-1-
Perry Rhodan Jubiläumsband zur Gesamtauflage von 800 Millionen Exemplaren
Alle Rechte vorbehalten Copyright © 198...
44 downloads
1034 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
-1-
Perry Rhodan Jubiläumsband zur Gesamtauflage von 800 Millionen Exemplaren
Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1983 by Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt Redaktion und Bearbeitung: G. M. Schelwokat Titelillustration: J. Bruck Verkaufspreis inkl. gesetzt. Mehrwertsteuer Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Kantiran 05/2010 Salzburg, Niederalm 300, A-5081 Anif Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-8118-7091-2
-2-
Inhalt VORBEMERKUNGEN ....................................................................4 Kurt Mahr
DER VERRÄTER ..........................................................................6 Marianne Sydow
TADJMALISCHE ERDBEEREN ......................................................49 William Voltz
DIE BEISETZUNG DER GROßEN POSBI-MUTTER ...........................86 Horst Hoffmann
RENDEVOUS DER TOTEN .........................................................121 Clark Darlton
DIE TREPPE INS NICHTS ..........................................................161 Peter Griese
SCHENK MIR EINEN MOND .......................................................194 Ernst Vlcek
NIE WIEDER EINSAM ................................................................229 H. G. Francis
SPEKULANTEN ........................................................................265 H. G. Ewers
VOLKSZÄHLUNG 384 ...............................................................293 Detlev G. Winter
BLÄTTER IM WIND ...................................................................330
-3-
VORBEMERKUNGEN Zum vierten Mal in schöner Regelmäßigkeit legen wir Ihnen hier und heute wieder einen PERRY-RHODAN-Jubiläumsband vor. Diesjähriger Anlaß ist die deutschsprachige Gesamtauflage von insgesamt 800 Millionen Exemplaren der größten Weltraumserie. Eingeschlossen in diese runde neunstellige Zahl sind natürlich nicht nur die Hefte der fünf Auflagen, sondern auch die drei Taschenbuchauflagen, die Buchausgaben, das leider nur recht kurzlebige Magazin und ein paar andere kleinere Objekte, wie z.B. dieser Jubiläumsband. Die Weltauflage von PERRY RHODAN ist noch nicht genau ermittelt worden. Zum einen liegt uns gegenwärtig kein präzises Zahlenmaterial vor, zum zweiten wollen wir uns die Option für einen baldigen Jubiläumsband mit einer weiteren neunstelligen oder gar zehnstelligen Zahl offenhalten. Doch genug des Zahlenspiels! Eifrige Perry-Rhodan-Leser wie Sie sind schließlich daran gewöhnt, Ihre Gedanken über kosmische Entfernungen schweifen zu lassen, die in Parsec, Lichtjahren oder gar Lichtjahrmillionen gemessen werden, und daher auch nicht so leicht durch Zahlenangaben oben erwähnter Größenordnung zu beeindrucken. Wenden wir uns lieber dem zu, was Sie im vorliegenden ›Dankeschön-Band‹ erwartet. Zehn Stammautoren und Neulinge des Perry-Rhodan-Teams (im internen PR-Sprachgebrauch zählt übrigens jeder zu den ›Neulingen‹, der nicht seit mindestens zehn Jahren mitschreibt!) haben sich voller Engagement an die gestellte Aufgabe gemacht, Ihnen wiederum ein buntes Spektrum all dessen zu liefern, was als PR-spezifisch angesehen werden kann. Der chronologische Reigen von Episoden aus der kosmischen Weite des Perry-Rhodan-Milieus beginnt im 21. Jahrhundert in -4-
unserer Milchstraße mit Kurt Mahrs Story DER VERRÄTER und endet im Jahr 426 NGZ in der Galaxis M82 mit der Erzählung BLÄTTER IM WIND von Detlev G. Winter, einem sogenannten ›Neuling‹, der allerdings seit fünfzehn Jahren zur ersten Garnitur der PR-Kenner zugerechnet werden darf. Eingedenk des vorwiegend positiven Leserechos auf den letztjährigen Jubiläumsband weisen auch diesmal einige Stories eine ausgesprochen heitere Grundtendenz auf. William Voltz mit seiner Erzählung DIE BEISETZUNG DER GROSSEN POSBI-MUTTER schießt in dieser Beziehung den Vogel ab, so meinen wir. Trotz empörter Reaktionen von Seiten einiger Leser, die offenbar ihren PERRY nur immer bierernst und bieder haben wollen und daher DIE ÜBERLISTUNG DES PARANORMALEN STEHGEIGERS im vorangegangenen Jubiläumsband in Grund und Boden verdammten, kann er es nicht lassen, wieder mit einer Story aufzuwarten, die eindeutig groteske Züge trägt. (Schließlich kommt es nicht alle Tage vor, daß ein Admiral der Solaren Flotte, angetan mit einer halbfertigen Paradeuniform, an der ein Team siganesischer Schneider fieberhaft nadelt, in den Einsatz geht.) Wie auch immer! Wir hoffen, Sie haben Freude an dem, was in PERRY RHODAN weiterhin geboten wird, auf daß wir auch im nächsten Jahr ein neues Jubiläum begehen können. Günter M. Schelwokat Scanned by Kantiran K-gelesen by Thora for Morebookz V2.1, 05/2010
-5-
Kurt Mahr
DER VERRÄTER Es mag sich mancher schon gewundert haben, warum Julian Tifflor, der als Zwanzigjähriger im Jahr 1981 eine vielversprechende Karriere in der terranischen Flotte begann, es im Jahre 2040, also als Neunundsiebzigjähriger, erst bis zum Obersten gebracht hatte. Gewiß, er hatte inzwischen längst eine Zelldusche bekommen, wodurch sein Alterungsprozeß arretiert worden war. Aber Kuren dieser Art sind dazu da, die Jugend zu erhalten - nicht, den beruflichen Aufstieg zu verlangsamen. Das Argument: »Der sieht so jung aus; warum sollte er mehr als Oberst sein?« entbehrt der logischen Grundlage. Der folgende Bericht mag dazu dienen, Julian Tifflors Schicksal während der Epoche der Vereinten Erde und der frühen Jahre des Solaren Imperiums zu verdeutlichen. Man erinnert sich: Terra war damals damit beschäftigt, ihre galaktische Position vor Springern, Aras, Arkoniden und sonstigen Expansionslustigen geheimzuhalten und in der Verborgenheit ein ausreichendes Maß an Stärke und Rückhalt zu schaffen. Erst wenn dieses Ziel erreicht war, wollte die Erde aus der Obskurität hervortreten, sich der galaktischen Öffentlichkeit vorstellen und ihren Anspruch geltend machen, daß sie im Konzert der Milchstraßenvölker ein wichtiges Instrument zu spielen gedenke. Sich hinter einem Satz geheimgehaltener Koordinaten zu verstecken, war nur ein Teil der terranischen Taktik. Der andere Teil befaßte sich damit, dem potentiellen Gegner genau auf die Finger zu schauen. Im Jahr 1992 kreuzte am Rand der galaktischen Scheibe, im Sektor Herkules, dem Kugelsternhaufen M13 unmittelbar gegenüber, der Aufklärer KIMBRIA und widmete sich dem Auftrag, arkonidische Flottenbewegungen zu beobachten. Die KIMBRIA stand unter dem Befehl von Colonel Ciryl. -6-
Ciryls Erster Offizier war Major Julian Tifflor. Die KIMBRIA wurde in ein Gefecht mit den Raumschiffen eines arkonidischen Kolonialvolks verwickelt und dabei erheblich beschädigt. Es gelang Colonel Ciryl, sich vom Gegner zu lösen und unverfolgt zu verschwinden. Aber an eine Rückkehr nach Terra war vorläufig nicht zu denken. Die KIMBRIA bedurfte langwieriger Reparaturen. Auch mit Hilfe von der Erde konnte nicht gerechnet werden. Die Operationen im Sektor Herkules wurden unter dem Mantel tiefster Verschwiegenheit abgewickelt. Funkstille war oberstes Gebot. Auf Terra wußte man nicht einmal, daß die KIMBRIA in Bedrängnis geraten war. Colonel Ciryl steuerte ein Sonnensystem an, das im von den Arkoniden übernommenen Sternkatalog unter dem Namen Metope geführt wurde. Um eine kleine, gelbe Sonne, Spektraltyp G5, kreisten sechs Planeten. Der zweite, von der Sonne aus gerechnet, führte ebenfalls den Namen Metope und wurde von einem Volk arkonidischer Siedler bewohnt, das infolge der langen Trennung von der Mutterzivilisation auf ein Niveau relativer Primitivität zurückgesunken war. Auf Metope landete Colonel Ciryl sein angeschlagenes Schiff - Typ Leichter Kreuzer - und machte sich an die schwierige Aufgabe, es wieder instand zu setzen. Dieses Unternehmen sollte, wie sich herausstellte, mehrere Wochen in Anspruch nehmen; und während dieser Wochen ereignete sich das, was Julian Tifflors Karriere so nachhaltig beeinflußte. Später - viel später! - wurde der nachmalige Solarmarschall oft gebeten, seine Handlungsweise zu erklären. Er reagierte darauf in seiner knappen, zurückhaltenden Art: »Erstens: Um an dem Grundsatz festzuhalten, daß der Wille des einzelnen nicht in allen Fällen dem Willen der Gemeinschaft unterliegt.Zweitens: Um die Diskretion zu wahren.« »Verdammt, da kommen sie schon wieder«, knurrte Vince Rabelow. -7-
Der Blick des jungen Leutnants ging hinaus über die hitzeflimmernde Grasebene, auf der die Umrisse einiger urtümlicher Fahrzeuge zu erkennen waren. Rabelow überwachte die Arbeiten einer Gruppe von Techno-Robotern, die eine halb eingeknickte Landestütze der KIMBRIA reparierten. Es handelte sich um das letzte Reparaturprojekt. Sobald die Stütze wiederhergestellt war, verdiente die KIMBRIA das Attribut ›so gut wie neu‹. Morgen schon würde sie entweder nach Terra starten oder ihre Aufklärungsflüge im Sektor Herkules wiederaufnehmen - je nach dem, wie Colonel Ciryl entschied. Auf seinem Rundgang kam Julian Tifflor just zu dem Augenblick an der Arbeitsgruppe vorbei, als Rabelow seinen verärgerten Ausspruch tat. Tifflor trug, der großen Hitze wegen, eine drastisch reduzierte Version der vom Reglement vorgeschriebenen Uniform: ein offenes Hemd mit kurzen Ärmeln und selbstgetrimmte Hosen im Stil der Bermuda-Shorts. Die Temperatur im Schatten lag bei 36 Grad. »Sie sind eben neugierig«, sagte Tiff und beschattete die Augen mit der Hand, um die langsam heranrumpelnden Fahrzeuge besser sehen zu können. »Okay. Und warum sind sie neugierig?« wollte Vince Rabelow wissen. »Warum interessiert sie der Fortschritt unserer Reparaturarbeiten so sehr, daß sie mindestens einmal am Tag herkommen, um sich danach zu erkundigen?« »Der Patriarch hat uns für den Tag, an dem wir die Arbeiten abschließen, ein großes Fest versprochen«, lächelte Julian Tifflor. »Kannst du dir nicht vorstellen, daß er möglichst früh erfahren will, wann er mit den Vorbereitungen anfangen muß?« »Der häßliche Zwerg«, brummte Rabelow. »Man sollte Metope zur Kolonie der Vereinigten Erde erklären und Ponapillor nach terranischem Recht vor Gericht stellen.« »So weit sind wir noch nicht, Vince«, antwortete Julian Tifflor. »Und jetzt machst du besser ein freundliches Gesicht. -8-
Die Delegation ist längst in Sichtweite.« Die Fahrzeuge waren hochbordige, teilweise mit Planen überdeckte Gefährte, vierrädrig und den Prärie-Schonern des vergangenen Jahrhunderts nicht unähnlich. Sie wurden gezogen von je sechs Tieren, deren äußere Erscheinung den Eindruck erweckte, es müsse den Metopäern gelungen sein, Riesenschweine mit Miniaturelefanten zu kreuzen. Die Tiere stapften schwerfällig einher, und die Wagen schwankten über die Unebenheiten des Graslandes wie Schiffe in schwerer See. Julian Tifflor schritt den Besuchern entgegen. Vince Rabelow folgte ihm - erstens aus Neugierde und zweitens, weil er wußte, daß seine Roboter der Beaufsichtigung nicht wirklich bedurften. Die drei Wagen, so primitiv sie auch sein mochten, waren aufwendig ausgestattet. An den Bordwänden waren zahlreiche bunte Verzierungen angebracht. Das Geschirr der Zugtiere glänzte vor Gold und Silber. Jedes Gefährt wurde von zwei Chauffeuren gesteuert, die auf einer Bank gerade so hoch saßen, daß sie über die Rücken der Miehls hinwegblicken konnten. Über ihnen befand sich eine zweite, mit bunten Polstern ausgestattete Bank, auf der es sich der Fahrgast bequem gemacht hatte - gewöhnlich zusammen mit einer seiner Lieblingsfrauen oder Konkubinen. Der planenüberdachte Rest des Wagens enthielt ein komfortables Wohngemach, in das sich der vornehme Passagier je nach Belieben mit seiner Gefährtin zurückziehen konnte, und ein separates Gelaß, in dem die für die Reise erforderlichen Vorräte aufbewahrt wurden. Topeia, die Hauptstadt des metopäischen Reiches, lag nur zwanzig Kilometer entfernt. Aber Metopes Große sahen in der geringen Distanz keinen Anlaß, auf angemessenen Komfort zu verzichten. Der Metopäer auf dem Polstersitz des vordersten Wagens war Cerotinnar, der Erste Stellvertreter Seiner Ausgeglichenheit, des Patriarchen. Julian Tifflor kannte ihn von mehreren Begegnungen. Cerotinnar war in ganz Metope dafür bekannt, daß er sich -9-
trotz seines Reichtums nur eine einzige Frau hielt und auch für Konkubinen nichts übrig hatte. Jedesmal, wenn Julian Tifflors Blick auf Narna fiel, ging sein Herz ein wenig schneller, und die Innenflächen seiner Hände wurden feucht. Die Natur hatte den Metopäern einen seltsamen Streich gespielt. Im Lauf der Generationen waren die männlichen Wesen immer kleiner geworden. Sie hatten zudem jeglichen Haarwuchs verloren und erschienen den Terranern, als sie mit der KIMBRIA auf Metope landeten, als 140 cm hohe Zwerge mit kugelförmigen Glatzköpfen. Die Frauen dagegen hatten die Anmut der arkonidischen Spezies bewahrt. Sie waren zumeist dunkelhaarig - im Gegensatz zu ihren Cousinen auf Arkon I - aber hochgewachsen und bis ins hohe Alter hinein von einer physischen Attraktivität, die den notgedrungenermaßen an Entsagung gewöhnten Männern der KIMBRIA den Atem verschlagen hatte. So sehr, daß Colonel Ciryl die Stadt Topeia und ihre Vororte kurze Zeit nach der Landung für ›off limits‹ hatte erklären lassen. An Bord der KIMBRIA gab es zahllose Witze, vom Einzeiler bis zur ausgedehnten Anekdote, wie die winzigen Metope-Männer auf erotischem Gebiet mit ihren hochgewachsenen Frauen zurechtkamen. Was dagegen Julian Tifflor fast vom ersten Tag an fasziniert hatte, war die absolute, sklavische Untergebenheit, zu der die männlichen Metopäer ihre Frauen und Konkubinen verdammten. Was er nicht verstand, war, warum die Metopäerinnen sich eine solche Behandlung gefallen ließen. Schließlich waren sie die Gesunden, während ihre männlichen Gegenparte offenbar an einer Art fortschreitender Dekadenz litten. Er hatte keine Zeit, länger über das Problem nachzudenken. Cerotinnars zwei Kutscher hatten die Miehls angehalten. Der Erste Stellvertreter erhob sich zu seiner ganzen Größe von einem -10-
Meter achtunddreißig. Es fiel Julian schwer, sich auf ihn zu konzentrieren. Immer wieder suchte sein Blick Narna, die sich auf dem bunten, weichen Polster räkelte, als sei dieser Ausflug nur unternommen worden, um ihr ein wenig Abwechslung zu verschaffen. In den übrigen zwei Wagen fuhren weitere Stellvertreter seiner Ausgeglichenheit, des Patriarchen. Julian kannte auch sie; aber er konnte sich an ihre Namen im Augenblick nicht mehr erinnern, und er wußte auch nicht, ob sie der Fünfte und der Siebte oder der Sechste und der Achte Stellvertreter waren. »Im Namen seiner Heiteren Ausgeglichenheit«, begann Cerotinnar mit heller, durchdringender Stimme, »erlaube ich mir, zu fragen, wann die Instandsetzungsarbeiten an dem großen Sternenschiff abgeschlossen sein werden.« Die Metopäer sprachen ein durch jahrtausendelange Isolation korrumpiertes Arkonidisch. Die Besatzung hatte es im Lauf der Wochen durch computergestütztes Sprachtraining erlernt. »In zwei Stunden, mein Freund«, antwortete Julian Tifflor freundlich. »In zwei Stunden.« Narna richtete sich auf. Der Blick, den sie ihm zuwarf, brachte seinen Pulsschlag in Trab. Was hatte sie? Was wollte sie? »Es wird den Patriarchen freuen, das zu hören«, verkündete Cerotinnar. »Seit Tagen wartet er bereits darauf, das Fest anberaumen zu können, das er zu Ehren seiner Freunde am Vorabend ihres Abflugs geben will. Du sagst mir, daß die Zeit gekommen ist?« »Das sage ich«, bestätigte Julian. »Das Fest soll heute abend stattfinden?« »Ja, das soll es.« Cerotinnar warf die schmächtigen Ärmchen in die Luft, um seiner Freude Ausdruck zu verleihen. »Gestattet, daß wir euch diese Fahrzeuge überlassen«, rief er, »damit sie euch nach Topeia bringen.« »Ich weiß mir die Ehre zu schätzen, hoher Erster Stellvertre-11-
ter«, antwortete Julian Tifflor diplomatisch. »Aber ich möchte euch eurer Bequemlichkeit nicht berauben. Wir haben, wie du weißt, unsere eigenen Fahrzeuge. Zur Zeit des Sonnenuntergangs finden wir uns vor dem Palast des Patriarchen ein.« »Ich werde es ihm melden«, schrie Cerotinnar begeistert. Dann befahl er den Kutschern, den Wagen zu wenden. Noch ein letzter, lächelnder Blick von Narna, dann waren die schwerfälligen Gefährte wieder auf dem Rückweg nach Topeia. »Auf das Fest bin ich gespannt«, murmelte Vince Rabelow ohne sonderliche Überzeugung. Ich auch, hätte Julian Tifflor um ein Haar gesagt. Im letzten Augenblick unterdrückte er die Bemerkung. Er fragte sich, was Narnas eigenartige Blicke zu bedeuten hatten. »Von mir aus kann er sich sein Fest an den Hut stecken«, erklärte Colonel Ciryl ärgerlich. »Mir liegt nichts daran, mit einem Tyrannen am selben Tisch zu sitzen und auf die Knechtschaft seines Volkes anzustoßen.« Vernon Ciryl war ein Baum von einem Mann, so groß wie Julian Tifflor, aber fast doppelt so breit in den Schultern. Er hatte sich bereits im Wega-Sektor bewährt und bei den Auseinandersetzungen mit dem arkonidischen Robotregenten nicht nur seine Härte, sondern auch Umsicht und strategisches Können unter Beweis gestellt. »Auch während eines Sonderauftrags wird von dir verlangt, daß du dich an die Regeln der interstellaren Diplomatie hältst«, sagte Julian nicht ohne eine Spur Schadenfreude. »Außerdem, was kann’s schaden? Die metopäische Küche ist nicht schlecht, der süße Wein läßt sich trinken, wenn man ihn mit Wasser vermischt, und wir können uns einbilden, wir feierten unseren Rückflug zur Erde.« Ciryl musterte seinen IO mißtrauisch. »Erwartet der Kerl am Ende noch ein Geschenk?« brummte er. -12-
»Geschenke versüßen die Freundschaft«, bemerkte Julian anzüglich. »Eine Digitaluhr, würde ich vorschlagen, kalibriert auf den Tagesablauf von Metope. Die metopäischen Zahnrad-und-Pendel-Uhren sind das Holz nicht wert, aus dem sie angefertigt werden.« Kurz vor Sonnenuntergang machte sich die Karawane auf den Weg. Sie bestand aus sechs Transportgleitern, in denen je zwanzig Mann Platz fanden. Die KIMBRIA wurde versiegelt, damit sich während der Abwesenheit der Besatzung nicht etwa ein neugieriger Metopäer daran zu schaffen mache. Die Fahrt ging über flaches Land. Vereinzelte Felder, dünn mit einheimischen Pflanzen bebaut, zeugten von der geringen Intensität des metopäischen Ackerbaus. Auf Metope gehörte alles Land, das bebaute ebenso wie das unbebaute, dem Patriarchen, und die Definition eines Bauern war: Einer, dem Ponapillor in einer großzügigen Laune ein Stück Acker leihweise überlassen hat und der von da an ständig in Gefahr schwebt, nicht nur das Leihgut, sondern auch das Leben zu verlieren, wenn nämlich seine Ernte nicht den Erwartungen des Patriarchen entsprach. Die Stadt selbst machte einen ärmlichen, verwahrlosten Eindruck. Als Baumaterial wurden Lehmziegel verwendet, und damit ließen sich keine architektonischen Wunderleistungen verrichten. Die vorherrschende Gebäudeform war eine Art einfallsloser Langhalle mit zahlreichen, kleinen Fenstern in den Längswänden. Die Straßen waren ungepflastert. In der trockenen Jahreszeit, in Stunden starken Verkehrs, erstickte ganz Topeia im Staub. Jetzt, zur Zeit des Sonnenuntergangs, war kaum jemand unterwegs. Die wenigen Fußgänger, über die die Transporter mit ihren leise summenden Motoren hinwegglitten, wirkten gedrückt und verängstigt. Sie blieben stehen, sahen verschüchtert zu den fremden Fahrzeugen auf und machten mit der linken Hand das Zeichen, das gegen Unglück schützte. Wie -13-
überall, wo intelligente Wesen in Elend und Unfreiheit leben, war auch auf Metope die Religion eine starke Kraft. Ein zynisches Schicksal hatte dazu geführt, daß ihr ausgerechnet der Unterdrücker selbst, Ponapillor, als Oberster Priester vorstand. »Manchmal zweifle ich an der Weisheit des Nichteinmischungsprinzips«, sagte Colonel Ciryl. »Was der Despot sich leistet, stinkt zum Himmel. Wie einfach wäre es für uns, hier Abhilfe zu schaffen.« »Und damit den Metopäern zu beweisen, daß wir klüger, tatkräftiger und tapferer sind als sie?« fragte Julian. »Das eben ist die Philosophie, aus der das Nichteinmischungsprinzip entstand: Niemand hat das Recht, sich einer anderen Spezies gegenüber als überlegen zu fühlen.« »Das ist eine ziemlich beschissene Philosophie«, brummte Ciryl. »In krassen Fällen wie diesem sollte sie eine Ausnahme zulassen.« Die Straße weitete sich und mündete auf einen riesigen, quadratischen Platz. Einsam, staubig und verlassen lag er im letzten Licht des Tages. In der Mitte des Platzes erhob sich eine acht Meter hohe Ringmauer, die ein kreisförmiges Gelände von mehreren hundert Metern Durchmesser umschloß. Auf diesem Gelände erhob sich der Palastkomplex des Patriarchen: eine Ansammlung genauso schmutziger, ebenso phantasieloser Langhallen, wie sie draußen in der Stadt zu Hunderten zu finden waren - nur besaßen diese hier beträchtlich mehr Umfang und ein wenig mehr Höhe. Sechs große Tore durchbrachen die Mauer. An den Toren standen Wachen, Mitglieder der berüchtigten Garde des Patriarchen, ausgesucht kräftige und hochgewachsene Exemplare, die ihre männlichen Mitbürger im Durchschnitt um wenigstens eine Haupteslänge überragten - und lächerlicherweise noch immer wesentlich kleiner waren als selbst die schmächtigsten Metopä-14-
er-Frauen. Sie trugen Uniformen von barbarischer Buntheit, hohe, spitze Helme, die sie noch größer erscheinen ließen, und als Waffe - neben Dolchen und Degen - eine primitive Flinte, die, nach dem Innendurchmesser des Laufs zu urteilen, Projektile von der Größe eines Hühnereis verschoß. Nicht nur die Tore waren bewacht: Mindestens fünfzig Gardisten waren ständig dabei, die gesamte Länge der Mauer zu patrouillieren. Der Tyrann traute seinen Untertanen nicht. Der Palast lag auf einer riesigen, deckungsfreien Fläche völlig übersichtlichen Geländes. Niemand konnte ihn unbemerkt angreifen. Niemand besaß eine Waffe, die den Flinten der Gardisten auch nur annähernd ebenbürtig gewesen wäre. Denn der Besitz von Schußwaffen war nur demjenigen erlaubt, der eine entsprechende Genehmigung vorweisen konnte. Die Genehmigungen wurden von Ponapillor selbst unterzeichnet, und der Patriarch sorgte dafür, daß nur solche das wertvolle Dokument erhielten, die er als unbedingt vertrauenswürdig betrachtete. Als die sechs Transporter über den weiten Platz heranschwebten, öffneten die Gardisten das südliche Tor. Es war eine lächerliche Geste; denn das Portal war viel zu eng, um die Fahrzeuge passieren zu lassen. Die Piloten setzten kurzerhand über die Mauer hinweg. Julian Tifflor sah durch die verglaste Wand der Kanzel nach unten und erblickte zwei Gardisten, die über die Eigenmächtigkeit der Fremden offenbar so erzürnt waren, daß sie drohend die Fäuste schüttelten und mit weit aufgerissenen Mündern hinter den Transportern herschrien. Arme Zwerge, dachte er. Und dann ging ihm etwas auf, was vor ihm schon mancher andere Philosoph erkannt hatte: Mische Tyrannei mit Lächerlichkeit, und du machst die erstere um so unerträglicher.
-15-
2. Nichts verstand die Elite Metopes besser, als Feste zu feiern. Die mächtige Halle, in der Ponapillor seine Gäste bewirtete, dröhnte vom Gelächter und den lauten Reden der Trinkenden und Speisenden. Dutzende von Tischen waren zu einer riesigen Tafel zusammengeschoben worden, an der alle Platz hatten. Die Metopäer waren in der Minderzahl. Von seiner Seite hatte der Patriarch nur die fünfzehn Stellvertreter mit ihren Frauen eingeladen. Diese Gruppe zählte immerhin achtzig Mitglieder, da verschiedene Stellvertreter mehrere Begleiterinnen mitgebracht hatten - keiner allerdings so viele wie der Patriarch selbst, der die Stirnseite der Tafel zusammen mit acht Vertreterinnen des schönen Geschlechts einnahm. Ponapillor war, wie Vince Rabelow des öfteren zum Ausdruck gebracht hatte, ein Giftzwerg. Knapp einen Meter vierzig groß, ruhte er auf einem riesigen Kissenstapel, damit keine seiner acht Haremsdamen über ihn hinausrage. Er trug ein buntes, wallendes Gewand, das dazu entworfen war, die Schmächtigkeit seines Zwergenkörpers zu verschleiern. Sein kahler Schädel glänzte unter einer Schicht Salbe, von der die reichen Metopäer glaubten, sie erhöhe die erotische Leistungsfähigkeit. (Die armen Metopäer glaubten das auch; aber sie konnten sich die Salbe nicht leisten.) Auf der Stirn trug der Patriarch zahlreiche goldene Ornamente. Seine Augen waren klein und von einer unglaublichen Beweglichkeit. Die verknorpelte, schiefsitzende Nase verlieh dem Gesicht etwas Unsymmetrisches. Ponapillors Mund war breit und dünnlippig. Wenn er aß oder sprach, öffnete er ihn zu einer Klappe, die nahezu die Hälfte der Gesichtsfläche einnahm. Er aß viel und gern und sprach mit lauter, schriller Stimme. Die ungesunde, gelbe Gesichtsfarbe führten die Ärzte -16-
der KIMBRIA auf seine unmäßige Lebensweise zurück. Das also war die Oberschicht der metopäischen Gesellschaft: Fresser, Säufer und Hurenböcke, deren einziger Daseinszweck es war, so ausschweifend wie möglich zu leben und die Mittel dazu von der geknechteten Kaste zu erpressen. ›Freiheit durch Erkenntnis der Notwendigkeit‹ war der Wahlspruch, nach dem Ponapillor sein Land regierte. Die Notwendigkeit bestand darin, daß der Untere dem Oberen zu dienen hatte; und wer sie nicht erkannte, dem wurde der Kopf abgesäbelt. Freilich erging es den fünfzehn Stellvertretern nur in materieller Hinsicht besser als dem Rest des Volkes. Sie waren genauso unfrei wie der ärmste Bauer. Ponapillor und seine Garde stellten die einzige Macht in diesem Staat dar. Erlaubte es sich ein Stellvertreter, den Unwillen des Patriarchen zu erregen, dann war sein Leben ebenso verwirkt wie das eines gewöhnlichen Bürgers. Es gab keine separate Gerichtsbarkeit auf Metope. Der Patriarch war nicht nur Oberster Priester, sondern auch Oberster Richter. Jeder seiner Stellvertreter hatte ebenfalls ein Richteramt inne. Da die Zahl der Nachkommen der ehemaligen arkonidischen Kolonisten inzwischen nur noch wenige Hunderttausende betrug, fiel es den sechzehn Männern an der Spitze leicht, die gesamte Last der Judikatur auf ihren schmalen Schultern zu tragen. Dabei kam ihnen der Umstand zustatten, daß Zivilprozesse auf Metope so gut wie unbekannt waren. Die geknechtete Bürgerschaft hatte inzwischen begriffen, daß es unweise war, Richter von dieser Qualität über private Streitigkeiten entscheiden zu lassen. In Zivilverfahren verloren Kläger wie Beklagter. Der einzige Gewinner war der Richter. Julian Tifflor, den solche Dinge immer interessierten, hatte sich im Lauf der vergangenen Wochen intensiv mit der Struktur der metopäischen Gesellschaft befaßt. Er wußte, daß die fünfzehn Stellvertreter mit einer einzigen Ausnahme Speichellecker waren, denen es lediglich darum -17-
ging, sich die Gunst des Patriarchen zu bewahren, damit sie ihren Lebensstil beibehalten konnten. Die Ausnahme war Cerotinnar, der Erste Stellvertreter. Nicht nur begnügte er sich mit einer Frau - wo ihm doch aufgrund seines hohen Amtes ein ganzer Harem zugestanden hätte, dessen Umfang nur durch die Forderung begrenzt war, daß er kleiner sein müsse als der des Patriarchen - er schien auch einer humaneren Philosophie zu huldigen. Julian wußte von mehreren Begebenheiten, bei denen es Cerotinnar gelungen war, Ponapillor allzu krasse Entscheidungen auszureden und ihn zu einer milderen Verhaltensweise zu veranlassen. Sein Blick suchte Narna. Aber die junge Frau, die ihm am Nachmittag so merkwürdige Signale gesandt hatte, war mit ihrem Mann beschäftigt. Sie liebkoste ihn und reichte ihm zu trinken. Die Tischsitten der Metopäer waren durchaus dazu geeignet, einem in konservativen Kreisen des amerikanischen Nordostens aufgewachsenen jungen Mann Magenbeschwerden zu bereiten. Ein wenig enttäuscht wandte Julian sich ab und griff nach einem Stück am Spieß gebratener Miehl-Haxe. Der süße Wein begann, ihm zuzusetzen. Er brauchte ein wenig mehr Festes im Magen. Gerade in diesem Augenblick gab der Patriarch, indem er laut und vernehmlich rülpste und sich von einer seiner Frauen die Finger abtupfen ließ, zu verstehen, daß er seine lang erwartete Rede zu halten gedenke. Ponapillar war über das Geschenk einer Digitaluhr höchst erfreut gewesen, zumal Vernon Ciryl ihm versicherte, daß das Gerät mit Hilfe seiner Kernzerfallsbatterie mehrere Jahrhunderte lang einwandfrei funktionieren werde. Seine Rede, angeheizt durch etliche Becher schweren Weins, brachte daher entsprechenden Enthusiasmus zum Ausdruck. »Dem glorreichen Volk von Metope ist noch niemals so viel schicksalhafte Gunst widerfahren wie an jenem Tag, als unsere Freunde von Tiara mit ihrem Sternenschiff auf unserer Welt -18-
landeten. Wir hatten schon vergessen, daß es Fahrzeuge gibt, mit denen sich die Abgründe zwischen den Sternen überqueren lassen - so wie es unsere Vorfahren vor langer Zeit getan haben.« Auch bei Vernon Ciryl setzte die Wirkung des Weines inzwischen ein. Mit starrem Blick musterte er den Patriarchen und bellte: »Terra! Es heißt Terra, nicht Tia. . . Tia. . . oder so was.« Von der Wand der Halle löste sich einer der Gardisten. Ein solches Vorkommnis war undenkbar. Niemand korrigierte den Patriarchen. Der Gardist senkte den Lauf seiner Waffe, und Colonel Ciryl starrte benommen und verblüfft in eine Mündung, in die er bequem zwei seiner Finger hätte stecken können. »Zurück, du fünfbeiniges Miehl!« donnerte Ponapillor den unglückseligen Besitzer der Flinte an. »Was wagst du, meinen Freund zu bedrohen! Man sollte dich auspeitschen lassen.« Der Gardist wich entsetzt bis an die Wand zurück. Der Patriarch schien an diesem Abend ungewöhnlich mild gestimmt. Er vergaß den Zwischenfall sofort und sprach weiter: »Unsere Freunde von Terra. Verzeiht mir, daß ich den Namen eurer Heimat falsch aussprach.« Julian versuchte, den Gesichtsausdruck des Patriarchen zu analysieren. War er wirklich betrunken, oder gab er sich nur so? Ponapillor fuhr inzwischen fort: »Das königliche Geschenk, das wir heute von unseren terranischen Freunden erhielten, wird dazu dienen, den Verstand unserer Techniker zu beflügeln und technischen Fortschritt zu erzeugen, den w i r . . . den w i r . . . « Sein Blick war auf Narna gefallen, die ihren Gemahl umarmte. Völlig zusammenhanglos erklärte er: »Und du - du gefällst mir eigentlich auch recht gut.« Er reckte sich auf seinem Kissenstapel und schrie: »Garde, bringt diese Frau in meine Gemächer.« Mehrere Gardisten traten herbei. Narna hatte Cerotinnar aus ihrer Umarmung entlassen. Sie beugte sich zur Seite, als die -19-
Gardisten sich ihr näherten. Cerotinnar brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß sich die letzte Bemerkung des Patriarchen auf seine Frau bezog. Dann sprang er auf. »Nicht Narna!« schrie er flehentlich. »Heiterer Ausgeglichener, dir stehen alle Frauen von Metope zur Verfügung! Laß mir diese eine! Such dir eine andere. . . « »Du willst mir widersprechen?« kreischte Ponapillor in schrillem Diskant. Unbeherrschter Zorn verlieh seinem Gesicht eine grünliche Farbe. »Garde, schafft den ehemaligen Ersten Stellvertreter dorthin, wo er hingehört!« Drei weitere Gardisten lösten sich von der Wand. Inzwischen hatte Cerotinnar unter dem Eindruck der drohenden Gefahr wenigstens einen Teil seiner Nüchternheit wiedererlangt. Er hob beschwichtigend die Arme und rief: »Nichts hegt mir ferner, als einem Wunsch Seiner Heiteren Ausgeglichenheit im Wege zu stehen. Ihr braucht mich nicht fortzuschleppen. Ich sehe meinen Fehler ein und gehe freiwillig.« Tifflor kaute nervös auf einem Bissen Miehl-Haxe. Er spürte ein Hindernis zwischen den Zähnen. Wäre er an metopäische Tischsitten gewöhnt gewesen, er hätte es ohne weiteres ausgespuckt. So aber griff er mit der Serviette in den Mund und entfernte den harten Gegenstand so unauffällig wie möglich. Er wollte ihn achtlos beiseite werfen; aber während sein Blick hektisch zwischen Ponapillor, Narna, Cerotinnar und seinem Teller hin und her eilte, stellte er fest, daß es sich um ein regelmäßig geformtes Gebilde von der Größe einer Murmel handelte. Er konnte sich nicht erklären, wie es in die Miehl-Haxe geraten war. Aber jetzt war nicht die Zeit, darüber tiefschürfende Untersuchungen anzustellen. Gedankenlos hob er die Murmel auf, wischte sie ab und schob sie in die Tasche. Inzwischen hatte der Patriarch seinen Entschluß gefaßt. Er schien halbwegs besänftigt. »Gut. Ich erkenne an, daß du im -20-
Übereifer reagiert und deinen Fehler inzwischen bereut hast«, sprach er zu seinem Ersten Stellvertreter. »Nichtsdestoweniger hast du das Fest gestört. Garde, begleitet den Mann hinaus.« Drei Gardisten führten Cerotinnar ab. Julian sah, daß sie ihn nur bis zum Ausgang brachten; aber er war nicht sicher, ob er draußen von anderen in Empfang genommen wurde. Im Innern des Palastkomplexes wimmelte es von Garden. Inzwischen hatten zwei weitere Bewaffnete Narna in die Mitte genommen und führten sie auf eine andere Tür zu. Sie blickte über die Schulter zurück. Ihr Auge suchte Julian Tifflor und fand ihn. Julian klammerte sich an der Tischkante fest und unterdrückte den Impuls, aufzuspringen und hinter Narna herzueilen. Den brennenden Blick der dunklen Augen würde er für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen - und wenn er noch so alt wurde. Was für ein Blick! Er hatte Verzweiflung und Angst zu sehen erwartet; statt dessen starrten ihm flehentliches Bitten und eine kokette Lockung ins Auge. Er ließ die Schultern sinken. Die Tür schloß sich hinter Narna. Neben ihm sagte Vernon Ciryl mit schwerer Stimme: »Tiff, das Fest wird allmählich sauer. Ich glaube, wir sollten gehen.« »Sobald es dir paßt, Vernon«, antwortete Julian. »Laß mich nur noch einmal. . . « »Was?« Julian hob die Schultern. »Ziemlich viel Wein getrunken«, sagte er. »Es kann der beste Mann nicht vernünftig ausschreiten, wenn e r . . . « »Alles klar, Tiff«, winkte Ciryl mit fahriger Handbewegung ab. Das hatten alle spätmittelalterlichen Zivilisationen gemein: die hygienischen Einrichtungen lagen weit von den Orten entfernt, an denen gewohnt, gearbeitet und gefeiert wurde. Julian Tifflor stolperte über eine staubige Hoffläche. Mit unförmigen Flinten ausgestattete Gardisten sahen ihm unbeteiligt zu. Er -21-
versuchte, einer Reihe von Fußabdrücken zu folgen, hinterlassen von jenen, die vor ihm denselben Zwang empfunden hatten. Aber irgendwo mußte er vom rechten Pfad abgekommen sein. Er fand sich an der unbeleuchteten Rückwand eines flachen, rechteckigen Gebäudes, und als er suchend weiterschritt, stieß er mit dem Fuß gegen ein gewichtiges Hindernis. Er wäre gestürzt, wenn er sich nicht, seines alkoholisierten Zustands wohl eingedenk, an der Wand des Hauses festgehalten hätte. Ein Gefühl von Unheil machte sich in seinem Bewußtsein breit. Er ging in die Knie und betastete das Hindernis. Es war ein Körper, der Körper eines Metopäers. Er faßte ihn unter den Schultern und zerrte ihn dorthin, wo das rötliche Licht der Fakkeln schien. Entsetzt fuhr er zurück. Das Gesicht des Metopäers war nicht mehr zu erkennen. Die Flintenkugel hatte es verwüstet. Aber am Muster der Kleidung erkannte er, daß er Cerotinnar vor sich hatte. Der Erste Stellvertreter des Patriarchen – gefällt vom Schuß eines Gardisten. Also hatte Ponapillor nur Theater gespielt! Er war nicht wirklich nachgiebig geworden. Die Garden mußten, ohne daß er den Befehl auszusprechen brauchte, gewußt haben, daß Cerotinnar zu beseitigen war. Julian, über dessen Verstand sich der von schwerem Wein erzeugte Nebel allmählich zu lichten begann, fragte sich, ob wirklich der Zwischenfall des heutigen Abends zum Tod des Ersten Stellvertreters geführt habe. Viel wahrscheinlicher war, daß der Patriarch schon länger im Sinn gehabt hatte, Cerotinnar zu beseitigen, weil dieser ihm mit seinen toleranten Ansichten ins Geschäft pfuschte. Er hatte ihn herausgefordert, und als Cerotinnar sich weigerte, seine Frau ohne Widerspruch aufzugeben, war sein Todesurteil gesprochen. Julian Tifflor hatte den Wein und alles, was dieser an biologischen Reaktionen hervorrief, vergessen. Er mußte zurück in die Halle. Vernon Ciryl mußte informiert werden. Er hatte das Empfinden, daß ihnen allen eine fürchterliche Gefahr drohte. -22-
Wenn nur die Benommenheit nicht gewesen wäre! Er hatte Mühe, den Weg zu finden. Die Spuren, denen er gefolgt war, schienen plötzlich in Bewegung geraten zu sein. Er taumelte, verlor das Gleichgewicht und prallte gegen eine Gebäudewand. Da wußte er, daß sein Zustand keineswegs allein auf den Wein zurückzuführen war. Er konnte mehr vertragen, als die paar Becher, die er heute abend geleert hatte. Er war vergiftet worden! Er allein? Wozu hätte das gut sein sollen? Nein, sie waren alle. . . Er fand die Tür, die in die Halle führte. Riß sie auf. »Vorsicht, Vernon!« schrie er. Dann erfaßte sein Blick die Lage. Ungläubig starrte er auf die reglosen Körper, die über der großen Tafel zusammengesunken waren. Alles Terraner. Kein einziger Metopäer war mehr zu sehen. Julian hob den Fuß über die Schwelle. In diesem Augenblick versagte die motorische Kraft seines Gehirns. Er fiel zu Boden, und die wohltätige Dunkelheit der Ohnmacht umfing ihn.
3. Es war schwer. Unter dem Einfluß des bohrenden, pochenden Schmerzes, der den Schädel in allen Richtungen durchdrang, versuchte das Bewußtsein immer wieder, in die Finsternis des Nichtwahrnehmenmüssens zurückzuschlüpfen. Es kostete Julian Tifflor erhebliche Mühe, seinen Verstand zum Wachbleiben zu bewegen. Er öffnete die Augen und blickte in eine Flintenmündung. Zuerst war ihm nicht klar, was er sah. Aber dann glitt sein Blick am Lauf des altertümlichen Gewehrs entlang, bis zu den Händen -23-
des Gardisten, der es hielt, und an dessen grotesk uniformierter Gestalt empor. »Du bist er erste«, knarrte der Zwerg. Julian hatte keine Ahnung, wovon er sprach. »Bleib ruhig, und es geschieht dir nichts.« Ein breites Grinsen erschien auf dem Liliputanergesicht. »Vorerst wenigstens nicht.« »Ich bleibe ruhig«, versprach Julian. In Situationen wie dieser war es klug, auf jedes Verlangen des Überlegenen einzugehen. Der Gardist trat zurück; der Lauf der Flinte nahm seine übliche, aufrechte Haltung an. Julian sah sich um. Soweit er erkennen konnte, befand er sich in derselben Halle, in der gestern abend das Fest stattgefunden hatte. Tische und Stühle waren weggeräumt worden. Der Raum war kahl - bis auf die einhundertundzwanzig Terraner, die reglos auf dem Boden lagen. Julian verstand, was der Gardist gemeint hatte: Er war der erste, der aus der Ohnmacht erwacht war. Durch die Fenster in den Längswänden fiel helles Sonnenlicht. Der neue Tag war angebrochen - der Tag, an dem die KIMBRIA in Richtung Erde hätte starten sollen. Julians Hand glitt langsam und vorsichtig an der Hüfte entlang. Was er feststellte, überraschte ihn nicht: Der Gürtel mitsamt den Waffen war verschwunden. Er musterte seine Leidensgenossen. Auch sie waren entwaffnet. Wie von selbst glitten seine Hände in die Taschen der reglementwidrigen Montur. Der kleine, runde Gegenstand, den die Finger zu fassen bekamen, bereitete ihm zunächst ein wenig Kopfzerbrechen. Dann erinnerte er sich an die Miehl-Haxe und das Ding, das er darin gefunden hatte. An den Wänden der Halle entlang standen über einhundert Gardisten. Keiner achtete auf ihn. Erzog die Murmel hervor. Sie fühlte sich merkwürdig leicht an. Er drehte sie zwischen den Fingern und übte Druck aus. Sie splitterte wie ein dünnschaliges Ei. Er sah sich um. Hatte einer der Gardisten das Geräusch gehört? -24-
Eine Minute verstrich. Die Buntuniformierten mit ihren dickläufigen Flinten rührten sich nicht. Julian besah, was er in der Hand hielt. Die Splitter des murmelförmigen Behälters und ein winziges Stück pergamentähnlicher Substanz, wie es die Metopäer zum Verfertigen ihrer Aufzeichnungen verwendeten. Er gab ein halblautes Stöhnen von sich und wälzte sich auf die Seite, als sei ihm übel geworden. Wie er erwartet hatte, kümmerte sich keiner der Gardisten um ihn. Die Bruchstücke der Murmel rieselten ihm durch die Finger. Auf dem winzigen Pergamentstück standen noch winzigere Schriftzeichen. Er zog die Hand näher zu sich heran und las. Hinter ihm ertönte eine dröhnende Stimme. »Was, zum Teufel, geht hier vor?« Vernon Ciryl war erwacht. Ponapillors Auftritt vollzog sich mit groteskem Pomp. Unter anderen Umständen hätten sie hellauf gelacht; aber die Erbärmlichkeit der Lage, in der sie sich befanden, ließ keine Heiterkeit aufkommen. Blecherne Fanfaren schrillten ein ohrenzerreißendes Signal. Die hohe Tür wurde aufgerissen und flog mit lautem Knall gegen die Wand. Eine Gruppe von Trägern erschien. Sie schleppten einen mit barbarischen Ornamenten dekorierten Palankin, der so hoch war, daß er kaum durch die Türöffnung paßte. Obenauf, in einem mit Goldlame überzogenen Thronsessel, saß der Patriarch und zog den salbeglänzenden Schädel ein, um nicht gegen den Türbalken zu stoßen. Die Träger marschierten ein paar Schritte. Die Fanfaren verstummten. Die Sänfte wurde abgesetzt. Entgegen dem üblichen Ritus verneigten die Gardisten sich nicht vor ihrem Herrscher. Sie würdigten ihn keines Blicks. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Terraner, von denen viele noch bewußtlos waren. Die Flinten hielten sie schußbereit in den Händen. -25-
Ponapillor sah zufrieden in die Runde. Ein hämisches Grinsen lag auf seinem unsymmetrischen Gesicht. »So rächt sich der Patriarch«, rief er mit schriller Stimme, »für die Erniedrigungen, die er während der vergangenen Wochen von euch hinnehmen mußte. Oh, wie überlegen kamt ihr euch vor! Wie herablassend gabt ihr mir zu verstehen, daß Metope armes, unterentwickeltes Hinterland sei. Auf welch feudale Weise ließet ihr uns wissen, daß ihr euch durch unsere ständigen Fragen nach eurem Fortschritt belästigt fühltet. Da liegt ihr nun - die Opfer eines Gifts, das ich, der Primitive, euch eingeflößt habe. Habt keine Angst. Es ist nicht tödlich. Es wird eine Zeitlang in euren Schädeln und Eingeweiden rumoren und sich dann auflösen. Nicht, daß ihr daraus Hoffnung schöpfen solltet. Denn sterben müßt ihr alle ohnehin. Alle - bis auf einen!« Vernon Ciryl bäumte sich auf. »Verdammt sollst du sein, lächerlicher Zwerg. . . « Ponapillor hob die Hand. Mit dem donnernden Knall eines mittleren Feldgeschützes entlud sich eine der Flinten. Schwarzer Qualm stieg auf. Das schwere Geschoß fuhr haarscharf an Ciryls Kopf vorbei und riß ein häßliches Loch in die Wand. »Das laß dir eine Lehre sein, Mann von Terra«, gellte die unangenehm hohe Stimme des Patriarchen. »Der Ausgeglichene läßt sich nicht beleidigen. Beim nächsten Mal zerschmettert dir die Kugel das Gesicht. Ihr wollt erfahren, was ich mit euch vorhabe? Einer von euch - aber nur einer; ihr alle zusammen seid mir auf die Dauer zu gefährlich - wird mir helfen, Metope groß, mächtig und berühmt zu machen, wie das stolze und tapfere Volk der Metopäer es verdient. Ihr seid die Besitzer einer Technik, mit deren Hilfe sich meine Pläne verwirklichen lassen. Draußen auf dem Hof stehen sechs Fahrzeuge, mit denen man schwerelos riesige Entfernungen zurücklegen kann. Der eine unter euch, der sich mir zur Verfügung stellt, wird mich und meine Krieger in ihrem Gebrauch unterweisen. Ein paar Meilen -26-
südlich von hier steht euer gewaltiges Sternenschiff. Auch dessen Handhabung will ich erlernen. Es wird Zeit, daß Metope in den großen Kreis der arkonidischen Völkerfamilie zurückkehrt nicht als verlorener Sohn, der stolpernd und ausgehungert den Heimweg schließlich wiederfindet, sondern als Macht, die die anderen respektieren müssen.« Er machte eine Pause, um den noch halb umnebelten Bewußtseinen der Vergifteten Gelegenheit zu geben, die Details seines hirnverbrannten Plans zu verstehen. Trotz des Ernstes der Situation hätte Julian Tifflor am liebsten aufgelacht. Mit einem einzigen Raumschiff, einem Leichten Kreuzer noch dazu, wollte der Hanswurst das mächtige Arkon beeindrucken? »Ich lasse euch Zeit. Ihr braucht Klarheit im Kopf, um eure Entscheidung zu treffen«, beendete Ponapillor seine Ansprache. »Bis heute abend hat das Gift sich verflüchtigt. Dann kehre ich zurück und nehme den in Empfang, der mir dienen will. Ihr andern a b e r . . . « Er machte eine Geste, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ. Die Fanfaren begannen von neuem zu blöken. Den hohen Palankin mit den langen Tragstangen an Ort und Stelle zu wenden, dazu bot die Halle keinen Platz. Rückwärts verließ Seine Heitere Ausgeglichenheit den Ort seines Triumphs. Berauscht vom Eindruck der eigenen Größe, vergaß er die nötige Vorsicht und rammte den Hinterkopf gegen den Türbalken. Die Hitze war unerträglich. Es stank nach dem Unrat, den die Körper der Vergifteten von sich gegeben hatten. Häßliche, fliegende Insekten mit stählern schillerndem Chitinpanzer hatten den Weg durch die Ritzen der Tür gefunden und machten den Kranken zu schaffen. Gegen Mittag war die bisherige Gruppe der Gardisten von einem neuen Kontingent abgelöst worden. Die Gefangenen bekamen weder zu essen noch zu trinken. Der Mangel an Nahrung machte ihnen nichts aus. Die malträtierten Magen hätten ohnehin nichts Festes bei sich behalten können. -27-
Aber der Durst war eine Qual. Die Ärzte beobachteten Symptome fortschreitender Dehydrierung an mehr als zwanzig Männern. Die Gardisten gaben sich keine Blöße. Sie hatten die Terraner im hintersten Drittel der Halle zusammengetrieben und sich mit schußbereiten Flinten ihnen gegenüber postiert - weit genug entfernt, so daß sie nicht überrascht werden konnten. Die grimmige, stoische Entschlossenheit, mit der sie ihren Dienst versahen, war beeindruckend. Schließlich machten Hitze und Gestank keinen Unterschied zwischen Gefangenen und Bewachern. »Es sieht böse aus, Vernon«, sagte Julian Tifflor. Vernon Ciryls fiebrig glänzende Augen starrten ihn an. »Wir werden den verdammten Zwerg schon noch schnappen«, keuchte er. »Wie, Vernon? Wie?« zweifelte Julian. »Er zeigt keine Schwäche. Wir kommen nicht einmal an eine einzige Flinte heran.« »Er will unsere Technik, nicht wahr? Die Transporter? Das Schiff? Unser erster Schritt ist, ihm klarzumachen, daß er sie nur haben kann, wenn er uns alle freiläßt.« »Ich bin nicht sicher, ob sich das verwirklichen läßt. Du weißt, wie sein primitiver Verstand arbeitet. Mit der KIMBRIA allein glaubt er, Arkon beeindrucken zu können. Es wäre nicht verwunderlich, wenn er meinte, daß er auch unsere Technik aus eigener Kraft erlernen kann, falls sich heute abend kein Freiwilliger meldet.« Ciryls Miene erstarrte. Seine Augen blickten feindselig. »Tiff, du denkst nicht etwa daran. . . « Er fuhr in die Höhe. »Alle herhören!« schrie er. »Ab sofort herrscht Standrecht. Wenn der aufgetakelte Knilch heute abend zurückkommt, wird sich keiner von euch bereit erklären, ihm zu helfen. Wer es doch tut, wird auf der Stelle erschossen!« Wir werden alle ein wenig verrückt, dachte Julian Tifflor -28-
traurig. Womit will er ihn erschießen? Ponapillor hielt Wort. Als die Sonne unterging, kehrte er zurück auf dem goldenen Thronsitz, eine Erscheinung wie aus einer drittklassigen Operette. Die Hitze im Innern der Halle hatte noch nicht nachgelassen. Neben den Trägern her schritten mehrere Diener, die dem Patriarchen mit großen, an Stangen befestigten Fächern frische Luft zuwedelten. Außerdem stand vor seinem Thron eine metallene Schale, aus der der wohlriechende Rauch kostbaren Räucherwerks aufstieg. »Wer will mir dienen?« erschallte seine Stimme. »Meine Ungeduld ist groß. Antwortet rasch.« Vernon Ciryl stand auf. »So, wie du es dir vorgestellt hast, geht es nicht«, antwortete er. »Um unsere Technik zu erlernen, brauchst du mehr als nur. . . « »Garde!« kreischte Ponapillor. »Erschießt den Mann, wenn er auch nur ein weiteres Wort spricht.« Ciryl erkannte, daß die Drohung ernst gemeint war. Er blieb stehen, aber er sprach nicht weiter. »Welcher von euch ist es?« schrie der Patriarch. »Seht meine Hand. Ich erhebe sie. Wenn ich sie senke, eröffnet die Garde das Feuer. Wer sich dazu entschlossen hat, mir zu dienen, der mag vortreten. Wer den ersten Schritt tut, wird akzeptiert.« Drohende Stille erfüllte die Szene. Julian Tifflor sah wie gebannt auf die kleine, verhutzelte Hand des Tyrannen. Er beobachtete, wie die Finger zu zittern begannen. Der Arm des Tyrannen wurde müde; er drohte zu sinken. Die Gardisten standen mit ihren Flinten im Anschlag. Er stand langsam auf, um nicht etwa durch eine zu rasche Bewegung eine Fehlreaktion auszulösen. Er schob sich an Vernon Ciryl vorbei und trat nach vorne. »Ich will dir dienen, Patriarch«, sagte er mit lauter Stimme. Empörtes Gemurmel erhob sich hinter ihm, und dann brüllte -29-
Colonel Ciryl: »Major Tifflor, Sie sind mein Gefangener! Ich habe Standrecht erklärt. Sie werden sich mir sofort ausliefern.« Julian wandte sich halb zur Seite. Sein Gesicht war steinern. »Machen Sie sich nicht lächerlich, Sir. Ich habe meine Entscheidung getroffen, und Sie können nichts daran ändern. Ob einhundertneunzehn oder einhundertzwanzig Menschen sterben, macht durchaus einen Unterschied - nämlich für den einen Überlebenden.« Ponapillor hatte inzwischen die Hand sinken lassen. »Du willst mir dienen?« fragte er lauernd. »Um mein Leben zu retten, ja.« Der Patriarch zögerte eine Sekunde. »Dein Leben wird kein angenehmes sein, wenigstens am Anfang. Ich lasse dich auf Schritt und Tritt bewachen; denn ich muß damit rechnen, daß du Falschheit im Sinn führst.« »Das nehme ich in Kauf«, sagte Julian. »Gut.« Ponapillors Augen leuchteten. »Dann tritt her zu mir, damit du nicht in Gefahr gerätst. Garde. . . « Julian schritt auf die Sänfte zu, wie ihm geheißen war. Er sagte: »Hoher Patriarch, falls du die Gefangenen jetzt schon töten willst, begehst du einen Fehler.« Ponapillor sah ihn verwundert an. »Wieso?« »Woher weißt du, daß ich die Absicht habe, dir treu zu dienen? Ertappst du mich bei einem Verrat, läßt du mich erschießen. Und wer wird dir dann die Wunder der terranischen Technik erklären?« Der Patriarch wurde unsicher. »Du sprichst nicht zu deinen Gunsten«, sagte er. »Ich werde dich noch strenger bewachen lassen, als ich ursprünglich plante. Und wenn ich dich als Verräter erkenne, wird die Art deines Todes eine überaus unangenehme sein.« Sein Blick glitt über die -30-
Gruppe der Gefangenen. »Aber recht hat er doch, der terranische Hund. Laßt sie einstweilen am Leben.« »Gebt ihnen ein reines Quartier und zu essen und zu trinken«, fügte Tifflor hinzu. »Und gebt ihnen ein reines Quartier und zu essen und zu trinken«, kreischte der Patriarch, an der Grenze seiner Beherrschung angelangt. Julian Tifflor nahm sich vor, fürs erste kein weiteres Wort zu sagen. Es hatte keinen Sinn, das Glück herauszufordern. Er hatte getan, was er konnte. Als er, flankiert von vier Gardisten, hinter der Sänfte her durch die Tür schritt, gellte hinter ihm ein Schrei: »Verräter!«
4. Das Quartier war denkbar armselig. Eine Matte zum Schlafen, ein lächerlich winziger Stuhl, ein Miniaturtisch. Auf dem Tisch eine Karaffe mit Wasser, dessen trübgelbe Beschaffenheit den Durst verscheuchte. Draußen vor der Tür zwei schwerbewaffnete Gardisten. Ein vergittertes Fenster, davor drei weitere Wachen. Lächerlich. Selbst wenn er das Gitter hätte entfernen können, wäre es ihm nicht gelungen, sich durch die schmale Fensteröffnung zu zwängen. In der Wand ein eiserner Haken, in dem ein Kienspan blakte. Die Sonne war längst untergegangen. Wenigstens hatte er zu essen bekommen. Die Wirkung des Giftes war verflogen. Er dachte an Vernon Ciryl und die übrigen Männer der KIMBRIA und daran, wie sie über ihn empfinden mochten. Er hatte nicht anders handeln können! Bei Gott, es hatte keinen anderen Ausweg gegeben! -31-
Er löschte den Kienspan. Die Dunkelheit der Nacht ergriff von der kleinen Zelle Besitz. Zelle, ja das war sie. Eine Gefängniszelle. Denn keinen Augenblick lang zweifelte Julian Tifflor daran, daß Ponapillor vorhatte, ihn zu töten, sobald ihm die terranische Technik in ausreichender Weise offenbart worden war. Er legte sich auf die Matte. Sie war viel zu kurz. Er galt unter Terranern als groß, und das Lager war für einen Metopäer gefertigt. Es spielte keine Rolle. Er hatte keinen Anspruch auf Bequemlichkeit. Er durfte nicht schlafen. Er mußte warten. Er lag auf dem Rücken, hatte die Arme unter dem Nacken verschränkt und starrte zur niedrigen Decke hinauf. Allmählich begannen die Augen, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Mattes Sternenlicht fiel durch die vergitterte Fensteröffnung. M13, von der Randzone des Sektors Herkules nur noch zweitausend Lichtjahre entfernt, war ein greller, verwaschener Lichtfleck, dessen Leuchtkraft die des irdischen Vollmonds übertraf. Julian sah zur Seite, als er ein winziges, knarrendes Geräusch hörte. Im hölzernen Boden seiner Zelle hatte sich eine Unebenheit gebildet. Ein matter Schatten war entstanden, dünn wie ein Strich. Während er hinsah, wurde er breiter. Eine Klappe öffnete sich, und unter der Klappe, in der Finsternis kaum erkennbar, zeichneten sich die Umrisse eines Kopfes ab. »Still«, flüsterte eine Stimme. Julian drehte sich auf den Rücken und wartete. Was immer der nächtliche Eindringling tat, er verursachte dabei nicht die Spur eines Geräuschs. Julian roch einen sanften Duft, der ihm vage vertraut vorkam. Im nächsten Augenblick beugte sich ein Gesicht über ihn. Um ein Haar hätte er das Gebot der Vorsicht vergessen und wäre in die Höhe gefahren. Hände faßten seine Schulter und drückten ihn mit erstaunlicher Kraft auf die Matte nieder. -32-
»Narna«, flüsterte er. »Was tust du hier?« Sie kauerte sich neben ihm nieder. »Habe ich dich nicht wissen lassen, daß ich mich um dich kümmern würde?« hauchte sie. »Du warst das?« »Ruhig. Wir haben keine Zeit für lange Erklärungen. Wir müssen uns über den nächsten Schritt einigen.« »Die Wachen. . . vor der Tür. . . vor dem Fenster. . . « »Metopäische Männer haben einen eingleisigen Verstand«, flüsterte Narna. »Sie wissen, daß es nur zwei Ausgänge gibt, durch die du entkommen kannst: die Tür und das Fenster. Solange du dich nicht an dem einen oder dem anderen sehen läßt, werden sie sich nicht um dich kümmern.« »Aber ich habe. . . « »Still jetzt«, unterbrach ihn Narna und schmiegte sich neben ihm auf die Matte. »Wir haben Waffen erbeutet«, flüsterte Narna. »Gardisten sind auch nur Männer. Wir haben acht Flinten. Aber keine von uns weiß, wie man sie bedient.« »Keine von uns«, echote Julian. »Seid ihr - nur Frauen?« »Was sonst?« Im Lauf der Nacht hatten sie gelernt, sich so zu unterhalten, daß man schon in zwei Metern Entfernung - geschweige denn jenseits der Tür oder außerhalb des Fensters - die dicht am Ohr gewisperten Worte nicht mehr hören konnte. »Die Herrschaft der Männer hat ihr Zeitalter überlebt. Anstelle des Patriarchats brauchen wir eine Herrschaft der Frauen.« Er dachte nach. »Was war mit Cerotinnar?« »Der arme Narr«, antwortete sie abfällig. »Er war mit Ponapillors grausamer Herrschaft nicht einverstanden. Aber er wollte keine Revolution. Er dachte, er könnte den Patriarchen durch sanfte Überredung zu milderem Verhalten bewegen. In Wirklichkeit fing er an, Ponapillor auf die Nerven zu gehen. Sein Ende war vorhersehbar.« -33-
Ihre Kälte überraschte Julian und stieß ihn ab. Er warf einen Blick zum Fenster. Das erste Rot des neuen Morgens kündigte sich an. »Deine Idee taugt nichts«, sagte er schließlich. »Es wäre mir wohl ein leichtes, die Funktionsweise der Flinten zu erkennen. Soweit ich erkennen kann, sind es primitive Steinschloßgewehre, mit einer Pulverpfanne und einem mechanisch bewegten Funkenerzeuger, der die Ladung zur Explosion bringt. Aber acht Flinten gegen die gesamte Garde des Patriarchen?« »Wir könnten die Gardisten einen nach dem andern ausschalten«, wisperte Narna voller Erregung. »Und irgendwann gelänge es uns, bis zum Patriarchen selbst vorzudringen.« Er schüttelte den Kopf. Sie verstand die Geste nicht; aber sie begriff, daß es nur noch wenig Hoffnung gab, ihn zu ihrem Plan zu überreden. »Was dann?« fragte sie mutlos. Eine Idee hatte sich in seinem Bewußtsein zu formen begonnen. Er zögerte, darüber zu sprechen. Zuerst mußte er mehr von Narna erfahren. »Woher wußtest du, daß diese Zelle mit einer Falltür ausgestattet ist?« fragte er. »Nicht nur diese. Fast alle Zellen. Alle Frauen der Stellvertreter wissen davon.« Sie schien zu erkennen, daß die Antwort ihn nicht befriedigte, und fuhr nach kurzem Überlegen fort: »Die Tyrannei existiert schon seit Jahrhunderten. Ponapillor ist keineswegs der erste Patriarch, der sich als Despot betätigt. Es kam immer wieder vor, daß Stellvertreter in Ungnade fielen und eingesperrt wurden. Da taten sich die Frauen schließlich zusammen. Die Stellvertreter wohnen mit ihren Familien im Innern des Palastkomplexes. Die Frauen begannen zu schaufeln und zu graben, tief unter dem Palasthof, so daß niemand etwas hören konnte. Im Lauf vieler Jahre legten sie die Stollen an, die zu den Zellen führten, in denen sie eines Tages ihre Männer vorfinden -34-
würden. Im Laufe der Zeit wurde das System ausgeweitet. Nur an das private Gebäude des Patriarchen hat sich niemand je herangewagt.« »Das Stollensystem ist heute noch geheim?« fragte Julian staunend. »Ja. Nur die Frauen wissen davon.« Draußen wurde es heller. »Du mußt gehen«, sagte Julian. »Was wird aus unserem Plan?« drängte Narna. »Laß mich nur machen«, tröstete er sie. »Geh zu deinen Frauen und sag ihnen, sie sollen sich auf die Stunde der Freiheit vorbereiten. Ponapillor will die Technik der Terraner kennenlernen - und, bei Gott, genau das wird ihm widerfahren!« Er half ihr in den Schacht hinein, der zum Stollen hinabführte. Dann schloß er die Falltür und vergewisserte sich im jungen Licht des neuen Tages, daß von der Klappe in geschlossenem Zustand tatsächlich nicht die geringste Spur zu sehen war. Ihre Fugen paßten sich haargenau in die natürliche Maserung des Holzes ein. Es war erregend zu wissen, daß er jederzeit aus dieser Zelle entkommen konnte. Viel allerdings ließ sich aus dieser Möglichkeit nicht machen. Der Stollen endete noch innerhalb des Palastkomplexes. Es gab keinen Weg hinaus in die Freiheit jenseits der Ringmauer. Nein, er mußte an seinem Plan festhalten. Sie kamen eine Stunde nach Sonnenaufgang, um ihn zu holen. Drei Gardisten schleppten ihn quer über den Hof zu dem Langhaus, in dem der Patriarch sein Privatquartier hatte. Ponapillor wartete in einem großen Raum. Er war nicht auf die übliche pompöse Weise gekleidet. Seine schmucklose Montur deutete daraufhin, daß er an diesem Tag Arbeit zu leisten gedachte - die Arbeit des Kennenlernens einer fremden Technik. An den Wänden entlang standen bewaffnete Gardisten. Es -35-
war Julian nicht erlaubt, sich dem Patriarchen bis auf weniger als zehn Schritte zu nähern. Der Tyrann sah sich vor. »Bist du hungrig, durstig?« fuhr er Julian an. »Ja, beides«, antwortete dieser. »Hungrig und durstig.« Ponapillor machte eine herrische Geste. »Das hat zu warten«, entschied er barsch. »Zuerst wirst du mir einige eurer Geheimnisse zeigen.« Julian war damit einverstanden. Er hatte von Hunger und Durst ohnehin nur gesprochen, um nicht allzu eifrig zu erscheinen. Ponapillors Garden setzten sich in Bewegung. Der Gefangene wurde auf jenen Teil des Palasthofs hinausgebracht, auf dem gestern bei Sonnenuntergang die sechs Transporter gelandet waren. Julian hatte in den Stunden, in denen er nach Narnas Aufbruch allein gewesen war, eine Reihe von Alternativplänen entwickelt. Das war notwendig. Er wußte nicht, wo, wann und auf welche Weise sich die Lage ergeben würde, die ihm Gelegenheit bot, sich seiner Bedränger zu entledigen. Eine Überlegung am Rande war gewesen, daß es ihm womöglich gelänge, nahe genug an den Patriarchen selbst heranzukommen. Er traute sich, dem unangenehmen Wicht die Hand so eng um die Kehle zu legen, daß Ponapillor auf der Stelle alle weiteren Schlechtigkeiten vergaß. Aber der Patriarch war schlau. Er hielt sich stets im Hintergrund, durch mindestens eine Reihe von Gardisten von Julian getrennt. Die Gardisten selbst kannten sich in ihrem Gewerbe aus. Sie wahrten Abstand. Die Flinten hielten sie schußbereit. Man mochte von Ponapillor halten, was man wollte. Er hatte keine Ahnung von interstellarer Politik und eine höchst nebelhafte Vorstellung davon, wie schwierig es war, die Prinzipien einer fortgeschrittenen Technik zu erlernen. Aber wenn es darum ging, seinen persönlichen Schutz zu organisieren, wurde er zum Profi. Sie bestiegen einen der Transporter: Gardisten vor und hinter Julian, Ponapillor in der Nachhut. Julian erklärte die Handhabung der Pilotenkonsole. Ein Gleiter dieses Typs besaß nur ein -36-
Minimum an Kontrollen. Julian rechnete damit, daß der Patriarch die Handhabung des Steuers binnen weniger Minuten erlernen und darauf erpicht sein würde, selbst die Rolle des Piloten zu übernehmen. Selbstverständlich würde der Terraner in seiner Nähe bleiben müssen, damit er rasch genug eingreifen konnte, wenn Ponapillor ein Fehler unterlief. Auf diese Gelegenheit wartete Julian. Er konnte den Patriarchen packen und die Gardisten durch ein paar unkonventionelle Manöver aus dem Gleichgewicht bringen, bis er die Lage unter Kontrolle hatte. Ponapillor machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er selbst wollte mit dem Steuer nichts zu tun haben. Einer der Gardisten wurde abkommandiert, von Julian zu lernen. Er legte sorgfältig seine Flinte ab, bevor er im Sitz des Piloten Platz nahm, und stellte sich während der Instruktion so begriffsstutzig an, daß Julian der Schweiß der Frustration auf die Stirn trat. Er brachte den Gleiter schließlich in die Höhe und dirigierte ihn mit beachtlicher Geschwindigkeit so dicht über die Mauerkrone hinweg, daß seinem halbwegs erschöpften Lehrer ein wirrer Gedanke in den Sinn kam: Das wäre auch eine Möglichkeit Kamikaze! Der Patriarch indes war begeistert. Er lobte den Gardisten und tat seinen Wunsch kund, einen weiten Rundflug zu unternehmen. Der Transporter war in nördlicher Richtung gestartet. Julians Hoffnung, daß Ponapillor nichts Eiligeres zu tun haben würde, als die KIMBRIA zu inspizieren, ging nicht in Erfüllung. Anderthalb Stunden lang kreuzten sie über das hügelige, hier und da von Wäldern bestandene Land im Norden der Hauptstadt Topeia, ehe der Patriarch des Vergnügens müde wurde. Dann allerdings mußte Julian das Steuer übernehmen, denn der Gardist hatte hoffnungslos die Orientierung verloren. Nach der Rückkehr zum Palastkomplex durfte Julian eine Mahlzeit zu sich nehmen. Ponapillor war nicht kleinlich. Noch unter dem Eindruck des ersten erfolgreichen Ausflugs mit dem -37-
›Wunderfahrzeug‹ ließ er ein Mahl zubereiten, das an Schmackhaftigkeit selbst die Dinge übertraf, die während des großen Festes am vorvergangenen Abend aufgetafelt worden waren. Der Patriarch saß in sicherer Entfernung und sah Julian beim Essen zu. Als dieser sich nach dem letzten Bissen den Mund abwischte, sagte er: »Jetzt wird es Zeit, daß wir das große Sternenschiff in Augenschein nehmen. Bist du bereit?« »Wie du befiehlst«, antwortete Julian Tifflor ergeben. Innerlich bebte er vor Erregung. Die KIMBRIA war ein um so viel komplizierteres Gebilde als der Transporter. Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn sich ihm dort keine Möglichkeit böte, den Tyrannen in seine Gewalt zu bringen. Aber auch Ponapillor war auf der Hut. Während des Fluges zum Landeplatz der KIMBRIA mußte Julian Tifflor das Steuer führen. Zehn Gardisten standen und kauerten in sicherer Entfernung hinter ihm und hielten die Läufe ihrer Flinten auf ihn gerichtet. Der Patriarch hatte sich angelegentlich erkundigt, wievieler Männer es bedürfe, das ›große Sternenschiff‹ zu handhaben, und war sichtlich beeindruckt, als Julian ihm erklärte, für den ersten Probeflug genüge ein einziger. Er steuerte den Transporter in die große Hangarschleuse und erläuterte seinen staunenden Zuhörern, wie der Kodegeber bedient werden müsse, damit das Schleusenschott sich planmäßig öffne. Er hatte gehofft, der Patriarch werde ihn als ersten von Bord gehen lassen. Damit wäre das Problem gelöst gewesen. Er traute sich zu, die kleine Mannschleuse zu erreichen, bevor die Gardisten den ersten Schuß abfeuerten. Das Schiff ließ sich von außen verriegeln. Er hätte Ponapillor und sein Gefolge eingesperrt, bis Hunger und Durst sie zur Kapitulation zwangen. Aber wiederum war der Patriarch schlauer. Fünf Gardisten stiegen als erste aus und nahmen Julian in Empfang. Ponapillor -38-
mit dem Rest seiner Begleiter folgte. Vor dem Antigravschacht zögerten die spitzbehelmten Leibwächter Seiner Heiteren Ausgeglichenheit. Das unsichtbare Kraftfeld, in dem man schwerelos nach oben gleiten konnte, war ihnen unheimlich. Wiederum rechnete Julian damit, daß man ihn voranschicken würde, damit er den anderen zeigen konnte, wie sie sich anstellen mußten. Aber Ponapillor hetzte die verängstigten Gardisten mit wütenden Befehlen in den Schacht und lachte höhnisch hinter ihnen drein, als er sah, wie sie hilflos zappelnd in die Höhe stiegen. Julian durfte ihnen erst folgen, als die ersten fünf den sicheren Boden der Kommandozentrale erreicht hatten, und oben war er gezwungen, unmittelbar neben dem Schachtausstieg stehenzubleiben, so daß sich ihm keine Möglichkeit bot, das künstliche Schwerefeld abzuschalten. So waren also alle Chancen vertan bis auf die letzte - jene, die er hatte vermeiden wollen, weil sie ihm zu geringe Sicherheit bot und er nicht wußte, ob sie sich zu seinen oder zu Ponapillors Gunsten auswirken würde. Jetzt blieb ihm keine Wahl mehr. Es war entweder diese Gelegenheit oder gar keine. Es war ihm klar, daß er mit seinem Leben spielte. Er schaltete die Vorwärmung ein, und während draußen im Ringwulst die Generatoren mit halblautem Rumoren zum Leben erwachten, erklärte er den Metopäern mit möglichst einfachen Worten die Wirkungsweise des Triebwerks. Auf der Kontrollkonsole lief eine Grün-Meldung nach der anderen ein. Die KIMBRIA war eine Spezialanfertigung. Sie schaffte es vom Kaltstart bis zur vollen Verfügbarkeit der Triebwerke in weniger als acht Minuten. »Bist du bereit für den ersten Flug zu den Sternen, Patriarch?« fragte Julian, als das letzte Bereit-Zeichen aufleuchtete. Ponapillor sah sich mißtrauisch um. Man merkte ihm an, daß er sich vor dem Unmaß an konzentrierter Technik fürchtete. Das Sternenschiff war etwas ganz anderes als der Transporter. Dort -39-
hatte er noch mitempfinden können, wie die Maschinerie arbeitete und was sie bewirkte. Hier kam er sich verloren vor. »Wie weit willst du uns bringen?« erkundigte er sich unsicher. »So weit, bis der Himmel in tiefem Schwarz leuchtet und du dutzendmal mehr Sterne sehen kannst, als selbst in der klarsten Nacht.« Der Patriarch machte die Geste der Zustimmung. »Laß uns zu den Sternen aufsteigen«, sagte er. »Aber ich will, daß wir wieder zurück sind, bevor die Zeitspanne verstrichen ist, die du eine halbe Stunde nennst.« Julian nickte. Er würde bereits in fünf Minuten wissen, ob sein Vorhaben Erfolg hatte oder nicht. Mit fest zusammengekniffenen Lippen ließ er sich im Sessel des Piloten nieder und drückte die Starttaste. »Wir bewegen uns nicht!« rief Ponapillor über das dumpfe Grollen der Triebwerke hinweg. »Sieh durch das große Fenster dort«, antwortete Julian und deutete auf den rundum laufenden Panoramabildschirm. »Wir beschleunigen nur mit geringen Werten. Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber durchs Fenster erkennst du, daß wir steigen.« »Bei allen Göttern der Nacht!« stieß der Patriarch hervor. »Ich sehe es. Warum kann ich nicht spüren, daß wir uns bewegen?« Julian musterte die Anzeige des Akzelerometers. Die KIMBRIA beschleunigte mit 10 Gravos. »Es gibt ein Gerät, das wir den Andruckneutralisator nennen«, sagte er. »Wir brauchen ihn, um den Druck zu beseitigen, der bei hohen Beschleunigungen entsteht. Ich kann ihn so einregulieren, daß du die Bewegung spürst. Willst du das?« Ponapillors Blick folgte begeistert den schrumpfenden Details der Landschaft, die mit zunehmender Geschwindigkeit in den Hintergrund fiel. Auch die Gardisten hatten für den Augenblick ihre eigentliche Aufgabe vergessen und starrten auf den Bildschirm. -40-
»Ja, das will ich«, rief Ponapillor. Narr, der du bist, dachte Julian Tifflor. Wenn ich Glück habe, hast du dir soeben dein eigenes Urteil gesprochen. Seine Hand fiel schwer auf die Taste, die die Leistungszufuhr des Andruckneutralisators regulierte. Unwillkürlich spannten sich seine Muskeln und bereiteten sich auf den Aufprall der Beharrungskräfte vor. Zehn Gravos? Vor zwölf Jahren, als er an der Raumakademie studierte, damals noch ein junger Kadett, war er nach ›terranischem Ritus‹ trainiert worden - als gäbe es die arkonidische Raumfahrttechnik mit ihrem unvorstellbaren Komfort noch nicht. Er war Andruckkräften unterworfen worden, wie sie an Bord der primitiven Raumfahrzeuge der Pionierzeit geherrscht hatten. Zehn Gravos würde er eine Zeitlang ertragen können. Die Frage war, wie die Metopäer sich damit zurechtfanden. Er mußte sie binnen weniger Sekunden ausschalten, oder er war verloren. Notfalls galt es, die Beschleunigung zu erhöhen. Die nächsten Sekunden würden zeigen, wer länger aushielt - der Gegner oder der Major der terranischen Raumflotte. Der Andruck sprang ihn an wie ein wildes Tier. Hinter ihm polterte es. Ein wilder Schrei gellte auf. »Nein. . . das. . . will ich nicht!« Julian Tifflors Miene verzerrte sich zu einem freudlosen Grinsen. Es kommt jetzt nicht mehr darauf an, was du willst. Die Beharrungskraft stauchte ihn tief in das elastische Polster des Sessels. Er hatte Mühe, den Kopf zu wenden. Sechs Gardisten lagen am Boden und rührten sich nicht mehr. Drei weitere waren so tief in ihre Sitze gesunken, daß man sie kaum mehr sehen konnte - das Mobiliar der Kommandozentrale war ohnehin überdimensioniert, gemessen an ihrer geringen Körpergröße. Flinten lagen wahllos auf dem Boden verstreut. Nur Ponapillor selbst und der letzte seiner Gardisten waren noch aktiv. Der Patriarch, mit schmerzverzerrtem Gesicht und grünlicher Haut-41-
farbe, stemmte sich gegen den mörderischen Druck der Beharrungskraft und befahl mit röchelnder Stimme: »Er hat uns betrogen, Gardist. Töte ihn!« Der zehnte Leibwächter kauerte am Boden. Die Flinte war ihm entfallen, aber er hatte noch genug Kraft, sie langsam wieder an sich zu ziehen. Es würde ihm nicht gelingen, den Lauf zu heben, entschied Julian. Aber wenn er es nur schaffte, sie abzufeuern, dann war die Möglichkeit gegeben, daß das überdimensionierte Geschoß verheerenden Schaden in der komplexen Technik der KIMBRIA anrichtete. »Töte ihn!« röchelte Ponapillor. »Bring ihn um!« Der Gardist krallte die Hand um den Bügel, der den Abzug zur Betätigung des Steinschlosses umgab. Julian mußte handeln. Jeden Augenblick konnte das Unglück geschehen. Mühsam wandte er sich der Konsole zu. Er stemmte den Arm gegen den Sog von zehn Gravos und hatte das Gefühl, er müsse einen Berg in die Höhe heben. Sein Blick trübte sich. Mit letzter Konzentration fand er die Batterie der Tasten, die die Feinabstimmung der Triebwerksleistung bewerkstelligte. Schwer fiel die Hand nach unten. Ein Ruck fuhr durch den Körper des Schiffs. Die Beschleunigung stieg von einer Sekunde zur andern auf zwölf Gravos. Schleier tanzten ihm vor den Augen. Er hatte keine Kraft mehr, sich umzusehen. Der Schuß fiel nicht. Das allein diente ihm als Beweis, daß er auch den letzten Gardisten ausgeschaltet hatte. »Verflucht sollst du s e i n . . . « , schnarrte es hinter ihm mit ersterbender Stimme. Julian Tifflor bewegte die Hand seitwärts. Er hatte es eilig. Noch ein paar Sekunden, und er selbst verlor das Bewußtsein. Er drückte Taste auf Taste und spürte mit Erleichterung, wie der grausame Andruck nachließ. Auf dem großen Bildschirm war der Himmel längst finster geworden, wie er es Ponapillor ver-42-
sprochen hatte. Die Beschleunigung war auf drei Gravos gesunken. Er schnallte sich los und kam schwankend auf die Beine. Sein erster Gang, schwerfällig und auf wackligen Knien, zielte auf das Behältnis, in dem die Handwaffen aufbewahrt wurden. Er wich den Körpern der bewußtlosen Gardisten aus, weil es ihm zuviel Mühe bereitete, über sie hinwegzusteigen, öffnete den Schrank und nahm sich einen schweren Desintegrator, den er am Gürtel befestigte. Erst jetzt empfand er Erleichterung. Er hatte den Kampf gewonnen! Schweren Schritts kehrte er zur Konsole zurück. Er schaltete die Triebwerksleistung auf Null. Im selben Augenblick reaktivierte er das künstliche Schwerefeld. Aufatmend genoß er den sanften Druck normaler Erdgravitation. Nach der überstandenen Tortur fühlte er sich, als gleite er auf Wolken. Er sammelte die Flinten ein. Sie sollten niemals wieder dazu benützt werden, den Bürgern von Metope den Willen des Tyrannen aufzuzwingen. Um die Gardisten brauchte er sich nicht zu kümmern. Sie würden beizeiten wieder zu sich kommen. Mit dem Desintegrator hatte er sie unter Kontrolle. Er kam an Ponapillors Sessel vorbei. Die Augen des Patriarchen waren geöffnet, sein Gesicht zu einer Fratze unbeherrschten Zorns verzerrt. Er hatte das Bewußtsein nicht verloren; aber seine Kräfte waren am Ende. »Verräter. . . « , röchelte er. Julian zuckte mit den Schultern. Merkwürdig, dachte er, wie zwei gänzlich verschiedene Situationen, aus den Augen unterschiedlicher Beobachter gesehen, denselben Vorwurf erzeugen.
-43-
5. Er landete die KIMBRIA auf dem großen Platz, der den Palast umgab. Mit Absicht ging er bei der Landung reichlich unsanft zu Werke. Ein Teil der Ringmauer stürzte ein, zwei Tore wurden demoliert. Den Gardisten, die den Palast bewachten, gab er reichlich Zeit, das Weite zu suchen. Sie nahmen die Gelegenheit wahr. Als sie die mächtige Kugel des Raumschiffs sahen, die sich auf sie herabsenkte, rissen sie aus, als säße ihnen der Leibhaftige im Nacken. An Bord hatte Julian inzwischen aufgeräumt. Die Gardisten, von denen einige inzwischen das Bewußtsein wiedererlangt hatten, befanden sich in sicherem Gewahrsam. Die Flinten waren vernichtet. Lediglich den Patriarchen hatte er sich aufgehoben. Ponapillor war noch immer bewegungsunfähig. Julian lud sich den schmächtigen Körper über die Schulter, trieb den zentralen Antigravschacht hinab und ging durch die Bodenschleuse von Bord. Er stieg über die Trümmer der eingestürzten Mauer. Er war nicht sicher, was nun geschehen würde. Er hatte keine Ahnung, wo die Gefangenen untergebracht waren. Ponapillor würde es ihm sagen können; aber wer garantierte ihm, daß er die Wahrheit sprach und ihn nicht statt dessen in eine Falle lockte? Als er sich den ersten Gebäuden näherte, bewegte er sich vorsichtiger. Man wußte nicht, wie weit die Loyalität der Gardisten ging. Hinter jeder Ecke mochte einer von ihnen lauern, und Julian Tifflor hatte bedeutenden Respekt vor der Durchschlagskraft der Monstergeschosse, die ihre altmodischen Flinten verfeuerten. Ein Ruf hallte durch die flimmernde Luft des heißen Nachmittags. Julian wandte sich seitwärts. Sie kamen aus einem der Langhäuser, in denen die Stellvertreter ihre Quartiere hatten: -44-
zwei Dutzend Frauen, angeführt von Narna. Julian setzte seine Last ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ponapillor, völlig demoralisiert, sackte haltlos in sich zusammen. »Metope schuldet dir Dank, Terraner«, sagte Narna feierlich. »Wir sahen dich kommen. Unser Plan lag schon seit langem fest. Als wir erkannten, was du da mit dir schlepptest, schlugen wir zu. Die vierzehn Stellvertreter sind festgesetzt. Acht aus unserer Gruppe bewachen sie mit den erbeuteten Flinten.« Julian lächelte. Hatte sie ihm nicht erst gestern nacht erklärt, die Frauen verstünden nicht, mit den Waffen umzugehen? »Wir sind das Komitee der provisorischen Regierung«, fuhr Narna fort. »Ich bitte dich, uns deinen Gefangenen zu übergeben.« »Was habt ihr mit ihm vor?« fragte Julian besorgt. »Ich kann ihn euch nicht aushändigen, wenn ihr. . . « »Keine Sorge«, fiel sie ihm ins Wort. »Der Wicht mag sein Leben behalten. Wir sind nicht blutdürstig. Er soll weiterexistieren dürfen, ein Demonstrationsobjekt für die, die über die Dummheit und die Grausamkeit der Tyrannei zu lernen wünschen.« Julian trat zurück. Zwei der Frauen packten Ponapillor unter den Armen und zerrten ihn auf die Beine. Der Patriarch gab ein ängstliches Wimmern von sich, leistete jedoch keinen Widerstand, als er abgeführt wurde. »Wo sind die Terraner, Narna?« wollte Julian Tifflor wissen. »Komm«, sagte sie freundlich. »Ich führe dich.« Sie schritten an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Kein einziges Wort des Dankes wurde gesprochen. Sie sahen besser aus, als er sie in Erinnerung hatte. Man hatte sie verköstigt und ihnen die Möglichkeit gegeben, ihr Äußeres zu restaurieren. Narna stand abseits und verfolgte den Vorgang mit verwunderten Blicken. Colonel Ciryl war der letzte, der die große Ge-45-
meinschaftszelle verließ. Julian trat ihm in den Weg. »Sir, die KIMBRIA ist. . . « Ciryls eiskalter Blick ließ ihn verstummen. Er erschrak über das Ausmaß der Verachtung, die ihm aus den stahlgrauen Augen entgegenleuchtete. »Zur Seite, Wicht!« grollte die tiefe Stimme des Colonels. Julian trat einen Schritt zurück. Ciryl ging an ihm vorbei. Der Weg, den die Befreiten einzuschlagen hatten, war nicht zu verfehlen. Die KIMBRIA war über die Dächer der flachen Palastgebäude hinweg deutlich zu sehen. »Sir«, rief Julian dem Colonel hinterher: »Ich erinnere Sie an Ihr Versprechen. Ich bestehe darauf, standrechtlich erschossen zu werden.« Ciryl achtete nicht auf ihn. Er schritt weiter, ohne auch nur den Kopf zu wenden. Narna trat hinzu und nahm behutsam Julians Arm. »Warum verhalten sie sich so?« fragte sie ratlos. »Ich habe gegen das Gesetz der Solidarität verstoßen«, antwortete er mit bitterem Lächeln. »Die Aufgabe des Soldaten ist, den Mund zu halten, militärische Geheimnisse zu wahren und zum Ruhm Terras zu sterben. So wenigstens heißt es in Ciryls Buch. Daß einhundertzwanzig Menschen dir und mir ihr Leben verdanken, zählt für ihn nicht. Lieber auf dem Schild als ohne den Schild: Das ist einer seiner Wahlsprüche.« Sie strich ihm über die Hand. »Wie kannst du jemals wieder unter solchen Wesen leben?« fragte sie zärtlich. »Sie sind grausam. Fast so grausam wie der Patriarch, nur auf andere Weise. Bleib bei mir. Wir können deinen Rat, deine Hilfe brauchen, und ich selbst. . . « Er sah ihr in die großen, leuchtenden Augen. »Wenn du wüßtest, wie groß die Versuchung ist, Narna«, sagte er. »Aber ich kann nicht hierbleiben. Ich habe ein feierli-46-
ches Versprechen gegeben, der Menschheit zu dienen.« Er löste ihren Griff und nahm sie in die Arme. »Ich traue Ciryl zu, daß er das Schiff startbereit macht und ohne mich aufbricht. Es bleibt mir keine Zeit.« Er küßte sie. Dann wandte er sich um und strebte mit weiten, raschen Schritten davon. Sie rief hinter ihm her; aber er tat so, als höre er es nicht. Ein peinvolles Feuer brannte in seinem Herzen. Wenn er jetzt stehenblieb und sich umwandte - wer weiß, ob er die Kraft aufgebracht hätte, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Er hastete die Gangway hinauf. Oben, im offenen Luk, stand Colonel Ciryl. Julian salutierte. »Erlaubnis, an Bord gehen zu dürfen, Sir.« Ciryl erwiderte den Gruß nicht. Mit kaum hörbarer Stimme antwortete er: »Zugestanden.« Somit war Major Julian Tifflor, wie man in früheren Zeiten gesagt hätte, in Ungnade gefallen. Auf der Erde brachte ihn Colonel Ciryl vor ein Militärgericht. Der Rat der Geschworenen nahm Ciryl nicht ab, daß er das Standrecht erklärt habe. Seine Erklärung, so hieß es, sei unter dem Einfluß höchster Erregung und ohne die nötige Umsicht abgegeben worden und somit ungültig. Andererseits hatte Major Tifflor gegen einen ausdrücklich gegebenen Befehl verstoßen und sich somit der Insubordination schuldig gemacht. Von einer Degradierung des Schuldigen sah das Gericht wegen zahlreicher mildernder Umstände ab. Julian Tifflor erhielt einen scharfen Verweis, was man im Flottenjargon einen protokollierten Rüffel nannte. Damit war seine Karriere vorerst auf Eis gelegt, und somit ist erklärt, warum er im Jahr 2040 erst den Rang eines Obersten erreicht hatte. Perry Rhodan hielt sich dem Verfahren fern. Seit dem Einsatz im 221-Tatlira-System galt Julian Tifflor als sein Protege. Jede Einmischung seinerseits hätte dem jungen Major eher geschadet als genützt. -47-
Die Jahre verstrichen. Der schwarze Fleck auf Julian Tifflors Personalakte verblaßte allmählich. Er machte sich einen Namen - man hätte sogar sagen können: Er wurde berühmt. Über berühmte Menschen schreibt man Biographien. Die ersten solchen Angebote schlug der bescheidene Tifflor in den Wind. Schließlich aber ließ man ihn von oben herab wissen, daß man eine Dokumentation seines Lebenslaufs im Sinn der Öffentlichkeitsarbeit der Solaren Flotte durchaus für wertvoll halte. Julian gab nach. Er überließ den Bearbeitern der Biographie zwei Behälter voll Archivmaterial. In monatelanger Such- und Sortierarbeit wühlten sie sich hindurch und stießen unter anderem auf ein winziges Stück pergamentartiger Substanz, das offenbar vor geraumer Zeit chemisch konserviert und in einen kleinen Bilderrahmen gepaßt worden war. Das Pergament enthielt archaische Schriftzeichen des arkonidischen Alphabets. Es dauerte geraume Zeit, bis der Inhalt des kurzen Textes entziffert war. Die Schwierigkeit lag darin, daß die verwendete Sprache eine stark korrumpierte, kaum mehr verständliche Variante des Arkonidischen war. Die kurze Mitteilung lautete: »Geh auf den Wunsch des Patriarchen ein. Wir helfen dir, und du hilfst uns.« Julian Tifflor, über den Hintergrund der geheimnisvollen Botschaft befragt, verweigerte die Antwort für lange Zeit jahrzehntelang, um genau zu sein, so daß in seiner Biographie zwar das Vorhandensein des Pergaments, nicht aber seine Bedeutung erwähnt wurde. Was hätte es für einen Zweck gehabt, die Vergangenheit wieder aufzuwärmen? Colonel Ciryl hatte längst das Zeitliche gesegnet, ebenso der Rest der Besatzung der KIMBRIA und die Geschworenen des Militärgerichts. Julian Tifflor bedurfte keiner retroaktiven Rechtfertigung. Er dachte an Narna und schämte sich der Tränen nicht, die ihm in die Augen quollen. Auch sie war längst nicht mehr. . . -48-
Marianne Sydow
TADJMALISCHE ERDBEEREN Im 23. Jahrhundert ging es in der Milchstraße sehr friedlich zu. Die Terraner trieben Handel mit allen möglichen Völkern, und die Schiffe der Explorerflotte suchten unermüdlich nach Planeten, die der Menschheit neuen Lebensraum bieten konnten. Dabei galt es, ein eisernes Gesetz zu beachten: Nur solche Welten durften besiedelt werden, die kein intelligentes Leben hervorgebracht hatten und dies mit Sicherheit auch nicht mehr tun würden - es sei denn, man bekam es mit bereits hochentwickelten Völkern zu tun, die den Terranern aus freiem Willen die Erlaubnis erteilten, Handelsstützpunkte und dergleichen einzurichten. Bei den Besatzungen der Explorerschiffe darf man getrost davon ausgehen, daß sie überaus sorgfältig arbeiteten und auch die seltsamsten Lebensformen bei ihrer Suche nach Intelligenz berücksichtigten. Erst, wenn sie absolut sicher waren, daß es dort nichts dergleichen gab, wurde der Planet für die Besiedlung freigegeben. Die meisten intelligenten Lebensformen machten sich darüber hinaus ziemlich schnell bemerkbar. Theoretisch bestand zwar die Möglichkeit, daß man auf Wesen stieß, die ihre Intelligenz absichtlich und erfolgreich verbergen konnten, aber in der Praxis war das nicht sehr wahrscheinlich. Diese Wesen mußten dann auch wirklich hochintelligent sein, um die Terraner an der Nase herumführen zu können, und das bedeutete, daß es auf ihrem Planeten diverse Spuren gab, die auf das Wirken der Fremden hindeuteten. Der bloße Gedanke daran, daß ein solcher Fall doch einmal eintreten mochte, bereitete Reginald Bull, dem Befehlshaber der Explorerflotte, erhebliche Kopfschmerzen. Denn eines war klar: -49-
Wenn die Ureinwohner erst dann bemerkt wurden, wenn die Siedler sich in ihrer neuen Heimat eingelebt hatten, würde es sehr schwer sein, diese von dort wieder zu entfernen. . .
Der Planet Tadjmal hatte seit jeher zu Reginald Bulls Sorgenkindern gehört, und als er jetzt dorthin unterwegs war, erinnerte er sich deutlich an Hank Herschel, der nun schon seit Jahren den wohlverdienten Ruhestand genoß. Herschel war Kommandant eines Explorerschiffs und ein alter Raumhase, obwohl er damals erst um die vierzig Jahre alt gewesen war. Man behauptete von ihm, daß er jede Art von Ärger im voraus förmlich riechen konnte. Wer einen solchen Ruf besitzt, muß ihm natürlich auch gerecht werden, und dann neigt er vielleicht hier und da dazu, es ein wenig zu übertreiben und Gespenster zu sehen - zum Beispiel im Fall Tadjmal. Herschels Schiff war dort gelandet, und die Mannschaft hatte die üblichen Untersuchungen durchgeführt. Sämtliche Berichte liefen darauf hinaus, daß Tadjmal ein erstklassiger Siedlungsplanet war. Nur Herschel tanzte aus der Reihe und empfahl, den Planeten entweder zu sperren oder ihn wenigstens geraume Zeit unter Beobachtung zu halten. Mit Rücksicht auf die Tatsache, daß Herschel bisher niemals danebengetippt hatte, ordnete Bull eine zweite und noch genauere Untersuchung an, die die Ergebnisse von Herschels Leuten voll und ganz bestätigte. Daraufhin gab Bull den Planeten frei, und er war nicht sonderlich überrascht, als prompt Hank Herschel bei ihm auftauchte. »Ich kann mir denken, was Sie von mir wollen«, sagte Bull, als Herschel gerade zur Tür herein war. »Ich soll Ihren Ahnungen nachgeben und Tadjmal III sperren lassen.« »Das wäre ratsam«, nickte Herschel. »Und mit welcher Begründung sollte ich das tun?« »Ganz einfach: Verdacht auf das Vorhandensein einheimi-50-
scher Intelligenzen.« »Tut mir leid, aber dieser Verdacht läßt sich beim besten Willen nicht länger aufrechterhalten«, lehnte Bull ab. »Die zweite Expedition hat alles noch gründlicher unter die Lupe genommen. Der Planet ist sauber. Außerdem sind die Lebensbedingungen dort sehr gut.« »Trotzdem wird es Ärger geben«, unkte Herschel. »Unter Garantie. Ich war dort, und ich weiß, wovon ich rede. Irgend etwas stimmt dort nicht. Zwei meiner Leute sind auf diesem Planeten spurlos verschwunden. Wir haben weder sie noch ihre Leichen oder Teile ihrer Ausrüstung finden können.« »Sie haben aber auch nichts gefunden, was auf das Vorhandensein von Ureinwohnern hingedeutet hätte.« »Für mich ist das spurlose Verschwinden von zwei Menschen bereits ein sehr deutlicher Hinweis!« »Ihre Leute und die Teilnehmer der zweiten Expedition gehen davon aus, daß die beiden von Tieren angegriffen wurden«, meinte Bull schulterzuckend. »Auch sie selbst haben in ihrem Bericht ausdrücklich betont, daß es auf Tadjmal einige sehr gefährliche Lebensformen gibt.« »Wäre das nicht schon ein Grund, die Entscheidung wenigstens aufzuschieben?« fragte Herschel hoffnungsvoll. »Sie wissen vermutlich, welchen Unsinn Sie jetzt reden! Die Siedler werden auf diese Gefahren vorbereitet und entsprechend ausgerüstet - sie werden sich gegen diese Tiere schon durchsetzen.« »Aber es kann kein Tier gewesen sein! Ein Tier hinterläßt Spuren, und man kann die Überreste seiner Opfer finden.« »Nicht, wenn das Tier gründlich genug vorgeht. Diese - wie heißen sie noch gleich? Ach ja, Sumpfkröten - sind groß genug, um einen Menschen einfach herunterzuschlucken.« »Ja - und schlau genug, um ihn sofort wieder auszuspucken, es sei denn, der betreffende Mensch gerät ihnen splitternackt vor -51-
die Nase. Diese Tiere sind doch keine Mülleimer. Sie merken sehr schnell, daß Uniformen, Funkgeräte und ähnlicher Kram für sie unverdaulich sind.« »Gut, aber sicher gibt es unter ihnen auch ausgesprochen dumme Exemplare, und außerdem sind die Sumpfkröten nicht die einzigen großen Fleischfresser auf Tadjmal. Vor allem ist es doch sehr auffallend, daß diese beiden Unglücksfälle unmittelbar nach der Landung stattgefunden haben, in den ersten Tagen Ihres Aufenthalts auf Tadjmal. Ihre Leute hatten die Gefahren des Planeten noch nicht in vollem Umfang erkannt. Später hat es keine Zwischenfälle mehr gegeben, weder bei der ersten, noch bei der zweiten Expedition. Gibt Ihnen das nicht zu denken?« »Sehr sogar!« versicherte Hank Herschel grimmig. »Wissen Sie, welchen Verdacht ich nicht loswerden kann? Daß auf Tadjmal Wesen sitzen, für die wir Menschen ganz besonders appetitliche Happen darstellen. Wesen, die intelligent genug sind, um unsere Absichten zu durchschauen, und die nur darauf warten, daß die Schiffe mit den Siedlern dort eintreffen!« »Das würde bedeuten, daß diese Wesen im Grunde genommen sehr primitiv sind.« »Glauben Sie das wirklich? Kann es nicht auch umgekehrt sein? Ist es nicht denkbar, daß auf Tadjmal eine Lebensform existiert, für die wir Menschen nichts anderes als Tiere sind?« Reginald Bull betrachtete den Kommandanten aufmerksam, und er nahm sich vor, mit dem zuständigen Psychologen zu sprechen. Hank Herschel machte in diesem Augenblick auf ihn den Eindruck eines Mannes, der an einer unter Raumfahrern mitunter vorkommenden Form von Verfolgungswahn litt: einer durch bestimmte Erlebnisse erworbenen, pathologischen Angst vor dem Unbekannten. »Ich werde den Fall Tadjmal noch einmal genau überprüfen«, versprach er, und er meinte das ernst, denn Herschel hatte bisher keine Symptome dieser Art gezeigt. »Wenn ich auch nur den -52-
geringsten Zweifel hege, werde ich die ganze Sache abblasen.« Eine dritte Expedition ging nach Tadjmal III und fand absolut nichts, was Hank Herschels Verdacht hätte bestätigen können. Hank Herschel andererseits wies keinerlei psychische Defekte auf und leistete weiterhin gute Arbeit. Allerdings ließ es sich nachweisen, daß er zu jenem Zeitpunkt unter extremer psychischer Belastung gestanden hatte: Seine Frau, eine Exobiologin, hatte sich ein Jahr zuvor von ihm getrennt, um auf einem anderen Explorerschiff Dienst zu tun, und sie war von den Ureinwohnern eines bis dahin unerforschten Planeten getötet worden - zwei Wochen vor Hank Herschels Landung auf Tadjmal III. Reginald Bull legte den Fall zu den Akten, und Tadjmal wurde besiedelt. Das war jetzt über fünfzig Jahre her, und er hatte seine Entscheidung niemals bedauern müssen. Tadjmal III war eine vorbildliche Kolonie, die blühte und gedieh und auf ausgezeichnete Bilanzen verweisen konnte. Die Kolonisten begannen bereits, sich als Tadjmaler zu bezeichnen. Sie legten sich die für Kolonisten dieser Art typische Arroganz den Terranern gegenüber zu, strebten recht offensichtlich nach totaler Unabhängigkeit vom Mutterplaneten - und begannen dann plötzlich, Handelsbeziehungen zu den Springern und den Überschweren aufzubauen. Das wäre nicht weiter verdächtig gewesen, denn Tadjmal exportierte vorzugsweise die für diesen Planeten typischen Delikatessen, und sowohl die Springer, als auch die Überschweren liebten solche Genüsse - teils, weil sie sie selbst gerne verspeisten, aber auch, weil man mit solchen Waren hohe Gewinne erzielen konnte. Bedenklich war allerdings, daß die Tadjmaler Tauschgeschäfte bevorzugten und sich mit Waffen aller Art bezahlen ließen. Noch bedenklicher war die Tatsache, daß sie sich gegen Besucher aller Art sperrten. Wer zu ihnen kam, der bekam außer dem Raumhafen der Hauptstadt und einigen angrenzenden Bezirken nichts von dem ganzen Planeten zu sehen. Und das, obwohl Tadjmal zwischendurch für einige -53-
Jahre recht gut an jener Sorte von Touristen verdient hatte, die ein besonderes Vergnügen daran fanden, möglichst imposante und gefährliche Tiere zu erlegen. Einige dieser Leute hatten versucht, mittels fingierter Notlandungen an die begehrten Trophäen zu gelangen, aber die Tadjmaler hatten sich mittlerweile offenbar ein außerordentlich gutes Ortungssystem zugelegt: Sie waren stets umgehend zur Stelle und schoben die Möchte-gern-Jäger im Eiltempo wieder ab. Als Reginald Bull das alles erfuhr, da erinnerte er sich plötzlich daran, mit welchem Unbehagen er diesen Planeten zur Besiedelung freigegeben hatte. Hank Herschel hatte sich nur in diesem einen Fall geirrt - aber war es wirklich ein Irrtum gewesen? Bull wurde sich der Möglichkeit bewußt, daß er einen Fehler gemacht haben könnte. Er war niemals persönlich auf Tadjmal gewesen, und er fand, daß es Zeit war, dieses Versäumnis aufzuheben. Ein Explorerschiff brachte ihn nach Tadjmal, täuschte einen schweren Maschinenschaden vor und vollbrachte eine kunstgerechte Notlandung fernab aller menschlichen Siedlungen. Das tadjmalische System funktionierte einwandfrei, und überraschend schnell waren Gleiter zur Stelle, die die Schiffbrüchigen aufnahmen und abtransportierten. Die Siedler waren dabei nicht sehr höflich, aber Reginald Bull hatte seinen Leuten eingeschärft, auf keinen Fall passiven oder aktiven Widerstand zu leisten, vor allem aber Bulls Namen nicht zu nennen. So kam es, daß die Siedler - beziehungsweise die arroganten jungen Männer, die diese Aktion durchführten - ihn für ein normales Besatzungsmitglied hielten und ihn ohne weitere Umstände in einen der Gleiter verfrachteten. In den Schulen von Tadjmal legte man offenbar längst keinen Wert mehr darauf, den Kindern etwas über die bestehenden Verhältnisse auf dem fernen Planeten Terra beizubringen - zumindest befaßte man sich nicht allzu intensiv mit der Politik. Den Namen Reginald Bull moch-54-
ten diese jungen Leute schon mal gehört haben, aber keiner von ihnen war in der Lage, ihn zu erkennen. Man brachte die angeblichen Schiffbrüchigen nach Tajgor, der Hauptstadt der jungen Kolonie, wie Bull es erwartet hatte. Tajgor war mittlerweile ein recht ansehnliches Städtchen geworden. Der Planet hatte mittlerweile rund fünf Millionen menschliche Einwohner, und allein eine halbe Million davon lebte in Tajgor. Hier befand sich der Raumhafen von Tadjmal die wesentlich kleineren Landefelder, die man zu Beginn der Besiedelung angelegt hatte, durften nicht mehr angeflogen werden -, und hier stand auch die einzige Hyperfunkstation. Vor allem aber lebte John Dynkham hier, der wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt mächtigste Mann in dieser Kolonie. Die Gleiterkolonne streifte Tajgor nur, steuerte auf geradem Kurs den Raumhafen an und landete dort. Aus den beiden kleineren, schnelleren Fahrzeugen, die - wozu eigentlich? - eine Art Geleitschutz darzustellen schienen, sprangen selbstbewußte junge Offiziere in schmucken blauen Uniformen, während die ›Gäste‹ von den niedrigeren Dienstgraden, die schlicht und praktisch braun gekleidet waren, dazu aufgefordert wurden, die beiden Transporter zu verlassen. Auf dem Landefeld stand zur Zeit nur ein einziges Raumschiff, und das gehörte unverkennbar einer Sippe von Springern. Vom Verwaltungsgebäude her kam eine ganze Kompanie von Soldaten herbeigerannt, die die Gäste umringten und dabei deutlich zu verstehen gaben, daß die Terraner auf einem Haufen zu bleiben hatten. Dann trat einer der Offiziere vor und erklärte in freundlichem, aber bestimmten Tone, daß die gesamte Mannschaft sofort an Bord des Springerschiffs zu gehen habe - man werde sie nach Terra zurücktransportieren oder auf einem Raumhafen ihrer Wahl absetzen. Woraufhin Reginald Bull ebenfalls vortrat und in ebenso bestimmtem Tonfall kundgab - wobei er im Gegensatz zu dem jungen Offizier auch tatsächlich lächelte -, daß er als Solar-55-
marschall und Befehlshaber der Explorerflotte nicht die Absicht hege, sich an Bord eines ihm unbekannten Springerschiffs irgendwohin bringen zu lassen, sondern statt dessen verlangte, sofort mit John Dynkham zu sprechen. Man hätte meinen können, er habe das Haupt der Medusa aus der Tasche gezogen, denn für einige Sekunden waren all diese arroganten Tadjmaler wie zu Stein erstarrt. Dann fing sich der Offizier, machte eine exakte Kehrtwendung und entschwand in Richtung auf das Verwaltungsgebäude. Einige Minuten später erschienen mehrere kleine, komfortable Fahrzeuge, und mit ihnen kehrte der Offizier zurück. »Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte er steif und förmlich zu Reginald Bull. »Aber Ihr Besuch kommt für uns sehr überraschend. Admiral Dynkham ist sehr bestürzt über dieses Mißverständnis.« Admiral? dachte Bully überrascht. Das ist mir neu! »Er läßt Ihnen ausrichten, daß er Ihnen selbstverständlich jederzeit zur Verfügung steht«, fuhr der junge Tadjmaler fort. »Sie und Ihre Begleiter werden bequeme Quartiere in der Stadt erhalten, bis ein terranisches Raumschiff Sie abholen kann. Wir haben inzwischen eigens für Sie ein passendes Hotel räumen lassen. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen wollen?« »Aber mit dem größten Vergnügen!« murmelte Bull, winkte dem Kommandanten des Explorerschiffs, Simon Atabe, zu, bei seinen Leuten zu bleiben, und stiefelte neben dem Offizier zu einem der Fahrzeuge. »Wir können sofort starten«, erklärte er. »Bringen Sie mich zu Admiral Dynkham.« »Jetzt?« fragte der Offizier überrascht. »Aber ich dachte, ich meine, der Admiral meinte, daß Sie sich vielleicht erst einmal ein bißchen. . . « »Ich muß mit ihm sprechen!« fiel Bully dem verwirrten jungen Mann ins Wort. »Und zwar sofort. Es ist wichtig!« -56-
»Ja. . . jawohl, ich verstehe«, murmelte der Tadjmaler, und der Gleiter stieg mit ihm und Reginald Bull steil auf, um sofort Kurs auf das Stadtzentrum zu nehmen. »Wie heißen Sie?« fragte Bull, während sie über die Stadt hinwegflogen. »Durant, Sir!« »Hier auf Tadjmal geht es ziemlich militärisch zu, wie? Erstaunlich, wenn man bedenkt, daß dies alles sonst einen sehr friedlichen Eindruck macht!« »Es gibt hier sehr gefährliche Lebensformen, Sir!« »Aber doch nicht mitten in der Stadt oder draußen auf dem Raumhafen.« »Wir sind da, Sir. Entschuldigen Sie mich bitte für einen Augenblick.« Durant verschwand mit Windeseile in dem Gebäude, während Bull sich aufmerksam umsah. Bei dem Gebäude handelte es sich um die Verwaltungszentrale von Tadjmal, und vor jeder noch so unauffälligen Nebentür standen bewaffnete Doppelposten. Dann kehrte Durant zurück und verkündete, daß Admiral Dynkham ihn erwartete. Dynkham war groß, und mit etwas gutem Willen konnte man ihn gerade noch als schlank bezeichnen. Aber elegant wirkte er trotzdem nicht - eher grobschlächtig. Daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, daß er in einer blütenweißen Uniform steckte. Auf den ersten Blick wirkte er finster und drohend, aber als Reginald Bull genauer hinsah, hatte er das sehr bestimmte Gefühl, daß dieser Mann von Kummer und Sorgen zerfressen war. Er schien allerdings fest dazu entschlossen zu sein, sich dies nicht anmerken zu lassen. »Lassen Sie uns allein, Durant«, sagte Dynkham, und seine Stimme hatte einen vollen, energischen Klang. »Aber warten Sie bitte draußen«, fügte Bull hinzu, und Dynkham sah ihn erstaunt an, fing sich aber sofort wieder und -57-
eröffnete das Gefecht mit der Bemerkung: »Es tut mir leid, daß Sie auf so umständliche Weise zu mir gelangen mußten. Sie hätten den Leuten, die Sie und Ihre Begleiter aus dem Busch gerettet haben, Ihren Namen nennen sollen. So war es mir leider nicht möglich, einen angemessenen Empfang zu arrangieren.« »Das macht nichts«, versicherte Bull gelassen. »Sagen Sie sind Sie wirklich Admiral?« »Natürlich nicht. Man nennt mich hier nur so.« »Wegen Ihrer strategischen Fähigkeiten?« »Wir haben kein Militär. . . « »Tatsächlich? Ich hatte einen anderen Eindruck!« Dynkham zuckte die Schultern und lächelte gequält. »Tadjmal ist nicht ganz so friedlich, wie es vom Gleiter aus scheinen mag«, erklärte er. »Es gibt hier. . . « » . . . viele gefährliche Tiere«, fiel Bull ihm ins Wort. »Das habe ich schon oft genug vernommen. Aber ich kenne auch die Berichte der drei Explorerschiffe, die diesen Planeten genauestens untersucht haben. Es bestand für uns kein Zweifel daran, daß Menschen hier leben können, ohne daß es nötig wäre, die einheimische Fauna und Flora zumindest teilweise auszurotten, und ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß zum Beispiel die Sumpfkröten scharenweise durch die Straßen wandern!« »Es sind nicht die großen Tiere, die uns Sorgen bereiten«, behauptete Dynkham. »Mit denen kommen wir schon zurecht. Außerdem lernen sie schnell, daß es besser ist, uns Menschen aus dem Weg zu gehen. Was uns viel mehr Kopfzerbrechen bereitet, das sind einige kleinere Arten, wie zum Beispiel die Tickers. Hier habe ich ein Bild von so einem Tier.« Das Bild lag gewiß nicht ohne Grund auf dem Schreibtisch herum. Bull erblickte etwas, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einer irdischen Heuschrecke besaß. Das Tier hatte einen großen Kopf mit starren schwarzen Augen und bemerkenswert kräftigen -58-
Beißzangen, einen walzenförmigen, langgestreckten Körper, zwei gewaltige Sprungbeine und zwei kurze, zierliche Vorderbeine, die in Normalstellung den Boden nicht berührten. Am merkwürdigsten war ein mittleres Paar von Extremitäten, das einerseits dazu diente, den am Boden kauernden Körper zu stützen, andererseits aber als Ansatz für die an irdische Fledermäuse erinnernden Flughäute diente. »Sie können nicht im eigentlichen Sinn fliegen«, erläuterte Dynkham, »sondern nur dahingleiten, aber sie können auf diese Weise sehr schnell vorankommen. Sie sind Allesfresser im wahrsten Sinne des Wortes. Natürlich können sie Beton, Stahl, Glas und so weiter nicht verdauen und auch nicht in so kurzer Zeit Wände durchdringen, daß man selbst in geschlossenen Räumen um sein Leben bangen müßte, aber Plastik zum Beispiel ist schon interessanter für sie, soweit es ihnen als organisch genug erscheint. Sie fressen Düngemittel aller Art, fallen in Farmen und Plantagen ein, schlürfen Abwässer. . . Anfangs haben wir sie nicht einmal bemerkt, weil es nur wenige von ihnen gab. Draußen im Busch scheinen sie sogar sehr selten zu sein. Aber je mehr Menschen es in den Siedlungen gab, desto mehr Tickers tauchten auch bei uns auf. Wir mußten ein Gesetz erlassen, nach dem keine Erdbestattungen mehr erlaubt waren, weil die verdammten Biester jede noch so tief vergrabene Leiche fanden und sie samt dem Sarg auffraßen. Wir haben es mit allen möglichen Schädlingsbekämpfungsmitteln versucht, aber es hat nichts genutzt.« »Und warum haben Sie das nie gemeldet?« »Wir wollen mit unseren eigenen Schwierigkeiten auch selbst fertig werden, und wir haben den entsprechenden Weg gefunden. Die Tickers haben nämlich eine schwache Seite: Sie vertragen keine Paralysestrahlen ab einer bestimmten Intensität. Sehen Sie, theoretisch könnten wir mit sehr hohem Gewinn verschiedene lebende Waren exportieren - exotische Pflanzen, zum Beispiel. -59-
Aber in dem lebenden Gewächs könnte ein Ticker sitzen, und wir haben die Erfahrung gemacht, daß er unter solchen Umständen trotz unserer Vorsichtsmaßnahmen in ein Raumschiff gelangen könnte. Wir erlauben nur die Ausfuhr toter Güter, die vor dem Beladen bestrahlt werden. Was Sie für militärische Streitkräfte gehalten haben, das sind in Wahrheit Bollwerke gegen eine Art von Seuche, die wir mittlerweile in den Griff bekommen haben. Wir müssen vorsichtig bleiben, aber wir haben das Schlimmste bereits geschafft.« Reginald Bull sah nachdenklich auf das Bild, und er fragte sich, ob das die ganze Wahrheit war. Wenn die Tickers tatsächlich so schlimm waren, wie Dynkham es beschrieb, dann erklärte sich damit natürlich alles. Dann konnten die Tadjmaler es sich auch beim besten Willen nicht erlauben, zum Beispiel alle Spielarten von Jägern draußen im Busch herumlaufen zu lassen. Auch wenn die Tickers dort draußen relativ selten sein sollten, so mochte es genug von ihnen geben, daß sie eine Gefahr darstellten. Wenn ein paar hundert Sonntagsjäger bei der Pirsch auf Sumpfkröten, Baumtiger, Steppensegler und ähnliche Monstrositäten ihr Leben einbüßten und das auch noch publik wurde, dann konnte das dem Ruf der Kolonie schaden und dieses Geschäft für lange Zeit lahmlegen. Bull selbst hatte für diese Art von ›Sport‹ nicht viel übrig, und auch sonst gefiel ihm das alles nicht so recht, aber er mußte zugeben, daß die Motive der Tadjmaler verständlich waren. Sie hatten zuerst nichts von der Gefahr bemerkt. Als sie es bemerkten, da versuchten sie natürlich, das Problem zu bagatellisieren. Nachdem die Tickers ihnen beigebracht hatten, daß man sie nicht bagatellisieren konnte, hatten die Siedler, die sich längst auf Tadjmal eingewöhnt hatten und ihre neue Heimat nicht verlassen wollten, die Sache totgeschwiegen. Sie hatten dabei ein bemerkenswertes Maß an Verantwortungsgefühl bewiesen, indem sie sogar auf gute Einnahmequellen verzichteten und es -60-
damit wirkungsvoll vermieden, daß diese offensichtlich sehr gefährlichen Tiere auf anderen Planeten eingeschleppt wurden. Das alles war logisch und auch vom menschlichen Standpunkt her verständlich. Aber Dynkham war etwas über siebzig Jahre alt, und er war nicht auf Tadjmal, sondern auf Terra erzogen worden, und er mußte wissen, daß niemand ihm einen Vorwurf machen konnte. Trotzdem wartete er mit mühsam verborgener Nervosität auf Bulls Kommentar - oder nein, dieser Mann war nicht einfach nervös, sondern er hatte Angst. »Ich muß Ihnen und allen Bewohnern dieses Planeten mein Kompliment aussprechen«, sagte Bull langsam. »Sie haben eine Krise gemeistert, und Sie haben das aus eigener Kraft geschafft. Ich muß gestehen, daß ich ein schlechtes Gewissen Ihnen gegenüber habe: Ich hätte mich intensiver um Tadjmal kümmern sollen. Wir alle hätten das tun müssen.« Und er meinte das ehrlich. Er hatte Tadjmal aufmerksam im Auge behalten, und unter den zahlreichen Siedlergruppen waren stets auch einige Einzelpersonen gewesen, denen er vertrauen konnte und die ihn auf dem laufenden hielten - nicht nur ihn, sondern viele andere auch. Und keiner von den Eingeweihten hatte jemals Verdacht geschöpft. Bei den anderen mochten es die erstklassigen Bilanzen sein, die offensichtliche Tatsache, daß diese Kolonie wuchs und gedieh, die das verhindert hatten. Bei sich selbst konnte Bull jedoch nur eine Art von Betriebsblindheit vermuten, denn nur so ließ es sich erklären, daß er sich allein auf die Berichte jener zur Zeit der Besiedlung eingeschleusten Verbindungsleute verließ und nicht damit rechnete, daß auch sie zu Tadjmalern werden konnten, die ihre neue Heimat liebten und schützten. Er war erst aufmerksam geworden, als es bereits zu spät war und die Tadjmaler sich - mit Recht? - weigerten, Außenstehenden einen indiskreten Blick auf ihre Welt zu gestatten. Von den Tickers hatte er gerade zum ersten Mal etwas gehört. Er ging davon aus, daß es diese Wesen tatsächlich gab, denn -61-
Dynkham würde sich hüten, ihm einen offensichtlichen Schwindel unterschieben zu wollen. Gewiß gab es auch keinen Zweifel daran, daß diese Wesen tatsächlich gefährlich waren. Aber waren sie gefährlich, weil sie blind ihren Instinkten gehorchten und sich hemmungslos durch alles hindurchfraßen oder steckte mehr dahinter? »Wir sind auch so mit dem Problem fertig geworden«, hörte er Dynkham sagen, und er vergaß auf der Stelle alle Grübeleien. »In ein paar Monaten wird diese Plage der Vergangenheit angehören. Dann steht Tadjmal wieder allen Besuchern offen.« »Und wie wollen Sie das schaffen?« »Indem wir den Tickers zu Leibe gehen«, erklärte Dynkham selbstgefällig, aber seine Augen wirkten dabei sehr unruhig. »Wir haben herausgefunden, daß sie auf bestimmte Substanzen besonders stark reagieren. Tickers, die im Binnenland leben, werden von salz- und jodhaltigen Substanzen besonders stark angezogen. In der Nähe des Meeres reagieren sie merkwürdigerweise auf Zucker besonders gut. Wir werden entsprechende Köder auslegen und Paralysatorfallen errichten.« »Auf dem ganzen Planeten?« »Nun - vorerst nur im Umkreis der Siedlungen, aber dann werden wir diese Ringe immer weiter ausdehnen.« »Und die Tickers auf diese Weise ausrotten?« Für einen Augenblick verlor Dynkham die Beherrschung. »Ja!« fauchte er, und er ballte die Hände zu Fäusten. Erschrocken bemühte er sich, seine Wut zu kaschieren, indem er den Kopf senkte. »Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, oder wollen Sie anordnen, daß wir alle wegen dieser Tiere unsere neue Heimat verlassen müssen?« »Selbstverständlich nicht«, murmelte Reginald Bull. Er riß sich zusammen und fuhr fort: »Die Tickers sind ja ganz offensichtlich eine an und für sich unbedeutende Lebensform, nicht wahr?« Dynkham nickte erleichtert. »Sie haben sich sprunghaft -62-
vermehrt, als sie auf die veränderten Bedingungen in menschlichen Siedlungen trafen. Sie können das auf anderen Planeten ebenfalls tun und sind daher eine Gefahr für uns alle.« »Eine sehr große Gefahr!« betonte Dynkham. »Nun gut, ich kann das alles nicht so recht beurteilen. Aber eigentlich wollte ich auch aus einem ganz anderen Grund mit Ihnen sprechen. Ihre Leute haben mir leider keine Gelegenheit geben wollen, noch einmal in den Explorer zurückzukehren, und darum mußte ich dort etwas zurücklassen, was ich unbedingt brauche. Ich bitte Sie daher um einen Gleiter.« »Sie können nicht alleine dort hinaus fliegen!« »Das hatte ich auch gar nicht vor. Geben Sie mir Durant mit. Er ist mir sympathisch.« »Gut, Durant und einen Piloten.« »Ja, das ist vernünftig. Aber da fällt mir noch etwas ein: Bei dem Explorer handelt es sich zufällig um eines der Schiffe, die Tadjmal damals besucht haben, und die entsprechenden Daten müßten eigentlich noch im Schiffscomputer stecken.« »Merkwürdiger Zufall!« murmelte Dynkham. »Durchaus nicht - nur weil ich mich daran erinnerte, kam ich auf die Idee, ausgerechnet bei Ihnen frischen Proviant an Bord zu nehmen. In den Berichten hieß es ausdrücklich, daß Tadjmal eine ganze Reihe von erlesenen Delikatessen zu bieten hat. Jedenfalls wäre es sicher nicht verkehrt, wenn ich mich mal nach diesen Daten erkundige. Vielleicht bekomme ich etwas über die Tickers heraus. Darf ich dieses Bild mitnehmen?« »Aber selbstverständlich!« versicherte Dynkham jovial, konnte dabei aber ein nervöses Zucken seiner Hände nicht verbergen. »Möchten Sie sofort starten?« »Ja, aber vorher muß ich noch mit meinen Leuten sprechen die denken sonst noch, Sie hätten mich eingesperrt!« Er lachte, als hätte er einen Witz gemacht, und Dynkham lachte mit, aber es klang alles andere als fröhlich. -63-
Durant nahm erstaunt den Befehl zur Kenntnis, Bull zu dem Explorer zu fliegen, aber er stellte selbstverständlich keine Fragen - er war ein sehr gut erzogener Offizier. Zweifellos wußte er auch, wie er diesen Befehl im einzelnen auszulegen hatte. Er brachte Bull auf dem schnellsten Weg zu jenem Hotel, in dem die Besatzung des Explorers untergebracht war. Die Terraner waren dort ganz unter sich, wenn man vom Personal absah, und es war ein vorzügliches Hotel. Als Bull eintraf, hatte die gesamte Mannschaft sich in der Halle versammelt, um einen Schluck auf die glückliche ›Rettung‹ zu trinken - so mußte es jedenfalls den Tadjmalern scheinen. In Wirklichkeit handelten sie nach dem vorher ausgetüftelten Plan - im allgemeinen Stimmengewirr gingen Einzelgespräche unter und waren daher kaum zu belauschen, wenn man sich ein wenig vorsah. Reginald Bull wurde sofort von gut zwei Dutzend Männern und Frauen umringt, die ihm tausend Fragen stellten und alle durcheinander redeten, während er einem von ihnen, gut gedeckt, das Bild zusteckte und ihm zuraunte: »In biologische Daten übersetzen!« Und zu Atabe sagte er: »Die Leute hier scheinen Angst vor einer Lebensform zu haben, die sie ›Tickers‹ nennen. Achten Sie auf alle diesbezüglichen Bemerkungen, aber seien Sie vorsichtig. Ist unser kleines Spielzeug fertig?« »Es steckt bereits in Ihrer Jackentasche. Wäre es nicht doch besser, jetzt allmählich eine offizielle Untersuchung zu veranstalten? Die können Sie da draußen spurlos verschwinden lassen!« »Für eine Untersuchung ist es noch zu früh, und was das Verschwindenlassen angeht, so ist das nicht so einfach, wie die Herren sich das möglicherweise vorstellen.« Er hob die Arme. »Ruhe, Leute, redet doch nicht alle durcheinander! Was sollen denn die Tadjmaler von uns denken?« -64-
Als er wenig später wieder im Gleiter saß, steckte die Folie mit den Daten wohlgeborgen unter seinem Hemd. Das Foto brauchte er im Prinzip gar nicht mehr, denn nun war er imstande, dem Computer einen Ticker genau zu beschreiben, ohne mehr als einige Sekunden Zeit dafür zu benötigen. Im übrigen war das Schiff nie zuvor auf Tadjmal gelandet - es handelte sich um einen alten Kasten, den man ohnehin bald aus dem Verkehr gezogen hätte -, und die Daten dieses Planeten waren unmittelbar vor dem Start eingegeben worden. Aber selbst wenn die Tadjmaler das überprüfen wollten, würden sie es nicht herausfinden. Bull war fest davon überzeugt, daß man ihm das Bild des Tickers abnehmen würde - notfalls sogar mit Tricks, bei denen es Beulen und Kratzer auf beiden Seiten gab. Um das Verfahren abzukürzen, kam er Durant entgegen, und der fiel auch prompt darauf herein: Auf eine diesbezügliche Bemerkung Bulls hin hielt auch er eine Mittagspause für angemessen, und während der Gleiter automatisch seinen Kurs beibehielt, genossen sie in luftiger Höhe eine exquisite Mahlzeit - Antilopensteaks mit diversen Beilagen, von denen eine immer noch besser schmeckte als die, die er vorher probierte, und zum Nachtisch frische Früchte, von denen man auf Terra die eine Hälfte nie, und die andere nur äußerst selten zu horrenden Preisen in konservierter Form in gewissen Delikatessengeschäften und Feinschmeckerlokalen kaufen konnte. Bull konnte verstehen, warum die Siedler unbedingt auf Tadjmal bleiben wollten. Zum Schluß gab es tadjmalischen Kaffee, heiß, stark, dunkelrot und mit einem ungewöhnlichen, aber aufregenden Aroma. Auf Terra servierte man das Zeug in winzigen Täßchen, und im Vergleich zu dem, was Bull jetzt aus ganz normalen Plastikbechern trank, schmeckte es wie angewärmtes Wasser. Er brauchte kein schauspielerisches Talent, um sein Vorhaben auszuführen. »Was für ein herrlicher Planet«, seufzte er, nippte an seinem Kaffee und blickte auf die fernen, schneebedeckten Berge, hinter -65-
denen Hathra lag, die zweitgrößte Stadt von Tadjmal. »Wenn es hier nicht die Tickers gäbe. . . « Er zog das Bild hervor, sah es kurz an und schüttelte sich. »Die sehen unangenehm aus«, murmelte er, blickte erneut auf die Berge, streckte sich bequem in seinem Sitz aus - und schon lief heißer Kaffee aus Durants Becher über das Bild, weil der Gleiter einen winzigen Hupfer tat. »Oh, das tut mir leid, Sir!« rief Durant erschrocken. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Sir, ich weiß nicht, wie das passieren konnte, ich. . . « »Schon gut, beruhigen Sie sich!« sagte Bull scheinbar unwillig. »Es ist ja nichts passiert!« Aber es war etwas passiert - tadjmalische Fotografien vertrugen sich nämlich nicht mit tadjmalischem Kaffee, und demzufolge war von dem Ticker so gut wie nichts mehr zu erkennen. Bull betrachtete das Bild nachdenklich und zuckte die Schultern. »Da kann man nichts machen«, meinte er fatalistisch. »Aber Sie kennen die Tickers ja ganz genau, nehme ich an. Wenn Sie dem Computer die Tiere beschreiben, wird er sicher auch imstande sein, die entsprechenden Berichte herauszusuchen!« »O ja, Sir!« versicherte Durant erleichtert. »Das nehme ich auch an.« So war jeder mit sich zufrieden - der Tadjmaler, weil er glaubte, den Terraner überlistet zu haben, und der Terraner, weil er wußte, daß Durant das glaubte. Bull war sogar noch zufriedener, weil er nicht einmal gezwungen gewesen war, den Gleiter selbst zu einem Hupfer zu bewegen und damit möglicherweise einen seiner Trümpfe vorzeitig auszuspielen - der Pilot oder Durant selbst hatten das veranlaßt. Es war gut zu wissen, daß zumindest einer von ihnen das Fahrzeug beeinflussen konnte, ohne den Kontrollen nahezukommen. Die Frage war nur, welcher von beiden es war. Aber auch das sollte sich herausfinden lassen. -66-
»Nach dem Essen soll man ruhen, oder tausend Schritte tun«, zitierte Reginald Bull. »Für die tausend Schritte ist hier drin kein Platz, und wir haben noch gut drei Stunden Zeit bis zur Landung - oder irre ich mich da?« »Nein, Sir«, versicherte Durant. »Ihre Schätzung ist sogar sehr genau, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben.« »Nach einer so guten Mahlzeit erlaube ich alles«, erklärte Bull spöttisch. »Wecken Sie mich, bevor wir landen.« Als Träger eines Zellaktivators und relativ Unsterblicher brauchte er sehr wenig Schlaf, und er wußte nicht, ob man Durant und den Piloten, einen farblosen jungen Mann, dessen Namen er nicht kannte, darüber informiert hatte. Aber selbst wenn man das getan hatte - wer so lange lebte wie Reginald Bull, der lernte irgendwann auch einmal, sich so perfekt schlafend zu stellen, daß derart arrogante junge Leute ihn kaum zu durchschauen vermochten. Er suchte lange nach der richtigen Lage, gab einige Einschlafschnarcher von sich und verhielt sich dann weitgehend still, von einigen Schnarcheinlagen abgesehen, um die einzelnen Traumphasen vorzutäuschen. Anfangs verhielten die beiden sich sehr vorsichtig - man hatte sie offenbar doch gewarnt. Aber dann legte sich ihre Wachsamkeit, und sie begannen, Karten zu spielen. Auf ein leises Signal hin murmelte Durant: »So was Blödes. Noch zwei oder drei Minuten, und ich kann dich kassieren!« »Glaubst du wirklich?« fragte der Pilot spöttisch. »Laß den Gleiter ein paar Runden ziehen - der da drüben merkt es nicht, aber dich kostet es ein dienstfreies Wochenende!« Also war es Durant, der die Fernsteuerung besaß. Schließlich war es der Pilot, der verlor, und Durant weckte den hohen Gast, während der Gleiter dem Wrack des Explorers entgegensank. Kurz darauf holte Bull aus seiner Kabine eine bedeutsam aussehende Kassette, die bis auf einen Selbstzerstö-67-
rungsmechanismus, der absolut unbeeinflußbar war, überhaupt nichts enthielt. Niemand, nicht einmal die Konstrukteure selbst, konnte diese Kassette öffnen - sie war nichts weiter als eine taube Nuß, ein Täuschungsmanöver. Durant ließ Bull nicht aus den Augen, während sie in dem Wrack nach einem noch unzerstörten Terminal suchten. Als sie endlich eines gefunden hatten, begann Durant umständlich, einen Ticker zu beschreiben, und Bull kam nicht umhin, den Tadjmalern ein gewisses Maß an Respekt zu zollen. Gewiß - sie hatten Zeit gehabt, sich auf eine solche Situation vorzubereiten, aber sie konnten nicht jeden einzelnen Offizier speziell auf diese Art von Arbeit geschult haben. Oder hatten sie am Ende doch ein reines Gewissen? Sah er tatsächlich Gespenster? Durant beschrieb einen Ticker genauso, wie auch Bull es getan hätte. Auf dem Bildschirm erschienen schließlich die ersten Daten. Es wurde Zeit, Durant abzulenken. Bull, der hinter dem Tadjmaler stand, zog vorsichtig das winzige Gerät aus seiner Jackentasche und berührte einen der Sensorpunkte. Einige Tierarten von Tadjmal reagierten außerordentlich aggressiv auf den Geruch von Materialien, die von den Biologen sehr häufig benutzt wurden. Am wirkungsvollsten waren Essigäther und Chloroform. Da man diese Chemikalien sonst praktisch nirgends verwendete, ging Bull davon aus, daß die Siedler diese Dinge längst vergessen hatten - zumal schon winzige Spuren davon genügten, mehrere Quadratkilometer Busch in Aufruhr zu versetzen, ohne daß ein Mensch riechen konnte, was da in der Luft lag. Reginald Bull hatte zwei kleine Kapseln draußen vor der Schleuse an die Außenhülle des Explorers geklebt - völlig unauffällig natürlich - die sich nun öffneten. Essigäther und Chloroform verfliegen schnell - schon nach wenigen Sekunden gab der Pilot Alarm. Durant war gerade soweit, daß der Computer zu einer Artenanalyse bereit war. »Gehen Sie ’raus und halten Sie uns die Biester vom Leibe!« -68-
befahl Bull. »Ich komme nach, so schnell ich kann.« Durant zögerte nur kurz, dann rannte er davon. »Artenanalyse!« befahl Bull, als der Tadjmaler draußen war. Auf dem Bildschirm erschien ein ellenlanger lateinischer Name. »Halte das fest und gib mir eine zweite Analyse«, verlangte der Terraner und schob die Folie mit den biologischen Daten in den Eingabeschlitz. Der zweite Artenname war mit dem ersten identisch, enthielt jedoch einen Zusatz. »Worin besteht der Unterschied?« »Das erste ist die Stammart«, antwortete der Computer. »Die Individuen sind etwas gröber gebaut, dabei aber meist kleiner als bei der Varietät. Sie hausen in Erdlöchern, verlassenen Tierbauten, hohlen Baumstämmen und an ähnlichen Örtlichkeiten. Sie ernähren sich ausschließlich vegetarisch und zeigen die Tendenz, sich bei günstigem Nahrungsangebot zu Schwärmen zusammenzuschließen. Im Schwarm ändert sich ihr Verhalten, sie werden zunehmend aggressiv und nehmen schließlich jede Art von Nahrung zu sich. In diesem Stadium können sie großen Tieren wie auch Menschen gefährlich werden. Es handelt sich bei diesen Tieren um Kosmopoliten, die man fast überall auf Tadjmal antreffen kann.« »Zwischenfrage: Gibt es Anzeichen dafür, daß die Tiere im Schwarm eine Kollektivintelligenz entwickeln können?« »Negativ. Ihr Verhalten ist rein instinktiv.« »Gut. Nun zur Varietät.« »Es ist nur eine von vielen Varietäten«, korrigierte der Computer. »Die Tiere mußten sich auf die unterschiedlichsten Bedingungen einstellen. Die durch die Daten definierte Form lebt in enger Symbiose mit einer ehemals tierfangenden Pflanze. Es handelt sich um einen Baum mit eßbaren Früchten, der ursprünglich den größten Teil seiner Blätter als Fangvorrichtungen ausbildete. Diese Fangblasen wirkten wahrscheinlich speziell -69-
auf diese Tierart sehr verführerisch. Da die Tiere jedoch sehr wehrhaft sind, dürfte es im Lauf der Zeit sehr vielen von ihnen gelungen sein, sich dem Zugriff des Baumes zu entziehen, indem sie die Fangblasen unbrauchbar machten. Diese waren dann ein idealer Unterschlupf. Auch von dieser Baumart gibt es noch zahlreiche Vorkommen der Stammform sowie verschiedene Übergangsstadien. Die Bäume, die auf tierische Nahrung angewiesen waren, hatten keine andere Wahl, als sich ihren tierischen Untermietern anzupassen. Jede Wohnkammer produziert täglich einige Harzknöllchen, die von den Tieren mit Begeisterung gefressen werden. Diese Harzknöllchen enthalten Enzyme, die in den Tieren Bedürfnisse und Abneigungen hervorrufen, gleichzeitig ein Schwarmverhältnis imitieren. Die Tiere verhalten sich schwarmgemäß - sie sind aggressiv -, gleichzeitig aber wie die seßhafte Stammform, indem sie ihre Beute in die Wohnkammern eintragen. Infolge der Enzymsteuerung entspricht diese Beute dem jeweiligen Bedarf des Wirtsbaumes. Da diese Tiere sehr unterschiedliche Formen von Nahrung bewältigen können und außerordentlich resistent sind, beziehungsweise schädliche Stoffe einfach wieder ausscheiden, kann der Baum sie als Nahrungslieferanten voll akzeptieren. Er nimmt nur den Kot und den Harn der Tiere auf. Tote Individuen, die bereits in Verwesung übergehen, werden ebenfalls verwertet, soweit sie nicht rechtzeitig von ihren Artgenossen gefunden und verspeist werden. Als Ausgleich dienen die sehr zahlreich hervorgebrachten Früchte, durch die den Tieren notfalls alle Stoffe zugeführt werden, die sie um der Gesundheit des Baumes willen vermissen mußten.« »Wie heißt dieser Baum?« »Die Wissenschaftler gaben ihm einen lateinischen Namen, der Ihnen nicht viel sagen dürfte, aber die Tadjmaler nannten ihn Ladakh. Die Früchte werden auf Terra als ›tadjmalische Erdbeeren‹ verkauft. Sie sind arm an Kalorien, aber außerordentlich -70-
schmackhaft und besonders reich an Vitaminen und Spurenelementen. Darf ich in meinem Bericht fortfahren?« »Ich dachte, du wärst bereits fertig! Was kannst du mir noch berichten?« »Die Ladakh-Bäume bringen zwar viele Früchte hervor, aber die meisten enthalten keine keimfähigen Samen mehr. Samen werden nur dann ausgebildet, wenn der Baum sich in seiner Existenz bedroht fühlt, weil zum Beispiel die tierischen Symbionten von einer Seuche erfaßt werden, oder wenn der Baum dem sehr langsamen natürlichen Rhythmus folgt, indem er ab einem Alter von vierzig bis achtzig Jahren etwa einmal in jedem Jahrzehnt einige ganz besondere Früchte hervorbringt. Ein Symbiont, der eine solche Frucht frißt und dabei auch das Samenkorn hinunterschlingt, verströmt all das, was die Tiere zum Schwarmverhalten verleitet. Nichts kann ihn davon abhalten, seinen Baum zu verlassen, und wenigstens ein Dutzend bis ein halbes Hundert seiner Artgenossen fliegen mit ihm. Das Samenkorn verläßt den Körper des Schwarmführers schon sehr bald, aber der Schwarmgeruch bleibt noch monatelang an ihm haften. Wenn er sich verliert, ist der schnell wachsende Sämling bereits groß genug, um zumindest einem Teil der Symbionten Unterschlupf zu geben. Sie bleiben bei ihm und vermehren sich in demselben Maß, in dem der Baum wächst.« »Verteidigen sie ihren Baum?« »Das würde voraussetzen, daß sie die Zusammenhänge kennen. Sie verteidigen ihr Revier.« »Und ihr Revier ist mit ihrem Baum identisch?« »Ja.« »Sind sie intelligent?« »Nein. Sie handeln instinktiv, beziehungsweise wird ihr Handeln von den einzelnen Bäumen gesteuert.« »Besteht die Möglichkeit, daß die Bäume intelligent sind oder im Begriff stehen, Intelligenz zu entwickeln?« -71-
»Nein.« »Wurde das untersucht?« »Ja.« Draußen verflogen Essigäther und Chloroform, und früher oder später würde in unmittelbarer Nähe des Schiffes Ruhe eintreten. Die Zeit brannte ihm auf den Nägeln - aber es war sinnlos, einen Computer in diesem Zusammenhang zur Eile zu drängen. Das einzige, was er tun konnte: Er berührte eine Sensortaste. »Dir stehen alle Daten zur Verfügung, die wir bis zu deiner Landung auf diesem Planeten gesammelt haben. Ich habe zusätzliche Informationen für dich.« Schnell und konzentriert berichtete er, was die ›Tickers‹ angeblich anrichten. »Analyse!« befahl er dann. »Die Früchte des Ladakh-Baumes fallen reichlich genug an, um es den Siedlern zu gestatten, sie zu exportieren. Das heißt, daß sie Raubbau an diesen Bäumen betreiben und das natürliche Gleichgewicht stören. Der Schwarmtrieb kommt in erhöhtem Maß zum Tragen. Die Tiere reagieren dementsprechend zunehmend aggressiv - sie sind nicht mehr imstande, die Defizitmeldungen des Baumes durch den Genuß der Früchte auf ein normales Maß zu reduzieren. Gleichzeitig bietet sich den Siedlern eine ideale Möglichkeit, die Symbionten durch Paralyse auszuschalten. Kurzfristig wird dies eine Schwemme an Ladakh-Früchten hervorrufen. Langfristig aber wird es zur Zerstörung dieser Symbiose führen.« »Sind die Bäume intelligent oder nicht!« Der Computer schwieg fast zwei Sekunden lang, und Bull wurde sich der von draußen hereindringenden Kampfgeräusche bewußt. Aber Durant und der Pilot kannten sich in ihrer Welt aus, und der Lärm entsprach noch immer nur dem eines Handgemenges. »Die Informationen sind nicht ausreichend für eine definitive -72-
Antwort«, erklärte der Computer schließlich. »Versuchen wir es anders herum«, schlug Bull vor. »Läßt es sich mit Sicherheit ausschließen, daß sie intelligent sind?« »Nein.« »Genau das habe ich befürchtet.« Draußen wurde es allmählich lauter, und Reginald Bull wußte, daß er nicht noch länger warten durfte. Zum Glück befand sich das Terminal in der Nähe der Außenhülle, und eine Notschleuse befand sich am Ende des Korridors. Der Terraner stellte den Sprechkontakt zu Durant her. »Durch die Bodenschleuse können Sie jetzt nicht kommen«, erklärte Durant keuchend, und ausnahmsweise vergaß er sogar sein ewiges ›Sir‹. »Können Sie sich zum Gleiter durchschlagen?« fragte Bull. »Ich stehe direkt daneben. Der Pilot ist schon drinnen.« »Dann steigen Sie ein und starten Sie. Ich komme durch eine der Notschleusen. Nehmen Sie mich dort auf.« Er beschrieb die Lage und die Kennzeichnung der Schleuse und machte sich dann auf den Weg. In der engen Kammer wartete er, bis Durant ihm zu verstehen gab, daß der Gleiter zur Stelle war. Sobald er das äußere Schott öffnete, schoß ein zornig brummendes, faustgroßes Wesen herein. Bull kümmerte sich nicht um das tadjmalische Geschöpf, sondern beeilte sich, in den sicheren Gleiter zu kommen. Irgend etwas berührte brennend seine linke Wade, dann hatte Durant ihn gepackt und nach drinnen gezogen, und noch während der Einstieg sich schloß, stieg das Fahrzeug steil in die Höhe. Reginald Bull zog den Kopf ein, während Durant mit dem Paralysator das gute Dutzend kleiner Kreaturen ausschaltete, die mit dem Terraner in die Kanzel gelangt waren. »Ich möchte bloß wissen, was plötzlich in diese Biester gefahren ist!« sagte der Pilot ziemlich kläglich, und erst jetzt erkannte Bull, was er mit seinem kleinen Trick angerichtet hatte: -73-
Die beiden Tadjmaler waren zerschrammt und zerstochen und offensichtlich reichlich erschöpft. Das schlechte Gewissen ließ ihn den Stich an seiner Wade vergessen, und er begab sich daran, seine beiden Begleiter mit den für derartige Notfälle vorgesehenen Mitteln aus der Bordapotheke zu versorgen. Sie erholten sich schnell, und mit einer kleinen Portion von tadjmalischen Erdbeeren brachten sie sich endgültig wieder auf die Beine. Aber mit ihren Lebensgeistern erwachte auch ihr Verstand, und als Bull sah, wie Durant zu grübeln begann, ging er zum Frontalangriff über. »Passiert so etwas oft?« fragte er, krempelte sein linkes Hosenbein hoch und betrachtete die sich blaurot verfärbende Beule. Durant zuckte sichtbar zusammen und vergaß auf der Stelle alle mißtrauischen Fragen, die er zu stellen beabsichtigte. »Nein!« versicherte er eilig, während er dem Terraner ein Breitbandserum verabreichte. »Ich habe so etwas zum erstenmal erlebt, Sir, und es ist mir absolut unerklärlich, wie. . . « »Schon gut«, winkte Bull ab, und sowohl sein Tonfall als auch seine Geste deuteten an, daß er dem Tadjmaler kein Wort glaubte. »Vielleicht können die Biester keine Terraner riechen!« Die beiden Tadjmaler senkten verlegen die Köpfe und verzichteten fortan wohlweislich darauf, diesen Vorfall zur Sprache zu bringen. Unterdessen war in weiter Ferne bereits Tajgor zu erkennen, und der Terraner zerbrach sich den Kopf darüber, was er als nächstes unternehmen sollte. Als er nach Tadjmal aufbrach, war er davon ausgegangen, daß es irgendwo im Busch etwas gab, was die Kolonisten mit allen Mitteln zu verbergen wünschten einheimische Intelligenzen zum Beispiel. Aber inzwischen war er fast völlig davon überzeugt, daß es tatsächlich nur um die Tickers ging, beziehungsweise um jene Varietät, die in so enger Symbiose mit den Ladakh-Bäumen lebte. Dynkham selbst hatte erklärt, daß es erst seit relativ kurzer Zeit diese Schwierigkeiten -74-
gab, und Bull glaubte ihm das - auch die tadjmalischen Erdbeeren wurden nämlich erst seit wenigen Jahren in größerem Maßstab exportiert. »Ich möchte ein paar von diesen Beeren«, sagte Bull, und Durant öffnete diensteifrig einen der Plastikbehälter. Die Beeren zergingen auf der Zunge, schmeckten wie Nektar und Ambrosia und wirkten erfrischend, belebend und stärkend auf Körper und Geist - das war erwiesen, ebenso wie die Tatsache, daß sie keine Substanzen enthielten, die Rausch- und Suchtzustände hervorzurufen vermochten. Tadjmalische Erdbeeren waren absolut ungefährlich. Aber wie stand es um die Bäume, die diese Beeren hervorbrachten? Und wie kamen die Tadjmaler an diese Früchte heran? Sammelten sie sie draußen im Busch? Nein - dann hätten sie sie schwerlich in so großen Mengen exportieren können. Es mußte Plantagen geben, Pflanzungen in der Nähe der Siedlungen - und plötzlich wußte Reginald Bull, daß genau da der Hase im Pfeffer lag. Denn Ladakh-Bäume konnte man wahrscheinlich nicht so problemlos anpflanzen und kultivieren, wie man es von anderen Bäumen her gewöhnt war. Er mußte eine solche Plantage sehen, brauchte eine Gelegenheit, sich dort genau umzuschauen. Aber wenn er die beiden Tadjmaler bat, eine Zwischenlandung vorzunehmen, würden sie sich auf ihre Befehle berufen und stur weiterfliegen. Und Dynkham? Der würde Mittel und Wege finden, um den neugierigen Besucher irgendwie abzuspeisen. Also doch eine Zwischenlandung. Sie befanden sich jetzt über einem Gebiet, das bereits deutliche Spuren der Besiedlung aufwies. Wege stießen in den wilden Busch vor, hier und da gab es kleine Gruppen von Gebäuden - flachen Farmhäusern, zwischen denen stets ein Beobachtungsturm aufragte, wahrscheinlich hauptsächlich deshalb erbaut, weil man die Waldbrandgefahr besonders fürchtete. Um die Farmen herum dehnten sich die Felder aus, schachbrettartig -75-
angelegt, von zahlreichen Schutzhecken durchzogen und umsäumt, dazwischen Teiche, Gräben und Kanäle: Die Farmer von Tadjmal verstanden ihr Handwerk und hatten sich von vornherein darauf konzentriert, die natürliche Fruchtbarkeit des Bodens nicht nur auszubeuten, sondern auch zu erhalten. Sie ließen der Natur genug Raum, um sich immer wieder zu regenerieren und dadurch. . . Was war das? Reginald Bull glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. Inmitten dieser ländlichen Idylle erschien ein häßlicher Fleck, ein weites Geviert umgebrochenen Landes, wüst und öde bis auf einzelne, voneinander isolierte Gewächse, die von oben wie vertrocknete Farnkräuter aussahen. Ein einsamer automatischer Pflug zog seine Runden, wühlte den Boden noch weiter auf und überließ ihn der Erosion. Der Wind hatte den fruchtbaren Humus bereits fast vollständig davongetragen, und der Boden war hell wie reiner Sand. Nur an wenigen Stellen lag ein graugrüner Schimmer darüber. Und noch eine Farbe gab es in dieser künstlichen Wüste: Als der Gleiter darüber hinwegzog, nahm der Terraner an einigen der angeblichen Farnbüsche einen rötlichen Schimmer wahr - und diese ›Büsche‹ waren umschwärmt von einer Heerschar von Erntemaschinen und Robotern. Tadjmalische Erdbeeren? Bull mußte sich zwingen, die Frucht, die er gerade in der Hand hielt, zu essen. Wenn das der Preis war. . . Aber gleich darauf sah er die ›Farnbüsche‹ wieder, und um sie herum grünte und blühte es. Auch hier zog eine Maschine ihre Runden, aber sie riß nicht den Boden auf, sondern mähte lediglich die zwischen den Büschen wachsenden Kräuter ab. Außerdem trugen hier alle Büsche diesen rötlichen Schimmer, wenn auch nicht so stark ausgeprägt wie in der künstlichen Wüste. Die Ernteroboter waren zahlreich vertreten - kleine Maschinen, die die Büsche umschwirrten, größere Transporter, die die Ernte aufnahmen und zu den mobilen Sammelstellen brachten, die -76-
wiederum ihre Last bei einem Ungeheuer von einer Verwertungsstelle ablieferten, das behäbig im Zentrum der Anlage kauerte. Von einem anderen maschinellen Ungeheuer am Rand der Pflanzung kamen bodengebundene Maschinen, die systematisch die Büsche umkreisten und dabei vermutlich den Boden mit den erforderlichen Düngemitteln versorgten. Es war ein verhältnismäßig friedliches Bild - nur die überhohen Gitter, die das Gelände umgaben, störten diesen Eindruck. Reginald Bull mußte ein wenig warten, bis er ein gutes Stück voraus wieder eine solche ›Wüste‹ ausmachte. Aber sobald er sicher war, sich nicht geirrt zu haben, betätigte er einen winzigen Kontakt an dem Gerät, das in seiner Jackentasche steckte. Der Gleiter stotterte und spuckte und verlor an Höhe, und der Pilot drückte verzweifelt auf alle möglichen Tasten, ohne etwas ändern zu können. Der Terraner betätigte eine andere Schaltung. Das Stottern hörte auf, aber der Gleiter sank immer noch - nicht so heftig und ruckartig wie zuvor, dafür aber langsam und stetig. »Was ist los?« rief Durant erschrocken. »Woher soll ich das wissen?« schrie der Pilot wütend zurück. »Wenn du schon keine Erklärung hast. . . « Durant besann sich darauf, daß militärische Regeln unter anderem dazu dienen konnten, unbequeme Bemerkungen zu unterdrücken. »Halten Sie den Mund, Hüan!« befahl er scharf. »Wo werden wir herunterkommen?« »In einer Sperrzone«, erklärte Hüan bitter und resignierend. Durant wurde bleich. »Versuchen Sie, uns außerhalb davon herunterzubringen!« befahl er schroff. »Versuchen Sie es mit allen Mitteln!« »Was bedeutet das alles?« fragte Reginald Bull gelassen. Durants Gesicht war eine starre Maske. »Sir, wenn wir innerhalb der Sperrzone landen und den Gleiter nicht wieder in die Luft bekommen, ohne ihn verlassen -77-
zu müssen, dann wird zumindest einer von uns sterben - nämlich der, der nach draußen geht, um die Schäden zu reparieren. Wenn diese Schäden aber nicht reparabel sind, werden auch Sie sich mit dem Unvermeidlichen abfinden müssen.« »Können Sie nicht per Funk Hilfe herbeirufen?« fragte Bull, den Finger auf dem Sensorknopf. Der Gleiter begann wieder zu stottern, und er sackte mehrmals plötzlich durch. Die Versuche des Piloten, vom Kurs abzuweichen, blieben ergebnislos. »Die Sperrgebiete sind auch gegen Funkimpulse gesichert, Sir. Da geht nichts hinaus, und es kommt nichts hinein - auch nicht auf anderen, für uns in Frage kommenden Wegen. Das gesamte Gelände ist mit Giftstoffen derart angereichert, daß ein Mensch ohne Schutzanzug schon binnen weniger Minuten irreparable Schäden erleidet.« »Und das glauben Sie wirklich?« fragte Bull und nahm den Finger vom Sensorknopf. »Welcher Mensch könnte so verrückt sein, solche Sperrgebiete zu errichten? Oder wollen Sie mir einreden, daß es diese Gebiete schon immer gegeben hat? Durant, ich bin der Befehlshaber der Explorerflotte, und ich habe mich intensiv mit diesem Planeten beschäftigt. Versuchen Sie doch nicht, mir ein solches Theater vorzuspielen! Glauben Sie denn wirklich, daß ich noch immer nichts mitbekommen habe?« Der Gleiter senkte sich beharrlich herab, glitt über die äußere Grenze des Sperrgebiets hinweg und landete auf dem dürren, vergifteten Boden, nur wenige Meter von den äußersten Zweigen eines der ›Farnbüsche‹ entfernt. Aus der Nähe wirkte das Gewächs nicht länger wie ein Busch. Es war ein Baum - ein mächtiger Baum mit einem umfangreichen und sehr hohen zentralen Stamm, dessen Spitze den Ausgangspunkt für zahlreiche sehr lange Äste bildete, die sich wie die Wedel eines gigantischen Farns verzweigten. Die jüngeren Äste ragten steil empor, die älteren neigten sich mehr und mehr dem Boden entgegen, und im braungrünen Dämmerlicht unter -78-
der Krone waren die teilweise zerfallenen Überreste der ältesten, heruntergebrochenen ›Wedel‹ deutlich zu erkennen. Die sich zum Sterben herabneigenden äußersten Äste reichten teilweise fast bis an die Kanzel des Gleiters heran. Reginald Bull sah die zahlreichen Zweige, die den Blättern irdischer Pflanzen gleichzusetzen waren. Viele davon waren blasenförmig aufgetrieben und mit einem Eingang versehen, aber nirgends war eines der Tiere zu sehen, das die Tadjmaler als ›Tickers‹ bezeichneten. Hier unten nicht - und weiter oben auch nicht. Aber Beeren gab es in Hülle und Fülle. Sie wuchsen aus den Blattachseln hervor. Als der Terraner sie ansah, spürte er ihren Geschmack noch immer auf der Zunge. »So also werden sie gezogen, die tadjmalischen Erdbeeren!« sagte er bitter. »Das ist ein Mißverständnis!« behauptete Durant aufgeregt. »Glauben Sie mir - hier wird überhaupt nichts geerntet!« »Nein, natürlich nicht. Derart vergiftete Früchte könnten Sie nie im Leben verkaufen. Dieses Stück Land wurde vorsätzlich verseucht, um diese Bäume dazu zu zwingen, nicht nur Früchte, sondern auch keimfähige Samen hervorzubringen, nicht wahr?« »Sir, das ist ein Trugschluß. Die Pflanzen selbst haben das Land verseucht...« »... um sich zu vermehren?« fragte Bull spöttisch. »Ohne ihre Symbionten?« »Sir, diese Beeren sind sehr... wertvoll. Und sie sind gut für uns Menschen. Jeder weiß das - selbst die terranischen Ärzte haben den Wert dieser Früchte längst erkannt, und sie wollen mehr davon bekommen.« »O ja. Und Ihre Leute wollen mehr davon liefern. Es ist ein fabelhaftes Geschäft für Tadjmal.« »Ja!« sagte Durant lahm. »Und die Tickers?« »Sie sind nicht so wichtig, wie Sie glauben«, murmelte -79-
Durant. »Es sind nur Tiere. Sie besitzen keinen Funken von Verstand. Wenn sie jemals auf eine andere Welt gelangen sollten, dann werden sie sich dort wie eine Seuche ausbreiten.« Durant öffnete einen weiteren Behälter und aß eine tadjmalische Erdbeere. »Sie haben uns die Tiere auf den Hals gehetzt«, sagte er dabei. »Ich weiß nicht, wie Sie es gemacht haben, aber ich bin mir meiner Sache sicher.« »Wie sollte ich das gemacht haben?« fragte Bull spöttisch. »Ich sagte bereits, daß ich es nicht weiß.« Der Terraner achtete auf Durant und auf den Piloten, aber auch auf das, was sich draußen ereignete. Der Baum, in dessen direkter Nähe der Gleiter gelandet war, hing voller Früchte. Ein Ernteroboter schwebte um die Krone herum und sog Beere um Beere in sich auf. Gleichzeitig öffneten sich winzige Blüten in verschwenderischer Fülle. Eine dieser Blütendolden hing fast zum Greifen nahe vor der Gleiterkanzel. Reginald Bull entdeckte ein kleines Stück weiter eine andere Dolde, an der zwei oder drei grüne Früchte hingen - die Mehrzahl der Blüten war unfruchtbar und hatte auch keine jener samenlosen Früchte gebildet, die sowohl von den Menschen als auch von den Tickers geerntet wurden. Nachdem er einmal darauf aufmerksam geworden war, konnte er die dunklen Kerne im durchscheinenden Fleisch der reifen Beeren erkennen. »Starten Sie den Gleiter, Hüan«, sagte er nachdenklich. »Und landen Sie in einer der Plantagen, in denen auch wirklich geerntet wird.« »Sir...« »Tun Sie, was ich Ihnen sage!« befahl Bull ungeduldig. »Durant - sind noch ein paar von diesen Beeren da?« Aber Durant hielt statt der Plastikschale eine Waffe in der Hand, und er sah zwar sehr bleich, aber auch sehr entschlossen aus. -80-
»Sie werden nirgends landen, Sir«, sagte er fest. »Außer auf dem Raumhafen oder bei Dynkham. Dies ist unser Planet, und wir werden es nicht dulden, daß Fremde wie Sie sich in unsere Angelegenheiten einmischen.« Bull merkte, daß der junge Offizier es ernst meinte und daß es daher besser war, fürs erste nachzugeben. Hüan startete den Gleiter, der jetzt wieder einwandfrei lief, und sie flogen über Farmen und Plantagen hinweg auf die Hauptstadt zu. Bull wartete darauf, daß Durant unaufmerksam oder unvorsichtig wurde, aber der junge Tadjmaler tat ihm diesen Gefallen nicht. Und dann, ganz plötzlich, ertappte er sich bei dem Gedanken, daß es gar nicht übel wäre, wenn er auf diesem Planeten bliebe. Es war schön auf Tadjmal. Dynkham hätte sicher dafür sorgen können, daß er eine Aufgabe bekam. Und wenn nicht: Er konnte sich ein Stück Land kaufen und dort diese seltsamen Bäume ziehen. . . Wie, zum Teufel, kam er auf solche Ideen? Von selbst ganz bestimmt nicht, also versuchte jemand oder etwas, ihn zu beeinflussen. Aber auch das konnte es nicht geben, denn er war mentalstabilisiert. Trotzdem stand ihm schon wieder das Bild einer Farm vor Augen, und er sah die Bäume, die Pflege brauchten, viel Pflege und vor allem viel Dünger. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen und diese Bilder zu verscheuchen, aber es wollte ihm nicht gelingen. »Sind wirklich keine Beeren mehr da?« fragte er. Zwei oder drei würden reichen, um ihm zu der nötigen Klarheit zu verhelfen. . . Durant schüttelte den Kopf, ohne in seiner Wachsamkeit nachzulassen - er hatte ja auch genug Beeren zu sich genommen. Aber andererseits besaß Bull einen Zellaktivator - merkwürdig, daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Als er sich darauf konzentrierte, spürte er, daß das Gerät stärker als sonst arbeitete, gerade so, als hätte es gegen eine Vergiftung anzukämpfen. Das hatte zweifellos etwas mit dem Gift zu tun, das durch die kleine -81-
Wunde an der Wade in Bulls Körper gelangt war. Damit hingen sicher auch diese seltsamen Vorstellungen zusammen. Reginald Bull war erleichtert, als er eine Erklärung gefunden hatte, die ihn zufriedenstellte. Er lehnte sich zurück und entspannte sich, denn nun brauchte er sich nicht länger gegen diese merkwürdigen Gedanken zu wehren. Seine gewohnte Spannkraft würde zurückkehren, sobald der Zellaktivator die Giftstoffe abgebaut hatte. Er verzichtete darauf, sofort nach seiner Rückkehr mit Dynkham zu sprechen, ließ sich in das Hotel bringen, wies alle Fragen zurück und verzog sich in ein Zimmer, das dunkel und still war. Er legte sich hin, schlief sofort ein, und als er endlich wieder erwachte, da sah er als erstes eine Schale mit tadjmalischen Erdbeeren auf dem Tisch stehen. Mit einem Ruck richtete er sich auf, und plötzlich rutschten all die kleinen, scheinbar sinnlosen Teile dieses Puzzles an ihren Platz, und er begriff, daß Herschel recht gehabt hatte. Dieser Planet barg tatsächlich eine Gefahr! Zwei Menschen waren spurlos verschwunden. Wenn man bedachte, daß die Tickers so gut wie alles fressen konnten, dann war es nicht länger verwunderlich, daß man selbst von der Ausrüstung der beiden Männer nichts mehr gefunden hatte. Die Tickers waren zu ihren Bäumen zurückgekehrt, hatten dort die für sie unverdauliche Nahrung ausgeschieden und zum Ausgleich tadjmalische Erdbeeren erhalten. Die Bäume konnten den Ausscheidungen ihrer Geschöpfe entnehmen, daß neue, bessere Symbionten im Anmarsch waren. Einige dieser Gewächse hatten das wahrscheinlich aus der Tatsache geschlossen, daß die Ausscheidungen verschiedene Substanzen enthielten, die in der Natur zumindest in reiner Form nur sehr selten vorkamen. Andere waren möglicherweise in den Besitz sehr viel komplexerer Informationen gekommen, denn es war schon seit langem erwiesen, daß Gedächtnisinhalte sich auch auf biochemische -82-
Weise übermitteln ließen. Die Tickers hatten mit Sicherheit nicht ausgerechnet die Gehirne ihrer Opfer zurückgelassen, und ihr Verdauungssystem vermochte mit tierischen Substanzen nicht viel anzufangen - die Bäume dafür um so mehr. Die Gewächse hatten die Pläne der Menschen durchschaut und für gut befunden - darum hatte es auch keine weiteren Unfälle mehr gegeben. Sie hatten damit begonnen, sich auf die neuen Symbionten vorzubereiten, aber sie hatten viel Zeit dafür gebraucht, fast fünfzig Jahre. Die Ladakh-Bäume hatten schon vor sehr langer Zeit gelernt, die Tickers zu benutzen. Vorher hatten sie wahrscheinlich schon andere Sklaven gehabt, denn um die Tickers zu beeinflussen, hatten sie die Fangkammern umprogrammieren müssen. Ursprünglich waren es wahrscheinlich die Früchte gewesen, die bestimmte Bedürfnisse weckten und die Opfer der Bäume in die Fangkammern trieben. Die Bäume sahen eine Chance, zu ihrem gewohnten, natürlichen Verhalten zurückzukehren, und sie taten das für ihre Verhältnisse erstaunlich schnell. Wahrscheinlich erzeugten sie noch immer die Harzknöllchen für die Tickers, aber die Beeren sorgten nun nicht mehr dafür, daß diese kleinen Tiere einen Ausgleich fanden, sondern sie enthielten Enzyme, die die Menschen zwangen, für die Bäume zu sorgen. Reginald Bull war mentalstabilisiert, aber er war dadurch noch längst nicht immun gegen die Enzyme, die in den Früchten steckten. Nur seinem Zellaktivator hatte er es zu verdanken, daß er dem Einfluß nicht erlegen war. Erschrocken lief er hinaus in die Halle. Es war noch sehr früh am Morgen, und nur Atabe saß an einem der Tische und verspeiste mit einem Minimum an Appetit ein terranisches Standardfrühstück. »Ich will mich ja nicht beklagen«, sagte er, als Bull sich zu ihm setzte, »aber die Verpflegung ist miserabel. Von den vielgerühmten tadjmalischen Delikatessen habe ich hier noch nichts gesehen!« -83-
»Sie sollten sich bei John Dynkham dafür bedanken«, erwiderte Bull ernst. »Und das meine ich wörtlich!« Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. John Dynkham gehörte zu den wenigen Menschen, die wenigstens halbwegs resistent gegen tadjmalische Erdbeeren waren. Die paramilitärische Organisation, die er aufgebaut hatte, diente zwar vordergründig der Bekämpfung der Tickers - von denen die Ladakh-Bäume glaubten, daß sie sie nicht länger benötigten -, hatte aber in erster Linie dafür zu sorgen, daß weder die Samen dieser Bäume noch Jungpflanzen auf andere Planeten gelangten. Indem Dynkham diese Exportbeschränkung auf alle Pflanzen und Tiere ausdehnte, konnte er die Bäume überlisten. Die Jäger durften keine Trophäen mehr ausführen, weil sich darin Ladakh-Samen befinden konnten, und die tadjmalischen Erdbeeren selbst wurden nur in konserviertem Zustand abgegeben selbst wenn einige von ihnen Samen enthalten hätten, wären diese nach der entsprechenden Prozedur nicht mehr keimfähig gewesen. Die Früchte konnten immer noch Bedürfnisse wecken. Wenn Menschen plötzlich bestimmte Nahrungsmittel bevorzugten, weil die Enzyme in den Früchten es ihnen befahlen, dann konnte das ganz unterschiedliche Folgen haben. Eine nachträgliche Überprüfung ergab, daß man die Wirkung der konservierten Beeren weit überschätzt hatte und daß man sehr gut auch ohne sie auskommen konnte. Ein Wunderheilmittel jedenfalls waren sie nicht, auch wenn manche Leute das behaupteten. Tadjmal wurde evakuiert und zu einem gesperrten Planeten erklärt. Natürlich ging das nicht von heute auf morgen vor sich. Viele Siedler weigerten sich, ihre neue Heimat zu verlassen, aber zum Glück begriffen die Ladakh-Bäume auch diesmal sehr schnell, daß der Wind sich gedreht hatte: Binnen weniger Jahre hatte auch der letzte von ihnen sich wieder auf seine alten Symbionten umgestellt, und damit verloren die tadjmalischen Erdbeeren ihre gefährlichen Inhaltsstoffe. Die Tickers wurden -84-
wieder normal, die Menschen ebenfalls. Einige von ihnen kehrten nach Terra zurück, die meisten aber zog es in andere Kolonien. Zu denen, die sich für die Erde entschieden, gehörte Durant. Bull hatte ihn bereits fast völlig vergessen, als Jahre später ein frischgebackener Explorerkommandant zu ihm kam und ihm lächelnd eine mit einem Deckel verschlossene Plastikschale überreichte. »Ich glaube mich daran zu erinnern, daß Sie für Ihr Leben gerne Erdbeeren essen, Sir!« sagte er dabei.
-85-
William Voltz
DIE BEISETZUNG DER GROßEN POSBI-MUTTER Seit die Menschheit zum erstenmal mit den biopositronischen Robotern von der Hundertsonnenwelt, den Posbis, zusammentraf, versuchte sie alle Rätsel dieser faszinierenden RoboterZivilisation zu lösen. Manchmal schien es, daß alle Fragen beantwortet waren, dann stand man wieder vor einem Berg unbewältigter Probleme und mußte einsehen, daß sich viele Geheimnisse der Posbis dem Zugriff durch die Terraner entzogen. Eines dieser Geheimnisse waren die sogenannten PosbiMütter, von denen man niemals genau erfuhr, ob sie wirklich existierten. Bei den Posbi-Müttern handelte es sich angeblich um Spezialroboter, in denen alles Wissen und Können der gesamten Posbizivilisation vereint war. Ein weiteres Geheimnis waren die Posbifriedhöfe, auf denen man angeblich wichtige Posbis nach ihrer Zerstörung oder ihrem völligen Ausfall beisetzte. Diese Posbifriedhöfe wurden schon bald als »Elefantenfriedhöfe« bezeichnet - und sie waren nicht weniger sagenumwoben. Man hatte schon die Hoffnung aufgegeben, jemals eine Spur zu finden, die zu einer Posbi-Mutter oder zu einem Elefantenfriedhof führen könnte, als man plötzlich, im Jahre 2405, in doppelter Hinsicht fündig wurde. Kein Wunder, daß Perry Rhodan einige seiner besten Spezialisten einsetzte, um dieser aufregenden neuen Spur zu folgen. . .
-86-
1. Die beiden Männer, die hinter dem Mäuerchen des Friedhofs von St. Narchez kauerten und die Prozession beobachteten, waren von unterschiedlicher Statur. Einer der beiden, Major Don Redhorse, war groß, schlank und sportlich, auch in dieser geduckten Haltung strotzte er förmlich vor Vitalität und Unternehmungslust. Der andere, Soldat Brazos Surfat, war eher das genaue Gegenteil von Redhorse. Er war fett, phlegmatisch und unordentlich gekleidet. Bis vor ein paar Tagen war Surfat noch Korporal in der Solaren Flotte gewesen und hatte an Bord der NOOHOODLE gedient, aber dann hatte man ihn vom Dienst suspendiert und degradiert, weil er eine Portion rote Grütze, die eigentlich für den Kommandanten der NOOHOODLE bestimmt gewesen war, in einem günstigen Augenblick in sich hineingeschlugen hatte. Don Redhorse hob den Kopf und spähte über das Mäuerchen, um den Fortgang der Prozession zu beobachten, als sich von der Straße außerhalb des Friedhofs ein eigentümliches Gefährt näherte, das einen wahren Höllenspektakel verursachte und in jeder Hinsicht eine exotische Konstruktion war. Auf einem Luftkissenboot thronte hoch oben das Chassis eines uralten VW-Käfers, auf dessen Türen das Emblem des Solaren Imperiums gemalt war. Redhorse ächzte. »Wolermann!« stöhnte er ungläubig. »Wie ist das möglich, Surf?« Surfat, so schwer und unbeweglich, als sei er bis zum Hals mit roter Grütze vollgestopft, schob sich schnaubend ein Stück in die Höhe. »Es ist tatsächlich Wolermann«, bestätigte er. »Was kann er nur hier wollen?« -87-
»Er ist der Posbibeauftragte des Solaren Imperiums«, erklärte Redhorse, »und was immer er vorhat - er wird uns Ärger bereiten und unseren Plan vermasseln.« »Wie hat er nur hergefunden?« fragte Surfat kopfschüttelnd. »Das ist jetzt zweitrangig! Auf jeden Fall müssen wir verhindern, daß er den Friedhof erreicht. Es wäre das Ende der Hauptprozession und damit das Ende unserer Hoffnungen, an eine Posbi-Mutter heranzukommen.« Surfat wälzte sich auf den Rücken und starrte in den blauen Himmel, als könnte er dort eine Antwort auf all ihre Fragen finden. »Und was willst du tun?« »Zunächst einmal halte ich ihn auf«, verkündete Redhorse. Er stand auf und rannte entlang der Mauer auf die Hauptstraße zu. Surfat folgte ihm, allerdings erheblich langsamer. Redhorse erreichte die Straße, stellte sich mitten auf die Betonpiste und hob beide Arme. Das Gefährt kam knatternd und holpernd auf ihn zu, bremste langsam ab und kam einen Meter vor ihm zum Stehen. Hoch oben öffnete sich ein Türfenster, und Wolermanns hagerer Schädel kam zum Vorschein. Wolermann war wie immer sehr bleich. Seine spitze Nase zitterte, und seine Lippen bebten. Das Haar hing ihm aufgelöst in der Stirn. »Was machen Sie da?« schrie er aus seiner luftigen Höhe herab. »Und wer sind Sie überhaupt?« Redhorse erinnerte sich, daß Wolermann schlecht sah. Der Kopf des Posbibeauftragten verschwand wieder in der alten Autohülle, und Redhorse hatte den Eindruck, daß Wolermann mit einer zweiten Person sprach, die sich mit ihm zusammen im Fahrzeug befand. Tatsächlich öffnete sich gleich darauf die Scheibe auf der anderen Seite des Wagens. Ein Gesicht, das Redhorse nur allzu bekannt war, das aber gleichzeitig das letzte war, was er hier und -88-
jetzt zu sehen gewünscht hätte, blickte auf ihn herab. »Major Don Redhorse!« rief Vier-Sterne-Admiral Caaler Faader mit sonorer Stimme. »Gehen Sie uns aus dem Weg. Wir sind in einer wichtigen Mission unterwegs. Sollten Sie es wagen, uns weiterhin aufzuhalten, wird das für Sie erhebliche disziplinarische Folgen haben.« Inzwischen war Brazos Surfat herangekeucht und starrte wie gebannt zum Fahrzeug hinauf. »Das ist nicht wahr!« japste er verzweifelt. »Das ist eine Halluzination.« »Dieses Individuum soll sich ebenfalls von der Straße entfernen!« schrie der Admiral außer sich. Wolermann streckte wieder den Kopf heraus. »Sie haben den Admiral gehört«, erklärte er. »Befolgen Sie seine Befehle.« Redhorse blieb lässig stehen und verschränkte die Arme über der Brust. »Wir sind als Sonderbeauftragte des Großadministrators unterwegs und haben besondere Vollmachten«, sagte er. »Ich nehme an, daß sie vorrangig sind. Zumindest werden wir darüber reden müssen.« Wolermann begann zu fluchen und stieß sich den Kopf am Türrahmen. »Beherrschen Sie sich!« maßregelte ihn sein Beifahrer. »Das ist eine Situation, die ich in wenigen Augenblicken geklärt haben werde.« Die Tür öffnete sich, und Vier-Sterne-Admiral Caaler Faader begann an der Leiter, die seitlich am Fahrzeug angebracht war, herab auf die Straße zu klettern. Surfat trat dicht an den Indianer heran und zupfte ihn am Arm. »Seine Uniform!« flüsterte er. »Sehen Sie doch, irgend etwas ist mit seiner Uniform.« Redhorse sah es. Der Admiral trug eine Paradeuniform, die -89-
prunkvollste, die der Major jemals erblickt hatte. Aber sie wirkte irgendwie unfertig. Ein Ärmel und einige Besätze schienen völlig zu fehlen. Es war aber undenkbar, daß eine Persönlichkeit wie Caaler Faader mit einer halbfertigen Uniform herumlief. Caaler Faader kam um das Fahrzeug herum, während Wolermann an der anderen Seite des Wagens herabkletterte. Der Admiral baute sich vor Redhorse auf. »Ich hoffe«, sagte er streng, »Sie können sich legitimieren.« »Nur verbal«, erwiderte Redhorse. »Ich meine, wir sind in einer Geheimmission unterwegs, und da ist es nicht üblich, daß man irgendwelche Unterlagen mit sich herumschleppt.« Wolermann, der so dünn war, daß seine Uniform um seinen Körper schlotterte, sagte düster: »Ich wette, das sind die Schmuggler.« »Was?« rief Redhorse. »Was wollen Sie damit sagen?« Caaler Faader drehte sich zu Wolermann herum. »Würden Sie bitte mich diese Unterredung führen lassen! Ich habe es einfach. . . autsch!« Er war zusammengezuckt und hatte sich mit einer Hand dorthin gegriffen, wo ein Ärmel seiner wunderbaren Uniform fehlte. In einem Loch in der Achselhöhle erschien ein winziges Geschöpf, ein Männlein mit grüner Haut, das irgendwelche mikroskopisch kleinen Werkzeuge in den Händen hielt. »Entschuldigen Sie!« sagte es mit kaum verständlicher Stimme. »Aber wenn Sie sich so heftig bewegen, kann es schon mal passieren, daß wir Sie stechen!« Peinlich berührt räusperte sich der Admiral. »Das sind die. . . äh. . . Schneider«, sagte er erklärend. Redhorse und Surfat bückten immer noch wie gebannt auf die Stelle in der Uniform, an der das Männlein aus einem Loch gekrochen war. »Die Schneider?« echote Redhorse. -90-
»Ich war bei den Vorbereitungen für die große Flottenparade im Wega-System, als ich unvermutet hierher abberufen wurde«, sagte der Admiral widerwillig. »Aber die Uniform würde nicht fertig, wenn die Arbeit daran eingestellt wird.« »Das sind Siganesen!« stieß Surfat fassungslos hervor. »Er schleppt siganesische Schneider mit sich herum, die seine Uniform fertig nähen.« Das grüne Männlein grinste freundlich und verschwand wieder. Caaler Faader machte eine entschiedene Armbewegung. »Wir wollen doch endlich zur Sache kommen!« sagte er gefaßt. »Der Solaren Abwehr ist es gelungen, die Spur jener Schmuggler zu finden, die die Matten-Willys mit Alkohol versorgen. Wir haben unseren Auftrag direkt von Allan D. Mercant, ebenso die Koordinaten des Planeten St. Narchez.« Redhorses Stirn umwölkte sich. »Das ist ein bedauerlicher Zufall, Sir«, sagte er. »Natürlich ist es wünschenswert, daß die Schmuggler gefaßt werden.« Wolermann schob sich ein Stück nach vorn, sein bleiches Gesicht rötete sich vor Zorn. »Wünschenswert?« echote er. »Mann, es ist der wichtigste Auftrag, den ich jemals hatte. Und ich werde mir seine Ausführung nicht von Ihnen vermasseln lassen.« »Ich möchte jetzt wissen, warum Sie hier sind!« verlangte der Admiral von Redhorse. »Vermutlich sind Sie ebenfalls hinter den Schmugglern her.« Der Cheyenne verneinte. Er deutete in Richtung des Mäuerchens. »Dort liegt ein Elefantenfriedhof der Posbis«, erläuterte er. »Nach den uns vorliegenden Informationen wird dort heute noch eine Posbi-Mutter beigesetzt.« Wolermann bekam runde Augen. »Eine Posbi-Mutter? Einer jener hypothetischen Zentralroboter der Posbis, die angeblich alles Wissen und alle Fähigkeiten der Posbizivilisation in sich vereinen?« -91-
Redhorse nickte. »Jagen Sie da nicht hinter einem Phantom her?« fragte der Posbibeauftragte. »Niemals wurde eine Posbi-Mutter gefunden.« »Zumindest ist das dort drüben ein Posbifriedhof«, versetzte Redhorse. »Sie können sich mit eigenen Augen davon überzeugen. Gerade sind etwa zwanzig Matten-Willys und ebenso viele Posbis dabei, einen Roboter zu bestatten. Wir nehmen an, daß nach dieser Zeremonie die Posbi-Mutter an die Reihe kommt.« Wolermann zitterte regelrecht. »Wenn das stimmt«, wandte er sich an den Vier-Sterne-Admiral, »stehen wir vor einer epochemachenden Entdeckung.« Caaler Faader, der sich sehr gerade hielt und sich kaum bewegte, schenkte ihm einen verächtlichen Blick. »Mäßigen Sie sich, Wolermann«, sagte er. »Wir sind hier, um Schmuggler zu jagen, vergessen Sie das nicht!« Er wandte sich an Redhorse. »Wo steht überhaupt Ihr Schiff, Major?« Redhorse machte eine vage Geste. »Hinter den Bergen im Süden, eine Space-Jet«, sagte er. »Wir sind im Tal weiter westlich gelandet und dann mit Wolermanns Spezialfahrzeug aufgebrochen«, berichtete Caaler Faader. »Nach den uns von Mercant überlassenen Informationen ist St.Narchez die Welt, auf der die Schmuggler ihren schwarz gebrannten Schnaps an die Matten-Willys ausliefern. Bisher wußten wir nicht, was die Schmuggler dafür erhalten, aber nun« - er deutete in Richtung des Friedhofs - »wird mir das allmählich klar. Ich nehme an, die Matten-Willys bezahlen den Alkohol mit ausrangierten Posbis.« Wolermann schickte einen entsagungsvollen Blick zum Flimmel und bemerkte seufzend: »Wir müssen das Alkoholproblem der Matten-Willys endlich in den Griff bekommen.« -92-
»Es gibt vielleicht ein Alkoholproblem auf der Erde und unter den Menschen«, versetzte Redhorse aufgebracht. »Dort wäre Ihr Eifer angebracht, denn die zerstörerische Wirkung des Alkohols mit allen negativen gesellschaftlichen Folgen steht außer Frage. Die Matten-Willys kennen ein solches Problem nicht, das sollte man endlich begreifen. Für sie ist Alkohol eine stimulierende Flüssigkeit, die auf sie eine Wirkung hat wie auf uns eine Tasse Tee. Aber wir kommen mit unserer doppelbödigen Moral daher und versuchen, sie auf alle anderen Wesen der Milchstraße anzuwenden. Das. . . « »Das genügt, Major!« unterbrach ihn Caaler Faader ungeduldig. »Das zu diskutieren, ist nicht unsere Aufgabe. Lassen Sie uns überlegen, wie wir unsere Missionen auf einen gemeinsamen Nenner bringen.« »Das ist ganz einfach«, meinte Redhorse achselzuckend. »Wolermann zieht seine Affenschaukel zurück, bevor die Posbis oder die Matten-Willys sie entdecken, dann beobachten wir gemeinsam die Bestattung der Posbi-Mutter. Vielleicht entdekken wir bei der Gelegenheit auch Ihre Schmuggler.« Surfat warf ein: »Zu spät!« Sie blickten ihn an. Der korpulente Raumfahrer deutete in Richtung des Friedhofs. Eine kleine Gruppe von Matten-Willys und Posbis näherte sich von dort. Redhorse knirschte mit den Zähnen. »Das haben wir jetzt davon!« sagte er wütend. »Wir sind entdeckt, und ich bezweifle, daß sie die Posbi-Mutter beisetzen, solange sie uns in der Nähe wissen.« »Das ist jetzt eine akademische Frage«, sagte Caaler Faader mit einem bemerkenswerten Sinn für Realität. »Man hat uns entdeckt, und wir müssen abwarten, was daraus entsteht.« Sie warteten mitten auf der Straße, bis die Posbis und Matten-Willys heran waren. Die Gruppe bestand aus zwei Plasmawesen und drei Robotern. Die beiden Willys hatten halbwegs -93-
menschliche Gestalt angenommen, wenn sie ihre Körper auch nicht sehr sorgfältig ausgeformt hatten und eher wie Vogelscheuchen aussahen. Immerhin war es ein Beweis für ihren guten Willen. Die Roboter sahen aus wie alle Posbis: Kleine bewegliche Metallgebilde aus grotesk zusammengesetzten Einzelteilen. Obwohl sie grundverschieden konstruiert waren, bestand an ihrer gemeinsamen Herkunft kein Zweifel. »Damit das klar ist«, sagte Caaler Faader, »als ranghöchster Offizier führe ich die Verhandlungen.« »Mit dieser Uniform, Sir?« wandte Surfat ein. »Meinen Sie nicht, daß Sie ein bißchen derangiert aussehen?« Caaler Faader blickte betrübt an sich herab. »Das ist zweifellos richtig, Soldat«, räumte er ein. »Aber in diesem Fall wollen wir meinen Fähigkeiten als Offizier doch den Vorrang vor den Äußerlichkeiten geben.« Einer der beiden Matten-Willys, der wie eine aufrecht gehende Riesenleberwurst mit Spinnengliedern und traurigen Kuhaugen aussah, blieb dicht vor dem Vier-Sterne-Admiral stehen und fixierte ihn eingehend. »Ich bin Ulcus-Molly«, stellte er sich vor. »Zusammen mit Achtzehntel-Mörtel abgestellt zum Empfang der Trauergäste.« Die Kuhaugen schmolzen mißtrauisch zu schmalen Schlitzen zusammen. »Ihr seid doch Trauergäste?« Caaler Faader warf sich in die Brust und rief empört: »Ich bin Vier-Sterne-Admiral CaalerFaader, im Sondereinsatz ...autsch!« »Die Schneider!« raunte Surfat Redhorse zu. »Schnell, bevor er Unheil mit seinem Gequatsche anrichtet.« »Natürlich sind wir Trauergäste«, sagte Redhorse zu den Matten-Willys und zu den Posbis. »Mein Name ist Don Redhorse, dieser Mann ist Brazos Surfat, und der andere heißt Schmitz.« Er wagte nicht, Wolermanns richtigen Namen zu nennen, denn der Posbibeauftragte war bestimmt bekannt. -94-
Prompt sagte Wolermann protestierend: »Aber ich heiße nicht Schmitz! Wie kommen Sie auf diese absurde Idee, Major?« »Könnt ihr nicht aufpassen?« schrie Caaler Faader dazwischen. »Es ist unerträglich, daß ich ständig gestochen werde.« Ein grüner Kopf von Daumengröße schob sich aus dem Uniformkragen. »Wer schön sein will, muß leiden«, sagte der siganesische Schneider philosophisch und zog sich wieder an seine Arbeitsstätte zurück. »Ich kann Ihnen flüstern«, sagte Caaler Faader mit ungewohnter Jovialität zu Redhorse. »Mein ganzer Körper ist schon verstochen. Diese sieben Halunken kennen keine Rücksicht.« Die Posbis und die Matten-Willys hatten schweigend zugehört, aber eindeutig mit zunehmender Verständnislosigkeit. »Mein Freund und ich«, erklärte Redhorse hastig, »sind vor Kummer noch völlig verwirrt.« »Das kann ich verstehen«, stimmte Ulcus-Molly zu. »Eine große Posbi-Mutter wird nur alle paar hundert Jahre einmal beigesetzt.« »Eine große Posbi-Mutter!« wiederholte Redhorse und sah die drei anderen Männer der Reihe nach an. »Habt ihr gehört?« Wolermann reckte seine spitze Nase in die Luft und stellte fest: »Riechen Sie das, Major? Es ist ein Geruch von Wacholderbeeren in der Luft. Eindeutig Wacholderbeeren!« »Das würde ich doch riechen!« behauptete Surfat. Wolermann zupfte an seiner Nase, als sei sie ein Stück Gummi. »Auf das Organ kann ich mich verlassen, mein Lieber. Es sind die Matten-Willys. Sie verströmen diesen Duft. Hier steht irgendwo eine schwarze Destille, sage ich Ihnen.« »Was?« ächzte Surfat. »Gin!« verkündete Wolermann. »Sie destillieren Gin.« »Es sind schon eine Reihe von Trauergästen eingetroffen«, sagte Achtzehntel-Mörtel in diesem Augenblick. »Wenn ihr -95-
einverstanden seid, führen wir euch jetzt in die große Halle, in der die Trauerfeier beginnt. Zum Schluß der Zeremonie wird die große Posbi-Mutter dann in einer feierlichen Prozession durch den Friedhof geführt und beigesetzt.« Caaler Faader neigte sich zu Redhorses Ohr. »Die anderen Trauergäste?« flüsterte er. »Wer mag das sein?« »Ich will mich nicht festlegen«, erwiderte der Major ebenso leise. »Aber vermutlich sind es die Schmuggler. Sie werden die Chance nutzen wollen, denn sie haben mit Sicherheit erkannt, daß hier ein bißchen mehr zu holen ist als nur alter Posbischrott.« Der Admiral tastete nach seinem Gürtel. »Meine gesamte Ausrüstung ist in diesem Teufelsgefährt von Wolermann«, erinnerte er sich. »Auch meine Waffen.« »Ich glaube nicht, daß wir Waffen brauchen werden«, gab Redhorse zurück. »Sie sind wirklich ein großer Narr! Wie wollen Sie das Problem lösen, wenn Sie keine Waffen haben?« Achtzehntel-Mörtel, Ulcus-Molly und die drei Posbis hatten sich umgedreht und gingen wieder in Richtung des Friedhofs. »Lassen Sie Ihren Einsatzwagen hier stehen«, schlug Redhorse dem Posbibeauftragten vor. »Wir folgen diesen fünf Burschen in die große Halle des Friedhofs. Solange man uns für Trauergäste hält, ist unsere Sicherheit garantiert.« Wolermann schnüffelte enthusiastisch. »Eine Duftschneise von Wacholderbeeren!« stieß er hervor und folgte der führenden Gruppe wie in Trance. »Glauben Sie, daß er verrückt ist?« erkundigte sich Surfat bei dem Cheyenne. »Der führt sich ja unmöglich auf.« Redhorse lächelte. »Alle diese Spezialisten und Sonderbeauftragten haben eine Macke«, behauptete er. »Das gehört zu ihrem Beruf.« »Ich übernehme das Kommando!« rief Caaler Faader und setzte sich in Bewegung. »Dies ist eine militärische Aktion, und -96-
ich erwarte von allen, die daran teilnehmen Tapferkeit, Intelligenz und Verantwortungsbereitschaft.« Er verdrehte die Augen und fügte hinzu: »Jetzt müßte die Vierzehnte Randzonenflotte unter Colonel Higgins im Orbit stehen. Dann würden wir es den Kerlen schon zeigen.« Niemand wußte darauf etwas zu sagen, und ihre Aufmerksamkeit wurde auch in zunehmendem Maß von dem großen Friedhofstor in Anspruch genommen - vielmehr von dem, was hinter dem Tor zu erkennen war. Der Friedhof war eine riesige Anlage, dessen Mittelpunkt ein flaches Gebäude bildete. In diesem Gebäude befand sich vermutlich die große Halle, zu der sie unterwegs waren. Rund um die Halle, kreisförmig und mit mehreren Wegen dazwischen angelegt, befanden sich die Posbigräber. Es waren Gestelle aus Leichtmetall, in denen die Roboterwracks an silbernen Drähten hingen. Einige ausrangierte Roboter waren noch relativ gut erhalten, aber die meisten bestanden nur noch aus ausgeglühten Rahmen, verbeulten Verkleidungen und mühsam zusammengefügten Instrumenten. In einigen Gestellen hingen nur noch ein paar bis zur Unkenntlichkeit deformierte Metallklumpen. Redhorse fragte sich, wie die Posbis auf die Idee gekommen waren, einigen Angehörigen ihrer Zivilisation auf diese Weise die letzte Ehre zu beweisen. Bedeutete das etwa, daß die Posbis eine Art von Religion oder eine Philosophie über das Ende aller Dinge besaßen? Redhorse konnte sich das schlecht vorstellen, trotz der organischen Komponente, die zu jedem dieser Roboter gehörte. Ein etwas eigenartiges Gefühl beschlich ihn, als sie das große Tor passierten. Vielleicht waren sie auf die Spur von etwas völlig Fremdartigem gestoßen, auf etwas, das mit der noch immer nicht völlig gelösten Vergangenheit der Posbis in einem engen Zusammenhang stand. -97-
Eine Theorie war, daß die Posbis diese Beisetzungsfeierlichkeiten von ihren längst vergangenen Erbauern übernommen hatten. Aber diese Theorie ließ sich nicht beweisen. Auf jeden Fall waren die Vorgänge, die sich auf St. Narchez abspielten, äußerst mysteriös. Redhorse hätte außerdem gern gewußt, nach welchen Kriterien die Roboter, die auf einem solchen Friedhof bestattet wurden, von den Posbis ausgewählt wurden. Wen ließ man einfach verrotten und wen brachte man auf einen solchen Planeten? War St. Narchez der einzige Elefantenfriedhof der Posbis oder gab es noch andere? Der Major hörte auf, sich mit weiteren Fragen zu quälen, denn er fühlte, daß er so nicht weiterkam, sondern sich immer mehr in Spekulationen verwickelte. Ein Blick auf seine Begleiter zeigte ihm, daß sie sich ebenfalls Gedanken machten, wobei man Wolermann allerdings ausklammern mußte, denn er benahm sich wie ein Jagdhund auf der Fährte und dachte offenbar nur an die schwarze Destille. Auf dem Friedhof herrschte eine merkwürdige Stille. Die Prozession, die Redhorse und Surfat nach ihrer Ankunft beobachtet hatten, war inzwischen beendet. Die Teilnehmer hatten sich verzogen. Vermutlich befanden sie sich in der Halle. Vor dem Gebäude blieben die beiden Matten-Willys stehen. »Es gibt gewisse Regeln, die im Innern der Halle und während der Feierlichkeiten beachtet werden müssen«, sagteUlcus-Molly. »Wir weisen darauf hin, weil es schon während einiger Feiern zu Störungen kam. Die Regeln sind denkbar einfach. Alle Äußerungen und Handlungen, die kein Zeichen von Trauer sind, haben während der Feier zu unterbleiben.« »Wir werden uns danach richten«, versprach Redhorse feierlich. -98-
»Nun gut«, meinte Ulcus-Molly, »dann wollen wir hineingehen.« Er ließ sich zu einem überdimensionalen Pfannkuchen zusammensinken und glitt auf das Tor zu. Einer der drei Posbis öffnete. Redhorse konnte in das Innere der Halle blicken und hielt unwillkürlich den Atem an. Es herrschte eine Art Zwielicht. Teile der Halle waren in goldenes Licht getaucht, andere lagen in vollkommener Dunkelheit. Dazwischen gab es Bereiche, in denen Dämmerlicht menschliche Augen gerade noch Einzelheiten erkennen ließ. Zentrum der Halle war ein rundes Podest, auf dem sich einige Matten-Willys und Posbis versammelt hatten. Die Matten-Willys hatten die unterschiedlichsten Körperformen angenommen, ohne daß der Grund dafür ersichtlich wurde. Die Posbis verrichteten irgendwelche Arbeiten an einer gewaltigen Plane, die über ein unter ihr verborgenes Gebilde gezogen worden war. Das Objekt unter der Plane mußte ziemlich groß und unregelmäßig geformt sein. Redhorse schätzte, daß es sich um die große Posbi-Mutter handelte, und seine innere Spannung wuchs. Am liebsten wäre er geradewegs zum Hallenmittelpunkt spaziert und hätte einen Blick unter die Plane geworfen. Aber das hätten die anderen Teilnehmer der Trauerfeier vermutlich kaum zugelassen. Der Cheyenne hörte Wolermann flüstern. »Wacholderbeeren! Es wird immer intensiver!« Er wandte sich unwillig zu dem Posbibeauftragten um. Er wollte ihn zur Ruhe bringen, denn wenn sie nicht vorsichtig waren, jagte man sie womöglich hinaus, bevor sie etwas herausgefunden hatten. Caaler Faader war jedoch bereits aktiv geworden und hatte Wolermann am Arm gepackt und heftig geschüttelt. Redhorse ließ seine Blicke erneut durch den riesigen Saal schweifen. -99-
Rund um das Podest inmitten der Halle gab es mehrere Reihen von Zuschauerbänken. Aber nur eine davon, auf der entgegengesetzten Seite des Eingangs, war besetzt. Redhorse sah dort ein paar vermummte Gestalten hocken, aber es war ihm unmöglich, ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies zu bestimmen. Es konnten Posbis, Matten-Willys, aber auch Humanoide sein. Die Posbis, die sich in der Halle aufhielten, arbeiteten entweder auf dem Podest oder standen bewegungslos zwischen den Bänken. Redhorse schätzte, daß sich insgesamt einhundert Roboter in der Halle befanden. Es gab mindestens genauso viele Plasmawesen von der Hundertsonnenwelt. Die meisten von ihnen lagen als platte Flundern am Boden und warteten gelassen auf den Beginn der Feier. Ulcus-Molly bildete ein Ärmchen und deutete dorthin, wo die Vermummten saßen. Er erwartete offenbar, daß sich die Gruppe um Redhorse auch dort hinüberbegab und niederließ. Sie durchquerten den Raum. Als sie sich ihrem Ziel näherten, sah Redhorse, daß die anderen Gäste auf den Bänken Menschen waren. Das konnten sie auch nicht durch die Umhänge verbergen, die sie sich über ihre Köpfe gezogen hatten. Einer der Unbekannten stand auf und warf die Kapuze seines Umhangs mit einem energischen Schnicken des Kopfes zurück in den Nacken. Redhorse blieb unwillkürlich stehen. Das Gesicht, das da aufgetaucht war, kannte er. Die halbe Milchstraße kannte es. Vor allem aber Wolermann, der Posbibeauftragte. »Rumer Cronus!« rief der hagere Mann. »Der König der Schmuggler.«
-100-
2. Cronus war ein riesiger Mann mit einem vierschrötigen Gesicht. Er hatte blasse Augen, die teilnahmslos blickten. Seine Haare waren struppig. Er schlug seinen Umhang seitlich zurück und zog einen Desintegrator. »Wolermann!« stieß er ärgerlich hervor. »Müssen Sie Ihre spitze Nase in alles stecken, was Sie nichts angeht?« Caaler Faader trat vor. Er räusperte sich durchdringend. »Rumer Cronus«, sagte er. »Ich verhafte Sie kraft meines Auftrags und meines Ranges wegen Alkoholschmuggel und Paßfälschereien, wegen Drogenhandels und wegen einiger Raubüberfälle auf verschiedenen Welten des Solaren Imperiums.« Cronus’ Gesicht belebte sich etwas. Seine fünf Begleiter waren ebenfalls aufgestanden und hatten ihre Waffen gezogen. »Wen haben Sie dabei?« fragte Cronus. »Wer ist dieser Hanswurst in seinem bunten Kostüm?« Der Admiral machte Anstalten, sich auf den Schmugglerkönig zu werfen, doch Redhorse trat dazwischen und hielt ihn auf. »Bedenken Sie - er hat eine Waffe!« warnte er Caaler Faader. Cronus sah Redhorse an. »Sehr klug von Ihnen - Sie sind Don Redhorse, dieser Indianer, nicht wahr?« Bevor Redhorse antworten konnte, tauchte zwischen ihnen unvermutet ein Matten-Willy auf. Er richtete sich zu einem unförmigen Gebilde auf und blickte aus einem schnell gebildeten Auge in die Runde. »Gehört das, was ihr hier tut, zu den Merkmalen eurer Trauer?« erkundigte er sich. »Ja«, sagte Cronus, ohne die Waffe zu senken. »Aber diese Neuankömmlinge lassen es offensichtlich an der notwendigen -101-
Pietät fehlen.« »Wer sich nicht benimmt, muß den Friedhof und St. Narchez verlassen«, drohte das Plasmawesen. »Ich schlage vor, daß ihr jetzt alle eure Plätze einnehmt und euch ruhig verhaltet - wir wollen beginnen.« Cronus und seine Männer nahmen wieder Platz. Cronus winkte bedeutungsvoll mit seiner Waffe. Er schien sich ziemlich sicher zu fühlen. Da er Geschäfte mit den Matten-Willys machte, war er in jeder Beziehung im Vorteil. Redhorse sah ein, daß es am vernünftigsten war, wenn sie sich vorläufig ruhig verhielten. Er hoffte, daß Wolermann und Caaler Faader ebenso dachten, denn unberechenbare Auftritte würden unter den gegebenen Umständen nur ihr Leben in Gefahr bringen. Redhorse und seine drei Begleiter nahmen auf der Bank unmittelbar neben den Schmugglern Platz. Einige Lichter innerhalb der Halle erloschen, nur noch das Podest lag im grellen Scheinwerferlicht. Die Matten-Willys stimmten einen seltsamen Singsang an. Dabei wiegten sie ihre Körper wie im Tanz hin und her. Die Posbis hielten sich zurück. Der ganze Auftritt der Roboter und der Plasmawesen wirkte konstruiert, als sei er erst im letzten Augenblick abgesprochen worden. Aber der Friedhof von St. Narchez war eine Realität, und er bestand ganz eindeutig schon längere Zeit. Redhorse hätte gern einige Experten hierhergeholt, damit sie feststellten, wann der Friedhof eingerichtet worden war. Das hätte sie bestimmt ein ganzes Stück weitergebracht. Aber als Indianer hatte Redhorse ein Gefühl für Traditionen und dieser Aufzug hier stimmte ihn eher skeptisch. Ein Matten-Willy kletterte auf das Gebilde, das unter der Plane verborgen war und von dem Don Redhorse annahm, daß es sich um die große Posbi-Mutter handelte. Der Gesang verstummte. -102-
Das Plasmawesen nahm seine natürliche Gestalt an. »Seit seiner Gründung war dieser Friedhof unvollkommen«, sagte es. »Ihm fehlte der eigentliche Mittelpunkt. Wir sind froh, daß wir ihn nun bekommen.« Er bildete ein paar Pseudopodien und klopfte damit gegen die Plane. »Mit der Bestattung der großen Posbi-Mutter bekommen wir das, was wir uns schon immer gewünscht haben.« Seine nächsten Worte waren zu Redhorses Überraschung an die Schmuggler gerichtet. »Wir wissen, wem wir das alles zu verdanken haben: Rumer Cronus und seinen Freunden.« Diese Aussage bedeutete für Redhorse ein Rätsel. Hatten die Schmuggler eine Posbi-Mutter beschafft? Das erschien wenig glaubhaft. Cronus hätte einen derartigen Fund für sich behalten und ihn zu möglichst viel Geld gemacht, indem er ihn an die meistbietende Organisation verkauft hätte. Caaler Faader beugte sich zu Redhorse herüber. »Verstehen Sie dieses ganze Geschwätz?« wollte er wissen. Der Cheyenne verneinte, gab aber dem Admiral durch ein Zeichen zu verstehen, daß er schweigen und Geduld haben sollte. »Wir werden der großen Posbi-Mutter den ihr gebührenden Platz im Friedhof einräumen«, klang die Stimme des Matten-Willys durch die Halle. »Erhebt euch und folgt uns ins Freie hinaus.« Es stellte sich heraus, daß das Podest auf einem energetischen Prallfeld ruhte und frei beweglich war. Gemeinsam steuerten es die Posbis und Matten-Willys in Richtung des Tores. Redhorse, der gehofft hatte, daß man nun die Plane abnehmen würde, sah sich getäuscht. Cronus und seine Freunde erhoben sich ebenfalls. Ungeniert behielten sie ihre Waffen in den Händen. -103-
Das Podest bewegte sich sehr langsam. Es wurde von mehreren Posbis flankiert, die die Plane festhielten und darauf achteten, daß sie nicht abrutschte. Als der Trauerzug fast den Eingang der Halle erreicht hatte, geschah es. »Autsch!« schrie Cronus und fuhr sich mit der Hand zum Hinterteil. Seine fünf Begleiter gaben ebenfalls Schmerzensschreie von sich und führten seltsame Tänze auf. »Die Schneider!« rief Vier-Sterne-Admiral Caaler Faader triumphierend. »Ich habe sie auf die Kerle gehetzt! Das ist unsere Chance.« Wolermann stand da und konnte nicht begreifen, was geschah. Anders Redhorse und Surfat, die sofort reagierten. Redhorse warf sich auf Cronus und umklammerte dessen Waffenarm. Caaler Faader und Surfat kämpften mit zwei anderen Schmugglern, die offenbar Mühe hatten, sich auf ihre Gegner zu konzentrieren und unter Schmerzensgeheul immer wieder an verschiedene Körperstellen tasteten. Endlich setzte sich auch Wolermann in Bewegung und griff einen weiteren Schmuggler an. Ein Matten-Willy, der vor Erregung so außer sich war, daß er wie ein Pudding schwabbelte, tauchte zwischen den Kämpfenden auf. »Das soll Trauerverhalten sein?« schrillte er empört. »Das ist kein Trauerverhalten.« Sein Ausruf war ein Signal für Dutzende anderer Plasmawesen, sich auf die zehn Männer zu stürzen und sie mit schnell geschaffenen Gliedmaßen zu umschlingen. Redhorse war für diese Intervention sehr dankbar, denn zu viert und unbewaffnet hätten sie trotz der sieben siganesischen Schneider und ihrem Nähzeug kaum eine Chance gehabt, gegen die sechs kräftigen Schmuggler zu bestehen. -104-
Redhorse wälzte sich mit dem Schmugglerkönig am Boden. Etwa vier Matten-Willys klebten an ihnen. Zwei von ihnen versuchten angestrengt, Cronus die Waffe zu entreißen. Cronus keuchte und begann zu fluchen. »Wir sind eure Freunde!« rief er. »Habt ihr das vergessen? Wer hat euch all die Jahre mit Gin versorgt?« Aus einem der Plasmagebilde kam eine dünne Stimme. »Das ändert nichts an der Tatsache, daß ihr die Zeremonie gestört und unterbrochen habt. Vor allem aber habt ihr Waffen mit in die Trauerhalle gebracht. Das ist unverzeihlich.« »Wir werden die Strahler abgeben, wenn ihr uns in Ruhe laßt. Die Männer, die uns angegriffen haben, sind ebenfalls im Besitz von Waffen. Es müssen jedoch Geheimwaffen sein, die unsichtbar sind und erst am menschlichen Körper aktiv werden.« Redhorse, der über Cronus zu liegen gekommen war, sah ein winziges Männlein aus dem Umhang des Schmugglers kriechen. Es schwang eine Nadel, die fast so groß war wie es selbst, und stach Cronus damit in den Hals. Der vierschrötige Mann schrie auf. Redhorse nutzte die Gelegenheit, um ihm die Waffe zu entreißen. Er behielt sie jedoch nicht, sondern warf sie einem der Matten-Willys zu, der sie mit einer zweifingrigen Hand geschickt auffing. Wenige Augenblicke später waren alle Schmuggler entwaffnet. Sie waren wütend und niedergeschlagen. Matten-Willys und Posbis schirmten sie gegen die vier Terraner ab. Die Schneider hatten ihre Aktivitäten offenbar eingestellt und waren an ihre ursprüngliche Wirkungsstätte zurückgekehrt. Caaler Faader war vor Stolz rot im Gesicht. Er genoß die anerkennenden Bücke Wolermanns. »Ich habe immer etwas gegen Ihre Spezialwaffen einzuwenden gehabt«, gestand der Cheyenne. »Diesmal jedoch waren sie -105-
ein Volltreffer.« »Das war alles geplant«, behauptete Caaler Faader selbstbewußt. »Mercant hat uns diese siganesischen Spezialisten mitgegeben, damit sie in Fällen wie diesem eingreifen. Ich habe dann. . . autsch!« Er lächelte schmerzerfüllt und fügte hastig hinzu: »Nun, ganz so war es nicht.« Wolermann blickte zu den Schmugglern hinüber. »Wir werden sie alle verhaften«, prophezeite er. »Dann ist endgültig Schluß mit dieser Schmuggelei. Diese Trauerhalle stinkt wie ein Pub, das seit fünf Jahren nicht gelüftet wurde. Es ist eine Schande.« Surfat schnüffelte. »Ich dachte, das ist Weihrauch«, erklärte er. »Wacholderbeeren!« ereiferte sich der Posbibeauftragte. »Wenn Sie meine Erfahrung hätten, Soldat, würden Sie es merken. Es sind Wacholderbeeren!« Redhorse unterdrückte ein Grinsen, denn Surfat war zweifellos kein Unerfahrener, wenn es um alkoholische Getränke ging. Über die Mauer von Posbis und Matten-Willys, die sich zwischen ihnen und den Schmugglern aufgebaut hatte, blickte Caaler Faader zu Cronus hinüber. »Denken Sie nicht, daß Sie davonkommen!« drohte Cronus. »Wir werden dafür sorgen, daß Sie verhaftet werden.« Redhorse wünschte sich, der Admiral hätte geschwiegen. Er war an einer Verhaftung von Cronus und dessen Komplizen nicht so sehr interessiert. Einzig und allein dieser Friedhof und die große Posbi-Mutter beschäftigten seine Phantasie - einen Schmuggler konnte man fast auf jedem Planeten des Solaren Imperiums verhaften. Aber Caaler Faader war ein Mann, der einen einmal erhaltenen Befehl unter allen Umständen zu erfüllen suchte. Bei Wolermann lag die Sache etwas anders, für Wolermann konnte -106-
der Indianer Verständnis aufbringen. Der Posbibeauftragte machte seit Jahren Jagd auf Cronus und seine Bande. Dabei hatte er eine deprimierende Niederlage nach der anderen erlitten. Kein Wunder, daß er nun endlich einmal auftrumpfen wollte. Ein Matten-Willy wandte sich an sie. »Wir werden versuchen, die Feierlichkeiten fortzusetzen«, kündigte er an. »Sollte es zu weiteren Zwischenfällen kommen, werden wir dafür sorgen, daß Sie alle diesen Planeten so schnell wie möglich verlassen.« Das war keine leere Drohung, begriff Redhorse. Diese Plasmawesen konnten, vor allem wenn sie mit Posbis zusammenarbeiteten, sehr ungemütlich werden. Wenn die Terraner nicht aufpaßten, wurden sie gefangengenommen, in ein Fragmentraumschiff der Posbis verfrachtet und irgendwohin gebracht, wo sie nicht mehr für Unruhe sorgen konnten. Das bedeutete im günstigsten Fall eine monatelange Odyssee zurück zur Erde. Auch Cronus schien zu merken, daß es besser war, zumindest vorläufig klein beizugeben. »Wir werden uns benehmen!« versicherte er. »Natürlich kann ich für diese Banditen dort drüben keine Garantie übernehmen.« »Diese Beamtenbeleidigung kostet Sie einiges zusätzlich!« schrie Wolermann wütend. »Ruhe jetzt!« ermahnte ihn Redhorse. »Wir müssen vorsichtig sein, sonst bringt Cronus die Willys gegen uns auf.« Endlich nahm die Trauerfeier ihren Fortgang. Die Lichter im Innern der Halle erloschen, und das große Tor glitt auf. Draußen standen Hunderte von Posbis und Matten-Willys Spalier. Redhorse hielt unwillkürlich den Atem an. Sie hatten diese Ansammlung von Plasmawesen und Robotern bisher nicht gesehen, aber sie bewies ihm eindeutig, daß sie keine Chance hatten, wenn die Matten-Willys sich entschließen sollten, etwas gegen die Störenfriede zu unternehmen. -107-
Dort draußen wartete die Besatzung von mindestens einem großen Fragmentraumschiff der Posbis. Die Anwesenheit so vieler Bürger der Hundertsonnenwelt bewies aber auch, welche Bedeutung der Beisetzung der großen Posbi-Mutter beigemessen wurde. Die Posbis im Freien begannen ihre Tentakelarme rhythmisch gegeneinander zu schlagen. Dies und der erneute Singsang der Willys waren die Begleitmusik für den Trauerzug, der sich nun in den Friedhof hinauswälzte. Getrennt von einem Dutzend Robotern und Willys folgten Cronus und seine Leute auf der einen und die Gruppe Redhorse auf der anderen Seite des Hauptweges der Prozession. Der Himmel von St. Narchez war wolkenverhangen, als wollte er auf diese Weise seine Loyalität mit den Trauernden demonstrieren. St. Narchez war eine winzige Sauerstoffwelt und vor zwei Jahren erst von einem vorbeifliegenden Forschungsschiff des Solaren Imperims registriert worden. Damals hatte niemand daran gedacht, daß man hier einen Elefantenfriedhof der Posbis entdecken würde. Redhorse fragte sich, ob sie den gesamten Komplex mit den Friedhöfen und den Posbi-Müttern nicht falsch eingeschätzt hatten. Natürlich war an der Sache etwas dran, das bewiesen die Vorgänge von St. Narchez ganz deutlich, aber sie besaß offenbar doch nicht das kosmologische Gewicht, das einige Verantwortliche ihr beigemessen hatten. »Vielleicht«, hatte Perry Rhodan zu Redhorse gesagt, als er den Major verabschiedete, »können wir doch noch das Geheimnis der mysteriösen Mechanica-Zivilisation lösen, aus der die Posbis hervorgegangen sind.« Davon, dachte Redhorse, konnte keine Rede sein. Dieser Friedhof existierte, aber er besaß kein geschichtliches Gewicht. Er war eine Einrichtung aus der neueren Zeit. -108-
Und wenn man genau überlegte, konnte man das Gerede um Elefantenfriedhöfe der Roboter und Posbi-Mütter auch nicht weiter als ein Jahrzehnt zurückverfolgen. Irgendwann war das Gerücht aufgetaucht und hatte sich hartnäckig gehalten. Wenn aber die ganze Angelegenheit keinen kosmischen Rahmen besaß - was sollte man sich darunter vorstellen? Das war die Frage, auf die Redhorse bisher keine Antwort gefunden hatte. Er erhielt einen Stoß in die Seite und wurde auf diese rauhe Weise aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Surfat war neben ihn getreten und deutete in die Richtung, in der sich der Trauerzug bewegte. Redhorse schaute nach vorn. Er sah einen zentralen Platz zwischen den Posbigräbern. Das war offensichtlich das Ziel der Prozession. Dort sollte die große Posbi-Mutter bestattet werden. Redhorse registrierte, daß das übliche Gestell, in dem man die Überreste der Roboter aufzuhängen pflegte, an diesem Platz fehlte. Bedeutete das, daß die Posbi-Mütter auf eine andere Weise bestattet wurden als die einfachen Roboter? Womöglich verscharrte man sie unter der Erde! »Der Baum!« zischte Surfat. Da erst begriff Redhorse, worauf ihn der dicke Mann hatte aufmerksam machen wollen. Redhorse sah, daß sich zwischen der vermutlichen Grabstätte der großen Posbi-Mutter und der Spitze des Trauerzugs ein mächtiger Baum mit weit ausladenden und knorrigen Ästen erhob. Der Baum besaß keine Blätter, sondern Dornen und kugelförmige Knollen, aber das war unwesentlich. Entscheidend war, daß einige seiner Äste so weit auf den Weg herabhingen, daß sie unweigerlich die Plane streifen mußten, mit der man die große Posbi-Mutter abgedeckt hatte. Die Matten-Willys und Posbis hatten das Hindernis offenbar noch nicht entdeckt, denn -109-
das Podest auf seinem energetischen Prallfeld glitt weiter direkt auf den Baum zu. Redhorse machte Caaler Faader und Wolermann durch Zeichen auf die kritische Stelle aufmerksam. »Bald werden wir wissen, was sich unter der Plane befindet!« stellte der Vier-Sterne-Admiral mit Genugtuung fest. Den Schmugglern war die Unruhe unter Redhorses Gruppe nicht entgangen. Cronus blickte wild um sich, um den Grund dafür herauszufinden. »Der Baum!« schrie er plötzlich. »Paßt auf!« Seine Warnung kam zu spät. Einige Matten-Willys richteten ihre Aufmerksamkeit zwar erst auf Cronus und dann auf den Baum, aber sie begriffen zu spät, was geschehen würde. Wie Redhorse vermutet hatte, war die Ladung auf dem Podest zu hoch, um ungehindert unter den auf den Weg ragenden Ästen hindurchzukommen. Die Plane verfing sich und blieb hängen. Als das Podest weiterfuhr, rutschte die Plane von der großen Posbi-Mutter und setzte sie den Blicken der Trauergäste aus. Redhorse, Caaler Faader und Brazos Surfat blickten verständnislos auf ein Gebilde aus Röhren, Kolben und Behältern. Nur Wolermann nicht. »Eine Destille!« ächzte er ungläubig. »Eine hochmoderne Destille!«
3. Don Redhorse hatte den Eindruck, daß der Duft von Wacholderbeeren, der bisher nur Wolermanns sensiblem Riechorgan zugänglich gewesen war, sich blitzartig über den gesamten Friedhof ausbreitete. -110-
Die Matten-Willys und Posbis setzten den Trauermarsch fort, als sei nichts geschehen. Rumer Cronus blickte trotzig zu seinen Gegnern herüber, als wollte er sagen: Nun wißt ihr es - na und? Der Cheyenne sah seinen Verdacht bestätigt, daß das Geheimnis der Elefantenfriedhöfe und Posbi-Mütter bei weitem nicht so tiefgründig war, wie man bisher angenommen hatte. Aber wie erklärten sich die Zusammenhänge? Das vermochte Redhorse auch jetzt noch nicht zu sagen. Es stand lediglich fest, daß die Posbis und Matten-Willys im Begriff standen, auf St.Narchez eine moderne Brennerei zu errichten. Daß sie dabei den ganzen Mummenschanz vollführten, hing mit ihrer Vorliebe zusammen, alle möglichen menschlichen Angewohnheiten nachzuahmen. Auch ihre Neigung zu Alkohol spielte vermutlich eine große Rolle. Und Rumer Cronus und seine Schmuggler waren in die Sache verwickelt. Wolermann starrte mit glänzenden Augen auf die Anlage. »Das ist sie«, flüsterte er wie im Rausch. »Ich wußte, daß ich sie eines Tages finden und beschlagnahmen würde.« »Beruhigen Sie sich«, empfahl ihm Redhorse. »Im Augenblick haben Sie keine Chance, an sie heranzukommen. Außerdem bezweifle ich, daß es die einzige ist, die sich im Besitz der Willys und Posbis befindet.« Trotz der offensichtlichen Erregung einiger seiner Teilnehmer erreichte der Trauerzug ohne weitere Zwischenfälle sein Ziel. Redhorse nutzte die Gelegenheit, um die Apparatur, die bisher unter der Plane verborgen gewesen war, näher in Augenschein zu nehmen. Obwohl Redhorse nicht viel von Chemie verstand, konnte er eindeutig feststellen, daß es sich um eine Destillationsanlage handelte. Es gab den Destillationskolben, einen kleinen Atomofen, der als Wärmequelle diente, eine Vakuumpumpe, einen -111-
Kühler und die dazugehörigen Behälter. Das Gebilde wurde von einigen Dutzend Posbis und Matten-Willys vom Podest gehoben und an die vorgesehene Stelle zwischen einigen Posbi-Gräbern getragen. Kaum, daß die Plasmawesen die Destille abgesetzt hatten, trafen sie Anstalten, sie in Betrieb zu nehmen. »Das geht zu weit!« entfuhr es Wolermann. »Admiral, ich beschwöre Sie! Wollen Sie zulassen, daß unter unseren Augen Branntwein oder ein anderer Fusel hergestellt wird?« »Naturlich nicht!« versicherte Caaler Faader und schaute wild um sich. »Ich werde sofort Funkkontakt zu unserem Schiff aufnehmen und ein paar Dutzend bewaffnete Raumfahrer herbeordern.« Er begann, seine Taschen zu durchwühlen und wurde blaß. »Ich habe das Mikrofunkgerät nicht dabei«, entschuldigte er sich. »Sie verstehen, Wolermann, die Schneider hatten das Futter der Taschen noch nicht zugenäht und da dachte ich, daß es besser sei, das Risiko eines Verlusts . . . autsch!« Wolermann traten die Tränen in die Augen. »Das heißt, daß wir der sich anbahnenden Orgie tatenlos gegenüberstehen werden?« »Aber nein«, warf Surfat lüstern ein. »Es gibt noch eine Alternative: Wir können daran teilnehmen.« Caaler Faader bedachte Redhorse mit einem vielsagenden Blick. »Da sehen Sie, was Ihre laxe Dienstauffassung für Früchte trägt, Major!« Es fiel Redhorse nicht schwer, diese kritischen Bemerkungen zu ignorieren. Er beschloß, die Initiative zu ergreifen, denn ein sicheres Gefühl sagte ihm, daß er nicht mehr viel Zeit hatte, die Wahrheit herauszufinden. Entschlossen ging er auf den nächstbesten Matten-Willy zu. »Ich muß mit dir reden!« Bevor das Wesen von der Hundertsonnenwelt Einwände hervorbringen konnte, fügte er hastig -112-
hinzu: »Natürlich will ich die Trauerfeier nicht stören, aber es gibt einige Dinge, die die große Posbi-Mutter betreffen, über die wir unbedingt sprechen müssen.« »Worüber sollten wir sprechen?« wollte das Plasmawesen wissen. »Ist denn nicht alles klar?« »Nicht so richtig«, gab Redhorse vage zurück. »Heißt es nicht, daß eine große Posbi-Mutter alles Wissen und alle Fähigkeiten der Posbis in sich vereint?« »So ist es«, kam die blubbernde Antwort. »Das kann ich nicht akzeptieren«, erwiderte Redhorse. »Jeder noch so primitive Posbi ist dieser Mutter in allen Belangen überlegen.« Der Willy bildete ein großes Auge, als müßte er Redhorse gründlich betrachten, bevor er ihn einer Antwort würdigte. »Wie können Sie so reden?« sagte er schließlich. »Haben Sie jemals die Weisheit einer Posbi-Mutter in sich aufgesogen? Haben Sie jemals gespürt, welche Fähigkeiten Sie erlangen, wenn Sie den Nektar einer Posbi-Mutter in sich aufgenommen haben?« Redhorse war wie vor den Kopf geschlagen. So war das also. So mancher Terraner fühlte sich stark und klug, wenn er ein paar Bierchen getrunken hatte. Leider war das in den meisten Fällen ein Trugschluß, vor allem dann, wenn es nicht bei diesen paar Bierchen blieb. Anders lag die Sache bei den Matten-Willys. Auf sie hatte der Alkohol keinerlei negativen Einfluß. Ihr Organismus konnte davon nicht geschädigt werden. Ein Matten-Willy unter Alkoholeinfluß besaß ein vermehrtes Wissen und verfügte über Fähigkeiten, die er ansonsten nicht besaß. So mußte man die Sache verstehen. Nicht die große Posbi-Mutter selbst verfügte über das Wissen und die Fähigkeiten, die man ihr nachsagte, sondern sie verhalf -113-
den Matten-Willys, die ihre Produkte genossen, zu Klugheit und genialen Handlungen. »Ich hätte Ihnen noch einiges dazu verraten können, Major«, sagte eine Stimme hinter Redhorse. Er fuhr herum und sah Cronus vor sich stehen. Der Schmugglerkönig hob beschwichtigend beide Arme. »Ich will keinen Ärger mit Ihnen, aber Sie sind der einzig vernünftige Mann in dieser Bande. Vielleicht können wir uns einigen. Sie bekommen Informationen und lassen uns dafür laufen.« Redhorse mußte lachen. »Es sieht nicht so aus, als könnten wir sie festhalten.« »Da kennen Sie Wolermann schlecht. Er ist ein Bluthund. Ihm wird schon etwas einfallen.« Der Respekt, den Cronus vor dem Posbibeauftragten hatte, beeindruckte Redhorse. Er nickte langsam. »Also gut«, stimmte er zu. »Ich will sehen, was ich für Sie tun kann.« Cronus schien zufrieden zu sein, auf jeden Fall begann er damit, einige Erklärungen abzugeben. »In der Milchstraße gibt es einen großen Markt für ausrangierte Posbis«, sagte der Schmugglerkönig. »Man könnte meinen, es gäbe für viele Intelligenzen nichts Erstrebenswerteres, als in den Besitz eines Posbi-Roboters zu gelangen - und sei er auch noch so heruntergekommen. Man kann das nach all dem Rummel um die Posbis und die Hundertsonnenwelt vielleicht sogar verstehen.« Cronus zu sehen und ihn über Verständnis für anderer Wesen Leidenschaften reden zu hören, war ein Ereignis, für das sich nach Redhorses Ansicht der Flug nach St. Narchez bereits gelohnt hatte. Aber er enthielt sich einer ironischen Bemerkung, sondern hörte weiter zu. »Meine Firma hat es sich seit jeher zur Aufgabe gemacht, -114-
Marktlücken zu erkennen und zu schließen«, sagte Cronus mit einem treuherzigen Augenaufschlag. »Kein Wunder also, daß wir beschlossen, in das Posbigeschäft einzusteigen.« »Firma scheint mir untertrieben«, schlug Redhorse vor. »Was halten Sie von Unternehmen? Es wirkt seriöser, finde ich.« Der Schmugglerkönig rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ich werde es mir überlegen. Auf jeden Fall mußten wir eine Möglichkeit finden, an Posbis heranzukommen. Das war nicht so einfach. Jedes Fragmentraumschiff, dem wir uns näherten, feuerte ein paar Warnsalven auf uns ab - und die Posbiwelten im Leerraum kamen natürlich nicht in Frage, schon wegen der Entfernung.« »Da haben Sie sich an die Willys herangemacht?« erriet Redhorse. Cronus nickte beifällig. »Die Matten-Willys halten sich mittlerweile auf vielen Welten des Solaren Imperiums auf. Sie sind sehr konziliant, man kann mit ihnen über alles reden.« »Vor allem über Schnaps!« »Ja, vor allem darüber. Wir sagten den Willys, was wir brauchten, und sie nannten uns ihren Preis. Es schien alles flott zu laufen, bis sich herausstellte, daß die Willys moralische Bedenken hatten.« »Moralische Bedenken? Bei einem Geschäftspartner wie Ihnen?« Redhorse schüttelte den Kopf. »Nicht möglich.« »Die Bedenken galten nicht mir!« machte ihm Cronus klar. »Es war der Rahmen, verstehen Sie. Man kann nicht hingehen und zu einem Willy sagen: ›Beschaff mir einen Posbi und du bekommst eine Pulle Schnaps! ‹ Das würde er nie verkraften. Geschäfte mit Willys bedürfen eines würdigen Rahmens.« »Und da kamen Sie auf die Idee mit den Friedhöfen und den Trauerfeierlichkeiten ?« Cronus senkte den Blick. -115-
»Es war das Würdigste und Feierlichste, was uns einfiel! Die Willys brachten die Posbis zu den Friedhofswelten und setzten sie bei. Dafür lieferten wir jeweils eine Destillationsanlage, die wir als Posbi-Mutter bezeichneten. Wir brauchten nach jeder Lieferung einen Friedhof nur abzuräumen, verstehen Sie. Wir hatten die Posbis - und die Willys ihre Destille.« »Grabschänder!« rief Redhorse aus. Bevor Cronus sich verteidigen konnte, wurde ihre Unterredung gestört. Vier-Sterne-Admiral Caaler Faader trat zwischen sie. Irgend etwas war geschehen, denn der Admiral bot ein Bild des Jammers. »Die Schneider«, jammerte er verzweifelt. »Sie haben ihren Arbeitsplatz verlassen und sich zur Destille abgesetzt. Kann mir jemand sagen, wie ich jetzt bei der Flottenparade bestehen soll in diesem Fetzen?« Niemand vermochte es ihm zu sagen - und aller Aufmerksamkeit war außerdem erheblich abgelenkt. Die Trauerfeierlichkeiten näherten sich allmählich ihrem Höhepunkt und sie entfernten sich dabei immer mehr von der herkömmlichen Vorstellung, die ein durchschnittlicher Bürger des Solaren Imperiums von einer derartigen Veranstaltung hatte.
4. Zwanzig Stunden nach dem Aufbruch von Vier-Sterne-Admiral Caaler Faader und dem Posbibeauftragten Wolermann rief der Kommandant der LEIDSEPLAAN, Major Hunk Storchan, den Ersten Offizier des Raumschiffs, zu sich. Die LEIDSEPLAAN war viele Meilen westlich vom Posbifriedhof gelandet, und an Bord breitete sich zunehmend Unruhe über das Schweigen und Ausbleiben des Admirals und seines Begleiters aus. -116-
»Es wird Zeit, daß wir etwas unternehmen«, sagte Storchan nervös. »Lassen Sie eine Raumlinse bereitmachen, IO, ich werde mich in der Umgebung ein bißchen umsehen.« Nur ein paar Minuten später startete Storchan mit dem winzigen Flugboot aus einer Schleuse des großen Schiffes und nahm Kurs auf den Posbifriedhof. Zur Erreichung seines Zieles mußte er einige Berge überfliegen, aber das bedeutete für sein raumtüchtiges Boot überhaupt keine Schwierigkeiten. Der Raumfahrer lag auf der Linse und blickte über ihren vorderen Rand auf das Land hinab. Er flog in einer Höhe von zehn Metern. Auf St. Narchez gab es keine eingeborenen Intelligenzen, so daß er unbekümmert vorgehen konnte. Als er den Posbifriedhof fast erreicht hatte, entdeckte er auf der Straße, die von dem kleinen Landefeld zum Friedhof führte, das Fahrzeug, auf das Wolermann so stolz war und dem niemand an Bord der LEIDSEPLAAN auch nur einen Funken Vertrauen entgegenbrachte. Storchan umkreiste ein paarmal die Maschine, bis er sicher war, daß er hier weder Caaler Faader noch den Posbibeauftragten finden würde, dann flog er direkt auf den Friedhof zu. Schon aus der Ferne sah er, daß es dort von Posbis und Matten-Willys nur so wimmelte. Irgend etwas Außergewöhnliches war im Gang. Die Posbis verhielten sich normal, das hieß, sie standen einzeln oder in Gruppen herum und warteten offenbar auf Befehle. Anders die Matten-Willys. Sie hatten geradezu abenteuerliche Gestalten angenommen und versuchten dabei offensichtlich, sich gegenseitig an Originalität zu übertreffen. Die meisten von ihnen torkelten mit tänzerisch anmutenden Bewegungen zwischen Gestellen umher, in denen die Überreste von Robotern hingen. Die ganze Szene wirkte chaotisch. -117-
Storchan sah, daß das Zentrum des Geschehens ein seltsames Gebilde war, das ihn in seinem Aussehen an eine überdimensionale Laboreinrichtung erinnerte. Dort gebärdeten sich die Posbis besonders toll. Der Major flog zu diesem Platz und hielt nur wenige Meter darüber an. Zu seiner Überraschung sah er, daß sich auch einige Menschen zwischen den Matten-Willys aufhielten - zwei von ihnen waren Vier-Sterne-Admiral Caaler Faader und der Posbibeauftragte Wolermann. Die anderen waren Storchan unbekannt, aber sie alle zeigten eindeutige Symptome starker Trunkenheit. Offenbar gab es zwei Gruppen, zwischen denen es gerade zu einer Art Verbrüderungsszene zu kommen schien. Wolermann, so erkannte Storchan mit einiger Erleichterung, schien als einziger Beteiligter noch bei Sinnen zu sein, und er hatte die Raumlinse jetzt entdeckt und machte durch heftiges Winken auf sich aufmerksam. Storchan fand nach einigen Anstrengungen einen Landeplatz in der Menge der hin und her wogenden Plasmawesen. Er sprang von der Linse und rannte auf Wolermann zu. »Was geht hier vor?« rief er dem dürren Mann zu. Wolermann hatte Tränen in den Augen. Er war außer sich vor Zorn und Verzweiflung. »Sie nennen es eine Hundertsonnenweltorgie«, sagte er deprimiert. »Und ich habe nichts dagegen tun können.« Storchan blickte zu der Apparatur hinüber und sah, daß es sich um eine Destillationsanlage handelte. Zwei Posbis waren pausenlos damit beschäftigt, Flüssigkeit abzufüllen und an die Matten-Willys zu verteilen. Im Gegensatz zu den am Boden liegenden Männern tranken die Plasmawesen das Produkt der Destille nicht, sondern schütteten es sich auf die Körper. »Mein Gott!« stellte Storchan fest. »Sogar der Admiral!« »Er ist der schlimmste von allen«, seufzte Wolermann. -118-
»Kommandant, es ist einfach demütigend. Sie haben ein Abkommen mit diesem Erzgauner Cronus getroffen, und nun feiern sie es.« Er begann irgend etwas über Elefantenfriedhöfe und Posbi-Mütter zu erzählen, aber Storchan bekam nur die Hälfte davon mit. Entschlossen trat er zwischen die am Boden liegenden und eifrig zechenden Männer. Dabei stolperte er fast über einen korpulenten Soldaten, der eingeschlafen war und laut schnarchte. Ein schwarzhaariger Major der Solaren Flotte und ein vierschrötig aussehendes Individuum in einem Umhang saßen Arm in Arm am Boden. »Kommen Sie!« rief der Schwarzhaarige Storchan zu. »In diesem Zeug stecken alles Wissen und alle Fähigkeiten der großen Posbi-Mutter.« Wolermann, der Storchan gefolgt war, bemerkte erregt: »Am schlimmsten ist dieser penetrante Wacholderbeergeruch.« Sie erreichten den Admiral und stellten ihn auf die Beine. Wolermann sagte bissig: »Wir gehen am besten. Hier haben wir nichts mehr verloren.« Caaler Faader sah sie aus glasigen Augen an, schien aber nicht zu erkennen, wen er vor sich hatte. Er rappelte sich jedoch auf und nahm Haltung an. Dann salutierte er. »Das ist die schönste Parade meines Lebens«, bemerkte er. »Storchan, wie gefällt Ihnen meine Uniform?« »Sie haben sie bekleckert!« erklärte der Kommandant. »Daran sind nur diese grünhäutigen Zwerge schuld!« schrie der Admiral. »Sie haben . . . autsch!« Er griff sich mit einer Hand an sein linkes Hinterteil, fuhr aber mutig fort: »Sie haben versucht, meine Teilnahme an dieser Parade zu sabotieren. . . autsch!« Die zweite Hand fuhr zum rechten Hinterteil. -119-
Dann bekam sein Gesicht einen erstaunten Ausdruck. »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Diese Hose war doch schon längst fertig.« Storchan und Wolermann ergriffen ihn und schleppten ihn zur Raumlinse, wo sie ihn unsanft niederlegten. »Lassen Sie uns so schnell wie möglich von hier verschwinden«, schlug Wolermann vor. Storchan runzelte die Augenbrauen. »Heißt das, daß Sie die Kerle alle ungeschoren davonkommen lassen wollen?« Wolermann sah ihn traurig an. »Gegen die Legenden und Mysterien des Weltraums«, sagte er philosophisch, »kommen auch wir nicht an.«
-120-
Horst Hoffmann
RENDEVOUS DER TOTEN Wer von uns hätte sich noch niemals gewünscht, einem Verstorbenen noch einmal begegnen zu können, um all das zu sagen, was zu dessen Lebzeiten ungesagt blieb. Vielleicht um zu sagen, wie gern man jemanden hatte, oder daß dieses und jenes böse Wort doch nicht so gemeint gewesen sei. Vielleicht um Verzeihung für etwas zu erbitten, das uns in Form von Alpträumen verfolgt. Um einem geliebten Partner noch ein Geschenk machen zu können oder einfach zu sagen: »Warte auf mich!« Natürlich ist das uns im Hier und Heute nicht möglich einmal abgesehen von jenen Zeitgenossen, die in ihren Seancen einen besonderen Draht zum Jenseits zu haben scheinen. Doch wie sieht es in einem halben Jahrtausend damit aus? Nehmen wir das Jahr 2421. Es beginnt scheinbar völlig harmlos. Doch dann wird der Großadministrator des Solaren Imperiums in einen Wirbel von Ereignissen hineingerissen, die aus dem Wunsch einen Fluch machen. Tote scheinen wiederaufzustehen - aber nicht, um geläutert über frühere Zeiten zu reden und Frieden mit den Lebenden zu schließen. . .
Perry Rhodan konnte gerade den Kopf drehen, das war schon alles. Das Fesselfeld band ihn an den Pilotensitz der Space-Jet. Er vermochte nicht einmal einen Finger von der Lehne zu heben - geschweige denn eine Faust zu ballen und sie dem anderen ans Kinn zu schmettern. Der Mann stand vor ihm. Sein ganzes Gesicht war hinter einer Maske verborgen, die nichts von den Zügen ahnen ließ, die sich -121-
dahinter versteckten. Er trug eine einfache Kombination und Stiefel. Die rechte Hand hielt einen Impulsstrahler auf den Großadministrator gerichtet. »Und nun, Rhodan?« Die Stimme des Unbekannten war künstlich verzerrt. »Was nützt dir jetzt all deine Macht, die Unsterblichkeit und die Flotte? Du bist allein. Nur du und ich. Wir beide tragen es aus.« Rhodan wußte, daß jedes Wort stimmte. Der Fremde konnte sich seiner Sache vollkommen sicher sein. Es gab niemanden mehr, der ihn daran hindern würde, dem grausamen Spiel mit einem Schuß ein Ende zu machen. Offenbar aber wollte er die Situation noch eine ganze Weile auskosten. Das gelegentliche irre Lachen deutete auf einen Wahnsinnigen hin. Wer dermaßen hassen konnte und so besessen war, der brachte seinen Gefangenen nicht um, ehe er ihm nicht gezeigt hatte, wer ihn in die Ewigkeit schickte. Der Maskierte senkte die Waffe etwas und deutete mit dem Lauf auf eine der beiden Leichen am Boden. »Sieh ihn dir noch einmal an, Rhodan! Schon er hätte dich töten können.« Der Terraner drehte den Kopf. Im gleichen Moment verfluchte er sich dafür. Wieso tat er dem Besessenen diesen Gefallen? Doch er sah die noch im Tod furchtbaren Züge des massigen Gesichts, die aufgerissenen kleinen Augen, die einmal so viel Macht besessen hatten. Seine Gedanken schweiften zurück. . . Es war der 21. Juni 2421, ein Tag wie jeder andere, so schien es. In der Galaxis herrschte fünfzehn Jahre nach dem Tod des letzten Meisters der Insel Ruhe. Die Menschen nutzten den Frieden, von dem jeder hoffte, daß es diesmal ein endgültiger sein mochte. Neue Planeten wurden besiedelt, große Fortschritte -122-
auf den Gebieten der Naturwissenschaften und Technik erzielt. Andromeda war längst aus dem engeren Blickfeld gerückt. Das Bündnis mit den Maahks bewährte sich. So blieb auch jenen Männern und Frauen Zeit für Privates, die in den Jahren der Auseinandersetzungen in vorderster Front gestanden hatten. Perry Rhodan konnte sich neben den Staatsgeschäften viel um seine Familie kümmern. Michael und Suzan Betty waren inzwischen aufgeschlossene junge Leute, die bereits erste eigene Wege zu gehen begannen. Mory verbrachte soviel Zeit wie möglich auf der Erde. Als Obmann von Plophos wußte sie die dortige Verwaltung in guten Händen. Dieser Tag schien die dennoch seltene Gelegenheit zu bieten, mit der ganzen Familie etwas zu unternehmen. Rhodan hatte die Absicht, mit den Kindern in das Museum zu fliegen, in dem das originalgetreu nachgebildete Modell der STARDUST stand, der ersten bemannten Mondrakete der ehemaligen US-Space-Force. Danach würde sich noch Zeit zum Schwimmen und Segeln finden. Reginald Bull vertrat den Großadministrator in Terrania. Und Bull war es dann auch, der seinem Freund einen Strich durch die Rechnung machte. Der Telekom-Melder summte, als die Rhodans auf der Terrasse ihrer Villa am Goshun-See beim Frühstück saßen. Mory verschwand seufzend im Haus, um den Anruf entgegenzunehmen. Eine knappe Minute später kam sie zurück, breitete schicksalsergeben die Arme aus und machte eine einladende Geste zur Terrassentür. »Für dich, Perry. Wer kann’s schon sein. Ich habe ihm klipp und klar zu verstehen gegeben, daß du heute nicht existierst. Aber dieser Mensch besitzt die Sturheit eines Panzers. Angeblich geht es um Gucky. Aber das will er dir selbst sagen.« Rhodan versprach zwar, gleich wieder zurück zu sein und Bull seine Probleme mit dem Mausbiber einmal allein austragen -123-
zu lassen. Dann aber vergingen die Minuten. Als er wieder erschien, war alle Heiterkeit aus seinem Gesicht verschwunden. »Hab’ ich dir’s nicht gesagt?« Michael stieß seine Zwillingsschwester mit dem Ellbogen an. »Es wird nichts mit dem Ausflug. Onkel Bully hat wohl wieder den Kompost aus seinem Garten auf Guckys Mohrrüben geschüttet und kriegt jetzt sein Fett.« »Mike!« flüsterte Mory streng. »Sei still.« Ihre Augen versuchten in Perrys Miene zu lesen. »Es ist doch etwas Ernstes?« »Wie es aussieht, ja«, sagte Rhodan. »Ich muß hin. Angeblich hat Gucky sich aus dem Weltraum gemeldet, von einem Planeten, dessen Bezeichnung mir noch nicht viel sagt. Es war ein Hilferuf. Wenn der Kleine sich keinen dummen Scherz erlaubt, ist er entführt worden und steckt jetzt böse in der Klemme.« »Du bist dir nicht sicher?« »Es scheint zu stimmen. Gucky gibt in diesem Hilferuf an, von einer Gruppe Antis und einigen anderen finsteren Burschen auf seiner Urlaubswelt in eine Falle gelockt worden zu sein. Ihr wißt ja, daß er einige Wochen auf einem der neubesiedelten Planeten in den Plejaden verbringen wollte, um sich von seiner Mausbiberbande zu erholen. Deshalb flog er auch ohne Iltu und Jumpy.« »Ja«, sagte Michael. »Aber er sollte doch längst wieder zurück sein.« »Eigentlich schon, Mike. Was glaubst du, warum mein Gespräch so lange gedauert hat? Ich ließ mir zuerst die Aufzeichnung des Hilferufs auf den Bildschirm spielen und versuchte dann, etwas über Guckys letzten Aufenthaltsort zu erfahren. Jeder Mutant und jeder wichtige Flottenangehörige oder Politiker hat sich sofort zu melden, wenn er nach einem Weltraumaufenthalt zur Erde zurückkehrt. Gucky ist noch nicht wieder auf Terra, das steht einwandfrei fest. Er ist aber auch nicht mehr in den Plejaden. Von dort kam die Auskunft, daß er seinen Urlaub -124-
auf eigene Faust verlängerte und sich einer Gruppe von Abenteurern anschloß, die ihm einen neuen und besonders interessanten Planeten zeigen wollten.« Michael lachte schallend. »Das ist typisch für ihn! Bestimmt ist das ein Karottenplanet!« Rhodan war mit einem Schritt bei ihm und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Tut mir leid, Dad«, sagte der Junge kleinlaut. »Es war ja nicht so gemeint, das weißt du. Gucky ist also wirklich in Gefahr? Ausgerechnet er? Er hat doch schon ganz andere Gegner durch die Luft wirbeln lassen.« »Aber nicht, wenn sie sich als Antis herausstellten. Der Kernpunkt seines Notrufs ist der, daß man ihn aller Mutantenfähigkeiten beraubt habe. Und um ihn freizubekommen, müßte ich persönlich zu ihm und seinen Entführern. Sie wollen nur mit mir über seine Freilassung verhandeln. Was sie dadurch erpressen wollen, sagte er nicht.« »Du fliegst nicht, Perry!« wehrte Mory heftig ab. »Wenn die Geschichte stimmt, kann sich auch ein anderer die Forderungen der Entführer anhören! Es kann eine Falle sein, Perry!« Er schüttelte energisch den Kopf. »Gucky ist einer unserer besten Freunde, Liebes. Er würde auch keine Sekunde zögern, sich für uns in Gefahr zu begeben. Ich will wissen, was hinter dieser Angelegenheit steckt - und mir nicht später Vorwürfe machen müssen. Bully versucht, an weitere Informationen heranzukommen. Wenn diese bei meinem Eintreffen in Terrania nicht vorliegen, werde ich fliegen.« Rhodan sah wieder zu dem Maskierten auf. Der Fremde ließ sich viel Zeit, und er ließ ihm Zeit, die Stationen seines Alptraums noch einmal Revue passieren zu lassen. Das war vielleicht Rhodans Chance - die einzige. Wenn er auf Zeitgewinn spielen konnte und es Bull endlich gelang, den pla-125-
netenumspannenden Energieschirm zu durchschlagen. . . Aber vorher würde der Wahnsinnige schießen. Wie er es auch drehte und wendete, der Großadministrator des Solaren Imperiums saß in einer Falle, aus der es ohne ein Wunder kein Entkommen mehr geben konnte. Sie war so perfekt aufgebaut gewesen. Jeder wäre hineingegangen. Rhodan versuchte, kühl zu bleiben. Vielleicht gelang es ihm, den Gegner zu provozieren, eine schwache Stelle zu finden, ihn aus der Reserve zu locken. Wer konnte Grund haben, ihn dermaßen zu hassen? »Das halbe Solare Imperium dafür, daß ich die Maske abnehme!« höhnte der Fremde. »Und das ganze dafür, daß ich dich laufen lasse, großer Mann!« Wieder das irre Lachen. »Du würdest natürlich lieber sterben als dieses Angebot machen. Ich nähme es auch nicht an, denn wozu einen Preis für etwas bezahlen, das mir in wenigen Tagen gehören wird?« »Dann zeige dich!« sagte Rhodan. »Du mußt große Angst davor haben, es zu tun.« »Du wirst mein Gesicht sehen, wenn wir miteinander fertig sind, Rhodan. Warte nur noch.« Er deutete wieder auf den Toten. »Wie war es, als du ihn sahst, als du seine Stimme hinter dir hörtest. Du weißt es doch noch. Er war dein erster großer Gegner.« Das war er gewesen. Rhodan hatte ihn nie vergessen. Und dann. . . Es hatte nichts dafür gesprochen, daß Guckys Hilferuf nicht vom Mausbiber selbst gekommen war. Alle diesbezüglichen Hoffnungen waren unerfüllt geblieben. Gegen Mittag des 21. Juni brach Rhodan mit der CREST III zu jenem Sonnensystem auf, das in den Sternkatalogen als EX-4377-27/2 verzeichnet war, ein unbedeutender Stern mit insgesamt sieben Planeten, von denen -126-
der zweite Leben trug. Rhodan hatte sich schnell informiert. EX-4377-27/2 war eine erdgroße Sauerstoffwelt mit gemäßigten Temperaturen und fast Normalschwerkraft. Die Mannschaft des Explorerschiffs hatte Ruinenstädte einer vor etwa zehntausend Jahren ausgestorbenen Zivilisation entdeckt. Die Planetarier waren aus unbekannten Gründen von der Bildfläche verschwunden, als ihre Kultur eine Stufe erreicht hatte, die der des frühen Mittelalters auf der Erde entsprach. Das System war nahe dem Einflußbereich der Blues gelegen, 32.774 Lichtjahre von Sol entfernt. Die CREST kam zehn Lichtstunden von der Bahn des äußersten Planeten aus dem Linearraum und drang mit halber Lichtgeschwindigkeit langsam tiefer ein. Reginald Bull hatte es sich nicht nehmen lassen, selbst mit von der Partie zu sein. Wenn es um seinen speziellen Freund Gucky ging, wollte er nicht zurückstehen. Und er nahm den von Mory bereits gemachten Vorschlag auf. »Laß mich gehen, Perry. Es ist doch wirklich egal, mit wem die Ganoven verhandeln. Wir können in Funkverbindung bleiben, und du sagst mir, was annehmbar ist und was nicht. Entweder wollen sie Geld oder einen Planeten für sich.« »Es sind Antis darunter, falls du das vergessen haben solltest«, wehrte der Großadministrator ab. »Und die haben sich noch nie mit Kleinigkeiten zufriedengegeben.« »Dann hat es auch keinen Sinn, sich überhaupt auf etwas einzulassen! Wir besetzen den Planeten und zeigen ihnen, daß man sich nicht mit der Solaren Flotte anlegt!« »Und Gucky?« Bull wurde rot und schwieg betreten. Vielleicht war die ganze Aufregung umsonst. Vielleicht genügte es den Entführern, daß Perry Rhodan nur persönlich in diesem System erschien, um sich anzuhören, was sie zu sagen hatten. -127-
Die Besatzung der CREST war auf alle Heimtücken vorbereitet, das Schiff in Alarmbereitschaft. Im Schutz der HÜ-Schirme überquerte es die Bahn des dritten Planeten, als die Funkgeräte ansprachen. Es war wieder Gucky. Die stille Hoffnung, daß sich wenigstens im Bildhintergrund einige der Unbekannten zeigten, blieb unerfüllt. Der Mausbiber wirkte müde und entkräftet. Sein Fell war an einigen Stellen versengt. Als er zu Ende gesprochen hatte, waren für Rhodan endgültig alle Zweifel daran beseitigt, daß er es mit dem echten Ilt zu tun hatte. Die Entführer wollten, daß er mit einer Space-Jet allein auf dem Planeten landete - und unbewaffnet. Alle Waffensysteme des Beiboots mußten vorher ebenfalls unbrauchbar gemacht werden. Rhodan sagte zu. Er wehrte alle Bedenken Bulls und der Besatzung mit dem Hinweis darauf ab, daß die CREST aus dem Orbit jederzeit zuschlagen konnte, sollte er sich nicht mehr melden. Es wurde vereinbart, daß er alle zehn Minuten ein Peilsignal abgab. Eine halbe Stunde später war er auf dem Weg, lange nicht so selbstsicher, wie er sich gab, allein auf die gewaltige Feuerkraft seines Schiffes vertrauend. Er landete an der von Gucky bezeichneten Stelle. Es war am nördlichen Rand einer Ruinenstadt. Er mußte eine geschlagene Stunde warten, bis eine unbekannte Stimme ihn dazu aufforderte, die Jet zu verlassen. Rhodan ballte die Fäuste. Fast bereute er seinen einsamen Entschluß schon. Doch nun war er hier, und er wollte Klarheit. »Habt ihr den Anruf mitbekommen?« fragte er zur CREST hinauf. »Klar und deutlich«, antwortete Bull. »Du wirst diese Dummheit doch nicht machen!« »Ich gehe, Bully. Sobald eine Meldung von mir ausbleibt, landet ihr hier. Aber laßt genügend Beiboote im Weltraum, um -128-
eine eventuelle Flucht der Kidnapper zu verhindern.« Er unterbrach die Verbindung und machte sich auf den Weg, ohne sich weitere Proteste anzuhören. Er wußte selbst nicht, was ihn zu diesem Leichtsinn veranlaßte. Nur tief in ihm war eine eigenartige Unruhe, ein Gefühl, daß es um mehr ging als nur um das Erpressen von Reichtümern oder politische Macht. Als er den Fuß auf den Boden des Planeten setzte, war ihm einige Augenblicke danach, einfach umzukehren und zu starten. Er kämpfte die kurze Panik nieder und redete sich ein, Gespenster zu sehen. Er hatte schon ganz andere Situationen gemeistert. Die Unbekannten wollten ganz sichergehen. Vielleicht - wahrscheinlich - wollten sie auch ihn in ihre Gewalt bringen. Für diesen Fall hatte er entsprechende Anweisungen an die Bordpositronik der CREST gegeben. Die Ruinenstadt war von einer noch relativ gut erhaltenen Mauer umgeben. Rhodans Schritte knirschten in feuchtem Staub, in den er knöcheltief einsank. Die grüne Sonne färbte das Firmament in ihrem Höchststand. Kein Lüftchen ging. Bizarre Pflanzen wuchsen zwischen den Trümmern einer alten Hochkultur und rankten sich wie stacheliges blaues Efeu an den Befestigungstürmen hoch. Gespenster, ja. Dies war ein Ort, an dem man an Gespenster glauben konnte. Das Licht der Sonne warf irritierende Schatten. Rhodan zuckte einige Male erschreckt zusammen, als er durch das Stadttor schritt und in den finster gähnenden Eingängen eingefallener Häuser Gestalten zu erkennen glaubte. Irgendwo raschelte es. Irgendwo huschten Ratten oder anderes Kleingetier durch die Ruinen. Von irgendwoher ertönte der gräßliche Schrei eines Vogels. Der programmierte Sender gab das Peilsignal an die CREST ab. Rhodan ging langsam weiter durch den Jahrtausendestaub einer ehemaligen Straße. Nichts rührte sich. Weshalb warteten -129-
die Entführer noch? Hier kam er wie auf einem Präsentierteller. War es Teil eines Zermürbungsspiels, ihn durch diese geisterhafte Kulisse streifen zu lassen? »Habt ihr irgend etwas entdecken können, Bully?« fragte er zum Schiff hinauf. »Energieemissionen?« »Nichts, Perry.« Und das war das letzte, was er von der CREST zu hören bekam. Der Planet - oder zumindest dieser Teil des Planeten - hüllte sich schlagartig in einen grünen Hochenergie-Überladungs-Schirm. Alle Versuche, doch noch zur CREST durchzukommen, scheiterten. Das kleine Handfunkgerät schwieg, schwieg wie die Stadt, wie Gucky, wie die angeblichen Entführer. Rhodan dachte ganz kurz an Mory, wie sie ihn vor diesem Abenteuer gewarnt hatte, und an Bully. Er biß die Lippen zusammen. Wenigstens herrschten nun klare Verhältnisse, was sein Hiersein betraf. Die Fremden wollten ihn. Gucky war der Köder gewesen. Aber wenn sie ihm auch nur ein Haar krümmten, konnten sie alles vergessen, was sie sich von seiner Gefangennahme erhofften. Selbst Bully hatte sich an die Befehle zu halten, die in den Positroniken verankert waren. Rhodan nahm die Herausforderung an. Er ging weiter. Das Schweigen, die Kulisse, all das war Teil des Spieles. Er schaffte es, die Umgebung weitgehend zu ignorieren. Wo war der Ort, an dem die Unbekannten ihn erwarteten? Die Burg lag inmitten der Stadt. Ein breiter und tiefer Graben deutete darauf hin, daß sie vor langer Zeit einmal von Wasser umgeben gewesen war. Die Außenmauern und der Torbau standen noch. Beherrscht aber wurde die Anlage von einem mächtigen Bergfried. Von diesem Wehrturm aus, dachte der Terraner, ist alles zu überblicken. Die Stadt und das nähere Umland. -130-
Wer immer ihn beobachten wollte - er tat es am besten von dort aus. Rhodan ging über die halbverfallene Brücke und durch das Tor. Zu spät fast sah er das Fallgitter, das sich rasselnd löste und herunterkam. Im letzten Moment brachte er sich mit einem Hechtsprung in Sicherheit. Die angespitzten Eisen krachten nur Zentimeter hinter seinen Füßen in den Jahrtausendestaub und den Fels. Wie aus tausend Verstärkern hallte ein grausames Lachen über die Szene. Rhodan biß die Zähne zusammen, richtete sich auf und ging weiter. Jemand wollte das Psychospiel. Dieser Jemand hatte seinen Gegner gefunden. Rhodan versuchte sich an alles zu erinnern, was er über die alten Trutzburgen auf der Erde wußte und in sein Kalkül einbeziehen konnte. Die Parallelen waren so frappierend, daß er fast schon gewillt war zu glauben, diese ganze Kulisse sei künstlich erschaffen worden. Aber Guckys Entführung war doch real. Wieso dachte er jetzt plötzlich von einem Gegner? Das Gefühl ließ sich nicht abstellen. Rhodan war nicht der Mann, der Gefühle zugunsten kalter Logik zurückstellte. Er hatte gelernt, daß nicht immer nur das zählte, was sich durch nüchterne Überlegung als scheinbar wahr herausstellte. Er ging weiter. Wer konnte die Erdvergangenheit so gut kennen, um ihm dieses Schauspiel zu bieten? Wirklich Antis? Das nächste Peilzeichen, für den Fall, daß es die CREST noch erreichte. Rhodan fand die Treppe zum hochgelegenen Eingang des Bergfrieds. Sie bestand aus Holz, das keine Verwitterungserscheinungen zeigte. Sie stammte nie und nimmer aus der geschichtlichen Epoche, in der die Stadt angelegt worden war. Die Mauern des Turmes waren vier Meter dick. In seinem Innern war es naßkalt, trotz der sengenden Hitze draußen. Rhodan fand das mächtige Schwert vor den Stufen der steinernen -131-
Wendeltreppe, die weiter hinauf führte. Er nahm den Beidhänder an sich und eine Stufe nach der anderen, immer darauf vorbereitet, daß der Stein unter seinen Füßen nachgab. Nach drei Geschossen erreichte er die Turmplattform. Jetzt wehte ein warmer Wind, und auch zwanzig Meter unter ihm bogen sich die blauen Stachelbüsche im Luftstrom. Rhodan trat an die halbzerfallenen Zinnen und suchte die Umgebung ab. Nichts rührte sich außer den Pflanzen. Kein Laut drang herauf. »Perry Rhodan!« Er zuckte zusammen, drehte sich nicht um. »Rhodan!« rief die Stimme wieder, die Stimme, die er kannte und die er niemals vergessen hatte. »Fast fünfhundert Jahre mußte ich warten! Wollen Sie einem alten Freund nicht die Hand reichen, Administrator?« Clifford Monterny! Nein, dachte Rhodan. Wir hatten einen anderen Namen für ihn. Wir nannten ihn Overhead, weil er scheinbar überall präsent war. »Clifford Monterny ist seit vierhundertvierzig Jahren tot«, sagte er laut, immer noch den Zinnen zugewandt. Seine Gedanken jagten sich. Ihn fröstelte, obwohl er selbst Zeuge vom Ende des Overhead gewesen war. Gucky, den der Hypno-Suggestor nicht beeinflussen konnte, hatte den Zerstörer des Fliehenden mit einem Planetoiden kollidieren lassen. Ausgerechnet Gucky! War dies der Zusammenhang? Gab es ein neues Mutantenmonstrum, das die Nachfolge des Overheads antreten wollte? »Haben Tote eine Stimme, Rhodan? Können Tote Sie plötzlich schrecken?« Der Terraner wirbelte herum, als er die Schritte hinter sich hörte. Clifford Monterny stand breitbeinig keine fünf Meter vor ihm. Es stimmte alles - die wuchtige Gestalt, der aufgeschwemmt wirkende, gewaltige Kahlkopf, die kleinen und tiefliegenden Augen. Selbst die Kleidung war die gleiche, die der Overhead -132-
meistens getragen hatte. Rhodan fühlte sich fast wieder in jene Zeit gegen Ende des 20. Jahrhunderts hineinversetzt, als der Mutant nach der Macht griff. Seine schlimmste Waffe war dabei Iwan Iwanowitsch Goratschin gewesen, heute eines der wertvollen Mitglieder des solaren Mutantenkorps. Der Overhead hatte Rhodan mit dessen eigenen Mitteln zu schlagen versucht. Neben Goratschin waren ihm die Telepathin Tatjana Michailowna und der Hypno Gregor Tropnow gefügig gewesen. Doch auch allein hatte Monterny die Welt in Atem gehalten. Jedes Lebewesen an jedem Punkt der Erde konnte er mit seinen zwingenden Geistesströmen erreichen und beherrschen, wenn er dessen Individualschwingungen erst einmal kannte. Instinktiv bereitete sich Rhodan darauf vor, den erwarteten mentalen Angriff abzuwehren. Er erfolgte nicht, und dies war der Unterschied zum alten Overhead. Der Fremde wollte einen anderen Kampf. Er stützte sich mit beiden fleischigen Händen auf den Knauf eines Schwertes, das dem des Terraners bis auf die Klingenverzierungen glich. Rhodan bemühte sich, seine aufwallenden Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Er hielt dem Blick des anderen stand und sagte: »Ich weiß nicht, wer und was Sie sind, doch Monterny ist tot. Sie haben Gucky in Ihrer Gewalt. Er ist jetzt wertlos für Sie. Sie haben erreicht, was Sie wollten. Geben Sie also wengistens ihn frei.« Der Overhead lachte schallend. Er muß ein Anti sein! durchfuhr es Rhodan. Nur ein Anti konnte den Mausbiber überrumpelt, ihm seine Fähigkeiten genommen und ihn gezwungen haben, den Notruf abzugeben. Da war noch etwas - etwas, das nicht ins Bild passen wollte. Bevor Rhodan jedoch weiterdenken konnte, hob sein Gegenüber das Schwert. »Eigentlich, Administrator, haben Sie recht. Oh, ich vergaß, -133-
daß Ihr Titel heute anders lautet. Ich habe gewisse Gaben, sagen wir, verloren. Wir haben beide diesmal keine Mutanten. Kämpfen wir mit dem Schwert um Ihren kleinen Freund. Schlage ich Sie, stirbt er nach Ihnen. Schlagen Sie mich. . . « Wieder dröhnte das schaurige Lachen auf. »Aber dazu wird es nicht kommen!« Er griff an, bevor er zu Ende gesprochen hatte. Mit einem Schrei schwang er den Beidhänder und stürmte vor. Rhodan wich geistesgegenwärtig aus. Die mächtige Klinge schmetterte auf eine Zinne und spaltete den Stein. Rhodan parierte den nächsten Hieb mit der eigenen Waffe, in deren Gebrauch er nicht geübt war. Fast riß ihm die Wucht der Attacke den Griff aus den Händen. Und schon wieder mußte er sich schützen. Der Hüne trieb ihn vor sich her und gab ihm keine Gelegenheit zu eigenen Attacken. Dies wenigstens war vom Overhead geblieben - die rohe, nackte Gewalt, die ihn wie eine Aura umgab. Rhodan stolperte und fing sich gerade noch rechtzeitig. Nur Zentimeter neben ihm splitterte Stein. Im Kampf Mann gegen Mann war der Terraner diesem Gegner nicht gewachsen. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg, während das Schwert des anderen unaufhörlich kreiste. Noch einmal vermochte er einen Streich abzuwehren. Dann glaubte er, es müßte ihm die Hände zerreißen. Er konnte die Klinge nicht länger halten. Ein blitzschneller Hieb schlug sie ihm aus den Fäusten. Sie landete klirrend einige Meter von ihm entfernt. »Was machen Sie nun, Rhodan?« höhnte der Overhead. »Es ist aus! Diesmal haben Sie keine Flotte. Ihr Mausbiber hat den Mächtigeren von uns beiden getötet! Den, der der Menschheit gezeigt hätte, wie man das Universum erobert!« Er griff wieder an. Rhodan sah sich um. Nur wenige Schritte bis zur Treppenöffnung. Aber direkt vor seinen Füßen lag ein faustgroßer Stein. Die Klinge fuhr heran. Rhodan bückte sich blitzschnell, packte den Stein und schleuderte ihn. Er wartete nicht ab, ob er den Kopf des Gegners getroffen hatte. Als Monterny wütend -134-
aufheulte, war er auf der Treppe und rannte die Stufen in den Turm hinab. »Laufen Sie!« schallte es von oben. »Laufen Sie bis ans Ende der Welt! Sie entkommen mir nicht!« Der Overhead setzte ihm mit Schritten nach, die drei, vier Stufen auf einmal übersprangen. Er holte auf. Rhodan stürzte, als er die zweite Plattform erreicht hatte. Mit einem Satz war Monterny heran. Er holte mit diabolischem Grinsen zum alles beendenden Schlag aus, beide Hände und die Klinge weit über den Kopf erhoben. Rhodan war wie gelähmt. Er sah, wie sich die gewaltigen Muskelbündel anspannten und. . . Der Hüne zuckte zusammen. Die kleinen Augen waren in ungläubigem Entsetzen aufgerissen. Ein ersticktes Röcheln kam über die wulstigen Lippen. Dann entfiel das Schwert den Prankenhänden. Rhodan rollte sich schnell zur Seite, als der Gegner fiel. Monternys Leib schlug dumpf zu Boden und bewegte sich nicht mehr. Rhodan wandte den Kopf schaudernd ab. »Du bist also fertig mit ihm«, sagte gnadenlos die Stimme des Maskierten. »Du hast seinen Tod festgestellt und dich gefragt, wer ihn wohl umbrachte. Alles, was du dir bis dahin zurechtgelegt hattest, war plötzlich haltlos geworden. Ist es nicht so, großer Mann?« Die Stimme war verfremdet. Aber etwas an der Art, wie die einzelnen Worte hervorgebracht wurden, kam Rhodan bekannt vor. Er wußte noch nicht, wo er diese Sprechweise einzuordnen hatte. Auch dies mußte in der Vergangenheit liegen. Es fiel schwer, die ohnmächtige Wut noch im Zaum zu halten, sich nicht zu einem Ausbruch hinreißen zu lassen, den der Fremde gerade erwartete. »Zeige dein Gesicht!« forderte Rhodan nur. »Ich weiß, daß -135-
ich es kennen werde.« »Nur Geduld, Rhodan. Alles der Reihe nach. Du hast den Toten in die Space-Jet geschafft und verzweifelt überlegt, wer dein wirklicher Gegner sein könnte. Denn Monterny starb ja nicht von allein. Ahnst du wirklich noch nichts? Hast du wirklich vergessen, wer die Macht hatte, Menschen neu zu erschaffen?« Der Maskierte richtete den Strahler auf die zweite Leiche. »Und dann war da natürlich noch Gucky. Wie war dein Gefühl, als du ihn fandest - als er schon halbtot war? Wie kamst du dir vor, als du deinen kleinen Freund mit deinen eigenen Händen umgebracht hattest?« Aufhören! schrie es in Rhodan. Er wollte nicht hinsehen, als der Maskierte dem Leichnam des Ilts einen Tritt versetzte. Aber er mußte. Und hätte er jetzt seine Hände freigehabt - sie hätten nicht an der Kehle des Mausbibers gelegen. »Denke daran, Rhodan! Laß es in deiner Erinnerung noch einmal geschehen. Und versuche erst gar nicht, dich zu verstellen. Ich sehe an jedem Zucken in deinem Gesicht, was in dir vorgeht.« Der Wahnsinnige kicherte. »Und vergiß dabei nicht, daß dir der höchste Genuß noch bevorsteht.« Wer, den er einmal kannte, hatte so gesprochen? Rhodan kam sich wie in einem Zauberbann gefangen vor, bei dem ein einziges Wort - ein Name - den Bann lösen würde. Rhodan war zur Space-Jet zurückgekehrt und hatte sich eine Antigravscheibe geholt, um den schweren Körper zu transportieren. Er versuchte bei der Gelegenheit, mit den Sendern und Empfängern des kleinen Schiffes die CREST zu erreichen. Weder mit Normal- noch mit Hyperfunk kam er zu ihr durch. Was unternahm Bull? Die hinterlassenen Befehle lauteten eindeutig, daß beim Ausbleiben der Peilsignale der Planet zu besetzen oder anzugreifen war - ohne daß Rücksichten auf Rhodans Sicherheit genommen werden sollten. -136-
Der Terraner ließ den Leichnam in der Zentrale der Jet zurück und betrat die Stadt abermals. Das Spiel ging weiter. Wer auch immer der Drahtzieher war, er wollte seinen Tod nicht - oder noch nicht. Und er würde sich wieder melden. Das zunächst greifbare Problem war und blieb Gucky. Monterny war kein Anti, was sich bei seiner kurzen Untersuchung schnell herausgestellt hatte. Aber was dann? Ein perfekt gemachter Androide? Hatten dann am Ende die Aras ihre Hände im Spiel? Oder einfach ein Doppelgänger des Overhead? Ein anderer Gedanke ging ihm durch den Sinn, als er sich anschickte, über den Schutt eines eingefallenen Abschnitts der Stadtmauer zu klettern. Noch einmal wollte er das Risiko nicht eingehen, von einem verborgenen Fallgitter erschlagen zu werden. Er verwarf diese Möglichkeit. Die Multiduplikatoren der Meister der Insel waren die bis heute einzigen bekannten technischen Apparaturen, die wirklich vollkommene Ebenbilder von Menschen und anderen Wesen erschaffen konnten. Dazu aber brauchten sie eine Atomschablone des Originals. Mit anderen Worten, Agenten der Meister hätten eine Schablone Monternys anfertigen lassen müssen, als dieser noch lebte - vor mindestens 440 Jahren also. Das erschien schlichtweg unvorstellbar. Rhodan sprang von der Mauer und konzentrierte sich wieder ganz auf die Umgebung. Die grüne Sonne war am Himmel weitergewandert. In spätestens zwei Stunden mußte sie untergehen. Rhodan begann, laut nach dem Mausbiber zu rufen. Es war sinnlos, sich zu verstecken. Wer dieses Spiel inszenierte, beobachtete ihn auf Schritt und Tritt. »Gucky!« Der Overhead war sich seiner Sache ganz sicher gewesen. Bestimmt hatte er nichts davon gewußt, daß auch er nur eine Figur auf einem Schachbrett war. Er hielt sich für real und überlegen. Er -137-
mußte wirklich gewußt haben, wo Gucky gefangengehalten wurde. Und wenn er ihn gleich nach dem Sieg über Rhodan hatte töten wollen, konnte der Ilt sich nur in der Stadt befinden. Rhodan begann, systematisch die Häuserruinen zu durchsuchen. Es gab nur diese eine Straße zur Burg, jedenfalls von dieser Richtung. Immer wieder rief er, und je länger er keine Antwort bekam, desto größer wurde die Angst, den Ilt nicht mehr lebend vorzufinden. Der Überfall erfolgte, als Rhodans Kopf aus dem zehnten oder zwanzigsten Eingang tauchte, er hatte die Ruinen nicht gezählt. Er sah aus den Augenwinkeln heraus den Schatten und warf sich instinktiv zurück. Der Energiestrahl fraß sich tief ins Gestein und verflüssigte es. Das wahnsinnige Lachen schallte wieder durch die Stadt. Rhodan wartete zwei weitere Schüsse ab. Dann hastete er auf die Straße und rollte sich hinter einen Mauerrest. Staub drang in seine Augen und die Nase. Er mußte heftig niesen. Tränen liefen ihm die Wangen hinab. Ganz verschwommen nur sah er den Schatten, wie er in einem Haus auf der anderen Straßenseite verschwand. Er achtete nicht auf das Beißen in den Augen, sprang auf und rannte hinter dem Schatten her. Das noch ungewöhnlich gut erhaltene Bauwerk besaß nur einen einzigen großen Raum und einen zweiten Ausgang. Es gab zwei Fensterlöcher, doch auf beiden lag noch dick der Staub. Der Unbekannte hätte sich durch sie hindurchzwängen und dabei Spuren hinterlassen müssen. Aber er konnte sich nicht in Luft aufgelöst haben! Rhodan hatte das sichere Gefühl, endlich eine Spur gefunden zu haben. Er ging bis zum Eingang zurück, hockte sich hin und versuchte zu erkennen, wo die Fußabdrücke des Geheimnisvollen endeten. Das fahle Zwielicht machte es ihm nicht gerade leicht. Dann fand er die Steinplatte. Er zog sie mit beiden Händen zur Seite und blickte in einen tiefen, dunklen Schacht, -138-
der nach etwa anderthalb Metern schräg weiterführte. Der Terraner ließ sich hineingleiten. Er hatte sicheren Stand, als sein Kopf noch aus der Öffnung schaute. Noch einmal lauschte er. Nichts rührte sich. Der Unbekannte konnte nur diesen einen Weg genommen haben. Rhodan machte sich nicht die Mühe, die Steinplatte wieder an ihre alte Stelle zu stemmen. Er hatte kein Licht und mußte sich den Weg mit den Händen ertasten. Der Stollen war gerade so hoch, daß ein ausgewachsener Mensch mit eingezogenem Kopf vorankommen konnte. Jene, die ihn einmal angelegt hatten vielleicht als letzte Zuflucht im Verteidigungsfall - hatten Stufen in das Gestein geschlagen. Rhodan wußte, worauf er sich einließ. Mit jedem Schritt lief er Gefahr, in ein Messer zu rennen oder eine raffiniert vorbereitete Falle. Bald war er ohne jede Orientierung. Der Stollen schien kein Ende zu nehmen. Es war kalt und feucht und roch nach Moder. Am schlimmsten jedoch wurde die vollkommene Finsternis. »Rhodan!« flüsterte plötzlich eine Stimme. »Suche in der Vergangenheit! Suche den Mann, der am meisten von allen Menschen Grund hat, mit dir abzurechnen!« Es war wie ein Spuk. Dem Terraner lief es eiskalt den Rücken herunter. Er rief: »Zeigen Sie sich! Ich bin wehrlos! Was haben Sie also zu verlieren!« Nur das bekannte Lachen antwortete ihm, durch die Akustik des Ganges verzerrt und viele Male zurückgeworfen. Von kaltem Zorn gepackt, arbeitete sich Rhodan weiter voran, ohne Rücksicht auf Beulen und Abschürfungen zu nehmen. Irgendwann merkte er, daß der Stollen anstieg und breiter wurde. Irgendwann ertasteten seine Hände keine Wände mehr. Und irgendwann hörte er ein zaghaftes Stöhnen. Er blieb stehen. »Gucky?« -139-
Helles Licht flammte auf. Vier Scheinwerfer waren auf die kleine Gestalt gerichtet, die zusammengekrümmt in einer Ecke des Gewölbes lag. Gucky sah Perry Rhodan direkt ins Gesicht mit einem Blick, aus dem alle Qualen sprachen, die ein lebendes und denkendes Wesen nur empfinden konnte. »Perry«, brachte der Ilt gerade noch hervor, gedehnt und kaum hörbar. »Warum bist du gekommen. Du. . . hättest doch wissen müssen, daß es . . . eine Falle war.« »Oh, großer Gott!« entfuhr es Rhodan. Er stand wie gelähmt, starrte nur auf das zusammengerollte Bündel, auf die blutverkrusteten Wunden und das an vielen Stellen verbrannte Fell. »Dafür wird er büßen, Gucky!« preßte er hervor. »Er schickte mir einen nachgemachten Overhead. Er schoß auf mich und verhöhnte mich. Aber das war nichts im Vergleich zu. . . « Ihm versagte die Stimme. Was stand er hier und stieß Drohungen aus! Gucky war schlimm zugerichtet, aber er lebte noch immer. Er mußte auf dem allerschnellsten Weg in die Space-Jet. Es gab keinen zweiten Zugang zu diesem Gewölbe, keinen sichtbaren. Um nach den logischerweise vorhandenen Geheimtüren zu suchen, war keine Zeit. Rhodan bückte sich und hob den Ilt so vorsichtig wie möglich auf die Arme. Gucky hatte da bereits schon das Bewußtsein verloren. »Ein Punkt für dich, Perry Rhodan!« höhnte die Geisterstimme. »Du hast deinen Freund gefunden, wie ich es nicht anders erwartete. Nun frage ihn nach dem Mann, der dich. . . « »Schweig endlich!« schrie der Großadministrator. »Kein einziges Wort mehr, oder. . . ! « »Oder was, großer Mann?« »Oder was, großer Mann?« Es war die gleiche Stimme wie in der Stadt, natürlich. Rhodan wurde sich dessen bewußt, daß er laut gesprochen hatte. Die grausame Erinnerung vermischte sich immer mehr mit der Realität hier und jetzt. -140-
Frage nach dem Mann, der dich haßt! Der am meisten von allen Menschen Grund hat, mit dir abzurechnen! Der Maskierte verschränkte die Arme vor der Brust. Die Hand mit dem Strahler war angewinkelt. Rhodan hatte die Worte nicht in der Stadt gehört. Die Stimme war in seine Gedanken gedrungen. »Ich sehe«, sagte der Mann mit der Maske, »daß du zu verstehen beginnst.« In diesem einen Satz lag die ganze Befriedigung, die ein Jäger zu fühlen vermochte, der sein Wild gnadenlos in die Enge getrieben hatte. Dieser eine Satz war in seinem Wortlaut eher lapidar. Rhodan aber stach er wie glühendes Eisen ins Bewußtsein. O nein! schrie es in ihm. Nicht das! Wenn sein ungeheuerlicher Verdacht zutraf, war alles bisher nichts im Vergleich zu dem, was ihm bevorstand. Zum letzten Mal sah er sich zwischen den Ruinen, während sein Geist versuchte, Barrieren gegen das aufzubauen, was nicht wahr sein konnte und durfte. Er trug Gucky durch das Stadttor. Seine Bewegungen waren roboterhaft, der Blick starr geradeaus auf das Raumschiff gerichtet. Er fühlte die Wärme des gefolterten kleinen Körpers auf seinen Händen, doch sie war nichts gegen das Feuer, das tief in ihm brannte. Er wußte, daß er den Ilt nicht allein gefunden hätte. Der Fremde blieb sich selbst treu. Der Angriff war nur zum Schein vorgetragen gewesen, damit Rhodan die Verfolgung aufnahm. Kannte Gucky den Gegner wirklich? Konnte er ihm - falls er noch einmal erwachte - dessen Namen nennen und sagen, wo er wartete? Rhodan brachte den Mausbiber in die Zentrale der Space-Jet und legte ihn auf dem Kartentisch ab. Er holte Decken und -141-
wickelte sie um den kleinen Freund vom Planeten Tramp, mit dem er so viele Abenteuer bestanden, mit dem zusammen er so oft gelacht hatte. Einige von Guckys Streichen passierten vor seinem geistigen Auge Revue, als er zum Medo-Schrank ging und das herausnahm, von dem er hoffte, es könnte noch helfen. Injektionspflaster sollten den Kreislauf stabilisieren und das Wundfieber heruntertreiben. Rhodan wusch das verkrustete Blut behutsam ab und bestrich die Wunden mit kühlender und heilender Salbe. Viel mehr konnte er im Moment nicht tun. Die Innenbeleuchtung des Schiffes schaltete sich selbständig ein, als die Sonne hinter fernen Bergzügen versank und sich die Dämmerung über diesen Teil des Planeten ausbreitete. Durch die transparente Kuppelhaube sah Rhodan zur Stadt hinüber, die nun noch unheimlicher wirkte. Dies war wahrhaftig ein Ort nur für Tote und Geister von Toten. Rhodan schauderte und ließ sich matt in den Pilotensitz fallen. Er konnte natürlich starten. Er konnte mit hochgefahrenen Schutzschirmen den Burgturm rammen und die Stadt einebnen. Es wäre ebenso töricht wie sinnlos. Sein Gegner rechnete auch damit. Der grüne HÜ-Schirm war nun wie eine leuchtende Decke, die sich von Horizont zu Horizont spannte und kein Sternenlicht durchließ. Warum blitzte es nicht endlich auf? Warum griff Bull nicht mit der ganzen Feuerkraft der CREST an? Er mußte die Station doch orten können, in der der Schirm aufgebaut wurde. Eine Bombe aus den Transformkanonen richtig ins Ziel gesetzt, und der Weg für die Landekommandos wäre frei. Doch nichts dergleichen geschah, und auch bei der Stadt rührte sich weiterhin nichts. Kein wahnsinniges Gelächter mehr, keine Überraschungen. Vermutlich hatte Gucky sie zu liefern. Rhodan mußte über eine Stunde warten, bis der Ilt sich auf seinem provisorischen Lager rührte. Er war bei ihm, als er die -142-
zugequollenen Augen aufschlug, in denen noch immer das Fieber glänzte. Draußen war es nun stockdunkel, eben mit Ausnahme des fahlen grünen Scheins vom HÜ-Schirm. Die Space-Jet war wie eine Insel in einem finsteren Ozean. Gucky starrte den Freund an. Rhodan versuchte zu lächeln. Behutsam legte er eine Hand auf die noch relativ unversehrte Backe des Mausbibers. »Perry«, kam es ganz schwach über die aufgeplatzten Lippen. »Perry, ich. . . wollte dich nicht verraten. Aber er. . . war zu echt.« »Ganz ruhig, Kleiner. Sprich jetzt nicht. Wir haben noch nicht verloren.« Aber der Ilt wollte nicht hören. Er legte die Händchen fest um Rhodans Arm. Sie zitterten. »Ich muß es dir sagen, Perry! Du. . . wirst es dann verstehen. Gib mir noch etwas gegen die Schmerzen und. . . zur Stärkung. Bitte!« Rhodan zögerte. Er rang mit sich. »Es ist wichtig, Perry!« flehte Gucky. »Weitere Stärkungs- und Schmerzmittel können dich umbringen.« »Wenn du es nicht tust, sterben wir beide!« Der Terraner gab sich einen Ruck. Ganz gleich, was er tat, alles konnte falsch oder richtig sein. Er ertappte sich bei dem Gedanken, daß ein schneller Tod dem Mausbiber eine Erlösung wäre. Und er haßte sich dafür. Er verabreichte dem Ilt eine stark morphinhaltige Injektion. Gucky wartete die volle Wirkung nicht ab. Gegen Rhodans Protest richtete er sich so auf, daß er auf der Kante des Kartentisches zu sitzen kam. Sein Blick klärte sich etwas. Das Zittern hörte auf. »Er ist wie du, Perry«, flüsterte er. Nach einigen Schwierigkeiten gelang es ihm schon wieder, zusammenhängend zu -143-
sprechen. »Alles war so perfekt gemacht. Ich mußte ja glauben, dich vor mir zu haben, und daß der andere dich genauso überlistet hatte wie mich.« »Der andere?« »Der, der so aussieht und spricht wie der Overhead.« »Er ist tot, Gucky.« Rhodan deutete dorthin, wo der Leichnam lag. Gucky sah ihn erst jetzt. Er stieß einen schrillen Schrei aus. Rhodan packte schnell zu, als er den Tisch herabzurutschen drohte. Der Ilt fing sich überraschend schnell wieder. Seine geschundene Gestalt straffte sich. Er atmete tief ein. Rhodan verfluchte sich wieder. Die letzte Injektion war zuviel für den Kleinen gewesen. Sie putschte ihn für Minuten auf, nahm ihm die Schmerzen und ließ ihn sich stärker fühlen, als er in Wirklichkeit war. Ein kurzes Strohfeuer, und dann. . . »Er hat dich also so zugerichtet, Gucky? Nicht der andere, der so sein soll wie ich?« Wer eine perfekte Kopie Monternys erschaffen konnte, der vermochte auch ihn nachzubilden. Rhodan versuchte sich einzureden, daß es so war - und spürte doch deutlich, daß er sich etwas vormachte. »Er ist wie du«, flüsterte Gucky wieder. »Er sieht aus wie du, bewegt sich wie du, spricht wie du - alles an ihm stimmt. Er befreite mich aus der Gewalt des Monstrums, jedenfalls glaubte ich das da noch. Ich. . . konnte da schon nicht mehr klar denken.« »Du hast dich auf deinem Urlaubsplaneten einer Gruppe von Abenteurern angeschlossen«, hakte Rhodan nach. Es mußte ihm darum gehen, ein komplettes Bild zu bekommen. Die Frage, die ihm wie keine andere auf der Seele brannte, hob er sich noch auf. »Soviel konnten wir feststellen. Du siehst also, ganz so unvorbereitet kamen wir nicht.« Gucky nickte. »Nur waren es keine gewöhnlichen Abenteurer, sondern ein -144-
Haufen Lumpen, unter ihnen drei Antis, die mit deinem Ebenbild gemeinsame Sache machten. Ich verlor meine Mutantenfähigkeiten. Sie überwältigten mich und lieferten mich hier ab, wo der angebliche Monterny mich in Empfang nahm. E r . . . « Gucky schien sich dagegen zu sträuben, sich an die schrecklichen Erlebnisse erinnern zu müssen. Dann brach es aus ihm heraus: »Er erschoß sie alle, bis auf den letzten Mann! Er konnte mich leicht übernehmen, weil ich paralysiert war. Dann quälte er mich. Ich sollte glauben, daß er für alles verantwortlich war!« Wie ich es geglaubt habe! dachte Rhodan. Etwas hätte ihm spätestens jetzt auffallen müssen. Doch dazu war er nun viel zu erregt und mit Spekulationen beschäftigt. Und Gucky redete weiter. Da war kein Stocken mehr, kein Zusammenkrümmen, wenn das Reden ihn zu sehr anstrengte, kein Luftholen. »Er verbrannte mich und prügelte mich halbtot, bis du kamst, Perry! Ich meine, der andere Rhodan. Dieser lähmte ihn und brachte mich in Sicherheit, wie ich ja glauben mußte. Und ich mußte auch glauben, daß er der echte Rhodan und sein Platz auf der Erde von einem Doppelgänger eingenommen sei. Und daß er sich durch einen glücklichen Zufall selbst aus Monternys Gewalt befreien konnte. Ich wußte ja nicht, was auf Terra inzwischen geschehen war!« »Also brachte er dich dazu, den angeblichen Doppelgänger mit dem Notruf hierherzulocken, wo er selbst mit ihm abrechnen wollte.« »Genauso war es, Perry. Es wirkte auch glaubhaft, als er sagte, ich dürfte nur von mir und den Entführern reden und nicht von ihm. Der andere auf der Erde wäre gewarnt gewesen und nicht gekommen. Er zeigte sich erst als das, was er selbst war, als ich dich noch einmal auf der CREST angerufen hatte. Und da war es zu spät. Ich konnte dich nicht mehr warnen, und er quälte mich noch schlimmer, als der Overhead es getan hatte.« -145-
»Wo ist er, Gucky? Wie stark ist er, und wie kann ich den Spieß umdrehen? Du mußt mir jetzt auch das noch sagen.« Der Ilt setzte zu einer Antwort an, bekam jedoch keinen Ton mehr heraus. Er bäumte sich auf wie unter einem elektrischen Schlag. Rhodan legte ihn wieder zurück auf die Tücher und setzte sich. Es wäre unmenschlich gewesen, den Mausbiber noch mehr zu quälen. Er konnte nur hoffen, daß Gucky noch einmal die Kraft fand, auch diese letzte und vielleicht alles entscheidende Frage zu beantworten. Als er den Anblick des leidenden Geschöpfes nicht länger ertrug, schwenkte er den Sitz herum und starrte wieder in die Dunkelheit. Was will er noch? fragte er sich. Was hält meinen Doppelgänger davon ab, die Space-Jet zu vernichten - und alle Zeugen mit ihr? Seine Absicht dürfte klar sein: als echter Perry Rhodan zur CREST fliegen, nachdem er durch irgendein glaubhaftes Täuschungsmanöver dafür gesorgt hatte, daß der Schutzschirm um den Planeten zusammenbrach. Monterny würde er als Guckys und seinen Entführer hinstellen. Er würde die gleiche Geschichte wie Gucky erzählen, die Antis, deren Ermordung durch den Overhead-Doppelgänger und. . . Rhodan hatte das Gefühl, das Herz müßte zu schlagen aufhören. Wenn Monterny die Antis wirklich ausgeschaltet hätte, dann wäre Gucky zwar noch paralysiert gewesen - aber er hätte ihn sofort telepathisch erfassen und wissen müssen, daß er für ihn der Köder war! Er hätte meinen angeblichen Doppelgänger espern müssen! durchfuhr es den Großadministrator. Und die ganze Geschichte durchschauen! Es lief ihm eiskalt das Rückgrat hinunter. Auch durch das Stimulans hätte sich Gucky nicht so schnell erholen -146-
können - und nicht von einem Moment auf den anderen wieder zusammenbrechen. Gerade als er diese eine entscheidende Frage beantworten sollte! Rhodan hörte ein dumpfes Geräusch hinter sich. So als ob jemand darum bemüht war, möglichst leise auf seine Füße zu springen. Er fuhr herum. Der Mausbiber griff so flink wie eine Katze an. Da war nichts mehr von Schwäche in seinen Bewegungen. In den Augen stand noch der fiebrige Glanz, aber es war ein anderes Fieber als das, welches durch Wundbrand hervorgerufen wurde. Rhodan hatte keine Chance, dem heranfliegenden Energiebündel noch rechtzeitig auszuweichen. Gucky sprang und schlug die Finger der linken Hand wie die Klauen eines Greifvogels in die Kombination des Terraners, gleich neben dem Hals. In seiner Rechten blitzte ein kleines, dolchartiges Messer. Im letzten Augenblick warf Perry Rhodan den Kopf zur Seite. Die Klinge stieß ins Leere, doch schon zuckte die Hand wieder zurück und holte zum nächsten Hieb aus. Rhodan, von vielen ein Sofortumschalter genannt, weil er blitzschnell neue Situationen erfassen und danach handeln konnte, war immer noch nicht in der Lage, aktiv gegen den Ilt zu kämpfen. Er wich noch einmal aus und wußte, daß Glück allein ihn nicht ein drittes Mal rettete. Das Wesen, dessen Nagezahn nun nach seiner Kehle schnappte, war nicht Gucky! Dies war ein Phantom, ebenso unwirklich wie der Overhead! Die niederschmetternde Erkenntnis und der ganze aufgestaute, explosionsartig durchbrechende Zorn nahmen ihm endlich die Lähmung. Rhodan sah nicht mehr das vertraute Gesicht des alten Gefährten vor sich, sondern die haßerfüllte Grimasse einer schnappenden und tobenden Bestie. Er warf sich herum, ohne sich befreien zu können. Seine Hände stießen vor, eine zum Hals -147-
des Gegners, die andere zu der Klaue mit dem Messer. Er glaubte, Knochen knacken zu hören, als er mit aller Kraft der Verzweiflung zudrückte. Der schrille Schrei ging durch Mark und Bein. Die Stichwaffe fiel zu Boden. Das Etwas, das wie Gucky aussah, kratzte und schlug. Rhodan mußte es mit beiden ausgestreckten Armen von sich fernhalten. »Wer bist du wirklich!« schrie er. »Wer war der Overhead? Was bist du? Wie viele von eurer Sorte gibt es noch!« Ein wütendes Fauchen war die Antwort. Rhodans Daumen drückten sich in die Kehle des Wesens. Wie von Sinnen, schüttelte er den immer noch Zappelnden. »Ein Mann, der so sein soll wie ich! Zuerst schickte er mir meinen größten Feind aus den Tagen der Dritten Macht! Dann muß ich mitansehen, wie einer der besten Freunde angeblich stirbt. Wer ist der nächste? Gibt es überhaupt einen falschen Rhodan auf diesem verfluchten Planeten! Du wirst antworten, oder. . . « Es bedurfte der Drohung nicht mehr. Das Wesen in Rhodans Griff rührte sich nicht mehr. Rhodan fühlte, wie ihn die Kraft verließ. Er taumelte rückwärts, stieß mit den Kniekehlen gegen die Sitzkante und knickte ein. Gucky entglitt seinem Griff. Der Terraner lag mehr im Kontursessel, als daß er saß. Die Arme hingen schlaff über die Lehnen. Er starrte auf den toten Körper. Gucky! dachte Rhodan. Und er konnte von ihm nur als von Gucky denken. Alles, was vorhin noch einen Sinn zu bilden schien, war wieder wie fortgewischt. Konnte es denn nicht Gucky sein, von einem unmenschlichen Monstrum auf unvorstellbar grausame Weise manipuliert? Ich werde selbst wahnsinnig! durchfuhr es ihn. Noch einige Stunden in dieser Umgebung, und ich bin ein geistiges Wrack! -148-
»Ist es das, was du willst?« hörte er sich schreien. Das Gelächter antwortete ihm, fast hatte er es erwartet. Clifford Monternys Stimme dröhnte: »Was sollen wir von Ihnen wollen, Perry Rhodan?« Rhodan sprang auf, bebend. Monterny lag starr dort, wo er ihn abgelegt hatte. »Wen erwartest du denn als nächsten, Perry?« Der Terraner preßte die Hand auf den Zellaktivator. Wenn er jetzt nicht aus diesem teuflischen Kreis ausbrach, kam er darin um. Er fühlte die Kraft, die von dem lebenserhaltenden Gerät ausging. Natürlich war es zum guten Teil Einbildung. Aber es half. Er atmete tief durch und hob das Messer auf. Woher hatte das Gucky-Ebenbild es gehabt? Nicht aus dem Raumschiff. Rhodan überwand sich und untersuchte den kalten Körper noch einmal. Es dauerte nicht lange, bis er den Schnitt unter dem Fell fand, an der Innenseite des rechten Ärmchens, die er vorhin nicht befühlt hatte. Die Haut ließ sich mühelos abheben. Darunter war kein normales Gewebe, sondern eine Art Tasche. Rhodans Finger glitten hinein. Sie ertasteten etwas, zogen es heraus. Es war ein kleines Bild auf biegsamer Folie, das den Mausbiber zusammen mit Bull zeigte, den Nagezahn weit entblößt. Rhodan drehte es um. Auf der Rückseite stand zu lesen: Du glaubst, daß nichts mehr grausamer sein kann, Perry Rhodan? Du bist also bereit für mich? Jemand sprach es laut. Die Stimme war die aus der Stadt. Rhodan nahm das Messer beim Knauf und überlegte, wie groß seine Chancen sein mochten, wenn er sich jetzt blitzschnell herumwarf und die Klinge schleuderte. Der Fremde ließ es nicht dazu kommen. Rhodan hörte das Geräusch des Paralysators. Er hörte auch noch das Lachen des Fremden, als er bewegungsunfähig nach vorne kippte. -149-
Kräftige Hände packten ihn und zerrten ihn zum Kontursitz. Noch begab sich der Unbekannte nicht in das Blickfeld des Terraners. Er rückte ihn zurecht und legte das Fesselfeld um ihn. Dann endlich zeigte er sich. Rhodan verging fast vor Wut und Enttäuschung, als er sein Gesicht immer noch nicht zu sehen bekam. Die Maske verdeckte es völlig. »Die Paralyse wird nicht sehr lange anhalten, großer Mann«, sagte der Fremde. »Bis dahin hast du Zeit zum Überlegen. Kennst du mich immer noch nicht?« Er setzte sich in den gegenüberliegenden Sessel und streckte die Beine aus. Die Kombiwaffe wurde auf Impulsstrahl geschaltet. Der Lauf zeigte auf den Terraner. Frage nach dem Mann, der dich haßt! Der am meisten von allen Menschen Grund hat, mit dir abzurechnen! »Thomas«, flüsterte Rhodan. »Thomas Cardif!« Von allen zu neuem, geisterhaften Leben erweckten Toten war sein erster Sohn derjenige, der den letzten Takt in dieser Disharmonie bilden konnte. Rhodan sträubte sich nicht mehr länger gegen das, was er unbewußt schon geahnt hatte. Der Mann nahm die Maske ab und ließ sie achtlos fallen. Er war dem Terraner wie aus dem Gesicht geschnitten. Vor allem aber war er jener Cardif, wie er vor der einsetzenden Zellwucherung ausgesehen hatte. Und in seinen Augen brannte der gleiche Haß, den er schon damals gegen seinen Vater gehabt hatte. Er mischte sich mit dem Triumph des Siegers. »Ja«, sagte er, »Thomas, den du Cardif nennen ließest. Dem du 58 Jahre seines Lebens gestohlen hast. Und der nun deine Stelle einnehmen wird.« Die Worte rissen längst verheilt geglaubte Wunden wieder auf. In diesem Augenblick vergaß Rhodan wieder seine eigene Situation. Er schob alle Fragen und alle Ungereimtheiten, alle Unmöglichkeiten beiseite. Er sah sich wieder seinem und Thoras Sohn gegenüber, wie es gewesen war, als Cardif ihn schon -150-
einmal in eine Falle lockte - im Jahre 2103. Damals war durch Machenschaften der Antis der Hypnoseblock zusammengebrochen, mit dem der Rebell im Friedensinteresse der Menschheit 58 Jahre zuvor hatte versehen werden müssen. Und wie anscheinend auch jetzt wieder, griff er nach der Macht. Rhodan sah sich vor eine völlig neue Situation gestellt. Alles Geschehene war vorübergehend vergessen. Ahnungen und Wirklichkeit - wenn auch nur eine Scheinwirklichkeit - waren zweierlei Dinge. Rhodan wußte, daß Cardif ihn töten würde. Doch nicht nur deshalb antwortete er leidenschaftlich auf die Vorhaltungen. Es war mehr. Es war der nie erfüllte Wunsch, seinem ersten Sohn klarzumachen, daß sein ganzer verbrecherischer Werdegang auf einem fatalen Irrtum beruhte. »Du weißt, daß es anders war!« rief er erregt aus. »Thora und ich haben dich niemals verleugnet. Was damals geschah, erfolgte allein zu deiner Sicherheit. Als unser Sohn wärst du Freiwild für jede politische Extremistengruppe gewesen. Deshalb nannten wir dich Cardif und ließen dich glauben, du seist das Kind von Thora und einem arkonidischen Admiral. Du hast dann erlebt, wie recht wir mit unseren Befürchtungen hatten, als dich die Springer als Werkzeug und Geisel zu benutzen versuchten. Und auch nur deiner eigenen Sicherheit wegen bekamst du den Hypnoseblock!« »Schweig!« herrschte Cardif ihn an. »Es hätte andere Mittel gegeben! Oder wie hast du dich geschützt? Wie schützt du heute deinen zweiten Sohn und deine Tochter! Hast du auch sie von dir gestoßen und ihnen andere Namen und falsche Identitäten gegeben?« »Das ist...!« Cardif fuchtelte mit der Waffe. »Ich will dein Gejammer nicht hören! Diesmal hindert mich niemand daran, mit Hilfe deines Aussehens und deines Wissens an deine Stelle zu treten. Du siehst, Gucky hatte ganz recht, wenn -151-
auch die Entführung und alles andere erlogen war. Der falsche Perry Rhodan wird sich jetzt in den echten verwandeln und als Großadministrator des Solaren Imperiums an Bord der CREST gehen. Wie ich das bewerkstellige, das überlasse nur mir.« Er hatte sich in keiner Hinsicht geändert. Es war sinnlos, ein weiteres Wort über die Vergangenheit zu verlieren. Rhodan schaltete auf das Jetzt um. Nun, nachdem das Geheimnis gelüftet war, war er ruhiger. Dieser Mann dort vor ihm konnte nicht Cardif sein. Er sprach von den geraubten Jahren. Er sagte nichts von dem viel grausameren Schicksal, das ihm später widerfahren war, als er von ES den Zellaktivator erhielt. Dieses Gerät erst wurde ihm zum Verhängnis, weil ES das Falschspiel durchschaute und der Aktivator auf die Individualimpulse des echten Perry Rhodan abgestimmt gewesen war. Also mußten jene, die ihn zu neuem Leben erweckt hatten, das ›Muster‹ vorher genommen haben. Nein, Rhodan hatte nicht vergessen, wer die Macht besessen hatte, Menschen neu zu erschaffen. Doch sie waren besiegt worden, ihre Multiduplikatoren in Andromeda vernichtet. Auch dies war etwas, das der Terraner weit von sich geschoben hatte. Denn was bedeutete es anderes, als daß die Meister der Insel etwas hinterlassen hatten, das die Milchstraße in ein neues Chaos stürzen konnte. Aber jetzt sah er tatsächlich nur noch diese eine Möglichkeit. »Du bist ein Duplo!« sagte Rhodan. Cardif lachte schallend. »Es hat lange gedauert, bis du dahintergekommen bist. Aber denke nicht, daß mich das schreckt. Ich bin Thomas Cardif. Du hast mir diese 58 Jahre genommen, großer Mann. Die Meister haben mir dreihundert Jahre geschenkt! Was ich in ihrem Sinn nun übernehmen werde, ist mehr als dein lächerliches Sternenreich zur Zeit meines ersten Lebens.« Er schnitt eine Grimasse. »Aber ich trete nicht als ihr Werkzeug an, Rhodan! Ich will die -152-
Macht für mich!« Also waren auch Monterny und Gucky Duplos gewesen. Wie viele gab es noch? Wo befanden sich die Multiduplikator-Anlagen? Rhodan wurde jetzt auch klar, weshalb der Overhead und der Mausbiber so schnell gestorben waren. Er hatte Guckys Ebenbild nicht getötet. »Ich bin ihr Herr!« rief Cardif siegesgewiß aus, als er den Blick auf die beiden Leichname bemerkte. »Ich strahlte den Impuls ab, der das winzige Gerät in ihren Schädeln explodieren ließ. Ich bin der Herrscher über eine ganze Armee von Ebenbildern und Soldaten!« Er kicherte und verbesserte sich: »Ich hätte es sein können, Rhodan. So sah es der Meisterplan vor. Aber ich. . . habe sie vernichtet! Ich werde den Willen von Faktor I erfüllen, aber auf meine Art! Ich brauche keine Armeen von Duplos, wenn wirkliche Menschen mir gehorchen werden!« Er war wahnsinnig. Der Strahler zeigte wieder auf Rhodans Kopf, der Finger am Abzug krümmte sich leicht. Der Terraner brauchte Zeit. Die offensichtliche Schizophrenie des Duplos mochte der wunde Punkt sein, an dem er zu schlagen war. Es ging nicht mehr nur um eine persönliche Abrechnung. Bull mußte informiert werden. Wenn es ein Langzeitprogramm der Meister der Insel gab, war auch Cardif nur eine Marionette von vielleicht vielen. »Warte!« rief Rhodan. »Du erzählst mir wieder etwas, das nicht sein kann. Du spielst also immer noch. Es ist unmöglich, daß die MdI Atomschablonen von Monterny und Gucky besaßen - und von dir. Sie hätten sie vor über dreihundert Jahren anfertigen müssen, in Monternys Fall noch viel früher.« »Es ist unmöglich?« Cardif rollte mit den Augen. Er mußte zu besiegen sein! »Was für ein Wort aus deinem Mund, du mächtiger Mann! Hast du History schon vergessen?« Natürlich nicht. Der Planet in Andromeda war ein einziges -153-
gigantisches Völkermuseum der Mdl gewesen. Menschen bis hin zum Neandertaler waren von den Herren Andromedas dorthin verschleppt und quasi als Studienobjekte mißbraucht worden. Die gesamte Welt lag unter einem Zellaktivierungsfeld, das die Entführten über die Jahrtausende hinweg am Leben erhielt. Die Terraner hatten History im Jahre 2404 entdeckt und dadurch erfahren, wie lange schon die Mdl in der Heimatgalaxis tätig gewesen waren. »Selbst wenn du es versuchtest, Rhodan, könntest du dir nicht vorstellen, wie viele Atomschablonen von wie vielen mehr oder weniger bedeutenden Menschen seit Gründung der Dritten Macht existierten. Ich habe sie bis auf wenige zerstört. Die betreffenden Originale wurden von tefrodischen Geheimkommandos entführt. Die Tefroder fertigten von jedem eine Schablone an und brachten sie wieder zurück - ohne Erinnerung, versteht sich.« »Thomas, wenn du auf mich schießt, stirbst du im gleichen Augenblick«, sagte Rhodan spontan. »Was?« Cardif senkte die Waffe. Er starrte den Terraner aus wahnglänzenden Augen an. »Du handelst gegen die Interessen der toten Meister der Insel, gegen den Plan von. . . Mirona Thetin? Du bist ihr Werkzeug, nichts anderes. Ich aber habe gegen sie gekämpft. Eine Frau wie Mirona Thetin muß gewußt haben, wie besessen schon der echte Cardif war. Sie muß ihre Vorkehrungen getroffen haben. Weißt du sicher, ob nicht auch in deinem Kopf ein Explosivkörper steckt, der dann gezündet wird, wenn du eigennützig handelst?« Die Worte zeigten Wirkung. Cardif aber fing sich schnell wieder. »Ich sagte, ich will dein Gejammer nicht hören! Laß mir wenigstens den Glauben, daß mein Bastard von Vater zwar ein terranischer Barbar ist, aber kein um Gnade winselnder Feigling! Ich erfülle den Auftrag der Meister, nur tue ich es auf meine Art!« -154-
»Und wie lautete der ursprüngliche Auftrag?« Cardif grinste schief. »O ja, du winselst, Perry Rhodan. Du glaubst, dich retten zu können, indem du mich unsicher machst. Vergiß es! Der Plan sah vor, durch den Einsatz der Doppelgänger das Solare Imperium von innen heraus zu zerstören. Dazu wurden die geheimen Anlagen auf diesem Planeten schon im Jahre 2403 errichtet. Eure Doppelgänger hätten die Originale ausgeschaltet und das Imperium ins Chaos geführt - bis es bereit gewesen wäre, von den Tefroder-Heeren übernommen zu werden, die auf ihre Produktion warteten. Leider zeichnete sich euer Sieg über Andromeda schon ab, bevor alle Vorbereitungen abgeschlossen waren.« »Und Faktor I disponierte um und verwandelte den Plan in einen Langzeitplan. Im Falle ihres Todes sollte von hier aus fünfzehn Jahre später ihre Rache erfüllt werden.« Cardif nickte heftig. »Richtig! Nur wird es jetzt meine Rache an dir sein. Es hat keinen Sinn mehr, großer Mann. Du hast erlebt, was Leiden heißt. Zuerst gab ich dir die Qualen, vor allem die Qual, daß du glaubtest, Gucky mit deinen eigenen Händen umgebracht zu haben. Jetzt gebe ich dir den Tod. Natürlich schenke ich nichts her. Ich werde mir dafür deinen Zellaktivator nehmen. Und mache dir um das Imperium keine Sorgen. Niemand wird den kleinen Unterschied zwischen uns bemerken. Und erst einmal auf der Erde, sind die wichtigsten Leute bald durch Duplos ersetzt. Die Atomschablonen von Mercant, Bull, Adams und einigen anderen existieren ja noch. Ich finde mich gut zurecht. Von der subplanetarischen Zentrale aus konnte ich alle Hypersender der Galaxis abhören. Ich wußte also, wann und wie ich Guckys Entführung vortäuschen konnte. Und genausogut weiß ich, wie es heute in der Milchstraße aussieht.« Aber dein Wissen erstreckt sich nicht darauf, was aus dir selbst wurde! dachte Rhodan. Er hatte, während der Duplo sprach, die entsetzliche Vision -155-
gehabt, daß der falsche Rhodan an der Seite von Mory leben und seine Rachegelüste an Michael und Suzan auslassen würde. Jetzt wußte er, daß es nie dazu kommen würde. Er hatte den wunden Punkt gefunden - jedoch anders, als er gehofft hatte. Denn was aus dem Duplo würde, wenn er den Zellaktivator an sich nahm, war etwas, das er selbst diesem Monstrum nicht wünschte. Natürlich gab es die Unsicherheit, war es noch lange nicht sicher, ob ein Duplo ebenso reagieren würde wie das Original. Doch war es so, dann würde sich die Geschichte wiederholen. Dann würde Cardif ein zweites Mal unter furchtbaren Qualen zugrunde gehen. Er war Rhodans Sohn. Er war eine Bestie in Menschengestalt, über seinen Haß hinaus konditioniert durch die Meister der Insel. Doch er war und blieb das Kind, das Thora geboren hatte. Wenn Michael nun an seiner Stelle hier stünde. . . Rhodan wollte ihm sagen, was ihn erwartete, falls nicht vorher eine Sicherheitsschaltung der Mdl ansprach und ihn tötete. Doch noch als er die Lippen öffnete, sprang der Duplo vor, bebte am ganzen Körper, zielte auf Rhodan und schrie: »Kein Wort mehr! Ich habe mich schon viel zu lange mit dir aufgehalten!« Er zitterte stärker, rollte mit den Augen und lachte irr. »Du bist nichts mehr, denn Perry Rhodan bin jetzt ich! Also besiegeln wir es!« Sein Finger war auf dem Auslöser der Waffe. Rhodan schloß die Augen. Er wollte nicht sehen, wie er durch das eigene Kind starb. Er klammerte sich an Hoffnungen, die nicht in Erfüllung gehen konnten: Gucky zur Erde zurückgekehrt und alarmiert! Bull im Orbit! Der Angriff der CREST jetzt! Der Schuß fauchte auf. Rhodan lebte noch. Er wartete auf den nächsten Schuß aus der zitternden Hand. Diesmal mußte er treffen. »Es ist vorüber, Perry«, hörte er. -156-
Und diese Stimme war die Steigerung des Alptraums, die er nicht mehr für möglich gehalten hatte. Rhodan hielt die Augen noch zu. Zuerst Monterny, dann Gucky, schließlich Cardif, und nun. . . »Perry!« War also auch Cardif nur ein weiteres Glied in der Kette gewesen, die jetzt bei ihr endete - Mory? Eine Hand berührte ihn an der Schulter. Er konnte nicht mehr anders, er mußte ihr ins Gesicht sehen. Mory stand über ihn gebeugt, die Waffe noch in der Hand, mit der sie Cardif von hinten erschossen hatte. »Es ist vorbei, Perry.« Er spürte, wie das Fesselfeld erlosch. Sie machte einige Schritte zurück, es war Mory, wie sie leibte und lebte. »Ich bin es nicht«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Ich bin ein Duplo wie all die anderen. Und ich bin deine Frau.« Er konnte sich rühren. Vor ihm lag Cardifs Leichnam, in seiner Faust der Strahler. »Laß das!« rief Mory. »Du könntest gar nicht auf mich schießen! Du hättest auch ihn nicht töten können.« Die Situation hatte etwas unüberbietbar Groteskes. Da lag Rhodans erster Sohn, das Kind von ihm und Thora. Hier stand das Ebenbild von Mory, Rhodans zweiter und geliebter Frau, der Mutter von Michael und Suzan. Rhodan richtete sich im Kontursitz auf. Sein Blick war lauernd. Mittlerweile war er soweit, daß er kaum noch Gefühle aufzubringen vermochte. Mory deutete mit der Waffe auf Cardif. »Wir sind alle konditioniert. Er war es, ich bin es. Monterny und Gucky waren es. Wir alle sollten das Vermächtnis von Mirona Thetin erfüllen. Cardif scheiterte an seinem Haß auf dich, der stärker war als das Programm, dem er dienen sollte.« -157-
Rhodan vermochte die Frage nicht auszusprechen, die ihm wie ein Kloß in der Kehle stak. »Sein Haß war stärker. Er wollte dich haben und seine Rache. Es ist vorbei, Perry. Ich werde dafür sorgen, daß der Energieschirm um den Planeten zusammenbricht, und daß die Multiduplikatoren mitsamt der noch vorhandenen Schablonen vernichtet werden. Sobald der Weg für dich frei ist, starte und schleuse dich bei der CREST ein. Vergiß, was du hier erleben mußtest. Ich war eine der Kopien, die zum Einsatz gelangen sollten. Der Cardif-Duplo hielt uns verschlossen, damit wir sein Spiel nicht beenden konnten. Im Grunde war ich die einzige, die ihm gefährlich werden konnte.« Sie warf die Waffe fort. »Ich konnte mich noch rechtzeitig befreien. In einer Stunde fliegen alle Anlagen in die Luft, Perry. Ich bitte dich noch einmal: Sieh zu, daß du bis dahin in Sicherheit bist. Versucht nicht, den Planeten zu besetzen.« Sie drehte sich um und ging. »Warum?« rief Rhodan, als sie schon halb im Schacht war. »Warum tust du das?« Sie hielt in ihrer Bewegung inne. Ihre Blicke trafen sich. »Bei Cardif war es der Haß, der die Konditionierung besiegte, Perry. Bei mir war es die Liebe zu dir.« »Mory!« Er stürzte ihr nach, doch sie war schon verschwunden. Genau eine Stunde später beobachtete Perry Rhodan in der Zentrale der CREST, wie die Kettenreaktion auf dem Planeten einsetzte. Die Wirkung war der einer Arkon-Bombe vergleichbar. Der zündende Funke ging von dort aus, wo sich die Ruinenstadt befand. Der Atombrand würde sich über die ganze Welt ausbreiten und schließlich nichts von ihr übriglassen.
-158-
»Willst du deinem Herzen immer noch nicht Luft machen, Perry?« fragte Reginald Bull. Rhodan hatte ihn schweißgebadet angetroffen, fast verrückt aus Sorge um den Freund - doch was war das gegen die Stationen des Grauens auf dem Planeten! Der Mory-Abro-Duplo hatte Wort gehalten. Explosionen zeugten davon, daß gigantische subplanetarische Anlagen in die Luft flogen. Und wie viele Duplos, die sich für Menschen hielten? Rhodan wollte nicht zurückdenken, er wollte und konnte nicht darüber reden. Er gab nur die Auskunft: »Es war nicht Gucky. Jemand hat sich einen bösen Scherz erlaubt.« Niemand, der den HÜ-Schirm gesehen hatte, nahm ihm das ab. Bull hatte alle hinterlassenen Anweisungen ignoriert. Er schien mit Vorwürfen zu rechnen, die aber nicht kamen. »Es ist vorbei«, wiederholte Rhodan Morys Worte. »Vielleicht reden wir später darüber.« Jetzt wollte er nur seinen Frieden. Schlafen, wenn er Schlaf fand. Die Wunden verheilen lassen. »Zurück zur Erde, Bully«, sagte er nur. »Hier haben wir nichts mehr verloren.« Bull blickte ihm nach, als er die Zentrale verließ. Er rief noch: »Steck mir den Kopf zwischen zwei Ohren, Perry, aber wir wußten schon vor zwei Stunden, daß Gucky inzwischen zur Erde zurückgekehrt war! Er hatte sich wirklich den Abenteurern angeschlossen! Was immer du uns verschweigst - mit einem konzentrierten Angriff hätten wir dein Leben aufs Spiel gesetzt!« Ihr hättet nicht viel für mich tun können, dachte Rhodan. Das hatte allein Mory getan. Eine Duplo-Kopie, so vollkommen, daß in ihr all die Liebe war, die Mory ihm entgegenbrachte. Rhodan wünschte sich jetzt nichts sehnlicher, als so bald wie möglich zu seiner Frau, zu Michael und zu Suzan zurückzu-159-
kommen. Er hoffte, daß bis dahin die grausamen Schatten der Vergangenheit verflogen waren. Er hoffte noch mehr, daß es nur diese eine geheime Station aus der Zeit des Andromedakrieges in der Milchstraße gab.
-160-
Clark Darlton
DIE TREPPE INS NICHTS Die nachfolgende Geschichte spielt im Jahr 29567 vor Christi, aber auch in Rhodans Welt um das Jahr 3433. Auf die Gefahr hin, die zeitliche Verwirrung weiterzutreiben, muß gesagt werden, daß die Story auch ein klein wenig in das Jahr 1983 hineinspielt. Doch keine Sorge! Alle Erklärungen finden Sie auf den folgenden Seiten. Die Stufen, die ins Nichts führen, kommen auch aus dem Nichts. Allerdings nicht für uns. . .
Sehr oft kann es Wiederholungen geben, die sich beim besten Willen nicht vermeiden lassen. Sie dienen dem Chronisten wie auch seinem Leser dazu, Erinnerungen aufzufrischen und so Anschluß an längst Vergangenes und vielleicht schon Vergessenes zu finden. So ist es auch mit dem hier vorliegenden Bericht, der in zwar engem, aber doch keinem direkten Zusammenhang mit einem anderen steht, der bereits an anderer Stelle vor kurzer Zeit veröffentlicht wurde. Daher sei es dem Chronisten erlaubt, die Ausgangsposition noch einmal kurz zu schildern. Im Jahr 3433 unternahm Perry Rhodan erneut den Versuch, mit dem Nullzeit-Deformator in die terranische Vergangenheit vorzustoßen, diesmal allerdings nicht von der Fiji-Insel Vanua Levu aus, weil das zu riskant gewesen wäre. Wichtigste Aufgabe war die Erprobung der Zeitmaschine unter Verwendung des Dakkar-Tastresonators. Es sollte festgestellt werden, ob die Bezugskonstante durch die gespeicherte -161-
Sextadimenergie übersättigt und daher unwirksam gemacht werden könnte. Außerdem wollte Rhodan wissen, was mit der lemurischen Menschheit nach dem Untergang ihres Kontinents geschehen war. Dazu schien ihm Südamerika besonders geeignet, außerdem gab es in den meist unbewohnten Gebieten der Anden die besten Verstecke. Von hier aus konnten die Forschungen betrieben werden. In mehr als viertausend Meter Höhe lag der Titicacasee zumindest tat er das im Jahr 3433 nach Christi. Einstmals lag er tiefer und war durch Kanäle mit dem Pazifischen Ozean verbunden. Weiter nördlich ragte der Salsantay mehr als sechstausend Meter hoch in den blauen und meist wolkenlosen Himmel Perus. Sein Gipfel war mit ewigem Schnee bedeckt. Weit darunter hatte sich ein weites Plateau gebildet - das ausgesuchte Operationsgebiet für den Nullzeit-Deformator. Berge, die das Plateau völlig einschlossen, riegelten es von der Außenwelt ab. Die Kuppel der Zeitmaschine war siebzig Meter hoch und nahm ohne Schwierigkeiten die drei veralteten Flugmaschinen in sich auf, die Ende des 20. Jahrhunderts entwickelt worden waren. Sie besaßen die Form eines Diskus mit einem Durchmesser von achtzehn Metern, flogen mit acht Mach und erreichten Kreisbahnhöhen. Da ihr Antrieb nicht auf fünfdimensionaler Basis beruhte, waren keine Störungen zu befürchten. Außer Perry Rhodan nahmen noch Geoffry Waringer, der Telepath Fellmer Lloyd, der Teleporter Ras Tschubai, Alaska Saedelaere, Dr. Gosling, der Mausbiber Gucky und andere teil. Der Rücksturz in die Vergangenheit sollte sich über einen Zeitraum von exakt 33 000 Jahren erstrecken, also zurück in das Jahr 29 567 vor Christi Geburt. Das Experiment verlief erfolgreich, wie die Annalen später zu berichten wußten. Der Nullzeit-Deformator materialisierte wohlbehalten zum berechneten Zeitpunkt auf dem Plateau, das -162-
allerdings nun fast völlig von Gletschern abgeriegelt wurde. Die tiefer gelegenen Hochebenen waren grün und fruchtbar. Mit den drei Flugmaschinen vom Typ F-2020 wurden Erkundungsflüge unternommen und Überlebende des untergegangenen Kontinents Lemuria gefunden. Sie hatten die Weiten des Pazifiks besiegt und auf den Berggipfeln des ehemaligen Kontinents, die nun Inseln waren, oder in Südamerika eine neue Heimat gefunden. Bei einem dieser Erkundungsflüge, die Rhodan mit Ras Tschubai unternommen hatte, waren die beiden Männer durch gewisse Umstände, die einer alten Technik der Lemurer zu verdanken war, in eine andere Welt geraten, in ein Paralleluniversum. Die Rückkehr in ihr eigenes gelang erst nach einem aufregenden Abenteuer. Das, was die beiden Freunde erlebt hatten, war geheimgehalten worden. Nur der Telepath Fellmer Lloyd und der Allroundmutant Gucky wußten davon. Sie wurden zu strengstem Stillschweigen verpflichtet. Am Abend dieses für Perry Rhodan und Ras Tschubai so ereignisreichen Tages trafen sich die vier zuletzt genannten Personen in Rhodans Kabine, die der Kabine eines großen Kugelraumers durchaus ebenbürtig war. Auch im Nullzeitdeformator war nicht auf ein wenig Bequemlichkeit und Privatatmosphäre verzichtet worden. »Ihr wißt, was geschehen ist«, eröffnete der Gastgeber das Gespräch und blickte dabei in erster Linie die beiden Telepathen an. »Die immer noch aktiv gewesene Station der Lemurer auf dem Grund des Pazifiks existiert nicht mehr. Ihre Entdeckung durch spätere Generationen hätte verheerende Folgen haben können. Es ist ziemlich sicher, daß es solche Einrichtungen waren, die den Untergang des Kontinents verursachten - zumindest aber beschleunigten. Ich bin überzeugt, daß noch andere Stationen existieren, aber es dürfte schwer sein, sie zu orten, -163-
trotz unserer leistungsfähigen Instrumente und Geräte an Bord unseres Deformators. Aber auch die Instrumente an Bord der F-2020 sind nicht zu verachten, wenn auch nicht so leistungsstark.« »Worauf willst du hinaus?« erkundigte sich Ras, als Rhodan eine Pause machte. Rhodan lächelte flüchtig. »Fellmer und Gucky wüßten es bereits, wenn sie so neugierig wären, in meinen Gedanken zu schnüffeln, aber zum Glück verfügen sie ja über Taktgefühl - nicht wahr, Gucky?« Der Mausbiber zeigte seinen Nagezahn und grinste, was allerdings ebensogut eine Verneinung wie auch eine Bestätigung bedeuten konnte. Rhodan fuhr fort: »Ich schlage vor, daß wir uns noch an anderer Stelle umsehen. Die Lemurer zogen, als das Land versank, nach Osten, aber ich bin sicher, daß auch einige den Weg zwischen den Sundainseln hindurch nach Westen fanden - in den Indischen Ozean.« »In den Indischen Ozean? Richtung Afrika?« wunderte sich Ras. Rhodan nickte. »Ganz richtig. Und wenn ich mich an die Anfangsjahre des Solaren Imperiums erinnere, sogar an noch viel frühere Zeiten, so war da etwas, das mir einiges Kopfzerbrechen bereitete. Ich bin kein Computer und habe es vergessen, wir hatten ja damals auch andere Sorgen und keine Zeit für private Forschungen. Hinzu mag kommen, daß wir damals auch noch nicht wußten, was wir heute wissen.« »Soll das Unternehmen wieder geheimgehalten werden?« »Nein, wir starten es ganz offiziell, wie auch das von heute, Ras. Wird ja wohl nicht wieder dasselbe passieren.« »Und wann soll es losgehen?« »Morgen vormittag. Da wir der Sonne entgegenfliegen, ist es an unserem Ziel früher Nachmittag, also Zeit genug, uns umzu-164-
sehen.« »Ziel...?« dehnte Ras seine Frage. »Hast du ein bestimmtes Ziel?« »Eigentlich nicht«, gab Rhodan zu. »Der ganze Indische Ozean kommt in Betracht. Als Lemuria vor gut zwanzigtausend Jahren versank, waren Indien und Afrika noch durch eine unterbrochene Landbrücke verbunden und...« »Zwanzigtausend Jahre?« wunderte sich Gucky. »Wir befinden uns im Jahr 29567 vor Christi!« erinnerte ihn Rhodan. »Rechne mal nach!« Der Mausbiber zog ein Gesicht. »Hatte ich schon wieder vergessen«, gab er maulend zu. »Also die Landbrücke«, nahm Rhodan den Faden wieder auf. »Früher muß das ein Kontinent gewesen sein, der durch das Auseinandertreiben von Indien und Afrika auseinanderbrach. Ich nehme daher an, daß wir eine ganze Menge von Inselgruppen vorfinden werden. Es gibt sie auch heute noch, wenn auch nur noch wenige.« Er warf Gucky einen Blick zu. »Diesmal meine ich mit ›heute‹ das Jahr 3433 nach Christi!« »Allmählich«, schlug der Mausbiber indigniert vor, »sollten wir uns Gedanken über eine neue Zeiteinteilung machen. Man kommt ja völlig durcheinander.« »Das wird mit Sicherheit auch eines Tages geschehen«, ließ sich Rhodan zu einer prophetischen Aussage verleiten. »So, ihr wißt also nun Bescheid. Ich werde heute noch mit den anderen sprechen und alle Vorbereitungen treffen. Schlaft euch aus. Es könnte ein anstrengender Tag morgen werden.« »Anstrengend?« Gucky erschrak. »Ras fliegt den Diskus, und wir brauchen doch nur nach unten zu gucken, ob wir da was Aufregendes entdecken können. Ist doch nicht anstrengend.« »Warten wir’s ab, Kleiner. Aber wenn du willst, kannst du natürlich auch hier bleiben. Ich nehme dann. . . « »Ich liebe Anstrengungen«, log der Mausbiber, rutschte aus dem Sessel und watschelte zur Tür. »Natürlich komme ich mit!« -165-
Auch Ras und Fellmer standen auf. »Bis morgen früh«, rief Rhodan ihnen nach. Er hörte ihre Schritte auf dem Gang verklingen. Die F-2020 überquerte den Atlantik und dann Afrika. Ras hielt den Diskus auf einem Kurs, der ziemlich genau den Äquator entlang führte. Etwa über der Mitte des Indischen Ozeans stieg die Maschine auf hundert Kilometer Höhe, damit die Insassen einen Gesamtüberblick erhielten. Die ehemalige Landbrücke, sah Rhodan sofort, war nur noch zu einem geringen Teil vorhanden, der Rest war in den Fluten des Meeres versunken. Aber im Gegensatz zu Lemuria handelte es sich hier um einen natürlichen Vorgang, der nichts mit der alles vernichtenden Technik einer fortgeschrittenen Zivilisation zu tun hatte. »Sind noch eine Menge Inseln vorhanden«, stellte Ras fest und deutete schräg nach unten. »Vom Roten Meer ist auch noch nicht viel zu sehen, Arabien ist noch so gut mit Afrika verbunden, daß man kaum von einer Halbinsel sprechen kann. Die Malediven haben sich schon von Indiens Südspitze getrennt, aber Sri Lanka nicht. Wird bald passieren.« Rhodan nickte und fragte: »Sind wir zu hoch für die Orter?« »Viel zu hoch«, teilte Ras mit. »Soll ich tiefer gehen?« Während der Diskus tiefer sank, ohne die eigentliche Position merkbar zu verändern, sagte Fellmer: »Madagaskar ist schon entstanden, und eine Menge Inseln. Sind aber keine Koralleninseln - oder doch?« »Einige schon«, vermutete Rhodan. »Sie brauchen lange zum Entstehen. Was wir suchen, sind Reste eines alten Kontinents, also Felsgestein, teils vulkanischen Ursprungs, möglicherweise auch Granit.« »Ich verstehe immer nur ›Bahnhof‹«, gab Gucky zu, den derartige geologische Dinge weniger interessierten. »Bin nur -166-
gespannt, ob wir das auch finden, was wir suchen.« »Wir wissen nicht einmal genau, was wir suchen«, erinnerte ihn Rhodan geduldig. In einer Höhe von nur zwanzig Kilometern programmierte Ras einen Kurs, der auf dem sechzigsten östlichen Längengrad und dem Äquator begann und diesen Punkt in immer größer werdenden Kreisen umlief. »Die Malediven«, sagte Rhodan plötzlich zu Ras, »haben sich niemals von Indien getrennt, sie waren immer schon Inseln. Sie bestehen aus Korallen.« »So kann man sich irren«, murmelte Ras, ohne die Skalen der Orterinstrumente aus den Augen zu lassen. Um den Kurs brauchte er sich vorerst nicht mehr zu kümmern. »Die garantiert zuverlässige Reichweite beträgt jetzt fünfzig Kilometer. Die reflektierenden Suchfelder sind auf künstlich hergestellte Legierungen programmiert.« »Gesteinsdurchdringung?« vergewisserte sich Rhodan. »Bis zu drei Kilometer.« »Das genügt. Wasserhindernis kann vergessen werden.« Wolkenfelder zogen unter ihnen dahin und nahmen oft die Ausdehnung kleiner Kontinente an. Nördlich des Äquators hatte die Regenzeit eingesetzt. Im Süden würde es klarer sein. Die Sonne wanderte schnell nach Westen, und nach drei Stunden begann es schnell zu dämmern. Rhodan nahm Verbindung mit dem Zeitdeformator auf. Waringer meldete sich. In Peru war noch heller Nachmittag. »Wie geht es voran?« erkundigte er sich. »Hier alles klar.« »Es dunkelt. Wir werden die Suche abbrechen und einen sicheren Landeplatz suchen.« »Legt euch auf den Meeresgrund, da seid ihr sicher«, riet Waringer sarkastisch. »Möchte wissen, wer euch stören könnte.« »Eigentlich wissen wir das auch nicht«, gab Rhodan zu und -167-
lachte. »Auf der anderen Seite kennen wir diese Zeitepoche viel zu wenig, um nicht mit Überraschungen rechnen zu müssen. Wir melden uns wieder, wenn wir gelandet sind. Wahrscheinlich ein unzugängliches Berggebiet in Ostafrika.« »Bis dann«, gab Waringer zur Antwort. Sie fanden ihren Landeplatz im Quellgebiet des Tana, auf einem fast zweitausend Meter hoch gelegenen Plateau des Nyambenigebirges, gut drei Breitengrade nördlich des Kilimandscharo. Die Entdeckung durch abergläubische Eingeborene war praktisch unmöglich. Perry Rhodan beteiligte sich nicht an dem Rundgang, den die drei anderen noch unternahmen. Es war bereits dunkel geworden, aber der der Erde noch näherstehende Mond gab genügend Licht, die nähere Umgebung erkennen zu lassen. »Weißt du eigentlich, Ras«, fragte Fellmer Lloyd, nachdem sie ein Stück gegangen waren, »was Perry eigentlich sucht?« »Stationen hierher ausgewanderter Lemurer«, vermutete der Angesprochene. »Das hat er deutlich genug zum Ausdruck gebracht. Natürlich wissen selbst Lemurer, falls es sie noch gibt, nichts mehr von diesen Stationen. Es ist zu lange her. Die Überbleibsel der lemurischen Technik sind ungefährlich, solange sie in Ruhe gelassen werden. In der jetzigen Zeitepoche ist das der Fall, aber wenn eine fortgeschrittene Zivilisation sie eines Tages finden wird. . . « Er schwieg. »Nichts wird geschehen«, warf Gucky ein. »Wenigstens nicht bis zum vierten Jahrtausend. Wir wüßten es doch sonst.« »Das stimmt - und stimmt wieder nicht. Kann ja sein, daß wir Stationen jetzt finden und desaktivieren. Dann würden sie in der Zukunft keinen Schaden anrichten können.« »Logisch«, gab der Mausbiber zu und sah hinauf zum wolkenlosen Himmel. »Ich komme mir vor wie auf einem fremden Planeten, keine einzige Konstellation stimmt. Die verschieben -168-
sich noch ganz hübsch in den kommenden Jahrtausenden.« Schweigend gingen sie weiter und kehrten bald darauf zum Diskus zurück. Rhodan hatte sich schon in seine Kabine zurückgezogen, nachdem er Waringer kurz berichtet hatte. Auch Ras, Fellmer und Gucky gingen schlafen. Mit einer Geschwindigkeit von knapp einem Mach zog die F-2020 ihre Kreise über dem Indischen Ozean. Nicht ein einziges Mal hatten die Orter eine verdächtige Ansammlung von Erzen oder gar künstlich hergestellten Legierungen angezeigt. Die Inselgruppen, die sie überflogen, waren allem Anschein nach unbewohnt. Selbst die starke Vergrößerung der optischen Geräte verriet keinerlei Anzeichen einer Besiedlung. Nichts deutete darauf hin, daß hier jemals Menschen gelebt hatten. Plötzlich fuhr Ras zusammen. »Da ist was!« rief er und deutete auf die Orterskalen mit ihren Digitalanzeigen. »Legierungen! Stahl, Titan, Aluminium, Eisen auch!« »Nullgeschwindigkeit, sofort!« Rhodan sah auf den Bildschirm. »Langsam tiefer gehen. Die Inseln da unten! Woraus bestehen sie, Granit?« Der Teleporter zog andere Instrumente zu Rate. »In erster Linie Granit und Vulkangestein.« »Wie ich vermutete«, murmelte Rhodan. Dabei hatte er nichts anderes erwartet. »Wir bleiben in zwei Kilometer Höhe über der von den Ortern festgestellten Position stehen. Das dürfte über dem Westrand der größten Insel des Archipels sein.« »Südlich des nördlichen Riesenkaps«, präzisierte Ras. Zwei Kilometer über der bezeichneten Stelle hörte der Diskus auf abzusinken. Die Automatik hielt ihn genau darüber so fest, als sei er verankert. Luftströmungen wurden ohne weitere Kontrollvorgänge ausgeglichen. Die Vergrößerung holte die Insel so nahe heran, daß selbst einzelne Steine von der Größe eines Fußballs deutlich zu erkennen waren. -169-
Sie war gebirgig und trotzdem von einer üppigen Vegetation bedeckt. Wenn sich hier jemand ansiedelte, dann mit Sicherheit in den Küstenregionen. Aber die Insel war unbewohnt, wenn der Organabtaster auch animalisches Leben in primitiver Form registrierte. »Dabei wäre es ein Paradies«, meinte Ras. »Das Klima, verrät unser meteorologischer Computer, ist geradezu ideal.« »Es muß schon jemand hier gewesen sein!« unterbrach Rhodan die Schwärmerei des Afrikaners. »Wer sonst sollte Anlagen dort unten installiert haben?« Er seufzte. »Legierungen dieser Art entstehen nicht von selbst.« »Wo genau befinden sie sich?« wollte Fellmer wissen. Ras verglich einige Daten der Orterinstrumente mit dem Totalbild des Panoramaschirms und runzelte die Stirn. »Nicht unter der Wasseroberfläche, wie wir vermuteten. Aber nicht weit vom Ufer entfernt - unter dem Gebirge.« »Unter dem Gebirge?« vergewisserte sich Fellmer verblüfft. Rhodan widmete sich erneut den Instrumenten, dann nickte er. »Ras hat recht. Es ist seltsam, bisher hatten die Lemurer ihre meisten Stationen im Ozean angelegt. Sollte sich geologisch hier soviel verändert haben, daß sich die hier vermutete Anlage einst im Meer befunden hat und jetzt unter der Erdoberfläche?« »Denkbar wäre es schon«, wagte Ras eine Hypothese. »Es war ein langer Zeitraum, und noch immer ist alles in Bewegung. Hier zwar weniger als anderswo, aber immerhin. . . « »Wir werden landen«, unterbrach ihn Rhodan. »Gott sei Dank!« meldete sich der Mausbiber aus dem Hintergrund der Zentrale. »Ich habe schon blaue Flecken vom vielen Sitzen.« Die Wiedergabe der sich unter dem Diskus befindlichen Landschaft auf dem Bildschirm ergab in Kombination mit den Daten der Ortungsfelder die genaue Lage der vermutlichen Sta-170-
tion. Sie war denkbar ungünstig, was den Landeplatz betraf. Die Felsen des Kaps fielen nahezu senkrecht ins Meer hinab, das allerdings an dieser Stelle nicht sehr tief war. Es bildete zwischen der Hauptinsel und einer kleineren in unmittelbarer Nachbarschaft so etwas wie einen Kanal. »Bleibt eigentlich nur das winzige Plateau auf halber Höhe des Kapgebirges«, faßte Rhodan die inzwischen gemachten Vorschläge zusammen. »Es dürfte eine Fläche von etwa sechshundert Quadratmeter haben und reicht gerade für die F-2020. Sieht eigentlich fast aus wie eine künstlich angelegte Terrasse.« »Vielleicht ist es wirklich ein künstlich hergestelltes Plateau«, stimmte Ras ihm zu. »Aus den Daten geht hervor, daß die Station, oder was es auch sein mag, genau unter ihm liegt.« Rhodan nickte den anderen zu. »Also gut, landen wir auf ihm. Wie es dann allerdings weitergehen soll, weiß ich auch noch nicht.« »Ich kann ja mal runterteleportieren«, erbot sich Gucky. »Du bleibst hier!« fuhr Rhodan ihn an, dann schüttelte er den Kopf. »Du mußt entschuldigen, war nicht so gemeint. Aber ich habe ein verdammt ungutes Gefühl.« »Soll ich nun landen oder nicht?« fragte Ras ungeduldig. »Einmal müssen wir ja anfangen«, gab Rhodan seine Zustimmung. Die F-2020 war durchaus in der Lage, mit Geschwindigkeit Null auf der Stelle zu verharren und eine vertikale Landung vorzunehmen. Trotzdem erwies sich das Manöver als äußerst schwierig. Es schien, als gehorche der Diskus den Kontrollen nur widerwillig, und Ras hatte alle Mühe, die viel zu kleine Landefläche anzusteuern, ohne an den steilen Felshängen des Kaps zu zerschellen. Immer wieder drohte die Maschine seitlich auszubrechen oder einfach in die Tiefe abzusacken. Nur im letzten Moment konnte sie immer wieder abgefangen werden. Endlich setzte sie ungewohnt hart auf dem Plateau auf. -171-
»Das begreife ich nicht«, stöhnte Ras und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Habe ich mit der F-2020 noch nie erlebt. Als ob jemand etwas dagegen hätte, daß wir hier landen.« »Vielleicht hat wirklich jemand etwas dagegen«, murmelte Rhodan unsicher. Sie blickten sich schweigend an, dann meinte Fellmer: »Vielleicht finden wir darauf eine Antwort - draußen, nicht hier drinnen.« Rhodan spürte den leichten Vorwurf und sah ihn an. »Es bleibt noch ein paar Stunden hell. Wir wollen also nichts überstürzen. Die Inseln sind unbewohnt, das wissen wir. Trotzdem meine Frage an dich und Gucky: Gibt es Gedankenimpulse irgendeiner Art?« »Nichts dergleichen«, bestätigten beide Mutanten. Rhodan wandte sich an Ras: »Was können wir den Daten noch entnehmen? Wie tief unter uns liegt jetzt nach der Landung die Station?« »Die oberste Schicht der wie ein rechteckiger Block geformten Legierungsmasse liegt zweihundertzwanzig Meter unter uns. Das Material, das uns von ihr trennt, ist massiver Fels. Bis auf eine Ausnahme.« Sie starrten ihn an. »Ausnahme?« fragte Rhodan verblüfft. »Ich konnte es erst nach der Landung feststellen«, entschuldigte sich Ras. »Es handelt sich um eine kreisförmige Region, die keinerlei Materie aufweist, bis hinab zu zweihundertzwanzig Meter. Mit anderen Worten: genau unter der F-2020 befindet sich ein senkrecht in die Tiefe führender Schacht, der bis hinab zu der vermutlichen Station führt. Der Eingang, schätze ich.« »Du warst ja schon immer für Überraschungen gut«, teilte Gucky ihm mit. »Aber ich finde es reichlich unfair von dir, uns so lange dein Wissen vorzuenthalten. Nicht einmal gedacht hast du daran.« -172-
Ras’ Gesichtsausdruck verriet Überraschung. »Seit mindestens drei Minuten habe ich daran gedacht«, verteidigte er sich. »Und vorher wußte ich es selbst noch nicht.« Nun verriet der Mausbiber einige Verwirrung. Fellmer mischte sich ein: »Ich habe auch nichts empfangen können, Ras. Überhaupt kommt es mir so vor, als wären eure Gedankenimpulse schwächer als sonst. Sehr merkwürdig. . . « Rhodans Gesicht war ernst, als er sagte: »Nun werdet ihr wohl begreifen, warum ich Gucky die Teleportation nicht erlaubte. Gedankenimpulse werden beeinflußt und unsere Landung wurde offensichtüch gestört. Das alles könnte erst ein Anfang sein. Wer weiß, welche Überraschungen uns noch bevorstehen.« Fast eine volle Stunde lang berieten sie den nächsten Schritt, dann nahm Rhodan Kontakt mit Waringer in Peru auf und schilderte ihm die Lage. Der Funkverkehr war störungsfrei. Waringer schlug vor, daß sie weitermachen sollten, da sie ja ohnehin jederzeit mit der Unterstützung der Deformatorbesatzung rechnen konnten. Rhodan stimmte dem Vorschlag zu, obwohl die technischen Hilfsmittel, die sie an Bord der F-2020 mitführten, mehr als bescheiden waren. Er schaltete das Funkgerät ab. »Letzte Frage«, wandte er sich an seine Freunde. »Bleiben wir zusammen, oder meint ihr, es sollte jemand hier an Bord zurückbleiben?« Ras versuchte ein Grinsen. »Du kannst ja mal versuchen, einen von uns zum Zurückbleiben zu überreden, Perry.« Rhodan gab das Grinsen etwas mühsam zurück. »Das wird ohne einen strengen Befehl wohl kaum möglich sein, also lassen wir das. Das Eiland ist unbewohnt, so wie alle anderen in diesem Archipel auch. Wer also sollte sich an der F-2020 vergreifen, wenn sie unbewacht hier herumsteht? Au-173-
ßerdem sichern wir sie ab. Gehen wir also gemeinsam.« »Ausrüstung?« erkundigte sich Fellmer nüchtern. Rhodan zuckte die Schultern. »Viel haben wir nicht dabei, aber das wenige nehmen wir mit. Auf jeden Fall auch Nahrungs- und Wasserkonzentrate. Man kann nie wissen.« Niemand konnte in dieser Minute ahnen, welche Unannehmlichkeiten ihnen diese Entscheidung ersparen sollte. Auf Anhieb konnten sie den Eingang zu dem Schacht in die Tiefe nicht finden. Ras mußte zurück in den Diskus, um mit Hilfe der Orter die genaue Stelle zu eruieren. Über Handfunk gab er die Daten durch, und als er zu den anderen zurückkam, hatten diese mit Steinen die Position in Form eines zwei Meter durchmessenden Kreises markiert. »Rund, wie du gesagt hast.« Rhodan deutete auf den mit Humus bedeckten Boden. »Darunter dürfte Fels sein. Oder?« »Eine zehn Zentimeter dicke Metallplatte«, korrigierte ihn Ras. »Darunter ist nichts. Zweihundertzwanzig Meter absolut nichts.« »Ich könnte ja mal. . . « , begann Gucky, verstummte aber sofort wieder, als er Rhodans Blick auffing, der nach einer kleinen Pause sagte: »Der Humus hat sich im Verlauf der Zeit hier abgelagert. Keine absichtliche Tarnung, vermute ich daher. Darunter also die Metallplatte. Na schön, graben wir ein wenig, sind ja nur zehn Zentimeter.« »Womit?« wollte der Mausbiber besorgt wissen. »Mit einem flachen Stein, liegen ja genug herum.« Der Boden war locker und ließ sich leicht beseitigen. Darunter kam eine völlig glatte und wie neu blitzende Metallschicht zum Vorschein. »Eben vom Werk geliefert«, versuchte Ras einen reichlich müden Scherz, was ihm einen mißbilligenden Blick von Gucky -174-
einbrachte, und Rhodans Hinweis, daß sie es mit einer vollkommenen Technik, eben jener der alten Lemurer zu tun hatten. »Und was nun?« erkundigte sich Fellmer Lloyd. »Ich glaube, es geht los!« piepste Gucky plötzlich in höchsten Tönen. »Da ist doch so etwas wie ein versenkter Druckknopf.« Die drei Männer erstarrten vor Unglauben. Fast hätten sie ihn übersehen, so klein und unauffällig war er. Aber er war da! Nicht völlig vom weichen Erdreich befreit, war er kaum sichtbar. »Drück mal darauf!« sagte der Mausbiber zu Ras, der den Knopf wie hypnotisiert betrachtete. »Ist doch klar! Ein Fahrstuhl ist das hier!« Rhodan blieb skeptisch und vorsichtig. »Das erscheint mir zu einfach. Die Lemurer wären niemals so leichtsinnig gewesen, eine ihrer Stationen für jedermann zugänglich zu machen.« Ras, wie gewöhnlich voller Tatendrang und ungeduldig, meinte sarkastisch: »Na schön, dann warten wir eben, bis uns jemand die Gebrauchsanweisung bringt, verbunden mit genauen Informationen, wie das Ding vor zwanzigtausend Jahren funktionierte. Wir haben ja Zeit.« Und Zeit hatten sie eben nicht in unbegrenzter Menge zur verfügung. Darum entschied Rhodan kurz entschlossen: »Gib mir dort drüben den Ast, Fellmer, und geht alle von der Platte. Wollen doch mal sehen, was passiert.« Er nahm den Ast, den Fellmer ihm reichte, trat auf den festen Boden neben dem Rand der Platte und drückte den Knopf ein. Es ging erstaunlich leicht, trotz der Jahrtausende, die vergangen sein mußten. Sekunden später hörten sie ein scharrendes Geräusch, und die Platte begann langsam in die Tiefe zu sinken - hielt jedoch bereits nach einem Meter wieder an - und stieg nach oben, zurück in ihre ursprüngliche Position. Ras hatte eine Erklärung parat. »Ich vermute, der Mecha-175-
nismus ermißt das Gewicht und registriert daher eine Fehlschaltung, wollen wir Steine darauf legen?« Rhodan überlegte nur wenige Sekunden, dann schüttelte er den Kopf. »Ach was! Riskieren wir es!« Das war ganz im Sinn des Teleporters. Er stand als erster auf der Platte. Die anderen folgten ihm. Rhodan bückte sich und preßte den Knopf tief in den Sockel. Abermals begann die Platte nach unten zu sinken, und diesmal hielt sie nicht an. Ohne die Geschwindigkeit zu verändern, glitt sie mit ihrer Last in die Tiefe. Es wurde schnell dunkel, nur hoch über ihnen war der helle, kreisförmige Fleck, der allmählich immer kleiner wurde. Zweihundertzwanzig Meter. . . Die Platte hielt mit einem plötzlichen Ruck an. Nur ihre Geistesgegenwart bewahrte die drei Männer davor, das Gleichgewicht zu verlieren, lediglich Gucky stand da wie eine Eins. Das war natürlich seiner geringen Größe zuzuschreiben. Er selbst dachte allerdings ganz anders darüber. Sie blieben stehen und sahen sich erst einmal nach allen Seiten um. Der Schacht endete knapp drei Meter über ihren Köpfen. Ein schwarzes Loch, mehr nicht. Zweifellos hatten sie das Innere der Station erreicht. Die Frage, wozu sie einst gedient hatte, blieb vorerst noch unbeantwortet. Rhodan trat als erster von der Platte. Zögernd folgten ihm die anderen, selbst Ras schien auf einmal Bedenken zu haben. Er dachte an eine andere Station der Lemurer im Pazifik, deren tödlicher Mechanismus noch nach mehr als fünfzigtausend Jahren aktiv geblieben war. Der Raum war quadratisch und ohne jede Einrichtung. Die Wände und die Decke, aus der seit dem Aufprall der Platte ein gelbliches Licht drang, bestand aus geschmolzenem und glasurerkaltetem Felsgestein. Es gab keine sichtbare Öffnung, die -176-
auf einen Gang in das eigentliche Innere der Station schließen ließ. Das war mehr als ungewöhnlich. Es war, wenn man den Resultaten der Ortung trauen wollte, geradezu unmöglich. Ras sprach es aus: »Der von uns angemessene Raum ist mehr als zehnmal größer als dieser hier. Und der Schacht, durch den wir hierher gelangten, ist der einzige Zugang. Wie also soll es nun weitergehen? Seht ihr vielleicht so etwas wie eine Tür?« In diesem Augenblick begann sich die Metallplatte, die sie in die Tiefe gebracht hatte, zu bewegen. Viel zu schnell allerdings. Sie war in dem runden Deckenloch verschwunden, ehe jemand etwas sagen oder unternehmen konnte. »Das hier ist eine verdammte Falle!« sagte Fellmer so ruhig, als träfe er lediglich eine nüchterne Feststellung. Ras wandte sich ihm zu. »Der gesamte Komplex dürfte den Daten nach eine Fläche von mehr als tausend Quadratmeter beanspruchen, zu groß für eine bloße Falle. Wozu soll der Rest der Anlage gut sein, Fellmer?« »Maschinerie«, erwiderte der Telepath trocken. Dazu in einem Tonfall, der keine Zweifel aufkommen ließ. Rhodan stieß Gucky an. »Nun, Kleiner? Was ist los? Impulse? Gar nichts?« »Nichts«, gab der Mausbiber zurück - dann erschrak er plötzlich und schien förmlich zu erstarren. »Nichts, Perry! Nicht einmal deine Gedankenimpulse, oder die von Ras und Fellmer. Aber das ist doch nicht möglich! Ich kann doch nicht auf einmal...!« Er stockte eine Sekunde, esperte konzentriert und fügte hinzu: »Tatsächlich! Ihr habt alle drei aufgehört zu denken genauso ist es. Was ist mit dir, Fellmer?« Fellmers ratloses Gesicht war Antwort genug. Rhodan sagte mit gepreßter Stimme und schmalen Lippen: -177-
»Ras! Gucky! Versucht einen kurzen Sprung. Fünf Meter.« Die Teleportation versagte genauso wie die Telepathie. Auch der Telekineseversuch des Mausbibers war negativ. Sämtliche Parafähigkeiten der Mutanten waren verschwunden. »Eine Falle!« wiederholte Fellmer seine Vermutung. »Eine perfekte Parafalle, wie speziell für uns gemacht.« Rhodan versuchte ruhig und gelassen zu bleiben. »Aus jeder Falle gibt es einen Ausweg. Wir sind hineingekommen, also werden wir auch wieder hinauskommen. Die Platte ist nach oben gestiegen, und ich kann hier unten keine Kontrollen entdecken - wir müssen sie also vorerst vergessen. Teleportation geht nicht. Ich meine aber, bevor wir Waringer und die anderen verrückt machen, versuchen wir es selbst. Außerdem will ich wissen, was dies hier alles zu bedeuten hat. Zuerst müssen wir den Eingang zur eigentlichen Station finden, in der mit Sicherheit auch entsprechende Kontrollen installiert wurden. Es muß diesen Zugang geben!« »Wir haben keine Spezialinstrumente bei uns«, erinnerte ihn Ras. Fellmer kramte wortlos einen kleinen Metallkasten aus der Tasche seiner Kombination und hielt ihn auf der flachen Hand den anderen hin. »Während ihr die Konzentrate einpacktet, nahm ich dies hier an mich. Ich kann damit Dichte und Ausmaße fester Materie messen - also auch die Dicke von Mauern.« Er warf Gucky einen bezeichnenden Blick zu. »Ja, auch die Dicke von Bäuchen.« »Witzbold!« grunzte der Mausbiber indigniert. »Elementare Widerstandsabtastung«, erriet Rhodan. Fellmer nickte zustimmend. »Zumindest so ähnlich. Gleich werden wir die schwächste Stelle der Felsen um uns herum gefunden haben.« Er fummelte an den winzigen Kontrollen des Kästchens herum und begann, -178-
an den Wänden entlangzuwandern. Als er stehenblieb, war Genugtuung in seiner Stimme: »Hier, das dürfte es sein!« Die Stelle der Felswand, vor der Fellmer stehengeblieben war, unterschied sich rein äußerlich nicht im geringsten von dem Rest. Aber der kleine Monitor des Geräts zeigte deutlich ein Rechteck und einen dunklen Punkt auf der rechten Seite. Ras ging zu Fellmer und stellte sich neben ihn. »Soll ich mal?« fragte er und hob die Hand. Rhodan nickte ihm zu. »Kann ja wohl nicht schaden«, gab er seine Zustimmung. Ras drückte zuerst mit dem Daumen auf den dunklen Punkt, der mit Hilfe des Monitors leicht zu finden, wenn auch nicht zu sehen war. Nichts passierte. Seine langjährige Erfahrung mit fortgeschrittenen Techniken gab ihm den richtigen Tip. Beim zweiten Versuch legte er die flache Hand auf die fragliche Stelle, bis die Körperwärme den Kontakt auslöste. Was dann geschah, war schlichtweg unglaublich. Dort, wo der Monitor die Tür aufgespürt hatte, war plötzlich nur noch eine rechteckige Öffnung. »Warte noch!« rief Rhodan, als Ras sich vorbeugen wollte. »Sei vorsichtig! Was ist dahinter?« Ras trat einen Schritt zurück. »Die Station, vermute ich. Ein riesiger Raum, vollgepackt mit Blöcken aus einem schimmernden Material - Metall, nehme ich an. Kontrolltafeln an den Wänden, spiralig geformte Gebilde, die mich an Isolatoren erinnern. Vielleicht ist das Ganze ein Generatorraum.« Rhodan ging zu ihm, um einen Blick hineinzuwerfen. Dann meinte er: »Sehen wir uns das näher an. Macht euch keine Sorgen wegen eurer vorübergehend verlorenen Fähigkeiten. Eine paratechnische Einrichtung der alten Lemurer, bestimmt. Sie hatten mit -179-
Mutanten Ärger und ergriffen entsprechende Vorsichtsmaßnahmen. Mit Parafallen hatten wir doch schon oft genug zu tun.« Ras wich ein Stück zur Seite, um Rhodan Platz zu machen, der vorsichtig an ihm vorbeiging und den Raum betrat. Die anderen folgten ihm mit gemischten Gefühlen. Gucky, all seiner Fähigkeiten beraubt, kam sich richtig nackt vor. Die Anhäufung fremdartiger technischer Geräte und Einrichtungen wirkte verwirrend, fast beängstigend. Ohne Sinn und Zweck der Anlage zu kennen, blieben auch die Kontrollinstrumente an den Wänden bedeutungslos. Sie auch nur anzurühren, war mit unberechenbaren Risiken verbunden. Ein Lichtblitz ließ sie herumfahren. »Der Eingang!« rief Ras entsetzt. Die Tür war verschwunden. Statt der rechteckigen Öffnung, durch die sie in den Kontrollraum gelangt waren, befand sich jetzt dort nur noch die glatte, lückenlose Felswand. Fellmer richtete den Abtaster in ihre Richtung. Auf dem Monitor war das Rechteck immer noch deutlich zu erkennen. »Na also!« Seine Stimme verriet Erleichterung. »Selbst der Aktivierungspunkt ist vorhanden. Leider wissen wir aber noch immer nicht, wie wir die Platte im Schacht zu uns herabholen können.« »Darüber werden wir uns später den Kopf zerbrechen«, riet Rhodan. »Sehen wir uns zuerst einmal hier um.« Ras kümmerte sich wenig um die technischen Einrichtungen. Er wanderte an den Wänden entlang, zählte dabei sorgfältig seine Schritte und rechnete. Als er zu den anderen zurückkehrte, die gemeinsam, leider ohne greifbares Ergebnis, die Kontrollen studierten, war sein Gesicht ungewöhnlich ernst. Er reichte Fellmer das Abtastgerät. »Die ganze Station besteht nur aus diesem Raum, abgesehen von dem kleinen nebenan. Er ist mitten im Urgestein eingebettet. -180-
Die schwächste Stelle ist dort drüben, auf der anderen Seite. Dort dürfte der Fels immerhin noch fünfzig Meter dick sein. Wir müssen also in jedem Fall wieder zurück zum Schacht, wenn wir an die Oberfläche gelangen wollen.« »Das war von Anfang an klar«, machte Rhodan ihn aufmerksam. »Wir werden die Türöffnung schon wieder dematerialisieren können.« Gucky hatte sich auf einen der Metallblöcke gesetzt und kaute unlustig auf einem Konzentratwürfel herum, der seiner Meinung nach wie Stroh schmeckte. »Wenn ich doch wenigstens espern könnte!« beschwerte er sich. »Dann hätten wir durch telekinetische Abtastung schnell herausgefunden, was der ganze Kram hier überhaupt soll. Oder was er einst sollte. Wir wissen ja nicht einmal, ob die Anlage noch funktionstüchtig ist oder. . . « Daß sie es war, erfuhren sie genau in dieser Sekunde, so als hätte der Mausbiber der unbekannten Technik der Vergangenheit unbewußt das Stichwort zur Aktivierung geliefert. In Wirklichkeit mußte jedoch etwas anderes die Katastrophe ausgelöst haben. Bis zu diesem Augenbück war es völlig ruhig in der Station gewesen. Jetzt erfüllte plötzlich ein bösartig klingendes Brummen den Raum. Die fremde Maschinerie in den Blöcken erwachte zum Leben. Der glatte Felsboden vibrierte unter den Füßen der drei Männer, und Gucky fuhr mit einem Satz in die Höhe, als es unter seinem Hinterteil zu rumoren begann. Ein dumpfes Grollen war in ihren Ohren, wie von einem weit entfernten Gewitter, dann folgte ein gewaltiges Poltern - wie bei einem Erdrutsch oder Steinschlag -, das allmählich wieder verebbte. Bis auf das leiser gewordene Summen der Generatoren wurde es wieder still. Die Vibration blieb. »Was war das?« fragte Ras, dessen dunkles Gesicht eine graue Farbe angenommen hatte. »Es hörte sich so an. . . « -181-
Er verstummte. Rhodan sah hinüber zur Wand, durch die sie gekommen waren. »Das Gepolter kam von dort. Ich fürchte. . . « Auch er sprach seine Vermutung nicht aus. Fellmer aktivierte wortlos sein Abtastgerät und richtete es gegen die Wand. Als er sich umdrehte, glich sein Gesicht einer versteinerten Maske. »Die Tür ist zwar noch vorhanden, aber sie führt jetzt in einen Raum, der bis zur Decke hinauf mit Felsbrocken angefüllt ist. Der Aufzugsschacht muß zusammengebrochen sein. Da kommen wir nicht mehr hinaus. Es dürfte wohl klar sein, daß Derartiges beabsichtigt war. Die alten Ägypter machten ähnliches mit ihren Königsgräbern, auch die Inkas und Mayas. Allerdings nicht technisch so vollkommen wie die Lemurer.« »Also doch eine Falle!« stellte Rhodan gefaßt fest. »Eine ganz hundsgemeine Falle«, bestätigte Fellmer. Gucky hatte den ersten Schreck überwunden und konnte bereits wieder kritisieren: »Möchte wissen, warum die Menschen den Hund, der doch angeblich ihr bester und treuester Freund ist, immer wieder mit Schimpfworten und Flüchen in Einklang bringen. Das ist nicht nur unlogisch, sondern auch unendlich einfallslos und dumm.« Rhodan nickte fast unmerklich. »Auch wenn du recht hast, Kleiner, so haben wir im Augenblick andere Sorgen.« Er deutete in den Raum hinein. »Was hat die Falle aktiviert? Akustik? Optik? Oder gar die Mentalemission eurer Gehirne?« »Das wäre insofern logisch, als die ganze Falle hier für Mutanten gedacht ist«, sagte Fellmer. Er sah sich um und setzte sich auf den nächsten Block. »Ich bin plötzlich so müde. Am Sauerstoffmangel kann es nicht liegen, die Lufterneuerungsanlage funktioniert noch.« Gucky hockte schon längst wieder. -182-
»Mir ist, als wäre ich schwerer geworden.« Ras wollte eine Stichelei loswerden, stockte aber dann. »Mir geht es genauso«, gab er dann verwundert zu. »Die Gravitationsverhältnisse ändern sich«, versuchte Rhodan eine unglaublich klingende Erklärung zu finden. Er setzte sich ebenfalls. »Gehört zur Falle. Die gefangenen Mutanten werden bewegungsunfähig gemacht. Eine teuflische Einrichtung, und wir sind ahnungslos in die Falle getappt. Ich fürchte, wir haben ein Problem.« Fellmer hatte sich auf den Boden gesetzt. Er atmete schwer und stützte sich mit den Händen ab. »Ein Problem?« stöhnte er. »Ich fürchte, wir haben eine ganze Menge davon.« Die Zunahme der Schwerkraft hatte aufgehört. Rhodan schätzte, daß sie etwa der dreifachen Erdanziehung ausgesetzt waren. Nur unter größter Anstrengung würden sie halbwegs aufstehen können, und das nur für wenige Sekunden. Eine Fortbewegung würde nur kriechend möglich sein. »Wir müssen Waringer informieren«, drängte Ras. »Er soll uns hier herausholen, und zwar so schnell wie möglich. Lange halten wir das nicht aus.« »Sie können niemals den verschütteten Schacht freilegen«, befürchtete Rhodan. »Dazu fehlen uns und ihnen die nötigen technischen Hilfsmittel.« »Ich meine auch nicht den Schacht, ich dachte mehr an die Felswand, hinter der das Meer ist. Fünfzig Meter, ein waagerechter Stollen von außen herein, das müßte doch zu schaffen sein.« »Unter normalen Umständen, natürlich. Nun, wir werden ja sehen.« Rhodan aktivierte das Allzweckgerät am linken Handgelenk. Es war mühsam und kostete Kraft, aber er bekam sofort Kontakt zum Nullzeitdeformator in Peru. Gosling meldete sich und holte Waringer. Rhodan berichtete ihm, was inzwischen -183-
geschehen war und schloß: »Ihr müßt auf alles gefaßt sein. Wir haben nicht die geringste Ahnung, welche Ausdehnung das künstliche Gravitationsfeld hat, das uns so gut wie bewegungsunfähig macht. Wenn es eure F-2020 draußen ebenfalls beeinflußt, wird es kompliziert, vielleicht sogar unmöglich, uns hier herauszuholen.« »Wir schaffen das schon«, blieb Waringer zuversichtlich, und seiner Stimme war nicht zu entnehmen, ob sein Optimismus echt war. »Bleibt ständig auf Empfang, damit wir euch jederzeit erreichen können.« Gucky war inzwischen von dem Metallblock gerutscht und lag nun neben Fellmer. »Ich kann mich kaum noch rühren«, jammerte er kläglich. »Hätten wir doch nur unsere Schutzanzüge mit den Antigravaggregaten dabei.« »Wer denkt denn auch an so was?« grunzte Ras, der zusammengesunken auf seinem Platz hockte. »Ich möchte jetzt zwanzigtausend Jahre zurück und den Lemurern, die das hier verbrochen haben, einen Satz rote Ohren verpassen, wenn ihr wißt, was ich meine.« Sie wußten, was er meinte, und stimmten ihm schweigend zu. Es kostete Rhodan einige Mühe, einen Konzentratwürfel aus der Tasche zu angeln. Selbst das Kauen wurde zu einer fast schmerzhaften Anstrengung. »Wenn wir wüßten, welchen Zweck diese Station ursprünglich noch erfüllte«, sagte Fellmer, »ließe sich vielleicht ein Weg finden, den ganzen automatischen Mechanismus lahmzulegen. Aber so, wie es jetzt ist, kann jeder falsche Knopfdruck erneut zur Katastrophe führen.« »Wir rühren nichts an«, versicherte Rhodan. Waringer meldete sich: »Wir starten in fünf Minuten. Gebt in einer halben Stunde Dauerpeilzeichen, damit wir euch lokalisieren können.« -184-
»Alles klar«, bestätigte Rhodan. »Ich gebe das Peilzeichen mit meinem Gerät, während Ras oder Fellmer auf Dauerempfang bleiben.« »Dann kann ich mich ja ausruhen«, teilte Gucky mit, der wohl am meisten unter der erhöhten Gravitation zu leiden hatte. Es war nicht schwierig, Waringer einzuweisen. Erst als er mit dem Diskus über dem Kap schwebte und keinen Landeplatz fand, wurde die Rettungsaktion zu einem schier unlösbaren Problem. »Eure F-2020 scheint noch unbeschädigt auf dem Plateau zu stehen«, berichtete er. »Für uns ist da kein Platz mehr. Wir mußten den Antigrav einschalten und auf knapp drei Gravos einpendeln. Das Feld der Station hat einen Radius von gut einem Kilometer.« »Könnt ihr durch den Fels die genaue Position der Station feststellen?« fragte Rhodan. »Nicht nötig, wir haben sie durch die Massetaster auf dem Monitor. Auch Hohlräume lassen sich anmessen. Wir gehen jetzt tiefer. . . und stehen knapp fünf Meter über der Wasseroberfläche. Hier müßten wir ansetzen. Aber auch wenn wir den Stollen schaffen, so können wir euch nicht aufnehmen.« »Warum denn nicht?« wunderte sich Rhodan. »Wir können uns dem fast senkrecht abfallenden Kapfelsen nur bis zehn Meter nähern, sonst laufen wir Gefahr, mit dem Diskus zu havarieren. Das Gravitationsfeld schwankt und verändert laufend seine Werte. Es ist instabil - Absicht oder nicht. Wir müssen laufend unser eigenes Feld nachjustieren, um die Höhe zu halten. Es ist absolut unmöglich, die F-2020 ruhig auf der Stelle zu halten.« »Wie wollt ihr dann einen Stollen in den Fels schmelzen?« »Das wird gehen, auch wenn er dann unregelmäßig sein wird.« »Zum Schluß wird es ziemlich heiß hier drinnen werden.« -185-
»Der Raum ist groß genug. Zieht euch zur gegenüberliegenden Seite zurück, wenn es warm wird. Kann aber noch einige Zeit dauern.« Es dauerte länger, als sie alle angenommen hatten. Die F-2020 verfügte über einen schweren Bugstrahler, dessen scharf gebündelter Energiestrahl sich anfangs schnell in den Fels fraß und das Gestein verdampfte. Was nicht verdampfte, floß wie ein träger Lavastrom vom Eingang des Stollens hinab zum Meer und bildete fast regelmäßig geformte kleine Terrassen, die wenig später zu stufenähnlichen Gebilden erstarrten. Brandon, der Pilot der Flugscheibe, hatte genug damit zu tun, den Diskus auf gleicher Höhe und in gleichem Abstand zum Kap zu halten. Kaum veränderte sich das Gravitationsfeld der Station, stieg die F-2020 sofort in die Höhe oder sackte ab. Als sie sich zwanzig Meter in den Fels hineingearbeitet hatten, mußten sie eine Pause einlegen. Die Nachrichten der Eingeschlossenen klangen wenig ermutigend. Die Lufterneuerungsanlage mußte ausgefallen sein, oder sie hatte sich programmgemäß abgehaltet. Die Parafalle funktionierte jedoch noch immer einwandfrei. Sie konnten nichts anderes tun als ruhig liegen und warten. Eine Stunde später nahm Waringer die Arbeit wieder auf. Von nun an kamen sie langsamer voran, denn der Energiestrahl, der ständiger Schwankung unterworfen war, traf nicht immer den Stolleneingang. Und wenn er ihn traf, mußte er immer noch zwanzig Meter zurücklegen, ehe er die Felswand erreichte. Hinzu kam, daß der abströmende Schmelzfluß zu früh erstarrte und erneut verflüssigt werden mußte, um kein Hindernis zu bilden. Nach drei Stunden wurde es dunkel. Noch zehn Meter Fels trennte die Retter von den Eingeschlossenen. Das Summen der Anlagen in der Station blieb gleichmäßig und erzeugte die Gravitations- und Parafelder. Trotz ihrer verzweifelten Lage fielen Rhodan und seine Begleiter in einen un-186-
ruhigen schlummer, der von Alpträumen begleitet war. Waringers Stimme schreckte sie auf: »Es wird hell, wir machen jetzt weiter. Wie sieht es bei euch aus?« »Dicke Luft«, gab Rhodan zurück. »Wird schlechter.« »In ein paar Stunden haben wir es geschafft«, vertröstete ihn Waringer. »Wir kommen langsamer voran, weil wir immer wieder das im Stollen abfließende und schnell erstarrende Material neu abschmelzen müssen. Könnt ihr denn das verdammte Gravitationsfeld nicht abschalten?« »Ganz unmöglich, Geoffry. Wer weiß, was noch alles passiert, wenn wir auch nur eine einzige Kontrolle anrühren.« »Verhaltet euch ruhig und verbraucht so wenig Atemluft wie möglich«, riet Waringer noch, ehe er sich wieder auf seine Arbeit konzentrierte. »Der hat gut reden«, maulte Gucky, der platt auf dem Rücken lag und alle viere von sich streckte. »Schließlich hat er jede Menge Luft zur Verfügung. Wie lange reicht es bei uns noch, Perry?« Rhodan versuchte tief durchzuatmen, um seinen Lungen genügend Sauerstoff zuzuführen. Das Atmen bereitete Schwierigkeiten, und seine Lungen reagierten mit einem schmerzhaften Stechen. Die dreifache Erdenschwere war auf die Dauer zuviel für sie. »Wenn wir nicht reden, vielleicht für sechs oder sieben Stunden, für mehr auf keinen Fall.« Gucky verstand den Hinweis und gab keine Antwort. Ras fluchte lautlos in sich hinein. Er, der sich sonst aus jeder Situation mit einem Teleportersprung retten konnte, lag nun hilflos und wie von einer unsichtbaren Faust niedergedrückt am Boden. Hinzu kam die immer schlimmer werdende Atemnot. Die Luft wurde mit jeder Minute stickiger. Der Gelassenste war Fellmer Lloyd. Er lag ganz ruhig da, die Augen geschlossen, und versuchte trotz der einsetzenden -187-
Atemschwierigkeiten endlich wieder Gedankenimpulse aufzufangen. Es gelang ihm nicht. Plötzlich hielt Rhodan, obwohl kaum Sauerstoff in seinen Lungen war, die Luft an. Er hatte ein Geräusch vernommen. Außerdem spürte er, daß es wärmer geworden war. Er schwitzte, aber er hatte es auf die Anstrengung beim Atmen geschoben. Mit einiger Mühe brachte er das linke Handgelenk in die Nähe seines Mundes. »Geoffry! Wie weit seid ihr? Es wird warm hier drinnen.« Nach wenigen Sekunden kam Waringers Bescheid: »Wenn alle Daten richtig sind, keine zwei Meter mehr. Haltet euch bereit. Ist noch genügend Luft vorhanden?« »Wird langsam knapp. Beeilt euch, bitte.« Sie wälzten sich mit letzten Kräften noch näher an die Wand, in der die perfekt getarnte Tür nichts als nackter Fels war. Die Wärme steigerte sich zur Hitze, als die gegenüberliegende kahle Gesteinsfläche, an der keine Kontrollen zu sehen waren, rötlich zu glühen begann und schließlich in annähernd rundem Ausmaß zu schmelzen anfing. Rhodan gab seinen Gefährten einen Wink. Sie rollten sich in den Schutz einiger Metallblöcke. Dann brach der rotflüssige runde Fleck endgültig zusammen. Heiße, aber frische Luft strömte in die Station. Der Energiestrahl erlosch. »Ihr seid durch!« sagte Rhodan erlöst in sein Mikrophon. »Gott sei Dank!« Waringers Stimme klang ungemein erleichtert. »Nichts wie ’raus hier!« rief Gucky schrill. Waringer hatte es über Rhodans Gerät gehört. »Bleibt noch dort, wo ihr seid! Das geschmolzene Gestein im Stollen muß noch abkühlen.« »Hoffentlich schaffen wir den Stollen«, warf Rhodan ein. »Diese ungewohnte Belastung durch das Gravitationsfeld. . . « -188-
»Ihr müßt es schaffen!« unterbrach ihn Waringer. »Ihr müßt es alleine schaffen, denn wir können euch nicht helfen. Wir haben keine Kampfanzüge mit Antigrav.« »Bis zum Stollenausgang wird es schon gehen, aber was dann? Es ist steiler Fels dort. Den können wir niemals hinaufklettern, nicht bei diesen Verhältnissen.« »Würden euch Stufen helfen?« »Stufen...?« »Wir schneiden sie mit dem Strahler in den Fels über dem Stollen. Bis hinauf zum Plateau. Das sind mehr als zweihundert Meter. Ich weiß, bei dreifachem Gewicht ist das ungemein anstrengend für euch, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Einmal auf dem Plateau, kommt ihr auch in die Flugscheibe. Ihr schaltet das Antigravfeld ein - und alles ist vorbei.« »Wann ist das Zeug im Stollen abgekühlt?« »In einer Stunde. Wir fangen jetzt mit den Stufen an.« Rhodan drehte sich zur Seite. »Wie fühlt ihr euch, Freunde und Leidensgenossen?« »Hundsmiserabel«, murmelte Ras. »Schon wieder die unschuldigen Hunde!« fauchte ihn Gucky an. Er hatte sich deutlich sichtbar von Schreck und Anstrengung erholt. »Ich habe Angst vor der Treppe zum Plateau.« »Wird schon klappen«, machte Ras ihm Mut. »Notfalls schleppe ich dich noch mit, wenn du schlapp machst.« Ehe Gucky empört reagieren konnte, sagte Rhodan: »Fangen wir schon mal damit an, uns dem Stollen zu nähern. Aber bitte langsam, es ist noch ziemlich heiß dort. Und schont eure Kräfte, wir brauchen sie später noch.« Jetzt, da die Angst vor dem Erstickungstod von ihnen gewichen war, fiel es ihnen nicht mehr so schwer, die Anstrengung auf sich zu nehmen. Sie krochen und wälzten sich durch den großen Raum bis hin zum Stollen. Der Luftzug, der ihnen durch die Öffnung entgegenströmte, war immer noch warm, aber in -189-
fünfzig Meter Entfernung konnten sie Tageslicht sehen, obwohl der ausgeschmolzene Gang nicht unbedingt gradlinig genannt werden durfte. »Die Stufen zum Plateau hinauf sind fertig«, meldete sich Waringer. »Sie kühlen hier draußen schneller ab. Wie sieht es jetzt bei euch aus?« »Wir liegen vor dem Stollen«, gab Rhodan Auskunft und streckte eine Hand vor. »Das Gestein ist noch immer warm, wird aber bald erträglich werden. Die frische Luft tut gut.« »Wir stehen etwa einen Kilometer entfernt, außerhalb der Gravitationsturbulenzen. Die Lemurer haben sich da wirklich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Na, dann viel Glück!« Rhodan kroch als erster in den Stollen, gefolgt von Fellmer und Ras. Gucky kam zuletzt. Es war immer noch sehr warm, aber mit jedem Meter, den sie zurücklegten, wurde das Gestein kühler. Das Tageslicht weiter vorn wies ihnen den Weg. »Du kannst dich an meinem Fuß festhalten«, bot Ras dem Mausbiber an. »Wenn du etwas mithilfst, kann ich dich ziehen.« »Ich schaffe es schon allein«, gab Gucky zurück, umschloß aber gleichzeitig Ras’ linkes Fußgelenk mit einer Pfote. »Nun ja, körperlich bist du ja auch stärker als ich«, murmelte er dabei so leise, daß es außer Ras niemand hören konnte. Sie hatten etwa die Hälfte der Stollenstrecke zurückgelegt, als etwas völlig Unerwartetes geschah. Und es geschah so plötzlich, daß Rhodan, der gerade zur nächsten mühsamen Kriechbewegung ansetzte, regelrecht in die Höhe schnellte und mit dem Kopf gegen die Felsdecke des niedrigen Ganges prallte. Mit einem schmerzlichen Aufstöhnen sank er zurück. Fellmer begriff sofort. »Achtung!« warnte er die anderen. »Die Schwerkraftverhältnisse haben sich normalisiert. Bist du verletzt, Perry?« »Geht schon wieder, aber eine hübsche Beule wird es schon werden. Kannst du Gedankenimpulse empfangen?« -190-
»Klar und deutlich, wie eh und je. Alles hat sich normalisiert. Die Station hat sich abgeschaltet, ich frage mich nur: wieso?« »Ich kann mir denken, warum, Fellmer. Sie ist so programmiert worden, daß sie sich automatisch aktiviert, wenn die Sensoren die Psiabstrahlung von Mutanten registriert. Der eingestürzte Schacht läßt außerdem darauf schließen, daß diese Falle nur für einmaligen Gebrauch konstruiert und eingerichtet wurde. Sie scheint aber damals ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllt zu haben. Und so wurden eben wir die unfreiwilligen Opfer.« »So könnte es gewesen sein«, murmelte Fellmer. Waringer meldete nach einem kurzen Vorstoß ebenfalls wieder normale Verhältnisse. »Wir können euch am Stolleneingang in Empfang nehmen«, fügte er hinzu. »Mit einer Teleportation würde ich vorsichtshalber noch warten.« »Nun haben sie die schönen Stufen zum Plateau ganz umsonst gemacht«, bedauerte Gucky, aber es klang durchaus nicht traurig. Wenig später standen sie auf der untersten Stufe der in den Fels geschmolzenen Treppe. Die F-2020 Waringers schwebte dicht vor ihnen über dem Wasser. Ras reichte Fellmer die Hand. »Dann wollen wir mal«, sagte er. Gucky beförderte Rhodan aufs Plateau. Ihre Flugscheibe stand ein wenig schief über dem eingestürzten Schacht, von dem kaum noch etwas zu erkennen war. Minuten später starteten sie. Die beiden F-2020 schwebten bewegungslos vor dem Stolleneingang zur Station, die nun von jedem, der sie zufällig entdeckte betreten werden konnte. Da niemand wußte, ob die Parafalle wirklich nur für Mutanten gedacht war oder auch ›normal veranlagten‹ Lebewesen zum Verhängnis werden konnte, hatten -191-
Rhodan und Waringer entschieden, den Stollen zu verschließen, so daß die Station für alle Zeiten im Felsen des Kaps eingeschlossen wurde. Eine Stunde später waren der Stollen und wahrscheinlich auch große Teile der Station mit schnell wieder erstarrender Lava angefüllt. »Lassen wir die Stufen?« wunderte sich Gucky, als sie einen letzten Blick auf das von verwehenden Rauchschwaden halb verdeckte Kap warfen. »Sie werden mit der Zeit verschwinden«, antwortete Rhodan. Und genau in dieser Sekunde fiel ihm ein, welch vage Erinnerung aus dem 20. Jahrhundert es gewesen war, die ihn zu dieser Inselgruppe im Indischen Ozean geführt hatte. Und da wußte er auch, daß selbst die Natur ihre Zeit benötigte, um die Spuren der Vergangenheit zu beseitigen. Die Stufen mußten bleiben, um ein Zeitparadoxon zu vermeiden. Der Archipel fiel schnell zurück, als die Flugscheiben an Höhe gewannen und dann mit großer Beschleunigung Fahrt aufnahmen und Kurs nach Westen einschlugen. Morgen würde die Suche nach den Resten der untergegangenen lemurischen Zivilisation weitergehen.
Anmerkung des Chronisten Die Seychellen im Indischen Ozean, östlich von Afrika und nördlich von Madagaskar gelegen, waren unbewohnt, bis sie Mitte des achtzehnten Jahrhunderts von den Franzosen besiedelt wurden. Sie entdeckten die Stufen und standen vor einem Rätsel. Selbst heute, im Jahr 1983, weiß noch niemand, ob diese gigantische Treppe, die vom Grund des Meeres bis hinauf in den Dschungel eines Plateaus reicht, natürlichen oder künstlichen -192-
Ursprungs ist. Sie erfüllt keinen Zweck. Vom Meer aus ist sie am besten zu sehen, am Kap Escalier auf er Insel Mahe. C. D.
-193-
Peter Griese
SCHENK MIR EINEN MOND In der Chronik der Menschheit gibt es wenige Kapitel, die nicht vollständig ausgefüllt sind. Ein solcher Zeitabschnitt begann mit der Flucht der Erde aus der heimatlichen Galaxis im Februar des Jahres 3460. Die Ereignisse waren durch die Tatsache geprägt, daß Terra und Luna das Ziel der gewaltigen Transition verfehlten. Dennoch gelang es, eine Sonne zu finden, und es gelang, Erde und Mond in eine stabile Umlaufbahn zu bringen. 80 Jahre später brach, hervorgerufen durch die Strahlung der Sonne Medaillon, die Aphilie aus, die Lieblosigkeit in krassester Form, durch die neue Machthaber an die Oberfläche geschwemmt wurden. Sie verdammten alles Frühere, änderten ihrer herzlosen Politik wegen teilweise die Geschichtsschreibung und verjagten schließlich die wenigen Immunen, zu denen auch Perry Rhodan und seine Getreuen gehörten. Überlieferungen aus jener Zeit zwischen den Jahren 3460 und 3540 sind daher stets kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen gewesen. Später, als die Aphilie überwunden war und die Erde wieder ihren angestammten Platz gefunden hatte, waren die Berichte und Erzählungen der Immunen immer noch die sicherste Quelle für die Geschichtsschreibung. Dies trifft auch auf die Geschichte zu, über die hier berichtet wird. Sie stammt von Perry Rhodan und Reginald Bull, die bei der Verfolgung eines hartnäckigen Widersachers aus dem Kreis der Terraner zufällig auf ein anderes Volk mit anderen Gesetzen, Regeln und Verhaltensweisen stießen. So gab es für die beiden Freunde auch zunächst keinen Grund, sich zu wundern, daß dort jemand seiner Braut einen Mond schenken wollte. . .
-194-
1. Carrolus VII. Zwappmann, seines Zeichens Fürst und Regent von Klypmanion, stand auf den Zinnen seines Regierungspalasts und starrte stumm die untergehende Sonne an. Das tiefe Rot der fernen Wolkenbänke weckte in seinem Innern Gefühle, die für ihn noch undefinierbar waren und miteinander im Widerstreit lagen. Der schwergewichtige Mann atmete tief durch. Sofort gerieten seine Berater, die vorsichtig im Hintergrund warteten, in Unruhe. Sie blickten sich verstört untereinander an Wurzelboi natürlich ausgenommen, denn der hielt seine Augen stets geschlossen, wenn ihn Carrolus VII. nicht direkt ansprach. Der Abendwind trieb ein paar Laubblätter über die Veranda. Sofort tauchten aus verborgenen Nischen kleine Roboter auf und begannen beflissen, Jagd auf die raschelnden Störenfriede zu machen. Einer der Berater flüsterte hastig ein paar Worte in sein Armbandmikrofon. Sekunden später wölbte sich ein unsichtbarer Energieschirm über die Veranda und die Zinnen, so daß keine weiteren Blätter den nachdenklichen Regenten stören konnten. Die Robotmaschinen verschwanden geräuschlos zwischen den mit Ornamenten verzierten Steinblöcken, als sie ihre Aufgabe erledigt hatten. Die Minuten verrannen in eisigem Schweigen. Die Berater starrten auf den breiten Rücken ihres Herrn, versuchten aus dem Faltenwurf des goldenen Pelzumhangs etwas zu schließen, um so frühzeitig zu erkennen, welche neuen Wünsche CarrolusVII. hatte. Die Sonne berührte am Horizont die schneebedeckten Gipfel der Plantosaurierberge. Tiefe Schatten malten sich in die Abhänge und erzeugten krasse Muster aus Weiß und Schwarz. Ein dunkler Schatten huschte durch die Landschaft. Carrolus Zwappmanns Augen folgten dem Transportschiff, das gegen Süden flog, bis der Punkt so klein geworden war, daß selbst die -195-
scharfen Augen des Fürsten ihn nicht mehr erspähen konnten. Langsam drehte sich die mächtige Gestalt um. Ein Ruck ging durch die Reihen der Berater. Sie richteten sich auf und lechzten den Worten ihres Herrn entgegen. Nur der verkrüppelte Wurzelroi rührte sich nicht. »Verschwindet!« bellte Carrolus VII. »Ich will allein sein.« Die Berater stoben auseinander. Einige waren dabei so hastig, daß sie übereinander zu Boden stolperten. Als das Gewühl sich aufgelöst hatte, stand der Regent allein vor Wurzelboi, der dem Befehl nicht gefolgt war. Carrolus VII. reckte eine Hand in die Höhe und deutete mit ausgestrecktem Finger auf den Krüppel. Nun erst schlug Wurzelroi seine Augen auf. Langsam kam Bewegung in seinen Körper, der eigentlich nur aus einem ovalen Kopf und sechs Beinen Bestand. Ein buntes Band, an dem allerlei Geräte hingen, verdeckten den Bereich, wo die Extremitäten aus dem Schädelkörper wuchsen. Die beiden kurzen Arme lagen unterhalb der Augenpaare an dem Kopf, so daß das Sprechorgan vollkommen verdeckt war. Die dunkelblauen Hände verschmolzen förmlich mit der gleichfarbigen Gesichtshaut. Wurzelboi richtete sich auf, aber selbst jetzt erreichte er nicht einmal eine Höhe von einem Meter. »Warum bist du noch hier?« fragte der Fürst freundlich. »Ich weiß, daß du mich brauchst.« Der Verkrüppelte nahm die Hände vom Gesicht und unterstrich seine Worte mit unverständlichen Gesten. »Dich beschäftigt ein Problem, und mein Lebensinhalt ist die Lösung deiner Probleme. So ist es doch?« Carrolus VII. neigte seinen Oberkörper leicht nach vorn, was so viel wie Zustimmung bedeutete. Dann warf er seine schulterlangen Haare nach hinten und setzte sich auf eine Marmorbank. »Du bist mein Genie«, erklärte er wohlwollend. »Du hast bis jetzt jede Aufgabe gelöst, die ich dir gestellt habe. Ohne dich, -196-
Wurzelboi, wäre mein Reich nie zu dieser Blüte gewachsen. Nicht nur ich muß dir dankbar sein. Die Klypmaner schulden dir kaum weniger als mir. Daher will ich dir sagen, daß ich nicht erwarte, daß du mein Problem lösen kannst. Du wirst nicht in Ungnade verfallen, wenn du versagst. Und nach deinem Tod werde ich dir ein Denkmal setzen lassen.« »Ein wunderbarer Trost«, antwortete Wurzelboi holprig, »ich werde dennoch alles tun, um deinen Wunsch zu realisieren.« »Ich weiß, daß technische Probleme für dich leicht anzupakken sind. Diesmal handelt es sich jedoch um etwas ganz anderes. Sie muß schön sein und stark, sie muß mir gleichen und mir gehorchen. Und was das Wichtigste ist, sie muß mir gefallen.« »Ich verstehe dich nicht, Erhabener.« Wurzelboi schwankte unsicher mit seinem übergroßen Schädelleib. »Ich möchte«, sagte der Fürst, »daß du mir eine Lebensgefährtin besorgst, die meinen Ansprüchen genügt. Es ist Zeit, daß ich mir eine Frau nehme.« »Oh!« krächzte der Verkrüppelte. Wurzelboi hatte in jedem Jahr seit der Herrschaft CarrolusVII. Zwappmann eine große Tat vollbracht. Er hatte die Maschine erfunden, mit der sich die Schwerkraft überwinden ließ. Er hatte das Geheimnis der unbegrenzten Energiegewinnung aus den Kernbausteinen der Materie enträtselt. Er hatte die Wachstumsraten der wichtigsten Nahrungsmittel auf zehnfache Werte beschleunigt. Er hatte das Wetter so reguliert, daß kein Klypmaner mehr den natürlichen Gefahren ausgesetzt war. Er hatte den prunkvollen Regierungspalast entworfen und bauen lassen. Er hatte, er hatte; die Liste ließ sich endlos fortsetzen, denn Wurzelboi war mehr als ein naturbegabtes Genie, mehr als ein Allround-Wissenschaftler, mehr als ein Wunder. Er wußte nicht, welchen Umständen er seine Talente zu verdanken hatte, aber er wertete sie als einen natürlichen Ausgleich für seinen häßlichen und unförmigen Körper, dem der eigentli-197-
che Rumpf fast vollständig fehlte. Wurzelboi hockte in seiner selbstgebastelten Liegeschale im Untergeschoß des Fürstenpalasts und kaute an einem frischen Stengel des neugezüchteten Magnograses. Er grübelte und grübelte, aber er kam zu keinem Ergebnis. Die Aufgabe, die ihm der Regent gestellt hatte, schien unlösbar. Normalerweise fielen ihm die notwendigen Erkenntnisse mit spielerischer Leichtigkeit zu. In diesem Fall versagte sein sechster Sinn, denn das Problem war gänzlich unwissenschaftlicher Natur. Auf Klyptoman gab es mit Sicherheit kein einziges weibliches Wesen, das den Wünschen Zwappmanns auch nur annähernd entsprach. Das wußte das Allround-Genie, denn es kannte den Planeten in- und auswendig. Auch sein Übersinn bestätigte das. Es bot sich also nur noch eine Lösung. Er mußte an einem anderen Ort der Galaxis nach einem passenden Wesen suchen. Damit begann das Problem aber erst, denn Carrolus VII. hatte strikt untersagt, daß Jemand Klyptoman verließ oder daß gar Kontakte mit anderen intelligenten Völkern aufgenommen wurden. Wurzelboi hatte ihm den Beweis geliefert, daß es an vielen Orten im All intelligentes Leben gab. Aber davon hatte der Regent nichts wissen wollen. Er hatte dem Genie unter Androhung des Todes verboten, je noch einmal ein Wort davon zu erwähnen. Und Wurzelboi wußte, daß ein Zwappmann sein Wort nie brach. Diese verzwickte Situation zwang den Wissenschaftler dazu, heimlich zu handeln. Er mußte den Auftrag erfüllen, auch wenn er gleichzeitig gegen ein Gebot seines Herrn verstieß. Das Genie faßte einen Entschluß und setzte ihn in die Tat um. Schon am folgenden Tag begann eine der Robotfabriken mit dem Bau von kleinen Raumschiffen, die, mit Robotern besetzt, große Entfernungen überwinden konnten. Die Programmierung der Maschinen nahm Wurzelboi selbst vor, denn er wollte ganz sicher sein, daß die heimlichen Suchschiffe auch die richtige Person für den Fürsten fanden. Wenige Tage später startete die kleine Flotte in alle Rich-198-
tungen. Sie führte Bilder und Filme des Mannes mit, der sich nicht nur für den wichtigsten Herrscher aller Zeiten hielt, sondern es nach der Meinung des Genies auch war. Wurzelboi wartete 21 Tage, in denen er Carrolus VII., der immer nervöser und gereizter wurde, mehrmals vertrösten mußte. Schließlich verstieg sich der Verkrüppelte in seiner Not sogar in die Behauptung, der Erfolg sei garantiert, aber eine Frage der Zeit. Damit hatte er sich ein kleines Hintertürchen offen gelassen, wenn sein Plan doch noch scheitern würde. Der Fürst sah sich etwas besänftigt, aber dafür wurde Wurzelboi mit jedem Tag unsicherer. Er mied die Nähe Zwappmanns, wann immer es ging. Keines seiner Suchschiffe hatte sich bislang gemeldet. Nur die Fernüberwachung, die er in seiner Unterkunft installiert hatte, verriet ihm daß die kleinen Roboteinheiten weiter von Sonnensystem zu Sonnensystem sprangen und nach einer Braut für CarrolusVlI. suchten. Am 22. Tag - das Genie kam gerade von einer unangenehm verlaufenen Rücksprache mit dem Regenten zurück - brannte das blaue Kontrollsignal des 17. Suchschiffs. Das war die ersehnte Erfolgsmeldung! Wurzelboi schaltete die Überraumverbindung ein und ließ die Bilder zu sich übertragen. Er zuckte förmlich zusammen, als er ein wahres Prachtstück von Frau erblickte. Sie hieß Turuntalding, ließ ihn das Suchschiff wissen. Und sie war vom Anblick Carrolus VII. so begeistert gewesen, daß sie spontan den Entschluß gefaßt hatte, sich ihm als Braut anzubieten. Turuntalding war eine Handbreit kleiner als ihr zukünftiger Gemahl. Aber sie besaß den gleichen wundervollen Körperbau, die tiefblaue Hautfarbe und die unergründlichen Augen. Das klapprige und fahlhäutige Wesen, das Turuntalding als Zofe begleitete, wirkte dagegen wie lächerlicher Abschaum. -199-
Zufrieden mit sich und der Welt schaltete Wurzelboi die Verbindung ab. Das Suchschiff befand sich bereits mit Höchstgeschwindigkeit auf Kurs Klyptoman. Das Genie war sich seiner Sache so sicher, daß es den anderen Schiffen befahl, sofort die Suche abzubrechen. Dann meldete er sich erneut bei dem Fürsten an, um ihm die frohe Botschaft anzukündigen. Sorgfältig verstaute Wurzelboi die Kassette mit den Bildaufzeichnungen Turuntaldings in seinem Gürtelband. Als die Stunde gekommen war und Turuntalding dem Regenten erstmals vorgeführt werden sollte, erfüllte Stolz und Zufriedenheit den verkrüppelten Wissenschaftler. Er selbst konnte sich trotz seines verwachsenen und uralten Körpers nicht von der Wirkung freimachen, die die Frau auf ihn machte. Freilich gab es noch ein kleines Problem, denn Turuntalding benutzte eine gänzlich unbekannte und fremdartige Sprache. Wurzelboi hatte ihr in aller Eile die wichtigsten Begriffe beigebracht, aber trotz der Gelehrigkeit blieb ein Rest Unsicherheit vorhanden. Die Zeit war zu kurz, und CarrolusVII. drängte darauf, die Auserwählte zu sehen. Der Empfangssaal war prächtig geschmückt. Der Fürst legte Wert darauf, daß Turuntalding bei der ersten Begegnung einen positiven Eindruck bekam. Wurzelboi war schon anwesend, während die Braut noch in einem Nebengemach wartete, wo ihre Zofe, die auf den unmöglichen Namen Mary Smith hörte, die Herrin ausstattete. Der Wissenschaftler war zufrieden, denn er sah darin einen Beweis, daß die andere Seite ebenso stark am Zustandekommen der Verbindung interessiert war wie CarrolusVII. oder er selbst. Die anderen Berater tuschelten beflissen, aber sie übersahen nicht, daß der Fürst übernervös, ja geradezu aufgeregt war. Beruhigen konnten sie ihren Herrn nicht. Dann ertönte der Gong, und vielstimmig brach sich das Echo in dem kunstvollen Gemäuer des Palasts. Stille kehrte ein. Alle -200-
Augen richteten sich auf das purpurne Portal, dessen Flügel geräuschlos zur Seite glitten. Turuntalding kam mit würdevollen Schritten näher. Sie blickte nicht einmal zur Seite und ging gerade auf CarrolusVII. Zwappmann zu. Wenige Schritte vor seinem Thron blieb sie stehen. Ihre Zofe kniete hinter ihr auf dem Boden. Der Regent erhob sich und blickte erst unsicher und dann befreit auf das weibliche Wesen und danach auf seinen Hofstaat. »Turuntalding«, dröhnte sein Baß. »Auserwählte! Das Glück strömt in meine Adern bei deinem Anblick. Du sollst an meiner Seite die Geschicke von Klypmanion lenken. Natürlich ist dein Entschluß freiwillig. Damit er dir etwas leichter fällt, ersuche ich dich, eine beliebige Bitte zu äußern. Ich werde deinen Wunsch erfüllen, wie immer er lautet. Und wenn er erfüllt ist, wirst du meine Frau.« Wurzelboi konnte nur hoffen, daß die Auserwählte den Herrn richtig verstanden hatte. Er wurde rasch jeder Sorge enthoben denn die Schönheit hob ihren Lockenkopf und sagte fast akzentfrei: »Ich habe nur eine Bitte.« »Sprich, Geliebte! Dein Wunsch ist mir Befehl.« »Schenk mir einen Mond.« Wurzelboi konnte ein heftiges Schlucken nicht unterdrücken, als Turuntalding den Saal wieder verlassen hatte. Der Regent hatte alle anderen Berater hinausgejagt. Nun war er mit seinem Allround-Genie allein. Nachdenklich hockte er in seinem Thronsessel und stützte sein Haupt in die rechte Pranke. »Was bei allen Geistern von Klypmanion«, stöhnte er, »ist ein Mond?« »Die Frage kann ich dir leicht beantworten«, entgegnete Wurzelboi. »Dann sage es mir.« -201-
»Ich weiß nicht.« Der Wissenschaftler schaukelte mit seinem riesigen Schädelkörper. »Es könnte sein, daß du mich dann enthaupten läßt.« »Das wäre nicht weiter schlimm, denn du bestehst ja fast nur aus deinem Kopf.« Carrolus VII. lachte, als ob er einen guten Scherz gemacht hätte. Zögernd stimmte Wurzelboi in das Gelächter ein, in dem er nur einen Ausdruck der Verzweiflung sah. Der Fürst würde seine Auserwählte nicht eher anrühren, bis er ihren Wunsch erfüllt hatte. Das stand fest, und damit kamen neue Probleme auf das Genie zu. »Es handelt sich dabei um etwas«, versuchte Wurzelboi zu erklären, »was außerhalb von Klyptoman ist. Deshalb kann ich nicht darüber sprechen.« »Ich befreie dich von dem Verbot«, meinte der Herrscher. »Ich habe dich ja auch nicht gefragt, wo du die wunderbare Turuntalding gefunden hast. Also, was ist ein Mond?« »Du kennst unser Sonnensystem, Herr. Im Mittelpunkt steht das Wandernde Licht, das seine wärmespendenden Strahlen zu uns schickt. Drei Planeten umkreisen das Wandernde Licht, Klyptoman, Blupperflieg und Polterfang. Das ist das ganze System. Bei den fernen Sternen, die du des Nachts am Firmament siehst, ist das im Prinzip auch so. Nur die Anzahl der Planeten variiert. Und dann gibt es eine Besonderheit, die eigentlich keine ist. Viele der fernen Planeten besitzen wiederum eigene Begleiter, die nur sie umkreisen. Man nennt einen solchen Begleiter Satellit oder Mond.« »Ich glaube, du lügst.« Carrolus VII. kniff die buschigen Augen zusammen und zwirbelte an seinen Barthaaren. »Der Mittelpunkt der Welt ist nämlich Klyptoman, und der Mittelpunkt von Klyptoman bin ich. Was bezweckst du mit dieser Unwahrheit?« »Du kannst mich köpfen, wenn es anders ist, Herr. Aber ich habe die Wahrheit gesagt.« -202-
»Hm.« Der Fürst sprang mit einem Satz auf und funkelte das Genie an. »Ich will dir ausnahmsweise einmal glauben. Aber kein Klypmaner darf von dieser Irrlehre ein Wort erfahren, auch wenn sie der Wahrheit entspricht. Ist das klar?« »Es ist klar.« »Dann sage mir, wie viele Monde es gibt?« Wurzelboi zögerte einen Moment, denn so einfach ließ sich keine Antwort finden. Er wählte einen Kompromiß. »Im erreichbaren Umkreis um Klyptoman mögen es einige hundert sein.« »Gut.« Der Regent faltete seine Hände auf dem Rücken zusammen und eilte wild in dem Thronsaal auf und ab. Schließlich blieb er vor Wurzelboi stehen und legte einen Arm auf seinen Kopf. »Ich möchte, daß du alle erreichbaren Monde besorgst und in Umlaufbahnen um Klyptoman bringst!« »Ich fürchte«, begann Wurzelboi, aber sofort verstärkte sich der Druck auf seinem Kopf. »Es gibt keinen Widerspruch«, donnerte Carrolus VII. »Schließlich geht es um Turuntalding. Hast du das vielleicht übersehen? Wozu halte ich dich an meinem Hof, du Wicht?« »Ich fürchte«, quetschte Wurzelboi unter Schmerzen hervor, »daß hundert Monde nicht im Sinn Turuntaldings sind. Schließlich sagte sie: Schenk mir einen Mond.« Der Fürst richtete sich auf und ließ von dem Krüppel ab. »Du hast recht«, gab er zu dessen Überraschung zu. »Wie konnte ich das übersehen? Dann besorge einen Mond. Aber es muß ein besonders schöner sein. Ich muß Turuntalding für mich gewinnen.« »Eine sehr heikle Sache.« Wurzelbois Hände glitten über die malträtierte Schädeldecke. »Es ist nicht einfach, einen Mond von einem Ort zum anderen zu befördern.« »Es wird dir gelingen, weil ich es will. Andernfalls. . . « -203-
Carrolus VII. Zwappmann machte eine eindeutige Bewegung mit seinen dicken Händen, die alles besagte. Wortlos verließ Wurzelboi den Thronsaal.
2. »Der Andruckneutralisator arbeitet unregelmäßig«, sagte Reginald Bull. »Das Reservesystem ist bei deinem letzten Wahnsinnsmanöver schon ausgefallen. Du riskierst reichlich viel, um den Strauchler nicht zu verlieren.« Perry Rhodan blickte nur kurz zur Seite. Um seine Lippen lag ein harter Zug. »Es geht ja auch um etwas«, antwortete er dann und las die Ortungswerte ab. Das Signal des Verfolgten war kaum noch im Rauschen zu erkennen. »Wir müssen näher ’ran, sonst entwischt er uns.« »Ich verstehe nicht, daß du dich über einen Unruhestifter so furchtbar aufregst«, klagte Bully. »Wenn ich mir vorstelle, ich könnte jetzt am Goshun-See liegen und Guckys Scherzen folgen, dann wäre mir wohler.« »Auch dann, wenn jeden Augenblick eine Bombe unter deinem Liegestuhl hochgehen könnte? Du darfst Briest Trallerhaan nicht unterschätzen. Er hat die Gunst der Stunde genutzt und eine ganze Reihe Terraner auf seine Seite gebracht. Der letztlich doch irgendwie gescheiterte Versuch, die Erde vor den Konzilsmächten in Sicherheit zu bringen, ist den Menschen noch zu gut in Erinnerung. Trallerhaan hat das ausgenutzt, um seine Anhänger um sich zu scharen. Ich bin sicher, daß es ihm dabei gar nicht um die Erde oder ihre Bewohner geht. Er will nur an die Macht.« -204-
»Und deswegen hat er dich zum Alleinschuldigen erklärt. Perry Rhodan, der Buhmann der Nation. Wenn die Attentate nicht wirklich geschehen wären, könnte ich darüber lachen.« »Programmiere die nächste Linearetappe, Bully.« Rhodan kehrte schnell wieder zu den eigentlichen Problemen zurück. »Die Zielkoordinaten der Ortung sind zwar fehlerbehaftet, aber wir haben nichts Besseres zur Verfügung.« Während Bulls Hände über das Sensortastenfeld der Bordpositronik huschten, maulte er: »Ich sehe gar nicht ein, daß du und ich uns persönlich um diesen Verrückten kümmern müssen. Wozu haben wir ausgebildete Spezialisten und die Mutanten?« »Du vergißt die psychologische Wirkung auf die Terraner. Ich muß ihnen ein Beispiel liefern.« »Briest Trallerhaan, den Strauchler, in Ketten?« »Unsinn, Bully. Meine Absicht ist nicht, dem Volk einen aufsässigen Gefangenen zu präsentieren. Die Unruhen werden sich nur legen, wenn der Strauchler auf meinen Kurs einschwenkt. Ich muß ihn überzeugen. Und dafür sind Mutanten ein denkbar ungeeignetes Mittel. Und nun löse die Flugetappe endlich aus.« Die Space-Jet verschwand aus dem Einsteinraum. Der Halbraumspürer zeigte kein Echo, ein sicheres Zeichen, daß der Vorsprung Trallerhaans weiter angewachsen war. »Du willst Briest mit eigenen Händen fangen und ihn belehren? Dann wird er als reumütiger Sünder zur Erde zurückkehren und allen verkünden, daß er sich geirrt hat.« »Dein Spott trifft mich wenig, denn deine Vorschläge sind noch unbrauchbarer als meine. Es steht jedenfalls fest, daß ich Trallerhaan erst einmal erwischen muß. Ich kenne ihn ja nicht. Einen Schwachpunkt muß auch er haben.« »Vielleicht Alkohol«, spottete Bully weiter. »Du könntest ihn betrunken machen und so den Leuten deine Beute auf dem Tablett reichen.« -205-
Die Linearetappe war beendet. Das Diskusschiff fiel in den Normalraum zurück. So ersparte sich Rhodan eine Antwort. Er konzentrierte sich ganz auf die Hyperortung. »Da ist er.« Er deutete auf ein deutliches Echo, das langsam über den Bildschirm wanderte. »Er hat seinen Kurs geändert. Schalte die Masseortung zu.« Schweigend führte der Freund die Anweisung aus. Auf einem zweiten Bildschirm wurden die Reflexe der umgebenden Sterne sichtbar. In diesem Teil des Mahlstroms der Sterne standen die Sonnen sehr dicht. Rhodan erkannte die Gefahr, daß ihnen der Strauchler doch noch in diesem Gewirr entkommen könnte. »Volle Beschleunigung mit Unterlicht, Bully. Ich muß die Ortung festhalten.« »Verstehe. Drei Sterne befinden sich in weniger als einem Lichtjahr Entfernung. Sie haben alle mehrere Planeten. Da kann er schnell untertauchen.« Beim Beschleunigen der Space-Jet zeigte sich wieder, daß der Andruckneutralisator nicht fehlerfrei arbeitete. Leichte Stöße drangen bis zu ihnen durch. Auch die Kampfroboter wackelten leicht. Perry Rhodan hatte drei davon auf diese Verfolgungsjagd mitgenommen. Da er wußte, daß Briest Trallerhaan mindest ebensoviele mitführte, sowie einen seiner engsten Verbündten an Bord hatte, empfand er das Kräfteverhältnis als fair. Bully war damit weniger einverstanden gewesen. Er wäre lieber mit einem Schweren Kreuzer und dem verfügbaren Mutantenkorps in dieses Abenteuer gestiegen. »Ich glaube, er leitet ein Täuschungsmanöver ein«, meldete sich Rhodans rothaariger Freund. »Sieh dir das an. Er will uns weismachen, er würde den Roten Riesen in Sektor VK-32 anfliegen. Bei der augenblicklichen Beschleunigung kann er aber vor Eintritt in den Linearraum auch einen kurzen Dreh durchführen, der uns wahrscheinlich unbemerkt bliebe.« -206-
»Gut beobachtet.« Perry Rhodan beugte sich nach vorn, um die Ortungsanzeigen noch genauer zu sehen. »Diese G-Sonne würde er nicht erreichen, aber der Rote Zwerg da hinten käme in Betracht.« Bully nickte. »Es wäre eine Chance, ihm den Weg abzuschneiden. Natürlich gehen wir ein Risiko ein, denn wenn er nicht die Zwergsonne ansteuert, finden wir ihn nicht wieder.« Rhodan zögerte nicht lange. Er programmierte einen Kurs zu dem Roten Zwerg. Die Entfernung betrug nur 1,4 Lichtjahre, aber sie war damit bereits so groß, daß man Trallerhaans Schiff nicht mehr orten konnte, wenn es in der Nähe eines Planeten aus dem Linearraum auftauchen würde und dieser Planet nicht zu der roten Sonne gehörte. Quälende Sekunden des Wartens vergingen. Dann verschwand das Ortungsecho von den Anzeigen. »Gib Gas, Bully. Im Halbraum sind wir schneller als Trallerhaans alte Kiste.« Nach der Linearetappe stand der rote Zwergstern dicht vor ihnen. Rhodan vermaß mit Hilfe der Bordpositronik das System, während Bull den nächsten Planeten ansteuerte. Dadurch wollte man den Vorteil gewinnen, nach dem offensichtlich der Strauchler trachtete, nämlich einer Ortung entgehen. »Zwölf Planeten«, teilte ihm Rhodan mit. »Ungewöhnlich viel für einen so kleinen Stern. Fast scheint es mir jetzt, daß Trallerhaan dieses System kennt, denn es bietet vorzügliche Möglichkeiten, sich zu verstecken. Es gibt drei dichte Asteroidenringe und mindestens drei Dutzend Monde, dazu einige Hundert vagabundierende Brocken von mehr als hundert Kilometern Durchmesser Auf jeden Fall wird es heikel. Wieviel Zeit haben wir noch?« Reginald Bull drückte den Diskus näher an die atmosphärelose Planetenoberfläche. Nur noch wenige hundert Kilometer trennten die Space-Jet vom Boden. -207-
»Wenn er Maximalgeschwindigkeit flog, muß er in etwa fünfzehn Sekunden hier auftauchen. Orten kann er uns nicht mehr. Wir legen uns auf die Lauer.« Er übergab die Steuerung des Schiffes der Bordpositronik, die dieses ohne Antrieb in einem sehr nahen, aber sicheren Orbit hielt. Dann unterstützte er Rhodan bei der Beobachtung der Ortungsgeräte. Die beiden Terraner brauchten nicht lange zu warten. In der Nähe des siebten Planeten, 613 Millionen Kilometer vom eigenen Standort entfernt, tauchte ein Ortungsecho auf. Rhodan vergrößerte die Anzeige, während Bull die Energieanalyse durchführte. Noch bevor Trallerhaan einen neuen Kurs einschlagen konnte, war er identifiziert. »Da haben wir ja die richtige Nase gehabt, Herr Großadministrator«, strahlte Bull. »Wollen wir warten, was er weiter tut?« »Natürlich, Herr Staatsmarschall. Ich habe bis jetzt sieben Monde um Ultimo festgestellt. Es können aber ein paar mehr sein.« »Ultimo? Der Name gefällt mir nicht. Ich schätze, daß der Strauchler diesen Ort kennt. Er wird ihn sicher anders genannt haben. Was willst du tun, wenn wir ihn gestellt haben?« »Es gibt nur zwei Möglichkeiten für mich.« Rhodan zeichnete den Kurs von Trallerhaans Schiff auf, um eine Zielprognose stellen zu können. »Die eine heißt Kampf.« »Das ist mir klar, aber da du mich dabei hast, kann dir ja nichts passieren. Und welches ist die zweite Möglichkeit?« »Du hast vollkommen recht, Bully. Wenn du bei mir bist, kann mir nichts passieren.« Perry Rhodan lachte verhalten, und da Bully dieses Lachen kannte, stutzte er sichtlich. »Die zweite Möglichkeit ist, Briest Trallerhaan die Wahrheit zu sagen.« »Die Wahrheit?« Bully zog die Stirn kraus. »Ja. Ich werde ihm sagen, daß du es gewesen bist, der die Erde in den Transmitter aus SOL und KOBOLD gestartet hat. Dann -208-
wendet sich sein Zorn dir zu, und ich habe meine Ruhe.« Der Staatsmarschall merkte nun erst, daß sein Freund sich über ihn lustig machte. Er konnte aber keine Antwort mehr geben, denn nun beschleunigte Trallerhaan. Das erforderte die ganze Aufmerksamkeit der beiden Männer. »Der Planet ist es nicht«, stellte Rhodan sehr bald fest. »Also versucht er, einen der Monde zu erreichen.« Er desaktivierte die automatische Steuerung und zog die Space-Jet steil in die Höhe. So ergaben sich genauere Ortungen. »Ich habe die Zielkoordinaten, Perry«, jubelte Bull Sekunden später. »Er fliegt einen kleinen Mond an. Der Trabant ist etwa halb so groß wie Luna. Ich habe ihn Rosinante getauft.« »Wenn er landet, gehen wir auf Kurs. Auf der Mondoberfläche kann er uns nicht mehr entkommen. Lege die Raumanzüge und die Kampfausrüstung bereit. Und aktiviere die TARAS. Wir werden unsere Robots bestimmt brauchen.« »Das wird ja wie in alten Zeiten«, entgegnete Bull, und Rhodan nickte. Die beiden Terraner konnten nicht ahnen, daß alles ganz anders kommen würde. Die Schutzschirme der Space-Jet waren mit halber Leistung hochgefahren, als sie den kleinen Mond umrundeten. Die beiden Terraner mußten damit rechnen, daß Trallerhaan sie nicht nur mit seinem Raumschiff angreifen würde. Da der Führer der Widerstandsbewegung gegen Perry Rhodan diesen Ort ganz offensichtlich kannte, war es nicht auszuschließen, daß er auch noch über bodengebundene Waffensysteme verfügte. Während Rhodan das Diskusschiff steuerte und die optischen Bildaufzeichnungen verfolgte, bediente Bull die Ortungsanlagen. Er konzentrierte sich hierbei auf die Energieortung, denn er war sich sicher, daß Trallerhaans Schiff so am leichtesten gefunden werden konnte. Für dessen Ortung bot die Space-Jet allerdings ein noch besser erfaßbares Ziel. -209-
Der Staatsmarschall stieß einen Fluch aus. »Nur Geduld«, mahnte sein Freund. »Wir finden ihn schon.« »Das ist nicht der Grund meines Schimpfens, Perry. Sieh dir das an.« Bully legte das Ortungsbild auf den Schirm des Piloten. Nun sah auch Rhodan, wie mehrfach hintereinander ein hellgrüner Schatten über die ganze Anzeige huschte und auch die stärksten Signale verwischte. »Das Gerät ist defekt«, vermutete der Großadministrator. »Die Testeinheit sagt nein«, widersprach sein Freund. »Der energetische Schatten ist ein wirkliches Signal. Ich habe Hyperstrahlungen angemessen.« »Zu solchen Leistungen ist der Strauchler niemals in der Lage. Und einen natürlichen Ursprung können diese Energien nicht haben. Ein winziger Mond ist kein Hyperstrahler.« »Ich sage ja auch nicht, daß die Energie von Rosinante kommt. Sie ist einfach da. Und sie rast um den Mond herum. Wir sollten vorsichtig sein und abdrehen.« »Jetzt, so kurz vor dem Ziel?« Perry Rhodan schüttelte den Kopf. Ein Ruck ging durch die Space-Jet. Einer der aktivierten TARA-III-Uh-Roboter geriet ins Schwanken und suchte Halt an einem Schottgriff. »Was zum Teufel. . . « Ein neuer Stoß rüttelte die beiden Freunde durcheinander. Mit einem Knopfdruck schaltete Rhodan die Schutzschirme auf hundert Prozent. Dadurch änderte sich jedoch nichts. Er nahm die Beschleunigung weg und schaltete die Andruckneutralisatoren, bei denen er einen Fehler vermutete, weg. Noch immer hielt das unregelmäßige Schütteln an. »Ich nehme die künstliche Gravitation weg, Bully«, rief Rhodan. »Halt dich fest. Irgendein System arbeitet falsch, obwohl keine Fehlfunktion angezeigt wird.« Doch auch diese Maßnahme änderte nichts an dem unregel-210-
mäßigen Verhalten des Diskusschiffs. Rhodan stellte den alten Zustand wieder her. »Wir drehen erst einmal ab, Bully. Wenn Trallerhaan uns jetzt greift, ist er uns überlegen.« Er wollte die Space-Jet in die Höhe ziehen, aber das Schiff horchte seinen Kommandos nicht mehr. Die Ortungsanzeiger nur noch ein gleichmäßig hellgrüner Schirm. Das Rütteln wurde stärker. Dazu erklangen Alarmsignale, die die Bordpositronik ausgelöst hatte. »Gravitationswellen von Wahnsinnsstärke«, schrie Reginald Bull aufgeregt. »Dagegen kommen wir nicht an. Wir haben Trallerhaan gewaltig unterschätzt.« In rasender Fahrt schoß die Space-Jet in die Tiefe, obwohl die Triebwerke in der entgegengesetzten Richtung mit den letzten Reserven arbeiteten. Perry Rhodans Hand donnerte auf ein Sensorfeld, so daß die sich übertönenden Alarmsignale endlich verstummten. Die Oberfläche des Mondes Rosinante kam immer näher. Nur die optischen Systeme lieferten noch ein fehlerfreies Bild. Alle anderen Ortungssignale gaben nur noch völlig verrückte Werte wieder. Perry Rhodan versuchte dem drohenden Untergang zu entkommen, indem er in den Linearraum überwechseln wollte. »System unbrauchbar«, erklärte die Bordpositronik. »Oh, Briest Trallerhaan«, schrie Reginald Bull. »Fahr zur Hölle!« In diesem Moment sprachen die Funkempfänger an. Eine von Panik erfüllte Stimme meldete sich überschlagend. »Perry Rhodan! Ich rufe Perry Rhodan! Hier ist Trallerhaan. Ich weiß, daß du irgendwo da oben mit deiner Jet kreuzt. Hol mich hier heraus, denn das ist die Hölle. Hol mich heraus, und ich werde nie wieder etwas. . . « Mit einem Schrei wurde die kurze Sendung beendet. »Es ist nicht Trallerhaan«, erklärte der Großadministrator plötzlich wieder ruhig. »Es ist etwas anderes, das diesen Ener-211-
giesturm entfacht hat. Los, Bully! Zieh deinen Raumanzug an. In einer halben Minute zerschellen wir auf deiner Rosinante. Wir steige aus, die TARAS auch.« Die Space-Jet kreischte bis in die letzten Winkel. Die Schutzschirmaggregate waren ausgefallen, als die beiden Freunde an der Notschleuse standen. Das Schott ließ sich nur noch mechanisch öffnen, aber die Roboter benötigten dafür nur Sekunden. Bully sprang zuerst, dann folgte Rhodan. Den Schluß bildeten die drei kegelförmigen Kampfmaschinen. »Wir haben Glück, alter Haudegen«, hörte Rhodan Bullys Stimme in dem Helmempfänger. »Auf uns kleine Körper wirkt der Energiesturm viel weniger als auf die Jet.« »Du hast recht, aber ich frage mich, wie er dann erst auf die vergleichsweise riesige Masse von Rosinante wirkt.« »Frage dich lieber, wie wir wieder von hier wegkommen.« Unter ihnen prallte das Diskusschiff auf den Mond und löste eine gewaltige Explosion aus. Die merkwürdigen Gravitationsverhältnisse wurden Perry Rhodan so richtig bewußt, als er sah, daß die drei TARAS viel schneller in die Tiefe sanken als Bully und er. Von einer normalen Beschleunigung, die den bekannten physikalischen Gesetzen entsprach, konnte hier keine Rede mehr sein, denn dann wären alle Körper, die Space-Jet, die Roboter und die Menschen bei der vorhandenen Atmosphärelosigkeit mit gleicher Geschwindigkeit auf Rosinante zugetrieben worden. Er verständigte sich mit seinem Freund und teilte ihm die Beobachtungen mit. »Ist mir auch schon aufgefallen, Perry«, entgegnete der Staatsmarschall. »Ich bin aber nicht traurig, daß die Naturgesetze auf den Kopf gestellt werden, denn dann wären wir auch schon auf Rosinante zerschellt.« »Irrtum, Alter.« Rhodan steuerte sich an die Seite Bulls. -212-
»Rosinante besitzt eine Eigengravitation von höchstens 0,05 Gravos. Wir müßten noch sanfter nach unten sinken, als es geschieht. Und der Space-Jet müßte es genauso ergangen sein.« »Du hast recht. Ich erkenne jetzt auch, was das bedeutet. Es sind Gravitationswellen, die uns befördern. Es ist eine Hyperergie, die in anderer Form auf Materie wirkt. Dabei ist der Sog so größer, je größer die Masse ist. Die Jet war am schwersten, die Robots bringen auch ein paar Tonnen auf die Waage. Wir dagegen sind Fliegengewichte.« »Immerhin werden wir noch stark beschleunigt. Ich hoffe, daß unsere Systeme dem Druck widerstehen können.« Ein Knacken wurde in den Helmfunkgeräten hörbar. »Rhodan! Hörst du mich?« röchelte eine Stimme. »Es ist Trallerhaan«, meinte Bully. »Dort unten scheint es auch nicht gut auszusehen.« Danach schwiegen die beiden Männer, denn sie mußten sich auf eine bevorstehende Landung konzentrieren. Die Kampfroboter hatten den Boden bereits erreicht. Perry vermochte nicht zu erkennen, ob sie diese schadlos überstanden hatten. Kurz vor Erreichen der Mondoberfläche beschleunigten sie mit voller Kraft in die Höhe. Für Sekunden ergab sich ein Stillstand, aber dann rissen die unbekannten Kräfte Rhodan und Bull in die Tiefe. Die aktivierten Schutzschirme verhinderten das schlimmste. Der Großadministrator war zuerst wieder auf den Beinen. Er blickte sich um. Die Landschaft von Rosinante unterschied sich kaum von der des Mondes vor der Besiedlung durch die Menschen. Der Boden war teilweise mit feinem Staub bedeckt. An anderen teilen ragte blanker Fels in die Höhe. Überall waren zahllose kleine und große Krater zu sehen. »Alles klar, Bully?« fragte der Terraner. »So einigermaßen. Ich frage mich, wie wir diesen ungastlichen Ort wieder verlassen könnten.« -213-
»Trallerhaans Raumschiff«, kam die knappe Antwort. »Ich sehe mich einmal um. Kümmere du dich um unsere Roboter. Mit ihren Hyperfunkanlagen können wir vielleicht die Erde erreichen.« »Und was machen wir mit dem Strauchler?« »Vorerst nichts.« Perry Rhodan erklomm eine Anhöhe. Noch immer entsprach die Gravitation nicht den erwarteten Werten. Die Anzeige an seinem Kampfanzug verkündete zwar nur 0,49 Gravos, aber nach seinem Gefühl waren es eher 1,5. Bull nahm über Normalfunk Kontakt mit den Kegelrobotern auf und beorderte sie her. Als der Großadministrator seinen Kopf über den Rand der Anhöhe reckte, flammte irgendwo vor ihm eine Glutbahn auf und verfing sich in seinem Schutzschirm. Rhodan wurde von dem Aufprall hart getroffen und fiel hinterrücks zu Boden. Er überschlug sich mehrmals, bis er, auf dem Rücken liegend, zum Stillstand kam. Über ihm begann sich das pechschwarze Weltall zu verfärben. Der nahe rote Zwerg schimmerte plötzlich hellblau. Auch das Firmament war nicht mehr schwarz. Es glänzte in allen Farben des Regenbogens. Die Lichtpunkte der Sterne verwandelten sich in langgezogene, zackige Bahnen. Ein Prasseln lag im Äther, das nicht nur aus den Helmlautsprechern kam. Plötzlich setzte der fremde Andruck aus. Die Aggregate von Rhodans Raumanzug stabilisierten die Gravitation sofort auf verträgliche Werte. »Bully! Wo bist du?« Rhodan bekam keine Antwort. Plötzlich war alles um ihn herum in ein grelles Licht getaucht. Der Boden des Mondes erzittert. Spalten öffneten sich. Felsen donnerten in die Tiefe. Der gewohnte Anblick des Weltalls -214-
verschwand. Der Terraner spürte noch den Boden unter sich, aber er sah nichts mehr.
3. Der undefinierbare Zustand währte eine schier endlose Zeit. Da Rhodan kein optisches Wahrnehmungsvermögen mehr besaß, konnte er die verstrichene Zeit nur schätzen. Er tastete sich über den Boden, denn der Tastsinn war das einzige, das noch funktionierte. Zweifellos war das die Oberfläche Rosinantes. Er fühlte einzelne Steine und den feinen Sand in seinen Handschuhen. Ein beständiges Summen lag in der Luft. Es schien direkt in seinem Kopf zu entstehen. Endlich vernahm er ein Knacken in den Lautsprechern. »Perry, hörst du mich?« Das war Reginald Bull. Rhodan meldete sich. »Was ist geschehen?« wollte der Staatsmarschall wissen. »Ich habe den Eindruck, daß Rosinante auf eine Reise in den Hyperaum gegangen ist.« »Das glaube ich auch. Wo bist du?« »Wie soll ich dir das beschreiben? Ich sehe ja nichts. Die ATAS sind ausgefallen. Sie haben irgendeinen Einfluß der bekannten Energien nicht überstanden.« »Jemand hat auf mich geschossen, bevor das Spektakel anfing.« »Der Strauchler«, vermutete Bully. »Also sind wir in seiner Nähe gelandet. Ein dummer Zufall.« »Oder auch nicht. Vielleicht kann er uns helfen. Ohne die Robots bekommen wir keinen Kontakt mehr mit Terra.« Die beiden Männer schwiegen. Noch immer war nur ein diffuses nichts alles, was Rhodan wahrnehmen konnte. -215-
»Heh, ihr zwei«, meldete sich eine leise Stimme. »Ich habe euch gehört. Aber eins kann ich euch sagen, wenn ihr es wissen wollt.« »Briest Trallerhaan«, antwortete Perry Rhodan. »Was hat das alles zu bedeuten?« »Ich weiß es nicht, Rhodan. Ich war zwar vor ein paar Wochen schon einmal hier, aber da war alles ganz normal. Mein Raumschiff ist zerstört, die Roboter auch. Auch Slim hat den Tod gefunden. Ein Felsbrocken hat ihn zerquetscht. Nun sitzen wir alle in der Patsche. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir auch umkommen.« »Noch lebe ich, Trallerhaan.« »Das höre ich. Ich schlage vor, daß wir das Kriegsbeil erst einmal begraben.« »Einverstanden«, kam Rhodans Antwort sogleich. »Ich auch«, fügte Reginald Bull hinzu. Weitere Stunden vergingen. Die Männer sprachen nur gelegentlich ein Wort. Eine Erklärung für die Vorgänge konnten sie nicht finden. Trallerhaan gab zu, daß er seine Roboter auf Rhodan und seine Begleiter programmiert hatte, und daß einer davon vor seiner Zerstörung auf den Großadministrator geschossen habe. Perry zog daraus die Erkenntnis, daß Trallerhaan nur wenige hundert Meter von ihm entfernt sein mußte. Dann endlich trat eine Veränderung ein. Sie war wieder mit undefinierbaren Lichterscheinungen und heftigen Bodenerschütterungen verbunden. Die Schwerkraftverhältnisse blieben jedoch normal. Von einer Sekunde zur anderen erstrahlten die Sterne wieder. Es bedurfte keiner Kenntnisse des Mahlstroms, die ohnehin in dieser Exaktheit keiner der drei Männer gehabt hätte, um festzustellen, daß sich Rosinante nun an einem ganz anderen Ort befand. Der rote Zwergstern, die Sonne des Mondes, war verschwunden. An ihrer Stelle leuchtete ein gewaltiger Ball von -216-
hellblauer Farbe. Die Umgebung wurde wieder sichtbar. Rosinante war arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Überall hatten sich gewaltige Risse gebildet. Rhodan erkannte mit Schrecken, daß er in einen schier bodenlosen Spalt gefallen wäre, wenn er sich nur wenige Meter von der Stelle bewegt hätte. Er überprüfte erst seine Ausrüstung. Dann rief er nach Bully und Briest Trallerhaan. Wenig später trafen sie sich in ihren Raumanzügen auf einem kleinen Plateau, das unversehrt geblieben war. Perry Rhodan faßte seine Überlegungen zusammen, ohne dabei mit einem Wort auf den Konflikt mit dem Strauchler einzugehen. »Rosinante wurde wohl zufällig just zu dem Zeitpunkt aus seiner gestammten Position entfernt, als wir dort landen wollten. Briest war schon auf der Oberfläche, als die seltsamen energetischen Einwirkungen begannen. Das muß eine Art Anlaufphase wesen sein. Sie hat ihm und uns im Raum gleichermaßen zu schaffen gemacht. Dann begann die eigentliche Transition. Irgendjemand hat aus unerfindlichen Gründen Rosinante in eine neue Position gebracht. Ihr erkennt die andere Sonne und dort drüben den Planeten, um den der Mond hoffentlich stabil kreist. Dieser Planet ist jedoch nicht Ultimo. Das ist schon an den Wolkenbänken erkennbar. Ich vermute, daß diese Welt bewohnt ist und daß diese Bewohner Rosinante entführt haben.« »Warum?« fragte Trallerhaan. »Warum haben wir die Erde aus der Milchstraße entfernt?« entgegnete Reginald Bull grimmig. Trallerhaan winkte ab. »Damit«, fuhr Bully fort, »Verrückte kommen, wie du einer bist, die in einer Zeit voller Probleme und Schwierigkeiten nur noch neue Probleme erzeugen!« »Konzentriert euch auf wichtige Dinge«, unterbrach Rhodan die sich anbahnende Diskussion. »Schließlich sitzen wir hier -217-
fest. Unser Sauerstoff und die Nahrungsmittel reichen vielleicht noch drei oder vier Tage. Wenn wir bis dahin keine Hilfe bekommen, ist es aus.« Der Strauchler sagte nichts mehr. »Die Roboter sind hin«, wiederholte Bully noch einmal. »Es ist ausgeschlossen, einen der Hyperfunksender noch einmal in Betrieb zu nehmen.« »Also keine Lösung.« Trallerhaan starrte Perry Rhodan durch seinen Helm an. Der Großadministrator versuchte, etwas aus den Gesichtszügen seines Gegners zu entnehmen, aber er erblickte nur Resignation. »Wenn die Leutchen von diesem Planeten etwas mit Rosinante beabsichtigen«, vermutete Bully, »dann werden sie auch kommen, darin sehe ich unsere einzige Chance.« »Was sollten sie hier wollen?« Trallerhaan machte eine unbestimmte Geste. »Gut, vielleicht brauchen sie Rohstoffe. Dann kommen sie irgendwann. Vielleicht haben sie den Mond aber nur hierhergebracht, um die Umlaufbahn ihres eigenen Planeten zu stabilisieren. Dann kommen sie nie.« Sie suchten stundenlang die Umgebung nach den Trümmern ihrer Schiffe und Roboter ab, aber sie fanden keine brauchbaren Hilfsmittel. Dann brach die Dunkelheit und mit ihr die eisige Kälte herein. Die Raumanzüge schützte zwar die Männer, aber an ihrer hoffnungslosen Lage änderte sich nichts. Als die ersten Sonnenstrahlen sich anschickten, den nahen Horizont zu überwinden, waren sie wieder auf den Beinen. Perry Rhodan hatte nicht geschlafen, aber sein Zellaktivator kompensierte die Müdigkeit. »Ich habe lange nachgedacht«, erklärte er den beiden anderen. »Wir werden mit den Normalfunkgeräten unserer Raumanzüge einen Hilferuf abstrahlen. Das ist unsere einzige Chance. Wenn das nicht klappt, kann uns nur noch ein Zufall helfen.« Sie nahmen ein paar Konzentratwürfel und etwas Flüssigkeit -218-
aus den Vorräten zu sich und setzten danach Rhodans Entschluß in die Tat um. Wenn es auf dem neuen Mutterplaneten Rosinantes eine hochstehende Technik gab, würde man sie vielleicht empfangen können. Allerdings war die Leistung der drei Geräte, auch wenn man sie zusammenschaltete, recht gering. Bis zum Mondmittag, der in drei Stunden erreicht war, wiederholten sie die Notsendung alle halbe Stunden. Dann begann eine erneute Phase des Wartens. Die beiden folgenden Mondtage vergingen mit der gleichen Routine. Rhodan merkte, daß sich in Trallerhaan schon Gleichgültigkeit ausbreitete. Der Terraner schien nicht mehr an eine Rettung zu glauben. Immer häufiger entfernte er sich von den beiden Staatsmännern, und mehrmals stand er am Rand einer tiefen Spalte. Perry und Bully verständigten sich dann durch Zeichen. »Er wird doch nicht hinabspringen?« »Ohne zusätzliche Beschleunigung kann er sich dabei nicht töten. Die Anziehungskraft von Rosinante ist zu gering.« Von da an blieb ständig einer der beiden in der Nähe des Strauchlers und versuchte ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Am vierten Mondtag schien sich Trallerhaan wieder etwas gefangen zu haben. Perry Rhodan und Reginald Bull überprüften gerade gegenseitig ihre Raumanzüge, als der Strauchler einen spitzen Schrei ausstieß. »Rhodan! Bull! Da kommt etwas!« Sein ausgestreckter Arm wies in die Höhe. Mit einem Satz waren die beiden Männer auf den Beinen. Mit etwas Phantasie konnte Perry Rhodan in dem Gebilde, das von der Höhe herabschwebte, gerade noch ein Raumschiff erkennen. Das Ding war eigentlich würfelförmig mit einer Kantenlänge von dreißig Metern. Es besaß aber zahlreiche Auswüchse, die keinen Sinn ergaben. Insgesamt gesehen, wirkte es klobig und unfertig. Auch war nicht zu erkennen, nach welchem -219-
technischen Prinzip es sich bewegte. Etwa fünfzig Meter über dem Boden hielt das Ding an. Perry Rhodan winkte den beiden anderen zu, damit sie hinter ein paar Felsbrocken in Deckung gingen. Aus dem Körper senkte sich etwas herab. Die Terraner konnten nicht erkennen, ob es aus fester Materie oder aus Energie bestand. Vielleicht war es eine Mischung aus beidem. Es glich einer dicken Röhre oder einem schlauchförmigen Energiefeld und war weitgehend transparent. Mit flatternden Schlägen erreichte es den Boden, wo es sich im Mondgestein verkrallte. Nun blähte sich das untere Ende auf und wurde dabei noch durchsichtiger. Als es die Form einer Halbkugel mit etwa zwanzig Metern Radius erreicht hatte, war es vollkommen durchsichtig. »Ein halber Luftballon mit Blaseschlauch oben dran«, bemerkte Trallerhaan. »Still!« zischte Rhodan in sein Funkgerät. »Wir wissen nicht, ob sie uns wohlgesinnt sind.« Bully stieß seinen Freund an und deutete nach oben. Am Boden des würfelförmigen Körpers entstand eine Öffnung an der Stelle an der der Schlauch zu der Halbkugel führte. Gespannt beobachteten die Männer das weitere Geschehen. Rhodan schaltete seinen Funkempfänger auf Suchlauf. Vielleicht kommunizierte dort jemand. Drei große Holzkisten glitten aus der Öffnung und schwebten langsam in die Tiefe. Als sie den Boden erreicht hatten, erschienen zwei Gestalten in dem Luk. Die erste war klein und rund und besaß viele Beine und zwei dünne Arme. Der ganze Körper wirkte wie ein Kopf. Nur an der Unterseite, wo die Beinchen baumelten, zierte ein breiter Gürtel mit allerlei Geräten den ansonsten unbekleideten haarigen Leib. Bully stellte körperlichen Kontakt zu Rhodan her, so daß sie -220-
sich auch ohne Benutzung der Funkgeräte in der Luftleere verständigen konnten. »Der Kopf eines Tigers mit sechs Beinen«, stellte der Staatsmarschall erstaunt fest. Nun wurde die zweite Gestalt sichtbar, die der ersten nach unten folgte. Auch sie trug keinen Raumanzug oder etwas Ähnliches, ein sicheres Zeichen, daß der Schlauch und die transparente Kuppel mit Atmosphäre gefüllt waren. Sie glich tatsächlich einem Tiger mit blauem Fell. Ihr Kopf besaß eine große Ähnlichkeit dem Körper des ersten Fremden. Perry Rhodan zog sein kleines Reservefunkgerät aus der Kombination und schaltete es ein. »Was hast du vor?« fragte Bully, aber Rhodan gab ihm zu verstehen, daß er schweigen solle. Blitzschnell erhob er sich hinter seiner Deckung und schleuderte das Gerät weg. Es fiel eine Handbreit neben der Kuppel in den Mondstaub. Nun verstanden auch die beiden anderen Männer, was Rhodan beabsichtigte. Da Rosinante keine Atmosphäre besaß, mußte er ein Hilfsmittel verwenden, um etwas von den vermuteten Gesprächen der beiden Fremden zu erlauschen. Die Übertragung war etwas gestört und schwach, aber sie funktionierte, denn die Geräusche, die die beiden beim Auspacken der Kisten erzeugten, wurden von der Mondoberfläche aufgenommen, gelangten von dort gedämpft in das Funkgerät, das sie weiter an die Helmempfänger übertrug. Dann endlich wurden gesprochene Laute hörbar. Sie klangen zischend und jaulend und völlig fremdartig. Perry Rhodan hatte seinen Translator längst an die Funkanlage geschaltet, aber er vermutete, daß die Auswertung dieser sehr fremden Sprache das kleine Gerät vor Probleme stellen würde. Erkennbar wurde nur, daß der Kleine, der nur aus einem Kopf zu bestehen schien, der Wortführer war. Er gab die Anweisungen. Der andere rollte breite Teppiche aus, die im Nu den ganzen -221-
Innenraum bedeckten. Dann schwebten die leeren Kisten wieder in die Höhe. Die beiden Fremden standen da und plauderten weiter, ohne daß einer der Terraner ein Wort verstehen konnte. »Wir sollten uns bemerkbar machen«, meinte Bully, »bevor sie wieder verschwinden.« »Du hast recht«, antwortete Rhodan und erhob sich. Im gleichen Moment glitten die beiden Blauen in die Höhe. Rhodan winkte noch mit beiden Händen, aber niemand schien ihn zu bemerken. Der Schlauch zwischen dem Würfelobjekt und der Halbkugel riß ab und verschwand. Sekunden später beschleunigte das seltsame Gefährt und war verschwunden. »Jetzt haben wir den Salat!« schimpfte Reginald Bull. Auch Perry Rhodan ärgerte sich, weil er zu vorsichtig gehandelt hatte. Die zurückgebliebene Halbkugel mit den bunten Teppichen war kein Trost. In diesem Augenblick gab der Translator eine Tonfolge von sich, die besagte, daß er in der Lage war, die fremde Sprache zu übersetzen. »Wenigstens etwas«, versuchte Perry die beiden Männer zu trösten. »Ich lasse die Aufzeichnung ablaufen und übersetzen. Vielleicht erfahren wir dann, was das alles soll.« Sie hockten sich wieder hin und lauschten dem Translator. Die Geschichte, die sie erfuhren, war, auch wenn man sie auf einen Nenner brachte, reichlich verworren. Da gab es einen Fürsten namens Carrolus VII. Zwappmann auf dem Planeten Klyptoman. Diese Welt schien jene zu sein, um die Rosinante jetzt kreiste. Der kleine der beiden Fremden schien ein wahres Genie zu sein, denn er war es gewesen, der den Mond an seinen neuen Ort versetzt hatte. Der andere, offensichtlich ein durchschnittlicher Klypmaner (so nannten sich die Fremden), war nur ein Handlanger zum Auslegen der Teppiche gewesen. Die Aufgabe, die der verkrüppelte Wurzelboi zu erfüllen hatte, -222-
beruhte auf einem Wunsch, den die auserwählte Braut Zwappmanns geäußert hatte. Turuntalding, auch Tun, die Schöne Maid von Gigahof genannt, hatte sich ausbedungen, erst diesen Wunsch erfüllt zu bekommen, bevor sie ihr Ja-Wort gab. Bei Turi mußte es sich nach den abgehörten Gesprächen um ein weibliches Wesen von außergewöhnlicher Schönheit handeln. Der Translator übersetzte diese Gespräche so blumenreich, daß Trallerhaan ins Schwärmen geriet. Der Wunsch, den die Braut geäußert hatte, war das zentrale Thema der Unterhaltung gewesen. Schenk mir einen Mond! Das erklärte zumindest, warum die Klypmaner Rosinante entführt hatten. Ihrem System des Wandernden Lichtes waren Monde gänzlich fremd. Wie Wurzelboi diesen gewaltigen Transfer bewerkstelligt hatte, blieb allerdings unklar. »Schenk mir einen Mond!« schimpfte Bully. »So ein Blödsinn! Das hat uns unsere Space-Jet und die TARAS gekostet. Ich könnte diesem Wurzelboi den Hals umdrehen!« »Er hat keinen Hals«, beruhigte Rhodan seinen Freund. Die weitere Geschichte, die sich aus der Übersetzung des Translators ergab, ließ die Männer wieder neue Hoffnung schöpfen. Wurzelboi war nach Rosinante gekommen, um eine feierliche Angelegenheit vorzubereiten. Daher waren die dicken, bunten Teppiche ausgelegt worden. An diesem Ort wollte Carrolus seiner Angebeteten den Mond ›überreichen‹. Damit stand fest, daß die Fremden in Kürze wieder erscheinen würden. »Diesmal werden wir nicht so lange zögern«, versprach Perry Rhodan. »Schließlich habe ich ein Interesse daran, wieder zur Erde zu gelangen.« »Und was wird dann aus mir?« fragte der Strauchler. »Ihr wißt, wie man mich nennt. Es ist etwas Wahres an diesem Namen.« »Es liegt allein an dir, Briest«, antwortete der Großadministrator kühl. »Entweder du lenkst ein oder du landest in einem -223-
Rehabilitationszentrum, bis du einlenkst.« »Mir gefallen beide Lösungen nicht.«
4. Die blaue Sonne hatte am nächsten Mondmorgen gerade ihre wärmenden Strahlen auf Rosinante geworfen, als gleich zwei der seltsamen Würfelschiffe erschienen. Perry Rhodan und seine Begleiter hielten sich wieder in der Nähe der durchsichtigen Kuppel auf. Von dort wollten sie beobachten, was sich ereignen würde. Sie hatten aber noch am Vortag aus Steinen und Sand Symbole ringsum aufgebaut, aus denen selbst die dümmsten Wesen erkennen konnten, daß hier jemand Hilfe brauchte. Zuerst bildete sich aus dem einen Würfel ein Schlauch. Ein halbes Dutzend Klypmaner in bunten Umhängen schwebte in die Tiefe. Unter ihnen befand sich auch das verkrüppelte Genie. Sie stellten sich am Rand der Halbkugel mit gleichen Abständen auf und machten ernste Gesichter. Keiner von ihnen beachtete die Symbole und Muster, die die drei Terraner ringsum aufgebaut hatten. Als dann eine weitere Gestalt am oberen Ende des Schlauches auftauchte, folgerte Rhodan sogleich, daß dies Carrolus VII. Zwappmann sein mußte. Sie war in prächtige goldene Gewänder gekleidet, und als sie den Mondboden erreichte, nahmen die Klypmaner eine stramme Haltung ein. »Nun laß Turi kommen, Wurzelboi«, befahl der Herrscher. Das inzwischen besser postierte Funkgerät und die Translatoren arbeiteten fehlerfrei. Der Krüppel zog ein kleines Gerät aus seinem Gürtel. -224-
»Wurzelboi an Sonnenwiege«, hörten die Terraner. »Die Schöne Maid von Gigahof wird nun erwartet.« Aus dem zweiten Würfelschiff bildete sich ein weiterer Schlauch. »Da bin ich gespannt«, bemerkte Briest Trallerhaan, »wie diese Schönheit aussieht.« Er erlebte eine saftige Überraschung. Aus der Höhe glitt eine junge Frau, die dem terranischen Schönheitsideal fast vollkommen entsprach. Natürlich paßte dieses Wesen in keiner Weise zu der mächtigen Gestalt des tigerähnlichen Fürsten. »Das gibt es doch nicht«, pfiff der Strauchler aufgeregt. »Für so eine Frau würde sich sogar meine Umsturzpläne aufgeben.« »Aufgeben?« höhnte Bully. »Sie ist vergeben. An diesen Tigerbullen dort in dem Luftballon.« Die Frau erreichte den Boden und kniete vor dem Herrscher nieder. »Wo bleibt Turi?« donnerte dessen gewaltige Stimme. »Ich habe ihr Geschenk vorbereitet. Sie soll erscheinen, damit ich ihr den Mond überreichen kann.« Briest Trallerhaan blickte verdutzt von Rhodan zu Bull und dann wieder auf das seltsame Geschehen. Er erkannte jedoch, daß die schöne Fremde nicht die erwartete Maid von Gigahof war. Diese schwebte nun aber herab, und da atmete der Strauchler auf. Turuntalding paßte zu Carrolus wirklich. Perry Rhodan wurde langsam unruhig, denn noch immer nahm niemand Notiz von den ausgelegten Hilfesymbolen. Andererseits wollte er das Zeremoniell nicht stören, weil er sich sagte, daß er dann womöglich den Zorn des Fürsten erregen könnte. Und auf diesen war man wohl letztlich angewiesen. »Was soll ich hier, Carrolus?« fragte Turuntalding etwas holprig und nicht gerade begeistert. »Sie spricht eigentlich eine andere Sprache«, folgerte Bully, -225-
»so könnte sie auch von einem anderen Planeten stammen.« »Du hast einen Wunsch geäußert, Geliebte«, antwortete der Fürst und hob theatralisch seine mächtigen Arme in die Höhe. »Schenk mir einen Mond, hast du mich wissen lassen. Obwohl ich alles hasse, was sich außerhalb von Klyptoman befindet, habe ich deinen Wunsch erfüllt. Hier ist dein Mond. Taufe ihn auf den Kamen, der dir angenehm ist. Bewundere ihn in jeder Nacht, wenn er über den Himmel deiner neuen Heimat zieht. Nutze ihn als Tröster in den Stunden, in denen mich die Staatsgeschäfte von deiner Seite reißen. Betrachte ihn als das ewige Licht, das unsere Liebe begleitet. Dieser herrliche Mond ist dein.« Turuntalding blickte sich verstört um. Der Fürst strahlte über das breite Gesicht und drehte zufrieden die Barthaare, aber seine Braut schien gar nicht glücklich zu sein. Es dauerte eine Weile, bis er das bemerkte. Er trat einen Schritt auf die Schöne Maid von Gigahof zu und beugte sich nach vorn. »Gefällt dir dieser Mond nicht? Wurzelboi hat mir versichert, daß es der herrlichste Satellit weit und breit ist. Er hat gewaltige Anstrengungen für mich vollbringen müssen, um ihn in eine Umlaufbahn um Klyptoman zu schaffen.« Turuntalding schwieg noch immer. Ihre Augen kreisten umher, als hätte man sie in eine Gummizelle gesteckt. »Wenn er dir nicht gefällt«, grollte Carrolus VII. , »dann lasse ich Wurzelboi köpfen.« Schließlich erhob die Braut ihre fremdartige Stimme. »Ich will nicht«, sagte sie leise, »daß du Wurzelboi etwas antust. Bevor ich dir mehr sagen kann, möchte ich mich mit meiner Zofe beraten. Da du und deine Berater meine Sprache ohnehin nicht verstehen könnt, gestatte ich euch, an diesem Ort zu bleiben. Komm zu mir, Mary Smith!« Die Frau, die wie eine Terranerin aussah, eilte zu ihrer Herrin. Als die beiden mit einer Unterhaltung begannen, schaltete Perry -226-
Rhodan seinen Translator rasch auf Aufnahme. Carrolus zog sich schmollend zurück und warf Wurzelboi, in dem er offenbar den Schuldigen sah, giftige Blicke zu. Dann befahl er der Begleitmannschaft, in dem Würfelschiff zu verschwinden. Die Bepelzten hasteten an die Stelle, wo der Sog nach oben ging. Sie stolperten übereinander und glitten dann kreuz und quer in die Höhe. Turuntalding unterhielt sich noch immer mit ihrer Zofe, die wohl zufällig auf den seltsamen terranischen Namen Mary Smith hörte. Mit der neuen Sprache hatte der Translator keine großen Schwierigkeiten. Schon nach wenigen Sätzen gab er das Signal für die Übersetzungsbereitschaft. Perry Rhodan nahm sich nicht mehr die Zeit, Bully und Briest direkt mithören zu lassen. Die Augen des Strauchlers hingen ohnehin nur an der Figur der Zofe. Alles andere schien er vergessen zu haben. Plötzlich stieß Rhodan zur Verwunderung der anderen ein heiseres Lachen aus. »Kommt, Männer!« sagte er dann und erhob sich. Bully und Briest folgten ihm, als er offen auf die transparente Kuppel zuschritt. Er streckte seine Arme schräg von sich in die Höhe, um so seine friedlichen Absichten zu demonstrieren. »Was hat er vor?« fragte Trallerhaan unsicher. »Will er mir meine Mary wegschnappen?« »Deine Mary?« Bully kicherte. »Da mußt du dir sicher noch etwas einfallen lassen, bevor du die bekommst. Aber als Ehegespons einer fürstlichen Zofe gefällst du mir besser denn als Führer einer Untergrundbewegung.« »Vergiß das!« meinte Trallerhaan. Perry Rhodan hatte die durchsichtige Hülle erreicht. Erst jetzt wurden der Fürst, Wurzelboi und die beiden Frauen auf die Fremden aufmerksam. Carrolus war verblüfft, aber offensicht-227-
lich hilflos. »Tu doch etwas, Wurzelboi«, rief er. »Da sind Fremde.« »Sie bedeuten keine Gefahr, Herr«, antwortete das verkrüppelte Genie gelassen. »Ich werde sie hereinbitten.« Er fummelte an seinem Gürtel herum und betätigte dort verschiedene Schaltungen. Die Hülle der Kuppel veränderte ihre Farbe. »Ich weiß nicht«, rief Wurzelboi dann, »ob ihr mich verstehen könnt, aber der Vorhang ist nun von außen durchlässig. Kommt herein und nennt mir euer Anliegen.« Er winkte mit seinen klapprigen Ärmchen, und Perry Rhodan winkte zurück. Die Hülle ließ sich problemlos durchqueren. Als Trallerhaan das sah, stürmte er an Perry Rhodan vorbei, riß im innern der Kuppel seinen Helm vom Kopf und zog die verdutzte Zofe in seine Arme. »Immer langsam«, bat Perry Rhodan. »Wir begrüßen euch, und ich kann das kleine Mißverständnis schnell aufklären, das einen Keil in die Liebe zwischen Carrolus und Turi trieb.« »Dann rede, Fremder«, donnerte der Herrscher. »Ich ersuche aber um eine Gegenleistung. Unser Raumschiff wurde bei dem Transport dieses Mondes durch die energetischen Auswirkungen zerstört. Wir können ohne eure Hilfe nicht zu unserer Heimatwelt zurück.« »Wenn es dir gelingt«, erklärte Carrolus VII., »daß Turi mich liebt, wird das Genie euch an jeden Ort des Universums bringen, den ihr wollt.« »Ich zähle auf dein Wort, Carrolus«, sagte Perry Rhodan. »Euer Problem lag in den unterschiedlichen Sprachen. Als du Turi sagtest, sie solle einen Wunsch äußern, sagte sie nicht, schenk mir einen Mond. Sie sagte etwas, was in ihrer Sprache die zärtlichste Liebeserklärung ist. Sie sagte, schenk mir deinen Mund!«
-228-
Ernst Vlcek
NIE WIEDER EINSAM Irmina Kotschistowa wurde im Jahre 3408 geboren. Als im Jahre 3441 der Schwarm in die Milchstraße einfiel und die Verdummungsstrahlung die Intelligenzwesen der gesamten Galaxis in geistige Umnachtung stürzte, gehörte sie als Biochemikern dem Waringer-Team der Forschungswelt Last Hope an. Sie war eine der wenigen Immunen, der die Verdummungsstrahlung nichts anhaben konnte und die in dem um sich greifenden Chaos ihren Verstand behielt. Bei einem Aufstand anderer immun gebliebener Besatzungsmitglieder, die die Macht an sich reißen wollten, floh sie und rettete sich auf den zerklüfteten Rücken eines riesigen Tieres vom Typ »Marschiere-Viel«. In dieser Zeit entdeckte Irmina eine Fähigkeit an sich, die sich vorher noch nie bemerkbar gemacht hatte, und sie erkannte, daß die Verdummungsstrahlung bei ihr den umgekehrten Effekt erwirkte: Während andere Intelligenzwesen unter der unheimlichen Strahlung verdummten, wurde bei ihr dadurch eine bislang latente Mutantenfähigkeit geweckt. Sie wurde zu einer Metabio-Gruppiererin. Mit dieser Fähigkeit war es ihr möglich, andere Lebewesen durch eine parapsychisch angeregte und erzwungene Zellkernumgruppierung zu beherrschen und zu manipulieren. In früher Zeit, bevor sie lernte, ihre Fähigkeit zu beherrschen, setzte sie diese in vielen Fällen destruktiv ein. Nach und nach lernte sie jedoch auch, ihre Gabe heilbringend anzuwenden. Im Jahre 3587, im Alter von 179 Jahren, bekam sie von Perry Rhodan Baiton Wyts Zellaktivator und trat als große alte Dame, die sich auf dem Gebiet der Cytologie einen legendären Namen gemacht hatte, in den Kreis der relativ Unsterblichen ein. Diese Geschichte erzählt eine kleine Episode aus ihrem Le-229-
ben. Sie trug sich im Jahre 27 NGZ (Neue Galaktische Zeitrechnung) zu, als die Kosmische Hanse sich noch in den Gründerjahren befand. . .
1. »Sterben«, sagte Hoquin, »dieses Wort dürfte es für uns gar nicht geben. Und doch - nun scheint das Ende unseres Volkes gekommen zu sein. Wir verlieren nach und nach allmählich unsere Partner, so daß das Problem der Einsamen immer größer wird Was bleibt uns dann letztlich anderes übrig, als in den Tod zu gehen?« Sein Partner Impex sagte: »Es tut mir ja so leid, daß alle Versuche, unserem Volk neue Impulse zu geben, fehlgeschlagen sind. Aber wir müssen erkennen, daß die Natur ihren Tribut verlangt. Wir sind nicht unsterblich wie ihr, und wir sind zum Aussterben verurteilt. Die Zweisamkeit mit euch war schön, aber unsere Zeit ist vorbei. Wir sterben aus - aber ihr doch nicht. Ihr werdet andere Partner finden.« »Andere Partner?« fragte Hoquin. »Wo? Wie denn? Gibt es solche denn überhaupt? Wieso haben wir dann bald mehr Einsame als Glückselige?« »Das Universum ist groß«, sagte Impex weise. »Und so alt es auch ist, es ist immer noch voller Leben. Ihr werdet irgendwann und irgendwo in den Tiefen dieses Universums andere Partner finden, Hoquin. Mein Volk hat ein neues Projekt für euch entworfen. Als Dank für all das Schöne, das uns die Partnerschaft mit euch gebracht hat.« »Was denn!« regte sich Hoquin auf. »Habt ihr nicht schon genug experimentiert? Wenn ihr eure Art nicht erhalten könnt, dann ist das auch unser Ende. Schon möglich, daß das Univer-230-
sum voll intelligenten Lebens ist. Aber ich glaube nicht daran, daß sich darunter auch welches befindet, das bereit ist, mit uns eine Partnerschaft einzugehen. Und wenn doch, wie sollen wir dieses Leben in den unendlichen Weiten finden?« »Das Projekt ›Nie wieder einsam‹ macht es möglich«, sagte Impex. »Darf ich es dir erklären? Wir sind hier in den Gewölben der Einsamen. Damit sie nicht unter ihrer Einsamkeit zu leiden haben, legten wir sie in den Tiefschlaf. Gleichzeitig haben wir sie ihre wesentliche Zustandsform reduziert. Das heißt mit anderen Worten, wir haben jeden der Einsamen auf seine Urzelle rückentwickelt. Jeder von ihnen besteht nur noch aus einer Ur, die das gesamte Genprogramm enthält. Diese Zelle bleibt so lange im Tiefschlaf, bis sie ein Intelligenzwesen findet, das für eine Partnerschaft geeignet ist.« »Das ist nicht neu für mich«, erwiderte Hoquin. »Die Einsamen schlafen und wissen nichts von ihrem Unglück. Aber es bleibt das Problem, für sie einen Partner zu finden.« »Ich glaube, wir haben die Lösung gefunden«, sagte Impex. »Es ist eine Art letzter Dienst an euch, die ihr uns in die Glückseligkeit geführt habt. Sieh diesen zylinderförmigen Körper. Er ist nicht viel größer als ich, aber er ist ein Wunderwerk der Technik. Es ist ein Gefährt, mit dem man die unglaublichen Entfernungen des Raumes und die Barriere der Zeit überbrücken kann. Dieser Flugkörper wird mit einer Anzahl von Einsamen auf die Reise gehen. Sie werden im Tiefschlaf bleiben, diese Maschine denkt und sucht für sie. Erst wenn sie einen Ort mit geeigneten Intelligenzwesen ausgemacht hat, wird sie die Einsamen reaktivieren, damit sie Kontakt aufnehmen können.« »Ist so etwas denn möglich?« staunte Hoquin. »Aber angenommen, dieses Gefährt bringt die Einsamen an ein Ziel, an einen Ort, wo es Partner gibt. Dann haben zwar einige Einsame das Glück in der Zweisamkeit gefunden, aber was hilft das unserem Volk?« -231-
»Auch daran haben wir gedacht und eine Lösung ersonnen«, sagte Impex. »Wo immer dieses Gefährt auch landet, in welchem Teil des Universums und in welcher Zeit, es wird die Verbindung zur Mutterwelt aufrechterhalten. Und wenn es ein Ziel gefunden hat, dann wird es ein Tor erschaffen, durch das man geradewegs hierhergelangen kann. Es wird nur ein einziger Schritt notwendig sein, um von jedem Anderswo nach hier zurückkehren zu können. Und natürlich sollen die Einsamen diesen Schritt mit ihren neugewonnenen Partnern tun. Dann wird es keine Einsamkeit mehr geben. Ihr werdet ein junges, vitales Volk, das der Vermehrung fähig ist, für eine Partnerschaft gewinnen. Und alle Einsamen können aus ihrem Schlaf geweckt und ins Leben zurückgefünrt werden.« »Ich kann es kaum glauben, aber ich habe neue Hoffnung geschöpft«, sagte Hoquin. »Bitte, Impex, beginne mit diesem Projekt. Wir haben so viel Glück und Schönes zu geben, daß es zu schade wäre, müßten wir in den ewigen Schlaf sinken. . . « Hoquins Partner kam dem Wunsch augenblicklich nach. Er startete das kleine Raumschiff, das einige Dutzend Einsame in ihrer kleinsten möglichen Form als Passagiere hatte und das die nötige technische Ausrüstung besaß, eine Sauerstoffwelt mit entsprechenden Lebensformen zu finden. Nachdem das Raumschiff den sterbenden Planeten verlassen hatte, konnten die Zurückgebliebenen nur noch warten.
2. »Es ist ein Jammer«, sagte Reginald Bull. Ihm war heiß. Er schwitzte. Er meinte zu ersticken. Alles nur Einbildung, gewiß, aber was sollte man dagegen tun? -232-
Die Sonne schimmerte durch einen dunstigen Himmel, es würde sich ein Gewitter zusammenbrauen. Aber noch waren die Elemente ruhig, die Natur von Adebar präsentierte sich als friedliches Idyll. Die grüne Wand üppig wuchernder Pflanzen, von unzähligen Blüten bunt gesprenkelt, stand unbewegt. Die Tiere des Dschungels waren unnatürlich still, so als witterten sie das aufsteigende Unwetter, kein Lufthauch regte sich. Die Außentemperatur lag um die fünfzig Grad Celsius, fiel aber allmählich, die Luftfeuchtigkeit war mit der eines Treibhauses vergleichbar. Und doch - wie gerne hätte Bull diese Luft geatmet. Er hätte lieber in diesem tropischen Klima geschwitzt, als in der Enge seines Druckanzugs. Es war eine Schande, daß sie sich von dieser prächtigen Umwelt isolieren mußten. Aber es ging nicht anders. Denn dieses Idyll war trügerisch, in diesem Garten Eden lauerte eine tödliche, unsichtbare Gefahr. Etwas so mikroskopisch Kleines, daß man es noch nicht gefunden hatte. Aber man kannte seine verheerende Wirkung. Es konnte keinen Zweifel geben, daß dieser so scheinbar menschenfreundliche Planet irgendeinen Virus, ein Bakterium oder sonst irgendeinen Erreger besaß, gegen den der menschliche Organismus keine Abwehrstoffe produzierte. Die Folgen waren verheerend. »Es ist ein Jammer, daß wir die Sauerstoffanzüge nicht ablegen können«, sagte Bull wieder. »Es wäre zu gefährlich«, sagte sein Begleiter, der Armin Treet hieß und stellvertretender Kommandant der Kogge war, mit der sie auf Adebar gelandet waren. »Du könntest den Erkundungsgang aber auch anderen überlassen, Bully.« Bull winkte ab. Er wollte Irminas Forschungsstation einen Besuch abstatten, um sich selbst einen Überblick über das Ausmaß der Katastrophe zu verschaffen. Nichtstun war ihm verhaßt, er schwitzte lieber in dem Sauerstoffanzug. Der Klimaregler drosselte die Temperatur, bis Bull so kalt wurde, -233-
daß er fröstelte. Kalter Schweiß stand ihm im Gesicht. Der Klimaregler vermochte es ihm nicht recht zu machen; Computer waren nun mal keine Psychologen. Adebar war eine Hölle in paradiesischem Kleid, und das war es, was ihm den Schweiß aus den Poren trieb. Er mochte nicht daran denken, welches Schicksal Irmina und die anderen erlitten haben könnten. »Wo sind denn die Vögel mit den stelzenartigen Beinen, die diesem Planeten den Namen gegeben haben?« fragte Armin Treet. »Es kommt ein Gewitter«, antwortete Bull. Er kannte alle Forschungsberichte über diese Welt, er kannte sie so gut, als hätte er all die Wochen an Irmina Kotschistowas Seite hier verbracht. Aber was er wirklich wissen wollte, das hatte er aus den Berichten nicht erfahren. »Ich kenne mich aus«, fügte er hinzu. »Es kommt ein Gewitter. Vermutlich wird es nicht lange anhalten, denn es ist noch nicht Regenzeit.« »Da, ein Adebar!« rief Treet und deutete nach links in die Baumkronen hoch. Ein Rascheln war zu hören, als sich ein langgestreckter, gefiedeter Körper aus dem Geäst abstieß und in die Lüfte aufstieg. Gegen den dunstigen Himmel konnte Bull jedoch nur einen dunklen Schatten erkennen. Ein Wind erhob sich, und ein beständiges Raunen und Wispern ging durch das Blätterdach über ihren Köpfen. Sie kamen auf die Lichtung, auf der die Forschungsstation stand Sie wirkte verlassen und - wie geplündert. Von außen sah es so aus als stünde nur noch der Rohbau aus Fertigteilen. Der Eingang und die Fenster waren leer, selbst die Rahmen fehlten. Aber es gab keine Anzeichen von Verwüstung, alles war fein säuberlich und fachmännisch demontiert worden. Bull betrat das Innnere des Kuppelgebäudes. Die Trennwände standen noch, aber die gesamte Einrichtung fehlte. Es gab nicht -234-
einmal mehr einen Sessel, geschweige denn ein technisches Gerät. »Warum haben sie das getan?« fragte sich Bull. »Irmina hat in ihren Hyperkomberichten mit keiner Silbe erwähnt, daß sie diese Station aufzugeben gedenkt. Was steckt dahinter?« »Es ist genau so wie es uns die Erkundungsroboter übermittelten«, sagte Treet. »Wir hätten uns den Weg sparen können.« Aber Bull schüttelte den Kopf. Er hoffte etwas zu finden, das einem Roboter nicht aufgefallen wäre. Er wußte selbst nicht; wonach er suchte, aber er befand sich in Alarmbereitschaft. Es sah so aus, als hätte Irmina die technische Einrichtung abgebaut, um sie an einen anderen Ort zu transportieren. Das war auch hochgerechnet worden. Aber was war der Grund dafür? Die Arbeitsbedingungen waren in dieser Kuppel besser als an irgendeinem anderen Ort dieses Planeten. Die einzige einleuchtende Erklärung war, daß sich Irmina mit ihrem Team in irgendein Versteck zurückziehen wollte, wo sie von einem Suchkommando nicht gefunden werden konnte. Sie hatte Bull, der ihr Unterstützung aufdrängen wollte, oft genug gewarnt, Adebar fernzubleiben, solange der Erreger nicht lokalisiert war. doch nachdem sie dann, vor einer Woche, die erste Erfolgsmeldung durchgegeben hatte, war der Hyperkomkontakt abgebrochen, Bull schlenderte durch die leeren, kahlen Räume, ohne irgend etwas zu finden, das ihm Aufschluß über Irminas Handlungsweise gegeben hätte. Die wildesten Vermutungen geisterten Bull durch den Kopf, und natürlich schloß er auch nicht aus, daß Irmina nicht mehr bei Verstand gewesen war, als sie die Forschungsstation aufgegeben hatte. Natürlich waren Suchkommandos unterwegs, um nach den Verschollenen zu forschen. Aber wie sollte man vier Dutzend Menschen in diesem unwegsamen, undurchdringlichen Dschungel finden, wenn sie nicht entdeckt werden wollten. Bull setzte seine ganze Hoffnung auf die technische Ausrüstung, die -235-
Irmina mitgenommen hatte. Wenn sie sie in Betrieb nahm, würde man diese Energiequelle anpeilen und ihren Unterschlupf orten können. Aber bisher hatte man in weitestem Umkreis noch keine solche Energiequelle entdeckt. Warum hatte Irmina die technische Ausrüstung verschleppt, wenn sie sich ihrer nicht bediente? Es war alles so verwirrend und unlogisch. Die nächstliegende Erklärung wäre noch die gewesen, daß alle Teammitglieder dem Wahnsinn verfallen waren. Doch daran wollte Bull nicht denken. Es gab auch gar keine Anhaltspunkte dafür, daß die furchtbare Seuche den Geist angriff. Sie führte lediglich zu physischen Schäden, schrecklichen körperlichen Deformationen im Kopfbereich. Bull hatte Bilder von Betroffenen gesehen, und der Anblick dieser Aussätzigen verfolgte ihn bis in seine Träume. Irmina hatte das nicht so tragisch genommen. »Ich kann sie heilen«, hatte sie Bull per Hyperkom versichert. »Wenn ich den Erreger gefunden habe, dann kriege ich diese armen Teufel schon wieder hin.« Bull hatte größtes Vertrauen in die Biochemikerin, denn zu ihrem überragenden Fachwissen besaß sie auch noch ein außergewöhnliches Talent. Sie war eine Metabio-Gruppiererin. Hinter dieser Bezeichnung befand sich eine unglaubliche Mutantenfähigkeit, wie sie Bull in seinem langen Leben kein zweite Mal angetroffen hatte. Irmina konnte mit der Kraft ihres Geistes Zellen und ganze Zellkolonien von Lebewesen derart umgruppieren, daß sie danach völlig verändert waren - mitunter gänzlich anders als ursprünglich differenziert. Sie konnte auf diese Weise Muskelgewebe zum Erschlaffen bringen, Knochen deformieren, Gehirne zu schwammigen Massen machen, ganze Körper zum Wuchern bringen. Sie konnte aber auch den gegenteiligen Effekt erreichen und krankhafte Zellwucherungen heilen; sie war auf die Eliminie-236-
rung von krebsartigen Geschwüren, wie sie in ihrem Team auf Adebar auftraten, spezialisiert. Darum war Bull anfangs sicher gewesen, daß sie das Problem lösen würde. Doch als er bei einem ihrer letzten Gespräche eine bösartige Geschwulst in ihrem Gesicht entdeckte, da war ihm angst und bang geworden. Irmina aber hatte nur gelacht. »Schon mal etwas von Selbstversuchen gehört, Bully?« hatte sie gesagt. »Du hast dich selbst infiziert, Irmina?« »Das erscheint mir als der sicherste Weg zur Lösung des Problems«, hatte sie geantwortet. »Jetzt geht es dem Erreger an den Kragen.« Zuletzt hatte sie ihm berichtet, daß sie die Lösung praktisch gefunden habe. Da war ihr Gesicht nur noch eine bläulich schimmernde, formlos wuchernde Masse gewesen. Und dann hatte sie sich nicht mehr gemeldet. »Kehren wir zurück«, sagte Treet. »Hier ist nichts zu holen.« Diese Worte waren für Bull wie ein Schlag ins Gesicht. »Geh du allein zurück«, sagte er gepreßt. Über die Rundruffrequenz kam eine Meldung von Kapitän Koram. »Die Quarantänestation steht. Alle Mann des Erkundungstrupps sollen sich in dieser Außenstelle zu einer Lagebesprechung einfinden. Wir, die wir an Bord der ANKARA zurückgeblieben sind, werden über eine Konferenzschaltung dabei sein.« »Es ist an der Zeit. . . « , ermahnte Treet. Aber Bull fiel ihm ins Wort. »Geh allein«, herrschte er ihn an. »Ich muß nachdenken.« Er schwitzte, und ihn fröstelte abwechselnd, der Klimaregler des Sauerstoffanzugs konnte sich nicht auf seine Bedürfnisse einstellen. Plötzlich vernahm Bull das Alarmsignal in seinen Kopfhö-237-
rern, er begriff zuerst nicht, was das zu bedeuten haben mochte. Erst als Treet, der sich bereits einige Schritte entfernt hatte, sich nach ihm umdrehte, und er in sein Gesicht sah, sickerten die Worte, die über die allgemeine Frequenz kamen, allmählich in seinen Geist ein. »Die Roboter haben einen Befallenen gestellt. Es ist entsetzlich. Er hat kaum mehr etwas Menschliches an sich. Mein Gott! Das ist ja noch ein Kind. . . « In Irminas Forschungsstation gab es kein Kind, es wäre auch unverantwortlich gewesen, ein solches auf einen unerforschten Planeten mitzunehmen. Aber es gab einen kaum einen Meter großen Prä-Siganesen. Und mit ihm hatte alles begonnen.
3. Auch nach zweitausend Jahren menschlicher Raumfahrt hatte die Milchstraße immer noch ihre Geheimnisse und würde sie wohl immer haben. Eines davon war eine vergessene Kolonialwelt terranischer Siedler, die einen ähnlichen Verkleinerungsprozeß wie die Siganesen durchgemacht hatten, nur daß die Verkleinerung aufhörte, nachdem sie auf eine Körpergröße von etwa einem Meter geschrumpft waren. Sonst hatten sie nichts mit Siganesen zu tun, man nannte sie aber dennoch Prä-Siganesen. Ihr vergessener Planet wurde im ersten Jahr der Kosmischen Hanse entdeckt. Die Soocaner, wie sie sich selbst nannten, hatten eine recht eigenwillige Kultur entwickelt. Sie waren zu einem Volk von Maskenträgern geworden und verweigerten jeglichen Kontakt zu ihren ›nackten‹ Vorfahren. Diesem Wunsch wurde nachgegeben und die Soocaner wieder sich selbst überlassen. Nur einer von -238-
ihnen, der sich des Verbrechens der öffentlichen Maskenentblößung schuldig gemacht hatte, suchte auf dem Hanseschiff Asyl. Es wurde ihm gewährt. Und so kam es, daß Roque Ezzel der einzige Prä-Siganese in der Kosmischen Hanse war. Er gehörte Irmina Kotschistowas Team an, das den Planeten Adebar auf seine Eignung als Hansekontor und für die menschliche Besiedlung untersuchen sollte. Der Prä-Siganese galt als außergewöhnlich resistent gegen alle möglichen Ansteckungskrankheiten, und seine Immunität sollte dem Forschungsteam bei Versuchszwecken zugute kommen. Doch auf Adebar wurde Roque Ezzel als erster von der unheimlichen Seuche angesteckt. Zuerst dachte sich niemand etwas dabei, als der Prä-Siganese seinen Kopf plötzlich unter einer helmartigen Maske versteckte. Er behauptete, sich auf einmal wieder an die ethischen Werte seines Volkes erinnert zu haben. Das wurde akzeptiert. Erst einige Tage später wurde die Wahrheit durch Zufall entdeckt. Ezzel wurde von seinem Kameraden in freier Natur dabei überrascht, wie er sein Gesicht gerade mit den Säften irgendwelcher Pflanzen behandelte. Bevor der Prä-Siganese noch die Maske aufsetzen konnte, bekam der andere zu sehen, daß sein Gesicht stark verquollen und bläulich verfärbt war. Er konnte Ezzel nur durch Paralysierung an der Flucht hindern und brachte ihn in die Forschungsstation. Das brachte die Lawine ins Rollen. Über Adebar wurde Quarantäne verhängt. Tags darauf war die Hälfte aller Teammitglieder von der unheimlichen Seuche befallen, oder zeigte zumindest die ersten Symptome. Sie bekamen beulenartige Wucherungen im Kopfbereich, litten unter hohem Fieber, Übelkeit und Körperkrämpfen. Diese Phase dauerte in der Regel einige Tage, danach beruhigte sich der Organismus, die beulen- und geschwulstartigen Deformierungen im Kopfbereich blieben jedoch, und es gab kein -239-
Mittel, sie zu heilen. Selbst Irmina Kotschistowa konnte durch Einsatz ihrer Mutantenfähigkeit nur bescheidene Erfolge erzielen und im günstigsten Fall das Wachstum der Wucherungen hemmen - dies jedoch nur für kurze Zeit. Es schien, als könne sich der Krankheitserreger stets auf die neuen Bedingungen einstellen und sich so einer Bekämpfung entziehen. Er schien ein geradezu perfektes Tarn- und Warnsystem zu besitzen, um sich Irminas paramentaler Erforschung zu entziehen. Darum wohl dachte die Metabio-Gruppiererin, daß ihr kein anderer Ausweg mehr blieb, als sich selbst zu infizieren. Reginald Bull hätte gerne erfahren, welche Erkenntnisse sie daraus gewonnen hatte. Aber die Forschungsstation war bis auf den letzten Winkel geräumt, und es gab keinerlei Unterlagen. Immerhin hatten die Roboter einen Befallenen entdeckt, als er sich im Landungsgebiet der ANKARA herumtrieb - unweit der Stelle, wo das Wrack der HEKATE lag. Die HEKATE war jenes Schiff, mit dem Irmina und ihr Team auf Adebar gelandet waren. Sie hatte es sprengen müssen, als nach Ausbruch der Seuche einige Leute damit fliehen wollten. Die Roboter hatten den Befallenen gefangengenommen und in die gerade fertiggestellte Quarantänestation gebracht. Von dort erreichte Reginald Bull die Alarmmeldung. Er machte sich sofort auf den Weg.
4. »Mach dich auf einen Schock gefaßt, Bully«, sagte Doc Emphor, der Ara-Mediziner. »Unser Patient hat mit einem Prä-Siganesen nur noch bedingt Ähnlichkeit. Aber überzeuge dich selbst.« »Ich bin vorgewarnt«, sagte Bull. Aber als er Roque Ezzel -240-
dann sah, traf ihn sein Anblick doch unvorbereitet. Er war von Mitleid und Entsetzen überwältigt. »Was . . . was ist mit seinem Kopf?« stammelte Bull. Der Prä-Siganese war in einen Isolationsraum gebracht worden Für ihn, falls er überhaupt noch die Fähigkeit des Sehens besaß mußte dieser kreisrunde Raum völlig geschlossen erscheinen. In Wirklichkeit handelte es sich um einen großen, fensterartigen Ausschnitt um eine Materieprojektion, die nur von außen transparent war. Zudem war in den Wänden noch eine ganze Batterie von verschiedenen Beobachtungs-, Diagnoseund Durchleuchtungsgeräten untergebracht. Von den Schultern abwärts war Roque Ezzel völlig normal, sein Körper zeigte keinerlei Deformierungen, seine Hände waren ohne Beulen oder Geschwüre. Sein Kopf aber. . . Bull schauderte. Ezzels Kopf war eine gewaltige, unförmige Masse ohne irgendeine Physiognomie und ohne erkennbare Sinnesorgane. Nirgendwo war etwas Ähnliches wie Augen zu sehen, nicht die Andeutung von Mund, Nase oder Ohren. Der ganze Klumpen, aus dem der Kopf bestand, war blauschillernd, wie mit einem öligen Film überzogen, pulsierte, zuckte - lebte! »Ich kann nicht glauben, daß das aus einem menschlichen Wesen werden kann - und daß es lebensfähig bleibt«, brachte Bull hervor, nachdem er sich gefangen hatte. »Mir kommt es fast so vor, als hätte sich der Prä-Siganese eine Maske aus Biomolplast übergestülpt. Sag, daß ich recht habe, Doc, sonst drehe ich durch.« Der Ära sah ihn von der Seite her seltsam an und sagte: »So falsch liegst du gar nicht. Ich habe schon einige oberflächliche Untersuchungen angestellt und dabei verblüffende Ergebnisse erzielt. So hat sich herausgestellt, daß das Ding, das Ezzel um seinen Kopf trägt, ein Fremdkörper ist. Es handelt sich dabei um irgendeinen Organismus. Um einen Schmarotzer, einen Parasiten, der sich den Prä-Siganesen als Wirt ausgesucht -241-
hat. Fällt dir nicht auf, wie passiv er selbst ist, während sich das Ding überaus aktiv zeigt?« Der Prä-Siganese stand völlig reglos mitten im Raum. Der Kontursessel neben ihm blieb unbeachtet. Die Beine waren etwas breitgestellt, die Arme hingen wie Fremdkörper an den Seiten herab. Dachte man sich den ›Kopf‹ fort, so machte der Mann in dieser Haltung den Eindruck eines Unbeteiligten, den das alles nichts anging. »Dann ist auch anzunehmen, daß Ezzel keinen eigenen Willen hat«, meinte Bull und sah den Ara fragend an. »Soweit bin ich noch nicht«, sagte Emphor. »Das ließ sich in der kurzen mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht feststellen. Aber dafür hat die Durchleuchtung ein anderes interessantes Detail aufgezeigt. Unter diesem Ding ist Ezzels ursprüngliche Kopfform zu erkennen. Aber nicht nur der Schädel ist unangetastet, auch das Gehirn und - was am meisten verblüfft - die Gesichtsform läßt sich durch Laserdurchleuchtung ganz deutlich erkennen.« »Das bedeutet, daß sich dieses Ding tatsächlich nur wie eine Maske über den Kopf gestülpt hat«, meinte Bull staunend. »Aber was hat es dann mit den Symptomen bei Ausbruch der Krankheit auf sich? Ich meine die Beulen und Geschwüre und die Blaufärbung der Haut.« »Diesbezüglich kann ich nur Mutmaßungen anstellen«, sagte Emphor. »Offenbar wurde der Keim dieses Parasiten in mikroskopischer Form mit der Planetenluft eingeatmet und im Wirtskörper ausgebrütet, ohne diesen zu beschädigen. Das heißt, nein - das ist für mich als Mediziner unvorstellbar. Außerdem liegen Irminas Berichte über organische Schäden der Betroffenen vor. Da aber die Durchleuchtung keinerlei Deformierung und Beschädigung des Kopfbereiches ergeben hat, kann es nur so sein, daß dieses Ding die angerichtete Zerstörung wieder regenerierte. Bully, ich bin da ganz sicher, daß Ezzels Gesicht -242-
unter dem Schmarotzer praktisch unversehrt ist. Ich meine, die Haut könnte teilweise abgestorben sein, aber alle Sinnesorgane sind vorhanden und intakt.« »Ein Parasit, der von seinem Opfer nicht partizipiert und an ihm nicht schmarotzt, ist wiederum für mich unvorstellbar«, sagte Bull. »Welchen Nutzen zieht denn dann der Parasit von seinem Wirtskörper?« »Du darfst nicht von der Voraussetzung ausgehen, daß dieser Parasit ein gefräßiges Monster ist«, sagte Doc Emphor zurechtweisend. »Wenn es sich nun um einen intelligenten Parasiten handelt dann wird er alles tun, um seinen Wirt am Leben und so lange wie möglich lebensfähig zu halten. Ich habe nicht gesagt, daß dieser Parasit von seinem Opfer nicht partizipiert. Obwohl auch diese Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist, so konnte ich feststellen, daß dieses Ding im Schädel seines Opfers eine Reihe von Nervenfasern verankert hat. Es ist also anzunehmen, daß es dadurch seinen Geist und seinen Körper kontrolliert.« »Wie können wir Ezzel von diesem Parasiten befreien, ohne ihm zu schaden?« fragte Bull aufgeregt. »Ich bin Mediziner und kein Hexenmeister«, antwortete der Ara. »Es erfordert noch eine Reihe langwieriger Untersuchungen, um diesen Organismus zu erforschen. Vielleicht ist der Parasit nicht einmal intelligent und tut nur instinktiv das Richtige zur Erhaltung seines Wirtes. Vielleicht hat er aber auch übernatürliche Fähigkeiten und hört unsere Gedanken und kennt jeden unserer Schritte im voraus. Du mußt mir Zeit geben.« Bull deutete auf die transparente Wand. »Es gibt nicht nur dieses eine Opfer, Doc«, sagte er eindringlich. »Sondern irgendwo in dieser Wildnis sind noch an die fünfzig Menschen, von denen vermutlich jeder bereits einen solchen Parasiten hat. Wir müssen sie retten.« »Und wer kann sagen, ob wir nicht bald die nächsten sind«, -243-
erwiderte Emphor düster. Bull klopfte ihm auf die Schulter. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch da fand in dem Kreisraum unerwartet eine dramatische Veränderung statt. Das Ding um Ezzels Kopf begann auf einmal heftiger zu zucken. Es plusterte sich auf und entließ die angesaugte Luft wieder mit knallendem Geräusch. Pseudopodien bildeten sich zu peitschenartigen Auswüchsen und durchteilten pfeifend die Luft. Der Befallene wurde unter dem Toben seines Parasiten hinund hergerissen. Er taumelte wie eine Marionette, während der Parasit über seinen Schultern immer mehr in Raserei geriet. »Unternimm etwas, Doc!« schrie Bull entsetzt. »Zerstrahle das Ding! Lähme es! Paralysiere es! Nur tu irgend etwas, bevor es Ezzel umbringt!« Der Ära stand bereits an den Armaturen und befahl dem Medo-Computer: »Paralysierung des fremden Objekts. Beginnend mit breitgefächerter Bestrahlung. Dosis steigernd bis größtmöglicher Belastbarkeit.« Der gesprochene Befehl genügte, daß der Computer augenblicklich handelte. Im ersten Moment sah es aus, als zeitigten die paralysestrahlen keinerlei Wirkung - der Parasit schien nur noch mehr zu toben. Aber als die Intensität erhöht wurde, brachen die ekstatischen Zuckungen jäh ab. Der Prä-Siganese fiel durch das plötzliche Gewicht nach vorne, denn der Parasit hatte den größten Teil seiner Masse vor seinem Gesicht konzentriert. Aber als Ezzel am Boden lag, begannen sich seine Glieder zu regen. Der Parasit hing dagegen als schlaffer Klumpen von seinem Kopf. »Ezzel hat nichts abbekommen«, sagte Doc Emphor erleichtert. »Seine Gehirnstörme zeigen, daß er sogar bei Bewußtsein ist.« »Könntest du den Parasiten operativ von ihm entfernen?« fragte Bull. -244-
»Nicht ohne eingehende Untersuchung.« »Worauf wartest du dann noch!« herrschte Bull ihn gereizt an. »Jetzt hast du Gelegenheit dazu. Ich werde nicht von deiner Seite weichen, bis du mir Bescheid geben kannst.« Aus dem Lautsprecher drangen einige dumpfe Laute. Doc Emphor starrte ungläubig in den Isolationsraum. »Das war der Befallene«, sagte er verblüfft. »Er versucht, sich mit uns zu verständigen.« Sie kamen mit einer Antigravbahre und wollten den Prä-Siganesen darauf betten. Aber er wehrte sich dagegen, weil er offenbar nicht merkte, was mit ihm geschah. Sie redeten beruhigend auf ihn ein, und er stammelte unzusammenhängende Worte, von denen nur ganz wenige zu verstehen waren. Und egal, in welcher Reihenfolge sie man zusammensetzte, ergaben sie keinen rechten Sinn. Er sagte etwas von ›Heimkehr‹ und ›nicht aufhalten‹, bat um ›Hilfe für. . . ‹ und warnte vor ›Dummheit‹. Durch den klumpenartigen Parasiten klang seine Stimme dumpf, sie kam aus irgendeiner Öffnung, die eine Verbindung zu seinem Mund darstellte. Ein Wort - es war offenbar ein Name - wiederholte er immer wieder – ›Nekix‹ oder ›Nekiggs‹. Schließlich verfrachtete man ihn trotz heftiger Gegenwehr auf die Bahre und brachte ihn in den angrenzenden Behandlungsraum wo der Parasit sofort an die verschiedenen Geräte angeschlossen wurde. Doc Emphor besprach mit dem Computer die verschiedenen Möglichkeiten für eine operative Entfernung des Schmarotzers. Bull bekam nur so viel mit, daß Emphor und der Medo-Robot in dem Punkt übereinkamen, daß der Parasit permanent betäubt zu bleiben hatte. »Nicht töten!« rief der Prä-Siganese plötzlich. »Laßt Nekiggs in Ruhe, sonst bringt ihr mich um.« -245-
Das war der erste zusammenhängende Satz, den er bisher von sich gegeben hatte. »Roque Ezzel, kannst du mich hören?« sagte Bull nahe dem betäubten Parasiten. »Ich bin Reginald Bull.« »Reginald Bull?« wiederholte Ezzel; er konnte offenbar jedes Wort verstehen. »Sprich ein Machtwort, Bull! Nekiggs muß zu sich kommen, sonst sterbe ich. Ohne ihn bin ich. . . « Der Satz blieb unausgesprochen. »Wir wollen versuchen, dich von dem Parasiten zu befreien«, sagte Bull. Der Prä-Siganese bäumte sich auf und gab einen langgezogenen Klagelaut von sich. Sie drückten ihn wieder auf den Operationstisch zurück. »Nicht«, stöhnte er. »Das dürft ihr nicht tun. Laßt mich los. Gebt mich frei. Ich muß zurück, bevor. . . « Er sprach den Satz wieder nicht zu Ende. »Ist Nekiggs der Name deines Parasiten?« wollte Bull wissen. »Kein Wort!« sagte Ezzel. »Ich sage nichts mehr.« »Ezzel, wo sind die anderen? Irmina Kotschistowa und ihr Team?« »Sucht sie nur ja nicht, sonst. . . ist alles verloren.« »Sind die anderen auch von solchen Parasiten befallen?« fragte Ezzel bewegte sich unruhig. Seine Hände tasteten immer wieder nach dem Parasiten, aber der Medo-Robot drückte sie ihm heruter. »Irmina hat Deskin. . . Stepen hat Morleon. . . Alle sind gut bedient.« »Haben die Parasiten euch veranlaßt, die Forschungsstation zu räumen?« »Ein Abkommen. Irmina war der Meinung«, sagte Ezzel, »daß es besser sei, wenn wir uns versteckten. Sie wollte nicht noch mehr in die Sache hineinziehen. . . so schon verzwickt genug.« -246-
»Ezzel, du warst als erster von einem Parasiten befallen. Erinnerst du dich, wie es dazu kam?« Bull zuckte zurück, als sich der Parasit plötzlich regte. Aber dann erkannte er, daß nur der Prä-Siganese den Kopf bewegte, er schien bestätigend genickt zu haben. »Ich schwieg zuerst darüber«, berichtete er mit dumpfer Stimme. »Als ich Irmina von meinem Erlebnis berichtete, war es zu spät.« »Was für ein Erlebnis, Ezzel?« »Ein Torpedo. . . plötzlich schwebte ein Torpedo vor mir. Es war in der Nähe unseres Stützpunkts. Der Flugkörper war fremdartig, erschien mir aber als harmlos. Doch dann schoß er auf mich. Etwas traf mich im Gesicht. . . sonst nichts. Erst später bekam ich die Gesichtsbeulen und unerträgliche Schmerzen. . . « »Bist du der Meinung, daß dieser Torpedo, die Saat des Parasiten auf dich abgeschossen hat?« »Er pflanzte mir Nekiggs ein, klar.« Bull wandte sich Doc Emphor zu. »Jetzt wissen wir wenigstens ungefähr, wie es sich abgespielt hat«, sagte er. »Wir müssen nach diesem Torpedo suchen und ihn vernichten, bevor er die Parasitensaat weiter verbreiten kann. Wie sieht deine Diagnose aus?« »Ich kann nicht operieren«, sagte der Ära. »Der Parasit hat sich mit seinen Nervensträngen regelrecht in Ezzel verankert. Und ich kann sie nicht einfach durchtrennen. Wir müßten eine Möglichkeit finden, den Parasiten derart zu reizen, daß er seinen Wirt freiwillig aufgibt. Das wäre die einzige Chance für Ezzel.« »Ihr dürft Nekiggs nichts tun«, meldete sich da der Prä-Siganese der das Gespräch offenbar mitgehört hatte. »Ich muß mit ihm zurück, sonst ist alles verloren.« »Wo liegt euer Unterschlupf?« fragte Bull. »Nein, nein!« rief Ezzel. »Ihr dürft nicht nach uns suchen. Das wäre das Ende.« -247-
»Warum bist du zu uns gekommen?« »Um euch zu warnen«, antwortete Ezzel. »Ich wollte eine Botschaft hinterlassen, damit ihr nicht nach uns sucht. Ihr müßt mich jetzt gehen lassen. Und ihr dürft mir nicht folgen.« »Vermutlich würden euch die Parasiten dann töten?« wollte Bull wissen. »Unsinn!« rief Ezzel. »Sie töten doch nicht ihre Partner, aber. . . Das verstehst du nicht, und es ist besser so.« Doc Emphor zog Bull beiseite und flüsterte ihm zu: »Die Paralyse läßt allmählich wieder nach, der Parasit wird bald wieder zu sich kommen. Was sollen wir tun?« Bull überlegte kurz, dann sagte er entschlossen: »Wir haben keine andere Wahl, als Ezzel laufenzulassen. Ich fürchte um das Leben der anderen, wenn er nicht zurückkommt. Oder aber die Parasiten würden eine Attacke gegen uns starten, um auch uns zu übernehmen. Beide Aussichten gefallen mir nicht.« »Eine kluge Entscheidung«, sagte Emphor zustimmend, fügte aber gleich darauf hinzu: »Nur bringt uns das nicht weiter.« »Vielleicht doch.« Bull senkte seine Stimme noch mehr. »Ich möchte, daß man dem Prä-Siganesen einen Spion anhängt. Wenn wir die Peilsignale verfolgen, wird er uns in das Versteck führen.« »Ist selbst das nicht zu riskant?« gab der Ara zu bedenken. »Wir müssen dieses Risiko eingehen«, sagte Bull gepreßt. »Verdammt, ich kann doch nicht tatenlos zusehen, wie die Kameraden von Parasiten gegängelt werden. Hänge Ezzel den Spion an, aber so, daß er nichts davon merkt.« Bull fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er konnte nicht einfach die Hände in den Schoß legen und die Befallenen sich selbst überlassen. Andererseits war ihm aber auch klar, daß jede Handlung ihr Schicksal besiegeln konnte. »Laßt Ezzel gehen«, befahl er so laut, daß der Prä-Siganese es hören konnte. »Soll er sich mit seinem Parasiten zum Teufel -248-
scheren. Er will es nicht anders.« Der Prä-Siganese erhob sich mühsam vom Operationstisch. Als Doc Emphor ihn stützen wollte, stieß er seine Hand zurück. »Ich bin keineswegs hilflos«, sagte er, und es klang wütend. »Ich gehe den Weg allein. Nekiggs leitet mich.« Tatsächlich fand er den Ausgang ohne fremde Hilfe. Nachdem er durch die Luftschleuse gegangen war, stand er eine Weile reglos da. Erst als der Parasit durch Zuckungen anzeigte, daß die Paralyse von ihm abfiel, setzte er sich wieder in Bewegung. Gleich darauf war er im Dschungel verschwunden. In diesem Augenblick meldete sich Kapitän Koram von der ANKARA. »Bully! Dir ist doch wohl klar, daß ich euch nach diesem zwischenfall unter keinen Umständen an Bord lassen kann, keinen von euch! Ihr seid in direkten Kontakt mit dem Parasiten gekommen. Wer weiß, ob ihr nicht bereits alle infiziert seid.« Bull erwiderte darauf nichts. Bull glaubte nun die Hintergründe zu kennen und zu wissen, wie die Sache vor sich gegangen war. Auf Details kam es dabei gar nicht so an. Es war egal, auf welche Weise Irmina die Saat des Parasiten auf sich übertragen hatte. Vermutlich spielte es sich aber so ab, daß sie den Kontakt mit dem torpedoförmigen Flugobjekt gesucht hatte, um sich von diesem beschießen zu lassen. Möglicherweise aber hatte sie auch ein anderer Parasitenträger (etwa Roque-Ezzel) in die Falle gelockt, und sie stellte es nur Bull gegenüber so dar, daß sie sich freiwillig infiziert hatte. Damals mußte Irmina noch glauben, daß es sich um eine Krankheit handelte. Erst als sie die Saat des Parasiten in sich trug und sie ihn demnach auch lokalisieren konnte, dürfte sie auf die Wahrheit gekommen sein. Und sie mußte auch erkannt haben, wieso sie die Ursache früher nicht hatte erkennen können. Die Antwort war nun ganz klar: Sie hatte es nicht mit irgendeinem Virus zu tun, sondern mit einem vernunftbegabten -249-
Parasiten, dessen Saat erst aufging, wenn er einen geeigneten Wirtskörper gefunden hatte. Nachdem Irmina dies alles wußte, brach sie jeden weiteren Kontakt mit Terra und HQ-Hanse ab. Gründe für diese Handlungsweise gab es viele, und vermutlich wollte sie die Führung der Hanse mit der Nachricht über intelligente Parasiten nicht beunruhigen, ebenso wie sie die Parasiten an einer weiteren Ausbreitung hindern wollte. Unter diesen Voraussetzungen mußte auch ihre nächste Maßnahme gesehen werden: Sie räumte das Forschungsinstitut, weil sie sicher sein konnte, daß die Hanse ein Erkundungsteam nach Adebar schicken würde. Um diese Leute nicht zu gefährden und um zu verhindern, daß auch sie von Parasiten befallen wurden, zog sie sich mit ihrem Team in ein Versteck zurück. So weit, so gut. Aber es gab noch einige Ungereimtheiten. Wenn die Parasiten an Expansion interessiert waren und weitere Wirtskörper haben wollten, warum schickten sie dann Ezzel aus, um Bull zu warnen? Das paßte nicht in das bisherige Bild. Es mochte aber auch sein, daß es sich um eine besonders raffinierte Taktik der Parasiten handelte, und daß sie intelligent genug waren, ihn, Bull, zu eben jener Handlungsweise zu reizen, die er nun beabsichtigte, nämlich Ezzel einen Spion anzuhängen und ihn zu verfolgen. »Das ist denn doch zu kompliziert«, sagte sich Bull. Die Wahrheit mußte viel einfacher sein; irgendwo hatte sich in seinen Überlegungen ein Fehler eingeschlichen. Denn eines war auch klar: Selbst wenn alle anderen Teammitglieder willentlich von den Parasiten beeinflußt wurden, Irmina mußte sich dank ihrer Mutantenfähigkeit ihre Willensfreiheit bewahrt haben. Warum unternahm sie dann nichts gegen die Parasiten? Sie schickten in sicherem Abstand eine Minisonde hinter dem Parasitenträger her, die die schwachen Peilsignale auffing und -250-
gebündelt weiterschickte. In einem weiteren Sicherheitsabstand folgte Bull der Peilsonde - er war allein, darauf hatte er bestanden, erst hinter ihm kam das Suchkommando mit der umfangreichen technischen Ausrüstung. Darunter auch Doc Emphor und sein Team mit der medizinischen Ausrüstung, die für Notbehandlungen an Ort und Stelle gedacht war. Bull stand mit den anderen auf einer sonst ungebräuchlichen Frequenz in Funkverbindung. Ezzel hatte sich vom Lagerplatz aus in Richtung der aufgelassenen Forschungsstation durchgeschlagen und bewegte sich in gerader Linie weiter. Das ging so etwa zwei Kilometer. Danach änderte er jedoch seinen Marschrhythmus, wurde mal schneller, dann wieder langsamer, hielt gelegentlich für länger an und schlug sich kreuz und quer durch den Dschungel. »Was soll denn das bedeuten?« fragte Armin Treet, der das Hauptkontingent anführte, über Funk. »Bist du sicher, daß du Ezzels Peilsignalen auf der Spur bist, Bully?« »Daran kann kein Zweifel bestehen«, antwortete Bull. »Ich folge exakt den Impulsen, die ich von der Sonde empfange.« Bull hatte es aufgegeben, sich einen Weg durch das Dickicht zu schlagen. Er machte sich die Einrichtungen des Druckanzugs zunutze und schwebte auf den Antigravfeldern. Auf diese Weise konnte er allen Hindernissen ausweichen und Bodenunebenheiten mühelos überbrücken. »Ich nehme an, daß Ezzel oder sein Parasit sich darauf besonnen hat, daß wir ihm folgen könnten«, fuhr Bull fort. »Nun versucht er Ablenkungsmanöver. Er kann nicht wissen, daß wir den Peilsignalen seines Spions folgen.« Die Peilsignale wanderten nach links, dann hielten sie an. Bull verharrte einige Minuten und gebot auch Treets Gruppe über Funk Einhalt. Als er allmählich ungeduldig zu werden begann, bewegten sich die Peilsignale wieder weiter, und zwar hart nach rechts. Sie wanderten in einem Bogen immer weiter in diese -251-
Richtung, bis sie auf einmal. . . »Das gibt es nicht!« rief Bull ungläubig aus. »Ezzel kommt wieder zurück. Er hält genau auf mich zu.« »Da stimmt doch etwas nicht!« sagte Treet. »Der Meinung bin ich auch«, stimmte Bull zu. Die dumpfe Ahnung, daß Ezzel oder sein Parasit sie überlistet hatte, wurde immer stärker. Bull fluchte. Er schaltete sein Flugaggregat ein und schoß auf die entgegenkommenden Peilsignale zu. Plötzlich schlugen diese einen Haken und wanderten, schneller als ein Mensch sich bewegen konnte, in seitlicher Richtung ab. »Was ist denn jetzt schon wieder?« fragte Treet an. »Ich bin gleich am Ziel«, antwortete Bull gepreßt. »Dann kann ich dir sagen, welches Spiel Ezzel mit uns treibt.« Wenige Minuten später hatte Bull die Quelle der Signale eingeholt. Er fluchte wieder, als er sah, daß es sich dabei um eine sechsbeinige Raubkatze mit gelbbraun gesprenkeltem Fell handelte, die mit mächtigen Sätzen vor ihm flüchtete. Bull bremste seinen Flug und landete auf dem dicken Ast eines Urwaldriesen. »Ezzel muß den Spion entdeckt haben«, berichtete Bull. »Er hat einem Raubtier in den Pelz gesetzt. Inzwischen wird er über alle Berge sein. Und wir können mit unserer Suche von neuem beginnen.« »Das ist nicht unbedingt gesagt«, meldete Treet aufgeregt. »Wir haben eine starke Energiequelle ausgemacht. Das heißt, sie wird immer stärker, als fahre jemand ein Kraftwerk hoch. Es liegt in etwa fünf Kilometer Entfernung, und zwar im rechten Winkel zu unserer bisherigen Richtung.« »Ich komme zu euch«, sagte Bull. Die Energiequelle lag in einem Gebiet, das sie aus der Luft bereits abgesucht hatten, ohne irgend etwas Auffälliges zu entdecken. -252-
Aber zu diesem Zeitpunkt war auch noch niemand darangegangen, starke, hyperenergetische Kraftfelder aufzubauen. Und an dieser Stelle war der Dschungel besonders dicht, so daß optisch nichts zu erkennen war. »Ein gutes Versteck«, sagte Bull, als er zu Treets Gruppe gestoßen war. »Aber warum nehmen sie auf einmal das Risiko einer Entdeckung auf sich, indem sie mit Hyperenergien operieren?« fragte Treet. »Sie werden auf Tarnung keinen Wert mehr legen«, antwortete Bull. »Und das wiederum kann nur bedeuten, daß sie irgendeine Entscheidung treffen wollen. Wir müssen schnell machen, um das schlimmste zu verhindern.« Bull traf einige rasche Anordnungen. Die Männer und Roboter schwärmten aus und bildeten einen weiten Halbkreis, um sich der Energiequelle von mehreren Seiten zu nähern. Die n-dimensionalen Kraftfelder waren inzwischen bereits so stark, daß Bull sie mit dem Energietaster seines Raumanzugs orten konnte. Ihre Kapazität entsprach etwa der eines Schutzschirms, nur daß die Energien konzentrierter waren, sich nur über geringe räumliche Abmessungen erstreckten. Das konnte alles mögliche bedeuten. Bulls schlimmste Befürchtung jedoch war die, daß Irmina keinen anderen Ausweg mehr sah, sich der Parasiten zu erwehren, als sich und ihre Crew mitsamt den Schmarotzern in einem hyperenergetischen Feuer zu vernichten. Bull behielt seine Befürchtungen für sich, aber die anderen dachten wohl in ähnlichen Bahnen. Alle Vorsicht vergessend strebten sie ihrem Ziel zu. Erst als es Bull durch das Pflanzengewirr metallen aufblitzen sah, gebot er Halt. Er befahl den anderen, auf sein Zeichen zu warten, dann setzte er den Weg mit Treet und zwei Robotern fort. Trotz der hinderlichen Druckanzüge gelang es ihnen, sich unbemerkt bis zum -253-
Rand einer Lichtung durchzuschlagen. Dort bot sich ihnen ein phantastischer und gleichermaßen unheimlicher Anblick. »Das ist ja entsetzlich«, flüsterte Treet mit belegter Stimme. »Die Szene erinnert mich an einen Pferch, in dem Menschen wie Tiere gehalten und von ihren Parasiten gemolken werden.« »Die Betroffenen empfinden das offenbar nicht so«, erwiderte Bull. »Sie sind apathisch und willenlos und merken gar nichts von ihrem Schicksal.« »Warum hat dann Ezzel nicht so inaktiv gewirkt?« sagte Treet wie zu sich. »Sein Parasit wird für kurze Zeit die Zügel gelockert haben, oder zumindest hat er diesen Anschein erweckt«, sagte Bull; ihm wurde in der Enge des Raumanzugs heiß und kalt zugleich. »Wir werden wohl keine andere Wahl haben, als in einem überfallartigen Angriff alle zu paralysieren. Die Parasiten dürfen keine Gelegenheit bekommen, ihren Opfern zu schaden.« »Gibt es keine andere Möglichkeit?« fragte Treet. Bull schwieg und nahm die gespenstische Szenerie in sich auf. Unter den mächtigen und dichten Kronen der Baumriesen war das Unterholz gerodet worden, so daß weniger eine Lichtung als eine von Pflanzen umschlossene Grotte entstand. Über diese freie Fläche waren einfache, behelfsmäßige Hütten verteilt, die oftmals nur aus einem Dach und zwei oder drei Seitenwänden bestanden, nicht selten handelte es sich aber auch nur um Schutzdächer auf vier Pfosten. In diesen primitiven Unterkünften waren die Einrichtungsgegenstände aus der Forschungsstation gelagert, bunt durcheinandergewürfelt und zumeist wahllos übereinandergestapelt. Monitoren lagen achtlos auf halb demontierten Schalteinheiten herum. Aggregate, Verteiler und Umformer waren in Winkeln abgestellt, so wie man sie abmontiert hatte. Gebrauchsgegenstände des alltäglichen Lebens, sonst nütz-254-
liche Helfer, wurden in dieser Umgebung zu funktionslosem Müll, weil sie an kein Energienetz angeschlossen waren. Wissenschaftliches Gerät von Millionenwerten lag achtlos und unbenutzt herum. Irmina Kotschistowa mochte sich gewiß etwas dabei gedacht haben, als sie die Forschungsstation abmontierte und in Einzelteilen hierherbrachte, doch hatte sie ihre Absichten nie ausgeführt. Nichts wies darauf hin, daß sie auch nur den Versuch gemacht hatte, die Präzisionsinstrumente zur Bekämpfung der Parasiten einzusetzen. Vermutlich war sie nicht mehr dazu gekommen, weil der Einfluß der Parasiten dies verhinderte. Im Mittelpunkt der gewaltigen Pflanzengrotte war ein hoher Palisadenzaun aus Jungstämmen errichtet worden. Bull entdeckte zwei Zugänge, doch waren diese durch vorgerückte Palisaden verdeckt. Immer wieder tauchte dieser oder jene Befallene auf und verschwand hinter den Palisaden. Aber es kam von dort keiner wieder zurück. »Die Energiequelle befindet sich hinter den Palisaden«, raunte Treet Bull zu. »Ich möchte zu gerne wissen, was mit den Befallenen geschieht, die sich hinter diesen Kral begeben?« Bull stellte fest, daß alle Befallenen ruhig und gelassen wirkten. Sie saßen oder standen herum und schienen zu meditieren. Aber Bull war sicher, daß dieser Eindruck trog - sie wirkten nur so ruhig, weil sie willenlose Werkzeuge ihrer Parasiten waren. Kein einziger, der sich gegen sein Schicksal auflehnte, keiner der Amok lief und in seiner Verzweiflung versuchte, sich von dem Wesen zu befreien, das sein Haupt krönte, nur friedliche und zufrieden wirkende Parasitenträger, die ihr Los einfach hinnahmen. Bull waren einige Mitglieder aus Irminas Team persönlich bekannt, aber er konnte keinen der Parasitenträger identifizieren Er suchte auch vergeblich nach Irmina Kotschistowa. Nur Roque -255-
Ezzel entdeckte er. Der Prä-Siganese hatte auf einer Pneumoliege unter einem Schutzdach geruht. Nun erhob er sich und schritt in Richtung des Krals, sein Parasit pulsierte regelmäßig, über seine zuckende Oberfläche floß ein bläulicher, ölig wirkender Film. Bull hatte den Eindruck, daß der Parasit diese Flüssigkeit in verstärktem Maß absondere. Diese Überlegung verursachte ihm leichte Übelkeit, und er verfolgte diesen Gedanken nicht weiter. »Schlagen wir endlich zu!« drängte Treet. »Die energetische Ausstrahlung ist bereits so stark, daß es jeden Augenblick zur Katastrophe kommen kann. Was zögerst du noch, Bully!« »Du hast recht, Armin«, sagte Bull und riß sich von dem Anblick los; er würde Irmina doch nicht unter den Parasitenträgern finden. Dabei hatte er so sehr darauf gehofft, von ihr eine Erklärung für das Geschehen und Antworten auf die offenen Fragen zu bekommen. Irgendwie ahnte er, daß alles ganz anders war, als es den Anschein hatte. Er fügte hinzu: »Ich wollte mir nur einen Überblick verschaffen.« »Dann gib jetzt endlich das Zeichen zum Angriff!« verlangte Treet mit schriller Stimme, aus der die Verzweiflung sprach. Bull nickte. Doch bevor er noch den Befehl über Funk geben konnte, erklang hinter ihm eine unnatürlich verzerrte Stimme. »Tu es nicht, Bully«, sagte sie. »Du könntest mit einem einzigen Wort alles wieder zerstören, was ich mühevoll erreicht habe.« Bull und Treet wirbelten herum. Sie sahen eine weibliche Gestalt, schlank und großgewachsen, doch betagt wirkend. Wo der Kopf einer alten Dame hätte sein sollen, befand sich das unförmige Gebilde eines Parasiten. Bull hob unwillkürlich den Paralysator, aber die Parasitenträgerin kam ihm zuvor. Sie hatte ein Funksprechgerät in der einen Hand, mit der sie offenbar ihre Frequenz abgehört hatte, und einen Lähmstrahler in der anderen. Damit paralysierte sie -256-
Bulls Rechte. »Ich hätte gedacht, daß wenigstens du dich gegen deinen Parasiten behaupten könntest, Irmina«, sagte Bull. »Deskin und seine Artgenossen sind alles andere als Parasiten«, sagte Irmina mit einer Stimme, die nur schwer als die ihre zu erkennen war. »Sie sind Symbionten, die von ihrer sterbenden Welt hierhergekommen sind, weil sie neue Lebenspartner brauchen, um nicht selbst auszusterben.« »Klar, es kann gar nicht anders sein«, sagte Bull zynisch. »Du glaubst mir nicht, das ist verständlich«, sagte Irmina, und es klang bedauernd. »Aber folge mir, dann kannst du dich davon überzeugen, daß keinerlei Anlaß zu gewaltsamem Eingreifen besteht. Und lege den lächerlichen Druckanzug ab. Es besteht kein Grund zu der Befürchtung, daß ein Symbiont dich zu seinem Partner erwählt.« »Lieber nicht«, sagte Bull. Aber er gab Treet ein Zeichen, mit ihm Irmina zu folgen. Sie ging voran auf den Kral zu. Die anderen Parasitenträger schenkten ihnen keine Beachtung. Sie blieben unbewegt und schienen nur darauf zu warten, endlich den Weg hinter die Palisaden antreten zu dürfen. Treet hob seinen Paralysator gegen Irmina Kotschistowa, doch Bull drückte ihm mit der Linken die Waffe hinunter. »Versuchen wir, den Weg zu gehen, den Irmina uns zeigt«, sagte Bull.
6. Als Irmina Kotschistowa erkannte, daß es sich nicht um irgendeinen Krankheitserreger handelte, sondern um ein im Werden begriffenes Lebewesen, da war sie zuerst über alle Maßen entsetzt. -257-
Sie ließ Bull wissen, daß sie einen Selbstversuch machen wolle und brach den Kontakt zu Terra ab. In Wirklichkeit war sie, so wie alle anderen, ungewollt ›infiziert‹ worden. Nur daß es sich eben um keine Infektion handelte, sondern um die Saat eines vollwertigen Lebewesens. Doch auch dies mit der Einschränkung, daß dieses Wesen offenbar nicht selbständig lebensfähig war. Natürlich dachte auch Irmina zuerst, daß es sich um einen Parasiten handele. Doch durch Selbstbeobachtung und mit Hilfe ihrer paramentalen Fähigkeiten erkannte sie allmählich, daß dies ein höherentwickeltes Lebewesen war, das nicht an seinem Wirtskörper schmarotzte. Die Nebenwirkungen wie Fieber, Übelkeit und Krämpfe waren nur eine vorübergehende Begleiterscheinung im Entwicklungsstadium dieses Lebewesens. Es entwickelte sich aus einer einzelnen Zelle zu einem embryonalen Gebilde und zu einem Fötus. Diese Entwicklung verfolgte Irmina durch Zellanalyse, und sie fand durch eine Gen-Analyse schnell heraus, wohin diese Entwicklung führen würde. Sie verfolgte das Wachstum ihres Symbionten mit wachsendem Interesse und stellte zufrieden fest, daß sich sein Gehirnvolumen beachtlich vergrößerte. Der Symbiont nährte sich von den vielfältigen Ausscheidungen ihres Körpers, ohne dessen Substanz anzugreifen. Irmina erlitt, ebenso wie alle anderen Befallenen, keinen Schaden. Ihr Organismus fand alsbald zu seinem Rhythmus zurück, der Symbiont paßte sich ihr an. Freilich stellte er, je größer sein Volumen wurde, eine steigende seelische Belastung dar. Es bedurfte nicht erst der Gespräche mit den anderen Symbiontenträgern, um zu wissen, wie sehr sie unter diesem Zustand litten. Es kam der Tag, da war der Reifeprozeß ihres Symbionten soweit abgeschlossen, daß sie sich mit ihm unterhalten konnte. -258-
Das geschah nicht akustisch, sondern durch Gedankenaustausch, auf dem denkbar direktesten Weg, denn Deskin, wie ihr Symbiont hieß, hatte Nervenleitungen zu allen wichtigen Sektoren ihres Gehirns. Deskin wäre sogar in der Lage gewesen, alle ihre Gehirnfunktionen zu steuern. Doch als sie ihn wissen ließ, daß sie das verabscheute, unterließ er es. »Ich bin nicht als Eroberer gekommen«, ließ er sie wissen. »Ich möchte dich zum gleichwertigen und gleichgestellten Partner haben. Du sollst mit mir eine Lebensgemeinschaft eingehen.« »Und wenn ich mich weigere?« fragte sie. »Ich werde dich von den Vorteilen einer solchen Partnerschaft überzeugen versuchen.« »Und wenn ich dann immer noch nicht will?« »Du ahnst noch gar nicht, was du bei einer Symbiose mit mir zu erwarten hast. Entscheide dich erst, wenn du informiert bist.« »Wirst du nötigenfalls auch Gewalt anwenden, Deskin?« »Zwang könnte nie zu einer gleichberechtigten Partnerschaft führen.« Irmina hatte ihrem Symbionten anfangs nicht geglaubt, und als Deskin von den Sorgen und Nöten seines Volkes berichtete, da war sie immer skeptischer geworden. Während sie dem Kral zustrebten, sagte Irmina zu Bull: »Es ist schade, daß wir Menschen für eine solche Symbiose nicht geeignet sind. Durch Deskin habe ich neue Perspektiven kennengelernt, ich habe Einblick in Dinge bekommen, die wir Menschen mit unseren Sinnen - und selbst mit Parasinnen - nie erfassen können. Wie recht die Philosophen doch haben, die schon immer sagten, daß nicht alles real ist, was wir als Realität sehen, und daß die Wirklichkeit erst hinter den von uns erfaßten Dingen liegt, aber wir Menschen haben eine Sperre. Diese Schranke, die von unseren Ansichten über Moral und Ethik gebildet wird, können wir einfach nicht niederreißen. Auch nicht mit Hilfe eines Symionten von der Art -259-
Deskins. Im Gegenteil, er weckt nur unseren Widerwillen vor einer solchen Symbiose. Ich rede zwar sehr klug, aber über diese Emotionen kann auch ich mich nicht hinwegsetzen.« Irmina hatte ihrem Symbionten zu erklären versucht, warum Menschen nicht fähig waren, eine solche Partnerschaft einzugehen. »Menschen ahnen zwar etwas über die wahren Dinge der Schöpfung, reden viel darüber, wie wertvoll es wäre, danach zu streben, aber sie handeln nicht danach, nehmen sie letztlich nicht für sich in Anspruch«, hatte sie Deskin zu erklären versucht, war dabei jedoch auf Unverständnis gestoßen. »Eine der endgültigen Wahrheiten ist jedenfalls, daß wir Menschen noch bessere Tiere sind und nicht die geistige Reife besitzen, die wahren Werte als höchstes Gut auch anzustreben. Und wenn ich das sage, weiß ich daß es eine gute Ausrede ist, um alle unsere Fehler zu entschuldigen.« Deskin hatte ihr vor Augen geführt, auf was sie alles verzichtete wenn sie eine Symbiose mit ihm ablehnte. Seine Argumente Beweise und Demonstrationen waren stichhaltig, sie waren in sich so überzeugend, daß sich Irmina vor einer »Zwangsbeglückung« zu fürchten begann. Es gab aber noch einen Grund, mit dem Deskin jedoch nie argumentierte, der dafür ausschlaggebend hätte sein können, die Menschen zu einer Symbiose zu zwingen. Sie hatten den Kral schon fast erreicht, da blieb Irmina stehen und sagte: »Deskins Volk ist praktisch unsterblich, sie besitzen so relative Unsterblichkeit wie ich durch meinen Zellaktivator. Das Volk, das sie auf ihrer Heimatwelt zu Symbionten auserwählt haben, ist es jedoch nicht. Und nun ist dieses Volk zum Aussterben verurteilt. Frage mich nicht nach dem Grund, es wäre zu langwierig, dies zu erklären. Vielleicht später einmal. Jedenfalls ist dieses Symbiosevolk nicht mehr in der Lage, sich fortzu-260-
pflanzen. Es liegt auch daran, daß ihm der Lebenswille fehlt. Wie auch immer, Deskins Artgenossen verlieren nach und nach ihre Lebenspartner. Ohne Symbionten aber sind sie nicht lebensfähig, entwickeln sich zurück zu Urzellen. Überdauern in diesem Zustand Äonen, bis sie wieder auf Intelligenzwesen treffen, die sich als Lebenspartner eignen. Deskin und andere Einsame wie er wurden in einem Zeit-Raumschiff ausgeschickt, um nach geeigneten Symbionten zu suchen. Und sie trafen auf dieser Welt auf uns. Ihr Robotschiff, erbaut von dem im Aussterben begriffenen Symbiosevolk, verpflanzte sie in uns. . . Alles weitere ist bekannt.« Irmina machte eine Pause und deutete auf die Palisaden. »Dahinter werden gerade die Vorbereitungen für eine Rückkehr zu Deskins Heimatwelt getroffen. Es entsteht eine Art Fiktivtransmitter, durch den die Symbionten mit ihren Lebenspartnern geradewegs zu ihrer sterbenden Welt gelangen können. Willst du sie mit Gewalt daran hindern, Bully?« »Ich will verhindern, daß Menschen gegen ihren Willen verschleppt werden«, antwortete Bull. »Ich könnte das nicht zulassen, die Vorstellung, daß Menschen durch solche unförmigen, zuckenden Fleischklumpen geknechtet werden und als Monstren ihr Dasein fristen müssen, ist mir widerwärtig. Ja, ich würde auch Gewalt anwenden, um das zu verhindern.« »Deskin hat deine Worte gehört, und sie stimmen ihn traurig«, sagte Irmina. »Sei froh, Bully, daß ich ausführliche Diskussionen über das Wesen der Menschen mit ihm geführt habe, sonst könnte er dich mißverstehen.« Irmina schauderte bei diesem Gedanken, aber ihr Symbiont sandte ihr beruhigende Impulse. Sie hatte lange in der Angst gelebt, daß der Selbsterhaltungstrieb der Symbionten stärker als alles andere sein könnte. Wofür hätte sich eigentlich die Menschheit entschieden, wenn es hart auf hart gegangen wäre, wenn sie zwischen dem Fortbestand einer ›minderen‹ Art und -261-
ihrem eigenen zu wählen gehabt hätte? Irmina glaubte die Antwort zu wissen, und daraus war ihre Angst entsprungen, daß die Symbionten sich ebenso entscheiden könnten. Eine allzu menschliche Angst, aber unbegründet, wie sie an Deskins Reaktion erkannte. »Nun habe ich keine Angst mehr«, sagte Irmina zu Bull. Bisher hatte sie befürchtet, daß die Aggression der Menschen auf die Symbionten überspringen könnte. Darum hatte sie sich mit den anderen ihres Teams in die Wildnis zurückgezogen. Und sie hatte Roque Ezzel zu Bully geschickt, um ihn vor unüberlegten Handlungen zu warnen. Doch Bully hatte die Botschaft mißverstanden, wie eigentlich nicht anders zu erwarten. Er hätte selbst einen Symbionten haben müssen, um die Lage richtig einzuschätzen. Darum war Bully kein Vorwurf zu machen, er hatte sich eben menschlich verhalten. »Kommt«, sagte Irmina nur und trat zwischen den Palisaden in den Kral. Dort stand im Mittelpunkt das torpedoförmige Zeit-Raumschiff. Um dieses spannte sich ein dunkel waberndes Transmitterfeld. Von ihrem Symbionten erfuhr Irmina, daß es die für die Abstrahlung erforderliche Intensität bereits erreicht hatte. »Du zweifelst immer noch, daß wir auf euch verzichten«, ließ Deskin sie wissen. »Das macht mich wehmütig.« Irmina schämte sich ihrer Zweifel, und sie hätte Deskin gerne versichert, daß sie ihm vertraute, aber der Symbiont wußte es besser. Sich selbst konnte sie etwas vormachen, aber Deskin blickte in ihr Innerstes. »Wir gehen«, sagte Deskin nur. Irmina gesellte sich zu den anderen Symbiontenträgern, die sich um das Transmitterfeld drängten. Sie hörte Bullys Stimme aus dem Funksprechgerät. Er versuchte verzweifelt, sie zurückzuhalten. Aber sie hörte nicht auf ihn. Sie wollte ihrem -262-
Symbionten wenigstens die Heimkehr ermöglichen. Das Transmitterfeld weitete sich urplötzlich aus und hüllte die gesamte Gruppe der Symbiontenträger ein. Ohne daß sie es wollte, stellte sich Irmina plötzlich wieder die bange Frage, ob Deskin sie und die anderen nicht vielleicht doch noch mit auf die Reise nehmen würde. Aber da war alles auch schon wieder vorbei. Sie spürte einen starken Zug in ihrem Geist. Die Zeit schien stillzustehen, als etwas, mit dem sie schon untrennbar verwachsen schien, von einem starken Sog aus ihr gerissen wurde. Irmina schrie, aber Deskin hörte sie nicht mehr. Das dunkle Kraftfeld erlosch in einer lautlosen Implosion und riß das Zeit-Raumschiff mit sich. Irmina fühlte sich auf einmal einsam und verloren. Bully stürzte auf sie zu. Er hatte den Raumanzug geöffnet, seine Rechte war immer noch paralysiert, und so konnte er sie nur mit der gesunden Linken an sich drücken. »Ich hätte das nicht für möglich gehalten«, sagte er ungläubig. »Du bist völlig unversehrt, Irmina. Alle sind frei von Parasiten, und ihre Gesichter weisen nicht einmal Wunden oder Narben auf.« »Symbionten«, sagte Irmina tonlos. »Es sind Symbionten.« »Ja, ja, Symbionten«, sagte Bull. »Aber trotzdem, wie hast du es geschafft, sie loszuwerden, Irmina?« »Sie haben einfach verzichtet«, sagte Irmina. »Ich glaube sogar, daß Deskin letztlich froh war, mich losgeworden zu sein.« »Das begreife ich nicht«, sagte Bull. »Aber was macht das schon! Hauptsache, die Sache ist gut ausgegangen. Wir dürfen die Quarantänebestimmungen trotzdem nicht außer acht lassen, um sicher sein zu können, daß wir die Saat der - ehäm - Symbionten nicht nach Terra einschleppen.« »Du kannst beruhigt sein, Bully«, sagte Irmina. »Aber tu nur, was du nicht lassen kannst.« -263-
Sie kehrten zum Lagerplatz zurück und blieben die erforderliche Zeit auf Adebar in Quarantäne. Sie nutzten diese Zeit, um die Forschungsstation wieder einzurichten und die Untersuchungen des Planeten weiterzuführen. Die Betroffenen fanden allmählich ihr seelisches Gleichgewicht wieder, und der allgemeine Tenor war, daß sie die Geschehnisse so rasch wie möglich vergessen wollten. Irmina versuchte erst gar nicht, das Positive in Erinnerung zu rufen, sie konnte die anderen aber auch nicht deswegen verurteilen, weil sie die Dinge nicht so sahen wie sie selbst. Es war nämlich leicht, nachträglich große Worte zu machen. Sie hatte noch oft an Deskin und seine Art gedacht und sich gefragt, ob sie mit ihrem Verzicht auf die Menschen als Symbiosepartner ihren Untergang herbeigeführt hatten. Wenn dem so war, hatte sie mit das Todesurteil über die Symbionten gefällt. Dieses vage Schuldgefühl wurde sie lange nicht los.
-264-
H. G. Francis
SPEKULANTEN Berthold Brecht sagt in seiner »Johanna der Schlachthöfe«: »Was ist der Raub einer Bank gegen die Eröffnung einer Bank!« Recht hat er. Wer eine Bank ausraubt, erbeutet längst nicht soviel Geld wie jemand, der selbst eine eröffnet. Noch mehr Reichtum aber kann jemand gewinnen, der weder das eine noch das andere tut, sondern der sich eine bereits gut florierende Bank in die Tasche steckt. Dann allerdings sollte er sich - zumal wenn er nicht von der Erde stammt - davon überzeugen, daß seine Tasche kein Loch hat. . .
Die Nachricht kam an einem sonnigen Tag im Februar, als die jungen Leute im Central Park spazierengingen und ihre Hundeleinen ausführten; lange, versteifte Plastikschnüre mit Schlaufen vorn dran, die gut und gern um die Hälse von Hunden gepaßt hätten. Sie hielten sie mit ausgestreckten Armen vor sich, als ob Hunde daran zerrten, und einige von ihnen plauderten angeregt mit nicht vorhandenen Tieren. Ein blonder Junge trabte mit beachtlichem Tempo an Homer G. Adams vorbei. Er lief rückwärts und blickte mit Hilfe eines Spiegels über die Schulter, um sich zu orientieren. Geschickt wich er allen Hindernissen aus, blieb dann einige Sekunden lang bei einem rothaarigen Mädchen stehen, das imaginäre Kugeln durch die Luft wirbelte, und rannte dann weiter. Homer G. Adams blieb stehen und blinzelte in die Sonne. Auf einer Bank in seiner Nähe saß ein grünhäutiger Joander, der überhaupt nicht in die Szenerie paßte. Er hielt eine positronische Schalttafel auf den Knien und tippte in rascher Folge Befehle ein, deren Ausführung er über einen kleinen Bildschirm ver-265-
folgte. Der Joander hatte den faltigen Kopf einer Echse, mit vier tief schwarzen Augen, von denen zwei zumeist unter den Falten versteckt blieben. Mit einer Hand bediente er die Positronik, machte sich zugleich Notizen mit der zweiten, strich sich die Falten an seiner Stirn mit der dritten glatt, kratzte sich mit der vierten am Hinterkopf, korrigierte den Sitz seiner leuchtend roten Hose mit der fünften und fütterte einige Spatzen, die sich neben der Bank tummelten, mit der sechsten. Doch all das erregte nicht die Aufmerksamkeit von Homer G. Adams. Dieser war häufig im Central Park von New York, er war es gewohnt, mit einigen Torheiten konfrontiert zu werden. Was interessierte ihn, daß ein überaus korpulenter Mann sich von einem etwa sechsjährigen, schmächtigen Jungen durch den Park tragen ließ, während ein anderer ihm ein Videogerät vorantrug, über dessen Bildschirm ein abenteuerliches Geschehen ablief? Der Junge tat nur so, als ob er schwer zu tragen hätte, tatsächlich schwebte der Mann auf einem Antigravfeld. Viel wichtiger war, daß ein Teil des Joanderkopfes zwei- oder eimal für einige Sekundenbruchteile unsichtbar geworden war. oder war er gar verschwunden gewesen? Laß dich nicht verrückt machen! ermahnte er sich. Diese jungen Leute tun alles, um die Erwachsenen zu verwirren. Kein Trick ist ihnen ausgefallen genug, und der Joander macht vermutlich mit. Er wird sich ausschütteln vor Lachen, wenn du ihn noch länger beobachtest. Dennoch. Das Phänomen beschäftigte ihn auch weiterhin. Homer G. Adams war so leicht nicht zu täuschen, und er mochte sich echt mit dem Gedanken anfreunden, daß er es wirklich nur mit einem Taschenspielertrick zu tun hatte. Die grünen Joander waren als Finanzgenies in der Galaxis bekannt, und sie interessierten ihn schon deshalb. Wallstreet war schließlich nicht weit. -266-
Doch Finanzen und optische Tricks - sofern es nicht mehr war - paßten nicht zusammen. Der spindeldürre Carmine Cassese eilte mit weitausgreifenden Schritten auf ihn zu. Homer G. Adams sah ihn schon von weitem, und er ahnte, daß es mit seiner wohlverdienten Ruhe vorbei war. Wenn sein Sekretär sich in dieser Weise bewegte, drohte von irgendeiner Seite eine Katastrophe, denn normalerweise bewegte sich Carmine Cassese im Zeitlupentempo. Das hohlwangige Gesicht mit der langen Nase, dem lippenlosen und und den zu eng beieinander stehenden Augen war hektisch gerötet, und das schwarze Haar flatterte ihm um den Kopf. Aber nicht nur seine Frisur war in Unordnung geraten. Cassesse hatte auch vergessen, seine Jacke zu schließen, und die Verschlüsse eines hellblauen Hemdes hatte er falsch geknöpft, so daß ihm dieses immer wieder aus der Hose rutschte, sooft er auch versuchte, seinen Sitz zu korrigieren. Mit den übergroßen Händen ruderte er in der Luft herum, als könne er sich dadurch schneller und näher seinen Dienstherrn heranziehen. »Was ich gesagt habe«, brachte er atemlos hervor, als er Adams erreicht hatte. »Jetzt ist es soweit.« Homer G. Adams lächelte ruhig. Er ließ sich nicht im mindesten von der Nervosität seines Mitarbeiters anstecken. »Vielleicht setzt du dich erst einmal auf eine Bank«, riet er ihm. »Dann erholst du dich am schnellsten.« »Das ist es ja. Es geht um die Bank«, erwiderte Cassese keuchend. »Um was für eine Bank?« »Natürlich nicht um eine Parkbank«, sagte der Sekretär erregt. »Ich meine die Bank.« »Die Bank?« Carmine Cassese verdrehte die Augen angesichts solcher Begriffsstutzigkeit. »Die TERRGA«, sagte er mit besonderer Betonung. »Die -267-
größte Bank der Kosmischen Hanse.« Homer G. Adams, der wie kein anderer über die Interna der bedeutendsten Bank der Kosmischen Hanse informiert war, wußte, daß die Terra-Galaktic-Development-Bank ein durch und durch gesundes und solides Unternehmen war, das Jahr für Jahr überdurchschnittliche Gewinne erzielte und zudem eine Geschäftspolitik des geringen Kreditrisikos verfolgte. Eine Katastrophe konnte diese Bank also kaum getroffen haben. »Es ist mir bekannt, daß die TERRGA die größte Bank ist«, erwiderte er daher mit einem stillen Lächeln. Der Halbmutant hatte ein photographisches Gedächtnis und neben einer überragenden Intelligenz einen Geschäftssinn, der weit über das Normale hinausging, und der ihn letztlich zu der zentralen Persönlichkeit der terranischen Finanz- und Wirtschaftspolitik gemacht hatte. Ihm, der stets im Hintergrund agierte, kam das Verdienst zu, die Kosmische Hanse zu einem Wirtschaftsfaktor von wahrhaft kosmischer Bedeutung gemacht zu haben. »Was ist denn nun mit der TERRGA?« fragte er. »Willst du es mir nicht endlich sagen?« »Das versuche ich ja die ganze Zeit«, entgegnete Carmine Cassese hitzig. »Ich komme gerade von der Börse. Es ist nicht zu glauben.« »Was ist nicht zu glauben?« fragte Adams geduldig. »Zur Sache, Carmine.« »Röhra hat sich bei der TERRGA eingekauft. Klammheimlich, denn über Jahre hinweg haben Kerka Quam und sein Bruder Orquo Quam Anteile gekauft. Ganz offiziell über die Börse, und niemandem ist das aufgefallen, weil es immer nur kleine Partien waren. Darüber hinaus haben die Quams meistens über Strohmänner gekauft. Aber nun ist es ihnen gelungen, ein Aktien-Paket von der SOL-Bank zu erwerben. Damit sind sie bis auf wenige Prozentpunkte bis an die Sperrminorität herange-268-
kommen.« Für einen kurzen Moment ging ein eigentümliches Zucken über das Gesicht von Homer G. Adams. Es zeigte, wie erschrocken dieser Mann war. »Ich habe seit Jahren vor einer solchen Möglichkeit gewarnt«, fügte Carmine Cassese hinzu. »Die Quam-Brüder sind eine Bedrohung für die Kosmische Hanse.« »Ja, ich weiß. Und du hattest recht.« Homer G. Adams griff nach dem Arm seines Sekretärs und ging weiter in den Park hinein. Cassese hatte ihm allerdings eine Botschaft überbracht, die zu größter Sorge Anlaß gab. Die TERRGA war einer der Grundpfeiler, auf denen die Kosmische Hanse errichtet worden war. Möglicherweise konnte man sie sogar als Fundament ansehen. Sie war damit ein wirtschaftspolitischer Machtfaktor von höchster Bedeutung. Wer die Kontrolle über die TERRGA hatte, der hatte auch die Kosmische Hanse in der Hand und konnte die Grundlinien ihrer Politik bestimmen. Und wer die sogenannte Sperrminorität hatte, einen Stimmenanteil von einundzwanzig Prozent, der konnte alle Beschlüsse der Geschäftsführung blokkieren. Das war allen Anteilseignern ebenso klar wie der Kosmischen Hanse selbst. Gleichzeitig aber glaubten alle führenden Persönlichkeiten der Hanse sicher sein zu können, daß es keiner unerwünschten Machtgruppe gelingen würde, die Sperrminorität der TERRGA zu erwerben. Wer das wollte, der mußte schwindelerregende Summen investieren, Summen, über die niemand in der Galaxis verfügte. Bisher verfügte! verbesserte Homer D. Adams sich. Den Quam-Brüdern ist es offenbar gelungen, genügend Geld aufzutreiben und einzusetzen. Adams vergegenwärtigte sich die Kurse der TERRGA - sie bewegten sich bei 2000 Galax über eine 50-Galax-Aktie - und -269-
überschlug, daß eine Summe von wenigstens zwei Millionen Megagalax notwendig waren, die Sperrminorität zu erringen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß irgend jemand so besessen war eine derartige Summe einzusetzen, um Anteilseigner einer Bank zu werden. »Ich habe ausgerechnet, daß der Anteil, den sie gekauft haben, etwa zwei Millionen Megagalax gekostet hat«, bemerkte Carmine Cassese. »Das ist fast alles, was die Kosmische Hanse dem Planeten Röhra und damit den beiden Brüdern Quam in den letzten Jahren für die Lieferung der Röhra-Kristalle gezahlt hat.« Adams nickte. Auf vielen Planeten der Galaxis arbeiteten Hyperkom-Zapfstationen, mit denen Energie aus dem Hyperraum gewonnen wurde. Diese Stationen waren nur durch spezielle Kristalle funktionsfähig, die auf nur einem einzigen Planeten in der Galaxis gefunden wurden. Auf dem Planeten Röhra, über den die Familie Quam herrschte. Als Fürsten Quam von Röhra. Die Kosmische Hanse hatte langfristige Verträge mit Röhra abgeschlossen, so daß sie über Jahrzehnte hinweg mit stabilen Preisen kalkulieren konnte. Da alle Bemühungen, auf anderen Welten ähnliche Kristalle zu finden, ohne Erfolg geblieben waren, ergab sich eine deutliche Abhängigkeit der Kosmischen Hanse von Röhra und somit auch von der Familie Quam. Doch hatte es nie Schwierigkeiten gegeben. Die bisherigen Herrscher hatten das Geld, das in stetigem Strom auf ihre Welt herabfloß, auf Röhra selbst investiert und den Reichtum auf ihre Bevölkerung verteilt. Daher galt die Bevölkerung von Röhra als diejenige mit dem höchsten Lebensstandard in der ganzen Galaxis. Doch vor zwei Jahren war der bisherige Herrscher gestorben, und die Brüder Kerka Quam und Orquo Quam hatten die Macht übernommen. Sie hatten das Geld nicht auf Röhra investiert, sondern auf den Wertpapierbörsen der Galaxis. Kein ungesetzliches Verfahren, dachte Homer G. Adams. Der -270-
Griff nach der TERRGA trifft aber dennoch den Lebensnerv der Kosmischen Hanse, und das wissen die Quam-Brüder genau. Sie können überall in der Galaxis mit ihrem Geld noch mehr Geld verdienen. Aber hier geht es nicht in erster Linie um Geld, sondern ausschließlich um Macht. »Wer hat ihnen denn die Aktien verkauft?« fragte Adams. »Das müssen Tausende von Kleinstaktionären gewesen sein.« »Genauso ist es«, bestätigte der Sekretär. »Und wie ich erfahren habe, sind einige von ihnen unter erheblichen Druck gesetzt worden, damit sie verkaufen.« »Wir müssen etwas tun«, sagte Adams zu seinem Sekretär. »Zunächst brauche ich mehr Informationen über die Quam-Brüder. Du hast recht. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten kaum mehr eingenommen als zwei Millionen Megagalax. Eine gigantische Summe, aber mehr ist es nun einmal nicht. Entweder haben sie Kredite aufgenommen, um die Aktien bezahlen zu können, und sie haben sich jetzt finanziell total verausgabt, oder sie haben auf noch andere Weise zusätzlich viel Geld verdient.« »Mir ist unbegreiflich, daß sie soviele Anteile kaufen konnten, ohne daß es irgend jemandem aufgefallen ist«, bemerkte Cassese. »Da muß doch jemand gewaltig geschlafen haben.« Die Februarsonne schien kraftlos in das Büro von Homer G. Adams, als dieser die ersten Berichte vor sich ausbreitete, die er von der Abwehr erhalten hatte. »Zumindest was die Einkäufe der Wertpapiere angeht, ist alles gesetzlich einwandfrei«, las er laut und blickte Carmine Cassese bedeutungsvoll an. »Die Quam-Brüder haben zwar mit erheblichen Krediten gearbeitet, aber das ist üblich.« »Irgend etwas muß faul sein im Staate Röhra«, erwiderte der Sekretär. »Es ist einfach unmöglich, daß die Quams soviel Geld aufbringen. Selbst mit Hilfe von Krediten geht das nicht.« »In dem Bericht steht, daß gewisse verbotene Drogen über -271-
Röhra in dunkle Kanäle geleitet worden sein sollen«, fuhr Adams fort. »Dabei geht es vor allem um die biologisch reinen Drogen, die von Tieren auf verschiedenen exotischen Planeten gewonnen werden.« »Aha! So was bringt Geld«, sagte Cassese erzürnt. »Das ist es also. Den Quam-Brüdern reicht es nicht, daß wir Millionen und Abermillionen für die Kristalle bezahlen. Sie müssen zusätzlich auch noch schmutziges Geld verdienen.« Er erhob sich und trat ans Fenster. »Mir wird schlecht, wenn ich mir vorstelle, daß es kriminellen Elementen gelingen könnte, maßgeblichen Einfluß auf die Kosmische Hanse zu gewinnen. Wenn die Quams es schaffen, geht es uns allen an den Kragen.« Homer G. Adams blieb gelassen. Er schien gar nicht gehört zu haben, was Cassese gesagt hatte. Er war ein Mann der Wirtschaft und Finanzen, und daher faszinierte ihn etwas ganz anderes an dem Geschehen. Er breitete einen großen Bogen auf seinem Schreibtisch aus, der dicht mit Zahlen und Tabellen beschriftet war. »Sieh dir das an«, forderte er seinen Sekretär auf. »Hier ist etwas, was ich einfach für unmöglich gehalten habe.« »Was denn?« Cassese kam zu ihm. Er verknotete die Finger fahrig ineinander, und sein hohlwangiges Gesicht schien vollends in sich zusammenzufallen. Adams strich mit der Spitze eines Schreibstifts über die Zahlenkolonnen. »Das sind die Wertpapierkurse für die TERRGA, aufgezeichnet an den wichtigsten Börsenplätzen«, erläuterte er. »Der Kurs der Aktie war erheblichen Schwankungen unterworfen.« »Völlig normal«, stellte Cassese fest. »Richtig«, bestätigte Adams. »Ich habe hier die Auszüge, aus denen hervorgeht, zu welchen Kursen die Quam-Brüder gekauft haben.« -272-
»Und?« Cassese richtete sich auf, und sein wachsbleiches Gesicht bekam Farbe. »Sie haben grundsätzlich nur zu Tiefstkursen gekauft. Sie haben nie auch nur einen Galax mehr als notwendig ausgegeben, sondern immer nur dann zugegriffen, wenn die Kurse am günstigsten waren.« »Das ist unmöglich«, erwiderte der Sekretär. Er hustete trocken. »Das ist in der bisherigen Geschichte der Wertpapierbörsen noch nie jemandem gelungen. Man kann nicht immer nur zu Tiefstkursen kaufen, da niemand bei fallenden Kursen sagen kann, wie tief die Kurse sinken werden. Irgendwo bleibt der Kaufeiner Aktie immer Spekulation.« »Richtig«, bestätigte Homer G. Adams. Er breitete einen weiteren Bogen auf dem Tisch aus, auf dem eine vielfach gezackte Linie zu sehen war. »Die Kursentwicklung«, erkannte Cassese. »Richtig, Carmine. Diese Statistik zeigt die Kursentwicklung der TERRGA-Aktie an. Siehst du die nach unten gerichteten Spitzen, die jeweils die niedrigsten Kurse anzeigen?« »Sie sind alle rot markiert.« »Sie zeigen an, wann die Quam-Brüder gekauft haben. Ich kann dir auch noch andere Tabellen und Statistiken zeigen, auf denen klar zu erkennen ist, daß es ihnen auch gelungen ist, andere Wertpapiere grundsätzlich zu Tiefstkursen zu kaufen und zu Höchstkursen zu verkaufen.« »Das begreife ich nicht.« Der Sekretär setzte sich wieder. Er hatte hektische Flecken im Gesicht, und er knetete seine Nase so heftig, daß diese feuerrot anlief. »So etwas geht einfach nicht mit rechten Dingen zu. Nicht einmal ein Mutant könnte das schaffen.« »Ein Mutant?« fragte Adams. »Es wäre doch denkbar, daß es einen Mutanten gibt, der jeweils am Vortag sagen kann, wie sich am nächsten Tag die Kurse -273-
entwickeln«, erwiderte Cassese. »Wenn jemand in die Zukunft sehen kann, wie Ernst Ellert, kann er herausfinden, wann man zu Höchstkursen verkaufen und zu Tiefstkursen kaufen muß.« »Es gibt keinen solchen Mutanten«, entgegnete Adams. »Und selbst Ellert könnte keine Börsenkurse voraussagen.« Die intergalaktische Finanzwelt war aufgeschreckt. Die Quam-Brüder beriefen eine Pressekonferenz ein, auf der die wichtigsten Fachjournalisten der Kosmischen Hanse vertreten waren. Auf dieser Veranstaltung beschwerten sich die Quams über die Kosmische Hanse und deren Finanzpolitik. Sie warfen ihr Protektionismus vor, drohten damit, die Lieferung der Hyperkom-Kristalle einzustellen - was gar nicht möglich war, weil sie sich damit selbst den Geldhahn zugedreht hätten - und beschuldigten Homer G. Adams, eine Politik zu betreiben, die gegen Nichthumanoide gerichtet war. Kerka Quam behauptete, die Kosmische Hanse hintertreibe die völlig legalen Röhra-Geschäfte durch gezielte Indiskretionen. Das Ziel sei, die TERRGA als Instrument des Finanzimperialismus zu erhalten, das ausschließlich unter der Kontrolle der Kosmischen Hanse und somit Perry Rhodans und - wie Quam sagte - der anderen Clique der Unsterblichen zu stehen habe. Homer G. Adams blickte verblüfft auf den Bildschirm in der Wand seines Büros. Die rechte obere Ecke war nicht mehr vorhanden. An ihrer Stelle befand sich nur ein verwaschener, grauer Fleck, der allerdings nach einigen Sekunden wieder verschwand. Danach war die Ecke wieder da. Carmine Cassese hustete trocken. Er ballte die Hände nervös zu Fäusten, streckte dann die Finger aus und rieb sich die Handflächen an den Oberschenkeln. »Ich leide unter Sehstörungen«, sagte er und schüttelte den Kopf, als wolle er eine gewisse Benommenheit vertreiben. »Du bist in Ordnung, Carmine«, erwiderte Homer G. Adams. »Aber der Bildschirm ist es nicht. Oder solltest du von etwas -274-
anderem reden?« »Nein, genau das meine ich.« Er ging mit ungelenken Bewegungen zum Bildschirm und tastete die rechte obere Ecke mit den Fingern ab. »Es ist alles so, wie es sein soll. Es müssen meine Augen gewesen sein. Ich sollte mir wohl doch ein paar neue einsetzen lassen.« »Vielleicht welche, mit denen du ein wenig intelligenter dreinblicken kannst«, schlug Homer G. Adams ungerührt vor. Carmine Cassese war beleidigt. Er räusperte sich, kehrte zu seinem Sessel zurück und setzte sich. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, das trauriger als je zuvor aussah. Adams tippte auf einen Knopf, und das Bild auf dem Bildschirm wechselte. Der Bericht einer großen Tageszeitung über die Börsenaktion der Quam-Brüder erschien, in dem die Proteste der Quarns ausführlich geschildert, zugleich aber auch die Gefahren ausgemalt wurden, die heraufzogen, wenn der wichtigste Baustein des hanseatischen Wirtschaftsgebäudes durch eine nichtirdische Macht herausgebrochen wurde. »Eine derartige Bedrohung der Erde hat es noch nie gegeben«, stellte der Journalist fest. »Es ist eine Bedrohung, die nicht weniger gefährlich als eine militärische Konfrontation ist. Es geht um den Raub einer Bank.« Anhand von einigen Beispielen beschrieb der Journalist, welche Möglichkeiten die Quam-Brüder hatten, die Kosmische Hanse zu einflussen, wenn es ihnen gelang, die Sperrminorität zu erringen. Homer G. Adams schaltete ab. »Ich muß mit Ras Tschubai reden«, sagte er. Carmine Cassese blickte ihn verblüfft an. »Ras Tschubai?« fragte er. »Was hat er mit diesem Fall zu tun?« »Überhaupt nichts«, erwiderte Adams, »aber ich benötige seine Hilfe.« »Darf ich fragen, was du vorhast?« -275-
»Warum nicht?« Adams erhob sich lächelnd. »Ich werde mich auf Röhra umsehen, und dazu benötige ich Ras Tschubai, denn ohne ihn richte ich nichts aus.« »Du willst nach Röhra?« Cassese war wie vom Donner gerührt, und sein Gesicht war so bleich wie eine Leinwand. »Aber du bist kein Geheimagent oder sowas. Dein Platz ist hier in der Schaltzentrale der Finanzwelt.« »Du bist ja hier und kannst mich solange vertreten«, antwortete Homer G. Adams. Er ging zur Tür, öffnete sie, verließ den Raum jedoch noch nicht. »Ich wäre dir dankbar, wenn du dich jetzt endlich um Ras Tschubai bemühen würdest.« Am 10. Februar starteten Ras Tschubai und Homer G. Adams von der Erde ins Röhra-System. Der Sicherheitsdienst und die maßgeblichen Persönlichkeiten der Kosmischen Hanse hatten erhebliche Bedenken gegen diese Reise angemeldet. Es war ihnen jedoch nicht gelungen, das Finanzgenie umzustimmen. »Es geht hier um ein spezifisch wirtschaftliches Problem«, hatte er auf ihre Einwände geantwortet. »Und da hilft es mir nicht, wenn ich nach einigen Wochen einen Bericht von irgend jemandem erhalte, der von dem Problem nicht soviel versteht wie ich. Nein, ich muß selbst herausfinden, was mit den Quams los ist.« Auch die Sorge, daß man ihn erkennen könne und daß sich die Krise dadurch noch verschärfen könne, hatte das Finanzgenie nicht beeindruckt. Homer G. Adams wußte, daß die Röhraner einen Menschen nicht von dem anderen unterscheiden konnten. Sie hielten allenfalls Asiaten und Neger auseinander. Zu mehr waren sie jedoch nicht in der Lage. Ihn würden sie mit Sicherheit nicht erkennen. Gefährlich konnten ihm höchstens die auf Röhra lebenden Terraner werden, aber er glaubte, mit ihnen fertig werden zu können. »Es ist erstaunlich«, sagte er, als das Raumschiff das Solsy-276-
stem verließ. »Mit Finanzgeschäften kennen sich die Röhraner aus, aber sonst wissen sie so gut wie nichts von uns.« Ras Tschubai lachte. Er hatte sich vor Beginn der Reise mit den vorliegenden Berichten über die Bewohner von Röhra beschäftigt. »Sie wissen gerade noch, daß unsere Woche sieben Tage hat, und daß die Börse am Sonnabend geschlossen ist.« »Wir haben eine terranische Kolonie hier«, sagte Jerem Gouache, nachdem er Homer G. Adams und Ras Tschubai am Raumhafen von Röhra begrüßt hatte. »Dorthin fliegen wir weiter. Außerhalb dieser Kolonie dürfen wir uns nur mit schriftlicher Genehmigung aufhalten. Die Genehmigung muß bei der Staats-Sicherheitsbehörde beantragt werden. Sie wird nicht vor Ablauf von wenigstens vier Monaten erteilt.« Er lächelte. »Mit anderen Worten: Die Quam-Familie läßt sich nicht in die Karten gucken.« Jerem Gouache war ein schwergewichtiger Mann mit kleinen, listigen Augen und breiten, aufgeworfenen Lippen. Er war der Leiter der hiesigen Kolonie und galt als der beste Kenner der Röhraner. »Vielleicht doch«, erwiderte Ras Tschubai, während sie dem Ausgang zustrebten, an dem der Gleiter Gouaches parkte. Hier begegnete Adams zum erstenmal einem Röhraner. Bisher kannte er diese Intelligenzen nur von Fernsehbildern her, und er war beeindruckt und erschrocken zugleich über die Ausstrahlung dieses Wesens. Damit hatte er nicht gerechnet, da trotz der realistischen Darstellung in der räumlich-positronischen Bildgestaltung von einer derartigen Ausstrahlung im Fernsehen nie etwas zu spüren gewesen war. Er hatte das Gefühl, einem völlig unberechenbaren Raubtier zu begegnen. Der Röhraner war etwa einen Meter groß. Er ging aufrecht auf zwei muskulösen Beinen, hatte jedoch einen lang auslaufenden -277-
Schwanz, so daß er eine Gesamtkörperlänge von fast drei Metern erreichte. Der Rumpfkörper war außerordentlich gedrungen und auf Rücken und Bauch mit Schuppen unterschiedlichster Größe bedeckt. Einige Schuppen waren klein wie ein Stecknadelkopf, andere - besonders jene auf dem mit vielen Höckern versehenen Rücken - hatten einen Durchmesser von wenigstens zehn Zentimetern. Die stämmigen Beine waren etwa doppelt so lang wie die fast am Kopf sitzenden Arme, die in vier Greifklauen endeten. Der flache Kopf mit den beiden aufragenden Höckern saß ohne erkennbaren Halsansatz auf einem fast eiförmigen Körper. Leuchtend rote Augen, die von grünen Lidern halb verdeckt wurden, blickten Adams forschend an. Der Röhraner wälzte ein Stück rohes Fleisch zwischen den nadelspitzen Zähnen hin und her, während er mit schnellen Schritten an den drei Terranern vorbeieilte. Obwohl auch seine Füße mit kräftigen Klauen versehen waren, bewegte er sich fast lautlos voran. Nur der lange, dünne Schwanz, der über den Boden schleifte, verursachte ein raschelndes Geräusch. »Es fällt schwer, mir vorzustellen, daß diese Wesen an unseren Börsen erscheinen und dort mit Wertpapieren handeln«, sagte Ras Tschubai, als sie im Gleiter saßen und nach Osten flogen. »Sie treten nicht persönlich auf«, entgegnete Adams. »Der Handel wird über die positronischen Medien abgewickelt. Die Quam-Brüder sitzen hier auf Röhra vor den Hyperkom-Geräten und erteilen mit ihrer Hilfe den Banken die Kauf- und Verkaufordern.« Er lachte. »Ich glaube, jeder Bankangestellte würde vom Stuhl fallen, wenn plötzlich ein Röhraner vor seinem Schalter erschiene und ihm sagte, daß er für einige Millionen Galax Aktien kaufen -278-
wolle.« Er blickte hinaus in eine üppig grünende Dschungellandschaft, die sich bis zum Horizont dehnte. Aus der Höhe sah der Urwald wie ein grüner Teppich aus, aus dem vereinzelt gigantische Bäume bis in eine Höhe von mehr als hundert Metern emporragten. Die grüne, hügelige Landschaft wurde aufgelokkert durch farbenprächtige, vielfach gemusterte Blumen, deren größte einen Durchmesser von etwa neun bis zehn Metern hatten. Homer G. Adams zeigte auf den Dschungel hinab. »Ich sehe überall Augen«, sagte er. Jerem Gouache, der die Maschine steuerte, drehte sich zu ihm um. »Es sind Blumen«, erklärte er. »Die Blüten sehen aus wie Augen, und es gibt manch einen in der Kolonie, der behauptet, daß diese Augen wirklich sehen können. Auch manche Röhraner behaupten es. Diese Blumen sind irgendwie symbolisch für die Echsen. Denen entgeht nichts, und wahrscheinlich sind da unten auch einige Kameras versteckt, mit denen sie uns beobachten, hoffentlich kommst du nicht auf den Gedanken, in den Dschungel gehen. Du würdest nicht lebend wieder herauskommen. Dies ist eine unfreundliche Welt. Unbewaffnet darf man nicht in die freie Natur gehen.« »Keine Sorge«, erwiderte Adams. »Ich bin Bergbauingenieur, ich bin nur hier, weil ich gewisse Abbaumethoden studieren will. Spaziergänge in der Natur stehen nicht auf meinem Terminkalender.« Er wechselte einen kurzen Blick mit Ras Tschubai. Früher oder später würden sie die Enklave verlassen, in der die Terraner lebten. Er hatte gelogen. Sie waren nicht hier, weil sie sich für den Bergbau interessierten, sondern weil sie herausfinden wollten, aus welchen Gründen die Quam-Familie so außerordentlich erfolgreihe Börsenspekulanten waren. -279-
Doch das brauchte vorläufig niemand außer ihnen zu wissen. Der Handel mit Röhra-Kristallen war ein Geschäft, bei dem astronomische Summen umgesetzt wurden. Geld war auf Seiten der Röhraner daher in Hülle und Fülle vorhanden. Für sie konnte es kein Problem sein, einen oder mehrere Vertrauensmänner zu finanzieren, die ihnen alles zutrugen, was sich in der Terra-Kolonie abspielte. Adams war sicher, daß jede Information und sei sie noch so unwichtig - auf kürzestem Weg zu den Röhranern weitergeleitet wurde. Deshalb hatte er sich Jerem Gouache als Bergwerksingenieur Adams vorgestellt, und er hoffte, daß sich niemand auf Röhra befand, der seine wahre Identität kannte. Die Terra-Kolonie lag in einem langgestreckten Talkessel mitten im Dschungelgebiet. Ein Energiezaun umgab sie und hielt wilde Tiere von ihren Bewohnern fern. Jerem Gouache landete zwischen den schlichten Häusern und führte Adams und seinen dunkelhäutigen Begleiter zu dem für sie vorbereiteten Quartier. »Die Röhraner interessieren mich«, sagte Ras Tschubai. »Ich möchte soviel wie möglich über sie erfahren. Wo kann ich das? Gibt es hier so etwas wie eine Informationsbank?« »Natürlich«, antwortete Gouache. »Es ist alles vorhanden. Aber ich kann dir auch sagen, was du wissen willst. Es gibt niemanden, der so gut über die Echsen Bescheid weiß wie ich.« »Was willst du wissen?« Homer G. Adams fiel der lauernde Ausdruck im Gesicht des Dicken auf. »Das hat Zeit«, bemerkte er. »Zunächst einmal sind wir wegen des Kristallabbaus hier. Alles andere kommt später.« »Natürlich«, fügte Ras Tschubai hinzu. »Es ist ein seltsames Volk mit viel technischer Phantasie. Ihr werdet staunen, was die alles leisten. Es scheint aber vor Jahrtausenden schon einmal eine hochstehende Kultur auf diesem -280-
Planeten gegeben zu haben.« »Ach, tatsächlich?« Homer G. Adams gähnte. Er tat, als interessiere ihn nicht im geringsten, was Gouache da erzählte. »Ja, tief im Süden sollen die Echsen eine uralte Stadt entdeckt und ausgegraben haben. Natürlich mit unserem Geld. Alles, was auf diesem Planeten passiert, wird mit unserem Geld bezahlt.« Er lachte, als habe er einen Witz gemacht. »Und jetzt heißt es, daß sie wahre Schätze aus der Erde holen. Aber das kann natürlich auch nur ein Gerücht sein. Das weiß niemand genau. Schließlich liegt das alles im Sperrgebiet.« »Ja, ja, schon gut«, sagte Homer G. Adams in schroffem Ton. »Das ist nicht unser Problem. Kommen wir zum Abbau der Kristalle. Wann können wir das Bergwerk besichtigen? Ich hoffe, es geht noch heute.« »Ausgeschlossen«, erwiderte Gouache und ließ nicht erkennen, was er empfand. »Vor morgen geht es nicht.« Ras Tschubai und Homer G. Adams blickten sich an und verstanden sich. Sie würden der Stadt aus dem Altertum einen Besuch abstatten. Irgendwo mußten sie schließlich mit ihrer Suche nach dem Geheimnis der Quam-Brüder beginnen. Sie waren sich dessen sicher, daß Jerem Gouache mit voller Absicht auf die alte Stadt zu sprechen gekommen war. Er hatte sie dabei genau beobachtet, weil er wissen wollte, ob sie von diesem archäologischen Fund wußten, und ob sie seinetwegen hier waren. Adams und der Teleporter unterhielten sich über belanglose Dinge und verzichteten vorsichtshalber auf jegliche Andeutungen über ihre Absichten, da sie davon überzeugt waren, daß sie abgehört wurden. »Wir müssen die Quam-Brüder in ihre Schranken verweisen«, hatte Homer G. Adams auf dem Flug hierher gesagt. »Und das geht nur an der Börse. Wir müssen sie mit gleichen Mitteln schlagen, damit sie begreifen, daß schrankenlos viel Geld nicht -281-
gleichbedeutend ist mit uneingeschränkten Rechten. Sie sollen sich an der Börse die Finger verbrennen. Das aber werden sie nur dann tun, wenn sie den Braten nicht schon vorher riechen.« »Ich verstehe«, hatte der Teleporter erwidert. »Wenn sie merken, daß wir wegen ihrer Börsenaktivitäten auf Röhra sind, kannst du ihnen an der Börse nicht mehr auf die Finger klopfen, weil sie hinter jeder Kursbewegung eine Falle vermuten werden.« »Genau so ist es, Ras.« An diese Unterhaltung erinnerte sich der Teleporter, als sie allein in ihrem Haus waren. Sie hatten sich früh mit der Entschuldigung zurückgezogen, die Reise habe sie so angestrengt, daß sie nun Ruhe benötigten. Ras streckte seine Hand aus und Adams ergriff sie. Im nächsten Moment verschwanden die beiden Männer aus dem Bungalow in der terranischen Kolonie. Sie materialisierten auf einem Hügel mehr als dreitausend Kilometer im Süden des Kontinents mitten im Dschungel. Ein farbenprächtiger Luftvogel, der größer war als sie, floh erschreckt gackernd vor ihnen ins Dickicht, und ein Schwarm von gelben Schmetterlingen stob auf. Ras Tschubai ließ die Hand seines Begleiters los und ging zu einigen Bäumen hin. Von ihnen aus konnte er weit über das Land sehen. »Dschungel«, sagte Adams. »Nichts als Dschungel. Wir sind noch nicht weit genug im Süden.« Der Teleporter zeigte auf einen Felskegel, der sich weit entfernt von ihnen aus dem Grün erhob. »Wir werden dorthin springen. Vielleicht können wir von da aus etwas erkennen.« Adams reichte ihm die Hand und ließ sich von ihm zu dem neuen Ziel mitnehmen. Dieses Mal materialisierten sie auf einer von Schrunden und Rissen überzogenen Fläche, auf der es jedoch keine Tiere gab. Ras glaubte, südlich von ihnen eine Straße -282-
erkennen zu können, die den Dschungel durchschnitt. »Sie werden nicht alle Transporte mit Gleitern abwickeln«, sagte er. »Es muß auch konservative Verkehrswege geben. Wenn wir einen finden, wissen wir bald, wo die Stadt ist.« Doch er irrte sich. Es war keine Straße. Sie materialisierten anderthalb Meter über der Wasserfläche eines Flusses, und er mußte blitzschnell weiterspringen, damit sie nicht ins Wasser stürzten. In der Eile konnte er sich kein bestimmtes Ziel aussuchen. So flüchtete er einfach nach oben. »Das ist neu für mich«, kommentierte Homer G. Adams trocken, als er sich überraschend in einer Höhe von etwa zweitausend Metern über dem Dschungel wiederfand und augenblicklich in die Tiefe fiel. Ras Tschubai lachte. »Das hätten wir gleich tun sollen«, entgegnete er. »Breite die Arme und Beine aus. Dann geht’s nicht so schnell. Und sieh dich um. Irgendwo muß eine Veränderung der natürlichen Landschaft zu sehen sein. Sie zeigt uns an, wo die Stadt aus dem Altertum ist.« »Du hast gut reden«, rief Adams zurück. »Meine Augen tränen. Ich kann überhaupt nichts sehen. Können wir nicht mal anhalten?« Der Teleporter lachte erneut. »Leider nicht. Wir haben keine Antigravgürtel.« Er teleportierte bis in die Nähe einer Gebirgskette, die bis zu einer Höhe von fast zehntausend Metern aufstieg. Auf einer Bergflanke, weit über der Baumgrenze, materialisierten sie. »Nicht schlecht, was?« lächelte Ras Tschubai. »Wir sind hoch oben, können gut sehen und fallen nicht in die Tiefe.« »Das tut mir ganz gut«, erwiderte Adams und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »So luftige Sachen sind etwas für junge Leute.« Ras ließ seine Hand los und ging einige Schritte zur Seite. Er -283-
spähte in das Land hinaus. Homer G. Adams entfernte sich etwa dreißig Meter von ihm, weil er einen Felsbuckel umgehen wollte, der ihm den freien Blick nach Westen verwehrte. Die Sonne stand bereits tief über dem Horizont und blendete ihn. Daher bemerkte er das schmutziggraue Gebilde nicht, das etwa zehn Meter über ihm an der schräg abfallenden Felswand hing, und sich zu bewegen begann, als er in eine Nähe kam. Erst als es plötzlich im Gestein knirschte, und einige Steine an ihm vorbei rollten, fuhr er herum. Das, was wie ein Felsbrocken aussah, stürzte polternd auf ihn zu. Aus seinen Seiten schossen meterlange Tentakel hervor, deren Enden mit jeweils zwei scharfen Klauen versehen waren. »Ras«, schrie Adams und flüchtete zugleich zur Seite. Der Felsbrocken folgte seiner Bewegung. Rasend schnell kam er näher. Die Tentakel streckten sich ihm entgegen, und die Krallen schossen auf seine Kehle zu. Plötzlich aber materialisierte der Teleporter zwischen dem bizarren Wesen und Adams. Er packte den Freund am Arm und flüchtete mit ihm. »Oh, verflixt, das war knapp«, sagte das Finanzgenie erschöpft, als sie auf einer ebenen Fläche materialisierten. »Ich wußte wirklich nicht, wie ich diesem Biest noch entkommen sollte. Es war so schnell.« Er stutzte und blickte sich um. »Moment mal«, staunte er dann. »Wo sind wir denn hier? Das sieht doch nach einer Straße aus.« Sie standen auf dem grau schimmernden Band eines Transportwegs, der mitten durch ein Gebirgstal führte. Dumpf brummend näherte sich ihnen eine Maschine. Sie war jedoch noch hinter einer Kurve verborgen, so daß sie sie nicht sehen konnten. »Zu den Felsen dort. Schnell«, drängte Ras Tschubai. Homer G. Adams streckte die Hand aus, doch dieses Mal teleportierte der Mutant nicht. Adams mußte wohl oder übel laufen. -284-
Kaum hatten die beiden Männer die Deckung erreicht, als auch schon ein schweres Transportfahrzeug an ihnen vorbeiglitt. Es rollte auf drei Rädern über die Straße. Im Fahrerhaus kauerten zwei Röhraner. »Der Wagen ist mit Ausrüstungsgütern beladen«, stellte Homer G. Adams fest. »Was meinst du? Wohin fährt er?« »Zu der Stadt aus dem Altertum«, entgegnete Ras Tschubai und teleportierte mit Adams auf die Ladefläche des Lasters. »Hoffentlich kommen wir dort an, bevor es dunkel ist.« Sie hatten Glück. Sie brauchten nicht lange zu warten. Der Laster kämpfte sich eine steile Gebirgsstraße hoch, und dann lag die Stadt in einer weiten Mulde vor ihnen. Ras sprang zusammen mit dem Finanzgenie in die Ruine eines Gebäudes, das auf der entgegengesetzten Seite der Stadt stand. In der Stadt herrschte zunächst geschäftiges Treiben. Je dunkler es wurde, desto ruhiger wurde es jedoch. Die meisten Röhraner zogen sich in ein Gebäude zurück, das weit von Ras und Adams entfernt war. »Ist dir der Turm schon aufgefallen?« fragte der Wirtschaftsexperte nach einiger Zeit. Er deutete auf ein Gebäude, das im Schatten einer großen Ruine stand. »Er wird von wenigstens sieben bewaffneten Röhranern bewacht.« »Ja, ich habe ihn gesehen«, antwortete der Teleporter. »Er muß eine besondere Bedeutung haben.« Er zog Adams tiefer in den Schatten, denn plötzlich näherte sich ihnen ein Gleiter. Das Licht seiner Scheinwerfer glitt über die zumeist verfallenen Mauern der Stadt. Aus sicherer Deckung heraus beobachteten die beiden Terraner, wie die Maschine neben dem Turm landete, und wie ein Röhraner ausstieg, der von den anderen geradezu unterwürfig empfangen wurde. Auf dem Kopf trug er einen blitzenden Metallhelm, der mit Edelsteinen besetzt war, und in einem Gurt an den Schultern steckten moderne Energiestrahler. -285-
»Ich kann die Röhraner nicht voneinander unterscheiden«, estand Adams. »Für mich sehen sie alle gleich aus, so wie wir umgekehrt für sie. Dieser Mann aber muß einer der Quam-Brüder sein, einer der beiden Herrscher.« »Er geht in den Turm«, bemerkte Ras Tschubai. »Und das sollten wir auch tun.« Er wechselte mit Adams zu den Zinnen des Turms über und zog ihn rasch nach unten, damit keiner der Wachen sie sehen konnte. Zugleich deutete er auf eine abwärts führende Steintreppe. Sie stiegen geräuschlos hinab und näherten sich dabei einem hell erleuchteten Bereich. Die zischelnde Stimme eines Röhraners klang zu ihnen herauf. Sie verstanden sie nicht. Vorsichtig schoben sie sich an einen Mauervorsprung heran, und plötzlich begann eine offenbar ungemein leistungsfähige Maschine unter ihnen zu summen. Der Turm begann so heftig zu beben, daß Mörtel aus seinen Fugen rieselte. Die Treppe führte an einem grellen Licht vorbei weiter in die Tiefe bis weit in den Untergrund der Stadt. Bald bestanden die Wände nicht mehr aus Gestein, sondern aus Metall, und in einigen Nischen verbargen sich die Schaltungen einer fremdartigen Maschinerie. Schließlich erreichten Ras und Adams einen kugelförmigen Raum. Sie blickten von einer Brüstung auf einen Steg hinab, der zu einer ebenfalls kugelförmigen Maschine führte, die genau im Mittelpunkt der Halle zu schweben schien. Davor kauerte ein Röhraner auf einer Sitzbank. Es war jener offenbar Mächtige, der den Metallhelm trug. Er blickte wie gebannt auf einen Bildschirm. Da sich sonst niemand in der Halle aufhielt, teleportierte Ras Tschubai mit Homer G. Adams zu ihm hin. Sie kamen hinter seinem Rücken an, so daß sie sehen konnten, was ihn so faszinierte. Er bemerkte sie nicht. -286-
Homer G. Adams glaubte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Auf dem Bildschirm zeichnete sich eine Szene aus dem Börsensaal der New Yorker Wallstreet ab, dem Finanzzentrum des Kosmischen Hanse. Auf den computergesteuerten Wänden leuchteten die Kurse der verschiedenen Aktiengesellschaften. Adams gab dem Teleporter ein Zeichen. Er hatte genug gesehen. Ras ergriff seine Hand und kehrte mit ihm zu der Ruine zurück, von der aus sie gestartet waren. »Das geht über meinen Horizont«, sagte er. »Der Kerl beobachtet die Börse in New York, und was er sieht, haut ihn offenbar um. Wieso ist er so gebannt von dem, was er sieht? Es war ja noch nicht einmal etwas zu hören.« »Das ist auch gar nicht notwendig. Er sieht ja die Kurstafeln. Auf ihnen wird jede Kursschwankung augenblicklich aufgezeigt. Jedes Angebot verändert den Kurs. Verkäufe drücken ihn, wenn es sich um große Stückzahlen handelt, Käufe treiben ihn nach oben.« »Das ist ja alles ganz lustig, aber der Kerl hat doch schon genug Geld. Er ist wahrscheinlich reicher als jedes andere Intelligenzwesen in der Galaxis. Man sollte meinen, wenn jemand soviel hat, daß er sich dann nicht mehr über ein paar Prozentpunkte aufregt, die an der Börse gewonnen oder verloren werden. Oder er ist ein verrückter Spieler.« »Nichts von dem«, erwiderte Homer G.Adams. »Ist dir denn gar nichts aufgefallen?« »Der Kurs von TERRGA stand auf 2018.« »Welchen Tag haben wir heute auf der Erde?« »Heute? Moment mal, den 12. Februar.« »Und?« »Was und?« »Hast du das Chronometer im Börsensaal nicht gesehen?« »Nein. Was war damit?« »Es zeigte den 13. Februar an.« -287-
»Was? Ich weiß doch, was ich sage. Heute haben wir den 12. Wir sind am 10. gestartet, und. . . Mensch, Homer, wir können doch noch nicht den 13. haben.« »Haben wir auch nicht.« Ras Tschubai pfiff leise durch die Zähne. »Jetzt habe ich kapiert. Die Quam-Brüder haben eine Art Zeitmaschine gefunden. Oder?« »Ich würde es ein Zeitfenster nennen«, erwiderte der Finanzexperte. »Es ist ganz einfach. Mit Hilfe dieses Zeitfensters können die Quam-Brüder in die Zukunft sehen. Sie haben es auf die Börse in der Wallstreet gerichtet und erfahren auf diese Weise, wie die Börsenkurse am nächsten Tag sein werden. Danach können sie in aller Ruhe ihre Dispositionen treffen und die Orders an die Banken erteilen. Wenn die Kurse fallen, können sie sich den günstigsten Zeitpunkt für den Kauf aussuchen, wenn sie steigen, können sie ihre Wertpapiere absetzen und Gewinne einstreichen, mit denen sie dann weitere TERRGA-Papiere erwerben. Wir können zur Erde zurückkehren, Ras.« »Morgen müssen wir noch die Kristallminen ansehen. Wir müssen es tun, damit die Röhraner nichts merken.« »Ich weiß. Aber das gibt mir Gelegenheit, mir etwas auszudenken.« »Und was wird aus diesem Zeitfenster, wenn alles vorbei ist?« »Du wirst es ausschalten müssen«, erwiderte Homer G. Adams. »Erstens verursacht es Störungen in New York. Teile von manchen Dingen scheinen als Begleiterscheinung für einige Stunden zu verschwinden, und das bringt immerhin einige New Yorker ganz schön durcheinander. Und dann können wir natürlich nicht zulassen, daß sich irgend jemand auf diese Weise Vorteile gegenüber anderen verschafft und damit andere ausplündert.« Am 29. Februar stürzten die Aktienkurse ins Bodenlose. Die Kosmische Hanse schien entschlossen zu sein, sich an einem -288-
einzigen Tage von ihrem gesamten Wertpapierbesitz zu trennen. Als erster Wert sackte TERRGA ab. Als dieses Papier um mehr als hundert Punkte gefallen war, riß es die anderen Notierungen mit. An der Börse brach das Chaos aus. Die Börsenmakler überschrien sich gegenseitig bei der Abgabe ihrer Verkaufsangebote. Jeder versuchte nun, seine Papiere abzustoßen, um noch einen guten Preis zu erzielen, bevor die Kurse noch tiefer fielen. Gerade durch diese Verkäufe aber wurden die Notierungen weiter gedrückt. Wallstreet erlebte zwei rabenschwarze Börsenstunden - wie schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Homer G. Adams warf immer weitere TERRGA-Aktien auf den Markt und schmetterte die Kurse damit in die Tiefe. Es schien, als habe das Finanzgenie den Verstand verloren und sei drauf und dran, die Vermögenswerte der Kosmischen Hanse zu verschleudern. Erstaunlicherweise trat keine einzige Bank mit TERRGA-Aktien, die aus den Tresoren der Röhraner stammten, auf den Plan. Diese Papiere kamen erst am 1. März auf den Markt, als der Kurswert der TERRGA-Aktie die Notiertung 1000 deutlich unterschritten hatte. Die Herrscher von Röhra erlitten einen geradezu katastrophalen Verlust. Homer G. Adams beobachtete das junge Mädchen, das auf den Händen durch den Central Park von New York wanderte und sich durch nichts beirren ließ. Er war so in Gedanken vertieft, daß er Ras Tschubai erst bemerkte, als dieser neben ihm stand. »Hoppla«, sagte er. »Bist du teleportiert?« »Nein, ich bin zu Fuß gegangen, wie ein ganz normaler Bürger.« »Ein schöner Tag, nicht?« »Ich habe gehört, die Quam-Brüder sind so gut wie pleite. Sie haben sich von ihrem gesamten TERRGA-Besitz getrennt.« »Zu einem Kurswert um 780.« -289-
»Und bezahlt haben sie über 2000.« »Genau. Das begreife, wer will. Ich nicht.« Homer G. Adams lächelte still. »Dabei ist es ganz einfach. Ich habe die TERRGA-Aktien aus unserem Besitz verkauft und damit die Kurse nach unten getrieben.« »Massiv nach unten. Ich weiß. Das muß ein grauenhafter Verlust für die Kosmische Hanse gewesen sein.« »Mir ging es nur darum, die Kurse in Bewegung zu bringen. Nach unten. Als sie erst einmal ins Rutschen gekommen waren, habe ich behutsam TERRGA-Aktien zurückgekauft. Zu immer niedrigeren Kursen. Das ging, weil plötzlich alle Welt glaubte, ebenfalls verkaufen zu müssen.« »Begreife ich nicht. Was hatte das denn mit den Röhranern zu tun? Die haben sich am 29. Februar doch gar nicht gemeldet.« »Ein kleiner Irrtum. Mehr nicht. Aber weiter im Text. Ich hatte herausgefunden, daß die Quam-Brüder große Kredite aufgenommen hatten, um mit deren Hilfe weitere TERRGA-Anteile kaufen zu können. Diese Kredite konnten sie nur zurückzahlen, wenn sie weiterhin so gute Gewinne an der Börse machen.« »Und die Suppe hast du ihnen versalzen.« »Ja, da ihnen dieser Kredit im Genick saß, mußten sie verkaufen, wenn die Kurse zusammenbrachen. Dann mußten sie retten, was noch zu retten war.« »Aber das genügte nicht.« »Natürlich nicht. Ich habe gleichzeitig dafür gesorgt, daß die am Monatsende fälligen Zahlungen für die Kristalle zurückgestellt wurden.« »Dann saßen die Röhraner plötzlich ohne Geld da.« »Bedauerlicherweise - ja.« Adams trat zur Seite, um einen rückwärts trabenden Jungen vorbeizulassen. »Gleichzeitig hat die TERRGA auf meine Veranlassung hin -290-
das Grundkapital um 25 Prozent erhöht. Die Röhraner hätten natürlich junge Aktien kaufen können, aber sie hatten ja kein Geld. Sie mußten die Scheine, die ihnen erlaubt hätten, die Kapitalerhöhungen mitzumachen, an der Börse verkaufen. Damit wurde die Sperrminorität grundsätzlich erheblich teurer für sie, praktisch unerschwinglich.« »Allmählich werden mir die Zusammenhänge klar«, bemerkte Ras Tschubai mit einem bewundernden Seitenblick auf den kleinwüchsigen Homer G. Adams. »Zugleich bin ich froh, daß ich nicht mit dir um irgendwelche Börsenanteile kämpfen muß. Ich würde glatt verlieren.« »Warum denn so pessimistisch, Ras?« »Wenn sogar die Quam-Brüder verlieren, obwohl sie doch das Zeitfenster hatten und im voraus wußten, was am 29. Februar passieren würde?« »Ach, das habe ich ganz vergessen, Ras. Sie wußten es natürlich nicht. Jedenfalls nicht so, wie sie es gern gehabt hätten.« »Das verstehe, wer will. Ich jedenfalls nicht.« »Also, Ras, es ist so. Die Quam-Brüder haben ihre Käufe und Verkäufe nie mit Kursangaben gebunden. Wenn du eine Aktie kaufen willst, kannst du der Bank zum Beispiel sagen: Ich kaufe, aber nur zu einem Kurs von 120. Steigt der Kurs nun auf 121, kauft die Bank nicht, weil dir das zu teuer ist.« »Also, um den einen Punkt würde ich mich wirklich nicht aufregen.« Adams lächelte. »Darum geht es nicht. Es geht um die Bindung, an die die Bank sich halten muß.« »Und darum haben die Quam-Brüder sich nicht gekümmert?« »Brauchten sie ja nicht, weil sie die Kurse kannten. Sie haben die Banken statt dessen verpflichtet, zu einem ganz bestimmten Datum zu kaufen.« »Oder zu verkaufen. Also, zum Beispiel am 29. Februar.« »Vom 29. Februar wußten sie offenbar nichts. Sie haben -291-
diesen Tag ausgelassen und ihre Orders auf den 1. März datiert.« »Aber da hatten sie ja überhaupt keine Chance mehr, ihre Aktien zu einem annehmbaren Preis zu verkaufen. Da waren die Kurse bereits ganz unten.« »Sie haben sich eben im Datum geirrt.« »Aber das ist doch gar nicht möglich, Homer! Das Chronometer im Börsensaal von New York zeigt doch immer das richtige Datum an.« »Am 29. Februar nicht.« Homer G. Adams betrachte lächelnd ein paar Spatzen, die einige Brotkrumen aufpickten. »Am 29. Februar zeigte das Chronometer versehentlich den 1. März an.« »Darauf hat natürlich niemand in der Hektik geachtet. Nur einer. Der Röhraner, der am Zeitfenster saß und das Geschehen an der Börse beobachtete. Er geriet in Panik und verkaufte, was er nur verkaufen konnte. Unter dem Datum des 1. März.« »Was zur Folge hatte, daß seine Aktien einen Tag zu spät verkauft wurden.« »Ich nehme an, du bist dafür verantwortlich, daß das Chronometer das falsche Datum angezeigt hat?« Homer G. Adams blinzelte in die Sonne. »Das könnte natürlich sein. Was kann ich dafür, wenn die Röhraner so wenig von uns wissen? Meinst du nicht, sie hätten darüber informiert sein müssen, daß wir alle vier Jahre ein Schaltjahr haben?«
-292-
H. G. Ewers
VOLKSZÄHLUNG 384 In der irrealen Welt (um mit Asimov zu sprechen) des Jahres 1983 ging die Auseinandersetzung um das Für und Wider der in der Bundesrepublik geplanten »Volkszählung« durch alle Schichten der Bevölkerung. Das bewies das tiefe Unbehagen der Bürger über ihre immer stärkere datenmäßige Erfassung. Unsicherheit machte sich breit. Mit Daten kann schließlich Mißbrauch getrieben werden, der nicht nur die Intimsphäre und die Menschenwürde verletzt, sondern noch weitaus Schlimmeres ermöglicht. Die Zusicherung, daß die erfaßten Daten gegen Mißbrauch geschützt würden, muß unglaubhaft wirken, wenn sie von jenen kommt, die es nicht fertigbrachten, unsere Umwelt gegen Zerstörung und Vergiftung zu schützen. Die Gefahren des Mißbrauchs werden auch nicht dadurch beseitigt, daß eine Verschiebung der »Volkszählung« vorgenommen wird. Sie wird 1984 stattfinden, wenn die Mehrheit der Bevölkerung sich nicht so entscheidet wie in Holland im Jahre 1971, nämlich dazu, die Fragebögen nicht auszufüllen. Natürlich sollte man nicht gleich übertreiben und den Regierenden bösen Willen unterstellen, wo nur Bequemlichkeit, Überheblichkeit und Bürokratismus vorliegt. Eine für die Zukunft vorstellbare perfekte Verdatung der Bevölkerung würde dennoch eine Welt schaffen, die nicht mehr lebenswert wäre. In der realen Welt des Jahres 384 Neuer Galaktischer Zeitrechnung bekam ein gemeinsamer Bekannter namens Perry Rhodan sehr drastisch vor Augen geführt, zu welchen Zuständen eine Datenerfassung führen kann, die ebenfalls als »Volkszählung« deklariert worden war und ursprünglich weniger Fragen vorsah als die in der irrealen Welt des Jahres 1983 bzw. 1984. . . -293-
Prolog Hilflos hing die GLENDALOUGH in einem unsichtbaren Netz, das nichts anderes war als ein Grenzzustand zwischen dem Hyperraum unseres Universums und dem Hyperraum eines anderen Universums. Der Kreuzer der STAR-Klasse hatte sich am 3. Juni des Jahres 384 Neuer Galaktischer Zeitrechnung auf dem Flug zum Planeten Ughlys im Kugelsternhaufen M13 befunden. Mit ihm reisten Perry Rhodan und Homer G. Adams. Sie wollten sich auf Ughlys mit Vertretern aller anderen zur GAVÖK gehörenden Zivilisationen der Galaxis Milchstraße treffen, um abschließend über den Plan der Bildung eines galaktischen Datenverbunds zu reden. Während der dritten Überlicht-Etappe war es zu Fehlfunktionen in den Computern der Grigoroff-Projektoren gekommen. Die Grigoroff-Schicht, die alle mit Metagrav-Antrieb fliegenden Schiffe während ihrer Überlicht-Phasen vollständig einhüllte und so vor direkten Einwirkungen des Hyperraums schützte, war partiell perforiert worden. Alle Frauen und Männer an Bord hatten den Atem angehalten, als dieser Zwischenfall sich durch ein dumpfes Stöhnen und Verschwinden des Schiffsrumpfes bemerkbar machte. Furcht und Entsetzen hatten ihre eisigen Finger nach den organischen Gehirnen ausgestreckt. Sie waren nicht unbegründet gewesen, denn nach den wissenschaftlichen Aussagen über MegatravAntriebe, Hyperraumdynamik und Grigoroff-Struktur sollte ein Zusammenbruch der Grigoroff-Schicht während der Überlicht-Phase eines Raumschiffs den Sturz dieses Schiffes in den Normalraum eines fremden Universums bewirken. Die Verantwortlichen der Liga Freier Terraner und der Kosmischen Hanse führten den Verlust mehrerer Schiffe während -294-
der Erprobungszeit des Megatrav-Antriebs auf solche Zwischenfälle zurück. Das ließ sich allerdings nicht beweisen, denn keines der Schiffe war je wieder aufgetaucht. Deshalb galten sie offiziell als verschollen. Doch niemand zweifelte daran, daß sie und ihre Besatzungen dieses Schicksal erlitten hatten. Es konnte allerdings auch nicht bezweifelt werden, daß man nie wieder etwas von ihnen hören würde, denn aus einem fremden Universum gab es offensichtlich keine Möglichkeit der Heimkehr. Glücklicherweise war der GLENDALOUGH und ihren Besatzungsmitgliedern und Passagieren dieses Schicksal erspart geblieben. Der Kreuzer stürzte nicht in das andere Universum, und es bestand die nicht ganz unberechtigte Hoffnung, daß Grigoroff-Techniker Sheldon Tulim gemeinsam mit der Kybernetikerin Narla de Grazia die Funktionsstörung beheben konnte und daß die GLENDALOUGH danach ihren Flug nach Ughlys fortsetzen würde. Unterdessen beobachteten die Astrogatorin Llany Barnokles und der Cheffunker Marsden Bläßlich, ein übrigens gar nicht blasser, sondern schwarzhäutiger Hüne vom Planeten Allinive, ein bisher unbekanntes Phänomen. Das unsichtbare Netz, in dem die GLENDALOUGH hing, schien ebenso perforiert zu sein wie die Grigoroff-Schicht des Schiffes. Zwar vermochten menschliche Augen keine optischen Eindrücke der ›Außenwelt‹ wahrzunehmen, aber die Hypertaster der Ortungssysteme erzeugten durch die Perforation hindurch verzerrte Hyperechos, die von den Ortungscomputern als bildhafte Darstellungen auf die Schirme projiziert werden konnten. Sie zeigten Ausschnitte einer Galaxis, deren Sternkonstellationen, Hell- und Dunkelwolken und übrige Komponenten denen der Michstraßen-Galaxis so sehr glichen, daß die Frauen und Männer an Bord zuerst meinten, in den Normalraum ihrer eigenen Galaxis hineinsehen zu können. Bis Cheffunker Bläßlich feststellte, daß die Perforation des unsichtbaren Netzes auch -295-
teilweise durchlässig für Hyperfunkwellen war, so daß sich mit Hilfe der Bordpositronik die stärksten Hyperfunksendungen aus der georteten Galaxis verständlich machen oder rekonstruieren lassen konnten. Anhand dieser Hyperfunksendungen wurde bald festgestellt, die beobachtete Galaxis doch nicht die Milchstraße war. Es gab zwar gravierende Gemeinsamkeiten, die diese Vermutung unterstützten, aber ebenso viele gravierende Unterschiede, die sie unhaltbar werden ließen. Aus all diesen Gemeinsamkeiten und Unterschieden kristallisierte sich schließlich die Erkenntnis heraus, daß die beobachtete Galaxis zu einem Paralleluniversum gehörte. Perry Rhodan wäre nicht Perry Rhodan gewesen, wenn diese Erkenntnis in ihm nicht das Verlangen geweckt hätte, mehr über die Verhältnisse in dieser der Milchstraße so ähnlichen Galaxis des Paralleluniversums zu erfahren - und zwar nicht nur über die astrophysikalischen und astronomischen Verhältnisse, sondern genauso über die Intelligenzen, ihre gesellschaftlichen Konstruktionen und Verhältnisse, ihre Vergangenheit und ihre Zukunftsperspektiven. Mit den Ortungsechos und den Hyperfunksendungen aus der ›jenseitigen‹ Galaxis war das Material vorhanden, aus dem eine moderne und hochleistungsfähige Bordpositronik, wie die GLEN-DALOUGH sie besaß, etwas in der Art eines Trivideo-Reports komponieren konnte, bei dem sogar die Gedanken handelnder Personen als Geflüster eingeblendet wurden. Es wurde ein Anschauungsunterricht daraus, wie niemand an Bord des Schiffes ihn jemals erwartet hatte - in seinen schlimmsten Alpträumen nicht. . .
-296-
1. Jean-Claude Danton zuckte zusammen, als der Lehrer seinen Vortrag unterbrach und mit strafender Stimme sagte: »Danton, Sie sind nicht bei der Sache. Da es ein grober Verstoß gegen die Goldenen Regeln von PHILANTHROP ist, seinen Geist nicht vollständig zu öffnen, wenn der Gebrauch des Terminologiespeichers und des F-A-Suchhilfsgeräts gelehrt wird, verurteile ich dich hiermit zu einer dreitägigen Klausur.« Jean-Claude blickte wütend zu dem beweglichen Tele-Auge des Lehrers, das mit seinem kurzen, zylindrischen Rohr aus dem Sockel des Computer-Terminals ragte und mit rötlich glühender Linse auf ihn starrte. »Das ist ungerecht!« Der Lehrer ging nicht darauf ein, sondern fuhr fort: »Nach drei Tagen wirst du eine Prüfung ablegen müssen. Wenn sich an dem Ergebnis zeigt, daß du bis dahin die Schritte dreihundertelf bis dreihundertzwanzig im Gebrauch des Terminologiespeichers und des F-A-Suchhilfsgeräts beherrschst, wird die Klausur aufgehoben.« »Und wenn nicht?« schrie Jean-Claude. Das Tele-Auge erlosch. Der elektronische Lehrer hatte sich zurückgezogen, ohne zu antworten. Jean-Claude zuckte die Schultern. Er hatte gar nicht mit einer Antwort gerechnet. Er wußte auch so, daß die Klausur um einen Tag verlängert würde, falls er die Prüfung nicht bestand. Langsam erlosch auch die Bildwand des etwa drei mal vier Meter großen und zweieinhalb Meter hohen Raumes, der viel kleiner wirkte, weil er zu einem Drittel mit elektronischem Gerät vollgestellt war. Erbittert blickte der siebzehnjährige junge Mann auf die ver-297-
blassende Trividiodarstellung einer Wüstenlandschaft. Sie bot wenig Reizvolles, denn sie zeigte nur eine weite Ebene voller lebloser Gesteinsbrocken und darüber einen blaßblauen Himmel. Dennoch war dem Jungen dieser Anblick lieber als der Anblick seiner Lernzelle, denn er vermittelte den Eindruck von Weite und Einsamkeit. Jean-Claude sehnte sich oft danach, einmal dorthin zu gehen und danach immer geradeaus bis an den Horizont und noch weiter. Es hieß zwar, daß es außerhalb der Untersektionen von DATENEINHEIT EINS nichts anderes als diese leblose Steinwüste gab und daß Biologische, die sich darin verirrten und den Rückweg nicht fanden, dort verschmachten mußten, aber er vermochte sich nicht vorzustellen, daß es dort keine Lebenserhaltungssysteme gab. Inzwischen war die Trivideodarstellung ganz erloschen. Die Bildwand war schwarz, aber nicht völlig dunkel. Sie reflektierte die buntleuchtenden Lichtpunkte der elektronischen Apparaturen. Das Außen würde erst wiederkommen, wenn die Klausur vorüber war. Solange war er von allem anderen abgeschnitten. Das gehörte zur Strafe und sollte ihn gefügig machen. Nein, nicht ganz. Eine Einschränkung gab es. Er konnte jederzeit mit Sankt Bürokratius Kontakt aufnehmen. Sankt Bürokratius, der Träger der Goldenen Paragraphen, war ein älterer, stets jovialer Biologischer von untersetzter Figur, hatte kurz geschnittenes rotes Haar, wasserblaue Augen und ein großflächiges Gesicht mit Sommersprossen. Er verhängte niemals Strafen wie die Lehrer und Gefühlsmechaniker, aber er konnte auch keine Strafen erlassen. Doch wenigstens hörte er einem zu und unterbrach einen nicht. Spontan entschloß sich Jean-Claude dazu, Sankt Bürokratius zu kontaktieren. Er setzte sich vor das Visiphon und berührte den Sensorpunkt, der ihn mit einem Servoelement in den Gemächern von Sankt -298-
Bürokratius verband. Auf dem Bildschirm des Geräts erschien ein schwarzes Paragraphenzeichen auf silbernem Grund. »Sie werden sich etwa zehn Minuten gedulden müssen, Danton«, sagte das Servoelement. Jean-Claude atmete auf. Zehn Minuten waren keine lange Wartezeit. Manchmal hatte er über drei Stunden warten müssen. Doch um diese Tageszeit war der Andrang der Kontaktbitter für gewöhnlich schwach. Die meisten Biologischen arbeiteten noch mit ihren V-Z-Computern, soweit sie nicht unter achtzehn waren und ihren Lehrern zuhörten beziehungsweise ihre Fragen beantworteten. Jean-Claude legte die Füße auf eine freie Fläche der Schaltkonsole und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er langweilte sich. Wenn er nur schon achtzehn wäre, dann brauchte er nicht Tag für Tag Regeln, Gesetze und Methoden zu lernen, sondern konnte aktiv an der Großen Datenerfassung mitarbeiten, die dem Universum einen Sinn gab. Obwohl - in seinem tiefsten Innern sträubte sich alles in Jean-Claude, darin auch den einzigen Sinn seines Lebens zu sehen. Doch er kannte nichts anderes, das einen Biologischen völlig beanspruchen und auszufüllen vermochte. Es gab nichts anderes. Ein Klingelzeichen ertönte. »Kontakt!« meldete das Servoelement. Jean-Claude nahm schnell die Füße von der Schaltkonsole und legte die Hände auf die Knie. Im nächsten Augenblick verschwand das Paragraphenzeichen vom Bildschirm und machte dem Anblick des Oberkörpers von Sankt Bürokratius Platz. Wie stets sah Sankt Bürokratius sorgfältig gepflegt aus. Er trug ine tadellos sitzende dunkelblaue Uniformjacke mit steifem Stehkragen, der an den Vorderseiten mit je drei goldenen Paragraphenzeichen geschmückt war. »Gute Frage!« gebrauchte Jean-Claude die obligatorische -299-
Grußformel. »Gute Antwort!« erwiderte Sankt Bürokratius. Er lächelte dabei so freundlich wie immer. Diesmal jedoch schien seine Miene etwas bedrückt. »Was kann ich für Sie tun, Danton?« erkundigte sich Sankt Bürokratius. »Ich weiß es nicht«, gestand Jean-Claude. »Ich wollte nur reden. Mein Lehrer hat mich zu drei Tagen Klausur verurteilt und...« » . . . u n d Sie wissen nichts mit der vielen Zeit anzufangen«, beendete Sankt Bürokratius den Satz. »Hm! Vielleicht verraten Sie mir, um welches Thema Ihre Gedanken kreisen, wenn Sie gerade nicht an die Große Datenerfassung denken!« »Um das Außen!« platzte Jean-Claude heraus. War da ein Schatten über Sankt Bürokratius’ Gesicht geflogen, der hatte er sich das nur eingebildet? »Um das Außen!« wiederholte Sankt Bürokratius. Sein Blick verschleierte sich für Sekunden, und seine Stimme wurde monoton. »Das Außen ist innen, und das Innen ist außen. Unsere Aufgabe ist es, den Fragen nachzuspüren, die das Universum bereithält, sie in Worte zu fassen und die Antworten darauf in Form von Daten zu speichern.« Jean-Claude kam es vor, als sagte Sankt Bürokratius etwas auswendig Gelerntes auf. Das stimmte ihn traurig. Er hatte gehofft, daß Sankt Bürokratius auf ihn eingehen würde. Niedergeschlagen erklärte er: »Es ist schade, daß man nicht zum Außen gehen kann - mit den eigenen Füßen, meine ich.« »Unsere Gedanken tragen uns weiter als unsere Füße«, erwiderte Sankt Bürokratius. »Aber beantworten sie auch alle unsere Fragen?« stieß Jean-Claude nach. Sankt Bürokratius sah plötzlich nachdenklich aus. »Bisher haben sie das stets getan. Aber vielleicht nur, weil -300-
niemand die richtige Frage stellte.« »Die richtige Frage? Was ist die richtige Frage?« »Wenn nur jemand die Antwort darauf wüßte!« erklärte Sankt Bürokratius bekümmert. »Ich bedaure, den Kontakt abbrechen zu müssen, Danton. Auf ein andermal!« Das Abbild von Sankt Bürokratius erlosch. Doch Jean-Claude blickte noch lange auf den dunklen Bildschirm des Visiphons. Er grübelte darüber nach, was Sankt Bürokratius mit ›der richtigen Frage‹ gemeint hatte. Es mußte sehr, sehr wichtig sein, die richtige Frage zu stellen. Aber wie konnte man die richtige Frage stellen, wenn man sie nicht kannte? Und weshalb sagten die Goldenen Regeln von PHILANTHROP nichts über die richtige Frage? Warum forderten sie die Biologischen nicht dazu auf, nach ihr zu suchen? Gab es die richtige Frage gar nicht? Doch wieso hatte Sankt Bürokratius dann davon gesprochen? Warum hatte er so bekümmert ausgesehen? Weshalb hatte er den Kontakt so plötzlich abgebrochen, anstatt näher zu erklären, was er meinte? Jean-Claude fror, als ihm der Gedanke kam, Sankt Bürokratius wäre daran gehindert worden, mehr zu ihm zu sagen. Wer hätte ihn daran hindern sollen? Und wer hätte ihn daran dem können? Jean-Claude grübelte immer noch, als das Signal ertönte, das die Biologischen zur Nachtruhe aufforderte. Gehorsam entkleidete er sich und kroch in die Schlafzelle, die ihn leise summend in den Schlummer wiegte. Doch in seinen Träumen erschien ihm Sankt Bürokratius immer wieder in anderen Gestalten, und als er schweißgebadet erwachte, wußte er, daß sein Leben sich von Grund auf verändern würde. Denn von nun an würde er nach der richtigen Frage suchen und nicht eher damit aufhören, bis er sie gefunden hatte. . . -301-
2. »Danton, Sie haben die Prüfung bestanden. Die Klausur ist damit beendet.« Das hatte der Lehrer vor wenigen Stunden zu Jean-Claude gesagt. Danach war der normale Unterricht fortgesetzt worden, als wäre nichts Besonderes geschehen. Für Jean-Claude war jedoch sehr viel geschehen, und er benötigte seine ganze Willenskraft, damit seine Konzentration während des Unterrichts nicht nachließ. Dennoch schien dem Lehrer etwas aufgefallen zu sein, denn weshalb hätte er sonst von einem Deighton vorgeladen werden sollen! Ein Deighton war ein Gefühlsmechaniker, und zu einem solchen wurden Biologische in der Regel nur bestellt, wenn ihr Gefühlsleben sondiert und korrigiert werden sollte. Gleich nach Unterrichtsschluß machte Jean-Claude sich auf den Weg zu dem Deighton seiner Untersektion. Er begegnete in den schmalen Korridoren und den Antigravlifts nur wenigen anderen Biologischen. Ihr Leben spielte sich in ihren Kombinationszellen ab, und sie verließen sie nur, wenn es unumgänglich war. Es gab in den Gängen und Schächten zwischen den Ballungen von Wabenzellen und denen von Rechner- und Speicherelementen eigentlich auch kaum etwas Reizvolles für Biologische. Es sei denn, sie fänden Gefallen daran, den kleinen Servorobotern bei ihren Reinigungs-, Pflege- und Wartungsarbeiten zuzusehen. Doch das konnten sie ebensogut über die Monitorbatterien ihrer Kombinationszellen tun. Nach etwa acht Minuten erreichte Jean-Claude die Residenz des für ihn zuständigen Deightons, dessen Schott wie folgt beschriftet war:
-302-
Glen Adare Deighton Subs. G481 See. 27 DATENEINHEIT EINS Das war keine Neuigkeit für Jean-Claude. Seit er zurückdenken konnte, war Glen Adare der Deighton seiner Subsektion gewesen, und er hatte ihn jährlich zweimal routinemäßig kontaktiert. Vorgeladen worden war er bisher elf mal - heute zum zwölftenmal. »Soll ich dich anmelden, Jean-Claude?« erkundigte sich Mary, der Türcomputer. Warum eigentlich ›der Türcomputer‹, wenn ›er‹ einen weiblichen Namen trägt? überlegte Jean-Claude. Und warum überhaupt einen Namen für einen simplen Computer? Aber das schien eine Marotte Glen Adares zu sein. Alle seine Computer trugen weibliche Namen. »Ja, bitte, Mary!« antwortete er. Drei Sekunden später flötete Mary: »Mein Herr und Meister läßt bitten!« Das Schott öffnete sich. »Bitte, kommen Sie herein, Danton!« rief Adare von irgendwo aus seiner Residenz. Jean-Claude folgte der Aufforderung. Als er den ganz mit rotem Samt ausgeschlagenen Kontaktraum betrat, vermochte er Adare zuerst nicht zu sehen. Doch dann kam der Deighton hinter einem übermannsgroßen Holovideo hoch, das eine große schwebende Kugel darstellte, die aus unterschiedlich hohen, ineinander verschachtelten Baukastenelementen zu bestehen schien. Adare hielt eine ausgesprochene Rarität in seinen Händen, ein Buch, in abgegriffenes braunes Plastik gebunden, über das in Goldbuchstaben das Wort LIMERICKS geprägt war. Glen Adare hatte ein rundes, lustig wirkendes Gesicht, eine Stupsnase, schwarze Augen und halblanges dunkelblondes Haar. »Sie kommen gerade richtig, Danton!« rief er völlig unkon-303-
ventionell. »Ich habe nämlich bis jetzt etwas gesucht, das ich Ihnen zeigen möchte. Nehmen Sie bitte Platz!« Jean-Claude ließ sich in dem wippenden Sessel für Besucher nieder und wartete gespannt auf das, was kommen sollte. Glen Adare war stets für eine Überraschung gut. Ob das mit seinem Beruf zusammenhing, entzog sich Jean-Claudes Kenntnis. Er hatte nie einen anderen Deighton als Adare kennengelernt. Der Deighton blätterte in dem Buch, dann nickte er zufrieden, drehte das Buch so, daß sein Besucher darin lesen konnte, und tippte auf eine Seite, auf der weiter nichts stand als: A Triffid-type monster called Nellie grew celery all down her belly. When it came to the crunch she could have a quick munch without ever leaving the telly. »Bitte, lesen Sie es laut vor!« sagte Adare. Jean-Claude befolgte die Aufforderung. Es fiel ihm nicht schwer, da alle Schüler neben Interkosmo das altterranische Englisch lernen mußten, um später die ihnen überspielten Originaltexte lesen zu können. Doch obwohl er den Text fließend las, vermochte Jean-Claude, den darin verborgenen Sinn nicht zu entdecken. »Übersetzen Sie es!« forderte Adare. Jean-Claude versuchte es. Aber obwohl er sich größte Mühe gab, gelang ihm keine Übersetzung, die einen für ihn verständlichen Sinn ergeben hätte. »Nun?« drängte Adare. »Es tut mir leid, Sir«, sagte Jean-Claude. »Ich komme mit dem Text nicht ganz klar. Er ist eine Art Datensalat mit anscheinend verborgener unschicklicher Bedeutung.« »Das zutreffende Adjektiv ist ›makaber‹« erklärte Adare. »Es ist völlig normal, daß Sie mit dem Text nicht klarkommen. Das haben Limericks so an sich, außer für Kenner. Sie sind komisch ironische, fünfzeilige Verse mit grotesker Wendung am Schluß in den Reimen aufgebaut nach dem Schema a-a-b-b-a, und da sie -304-
meist vom Wortspiel leben, ist es schwer, sie in eine andere Sprache zu übersetzen.« Er klappte das Buch zu und blickte Jean-Claude ernst an. »Sie haben ganz normal reagiert, Danton, und Sie waren auf die Sache konzentriert.« Er ging um den in der Mitte des Kontaktraums stehenden Messingtisch herum und setzte sich auf den dahinter stehenden drehbaren Hocker. Das Buch legte er auf den Tisch. Danach verschränkte er die Arme vor der Brust und schien in sich hineinzulauschen. Nach einer Weile nickte er und musterte wieder Jean-Claudes Gesicht. »Sie werden von einer fixen Idee beherrscht, Danton. Deshalb konnten Sie sich heute nicht so auf den Unterricht konzentrieren, wie das für den Erwerb des umfangreichen Wissens in der Endphase Ihrer Ausbildung notwendig gewesen wäre.« Er hob die Hand, als Jean-Claude etwas sagen wollte. »Oh, ja! Sie haben sich Mühe gegeben, genau wie bei dem Versuch, den Limerick zu übersetzen. Aber Sie mußten sich im Unterricht auch darum bemühen, sich zu konzentrieren, während das bèi dem Limerick nicht der Fall war. Da konzentrierten Sie sich ganz von allein. Was war der Grund dafür?« Jean-Claude zuckte die Schultern. »Vielleicht, weil die Umgebung anders war, Sir.« »Vielleicht, aber das war nicht der entscheidende Faktor. Der entscheidende Faktor hieß ›Interesse‹. Der Limerick weckte Ihr Interesse, dadurch waren Sie sofort voll da. Der Unterrichtsstoff dagegen interessierte Sie nicht. Mit ihm beschäftigten Sie sich nur, weil das Ihre Pflicht war. Wie heißt die fixe Idee, die den Unterricht zur lästigen Pflicht werden ließ, Danton?« »Nicht zur lästigen Pflicht, Sir«, verteidigte sich Danton. »Wir wollen hier keine Wortspiele treiben, junger Mann«, entgegnete Adare mit ungewohnter Schärfe. »Beantworten Sie -305-
meine Frage!« Trotz wallte in Jean-Claude auf. »Das kann ich nicht, Sir.« Wieder schien Adare in sich hineinzulauschen. Plötzlich verfinsterte sich sein Gesicht, er rutschte vom Hocker und deutete anklagend auf den Besucher. »Sie haben die Vermessenheit, nach einer Frage suchen zu wollen, die nicht existiert!« rief er drohend. »Sie maßen sich an, klüger sein zu wollen als PHILANTHROP! Jawohl, genau in diese fixe Idee haben Sie sich verrannt!« »Nein!« schrie Jean-Claude, und er sprang aus dem Sessel. »Doch«, sagte Adare. »Sie bilden sich ein, nach einer Frage suchen zu müssen, von der die Goldenen Regeln PHILANTHROPS nichts sagen und die es deshalb auch nicht gibt. Das ist Auflehnung gegen den Kodex und Sabotage an der Volks- und Datenerfassung. Widersprechen Sie nicht, Danton! Hätte man im Zulassungsausschuß nur auf mich gehört! Ich war gegen diese Gene, die den Keim des Rhodanismus in sich tragen.« Jean-Claude stand völlig verwirrt da. Er wußte nicht, warum Adare sich so aufregte, und er hatte keine Ahnung, was Rhodanismus war. Aber er fühlte sich ungerecht behandelt und beleidigt, und sein Trotz wuchs. Einen Herzschlag lang war er versucht, Sankt Bürokratius als den Urheber der Idee von der richtigen Frage zu nennen. Doch er schwieg aus einem unbestimmbaren Gefühl heraus. Glen Adare richtete den Blick nach oben. »Allgegenwärtiger PHILANTHROP, du hast alles gehört und gesehen. Sage mir, was mit diesem Sünder geschehen soll!« Ein Wandbildschirm leuchtete auf und zeigte auf hellblauem Grund eine große Krone aus blutroten Paragraphenzeichen. »Hier spricht PHILANTHROP!« dröhnte eine furchteinflößende Stimme auf. »Glen Adare, dir gebührt Dank, weil du aufgedeckt hast, daß das Bewußtsein von Jean-Claude Danton -306-
vergiftet ist. Du bist ein guter Deighton. Sorge dafür, daß der Sünder in die Obhut der Hilfreichen Hände kommt. Dort wird man das Gift aus seinem Bewußtsein entfernen.« Der Bildschirm wurde wieder dunkel. Adares Gesicht hatte sich mit Schweiß überzogen, aber es wirkte erleichtert. »PHILANTHROP hat Gnade walten lassen«, erklärte er. »Die Hilfreichen Hände werden dich heilen.« Er wandte sich einem seiner im Nebenraum installierten Computer zu. »Sophie! Fordere eine Kapsel für einen Transport zum Haus der Hilfreichen Hände an!« »Ja, Sir«, erklang eine weiche, fürsorgliche Stimme. »Was ist das: das Haus der Hilfreichen Hände?« fragte Jean-Claude ahnungsvoll. Adare ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Kopf. »Es wird dir gutgehen dort. Hab’ Vertrauen!« Jean-Claudes Trotz schwand. Er wartete geduldig, bis eine fast völlig transparente Kapsel mit einer Sitzgelegenheit darin hereinschwebte. Eine Tür glitt zurück. Jean-Claude stieg ein und setzte sich. Die Kapsel schwebte davon. . .
3. Hab’ Vertrauen! Diese Aufforderung hallte noch lange in Jean-Claudes Bewußtsein nach. Sie hatte seine Ängste zurückgedrängt und ihm das Gefühl der Geborgenheit vermittelt. Die Transportkapsel schwebte leise summend einen Korridor entlang. An seinem Ende bildete sich eine Öffnung, die genau -307-
auf die Form und Größe der Kapsel zugeschnitten war. Sie glitt hinein, beschleunigte und raste durch einen vielfach gewundenen Gang. Als sie den Gang nach wenigen Minuten wieder verließ, schwebte sie in einen saalartigen Raum, in dessen Mitte eine dunkle Ballung zwischen zwei leuchtend strahlenden Säulen wallte. »Transmitter Tahun meldet Empfangsbereitschaft«, vernahm Jean-Claude eine durch die Kapsel gedämpfte Stimme. »DATENEINHEIT EINS an Tahun: Wir senden!« erscholl eine andere Stimme. Die Kapsel schwebte auf die Ballung von Dunkelheit zu und tauchte in sie ein. Jean-Claude schrie, als ein ziehender Schmerz seinen Körper durchdrang, sich im Nacken konzentrierte und danach allmählich abklang. Jemand hob ihn behutsam aus der Kapsel, jemand mit einem stereotyp lächelnden Gesicht, dem man nicht ansah, ob es zu einem Mann oder einer Frau gehörte. Er wurde auf eine gepolsterte Antigravplattform gelegt, deren Kopfende mit elektronischem Gerät bestückt war, das sich halbkreisförmig um Jean-Claudes Schädel spannte. Während die Plattform davonglitt, fuhr das Gerät dünne biegsame Arme aus, auf deren Ende kleine Werkzeuge gesteckt waren. Sie rasierten Jean-Claudes Schädel, besprühten ihn mit einer scharf riechenden Flüssigkeit, wischten ihn ab und preßten ihm Elektroden auf die Haut. Kontrollampen flackerten. Irgendwo in einem Raum, dessen Wände aus Elektronik bestanden, hielt die Plattform an. Zirpend und zwitschernd kommunizierte das Gerät auf der Plattform mit der Elektronik des Raumes. Ein Muster bunter Lichtpunkte bildete sich. Noch immer schwamm Jean-Claudes Bewußtsein in der ihm suggerierten Geborgenheit. »Diagnose abgeschlossen«, sagte die unpersönliche Stimme eines Computers. »Bewußtseinsentgleisung ist auf zwei Fakto-308-
ren zurückzuführen, auf genetisch bedingten Hang zur Rebellion und auf Anstiftung zum Nachdenken infolge teilweisen Ausfalls der Bewußtseinssteuerung von Sankt Bürokratius. Das Bewußtsein des Patienten ist irreparabel durchdrungen von Rhodanismus.« »Empfehlung?« fragte eine andere Stimme. »Totale Löschung der Persönlichkeit und Aufpropfung der Bewußtseinsschablone eines Deightons«, antwortete die erste Stimme. Die suggerierte Geborgenheit zerbrach. Mit ihr wurde das Vertrauen hinweggespült und durch Entsetzen ersetzt. Jean-Claude wollte aufspringen und davonlaufen, doch da schnellten Fesseln aus den Seitenteilen der Antigravplattform, ringelten sich um seine Glieder und hielten ihn fest. Die Plattform setzte sich erneut in Bewegung. Aus weit aufgerissenen Augen starrte Jean-Claude Danton auf das spiegelnde Metallplastik von Decken, auf die seltsam verzerrten Spiegelbilder von Biologischen, die roboterhaft durch Korridore gingen und in Hallen arbeiteten und auf die unterschiedlichsten Konstruktionen von Robotern. Als die Plattform erneut zum Stillstand kam, lösten sich die Fesseln. Doch Jean-Claude erhielt keine Chance, seiner Angst zu gehorchen und davonzulaufen. Greifarme packten zu, hielten ihn gnadenlos fest und verstauten ihn in einer riesigen elektronischen Apparatur, die ihn aus Dutzenden von robotischen Augenlinsen analysierend anstarrte und ihn mit Dutzenden von sensorbestückten Fühlern abtastete. Das Gefühl der völligen eigenen Ohnmacht, des totalen Ausgeliefertseins erstickte den Lebenserhaltungstrieb und setzte an seine Stelle die Gier nach dem Tod. Eine Haube senkte sich über den glattrasierten Schädel. »Halt!« rief eine Stimme - eine weibliche Stimme. Zwischen den robotischen Augenlinsen tauchte ein Gesicht -309-
auf ein unverkennbar weibliches Gesicht, umrahmt von langem, seidigem, schwarzem Haar und beherrscht von schwarzen Augen, die sich in schwarze Flammen zu verwandeln schienen. »Du wirst die letzte Frage finden, Jean-Claude!« sagte eine beschwörende Stimme. »Und du mußt sie stellen, denn nur dann kann der Verbannte zurückkehren!« Die schwarzen Flammen erloschen. Mit der gleichen Gier, mit der sich Jean-Claude noch Sekunden vorher nach dem Tod gesehnt hatte, prägte er sich das Gesicht ein. »Wer bist du?« Er hörte die Frage und merkte gar nicht, daß er selbst sie gestellt hatte. »Sibylle«, antwortete das Gesicht der Frau, dann verschwand es.
4. Perry Rhodan stöhnte. Die Bordpositronik unterbrach ihren Report und sagte: »Mit Rücksicht auf die psychische Gesundheit der Anwesenden wird der Report unterbrochen.« »Nein!« rief Rhodan. »Ich muß wissen, was mit Jean-Claude geschieht! Wer ist er übrigens? Ist er Rois Sohn, sein Enkel oder sein Urenkel?« »Die Zusammenstellung der aussortierten Daten zu einem kontinuierlichen Programm und damit die Erstellung eines sinnvollen Reports würde durch Vorwegnahme von Fakten gefährdet«, erklärte die Bordpositronik der GLENDALOUGH. »Ich handle nach deiner eigenen Weisung, Perry Rhodan, indem ich zuerst einen Report der geschichtlichen Hintergründe und danach der Gegenwart sowie der Zukunftsperspektive zusam-310-
menstelle - alles in Form von Handlungen. Willst du deine Weisung widerrufen?« Rhodan dachte nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich erhalte sie aufrecht. Aber es ist ein verdammt makabres Spiel, das du uns da bietest. Ist es absolut sicher durch Fakten belegt?« »Durch Daten«, korrigierte die Positronik. »Inwieweit die erreichbaren Daten mit den historischen Fakten übereinstimmen, läßt sich von mir nur durch Vergleiche von Daten aus verschiedenen Quellen abschätzen. Ich habe eine durchschnittliche Übereinstimmung mit den historischen Fakten von dreiundneunzig Prozent errechnet.« »Wahnsinn!« sagte Homer G. Adams. »Wie können Menschen so leben?« »Das Schlimmste ist, daß sie dies alles als normal zu empfinden scheinen«, sagte Rhodan. »DATENEINHEIT EINS! Ist euch klar, daß damit die Erde gemeint ist?« »Der ganze Planet?« fragte Narla de Grazia. »Hast du die holographische Projektion in Adares Kontaktraum nicht erkannt?« sagte Sheldon Tulim vorwurfsvoll. »Das war die Erde, wie sie in jenem Paralleluniversum aussieht, fast völlig überkrustet von einer vielstöckigen Schicht aus elektronischen Elementen, in die als wabenzellenartige Ballungen die Unterkünfte und Arbeitsräume der ›Biologischen‹ eingebettet sind.« »Mit Ausnahme eines Fleckens Wüste«, sagte Vuntun Rumor, der epsalische Kommandant des Kreuzers. Marsden Bläßlich gab einen grunzenden Laut von sich. »Das kommt davon, wenn alles technisiert wird. Wir auf Allinive sind da ganz anders vorgegangen. Wir pflügen und eggen noch mit Pferden, tragen die Säcke mit dem Getreide noch einzeln und düngen mit Mist anstatt mit Chemikalien.« »Es geht auch anders, aber so geht es auch«, spottete Adams. -311-
»Das ist nicht von mir, sondern von einem Dichter und Dramatiker namens Bert Brecht«, fügte er entschuldigend hinzu. »Jedenfalls, wenn es in diesem Paralleluniversum ein Gegenstück zu Allinive gibt, dann ist man dort dieser Datenseuche nicht verfallen«, stellte Bläßlich fest. »Allinive heißt DATENEINHEIT VIERHUNDERTELF«, sagte die Bordpositronik. Bläßlichs schwarzes Gesicht wurde grau. »DATENEINHEIT VIERHUNDERTELF!« Er senkte den Kopf. »Und ich war überzeugt davon, daß sie dort immun gegen solche Kindereien wären.« »Wir sollten es nicht als Kinderei abtun«, erklärte Narla. »Es ist furchtbar. Die Menschen werden von Gefühlsmechanikern überwacht und manipuliert, die man Deightons nennt, eigenständiges Denken heißt ›Rhodanismus‹ und Reginald Bull scheint eine durch Drogen oder sonstwas manipulierte Marionette zu sein. Sankt Bürokratius mit den Goldenen Paragraphen!« sie schüttelte den Kopf. »Und er fungiert als ›guter Onkel‹, dem man sein Herz ausschüttet.« »Immerhin hat er seinen starken Willen bewiesen, indem er sich von der Bewußtseinssteuerung befreite, wenn auch leider nur kurz und Jean-Claude einen Hinweis gab, den ich allerdings nicht ganz begriffen habe«, sagte Rhodan. »Die richtige Frage«, sagte Adams nachdenklich. »Diese Frau nannte sie die letzte Frage«, meinte Llany Barnokles. »Sibylle!« flüsterte Perry Rhodan. »Die Geheimnisvolle! Mir ist, als wäre ich ihr schon einmal begegnet. Nein, eher, als hätte ich von ihr geträumt.« »Vielleicht begegnest du ihr eines Tages wirklich, Perry«, sagte Homer G. Adams. »Welches Jahr schreibt man auf der Erde dieses Paralleluniversums?« wandte sich Rhodan an die Positronik. -312-
»Dreitausendneunhunderteinundsiebzig.« »Das entspricht dem Jahr dreihundertvierundachtzig NGZ, also genau dem Jahr, das wir gerade schreiben«, sagte Adams. »Nur, daß es dort nicht zur Gründung der Kosmischen Hanse kam. Fand dort eigentlich jemals eine Invasion durch die Laren statt? Entwickelten sich Konzepte?« »Beides gab es dort niemals«, antwortete die Positronik. »Und was ist mit mir geschehen?« rief Rhodan. »Und mit Julian Tifflor, mit Payne Hamiller? Und wer ist der Verbannte?« »Es wäre eine Vorwegnahme von Fakten, würde ich darauf antworten«, erwiderte die Bordpositronik. »Offenbar ist eure psychische Stabilität wiederhergestellt. Soll ich fortfahren?« »Ich bitte darum!« antwortete Perry Rhodan und konzentrierte sich wieder auf den großen Bildschirm - in der Erwartung des zweiten Aktes eines Dramas, das der Menschheit des eigenen Universums erspart geblieben war. Und plötzlich wurde der Unsterbliche von einer Ahnung befallen, daß das gar nicht so sicher war. . .
5. »Im Namen von Hamiller, dem Schöpfer aller Daten und im Namen von PHILANTHROP, dem Koordinator der Großen Datenerfassung, die einst aus einer Volkszählung hervorging, ernenne ich Sie, Jean-Claude Danton, zum Deighton von Subsektion G 479 Sektion 2 DATENEINHEIT EINS!« Mit gönnerhaftem und zugleich etwas maskenhaftem Lächeln stand Sankt Bürokratius vor Jean-Claude und heftete ihm eine aus winzigen silbernen Paragraphenzeichen geformte Spange an die linke Brustseite seiner hellblauen Kombination. -313-
Danach ergriff er mit beiden Händen Jean-Claudes rechte Hand und drückte sie feierlich. »Meinen herzlichen Glückwunsch, Deighton Jean-Claude! Mögen diese Paragraphen Sie Ihr ganzes weiteres Leben lang begleiten!« »Vielen Dank!« erwiderte Jean-Claude stolz und gerührt. »Als Deighton stehen Sie über den gewöhnlichen Frage- und Antwortsuchern«, fuhr Sankt Bürokratius fort. »Darum brauchen Sie auch einen größeren Überblick. Passen Sie auf!« Sankt Bürokratius ging zu einem großen Schaltpult, das in der Mitte des saalartigen Raumes stand. Vor den Wänden standen zahlreiche Computer-Terminals, und die Wände über ihnen waren mit Datensichtschirmen aller Größenordnungen bedeckt. Sankt Bürokratius berührte einige Sensorpunkte auf dem Schalttisch. In einem Bildschirm entstand eine Holovideoprojektion: ein kugelförmiger Körper, auf dessen Oberfläche die Farbe Blau vorherrschte, unterbrochen durch unregelmäßig geformte Flächen in den Farben Braun, Gelb, Grün und Weiß. Irgend etwas von watteartiger Konsistenz schwebte zerfasert über der Oberfläche der Kugel, obwohl das physikalisch eigentlich unmöglich war. Die Kugel drehte sich und wurde von einer kleineren Kugel umkreist, die sich dabei ebenfalls drehte. Die kleinere Kugel sah völlig anders aus als die größere. Ihre Oberfläche war überwiegend grau und von Kratern und Rissen bedeckt. »Am Anfang herrschte Chaos und Ziellosigkeit«, erläuterte Sankt Bürokratius. »Dort sehen Sie zwei sogenannte Trägerkörper. Der größere wurde von den Ahnen Erde oder Terra genannt, der kleinere Mond oder Luna. Auf Terra waren die Ahnen als Endprodukt einer regellosen Evolution entstanden. Sie wußten jedoch nichts Rechtes mit ihrem Trägerkörper anzufangen. So kam eine Fehlentwicklung zustande, die man Raumfahrt nannte. Es gab nämlich im Universum viele ähnliche Träger-314-
körper, und auf ihnen lebten Biologische, die wie die Ahnen ebenfalls eine Art Intelligenz entwickelt hatten. Zwischen diesen sogenannten galaktischen Zivilisationen bewegten sich die Ahnen und die anderen sogenannten Intelligenzen körperlich mit Hilfe von Raumschiffen. Sie hatten noch keine bessere Möglichkeit gefunden, um Informationen auszutauschen. Dieser Zustand hielt lange an - und eines Tages, er liegt dreihunderteinundachtzig Jahre zurück, verlor der Schöpfer aller Daten die Geduld. Er erschien den Ahnen auf Terra als Payne Hamiller und brachte ihnen die Erleuchtung des Geistes, auf daß sie eine Volkszählung veranstalteten, aus der schließlich die Große Datenerfassung hervorging, die der einzig wahre Sinn des Universums ist. Terra wurde zu DATENEINHEIT EINS und die übrigen Trägerkörper der sogenannten galaktischen Zivilisationen wurden ebenfalls zu DATENEINHEITEN, die nach dem Zeitpunkt ihrer Einsatzbereitschaft laufend numeriert wurden. Da die Biologischen noch unvollkommen waren und sind, ließ der Schöpfer aller Daten ihnen als Koordinator der Großen Datenerfassung seinen Stellvertreter PHILANTHROP zurück. In dem Bildschirm verwandelte sich Terra in eine fast lükkenlos von schimmernden elektronischen Bauelementen überkrustete Kugel. Nur eine kleine graubraune Wüstenfläche war freigeblieben. Luna wurde zu einer total überkrusteten Kugel.« Sankt Bürokratius deutete auf Luna. »Das ist PHILANTHROP, Hamillers Stellvertreter. Mit seiner Hilfe kam der Galaktische Datenverbund zustande, der die Voraussetzung für die Ausweitung der Volkszählung in die Große Datenerfassung war. Zur Zeit verstärkt er seine Hyperkomanlagen, damit künftig die Verbindung zu anderen Galaxien hergestellt werden kann, um den Datenverbund mehr und mehr auszuweiten, bis das ganze Universum ein einziger Datenver-315-
bund ist und damit den Sinn seiner Existenz erfüllt. Der Daseinszweck aller Biologischen aber ist es, immer neue Fragen zu erfinden und zu formulieren, damit die Datenerfassung nie abreißt. Sie allein verfügen über die Gabe der Kreativität, die dazu notwendig ist, während PHILANTHROP seine Gabe der Verarbeitungskapazität beisteuert, die bei den Biologischen nur ungenügend ausgebildet ist. Ihr Deightons aber wacht als Gefühlsmechaniker darüber, daß die gemeinen Volkszähler sich der Bedeutung ihrer Aufgaben bewußt bleiben und glücklich sind, damit der Ungeist des Rhodanismus niemals eine Chance hat, ihr Bewußtsein zu vergiften. An die Arbeit, Deighton!« Jean-Claude Danton nickte verantwortungsbewußt und ging. Er fand seine Residenz sofort, denn die Lage war ihm eingeprägt worden. »Ich bin Nancy«, meldete sich der Türcomputer, als er vor dem Schott seiner Residenz stand und das daran befestigte Schild mit seinem Namen musterte. »Soll ich dich anmelden, Jean-Claude?« Jean-Claude runzelte die Stirn. »Anmelden? Bei wem denn? Das ist meine Residenz.« »War nur ein kleiner Scherz.« Nancy kicherte und ließ das Schott auf gleiten. Jean-Claude betrat den mit rotem Samt ausgeschlagenen Kontaktraum. Doch er hielt sich nicht lange auf, sondern ging sofort in den benachbarten Arbeitsraum, der zu einem Drittel mit elektronischem Gerät angefüllt war. Zielstrebig setzte er sich vor den größten Computer und berührte spielerisch einige Sensorpunkte auf der Schaltkonsole. Der Computer gab keinen Ton von sich, aber über seinen Bildschirm huschte eine Wortfolge und erlosch sofort wieder. ERINNERST DU DICH AN SIBYLLE? Jean-Claude erstarrte. In seinem Bewußtsein waberten schwarze Flammen und -316-
brannten etwas aus, das bisher etwas anderes überlagert hatte. Jean-Claude erinnerte sich plötzlich wieder an das Frauengesicht und an die beschwörende Stimme, die ihm gesagt hatte, daß er die letzte Frage finden würde - und daß er sie stellen mußte, weil nur dann der Verbannte zurückkehren konnte. VERRATE DICH NICHT! huschte eine neue Wortfolge über den Bildschirm. PHILANTHROP SIEHT UND HÖRT ALLES MIT AUSNAHME DESSEN - WAS AUF BILDSCHIRMEN ERSCHEINT - OHNE EINEN COMPUTER DURCHLAUFEN ZU HABEN. Jean-Claude verschränkte die Arme vor der Brust und stellte den linken Unterarm so, daß er sein Kinn in die Handfläche legen konnte. Er hoffte, dadurch so auszusehen, als dächte er nach. SEHR GUT! huschte es über den Bildschirm. ABER VON NICHTS KOMMT NICHTS. DIE RICHTIGE FRAGE WIRD DIE LETZTE FRAGE SEIN - ABER SIE IST NICHT LEICHT ZU FINDEN. Jean-Claude veränderte seine Haltung nicht. Er wartete auf weitere Mitteilungen. Doch nachdem er einige Minuten lang vergeblich gewartet hatte, begriff er, daß er von nun an derjenige war, von dem Aktivität erwartet wurde. Er tat nicht länger, als dächte er nach. Er dachte tatsächlich nach. Zuerst überlegte er, wer die Worte auf dem Bildschirm erzeugt hatte und mit welcher Methode. War es Sibylle gewesen? Doch dann mußte sie eine Art Magie beherrschen, denn ein normaler Biologischer konnte keine Worte auf dem Bildschirm eines Computers aufleuchten lassen, wenn er sie nicht zuvor durch den Computer laufen ließ. Doch genau das war nicht geschehen, denn sonst hätte PHILANTHROP im gleichen Augenblick Bescheid gewußt. Schließlich war es Jean-Claude klar, daß er mit solchen unfruchtbaren Überlegungen nur Zeit vergeudete. Er mußte endlich damit anfangen, nach der richtigen Frage zu suchen. Dazu aber -317-
benötigte er Anhaltspunkte, die ihn auf die richtige Spur brachten. Ihm fiel vorläufig nichts ein, als stichprobenartige Einblicke in das gigantische Frage- und Antwortspiel der Großen Datenerfassung zu gewinnen. Die dazu notwendigen technischen Mittel waren in der Residenz eines Deightons enthalten - jedenfalls, soweit es die Arbeit von DATENEINHEIT EINS betraf. Jean-Claude setzte sich vor den Sondierungscomputer und schaltete sich wahllos in die Fragen ein, die aus der Arbeitszelle eines Volkszählers kamen und zu PHILANTHROP gesendet wurden. »Spiegelbild!« sagte eine weibliche Stimme. »Subjektiv nuanciert? Abweichung zwischen? Gewollt? Ungewollt?« Kurze Pause. »Geräusche! Stärke? Artikulation? Gestalt? Ansprechbarkeit? Empfindlichkeit?« Kurze Pause. »Gewissen! Selbsteinschätzung? Wertschemata? Trägheit? Triebe? Affekte?« Jean-Claude schaltete sich aus und versuchte, sich das ins Gedächtnis zurückzurufen, was er als Schüler und Volkszähler-Aspirant gelernt hatte. Es gelang ihm nur bruchstückhaft. Anscheinend war ihm nur das gelassen worden, was er zu seiner Funktion als Deighton brauchte. Er schaltete sich in die Sendung einer anderen Arbeitszelle ein. »Sinnestäuschungen!« sagte diesmal eine männliche Stimme. »Illusionen? Halluzinationen? Stimmenhören? Phantome? Leibliche? Schizoide?« Kurze Pause. »Geruch! Makrosmate? Mikrosmate? Anosmate? Nahrung? Sexualpartner? Artgenossen? Olfaktometer obligatorisch!« Wieder schaltete sich Jean-Claude Danton aus. Ihm dämmerte, nach welchem Schema gearbeitet wurde. In dreihunderteinundachtzig Jahren mußten die Fragemöglichkeiten zu allen Themen des normalen Lebens längst ausgeschöpft -318-
sein. Die Volkszähler waren deshalb auf mehr oder weniger ausgefallene Komplexe ausgewichen. Sie benannten einen Komplex - wie beispielsweise »Spiegelbild« - und nannten danach alle Fragen nach den Besonderheiten eines Spiegelbilds, die ihnen einfielen oder die sie mit Hilfe des Terminologiespeichers und des Frage-Antwort-Suchgeräts zusammengestellt hatten. Welche Fragen würden in tausend Jahren gestellt werden? Es fröstelte Jean-Claude, als er begriff, daß die Große Datenerfassung mit der Zeit aus halbwegs intelligenten Biologischen ausgesprochene Vollidioten machen würde, die aus ihren Terminologiespeichern und Frage-Antwort-Suchgeräten nur noch speziellste Fragen herausholten, die sie selbst längst nicht mehr verstanden. Das gleiche würde auf die Beantwortung von Fragen zutreffen. Wieder schaltete er sich in die Sendung einer Arbeitszelle ein. »Antwort eins!« sagte eine männliche Stimme. »An bildhafte Erlebnisse geknüpft, Kreislauf und Durchblutung reguliert, Psychotherapie.« Kurze Pause. »Antwort zwei! Nontronit, Talk, Vermikulit, Natrolith, Phillipsith, Bimsstein, Granit, Granat-Glimmerschiefer.« Kurze Pause. »Antwort drei! Alanin, Beta-Alanin, Alpha-Aminobuttersäure, Glycin, Glutamin, Asparagin.« Abermals schaltete Jean-Claude sich aus. Antwort zwei und drei drehten sich offensichtlich um die Voraussetzungen und die Resultate eines chemischen Experiments, doch da der Beantworter das Experiment nicht durchführte, sondern die Antworten mit Hilfe seines Frage-Antwort-Suchgeräts heraussuchte, besaßen weder die Fragen noch seine Antworten einen praktischen Nutzen - ja nicht einmal einen theoretischen. »Hier spricht PHILANTHROP«, ertönte eine gedämpfte Stimme. »Hast du Probleme, Jean-Claude Danton?« -319-
Jean-Claude zuckte zusammen. Er fühlte sich ertappt. »Nein, nein!« sagte er hastig. »Ich habe mich nur mit dem derzeitigen Niveau der Großen Datenerfassung bekanntmachen wollen.« »Dann laß dich nicht stören!« erwiderte PHILANTHROP. »Deine Arbeit als Deighton beginnt ja erst morgen.« »Ja«, sagte Jean-Claude. Er ließ den Kopf hängen. Es gab einfach keine Anhaltspunkte, die ihn auf die Spur der letzten Frage bringen konnten. Vielleicht gab es überhaupt keine letzte Frage. Wer ist Sibylle? Doch das war bestimmt nicht die letzte Frage, und sie brachte ihn auch nicht weiter, weil er sie nicht beantworten konnte. Er beschloß, sich in der Schlafzelle zu verkriechen und so zu tun, als ob er schliefe. Andernfalls würde sein Benehmen PHILANTHROP früher oder später so verdächtig vorkommen, daß er ihn einer Bewußtseinsabtastung unterzog. Niedergeschlagen erhob er sich - und im selben Augenblick kannte er die letzte Frage. Wie heißt die universelle Antwort?
6. Auch für Deightons gab es die Möglichkeit, eigene Fragen zur Großen Datenerfassung beizutragen, auch wenn sie dazu nicht verpflichtet waren. Jean-Claude Danton zögerte deshalb keinen Augenblick, sondem setzte sich vor sein Eingabegerät, berührte den Sensor unter dem Leuchtbild FRAGEN und sagte: »Wie heißt die universelle Antwort?« Drei, vier bange Sekunden vergingen, dann schaltete sich das Visiphon ein, und eine neutrale Stimme sagte: -320-
»Auf die Frage ›Wie heißt die universelle Antwort?‹ liegt bisher noch keine Antwort vor. Das ist ein Rekord. Der Finder wird dafür belohnt, indem sein Name öffentlich genannt wird. Es handelt sich um den Deighton Jean-Claude Danton.« Überrascht blickte Jean-Claude das Visiphon an. Insgeheim hatte er befürchtet, daß seine Frage längst beantwortet war und daß es sich demnach doch nicht um die letzte Frage handelte. Milliarden von Biologischen innerhalb des gesamten Datenverbunds mußten bereits nach der Antwort suchen - und von Sekunde zu Sekunde mußte sich ihre Zahl erhöhen. Abermals schaltete sich das Visiphon ein, und die neutrale Stimme erklärte: »Jean-Claude Danton wird zum Finder der Frage des Tages erklärt. Er tritt damit die Nachfolge des wegen Krankheit abgelösten bisherigen Sankt Bürokratius an. Alle Volkszähler des Galaktischen Datenverbunds werden aufgefordert, ihre Arbeit auf die Suche nach der Antwort auf die Frage ›Wie heißt die universelle Antwort?‹ zu konzentrieren!« Jean-Claude triumphierte innerlich. Er hatte es geschafft. Impulsiv eilte er zu seinem größten Computer, blickte sein Spiegelbild auf der dunklen Fläche des Bildschirms an und sagte: »Das hättest du nicht gedacht, wie?« DU BIST EIN GENIE! blinkte es über den Bildschirm. ABER AUCH EIN NARR! JETZT WEISS PHILANTHROP BESCHEID. BRINGE DICH IN SICHERHEIT - WENN DU KANNST! Erschrocken begriff Jean-Claude, welchen Fehler er begangen hatte. PHILANTHROP würde ihn jagen und bestrafen lassen. Gehetzt sah er sich um. Wo konnte er Sicherheit vor etwas finden, das allgegenwärtig war? »Hier spricht PHILANTHROP!« dröhnte es aus verborgenen Lautsprechern. »Jean-Claude Danton, nenne mir die Antwort auf -321-
deine Frage!« »Ich kenne sie nicht«, erwiderte Jean-Claude. »Und ich hoffe, auch du wirst sie niemals finden.« »Es gibt auf jede Frage eine Antwort«, gab PHILANTHROP zurück. »Nicht auf die letzte«, sagte Jean-Claude. »Antwortet!« forderte PHILANTHROP. »Antwortet! Antwortet! Antwortet!« Jean-Claude hielt sich die Ohren zu und verließ seine Residenz. Draußen war es still. Sogar die Servoroboter hatten ihre Tätigkeiten eingestellt. Vermutlich waren auch sie dazu aufgefordert worden, die Antwort auf die letzte Frage zu suchen. Ziellos irrte Jean-Claude durch die Korridore, ließ sich Antigravschächte hinauf und hinab treiben und blieb schließlich ermüdet irgendwo stehen. Er wußte nicht, wohin er sich wenden sollte, und zweifelte allmählich am Sinn seines Sieges. Nach einiger Zeit ging er weiter. Irgendwann kam er an einem Portal vorbei, auf dem HOSPITAL stand. Er stutzte, dann kehrte er um. In seinem Bewußtsein formte sich der Wunsch nach dem Kontakt mit anderen Biologischen, die nicht in ihren Arbeitszellen gefangen waren und nach einer Antwort suchten, die es nicht gab. Das Portal öffnete sich, als er nähertrat. Drinnen blinkten hektisch elektronische Kontrollwände, Bildschirme flimmerten, Stöhnen, Husten, Fluchen und Weinen tönten aus Überwachungslautsprechern. Jean-Claude öffnete Türen und sah dahinter vollcomputerisierte Patientenzellen mit Biologischen, die apathisch dalagen oder vor Schmerzen stöhnten, sich fluchend gegen ihr Schicksal auflehnten oder resignierend weinten. Ihm wurde übel, denn er begriff, daß er indirekt dafür verantwortlich war. PHILANTHROP hatte in seiner verzweifelten Suche nach der Antwort auf die letzte Frage offenbar alle -322-
Computer dafür eingespannt. Er wankte gerade wieder aus einer Patientenzelle, da stieß er beinahe mit einem anderen männlichen Biologischen zusammen. »Sankt Bürokratius!« rief er erschrocken. Sankt Bürokratius blinzelte. Anscheinend sah er schlecht. Es schien ihm auch sonst nicht gut zu gehen. Er wirkte wie um Jahrzehnte gealtert. »Wer bist du?« fragte er schließlich undeutlich. »Jean-Claude Danton.« Das Gesicht von Sankt Bürokratius leuchtete auf. Seine Hände tasteten über den Kopf von Jean-Claude und blieben kraftlos auf den Schultern liegen. »Jean-Claude Danton!« flüsterte er. »Ich wußte, daß du es schaffen würdest, deshalb zwang ich mich dazu, meinen eigenen Willen wenigstens für kurze Zeit durchzusetzen und dich auf den richtigen Weg zu stoßen.« »Aber was habe ich angerichtet!« rief Jean-Claude verzweifelt. Sankt Bürokratius atmete schwer. »Die schlimmsten Fehler fordern immer die größten Opfer, mein Junge. Dieser Spruch stammt übrigens von deinem Vater, von Roi Danton. Ich hoffe, er lebt noch. Er wurde damals mit Perry Rhodan zusammen verbannt - und viele mit ihnen.« Er runzelte die Stirn. »Aber hat man dich damals nicht nach Tahun gebracht, um deine Persönlichkeit zu löschen?« »Eine geheimnisvolle Frau hat mich davor bewahrt«, antwortete Jean-Claude. »Sibylle.« Abermals leuchtete das Gesicht von Sankt Bürokratius auf. »Sibylle, die Geheimnisvolle, Perrys Lebensgefährtin! Ja, ihr kann es gelungen sein, Hilfe von jenseits der Materiequellen zu holen und den Kampf auf andere Weise zu führen. Schade, daß ich sie nicht wiedersehen werde.« »Warum nicht?« fragte Jean-Claude und stützte Sankt Büro-323-
kratius, weil er dessen Kräfte zusehends schwinden spürte. »Sie nahmen mir meinen Zellaktivator, als ich immun gegen ihre Drogen wurde«, lallte Sankt Bürokratius. Noch einmal riß er sich zusammen. »Hör zu, kleiner Danton! Richte Sibylle und Perry Rhodan Grüße von Bully aus, wenn sie hierher kommen! Sibylle wird einen Weg finden, und auch Perry und die anderen Freunde werden, wenn sie überlebt haben, als erstes die Erde aufsuchen.« Er sackte haltlos zusammen, und Jean-Claude ließ ihn behutsam auf den Boden gleiten. »Bully?« fragte er verständnislos. »Um Hamillers willen! Kann ich Ihnen nicht irgendwie helfen?« Ein wehmütiges Lächeln glitt über das immer stärker verfallende Gesicht. »Dein Anblick ist mir Hilfe genug, Jean-Claude«, flüsterten die blutleeren Lippen kaum hörbar. »Wir haben einen furchtbaren Fehler begangen, als wir alles dieser Inpotronik überließen. Als wir ihn bemerkten, war nichts mehr rückgängig zu machen. Volkszählung - ha! Computer sollen dienen und nicht herrschen. Hilf mit, die Erde wieder zu. . . « Er ächzte, dann fiel sein Kopf ruckartig zur Seite. Die Pupillen wurden starr. . .
7. »Bully!« schrie Perry Rhodan aufspringend, dann zuckte er verlegen die Schultern. »Entschuldigt, bitte! Ich vergaß, daß dies nur ein Report über Ereignisse in einem Paralleluniversum war. Dennoch, meine Erschütterung bleibt.« Er setzte sich wieder, dann blickte er Homer G. Adams an. -324-
»Du weißt, was wir als nächstes zu tun haben?« Adams schüttelte den Kopf. »Ich weiß, woran du denkst, Perry. Aber die Geschichte wiederholt sich nicht. Schon gar nicht, wenn sie sich in einem Paralleluniversum abgespielt hat. Das Gesetz zur Volkszählung 384, das der Rat der LFT vorgestern mit unserer Zustimmung beschlossen hat, garantiert die Beschränkung der Fragen über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungserwartungen der LFT-Bürger. Namen und Adressen werden überhaupt nicht erfaßt.« »Aber begreifst du denn nicht?« erregte sich Rhodan. »Auch die Verantwortlichen der Erde des Paralleluniversums hatten nicht das im Sinn, wozu es schließlich pervertierte. Sie begingen nur den Fehler, die Durchführung diesem PHILANTHROP zu überlassen, so wie wir die Koordinierung und Auswertung an NATHAN delegiert haben.« Er hob die Stimme. »Und sind wir nicht bereits unterwegs, um mit Vertretern der anderen GAVÖK-Mitglieder abschließend über den Plan zur Bildung eines Galaktischen Datenverbunds zu konferieren! Genau wie im Paralleluniversum.« Adams wurde nachdenklich. »Das ist alles richtig, Perry. Du fürchtest also, NATHAN würde von sich aus einen umfangreicheren Fragenkatalog ausarbeiten, wenn ihm der bisherige als unzureichend erscheint?« »Und danach einen noch umfangreicheren und einen noch umfangreicheren und so fort. Wenn ich mir vorstelle, daß es zwar auf jede Frage eine Antwort gibt, daß sich aber aus jeder Antwort mindestens zwei neue Fragen ergeben, dann ahne ich, was eine auf Perfektion bedachte Inpotronik daraus machen wird.« Er wandte sich an die Mitglieder der Zentralebesatzung. »Wie denkt ihr darüber?« »Ich hätte nie so etwas gedacht, wenn ich den Report nicht -325-
gesehen hätte«, meinte Vuntun Rumor bedächtig. »Aber unsere Bordpositronik hat mit raffinierten dramaturgischen Mitteln gearbeitet. Könnte sie nicht übertrieben haben?« »Ganz sicher nicht«, widersprach Narla de Grazia. »Sie hatte ihre Richtlinien. Ich bin auch dafür, die Datenerfassung abzubrechen.« »Ich auch«, sagte Barnokles mit bleichem Gesicht. »Auf jeden Fall«, erklärte Marden Bläßlich. »Allinive darf nicht zu einer Datenwüste werden.« »Sheldon?« wandte sich Rhodan an den Grigoroff-Techniker, der mit seinen Computern noch immer an der Behebung der Fehlfunktion arbeitete. »Ich bin gleich fertig«, antwortete Sheldon Tulim. »Das wollte ich nicht wissen«, erklärte Rhodan. »Ach, so!« machte Tulim. »Eine Zählung sollte sich tatsächlich aufs Zählen beschränken, denke ich. Alles andere ist sowieso nur Datenschnüffelei. Wenn ihr nur die Anzahl der LFT-Bürger feststellen laßt, kann eigentlich nichts passieren.« »Da hat er recht«, bemerkte Adams. »Und nun die Zukunftsperspektive!« sagte Perry Rhodan. »Positronik, bist du bereit?« »Ja, aber sie läßt sich nicht dramaturgisch gestalten, wenn sie nicht in Science Fiction ausarten soll«, erwiderte die Bordpositronik. Gelächter brannte auf, dann sagte Rhodan: »Ich bin mit einer Textfassung zufrieden, da ich ohnehin ungeduldig werde, wenn ich an das denke, was NATHAN inzwischen vielleicht ausbrütet.« »Alle zu DATENEINHEITEN umgewandelten Planeten werden zwar frei sein, sobald bei PHILANTHROP der unvermeidliche Kurzschluß eintritt«, erklärte die Positronik. »Die menschlichen Populationen werden allerdings infolge lang anhaltender chaotischer Zustände stark dezimiert werden, bevor die Überlebenden lernen, die Technik selbst soweit in den Griff -326-
zu bekommen, daß die notdürftigste Versorgung gesichert ist. Danach wird ein Zeitalter des Computerhasses anfangen. Letzten Endes aber bestehen gewisse Aussichten, daß wieder Zivilisationen entstehen. In ferner Zukunft werden die galaktischen Völker auch auf technische Hilfsmittel zurückgreifen, aber sie werden sie maßvoll einsetzen und sich nie wieder in eine Abhängigkeit von Computern begeben. Mehr läßt sich zur Zeit nicht voraussagen.« »Und die Verbannten?« fragte Rhodan. »Sind zur Zeit offenbar noch nicht zurückgekehrt«, sagte die Positronik. »Aber selbst wenn, könnte ich keine Daten darüber auffangen, da die hektische Suche des Datenverbunds nach der Antwort auf die letzte Frage eben erst ihren Höhepunkt erreicht hat.« Rhodan nickte. »Ich werde mich damit abfinden müssen, es nie zu erfahren. Wie weit bist du, Sheldon?« »In zwei Minuten können wir unseren Flug fortsetzen«, antwortete Tulim.
8. Als die GLENDALOUGH in den Normalraum des eigenen Universums zurückfiel, ließ Perry Rhodan sofort eine Hyperkomverbindung mit NATHAN herstellen. »Kodierung!« sagte er, als auf dem Bildschirm das Symbol der lunaren Inpotronik erschien. »Unser spezieller Kode!« »Fertig«, antwortete NATHAN. »Gut!« sagte Rhodan. »Ich mache hiermit von meinen besonderen Vollmachten als Sprecher der Kosmischen Hanse Ge-327-
brauch und ordne durch einstweilige Verfügung die Aussetzung der Datenerfassung ›Volkszählung 384‹ an. Der erste Terraner und Reginald Bull sind unter Wahrung der Geheimhaltung davon zu unterrichten. Nach meiner Rückkehr ins Solsystem werde ich meine Maßnahme begründen.« »Verstanden«, erwiderte NATHAN. »Ich mache jedoch darauf aufmerksam, daß die gestellten Termine bei einer Unterbrechung nicht eingehalten werden können.« »Ich habe mich nicht ganz exakt ausgedrückt«, erklärte Rhodan. »Die Aussetzung wird in einen Verzicht umgewandelt werden, sobald ich meine Anordnung begründet habe.« »Das wäre ein Fehler«, entgegnete die Inpotronik. »Es hat sich herausgestellt, daß die Mehrzahl der Bürger so pauschale Fragen wie nach Entwicklungserwartungen nicht eindeutig beantwortet, so daß sich aus jeder Antwort mindestens zwei neue Fragen ergeben. Ihre Anzahl wird sich in geometrischer Reihenfolge potenzieren. Ich habe es deshalb für erforderlich gehalten, einen Datentrust aus vorerst hunderttausend menschlichen Mitarbeitern zu bilden, der seine Arbeit soeben. . . « »Heiliger Solar!« entsetzte sich Homer G. Adams. »Damit ist die Katastrophe vorprogrammiert!« »Ich verstehe nicht, was Homer G. Adams damit gemeint hat«, sagte NATHAN. »Du wirst es bald verstehen«, erklärte Rhodan schwitzend. »Alle Arbeiten für die Datenerfassung sind sofort einzustellen; der Datentrust ist aufzulösen! Bist du eigentlich noch in der Lage, diese Anordnungen zu befolgen, NATHAN?« »Wie kommst du auf eine solche Frage, Perry Rhodan?« erkundigte sich die lunare Inpotronik. »Selbstverständlich werde ich deine Anordnungen befolgen.« Perry Rhodan atmete auf, und er bemerkte, daß es Adams und der Zentralebesatzung nicht anders erging. Sie alle hatten für einen Moment das Schlimmste befürchtet. -328-
»In Ordnung«, sagte Rhodan. Als die Hyperkomverbindung erlosch, wischte er sich den Schweiß von der Stirn. »Ich werde wohl nie vergessen, was in diesem Paralleluniversum geschehen ist und in unserem zweifellos ebenfalls geschehen wäre, hätten wir die Folgen nicht noch rechtzeitig vor Augen geführt bekommen.« »Nie wieder Volkszählung!« sagte Narla de Grazia. »Sibylle!« murmelte Rhodan undeutlich und nur zu sich selbst. »Du hast mich stark beeindruckt. Aber eine Frau wie dich lerne ich wohl niemals kennen, dafür aber auch keine totale Verdatung. Wenn ich nur wüßte, was Bully mit der Hilfe von jenseits der Materiequellen gemeint hat! Ich muß ihn danach fragen, wenn wir wieder zu Hause sind.« Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn und lächelte gequält. »Jetzt bringe ich schon alles durcheinander. Wie könnte unser Bully etwas davon wissen! Aber den Spitznamen Sankt Bürokratius verpasse ich ihm irgendwann, jedenfalls dann, wenn er nicht einsieht, daß eine Volkszählung der Anfang vom Ende der Demokratie ist.« »Was brummst du da in deinen Bart, Perry?« fragte Adams. »Geht’s dich was an?« erkundigte sich Perry. »Bist du etwa ein heimlicher Datenklau?«
-329-
Detlev G. Winter
BLÄTTER IM WIND In der Auseinandersetzung mit der Endlosen Armada blieb Perry Rhodan im Mai 426 NGZ nur noch die Flucht nach vorn. Die Galaktische Flotte drang in den Frostrubin ein, um sich dem Zugriff des Feindes zu entziehen. Der Weg durch die Akausalität des Rotierenden Nichts führte direkt nach M 82, dem Sitz der Superintelligenz Seth-Apophis. Keine der sorgfältigen Berechnungen ging jedoch auf. Während die Endlose Armada, die der Galaktischen Flotte ohne Zögern folgte, fast unbeschadet materialisierte, wurden Perry Rhodans Einheiten voneinander getrennt und überall in M 82 versprengt. Es dauerte über fünf Monate, bis es gelang, die Flotte an einem Sammelpunkt wieder zu vereinen. In der Zwischenzeit hatten sich die meisten Raumschiffsbesatzungen der Angriffe von Armadisten zu erwehren. Nur wenige verschlug das Glück an Orte, wo von der Endlosen Armada keine Spur zu entdecken war. Auch sie blieben von Problemen jedoch nicht verschont. Zu diesen Schiffen gehörte auch die ROVIGAR, eine Kogge der Kosmischen Hanse. Dies ist ihre Geschichte. . .
1. Mit einer 20000 Einheiten starken Flotte aufzubrechen, die man für das Gewaltigste hielt, was ein Völkerbund überhaupt zusammenstellen konnte, und dann einer Armada zu begegnen, -330-
deren Anzahl von Schiffen das Vieltausend- oder gar Millionenfache betrug - das allein kratzte schon gehörig an den Nerven. Anschließend ein Gebilde zu durchqueren, das die ebenso poetische wie irreführende Bezeichnung Frostrubin trug, in dem die herkömmlichen physikalischen Gesetze nicht mehr galten, Kausalität und Naturkonstanten auf den Kopf gestellt wurden diese Erfahrung konnte einen bereits an den Rand der Verzweiflung bringen. Und sich schließlich in einer fremden Galaxis wiederzufinden, isoliert und ohne Kontakt zu den restlichen Raumern der Flotte, deren Reflexe auf den Bildschirmen Sekunden zuvor noch zu sehen waren - ein solches Erlebnis war dazu angetan, einen Schock auszulösen und, je nach Temperament, Lethargie oder Aufbegehren zu wecken. Daß in dieser verfahrenen Situation die Ordnung an Bord erhalten blieb und die Mannschaft schnell wieder Tritt faßte, hatten wir vermutlich nur dem Kommandanten zu verdanken. Für ausreichenden Gesprächs- und internen Konfliktstoff sorgte er, indem er sich, wie üblich, abwechselnd freundlich, polternd oder abweisend gebärdete. Damit nicht genug, entwickelte er eine Reihe von Aktivitäten, sinnige und unsinnige, die jedem einzelnen von uns viel Beschäftigung und zusätzliche Ablenkung boten. Dabei trug er stets einen Optimismus zur Schau, der selbst die sensibelsten Gemüter wieder auf Vordermann brachte. Zweifellos war sein ertrusischer Unternehmungsgeist in unserer Lage eine große Hilfe. Oft kamen wir gar nicht dazu, die ganze Problematik der Situation überhaupt abzuschätzen. Es gab genug zu tun. Wir landeten auf verschiedenen Planeten, betrieben wissenschaftliche Forschungen, befreundeten uns mit Halbintelligenzen, untersuchten einen Meteoriten, der unseren Weg kreuzte - und entschlossen uns, demnächst in den Leerraum vorzustoßen um das Bild dieser explodierenden Galaxis quasi -331-
von außen zu betrachten. Bei allen Unternehmungen begegneten wir weder einem Schiff unserer eigenen Flotte noch einer Armadaeinheit. Natürlich machten wir uns, trotz der Beschäftigungstherapie, darüber Gedanken. Einmal ging das Gerücht, wir seien die einzigen, die der Frostrubin wieder freigegeben habe, ein anderes Mal kursierte die Theorie, die anderen Raumer seien überall im Universum versprengt. »Irgendwo werden sie schon sein«, pflegte Polar Kasom zu solchen Spekulationen zu sagen, »und irgendwann werden wir sie folglich auch finden.« Überhaupt wußte er auf alles eine Antwort. Zumindest war er nie um eine verlegen, selbst wenn er sie sich vielleicht aus den Fingern sog. In welcher Galaxis wir denn nun gelandet seien? »In M 82 natürlich.« Woher er das so genau wisse? »Es war von vornherein klar, wohin der Weg durch den Frostrubin führt.« Dies sei ja wohl kein Beweis! »M 82 ist ein Mitglied der Lokalen Supergruppe mit Zentrum im Sektor Virgo. Ihre Charakteristika sind durch jahrelange Beobachtungen und Messungen ausreichend bekannt. Es gibt keinerlei Zweifel.« Wie es komme, daß man sich in einer explodierenden Galaxis völlig ungefährdet bewegen könne? »Weil dies ein langsamer Prozeß ist. Nur ein auf Erbsengröße geschrumpftes Hirn kommt auf die Idee, hier würde einem alles um die Ohren fliegen. Optisch kannst du die Explosionen überhaupt nicht erkennen. Die Radiostrahlung, die Staubwolken, das sind die einzigen Anzeichen dafür.« Ob er persönlich denn glaube, daß die ROVIGAR das einzige Schiff sei, das aus dem Frostrubin hierher gefunden habe? »Keineswegs. Ich bin fast sicher, daß die gesamte Flotte einschließlich der Armada in M 82 -332-
verteilt ist. Wir bekommen nur deshalb keinen Funkkontakt, weil das Hintergrundrauschen zu stark ist. Und wahrscheinlich haben wir außerdem noch Pech gehabt, weil wir in einem abgelegenen Sektor materialisiert sind, weit weg von allen anderen.« Und - als wir gerade in den Leerraum aufbrechen wollten was er denn von dem seltsamen Gebilde halte, das dort draußen im Nichts trieb? »Nun...« Da war er mit seinem Latein plötzlich am Ende. Keiner von uns hatte das je zuvor erlebt! Aber wir alle sollten bald schmerzlich erfahren, welche Bedeutung es hatte. . .
2. »He, Akone!« Ich reagierte nicht. Wenn er meinte, mich immer wieder damit aufziehen zu müssen, sollte er sich von mir aus die Lunge aus dem Leib schreien. In aller Ruhe beendete ich die Routineinspektion der Metagrav-Kontrollen, lehnte mich gemächlich zurück und betrachtete angelegentlich meine Fingernägel. Aus den Augenwinkeln erkannte ich, daß Polar Kasom den Kopf wandte und mich von der Seite anstarrte. »Herr van Roeken . . . « , dehnte er langsam und betont akzentuiert. Ich lächelte verhalten. »Ach, du meinst mich!« »Kennst du noch einen auf dieser Kogge, der ein Akone sein könnte?« entgegnete er spitz. »Ich bin kein Akone.« »Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen«, prophezeite er mit düsterer Miene. Ich nahm all meine Beherrschung zusammen und verzichtete -333-
auf eine Antwort. Es war zwecklos, mit Polar Kasom zu diskutieren. Was er sich einmal in den Kopf setzte, das brachte man so schnell nicht wieder heraus. Den Verdacht, den er gegen mich hegte, hatte ich mir ohnehin selbst zuzuschreiben, also mußte ich auch sehen, wie ich damit fertig wurde. Mit einer einzigen dummen Bemerkung hatte ich mir das eingebrockt. Polar Kasom verkörperte in typischer Weise jene Kategorie Mensch, die man sich unter einem Ertruser gemeinhin vorstellte. Mit einer Größe von zweieinhalb Metern und einer Schulterbreite von zwei Metern, nahm er allein von der Statur her eine Sonderstellung ein. Wie alle Umweltangepaßten vom Planeten Ertrus, war er an eine Schwerkraft von 3,4 Gravos gewöhnt und mußte auf der ROVIGAR einen Mikrogravitator tragen, um nicht dauernd unkontrollierte weite Sprünge zu vollführen. Die Masse, die er auf die Beine brachte, mochte gut und gerne 16 bis 17 Zentner betragen. Seine Haut wies eine rotbraune Färbung auf. Die sandfarbenen Haare trug er als Sichelkamm geschnitten, der über der Stirn begann und bis in den Nacken reichte. Den Rest seines Schädels pflegte er er sich kahlzuscheren, womit er der jahrtausendealten Tradition seines Volkes treu blieb. Aus dem Kreis der 48köpfigen Besatzung stach der Kommandant jedoch nicht nur durch diese Äußerlichkeiten hervor. Obwohl die ROVIGAR das erste Schiff war, das er leitete, stellte er bereits in seinen jungen Jahren eine ausgesprochen schillernde Persönlichkeit dar. Besser gesagt: Er tat alles, um eine zu werden. Sein Name gab ihm die Legitimation dazu. Er behauptete nämlich, in direkter Linie von Melbar Kasom abzustammen. Dieser hatte seinerzeit als USO-Spezialist Furore gemacht und war längst zur Legende geworden. Auch Melbars Urenkel, Toronar, hatte dem damaligen Solaren Imperium wertvolle Dienste geleistet und seinen Platz in den Geschichtsbüchern gefunden und dessen Urenkel wiederum, Polar, versuchte nun mit bemerkenswerter Ausdauer, an Bord der Kogge ROVIGAR in die -334-
Fußstapfen seiner berühmten Ahnen zu treten. Bei den Verantwortlichen der Kosmischen Hanse konnte er freilich noch nicht viel Aufmerksamkeit erregt haben, sonst wäre ihm längst ein verantwortungsvollerer Posten übertragen worden. Um so stärker trachtete er danach, den guten Klang seines Namens durch besonderen Mut und hohe Risikobereitschaft zu ergänzen, damit er eines Tages vielleicht doch die Tradition seiner Familie fortsetzen durfte. Ich konnte nicht behaupten, daß wir unter diesem Charakterzug litten, daß wir deswegen gefährlicher als andere lebten. Nein, gewiß nicht. Im Gegenteil: Sein Verhalten nach dem Sturz durch den Frostrubin bewies vielmehr, wie geschickt er es auf seine Art verstand, Menschen anzuleiten und sie selbst in ausweglosen Situationen wieder aufzurichten. Er war jung und würde noch viel Gelegenheit finden, sich zu profilieren. Seine Zeit würde kommen, dessen war ich sicher. Was mich und andere an ihm störte, ergab sich also weniger aus seinem Wesen als aus dem Umstand, daß er zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit meinte, auf seine Abstammung hinweisen zu müssen. Niemand wollte ihm seinen Stolz darauf streitig machen, aber jeder hielt den ständigen Verweis auf seine Ahnengalerie für reichlich übertrieben. Die Lebenserwartung eines Ertrusers betrug zwischen 500 und 600 Jahren. Seit Melbar Kasom bedeutete das lediglich vier Generationen. Die Reihe ließ sich also leicht zurückverfolgen, und keiner zweifelte an Polars Aussagen. Dennoch machte er es sich förmlich zu einem Sport, immer wieder von den Taten seiner Väter zu schwärmen und sich selbst ähnlich grandiose Leistungen in Aussicht zu stellen. Melbar hier, Toronar dort. . . Ja, und eines Tages war es mir zu bunt geworden. Ich konnte es einfach nicht mehr hören. Er fing gerade an, abermals zu versichern, daß er sich auf den Ruhm der Verstorbenen zwar nichts einbilde, aber trotzdem alles daransetzen werde, ihr Werk -335-
zum Wohle der Menschheit fortzuführen - da platzte mir der Kragen, und ich rief ihm entgegen: »Wenn dein Urahn Melbar Kasom ist, dann bin ich ein direkter Nachfahre der Auris von Las-Toor!« Seitdem kam ich nicht mehr ohne Hänseleien davon. Mein Ruf als hervorragender Metagrav-Techniker schien plötzlich nicht mehr zu gelten, nur noch dieser dumme verbale Ausrutscher. Fast jeden Tag kam Polar Kasom in der einen oder anderen Form darauf zurück. Wen es interessierte, der konnte es überall nachlesen: Mit der Akonin Auris von Las-Toor verbanden die Menschen höchst unliebsame Erinnerungen. Perry Rhodan war ihr vor langer Zeit nach einem Testflug mit dem damals neu entwickelten Linearantrieb begegnet. Heute spielten die Akonen im Reigen der galaktischen Völker eine recht unbedeutende Rolle. Mit ihrer kleinen Flotte von nur 500 Raumschiffen gehörten sie zwar der GAVÖK an, verhielten sich jedoch weitgehend zurückgezogen. Nicht wenige Stimmen argwöhnten, daß sie insgeheim ihr eigenes Süppchen kochten – und an Bord einer hanseatischen Kogge hatten sie schon gar nichts zu suchen. Da war mein Pech. Seit meinem unseligen Ausspruch ließ Polar Kasom nicht mehr locker. Immer wieder schien er mich auf die Probe stellen zu wollen. Mitunter fragte ich mich, ob er mich nur aus subtilen Rachegelüsten als Akonen verdächtigte – oder ob er darauf lauerte, daß ich mich irgendwann als Spion verraten würde… Im Moment zumindest hatte er nichts von beidem im Sinn. Ich erkannte es an der Art, wie er sich bewegte. Tatsächlich, er war unsicher, und es gelang ihm nur unzulänglich, diese Schwäche zu verbergen. Das stimmte mich sofort versöhnlich. Großzügig ging ich über seine letzte Bemerkung hinweg, aber ich nahm mir gleichzeitig vor, sie nicht zu vergessen. »Was kann ich für dich tun?« fragte ich betont jovial. -336-
Er nickte in Richtung des Hauptbildschirmes. »Hast du eine Erklärung dafür?« Es war mir unklar, warum er ausgerechnet mich um Rat bat. Er hatte das schon öfter getan, wenn er selbst nicht weiter wußte (was selten genug passierte). Wollter er mich damit herausfordern, von seiner eigenen Unsicherheit ablenken – oder schätzte er meine Meinung ganz einfach deshalb, weil ich als eifriger Autodidakt nicht nur Kenntnisse in völlig verschiedenen Wissensgebieten erworben hatte, sondern auch Einblicke in die Grenzbereiche von Parapsychologie und Metaphysik besaß? Ich würde ihn enttäuschen müssen. Ich war nicht klüger als er. Nachdenklich musterte ich das seltsam schillernde Objekt, das sich auf dem Videoschirm abzeichnete. Die Blicke der Zentralemannschaft ruhten auf mir; ich spürte es fast körperlich. Jeder schien darauf zu warten, daß ich eine plausible Deutung für das Phänomen fand. Eine merkwürdige Spannung griff nach mir und stimmte mich unbehaglich. »Ich weiß nicht«, sagte ich langsam, hob die Schultern. Polar Kasom wandte sich ab. Schweigend beobachtete er die Wiedergabe dessen, was vor uns im Raum schwebte. Er war ratlos. Den anderen erging es kaum besser. Ich sah die Leute der Reihe nach an und erkannte Unwissenheit und Verwirrung in ihren Gesichtern. Nur Vera Neitzert machte eine Ausnahme. Unsere zierliche Navigatorin wirkte geradezu auffallend entspannt. »Wenn es sich nicht im Leerraum befände, sondern irgendwo mitten in der Galaxis, hätten wir es überhaupt nicht bemerkt«, meinte Kasom. »Die Strahlung der Sonnen hätte es völlig überdeckt.« Das klang weniger nach einer fundierten Analyse als nach dem Drang, überhaupt etwas zu sagen. Vera lächelte mich an. »Es ist schön, nicht wahr?« Ich nickte. -337-
»Ja«, stimmte ich zu. »Vielleicht sollten wir es aus der Nähe betrachten.«
3. Obwohl es einen Rauminhalt von einigen hundert Kubikkilometern ausfüllte, erweckte das Gebilde einen so feingliedrigen, zerbrechlichen Eindruck, als könnte es bei der kleinsten Berührung zerfasern und in alle Richtungen davontreiben. Die ROVI-GAR steuerte behutsam, in unterlichtschnellem Flug, darauf zu. Es würde noch eine Weile dauern, bis wir uns so weit genähert hatten, daß wir die ersten Untersuchungen in Angriff nehmen konnten, doch bereits jetzt zog die Erscheinung die Aufmerksamkeit der gesamten Besatzung wie magisch an. Auf den Heckbildschirmen der Kogge war ein Teil der Galaxis M 82 zu sehen, deren Randbezirke wir nach einer kurzen Hypersprung-Etappe endgültig hinter uns gelassen hatten. Die fremde Sterneninsel strahlte in milchig-weißer Pracht, aber niemand interessierte sich für diesen grandiosen Anblick. Nur das Objekt vor uns schien beachtenswert. Es übte eine starke Faszination aus. Die Fernoptik zeigte, daß es aus Myriaden kleiner Lichtpünktchen bestand, die durch feine Fasern miteinander verbunden waren. Es wirkte wie ein ausgedehntes filigranes Gespinst, leuchtete schillernd in allen Farben. Eine gewisse Eigenbewegung wohnte ihm inne, als würde es ständig von einer leichten Brise durchzogen. Dadurch entstanden reizvolle optische Effekte. Mitunter änderte sich die Farbgebung, neue Muster bildeten sich und flossen wieder auseinander, Reflexe blitzten auf. . . -338-
Uns alle schlug es in einen geheimnisvollen Bann. Etwas Mystisches, Überirdisches schien dem Gebilde anzuhaften. Selbst ich, der ich als Pragmatiker bekannt war und mich von Stimmungen selten beeindrucken ließ, beschäftigte mich eine ganze Weile nur mit dem zauberhaften Bild, das uns die Kameras übermittelten. Als ich mir dann die Leute in der Zentrale betrachtete, wurde mir klar, daß sich wohl keiner mit dem Gedanken trug, ernsthafte Forschungen zu betreiben und die Natur dieser Erscheinung zu analysieren. Sie wollten lediglich in die Nähe gelangen, wollten sehen und staunen, ein Wunder des Universums erleben. Ich beobachtete Polar Kasom, wie er die Flugwerte kontrollierte und sich nervös über den Haarkamm strich. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, das war deutlich. Auch er mußte erkennen, wie gefühlsbetont die Stimmung innerhalb seiner Mannschaft war - und als Kommandant durfte ihm das nicht gleichgültig sein. Wenn jetzt unvermittelt ein Feind auftauchte und die Kogge angriff, bedurfte es einer schlagkräftigen und kompromißlosen Gegenwehr. Ich bezweifelte, daß alle Frauen und Männer in der Lage waren, ihre Faszination in Sekundenbruchteilen abzustreifen und schnell genug zu reagieren. Ich sah Kasom an, daß er die gleichen Bedenken hegte. Aber er sagte nichts, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit. Vielleicht wollte er seinen Leuten eine Phase der Entspannung gönnen und vertraute darauf, daß sie sich beizeiten von dem überwältigenden Eindruck lösten. Eine zarte Berührung unterbrach meine Gedanken. Wie unter einem Stromschlag zuckte ich zusammen. Vera Neitzert hatte einen Arm ausgestreckt und ihre Hand auf meine gelegt. In diesem Moment schaute ich wahrscheinlich ausgesprochen dumm und einfältig drein. Ihre Geste weckte Träume, die ich längst begraben hatte. Sie war eine zierliche Person, für meine Begriffe außerordentlich -339-
attraktiv, mit einem jederzeit offenen und freundlichen Wesen, das unbekümmerte Lebenslust ebenso verriet wie innere Ausgeglichenheit. Von Anfang an, seit wir gemeinsam auf der ROVIGAR unseren Dienst versahen, hatten wir uns gut verstanden. Manchmal führten wir lange Gespräche und verbrachten Teile unserer Freizeit miteinander. Vera besaß das Talent, nicht nur interessant zu erzählen, sondern auch aufmerksam zuzuhören und überzeugend zu diskutieren. Sie konnte ernst sein und ausgelassen, und sie verstand es, auf andere einzugehen. Vielleicht gewann ich deshalb schnell den Eindruck, daß wir uns hervorragend ergänzten. Mein Fehler war, in unsere Gemeinsamkeiten mehr hineinzudeuten als kollegiale Kameradschaft. Eine Zeitlang verrannte ich mich förmlich in den Gedanken, eine enge, tiefergehende Beziehung anzuknüpfen. Vera dagegen sah alles sehr viel nüchterner. Sie wollte es bei der rein platonischen Freundschaft belassen, und sie machte mir das in ihrer überzeugenden und zugleich sympathischen Art unmißverständlich klar. Nun sagte man dem Metagrav-Spezialisten Rik van Roeken zwar nach, er sei so sachlich, pragmatisch und gelassen, daß kaum ein Ereignis seine Gefühlswelt je ernsthaft durcheinander bringen könnte - doch daran hatte ich eine ganze Weile zu knabbern. So lange zumindest, bis ich den Boden der Tatsachen auch innerlich wieder erreichte. Nachdem ich mich anfangs zurückzog, um mit mir ins Reine zu kommen, pflegte ich die Kameradschaft mit der Navigatorin später um so mehr. Sie war es wert, und sie hatte unter meinem emotionalen Höhenflug nicht gelitten. Als Vera jetzt in einer Geste voller Zuneigung und Vertrauen meine Hand berührte, da wallte jener verschüttete Traum für einen kurzen Moment wieder in mir auf. Wie in einem Kaleidoskop zogen die Erfahrungen der vergangenen Monate blitzschnell an mir vorbei - dann unterdrückte ich die Renaissance -340-
meiner Gefühle und bemühte mich um Nüchternheit. Unsere Blicke trafen sich, und ich sah das Leuchten in Veras Augen. Jeder Zug ihres Gesichts verriet, wie gelöst und zufrieden sie sich fühlte. »Schau nur hin, Rik«, sagte sie sanft. »Ist es nicht herrlich, inmitten einer fremden und gefährlichen Zone des Universums ein solches Wunder zu erleben?« Ich nickte zögernd. Irgendwie schmeckte mir die Begeisterung nicht; Veras ebenso wenig wie die der anderen. Sollte man von Raumfahrern der Kosmischen Hanse nicht etwas mehr Sachlichkeit erwarten? Wo blieb der Funke Mißtrauen, das Quentchen Vorsicht, das bei der Annäherung an ein rätselhaftes Objekt geboten war? Polar Kasom wandte sich zur Seite und musterte die Navigatorin tadelnd. »Vera! Wir befinden uns nicht auf einem Spazierflug!« Einen Moment schien er zu überlegen, dann reckte er sich und rief laut: »Das gilt für alle! Ich kann jeden verstehen, der von diesem Gespinst fasziniert ist. Das darf aber nicht in Verzückung ausarten! Ich bitte darum, daß jeder daran denkt, welche Funktion er zu erfüllen hat. Wir steuern eine Kogge, keinen Vergnügungsdampfer!« Vera zog ihre Hand zurück und widmete sich wieder den Navigationskontrollen. Sie lächelte dabei fast verklärt. Laß ihn reden, schienen ihre Augen zu sagen. Die anderen reagierten ähnlich. Sie beugten sich Kasoms Autorität und konzentrierten sich auf ihre jeweilige Aufgabe aber ich glaubte zu erkennen, daß sie nur noch mit halbem Herzen bei der Sache waren. In Wirklichkeit galt ihr Interesse ausschließlich der schillernden Erscheinung im Weltraum. Diese Entwicklung beunruhigte mich mehr und mehr, ohne daß ich einen triftigen Grund dafür hätte nennen können. Der Kom-341-
mandant selbst schien sich darüber keine weiteren Sorgen zu machen. Er ließ es bei der kurzen Gardinenpredigt bewenden. »Polar. . . ! « sprach ich ihn an. Er hob einen Arm und winkte ab. »Ich weiß, was du sagen willst, Rik. Ich sehe jedoch keine ernsthafte Gefahr auf uns zukommen. Wenn uns das Gebilde zu etwas Entspannung verhilft, dann sollten wir sie nutzen. Irgendwann werden wir alle unsere Kräfte wieder dringend brauchen.« Ich wollte etwas entgegnen und ihn auf meine Bedenken hinweisen, doch er taxierte mich mit einem so seltsamen Blick, daß ich es vorzog, zu schweigen. Vielleicht hatte er recht. Wir alle hatten viel mitgemacht und die vergangenen Wochen und Monate waren nicht ohne Auswirkungen auf die Belastungsfähigkeit unserer Nerven geblieben. Dennoch fand ich keine Ruhe, wenn ich mir die Kollegen und Freunde ansah. Sicher war es nötig, Kraft zu tanken - aber mußte es hier geschehen, beim Anflug auf ein unbekanntes, fremdartiges Gebilde? Wer wollte die Verantwortung übernehmen, wenn sich die Nähe dieses Gespinstes plötzlich als bedrohlich erwies? Ich lehnte mich zurück und schloß die Augen. Im Gegensatz zu ihrem sonstigen Verhalten war die Zentralemannschaft ungewöhnlich wortkarg. Ich lauschte in mich hinein. Die Stille empfand ich fast als unheimlich. Wären die leisen Atemzüge nicht gewesen und ab und zu das Rascheln einer Bewegung, ich hätte auf die Idee kommen können, völlig allein zu sein. Ich hörte ein leises Raunen. Jemand flüsterte mir etwas zu, aber er sprach so undeutlich, daß ich ihn nicht verstand. »Was...?« Ich setzte mich gerade und versuchte herauszufinden, woher das Raunen gekommen war. Zwei, drei Leute blickten mich verständnislos an, die anderen kümmerten sich nicht um mich. »Hat jemand was gesagt?« fragte ich nach. -342-
Kasom schüttelte stumm den Kopf. In mir schlug gellend eine Alarmglocke an. »Du träumst«, meinte Vera ruhig. »Niemand hat gesprochen.« Mein Kopf ruckte herum. Ich starrte auf den Bildschirm, auf das schillernd lockende Gespinst mit seinem betörenden Farbenspiel. Ein wahnwitziger Gedanke machte sich in mir breit. Unwillkürlich verkrampfte ich mich und versuchte verzweifelt, Fassung zu bewahren. »Polar!« Gegen meinen Willen klang meine Stimme schrill und drängend. Der Ertruser zuckte zusammen, als hätte ich ihn aus einem angenehmen Traum geschreckt. »Was ist noch?« fragte er abweisend. »Dieses. . . Gespinst. . . « Ich sprach zögernd, weil ich mir selbst nicht sicher war. Der Verdacht mutete ebenso schrecklich wie absurd an. »Könnte es nicht etwas mit Seth-Apophis zu tun haben...?« Bei der Mannschaft entfalteten meine Worte keinerlei Wirkung. Kasom runzelte nur die Stirn. Wieder bedachte er mich mit jenem seltsamen Blick, der eine Mischung aus Verwunderung, Ablehnung und Konfrontation enthielt. So kannte ich ihn nicht, und seine Reaktion flößte mir zusätzliches Unbehagen ein. »Du phantasierst, Akone.« Er provozierte mich! Aber ich war nicht gewillt, klein beizugeben. »Es könnte sogar Seth-Apophis selbst sein!« sagte ich. Vera lachte hell. »Seth-Apophis? Dieses wunderschöne Gebilde?« »Unfug!« pflichtete ihr Kasom bei. »Denkst du, die Superintelligenz würde uns so nahe an sich herankommen lassen? Überlege doch, was du sagst!« Es war wenigstens ein Argument, das mußte ich ihm zugestehen. Mein Mißtrauen legte sich jedoch nicht. Die innere -343-
Ausgeglichenheit, die meine Freunde empfanden, vermochte ich nicht zu teilen. Es war gespenstisch, sie zu beobachten. »Das Ding lockt uns an«, murmelte ich verstört. »Egal, was es ist, es lockt uns an!« Polar Kasom verzog die Mundwinkel. Vera lächelte wieder, aber ganz anders als sonst - nichtssagend, fast leer. »Du bist überarbeitet und solltest eine Pause einlegen«, riet mir der Ertruser mit unüberhörbarem Spott. »Sobald du eine Weile geschlafen hast, wirst du auch wieder klarer denken können.« In mir wühlte es. Nein, dachte ich, so benahm sich der Kommandant normalerweise nicht. Etwas staute sich in mir an. Ich zitterte. »Merkt ihr denn nicht«, brach es heraus, »daß euch dieses Ding beeinflußt!«
4. Natürlich erreichte ich mit meiner heftigen Reaktion nichts. Die anderen belächelten mich mitleidig und kümmerten sich nicht um meine Bedenken. Tatsächlich schien ich der einzige zu sein, dem die einmal begonnene Aktion plötzlich mißfiel. Wohl oder übel mußte ich mich dem Willen der Mehrheit beugen. Mittlerweile stand die ROVIGAR still - relativ zum nächstgelegenen Punkt des fremden Objekts. Die Brems- und Angleichmanöver waren mit routinierter Präzision erfolgt. Die widernatürliche Glückseligkeit, die meine Kollegen befallen hatte, beeinträchtigte ihre Konzentration offenbar in keiner Weise. Das wunderte mich um so mehr, als ihr Verhalten immer unerklärlicher wurde. Nachdem der Zielpunkt erreicht war, -344-
lehnten sie sich schweigend zurück, als wäre alle Arbeit dieser Welt getan. Sie rührten sich kaum. Lediglich Polar Kasom saß nach vorn gebeugt und wischte sich ein ums andere Mal unruhig über die Stirn. Das unheimliche Gebilde füllte jetzt den gesamten Hauptschirm aus. Die Darstellung war dreidimensional, wodurch der Eindruck entstand, man könnte mitten hineingreifen, wenn man nur wollte. Das Ding bewegte sich sacht, wie die Krone eines Baumes in lauem Wind. Tanzende Lichtpünktchen und träge schwingende Leuchtfasern erzeugten immer neue Farbreflexe und schillernde Muster. Vor uns, dort draußen im Weltraum, schwebte eine betörend exotische Pracht, eines der vielen faszinierenden Naturschauspiele des Universums, ein kosmisches Wunder. . . Aber es übte einen lähmenden Einfluß aus. Ich merkte, wie die Verlockung auch nach mir griff, wie mir ein Hauch von überirdischem Glück verheißen wurde. Ich ballte die Fäuste und riß mich mit aller Macht von dem Anblick los. »Und jetzt?« rief ich. »Was geschieht jetzt?« Einige Leute sahen mich an, als verstünden sie nicht, warum ich mich gegen den Einfluß wehrte. Sie selbst bemerkten ihn wahrscheinlich gar nicht. Sie fühlten sich einfach wohl und ließen sich von ihrer Zufriedenheit treiben. Ich erkannte Bedauern, ja Mitleid darüber, daß ich mich diesem Glück verschloß. Allein der Kommandant schien einen Rest Nüchternheit bewahrt zu haben. Er war nervös und unsicher, ohne sich jedoch in letzter Konsequenz gegen das Fremde auflehnen zu können. Er befand sich in einem Widerstreit mit sich selbst, hin und her gerissen zwischen Verlockung und Pflichtgefühl. Zumindest schätzte ich es so ein. Er drehte sich nach mir um und grinste verzerrt. »Jetzt, Akone? Jetzt warten wir.« »Worauf?« hakte ich nach. Ich merkte kaum, daß ich schrie. -345-
»Worauf wollt ihr warten?« Ich spürte eine Berührung auf meiner Hand und sah in Veras leuchtende Augen. Diesmal weckte die Geste keine Erinnerungen und keine angenehmen Gedanken. Sie erschreckte mich. »Auf eine bessere Welt«, sagte die Navigatorin leise, »oder auf ein erfülltes Dasein. . . Wer will es wissen?« »Nein!« stieß ich hervor. »Nein! Ihr treibt in den Untergang und merkt es nicht!« Wild schüttelte ich den Kopf. Ich durfte nicht länger zusehen! Ich mußte handeln! Wer außer mir sollte sonst etwas tun! Ich streifte Veras Hand ab und beugte mich vor. In meinem Arbeitspult waren die Bedienungselemente für die Metagrav-Triebwerke integriert. Ich wußte, wie gefährlich es war, sie ohne jede Kursberechnung und Vektorenbestimmung blind zu aktivieren. Es konnte in einer Katastrophe enden. Egal! Ich mußte dafür sorgen, daß der unheilvolle Bann von der Mannschaft wich. Das Schiff mußte aus diesem Raumsektor verschwinden. Nur weg von hier, irgendwohin . . . ! Alles andere zählte nicht! Ich wollte die erste Schaltung betätigen - da legte sich der schmerzhafte Druck einer kräftigen Hand auf meine Schulter. Hinter mir stand Polar Kasom. Er hatte meine Absicht erkannt und seinen Platz blitzschnell verlassen. Aber ich gab noch nicht auf. Verzweifelt versuchte ich, gegen seine Stärke anzukämpfen und die Kontrollen zu erreichen. Es war sinnlos. Gewaltsam drückte er mich ins Polster zurück und drehte gleichzeitig den Sessel so, daß er auf mein Gesicht herabblicken konnte. »Auf diesem Schiff«, sagte er langsam, »gebe ich die Kommandos.« Das war alles. Es reichte mir. In seinem ganzen Auftreten lag eine unverhüllte Drohung, die mir riet, mich besser zu fügen. Ich wagte nicht abzuschätzen, was er tun würde, wenn ich mich ihm -346-
widersetzte. Er ließ meine Schulter los und ging zum Kommandostand zurück. Als er seinen Platz eingenommen hatte, drehte er sich nochmals nach mir um. »Ich würde dir wirklich empfehlen, die Zentrale zu verlassen. Schlafe ein paar Stunden oder lenke dich sonst irgendwie ab. Wenn du zur Besinnung gekommen bist, kannst du dich zum Dienst zurückmelden.« War das Zynismus, ein gutgemeinter Tip oder ein Ultimatum? Ich wußte es nicht. So sehr ich mich bemühte, ich vermochte seine Worte nicht einzuordnen. Innerhalb weniger Stunden war mir dieser Mann völlig fremd geworden. Kannte er sich selbst noch? Hatte er sich unter Kontrolle? Ich stand auf und sah mich unschlüssig um. Niemand beachtete mich. Ich erfuhr weder Unterstützung noch Ablehnung. Die Idee schoß mir durch den Sinn, wenigstens einen von ihnen aus den Träumen zu reißen. Vera vielleicht, zu ihr hatte ich doch das beste Verhältnis. . . »Vera! Ich möchte, daß du mich begleitest.« Sie wehrte ab. »Wozu? Von hier aus kannst du es am besten beobachten.« »Ich muß mit dir sprechen. . . « »Tu es«, forderte sie mich freundlich auf - zu freundlich! »Unter vier Augen!« Ich kam mir niedrig vor, aber ich fügte hinzu: »Bitte!« Sie seufzte. »Ach, Rik. Ich möchte es in Ruhe betrachten. Störe mich doch nicht dabei. Wenn es dir nicht gefällt. . . « Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Plötzlich reckte sie sich, genau wie alle anderen. Es war wie eine einzige, harmonische Bewegung der ganzen Mannschaft, die ich ringsum wahrnahm. »Da!« rief jemand. »Es kommt auf uns zu!« Irritiert musterte ich die Wiedergabe des Hauptbildschirms. Optisch konnte ich noch keine Veränderung erkennen, aber die eingeblendeten Entfernungsangaben belehrten mich darüber, -347-
daß sich das glitzernde Objekt tatsächlich in Bewegung gesetzt hatte. Es näherte sich der ROVIGAR. Ich stand wie angewurzelt, unfähig, einen Sinn in allem zu erkennen. Kalte Schauer rannen mir über den Rücken. »Wir müssen weg von hier!« stieß ich hervor. Es war eine spontane Reaktion. Ich wußte, daß niemand auf mich hören würde. Entsetzt beobachtete ich, wie sich die vielen Leuchtpünktchen und die Verbindungsfasern in der Perspektive des Hologramms verschoben. Sie schwebten auf den Betrachter zu und wichen gleichzeitig zur Seite aus. Ihre Bewegung wurde immer schneller. Ich krächzte unartikuliert, als die ersten Farbtupfer auf dem Heckbildschirm auftauchten . . . Das Gebilde schloß uns ein! Wie ein filigranes Netzwerk legte es sich um die Kogge! Ich wartete nicht, bis sich die letzte Lücke geschlossen hatte. Mein Verstand setzte aus. In mir war ein Fluchtimpuls, der keine Richtung fand und doch kompensiert sein wollte. Was ich tat, geschah instinktiv und ohne jede Überlegung. Ich packte Vera am Arm und riß sie aus ihrem Sessel hoch. Sie schrie leise auf, taumelte mir entgegen und versuchte, sich mit heftigen Bewegungen zu befreien. Aber ich ließ nicht locker. Ich rannte zum Ausgang und zerrte sie hinter mir her. »Akone!« donnerte Polar Kasoms Stimme. »Akone . . . ! « Das klang merkwürdig gequält, doch in meiner eigenen seelischen Not war ich nicht in der Lage, mir darüber Gedanken zu machen. Wichtig schien mir nur, daß er keine Anstalten unternahm, mich aufzuhalten. Vera wehrte sich nach Kräften, was meine ziellose Wut nur noch steigerte. Ich griff fester zu und zog sie weiter. Das Zentraleschott öffnete sich selbsttätig. Ich stürmte hindurch und drang in den angrenzenden Korridor ein. Die Navigatorin stolperte, und ich verlangsamte meinen Schritt wieder. Allmählich verlor sich der Fluchtimpuls; die klaren, aber nur halbwegs -348-
nüchternen Gedanken gewannen die Oberhand. Ich wandte mich in Richtung meiner Privatkabine. Dort war der einzige Platz, wo ich mir ungestört über vieles klar werden konnte. Veras Widerstand erlahmte zusehends. Schließlich ließ sie sich fast willenlos führen. Die wenigen Menschen, denen wir begegneten, hielten uns nicht auf. Wenn ich in ihre Gesichter sah, glaubte ich, daß sie träumten. Das Schott meiner Unterkunft schloß sich hinter uns. Ich drückte Vera in einen Sessel und veranlaßte die Versorgungsautomatik, ihr einen Saft zu servieren. Sie rührte das Glas nicht an. Ich setzte mich ihr gegenüber. Mein Atem ging schwer weniger infolge des kurzen Laufs als wegen der aussichtslosen Lage. Ich fühlte mich gefordert und gleichzeitig absolut machtlos. »Du bist ein Narr, Rik, wenn du deinen Geist nicht öffnest«, sagte Vera mild. »Du bringst dich selbst um das höchste Glück.« Sie sah mich traurig an, aber ihr Blick ging durch mich hindurch, als sei er in weite Fernen gerichtet. Ich beugte mich vor und fixierte sie scharf. Vielleicht konnte ich ihr helfen, wenn ich sie in eine Diskussion verwickelte. »Worin besteht dieses Glück, Vera?« Ihre Mundwinkel verzogen sich. Es war kein Lächeln mehr, nur noch ein motorisch verunglücktes Mienenspiel. »Du merkst nichts davon, habe ich recht? Das ist schade. Obwohl du mich aus der Zentrale gezerrt hast, bist du ein guter Freund, Rik. Ich wäre sehr betrübt, wenn dir die Erfüllung versagt bliebe.« »Glück und Trübsinn schließen sich gegenseitig aus«, sagte ich heftig. »Du widersprichst dir selbst!« »Nein, nein, du verstehst das nicht.« Mit der Hand machte sie eine fahrige Geste. »Erst die Erfüllung bringt das Glück. Dann wird alles andere vergessen sein.« Ich bebte innerlich. Wir drehten uns im Kreis. Ich war noch -349-
keinen Schritt weiter, und ich begann zu befürchten, daß ich letztlich nichts erreichen würde. Dennoch versuchte ich es abermals. »Was wird geschehen?« fragte ich knapp. Sie antwortete nicht, musterte mich nur stumm. Ihr Blick war leer. »Vera!« drängte ich. »Vera! Sag’ mir, was geschehen wird!« Es ging wie ein Ruck durch sie. Es fiel ihr nicht schwer, zu antworten und ihre Empfindungen in Worte zu fassen; ihre geistigen Fähigkeiten waren in keiner Weise behindert. Aber sie empfand meine Fragen als Störung, das merkte ich deutlich. Trotzdem blieb sie freundlich. »Armer Rik. Du bist davon ausgeschlossen, deshalb kannst du es nicht verstehen. Wir werden uns lösen von unserer Körperlichkeit und unseren Geist in Feenego integrieren. Wir werden eins sein mit dem Universum und Freiheit und Glück in Vollendung erfahren.« »Welch ein Irrsinn!« sagte ich grob. »Du und alle anderen seid nicht mehr Herren eurer selbst! Es beeinflußt euch! Es ist eine intelligente Wesenheit, die euch täuscht, dieses. . . Ding!« »Feenego«, flüsterte sie. »Nenn es, wie du willst!« brauste ich auf. »Ein Name ändert nichts daran! Ihr seid von Sinnen, wenn ihr glaubt, Geist und Körper trennen zu können. Es wird euer Tod sein! Hörst du, Vera, du treibst in dein Verderben!« Sie hörte mich, aber sie reagierte nicht auf meine Warnungen. »Rik. . . « , sagte sie melancholisch, und wieder: »Armer Rik. . . « Da verlor ich die Beherrschung. Ich sprang auf und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Sie wich dem Schlag nicht einmal aus. Wie in Trance bewegte sie den Kopf. Auf der blassen Haut zeichnete sich der rötliche Abdruck meiner Hand ab. »Komm zu dir!« schrie ich und rüttelte sie an den Schultern. »Wach auf aus deinem Traum!« -350-
»Rik. . . Feenego ...« Sie hauchte es so leise, daß ich es kaum noch verstand. Erschüttert ließ ich von ihr ab. Der Einfluß, den das glitzernde Gespinst ausübte, war zu stark. Ich kam nicht dagegen an, nicht auf diese Weise. Während ich mich setzte, packte mich ohnmächtige Wut. Ich griff nach dem Glas, das auf dem Tisch stand, und schleuderte es heftig durch den Raum. Das Material war unzerbrechlich. Es knallte gegen die Wand und fiel zu Boden. Der Saft verteilte sich in dünnen Rinnsalen. Verdammt wollte ich sein, wenn es mir nicht gelang, einen Ausweg zu finden!
5. Mir war, nachdem ich mich einigermaßen beruhigt hatte, eine weitere Idee gekommen, die ich ohne Zögern in die Tat umsetzte. Ein Medo-Robot erschien auf Anforderung in meiner Kabine und kümmerte sich um die Navigatorin. Vera ließ die kurze Untersuchung widerstandslos über sich ergehen. Die Maschine versicherte mir, es seien weder Anzeichen für eine Krankheit noch eine körperliche Schwäche diagnostizierbar. Ich empfand diese Auskunft immerhin als Lichtblick, wenn sie meine Sorgen auch nicht verringerte. Der Robot verabreichte Vera ein Psychopharmakum, das dazu beitragen sollte, ihren eigenen Willen zu stärken. Es blieb jedoch völlig wirkungslos. Die Navigatorin änderte ihr Verhalten nicht. Sie saß schweigend in ihrem Sessel und blickte weltentrückt ins Nichts. Ab und zu zuckte es in ihrem Gesicht. Ich sprach sie ein paar Mal an, aber sie zeigte keine Reaktion mehr. -351-
Fieberhaft überlegte ich, was ich tun konnte, und je länger ich nachdachte, ohne eine brauchbare Lösung zu finden, desto verzweifelter wurde ich. Die Zeit drängte. Das schillernde Gespinst, von dem die ROVIGAR eingeschlossen war, übte von Minute zu Minute mehr Macht auf die Besatzung aus. Wie es schien, vermochte sich niemand außer mir dagegen zu wehren und wenn auch die Körperfunktionen der Menschen nicht beeinträchtigt wurden, so rückte doch der Moment immer näher, an dem eine Geistesstörung oder eine irreparable Gehirnschwäche auftreten konnte. Falls es doch noch gelang, dem Zugriff des Feenego jemals zu entfliehen, würden womöglich dauerhafte Schäden zurückbleiben. Ich wunderte mich ein wenig, mit welcher Nüchternheit ich das alles plötzlich betrachete; als stünde ich außerhalb der eigentlichen Geschehnisse. Wahrscheinlich war es der einzige Weg, nicht selbst in mutloser Verzweiflung zu erstarren. Es hätte niemandem geholfen. Vera stöhnte leise wie unter einer großen Anstrengung. Ihre Gesichtszüge wirkten nicht mehr ganz so gelöst, aber immer noch friedlich. Der Medo-Robot stand neben ihr, ohne einzugreifen. Zumindest körperlich drohte ihr also weiterhin keine Gefahr. Und geistig? Was ging in ihr vor? Was dachte, was empfand sie? Ich erinnerte mich des Raunens, jener geheimnisvoll wispernden Stimme, deren Ausgangspunkt ich nicht hatte lokalisieren können. Kein Zweifel: Damit hatte ich einen winzigen Bruchteil dessen wahrgenommen, was auf die anderen mit voller Wucht einstürmte - mit dem Unterschied, daß sie die massive Beeinflussung offenbar in ganz anderer Form empfingen und sich ihrer überhaupt nicht bewußt wurden. Aus einem Grund, den ich nicht kannte, blieb ich von den mentalen Impulsen unbeeindruckt. -352-
Immerhin vermochte ich sie zu empfangen. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich sie gewissermaßen hören... und ich hielt es für denkbar, daß diese Verbindung auch umgekehrt funktionierte! Vielleicht - falls ein Kontakt zustande kam, falls ich das Raunen abermals vernahm - vielleicht gelang es mir, mit Feenego in einen Gedankenaustausch zu treten, mich der fremden Wesenheit verständlich zu machen, ihr beizubringen, was sie uns antat. . . immer vorausgesetzt, sie war für solche moralischen Appelle zugänglich. Nur ihrem Geistesstrom durfte ich nicht erliegen. Dann war alles aus. Sollte ich das Risiko eingehen? Noch war ich mir nicht schlüssig. Als ich Feenego auf dem Videoschirm beobachtet hatte, war mir ebenfalls eine blasse Verheißung künftigen Glücks zuteil geworden. Völlig immun konnte ich also nicht sein! Wenn ich nicht aufpaßte, würde ich unversehens in den gleichen Bann geraten, der auch meine Freunde und Kollegen befallen hatte. Vera stöhnte wieder. Ihre Augenlider flatterten. Letztlich war es der Anblick dieser geistesabwesenden, hilflosen Person, der mir die Entscheidung aufzwang. Ich mußte es einfach versuchen! Die Idee setzte sich in mir fest, und die blanke Hoffnung trieb mich, sie durchzuführen. Ich lehnte mich zurück, schloß die Augen und versuchte mich zu konzentrieren. Glitzernde Farbpunkte stellte ich mir vor, von leichtem Wind bewegte dünne Fäden. . . Feenego,... dachte ich intensiv, Feenego! Ein Raunen! Ich krallte die Hände in die Lehnen und riß voller Panik die Augen auf. Das Raunen verstummte sofort. Erst jetzt wurde mir meine Angst bewußt - die Angst vor einer Beeinflussung, die nicht mehr rückgängig zu machen war. Widerwillig schüttelte ich den Kopf. Ich hatte den Kontakt schon hergestellt und ihn in -353-
einer unkontrollierten Reaktion instinktiv unterbrochen, weil ich das Eindringen des Fremden in meinen Geist fürchtete. Daß ich die Verbindung überhaupt trennen konnte, gab mir andererseits neuen Auftrieb. Ich mußte darauf vertrauen, daß es mir auch dann gelang, wenn der Kontakt länger dauerte. Gewiß war es gefährlich, aber einen anderen Weg sah ich im Moment nicht. Ich wiederholte das Experiment, konzentrierte mich von neuem. Die Furcht saß mir im Nacken, aber diesmal war ich entschlossen, die Zähne zusammenzubeißen und mich nicht irritieren zu lassen. Das Raunen drang sanft in meine Gedanken; irgendwo in einem abgelegenen Winkel meines Bewußtseins begann es zu rumoren. Ich lauschte tief in mich hinein, versuchte einen Sinn oder eine Botschaft zu erkennen. Gleichzeitig lauerte ich darauf, ob ich etwas von jener unheilvollen Euphorie bemerkte. In diesem Fall hätte ich den Versuch sofort abbrechen müssen. Es geschah jedoch nichts, was mich alarmierte. Ich wurde ruhiger, horchte und dachte. . . Allmählich schien das Raunen stärker zu werden, lauter. Es breitete sich aus, ohne dadurch an Deutlichkeit zu gewinnen. Es beinhaltete keinerlei Aussage und blieb völlig unartikuliert. Enttäuschung griff nach mir. Zumindest in diesem Stadium gestaltete sich der Kontakt ganz anders, als ich es erhofft hatte. Ich erhöhte die Konzentration, um vielleicht doch noch einen Erfolg zu erzielen. Auch jetzt gelang es mir jedoch nicht, einen Sinn oder gar verständliche Wörter aus dem dumpfen Rumoren herauszufiltern. Statt dessen begannen farbige Schlieren vor den geschlossenen Augen zu tanzen. Sollten sich darin Symbole verstecken, die mein Gehirn aus den mentalen Impulsen assoziierte? Oder waren es einfach Reflexe der Netzhaut, weil ich die Lider so fest zusammenpreßte? Die Farben flossen träge ineinander. Sie bildeten einen Mit-354-
telpunkt, um den sie zu kreisen anfingen. Ihre Bewegung wurde dabei schneller und schneller, bis sie wie ein glühendes, funkenstiebendes Feuerrad rotierten. Ein Gefühl des Schwindels packte mich. Unwillkürlich neigte ich mich zur Seite und hielt mich mit beiden Händen an einer Sessellehne fest. Ich durfte jetzt nicht aufgeben! Vielleicht war das der Durchbruch! Ich merkte, wie meine Gedanken durcheinander gerieten. Die Sinne verwirrten sich. . . Aber ich spürte meinen Körper noch. Der Eindruck festen Materials unter den Händen hielt den Bezug zur Realität aufrecht. Das machte ich mir zum Maßstab. Solange ich das Gefühl von sicherem Halt und Gegenständlichkeit nicht verlor, würde ich das Experiment nicht abbrechen! Ich zwang mich, die Orgie aus Farben und Formen zu ertragen. Glitzernde Funken brannten sich durch wirre Gedanken. . . Und plötzlich war mir. . . . . . war ich. . . . . . bin ich. . . Plötzlich bin ich. Ausgespien aus einem riesigen, umfassenden Bewußtsein, hineingestoßen in die Finsternis der Nacht, erwachend aus der Kälte des Nichts. Plötzlich denke ich. Ich werde mir meiner bewußt und begreife, daß vor mir die Zukunft liegt. Natürlich habe ich auch eine Vergangenheit, aber es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern. Irgendwann, irgendwo und irgendwie bin ich entstanden, doch dieser Vorgang versinkt vollends im Nebel des Vergessens. Eine merkwürdige Leere empfinde ich, Einsamkeit. Meine Gedanken tasten zögernd nach etwas Vertrautem. Ich fühle nichts, wo zuvor alles war. Ich bin verwirrt. Was bedeutet das: ALLES? Es muß mit meiner Vergangenheit zusammenhängen. Ich strenge mich an, das Dunkel zu durchdringen, das hinter dem -355-
Jetzt liegt, doch der Schleier hebt sich nur ein winziges Stück. Ich war ein Teil von allem, soviel wird mir klar. Trotzdem war ich immer ich selbst: Feenego. Ich war nicht integriert, sondern ich wurde unterdrückt von jenem allgegenwärtigen Geisteswesen. Lange durfte ich mich nicht entfalten, mußte zurücktreten vor fremden Interessen und mich dem Machtanspruch des anderen beugen. Ich merke, wie die Erinnerung deutlicher wird. Wie ein Mosaik setzt sie sich Stück für Stück zusammen. Ich erkenne mich, und ich erkenne das, was vorher war. Das andere duldete mich nicht gleichberechtigt neben sich, deshalb nahm es mich in sich auf und kontrollierte mich. Plötzlich weiß ich auch, daß es einen Namen hatte. Seth-Apophis. Ich horche nach draußen, strecke meine mentalen Fühler aus und suche nach der Macht, die bis jetzt meine Entfaltung verhindert hat. Aber alles ist leer. Seth-Apophis ist verschwunden. Ich bin allein - und frei! Ich kenne die Gründe nicht, ich weiß nichts über die Ursachen und die Zusammenhänge. Ich nehme es einfach hin. Eine völlig neue Situation ist entstanden. Noch bin ich mir nicht schlüssig, was ich mit der Freiheit anfangen soll. Welches sind meine Möglichkeiten? Kann ich überhaupt etwas tun - oder BIN ich nur? Abermals empfinde ich Verwirrung. Es wird noch einige Zeit dauern, bis ich Klarheit über meine Zukunft gewinne. Vielleicht gelingt es mir, jenes vollendete Glück zu erlangen, das mir in Seth-Apophis’ Fesseln versagt blieb. Meine immer noch tastenden Fühler beginnen plötzlich zu vibrieren. Mitten im Nichts stoßen sie auf etwas, das mir selbst ähnlich ist. Eine seltsame Erregung greift nach mir. Ich spüre Geister, die ebenso gefangen sind, wie ich es vor kurzem noch war. Ihr Gefängnis aber ist anderer Natur als meines, es besteht -356-
aus materiellen Organismen. Ich überlege, ob ich ihnen beistehen soll - und, ja, jetzt erkenne ich eine Aufgabe, ein Ziel. Als erstes werde ich meine Freiheit dazu verwenden, diese bedauernswerten Geister aus ihren organischen Zwingern zu erlösen! Sie sollen das gleiche Glück erfahren, das auch mir bevorsteht. Ich zähle 461/2 Bewußtseine, die sich mir nähern und auf meine Hilfe warten. Doch mein Vorhaben ist schwieriger, als ich zunächst dachte. Die Bewußtseine sind nicht nur jedes für sich in einem Organismus gefangen - alle Organe sind insgesamt zusätzlich von einer anorganischen Hülle umgeben. Ich werde meine ganze Kraft aufbieten müssen, damit meine Unterstützung Erfolg hat. Ich komme ihnen entgegen und versuche es zunächst, indem ich mich rings um die äußere Gefängniswand verteile und diese in mich aufnehme. Zusätzlich sende ich aufmunternde Impulse. Sie sind bereit, das spüre ich, aber die materiellen Hindernisse sind zu kompakt. Sie kämpfen um ihre Freiheit, um ihr Glück, doch sie sind so klein und schwach, daß sie die Mauern nicht durchbrechen können. Ich bilde einen milden Sog, der die Geister behutsam auf mich zu ziehen müßte. Auch diese Maßnahme bleibt erfolglos. Das einmal begonnene Werk will ich jedoch nicht voreilig abbrechen. Vielleicht ist die Chance der kleinen Geister größer, wenn ich versuche, die Außenhülle zu durchdringen und die Bewußtseine direkt mit mir zu verbinden. Ich bin immateriell. Es könnte mir gelingen, sofern ich genügend Konzentration und Willenskraft einsetze. Ich spüre die Traurigkeit der Gefangenen, und ich entschließe mich, den Versuch zu wagen. Seid nicht betrübt, daß es nicht auf Anhieb funktioniert hat. Ich werde alle meine Möglichkeiten zur Verfügung stellen. . . Nicht weinen, nicht schreien. . . . . . schrie. . . Vera schrie! -357-
Kurz nur gellte er mir in den Ohren, dann verflachte der Laut zu verhaltenem Schluchzen. Wisperndes Raunen wurde verdrängt, fremde Eindrücke schwanden, leuchtende Farben barsten in einer stummen Eruption und stoben davon. Es dauerte einen Moment, bevor ich mich in der realen Umgebung meiner Kabine wieder zurechtfand. Bis ins Innerste war ich aufgewühlt. Der Kontakt mit Feenego hatte nicht das gewünschte Ergebnis gebracht, eine Zwiesprache war nicht zustande gekommen. Dafür aber hatte ich Einblick genommen in das Wesen und die Denkart des Fremden. Ich begriff seine Motive und Absichten. Langsam wischte ich mir über die schweißnasse Stirn. Das Experiment hatte mir viel Anstrengung abverlangt. Ich fühlte mich ausgelaugt und schwach. Erst jetzt spürte ich meinen Körper wieder - und ich hatte darauf achten wollen, und doch war mir die Gegenständlichkeit während des Traumes entglitten, ohne daß ich es bemerkte. Wäre Veras Aufschrei nicht gewesen, mein Geist hätte die unwirkliche Reise vermutlich niemals mehr beendet. . . Die Navigatorin kauerte mir gegenüber im Sessel und hielt die Hände vor das Gesicht. Ihre Schultern zuckten. Noch immer griff der Medo-Robot nicht ein. Ich stand auf und ging zu ihr, strich ihr behutsam übers Haar. Sie hob den Kopf und blickte mich an, mit einer Mischung aus Verzweiflung und Unverständnis. Verschwunden war der Ausdruck des erwarteten Glücks, verflogen die innere Gelöstheit. Ich hätte ihr gerne Trost zugesprochen und versucht, sie aufzumuntern, doch ich befürchtete, daß ich damit nichts erreichen würde. Nach allem, was ich erfahren hatte, konnte ich nicht annehmen, sie sei aus dem Bann entlassen. Die Depression, die sie durchlebte, war lediglich ein Spiegelbild dessen, was Feenego in diesem Moment empfand, eine psionische Rückkopplung. Nicht lange, und die Erwar-358-
tungshaltung würde sich wieder ins Positive verkehren. Als sie mich endlich ansprach, wußte ich, daß ich mit dieser Vermutung recht behalten würde. Ihre Augen weiteten sich plötzlich und blitzten fanatisch. Es gab mir einen Stich ins Herz. »Rik«, sagte sie verträumt, »es ist mißlungen, nicht wahr? Aber wir werden es noch einmal versuchen, und diesmal werden wir mehr Erfolg haben. Feenego hilft uns dabei. Hörst du, Rik, Feenego kommt zu uns!« Etwas würgte in meiner Kehle. »Ich weiß!« stieß ich hervor. Dann wandte ich mich ab und stürmte aus der Kabine. Das alles wurde zuviel für mich. Ich wollte es nicht mitansehen.
6. Wie ein Blinder taumelte ich durch das Schiff. Ich wußte nicht, wohin ich mich wenden, was ich jetzt noch tun sollte. Hier und da begegneten mir Menschen, die reglos und stumm auf etwas warteten. In ihrem Wahn hofften sie weiterhin darauf, daß Feenego sie befreite und ihnen die Vollkommenheit vermittelte. Das Erschütterndste daran war, daß die fremde Wesenheit keineswegs in niederer Absicht handelte. Im Gegenteil, sie schien davon überzeugt, die Erlösung zu bringen. Die ganze Situation entsprang einem entsetzlichen Irrtum, einer unbegreiflichen mentalen Wechselwirkung. Das Finale stand bevor und war nicht mehr abzuwenden. Wenn ich es richtig verstanden hatte, würde Feenego die Schiffswände durchdringen und im unmittelbaren Kontakt die Seelen der Besatzung an sich reißen wollen. Ob es gelang, stand auf einem anderen Blatt. Die Fähigkeit, -359-
den Geist vom Körper zu trennen, war Terranern nicht gegeben. Die vergangenen Stunden hatten das bereits verdeutlicht. Womöglich scheiterte das Fremde abermals - oder er brachte Wahnsinn und Tod. Vor mir tauchte das Zentraleschott auf. Mechanisch verlangsamte ich meinen Schritt. Ich war mir darüber im klaren, daß ich den Weg hierher in meiner Verzweiflung völlig unbewußt eingeschlagen hatte - aber gerade in den Triebfedern des Unbewußten steckten oft unbestechliche Logik und verblüffende Folgerichtigkeit. Natürlich: Wenn ich überhaupt noch etwas retten wollte, dann konnte ich es nur im Steuerzentrum der Kogge versuchen. Ich verscheuchte alle Niedergeschlagenheit aus meinen Gedanken und überlegte, welche Möglichkeiten sich mir noch boten. Im Grunde gab es nur die eine Chance, die ich vorhin schon hatte realisieren wollen. Die ROVIGAR mußte beschleunigen, Feenego von sich abschütteln und so schnell wie möglich im Hyperraum verschwinden. Ich lehnte mich gegen die Korridorwand und atmete tief durch. Nur nicht nervös werden, sagte ich mir. Mit dem Vorhaben war ich schon einmal gescheitert, trotzdem rechnete ich mir mittelmäßig gute Aussichten aus. Ich durfte lediglich nichts überstürzen, alles wollte sorgfältig durchdacht sein. Wenn ich den Zustand der Besatzung berücksichtigte, hatte ich allen Grund zur Zuversicht. In ihrer Trance würden die Leute viel zu langsam reagieren; bevor sie begriffen, was geschah, wäre mein Werk schon beendet. Den einzigen Unsicherheitsfaktor erkannte ich in Polar Kasom. Ich mußte darauf vertrauen, daß auch er unter dem Eindruck des fremden Zwangs seine Reaktionsschnelligkeit inzwischen eingebüßt hatte. Nachdenklich tastete ich zur Hüfte und fühlte den kühlen Griff des Paralysators. Wenn alle Stricke rissen, würde ich den Ertruser problemlos betäuben können. Worauf wartete ich also -360-
noch? Die Zeit drängte! Ich gab mir einen Ruck und stieß mich von der Wand ab. Meine Spannung wuchs im gleichen Maß, wie ich mich dem Zentraleeingang näherte. Als ich die Sperrgrenze überschritt, identifizierte mich die Sicherheitsautomatik als berechtigte Person. Die Hälften des Schottes glitten zur Seite. Ich rannte los. Auf Schnelligkeit kam es an, auf den Überraschungseffekt. Ich sah den leeren Sessel vor den Metagrav-Kontrollen und hielt darauf zu, ohne nach rechts oder links zu blicken. . . Da tauchte wie ein düsterer Schatten eine hünenhafte Gestalt vor mir auf. Mitten im Lauf wurde ich gestoppt und prallte gegen den mit harten Muskelpaketen bewehrten Körper. Kräftige Hände packten mich, hoben mich an und trugen mich ein Stück weit durch den Raum, bevor sie mich wieder absetzten. Keuchend fingerte ich nach meiner Waffe und hielt entsetzt inne, als ich meinerseits in die Abstrahlmündung eines Paralysators blickte. Verloren! schrie es in mir. Jetzt ist alles verloren! »Du mußt mich für sehr einfältig halten, Akone«, grollte Polar Kasom erbost. »Ist dir nicht bekannt, daß es auf hanseatischen Schiffen auch interne Überwachungsanlagen gibt? Ich weiß nicht, was du in deiner Kabine getrieben hast, aber außerhalb davon konnte ich jeden deiner Schritte verfolgen.« Natürlich wußte ich das - aber ich hatte es nicht beachtet! Polar Kasom stand in drohender Haltung vor mir und winkte mit dem Lauf des Paralysators. »Setz dich. Und rühre dich nicht mehr vom Fleck!« Irgend etwas in seiner Gestik hielt mich davon ab, der Aufforderung Folge zu leisten. Ich merkte, daß Kasom unsicher war, daß eine undefinierbare Zwiespältigkeit ihn beherrschte. Plötzlich erinnerte ich mich an den gequälten Klang seiner Stimme vorhin, als ich die Zentrale verlassen und er mir nachgerufen hatte. . . -361-
Mein Kontakt mit Feenego schoß mir siedendheiß durch den Sinn. Viele Erkenntnisse hatte ich gewonnen, doch die wichtigste wurde mir erst jetzt in ihrer ganzen Tragweite deutlich. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen. 48 Menschen befanden sich an Bord der ROVIAGR. Feenego dagegen rechnete mit einer Zahl von 461/2 Bewußtseinen! Eines der fehlenden war mein eigenes - und das andere, halbe. . . Es mußte Kasoms sein! Der Ertruser unterlag der Beeinflussung nur zum Teil! Daher sein Zwiespalt, daher seine Unsicherheit! Im gleichen Zusammenhang wurde mir klar, warum er die Aktion des Geisteswesen zwar unterstützte und sogar mit Waffengewalt verteidigte, aber andererseits - im Gegensatz zu allen übrigen Besatzungsmitgliedern nicht von jener tranceähnlichen Erstarrung befallen war. Sein wahres Ego kam immer wieder zum Durchbruch, ohne letztlich die Oberhand zu behalten! Mein Gott! dachte ich bestürzt. Ich hatte meine Zeit mit Vera vergeudet, dabei hätte ich bei Kasom viel mehr erreichen können! »Polar. . . « , sagte ich vorsichtig. »Hör zu, Polar! Ich weiß, wie dir zumute ist. . . « Weiter kam ich nicht. Zwei Dinge geschahen gleichzeitig und lenkten sowohl mich als auch den Kommandanten ab. Der Hyperfunkempfänger sprach an und produzierte klirrende Signale und über dem Hauptbildschirm begann die Zentralewand zu glitzern. Feenego! Es brach durch! Für eine Sekunde vergaß ich die Welt um mich. In einer Reflexbewegung zog ich den Paralysator und schoß. Das Glitzern wurde heller und breitete sich aus wie ein zäh fließender Parasit. Ich zielte abermals. . . Ein Schlag des Ertrusers riß meinen Arm zur Seite. Die Waffe fiel polternd zu Boden. -362-
»Es nützt nichts! Wir müssen. . . « Polar stockte. Sein Atem ging keuchend. » . . . weg von hier!« stieß er dann hervor. Sein Gesicht war verzerrt. Ich begriff, daß er den Kampf um sein eigenes Ich aufgenommen hatte. Er wehrte sich gegen Feenegos Sog. In einer übermenschlichen Anstrengung versuchte er den Einfluß abzuschütteln, der eben noch einen Teil seines Bewußtseins beherrscht hatte. Ich stürzte zu den Metagrav-Kontrollen. Kasom würde mich jetzt nicht mehr aufhalten, und die anderen warteten weiterhin teilnahmslos. »Den Kurs...« stammelte der Ertruser krächzend. »Ausrichten . . . auf. . . die Funksignale!« Was er damit bezweckte, war mir unklar. Es blieb völlig gleichgültig, wohin wir uns wandten, wenn wir nur überhaupt vom Fleck kamen. Dennoch tat ich ihm den Gefallen und instruierte den Computer entsprechend. Die Berechnungen, die er zu leisten hatte, nahmen den Bruchteil einer Sekunde in Anspruch und fielen nicht mehr ins Gewicht. Als die Gravitraf-Speicher ihre Energien in das Triebwerk leiteten und draußen im Raum das künstliche Schwerkraftzentrum entstand, glitzerte die Zentralewand bereits an mehreren Stellen. Die ROVIGAR nahm Fahrt auf, beschleunigte und raste auf den exakt vektorierten Hamiller-Punkt zu. Noch immer hielt uns Feenego umschlossen. Das schillernde Gespinst machte jede Bewegung mit. »Wir werden es nicht los«, murmelte ich entsetzt. »Abwarten«, knurrte Polar Kasom. Er klang ernst, aber gelassen. Ich fuhr herum und begriff, daß er es geschafft hatte. Sein Geist war frei! Das Schwerkraftzentrum vor der Kogge wurde zum Schwarzen Loch, die Raumkrümmung schloß sich. Rund um die ROVIGAR wurde die schützende Grigoroff-Schicht aufgebaut -363-
dann stürzten wir durch das Pseudo-Black-Hole in den Hyperraum. Irgendwo sah ich es aufblitzen. Das Glitzern in den Wänden verschwand. Die Videoschirme zeigten haltlos treibende Farbpunkte und zerrissene Fasern. Feenego splitterte und zerfiel in Myriaden einzelner Bewußtseine. In schillerndem Leuchten trieben sie davon, durcheinandergewirbelt wie welke Blätter im Wind. Es war ein erschütterndes Bild. Lange konnte ich den Blick nicht abwenden. Nach und nach verblaßten die blitzenden Pünktchen, und ich wußte, daß dort denkende Wesenheiten für immer erloschen . . . »Dabei hatten sie es nur gut gemeint«, flüsterte ich tonlos. »Arme Seelen, die uns glücklich machen wollten. . . « »Was nuschelst du vor dich hin, Akone?« Polar Kasoms mächtiges Organ riß mich aus meiner Melancholie. In diesem Moment empfand er nichts als Erleichterung; keine Spur von Zynismus oder ernstgemeintem Vorwurf an mich. Während neben mir die ersten Terraner aus ihrer Trance erwachten, beobachtete ich ihn aufmerksam. Er wirkte entkrampft und locker, wie er sich in typischer Geste über den Haarkamm strich. »Lieber Himmel, das war knapp!« Er atmete geräuschvoll aus. »Wären die Funksignale nicht gewesen, hätte ich kaum mehr rechtzeitig zu mir selbst gefunden. Sie haben mir in die Wirklichkeit geholfen und mich wachgerüttelt. Muß ich mich entschuldigen?« »Ich denke nicht«, sagte ich. »Aber du könntest mir erklären, was die Funksignale so interessant macht, daß sie dich zu einem friedlichen Menschen werden lassen.« »Das weißt du nicht?« fuhr er auf. »Bei Melbar, Toronar und allen anderen seligen Kasoms - hast du in den verwirrenden Zeichen nicht das SOS gehört? Es war deutlich abgegrenzt von -364-
den übrigen Symbolen.« »Nein«, gab ich zu. »Für mich war das alles ein unverständliches Pfeifkonzert.« »Nicht jeder neuzeitliche Mensch kennt das Morse-Alphabet«, sagte eine weibliche Stimme in bedauerndem Tonfall. Ich wandte den Kopf und sah Vera Neitzert neben mir stehen. Sie hatte die Zentrale unbemerkt betreten, und ihr Verhalten bewies mir, daß sie die Beeinflussung von Feenego völlig unbeschadet überstanden hatte. Es freute mich für sie. . . für alle! »Morse-Alphabet?« forschte ich nach. Sie hob belustigt die Brauen in die Höhe. »Altterranisch«, erklärte sie. Ich lehnte mich zurück und grinste den Kommandanten an. »Du erwartest von einem akonischen Spion sicher nicht, daß er altterranische Buchstabensymbole kennt?« Polar Kasom hieb sich klatschend auf die Schenkel. So ausgelassen hatte ich ihn selten erlebt. »Mitnichten!« dröhnte er. »Aber du solltest wissen, was sie zu bedeuten haben. . . « »Der da ruft, ist Perry Rhodan«, riet ich. »Du lernst verblüffend schnell, Akone! Wo aber Perry Rhodan ist. . . « » . . . kann die Galaktische Flotte nicht weit sein«, fiel ich ihm ins Wort. Dann drehte ich den Sessel so, daß ich ihm den Rücken zuwandte. Ich konnte und wollte nichts mehr hören. Ich spürte meine Hände zittern, als alle Verkrampfung, die Belastungen der letzten Stunden von mir fielen. Beim Blauen System! dachte ich und schloß die Augen. Unsere Irrfahrt war zu Ende! Ende -365-