lasten zu tragen – aber ich selbst hatte trotzdem noch genug zu tragen, und außerdem musste ich auf uns alle achtgeben. Ich versprach Mutter, ihre restlichen Sachen nach und nach zu holen, verschwieg ihr dabei aber, dass ich ohnehin die Absicht hatte, auf die Farm zurückzukehren. Der Marsch durch den Dschungel war für uns alle eine Tortur, und als wir es endlich geschafft hatten, waren wir um vier Ferkel und eine Sau ärmer. Beinahe hätte es stattdessen Mutter erwischt. Aber wir erreichten eine der Randfarmen, und dort nahm man uns erst einmal auf. Am nächsten Morgen zogen wir zu den Johannsons, und Mutter war über deren Gastfreundschaft hoch beglückt. Sie ahnte nicht, dass die Johannsons allen Grund hatten, ihr ein Zimmer und freie Kost zu gewähren: Die beiden Säue, die den Marsch überlebt hatten, waren trächtig, und auch eine der Kühe erwartete in Kürze Nachwuchs. Bei vier Kaninchen standen Junge an, und Martha, unsere fleißigste Henne, hatte selbst im Käfig auf ihren Eiern gesessen. Alle Jungtiere, die während meiner Abwesenheit geboren wurden oder aus den Eiern schlüpften, gehörten den Johannsons – ganz abgesehen davon, dass die guten Leute selbstverständlich die Gelegenheit nutzen und ihren eigenen Tierbestand um etliche Familien aufstocken würden. »Und was willst du jetzt tun?« fragte Vater Johannson am Abend, als wir noch ein wenig auf der Terasse beisammen saßen – Mutter hatte sich längst zurückgezogen, denn sie war sehr erschöpft. »Der Rat muss erfahren, dass die Pookys den Stein und die Belnoqs geholt haben. Willst du es ihnen selbst berichten?« »Sage du es ihnen oder schicke einen deiner Söhne hin«, bat ich
ihn. »Ich muss so schnell wie möglich auf die Farm zurück. Die Pookys haben ja nur den Stein und die Pflanzen mitgenommen und uns sonst m Ruhe gelassen. Vielleicht kann ich sie dazu bewegen, mir beides zurückzugeben.« ».Aber Kind, du wirst doch nicht etwa versuchen, mit diesen Leuten zu verhandeln!« stieß Mutter Johannson entsetzt hervor. »Du bist doch viel zu jung dazu. Du kannst nicht alleine im Dschungel herumziehen!« Ich war fünfzehn und hatte die Farm im letzten Vierteljahr ganz alleine bewirtschaftet. Wenn Jan am Leben geblieben wäre, hätten wir in Kürze geheiratet, und was den Dschungel betraf, so kannte ich mich wahrhaftig gut genug in ihm aus. Aber das sagte ich ihr nicht, denn ich wollte sie nicht unnötig an Jans Tod erinnern. »Sie muss es tun«, erklärte Vater Johannson an meiner Stelle geduldig. »Mach dir keine Sorgen um deine Mutter und die Tiere, Winnie, um die kümmern wir uns schon. Du darfst jetzt nur an die Pookys und an dich selbst denken, hörst du? Und lass dich von diesen Burschen nicht einschüchtern!« Das war ein großartiger Ratschlag. Immerhin gab es einige Dinge, die mich wirklich beunruhigten: Die Pookys hatten die Siedler in der Ebene bisher in Ruhe gelassen, und als ich in unser Haus zurückkehrte, fand ich dort alles unverändert. Sie waren also nicht noch einmal gekommen, um die Farm zu plündern. Das konnte auf verschiedene Ursachen zurückzuführen sein: Entweder war das Ganze für die Pookys nur eine Formsache, und sie rechneten fest damit, dass sie mir den Stein und die Belnoqs in Kürze zurückgeben konnten, oder es gab doch noch eine Dschungelfarm, von der ich nur bisher nichts erfahren hatte – oder Vater war bereits auf dem Rückweg, und sie warteten seinetwegen erst einmal ab. Laut Dicky hatte sich jedenfalls während meiner Abwesenheit kein einziger Pooky blicken lassen. Der Fliegenfresser tat getreulich seine Arbeit, und ich war ihm dankbar dafür. Einige andere Gewächse waren beunruhigt, weil
sie die ausgleichenden Kräfte der Belnoqs vermissten und ich sie zu allem Überfluss drei Tage lang sich selbst überlassen hatte. Besonders die Saftlinge, die direkt vor der Veranda standen und unsere Hausapotheke darstellten, raschelten aufgeregt herum. Ich spendierte ihnen eine Extraration Kompost und füllte Zuckerwasser in ihre zierlichen Blattkelche, woraufhin sie sofort Ruhe gaben. Nachdem ich auch die übrigen erregten Gemüter besänftigt hatte, ging ich Dicky um einen Braten an, denn mein Vater hatte mich gelehrt, dass man mit leerem Magen nicht vernünftig denken kann. Dicky lieferte einen frischen, zarten Fleischling, groß genug, um eine zehnköpfige Familie satt zu machen. Zweifellos spekulierte er darauf, dass er das meiste davon bekommen würde – er liebte gebratenes Fleisch. Während der Braten vor sich hinschmurgelte und ich mir eine Portion Gemüse putzte, versuchte ich, mir einen Plan zurechtzulegen, aber ich musste feststellen, dass Vater recht hatte: Ich war so entsetzlich hungrig, dass ich nur ans Essen denken konnte. Also gab ich es auf. Und nach dem Essen war es schon fast dunkel, so dass ich ohnehin nichts mehr unternehmen konnte. Ich überließ es Dicky, über die Sicherheit des Hauses zu wachen, und legte mich schlafen. Am nächsten Morgen war ich gerade damit beschäftigt, einige Dinge, die ich im Dschungel brauchen würde, zusammenzupacken, als Dicky plötzlich aufgeregt gegen das Fensterbrett klopfte. Ich war darauf gefasst, dass er mir den stinkenden Kadaver eines Muckertuhs präsentieren würde und hielt mir vorsichtshalber die Nase zu. Aber diesmal hatte sein Klopfen einen anderen Grund, und er forderte mich auf, schnellstens in den Garten zu sehen. Ich tat es, und mir stockte der Atem: Am Rand des Dschungels stand ein Mann und blickte misstrauisch zu uns herüber. Im ersten Augenblick dachte ich, dass es sich um einen Bewohner der Ebene handelte, vielleicht um einen Boten des Rates, aber zwei Dinge sprachen dagegen: Erstens kam dieser Mann aus der falschen Richtung, und zweitens wirkte er fremd. Seine Kleidung
war von einer Art, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. In der Hand hielt er einen seltsam geformten, glänzenden Gegenstand, von dem ich mir nicht im Entferntesten vorstellen konnte, wozu er zu gebrauchen war. Am seltsamsten aber war sein Gesicht: Es war nackt und bartlos wie das eines Kindes oder einer Frau, aber er war weder das eine noch das andere, sondern unzweifelhaft ein erwachsener Mann. Während ich ihn noch anstarrte, tat er ein paar Schritte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und blieb mitten in einem meiner Beete stehen. »Behalte ihn im Auge, aber tu ihm nichts!« befahl ich Dicky hastig, bevor ich zur Tür eilte. Ich sauste in höchster Hast auf die Veranda hinaus und die Stufen hinunter, aber ich kam natürlich doch zu spät: Der Fremde war mit seinen ungeschickten Plattfüßen nicht nur quer durch meinen Spinat, sondern auch durch die Reihen der Softys getrampelt, und nun befand sich der ganze Garten in Aufruhr. Die Pflanzen waren ohnehin nervös und gereizt. Das Wehgeschrei der Softys war jener Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Ehe ich irgend etwas sagen oder tun konnte, ringelten sich die ersten Softys um die Knöchel des Fremden. Sie brachten ihn zum Stolpern, wurden dabei aus der Erde gerissen und schrien nur um so lauter, während sie die Beine des Mannes mit ihren kleinen, scharfen Fangdornen bearbeiteten. Der Fremde fluchte und schrie, hüpfte im Bestreben, von den Softys wegzukommen direkt in die Reichweite der Grannys und bekam deren große, feuchte Blätter um die Ohren geschlagen, floh dem Haus entgegen und geriet so in Dickys Reichweite. Der Fliegenfresser umschlang ihn mit mehreren Tentakeln und rollte ihn blitzschnell ein. Ich hatte große Lust, ihn dort zu lassen, aber noch ehe ich eine Entscheidung treffen konnte, zischte es in dem Bündel aus Pflanzententakeln, und in einem von Dickys Armen war plötzlich ein qualmendes Loch zu sehen. Dicky stieß einen Schrei aus und ließ blitzschnell los. Der Fremde fiel herab wie eine überreife Frucht. Im Garten wurde es totenstill. Unzählige Sinneszellen beobachteten mich, als ich zu dem Fremden ging
und mich vorsichtig über ihn beugte. Er hatte das Bewusstsein verloren und sich möglicherweise auch ein paar Knochen gebrochen, aber er war unzweifelhaft noch am Leben. Den glänzenden Gegenstand hielt er immer noch in der Hand. Ich kam zu dem Schluss, dass er dieses Ding dazu benutzt hatte, um das Loch in Dickys Tentakel zu brennen, und da ich nicht gerade darauf erpicht war, dass er diesen Unfug fortsetzte, bog ich vorsichtig seine schlaffen Finger auf und nahm die Waffe an mich. Das gefiel meinen Freunden: Sie raschelten beifällig, und Dicky streckte bereits einen Tentakel aus und erkundigte sich rachsüchtig danach, ob er nun seinerseits ein Loch in den Fremden bohren dürfe, was ich ihm jedoch, wenn auch zögernd, verbot. Natürlich schmollte er, und die Softys zischelten empört. Das brachte die Grannys dazu, ihre großen Blätter wütend aneinander zu klatschen, kurzum, es ging erneut eine Welle der Empörung durch den Garten, schwappte bis in den Dschungel hinüber und veranlasste sogar die sonst so stoischen Fleischlinge zu sofortiger Flucht. Unglücklicherweise haben diese Biester viel zu wenig Verstand, um den Ursprungsort einer Gefahr zu erkennen. Sie kriechen blindlings in die Richtung, in die ihr Vorderteil zufällig gerade zeigt. Man sollte meinen, dass diese Angewohnheit nicht gerade förderlich für das Überleben der Art ist, aber die Methode der Fleischlinge scheint doch ihre Vorteile zu haben, denn sie denken überhaupt nicht daran, auszusterben. Wie zahlreich sie in der Nähe der Farm waren, begriff ich erst in diesem Augenblick, denn allein in meiner unmittelbaren Umgebung sah ich vier von ihnen, darunter ein Exemplar, das ohne weiteres der Urahn sämtlicher Fleischlinge sein konnte, denn dieses Monstrum war gut und gerne zwei Meter lang. Ich brüllte »Ruhe!«, und als das nicht reichte, nahm ich die Waffe des Fremden auf dieselbe Weise in die Hand, wie ich es bei ihm gesehen hatte, hielt das Ding in die Luft und fuchtelte damit herum. Dabei machte ich wohl irgendetwas falsch, denn plötzlich bewegte sich etwas unter meinen Fingern, es zischte, und die über drei Meter hoch aufragenden Maispflanzen waren plötzlich
nur noch eine brusthohe Hecke. Ich ließ die Waffe erschrocken fallen. In der plötzlichen Stille hörte man nur noch die Geräusche, mit denen die Fleischlinge sich eilig durchs Gelände arbeiteten. Ich atmete ein paarmal tief durch, nahm das glänzende Teufelsding vorsichtig mit zwei Fingern und legte es respektvoll auf die Veranda. Dann durchsuchte ich den Fremden sehr gründlich und förderte aus seinen zahlreichen Taschen noch eine ganze Reihe von unverständlichen Dingen zutage. Inzwischen hatte Dicky den Riesen-Fleischling eingerollt, und auch die anderen Pflanzen schienen wieder zur Besinnung zu kommen, denn sie trieben die übrigen Exemplare auf unser Haus zu, damit der Fliegenfresser sich ihrer annehmen konnte. Ich hatte Zeit, mich um denjenigen zu kümmern, der dieses ganze Durcheinander verursacht hatte. Bei näherem Hinsehen keimte so etwas wie Mitleid und eine Spur von Verständnis für den Fremden in mir auf. Ich war keineswegs bereit, alles zu vergeben und zu vergessen, aber dieser Bursche hatte zweifellos einen höllischen Marsch hinter sich. Seine Kleidung war verdreckt und zerrissen, und an seinem Körper gab es kaum einen Quadratzentimeter, auf dem der Dschungel keine Spuren hinterlassen hatte. Da ich nicht wusste, wie schwer er verletzt war, wagte ich es nicht, ihn zu bewegen, bevor er wenigstens halbwegs bei Bewusstsein war. Die Saftlinge weigerten sich zuerst, auch nur ein einziges Blatt für den Fremden zu opfern, aber sie sind im Grunde genommen gutmütige und mitleidige Geschöpfe, und als ich ihnen eine weitere Ration Zuckerwasser versprach, gaben sie mir bereitwillig alles, was ich von ihnen haben wollte. Das hinderte sie allerdings nicht daran, den armen Dicky zu bedauern und seine Brandwunde zu kühlen, obwohl der Fliegenfresser den Schmerz gar nicht mehr spürte: Er war mit sämtlichen gesunden Tentakeln hinter den Fleischlingen her. Ich legte ein kühles Blatt auf die Stirn des Fremden und begutachtete dann seine Verletzungen, soweit sie für mich erreichbar waren. Er verfügte über ein komplettes Sortiment all jener Be-
schädigungen, die man sich im Dschungel zuziehen kann, ohne auf der Stelle daran zu sterben – einschließlich einer Reihe von Wunden, die ihn innerhalb einiger Tage töten würden, wenn es den Saftlingen und mir nicht gelang, ein mittleres Wunder an ihm zu vollbringen. So ziemlich das Schlimmste war der Biss eines Muckertuhs an seiner linken Daumenwurzel. Er konnte sich den Biss erst in der letzten Nacht zugezogen haben, denn sonst hätte ich keinen Grund mehr gehabt, mir seinetwegen den Kopf zu zerbrechen, aber die Wundränder waren dunkelblau und wichen bereits auseinander. Wenn das verflixte Biest ihn nicht am Daumen, sondern zum Beispiel am Oberarm erwischt hätte, wäre er sicher nicht mehr bis auf unsere Farm gekommen. Ich musste Dicky ziemlich barsch anfahren, damit er mir einen seiner Tentakel zur Verfügung stellte, dann schnitt ich die Wundränder auf und überließ es dem Fliegenfresser, das Gift zu absorbieren. Ich wusste nicht, ob das reichte. Zweifellos wäre es vernünftiger gewesen, den infizierten Arm abzuhacken, aber wenn ich die anderen Infektionen auf ebenso radikale Weise stoppen wollte, würde von dem armen Kerl am Ende nicht mehr viel übrigbleiben: Am linken Oberarm bewies eine dünne Doppelreihe von purpurfarbenen Punkten, dass mein Fremder mit einem Peitschenschlinger Bekanntschaft gemacht hatte, der ihn auch an der Taille und an den Oberschenkeln hatte packen können, an der rechten Schulter saß eine tiefe, schwärende Wunde, die zweifellos von einer Kuruut herrührte, eine gleichartige Verletzung an seinem rechten Schienbein reichte bereits bis auf den Knochen hinunter, und über seinen Knöcheln saßen bläuliche Beulen, die ich nur zu gut kannte – das waren Dschungelzecken, die sich unter die Haut vorgearbeitet hatten. Hinzu kamen all die vielen sonstigen Verletzungen, ganz abgesehen davon, dass der Fremde unterernährt und wahrscheinlich auch halb verdurstet war. In der Ebene hätte man dem Fremdling die Kehle durchgeschnitten, solange er noch bewusstlos war und nichts davon merkte. Mein Vater hatte mir eine sanftere Methode beigebracht, und ich war drauf und dran, auf sie zurückzugreifen. Es war die einfachste Sache von der
Welt: Man nahm einen jungen Blütenstand von einem Saftling, schnitt ihn ab und zerstampfte ihn zu einem Brei, den man auf Stirn, Schläfen, Hals und Brust verteilte. Ich beugte mich gerade über die Saftlinge, um einen entsprechenden Blütenstand auszuwählen, als der Fremde zu sich kam und mich etwas fragte. Ich verstand kein einziges Wort, aber ich wusste, dass er eine Frage stellte und sehr verwundert war. Ich hatte das Messer bereits in der Hand, aber ich zögerte, das zu tun, was ich hätte tun sollen. Die Saftlinge, die sich erschrocken duckten, ringelten sich plötzlich um mein Handgelenk und versetzten mich in eine seltsam friedvolle Stimmung. »Laßt das bleiben, ihr dummen Dinger«, schimpfte ich mit ihnen. »Natürlich werden wir es versuchen!« Anfangs war der Fremde noch halb betäubt, aber bald wurde er munterer, als mir im Augenblick lieb sein konnte: Er versuchte, Dickys Arm wegzustoßen, sich aufzurichten, auf die Veranda zu gelangen und dort an seine Waffe zu kommen. Er war sich offenbar nicht der Tatsache bewusst, dass sein Leben an einem hauchdünnen Faden hing und wir es uns nicht erlauben durften, Zeit zu verschwenden. Ich sprach beruhigend auf ihn ein und versuchte, ihm mit zusätzlichen Gesten klarzumachen, dass ich ihm helfen wollte. Daraufhin sagte er etwas, was ich nicht verstand, deutete auf eine seiner Taschen und tat dann so, als würde er etwas in den Mund stecken und anschließend trinken. Der Gegenstand, der in der bewussten Tasche gesteckt hatte, sah nicht so aus, als könnte man damit Löcher in meine Freunde brennen. Er nahm ihn, schüttelte eine Handvoll kleiner runder Dinge in die hohle Hand und trank das Wasser, das ich ihm brachte. Dann versuchte er zu lächeln, was wohl heißen sollte, dass er sich schon viel besser fühlte. Per Zeichensprache teilte er mir mit, dass er mehr Wasser trinken, etwas zu essen und dann schlafen wollte – er musste wirklich ein kompletter Narr sein, wenn er glaubte, dass ich ihn samt seinen Dschungelzecken und dem, was sonst noch an ihm sitzen mochte, ins Haus ließ.
Seltsamerweise schien der Fremde etwas dagegen zu haben, sich von seinen völlig verschmutzten Kleidern zu trennen. Dabei war es warm, und die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel herab. Auch das Wasser im Trog war durchaus nicht kalt. Schließlich riss mir die Geduld, und ich befahl Dicky, diesen Dummkopf festzuhalten. £*er Fremde war darüber sehr erbost. Als er aber erst einmal nackt war, verschwand er wie der Blitz im Wasser. Ich schüttete händeweise Wurzelpulver hinterher und reichte ihm dann den Kleietopf. Er starrte mich verständnislos an, und ich zeigte ihm seufzend, dass er sich damit waschen sollte. Dicky passte inzwischen auf, dass er den Trog nicht verließ oder eine andere Dummheit anstellte. Eines musste ich dem Fremden lassen: Er war der mobilste Todkranke, den ich je gesehen hatte. Als das Wurzelpulver lange genug gewirkt hatte und ich ihm zeigte, dass er sich auf den Rand des Troges setzen sollte, damit ich mich über seine Zecken hermachen konnte, versuchte er mir schon wieder davonzulaufen. Dicky hielt ihn fest, während ich die erste Beule öffnete und die betäubte Zecke herausholte. Ich warf sie ins Wasser und stellte dann zu meiner Verwunderung fest, dass mein Fremder in Ohnmacht gefallen war. Aber da s konnte mir nur recht sein, denn so war er wenigstens nicht mehr imstande, dauernd herum zu zappeln, und es dauerte nur etwa eine halbe Stunde, bis ich ihn von allem Ungeziefer befreit hatte. Mit Dickys Hilfe brachte ich ihn in Mutters Bett unter. Dann befahl ich dem Fliegenfresser, vor diesem Fenster besonders gut aufzupassen -einige der unangenehmsten Vertreter der Tierwelt von Belnoquur werden von einem kranken Menschen wie von einem Magneten angezogen – und widmete mich der nächsten Stufe der Behandlung, indem ich in den Dschungel ging und jede halbwegs brauchbare Pflanze um eine milde Gabe anging. Auf Belnoquur ist ein kranker Mensch meistens auch bald ein toter Mensch, aber andererseits sind die Chancen, geheilt zu werden, auf einer Dschungelfarm besser als in der Ebene. Die Pflanzen in der näheren Umgebung kannten mich, und wir wuss-
ten, was wir voneinander zu halten hatten. Ich kannte die hilfsbereiten, die phlegmatischen, die angriffslustigen und die wankelmütigen unter ihnen, und ich wusste, wie ich ihnen beikommen konnte. Der reichliche Segen an frischen Fleischlingen half mir hier und da, denn für eine solche Gabe ist ab und zu sogar eine Kuruut dazu bereit, einige unreife Früchte zu opfern – und diese unreifen Früchte helfen gegen allerlei Gifte besser, als die Blätter der Saftlinge es tun können. In den nächsten Tagen bestach ich viele Kuruuts, denn meinem Fremden ging es sehr schlecht. So gut er sich zunächst gehalten hatte, so gründlich klappte er zusammen, sobald er feststellte, dass er in einem weichen Bett lagNoch ehe es Mittag war, glühte er vor Fieber, und er war so schwach, dass er kaum die Hand zu heben vermochte. Das überraschte mich nicht weiter, denn mit Tobby Gwendice hatten wir ähnliches erlebt, als er aus Angst vor Strafe in den Dschungel lief und wir ihn halbtot dort aufgefunden hatten. Im Körper des Fremden führten Gifte und Gegengifte einen erbitterten Kampf miteinander, und wo die Gegengifte an Boden gewannen, da griffen die Abwehrkräfte des menschlichen Körpers ein und räumten mit den Abfallprodukten der Gifte sowie den Schmutzpartikeln und Erregern auf, die durch die Wunden in das Gewebe gedrungen waren: Die Wunden entzündeten sich und begannen zu eitern, aber das war in diesem Fall ein notwendiges Übel, auch wenn es meinem ungebetenen Gast Schmerzen bereitete und ihn zunächst mehr zu schwächen schien, als dass es zu seiner Gesundung beitrug. Am dritten Tag gingen mir die Fleischlinge aus, und Dicky erklärte bekümmert, dass auch in der kommenden Nacht nicht mit Nachschub zu rechnen war. Das war ein schwerer Schlag für mich, denn ich brauchte diese Tiere nicht nur, um die eine oder andere Pflanze gnädig zu stimmen, sondern sie lieferten auch kräftige Brühen und das Fett, das ich zur Herstellung verschiedener Salben brauchte. Mit dem Mut der Verzweiflung besuchte ich eine Kuruut nach der anderen und bat sie um Hilfe. Nur eine von Dickys wilden Verwandten war bereit, ein Tauschgeschäft
zu vereinbaren – es war ausgerechnet die, die Jan auf dem Gewissen hatte. Vermutlich war sie auf den Geschmack gekommen: Sie versprach mir einen Fleischling, verlangte aber als Gegenleistung den Körper des Fremden, falls er starb. Ich ging auf dieses Geschäft ein, aber ich sah mir den Fleischling sehr genau an, den die Kuruut mir am nächsten Morgen präsentierte. Er sah ganz normal aus, aber ich traute dem Frieden nicht. Also bat ich Dicky, die Beute der Kuruut zu überprüfen. Dicky rollte den Fleischling ein und behielt ihn auch gleich – das Tier hatte sich den Wanst mit den Überresten eines abgestorbenen Peitschenschlingers vollgeschlagen und war für Menschen völlig ungenießbar. Ich brauchte dringend Fleisch, Milch und Eier, aber die Tiere waren bei den Johannsons. Wenn ich mich beeilte und quer durch den Dschungel ging, anstatt mich an den Pfad zu halten, konnte ich Hin- und Rückweg zwischen Morgengrauen und beginnender Dunkelheit bewältigen. Das ging jedoch nur dann, wenn ich keine überflüssigen tasten mit mir herumschleppte – mit einer Kuh im Schlepptau und einer Ladung von Käfigen voll von Hühnern und Kaninchen war es glatter Selbstmord. Abgesehen davon war da s keine vernünftige Lösung, denn Kühe, Hühner und Kaninchen konnten sich nicht so schnell vermehren, wie mein Fremder ihr Fleisch brauchte. Außerdem war das Fett dieser Tiere nicht annähernd so gut für diverse Salben geeignet, wie es bei den Fleischlingen der Fall war. Ich brauchte diese Raupen – falls es welche waren –, und ich brauchte sie sofort und in ausreichenden Mengen. Aber woher sollte ich sie bekommen? Ich nahm die Waffe des Fremden an mich und trat vor die Haustür, fest entschlossen, notfalls erneut die ganze Farn in Aufruhr zu versetzen – aber wo hätte ich anfangen sollen? Etwa bei Dicky, der mein bester Freund war? Oder bei den Saftlingen, den Softys, den Grannys – sie alle waren meine Freunde, und ich brauchte ihre Hilfe. Auch die Gewächse des Dschungels durfte ich nicht verärgern. Wie sollte ich die Fleischlinge auf die Farm bringen, ohne einerseits die fremde Waffe einzusetzen und ande-
rerseits meine Freunde zu verletzen? Während ich noch auf der Veranda stand und über dieses Problem nachdachte, hörte ich das unverkennbare Geräusch eines dahin kriechenden Fleischlings. Gleichzeitig sah ich, dass Dickys Tentakel sich wachsam spannten. Das Geräusch kam näher und verstummte dann. An seine Stelle trat das Raspeln kräftiger Kiefer. Dicky schickte einen seiner Tentakel aus und fischte einen großen, fetten Fleischling aus den verfaulenden Überresten jener Maispflanzen, die ich bei der Ankunft des Fremden versehentlich geköpft hatte – über all den Aufregungen hatte ich ganz vergessen, sie zu zerkleinern und auf den Kompost zu werfen. Offenbar kann auch Vergesslichkeit manchmal ein Segen sein. Zumindest in diesem Fall bescherte sie mir einen Köder für die Fleischlinge. Allmählich besserte sich der Zustand des Fremden, und gleichzeitig klappte die Verständigung zwischen uns immer besser. Sobald er imstande war, aufzustehen und sich einigermaßen selbst zu versorgen, brach ich auf und holte Juwel und ein paar Hühner auf die Farm zurück. Bei den Johannsons erwartete mich eine Überraschung: Mutter hatte die Farm verlassen und war zu ihrer Familie zurückgekehrt. Wir hatten uns nie besonders nahegestanden, aber ich wünschte ihr trotzdem von ganzem Herzen, dass sie dort glücklich wurde. Die Pookys ließen sich noch immer nicht in der Ebene blicken. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich mich bisher nicht um dieses Problem gekümmert hatte, aber offenbar waren sie selbst gewillt, uns noch etwas Zeit zu lassen. Ich nahm mir jedoch vor, mich in den nächsten Ta ff en auf den Weg in das nächste Pooky-Dorf zu machen. Ich erzählte den Johannsons nichts von meinem seltsamen Fremden, denn ich kannte zwar inzwischen seinen Namen – Jirko Groden – aber meinen Fragen nach seiner Herkunft wich er aus. Vielleicht gab es irgendwo noch eine zweite Gruppe von Siedlern, obwohl mir das als sehr unwahrscheinlich erschien, aber ich wollte einfach nicht, dass man in der Ebene von ihm erfuhr. Woher auch immer er stammen mochte: Wenn ich von ihm erzählte, kam ich nicht umhin, auch seine seltsame Waffe zu erwähnen,
und dann hätte ich binnen kürzester Zeit eine Abordnung des Rates auf dem Halse gehabt. Sie hätten Jirko samt seinen Habseligkeiten in die Ebene gebracht und ihn ausgefragt, und wahrscheinlich hätte ich ihn nie wiedergesehen. Als ich mich am frühen Morgen auf den Rückweg machte, kam ich mir wegen meiner Heimlichtuerei wie eine Betrügerin vor, denn Mutter Johannson hatte es sich nicht nehmen lassen, mir einen wohlgefüllten Proviantkorb zurechtzumachen. Er enthielt neben Speck und Weizenmehl, das wir nur aus der Ebene bekommen konnten, auch ein Dutzend Eier. »Sie werden sich wohl erst ein bisschen erholen müssen, bevor sie wieder zu legen beginnen«, wehrte sie ab, als ich beschämt auf die Hühner verwies, die protestierend in ihren engen Käfigen gackerten, als Juwel unternehmungslustig aus dem Stall getrottet kam. Als ich am Abend auf die Farm zurückgekehrt war, gab es Spiegeleier mit Speck, dazu frische Milch und zum Nachtisch Kekse aus Weizenmehl und kandierten Früchten. Nach der Fleischlings- und Gemüsediät der letzten Zeit war das ein wahres Festessen. Sogar etwas Brot, Butter und Käse fand ich in dem geräumigen Korb, und jetzt tat es mir nicht mehr leid, dass ich mich den ganzen Tag über damit hatte abschleppen müssen. Jirko langte kräftig zu, und Dicky postierte demonstrativ einige seiner Tentakel vor dem Küchenfenster. Ich wollte gerade einige gute Happen für ihn auf einen Teller legen, als Jirko sich plötzlich zurücklehnte und zum Fenster hin sagte: »Nun komm schon, du Vielfraß, und nimm dir den Rest!« Dicky griff sofort zu, und er ließ nicht einen Krümel übrig. Dann fiel meinem Gast offenbar auf, dass ich ziemlich verdattert dreinschaute, und er fragte besorgt: »Das verstößt doch hoffentlich nicht gegen die Dressur dieser Wesen?« Zuerst verstand ich ihn nicht, aber dann erinnerte ich mich an die dressierten Schweine, Kaninchen und Hühner, die ich auf einem Marktplatz in der Ebene gesehen hatte. »Dicky ist nicht dressiert«, erwiderte ich unwillig. Der bloße
Gedanke, dass man meinem besten Freund so etwas antun könnte, war geradezu unerträglich für mich. »Tatsächlich nicht?« fragte der Fremde überrascht. »Aber wie bekommst du ihn sonst dazu, all das widerwärtige Ungeziefer zu vertilgen? Er hat mir ein paar von diesen Tieren gezeigt.« »Woher kommst du, dass du nicht einmal weißt, was ein Fliegenfresser ist?« »Ich hatte zuerst gefragt«, stellte er fest. »Erkläre du mir, was ein Fliegenfresser ist, dann erkläre ich dir, woher ich komme.« Das schien mir ein fairer Tausch zu sein, und außerdem gab es da meiner Meinung nach nicht viel für mich zu erklären. Fliegenfresser gehören zu den intelligentesten Pflanzen von Belnoquur. Sie können zwar ohne weiteres auch im Dschungel existieren, aber wenn es in ihrer Nähe eine Farm oder ein Pooky-Dorf gibt, siedeln sie sich sehr gerne dort an. »Und wie machen sie das?« fragte Jirko. »Ich meine, es sind doch Pflanzen. Können sie sich fortbewegen?« »Nun, Dicky ist jetzt schon zu groß dazu, aber er könnte es wohl immer noch, wenn es nötig wäre. Als er sich unser Haus ausgesucht hat, war er kaum einen halben Meter hoch. Er sah wie ein grüne Kugel aus, und obenauf hatte er nur winzige Tentakeln. Unser voriger Fliegenfresser war bösartig geworden, und Vater musste ihn vergiften. Als plötzlich das ganze Haus schutzlos dastand, kamen viele junge Fliegenfresser her. Dicky war der kleinste von ihnen. Dafür war er a ber besonders pfiffig und sehr mutig. Er hat die anderen alle in die Flucht geschlagen. Anfangs war es lebensgefährlich, nach Eintritt der Dunkelheit auch nur den Kopf aus dem Fenster zu stecken.« »Warum kamen die jungen Fliegenfresser zu euch?« Jirkos Unwissenheit verblüffte mich maßlos. Selbst in der Ebene weiß man mehr über unsere Welt. Aber ich erklärte ihm geduldig, dass viele Tiere auf Belnoquur durch den Geruch anderer animalischer Lebensformen angezogen werden. Ob es sich dabei um ein Pooky-Dorf, ein von Menschen bewohntes Haus oder einen Stall mit Tieren handelt, ist ihnen völlig gleichgültig. Die
Fliegenfresser wissen das, und die schlauesten unter ihnen setzen alles daran, sich einen solchen Platz zu sichern, weil sie nirgends sonst so gute Beute machen können. »Dann fängt er die Tiere also von sich aus?« fragte Jirko, aber ganz so einfach war es nun auch wieder nicht, denn nicht einmal ein Fliegenfresser kann sich dazu überwinden, einen abscheulich stinkenden Muckertuh zu fressen. Er weiß jedoch, dass er gerade diese Tiere nicht ins Haus lassen darf, wenn er nicht gerade Wert darauf legt, dass seine Futterquelle binnen kürzester Zeit versiegt, weil die Bewohner samt und sonders am Biss dieser kleinen Ungeheuer sterben müssten. Also fängt er auch die Muckertuhs. »Du unterstellst diesem Wesen dort draußen ein beträchtliches Maß an Intelligenz«, bemerkte Jirko. »Dicky ist intelligent«, erklärte ich und spendierte meinem gefräßigen Freund noch einen von den Keksen. Dicky bemächtigte sich des Leckerbissens und teilte mir dann mit, dass er zwei zarte junge Fleischlinge an unserem Maisköder erwischt hatte. Ich sagte ihm, dass ich einen davon brauchte. Den anderen und alle weiteren, die sich in dieser Nacht noch zeigen sollten, könne er verspeisen. Woraufhin Dicky mir beide Fleischlinge präsentierte. Ich suchte mir den kleineren aus, schnitt ihm auch gleich den Wanst auf und überließ dem Fliegenfresser die für Menschen ungenießbaren Innereien. »Was ist mit den anderen Pflanzen?« fragte Jirko inzwischen. »Sind die auch intelligent?« »Natürlich nicht. Die meisten sind genauso dumm wie die irdischen Gewächse. Andere sind nur ungefähr so schlau wie eine Kuh oder ein Huhn. Nur wenige Arten sind wesentlich intelligenter, aber wirklich intelligent sind wohl nur die Fliegenfresser und die Belnoqs.« »Was sind das nun wieder für Pflanzen?« »Ich hoffe, dass ich dir in einigen Tagen welche zeigen kann«, erwiderte ich seufzend und wünschte mir, ich hätte es bereits hinter mir. »Aber du wolltest mir verraten, woher du kommst!« »Gleich«, versprach er. »Nur noch eine Frage: Für wie intelli-
gent hältst du diese Belnoqs – und wer sind die Pookys?« »Das sind zwei Fragen«, stellte ich fest, aber er lächelte nur, und ich gab nach. »Die Belnoqs sind auf jeden Fall raffiniert genug, um die Pookys für ihre Zwecke einzuspannen. Mein Vater pflegte zu sagen, dass die Belnoqs über weite Teile von Belnoquur herrschen, ohne dass man etwas davon merkt, und er meinte immer, dass dies das beste Zeichen dafür sei, wie weise die Belnoqs tatsächlich sind.« »Und die Pookys?« »Sie sind genau wie wir auf diesem Planeten gestrandet, aber sie sind lange vor uns nach Belnoquur gekommen. Die Belnoqs waren damals wahrscheinlich schon vom Aussterben bedroht. Sie sind sehr zarte Geschöpfe-im Dschungel haben sie keine Chance, aber auch in der Ebene können sie nicht gedeihen. Sie brauchen Lichtungen, auf denen sie vor Wind geschützt sind, und sie wachsen nur in Gemeinschaft bestimmter anderer Pflanzen. Offenbar hatte sich kurz vor der Ankunft der Pookys das Klima verändert, die Dschungel breiteten sich aus, und es gab nur noch wenige Lichtungen, auf denen die Belnoqs blühen, konnten. Als die Pookys begannen, einige dieser Lichtungen zu bebauen, haben die Belnoqs ihre Chance erkannt: Sie beeinflussten die anderen Gewächse dahingehend, dass sie die Kulturpflanzen der Pookys akzeptierten und sogar unterstützten. Die Pookys merkten bald, dass es wenig Sinn hatte, neue Lichtungen in den Dschungel zu schlagen, wenn man nicht auch ein paar Belnoqs darauf ansiedelte. Aber aus irgendeinem Grund weigern sich die Belnoqs, mit den Pookys zu reden. Auch mit uns Menschen wollen sie nichts zu tun haben. Vater meint, ihre Art zu denken ist so fremdartig, dass wir sie sowieso nicht verstehen könnten.« »Und auf welche Art herrschen sie über die Pookys, wenn sie nicht einmal mit ihnen sprechen?« »Durch einen Kult«, erklärte ich. »In einer Sage der Pookys hört sich das so an: In den Gärten der Belnoqs vermehrte sich das Volk der Pookys, und so schufen sie immer neue Lichtungen, um
Lebensraum für ihre Nachkommen zu gewinnen. Aber es gab zu wenige Belnoqs, um all diese Lichtungen zu schützen. In einer Reihe von trockenen Jahren gediehen aber die Nutzpflanzen auf diesen ungeschützten Lichtungen so gut, dass die Pookys übermütig wurden und glaubten, auch ohne die Belnoqs leben zu können. Sie vernachlässigten die Belnoqs sogar in deren eigenen Gärten. Eines Tages verfinsterte sich der Himmel, und es brach ein Regensturm los, der viele Tage lang anhielt. Der Dschungel überwucherte die neuen Lichtungen. Unzählige Pookys starben. Nur die Gärten der Belnoqs überstanden die Katastophe ohne jeden Schaden. Als endlich wieder ein heller Morgen heraufzog, fand ein Pooky neben einer Belnoq den ersten Sonnenstein, und über dem Stein leuchtete die erste Himmelsblüte. Der Pooky streckte die Hand nach dem Stein aus, die Blüte brach ab und fiel ihm entgegen. Er trug den Stein in sein Haus, stellte ihn in eine Schale mit Wasser und legte die Blüte dazu. Seitdem gibt es in jedem Pooky-Haus einen Sonnenstein, und an jedem bewölkten Morgen öffnet sich eine Himmelsblüte an seinen Belnoqs. Er legt die Blüte neben den Stein, damit der Himmel schon am nächsten Morgen wieder dessen Farbe annimmt.« »Und was passiert, wenn er das nicht tut?« »Der Einfluss der Belnoqs auf die anderen Pflanzen ist sehr groß, und auf irgendeine Art und Weise verständigen sich die Belnoqs auch über weite Entfernungen hinweg. Vielleicht haben einige Pookys versucht, sich heimlich in der Ebene oder auf ungeschützten Lichtungen anzusiedeln, aber die Belnoqs dürften stets sehr schnell dahintergekommen sein. Dann gab es plötzlich Missernten auch auf den geschützten Lichtungen, oder die Fliegenfresser ließen ein paar Muckertuhs durch – die Belnoqs haben genug Mittel und Wege, um die Pookys bei der Stange zu halten. Als wir hierher kamen – ich meine unsere Vorfahren –, fraß der Dschungel die meisten von uns auf, und die Pookys wollten die letzten Überlebenden umbringen. Aber dann besannen sie sich plötzlich eines anderen und führten unsere Vorfahren auf eine Lichtung, auf der es Belnoqs ga b. Leider waren nur ganz wenige
unter unseren Vorfahren imstande, sich mit den Pflanzen zu verständigen. Eines Tages erschien eine Abordnung der Pookys und erklärte, dass einige von uns sich gefälligst in der Ebene ansiedeln sollten – selbstverständlich außerhalb des Schutzes der Belnoqs. Die Siedler in der Ebene sollten jedoch alle Nachkommen, die sich mit den Pflanzen verständigen konnten, in den Dschungel schicken, damit sie sich auf der erstbesten Lichtung ansiedelten. Wenn sie wirklich mit den Pflanzen sprechen konnten, erfuhren es die Belnoqs natürlich. Dann erschienen die Pookys und brachten einige von den Pflanzen und einen Himmelsstein.« »Mit anderen Worten: Die Belnoqs sind sich nicht sicher, ob sie auf immer und ewig auf die Hilfe der Pookys rechnen dürfen. Ihr seid vermutlich deren potentielle Nachfolger.« »Falls die Belnoqs wirklich so gedacht haben, dürften sie jetzt sehr enttäuscht sein«, sagte ich nüchtern. »Das hier ist die letzte Dschungelfarm, die von Menschen bewirtschaftet wird, und ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, einen Himmelsstein und ein paar Belnoqs zu bekommen.« »Aber du sprichst doch mit den Pflanzen?« »Ja, aber sie haben trotzdem die Belnoqs und den Himmelstein geholt. Wahrscheinlich bin ich ihnen einfach noch zu jung. Mit fünfzehn ist man für die Pookys noch ein Kind, ein Schössling, der nicht weiß, wohin er wachsen will. Ich werde ihnen erst noch beweisen müssen, dass ich alt genug bin, um eine Farm zu rühren.« »Und was willst du dann tun? Alleine hier draußen leben?« Dieses Thema gefiel mir nicht. Natürlich würde ich nicht lange alleine bleiben, denn der Rat würde alles daran setzen, mir schleunigst einen Mann zu beschaffen. Jirko war der letzte, mit dem ich darüber hätte sprechen mögen. »Hast du Dicky schon oft gefüttert?« fragte ich deshalb, und Jirko ging auf mein Ablenkungsmanöver ein. Es stellte sich heraus, dass Dicky meine Abwesenheit dazu benutzt hatte, sich bei Jirko beliebt zu machen, indem er ihm allerlei Früchte durchs Fenster reichte. Andererseits hatte Jirko oft genug gesehen, wie
der Fliegenfresser die Teller leerputzte, wenn ich es ihm erlaubte. Also revanchierte er sich bei Dicky, indem er ihn mit Bratenresten und Zuckerstückchen fütterte. Im Nachhinein tat es mir beinahe leid, dass ich diesem unverschämten Fliegenfresser auch noch einige von meinen kostbaren Keksen in den Rachen geworfen hatte, denn in der Zuckerdose herrschte Ebbe. »Du solltest dich schämen«, sagte ich zu Dicky. »Du weißt ganz genau, dass ich hier keinen Zucker herstellen kann. Deinetwegen muss ich in den nächsten Tagen schon wieder in die Ebene hinunter!« Aber Dicky tat, als sei er anderweitig so dringend beschäftigt, dass er mir nicht zuhören konnte. »Wie viele Menschen leben in der Ebene?« wollte Jirko wissen. »Ungefähr zehntausend«, murmelte ich mißmutig. »Und wie viele andere Siedlungen gibt es auf diesem Planeten?« Ich starrte ihn entgeistert an. »Das solltest du besser wissen als ich«, sagte ich schließlich. »Ich habe bis jetzt geglaubt, dass es uns Menschen nur hier, in der Ebene und den angrenzenden Hügeln, gibt. Aber du kommst ja offensichtlich aus einer anderen Gegend. Woher eigentlich?« »Wie hat es deine Vorfahren auf diesen Planeten verschlagen?« »Pass mal auf«, sagte ich langsam. »Wenn du mir nicht endlich sagst, woher du kommst, dann befehle ich Dicky, dich auf der Stelle einzurollen und zu betäuben, und er wird es tun, darauf kannst du dich verlassen. Ich werde dich auf Juwels Rücken festbinden und dich zum Rat bringen, und dann werde ich diesen Leuten erzählen, dass du ein Fremder bist, möglicherweise ein Kundschafter aus einer anderen Siedlung – aus einer, die von den Pookys unabhängig ist. So ist es doch, oder etwa nicht? Warum bist du hierhergekommen? Wollt ihr uns berauben?« »Ich glaube nicht, dass ihr etwas habt, was wir nicht auch haben«, bemerkte Jirko spöttisch. »Im Übrigen irrst du dich. Ich komme aus keiner anderen Siedlung. Aber ich bin tatsächlich ein Kundschafter, oder zumindest könnte man es so nennen. Hast du
schon mal etwas von der Kosmischen Hanse gehört?« »Was soll das sein?« fragte ich misstrauisch. »Eine Märchenstunde?« »Absolut nicht«, behauptete Jirko. »Weißt du, was die Milchstraße ist?« »Unsere Vorfahren sind von dort gekommen, aber das weiß doch jeder.« »Dann wisst ihr also auch, dass ihr die Milchstraße verlassen habt. Das Sonnensystem, zu dem Belnoquur gehört, liegt am Rand der Großen Magellanschen Wolke. Wie, um alles in der Welt, seid ihr hierhergekommen? Dieser Planet ist niemals besiedelt worden -zumindest nicht offiziell. Er hätte auch offensichtlich nicht besiedelt werden dürfen, nachdem es feststeht, dass es hier bereits intelligentes Leben gibt. Die entsprechenden Gesetze gibt es schon seit sehr langer Zeit. Haben deine Vorfahren sie bereits gekannt? Und wenn ja – warum haben sie sich darüber hinweggesetzt? Es gibt doch wahrhaftig Welten, auf denen man leichter und besser leben kann als hier!« Ich muss gestehen, dass ich verunsichert war. Jirko hörte sich ganz so an, als wüsste er, worüber er sprach, und ich verstand auch jedes Wort, aber ich begriff nicht recht, worauf er überhaupt hinauswollte. Trotzdem ahnte ich, dass er von mir eine Rechtfertigung erwartete. Das aber machte mich ziemlich wütend, denn meine Vorfahren hatten sich diesen Planeten nicht ausgesucht, sondern sie waren gegen ihren Willen hierher verschlagen worden. Sie hatten in einem Raumschiff die Erde verlassen, um sich auf einem anderen Planeten anzusiedeln. Um diesen anderen Planeten zu erreichen, mussten sie einen Sprung durch den Hyperraum tun. Als sie das taten, landeten sie in der Nähe von Belnoquur, und es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als diesen Planeten anzusteuern und dort zu bleiben. Irgendetwas war während des Sprunges passiert. Niemand konnte erklären, was das war, aber es hatte das Raumschiff an einen Ort versetzt, der außerhalb der Milchstraße lag, und es hatte außerdem alle Ma-
schinen zerstört, mit deren Hilfe man hätte umkehren können. So sagte es die Überlieferung, und so erklärte ich es Jirko, obwohl ich selbst es nicht verstand. Im Grunde genommen konnte ich mir auch gar nicht recht vorstellen, was ein Planet oder ein Raumschiff oder gär ein Sprung durch den Hyperraum darstellen sollte. Eines allerdings wusste ich: Unsere Vorfahren hatten die Katastrophe mit furchterregenden Wesen in Verbindung gebracht, die sie »Schreckwürmer« und »Hornschrecken« nannten. Von Anfang an hatte es unter den Siedlern zwei Parteien gegeben. Die eine ging davon aus, dass wir durch einen reinen Unfall nach Belnoquur gelangt waren, und forderte, dass gewisse Traditionen gewahrt wurden, die allerdings zur Folge hatten, dass wir uns von den auf Belnoquur gegebenen Lebensbedingungen soweit wie möglich zu distanzieren hatten. Das war noch heute der Standpunkt aller Siedler, die in der Ebene lebten, niemals einen Pooky oder eine Belnoq zu Gesicht bekamen und dazu neigten, beide ins Reich der Fabel zu verweisen. Die andere Partei bestand zurzeit nur noch aus meinem Vater und ein paar Randfarmern – ich war noch zu jung, um ein Stimmrecht im Rat zu besitzen. Diese andere Partei ging davon aus, dass die von den »Schreckwürmern« und »Hornschrecken« ausgehende Gefahr die gesamte Menschheit in der Milchstraße vernichtet hatte und dass es gefährlich sei, sich an die Traditionen einer Welt zu klammern, die längst nicht mehr existierte. Sie leugnete durchaus nicht jenen Teil der Überlieferung, der unsere Ankunft auf Belnoquur als Folge eines Unfalls darstellte, forderte aber, dass wir uns unserer neuen Heimat anzupassen hatten, um überleben zu können. Wie wenig erfolgreich diese zweite Partei war, ließ sich mühelos an der Tatsache ablesen, dass es nur noch diese eine Dschungelfarm gab. Das war auch der Grund dafür, dass mein Vater versuchte, die Überreste des Raumschiffs zu finden. Wenn es ihm gelang und er Aufzeichnungen fand, die die Traditionalisten absichtlich »vergessen« hatten, würde es alsbald wohl wieder mehr Dschungelfarmen geben. »Es war also das Suprahet«, murmelte Jirko fassungslos. »Da-
mals sind viele Schiffe spurlos verschwunden – vor über zwölf Jahrhunderten! Winnie, wie viele von euren Leuten werden Belnoquur verlassen wollen, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu gibt?« »Warum sollten wir von hier fortgehen?« fragte ich verblüfft und erschrocken. »Wohin sollen wir gehen – und womit?« »Um die letzte Frage zuerst zu beantworten: Da ihr nur etwa zehntausend seid, brauchen wir nur relativ wenige Raumschiffe, um euch von Belnoquur wegzubringen. Wohin – nun, das wird sich finden. Rund zweihundert Lichtjahre von hier entfernt haben wir ein Hansekontor auf einem unbewohnten Planeten eingerichtet. Der Boden ist fruchtbar, das Klima gut, und Land gibt es mehr als genug. Aber darüber müsste ich natürlich erst mit eurem Rat sprechen, nehme ich an.« »Und wenn wir nicht gehen wollen?« »Nach allem, was du mir erzählt hast, werden die Siedler in der Ebene sich förmlich darum reißen, diesen ungastlichen Planeten zu verlassen. Auf Gutabe werden die Pflanzen von den Menschen und Tieren gegessen – nicht aber umgekehrt.« »Du vergisst die Randfarmer!« protestierte ich. »Und wenn du denkst, dass ich einfach von hier fortgehen werde, dann irrst du dich.« »Aber es ist doch offensichtlich, dass die Pookys euch hier nicht haben wollen. Und die Belnoqs lassen euch nur deshalb am Leben, weil sie sich einen Vorteil davon versprechen. Eines Tages werden sie die Geduld mit euch verlieren. Entweder bringen sie euch dann um, oder sie machen euch ebenfalls zu ihren Sklaven. Aber wozu sollen wir uns jetzt die Köpfe darüber heiß reden – morgen werden wir in die Ebene gehen.« Er hatte gemerkt, dass ich von seinen Ideen nicht sehr angetan war, und er bemühte sich, mich abzulenken, indem er von der Erde erzählte, von der Kosmischen Hanse und seiner Arbeit, die offenbar darin bestand, nach Planeten zu suchen, auf denen man weitere Hanse-Kontore errichten konnte. Auf Belnoquur hatten sie zuerst gar nicht landen wollen, aber sie hatten das Raumschiff
entdeckt, nach dem mein Vater schon seit so vielen Jahren suchte, waren dort gelandet und hatten kurz vor der Landung auch die Siedlung in der Ebene gesehen. Da sie keine Ahnung hatten, was sie damit anrichteten, hatten sie bei der Landung keine Rücksicht auf die Pflanzen genommen, und die hatten natürlich entsprechend reagiert. Es erfüllte mich mit Genugtuung, zu erfahren, dass die Gewächse von Belnoquur nicht nur die meisten Raumfahrer umgebracht, sondern auch das Schiff flugunfähig gemacht hatten. Leider hatten Jirko und seine Leute einen Notsender in Betrieb gesetzt, bevor sie sich in mehreren Gruppen auf den Weg zur Ebene machten. Jirko war der einzige Überlebende aus seiner Gruppe. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, dass außer ihm noch einer entkommen war, und jetzt wünschte ich mir, ich hätte mir mit ihm nicht so viel Mühe gegeben… Er merkte nach einiger Zeit, dass ich ihm nicht mehr sehr aufmerksam zuhörte und zog sich zurück. Ich blieb am Tisch sitzen und dachte verzweifelt darüber nach, was ich tun sollte. Ich wollte Belnoquur nicht verlassen. Gewiss, es war eine Welt, in der man nicht allzu viele Fehler machen durfte, aber mir gefiel es hier. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich in einem Haus leben sollte, das nicht von einem Fliegenfresser beschützt wurde. Ich überlegte, ob es etwas einbrachte, wenn ich Jirko einfach umbrachte, aber ich wusste nur zu gut, dass ich zu einer solchen Tat denn doch nicht fähig war. Ich konnte mich weigern, ihn in die Ebene zu führen – dumm und unwissend, wie er war, konnte er selbst auf diesem kurzen Weg den Tod finden. Aber das würde nicht viel einbringen, denn der Notsender arbeitete, und es waren andere Raumschiffe in der Nähe. Ich erwachte im ersten Morgengrauen und fühlte mich zerschlagen, denn eine gemauerte Bank und ein steinerner Tisch sind kein Ersatz für ein weiches Bett. Ich stand gähnend auf, um das Feuer anzufachen. Einige von Dickys Tentakeln erschienen am Fenster, wie an jedem Morgen, um nachzusehen, was es zum Frühstück gab, und plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich würde Jirko in die Ebene bringen – aber auch keinen Schritt
weiter. Wenn er erst einmal aus dem Dschungel heraus war, konnte er sich selbst behelfen. Ich aber würde auf die Farm zurückkehren und auf Vater warten. Ich war mir sicher, dass er noch lebte. Wenn eine Kuruut ihn umgebracht hätte, dann wäre das unserem Fliegenfresser längst zu Ohren gekommen. Kuruuts sind untereinander sehr schwatzhaft, und mein Vater wäre eine weit interessantere Beute für eine von ihnen gewesen als beispielsweise einer dieser unwissenden Raumfahrer. Außer einer Kuruut aber gab es im Dschungel nichts, was meinem Vater hätte gefährlich werden können. Er kannte die Gewohnheiten der Muckertuhs und all des anderen giftigen Ungeziefers. Er musste noch am Leben sein. Niemand konnte von mir verlangen, dass ich die Farm verließ, solange er nicht zurückgekehrt war. Ich versorgte die Tiere, brachte die Milch in die Küche, bereitete für Dicky und mich je einen Eierkuchen zu und wartete dann geduldig darauf, dass Jirko erschien, um sich von mir in die Ebene führen zu lassen. Aber plötzlich streckte Dicky einen Tentakel herein und empfahl mir, vor die Tür zu gehen. Am Rand der Lichtung standen ungefähr zwanzig Pookys. Drei weitere kamen auf mich zu, und sie trugen etwas, aber es waren weder Belnoqs, noch ein Himmelsstein. Einer von diesen drei Pookys war uralt. Seine olivgrüne Haut war fleckig, die winzigen schwarzen Augen lagen so tief in den Höhlen, dass man sie fast nicht mehr sehen konnte, und sein Körper war so dürr, dass man jeden einzelnen Knochen seines Skeletts zu erkennen vermochte. Er hatte nicht die Kraft, irgendetwas zu tragen, und so war es sicher nur eine Formsache und – vielleicht – ein Zeichen von Respekt, dass er so tat, als helfe er seinen beiden jüngeren, kräftigen Artgenossen. Sie legten ihre Last behutsam vor mir auf den Boden, drehten sich dann schweigend um und gingen wieder davon. Als sie den Dschungel erreichten, verschwanden auch die zwanzig anderen Pookys. Obwohl ich wusste, was sich in dem Bündel befand, weigerte ich mich, es zu glauben. Es ist für einen Menschen völlig unmöglich, einen Pooky vom anderen zu unterscheiden – es sei denn, es
handelt sich um Individuen mit unübersehbaren Kennzeichen. Wenn die Pookys irgendeinen männlichen Menschen fanden, würden auch sie nicht wissen können, ob es sich um meinen Vater handelte oder nicht, und es waren in der letzten Zeit viele Menschen im Dschungel gestorben. Ich redete mir ein, dass sie mir versehentlich die Leiche eines Raumfahrers gebracht hatten, und machte mich daran, ein Grab zu schaufeln. Kurze Zeit später kam Jirko aus dem Haus. Er übersah die Situation mit einem Blick, ging zu dem Bündel und schlug die Tücher zurück. Ich sah das Gesicht des Toten, und obwohl ich sofort in eine andere Eichung blickte, konnte ich der Wahrheit nicht länger ausweichen. Die Pookys hatten genau gewusst, wohin dieser Mann gehörte. Und noch etwas anderes wusste ich nun: Mein Vater mochte die Gewohnheit der Tiere und Pflanzen von Belnoquur noch so genau gekannt haben – einmal, nur ein einziges Mal, hatte er einen Fehler gemacht. Und Belnoquur ist in dieser Hinsicht unerbittlich, zumindest zu uns Menschen. Dieser eine, kurze Blick hatte auch gereicht, um mir zu zeigen, woran mein Vater gestorben war: Die dunkelblau umrandete Wunde am Hals war unverkennbar, ein Muckertuh hatte ihn dort erwischt. Jirko wollte mich ins Haus schicken, aber ich grub verbissen weiter, und schließlich gab er es auf. Ein paar Tage später erschienen einige Pookys auf der Lichtung, entfernten die irdischen Pflanzen, soweit sie für sie ungenießbar waren, ließen aber den Mais und einige andere stehen. Sie brachten auch ein paar Belnoqs mit und setzten sie an den schönsten und sonnigsten Platz direkt vor der Veranda. Das Haus ließen sie unbehelligt, aber sie errichteten eine provisorische Hütte gleich nebenan. Meine Familie hatte den Boden auf dieser Lichtung schon seit fünf Generationen gepflegt, und es war gutes Land – zu gut, um es verkommen zu lassen. Schließlich brachten sie auch einen Himmelsstein in ihre Hütte, und Dicky, mein lieber, alter Dicky, mein bester Freund, empfahl mir, zu einer Entscheidung zu kommen: Er könne nicht das Haus und die Hütte beschützen, er habe aber
andererseits keine Lust, solange zu warten, bis er sich mit einem anderen Fliegenfresser herum prügeln müsse. Belnoquur ist nicht der Ort, an dem man sich Sentimentalitäten aller Art erlauben kann. Selbst ein Fliegenffesser muss praktisch denken, wenn er überleben will. Jirko war längst in der Ebene damit beschäftigt, die Siedler auf die bevorstehenden Veränderungen vorzubereiten. Ich hatte nur Juwel und zwei Hennen bei mir behalten, und mein Gepäck war nicht gerade umfangreich. Ich hatte die Lichtung kaum verlassen, als die Pookys auch schon begannen, das Haus für ihre Zwecke zu verändern. Unterwegs hörte ich mehrmals ein seltsames, hohles Rauschen. Juwel benahm sich ungewohnt bockig, und die Hühner duckten sich ängstlich auf den Boden ihrer Käfige. Als ich die Ebene erreichte, sah ich seltsame Erhebungen, die es vorher nicht gegeben hatte. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es sich um die von Jirko angekündigten Raumschiffe handelte. Um sie herum gab es ein wildes Gedränge von Menschen und Tieren, und rundherum sah ich Gehöfte, die man in aller Hast und Eile verlassen hatte. Ein einsames Huhn scharrte die gerade keimenden Körner auf einem Weizenfeld aus der Erde. Ich fing es ein und steckte es in einen Käfig: Es sollte nicht so allein und einsam an diesem Ort zurückbleiben. Die Fliegenfresser verließen die Ebene. Es war ein ungewohntes Schauspiel, denn erwachsene Fliegenfresser bewegen sich nur ungern von einem Ort zum anderen. Unbeholfen krochen sie auf den Dschungel zu. Einer von ihnen ka m mir direkt entgegen, hielt inne und fragte mich raschelnd, ob ich die Absicht hätte, zu bleiben. »Ich würde gerne bleiben, aber die Pookys und die Belnoqs haben mir zu verstehen gegeben, dass sie mich loswerden wollen«, erwiderte ich traurig. Er bedauerte das sehr und kroch seiner Wege. Das nächste halbe Jahr war die traurigste Zeit in meinem bisherigen Leben. Als erstes musste ich mich daran gewöhnen, dass ich älter war, als ich bisher gedacht hatte, was mir aber nicht
schwerfiel, denn mit zwanzig konnte ich ein Stück Land für mich beanspruchen. Aber die Arbeit ging mir nicht von der Hand. Mir fehlten die Softys und der warme, dampfende Dschungelboden. Juwel wurde krank, und da ich mich mit den Pflanzen von Gutabe nicht auskannte, musste ich einen Tierarzt holen, was natürlich Geld kostete. Ich selbst litt unter Schlaflosigkeit – mir fehlte das nächtliche Geraschel eines Fliegenfressers – und ich beka m einen bösen Husten, weil mir die ungewohnt trockene Luft von Gutabe nicht bekam. Die Siedler gewöhnten sich leichter ein, denn in der Ebene war es ohnehin trockener als im Dschungel gewesen. Überhaupt fiel es mir schwer, mich einzuleben, schwerer als den anderen, die seit jeher eine Gemeinschaft hatten. Die Bewohner einer Dschungelfarm waren auch auf Belnoquur Außenseiter gewesen, aber dort hatte man sie gebraucht. Auf Gutabe brauchte mich niemand, und das ließ man mich fühlen. Die Johannsons waren die einzigen, die mir hier und da halfen, aber sie wohnten weit entfernt. Als ich sie eines Tages bat, mir meine Tiere zurückzugeben, stellte es sich heraus, dass der gesamte Viehbestand beim Abflug als ihr Eigentum registriert worden war. Sie speisten mich mit einem jungen Hahn, einer trächtigen Sau und einem Kaninchenpaar ab, und dabei taten sie noch so, als handelte es sich um ein äußerst großzügiges Geschenk. Ich brauchte eine Weile, bis ich meine Mutter ausfindig gemacht hatte, denn sie war inzwischen mit einem Terraner aus der Verwaltung liiert. Als ich sie bat, als Zeugin aufzutreten und mir zu meinem Recht zu Verhelfen, reagierte sie sehr reserviert. Später stellte ich fest, dass die Johannsons meiner Mutter noch vor dem Abflug die Tiere abgekauft hatten. Sie hatten ihr dafür ein neues Kleid gegeben… Nein, es war wirklich kein schöner und ermutigender Einstieg in ein neues Leben, das angeblich in jeder Hinsicht besser als das auf Belnoquur sein sollte, und als eines windigen Abends Jirko vor meiner Tür stand, hätte ich ihn am liebsten erwürgt. Er war an allem schuld. Warum hatte er nicht im Dschungel sterben
können wie all die anderen, anstatt auf meine Farm zu stolpern. Er sah mir meine Gefühle wohl an, denn er wich hastig einen Schritt zurück und hob warnend die Hand. »Hör mir erst mal zu!« sagte er eindringlich. »Belnoquur soll genauer erforscht werden, behutsam natürlich und auf eine Art und Weise, gegen die weder die Pookys, noch die Belnoqs etwas einzuwenden haben. Dazu brauchen wir jemanden, der mit den Pookys und den Pflanzen reden kann. Jemanden, der sich dort bereits auskennt. Jemanden wie dich. Bist du einverstanden?« Das war die dümmste Frage, die man mir jemals gestellt hat. Belnoquur ist immer noch ein Planet, auf dem man nicht allzu viele Fehler machen darf, aber es gefällt mir hier. Im Hause steht ein Sonnenstein, und vor der Veranda entfalten sich an jedem trüben Morgen die Himmelsblüten der Belnoqs. Die heimlichen Herrscher von Belnoquur sind noch immer nicht sehr gesprächig, aber ab und zu reden sie mit uns. Wa s sie sagen, ist für uns oft voller Rätsel, aber mit der Zeit werden wir es lernen, sie zu verstehen.
Detlev G. Winter
Die hundert Kinder der Gyrdie Chain Ab am 10. März 426 NGZ die aus rund 20.000 Einheiten bestehende Galaktische Flotte zum Standort des Frostrubins aufbrach, wo sie in den Strudel der Ereignisse um die Endlose Armada geriet, begann auf Terra eine kurze Phase trügerischer Ruhe. Nach den Wirren der PorleyterKrise war der Menschheit eine Verschnaufpause vergönnt, die kaum länger als drei Monate währte und schließlich damit endete, dass die Superintelligenz ES vor der bevorstehenden Offensive der abtrünnigen Kosmokratin Vishna warnte. Viel Aufbau- und Konsolidierungsarbeit wurde in dieser Zeit bewältigt, forciert und maßgebend geleitet von Julian Tifflor für den staatlichen Bereich und von Reginald Bull für die Organisation der Kosmischen Hanse. Auch Aktivitäten eher protokollarischer Bedeutung häuften sich in diesen Tagen: Staatsempfänge, Plenarsitzungen und Ausschussberatungen wurden ebenso nachgeholt wie aufgeschobene Ehrungen und Feierlichkeiten. Zur letztgenannten Kategorie gehörte die Verabschiedung einer Raumfahrerin, die nicht nur bei ihren Kollegen der LFT-Flotten ein durchaus zweifelhaftes Ansehen genoss. Asengyrd Chain, genannt Gyrdie, Kommandantin des Schnellen Kreuzers IRON MAIDEN, hatte es verstanden, auf ungewöhnliche Weise von sich reden zu machen. Offiziell galt sie als äußerst zuverlässig und verantwortungsbewusst. In eingeweihten Kreisen eilte ihr allerdings gleichermaßen der Ruf voraus, extrem starrsinnig, verschroben und zänkisch zu sein. Gyrdies »erste« Pensionierung fand am 15. Juni 426 NGZ im Festsaal des HQ-Hanse statt. Der Lauf der Ereignisse freilich wollte es, dass es bei dieser einmaligen Verabschiedung nicht blieb …
1. Schon von weitem hörte Bully das Raunen unzähliger Stimmen. Das Tor zum Festsaal stand offen, und farbiges Licht fiel hinaus auf den Korridor. Hin und wieder war über der brabbelnden Kulisse unverständlicher Gesprächsfetzen helles Kichern zu hören – regelmäßig gefolgt von einem stoßweisen, dröhnenden Lachen. Bully verlangsamte seinen Schritt. Es passte ihm gar nicht, sich dieser ganz offenbar ausgelassenen Gesellschaft anzuschließen. Der Sinn stand ihm nach allem anderen als nach einer Festlichkeit, auf der sich, wie man hörte, hauptsächlich Witzbolde tummelten. Seit einiger Zeit war der Funkkontakt zur Galaktischen Flotte gerissen. Von Perry Rhodan und den Millionen Raumfahrern fehlte jedes Lebenszeichen. Für den Hanse-Sprecher war dieser Umstand Anlass zu tiefer Sorge, und er verspürte nicht die geringste Lust, sich an der aufwendigen Inszenierung der LFT zu beteiligen. Schlimm genug, dass ausgerechnet die Räumlichkeiten des HQ-Hanse dafür herhalten mussten. Aber Tiff hatte ihn eingeladen – also würde er kommen. Er blieb stehen, als er eine spiegelnde Fläche erreichte, und musterte sich ausgiebig. Er strich sich über die roten Borstenhaare und zupfte den Kragen der lindgrünen Gala-Kombination zurecht. Immerhin handelte es sich bei der Verabschiedung der IRON-MAIDEN-Kommandantin um einen Staatshoheitsakt. Die übrigen Gäste mochten sich noch so albern benehmen – er als Repräsentant der Kosmischen Hanse gedachte Würde zu bewahren. Und dazu gehörte ein gepflegtes Aussehen ebenso wie der korrekte Sitz der Kleidung oder die lackglänzenden Schuhspitzen. Oder hing er mit dieser Einstellung etwa veralteten Traditionen nach, die wie er aus dem 20. Jahrhundert früherer Zeitrechnung stammten und heutzutage keine zwingende Gültigkeit mehr besaßen? Zumindest nicht für den Abschied einer Person wie Gyrdie Chain? »Ach was!« knurrte er und ging entschlossen weiter.
Als er den Festsaal betrat, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Er wusste nicht, an wie vielen Pensionierungsfeiern er in seinem Leben schon teilgenommen hatte; eine wie diese war gewiss nicht darunter gewesen. Das farbige Licht hätte ihn frühzeitig darauf vorbereiten müssen! Die Leuchtkörper waren mit roten, gelben und blauen Folien a bgedeckt, zahlreiche Lampions baumelten von der Decke, und an den Wänden ringelten sich Unmengen bunter Luftschlangen. Karneval! dachte Bully grimmig. Mit der Versetzung einer Raumfahrerin in den Ruhestand hatte das nichts zu tun! Sein Blick flog über die Menschen, die in mehreren Gruppen beisammen standen und sich – je nach ihrem gesellschaftlichen Status – mit gedämpfter Stimme unterhielten, lauthals lachten, erzwungenen Frohsinn verbreiteten oder einfach lauschten und in gleichmäßigen Abständen distinguiert nickten. Es beruhigte Bully zu sehen, dass auch andere sich in Schale geworfen hatten, um die Feierlichkeit der Veranstaltung gebührend zu betonen, wenn auch beileibe nicht alle. Die bekannten Charaktereigenschaften der noch nicht anwesenden Hauptperson spiegelten sich förmlich in dem illustren Bild, das die Versammlung bot. Er suchte nach dem Ersten Terraner und fand ihn schließlich am Fuß des Rednerpults, das an der Stirnseite des Raumes aufgebaut worden war. Während er sich einen Weg durch die Menschentrauben bahnte, dankte er dem Himmel, dass niemand ihn ansprach. Zur Besserung seiner Stimmung trug auch das freundliche Lächeln des Chefs der LFT in keiner Weise bei. »Tiff!« grollte er verhalten, darauf bedacht, dass niemand der Umstehenden seine Bemerkungen aufschnappte. »Du bist mir eine Erklärung schuldig. Was soll das hier werden? Eine rauschende Ballnacht?« »Eine Pensionierung«, entgegnete der Erste Terraner trocken. »Ich dachte, du wüsstest es…« »Natürlich weiß ich’s«, knirschte Bully. »Allerdings habe ich nicht den Eindruck, dass die Gäste diese Sache mit der gebotenen Würde angehen.«
»Nun… du befindest dich nicht auf einer Trauerfeier…« »Willst du damit sagen, diese Faschingsdekoration sei normal? Möchte die LFT ihre staatlichen Angelegenheiten in Zukunft immer auf solch lächerliche Weise abwickeln?« »Du verstehst das falsch«, seufzte Julian Tifflor. »Ungewöhnliche Menschen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen.« »Ach – dann war der ganze Humbug womöglich noch deine Idee?« Bully sah das Grinsen in Tifflors Gesicht, aber er kam nicht mehr dazu, deswegen aus der Haut zu fahren. Jemand rempelte ihn im Vorbeigehen an. Der Inhalt eines Sektglases ergoß sich über das Oberteil seiner Gala-Montur. Gleichzeitig fühlte er sich sanft am Arm gepackt. »Oh, das tut mir leid…« Bully wollte lospoltern, doch rechtzeitig besann er sich anders. Der Übeltäter war eine Sie, und eine verdammt hübsche dazu. Fast ohne sein Zutun zog sich der Mund des Hanse-Sprechers in lächelnde Breiten. »Aber…«, säuselte er, »das macht doch nichts. Solange du keine Säure ausschüttest… ha, ha!« Er benahm sich wie ein Schuljunge, der seiner ersten großen Liebe gegenüberstand und nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. Ausgerechnet er! Ob die verträumten Augen der jungen Frau daran schuld waren? »Sag mal…« Zu allem Überfluss begannen die betörenden Augen auch noch zu strahlen. »Bist du nicht dieser Dings… na, du weißt schon, dieser Hanse-Sprecher…« Bully reckte sich. »Reginald Bull«, half er aus. »Genau! Der Bully!« Sie gab ihm einen begeisterten Schubs. »Mann, dich wollte ich schon immer einmal kennenlernen.« Er räusperte sich verlegen und versuchte, mit dem Handrücken die Feuchtigkeit aus der Uniform zu streichen. Mit dem Erfolg, dass er die Nässe nur noch mehr verteilte. Die Frau trat unterdessen aufgeregt von einem Bein auf das andere.
»Menschenskinder, welche Ehre! Du gehörst doch auch zu denen, die von der ersten Stunde an da bei sind, nicht wahr? So wie Tifflor und Rhodan und die anderen Alten.« »Alt?« protestierte Bully, »Alt ist ein relativer Begriff.« Sie winkte ab. »Nun hab’ dich nicht so! Ich meine es ja nicht wörtlich. Allerdings wirst du zugeben… Oder bist du am Ende eitel?« »Eitel? Ich?« Jetzt verdrehte sie die Augen. Der strahlende Glanz in ihrem Blick verschwand. »Oh mein Gott, er ist tatsächlich eitel. Lass die Finger von den Aktivatorträgern – Gyrdie hat es immer gesagt!« Sie tippte gegen den Fleck in seinem Anzug. »Schick mir die Rechnung für die Reinigung, ja? Und nichts für ungut.« Bully stand da wie ein begossener Pudel. Während er der Frau nachblickte, wie sie sich unter die übrigen Gäste mischte, sank seine gerade erst gebesserte Stimmung schlagartig wieder auf den Nullpunkt. Julian Tifflor grinste in einer Weise, die kaum noch anders als unverschämt zu bezeichnen war. »Glotz nicht so blöd!« fuhr der Hanse-Sprecher ihn an. »Wer ist diese Person überhaupt?« »Sie heißt Derja, glaube ich. Sie gehört zur Stammbesatzung der IRON MAIDEN, allerdings noch nicht lange.« »Junges Gemüse«, grummelte Bully verstimmt. »Eine freche Gans.« »Immerhin Raumfahrerdiplom mit Auszeichnung.« Tiff hob amüsiert die Brauen. »Tja, Freund, so ist das. Da hast du gut und gerne 2000 Jahre auf dem Buckel, und plötzlich lässt du dir von einer Zwanzigjährigen den Kopf verdrehen. Man sollte die Zellaktivatoren ein bisschen umprogrammieren. Du gibst keine gute Figur ab.« »An welche Programmierung denkst du? Nicht mit mir, das sage ich dir!« Jemand lachte so laut, dass er die Stimmen der übrigen Gäste mühelos übertönte. Bully fuhr herum, aber die aufflammende
Wut versiegte schnell wieder, als er begriff, dass nicht er die Quelle der Heiterkeit war. Als Verursacher des Lärms identifizierte er einen hochgewachsenen, bärtigen Mann, der bei einer Gruppe älterer Damen stand und sich ein Vergnügen daraus machte, seichte Witzchen zum Besten zu geben. »Wer ist der Clown? Ein Springer?« Tifflor nickte. »Soltor Karman, ehemaliger Patriarch der Karman-Sippe. Irgendwann wurde ihm die Klüngelei zwischen den Familienmitgliedern zu bunt. Er verkaufte sein Schiff und nahm Abschied vom ruhelosen Händlerleben. Seitdem nimmt er eine Verwaltungstätigkeit in der Hafenkontrolle von Terrania-City wahr.« Bully musterte die muskulöse Gestalt aus verengten Augenlidern. Karman hob gerade sein Glas und prostete den Damen zu. »Komischer Kauz. Weißt du was, Tiff – ich habe das Gefühl, die Leute, die sich hier eingefunden haben, sind alle nicht ganz dicht.« Der Hanse-Sprecher führte die flache Hand vor die Stirn und machte eine bezeichnende Bewegung. Julian Tifflor hieb dem Freund gegen den Oberarm. »Ich glaube eher, mit dir stimmt etwas nicht. Entweder ist dir eine Laus über die Leber gelaufen, oder du bist mit dem falschen Fuß aufgestanden.« »Ich habe schlechte Laune«, gab Bully zu. »Dieser Schnickschnack ist mir zuwider.« ’ »Reiß dich zusammen«, bat Tiff. »Es dauert ja nicht lange.« »Du hast gut reden…« Er verstummte, als die Damenriege um Soltor Karman in helles Kichern ausbrach. Der Springer war bei der Pointe seiner Geschichte angelangt. Er selbst genoss den Effekt eine Weile stumm und blickte mit großen Augen von einer zur anderen – dann riss er den Mund auf und grölte seinerseits los. »Herr, lass Abend werden«, stöhnte Bully. »Lange halte ich das nicht mehr aus.« Da erhob sich ein markerschütterndes Gebrüll wie von einer Horde wildgewordener Löwen. Karmans Lachen verblasste da-
gegen zum lauen Lüftchen. Bully sah, wie die Hälse der Menschen sich reckten, wie eine gespannte Starre ihre Körper befiel. Zwischen das tierische Geschrei mischten sich keckernde Laute. »Was hat das nun wieder zu bedeuten?« »Es ist soweit.« Julian Tifflor musste sich anstrengen, den Lärm zu übertönen. »Sie kommt.« Gewöhnlich hätte niemand dem Hanse-Sprecher Reginald Bull Begriffsstutzigkeit nachgesagt. Diesmal jedoch war er viel zu verwirrt und aufgebracht, um folgerichtig zu denken. Seine Mimik wirkte geradezu dümmlich. »Sie? Wer?« »Die Hauptperson«, grinste Tifflor. »Asengyrd Chain…!« Über ihr wahres Alter pflegte sie nicht zu sprechen. Genauen Aufschluss würden nur die Personaldaten geben, und die waren in NATHANS Speichern vor jedem Zugriff ausreichend geschützt. Selbst Julian Tifflor als oberster Dienstherr wusste nichts darüber. Das Mondgehirn übte strikte Zurückhaltung mit personenbezogenen Angaben. Es bestätigte lediglich die Fälligkeit der Entlassung. Nähere Auskünfte durften nur in begründeten Notsituationen angefordert werden. Wer Gyrdie betrachtete, der ahnte jedoch, dass sie ihre Pensionierung zum letztmöglichen Zeitpunkt beantragt hatte, den die Dienstvorschriften der LFT vorsahen. Sie war eine hagere Frau mit grauen Haaren und herben Zügen. Schönheitsoperationen und kosmetische Korrekturen hatte sie stets entrüstet abgelehnt; unzählige Runzeln und Falten in ihrem schmalen Gesicht sprachen von der hohen Zahl der Jahre, die sie in ihrem Leben bereits hinter sich gebracht hatte. Den Eindruck einer Greisin erweckte sie dennoch nicht. Im Gegenteil. Aufrecht und vor Vitalität förmlich sprühend, betrat sie den Festsaal. Zögernder Applaus setzte ein, der gegen das tierische Gebrüll allerdings keine Chance besaß. Natürlich war es nicht Gyrdie, die brüllte. Die schauerlichen Schreie stammten vielmehr von einer 30 Zentimeter langen Rau-
pe, deren von quer verlaufenden Kerben mehrfach eingeschnürter Rumpf weiß und rosa gepunktet war. Die Raupe hockte auf Gyrdies rechter Schulter und hatte ihr breites Maul in dem runden Kopf weit aufgerissen. Wie dieses Geschöpf es anstellte, einen derartigen Lärm zu entfachen, blieb dem Hanse-Sprecher freilich rätselhaft. Die Kommandantin der IRON MAIDEN winkte den Versammelten kurz zu. Während sie die Hand wieder sinken ließ, hieb sie mit der gleichen Bewegung der Raupe auf den Schädel. »Schnauze, Goliath!« Das Maul klappte prompt zu, und das Gebrüll verebbte. Ein zaghaftes Brummen war alles, was Goliath noch von sich hören ließ. Bully beobachtete die Frau, wie sie sich ihren Weg durch die Menschen bahnte, ab und zu eine dargebotene Hand schüttelte und sich von dem einen oder anderen herzlich umarmen ließ. Zweifellos war sie beliebt bei denen, die sie näher kannten, wenn sie auch ihr weiches Herz oft genug unter einer rauhen Schale verbarg. Als sie das Rednerpult erreichte, konnte der HanseSprecher sehen, dass ihre Augen feucht glänzten. »Es ist nicht leicht, Abschied zu nehmen«, sagte sie leise. »Ein unangenehmes Gefühl.« Seltsamerweise schien die Riesenraupe auf ihrer Schulter diese Empfindungen zu teilen. Die vielen Facetten in den Augen schimmerten plötzlich trübe, und die Enden des Maules hingen tragikomisch herab. Das Tier reckte den runden Kopf und rieb ihn mitfühlend an Gyrdies Hals. So viel Einvernehmen zwischen Mensch und Haustier machte den Hanse-Sprecher fast melancholisch. Ihm wurde warm ums Herz, und er verspürte das Bedürfnis, das possierliche Geschöpf zu streicheln. Als er jedoch die Hand nach ihm ausstreckte, zuckte Goliath zurück. Sein Leib wölbte sich zu einem Buckel, das Maul verzog sich in grotesker Weise, und die Runzeln in seiner Schädelhaut nahmen neue Positionen ein. Tiefes Knurren drang aus seiner Kehle. Gyrdie holte aus und schlug Bullys Hand zur
Seite. »Finger weg!« keifte sie. »Lass ihn in Ruhe, Kerl!« Dann tätschelte sie ihr Maskottchen liebevoll. Die Mimik des exotischen Raupengesichts entspannte sich. Goliath schmatzte mit vollen Pausbacken zufrieden vor sich hin. Bullys Unterkiefer sank verdutzt nach unten. Gleichzeitig spürte er einen so heftigen Schlag im Rücken, dass er hustend nach vorn taumelte und seinem Freund Tifflor in die geöffneten Arme fiel. »Ist sie nicht unwiderstehlich, unsere Gyrdie?« rief Soltor Karman voller Enthusiasmus und lachte auf. »Respektlos wie immer. Einsame Spitze!« Bully zappelte in Tifflors Griff und machte sich mühsam frei. Zornig trat er auf den Springer zu, der ihn um gut anderthalb Kopflängen überragte. »Wenn ich eines nicht vertragen kann, dann sind es Leute, die mir ungefragt auf die Schulter hauen. Das nächste Mal…« »Was…?« dröhnte Karman belustigt. »Was passiert beim nächsten Mal? Drohst du mir Prügel an? Mir…?« Abermals begann er schallend zu lachen. Bully rang um seine Fassung. Die Brüllraupe fühlte sich animiert und hob ihrerseits zu lautem Geschrei an. »Verdammt und zugenäht!« kreischte Gyrdie. »Bin ich in einem Kindergarten gelandet?« »Prmpf«, machte Goliath verschüchtert und stellte sein Brüllen ein. Der Springer brauchte etwas länger. Er hörte erst auf zu lachen, als er den stechenden Blick der IRON-MAIDEN-Kommandantin bemerkte. 211 »Du bist ein ungehobeltes Paket Muskeln, Karman. Im Kopf hast du nichts außer gähnender Leere.« Dieser Ausspruch war Medizin für Bullys angekratztes Nervenkostüm. Mit einem Mal wurde ihm Asengyrd Chain sympathisch. Er lächelte breit. Zuckerbrot und Peitsche, das schien ihre Maxime zu sein. Glaubte man den Aussagen ihrer Besatzung, so
lag darin das Geheimnis eines ungewöhnlichen Erfolgs. Jeder stöhnte, wenn er unter ihrem Kommando fliegen musste, aber später wollte niemand mehr den Dienst auf der IRON MAIDEN missen. »Dürfte ich jetzt endlich meine Entlassungsurkunde bekommen?« meckerte Gyrdie ungeduldig, während sie in Julian Tifflors Richtung eine auffordernde Geste machte. »Warum dauert das hier alles so lange?« Der Erste Terraner deutete auf das Rednerpult. »Es ist üblich, anlässlich der Pensionierung eines LFTRaumfahrers dessen Verdienst zu würdigen…« »Nicht nötig«, winkte Gyrdie ab. »Ich weiß selbst, was ich geleistet habe. Die Leute wollen keine Ansprache hören, sondern ein Fest feiern. Also gib mir die Urkunde, damit wir anfangen können. Und anschließend möchte ich mit NATHAN konferieren.« Bully meinte, er hätte einen Kloß verschluckt. Die Luft wurde ihm knapp. Fassungslos starrte er die Frau an. »Konferieren?« ächzte er. »Mit… NATHAN…?«
2. »Hör mir zu! So einfach ist das nicht. Du kannst nicht mir nichts, dir nichts da hinein gehen und…« »Du siehst doch, dass ich’s kann«, versetzte Gyrdie schnippisch. »Tifflor hat es ausdrücklich gestattet.« Bully hastete hinter der alten Dame her. Es verblüffte ihn, welches Tempo sie vorlegte. »Du verstehst mich falsch. Das Problem ist ein anderes.« »Ja, ich weiß! Nur Auserwählte dürfen mit NATHAN sprechen; die bekannten Herrschaftsstrukturen. Aber deshalb habe ich schließlich dich bei mir. Du bist doch autorisiert, oder?« »Nein!« schrie Bully. »Ich meine, ja…« Die Pensionärin blieb abrupt stehen. Die Raupe auf ihrer Schul-
ter rekelte sich behaglich. »Was denn nun: ja oder nein?« Der Hanse-Sprecher fuchtelte unbeholfen mit den Armen. »Natürlich bin ich autorisiert. Mit ,Nein’ wollte ich sagen, dass du nicht begreifst, was ich ausdrücken will.« Auf Gyrdies faltigem Gesicht zeigte sich ein Anflug mütterlichen Großmuts. »Warum so umständlich, junger Freund? Frisch von der Leber geredet, und jeder versteht dich!« Bully bemühte sich um Gelassenheit. Er seufzte. »Das eigentliche Problem hegt darin, dass NATHAN trotz seiner Leistungsfähigkeit doch nicht mehr als ein Computer ist. Im Grunde tut er nichts anderes, als Daten zu verarbeiten. Selbst wenn er es wollte: Er kann dir die Zukunft nicht vorhersagen.« »Ach, deshalb regst du dich so auf.« Gyrdie klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. »Keine Panik, mein Guter; lass das ruhig meine Sorge sein.« Sie wandte sich ab und ging weiter. Einen Moment lang stand Reginald Bull verdattert auf dem Fleck, bevor er ihr zähneknirschend folgte. Vielleicht lag es an ihrer frappierend offenen Unbekümmertheit, dass er unfähig war, dieser Person etwas nachzutragen. Selbst die gestrige Abschiedsfeier, die er mit gehörigem Groll im Leib begann, hatte er bis zum Schluss durchgestanden. Am Ende war es auch für ihn so vergnüglich geworden, dass er sogar über die einfältigen Witze Soltor Karmans herzhaft hatte lachen können. Gyrdies Ansinnen, sich von NATHAN Prognosen über ihren persönlichen Werdegang nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst erstellen zu lassen, hielt er dennoch für ausgemachten Unfug. Das Mondgehirn war weder ein Orakel, noch taugte es zum Astrologen. Der Hanse-Sprecher erinnerte sich, dass Julian Tifflor schon ein gehöriges Quantum geschluckt hatte, als er der alten Dame endlich die Einwilligung gab. Und wie nicht anders zu erwarten, blieb der Schwarze Peter natürlich wieder einmal an ihm, Bully, hängen.
Seine Stimm- und Hirnwellenfrequenz wiesen ihn als berechtigte Person aus. Das Schott zum Kommunikationsraum öffnete sich. Gyrdie stürmte förmlich hinein und machte es sich in dem einzigen Sessel bequem. Von einem Bildschirm leuchtete das Bereitschaftssymbol NATHANS. Die Hyperfunkverbindung vom Mond zum HQ-Hanse war störungsfrei. »Ich bin in Begleitung einer Dame, die gestern in den Ruhestand versetzt wurde«, erklärte Bully widerwillig. »Sie möchte Daten über ihre Zukunft wissen. Genehmigung ist erteilt.« NATHAN antwortete prompt. Seine künstlich modulierte Stimme drückte Bedauern aus. »Die Zukunft ist vielschichtig. Nur eine von unendlich vielen Möglichkeiten tritt ein. Eine Vorhersage ist daher nicht möglich.« »Papperlapapp!« zeterte Gyrdie los. »Ich will ja kein verbindliches Horoskop. Ich war Kommandant eines schnellen Kreuzers, das bedeutet Realitätssinn und Bodenständigkeit. Mit Mummenschanz habe ich nichts am Hut.« Wie zur Bestätigung brüllte Goliath auf. Bully riss die Hände an die Ohren. »Ruhe!« kreischte Gyrdie. Die Raupe fabrizierte einen glucksenden Laut und verstummte. Der Hanse-Sprecher beobachtete verblüfft, wie die Pensionärin eine Reihe handlicher Folien aus der Innentasche ihrer Kombination hervorkramte. Mit energischer Bewegung warf sie sie auf eine Ablagefläche. »Hier! Persönliche Daten, Röntgenbilder, Blutwerte, medizinische Untersuchungsergebnisse. Erbfaktoren, Flugdaten aller von mir durchgeführten Missionen zur Feststellung der kosmischen Strahlungskomponenten – und so weiter, und so fort. Gib das dem Schlauberger ein. Er wird schon wissen, was er davon auswerten soll.« Allmählich begriff Bully, was die alte Dame sich von dem Kontakt zu NATHAN erhoffte. Wahrscheinlich erwartete sie vom Mondgehirn eine Analyse über ihren Gesundheitszustand oder handfeste Tips, wie und wo sie ihren Lebensabend zweckmäßi-
gerweise gestalten sollte. Mit astrologischen Voraussagen wollte sie offenbar tatsächlich nichts zu tun haben. Er schichtete die Foüen übereinander und grinste anzüglich. »Dein Psychogramm ist auch dabei?« »Natürlich«, presste sie hervor, während sie die Nase rümpfte und drohend den Zeigefinger hob. »Aber es geht dich nichts an!« »Verstehe.« Bully lachte auf und betrachtete scheinbar versonnen die obere Folie. Als er sie vom Stapel nahm und sich bewusst provozierend der nächsten widmete, sah er aus den Augenwinkeln, wie die Riesenraupe ihren Leib zu einem Buckel wölbte. Das Maul öffnete sich behäbig, indem Goliath die linke Hälfte nach oben zog und die rechte kraftlos ’herabhängen ließ. Aus dem düsteren Schlund drang ein Geräusch wie von blubbernden Luftblasen in zähem Schlamm. Gleichzeitig gellte Gyrdies krächzende Stimme durch den Raum. »Es geht dich nichts an, habe ich gesagt! Bei allen Sternteufeln – wie alt musst du noch werden, bis du ein Minimum an Taktgefühl erlernst… Still, Goliath, damit werde ich alleine fertig…« Das gerade einsetzende laute Knurren wurde zu verhaltenem , Grummeln und versiegte sofort wieder. Vorsorglich hielt die Brüllraupe das Maul jedoch geöffnet. Bully machte eine beschwichtigende Geste und schob den Stapel Folien in das Eingabeelement der Kommunikationskonsole. Demonstrativ blickte er dabei zur Seite. Er hatte kein Interesse, den Geräuschorkan von Gyrdies Maskottchen abermals über sich ergehen zu lassen. Als NATHAN den Erhalt der Dokumente durch ein akustisches Signal bestätigte, klappten Goliaths Kiefer endlich zu. Der Hanse-Sprecher atmete erleichtert auf. »Na bitte«, meinte Gyrdie kopfschüttelnd. »Dass man bei euch Männern immer erst rabiat werden muss.« »Reg dich ab«, brummte Bully. »Wofür hältst du mich? Für einen Datenklau?« »Man kann nie wissen!«
Er zog es vor, sich auf keine Diskussion einzulassen. Irgendwie hatte er das ungute Gefühl, er würde zwangsläufig den kürzeren ziehen. »Kommst du mit den Folien zurecht?« wandte er sich an NATHAN? »Ja.« »Logisch!« bekräftigte auch Gyrdie. Sie stemmte die Fäuste in die mageren Hüften. »Die Datenträger sind von einem Spezialisten extra für die Inpotronik beschrieben worden, damit es bei der Auswertung keine Schwierigkeiten gibt. Du hast es bei mir nicht mit einer Dilettantin zu tun. Was ich in Angriff nehme, das klappt.« »Ist gut«, säuselte Bully im sanftesten Tonfall, dessen er noch fähig war. »Ich habe es begriffen. NATHAN kann die Folien mit Hilfe der externen Mechanik aussortieren und durch die optische Erfassung einzeln lesen. Er speichert die Angaben und verarbeitet sie. Richtig?« »Richtig. Warum erklärst du mir das? Ich bin mit den Vorgängen vertraut.« »Weil…« Bully atmete schwer. Mit letzter Willenskraft versuchte er, er sich zu beherrschen, aber es gelang ihm nicht mehr. Das Temperament ging mit ihm durch. Er schrie: »Weil ich mich frage, warum die Auswertung so lange dauert!« »Nur langsam!« meldete sich NATHAN. »Ein alter Computer ist keine Rakete.« »Oh mein Gott.« Zu einer anderen Äußerung war der Hanse-Sprecher in diesem Moment nicht fähig. Er glaubte zu träumen. Diese Bemerkung – von einer Hyperinpotronik, deren Progammoperationen so schnell abliefen, dass sie die kompliziertesten Probleme innerhalb von Sekundenbruchteilen zu bewältigen wusste! Es konnte sich nur um einen makabren Scherz der Plasmakomponente handeln. Oder um das üble Werk eines Witzboldes, der ihn ärgern wollte. »NATHAN!« rief Bully hart, nachdem er sich halbwegs gefangen hatte. »Auswertung!«
Diesmal reagierte die Inpotronik prompt und befehlsgemäß. »Asengyrd Chain«, begann sie. »Für dein Alter erfreust du dich bester Gesundheit. Eine Schande, dich in den Ruhestand zu schicken. Deine Lebenserwartung beläuft sich auf schätzungsweise noch sieben Jahrzehnte…« Bully beobachtete die Frau, während NATHAN fortfuhr, Prognosen abzugeben. Ihr runzliges Gesicht hellte sich mehr und mehr auf, und auch die Brüllraupe zeigte einen höchst zufriedenen Ausdruck -gerade so, als könnte sie alles verstehen. Er wunderte sich über die differenzierte Physiognomie des Tieres, aber er kam nicht dazu, tiefschürfende Überlegungen darüber anzustellen. Nach einem entscheidenden Satz änderte sich der Gemütszustand der Pensionärin schlagartig. »Du wirst viele Kinder haben, Asengyrd«, sagte NATHAN. Bully schreckte auf. Das konnte doch nicht wahr sein! Gyrdie bekam große Augen und stieß einen spitzen Schrei aus. Dann kippte sie nach hinten, stöhnte gequält – und fiel in Ohnmacht. Goliath riss die Kiefer auseinander, doch das Löwengebrüll, das der Hanse-Sprecher voller Grausen erwartete, blieb aus. Stattdessen erhob sich herzerweichendes Heulen. Als sie erwachte und das bewusste Denken wieder einsetzte, galt ihre erste Sorge der azyrkischen Brüllraupe. Gyrdies Hand griff zur Schulter, doch sie spürte nur die eigenen hageren Knochen unter der dünnen Freizeitkombination. Goliath befand sich nicht an seinem Lieblingsplatz. Er war verschwunden. Erschrocken richtete sie sich auf – so ruckartig, dass sie von starkem Schwindel gepackt wurde. Die Umgebung begann sich zu drehen, und weiße Pünktchen tanzten vor ihren Augen. Sie hörte ein summendes Geräusch und spürte das kühle Material einer Injektionspistole im Nacken. Sekunden später fühlte sie sich bereits besser. Der hilfsbereite Medo-Robot wollte sie stützen, doch sie wies ihn mit einer heftigen Armbewegung ab. »Geh weg! Ich brauche keinen Babysitter!« Die Maschine schwebte folgsam davon, nachdem sie den Zustand ihrer Patientin als aus-
reichend stabil klassifiziert hatte, und verzog sich in eine Ecke. Gyrdie stellte fest, dass sie in den Schlafraum ihrer eigenen Wohnung transportiert worden war. Sie schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Ihre Blicke suchten den Raum ab, doch von Goliath fehlte jede Spur. »Diese Idioten!« schimpfte sie vor sich hin, während sie ihre Schritte zum Durchgang in den Wohnbereich lenkte. »Wahrscheinlich haben sie die Gelegenheit benutzt und das Tier zu einer Untersuchung geschleppt. Ha! Darauf sind sie schon lange scharf! Aber wartet, Freunde, nicht mit mir! Ihr bekommt eine Klage an den Hals, die sich gewaschen hat. Erpresserischer Maskottchenraub und Schadenersatz wegen Enteignung, Diebstahl und widerrechtlichem Freiheitsentzug. Ganz zu schweigen von dem Psychoterror, dem ihr mich aussetzt, und den seelischen Folgen für die Raupe. Und wehe, ihr vergeßt, dem Tier die nötige UV-Dosis zuzuführen, dann fliegen die Fetzen, das kann ich euch flüstern…« Sie betrat den Wohnbereich und blieb wie vom Blitz gerührt stehen. Augenblicklich unterbrach sie ihr Lamento. In einem der Sessel hatte es sich ein Mann bequem gemacht, ein großer, kräftiger Bursche mit feuerrotem Rauschebart. Er sah zu ihr herüber und grinste unverschämt. »Was brabbelst du vor dich hin, Gyrdiemaus? Wirst du schon senil?« »Ooohh…!« schrie sie mit sich überschlagender Stimme und ballte zornig die Fäuste. »Keine Aufregung. Ganz ruhig bleiben…« »Die Liste wird umfangreicher!« kreischte sie ihn an. »Du bist unbefugt in meine Wohnung eingedrungen, hast mich fast zu Tode erschreckt und mich außerdem beleidigt, indem du mich als Maus bezeichnet hast. Das alles genügt für eine Anzeige. Ich kenne einen Richter, der mit seinem Strafmaß nicht zimperlich umgeht. Ich werde dafür sorgen, dass er über meine Klage entscheidet!« Soltor Karman zeigte sich unbeeindruckt. Er grinste noch immer.
Gyrdie verschränkte die Arme und kniff trotzig die Lippen aufeinander. Wahrscheinlich trug sie viel zu dick auf, um mit ihrem Gezeter noch glaubwürdig zu wirken. Karman und sie waren kollegial befreundet und kannten sich gegenseitig gut genug, um die Reaktionen des anderen richtig einzuschätzen. »Also?« fragte sie herausfordernd, jedoch schon bedeutend ruhiger. »Was willst du hier?« »Tifflor meinte, es müsste jemand in deiner Nähe sein, solange du bewusstlos bist. Er bat mich, auf dich aufzupassen.« Aus dem Nebenraum, einer kleinen Kammer, in der sie die Brüllraupe abzulegen pflegte, wenn diese der täglichen UV-Dosis bedurfte, drangen merkwürdige Geräusche. Ein helles, vielstimmiges Fiepen, verbunden mit leisem Rascheln. Gyrdie horcht auf, doch im selben Moment schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, der ihre Aufmerksamkeit wieder ablenkte. Sie fixierte den Springer und verengte misstrauisch die Lider. »NATHAN hat mir prophezeit, ich würde viele Kinder haben«, erinnerte sie sich. Gleichzeitig schüttelte sie sich vor Entsetzen. »Falls sich diese Auskunft schon herumgesprochen hat und du nur hier bist, weil du meinst, einer müsste als Vater fungieren…« Karman brach in dröhnendes Lachen aus. Er schlug sich klatschend auf die Schenkel und wischte die Tränen aus den Augen. »Ich…?« japste er. »Der Vater deiner Kinder? Erstens… ha, haha… erstens leide ich nicht an Geschmacksverirrung… und zweitens, hoha, zweitens weiß ich, warum dein Schiff ausgerechnet IRON MAIDEN heißt… hihaha… EI… EISERNE JUNG FRAU…« »Gar nichts weißt du. Das Schiff hieß schon so, bevor überhaupt feststand, wer das Kommando bekommt. Im Übrigen brauchst du dir auf deine Muskelpakete gar nichts einzubilden. Mit dir – niel« Soltor Karman schnappte nach Luft. Sein Lachkrampf legte sich. »Okay«, meinte er, »lassen wir das. Eins zu eins.« Gyrdie nickte, halbwegs versöhnt. »Wo ist Goliath?« Jetzt grinste er wieder, während er auf den Durchgang zur
Kammer deutete. »Wo er hingehört. Unter seiner Lampe.« Erneut fiel ihr das Zirpen auf, das aus dem kleinen Raum drang. Seit sie aus der Ohnmacht erwacht war, hörte sie das erste Mal bewusst hin. Sie wurde unruhig. Dass Goliath so leise wimmerte und dazu noch schabende Geräusche produzierte, hatte sie bislang noch nicht erlebt. Vorsichtig näherte sie sich dem Durchgang. Ihr Blick fiel auf die Lampe, deren Licht das erforderliche UV-Potential enthielt, wanderte hinab zu der Tischplatte, wo die Brüllraupe der Länge nach ausgestreckt lag… Gyrdie öffnete den Mund, aber sie brachte keinen Ton hervor. Neben Goliath tummelten sich gut und gerne hundert winzige Raupen! Sie verursachten das Schaben, und sie waren es, die jenes klägliche Fiepen von sich gaben. Alle waren sie weiß und rosa gepunktet. »Das…«, stammelte Gyrdie fassungslos. »Das gibt’s doch nicht…« Zitternd streckte sie einen Arm aus und deutete wie unter Trance auf den Tisch. Soltor Karman trat hinter sie und berührte sie an der Schulter. »Viele Kinder…«, murmelte er freundlich. »Sprach NATHAN nicht davon?« Sie wischte sich über die Augen, als zweifelte sie an der Echtheit dessen, was sie zu sehen bekam. Die kleinen Raupen krabbelten hurtig umher, wobei sie sich stets in Goliaths unmittelbarer Nähe hielten. Einige verwendeten ihre ganze Kraft dazu, auf den Leib ihrer Mutter zu klettern, nur um auf der anderen Seite wieder hin abzurutschen. Gyrdie trat dichter heran und stellte fest, dass sich zwischen den vielen winzigen Füßchen Goliaths eine Unzahl von Zitzen befand, an denen die Kleinen im Vorbeihuschen kurz saugten. Das Maul und das runzlige Gesicht des Muttertiers drückten so viel glückselige Zufriedenheit aus, dass Gyrdie für einen Moment von Rührung überwältigt wurde. Goliaths schillernde Facettenaugen glänzten so treuherzig, als wollten sie um Entschuldigung
bitten. »Hm«, machte die Pensionärin unschlüssig, und wieder: »Hm, hm…« Sie wandte sich ab, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und tappte an Karman vorbei in den Wohnraum. Dort ging sie mit vorgebeugtem Oberkörper auf und ab – gerade so, als sei sie noch nicht im Klaren, ob sie sich über das Ereignis freuen oder vor Ärger explodieren sollte. Hin und wieder warf sie dem Springer einen bitterbösen Blick zu. Soltor Karman breitete schließlich die Arme aus. »Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an! Ich kann doch nichts dafür!« Da fällte Gyrdie ihre Entscheidung. Sie beschloß, sich zu ärgern. »Natürlich nicht!« schimpfte sie, während sie anklagend zur Decke deutete. »Die Übeltäter sitzen da draußen, auf einem Planeten namens Azyrk!« Der Springer nickte, obwohl er nichts verstand. »Trotzdem brauchst du nicht herumzurennen wie eine aufgescheuchte Henne!« »Oh, undankbares Gesindel«, wetterte Gyrdie unverdrossen weiter. »Sie schlagen sich die Bäuche mit meinen Kräutern voll, und ich habe die Arbeit mit hundert Kleinraupen! Dieses Lumpenpack! Wie kann man eine arme alte Frau so hinters Licht führen!« »Arme alte Frau!« meinte Karman spöttisch. »Worum geht es eigentlich?« Gyrdie tippte ihm mit dem Zeigefinger auf den Bauch. Seine Frage ignorierte sie. »Aber das lasse ich mir nicht gefallen, verstehst du? Ich werde nach Azyrk fliegen und den Kameraden dort den Marsch blasen. Kommst du mit?« Der Springer war von dem Angebot verblüfft: »Wer? Ich?« »Hähä!« meckerte sie. »Du Einfaltspinsel. Klar kommst du mit. Für deine Freistellung sorge ich schon.« »Moment!« protestierte Karman. »Ich liebe es nicht, wenn man
so einfach über mich verfügt. Zumindest will ich wissen, was es mit diesen Azyrkern und deiner Brüllraupe überhaupt auf sich hat.« Gyrdie winkte lässig ab. »Das erfährst du früh genug.« Sie trat entschlossen in den Nebenraum und hieb mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Die Neugeborenen hasteten aufgeschreckt durcheinander, ihr Fiepen wurde lauter. Goliath verzog indigniert das Maul. »Macht euch fertig, Jungs! Ich bringe euch nach Hause!« Der Erfolg ihrer Ankündigung war augenblicklich hörbar. Goliath brüllte so laut und durchdringend, dass es dem Springer fast die Trommelfelle zerriss.
3. Dass Asengyrd Chain trotz ihrer Verschrobenheit bei den Verantwortlichen der LFT einen Stein im Brett hatte, stellte sie auf beeindruckende Art unter Beweis. Es gelang ihr innerhalb kürzester Zeit, von Julian Tifflor die Genehmigung für einen letzten Flug mit der IRON MAIDEN zu erhalten. Ausgestattet mit verschiedenen Sondervollmachten, durfte sie ungeachtet ihrer gerade erst erfolgten Pensionierung sogar als Kommandantin auftreten. Sie führte das Schiff so sicher wie gewohnt. Nach wenigen Stunden Flugzeit erreichte der Schnelle Kreuzer das Sonnensystem, als dessen zweiter Planet Azyrk seine Bahn zog. Wer immer von der Besatzung jedoch gehofft haben mochte, Gelegenheit zu einem Landausflug auf einer fremden Welt zu erhalten, sah sich getäuscht. Gyrdie bestimmte einen Wartepunkt weit außerhalb des Systems und machte sich mit einer Space-Jet auf den Weg – begleitet nur von der Brüllraupe mit ihren 100 Jungen und von Soltor Karman.
Der Springer war unterdessen informiert worden, welche Bewandtnis es mit Goliath und den Azyrkern eigentlich hatte. Während er das diskusförmige Beiboot in die Atmosphäre steuerte, dachte er darüber nach. Vor etwa drei Jahren hatte Gyrdie diesen Planeten das erste Mal besucht. Damals war sie als Urlauberin gekommen, und zwar ebenso heimlich wie vorschriftswidrig. Azyrk galt als Entwicklungswelt, deren halbintelligente Zivilisation durch ein Rahmengesetz der GA-VÖK vor Eingriffen von außen geschützt war. Normalerweise durften mit den Eingeborenen weder offizielle noch private Kontakte geknüpft werden; eine Bestimmung, über die sich Asengyrd Chain hinwegsetzte. Zum Glück, wie sich herausstellte. Sie fand eine von langen Dürreperioden geplagte Bevölkerung vor, die um den Fortbestand ihrer Existenz bangen musste. Die Azyrker litten Hunger und darbten an den Mangelerscheinungen fehlender Grundnahrungsmittel. Ungeachtet möglicher Repressalien alarmierte Gyrdie die LFT und sorgte dafür, dass den Eingeborenen geholfen wurde. Ernährungswissenschaftler analysierten den Metabolismus der Fremden und ermittelten Art und Menge der notwendigen Substanzen. Mehrere tausend Tonnen eiweiß- und spurenelementreicher Konzentratpackungen wurden nach Azyrk verfrachtet, darüber hinaus Unmengen terrani-scher Kräuter, deren Inhaltsstoffe für die Nahrungskette der Einheimischen besonders geeignet schienen. Selbst die unnachsichtigsten Staatsanwälte verzichteten auf eine strafrechtliche Verfolgung der IRON-MAIDEN-Kommandantin. Die Rettung einer planetaren Zivilisation wog schwerer als die Übertretung eindeutiger Gesetze. Gyrdie kam mit einem symbolischen Verweis davon. Die Genugtuung, eine gute Tat vollbracht zu haben, war jedoch nicht das einzige, was ihr von ihrem Erlebnis auf Azyrk blieb. Als Dank für die schnelle Hilfsaktion schenkten ihr die Eingeborenen die Brüllraupe, die unter dem Namen Goliath fortan für Furore auf der IRON MAIDEN sorgte. Angeblich handelte es sich um
das letzte Exemplar einer ausgestorbenen Spezies. Gyrdie hegte und pflegte es und betrachtete es für den Rest ihres Lebenswegs als unentbehrliches Maskottchen. Wahrscheinlich, dachte Soltor Karman vergnügt, hätte sie das Geschenk damals nicht angenommen, wenn sie gewusst hätte, dass es sich nach drei Jahren verhundertfachen würde. Unfruchtbar sollte es sein, und männlichen Geschlechts dazu. Beides entsprach ganz offensichtlich nicht den Tatsachen. Stellte man in Rechnung, dass eine so lange Tragezeit bei Säugern ausgeschlossen war, und berücksichtigte man zudem, dass weitere Vertreter seiner Art nicht existierten, so musste man zu dem Schluss kommen, bei Goliath handele es sich um ein Wesen, dessen Vermehrung durch eingeschlechtige Zellteilung erfolgte. Zum Trost gereichte diese Überlegung der Pensionärin freilich nicht. Ihre grimmige Miene verriet es. Karman verlangsamte den Flug der Space-Jet, als sie die Wolkendecke durchstieß und Einzelheiten der Planetenoberfläche sichtbar wurden. Langsam ging er tiefer und erkannte ausgedehnte, in saftigem Grün leuchtende Felder, an deren Rändern sich Siedlungen aus primitiven Bauwerken befanden. * Gyrdie verglich die Positionsangaben mit einer Reihe früherer Aufzeichnungen und erteilte dem Springer Anweisungen, wie er den Kurs ausrichten sollte. Karman zog eine enge Schleife und steuerte das Fluggerät wunschgemäß nach Nordwesten. Das planetare Magnetfeld diente als Orientierungshilfe. Weitere Grünplantagen zogen unter der Space-Jet dahin. »Bei meinem ersten Besuch war dies eine öde Welt«, grummelte Gyrdie. »Was wir sehen, sind Schnittlauch, Petersilie, Kerbel, Kresse, Estragon…« »He!« unterbrach der Springer stirnrunzelnd. »Wovon sprichst du?« »Von dem Kräuterzeug, das wir den Azyrkern zur Verfügung gestellt haben. Sie haben es angebaut und gepflegt, und anscheinend gedeiht es prächtig.« »Und es hat so komische Namen?« wunderte sich Karman.
»Wenn es so schmeckt, wie es heißt, dann…« »Was weißt du schon von irdischen Kräutern! Richtig zubereitet, können sie eine Delikatesse sein.« Gyrdie streckte unvermittelt einen Arm aus und deutete hektisch auf einen Monitor. »Da! Siehst du den Bau mit dem blauen Kreuz auf dem Dach? Lande in der Nähe!« Karman fütterte den Autopiloten mit den entsprechenden Daten. Die Space-Jet verzögerte weiter. »Ich nehme an, dieses Kreuz ist dein Werk?« »Allerdings. Dort wohnt der Kerl, der mir die Brüllraupe vermacht hat. Er bezeichnet sich als Häuptling seines Stammes und nennt sich Flinker Flunker, wenn ich mich recht erinnere. Wie gut, dass ich sein Haus markiert habe, um ihn notfalls irgendwann schnell wiederzufinden. Als hätte ich es geahnt! Na warte, Bürschlein…« »Flinker Flunker…«, sinnierte der Springer. »Hat dieser Name eine besondere Bedeutung?« »Der Translator hat ihn geprägt. Eine Übersetzung aus der Sprache der Einheimischen. Warum?« »Nun, vielleicht besitzt er eine gewisse Symbolik. Dann könnte man beispielsweise auch Schneller Lügner dazu sagen, oder?« Ihre Augen wurden groß. Gyrdies Blick wanderte zu Goliath und den Jungraupen und zurück zu Soltor Karman. Sie schluckte. »Daran habe ich noch nicht gedacht. Aber du hast vermutlich recht.« Zornig schüttelte sie die geballte Faust. »Dieser Unwürdige! Er wusste, dass Goliath eines Tages Kinder bekommen würde!« Karman lächelte. »Und er wusste wohl auch, dass sie nicht auf Azyrk geboren werden durften, wenn sie die ersten Stunden überleben wollten. Sein Trick ist gelungen. Die Kleinen leben. Du bringst diesem Planeten eine ausgestorbene Art zurück. Ist das nicht ein erhebendes Gefühl?« Gyrdie brummte etwas Unverständliches vor sich hin. Von die-
ser Warte hatte sie die Angelegenheit noch nicht betrachtet. Goliath fabrizierte ein blubberndes Geräusch, als wollte er seine innere Zufriedenheit kundtun. »Was bedeutet dieser riesige Trog?« wechselte der Springer das Thema. Gyrdie konzentrierte sich und beobachtete die Geschehnisse, die sich auf der Planetenoberfläche abspielten. In der Nähe der Häuptlingshütte hatten die Eingeborenen ein merkwürdiges Gestell errichtet. An mehreren Haken und Seilen war ein voluminöser Topf befestigt, in dem eine grüne Brühe schwappte. Etliche Azyrker tummelten sich um das Gebilde, und aus den nicht weit entfernten Häusern der Siedlung strömten weitere herbei. »Potzblitz!« entfuhr es der Pensionärin. »Offenbar kommen wir gerade zum Essensritual. Dazu musst du wissen, dass diese Leute einen seltsamen Metabolismus haben. Sie brauchen nur einmal in zehn Tagen Nahrung aufzunehmen, dann aber reichlich. Von der Menge in dem Pott werden alle satt. Schön, das zu sehen. Als ich damals hier war, standen sie kurz vor dem Hungertod.« »Die Kräuter sind zum Hauptnahrungsmittel geworden«, nickte Karman. »Sie haben sie weiträumig angebaut und leben von ihnen, indem sie sie zu einem essbaren Brei verarbeiten.« »Tja!« meinte Gyrdie mit stolzgeschwellter Brust. »Erfindungsreichtum zahlt sich aus. Manchmal bin ich ganz gut zu gebrauchen, was?« Soltor Karman verzichtete darauf, ihr eine lobende Bemerkung zu gönnen. Ein Reflex auf dem Tasterschirm fesselte sein Interesse. Während die Space-Jet zu Boden sank, forderte er eine Analyse des Bordcomputers an. Das Ergebnis kam in Sekundenschnelle – und es war eindeutig. »Nicht, dass ich dich bei deiner Selbstbew eihräucherung stören möchte«, sagte er ernst, »aber wir sollten uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass wir nicht die einzigen sind, die Azyrk einen Besuch abstatten…« Gyrdies hagerer Körper wirbelte herum. Mit einem Blick erfasste sie die Situation. Der Taster zeichnete ein langes, walzenförmi-
ges Objekt, das unweit im Sichtschutz eines Waldstücks verborgen lag. »Ein Raumschiff!« stieß die Pensionärin hervor. »Es muss bereits vor langer Zeit gelandet sein, sonst würden wir Reststrahlung der Triebwerke anmessen können. Die Konstruktion deutet auf eine Springer-Einheit hin. Schiffbrüchige womöglich.« Soltor Karman lachte heiser. »Das glaube ich kaum. Springer fliegen zwar in schrottreifen Kisten durch die Galaxis, aber wenn sie irgendwo landen, tun sie es selten, weil sie in Not sind. Viel wahrscheinlicher ist, dass hier einer ein lukratives Geschäft wittert…« Goliath brüllte erbärmlich, als seine Herrin die Rampe hinab stolperte. Tatsächlich sah es so aus, als würde sie jeden Moment das Gleichgewicht verlieren und der Länge nach auf die Nase fallen. Kein Wunder, dass die Raupe auf ihrer Schulter Höllenängste ausstand. Soltor Karman bewegte sich wesentlich vorsichtiger. Auf den Händen trug er ein großes Tablett, auf dem die Jungtiere durcheinander quirlten. Draußen hatten die Eingeborenen ihre Mahlzeiten unterbrochen und zum Empfang der Gäste in Reih und Glied Aufstellung genommen. Lediglich zwei Azyrker hingen noch in grotesker Haltung über dem Rand des Riesenbottichs und schöpften mit einer großen Kelle einige Portionen der grünen Brühe in handliche Behälter. »Flinker Flunker!« kreischte Gyrdie, kaum dass sie sich zwei Meter vom Ende der Rampe entfernt hatte. »Wo versteckt sich euer Herr Häuptling?« Gleichzeitig geriet Bewegung in die Formation der Ehrengarde. Ein unscheinbares Wesen, kleiner noch als die übrigen Einheimischen, zwängte sich zappelnd durch die Reihen und stieß meckernde Laute aus. Auf zwei kurzen Stummelbeinen tippelte es auf Gyrdie zu, reckte den winzigen Kopf und blickte die Frau aus silbern glitzernden Augen an. Die beiden Arme schlenkerten un-
beholfen um den kugelrunden Leib. Der Azyrker zirpte kaum hörbar. »Du bist wieder da«, übersetzte der Translator prompt. Das handliche Gerät, das Gyrdie um den Hals trug, war mit der Sprachanalyse vom ersten Besuch programmiert. »Was führt dich zu uns, Große Tante?« Die Pensionärin räusperte sich vernehmlich – aber es war bereits zu spät. Soltor Karman, aufmerksam wie immer, hatte es gehört! Große Tante! Er begann schallend zu lachen und neigte dabei versehentlich das Tablett zur Seite. Einige Jungraupen purzelten herab und landeten im Sand. Goliath, dessen Mutterinstinkt ihn das Unheil ahnen ließ, begann abermals zu brüllen. Gyrdies Gesicht zeigte tiefe Falten aufkeimenden Unmuts. Flinker Flunker sprang vor lauter Überraschung mit einem gewaltigen Satz nach hinten. Er quietschte wie eine zusammengedrückte Badeente. Karmans Schultern zuckten heftig, während er mühsam das Tablett auszubalancieren versuchte. Schließlich gab er es auf. So komisch fand er die Situation, dass er sich kaum mehr beherrschen konnte. Er schüttelte die Raupen vom Tablett und warf es in weitem Bogen von sich. Dann wandte er sich ab, hastete zur nächstgelegenen Landestütze der Space-Jet und klammerte sich an ihr fest. Er krümmte sich vor Lachen. »Tante!« japste er immer wieder. »Große Tante!« »Du Kindskopf!« hörte er Gyrdie schimpfen, die sich durch das Gebrüll der Raupe kaum noch verständlich machen konnte. »Du einfältiger Kindskopf!« Vielleicht war er das in der Tat – aber was kümmerte es ihn, solange er seinen Spaß daran hatte. Die Freude verging ihm allerdings schnell, als plötzlich eine merkwürdige Stille eintrat. Der quietschende Flunker, der brüllende Goliath und die kreischende Gyrdie – sie alle verstummten von einer Sekunde zur anderen. Soltor Karman schwante drohendes Ungemach. Langsam drehte er sich um. Seine Befürchtungen bestätigten sich. Aus der Hütte des Häuptlings war ein Humanoider getreten:
groß, breit, das kantige Gesicht von einem wallenden roten Bart umrahmt, stand er hinter der Reihe der Azyrker und blickte grimmig drein. Es musste sich um einen der Springer handeln, deren Wa lzenschiff sie kurz vor der Landung entdeckt hatten. Die kleingewachsenen Eingeborenen überragte er um gut anderthalb Meter. Rücksichtslos schob er sie zur Seite und trat neben den Häuptling. In einer Hand hielt er eine beschriftete Folie, in der anderen einen Stift. Beides streckte er Flinker Flunker entgegen. »Manieren habt ihr Wilden wohl keine«, donnerte seine Stimme durch die Stille. »Du lässt mich einfach stehen, obwohl du mir gerade versprochen hattest, dein Zeichen auf dieses Papier zu setzen. Ich erwarte, dass du dein Wort hältst.« Flinker Flunker nahm die Folie zögernd entgegen. Offenbar fühlte er sich überrumpelt, denn er wirkte höchst unsicher in seinen Bewegungen. Karman näherte sich der Gruppe, wobei er darauf achtete, keine der kleinen Raupen zu zertrampeln. Gyrdie hatte bislang noch nichts zu dem Verhalten des fremden Springers gesagt. Ihr Gesicht allerdings sprach Bände. Sie traute der Sache nicht. Als der Azyrker den Stift senkte und zum Schreiben ansetzte, riss sie ihm blitzschnell die Folie aus der Hand. »Einen Moment noch! Was ist das?« Der Fremde wirkte aufgebracht. Drohend trat er einen Schritt auf die Pensionärin zu. »Höre, alte Frau! Ich bin Xonxan, Patriarch der Xonxan-Sippe und Kommandant der XONX-1. Ich treibe unabhängigen Handel, und ich lasse mir von dir nicht ins Geschäft pfuschen. Es reicht, wenn die Hanse fast jeden freien Wettbewerb verhindert.« Gyrdie ließ sich nicht einschüchtern. »Was ist das für ein Papier?« »Ein Vertrag«, knurrte Xonxan widerwillig. »Er sichert mir die Abbau- und Verwertungsrechte der hier wachsenden Kräuter.« Die Pensionärin grinste breit. Goliath folgte ihrem Beispiel in merkwürdiger Weise. Die Winkel des Maules zogen sich nach oben.
230 »Es sind terranische Kräuter. Dein Vertrag ist daher nichtig.« »Oho!« grollte der Patriarch amüsiert. »Du gibst mir Nachhilfeunterricht in galaktischem Handelsrecht. Informiere dich besser! Planetare Güter, egal woher sie ursprünglich stammen, werden der Welt zugerechnet, auf der sie in Gebrauch sind. Die Kräuter gelten als azyrkisch. Klar?« »Nichts ist klar!« fuhr Gyrdie auf. Sie schwenkte heftig die Folie in Flinker Flunkers Richtung. »Einen Vertrag willst du schließen, Freund? Weißt du überhaupt, was ein Vertrag ist?« »Nein«, gab der Häuptling zu. »Nicht genau.« »Leistung und Gegenleistung, du verstehst?« »Gegenleistung, ja«, meinte Flunker treuherzig. »Ich gebe eine Ware und bekomme etwas dafür.« »Natürlich!« beeilte sich Xonxan zu versichern. »Denkst du, ich will jemanden betrügen? Die Azyrker werden reichlich entlohnt.« Soltor Karman zog eine Braue in die Höhe, als er das hörte. Springer galten seit jeher als Leute, die ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren. Die wenigen, die außerhalb der Kosmischen Hanse noch selbständigen Handel trieben, hatten sich nach allem, was man von ihnen wusste, kaum gebessert. Auch Xonxan traute er nicht zu, dass er eine Ausnahme darstellte. »Sie werden entlohnt, soso«, säuselte Gyrdie. Abermals wandte sie sich an den Azyrkerhäuptling. »Was bekommst du für die Abbaurechte?« Flinker Flunker schien ein Stück zu wachsen. »Mähmaschinen«, verkündete er stolz. Das war zu viel für Asengyrd Chain. Erst warf ihre geliebte Brüllraupe hundert Junge, was ihre Nerven ohnehin schon gehörig belastete -und dann deckte sie, wie sie sich ausdrückte, den Schwindel des Jahrtausends auf. Ein gerissener Springerpatriarch versprach ihren ehemaligen Schützlingen Mähmaschinen für die Vertriebsrechte an Kräutern, zweifellos in der hinterlistigen Absicht, die Geräte selbst zu nutzen, um größere Mengen in kürze-
rer Zeit fördern zu können. Als sie mit bloßen Fäusten auf Xonxan losging, zog Soltor Karman vorsichtshalber den Paralysator. Durch die heftigen Bewegungen der Pensionärin verlor ihr Maskottchen den Ff alt. In hohem Bogen flog Goliath von ihrer Schulter und landete mitten unter den Jungraupen während Gyrdie auf den Betrüger eindrosch. Ihr Vorgehen zeigte freilich wenig Wirkung. Der Patriarch packte sie an den Armen und hob sie mühelos nach oben. Die Azyrker sahen staunend zu, wie er sie davon schleppte. Karman zielte, aber der Winkel war so ungünstig, dass er die Pensionärin ebenfalls getroffen hätte. Unbehelligt trug Xonxan seine zappelnde und um sich schlagende Last zu dem Bottich und warf sie kraftvoll über dessen Rand. Es platschte vernehmlich, als Gyrdie in der grünen Suppe landete. »Jetzt reicht’s!« rief Karman und schwenkte die Waffe. »Mach, dass du fortkommst, und lass dich nicht wieder auf Azyrk blicken!« Der Patriarch hob abwehrend die Hände. »Beherrsche dich, Artgenosse! Kein Grund zum Schießen. Ich gehe freiwillig und werde nie wieder gesehen. Ohnehin ein schlechtes Geschäft; Grünzeug verkauft sich nicht. Ich sehe mich nach besseren Einnahmequellen um.« Der Lauf des Paralysators folgte jeder seiner Bewegungen. Rückwärts gehend, entfernte sich Xonxan langsam. Dann, als er die Distanz als groß genug einschätzte, wandte er sich um und rannte mit weit ausholenden Schritten auf den Wald zu, hinter dem sein Walzenschiff wartete. Soltor Karman grinste und steckte den Paralysator ins Halfter zurück. Der Patriarch mochte gerissen sein – mutig jedenfalls war er nicht, sonst hätte er sich nicht so leicht vertreiben lassen. Als Karmans Blick auf den Soßenkübel fiel, musste er an sich halten, um nicht schon wieder in lautes Lachen auszubrechen. Über den Rand des Behälters lugte Gyrdies runzliges Antlizt, zu einem Ausdruck der Wonne und des höchsten Genusses verzogen. Mit beiden Händen hielt sie sich fest, um nicht erneut in die
Brühe zu fallen, während sie sich verzückt die Lippen leckte. »Das ist ja köstlich!« schwärmte sie. »Eine wahre Delikatesse!« Umständlich kletterte sie aus dem Topf heraus, nicht ohne nochmals den Finger in die Soße zu tunken und ihn geräuschvoll abzulutschen. Sie sprang zu Boden und wischte sich den grünen Brei von der Kleidung. Flinker Flunker tapste hastig auf sie zu. Sein dicker Bauch quoll fast über vor Freude. »Es schmeckt dir!« meinte er zufrieden. (Ein Wunder, dachte Karman, dass der Translator nach dem Bad noch funktionierte.) »Es sind die Kräuter, die du uns damals geschenkt hast. Gehackt, gepresst und mit Gewürzen verfeinert. Gebunden mit einer Tinktur aus Öl, Eiern einheimischer Vögel und…« Gyrdie winkte ab. »Nicht so umständlich! Man nennt das Mayonnaise; merke dir dieses Wort. Ein bisschen Salz und gewürfelte Zwiebeln fehlen wohl noch, auch zerkleinerte Gurken könnten nicht schaden. Aber keine Sorge, all das besorge ich euch. Knoblauch? Hm. Geschmackssache. Kriegst du auch! Und Mähmaschinen! Überhaupt alles, was du haben willst!« »Aha!« begriff Flinker Flunker. »Jetzt möchtest du die Kräuter ernten dürfen!« »Genau! Die Kosmische Hanse wird das Handelsmonopol erhalten, wenn du nichts da gegen hast. Die ganze Galaxis soll in den Genuss dieser Grünen Soße kommen!« »Die Galaxis? Wer ist das?« »Nun… äh… wie soll ich das erklären…?« »Lass es bleiben«, riet Soltor Karman amüsiert. »AlsLFTMitarbeiterin ist es sowieso nicht deine Sache, Geschäfte für die Hanse abzuwickeln.« Gyrdie ließ in ihrer Begeisterung nicht nach. »Rede nicht so blöd! Ich brauche nur eine einzige Kogge herzurufen, mit einem Feinschmecker an Bord. Und schon ist die Sache geritzt.« Zweifellos hatte sie recht. Der Springer verzichtete auf jeden weiteren Einwand. Während Gyrdie sich in Visionen erging, wie
die Schlemmernaturen der Milchstraße demnächst das neue Gericht in höchsten Tönen loben und ihr als Entdeckerin ein Jahrhunderte dauerndes Andenken bewahren würden, sah er zu, wie die Brüllraupe Goliath sich durch den Sand schob und auf ihre Herrin zu kroch. Die Jungtiere machten sich allmählich selbständig. So kam es, dass der Planet Azyrk eine ausgestorbenen Lebensart zurück erhielt… … und dass jene legendäre Frankfurter Grüne Soße, die schon Johann Wolfgang von Goethe als Leibgericht schätzte, nach mehr als zweitausend Jahren endlich ihren Siegeszug durch die Galaxis antrat.
4. Manch einer mag sich fragen, warum ich diese Geschichte überhaupt niedergeschrieben habe. Sie ist weder spannend noch aktionsreich oder weltbewegend. Das gebe ich gerne zu. Ich habe sie einfach zu Papier gebracht, weil ich sie ganz lustig fand – aber das ist, wie die eben erwähnte Grüne Soße, reine Geschmackssache. Vielleicht können nur die Leser im Bezirk Europa, Unterbezirk Deutschland, Distrikt Hessen nachempfinden, um welche kulinarische Köstlichkeit es hier gingIm Nachhinein bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich die Geschehnisse um Asengyrd Chain und auf dem Planeten Azyrk wirklich erlebt oder nur geträumt habe. Versteht mich bitte,nicht falsch: Ich hatte viel getrunken während der Pensionierungsfeier, und nach Gyrdies komischer Idee, ein Gespräch mit NATHAN zu führen, ist mir, wie man so sagt, der Faden gerissen. Gut möglich, dass nichts von dem, was auf den letzten Seiten geschrieben steht, wirklich stimmt. Tatsache bleibt auch, dass meine alternde Freundin noch heute die nervenzersägende Brüllraupe mit sich herumschleppt. Von den hundert Jungen ist weit und breit nichts zu sehen und nichts
zu hören. Sie haben dort, wo das Muttertier herstammt, ihre Heimat gefunden. Wahrheit oder Phantasie? Gyrdie pflegt darüber kein Wort zu verlieren, und fragen möchte ich sie nicht. Wer gibt schon gerne zu, dass er einen Blackout hatte? Tatsache bleibt auch, dass Gyrdies Pensionierung schon bald wieder rückgängig gemacht wurde. Als die Warnung von ES eintraf, Vishna sei unterwegs, um die Erde »in Scheiben zu schneiden«, ging der Trubel los. Jedes Schiff wurde gebraucht, um der Bedrohung zu begegnen, und man legte Wert auf die erfahrensten Kräfte, über die Terra verfügte. Eine Frau wie Asengyrd Chain brauchte man natürlich nicht ein zweites Mal zu bitten. Mit voller Energie übernahm sie wieder das Kommando über die IRON MAIDEN. Heute sitzt sie, glaube ich, auf einem Planeten der Blues fest und wartet darauf, dass irgendwer sie abholt und ihr doch noch zu ihrem verdienten Ruhestand verhilft. Goliaths Gebrüll wird ihr die Zeit dort versüßen. Nun – mag sein, dass Euch das alles gar nicht mehr interessiert, weil Ihr die Geschichte nicht halb so lesenswert findet wie ich, als ich begann, sie aufzuschreiben. Dann kann ich Euch nur noch einen Tip geben: Versucht einmal, Kräuter für Grüne Soße zu bekommen, bereitet sie nach Anweisung zu – und wenn sie Euch schmecken sollte, denkt daran, dass Ihr womöglich keine terranischen Erzeugnisse in Euch hinein schaufelt. Die Zutaten könnten von Azyrk stammen. Falls ich nicht doch nur geträumt habe. Man sagt, Springer seien Gauner. Und sie lassen sich nicht gerne in die Karten schauen. Daran solltet Ihr denken, wenn Euch die Story zu haarsträubend vorkommt. Es hofft auf ein mildes Urteil Euer Soltor Karman
Horst Hoffmann
Als Grusynski kam… Über jene denkwürdigen April- und Mai-Tage des Jahres 2407, die hinterher als die Tage des »Grusynski-Fiebers« bezeichnet wurden, werden Sie nichts in den offiziellen Berichten aus dieser Zeit finden. Vergeblich werden Sie die Bibliotheken nach Jahrbüchern durchstöbern oder in einem Lexikon nach einer Begriffserklärung des Grusynski-Fiebers suchen. Selbst die allerneueste Ausgabe des Standardwerks schlechthin, des Perry-Rhodan-Lexikons, schweigt sich aus gutem Grund darüber aus. Es gibt nämlich Dinge und Ereignisse, an die sich keiner der daran Beteiligten gern erinnern möchte. Und an dem, was sich an diesen Tagen auf Terra und im Solsystem ereignete, waren so gut wie alle beteiligt, die sonst die Nachwelt mit ihren Geschichtsaufzeichnungen beglücken. Doch Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. In unserem Fall ist diese Ausnahme eine enttäuschte Frau, die fast Herrin eines Sternenimperiums geworden wäre. Der Chronist dieser Geschichte hat sich bemüht, zu berichten, wie es gewesen sein könnte – als Grusynski kam …
Terrania, Raumhafen, 22. April 2407 Es war ein launischer Tag. Die Sonne wusste nicht, ob sie einmal für länger als zwei, drei Minuten durch die Wolken lachen oder sich ganz hinter ihnen verstecken sollte. Und ähnlich wie ihr ging es den meisten derjenigen Personen, die man gemeinhin als Prominenz des Solaren Imperiums bezeichnete, und die vom SolAbChef Allan D. Mercant ziemlich überraschend zum Raumhafen von Terrania gebeten worden waren. Reginald Bull, als letzter gekommen, starrte durch die Rundumverglasung im obersten Geschoß des Beobachtungsturms und kratzte sich im Nacken. »Noch einmal, Mercant«, sagte er. »Da kommt also jemand und funkt uns an. Er bittet um Landeerlaubnis auf der Erde und bekommt sie. Er nennt sich… äh…« »Grusynski«, half Gucky ihm auf die Sprünge. »Zalym Grusynski der Zweite, siebzehnter Regierender Monarch von Tarypur.« Bull drehte sich um und legte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand an die Nasenwurzel. »Wo, zum Teufel, liegt Tarypur?«, fragte er gequält. »Im Benebeltsektor der Milchstraße, gleich neben Wh isky pur.« Bulls Hand sank herab. Er starrte den Mausbiber an und schien dann nach einem werfbaren Gegenstand zu suchen. »Ich warne dich, Bully!« rief der Ilt. »Tu das nicht, woran du da denkst! Sonst müsste ich deutlicher werden!« »Deutlicher? Deutlicher als was?« »Als Whisky pur. Es ist schon vorgekommen, dass Männer in hohen Staatsämtern wegen ganz anderer Sachen zum Sicherheitsrisiko erklärt wurden, als nur wegen einer langen Nacht und einer blonden. »Halten Sie endlich den Mund, Sonderoffizier Guck!« schrie Bull. Gucky knallte die schmalen Hacken zusammen und salutierte. Der Staatsmarschall ließ sich in einen Kontursessel fallen, schwenkte ihn herum und sah Mercant säuerlich an.
»Im Ernst, Mercant, Sie haben uns nicht alle hierherbestellt, nur weil ein Verrückter uns aus dem Weltraum anfunkt und ankündigt, dass er einen roten Teppich haben will, dass die Führungsspitze des Solaren Imperiums sich zu seinem Empfang hierherbemühen soll, und ihm außerdem die besten Suiten in den teuersten Hotels von Terrania zu reservieren seien?« Er schüttelte noch einmal heftig den Kopf und fuhr sich stöhnend über die Stirn. Als er wieder aufsah, war sein Blick ernst. »Nicht wahr, Mercant? Wenn Sie Alarm schlagen, steckt mehr dahinter. Also was?« Mercant blickte der Reihe nach John Marshall, Perry Rhodan, den Ilt und Homer G. Adams an, als wollte er sich bei ihnen entschuldigen. Rhodan saß mit einer Sekretärin an einem Ecktisch und diktierte ihr eine Rede, die er in wenigen Tagen beim traditionellen Zehnjahrestreffen der Raumveteranenvereinigung »Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unser Schlachtschiff nicht« zu halten gedachte. Er nahm kaum Notiz von seiner Umgebung. Grusynski hatte darauf bestanden, dass der Großadministrator bei seiner Landung zugegen wäre – und Mercant hatte eine entsprechende Bitte an ihn gerichtet. Das reichte. Auch wenn der Anlass noch so lächerlich schien, an Mercants Autorität und Zuverlässigkeit gab es keinen Zweifel. »Dieser Grusynski«, erklärte der SolAb-Chef noch einmal mit Geduld, »herrscht nach meinen neuesten Informationen über eine kleine und relativ unbedeutende Kolonialwelt, die vor rund 350 Jahren von terranischen Aussiedlern angeflogen und in Besitz genommen wurde. Sie blieben nicht wegen der guten Luft dort, sondern weil sie erhebliche Bodenschätze festgestellt hatten.« »Aber nach zehn Jahren waren diese restlos ausgebeutet, und die Siedler verarmten«, unterbrach Gucky ihn. »Alle außer dem Kommandanten des Siedlerschiffs und seiner Clique. Er machte sich zum Monarchen – zum ersten Hochfürsten von Tarypur.« Der Mausbiber zapfte telekinetisch einen Becher Mineralwasser aus einem Automaten und ließ ihn Bull in die Hand segeln. »Prost! Aber zurück zu unserem Gruselinski. Auf Tarypur hat
sich seit dieser Zeit und bis vor kurzem so gut wie nichts geändert, außer dass die Armen noch ärmer und die jeweiligen Monarchen noch reicher wurden.« Mercant nickte. »Sie besaßen zuerst das Verkaufsmonopol für die Erze, und als es davon keine mehr gab, machten sie sich in gewissen Kreisen einen Namen als galaktische Wucherer. Das ging gut bis vor wenigen Jahren. Da nämlich hatten sich ihre Praktiken herumgesprochen, und kein Mensch wollte mit ihnen noch Geschäfte machen.« Rhodan blickte von seinen Unterlagen auf. »Sie meinen, Mercant, Zalym Grusynski ist pleite?« »Ich weiß es.« »Und dann kommt er daher und will hier residieren wie ein Sonnenkönig?« fragte Marshall ungläubig. »Wovon denn? Wie will er das bezahlen?« Mercant holte tief Luft. »Er gar nicht. Er sagte, das Imperium würde es für ihn übernehmen – vorläufig.« »Was heißt vorläufig?« »Bis alle alte» Rechnungen beglichen seien.« »Hatten wir je Handelsbeziehungen mit Tarypur, Adams?« fragte Rhodan mit zusammengekniffenen Augen. Der Finanzminister des Solaren Imperiums schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht, ich wüsste davon. Wie Sie alle wissen, habe ich das, was man ein photographisches Gedächtnis nennt.« »Und mir«, stellte Mercant fest, »sagt man die Gabe des vorausschauenden Ahnens nach.« Er versteifte sich etwas, als sich über dem Landefeld die Kugel eines Raumschiffs aus den Wolken schob. »Und darum höre ich auf mein Gefühl, das mir sagt, dass wir Ärger bekommen, und zwar mächtig viel Ärger. Deshalb wollte ich, dass Sie alle anwesend sind, wenn unser Gast aussteigt, meine Herren.« Er blickte Adams nachdenklich an. »Und Sie ganz besonders, denn Grusynski bestand ausdrücklich darauf.«
Bull erhob sich aus seinem Sessel und unterdrückte einen Rülpser. »Also ein Bittsteller, der pleitegegangen ist und jetzt hofft, bei uns die Hand aufhalten zu können.« Er seufzte. »Und da kommt sein Hochfürstlicher Prachtkahn herunter, aus vierter Hand gekauft, wie es aussieht. Begeben wir uns in Gottes Namen zum Empfang. Je eher wir’s hinter uns haben, desto früher sitze ich wieder in meinem Schreibtisch.« »Bitte, wo?« fragte Rhodans Sekretärin, als sie die Folien zusammenlegte und an sich nahm. »In seinem Bett, wollte er sagen«, wurde sie von Gucky belehrt, »und zwar zusammen mit einer Prärieauster namens…« Der Mausbiber teleportierte sich vor dem heranfliegenden Aschenbecher in Sicherheit. Er materialisierte vor dem Ausgang des Beobachtungsturms auf dem Landefel,d, das Grusynskis Schiff QUEEN OF TARYPUR zugewiesen worden war. Als er den 800-Meter-Kugelraumer mit seinen unzähligen Beulen in der verrosteten Hülle aufsetzen sah und die Gedanken der Freunde ausspionierte, die ihm im Antigravlift auf die Landeebene folgten, wusste er nicht, worüber er mehr weinen sollte. »Diese ewigen Kegelabende der Explorerkommandanten!« schimpfte er leise vor sich hin. »Und diese egoistischen Staatsmarschälle, die es nicht für nötig halten, mich auch nur ein einziges Mal mitzunehmen!« Er dachte an Iltu und verstummte ganz schnell. Im Grunde musste Bully ihm ja leidtun, weil er nie erfahren hatte, wie viel Glück einem Mann ein harmonisches Familienleben schenken konnte – ob er nun ein Mensch war oder ein Mausbiber. Und ich habe wenigstens noch einen klaren Kopf! dachte er. Aber weshalb konnte er dann aus der QUEEN OF TARYPUR überhaupt nichts von Grusynskis Gedanken empfangen – und ebenso wenig von denen seiner Besatzung? Reginald Bull befand sich in jenem besonderen Zustand zwischen hartnäckigem Kopfdröhnen und dem beginnenden Wohlgefühl
durch die reichlich eingenommenen Mineraltabletten, der fast jeden Morgen nach seinen Kegelabenden begleitete, und wusste noch nicht ganz sicher, ob er nun wachte oder noch träumte. Für einen Moment sah er das zerbeulte Hochfürstliche Raumschiff wie einen verfaulten Riesenapfel, aus dem sich eine prachtvolle Made in den allerschönsten Farben herauswand. Doch die Made war eine Rampe, und der Apfel glänzte im fahlen Licht dieses 22. Aprils 2407 mattgolden. Auf seiner Hülle stand in großen und prächtigenXettern QUEEN OF TARYPUR. Die Rampe erreichte den Boden des Landefelds, und in der Schleuse erschienen vier Männer in regelrechten Papageienuniformen. Sie setzten Hörner an ihre Lippen und bliesen schaurig. Marshall und Rhodan hielten sich die Ohren zu. Bei Bull nützte auch das nichts. Über Lautsprecher wurde der Auftritt des siebzehnten Monarchen von Tarypur so lautstark verkündet, dass sich die auf einem benachbarten Landefeld gerade angekommenen Mitglieder der Handelsdelegation von Aloy-III entsetzt herumdrehten und flugs in ihr Ka stenschiff zurückkehrten. Homer G. Adams schätzte den finanziellen Schaden für das Imperium, als die Aloyer in den Weltraum zurückstarteten, auf einige Milliarden Solar. Aber er kam nicht dazu, seinen Protest vorzutragen. Die Hornbläser traten übertrieben respektvoll zur Seite, und am oberen Ende der Rampe erschien eine wahrhaftig imposante Gestalt. Der Mann war etwa ein Meter siebzig groß, hatte grüngefärbte und strähnige Haare und steckte in einer Prachtuniform, die ein Militärgeschichtler auf den ersten Blick als preußisch eingestuft hätte. »Platz für seine Hochfürstliche Hoheit!« schallte es über den Raumhafen. »Zalym Grusynski den Zweiten!« Und er schritt die Rampe herab, gefolgt von einem Dutzend Männern und Frauen, die wie er in phantasievollen Uniformen steckten, aber ansonsten eher wie heruntergekommene Hinterwäldler aussahen. Grusynski focht dies nicht an. Er kam, sah und siegte allein schon mit seinen Blicken nach allen Seiten, die wie
die eines Gerichtsvollziehers alles taxierten, was es an Werten einzuschätzen gab. »Der ist wirklich übergeschnappt«, flüsterte Bull dem SolAbChef zu. »Sind Sie wirklich sicher, dass Sie da keine falsche Ahnung hatten, Mercant?« »Zu deinem Glück, Bully, beurteilt nicht jeder von uns einen Menschen nur nach seinem Äußeren«, wurde er von Gucky belehrt. »Und nun setze eine feierliche Miene auf. Der Monarch naht.« Aus dem Schiff eilende Soldaten rollten vom Ende der Rampe bis dorthin, wo das Empfangskomitee stand, einen roten Teppich aus. Rhodan vergaß die Rede vor den Veteranen endgültig, als Marshall ihm zuflüsterte> dass auch er Grusynskis Gedanken nicht lesen konnte. »Das ist nicht normal, Sir«, fügte der Telepath schnell hinzu. »Jetzt bekomme ich allmählich auch ein ungutes Gefühl.« Rhodan blickte dem Hochfürsten ernst entgegen. Grusynski blieb vor ihm stehen, setzte ein großzügiges Lächeln auf und streckte dem Großadministrator eine stark behaarte Hand entgegen. »Mr. Rhodan«, sagte er, als begrüßte er den Chef einer Handelsdelegation und kein Staatsoberhaupt, »auf diesen Moment habe ich lange gewartet!« Für Sekunden fand Rhodan keine Worte. Er versuchte, in Grusynskis Gesicht etwas zu finden, das ihm half, diesen Mann einzuordnen. Wie ein Geistesgestörter sah er nicht aus. Er mochte an die Siebzig sein, wirkte mit seinen gefärbten Haaren und der eingefetteten Haut aufpoliert und hatte kleine, wache Augen unter dicken und dichten Brauen. Die Nase war schief, unter ihr fehlte ein Zahn. Rhodan musste an einen mit allen Wassern gewaschenen Spieler denken, einen durchtriebenen Abenteurer vom Schlage des seligen Captain Graybound. »Mr. Rhodan?« fragte Grusynski. Seine Hornbläser und der Rest des Gefolges stellten sich in Reih und Glied neben ihm auf.
»Ich heiße Sie auf der Erde willkommen, Mr. Grusynski«, sagte der Großadministrator endlich. »Ich nehme an, der Grund Ihres Besuchs ist nicht mit wenigen Worten erklärt. Ich habe deshalb einen Konferenzraum in meinem…« Grusynski hob eine Hand. »Hoheit ist die richtige Anrede, Mr. Rhodan. Und die Mühen und Strapazen einer langen Besprechung können wir uns sicher ersparen.« Er grinste und produzierte noch mehr Zahnlücken. »Es ist alles ganz schnell und schmerzlos erklärt, und was dann noch zu bereden ist, besprechen wir im Hotel. Ich lasse es für Besucher herrichten. Welches ist das beste?« »Das Ambassador, natürlich«, sagte Adams scharf. »Aber ich bezweifle, dass Sie überhaupt hineingelassen werden.« Grusynski winkte großzügig ab. »Es gehört dann mir.« Er drehte sich zu einer der Frauen um. Sie war noch jung, sah aber schon verlebt genug aus. »Meine Erste Sekretärin«, erklärte er. »Naomi, du kümmerst dich um den Kauf, ja? Außerdem kannst du dich hier schon einmal nach einem neuen, prächtigen Raumschiff für mich umsehen.« Rhodan platzte der Kragen. »Mr. Hoheit!« begann er. »Fein, wir haben das Spiel eine Zeitlang mitgemacht, und wir hatten alle unseren Spaß. Jetzt aber…!« Abermals kam er nicht-zum Ausreden. Grusynski trat noch einen Schritt vor und legte ihm väterlich eine Hand auf die Schulter. »Mr. Rhodan, für einige endet der Spaß, für andere beginnt er nun erst richtig. Sie haben die Situation noch nicht erkannt.« Er kicherte. »Wie sollen Sie auch? Und die Situation ist die, dass ich gekommen bin, um das Solare Imperium zu übernehmen. Ich kaufe es auf. Oder anders gesagt, Sie sind bankrott, wenn Sie Ihre Schulden beglichen haben.« »Jetzt reicht es!« brauste Bull auf. »Gucky, am besten lässt du diesen Verrückten mit seiner ganzen Bande einige Runden über ihrem Klapperkahn fliegen, in der Schleuse verschwinden und im Schiff braten, solange sie wollen! Aber ich höre mir diese Un-
verschämtheiten keine Minute länger an!« »Vorsicht, Mr. Bull«, sagte Grusynski jovial. »Ich sehe, Sie erinnern sich nicht mehr, Mr. Adams, also muss ich Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, Naomi, die Urkunde.« Sie zog ein Stück Papier aus der Tasche, das in Schutzfolie eingeschweißt war, und reichte es ihm. Grusynski hielt es Rhodan vor die Augen. »Lesen Sie nur«, sagte er triumphierend. »Eine offiziell im Namen des Solaren Imperiums von Ihrem Finanzgenie Homer G. Adams am siebten April 2364 ausgestellte Schuldanerkenntnis. Man könnte auch sagen, ein Kreditvertrag oder eine Staatsanleihe.« Grusynski warf einen Blick zum Himmel und breitete theatralisch die Arme aus. »Was sind Worte, meine Herren? Nur auf die Zahlen kommt es doch an. Und der ehrenwerte Mr. Adams unterschrieb dieses Dokument an besagtem Tag und erkannte damit die Kreditbedingungen meines früh verstorbenen Großvaters an, des fünfzehnten Monarchen von Tary-pur, Ypendors des Vierten.« »Hier steht, Adams musste sich acht Solar borgen«, sagte Rhodan. »Ganze acht Solar, Grusynski.« »Natürlich. Doch leider vergaß Ihr Finanzminister, die Schuld zu begleichen. Leider vergaß er offenbar auch die ausgehandelten Konditionen, nach denen er ein Jahr lang Zeit hatte, meinem Großvater das Geld zurückzuzahlen. Nach Ablauf dieses einen Jahres verdoppelte sich die Schuldensumme mit jedem weiteren Jahr.« Grusynski sah sich um. »Prüfen Sie nur den Vertrag. Sie werden feststellen, dass er echt und hieb- und stichfest ist. Ich bekomme 140 Billionen Solar von Ihnen. Großzügig wie ich bin, gebe ich Ihnen eine Frist von zehn Tagen, um sie aufzutreiben. Fürs erste bin ich mit einer Billion zufrieden, um einige kleinere Einkäufe zu tätigen. Sie finden mich dann im Ambassador.« Terrania, Regierungskomplex, 24. April 2407
»Ich weiß nichts mehr!« beteuerte Adams im Büro des Großadministrators. »Ich kann mich an rein gar nichts erinnern, was mit Tarypur und diesem Großvater zu tun haben könnte!« Unter anderen Umständen hätte Rhodan nur Mitleid mit dem kleinen, buckligen Mann gehabt, der sich die Haare raufte und seit zwei Tagen nicht mehr zur Ruhe gekommen war. Jetzt aber stand zu viel auf dem Spiel. Experten der SolAb hatten den Vertrag immer und immer wieder überprüft, durchleuchtet und Juristen hinzugezogen. Am Ende bestand kein Zweifel mehr an seiner Echtheit, und kein Gesetz des Imperiums konnte ihn wegen der Konditionen richtig machen, die jedem anständigen Kreditgeschäft Hohn sprachen. »Setzen Sie sich endlich, Adams«, forderte Bull den Verzweifelten auf. »Hören Sie mit dieser Herumlauferei auf. In dem sogenannten Vertrag steht ganz klar, dass Sie vor 43 Jahren mit einem Schiff auf Tarypur notlanden mussten, als Sie sich auf einer Goodwill-Reise zu verschiedenen Kolonien befanden. Ein winziges, aber wichtiges Teil des Antriebs war ausgefallen, und Sie brauchten Ersatz. Sie konnten gerade noch auf Tarypur landen, aber um wieder starten und zur Erde zurückkehren zu können, brauchten Sie dieses Ersatzteil. Zu allem Unglück war bei der harten Landung die Hyperfunkanla ge auch noch ausgefallen.« »Und er war Ypendor auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, wollte er nicht den Rest seines Lebens auf Tarypur verbringen.« Gucky nickte grimmig. »Ein feiner Monarch, dieser Ypendor, und sein Enkelsohn steht ihm in nichts nach. Natürlich hätte Homer die Hyperfunkanlage des Planeten benutzen können, aber das wäre noch teurer gekommen als das benötigte Ersatzteil. Er hätte ein ganzes Raumschiff kaufen oder mieten können. Als Finanzmensch wählte er das anscheinend kleinere Übel. Er nahm bei Ypendor eine Anleihe über acht Solar auf.« »Er, er!« rief Adams aus. »Aber ich weiß nichts mehr von einem solchen Geschäft! Ich besitze ein photographisches Gedächtnis und kann euch alle Aktienkurse vom ersten Januar des Jahres 2000 aufsagen, aber Tarypur und eine von mir unterzeichnete
Staatsanleihe?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein!« Rhodan seufzte und ging zum Fenster, Das Hotel Ambassador lag in Sichtweite, doch die Leuchtreklame auf dem Flachdach lautete nun anders. Grusynski verlor keine Zeit. Das Ambassador hatte er tatsächlich noch am Tag seiner Ankunft gekauft und sofort in »Grusynski-Palast« umtaufen lassen. Außerdem gehörten ihm nach den neuesten Informationen inzwischen bereits weitere vier Luxushotels, ein privates Gleitertaxiunternehmen, drei Nachtbars und der riesige Supermarkt in Terrania-West. »Adams«, sagte Rhodan mit erzwungener Ruhe. »Es ist Ihre Unterschrift. Es sind Ihre Fingerabdrücke auf der Urkunde, und der eingestanzte ID-Streifen trägt Ihr Muster.« »Außerdem wissen wir«, sagte Bull, »dass Sie vom 28. März bis zum 13. April 2364 tatsächlich eine Goodwill-Tour durch die Galaxis unternahmen. Alle Spesen sind in den noch erhaltenen Büchern eingetragen, nur für die Zeit vom sechsten bis zum achten April fehlen die Angaben.« »Und mir die Erinnerung!« Der sonst so zurückhaltende, schüchterne Halbmutant war kaum noch wiederzuerkennen. Ausgerechnet ihm, der mit seinem Genie das Imperium mit aufgebaut hatte, sollte so ein unverzeihlicher Fehler passiert sein. »Dieser Ypendor muss alles ganz genau eingefädelt haben«, sagte er heftig. »Er nahm kein Bargeld, keinen Scheck, keine Gutschrift. Es musste eine offizielle Imperiumsanleihe sein. So reime ich mir das jedenfalls zusammen. Und dann… dann muss er mir und meiner gesamten Mannschaft die Erinnerung genommen haben. Vielleicht gab er ein Abschiedsessen und mischte uns etwas in die Getränke. Er wollte gar nicht, dass wir umgehend zurückzahlten. Er war von vorneherein darauf aus, die Jahre verstreichen und die Imperiumsschulden zu dieser gigantischen Höhe anwachsen zu lassen!« Rhodan drehte sich vom Fenster weg, als ein Gleitertaxi mit den tarypurschen Nationalfarben rot und gelb den Regierungskomplex überflog und jemand aus der offenen Kanzel winkte.
Er schlug mit der Faust auf einen Tisch. »An dem, was vor 43 Jahren geschehen ist, können wir nichts mehr ändern!« sagte er hart. »Der Vertrag ist echt, und Grusynski wird die gesamte Galaxis hinter sich haben, wenn wir nicht zahlen. Zahlen wir a ber, dann gehört da s Imperium ihm. Das sind die Tatsachen. Es reicht bereits, dass unsere Bevölkerung verunsichert ist. Um die geforderte erste Billion aufzubringen, musste die Regierung zusammentreten. Die Presse wusste vor ihren Mitgliedern davon. Grusynski gibt Empfänge für die wichtigsten Vertreter unserer Industrien. Aus dem reinen Staatsvermögen können wir ihm höchstens zehn Billionen geben. Jede weitere Billion bedeutet den Verkauf von imperiumseigenen Schlüsselindustrien und schließlich die Flotte.« Rhodan holte tief Luft. »Die Frage ist, meine Herren, wie finden wir da wieder heraus? An dem Vertrag ist nicht zu rütteln, wir müssen unsere Schulden begleichen und können es nicht. Also, was tun?« Gucky trat vor und warf sich in die Brust. »Noch haben wir ja acht Tage Zeit, Perry«, tönte er. »Und da ich zufällig noch acht Tage Urlaub zu kriegen habe, werde ich diese Tage auf einer gewissen kleinen Kolonialwelt verbringen. Kopf hoch, Jungs. Ein Mann wie Gruselinski hat Dreck am Stecken, und Gucky wäre nicht Gucky, wenn er nicht daran schnuppern könnte.« »Und wenn schon!« klagte Adams. »Grusynski könnte der meistgesuchte Lump der Galaxis sein, er hätte dennoch Anrecht auf das Geld, weil sein Großvater die Klausel in den Vertrag aufnahm, dass der Anspruch nach seinem Ableben auf seine Nachfolger vererbt werden solle. Ich muss nicht bei Sinnen gewesen sein, als ich das unterschrieb!« »Warst du aber«, sagte der Ilt. »Die Erinnerung wurde dir erst hinterher geraubt, und niemand könnte beweisen, dass du vorher nicht ganz du selber gewesen wärst.« Er ließ seinen Nagezahn blitzen. »Noch nicht! Aber laßt mich nur machen. Wenn Zalym nicht angreifbar ist, muss ich mich eben um seinen Herrn Großvater kümmern. Was stehst du da noch herum, Bully?«
»Wie?« schrak Bully aus seinen finsteren Gedanken auf, in denen er sich bereits als Schuhputzer des neuen Monarchen des Solaren Imperiums sah. »Was?« »Besorge mir ein Schiff, Tarnung, Vorräte! Das Imperium steht auf dem Spiel, und dieser Mensch träumt vor sich hin! Hopp, hopp, ich brauche frische Mohrrüben, wenn ich in Form kommen soll, und außerdem noch…« Bulls zupackende Hände griffen ins Leere. »Ich bringe ihn um«, knurrte der Staatsmarschall. »Warten Sie noch acht Tage damit«, empfahl Marshall, der sich bisher ganz zurückgehalten hatte. »Ich kenne Guckys Gedanken. Wenn uns noch einer retten kann, dann ist er es.« »Was denkt er?« Marshall zuckte die Schultern. »Dass ich seine Pläne keinem Menschen verraten soll.« Bull starrte ihn an wie einen Geist, murmelte etwas von einer Verschwörung der Mutanten und stampfte aus Rhodans Büro. Ein Interkom summte. Rhodan nahm den Anruf entgegen. Eine Sekretärin fragte scheu an, ob der Großadministrator für einen Makler zu sprechen sei. »Sind Sie noch bei Trost?« entfuhr es Rhodan. Dann kniff er die Augen zusammen. »Was will er?« »Über den Kaufpreis des Regierungsviertels verhandeln, Sir. Er ist von Grusynski beauftragt worden…« Terrania, 26. April 2407 Zalym Grusynski überflog sein noch kleines Imperium. Er saß bequem zurückgelehnt im gepolsterten Kontursitz des Luxusgleiters und ließ seine Blicke über die Metropole schweifen. Naomi steuerte das Prachtgefährt nach seinen speziellen Wünschen. »Notiere«, sprach der Hochfürst. »Ich möchte, dass alle Gebäude rot und gelb angestrichen werden. Jeder Besucher der Erde soll sehen, dass eine neue Zeit angebrochen ist. Auch die Bürger sollten sich anpassen. Wie ist die Stimmung heute Morgen?« »Die Tageszeitungen berichten fast nur noch über dich, Zalym.
Die Sympathiekurve ist nach deinem letzten Auftritt steil angestiegen – vor allem nach den vielen Versprechungen.« Grusynski lächelte süffisant. »Versprechungen, Naomi«, sagte er in dozierendem Tonfall, »sind das Fundament jeder politischen Macht. Das war schon immer so, und das Volk weiß natürlich, dass sie nicht eingehalten werden. Das Volk ist dumm. Es will belogen werden.« Die Sekretärin, früher einmal Bardame im Hochfürstlichen Spielcasino, sah ihn von der Seite her an. »Das Volk vielleicht«, sagte sie. »Aber ich nicht. Ich will nicht belogen werden, werter Herr Grusynski.« Er legte ihr eine Hand auf den Arm. »Ich habe es dir versprochen, und ich werde es halten. Du wirst mein Weib und mit mir herrschen, wenn Rhodan erst einmal am Boden liegt.« »Tut er das nicht schon?« »Perry Rhodan?« Grusynski lachte laut. »Da kennst du diesen Mann schlecht, meine Liebe. Ich wette, er versucht alles Mögliche, um uns am Zeug zu flicken. Aber das kann er nicht. In sechs Tagen stelle ich ihn vielleicht als Verwalter für einen unwichtigen Planeten ein. Immerhin hat er mir das große und schöne Imperium aufgebaut.« »Und du erbst es.« »Genau.« Grusynski beugte sich aus dem Gleiter. »Der GoshunSee mit den Villen der Prominenz. Haben wir ihn schon gekauft?« »Harlan, unser Makler, verhandelt noch.« Grusynski seufzte und lehnte sich wieder zurück. »Ein Makler ist zu wenig. Engagiere zwei weitere. Was schreibt die Presse genau?« »Es gibt zwei gegensätzliche Lager, Zalym. Eine Reihe von Zeitungen steht noch auf Rhodans Seite und versucht, die Bürger gegen uns aufzuwiegeln. ,Zalym Grusynski – ein kleiner Betrüger oder Spion unserer galaktischen Neider?’ lautet die Schlagzeile
der Terrania-Post.« »Aufkaufen und alle Redakteure feuern!« befahl der Monarch. »Der Terra-Kurier schreibt dagegen, mit dir sei der lange fällige frische Wind in die Politik des Imperiums gekommen, vor allem aber in die Industrie. Unsere Milliarden einkaufe belebten-die Nachfrage und führten zu einem nie gekannten wirtschaftlichen Aufschwung. ,Die Wende ist da’ lautet die Schlagzeile.« »Sehr schön«, lobte Grusynski. »Wir schicken der Redaktion einige hundert Kisten Sekt, und dem Herausgeber schenke ich eines unserer Hotels.« »Dann gibt es natürlich noch die Regenbogenpresse. Die Goldene-3-D-Illustrierte- kommt mit dem Aufmacher: ,Verlobung noch in dieser Woche? Zalym Grusynski flirtet mit der Milliardenerbin Esther Haz!« »Köstlich«, schmunzelte er. »Einige Fotografen müssen beobachtet haben, wie ich mit der alten Schachtel über den Kauf ihrer Werften sprach.« »Nur darüber?« fragte Naomi streng. Grusynski winkte ab. »Die Leute müssen Sensationen geboten bekommen. Du hast doch einen Fototermin bei diesem Herrenmagazin. Also kümmere dich lieber darum. Lass ruhig die Hüllen fallen. Sex ist fürs Volk fast so gut wie Versprechungen.« Der Hochfürst seufzte. »Wir greifen an allen Fronten an. Noch glaubt niemand tatsächlich daran, dass das Solare Imperium in sechs Tagen mir gehört, selbst Rhodan und seine Clique nicht. Alle kommen sie zwar, um sich meines Wohlwollens zu versichern, aber das geschieht nur aus Vorsicht für alle Fälle. Wann ist die nächste Pressekonferenz?« »Erst heute Abend, Zalym. Aber in zwei Stunden hast du deinen Auftritt in Kanal Siebzehn, der Fernsehstation, die wir gestern gekauft haben.« Grusynski grinste. »Und ich werde jedem, der seine alten Anzüge wegwirft und dafür ab jetzt nur noch unsere rot gelbe Einheitskluft trägt, eine arbeitsfreie Woche versprechen. Ich starte einen Wettbewerb für
eine neue Imperiumshymne. In wenigen Monaten, Naomi, wird die Erde ein anderer Planet geworden sein. Sie wird erblühen wie nie zuvor. Eine Spielhölle neben der anderen wird sie zum Dorado aller galaktischen Völker machen. Wir verkaufen die Flotte, wenn Rhodan das nicht schon vorher getan hat, und werden im Reichtum schwimmen!« »An wen?« »An wen wir die Flotte verscherbeln? An die Akonen, Blues, Springer – wer gerade das meiste bietet. Niemand wird uns anzugreifen wagen, weil alle bei uns in der Kreide stehen werden. Das ist die Politik, Naomi, Kreditpolitik, wie mein Großvater sie mich lehrte!« Grusynski nickte bekräftigend. »Und jetzt flieg mich zum Zahnarzt.« »Wie bitte?« »Glaubst du, ich würde mit meinen Zahnlücken vor einem Milliardenpublikum auftreten? Die Platinbrücken sind schon bestellt, der Arzt ist der beste auf der ganzen Erde und seit gestern mein Angestellter. Er war übrigens früher Rhodans und Bulls Leibarzt.« »Ich bewundere dich!« sagte Naomi spontan. »Das will ich auch hoffen. Wann ist übrigens diese Versammlung des Veteranenvereins, der Rhodan ausgeladen hat und vor dem jetzt ich reden soll…?« Terrania, Regierungskomplex, 27. April 2407 Rhodans erste Frage, wenn er sein Büro betrat, lautete: »Nichts Neues von Gucky?« Und seine Sekretärin antwortete: »Nein, Sir. Nichts Neues von Gucky.« Dieses Zeremoniell wiederholte sich mehrere Male am Tag. Danach trank Rhodan starken Kaffee, saß grübelnd an seinem wuchtigen Arbeitstisch, an dem seit fünf Tagen nicht mehr richtig gearbeitet worden war, ballte die Hände zu Fäusten und vermied es, zum Fenster hinauszusehen – aus Furcht, selbst der
Himmel könnte schon rot und gelb geworden sein. Er wollte es einfach nicht wahrhaben! Fünf Tage waren verstrichen, fünf blieben ihm noch, um sein Lebenswerk zu retten. Er war ohne greifbare Handhabe zum Nichtstun verurteilt. Und während er finster nach Auswegen suchte, handelte Grusynski. Er saß im Grusynski-Palast und kurbelte eine Propagandamaschinerie an, wie die Welt sie noch nie in privater Hand gesehen hatte. Alle nichtstaatlichen Rundfunk-, TV- und Videogesellschaften gehörten ihm mittlerweile. Den ganzen Tag und die ganze Nacht lang versprach er den Terranern das Blaue vom Himmel. Kinder und Erwachsene liefen, rot gelbe Fähnchen schwingend, durch die Straßen. Eine Massendemonstration von Rhodantreuen hatte sich aufgelöst, als zehn rotgelbe Gleiter über ihr erschienen und es Geldscheine schneite und bunte Bonbons regnete. Rhodan wollte es nicht wahrhaben! Das Schlimmste für ihn war nicht, vielleicht die Macht zu verlieren – er hatte sie nie nur um ihretwillen ausgeübt. Am schlimmsten war, erleben zu müssen, wie leicht sich die aufgeklärten Menschen des 3. Jahrtausends immer noch von einem Scharlatan einfangen ließen. »Wir haben Grusynski die vom Parlament gestern bewilligten nächsten acht Billionen Solar überlassen, Sir«, sagte die Sekretärin, als sie ihm die vierte Tasse Kaffee eingoß. »Das macht inzwischen neun und entspricht bereits fast dem gesamten Bruttosozialprodukt des Solsystems. Wie viel will er morgen haben? Und übermorgen? Wann machen Sie mit dieser Geschichte endlich Schluss, Sir?« »Rufen Sie John Marshall zu mir, Alice«, antwortete er nur. Sie nickte und verließ leise das Büro. Wann machen Sie endlich Schluss! Alices Frage traf den Punkt genau. Die Bevölkerung hatte einfach noch nicht begriffen, was hier wirklich geschah. Sie sah in Grusynskis Treiben so etwas wie Karneval und würde ihn vielleicht erst dann ernstnehmen, wenn Rhodan ihn festnehmen und anklagen ließ. Die Industrie und die Geschäftsleute rochen nur die fetten Braten, sahen das schnell eingesteckte Geld und ver-
kauften sich selbst, wenn nur der Preis stimmte. Auch sie aber mussten an einen Finanzsegen aus dem Himmel glauben, der nur kurz anhalten würde, und griffen zu, bevor ihr Wohltäter so schnell wieder verschwand, wie er gekommen war. Grusynski hatte auch alle privaten Funk- und Hyperfunkstationen der Erde und der solaren Planeten erworben und ließ in der ganzen Galaxis verbreiten, dass das Solare Imperium ihm 140 Billionen Solar schuldete und er gekommen sei, um es zu erben. Erbe des Imperiums nennt er sich! dachte Rhodan bitter. Warum nicht gleich Erbe des Universums! Sternenvölker, mit denen das Imperium nicht auf bestem Fuß stand, richteten bereits ihre Grußbotschaften an den »neuen Großadministrator« und sprachen ihre Hoffnung auf die große Wende in der Imperiumspolitik aus. Was sich auf der Erde vollzog, geschah unter den Augen der Milchstraße. Erste Warnungen wurden Rhodan zuteil, dass er nicht versuchen solle, den vom Imperium betrogenen Monarchen um sein teuer erwuchertes Geld zu bringen. Rhodan schaltete einen TV-Monitor ein und sah – Grusynski. Der Hochfürst von Tarypur und Beglücker der Erde versprach gerade allen Kindern, dass er die Schulpflicht abschaffen lassen würde. Den Rentnern sagte er doppelte Renten und jährlich einen Gratisausflug auf einen Ferienplaneten ihrer Wahl zu, und die Arbeiter rief er auf, sich unter seiner wohltätigen Herrschaft gegen die Großkapitalisten zusammenzutun. Als Rhodan sich die Haare raufte, betrat Marshall sein Büro. »Sie wollten mit mir reden, Sir?« »Allerdings. Nur noch einen Augenblick.« Grusynski wäre nicht Grusynski gewesen, hätte er in seiner Großzügigkeit die Bedeutung der Mutanten vergessen. Er bot allen, die sich von »Rhodans Clique« lossagten und zu ihm überliefen, die Möglichkeit der freien Entfaltung ihrer ParaPersönlichkeit an und sicherte die Gründung einer besonderen Mutantenschule zu. Er fand auch einen Namen dafür: Telepower! »Das reicht.« Rhodan schaltete den Monitor aus. Er sah Mars-
hall an. »Fühlen Sie sich von uns ausgebeutet*, John?« Marshall setzte sich und lachte unsicher. »Sir, muss ich darauf antworten? Ich frage mich nur, weshalb dieser Mensch einen regelrechten Wahlkampf veranstaltet, wenn er sich seiner Sache doch so sicher ist.« Rhodan blickte ihn scharf an. »Und ich frage mich, John, weshalb Sie so hartnäckig über das schweigen, was Gucky im Sinn hat. Er muss einen Anhaltspunkt haben, um auf Tarypur etwas entdecken zu wollen, das den Vertrag vielleicht nichtig macht. Sie kennen ihn, und ich ahne ihn. Es ist der Mentalblock Grusynskis und seiner Gefolgschaft, nicht wahr?« Marshall zögerte. »Darauf müssen Sie antworten, Marshall!« fuhr Rhodan ihn an. »Ihre Verschwiegenheit ehrt Sie, aber nur so lange, wie sie nicht im krassen Konflikt mit den Interessen des Imperiums steht! Wir sind allein, niemand hört uns!« Marshall sah ihm in die grauen Augen. »Ja, Sir«, sagte er endlich. »Gucky wollte nicht, dass jemand von seinem Alleingang erfährt, weil jede undichte Stelle in unseren Reihen Grusynski warnen könnte. Wenn Guckys und meine Vermutung stimmt, müssen wir ihn mit dem, was der Kleine vielleicht ans Licht bringt, hundertprozentig überraschen.« »Und Sie vermuten?« »Sie wissen es doch, Sir. Die Tarypurer sind ganz normale Menschen, die ihre Gedanken nicht abschotten können, ohne besonders präpariert zu sein. Also haben Grusynski und seine Leute einen Mentalblock verpasst bekommen. Dazu aber fehlen ihnen die Mittel, sowohl finanziell als auch technisch.« »Was heißt«, sagte Rhodan, »dass sie Hilfe von anderer Seite in Anspruch genommen haben.« »Gucky denkt an die Äras, Sir.« »Und die Aras haben noch niema ls Geschenke gemacht – es sei denn, um später doppelten Gewinn zu haben. Ich wollte es von Ihnen hören, John. Falls die Aras Grusynski diesen Mentalblock gaben, hat er entweder bar und sehr teuer dafür bezahlt oder
ihnen Versprechungen gemacht. Trifft das erstere zu, ist er nicht so mittellos gewesen, wie unsere Abwehr glaubte. Trifft das letztere zu…« »… muss er den Galaktischen Medizinern eine sehr handfeste und überzeugende Garantie gegeben haben, Sir«, vollendete Marshall. »Jedenfalls ist an der Sache etwas oberfaul, und wir können alle nur hoffen, dass unser kleiner Held rechtzeitig genug dahinterkommt, was.« Rhodan erhob sich und trat ans Fenster. Noch war der Himmel blau. »Hundertvierzig Billionen«, murmelte er. »Ich mache Adams keinen Vorwurf, und auch Mercant nicht, dessen Geheimdienst in diesem Fall offenbar mehr schlecht als recht funktioniert hat. Zehn SolAbAgenten sind mit Gucky auf Tarypur, alle gut getarnt. Wenn sie etwas herausfinden, das uns davor bewahrt, zum Gespött der Galaxis zu werden und die Erde einem Spieler und Betrüger überlassen zu müssen, nehme ich alles zurück, was ich mir bis jetzt nur still denke.« Der Interkom summte. Rhodan nahm ab und sah das Gesicht seiner Sekretärin auf dem Bildschirm. , t »Da ist wieder dieser Makler, Sir«, sagte Alice. »Soll ich ihn jetzt zu Ihnen…?« Perry Rhodan galt als ein Mann mit sehr viel Verständnis, ruhig, bedacht, kaum einmal aus der Fassung zu bringen. Was er jetzt schrie, ließ selbst einen John Marshall schlucken, der ihn seit den Gründungstagen der Dritten Macht kannte. Terrania, Grusynski-Palast, 29. April 2407 Die Wellen der Sympathie schlugen höher denn je, seitdem Zalym Grusynski sein umfangreiches »Sozialprogramm« verkündet und ein Freiluftkonzert mit den zehn bekanntesten Sphäro-Rockbands des Sonnensystems am Ufer des Goshun-Sees veranstaltet hatte, genau gegenüber den Villen. Eine Million Solar gab er für die Künstler aus, eine Million für Freibier, Freiwein, Freisuppe und Freiwürstchen. Eine weitere Million floß in den
Hin- und Rücktransport der Zuschauermenge. Es wurden jedoch Stimmen laut, die danach fragten, wann die Ära Grusynski denn nun vorüber wäre und das Leben wieder normal weiterginge. So gab der Monarch, der sich künftig »Oberster Direktor von Terra« zu nennen gedachte, weiterhin Interviews, Spenden und alles in allem Kostproben seiner umwerfenden Begabung für Menschenführung und -Verführung. Er ließ seine neuen Platinzähne in die Kameras eines seiner hundertzehn Fernsehkanäle blitzen und beantwortete geduldig jede Frage der drei Interviewer, die ihm im Rahmen der Sendung »Knallhart! – Fakten und Hintergründe« zur weiteren Imageverbesserung verhelfen mussten. Er bezahlte sie alle drei. »Hoheit«, meinte Thylo von Brat, seines Zeichens Fernsehjournalist, Prädikat »kritisch, aber nie frech«, letztjähriger Sieger des Publikumswettbewerbs um den schärfsten Blick hinter die Kulissen. »Hoheit, stimmt es, dass Sie die Olympiade wiedereinführen wollen?« Grusynski nickte. Er bewegte den Kopf etwas nach links, so dass die Kamera sein Nationalwappen einfangen musste, das hinter ihm wandfüllend aufgespannt war. Die Sendung wurde im großen Audienzsaal des ehemaligen Ambassador-Hotels aufgezeichnet. Das Wappen zeigte einen schwarzweißen Geier und einen Hai auf rotgelbem Hintergrund. Um den Geierhals prangte eine Kette aus Edelsteinen, die Augen des Haies bestanden aus Zehn-Solar-Münzen. »Das ist nur bedingt richtig, Mr. von Brat«, sagte Grusynski. »Es wird Spiele geben, die mit nichts in der Geschichte zu vergleichen sind, und sie werden in der ganzen Galaxis stattfinden, für jede Disziplin ein besonderer Planet. Die erste Grusynskiade wird…« »Äh, verzeihen Sie, Hoheit«, mischte sich Jo Katzbyrger ein, genannt »Brecky« und letztjähriger Preisträger des Publikumswettbewerbs »Wer schmiert den besten Honig ums Maul?«. Katzbyrger nahm die Pfeife aus dem Mund und blickte sehr intellektuell drein. »Sie sagten Grusynskiade, Hoheit?« Und mit
zwinkerndem Blick in die Kamera fügte er rasch hinzu: »Der Hochfürst und ich haben schon manchen Kampf ausgefochten. Ich kenne ihn als einen Mann, der zur rechten Zeit einen Scherz auf Lager hat. » Und wieder zurück mit dem Blick auf Grusynski. »Gelle, Grusy?« Grusynskis Lächeln wurde um eine Spur säuerlicher. »Aber sicher, Brecky. Doch diesmal ist es kein Scherz. Ich bezahle die Spiele, also benenne ich sie auch nach mir. Ist doch ganz logisch, oder?« Er drückte auf einen verborgenen Knopf. Unsichtbar für die Fernsehzuschauer leuchtete es unter der Saaldecke auf: »Applaus!« Die siebzehn geladenen Zuschauer-Statisten füllten den Bildausschnitt und weckten den Eindruck einer Tausenderschar, die zum Klatschen vom Tonband jubelte und winkte. Thom Gutt-Schalke, dritter in der Befragerrunde und absoluter Hauptgewinner des Teenager-Wettbewerbs um den blondesten Nachwuchs-Talkmaster, wechselte geschickt das Thema. Immerhin kassierte er von Grusynski eine sechsstellige Summe für seine frech vorwitzigen Fragen. »Hoheit, ich meine, darf ich Sie Zally nennen?« Grusynski nickte wohlwollend. »Also, Zally. Ich habe da diese Fotos von Ihrer Sekretärin Naomi im Playhouse gesehen. Stimmt es, dass Miß Naomi in Ihrem künftigen Kabinett Familienministerin werden wird und als Vorkämpferin der sexuellen Revolution gilt?« »So kann man es nennen, Thommy, ja.« Grusynski blickte lächelnd auf das Foto, das auf eine Bluebox-Wand projiziert wurde. »Und sie wird für jeden Mann immer zu sprechen sein, der sich von seiner Ehefrau unverstanden fühlt. Ich meine natürlich, als Beraterin.« »Klar, Zally. Und die unverstandenen Ehefrauen?« Thylo von Brat rümpfte indigniert die Nase. Kritische Fragen fielen schließlich in sein Ressort. »Es wird bald keine Unverstandenen und Unzufriedenen mehr geben!« verkündete Grusynski pathetisch. Er stand auf und brei-
tete die Arme weit aus. »Auf Tarypur gibt es seit Generationen nur glückliche Menschen, und unter meiner Führung wird auch Terra und werden alle Menschenwelten wieder zu den Paradiesen werden, die sie einmal waren!« Tosender Beifall, Applaus von den leeren Rängen. \ An diesem Abend erreichte die Sympathiewelle für Grusynski eine neue Rekordmarke. »Noch drei Tage«, sagte er kurz vor Mitternacht bei der fünften Flasche Ferrol-Champagner zu Naomi, »und uns gehört das Imperium. Rhodan hat jetzt bestimmt alles versucht, um uns doch noch das Erbe streitig zu machen, aber er kommt nicht weiter. Er müsste schon…« »Was?« fragte Naomi etwas zu schnell. »Er kann tun, was er will. Es gibt nichts anzufechten und nichts abzuwenden. In drei Tagen machen wir ein Fass auf, dass man den Knall in Andromeda hört.« »Vielleicht interessiert es dich«, meinte Naomi wie beiläufig, »dass Rhodan sich weigert, Teile der Flotte und weitere Schlüsselindustrien zu verkaufen. Er hat den Kampf aufgenommen, während du deine Interviews gabst.« Grusynski kicherte. »Und? Auch wenn er sich auf den Kopf stellt, aus dem Vertrag kommt er nicht heraus. Zahlt er nicht, wird ein Planet nach dem anderen die Handelsbeziehungen mit einer Erde abbrechen, die ihre Schulden nicht begleicht. Und jetzt lass mich schlafen.« »Dein Großvater war nicht so«, beschwerte sich Naomi. »Er hätte mich nie vernachlässigt.« Ihr Blick wurde träumerisch. »Ypendor«, murmelte sie. »Ja, das war noch ein Mann. Und das waren noch Zeiten, vor vierzig Jahren…« (Zur Erinnerung für den nicht ganz so aufmerksamen Leser: Naomi sah ziemlich verlebt, aber irgendwie doch noch jung aus – man kann sagen, nicht älter als Mitte dreißig… Na?) Terrania, Regierungskomplex, 1. Mai 2407
Perry Rhodan stand vor dem Fenster seines Büros und starrte hinaus in die rot gelbe Nacht. Es war knapp eine Stunde vor Anbruch des neuen und alles entscheidenden Tages. Grusynski feierte. Seit drei Stunden erhellten Feuerwerke die Nacht, wie sie die Erde seit Rhodans und Mory Abros Hochzeit nicht gesehen hatte. Der Lichterregen funkelte in rot und in gelb. Gleiter in den gleichen Farben schrieben mit Laserstrahlen Grusynskis Namen in die Luft, und es regnete Konfetti wie Schnee im Juli. Inzwischen gehörte Grusynski alles von Terrania, was auf dem freien Markt käuflich war. Man kam an keiner Imbissstube mehr vorbei, ohne Currywurst auf Pappbechern serviert zu bekommen, von denen Grusynskis Antlitz strahlte. Die Terrania-Post hieß mittlerweise Grusynski-Kurier. Alle privaten Raumschiffe trugen vor der Seriennummer ein »G«. Die gesamte Medienlandschaft war fest in Grusynskis Hand, und Grusynski griff bereits nach den Sternen. Die Handelsdelegation von Aloy-III war zurück zur Erde gekommen und führte ihre Verhandlungen über die Lieferung von Aloy-Diamantalgen im Wert von sechs Milliarden Solar mit Grusynskis Finanzsekretär. Die interstellare Presse berichtete über Grusynski als den Rächer der Enterbten. »Und die Flotten der Akonen, Blues und eines halben Dutzends anderer Völker stehen an den Grenzen des Imperiums!« stieß Rhodan hervor, als er sich mit einem Ruck zu Reginald Bull, Allan D. Mercant und Homer G. Adams umdrehte. »Die ganze Galaxis wartet darauf, dass wir vor Grusynski kapitulieren!« »Aber das werden wir nicht«, sagte Bull grimmig. »Endlich bist du wieder der Alte, Perry. Wir verkaufen keine Einheit, nicht mal ein verrostetes Beiboot. Wir lassen es auf eine Machtprobe ankommen.« »Und verlieren sie«, sagte Adams. Er wirkte um zehn Jahre gealtert. »Wir können Grusynski zum Teufel jagen, aber das ändert nichts an dem, was wir alle wissen. Die Galaxis blickt auf uns, und nicht nur die Kriegsschiffe an unseren Grenzen.«
»Das müssen wir riskieren«, tat Rhodan den Einwand ab. »Wir können nur noch alles auf eine Karte setzen. Verkaufen wir die Flotte, ist die Erde auf jeden Fall verloren. Grusynski ist so naiv zu glauben, dass unsere Gegner ein Solares Imperium tolerieren würden, das nicht mehr expandiert. Ginge es nach ihm, bekämen die Akonen und Blues von ihm die Schiffe, mit denen sie einen Tag später unsere Planeten besetzen.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Notfalls«, sagte er bitter, »verteidigen wir uns und die Menschen, für die wir die Verantwortung tragen, mit Gewalt.« »Auch wenn der Preis unsere völlige Isolation ist?« fragte Adams. »Auch dann«, knurrte Bull. »Einige Freunde haben wir ja noch in der Milchstraße: die Ferronen, die Posbis, die Haluter.« »Das ändert nichts daran, dass wir wirtschaftlich vor die Hunde gehen.« »Lieber das als in Sklaverei leben!« ereiferte sich Bull. Mercant fuhr sich mit einer Hand über den Haarkranz. »Dieses plötzliche Umdenken hat doch einen Grund, oder? Sie vertrauen darauf, dass Gucky und meine Männer rechtzeitig von Tarypur zurückkehren. Aber es ist eine Stunde vor zwölf. In spätestens neunzig Minuten wird Grusynski mit seiner Gefolgschaft vor der Tür stehen und die Übergabe seiner restlichen 131 Billionen verlangen – oder die des Imperiums.« »Gucky weiß, wann die Frist abläuft«, sagte Rhodan. »Marshall und er haben vor seinem Aufbruch vereinbart, dass er sich telepathisch meldet, sobald sein Spezialschiff die Grenzen des Solsystems erreicht. Ich warte jede Sekunde auf die Nachricht.« Und die Minuten vergingen. Sie zogen sich quälend langsam dahin. Auf den Straßen nahm der Lärm zu. Aus Lautsprechern wurde regelmäßig angesagt, wie lange die alte Führung noch im Amt war. »Wir hätten von Anfang an anders reagieren müssen«, sagte Mercant. »Wir wären als Vertragsbrecher beschimpft worden und hätten Wogen der Entrüstung zu spüren bekommen. Aber Grusynski hätte nie die Propaganda starten können, die uns dahin gebracht hat, wo wir heute stehen – nämlich mit dem Rücken
zur Wand.« »Eine Unterschrift«, murmelte Bull. »Eine einzige Unterschrift hat genügt, um uns alle wehrlos zu machen. Gegen die Flotten der Meister der Insel und ihrer unfreiwilligen Hilfsvölker konnten wir wenigstens kämpfen. Aber wie kämpft man gegen eine Unterschrift?« Es war zehn Minuten vor zwölf, als John Marshall von Ras Tschubai zu Rhodan teleportiert wurde und verkündete, dass Guckys Schiff die Plutobahn überquert habe. »Und?« drängte Rhodan. »Weiter? Was hat er herausgefunden?« Marshall zögerte. »Er will es uns persönlich sagen, Sir. Ich meine, Sie kennen den Kleinen. Er will seinen großen Auftritt. » Schnell fügte er hinzu: »Aber das ist ein gutes Zeichen. Wenn er keinen Erfolg gehabt hätte, würde er uns nicht auf die Folter spannen. Außerdem verlangt er, dass Grusynski dabei ist, wenn er erscheint.« »So!« rief Bull wütend. »Er verlangt es! Er kann Gift darauf nehmen, dass Zalym Grusynski hier sein wird – aber nicht, weil der Herr Mausbiber es so will!« Bull schüttelte den Kopf und schlug sich die Hände vor die Augen. »Aber wenn er etwas mitbringt, mit dem wir Grusynski zum Teufel jagen können, grabe ich ihm persönlich seine Karottenbeete um!« Terrania, Grusynski-Palast, 2. Mai 2407, 00.01 Uhr Zalym Grusynski stand vor einem halben Dutzend Kameras und hielt einer nach der anderen die Urkunde vor die Linsen, die ihn mit dem Gongschlag zum mächtigsten Mann der Galaxis gemacht hatte. Er lächelte mild und zog an einer dicken, schwarzen Zigarre. Sein gesamtes Gefolge war im Audienzsaal versammelt. Naomi wich nicht von seiner Seite. Leichtgeschürzte Mädchen tanzten mit Grusynski-Fähnchen auf einer Bühne, und ein Orchester
spielte die neue Imperiumshymne, den »Grusynski-Marsch«. Die vier Hornbläser schmetterten eine Tonfolge, und Grusynskis Erster Staatssekretär verkündete den Beginn der neuen Epoche, indem er die »Freie Republik Terra« ausrief, das Paradies aller Menschen, den Garten Eden der bisher Geknechteten, Ausgebeuteten, Gegängelten. Dann rief Grusynski selbst zum Triumphzug auf das Regierungsviertel auf: »Verlasst eure Häuser, Bürger des neuen Staates! Reiht euch ein in unsere Front! Tanzt und lacht, singet und seid froh! Macht die Nacht mit Freudenfeuern zum Tag, die Nacht der sanftesten Revolution seit Menschengedenken! » Seine Werbeagenturen sendeten noch einige Empfehlungen zum besseren Kauf in den Grusynski-Warenhausketten und für den nächsten Urlaub, der selbstredend auf Tarypur verbracht werden sollte. Wer etwas auf sich halte, der müsse mindestens einmal im Leben den Planeten besucht haben, auf dem der größte Wohltäter aller Zeiten das Licht der Welt erblickt habe. Zalym Grusynski aber, der Mann der Stunde und des Geldes, verließ sein altes Hauptquartier, um im Triumphmarsch in sein neues einzuziehen. In allen Fenstern der Gebäude, die die Straßen des Zuges flankierten, brannten Kerzen, die Grusynskis Wachsfabrik eigens für diesen Tag hergestellt und verteilt hatte. Das Feuerwerk erreichte seinen Höhepunkt. Die Nacht war so hell, dass ein Explorerkommandant, der aus den Tiefen der Galaxis zur Erde zurückkam, vorsichtshalber beim Raumhafen anfragte, ob über Terrania eine Atombombe explodiert sei. Und von überallher kamen die Menschen geströmt, sangen die Hymne von schnell verteilten Textblättern, tranken GrusynskiSekt und trugen die Grusynski-Kluft. Die Millionen folgten dem Monarchen wie die Ratten dem legendären Flötenspieler von Hameln. Wie eine Flutwelle aus Menschenleibern ergossen sie sich ins Regierungsviertel und wollten dabei sein, wenn »ihr« Grusynski Perry Rhodans Sitz übernahm. Statt des Kerfraus aber erlebten sie, wie plötzlich Soldaten auf-
tauchten und den Kern des Regierungskomplexes hermetisch abriegelten. Zalym Grusynski und seine Gefolgschaft starrten in die Mündungen von schweren Handstrahlern. Ein einziger Aufschrei der Bestürzung aus Millionen von Kehlen ließ die Wände der Gebäude erzittern. Grusynski fasste sich schnell. »Ich sagte doch, Rhodan gibt das Imperium nicht kampflos her«, flüsterte Naomi ihm zu. »Er macht sich nur lächerlich.« Grusynski ließ sich von zwei Untertanen auf die Schultern heben und breitete die Arme aus. Die Menge verstummte in gespannter Andacht. »Fürchtet euch nicht!« rief er pathetisch aus. »Denn was sind Waffen gegen den Gerechten? Wartet hier und harret meiner, Bürger der neuen Republik! Ich werde nun zu Perry Rhodan gehen und euch gleich aus dem Fenster seines Büros zuwinken!« »Zu Rhodan können Sie, Grusynski«, sagte ein Offizier. »Aber nur Sie. Er wartet bereits sehnsüchtig.« Grusynski ließ sich wieder absetzen und setzte eine würdevolle Miene auf. Naomi flüsterte er noch zu, bevor er seinen Gang antrat: »Warte eine halbe Stunde. Sollte ich dann nicht zurück sein, lässt du den vorbereiteten Hyperfunkspruch in die Galaxis senden: Der legitime Herrscher und Eigentümer des Solaren Imperiums ist von der Rhodan-Bande gefangengenommen worden und soll durch Gehirnwäsche zum Verzicht gebracht werden. In einigen Stunden sind die Akonen, die Blues und alle anderen da, die wissen, was sie an mir haben.« Erhobenen Hauptes folgte er dem Offizier, drehte sich noch einmal winkend um und drückte die auf ihn gerichteten Waffen nach unten. Terrania, Regierungskomplex, 2. Mai 2407, 00.26 Uhr Grusynski betrat das Büro knapp zwei Minuten, nachdem Gucky materialisiert war. Das Schiff mit den zehn SolAb-Leuten blieb im
weiten Orbit um Terra, und kein Grusynski-Anhänger in der Raumhafenverwaltung konnte einen Grund sehen, Alarm zu schlagen. Grusynski war vollkommen ahnungslos, doch leider nicht nur er. Einzig John Marshall wusste vielleicht schon, ob und womit der Mausbiber in der Stunde der Not aufzutrumpfen hatte. »Mr. Rhodan«, sagte Grusynski väterlich. »Es ist einfach ein schlechter Stil, sich an der Macht festzukrallen und den Realitäten nicht ins Auge sehen zu wollen. Es nützt Ihnen doch nichts, den Lauf der Dinge unnötig aufzuhalten. Hören Sie die enttäuschten Menschen draußen auf den Straßen und Plätzen? Wollen Sie ihnen denn wirklich ihr schönes Fest verderben?« »Ich habe nicht die Absicht, ihnen etwas zu verderben«, sagte der Großadministrator. , Grusynski grinste und zeigte sein Platin. Er streckte die rechte Hand aus. »Na, sehen Sie, das wollte ich meinen. Wir sind schließlich Ehrenmänner. Also geben Sie mir das Geld, oder packen Sie Ihre Sachen. Ich stelle Ihnen kostenlos einen Gleiter zur Verfügung, der Sie vorerst in Ihre Villa am Goshun-See bringt.« Gucky erhob sich aus einem Sessel und trat ihm auf die Zehen. »Au!« entfuhr es dem Hochfürsten. »Bist du verrückt geworden?« »Mund halten und hinsetzen!« fuhr der Ilt ihm respektlos ins Wort. Er zeigte auf den Sessel. »Dorthin.« »Ich…« Für einen Moment war Grusynski sprachlos. »Ich protestiere, Rhodan! Rufen Sie dieses kleine Biest zurück, oder ich…!« »Oder was, Zalym?« fragte Gucky. »Oder sollte ich besser sagen: Ypendor?« Grusynski wurde blass. »Yp… Ypendor?« Er blickte Rhodan an, dann Mercant, Bull, Adams, Marshall. Als er ihre unsicheren Mienen so deutete, dass sie wohl selbst überrascht vom Auftritt des Mausbibers seien, lächelte er wieder sein überlegenes Lächeln. »Ach, du meinst meinen Großvater, ja?« Er musste Zeit gewinnen. Der Ilt wusste
etwas. Eine halbe Stunde, nein, nur noch 22 Minuten, und Naomi würde die Galaxis alarmieren. »Was ist mit ihm?« »Ach weißt du«, sagte der Ilt, »das ist eine etwas komplizierte Geschichte. Ich verstehe sie noch nicht ganz, aber vielleicht kannst du mir dabei helfen?« Er trat ihm auf den anderen Fuß. »Setzen, Ypendor Grusynski! Ypendor der vierte, der nie gestorben ist!« Grusynski spürte, wie seine Knie weich wurden. Gucky brauchte ihn gar nicht noch einmal zum Hinsetzen aufzufordern. Er ließ sich hart in den Sessel fallen. »Moment!« Bull kniff die Augen zusammen und tippte mit ausgestrecktem Zeigefinger Löcher in die Luft. »Du willst doch nicht sagen, Kleiner, dass wir da nicht den Enkel vor uns haben, sondern den Großvater?« Rhodan verzog hoch keine Miene, und auch die anderen Anwesenden konnten noch nicht an diese Möglichkeit glauben. »Er müsste dann 123 Jahre alt sein«, bemerkte Mercant kopfschüttelnd. »Ypendor Grusynski starb 2367 im Alter von 83 Jahren, jedenfalls lauten meine Informationen über ihn so.« Gucky nickte. »Es gibt sogar eine eindrucksvolle offizielle Sterbeurkunde, ich habe sie selbst gesehen. Aber die lag schon Monate vor Ypendors angeblichem Tod griffbereit in seiner Schublade.« Er teleportierte sich auf die Sessellehne und legte Grusynski einen Ellbogen auf die Schulter. »Stimmt’s, Grusy?« »Das ist alles Unsinn!« empörte sich der Hochfürst. »An den Haaren herbeigezogen oder raffiniert eingefädelt, um mich zu betrugen!« Dieses kleine Pelzbiest wusste es! Dann wusste es auch alles andere. Zeit gewinnen! dachte Grusynski wieder. Er wagte es nicht, einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen. Wie viele Minuten noch? »Grusy«, sagte der Ilt, »du enttäuschst mich. Also Pass auf. Du fühltest dich pudelwohl, vor allem, wenn du an die Zukunft und
das Geld dachtest, das sie dir bringen würde. Nur manchmal fragtest du dich, was du in vierzig oder fünfzig Jahren mit dem schönen Geld wohl noch alles würdest anfangen können – als alter Mann. Denn so lange wolltest du warten, bist du uns an die Anleihe zu erinnern gedachtest.« Er seufzte. »Oh, die menschliche Eitelkeit, nicht wahr, Grusy? Du wolltest die Trillionen mit schönen Frauen verprassen, im Mittelpunkt stehen, überall bewundert werden. Aber als alter Mann, dem die Säfte schon…?« »Gucky!« sagte Rhodan scharf. »Zur Sache!« »Zu Befehl, Sir!« Der Ilt boxte Grusynski in die Seite. »Also dachtest du dir etwas aus, um Abhilfe zu schaffen. Jedermann weiß, dass die Aras gegen gute Bezahlung nicht nur fast alle Krankheiten heilen können, sondern auch regelrechte Verjüngungskuren anbieten. Du wurdest ganz plötzlich krank und machtest dein Testament. Du bestimmtest darin deinen einzigen Sohn, Zalym, zu deinem Nachfolger, und schicktest ihn gleich nach Educatio, einer Universitätswelt am Rand des Imperiums, die von uns wenig wissen will. Zalym war also weg vom Fenster, und du hattest freie Bahn. Als es dir Armen immer schlechter ging, erklärtest du deinem Volk, dass nur die Aras dich vielleicht noch retten könnten, flogst nach Aralon und wurdest mit offenen Armen empfangen, nachdem die Aras deine Urkunde gesehen hatten. Du nahmst eine Anleihe auf die Anleihe auf und wurdest medikamentös behandelt, bis du um gute dreißig Jahre jünger aussahst – und dich auch fühltest.« »Und dann kehrte er als sein eigener Sohn nach Tarypur zurück?« fragte Adams ungläubig. »Und wurde zu Zalym dem Ersten, nachdem er Zalym dem Echten mit genug Geld ein Abenteurerleben schmackhaft gemacht hatte. Zalym kehrte nie wieder nach Tarypur zurück, weil er ihm sonst die regelmäßigen Zuwendungen gesperrt hätte. Ypendor starb offiziell im Jahr 2367.« »Nicht nur offiziell!« fuhr Grusynski auf. »Er ist tot!« Noch fünfzehn Minuten, noch zehn? Zum Glück erzählte der Mausbiber breit und wortreich. Weiter so, du Biest!
»Und Zalym der Erste wurde ebenfalls älter und kam eines Tages auf die Idee, den Betrug zu wiederholen«, erriet Rhodan. »Genau«, bestätigte Gucky. »Das war genau dreißig Jahre später, im Jahr 2397. Der arme Zalym wurde krank, offenbar war diese Krankheit vom Vater auf den Sohn vererbbar. Auch er hatte einen ,Sohn’, oder besser gesagt, er fand zwei Jahre vor seinem angeblichen Tod seinen, seit Jahrzehnten verlorenen Sprößling wieder, der ebenfalls Zalym hieß.« Gucky rieb sich über die Augen und fragte weinerlich: »Das ist eine so rührende Geschichte. Hat jemand ein Taschentuch für mich?« »Gucky!« musste Rhodan ihn abermals ermahnen. Er nickte. »Dieser Sohn war natürlich ein Niemand, der sich gegen gutes Geld als Jung-Zalym ausgab und nach Educatio schicken ließ. Er wusste, dass er nie nach Tarypur zurückkehren würde. Das tat für ihn unser Ypendor-Zalym, nachdem er todkrank wieder nach Aralon geflogen und von den gleichen Aras um zwanzig Jahre jünger gemacht worden war. Sie stellten wieder die Sterbeurkunde aus und gaben ihm bei der Gelegenheit und für eine weitere Anleihe auch gleich den Mentalblock. Und weil’s im Dutzend billiger ist, präparierten sie kurz darauf auch seine engsten Vertrauten – seine jetzige Gefolgschaft. Diese Tarypurner dürften allerdings nichts von der wunderbaren Auferstehung wissen. Er ließ ihnen den Mentalblock verabreichen, als er schon als Zalym der Zweite in Erscheinung getreten war. Zalym Zwo war sechzig Jahre alt, als er 2397 sein Amt antrat, und heute sitzt er als siebzigjähriger Jüngling hier vor uns.« Grusynski wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, es abzustreiten. Nur noch wenige Minuten! »Stimmt das, Grusynski?« fragte Rhodan. »Und wenn schon! Das ist meine Privatsache und ändert nichts an den Tatsachen!« »Unser später Ypendor lebte übrigens nicht arm und bescheiden, wie wir bisher glauben mussten«, fügte Gucky noch hinzu, »sondern mit seiner Gefolgschaft in Saus und Braus. Das einfache
Volk ahnte nichts von den wüsten Festen und Spielen im Regierungspalast. Und woher, Freunde, hatte er wohl das Geld?« »Das geht niemanden etwas an!« schrie Grusynski. Jetzt begann er zu schwitzen. Wer hatte auf Tarypur geredet? »Von den Antis, den Springern, den Akonen und einigen anderen lieben Galaktikern«, sagte Gucky, »mit denen er sich heimlich traf. Er brauchte ihnen nur die Urkunde zu zeigen, und sie überhäuften ihn mit Geld – mit Krediten, wohlgemerkt.« Grusynski sprang auf. Er bebte. Seine Hände fuhren durch die Luft. Er blickte auf die Uhr und sah erschreckt, dass von der halben Stunde erst 23 Minuten verstrichen waren. Dann lachte er schallend. »Und wenn schon! Sie können mir gar nichts nachweisen, oder hat Ihr Mausbiber etwa handfeste Beweise mitgebracht? Ich darf Handel treiben, mit wem ich will, auch als Bürger des Imperiums! Kein Gesetz verbietet es mir!« »Das kann Hochverrat bedeuten!« schrie Bull empört. »In sechs Minuten brauchen Sie sich darüber keine Sorgen mehr zu machen. Halten Sie mich fest, und Na omi hetzt Ihnen die halbe Galaxis auf den Hals. So sieht es aus, meine Herren. Ich habe mit Ihrer Hartnäckigkeit gerechnet und meine Vorkehrungen getroffen!« Betretenes Schweigen breitete sich aus. Endlich sagte Adams: »Es tut mir leid, aber er hat recht. Ohne gesetzliche Handhabe sind wir…« »Wir sind zum Kampf gezwungen«, sagte Rhodan hart. »Bully, die Solare Flotte befindet sich bereits in Alarmbereitschaft. Du übernimmst die Koordinierung der Verbände und ihrer Einsatzgebiete. Ich selbst werde an Bord der CREST gehen und versuchen, die an unseren Grenzen aufmarschierten Völker zur Vernunft zu bringen. Mercant, Sie…« »Perry!« rief Gucky. »Warum denn die Dinge überstürzen?« Bull starrte ihn an wie ein Gespenst. »Du bist gut! Du hast selber gesehen, was…« »Ich war noch nicht ganz zu Ende. Ich dachte eigentlich, dass
ihr von selbst darauf kommt.« »Worauf?« fragte Rhodan ungeduldig. »Na, dass unser Zalym der Zweite überhaupt keinen Anspruch auf die 140 Billionen Solar mehr hat!« Nun schienen sie alle an seinem Verstand zu zweifeln. Nur Grusynski zuckte zusammen wie unter einem elektrischen Schlag. »Ich dachte wirklich«, sagte der Ilt und stolzierte mit geschwellter Brust vor Rhodan und Bull auf und ab, »dass ihr den Vertrag besser in Erinnerung hättet. In ihm steht nämlich ausdrücklich, dass die acht Solar oder das, was einmal aus ihnen wird, an Ypendor zurückzuzahlen seien – oder an seine Nachfolger auf dem Hochfürstenthron.« Er drehte sich blitzschnell nach Grusynski um. »Aber nur im Fall seines Ablebens, Grusy! Nun ist aber Ypendor nicht tot, wie ich sehr wohl beweisen kann, also hat Zalym der Zweite keinen Anspruch auf das Geld! Du glaubtest, so verdammt klug und gescheit zu sein, Grusy, aber diese Kleinigkeit hast du übersehen!« »Nein!« kreischte Grusynski. »Aber… und wenn schon! Dann bin ich eben nicht tot, sondern lasse die Sterbeurkunde für ungültig erklären, und als Ypendor…« »… würdest du der ganzen Galaxis und vor allem deinem lieben Volk zeigen, was für ein elender Betrüger du bist!« fuhr der Ilt ihm dazwischen. »Was ist dir lieber? Was würden deine Ära-, Akonen-und Springerfreunde wohl mit dir machen, ganz zu schweigen von den Tarypurern, wenn sie davon erführen?« Grusynski landete wieder in seinem Sessel, bleich, geschlagen. Er wusste, dass er verloren hatte. Naomi würde ihm die Augen auskratzen, auf Tarypur würde eine Revolution gegen ihn ausbrechen, und auf der Erde würde er keinen einzigen Anhänger mehr haben. »Ich wüsste da allerdings noch einen Ausweg, Grusy«, sagte Gucky. Terrania, 10. Mai 2407
Vier Tage nach Grusynskis Abflug und seiner großzügigen Schenkung von 139,8 Billionen Solar an das Solare Imperium waren fast wieder »normal« zu nennende Verhältnisse eingekehrt. Die Grusynski-Betriebe, seine Warenhausketten, Spielsalons, Bars, Hotels, Imbissstuben, Fernsehstationen und Satelliten wurden wieder von ihren alten Besitzern geführt. Die Bevölkerung Terranias und der anderen Städte verhielt sich auffällig ruhig, kaum einer wagte dem anderen schon wieder ins Auge zu sehen. Jeder wusste, wie sehr er sich blamiert hatte, der eine mehr, der andere weniger. Doch der Grusynski-Virus hatte sie alle erfasst gehabt. Die Flotten der galaktischen Mächte hatten sich zu ihren Basen zurückgezogen, der drohende Krieg war im letzten Moment abgewendet worden. Die 200 Milliarden Solar, die Grusynski und seine Gefolgschaft während ihres Aufenthalts auf der Erde verprasst hatten, sollten nach einem neuen Vertrag im Lauf von hundert Jahren zurückgezahlt werden – und zwar zinslos. Tarypur erhielt dafür von der Erde entsprechende Entwicklungshilfe. So gesehen, schien die Welt wieder in Ordnung zu sein. Perry Rhodan und Allan D. Mercant standen am Fenster von Rhodans Büro und blickten hinab auf den Berufsverkehr in den Häuserschluchten und auf den geschwungenen Hochstraßen. »Wird es ihnen eine Lehre sein?« fragte Rhodan leise. »Oder kann morgen ein neuer Grusynski kommen, und das ganze Theater beginnt von neuem?« »Gewisse Krankheiten«, antwortete Mercant, »machen immun, wenn sie einmal überstanden sind.« Rhodan hoffte es. In Gedanken dankte er Gucky noch einmal für seine Aufklärungsarbeit auf Tarypur. Inzwischen wusste er auch, woher der Ilt sein Wissen bezogen hatte. Es hatte etwas mit einer Tarypurerin zu tun, der Grusynski vor Jahren die Ehe versprochen hatte. Bevor er sie dann sitzen ließ, hatte er ihr an einem alkoholseligen Abend von seinem geplanten großen Coup und dessen Vorbereitungen erzählt.
Rhodan konnte Gucky nicht persönlich danken, denn der Mausbiber war voll und ganz damit beschäftigt, Reginald Bull beim Umgraben seiner Mohrrübenbeete zu beaufsichtigen. Unwillkürlich musste Rhodan lächeln. Bull verfluchte Gucky, Adams hatte innerhalb weniger Tage die aus allen Fugen geratene solare Wirtschaft wieder in Ordnung gebracht, und das schlechte Gewissen der Terraner war zweifellos von heilsamer Wirkung. »Nur an eines darf ich nicht denken«, sagte Mercant. »An was?« »An die Anleihen. An die Kredite, die Grusynski bei den Springern und anderen auf unsere Staatsanleihe aufgenommen hat. Er hat ihnen, wie wir jetzt wissen, Anteile davon verkauft. Wann werden die ersten Patriarchen kommen und Geld von uns fordern…?« Rhodans Lächeln erstarb.
Thomas Ziegler
Star-Amore In den Annalen der Menschheitsgeschichte wird das Jahr 2613 A. D. gelegentlich als Schwarzes Loch bezeichnet – sofern man es überhaupt einer Erwähnung wert befindet. In der Tat gibt es kaum ein seriöses Geschichtswerk, das diesem Jahr mehr als eine Fußnote widmet. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Es fanden keine Kriege statt, es wurden keine bahnbrechenden Erfindungen gemacht, keine bedeutenden Verträge geschlossen, keine Skandale aufgedeckt. Kurz: Die kosmische Bühne sah in diesem Jahr weder Tragödien noch Komödien, und die Historiker, auf kosmische Geschehnisse fixiert, sahen im Jahr 2613 den größten Langweiler seit Guckys Lyriksammlung ICH UND DER REST DES UNIVERSUMS«. Doch frei von kosmischen Umwälzungen, findet der Chronist endlich Zeit, sich um die kleinen Tragödien und Komödien zu kümmern, wie sie in jedem Jahr auf jedem Planeten der Milchstraße stattfinden und die auf ihre Art ebenso bedeutend sind wie ein galaktischer Krieg oder ein Friedensvertrag zwischen zwei verfeindeten Sternenreichen. Da gibt es zum Beispiel im Jahr 2613 A. D. auf Terra die ganz persönliche Tragödie des Lukas Lorrimer, Leiter des Eheanbahnungsinstituts STAR-AMORE …
1.
»Ich suche eine Frau«, sagte der Swoon, als er das Büro betrat und sich mit der ganzen Grazie einer zweibeinigen Gurke auf den Besuchersessel schwang. Er legte seine Aktentasche neben sich auf das Polster und zog aus den Falten seines nachthemdähnlichen Gewandes eine Visitenkarte hervor. Lässig warf er sie auf Lukas Lorrimers Schreibtisch. »Eine terranische Frau«, fügte der Swoon hinzu. »Sicher«, nickte Lorrimer. »Jeder, der sich an Star-Amore wendet, sucht eine terranische Frau. Schließlich sind wir ein kosmisches Eheanbahnungsinstitut. Wir sind darauf spezialisiert, unseren außerirdischen Freunden terranische Frauen zu vermitteln.« Er ließ das Schälchen Gurkensalat, über das er sich soeben hermachen wollte, unauffällig im Seitenfach seines Schreibtischs verschwinden. Gurkensalat war Lorrimers Leib- und Magengericht, aber die Swoon waren ein empfindliches Völkchen, was manche terranische Ernährungsgewohnheiten betraf, und nur ein Narr verärgerte seine Kunden, bevor er sie ausgenommen hatte. Man konnte Lukas Lorrimer einiges nachsagen, aber nicht, dass er ein Narr war. Im Gegenteil. Er war ein skrupelloser, pathologisch geldgieriger Geschäftsmann, und er kannte die SCHRECKLICHE WAHRHEIT. Und weil er die SCHRECKLICHE WAHRHEIT kannte und pathologisch geldgierig war, hatte er das kosmische Eheanbahnungsinstitut Star-Amore gegründet. Er griff nach der Visitenkarte. Seine Augen wurden groß. Sein Gesicht begann zu glühen. Sein Herz machte einen Sprung, denn er roch Geld: Die Visitenkarte war mit Blattgold überzogen und ah den Rändern mit punktgroßen Saphirsplittern intarsiert. Silberfäden bildeten die Buchstaben: ÄLMRICH OLK – OLK MIKROTECH EXPORT SWOOFON. »Mr. Olk«, sagte Lorrimer mit einem gewinnenden Lächeln, »es ist mir eine große Ehre, Ihnen zu Diensten zu sein. Und ich kann Ihnen versichern, dass wir die richtige Frau für Sie finden werden. Star-Amore hat bisher noch jeden seiner Klienten in den Ha-
fen der Ehe gelotst und…« »Hafen?« unterbrach der Swoon. Die Augen unter dem blattartigen, pinkfarbenen Haarschopf blinzelten irritiert. »Was für ein Hafen? Ich wusste nicht, dass zu einer Ehe mit einer Terranerin auch ein Hafen gehört…« Lorrimers Lächeln wurde ein wenig säuerlich. »Nur eine Redewendung«, erklärte er. »Wir Terraner mögen Redewendungen.« »Ach was?« sagte der Swoon. Sein pinkfarbenes Blatthaar raschelte. Lorrimer räusperte sich. »Mr. Olk, ehe wir Ihre Partnerwünsche im Detail besprechen, bin ich verpflichtet, Sie auf die Geschäftsbedingungen von Star-Amore hinzuweisen. Wir erheben eine Anmeldegebühr von zweitausend Solar; jedes von uns arrangierte Rendezvous mit einer unserer heiratswilligen Klientinnen kostet weitere zweitausend; und im Fall einer Eheschließung wird ein Erfolgshonorar von fünftausend Solar fällig. Als Gegenleistung erhalten Sie unseren Datenchipkatalog Tausend bezaubernde Bräute, die Hypnolernspule Wie becirce ich terranische Frauen und einen Eintrag im positronischen Datenpool der Vereinigung interstellarer Eheanbahnungs- und Partnervermittlungsinstitute, in dem die Daten von über zweihundert Millionen heiratswilliger Wesen aus allen Teilen der Milchstraße gespeichert sind. Ist das nicht großartig?« »Aber ich will eine terranische Frau«, sgte der Swoon. »Ich bin an diesem galaktichen Ehepool nicht interessiert.« »Unter, diesen Umständen wird auf den Eintrag selbstverständlich verzichtet.« Lorrimer lächelte sein gewinnendes Lächeln und dachte: Natürlich willst du eine terranische Frau. Das wusste ich schon, bevor du dieses Büro betreten hast, denn ich kenne die SCHRECKLICHE WA HRHEIT… »Nun gut«, erklärte der Swoon. »Unter diesen Umständen bin ich mit den Bedingungen einverstanden, Mr. Lorrimer.« Wieder griff er in sein faltenreiches Nachthemd und brachte eine Kreditkarte zum Vorschein. Lorrimer legte sie auf die Fotozelle seines Buchungscomputers, ließ die schmalen Finger über die
Tastatur des Terminals huschen, und im Bruchteil einer Sekunde war die Transaktion erledigt. Das Bankguthaben von Star-Amore hatte sich um zweitausend Solar erhöht. Lorrimer unterdrückte den Impuls, sich zufrieden die Hände zu reiben, und gab seinem außerirdischen Klienten die Karte zurück. Der Swoon schlug die dünnen Beine übereinander, öffnete die Aktentasche und nahm eine rosa Topsid-Zigarre heraus. Als er sie in den Mund steckte und kräftig zubiss, begann die Spitze zu glühen, und bald erfüllte penetranter Himbeergeruch das ganze Büro. Rosa Rauchschwaden ballten sich unter der Decke zu wolkigen Figuren. Verstohlen schaltete Lorrimer die Umwälzleistung der Klimaanlage höher und bemühte sich, möglichst flach zu atmen, bis die Rauchwolken in Richtung Entlüftungsschacht trieben. »Also?« sagte der Swoon und blies Lorrimer einen rosa Rauchring ins Gesicht. Lorrimer hustete. »Wir werden Ihnen den Datenchipkatalog und die Hypnolernspule zuschicken. Sie wohnen im Hotel…?« Jnterstellar«, sagte der Swoon. Das teuerste Hotel von ganz Terrania. Lorrimer hatte nach der Visitenkarte nichts anderes erwartet. Diese Gurke, dachte er, ist eine Goldgrube. Gar nicht zu vergleichen mit dem Matten-Willy oder diesem trunksüchtigen Unither… Von dem Blue ganz zu schweigen. Sie wird mich reich machen. Ich werde Millionär sein, wenn ich mit ihr fertig bin… Laut sagte er: »Nun, Mr. Olk, Sie können sich natürlich in aller Ruhe in Ihrem Hotelzimmer den Katalog anschauen und Ihre Wahl treffen, und wir werden dann das Rendezvous mit der Frau Ihrer Träume arrangieren, aber meine langjährige Erfahrung sagt mir, dass Sie eine Gur… ein Mann von Welt sind.« Er beugte sich nach vorn und sah dem Swoon scharf in die wässrigen Augen. »Ich sehe vor mir einen Mann, für den das Beste gerade gut genug ist. Einen Mann, der sich nicht mit dem zufrieden gibt, was gewöhnliche Sterbliche in Verzückung versetzt. Einen Mann mit erlesenem Geschmack, exklusiven Ansprüchen und kompromiss-
losen Maßstäben. Einen Mann, der ein Recht darauf hat, eine Frau zu bekommen, neben der alle anderen Frauen Würmer sind!« Der Swoon blinzelte. »Ach was?« »In der Tat!« bekräftigte Lorrimer. »Mr. Olk, vergessen Sie den Katalog. Sagen Sie mir, wie die Frau Ihrer Träume aussieht, und ich finde sie für Sie. Zufriedene Klienten und glückliche Ehen, Mr. Olk, das ist der Grundsatz von Star-Amore«. »Nun…« Der Swoon wedelte mit seiner Zigarre, und die Asche rieselte wie schmutziger Schnee auf den imitierten Orientteppich des Büros. »Offen gestanden, ich habe mir bereits ein Bild von meiner zukünftigen Gattin gemacht. Sie muss reich sein. Und blond. Wasserstoffsuperoxydblond, um es zu präzisieren. Außerdem soll sie treu, gehorsam, fleißig, häuslich und… äh… an den richtigen Stellen gepolstert sein.« Seine Augen zwinkerten Lorrimer anzüglich zu. »Sie wissen schon, was ich meine.« Ich will verdammt sein! dachte Lorrimer grimmig. Eine PaschaGurke! »Aber das ist ja hervorragend!« jubelte er. »Sie werden es kaum glauben – aber erst heute Morgen rief mich eine Klientin an, die nicht nur reich, blond, treu, gehorsam, fleißig, häuslich und an den richtigen Stellen gepolstert ist, sondern auch davon träumt, glückliche Gattin eines Swoon zu werden!« »Ach was?« »Und ob! Sie werden begeistert sein.« Lorrimer tat geschäftig, wühlte in seiner Schreibtischschublade, dann im Seitenfach, kippte beinahe das Schälchen Gurkensalat um und fand schließlich den Fernsteuermodul hinter den beiden Vurguzz-Flaschen, die er aus medizinischen Gründen stets in Griffweite aufbewahrte. »Und wer«, fragte Älmrich Olk mit begehrlichem Unterton, »ist meine glückliche Braut?« »Sie heißt Cynthia Vandermor«, eröffnete ihm Lorrimer und betätigte den Fernsteuermodul. Die Seitenwand des Büros verwandelte sich in einen Großbildschirm, und Cynthias Konterfei erschien. Der Swoon ächzte. Seine Blatthaare raschelten, und die
Zigarre fiel ihm aus den Fingern; blitzschnell beugte sich Lorrimer über den Schreibtisch und fing die brennende Zigarre auf, bevor sie das Sesselpolster versengen konnte. Er grinste hässlich, als er sie im Gurkensalat ausdrückte. Der Swoon bemerkte es nicht. Natürlich bemerkte er es nicht. Seine wässrigen Augen saugten sich förmlich an Cynthia Vandermor fest. Er war hingerissen. Er war verzückt. Er war der lebende Beweis für die SCHRECKLICHE WA HRHEIT, und Cynthia… Cynthia war braungebrannt und langbeinig, wohlproportioniert und samthäutig, und ihr Gesicht würde jeden Engel vor Neid erblassen lassen. Lasziv hatte sie sich an einem Strand aus weißem, feinkörnigem Sand ausgestreckt, und sie trug nur einen winzigen Bikini und im Haar eine rosa Schleife. Düster starrte Lorrimer den Swoon an, und das Wissen um die SCHRECKLICHE WA HRHEIT lastete mit einem mal wie Blei auf seinen Schultern. Nur der Gedanke, dass Älmrich Olk noch vor seinem Abflug von Terra den Tag verfluchen würde, an dem er sich an Star-Amore gewandt hatte, hielt ihn aufrecht. Denn natürlich dachte Cynthia Vandermor nicht im Traum daran, Älmrich Olk oder irgendeinen anderen Swoon zu heiraten. Sie würde sich mit dem Swoon treffen, und Star-Amore würde für jedes Rendezvous zweitausend Solar kassieren. Tag für Tag zweitausend Solar, und das einen ganzen Monat lang. Und dann würde Olk seinen Abflug verschieben; für Lorrimer bestand daran ein Zweifel. Wenn schon das Foto genügte, ihm den Verstand zu rauben, dann war er verloren, sobald er Cynthia zum ersten Mal traf. Und mit jedem Rendezvous würde der liebestolle Swoon in größere Raserei geraten. Er würde Cynthia Honig, Milch und goldene Berge versprechen und vom trauten Familienglück in irgendeinem gottverlassenen Gurkenbeet auf Swoofon schwärmen. Lorrimer konnte es sich direkt vorstellen: Olk in seinem Nachthemd, die topsidische Zigarre lässig im Mundwinkel; Cynthia in ihrem rosa Schleifchen; und im Hintergrund Oma Gurke und
Opa Gurke, wie sie die kleinen süßen Gurkenkinder hüteten… Lorrimer verdrängte die bizarre Version und gab sich angenehmeren Gedanken hin. Die Wochen und Monate würden verstreichen, und jeder Tag würde Star-Amores Kontostand um zweitausend Solar erhöhen, bis Älmrich Olks Vermögen aufgebraucht war und das rote Warnlicht am Buchungscomputer aufglomm. Und dann, dachte Lorrimer mit einem boshaften Lächeln, kam das unwiderruflich letzte Rendezvous: In dem Moment, wenn der liebeskranke Olk vor Cynthia auf die Knie sank, ihr seinen Ruin gestand und sie anflehte, trotzdem seine Frau zu werden, würde Cynthia eine Gewürzgurke aus der Tasche ziehen und bedeutungsvoll daran herum knabbern. Oder mit ihrem Verehrer ein vegetarisches Restaurant aufsuchen und mit allen Anzeichen des Behagens eine ganze Schüssel voller Gurkensalat verspeisen. Lorrimer nickte. Genau das würde geschehen. In dieser Hinsicht war auf Cynthia Verlass. Schließlich war sie seine Freundin. Und sie kannte genau wie er die SCHRECKLICHE WAHRHEIT. Lorrimer wartete noch einige Sekunden, nahm dann den Fernsteuermodul in die Hand und berührte eine Sensortaste. Cynthias Foto verschwand. Der Bildschirm verwandelte sich wieder in eine Wand. Der Swoon erwachte aus seiner Trance und blinzelte. Mit einer fahrigen Handbewegung strich er über sein pinkfarbenes Blatthaar. »Bei allen Sternen!« keuchte er. »Bei allen Sternen!« »Nun?« sagte Lorrimer. »Habe ich Ihnen zuviel versprochen, Mr. Olk?« »Ich bin überwältigt«, gestand der Swoon. »Ich nehme sie. Könnten Sie sie mir gleich einpacken und ins Hotel schicken?« Lorrimers leutselig lächelndes Gesicht erstarrte zu einer frostigen Maske. »Mr. Olk, terranische Frauen sind es nicht gewohnt, eingepackt und mit der Pa ketpost in die Wohnung des zukünftigen Gatten geliefert zu werden.« »Ach was?«
»Terranische Frauen, Mr. Olk, sind es gewohnt, dass man ihnen den Hof macht!« »Den Hof?« Der Swoon wirkte überrascht. »Wie seltsam! Und wie groß ist dieser Hof, wenn ich fragen darf?« Auf Lorrimers Stirn begann eine Ader zu pulsieren. Nur das Wissen um die SCHRECKLICHE WA HRHEIT und die Pflicht, die er zu erfüllen hatte, hielt ihn davon ab, sich auf den Swoon zu stürzen. »Auch das war eine Redewendung«, erklärte er mit erzwungener Ruhe. »Sie müssen um sie werben, verstehen Sie? Ihr Komplimente machen, mit ihr ausgehen, ihr Geschenke schicken, Sekt und Kaviar spendieren, kurz und gut, Sie müssen ihr zeigen, dass sie geliebt, begehrt und angehimmelt wird.« Lorrimer seufzte. »Ich schlag vor, Sie kehren in Ihr Hotel zurück, absolvieren den Hypnolehrgang Wie becirce ich terranische Frauen, und ich arrangiere für morgen ein Treffen mit Ihrer Angebeteten. Einverstanden?« Der Swoon rutschte vom Sessel und richtete sich zu seiner vollen Größe von fünfzig Zentimetern auf. »Einverstanden, Mr. Lorrimer. Sie ahnen ja nicht, wie glücklich Sie mich gemacht haben.« Lorrimer lächelte rätselhaft. »Oh doch, Mr. Olk. Ich ahne es.«
2. Nachdem der Swoon gegangen war, verließ Lorrimer sein Büro und begab sich in die Kantine des Galactic Centers. Sie lag im Erdgeschoß des achtzigstöckigen Büroturms, und durch ihre riesige Fensterfront sah man auf den Arno-Kalup-Park, der in Früh Jahrsfarben erblüht war und vergessen ließ, dass man sich mitten in der Riesenstadt Terrania befand. Der Kantinenpächter war ein Blue namens Y’ürp, und Lorrimer verdächtigte ihn, die Kantine nur übernommen zu haben, um
den jungen Frauen nachzustellen, die für die beiden großen Künstleragenturen in den Dachetagen des Turmes arbeiteten. Allerdings war es ihm bisher noch nicht gelungen, Y’ürp auf frischer Tat zu ertappen, und Lorrimers Angebot, sich von StarAmore eine terranische Frau vermitteln zu lassen, hatte der Blue mit dem Hinweis abgelehnt, dass Erdfrauen keine Eier legen konnten. Lorrimer presste grimmig die Lippen zusammen. Wer wie er die SCHRECKLICHE WAHRHEIT kannte, ließ sich auch von den bühnenreifen Schauspielkünsten eines Blues nicht täuschen. Er würde Y’ürp im Auge behalten und ihm im richtigen Augenblick die Gelüste nach menschlichen Frauen austreiben. Neben der Robotkasse am Eingang blieb Lorrimer einen Moment stehen und sah sich in dem großen, durch Pflanzenkübel und Holografiken unterteilten Raum um. In unmittelbarer Nähe der Fensterfront entdeckte er zu seiner Befriedigung Karnegoris Pan und Famos O’Hack. Pan – ein großer, dünner Mann mit griesgrämigem Gesicht, modisch vergrößerten Ohrmuscheln und mephistophelisch gezwirbelten Augenbrauen – betrieb in der Etage über Lorrimers Eheanbahnungsinstitut eine Privatdetektei und spionierte hauptsächlich entlaufenen Haustieren nach. O’Hack war untersetzt, neigte zur Fettleibigkeit und trug wie stets seine selbstgebastelte Brainstorming-Kappe auf dem Kahlkopf – eine Kreuzung zwischen einem Stahlhelm und dem Innenleben eines antiken Röhrenradios. O’Hack behauptete, dass die Kappe seine kreativen Fähigkeiten verstärke, indem sie die von seinem Gehirn erzeugten Gedankenimpulse reflektiere, aber wahrscheinlich war O’Hack nur ein weiterer Verrückter aus der 10. Turmetage, wo er in der Nachbarschaft verkannter Genies, steinreicher Esoteriker und spinnender Modephilosophen seine Ein-Mann-Denkfabrik eingerichtet hatte. Gerüchten zufolge hatte er die Ideen für Guckys Lyrikband ICH UND DER REST DES UNIVERSUMS geliefert, aber Lorrimer vermutete, dass O’Hack diese Gerüchte selbst verbreitet hatte, um sich wichtig zu machen.
Mit einem gewinnenden Lächeln steuerte Lorrimer ihren Tisch an; zwei Stühle waren noch frei, und Pan und O’Hack schienen noch nicht mit dem Mittagessen begonnen zu haben. »Hallo«, sagte er und traf Anstalten, sich neben Pan niederzulassen. Der Detektiv stieß einen unterdrückten Schrei aus. »Halt! Um Gottes willen… Nicht diesen Stuhl!« Lorrimer sprang mit einem Satz zurück und starrte den Stuhl an. Es war ein völlig normaler Stuhl. »Was soll der Unfug?« fragte er Pan. »Haben Sie den Verstand verloren, Karnegoris? Endgültig?« Die vergrößerten Ohrmuscheln des Detektivs zuckten. Beschwörend sah er Lorrimer an. »Schreien Sie nicht so! Die Spione!« presste er hervor. »Sehen Sie sie nicht? Nein, schauen Sie nicht so auffällig hin, Lukas. Die Spione dürfen nicht erfahren, dass sie enttarnt worden sind. Sie sind zwar taub, aber nicht blind…« Lorrimer wechselte einen Blick mit O’Hack. Der bullige Mann zuckte die Schultern, und seufzend nahm Lorrimer an seiner Seite Platz. Dabei vermied er es sorgsam, den Stuhl neben Pan auch nur mit einem Blick zu streifen. »Was für Spione?« fragte er. »Aus der fernen Zukunft«, antwortete Pan und beschäftigte sich intensiv mit dem Tischmonitor, über den die Speisekarte flimmerte. »Sie sind schätzungsweise zwanzig Zentimeter groß, grau und menschenähnlich – sieht man von ihrer abnorm großen Nase ab, die sie in meine Angelegenheiten stecken, seit ich in diesen verdammten Turm gezogen bin.« »Tatsächlich?« Lorrimer schielte zu dem unbesetzten Stuhl hinüber. Nichts. Er war leer. Ein völlig normaler Stuhl. »Aber warum kann ich sie nicht sehen?« wandte er sich wieder an Pan. »Ich sehe keine Spione. Nicht einen einzigen.« Pan hob den Kopf. Er bedachte Lorrimer mit einem verächtlichen Blick. »Tarnfeld«, erklärte er knapp. »Achten Sie auf das Klicken.«
»Das Klicken?« echote Lorrimer. »Und das Blitzen. Altmodische Fotoapparate. Die Spione sind mit altmodischen Fotoapparaten ausgerüstet. Apparate mit Blitzlichtern. Sie klicken. Man wird ganz taub davon. Und die Blitzlichter sind noch schrecklicher.« Pan nickte düster. »Früher haben sie sich nur hinter den Tapeten aufgehalten, aber seit einem Jahr folgen mir die Spione auf Schritt und Tritt.« »Scheußliche Sache«, sagte Lorrimer mitfühlend. »Ja«, nickte der Detektiv. »Besonders nachts. Kann nicht mehr schlafen. Das Klicken. Und die Blitzlichter. Und dann noch diese Nasen…« O’Hack hüstelte. »Nun, Lukas, wie gehen die Gescnäfte?« »Star-Amore bekam heute den vierten Klienten«, sagte Lorrimer. »Einen Swoon namens Älmrich Olk – lebender Beweis für die SCHRECKLICHE WAHRHEIT. Dieser Olk ist steinreich und wie alle anderen dieser Burschen ganz verrückt nach unseren Frauen.« Er lächelte böse. »Nun, er wird schon sehen, was er davon hat…« O’Hack rieb zweifelnd sein Doppelkinn. »Halten Sie es nicht füi unmoralisch, unsere außerirdischen Freunde zu betrügen? Ich meine, haben Sie denn gar kein Gewissen, Lukas?« Lorrimer traf fast der Schlag. »Gewissen?« wiederholte er. »Gewissen? Sie fragen mich, ob ich ein Gewissen habe? Und das im Angesicht der SCHRECKLICHEN WA HRHEIT?« Er war fassungslos. Seine Hände zitterten. Er starrte O’Hack an. Er konnte es einfach nicht glauben. Dann lachte er hohl. »Natürlich. Sie können es nicht verstehen. Sie sind blind wie alle anderen, und Sie würden die SCHRECKLICHE WAHRHEIT selbst dann nicht erkennen, wenn man Sie mit der Nase drauf stoßen würde.« Pan sah auf. »Die Nase eines durchschnittlichen Spions mißt…« »Ich spreche von der SCHRECKLICHEN WA HRHEIT«, erklärte Lorrimer, »von jener Wahrheit, die unsere Ahnen aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert kannten und die heute in Vergessenheit geraten ist. Schlimmer noch: Niemand scheint sich für die SCHRECKLICHE WAHRHEIT zu interessieren, niemand außer
mir…« »Sie sind der Erleuchtete, wie?« knurrte O’Hack. »Der einzige Vernünftige auf einem Planeten voller Narren, was?« »Ich bin der, der die SCHRECKLICHE WAHRHEIT entdeckt hat«, erwiderte Lorrimer. »Oder besser: der sie wiederentdeckt hat. Denn zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war sie bekannt, und unsere Vorväter haben verzweifelt versucht, sie aufzuzeichnen, damit sie nicht in Vergessenheit geriet. Astounding! Planet Stories! Amazing Stories! Ich habe Faksimiles dieser alten Geheimschriften zu Hause in meinem Safe. Faksimiles der Titelbilder, von verzweifelter Hand gezeichnet, um uns zu warnen. Bilder, die die SCHRECKLICHE WA HRHEIT in ihrer ganzen Scheußlichkeit zeigen: Junge, hübsche, leichtbekleidete Menschenfrauen – in den Klauen außerirdischer Wesen; auf der Flucht vor den Kreaturen von den Sternen; verfolgt von extraterrestrischen Ungeheuern.« Lorrimer fuchtelte erregte mit den Händen. »Das ist die SCHRECKLICHE WAHRHEIT! Die Außerirdischen haben von Anfang an immer nur eins gewollt – und zwar unsere Frauen. Nach meiner Theorie sind alle Invasionen, die Terra bisher heimgesucht haben, nur zu dem Zweck inszeniert worden, um uns Terranern die Frauen zu klauen. Die Ahnen haben es gewusst. Sie haben die Gefahr, die unseren hilflosen Frauen von den Außerirdischen droht, hellsichtig erkannt. Und heute ist diese Gefahr Wirklichkeit geworden, doch der einzige, der etwas dagegen unternimmt, bin ich.« O’Hack schnaubte höhnisch. »Indem Sie ein kosmisches Eheanbahnungsinstitut betreiben und Ihre Freundin an den nächstbesten Swoon verkuppeln, was?« »Sie begreifen nichts«, brauste Lorrimer auf. »Nichts! StarAmore ist unsere einzige Chance. Solange die Außerirdischen glauben, ganz legal an unsere Frauen heranzukommen, geraten sie nicht in Versuchung, sie klammheimlich zu entführen. Und ich habe Gelegenheit, ihren entsetzlichen Irrtum zu korrigieren, einen Irrtum, dem auch Älmrich Olk unterliegt: Dass Außerirdische unsere Frauen glücklich machen können. Wenden sie sich
an Star-Amore, öffne ich ihnen die Augen. Ich führe sie zurück auf den rechten Weg.« »Wir sollten endlich essen«, bemerkte Pan. »Schon allein, um die Spione über unsere wahren Absichten hinwegzutäuschen.« Lorrimer ignorierte ihn. »Kein Außerirdischer«, fuhr er fort, »kann unsere Frauen glücklich machen. Nehmen wir zum Beispiel diesen Olk. Gelänge es ihm wirklich, Cynthia zu ehelichen und heim nach Swoofon zu nehmen, es wäre über kurz oder lang sein Tod. Die Idylle im Gurkenbeet würde sich rasch als Hölle entpuppen, Cynthia würde Olk nie verzeihen, dass er sie nicht glücklich macht, denn wie jede Frau hat sie ein Recht darauf, glücklich gemacht zu werden, einfach deshalb, weil sie eine Frau ist, und Cynthia weiß das ganz genau…« »Die Spione lassen fragen, was einen Swoon überhaupt an einer terranischen Frau interessiert«, sagte Pan. Lorrimer funkelte ihn an. »Was interessiert Sie denn an einer terranichen Frau?« »Nun…« Der Detektiv hatte plötzlich einen lüsternen Ausdruck im Gesicht. »Das, was alle interessiert, schätze ich…« »Eben«, nickte Lorrimer. »Das, was alle interessiert. Und da die Männer bekanntlich alle gleich sind, spielt es auch keine Rolle, ob sie nun als Swoon, Blue oder Matten-Willy zur Welt gekommen sind. Männer sind Männer.« »Ich weiß nicht«, murmelte O’Hack skeptisch. »Das klingt verdammt an den Haaren herbeigezogen. Ich kann beim besten Willen nicht glauben, dass sich Ihre außerirdischen Klienten für unsere Frauen als Frauen interessieren. Ich meine, wir interessieren uns doch auch nicht für die Swoon-Frauen, oder?« Er sah von Karnegoris Pan zu Lukas Lorrimer. »Oder?« »Das ist etwas ganz anderes«, wehrte Lorrimer ab. »Wir sind auch keine Außerirdischen, und es sind die Außerirdischen, die unseren armen Frauen nachstellen, und nicht umgekehrt. Wären wir irgendwelche Außerirdische, nun, ich gehe mit Ihnen jede Wette ein, dass auch wir jedem Weiberrock hinterher jagen würden.«
»Aber wir jagen doch jedem Weiberrock hinterher!« wandte Pan ein. »Jedem terranischen Weiberrock«, sagte Lorrimer betont. »Und wenn sich terranische Männer für terranische Frauen interessieren, ist das völlig normal. Normal, Karnegoris! Wissen Sie, was das ist?« »Na hören Sie mal!« Pan lief rot an. »Sehen Sie«, nickte Lorrimer, »das ist der Beweis.« O’Hack schien ganz und gar nicht überzeugt. »Mein lieber Lukas«, brummte er, »ich fürchte, Ihre Beweisführung wimmelt von logischen Fehlern. Ich will ja nicht bestreiten, dass Ihr Swoon, von dem Sie erzählt haben, eine terranische Frau ehelichen will. Aber ich bin sicher, dass andere Gründe als schnöde fleischliche Gier dahinterstecken…« »Spione?« schlug Karnegoris Pan vor, aber Lorrimers eisiger Blick ließ ihn verstummen, ehe er sein Lieblingsthema weiterverfolgen konnte. »Ich habe eine Idee«, sagte O’Hack plötzlich und tippte bedeutungsvoll an seine Brainstorming-Kappc. »Wir könnten Y’ürp fragen, was einen Außerirdischen an terranischen Frauen interessiert.« »Y’ürp verläßt seine Küche nicht«, erinnerte Lorrimer. »Außerdem würde er nie zugeben, dass…« »Krabschrab«, sagte Pan. Lorrimer sah ihn an, als säße statt dem Detektiv eine riesige Schabe auf dem Stuhl, die sich erdreistete, in ihrer Schabensprache vor sich hin zu brabbeln. »Krabschrab«, wiederholte Pan und deutete auf den Tischmonitor. »Es ist ganz neu auf der Speisekarte. Und dort steht, dass Y’ürp persönlich Krabschrab serviert.« »Worauf warten wir dann noch?« fragte O’Hack. »Dreimal Krabschrab, mein bester Karnegoris, und zwar mit Überlichtgeschwindigkeit. Mein Magen fühlt sich schon wie ein Schwarzes Loch an!« Beflissen tippte der hagere Privatdetektiv die Kodeziffer des Gerichts in das Tischterminal, und die drei Männer versanken in
erwartungsvolles Schweigen. Obwohl Lorrimer es O’Hack gegenüber niemals zugeben würde, hatten ihn die Argumente des Denkfabrikanten irritiert. Irrte er, Lorrimer, etwa? Irrten die weisen Männer aus dem zwanzigsten Jahrhundert, die Hunderte, ja, Tausende Visionen des Grauens der Nachwelt hinterlassen hatten, damit die Männer der Zukunft die terranischen Mädchen und Frauen vor den begehrlichen Tentakeln der Außerirdischen beschützten? Lorrimer fluchte lautlos. Man müsste Perry Rhodan befragen können, dachte er. Der Großadministrator stammt doch aus dieser Zeit. Rhodan müsste wissen, was es mit Astounding oder Planet Stories auf sich gehabt hat. Eine Schande, dass nur die Titelseiten dieser Niederschriften geheimen Wissens erhalten geblieben sind… Ein schrilles Zwitschern ließ ihn den Kopf heben. Y’ürp, ein alter Blue mit angegrautem Körperflaum und faltigem Knorpelhals, kam soeben durch die holografische Darstellung eines karibischen Sonnenuntergangs geschlurft. In den Händen hielt er drei Teller. Nein, korrigierte sich Lorrimer, als Y’ürp den Tisch erreichte. Keine Teller; Steinplatten. Sehr rustikal. »Die verehrten Gäste haben Krabschrab bestellt?« sagte Y’ürp mit seiner hohen Zwitscherstimme und legte vor jedem eine der Steinplatten auf den Tisch. »Die Kreatur der Erleuchtung muss über Sie gekommen sein, denn neben Gnurgha, Pliyirt und dem unvergleichlichen Mwurt-Wurm ist Krabschrab die größte Delikatesse der Milchstraße.« »Das hört sich teuer an«, brummte O’Hack und warf Pan einen fragenden Blick zu. Der Detektiv sah auf den Monitor. »Oh«, machte er. »Dreihundert Solar. Tut mir leid. Ich habe…« »Dreihundert Solar?« explodierte Lorrimer. »Das ist…« »… einer derartigen Delikatesse nur angemessen«, unterbrach Y’ürp. Er griff in die Tasche seiner blauen, mit gelben Sternen gemusterten Schürze und brachte drei fingerlange schwarze Gegenstände zum Vorschein, die an Trillerpfeifen erinnerten, legte
sie auf die Steinplatten und wandte sich mit einem gezwitscherten »Guten Appetit« ab. O’Hack hielt ihn am Schürzenzipfel fest. »Einen Moment noch, Y’ürp«, sagte er. »Oh, natürlich«, schrillte Y’ürp. »Bei der grauen Kreatur des Vergessens – Sie müssen pfeifen. Dann kommen die Krabschrab.« »Wie?« sagte Lorrimer. »Laut«, vermutete Pan. »Wir müssen laut pfeifen. Schon um das Klicken der Fotoapparate zu übertönen.« »Sagen Sie, Y’ürp«, murmelte O’Hack, »was… äh… was würde Sie an einer terranischen Frau reizen?« Der Blue sah O’Hack an, dann Pan, zum Schluss Lorrimer. Nachdenklich wackelte er mit dem Tellerkopf. »Schwer zu sagen. Schließlich legen terranische Frauen keine Eier… Im Gegensatz zu terranischen Hennen. Nicht, dass ein Blue eine terranische Henne einer terranischen Frau vorz iehen würde, aber für eine eierlegende Rasse wie für uns Blues ist das ein wichtiger Punkt. Wenn Sie wissen, was ich meine…« »Sicher«, nickte O’Hack ohne rechte Überzeugung. Y’ürp deutete eine Verbeugung an, und Sekunden später war er im holografischen Sonnenuntergang verschwunden. »Tja«, sagte O’Hack und befingerte nervös die Pfeife auf seiner Steintafel. »Seltsam, nicht wahr?« Lorrimer zog es vor, die Lippen spöttisch zu kräuseln und im übrigen zu schweigen. »Nun, ich schlage vor, wir pfeifen.« O’Hack lachte nervös. »Hoffentlich schmeckt dieses Kroppzeug. Teuer genug ist es ja!« Er führte die Pfeife an den Mund und blies hinein. Ein schriller Pfiff ertönte. Lorrimer und Pan fuhren zusammen und folgten dann O’Hacks Beispiel: Sie pfiffen. Und warteten. Lorrimer hielt nach Y’ürp Ausschau, aber der Blue blieb verschwunden. Zum Teufel, dachte er, wir haben gepfiffen. Warum serviert er uns nicht seine verdammte galaktische Delikatesse? »Bei allen Pulsaren!« stieß Karnegoris Pan hervor und riss die Augen auf. »Bei allen Pulsaren! Was ist das?«
Lorrimer und O’Hack folgten Pans Blick. Drei seltsame Wesen krochen aus Richtung Küche auf ihren Tisch zu. Sie waren etwa so groß wie Tennisbälle; so bunt, als seien sie in alle Farbtöpfe des Spektrums gefallen; und sie krabbelten auf sechs kurzen Wurzelbeinen über den Boden. »Scheint unsere Bestellung zu sein«, sagte O’Hack. »Sie meinen, diese… diese Viecher sind das Krabschrab?« Lorrimer schluckte und verfolgte, wie die wurzelbeinigen Kreaturen weiterkrabbelten und dann plötzlich verharrten. Offenbar hatten sie Orientierungsschwierigkeiten. »Vielleicht sollten wir noch einmal pfeifen«, meinte Pan. »Es könnte sein, dass die verdammten Spione mit ihren Fotoapparaten…« Er verstummte, als ihn erneut ein eisiger Blick aus Lorrimers Augen traf. Zögernd führte er seine Pfeife zu den Lippen und blies hinein. Ein Pfiff. Ein Krabschrab löste sich von seinen Gefährten, krabbelte an den mit den imaginären Spionen besetzten Stuhl vorbei, an Pans Stuhlbein hinauf bis zur Oberleiste der Rückenlehne und war dann mit einem Satz auf der Steinplatte. Fasziniert sahen die Männer zu, wie das Krabschrab seine Wurzelbeine in die Risse der Platte senkte und dann zur Bewegungslosigkeit erstarrte. Nach zwei kurzen Pfiffen hatten auch O’Hacks und Lorrimers Krabschrabs ihre Plätze auf den Steinplatten eingenommen. Lorrimer warf Pan einen auffordernden Blick zu. »Also! Worauf warten Sie, Karnegoris?« »Probieren Sie ruhig«, schloss sich Famos O’Hack ermunternd an. »Y’ürp wird uns schon keine giftigen Gewächse serviert haben. Schließlich ist das nach dem Lebensmittelgesetz verboten.« Gewächse? Lorrimer runzelte die Stirn und musterte sein Krabschrab genauer. Tatsächlich; was er für ein Tier gehalten hatte, war eine Pflanze. Eine Pflanze, die an eine Mischung aus Krabbe und Spinne erinnerte und bunt wie ein Papagei war. Und die sich auf Zupfiff selbst servierte. Vorsichtig roch er an dem Gewächs. Ananas? Banane? Birne? Der Geruch ähnelte dem Aroma aller drei irdischen Obstsorten. Lorrimer sah wieder auf. »Worauf
warten Sie?« fragte er Pan ungeduldig. »Probieren Sie endlich.« Pan schluckte, blickte hilfesuchend zu O’Hack, schluckte erneut, nahm das Besteck zur Hand und stieß den Zinken der Gabel entschlossen in eines der Wurzelbeine. Lorrimer fuhr unwillkürlich zusammen, als hätte das Gewächs geschrien, aber es schrie ebenso wenig wie ein Apfel oder eine Karotte. Pan fasste Mut und schnitt ein fingernagelgrosses Stück Krabschrab ab. Kurz bevor die Gabel den Mund erreichte, zögerte er, aber die erbarmungslosen Blicke der beiden anderen Männer ließen ihm keine Wahl. Das Krabschrab-Stück verschwand zwischen Pans Lippen. Der Detektiv kaute. Seine Augen wurden groß. Er schluckte, schnalzte verzückt, und fiel wie ein ausgehungerter Wolf über die Pflanze auf dem Steinbrett her. Erst jetzt wagte auch Lorrimer, die bluessche Delikatesse zu probieren. Sie war köstlich. Eine Mischung aus Birne, Ananas und Banane mit einer weiteren, undefinierbaren Geschmacksrichtung, die dem Krabschrab eine besondere, faszinierende Note verlieh. Und während Lorrimer aß, dachte er an Olk und an das Geld, das Cynthia aus dem Swoon herauspressen würde.
3. Der Nachmittag verlief weitaus unerfreulicher als die erste Tageshälfte. Das Büro roch noch immer nach dem Himbeeraroma der topsidischen Zigarre; die Zigarre selbst hatte sich in der Ölund Zitronensaftsoße des Gurkensalatschälchens zu einem unappetitlichen Brei aufgelöst; und zu allem Überfluss benötigte Lorrimer eine geschlagene Stunde, um Cynthia videofonisch zu erreichen, obwohl sie versprochen hatte, ständig ihren Beeper mit sich herumzutragen, der ihr durch einen Pfeifton signalisierte, wenn er sie zu sprechen wünschte. Endlich tauchte ihr Engelsgesicht auf dem großen Wandmonitor auf. Das blonde Haar hatte sie mit der obligatorischen rosa Schleife zu einem Zopf gebunden, und auf ihrem Kinn und ihren Wangen glitzerten Wasser-
tropfen. »Hallo, Schatz«, sagte Lorrimer. »Regnet es?« Cynthia kicherte. Ihr Kopf schwankte hin und her, und für kurze Momente wurden ein Stück blauer Himmel, eine Palme und ein verstümmelter Schriftzug sichtbar: ELLAR. Sie schien betrunken zu sein. »Ob es regnet?« wiederholte Cynthia. Sie kicherte. »Sozusagen. Champagner. Es regnet Champa gner.« Lorrimer seufzte. »Großartig. Wo bist du?« »Wo ich bin?« Sie dachte angestrengt nach. Lorrimer sah es andern starren Ausdruck ihrer blauen Augen. Sie beugte sich zur Seite, flüsterte mit jemand, der sich außerhalb des Erfassungsbereichs der Kamera befand, kicherte erneut und wandte sich wieder Lorrimer zu. »In einem Hotel, das heißt, auf einem Hotel. Auf dem Dach des Interstellar. In einer Badewanne aus Marmor. Oder ist es ein Swimming-Pool?« Sie flüsterte erneut mit dem Unsichtbaren. »Es ist ein Swimming-Pool, Süßer«, sagte sie zu Lorrimer. »Voller Champagner. Ist das nicht galaktisch?« Lorrimer kochte. »Ich versuche dich seit Stunden zu erreichen, und du badest seelenruhig in Champagner! Verdammt, du solltest doch diesen hirnrissigen Matten…« »Pscht!« machte Cynthia. Sie versuchte, einen Finger an die Lippen zu legen und ihm so zu bedeuten, still zu sein, aber sie war zu betrunken und traf nur ihre Nasenspitze. »Er ist hier. Sprich nicht schlecht über ihn. Er ist so süß.« »Musemus ist bei dir?« entfuhr es Lorrimer. »Auf dem Dach des Interstellar-Hotek in einem Swimming-pool voller Champagner? Der Botschafter des Zentralplasmas badet mit dir in aller Öffentlichkeit in einem Champagnerteich? Das ist ja nicht zu fassen!« Ein Stielauge tauchte am unteren Bildrand auf, gefolgt von einem zweiten und einem dritten, an dem ein Translator hing. »Mr. Lorrimer, wie schön, Sie zu sehen«, sagte der Matten-Willy heiter. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie glücklich ich bin, Mr. Lorrimer!’’ Oh doch, dachte Lorrimer finster. Das kann ich. Er schluckte
seinen Zorn hinunter, rang sich ein Lächeln ab und lagte laut: »Mein bester Musemus, verzeihen Sie, aber ich muss Ihnen Mrs. Vandermor für heute entführen. Wie alle unsere Klientinnen hat sie sich verpflichtet, mehrere Klienten zu treffen, bevor sie dem Glücklichen das Jawort gibt, und die Zeit drängt. Es tut mir wirklich leid, Mr. Musemus, doch die Fairness den anderen Klienten gegenüber lässt mir…« »Aber wir haben uns soeben verlobt!« protestierte der Matten-. Willy und verknotete die Stielaugen. , »Ver… lobt?« stieß Lorrimer hervor. Seine Blicke wanderten von den verknoteten Stielaugen Musemus zu Cynthias zart gerötetem Gesicht. Sie klimperte verlegen mit den Wimpern. »Ihr habt euch verlobt?« brüllte Lorrimer. »Nun«, sagte Cynthia, »er ist so süß, weißt du, und da dachte ich mir, also, schaden kann es ja nicht, ich meine, sooo wichtig ist das heutzutage…« »Genug!« brüllte Lorrimer. »Verlobt! Ohne mich zu…« Er brach ab. Er besann sich auf die Rolle, die er zu spielen hatte. Er lächelte verzerrt. »Ähem. Ich… Es tut mir leid, Mr. Musemus. Ich… Meine Nerven…« »Kommen Sie doch einfach auf einen Sprung vorbei«, schlug der Matten-Willy leutselig vor. »Ein Champagnerbad beruhigt die Nerven kolossal. Wir könnten unsere Verlobung feiern und anschließend…« Lorrimer hob die Hand. »Es tut mir leid, aber es ist unmöglich. Und Mrs. Vandermor muss sofort zu ihrem nächsten Termin; verlobt oder nicht. Ich hoffe, Mrs. Musemus, Sie haben Verständnis für diese… äh… Nun, Sie können jederzeit über das Institut Star-Armore einen neuen Partnertermin mit Cyn… Mrs. Vandermor ausmachen.« Er sah Cynthia streng an. »Mrs. Vandermor, es wird Zeit für Sie.« Cynthia rümpfte die Nase und unterbrach die Verbindung. Lorrimer ließ sich in seinen Sessel fallen und starrte blicklos aus dem Fenster. Verlobt, dachte er. Mit dem Botschafter des posbischen Zentralplasmas auf Terra. Und die Verlobung wird
mit einem öffentlichen Champagnerbad auf dem Dach des Interstellar-Hotels in Terrania gefeiert. Es ist nicht zu fassen. Cynthia muss den Verstand verloren haben! Was ist, wenn die Zeitungen darüber berichten? Was ist, wenn in den Video-News ein Foto dieser beiden Turteltäubchen über die terranischen Bildschirme flimmert? Was ist, wenn einer der anderen Klienten zufällig die Sendung verfolgt und seine angebetete Cynthia Vandermor komplett mit Badeanzug und rosa Haarschleife champagnerbeschwingt an Musemus Seite sieht? Großer Gott! Was ist, wenn einer der anderen Klienten misstrauisch wird und Nachforschungen anstellt und herausfindet, dass Cynthia die einzige weibliche Klientin von Star-Amore und darüberhinaus die Freundin des Institutsleiters ist und nicht im Traum an eine Eheschließung mit einem Außerirdischen denkt? Lorrimer brach der Schweiß aus. Mit bebenden Händen griff er in das Seitenfach des Schreibtisches, holte eine Flasche Vurguzz und ein Wasserglas hervor, füllte das Glas bis zum Rand mit der grünen Flüssigkeit und kippte den Inhalt in einem einzigen Zug hinunter. Ihm wurde heiß. Ihm wurde kalt. Er entmaterialisierte, flog zwischen fremden Galaxien dahin und erlangte unermessliches kosmisches Wissen. Er rematerialisierte und vergaß alles, was er gelernt hatte. Dann war »sein Kopf klar. Das Videofon summte. Lorrimer hieb mit der Faust auf die Empfangstaste und knurrte: »Wer, zum Teufel, will was von mir?« Noch bevor er den Satz beendet hatte, verwandelte sich die Seitenwand wieder in einen Großmonitor. Ein halbkugelförmiger, halsloser Kopf mit gelblichbrauner Haut, großen Augen und einem armlangen Rüssel tauchte auf. Schugururg, der unithische Howalgoniumhändler und Klient Nummer Zwei. Lorrimer lachte gepresst. »Hallo, Mr. Schugururg. Was für eine Überraschung. Wie geht es Ihnen? Gut? Hervorragend. Sie müssen mich entschuldigen, ich habe leider keine Zeit, eine wichtige Konferenz, vielleicht könnten Sie morgen oder nächstes Jahr…« Der Unither versteifte den Mundrüssel und richtete ihn wie eine
exotische Waffe auf Lorrimer. »Ich muss Sie jetzt sprechen, Mr. Lorrimer«, trompetete er. »Und nicht morgen oder nächstes Jahr. Die Angelegenheit duldet keinen Aufschub! Ich verlange, dass Sie mir Rede und Antwort stehen!« Lorrimers Beine gaben nach. Er weiß es! durchfuhr es ihn. Er weiß alles. Das Spiel ist aus. Wahrscheinlich hat er schon die Polizei benachrichtigt… Bei Schugururgs Anblick war er von seinem Sessel aufgesprungen, doch der Schwächeanfall zwang ihn, sich wieder hinzusetzen. Mit dem Handrücken wischte er über seine Stirn. Sie war schweißnass. Und kalt. Angstschweiß, dachte er benommen. Oder ein Kollaps. Vielleicht sterbe ich. Natürlich. Ich sterbe. Ich fliehe in den Tod… »Mr. Lorrimer«, fuhr der Unither fort, während sein Rüssel erschlaffte, nach unten langte, etwas ergriff und dann einen nußgrossen Gegenstand schwenkte, »Mr. Lorrimer, Sie haben mich betrogen.« Lorrimers Schulter sackten nach unten. »Betrogen?« echote er dumpf. »Ist das nicht ein zu hartes Wort?« »Betrogen«, bekräftige der Unither. »Sie haben mir versprochen, dass mich Ihr Hypnolehrgang Wie becirce ich terranische Frauen zu einem unwiderstehlichen Casanova’ machen wird, um Ihre Worte zu zitieren, ,der die Herzen der schönsten Frauen bricht’’und ,dem die rassigsten Vollblutweiber zu Füßen liegen werden’. Das waren Ihre Worte! Und was ist aus Ihren Versprechungen geworden?« »Ja, was?«, fragte Lorrimer mit neu erwachter Hoffnung. Allmählich begriff er, das Schugururg nicht das geringste von Cynthias absurder Verlobung ahnte. »Was hat Sie so erzürnt?« »Sie hat mich ausgelacht«, klagte der Unither. »In meinem Führer durch die Psyche der Terraner steht, dass die kehligen, abgehackten Laute, die Terraner manchmal von sich geben, Ausdruck der Heiterkeit sind und Gelächter genannt werden. Ich habe Cynthia um ihre Hand gebeten, und sie hat mich ausgelacht«. »Cyn… Äh, Mrs. Vandermor hat Sie ausgelacht. Und Sie haben um Ihre Hand angehalten?« Geistesabwesend tastete Lorrimer
nach der Vurguzz-Flaschc und schenkte sein Glas wieder voll. »Gestern? Beim Rendezvous vor dem Crest-Denkmal?« »Genau so ist es«, bestätigte der Unither mit wild wirbelndem Mundrüssel. »Ich habe die Anweisungen Ihres betrügerischen Hypnolehrgangs Punkt für Punkt befolgt, Mr. Lorrimer, und Cynthia Vandermor hat mich ausgelacht. Ich habe mich an den Rat gehalten, und es war eine Katastrophe.« »Einen Augenblick«, bat Lorrimer stirnrunzelnd. »Der Rat bezog sich auf die Wortwahl. Etwas wie ,Ich kann ohne dich nicht mehr leben, Liebste, willst du meine Frau werden’ und so weiter.« Der Unither trompetete. »Nun«, gestand er, »ich habe mir erlaubt, diesen Ratschlag auf alle Details meiner, öh, Brautschau auszudehnen, und ich habe mich zu diesem Zweck bei dem Zentralen Bibliothekscomputer Terranias über original terranische Brautwerbungsze-remonien informiert.« »So?« Argwohn keimte in Lorrimer auf. »Was waren das denn für Brautwerbungszeremonien?« »Öh, nun, zuerst ließ ich mir einen original terranischen Hochzeitsfrack samt Zylinder schneidern und besorgte mir vierzig Kamele und doppelt so viele Rinder, um sie meinen, öh, Schwiegereltern als Brautpreis zu geben… Bedauerlicherweise blieben diese Schwiegereltern unauffindbar und ich sah mich gezwungen, die Tiere wieder zurückgehen zu lassen.« Der Mundrüssel hing jetzt schlaff nach unten, und die Stimme des Unither klang undeutlich. »Danach habe ich verzweifelt versucht, in Terrania eine Laute aufzutreiben, um meiner Angebeteten ein Minnelied vorzutragen, aber alle Instrumente, die man mir vorführte, waren viel zu leise, um eine Laute zu sein, und ich entschied mich für einen, öh, Schlagzeugroboter.« »Großer Gott!« sagte Lorrimer. »Das Minnelied«, fuhr der Unither fort, »hieß übrigens / love you und dann noch etwas wie yeah, yeah, yeah und wurde von jemand namens Beatles komponiert, und da beat ja schlagen heißt, hielt ich es im Hinblick auf den Schlagzeugroboter für am
geeignetesten…« »Großer Gott!« »Öh, ja.« Schugururgs Mundrüssel hob sich wieder. »Dann die Vermählungsanzeigen. Ein weiteres Problem. Sie zu formulieren, war och am einfachsten – ich wählte das klassische WANTED! EHERAU GESUCHT! TOT ODER LEBENDIG! ZEHNTAUSEND SOLAR BELOHNUNG – aber ich konnte keine Polizeidienststelle finden, die die Anzeige aufnehmen wollte, und in meiner Not entschied ich mich schließlich zu einer anonymen Anzeige.« Der Unither sah Lorrimer forschend an. »Glauben Sie, dass vielleicht die Höhe der Belohnung…?« »Nein«, ächzte Lorrimer. Er griff nach dem bis zum Rand mit Vurguzz gefüllten Glas. »Ganz gewiss nicht.« »Dann die Kutsche. Eine wunderschöne Kutsche, Mr. Lorrimer, und nicht billig. Sechsspännig, von weißen Robotpferden gezogen, samt Kutscher. Ich habe sogar einen weißen Kutschbock besorgt, aber der Kutscher wollte nicht auf den Bock, und als ich ihm ein Sonderhonorar versprach und er endlich bereit war, auf den Bock zu steigen, schlug der Bock aus.« »Der Kutschbock« – Lorrimer leerte das Glas – »schlug aus?« »Exakt«, bestätigte der Terraner. »Und gab schaurige Töne von sich. Etwas wie Määhääähääääh oder so ähnlich, und er ging auf den Kutscher los, und dieser Bock hatte spitze Homer…« Lorrimer füllte das Glas erneut. Sein Blick war inzwischen glasig, aber er hörte noch immer zu, mit einer Mischung aus Unglauben, Faszination und kaltem Grausen. »Öh, nun, wir verzichteten auf den Bock. Wir hatten keine andere Wahl. Das Tier ließ sich nicht beruhigen; und der Kutscher hatte ohnehin jedes Interesse an einem Kutschbock verloren. Ich ließ Kutsche, Kutscher und Rösser mit einem Antigravlaster zum Crest-Denkmal schaffen, wo bereits das Fenster und die Schwelle warteten. Sie wissen schon, Mr. Lorrimer; »Das Fenster zum fensterln und die Schwelle, um die Braut über die Schwelle zu tragen. Eine schöne Schwelle; über fünfhundert Jahre alt, wie man mir versicherte. Im Vertrauen, früher soll sie Teil der transsibirischen
Eisenbahnlinie gewesen sein, eine echte Antiquität also, und ich will sie mit nach Unith nehmen, wenn ich heimfliege.« Schurururg seufzte einen Trompetenseufzer. »Ach, Unith… Unith, du zeugst die Frauen mit den schönsten Rüsseln…« Er hustete ein verlegenes Trompetenhusten. »Ein Vers unseres berühmtesten Dichters, wissen Sie… Öh, nun, Cynthia wartete schon am Denkmal. Sie sah entzückend aus mit ihrer rosa Schleife, aber weder das Minnelied des Schlagzeugroboters, noch die Kutsche oder das Fenster fanden ihr Gefallen. Und sie wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, dass ich ihr den Ehering um den Hals hing; den Ring mit der Hochzeitsglocke, Mr. Lorrimer, Originalimport aus einem terranischen Landstrich namens Schweizer Alpen. Sehr praktisch, Ring und Hochzeitsglocke in einem, und das löste natürlich auch das Problem mit der Kirche.« »Na…türlich«, sagte Lorrimer. Er leerte das randvolle VurguzzGlas in einem Zug und füllte nach. »Die Kirche. Verstehe vollkommen. Ring und Glocke in einem. Sehr praktisch.« »Um die Schilderung meiner persönlichen Katastrophe zu beenden, Mr. Lorrimer«, sagte der Unither, »ich stand also mit meinem Ehering um den Hals da, die Hochzeitsglocke läutete wie verrückt, der Schlagzeugroboter spielte I love you, die anderen Roboter oben im Antigravlaster kippten die Säcke mit dem Reis aus, und noch während ich versuchte, Cynthia den zweiten Ring um den Hals zu hängen, sah ich mich nach vertrauenswürdigen Zeugen um, um für später, für die richtige Trauung, genügend Trauzeugen parat zu ha ben. Ich kniete nieder, in Frack und Zylinder, legte den Ehering zur Seite, griff nach dem Strauß Rosen und sprach die rituellen Worte: ,Ich halte um deine Hand an, Geliebte.’ Der Mundrüssel fiel schlaff nach unten. »Und Cynthia lachte. Sie lachte, Mr. Lorrimer, ich bin mir sicher; ich konnte diese seltsam abgehackten Geräusche einwandfrei identifizieren. Es war grässlich, Mr. Lorrimer.« »Grässlich«, sagte Lorrimer mit schwerer Zunge. »Und dann?« Schurururg bewegte sich unbehaglich. »Öh, nun, plötzlich wur-
de mir klar, was ich falsch gemacht hatte. Sehen Sie, dem altterranischen Brauch folgend, hatte ich um ihre Hand angehalten, aber ich hatte nicht einmal ein Messer in der Tasche, um ihr die Hand vom Arm zu trennen, wenn sie mir ihr Jawort gab… Öh, für meinen Geschmack sind einige Ihrer Sitten etwas blutrünstig«, bemerkte der Unither, »aber ich bin Gast auf Terra, und ich will nicht klagen. Nun, ich bot Cynthia an, sie mit der Kutsche in die nächste Klinik zu fahren und die lästige Operation hinter uns zu bringen. Als sie das hörte, änderte sie die Art der produzierten Geräusche; sie wurden schriller, waren weniger abgehackt, sondern mehr ein An- und Abschwellen, sirenenähnlich, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich vermute, öh, es war ein Schrei. Dann lief sie davon. Und ich wurde verhaftet. Es hat mich einen ganzen Tag gekostet, die Behörden davon zu überzeugen, dass ich nur auf Brautschau war.« Der Unither straffte sich, die stumpfen großen Augen gewannen wieder an Glanz, und der Rüssel richtete sich auf Lorrimer. »Und jetzt, Mr. Lorrimer, verraten Sie mir, was ich falsch gemacht habe.« Lorrimer hielt sich am Schreibtisch fest. Die erste VurguzzFlasche war leer, das Büro schwankte wie betrunken hin und her, und der Unither hatte sich mitsamt dem Bildschirm verdoppelt. »Falsch?« echote Lorrimer und versuchte sich zu erinnern, und plötzlich fiel es ihm ein. »Falsch verbunden«, lächelte er und schaltete ab. Vollständig.
4. Die nächsten achtundvierzig Stunden verbrachte Lukas Lorrimer wie im Traum. Irgendwann tauchte Cynthia auf. Sie fand ihn unter dem Schreibtisch, hielt ihn zuerst für tot, sah dann die leere VurguzzFlasche, versetzte ihm einen Tritt in die Rippen und goss ihm
mehrere Eimer Wa sser über den Kopf. Als er nicht reagierte, versetzte sie ihm einen zweiten Tritt und stürmte wütend davon, informierte Pan und O’Hack über seinen Zustand und verschwand, um ihr Champagnerbad fortzusetzen. Karnegoris Pan nutzte die Gelegenheit, lockte die Spione aus der Zukunft in Lorrimers Büro und schloss sie dort ein. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt musste Lorrimer zum ersten Mal zu sich gekommen sein: Er sah die Spione auf der Schreibtischkante sitzen und hörte, wie sie über ihn tuschelten. Die Spione waren tatsächlich nicht größer als zwanzig Zentimeter, grau und menschenähnlich, und ihre langen Nasen waren das Abscheulichste, was Lorrimer je gesehen hatte. Kein Wunder, dass Pan mit den Nerven am Ende war… Als die Spione bemerkten, dass Lorrimer bei Bewusstsein war, begannen sie mit ihren altmodischen Fotoapparaten zu knipsen. Das Klicken und die grellen Blitzlichter waren zuviel für ihn. Er wurde erneut ohnmächtig. Der nächste Besucher war Famos O’Hack. Zum Glück ließ er die Tür offen, so dass die Spione das Büro verlassen und sich wieder an Pans Fersen heften konnten, und O’Hack berichtete Lorrimer von den Erkenntnissen, die er inzwischen über das Krabschrab gesammelt hatte. Das Krabschrab stammte demnach von einem Planeten der Großen Magellanschen Wolke, einer felszerklüfteten Welt mit ewigen Stürmen. Es lebte dort in großen, Millionen Köpfe umfassenden Kolonien, die die ewigen Winde nutzten, um von Felsmassiv zu Felsmassiv zu fliegen, immer auf der Suche nach Wasser und Nährstoffen. Erreichten sie ihren neuen, vorübergehenden Ruheplatz, orientierten sie sich an dem Pfeifen, das der Wind erzeugte, wenn er durch die Ritzen der durchlöcherten Gesteinsformationen blies, krallten sich mit ihren Wurzeln in den Ritzen fest und schickten winzige Triebe in den porösen Fels, der das Regenwasser speicherte. Gerieten sie zufällig in den Windschatten einer Steilwand oder eines Bergkamms, bewegten sie sich auf den Wurzeln weiter… Famos O’Hack war im Übrigen zu der Überzeugung gelangt, dass das Krabschrab eine Chemikalie
enthielt, die sich in Verbindung mit Vurguzz in ein nur auf Terraner wirkendes Zellgift verwandelte. Lorrimer, so O’Hack, litt nicht an einem Kater, sondern an einer Zellvergiftung. Allerdings weigerte er sich, einen Arzt oder einen Medoroboter zu rufen. O’Hack, so stellte sich heraus, arbeitete seit einer Woche an einer Studie über die Selbstheilungskräfte des menschlichen Organismus, hatte einige diesbezügliche Theorien aufgestellt und wollte diese Theorien nun am lebenden Objekt – Lorrimer – überprüfen. Lorrimer verfluchte ihn und wurde wieder ohnmächtig. Als er das nächste Mal erwachte, ging es ihm schon wesentlich besser. Auf der Schreibtischkante saßen keine grauen, langnasigen Spione, O’Hack war fort, und Cynthia hatte ihm aus der Turmkantine eine Kanne Kaffee, eine Packung Anti-KaterPillen und eine Schüssel Rührei mit Schinken heraufgeholt. Bedauerlicherweise verzichtete sie nicht darauf, ihm einen Tritt zu verpassen, ehe sie – wie sie sagte – zu ihrem Rendezvous mit Älmrich Olk, dem heiratslustigen Swoon, aufbrach. Aus dieser Bemerkung schloss Lorrimer, dass ein neuer Tag angebrochen war und Cynthia seine Notiz auf dem Schreibtisch gefunden hatte. Er trank den Kaffee, verzehrte mit Heißhunger die Anti-KaterPillen und spülte eine Rühreiflocke hinterher, um die Kopfschmerzen zu vertreiben. Und wurde wieder ohnmächtig.
5. Achtundvierzig Stunden, nachdem Lorrimer die Flasche Vurguzz geleert hatte, war sein Organismus soweit entgiftet, dass die periodisch auftretenden Ohnmachtsanfälle aufhörten. Mit einem Geschmack nach Pappe und Sand im Mund, die Augen blutunterlaufen, das Gesicht geisterhaft fahl und mit einem durchdrehenden Hammerwerk unter der Schädeldecke sah sich Lukas Lorrimer in seinem Büro um. Das Zimmer war leer, und durch das Fenster fiel müdes Son-
nenlicht; nach dem Stand der Sonne musste es später Nachmittag sein. Kein guter Zeitpunkt, um ein neues Leben zu beginnen, dachte Lorrimer. Er äugte in die Isolierkanne, die auf dem Schreibtisch stand, aber sie war leer; mit Grausen wandte er sich von der Schüssel mit dem erkalteten Rührei und den Schinkenbrocken ab. An Essen war jetzt nicht zu denken. Er brauchte etwas zu Trinken. Etwas Anständiges. Etwas, das ihn wieder auf die Beine brachte. Vurguzz. Hatte er nicht noch eine volle Flasche Vurguzz im Schreibtisch stehen? Lorrimer wankte um den Schreibtisch. Jede Bewegung schien das Hammerwerk in seinem Kopf zu beschleunigen, ein Stakkato pochender Schmerzimpulse, die irgendwo in seinem Hinterkopf begannen und bald jeden Kubikzentimeter seiner Schädelhöhle ausfüllten. Endlich stand er vor dem rechten Schreibtischfach. Vor seinen Augen tanzten Schatten, und blind öffnete er die Tür und griff hinein. Er berührte etwas Weiches, Warmes. Ein Etwas, das sich wie ein aufgegangener Hefeteig anfühlte. Dann wurde seine Hand festgehalten, und mit einem Schrei riss er sie los und taumelte zurück. Was, zum Teufel, hat das schon wieder zu bedeuten? Hockte etwa ein schlaffes, rosafarbenes, teigiges Ungeheuer im Schreibtisch? Ächzend ging er in die Knie und schielte in das Halbdunkel des Schreibtischfaches. Ein schlaffes, rosafarbenes, teigig wirkendes Gebilde von der Größe eines Fußballs hockte in dem Hohlraum und schlürfte schauerlich schmatzend die Öl- und Zitronensaftsoße aus dem Plastikschälchen, das vor zwei Tagen noch randvoll mit Gurkensalat gewesen war. Der Salat war verschwunden, und Lorrimer zweifelte keinen Moment daran, dass dieses teigige Monstrum die Gurkenscheiben verzehrt hatte. Hinter dem rosa Ball sah der
Hals der Vurguzz-Flasche hervor. Wie war dieses Biest in seinen Schreibtisch gekommen? Hatte etwa Pan…? Oder O’Hack…? Oder gar Cynthia…? Die Zigarre, dachte Lorrimer. Die topsidische Zigarre dieses verdammten Swoon! Er hatte sie im Gurkensalat ausgedrückt, aber der rosa Stummel war fort. Dafür saß jetzt der rosa Teigklumpen im Fach. Zweifellos, schlussfolgerte Lorrimer, bestand die Zigarre nicht aus gewöhnlichem Tabak, sondern aus einer wachstumsfähigen orga nischen Substanz, die sich unter anderem von Gurkensalat ernährte… Und von Vurguzz, wie Lorrimer im nächsten Augenblick feststellte: Der Teigklumpen war nach dem letzten Schmatzer auf halbe Größe geschrumpft. Deutlich konnte Lorrimer erkennen, dass die Flasche in der Mitte ein Loch aufwies – und dass die Flasche leer war. »Ich will verdammt sein!« stieß Lorrimer hervor. Beim Klang seiner Stimme plusterte sich der rosa Teigklumpen auf und schmatzte bedrohlich. Lorrimer warf die Tür zu, drehte den Schlüssel im Schloss und zog den Schlüssel ab. Er würde sich später um dieses Mysterium kümmern müssen. Jetzt galt es, einen klaren Kopf zu bekommen. Das Videofon summte. Lorrimer betätigte die Empfangstaste und ließ sich schnaufend in seinen Sessel fallen. Auf dem Wandbildschirm wurde Cynthia sichtbar. »Wieder nüchtern?« fragte sie. »Ich habe ein Ungeheuer in meinem Schreibtisch sitzen«, sagte Lorrimer. »Es ist rosa, ernährt sich von Vurguzz und Gurkensalat und schmatzt abscheulich. Was soll ich tun?« »Einen Arzt aufsuchen«, riet Cynthia. »Mit Halluzinationen fängt es an…« »Ich habe keine Halluzinationen«, unterbrach Lorrimer verärgert. »Wenn du demnächst in mein Büro kommst, werde ich es dir zeigen. Ich habe es eingeschlossen.« Er räusperte sich. »Wo bist du? Und warum rufst du mich an?« Cynthia strich eine blonde Haarsträhne aus ihrem Engelsgesicht. »Ich bin bei Älmi.«
»Bei Älmi?« echote Lorrimer. »Bei dem Gurkenmann. Älmrich Olk. Erinnerst du dich nicht mehr?« Sie maß ihn mit einem rätselhaften Blick. »Vielleicht solltest du wirklich einen Arzt aufsuchen, Luke. Du siehst gar nicht gut aus.« »Ich sehe grauenhaft aus«, erklärte Lorrimer. »So grauenhaft, wie ich mich fühle.« Er massierte seine Stirn. »Ich erinnere mich verschwommen, mit unserem unithischen Freund Schurururg gesprochen zu haben… Oder habe ich es nur geträumt? Er faselte irgend etwas von Kutschböcken, Hdchzeitsglocken und Eisenbahnschwellen…« »Du hast nicht geträumt«, sagte Cynthia. »Dieser Unither muss den Verstand verloren haben. Weißt du, was er tun wollte? Er wollte mir eine verdammte Kuhglocke um den Hals hängen. Gott! Ich will ihn nie wiedersehen.« »Schon gut«, ächzte Lorrimer. Die Kopfschmerzen ließen langsam nach. »Streichen wir Schurururg von der Liste. Was ist mit dem Matten-Willy?« »Wir haben uns entlobt«, antwortete Cynthia. »Aus moralischen Gründen.« »Wie?« »Ich habe festgestellt, dass Musemus eine Sie ist. Außerdem war das Ganze ein Missverständnis. Musemus wollte nie eine terranische Frau heiraten. Sie hat eine Freundin gesucht. Eine Freundin zum Plaudern, verstehst du? Deshalb hat sie sich an Star-Amore gewandt. Sie hielt dein Ehebahnungsinstitut für eine Art Freundinvermietungsgesellschaft. Die Matten-Willys kennen den Begriff der Ehe nicht, da sie eingeschlechtlich sind…« »Eingeschlechtlich, genau«, sagte Lorrimer. »Deshalb verstehe ich nicht, wieso du plötzlich diese fixe Idee hast und Musemus für eine Sie hältst. Der Matten-Willy ist im besten Fall ein Es.« »Musemus ist seelisch eine Frau«, entgegnete Cynthia. »Ich spüre so etwas. Älmi ist ebenfalls meiner Meinung.« »Älmi! Älmi!« Lorrimer fluchte. »Ihr scheint euch ja schon verdammt nahe gekommen zu sein.«
»Älmi ist rücksichtsvoll, liebenswürdig und amüsant«, sagte Cynthia kühl. »Er ist all das, was du nicht bist. JJnd er behandelt mich wie ein Mensch und nicht wie seine Sklavin.« Lorrimer schnitt eine Grimasse. Hervorragend, dachte er. Cynthia lässt sich von einer außerirdischen Gurke den Kopf verdrehen. Sie kennt die SCHRECKLICHE WAHRHEIT und hat dennoch nichts dagegen, mit einem MattenWilly ein Champagnerbad zu nehmen. Und in meinem Schreibtisch sitzt ein schmatzender Klumpen Hefeteig und delektiertsich an meinen Vurguzz-Vorräten. Einfach hervorragend. »In Ordnung, Cynthia«, brummte Lorrimer. »Olk behandelt dich also wie ein Mensch. Ich finde das großartig. Und ich fände es noch großartiger, wenn du dafür sorgen würdest, dass er für seine Rendezvous mit dir auch die entsprechende Vermittlungsgebühr bezahlt. Mit Schurururg und Musemus haben wir genau fünfzig Prozent unserer Klienten verloren, und dieser Blue, Ziip hieß er, wenn ich mich recht erinnere, hat sich seit einer Woche nicht mehr gemeldet. Wenn sich nicht bald etwas ändert, kann Star-Amore den Konkurs anmelden. Unsere gesamte Barschaft besteht derzeit aus den zweitausend Solar, die Olk als Anmeldegebühr entrichtet hat.« »Da wir gerade beim Thema sind – ich brauche Geld«, erklärte Cynthia. »In deiner Einfalt scheinst du mich als Millionärin ausgegeben zu haben, und Olk erwartet von mir euren bestimmten Lebensstil. Luxus, mein Schatz. Wenn ich mir nicht bald etwas Anständigeres zum Anziehen kaufen kann, wird Älmi den Schwindel durchschauen, und dann?« Lorrimer trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Wir haben kein Geld.« »Und was ist mit den fünfzigtausend Solar, die ich von meiner Tante geerbt habe?« »Das ist unser Notgroschen«, sagte Lorrimer. »Ich denke nicht daran, auch nur einen deiner mühsam geerbten Solar für irgendwelchen modischen Plunder auszugeben.« Er lachte hässlich. »Du hast doch deine rosa Schleife. Die genügt vollauf.«
Cynthias Augen funkelten. »Was bist du doch für eine verdammte Kanaille, Lukas Lorrimer«, zischte sie. Und unterbrach die Verbindung. Lorrimer stieß einen tiefen Seufzer aus. Irgendwie hatte er das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Im Schreibtisch begann das teigige Monstrum wieder zu schmatzen.
6. Die nächsten Tage ließ sich Cynthia nicht im Büro blicken. Gelegentlich rief sie an, oder sie schickte ihm einen Telefaxgruß: Bin mit Älmi im Zoo. – Bin heute abend mit Älmi zum Essen verabredet. – Habe leider keine Zeit; Älmi will mit mir ausgehen. – Älmi will mich mit nach Swoofon nehmen. – Älmi ist sooo süß … Und so weiter. Lorrimer wurde allmählich unruhig. Allerdings konnte er sich nicht um seine Freundin und ihren Gurkenfreund kümmern – wichtiger war im Moment, den schmatzenden Teigklumpen aus seinem Büro zu entfernen. In seiner Not wandte er sich an Famos O’Hack. Der Denkfabrikant besuchte ihn in seinem Büro, warf einen Blick auf die Kreatur im Schreibtisch und erkannte sofort den Ernst der Lage. »Zweifellos eine spontane Mutation«, sagte O’Hack. »Diese topsidischen Zigarren bestehen aus einer überaus seltsamen Amöbenart, die auf Topsid als organische Müllabfuhr eingesetzt wird. Die Viecher fressen alles.« »Aha«, nickte Lorrimer. »Und?« »Diese Amöben werden getrocknet, plattgewalzt und zu Zigarren gedreht, sobald sie ihr vorgeschriebenes Quantum an Müll verzehrt haben. Die Topsider exportieren die gesamte Zigarrenproduktion; Hauptabnehmer ist Swoofon – der einzige gurkensalatfreie Planet der Milchstraße. Denn Gurkensalat führt bei den Müllamöben zu sponta nen Mutationen. Es wurden sogar schon Fälle spontaner Intelligenz-werdung berichtet…« »Aha«, sagte Lorrimer wieder. »Und?«
»Nichts und.« O’Hack klopfte geistesabwesend gegen seine Brainstorming-Kappe. »Ich muss weitere Informationen einholen. Mit einer mutierten Müllamöbe ist nicht zu spaßen^Ein falscher Schritt, und wir sind alle erledigt.« O’Hack verließ das Büro, um die angekündigten Nachforschungen über die topsidischen Müllamöben anzustellen, und Lorrimer floh vor dem lärmenden Schmatzen und vor den Telefaxgrüßen seiner untreuen Freundin zu Karnegoris Pan. Der Detektiv saß wie immer hinter seinem zerkratzten Plastikschreibtisch und schoss mit seinem Nadler auf eine elektrische Fliege, die unermüdlich unter der Decke kreiste. Pan trug eine dunkle Sonnenbrille. »Hallo, Lukas!« rief er erfreut. »Haben Sie sich von Ihrer Vergiftung erholt?« »Leidlich«, knurrte Lorrimer und ließ sich auf einem wackeligen Plastikstuhl nieder, dem einzigen Möbelstück außer dem Schreibtisch und dem Stapel alter Telefaxzeitungen, die Pan als Sitzgelegenheit benutzte. »Und Sie? Noch immer unter Beobachtung?« »Seit ich die Brille trage, geht es mir besser«, sagte der Detektiv. »Die Blitzlichter blenden mich nicht mehr; nur dieses penetrante Klicken… Nun, Sie hören es ja selbst…« »Sicher«, nickte Lorrimer, obwohl er nur das Summen der elektrischen Fliege hörte. »Karnegoris, ich brauche Ihre Hilfe. Genauer: Ihren kriminalistischen Sachverstand.« Pans vergrößerte Ohrmuscheln zuckten erfreut. »Ich stehe zur Verfügung, Lukas. Um was handelt es sich?« »Um eine Gurke«, sagte Lorrimer. »Das heißt, um einen Swoon namens Älmrich Olk, Inhaber der Firma Olk Mikrotech Export auf Swoofon. Besorgen Sie mir alle Informationen, die sich über diesen Burschen auftreiben lassen.« »Olk?« Pan nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. »Ein Klient von Ihnen, nicht wahr?« »So ist es«, bestätigte Lorrimer. »Ich habe bei diesem Olk ein ungutes Gefühl. Kümmern Sie sich darum.«
Er kehrte wieder in sein Büro zurück, versuchte vergeblich, Cynthia zu erreichen, und verbrachte die nächsten Stunden in der Kantine des Turmes – mittlerweile war des Schmatzen der Müllamöbe so laut geworden, dass er es nicht länger als ein paar Minuten in seinem Büro aushielt. Er bestellte sich eine Flasche Vurguzz und wartete auf ein Wunder. Dann schlief er am Tisch ein. O’Hack weckte ihn. »Lukas!« brüllte ihm der Denkfabrikant ins Ohr. »Lukas! Kommen Sie zu sich!« »Die Müllamöbe ist los«, sagte O’Hack. »Sie hat sich durch den Boden des Schreibtischfachs und durch Ihre Bürotür gefressen und ist spurlos verschwunden.« Lorrimer atmete befreit auf. »Aber das ist ja großartig!« »Von wegen.« O’Hack schnaubte. »Dieses Biest ist ein Allesfresser. Es wird nicht eher Ruhe geben, bis es den ganzen Turm verzehrt hat. Wir müssen es aufspüren und erledigen, oder es erledigt uns. Vergessen Sie nicht – wir haben es nicht mit einer normalen Müllamöbe, sondern mit einer Mutation zu tun. Kommen Sie, Lukas!« Er zerrte an Lorrimers Ärmel. »Wir müssen Ihren Amöbenfreund suchen und…« »Diese Amöbe ist nicht mein Freund«, unterbrach Lorrimer. Er riss sich los. »Lassen Sie mich in Ruhe, Famos. Mir genügt es, dass dieses Biest nicht mehr in meinem Büro herum schmatzt. Alles andere interessiert mich nicht.« Lorrimer straffte sich und steuerte auf den Ausgang der Kantine zu. »Sie machen einen großen Fehler, Lukas«, rief ihm O’Hack nach. »Vielleicht interessieren Sie sich nicht mehr für die Amöbe, aber ich wette, die Amöbe interessiert sich noch für Sie!« Lorrimer ignorierte O’Hacks Warnung. Als er in den Antigravschacht stolperte, prallte er mit Karnegoris Pan zusammen. »Da sind Sie ja!« Der Detektiv rückte seine verschobene Sonnenbrille zurecht und wedelte mit einem druckfrischen Telefaxbogen. »Ich habe die Informationen, Lukas; sie sind soeben per Hypertelex von Swoofon eingetroffen. Halten Sie sich fest!« Lorrimer befolgte Pans Rat und hielt sich an seiner Schulter fest
»Und?« »Es gibt auf ganz Swoofon keine Olk Mikrotech Exportfirma«, eröffnete ihm Pan. »Älmrich Olk ist ein Betrüger.« »Ein… Betrüger?« stieß Lorrimer hervor. Er wurde blass. »Bei allen Sternen!« »Olk wird auf Swoofon steckbrieflich gesucht«, fuhr der Detektiv mit Grabesstimme fort. »Heiratsschwindel in neunundsechzig Fällen.« Lorrimer gurgelte. Er schnappte nach Luft. »Heiratsschwindel?« kreischte er. »Exakt«, bestätigte Pan. »Er geht immer auf die gleiche Weise vor. Er wendet sich an ein Ehebahnungsinstitut, gibt sich als Millionär aus, sucht Kontakt zu vermögenden Frauen, verspricht ihnen die Ehe, gerät ,vorübergehend’ in Geldschwierigkeiten, und wenn ihm seine Zukünftige mit einer größeren Summe ausgeholfen hat, macht er sich aus dem Staub. Hüten Sie sich vor Olk, Lukas.« Mit einem Schrei stürzte Lorrimer aus dem nächsten Ausstieg und rannte in sein Büro. Er musste Cynthia warnen! Seine Freundin vergeudete ihre Zeit mit einem verdammten Heiratsschwindler… Als er die Tür aufstieß – sie wies unten ein Loch von der Größe eines Fußballs auf-, empfing ihn das Summen des Videofons. Es war Cynthia. »Cynthia!« rief Lorrimer erleichtert. »Dem Himmel sei…« »Ich rufe nur an, um mich von dir zu verabschieden«, unterbrach ihn Cynthia mit eisiger Miene. »Ich verlasse dich, Lukas. Ich gehe mit Älmi nach Swoofon. Wir werden heiraten.« »Großer Gott!« »Die Trauung findet hier auf Terra statt«, fuhr Cynthia fort. »Sobald Älmi dieses Aktienpaket gekauft hat und wieder zurück ist.« »Aktien? Gekauft?« Lorrimer kam ein grausiger Verdacht. »Er hat dich doch nicht um Geld…?« »Ein vorübergehender Engpass«, sagte Cynthia. »Ich habe mir
erlaubt, ihm meine ererbten fünfzigtausend Solar als kurzfristiges Darlehen zu geben. In zwei Wochen bekomme ich die fünfzigtausend plus zehntausend Solar Zinsen zurück. Älmi ist nämlich großzügig.« »Du hast dieser Gurke unsere fünfzigtausend Solar gegeben?« Lorrimer sah Cynthia fassungslos an. »Diese ,Gurke’, Lukas Lorrimer, ist mein zukünftiger Gemahl«, erklärte Cynthia kühl. »Und er ist reich. Er ist keine Null wie ein gewisser Lukas Lorrimer, und ich heirate lieber eine reiche Gurke als einen notorischen Pleitier, der…« Lorrimer schloss die Augen. »Lukas?« sagte Cynthia unsicher. »Wa s ist mit dir? Bist du krank?« »Dein zukünftiger Gemahl ist kein Millionär, sondern ein steckbrieflich gesuchter Heiratsschwindler«, murmelte Lorrimer. Cynthia wurde blass. Ihre Augen weiteten sich. »Du meinst…?« flüsterte sie. Lorrimer nickte. Cynthia fiel in Ohnmacht und verschwand aus dem Erfassungsbereich der Kamera. Mit zitternden Fingern unterbrach Lorrimer die Verbindung, wankte um den Schreibtisch und ließ sich in seinen Sessel fallen. Er starrte blicklos vor sich hin und dachte an Selbstmord. Dann an Mord. Dann an Vurguzz. Und dann an die Müllamöbe. Er hoffte, dass O’Hack recht behalten und die Amöbe zurückkehren würde, um sich dafür zu rächen, dass er sie im Schreibtisch eingesperrt hatte. Die Amöbe war ihm diesen Dienst schuldig. Schließlich hatte sie ihm ihr Leben zu verdanken, und wenn es noch so etwas wie Gerechtigkeit auf dieser Welt gab, dann… Von der Tür drang lautes Schmatzen. Lorrimer drehte den Kopf. Die Amöbe hatte inzwischen die Größe eines Kleiderschranks erreicht und wälzte sich teigig und rosa in sein Büro. Plötzlich schien Lorrimer der Gedanke, mit Hilfe der Amöbe aus dem Leben zu scheiden, nicht mehr sonderlich attraktiv zu sein. Im Gegenteil – er wollte leben. Egal wie…
Aber das Monstrum schnitt ihm den Fluchtweg ab. Es gab kein Entkommen. Die Riesenamöbe schmatzte. In ihrem teigigen Leib entstand ein mundartiger Spalt, und der Spalt bewegte sich und formulierte verständliche Worte. »Ich suche eine Frau«, sagte die Amöbe. »Eine terranische Frau.« Lorrimer öffnete den Mund, schloss ihn wieder, wischte den Schweiß von der Stirn und räusperte sich. Seine Furcht verflog. Er war Geschäftsmann, und als Geschäftsmann hatte er einen Blick dafür wenn sich ein gutes Geschäft bot. »Sicher«, sagte er. »Jeder, der sich an Star-Amore wendet, sucht eine terranische Frau. Wir sind darauf spezialisiert. Nehmen Sie doch Platz, damit wir Ihre Partnerwünsche im Detail besprechen können…«
Arndt Ellmer
Der Geist der Festung Diese Geschichte spielt auf Titan. Titan ist der größte Trabant des Saturn. Er besitzt rund fünftausend Kilometer Durchmesser und bewegt sich in einer Entfernung von einer Million und zweihunderttausend Kilometern um die Ringwelt. Zur Zeit der Larenherrschaft in der Milchstraße erlangte Titan längere Zeit als Stützpunkt Bedeutung. Leticron, der Überschwere, Nachfolger Perry Rhodans im Amt des Ersten Hetrans, baute die Stahlfestung Titan zu einem unüberwindlichen Gebilde aus, in das er sich in seinen letzten Lebensjahren zurückzog. Hier suchte der Mutant von Paricza die Erfüllung seines Lebens und die Unsterblichkeit. Sein Körper starb in einem mittelalterlichen Duell mit seinem Nachfolger Maylpancer. Sein Bewusstsein jedoch lebte fort. Es integrierte sich in einen Klumpen PEW-Metall im »Hof der Säulen«, in dem es ab diesem Zeitpunkt gefangen saß. Es konnte nicht heraus, und Leticrons Wunsch, mit der Stahlfestung verschmelzen zu können, erfüllte sich nicht. Fünf Jahre danach gab es Anzeichen, dass Leticrons Bewusstsein noch lebte. Man schrieb das Jahr 3585, und die Laren hatten die Milchstraße fluchtartig verlassen. Die Überschweren führten ihre letzten Rückzugsgefechte, und Hotrenor-Taak, der zurückgebliebene Verkünder der Hetosanen, wurde zum Verräter an seinen früheren Helfern. Er ließ sich in die Stahlfestung einschleusen und legte die Sprengsätze, die zur Vernichtung der Hauptzentrale und zur endgültigen Flucht der Überschweren aus dem Solsystem führten. Leticrons Säule begann zum Zeitpunkt der Gefahr rhythmisch zu glühen, aber seine Warnung wurde zu spät verstanden. Von den Überschweren, die um Leticrons Geheimnis wussten, überlebte keiner. Nur das Gerücht blieb – es war wohl auf das Wissen des Laren zurückzuführen. Angesichts der Bedrohung durch die Loower und später die Orbiter verschwand es immer mehr, und als in der Milchstraße und im Solsystem endlich Ruhe einkehrte und Perry Rh&dan mit dem Aufbau der Kosmischen Hanse begann, da konnte sich fast niemand mehr
etwas unter diesem Gerücht vorstellen. Inzwischen schreiben wir das Jahr 67 NGZ, und die Liga Freier Terraner macht sich daran, Titan für ihre eigenen Zwecke zu nutzen.Sie beginnt, mit den Trümmern der Stahlfestung aufzuräumen.
1.
Die ersten Alarmmeldungen aus Teilen der Stahlfestung besagten, dass es dort nicht mit rechten Dingen zuging. Mehrere der Kolonnen stoppten und schickten die Roboter vor. Der Funkverkehr erwachte, zu hektischem Leben, und Mirza Carman sandte die letzten bereitstehenden Kolonnen hinab zur Oberfläche. Sie landeten in Schiffen oder Beibooten, die der Flottentender vom Jupiter hierher transportiert hatte, und machten sich sofort auf den Weg. Von allen Seiten näherten sie sich den Trümmern, und immer wieder erhielten sie von der Koordination im Tender neue Anweisungen über die Route, auf der sie gefährliche Gebiete mit Unterhöhlungen vermeiden konnten. Walter Pembroke leitete eine der Kolonnen. Aus zusammengekniffenen Augen musterte er den Boden, über dem sie auf ihren Antigrav-scheiben dahinglitten. Plötzlich hielt er seine Scheibe an. Sein Arm glitt zeitlupenhaft in die Höhe. Die gespreizten Finger des Handschuhs deuteten hinauf ins Nichts. Die Kolonne zögerte. Die zwanzig Antigravscheiben kamen zum Stillstand, und die über hundert Roboter bildeten einen halbkreisförmigen Ring, der die Menschen wie ein Schutzwall nach hinten abschirmte. »Dort!« hauchte Pembroke. Er schwenkte den Arm nach unten und zeigte auf eine Gruppe kleiner, spitzer Felsen, die auf der Oberfläche dieses Himmelskörpers häufig anzutreffen waren. Die letzten Reste einer ehemals atembaren Atmosphäre hatten sich längst verflüchtigt, und das Gestein lag nackt und grobporig da. Nichts deutete darauf hin, dass es hier vor ein paar Jahrzehnten Sportanlagen der Überschweren gegeben hatte. Die Felsnadeln zitterten. Im nächsten Augenblick brachen mehrere der Spitzen ab und sanken langsam dem Felsboden entgegen. Entsprechend der Schwerkraft von 0,25 g schlugen sie sanft auf, hoben sich ein wenig in die Höhe, berührten den Untergrund erneut und kamen nach dem dritten oder vierten Mal endgültig zur Ruhe. Die Felsen bebten weiter.
Die Roboter meldeten unterirdische Einbrüche, und Pembroke murmelte etwas von Gesteinsbeben. Der Boden brach auf. Ein Teil der nicht flugfähigen Roboter verschwand lautlos in der Tiefe. Die Funksignale der Maschinen brachen abrupt ab und deuteten darauf hin, dass die Roboter zerstört worden waren. Pembroke machte Meldung, während sich die Kolonne wieder in Bewegung setzte. Die Scheiben flogen davon, und die Roboter schwebten hinterher oder umgingen die Einbruchsteile. Es war bereits der fünfte Vorfall dieser Art, dass ein Teil der unterirdischen Anlagen der ehemaligen Stahlfestung einstürzte. Und das, obwohl sie seit fast siebzig Jahren gehalten hatten und es bisher keine direkten Eingriffe der Kolonnen in die Bausubstanz gegeben hatte. »Gespenstisch«, murmelte Walter Pembroke. Ein helles Lachen antwortete ihm. »Vielleicht haust ein Geist in der Festung«, erklang die Stimme Raoul Ginvers über Helmfunk. »Habt ihr noch nie davon gehört, dass das Bewusstsein Leticrons in dieser Anlage existieren soll?« »Unsinn«, fiel ein Dritter ein. »Wer ist außerdem dieser Leticron?« Pembroke wandte sich auf seiner Scheibe um und musterte den Frager. Er kannte den jungen Mann und wunderte sich nicht, dass dieser noch nie etwas von dem Überschweren gehört hatte. »Leticron war der Erfüllungsgehilfe der Laren im Kampf gegen die Völker der Milchstraße«, erläuterte er. »Er war der größte Feind der Menschheit. Ich würde ihm nicht raten, mir zu begegnen!« Er lachte. Leticron war tot. Dass sein Geist durch die alte Anlage spukte, war ein dummer Scherz, an den keiner glaubte. »Du würdest ihn nicht erkennen«, erwiderte Ginver ernst. »Aber rechne ruhig mit ihm!« Pembroke stieß ein undeutliches Knurren aus. Er warf einen raschen Blick auf die Leuchtanzeigen seiner Scheibe, dann starrte er hinauf zum Saturn. Ein dünner, dunkler Streifen zog sich über
die dichte Gashülle des Planeten. Ein dünner, schwarzer Faden nur, der nichts von dem Zauber erahnen ließ, den die Ringe gewöhnlich beim Betrachter auslösten. Pembroke sah noch einen zweiten Schatten. Er war größer und bizarr. Er erinnerte ihn an eine Fledermaus mit gespannten Schwingen. Langsam bewegte er sich vor dem Planeten dahin. Das war der Flottentender PONT ANUS. Er befand sich in einer Umlaufbahn um Titan und hatte die zweihundert Ingenieure und Techniker abgesetzt, die zusammen mit knapp achttausend Robotern über die Oberfläche des Mondes wanderten und mit ihren Sonargerä-ten die Ausmaße der unterirdischen Festungsteile erkundeten. Die Überschweren mussten Schwerarbeit geleistet haben, als sie dazumal einen Teil Titans zu ihrer Festung ausgebaut hatten. Eine Space-Jet hob sich über den Horizont und näherte sich in ihrem Rücken der Einsturzstelle. Grelle Scheinwerfer flammten auf und suchten ihren Weg in die Tiefe. »Setzt euren Weg fort«, erhielten sie die Anweisung. »Aber kommt den gefährdeten Bereichen nicht zu nahe!« ’ Kurz darauf erreichte die Kolonne ihr vorgesehenes Einsatzgebiet. Schiefe Metalltürme tauchten in ihrem Blickfeld auf. Sie erkannten Gebäude, die auseinandergerissen waren. Es mussten mächtige Schiffswaffen gewesen sein, die in die breite Front der oberirdischen Anlagenteile eine Schneise gerissen hatten. Den Rest hatte der Zahn der Zeit besorgt. Nach den Kämpfen hatten die Stürme getobt, die die sich in der Folgezeit auflösende Titanatmosphäre verursacht hatte. Jetzt, nach neunundsechzig Jahren, galt es, die Trümmer erst einmal zu katalogisieren und zu untersuchen. Der zweite Schritt war, die an der Oberfläche gelegenen Reste einzuebnen und die verwendbaren Sektoren der unterirdischen Anlagen neu auszubauen. Die Kolonne hielt an. Die Männer wechselten auf den Kanal des Nahbereichsfunks über. Übergangslos machte sich ein Gemurmel in den Helmlautsprechern breit, und Pembroke hatte Mühe, sei-
ner eigenen Stimme Geltung zu verschaffen. »Wir verteilen uns wie vorgesehen«, sagte er. »Sobald die Messungen abgeschlossen sind, dringen wir an der günstigsten Position ein. Irgendein Loch werden wir schon finden!« Sie schwärmten aus, und aus dem Stimmengemurmel schälte sich eine andere Stimme. »Elverson spricht!. Wir sind die Kolonne direkt neben euch. Wir sind bereits unter der Oberfläche. Die Korridore sind gut erhalten. Wir kommen zügig voran. Es sieht aus, als…« Der Rest des Satzes ging in einem gurgelnden Schrei unter. Walter Pembroke setzte die Antigravscheibe auf den Boden, dass die Steine nach allen Seiten davon spritzten. Er sprang ab und stürzte fast hin. Mühsam richtete er sich auf und suchte an Raoul Ginvers Scheibe Halt, die neben ihm hing. In ihren Helmen heulte der Alarm auf und übertönte das Geschrei, das ausbrach. Unter ihnen bebte der Boden, und ein Teil der Roboter brachte sich eiligst aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich. »Kanal eins«, brüllte Pembroke. »Geht alle auf Kanal eins!« Die Männer kamen der Aufforderung nach. Keiner wagte sich von seiner Scheibe herunter, und Pembrokes Gestalt bebte von den Erschütterungen. »Pembroke an AMARYLLIS«, sagte der Kolonnenführer. »Wir müssen uns zurückziehen.« »Eure Position ist uns bekannt«, klang eine Frauenstimme auf. »Bleibt und wartet, bis ihr einen neuen Einsatzbefehl erhaltet. Es ist bereits ein Rettungstrupp auf dem Weg nach unten!« Raoul Ginver bewegte sich heftig, während Pembroke wieder auf seine Scheibe stieg. »Nein«, sagte der Mann. »Ich bin gegen diese Anweisung. Unsere erste Pflicht ist es, unseren Kameraden zu Hilfe zu kommen. Wir wissen ja ungefähr, wo sie sind. Folgt mir!« Er beschleunigte seine Scheibe und raste auf die zerstörte Front der Gebäude zu. Sechs weitere Scheiben folgten ihm. Pembroke brach in zorniges Geschrei aus. »Ginver!« brüllte er in sein Mikrofon. »Nimm Vernunft an. Wir
können nichts ausrichten. Was willst du erreichen?« Raoul Ginver antwortete ihm nicht, und nach einer Weile sah er, dass die sechs Scheiben umkehrten, die ihm folgten. Sie stiegen in den luftleeren Himmel über den Trümmern hinauf und kehrten in einer weiten Schleife zur Kolonne zurück. »Wir haben ihn aus den Augen verloren!« berichteten sie. Walter Pembroke fluchte lautstark. »Das hat uns noch gefehlt. Einer, der sich nicht beherrschen kann«, schimpfte er. »Wenn das nur gutgeht, was er vorhat!« Der Kolonnenführer sog lautstark die Luft ein. Er hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl gehabt, als sie ihm Ginver nachträglich zugeteilt hatten. Jetzt hatten die Arbeiten an der Festung noch nicht einmal begonnen, und sie bekamen bereits Schwierigkeiten mit ihm. Die PONTANUS verschwand vom hellen Ball Saturns und tauchte in die Schwärze des interplanetaren Raumes ein. Gleichzeitig lenkte Raoul Ginver seine Antigravscheibe zwischen die aufragenden Trümmer der ehemaligen Stahlfestung. Er hörte einen Fluch, der von Pembroke kam. Er wurde überlagert von den Hilferufen jener, die plötzlich unter der Oberfläche eingeschlossen waren. »Haltet aus«, rief Ginver über Kanal sieben. Niemand antwortete ihm, bis er nach etwa zweihundert Metern einen Peilanruf erhielt. Es war der Tender im Orbit, der sich meldete. Mirza Carman kümmerte sich persönlich um den Einsatz der Rettungstrupps. »Ginver«, sagte der Chef des Titanunternehmens. »Du bist vom Ziel abgekommen. Du entfernst dich von der Unglücksstelle. Kehre zu deiner Kolonne zurück. Verdammt, Ginver, was ist da unten los bei dir?« Raoul Ginver schaltete das Funkgerät ab und drang tiefer in die Trümmerlandschaft ein. Er hätte keine befriedigende Antwort geben können. Er wusste selbst nicht genau, ob er das, was er erreichen wollte, jemals erreichen würde. Er zog die Scheibe her-
um und steuerte sie weiter zum Boden hinab. Überall ragten schiefe Wände ; auf, manche von Meteoriten durchschlagen. Es gab kein Gebäude an der Oberfläche, das nicht irgendeinen Schaden aufwies. Obwohl es nicht nötig war, schaltete er den Scheinwerfer der Scheibe ein und leuchtete die Winkel ab, die im Schatten des Lichtes lagen, das Saturn auf seinen Mond herab warf. Ginver verringerte die Geschwindigkeit der Scheibe auf ein Minimum, obwohl er so ungeduldig war wie nie in den letzten Tagen und Wochen. Gerade rechtzeitig hatten seine Mittelsmänner von den Plänen der LFT erfahren, und er hatte sich sofort auf den Weg zur Erde gemacht, um sich freiwillig für Titan zu melden. Im letzten Augenblick hatte er es geschafft, und über die Transmitterkette Luna, Mars, Ganymed’ war er in die PONT ANUS gekommen und der letzten der landenden Kolonnen zugeteilt worden. Raoul Ginver verzog ein wenig den Mund. Er dachte an Pembroke, der sich Sorgen über seinen Verbleib machen würde. Nach einiger Zeit würde er ihn als vermisst melden, und der Tender im Orbit würde ihm auch nicht helfen können, weil Ginver dafür sorgen würde, dass er mit seiner Scheibe endgültig von der Ortung verschwand. Die Rettung der Kameraden war ein Vorwand gewesen, sich von der Kolonne entfernen zu können. Bestimmt waren die Verschütteten in kurzer Zeit befreit, und die Untersuchungen der Festung konnten weitergehen. Nein, Raoul Ginver suchte nach etwas Bestimmtem, und er war sicher, dass er es ganz in der Nähe finden würde. Er musste nach Säulen Ausschau halten. Sieben Säulen sollten es sein. Er glaubte, dass die Gerüchte stimmten. Er war der einzige Terraner, der um sie wusste. Früher hatten sie sich um die Stahlfestung gerankt. Neben ihm gab es einen Überschweren, der sie ebenfalls kannte. Dieser war sein Auftraggeber. »Wenn du Erfolg hast, dann bringe ihn her«, hatte Garumar zu ihm gesagt. »Zu mir nach Paricza. Ihn oder das, was von ihm
übrig ist!« Normalerweise hätte Raoul Ginver sich nicht auf so etwas eingelassen, aber die Erfolgsprämie von einer Million Galax machte sogar das Herz eines eingefleischten Sternentramps weich. Er hatte zugesagt. Und er verstand, warum ein Corun of Paricza wie Garumar sich eine solche Mühe machte. Seit den Zeiten von Maylpancer und seines Vorgängers genoss das Volk der Überschweren einen miserablen Ruf im Verband der GAVÖK. Raoul legte eine Hand auf die Brust. Durch das Material des Handschuhs und des Raumanzugs hindurch spürte er den flachen Quader PEW-Metall in seiner vergoldeten Einfassung. Der Schmuckanhänger drückte gegen das Brustbein und erinnerte ihn daran, dass er nicht viel Zeit hatte. Er musste unter allen Umständen verhindern, dass ihm jemand zuvorkam und einen Schaden anrichtete, der nicht gutzumachen war. Er lauschte nach innen. Seine latente Fähigkeit, intensive Empfindungen spüren zu können, ließ ihn im Stich. Nicht einmal die ausgestrahlte Angst der Eingeschlossenen drang zu ihm durch. Er suchte weiter. Mehrmals entdeckte er einen Weg in die Tiefe, aber er kam nie weit. Die Festung war da zu Ende, er hatte fest gewachsenen Fels vor sich. Einmal hatte er Sichtkontakt zu einer Kolonne. Nach einer Weile schaltete er sein Funkgerät ein. Er erfuhr, dass die Verschütteten befreit wären. »Es ist seltsam«, hörte er eine Stimme sagen. »Es sieht aus, als seien die schweren Metallträger wie durch Zauberhand halbiert worden. Es gibt keine Desintegrationsspuren, und Hinweise auf eine Säure fehlen ebenfalls. Und dabei sind die Schnittkanten exakt plan. Ob wir es mit einem Gegner unbekannter Herkunft zu tun haben?« Ginver zuckte zusammen. Seine Gedanken bildeten Wirbel. Fragmente seines Wissens vereinigten sich zu einer klaren Spur. Er wusste jetzt, dass er Erfolg haben würde. Er beschleunigte die Scheibe und führte sich weiter über den Boden der oberirdischen Bauten. Irgendwo musste hier das Zentrum sein. Er würde es
finden, und bis dahin war der Flottentender unter den Titanhorizont gesunken und verlor die kleine Scheibe aus der Ortung. Der Sternentramp ahnte, was die Verantwortlichen jetzt dachten. Sie rechneten mit einem Gegner und suchten ihn. Es war ja durchaus möglich, dass sich Fremde in den Trümmern eingenistet hatten, die sich nun zur Wehr setzten. Ginver erhielt dadurch bei seiner persönlichen Suche einen kleinen Vorsprung. Unter der Deckung überhängender Metallteile flog er dahin. Immer weiter drang er in die Trümmerlandschaft ein und wunderte sich manchmal, dass keines der verbogenen Gebilde herabstürzte und ihn erschlug. Plötzlich wich der Boden vor ihm. In Art einer Doline gähnte ein Loch in der Festung, und im Licht des Scheinwerfers sah er, dass es mindestens zehn Meter tief war und einen Durchmesser von über hundert Metern besaß. Hier war die Oberfläche eingebrochen. Raoul Ginver zögerte kurz, ehe er die Scheibe hinab steuerte. Der Lichtstrahl huschte über die Trümmer. An der Bruchzone drang er in aufgeschnittene Räume und enthüllte querschnitthaft einen Teil des früheren Aufbaus der Festung. Ginver kannte sich mit der früheren Architektur der Überschweren nicht aus, aber die Zusammenstellung der Räume und die Anordnung der Verbindungskorridore und Schächte ließ ihn erahnen, dass er sich in einem wichtigen Bereich befand. Hatte er die Hauptzentrale gefunden? Er steuerte die Scheibe die abgesunkene Oberfläche entlang. Ein Teil sah aus wie eine Arena, mit den Überresten von Tribünen und dem Kampfplatz. Er setzte die Scheibe ab und ließ sich langsam zu Boden gleiten. Er prüfte den Untergrund, der aus mehligem Sand zu bestehen schien. In der Nähe fand er die Auswürfe kleiner Krater, die von Waffen oder Meteoriten herrührten. Das war alles, was von der Macht der Überschweren übriggeblieben war. Sechs Löcher nahmen seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie besaßen den gleichen Durchmesser, und in ihrer Nähe lag jeweils
eine Säule. Zwischen ihnen ragte eine siebte in die Höhe, und bei ihrem Anblick wurde es Ginver heiß in seinem Anzug. Sie hatte früher die mittlere Position unter den Säulen eingenommen. Der Sternentramp begann vor Erregung zu zittern. Er hastete zu der Scheibe hinüber, so schnell es die geringe Schwerkraft erlaubte. Er desaktivierte alle Systeme. Danach kehrte er zu der Säule zurück und betastete sie. Es gab keine andere Möglichkeit. Das war der Hof der Säulen. Er hatte das Ziel erreicht. Um Raoul Ginver herum versank die Welt. Er verlor jedes Zeitgefühl. Was um ihn in der Stahlfestung vorging, war ihm so egal wie nur etwas. Er sah sein Ziel greifbar nahe vor sich. Er umklammerte die Säule, und das Heizaggregat seines Raumanzugs übertrug einen Teil der Wärme auf sie. »Leticron!« dachte er intensiv. »Ich bin da! Leticron, melde dich!«
2. Er war ein Gefangener der Ewigkeit. Sein Bewusstsein lebte in diesem Brocken PEW-Metall und konnte nicht mehr hinaus. Es gab kein Weiterkommen, und das Bewusstsein stöhnte gequält auf, während es zum ungezählten Mal die Pein jener ersten Zeit der Gefangenschaft nachvollzog. Voller Erwartung war Leticron in den Sockel der Säule eingedrungen. Er hatte seinen Wunsch nach Unsterblichkeit wahrmachen wollen. Es war wie eine Erlösung für ihn, und erst jetzt begriff er endgültig, dass er nie einer von ihnen gewesen war. Corun of Paricza hatten sie ihn genannt, und mit Hilfe seiner Mutantenfähigkeiten des Handlungsahnens, der Überzeugungsinjektion und einer leichten Hypnosefähigkeit war er rasch und über viele Leichen hinweg nach oben gestiegen. Er war Erster Hetran geworden, doch ab diesem Zeitpunkt schien sich alles
gegen ihn verschworen zu haben. Er war erfolgreich im Sinn des Konzils der Sieben, doch sein persönlicher Ehrgeiz wurde gebremst und verkümmerte immer mehr, bis er die Konsequenzen zog und sich für die letzten Lebensjahre in die Stahlfestung zurückzog. Er hatte sie alle gehasst, diese Sterblichen, egal ob sie Überschwere, Terraner oder Laren waren. Sie waren Insekten im Vergleich zu ihm. Er war froh gewesen, endlich nichts mehr mit ihnen zu tun zu haben und eine neue Lebensform erreichen zu können. Er wollte die Stahlfestung sein und sie mit seinem Bewusstsein durchdringen und beherrschen. Die Erinnerung schmerzte ihn. Er hatte getobt und gejammert, gedroht und gefleht. Niemand erhörte ihn. Niemand brachte ihm seinen schwer verwundeten Körper zurück. Seinen engsten Vertrauten hatte er damit beauftragt, ihn in einen Konverter zu werfen. Es war so geschehen, und kein Körper war für ihn da. Mit seinem Schmerz und seiner Verzweiflung blieb er allein und verlor rasch das Zeitgefühl. Seine Sinnesorgane fehlten ihm, und er konnte nicht erkennen, was in der Stahlfestung und um sie herum vor sich ging. Er näherte sich der ersten Welle des Wahnsinns und kostete sie aus, bis er in einen Zustand der Bewusstlosigkeit fiel. Immer wieder machte er es durch, und jedes Mal fühlte er sich hinterher verändert. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass er sich selbst verhöhnte und als Monstrum bezeichnete, unter dem die Normalen gelitten hatten. Er tat es, weil er einen Ausweg aus dem gedanklichen Teufelskreis suchte, in dem er sich befand. Das Schicksal war hart und unerbittlich. Seine Versuche, sein Bewusstsein abzutöten und sterben zu können, scheiterten an der Kraft, die es durch die Anwesenheit in dem PEW-Klumpen besaß. Leticron wusste, dass es eine Strafe für ihn war. Zum ersten Mal in seinem Leben machte er sich Gedanken darüber, dass es so
etwas wie eine Höhere Macht gab, die Recht sprach und Gerechtigkeit ausübte. Namen seiner Opfer tauchten in seiner Erinnerung auf, Walter Kendall, Carsoner Airhahn, Quanta Chierson, Nos Gaimor. Und Quicklab. Der Roboter Quicklab war sein bester Freund gewesen. Er hatte zu dem Kunstweseh etwas wie Vertraulichkeit entwickelt. Aber auch Quicklab hatte er seinen persönlichen Zielen geopfert. Von da an hatte er ohne einen Freund gelebt. Jahrzehnte der inneren Abtötung waren gefolgt, und sie hatten in dem selbstquälerischen Rausch geendet, dessen Opfer er geworden war. Mit der Zeit des Leidens klärte sich Leticrons Bewusstsein ein wenig. Die Wellen des Wahnsinns flauten ab und kamen in größeren Zeitabständen. Völlig blieben sie jedoch nicht aus. Nur jedes Mal, wenn er erwachte, fragte er sich, ob er das wirklich selbst gewesen war, der in der Vergangenheit gewütet hatte. Wie lange war es schon her? Irgendwann stellte das Bewusstsein fest, dass tief unter ihm eine Veränderung eintrat. Es wurde etwas gemacht, und Leticron merkte plötzlich, dass es eine latente Verbindung zum Untergrund der Säule gab, in deren Sockel das PEW steckte. Er forschte und sondierte, und nach einer Weile glaubte er zu verstehen, was sich abspielte. Unter dem Hof der Säulen befand sich die Hauptzentrale, und aus ihr empfing er Strömungen über Vorgänge dort unten. Er tastete vorsichtig, aber der Weg war noch immer versperrt. Nur die Strömungen ka men zu ihm herauf, manchmal deutbar, manchmal nicht. Er lernte jedoch, sie zu interpretieren, und die neuen Erkenntnisse ließen ein wenig von seiner alten Härte wieder aufflammen. Der Traum von der Unsterblichkeit erwachte neu, und er machte sich Hoffnungen wie nie zuvor. Bis sie eines Tages mit einem Ruck zerstört wurden. Gefahr! Er spürte die Gefahr, die unter ihm lauerte. Er empfand die Hektik, die in der Stahlfestung war. Er dachte an sein Volk, an die Überschweren, für die er immer ein Fremder geblieben war, wenn auch keiner den Mut hatte, es auszusprechen. Ein Wunder geschah. Leticron hatte keine Ahnung, warum es
so war. Jemand kam zu ihm, zu der Säule. Er versuchte, Kontakt mit ihm aufzunehmen, aber zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass seine Mutantenfähigkeiten fast vollständig verkümmert waren. In seiner Not produzierte er Kälte und Wärme in rascher Reihenfolge und hoffte, dass der Besucher seine Signale verstehen würde. Der Wechsel von heiß und kalt oder von hell und dunkel war das Notsignal von Paricza. Leticron konnte es nicht erfassen, dass seine Säule pulsierend zu leuchten begann. Es gab niemanden, der es ihm hätte mitteilen können. Er stellte nur fest, dass der Kontakt nicht zustande kam. Die Gefahr aber blieb, und das Bewusstsein wurde ganz ruhig und bereitete sich auf die Erlösung vor, auf das Ende. Wenn die Säule mit dem PEW-Metall zerstört wurde, kam der Tod. Leticron spürte, wie es die Hauptzentrale unter ihm zerriß. Die Hitze der Explosion drang bis zu ihm durch und veränderte die Form des PEW-Brockens leicht. Der Hof der Säulen stürzte ein Stück in die Tiefe, als die Stützen der Zwischenräume ihre Kraft verloren. Die Säule zitterte und bebte. Ruhe folgte. Sie hielt an, und alles war wie früher. Das Schicksal war unerbittlich. Es hatte für Leticron eine lange Zeit der Sühne vorgesehen, und diesmal drohte ihn der Wahnsinn endgültig zu verschlingen. Er verlor jede Kontrolle, und als er nach langer Zeit wieder zu sich fand und sich an seinen Namen erinnerte, da stellte er fest, dass er sich nicht mehr in der Säule aufhielt. Seine Umgebung hatte sich verändert, es war kühler als in dem PEW-Block. Leticron suchte den Weg zurück und fand ihn. Wieder entstand der alte Wunsch vor seinen Augen, mit der Festung verschmelzen zu können. Sein Bewusstsein reagierte nicht mehr darauf. Es entwickelte keine Euphorie, und es registrierte nüchtern, dass sich durch die Verschiebungen innerhalb der Anlage Möglichkeiten für ihn ergaben, Teile der zerstörten Festung zu durchstreifen und sie zu seinem Eigentum zu machen. Beinahe liebevoll erkundete er alle Möglichkeiten und ergründete, welche Ähnlichkeit das durchlässige Metall mit dem PEW hatte. Warum hatte er
vor seinem körperlichen Tod nichts davon gewusst? Es fiel ihm unsagbar schwer, an jene ferne Zeit zurückzudenken. Er hatte sie verdrängt, er war ein anderer geworden. Er lehnte sich gegen den Gedanken auf, einmal ein Überschwerer und Mensch gewesen zu sein. Leticron wurde zum stummen Wächter der Trümmerfestung. Die Beweglichkeit gab ihm neuen Lebensmut, und er wechselte regelmä ßig seinen Aufenthalt. Sein Bewusstsein strömte hierhin und dorthin und nahm den zugänglichen Bereich völlig für sich ein. Die Energieanlagen waren längst tot,’ und dennoch lebte die Festung. Und das Bewusstsein war nicht länger Leticron. Es bezeichnete sich als Stahlwächter, dessen Aufgabe es war, die Trümmer zu bewahren. Ob Jahrhunderte vergingen oder Jahrtausende, es war ihm egal. Bestimmt gab es niemanden mehr in der Milchstraße, der sich an seinen Namen erinnerte. Eines Tages stellte der Stahlwächter fest, dass es lebendig wurde, um die Festung. Maschinen und Lebewesen kamen, und sie begannen damit, die Festung zu verändern. Wieder ging es für ihn ums Überleben. Wieder wehrte er sich gegen das bevorstehende Ende. Sein Bewusstsein kämpfte verzweifelt um eine Lösung. Er musste ihnen zeigen, dass er da war. Er musste verhindern, dass sie ihn unwissentlich töteten. Vorsichtig begann der Stahlwächter seine Maßnahmen zu treffen. Er tat es umsichtig, denn er wollte kein Lebewesen verletzen. Äußerst behutsam fing er in den Außenbezirken seiner erreichbaren Welt zu spuken an.
3. Die Zeit verstrich. Raoul Ginver wurde immer betrübter. Schließlich ließ er die Säule los und starrte sie an. Er wollte es nicht glauben.
Eine Weile bewegte er sich unschlüssig um sie herum. Wieder legte er die Hände auf das Metall. »Rettung ist da!« dachte er intensiv. »Hier ist Raoul Ginver! Leticron, melde dich!« Noch immer geschah nichts. Längst waren Stunden verstrichen, und – der Sternentramp klammerte sich an den Gedanken, dass die Gerüchte die Wahrheit beinhalteten. Leticron musste in der Säule stecken. Das Warten war vergebens. Das Bewusstsein schien nicht mehr zu existieren. Niedergeschlagen kehrte Raoul Ginver zu der Antigravscheibe zurück. Er legte sich darauf und streckte die Hand nach dem Aktivierungsknopf aus. Er war einem üblen Scherz aufgesessen, und die spöttischen Worte, die Pembroke über Leticron verloren hatte, trafen ihn nun doppelt tief. In diesem Augenblick entdeckte der Sternentramp die Veränderung. Er riss die ausgestreckte Hand zurück und verließ so impulsiv die Scheibe, dass er sich mehrmals überschlug und dicht über dem Boden davon trieb. Er kam am Boden auf und stützte sich mit Armen und Beinen ab. Der Schwung hatte ihn fast in eines der Löcher getragen, die wie Mundöffnungen aussahen. Leticrons Säule erwachte zum Leben. Sie begann zu glühen und erzeugte Blinksignale, abwechselnd hell-dunkel, hell-dunkel. Vorsichtig trat Ginver heran. Er berührte die Säule. Er spürte durch die Handschuhe hindurch die Wärme, die sie jetzt besaß. Er konzentrierte sich auf seine empathischen Fähigkeiten. Jetzt entdeckte er es. Es war ein Bewusstsein vorhanden, das langsam nach unten in die Festung verschwand. Das Leuchten sackte ebenfalls abwärts. Voller Glücksgefühl löste Ginver die Hände von der Säule. Er war da. Es gab ihn also doch. Er lebte in der Säule und darunter in der Station. Der Sternentramp holte einen Handstrahler von der Scheibe und leuchtete in das nächstbeste Loch hinein. Er sah bizarre Konstruktionen, die sich als Überreste von Maschinen und Einrich-
tungen entpuppten. Auch einen Korridor entdeckte er, und zu ihm ließ er sich hina b sinken. Federnd kam er auf und orientierte sich. In einigem Abstand erkannte er eine Öffnung, deren Rand zackig ausgerissen war. Sie erinnerte ihn an eine Tür, und er bewegte sich darauf zu. Augenblicke später wusste er, dass er in der zerstörten Hauptzentrale der Stahlfestung stand. Er ließ den Lichtstrahl wandern. Von den Aggregaten und Konsolen war nicht mehr viel übrig. Kleine Berge geschmolzenen Metalls bedeckten den Boden, der sich wie die erstarrte Oberfläche eines Meeres wellte. Raoul Ginver legte den Kopf zurück. Über ihm zog sich ein breiter Riss durch die Decke. Der Strahl der Lampe enthüllte den Untergrund der Säule. Mehrere Metallträger ragten aus dem Riss und endeten in einer Seitenwand, wo sie sich in andere Metallteile der Konstruktion gebohrt hatten. Einer dieser Träger blinkte dunkelrot, und Ginver eilte auf ihn zu, so rasch es die geringe Schwerkraft erlaubte. Er umklammerte den Träger und suchte erneut den Kontakt. Diesmal empfand er die Anwesenheit des anderen Bewusstseins deutlicher. »Leticron«, dachte er. »Du warst ein Mutant, wie man sagt. Wenn es dir möglich ist, meine Gedanken zu empfangen, dann bestätige es durch eine Veränderung deiner Blinkzeichen. Kennst du die terranischen Notrufsignale?« Eine schwere Explosion erschütterte die Festung. Ginver erkannte sie am Zittern des Bodens. Alles um ihn herum wackelte, und einer der Träger, die aus der Decke ragten, rutschte mit dem unteren Ende über den welligen Boden und löste sich aus seiner ursprünglichen Verankerung. Er krachte zu Boden und begrub einen Teil der Metallklumpen unter sich. Der Sternentramp begann zu schwitzen. Langsam begriff er, dass es kein Zuckerschlecken war, Leticron hier heil herauszubringen. Noch immer bestand kein direkter Kontakt zwischen ihm und dem Bewusstsein. Das Blinken an dem Träger wurde zudem schwächer, und die Wärme wich aus ihm.
Stimmen in seinen Helmlautsprechern belehrten ihn gleichzeitig, dass sich Männer einer Kolonne näherten. Die starke Metallkonzentration hatte bisher verhindert, dass er sie wahrgenommen hatte. Es fiel ihm ein, dass er sich unerlaubt von seinem Trupp entfernt hatte. Fast gleichzeitig mit diesem Gedanken schlug in seiner unmittelbaren Nähe ein Energiestrahl ein. Raoul Ginver fuhr herum. »Es besteht kein Zweifel, dass eine unbekannte Kraft versucht, uns von der Festung fernzuhalten«, klang die Stimme Mirza Carmans auf. »Wir müssen uns darauf einstellen!« »Was sollen wir tun?« Walter Pembrokes Stimme hörte sich schrill an. In seiner Kolonne fehlte ein Mann. Bisher hatten sie keine Spur von ihm gefunden. »Bewaffnet euch bis an die Zähne«, sagte der Chef des Unternehmens. »Ich habe die Waffendepots öffnen lassen. Die Roboter schaffen alles hinab zu euch.« Elverson und seine Männer waren gerettet worden. Dafür hatte es an anderer Stelle Einbrüche gegeben. Menschen waren nicht zu Schaden gekommen, aber fast fünfhundert Roboter waren vernichtet worden. Die Psychologen arbeiteten ohne Pause an der Analyse der seltsamen Vorgänge. Bisher hatten sie keinen Hinweis auf die Art des Gegners erhalten. »Ihr habt freie Bahn«, erklärte Carman. »Findet den Gegner und verjagt ihn. Nehmt Sprengstoff mit, falls ihr euch den Weg in die Hauptzentrale mit Gewalt bahnen müsst. Und bringt mir diesen Ginver, sobald ihr ihn entdeckt habt. Ich habe ein Wörtchen mit ihm zu reden!« Carman unterbrach die Konferenzschaltung, und die Männer warteten auf das Eintreffen der Roboter. Kurz darauf tauchten die metallenen Ungetüme aus dem Schatten des Weltraums auf. Der Einsatz auf Titan bekam völlig andere Dimensionen. Aus einem gewöhnlichen Erkundungs- und Wiederaufbauunternehmen wurde die Konfrontation mit einem gefährlichen Gegner, der die lange Zeit verlassene Station als sein Eigentum betrachte-
te und womöglich auch für das Verschwinden Ginvers verantwortlich war. Vom Flottentender aus wurden ständig Hyperfunksprüche mit Terra gewechselt, wo sie einen Krisenstab gebildet hatten. »Ginver«, murmelte Wa lter Pembroke. »Wo magst du sein? Wie geht es dir?« Er ging davon aus, dass ihm etwas zugestoßen war. Er nahm dem erstbesten Roboter einen schweren Strahler und einen Schutzschirmprojektor ab. Er wartete, bis alle Männer seiner Kolonne sich bewaffnet hatten, dann setzte er seine Scheibe in Bewegung. Die Kolonne erreichte einen der erhaltenen Eingänge in die unterirdischen Anlagen. Alle stiegen ab. Unter Zurücklassung der Scheiben drangen sie in die Festung ein. Irgendwo rumpelte es. Der Boden bebte, aber die nähere Umgebung blieb stabil. Es waren keine Anzeichen eines Angriffs zu erkennen. Die Männer waren vorsichtig. Sie waren die erste Gruppe, die ohne Begleitung von Robotern eindrang. Pembroke gab Anweisung, die Schutzschirme einzuschalten. Er wollte kein Risiko eingehen. An einer Korridorkreuzung stießen sie auf das erste Hindernis. Um sie herum krachten alle Gänge in sich zusammen. Sie waren eingeschlossen und mussten sich mit den Desintegratoren den Weg bahnen. Dreimal erlebten sie einen solchen Zwischenfall, aber jedes Mal wurde niemand verletzt. Der Gegner schien behutsam vorzugehen. Pembroke machte Meldung. »Wir müssten die Hauptzentrale bald erreicht haben«, funkte er zum Tender. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass der Verursacher der Einstürze dort zu suchen war, wo sich früher das Herz der Stahlfestung befunden hatte. Die Abwehraktionen des Gegners zogen sich annähernd kreisförmig um sie herum, wobei der Radius mit fortschreitendem Vordringen der Kolonnen immer kleiner wurde. »Ich muss wissen, wer der Unbekannte ist«, erwiderte Carman. Walter Pembroke verzog den Mund. Sie würden sich Mühe ge-
ben, das Problem schnell zu lösen. Mit Sicherheit waren es keine Geister, die in den Anlagen spukten. Kurz darauf entdeckten sie den Eingang zur Zentrale. Sie sahen eine Gestalt, die dort hantierte, und Pembroke gab einen Warnschuss ab, bevor er an der Spitze seiner Männer voranstürmte. »Keine Bewegung!« schrie er in Terranisch und Interkosmo. Abrupt blieb er stehen. »Ginver!« stieß er hervor. »So ist das also. Du steckst dahinter oder arbeitest zumindest mit dem Gegner zusammen. Deshalb bist du verschwunden!« »Rede keinen Unsinn!« rief der Sternentramp laut. »Hast du keine Augen im Kopf? Meine Vermutungen haben sich bestätigt. Da!« Walter Pembroke runzelte die Stirn. Er betrachtete den Stahlträger und suchte den Raum ab. »Was ist das?« wollte er wissen. »Eine fremdartige Erscheinungsform?« Er glaubte jetzt zu wissen, dass def leuchtende Träger ein Teil dessen war, was sie die ganze Zeit bei ihrer Arbeit behindert hatte. Sie mussten es eliminieren. »Das Bewusstsein Leticrons!« sagte Ginver eindringlich. »Es existiert in dieser Säule!« Pembroke und seine Begleiter brachen in schallendes Gelächter aus. »So ein Schwachsinn«, behauptete er. »Wer hat dir den Bären aufgebunden?« »Niemand. Es ist die Wahrheit«, erwiderte Ginver hart. »Dafür haben wir keine Zeit. Wir haben eine Aufgabe, und dich will Mirza Carman sehen. Komm mit!« Er trat auf hin zu und fasste ihn am Arm. Gleichzeitig gab er seinen Begleitern einen Wink, sich um den Träger zu kümmern. »Was habt ihr vor?« schrie Ginver. Er warf sich auf den Träger und suchte den Kontakt. »Wir werden das Übel an der Wurzel packen«, knurrte Pembroke. Er erkannte den Gegner nicht als intelligentes Wesen, sondern höchstens als eine unbegreifliche Laune der Natur. Danach
richtete er sein Vorgehen ein. Vor allem musste er Ginver entfernen, der sich einbildete, hier die Erfüllung seines Wahns zu finden. Mehrere Männer zerrten an dem Sternentramp, der Schwierigkeiten machte. »Flieh hinauf in die Säule«, dachte er intensiv. »Nur so kannst du dich retten. Sie werden den Träger zerstören!« Damit wurde wahrscheinlich die einzige Verbindung Leticrons zur Festung unterbrochen. Viele Hände rissen an ihm und zerrten ihn davon. Aus den Augenwinkeln sah Ginver, wie der Träger grell aufleuchtete. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. SOS. Das terranische Notsignal. Leticron hatte seine Gedanken empfangen. Dann erlosch der Träger abrupt. Ginver sah, wie Walter Pembroke seine Waffe hob und sie auslöste.
4. Von dem Augenblick an, als der Stahlwächter die Annäherung eines Bewusstseins registrierte, kämpfte er an zwei Fronten. Er musste versuchen, Kontakt zu dem Fremden zu erhalten und gleichzeitig sein Bemühen verstärken, die Eindringlinge aus der Festung zu verscheuchen. Bisher hatte er lediglich Maschinen angegriffen oder Stoßtrupps eingeschlossen. Er hatte den Eindruck, dass seine Maßnahmen die Neugier der Fremden nur noch anstachelten, und das ließ ihn ein wenig hoffen. Er kannte nur zwei Völker, die so verbissen an eine Sache herangingen. Sie waren Teile seiner Erinnerung, obwohl er sich keinem der beiden Völker zugehörig fühlte. Terraner oder Überschwere. Der Stahlwächter überlegte. Vielleicht war es in beiden Fällen günstiger, zu verhandeln. Sie mussten einsehen, dass die Stahlfestung ihm gehörte, dass sie sein Lebensinhalt war. Einer Veränderung würde er nur dann zustimmen, wenn dadurch sein
Lebensraum nicht eingeschränkt oder weiter ausgebaut würde. Er suchte den Kontakt. Wieder schuf er Hitze und Kälte, ohne zu wissen, ob er sich damit bemerkbar machen konnte. Die Gedanken kamen. Er verstand sie nicht, aber sie waren da. Ein winziger Schauer von fremdem Bewusstsein trat in sein gestaltloses Leben ein. »Wer bist du?« schrie das Bewusstsein des Stahlwächters. »Kannst du deutlicher denken? Und kannst du mich empfangen, meine Gedanken und Wünsche?« Da war nur dieses ungewisse Raunen, das ihn verunsicherte und beinahe rasend machte, weil er es nicht verstand. In der aufsteigenden Panik erinnerte er sich daran, dass jenes Trägermaterial in der Hauptzentrale durchlässiger war als der PEW-Block in der Säule. Er bewegte sich langsam nach unten und versuchte, dem anwesenden Bewusstsein Signale zu geben und ihm die Richtung anzuzeigen. Wer war es, und was wollte es? Eine bange Zeit des Wartens verstrich. Der Stahlwächter entfernte sich für kurze Zeit und traf weitere Maßnahmen, die Eindringlinge aufzuhalten. Er ließ einen Teil seiner Wärme in der Hauptzentrale zurück und fand den Ort rasch wieder. Freudiger Schreck durchzuckte ihn. Das fremde Bewusstsein war deutlicher als je zuvor. Es gehörte zweifellos einem Terraner, und dieser versuchte, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. »Ja, ich höre dich«, beantwortete er die Gedanken des Mannes. »Ganz deutlich empfange ich dich. Bist du gekommen, um mir zu helfen?« Die Erkenntnis zog wie ein Schwall eisiger Kälte in sein Bewusstsein ein. Der andere war kein Mutant, er verstand seine Gedanken nicht. Aber er spürte, dass sich etwas in der Säule befand. Er wusste einen Namen, Leticron. »Wer ist Leticron?« dachte der Stahlwächter. »Kannst du es mir sagen?« Der Terraner erkannte seine Gedanken noch immer nicht, aber er dachte etwas, was den Stahlwächter erschreckte. Er raste in
dem Träger hin und her, ohne recht zu wissen, warum. »Ich soll Leticron sein? Niemals!« Der Terraner forderte ihn auf, seinen Hitze-Kälte-Rhythmus zu verändern, und zum ersten Mal erfuhr der Stahlwächter, dass er damit Blinkzeichen produzierte, die auf der Außenseite des Metallträgers oder der Säule im Hof sichtbar waren. Es trat ein Ereignis ein, mit dem der Stahlwächter in dieser Phase nicht gerechnet hatte. Es gab eine schwere Explosion wie in ferner Vergangenheit. Ein beträchtlicher Teil seiner Ausdehnungsmöglichkeiten wurde abgeschnitten, und durch einen Korridor drangen weitere Terraner in die Hauptzentrale vor. Der Stahlwächter kam zur Ruhe. Wie gelähmt verfolgte er den Vorgang. Er wollte die Eindringlinge abwehren, aber dann hätte er die einzige Verbindung in die Festung zerstören müssen. Er war zu lange unaufmerksam gewesen und hatte nur Gedanken für den Kontakt gehabt. Er wurde erregt, und die Gedanken seines Kontaktmanns ließen ihn in Panik verfallen. Von einem Augenblick auf den anderen ging es um sein Leben. »Terraner!« schrien seine Gedanken. Der Kontakt war unterbrochen, und der Stahlwächter schickte sein Bewusstsein auf die Suche. Dann war der Kontakt plötzlich wieder da. Die Gedanken des Mannes waren wirr und überschlugen sich. Sie forderten ihn zur Flucht auf und teilten ihm mit, was draußen vorging. Der Stahlwächter sah keine Ausweichmöglichkeit mehr. Er begriff, dass ihm keine Zeit mehr blieb. Er floh in den PEW-Block empor, und fast gleichzeitig wurde der Träger zerstört und löste sich völlig aus der Decke. Der Kontakt zwischen der Festung und der Säule brach ab. Das Bewusstsein des Stahlwächters saß in der Säule gefangen, und es erinnerte sich an alte Zeiten, in denen es ebenso gewesen war. Mit den Gedanken daran verband sich ein ganz bestimmter Name, den auch der Terraner genannt hatte. Der Stahlwächter konnte nichts da mit anfangen.
Leticron. Hatte es vor ihm einmal einen Gefangenen in der Säule gegeben, der diesen Namen getragen hatte?
5. Es stand Mirza Carman im Gesicht geschrieben, dass er ihm kein Wort glaubte. Der Terraner ging ein paarmal um ihn herum, dann gab er den beiden Wachtposten einen Wink. »Durchsucht ihn«, ordnete er an. Er wandte sich wieder an den Sternentramp. »Ich werde Tifflor Meldung machen müssen«, fuhr er fort. »Es sind im Zusammenhang mit dir zu viele Ungereimtheiten aufgetaucht. Schon dein plötzliches Erscheinen im Tender hat mich stutzig gemacht. Und du wirst mir zustimmen, dass dein weiteres Vorgehen nicht gerade nach harmlosen Absichten aussah!« »Es ist, wie ich es sagte«, wiederholte Raoul Ginver. »Ich bin wegen des Gerüchts hergekommen. Leticron existiert in dieser Säule, und ich will ihn befreien.« »Aber du hast keine Möglichkeit, Leticrons Existenz zu beweisen!« »Ich bin ein latenter Empath. Ich spüre die Anwesenheit eines Bewusstseins darin. Es hat mir geantwortet, also ist es Leticron!« Die beiden Wachtposten hatten die Untersuchung seiner Kombination beendet. Den Raumanzug hatte er bereits nach der Ankunft im Tender abgelegt. Sie reichten Carman das wenige, das sie gefunden hatten. »Was ist das?« Er hielt eine winzige Karte empor. Ginver schluckte. Mirza Carman ahnte etwas, denn er legte die Karte auf den Leseschirm des Computers und schaltete ihn ein. Fast augenblicklich war das Ergebnis da. »Identitätskarte eines Multicyborgs!« teilte er mit. Carmans Hand zitterte leicht, als er die Karte aufnahm und sie Ginver anklagend entgegenstreckte.
»Von wegen Spuk und Leticron«, lachte er auf. »Da ist etwas anderes im Gang, und ich wette, dass es sich um etwas Ungesetzliches handelt.« Er winkte dem Funker, der sofort eine Verbindung nach Terra herstellte. Multicyborgs oder Mucys gab es keine mehr. In den Zeiten des NEI war mit ihnen experimentiert worden. Sie hatten damals eigenes Bewusstsein entwickelt, und man hatte die Versuche eingestellt. Von den Prototypen und den ersten Serien gab es keine Überlebenden mehr. Mirza Carman dachte, dass er einer großen Schweinerei auf der Spur war. Wenn an Ginvers Aussagen etwas stimmte, dann höchstens, dass die Überschweren ihre Finger im Spiel hatten. »Sperrt ihn in eine der Zellen«, sagte er und beobachtete, wie sie Ginver ergriffen. Der Sternentramp riss sich los und war mit zwei, drei Sätzen an der Funkanlage und stieß den Funker zur Seite. Der Hyperfunk war in Betrieb, die Verbindung stand. »Schnell!« schrie Ginver. »Gucky sofort nach Titan. Es geht um Leticrons Exi…« Er hörte das helle Singen hinter seinem Rücken. Er wurde von der Paralyseladung voll erwischt und kippte steif zu Boden. Er hörte noch, wie Tifflor eine Frage stellte und Mirza Carman antwortete. »Ein Verrückter«, sagte der Chef des Tenders. »Er lebt in Wahnvorstellungen oder will von anderen Machenschaften ablenken. Gucky soll bleiben, wo er ist. Was es mit dem Mucy auf sich hat, finden wir später heraus!« Ginver konnte sich nicht rühren, nur ein wenig die Augen bewegen. Das, begriff er mit schmerzhafter Intensität, war das Ende einer Legende. Leticrons Ende. Er schloss die Augen und ließ sich hinaustragen. Sie schafften ihn in eine Zelle, wo ihn bald darauf die wohlige Wärme der Bewusstlosigkeit umfing. Das erste, was er registrierte, war ein vergnügtes Trällern. Jemand stieß ihn in die Seite, und er schlug schmerzgepeinigt die
Augen auf. »Na komm schon. Spiel hier nicht den müden Mann«, hörte er eine helle Stimme. Er starrte in ein bepelztes Gesicht, aus dem ein langer Nagezahn ragte. Zwei runde Augen blitzten ihn schalkhaft an. Gleichzeitig fühlte er sich von einer unsichtbaren Kraft von der Liege gehoben und auf die Füße gestellt. Die Lähmung wich von ihm, und er öffnete den Mund. »Gucky«, ächzte er. »Du bist also doch gekommen!« »Ja. Und es wird Zeit, deine Gedanken ein wenig einzupendeln. Was hat es mit dem Hinweis auf Leticron auf sich?« Raoul Ginver rieb die schmerzenden Gliedmaßen. Augenblicklich war ihm alles gegenwärtig, was sich abgespielt hatte. Gleichzeitig erkannte es auch der Ilt, der in seinen Gedanken las. Seine Augen wurden immer größer, und er stieß einen spitzen Schrei aus. »Wie lange bin ich gelegen?« fragte Ginver. Bestimmt war es zu spät, Leticron zu retten. Er musste Mirza Carman zur Rechenschaft ziehen. Der Sternentramp erhielt keine Antwort. Er sah zu, wie Guckys Helm von Geisterhand bewegt nach vorn klappte und sich schloss. Fast gleichzeitig löste sich seine Gestalt auf. Der Mausbiber entmaterialisierte. Schwer atmend ließ sich Raoul Ginver auf die Liege zurücksinken. Bange Minuten des Wartens vergingen. Als Gucky zurückkehrte, warf er ihm einen Raumanzug zu. »Carman ist aus dem Häuschen«, berichtete er. »Ich habe seine Kolonnen nach Hause geschickt und ihnen verboten, sich dem Hof der Säulen nochmals zu nähern. Sie waren gerade dabei, die Säule aus dem Untergrund zu lösen.« Ginver zog umständlich den Anzug an. Noch hatte er die volle Bewegungsfreiheit nicht zurückerlangt. »Existiert Leticron noch?« fragte er. Der Mausbiber nickte. »Er hält sich für den Stahlwächter und kann sich nicht an seine frühere Existenz erinnern. Ich werde ihm eine Schocktherapie verabreichen müssen!«
Ginver schloss Anzug und Helm. Gucky griff nach ihm, und einen Augenblick später standen sie vor der Säule. Mehrere Scheinwerfer strahlten sie an. Ihr Licht war schwach und dunkelrot. Der Sternentramp konzentrierte sich und spürte die Not, in der sich Leticron befand. »Er kämpft um sein Überleben«, flüsterte er. »Ja«, erklärte Gucky. Der Teil seines Raumanzugs, in dem sich der Schwanz befand, bewegte sich unruhig. »Halte dich bereit und konzentriere dich auf die Aufnahmebereitschaft deines PEW-Anhängers!« Raoul Ginver zuckte zusammen. Es bereitete ihm Sorgen, dass Gucky über alle seine Gedanken und Absichten Bescheid wusste. Er konnte nur hoffen, dass der Mausbiber so etwas wie Diskretion kannte. Gucky ließ ihn an dem teilhaben, was sich abspielte. Er gab ihm akustisch weiter, was er mit Telepathie erreichte. »Hallo Leticron!« dachte der Mausbiber. »Wie geht es dir. Hier ist Hotrenor-Taak. Erinnerst du dich an mich?« Die Säule leuchtete hellrot auf. Wie eine Stichflamme raste das Licht empor. Raoul Ginver spürte die geistigen Wogen, die Leticrons Bewusstsein empor warfen. »Ich bin der Stahlwächter«, seufzte es. »Ich war es immer.« »Hier ist Hotrenor-Taak, der deine Lanze unbrauchbar machte, damit du unterliegen musstest«, dachte Gucky weiter. »Du hast dich mit deinem Bewusstsein in diese lächerliche Säule gerettet!« Das Bewusstsein Leticrons geriet durcheinander. Für kurze Zeit verlor es völlig den Bezug zur Wirklichkeit, und die Phasen des Wahnsinns, die es einmal durchgemacht hatte, liefen mit tausendfa cher Geschwindigkeit ab. Gucky verhielt sich jetzt ganz still, aber er machte dem Sternentramp klar, dass er das Bewusstsein beeinflusste und in eine bestimmte Richtung lenkte. Etwa eine Stunde dauerte es, bis die blockierte Erinnerung zurückkehrte. »Ja, ich bin Leticron«, teilte das Bewusstsein mit. »Bist du wirklich Hotrenor-Taak?«
Gucky berichtete die Wahrheit und alles, was sich ereignet hatte. »Vierundsiebzig Jahre sind eine lange Zeit«, stellte er fest. »Du wärest längst eines natürlichen Todes gestorben. Es wäre besser gewesen. So bist du ewig gefangen. Aber ich stelle dich vor die Wahl. Hier steht jemand, der dir etwas sagen will. Betrachte es so, als sei er gekommen, dich zu befreien. Dein Leben hat er bereits gerettet!« Der Mausbiber reichte dem Sternentramp die Hand. »Nütze die Gelegenheit«, sagte er. »Carman ist informiert. Er wird dich nicht behindern. Und auf meine Verschwiegenheit kannst du zählen. Es wird niemand erfahren, dass Leticron weiterexistiert. Grüße Garumar von mir!« Der Mausbiber verschwand, und Ginver blickte sich blinzend um. Es war kein Traum gewesen. Gucky hatte ihn hierhergebracht und Leticrons Erinnerung zurückgeholt. Der Sternentramp trat an die Säule, die leuchtete und blinkte. Helldunkel, hell-dunkel. Leticron wollte etwas sagen, etwas mitteilen. Ich verstehe deine Gedanken nicht, dachte Ginver, während er sich bückte und den Sockel der Säule berührte. Aber ich bin sicher, du kannst mich jetzt empfangen. Wenn du dein Gefängnis verlassen willst, dann wechsle in das kleine PEW-Stück über, das ich auf meiner Brust trage. Es ist nicht groß, aber für den Transport reicht es. Du wirst ein größeres Stück erhalten, wenn wir auf Paricza angekommen sind. Entscheide dich also, Leticron! Das Leuchten der Säule erlosch nach und nach. Nur ein winziger Lichtpunkt im Sockel blieb übrig, und Raoul Ginver brachte den Schmuckanhänger unter seinem Raumanzug so nahe wie möglich heran. Der Lichtpunkt versiegte und starb. Ginver spürte, wie es auf seiner Brust warm wurde. Er bildete sich ein, das rote Leuchten sogar durch den Anzug hindurch zu sehen. »Du bist angekommen?« fragte er. »Du bist da?« Raoul Ginver schritt zu seiner Antigravscheibe hinüber, die sie
noch nicht abtransportiert hatten. Er fühlte sich leicht und beschwingt und zog die Scheibe hoch über den Boden Titans hinauf. Es war ihm gelungen, den ersten und wichtigsten Teil seines Auftrags auszuführen. Leticron war unterwegs.
6. Mit dem Zeitpunkt des Schocks war Leticrons Erinnerungsvermögen vollständig zurückgekehrt. Er verstand plötzlich, dass sein Bewusstsein zu irgendeinem Zeitpunkt die verbrecherische Vergangenheit verdrängt und damit sein Überleben sichergestellt hatte. Jetzt war alles wieder gegenwärtig und bedrückte und belastete ihn. Er war der Schinder der Milchstraßenvölker, und der Ilt gehörte ebenfalls zu seinen Erinnerungen wie alles andere. Er war wieder in der Wirklichkeit angekommen. Auch der Kontakt zu dem Terraner Ginver war wieder da. Der Mann war gekommen, um ihn abzuholen. Leticron zögerte nur kurz, bevor er in den PEW-Brocken auf der Brust des Sternentramps überwechselte. Er verstand, welche Mission der empathisch veranlagte Mensch erfüllen wollte. Ginver brachte ihn nach Paricza, und die Rückkehr in die Heimat erfüllte Leticron mit Traurigkeit, weil er daran dachte, wie er vor langer Zeit durch Mord und Vernichtung an die Macht gekommen war. Die vierundsiebzig Jahre, die er dafür in der Stahlfestung verbracht hatte, waren nur eine kleine Strafe dafür. Aber die Wege des Schicksals waren seltsam. Überschwere erwarteten ihn, und sie veranlassten, dass er aus dem Schmuckanhänger in einen größeren Brocken überwechselte, der sich im Innern eines halborganischen Körpers befand. Er spürte Strömungen auf sich einwirken und wurde plötzlich sehend, weil eine Maschinerie anlief, die ihm die Wirklichkeit zeigte. Er erlebte mit, wie sein Befreier verabschiedet wurde und ei-
nen hohen Geldbetrag für seine Arbeit erhielt. Er wollte ihm ein paar freundliche Worte zukommen lassen, aber er hatte den ungewohnten Körper noch nicht unter Kontrolle. Erst langsam gewöhnte er sich daran. Er lebte in einem Multicyborg, den er mit seinen Gedankenbefehlen steuerte. Er war der letzte Mucy, der überhaupt existierte. Der künstliche Körper garantierte ihm relative Unsterblichkeit. Verlegen wendete Leticron die kleine Identitätskarte in den Händen, auf der der Name Spurjollan einmagnetisiert war. Es war ein Name, dessen Klang ihn faszinierte. Bewaffnete kamen und holten ihn ab. Sie führten ihn in den Palast, in dem der Corun of Paricza residierte. Garumar ließ ihn in seine privaten Gemächer bringen, wo sie unter sich waren. »Erwarte kein freundliches Willkommen«, sagte der oberste Richter der Pariczaner. »Zu stark hat unser Volk unter deinem Namen gelitten und leidet immer noch. Was du getan hast, kann nicht so schnell ungeschehen gemacht werden. Allerdings warst es du nicht allein. Auch dein Nachfolger Maylpancer trägt einen Teil der Schuld!« »Sage mir, was ich zu tun habe«, sprudelte es aus dem Mund des Multicyborgs. »Ich bin bereit, für meine Taten zu sühnen. Der Zeitraum spielt keine Rolle!« »Oh, unterschätze deine Nachfahren nicht, Leticron!« dröhnte Garumar. »Sie haben noch immer ihren Stolz. Niemand ist bereit, dich an den interstellaren Pranger zu liefern. Wir haben starke Schultern und werden die Last tragen können. Nur uns selbst gegenüber dürfen wir es nicht zulassen, dass du ungestraft bleibst. Du wirst zwei Leben lang in einer der Dschungelfestungen Parpans verbringen und danach die Freiheit erhalten. Dreihundertachtzig Jahre Gefangenschaft sind genug Strafe und Sühne, wenn sie auch die Toten nicht aufwiegen, die du mit eigenen Händen…« Der Corun machte die Geste des Halsumdrehens. »Und du wirst die Zeit dazu nutzen, dich auf dein anschließendes Leben als Spurjollan vorzubereiten!«
Der Mucy verzog das Gesicht zu einem traurigen Lächeln. »Ich unterwerfe mich deinem Urteil, Garumar«, erwiderte er. »Ich werde schlimm daran tragen, denn von meiner inneren Schuld kann mich niemand befreien. Auch ich mich selbst nicht. Das Urteil meines Volkes ist nicht hart genug!« Garumar legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Du lebtest in einer anderen Zeit. Deshalb verstehst du es nicht. Warst du nicht bereits eine Ewigkeit in der Säule gefangen? Die Wege des Schicksals sind unergründlich. Leticron!« Der Multicyborg verbeugte sich und wandte sich dem Ausgang zu. »Es ist gut. Ich werde alles akzeptieren, wie es ist. Eine Gefahr, dass ich wie früher werden könnte, besteht nicht!« »Gucky hat uns eine Nachricht gesandt«, stimmte Garumar zu. »Du hast inzwischen alle deine Mutantenfähigkeiten verloren. Du bist nicht mehr wie früher.« »Ja«, nickte Spurjollan. »Leticron ist tot!« Er öffnete die Tür und schritt hinaus, wo ihn die Wächter in Empfang nahmen, um ihn abzutransportieren.