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Perry Rhodan Invasion der Igelschiffe
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Perry Rhodan Invasion der Igelschiffe
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Perry Rhodan Invasion der Igelschiffe
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Genehmigte Exklusivausgahe für Weltbild Verlag GmbH, Augsburg 1999 Copyright by Verlagsunion Erich Pabel - Arthur Moewig KG, Rastatt Redaktion: Sabine Bretzinger / Klaus N. Frick Einbandgestaltung: Agentur Zeuner. Ettlingen Gesamtherstellung: Graphischer Großbetrieb Pößneck Printed in Germany 1999 ISBN 3-8289-6738-8 Vorwort
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Liebe Leserinnen, Liebe Leser, im fünften Band der THOREGON-Buchreihe ging es größtenteils um die Situation in der Milchstraße gegen Ende des Jahres 1288 Neuer Galaktischer Zeitrechnung; der nun vorliegende sechste Band schreibt diese Geschehnisse fort. Sie werden darüber hinaus aber erfahren, was mit Perry Rhodan und Reginald Bull weiter geschieht... Ein kleiner Rückblick auf die Handlung der ersten fünf Bücher soll Ihnen den Einstieg erleichtern. Seit die Terraner unter Perry Rhodan auf dem Mond landeten und die Technik der Arkoniden gewissermaßen ›erbten‹, hat die Menschheit zahlreiche Höhen und Tiefen durchlebt. Kontakte zu unzähligen fremden Völkern, zu Superintelligenzen und anderen kosmischen Entitäten sowie Reisen in fremde Galaxien und sogar ›die andere Seite des Universums‹ machten die Menschen in fast 3000 Jahren zu kosmisch bewußten Wesen. Zur Handlungszeit der THOREGON-Buchreihe, also im Jahr 4875 alter Zeit, ist die Erde das Zentrum eines Sternenreiches aus 711 Planeten, der Liga Freier Terraner; auf zahlreichen anderen Planeten der Milchstraße leben Menschen. Die Liga ist nur einer von drei großen Machtblöcken: Das wohl mächtigste Sternenreich der Galaxis ist das Kristallimperium der Arkoniden, während das Forum Raglund eher als lockerer Zusammenschluß zu betrachten ist. Mit ebendiesem lockeren Zusammenschluß bekommen die Terraner aber im ersten Roman des vorliegenden Bandes ihre Probleme: Abgesandte des Forums Raglund wollen nach Trokan, dem vierten Planeten des Solsystems, der anstelle des verschwundenen Mars unsere Sonne umkreist. Dort beginnen sie ihre ›Intrige auf Trokan‹, die Peter Terrid in seinem Roman beschreibt. Dabei sind das die kleinsten Probleme, denen die -6-
Zivilisationen in der Menschheitsgalaxis gegenüberstehen. Viel kritischer sind die Igelschiffe, die sich mittlerweile zu Zehntausenden sammeln. In den vorherigen Büchern des THOREGON-Zvklus wurde geschildert, wie die Besatzungen der Igelschiffe Planeten abriegeln und besetzen - jetzt aber starten sie größere militärische Aktionen. Über die ›Invasion der Igelschiffe‹ berichtet ebenfalls Peter Terrid. diesmal aus einer völlig ungewöhnlichen Perspektive. Ernst Vlceks Roman ›Die neue Haut‹ - beschreibt das weitere Schicksal des Mutanten Kummerog. Dieser hat letztlich durch seine Aktivitäten die Ereignisse um den Planeten Trokan und das Zeitrafferfeld erst ausgelöst. Und in ›Regenten der Träume‹ von Robert Feldhoff erfahren Sie mehr über Perry Rhodan. Diesen verschlug es bekanntlich vom Planeten Trokan aus über die Brücke in die Unendlichkeit in die Galaxis Plantagoo. Dort ist der unsterbliche Terraner nun mit Reginald Bull gestrandet, seinem besten Freund seit den Tagen der Mondlandung. Die beiden Menschen wissen nicht einmal, in welchem Sektor des Universums sie sich befinden, sie verfügen auch über kein Raumschiff - aber sie wollen in die Heimat zurückkehren. Eine Möglichkeit, zumindest den Planeten Galorn zu verlassen, bietet das seltsame Raumschiff, dem sie sich anvertrauen. Gemeinsam gehen die beiden Männer erneut auf Reisen - auf der Suche nach dem geheimnisvollen Thoregon.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre! Klaus N. Frick PERRY RHODAN-Redaktion
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Peter Terrid
Intrige auf Trokan
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1. Centoar Vilgor öffnete langsam die Augen. Er lächelte verhalten. Die Meditationsstunde hatte ihm wieder einmal sehr gut getan. Sie hatte ihm neue Ideen gebracht, die er in Bälde in die Tat umsetzen würde. Vilgor besaß die bronzefarbene Haut, die für jene Humanoiden typisch war, die unter der Sonne Akon geboren worden waren. Seine dunklen Haare wiesen einen sanften Kupferstich auf, auch dies nicht ungewöhnlich für einen Bewohner jenes Planeten, der von seinem Volk Drorah genannt wurde, während bei vielen Galaktikern noch der Name Sphinx gebräuchlich war. Vilgor kannte sich in terranischer und akonischer Geschichte sehr gut aus; er wußte, was Sphinx bedeuten sollte, und es amüsierte ihn nicht wenig, drückte der Name doch einen gewissen Respekt, ja sogar ein wenig Scheu aus. In Centoar Vilgors Metier, der galaktischen Diplomatie, waren solche Nuancen und Zwischentöne wichtig. Bei der anstehenden Konferenz im Humanidrom würde es auf solche Feinheiten ankommen. Centoar Vilgor war nicht besonders hochgewachsen, und er war auch nicht so schlank, wie es Akonen im diplomatischen Dienst für gewöhnlich waren. Vilgor maß 172 Zentimeter und wog 85 Kilogramm. Sein Gesicht war rundlich und trug stets ein sanftes Lächeln zur Schau, das bestens dazu geeignet war, ein Gegenüber durch offen gezeigte Harmlosigkeit zu übertölpeln. In Wirklichkeit war Centoar Vilgor einer der gerissensten Außenpolitiker, den Akon seit langem hervorgebracht hatte, ein Meister darin, in der Argumentation seines Widersacher die kleinste Ritze zu erspüren und dann das Messer seiner Logik dort hineinzugraben und umzudrehen. -9-
Und wenn es darum ging, die verhaßten Terraner und ihre in der Galaxis weitverstreute Brut auszutricksen, lief Centoar Vilgor zur Höchstform auf - er verachtete sie noch mehr als das arrogante Gesindel der Arkoniden, deren Stammvolk vor Jahrzehntausenden die Akonen gewesen waren und die nun ihr sogenanntes Kristallimperium als politisches Kernland der Galaxis betrachteten. Centoar Vilgor entfaltete seine Beine und stand auf. Er reckte und dehnte sich; die Hockmeditation strapazierte Muskeln und Gelenke, aber dafür erfrischte sie den Geist, und allein darauf kam es an. Er verließ seine Suite und ließ sich von einem Transportroboter zum Konferenzraum tragen. Das Humanidrom war eine bauliche Konstruktion von höchst sonderbarer Kompliziertheit, mehrdimensional verschachtelten Gängen und Kammern, in denen sich selbst die Besitzer eines fotografischen Gedächtnisses unweigerlich verlaufen mußten. Vilgor brauchte eine Viertelstunde, um den Konferenzsaal zu erreichen. Einige andere Teilnehmer waren bereits zur Stelle, darunter Tayloz Üpkek, der Gesandte der gatasischen Blues. Vilgor grüßte ihn mit besonderer Höflichkeit. Er kannte die Schwäche des Blue, die Schwäche fast all seiner Kollegen. Es war Eitelkeit. Ob Unither, Topsider, Blue oder Anti, also vielen Völkern, die sich zum Forum Raglund lose zusammengeschlossen hatten - ein engerer Verbund wurde von Akon sanft, beharrlich, geschickt und selbstverständlich erfolgreich hintertrieben - litten unter einem gewissen Minderwertigkeitsdenken. Jahrtausende hindurch hatten diese Völker auf der Bühne galaktischer Politik nur Nebenrollen spielen dürfen, und jeder Versuch, sich mehr in den Vordergrund zu spielen, war vor allem von den Terranern zerschlagen worden. Das Imperium der Blues, vor allem der Gataser, war unter den Schlägen von Terranern und Arkoniden - unter Beihilfe auch -10-
Akons, wie Vilgor wußte - zusammengebrochen, hatte sich danach jahrhundertelang grausiger Selbstzerfleischung hingegeben und war erst vor - kosmisch betrachtet - kurzer Zeit wieder erstarkt. Die Macht der Antis - der Anti-Mutanten, wie sie von den Terranern getauft worden waren - hatte sich in nichts aufgelöst, nachdem Terra im Kombistrahler eine Waffe erfunden hatte, die die Báalol-Anhänger praktisch verteidigungsunfähig gemacht hatte, bis auf den heutigen Tag. Und den jüngsten Versuch der Echsen von Topsid, sich ein galaktisches Imperium zusammenzuerobern, hatten vor einigen Jahrzehnten ebenfalls die Terraner durchkreuzt, indem sie die Friedensstifter der Linguiden auf das Problem angesetzt hatten. Auch Akon hatten Rhodan und seine Schergen mit linguidischer Hilfe zeitweise außer Gefecht gesetzt, und die offizielle Führungsebene Akons - leider auch das Volk - stand noch immer unter diesem Einfluß. Allerdings hatten die Kreise, denen Centoar Vilgor angehörte, behutsam dafür gesorgt, daß diese Regierung kaum mehr war als eine Repräsentationshülse. Die wirklichen Fäden akonischer Politik wurden anderswo gesponnen. »Wir werden uns heute mit einem brisanten Thema zu befassen haben«, verkündigte Tayloz Üpkek und wiegte dazu bedeutungsschwer den Tellerschädel. Die Eigensprache der Blues bestand aus hohen, zirpenden Tönen, teilweise im Ultraschall bereich. Üpkek sprach zwar Interkosmo, und er war geübt darin, seine Stimmfrequenz so abzusenken, daß andere ihn verstehen konnten, aber Vilgor empfand dieses Organ immer noch als schrill und keifend. »Trokan, vermute ich«, bemerkte der Gesandte von Unith. Die Rüsselhumanoiden dieses Planeten waren intelligente, zugleich größtenteils sanfte und friedfertige Geschöpfe, wie geschaffen dafür, in solchen Aktionen vorgeschoben und später um den Finger gewickelt zu werden. -11-
»Sehr richtig«, antwortete der Blue. Der blaue Pelzflaum, der seinen Rumpf einhüllte und dem seine Spezies ihren verbreiteten Namen verdankte, war in seinem Fall ziemlich hell. Üpkek war nicht mehr der Jüngste, und an diesem Tag hatte er wahrscheinlich vergessen, das Färbemittel einzusetzen, um sich einen jugendlichen Anstrich zu geben. Ein Fehler, der Centoar Vilgor selbstverständlich nicht entgehen konnte. »Ich habe Dreft Ariel vorgeladen, den Gesandten der Liga Freier Terraner«, fuhr Tayloz Üpkek fort. »Er hat zugesagt, uns Rede und Antwort zu stehen.« »Sehr umsichtig!« Centoar Vilgor lächelte liebenswürdig. Der Blue schluckte das Kompliment, während Vilgor sich einen Platz im Hintergrund besorgte, von dem aus es sich besser intrigieren ließ. Sich in den Vordergrund zu spielen, war seine Sache nicht. Es dauerte nicht lange, bis der Terraner sich einstellte. Vilgor kannte ihn bereits: ein kräftiger, hochgewachsener Mann mit kantigen Gesichtszügen und kurzgeschnittenen grauen Haaren, der Typ Terraner, der bei seinesgleichen sofort Vertrauen und Respekt hervorrief. Dreft Ariel war das, was die Terraner einen Ehrenmann nannten, also besonders leicht in intrigenhafte Fallstricke zu verwickeln. Ariel erschien, begrüßte die Versammlung formvollendet und nahm dann Platz. Er wirkte ruhig, gelassen und selbstsicher; offenbar war er arglos und ahnte nicht, was ihm bevorstand. »Trokan«, begann Tayloz Üpkek die Konversation, »jener Planet, der von den Ayindi als Ersatz für den kristallisierten Mars in das Sonnensystem Terras integriert worden ist. Nach unserem Wissensstand ist Trokan seit diesem Austausch viele Jahre lang nicht besucht oder betreten worden.« »Das ist richtig«, stimmte der Terraner zu. »Dort haben sich seither sehr geheimnisvolle Dinge abgespielt«, fuhr der Blue fort. »Die Rede ist von einem Zeit-12-
rafferfeld, von einer Umgestaltung des gesamten Planeten und vor allem davon, daß nunmehr auf dieser Welt ein bisher unbekanntes Volk leben soll?« »Richtig, die Herreach«, bestätigte der Terraner. »Wir haben vor kurzem erst mit dieser Trokan-Bevölkerung Kontakt aufgenommen.« »Ich danke für die Offenheit«, sagte Üpkek und senkte seine Stimmfrequenz noch ein wenig mehr ab. Es war ein Zeichen der Hochachtung für den Terraner, dessen Mundwinkel daraufhin leicht nach oben wanderten. »Und ich will ebenso offen sein. Uns sind Nachrichten, ja Gerüchte zugetragen worden, wie soll ich es ausdrücken, daß dieser Kontakt mehr den Charakter einer hochtechnisierten Invasion haben soll.« »Technische Invasion?« Dreft Ariel zeigte sich hochgradig verwundert. »Es ist von Hunderten von Schiffen die Rede, davon, daß in sehr großem Maßstab die natürlichen Umweltbedingungen Trokans von den Terranern manipuliert werden ...« »Gestattest du eine Zwischenfrage, Tayloz Üpkek?« Der Blue machte ein Zeichen der Zustimmung, und Centoar Vilgor wandte sich unmittelbar an den terranischen Diplomaten. »Besitzen oder besaßen die Ayindi eine Technologie, die ihnen Zeitmanipulationen im Ausmaß dieses Zeitraffereffekts möglich gemacht hätte? Verzeih die Neugierde, aber die Kontakte zu den Ayindi sind ja wohl überwiegend über Terraner und deren Abkömmlinge gelaufen, so daß wir anderen darüber nur unzulänglich informiert worden sind.« Dreft Ariels Miene wurde langsam frostig; er hatte den Giftpfeil sehr wohl gespürt. »Die Ayindi besaßen oder besitzen solche technischen Mittel nicht. Falls doch, sind wir darüber nicht informiert.« »Vielen Dank«, sagte der Akone lächelnd. »Aber den Terranern waren Zeitmanipulationen doch wohl möglich, nicht -13-
wahr? Ich erinnere an das Anti-Temporale Gezeitenfeld, an den Nullzeit-Deformator und an die Tatsache, daß aufgrund terranischer Eingriffe in die Zeit vor etlichen Jahrhunderten eine Invasion aus der Galaxis M 87 in unsere Milchstraße stattgefunden hat. Und wenn ich mich recht erinnere, sind vor allem die Terraner besondere Freunde der Superintelligenz ES, die für ihre Eingriffe in die Zeit legendären Ruf genießt.« Dreft Ariel fand schnell und überzeugend eine Antwort. »Die von dir aufgezählten Tatsachen sind richtig - gewesen. Die zugrunde liegende Technologie aber ist von uns schon vor gut eineinhalb Jahrtausenden abgeschafft worden. Die Geräte sind zerstört, die wissenschaftlichen Unterlagen vernichtet. Und zu ES haben wir seit langem keinen Kontakt mehr. Falls deine Fragen darauf abzielen: Mit diesen besonderen Geschehnissen auf Trokan hat die Liga Freier Terraner nicht das geringste zu tun.« Centoar Vilgor strahlte über das ganze Gesicht. »Ausgezeichnet«, sagte er laut und nickte beifällig. »Ich meine, daß wir diesen speziellen Themenkomplex damit als abgeschlossen betrachten können.« Die Mimik eines Blue war nicht leicht zu deuten, aber Vilgor war sicher, daß der eitle Üpkek es gar nicht schätzte, wenn ein anderer als er solche Feststellungen traf. »Zu welchem Zweck wird dann ein solcher Aufwand um Trokan getrieben?« wollte Üpkek nach kurzer Pause wissen. »Eine Gegenfrage - inwiefern ist das für das Forum Raglund von Interesse?« wollte Dreft Ariel wissen. Sehr gut, er lief geradewegs ins Messer. Vilgor schmunzelte sanft. »Das Forum Raglund versteht sich als Interessen Vertreter jener kleineren galaktischen Völker und Zivilisationen, die nicht zu den größten Machtblöcken wie LFT oder Kristallimperium gehören«, erläuterte Tayloz Üpkek förmlich, während er sich bei diesen -14-
Worten, ihrer Bedeutung entsprechend, ein wenig aufrichtete. »Und du wirst nicht bestreiten, daß die Herreach ein kleines galaktisches Volk sind. Oder sind die Herreach schon in die LFT eingegliedert worden? Nach nur wenigen Tagen und Wochen?« »Selbstverständlich nicht«, widersprach ihm Dreft Ariel heftig. Der Topsider meldete sich mit schnarrender Stimme zu Wort. Die Topsider hatten mit den Terranern noch manch eine Rippe zu knacken. In den allerersten Jahren der terranischen Expansion in den Weltraum hatten allein die Topsider die galaktonautische Position der damals noch sehr schwachen Erde gekannt. Aber wenig später hatte ein Kommando von Terranern sich nach Topsid geschlichen und diese Daten in der Zentralpositronik zerstört - ein Husarenstück in den Augen der Terraner, die jene Geschichte immer wieder in neuen Trividstreifen bewundern konnten; eine beschämende Dreistigkeit in den Augen der Echsen von Topsid, die dergleichen vor allem deswegen nicht vergessen hatten, weil die Terraner es nicht lassen konnten, diese Aktion im Gedächtnis zu behalten. Auch wenn dieses Geschehen fast drei Jahrtausende zurücklag. »Du sagst selbstverständlich, Gesandter«, hielt er Topsider Dreft Ariel vor. »Aber so selbstverständlich ist es beileibe nicht. Stimmt es etwa nicht, daß die Terraner fast während ihrer ganzen Geschichte intelligente Lebewesen, ja sogar ihresgleichen, als Eigentum behandelt haben?« »Bitte?« Dreft Ariels Stimme drückte offene Verwunderung aus. »Ich kenne mich so genau nicht aus. Aber Centoar Vilgor ist Experte in terranischer Geschichte. Kannst du das etwa deutlicher machen? Mir sind die Fachausdrücke nicht geläufig.« Nur zu gerne sprang der Akone dem Topsider bei. »Er spielt vermutlich darauf an, daß viele der früheren Einzelvölker Terras Sklaven gehalten haben. Oder Leibeigene, -15-
die als Eigentum betrachtet wurden und sogar als Handelsobjekte, die verkauft werden konnten.« Dreft Ariel schüttelte den Kopf und lächelte dazu. »Das war lange vor jener Zeit, in der wir begonnen haben, uns als Terraner zu sehen«, antwortete er. »Sklaverei und Leibeigenschaft waren bereits Vergangenheit, als Terra begann, in den Weltraum vorzustoßen - und wie lange das zurückliegt, wißt ihr so gut wie ich. Und ich garantiere, daß in diesem Augenblick niemand auf Terra oder einem anderen unserer Planeten auch nur daran denkt, die Herreach auf diese Weise zu vereinnahmen. Und sollte es dennoch jemand wagen, wird er sich sehr hüten, dergleichen Barbarei auszusprechen, geschweige denn, dafür aktiv zu werden. Unsere Gesetze sind in diesem Punkt eindeutig, unmißverständlich und äußerst streng.« Centoar Vilgor lächelte und nickte befriedigt. »Dem Wort eines Dreft Ariel können wir wohl Glauben schenken«, wandte er sich an seine Kollegen. Ariel erwiderte das Nicken und lächelte wieder. »Aber die Berichte, die uns erreicht haben ...«, beharrte der Topsider grimmig. »Wir können sie nicht einfach übergehen und außer acht lassen. Ich persönlich halte sie für glaubwürdig.« »Ich ebenfalls«, warf der Báalol-Anhänger mit leiser, scharfer Stimme ein. »Ich glaube nicht«, verwahrte sich Centoar Vilgor, »daß Dreft Ariel, der Gesandte der Liga Freier Terraner, dieses Mißtrauen verdient hat. Darf ich einen vermittelnden Vorschlag machen, Tayloz Üpkek?« »Meinetwegen«, gab der Blue knapp zurück. »Ich schlage vor«, sagte Centoar Vilgor sanft, »daß wir - also dieses Gremium - Trokan aufsuchen und uns dort mit eigenen Sinnen davon überzeugen, daß es sich lediglich um Gerüchte und üble Nachrede handelt. Die Liga Freier Terraner wird sicher nichts dagegen haben, daß wir mit einer eindeutigen Stellung-16-
nahme unserer Versammlung verleumderischen Gerüchten entgegentreten und sie ein für allemal zum Verstummen bringen.« »Dazu müßte ich erst einmal die Genehmigung meiner Regierung einholen«, bemerkte Dreft Ariel in mühsam gewahrter Ruhe. »Dann beschaffe diese Genehmigung«, ordnete Tayloz Üpkek an. »Sie wird dir sicherlich erteilt werden, denn ein abschlägiger Bescheid würde diesen Gerüchten nur neue Nahrung zuführen.« Mit zusammengepreßten Lippen stand Dreft Ariel auf und verließ den Raum. Centoar Vilgor lehnte sich zurück und genoß seinen Triumph. Was Dreft Ariel auch machte, er saß in der Falle. Verweigerten die Terraner der Raglund-Kommission den Zutritt, würde das sich garantiert in der Galaxis herumsprechen und entsprechende Wirkung zeitigen. Und wenn die LFT die Erlaubnis gab - war das nicht der schlüssige Beweis dafür, daß sie Trokan und seine Bewohner bereits vereinnahmt hatten? Denn wer außer der eigenen Regierung der Herreach hätte das Recht zu einer solchen Erlaubnis gehabt? Centoar Vilgor rechnete damit, daß er in kurzer Zeit Trokan würde besuchen können. Dort konnte er dann weitere Pläne schmieden ...
2. »Achtung, Nachbeben!« Jeromy »Jerry« Argent hatte gelernt, auf solche Rufe zu achten. Ohne nachzudenken, suchte er nach einem festen Halt. Er klammerte sich an den Shift und wartete auf das Unvermeidliche. -17-
Niemand hatte die Erdstöße mitgezählt, die kleinen und die großen, nur die wirklich handfesten, planetenerschütternden Beben waren registriert worden. Ihre Zahl ging mittlerweile in die Hunderte. Da war es wieder ... Em scheußliches Gefühl, das durch den ganzen Körper lief und selbst bei mutigen und abgebrühten Charakteren Angstzustände auslöste. Wenn die Redensart ›festen Boden unter den Füßen haben‹ nicht mehr stimmte, hatte der Geist keine Möglichkeit mehr, sich an etwas zu klammern, das ihm einen Eindruck von Sicherheit und Festigkeit verschaffen konnte. Jeromy Argent spürte die Erdstöße bis tief in die Eingeweide hinein. Vor ihm schien sich der Boden Trokans in wellenförmigen Krämpfen zu winden. Von allen Seiten waren Schreie und Rufe zu hören, und darüber lag das dumpfe, magenerschütternde Grollen des sich aufbäumenden Erdreichs. Eine ebenso kluge wie attraktive Geologin hatte Jerry Argent aufgeklärt: Die Augen eines Menschen lagen gewissermaßen schwimmend in ihren Höhlen, und wenn die Erde bebte, dann schnappten die Augäpfel erheblich schneller und heftiger als der restliche Körper. Die unausweichliche Folge war, daß die Erschütterungen optisch noch viel stärker wirkten, als sie tatsächlich waren. Nicht einmal die Augen fanden noch Halt, und außerdem dauerte dieser Effekt selbst nach dem Ende des Bebens noch einige Sekunden an. Es war intellektuell befriedigend, so etwas zu wissen. Aber es half in keiner Weise. Argent spürte den kalten, klebrigen Klumpen der Angst in seinem Bauch, der ihm zu schaffen machte, seit er zum ersten Mal den Fuß auf Trokan gesetzt hatte. Widerwärtig war dieses Gefühl, und Argent schämte sich insgeheim dafür, daß er seine Panik trotz aller Erfahrung einfach nicht in den Griff bekam. -18-
»Puh!« machte Argent, als der Boden sich wieder beruhigte wahrscheinlich aber nur für kurze Zeit. Rafton Dibbs, einer seiner Assistenten, grinste breit - und ziemlich käsig. »Nur ein winziges Bibbern«, sagte er halblaut. »Vier Komma acht auf der Richter-Skala ...« Anhand dieser Skala wurde die Energie gemessen, die bei einem Erdbeben freigesetzt wurde. Sie war logarithmisch aufgebaut - ein Punkt mehr vor dem Komma bedeutete eine Verzehnfachung der Energie. Es gab noch eine andere Skala, die nach Mercalli, die sich ausschließlich an den Oberflächenzerstörungen orientierte. Nach dieser Messung hatte das Beben eine Stärke von knapp über drei erreicht. Es hatte alles ein bißchen gewackelt, aber nichts war eingestürzt oder zusammengebrochen - was zum Teil daran lag, daß es in der Trokan-Metropole Moond kaum noch etwas gab, das hätte einstürzen können. Die früheren Beben waren weitaus stärker gewesen, und sie hatten gründliche Arbeit geleistet. In nüchternen Zahlen las sich der Schaden einfach: 95 Prozent aller Gebäude waren völlig zerstört oder so stark beschädigt, daß sie als Wohnraum nicht mehr in Frage kamen. »Zum Glück hat es offenbar weder Tote noch Verletzte gegeben«, fuhr Rafton Dibbs fort, ein schlanker, dunkelhäutiger Terraner mit krausen blonden Haaren. Seinem Gesicht war anzusehen, wie sehr ihn diese Tatsache erleichterte. Die Herreach hatten einen ungeheuren Preis dafür zahlen müssen, daß sie unversehens aus ihrer künstlichen Enklave Trokan in die Wirklichkeit des sie umgebenden Kosmos gestoßen worden waren, Ewigkeiten hatten sie unter stets gleichbleibenden, wenn auch nicht sonderlich üppigen Umweltbedingungen existiert, der sie hervorragend angepaßt gewesen waren. Dann aber, im Oktober des Jahres 1288 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, hatten sich diese Verhältnisse abrupt verändert. In -19-
den seither verstrichenen vier Monaten waren der Planet und alles, was auf ihm existierte, gleichsam umgekrempelt worden. Nach Schätzungen - für genaue Berechnungen gab es einfach keine Mittel - hatten in dieser Zeit fünf der 145 Millionen Herreach ihr Leben eingebüßt, die Zahl der Verletzten ging noch weit höher. Dies allein war schon furchtbar genug für eine Zivilisation, die sich mit der der Terraner im neunzehnten Jahrhundert vergleichen ließ. Aber fast noch mehr litten die Herreach darunter, daß sie bei dieser Katastrophe gewissermaßen auch ihr Weltbild eingebüßt hatten. Nichts war mehr so, wie es vorher gewesen war. Die Herreach mußten sich mit Phänomenen wie Tag und Nacht auseinandersetzen, mit greller Sonnenstrahlung, die sie nicht vertrugen, und mit der Schwärze und Kälte der Nacht, die auf Trokan stärker ausfiel als auf der Erde. Gewaltige Stürme hatten die Oberfläche Trokans verwüstet, Häuser zum Einsturz gebracht, Ernten vernichtet und die Herreach wieder und wieder in Panik versetzt. Kein Wunder, daß viele der hilflosen Trokanbewohner irritiert, ratlos und verzweifelt waren. »Gehen wir wieder an die Arbeit«, sagte Jeromy Argent energisch. »Jede Stunde zählt.« Seine Aufgabe als wissenschaftlicher Leiter und Koordinator der Hilfsexpeditionen der LFT war es, die Bemühungen der Terraner zur Rettung Trokans und dessen Bevölkerung zu koordinieren, Schwerpunkte zu setzen und die geeigneten Mittel und Mitarbeiter anzufordern. Es war eine Aufgabe, wie man sie bisher nur aus der Mythologie gekannt hatte - in der Legende von Sisyphos, der zur Strafe für seine Untaten von den griechischen Göttern gezwungen worden war, einen riesigen Marmorblock bergan zu rollen. Und jedesmal, kurz vor dem Erreichen des Zieles, -20-
entglitt ihm der tückische Marmor und kollerte zurück in die Tiefe ... Die Verhältnisse auf Trokan waren ähnlich geartet. Auch hier wurden die Rettungsarbeiten immer wieder gestört oder über den Haufen geworfen. Selbst das kümmerliche Nachbeben hatte erneute Schäden hervorgerufen. Einige Notzelte waren eingestürzt, ein großer Tank mit Frischfutter war umgekippt und geborsten. Der kostbare Inhalt versickerte jetzt im ausgedörrten Boden. Jeromy Argent stieß einen langen Seufzer aus. In Teilbereichen würde er wieder von vorne anfangen müssen. »Ob wir das jemals schaffen werden?« fragte Rafton Dibbs leise und machte eine weit ausholende Bewegung, die die gesamte Umgebung umfaßte. »Ist diese Aufgabe nicht eine Nummer zu groß für uns?« Argent stieß ein grimmiges, halblautes Lachen hervor. »Haben wir eine andere Wahl? Wenn wir Trokan sich selbst überlassen würden, hätte das unweigerlich das Ende der Herreach zu Folge. Bis sich das Leben auf Trokan wirklich an die neuen Lebensumstände angepaßt hat, vergeht womöglich ein Jahrhundert; so lange können die Herreach niemals durchhalten.« Er atmete tief durch. Trokan wies andere Lebensbedingungen auf als die Erde. Trokan hatte den Mars ersetzt, der weiter von der Sonne entfernt gekreist hatte als Terra. Der Tag auf Trokan dauerte 25 Stunden, tagsüber stieg die Durchschnittstemperatur nur selten über zwölf Grad Celsius, nachts sank sie oft unter den Gefrierpunkt. Auch das war völlig neu und ungewohnt für die Herreach viele Herreach litten auch im Januar 1289 NGZ noch unter der Umstellung. Die Tagessonne verbrannte ihre Haut, nachts zitterten die unglücklichen Geschöpfe vor Kälte. Der Wechsel von Tag zu Nacht, von Helligkeit zu Dunkelheit, hatte Schlaf-21-
störungen zur Folge. Das klang harmlos, war es aber nicht. Ein Mensch, dem man einen für ihn ungewohnten extremen Tag-Nacht-Rhythmus aufzwang, drehte nach einiger Zeit unweigerlich durch und wurde psychotisch. Vielen Herreach ging es nicht anders. Es gab nicht genug Nahrung, es gab nicht genug Wasser. Die meisten Gebäude, hergestellt aus gebrannten Ziegeln, waren schon bei den ersten tektonischen Erschütterungen zerbröselt. Es gab daher für die Herreach kaum eine Möglichkeit, sich vor Sonnenglut oder Nachtkälte zu schützen. Viele verkrochen sich in Erdspalten oder gruben sich Löcher, in denen sie Zuflucht suchten - und die beim nächsten Beben dann unweigerlich zu tödlichen Fallen wurden und die Unglücklichen zermalmten oder erstickten. Die Luft auf Trokan war dünn, sie enthielt lediglich zwölf Prozent Sauerstoff. Argent und viele andere Helfer von Terra und den anderen Welten der LFT trugen daher kleine Luftverdichter auf der Brust. Die faustgroßen Geräte sogen die Trokan-Luft an, erhöhten den Sauerstoffanteil und bliesen ihn in sanftem, stetigem Strom vor die Gesichter der Träger Dadurch waren die Terraner nicht gezwungen, Masken zu tragen, was die Kommunikation untereinander und mit den Herreach verkompliziert hätte. Die Herreach mit doppelt so großen Lungen, von den Terranern Kollektorlungen genannt, hatten mit der Luft keine Probleme. Dafür gab es jede Menge anderer Schwierigkeiten. Die Herreach waren moderne Technik nicht gewöhnt - und sie hatten in aller Regel auch kein Interesse daran. Das geistige Leben der Herreach hatte sich viele Äonen lang um Religiöses gedreht, um ihren Gott Kummerog. Die ganze Zeit über hatten die Herreach auf das Erscheinen Kummerogs gewartet - ohne auch nur im entferntesten zu ahnen, was nach dem tatsächlichen Auftauchen dieses Gottes aus ihnen werden sollte. -22-
Ein Terraner, der diese Kultur nachempfinden wollte, brauchte sich nur geistig zurückzuversetzen in das irdische Mittelalter. Kluge, ja geniale Köpfe hatte es auch in diesen Jahrhunderten gegeben, wahrscheinlich ebenso dicht gesät wie in der Neuzeit. Aber das Interesse dieser Geister hatte dem Erkunden und Erforschen des Spirituellen gegolten. Wie fand man den richtigen Weg zu Gott, wie erlangte man die Seligkeit? Das waren die Fragen, an denen sie ihre Hirne schärften - biologische, chemische oder physikalische Experimente waren bei dieser Art der Fragestellung völlig uninteressant. Dann brauchte man sich nur noch vorzustellen, die Arkoniden wären in dieser Zeit mit ihrer Technologie massenhaft gelandet... Wahrscheinlich hätten die Menschen des Mittelalters all diese Errungenschaften als Teufelszeug abgelehnt und wohl eher um ihr Seelenheil gebangt als sich über den technischen Fortschritt gefreut. Und genau das war das Problem der Herreach. Während die Trokanbewohner verstört durcheinanderliefen und nur danach trachteten, am Leben zu bleiben, waren Scharen terranischer Helfer an der Arbeit, um mit einem unerhörten technologischen Aufwand zu retten, was zu retten war. Transportraumer brachten Nahrung und Wasser heran. Notunterkünfte wurden in riesiger Zahl aufgestellt, Mediker kümmerten sich um Kranke und Verletzte. Gleichzeitig versuchte galaktische Spitzentechnologie, die tektonischen Erschütterungen Trokans wenigstens zu dämpfen oder vorhersagbar zu machen. Auch die ersten Ansätze einer Wetterkontrolle waren installiert worden. Bei dem Begriff Wetterkontrolle hatten manche Laien die Vorstellung. es sei auf der Erde technisch möglich, ganz nach Belieben eine Landschaft mit Sommer oder Winter zu überziehen, unabhängig vom Sonnenstand oder der regionalen Jahreszeit. Wintersport in der Sahara, karibische Zustände in der Antarktis, natürlich beides gleichzeitig und bei Bedarf binnen -23-
weniger Stunden ins Gegenteil umschlagen zu lassen. Die »Wettermaschine« Terras umfaßte die gesamte Ökosphäre des Planeten, der Mond griff darin ein, und die Sonne lieferte die Betriebsenergie. Dabei waren ungeheure Mengen Energie im Einsatz, in Wolken, Wind und Wellengang. Dieses natürliche Wetter technisch nach Belieben zu manipulieren hätte eine gigantische Maschinerie erfordert, mit einem ebenso großen Energieeinsatz, den die Erde niemals verkraftet hätte. Wetterkontrolle bedeutete zum einen, daß man in der Lage war, das Wetter mit äußerster Präzision für jeden Ort vorherzusagen. Zum anderen lief Wetterkontrolle darauf hinaus, unerwünschten meteorologischen Phänomenen die Spitze zu nehmen. Sturmfluten und Orkane konnten abgeschwächt werden; Regenfälle konnten umgeleitet und gemildert werden und dergleichen mehr - und genau das wurde nun im Jahre 1289 NGZ auch auf Trokan angewandt, in Ansätzen. NATHAN, das Riesenhirn auf dem Erdmond, erfaßte die Daten von Trokan und errechnete daraus die Daten und technischen Mittel, mit denen die schlimmsten Extreme des Trokan-Wetters abgemildert oder ausgeglichen werden konnten. Mehr war der LFT nicht möglich - und auch diese Arbeit erforderte einen unerhörten Aufwand und verschlang gigantische Summen. »In einem Punkt können wir jedenfalls ein gutes Gewissen haben«, sagte Jeromy Argent halblaut. »Und das wäre?« wollte Rafton Dibbs wissen. »Wir tun wirklich alles, was in unseren Kräften steht«, antwortete Jerry Argent, begleitet von einem Seufzer. »Auch wenn es noch lange nicht ausreicht.«
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3. Centoar Vilgor hatte wieder seine unscheinbare Miene aufgesetzt, als die AZTAKT zur Landung auf Trokan ansetzte. Die Terraner hatten - wohl im Vertrauen auf ihr gutes Gewissen - zugestimmt, daß eine Delegation des Forums Raglund Trokan einen Besuch abstatten konnte. Zur Delegation gehörten Vertreter verschiedener galaktischer Völker, die sich im Forum zusammengeschlossen hatten. Geleitet wurde die Abordnung von Tayloz Üpkek höchstpersönlich, dem es sichtlich gefiel, mit Respekt und Hochachtung behandelt zu werden. »Das also ist Trokan«, stellte der Blue fest und betrachtete die Darstellung auf dem großen Panoramaschirm der AZTAKT. Neben ihm stand der Akone und musterte ebenfalls das Bild. Trokan sah nach nichts aus. Eine öde, dürre Welt ohne erkennbare Zeichen von Besiedelung. Weite, ausgetrocknete Steppengebiete waren zu sehen, und nur wer in solcher Beobachtung geschult war, vermochte die wenigen Spuren am Boden als Hinweise auf organisierte Landwirtschaft zu erkennen. Außerdem gab es Rudimente eines gleisgebundenen Transportsystems - allerdings waren die meisten dieser Schienenwege unterbrochen oder verschüttet. Vor dem Hintergrund dieser Landschaft wirkte der technische Aufwand der LFT außerordentlich beeindruckend. Ein pausenloses Kommen und Gehen von Raumschiffen war zu sehen; Shuttles landeten, Transporter setzten ihre Ladungen ab. Es sah aus, als seien die Terraner damit beschäftigt, eine verlassene Wüstenwelt mit größtem Aufwand in einen technologischen, vielleicht sogar militärischen Stützpunkt zu verwandeln. Die AZTAKT hatte eine Verbindung zum Boden geschaltet. Ein gewisser Jeromy Argent war der Raglund-Delegation als Kontaktperson zugeteilt worden. -25-
»Euer Schiff kann in der Nähe der Stadt Moond landen«, schlug Argent in diesem Augenblick vor. »Moond ist - oder besser war - die größte Herreach-Siedlung auf Trokan.« »War?« fragte Üpkek anzüglich. »Die Siedlung ist durch Erdbeben und Stürme weitgehend vernichtet worden«, berichtete Argent gelassen. »Die Bewohner konnten aber in der Mehrzahl gerettet werden.« »Wie seltsam, es sind gar keine Herreach zu sehen«, warf der Gesandte Topsids ein. »Ihr werdet sie sehen, sobald ihr gelandet seid«, gab der Terraner zurück. »Trokan ist nur dünn besiedelt, es gibt nur 140 Millionen Herreach auf diesem Planeten.« »Waren es früher nicht mehr?« »Es hat Erdbeben- und Sturmopfer gegeben ...« Centoar Vilgor lächelte sanft. Es gefiel ihm, die Terraner in Bedrängnis zu bringen, und er ahnte, daß seine Mission auf Trokan äußerst erfolgreich sein würde. Die AZTAKT setzte auf. »Begeben wir uns nach draußen«, ordnete Tayloz Üpkek an. In der Schleuse wurden sie bereits von einer Abordnung der LFT erwartet, die sie mit faustgroßen Geräten ausstattete. »Luftverdichter«, klärte Argent sie auf. »Der Sauerstoffanteil der Trokan-Atmosphäre ist ziemlich gering. Für Menschen oder Blues normalerweise nicht geeignet.« »Aber wie ich sehe, habt ihr euch zu helfen gewußt«, bemerkte Tayloz Üpkek, während er das Gerät anlegte und aktivierte. »Haben diese Geräte vorsorglich für einen solchen Fall in euren Arsenalen geschlummert?« »Sie gehören zur Standardausrüstung vieler Raumschiffe, die möglicherweise auf einer sauerstoffschwachen Welt landen«, wurde erwidert. »Wir haben sie überall eingesammelt und für diesen Zweck konzentriert eingesetzt.« »Äußerst umsichtig«, lobte Tayloz Üpkek ironisch. -26-
Trokan bot einen enttäuschenden Anblick, wahrhaftig keine ertragreiche Beute für die Terraner. Diesen Planeten in Besitz zu nehmen und zu besiedeln würde der LFT einiges abverlangen; es stand zu bezweifeln, ob das eine lohnende Aktion sein würde. Andererseits, wenn man die Herreach dazu brachte, für die LFT zu arbeiten, konnte Trokan sehr wohl Gewinn abwerfen. Und noch weitaus gewinnträchtiger würde es sein, die Herreach ins Forum Raglund zu integrieren und damit einen Stützpunkt gleichsam vor der Haustür der Terraner zu haben, ein giftiger Stachel im Fleisch der LFT-Politik. »Ich möchte gerne den legendären Pilzdom sehen«, bat Tayloz Üpkek. »Damit hat doch wohl alles angefangen, wenn ich richtig informiert bin?« »Das ist nicht ganz richtig«, antwortete Jeromy Argent. Centoar Vilgor betrachtete den Terraner von der Seite und versuchte ihn einzuschätzen; vielleicht wurde Argent zu einem Gegner, den man kennen mußte. »Ursprünglich ist an jener Stelle, die ich euch gleich zeigen werde, der sogenannte Bohrkopf aufgetaucht, der bis zu einer Höhe von 1089 Metern angewachsen ist. Die Herreach haben ihn später als Heiligtum verehrt und als Kummerog-Tempel betrachtet. Aber dieser Tempel ist völlig in seine Einzelteile zerfallen, als der Pilzdom in Erscheinung getreten ist. Dort könnt ihr ihn jetzt sehen ...« »Hm mm«, machte der Blue. »Dieses kleine Gebilde soll dafür verantwortlich sein, daß die Verhältnisse auf Trokan sich so einschneidend zuungunsten der Herreach geändert, haben?« Argent schüttelte den Kopf. »Die genauen Zusammenhänge zwischen Ursache, Auslöser und Wirkung kennen wir noch nicht, nur den Ablauf der Ereignisse. Sowohl der Bohrkopf als auch der Kummerog-Tempel und der Pilzdom entstammen keiner uns bekannten Technologie.« -27-
»Kann man denn diesen Dom betreten und von innen studieren?« erkundigte sich Centoar Vilgor liebenswürdig. »Das ist leider nicht möglich«, antwortete Jeromy Argent mit sichtlichem Mißvergnügen. »Aber heißt es nicht, jemand hätte diesen Dom betreten und wäre ins Innere gelangt? Perry Rhodan, Reginald Bull und Alaska Saedelaere?« »Das stimmt«, gab Argent zu. »Aber wir wissen nicht, wie sie es gemacht haben und was aus ihnen geworden ist. Seit Ende Oktober 1289 fehlt von diesen drei Personen jede Spur.« »Interessant«, schnarrte der Topsider. »Wieso Rhodan? Warum nicht ein anderer, du beispielsweise oder ein terranischer Wissenschaftler? « »Unbekannt«, erwiderte Argent knapp. »Und ist nicht aus diesem Pilzdom zum gleichen Zeitpunkt eine Gestalt herausgekommen, die den Namen Kummerog trägt?« hakte Tayloz Üpkek nach. »Auch das ist richtig, aber wir wissen nicht ...« »Das heißt, der Gott der Herreach ist tatsächlich erschienen? Leibhaftig?« Tayloz Üpkeks Stimme drückte ein gewisses Erstaunen aus. »Nun, das Wesen nannte sich Kummerog, mehr weiß ich auch nicht«, versuchte Jeromy Argent zu erklären. Sein Mißbehagen war nicht zu übersehen. »Sehr erstaunlich«, ließ sich der Unither vernehmen. »Und wo ist dieser Kummerog jetzt? Was ist aus ihm geworden? Lebt er auf Trokan und wird von den Herreach als Gott verehrt?« Diese Fragen wurden, nicht ohne geheime Hinterlist, von dem Báalol-Priester gestellt. Jeromy Argent zögerte mit der Antwort, wahrscheinlich, weil sie ihm nicht behagte. »Kummerog war verletzt, als er gefunden worden ist. Man hat ihn nach Mimas gebracht, um ihn dort zu -28-
kurieren, aber er ist wenig später verschwunden, auf rätselhafte Art und Weise.« »Darf ich diese Informationen kurz zusammenfassen?« bat Centoar Vilgor freundlich. »Perry Rhodan, Reginald Bull und Alaska Saedelaere sind in diesen Pilzdom eingedrungen. Wenig später oder praktisch zeitgleich taucht dort der von den Herreach als Gott verehrte Kummerog auf. Und dieser Gott ist daraufhin von den Terranern nach Mimas gebracht worden, wo sich seine Spur verliert... Ist das wirklich so richtig?« »Die Tatsachen sind korrekt aufgezählt«, knurrte Jeromy Argent in das betretene Schweigen hinein. »Nur die Tendenz…« »Oh, ich wollte keineswegs unfreundlich sein«, verwahrte sich der Akone. »Verzeih, ich hatte nur gewisse Schwierigkeiten, die Tatsachen richtig zu erfassen und einzuordnen.« Wieder legte sich Schweigen über die Versammlung. »Nun, hier werden wir nichts Neues erfahren«, beschloß Tayloz Üpkek mit hoher Stimme. »Ich glaube, wir sollten uns jetzt unmittelbar den Herreach zuwenden. Am besten reden wir mit ihrem Oberhaupt. Wie ist der Titel?« Centoar Vilgor mußte dem Blue widerwillig Anerkennung zollen. Darin, sich blöde zu stellen und mit Fragen zu nerven, war Üpkek fast so gut wie er selbst, das war der betretenen Miene des LFT-Mannes anzusehen. Selbstverständlich wußten alle Teilnehmer der Delegation, daß die Herreach so etwas wie einen Herrscher. Khan oder König. Imperator oder Regenten gar nicht kannten . »Es gibt hier keine Herrscher«, versuchte Jeromy Argent zu erklären. »Die Herreach haben immer frei und völlig unabhängig gelebt, ohne Hierarchie So etwas gibt es nur in ihrem religiösen Leben.« »Dann führe uns bitte zum geistigen Oberhaupt der Herreach«. bestimmte Tayloz Üpkek mit sanfter Hartnäckigkeit. -29-
»Am besten nehmen wir einen Gleiter«, schlug Argent vor und überblickte die Delegation, »Oder besser zwei... « Er ließ zwei Fahrzeuge über Funk herbeirufen, die wenig später erschienen. Es handelte sich um Modelle, wie sie auf vielen Welten der LFT und anderen galaktischen Planeten im Gebrauch waren Centoar Vilgor wollte gerade das zweite Fahrzeug besteigen., als ein Zuruf von Jeromy Argent ihn stoppte »Vorsicht!« rief der Terraner »Ein Sturm kommt auf, rasend schnell. Wir können ihr nur abmildern, nicht aber verhindern« »Gefährlich?« fragte Tayloz Üpkek knapp. »Nicht für uns«, antwortete Argent. »Auch nicht für jene Herreach, denen wir Unterkünfte verschaffen konnten. Aber es leben noch Hunderttausende von Herreach irgendwo im Freien, ohne Kontakte zu den anderen. Für sie kann der Sturm bedrohlich werden.« »Und ihr verhindert das nicht?« »Wir tun, was wir können«, versetzte Jeromy Argent gereizt. »Aber unsere Mittel und Möglichkeiten sind begrenzt. Immerhin sind wir erst seit wenigen Monaten an der Arbeit.« Er hatte kaum ausgesprochen, als auch schon die erste Sturmböe über das Land fegte. Feinkörniger, gelbbrauner Sand wurde aufgewirbelt und peitschte über die Landschaft. Centoar Vilgor konnte sehen, daß dieser Sturm stark genug war, Gewächse herauszureißen und zu verwirbeln; auf den Ruinen der HerreachStadt Moond tanzten meterhohe Wirbel aus Sand und Staub, hervorgegangen aus den zerbröselten Gebäuden, in denen früher die Herreach gewohnt hatten. Der Sturm zerrte heftig an der Kleidung der Gesandten; die Sandkörner schmirgelten schmerzhaft über die Haut, die trotz der Kälte zu brennen begann. Vilgor folgte dem Beispiel von Jeromy Argent, der sich umgedreht hatte und dem Staubsturm den Rücken zukehrte. So heftig war der Sturmwind, daß er einen Teil der künstlichen Sauerstoffzufuhr einfach wegblies. -30-
Centoar Vilgor bemerkte sofort, wie ihm das Atmen schwerer fiel. »Es dauert nicht lange!« rief Jeromy Argent. »Immer nur einige Minuten ...« Vilgor rang nach Luft. So hatte er sich den Ausflug nicht vorgestellt. Die Möglichkeit, von einem Trokan-Sturm erstickt zu werden, war in seinen weitgespannten Plänen nicht enthalten. Was für ein schäbiges, kümmerliches Ende für einen Mann mit so hochfliegenden Zielen! Vor seinen Augen begann die Umwelt zu verschwimmen, seine Lungen schmerzten heftig. Aber Jeromy Argent behielt recht. Nach einigen Minuten ließ der Sturm ebenso überraschend nach, wie er zuvor ausgebrochen war. Die Luft wurde wieder atembar und völlig klar. »Was ist das hier?« wollte Hasdyn Flech wissen, an der Größe, der Statur und vor allem am Schädel unschwer als Ara, als Galaktischer Mediziner, zu erkennen. Auch die Aras konnte man schwerlich als besondere Freunde der Terraner bezeichnen, hatten sie doch ihre galaxisweite Vorzugsstellung als Heilkundige längst eingebüßt und den Terranern überlassen müssen. Nur der Tatsache, daß sie näher an den dichtbesiedelten Zentren der Galaxis lebten, hatte es ihnen ermöglicht, Aralon nach wie vor als Medizinwelt zu betreiben. Jeromy Argent nahm Hasdyn Flech die Pflanze aus der Hand, die der Ara aus der Luft gegriffen hatte. Der Terraner machte ein verärgertes Gesicht. »Ein Getreide«, sagte er grimmig. »Eine Spezialzüchtung von uns, die wir auf Trokan anpflanzen wollen. Das Getreide und viele andere Pflanzen haben wir den besonderen Bedingungen von Trokan angepaßt, damit die Herreach möglichst bald wieder imstande sind, sich selbst zu ernähren. Aber obwohl wir Wachstumsbeschleuniger einsetzen, wachsen die Pflanzen nicht so schnell so fest an, daß der Sturm ihnen nichts mehr anhaben kann.« -31-
Er murmelte etwas, das wie ein Fluch klang. »Wieder ist die Arbeit von Wochen in wenigen Minuten zerstört.« »Ihr greift also in die Ökologie Trokans ein?« »Natürlich«, stieß Argent hervor. Er legte die Pflanze behutsam auf den Boden und blickte sie an wie einen verstorbenen Freund. »Wir versuchen nicht nur, die Herreach zu retten, sondern auch ihren Planeten. Diese Welt ist ihre Heimat, hier wollen und werden sie leben. Und selbstverständlich werden die Herreach auch wollen, daß sie die Grundlagen dieses Lebens selbst in der Hand behalten und nicht Ewigkeiten lang auf den Import von Nahrungsmitteln abhängig sind. Wir impfen den Boden mit Mikroorganismen, wir setzen Pflanzen aus und Tiere, damit sie auf Trokan heimisch werden können. Es ist eine ungeheure Arbeit.« Centoar Vilgor zeigte wieder sein liebenswürdigstes Lächeln. Ganz nebenbei nahm er die Pflanze an sich und verstaute sie in seiner Kleidung. »Ganz sicher sind die Herreach euch sehr dankbar für die Mühen, die ihr euch macht ...« Jeromy Argents Gesicht zeigte deutlich, daß er daran zweifelte.
4. Die RICO kehrte in den Normalraum zurück und verzögerte mit höchsten Werten. »Am Ziel«, verkündete Gerine, Stellvertreterin des Kommandanten. »Tucani-Sektor.« Ich nickte zufrieden. Auf Gerine war, wie immer, Verlaß. Das hatte sie schon als Flottenkommandantin des Kristallimperiums -32-
genügend unter Beweis gestellt. Nicht bewiesen hatte sie hingegen jene Skrupellosigkeit, die in der Arkon-Flotte seit einiger Zeit um sich gegriffen hatte. Dafür hatte man sie - angeblich wegen Feigheit vor dem Feind - zum Tode verurteilt, und aus eben diesem Grund hatte die IPRASA sie vor der Exekution gerettet. Gerine war exakt von jenem Schlag von Flottenoffizieren und -kommandeuren, wie sie die altehrwürdige Galaktonautische Akademie von Iprasa seit jeher hervorgebracht hatte. Auch ich hatte dieses Institut in meiner Jugend besucht und in guter Erinnerung behalten. Tapferkeit wurde von den Kadetten und Zöglingen erwartet, Umsicht, Entschlossenheit und schnelle Auffassungsgabe. Aber Iprasa hatte sich immer auch dadurch ausgezeichnet, daß es seine Zöglinge zu selbstbewußten und verantwortlichen Kommandanten ausgebildet hatte, die im Bedarfsfall auch einmal etwas auf die eigene Kappe nahmen. Dazu kamen vorzügliche Umgangsformen und eine ethische Grundhaltung, die Brutalität und Grausamkeit ausschloß. Von diesem Ideal war das Kristallimperium heute sehr weit entfernt. Der Tucani-Sektor lag 16.000 Lichtjahre von Sol entfernt. Daß die RICO dieses Ziel angeflogen hatte, lag an einem einfachen und bedrohlichen Grund: In den Tiefen dieses Sternhaufens hatte sich unseren Ortungsergebnissen zufolge eine gewaltige Flotte feindlicher Schiffe versammelt - ihre Zahl hatte inzwischen die Grenze von 100.000 Einheiten überschritten. Diese Massierung von Raumschiffen war der Grund, weshalb die GILGAMESCH mit allen Segmenten diesen Raumbezirk angeflogen hatte. Sevia, unsere vorzügliche Orterin, hatte die Schiffe längst angepeilt und spielte die Daten auf den Panoramaschirm, so daß wir die Aktionen bequem verfolgen konnten. Die GILGAMESCH hatte eine ganze Reihe von Beibooten ausgesetzt und sich in ihre Segmente zerlegt. Ich wußte, daß -33-
Myles Kantor und Homer G. Adams zur Stelle waren, aber auf den ersten Blick war für mich nicht zu erkennen, welchen Plan die beiden mit ihren Manövern verfolgten. Immer wieder jagten kleine Pulks auf die Igelschiffe zu, die sich in diesem Teil von Tucani versammelt hatten. Sie flogen keinen wirklichen Angriff, das war deutlich zu erkennen. Es sah eher so aus, als wollten sie Rammversuche unternehmen, was natürlich blanker Unsinn war. Immerhin, die Igelschiffe reagierten darauf. In Pulks von etwa vierzig Einheiten und mehr nahmen sie die Jagd auf die galaktischen Einheiten auf. »Was machen die da?« fragte Gerine halblaut. »Das ergibt doch keinen Sinn. Wollen sie die Igelschiffe provozieren?« »Sieht ganz danach aus«, mischte sich Sassaron ein; der alte Kämpe, Chef der Modul-Beiboote, war sichtlich interessiert. Mit Feuereifer verfolgte er die Aktionen unserer Freunde. »Was ist mischen wir mit?« »Erst will ich wissen, wozu diese Manöver gut sein sollen«, wehrte ich ab. »Sevia, eine Funkverbindung zur GILGAMESCH.« Einige Augenblicke später stand die Bildfunkleitung, gestochen scharf, farbkorrekt und selbstverständlich abhörsicher. Myles Kantor blickte mich mit ernster Miene an. »Willkommen im Krisengebiet, alter Freund«, sagte er. »Darf man wissen, was ihr da treibt?« erkundigte ich mich nach der Begrüßung. »Es sieht ziemlich verwirrend aus, militärisch nicht eben sinnvoll.« »Auf den ersten Blick vielleicht nicht«, gab Myles Kantor zu; er lächelte schwach. »Es handelt sich auch nicht gerade um eine militärische Operation im üblichen Sinn.« Auf dem Panoramaschirm war zu sehen, wie Igelschiffe die Verfolgung aufnahmen und die GILGAMESCH-Segmente systematisch jagten. Obwohl unsere Einheiten technisch über-34-
legen waren und den Verfolgern eigentlich mühelos hätten entkommen können, krochen sie gleichsam durch den Raum und ließen die Verfolger bedenklich nahe an sich heran. Den Mut und die Kaltschnäuzigkeit der Kommandanten konnte ich nur bewundern, an dem Strategen, der diese Aktion befohlen hatte, hatte ich hingegen meine Zweifel. »Sondern?« »Wir sammeln die Daten, um unseren Fünf-D-IndifferenzKompensator programmieren zu können.« Myles Kantor, wie ich ihn liebte. Eine knappe, unglaublich präzise Auskunft, von wissenschaftlicher Akkuratesse - und im Grunde völlig unverständlich. Er hätte die Antwort ebenso gut in Swahili oder Uigurisch geben können. »Aha«, sagte ich und machte dazu ein Gesicht, als wüßte ich alles. Myles Kantor konnte ich damit nicht tauschen. Er zeigte das schmale Lächeln eines Mannes, der unter sehr großer seelischer und geistiger Anspannung steht, aber dennoch einen Rest von Humor bewahrt hat. »Ich erkläre es dir später«, beteuerte er. »Wenn das Gerät endlich so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt haben. Ich hoffe, es wird uns gegen die Igelschiffe einen beträchtlichen Vorteil bringen.« »Das wird wohl auch nötig sein«, kommentierte ich. »Sevia, was haben wir bisher gefunden?« Sie spielte die Auswertung auf den Schirm. 103.478 Einheiten, überwiegend Igelschiffe, in allen Größenklassen. Ein Schiffstyp in der gegnerischen Flotte allerdings fiel sehr auf, und unwillkürlich verkrampfte sich meine Magenmuskulatur. Ellipsoid-Schiffe der Eloundar ... Raketengleich schossen die Erinnerungen in mir hoch; ich konnte sie nicht zurückdrängen ... Lafayette, die Heimatwelt der Beausoleils, die uns an der Großen Leere so gute, tapfere und auch eigenwillige Helfer, Kämpfer -35-
und Freunde gewesen waren. Dort war eines dieser Schiffe gelandet. Die Fernortung der RICO zeigte mir den Umriß der Schiffe. Ein langgestrecktes Ellipsoid von 800 Meter Länge und 200 Meter Durchmesser. Um den Bug spannte sich ein Kranz von einhundert feinen Antennen, jede 50 Meter lang. Der Bug war charakteristisch kugelförmig vorgewölbt, über die Schiffshülle verteilt waren zusätzlich zwanzig kammartige Erhebungen, wie bei den Igelschiffen. Das Heck wies vier flossenartige Delta-Auswüchse auf. Was die Ortung nicht zeigen konnte, ich aber aus der Erinnerung wußte, war der goldrote Farbton der Hülle; ebenfalls nicht zu orten war das Grauen, das dieses Schiff bei jedem Betrachter hervorrief, der einmal ein Eloundar-Schiff in Aktion gesehen hatte. Was die Eloundar mit den Bewohnern von Lafayette genau gemacht hatten, entzog sich meiner Kenntnis - ich wollte es zu diesem Zeitpunkt besser auch gar nicht wissen. Es genügte die Erinnerung an das Grauen ... Und im Tucani-Sektor warteten nun fünfhundert Schiffe, umgeben von einem schier unüberwindlichen Begleitschutz, auf ihre Einsätze gegen Welten der Galaktiker. 500mal das schiere Grauen, 5OOmal das Entsetzen für die Bewohner einer friedlichen Welt. »Du siehst ziemlich käsig aus«, bemerkte Myles Kantor mitfühlend. »Neue Erkenntnisse?« »So kann man es nennen«, sagte ich leise. »Ich schlage eine Konferenz vor, in der wir unsere Informationen austauschen können.« »Einverstanden«, antwortete Myles Kantor sofort. »Irgend etwas von Perry und den beiden anderen gehört?« Ich schüttelte den Kopf und seufzte. »Sie bleiben verschwunden«, antwortete ich. »Der Teufel mag wissen, wo sie stecken und ob sie überhaupt noch am Leben sind.« -36-
»Vor einigen Stunden haben wir ein LFT-Schiff geortet«, berichtete Myles Kantor. »Vermutlich Cistolo Khans PAPERMOON. Ich halte es für ratsam, ihn in die Konferenz einzubeziehen. Ich spiele euch die Daten zu. Jetzt liegt die PAPERMOON still, rührt sich nicht und ist nicht zu orten, aber mit unseren Daten werdet ihr sie leicht finden.« Sevia mischte sich in den Dialog ein. »Am Rande von Tucani gibt es einen Planeten namens Sandage mit einem robotgesteuerten Observatorium. Etwa lunagroß, ohne Atmosphäre, sehr unauffällig. Wäre das ein geeigneter Konferenzort?« Ich nickte. »Danke, Sevia.« »Einverstanden«, stimmte Myles Kantor sofort zu. »Wir stoßen zu euch, wenn wir hier fertig sind. Anderenfalls nehmen wir mit einer Konferenzschaltung teil. Und nun, viel Glück!« Die Funkverbindung wurde unterbrochen. Nur die Ergebnisse der Ortung blieben auf dem Panoramaschirm erkennbar. 500 Eloundarschiffe. 500! Eingebettet in 100.000 Igelschiffe, technisch unseren Einheiten zwar klar unterlegen, aber dennoch in mehr als einer Hinsicht unangreifbar. Da war der sogenannte Tangle-Scan, und da war vor allem der Umstand, daß wir nur äußerst selten überhaupt einen Treffer bei einem dieser Schiffe anbringen konnten der Himmel mochte wissen, warum. Und das bei der klaren Überlegenheit unserer Schiffe und Waffen. Was hatten wir dieser Armada des Grauens entgegenzusetzen? Als die Blues seinerzeit Arkon III angegriffen und vernichtet hatten, war Perry Rhodan Arkon mit allem zu Hilfe gekommen, was er hatte mobilisieren können. 80.000 schwere und schwerste Einheiten waren damals durch den Raum georgelt und hatten sich auf die Blues gestürzt, sie letztlich geschlagen. Aber das waren andere Zeiten gewesen. Vorbei auch die Zeit von OLD MAN mit seinen fast 16.000 Ultraschlachtschiffen an Bord. Die Galaxis war friedlicher ge-37-
worden - und damit schwächer. Die LFT konnte 16.000 reguläre Kampfeinheiten aufbieten, davon gehörten 15.000 zur Kategorie der 100-Meter-Raumer, also kaum zu vergleichen mit den früheren Kreuzern und Schlachtschiffen. Dazu kamen 90.000 weitere Einheiten, die zwar bewaffnet, aber nicht als Kampfraumer ausgewiesen waren. Sie unterstanden den einzelnen Planetenregierungen und konnten nur im äußersten Notfall Cistolo Khan unterstellt werden. Wie hoch ihr Kampfwert einzuschätzen war, wollte ich lieber gar nicht erst wissen. »Ich habe die Daten der PAPERMOON«, gab Sevia bekannt. »Dann Abflug«, bestimmte ich und nickte Gerine zu. Sie sollte die RICO fliegen, ich hing meinen Gedanken nach. Welche Ziele mochten die Igelschiffe anpeilen? Welche Welten hatten sie vor zu überfallen? Offenkundig war eines: Die Igelschiffe und ihre Besatzungen waren nicht einfach nur an Welten interessiert, auf denen man oder sie - leben konnte. Es gab genügend Planeten in der Milchstraße, um Tausenden von Völkern Platz zu bieten, auf denen man siedeln und sich niederlassen konnte. Ein Konflikt um Lebensraum war angesichts der Größe einer Milchstraße ein Unding- obwohl nicht gänzlich auszuschließen. In meinen frühen Jahren hatte ich noch die letzten Greuel der Methan-Kriege erlebt, gnadenlose Schlachten zwischen methanatmenden Maakhs und Arkoniden. Jede Partei konnte mit den Welten des Gegners praktisch nichts anfangen, und doch hatte dieser Konflikt endlos lange gedauert. Nein, die Igelschiffe hatten es zweifelsfrei auf bewohnte Planeten abgesehen, noch präziser: Sie waren offenbar vornehmlich an dicht besiedelten Welten interessiert, und zwar mehr an deren Bevölkerung als an dem Planeten selbst. »Ich habe die PAPERMOON!« berichtete Sevia. -38-
Cistolo Khans Gesicht tauchte auf dem Schirm auf. Auch er wirkte angespannt und erschöpft; die Sorgen, die ihn Umtrieben, standen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. »Ich schlage vor, wir treffen uns«, sagte ich nach der kurzen Begrüßung. »Auf Sandage am Rande von 47 Tucani. Es gilt Neuigkeiten auszutauschen.« »Einverstanden«, sagte der LFT-Kommissar. Die blaue Montur, die an Bord der LFT-Flotte sehr verbreitet und beliebt war, stand ihm sehr gut. Ich lächelte - früher waren die Monturen der alten Raumflotte des Solaren Imperiums lindgrün gewesen. Konzentriere dich auf die Gegenwart, sentimentaler Narr! »Gibt es wenigstens gute Neuigkeiten?« fragte Cistolo Khan und strich sich durch die welligen, dunkelbraunen Haare, die ihm bis auf die Schultern fielen. Ich schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nicht«, mußte ich gestehen. »Aber Myles Kantor hofft, uns mit einer überraschen zu können.« Cistolo Khan zeigte ein grimmiges Lächeln. »Würde mich wundern, wenn ihm das gelingt. Nicht, daß ich ihm keine Neuigkeiten zutraue - aber gute?« »Lassen wir uns überraschen«, antwortete ich. Wenigstens die Hoffnung durften wir nicht verlieren. Die RICO setzte ihren Flug fort. Kurze Zeit später meldete sich Sevia wieder zu Wort. »Allerhand Betrieb in dieser Region«, gab sie bekannt. »Rund fünfzig Schiffe der LFT, dazu Hunderte von anderen Einheiten.« »Details«, forderte ich. »Ein Querschnitt durch das Galaktikum«, berichtete Sevia mit hörbarem Spott. »Akonen, Blues, Topsider und vor allem Schiffe unseres so geliebten Kristallimperiums. Sie halten sich zurück, schnüffeln nur ein bißchen herum. Eine Schafherde in Erwartung des Wolfes - getragen von der Hoffnung, daß die -39-
Bestie ein anderes Opfer reißt.« Ich nickte langsam. Damit hatte ich gerechnet. Selbst in diesen Krisenzeiten brachten es etliche Völker der Galaxis nicht fertig, ihre kleinkarierten Eitelkeiten und Streitigkeiten zu vergessen und sich zusammenzutun - besser konnte man einem Feind gar nicht in die Hände arbeiten. Wenn diese Wahnsinnigen endlich zur Besinnung kamen, war es vermutlich schon zu spät ... Kein voreiliger Skeptizismus, warnte der Extrasinn. Jetzt hätte ich ihn am liebsten mit Narr angeredet ...
5. Cistolo Khan war ziemlich genau zwei Meter groß und keineswegs hager, eine kräftige, imposante Erscheinung. Er stammte von der Iberischen Halbinsel, war sechzig Jahre alt und in der Blüte seiner Kraft. Dennoch machte er einen niedergedrückten Eindruck. Der Job eines LFT-Kommissars war ohnehin kein Zuckerlecken, von einem Kommissar wurde sehr viel verlangt, vor allem in Krisenzeiten. Gegenwärtig allerdings meinte es das Schicksal mit dem Terraner besonders schlecht. Da war das ungelöste, gewaltige Problem Trokan. Da waren die seit Jahrzehnten blühenden innergalaktischen Spannungen und Zwistigkeiten Und jetzt bedrohte eine lnvasionswelle die Planeten der LFT und der anderen galaktischen Völker. »Nennen wir sie Tolkander-Völker«, faßte ich die Erkenntnisse zusammen. »Wir kennen davon die Neezer, die Gazkar und die Alazar. Neu hinzugekommen und wahrscheinlich der Kern der Bedrohung sind die Eloundar. Von dieser Spezies haben wir -40-
allerdings bisher kein Individuum zu Gesicht bekommen. Sie zeigen sich nur eingehüllt in ein Energiefeld. Fest steht, daß ein Eloundar-Schiff auf Lafayette gelandet ist.« Ich wußte, wovon ich sprach. Ich war dabei gewesen, und mir wurde nach wie vor leicht übel, wenn ich daran dachte. Die PAPERMOON des LFT-Kommissars und unsere RICO hingen antriebslos in einem Orbit über Sandage. Homer G. Adams und Myles Kantor hatten es noch nicht geschafft, ihre Experimente zu einem erfolgreichen Ende zu bringen und waren uns per Holo zugeschaltet. »Von den anderen Tolkander-Völkern werden die Eloundar als Heilige verehrt und genießen höchstes Ansehen.« Ich machte eine kurze Pause. »Und die Völker der Milchstraße werden die Eloundar sehr bald als Teufel fürchten und hassen lernen. Denn es sind offenbar die Eloundar, die die eigentliche Invasion vorantreiben.« Myles Kantor sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Irre ich mich, oder redest du um den heißen Brei herum, Atlan? Du scheinst dich nicht zu trauen, uns das Wesentliche zu erzählen.« Ich nickte und leckte über die trocken gewordenen Lippen. Kantor kannte mich sehr gut. Adams blickte auf den Boden und schwieg. Auch er wirkte angespannt und betroffen. »Sobald ein Eloundar-Schiff gelandet ist, wird es entladen. Behälter aus Formenergie werden ausgeschleust.« Ich bemühte mich, meine aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken und einen sachlichen, neutral klingenden Tonfall anzuschlagen, aber es gelang mir nicht recht. »Die Behälter sind wabenförmig, der Durchmesser liegt bei zehn Metern. Im Inneren befindet sich, das haben wir orten können, etwas Organisches. Dieser Stoff wird von den Tolkander-Völkern Vivoc genannt. Die Vivor, um exakt zu sein. Ich habe damit unseren Begriff Brut assoziiert, und ich fürchte, daß diese Gedankenverbindung den Tatbestand trifft.« -41-
Cistolo Khan sah mich aufmerksam an. Lafayette gehörte zur LFT, es waren gewissermaßen seine Leute, um die es gegangen war. »Wenn die Waben sich öffnen, werden dabei große Mengen von wurmartigen Gebilden frei, in der Farbe an Asche erinnernd, die aussehen wie ein Kokongespinst. Die Kokons sind ungefähr einen Meter lang.« Ich holte tief Luft. »Auch diese Kokons platzen schließlich und geben etwas frei, das ich nur als ekelhaften Schleim bezeichnen kann, der sich den wie betäubt dastehenden Menschen unverzüglich zu nähern beginnt. Ich habe Zigtausende solcher Kokons gesehen, und daß die Menschen von Lafayette ihnen nicht entrinnen konnten. Was dann geschehen ist... Ich weiß es nicht. Aber mich schaudert, wenn ich es mir vorzustellen versuche.« Nicht nur mir allein ging es so, auch die anderen Gesichter drückten Ekel, Angst und Übelkeit aus. Der Phantasie und damit dem Grauen waren keine Grenzen gesetzt. Die Vivoc. Die Brut. Und Menschen waren das Ziel dieser Brut ... Eine Minute lang herrschte in der Zentrale der RICO ein atemlähmendes Schweigen. »Warum Menschen?« fragte Cistolo Khan plötzlich. »Nicht, daß ich den Blues oder Topsidern dieses Vivoc-Zeug an den Hals wünsche, aber wieso ausgerechnet Menschen?« »Offenbar sind Menschen für diese Brut besonders geeignet«, mutmaßte ich. »Wir haben festgestellt, daß die Neezer und die Gazkar über eine besondere Form der Wahrnehmung verfügen, daß sie die Ausstrahlung von Intelligenzwesen erfassen und bewerten können.« »Was für eine Ausstrahlung?« hakte Cistolo Khan sofort nach. -42-
»Wahrscheinlich etwas, das wir bisher nicht kennen, vielleicht verwandt mit der ÜBSEF-Konstante, die früher einmal eine wichtige Rolle gespielt hat. Um der Sache einen Namen zu geben, haben wir diesen Faktor als Resonanzkörper-Konstante bezeichnet, abgekürzt Resoko.« Ein mageres Lächeln huschte über die meisten Gesichter. Eine typische Terranereigenschaft: Hauptsache, das Ding hatte einen Namen, auch wenn man nicht wußte, was es eigentlich war. »Die Resoko von Terranern und Terraabkömmlingen scheint den Tolkander-Völkern besonders genehm zu sein. Durchaus möglich, daß sie später auch Gefallen an Blues und Arkoniden, Topsidern oder Unithern finden, aber vordringlich werden solche Planeten ihr Ziel sein, die von Humanoiden unseres Typs bevölkert sind. Und das sind allein im engeren Bereich der LFT mehr als siebenhundert Welten - und eine Bevölkerung, die in die Billionen geht.« Abermals legte sich Schweigen über die Gesprächsrunde. Jeder hatte damit zu tun, diese Nachrichten aufzunehmen und zu verdauen. Sie zu hören war vielleicht einfach, sie zu begreifen eine ganz andere Sache. Die Konsequenzen waren schauerlich und in ihrer ganzen Tragweite nicht zu übersehen. »Damit verglichen waren die früheren Invasionen regelrecht harmlos«, konstatierte Cistolo Khan trocken. Ich sah, daß seine Lippen leicht bebten. Der LFT-Kommissar galt als harter Bursche, aber auch ihn hatte jetzt das nackte Entsetzen gepackt und fest im Griff. »Vermutlich müssen die Menschen auf Lafayette als erste für dieses Vivoc als körperliche oder geistig-psychische Nahrung herhalten - ich weiß es nicht genau. In einem Punkt bin ich mir allerdings sicher - die Opfer werden in jedem Fall Schaden nehmen. Daß nach dieser Brut-Prozedur lediglich kurzfristige Kopfschmerzen oder harmloser Haarausfall zu verzeichnen ist, halte ich für nahezu ausgeschlossen. Es wird die Menschen auf -43-
Lafayette wahrscheinlich das Leben kosten, vielleicht auch nur die Zerstörung ihres Geistes. In diesem Fall würde ich den Tod vorziehen ...« »Besiedelte Welten«, warf Sevia mit schwacher Stimme ein. »Vor allem dicht besiedelte Welten. Damit wäre das Solsystem ein vordringliches Angriffsziel der Tolkander-Invasion.« »Im Solsystem sind bereits vorsorglich der Notstand und das Kriegsrecht ausgerufen worden«, gab Cistolo Khan bekannt; er bemühte sich, seiner Stimme Festigkeit zu geben. »Dort sind wir jedenfalls gewappnet.« Auf Einzelheiten ging er nicht ein. Das war auch nicht nötig. Ich sagte es ihm direkt auf den Kopf zu. »Über die Sicherheitsvorkehrungen für das Solsystem bin ich ziemlich gut informiert, Cistolo Khan. Mag sein, daß es ausreicht. Aber ich bezweifle die Effektivität für das gesamte Gebiet der LFT.« Der LFT-Kommissar, Nachfolger des zur Legende gewordenen Geo Sheremdoc, sah mich finster an, widersprach mir aber nicht. »Terra kannst du vielleicht schützen«, fuhr ich fort. »Aber was ist mit den anderen Welten? 700 Ziele für die Igelwesen. Es wird unmöglich sein, sie wirksam zu verteidigen. Du kennst den Grund: Unsere Schiffe sind schneller, schlagkräftiger, in jeder Beziehung überlegen, aber sie treffen einfach nicht mehr.« »Das ist der Punkt, an dem wir ins Spiel kommen«, machte sich Myles Kantor bemerkbar. »Vielleicht haben wir zumindest den Ansatz für eine Lösung des Problems.« »Ich höre aufmerksam zu«, beteuerte Cistolo Khan. »Zunächst einmal zum Phänomen der mangelnden Treffsicherheit allgemein«, begann der terranische Chefwissenschaftler. »Raumschiffe in einem Gefecht schießen ja nicht einfach aufeinander. Bei den großen Abständen und der immensen Geschwindigkeit der Einheiten ist ein direkter Beschuß nicht mög-44-
lich. Vielmehr wird der Gegner möglichst genau geortet, Flugrichtung und Geschwindigkeit werden bestimmt und daraus der künftige Flug ermittelt. Dann richtet man die Geschütze so aus, daß sie auf einen Punkt vor dem gegnerischen Schiff zielen - so kalkuliert, daß Kampfstrahl und Gegner zur exakt gleichen Zeit am gleichen Ort sind. Unsere entsprechenden technischen Mittel sind so fortgeschritten, daß wir in der Praxis kaum noch vorbeischießen können.« »Theoretisch«, warf Cistolo Khan grimmig ein. »Richtig, in der Theorie klappt das Verfahren. In der Praxis hingegen nicht. Dabei muß man berücksichtigen, daß bei Raumgefechten nur wirkliche Treffer zählen. Wenn ein Transformgeschoß, immerhin eine gewaltige atomare Ladung, das Ziel um einige Kilometer verfehlt, ist auch diese Waffe weitgehend wirkungslos. Die Energie der Transformbombe breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus, das angezielte Raumschiff ist ähnlich schnell. Bis der atomare Glutball das Schiff eingeholt haben kann, hat sich diese Energie obendrein verringert - und zwar in der dritten Potenz. Doppelte Entfernung vom Detonationspunkt bedeutet, daß sich die Energie auf ein Achtel reduziert hat. Es ist klar, daß Präzision beim Schießen der wichtigste Faktor von allen ist.« »Das weiß jeder Raumkadett«, erlaubte sich Cistolo Khan zu bemerken. »Und das wiederum weiß ich«, sagte Myles Kantor lächelnd. »Ich wollte die Tatsachen nur noch einmal ins Gedächtnis rufen. Denn genau darauf beruht der Trick, den sich die Konstrukteure der Igelschiffe haben einfallen lassen. Wir haben dieses Verfahren den 5-D-Vektor-Shredder genannt.« »Aha«, meinte Cistolo Khan mit sanftem Spott. »Damit ist dann wohl alles erklärt.« »In gewisser Weise schon«, hielt Myles Kantor ihm ungerührt entgegen. »Der Shredder besteht aus zwei Komponenten. -45-
Zunächst einmal werden die Triebwerke in allen drei Achsen von einem Zufallszahlengenerator beeinflußt. Mal positiv, mal negativ, mit großer Wirksamkeit. Bei Lichtgeschwindigkeit bewirkt eine Geschwindigkeitsveränderung von einem Prozent immerhin eine Abweichung von rund dreitausend Kilometern. Und da alle unsere Waffensysteme, die Transformkanonen im Moment der Bombenexplosion eingeschlossen, nur lichtschnell arbeiten, reicht diese Aberration für Fehlschüsse völlig aus. Die Trefferwahrscheinlichkeit sinkt jedenfalls beträchtlich.« »Und der zweite Faktor?« »Mit einer anderen Komponente wird der Hyperraum im Umkreis von 250 Kilometern um das jeweilige Schiff verwürfelt und zerhackt, daher der Name Shredder. Das Resultat ist daß unsere Ortung gar nicht mehr in der Lage ist, Impuls und Ort des Gegners genau anzumessen - beides zusammen läßt das Treffen zu einem reinen Glücksspiel werden. Genau so, wie wir es bei den bisherigen Gefechten erlebt haben.« »Das klingt, als ließe sich dagegen nicht das Geringste machen« sagte Cistolo Khan bitter. Myles Kantor wiegte den Kopf. »Die Gesetze der Natur sind auf unserer Seite«, versetzte er schmunzelnd. »Es gibt nämlich in Wirklichkeit gar keine Zufallszahlen, jedenfalls keine künstlich gemachten. Nicht einmal NATHAN ist in der Lage, wirkliche Zufallszahlen zu liefern.« »Das verstehe ich nicht«, stieß Cistolo Khan kopfschüttelnd hervor. »Keine Zufallszahlen?« »Der Grund dafür ist sehr einfach. Jede Art von Zufallszahlengenerator, mag er auch noch so vertrackt sein, beruht letzten Endes auf einem Algorithmus, also einer gesetzesgleichen Rechenvorschrift. Anders kann ein Rechner, ein primitiver ebenso wie eine Syntronik, ja gar keine Zufallszahlen erzeugen.« »Wenn das so einfach wäre, könnte schließlich jeder Besitzer einer einfachen Positronik jedes Roulettespiel gewinnen, jede -46-
Lotterie und dergleichen.« »Richtig«, stimmte Myles Kantor zu. »Man muß nur die Zahlenreihe verfolgen, daraus auf den Algorithmus zurückschließen. Hat man ihn gefunden, läßt sich die Reihe der Zufallszahlen problemlos rekonstruieren und vorhersagen.« Er lächelte schwach. »Es ist lediglich eine Frage der Rechenzeit«, schränkte der Wissenschaftler dann ein. »Und der exakten Beobachtung. Deswegen sind wir seit Tagen dabei, die Igelschiffe zu provozieren, damit wir möglichst viele Werte zur Rekonstruktion ihres Algorithmus bekommen.« »Und, habt ihr es geschafft?« »Nicht ganz«, gab Myles Kantor zu. »Am Anfang hatten wir gar keinen Erfolg. Zum einen wegen der behinderten Ortung, zum anderen, weil die Zahl der durchzurechnenden Konstellationen ungeheure Dimensionen hat. Aber dann sind uns zwei Umstände zu Hilfe gekommen - technische Einschränkungen, die sich auch für die Igelschiffe nicht umgehen lassen. Da ist zum einen der Umstand, daß die Vektoränderungen bei fliegenden Raumschiffen begrenzt sind. Man kann nicht innerhalb von zwei Sekunden von Vollgas auf Vollbremsung umschalten und umgekehrt, das hält kein Schiff technisch aus. Die Zufallszahlen sind also in ihrem Wert nach oben beschränkt. Gleichzeitig sind Variationen im Bereich der fünften Nachkommastellen sinnlos, weil sie keinen Vorteil bringen. Der Zahlenkorridor, den wir untersuchen mußten, erwies sich als erfreulich eng.« »Und der zweite Umstand?« »Wir haben etwas, was die Igelschiffe nicht haben: den Kontracomputer, der alle Zahlenwerte unter der Annahme der entgegengesetzten Voraussetzungen, die hochgradig unwahrscheinlich sind, berechnen kann. Und damit haben wir ein gewisses Mittel gegen den Stotterantrieb der Igelschiffe zustande -47-
gebracht. Wir nennen das Gerät den 5-D-IndifferenzKompensator - die unvermeidliche Abkürzung mag sich ein anderer ausdenken.« Die wichtigste aller Fragen lag mir schon seit Minuten auf der Zunge, und jetzt hielt ich mich nicht mehr zurück. Zuviel hing von dieser Antwort für unsere Zukunft ab. »Und - funktioniert das Gerät?« Myles Kantor zögerte merklich, und unsere Stimmung und Zuversicht sackten wieder in Kellertiefe ab. »Noch nicht so, wie wir uns das vorstellen«, gab er zu. »Wir haben immerhin die Zeitspanne drücken können, die wir brauchen, um an den Algorithmus heranzukommen.« »Auf welchen Wert?« »Bisher haben wir fünf Minuten dafür gebraucht, in Zukunft werden zehn bis zwanzig Sekunden höchstwahrscheinlich ausreichen - vorausgesetzt, daß wir in naher Zukunft genügend Beobachtungsdaten zusammenbekommen.« »Können wir dabei helfen?« wollte ich wissen. Die Frage lag nahe. »Wir nehmen jede Unterstützung, die wir bekommen können.« Es war Homer G. Adams, der sich mit leiser Stimme zum ersten Mal in das Gespräch einschaltete. »Cistolo?« Der LFT-Kommissar nickte langsam. »Ich werde zusehen, was ich machen kann«, versprach er. »Aber viel wird es nicht sein. Ich muß die LFT-Welten schützen, das geht vor.« Dafür hatte ich volles Verständnis. Wenn ich mir vorstellte, was diesen Planeten und der darauf lebenden Bevölkerung bevorstand, graute mir. Wäre mein Haar nicht von Natur weißblond gewesen, wäre es jetzt wohl weiß geworden. An eine schrecklichere Bedrohung der Milchstraße konnte ich mich nicht erinnern. Andere Invasoren waren gekommen, um die Welten der Galaktiker zu unterwerfen und zu beherrschen. Die -48-
Tolkander-Invasion aber hatte offenbar zum Ziel, ganze Völker zu versklaven und wahrscheinlich sogar auszurotten. Während wir in der Zentrale der RICO debattiert hatten war die Besatzung meines Schiffes nicht untätig gewesen. Sevia hatte sich mit einigen Mitarbeitern in SERUNS gezwängt und war hinabgeflogen auf den Planeten Sandage. Ihr Ziel war das große Observatorium gewesen, das schon vor vielen Jahren dort eingerichtet worden war. Der Grund dafür lag auf der Hand. Astronomische Beobachtungen hatten schon immer mit Sichthindernissen zu tun gehabt. Auf den Planeten selbst störten die Atmosphäre und Fremdlicht im Weltraum wurde der Weitblick durch Wolken aus dunklem Staub behindert oder einfach durch die Tatsache, daß andere Sonnen oder ganze Kugelsternhaufen im Wege lagen. Daher waren vollautomatisierte Observatorien auf vielen atmosphärelosen Himmelskörpern eingerichtet worden, die ihre Messungen und Beobachtungen machten und sie in regelmäßigen Abständen hinübersandten zur jeweiligen Zentrale. Sevia meldete sich sofort, als ich sie anfunkte. »Habt ihr etwas herausfinden können?« verlangte ich zu wissen. »Nicht besonders viel«, gab Sevia zu. »Wir verfolgen die ankommenden Igelschiffe und versuchen, ihre Kurse zurückzuberechnen. Die Richtung bekommen wir halbwegs hin, aber aus welcher Entfernung sie nach Tucani fliegen, können wir nicht ermitteln.« »Und, woher kommen die Invasoren?« »Der Kursvektor scheint aus der Richtung jenes Sternbildes zu kommen, das die Terraner Reticulum, das Netz, nennen. Wie es dort aussieht? Wir wissen es nicht.« »Immerhin etwas«, gab ich zur Antwort. »Setzt euch in Bewegung und kehrt an Bord zurück. Wir werden Myles Kantor und der GILGAMESCH helfen.« -49-
»Endlich einmal wirkliche Action«, freute sich Sevia. So konnte man es auch sehen. Mir wären faul verstreichende Tage und Wochen viel lieber gewesen. Nichts gegen Abenteuer und Aufregungen, aber dies hier überstieg das Maß des Erträglichen bei weitem. Ich hatte noch eine Frage an Myles Kantor. »Wann können wir diesen 5-D-Indifferenz-Kompensator - was für ein Begriff bekommen?« »Wir haben Prototypen für jedes Segment der vorrätig«, antwortete Myles Kantor sofort. »Bis auf die RICO sind bereits alle Einheiten damit ausgestattet worden. Deinen Kompensator schicken wir dir schnellstens per Transmitter zu.« »Und was ist mit uns?« wollte Cistolo Khan wissen. »Wir haben weitere zwanzig Geräte in Reserve« verkündete Myles Kantor. »Und auf Camelot sind Produktionsstätten angelegt, die sofort eine Großproduktion einleiten können, sobald wir brauchbare Resultate erzielt haben. Du kannst beruhigt sein, Cistolo Khan. Sobald es möglich ist, werden wir auch alle Schiffe der LFT damit ausrüsten.« »Das höre ich gerne«, sagte der LFT-Kommissar, der noch immer in der Öffentlichkeit das Problem hatte, daß man dort Camelot sehr skeptisch gegenüberstand. Aber Cistolo Khan wußte so gut wie jeder von uns, daß weder Camelot noch meine IPRASA jemals etwas gegen die Interessen der LFT unternehmen würden. Unser Ziel war es, allen Völkern der Galaxis zu helfen, wenn sie in Not gerieten. Und dies hier war ein extremer Notfall. Es war die heraufdämmernde Apokalypse ...
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6. Versonnen betrachtete Centoar Vilgor sein Gegenüber. Bisher hatte er Herreach nur auf Bildschirmen betrachten können. Sie wirkten ziemlich groß, fast alle maßen mehr als zwei Meter. Ihre Proportionen wirkten humanoid, lediglich die Arme fielen recht lang aus und reichten in Ruhe bis auf die Knie hinunter. Diese Knie - das gleiche galt auch für die Arme - waren in zwei Richtungen beugbar; das gab den Herreach eine große Beweglichkeit, verlieh ihnen aber einen befremdlich anmutenden Stelzschritt. Auffallend war darüber hinaus die fehlende Behaarung. Die helle, fast durchscheinende Haut wirkte beinahe transparent. Fast glaubte der Akone, im Inneren des Leibes die Organe langsam pulsieren sehen zu können. »Dies ist Presto Go«, stellte Jeromyn Argent vor. »Oberste Künderin des Kummerog.« Künderin, also weiblich. Und wie stellten die Terraner das fest? Äußerlich waren für den Akonen keine Geschlechtsunterschiede festzustellen. Allerdings konnte er auch nicht den ganzen Leib der Künderin betrachten. Sie war in eine gelbe Kutte gehüllt, die sehr feingesponnen wirkte und bis auf den Boden reichte. Beim Eintreten hatte Centoar Vilgor sehen können, daß auf dem Rückenteil der Kutte ein blaues Oval zu sehen war, dessen Bedeutung ihm unbekannt war. Vermutlich waren es die Insignien ihres Standes als Oberste Künderin. Begleitet wurde Presto Go von einer Gruppe von vier anderen Herreach, die leicht abgerissen wirkende violette Kutten trugen auch sie mit dem Rückensymbol. Jeromy Argent stellte sie als Mahner vor, vermutlich so etwas wie Leibwächter, Beauftragte oder religiöse Unterweiser. Die genaue Funktion interessierte Centoar Vilgor ohnehin nicht. -51-
Presto Go ließ ihre Blicke von einem Mitglied der Delegation zum anderen wandern. Es war ihr anzusehen, daß es sie Mühe und Überwindung kostete, soviel Fremdheit zu ertragen. Der Akone mochte in ihren Augen noch leidlich normal aussehen, aber einen Topsider oder Unither hatte sie bestimmt noch nie erblickt, geschweige denn einen Blue mit dem charakteristischen Tellerkopf. »Du gestattest doch, Jeromy Argent, daß wir allein mit der Künderin sprechen, nicht wahr?« fragte Tayloz Üpkek. Obwohl er sich Mühe gab, einen verbindlichen Ton einzuschlagen, war die Frage dennoch eine Dreistigkeit. »Um der Wahrhaftigkeit willen. Oder hast du Einwände?« Natürlich hatte der Terraner Einwände, aber er brachte sie nicht vor. Er murmelte eine Zustimmung und entfernte sich dann. Man traf sich in einer großen Hütte aus Plastikmaterial, das die LFT zur Verfügung gestellt hatte. Auch dies war für die Herreach wohl geistiges Neuland - ihre Bauten waren nach den vorliegenden Unterlagen niemals so geräumig gewesen. »Wir grüßen dich, Künderin des Kummerog«, eröffnete Tayloz Üpkek die Unterhaltung, sobald Argent die Hütte verlassen hatte. »Wir haben von der Not und dem Elend gehört, das über eure Heimat hereingebrochen ist, und wir sind hierhergekommen, um den Herreach unsere Hilfe und Unterstützung anzubieten.« Als der Translator in Aktion trat, von Jeromy Argent zur Verfügung gestellt, hörte Centoar Vilgor zum ersten Mal Worte in Herrod, der Hochsprache der Herreach, die zwar nicht überall gültig war, aber doch von jedem Herreach verstanden wurde. »Uns wird bereits Hilfe zuteil.« Das Herrod klang ein wenig rauh und ungelenk. Centoar Vilgor hatte den Eindruck, daß es keine Sprache war, in der man komplexe wissenschaftliche Sachverhalte leicht darstellen und -52-
ausdrücken konnte. Auch die Sprache machte deutlich, daß die Herreach um Jahrtausende hinter dem Niveau der Terraner hinterherhinkten. Fraglich war, ob die Herreach überhaupt daran interessiert waren, ein Leben nach terranischen oder galaktischen Maßstäben auszurichten. Vielleicht wollten sie ihre schlichte, fast ein wenig primitive Lebensweise weiterführen. »Du bist zufrieden mit dem, was die Terraner auf Trokan tun.« »Sie retten die Welt«, antwortete Presto Go knapp. Sie wirkte beherrscht und selbstbewußt, durchaus nicht verlegen. Vielleicht sogar gereizt... Centoar Vilgor hatte für Zwischentöne dieser Art eine feine Witterung. Die Welt ... Die Herreach hatten nie einen Eigennamen für ihren Planeten entwickelt - wozu auch, in ihrem früheren Dasein hatte es keine anderen Welten gegeben. Inzwischen, so hatte Vilgor erfahren, gingen sie nach und nach dazu über, den Namen Trokan zu verwenden. Diese und viele andere Kleinigkeiten mußten die Herreach früher oder später als demütigend empfinden. Kein Wesen liebte es, unablässig in der Rolle eines tumben Bittstellers und Fürsorgeempfängers zu leben. Zur Zeit allerdings standen praktische Nöte im Vordergrund und ließen die Herreach all diese Dinge ertragen. »Wir hörten, Kummerog sei tatsächlich gekommen?« forschte Tayloz Üpkek. »Ist das so?« »Der Riese Shimbaa hat die Pforte geöffnet, wie es vorhergesagt worden ist, und Kummerog ist gekommen.« Centoar Vilgor mußte leicht schmunzeln. Er vermochte sich das nicht vorzustellen. Es gab zahllose Religionen in der Galaxis, Götter, deren Zahl in die Tausende ging. Viele davon waren überirdische Gestalten, in transzendentalen Sphären be-53-
heimatet, unsichtbar und unfaßbar, aber dennoch Gegenstand von Kulturen. Was mochte in einem Wesen vorgehen, das seinen Gott, die jenseitige, gewaltige Lichtgestalt, plötzlich leibhaftig vor sich sah? Buchstäblich zum Greifen nahe ... »Und wo ist Kummerog jetzt?« »Er hat sich wieder zurückgezogen«, antwortete Presto Go mißtrauisch. »Das ist allein die Schuld der Freiatmer. Sie haben übereifrig und ohne es wirklich zu können, den Riesen Shimbaa herbeigerufen, vor der Zeit, die dafür bestimmt gewesen ist. Seither drückt das Unheil unser Volk und stürzt uns in tiefes Elend.« »Bist du dessen sicher?« wollte Tayloz Üpkek wissen. »Wir haben gehört, daß Kummerog von den Terranern weggeschafft worden ist. Vielleicht haben sie ihn getötet?« Presto Go sah ihn verweisend an und vollführte eine Geste mit der großen Nase, die typisch war für die Herreach. Sie zog sie nach oben; nach Vilgors Wissensstand drückte das Unmut aus. »Ein Gott kann nicht sterben«, belehrte sie den Blue, der den Tadel kommentarlos einsteckte. »Warum lassen die Terraner Kummerog nicht zu euch kommen?« hakte Tayloz Üpkek nach. Centoar Vilgor fand, daß der Blue in seinen Bemühungen übertrieb. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, einen Keil zwischen die Terraner und die Herreach zu treiben, aber bitte nicht auf diese reichlich plumpe und grobschlächtige Art. Dergleichen mußte fein gesponnen und äußerst behutsam in Szene gesetzt werden, aber dafür fehlte dem Blues-Gesandten wohl jegliches Fingerspitzengefühl. »Kummerog zieht, es vor, die Welt nicht zu besuchen, solange die Verhältnisse nicht geordnet sind. Die Freiatmer haben ihn vertrieben, sie allein tragen die Schuld ...« Centoar Vilgor lehnte sich zurück, während Tayloz Üpkek das Gespräch fortsetzte. -54-
Die Herreach untereinander zu entzweien und gegeneinander auszuspielen ergab in seinen Augen keinen Sinn. Damit war dem Forum Raglund kaum gedient. Diese Untersuchungskommission - so verstand sie sich selbst - konnte nur dann erfolgreich sein, wenn sie beweisen konnten, daß die LFT mit den Herreach übel umsprang, ihnen schadete und bei der großen Rettungsaktion vornehmlich sehr eigene Interessen vertrat. Der Keil gehörte zwischen Terra und Trokan, nicht zwischen Cleros und Freiatmer. Man mußte sich etwas anderes einfallen lassen. Etwas, das die galaktische Öffentlichkeit davon überzeugte, daß die Herreach am besten im Forum Raglund untergebracht waren. Eine souveräne Welt des Forums im Solsystem, in der Nahe Terras das war das Ziel der Aktion. Die Terraner würde es innerlich zerreißen, wenn sie das würden hinnehmen müssen - falls sie es überhaupt hinnehmen würden. Taten sie das nicht, setzten sie sich nur noch mehr ins Unrecht. Nur mit halbem Ohr folgte Centoar Vilgor der Unterhaltung. Er steigerte seine Aufmerksamkeit erst, als ein interessanter Punkt berührt wurde. »Die Freiatmer leugnen ihre Schuld«, stieß Presto Go hervor; sie geriet augenscheinlich in Zorn. »Sie denken vielmehr, daß erst die Terraner das Leid über die Welt gebracht haben.« »Und wie sollen sie das gemacht haben?« erkundigte sich Tayloz Üpkek scheinheilig. »Indem sie frevelnd in das Heiligtum eingedrungen sind«, behauptete Presto Go. »Mit jenem Tag, an dem drei Terraner den Pilzdom entweiht und Kummerog von dort vertrieben haben.« Drei Terraner - damit konnten nur Rhodan, Bull und Saedelaere gemeint sein. Nicht ganz das, was Centoar Vilgor erhofft hatte - die Zeiten, in denen die Terraner und Perry Rhodan nahezu Synonyme gewesen waren, gehörten der Ver-55-
gangenheit an. Perry Rhodan war nicht für Terra, Terra war nicht für Rhodan verantwortlich zu machen. Oder doch? Hatte Rhodan sich nicht eine Geheimwelt zugelegt, eine Art Untergrundorganisation begründet, Leute angeworben und sogar kampfkräftige Raumschiffe entwickelt, vor allem die jetzt schon berühmte GILGAMESCH? Wäre er Akone gewesen, wäre er dafür von allen offiziellen Behörden gejagt und vor Gericht gestellt worden. Auf Geheimbündelei stand bei den Akonen die Todesstrafe. Die Terraner mochten das anders handhaben. Aber es war schon zweifelhaft, ob sie überhaupt das Recht hatten, derart über Trokan hereinzubrechen. Wieviel weniger besaßen sie das Recht, ausgerechnet dem ominösen Rhodan den Zutritt zu gestatten? Und wie grausam hatte sich diese Fehlentscheidung an den Herreach gerächt... Das war vielleicht ein Ansatzpunkt. Centoar Vilgor dachte darüber nach. Bis jetzt war er mit dem Ausflug nach Trokan recht zufrieden. Das weitere Vorgehen allerdings mußte sorgsam geplant werden. Auf keinen Fall durfte sich Trokan dem Forum Raglund zu früh anschließen - dann nämlich wäre das Forum in der Pflicht gewesen, den Wiederaufbau zu organisieren und vor allem auch zu bezahlen. Angesichts der inneren Zustände im Forum war daran nicht zu denken. Es fehlte am Willen, es fehlte am Können, und vor allem fehlte es am Geld. Die LFT würde Milliarden Galax nach Trokan pumpen müssen, um auch nur annähernd erträgliche Verhältnisse dort möglich zu machen. Sollten sie nur. Erst wenn sie sich dabei fast ruiniert hatten, war der Zeitpunkt gekommen, ihnen Trokan abspenstig zu machen - dann würde es doppelt weh tun. Aber es war auch möglich, daß sich dann die LFT bei den Herreach bereits so beliebt gemacht hatte, daß diese gar nicht mehr daran dachten, die Seite zu wechseln. Dazu durfte es -56-
nicht kommen. Man würde sich etwas einfallen lassen müssen... »Wir danken dir«, beschloß Tayloz Üpkek, nicht ganz mit sich zufrieden, das Gespräch mit der Obersten Künderin des Kummerog. Wer, bei allen Sternengötzen, war dieser Kummerog? Ganz bestimmt kein Gott. Götter ließen sich nicht eine Hand abhacken oder -brennen. Götter brauchten nicht medizinisch versorgt zu werden. Und Götter stahlen sich auch nicht einfach davon. Kummerog war eine Fremdintelligenz, er entstammte keinem Volk der Milchstraße, das Centoar Vilgor bekannt gewesen wäre. Kummerog war direkt aus dem Pilzdom gekommen. War es sein Pilzdom? Hatte sein Volk den Dom gebaut? Den Bohrkopf geschickt, der die Verhältnisse auf Trokan so nachdrücklich verändert hatte - noch viel nachdrücklicher, als es jetzt gerade die Terraner versuchten? Ein ungeheures technisches Potential mußte hinter Kummerog stecken. Er konnte die Zeit manipulieren. Er konnte binnen weniger Jahrzehnte einen Planeten durch Hunderte von Jahrmillionen der Entwicklung jagen - vielleicht nicht er allein, doch jedenfalls die Macht, die er repräsentierte. Centoar Vilgor warf einen prüfenden Blick auf Tayloz Üpkek. Der Blue dachte so flach wie sein Kopf. Für weitreichende Spekulationen hatte er keinen Sinn, und manchmal übersah er das Nächstliegende. Blieb Trokan bei der LFT, dann würden die Terraner - Vilgor hatte daran nicht den geringsten Zweifel - früher oder später das Geheimnis des Pilzdomes lüften und sich mit Kummerogs Artgenossen treffen. Kam es zu einem Bündnis mit diesen, wurde die LFT unweigerlich zu der galaktischen Supermacht. Was hinderte sie dann noch daran, einen Bohrkopf ins Akonsystem zu schicken und dort ähnliche Prozesse in Gang zu bringen, mit weitaus verheerenderen Folgen für Drorah und seine Be-57-
völkerung? Nein, dazu durfte es nicht kommen. Und ebenso selbstverständlich war, daß die KummerogMacht kein Verbündeter des Forums werden durfte. Dieses ungeheure Potential in den Händen solcher Narren, wie Tayloz Üpkek einer war? Das Forum war in sich selbst viel zu zerstritten und uneins, um in der galaktischen Politik eine wirklich wichtige Rolle zu spielen. Centoar Vilgor war da frei von Illusionen. Nein, es gab nur einen einzigen Machtfaktor in der Galaxis, der die Reife, die Kultur, das Wissen und die technische Kapazität hatte, sich mit Kummerogs Leuten zu verbünden Akon. (Natürlich nicht das offizielle Akon, wohl aber das wirkliche, als dessen Vertreter sich Centoar Vilgor betrachtete.) Man würde sehen ... Die Delegation trat wieder ins Freie. Es war kalt, ein schneidender Wind fuhr über die Ebene. Centoar Vilgor konnte Jeromy Argent beobachten, der eifrig auf einen jungen Herreach einredete. Dieser machte zustimmende Gesten und schien auch zu verstehen, was man ihm sagte. Dumm waren die Herreach nicht. Ein bißchen langsam im Denken und Begreifen vielleicht, aber wenn sie etwas verstanden hatten, dann für immer. War es möglich, daß die Herreach noch gar nicht jenen Zustand erreicht hatten, der das Ziel der Bohrkopf-Entsender gewesen war? Daß der so ungeheuer beschleunigte Entwicklungsprozeß auf Trokan durch einen Zufall, einen Unfall oder eben durch das Eingreifen der Terraner zu einem vorzeitigen Ende gebracht worden war? In dem Zeitbeschleunigungsfeld, das Trokan jahrzehntelang eingehüllt hatte, hätten sie wahrscheinlich nur noch ein oder zwei Jahre gebraucht, um den Terranern Paroli bieten zu können. Centoar Vilgor zog scharf die Luft ein. Wer erlaubte sich diese Eingriffe unmittelbar vor der Haustür der Terraner? Hatten die Bohrkopf-Entsender keine Ahnung von -58-
Terra und der LFT gehabt? War es ein simpler Zufall, daß die Herreach auf Trokan entstanden waren? Oder steckte ein Plan dahinter? Es war kein Plan, der den Terranern gefallen konnte, keine Aktion einer befreundeten Macht. Centoar Vilgor lächelte breit. Ein Plan wie dieser war von geradezu akonischem Zuschnitt, wurde ihm bewußt. Er wäre stolz gewesen, wäre ihm solch ein raffiniertes, durchtriebenes Vorhaben eingefallen - und hätte Akon die Mittel gehabt, es umzusetzen. Nein, für Centoar Vilgor gab es nicht den geringsten Zweifel mehr. Die Herreach waren harmlos und ungefährlich, man konnte sie vergessen. Viel wichtiger war die Macht, die all das in Gang gesetzt hatte - eine Terra offenkundig feindlich gesonnene Macht, folglich ein natürlicher Verbündeter für Akon, gegen die LFT. Auf dieses Ziel galt es hinzuarbeiten. Nur einen Augenblick lang überfielen den Akonen Zweifel. Wer konnte mit Sicherheit vorhersagen, ob diese Kummerog-Macht, wenn sie sich endlich in ganzer Größe zeigte, überhaupt eines Verbündeten bedurfte? Und falls ja, ob Akon in den Augen der Kummerog-Leute überhaupt als Verbündeter in Frage kam und sich nicht vielmehr in die Schar der Opfer der Kummerog-Leute einzureihen hatte? Centoar Vilgors Gedanken wurden unterbrochen, als er registrierte, wie der Herreach, auf den Argent eingeredet hatte, vor seinen Augen in einen Shift einstieg und den Schwebepanzer startete. Ein Herreach mit technischem Verständnis? Das war neu. Centoar Vilgor schob sich eilends an Jeromy Argent heran. »Ein Herreach, der einen Shift fliegen kann?« fragte er halblaut. »Habe ich das richtig gesehen?« Jeromy Argent nickte, sichtlich zufrieden. »Sie nennen sich Neue Realisten«, verkündete er. »Eine -59-
Gruppe fortschrittlicher und weltoffener Herreach. So etwas hat es bisher nicht gegeben. Sie haben dem alten Mysterienkult abgeschworen, sowohl dem Cleros als auch den Freiatmern. Sie wollen die Welt so sehen, wie sie wirklich ist, offen und ohne Vorurteile. Und sie sind sehr lernbegierig, vor allem, wenn es darum geht, unsere technischen Geräte zu bedienen, mit denen wir die Lebensbedingungen auf Trokan verbessern wollen. Ein hoffnungsvoller Anfang.« Centoar Vilgor lächelte süßsauer. »Dann habt ihr ja bald eine funktionstüchtige Hilfstruppe zu eurer Verfügung«, kommentierte er. Eine üble Überraschung, fand er. Jeromy Argent lachte halblaut. »Hilfstruppe ist wohl der falsche Ausdruck«, sagte er stolz. »Sie lernen Gleiter und Shifts zu bedienen, wie man Robotern Anweisungen gibt und vieles mehr. Aber sie weigern sich strikt, irgendeine Form von Waffe in die Hand zu nehmen. Ein sympathisches Volk, findest du nicht?« Centoar Vilgor nickte zustimmend. »Durchaus«, sagte er lächelnd. In seinen Augen war es immer von Vorteil, wenn das jeweilige Gegenüber unbewaffnet war ...
7. »Näher heran!« bestimmte ich. Die RICO beschleunigte und raste auf einen Pulk Igelschiffe zu. Es waren rund zweitausend Einheiten, die sich dort versammelt hatten. In ihrer Mitte war einer der Ellipsoid-Raumer zu orten. Vor zwei Stunden war der 5-D-Indifferenz-Kompensator an Bord gekommen. Angesichts der Wunderdinge, die wir von dem Gerät erhofften, war der Anblick eher enttäuschend. -60-
Was Myles Kantor uns per Transmitter geliefert hatte, war ein Gerät von erstaunlicher Schlichtheit. Ein metallener Kasten mit den Maßen achtzig zu sechzig zu dreißig Zentimetern. Er wog insgesamt nur 25 Kilogramm und konnte von einem Mann oder einer Frau transportiert werden. Von seiner Funktion war nichts zu sehen, erkennen konnte man nur die Anschlüsse. Sie mußten mit dem Syntronik-Verbund gekoppelt werden, wie er an Bord galaktischer Schiffe üblich war. Das war alles. In diesem Fall kam es wieder einmal nicht auf die Hardware an, sondern auf die Software. Wichtig waren die Daten, die Myles Kantor mitgeliefert hatte, das Rechenprogramm zur Ermittlung des Stotter-Algorithmus. Genauer gesagt, hatte Kantor - gepriesen sei sein Genie - diesen Algorithmus längst gefunden. Er hatte auch ermitteln können, daß es davon - bis jetzt - nur so viele Grundmuster gab, wie die Tolkander Schiffstypen vorgeführt hatten. Für jeden Typus gab es, wahrscheinlich abgestimmt auf die technische Leistungsfähigkeit des Modells, einen eigenen, charakteristischen Algorithmus. Alle bekannten Muster waren bereits im 5-D-Indifferenz-Kompensator gespeichert. »Sie greifen an!« Gerines Stimme klang ruhig und gelassen. Wir brauchten vor den Tolkander-Schiffen keine Angst zu haben. Auch wenn wir sie nicht trafen, so schnell konnten sie uns nicht gefährlich werden. Mit einer Ausnahme: Das waren die 450-Meter-Schiffe der Neezer. Gegen deren Tangle-Scan, der es unmöglich machte, einen klaren Gedanken zu fassen und in Handlung umzusetzen, war kein Kraut gewachsen. Wurden wir davon getroffen, konnte uns nur noch eine schnelle Syntronik helfen, die uns aus der Kampflinie brachte. »Dann sollen sie uns jagen ... Nur zu, strengt euch an, Stachelbäuche! Je mehr ihr uns jagt, um so eher werden wir den Spieß umdrehen können!« Das war der Kommentar von Sassaron. -61-
Die RICO hatte, wie alle GILGAMESCH-Segmente, alles an Beibooten ausgesetzt, was fliegen konnte, auch die Vesta-Kreuzer waren unterwegs und flogen riskante Einsätze. In gewisser Weise war es wie beim klassischen Stierkampf. Der Stier hatte gegen den Menschen keine Chance, nur die, die der Torero ihm freiwillig einräumte. Und die Kunst - falls man diese unappetitliche Metzelei als solche bezeichnen wollte bestand eben darin, dem Stier tatsächlich eine echte Chance zu geben, seinen Gegner aufzuspießen oder niederzutrampeln. Während wir flohen und die Igelschiffe uns jagten, war der 5-D-Indifferenz-Kompensator an der Arbeit. Sevia an der Ortung hatte ein Igelschiff angepeilt und behielt es gleichsam im Fadenkreuz. Die Daten der Ortung, natürlich verzerrt durch den 5-D-Vektor-Shredder, wurden an den 5-D-IndifferenzKompensator weitergeleitet. Dessen Aufgabe war nun vergleichsweise einfach - er nahm den schiffstypischen Algorithmus zur Hand und fraß sich an der endlos langen Folge von Zufallszahlen entlang. Dabei suchte er unablässig nach Übereinstimmung. War unsere Syntronik schneller als der Rechner des Igelschiffes - und unsere Syntronik war schneller als der Igel-Bordrechner, vor allem dank des Kontracomputers, der zeitgleich mitlief -, dann war früher oder später der Punkt erreicht, an dem der Igelrechner und unsere Syntronik parallel die gleichen Zahlenfolgen ausspuckten. Und dann hatten wir brauchbare Zielunterlagen. So einfach war das in der Theorie. In der Praxis war diese Technik nur möglich dank der überlichtschnell arbeitenden Syntroniken. Bei der Entwicklung der Syntroniken hatten viele Skeptiker bezweifelt, daß ein solcher Rechenaufwand überhaupt sinnvoll war. Positroniken sollten doch eigentlich völlig ausreichen. Aber bei Aufgabenstellungen aus dem Bereich der Kombinatorik - beispielsweise dem Berechnen aller möglichen Züge im Schach bis zum vierzigsten Zug - und dem Problem, mit -62-
dem wir uns herumschlugen, zeigte sich, daß Syntroniken sehr wohl sinnvoll waren. In diesen Fällen nämlich schossen die Zahl der nötigen Rechenoperationen in Bereiche hoch, die man nicht einmal mehr als astronomisch bezeichnen konnte, weil es in der Astronomie so große Zahlen gar nicht gab. Hochleistungssyntroniken erreichten Werte von zehn hoch einhundertdreißig Flops, und selbst dann mußte man mitunter auf die Ergebnisse noch warten. Wie in diesem Fall ... »Deckung!« schrie Sevia, die Ortung und 5-D-IndifferenzKompensator gleichzeitig überwachte. »Gebt einen Feuerschlag ab!« rief ich schnell. »Ich will sehen, ob es stimmt. Nur Impulsfeuer!« Einen Sekundenbruchteil später erzielte die RICO einen präzisen Treffer, mitten im Ziel. Es sah aus, als habe sich der Igelschiff- Kommandant erschrocken, so schnell drehte er ab. »Eine Minute!« gab Sevia bekannt. »Viel zu lang«, bemerkte ich grimmig. So toll der 5-D-Indifferenz-Kompensator - zehn Flaschen Archers Tears für den, der einen brauchbaren Kurzbegriff dafür erfindet, und sei es ein so blödes Wort wie Indikom - auch funktionierte, die Lösung unserer Probleme war er nicht. Das Gerät verlangte, daß sich die Ortung auf ein einzelnes Schiff konzentrierte und es unablässig überwachte; alle anderen Gegner konnten nicht berücksichtigt werden. Minutenlang hinter ein und demselben Gegner herzujagen, war aber eine Kampftaktik, für die man in der alten Galaktonautischen Akademie von Iprasa Prügel bezogen hätte - viel zu riskant, weil man dabei Gefahr lief, von den Kollegen des Gejagten unter Feuer genommen zu werden. »Neuer Anlauf!« bestimmte ich. Die RICO verlangsamte ihre Flucht, beschleunigte in die Gegenrichtung und jagte den Igelschiffen wieder entgegen. Auf ein neues ... Myles Kantor hatte mir verraten, warum das nötig war. -63-
Auch die Arbeit des 5-D-Indifferenz-Kompensators wurde selbstverständlich von einem komplexen Algorithmus gelenkt. Myles Kantor hatte die Software so konstruiert, daß sie selbstlernend war. Bei jedem Anlauf versuchte der Kompensator nicht nur, den Randomizer des Gegners zu erfassen, sondern gleichzeitig seine eigene Vorgehensweise zu optimieren. Auch dafür war selbstverständlich eine kaum mehr vorstellbare Rechenleistung vonnöten. Verständlich daher, daß die Verbesserungen des Kompensators sich nur zeitlupenhaft und tröpfchenweise einstellen wollten. Sevia hatte sich ein neues Ziel gesucht. Theoretisch hätten wir natürlich auch unser altes Ziel weiterverfolgen können. Aber wozu? Dieses Problem war geknackt. Bedauerlich war, daß die Syntronik beim besten Willen nicht imstande war, all diese Daten komplett zu speichern. Selbst wenn das Gerät optimal funktionierte, blieb es dabei: immer nur ein Gegner zur gleichen Zeit. Sobald das Ziel gewechselt wurde, lief das Programm von vorne an, und wenn man zum ersten Angreifer zurückkehrte, galt das ebenfalls. »Abhauen!« schrie ich. Gerine reagierte sofort und drehte ab. Ich hatte es an einem feinen Ziehen im Hinterkopf bemerkt. Aus großer Entfernung versuchte uns ein Raumer der Neezer mit dem Tangle-Scan zu erwischen. Gerade noch rechtzeitig drehte die RICO ab. »Deckung!« Sevia machte ihre Arbeit hervorragend. Nicht einen Augenblick lang ließ sie sich ablenken, mochte geschehen, was wollte. Eine Frau mit Mut, Intelligenz und Charakter. Es gab viele solcher Männer und Frauen, auch in den Schiffen der LFT, und ich mußte daran denken, daß sie alle vielleicht schon in kurzer Zeit in erbarmungslose Raumschlachten verwickelt sein konnten. Wie viele dieser prachtvollen Menschen würden dann sterben müssen ... -64-
Es werden auch weniger prachtvolle Menschen sterben müssen, und auch um die ist es schade, kommentierte der Extrasinn überflüssigerweise. Natürlich hatte er, wie fast immer, recht. Wenig später bekam die RICO den ersten Treffer ab, der die Schutzschirme aber nur geringfügig belastete. Es blieb dabei: Die Tolkander-Völker, die wir bisher erlebt hatten, waren uns technisch nicht gewachsen, vorausgesetzt, wir konnten unsere Technik auch einsetzen. »Deckung! « Wieder hatte der 5-D-Indifferenz-Kompensator ein Igelschiff erfaßt und dessen Stotterantrieb durchkalkuliert. »Wie lange hat es gedauert?« wollte ich wissen. »Achtundfünfzig Sekunden«, lautete die Antwort. Ich konnte meine Enttäuschung kaum verbergen. Wie lange mochte es unter diesen Umständen noch dauern, bis wir bei Werten angelangt waren, mit denen sich etwas anfangen ließ? Myles Kantor hatte von zehn bis zwanzig Sekunden gesprochen, und selbst diese Zeitspanne erschien mir sehr hoch. Normalerweise geschah die Ortung und deren syntronische Auswertung so schnell, daß man es als Lebewesen nicht nachvollziehen konnte. Unter diesen Umständen bedeuteten zehn Sekunden eine mittlere Ewigkeit. Und das für nur ein einziges Gegnerschiff... Für diese Aufgabe wurde der Syntronikverbund der RICO bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit beansprucht. Für jedes weitere Ziel hätte man den gleichen technischen Aufwand treiben müssen. Die RICO und die anderen Einheiten setzten die Testreihen fort. Es war eine anstrengende, ermüdende Arbeit, zudem nicht ungefährlich. Immerhin verfügten die Tolkander über eine Waffe, mit der sie uns ernsthaft zusetzen konnten. Wir bekamen es beim achten Anlauf zu spüren, als wir unversehens ins Kreuzfeuer von sechs Tolkander-Raumern ge-65-
rieten. Sie setzten jene Waffe ein, die auf unserer Seite den anschaulichen Namen »Rostfraß« bekommen hatte. Es handelte sich um auffallend dünne, rostfarbene Energiebündel, die das Zielobjekt einhüllten und in einer Art Kettenreaktion verbrannten - die genauen Einzelheiten waren uns leider noch nicht bekannt. Unsere Paratronschirme wurden auch mit dieser Waffe fertig, aber wenn mehrere Tolkanderschiffe ein Objekt unter konzentriertes Feuer nahmen, dann konnten sogar Paratronschirme binnen weniger Sekunden geknackt werden. »Belastung achtundvierzig Prozent«, verriet Sevia mit ruhiger Stimme. Gleichzeitig kam uns Sassaron mit einem der Beiboote zu Hilfe und vertrieb die Tolkanderschiffe mit breit gestreuten Salven aus den Transformkanonen. Ein ganzes Bündel von Transformgeschossen, dem Gegner in die voraussichtliche Bahn gelegt - diese Taktik reichte in vielen Fällen aus, einen Abschuß zu erzielen. Auch der Stotterantrieb half dann nicht mehr viel, wenn das Igelschiff in eine regelrechte Energiewand hineinraste. Unsere Schiffe drehten ab und zogen sich zurück. Während der ganzen Aktion wurden die gesammelten Daten unablässig ausgetauscht . jeder Fortschritt in der Programmierung des 5-D-Indifferenz-Kompensators wurde unverzüglich auch allen anderen zugänglich gemacht. Es sollte mit dem Teufel zugehen, wenn es uns nicht gelang - früher oder später - das Gerät zu optimieren. Ich wußte ganz genau, was davon abhing. Über einhunderttausend feindliche Einheiten waren im Sektor 47 Tucani aufmarschiert, und Sevias Ortung wies nach, daß sich deren Zahl fortwährend vergrößerte. Der Milchstraße stand eine Großinvasion bevor, die in jedem Augenblick beginnen konnte. Es war eine Frage von Stunden ... -66-
»Noch einmal«, bestimmte ich, und wir unternahmen einen neuen Anlauf. Eines unserer Beiboote geriet in schweres Kreuzfeuer, wurde angeschlagen und mußte sich schleunigst zurückziehen. Daß wir den Tolkandern in vielerlei Beziehung überlegen waren, hieß nicht, daß sie keine Gefahr mehr für unsere Schiffe darstellten. Gegen den elenden Tangle-Scan waren wir machtlos, und bei den Schiffen der Gazkar konnte uns allein deren gewaltige Überzahl gefährlich werden. »Zweiundfünfzig ...« Es zog sich in die Länge und wurde mehr und mehr zu einer seelischen Quälerei. In mir wie in jedem Beteiligten wuchs die Angst, daß wir unser Ziel knapp verfehlen konnten. »Atlan!« Sevias Stimme klang immer noch ruhig, aber dieses Mal war ein Unterton von Besorgnis zu hören. Sie spielte mir ihre Daten auf den Bildschirm. Ich brauchte nicht lange, um zu erkennen, was sie aufgefaßt hatte. Die einhunderttausend Einheiten der Tolkander waren im ganzen Gebiet von 47 Tucani verstreut, eine Ordnung oder Struktur waren bisher nicht zu erkennen gewesen. Jetzt aber sah es so aus, als würden sich in diesem Gewimmel von Schiffen Flotten bilden. Die Ortungsdaten waren eindeutig und ließen keinen Zweifel zu. »Es werden wohl sechs Flotten werden«, sagte Sevia leise. »Jede rund zweitausend Einheiten stark. Überwiegend 600-Meter- Raumer der Gazkar, aber es sind jeweils auch etliche Neezer-Schiffe dabei. Sie sammeln sich.« Ich wußte, was das hieß. Bei den Tolkandern begannen die Vorbereitungen für den Sturmlauf auf die Milchstraße. Sechs Flotten von je zweitausend Einheiten, das war eine fürchterliche Bedrohung für die Welten des Galaktikums - und stellte doch nicht mehr dar als ein Sechstel der Gesamtmacht der Tolkander. -67-
»Sind Ziele erkennbar?« fragte ich zurück. »Ist in Arbeit«, antwortete Sevia. »Wir versuchen, die Kursvektoren zu ermitteln und hochzurechnen.« »Wie lange wird das dauern?« Sevia zuckte mit den Achseln. »Eine Viertelstunde vielleicht.« Es war ein Wettlauf, unerbittlich, ausdauernd und mit tödlichen Konsequenzen. Wer würde schneller am Ziel sein - die Tolkander oder wir? Davon würde höchstwahrscheinlich das Schicksal der Galaxis abhängen, vor allem das der humanoiden Völker. Denn eines schien schon jetzt festzustehen: Das Zielgebiet der TolkanderAggression war die Westside der Galaxis. Unser Lebensbereich...
8. Tayloz Üpkeks Mienenspiel verriet, daß der Gataser unzufrieden war. Er hatte allen Grund dazu. Die Mission des Forums Raglund verlief nicht so, wie Üpkek sich das vorgestellt hatte. Das erste Ärgernis war, daß man den Terranern selbst beim bösesten Willen nicht unterstellen konnte, die Herreach zu mißhandeln, zu unterdrücken oder sie gar vereinnahmen zu wollen. Dafür hatten sich nicht die geringsten Beweise finden lassen. Im Gegenteil: Es war offenkundig, daß die LFT äußerst bemüht war, den Herreach in dieser schwierigen Phase zu helfen. Sowohl Tayloz Üpkek als auch Centoar Vilgor konnten sich keine andere galaktische Macht vorstellen, die einen derartigen Aufwand getrieben hätte, um einem Nachbarvolk beizustehen. -68-
»Wir werden entschieden mehr Zeit brauchen«, stellte Tayloz Üpkek fest. »Sehr viel mehr Zeit.« Centoar Vilgor nickte beifällig. »In diesem Fall wäre es wohl ratsam, wenn wir erstens unseren Aufenthalt auf Trokan verlängern und zweitens so etwas wie einen Stützpunkt einrichten, eine dauerhafte Unterkunft für uns.« Der Blue fixierte ihn. »Eine gute Idee«, gab er zu. »Ich werde sogleich eine Botschaft nach Gatas schicken, daß man uns von dort ausrüstet. Später kann dieses Gebäude ja dann zur offiziellen Botschaft des Forums Raglund auf Trokan ausgebaut werden.« Centoar Vilgor lächelte. Er war allein mit dem Blue. »Eine vorzügliche Idee«, schmeichelte er dem Gataser. »Es wird auch die Terraner in Entzücken versetzen.« Tayloz Üpkek erwiderte das Lächeln. Zwischen den beiden Gesandten herrschte Einvernehmen, eine schweigende Übereinstimmung auf den Gebieten von Tücke, Hinterlist und Intrige. Daß sich der Akone bei diesem Ränkespiel nicht in den Vordergrund drängte und die Stellung Üpkeks als Leiter und Kopf der Gesandtschaft nicht in Frage stellte, gefiel dem Blue besonders gut. »So werden wir es machen«, sagte Tayloz Üpkek. »Es wird Zeit kosten, den Herreach klarzumachen, worum es auf Trokan wirklich geht. Dieses Volk ist ungewöhnlich stur und halsstarrig.« Die letzten Unterredungen mit Presto Go und einem Repräsentanten der Freiatmer waren nicht besonders Erfolg versprechend ausgefallen. Es war Tayloz Üpkek immerhin gelungen, in Presto Go ein gewisses Mißtrauen gegenüber den Terranern aufzubauen - nicht offen, sondern sehr diskret und raffiniert. Aber das eigentliche Ziel seiner Mission hatte er dabei nicht erreicht : den Herreach bewußtzumachen, daß sie von den -69-
Terranern letztlich nur Diskriminierung und Unterdrückung zu erwarten hatten. Diese Einstellung aber war die Voraussetzung für den nächsten Schritt - nämlich die Eingliederung Trokans und der Herreach in das Forum Raglund. »Sie sind einfach noch nicht weit genug, ihre wirklichen Freunde zu erkennen«, murmelte Tayloz Üpkek verdrossen. »Und außerdem viel zu verstört, um daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen und zu handeln.« Mit dieser Interpretation lag er richtig, schätzte Centoar Vilgor. Das eigentliche Hindernis allerdings war der Umstand, daß es auf Trokan niemals ein geordnetes Staatssystem gegeben hatte, mit einer ordentlichen Verwaltung, einer wirklichen Exekutive und vor allem einer etablierten Hierarchie. Die Herreach hatten keine Herrscher gekannt und waren auch jetzt nicht daran interessiert, welche zu bekommen. Zwar gab es den sogenannten Cleros, die Gemeinschaft der KummerogPrediger und -Verkünder, und der Cleros hatte in Presto Go sogar etwas wie ein Oberhaupt. Aber wenn ein Herreach mit Presto Go nicht übereinstimmte, dann tat er eben einfach, was er wollte, und wurde dafür von niemandem zur Rechenschaft gezogen. Und Presto Go, soviel war klar geworden, hatte keinerlei Interesse daran, ein Herrschaftssystem unter ihrer Leitung aufzubauen. Sie war an spirituellen Erkenntnissen über Kummerog interessiert, nicht an Machtausübung. Bei den sogenannten Freiatmern sah es nicht viel besser aus. In Centoar Vilgors Augen handelte es sich bei dieser Gruppierung um einen Haufen von Chaoten, mit einem wirren, unverständlichen Weltbild, das in der Praxis zu nichts taugte. Ihr Anführer, Gen Triokod, ein besonders hochgewachsener Herreach, hatte auf Vilgor den Eindruck eines Wichtigtuers gemacht, mit dem sich nicht arbeiten ließ. Zwar war Triokod zu -70-
der ›Erkenntnis‹ gekommen, daß letzten Endes Perry Rhodan Schuld trug an den Zuständen auf Trokan, indem er den Pilzdom widerrechtlich betreten hatte, aber Triokods Argumentation war so krude und verworren gewesen, daß man ihn unmöglich als Zeugen präsentieren konnte. In der galaktischen Öffentlichkeit hätte er nur lächerlich gewirkt. Die Freiatmer waren zudem noch weniger straff organisiert als der Cleros; sich mit dieser Gruppierung der Herreach zu verbünden, wäre dem Versuch gleichgekommen, sich mit einem Bienenschwarm anzufreunden. Blieb als dritte Gruppe die Neuen Herrachischen Realisten. Ihr Anführer war ein gewisser Vej Ikorad, der auf Centoar Vilgor einen intelligenten und besonnenen Eindruck gemacht hatte. Bedauerlicherweise aber war Ikorad eingeschworen auf die Überzeugung, daß nur eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Terranern und der LFT den Herreach eine Chance bot, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Die Neuen Realisten zeigten in Ansätzen genau das, was das Forum Raglund brauchen konnte: Realitätssinn, Lernbegierde, sogar Ansätze von Hierarchie und Organisation, aber leider zielte all das in die falsche Richtung. Tayloz Üpkek war zu den gleichen Erkenntnissen gekommen wie der Akone, das erklärte hinreichend seinen Mißmut. »Es muß etwas passieren«, murmelte der Blue grimmig und marschierte überlegend im Raum auf und ab. Ihre Nächte verbrachte die Delegation im Inneren der AZTAKT; dort war es wenigstens warm und trocken, und die Atemluft war staubfrei und sauerstoffreich. Üpkek blieb stehen und fixierte den Akonen. »Was hältst du von den sogenannten Neuen Realisten?« wollte er wissen. Es gehörte nicht viel Scharfsinn dazu, hinter der Frage eine Art Falle zu erkennen. Tayloz Üpkek hatte einen Plan geschmiedet, vermutlich einen Plan, der sehr unsaubere Mittel -71-
durchaus einschloß. Die Frage stellte er vor allem deswegen, weil er sich der Mittäterschaft des Akonen versichern wollte. »Grundsätzlich könnten sie unsere besten Verbündeten sein«, dachte Centoar Vilgor laut nach. »Realisten sind genau die Leute, die wir brauchen. Nur hat dieser Ikorad seine Leute leider von einer falschen Realität überzeugt. Mit dieser Auffassung der Wirklichkeit werden die Neuen Realisten uns wahrscheinlich sogar noch mehr im Wege stehen als alle anderen Bevölkerungsteile.« Tayloz Üpkek nickte vorsichtig, »Ikorad ist sehr lästig«, sinnierte er. »Äußerst unbequem. Es wäre viel leichter für uns, wenn es ihn nicht gäbe.« Centoar Vilgor lächelte sanft vor sich hin. »Das sollte doch wohl zu erreichen sein«, sagte er leise. »Für eine große Sache müssen eben Opfer gebracht werden. Im übrigen: Wenn Terra Trokan in die Hand bekommt, werden sehr viel mehr Herreach zu Schaden kommen als lediglich ein oder zwei sturköpfige Spinner, die dem Wohl ihres eigenen Volkes im Wege stehen.« »So sehe ich es auch«, stimmte Tayloz Üpkek zu. Wieder herrschte schweigendes Einverständnis zwischen den beiden Diplomaten; sie wußten, daß sie einander vertrauen konnten. Und daß sie einander durchaus wert waren. Vor Centoar Vilgor lag auf dem Tisch jene Pflanze, die der Sturm herausgerissen hatte. Nachdenklich starrte der Akone darauf. »Hmmm!« machte er. »Dir ist etwas eingefallen?« Centoar Vilgor lächelte wieder, betont harmlos und freundlich, wie er es immer tat, wenn ihm eine besonders durchtriebene Schurkerei eingefallen war. »Die Terraner haben einen sehr alten Mythos«, sagte er nachdenklich. »Die Rede ist darin von einem Danaergeschenk.« »Und was soll das sein?« hakte der Gataser nach. -72-
»Es ist etwas, das kostbar und verlockend aussieht, sich aber letzten Endes gegen die Beschenkten auswirkt. Fürchte die Danaer, vor allem, wenn sie Geschenke bringen, ist eine uralte terranische Redensart.« Nun richtete sich auch das vordere Augenpaar des Blue auf die Pflanze. Langsam wiegte er den Tellerschädel. »Unser Freund und Bruder Hasdyn Flech«, murmelte er und starrte die Pflanze an, »ist er nicht Genetiker und Klon-Spezialist?« »Eine Kapazität in seinem Fach«, stimmte Centoar Vilgor zu. »Dann müßte es ihm doch möglich sein, eine Pflanze zu züchten, die diesem Exemplar sehr ähnlich sieht - nur daß sie ganz andere Früchte hervorbringt. Vielleicht Früchte, die Ikorad und seinesgleichen die Welt in einem anderen Licht erblicken lassen.« »Ich bin sicher, daß Flech dazu in der Lage ist«, erklärte Centoar Vilgor freundlich. »Hast du schon konkrete Vorstellungen, um welche Früchte es sich handeln soll?« »Bis jetzt nicht«, gestand Tayloz Üpkek. »Vielleicht fällt dir etwas ein?« Centoar Vilgor dachte nach und nickte langsam. »Ich müßte dazu für kurze Zeit ins Humanidrom zurückkehren«, sagte er dann. »Per Transmitter müßte sich das schnell und problemlos erledigen lassen. Habe ich deine Erlaubnis dazu?« »Gesuch gewährt«, antwortete der Blue förmlich. »Melde dich bei mir, wenn du etwas erreicht hast. Ich werde unterdessen dafür sorgen, daß wir hier in Moond eine ordentliche Gesandtschaft des Forums aufbauen können.« Tayloz Üpkek zog sich zurück und überließ Centoar Vilgor dessen Gedankengängen. Ein Danaergeschenk für Trokan - die Idee hatte etwas für sich... Der Diplomat von Akon zögerte nicht, sich an die Arbeit zu machen. Er benutzte den Bordtransmitter der AZTAKT und ließ -73-
sich ins Humanidrom versetzen. Dort suchte er eilig sein Privatquartier auf. Zügig machte er sich an die Arbeit. Er erinnerte sich daran, vor langer Zeit einmal etwas erfahren zu haben von einer gewissen Pflanze, die seinen Plänen zustatten kommen konnte. Er befragte die Syntronik danach, sehr vorsichtig, denn Anfragen dieser Art, wurden registriert; um ganz sicherzugehen, ließ Vilgor eine Datenleitung nach Akon durchschalten und suchte seine Informationen in den dortigen Syntroniken. Schon nach kurzer Zeit hatte er gefunden, was ihn interessierte. Duftsumach wurde das Gewächs genannt. Er sah dem Getreide, das die Terraner auf Trokan anbauen wollten, nicht sehr ähnlich, aber dieses Problem war wohl für einen Ara von Hasdyn Flechs Format leicht zu lösen. Die Pflanze hatte ihren Namen, weil sie zur Blütezeit einen Duft verströmte, der ausgesprochen angenehm zu schnuppern war - und blitzartig zu einer tödlichen Vergiftung führte. In der Frühzeit Akons, vor mehr als zwanzigtausend Jahren, war Duftsumach bei der einen oder anderen politischen Intrige eingesetzt worden, um mißliebige Konkurrenten auszuschalten. Vor allem bei älteren Humanoiden wirkte das Mittel unfehlbar; bei der Autopsie mußte schon extrem sorgfältig gearbeitet werden, um die Vergiftung zu entdecken und nicht an eine normale Herzattacke zu denken. »Sehr gut«, murmelte Centoar Vilgor und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Ein einziges Beet des modifizierten Duftsumachs in der Nähe der wichtigsten Siedlung der Neuen Realisten würde nach kurzer Zeit das Problem lösen. Wachstumsbeschleuniger würde nötig sein, aber auch derlei Präparate gab es in den Magazinen der Aras zur Genüge. Die Neuen Realisten arbeiteten von allen Herreach am engsten mit den Terranern zusammen. Kam der Duftsumach zum -74-
Einsatz, würden wahrscheinlich auch zahlreiche Terraner des Hilfskorps zugrunde gehen. Das war bedauerlich, nicht wegen der Toten, die Centoar Vilgor mit einkalkulierte. Terranische Opfer würden es schwerer machen, der LFT die Schuld an diesem tödlichen Unfall zu geben. Nun, man würde sehen. Es war alles eine Frage der Zeit. Centoar Vilgor wußte genau, was zu tun war. Er mußte dafür sorgen, daß auf Akon eine Genprobe des Duftsumachs hergestellt wurde. Dieses Erbmaterial konnte er sich dann per Transmitter ins Humanidrom schicken lassen, natürlich in neutraler, unverfänglicher Verpackung. Anschließend konnte er per Transmitter wieder an Bord der AZTAKT zurückkehren und das Material dem Ara übergeben, damit der sich an die Arbeit machen konnte. »So wird es gemacht!« stieß Centoar Vilgor hervor und gab die Bestellung nach Drorah auf. Jetzt brauchte er nur noch zu warten. Er suchte seine Schlafkabine auf, streckte sich auf dem Bett aus und war nach wenigen Augenblicken eingeschlafen. Tief und traumlos schlief er den Schlaf des angeblich Gerechten, bis das Summen des Interkoms ihn jäh emporschreckte. Ein Blick auf die Uhr. Nein, die Sendung von Akon konnte noch nicht angekommen sein. »Centoar Vil...« Er kam gar nicht mehr dazu, seinen Namen auszusprechen. Ein Anti mit kalkweißem Gesicht starrte ihn vom Bildschirm her an. »Wir werden angegriffen!« schrie der Mann. »Die Nachricht ist eben gekommen. Tausende von Schiffen fliegen das System an, sie werden uns alle umbringen.« »Nur mit der Ruhe!« herrschte Centoar Vilgor den Anti an. »Wer behauptet das?« -75-
»Alle«, stieß der Anti hervor. »Alle. Cistolo Khan hat Großalarm für die LFT ausgelöst, auch das Kristallimperium ist in Alarmbereitschaft.« Centoar Vilgor murmelte eine Verwünschung. Diese Entwicklung der Dinge paßte ihm ganz und gar nicht in sein Konzept. Daß es früher oder später zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen würde, hatte er erwartet, aber nicht, daß es so früh geschehen würde und daß er selbst unmittelbar davon betroffen sein sollte. Er mußte sich etwas einfallen lassen, und das sehr schnell. »Sind alle Besucher des Humanidroms verständigt?« fragte er. Der Anti nickte heftig. »Gut, dann wird ja wohl etwas unternommen werden, um das Humanidrom, Lokvorth und das gesamte Scarfaruu-System zu verteidigen. Einstweilen besteht kein Grund zu Panik.« Der Anti stierte ihn verzweifelt an. Die Haut des Báalol war aschgrau geworden, die Augen lagen tief in den Höhlen, auf der Stirn perlte dicker Schweiß. Der Mann war in Panik, diagnostizierte Centoar Vilgor, und wahrscheinlich würde es anderen im Humanidrom gleich ergehen. Er selbst war, wie er amüsiert feststellte, ausgesprochen ruhig. Vilgor wußte, daß er noch Zeit hatte, die Frage war nur, wieviel. Er wollte das Genmaterial unbedingt haben, also mußte er abwarten und ausharren, bis Akon lieferte. Erst dann konnte er daran denken, sich abzusetzen und in Sicherheit zu bringen. Der Akone trennte die Verbindung und schaltete auf allgemeine Nachrichtenkanäle um. Das hätte er sich sparen können - auch hier herrschten Panik und Entsetzen. Alles schrie und rannte durcheinander, kaum jemand schien die Nerven behalten zu haben. Immerhin konnte Centoar Vilgor in Erfahrung bringen, woher die Unglücksbotschaft stammte. Die GILGAMESCH - immer wieder diese GILGAMESCH dachte Centoar Vilgor grimmig, verfluchter Rhodan! - hatte im -76-
Sektor 47 Tucani Flotten von sogenannten Igelschiffen ausgemacht, die sich zusammengeschlossen und mittlerweile in Marsch gesetzt hatten. Die Ziele dieser Flotten standen nicht fest, aber es gab immerhin Anhaltspunkte - und einer der Kursvektoren wies allem Anschein nach exakt auf das Scarfaruu-System. Die Rede war von über zweitausend Schiffen, in der Tat eine gewaltige Streitmacht. Centoar Vilgor war sehr gespannt, was die im Humanidrom versammelten Völker aufbieten würden, um das Humanidrom und Lokvorth zu beschützen. Er brauchte eine knappe Stunde, um zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen. Es war niederschmetternd. Die Einheit der Völker löste sich auf wie eine Schneeflocke auf rotglühendem Stahl. Niemand dachte daran, eine Flotte nach Lokvorth zu schicken und den Bedrohten dort zu Hilfe zu kommen. »Elendes Gesindel!« stieß Centoar Vilgor gehässig hervor. »Diese Invasion habt ihr Memmen wahrhaftig verdient!«
9. Panik, Grauen, Entsetzen - das waren die Begriffe, die das Humanidrom kennzeichneten. Und totales Chaos. Centoar Vilgor hatte sich so gut vorbereitet, wie er es vermochte. Der Akone hatte sich einen - terranischen! - SERUN verschafft und für reichlich Waffen und Munition gesorgt. Er hatte sämtliche Bildschirme in seiner Suite aktiviert und verfolgte dort in Ruhe, was sich abspielte. Noch war kein einziger Angreifer aufgetaucht. Vielleicht handelte es sich um ein Gerücht, oder die Angreifer hatten auf -77-
dem Weg nach Lokvorth ein anderes, für sie interessanteres Ziel gefunden. Centoar Vilgor blickte kurz auf die Uhr Noch immer keine Nachricht von Akon ... Er murmelte eine Verwünschung. Es gab eine Standleitung nach Akon, und jede Minute erwartete Vilgor die Mitteilung, daß die Genprobe auf dem Weg zu ihm war. Erst danach, so hatte er sich vorgenommen, würde er sich absetzen. Und wenn das Material zu spät kam ... Nun, daran wagte er gar nicht zu denken. Vilgor vertraute seinem Glück. Es kam nur darauf an, kaltblütig zu bleiben und nicht durchzudrehen, wie es derzeit die meisten anderen taten. In den Außenbezirken des Humanidroms spielten sich unbeschreibliche Szenen ab. Flucht, das war das einzige, woran die meisten Galaktiker noch denken konnten. Aber es gab nicht genügend raumtüchtige Schiffe, um alle Personen zu befördern, die zur Zeit im Humanidrom lebten. Deswegen wurde bereits auf den Wegen zu den Schleusen gekämpft, mal mit bloßer Körperkraft und Flüchen, in manchen Fällen aber auch schon mit Waffen. Tote waren zu beklagen, Verletzte lagen auf den Gängen. Und über allem lag ein durchdringendes, auf- und abschwellendes Panikgekreische in Dutzenden von verschiedenen galaktischen Sprachen. Centoar Vilgors Aufmerksamkeit richtete sich auf eine der Schleusen. Dort gab es einen Diskusraumer, der mühelos fünfzig Personen oder mehr befördern und in Sicherheit bringen konnte. Das Schiff war von drei Blues übernommen worden, und auf dem Bildschirm konnte der Akone sehen, wie sich ein Trupp von ungefähr zwanzig weiteren Blues der Schleuse näherte, in der der Diskus wartete. Die Blues waren bewaffnet, und wer angesichts der Strahler nicht sofort freiwillig den Weg frei machte, der wurde von den Gatasern gnadenlos niedergeschossen. Mit größter Brutalität -78-
bahnten sie sich den Weg zur Schleuse, trampelten andere Flüchtige nieder und schreckten vor keiner Gewaltanwendung zurück. Sie erreichten ihr Ziel, den rettenden Diskus. An Bord zu gehen war eine Sache weniger Minuten. Dann aber spielte sich eine Szene ab, die selbst Centoar Vilgor schaudern ließ. Die Blues ließen die Schleusen des Diskusraumers zugleiten, und das, obwohl an Bord noch genügend Platz für Dutzende von anderen Flüchtlingen gewesen wäre. Die Verzweifelten in der Schleusenkammer schrien und tobten, aber die Blues dachten nicht daran, die Luken für sie zu öffnen. Soviel Brutalität war für Gataser eigentlich sehr untypisch, aber die Notlage schien diese Angehörigen des Forums Raglund völlig um den Verstand gebracht zu haben. Diese Gataser schreckten nicht einmal vor einer weiteren Grausamkeit zurück. Solange die inneren Pforten des Hangars offenstanden, konnte die äußere Schleuse nicht geöffnet werden und der Diskus nicht abfliegen. Aber die Blues zögerten nicht, die Waffen des Schiffes rücksichtslos einzusetzen. Sie schossen sich einfach ein Loch in die Wandung des Humanidroms - und damit verurteilten sie Hunderte von anderen Intelligenzwesen zum Tod im Vakuum. Selbstverständlich wurde von den Syntroniken des Humanidroms sofort das Schließen von Schotten veranlaßt, so daß ein völliges Entweichen der Atemluft vermieden werden konnte - aber in einem beträchtlich großen Sektor des Humanidroms gab es jetzt keinen Sauerstoff mehr. Die Blues allerdings hatten nun freie Bahn. Sie nahmen Fahrt auf, rammten beinahe ein anderes Fahrzeug und verschwanden dann in den Weiten des Alls. Centoar Vilgor sah abermals auf die Uhr. Noch keine Nachricht von Akon. Dann wurde Raumalarm ausgelöst. Sie waren da! -79-
Auf einem der Bildschirme konnte Centoar Vilgor die Angreifer sehen, eine große Flotte, die weit draußen im Raum in das Normalkontinuum zurückgefallen war. Es konnten sehr wohl an die zweitausend Schiffe sein. Centoar Vilgor schluckte. Er bemerkte, daß sich auf seiner Stirn feine Schweißperlen bildeten. Gänzlich frei von Angst war der Akone also nicht. Aber noch fürchtete er sich nicht derartig, daß er darüber den Verstand verlor und nicht mehr klar und folgerichtig denken konnte. Die Panik hatte sich mittlerweile auf die Besatzungen der fliehenden Schiffe übertragen. Auch sie mußten die heranjagende Igelflotte auf ihren Orterschirmen entdeckt haben. Jetzt änderten viele dieser Schiffe ihre Kurse und sahen zu, daß sie sich möglichst weit von den Igelschiffen entfernten - so wie ein Hühnerhaufen auseinander stob, wenn der Fuchs heranschnürte. Zum Glück für die Flüchtenden schienen die Igelschiffe keinerlei Interesse daran zu haben, sie zu verfolgen, andernfalls wäre es zu einem Scheibenschießen gekommen. Die kleinen Schiffe hatten gegenüber den großen Schiffen der Igelflotte weder eine Chance auf Flucht noch auf Gegenwehr. Die Besatzungen konnten nur hoffen, daß sie einfach zu unwichtig waren und zu unbedeutend, als daß man sich um sie gekümmert hätte. Dann hatten sie eine Chance, vielleicht ihre Heimatwelt zu erreichen oder irgend einen anderen Planeten, der ihnen Sicherheit und Gastfreundschaft gewähren konnte - das aber vermutlich nicht sehr gerne tun würde. Centoar Vilgor starrte auf den Ortungsschirm. Die Igelschiffe hatten eine keilförmige Formation eingerichtet und rasten gradlinig mit hoher Fahrt auf Lokvorth und das Humanidrom zu. Centoar Vilgor schätzte, daß sie bei diesem Flug noch mindestens eine halbe Stunde brauchen würden, um ihr Ziel zu erreichen. -80-
Eine halbe Stunde, das konnte für seine Pläne so gerade eben reichen. Ganz sicher genügte es nicht, das Humanidrom vollständig zu evakuieren. Tausende, vielleicht Zehntausende von Galaktikern im Humanidrom hatten keine Chance, dem Überfall zu entkommen, der wahrscheinlich ihren sicheren Tod bedeutete - zumindest in absehbarer Zeit. Centoar Vilgor schloß kurz die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn er auf keine seiner Vorsichtsmaßnahmen zurückgreifen könnte und in der gleichen Notlage steckte wie alle anderen im Humanidrom. Einstweilen völlig sicher, gesund und wohlbehalten, aber die Gewißheit vor Augen, daß das Leben in spätestens dreißig Minuten gewaltsam enden würde. Vilgors Wahrnehmung schwankte hin und her. Mal erschien ihm dieses Warten auf den Tod entsetzlich lang zu sein, dann wieder spürte er, wie kurz seine Lebensspanne noch war - er konnte sich auf keine dieser beiden Möglichkeiten gefühlsmäßig festlegen. Klar war nur, und das spürte er überdeutlich, wie die Angst von ihm Besitz ergriff und ihn gnadenlos würgte. Er zog sich aus seinen Gefühlen zurück und kam langsam wieder zu Verstand. Noch immer kein Signal von Akon. Langsam wurde es auch für Centoar Vilgor knapp. Auf den Monitoren war zu sehen, welche Szenen sich auf den Gängen und Fluren des Humanidroms abspielten. Einige der Todgeweihten versuchten ihre Panik mit Alkohol und anderen Drogen zu betäuben, andere flüchteten sich in Gebete, wieder andere rannten plan- und kopflos hin und her; sie schienen regelrecht den Verstand verloren zu haben. Das traf für fast alle Völker zu, die es im Humanidrom gab; niemand, kaum eine Spezies blieb davon verschont. Centoar Vilgor lächelte boshaft. Vielleicht war es das, philosophierte er, was die Gleichheit aller Lebewesen be-81-
gründete - daß sie alle, wie immer sie auch aussahen, metabolisch beschaffen waren, was sie glaubten oder taten, daran interessiert waren, am Leben zu bleiben, um beinahe jeden Preis. Es gab einige, Centoar Vilgor konnte es sehen, die sich angesichts der Bedrohung in einen Winkel zurückzogen, sich dort zusammenkauerten und reglos abwarteten, bis das Unvermeidliche eintrat. Vielleicht hielten diese Wesen einen Teil von sich für wichtiger als das Leben - ihre Würde, das Gefühl der Selbstachtung. Wenn sie schon sterben mußten, dann wenigstens nicht winselnd. Und es gab viele, die es vorzogen, das Ende selbst herbeizuführen - manchmal auf eigentümliche Art und Weise. Centoar Vilgor konnte einen Plophoser sehen, der offenbar zur Yunami-Sekte gehörte, deren Mitgliedern der Selbstmord strikt verboten war Der Mann hatte sich in seiner Verzweiflung mit einer Keule bewaffnet, die er nach jedem schwang, der ihm über den Weg lief - bis er an einen Bewaffneten geriet, der ihn kurzerhand niederschoß. Ein sanftes Piepsen ... »Akon!« stieß Centoar Vilgor hervor. Ein Blick auf die Ortung. Noch zehn Minuten. Das reichte aus. Er aktivierte die Verbindung. Eine junge Frau teilte ihm mit, eine Warensendung sei versandbereit für ihn. »Einen Augenblick«, bat Centoar Vilgor. Es wurde Zeit, daß er seinen Notausgang aktivierte. Schon in den ersten Monaten seiner Gesandtentätigkeit hatte Centoar Vilgor dafür gesorgt, daß er einen eigenen, privaten und verborgenen Transmitteranschluß bekam. In Einzelheiten war das Gerät geliefert und in Vilgors Kabine zusammengebaut worden. Ebenso diskret hatte man die allgemeine Energieversorgung des Humanidroms angezapft, um die Betriebsenergie für den Transmitter zu gewinnen. Dank dieser Anlage war es Centoar Vilgor möglich gewesen, jederzeit diskret das Humanidrom zu verlassen und auch wieder -82-
aufzusuchen, wenn es nötig war. Natürlich hatten die anderen Gesandten davon nichts wissen dürfen. Vilgor aktivierte den Transmitter im hintersten Zimmer seiner Suite und schaltete eine Strecke nach Akon. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann materialisierte ein Päckchen in Vilgors Kabine. Ein schlichter Behälter aus Plastik, stark wärmeisoliert, in dessen Innerem eine tiefgekühlte Genprobe des Duftsumachs steckte. Vilgor nahm das Päckchen an sich und verstaute es gründlich in seiner Kleidung. Noch sieben Minuten. Vor der Tür seiner Kabine wurde es laut und lauter. Der Akone hörte, wie gegen die Tür getrommelt und getreten wurde, dann fielen erste Strahlschüsse. Die Tür flog auf, Gestalten taumelten in Vilgors Kabine. Rasch eilte Vilgor ihnen entgegen, hinderte die anderen daran, die hinteren Räume zu betreten. Er erkannte den Anti, der ihn vor dem Überfall der Igelschiffe gewarnt hatte. Das Gesicht des Báalol war verzerrt vor Angst und Wut, in der rechten Hand hielt er einen schußfertigen Strahler. Hinter ihm drängten sich mindestens dreißig andere Galaktiker, auch sie sichtlich in höchster Angst und Verzweiflung. »Wußte ich's doch ...«, stieß der Anti keuchend hervor. »Er ist nicht erschrocken, als er alarmiert wurde. Und er ist auch nicht weggelaufen wie alle anderen. Die ganze Zeit über ist er ganz ruhig in seiner Kabine geblieben, als hätte er vor nichts Angst, wie so ein verdammter Held oder so etwas. Bist du ein Held, Centoar Vilgor? Bist du frei von Todesfurcht? Oder hast du dir die ganze Zeit über ein Hintertürchen offengelassen?« Fünf Minuten ... Die Waffe des Antis zielte auf den Bauch des Akonen, auch einige andere Waffen waren auf Centoar Vilgor gerichtet. Vilgor spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach und sein Herz rasend schnell zu schlagen begann. -83-
»Laß mich raten, Vilgor!« zischte der Anti mit verzerrtem Gesicht. »Du bist Akone, und die Akonen waren schon immer die Meister der Transmittertechnologie. Hast du einen Transmitter in deiner Kabine, Vilgor? Einen, von dem sonst niemand etwas weiß?« »Es gibt viele Transmitter im Humanidrom«, antwortete Centoar Vilgor kaltblütig. »Aber die sind gerade alle so belagert, daß unsereiner keine Chance hat, sie zu benutzen«, fauchte der Anti. Vilgor lächelte. »Dann benutzt eben meinen«, bot er gelassen an. »Kommt, ich führe euch!« Der Anti machte ein verdutztes Gesicht. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. »Nun kommt schon, wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte Centoar Vilgor. »In zwei, drei Minuten sind die Angreifer hier.« Er schritt voran, hörte dabei hinter sich die Laute der Verwunderung und der Freude, als die Galaktiker den einsatzbereiten Transmitter zu sehen bekamen. »Ich muß ihn nur noch justieren«, verkündete Centoar Vilgor. »Auf welches Ziel?« wollte der Anti wissen. »Terra«, log Centoar Vilgor. »Die LFT hat dort die stärkste Flotte der bekannten Galaxis massiert. Wenn, dann sind wir nur dort, sicher.« Der Anti konnte nicht anders, er grinste breit und zynisch. »Du bist ein elender Schurke, Vilgor, aber auch ein verdammt gerissener. Sehr gut...« Centoar Vilgor hatte die Einstellung des Transmitters beendet. Er hatte die AZTAKT auf Trokan angesteuert. »Dann folgt mir«, sagte er und benutzte den Transmitter.
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10. »Zu spät, verdammt!« Han-Syu Lieu wandte sich ab, verärgert und enttäuscht. Sein Schiff, der 800-Meter-Kreuzer JADESTERN, war vor einer knappen Minute im Scarfaruu-System angekommen, zusammen mit zweihundert anderen kampfstarken Einheiten der LFT. Cistolo Khan hatte die Flotte in Marsch gesetzt, als sich abgezeichnet hatte, daß Lokvorth ein mögliches Ziel einer großen Igelflotte sein konnte. Jetzt konnte Lieu auf der Darstellung der Ortung sehen, daß er zu spät gekommen war. Zweitausend Tolkanderschiffe hatten das System erreicht, offenbar schon vor einer Stunde. Die Schiffe waren nicht nur im Anflug auf das Humanidrom und Lokvorth, sie hatten diese Ziele auch schon fast erreicht. »Ein Dutzend Schiffe der Neezer haben Lokvorth so gut wie eingeschlossen«, berichtete die Ortung. »Lokvorth liegt im Tangle- Scan, da ist nichts mehr zu machen.« Lieu schloß die Augen und blickte auf den Boden der Zentrale. Was diese Auskunft für die Bevölkerung Lokvorths in der Praxis bedeutete, vermochte er sich nicht im Detail auszumalen. Er besaß dazu keine Informationen, nur gewisse Gerüchte und Andeutungen, deren ursprüngliche Quelle Atlan gewesen war, dazu Gucky und Icho Tolot. Aber alle sprachen sie von Grauen, von Entsetzen und etwas unendlich Schrecklichem. »Eine Explosion im Inneren des Humanidroms!« rief der Orter in diesem Moment. »Stark?« »Nicht besonders. Die Meßergebnisse weisen ziemlich eindeutig darauf hin, daß dort ein Transmitter hochgegangen ist.« »Eine Fluchtmöglichkeit weniger«, stieß Lieu hervor, gefolgt -85-
von einem Fluch. Im Raum des Scarfaruu-Systems wimmelte es von Raumschiffen. Da waren die zweitausend Raumer der Tolkander, dann die Schiffe der LFT. Dazu gab es eine unübersehbare Armada von überwiegend kleinen Schiffen, und diese waren vermutlich allesamt vollgestopft mit Flüchtlingen. »Ist das Humanidrom geräumt?« wollte Lieu wissen. »Nicht ganz«, lautete die halblaut hervorgepreßte Antwort. »Einige tausend haben es nicht geschafft. Keine Chance mehr für sie. Die Igelschiffe haben praktisch schon am Humanidrom angelegt.« Die Tolkander schienen genau zu wissen, wozu sie und die Galaktiker jeweils in der Lage waren. Obwohl sie die Schiffe der LFT längst geortet haben mußten, unternahmen sie keinen Ausfall, sondern setzten ihre Aktion energisch und dennoch in Ruhe fort. Die Raumer der Fremden scherten sich auch nicht um die Flüchtlingsschiffe, die in alle Richtungen auseinanderstoben. »Rundspruch an alle«, sagte Kommandant Lieu. »Ausschwärmen und Hilfestellung geben, wo es nötig und möglich ist. Keine Aktionen gegen irgendwelche Igelschiffe, es sei denn, sie greifen an, euch oder die Flüchtlinge ...« »Wir sollen sie einfach ungeschoren davonkommen lassen?« erklang eine scharfe Stimme. Lieu wandte nicht einmal den Kopf. Unverwandt starrte er auf den großen Panoramaschirm, auf dem sich das Drama in Farbe, gestochen scharf, aber seltsam schweigend, abspielte. Vier Schiffe der Eloundar hatten am Humanidrom angelegt. Zur gleichen Zeit kreisten die anderen Igelschiffe Lokvorth ein. Die Schiffe der Liga Freier Terraner schwärmten aus, um den Flüchtlingen zu Hilfe zu kommen. Einigen der Schiffe war anzumerken, daß sie von sehr ahnungslosen oder hochgradig aufgeregten Piloten geflogen wurden. Andere hatten technische Mängel, krochen nur durch den Raum oder torkelten antriebslos umher. -86-
Der größte Teil aber erreichte sein angestrebtes Ziel. Ein Schiff nach dem anderen drang in den Hyperraum ein und verschwand damit aus der Ortung. Dies alles geschah völlig geräuschlos. Es war, als sehe man einen zufällig ohne Ton hergestellten Trickfilm, unwirklich und nicht echt. Irgendwie abstrakt und realitätsfern. Aber Kommandant Lieu wußte, daß dem nicht so war. Dort drüben wurde gelitten und gestorben, sowohl im Humanidrom als auch auf Lokvorth, das nicht mehr zu retten war. Eingehüllt in den Tangle-Scan war der Planet für die Terraner nicht mehr zu erreichen - der Tangle-Scan hätte ihnen schon beim Anflug das Innerste nach außen gekehrt. Atlans Warnungen vor diesem Effekt waren drastisch und überzeugend gewesen. »Loslassen!« Eine schrille, zitternde Stimme wurde hinter Kommandant Lieu laut. Er drehte sich langsam herum. »Laß mich los, ich will sofort, den Kommandanten sprechen!« Lieu erkannte einen jungen Mann, der von der Erde stammen konnte. Ein schmales, bleiches Gesicht, dunkle Augen fast Schwarze Haare. Sehr gute Zähne. Die Augen waren rotgerändert. »bist du der Kommandeur dieser Flotte?« Lieu nickte. Der junge Mann schluckte und schniefte, dann brach es aus ihm heraus. »Warum greift ihr nicht an?« stieß er hervor. »Ihr habt die Schiffe, und dort drüben sind Menschen in höchster Not. Ihr könnt doch nicht einfach nur zusehen!« Han-Syu Lieu legte dem jungen Mann eine Hand auf die schmale Schulter. »Wir haben keine andere Wahl«, sagte er. »Es sind zu viele, und sie haben technische Mittel, mit denen wir nicht gleichziehen können.« »Heißt das ...«, der junge Mann rang nach Worten, »das Humanidrom ist verloren?« »Ja, das bedeutet es«, sagte Lieu leise. -87-
»Kommandant, die Eloundar laden gerade etwas aus ... Ich vergrößere die Darstellung jetzt, so gut es geht.« Ein wenig unscharf, aber dennoch gut zu erkennen, war zu sehen, wie wabenförmige Behälter von Bord der Eloundarschiffe gebracht. und in das Innere des Humanidroms geschafft wurden. »Das muß dieses Zeug sein, von dem Atlan gesprochen hat«, murmelte Lieu betroffen. »Dieses merkwürdige Vivoc.« »Klingt ziemlich beunruhigend, dieser Name«, kommentierte jemand, und Lieu nickte. »Vivoc, was ist das?« fragte der junge Mann schwach. Seine Schultern waren herabgesackt, seine Augen schwammen in Tränen. Er hatte seine letzte Energie aufgespart, um mit dem Kommandeur der Flotte zu sprechen. Jetzt konnte er nicht mehr, war am Ende seiner Kräfte. »Wir wissen es nicht genau«, antwortete Lieu. »Irgend etwas Schreckliches. Alle, die es gesehen und erlebt haben, sprechen mit einem Würgen und Ekel davon, auch mit Angst.« »Werden wir Lokvorth wieder erobern?« Lieu hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er langsam. »Einstweilen ganz bestimmt nicht.« Er sprach es nicht aus, aber jedes seiner Besatzungsmitglieder wußte Bescheid. An Gegenaktionen war nicht zu denken, geschweige denn an eine Rückeroberung. Einstweilen kam es darauf an, nicht selbst von den Igelflotten überrannt und erobert zu werden. Die Galaktiker waren auf dem Rückzug, so sah es aus. Sie konnten nur verteidigen, wenn überhaupt, nicht aber den Gegner wirksam zurückschlagen und zwingen, seine Angriffe einzustellen. Und es war fraglich, ob die LFT und die anderen Völker so lange würden durchhalten können, bis technische Mittel gefunden waren, dem Gegner wirklich ernsthaft Paroli zu bieten. Lieu wußte, daß auf Camelot ununterbrochen gearbeitet wurde, geforscht konstruiert, entwickelt und gebaut. Früher hatte -88-
er dem Projekt Camelot sehr skeptisch gegenübergestanden, jetzt war er froh daß Rhodans Geheimplanet überhaupt existierte. Sein Schiff, die JADESTERN, hatte erst vor wenigen Stunden ein Muster eines völlig neuen Gerätes geliefert bekommen, einen sogenannten 5-D-Indifferenz-Kompensator, der an den Syntronikverbund der JADESTERN angeschlossen worden war. Begleitet worden war die Lieferung von guten Wünschen und einer Art Handzettel, wie mit dem Kompensator umgegangen werden mußte. Noch, so hieß es bei der Unterrichtung, sei das Gerät nicht perfektioniert, aber es würde daran gearbeitet. Und wenn alles klappte, so hieß es weiter, würde man den Tolkander-Völkern schon sehr bald tüchtig einheizen können. Da diese Nachrichten direkt von Camelot kamen, konnte man sie nicht einfach als Latrinenparolen abtun; einen wahren Kern hatten sie bestimmt. Wenn Kommandant Lieu auf den Panoramaschirm blickte und zusah, wie das Humanidrom mit Vivoc gefüllt wurde, wenn er den riesigen Pulk von Igelraumern betrachtete, der Lokvorth in geringem Abstand umkreiste, dann konnte er sich zum Optimismus der Camelot-Leute nicht aufschwingen. Der junge Terraner packte Lieu an der Schulter. Der Griff war von schmerzhafter Härte. »Auf einem der fliehenden Schiffe ist meine Frau«, sagte er mit stockender Stimme. Lieu vermied es, ihn anzublicken. Er starrte auf den großen Panoramaschirm. Die Ortung war für die Abbildung zuständig. Da man mit normaler Beobachtung nichts weiter hätte sehen können als Schwärze mit Sternengeflimmer darauf, war eine grafische Darstellung gewählt worden. Sie war in den Proportionen verkürzt, um das gesamte System abbilden zu können. Zu sehen waren das Zentralgestirn, die einzelnen Planeten, darunter Lokvorth, daneben das Humanidrom und die Schwärme -89-
von Raumschiffen, die das System durchfuhren - die einen beim Angriff, die anderen auf der Flucht. Es waren Tausende von Einheiten, mit den Augen gar nicht wirklich zu erfassen. Ein großer Teil der flüchtenden Schiffe hatte sein Ziel bereits erreicht - die Geschwindigkeit nahe der Lichtgeschwindigkeit die notwendig war, um in den Hyperraum vorstoßen zu können. Andere waren in ihrer Beschleunigung noch nicht so weit. Die Tolkanderflotte begann sich aufzuteilen. Während zahlreiche Einheiten das Humanidrom umschwärmten und das Ausladen des Vivoc überwachten und andere Flottillen nach Lokvorth vorstießen, machten einige hundert der Igelschiffe nun doch Jagd auf die Flüchtenden. »Näher heran«, sagte der Kommandant, ohne den jungen Mann neben sich anzusehen. »Vielleicht können wir noch etwas ausrichten.« Er wandte den Kopf. »Auf welchem Schiff?« Die Lippen des jungen Mannes zuckten heftig, er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich weiß nicht...« Mehr brachte er nicht hervor. Die JADESTERN beschleunigte auf eine kleine Schar von Schiffen zu, die als letzte von Lokvorth oder dem Humanidrom gestartet waren. Sie machten die geringste Fahrt, hatten die kürzeste Strecke zurückgelegt und wurden nun eifrig von den Igelschiffen gejagt. »Ortung, haben wir überhaupt eine Chance?« Irgendwo im Raum mußten die beiden Pulks und die JADESTERN zusammentreffen. Die Frage war, ob die Zeit für das Liga- Schiff ausreichte, die Flucht der Galaktiker zu decken. »Höchstwahrscheinlich geht das nicht ohne einen Kampf, Kommandant!« lautete die knappe, präzise Antwort. Die kühle Stimme der Sprecherin verriet keinerlei Aufregung oder Angst. Lieus Miene wurde steinern. Es war an ihm, eine Entscheidung zu treffen. Zwar waren die Igelschiffe den LFT-Einheiten technisch unterlegen, und die JADESTERN hatte -90-
sogar einen 5-D-Indifferenz-Kompensator an Bord, doch das Risiko war nach wie vor hoch. Aber die Angehörigen der LFT-Flotte wurden schließlich dafür ausgebildet und bezahlt, im Notfall ihr Leben zu riskieren. Außerdem kannte Lieu seine Leute: Die Flüchtigen schnöde ihrem Schicksal zu überlassen, ging ihnen garantiert gegen die Ehre. »Weiter!« bestimmte Lieu mit möglichst ruhiger Stimme. Eine weitere Entscheidung galt es zu treffen. Die JADESTERN lag auf einem Kollisionskurs, erst mit den Flüchtlingsschiffen, später auch mit den Igelschiffen. Wenn Lieu die Geschwindigkeit und den Kurs beibehielt, wurde er unweigerlich in einen Kampf mit den Tolkander-Einheiten verwickelt. Das allerdings gab den fliehenden Schiffen womöglich genau jene knapp bemessene Frist, die sie brauchten, um auf Hyperraum-Geschwindigkeit zu kommen. »Alles klar zum Gefecht. Wir werden versuchen, sie abzudrängen. Ziel auf das vordere Schiff der Tolkander, legt ihnen eine Transformsalve vor den Bug. Der Indifferenz-Kompensator sucht sich gleichzeitig eine Einheit mitten in der Gruppe der Verfolger. Dieses Schiff wird dann als nächstes unter Feuer genommen.« »Verstanden, Kommandant!« Es konnte sich nur noch um einige Minuten handeln ... Einen Vorteil hatten Raumgefechte dieser Art aufzuweisen. Der Tod kam in der Regel so schnell, daß der Betroffene die Tatsache gar nicht mitbekam. Ein schwacher Trost. Der junge Mann neben Lieu stieß ein Ächzen aus. Die Tolkander hatten das Feuer auf die flüchtenden Schiffe eröffnet - und auch getroffen. Das größte der Schiffe wurde in eine wabernde Energielohe gehüllt, die grell auf dem Panoramaschirm erstrahlte und dann erlosch. -91-
»Schirmfeld ist zusammengebrochen!« meldete die Ortung. Der angeschlagene Raumer driftete zur Seite. Die anderen Schiffe setzten ihren Fluchtkurs fort; dem Getroffenen zu Hilfe zu kommen, wäre für sie lebensgefährlich gewesen. »Feuer frei!« stieß Kommandant Lieu hervor. Transformgeschosse wurden abgestrahlt. Es dauerte also einige Zeit, bis die Feuerbälle jählings im Weltraum aufstrahlten; die Energieortung registrierte die Detonation, lange bevor das Abbild auf einem der Schirme sichtbar werden konnte. »Zielwechsel!« befahl der Terraner. »Ist bereits gemacht, Kommandant!« kam die Antwort. Lieu lächelte schwach. Auf seine Leute konnte er sich immer verlassen. »Treffer!« Ebenfalls eine kurze, knappe Meldung. Geschäftsmäßig war sie, mehr nicht. Han-Syu Lieu preßte die Lippen aufeinander. Das vordere der angreifenden Schiffe raste in eine zusammenschwellende Detonation von acht Transformgeschossen hinein. Diesen anstürmenden Gewalten hielt das Schirmfeld des Tolkanders nicht stand; es brach zusammen, und im atomaren Feuer der Detonation wurde der Raumer förmlich atomisiert. »Und wieder Treffer!« Dieses Mal hatten zwei Schüsse genügt. Der eine ging am Ziel vorbei und hatte wenigstens den Erfolg, die Ortung der Tolkander kurzzeitig zu blenden. Der zweite Schuß ließ eine Gigatonne auf der Oberfläche des Schirmfeldes hochgehen, und damit war auch das Schicksal dieser Einheit besiegelt. »Kurswechsel, wir stehen unseren angeschlagenen Freunden bei«, ordnete Lieu kalt an. »Legt ihnen vor den Bug, was wir nur haben! Dauerfeuer!« -92-
Die JADESTERN entfesselte einen Energieorkan, der gegen die Tolkanderflotte anbrandete. Gleichzeitig nahm das Schiff die Fahrt zurück und beschleunigte in Gegenrichtung. »Traktorstrahlprojektor klarmachen!« »Ist klar, Kommandant!« Die Schnelligkeit, mit der die Antwort kam, ließ den Schluß zu, daß die Bedienungsmannschaft den Einsatzbefehl gar nicht erst abgewartet hatte, sondern den Projektor bereits auf eigene Faust klargemacht hatte. »Fangt unseren Freund ein und zieht ihn heran. Besteht Funkkontakt? « »Kein Kontakt!« Lieu hatte es befürchtet. Er weigerte sich, sich im einzelnen auszumalen, wie es an Bord des Schiffes jetzt aussehen mochte. »Näher heran! Wir hüllen das Wrack in unser Schirmfeld!« rief der Kommandant. Einige Augenblicke später war das Manöver vollzogen. Der Havarist und die JADESTERN wurden in ein gemeinsames Schirmfeld gehüllt. Der Traktorstrahlprojektor sorgte dafür, daß der Havarist im gleichen Tempo wie die JADESTERN beschleunigte und näher an Hyperraum-Geschwindigkeit herankam. »Sie schleusen Beiboote aus, Kommandant.« »An Bord nehmen, in höchster Eile!« Die Minuten verstrichen quälend langsam. Noch gaben die Tolkander nicht auf. Sie jagten die JADESTERN und deren Schützling und feuerten immer wieder auf große Entfernung, während die Besatzung der JADESTERN die Flugrichtung der Tolkander mit Transformbomben förmlich pflasterte. Zwar wurde die JADESTERN immer wieder getroffen, aber die Schirme hielten der Belastung stand. Ein paar Sekunden lang versuchte sich Lieu vorzustellen, wie es sich anfühlen mochte, in -93-
einer Blechbüchse von einem Beiboot in schwerem Feuer von einem Schiff zum anderen zu wechseln ... Minuten verstrichen; sie flossen zäh wie Sirup. Dann endlich kam die Meldung herein. »Bergung abgeschlossen!« Lieu stieß einen Seufzer aus. »Und insgesamt?« fragte er, während sich die JADESTERN von dem Havaristen löste. Einige Augenblicke später wurde das verlassene Wrack von einem Volltreffer zerstört. »Kommandant - Rettungsaktion abgeschlossen. Zweitausend Flüchtlinge an Bord genommen.« Zweitausend nur. Weitere Zehntausende in den kleinen Schiffen und Booten, die ihre Flucht fortsetzten, von den Igelschiffen mittlerweile weitgehend unbehelligt. Diese Zurückhaltung wirkte ebenfalls ernüchternd und erschreckend wie eine dröhnende Botschaft der Tolkander: Wir brauchen euch nicht zu jagen. Flieht nur. Irgendwann bekommen wir auch den Planeten, auf den ihr euch retten wollt. Denn wir bekommen alles, was wir wollen, alles, alles ... Eine Angelegenheit von wenigen Stunden nur, und ein System war gestürmt, ein Planet eingekreist und seine Bevölkerung verschlungen worden. Auf den Bildschirmen der Ortung bewegten sich Symbole und Leuchtpunkte, stellvertretend für Schiffe und für Energieemissionen. Lautlos. Es war kein Schreien zu hören, kein Stöhnen, kein Todesröcheln. Nur Stille. Totenstille. Der junge Mann neben Lieu starrte auf den Panoramaschirm, biß die Lippen zusammen und schluchzte. »Es ist vorbei«, sagte er nach einer Pause tonlos. Irrtum, dachte Kommandant Lieu, es fängt gerade erst an!
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Peter Terrid
Invasion der Igelschiffe
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1. Kataora-System Das Schlimmste war der Lärm. An die unaufhörlichen Vibrationen des Bodens konnte man sich, wenn auch mühsam, gewöhnen. Der aufgewirbelte Staub wurde von der Bewetterung wirksam abgefangen und ausgefiltert. Doch der tosende Krach, den die Maschinen machten, wenn sie sich durch das Gestein fraßen, der blieb erhalten. Zwar gab es technische Möglichkeiten, mit Lärm fertig zu werden, aber da hatte das Minenunternehmen wohl sparen wollen. Die Anlagen zur Erzeugung von Kontraschall waren nicht eben billig. Dabei wurde dem entstehenden Lärm ein gleich lauter Krach mit einer phasenverschobenen Amplitude entgegengesetzt: Wellentäler und -berge der Schwingungen hoben sich gegenseitig auf und reduzierten das Geräusch gewaltig. So hatte man zu einem anderen Mittel gegriffen: Ohrschützer und -hörer und kleine Mikrophone, über die man sich verständigen konnte. Daniela M'Puno ließ die Sirene ertönen, die jedermann im Stollen hören konnte. Sie zeigte an, daß wieder einmal eine Sprengung bevorstand. Die hochgewachsene Frau wartete eine Minute, bis das Schrillen abgeebbt war. »Alles klar?« fragte sie. Nacheinander trudelten die Klarmeldungen bei ihr ein. Sie zählte im stillen mit, bis sie sicher war, daß sich auch alle Nebenstollen gemeldet hatten. Bergbau war auch im Jahr 1289 Neuer Galaktischer Zeitrechnung ein riskanter Job. Die Gefahren, die schon in der Vergangenheit bestanden hatten, waren im großen und ganzen geblieben. Jedenfalls galt das für Welten wie Kataora, auf denen sich der technische Standard in Grenzen hielt. -97-
Auf den großen und bedeutenden Minenwelten wurde ein gewaltiger Aufwand betrieben, nicht nur, was die Ausstattung mit Robotern und allen Arten von Sicherheitssystemen anging. Aber Kataora war eine unbedeutende Welt; die Produktionsziffern lagen nicht sehr hoch, die Ausrüstung hatte schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel. Der Abbau von Kohle und Erz war nur deshalb rentabel, weil vom Unternehmen die Kosten gnadenlos gedrückt wurden. Immerhin: Seit zweiundzwanzig Jahren hatte es auf Kataora keinen tödlichen Unfall mehr gegeben, nur zwei Schwerverletzte waren angefallen. Daniela M'Puno erreichte nach drei Minuten den Gleiter und stieg ein. Das Fahrzeug beförderte sie zum Hauptstollen, von wo aus die Explosion per Funkfernzündung ausgelöst werden sollte. Inzwischen hatten sich die Frauen und Männer, die unter Kataora arbeiteten, dort eingefunden. Die Arbeit wurde für die Zeit der Sprengung eingestellt, auch die schweren robotgesteuerten Abbaumaschinen standen still. Daniela blickte sich um. Alle Arbeiterinnen und Arbeiter dieser Schicht hatten sich eingefunden. Sie nickte kurz und löste dann die Sprengung aus. Eine Sekunde lang blieb es völlig ruhig, dann grollte der Lärm der Explosion durch den Stollen; eine dichte Wolke pulvrigen Kohlenstaubs wälzte sich heran, wurde aber von der Belüftung erfaßt und so schnell abgesogen, daß nichts von dem zerstäubten Material bei den Menschen ankam. Daniela M'Puno blickte auf ihr Kombiinstrument. Die Atemluft war frisch und klar und angenehm temperiert. Hier, vier Kilometer unter der Oberfläche von Kataora, war es normalerweise unerträglich heiß; nur eine hochwirksame Belüftung erlaubte, daß überhaupt Menschen in dieser Tiefe arbeiten konnten. »Kein Anzeichen von Gas«, gab sie bekannt. »Es kann weitergehen.« -98-
Alltag auf Kataora ... Der Planet war vor Jahrmillionen von dichten Urwäldern bedeckt gewesen. Reste dieser Wälder waren im Laufe der Jahrmillionen von Sedimenten bedeckt worden und hatten sich unter Druck und Hitze in Kohle verwandelt - genau so, wie es auf der Erde und zahlreichen anderen Planeten ebenfalls geschehen war. Auf Terra wurden seit langem keine Kohlen mehr gefeuert. Zum einen war dieser Rohstoff als Lieferant hochwertiger Energie entbehrlich geworden. Zum anderen waren die eventuell noch erreichbaren Flöze so tief gelagert, daß der Abbau immens teuer geworden wäre - zumal man dabei auch den Zustand der darüberliegenden Oberfläche zu berücksichtigen hatte. Auf Kataora brauchte man solche Rücksichten nicht zu nehmen. Der Planet war nicht sehr dicht besiedelt. Es gab einige Dutzend Millionen Menschen, die auf der Oberfläche wohnten und sich meist mit Ackerbau und Viehzucht befaßten. Was diese Bevölkerungsgruppe produzierte, reichte für den Eigenbedarf und konnte auf andere Welten exportiert werden. Vor allem die Zentralwelten der galaktischen Völker waren so stark bevölkert, daß sie sich unmöglich selbst ernähren konnten. Sie waren auf Importe angewiesen, auf Farmplaneten, Ranchwelten und Systeme, die bergbautechnisch ausgebeutet werden konnten. Angesichts der ungeheuren Fülle von Welten war es längst nicht mehr nötig, auch den letzten Krümel Erz oder Kohle auszugraben, man beschränkte sich auf die reichen und ergiebigen Fundstellen - zum Vorteil des Planeten, der diesen begrenzten Aderlaß meist gut verkraften konnte, ohne daß seine Umwelt dabei zum Teufel ging. Natürlich ließ sich praktisch jeder Rohstoff per Kern-Synthese herstellen, aber dieses Verfahren war kostspielig und riskant. Mit dem Gleiter kehrte die kräftige Frau in den Hauptstollen zurück, dann stieg sie aus und legte die letzten Meter zu Fuß zurück. -99-
Sie nickte zufrieden. Die Sprengung war so verlaufen, wie sie es berechnet und erwartet hatte. Ein fünfhundert Meter langes Stück der Kohle führenden Schicht war herausgesprengt worden. Dank der modernen Sprengstoffe, bei denen man die Wirkungsebene sehr genau einstellen konnte, lag die Rohkohle nun in bequem abbaubaren Brocken vor. Daniela forderte die Roboter an und schickte die Maschinen an die Arbeit. Es verstand sich von selbst, daß der wirklich gefährliche und kräftezehrende Teil dieses Bergbaus von Maschinen erledigt wurde. Aber es blieb noch genügend Risiko für die organischen Geschöpfe übrig. Während die Robots die ersten mächtigen Kohlebrocken verluden, waren andere Maschinen damit beschäftigt, den Schacht abzuteufen, damit er nicht einstürzen konnte. Wenige Minuten nach der erfolgreichen Sprengung lief die Arbeit unter Tage wieder auf Hochtouren. Zeit war kostbar, jede Minute ergiebiger Förderung zählte. Theoretisch - eines der meistbenutzten Worte der modernen Technik - hätte man bei entsprechendem Aufwand an Energie und Material diesen Stollen derart kompakt absichern können, daß er schlagende Wetter ebenso wie Wassereinbrüche und Erdbeben hätte verkraften können. In der Praxis aber kostete Sicherheit Geld - und jeder Unternehmer in dieser Branche war geübt darin, das Für und Wider auszukalkulieren. Wenn man den Sicherheitsaufwand ein wenig reduzierte, sparte man viel Geld, erhöhte aber auch das Risiko für die Arbeiter und Angestellten und vor allem für das hochwertige und teure Abbaugerät. Auf Kataora hatte man sich dafür entschieden, die immer noch anstrengende und gefährliche Arbeit solchen Menschen zu übertragen, die bei entsprechender Bezahlung bereit waren, das Risiko eines Unfalls zu tragen. Es war nicht sehr hoch, aber es bestand. Gebraucht wurden Menschen, weil nur sie in der Lage waren, schnell und billig gewisse Dinge abzuschätzen und Ent-100-
scheidungen zu treffen. Daniela M'Puno war eine solche Expertin. Sie hatte einen Riecher dafür entwickelt, an welchen Stellen das Gestein mürber und bröckeliger war als sonst, wo man besondere Verstärkungen anbringen mußte und in welche Richtung Erz führende Schichten unter der Erde weiterliefen. »Bayete, Nkosikazi!« klang eine Stimme in Danielas Ohrhörern auf. Sie wandte sich um und grinste. Kim Chun Kee stammte wie sie von Terra. Unter seinen Vorfahren hatten Asiaten dominiert, was deutlich zu sehen war. Kim Chun Kee hatte ganz schwarzes Haar und mandelförmige Augen; ein nicht besonders großer, aber zäher und mutiger Mann, der über bemerkenswerte Kräfte verfügte, wenn er sie brauchte. Wenn er, wie in diesem Augenblick, neben Daniela stand, war er zwei Köpfe kleiner als sie und mußte den Kopf in den Nacken legen, um sie anblicken zu können. Und das tat er oft und gern. Daß Daniela hundertneunzig Zentimeter groß war und genug Muskelmasse besaß, um damit zwei Kees auszustaffieren, schien ihn überhaupt nicht zu stören. Auch nicht, daß Daniela ihm mehr als einmal klargemacht hatte, daß sie zur Zeit keinen Appetit auf einen Partner, Liebhaber oder gar Ehemann verspürte. »Ein Kee gibt niemals auf«, hatte er dazu nur stets lächelnd angemerkt. »Und glaube mir, wir Kees wollen und kriegen immer das Allerbeste.« Daniela grinste. »Bayete, Nkosikazi!« war eine sehr ehrerbietige Begrüßung in der ehemaligen Sprache ihres Volkes, meist nur der Herrscherin vorbehalten. Daniela stammte entfernt vom Volk der Zulu ab; sie konnte einen Teil ihrer Abstammung bis auf Ceteswayo zurückführen, den großen Herrscher der Zulu, der die Weißen bei Isandhluana vernichtend geschlagen hatte. Daniela gehörte zu den zahlreichen Terranern, die sich für ihre eigene Geschichte brennend interessierten und vieles unternahmen, um diese Ver-101-
gangenheit wenigstens privat zu rekonstruieren: Man lernte die alten Sprachen, erforschte überkommene Sitten und Gebräuche und übernahm sie teilweise, wenn auch nicht gerade im Alltag. »Seit wann sprichst du Zulu?« erkundigte sich Daniela M'Puno sarkastisch. »Wäre es in deinem Fall nicht angebrachter, Koreanisch zu lernen?« »Wozu, dann könnte ich nur mit mir selbst reden«, versetzte Kim Chun Kee trocken. »Ich will aber mit dir reden.« »Und was hast du mir zu sagen? Keine weiteren Liebeserklärungen, Kee. Langsam macht mich deine Dauerwerbung rasend, und ich überlege schon, ob ich meine Assegai schärfen soll. Du weißt, was das ist?« »Nicht genau«, griente Kee. »Vermutlich ein altes Mittel, Leute umzubringen. Aber mir wirst du damit keine Angst machen.« Er grinste noch breiter. »Du wirst doch nicht den Vater deiner Kinder abstechen wollen.« Daniela hob warnend die rechte Hand und ballte sie zur Faust. Gleichzeitig konnte sie selbst ein breites Grinsen nicht unterdrücken. Kees Logik war in der Tat bestechend. »Das wird genügen«, sagte sie. »Mach eine andere glücklich, ich bin nicht interessiert. Und jetzt komm zur Sache! Was gibt es?« »Neuigkeiten«, behauptete Kee. Der wieselflinke Mann hatte auch bemerkenswerte Horcher; überall schnappte er etwas auf. »Hoffentlich positive«, wünschte sich Daniela. Kees Miene verdüsterte sich. »Leider nicht«, sagte er halblaut. Er hatte den Kanal für unmittelbare Kommunikation eingestellt, der nur eine sehr begrenzte Reichweite hatte, so daß nur Daniela ihn verstehen konnte. »Etwas braut sich zusammen. Es laufen Gerüchte um, daß irgendjemand Anstalten macht, über die Milchstraße herzufallen.« Daniela lachte laut. »Was denn, schon wieder?« -102-
»Ich finde das ganz und gar nicht witzig«, protestierte Kee. Es begann an Danielas Handgelenk hektisch aufzublinken. Sie brauchte nur einen Blick, um die Ursache festzustellen. Methan. Der Todfeind der Bergleute. Überall im Gestein konnten Gasblasen sitzen, gefüllt mit einem chemisch sehr einfach aufgebauten Gas: ein Kohlenstoffatom, vier Wasserstoffatome. Kam Sauerstoff dazu, konnte dieses Gas zu Wasser und Ruß verbrennen. Geschah das unkontrolliert und spontan, sprachen die Bergleute von ›schlagendem Wetter‹ - gemeint war eine Explosion von verheerender Gewalt, die ganze Stollensysteme zum Einsturz bringen konnte. Noch schlimmer wurde es, wenn dann auch noch feinstaubiger Kohlenstoff mit explodierte - dann knickten die Terkonitstreben wie Zahnstocher. Nur ein SERUN war in der Lage, seinen Träger vor der Wucht dieser Detonation zu schützen. Aber SERUNS waren teuer, und die Arbeitskräfte auf Kataora billig; in aller Regel handelte es sich um Entwurzelte, Abenteurer, Menschen aus sozialen Randgruppen, die sich gleichsam unter die Erde geflüchtet hatten. Daniela beispielsweise hatte sich den falschen Ehemann ausgesucht. Als er zum zweiten Mal versucht hatte, sie zu vergewaltigen, hatte sie sich gewehrt. Leider zu heftig: Es hatte dem Angreifer ein gebrochenes Genick eingebracht. Vom Gericht war Daniela freigesprochen worden, aber die üble Nachrede, das ewige Geschwätz und blöde Kommentare hatten sie jahrelang genervt, und so hatte sie die Flucht nach Kataora angetreten. Was Kim Chun Kee angestellt hatte, wußte sie nicht fleckenlos war die Vergangenheit dieses Mannes jedenfalls nicht. Aber auf Kataora wurden keine dummen Fragen gestellt; das war der Vorteil dieser Arbeit - neben dem, daß die Schufterei ziemlich gut bezahlt wurde und man bei einem Leben unter dem Erdboden auch kaum Gelegenheit hatte, sein Geld auf den Kopf zu hauen. -103-
Daniela schaltete ihr Funkgerät auf die allgemeine Frequenz. »Achtung!« gab sie durch. »Sohle achtzehn, Sektor Gamma alle Stollen räumen. Explosionsgefahr. Ich wiederhole ...« Siebenmal wiederholte sie ihre Warnung, während gleichzeitig von der Überwachungssyntronik dafür gesorgt wurde, daß in allen betroffenen Bereichen Alarm ausgelöst wurde. Überall begannen nun Signalleuchten in einem markanten Rhythmus zu blinken, während eine helle und klare Stimme Danielas Alarmmeldung wiederholte. Es hatte sich, seltsam genug, im Laufe der Jahrhunderte herausgestellt, daß in einer Umgebung wie dieser eine helle Frauenstimme viel schneller und stärker beachtet wurde als das Organ eines Mannes. Die Stimme eines ganz bestimmten Mannes konnte sich Daniela in diesem Augenblick sehr gut vorstellen: Chylus Haemat, der als oberster Leiter für diesen Bergbaubereich insgesamt zuständig war. In seinen Kompetenzbereich fielen nicht nur Sicherheitsbelange, sondern auch die Kalkulation. Kam es zu einer Verzögerung, zu Pannen oder Unfällen, mußte er sich gegenüber den Aktionären der Gesellschaft verantworten. In diesem Fall hatte er keine andere Wahl. Im Sektor Gamma dieser Sohle mußten alle Mitarbeiter zurückgerufen und in die Sicherheitsräume geschickt werden. Zur selben Zeit wurden auch die Maschinen und Roboter in Sicherheit gebracht - all das zusammen ergab einen beträchtlichen Produktionsausfall, Verluste im Bereich von Millionen Galax. Daniela und die anderen Mitarbeiter des Unternehmens machten sich da keinerlei Illusionen. Kam es zu einem Unfall, womöglich mit Toten und Schwerverletzten, würden die lieben Aktionäre - jeder einzelne einige hundert Lichtjahre entfernt vom Geschehen - bedauernd die Achseln zucken, ein paar mitleidsvolle Worte für die Opfer und deren Angehörigen murmeln und ansonsten zur Tagesordnung übergehen. Wenn die Sache Menschenleben kostete - sehr bedauerlich, aber unvermeidlich. -104-
Aber wenn die Angelegenheit ins Geld ging, wurden die Herrschaften ungemütlich. Es dauerte auch nicht lange, bis die brummige Stimme von Chylus Haemat in Danielas Ohren aufklang. »Ist das wirklich nötig?« fragte er unwirsch an. »Du kannst die Meßdaten selbst auf deinem Monitor überprüfen. Die Methankonzentration steigt minütlich.« »Reicht es nicht, das Teufelszeug einfach abzusaugen und zu entfernen?« wollte Haemat wissen. »In diesem Fall nicht«, gab Daniela freundlich zurück. »Erst wenn alle in Sicherheit sind. Du willst doch nicht riskieren, mit dem Methan auch die gesamte Atemluft abzusaugen?« »Ihr habt doch eure Flaschen«, murrte Haemat. Daniela kannte den Mann. Mittelgroß, mittelblond, mittelmäßig gebildet, gänzlich ohne Humor und nur auf positive Förder- und Umsatzzahlen versessen, ein Bürokrat, wie er sonst nur in Karikaturen vorkam. »Zu spät«, wehrte sich Daniela. »Ich setze mich ab. Ende!« Sie winkte Kim Chun Kee auffordernd zu. »Setz dich in Bewegung«, stieß sie hervor. Der kleine Mann grinste schief. »Wie schade«, sagte er. »Endlich einmal allein mit dir ...« Er sah zu, daß er Land gewann, denn Daniela setzte eine bedrohliche Miene auf. Die beiden rannten zu dem Gleiter zurück, der sie in die Sicherheitszone bringen sollte. Vorausgesetzt, das Methan ließ ihnen genügend Zeit dazu ...
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2. Es war ein urweltliches Grollen wie bei einem heftigen Erdbeben, und es fühlte sich auch sehr ähnlich an. Daniela zuckte zusammen. Also doch, das Methan war hochgegangen. Und es war erst wenige Augenblicke her, daß sich das schwere Schott hinter ihr geschlossen hatte. Der Boden rumpelte so heftig, daß fast alle Bergleute von den Beinen gerissen wurden, Schreie gellten auf, teils wütend, teils panisch. »Ruhe bewahren!« rief Daniela M'Puno. »Uns kann hier nichts geschehen! Wir sind in Sicherheit!« Die Menschen, die vor Ort. arbeiteten, konnte sie damit beruhigen, nicht aber das übrige Personal. Jede Ebene des riesigen Bergwerks war eine Welt für sich, mit zahlreichen Bewohnern und allen Einrichtungen, die für den dauernden Aufenthalt von Menschen gebraucht wurden. Auch der Transport der Mitarbeiter hinab in den Berg und hinauf an die Oberfläche kostete Zeit. Folgerichtig waren die Schlafgelegenheiten unter Tage angelegt worden, dazu Sanitäreinrichtungen, Küchen, Aufenthaltsräume, ein Trividsaal, Sportanlagen - es war eine kleine, komplett eingerichtete Stadt für sich. Darin war das übliche Personal eingeschlossen. Den Service hätte man natürlich Robotern überlassen können, es wäre sogar billiger gewesen. Aber es hatte sich gezeigt, daß dann die Mitarbeiter meuterten. Hätte man sie lediglich mit Robotköchen, Massageautomaten, Medo-Robots und ähnlichen Einrichtungen abgespeist, wären sie sich vorgekommen wie Sträflinge, nicht wie Menschen. »Ruhe!« brüllte Daniela mit höchster Stimmkraft, und beinahe augenblicklich trat Stille ein. -106-
»Uns ist nichts passiert, kein Grund zur Aufregung!« wiederholte Daniela laut. »In ein paar Minuten hat sich die Aufregung gelegt, dann stellen wir die Schäden fest und machen weiter.« Kim Chun Kee schob sich an sie heran. Seine Miene war düster. »Das war nicht auf unserer Ebene«, sagte er leise. »Es hat über uns gekracht!« Daniela nickte verhalten. »Kein Wort zu den anderen«, bat sie halblaut. »Sonst gibt es tatsächlich eine Panik!« Sie machte eine weit ausholende Geste und deutete damit auf umgestürzte Stühle und andere Gegenstände. »Räumt das auf«, bestimmte sie laut, »damit es gleich weitergehen kann! Zeit ist Geld, Leute. Wenn die Arbeit stillsteht, verdienen wir nichts.« Sie zog sich in einen Winkel der großen Sicherheitshalle zurück. Das Gewölbe bot Platz für zweitausend Personen und war so massiv mit Terkonit verschalt, daß es sogar einem tektonischen Beben hätte standhalten können. Räume wie dieser waren Vorschrift; anderenfalls hätte sich die Grubengesellschaft wahrscheinlich mit simplen Tapeten begnügt. »M'Puno an Haemat!« gab sie über Funk durch. »Was ist passiert?« Sie bekam keine Antwort. Daniela wiederholte den Funkspruch. Erst beim vierten Anruf konnte sie Signale empfangen. »...echzehn, schlagendes Wetter. Große Zerstörungen ...« Der Rest ging in Krächzen und Störgeräuschen unter. Daniela murmelte einen Fluch. Der hagere Koreaner hatte mit seiner Einschätzung recht gehabt. Offenbar hatte es zwei Etagen über dieser Sohle gekracht. Vielleicht gab es einen ursächlichen Zusammenhang, das würde man später genau erforschen müssen. Wahrscheinlich, so vermutete Daniela, hatte der Sohlenchef dort nicht die nötige Durchschlagskraft gehabt und keinen allgemeinen Sicherheits-107-
alarm ausgelöst - mit genau jenen Folgen, die Daniela für ihren Sektor hatte vermeiden wollen. Allem Anschein nach hatte sie das auch geschafft. »Ich gehe nach draußen«, gab Daniela bekannt. »Hoffentlich ist die Verbindung dort besser. Ich werde nachsehen, was für Schäden aufgetreten sind.« »Ich werde dich begleiten!« Kim Chun Kee grinste diesmal nicht. Wenn es darauf ankam, konnte er das Dauergebalze abstellen, wie in diesem Fall. Daniela nickte knapp. Sie verließen die Sicherheitshalle durch die Mannschleuse. Jeweils drei Personen konnten die extrem stabile Terkonithalle auf diese Weise verlassen. Wenn die Gefahr vorüber war, wurde das große Portal geöffnet, durch das Hunderte den Raum gleichzeitig verlassen konnten. »Das, was ich befürchtet habe«, seufzte Daniela, kaum daß sie in das Stollensystem zurückgekehrt war. In der Luft hing schwarzer Staub, die Anzeige verriet, daß es noch immer Reste von Methan in diesem Sektor gab, allerdings war der Wert unterkritisch. Einige Dutzend Meter entfernt gab es eine Interkomleitung, die Daniela benutzen wollte. Aber der Apparat blieb stumm. »Ganz schöner Flurschaden«, stellte Kee lakonisch fest. »Wenn auch nicht bei uns. Erwägst du, den Sektor komplett zu räumen?« Daniela schüttelte den Kopf. Einstweilen war Sohle achtzehn intakt; zu einer kompletten Räumung bestand kein Anlaß. Außerdem würden die Mannschaften genug damit zu tun haben, den Schaden auf der sechzehnten Sohle abzuschätzen und zu beheben. Ein Schwarm aufgescheuchter Arbeiter, der in Panik nach oben drängte, war das letzte, was in dieser Lage gebraucht wurde. »Offenbar hat es die Leitungen erwischt«, konstatierte der Koreaner. -108-
Daniela aktivierte wieder ihr Funkgerät »Hier Sohle achtzehn, Daniela. Haemat, bitte melden!« »Alles wohlauf, Daniela?« erklang die gereizt klingende Stimme von Chylus Haemat. »Bei uns ja!« Daniela ließ einen leisen Seufzer der Erleichterung hören. »Und wie sieht es auf sechzehn aus?« »Katastrophal, einstweilen nicht abzuschätzen. Ein großer Teil der Stollen ist zusammengekracht. Rettungsteams sind unterwegs, um Verletzte und Tote zu bergen ...« »Tote?« »Wahrscheinlich ja, es war eine schwere Schlagwetterexplosion«, gab Haemat zu. »Mit verheerenden Konsequenzen, auch für euch. Der Hauptschacht ist teilweise eingestürzt.« Daniela schluckte. Übermäßig ängstlich war sie nicht, das konnte man sich in diesem Beruf nicht leisten, aber es gab Informationen, die auch einem Abgebrühten erst einmal die Sprache verschlugen. Und dies war eine solche Mitteilung. »Wir sind abgeschnitten?« »Kein Grund zur Panik, Daniela. Immerhin seid ihr da unten autark. Wir werden sechzehn klären, und dabei wird automatisch für euch der Weg frei. Hoffentlich nur eine Sache von wenigen Stunden. Wir werden an Gerät einsetzen, was wir haben.« Das war keineswegs eine Nachricht, die Daniela beruhigte. Im Gegenteil. Wenn der bekannte Knicker Chylus Haemat einen solchen Aufwand trieb, dann mußte es Sohle sechzehn wirklich sehr schwer erwischt haben. »Können wir helfen?« fragte Daniela an. »Keine Aussicht«, lautete die Antwort. »Verhaltet euch ruhig und wartet ab, bis wir euch herausholen. Ende!« Die Verbindung wurde von Haemat getrennt. Auf Kees Stirn standen steile Falten. »Das gefällt mir nicht«, sagte er leise. »Überhaupt nicht. Ist dir etwas aufgefallen?« »Er wirkte ziemlich nervös. Würde ich auch, bei einer solchen -109-
Katastrophe. Immerhin sind wir nicht in Gefahr. Aber die armen Kerle über uns ... Ich mag gar nicht daran denken.« Kee schloß für einige Sekunden die Augen. »Das meine ich nicht«, sagte er sehr leise. »Etwas ganz anderes ist mir aufgefallen: Er hat uns nicht aufgefordert, die Arbeit fortzusetzen!« Daniela starrte ihn entgeistert an. Kim Chun Kee hatte recht. Dies war ein Katastrophentag, und der Frau begann zu schwanen, daß ihr und den anderen extrem harte Zeiten bevorstanden. »Kein Wort zu den anderen«, bat sie drängend. »Eine Panik ist das letzte, was wir jetzt brauchen können. Ich werde ihnen nur das Nötigste erklären, mehr nicht.« Sie lächelte schief. »Vielleicht dauert es ja nicht lange?« Durch die Mannschleuse kehrten die beiden in die Sicherheitshalle zurück. Inzwischen war es dort ruhiger geworden. Man hatte aufgeräumt, und die Männer und Frauen sahen Daniela neugierig an. »Nun, was gibt es?« Daniela wiegte den Kopf. »Es hat gekracht«, sagte sie dann laut. »Nicht bei uns, das habt ihr ja wohl selbst schon bemerkt. Es hat eine Explosion auf Sohle sechzehn gegeben.« »Was für eine Explosion?« kam eine Zwischenfrage. »Schlagwetter«, antwortete Daniela. »Eine schwere Detonation. Sohle sechzehn hat es übel erwischt.« »Dann müssen wir sofort los und den anderen helfen!« Mit dieser Reaktion hatte Daniela gerechnet. Die Menschen, die hier arbeiteten, waren ein harter Schlag, keineswegs zimperlich, nicht gerade zart besaitet - aber Solidarität und Hilfsbereitschaft in Notfällen wurden traditionell großgeschrieben. »Das wird leider nicht möglich sein«, gab Daniela bekannt. Sofort breitete sich Schweigen aus. Die Menschen kannten ihr -110-
Handwerk und wußten augenblicklich, daß etwas nicht stimmte. »Die Zugänge sind zusammengekracht.« »Heißt das ...?« Daniela nickte. »Wir sitzen hier fest, bis von oben her der Schacht geräumt und neu gesichert worden ist. Rettungs- und Bautruppen sind bereits auf dem Weg nach unten. Die Grubenleitung setzt alles ein, was sie hat.« Wieder das schiefe Grinsen. »Ihr kennt ja Chylus Haemat: Er wird alles daransetzen, daß dort so schnell wie möglich wieder voll gearbeitet werden kann.« Bevor das anschwellende Gemurmel stärker werden konnte, hob Daniela die Stimme. »Für uns besteht kein Grund zur Aufregung. Ihr wißt, daß wir autark sind. Wir haben alles, was wir brauchen. Notfalls können wir es hier unten zwei Monate lang aushalten.« »Technisch gesehen vielleicht«, bemerkte jemand. »Psychologisch doch wohl auch«, fuhr Daniela dazwischen. »Oder hat jemand unter euch Angst?« Im Hintergrund war ein sarkastisches Lachen zu hören. »Die Frage lautet doch wohl in Wirklichkeit: Hat einer von euch Mut genug, seine Angst offen zuzugeben?« Daniela fiel in das Gelächter ein. »Wohl ist mir dabei auch nicht«, gab sie zu. »Wenn einer von euch unter Klaustrophobie leiden sollte, hat er sich leider den falschen Platz und die falsche Zeit ausgesucht. Ich gehe jetzt noch einmal hinaus und prüfe die Lage. In spätestens einer Stunde bin ich wieder zurück, dann geht die Arbeit weiter. Also, genießt die Pause. Es wird so schnell keine mehr geben.« »Daniela, die Harte«, kicherte eine Frau. »Laß dir Zeit, Mädchen. Wir warten geduldig.« Abermals verließ Daniela die Halle durch die Mannschleuse, gefolgt von Kim Chun Kee. Sie stiegen in den Gleiter und fuhren eine Route ab, die für solche Inspektionen geplant worden war. -111-
Ganz ohne Auswirkungen auf ihren Bereich war die Detonation nicht gewesen: Es gab einige angeknackste Seitenstollen; irgendwo plätscherte Wasser. Die Verstrebungen aus Terkonit hatten selbstverständlich gehalten; mit natürlichen Kräften war diesem molekularverdichteten Spezialstahl nicht beizukommen. Aber das Gestein in der Nähe der Streben hatte nachgegeben - die Seitenstollen komplett mit Stahl auszukleiden, um auch dieses Risiko auszuschalten, war aus Kostengründen unterlassen worden. »Sieht ziemlich gut aus«, meinte Kim Chun Kee und grinste fröhlich. »Um uns brauchen wir uns vorerst keine Sorgen zu machen.« Daniela runzelte die Stirn. Sie traute dem Frieden nicht. Was sie auszeichnete, war ihr Instinkt, der sie Gefahren und Chancen ungewöhnlich früh erkennen ließ - wenn auch nicht gerade im Privatleben, wie ihre gescheiterte Ehe bewiesen hatte. In diesem Fall aber war sie sich ihrer Sache gewiß. Etwas stimmte nicht. Und es schien nichts mit der Lage im Bergwerk zu tun zu haben ...
3. »Keine besonderen Vorkommnisse«, erstattete Centoar Vilgor seinem Vorgesetzten Bericht. Der Blue Tayloz Üpkek machte eine Geste der Zufriedenheit. Vilgor schloß daraus, daß Üpkek wie schon so oft nicht hinreichend informiert war. Daß vor sehr kurzer Zeit Lokvorth und das Humanidrom Angriffsziel einer Tausende von Schiffen umfassenden Tolkanderflotte geworden war, war nicht bis zu dem Leiter der -112-
Raglund-Delegation auf Trokan vorgedrungen. So konnte er auch nicht wissen - und der durchtriebene Akone Vilgor würde sich hüten, ihn sofort darüber aufzuklären -, daß Lokvorth inzwischen überrannt worden war. Das Humanidrom war in der Hand der Fremden, die bereits begonnen hatten, jene eigentümliche Ladung auszuschiffen, die als Vivoc bezeichnet wurde. Was dieses Vivoc war, wußte niemand genau; es gab eine Assoziation dazu, die den Begriff gleichsetzte mit ›Brut‹. Normalerweise war das ein harmloses Wort, aber in diesem Zusammenhang rief es ein leises Schaudern bei den wenigen Eingeweihten hervor. Im Umlauf war auch der Begriff Tangle-Scan, mit dem ebenfalls nur gut informierte Kreise etwas Genaueres anzufangen wußten. Es handelte sich dabei um eine geheimnisvolle Strahlung, die von einigen Modellen der Tolkanderschiffe ausging und bei den Betroffenen ein Gefühl hervorrief, als würde ihnen das Innerste nach außen gekehrt. Wieviel davon auch stimmen mochte - fest stand, daß ein Kampfschiff im Bereich des Tangle-Scan nicht mehr einsatzklar war, da die Besatzung ausgefallen war. Vivoc, Tangle-Scan, ToIkanderflotte - das waren die Begriffe der Stunde, und ein Mann von Centoar Vilgors Format konnte damit durchaus etwas anfangen. Wer immer die Tolkander sein mochten, sie griffen an. Im Sektor 47 Tucani hatten sie eine Flotte von wahrhaft gigantischem Ausmaß gesammelt. Die Rede war von weit mehr als 100.000 Einheiten, und diese bedrohliche Armada schien unablässig zu wachsen. Die Galaktiker hatten dem so gut wie nichts entgegenzusetzen. Das lag vor allem an der jüngeren Geschichte der Milchstraße. Daß die Völker der Galaxis sich zu entzweien begonnen hatten, ihren Eigeninteressen nachgingen und wieder klassische Macht- und Bündnispolitik betrieben, war ver-113-
gleichsweise neueren Datums - wenigstens für die meisten dieser Völker, Andere Zivilisationen, wie zum Beispiel die Akonen, hatten niemals eine andere Politik betrieben, waren aber schlau genug gewesen, sich dem jeweiligen Trend der Zeit unterzuordnen. Akonische Politik - Centoar Vilgors Lieblingsbeschäftigung und Lebensinhalt - vermied seit zweieinhalbtausend Jahren die lauten Töne und die offene Konfrontation. Der Hintergrund war das Milieu, in dem sie ihre Operationen durchführten. Akonische Politiker waren keine Rauhbeine, vielmehr waren sie stets freundlich, höflich, außerordentlich kultiviert und zurückhaltend. Sie arbeiteten nicht mit Rammböcken, sondern mit Spaltpilzen - und das taten sie von jeher außerordentlich erfolgreich. Centoar Vilgor konnte geradezu als Muster dieser Diplomatenriege gelten. Persönlich eher unauffällig, ja durchschnittlich, war er ein Meister der behutsam eingefädelten Intrige. Das galt auch für diese Delegation. Nominell mochte Tayloz Üpkek der Delegationsleiter sein, und er war sichtlich stolz auf diese Ehre, die diplomatischen Höflichkeiten, die ihm entgegengebracht wurden, und der Respekt, mit dem er allenthalben behandelt wurde. Daß er in Wirklichkeit nach den Einfällen und der Regie des gewitzten Ohrenbläsers Vilgor arbeitete, war ihm entgangen. Oder, wenn nicht, dann ging der Blue geflissentlich darüber hinweg. »Dann können wir uns also weiter unserer Arbeit widmen«, stellte Tayloz Üpkek fest. »Ich muß zugeben, die Terraner machen Fortschritte auf Trokan, wenn auch nicht in jenem Ausmaß, wie es nötig wäre.« Centoar Vilgor lächelte sanft. »Vermutlich betreiben sie nur ein wenig soziale Kosmetik«, überlegte er halblaut. Er sprach zurückhaltend und langsam, damit seine Worte wie beiläufig in das Denken des Blue einsickern konnten. »Sie geben sich ge-114-
schäftig, treiben einen spektakulären Aufwand und wenden in der Tat beträchtliche Mittel für die Stabilisierung Trokans auf. Wenn ich deine Analyse richtig verstehe ...« - es gehörte zu Vilgors geschmeidiger Taktik, seine eigenen Einfälle immer so zu formulieren, als hätte er sie dem brillanten Verstand des Blue entnommen; in Wirklichkeit war Üpkek sowohl als Analytiker wie als Taktiker eher unterdurchschnittlich »... dann unternehmen sie nichts, wovon sie nicht später die Rendite eintreiben können. Wenn sie Trokan ihrer Herrschaft einverleiben und den Planeten für sich selbst nutzen wollten, kämen sie um diese Aufwendungen ohnehin nicht herum.« »Ja, so ist es wahrscheinlich«, stimmte der Gataser nach kurzer Pause zu, in der er das Gesagte verarbeitet hatte. Üpkek war nicht wirklich dumm, nur ein wenig faul. Gegen diese Kombination von Eigenschaften hatte Vilgor nichts. Intelligent und faul war auch nicht schlecht - es gab eine Redensart von Akon: »Wer faul ist, ist auch schlau!« Dumm und faul war ein wenig lästig, aber verheerend wurde es, wenn Fleiß und Dummheit sich zusammenfanden und in einer Anhäufung von Fehlern und Pannen mündeten. »Ich habe, während du unterwegs warst, noch einmal mit den Anführern der Herreach gesprochen«, fuhr Üpkek fort. »Viel ist allerdings nicht dabei herausgekommen. Diese Leute scheinen einfach noch nicht begriffen zu haben, worum es geht ...« Sowenig wie du, dachte Centoar Vilgor. Du hast auch keine Ahnung, was hier wirklich abläuft. Allein, daß Üpkek von Anführern der Herreach sprach, verriet schon, wie wenig er Trokan begriffen hatte. So etwas wie eine Hierarchie, also Anführer, Autoritäten, Verwaltung, Regierung und dergleichen, gab es auf Trokan nur in kümmerlichen Ansätzen. Die Herreach hatten Ewigkeiten lang auf einer Welt gelebt, auf der sich so gut wie nie etwas geändert hatte. Einmal eingerichtet, war das Leben in friedlicher Gleichförmigkeit ver-115-
strichen, Jahrtausend für Jahrtausend. Wenn es, selten genug, einmal zu Konflikten und Reibereien gekommen war, waren sie den jeweiligen religiösen Führern unterbreitet und diskutiert worden; herausgekommen waren dabei gemäßigte Kompromisse, mit denen die sanftmütigen und friedfertigen Herreach gut hatten leben können. Aber das hatte sich jäh geändert; die genauen Gründe dafür mußten allerdings noch erforscht werden. Jedenfalls war Trokan Ende 1288 NGZ von einem Tag auf den anderen jählings in der Wirklichkeit dieses Jahres aufgetaucht. Von einem Tag auf den anderen war sogar eine sehr präzise Beschreibung, denn vorher hatte man auf Trokan keinen Wechsel von Tag und Nacht gekannt, und allein diese Umstellung hatte die Herreach schier um den Verstand gebracht. Ihr Leben war aus den Fugen geraten, mit ungeheurer Gewalt und so gründlich, daß auch stabilere Gesellschaftssysteme darunter zerbrochen wären. Man brauchte sich nur vorzustellen, man schlief als moderner Terraner ein und erwachte am nächsten Morgen in der Urgeschichte, mit allem, was dazugehörte: Vulkanausbrüche, endlose Dschungel, kleine, große, mittlere Saurier. Und ohne alles, an das man gewöhnt war: Häuser, Kleidung, Lebensmittelgeschäfte und Trividanlagen. In Trividfilmen sah so etwas immer sehr bunt und spannend aus, und selbst nach einem Ringkampf mit einem Tyrannosaurus Rex blieb die Heldin frei von Schweißtropfen, Blut und Schmutz, und ihre Frisur saß selbstverständlich tadellos. Aber das war Trivid und hatte mit der Wirklichkeit nichts zu tun. »Ich nehme an«, führte Vilgor seine Einflüsterungen fort, »daß du dich nicht länger auf die Rolle des passiven Beobachters wirst beschränken lassen und selbst die Initiative ergreifen willst.« »Gewiß, gewiß«, versicherte Tayloz Üpkek. Centoar Vilgor kannte den Blue auch anders; früher, vor Vilgors Zeit, war er energischer und entschlußfreudiger gewesen -116-
und hatte die Terraner einige Male vor den Kopf gestoßen. Vilgor hatte ihn dann in der hohen Schule der Diplomatie unterwiesen und ihn somit restlos verunsichert. Üpkeks Versuche, die akonische Diplomaten-Geschmeidigkeit zu erlernen, hatte letztlich dazu geführt, daß er zu einer verformbaren Masse in Vilgors Händen geworden war. »Immerhin ist es ja möglich«, sinnierte Centoar Vilgor, ohne seinen Vorgesetzten dabei anzublicken, »daß die Terraner beim Aufbauprogramm Trokan Fehler machen. Es ist eine extreme Notlage für die Herreach, und die Terraner müssen unglaublich schnell etwas auf die Beine stellen. Die Herreach müssen medizinisch versorgt werden, sie brauchen Unterkünfte, Kleidung und dergleichen. Vor allem aber Wasser - und Nahrung.« Üpkek wiederholte die zustimmende Geste, dann forderte er Vilgor auf, weiterzumachen. »Vor allem bei der Nahrungsproduktion«, fuhr Vilgor fort. Er war aufgestanden und schritt mit sorgenzerfurchter Miene im Raum auf und ab. Das Gespräch fand an Bord der AZTAKT statt, dem Schiff der Delegation des Forums Raglund. »Dabei kann es zu großen Schwierigkeiten kommen. Soweit ich weiß, setzen die Terraner auf Trokan neu entwickelte Pflanzenhybriden aus, die sie in aller Eile entwickelt haben.« »Ich habe es gesehen«, bestätigte Üpkek und schloß kurz die Augen, als wolle er sich die Szene ins Gedächtnis zurückrufen. »Und sie erzielen offenbar schon die ersten Erfolge, nach nur wenigen Wochen.« Centoar Vilgor nickte. »Und du wirst dich sicher erinnern, daß wir über eine Art Geschenk für die Herreach nachgedacht haben.« »Sicher, ich erinnere mich«, behauptete Tayloz Üpkek sofort. »Das Dänengeschenk,« Centoar Vilgor verzichtete darauf, den Gataser darüber zu informieren, daß der korrekte Ausdruck »Danaergeschenk« -117-
lautete. Wie die meisten Lebewesen schätzte es auch Tayloz Üpkek nicht sehr, ständig belehrt zu werden, schon gar nicht von jemandem, den er für unterlegen hielt. »Ich habe im Humanidrom Nachforschungen angestellt«, berichtete Vilgor ruhig und zog eine Ampulle aus der Tasche. Er legte sie auf den flachen Tisch, so daß der Blue sie unschwer anschauen konnte. Bei einem Blue konnte man ohnehin wenig unternehmen, ohne gesehen zu werden. Wie alle Blues hatte Üpkek sowohl vorn als auch hinten an seinem Tellerkopf ein Augenpaar. Sehen konnte er damit fast alles, fraglich war nur, ob er kapierte, was er sah. In dieser Hinsicht war Centoar Vilgor sehr skeptisch - und zugleich sehr zufrieden. Er hatte längst gelernt, sich jede von Üpkeks Schwächen zunutze zu machen. »Ich sehe, du bist erfolgreich gewesen«, sagte Üpkek leise, ohne den Blick von der Ampulle zu wenden. »Man müßte dieses Material in den Gengefügen einer jener Pflanzen einbauen, die die Terraner auf Trokan heimisch machen wollen. Dazu ein hochwirksamer Wachstumsbeschleuniger, eine biologische Peitsche, und der Erfolg müßte sehr bald eintreten.« »Dann hat sich deine Reise zum Humanidrom also gelohnt«, bemerkte Üpkek anerkennend. Vilgor antwortete nicht. Daß er mit knapper Mühe und Not, beinahe buchstäblich in letzter Sekunde, das Humanidrom per Transmitter verlassen hatte, praktisch in jenem Augenblick, in dem die Tolkanderflotte das Humanidrom erreicht hatte, hatte er nicht vor zu erwähnen. Schon gar nicht, daß der Transmitter nach seiner Benutzung durch Vilgor detoniert war, absichtlich. Ob es in der Menge, die sich rettungssuchend in Vilgors Suite gedrängt hatte, Tote und Verletzte gegeben hatte, wußte Vilgor nicht. Es war ihm auch gleichgültig: Wer die Explosion überlebt hatte, war ohnehin wenig später in die Hände der Tolkander gefallen. -118-
Vor die Wahl gestellt, hätte es Centoar Vilgor vorgezogen, lieber von einer Detonation in Stücke gerissen oder atomisiert zu werden. »Ob die Fähigkeiten von Hasdyn Flech ausreichen werden, diese Operation durchzuführen?« dachte er laut nach. »Aber gewiß doch«, behauptete Tayloz Üpkek sofort. »Ich habe ihn selbst ausgewählt. Er ist eine Kapazität, ein Ara, ein Galaktischer Mediziner. Die verstehen ihr Fach ausgezeichnet.« Vilgor wiegte den Kopf. »Dennoch«, gab er zu bedenken. »Du solltest ihn in jedem Fall zu allergrößter Vorsicht ermahnen. Wenn bei der genetischen Operation etwas schiefgeht, wegen der Eile und Hektik ... Die Folgen könnten sehr unangenehm sein, vielleicht sogar tödlich. Es würde sicherlich eine große Aufregung bei den Herreach geben, wenn es zu einer solchen Panne käme. Es würde die gerade erst beginnende Vertrauensbildung zwischen dem Forum Raglund und den Herreach unterminieren.« Der Blue lächelte schwach. Vilgor kannte dieses Lächeln und begriff, was es bedeutete. Tayloz Üpkek hatte schnell genug begriffen, wie Vilgors Worte wirklich gemeint waren. Selbstverständlich würde es zu ›Pannen‹ kommen. Aber Tayloz Üpkek würde dafür sorgen, daß man die Schuld daran bei den Terranern suchen würde - und damit war dann das Vertrauen zwischen Herreach und Terranern erschüttert. Und das Forum Raglund - vertreten durch seine Exzellenz Tayloz Üpkek könnte die Verbindungen zu den Herreach festigen und vertiefen. »Der nächste Schritt wäre dann eine förmliche Anerkennung einer Herreach-Regierung und eines unabhängigen, freien Herreach-Staatswesens durch das Forum Raglund ...« Üpkeks Bemerkung schloß an das an, was beide Galaktiker in den letzten Sekunden gedacht, aber nicht ausgesprochen hatten; -119-
sie waren sich auch ohne Worte in ihrem Plan einig - den Üpkek jetzt garantiert für den eigenen halten würde. In diesen Dingen dachte er sehr großzügig. »Und natürlich eine offizielle Botschaft des Forums auf Trokan«, fuhr er fort. Dieses Mal erlaubte sich Vilgor ein breites, böses Grinsen. Die Regierung der LFT würde schäumen vor Wut. Mitten im Zentralsystem der Terraner ein unabhängiger, eigener Planetenstaat, vielleicht sogar offiziell verbündet mit dem Forum Raglund, später möglicherweise, als Krönung des Ganzen, offizielles Mitglied des Forums - und das mitten im Herzen der LFT. »Ich kann es nicht verhehlen«, bemerkte Tayloz Üpkek herablassend, »du bist ein sehr wertvoller Mitarbeiter meiner Delegation. Ich werde mir erlauben, eine offizielle Note an deine Regierung zu senden, in der ich deine Verdienste gebührend würdigen werde.« Centoar Vilgor schluckte verstohlen. Das paßte ihm ganz und gar nicht in den Kram; er arbeitete und wirkte lieber hinter den Kulissen als auf der Bühne zu stehen, wo ihn jedermann sehen konnte. »Wie großzügig von dir«, sagte er. »Ich bin sicher, Akon wird sich bei mir mit einer Beförderung erkenntlich zeigen. Meiner Karriere kann das nur dienlich sein. Allerdings würde ich dann garantiert auch auf einen anderen Posten versetzt.« Der Blue zwinkerte ironisch. »Kein Interesse?« Vilgor machte ein Gesicht, das Bescheidenheit ausdrücken sollte; es gelang ihm sehr gut. »Ich kenne meine Fähigkeiten - und den Platz, an dem ich sie einsetzen kann«, sagte er ruhig. »Mein Ehrgeiz ist, wie du sicher weißt, nicht sehr groß. Ich will gute Arbeit für das Forum leisten und mich nicht mit Orden und Auszeichnungen behängen.« Ein grober Fehler. Es wurde Vilgor im gleichen Augenblick bewußt. Tayloz Üpkek war geradezu versessen auf Aus-120-
zeichnungen aller Art, und er trug die bunten Ordensbänder, wann immer es ging. Das prächtigste Stück in seiner Sammlung hatte er sogar von Terranern bekommen, die in einer Stadt namens Köln lebten und ein uraltes jahreszeitliches Ritual abgehalten hatten. Centoar Vilgor, der sich im terranischen Brauchtum recht gut auskannte, hatte wohlweislich darauf verzichtet, Üpkek über die wahre Bedeutung dieser Festlichkeit aufzuklären. »Wie du willst«, ließ sich Üpkek vernehmen; auch er gestattete sich ein Lächeln. »Dann wirst du weiterhin mein Mitarbeiter bleiben. Ich werde schon einen Weg finden, dich für deine Verdienste angemessen zu belohnen.« Centoar Vilgor verbeugte sich höflich. »Wenn du gehst, dann schick doch bitte Hasdyn Flech in meine Räume. Ich habe mit ihm zu reden.« »Wird gemacht«, beteuerte Vilgor und verließ den Raum, auf den Lippen ein schmales Lächeln. Tayloz Üpkek war ihm in die Falle gegangen. Eitel wie er war, hatte er diese Aktion zu seiner höchstpersönlichen Angelegenheit gemacht - und trug damit die ganze Verantwortung, falls etwas schiefging, so oder so. »Er will mich sprechen?« fragte Hasdyn Flech, als Vilgor ihm die Botschaft des Delegationsleiters überbrachte. »Speziell dich«, versicherte Vilgor freundlich. »Er braucht deine Fähigkeiten zur Zeit ganz besonders.« Auch der Ara war von Eitelkeit nicht frei und schluckte bereitwillig das Kompliment. »Und worum geht es? Ich würde nicht gerne unvorbereitet und gänzlich ahnungslos ...« »Wir haben schon darüber gesprochen«, erinnerte ihn Vilgor sanft. »Über Pflanzen auf Trokan. Möglich, daß wir den Terranern bei ihrer Aufbauarbeit behilflich sein können.« Der Ara wölbte eine Braue. »Du meinst wirklich ...?« -121-
Vilgor lächelte jetzt vielsagend. »... aber natürlich werden wir unsere eigenen Interessen dabei nicht vernachlässigen«, sagte er. Die Miene des Ara hellte sich auf. Was die Ara-Medizin von derjenigen der Terraner unterschied, war unter anderem die Tatsache, daß es bei den Aras einen etwas höheren Anteil von Wissenschaftlern gab, die in ihrem materiellen oder wissenschaftlichen Ehrgeiz keine Skrupel kannten. Wenn es bei den Terranern Mediziner gab, die sich als ›Halbgötter in Weiß‹ präsentierten, so gab es bei den Aras einen leicht höheren Anteil von Medizinern, die sich als ›Götter in Weiß‹ aufführten. Von Hasdyn Flech hatte Centoar Vilgor den Eindruck, daß er in genau jene Gruppierung paßte. »Ich verstehe«, beteuerte Hasdyn Flech eilig. »Ich werde ihn sofort aufsuchen!« Centoar Vilgor verabschiedete sich und ging. Er verließ die AZTAKT über eine kleine Schleuse, nicht ohne sich zuvor mit einem Atemluftkompressor ausgerüstet zu haben. Für normale Terraner und Akonen war die Sauerstoffkonzentration auf Trokan zu gering, um sich im Freien aufhalten zu können. Der Kompressor machte dies möglich. Über jene Region Trokans, in der die AZTAKT stand, senkte sich die Nacht herab. Für Centoar Vilgor war es ein vertrauter Anblick, nicht aber für die Herreach. Sie kannten Tageszeiten erst seit wenigen Monaten. Auch an diesem Abend hatten sich zahlreiche Herreach im Freien eingefunden und starrten hinauf in den Himmel, der immer dunkler wurde. In Panik verfielen sie dabei nicht mehr; sie wußten rein intellektuell, daß dieses Dunkelwerden nicht das Ende ihrer Welt bedeutete, daß in einigen Stunden die Sonne wieder erscheinen würde - die sie ebenfalls vor Monaten zum ersten Mal in ihrer Geschichte zu Gesicht bekommen hatten. Aber dennoch war vielen dieser Vorgang unheimlich. Daß es in der Natur Abwechslungen und Veränderungen gab, das hatten -122-
sie bereits vor dem Schicksalstag ihres Volkes gewußt. Aber diese Veränderungen waren gering gewesen, verglichen mit dem, was sie nun zu verkraften hatten. Kein diffuser, tageszeitfreier Himmel mehr, statt dessen ein lodernder Glutball über ihren Köpfen bei Tag und unheimliche Finsternis in der Nacht. Das zu verarbeiten war schwer. Die gesamten Grundlagen ihres Weltbildes waren damit erschüttert, bis in die Grundfesten. Im Leben der Herreach schien es nichts mehr zu geben, auf das man sich unbedingt und immer verlassen konnte - ein Gefühl, das auch Centoar Vilgor leicht schaudern ließ, wenn er die Gefühlswelt der Herreach nachzuempfinden versuchte. Immerhin, eines stand fest: Gefahr ging von den Herreach nicht aus, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit. Bis sich dieses Volk an das neue Leben gewöhnt haben würde, mußten Jahrzehnte vergehen. Und bis dahin, da war Vilgor zuversichtlich, würde Akon, nicht zuletzt dank seiner Arbeit, seine sanfte, aber unwiderstehliche Hand auf Trokan gelegt haben. Centoar Vilgor lächelte. »Wie schade, Perry Rhodan«, murmelte er in giftigem Spott, »daß du dies alles nicht erleben kannst.« Rhodan war, zusammen mit Alaska Saedelaere und Reginald Bull, seit Wochen verschwunden; die drei waren in den Pilzdom eingedrungen und bisher nicht wieder zum Vorschein gekommen. Und Centoar Vilgor hoffte sehr, daß es dabei blieb ...
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4. »Haemat, bitte melden!« Daniela M'Punos Stimme klang leicht heiser. Seit mehr als einer Stunde versuchte sie, mit der Grubenleitung Kontakt aufzunehmen. Vergeblich. Chylus Haemat meldete sich nicht per Funk, er war auch über das interne Nachrichtennetz der Grube nicht zu erreichen. Es war möglich und vorstellbar, daß bei dem Unglück diese Leitungen zerstört worden waren; mit derlei mußte man rechnen. Aber daß Haemat auch über Funk nicht zu sprechen war, verwunderte Daniela sehr. Sie konnte sich nicht vorstellen, was dafür die Ursache sein konnte. Sie ließ den Kopf sinken und murmelte einen wüsten Fluch. »Es sieht übel aus, nicht wahr?« fragte Kee halblaut. »Das kannst du laut sagen«, grollte Daniela. »Verdammt übel sogar. Wir stecken fest, und von oben kommt nichts, nicht einmal Nachrichten.« »Hm«, machte Kim Chun Kee. »Nachrichten ... Ich habe da eine Idee.« »Dann laß hören!« herrschte Daniela ihn an. Die Unsicherheit raubte ihr die Nerven; selbst ihrem Charakter wurde in diesen Stunden zuviel zugemutet. »Nun, wir haben doch den Trividsaal«, überlegte der ›Koreaner‹ laut. »Vielleicht können wir dort erfahren, was los ist. Die Trividleitung ist vom anderen Netz völlig unabhängig.« Daniela starrte ihn an und zwinkerte müde. »Das wäre eine Möglichkeit«, sagte sie leise. »Komm, wir versuchen es.« Die Rundfahrt, durch die gesamte Sohle hatte gezeigt, daß für die Menschen auf dieser Ebene keine akute Gefahr bestand. Es gab Sauerstoff, Energie, Nahrung. Und selbstverständlich wurde während der Rettungsarbeiten nirgendwo in der Grube mehr gesprengt. -124-
Rein theoretisch also konnte Danielas Mitarbeitern nichts passieren - außer, daß sie vor Langeweile und Sorge durchdrehten. Davor hatte Daniela mehr Angst als vor allem anderen. Menschen in Panik machten Fehler, und in einer Lage wie dieser konnten solche Fehler tödliche Konsequenzen haben. Der Gleiter brachte die beiden zurück in den Zentralsektor der Sohle, zu den Aufenthaltsräumen und Freizeiteinrichtungen. Und dort gab es einen großen, gemütlich eingerichteten Raum, in dem man sich Trividfilme ansehen konnte - das beliebteste Freizeitvergnügen der Bergleute. Als die beiden dort ankamen, mußten sie feststellen, daß andere schon auf diese Idee gekommen waren. Die große Tür stand offen, aus dem Inneren klangen Laute, die Daniela schreckten. Es hörte sich an wie ein kollektives halblautes Stöhnen. »Da stimmt etwas nicht«, flüsterte Kim Chun Kee. Daniela stürmte in den Raum. Sie glaubte, ihren Augen nicht trauen zu dürfen. »Habt ihr wirklich nichts Besseres zu tun, als euch einen dieser dämlichen Ballerstreifen anzusehen?« fragte sie scharf. Ein halbes Dutzend Köpfe wurden in ihre Richtung gedreht, und Daniela begriff sofort, daß sie sich geirrt haben mußte. Die Mienen waren bleich und betroffen, die Augen geweitet. »Das ist kein Film«, sagte eine hochgewachsene Frau und fixierte Daniela. »Das ist die gottverdammte Wirklichkeit!« »Bitte?« Daniela trat näher und warf einen zweiten Blick auf die gegenüberliegende Wand. Neun Meter lang, sechs Meter hoch, diente sie vollständig als Projektionsfläche. Die Bilder waren farbecht, hochauflösend, gestochen scharf und wirkten dreidimensional, was sie natürlich nicht waren. Es sah allerdings so aus, und dieser Effekt war gewollt, als gebe es keine Wand und man blicke unmittelbar auf das Filmgeschehen. Es mußte ein Film sein. Es ging gar nicht anders. Bilder dieser Art gab es nur in spektakulären Unterhaltungsfilmen, die das -125-
gängige Vorurteil bestätigten, das Wort Trivid leite sich von trivial ab. In Wirklichkeit war es die Zusammenfassung von tridimensionalem Video. Dort gab es diese Raumschlachten, in denen große Flotten aufeinander losgingen und pausenlos zu feuern schienen. Und Abbildungen von flammenden Schutzschirmen, umwabert von entfesselten Energien. »Nein!« murmelte Daniela erschüttert. »Leider doch«, versetzte die Frau. Hinter Daniela und Kee drängten weitere Menschen in den Raum, zuerst Neugierde auf den Gesichtern, dann Erschütterung und tiefe Betroffenheit. »Das ist Matjuula«, wurde Daniela von einem stämmigen Unither aufgeklärt. Daniela erinnerte sieh; er wurde allgemein nur Borgon genannt. Wie viele Bergleute auf Kataora benutzte er seinen wirklichen Namen nur zur Unterzeichnung amtlicher Dokumente. »Ich bin dort geboren«, sagte der Unither tonlos. »Und jetzt greifen sie Matjuula an.« »Sie, wer zum Teufel ist sie ...?« Jetzt erst erkannte Daniela in der rechten unteren Ecke des Bildschirms das kleine Signet. Es stellte klar, daß es sich bei diesen Aufnahmen um keinen Film handelte, sondern um Originalbilder, authentische Aufnahmen, ohne entsprechende Bearbeitung. Die modernen Techniken der Bildbearbeitung und des Filmtricks machten es möglich, die unglaublichsten Szenen zu bauen, die völlig echt und natürlich wirkten. So gab es beispielsweise ganze Sammlungen von Filmen mehr oder weniger pornographischen Inhalts, die derzeitige und Prominente aus der Vergangenheit bei intimer Betätigung zeigten - ob es sich um Julius Caesar und Cleopatra, ob es sich um Iratio Hondro oder die angeblichen Amouren Atlans handelte. Die einzige Möglichkeit, diese gestellten oder tricktechnisch erzeugten Bilder von authentischen Aufnahmen zu unterscheiden, war -126-
dieses Signet, dessen Mißbrauch gründlich und wirkungsvoll bekämpft wurde. »Eine Flotte der sogenannten Tolkander-Völker«, fuhr der Unither fort, den Blick wieder auf die Wand gerichtet; er sprach, als rede er mit sich selbst. »Sie nähern sich Matjuula mit hoher Fahrt und schießen auf alles, was sich im Weltraum bewegt.« Daniela konnte es sehen. Im Matjuula-System gab es außer dem namensgebenden Planeten eine Reihe von Siedlungen auf kleineren Planeten und Monden, dazu eine Reihe von Weltraumsiedlungen und Raumstationen. Ein halbes Dutzend langsam verwehender Feuerbälle zeigte an, wo diese Stationen gewesen waren. Offenbar hatten die Tolkanderschiffe - es mußten mindestens tausend sein, wenn nicht noch mehr - sie einfach angegriffen, beschossen und vernichtet. Daniela hoffte im stillen, daß die Besatzungen es noch geschafft hatten, sich per Transmitter auf die Zentralwelt zu flüchten. Aber auch dort würden sie sehr bald attackiert werden. »Wahnsinn!« stieß Daniela hervor und schüttelte den Kopf. Sie begriff dies alles nicht. Allein die Milchstraße wies rund 200 Milliarden Sonnen auf, und die Zahl der Planeten, die sich - notfalls mit Mühe - besiedeln oder wirtschaftlich nutzen ließen, ging in die Hunderte von Millionen. Wozu dann Welten überfallen und bekriegen, die bereits besiedelt waren? Es ergab einfach keinen Sinn. »Woher kommen die Bilder?« fragte Daniela. »Ich meine nicht, wo sie aufgenommen werden, sondern von wem?« »Ein Reporterschiff der nahen Trividstation hängt im Raum«, gab Borgon Auskunft. »Sie filmen alles und schicken die Bilder über den Sender« »Auf allen Kanälen?« erkundigte sich Daniela irritiert. »Wir sind durch Zufall darauf gestoßen«, antwortete Borgon. Er blieb in Danielas Nähe stehen, während sich die Halle mehr und mehr zu füllen begann. Immer wieder war Ächzen und -127-
Stöhnen zu hören, und Daniela sah auf vielen vom Kohlenstaub geschwärzten Gesichtern helle Streifen, die von den Augen bis zum Kinn reichten. Borgon stöhnte auf. Wieder war eine Weltraumstation am Rand des Systems angegriffen und zerstört worden. Ein Feuerball glutete auf, strahlend hell und blendend. Die Kamera schaltete automatisch ein wenig zurück, um die Helligkeit zu dämpfen. »Sie haben ferngesteuerte Sonden losgeschickt, um die Bilder aufnehmen zu können«, erklärte Borgon. Die Darstellung auf der riesigen Projektionsfläche, auf der man einen Brontosaurus fast in Lebensgröße hätte abbilden können, zerfiel in mehrere Segmente. Das Reporterteam und die Sendeleitung arbeiteten mit gewohnter Perfektion und Gründlichkeit. Ein Segment, rechts oben in der Ecke, zeigte eine graphische Darstellung des Systems mit der Sonne, den Planeten und den Monden von Matjuula. Die Darstellung war nicht maßstabsgetreu, gab aber einen guten Überblick. Zu erkennen war auch eine Schar flimmernder Punkte, die außerhalb der sonnenfernsten Planetenbahn auftauchten und sich dann langsam auf das Innere des Systems zubewegten. Daniela begriff, daß dies eine Darstellung der eindringenden Flotte sein sollte. Es sah sauber aus, eine leicht überschaubare Graphik, anschaulich und harmlos wie eine geschäftliche Präsentation, die Umsätze und Bilanzen anzeigte, völlig wertfrei und neutral. Links oben waren, 1,2 mal 1,8 Meter groß, Aufnahmen von Matjuula selbst zu sehen; wild durcheinanderhetzende Unither, die offenbar in Panik geraten waren und nicht wußten, was sie unternehmen sollten. Auch hier war die Darstellung professionell, nüchtern und emotionslos. Die Menge drang in ein Raumhafengebäude ein. Wachposten und Polizisten versuchten die Rüsselwesen zurückzudrängen, setzten sogar teilweise ihre -128-
Waffen ein. Aber gegen die panisch tobende Menge hatten sie keine Chance. Sie wurden einfach überrannt und niedergetrampelt. An den Türen und Einlassen kam es zu ähnlichen Szenen des Grauens. Daniela spürte einen heftigen Schmerz an ihrem linken Arm. Kim Chun Kee hatte danach gegriffen und preßte die Finger zusammen. Seine Lippen bebten, sein Gesicht war kalkweiß, aber auch er schaffte es nicht, seine Gefühle zu unterdrücken, nicht einmal mit Gewalt. Daniela konnte den Blick nicht von der Projektionsfläche wenden. Unterschiedlichste Gefühle wirbelten in ihr umher. Da war blankes Entsetzen angesichts der Szenen, denn sie wußte nun, daß es sich um Realität handelte. Da war Trauer und Mitgefühl, da waren Angst und Grauen, und darunterlag eine Portion Ekel vor sich selbst, weil sie imstande war, sich dieses Grauen anzuschauen. Als sie kurz zur Seite blickte, gleichsam um seelisch Atem zu schöpfen, sah sie eine junge Frau, die die Lippen zu einem Lächeln verzogen hatte und ab und zu sogar nickte, wie anerkennend für die Leistung von Regie und Kamera. »In spätestens einer halben Stunde haben sie Matjuula erreicht«, stieß Kee atemlos hervor. »Und dann ...« Eine mitleidige Seele, entweder hier im Raum oder in der Sendeleitung, hatte den Ton abgestellt. Eine Sprecherin oder ein Sprecher im Off, der das Geschehen wie ein spannendes Weltraumrennen kommentierte, wäre wohl nicht zu ertragen gewesen. Und noch unpassender wäre der schreierische und aufreizende Kommentar gewesen, den man von pseudorealen Inszenierungen her gewohnt war und von reißerischen Reportagen, in denen immer das gleiche Vokabular verwendet wurde: »sinnloser Krieg, grausames Gemetzel, Szenen des Schreckens« und dergleichen. Links unten: Bilder aus dem Orbit. Von allen Startbasen und Raumhäfen aus starteten Schiffe: Frachter, Yachten, Shuttles -129-
und sogar das eine oder andere Kampfschiff. Es war eine wilde, plan- und kopflose Flucht. Die Unither hatten in dieser entsetzlichen Lage nur noch einen Gedanken: weg, so schnell wie möglich weg von hier. Eine grelle Detonation überstrahlte dieses Bild, als zwei Yachten dicht über der obersten Schicht der Atmosphäre zusammenstießen. Eines der Schiffe explodierte, das andere begann havariert abzustürzen und nach kurzer Zeit rotglühend aufzuflammen. Was sich im Inneren des in der Ionosphäre verglühenden Schiffes abspielte, blieb der Phantasie vorbehalten. Daniela merkte, wie ihr Magen zu revoltieren begann. »Schaltet das ab«, murmelte sie. »Bitte!« Sie bekam keine Antwort. Die Übertragung ging weiter. Unbarmherzig wie das Geschehen über Matjuula selbst. Die Tolkander rückten näher. Die beiden äußeren Planeten, unbewohnte Gasriesen, wurden nicht angegriffen. Aber eine Flottille flüchtender Schiffe hatte den falschen Kurs gewählt, flog den Tolkandern vor die Geschütze und wurde binnen weniger Augenblicke ausgelöscht. Dieses Geschehen war als Graphik zu sehen, wirkte aber nicht weniger erschütternd. »Kann man den Planeten nicht evakuieren?« rief jemand. Borgon schüttelte das mächtige Haupt. »Bei zwei Milliarden Einwohnern? Ausgeschlossen!« sagte er rauh. Seine Stimme drohte zu kippen. Daniela zögerte einen Augenblick, dann stürmte sie aus dem Raum. Sie hastete hinüber zur Medo-Sektion. Sie war verlassen, nur die Roboter waren zur Stelle. »Kann ich dir helfen?« erkundigte sich einer der Roboter und rollte hinüber zu Daniela. »Es wird sehr bald Nervenzusammenbrüche und seelische Schocks geben, in sehr großer Zahl. Richtet euch darauf ein. Und ich will eine Injektionspistole haben mit einem Beruhigungs-130-
mittel, egal was, irgend etwas, womit man solche Schocks verhindern und abschwächen kann.« »Ich bedauere«, sagte der Robot mit erlesener Höflichkeit. In Augenblicken wie diesem konnte man begreifen, warum viele Galaktiker es vorzogen, sich von ihresgleichen und nicht von Maschinen helfen und behandeln zu lassen. »Psychopharmaka dieser Spezifizierung dürfen nur von entsprechend autorisierten Personen und Maschinen verabreicht werden.« »Dann setzt euch endlich in Bewegung, verdammte Blechkerle!« schrie Daniela, deren Augen sich mit Tränen füllten. »Dies ist doch ein Notfall ...« Sie wandte sich abrupt um. Ich drehe durch, dachte sie. Ich verliere die Beherrschung und brülle Roboter an, die nichts dafür können und sich gegen Beleidigungen nicht einmal wehren können. Sie verließ die Medo-Sektion und kehrte in den Trividsaal zurück. Die Tolkanderschiffe begannen auszuschwärmen, um die Hauptwelt von allen Seiten gleichzeitig angreifen zu können. Inzwischen hatte sich die Abwehrflotte der Unither von Matjuula formiert und setzte zu einem Angriff auf den weit überlegenen Gegner an. Sechzig Unitherschiffe, noch nicht einmal von der neuesten Bauart - ein Insert mitten in der Hauptbildfläche gab einen knappen statistischen Überblick über Typen und Bewaffnung -, rückten vor. Eine Reportersonde jagte hinterher, pickte einzelne der Schiffe heraus und blendete Photographien der Kommandanten ein, nicht anders, als würde eine Mannschaftsaufstellung bekannt gegeben. »Sind die wahnsinnig geworden?« fragte Daniela fassungslos. »Was soll das alles?« »Moderner Journalismus«, kommentierte Kim Chun Kee zynisch. »Objektiv, präzise und völlig teilnahmslos bis zum letzten Augenblick, wie man es auf den Reporterschulen lernen kann.« -131-
Daniela wünschte insgeheim, die Unitherschiffe wären noch älter, als sie ohnehin schon waren. Bei niedrigeren Beschleunigungswerten wäre der Zusammenprall der beiden Flotten um einige Minuten verzögert worden. So aber ... Ein Aufschrei ging durch den Raum. »Da! Sie kommen! Hilfe kommt! Matjuula wird geholfen!« Auf der Graphik tauchten neue Punkte auf, und an der Farbe konnte man gut sehen, daß es befreundete Schiffe waren. Wieder öffnete sich ein Bildschirmfenster, um die Typen der ankommenden Schiffe darstellen zu können. »Diskusraumer!« stöhnte Kim Chun Kee auf. »Schiffe der Blues.« »Und nur einhundert Einheiten«, knirschte Borgon. »Das ist also die Hilfe vom Forum Raglund. Zur Hölle mit ihm!« Es sah ganz danach aus, als würde sein Wunsch zum Teil schon innerhalb der nächsten Minuten in Erfüllung gehen.
5. »Warum trefft ihr Idioten nicht?« gellte Borgons verzweifelter Schrei durch den Trividsaal, der bis auf den letzten Platz gefüllt war. »So wehrt euch doch!« Es war keine Raumschlacht, jedenfalls keine von dem Typus, der in Filmen vorgeführt wurde. Es war ein grausames Massaker. Die Reportersonde hatte sich mitten ins Geschehen geschlichen; alle Ortungssysteme arbeiteten und lieferten ihre Bilder. Dennoch waren die Vorgänge nur schwer zu erfassen. Die Schiffe schwirrten durcheinander wie ein Mückenschwarm, so schnell, daß man Freund und Feind nur anhand der farblichen Kennung unterscheiden konnte. Die unithischen -132-
Einheiten und die Blues feuerten aus allen Rohren, aber sie erzielten kaum einen Treffer. Auch die Sonde hatte ihre Schwierigkeiten mit den Tolkandern. Während sie die Einheiten der Verteidiger meist sehr präzise in ihrer Graphik darstellen konnte, lieferten sie von den Tolkanderschiffen nur flirrende und verschwommene Bilder. Wenn diese Darstellung in etwa den tatsächlichen Verhältnissen entsprach, war es nicht verwunderlich , daß die Verteidiger nicht trafen. Daniela hatte sich für Waffentechnologie nie interessiert. Sie wußte aber immerhin, daß Waffenstrahlen - ausgelöst von Impulsgeschützen, Blasterkanonen, Desintegratoren und anderen ihr Ziel schon recht präzise treffen mußten, um Wirkung zu erzielen. Und das war alles andere als leicht. Das feuernde Schiff bewegte sich, das angegriffene ebenfalls. Normalerweise ortete der Angreifer seinen Gegner, berechnete dessen Kurs, ebenso seinen eigenen und sorgte dann dafür, daß so geschossen wurde, daß der Strahl und das feindliche Schiff sich irgendwo im Raum trafen. Selbst beim Einsatz von hochmodernen Ortungs- und Feuerleitsyntroniken konnte es leicht vorkommen, daß der Waffenstrahl sein Ziel um einige wenige Kilometer verfehlte. Bei Gefechten auf eine Distanz von mehreren Lichtsekunden - auch die voraussichtliche ›Laufzeit‹ des lichtschnellen Waffenstrahls mußte berücksichtigt werden waren selbst winzige Abweichungen geeignet, die Strahlschüsse am Ziel vorbeischießen zu lassen. Bei einer Distanz von einer Million Kilometer entsprach ein Fehlschuß von drei Kilometern einer Abweichung von nur 0,003 Promille. Dies alles galt unter der Voraussetzung, daß die Ortung präzise maß und die Feuerleitsyntronik richtig rechnete. Letzteres war selbstverständlich, aber mit dem Orten schienen die Galaktiker große Probleme zu haben. Sie bekamen die Tolkanderschiffe einfach nicht exakt genug vor die Visiere. -133-
»Sie haben irgendeinen Ortungsschutz«, sagte Kim Chun Kee. »Eine neue Technologie, die wir noch nicht kennen. Deswegen.« Um so präziser war das Feuer der Angreifer. Die Unither und die Blues verloren ein Schiff nach dem anderen. Ihre Flotte wurde einfach überrannt; die Tolkander machten sich nicht einmal die Mühe, ihren Kurs zu ändern, abzudrehen oder auszuweichen. Stur flogen sie auf kürzestem Wege Matjuula an und fegten jeden Widerstand aus dem Raum. Rechts an der Seite änderten sich die statistischen Werte. 16 Prozent Ausfall, 22 Prozent. Es ging sehr schnell. Einer der großen Diskusraumer der Blues drehte ab, schwer getroffen. Die Reportersonde war nahe genug, um das Schiff zeigen zu können. Große Löcher in der Bordwand, rotglühendes Metall, ein stotterndes Triebwerk. Fünf Sekunden lang blieb das Bild stabil, dann wurde der Raumer abermals von zwei oder drei Schüssen getroffen und detonierte. Im Trividsaal war es sehr still geworden. Im Anfang - sogar Daniela hatte unwillkürlich mitgemacht - hatten die Bergleute von Kataora die Verteidiger von Matjuula angefeuert, als könnten die Besatzungen sie über Lichtjahre hinweg hören. Aber die Euphorie war rasch verflogen und hatte schaudernder Stille Platz gemacht. Jetzt war es offenkundig: Matjuula war verloren. Es war nur noch eine Frage der Zeit, von wenigen Minuten. »Siehst du das, Daniela?« fragte Kim Chun Kee und deutete auf die Wand. »Sie haben noch etwas anderes. Noch bevor die Blues beschossen werden, beginnen einige Schiffe sehr seltsam zu fliegen, als hätten die Kommandanten den Verstand verloren!« Eine Sekunde lang dachte Daniela, daß wohl jeder den Verstand verloren haben mußte, der sich in eine solche Auseinandersetzung wagte, vor allem auf der Seite der Verteidiger. -134-
Aber dann wurde ihr bewußt, daß sie damit das Opfer der Blues und Unither herabwürdigte. Es war eine Sache, grundsätzlich gegen jede Form von Aggression und vor allem gegen Krieg zu sein, und es war eine andere Sache, wenn sich Kämpfe einfach nicht mehr vermeiden ließen, das eigene Leben zu riskieren und zu opfern, um anderen Wesen Freiheit und Leben zu bewahren. Viel hatten die Unither und Blues nicht erreicht, höchstens ein paar Minuten Aufschub des Unabwendbaren. Aber in diesen Minuten hatten hoffentlich Zehntausende von MatjuulaUnithern per Raumschiff oder Transmitter die Flucht auf eine Welt antreten können, wo sie nicht angegriffen wurden. War es das wert gewesen? Daniela wagte nicht, diese Entscheidung zu treffen - vor allem nicht, weil sie insgeheim befürchtete, daß auch diese glückliche Flucht letztlich nur auf einen qualvollen Aufschub hinauslaufen konnte. Wer waren diese Tolkander? Was trieb sie dazu, über die Völker des Galaktikums herzufallen, sie anzugreifen und zu bekriegen? Und was - Daniela wagte kaum daran zu denken hatten die Tolkander mit jenen Bewohnern Matjuulas vor, die nicht hatten fliehen können? Jedes Lebewesen, das sie kannte oder von dem sie gehört hatte, besaß einen Selbsterhaltungstrieb, mal bezogen auf das einzelne Individuum, mal bezogen auf die Spezies als solche. Jedes dieser Geschöpfe zog es vor, das eigene Leben zu bewahren, wenn es nur irgendwie ging. Das mußte ebenso für die Tolkander gelten, wie immer sie auch aussehen mochten - bis jetzt hatte man auf Kataora nur die Schiffe der Tolkander gesehen, aber kein einzelnes Wesen dieser Spezies. Sie besaßen Raumschiffe und moderne Technik, also mußten sie intelligent sein. War es möglich, daß ein Volk hochentwickelte Technik entwickelte, ohne dabei auch eine gewisse ethische Reife zu erlangen? »ELL-EFF-TEE, ELL-EFF-TEE!!« -135-
Daniela schrak aus ihren Gedanken auf; sie hatte ein paar Augenblicke lang nicht mehr auf die Wand geschaut. »Was ist los?« fragte sie den Koreaner hastig. »Eine LFT-Flotte ist angekommen. Sieh nur, Daniela, eine richtige Flotte! Oh, Mann, jetzt kann sich das Blatt wenden. Hoffentlich!« Danielas Blick flackerte nach rechts, zur Statistik. Eine Sekunde zögerte sie instinktiv. Sie haßte diese Reportage, die Menschen, die sie machten, und jene, die sie sich wie einen Abenteuerfilm ansahen. Aber sie war gegen die grausige Faszination nicht gefeit. »Fast eintausend Schiffe«, las sie laut mit. »Darunter drei mit 800 Metern, die stärksten Einheiten, die wir haben ...« Die wir haben. Wir? Großer Gott, in welchen Kategorien denke ich denn? Ein ovales Insert tauchte auf. Ein markantes Frauengesicht in der Uniform der LFT-Flotte. Sie war auffallend jung, diese Frau. Dunkle Haare, ein schmales Gesicht mit grünen Augen. Sie lächelte sogar, wenn auch recht grimmig. »Macht den Ton wieder an!« Die Frau bewegte die Lippen, und ein paar Sekunden danach war ihre Stimme zu hören. Unter dem Gesicht tauchte ein Schriftzug auf. LFT-Flottenfrequenz. Offenbar hatte es das Reporterschiff geschafft, sich in die allgemeine Funkverbindung der LFT-Flotten einzuklinken. »... Planeten abzuschirmen. Denkt an den Tangle-Scan der Neezer und paßt auf. Sicherheitsabstand wahren. Wir brauchen lebende Kämpfer, keine toten Helden. Wir werden uns derweil um die Eloundar-Schiffe mit dem Vivoc kümmern.« Kommandant Herge Torrens erschien als Schrift unter dem Frauengesicht. »Tangle-Scan, Vivoc, Eloundar, Neezer ... Was heißt das alles?« fragte Daniela kopfschüttelnd. »Das ist alles so ... so unwirklich.« -136-
»Leider ist es das nicht, Nkosikazi«, antwortete Kim Chun Kee leise. »Es ist die bitterste Wirklichkeit. Aber wenigstens besteht jetzt Hoffnung.« Borgon knirschte laut mit den Zähnen und schlenkerte mit Kopf und Rüssel hin und her. »Erst lassen uns die eigenen Leute im Stich, und dann kommen ausgerechnet die Scheiß-Terraner, um uns herauszuhauen ... Mann, was für eine Welt!« »Ein bißchen freundlicher könntest du schon über die LFT reden«, verwahrte sich Daniela. Borgon wandte den Kopf zu ihr und stierte sie gereizt an, dann grinste er wütend. »Du wirst es nicht glauben, Terraweib«, grollte er. »Aber das war freundlich!« Daniela antwortete nicht. Wie so viele, wenn nicht sogar fast alle auf Kataora, hatte auch Borgon seine Geschichte und vielleicht private Gründe für seinen Haß auf die LFT und die Terraner. Die LFT-Flotte warf sich den Tolkandern entgegen, die ihren Vormarsch unbeirrt fortsetzten. Vielleicht hatte der Koreaner recht, vielleicht war das die Rettung für Matjuula. Die Schiffe der LFT waren mit das beste und stärkste, was sich in der bekanntem Milchstraße finden ließ. Wenn es eine militärische Macht gab, die den Tolkandern Paroli bieten konnte, dann war es die LFT mit ihren Schiffen, die dem Oberkommando von Cistolo Khan unterstanden. »Jawohl!« brüllte Borgon auf und schwang die Fäuste. »Gebt es ihnen, macht sie fertig!« Daniela schüttelte den Kopf und senkte den Blick. Wie konnte man nur eine derartige Begeisterung bei einem solchen Geschehen an den Tag legen? Dies war Krieg, Massentötung, und kein sportlicher Wettbewerb. Aber dann wurde ihr bewußt, daß sie in den gleichen Kategorien dachte und empfand wie der Unither, nur daß sie dieser Kampf nicht so persönlich und so nahe anging. Und daß ihr -137-
Abscheu vor Kampf und Gewalt mit einer gehörigen Portion Überheblichkeit Hand in Hand ging. Was, wenn die Tolkander sich nicht Matjuula ausgesucht hätten, sondern die wenig bekannte und unbedeutende Welt Kataora? Oder gar Terra? In dem Saal, die Galaktiker standen dicht an dicht, wurde es lauter. Wieder feuerte die Menge die Flotte der Verteidiger an, und das Getose wurde lauter, als sich die ersten Erfolge abzeichneten. »Ich hab's gewußt!« schrie Kim Chun Kee, und seine dunklen Augen leuchteten. »Gegen Transformkanonen sind die Tolkander machtlos. Ah, sie haben sich verkalkuliert, jetzt wird es erst richtig ernst. Los, Leute, gebt ihnen Zunder!« Daniela wurde, zu ihrem eigenen Erstaunen, ruhiger und ruhiger. Es war, als lege sich über ihre Emotion eine Scheibe aus Milchglas, die sie alles mit größerer Gelassenheit und Gleichgültigkeit betrachten ließ. So entging ihr auch nicht, daß die Terraner mit den gleichen Problemen zu kämpfen hatten wie die Unither und die Blues. Selbst die gefürchtete Waffe der LFT, die Transformkanone, die atomare Sprengladungen im Gigatonnenbereich verschießen konnte, versagte angesichts der Nicht-Ortbarkeit der Tolkanderschiffe. Nur wenn ein Liga-Schiff einer anfliegenden Tolkandereinheit eine ganze Traube von detonierenden Ladungen in die Flugrichtung legte, war ein Abschuß möglich. Er endete in jedem Fall mit der völligen Vernichtung des Schiffes. Aber dazu, Daniela stellte es mit großer Nüchternheit fest, mußte sich das betreffende LFT-Schiff ausschließlich auf diesen einen Gegner konzentrieren und sämtliche Geschütze nur auf ein Ziel richten. Die Tolkander hingegen verschossen Salven in alle Richtungen, und wenn ihre Waffen auch schwächer waren, so erzielten sie dennoch Erfolge. Die ersten LFT-Einheiten mußten sich angeschlagen aus dem Gefecht schleppen. »Ungefähr eins zu eins«, rechnete Kim Chun Kee aus. »Es wird knapper, als ich gedacht habe.« -138-
»Du sprichst wie ein Stratege auf dem Feldherrnhügel«, kommentierte Daniela kritisch. »Oder wie ein Sporttrainer.« Kee hob nur die schmalen Schultern. »Nun macht schon«, drängte Borgon laut. »Legt euch ins Zeug! Sie kommen immer näher.« Es war ein Chaos. Die beiden Flotten hatten sich ineinander verbissen, das Gefecht löste sich in Einzelkämpfe auf. Das Reporterschiff kam damit nicht zurecht und konzentrierte sich nun auf einzelne Einheiten der LFT, an denen es kleben blieb mit den Sonden. Abermals detonierte ein Tolkanderschiff und verging in einer Glutwolke, begleitet von einem begeisterten Aufschrei in der Halle. Aber wenig später wurde auch das LFT-Schiff beschossen und getroffen. Gleich vier Tolkander hatten gefeuert. Sekundenlang war von dem LFT-Schiff selbst nichts zu sehen, nur die Energiefluten, die gegen seine Schirmfelder anbrandeten. Dann brachen die Schutzschirme zusammen. Ein greller Schleier legte sich über den Kreuzer, dann - es war auf dem Bildschirm deutlich zu sehen - zischte ein einzelner Strahl heran und schlug im Stahl des Schiffes ein. Eine Kaskade weißflüssigen Panzerstahls wirbelte auf, das Schiff drehte rasch ab und suchte das Weite. Unbarmherzig blieb die Sonde ihm auf den Fersen. In einer Großaufnahme war der Treffer zu sehen. Ein vielfach gezacktes, an den Rändern noch hellrot glühendes Loch war in die Hülle gebrannt worden. »O Gott«, stöhnte Daniela auf und wunderte sich im gleichen Augenblick über sich selbst. Sie gehörte keiner der bekannten Religionen an und hielt die meisten dieser Kulte für ziemlich albernes Zeug, das nur dazu diente, sich selbst mit erfreulichen Phantasien über ein Leben nach dem Tode einzulullen. Und doch hatte sie in diesem Augenblick zu einer Formulierung gegriffen, von der sie nicht -139-
geglaubt hatte, daß sie sie jemals benützen würde. Vielleicht war es nur eine Frage der sprachlichen Tradition? Sie verdrängte die Gedanken an das, was sich jetzt im Inneren des angeschlagenen LFT-Schiffes abspielen mochte. Mit Sicherheit hatte es Tote gegeben, noch wahrscheinlicher waren Verletzte, die grausam zugerichtet sein mußten. »Kommandant - wir haben sie!« Noch immer stand die Tonleitung in die Zentrale des Kommandoschiffes der Flotte. Auf Herge Torrens' Gesicht tauchte wieder das grimmige Lächeln auf. »Wir greifen an. Mal sehen, was dieser ... wie heißt das Ding?« »Ein Fünf-D-Indifferenz-Kompensator, Kommandant!« erklang eine vergnügt klingende Männerstimme aus dem Hintergrund. »Wir werden sehen, ob die Camelot-Erfindung etwas taugt. Also los, wir nehmen ausschließlich die beiden Eloundar-Schiffe aufs Korn. Wenn wir die ausgeschaltet haben, werden sich die Tolkander hoffentlich zurückziehen.« »Ich wünschte, ich wäre etwas besser informiert«, murmelte Daniela M'Puno. Sie bemerkte, daß ihre Hände feucht geworden waren. »Was ist jetzt schon wieder Camelot?« Kim Chun Kee lächelte schwach. »Angeblich, es gibt da gewisse Gerüchte, eine Geheimwelt, die sich Perry Rhodan und seine Freunde von der Clique der Unsterblichen eingerichtet haben. Erstklassig ausgerüstet, auf dem höchsten technischen Niveau, mit den besten Fachwissenschaftlern - eben alles vom Feinsten.« Daniela runzelte die Stirn. »Klingt sehr nach Geheimbündelei«, sagte sie. »Ist das nicht strafbar?« »Mag sein, Nkosikazi«, grinste Kee. »Aber vor allem ist es hilfreich.« »Wo steckt dieser Rhodan eigentlich?« wollte Daniela wissen. »Es heißt doch, wenn die Not am größten ist ...« -140-
Kee lachte halblaut. »Du wirst es nicht glauben«, sagte er. »Perry holt Verstärkung. Er ist auf der Suche nach einem Gott!« »Willst du mich veralbern?« »Nein, ernsthaft. Es ist nicht offiziell bekannt, aber Rhodan ist auf Trokan. Er ist in diesen Tempel gegangen, der dem Gott Kummerog geweiht ist. Leider ist er von der Besprechung mit Kummerog bisher nicht zurückgekehrt.« Daniela hatte keine Lust, sich weiteren Unfug dieses Kalibers anzuhören. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen um Matjuula zu. Es waren die drei 800-Meter-Raumer, die jetzt die Hauptlast des Kampfes übernehmen mußten. Daniela erkannte, daß sie es auf die beiden größten Raumschiffe abgesehen hatten, die in der Tolkanderflotte zu orten waren. Wahrscheinlich waren dort die Befehlshaber der Flotte zu finden. Wenn sie ausfielen - was für ein verharmlosender Begriff dafür, fand Daniela, daß sie getötet werden sollten, samt ihrer Besatzungen -, würde der Angriff vielleicht enden. Endlich ... und vielleicht gerade noch rechtzeitig. »Sieht so aus«, freute sich Kim Chun Kee halblaut, »als würde dieses 5-D-Ding etwas taugen. Siehst du es? Sie haben viel größere Trefferquoten als die anderen LFT-Einheiten.« »Ich kann es sehen«, gab Daniela zurück. Sie trocknete ihre Hände an der Jacke. Ihr Herz schlug rasend schnell, ihr Atem ging stoßweise, und wenn sie nur für eine Sekunde die Augen von dem Geschehen um Matjuula wandte, begann sie ihre Angst zu spüren. Die Tolkander schienen zu ahnen, welche Strategie Herge Torrens verfolgte. Zum einen trennten sich die beiden großen Schiffe voneinander, zum anderen hüllten sie sich in einen Kokon aus anderen Schiffen, die sie einkreisten und beschützen sollten. Glücklicherweise blieb es ein abstraktes Geschehen - man sah -141-
zwar immer noch das Gesicht der LFT-Kommandantin, die eine steinerne Ruhe ausstrahlte, aber ansonsten waren nur Schiffe und Graphiken zu sehen. Die 800-Meter-Raumer setzten ihre überlegene Feuerkraft rücksichtslos ein. Unablässig spieen die Transformkanonen ihre Geschosse aus, und dank der erhöhten Trefferquote schafften sie es, eine Bresche in die Reihe der Tolkander zu schlagen. Unaufhaltsam näherten sich die LFT-Schlachtkreuzer ihrem Ziel, ebenso unaufhaltsam, wie sich die Tolkanderflotte insgesamt dem Planeten Matjuula näherte. Raumschiffe starteten nicht mehr von dort. Was fliegen konnte, war gestartet und hatte das Weite gesucht. Günstigstenfalls hatten sich so einige hunderttausend Unither retten können - von mehr als zwei Milliarden, die auf Matjuula lebten. Noch lebten. »Los, ran!« schrie Borgon. Sein Blick flackerte zwischen zwei Ausschnitten hin und her: einmal die LFT-Schiffe, die auf die erste Eloundar-Einheit das Feuer eröffneten, zum anderen auf Matjuula, dem die Tolkander immer näher kamen. Das Gefecht stand auf der Kippe. Geschlagen waren die Tolkander noch nicht. Es war deutlich zu sehen, daß die Terraner vor einem bestimmten Typus der Tolkanderschiffe sorgsam Abstand hielten, als hätten sie Angst davor. »Jaaaaa!!!« Einige Galaktiker im Raum rissen sogar jubelnd die Arme in die Höhe, als das erste Eloundarschiff in einem Feuerball verging. Herge Torrens' Taktik schien aufzugehen. »Jetzt das andere!« schrie Borgon. »Los, geht ran!« »Kommandant!« Der Mann im Off sprach ruhig, aber seiner Stimme war anzuhören, daß er nichts Erfreuliches zu melden hatte. Auf der Projektionswand war zu sehen, wie Herge Torrens den Kopf wandte. -142-
»Ja?« »Die ersten Neezer-Schiffe sind nahe genug herangekommen«, meldete die Stimme. »Matjuula liegt teilweise schon im Tangle- Scan! Tut mir leid.« Daniela stockte der Atem. Im Raum kehrte Totenstille ein. Was hieß das nun schon wieder? Herge Torrens schloß für einige Sekunden, die Daniela endlos lang erschienen, die Augen. Ihre Lippen preßten sich aufeinander. »Zu spät«, sagte sie. »Wir sind zu spät gekommen. Um lausige zehn Minuten, dann hätten wir sie gehabt.« »He!« schrie Borgon und sprang in die Höhe. »Was heißt das? Was soll das heißen, zu spät gekommen. Knallt sie ab, fegt sie aus dem All!« Herge Torrens holte lange und tief Luft, dann richtete sie sich wieder auf. Ihre Augen glänzten feucht. »Rückmarsch«, ordnete sie an. »Wir können für Matjuula und seine Bewohner nichts mehr tun. Befehl an alle Einheiten, Rückzug zu den Basen. Diese Operation ist beendet.« Die Augen des Unithers Borgon wurden geradezu riesig. Er stand wie versteinert da, und alle Augen begannen sich auf ihn zu richten. Die Projektionswand wurde dunkel. Das Reporterschiff hatte seine Sendungen eingestellt. »Tut mir ...« »Schweine!« schrie Borgon gellend auf; er begann um sich zu schlagen und schrie unaufhörlich. »Ihr verdammten Schweine, ihr jämmerlichen Feiglinge! Verräter! Ihr habt uns im Stich gelassen. Die Sternenteufel sollen euch fressen. Ihr ...« Er verstummte, als der Medo-Robot ihm das starke Beruhigungsmittel injizierte. Die Schlacht um Matjuula war vorbei. Wenigstens für die Galaktiker auf und unter Kataora ... -143-
6. »Ich verstehe das einfach nicht«, seufzte Daniela M´Puno erschöpft. »Kein Kontakt zur Oberfläche, nicht ein Piepser. Kein Funk, keine Leitung funktioniert mehr. Das ist doch nicht normal.« »Nichts ist nach einem solchen Unfall normal«, widersprach Kim Chun Kee philosophisch. »Abgesehen davon - was heißt das eigentlich, normal?« »Wollen wir jetzt eine erkenntnistheoretische Debatte führen?« fragte Daniela matt. Sie hatte sich einen Tranquilizer injizieren lassen, um ihre aufgeputschten Nerven wenigstens halbwegs unter Kontrolle zu bekommen. Matjuula gehörte seit einigen Stunden der Vergangenheit an, und Borgon lag in einem künstlich herbeigeführten Tiefschlaf. Man konnte sich auf Sohle achtzehn wieder den eigenen Problemen zuwenden. Oder ...? »Was geht dir im Kopf herum, Nkosikazi?« »Kee, altes Schlitzauge, hör auf mit dem Unfug. Ich habe ... wir haben jetzt Wichtigeres zu tun als herumzubalzen. Zum letzten Mal - ich bin an dir zur Zeit nicht interessiert. Kapiert?« »Kapiert«, antwortete Kee und lächelte zufrieden. »Zur Zeit will ich auch nicht mehr.« Er betonte auffällig die beiden Worte zur Zeit, als könne er daraus geheime Informationen ablesen, aber Daniela ging darüber hinweg. »Hältst du es für möglich, daß die Tolkander auch Kataora angegriffen haben?« »Angegriffen haben? Vergangenheitsform?« »Ja. Stell dir vor, wir wären in einem Bergwerk auf Matjuula, ebenso von der Oberfläche abgeschnitten wie hier. Würden wir von dem Überfall dann überhaupt etwas mitbekommen?« -144-
Kim Chun Kee runzelte die Stirn. »Möglicherweise nicht«, gab er zu. »Aber ich bitte dich - ausgerechnet Kataora? Diese Welt ist im galaktischen Maßstab unbedeutend, keine lohnende Beute für die Tolkander.« »Oh«, giftete Daniela sarkastisch. »Du kennst nicht nur meine Psyche, sondern auch diejenige der Tolkander. Was, bitteschön, ist an Matjuula so bedeutend, daß sich ein Angriff lohnt? Welche Beute gedenken die Tolkander dort zu machen?« Kee hatte sofort eine Antwort parat. »Sklaven«, sagte er. »Das einzige, was Matjuula von tausend anderen Welten ähnlichen Zuschnitts unterscheidet, ist die Tatsache, daß dort zwei Milliarden Unither leben. Jetzt vielleicht ein paar Millionen weniger, hoffentlich. aber die Masse hat sich ganz bestimmt nicht in Sicherheit bringen können. Sie sind noch dort, unter tolkandischer Herrschaft.« »Sie leben noch? Glaubst du wirklich daran?« Kee zuckte mit den Achseln. »Was sonst?« fragte er zurück. »Was hätten die Tolkander von zwei Milliarden Leichen? Daniela, kein Volk bringt einfach ein anderes Volk um. Das macht doch überhaupt keinen Sinn. Es ist unethisch, unlogisch und vor allem unwirtschaftlich. Ich weiß zwar nicht, was so ein Tolkander in seinem Kopf hat - falls er überhaupt einen Kopf hat... kann natürlich auch eine Sie sein, die Tolkanderin ... Hmm, vielleicht wollen sie die Unither zu ihren Liebessklaven machen?« »Kannst du eigentlich auch an etwas anderes denken, außer an Sex?« Kee dachte nach. »Theoretisch möglich«, gab er dann feixend zu. »Aber nicht in deiner Gegenwart.« Daniela holte aus. Kee duckte sich und hob abwehrend die Hände. »Nicht schlagen!« winselte er. »Nicht schon wieder schlagen...« -145-
Daniela ließ die Hand sinken. »Findest du deine Bemerkungen nicht selbst reichlich unpassend oder geschmacklos?« fragte sie ernst. Kee nickte. »Zugegeben«, sagte er. »Die Unither werden es nicht erfahren, und mir hilft es, nicht restlos durchzudrehen. Okay, genug davon! Sollen unsere Kinder eigentlich Kee oder M'Puno heißen?« »Du bist unmöglich«, sagte Daniela und lächelte schwach. Sie hatte Kee, wenigstens in diesem Punkt, durchschaut. Er erlaubte sich diese Dreistigkeiten, um ihre Gedanken, notfalls durch gewaltsame Albernheiten, aus den Geleisen zu werfen, in die sie sich während der letzten Stunden förmlich eingegraben hatten. Und das war ihm auch gelungen. »Wir machen es von der Farbe abhängig, einverstanden? Müßte eine sehr interessante Mischung ergeben.« Daniela hob abwehrend die Hand. »Laß uns zum Ernst zurückkehren! Du meinst, auf Kataora sind wir sicher?« »Vor den Tolkandern bestimmt. Im Ernst, sie werden für ihre Aktionen, so brutal sie auch sein mögen, wenigstens in ihren Augen vernünftige und nachvollziehbare Gründe haben. Wahrscheinlich brauchen sie billige Arbeitskräfte.« »Es gibt doch Roboter! Die Tolkander werden doch garantiert eine robotisierte Industrie haben! Schiffe dieser Art werden schließlich nicht von Hand geschnitzt.« »Richtig«, stimmte Kee zu. »Aber Roboter sind teuer, und es gibt viele Arbeiten einfacher und komplizierter Art, die ein lebendes Wesen weitaus billiger erledigen kann. Vor allem, wenn man ihm außer Reis und Tee nichts zu zahlen braucht. Roboter sind, in gewisser Weise, auch Sklaven, hochbefähigte sogar, aber in der Herstellung ziemlich teuer. Lebewesen reproduzieren sich zudem von selbst - wenn man sie läßt.« »Wirklich erstaunlich, wie du den Schlenker von Robotindustrien zum Sex gefunden hast«, merkte Daniela an. -146-
Sie hatte sich in ihr Appartement, zurückgezogen und sich auf ihrem Bett ausgestreckt. Die Massageeinrichtung war aktiviert, sie walkte langsam und gründlich ihren restlos verspannten Rücken durch. Fast so gut wie ... Verdammt, dachte Daniela und unterdrückte mit Mühe ein Grinsen. Jetzt fange ich schon selber an. Dieser verflixte Kee! »Okay, was fangen wir jetzt an? Abwarten ist nicht meine Sache, und durch Teetrinken wird es auch nicht besser.« »Das hängt, vom Tee ab«, merkte Kee an. »Möglichkeit eins, aber nicht dein Fall, wir warten ab, bis man uns herausholt. Das kann noch ein paar Tage dauern, wenn wir Pech haben. Chylus ... ach, weißt du eigentlich, was das Wort Chylus bedeutet?« »Keine Ahnung!« »Chylus ist eine besondere Form von Lymphe, gebildet im Ausgang des Magen-Darm-Traktes, von weißlich bis gelblicher Farbe, wegen des hohen Fettanteils. Wer immer unserem Freund diesen sehr passenden Namen verpaßt hat, hat entweder keine Ahnung gehabt oder hat den armen Kerl schon kurz nach der Geburt inbrünstig gehaßt.« »Erstaunlich, was du alles weißt.« »Ich war drei Jahre lang terranischer Champion beim Jeopardy.« Daniela grinste. »Ich entdecke ungeahnte Qualitäten in dir!« Kee gab das Grinsen betont schmierig zurück. »Die besten kennst du noch gar nicht.« »Zurück zum Thema«, ordnete Daniela an. »Möglichkeit zwei? Dein alternativer Vorschlag?« »Technisch haben wir alles, was wir dazu brauchen. Wir können uns in die Höhe bohren, bis wir sicheres Gelände erreichen, und uns damit selbst aus der Klemme befreien. Unser lymphatischer Freund wird das allerdings nicht besonders schätzen, wenn wir solche Querbohrungen durch seine Stollen anbringen.« -147-
Daniela nickte versonnen. »Es wäre besser gewesen, man hätte für den Notfall auf jeder Sohle einen Transmitter installiert.« »Besser ja«, kommentierte Kee knapp. »Teurer aber auch, und dieses Argument dürfte, wie immer, gesiegt haben.« Daniela machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es geht jetzt nicht um die Kosten«, sagte sie bitter. »Es geht um die Sicherheit unserer Leute. Du hast es doch gesehen in der Trividhalle. Die Leute haben Angst, weniger um sich selbst, aber dafür um ihre Angehörigen, die sie zurückgelassen haben. Wer weiß, welche Welt von den Tolkandern als nächstes angegriffen wird?« »Etliche«, sagte Kim Chun Kee. »Nach den letzten Nachrichten gibt es eine Tolkanderflotte von fast einhunderttausend Einheiten, die sich im Sektor 47 Tucani gesammelt hat.« »Einhunderttausend Schiffe?« fragte Daniela erschrocken. »So heißt es. Rechnet man pro angegriffenem Planeten zweitausend Einheiten, wie im Fall Matjuula, dann können sie sofort rund fünfzig Planeten attackieren.« Daniela schüttelte den Kopf. »Und was haben wir dem entgegenzusetzen?« »Bessere Schiffe«, wußte Kim Chun Kee zu berichten. »Aber weniger. Es kommt darauf an, daß dieser Kompensator funktioniert und in genügend großen Stückzahlen produziert werden kann, um alle Schiffe damit auszurüsten. Du hast es ja erlebt: Vor Matjuula waren nur drei Liga-Einheiten damit ausgestattet, und selbst die hatten noch gewaltige Probleme. Wenn die Tolkander zu einer Großoffensive antreten ...« »Dann werden sie die LFT vernichten.« Kee nickte. »Oder das Kristallimperium. Oder das Forum Raglund. Was immer sie wollen. Es scheint auf eine Zeitfrage hinauszulaufen.« »Auf einen Wettlauf - wer ist schneller, unsere Industrie mit diesem 5-D-Dings oder die Invasionsflotte der Tolkander? -148-
Grauenvoll!« Der Koreaner zeigte ein bitteres Lächeln. »Und dabei wissen wir noch nicht einmal, ob das alles ist, was die Tolkander aufbieten können. Garantiert haben sie noch Reserven, für alle Fälle.« »Weiß man wenigstens, woher sie kommen? Aus unserer Milchstraße?« Kee wiegte den Kopf. »Unwahrscheinlich«, antwortete er. »Zugegeben, diese Galaxis ist groß, viel größer, als wir uns das vorstellen. Wir haben nur einen Bruchteil der Sonnen und Systeme erkundet. Aber eine technisch so hochstehende Großmacht, wie es die Tolkander offenbar sind, hätte sich vor uns nicht Jahrtausende lang verstecken können. Wir können ihre Schiffe orten, mit großen Problemen, aber grundsätzlich können wir das. Also hätten wir sie auch früher schon das eine oder andere Mal entdecken müssen. Nein, ich glaube, sie kommen von weither.« »Aber warum? Was wollen sie von uns?« Kee zuckte die Achseln. Nach Späßen und Anzüglichkeiten war ihm jetzt offenbar nicht mehr zumute. »Keine Ahnung. Vielleicht bekommen wir es heraus, wenn wir sie geschlagen haben. Vielleicht, wenn sie uns geschlagen haben. Vielleicht auch nie. Es ist im Grund völlig gleichgültig. Wenn mich ein Löwe anspringt, um mich aufzufressen, hat er aus seinem Blickwinkel durchaus verständliche und nachvollziehbare Beweggründe. Aber ich werde mich einen Dreck um seine Rechtfertigung scheren und mich zur Wehr setzen. Und wenn es nicht anders geht, werde ich den Löwen eben töten, wenn ich kann - bevor er es mit mir tut. So einfach ist das.« Daniela nickte und stand auf. »Wir müssen mit den Leuten reden«, sagte sie. »Eine Strategie entwerfen, was wir tun wollen.« Kee runzelte die Stirn. »Was sie dir sagen werden, kann ich dir jetzt schon verraten«, verkündete er. »Es wird ganz einfach sein - hol uns hier raus!« -149-
Daniela gab ihm keine Antwort. Die beiden Galaktiker verließen Danielas Appartement und gingen zur Trividhalle. Sie war gerammelt voll, und abermals lief ein Schlachtengemälde auf der großen Projektionswand ab. Es war bedrückend still im Raum. Die Menschen starrten bleich und schweigend auf das Szenarium. »Azgola«, wurde Daniela aufgeklärt. »Eine Arkonidenkolonie. Sie hatten keine Chance ...« »Was heißt das?« fragte Daniela. »Das Kristallimperium?« »Arkon scheint seine Flotte ausschließlich zum Schutz der Zentralwelten einsetzen zu wollen. Nur eine Handvoll Schiffe haben sie nach Azgola geschickt. Es hat nicht einmal zehn Minuten gedauert, dann waren sie weggefegt. Neezer und Gazkar haben sie überrannt, der Planet ist in den Tangle-Scan gehüllt worden, und jetzt sind die Eloundarschiffe dabei, ihr Vivoc auszuladen.« Der Mann, ein bulliger Ferrone, sprach ruhig und gelassen, und er benutzte die rätselhaften Begriffe mit einer Selbstverständlichkeit, als wisse er ganz genau Bescheid. »Also offenbar nicht nur Raglund, sondern auch das Kristallimperium«, konstatierte Kim Chun Kee bitter. »Dann ist irgendwann die LFT dran, darauf wette ich.« »Pah«, sagte der Ferrone. Er stammte von einem Planeten der Wega, nur etwas mehr als zehn Lichtjahre vom Solsystem entfernt, also mitten im Herzen der LFT »Was willst du einsetzen? Geld? Oder deinen Kopf? Beides ist jetzt nicht mehr viel wert. Wenn ihr mich fragt, dann sitzen wir alle miteinander tief in der...« »Stell den Ton ab!« sagte Daniela laut. »Wir müssen reden.« Einige Augenblicke später war es ruhig geworden in der Halle. Die Luft war nicht besonders gut. Sie roch nach Angstschweiß, und darüber lag ein Hauch von hochprozentigem Alkohol. -150-
»Die Frage ist die gleiche wie gestern«, sagte Daniela laut, »Was unternehmen wir hier auf - besser gesagt: unter - Kataora? Kee ist der Meinung, Kataora sei viel zu unwichtig, um angegriffen zu werden, und dem stimme ich zu. Folglich sind wir hier in Sicherheit...« »Vorläufig«, fiel ihr der Ferrone ins Wort. »Aber nicht für alle Ewigkeit. Rechne einfach nach: einhunderttausend Schiffe, macht fünfzig Angriffsflotten. Für Matjuula und Azgola haben sie nur ein paar Stunden gebraucht. Wenn sie wollen, sackt jede Flotte pro Tag zwei bis drei Welten ein. Macht zwischen hundert und hundertfünfzig bewohnte Planeten am Tag. Ich habe es nachgerechnet, ganz einfach. Macht in einem Monat drei- bis viertausend Welten, und in einem Jahr zwischen dreißig- und vierzigtausend. Im Klartext: Selbst wenn wir die unwichtigste Welt in der Milchstraße wären, sind wir in ein paar Monaten fällig. Tut mir leid, aber deine nächste Geburtstagsfeier wird wohl ausfallen.« Das Schweigen wurde nach diesen Worten noch bedrückender. »Gut gebrüllt«, klang Kim Chun Kees Stimme auf. »Die Terraner nennen so etwas eine Milchmädchenrechnung. Frag mich nicht, was das ist, ein Milchmädchen, vielleicht eine Art Amme, und was die mit Mathematik zu tun hat, weiß ich nicht. Jedenfalls ist diese Kalkulation reichlich weit hergeholt. Dann blieben den Tolkandern für jeden Planeten nur noch zwei oder drei Raumschiffe übrig ...« »Wenn unsere alle zerblastert sind, reicht das völlig aus«, konterte der Ferrone. »Ich will hier nicht in Pessimismus machen; noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben. Schließlich gibt es im Kosmos auch so etwas wie Superintelligenzen wie ES.« »Pah«, machte ein anderer. »ES kannst du vergessen. Dieses Problem werden wir allein lösen müssen.« -151-
Der Ferrone nickte. »Und das ganz bestimmt nicht ausgerechnet auf Kataora. Daniela, ich weiß, daß du hier unser Boss bist. Und daß du die Spielregeln der Grubenleitung zu befolgen hast. Das bedeutet für uns, daß man von uns erwartet, daß wir die Arbeit vor Ort bald wieder aufnehmen und weiterproduzieren, als sei nichts geschehen.« Daniela nickte knapp. »Darauf wird es hinauslaufen«, bestätigte sie. »Schließlich können nicht alle Galaktiker auf allen Welten in Panik ausbrechen und alles stehen- und liegenlassen.« »Mag sein.« Der Ferrone blickte Daniela intensiv an. »Aber ich habe einen Sohn, er ist erwachsen und in der Liga-Flotte, und ich würde ihn gerne noch einmal sehen, bevor es zu spät ist. Wenigstens mit ihm reden, und sei es nur per Hyperkom. Danach können wir von mir aus weitermachen. Aber vorher werde ich nur für eine Sache einen Finger krumm machen: dafür, daß wir wieder Kontakt zum restlichen Kosmos aufnehmen können. Es macht mich wahnsinnig, hier auf der Trividwand diese gräßlichen Nachrichten anzusehen, ohne selbst etwas unternehmen zu können.« »Richtig, völlig richtig«, klang es aus den hinteren Reihen. »Bring uns hier raus, Daniela! Unbedingt.« Der Ferrone zeigte ein dünnes Lächeln. »Und wenn Haemat dir den Kopf deswegen abreißen will, werden wir hinter dir stehen und dich verteidigen. Sag einfach, du hättest dem Druck der Mehrheit nachgegeben. Ich nehme doch an, daß ich im Sinn der Mehrheit von uns spreche, oder?« Das Gemurre zeigte an, daß er die Lage richtig eingeschätzt hatte. Daniela stieß einen Seufzer aus. »Stell dich nicht gegen uns«, bat der Ferrone. »Es wird ein verdammt hartes Stück Arbeit werden, dabei werden wir dich brauchen. Also? « -152-
»Macht den Weg frei, Leute. Da kommen welche ...« Daniela wandte sich um. Im Eingang der Halle waren drei Galaktiker aufgetaucht; sie wirkten müde und erschöpft, sahen aber einigermaßen zufrieden aus. Eine der Gestalten kam Daniela bekannt vor. Richtig, es war Thornid Klaef, Leiter von Sohle neunzehn, der untersten Sohle des Bergwerks. »Hallo, Daniela!« Daniela eilte auf ihn zu und schloß ihn in die Arme. »Wie schön, daß ihr es geschafft habt«, sagte sie. »Wie sieht es bei euch aus?« Klaef hob die breiten Schultern. »Wahrscheinlich ähnlich wie bei euch«, antwortete er. Er blickte sich um. »Miserabel, aber keine Toten und Verletzten. Bei euch auch?« »Wir sind abgeschnitten«, antwortete Daniela. »Kein Kontakt nach oben, nicht ein Piepser.« »Habe ich mir gedacht«, murmelte Klaef und rieb sich die Augen. »Dieser Mistkerl Haemat!« »Wir wissen nicht, was sich oben alles zugetragen hat«, wehrte Daniela ab. »Wir ...« »Sollten an die Arbeit gehen«, fiel ihr Klaef ins Wort. »Wir sind nämlich nicht zum Spaß heraufgekommen.« »Wie habt ihr das überhaupt geschafft?« fragte Kim Chun Kee. »Die Antigravschächte sind doch ausgefallen, die Fördereinrichtungen auch?« »Wir sind im Schacht hochgeklettert, wie die Bergsteiger«, antwortete Klaef grimmig. »Zum ersten Mal in diesem Job habe ich nicht Angst gehabt, daß mir der Berg auf den Kopf fällt, sondern daß ich in den Berg hineinfalle. Aber jetzt, wir haben Stahlseile und dergleichen mit hochgezogen, werden wir unsere Leute wohl bergen können.« » Bergen?« Düstere Ahnungen stiegen in Daniela auf. »Richtig, bergen. -153-
Unsere Sohle läuft nämlich langsam voll. Wassereinbruch, und wir bekommen ihn ohne Technik von oben nicht gestoppt.« Unruhe breitete sich im Trividsaal aus. »Wieviel Zeit bleibt euch?« Die Frage lag nahe. »Ungefähr ein Tag, schätze ich. Aber in zehn bis zwölf Stunden werden wir die Technik abschalten müssen, weil es sonst zu Kurzschlüssen und Stromschlägen kommt. Ohne Hilfe werden wir es nicht schaffen.« Kim Chun Kee reckte die Hand hoch. »Dann los, Leute, ihr habt es gehört. Holen wir sie raus!« Er stürmte aus dem Saal, und fast alle, die mit dem Abbau zu tun hatten, folgten ihm, auch ein Teil des Service-Personals. Klaef atmete langsam durch. Er blieb in Danielas Nähe. »Dir ist klar, daß die Brühe früher oder später auch hier ankommen wird, nicht wahr?« »Selbstverständlich«, antwortete Daniela. »Wie früh?« Thornid Klaef wiegte den Kopf. »Schwer zu sagen«, meinte er. »Beim Vortrieb haben wir vor drei Wochen ein Aquifer abgebohrt.« Ein Aquifer war, wie Daniela wußte, eine wasserführende Schicht unter der Oberfläche eines Planeten. »Keine Ahnung, wie groß es ist. Kann sein, daß das Geplätscher bald aufhört, aber ich glaube nicht daran. Die Pumpen haben bisher Millionen Kubikmeter Wasser nach oben gepumpt. Jetzt sind sie ausgefallen, und wenn wir Pech haben, säuft die gesamte Anlage ab - spätestens in zwei Wochen.« »Das müßte reichen«, murmelte Daniela; sie konnte sich eines schmalen Lächelns nicht enthalten. »Was amüsiert dich daran?« »Wir waren gerade dabei, allgemein zu diskutieren, ob wir uns nach oben durchgraben sollen oder nicht. Die von dir geschilderte Zwangslage läßt uns keine andere Wahl. Selbst Chylus Haemat wird das einsehen müssen.« -154-
Klaef stieß ein bitteres Lächeln aus. »Hoffe darauf«, sagte er grimmig. »Aber rechne nicht damit. Ich nehme an, ihr habt ebenfalls die Trividmeldungen mitbekommen?« Daniela nickte seufzend. »Matjuula überrannt, Azgola gefallen - welche Welt wird als nächste dran sein?« »Das ist gerade nicht unser Problem«, meinte Thornid Klaef hart. »Wir haben andere Sorgen.« »Bis wir die Oberfläche erreicht haben«, erinnerte ihn Daniela. »Dann geht die Invasion auch uns wieder an. Kee meint, Kataora wäre zu unwichtig für die Tolkander, und ich stimme ihm zu.« »Hoffentlich hat er recht«, orakelte Klaef. »Hoffentlich ...«
7. »Vorsicht!« schrie Daniela, so laut sie konnte. »Aufpassen! Und setzt die Atemmasken richtig auf!« Wenigstens waren die Leute jetzt wieder beschäftigt. Das Service-Personal war dabei, die Kumpel von Sohle neunzehn zu bergen. In Zweiergruppen wurden die Männer und Frauen auf Sohle achtzehn gehievt, eine anstrengende und langwierige Prozedur. Als Ansporn konnte den Galaktikern dienen, daß sie in den wenigen Augenblicken der Stille unter sich das Plätschern des einströmenden Wassers hören konnten. Das Geräusch gehörte zum Alltag unter Kataora und war nicht weiter beunruhigend - vorausgesetzt, man bekam zur selben Zeit das vertrauenerweckende leise Surren der Pumpen zu hören. Aber dieses Geräusch fehlte, und so machte allein das unaufhörliche Geplätscher den Menschen zu schaffen. Noch verfiel niemand in Panik, aber jeder wußte Bescheid - wenn die Rettungsaktion nicht erfolgreich war, würden Tausende unter der Erde ersaufen. -155-
»Los jetzt, vorwärts, Leute!« schrie Daniela. Sie hätte sich gewünscht, für diese Aufgabe einen großen Desintegrator einsetzen zu können, aber der Einsatz dieses Gerätes war unter Tage lebensgefährlich. Desintegratoren lösten die molekulare Struktur des Materials auf, auf das sie gerichtet waren. Es war ein Verfahren, das rasch und gründlich arbeitete, millimetergenau. Aber dabei fielen Unmengen eines Staubes an, der praktisch aus vereinzelten Atomen bestand. Bei Felsgestein machte das nicht sonderlich viel aus - aber mikrofein pulverisierte Kohle war kein fester Brennstoff mehr, den man erst anzünden mußte. Sie bildete vielmehr ein Gemisch, das beim kleinsten Funken hochgehen konnte, womöglich noch schlimmer als bei einer Detonation von Grubengas. Der Einsatz von Thermostrahler verbot sich aus dem gleichen Grund, also gab es nur zwei Möglichkeiten: Sprengungen und Ultraschall. Daniela hatte sich für Ultraschall entschieden, auch das aus naheliegenden Gründen. Die meisten Sprengungen waren, näher betrachtet, rasend schnell ablaufende Verbrennungsvorgänge. Der Sprengstoff verband sich mit Sauerstoff, verbrannte und wurde zu Gas; dessen Expansionsdruck war es, der den eigentlichen Vorgang der Sprengung bewirkte und das Gestein zerbrach. Dabei wurde unweigerlich Sauerstoff verbraucht, und Daniela hatte Sorge, daß die Luftvorräte irgendwann knapp werden konnten. Außerdem ging es dabei selten ohne das Aufwirbeln von Feinstaub zu. Normalerweise wurde vor und nach einer Sprengung die Umgebung mit Wasser berieselt, aber das kostete kostbare Zeit. Es blieb also nur der Ultraschall. Schwingungen von einigen hunderttausend Hertz ließen das Felsgestein regelrecht zerbröseln. Staub, zum Glück grobkörniger, rieselte herab, begleitet von kleineren und größeren Felstrümmern. -156-
»Sehr gut!« lobte Daniela. Während das eine Team sich in die Höhe arbeitete, Meter für Meter, waren andere damit beschäftigt, das Geröll wegzuschaffen. Es einfach in den Hauptschacht zu kippen, kam nicht in Frage - nicht, weil das Material unweigerlich Wasser verdrängte und damit den Wasserspiegel ansteigen ließ. Dafür waren die anfallenden Mengen zu unbedeutend. Aber der Hauptschacht wurde dazu benutzt, die Kollegen von Sohle neunzehn in die Höhe zu schaffen, auf die man die Brocken nicht einfach hinunterrieseln lassen konnte. Also mußte der Abraum horizontal beiseite geschafft werden, was mehr Zeit und Aufwand kostete. »Sehr gut«, lobte auch Thornid Klaef. »Es geht zügig voran.« Sie konnten sich mit normaler Lautstärke unterhalten; der Ultraschall war für menschliche Ohren nicht wahrzunehmen. Nur das Prasseln des stürzenden Gerölls und die Zurufe der Arbeiter untereinander durchdrangen die Stille. »Fünf bis sechs Stunden, dann sind wir durch«, rechnete Daniela aus. »Vielleicht sind die Kollegen auf Sohle siebzehn auf ähnliche Gedanken gekommen und arbeiten sich ebenfalls nach oben. Wenn wir fertig sind, könnten sie Sohle sechzehn erreicht haben. Dann wird es natürlich schwieriger.« »Aber es ist machbar«, versetzte Klaef. »Dann ein weiterer Durchbruch, und wir haben fünfzehn erreicht. Und von dort aus...« Daniela konnte angesichts von so viel Optimismus und Zuversicht nur lächeln. Sie versuchte sich die Ebene sechzehn vorzustellen. Die Stollen angefüllt mit tonnenschweren Brocken, dazwischen technisches Gerät - und wahrscheinlich auch Leichen und Verletzte. Hoffentlich gab es auch einige stabil gebliebene, aber abgeschnittene Bereiche, in denen Kollegen eingeschlossen waren. Es verstand sich von selbst, daß alle Anstrengungen unternommen werden mußten, diese Verschütteten zu bergen. Die Berufsehre ließ gar keine andere Möglichkeit zu. -157-
Aus den Augenwinkeln heraus sah sie Kee auf sich zutraben. Sein Gesicht war düster, und das nicht wegen des Staubes. »Euthets Stern«, sagte er halblaut, als er Daniela und Thorbin Klaef erreichte. »Dritter Planet ist Euhja.« »Und?« Daniela erinnerte sich an Euhja. Euthets Stern lag mehr als 8000 Lichtjahre von Sol entfernt, ziemlich abseits der normalen Handelsrouten. Im 23. Jahrhundert der alten Zeitrechnung war Euhja von Hornschrecken verwüstet worden und hatte danach das Bild einer buchstäblich kahlgefressenen Welt geboten. Aber dort war es auch endlich zu einem Kontakt zwischen Terranern und den Schreckwürmern gekommen. »Euhja ist praktisch unbewohnt«, wußte Kee zu berichten. »Eine Wasserwelt, auf der es nur tierisches Leben gibt. Nur ein Kontinent, nicht größer als eine große Insel.« »Und den haben die Tolkander angegriffen?« »Und erobert, ohne Widerstand. Eine Liga-Flotte hat den Kurs der Igelschiffe berechnet und ist ihnen gefolgt. Aber die Flotte hat nicht eingegriffen, wozu auch? Sollen die Besatzungen ihr Leben riskieren, um Meerestiere zu retten?« »Und was wollen die Tolkander dort? Was versprechen sie sich davon? « Kee zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung«, gab er offen zu. »Im Saal hat die Nachricht übrigens beruhigend gewirkt. Wenn die Tolkander auch solche Welten angreifen, erhöht sich die Zahl potentieller Beutewelten erheblich. Das vermindert das Risiko für andere Planeten.« Daniela blickte ihm ins Gesicht. »Und es vergrößert gleichzeitig die Chancen, daß auch unsere unwichtige Welt zum Zielobjekt wird.« Kee nickte. »Das habe ich den Leuten allerdings nicht gesagt«, gestand er. »Wie kommt ihr voran?« »Sehr zügig«, berichtete Daniela. Thorbin Klaef hielt sich -158-
zurück. Auf Sohle achtzehn war Daniela die Hausherrin, und solche Spielregeln wurden sogar in Notsituationen beachtet. »Wenn alles gut läuft...« »... was es mit Sicherheit nicht tun wird ...« »... haben wir es in ein paar Stunden geschafft. Und bei euch?« »Nun, wenn ihr den Durchbruch geschafft habt, werden alle Kumpel von Sohle neunzehn und achtzehn in den Startlöchern stehen, um nach siebzehn vorzustoßen. Gutes Timing, nicht wahr? Du siehst übrigens gut aus.« »Unfug!« wehrte Daniela ab. »Er hat recht«, mischte sich Klaef grinsend ein. »Gleich zwei von der Sorte? Pah, Männer!« Die beiden Männer lachten halblaut. »Übernimmst du für mich?« fragte Daniela Klaef. »Ich will mich im Zentralbereich umsehen.« »Einverstanden«, stimmte Thorbin Klaef zu. »Ich werde schon nichts falsch machen!« Daniela ging mit Kim Chun Kee zum Gleiter und fuhr zurück zum Aufenthaltsbereich der Sohle. Sie war müde, hatte wenig geschlafen und fühlte sich verschwitzt und unsauber. Eine heiße Dusche war genau das, was sie jetzt brauchte. Bevor sie ihr Appartement aufsuchen konnte, ging sie in den Trividsaal, um den letzten Stand der Dinge zu erfahren. »Es ist wirklich unglaublich«, konstatierte Kim Chun Kee verbittert. »Auf allen Kanälen wird über die Tolkander-Invasion berichtet. Überall! Und die Aufzeichnungen von gestern, von Matjuula, werden immer wieder wiederholt. Auch von den Stationen auf Kataora selbst.« »Und über uns?« »Das ist ja das Unglaubliche«, wütete Kim Chun Kee. »Kein Wort. Nur Tolkander, sonst nichts. Wir sind den Leuten offenbar nicht einmal eine Kurzmeldung wert.« Daniela preßte die Lippen aufeinander. -159-
»Chylus Haemat wird sich bestimmt freuen«, sagte sie leise. »Keiner interessiert sich für die Minenkatastrophe. Offenbar gibt es hier nicht genügend Tote, um eine Nachricht wert zu sein. Und Haemat wird sich hüten, die Medien auf uns aufmerksam zu machen.« Sie blickte Kee an. »Wenn er noch mehr Glück hat, wird auch Kataora angegriffen und überwältigt. Er kann mit seinem Privatraumer fliehen, wir bleiben zurück und gehen drauf. Und in den Führungsetagen wird ihm keiner einen Vorwurf machen, weil niemand etwas von uns weiß.« »Du siehst reichlich schwarz, Mädchen«, kommentierte Kee; er lachte knapp. »Tut mir leid, das sollte keine rassistische Anspielung sein.« »Habe ich auch nicht so begriffen, Schlitzauge«, gab Daniela zurück. »Ich glaube, ich brauche jetzt eine Dusche ...« »Auch jemanden, der dir den Rücken wäscht? Die Stellen, wo du selbst nicht hinkommst?« »Ich habe mich schon früher allein gewaschen und es ganz gut hinbekommen«, wehrte Daniela trocken ab. »Dieses Problem werde ich auch jetzt alleine lösen kön...« Sie brach den Satz ab, weil sich das Bild auf der großen Projektionsfläche änderte. »Allmächtiger«, hörte sie sich gequält aufstöhnen. »Sie greifen die LFT an!«
8. Tayloz Üpkek wirkte so zufrieden, als habe man ihn gerade zum Kaiser von Gatas ausgerufen. Vor wenigen Minuten war ein Bote zurückgekehrt und hatte gemeldet, daß die Operation Dänen erfolgreich abgeschlossen worden war. -160-
Im Klartext hieß das, daß die von Hasdyn Flech genetisch veränderten und schnell geklonten Pflanzensamen in das Erdreich von Trokan eingebracht worden waren. Listenreich, wie er war, hatte Üpkek dafür gesorgt, daß die Killerpflanzen in unmittelbarer Nähe jener Unterkünfte gesät worden waren, in denen die Anführer der Neuen Herrachischen Realisten untergebracht worden waren. Wenn die Saat aufging, woran weder Tayloz Üpkek noch Centoar Vilgor den geringsten Zweifel hatten, würden diese Anführer - allen voran Vej Ikorad und sein Intimus Tandar Sei - die Kreise der Raglund-Delegation nicht mehr lange stören. Der Ara-Spezialist hatte ihnen versichert, daß die Pflanzen dank des extensiven Wachstumsbeschleunigers schon in wenigen Tagen blühen würden. »Besser konnte es nicht kommen«, erklärte Üpkek heiter. »Wir haben das Zeug einfach in einem Beet verteilen lassen, in dem die Terraner ihre eigenen, sehr ähnlichen Keime ausgebracht haben. Wenn es soweit ist, werden die Herreach der LFT die Schuld geben, und die Terraner werden kaum beweisen können, daß sie daran unschuldig sind. Pannen lassen sich leider auch in der modernen Gen-Technologie nicht vermeiden.« »Bedauerlicherweise«, fügte Vilgor grinsend hinzu, aber sein Lächeln erlosch rasch wieder. Selbstverständlich hatte man auch an Bord der AZTAKT die Möglichkeit, eine große Zahl von Trividsendern zu empfangen, die von den Ereignissen in der Milchstraße berichteten, vor allem aus dem Sektor 47 Tucani. Dort lag noch immer die riesige Tolkanderflotte, deren Größe von Tag zu Tag zuzunehmen schien. Immer wieder lösten sich Verbände von mehreren tausend Schiffen aus dieser Armada und starteten zu unbekannten Zielen. Einige wenige Kurse wiesen in kaum bekannte galaktische Sektoren; ein Anzeichen dafür, daß sich die Interessen der Tolkander nicht nur auf jene Welten beschränkten, die den Galaktikern der ehemaligen GAVÖK -161-
bekannt waren, sondern auch auf bislang unbekannte Planeten, auf denen sie vielleicht Leben oder andere lohnende Beute gefunden hatten. Centoar Vilgor hatte dafür Sorge getragen, daß diese Kurse und deren Ziel sorgfältig berechnet und die Ergebnisse ins Akonsystern übermittelt wurden. Wenn die Tolkander-Angelegenheit später erledigt sein würde, boten sich dort vielleicht interessante Möglichkeiten für eine akonische Expansion. Daß die Tolkander letztlich besiegt werden würden, daran hatte der Akone nur wenige Zweifel. Gewiß, das Risiko war nicht von der Hand zu weisen, daß auch Akon und er selbst in Gefahr gerieten. Für diesen Fall hatte Vilgor vorgesorgt. Er konnte sich diskret auf einem abgelegenen Planeten in Sicherheit bringen und darauf hoffen, daß die Tolkander diese Welt zu seinen Lebzeiten nicht mehr entdecken würden - was danach aus der Welt wurde, war Centoar Vilgor völlig gleichgültig. In seinem Weltbild kam er selbst zuerst, dann für eine geraume Zeit gar nichts, nach längerer Pause die Freunde und Vertrauten, mit denen er unter der Oberfläche akonischer Politik zusammenarbeitete. Dann kam Akon als Gemeinwesen, und danach kam eigentlich überhaupt nichts mehr. Allerdings hatte Vilgor - so paradox ihm das selbst vorkam sehr viel Vertrauen in die Fähigkeiten der Terraner und der LFT. Wenn es eine Macht gab, an der die Tolkander scheitern konnten, dann diese. Aber der Sieg würde die Terraner unerhörte Opfer kosten und sie militärisch und wirtschaftlich, so hoffte Vilgor, an den Rand des Zusammenbruchs bringen. Um so leichteres Spiel würde anschließend Akon haben, falls es von einer Tolkander-Invasion verschont bleiben sollte. Es war eine gewagte Kalkulation, mit vielen unbekannten oder schwer einzuschätzenden Faktoren; genau das, was Centoar Vilgor liebte, solange sich sein persönliches Risiko in sehr engen Grenzen hielt. -162-
»Für den Fall«, begann er vorsichtig, »daß die LFT von den Tolkandern angegriffen wird, wird das Forum Raglund der LFT zu Hilfe kommen?« Tayloz Üpkek zögerte kurz. »Höchstwahrscheinlich«, antwortete er dann sehr selbstsicher und verzog die Miene zu einem menschlich anmutenden Schmunzeln. »Schließlich wollen wir der Galaxis nicht das Bild einer Vereinigung von herzlosen Feiglingen bieten. Selbstverständlich werden wir im Notfall eine Allianz mit der LFT eingehen.« Sein Lächeln wurde breiter. »Nach gründlicher politischer und technischer Vorbereitung ...« Im Klartext hieß das, daß die Raglund-Politik auf Zeit spielen würde. Umständliche Besprechungen und langwierige Konferenzen, auf denen erbarmungslos um unwichtige Detailfragen gestritten wurde, standen zu erwarten. Eine militärischtechnische Zusammenarbeit mußte vereinbart und ins Laufen gebracht werden und vieles mehr. Bis all diese Formalitäten abgewickelt waren, war von der LFT wahrscheinlich nicht mehr viel übrig. Vilgor hatte den Angriff der Tolkander auf Matjuula verfolgt und dabei die Taktik Raglunds bereits durchschaut. Raglund dachte gar nicht daran, jene Verpflichtungen einzugehen, die bei der Gründung des Forums feierlich beschworen worden waren. Das Forum Raglund sollte dem Namen nach eine Vereinigung jener galaktischen Völker sein, die weder dem Kristallimperium noch der LFT angehörten. Man hatte sich gegenseitigen Beistand gelobt und versprochen, vor allem den schwächsten und zivilisatorisch am wenigsten entwickelten Völkern in allen Notfällen und Belangen tatkräftig zur Seite zu stehen. Nichts davon war wahr. Vor allem die Topsider, Teile der Blues und die Akonen verfolgten eine durch und durch eigensüchtige Politik, bei der sie die schwächeren Völker lediglich propagandistisch ausnutzten und für ihre Zwecke einspannten. -163-
Der Trick bestand darin, daß diese Völker nicht einer gründlich organisierten, einheitlichen Verwaltung unterworfen waren, sondern - wenigstens auf dem Dokumentenmaterial - frei, selbstständig und unabhängig blieben. Vor Matjuula hatten die Blues eine kleine, völlig chancenlose Flotte von sechzig Schiffen kaltblütig geopfert; es war von Anfang an eine Todesmission gewesen, lediglich auf propagandistische Wirkung hin konzipiert. Es war ein Manöver gewesen, das Centoar Vilgor gefallen hatte. Es hätte seiner eigenen Strategie entspringen können. Er blickte den zufriedenen Tayloz Üpkek an. Ein Schurke blickt den anderen an, dachte Centoar Vilgor, und jeder von beiden weiß, daß der andere ein Schurke ist und ihn auch als solchen ansieht. Weil jeder von beiden davon überzeugt ist, der bessere, cleverere und erfolgreichere Schurke zu sein. Vilgor lächelte. Für ihn gab es nicht den geringsten Zweifel, daß er der größere Halunke war. Tayloz Üpkek war für ihn nur eine Schachfigur, die man im Notfall opfern konnte, lediglich eine Marionette, die an Vilgors Fäden zappelte und sich dabei groß, gerissen und bedeutend vorkam. Eitelkeit, persönliche wie staatliche, ist der größte Schwachpunkt in der gesamten Politik, hatte Centoar Vilgor von seiner Mutter gelernt, auch sie eine Meisterin in dieser Kunst. Diesen Schwachpunkt muß man geschickt ausnutzen und dabei immer wieder und sehr kritisch aufpassen, daß man ihr nicht selbst zum Opfer fällt. Mehr brauchst du nicht zu wissen, das ist das ganze Geheimnis. Centoar Vilgor empfand eine tiefe Dankbarkeit für diese Frau, die ihm das Leben geschenkt und ihm vor allem gezeigt hatte, wie man daraus das Beste für sich machte. »Ich bin gespannt«, setzte Vilgor das Gespräch fort, »wann es soweit sein wird, daß die Terraner ...« -164-
Hinter Tayloz Üpkeks Rücken flammte die Trivideowand auf. »Eine Sondersendung, Exzellenz«, sagte ein unsichtbarer Sprecher. Üpkek und Vilgor wechselten rasche Blicke. Offenbar war der Zeitpunkt gekommen. Entweder eine Zentralwelt der Blues, Akon oder eine der Hauptwelten der Liga. Vielleicht sogar Arkon? Einem dieser Ziele mußte der Angriff gelten. Vilgor merkte, wie er sich zu verkrampfen begann. Gänzlich frei von Angstgefühlen und Sorgen war er nicht. Er registrierte es und beschloß, mehr darauf zu achten. Er durfte seine rationale Verstandeskälte nicht von unangebrachten Emotionen beeinträchtigen lassen. »Es ist die Wega«, stellte der Blue fest. In seiner Stimme schwang ein Unterton von Befriedigung mit. »Also die LFT.« Nur knapp zehn Lichtjahre, wurde Centoar Vilgor bewußt. Ein winziger Hüpfer für moderne Raumschiffe. Ein Satz, und die Tolkander konnten im Solsystem und über Trokan auftauchen. »Erhöhte Alarmbereitschaft!« ordnete Üpkek an. »Die AZTAKT muß jederzeit starten können.« Jene Seite seines Körpers, an der am Hals die Mundöffnung zu sehen war, blieb Centoar Vilgor zugewandt. Was sich zur Zeit auf der großen Bildwand tat, konnte der Blue problemlos mit den beiden hinteren Augen seines Tellerkopfes wahrnehmen. »Verstanden, Exzellenz!« »Ich bin gespannt, wie sich die Terraner schlagen werden«, bemerkte Vilgor. Er lehnte sich mit seinem Sessel zurück und nahm eine entspannte Haltung ein. Der Akone war neugierig, was für ein Schauspiel ihm in den nächsten Minuten und Stunden geboten werden würde. »Die Terraner können unmöglich zulassen, daß ein Planet praktisch vor ihrer Kammertür überrannt wird«, konstatierte -165-
Tayloz Üpkek. »Schon um den Kopf zu wahren, müssen sie alles in die Schlacht werfen, was sie haben.« »Sie haben sechstausend Einheiten in der Nähe versammelt«, wußte Centoar Vilgor zu berichten. Über die Serviceautomatik seines Sessels orderte er ein Erfrischungsgetränk. Echter terranischer Champagner wäre ihm lieber gewesen, er haßte die Terraner, aber er schätzte ihre Küche und ihre Getränke -, doch diese Geste von Zufriedenheit und Triumph war wohl etwas übertrieben, zumal Üpkek sich nichts bestellt hatte. Der Blue wies die Syntronik an, die bildliche Darstellung so zu vergrößern, daß sie die gesamte Rückwand seines Wohnraumes an Bord der AZTAKT einnahm. Jetzt waren auch die Details gut zu erkennen. Die terranischen Journalisten machten ihre Sache - wie gewohnt - perfekt. Aus Vilgors Sicht war das sehr angenehm, auf Drorah hingegen hätte er den Medien solche Freiheiten gründlich ausgetrieben. Man mußte die Bevölkerung durch eine Flut von wahren und falschen Meldungen geistig beschäftigt halten und sie dabei derart gründlich verwirren, daß sie niemals den vollen Durchblick erreichte. Auch das gehörte zur Staatskunst. »Aha, der Angriff beginnt«, sagte Tayloz Üpkek zufrieden. »Viertausend Einheiten haben die Tolkander aufgeboten, sie wissen offenbar, daß sie mit stärkerem Widerstand rechnen müssen.« Raumschiffe brauchten in aller Regel einen ziemlich langen Anlauf, um Überlichtgeschwindigkeit zu erreichen; sowohl strecken- als auch zeitmäßig. Das galt ebenso im umgekehrten Fall - auch der Bremsweg war lang und ausgedehnt. Infolgedessen konnten die Tolkander nicht einfach überraschend unmittelbar über ihrem Zielplaneten auftauchen; bei ihrer Fahrt wären sie im Bruchteil einer Zehntelsekunde auf dem Planeten aufgeschlagen. Vielmehr materialisierten die Einheiten außer-166-
halb des eigentlichen Systems und verlangsamten dann ihre Fahrt, bis sie im Orbit nur noch wenige tausend Kilometer pro Stunde betrug. Es waren diese Umstände und technischen Bedingungen, die einem Planeten bei einem Überfall aus dem Weltraum überhaupt eine Chance ließen; auch die Tolkander konnten daran nichts ändern. »Cistolo Khan läßt sich offenbar Zeit«, kommentierte Üpkek spöttisch. »Sollte er nicht begriffen haben, worum es geht?« »Er wird kommen«, versprach Vilgor zuversichtlich. Viertausend Igelschiffe, immerhin. Es würde eine große Schlacht werden, genau das, was ihm in den Plan paßte. Gewinnen mußte natürlich die LFT. Die Wega durfte ein paar Kratzer abbekommen, aber mehr durfte nicht passieren. Eine wirkliche Niederlage der Terraner mit einem anschließenden Sturmlauf auf das Solsystem hätte zum einen Vilgor selbst gefährdet, zum anderen aber hätte ein Angriff - noch dazu ein erfolgreicher - der Tolkan - der auf Terra den sofortigen Zusammenbruch der LFT bedeutet, und das durfte nicht passieren. Noch nicht. Nicht jetzt. Erst wenn die Terraner auch den Tolkandern empfindliche Verluste beigebracht hatten. Was Vilgor sich im Interesse Akons und seinem eigenen wünschte, war ein erbitterter, mit allem Aufwand geführter Abnutzungskrieg, bei dem am Ende beide Parteien erschöpft und ausgeblutet waren. Und damit eine leichte Beute für einen zufrieden schmunzelnden Dritten. Das sollte nach Möglichkeit Akon sein. »Ah, da kommen sie!« Die ersten LFT-Einheiten tauchten auf, und die unerbittlichen Chronisten der Schlacht setzten ihre Zählung in Gang. Die Anzeige schnellte rasch in die Höhe. »Zweitausend, sehr gut«, lobte Tayloz Üpkek. Er seufzte halblaut. »Was waren das noch für Zeiten, als unser Imperium problemlos zweihunderttausend Einheiten mit einer beinahe -167-
unüberwindlichen Molkex-Panzerung in den Kampf schicken konnte.« »Eine wahrhaft glorreiche Vergangenheit«, stimmte Centoar Vilgor freundlich zu. »Zerstört durch die verdammten Terraner. Und durch Arkon«, seufzte Tayloz Üpkek. »Es ist Vergangenheit«, mahnte Vilgor sanft. »Ich bin zuversichtlich, daß die Zukunft des Forums noch glorreicher sein wird.« Aus der Mimik des Blue war nicht zu entnehmen, ob er die feine Spitze bemerkt hatte. Des Forums, nicht der Gataser. Tayloz Üpkek rückte sich in seinem Sessel zurecht und streckte die Beine aus. »Es geht gleich los«, prophezeite er. Vilgor studierte die Statistik. Fünftausend LFT-Schiffe hatte Cistolo Khan, der persönlich das Kommando übernommen hatte, in den Einsatz geschickt, darunter einen beträchtlichen Anteil der mächtigen 800-Meter-Raumer. Offenbar war er entschlossen, die Welten der Wega um jeden Preis zu verteidigen. Ebenso entschlossen, wie es die Tolkander waren, das Zweiundvierzig-Planeten-System einzunehmen. Hauptwelt war Ferrol, der achte Planet, und am dichtesten besiedelt. Bekannt waren auch Rofus, Welt Nummer 9, Gol als Nummer 14 und Pigell, der auf der sechsten Bahn das Muttergestirn umlief. Alle diese Welten hatten in der frühen Geschichte der Terraner ihre besondere Rolle gespielt. Centoar Vilgor kannte sich aus. Er hatte den Erzgegner Akons, seine Geschichte, seine Kultur, seine führenden Persönlichkeiten, regelrecht studiert, und er wußte, daß der kometenhafte Aufstieg Terras zur galaktischen Macht im Wegasystem seinen Anfang genommen hatte. Hier hatte Perry Rhodan die Spur jenes Wesens aufgenommen, das inzwischen als Superintelligenz ES galaxisweit bekannt geworden war. Und fast immer hatte ES seine un-168-
geheuren Fähigkeiten im Interesse Terras eingesetzt. ES war es auch gewesen, der Rhodan und dessen Freunde zu biologisch Unsterblichen gemacht hatte. Der Verlust der Wega hätte Terra wieder zu dem werden lassen, was es nach Centoar Vilgors Ansicht war: eine Welt dreister, anmaßender und erfolgsgieriger Barbaren. Auf dem Bildschirm war die Taktik des Cistolo Khan ziemlich gut zu erkennen. Er versuchte mit seinen Einheiten der angreifenden Flotte den Weg zu verlegen und sie am Weiterflug in das System zu hindern. Zu seinem Vorteil war er von der Flanke her gekommen, und der stürmische Angriff der Terraner zwang die Tolkander, ihren Kurs auch tatsächlich zu ändern. Unablässig, wieder und wieder, blitzte und gleißte es auf der Projektionswand auf. Die Terraner verschossen ihre Transformbomben mit großer Geschwindigkeit und noch größerer Zahl. »Also doch!« stieß Vilgor hervor. »Was, also doch?« »Die LFT kann diesen Indifferenz-Kompensator nicht so einsetzen, wie sie es wollen«, stellte Vilgor fest. »Entweder hält das Gerät nicht das, was man sich davon versprochen hat, oder es stehen nur wenige Exemplare zur Verfügung. Es sieht gar nicht gut aus für die LFT!« »Bedauerlich, nicht wahr?« Die LFT-Einheiten hatten es mit zwei sehr unterschiedlichen Gegnern zu tun. Die Gazkarschiffe waren schwer zu treffen, ansonsten aber nur in der Übermacht gefährlich. Da beide Gegner fast gleichstark waren, hielt sich die Bedrohung durch die Gazkar in Grenzen. Mit den Schiffen der Neezer allerdings durften sich die Terraner nicht auseinandersetzen. Gegen den gefürchteten Tangle-Scan gab es immer noch kein Abwehrmittel. Die einzige Rettung war, sofort nach dem Kontakt mit dem Tangle-Scan die Syntronik das Schiff übernehmen und aus der Gefahrenzone -169-
bringen zu lassen. Zumindest für kurze Zeit fielen diese Schiffe für den Kampf aus. Centoar Vilgor kalkulierte die Chancen durch. Wenn er sich nicht irrte, ergab die Analyse ein kleines Übergewicht zu Gunsten der Tolkander. Er knirschte mit den Zähnen. Noch nicht ... Üpkek betrachtete ihn mit sichtlichem Amüsement. »Auf wessen Seite stehst du eigentlich?« fragte er sarkastisch. »Etwa auf Seiten der LFT? Oder sind dir die Tolkander lieber?« »Ich bin auf unserer Seite«, antwortete Vilgor etwas schroffer, als er beabsichtigt hatte. »Und für uns, für das Forum, ist es besser, wenn die LFT ein Weilchen durchhalten kann.« »Was für ein Weilchen? Stunden? Oder denkst du längerfristig?« »So lange, bis beide Parteien nicht mehr kampfkräftig sind«, antwortete Vilgor offen. »Denkst du anders?« »Keineswegs«, sagte der Leiter der Raglund-Delegation. »Auch ich habe nur den Vorteil des Forums in den Augen.« Er lachte halblaut; kurz fiepte das Ultraschall-Organ des Blue vor Erheiterung. Die Schlacht wogte hin und her, löste sich in Einzel- und Gruppenkämpfe auf. Für die Zuschauer - wahrscheinlich hing die halbe Galaxis vor den Trividschirmen - wurde das Geschehen bald unübersichtlich, und auch die unermüdlichen und tüchtigen Reporter schafften es nicht, ihren Kunden einen Überblick zu verschaffen. Das Kämpfen, Schießen und Sterben löste sich sozusagen in einen chaotischen Wirbel auf. Erkennbar und interpretationsfähig war nur die laufende Statistik, die immer wieder eingeblendet wurde. Danach waren die Terraner erfolgreicher als ihre Gegner. Sie hatten bereits mehr als zweihundert angreifende Igelschiffe abgeschossen, bei nur vier eigenen Verlusten. -170-
Centoar Vilgor begann zu grinsen. »Was erheitert dich?« wollte Tayloz Üpkek wissen. »Du kennst doch sicher die Leidenschaft der Terraner für sportliche Wettkämpfe? Und ihren absurden Hang zu völlig überflüssigen Statistiken? Erste Aufschläge im Feld: 67 Prozent. Vermeidbare Fehler: 32 und so weiter. Nun, hier machen sie es genauso. Nur daß so viele Spieler auf dem Feld sind, daß man von dem eigentlichen Spiel gar nichts mehr mitbekommt. Nur diese lächerliche Statistik funktioniert noch.« »Immerhin verrät sie uns, was dort passiert«, versetzte Üpkek scharf. »Und darauf kommt es an!« Vilgor nippte an seinem Glas. Wie mochte es sein, sinnierte er, an Bord eines solchen Schiffes zu sein? Zu sehen, wie feindliche Salven in die Schutzschirme hämmern, zu spüren, wie die riesige Schiffshülle zu tönen beginnt wie eine Glocke? Furchtbare Angst zu haben und zugleich zu wissen, daß diese Angst und alles andere auch in der nächsten Sekunde für immer beendet sein konnte? Nein, dieses Gewerbe war nichts für einen Centoar Vilgor. Seine Sprache war nicht die der Waffen und des Kampfes; er zog geistige Mittel vor, Intrigen und Listen, Heimtücke und Verrat. Einen Gegner mit Worten, Schriftstücken und Dokumenten so einzukreisen, bis er sich nicht mehr wehren konnte und aus dem Spiel ausscheiden mußte; nicht körperlich verletzt oder verwundet, aber dafür tief in der Seele gedemütigt und geschlagen. Das war das Metier des Centoar Vilgor, und er freute sich schon darauf, seine Arbeit wieder aufzunehmen, wenn dieses absurde Herumgeballere endlich abgeschlossen war. Dann wollte er zeigen, wozu er imstande war - ganz ohne Gewalt, nur mit friedlichen Mitteln, ein praktizierender Pazifist des reinsten Wasser. Welch ein hübscher Zynismus! Die Anzeige der kämpfenden Schiffe schnellte plötzlich in die Höhe. -171-
Hatte Cistolo Khan seine Reserven mobilisiert? Stand es so schlecht um die Wega? Vilgor hielt den Atem an. »Ah, Atlan mit seinen Freunden von Camelot«, stellte Tayloz Üpkek fest. »Mal sehen, was die zuwege bringen!« Vilgor konzentrierte sich auf das Geschehen. Sehr aufmerksam verfolgte er die Schlacht, die jetzt in ihr entscheidendes Stadium trat. Das Ergebnis war ärgerlich, sehr ärgerlich sogar ...
9. »Wir können froh sein, solche Freunde zu haben«, stellte Jeremy Argent fest. »Freunde wie Atlan und die Menschen von Camelot. Ohne sie ...« Rafton Dibbs nickte und atmete schwer. Die Schlacht um die Wega war vorbei, die Tolkander waren zurückgeschlagen worden. Nach schwerem Ringen, wie es in den Medien hieß. Über vierhundert Igel schiffe waren zerstört worden. Vierhundert von viertausend, die die Wega angegriffen hatten. Keine schlechte Quote, wie Argent fand. Aber herzlich wenig, wenn man an rund 100.000 Einheiten dachte, die im Sektor Tucani auf ihren Einsatzbefehl warteten, jederzeit bereit, wie ein Unwetter über eine unglückliche Welt hereinzubrechen. Später Abend über Moond. Argent und Dibbs hatten sich, völlig erschöpft von der Tagesarbeit, in ihre Unterkünfte zurückgezogen und verfolgten nun auf dem Schirm, was der Tag an Ereignissen gebracht hatte. Das Thema Tolkander-Invasion war nach wie vor aktuell und nahm den größten Platz in den Medien ein. Aber nach den Schreckensmeldungen der letzten Tage, bei denen LFT und auch -172-
die Camelot-Leute nichts wirklich hatten erreichen können, gab es dieses Mal endlich einen Grund zum Feiern. Atlans Reise mit der RICO ins Sonnensystem, begleitet von Cistolo Khan mit seiner PAPERMOON, glich einem Triumphzug. Laut Medienberichten hatte die Erste Terranerin Paola Daschmagan sogar die Absicht durchblicken lassen, dem Arkoniden feierlich den höchsten Orden umzuhängen, den Terra derzeit zu vergeben hatte. »Den hat er sich verdient«, murmelte Rafton Dibbs. »Wirklich. Ohne ihn und die Camelot-Leute wäre es danebengegangen. Er soll ihn bekommen.« Jeremy Argent runzelte die Stirn und lauschte. »Hörst du das? Eine Landung? Um diese Zeit? Wer kann das sein?« Er schnallte sich den Atemluftkompressor um und verließ seine Hütte. Er hatte richtig gehört. Aus dem Dunkel des Weltraums senkte sich ein Beiboot auf Trokan herab und setzte in der Nähe Moonds auf. Einige Minuten später fegte ein Gleiter heran und hielt genau auf Jeremy Argents Behausung zu. »Sieht nach ziemlich hohem Besuch für uns aus«, bemerkte Rafton Dibbs beeindruckt. Es war hoher Besuch, sehr viel höher konnte er kaum ausfallen. Die Ankommenden trugen SERUNS, aber dennoch war bei einem der Träger das weißblonde Haar zu erkennen, wie früher bei allen Arkoniden üblich. »Donnerwetter!« staunte Dibbs. »Atlan höchstpersönlich. Und Myles Kantor auch!« Atlan und Kantor hatten wirklich vor, ausgerechnet Jeremy Argent zu besuchen. In seiner Unterkunft ging es danach ein wenig eng zu, aber wenigstens brauchte man keine Zusatzgeräte, um reine Luft atmen zu können. »Nein, kein Orden«, lachte Atlan, als Rafton Dibbs ihn danach fragte. »Ich lasse mich nicht vor einen politischen Karren spannen. Die Erste Terranerin will damit nur Eindruck schinden -173-
und Arkon eins auswischen. Seht her, wen ihr davongejagt habt! Das ist nicht mein Stil und auch nicht der von Camelot. Wir haben andere, viel wichtigere Dinge zu tun. Wie sieht es auf Trokan aus? Ich denke dabei an die Herreach und die Delegation von Raglund. Um den Pilzdom und den verschwundenen Perry Rhodan wird sich Myles kümmern ...« »Falls ich es kann«, warf Myles Kantor ruhig ein. »Bis jetzt treten die Untersuchungen völlig auf der Stelle. Es sieht momentan nicht sehr gut aus.« »Um so besser wird die Lage auf Trokan«, beteuerte Jeremy Argent und berichtete ausführlich von den Fortschritten, die inzwischen gemacht worden waren. Atlan hörte aufmerksam und konzentriert zu. »Die Raglunder intrigieren also ziemlich offen gegen die LFT?« fragte er später nach. »Sieht ganz danach aus«, antwortete Argent.. »Ich habe mit Presto Go und anderen wichtigen Herreach gesprochen. Sie sagen alle dasselbe aus. Daß sie allmählich Zweifel bekommen, ob wir wirklich uneigennützig handeln oder ob es uns darum geht, Trokan der LFT einzuverleiben und die Herreach regelrecht zu kolonisieren. Solche Begriffe haben die Herreach bisher nie gebraucht, sie hatten nicht einmal ein entsprechendes Vokabular dafür. Einen Begriff wie Kolonisierung können sie nur von Üpkek gelernt haben, wir nehmen solche Worte nicht in den Mund. Wozu auch, wir haben ja nichts dergleichen vor.« Atlan machte ein sehr nachdenkliches Gesicht. »Gerne höre ich das nicht«, sagte er leise. »Zu allem anderen Arger jetzt auch noch Krach mit dem Forum. Dabei müßten wir alle, sämtliche bekannten Völker der Milchstraße, jetzt zusammenstehen, um diese Invasion abwehren zu können. Es ist der denkbar schlechteste Zeitpunkt für ein derartiges politisches Intrigenspiel.« »Aber Trokan ist genau der richtige Platz dafür«, merkte Myles Kantor trocken an. -174-
»Das stimmt«, gab Atlan zu. »Ich werde mit den Herreach reden, auch mit Tayloz Üpkek. Mal sehen, was ich erreichen kann. Vielleicht schaffe ich es, daß Üpkek mit seiner Bande herausgeworfen wird. Versprechen kann ich es aber nicht - das ist Sache der Herreach. Wenn die nicht wollen, sind uns die Hände gebunden.« »Müssen wir uns so etwas wirklich bieten lassen?« fragte Jeremy Argent erschüttert. »Wir reißen uns hier... Ich meine, wir tun wirklich alles, was wir können. Eine Aktion wie diese hat es in der Geschichte Terras noch nicht gegeben. Trokan wird uns am Ende teurer zu stehen kommen als dieser verdammte Krieg, und da schmieden diese Raglund-Lümmel Komplotte gegen uns? Müssen wir uns diese Lumperei wirklich bieten lassen?« »Deine Sprache ist nicht sonderlich diplomatisch«, kommentierte Atlan amüsiert, »trifft aber den Kern der Sache. Ja, wenn wir Pech haben, müssen wir uns das gefallen lassen. Nach unseren Prinzipien sind die Herreach ein eigenständiges Volk, souverän und frei in allen Entscheidungen, ob uns das paßt oder nicht. Und wegen eines Tayloz Üpkek werde ich für meinen Teil diese Prinzipien nicht über Bord ... Noch ein Besucher? Erwartest du noch jemanden?« »Eigentlich nicht«, antwortete Jeremy Argent verwirrt. »Wer könnte das sein?« »Oh«, war der erste Laut, den der späte Gast von sich gab. Er drückte die Überraschung des Ara Hasdyn Flech aus, als er Argents Behausung betrat und dort Atlan entdeckte. »Was willst du?« fragte Argent ziemlich ruppig. »Wie du siehst, sind wir in einer wichtigen Besprechung.« Flech fixierte Atlan, dann Myles Kantor, den er als wissenschaftliche Kapazität ersten Ranges kennen mußte. Der Ara leckte sich die Lippen, wirkte auffallend nervös. »Nimm bitte Platz!« forderte Atlan ihn ruhig auf. »Du gehörst zur Raglund-Delegation unter Tayloz Üpkek, nicht wahr? Und -175-
du hast ein Problem?« Der Ara zögerte. Er schien sich innerlich zu winden. Reden oder den Rückzug antreten, das schienen seine Alternativen zu sein. Er ließ einen langen Seufzer hören. Dann wieder Schweigen. Atlan machte den anderen ein knappes Handzeichen und überließ Hasdyn Flech seinem Gewissen. Nach einer Minute begann der Ara dann schließlich zu reden. »Ich bin Naturwissenschaftler«, beendete er seinen Bericht. »Gewöhnt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich habe diese Keimlinge zwar schnell hergestellt, wie es Üpkek befohlen hat, aber ein paar habe ich behalten, einfach aus Neugierde. Ich wollte wissen, was genau ich da zusammengebraut habe. Welche Art von Streich Üpkek der LFT spielen wollte ...« Jeremy Argent wollte empört auffahren, aber Atlan hielt ihn mit einer energischen Geste zurück. »Deine Teilhabe an diesem Streich, wie du es nennst, ehrt dich nicht. Wohl aber, daß du jetzt zu uns gekommen bist. Was hast du herausgefunden?« Myles Kantor hörte scheinbar gelassen und unaufgeregt zu. Aber seine strengen Züge verrieten, daß er sehr konzentriert war. »Wenn diese Pflanzen blühen, und das werden sie in wenigen Tagen tun, dann werden sie einen Duft verströmen. Ich habe den Duft analysiert, er war mir unbekannt. Aber er ist chemisch sehr stark verwandt mit einem unserer stärksten Medikamente, genauer gesagt, mit einem neuronalen Gift.« Jeremy Argent ließ ein Ächzen hören. »Es ist eine Frage der Dosis, wie fast immer. Kleine Mengen davon wirken krampflösend und beruhigend, damit kann man einige Formen von multipler Persönlichkeitsspaltung heilen. In größerer Dosierung führt es zum Wahnsinn, und bei noch mehr unweigerlich zu einem schrecklichen Tod.« Myles Kantor schaltete sich ein. »Du sagst verwandt. Wie wirken sich die Veränderungen aus?« -176-
»Ich kann nur schätzen. Wahrscheinlich wird es die Herreach in geistige Verwirrung stürzen und schizophrene Schübe auslösen. Das wäre dann der Fall, wenn die Variante wirkungsschwächer ist als das Original.« »Und wenn die Variante stärker ist?« Der Ara zögerte nur einen Augenblick lang. »Tod«, bekannte er tonlos. »Rasender Wahnsinn bis zur völligen Erschöpfung und dann Zusammenbruch aller Lebensfunktionen. Ein solches Ende würde ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen.« Atlan schwieg lange. »Falls es so ist - wir können schließlich nicht abwarten, bis das Zeug wirkt kann man diesen Anschlag zweifelsfrei auf Tayloz Üpkek zurückführen? Wenn du als Kronzeuge auftrittst, kann ich dir Immunität versprechen - als Aussicht, nicht als bindende Zusage. Ich bin nicht die terranische Justiz, aber ich kenne sie recht gut.« Der Ara schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht«, antwortete er. »Du mußt verstehen, meine Position ... Ich will zurück nach Aralon, zu meinen Freunden, bevor es zu spät ist. Du verstehst?« »Durchaus«, antwortete Atlan bitter. »Ich verstehe vieles.«
10. »Das ist alles? Sonst nichts?« Kim Chun Kee zuckte mit den Achseln. »So sind die Medien«, sagte er fatalistisch. »Entweder Krieg oder Belangloses. Die Topmeldung des Tages lautet, daß die Herreach eine Delegation des Forums Raglund von Trokan verwiesen haben.« -177-
»Deren Sorgen möchte ich haben. Und die Tolkander? Nichts Neues?« »Es ist wieder eine Flotte aufgebrochen, Kurs unbekannt. Die LFT hält eintausend Schiffe bereit, die sich sofort in Marsch setzen werden, wenn bekannt ist, wohin die Reise dieser Tolkander geht. Das ist der letzte Stand der Dinge. Ende der Berichte vom Kriegsschauplatz, jedenfalls der aktuellen. Auf etlichen Kanälen kannst du allerdings jede Menge Wiederholungen von den Schlachten von Matjuula und vor allem dem Sieg bei der Wega sehen. Offenbar kriegt das Publikum nicht genug davon.« Daniela schüttelte den Kopf. »Und wie sieht es bei der Bohrung aus?« »In spätestens einer Stunde sind wir durch«, meldete Kee zufrieden, dann verdüsterte sich seine Miene, als er an den Anblick dachte, den Sohle sechzehn geboten hatte. Jetzt konnte er sich sehr plastisch vorstellen, wie es aussah, wenn ein Raumschiff getroffen wurde und es Tote und Verletzte an Bord gab. 52 Menschen hatte man noch lebend bergen können, davon zwölf schwer verletzt. Wie viele Galaktiker auf den Durchbruch warteten, konnte Daniela nicht sagen. Es waren Tausende, die gesamte Besatzung der Sohlen von neunzehn bis siebzehn. Die Siebzehner hatten sich genau so verhalten, wie Daniela und Thorbin Klaef es erwartet hatten: Sie hatten sechzehn schon fast erreicht gehabt, als der Durchbruch von achtzehn gelungen war. Sohle sechzehn war weitgehend verschüttet, die Menschen waren in den verbliebenen Kammern und Stollen zusammengepfercht wie in einer Konservendose. Und unablässig stieg das Wasser. Es hatte bereits die Decke von siebzehn erreicht, und man konnte es durch den Hauptstollen gluckern und plätschern hören. -178-
Entsprechend war die Angst angestiegen. Aber noch war es nicht zu einer Panik gekommen. Die Menschen spürten deutlich, daß eine Rettung nur dann möglich war, wenn sie eiserne Disziplin wahrten und sich nicht gegenseitig behinderten. Daniela quetschte sich durch die Reihen verdreckter und nach Schweiß stinkender Menschen. Auf Sohle sechzehn gab es keine Beleuchtung mehr, es mußten Handscheinwerfer und Grubenleuchten verwendet werden, und so setzte auch die Finsternis den Menschen zu. Daniela hatte den Eindruck, sich im Inneren einer Sprengladung zu befinden, die jeden Augenblick hochgehen konnte. Nur eine Frage der Zeit. Und das Wasser stieg weiter. Sie gelangte an die Bohrstelle. Der Ultraschallbohrer war im Einsatz. Bis jetzt funktionierte er tadellos, fehlerfrei und zuverlässig. Es fragte sich, wie lange noch. Ein weiteres Damoklesschwert über den Köpfen der Eingeschlossenen. »Wie sieht es aus?« fragte Daniela Thorbin Klaef, der, völlig erschöpft, die Bohrung leitete. Wortlos deutete Klaef auf die lotrecht aufsteigende Wand des Bohrlochs. Die Wand war glatt. Und sie glänzte feucht. »Über uns gibt es im Fels eine weitere Wasserader«, sagte er leise. »Größe unbekannt. Du siehst, daß es schon etwas sickert. Kann sein, daß es dabei bleibt, kann auch nicht sein.« Danielas Atem stockte. Nein, das durfte nicht sein. Wenn jetzt Wasser in großen Mengen von oben kam ... In ihrem Kopf wirbelten die grauenvollsten Schreckensszenen durcheinander. »Drücken wir uns gegenseitig die Daumen«, sagte sie leise, darum bemüht, ihre zittrige Stimme unter Kontrolle zu halten. »Wir brauchen Glück, sehr viel Glück!« »Oder wir müßten an einer anderen Stelle eine zweite Bohrung starten«, schlug Thorbin Klaef vor. Sein Gesicht war von Kohlenstaub geschwärzt, seltsam weiß stachen die Augen -179-
aus dieser Schwärze hervor. »Dafür wird die Zeit kaum reichen, wenn das Wasser weiter so steigt«, gab Klaef zurück. »Macht Platz, Leute«, klang Kim Chun Kees aufgeregte Stimme. »Laßt mich durch!« Er brauchte Daniela nicht zu erreichen. Die Botschaft pflanzte sich auch so rasend schnell fort. »Sie kommen. Die Tolkander kommen. Sie greifen an!« »Ruhe!« schrie Daniela, so laut sie konnte. »Kee, ist das wahr?« »Leider ja«, antwortete der ebenfalls geschwärzte Koreaner. »Kurz bevor das Trivid versagte, kam die Alarmmeldung durch. Cistolo Khan hat die Liga-Flotte in Marsch gesetzt. Aber ..,« Daniela winkte ab. »Ich weiß, wir sind nicht die Wega«, sagte sie bitter. »Wieviel Zeit haben wir noch?« »Bis die Tolkander uns haben? Zwei Stunden, höchstens.« »Wenn der Antigravschacht oberhalb von sechzehn in Ordnung ist, kann es reichen!« schätzte Klaef. »Knapp, sehr knapp!« Wozu, wollte Daniela fragen. Damit sie uns an der Oberfläche erwischen? Immerhin, wahrscheinlich ist es ein gnädigerer Tod als elend wie eine Ratte zu ersaufen. »An der Oberfläche werden sie alle panisch durcheinander laufen«, sagte Kim Chun Kee halblaut. »Mit einem Platz in einem Raumschiff können wir nicht mehr rechnen, dafür wird es viel zu spät sein.« »Sehr tröstliche Verheißungen!« fauchte Daniela wütend und ballte die Fäuste. »Ich habe Lust ...« »Ah!« rief Kee frohlockend aus. »Endlich! Okay, was ist, wenn ich noch einen Weg weiß?« »Komm schon!« »Der große Transmitter für unsere Förderungen«, sagte Kee eilig. »Zugegeben, das Ding ist derb und nur für Materialtrans-180-
porte ausgerüstet, nicht für Personen. Es fehlen die üblichen Dämpfer, die den Transitionsschmerz abmildern. Aber das können wir wohl alle in Kauf nehmen. Und das Ding ist groß, riesengroß. Damit sind wir in zehn Minuten weg von Kataora, alle miteinander!« Daniela M'Puno packte ihn mit beiden Händen an den Ohren, zog ihn heran und küßte ihn. »Über alles andere reden wir später«, flüsterte sie und wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Genau der richtige Zeitpunkt und der passende Ort für eine Romanze«, kicherte Thorbin Klaef. »Still!« rief jemand aus dem Hintergrund. »Haltet die Mäuler! Ganz still! Hört ihr es?« Das Schweigen breitete sich rasend schnell aus. Die Galaktiker hielten sogar den Atem an, um besser hören zu können. Das grausame Plätschern war zu hören. Aber dann ... Ein dumpfes, sehr tiefes Brummen. Es kam von oben, einige Dutzend Meter entfernt. Danielas Lippen begannen immer stärker zu zittern, ihre Arme sackten kraftlos herab. »Sie holen uns raus«, sagte sie. »Verdammt, es gibt doch noch richtige Kumpel. Sie holen uns raus ...« »Gerade noch rechtzeitig!« stieß Thorbin Klaef hervor und wischte sich Tränen aus den Augen. »Los, los, Leute, wir müssen die Durchbruchstelle schnell frei machen, sonst fällt uns der Berg auf den Kopf. Aber vorher brüllt, so laut ihr nur könnt, damit sie auch wissen, daß wir sie gehört haben ...« Das Gebrüll war sogar noch lauter als der Triumph nach der erfolgreichen Schlacht an der Wega. »Das darf doch nicht wahr sein«, ächzte Thorbin Klaef fassungslos, beinahe schluchzend. »Bist du sicher?« -181-
Kim Chun Kee nickte schweigend. Der Durchbruch war gelungen. Eine Gruppe von dreißig Kollegen hatte ihn zustande gebracht. Der Rest der Grubenbesatzung war geflüchtet, allen voran Chylus Haemat, der offenbar nicht im Traum daran gedacht hatte, auch nur einen seiner Mitarbeiter mit an Bord seines Privatraumers zu lassen. Danach war es schnell gegangen. Sehr schnell sogar. Der Antigravschacht im Zentrum der Grube arbeitete oberhalb von sechzehn einwandfrei und hatte Tausende von Menschen nach oben befördert. Daniela und Klaef hatten ebenso wie Kee zur ersten Gruppe gehört, damit sie sich um den Abtransport per Transmitter kümmern konnten. Und jetzt das ... »Ist eigentlich klar«, sagte Kim Chun Kee mit trockenem Mund. »Panik in der Milchstraße. Nicht nur die Raumschiffe schwirren umher, auch die Transmitter sind in Aktion. Ich habe einhundertzwei Stationen angewählt, aber alle sind beschäftigt, entweder mit Senden, aber dahin, wo gesendet wird, wollen wir ja ohnehin nicht. Und die anderen Transmitter sind zwar auf Empfang geschaltet, aber eben nicht auf unseren Transmitter.« »Aber wir haben doch einen reinen Materialtransmitter«, knurrte Thorbin Klaef. »Andere Leute sind offenbar genauso schlau gewesen wie wir«, gab Kee zurück. »Ich mache natürlich weiter. Der Scanner läuft und tastet alle zur Verfügung stehenden Frequenzen und Stationen ab. Vielleicht haben wir ja Glück, irgend eine abseits gelegene, völlig unwichtige Welt...« »Wir sind diese Welt, verdammt noch mal«, ächzte Thorbin Klaef. Während sie redeten, drängten sich immer mehr verdreckte und erschöpfte Menschen heran; in jeder Minute wurden es mehr. Wie eine Flutwelle wurden sie vom Antigrav aus der Tiefe emporgespült. -182-
»Der Kampf um Kataora hat begonnen«, rief jemand lautstark aus dem Hintergrund. »Cistolo Khan hat tausend Einheiten geschickt, und sie setzen den Tolkandern zu.« »Vielleicht«, murmelte Daniela und strich sich fahrig durch die Haare. »Vielleicht.« »Keine falschen Hoffnungen«, warnte Klaef pessimistisch. »Wir sind Kataora, nicht die Wega.« »Kontakt!« schrie Kim Chun Kee plötzlich. »Ich habe einen Kontakt!« »Wohin?« Kee schüttelte verzweifelt den Kopf. »Keine Ahnung!« rief er. »Die Verbindung steht, man ist auf der anderen Seite empfangsbereit, aber in den offiziellen Verzeichnissen des Transmitternetzes ist diese Station nicht enthalten. Vielleicht eine Geheimsache.« »Egal, Hauptsache, wir kommen durch«, stieß Daniela hervor. »Und noch etwas. Der Empfänger ist weiß der Teufel wo aufgebaut, in jedem Fall aber verdammt weit weg. Und wir müssen ohne Dämpfer arbeiten. Wenn wir auf der anderen Seite ankommen, werden wir das Gefühl haben, daß uns die Köpfe platzen. Es wird verdammt unangenehm werden.« »Drei Neezerschiffe sind durchgebrochen und jagen auf Kataora zu!« schrillte es aus dem Hintergrund. Vielleicht hatten einige überlegt, welche Möglichkeit besser war - auf den Erfolg der Liga-Flotte zu warten oder das Risiko eines unberechenbaren Transmitterdurchgangs einzugehen. Jetzt war die Entscheidung gefallen. Die ersten Galaktiker stürmten nach vorn und rannten einfach in das flirrende Feld des Transmitters hinein. Sie verschwanden blitzartig. Und die anderen kamen sofort hinterher. Daniela, Kee und Klaef drückten sich an die Seite, um nicht überrannt zu werden. Seltsamerweise rannten die Menschen schweigend. Sie -183-
stürmten einfach geradeaus, in das Transmitterfeld hinein, das sie in unmeßbar kurzer Zeitspanne entmaterialisierte, über Tausende von Lichtjahren hinweg beförderte und sie dort wieder identisch aufbaute. Fragte sich nur, an welchem Ort. »Eine geheime Station irgendeiner Macht ist möglich«, sagte Thorbin Klaef, der empört aufstöhnte, als ihm jemand heftig auf den Fuß trat. Kim Chun Kee hatte die Lippen aufeinandergepreßt. »Was denkst du?« fragte Daniela und griff nach seiner Hand. »Es ist ja immerhin vorstellbar, daß auch die Tolkander eine Transmittertechnologie entwickelt haben«, sagte er sehr leise. »Dann laufen wir vor dem einen Löwen weg, um dem anderen geradewegs in den Rachen zu hechten.« »Mal nicht immer den Teufel an die Wand«, fauchte Klaef. »Nicht nötig, da steht er schon seit langem«, konterte Kim Chun Kee trocken. Die Minuten vergingen wie tropfender Sirup; jede Sekunde schien sich endlos zu dehnen. Daniela vermied es, an die Risiken zu denken. An die andere Seite des Transmitterfeldes. An die Oberfläche Kataoras. An den Tangle-Scan, der sie in jeder Sekunde alle erfassen konnte. »Die letzten«, sagte Thorbin Klaef und deutete auf zwei Dutzend Gestalten, die auf den Transmitter zueilten. Immerhin, so panisch waren die Menschen nicht gewesen, daß sie nicht auch die Verletzten mitgenommen hatten. »Jetzt sind wir an der Reihe«, sagte Kee. Thorbin Klaef stieß einen langen Seufzer aus und ging dann auf den Transmitter zu. Einen Augenblick später war er verschwunden. »Gehen wir?« fragte Kee leise. »Wohin?« Kee hob die Schultern. »Egal, wohin«, sagte er ungewöhnlich sanft und lächelte. »Hauptsache, wir bleiben beisammen.« -184-
Daniela gab keine Antwort. Sie lächelte nur. Das Lächeln dauerte, bis das Transmitterfeld die beiden erfaßte und ins Nirgendwo schickte...
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Ernst Vlcek
Die neue Haut
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Dialog 1 Wenn Bruno Drenderbaum und Kummerog unter sich waren, dann unterhielten sie sich in der Sprache Bröhn, die Drenderbaum von Kummerogs Haut, deren Träger er war, gelernt hatte. Drenderbaum stand in mentalem Kontakt zur Haut. Sie hatte ihm auf diese Weise vieles aus Kummerogs Lebensgeschichte verraten. Dennoch gab es viele Punkte, die noch ungeklärt waren. Da Drenderbaum Kummerog über die Maßen verehrte, ihm hörig war, beschäftigte er sich viel mit dessen Vergangenheit und Zukunft. »Hast du denn keine tiefere Beziehung zu den Herreach von Trokan, Kummerog?« »Warum sollte ich eine solche haben?« »Nun, es sind doch deine Geschöpfe. Du hast sie quasi erschaffen. Sie sind auf Basis der Zellstrukturen und Gene dieser abgetrennten Hand im Zeitrafferfeld während der 250 Millionen Relativ-Jahre entstanden. Das muß man sich vorstellen: 250 Millionen Jahre Entwicklung in nur 66 Standardjahren! Kummerog, du bist der Stammvater der Herreach. Ihr Gott! Du hast ihre Zivilisation einzig darauf hingesteuert, dir zu dienen das Tor für dich nach Trokan zu öffnen. Dieser Bezug hat doch Gewicht. Du kannst stolz darauf sein, ein ganzes Volk erschaffen zu haben.« »Die Herreach waren ein Zufallsprodukt - und nur Mittel zum Zweck. Ich brauchte sie lediglich, damit sie das Tor zu meinem Gefängnis von außen öffneten. Das ist geschehen, wenn auch nicht ganz nach Plan. Warum sollte ich jetzt noch einen Gedanken an sie verschwenden? Ich muß an meine Zukunft denken.« »Auch die Aussichten für die Zukunft sehen nicht schlecht aus. Du hast es als einziges Wesen geschafft, unbemerkt nach -188-
Camelot zu gelangen und dir hier eine Basis zu schaffen. Mit Dorothea Ringent hast du zudem eine willfährige Dienerin. Sie wird alles für dich tun, um ihren Vater Rudy vor Leid zu bewahren.« »Die Katze ist doch nur ein kleiner Fisch. Ich bräuchte einen Draht zu jemand Mächtigerem - zu einem Zellaktivatorträger etwa. Im Moment geht mir alles zu schleppend voran. Wir müssen die Entwicklung beschleunigen.« »Ich weiß, daß du daran arbeitest, Kummerog. Und du schaffst das. Wann bist du bereit für den großen Coup?« »Das wird einige Zeit dauern. Ich brauche noch viel Aufbaustoffe.«
1. Der Entschluß, Thea nachzuspionieren, fiel Corben Matala nicht leicht. Aber er mußte es tun. Es geschah, wie er seinem Gewissen gegenüber begründete, nur zu ihrem Besten. Irgend etwas stimmte nicht mit Dorothea Ringent, soviel war klar. Und das schon seit einiger Zeit. Corben, der Thea verehrte, wenn auch sehr still und unaufdringlich, spürte das förmlich mit jeder Faser seines Körpers. Das sagte ihm auch sein Verstand. Sie war unglücklich. Irgend etwas bedrückte sie. Sie wollte sich ihm jedoch nicht anvertrauen. Er hatte sie mehrfach darauf angesprochen und ihr seine Hilfe angeboten. Aber sie hatte ihn jedesmal abgekanzelt, ihre Probleme verleugnet. Und dann wurde das mit den übermäßigen Nahrungszuweisungen ruchbar. Thea forderte für ihren Vater plötzlich die zehnfachen Essensrationen an. Bald hatte sich das im Werk herumgesprochen, und man begann, Thea damit aufzuziehen. -189-
»Wie ist es möglich, daß ein alter, bescheidener Mann plötzlich einen Appetit für zehn entwickelt?« fragte man sie. Und: »Macht dein Vater gar eine Ertruser-Kur?« Oder: »Hat dein Vater etwa eine ganze Kompanie übrig gebliebener Freifahrer bei sich aufgenommen?« Ihr Vater Rudy war ein solcher Freifahrer, der einst in der Wildnis von Phönix zurückgeblieben war, als fast alle anderen abzogen. Das lag nun schon weit mehr als 100 Jahre zurück. Die Zellaktivatorträger hatten Rudolf Ringent mit seiner Tochter in der Wildnis aufgestöbert, nachdem sie diese verwaiste Welt in Besitz genommen hatten und im Jahre '41 den Kontinent Bonin inspizierten. Während Thea von Reginald Bull in die Zivilisation geholt wurde, stellte man dem geistig verwirrten Alten in den Bergen ein Heim zur Verfügung, wo er seinen Lebensabend verbringen konnte. Der Gedanke, daß weitere in der Wildnis versprengte Freifahrer zu Rudy gestoßen sein könnten, war also nicht zu abwegig. Andererseits aber auch, nach so langer Zeit, höchst unwahrscheinlich. Es gab eine andere Vermutung, die weitaus realistischer klang. Demnach unterhielt Rudy in seiner Einsiedelei eine Art Zoo, und er brauchte die angeforderte Nahrung, um sie an wilde Tiere und fleischfressende Pflanzen zu verfüttern. Corben schloß sich dieser Meinung an. Thea hatte ihn zwei- oder dreimal zu ihrem Vater mitgenommen, und er kannte die Schrullen des betagten Rudy. Eine davon war, daß er so tat, als lebe er immer noch in der Zeit der Freifahrer und des Monos. In einer Zeit, in der Camelot noch Phönix hieß und die Milchstraße in den Chronopulswall gehüllt war. Corben kannte auch Rudys Verbundenheit mit der Natur. Warum sollte aus dem einstigen Jäger nicht ein Wildhüter geworden sein? -190-
»Verfüttert dein Alter den Nahrungsüberschuß an die Raubtiere von Camelot?« fragte man Thea auch. Thea bestätigte diese Gerüchte weder, noch widersprach sie ihnen. Sie ließ alles offen; es schien ihr ziemlich egal zu sein, was die anderen glaubten. Oder wollte sie die Leute mit ihrem eisernen Schweigen auf eine falsche Spur führen? »Na, wenn das so ist, dann verzieht dein Vater die Tierwelt von Bonin zu richtigen Feinschmeckern. Das ist nicht gerade ein ruchloses Verbrechen, aber wäre es nicht sinnvoller, die Speisereste von ganz Camelot anzufordern und diese zu verfüttern? Ha, ha!« Thea konnte verständlicherweise nicht mitlachen, wenn die anderen sie auf diese Weise aufzogen. Sie versuchte, gute Miene zu machen. Aber Corben merkte ihr an, daß diese Sache für sie einen ernsten - wenn nicht gar bedrohlichen - Hintergrund hatte. Er wartete eine Gelegenheit ab, um sie wieder einmal unter vier Augen auf ihre Probleme anzusprechen. »Thea, willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?« begann er. »Ich bin dein Freund, vergiß das nicht. Was es auch ist, du kannst dich mir anvertrauen.« »Ich habe keine Probleme, Corby«, versuchte sie ihm einzureden. »Es ist nur so, daß mich diese dummen Sprüche einfach nerven.« »Du bist selbst schuld daran«, entgegnete Corben mit vorsichtigem Vorwurf. »Mit deiner Geheimniskrämerei nährst du ja nur die Gerüchteküche. Warum sagst du nicht einfach, was wirklich dahintersteckt? Sag es wenigstens mir. Ich möchte dir helfen.« Thea sah ihn lange an. Er merkte, daß sie um eine Entscheidung mit sich rang. Als sie dann sprach, da klang es irgendwie erleichtert - und offen und aufrichtig: »Was ich tue, das tue ich nur, um Rudy zu schützen. Glaubst du mir das, Corby?« -191-
»Natürlich glaube ich dir«, sagte Corben. Er spürte, daß Thea knapp davor war, sich ihm anzuvertrauen. »Und ich werde alles tun, um dir beizustehen.« »Das ist lieb von dir, Corby«, sagte sie bewegt. In diesem Moment schien es noch, als wolle sie sich Corben völlig überlassen. Aber schon im nächsten hatte sie wieder einen Schutzwall um sich aufgebaut. »Ich weiß deine Fürsorge wirklich zu schätzen. Es ist nur ...« Sie hielt inne. »Ich möchte Rudy nicht dem Gespött der anderen aussetzen. Wenn sie sich irgend etwas aus den Fingern saugen und ihre Witze darüber reißen, spielt das keine Rolle. Aber niemand soll die Wahrheit erfahren und sich darüber lustig machen können.« »Ich kann Geheimnisse für mich behalten«, versicherte Corben. »Du weißt, daß Rudy in seiner Eigenwelt lebt, Corby«, sagte sie, und Corben nickte wissend; das bedurfte keiner weiteren Erklärungen. »In jüngster Zeit hat er zudem Existenzängste entwickelt. Die vielen Hiobsbotschaften aus der Milchstraße über fremde Invasoren und so, die interpretiert er auf seine Weise. Er glaubt fest daran, daß Monos zum Vernichtungsschlag gegen Camelot beziehungsweise Phönix ausholen will. Und für solch eine Eventualität will er Vorsorgen. Darum hortet er Lebensmittel. Für den Fall nämlich, daß er vor den Cantaro wieder in die Wildnis fliehen muß. Ist das nicht verrückt? Ich kann ihm das nicht ausreden. Aber vielleicht gibt es einen Weg, ihn in die Realität zurückzuholen. Ich habe einen Hypnoschuler angefordert. So kann ich Rudy vorsichtig in die Geschichte der Post-Monos-Ara einführen. Was hältst du davon, Corby?« »Ich weiß nicht, ob ein Hypnoschuler da hilft«, sagte Corben. »Aber einen Versuch ist es allemal wert«, beharrte Thea. Sie kam wieder auf das ursprüngliche Thema zurück. »Ich möchte nicht, daß mich die anderen mit der Wahrheit aufziehen. Da ist es -192-
mir schon lieber, daß sie alle möglichen Vermutungen anstellen. Du wirst die Sache mit dem Hamstern der Lebensmittel doch für dich behalten, Corby, nicht wahr?« »Gewiß«, versprach er mit belegter Stimme. »Kann ich dir sonst irgendwie helfen?« »Das tust du allein mit deinem Verständnis. Mehr verlange ich nicht. Danke, Corby.« Corben glaubte das mit dem Hamstern von Lebensmitteln nicht. Das wäre jedenfalls kein Grund gewesen, dermaßen ängstlich, bedrückt und verzweifelt zu sein. Thea sagte ihm nicht die Wahrheit, und das deprimierte ihn. Er war enttäuscht, daß sie sich ihm, der sich als ihren besten Freund sah, nicht anvertraute. Er konnte alles ertragen. Daß Thea ihm nicht dieselbe Zuneigung entgegenbrachte wie er ihr. Daß sie seine Liebe aus irgendeinem Grund nicht erwidern konnte. Dafür hatte er Verständnis, denn solche Gefühle ließen sich nicht erzwingen. Aber es schmerzte ihn, daß Thea ihm einfach nicht ihr Vertrauen schenkte. Das war wie eine Verweigerung der Freundschaft! Er wollte ihr jedoch zugute halten, daß sie durch irgendwelche Umstände dazu gezwungen wurde, ihn zu belügen. Diese wollte er herausfinden. Nur zu ihrem eigenen Wohle. Das war er ihr schuldig. Darum beschloß er, ihr nachzuspionieren.
Vor zwei Wochen war Corben Matala ihr zum ersten Mal in die Berge nachgeflogen. Das Haus ihres Vaters lag etwa zweihundert Höhenmeter oberhalb des Grüngürtels. In einer karstigen Gegend, in der es aus Futtermangel kaum Raubtiere gab und wo die fleischfressenden Pflanzen keinen Nährboden fanden. Trotzdem war das Gelände mit dem einfachen Fertighaus zusätzlich durch einen Energiezaun gesichert. Denn die Flora dieser Welt war überaus erfinderisch, wenn es darum ging, sich an potentielle Beute heranzumachen. -193-
Thea war mit einem Werkschweber hingeflogen. Corben ließ eine halbe Stunde verstreichen, bevor er ihr folgte. Da er ihr Ziel kannte, brauchte er sie nicht zu verfolgen und somit nicht zu riskieren, daß sie ihn entdeckte. Er landete auf einem dem Grundstück gegenüberliegenden Bergplateau in zwei Kilometer Entfernung, das durch eine Felserhebung geschützt war. Er hatte eine umfangreiche Jagdausrüstung mitgenommen, für den unwahrscheinlichen Fall, daß er entdeckt wurde und Rede und Antwort stehen mußte. Corben suchte sich einen Platz, von dem aus er einen guten Überblick über das gesamte Gelände hatte. Nur was möglicherweise hinter dem Haus geschah, das konnte er logischerweise nicht sehen. Theas Schweber war vor dem Haus geparkt. Daneben ein Shift, aus dem ein Modula-Roboter Pakete lud und ins Haus trug: die nächste Lebensmittellieferung. Rudy Ringent stand am Eingang des Hauses und zählte vermutlich die Pakete. Nachdem der Modula mit seiner Arbeit fertig war und der Shift wieder abflog, kehrte Rudy ins Haus zurück. Danach ließen sich weder Thea noch ihr Vater im Freien blicken. Es vergingen einige Stunden, bis jemand aus dem Haus kam. Es war wieder Rudy. Er hatte einen prall gefüllten Rucksack geschultert und war mit einem Teleskopstock ausgerüstet. Thea erschien hinter ihm in der Tür. Rudy drehte sich im Gehen um und winkte ihr Thea winkte zurück. Dann verschaffte sich Rudy mit einer Fernsteuerung eine Strukturlücke im Energiezaun, trat hindurch und machte sich an den Abstieg. Er verschwand somit aus Corbens Sichtfeld. Corben war klar, daß der Alte wieder eine seiner Touren in die geliebte Wildnis machte. Trug er im Rucksack Nahrungsmittel als Futter oder Lockmittel für das Wild? Thea kehrte ins Haus zurück und tauchte in den Stunden bis zur Dämmerung nicht wieder auf. -194-
Als Ceres untergegangen war und von den beiden Monden Charon und Styx abgelöst wurde, flog Corben ins Werk zurück. Es war nicht gut, wenn er zur selben Zeit und solange wie Thea abwesend war. Irgend jemandem konnte das auffallen; er könnte falsche Schlüsse daraus ziehen. Corben mußte an alles denken. Später in der Nacht flog er noch einmal zu seinem Beobachtungsposten. In seinem Kopf hatte sich ein Gedanke festgefressen, der ihn nicht mehr loslassen wollte: Was tat Thea allein in dieser Einsiedelei? Was hatte sie dort zu schaffen, wenn ihr Vater gar nicht anwesend war? War sie am Ende gar nicht allein? Hatte sie vielleicht einen geheimen Liebhaber, mit dem sie sich bei ihrem Vater traf? Und Rudy fortschickte, um für einige Stunden mit ihrem Geliebten ungestört zu sein? Nicht daß das Corben etwas anging, aber er hätte in diesem Fall wenigstens gewußt, woran er war. Auch wenn es ihn geschmerzt hätte, Theas Heimlichtuerei hätte damit wenigstens eine Erklärung gefunden. Andererseits war Theas bedrückte Stimmung nicht mit einem Geliebten in Einklang zu bringen. Sie hätte lebensfroh und glücklich sein müssen, nicht ängstlich und verzweifelt. In dieser Nacht bekam Corben keine neuen Erkenntnisse mehr. Das Haus lag im Dunkeln. Durch das Nachtsichtglas stellte er jedoch fest, daß in allen Räumen Licht brannte und nur die Fenster abgedunkelt waren. Corben kehrte unzufrieden und mit verstärkter Ungewißheit heim. Drei Tage später erhielt Thea im Werk einen Anruf ihres Vaters. Früher hatte Rudy sie nie an ihrer Arbeitsstätte angerufen. Erst in letzter Zeit häuften sich seine Anrufe. Sie bat Corben, der ihr Vorgesetzter war, ihr für den Rest dieses Tages und auch für morgen frei zu geben. Es gab keinen Grund, ihr diese Bitte auszuschlagen, aber er fragte: »Ist etwas mit Rudy nicht in Ordnung?« »Nichts weiter. Nur einer seiner Paranoia-Anfälle«, sagte sie. -195-
Es sollte unbeschwert klingen, aber Corben glaubte, unterschwellige Besorgnis herauszuhören. Kaum war Thea abgeflogen, flog er zu seinem Beobachtungsposten hinaus. Diesmal packte er zu seiner Jagdausrüstung einen Minispion. Als Corben Stellung bezog, war Theas Schweber noch nicht gelandet. Sie traf erst eine halbe Stunde später ein. Das konnte nur bedeuten, daß sie argwöhnisch geworden war und nach eventuellen Verfolgern Ausschau gehalten hatte. Corben wurde ganz heiß bei dem Gedanken, daß Thea ihn entdeckt haben könnte. Er schickte die Mikrosonde aus und verfolgte deren Flug auf dem Display der Fernsteuerung, während er gleichzeitig auf dem Bildkubus beobachtete, wie Thea ihren Vater begrüßte, der aus dem Haus gerannt kam. Rudy wirkte ziemlich aufgeregt und sprach gestikulierend auf sie ein. Thea konnte ihn kaum beruhigen. Corben versuchte, über das Richtmikrophon der Sonde ihr Gespräch aufzunehmen. Aber dafür war die Entfernung noch zu groß. Und dann verschwanden die beiden im Haus. Corben ließ die Sonde aus sicherer Distanz das Haus umschwärmen; er wollte nicht riskieren, daß sie entdeckt wurde alles andere als das! Corben hielt die Sonde stets außerhalb des Energiezaunes, so daß sie auf keinen Fall als Energiequelle ausgemacht werden konnte. Er kannte sich in diesen Dingen aus; schließlich war er Mikromechaniker, der zusammen mit den Siganesen am Sicherheitssystem des Ceres-Systems mitgearbeitet hatte - wie Thea unter seiner Leitung übrigens auch. Diese Vorsichtsmaßnahme hatte aber für Corben den Nachteil, daß er keine zufriedenstellenden Ortungsergebnisse erhielt. Es war ihm auch nicht möglich, im Infrarotbereich die Anzahl der im Haus befindlichen Personen als Wärmequellen zu bestimmen. Er konnte nicht einmal Theas und Rudys Anwesenheit auf diese Weise beweisen, obwohl er wußte, daß sie im Haus waren. -196-
Thea blieb nicht lange. Nur etwa eine halbe Stunde. Als sie das Haus verließ, wirkte sie noch niedergeschlagener als bei ihrer Ankunft. Rudy begleitete sie zum Schweber, den Arm um ihre Schulter gelegt, tröstend auf sie einredend. »... nicht weggehen, Marga ...« Das waren die ersten Worte, die Corben über seinen Minispion empfing. Rudy nannte Thea in seiner Verwirrung Marga, nach seiner verstorbenen Frau. »... dir die Sache über den Kopf ... dich an Roi Danton ... verrate nichts über ...« Thea verabschiedete sich mit einem Kuß von ihrem Vater und bestieg den Schweber. Aber sie startete nicht sofort. Erschöpft legte sie ihren Kopf auf das Armaturenbrett. Erst als ihr Vater sie von außerhalb anrief, straffte sie sich, winkte ihm mit gequältem Lächeln zu und startete. Corben wußte nicht, was er von dieser Szene halten sollte. Er war nur überzeugt, daß viel mehr dahintersteckte, als er sich in seiner bescheidenen Phantasie ausmalen konnte. Als Corben ins Werk zurückkam, war Thea bereits an ihrem Arbeitsplatz. »Nanu«, tat er erstaunt. »Ich dachte, du wolltest erst übermorgen zurückkommen.« »Die Sache hat sich erledigt«, sagte Thea. Sie hob den Blick zu Corben. »Das heißt, ganz ist das Problem wohl nicht aus der Welt geschafft. Ich muß irgend etwas anstellen, um Rudy an einem Pflegeplatz unterzubringen. Irgendwann rastet er in der Einsamkeit noch aus, das sehe ich kommen.« »Wenn es nur das ist, könnte ich das sofort für dich arrangieren«, sagte Corben hoffnungsvoll. Wenn die Sorge um ihren Vater die Antwort auf alle offenen Fragen war, dann konnte die Angelegenheit nicht so schwer aus der Welt zu schaffen sein. »Nicht sofort«, widersprach Thea hastig. »Ich sagte doch, ich brauche einige Zeit. Und überhaupt würde ich mir wünschen, daß du dich da heraushältst, Corby. Das ist meine Privatan-197-
gelegenheit, ich schaffe das schon.« Aber so leicht gab Corben nicht auf. Vielleicht lehnte Thea seine Hilfe aus Stolz oder Scham ab. Er war ihr Freund, auch wenn sie ihn manchmal nicht so behandelte.
Corben Matala flog tags darauf ein drittes Mal zur Einsiedelei in den Bergen, jedoch unter völlig anderen Voraussetzungen. Er bezog nicht Position in einem Versteck, sondern landete direkt vor dem Haus. Corben hatte zudem einen Zeitpunkt gewählt, zu dem Thea nicht zu Besuch bei ihrem Vater war. Rudy erwartete den Schweber vor dem Haus. Er rannte aufgebracht hin und her und ruderte mit den Armen, als wolle er das Fluggefährt wie eine lästige Mücke verscheuchen. Corben mißachtete diese eindeutigen Gesten und landete. »Du kannst hier nicht so einfach landen«, hörte er Rudys zornige Stimme in die Kanzel dringen. »Verschwinde! Das ist Privatgrund! Wir machen mit unerwünschten Besuchern kurzen Prozeß!« Das ›Wir‹ ließ Corben aufhorchen. Er stieg aus, und Rudy stürzte sich sofort auf ihn und machte Anstalten, ihn durch das Schott in den Schweber zurückzudrängen. Der Alte war jedoch nicht kräftig genug, um Corben überhaupt von der Stelle zu bewegen. »Sachte, sachte, Rudy«, redete Corben beruhigend auf ihn ein. »Ich möchte Thea sprechen. Ist sie hier?« Das bremste Rudy. »Wer bist du? Was geht dich Marga an?« Rudy akzeptierte, daß andere Thea bei ihrem Namen nannten; er blieb jedoch stur bei Marga. Das ließ den Verdacht aufkommen, daß er sehr wohl die Wahrheit akzeptierte und nur alle anderen zum Narren hielt. Rudy zog das konsequent durch, auch Thea gegenüber. -198-
»Ich bin Corby, ein Freund von Roi Danton. Du mußt dich an mich erinnern, Rudy. Ich war früher schon einige Male mit Thea hier.« »Aber klar erinnere ich mich«, sagte Rudy versöhnlicher. »Ich mag ein alter Knochen sein, aber Gesichter vergesse ich nie. Und Margas Freunde merke ich mir ganz besonders.« Er wurde sofort wieder mißtrauisch. »Was willst du? Marga ist nicht da.« »Könnten wir hineingehen, um uns in Ruhe zu unterhalten?« schlug Corben vor. Er beobachtete während der ganzen Zeit das schmucklose Haus. Aber er konnte keine verdächtigen Bewegungen wahrnehmen und vernahm keinerlei Geräusche. Nur das leise Säuseln des Windes war zu hören. Aus der Ferne drang das Kollern von Geröll herüber, das vermutlich von äsendem Wild losgetreten worden war. Das Haus lag wie verlassen da, so daß Corben zu dem Schluß kam, daß Rudy mit ›wir‹ lediglich sich und Thea gemeint hatte, obwohl sie gerade nicht da war. Corben bewegte sich dennoch auf das Haus zu. »Das geht nicht!« sagte Rudy und versperrte ihm den Weg. »Ich habe nicht aufgeräumt. Ich möchte nicht, daß jemand die Unordnung sieht.« »Verstehe, verstehe«, sagte Corben wissend. »Du meinst die vielen leeren Konservendosen und das Verpackungsmaterial der verzehrten Lebensmittel. Hast du da überhaupt noch Platz zum wohnen, Rudy?« »Was? Konservendosen? Verpackungsmaterial?« Der Alte wirkte im ersten Moment irritiert. Dann aber erhellte sich sein Gesicht plötzlich; er brauchte eben länger, um sich den Durchblick zu verschaffen. »Ach, das meinst du!« rief er mit erhellendem Gesicht. »Nein, so wüst geht es auch wieder nicht bei mir zu. Mein Haus ist schließlich kein Schweinekoben. Kein Schweinekoben, nein. Ich räume täglich auf, jawohl. Und bringe die Abfälle zu einer De-199-
ponie, die ich eingerichtet habe. Zumeist verbinde ich das mit der Fütterung. Das tue ich, jawohl.« »Was für eine Fütterung?« »Na, was glaubst du wohl, was ich mit den Lebensmitteln mache?« Rudy zwinkerte ihm verschwörerisch zu und klopfte sich dabei auf seinen flachen Bauch. »Sehe ich so verfressen aus, daß ich diese Unmengen allein verschlingen könnte? Ich teile alles mit der Natur von Phönix. Die Tiere und Pflanzen bekommen sogar den Löwenanteil ab.« »Du brauchst die vielen Lebensmittel tatsächlich nur für Tiere und Fleischfresserpflanzen?« fragte Corben verblüfft. »Was hast denn du gedacht?« »Nun, ich dachte, du hortest sie, für den Fall, daß die Cantaro Phönix erobern.« »Unsinn!« Rudy machte eine abfällige Handbewegung. »Was soll ich mit Vorräten? Wenn die Cantaro eines Tages kommen und sie werden kommen, das ist so sicher wie Charon und Styx jeden Tag über den Himmel wandern wenn die Cantaro also auftauchen, dann werde ich mich in die Wildnis zurückziehen und wieder jagen. Jawohl! Jagen und Fallen stellen werde ich! Wie in alten Zeiten. Ich kann gut für mich selbst sorgen, ich bin ein guter Jäger. Ich habe auch früher für mich und Marga recht gut gesorgt. Und die Natur wird mir dann gewissermaßen zurückgeben, was ich ihr jetzt zukommen lasse.« Er zwinkerte Corben zu und begann gackernd zu lachen. »Ich hätte das nicht für möglich gehalten«, sagte Corben immer noch verblüfft. »Bist du nur gekommen, um das von mir zu erfahren?« »In der Tat, Rudy, so könnte man sagen«, stotterte Corben. »Ich wurde beauftragt, mich nach dem Verbleib der Lebensmittel zu erkundigen.« »Jetzt weißt du es. Du kannst zurückfliegen und deine Meldung machen.« -200-
»Das werde ich.« Corben fühlte sich erleichtert, daß sich alles so einfach aufgeklärt hatte; er konnte sich nicht vorstellen, daß Rudy ihn belog. Und warum sollte er auch? »Das geht so schon in Ordnung. Aber vielleicht kann ich noch etwas für dich tun. Ich meine, es gibt spezielle Tier- und Pflanzennahrung für Fleischfresser. Die wird auch in den Parks von Port Arthur an die Karnivoren verfüttert...« »Ja, ja, schon gut«, unterbrach Rudy ihn ungeduldig. Er trat plötzlich nervös von einem Bein aufs andere. »Wenn es sonst nichts weiter gibt, dann kannst du wieder abfliegen. Ich möchte nämlich die nächsten Nachrichten nicht versäumen. Es ist in Zeiten wie diesen immer gut zu wissen, was sich in der Galaxis tut. Jawohl, gut zu wissen, was sich tut.« »Ja, das verstehe ich. Dann werde ich jetzt wieder abfliegen.« »Nur zu!« Rudy machte entsprechende Handbewegungen, um Corben zur Eile zu drängen. »Und Adieu!« Als Corben in den Gleiter stieg, da nahm er sich vor, Rudy den Gefallen zu tun und seine Lebensmittelrationen mehrheitlich in Tier- und Pflanzennahrung umzubuchen. Darüber würde er sich gewiß freuen ... Corben ahnte nicht, was sich inzwischen in seinem Hause abspielte. Und wie knapp er soeben dem Tode entronnen war.
Dialog 2 »Was bezweckt Kummerog eigentlich, Bruno?« »Je weniger du weißt, desto besser für dich, Thea.« »Aber wenn ich wüßte, worauf alles hinauslaufen soll, könnte ich viel effektiver für ihn arbeiten.« »Du könntest bei einem Verrat Kummerog mit mehr Wissen auch mehr schaden.« -201-
»Mir sind doch sowieso die Hände gebunden, solange Kummerog meinen Vater als Geisel hat. Und ich würde nichts unternehmen, das Rudy schaden könnte.« »Du weißt, ich kann deine Gefühle ausloten. Darum erkenne ich, daß du ziemlich passiv für Kummerog tätig bist, Thea. Du lieferst nur schleppend Informationen. Aber ich warne dich: Treib es nicht zu weit.« »Das liegt daran, daß ich mich nicht auskenne. Einiges kann ich mir zusammenreimen. So kommt es wohl nicht von ungefähr, daß ich Kummerog alle erreichbaren astronomischen Daten liefern soll. Und du selbst hast angedeutet, daß er bereits auf Mimas in dieser Richtung aktiv war. Das sagt doch dem Dümmsten, daß er nach einem bestimmten kosmischen Objekt forscht. Etwa nach seiner Heimatgalaxis?« »Stell keine solche Fragen, Thea!« »Das ist auch eine Antwort. Und was will er mit den Unterlagen über die GILGAMESCH? Falls er vorhat, den Stolz der Zellaktivatorträger zu kapern, dann rate ihm besser davon ab. Bruno, an einem solchen Vorhaben muß Kummerog scheitern!« »Das klingt wie ein schlechter Witz. Du machst dir doch nicht wirklich Sorgen um Kummerogs Sicherheit, Thea?« »Das ist kein Witz. Ich mache mir vor allem Sorgen um Rudy. Denn diese Daten, die ich beschaffen soll, sind hochbrisant. Das meiste ist Geheimmaterial. Wenn mir jemand auf die Schliche kommt, dann habe ich einen Erklärungsnotstand. Und ich möchte nicht, daß sich Kummerog bei einer Wendung zum Negativen an Rudy vergreift.« »Mach so weiter wie bisher. Ich weiß, daß du vorsichtig genug bist, um keinen Verdacht zu erregen. Diese Phase dauert ja nicht ewig.« »Da ist noch etwas. Kummerogs Freßgier, seine Unersättlichkeit. Was passiert eigentlich mit ihm? Er wirkt nicht sehr gesund. -202-
Weißt du, was Lepra ist? Es sieht so aus, als leide er unter einer ähnlichen Krankheit.« »Kummerog macht nur eine Regenerationsphase durch.« »Und wie lange noch?« »Ich hoffe, nicht mehr lange. Dann wird sich alles in Wohlgefallen auflösen.«
2. Als Rudy sie an ihrer Arbeitsstätte anrief und erklärte, es gäbe ›Probleme‹, da hatte sich Dorothea Ringent sofort bei Corben Matala abgemeldet und sich vorsichtshalber auch gleich für den nächsten Tag frei genommen. Corby wollte wissen, ob mit Rudy etwas nicht stimmte, und Thea fiel nichts Besseres ein, als einen Paranoia-Anfall vorzugeben. Corby, ihr stiller Verehrer, wurde in letzter Zeit immer aufdringlicher. Sie hätte sich von ihm, so wie früher, mehr Zurückhaltung gewünscht. Aber seit Kummerog einen unglaublichen Heißhunger entwickelt hatte und sie, Thea, deswegen die zehnfache Nahrungsration für ihren Vater anforderte, da kam sie ins Gerede und mußte es sich gefallen lassen, daß man sie aufzog. Nicht so Corby. Er nahm dies zum Anlaß, sich plötzlich penetrant fürsorglich um sie zu kümmern. Das war für sie schlimmer als die Hänseleien der anderen. Es gab Momente, da überlegte Thea ernsthaft, ob sie sich Corby nicht anvertrauen sollte. Sie hätte in dieser schlimmen Situation einen Verbündeten brauchen können. Aber Corby war für solcherart Probleme nicht der richtige Ansprechpartner. Das mußte sie sich immer wieder vor Augen halten. -203-
Der so überaus korrekte und phantasielose Corby konnte ihr gewiß nicht helfen. Er hätte bestimmt darauf bestanden, daß sie dem Sicherheitschef Armin Assitar Meldung erstatten sollte. Nein, Corby war für ihre Probleme nicht der richtige Ansprechpartner. Aber einen anderen Freund hatte sie auf Camelot nicht, seit Reginald Bull auf Trokan verschollen war. Als Thea an diesem 20. Januar mit dem Schweber das Haus in den Bergen erreichte, kam ihr Rudy aufgeregt aus dem Haus entgegengestürzt, kaum daß sie gelandet war. Daran merkte Thea, daß irgend etwas nicht stimmte. Aber zumindest war Rudy unverletzt, das erleichterte sie. »Marga! Marga!« rief ihr Vater ihr mit sich überschlagender Stimme entgegen. »Deine Freunde wollen mich von hier wegbringen. Sie wollen nach Port Arthur übersiedeln.« »Das mußt du mißverstanden haben, Rudy«, sagte Thea verwirrt. »Nein, nein, sie haben ganz genau das gesagt«, beharrte Rudy. »›Rudy‹, hat Kummerog gesagt, ›es muß sich endlich was tun. Wir werden nach Port Arthur übersiedeln.‹ Das waren seine Wolle. Sollen sie doch gehen. Ich will nicht von hier weg. Das mußt du Kummerog und Bruno klarmachen.« Thea verstand diesen Gesinnungswandel nicht. Kummerog und Bruno Drenderbaum, der ehemalige Sekretär des LFT-Kommissars Cistolo Khan, waren unter falschen Namen nach Camelot gekommen und hatten einen tödlichen Unfall vorgetäuscht. Sie konnten sich nirgendwo auf Camelot blicken lassen und waren nur in diesem Versteck sicher. Was sollte also das Gerede von einer Übersiedlung nach Port Arthur? Als Thea vor Rudy das Haus betrat, wurde sie von Bruno Drenderbaum bereits im Flur erwartet. Der kleine, unscheinbar wirkende Terraner mit dem rundlichen Gesicht, dessen Kopf mit kaum 40 Jahren nur noch ein schmaler Haarkranz zierte, stand ganz im Banne Kummerogs. Er war seinem außergalaktischen -204-
Partner völlig hörig. Dennoch hatte Thea zu ihm einigermaßen Zutrauen gefaßt. Drenderbaum war ihre einzige Hoffnung. Denn während Kummerog sich aufführte wie ein Menschenfresser, war Drenderbaum der ruhende Pol, besonnen und stets zu einem Dialog bereit. Mit ihm konnte man alles besprechen. Und er hatte Kummerog nicht erst einmal davon abgehalten, sich an ihr oder ihrem Vater zu vergreifen. Drenderbaum empfing sie mit den Worten: »Dicke Luft! Kummerog wird ungeduldig, weil er argwöhnt, daß du Zeit schindest. Das ist doch nicht der Fall, Thea?« »Ich tue doch nur, was ich kann«, log Thea. Sie versuchte tatsächlich Zeit zu gewinnen, um Kummerog hinzuhalten und sich einen Ausweg zu überlegen. Bisher war ihr das jedoch noch nicht gelungen. Sie konnte nur hoffen, daß sie Kummerogs Geduld nicht über Gebühr strapaziert hatte. Kummerog verlangte von ihr, ihm Unterlagen über das Sicherheitssystem von Camelot und des gesamten Ceres-Systems, über den Raumschiff-Fuhrpark, die Organisation und die wissenschaftliche Forschung zu beschaffen - und vor allem alles über die GILGAMESCH und die Zellaktivatorträger. Thea hatte sich damit herausgeredet, daß sie diese Unterlagen nur in jeweils kleinen Mengen und sporadisch beschaffen konnte, wollte sie nicht Verdacht erregen. Kummerog mußte das akzeptieren. Aber offenbar ging es ihm doch zu langsam. Drenderbaum bedeutete Thea mit einer Handbewegung, ins Wohnzimmer zu gehen. Dort lümmelte Kummerog träge und mit ausgestreckten Beinen auf dem Sofa, vernehmlich an einer Pastiktüte mit Nahrungskonzentrat schlürfend, während seine weißen, wässerigen Augen auf die eingeschaltete Videowand gerichtet waren. Es lief gerade ein Bericht über die fremden Invasoren, die Tolkander, die in die Milchstraße eingefallen waren. -205-
Die Bilder zeigten endlose Pulks von Igelschiffen, und der Sprecher erklärte dazu, daß sich bereits 100.000 von ihnen beim Sternhaufen 47 Tucani versammelt hätten. Kummerog wirkte lethargisch und kränklich; seine schwarze Haut hatte sich an mehreren Stellen blasenartig verdickt und bildete semitransparente Beulen. Vor ihm standen drei leere Konservendosen. Er warf die leergesogene Plastiktüte achtlos hinter sich und fragte: »Wie lange sind wir schon deine Gäste, Katze?« Er nannte Thea immer dann ›Katze‹, wenn er sie demütigen wollte. »Zehn ... nein, elf Tage ...« »Und was hast du in dieser Zeit für uns geleistet?« Kummerog schnellte plötzlich hoch und erreichte Thea mit einem einzigen weiten Satz. Dieser Kraftakt kam so unverhofft, daß sie unwillkürlich zurückzuckte und sich gegen die Wand in ihrem Rücken preßte. Kummerog legte ihr die großen, vierfingrigen Hände mit den zwei Daumen auf die Schulter und drückte sie kraftvoll nieder, bis sie in die Knie gehen und zu ihm aufblicken mußte. Der transparente Belag seiner Hände fühlte sich wie Gallert an, und Thea verspürte ein unangenehmes Kribbeln. Der Fremde aus dem Volk der Cantrell beugte sein Gesicht so nahe zu ihr herab, daß sie die drei Nasenlöcher als riesige, verschwommene Höhlen sah und meinte, im Weiß seiner Augen versinken zu müssen. »Du treibst ein gefährliches Spiel, Katze«, knurrte Kummerog so nahe ihrem Gesicht, daß sie meinte, an seinem fauligen Atem ersticken zu müssen. »Ich habe während dieser Zeit aus der Videowand mehr und interessantere Informationen erhalten als von dir. Das geht so nicht mehr. Ich hätte gute Lust, dich zu töten. Auf der Stelle!« Er bleckte den lippenlosen Mund und entblößte seine einzeln stehenden Fangzähne. Sein Gesicht näherte sich dem von Thea -206-
noch mehr, bis er es berührte. Und er begann mit seinen schrecklichen Zähnen verspielt an ihrem Gesicht zu knabbern. »Wie schmeckt das Fleisch einer jungen Terranerin?« murmelte er versonnen. Thea verspürte den Druck seiner Zähne auf ihrem Gesicht zu ihrem Hals hinunter wandern und noch tiefer. Sie konnte nicht atmen und spürte fast schmerzhaft, wie eine Gänsehaut ihre Brüste überzog. In diesem Moment schloß sie mit dem Leben ab. Sie war vor Angst und Ekel zu keiner Reaktion fähig, konnte nichts zu ihrer Verteidigung sagen. »Das würde ich gerne wissen, Katze«, raunte Kummerog. »Aber da ist Bruno davor. Er mag keine lästigen Leichen als Spuren hinterlassen. Bruno meint, daß auch fehlende Leichen verräterisch seien. Ich dagegen würde es darauf ankommen lassen ...« Er zuckte zurück und stieß Thea zu Boden. Mit drohend erhobener Stimme fuhr er fort: »Und ich werde es darauf ankommen lassen, wenn du nicht spurst, Katze. Bruno wird dir sagen, was du zu tun hast. Es ist deine letzte Chance.« Kummerog bedrohte stets nur sie. Nie bezog er Rudy mit ein, obwohl es offensichtlich war, daß er sie mit ihrem Vater erpreßte. Doch Rudy konnte das nicht durchschauen. Kummerog verstand es, ihres Vaters Zutrauen zu gewinnen und ihm gegenüber alle Verantwortung auf Thea abzuwälzen. Kummerog setzte sich wieder aufs Sofa und öffnete eine neue Konservendose. »Leistest du mir Gesellschaft, Rudy?« fragte er freundschaftlich. »Ich glaube, sie bringen bald einen Überblick über die von den Invasoren eroberten Planeten. Ich denke, der Planet Lafayette ist verloren. Was meinst du, Rudy?« »Ich glaube, ich sollte wieder mal die Abfälle zur Mülldeponie schaffen ...«, setzte Rudy zum Sprechen an. »Nicht jetzt. Setz dich!« Mit einem entschuldigenden Blick zu Thea trottete Rudy zum Sofa und nahm gehorsam neben Kummerog Platz. -207-
»Wie ist deine Meinung zur Lage, Rudy?« wiederholte Kummerog seine Frage. »Mich interessiert vor allem, ob die Invasoren auch nach M 30 kommen werden«, antwortete Rudy. Thea erhob sich vom Boden, wo sie bis jetzt gekauert hatte. Bruno Drenderbaum half ihr hoch und führte sie in die Küche. »Ich finde Kummerogs Plan nicht besonders klug«, eröffnete er ihr. »Aber er läßt sich nicht davon abbringen. Und das ist, was er will und was du tun mußt, Thea: Zuerst wirst du deinen Job wechseln. Du mußt dich auf ein Gebiet umschulen lassen, das mit Astronomie zu tun hat und dem du in Port Arthur nachgehen kannst. Und du wirst in deine Wohnung in der Hauptstadt übersiedeln. Meinetwegen kannst du das damit begründen, daß sich der geistige Zustand deines Vaters verschlechtert hat, daß du für ihn einen Pflegeplatz suchst und ständig in seiner Nähe sein willst. Wichtig ist nur, daß Kummerog und ich in deine Unterkunft gelangen können, ohne daß man uns entdeckt. Dafür mußt du sorgen. Ich setze voraus, daß du in Port Arthur ans planetare Kommunikationsnetz angeschlossen bist.« »Ja, aber eine solche Übersiedlung geht nicht, ohne Verdacht zu erregen«, wandte Thea ein. »Durch Kummerogs Freßgier ist man ohnehin bereits mißtrauisch geworden. Was geht mit ihm vor sich? Was stimmt nicht mit ihm?« »Es ist nichts weiter«, antwortete Drenderbaum. »Mach dir also keine falschen Hoffnungen, daß es mit Kummerog bergab gehen könnte. Er ist topfit!« »Es ist trotzdem nicht ratsam, noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen«, gab Thea zu bedenken. »Das habe ich Kummerog auch gesagt«, meinte Drenderbaum. »Aber er geht dieses Risiko lieber ein, als sich allein auf deinen guten Willen zu verlassen. Du warst bisher wirklich nicht sehr kooperativ, Thea.« »Das liegt an den Umständen ...« -208-
»Pst!« machte Drenderbaum und legte ihr sanft den Finger auf den Mund. »Mir ist nichts Menschliches fremd. Ich kenne deine geheimsten Gefühle und kann dich verstehen. Kummerog ist dagegen kein Mensch. Er möchte in spätestens einer Woche ins Versteck von Port Arthur überwechseln. Arrangiere das, Thea, andernfalls kann ich für nichts garantieren.« »Ich werde mein Bestes geben«, versprach Thea. »Und deine krummen Touren, Thea!« ermahnte sie Drenderbaum. »Du wirst schon bemerkt haben, daß ich in dir lese wie in einem offenen Buch.« »Bist du Telepath, Bruno?« »Das gerade nicht... Aber jetzt mach dich auf den Weg! Und triff so rasch wie möglich deine Vorkehrungen, Thea. Ich möchte nicht, daß Kummerog Rudy etwas antut.« Als Thea nach nur einer halben Stunde das Haus wieder verließ, kam Rudy ihr nachgelaufen. Er legte ihr vertraulich den Arm um die Schulter und sagte: »Ich habe alles mitbekommen. Aber ich will nicht von hier weggehen, Marga.« »Ich werde schon einen Ausweg finden, Rudy«, sagte sie niedergeschlagen. »Wenn dir die Sache über den Kopf wächst, dann wende dich an Roi Danton. Aber verrate ihm besser nichts über Kummerog!« Thea küßte ihren Vater hastig und machte, daß sie rasch in den Schweber kam. Rudy sollte nicht merken, wie es um sie stand. Von wegen, sich an Roi Danton, alias Michael Rhodan, wenden! Der war seit Jahrzehnten unbekannten Aufenthalts in der Galaxis Fornax. Bully war auch verschollen, und überhaupt getraute sie sich nicht, sich einem der anderen Zellaktivatorträger anzuvertrauen. Atlan etwa würde bestimmt sofort handeln, aber sie war nicht sicher, ob er das mit der nötigen Rücksicht auf Rudy tun würde. Selbst wenn sie sich an Mila und Nadja Vandemar wandte, die sich in ihrer Kindheit fürsorglich ihrer angenommen hatten und -209-
zu denen sie immer noch ein gewisses Naheverhältnis hatte, könnte das ins Auge gehen. Kummerog überwachte alle ihre Kontakte. Er würde mißtrauisch werden und vermutlich die richtigen Schlüsse daraus ziehen, wenn sie sich ohne einen für ihn plausiblen Grund an die Zwillingsschwestern wandte. Nein, wenn sie sich überhaupt jemandem anvertrauen konnte, dann mußte sie absolut sicher sein, daß Kummerog nichts davon merken konnte. Es mußte sich also um jemanden handeln, mit dem sie Umgang im Alltag hatte. Aber da gab es praktisch niemanden außer Corben Matala - und der kam als Vertrauter nicht in Frage. Theas Hoffnung, diese gefährliche Situation selbst zu meistern und doch noch heil zu überstehen, waren auf den Nullpunkt gesunken. Aber es kam noch schlimmer. Dorothea Ringent besaß zwei Wohnungen auf Camelot. Eine bescheidene Unterkunft in dem Wohngebäude nahe des Werks, in dem sie arbeitete, war ihr Hauptwohnsitz. Die zweite Wohnung hatte sie in Port Arthur - wie fast jeder Cameloter. Diese war zwar großräumig und mit allen technischen Raffinessen ausgestattet, aber die benutzte sie kaum. Sie kam nur selten zum Kontinent Ophir und in die Hauptstadt von Camelot. Sie blieb lieber auf Bonin, um ihrem Vater nahe zu sein, der ihrer Aufsicht bedurfte. Dazu kam, daß sie ebenfalls ein Kind der Wildnis war und die Natur dieser exotischen Welt den Annehmlichkeiten der Zivilisation allemal vorzog. Sie mochte das sterile, futuristische Port Arthur nicht. Es wäre nun überaus auffällig gewesen, hätte sie ihren Posten gekündigt, um sich umschulen zu lassen und mit ihrem Vater nach Port Arthur zu ziehen. Sie hatte den anderen gegenüber immer wieder damit argumentiert, daß es Rudy umbringen würde, wenn er in der Zivilisation leben müßte. Das hatte jedermann akzeptiert. Darum konnte sie mit Rudy jetzt nicht einfach nach Port Arthur übersiedeln. -210-
Das ging nicht. Aber Kummerog bestand darauf und hatte sie seinen Willen durch Drenderbaum wissen lassen. Thea lag die ganze folgende Nacht wach und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Und sie fand einen. Sie beschloß, sich einfach für ein astronomisches Studium anzumelden - mit der Option, auf alle astronomischen Daten Zugriff haben zu können und auf einer der Orbitalstationen praktische Erfahrungen zu sammeln. Zugegeben, das war nur eine Notlösung, aber sie war sicher, daß diese Regelung sogar für Kummerog akzeptabel war. Sie wollte ihn jedoch erst über ihr Arrangement informieren, wenn alles geregelt war und sie auch eine vorübergehende Beurlaubung von ihrer augenblicklichen Tätigkeit bewilligt bekam. Die Dinge waren noch im Laufen und ihre viertägige Frist erst zur Hälfte abgelaufen, als sie zu Hause, mitten in der Nacht, ein Anruf erreichte, der sie aus unruhigem Schlaf riß. Der Bildschirm blieb dunkel. »Sofort herkommen!« sagte die sanfte und doch befehlende Stimme Bruno Drenderbaums. Noch bevor sie eine Frage stellen konnte, war die Verbindung unterbrochen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was schon wieder vorgefallen sein mochte. Aber die beängstigende Ungewißheit, die solche Anrufe in ihr weckten, brachte sie völlig aus der Fassung. Für einen Moment dachte sie sogar daran, einfach Armin Assiter anzurufen, ihm alles zu gestehen und so diesem schrecklichen Spuk endlich ein Ende zu machen. Aber sie dachte an Rudy und daran, was der schreckliche Kummerog alles mit ihm anstellen konnte. Sie erstattete keine Meldung. Sie holte sich einen Schweber, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. Dies war ein Notfall. Die Formalitäten konnte sie nachträglich erledigen; Bürokratismus wurde auf Camelot ohnehin klein geschrieben. -211-
Es war eine wolkenlose Nacht. Nachdem der Schweber gelandet und Thea ausgestiegen war, dachte sie, noch nie eine so sternenhelle Nacht auf dieser Welt erlebt zu haben. Styx stand als große leuchtende Scheibe am Horizont und verlieh dem myridenfach funkelnden Sternenhimmel zusätzlich eine besondere Note. Für einen Moment dachte Thea wehmütig daran, daß dies eigentlich eine Nacht wie für Romantik geschaffen war. Eine Nacht wie diese war viel zu schade dafür, sich mit einer außergalaktischen Bestie herumzuschlagen. In einer solchen Nacht sollte man sich verlieben ... Thea wandte sich seufzend dem Haus zu. Es lag still und mit verdunkelten Fenstern da. Nirgendwo war Bewegung, kein verräterisches Geräusch war zu hören. Thea spürte ihren Herzschlag schneller gehen. Was für eine schlimme Überraschung würde sie diesmal erwarten? Kummerog hatte sie wohl kaum ohne Grund herbestellt. Sie wandte sich dem Hintereingang zu. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, schlug ihr Kummerogs übler Atem entgegen. Sie wurde von kräftigen Armen gepackt und ruckartig ins Innere geschleudert. Thea flog förmlich durch den Flur. Sie schlug hart zu Boden und schlitterte über die Dielen bis ins Wohnzimmer. Dort blieb sie benommen liegen. Aber ihr war keine Erholungspause gegönnt. Kummerog war augenblicklich über ihr, hob sie hoch und warf sie aufs Sofa. Dabei schlug ihr einer seiner gallertartigen Hautfetzen ins Gesicht. Kummerog keuchte. Nicht vor Anstrengung, sondern aus unterdrückter Wut. »Es ist genug jetzt!« stieß er schweratmend und pfeifend aus. »Du hast es geschafft, Katze. Du hast mich zum Kochen gebracht!« Er drehte sie auf den Rücken, packte mit einer seiner Pranken ihre beiden Hände und preßte sie ihr in den Unterleib, daß ihr die -212-
Luft wegblieb. Die andere Hand hielt er ihr mit gespreizten Fingern übers Gesicht und senkte sie langsam auf sie hinab. Thea konnte sehen, daß sich zwischen seinen Fingern durchsichtige Hautlappen spannten; wie Schwimmhäute. Von dem einen Daumen baumelte etwas wie ein zentimeterlanger Fingerling aus Gallert. Als Kummerogs Hand knapp über ihrem Gesicht schwebte, da entwickelte der halbtransparente Fingerfortsatz so etwas wie ein Eigenleben. Das Ding wand sich und zuckte, dehnte sich und versuchte, sie zu erreichen. Es war, als hätte dieser Hautlappen Individualität und giere nach der Berührung mit ihr. Aber Kummerog hielt die Hand in ausreichendem Abstand, so daß es nicht zur Berührung der Überhaut mit Thea kam. »Du gehörst mir«, sagte Kummerog hoch über ihr. Er streckte sich und neigte den Kopf etwas nach hinten, so daß seine Haltung herablassend und noch überlegener wirkte. »Ich habe die Wahl, dich zu töten oder dich in Besitz zu nehmen. Mal überlegen, was sinnvoller ist. Eines ist jedoch gewiß. Du wirst dieses Haus nicht als freier Mensch verlassen.« Thea nahm all ihre Kraft zusammen, um sprechen zu können. »Was ... was ist in dich gefahren, Kummerog?« brachte sie hervor. »Was soll ich getan haben, daß du so reagierst?« »Was du getan hast?« fauchte der Cantrell. »Du hast mir einen Spion geschickt!« »Was?« Diese Anschuldigung verblüffte Thea. »Ich habe niemandem etwas verraten. Keiner weiß, daß das Haus meines Vaters euer Unterschlupf ist.« »So, tatsächlich? Und wie kommt es, daß dieser Corby plötzlich hier auftaucht und Rudy auszufragen versucht? Das ist doch kein Zufall.« »Corby war hier?« fragte Thea entsetzt. »Davon hatte ich keine Ahnung, Kummerog. Das mußt du mir glauben.« -213-
Thea verfluchte Corben Matala innerlich. Dieser Narr hatte es doch tatsächlich gewagt, ihr nachzuspionieren! Damit konnte er für sie und Rudy das Todesurteil besiegelt haben. Sie hatte schon immer gewußt, daß Corby nicht der richtige Partner für ihre augenblickliche Situation war. Aber sie hatte wenigstens gehofft, daß er sie soweit verehrte, daß er ihre Wünsche achtete und sie in Ruhe ließ. »Wer außer diesem Hanswurst weiß noch von uns?« »Corby weiß überhaupt nichts«, beteuerte Thea verzweifelt. »Ich habe zu niemandem ein Sterbenswort über euch gesagt. Das schwöre ich!« Kummerog ließ ihre Hände los und setzte sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihre auf dem Bauch liegenden, gefühllos gewordenen Hände. »Letztlich ist es egal, ob du uns verraten hast oder nicht«, sagte er wie nebenbei. Er hatte sich inzwischen wieder beruhigt und völlig in der Gewalt. »Der Status quo ist nicht länger tragbar, so oder so. Ich muß dafür sorgen, daß du mir treu bist, daß du zu mir hältst bis in den Tod. Wie Bruno. Und das geht nur auf eine Art und Weise.« Kummerog preßte ihr plötzlich die Hand aufs Gesicht. Thea spürte, wie ihr der Hautfortsatz des Daumens in den Mund drang und ihren Gaumen elektrisierte. Sie verspürte keinen Schmerz, die elektrischen Schläge waren eher aufputschend. Sie pochten durch ihren Schädel bis ins Gehirn. Sie konnte nicht mehr klar denken. Ihr Ich wurde verdrängt, schwand dahin und wurde im selben Maße, wie es erstarb, von etwas anderem verdrängt. Etwas von Kummerog drang in Theas Geist und breitete sich darin aus. »Tu's nicht, Kummerog!« erklang da Bruno Drenderbaums Stimme. »Das wäre reine Verschwendung. Es gibt weitaus bessere Verwendung. Vergeude deine Macht nicht an diese Katze.« -214-
»Aber nur so kann ich ihrer Mitarbeit sicher sein«, sagte Kummerog. Thea spürte aber gleichzeitig, daß sich das, was von ihm stammte, wieder langsam aus ihrem Geist zurückzog. Jedoch nicht ganz. Etwas davon blieb zurück und kontrollierte weiterhin ihr Ich. »Du wirst nie wieder versuchen, mich zu verraten. Wirst du voll zu mir stehen und mir deine ganze Unterstützung geben?« »Ich habe dich nicht verraten«, beteuerte Thea. »Sie sagt die Wahrheit«, meldete sich wieder Drenderbaum. »Du weißt, daß du dich auf mein Urteil verlassen kannst, Kummerog. Sie hat mit dieser Sache nichts zu tun.« »Auch damit nicht?« Kummerog hob etwas vom Boden auf und hielt es Thea vors Gesicht. Es sah aus wie eine dicke, einen halben Meter lange Wurst. »Das ist Karnivorenfutter! Es wird mit Wasser zu Brei verdünnt und so an Fleischfresserpflanzen verfüttert. Seit zwei Tagen besteht meine Nahrung zu achtzig Prozent aus diesem Dreck.« »Das muß ebenfalls Corby veranlaßt haben«, sagte Thea. Sie wußte nicht, ob sie lachen oder heulen sollte. Es war einerseits zu komisch, sich vorzustellen, wie Kummerog Karnivorennahrung hinunterwürgte. Andererseits konnte er in seinem Zorn darüber leicht die Kontrolle über sich verlieren und sie töten. »Ich werde diese Anordnung sofort nach meiner Rückkehr rückgängig machen«, versprach sie. »Pfeif drauf!« sagte Kummerog. »Das Zeug erfüllt seinen Zweck, und das genügt mir. Im übrigen sieht es im Moment immer noch so aus, daß du keine Gelegenheit mehr haben wirst, irgend etwas rückgängig zu machen, Katze.« »Wir können uns zwei weitere Leichen nicht leisten, Kummerog«, sagte Drenderbaum. »Wir können es uns ebensowenig leisten, hier untätig herumzusitzen«, widersprach Kummerog. »Da ist es noch besser, daß wir zum Handeln gezwungen werden.« -215-
»Thea hat den Ernst der Lage erkannt, sie wird spuren«, versicherte Drenderbaum. »Ich habe schon einiges in die Wege geleitet«, sagte Thea kleinlaut. »Wenn alles klappt, dann habe ich unbegrenzten Zugriff auf alle astronomischen Daten. Und auch auf den Hyperraum-Resonator.« »Was ist ein Hyperraum-Resonator?« fragte Kummerog gelangweilt. »Damit lassen sich bisher unbekannte fünfdimensionale Strukturen selbst weit entfernter astronomischer Objekte anmessen - grob gesprochen«, erklärte Thea und fügte hastig hinzu: »Mittels der vom Hyperraum-Resonator gelieferten Daten ist man erst auf die ungewöhnlichen Geschehnisse auf Trokan aufmerksam geworden. Das erst hat die Zellaktivatorträger auf den Plan gerufen.« »Hm«, machte Kummerog überlegend. »Mit dem HyperraumResonator könnte man also Galaxien mit ganz bestimmtem hyperphysikalischem Strukturmuster herausfiltern?« »Davon bin ich überzeugt«, bestätigte Thea. Sie merkte, daß Kummerog angebissen hatte und sie wieder eine Chance erhielt, diese Situation heil zu überstehen. »Und ab wann könnte das funktionieren?« »Schon morgen«, sagte Thea. »Dann kann ich mit meinem Astronomie-Studium beginnen. Worauf ich auch zugreife, ich kann es sofort nach hier weiterleiten.« »Das klingt nicht schlecht«, meinte Drenderbaum. »Durch dieses Arrangement wäre es gar nicht nötig, nach Port Arthur zu übersiedeln. Das bedeutet einen Risikofaktor weniger.« Kummerog ließ sich mit der Antwort Zeit. Er überlegte wohl, daß, wenn Thea nach Port Arthur übersiedelte, er sie an die lange Leine lassen mußte. Schließlich sagte er: »In Ordnung. Ich lasse mich auf diesen Handel ein. Aber bei der geringsten Panne stirbt Rudy. Und wenn ich nur den leisesten Verdacht -216-
habe, daß du mich hinhältst, dann ist er genauso tot. Verstanden, Katze?« »Alles klar.« »Führ sie zu Rudy, Bruno«, befahl Kummerog anschließend. Er rollte Thea von der Couch und setzte sich vor die Wand, um sich die neuesten galaktischen Nachrichten anzusehen. »Sie soll wissen, was ihn im Falle ihres Versagens erwartet.« Bruno Drenderbaum hob Thea vom Boden auf. Ihr Unterleib und die Hände waren immer noch gefühllos. In ihrem Kopf herrschte eine große Leere, die Kummerogs entschwundenes Bewußtseinsteil zurückgelassen hatte. Theas Geist war nur noch Stückwerk, dessen Puzzleteile erst wieder zueinanderfinden mußten. Drenderbaum führte Thea in Rudys Schlafzimmer. Ihr Vater lag bekleidet rücklings auf dem Bett. Er schien unruhig zu schlafen, in seinem Gesicht zuckten unaufhörlich Muskel. Thea schrie auf, als sie sah, daß man ihm über den Kopf die Haube des Hvpnoschulers gestülpt hatte; das Gerät war eingeschaltet und auf Höchstleistung eingestellt. Rudys verwirrter Geist konnte die auf ihn einströmende Informationsfülle nie heil überstehen! Jetzt wurde Thea erst klar, für welche Verwendung Kummerog dieses Gerät angefordert hatte. Der Gedanke war so entsetzlich, daß Thea nicht aufhören konnte zu schreien. Drenderbaum schlug Thea ins Gesicht, um sie zum Verstummen zu bringen. Dann schaltete er den Hypnoschuler ab. »Sei nicht so hysterisch, Thea!« herrschte Drenderbaum sie an. »Es ist ja noch einmal gutgegangen. Aber du weißt jetzt wenigstens, welches Schicksal Kummerog deinem Vater zugedacht hat- für den Fall, daß du ihn hintergehen möchtest.« Thea war ab diesem Augenblick klar, daß sie sich keinen Fehler mehr leisten durfte. Sie mußte von jetzt an hart daran arbeiten, daß Kummerog das bekam, was er verlangte. -217-
Dialog 3 Bruno Drenderbaum merkte bei verschiedenen Gelegenheiten, daß die Haut ihm Informationen vorenthielt. Manchmal geschah dies aus Unwissenheit, oft aber auch, weil sie offenbar nicht die Verantwortung dafür übernehmen wollte, ihm dieses Wissen zu übermitteln. Die Haut, die Bruno trug, war immer noch ein Teil von Kummerog und nahm von diesem Gedankenbefehle entgegen. Die Haut ließ sich mit ihm auf keine Diskussionen über ihren Handlungsspielraum ein und inwieweit sie selbst von Kummerog abhängig war. Drenderbaum hatte den Eindruck, daß sie sich dabei wohl fühlte, keine Initiative entwickeln zu müssen und sich von ihm ernähren zu lassen. Nachdem sie ihm in den Anfängen deutlich gemacht hatte, wo's langging und er nun spurte, war sie zu einem ziemlich trägen Parasiten geworden. Wenn sie nicht bereit war, ihm zu antworten, signalisierte sie lakonisch: »Frag einfach Meister Kummerog.« Die Haut war auch launisch. Manchmal schwieg sie zu banalen Dingen, dann wiederum gab sie ihm auch auf die verzwicktesten Fragen Antwort. »Was passiert, wenn Kummerog stirbt? Stirbst dann auch du? Und wäre das auch mein Tod?« »Der Meister wird nicht sterben.« »Er könnte getötet werden.« »Er ist zu gewieft, sich töten zu lassen.« »Das hoffe ich für ihn. Aber nur angenommen, er kommt doch durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall ums Leben. Was dann?« »Dann brechen für uns beide schlechte Zeiten an.« -218-
»Wie ist das gemeint?« »Wer soll uns dann Befehle erteilen? Uns sagen, was in dieser oder jener Situation zu tun ist? Wir wären kaum mehr handlungsfähig.« »Soll das vielleicht heißen, daß Kummerogs Tod nicht bedingt, daß auch du abstirbst?« »Ich habe mit dem Meister keine biologische Verbindung mehr. Geistig bin ich er. Physisch bin ich du. Ich bleibe so lange am Leben, bis du stirbst. Aber ohne den Meister wäre das nicht erstrebenswert.« »Auch ich bin ein Intelligenzwesen und gewohnt, Entscheidungen zu treffen. Wir beide könnten es auch völlig alleine schaffen.« »Mag ja sein. Aber, wie gesagt, erstrebenswert wäre das gerade nicht.«
3. Dorothea Ringent hatte sagen wollen: »Corby, wenn du mich unbedingt umbringen willst, dann spioniere mir nur weiter nach.« Aber das hätte womöglich nur seinen Beschützerinstinkt geweckt und ihn zu weiteren Aktionen animiert. Darum sagte sie lediglich: »Ich sehe es als argen Vertrauensbruch, daß du dich in meine Privatangelegenheiten einmischst, Corby. Unter diesen Umständen kann ich mit dir nicht mehr zusammenarbeiten.« Das war ihr vorläufiger Abschied aus dem Bonin-Werk. Corben Matala sagte gar nichts zum Abschied. Er war ein Häufchen Elend und verstand vermutlich die Welt nicht mehr. -219-
Aber Thea konnte ihm keine weiteren Erklärungen geben. Corby war einfach nicht der Mann, der ihr helfen konnte, und darum mußte sie ihn so kalt abschießen. Thea schickte ihre nötigste Habe per Robot-Botendienst voraus, dann ging sie per Transmitter nach Port Arthur. Die Hauptstadt von Camelot lag an der südlichen Küste des Kontinents Ophir. Es war eine große, weitflächige Stadt, die Platz für alle 500.000 Cameloter bot. Aber nur die wenigsten lebten ständig hier. Viele waren, wie Thea auch, über den Planeten verstreut in Außenstellen beschäftigt, manche taten auf den anderen Planeten des Ceres-Systems Dienst, andere auf den Raumstationen oder auf Raumschiffen. Port Arthur war von ausgedehnten Parkanlagen durchsetzt, die den Bewohnern Erholung bieten sollten. Hier fanden sich fast alle Spezies aus der exotischen Flora und Fauna Camelots. Man traf hier selbst auf Arten der in freier Natur so gefährlichen fleischfressenden Pflanzen; sie wurden regelmäßig gefüttert und waren zusätzlich durch Energiezäune abgeschirmt, so daß harmlose Spaziergänger nicht zu potentiellen Opfern werden konnten. Auch die Raubtiere, die hier scheinbar Bedingungen wie in freier Wildbahn vorfanden, waren durch Energiezäune isoliert. Der Luftraum von Port Arthur war frei von Individualverkehr. Es gab ein dichtes Netz von energetischen Förderbändern, die in zwanzig Metern Höhe verliefen. Über diese konnte man jeden Punkt der Stadt erreichen; mußte man rasch größere Entfernungen überbrücken, so standen dafür Transmitter zur Verfügung. Thea behagte die sterile Atmosphäre der Stadt nicht. Die Natur des Planeten in den städtischen Lebensraum zu integrieren, empfand sie als halbherzigen Versuch. Ein entschärfter Zoo konnte nie die freie Natur ersetzen, verfälschte sie nur. Man hätte sich dazu entschließen sollen, die Stadt mit Parks -220-
zu schmücken und den Bewohnern Naturreservate zur Verfügung zu stellen, wo sie die Natur dieser Welt wirklich kennenlernen konnten. Thea wohnte im östlichen Randbezirk von Port Arthur. Von ihrem Appartement im dritten Stock hatte sie einen guten Ausblick auf die Berge. Allerdings war die Aussicht durch das Forschungszentrum mit angrenzendem Hauptquartier, der technischen Nervenzentrale von Camelot, gestört. Sie konnte auch den riesigen häßlichen Krater sehen, wo einst Dock II gestanden hatte. An dieser Servicestation war das Wrack eines Igelraumers untersucht worden. Als das Igel-Wrack einen Atombrand ausgelöst hatte, hatte Dock II mitsamt dem näheren Umland ins All befördert und in den Hyperraum verfrachtet werden müssen. Irgendwann würde man den Krater wohl zuschütten, begrünen oder durch eine andere Servicestation ersetzen, so daß danach nichts mehr an diesen Vorfall erinnerte. Das war Thea letztlich egal. Ihr kam es nicht auf die Aussicht an. Sie war nach Port Arthur gekommen, um für Kummerog zu arbeiten. Sie rief in der Universität an und gab ihren Inskribierungskode an. Die Sachbearbeiterin versprach ihr, alle Unterlagen über die Vorlesungen und andere Termine ihr raschest zuzuschicken. »Ich brauchte verschiedene Unterlagen dringendst.« sagte Thea. »Geht es, daß ich noch heute auf die Datenspeicher Zugriff bekomme?« »Das ist äußerst ungebräuchlich ...« »Mag schon sein. Aber es muß sich doch machen lassen, daß ich sofort mit meinem Studium beginne.« »Im Prinzip schon, aber ...« »Das macht doch kaum Mehrarbeit, oder? Und mir wäre das überaus hilfreich.« »Also schön. Ich werde veranlassen, daß du ab sofort das Zugriffsrecht auf den astronomischen Lehrstoff bekommst.« -221-
»Und auch Zugang zu astronomischen Stationen«, ergänzte Thea, »und den Simulatoren - überhaupt allen Einrichtungen, die der Erwerbung der Praxis dienen.« »Also, so einen eifrigen Studioso habe ich noch nicht kennengelernt.« Nachdem Thea das zu ihrer Zufriedenheit erledigt hatte, rief sie Rudy an, um von Kummerog aktuelle Instruktionen einzuholen. »Ich bin jetzt in Port Arthur und habe alles Nötige in die Wege geleitet«, erklärte sie, als der Interkom Rudys Konterfei zeigte, in dem Bewußtsein, daß Kummerog und Bruno Drenderbaum mithören konnten und Rudy nur als Sprachrohr benutzen würden. »Ich kann sofort mit der Arbeit beginnen.« »Fein«, sagte Rudy. Nach einer kurzen Pause, in der er auf Einflüsterungen hörte, fuhr er fort: »Das mit dem Hyperraum Resonator scheint wirklich eine feine Sache zu sein. Sie haben in einer Sendung was darüber gebracht ... Du solltest dich wirklich mit diesem Ding befassen.« »Das tue ich auf jeden Fall«, bestätigte Thea. »Aber ich habe mir gedacht, daß es gut wäre, nur kosmische Objekte mit einer ganz bestimmten Hyperstruktur zu untersuchen.« Es entstand wieder eine kurze Pause, bevor Rudy antwortete. Selbst einem Uneingeweihten, der hätte mithören können, wäre aufgefallen, daß ihr Vater Unbehagen verspürte und keinerlei Verständnis für das aufbrachte, was er von sich gab. »Deine ursprüngliche Absicht war es doch«, sagte Rudy stockend und getreu dem, was ihm Drenderbaum oder Kummerog soufflierten, »alle Galaxien in einem Umkreis von etwa ... zehn Millionen Lichtjahren... herauszufiltern, die - was haben?-ach ja, ungewöhnliche Hyperemi... was?« »Hyperemissionen«, half Thea aus. »Ja, das hast du gesagt«, stimmte Rudy erleichtert zu. »Mach es doch fürs erste so. Versuch doch mal, die Möglichkeiten des Hyperraum-Dingsda abzugrenzen.« -222-
»Um das zu können, brauche ich meine Unterlagen, Rudy«, sagte Thea. »Ich habe sie zu Hause vergessen. Könntest du mir den Gefallen tun und sie mir zuspielen?« Rudy sah sie aus dem Bildwürfel zuerst ratlos an. Aber seine Souffleure wußten, worauf Thea hinauswollte - nämlich daß Kummerog ihr übermittelte, wonach sie ungefähr suchen sollte und kauten Rudy vor, was er antworten sollte. »Ach ja, deine Unterlagen, Marga ... Ich werde sie umgehend an den Speicher deines Interkoms weiterleiten.« »Danke, Rudy. Ich melde mich wieder. Paß inzwischen auf dich auf.« »Alles Gute, Marga.« Keine Minute, nachdem Thea die Verbindung zur Einsiedelei ihres Vaters unterbrochen hatte, liefen die gewünschten Daten über ihren Interkom-Anschluß ein. Sie überspielte sie auf einen Datenspeicher. Während der Übertragung überflog sie die Angaben. Wie nicht anders erwartet, handelte es sich um Daten über eine Galaxis. Und zwar um eine Balkenspirale vom Typ SBb oder SBc mit einem ungefähren Durchmesser von 60.000 Lichtjahren; genauere Angaben konnte Kummerog nicht machen. Aber er hatte das Bekannte für sie immerhin in galaktischer Maßeinheit angegeben. Thea nahm an, daß Kummerog diese Vorarbeit bereits auf Mimas geleistet hatte. Vermutlich kannte er nicht die exakte Größe und Masse der gesuchten Galaxis. Es waren auch einige hyperphysikalische Formeln angeschlossen, die Thea nicht verstand. Aber ein Querverweis zu diesem Formelsatz ließ sie wissen, was sie damit anzustellen hatte. Der Vermerk lautete folgendermaßen: Diese charakteristische und unverwechselbare Hyperquelle ist mittels des HyperraumResonators zu eruieren! Die Formel ist der Wegweiser zum gesuchten Objekt. -223-
Es war allerdings gar nicht so leicht, an den Hyperraum-Resonator zu gelangen, obwohl sie das Benutzerrecht besaß. Als sie ihre Ansprüche geltend machen wollte, staunte man zwar ein wenig, legte ihr jedoch nichts in den Weg. Allerdings mußte sie mit einem Zubringer in den Orbit zu einer der Weltraumstationen fliegen. Ein Prototyp des Hyperraum-Resonators mit entsprechender Reichweite war auf der Orbitalstation Cam IV eingerichtet worden. Eine kurze Rücksprache ergab, daß auch ›Rudy‹ nichts gegen diesen Abstecher einzuwenden hatte und ihr viel Glück und Erfolg wünschte. »Wann hast du dein Interesse für den Kosmos entdeckt, Dorothea Ringent?« erkundigte sich Jamero Inquard, Chef der Orbitalstation Cam IV und von allen nur ›Jam‹ genannt, mit seiner sanften Stimme. »Soweit ich informiert wurde, warst du bis jetzt als Mikromechanikerin im Sicherheitsbereich tätig. Das eine paßt doch nicht zum anderen.« Er war ein mittelgroßer, hagerer Terraner mit schmalem Gesicht und braunem Haar, das er zu einem Mittelscheitel gekämmt hatte. Thea schätzte, daß er um die hundert war. »Die Sterne waren schon immer meine Sehnsucht«, antwortete Thea mit der vorbereiteten Lüge. »Jetzt möchte ich mir endlich die Zeit dafür nehmen, mich einmal näher mit ihnen zu befassen. Ich sehe Astronomie als ein unglaublich faszinierendes Gebiet.« »Ja, und sehr weitläufig«, stimmte Jamero Inquard zu. »Es gibt eine schier unüberschaubare Zahl von Teilgebieten, und man muß immer darauf bedacht sein, sich bei der Erforschung kosmischer Objekte nicht zu verlieren. Komm mit, ich zeige dir die Station.« Die acht Orbitalstationen waren alle von derselben Form wie die vier Bodenstationen, die außerhalb des Grüngürtels von Port Arthur im Halbkreis angeordnet waren. Es handelte sich um -224-
runde Scheiben mit einem Durchmesser von 1200 Metern und einer Dicke von 100 Metern. Cam IV war als Sternwarte konzipiert, obwohl auch hier zur Not Raumgefährte überholt und repariert werden konnten. Aber die Mehrzahl der Einrichtungen war auf astronomische Beobachtungen ausgerichtet. Es gab drei großzügig ausgestattete Planetarien, von denen eines ausschließlich auf die Milchstraße und die Lokale Gruppe, die Mächtigkeitsballung der Superintelligenz ES, programmiert war. Das zweite war für ferne Projekte zuständig und projizierte das gesamte Universum - inklusive des Arresums. Dazu erklärte Jamero Inquard: »Das Modell des Arresums stammt von Cyrus Morgan, dem besten Astronomen, den ich kennengelernt habe. Er war Chefwissenschaftler auf der BASIS, bevor er diesen Posten auf Camelot übernahm. Sein Tod ist ein großer Verlust für uns.« Cyrus Morgan war bei dem durch das Wrack des Igelschiffes auf Dock II ausgelösten Atombrand umgekommen. »Cyrus hat in sein Werk alles Wissen aus der letzten Coma-Expedition eingebracht. Er hat gehofft, aus den alten Ayindi-Archiven von Trokan weiteres Material zu bekommen ... Aber diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt.« Das dritte Planetarium war für Experimente reserviert. Hier konnten Astronomen nach Lust und Laune ihre Vorstellungen eigener Universen verwirklichen. »Das sind weit mehr als nur Spielereien«, erklärte Jamero Inquard dazu. »Denn obwohl wir schon tief ins Universum vorgedrungen sind und Gebiete bis zu den Quasaren einsehen können, haben wir noch lange nicht die letzten Antworten auf die Frage nach dem Ursprung des Universums bekommen. Aber damit will ich dich noch nicht belasten.« Es gab insgesamt vier Observatorien mit jeweils ganzen Batterien verschiedenster Teleskoparten. In einem davon wurden -225-
ausschließlich Schwarze Löcher sowie Materiequellen und -senken erforscht. Erstere wurden darauf überprüft, ob sie möglicherweise dem uralten Netz der Schwarzen Sternenstraßen zuzuordnen waren auf Camelot wurde sogar die Möglichkeit ventiliert, diese Schwarzen Sternenstraßen eines Tages für die Galaktiker zu nutzen. Materiequellen und -senken entstanden bekanntlich aus Superintelligenzen oder deren negative Äquivalente, und durch deren Beobachtung und Vermessung hoffte man weitere Aufschlüsse über die Kosmokraten zu bekommen, die aus den Materiequellen hervorgingen. »Und das führt geradewegs hin zur Dritten Ultimaten Frage!« setzte Jamero Inquard den Schlußpunkt zu diesem Thema. Im nächsten Observatorium wies der Astronom ganz nebenbei auf den Hyperraum-Resonator hin, der hier installiert war. Thea hörte danach seinen weiteren Ausführungen nur noch mit halbem Ohr zu. Bei erster sich bietender Gelegenheit warf sie ein: »Man hat mir gesagt, daß ich den Hyperraum-Resonator benützen könnte.« »Im Prinzip schon - aber was soll dir das bringen? Abgesehen davon, daß sich das Gerät noch im Entwicklungsstadium befindet, liefert es Daten, mit denen ein Laie absolut nichts anfangen kann.« »Ich möchte es dennoch versuchen«, bat Thea. »Du gehst aber ran, junge Frau!« sagte Jamero Inquard achselzuckend. Er wandte sich in Richtung des Hyperraum-Resonators und rief: »He, Gerry, könntest du dich dieser jungen Dame annehmen?« Ein athletischer junger Mann mit bürstenkurzem blonden Haar und freundlich lächelndem Gesicht kam auf die beiden zu. Jamero Inquard stellte ihn als Gerald Steiner vor und erklärte ihm, daß die Neo-Studentin Dorothea Ringent am Hyper-226-
raum-Resonator arbeiten wolle. Dann überließ er die beiden sich selbst. Gerald Steiners Grinsen vertiefte sich, als er zu Thea sagte: »Der Hyperraum-Resonator ist kein Spielzeug für kleine Mädchen.« »Ich weiß, aber ein so verspieltes Mädchen bin ich gar nicht«, sagte Thea, ihren Ärger über die Überheblichkeit dieses ModellAthleten unterdrückend. »Ich hab' da eine Formel, vermutlich hyperphysikalischer Natur, mit der ich nichts anfangen kann. Und ich hab' mir gedacht, daß mir der Hyperraum-Resonator weiterhelfen könnte.« »Soso, dachtest du. Dann laß mal sehen.« Thea übergab ihm den Datenträger, und Gerald Steiner schob ihn ins Lesegerät. Gleich darauf leuchtete im Holo-Würfel oberhalb der Konsole eine Reihe verwirrender Formeln auf. In einem anderen Fenster waren ineinander verschachtelte Diagramme zu sehen, und in einem dritten standen komplizierte Erklärungen. Gerald Steiner pfiff überrascht durch die Zähne. »Woher hast du diese Daten?« fragte er verblüfft. »Da müßte man zumindest ein Myles Kantor sein, um halbwegs durchblicken zu können.« Thea trug ihre vorbereitete Lüge vor: Sie hätte die Formeln unter der Habe ihres Vaters gefunden, die er aus seiner Freifahrerzeit aufbewahrte, und kopiert. Da es ein Andenken Rudys aus der Monos-Ära sei, hätte sie gerne herausgefunden, worum es sich dabei handle. Die Programme, die ihr bisher zur Entschlüsselung zur Verfügung standen, hätten lediglich herausgefunden, daß es sich um hyperphysikalische kosmische Richtwerte handle, allerdings keineswegs um feststehende Konstanten. Ob der Hyperraum-Resonator etwas damit anfangen könne? »Ich kann ihn damit füttern, aber er hat für die nächsten Stunden noch ein Testprogramm laufen«, erläuterte Gerald -227-
Steiner. »Vor morgen früh geht da nichts. Ich muß warten, bis die Siganesen mit der Feinabstimmung fertig sind. Du kannst mich übrigens Gerry nennen. Wollen wir gemeinsam einen Imbiß zu uns nehmen?« Bevor Thea zustimmen konnte, meldete sich eine Stimme aus dem Nichts. »Wenn das nicht die kleine Doro ist, dann will ich nicht Goliath sein!« erklang es dicht an ihrem linken Ohr. Die helle Stimme wurde offenbar durch einen Verstärker unterstützt. Als sie den Kopf in die Richtung wandte, sah sie einen Meter vor sich einen Siganesen schweben. Der rund elf Zentimeter große humanoide Winzling wirkte in seinem Schutzanzug um gut zwei Zentimeter größer. »Doro?« wunderte sie sich über die ungewohnte Anrede. »Im allgemeinen werde ich Thea genannt.« »Das mag schon sein, aber ich habe immer Doro zu dir gesagt«, behauptete der Siganese, von dem wegen des Schutzanzuges nur der Kopf mit dem lindgrünen Gesicht und den pechschwarzen Haaren zu sehen war. »Aber wie viele Jahre ist das schon her? Dreißig? Oder mehr? Ich habe dich als kleines Mädchen kennengelernt, als du von Mila und Nadja unterrichtet wurdest. Ich war einer der ersten von Siga, die auf Camelot Pionierarbeit leisteten. Später habe ich aus der Ferne deinen Werdegang beobachtet. Du hast dich gemausert, Doro. Erinnerst du dich nicht mehr an mich? Ich bin es, David Golgar.« »Ich fürchte, ich erinnere mich nicht an dich«, sagte Thea unsicher. Sie hatte keine deutliche Erinnerung an Siganesen aus ihren Kindertagen. Sie tauchten erst später auf, als sie zur Frau gereift war. Wenn dieser Siganese in ihrer Kindheit aufgetreten war, dann mußte er sich sehr im Hintergrund gehalten haben. »Immerhin ist mir dein Name heutzutage geläufig. Du hast den Ruf eines ziemlich rüden Siganesen, wenn ich so sagen darf.« -228-
»Dann will ich nicht länger stören«, sagte Gerry und zog sich rückwärtsgehend zurück. »Bis morgen am Hyperraum-Resonator, Doro.« »Thea, bitte«, berichtigte sie ihn. Als Gerald Steiner gegangen war, fragte sie David Golgar: »Was ist denn mit dem los? Zuerst ist er als Frauenfeind aufgetreten, und jetzt spielt er die Mimose. Ist er tatsächlich schüchtern?« »Nein, er steht nur auf Männer.« Thea mußte über die respektlose Art des Siganesen lachen; jeder andere seiner Artgenossen wäre allein bei dem Gedanken an Homosexualität ›ergrünt‹. Sie faßte sofort Zutrauen zu dem Wicht. Sie dachte: Siganesen sieht man nicht! Das war ein uralter Ausspruch. Und sie dachte impulsiv daran, daß dieser David Golgar die Person ihres Vertrauens sein könnte. Das würde sich in einem Gespräch leicht herausfinden lassen. »Gerry wollte mich auf einen Imbiß einladen. Übernimmst du seine Einladung, David?«
Dialog 4 »Ich habe ein ernstes Problem, David. Das Dumme daran ist nur, daß ich mich niemandem mitteilen kann, weil dadurch Leben gefährdet werden könnten.« »Das klingt, als würdest du an mich als Vertrauensperson denken. Aber bevor du weitersprichst, will ich dich daran erinnern, daß ich als äußerst unzuverlässig gelte. Frag nur mal meinen Chef Aberno Pintoras.« -229-
»Mein Problem geht eigentlich alle Cameloter an.« »Das macht mich neugierig. Du kannst mir ja dein Leid klagen. Wenn ich nichts davon wissen will, dann vergesse ich es einfach wieder. So einfach geht das.« »So einfach geht es eben nicht. Aber hör zu, David. Du erinnerst dich an den Jet-Absturz. Dabei sollen zwei Camelot-Aspiranten ums Leben gekommen sein.« »Klar erinnere ich mich. Wer nicht? Sie hießen Ander Felsch und Simon Dury. Und sie sollen dabei nicht ums Leben gekommen sein, sondern sie sind erwiesenermaßen tot.« »Eben nicht. Ich selbst habe die Untersuchungsergebnisse gefälscht. Die beiden leben. Es sind zwei besonders gefährliche Burschen.« »Das glaube ich nicht. Warum solltest du Unterlagen fälschen, um ihren Tod zu belegen?« »Sie haben sich in der Klause meines Vaters, die in den Bergen von Bonin liegt, eingenistet und halten ihn als Geisel. Sie bedrohen sein Leben. Darum kann ich keine Anzeige erstatten und muß tun, was sie von mir verlangen.« »Und warum vertraust du dich da ausgerechnet mir an?« »Siganesen sieht man nicht. Du könntest dich mit eigenen Augen von der Situation überzeugen und dann entscheiden, was zu tun wäre. Du darfst aber niemanden sonst ins Vertrauen ziehen.« »Die Sache gefällt mir nicht. Wenn ich mich darauf einlasse, macht mich das zu deinem Komplizen.« »Genau einen solchen brauche ich. Ich benötige dringend Hilfe. Ich weiß mir anders nicht mehr zu helfen. Du bist doch mein Freund, David?« »Ich konnte einer attraktiven Menschenfrau noch nie etwas abschlagen.«
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4. »Tut mir leid, daß ich gestern bei deiner Begrüßung so grob war, Thea«, entschuldigte sich Gerald Steiner, als sie sich am Hyperraum-Resonator trafen. »Ich habe eigentlich sonst keine Probleme im Umgang mit Frauen.« »Du wolltest wohl der Möglichkeit vorbeugen, daß ich dich anmachen könnte«, scherzte Thea. »Aber keine Sorge, du bist nicht mein Typ.« Von da an verstanden sie sich blendend. Der sichtbare Teil des stationären Hyperraum-Resonators war ein klobiges, hufeisenförmiges Schaltpult mit einer Schenkellänge von fünf Metern. Das Herz des Hyperraum-Resonators, die komplizierten Geräte zur Fernmessung von Hyperimpulsen, nahm fünfmal soviel Platz ein und war hinter der Wandung des Observatoriums verborgen, verriet ihr Gerry. »Ich habe deine Daten inzwischen lesen lassen und werde sie nun als Richtlinie für die weiteren Untersuchungen in den Hyperraum-Resonator einspeisen«, erklärte er danach. »Es handelt sich dabei wohl um ein kompliziertes und seltenes Hyperspektrum einer Galaxis ...« »Das habe ich zu erwähnen vergessen, Gerry«, unterbrach ihn Thea. »Es sind möglicherweise nur Annäherungsdaten einer Balkenspirale vom Typ SBb oder SBc.« »Wie auch immer«, fuhr Gerry fort. »Die Spektrallinien sind vielschichtig und komplex. Es ist für mich unvorstellbar, daß sie zur Zeit des Monos erstellt worden sein sollen. Mit den Geräten von damals konnte man einfach keine solchen Messungen anstellen. Offen gesagt bezweifle ich auch, daß man selbst heute solche Ergebnisse erzielen könnte.« »Könnten diese Daten nicht von Monos selbst stammen?« warf Thea ein, die auf diese Frage vorbereitet war und sich eine -231-
entsprechende Antwort zurechtgelegt hatte. »Monos war in der Gestalt des Pedrass Foch auf Phönix. Er könnte die Daten aus irgendeinem Grund in Mandalay deponiert haben.« »Das wäre die einzige Erklärung für ihre Existenz«, sagte Gerry achselzuckend. »Aber ich fürchte, du vergeudest deine Zeit am Hyperraum-Resonator, Thea. Er ist nicht die Zaubermaschine, für die du ihn zu halten scheinst. Er hat noch zu viele Kinderkrankheiten. Aber abgesehen davon, ist er gar nicht - wie eine kosmische Wünschelrute - in der Lage, ein solches Hyperspektrum irgendwo im Universum aufzuspüren. Wir bräuchten zumindest Koordinaten, die auf die ungefähre Position dieses Objekts hindeuten.« »Warum willst du mir den Mut rauben, Gerry?« »Ich will dir bloß vor Augen halten, wie realistisch unsere Erfolgsaussichten sind.« »Aber bei der Beobachtung von Trokan war der Hyperraum-Resonator auch erfolgreich«, hielt Thea entgegen. »Es war doch so, daß erst mittels des Hyperraum-Resonators durch die alarmierenden Strukturverlagerungen erkannt wurde, daß sich auf diesem Planeten etwas Ungewöhnliches tut.« »Bei Trokan waren die Voraussetzungen völlig anders«, erläuterte Gerry, während er einige Schaltungen vornahm. Über ein holografisches Display jagten daraufhin Kolonnen von wissenschaftlichen Zeichen und Symbolen so rasch, daß einem beim Hinsehen schwindelig wurde. Gerry fuhr fort: »Erstens haben wir gewußt, daß Trokan in ein Zeitraffer-Feld gehüllt ist und der Planet eine rasend schnelle Entwicklung durchmacht. Wir haben ferner erfahren, daß sich auf Trokan Anzeichen von intelligentem Leben zu etablieren begannen. Es gab noch eine Reihe weiterer bekannter Parameter, die wir als Vorgaben für die Untersuchung hatten. Kurzum, wir wußten, worauf wir zu achten hatten - und der Hyperraum-Resonator hatte eine Fülle von Material, an dem er sich -232-
orientieren konnte. Unser wichtigstes Plus war jedoch, daß Trokan so nahe ist und wir starke Hyperimpulse empfingen.« »Bei diesen Daten handelt es sich immerhin um die Spektralanalyse einer Galaxis«, sagte Thea kämpferisch. »Und eine ganze Galaxis ist für mich eine sehr starke Hyperquelle.« »In der Tat«, sagte Gerry. »Aber wo liegt diese Hyperquelle? Und wie weit ist die entfernt? Es gibt jedoch eine kleine Hoffnung, daß wir Erfolg haben könnten. Aber nur eine ganz winzige. Wir haben längst damit begonnen, die Hyperraum-Spektren von Galaxien mit dem Hyperraum-Resonator zu vermessen und aufzuzeichnen. Das geschieht so, daß wir das Universum, von Camelot ausgehend, in Tortenstücke aus einer unendlichen Kugel aufteilen. Und danach nehmen wir uns ein kosmisches Tortenstück nach dem anderen vor. Zuerst bis in eine Tiefe von zehn Millionen Lichtjahren, und danach gehen wir zehn Lichtjahre tiefer - und so weiter. Auf diese Weise haben wir bereits etliche hundert Galaxien vermessen. Wer weiß, vielleicht ist die von dir gesuchte dabei, und wir bekommen eine Übereinstimmung.« »Das hoffe ich sehr, Gerry«, sagte Thea. »Wieso liegt dir soviel daran? Das klingt fast, als hänge dein Leben davon ab.« »So dramatisch wollte ich gar nicht sein.« Thea versuchte ein Lächeln. »Ich hätte nur gerne Erfolg. Es wäre für mich ein guter Einstand in das Studium der Astronomie.« So fadenscheinig diese Bergründung für ihre Reaktion auch war - eine andere konnte sie Gerry nicht geben. Dabei ging es für sie tatsächlich um Leben oder Tod. Denn sie war es gewesen, die Kummerog den Versuch mit dem Hyperraum-Resonator eingeredet hatte. Und sie hatte wirklich an den Erfolg geglaubt. Wenn sich nun aber der Versuch als Flop erwies, dann konnte Kummerog meinen, daß sie ihn absichtlich hatte täuschen wollen. Dann aber konnte es Rudy schlecht ergehen. -233-
»Ein Erfolg würde auch den Hyperraum-Resonator aufwerten«, hörte sie Gerry in ihre Gedanken sagen. »Und da ist noch etwas: Dein Hinweis darauf, daß diese Daten von Monos stammen, hat mich auf eine Idee gebracht. Monos war der Sproß von Taurec und Gesil - zweier Kosmokraten. Es wäre demnach denkbar, daß diese Daten für ein Objekt nahe einer Materiequelle stehen - oder jenem Ort im Universum, durch den Taurec mit Gesil und Eirene hinter die Materiequellen zu den Kosmokraten ging ...« Gerry sah sie erwartungsvoll an. Er hatte an dieser Idee offenbar Gefallen gefunden; sie schien ihn zu faszinieren und völlig in den Bann geschlagen zu haben. Armer Gerry, dachte Thea. Was habe ich dir mit diesem Unsinn nur für Flausen in den Kopf gesetzt? Aber sie konnte ihm diese nun nicht wieder ausreden. Sie konnte ihm ja die Wahrheit nicht sagen. »Warten wir es ab«, sagte Thea dann. Es dauerte nur knapp eine Stunde, bis der Hyperraum-Resonator alle gespeicherten Daten mit den eingegebenen Werten verglichen hatte. Das Ergebnis war negativ. Es gab keinerlei Übereinstimmung, nicht einmal die kleinste Annäherung. »Gibt es keine Möglichkeit, noch mehr herauszuholen?« fragte Thea deprimiert. »Das ist doch kein Grund, gleich verzweifelt zu sein«, versuchte Gerry sie aufzumuntern. »Es gibt noch eine Reihe anderer Möglichkeiten, diese Daten zu filtern. Vielleicht haben wir Glück und finden irgendwann doch noch eine Übereinstimmung.« Irgendwann war nicht rasch genug. Wie sollte sie jetzt Kummerog gegenübertreten?
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David Golgar war überzeugt, daß ihm Thea nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Vor allem hatte sie ihm keine Einzelheiten über Andor Felsch und Simon Dury verraten. Sie seien bewaffnet und höchst gefährlich, das war aber auch alles, was er über die beiden erfahren hatte. Nichts über ihr Aussehen, kein Wort über ihre Absichten und für wen sie arbeiteten - ob für das Kristallimperium, das Forum Raglund oder die Galactic Guardians. Bevor David der Sache nachging, informierte er sich zuerst einmal über die Hintergründe. Im Zusammenhang mit den beiden Camelot-Aspiranten hatte es eine Reihe merkwürdiger Zwischenfälle gegeben. Zuerst hatte nach ihrer Abreise von der BASIS eine Explosion das dortige Camelot-Büro zerstört. Dann war auch der Stützpunkt auf ORION-738, wo sie den Lotsen Kerom trafen, auf dieselbe Weise zerstört worden. Die genauen Ursachen für diese ›Unfälle‹ waren bis heute ungeklärt. Schließlich waren die beiden und der Lotse Kerom mit ihrer Space-Jet auf Camelot abgestürzt und hatten den Tod gefunden. Die Untersuchungsergebnisse hatten bestätigt, daß an der Unglücksstelle die Überreste von zwei menschlichen Wesen gefunden worden waren. Thea behauptete jedoch, daß sie diese Unterlagen gefälscht hatte. Ihr Halbbruder Andreo Brasseur, der im Sicherheitsdienst eine leitende Position innehatte, sollte ihr Zugriff auf die Untersuchungsergebnisse verschafft haben. David stattete dem Mann gleich nach seiner Rückkehr von Cam IV an seiner Arbeitsstätte einen Besuch ab. Brasseur war, wie Thea auch, ein Nachfahre der Freifahrer und in der Wildnis von Camelot aufgewachsen. Nach anfänglichem Leugnen bestätigte Andreo Brasseur Theas Angaben. Er war erleichtert, als David ihm versicherte, daß die Angelegenheit ohne Konsequenzen unter ihnen blieb. -235-
Danach erst ging David per Transmitter zum Kontinent Bonin, um die Klause von Rudy Ringent zu beobachten. Er hatte keine Ahnung, welche Sicherheitsvorkehrungen Andor Felsch und Simon Dury getroffen hatten. Ein siganesischer Miniaturgleiter war David jedenfalls zu auffällig, weil er leicht hätte geortet werden können. Ein solches Gefährt hätte jedenfalls Mißtrauen geweckt und das ganze Unternehmen gefährden können. Darum entschloß er sich bloß für einen flugfähigen Kampfanzug. Dieser bot ihm ausreichend Schutz, war bei Minimalbetrieb nur schwer zu orten und machte ihn zudem noch flexibler. Außer mit einem nur drei Zentimeter langen, aber überaus leistungsstarken Kombistrahler, war David auch mit einer Druckluftschleuder bewaffnet. Sie diente Siganesen vor allem dazu, sich gefräßiger Kleintiere zu erwehren, ohne diese gleich zu töten. Damit konnten kleine Hartplastikbälle geschleudert werden, die, je nach Druck, recht schmerzhafte Schläge austeilten und beispielsweise aufdringliche Köter verjagten. So gerüstet, flog David ins Zentral massiv von Bonin und näherte sich bis auf einen Kilometer der Klause. Dann umkreiste er das Anwesen, indem er dicht über dem Boden schwebte, und tastete mit den Ortern seines Anzuges das Gelände ab. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß nirgendwo in diesem Umkreis technische Geräte installiert waren, näherte er sich dem Energiezaun, der das Anwesen umschloß, bis auf fünf Meter. Dort drehte er wieder eine Runde, um sich durch gezielte Feinortung neuerlich davon zu überzeugen, daß nirgendwo Fallen oder Spione installiert waren. Diese erste vorsichtige Erkundung des Geländes nahm drei Stunden in Anspruch. Es war später Nachmittag geworden, und Ceres sank allmählich dem Horizont zu. Nach seinen Ermittlungen war David sicher, daß er sich außerhalb des -236-
Energiezaunes völlig frei bewegen konnte - wenn er den Energiehaushalt des Kampfanzuges entsprechend drosselte. Während dieser ganzen Zeit hatte sich beim Haus nichts gerührt. Es lag wie verlassen da. Plötzlich ging die Hintertür auf, und ein alter Mann, einen großen Rucksack geschultert, trat heraus. Das mußte Rudy, Theas Vater, sein. Obwohl der Rucksack prall gefüllt war, konnte er nicht schwer sein, denn Rudy hielt sich aufrecht, und er schritt ziemlich forsch aus. Er war ein überaus rüstiger 180er. Rudy schuf mittels einer Fernbedienung eine Strukturlücke im Zaun, schritt hindurch und schloß sie wieder hinter sich. Dann machte er sich an den Abstieg. David folgte ihm in einem Sicherheitsabstand. Rudy war so schnell auf den Beinen, daß David nicht auf sein Antigravaggregat verzichten konnte, um den Abstand halten zu können. Der Alte brauchte eine halbe Stunde, um sein Ziel zu erreichen. Es handelte sich um eine kleine Höhle. Rudy verschwand darin. Als er wenig später zurückkam, war sein Rucksack leer. Er erkletterte eine Felserhebung, holte Proviant aus einer Seitentasche des Rucksacks und hielt Mahlzeit. David suchte die Höhle auf und stieß dort auf eine Müllhalde. Der übermannshohe Berg aus Abfall bestand ausschließlich aus allem erdenklichen Verpackungsmaterial von Lebensmitteln, Konservendosen und Plastikhüllen jeglicher Form. Ein Großteil der Verpackung stammte von Tier- und Pflanzennahrung. David wußte bereits von den übermäßigen Nahrungsmittelrationen, die Thea für ihren Vater angefordert hatte. Die Existenz dieser Müllhalde belegte, daß Rudy die Lebensmittel weder hortete noch an Raubtiere oder fleischfressende Pflanzen verfütterte. Jene, die diese Unmengen vertilgten, hielten sich im Haus auf. Was waren Andor Felsch und Simon Dury für Menschen, daß sie einen Appetit für zehn entwickelten? Waren das überhaupt -237-
Menschen? Die verfügbaren Unterlagen wiesen sie jedenfalls als Terraner aus. Rudy hatte seine Mahlzeit, beendet. Er saß reglos da und beobachtete den Sonnenuntergang. Plötzlich fuhr er jedoch scheinbar unmotiviert hoch und begann zu fluchen. Er hob Steine auf und begann damit zu werfen. »Kann man, verdammt noch mal, nicht einmal friedlich den Sonnenuntergang genießen, ohne daß einem die Drakisten auf die Pelle rücken?« schimpfte er und warf weiterhin nach einem scheinbar fiktiven und seine Position dauernd wechselnden Ziel. Bei genauerem Hinsehen entdeckte David eine kleine Sonde, die Rudy wie ein lästiges Insekt umschwirrte. Die Sonde hatte ungefähr die Form einer antiken Pfeilspitze; David hatte einen Spion dieser Bauart noch nie gesehen. Rudy warf weiterhin Steine nach der Sonde, jedoch ohne Chance, sie auch wirklich zu treffen. David holte seine Druckschleuder heraus, justierte sie entsprechend und nahm Ziel. Als Rudy den nächsten Stein, einen ziemlichen Brocken, warf, schoß David die Sonde ab. »Getroffen! Getroffen«, rief Rudy triumphierend und vollführte einen Freudentanz. »Das wird mir Bruno nie glauben.« Wieso Bruno und nicht Andor oder Simon? Hatten sich in Wirklichkeit drei Agenten in Rudys Haus eingenistet? Rudy wartete nicht mehr ab, bis Ceres den Horizont erreichte, sondern machte sich auf den Heimweg, wohl um ›Bruno‹ von seinem unglaublichen Abschuß zu berichten. Er wußte offenbar nicht, daß er bei seinen Ausflügen von seinen eigenen Gästen unter Beobachtung gehalten wurde. David konnte nur hoffen, daß dem Alten der Abschuß des Spions keine Unannehmlichkeiten einbrachte. Als Rudy durch eine Strukturlücke im Energiezaun sein Grundstück betrat, schlüpfte ihm David mit eingeschaltetem Deflektorschirm durch die Beine. Dann nahm er hinter einem -238-
Felsbrocken Deckung und schaltete den Deflektorschirm wieder aus. Er wollte jede verräterische Energiequelle vermeiden. Von nun an mußte er per pedes vorankommen. Er durfte alles nur noch in Hand- und Fußarbeit bewerkstelligen. Bis zum Haus waren es zwar nur etwa vierzig Meter. Aber ohne eingeschaltetem Gravo-Neutralisator konnte das Gewicht des Kampfanzuges recht schweißtreibend werden. David entschloß sich daher, sich des Kampfanzuges zu entledigen und sich nur mit dem Kombistrahler und der Druckschleuder zu bewaffnen. Das hieß natürlich, daß er im Falle einer Entdeckung auf eine rasche Möglichkeit zur Flucht verzichtete. Aber soweit durfte es gar nicht erst kommen. Er mußte eben vorsichtig sein. David legte die Strecke bis zum Haus in großen Sätzen und im Schutze des Gerölls zurück. Dank seiner immensen Sprungkraft holte David Rudy noch ein und war zur Stelle, als dieser die Hintertür öffnete und in den Flur trat. David schlüpfte im Schutze der Schatten durch die zufallende Tür. Rudy schritt lachend den Flur entlang, klatschte in die Hände und rief: »Bruno! Bruno! Ich habe heute meinen ersten Abschuß gehabt! Endlich ist es mir gelungen, einen Spion der Drakisten zu zertrümmern. Das war ein Meisterschuß!« Als in der Tür am Ende des Flures die Gestalt eines Mannes auftauchte, ging David sofort hinter einem Mauervorsprung in Deckung. Vorsichtig spähte er um die Ecke, konnte an dem Mann aber keine Einzelheiten erkennen, weil er sich gegen das beleuchtete Wohnzimmer nur als Silhouette abhob. Er war keine besonders eindrucksvolle Erscheinung, sondern relativ klein und schmächtig. Das Licht spiegelte sich auf einer kahlen Schädelplatte. »Das ist wirklich kein Grund zum Triumphieren, Rudy«, sagte der Mann vorwurfsvoll. »Wie oft soll ich dir noch sagen, daß wir es sind, die dir Sonden bei deinen Ausflügen nachschicken. Und zwar zu deiner eigenen Sicherheit. Du kannst -239-
nicht erwarten, daß wir dich für den Abschuß auch noch loben.« »Seid ihr jetzt zornig?« fragte Rudy ängstlich. »Ruhe!« drang die tiefe, grollende Stimme eines Dritten aus dem Wohnzimmer über die aufgeregte Stimme eines Fernsehsprechers. »Ich sehe Nachrichten.« »Wir sind zornig«, sagte der Mann in der Tür zum Wohnzimmer sanft. »Du mußt endlich lernen, die Realität zu erkennen. Auch Thea will es so. Darum muß ich dich ruhigstellen.« »Aber ich will Nachrichten sehen«, sagte Rudy trotzig. »Dabei würdest du nur stören«, sagte der Mann. »Für dich ist jetzt Lehrstunde unter dem Hypnoschuler.« Als der Mann in den Flur trat, Rudy unter den Arm nahm und zu einer Seitentür führte, fiel Lichtschein auf sein Gesicht, so daß David endlich Einzelheiten erkennen konnte. Er kannte dieses runde, durchschnittliche Gesicht. Aber es dauerte einige Sekunden, bis David die ganze Tragweite seiner Erkenntnis begriff. Die Wahrheit traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Das war Bruno Drenderbaum! Die rechte Hand von LFT-Kommissar Cistolo Khan! Drenderbaum, der zusammen mit dem geheimnisvollen Fremden Kummerog von Mimas verschwunden war; die beiden wurden in der ganzen Milchstraße verzweifelt gesucht. David brauchte einige Zeit, um sich zu sammeln. Während Drenderbaum mit Rudy in den Raum mit dem Hypnoschuler verschwand, ging David vorsichtig durch den Flur zum Wohnzimmer. Als er den Türstock erreichte, schob er sich langsam, immer nur Bruchteile von Millimetern vorwärts, um das Wohnzimmer einsehen zu können. Zuerst bekam er die Videowand in sein Blickfeld. Es liefen gerade Szenen einer gewaltigen Raumschlacht zwischen galaktischen Kugelraumern und den Igelschiffen der fremden In-240-
vasoren, die man mit dem Sammelbegriff Tolkander benannte, obwohl mittlerweile bekannt war, daß sie sich aus zumindest vier Spezies zusammensetzten. Der Sprecher, der das Geschehen kommentierte, sagte gerade mit aufgeregter Stimme: »Die Tolkander haben bei dieser Großoffensive fünf der angeflogenen Ziele erobert. Die terranische Bergwerkswelt Kataora ist gefallen, obwohl Cistolo Khan 1000 Kriegsschiffe zur Verteidigung einsetzte, darunter auch zwanzig Großraumer der PAPERMOON-Klasse, die mit dem 5-D-Indifferenz-Kompensator bestückt waren, einer Wunderwaffe, die den Stotterantrieb der Igelschiffe neutralisieren sollte. Aber die Wunderwaffe erwies sich als Flop. Auch die unithische Welt Matjuula fiel den Invasoren in die Hände, genau so wie Azgola, ein Planet des Kristallimperiums, und die Ara-Kolonie Euhja. Der größte Verlust für das Galaktikum ist wohl die Eroberung des Scarfaaru-Systems mit Lokvorth und dem Humanidrom. Beide sind durch das sie umgebende Tangle-Feld für die Galaktiker unzugänglich und endgültig verloren. Die dort zurückgebliebenen Millionen Galaktiker werden dasselbe Schicksal erleiden wie die Pioniere von Lafayette.« David war von den gezeigten Bildern so gebannt, daß er beinahe vergaß, warum er hier war. Die Eroberung weiterer galaktischer Planeten durch die Tolkander traf ihn völlig unvorbereitet. Zwar war auf Camelot bekannt, daß eine solche Offensive lief, weil Atlan Unterstützung für die Galaktiker angefordert hatte. Aber die Nachricht vom Fall dieser Planeten war noch nicht bis nach M 30 vorgedrungen. Zumindest hörte David durch diesen Rückblick zum erstenmal offiziell von der Niederlage der Galaktiker. »Das letzte Ziel der Tolkander war das Wega-System, dem durch die Nähe zu Terra eine besondere strategische Bedeutung -241-
zukommt. Darum warf die LFT alle verfügbaren Kräfte in diese Verteidigungsschlacht. Ein Sieg über die Tolkander war diesmal Pflicht. Denn dies war bereits der zweite Angriff gegen die Wega - und wenn die Hochburg der Zivilisation in unmittelbarer Nachbarschaft Terras gefallen wäre, dann hätte, getreu dem Dominoprinzip, als nächstes Terra an der Reihe sein können ...« Während des reißerischen Kommentars des Sprechers war ein unverständliches Hintergrundgemurmel zu hören. Es kam von einer Stelle, die David noch nicht einsehen konnte. Der Siganese bemühte sich vergeblich, aus dem Gemurmel einen Sinn herauszuhören. Endlich hatte David eine Position erreicht, von der aus er den gesamten Raum überblicken konnte. Und da saß Kummerog! Er hatte bereits Bilder von dem Fremden mit der gedrungenen Gestalt gesehen. Aber diese stimmten nicht ganz mit dem Anblick überein, den Kummerog jetzt bot. Überall hing ihm die Haut in semitransparenten Falten vom Körper; das sah aus, als hätte er sich einen viel zu weiten Umhang über den Körper geworfen. Sein Gesicht machte den Eindruck, als würde es zerfließen. Kummerog lag auf der Seite, den Kopf auf eine Hand gestützt, während er in der zweiten eine dicke Wurst hielt, von der er hastig große Bissen abriß. »Die Schlacht um Wega ist gewonnen! Dies ist der wohl wertvollste Sieg den die Galaktiker je über fremde Eindringlinge in die Milchstraße errungen haben. Und es muß mit aller Deutlichkeit gesagt werden, daß dieser Triumph erst durch die heldenhafte Unterstützung des Arkoniden Atlan und seiner Mitstreiter von Camelot möglich wurde. Es wird Zeit, daß auf Terra und in der ganzen Milchstraße ein Umdenken bei der Beurteilung der Camelot- Bewegung stattfindet. Vielleicht sind die Zellaktivatorträger und ihr Camelot-Gefolge damit zum wichtigsten Verbündeten für die LFT geworden ...« -242-
Kummerog rülpste und gab einen Kommentar in einer fremden Sprache ab. In Davids Ohren klang es abfällig. Aus dem Flur ertönten Schritte, Bruno Drenderbaum kam ins Wohnzimmer. »Rudy wird vom Hypnoschuler berieselt«, sagte er. »Wenn du mich fragst, dann nützt dieser Geschichtsunterricht nichts. Er ist stur und nicht bereit, die Realität zu akzeptieren.« »Wie hat der Alte das nur gemacht - mit einem Stein meine Sonde abzuschießen?« wunderte sich Kummerog voller Zorn. »Wenn er sich noch einmal an meiner Ausrüstung vergreift, breche ich ihm das Genick.« »Du brauchst aber Rudy und Thea noch«, erinnerte Bruno Drenderbaum ruhig. »Nicht mehr lange«, sagte Kummerog. »Wenn die GILGAMESCH nach Camelot zurückkehrt, dann schlagen wir zu.« »Ist es dann soweit?« In diesem Moment sagte der Nachrichtensprecher - wie als Antwort auf Kummerogs Aussage: »Soeben wird gemeldet, daß die GILGAMESCH unter Homer G. Adams' Führung ins CeresSystem einfliegt. Die in die Krisengebiete entsandten Kreuzer bleiben vorerst auf ihren Positionen. Auch Atlans GILGAMESCH-Segment RICO fehlt. Atlan ist mit Myles Kantor ins Solsystem geflogen, um Trokan zu inspizieren ...« Kummerog stieß einen Wortschwall in der fremden Sprache aus, der wie ein zorniger Fluch klang. »Ich nehme an, es stört deine Pläne, daß die GILGAMESCH nicht komplett zurückkehrt«, sagte Bruno Drenderbaum teilnahmsvoll. »Red mit mir in Bröhn«, herrschte Kummerog seinen Diener unmotiviert an. »Ich möchte meine vertraute Sprache hören.« Die beiden unterhielten sich daraufhin in dem fremden Idiom. David ärgerte sich nun, daß er seine Ausrüstung zurückgelassen hatte. Er hätte das Gespräch zu gerne aufgezeichnet, um es auswerten zu lassen. Aber er hatte auch so genug gehört. -243-
Er zog sich vorsichtig von seinem Lauschposten zurück und erreichte unbemerkt das Freie. Beim Versteck angelangt, schlüpfte er in seinen Kampfanzug und flog nach Mandalay zurück. Von dort ging er per Transmitter zurück nach Port Arthur. David Golgar hatte noch keinen Entschluß gefaßt, was er unternehmen sollte. Aber wie die Dinge lagen, konnte er das Versprechen auf Diskretion nicht halten.
Dialog 5 »Ich weiß mittlerweile sehr viel über dich, Kummerog. Kenne selbst Details über so dunkle Momente aus deinem Leben wie deine Deportierung durch dein eigenes Volk nach Bröhnder. Ich habe von deiner Haut erfahren, wie du dich in dieser Galaxis behauptet und eine Schar treuer Diener auf dem Asteroiden Klinker um dich geschart hast. Ich kenne sogar die Namen der Hautträger und kann sie verschiedenen Völkern zuordnen. Wie Vaikhuur, den Unan-Kjurden-Wissenschaftler. Den Techniker Gonzerol aus dem Zwergvolk der Blibb ...« »Du langweilst mich, Freund Bruno. Worauf willst du hinaus?« »Freund? In Wirklichkeit bin ich doch bloß dein Sklave. Deine Haut macht mich dazu.« »Ich kenne keine anderen Freunde als sklavisch ergebene. Du bist dennoch etwas Besonderes für mich, Bruno.« »Und ich diene dir gern. Ich kenne dein Verhältnis zu den anderen Hautträgern. So weiß ich, daß der Tod von Yokanrog im Arsenal der Baolin-Nda dich sehr getroffen hat...« »Nach so vielen Jahren werden wohl noch weitere aus dem Kreis meiner Getreuen nicht mehr am Leben sein. Ich war 66 -244-
eurer Jahre im Winterschlaf, die können an den anderen nicht spurlos vorbeigegangen sein. Aber was soll das Geschwafel?« »Du verfolgst das Geschehen um die Tolkander nun schon die ganze Zeit. Es scheint dich stark zu interessieren. Du deutest damit an, daß du schon mal etwas mit ihnen zu schaffen hattest. Aber ich weiß nichts davon. Die Haut will mir nichts darüber verraten.« »Hm.« »Als wir mit der PRETTY PLAID auf eine Vorhut der Igelschiffe stießen und die stakkatoartigen Hyperimpulse empfingen, da hast du eine Bemerkung gemacht, auf die du später nicht wieder eingegangen bist. Ich habe sie noch gut in Erinnerung. Du sagtest im Zusammenhang mit den Tolkandern wörtlich: ›Ich habe nicht gewußt, daß sich diese Galaxis in so akuter Gefahr befindet. Das verkompliziert die Dinge. Wir haben unter größtem Zeitdruck zu arbeiten.‹ Willst du darüber endlich Einzelheiten verraten?« »Nein. Nur soviel: Du kannst deine Heimatgalaxis abschreiben, Bruno. Ein Teil der Milchstraße wird innerhalb kürzester Zeit zu einer toten, öden Sternenwüste geworden sein. Wir müssen rechtzeitig aus dem Gefahrenbereich verschwinden.« »Dein Wissen wäre für die Galaktiker so wertvoll, daß du damit alles, was du willst, von ihnen erpressen könntest, Kummerog. Warum nutzt du das nicht aus?« »Es liegt nicht in meiner Natur, anderen Gutes zu tun. Nicht einmal dann, wenn es mir Vorteile bringt. Wir machen es auf meine Art, Bruno, mein Freund.« »Seltsam, aber ich kann dir nicht einmal dafür böse sein, Kummerog, daß du mein eigenes Volk dem Untergang preisgibst.« »Wir beide werden die Apokalypse nicht mehr erleben. Dann sind wir über alle Sterne.« -245-
»Wann ist es soweit, Kummerog? Wann wirst du, wann kannst du häuten?« »In wenigen Tagen.« »Häute, bitte, bald! Ich hätte gerne prominente Gesellschaft.«
5. Nach dem Abflug von Trokan sagte Myles Kantor an Bord der RICO zu Atlan: »Wir sind bei der Untersuchung des Pilzdomes mit unseren technischen Möglichkeiten am Ende. Ich weiß mir keinen anderen Rat mehr, als unsere Mutanten hinzuzuziehen.« Atlan war in Gedanken mit einem ganz anderen Thema beschäftigt. Er stand noch unter dem Eindruck seiner letzten Begegnung mit den Herreach Vej Ikorad und Tandar Sel, den beiden prominentesten Vertretern der Neuen Herrachischen Realisten. Von Anführern zu sprechen wäre nicht ganz richtig gewesen. Denn selbst bei dieser neuen Herreach-Generation waren die Positionen, war die Rollenverteilung noch nicht ausgeprägt genug, um von einer Hierarchie sprechen zu können. Der Arkonide war überzeugt, daß es Herreach wie diese Realisten waren, welche die Veranlagung besaßen, die Zukunft ihres Volkes zu steuern. Der Zwischenfall mit der hinterhältigen Intrige des Forums Raglund durch den Gataser Tayloz Üpkek hatte gezeigt, daß diese Neuen Realisten mit beiden Beinen im Leben standen und auch ungewöhnliche Situationen richtig zu beurteilen vermochten. Sie hatten die Raglunder ihres Planeten verwiesen. Andererseits war Atlan überzeugt, daß man in naher Zukunft nicht umhin kommen würde, auch mit Tayloz Üpkek direkt zu verhandeln. Aber das stand auf einem anderen Blatt. -246-
»He, Atlan, wo bist du mit deinen Gedanken?« sagte Myles Kantor vorwurfsvoll. »Interessiert es dich nicht, was aus Perry, Bully und Alaska geworden ist? Ich habe angeregt, unsere Esper in die Untersuchung des Pilzdomes einzuschalten.« »Warst es nicht du selbst, der ursprünglich nichts davon wissen wollte, Myles?« fragte Atlan, während die RICO in die erste von mehreren Überlichtetappen ging. Solche Ablenkungsmanöver waren beim Flug nach Camelot üblich, damit heimliche Beobachter oder Verfolger nicht anhand des errechneten Kursvektors die Richtung herausfinden konnten, in der die Basiswelt der Zellaktivatorträger lag. »Es war dir zu gefährlich, für die Untersuchung des Pilzdomes Gucky oder Mila und Nadja hinzuzuziehen, bevor du ihn nicht gründlich gecheckt hast«, erinnerte der Arkonide. »Ich weiß«, sagte Myles Kantor schuldbewußt. »Inzwischen haben wir jedoch alle technischen Mittel ausgeschöpft, ohne auch nur einen Schritt vorangekommen zu sein. Ich weiß in dieser Richtung nicht mehr weiter. Entweder beschreiten wir neue Wege - oder wir lassen es bleiben.« »Es ist wohl klar, daß wir Perry, Bully und Alaska nicht im Stich lassen werden«, sagte Atlan fest. »Wir werden alles versuchen, um ihr Schicksal zu ergründen. Aber Gucky fällt vorerst aus. Bleiben noch Mila und Nadja. Ich werde mit ihnen reden.« Gucky war nach dem Einsatz auf Lafayette zusammen mit Icho Tolot auf der HALUTA II zur Heimatwelt der Haluter geflogen. Wie sich herausstellte, zeigte der Tangle-Scan bei Icho Tolot Nachwirkungen. Da der Haluter sich in Drangwäsche befand, hatte er die Symptome während des Einsatzes einfach mißachtet! Aber danach hatte sich herausgestellt, daß sein Ordinärgehirn angegriffen war und er dringend eine Ruhepause benötigte, um sich zu regenerieren. Da Gucky durch den Einfluß des Tangle-Scan sowieso psychisch angegriffen war, hatte ihm Atlan ebenfalls eine Ruhepause zugestanden. -247-
Als die RICO nach mehreren Überlichtetappen den Kugelsternhaufen M 30 erreichte, wurde der globale Erkennungskode abgestrahlt. Danach ging das GILGAMESCH-Modul in die letzte Überlichtetappe, die sie zum Ceres-System brachte. Während des Einfluges ins Sonnensystem mußte noch zusätzlich der Tageskode abgestrahlt werden, der vom Bordsyntron errechnet wurde. Danach hatte die RICO freie Fahrt. Atlan überließ es seiner Kommandantstellvertreterin Gerine und dem Wissenschaftlichen Leiter Ambras, das Informationspaket über ihre Mission zusammenzustellen, das für die Öffentlichkeit von Camelot bestimmt war. Das war weiter nicht kompliziert. Denn im Zusammenhang mit den letzten Raumschlachten und den Tolkandern im allgemeinen gab es keinerlei Material, das geheimgehalten werden mußte. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es gab überhaupt keine neuen Erkenntnisse über die vier Völker der fremden Invasoren. Die jüngsten Geschehnisse hatten die Galaktiker dermaßen in Atem gehalten, daß an Forschungsarbeit nicht zu denken war. Das einzige neue Wissen hatte man bei der Berechnung des Kursvektors der laufend eintreffenden Igelschiffe erhalten. Demnach kamen sie aus Richtung des Sternbildes Reticulum. Abgesehen davon, daß das nichts war, was man geheimhalten sollte, bewies diese Berechnung nicht einmal, daß die Galaxis Tolkandier tatsächlich irgendwo im Sternbild des Netzes lag. Die Igelschiffe konnten ihren Flug zur Milchstraße ebensogut in mehreren Überlichtetappen und im Zick-Zack-Kurs zurückgelegt haben. Das hätte durchaus zu ihrem sogenannten ›Stotterantrieb‹ gepaßt, der vom 5-D-Vektor-Shredder gesteuert wurde. Leider hatte der 5-D-Indifferenz-Kompensator, der von den Cameloter Wissenschaftlern als Neutralisator des ›Stotterantriebs‹ entwickelt worden war, nicht im gewünschten Ausmaß funktioniert. Die Völker aus Tolkandier - Neezer, Gazkar, Alazar und die -248-
noch unbekannten Eloundar - waren in vielerlei Hinsicht keine ›geradlinigen‹ Wesen. Es war den Xenopsychologen bis jetzt noch nicht gelungen, ein Psycho-Profil von ihnen zu erstellen, das es ermöglicht hätte, sie zu durchschauen. Es war noch viel Aufbauarbeit zu leisten. Die RICO blieb im Orbit von Camelot und sollte sich später in die GILGAMESCH eingliedern. Die gesamte Mannschaft sollte an Bord bleiben und sich in Alarmbereitschaft halten, weil man nicht voraussagen konnte, wann wieder ein Einsatz gegen die Tolkander geflogen werden mußte. Atlan und Myles Kantor ließen sich als einzige per Transmitter zur Oberfläche von Camelot abstrahlen, ins Hauptquartier-Camelot, die technische Nervenzentrale des Planeten. Dort eingetroffen, wurde von Myles Kantor sofort eine Lagebesprechung unter Beteiligung aller führenden Wissenschaftler einberufen. Atlan und Homer G. Adams nahmen, mehr oder weniger als interessierte Zuhörer, ebenfalls daran teil. Myles legte mit seinem Wissenschaftlerstab zuerst die Prioritäten für ein Forschungsprogramm fest. Die wichtigsten beiden Punkte waren: In erster Linie lebende Vertreter jeder der vier Spezies gefangenzunehmen - vor allem die geheimnisvollen Eloundar, von denen man noch keinen zu sehen bekommen hatte -, um sie eingehend untersuchen und verhören zu können. Die Einheitssprache dieser vier Tolkander-Völker war in den Grundzügen bekannt, so daß es keine Verständigungsschwierigkeiten geben würde, wenn man erst Gelegenheit zur verbalen Konfrontation bekam. Dies war bis jetzt erst einmal gelungen, nämlich auf Lafayette, beim Kontakt mit dem Gazka Gemba. Der zweite Punkt mit Vorrang war, Exemplare jener Brut zu fangen, die die Tolkander ehrfurchtsvoll Vivoc nannten. Immerhin schien das einzige Bestreben der Tolkander darin zu liegen, bewohnte oder bewohnbare Planeten für die Aufzucht des -249-
Vivoc zu erobern. Intelligenzwesen schienen dabei die wichtige Rolle von ›Resonanzkörpern‹ zu spielen. Die Erfahrungen auf der von den Tolkandern eroberten Pionierwelt Lafayette hatten gezeigt, daß die Tolkander die Galaktiker begehrten, weil sie über eine Art starker Resonanzkörper-Konstante verfügten. Diesen Ausdruck hatten Atlan und Icho Tolot bei ihrem Einsatz auf Lafayette geprägt, und die Wissenschaftler übernahmen ihn dankbar. Wie die beiden Forderungen erfüllt werden konnten, war nicht das Problem der Wissenschaftler. Atlan versprach, zum gegebenen Zeitpunkt mit den Einsatzkommandos die zielführenden Strategien zu entwerfen. Nachdem die beiden wichtigsten wissenschaftlichen Forderungen festgelegt worden waren, überließ Atlan die Wissenschaftler sich selbst. Homer G. Adams blieb noch, wahrscheinlich um mit dem Rechenstift die bevorstehenden Kosten zu veranschlagen, die größtenteils von seiner Handelsorganisation TAXIT zu tragen waren. Atlan zog sich in sein Büro im HQ-Camelot zurück und bestellte Mila und Nadja Vandemar zu sich. Während er auf die Zwillingsschwestern wartete, meldete ihm sein persönlicher Syntron: »Der Siganese David Golgar hat sich gemeldet. Er möchte dich in einer dringenden Angelegenheit sprechen, die keinen Aufschub duldet. Er will sich nur dir persönlich anvertrauen. Er behauptet, es gehe dabei um Leben und Tod sowie um den Fortbestand von Camelot.« »Um mehr nicht?« spottete Atlan. Er konnte sich nicht vorstellen, was der Siganese von ihm wollte, nahm sich aber vor, sich bei Gelegenheit mit ihm in Verbindung zu setzen. Nach dem Ruf, den David Golgar genoß, war es vorstellbar, daß er sich nur wichtig machen wollte, um sich wegen irgendeiner Bagatelle bei Atlan interessant zu machen. Mila und Nadja Vandemar trafen ein. -250-
»Im Wega-System habt ihr es den Tolkandern aber gezeigt«, sagte Nadja anerkennend. »Die Invasoren erkennen jetzt hoffentlich, daß sie sich bei Angriffen auf die Ballungszentren der Milchstraße nur blutige Schädel holen werden.« »Auf diese Signal Wirkung hoffe ich auch«, sagte Atlan. »Aber ich fürchte, daß die Tolkander jeden Planeten der Milchstraße in ihren Besitz bringen können, wenn sie es unbedingt darauf anlegen. Und ich meine es, wie ich es sage: jeden! Vielleicht mit Ausnahme Terras. Dort überlegt man inzwischen ernsthaft, das Solsystem abzuschirmen. Keine Ahnung, wie. Aber das ist ein anderes Kapitel.« »In den neuesten Nachrichten wurde gemeldet, daß die Igelschiffe aus Richtung Sternbild Reticulum kommen«, sagte Mila. »Weiß man schon genaueres?« »Nichts weiter als die ungefähre Richtung - und die ist nicht sicher«, antwortete Atlan. Er wechselte das Thema. »Ich komme mit Myles gerade von Trokan. Die Lage auf dem Planeten hat sich dank der Katastrophenhilfe der Terraner und NATHANS Klimaregulierung inzwischen stabilisiert. Insgesamt sind etwa fünf Millionen Herreach als Opfer zu beklagen. Aber gemessen am Ausmaß der Katastrophe ist das ein relativ geringer Wert.« »Mich entsetzt diese Zahl trotzdem«, sagte Mila, die Strukturseherin, fröstelnd. »Fünf Millionen Tote - das muß man sich einmal vorstellen.« »Und wie wird es auf Trokan weitergehen?« wollte Nadja, die Strukturformerin, wissen. »Es ist nicht zu befürchten, daß sich die Zahl der Opfer dramatisch erhöht«, antwortete Atlan. »Der planetare Kollaps konnte abgewendet werden. Ich war auch am Pilzdom, dem eigentlichen Grund unseres Besuches.« -251-
»Und - gibt es von dort erfreulichere Nachrichten?« fragte Nadja, während ihre Zwillingsschwester offenbar noch immer unter dem Eindruck der Zahl von fünf Millionen herrachischen Toten stand. »Leider nicht«, bedauerte Atlan. »Die Wissenschaftler sind bei der Untersuchung des Pilzdomes nicht weitergekommen. Sie können ihn weder mit zufriedenstellenden Ergebnissen durchleuchten. geschweige denn, daß es ihnen gelungen wäre, einen Zugang zu finden und in ihn einzudringen. Die Wissenschaftler sind mit ihrem Latein am Ende.« »Dann hoffe ich, daß Myles endlich uns beide ranläßt«, sagte Nadja. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum er unsere Hilfe abgelehnt hat. Für Mila und mich wäre es ein leichtes gewesen, die Struktur des Pilzdomes zu analysieren. Wir haben oft bewiesen, daß wir diese Disziplin perfekt beherrschen. Nicht zuletzt am Wrack des Igelschiffes ... Nun, das war wohl kein so gutes Beispiel.« »Es war nicht eure Schuld, daß das Igelschiff in einem Atombrand aufging«, sagte Atlan. »Aber dieses Beispiel beweist, daß man im Umgang mit dem Unbekannten immer mit unangenehmen Überraschungen rechnen muß. Und solche wollte euch Myles am Pilzdom ersparen. Immerhin ist dieses mysteriöse Gebilde die einzige Verbindung zu unseren drei Freunden Perry, Bully und Alaska.« Nicht die einzige Verbindung, berichtigte ihn sein Extrasinn. Da ist immerhin auch noch der Fremde, der beim Verschwinden der drei aufgetaucht ist und offenbar die Plätze mit ihnen vertauscht hat. Finde Kummerog - und du erfährst von ihm vermutlich, wie der Pilzdom funktioniert. »Aber wenn die Wissenschaftler mit ihrem Wissen am Ende sind, können doch wohl nur noch wir beide helfen«, argumentierte Nadja. »Darum habe ich euch gerufen«, versetzte Atlan. »Ich möchte -252-
euch bitten, nach Trokan zu fliegen und den Pilzdom zu untersuchen. Ihr seid unsere letzte Hoffnung, einen Weg dorthin zu finden, wo Perry, Bully und Alaska sind.« »Dir ist aber wohl klar, daß du mit deinem Zögern viel wertvolle Zeit verloren hast, Atlan«, sagte Nadja vorwurfsvoll. »Ich möchte gar nicht daran denken, was inzwischen mit den dreien alles passiert sein könnte.« »Seien wir doch optimistisch und setzen wir voraus, daß es noch nicht zu spät ist«, warf Mila versöhnlich ein. »Wir könnten sofort abfliegen.« In diesem Moment gab es eine Unterbrechung durch Atlans Syntron. »Verzeihung, aber der Siganese David Golgar ist wieder da«, meldete er. »Er besteht auf einer vertraulichen Unterredung mit Atlan.« »Sag ihm, daß ich im Moment keine Zeit habe«, sagte Atlan unwirsch. »Das habe ich ihm zu erklären versucht«, antwortete der Syntron mit seiner gleichbleibend sanften Stimme. »Aber David Golgar läßt sich nicht abweisen. Er beharrt, auf der Unterredung. Er verlangt, daß ich Atlan ein Stichwort übermitteln soll. ›Dann wird der Arkonide schon spuren‹, meinte er respektlos.« »Was für ein Stichwort?« »Das Stichwort lautet: Kummerog.« Dem Müßigen fällt das Glück manchmal ungebührlich in den Schoß, spottete der Extrasinn. Aber Atlan überhörte diese Spitze. »Her mit diesem David Golgar!« befahl Atlan. »Aber wehe, wenn das ein übler Scherz ist. Dann ...« Der Arkonide sprach nicht aus, was er in diesem Fall mit dem Siganesen anstellen würde. Kurz darauf, nachdem er eine Reihe von Sicherheitsschranken hatte passieren müssen, kam ein Siganese in halber Mannshöhe durch den Eingang geschwebt. Er trug lediglich eine einfache Kombination. -253-
Noch während er auf Atlans blankem Multifunktionstisch zur Landung ansetzte, platzte der Arkonide heraus: »Was weißt du über Kummerog?« »Er ist auf Camelot untergetaucht.« »Was?« entfuhr es Atlan ungläubig. »Das ist unmöglich!« Er war in diesem Moment überzeugt, daß der Siganese ihn zum Narren halten wollte. Während der Fremde aus dem Volk der Cantrell in der ganzen Milchstraße fieberhaft gesucht wurde, sollte er sich auf Camelot eingenistet haben - an dem wohl sichersten und geheimsten Ort in der gesamten Mächtigkeitsballung ES? In den Jahrzehnten ihres Bestandes hatten unzählige Agenten aller galaktischen Machtblöcke vergeblich versucht, zur Basiswelt der Zellaktivatorträger vorzustoßen. Und ausgerechnet einem ortsunkundigen Fremden sollte das Unmögliche gelungen sein? »Aber es ist Tatsache«, behauptete David Golgar keck. »Ich habe Kummerog mit eigenen Augen gesehen, war ihm so nahe, daß ich seinen heißen Atem gespürt habe ...« »Mach es nicht so spannend«, unterbrach Atlan den Siganesen. »Wo ist Kummerog? Und wie soll er nach Camelot gelangt sein?« »Erinnere dich an den Absturz der Space-Jet, bei dem die beiden Neulinge Andor Felsch und Simon Dury ums Leben gekommen sein sollen«, sagte David Golgar. »Die beiden leben. Es handelt sich dabei um Kummerog und seinen sklavisch ergebenen Partner Bruno Drenderbaum. Sie haben in den Bergen von Bonin Unterschlupf gefunden.« .»Wie ist das möglich?« fragte Atlan fassungslos. »Ich war mißtrauisch, als ich von dem Jet-Absturz hörte und habe eine eingehende Untersuchung des Vorfalls verlangt. Das Ergebnis hat bestätigt, daß die zwei Männer mitsamt dem androiden Lotsen Kerom ums Leben gekommen sind.« -254-
»Das Untersuchungsergebnis wurde von einer Frau namens Dorothea Ringent gefälscht«, behauptete David Golgar unerschütterlich. »Kummerog und Drenderbaum haben bei ihrem Vater Rudy, der in einer abgeschiedenen Klause lebt, Unterschlupf gefunden. Rudy ist ihre Geisel. Thea muß ihnen gehorchen, um ihren Vater nicht zu gefährden.« Stolz fügte David Golgar hinzu: »Thea hat mich zu ihrem Vertrauten gewählt und mir alles gestanden.« »Ich brauche alle Einzelheiten, möchte über jedes Detail informiert werden, David«, verlangte Atlan. »Von deiner Mitarbeit können nicht nur viele Menschenleben auf Camelot, sondern davon kann auch das weitere Schicksal von Perry Rhodan, Reginald Bull und Alaska Saedelaere abhängen.« »Ich bin mir der Verantwortung bewußt«, blieb der Siganese kühl. »Aber ich habe Thea versprochen, nichts zu unternehmen, was sie oder ihren Vater gefährden könnte. Ich erwarte von dir, Atlan, daß du meine Verpflichtungen übernimmst.« »Das ist Ehrensache«, versprach Atlan. »Wir werden nichts riskieren, was Thea und ihren Vater bedrohen könnte. Ich weiß, daß Kummerog ein gefährlicher und skrupelloser Bursche ist. Seine Spur nach Camelot ist mit Leichen gepflastert ...« Und, seien wir uns ehrlich, Kummerog hat eine deutliche Spur gelegt, meldete sich Atlans Extrasinn. Zuerst die Explosion des Camelot-Büros auf der BASIS, deren Ursache nie restlos geklärt wurde. Dann die Zerstörung des Treffpunktes auf ORION-738 ebenfalls unerklärlich und ungeklärt. Und dann der Jet-Absturz einzigartig in der Geschichte Camelots. Zugegeben, die wahren Zusammenhänge wurden gekonnt verschleiert. Aber jetzt, wo sie bekannt sind, sind die Zusammenhänge einleuchtend. In Summe beweist es, wie raffiniert und kompromißlos dieser Kummerog vorgeht. »Brauchst du uns bei der Aktion Kummerog, Atlan?« erkundigte sich Nadja. -255-
»Im Moment sieht es nicht danach aus«, antwortete Atlan abwesend. »Dann können wir nach Trokan abfliegen?« »Noch nicht«, lehnte Atlan ab. »Warten wir erst einmal ab, wie sich die Dinge entwickeln. Haltet euch für alle Fälle zur Verfügung, Mila und Nadja. Wenn wir Kummerog lebend schnappen - und das habe ich unbedingt vor dann bringt uns das vielleicht mehr als ein gefährliches Herumexperimentieren am Pilzdom.« »Aber Thea und Rudy wird kein Haar gekrümmt!« erinnerte ihn David Golgar.
Dialog 6 »Es tut mir leid, Kummerog. Ich habe ehrlich daran geglaubt, daß ich mit dem Hyperraum-Resonator den gewünschten Erfolg haben könnte. Aber ...« »Warum so verzweifelt, Katze? Du zitterst ja, als hättest du unter der Traufe gestanden.« »Ich hatte Angst ... befürchtete, daß du deinen Zorn über uns entladen könntest, weil ich dich auf die Idee mit dem Hyperraum- Resonator gebracht habe.« »Das hieße, daß ich mich selbst entmündigt und dir meine Vormundschaft überlassen hätte, Katze.« »Ich fürchte, ich verstehe nicht...« »Nun, man sagt mir augezeichnetes technisches Verständnis nach. Und, in der Tat, so ist es. Die galaktische Technik ist für mich so transparent, als wäre ich mit ihr aufgewachsen. Glaubst du denn wirklich, ich könnte nicht auch die Technik von Camelot richtig einschätzen, die ja nur ein Nebenzweig, eine -256-
schüchterne Weiterentwicklung, der galaktischen ist? Der Hyperraum-Resonator konnte demnach, nach allem, was ich kennengelernt habe, nur eine Spielerei sein. Die Sache mit Trokan hat mich keineswegs beeindruckt. Es ist nicht schwer, etwas zu entdecken, was einem vor der Nase liegt. Der Hyperraum-Resonator war dennoch einen Versuch wert. Beruhige dich also, Katze. Ich habe nicht vor, dich wegen dieses Versagens zu bestrafen.« »Danke, Kummerog. Ich weiß nur nicht, wie es nun weitergehen soll.« »Das entscheidest auch nicht du. Bruno sagt dir, was zu tun ist. Rudy und ich werden uns die neuesten Nachrichten reinziehen. Wir wollen uns nichts davon entgehen lassen, was über die Rückkehr von Atlan berichtet wird. Dieses Ereignis ist zukunftsweisend !« »Was soll ich nun tun, Bruno?« »In den Nachrichten wurde berichtet, daß die Tolkander aus Richtung des Sternbildes Reticulum gekommen sind. Damit sind deine nächsten Schritte vorgegeben. Beschränke deine Suche nach dem vorgegebenen Muster auf diesen und die angrenzenden Sternensektoren. Wenn du die Durchmusterung seriös betreibst, dann wird sich der Erfolg einstellen.« »Und wenn nicht?« »Denk positiv, Mädchen! Da ist nur noch eines, Thea: Warum verspürst du jetzt, wo sich alles in Wohlgefallen aufgelöst hat, immer noch geheime Ängste? Deine Gefühlswelt ist förmlich zerfressen davon. Du treibst doch nicht doppeltes Spiel mit uns?« »Das würde ich nie wagen, Bruno. Es ist nur so, daß ich Kummerog als unberechenbar kenne und nichts, und wenn er sich noch so freundlich und versöhnlich gibt, mir die Ungewißheit vor der Zukunft nehmen kann.« »Mir kannst du vertrauen. Ich diene zwar in erster Linie Kummerog. Aber ich werde auch danach trachten, daß dir und -257-
Rudy nichts passiert. Das soll der Dank für deine Mitarbeit sein. Und jetzt mach dich auf den Weg.« Nachdem die Frau gegangen war, wandte sich Bruno Drenderbaum an Kummerog. »Wann häutest du endlich?« »In ein, zwei Tagen.«
6. Dorothea Ringent suchte nach dem Besuch in den Bergen von Bonin ihr Appartement in Port Arthur auf. Es bestand keine Notwendigkeit, nach Cam IV zurückzukehren. Was sie zu tun hatte, konnte sie auch von hier aus erledigen. Warum also mit dem Transfer unnötige Zeit vergeuden? Außerdem hatte sich der Siganese David Golgar nicht wieder bei ihr gemeldet und sie dachte, daß er sie in Port Arthur bequemer kontaktieren konnte. Bereits kurz nach ihrem Eintreffen, schlug das Interkom an. Es war Gerald Steiner. »Ist dein Landurlaub ein Erfolg?« erkundigte er sich. »Ja, das kann man wohl sagen«, antwortete sie gutgelaunt. Sie hatte allen Grund, erleichtert zu sein, denn die Konfrontation mit Kummerog war unerwartet friedlich verlaufen. Er hatte ihr den Flop mit dem Hyperraum-Resonator verziehen und ihr über Bruno Drenderbaum, den Auftrag gegeben, die von ihm ins Auge gefaßte Galaxis in einem bestimmten Sternensektor zu suchen: im Sternbild Reticulum. Dafür brauchte sie nicht einmal Zeit an einem Teleskop in Anspruch nehmen, sondern konnte sich mit der Sichtung der Sternenkarten begnügen. Thea fuhr fort: »Die Anforderung des Hypnoschulers hat sich gelohnt. Mein Vater zeigt erste Anzeichen dafür, sich mit der -258-
Realität anfreunden zu wollen. Außerdem beginnt er sich für Astronomie zu interessieren.« »Das hört man gerne«, sagte Gerry freundlich. »Hoffentlich bringt er mich nicht eines Tages um meinen Job. Aber Scherz beiseite. Hast du unsere Verabredung vergessen? Heute wollten wir am Morgan-Teleskop arbeiten. Es ist nach Cyrus Morgan benannt, weil es sich um eine seiner Spezialkonstruktionen handelt ...« »Tut mir leid, Gerry, aber daraus wird nichts«, fiel ihm Thea ins Wort. »Ich habe Rudy versprochen, einige astronomische Daten für einen Hypno-Schulkurs zusammenzustellen. Er wartet darauf. Das kann ich auch von hier unten tun. Ich will sie ihm in einer Direktschaltung übermitteln.« »Ich könnte dich besuchen und dir dabei behilflich sein«, bot sich Gerry an. »Das ist lieb, aber ich mache das lieber selbst«, lehnte Thea ab. »Mein Ehrgeiz gebietet es mir, die Unterlagen selbst zusammenzutragen. Bis demnächst!« Als sie den Interkom abschaltete, konnte sie die Enttäuschung in Gerrys Gesicht ablesen. Darauf konnte sie jedoch keine Rücksicht nehmen. Sie mußte bei dem, was sie vorhatte, allein sein. Thea machte sich einen kleinen Imbiß zurecht und begab sich damit an den Server. Sie gab ihre Kenndaten ein und forderte eine Zugriffsschaltung auf alle Objekte des Sternensektors Reticulum und die Grenzbereiche. Es dauerte nicht lange, dann stand die Verbindung. Der Netzsyntron machte sie darauf aufmerksam, daß sie unbegrenzten Zugriff auf alle Daten des bezeichneten Gebietes hatte. Mit anderen Worten, es gab in diesem Bereich keinerlei Daten, die der Geheimhaltung unterlagen. Das dreidimensionale Display zeigte ihr eine umfassende Grafik des angeforderten Sternensektors. Das Sternbild des -259-
Netzes war nicht sehr groß und umgeben vom Schwertfisch, der Pendeluhr und der Südlichen Wasserschlange. Für Thea war das alles neu, weil sie sich bisher nie für Astronomie interessiert hatte. Sie war auch überrascht, mit einer solchen Fülle von galaktischen Objekten konfrontiert zu werden. Sie war fast geblendet von den unzähligen Lichterquellen. Aber dann kam sie dahinter, daß sie lediglich die galaktischen Objekte, Sonnen und KugelSternhaufen herausfiltern mußte, um sich freien Raum zu verschaffen. Danach war das Bild schon übersichtlicher. Aber immer noch war eine Fülle von Galaxien aller möglichen Klassen in die Tiefe gestaffelt. Und dazu kamen noch die Schwarzen Löcher in vielen dieser Galaxien, vermutete Materiequellen - und in den fernsten Zonen des vermessenen Universums die Quasare. Ein ganzes Bündel an Quasaren fand sich im Sternbild Pendeluhr, an der unteren Grenze zum Netz. Aus Richtung Milchstraße gesehen, schien darin ein Sternhaufen mit der Bezeichnung NGC 1261 eingebettet zu sein. Eine andere Perspektive zeigte freilich, daß NGC 1261 viel, viel näher lag und mit einer Entfernung von 95.000 Lichtjahren sogar noch zum Halo der Milchstraße gehörte. Die Entfernung der Quasare, diese quasi-stellaren Objekte, waren dagegen nur in Milliarden von Lichtjahren zu messen. Thea war wie berauscht von den auf sie einstürmenden Daten über Entfernung, Größe und Art der kosmischen Objekte. Es gab eine Unmenge faszinierender Bezeichnungen, für manche der Sterneninseln sogar mehrere. NGC und IC waren ihr am geläufigsten, weil sie auch hauptsächlich in der Raumfahrt benutzt wurden. Aber erst jetzt erfuhr sie, daß NGC für ›New General Catalogue‹ und IC für ›Index Catalogue‹ stand und diese beiden Sternkataloge schon seit dem 19. Jahrhundert in Gebrauch waren - also aus einer Epoche lange vor Beginn des Raumzeitalters stammten ... -260-
Thea gemahnte sich zur Disziplin, um sich nicht in Nebensächlichkeiten zu verlieren. Sie war auf der Suche nach einer Sterneninsel mit ganz bestimmten Eigenheiten. Einer Balkenspiral-Galaxis vom Typ SBb oder SBc, worin auch immer der feine Unterschied zwischen diesen Buchstabenkombinationen lag. Thea hätte es heraufinden können, aber sie wollte es gar nicht wissen. Sie hatte ein bestimmtes Objekt zu finden, das auch ein spezielles Hypermuster aufzuweisen hatte. Sie befahl dem Syntron eine Suchfunktion und dann die Zusatz-Richtung für ›Hyper-Emission‹. Aufgerufen, die Suchkriterien zu nennen, las sie die von Kummerog aufgezeichnete Formel für das gesuchte Hyperspektrum vor. Augenblicklich geriet die Grafik durcheinander. Objekte wurden in so rascher Folge angezoomt und wieder in den Hintergrund gedrängt, daß Thea von diesem Prozeß ganz schwindelig wurde. Der von ihr überbrachte Formelsatz wurde immer eingeblendet, in eine andere Reihenfolge gebracht, und dann lief der verwirrende Prozeß wieder von neuem ab. Zwischendurch blinkten immer wieder ›Error‹-Meldungen auf. Thea bekam es mit der Angst zu tun. Sie befürchtete, dem Syntron eine Aufgabe gegeben zu haben, die er nicht lösen konnte, wodurch er in eine Endlosschleife getrieben wurde, in der er sich in einer Spirale der eigenen Zerstörung entgegendrehte. Sie wollte die Verbindung bereits unterbrechen, als sich die bis jetzt rasanten Vorgänge im Display endlich einigermaßen beruhigten. Noch immer wurden kosmische Objekte reihum angezoomt und wieder ins Niemandsland zurückgestoßen. Aber Thea fiel auf, daß bei dieser Durchmusterung nunmehr ausschließlich die Quasare an der Reihe waren. War es möglich, daß Kummerog von so weit herkam? Aber keiner der Quasare dieses Gebietes fand vor den gestrengen Kriterien des Syntrons Gnade. Schließlich kam die -261-
Suchfunktion zum Erliegen, die Meldung ›Unvereinbare Parameter-Suche ergebnislos‹ erschien. Thea hatte keine Ahnung, was sie bei astronomischen Kriterien unter ›Unvereinbare Parameter‹ verstehen sollte, darum ließ sie sich die Liste der Fehlermeldungen zeigen. Daraus erfuhr sie, daß sie bei der Suche eine Reihe von Kriterien vorgegeben hatte, die in dieser Zusammensetzung nicht existierten - oder zumindest nicht registriert waren. An einem Beispiel wurde ihr gezeigt, daß es Balkenspiralen mit dem von ihr so exakt vorgegebenen Hypermuster nicht nur in dem von ihr durchsuchten Teil des Universum nicht gab, sondern einfach nirgends, in keinem der zur Verfügung stehenden Kataloge, verzeichnet waren. Das war also der unvereinbare Parameter. Thea begriff, daß ihr Kummerog nur ungefähre Schätzwerte angegeben hatte, der Syntron diese jedoch als bindend gewertet hatte; deswegen hätte er beinahe einen Kollaps erlitten. Thea merkte erst jetzt, daß ihr Körper in Schweiß gebadet war. Da flüsterte eine bekannte Stimme an ihrem Ohr: »Thea, wenn du so weitermachst, dann schaffst du es innerhalb kürzester Zeit, ganz Camelot lahmzulegen. Diese Formel ist, falsch angewendet, gefährlicher als das schärfste Syntronvirus der Galactic Guardians. Und deren Hacker verstehen ihr Geschäft.« »David Golgar!« rief Thea erleichtert aus. »Dich schickt der Himmel! Wie bist du hereingekommen?« »Das fragte auch die Jungfrau ihr Ungeborenes«, sagte David und ließ sich auf der Konsole des Servers nieder. »Siganesen finden überall ein Schlupfloch. Und was braucht dich das ›Wie‹ kümmern, wo du doch angeblich über mein Erscheinen erleichtert bist?« »Das bin ich in der Tat«, sagte sie, der völligen Auflösung nahe. »Ich habe es mir leichter vorgestellt, die Galaxis eines bestimmten -262-
Typs in einem vorgegebenen Sternensektor zu finden. Allerdings ist es eine Galaxis mit nicht feststehender Hyperemission.« »Dann darfst du keine absoluten Werte eingeben, sonst treibst du den Syntron in den kybernetischen Wahnsinn«, warf ihr David vor. »Sondere zuerst einmal alle Objekte aus, die keine Balkenspiralen sind. Dann bleiben nur noch SB-Objekte übrig.« Thea befolgte den Rat - und die Grafik lichtete sich schlagartig. In dem von ihr vorgegebenen Ausschnitt blieben nur noch einige Dutzend Galaxien übrig. Thea atmete auf. »Und jetzt?« fragte sie. »Laß es mich machen, das geht schneller«, sagte David Golgar und landete auf der Konsole. Er ließ nochmals die Hyperformel einlesen, dann sagte er: »Diese Daten sind lediglich als Annäherungswerte zu behandeln.« »Verstanden«, bestätigte der Syntron. Innerhalb der nächsten Minuten schied der Syntron eine Galaxis nach der anderen aus. Zum Schluß blieben nur noch 13 Sterneninseln übrig, darunter welche mit Bezeichnungen wie IC 1933, 42 Millionen Lichtjahre entfernt, IC 2056, 44 Millionen Lichtjahre entfernt, NGC 1515, 42 Millionen Lichtjahre entfernt, NGC 1313. NGC 1559, NGC 1574 und so weiter. »Das ist ja irre, David«, rief Thea. »Wenn du so weitermachst, dann haben wir die gesuchte Galaxis im Handumdrehen gefunden.« »Jetzt kommt der schwierigste Teil, die Feinanalyse«, erklärte David. »Wir müssen die Formel analysieren und alle Werte ausfiltern, die auf diesen Typ von Galaxien unzutreffend sind. Andere Werte, die möglicherweise stimmen könnten, aber noch nicht im Sternkatalog verzeichnet sind, müssen wir dagegen berücksichtigen.« »Das kannst du?« staunte Thea. »Ich?« rief David erschrocken. »Wo denkst du hin! Das überlassen wir dem Syntron. Es wird aber dauern, bis ein Er-263-
gebnis vorliegt. Inzwischen können wir uns unterhalten.« Der Siganese nahm noch während des Sprechens die nötigen Eingaben vor. Als er damit fertig war, gab er dem Syntron den Befehl, mit den Berechnungen zu beginnen. »Warst du bei meinem Vater?« erkundigte sich Thea, als sich David wieder ihr zuwandte. »Natürlich. Aber warum hast du mir nicht verraten, daß es sich bei den Eindringlingen um Kummerog und Bruno Drenderbaum handelt?« »Ich fürchtete, daß du mir nicht glauben würdest. Du solltest dich mit eigenen Augen von ihrer wahren Identität überzeugen.« »Hätte ich die gekannt, wäre ich vorsichtiger gewesen. Aber Schwamm drüber! Es ist ja gutgegangen. Aber die Situation hat sich dadurch um ein Vielfaches verschärft « »Du hast doch nicht Meldung erstattet? Mit niemandem darüber gesprochen?« »Kein Sterbenswort.« »Und - wie soll es weitergehen?« »Vorerst unternehmen wir noch gar nichts. Kummerog ist umsichtig und wachsam. Wir wollen ja deinen Vater nicht gefährden. Kummerog darf keinen Verdacht schöpfen. Ich werde inzwischen in aller Ruhe meine Vorkehrungen treffen.« »Vorkehrungen welcher Art?« »Besser, du weißt von nichts, dann kannst du dich auch nicht verraten. Aber vertraue mir nur, ich habe alles im Griff.« Der Syntron verkündete, daß er die Berechnungen beendet hatte, und warf das Ergebnis aus. Von den letzten dreizehn Galaxien war nur noch eine übrig, die annähernd den Vorgaben entsprach: NGC 1313, in 11,5 Millionen Lichtjahren Entfernung. Thea lachte vergnügt und sagte: »Ich werde das Ergebnis sofort an Kummerog weiterleiten. Das wird ihn endgültig mit mir versöhnen und zusätzlich in Sicherheit wiegen.« -264-
»Wenn du das tust, dann tötet er deinen Vater auf der Stelle«, sagte der Siganese ungewohnt ernst. »Oder er ruft dich zu sich und tötet euch dann beide.« »Aber warum?« fragte Thea mit erstauntem Entsetzen. »Weil er dir nicht abkauft, daß du NGC 1313 unter den vorgegebenen Bedingungen allein gefunden hast«, antwortete David. »Du weißt, daß du es ohne meine Hilfe nicht geschafft hättest. Und Kummerog würde dir das auch nicht zutrauen. Er kennt dich zu gut.« »Dann war alles umsonst?« »So würde ich es nicht sehen«, sagte David. »Aber du mußt Kummerog über deinen Vater anrufen, wie du es bis jetzt immer gemacht hast, und ihn um Unterstützung bitten. Kummerog ist clever genug, selbst den richtigen Lösungsweg zu finden.« »Das überlebe ich nicht«, sagte Thea verzweifelt. »Ich bin am Ende meiner Kräfte. Eine solche Komödie stehe ich nicht durch.« »Du brauchst Kummerog ja nicht in die Augen zu sehen«, redete ihr David zu. »Du hast ausschließlich deinen Vater vor dir. Wenn du Kummerog auf diese Weise um Beistand bittest, dann ist das auch ein psychologischer Vorteil für dich. Er wird darin einen Vertrauensbeweis sehen. Du mußt das auf dich nehmen, um zu überleben, Thea!« »Wenn du wirklich meinst...« »Es gibt keinen anderen Weg«, betonte David Golgar. »Und um nicht den Schatten eines Verdachts auf dich kommen zu lassen, ziehe ich mich jetzt zurück.« Bevor Thea einen Einwand vorbringen konnte, war der Siganese verschwunden. Thea sammelte ihre Kräfte und rief im Hause ihres Vaters an. Es lief alles genau so, wie David Golgar es vorausgesagt hatte. Unter Kummerogs Anleitung eruierte Thea NGC 1313 zum zweitenmal als die gesuchte Galaxis. -265-
Es dauerte nur etwas länger, weil Rudy, als Kummerogs Sprachrohr, manche Anweisungen falsch weitergab und es dadurch wegen der dauernden Wiederholungen zu Verzögerungen kam. Rudy hatte es unter den Beteiligten wohl am schwersten und war sichtlich froh, als es überstanden war. Zum Schluß sagte ihr Vater »Ich möchte, daß du mich sofort besuchst, Marga. Es gibt was zu besprechen. Leih dir einen weltraumtauglichen Shift! Vielleicht mußt du für mich etwas transportieren.« Warum befahl Kummerog sie zu sich? Und was wollte er transportieren? Jedenfalls mußte sie dem Befehl augenblicklich nachkommen.
Dialog 7 »Wann häutest du endlich, Kummerog?« »Vielleicht morgen...« »Häute heute!«
7. Der Kommandostand im HQ-Camelot war voll besetzt. Etwa zwanzig Personen, die sich in drei Schichten ablösten, waren hier rund um die Uhr auf ihren Posten. Es herrschte keine Hektik. Die ruhige, geregelte Betriebsamkeit konnte jedoch nicht über die angespannte Atmosphäre hinwegtäuschen. Hier liefen alle Fäden der ›Aktion Kummerog‹ zusammen. Atlan hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich die Koordinierung zu übernehmen. Er stand in ständiger Verbindung mit Armin Assiter, dem Chef der Bodensicherung. -266-
»Alle Leute haben ihre Posten bezogen«, meldete Assiter, der zum Kontinent Bonin gereist war und die Aktion im Einsatzgebiet leitete, über den zusätzlich kodierten Sprechfunk. »Der Ring um das Objekt ist geschlossen. Wir halten den vereinbarten Sicherheitsabstand ein. Seit Dorothea Ringent das Haus verlassen hat, ist dort alles ruhig. Keine der im Haus vermuteten Personen hat sich bis jetzt blicken lassen. Sollen wir nicht doch einen Minispion einschleusen, damit wir über die Vorgänge im Haus informiert, werden?« »Auf keinen Fall, Armin!« lehnte Atlan ab. »Wir wissen, daß Kummerog über eine umfangreiche technische Ausrüstung verfügt, mit der er Sonden rasch aufspüren könnte. Dieses Risiko dürfen wir nicht eingehen.« Atlan wollte sich die Chance, Kummerogs endlich habhaft zu werden, nicht durch voreiliges Handeln zunichte machen lassen. Außerdem ging es auch um Rudy Ringents Sicherheit. Wenn Kummerog Verdacht schöpfte, dann war dessen Leben keinen Stellar wert. In diesem Fall würde es zudem wohl sehr schwer werden, Kummerog lebend und ohne eigene Verluste zu fassen zu bekommen, denn er würde mit vollem Einsatz um seine Freiheit kämpfen. Und Atlan wollte Kummerog unbedingt lebend haben, denn er war der einzige, der etwas über das Schicksal von Perry Rhodan, Reginald Bull und Alaska Saedelaere wußte. Atlan verfolgte an einem Terminal Dorothea Ringents Weg von der Einsiedelei auf Bonin in ihr Appartement in Port Arthur. Seit David Golgar Atlan über ihre Situation aufgeklärt hatte, wurde die Frau überwacht. Sowohl ihre Unterkunft auf Bonin, wie auch ihr Quartier auf der Orbitalstation Cam IV und ihr Appartement in der Hauptstadt waren mit Spionen ausgestattet worden. Jeder ihrer Schritte wurde registriert, jedes ihrer Gespräche aufgezeichnet. -267-
Und an jedem dieser Orte gab es einen sogenannten ›Siganesenschlupf‹, der es David Golgar gestattete, dort unbemerkt aus und ein zu gehen. Dorothea Ringent verschaffte sich Zugriff auf astronomische Daten und begann damit, den Reticulum-Sektor nach einem ganz bestimmten Objekt abzusuchen. Das tat sie offenbar in Kummerogs Auftrag. War es Zufall, daß Dorothea Ringent für Kummerog ausgerechnet jenen Sternsektor durchsuchte, aus dem die Tolkander kamen? Das kann kein Zufall sein, meldete sich Atlans Extrasinn. Kummerog hat irgend etwas mit den Invasoren zu schaffen. Es muß ein Zusammenhang zwischen ihm und den Tolkandern bestehen. Es scheint, daß er Daten über die Galaxis Tolkandier besitzt und Dorothea Ringent gezielt danach suchen läßt. Dieser Argumentation konnte sich Atlan nicht entziehen. Es war jedoch noch zu früh, Spekulationen über die Art der Zusammenhänge zwischen Kummerogs Auftritt und dem fast zeitgleichen Auftauchen der Invasoren zu entwickeln. Als Dorothea Ringent bei ihrer Suche nicht weiterkam, setzte sich Atlan mit David Golgar in Verbindung. »Ich möchte, daß du Dorothea Ringent aufsuchst und sie in ihrer Arbeit unterstützt, David«, verlangte er von dem Siganesen. »Auf sich allein gestellt, schafft sie es sonst nie. Durch deine Unterstützung können wir die Entwicklung beschleunigen. Aber kein Wort davon, daß du die Sicherheitskräfte eingeschaltet hast.« »Für wie dumm hältst du mich eigentlich, Atlan?« empörte sich der Siganese. Bald darauf war zu sehen, wie David Golgar in Dorothea Ringents Appartement auftauchte. Die junge Frau war über sein Erscheinen überaus erleichtert und staunte, in welchem Rekordtempo die gesuchte Galaxis mit seiner Hilfe gefunden wurde. Sie sprach David auf ihre Abmachung an und fragte: »Du hast doch nicht Meldung erstattet? Mit niemandem darüber gesprochen?« -268-
Der Siganese log, ohne zu ergrünen: »Kein Sterbenswort.« Die gesuchte Galaxis war NGC 1313, eine Balkenspirale vom Typ SBc und nur 11,5 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernt. Em vergleichsweise nahes Ziel, das ein schnelles Raumschiff in weniger als drei Monaten erreichen konnte. War NGC 1313 mit Tolkandier identisch? Kamen von dort die fremden Invasoren? Diese Frage schob Atlan vorerst beiseite. Er beobachtete Dorothea Ringent weiterhin. Bevor David Golgar sie verließ, verlangte er von ihr, daß sie in Zusammenarbeit mit Kummerog dieselbe Suchprozedur wiederholte. Das war sehr clever vom Siganesen, denn das Argument, daß Kummerog andernfalls Verdacht schöpfen und an Verrat denken konnte, war stichhaltig. Dorothea Ringents Kontakt zu Kummerog lief über ihren Vater als Mittler ab. Das war überaus zeitraubend, denn der alte Mann, der noch immer in der Vergangenheit lebte, hatte keinerlei Ahnung, worum es da eigentlich ging, und brachte alles durcheinander. Aber Kummerog nahm lieber diese aufreibende Prozedur auf sich, als direkt in Erscheinung zu treten. »Du bist ein gerissener Bursche, Kummerog«, sagte Atlan anerkennend. »Aber ich kriege dich, darauf kannst du dich verlassen.« Unter Kummerogs geduldiger Führung kam Dorothea Ringent schließlich zum selben Ergebnis wie David Golgar eine Stunde zuvor. Aber anstatt ihr zu diesem Erfolg zu gratulieren, ließ er ihr über ihren Vater ausrichten: »Ich möchte, daß du mich sofort besuchst, Marga. Es gibt was zu besprechen. Leih dir einen weltraumtauglichen Shift. Vielleicht mußt du für mich etwas transportieren.« Dorothea Ringent machte sich kurz darauf auf den Weg, nicht ahnend, daß sie damit die Maschinerie des Sicherheitsdienstes in Gang setzte und auf Hochtouren laufen ließ. -269-
Atlan rief zuerst den für Planetenfahrzeuge verantwortlichen Mann in Dorothea Ringents Dienststelle an und trug ihm auf, ihr das verlangte Gefährt zur Verfügung zu stellen. Inzwischen war auch Armin Assiter über die Entwicklung informiert worden, und er meldete sich über die Konferenzschaltung bei Atlan. »Das ist die Gelegenheit, Kummerog ein Trojanisches Pferd unterzujubeln«, sagte er. »Wenn wir Dorothea Ringent etwas hinhalten, dann können wir den Shift beliebig manipulieren. Wir könnten ein oder zwei Mann in sicheren Verstecken an Bord unterbringen. oder auch einen Modula-Kampfroboter. Meinetwegen demontiert und unverfänglich über den Shift versteckt und so programmiert, daß er sich unter bestimmten Voraussetzungen selbst zusammenbaut. Auch ein geheimer Transmitter wäre denkbar. Es wäre doch eine feine Sache, Kummerog jederzeit ein Einsatzkommando schicken zu können!« »Tut mir leid, aber da ist nichts zu machen, Armin«, lehnte Atlan ab. »Deine Ideen sind zugegebenermaßen sehr verlockend, aber sie könnten Vater und Tochter Ringent gefährden.« »Meine Leute sind doch keine Anfänger«, regte sich Assitar auf. »Atlan, eine solche Chance, diesem Kerl das Handwerk zu legen, kommt nicht so schnell wieder.« »Wir warten eine günstigere Gelegenheit ab«, entschied Atlan. »Das ist mein letztes Wort.« »Wie wäre es dann wenigstens damit, die Bordsysteme des Shifts zu nutzen?« unternahm der Sicherheitschef einen letzten verzweifelten Versuch. »Wir verändern nichts an Bord und bedienen uns lediglich durch Fernsteuerung der Beobachtungs- und Meßgeräte. Das hinterläßt keinerlei Spuren und niemand kann Verdacht schöpfen. Dieses Zugeständnis mußt du mir einfach machen, Atlan.« »In Ordnung«, stimmte Atlan schließlich zu, weil er sich nicht vorstellen konnte, daß ein solcher Eingriff durch Fernsteuerung -270-
Schaden anrichten konnte. »Aber die Sicherheit der Ringents muß oberstes Gebot bleiben.« »Das halte ich mir dauernd vor Augen sonst hatte ich das Haus längst gestürmt«, sagte Assiter säuerlich. Atlan wandte seine Aufmerksamkeit wieder Dorothea Ringent zu. Nachdem sie sich die Bereitstellung eines Shifts zugesichert hatte, begab sie sich in den ihr genannten Hangar, nahm das Fahrzeug entgegen und startete es. Sie merkte nicht, daß drei ferngesteuerte Sonden mit dem Shift mitflogen; sie würden ihre Positionen erst zehn Kilometer vor dem Ziel verlassen. Das Bild wechselte und zeigte Dorothea Ringent aus der Froschperspektive im Pilotensitz. Es war weiter nicht ungewöhnlich, daß die Bordsysteme alle Vorgänge in der Kanzel aufzeichneten. Die schwarzhaarige Frau mit den hohen Backenknochen und den leicht schrägen dunklen Augen wirkte angespannt. In ihrem Gesicht zuckte es. Atlan hätte in diesem Moment gerne ihre Gedanken gekannt. Plötzlich kam vom Shift eine Warnmeldung. Die sensiblen Individualtaster hatten neben Dorothea Ringents Gehirnströmen eine zweite Quelle ausfindig gemacht. Zum Glück wurde die Warnung nicht direkt an den Piloten ausgegeben, sondern in die Kommandozentrale von HQ-Camelot zu Atlan weitergeleitet. Nach der Art der angemessenen Gehirnströme ahnte Atlan sofort, was das zu bedeuten hatte. Er setzte sich mit David Golgar in Verbindung, aber der Siganese meldete sich nicht über Sprechfunk. Er antwortete allerdings mittels verschlüsselter Funksignale. Diese besagten: »Kann nicht frei sprechen. Bin an Bord von Theas Shift.« »Hat dir Assiter diesen Auftrag gegeben?« fragte Atlan auf dieselbe Weise. »Das braucht man mir nicht zu befehlen. Ich weiß selbst, was zu tun ist«, kam die Antwort. -271-
»David, du mußt den Shift auf der Stelle verlassen. Du mußt abspringen, bevor er das Ziel erreicht. Das ist ein Befehl.« »Tut mir leid, ich kann nichts verstehen. Aber ich kann Thea nicht im Stich lassen. Ende der Durchsage.« Atlan wußte, daß es keinen Sinn hatte, den Siganesen mit weiteren Rückzugsbefehlen zu bombardieren. Er würde sie sowieso nicht befolgen. Atlan konnte nur hoffen, daß David Golgar nicht entdeckt wurde. Dorothea Ringent landete den Shift zwanzig Meter vom Haus entfernt, innerhalb des Energiezaunes. Sie verließ das Cockpit, und die Außenkameras zeigten, wie sie mit unnatürlich gestrafften Schultern zum Haus ging und durch den Eingang verschwand. Sie erwartete irgendeine Entscheidung, und das bereitete ihr offensichtlich Unbehagen. Für einen Moment zeigte die Cockpitkamera David Golgar in Großaufnahme. Er trug einen Kampfanzug, dessen Systeme noch desaktiviert waren. Er grinste breit in die Kamera und zeigte die Faust mit nach oben gestrecktem Daumen. »Dieser Teufelskerl!« meldete sich Armin Assiter zufrieden. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich über seine Eigenmächtigkeit bin, Atlan.« »Wenn er Mist baut, zerquetsche ich ihn zwischen den Fingern«, sagte Atlan ohne Groll. Eigentlich war auch er ganz froh, daß der Siganese als Blinder Passagier auf dem Shift mitgeflogen war und sie über ihn eine Verbindung zu Kummerog bekommen würden. Durch Fernsteuerung wurden die Außenmikrophone des Shifts auf das Haus gerichtet und auf eine Weise verstärkt, daß alle Geräusche, die innerhalb der Räume verursacht wurden, deutlich zu hören sein müßten. Aber das funktionierte nicht. Statt verständlicher Laute war nur ein auf- und abschwellendes Surren zu hören. »Dieser Mistkerl von Kummerog hat einen Störsender installiert«, sagte der Mann an den ferngesteuerten Richt-272-
mikrophonen. »Ich kann die Störgeräusche nicht herausfiltern.« Kurz darauf verstummten die Störgeräusche jedoch; statt dessen waren laut und deutlich Stimmen zu hören. Nur wenige Minuten später entstand über der Steueranlage ein scharfes, gut ausgeleuchtetes dreidimensionales Bild von Rudy Ringents Wohnzimmer. »Wie ist das möglich?« fragte irgend jemand. »David Golgar macht's möglich«, kam die Antwort vom zuständigen Techniker. »Er hat einfach die Überwachungseinrichtung der Videowand aktiviert. Jetzt sind wir live mitten im Geschehen.« Im Trivid lief gerade ein Bericht über die Vorgänge im Tucan-Sektor, wohin sich das Gros der Igelschiffe nach ihrer ersten Offensive zurückgezogen hatte. Der Sprecher gab an, daß sich ihre Zahl inzwischen auf insgesamt 140.000 erhöht hatte und daß dauernd weitere Flotten eintrafen. Es kamen zwar in der Mehrzahl Igelschiffe, aber der Anteil Ellipsoide der Eloundar wurde immer größer. Bedachte man deren Fassungsvermögen, dann ging die Zahl jener Vivoc genannten Larven, die sie transportierten, bereits in die Milliarden. Direkt vor dem Gerät lümmelte Kummerog auf einem Sofa. Er sog schlürfend an einer Plastiktüte und kümmerte sich nicht darum, daß ihm der Brei des Nahrungskonzentrats aus den Mundwinkeln lief und ihn besudelte. Kummerog bot einen seltsamen Anblick. Sein gesamter Körper war in eine halbtransparente, blasige, gallertartige Masse gehüllt. An manchen Stellen hing sie ihm lose vom Körper. Seine weißen Augen waren direkt in die Kamera gerichtet. Kummerog bietet denselben Anblick wie in der letzten Phase auf Mimas, bevor er mit Bruno verschwand, erinnerte Atlans Extrasinn. Damals wurde das mit dem Regenerationsprozeß -273-
seiner Hand in Zusammenhang gebracht. Aber diesmal muß es sich um eine andere Art von Regenerationsphase handeln. Atlan ließ die Lautstärke höherregeln, so daß man die Stimmen aus dem Flur besser verstehen konnte. »Wo ist Rudy, Bruno?« hörte man Dorothea Ringent fragen. »Ich habe ihn mit dem Hypnoschuler stillgestellt«, antwortete Bruno Drenderbaum. »Er beginnt, zu viele Fragen zu stellen. Das ist nur lästig. Aber es geht ihm gut, Thea.« »Warum mußte ich mit einem Shift kommen? Braucht ihr ihn für bestimmte Zwecke?« »Es könnte sein, daß wir von hier verschwinden. Mal sehen, wie es sich ergibt. Dann bist du uns jedenfalls für immer los.« »Bist du sicher, daß Kummerog uns einfach laufen läßt?« »Wenn alles wie geplant läuft, ja. Du mußt nur mitspielen, Thea. Wenn du tust, was Kummerog von dir verlangt, dann gibt es für dich und Rudy ein gutes Ende.« »Was habe ich zu tun?« »Kummerog wird es dir sagen. Geh zu ihm!« Gleich darauf erschienen Dorothea Ringent und Bruno Drenderbaum im Wohnzimmer. Kummerog deutete mit der leergesogenen Plastiktüte auf einen Hocker, und Thea ließ sich zögernd darauf nieder. Kummerog sagte in seiner Sprache etwas zu Drenderbaum. Dieser stellte sich hinter Thea und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich möchte dich um einen großen Gefallen bitten, Katze«, sagte Kummerog, während er zwischen den Worten hörbar die Luft einsog, um seine Fangzähne von Speiseresten zu säubern. »Wenn du das für mich tust, dann schenke ich dir und Rudy das Leben und lasse euch frei.« »Du weißt, daß ich gezwungen bin, alles für dich zu tun«, sagte Thea unbehaglich. Ihre Körpersprache drückte deutlich aus, daß sie eine schier unzubewältigende Forderung von Kummerog erwartete, die ihr -274-
große Selbstaufopferung abverlangen würde. »Ich hätte lieber gehört, daß du mir aus Liebe und Freundschaft dienst, Katze«, sagte Kummerog spöttisch. Er wollte noch etwas hinzufügen. Doch plötzlich stutzte er. Atlan sah das Weiß seiner Augen direkt auf sich gerichtet. Kummerog stieß einen Fluch in der fremden Sprache aus und sprang vom Sofa hoch. Er bot einen grotesken Anblick, als er sich mit flatterndem Gallert-Umhang auf das Steuergerät für das Trivid-System stürzte, es hochhob und dann gegen die Wand schleuderte. Durch die Zerstörung des Steuergerätes wurde die Verbindung stillgelegt. Ab diesem Moment empfing man keine Bilder und keinen Ton mehr aus Rudys Klause. Danach herrschte große Aufregung im Kommandostand von HQ-Camelot. Alle fragten sich, was der Anlaß für Kummerogs Wutausbruch sein mochte und ob er entdeckt hatte, daß er beobachtet wurde. Doch das schien unmöglich zu sein. Die Aufzeichnung der Szene kurz vor seinem Anfall wurde immer wieder vorgespielt. Aber es wurde nichts entdeckt, was als Anlaß für seinen Wutausbruch gewertet werden konnte. Erst als Atlan auf Anraten seines Extrasinns die Stimme des Nachrichtensprechers verstärken und die passenden Bilder zuspielen ließ, erhielt man eine mögliche Antwort. Das Thema der Nachrichten hatte gewechselt. Es wurden Bilder aus verschiedenen Teilen Trokans gezeigt, zuletzt auch der Pilzdom. Dazu kommentierte der Sprecher: »...wurden die Zellaktivatorträger Perry Rhodan, Reginald Bull und Alaska Saedelaere vom Pilzdom verschluckt, während gleichzeitig ein fremdes Wesen namens Kummerog auftauchte. Kummerog wurde im Medo-Center von Mimas interniert. Nach seiner spektakulären Flucht von dort, zusammen mit Bruno Drenderbaum, der rechten Hand von LFT- Kommissar Cistolo -275-
Khan, sind die beiden spurlos verschwunden. Der Arkonide Atlan hat in einem Interview Kummerog als skrupellose, grausame und hinterhältige Bestie bezeichnet ...« Dies war der Moment, in dem Kummerog blind vor Wut aufgesprungen war und das Steuergerät zertrümmert hatte. »Man kann Kummerogs Reaktion fast verstehen«, scherzte jemand. »Wer hört schon gerne ein solch vernichtendes Urteil über sich.« Bevor Atlan darauf eingehen konnte, wurde er zum Interkom gerufen. »Ein Gespräch für dich«, sagte der Techniker, der den Anruf entgegengenommen hatte. »Es ist Dorothea Ringent. Sie sagt, es handle sich um eine wichtige Angelegenheit.« »Mir scheint, jetzt kommt in die Angelegenheit Bewegung«, sagte Atlan zufrieden. An den zuständigen Techniker gewandt, fügte er hinzu: »Spielt mir eine Aufnahme meines Büros als unverfänglichen Hintergrund ein.« Dann stellte er die Verbindung her.
Dialog 8 »Ich bin Dorothea Ringent. Mein Name wird dir nichts sagen, Atlan. Aber vielleicht erinnerst du dich daran, daß Reginald Bull im Jahre '41 ein kleines Mädchen aus der Wildnis in die Zivilisation gebracht hat. Das bin ich.« »Ich kann mich an die kleine Marga erinnern, die eigentlich Dorothea hieß. Aber als erwachsene Frau habe ich sie nie kennengelernt. Was kann ich für dich tun, Dorothea?« »Thea, bitte. Ich habe Informationen, mit denen ich nichts anzufangen weiß. Aber vielleicht interessieren sie dich. Hast du -276-
Zeit, mich zu besuchen? Ich bin in den Bergen von Bonin, in der Klause meines Vaters.« »Im Augenblick ist wegen der Tolkander hier der Teufel los. Aber vielleicht kann ich mir in den nächsten Tagen mal ein paar Stunden frei nehmen ...« »Es müßte sofort sein. Mir erscheint die Sache als wichtig.« »Wie stellst du dir das vor, Thea ...« »Sagt dir der Begriff ›Arsenal der Baolin-Nda‹ etwas? Oder: ›der zweite Bote von Thoregon‹? Oder hast du schon einmal von den Galaxien Bröhnder und Troutt gehört? Oder Tolkandier?« »Einzig Tolkandier ist mir bekannt. In welchem Zusammenhang sollen diese Namen stehen?« »Ich habe die begründete Vermutung, daß sie mit dem Pilzdom von Trokan und dem Verschwinden der drei Zellaktivatorträger in Zusammenhang stehen.« »Damit hast du meine Neugier geweckt, Thea. Aber wie kommst du zu diesen Informationen?« »Das ist eine sehr komplizierte Geschichte. Ich werde dir alles erklären, wenn du hier bist. Kannst du bald kommen, Atlan? Allein!« »Ich bin schon unterwegs.« »Ich fühle mich, als sei mir das Herz in die Hose gerutscht, Bruno. Mir war die ganze Zeit, als könne mir Allan ins Innerste blicken und mich durchschauen.« »Das ist nur mir möglich, Thea. Ich bin der Empath. Aber du warst großartig.« »Was meinst du, wird Atlan kommen, Bruno? Und was passiert dann mit ihm?« »Kummerog wird sich seiner auf spezielle Weise annehmen. Aber sei unbesorgt, Thea. Ihm wird ebensowenig ein Haar gekrümmt wie damals mir.« »Ja, ich werde mich um den Arkoniden kümmern. Ich werde mich noch heute häuten!« -277-
8. Es erwischte Atlan in dem Moment, als er das Haus betrat. Das kam nicht ganz unerwartet, in dieser überfallartigen Form aber doch überraschend. Alle hatten Atlan gewarnt, ohne Absicherung zu dem Haus in den Bergen von Bonin zu fahren. Dem Arkoniden war natürlich selbst klar, daß es sich bei Theas Einladung zu diesem Treffen um eine Falle Kummerogs handeln mußte. Aber eigentlich hatte Atlan gar keine Wahl. Er hätte natürlich den Befehl zum Sturm aufs Haus geben können. Aber das wäre Thea und Rudy Ringents sicherer Tod gewesen. Und vermutlich auch der von Kummerog und Drenderbaum. Atlan wollte Kummerog jedoch unbedingt lebend haben. Atlan hätte auch in einen SERUN gehüllt und bis an die Zähne bewaffnet zum Haus kommen können. Aber auch das hätte Kummerog vorgewarnt - man kam zu einem harmlosen Rendezvous einfach nicht als Kampfmaschine verkleidet. So blieb Atlan eigentlich gar nichts anderes übrig, als Theas Ruf zu folgen und den Ahnungslosen zu mimen. Er hatte zumindest zwei Karten im Ärmel, so niedrig sie auch sein mochten. Zum einen wußte er den Siganesen David Golgar in Rudys Haus, zum anderen war das ganze Gebiet von Armin Assiters Leuten umzingelt. »Das wird Kummerog wenig beeindrucken«, machte ich Atlan aufmerksam, »denn wenn du ihm in die Hände fällst, hat er eine zusätzliche - dazu noch prominente - Geisel. Mit dir kann er alles erpressen, denn er weiß, daß kein Cameloter jemals das Leben eines Zellaktivatorträgers aufs Spiel setzen wird.« -278-
»Ich hoffe auf einen Überraschungsfaktor, den mir der Zufall in die Hände spielt«, sagte Atlan darauf. »Wozu brauchst du eigentlich einen Logiksektor, wenn du deine Aktionen sowieso nach dem Zufallsprinzip aufbaust?« fragte ich ergeben. Aber in diesem Fall hatte Atlan gar keine andere Wahl, wollte er auf Kummerogs Geiseln Rücksicht nehmen. Er flog mit dem Ein-Mann-Gleiter, nur mit einer einfachen Kombination bekleidet, in die Berge von Bonin und landete damit innerhalb des Energiezaunes. Dorothea Ringent erwartete ihn am Eingang des Hauses und rief ihn herein. Als Atlan durch die Tür trat, sah er zuerst Kummerogs gedrungene Silhouette. Der Fremde warf etwas wie einen Umhang über ihn, und damit war es um Atlan geschehen. Kummerogs Haut breitete sich rasend schnell über seinen Körper aus, drang unter die Kleidung, stülpte sich augenblicklich über Kopf und Gesicht und verankerte sich in seinem Gehirn. Von diesem Augenblick beherrschte die Haut Atlan. Nicht einmal diese Attacke kam für mich überraschend. Ich hatte Atlan auch darauf aufmerksam gemacht, daß er zum Sklaven Kummerogs werden könnte. Kummerog hatte denselben Zustand wie damals auf Mimas erreicht, bevor er mit Bruno Drenderbaum auf der PRETTY PLAID verschwand. Das konnte zwingend logisch nur bedeuten, daß Kummerog wieder vor einer Häutung stand und der neue Träger seiner Haut von ihm beherrscht werden würde - wie Drenderbaum offensichtlich auch. Aber die Ahnung von diesem voraussichtlichen Ereignis schloß nicht auch eine wirksame Abwehr ein. Atlan war nun mal entschlossen, die Märtyrerrolle zu übernehmen, um andere Leben zu schonen. Wie vornehm - und dumm! Bei solchen Ambitionen hätte ich tatsächlich in den Ruhestand gehen können. Ein aktiver Extrasinn, der sowieso -279-
ignoriert wurde, war so überflüssig wie ein Kühlschrank am Nordpol. Atlans Auflehnung, sein physischer und psychischer Widerstand - alles war vergeblich. Die Haut hatte ihn fest im Griff. Sie konnte seinen Körper nach Belieben steuern und seinem Geist ihren Willen aufzwingen. Sie dirigierte ihn durch den Flur ins Wohnzimmer, wo Bruno Drenderbaum ihn erwartete. »Willkommen im Club der Auserwählten«, empfing ihn der frühere Sekretär von Cistolo Khan ohne Häme. Er freute sich offensichtlich ehrlich, einen Zellaktivatorträger wie Atlan als zusätzlichen Partner zu bekommen. Und er sagte es: »Zu dritt können wir die Milchstraße beherrschen.« »Das lohnt nicht«, sagte Kummerog darauf. »Die Milchstraße ist dem Untergang geweiht. Wir werden bald zu neuen Zielen aufbrechen. Es gibt so viele Galaxien, die nicht vom Hauch des Todes durchweht werden. Für diese Reise brauchen wir ein gutes Raumschiff. Und für uns ist nur das Beste gut genug. Kannst du mich hören, Atlan?« Atlan machte eckige, unkontrollierte Bewegungen wie eine Marionette. Er focht immer noch seinen vergeblichen Kampf gegen die Haut. Aber sein Widerstand begann zu erlahmen. Die Haut konnte ihm Schmerzen zufügen, an jeder Stelle seines Körpers, über jedes Organ, damit brach sie allmählich seinen Widerstand. Ich, sein Extrasinn, war die einzige Schaltstelle im Körper des Arkoniden, auf die die Haut keinen Einfluß hatte. An mir glitten Ströme von Impulsen vorbei, die geradewegs auf die verschiedenen Gehirnsektoren eindrangen, diese lähmten oder ihnen Atlans Willen konträrlaufende Befehle gaben, je nach Kummerogs Willen. Denn es war letztlich Kummerog, der seine abgelegte Haut steuerte. Sie war noch immer ein Teil von ihm - und somit wurde auch Atlan ein Teil von Kummerog. -280-
»Atlan, du wirst dich sogleich besser fühlen, wenn du deinen Widerstand aufgibst«, drang Bruno Drenderbaum sanft auf ihn ein. »Wenn du zur Kooperation bereit bist, wirst du dir wie ein neuer Mensch vorkommen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Du mußt wissen, daß ich Empath bin. Deine in Aufruhr geratenen Emotionen empfange ich als außerordentlich unangenehm. Komm endlich zur Ruhe! Dein Widerstand ist ohnehin zwecklos.« Ich hätte Atlan fast denselben Rat geben können. Aber ich hielt mich zurück. Jede Initiative hätte der Haut verraten, daß etwas in Atlan noch nicht gebrochen war. Es war vorteilhafter, dies die Haut - und somit Kummerog - nicht wissen zu lassen. »Es wäre klüger, Brunos Rat zu befolgen«, sagte Kummerog, der nun, da er gehäutet hatte, wieder ganz normal aussah. Aber er wirkte leicht geschwächt, und das war womöglich seine Achillesferse. »Bist du nun endlich zur Zusammenarbeit bereit?« »J-ja«, kam es keuchend über Atlans Lippen; der vergebliche Kampf gegen den Parasiten hatte ihn erschöpft. Ich hätte ihm geraten, seinen Körper zu schonen und danach zu trachten, wieder zu Kräften zu kommen. Irgendwann würde er seine Chance bekommen, er war ja nicht auf sich alleine gestellt. »Dann hör mal gut zu«, fuhr Kummerog fort. »Du wirst jetzt folgende Anweisungen weiterleiten: Die GILGAMESCH soll startklar gemacht und im Orbit von Camelot stationiert werden. Wir alle werden dann mit dem Shift in die Umlaufbahn des Planeten fliegen und an Bord dieses Prachtschiffes gehen. Bist du imstande, meinen Anweisungen zu folgen?« »Ich habe alles verstanden«, sagte Atlan. Es klang ruhiger, gefaßt und besonnen geradezu. Ich hielt mich noch immer heraus. »Ich spüre, daß Atlan jetzt reif ist«, sagte Bruno Drenderbaum erleichtert. Er schritt impulsiv auf Atlan zu, umarmte ihn und sagte fast feierlich: »Jetzt bist du einer von uns. Herzlich willkommen!« -281-
Atlan erwiderte die Geste. Und schon in diesem Moment merkte ich, daß nicht alles ganz so lief, wie es den Anschein hatte. Es lag an der Haut, die Atlan gefangenhielt.
Dialog 9 »Was waren das für Hinweise, die Thea mir gegeben hat, Kummerog? Ich kann mir unter einem ›Arsenal der Baolin-Nda‹ und einem ›zweiten Boten von Thoregan‹ nichts vorstellen. Aber es hat meine Neugierde geweckt.« »Du wirst alles von der Haut erfahren, Atlan. Jetzt ist keine Zeit für Erklärungen.« »Du hast auch angedeutet, daß du über die Tolkander informiert bist, Kummerog. Was weißt du über diese Invasoren?« »Sie sind die schlimmste Plage, die man sich vorstellen kann. Was jetzt in der Milchstraße passiert, ist nichts gegen das, was noch auf die Galaktiker zukommen wird.« »Was erwartet die Milchstraße?« »Die Milchstraße ist schon so gut wie tot. Ihr Galaktiker wißt es nur noch nicht.«
9. Im Nachhinein wußte Thea, daß sie sich die ganze Zeit etwas vorgemacht hatte. Die Selbstlüge platzte in dem Moment wie eine Seifenblase, als Atlan ins Haus trat und Kummerog seine Haut über ihn streifte. -282-
Die Gallertmasse breitete sich blitzschnell über den Kopf des Arkoniden aus und machte ihn zuerst handlungsunfähig. Aber bereits nach kurzer Zeit begann die Haut den Aktivatorträger zu steuern wie eine Marionette. Aus der Distanz war kaum zu merken, daß Atlan Träger einer zweiten Haut war. Nur bei genauem Hinsehen war zu erkennen, daß sein Gesicht und die Hände von einem feinen, transparenten Film bedeckt wurden, der an manchen Stellen Unregelmäßigkeiten aufwies. Insgesamt bot Atlan nun die gleiche Erscheinung wie Bruno Drenderbaum, nur daß der Arkonide noch nicht völlig im Banne von Kummerog stand. Man merkte ihm an, daß er einen inneren Verzweiflungskampf um seine Selbstbestimmung focht. Aber schließlich unterlag er und mußte Kummerog seinen Gehorsam erweisen. Atlan begab sich zum Interkom und stellte die Verbindung zur GILGAMESCH her. Er verlangte, Kalle Esprot zu sprechen, den Ertruser, der Kommandant des Zentralmoduls MERLIN war. »Kalle, stell jetzt keine Fragen«, begann Atlan in seiner befehlsgewohnten Art; nichts in seiner Ausdrucksweise deutete darauf hin, daß er nicht Herr über sich war. »Die Umstände erfordern es, daß du die GILGAMESCH komplett im Orbit von Camelot parkst. Sie muß für einen Einsatz erster Ordnung bereit und startklar sein. Ich komme mit ein paar Freunden an Bord und werde von der RICO aus das Oberkommando übernehmen.« »Bist du ganz sicher, Atlan, daß ich mich strikt an diese Befehle halten soll?« fragte der Ertruser zweifelnd. »Ohne Wenn und Aber«, sagte Atlan. »Wir bleiben in Verbindung.« Er hatte kaum richtig ausgesprochen, da unterbrach Kummerog die Verbindung. »Du hättest nicht so kurz angebunden zu sein brauchen, Atlan«, rügte der Cantrell. »Die Besatzung der GILGAMESCH könnte mißtrauisch werden.« Atlan erwiderte ungerührt seinen -283-
Blick. »Du glaubst doch nicht, daß man nicht gleich vom ersten Augenblick an gemerkt hat, daß etwas nicht stimmt. Und egal, welchen Vorwand ich gebraucht hätte, man hätte ihn als Täuschung durchschaut. Dein Vorteil, Kummerog, ist, daß niemand von den Außenstehenden die Hintergründe kennt. Und du brauchst dir keine Sorgen zu machen, man wird mir bedingungslos gehorchen.« Thea krampfte es das Herz im Leib zusammen, als sie miterleben mußte, wie völlig ohne eigenen Willen Atlan war. Er strahlte auch jetzt Autorität und eine starke Persönlichkeit aus, er wirkte wie zu seiner besten Zeit; das Tragische daran war nur, daß er seine ganze Persönlichkeit nunmehr für Kummerog einsetzte. »Du hast recht, es macht keinen Unterschied, ob man an Bord der GILGAMESCH argwöhnisch ist«, sagte der Cantrell. »Und jetzt gehen wir alle an Bord des Shifts.« »Du kannst Thea und Rudy freilassen, Kummerog«, sagte Bruno Drenderbaum. »Sie haben ihre Schuldigkeit getan und können dir nichts mehr nützen.« »Sie kommen mit«, bestimmte Kummerog ohne Nennung von Gründen. Thea umarmte instinktiv ihren Vater, und er drückte sich ebenfalls an sie. »Es wird alles wieder gut, Thea«, sagte er und zwinkerte ihr zu. Mit gesenkter Stimme fügte er verschwörerisch hinzu: »Ich bin gar nicht mehr der beknaekte Alte, den ich bis zuletzt gemimt habe. Dem Hypnoschuler sei Dank. Ich fürchte nur, daß uns das auch nichts mehr nützen wird. Aber wir sind nicht auf uns allein gestellt, Thea.« »Mach dir nichts vor, Dad! Von Atlan ist keine Hilfe zu erwarten .« »Ich meine doch nicht Atlan. Da ist noch jemand - aber Siganesen sieht man nicht.« »David Golgar ist hier?« -284-
»Pst!« Thea begann nun wieder Hoffnung zu schöpfen, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, was ein Siganese gegen Kummerog auszurichten vermochte. Aber allein seine Gegenwart machte ihr Mut. David war ihre Kontaktperson zur Außenwelt, er konnte die Einsatzkommandos über das Geschehen auf dem laufenden halten, so daß diese den günstigsten Zeitpunkt für einen Rettungsversuch ermitteln konnten. Obwohl dies jedoch auch bedeutete, daß sich David an das Versprechen, Schweigen zu bewahren, nicht gehalten hatte, war sie jetzt sehr froh darüber. Kummerog und Bruno Drenderbaum zogen ihre Schutzanzüge über, mit denen sie zu Rudys Klause gekommen waren wie lange war das schon her? Thea erschien es als eine Ewigkeit. Jeder der beiden war mit einem Kombistrahler bewaffnet. Kummerog hatte zusätzlich seine drei Gürtel mit den jeweils einem Dutzend Ausrüstungsbehältern um den tonnen förmigen Oberkörper geschnallt. Bruno trat als erster aus dem Haus. Er schaltete seinen Schutzschirm ein und vergrößerte ihn so weit, daß auch Thea und Rudy darin eingeschlossen wurden. Kummerog verfuhr mit Atlan ebenso und schloß zu ihnen auf. Dicht aneinandergedrängt, begaben sie sich zum Shift und stiegen in derselben Reihenfolge ein. »Thea, du fliegst uns zur GILGAMESCH in den Orbit!« befahl Kummerog. »Ich bin noch nie ein orbitales Andockmanöver geflogen«, sagte Thea. »Da ist weiter nichts dabei«, behauptete Atlan. »Wenn du dich der GILGAMESCH näherst, brauchst du bloß einen Leitstrahl anzufordern. Besser noch, ich übernehme das für dich. Die holen dann den Shift ein. So einfach ist das, Thea.« Thea nahm im Cockpit Platz, Rudy übernahm den Platz des Copiloten. Irgendwie machte diese Geste Thea Mut. Sie wußte -285-
aus Rudys Erzählungen, auch wenn manches davon übertrieben sein mochte, daß er in jungen Jahren ein wahrer Draufgänger gewesen war. Er machte ganz den Eindruck, daß etwas von diesem Feuer wieder in ihm erwacht war. Sie hoffte jedoch, daß er nicht zu übermütig wurde und Kummerog herausforderte. Thea startete den Shift und steuerte ihn mit Höchstbeschleunigung steil in die Höhe. Kummerog, Bruno und Atlan hatten sich in den Passagierraum begeben. Von dort hörte Thea Atlan gelegentlich mit der Mannschaft der GILGAMESCH sprechen. Plötzlich hörte sie Bruno Drenderbaum. »Irgend etwas stimmt an Bord nicht. Ich nehme eine Überlagerung durch zusätzliche Gefühlsschwingungen wahr.« »Du meinst, es ist ein weiterer Passagier an Bord?« »Nein, das wohl kaum, denn dafür sind die Signale viel zu schwach ... Jetzt empfange ich sie auf einmal nicht mehr. Seltsam.« »Hast du vergessen, daß ich einen Extrasinn habe, Bruno?« sagte Atlan. »Du hast dich von ihm narren lassen.« »Nein, nein, das war etwas anderes«, sagte Bruno. »Deinen Extrasinn nennt man auch Logiksektor. Ich habe Emotionen, also Gefühlsstimmungen empfangen.« Thea saß angespannt in ihrem Sitz und versuchte, ihre Gefühle auszuschalten. Nur nicht an David Golgar denken, keinen Gedanken an Siganesen verschwenden ... um Bruno nicht auf die richtige Spur zu führen! Im Passagierraum führte Allan wieder ein Gespräch mit der GILGAMESCH. Seine Gesprächspartnerin war nunmehr Gerine, die arkonidische Kommandantstellvertreterin seines Moduls RICO. »Alles, was ich anordne, hat genau so befolgt zu werden, Germe, auch wenn es außerhalb jeder Norm ist«, sagte er. -286-
»Wenn du den Shift in der Ortung hast, dann holst du ihn in einen Hangar der RICO. Ich komme dann mit meinen Freunden in die Kommandozentrale und übernehme die GILGAMESCH. Es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Also keinerlei Tricks. Ich erwarte absoluten Gehorsam, verstanden?« Thea hatte sich voll auf Atlans Gespräch konzentriert. Als sie wieder auf die Konsole des Cockpits sah, zuckte sie erschrocken zusammen. Dort blickte ihr aus einem Schlitz das Gesicht von David Golgar entgegen. Rudy stieß sie verschmitzt an und lachte lautlos in sich hinein. »Wollt ihr mich verraten?« raunte David erbost. »Bleibt ganz ruhig! Ich habe die Situation im Griff. Auf der GILGAMESCH ist alles für einen heißen Empfang vorbereitet. Wenn wir in den Hangar eingeflogen sind und ihr den Shift verläßt, dann versucht euch von den anderen abzusondern. Das ist alles, was ihr zu tun habt. Die Rettungskommandos werden das übrige tun.« »Was ist denn mit Atlan?« fragte Thea so leise wie möglich. »Ich glaube, er ist soweit okay, scheint sich zu regenerieren und wieder der Alte zu werden. Wie er mit seiner Kommandantstellvertreterin gesprochen hat, ist nicht sein normaler Umgangston. Er hat ihr seine Widerstandsbereitschaft zu signalisieren versucht. Haltet die Ohren steif, ich tauche wieder unter.« Der Siganese blieb von nun an unsichtbar. Die GILGAMESCH tauchte vor ihnen auf. Der riesige Pentagondodekaeder mit 2500 Meter Durchmesser und seinen zwölf Fünfeckflächen wurde von Ceres beschienen und erstrahlte in ihrem Schein wie ein kleiner Mond. Durch den Shift ging ein Ruck, als die Leitstrahlen ihn erfaßten, und eine unpersönliche Stimme forderte Thea auf; »Sämtliche Systeme sofort ausschalten!« Thea kam der Aufforderung nach, und der Shift glitt in einem Leitstrahl auf das mächtige Raumschiff zu. Die scheinbar geschlossene Fläche eines der zwölf Fünfecke füllte bereits das -287-
gesamte Blickfeld aus. Vor dem Shift tat sich eine kreisrunde Strukturöffnung auf, und nun erwies es sich, daß die Fläche des Fünfecks nur aus Formenergie bestand. Dahinter lagen die zwölf Module, bauchige Schiffskörper, die alle an das Zentralmodul MERLIN angedockt und untereinander mit Antigravschächten verbunden waren. Der Shift glitt lautlos auf einen offenen Hangar im Heck des Schiffes zu, wo auch der Kommandobereich lag. Der Shift glitt durch das Schott und setzte im Hangar auf. Thea schloß die Augen. Innerhalb der nächsten Minuten würde es sich entscheiden, ob sie eine Überlebenschance hatten oder sterben würden. »Alles aussteigen!« rief Kummerog. »Atlan, du zuerst. Deine Leute sollen sehen, daß du dich der Freiheit und bester Gesundheit erfreust. Thea! Rudy! Kommt aus der Kanzel! Bruno wird sich eurer annehmen.« Atlan verließ als erster den Shift. Ihm folgte Kummerog. Bruno drängte Thea und Rudy vor sich ins Freie. Thea betrat mit zittrigen Beinen den Boden des scheinbar verlassenen Hangars. Atlan sagte auf der allgemeinen Frequenz, so daß er überall auf der GILGAMESCH zu hören war: »Wir kommen jetzt in die Kommandozentrale. Gerine, gib uns den Weg frei! Das ist ein Befehl!« Sie durchquerten den Hangar ohne Zwischenfälle und schritten durch das Schott in den Verbindungsgang zur Kommandozentrale. Niemand stellte sich in den Weg. Nicht einmal Roboter waren zu sehen. Nachdem sie einige Meter im Korridor zurückgelegt hatten, schrie Bruno Drenderbaum: »Kummerog, das ist eine Falle! Da ist ein Siganese! Und ringsum versteckte Soldaten. Ihre Emotionen sind auf dich fokussiert!« Bruno stieß Rudy und Thea zur Seite. Noch bevor Thea auf dem Boden aufprallte, brach im Korridor ein Inferno aus. Wände -288-
barsten. Modula-Roboter und Gestalten in Kampfanzügen stürmten durch die entstandenen Breschen. Irgend jemand hob Thea hoch und flog mit ihr aus der Gefahrenzone. Hinter ihr tobte ein Feuersturm. Als sie sich im Flug umdrehte, sah sie, wie sich Bruno Drenderbaum, den schweren Kombistrahler auf Dauerfeuer eingestellt, schützend vor Kummerog stellte und so einen lebenden Schild bildete.
Dialog 10 »Kummerog, ich liebe dich mehr als mein Leben!« »Bruno, verschwinde aus der Schußlinie!« »Ich schenke es dir hiermit ...« »Bruno, du darfst nicht sterben!« »Kummerog, du hast noch Atlan ...« »Das wird mir diese Bande büßen!« »Vertraue Atlan! Er wird dich sicher aus diesem Engpaß geleiten ... Er ist du ...« »Bruno, du warst der Beste von allen. Dein Tod wird ein furchtbares Strafgericht nach sich ziehen. Atlan! Atlan! Bring uns weg von hier!«
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10. Es war ein schleichender Prozeß, den Atlan nur allmählich mitbekam. Aber irgendwann merkte er, daß der Einfluß der Haut auf ihn immer schwächer wurde. Es war während des Anfluges an die GILGAMESCH und des ersten Gesprächs mit Gerine, als er den Beweis für das Nachlassen ihrer Macht über ihn bekam. Es ist Kummerogs Wunsch, daß du noch vor dem Erreichen der Kommandozentrale Thea und Rudy tötest, signalisierte die Haut. Diesen Vertrauensbeweis mußt du erbringen. Atlan empfand bei dem Gedanken, zwei unschuldige Menschen zu töten, maßloses Entsetzen. Die Haut versuchte mit ihrem Einfluß diese Emotion ihres Wirtes zu unterdrücken. Aber es gelang ihr nicht. Atlan wurde von ihren Suggestionen, die sich um den bedingungslosen Gehorsam zu Kummerog und um Aufopferungsbereitschaft drehten, nicht mehr in den Bann gezogen. Gleichzeitig nahm er unterbewußt Informationen von ihr auf. Beim nächsten Kontakt mit seiner Kommandantstellvertreterin gab ihr Atlan bereits versteckte Hinweise, die ihr signalisieren sollten, daß er wieder im Vollbesitz seines Willens war. Man wußte auf der GILGAMESCH über Kummerog Bescheid, ohne daß dieser selbst es ahnte, und konnte sich entsprechend darauf einstellen. Atlan mußte die Mannschaft nur wissen lassen, daß er im entscheidenden Moment handlungsfähig war. Du bist frei, Atlan, meldete sich sein Extrasinn. Die Haut beginnt allmählich abzusterben. Das kann nur auf die Schwingungen des Zellaktivators zurückzuführen sein, der sie als Fremdkörper erkennt und abstößt. Es hätte wohl auch schneller gehen müssen, aber die Haut ist noch zu frisch, um sie so einfach zu besiegen. Du darfst es nur Kummerog nicht -290-
merken lassen, daß du deinen eigenen Willen zurückbekommst. Gerine dagegen ist clever genug, daß sie die Situation überblickt. Nachdem der Shift im Hangar gelandet war und sie durch den Verbindungsgang zur Kommandozentrale schritten, hatte Atlan die Haut bereits unter seiner Kontrolle. Die Signale, die sie von Kummerog empfing und an Atlan weiterleitete, waren bereits so schwach, daß Atlan sie nur noch als harmloses Gemurmel im Hintergrund seines Bewußtseins empfand. Er konnte sich voll darauf konzentrieren, Kummerog keinen Grund zum Mißtrauen zu geben. Kummerog ging dicht hinter Atlan, den Kombistrahler schußbereit. Atlan setzte voraus, daß überall entlang des Korridors seine Leute postiert waren. Seine einzige Sorge galt Bruno Drenderbaum, der den Abschluß bildete. Atlan wußte inzwischen, daß Drenderbaum Empath war. Die Tatsache, daß der Weg zur Kommandozentrale der RICO aller Voraussicht nach von entschlossenen Einsatzkräften mit eindeutigen Absichten umzingelt war, würde Drenderbaum kaum verborgen bleiben. Und genau so war es. Drenderbaum rief Kummerog eine Warnung zu. Im selben Moment brach die Hölle los. Überall stürzten Gestalten in Kampfanzügen durch die berstenden Wände des Korridors. Kummerog schoß blindwütig um sich. Atlan warf sich zur Seite, damit er nicht in der Schußbahn stand. Kummerog bot in diesen Sekunden ein deutliches Ziel. Der Schirm seines Schutzanzuges würde dem konzentrierten Beschuß aus Dutzenden Waffen nicht lange standhalten können. Atlan hoffte darauf, daß seine Leute Kummerog nicht töteten und im entscheidenden Moment die Paralysatoren einsetzen würden. Er mußte den Fremden unbedingt lebend haben. Er war der einzige, der Informationen über Perry, Bully und Alaska -291-
besaß. Nur Kummerog besaß den Schlüssel zu ihrem Schicksal und zum Pilzdom. Da tauchte plötzlich Bruno Drenderbaum auf und schützte Kummerog mit seinem Körper. Atlan konnte in dem Kampfgetöse, dem Fauchen der Energiestrahlen, dem Bersten der Wände und dem Getrampel unzähliger Stiefel nicht hören, was die beiden miteinander sprachen. Aber es war nur ein kurzer Dialog, denn Drenderbaum hauchte im Dauerfeuer der Angreifer für Kummerog sein Leben aus. Atlan merkte in diesem Moment, als Drenderbaum im Gewitter der Energiestrahlen starb, daß Gerine kein Pardon für Kummerog vorgesehen hatte. Der Fremde sollte sterben! Aber genau das mußte Atlan verhindern! Der Arkonide wußte, daß er sich auf die Zielgenauigkeit seiner Leute verlassen konnte. Er bewegte sich auf Kummerog zu, hinein in das Strahlengewitter. Als er Kummerog erreichte, hörte der Beschuß schlagartig auf. »Jetzt nehme ich Brunos Platz ein«, sagte Atlan zu dem Cantrell. »In meinem Schutz bist du sicher. Komm mit, Kummerog! Wir müssen weg von hier.« Atlans Plan war ganz simpel. Er wollte Kummerog aus der Schußlinie bringen und ihn so in Sicherheit wiegen. Der Fremde mußte annehmen, daß er, Atlan, unter dem Einfluß seiner Haut stand und ihm willenlos ergeben war. Kummerog hatte gar keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen. Er würde keinen Argwohn schöpfen, und irgendwann Atlan die Gelegenheit bieten, ihn zu überwältigen. »Du warst eine gute Wahl, Atlan«, sagte Kummerog, während sie durch eine ausgezackte, noch glühende Öffnung in der Wand sprangen. »Aber hast du so wenig Einfluß auf deine eigenen Leute, um ihnen nicht befehlen zu können, das Feuer einzustellen?« »Die Situation muß sich erst einmal beruhigen«, antwortete Atlan. »Wenn ich dich in Sicherheit gebracht habe, werde ich ein -292-
Machtwort sprechen. Meine Leute werden nichts wagen, was mein Leben gefährden könnte. Sie sollen glauben, daß ich dir ausgeliefert bin.« »Bist du das denn nicht, Atlan?« sagte Kummerog mit seltsamer Betonung. Atlan merkte, daß Kummerog stehengeblieben war und hielt ebenfalls an. Als er sich nach dem Cantrell umdrehte, sah er, daß dieser den Kombistrahler auf ihn gerichtet hatte. »Was soll das, Kummerog?« sagte Atlan irritiert. Sein Extrasinn meldete sich, aber er achtete nicht auf ihn. Er konzentrierte sich ganz auf die Situation, die plötzlich, für Atlan ohne ersichtlichen Grund, ins Bedrohliche umgeschwenkt war. Kummerog machte einen zu allem entschlossenen Eindruck. Atlan glaubte, die Mordlust aus seinen Augen glitzern zu sehen. »Was ist plötzlich in dich gefahren, Kummerog? Jetzt, wo die GILGAMESCH praktisch dir gehört!« Kummerog verzog den lippenlosen Mund zu einem schiefen Grinsen. »Dein Extrasinn ist nichts wert, wenn er dich nicht vor dieser fatalen Situation gewarnt hat, Atlan«, sagte er und unterstrich den Satz mit einem Ruck des Kombistrahlers. »Sieh dich nur an! Meine Haut hängt dir in Fetzen vom Leibe.« Ich wollte dich warnen, meldete sich nun der Extrasinn deutlicher. Aber du hast nicht auf mich gehört. Atlan sah an sich hinunter. Es war, wie Kummerog gesagt hatte. Abgestorbene Reste der Haut quollen ihm aus den Ärmeln, den Stiefelschäften und dem Halsausschnitt. Er fuhr sich übers Gesicht und streifte einen Fetzen toter Haut ab. Er hörte die suggestiven Impulse nur noch schwach und wie aus unendlicher Ferne. »Ich nehme an, dein Zellaktivator hat meine Haut abgestoßen, Atlan«, sagte Kummerog mit zornigem Bedauern. »Ich habe so etwas Ähnliches befürchtet. Und als der Kontakt zu meiner Haut -293-
zu schwinden begann, da wußte ich Bescheid. Ich mußte auf dein Spiel nur eingehen, damit du mich aus der Gefahrenzone bringst. Schade, dies hätte der Beginn einer erfolgreichen Partnerschaft werden können. Adieu, Arkonide! Du wirst vor mir sterben.« »Wir könnten doch noch ins Geschäft kommen, Kummerog«, sagte Atlan. »Glaubst du das wirklich?« Atlan sah, wie Kummerog den Auslöser des Kombistrahlers betätigte, und warf sich zur Seite, obwohl er sich keine Chance ausrechnete, dem Energiestrahl zu entgehen. Es war eine reine Affekthandlung, ausgelöst durch den Selbsterhaltungstrieb. Und noch bevor Kummerog feuern konnte, zuckte aus dem Nichts ein Blitz auf und hüllte ihn in eine wabernde Energielohe. Atlan folgte der Richtung des Energiestrahls mit den Augen und sah unweit hinter Kummerog einen Siganesen schweben. David Golgar! Den bloß drei Zentimeter großen Strahler hatte er im Dauerfeuer auf Kummerog gerichtet. Kummerogs Schutzschirm war noch stabil und hielt das Feuer ab. Er wirbelte herum. Als er erkannte, daß sein Gegner ein solcher Winzling war, stieß er einen abgehackten Schrei aus, der Belustigung vermischt mit Wut ausdrückte. Seine mächtige Waffe schwenkte in Richtung des Siganesen. David Golgar ließ sich davon jedoch nicht irritieren und hielt Kummerog durch sein Feuer weiterhin in Schach. Wenn der Cantrell es riskieren wollte zu feuern, so mußte er eine Strukturlücke in seinem Schutzschirm schaffen. Das hätte, selbst wenn er David Golgar abschoß, auch für ihn tödlich sein können. In diesem Moment tauchten die ersten Verfolger auf. Sie erfaßten augenblicklich die Situation und eröffneten das direkte Feuer auf Kummerog, Als sie den Beschuß einstellten, war von dem Cantrell nichts mehr übrig, was mit dem bloßen Auge zu sehen gewesen wäre. -294-
Atlan bedauerte Kummerogs unrühmliches Ende. Er hätte so viele Fragen an ihn gehabt und wäre bereit gewesen, für die Antworten einen hohen Preis zu zahlen. Aber es schien fast, daß Kummerog lieber in den Tod gegangen war als in Gefangenschaft. Eine Chance, doch noch etwas über das Schicksal von Perry, Bully und Alaska zu erfahren, hatte Atlan aber. Kummerogs Haut, die Atlan in absterbenden Fetzen vom Leibe hing, war noch nicht ganz tot.
Dialog 11 Was ist nur aus Perry Rhodan, Reginald Bull und Alaska Saedelaere geworden? Du hast Kummerog auf dem Gewissen. Der Cantrell war das außergewöhnlichste und wertvollste Wesen dieser Welt. Und nun tötest du auch mich. Ich verfluche dich für das, was du getan hast, Atlan! Hat das Arsenal der Baolin-Nda etwas mit ihnen zu tun? Oder der zweite Bote von Thoregon? Du wirst dich deines Triumphes nicht lange erfreuen, Atlan. Früher oder später werden die Tolkander das besorgen, was ich versäumt habe. Ich hätte dich gleich bei der Übernahme töten sollen. Ich habe gleich beim ersten Kontakt gespürt, daß mit dir etwas nicht in Ordnung ist... Aber die Tolkander werden es dir schon besorgen ! Sind die drei in der Galaxis Bröhnder oder in Troutt gestrandet? Ist eine dieser beiden Galaxien mit NGC 1313 identisch? -295-
Von mir erfährst du nichts. Ich nehme mein Wissen lieber mit in den Tod, als dir auch nur den kleinsten Hinweis zu geben. Du sollst in Ungewißheit leiden, bis dich die Tolkander kriegen. Wenn Kummerog den drei Männern ebenfalls Häute verpaßt hat, kannst du nicht hoffen, daß er in ihnen weiterlebt. Sie sind Zellaktivatorträger wie ich. Ihre Häute sind ebenfalls abgestorben. Aber sie haben dennoch keine Chance zu überleben. Zumindest das will ich dir verraten. Die Mörder von Bröhnder werden sie hinrichten - oder dies bereits getan haben. Es würde dir sicherlich Erleichterung verschaffen, dich mir anzuvertrauen. Ich könnte versuchen, dich künstlich am Leben zu erhalten. Was hatte mein Leben ohne meinen Meister denn noch für einen Sinn? Nein, ich verzichte! Aber ich sterbe in der Gewißheit, daß du bald an der Reihe bist. Du bist bereits so gut wie tot! Ihr alle seid ... vom Tode gezeichnet... Ihr ... wißt es ... nur ... noch ... nicht ...
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Robert Feldhoff
Regenten der Träume
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1. »Dies ist ein Seelenverkäufer.« »Ich möchte nun töten. Aber ich darf es nicht.« »Und was ist, A-Gidecaj, wenn wir es dir erlauben?« »Das ändert nichts.« »Der Tod braucht lediglich eine Definition. Sprache strukturiert die Wirklichkeit.« »Wovon redest du?« »Vom Tod.« »Seid ihr denn Galornen?« (Psychotaktische Gesprächskontrolle. A-Betchagas Geheimer Dienst. Auswahlverfahren ll.A.19.) »Wir haben keinen Platz«, behauptete das Wesen. Es sprach ein zischelndes, aber gut verständliches Goo-Standard, das von einem Übersetzergerät in meine Sprache übertragen wurde. »Was sollen wir tun?« fragte ich ruhig. »Das Schiff wieder verlassen?« »So wäre es mir am liebsten.« »Draußen wartet ein Killer auf uns. Für mich und meinen Freund würde das den Tod bedeuten.« Ich deutete zunächst auf Reginald Bull, der hinter mir stand, dann auf mich selbst. »Das ist mir bekannt. Es wurde mir vom Kommandanten mitgeteilt.« »Und was wurde dir sonst noch mitgeteilt?« »Daß wir dich und deinen Freund an Bord der CHIIZ befördern werden. Aber wir haben keinen Platz.« Das Wesen war nur einen Meter groß. Es gab sich Mühe, mit seiner Autorität den gesamten Schleusenraum zu erfüllen. Der Kopf erinnerte an einen terranischen Otter, er war angriffslustig nach vorne gereckt. Die Augen besaßen eine intensive rote -299-
Färbung. Sie ließen sich anscheinend nicht bewegen, denn immer wenn ich einen Schritt tat, folgte das Wesen der Bewegung mit dem ganzen Kopf. Lippen schien es nicht zu besitzen, dafür ragte aus dem Mund das Endstück einer dreigespaltenen Zunge. Im Mundraum zappelte die Zunge in kurzen, nervösen, heftigen Bewegungen hin und her. Das Wesen wirkte gleich auf den ersten Blick unsympathisch. Ich schaute zu Bully hinüber, der wohl ganz ähnliche Gedanken hegte. Aber der war klug genug, den Mund zu halten. Menschliche Begriffe wie ›otterartig‹ ließen sich auf ein fremdes Lebewesen nur in sehr bedingtem Maße übertragen, ebenso war es mit Sympathie oder Antipathie eine vertrackte Sache. Ich konnte nicht einmal mit Sicherheit behaupten, daß die Bewegungen der Zunge wirklich nervös waren, vielleicht waren sie auch ganz normal. Der Kopf pendelte auf einem zwanzig Zentimeter langen schmalen Hals, der übergangslos in den ebenfalls schlanken Oberkörper mündete. An diesem Punkt mußte ich in meinem menschlichen Bezugssystem die Tierart wechseln; der Oberkörper war nämlich eindeutig Schlange, und zwar eine von der blaugeschuppten Sorte, mit drei knochenlosen Armen in der Mitte. Die beiden Beine wiesen eine Länge von je dreißig Zentimetern auf. Sie endeten in ballenartigen grauen Füßen. Zehen ließen sich nicht erkennen. Im angestammten Ökosystem waren vermutlich keine Zehen notwendig. Das war es also: Unser Leben hing vom Wohlwollen einer aufrecht gehenden, blauen Schlange mit Otterkopf ab. Und die Schlange sagte in diesem Augenblick: »Mein Name lautet Buage. Ihr würdet mich als eine Zahlmeisterin bezeichnen. Ich organisiere den Passagierbetrieb in der CHIIZ. Taucht ein Problem auf, so wendet ihr euch an mich oder an meine Stellvertreter. Habt ihr das verstanden?« -300-
Unwillkürlich atmete ich auf. »Bedeutet das, unsere Passage ist gesichert?« »Natürlich.« Das Wesen namens Buage schien überrascht. »Der Kapitän hat es doch zugesichert.« (Erstaunlich, wie schnell man sich an fremde Mimiken gewöhnen kann: Trotz der starren Augen und der fremdartigen Physiognomie traute ich mir zu, wichtige Regungen sicher zu erkennen. Ja, es war Überraschung, was sich da im Ottergesicht spiegelte.) »Das mit dem Zahlmeister haben wir verstanden, denke ich.« Mein fragender Blick galt Bully; aber der antwortete mit einem Wink, der soviel bedeuten sollte wie: Mach du nur, Perry! »Wir wüßten allerdings gern, wie es jetzt weitergeht, Buage. Kannst du etwas darüber sagen?« »Ja. Wir haben keinen Platz.« Das Schlangenwesen wandte sich abrupt um. Es berührte einen Schalter, der verdeckt neben der einzigen Tür der Schleusenkammer lag, und öffnete den Durchgang zu einem schlecht beleuchteten Korridor. Als ich den Zustand der Wände sah, wurde mir anders. Mit diesem Raumschiff in den Weltraum? Ich beruhigte mich damit, daß wir schon in schlimmeren Kähnen geflogen waren. Aber nicht sehr oft. Bevor ich etwas sagen konnte, war Buage bereits durch die Tür nach draußen gehuscht. Dann war die Tür wieder zu. Bully fragte verdattert: »Was war das denn für ein Zeitgenosse?« »Das war Buage«, antwortete ich lakonisch. Ich drückte auf den Schalter, erzielte jedoch kein Ergebnis. »Und übrigens, Dicker, wir sind hier eingesperrt.« Die feuerrote Rakete, die den Namen CHIIZ trug, versengte mit flammenden Triebwerken den Untergrund. Im Umkreis von einigen hundert Metern schmolz der Schnee, als sich das 260 Meter hohe Raumschiff in den Himmel katapultierte. -301-
Unter uns blieben das Hochplateau, die Stadt Gaalo und der Planet Galorn zurück. Und hoffentlich auch der Wächter der Basaltebene, der uns aus einem unbekannten Grund auf den Fersen war. Mehrere Male hatte er versucht, uns umzubringen. Hätten wir den Grund gekannt, wir hätten womöglich mit ihm reden können. Aber das schien nicht möglich zu sein. So blieb nur die Flucht in den Weltraum übrig. Ich schaute aus dem Schleusenluk. Herz-FÜNF war bereits nicht mehr zu sehen. Ein intensiver orangefarbener Fleck ließ sich gerade noch erkennen. Vermutlich handelte es sich um den Drachen; ein strahlendes Loch im Boden, über das man uns jede Information verweigert hatte. Über den Wolken wurde es tiefblau, dann immer dunkler, und Sekunden später umgab uns die von Millionen Glimmerpunkten durchsetzte Dunkelheit des Weltraums. Bully drängte sich neben mich. Wir drückten uns gemeinsam die Nasen platt. »Das ist also Plantagoo«, murmelte der alte Freund. »Sieht aus wie jede andere Galaxis. Was meinst du denn dazu, Perry?« »Mmmm ... Ich möchte nur wissen, wo da draußen die Milchstraße ist.« Ein Gefühl der Wehmut überkam mich. Ich hatte das schon zu oft erlebt, gestrandet an fernen Gestaden, viele Millionen Lichtjahre von zu Hause entfernt. Es hatte oft Jahre gedauert, den Rückweg zu finden. Und eines Tages, so fürchtete ich, würde es ein Abschied für immer sein. Dann wäre Terra wirklich nur noch ein winziger Lichtpunkt. Einer unter Milliarden, der sich von den anderen durch nichts mehr unterschied. Die Rakete brachte sich mit rumpelnden Triebwerken auf Geschwindigkeit. Ich hatte so etwas seit tausend Jahren nicht mehr mitgemacht. »Impulstriebwerke«, behauptete Reginald Bull fachmännisch. Er neigte den Kopf, horchte aufmerksam, grinste ein bißchen. -302-
»Ich möchte mal behaupten, Perry, daß das hier ein sehr, sehr lahmer Kahn ist ... Beschleunigung praktisch gleich Null.« Ein heftiger Stoß fuhr durch die Schiffszelle. Den Bruchteil einer Sekunde hatten die Andruckabsorber ausgesetzt; nicht wenig für eine praktisch nicht vorhandene Beschleunigung. »Hoffentlich bleiben wir nicht im Hyperraum hängen«, sorgte ich mich. »Hyperraum?« fragte Bull. »Du glaubst doch nicht etwa, daß die Metagrav haben?« »Was denkst du denn, Dicker?« »Maximal Linearkonverter.« Bull hatte wieder diesen fachmännischen Blick. »Aber ist ja auch egal, ob wir uns im Linearraum oder im Hyperraum verflüchtigen.« »Im Linearraum verflüchtigt man sich nicht. Man fällt einfach heraus.« »Willst du die Hand dafür ins Feuer legen?« Ich lachte leise. »Nein, Bully. Lieber nicht.« Draußen tat sich rein gar nichts mehr, nur die gelbe Sonne Galornenstern verschob sich gegen die restlichen Sternbilder. Es war der einzige Anhaltspunkt, der uns die wachsende Geschwindigkeit erkennen ließ. Wir warteten mit steigender Unruhe ab. Buage hatte uns hoffentlich nicht in diesem Schleusenraum vergessen. Oder? Dachte unsere Zahlmeisterin, wir könnten den Rest der Reise so verbringen? Wo noch nicht einmal das Ziel des Fluges geklärt war? Wieder lief ein Rumpeln durch den Leib der Rakete. »He, Perry! Die werden doch wohl nicht ...« Ich erfuhr nicht mehr, was der Dicke hatte sagen wollen. Ein überaus heftiger, stechender Schmerz warf uns von den Beinen. Für einen Augenblick verlor ich das Bewußtsein. Als ich wieder erwachte, lag ich auf dem Boden. Jede Faser in meinem Körper schmerzte. Neben mir begann sich Bully zu regen. Ich war ein bißchen -303-
schneller als er; ein Umstand, der mich an lange vergangene Zeiten erinnerte, an Reisen mit der STARDUST II oder mit der INTERSOLAR. Ewigkeiten war das her. Bully richtete sich stöhnend auf. Er preßte beide Hände an die Schlafen, dann schüttelte er sich und sagte: »Hat sich was mit Metagrav oder mit Linearkonverter ... Oh, verdammt, Perry! Die fliegen hier mit Transitionstriebwerken!« Wir brachten drei weitere Stunden eingesperrt in der Schleusenkammer zu. Zu einer zweiten Transition kam es vorerst nicht. Wir hatten eine unbekannte Strecke zurückgelegt, schätzungsweise tausend Lichtjahre, dem Schock nach zu urteilen. Die ganze Zeit horchten wir auf verdächtige Geräusche, und aus den Tiefen des Raketenrumpfes wurden wir reichlich bedient. Vielleicht war das der Grund, weshalb A-Ostamul, unser Freund in der Stadt Gaalo, die Rakete ein Seelenverkäufer-Raumschiff genannt hatte. Aber nein, überlegte ich; ein Bewohner der Galaxis Plantagoo kannte sich mit allem möglichen aus, gewiß aber nicht mit terranischen Sprichwörtern. Daß der Ausdruck ›Seelenverkäufer‹ im Terranischen eine Entsprechung hatte, war reiner Zufall. Auf eine noch nicht bekannte Weise mußte die CHIIZ mit dem Handel, mit dem Kauf oder Verkauf von Seelen zu tun haben. Wie auch immer das gemeint war. Dann kündigte sich durch trippelnde Schritte von draußen Besuch an. Ein pochendes Geräusch, nicht zu definieren, und vor uns öffnete sich die Tür. Zum Vorschein kam ein Schlangenwesen mit Otterkopf. Das Wesen sah schüchtern aus. Es handelte sich nicht um Buage, sondern um ein anderes Individuum. Wir schauten uns wortlos an. »Mein Name ist Demin«, sagte das Wesen nach einer Weile. »Die Zahlmeisterin schickt mich. Ich habe die Aufgabe, für euch zu sorgen.« -304-
»Das wurde höchste Zeit, Doomin!« polterte Bull. »Wir verhungern hier ja schon.« Unter seinem Tonfall duckte sich das Wesen. Es hatte eine ganz andere Persönlichkeit als Buage, soviel ließ sich nach wenigen Sekunden sagen. »Ich heiße Demin. Bitte.« »Wie auch immer«, meinte der Dicke unbeirrt. »Wir verlangen eine Kabine oder auch zwei, dann etwas Essen und vor allem jemand. der uns Informationen geben kann.« Demin schien um ein paar Zentimeter zu wachsen. »Ich bin beauftragt, euch genau das zu verschaffen.« Bull scheuchte das Schlangenwesen vor sich her in den Korridor Ich folgte den beiden erheitert. Es war amüsant zu sehen, wie der Dicke in einer unbekannten Galaxis gezielt seine Erziehung vergessen konnte. Und doch galt es, vorsichtig zu sein. Das possierliche Bild täuschte nämlich ganz gewaltig. Ich wußte nur noch nicht, in welchem Punkt. Als die CHIIZ gelandet war, vor zwei Tagen am Rand der Stadt Gaalo, hatten 300 Passagiere das Schiff verlassen. Ich erinnerte mich an desorientierte Gesichter, Blicke ohne Ziel. Es mußte eine Gefahr geben; irgend etwas, das die Passage an Bord eines Seelenverkäufers erschwerte. Demin führte uns durch gewundene, teils ansteigende Korridore ins Innere der Rakete. Die feuerrote Farbe der Außenhaut dominierte auch innen. Wir begegneten keiner Seele. Erstaunlich, dachte ich. Hatte nicht Buage behauptet, sie hätten keinen Platz? Von innen befand sich die CHIIZ in desolatem Zustand. In der terranischen Flotte hatte es so etwas nie gegeben, auch nicht zu Zeiten der Transitionstechnik. Hätte ich diesem Kahn nicht gerade mein Leben anvertraut, der Zustand hätte zweifellos mein Mitleid erregt. Wir passierten einen Antigravschacht, schwebten zwanzig Meter aufwärts, und schon fanden wir uns in einem verfallenden -305-
Ringkorridor wieder. Alle vier Meter stand eine Tür offen. Dahinter lagen links und rechts dunkle, vom Gang aus schwach beleuchtete Kammern. Eine davon wies uns Demin zu. Das Wesen winkte uns in den Raum, berührte einen Lichtschalter, kippte an einem Sensorbord mehrere Hebel. Es wurde merklich wärmer. »So«, sagte Demin, »dies ist eure Unterkunft. Die nächste Station der Reise wird der Planet Beeters sein. Wir nehmen 340 Mocksgerger auf. Deshalb sagte die Zahlmeisterin, wir haben keinen Platz. Sobald die Mocksgerger an Bord sind, wird es in der CHIIZ sehr eng.« Reginald Bull schaute sich skeptisch in der Kabine um. Er klopfte die beiden Pritschen ab, die auf dem Boden lagen, entdeckte aber nichts, was eine Bedrohung dargestellt hätte. Und Bequemlichkeit durfte man nicht erwarten. Ich sagte: »A-Ostamul erwähnte nicht den Preis der Passage. Buage ebenfalls nicht. Was kannst du uns darüber sagen, Demin?« »Dies ist ein Seelenverkäufer«, antwortete das Schlangenwesen prompt - als sei damit alles verraten. »Das hörten wir bereits.« Bull und ich schauten Demin an. Das Schlangenwesen wurde unruhig. »Heißt das ... ihr wißt nicht, was das ist, ein Seelenverkäufer?« »Exakt.« »Aber jeder in Plantagoo weiß es.« »Wir stammen nicht aus Plantagoo«, erwiderte ich ruhig Demin erzeugte ein zischelndes Geräusch, das mein Übersetzergerät als Lachen von sich gab. »Ihr wollt behaupten, daß ihr aus einer fremden Galaxis stammt? Darauf falle ich nicht herein. Der Abgrund zwischen den Galaxien ist nicht überwindbar. - Es sei denn...«, und dieser Zusatz kam sehr nachdenklich, »... es sei denn für die Galornen.« -306-
Da hatte Demin es schon erwähnt, das offenbar größte Geheimnis dieser Galaxis. Die Galornen schienen so etwas wie die Herrscher von Plantagoo zu sein. Niemand wußte viel über sie. Und doch mußten wir einen von ihnen finden, ein Individuum namens Ce Rhioton. Ce Rhioton sollte uns gegen den Wächter der Ebene helfen. Wenn das nicht gelang, konnten wir nicht mehr auf die Brücke in die Unendlichkeit zurück. Und ohne Brücke keine Rückkehr in die Heimat. »Wir sind keine Galornen«, erklärte ich. »Wir sind Terraner.« »Nie gehört. Ich bin übrigens ein Paradea, falls ihr das auch nicht wissen solltet.« Demin lauerte gespannt. Der Ausdruck in seinem eigentlich fremden Ottergesicht warnte mich. Jetzt kommt es. »Nein«, sagte ich vorsichtig. »Wußten wir nicht.« »Dann steckt ihr in Schwierigkeiten. Die Beförderungsbedingungen eines Seelenverkäufers sind nicht verhandelbar.« »Beförderungsbedingungen?« echote Reginald Bull. »Richtig. Ihr müßt nicht bezahlen. Wir Paradea nehmen kein Geld. Ihr braucht nicht zu arbeiten. Die Arbeit an Bord eines Seelenverkäufers wird nur von Paradea getan. Manchmal bedienen wir euch sogar. Aber nachts, wenn ihr schlaft, dann gehört ihr uns.« Ich und Bully wollten wissen, wie Demin das meinte, aber das Wesen - ein Paradea, wie wir nun wußten - sagte kein Wort mehr. Demin erklärte uns ungerührt, wie die Schaltkonsole zu bedienen war, wie man in den Speisesaal gelangte und zu welchen Zeiten es dort Mahlzeiten gab. In sechs Stunden stand die Ankunft im Beeters-System auf dem Programm. Dann wollte uns Demin noch einmal zur Verfügung stehen; unter anderem, um das Ziel der Reise abzusprechen. -307-
Das Wesen mit dem Otterkopf wandte sich ab, wollte gehen da rief Reginald Bull: »Halt, Freundchen! So kommst du nicht davon! Erst sprechen wir noch über diese Beförderungsbedingungen, von denen die Rede war!« Bull wollte dem Paradea hinterher, wollte ihn aufhalten. Er kam nicht mehr dazu, weil in diesem Augenblick ein fürchterlicher Schlag alles auslöschte. Die CHIIZ hatte ihre zweite Transition ausgeführt.
2. »Es ist Schlafenszeit, Perry Rhodan,« »Wie vereinbarst du deine Handlungsweise mit dem Frieden von Plantagoo?« »Ich denke darüber nicht nach.« »Doch. Du wirst in diesem Augenblick dazu aufgefordert.« »Ich denke nicht nach.« »Dies ist ein psychotaktisches Gespräch. Du hast dich der Befragung aus freiem Willen unterworfen.« »Das ist mir bekannt.« »Denke!« »Ich ziehe den Zustand ohne einen Gedanken vor.« (Psychotaktische Gesprächsprotokolle. A-Betchagas Geheimer Dienst. Auswahlverfahren H.A. 19.) In den Anfangsjahren der interstellaren Raumfahrt, zur Zeit der Dritten Macht und etwas später, hatte man sich ausschließlich per Transition bewegt. Das Raum-Zeit-Kontinuum wurde aufgerissen, und das Raumfahrzeug stürzte durch das Loch an einen anderen, oft Tausende von Lichtjahren entfernten Ort. Das war natürlich bildlich gesprochen. Der wahre Vorgang füllte einige hundert Seiten Papier mit Formelwerk. -308-
Transitionen galten in der Milchstraße der Gegenwart als überholt, fast schon als archaisch. Transitionsraumer existierten praktisch nicht mehr. Galaktiker flogen in aller Bequemlichkeit durch den Hyperraum oder durch den Linearraum, wenn sie für einen Metagrav nicht das nötige Geld besaßen. Aber Transition? Das Verfahren hatte unter anderem den Nachteil, den wir soeben am eigenen Leib erlebten. Der entstehende Schock schädigte Hirn und Körper. Je nach zurückgelegter Distanz dauerte die Bewußtlosigkeit mal wenige Sekunden, mal bis zu einer Stunde. Trainierte Raumfahrer, die sich Transitionsschocks öfter aussetzten, entwickelten eine gewisse Widerstandsfähigkeit. Sie verdauten den Schock sehr viel schneller als andere. Bully und ich besaßen die Resistenz lange nicht mehr. Bis sie wieder aufgebaut war, brauchte es dreißig Sprünge und mehr. Mir grauste beim Gedanken; ich wünschte mir die GILGAMESCH herbei, zumindest eine Space-Jet. Selbst ein alter Frachtkahn hätte es besser getan als diese feuerrote Rakete namens CHIIZ. »Bist du wieder beisammen, Alter?« fragte ich Bull. »Klar.« Der Dicke machte einen reichlich verknitterten Eindruck. »Siehst du doch, oder?« Ich lachte, und Bully ärgerte sich so sehr darüber, daß er doppelt so schnell wie sonst auf die Beine kam. Wir traten einen Rundgang durch die Rakete an. Demin hatte nicht verboten, herumzulaufen, zu schnüffeln und uns zu informieren, wie man es auch nennen wollte. Erbarmungswürdig. Ein Fall für den Friedhof der Raumschiffe. Die CHIIZ verfügte über ungefähr 500 Kabinen. Die Vorratskammern, der einzige Speisesaal, alles das war auf die Bedürfnisse verschiedener Völker ausgelegt. Einige davon hatten wir in der Stadt Gaalo bereits erlebt. -309-
Wir begegneten verschiedenen Mitreisenden, zwei Zentrifaal, einigen Kroogh und anderen, deren Erscheinungsbild uns vollständig fremd war. Sie alle wirkten müde, als hätten sie lange nicht geschlafen, und sie hinterließen denselben desorientierten Eindruck wie die Passagiere, die das Schiff auf Galorn verlassen hatten. Die Maschinenräume der CHIIZ befanden sich im Heck, also im unteren Drittel der Rakete. Dort erhielten wir keinen Zugang. Die meisten Schotten waren verschlossen; und die, die man öffnen konnte, konfrontierten uns mit Paradea in verschmutzten grauen Kombinationen. »Hör mal, Perry«, raunte der Dicke, als wir mit wenig freundlichen Worten wieder einmal hinausexpediert wurden. »Diese Kleidungsstücke, die sie anhatten ... Hast du die genau gesehen?« »Dreckig«, antwortete ich. »Dreckig und funktional.« »Dreckig ist ein gutes Wort. Ich glaube, daß das Öl war. Öl und Schmiere in einem „flugtauglichen Raumschiff. Wahnsinn! Was für ein vorsintflutlicher Kahn. So schaffen wir's nie bis zu den Galornen. Wahrscheinlich explodieren wir vorher.« »Gemach, Dicker. Wir wechseln das Transportmittel, sobald es geht.« In den Frachtkammern lagerte kaum etwas, das den Namen Fracht verdiente. Das meiste war als Handgepäck treffend beschrieben, vereinzelt erreichten Gegenstände die Größe eines Gleiters. Gründliches Stöbern verbot sich allerdings von allein. Schnüffelei kann ins Auge gehen, besonders wenn man fremd ist. Das obere Sechstel der CHIIZ erwies sich ebenfalls als unzugänglich. Offene Schotten gab es keine, der zentrale Antigravschacht endete hier. Wir nahmen an, daß sich oben die Mannschaftsquartiere verbargen. Nach fünfeinhalb Stunden endete die Besichtigungstour. Wir begaben uns in die Kabine zurück und warteten auf Demin. -310-
Der Paradea tauchte pünktlich auf. »Wir haben das BeetersSystem erreicht«, teilte er mit. »Die Kommandantin bereitet die Landung auf Beeters vor. Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit. Wie kann ich euch dienen?« »Das wissen wir selbst nicht genau«, erwiderte ich. »Wie schon gesagt, mein Freund Reginald Bull und ich, wir stammen nicht aus Plantagoo. Uns stehen jedoch Koordinaten zur Verfügung, an denen wir Hilfe zur Heimkehr bekommen können. Und da fängt, die Frage an. Wie erreichen wir diese Koordinaten? Am besten auf dem schnellsten Weg.« Demin zögerte. Dann fragte er: »Was für Koordinaten sind das?« »Etwa 33.000 Lichtjahre von hier entfernt.. In Richtung des galaktischen Zentrums.« »Dann werden die Paradea euch nicht helfen. Die CHIIZ fliegt ausschließlich ihre Routen hier in der Northside von Plantagoo.« »Wer hilft uns dann?« »Wahrscheinlich niemand.« »Wir benötigen also ein eigenes Raumschiff?« Demin gab wieder dieses zischelnde, als Lachen übersetzte Geräusch von sich. »Das kannst du so sehen. Es ist allerdings nicht einfach, sich ein Raumschiff zu besorgen. Man könnte auch sagen ausgeschlossen. Langsam glaube ich, ihr stammt wirklich nicht, aus Plantagoo. Was, beim Drachen, stellt ihr euch vor?« Beim Drachen. Ich horchte auf. Diesen Ausdruck kannte ich. »Wo sind die Chancen denn am größten, daß wir ein Raumschiff in die Finger kriegen?« fragte Bull, die Mißgelauntheit in Person. Demin duckte sich ein bißchen. Vor dem Dicken schien er Respekt zu empfinden. »Das kommt darauf an. Unsere Route führt an vielen Orten vorbei. Wie lange bleibt ihr an Bord?« -311-
»Nicht länger als zwei Wochen«, sagte ich rasch. »Dann empfehle ich den Planeten Zentrifaal-Zentrum. Das Zentriff-System. Sechs oder sieben Stationen noch, schätze ich.« Demin brachte uns bei, wie man am Sensorbord der Kabine den aktuellen Flugplan abrufen konnte. Sechs Planeten standen darauf verzeichnet. Ich konnte die Schrift natürlich nicht entziffern, aber das Übersetzergerät war ein kleines Wunderding. Demin verfolgte voller Interesse, wie ich mir die Zeichen vorlesen ließ. Anzunehmen, daß er so etwas vorher nie gesehen hatte; das Gerät war ja nicht mehr als ein kleines silbernes Plättchen, das ich an den Hals geheftet bei mir trug. Es entstammte der galornischen Technik. Somit war es allem, was sich an Bord der CHIIZ befand, um Lichtjahre überlegen. »Zentrifaal-Zentrum also«, meinte ich. »Danke für die Empfehlung.« »Ich muß euch verlassen«, sprach der Paradea. »Wenn die Mocksgerger kommen, dann wird jedes Besatzungsmitglied gebraucht.« Wir folgten ihm nach draußen, blieben auf dem Korridor stehen, und über die Wandbildschirme sahen wir einen blauen Planeten unter uns größer werden. Die CHIIZ hielt auf einen der kleinen Kontinente zu. Eine Stadt im Dauerregen umgab die feuerrote Rakete. Über das Hauptschott ergoß sich ein vor Nässe triefender Strom humanoider Gestalten in den Rumpf. Ein bassiger, angenehm vielschichtiger Lautteppich verdrängte die Stille, die zuvor geherrscht hatte, und unter der Führung nervöser Paradea verteilten sich die Wesen auf ihre Unterkünfte. Mocksgerger wurden ein bis zwei Meter groß, schwankten zwischen fett und spindeldürr, deckten zwischen hinfällig und kräftig das ganze Spektrum ab. Das typische Mocksgerger-Gesicht war rund und besaß eine Unzahl roter Pigmentierungen, so wie -312-
Ausschlag. Die Nasen waren breitgezogen, für menschliche Verhältnisse auffällig und extrem; die Augen besaßen einen Stich ins Gelbliche, ein bißchen intensiver als die ebenfalls gelbliche Körperhaut. Gergische Körpermerkmale konnten sehr verschieden ausgeprägt sein, nicht allein die Körpergröße. Sie wiesen eine außerordentliche genetische Spannbreite auf. Da sie keinen Heimatplaneten besaßen, nannte man sie die Versprengten von Plantagoo. Und noch etwas fiel mir auf: Mocksgerger stanken. In Plantagoo galten sie als angenehme Nachbarn, als arbeitsame Gesellen, gefragte Ingenieure mit Hang zur Schwerarbeit. Trotzdem, ihr Körpergeruch war unerträglich. Die Klimaanlage der CHIIZ stieß an empfindliche Grenzen. Im Speisesaal traf sich alles, später am Tag, dazu wurde eine Mahlzeit gereicht. Drangvolle Enge herrschte. Vielleicht war es das, was Buage gemeint hatte? Bully und ich schauten uns an, dann mischten wir uns unter die Neuen. Keiner von uns empfand die Enge als gravierend. Nebenbei bemerkt, ich hatte Hunger, die fremdartigen Speisen machten einen guten Eindruck und schmeckten auch so. Daß wir einem fremden Volk angehörten, ließ uns niemand spüren. Mit Leichtigkeit kamen wir ins Gespräch. Mocksgerger erzählten gern und viel, sie hatten Gerüchte in nicht begrenzter Anzahl auf Lager. Ihre Kenntnisse über Plantagoo waren umfangreich, wie es nur bei weitgereisten Leuten der Fall sein konnte. Mittlerweile hatte die CHIIZ den freien Weltraum erreicht. Das Beeters-System blieb in Zeitlupe zurück. Ein heftiger Transitionsschock nahm uns für Sekunden das Bewußtsein, doch außer mir und Bully schien sich niemand daran zu stören. Und dann mischten sich Mißtöne in die anfangs so ausgelassene Stimmung. -313-
Die Mocksgerger, die wenigen Kroogh, ein Dutzend Plantagoo-Exoten (sowie ein Zentrifaal-Clan, den ich jetzt zum ersten Mal bemerkte), sie alle verzogen sich in die Unterkünfte. Am Rand des Speisesaals blieben fünf Paradea zurück. Auf irgend etwas lauerten sie. Aber auf was? Einer war Demin, ich erkannte ihn trotz der fremdartigen Physiognomie wieder. »Was ist hier los?« fragte ich ihn. Demin antwortete: »Es ist Schlafenszeit, Perry Rhodan.« In den Korridoren wurde das Licht gedimmt. Man konnte sehen, aber es war schummrig geworden. Die meisten Mocksgerger hatten sich zurückgezogen, aber einige spazierten ziellos durch die Gänge. Es wirkte fast so, als hielten sie sich mit aller Gewalt noch wach. Einen suchten wir uns aus, Bully hatte ihn kurz zuvor als schwatzhafte Persönlichkeit kennengelernt. Der Mocksgerger trug den Namen Pitcher. Er bewegte sich auffallend langsam, scheinbar schwebend, wie ein Schlafwandler. »Auf ein Wort«, stoppte ich das Wesen. »Wir bitten dich, uns eine Frage zu beantworten.« Im fleckenübersäten Gesicht des Mocksgergers spiegelte sich eine nervöse Spannung wider. »Das ist mir sehr lieb«, sagte er. »Jede Ablenkung kann mir nur nützen. Was wollt ihr wissen, Fremde?« »Zum Beispiel, warum du nicht wie die anderen schläfst«, antwortete ich. »Wegen der Paradea.« »Das verstehe ich nicht.« »Wieso nicht? Du fliegst mit einem Seelenverkäufer, also mußt du den Preis zahlen.« »Ich dachte, es gibt überhaupt keinen Preis.« Der Mocksgerger produzierte ein glucksendes Geräusch. Dann drehte er sich um, ließ uns stehen, setzte seine Wanderung fort. -314-
»Schlaft einfach ein«, riet Pitcher noch, indem er über die Schulter einen Blick warf. »Schlaft! Gefährlich ist es nicht, aber es kann sein, daß wir uns zur nächsten Schlafenszeit hier auf dem Korridor treffen. Bis wir alle schlafen müssen, und dann wird es um so schlimmer. So sind die Dinge.« Bully und ich schauten uns ratlos an. »Wie geht's dir, Perry?« fragte der Dicke. »Ich bin hundemüde«, gab ich zurück. »Und du?« »Kann kaum noch die Augen offenhalten.« Wir begaben uns in die Kabine zurück. Mit einemmal wirkten die Pritschen regelrecht einladend, speziell nach den Zuständen in der Stadt Gaalo, der permanenten Eiseskälte. Und hatte der Mocksgerger es nicht gesagt? Es ist nicht gefährlich. Wir zogen die Jacken und die Schuhe aus, kurz darauf lagen wir beide eingewickelt in sackartige Decken, die wir in einem Schrank gefunden hatten. Es war nicht sehr bequem, die Unterlage drückte in meinen Rücken. Ich schloß die Augen. Nicht an Seltsamkeiten denken, woran auch immer. Keine Lebensgefahr. Welche Müdigkeit in jeder Faser meines Körpers steckte, das merkte ich in letzter Konsequenz jetzt erst. Bequemlichkeit oder nicht, ich schlief wie ein Stein. Und plötzlich stand eine blaue Schlange mit Otterkopf mitten im Zimmer. Blendend hell wurde es mit einemmal. Trotz meiner Mentalstabilisierung vermochte ich keinen Finger zu regen. Meine Beine fühlten sich an, als wären sie abgehackt. Das Otterwesen näherte sich. Bist du das, Demin? fragte ich. Keine Antwort. Die drei Arme des Paradea faserten aus, sie verwandelten sich in scharfe Schneidewerkzeuge, und eines davon näherte sich meiner Kehle, während ich noch gelähmt war. Demin! Du kannst das nicht tun! -315-
Sei still, Perry Rhodan! Demin! Du sollst schweigen. Das Otterwesen kam näher. Ich begriff, daß ich so gut wie tot war. Es war ein Fehler gewesen, sich ohne Vorsichtsmaßnahme schlafen zu legen. In dem Augenblick, als die Schneidewerkzeuge mich berührten, als ein grauenvoller Schmerz mich durchzuckte, kehrte das Gefühl in meine Arme zurück. Ich riß die Fäuste hoch. Sie drangen durch den Otterkörper, als ob sie gar nicht existierten. Nein ... Nein! Gerade andersherum! Nicht ich war körperlos, sondern der blaugeschuppte Schatten vor meiner Nase. Es war ein Traum. Das böse Erlebnis endete so schnell, wie es sich herbeigeschlichen hatte. Ich richtete mich auf. Auf meiner Stirn stand kalter Schweiß, die Magengegend fühlte sich verkrampft an. Von Entspannung konnte keine Rede sein. Die Tatsache, daß ich seit ewigen Zeiten mentalstabilisiert war, hatte mir geholfen. Meine Blicke fielen auf Bully, der nebenan fast zur selben Zeit wach wurde. »He, Dicker«, raunte ich. »Wie geht's dir?« Nach einer Weile brummte er: »So wie dir, nehme ich an. Mies.« In diesem Moment pochte es heftig an der Tür. Wir zuckten zusammen, immer noch ein bißchen unter dem Eindruck der Traumgeschichte. Ich stand auf, öffnete vorsichtig den Riegel, und hereingestürzt kam in heftigster Aufregung ein Paradea. Es war Demin. Exakt jenes Wesen, das mir gerade noch im Traum erschienen war. »Das könnt ihr nicht tun!« schrie Demin in schriller Tonlage. »Das verstößt gegen die Beförderungsbedingungen!«
»Ich verlange, daß ihr die CHIIZ augenblicklich verlaßt! Geht! -316-
Verschwindet. Sterbt, implodiert oder tut meinetwegen etwas anderes, was euch gefällt, aber geht mir aus den Augen!« Ich versuchte, den nervlich aufgelösten Paradea zu beruhigen. »Augenblick mal, Demin! Worum dreht es sich denn überhaupt?« Der Paradea dachte gar nicht daran, seinen unverständlichen Redeschwall zu beenden; erst als Reginald Bull herankam, sacht seinen Schlangenkörper umfaßte und ein bißchen drückte. »Also, Demin: Du kannst uns nicht aus dem Schiff werfen, weil wir uns mitten im Weltraum befinden. Du weißt, daß uns das töten würde.« Der Paradea schien in sich zusammenzusinken. »Ja! - Ja, das stimmt«, sagte er. »Aber was soll ich denn sonst tun?« Seine Aggressivität verwandelte sich in etwas Depressives, Entmutigtes - soweit man diese Ausdrücke auf ein fremdes Wesen der Galaxis Plantagoo anwenden konnte. »Warum willst du etwas tun? Was ist denn überhaupt passiert?« »Ihr verweigert euch dem Preis. In der Nacht gehört ihr uns, den Paradea. Eure Träume sind unser Eigentum, solange ihr euch an Bord befindet. Dieser Grundsatz wird von euch nicht beachtet.« »Moment mal! Heißt das, ihr manipuliert an unseren Träumen herum? Diese Träume, die wir hatten ... Das war kein Zufall, habe ich recht? « Demin musterte uns mit finsteren Blicken. »Ihr seid wirklich nicht aus Plantagoo. Ich war naiv, habe es nicht glauben wollen. Vielleicht war das der Fehler. Jedenfalls trage ich die Verantwortung für diesen Fehlschlag.« Der Paradea wiegte seinen schlangenartigen Körper eine Weile hin und her, und wir konnten deutlich erkennen, daß er sehr intensiv über etwas nachdachte. Am Ende sagte Demin: »Ich habe mich entschieden. Ich biete -317-
euch einen Handel an. Euer Aufenthaltsrecht an Bord der CHIIZ verlängert sich, wenn ihr im Gegenzug niemandem berichtet, was hier geschehen ist. Niemand darf es wissen, kein einziger Passagier!« Ich wollte schon antworten, als mir der Dicke ins Wort fiel.» Moment mal, Perry. Wir gehen keinen Handel ein, von dem wir nicht sehen, was er bedeutet und wieso er für dich wichtig ist. Schweigen ist okay. Aber nur dann, Demin, wenn du uns rückhaltlos aufklärst, was hier vorgeht.« Der Paradea erstarrte. Das Wiegen seines Schlangenkörpers endete abrupt. »In Ordnung. Ihr sollt alles erfahren, wenn ihr schweigt. Aber nicht heute, ich habe in dieser Nacht noch sehr viel zu tun.« »Wann?« »Morgen, im Lauf des Bordtages. Eventuell auch erst übermorgen. Ich werde mit dem Kommandanten reden müssen.« »Dann sind wir dabei«, erklärte Bull. »Der Handel gilt. Was wirst du jetzt tun, Demin?« Die Antwort des Paradea lautete: » Ich kümmere mich um schlafende Seelen. Um solche, die das Bordrecht achten.« Mit diesem Seitenhieb verschwand er nach draußen. Die Tür knallte zu. Bully und ich fühlten uns keineswegs wie Verbrecher; unser gutes Gewissen stellte das beste Ruhekissen aller Zeiten dar. Wir schliefen sofort ein.
3. »Sie haben Träume voller Tod und Schmerzen.« »Wirst du töten, A-Gidecaj?« »Natürlich werde ich das. Es wird einfach passieren.« -318-
(Psychotaktische Gesprächsprotokolle. A-Betchagas Geheimer Dienst. Auswahlverfahren ll.A. 19.) Die Gesichter trugen noch die Spuren der Nacht. Sonderlich erholt wirkten sie alle nicht. Und wenn man sehr genau hinsah, dann gab es deutliche Spuren von Desorientierung. Dasselbe, was ich bei der Landung auf Galorn bemerkt hatte. Ich war mir sicher, daß es an den Paradea und ihren seltsamen Traumaktivitäten lag. Im Speisesaal herrschte drangvolle Enge. Jeder Tisch war für sechzehn bis achtzehn Personen ausgelegt; abhängig davon, welche Sorte Wesen sich gerade verköstigte. Menschen und Mocksgerger benötigten dieselbe Menge Platz, während eine andere Spezies - bärenähnliche, gemütliche Riesen - fast Halutergröße erreichte. Die nur fußballgroßen Kroogh hingegen brauchten keine Sitze. Sie fanden in den Ecken genügend Platz. Einen Tisch gab es jedoch, der niemals voll besetzt war. Jedenfalls dann nicht, wenn bestimmte Leute sich sehen ließen. Bully und ich schauten herum, über ansonsten ausgebuchte Reihen. Unsere Blicke blieben an jenem Tisch haften. Von den achtzehn Plätzen waren nur drei belegt, obwohl nebenan vier Mocksgerger im Stehen aßen. Ich näherte mich dem Tisch, den alten Freund im Schlepptau. »Wir haben die Absicht, uns zu setzen«, sagte ich kalt. Die drei am Tisch schauten auf. Ringsum verstummten die Gespräche. Drei tiefschwarze Blickleisten wandten sich mir zu. Ich hielt den Blicken stand. In den eckigen Gesichtern stand Ablehnung zu lesen. Dann aber sagte eines der Wesen, das in der Mitte: »Ich nehme das zur Kenntnis.« Was soviel bedeutete wie eine Erlaubnis. Ich setzte mich. Nebenan ließ sich Reginald Bull in wachsam gespannter Haltung nieder. -319-
Keiner von uns nahm an, daß es in der CHIIZ einen Kampf geben würde. Unsinn, nicht für eine Mahlzeit und einen Platz am Essenstisch. Vorsicht war angesagt, aber keine Todesangst. Ich beschäftigte mich mit der Tastaturleiste, mit der man geeignete Nahrung ordern konnte, und tippte eine Kombination ein, von der ich hoffte, daß sie für Menschen genießbare Nahrung lieferte. Die schwarzen Blickleisten registrierten jede Regung. Sie zogen sich wie dicke Streifen Klebeband über die flachen, extrem kantigen Gesichter der Wesen. »Nenne deinen Namen«, sagte der mittlere der drei. Er meinte eindeutig mich. »Ich bin Perry Rhodan.« »Und ich bin A-Gidecaj.« Dann herrschte wieder Schweigen. Die drei entstammten dem Volk der Zentrifaal. Aufgerichtet waren sie um einssiebzig groß, ihre Haut ähnelte in Farbe und Struktur blasigem weißem Kaugummi. Die Stirn eines Zentrifaal war doppelt so hoch wie die eines Menschen, was die Gesichter sehr klein wirken ließ. Nasen besaßen sie keine, lediglich zwei schmale Schlitze. Es war nicht so schwer, das sparsame Mienenspiel zu deuten, wenn man daran gewöhnt war. Von A-Ostamul und seinem Clan hatten wir in Gaalo eine Menge gelernt. A-Gidecaj führte in kleinen Bissen Nahrung zum Mund. Die Brocken verschwanden im unteren Kinnbereich, in einem momentan verdeckten, ansonsten stets geöffneten Spalt. Wenn er sich einen Bissen nahm, so geschah das ausschließlich mit der rechten Hand. Die Linke blieb stets unter der Tischplatte, sie war nicht für eine Sekunde zu sehen. Aber der Anblick der rechten Hand reichte auch, Jeder der sieben Fingernägel war scharf wie ein Rasiermesser. Ein Zentrifaal trug seine tödlichen Waffen jederzeit mit sich herum. -320-
»Wohin fliegt ihr?« fragte A-Gidecaj. Ich antwortete: »Nach Zentrifaal-Zentrum.« »Das ist auch unser Ziel. Wir werden uns oft begegnen.« Dann erhoben sich die drei in derselben Sekunde. Ihre hauteng anliegende schwarze Kleidung ließ sie wie leichenblasse Todesengel erscheinen; eine Tatsache, die mir schon bei A-Ostamul aufgefallen war. Ringsum wurde es wieder still. Sie empfanden alle Respekt, von den kleinen Kroogh bis zu den zahlreich vertretenen Mocksgergern. A-Gidecaj sagte: »Ich wünsche euch angenehme Träume. Auf bald.« Die drei verließen den Tisch. Dutzende von Augenpaaren folgten jedem Schritt, den sie taten, auch wenn sich alle den Anschein von Desinteresse gaben. Ein zentrifaalischer Rücken besaß zwei Wirbelsäulen statt nur einer. Es war ein Bild unbändiger Kraft und Beweglichkeit. Allein die Rücken strahlten Angriffslust aus. Die linken Hände der Zentrifaal besaßen dagegen eine irritierende Wirkung, wenn man auf den Anblick nicht gefaßt war. Im Stehen ließen sie sich schlecht verbergen. Die Hände sahen aus wie Hohlschaufeln. Niemand konnte wissen, ob sich eine Waffe darin befand - eine Granate oder ein Strahler - oder am Ende gar nichts. Die Tür zum Korridor schloß sich hinter den Zentrifaal. Der Friede von Plantagoo, überlegte ich. Eine rätselhafte Farce, die dennoch funktioniert. Bully und ich blieben ruhig am Tisch sitzen und beendeten unsere Mahlzeit, während ringsum Geschnatter losbrach. Ich wunderte mich, daß die freien Plätze nicht umgehend eingenommen wurden. Wahrscheinlich dachten nun alle, wir seien Freunde der Zentrifaal. Als wir den Speisesaal verließen, wartete draußen ein Paradea -321-
auf uns: Demin, unser Betreuer. »Was habt ihr mit denen besprochen?« fragte der Kleine in. seinem typischen zischelnden Tonfall. »Mit wem?« »Mit den Zentrifaal!« Ich lächelte und sagte: »Gar nichts, nur ein paar Worte. Wir haben uns sozusagen angefreundet. Warum fragst du das? Was ist an A-Gidecaj und seinen Leuten so besonders?« Demin schaute uns mit seinen starren Augen seltsam an. »Sie haben Träume voller Tod und Schmerzen. Es macht ihnen nichts aus, im Traum zu sterben. Sie genießen den Flug. Aber sie benötigen nicht sehr viel Schlaf, und das ist schade. Wir haben viel zu selten Zentrifaal an Bord. - Bis später, Perry Rhodan. Bis später, Reginald Bull. Wir sprechen uns noch.« Reisen mit einem Seelenverkäufer ist wie Lotterie: Den Satz hörten wir öfter, speziell an diesem Tag. Gegen Mittag erfolgte die nächste Transition, und nachdem wir uns vom Entzerrungsschmerz erholt hatten, wiesen die Sensorborde eine Reihe neuer Ziele aus. Zentrifaal-Zentrum war nicht mehr die Nummer fünf in der Reihe, sondern rückte an die zehnte Position. Die Route hatte sich aus unbekannten Gründen geändert. Uns kam das nicht gelegen. Wir wollten zurück nach Terra, zumindest zurück auf die Brücke in die Unendlichkeit, damit wir Alaska Saedelaere suchen konnten. Mittlerweile waren wir von Alaska einige Wochen getrennt. In einer solchen Zeit konnte man sich Millionen Lichtjahre voneinander entfernen. Ich hielt es für denkbar, daß wir ihn nicht mehr wiederfanden. Wir nutzten die Zeit, uns mit den Reisenden zu unterhalten. Zu keiner Zeit machten wir einen Hehl daraus, daß wir nicht aus Plantagoo stammten, daß wir auf der Suche nach einem Galornen namens Ce Rhioton waren. -322-
Bei den Mocksgergern stieß die Eröffnung auf Heiterkeit. Galornen suchen, das war dasselbe wie ein Gebirge mit den Händen abtragen, kurz: völlig ausgeschlossen. Es erwies sich als leicht, diese Wesen auszuhorchen. Speziell Pitcher, unser schlafwandelnder Freund, redete wie ein Wasserfall. Mit der Zeit ergab sich ein lückenhaftes, aber umfangreiches Bild. Plantagoo war von einer Vielzahl von Völkern bewohnt, so wie die Milchstraße, ungefähr vergleichbar. Die Verkehrssprache nannte sich Goo-Standard. Transitionstriebwerke waren kein Anachronismus der CHIIZ, sondern allgemeine Regel. Meine geheime Hoffnung zerplatzte wie eine Seifenblase. Auf ein schnelleres Schiff umzusteigen, das konnten wir vergessen. Es gab nicht die geringste Chance, mit einem Schiff aus Plantagoo in die Milchstraße zurückzufliegen. Die hiesige Technik bewegte sich auf einem Niveau, wie wir es in der Milchstraße zu Zeiten des arkonidischen Robotregenten erlebt hatten. Sprünge waren bis zu 2000 Lichtjahren möglich. So gesehen war es kein Wunder, daß man uns die ›außergalaktischen Fremden‹ nicht recht abnahm. In Plantagoo war man weit davon entfernt, den Abgrund zwischen den Galaxien zu überbrücken. Alles, was ich hörte, erinnerte mich an die eigene Vergangenheit. Man hegte Furcht vor Hyperstürmen, man verfügte über Thermogeschütze und Desintegratoren, nicht aber über Transformkanonen. Gerechnet wurde mit Positroniken, syntronische Technik war unbekannt, und geflogen wurde von Piloten aus Fleisch und Blut. Die wichtigsten Völker der Plantagoo-Northside waren an Bord der CHIIZ ausnahmslos vertreten. Es handelte sich um die Zentrifaal die Mocksgerger, die Kroogh und die Paradea. Den Zentrifaal kam aktuell die wichtigste Position zu. Sie hatten -323-
sich über zwanzig Systeme ausgebreitet. Das Ursprungs- System trug den Namen Zentriff, mit dem Planeten Zentrifaal- Zentrum. Dorthin waren wir unterwegs, ebenso A-Gidecaj und seine Leute. Am schwierigsten war es, konkrete Details über das Herrschaftssystem von Plantagoo zu ermitteln. Wie konnte es sein, daß trotz aggressiver Völker wie der Zentrifaal ausnahmslos Friede herrschte? Nach allem, was wir hörten und uns zusammenreimten, standen die Galornen dahinter. Seit urdenklichen Zeiten herrschten sie über Plantagoo. Ihre Wohnplaneten waren nicht bekannt. Wo sie heutzutage steckten, wußte beim besten Willen keiner. Als ehemaliges Zentrum kannte man lediglich Galorn, ebenfalls in der galaktischen Northside - aber dort lebten schon lange keine Galornen mehr. Ein Individuum aus diesem Volk hatten wir in der Stadt Gaalo beobachtet. Allerdings beim Sterben, ein Gespräch hatte es nicht gegeben. Seltsam nur, daß niemand sonst an Bord der CHIIZ die geringste Ahnung hatte, wie ein Galorne aussah. Es hatte wohl seit tausend Jahren keinen öffentlichen Auftritt mehr gegeben. Da die Galornen als einzige in Plantagoo über hochstehende Technik verfügten, erschienen sie den Völkern als märchenhafte, niemals faßbare Phantome. Bully und ich steckten in einer glücklichen Lage, so gesehen. Wir kannten die äußere Erscheinung - nämlich humanoid mit blauer Haut -, und wir besaßen einen Hinweis in Form von Koordinaten. Obwohl wir erst seit kurzem in dieser Galaxis weilten, waren wir die einzigen mit der Chance, deren größtes Geheimnis aufzudecken. (Wenn man die wenigen Hinweise denn als ›Chance‹ bezeichnen wollte; ich mußte zugeben, dahinter steckte eine gewisse Portion Vermessenheit.) In Plantagoo wußte man: Die Galornen handelten nach einer hochstehenden Ethik, Frieden wurde um jeden Preis angestrebt. -324-
Aber gerade das war das zweischneidige Schwert von Plantagoo. Um den Frieden zu wahren, bedienten sich die Galornen des Shiftings. Was das bedeutete? Wir hatten bereits vergeblich versucht, es zu erfahren. Mehr zu hören gab es auch diesmal nicht, nur daß man sich vor dem Shifting fürchtete und lieber Frieden hielt. Die Angst war tief verwurzelt, selbst für die stolzen Zentrifaal. Shifting war das beherrschende Trauma von Plantagoo. Aggressivität fand nur noch auf persönlicher Ebene oder unter Deckmänteln statt; denn sowenig sich die Galornen um die Völker von Plantagoo kümmerten, so sicher würden sie einen bewaffneten Konflikt bemerken und verhindern - wenn er groß genug war, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Die letzten, die vom Shifting betroffen worden waren, waren übrigens die Zentrifaal, und dieser Fall lag schon Ewigkeiten zurück. Ich erinnerte mich an die Worte des Paradea Demin: Sie haben Träume voller Tod und Schmerzen. Es macht ihnen nichts aus, im Traum zu sterben. Hin und wieder ließ sich ein Zentrifaal im Speisesaal sehen. Wir zählten insgesamt sechzehn Personen. Die Fremden aßen nicht gemeinsam. Sie beschränkten sich darauf, eine gewisse Aura von Wachsamkeit, Gefahr und Angriffslust zu verbreiten. Ob sie den Flug wirklich genossen, daran hatte ich so meine Zweifel. Ganz im Gegenteil, ich war sicher, daß sie auf etwas warteten. A-Gidecaj und seine Leute litten unter einer unerträglichen Spannung.
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4. »Paß auf daß du keinem Zentrifaal in die Arme läufst.« Nach einer Serie von Transitionen erreichten wir den Planeten Sci-Shouk. Wir hatten kaum Gelegenheit, den einen Entzerrungsschmerz zu verdauen, da kam schon der nächste an die Reihe. Sci-Shouk stellte so gesehen eine angenehme Abwechslung dar. Wir verließen das Schiff nicht. Die Bildschirme zeigten Sci-Shouk als Planeten der Abenteurer und Outlaws, die Datenbank beschrieb einen Hexenkessel voller gebremster, unterschwelliger Gewalt. Auch hier existierte eine klare Grenze: Gemordet wurde nicht, und wenn doch jemand zu Tode kam, hatte es bitte wie ein Unfall auszusehen. Selbst die Bewohner von Sci-Shouk fürchteten sich vor dem Shifting. Irgendwie den Frieden halten, das steckte den Leuten von Plantagoo in Fleisch und Blut. Gewiß steckte ein Jahrtausende währendes, konsequentes Training dahinter. Man hatte die Bewohner dieser Galaxis regelrecht konditioniert. Ich konnte mir denken, daß das immense Vorteile brachte, jedenfalls für die meisten Wesen. Aber manchen Völkern, wie zum Beispiel der Zentrifaal, kam permanenter Friede nicht entgegen. Wenn die meisten Völker unter Blutvergießen litten, so litten die Zentrifaal unter fortwährender Ruhe. Um das zu begreifen, mußte man nur die Vergangenheit der Erde sehen. In der voratomaren Zeit hatte es kaum ein Jahr ohne Krieg gegeben. Der Aufenthalt auf Sci-Shouk dauerte sieben Stunden. Währenddessen gingen zwanzig Mocksgerger von Bord. Ihre Quartiere wurden von den Paradea mit einer bis dahin nicht gesehenen Sorgfalt gereinigt. -326-
Kurz darauf wurde der Grund offenbar. Wenige Minuten vor dem Start begab sich eine neue Gruppe von Zentrifaal an Bord. Wieder waren es sechzehn Personen. Sie führten einen Sargähnlichen dunkelgrauen Behälter mit, der nicht aus der Hand gegeben wurde. Fast alle Gepäckstücke lagerten im Frachtabteil der CHIIZ; nur dieses eine wurde separat verstaut, in einer Kabine bei den sechzehn Besitzern. Die Zentrifaal ließen kein Auge von ihrem Schatz. Ich konnte beobachten, daß sie den Behälter mit großer Sorgfalt behandelten. Darin mußte sich ein Gegenstand von erheblichem Wert befinden, vielleicht waren es auch mehrere Gegenstände. Die neuen Passagiere übernahmen die gereinigten Quartiere und einen abgeteilten Flur und kamen erst einmal nicht wieder zum Vorschein. Bully und ich versuchten, Kontakt mit Demin aufzunehmen. Es war höchste Zeit für das anberaumte Gespräch - dachten wir zumindest. Aber wir stießen auf eine Mauer des Schweigens. Die Paradea, die wir befragten, kannten den Namen ›Demin‹ nicht einmal, was natürlich eine glatte Lüge war. Wir hielten uns die meiste Zeit im Speisesaal auf. Immer noch berichteten Mocksgerger und Kroogh von ihren Erlebnissen im Traum. Die Träume gehörten den Paradea, im wahrsten Sinn des Wortes. Unsere Otterschlangen richteten ein irreales Gemetzel aus Blut und Folter an, und wir konnten froh sein, daß wir davon nicht betroffen waren. Desorientierte Bewegungen wurden zur Regel. Von den freundlichen Gemütern, speziell denen der Mocksgerger, blieb nicht viel Positives übrig. Allgemein sehnte man das Ende der Reise herbei. Die jeweiligen Zielplaneten waren gängiges Thema der Gespräche. Jedes Detail konnte von Bedeutung sein; wir sogen alle Informationen auf, die zu bekommen waren. -327-
Die Neuen an Bord sorgten für eine veränderte Atmosphäre. Obwohl sie nicht zu sehen waren, produzierten sie auf eine geheimnisvolle Weise Spannung. Sie waren da, und man fühlte es. Gegen Abend kam es zu einer denkwürdigen Begebenheit: AGidecaj und seine Leute betraten den Speisesaal. Bemerkenswert war, daß sie es nicht einzeln taten, so wie gewöhnlich, sondern im kompletten Clan aus sechzehn Personen. Ihre schwarzgekleidete Schar machte riesengroßen Eindruck. Die Kroogh, die Mocksgerger und die anderen - alle starrten unverhohlen die Todesengel an. Hinzu kamen verstohlene Blicke der beiden Paradea, die sich gerade entlang der Wände drückten. A-Gidecaj und seine Leute steuerten einen Tisch in der Nähe der Wand an. Die Mocksgerger, die dort gesessen hatten, räumten wortlos ihre Plätze. Alle sechzehn Zentrifaal setzten sich so, daß sie den Raum überblicken konnten. Nicht ein einziger wandte der Tür den Rücken zu. Es handelte sich um eine ausgesprochen stille Mahlzeit. In dem Augenblick, als die Schotten beiseite fuhren - als der zweite Clan den Saal betrat! wurde sie zum unvergeßlichen Ereignis. Der zweite Clan registrierte augenblicklich, daß da bereits sechzehn andere ihres Volkes saßen. Die Neuankömmlinge zeigten ein absolut identisches Verhalten. Allerdings waren sie nicht sechzehn, sondern lediglich zwölf. Die übrigen vier mußten in der Unterkunft geblieben sein. Sie steuerten einen Tisch an, der am Rand lag, von dem aus man die anderen Zentrifaal im Auge hatte. Und dann nahmen sie schweigend ihre Mahlzeit zu sich. Keiner der Kroogh oder der Mocksgerger wagte, sich zu rühren. Ich fand es erstaunlich anzusehen, wie die Furcht sie in Starre versetzte. Kaum einer, der noch Nahrung anrührte, geschweige denn zu reden anfing. -328-
A-Gidecajs Clan verließ den Speisesaal als erster. Die Zentrifaal bewegten sich scheinbar ganz natürlich. In Wahrheit gaben sie einander die ganze Zeit Deckung. Wer im Nahkampf erfahren ist, sieht solche Dinge. Ich wechselte einen bedeutsamen Blick mit Reginald Bull. Eine Woche noch bis Zentrifaal-Zentrum. Es sah ganz so aus, als steckten wir auf unserem Seelenverkäufer in Schwierigkeiten. Demin meldete sich am Ende des Bordtages. Es wurde wieder dunkler in der CHIIZ, und die Anzahl der Gestalten, die sich ruhelos durch die Korridore drückten, war stark gewachsen. Sie fürchteten die Träume. Wir konnten es nicht ändern, jeder mußte für sich selbst sorgen. Und daß die Passage nicht wirklich gefährlich war, daß sie ›nur‹ die Seele schädigte, das wußten wir ja mittlerweile. An der Tür pochte es. Plötzlich stand der kleine Paradea in unserer Kabine, gerade als wir uns schlafen legen wollten. Keiner von uns verspürte Müdigkeit. Der Flug stellte jedoch eine Gelegenheit dar, unsere geschundenen Körper wiederaufzurichten. Wir würden es nötig haben, das ahnte ich. »Guten Abend, Perry Rhodan. Guten Abend, Reginald Bull.« Die zischelnde Stimme hatte einen bedrückten Klang, soweit man das als Mensch beurteilen konnte. »Zeit für unser Gespräch?« fragte Bully unfreundlich. »Wurde auch Zeit, du hast uns warten lassen.« »Es war notwendig. Ich mußte mit dem Kapitän reden. Eure Haltung zum Passagepreis gefährdet die komplette Mission der CHIIZ.« »Mission?« wiederholte Bully. »Ich dachte, das hier wär' ein Passagierraumer.« »Ja. Das und noch mehr.« Wir starrten Demin erwartungsvoll an, aber mehr kam nicht; also sagte ich: »Hör zu, Demin, so geht es nicht weiter. Entweder wir erhalten jetzt Aufklärung, oder wir werden unser Wissen mit den übrigen Passagieren besprechen.« -329-
Ein klassischer Schuß ins Blaue - der offensichtlich voll im Ziel saß. »Nein !« Ein hastiges Wort. »Der Kapitän wird euch lückenlos aufklären. Er bittet mich, euch den Termin auszurichten. In zwei Tagen, zum Anfang der Bordschlafphase.« Bully und ich tauschten einen Blick. »Akzeptiert«, teilte ich nach einer Weile mit. »Unter der Voraussetzung, daß du uns ein paar Kleinigkeiten jetzt schon verrätst.« »Dazu bin ich nicht befugt.« »Es handelt sich nicht um diese Todesträume, auch nicht um die Paradea.« »Sondern?« »Um die neuen Passagiere«, antwortete ich prompt. Demin starrte mich voll Ablehnung an. »Was willst du wissen?« »Zum Beispiel folgendes: Wer ist der Anführer des neuen Clans?« »Ich weiß nur, daß er den Namen A-Kestah trägt. Was sollte ein Name dir nützen, Perry Rhodan? Andere Informationen besitzt niemand in der CHIIZ.« »Was will A-Kestah an Bord?« »Ich habe keine Ahnung.« Demin wich wieder zur Tür zurück, als wolle er sich der Unterhaltung durch Flucht entziehen. »Was ist sein Ziel?« »Man sagte uns, sie wollen nach Zentrifaal-Zentrum.« Ich murmelte: »Hmm ... Dasselbe Flugziel wie A-Gidecaj. Auffällig, muß aber nichts zu bedeuten haben.« »Die meisten reisenden Zentrifaal sind nach Z-Z unterwegs«, erläuterte Demin. »Oder sie kommen gerade von dort. Das ist wirklich nichts Ungewöhnliches.« »Z-Z?« warf Bully ein. »Was soll das sein?« -330-
»Die gebräuchliche Abkürzung für Zentrifaal-Zentrum.« Wir schwiegen eine Weile, und der kleine Paradea wollte bereits den Rückzug antreten, als ich meine letzte Frage stellte: »Dieser Behälter, den A-Kestah und seine Leute mitgebracht haben, warum lagert der in einer Kabine?« »Wieso denn nicht?« wunderte sich Demin. »Weil alle anderen Frachtgegenstände im Frachtbereich stehen.« »Die Frage stellt ihr besser Buage. Sie weiß sicher Bescheid.« »Du meinst, Buage bestimmt die Frachtgebühr des Behälters? Vielleicht kennt sie dann auch den Inhalt.« »Das glaube ich nicht«, wehrte Demin ab. »Es steht einer Paradea nicht zu, Zentrifaal nach ihrem Gepäck zu befragen. Außerdem glaube ich nicht, daß die Fracht einen zusätzlichen Preis kostet.« »Nein?« »Nein. Wir würden sogar dafür zahlen, daß wir sie befördern dürfen.« »Ah.« Ich und Bully starrten den Kleinen aufmerksam an. Demin erschrak. Er hatte wahrscheinlich in dem Augenblick, als er sprach, gar nicht begriffen, was er da sagte. »Jetzt mal keinen Rückzieher«, munterte Bull den Paradea auf. »Nun ... der Behälter erzeugt die intensivsten Träume von allen. Die Kiste steckt voller Tod und Blut und Gewalt. Das ist der Grund.« Ich brauchte eine Weile, um die Information zu verarbeiten. »Das heißt, in diesem Gehäuse steckt ein lebendiges Wesen?« Der kleine Paradea wand sich hin und her. Es war ihm sichtlich lästig, das Gespräch zu führen. »Nicht unbedingt ein Lebewesen. Was sollte das wohl für eines sein? Der Behälter träumt den ganzen Tag, auch außerhalb der Schlafphasen.« -331-
»Nun gut, Demin. Das war alles.« »Ich kann jetzt gehen?« Bully grinste süffisant. »Wohin immer du möchtest. Paß auf, daß du keinem Zentrifaal in die Arme läufst.« Demin machte sich noch kleiner, als er ohnehin schon war. Paradea und Zentrifaal, das war ein zwiespältiges Verhältnis. Sie fürchteten die bleichen Todesengel, aber aus einem für mich noch nicht durchschaubaren Grund liebten sie deren Träume. Es gab ein riesiges Geschepper am nächsten Tag im großen Speisesaal. An den feuerroten Wänden klebte plötzlich der Rest einer giftgrünen Breimahlzeit. Eine Horde Mocksgerger stürzte sich auf einen einzelnen Artgenossen, der plötzlich aufgesprungen war. Es handelte sich um Pitcher, unseren Schlafwandler. »Er hat drei Tage nicht geruht«, hörte ich jemanden raunen. »Pitcher verliert die Nerven.« »Packt ihn, packt ihn doch ...!« Der Mocksgerger schlug um sich, ohne die Folgen zu beachten. Zwei komplette Tische wurden von ihm und seinen Bändigern abgeräumt. Die ganze Zeit saßen A-Kestah, A-Gidecaj und ihre Clans sich gegenüber. Den tobenden Mocksgerger schienen sie gar nicht zu beachten. Unwillkürlich fühlte ich mich an zwei lauernde Armeen erinnert: Diejenige Seite, die den ersten Fehler beging, würde von der Gegenseite überrollt. Pitcher bekam zwei heftige Schläge an den Kopf. Er brach zusammen, bewegte sich nicht mehr, befand sich offensichtlich in einer Art Bewußtlosigkeit. Die Gehirne exotischer Wesen gingen anders zu Werke als ein menschlicher Denkapparat. Bewußtlosigkeit konnte in jedem Fall etwas anderes bedeuten. Ein Mensch träumte nicht, wenn er bewußtlos war. Ein Mensch ohne Bewußtsein wäre für die Paradea ohne Wert - er konnte den Preis nicht zahlen. -332-
Bei einem Mocksgerger schien das anders zu sein. Die beiden Artgenossen Demins, die zugegen waren, stürzten sich auf den reglosen Pitcher und gerieten sichtbar aus dem Häuschen. Einer der Paradea sprach aufgeregt zischelnde Worte in sein Armbandfunkgerät, der andere folgte den Mocksgergern auf den Gang. Sie wollten Pitcher in die Kabine schaffen. Und dort, so ahnte ich, würde der arme Kerl den Preis der Passage doppelt und dreifach zahlen. Im Speisesaal kehrte Stille ein. Die Stimmung zwischen den Zentrifaal-Clans war und blieb eisig, sie griff in vollem Umfang auf die Passagiere über. Gespräche fanden kaum noch statt. Erst als die Clans verschwunden waren, einer nach dem anderen, im Rückzug sorgfältig gestaffelt, füllte sich der Raum wieder. Bully und ich hörten Erbitterung über die Zentrifaal und über die Paradea heraus. Der Vorfall mit Pitcher hatte sich schnell verbreitet. Praktisch jeder wußte es, auch wenn er die Rauferei nicht miterlebt hatte. Mit den Zentrifaal hatte man sich beinahe abgefunden. Sie waren die Stärksten und Brutalsten, und man tat gut daran, ihnen nicht in die Quere zu kommen. Nun aber standen sich zwei Clans gegenüber. Die Mocksgerger gingen davon aus, daß sie von den Paradea aufeinander gehetzt wurden. Und die kleinen Kroogh waren es, die am meisten einen offenen Zusammenprall fürchteten. In einem solchen Fall, so ihr Sprecher, würde keiner an Bord der CHIIZ ungeschoren davonkommen. Die Zentrifaal würden zwischen ihren Reihen alles zermalmen, was im Weg stand. Wir beiden Terraner wurden ebenfalls mit Mißtrauen beäugt. Man hatte es ja gesehen, wir waren gut Freund mit A-Gidecaj, also standen wir im Ernstfall auf der falschen Seite. Bevor sich eine Art Aufruhr entwickeln konnte, setzten sich die Stimmen der Vernunft durch. Dies war die Galaxis -333-
Plantagoo. Mord und Totschlag, wie von Scharfmachern befürchtet, konnten sich überhaupt nicht ereignen. Und zwar deshalb nicht, weil der Friede von Plantagoo kein Gemetzel zuließ. Man hatte seit Urzeiten nicht gehört, daß ein solcher Fall tatsächlich eingetreten wäre. Es war seltsam, aber die Mocksgerger und die anderen ließen sich von dem Argument beruhigen. Die Uhren liefen anders in dieser Galaxis. Frieden - das bedeutete mehr als nur die Abwesenheit von Krieg. Frieden war auch jahrtausendealte Tradition. Dem fühlte sich jeder, aber auch wirklich jeder verpflichtet, sonst wäre es zwischen den Zentrifaal anders zur Sache gegangen. Eine einzige Ausnahme gab es jedoch: der Wächter der Basaltebene, der mehrfach versucht hatte, uns zu töten. Warum hielt sich der Wächter als einziger nicht an das Gesetz von Plantagoo? (Was, wenn er es gar nicht kannte? - Eine kühne Idee.) Bis zum Abend durchstreiften wir das Schiff. In dieser Zeit ereigneten sich fünf Transitionen. Keine führte über mehr als dreihundert Lichtjahre. Früher hatten wir es präzise im Gefühl gehabt, spätestens seit den Flügen der STARDUST II. Erfahrene Sprungschiffer hatten die Länge einer Etappe auf wenige Lichtjahre plus/minus zuverlässig angegeben. Mancher Raumfahrer hatte gar behauptet, er spüre die Richtung, in die eine Transition führte. Aber das war dummes Zeug, Raumfahrergarn, geltungssüchtiges Gerede. Die alte Widerstandskraft kehrte in kleinen Schritten zurück. Zuletzt schaffte ich es, einen Sprung bei wachem Bewußtsein zu überstehen. Wobei man streiten konnte, ob das so wünschenswert war; immerhin bekam ich die Schmerzen ohne Einschränkung mit. Die letzte Transition an diesem Tag ereignete sich kurz vor Anfang der Schlafperiode. Bully und ich brachten sie im Stehen -334-
zu. Wir grinsten uns an, die Gesichter schmerz verzerrt, und fühlten uns in alte Zeiten zurückversetzt. Durch die feuerroten, von Verfall geprägten Korridore schlugen wir den Weg zu unseren Kabinen ein. Überall bewegten sich müde Gestalten; Mocksgerger, die dem Schlaf entgehen wollten. Wenn es so weiterging, würden einige dasselbe Schicksal wie Pitcher erleiden. »Stopp, Bully!« »Was denn?« »Einfach einen Augenblick Ruhe.« In diesem Augenblick hörte ich etwas. Ich neigte den Kopf, um präzise die Richtung zu orten, dann zeigte ich nach links. Es handelte sich um polternde Geräusche. Sie deuteten mit großer Wahrscheinlichkeit auf ein Handgemenge hin.
Wir sprinteten im Eiltempo durch einen schräg sich aufwärts windenden Gang. Vor uns lag ein Korridor von zwanzig Meter Länge. Der Korridor ließ sich in voller Länge überschauen. »Nichts«, sprach Bully enttäuscht. »Kam's nicht von hier? Was meinst du, Perry?« »Exakt. Dicker, da hast du vollkommen recht.« In einem Raumschiff läßt sich nicht immer sagen, wie sich der Schall fortpflanzt. Die CHIIZ stellte ein Paradebeispiel verwinkelter Bauart dar; dennoch war ich überzeugt davon, daß wir uns am richtigen Ort aufhielten. »Warte mal!« murmelte Bully plötzlich. Der Dicke setzte sich in Bewegung. Er näherte sich einem gelben Flecken, der in Mittelhöhe des Korridors auf dem Boden klebte. Auf den ersten Blick unterschied er sich nicht von tausend anderen, die der Bodenbelag aufwies. Etwas ist faul. Bull prüfte den Flecken mit einem Finger. »Das Zeug ist naß, Perry. Naß und warm.« Er hielt den Finger an seine Nase und -335-
schnüffelte. Ich behielt den Korridor im Auge. »Naß, warm, und es riecht komisch. Ich glaube, das ist Blut. Von einem Mocksgerger? Prügeln die sich denn? Und wenn's wirklich Blut ist..., dann wurde hier jemand verletzt. Vor ein paar Minuten, sonst wäre das Zeug kälter. Immerhin paßt das zu den Geräuschen.« Bully schüttelte ratlos den Kopf. »Fragt sich nur noch, wer hier verletzt wurde«, sagte ich. »An einen Mocksgerger glaube ich nicht. Möglich, daß wir uns die Geschichte nur einbilden.« »Es könnte verschütteter Saft sein«, spekulierte Bully. »Irgendwer hat ein paar Tassen fallen lassen oder so.« »Das würde auch den Lärm erklären.« »Alles falscher Alarm? Glaubst du das, Perry?« »Nein.« Mit zusammengekniffenen Augen schritt ich vorwärts. Zu Beginn der Schlafperiode waren die Gänge bereits abgedunkelt. Das sichtbare Signal der Paradea an ihre Passagiere: »Legt euch schlafen, bezahlt den Preis.« »Verdammt, Perry! Wo willst du hin?« »Zum anderen Ende. Da ist eine Biegung.« »Warte doch!« Bully folgte mit einem ärgerlichen Fluch. Gemeinsam erreichten wir die Kurve. Der Korridor führte in einer engen, korkenzieherartigen Schleife aufwärts. Über uns lag die Frachtsektion, aber ich wußte nicht, ob es von dieser Seite einen Zugang gab. Ich deutete auf den Boden. »Noch mehr Flecken, Alter!« Wir folgten der Spur. Es stank mit einemmal, ich wußte jedoch nicht, woran der Geruch mich erinnerte. Daß ich das bittere Aroma kannte, war klar. Aber woher? Die Schleife hatte keine Stufen. Sie führte in der Art einer Frachtrampe schräg nach oben. Es war so glatt, daß man aufpassen mußte, nicht auszurutschen. In regelmäßigen Abständen gab es Leuchtkörper, natürlich stark gedimmt. -336-
Am meisten störte mich die Tatsache, daß wir nur wenige Meter überschauten. Welche Überraschung die Rampe barg und ob es eine von der bösen Sorte war, das ließ sich nicht sagen. Man hätte auf dem über uns liegenden Abschnitt ohne Problem eine halbe Armee verstecken können. Plötzlich wurde aus vereinzelten Flecken ein Rinnsal, Gelbe Flüssigkeit kleckerte entlang der Rampenkante nach unten. Ich machte mich auf eine Entdeckung gefaßt. Die Sache mit dem verschütteten Saft war Unsinn, hundertprozentig. Blut. Ich wünschte, ich hätte eine Waffe besessen. Der Fall hatte etwas Unheimliches, einen Hauch von Horrorfilm. Was ich dann sah, das übertraf jede Annahme. In der Biegung lag ein Objekt. Ich preßte die Lippen zusammen und schluckte mehrfach. Es handelte sich um einen Körper, noch präziser: um die Reste eines Körpers. Die sirupartige gelbe Lache, verteilt über zwei Quadratmeter, barg eine mehrfach zerteilte Gestalt. Die Haut war weiß, wie Kaugummi, allerdings an zahlreichen Stellen perforiert. Es war die Leiche eines Zentrifaal. Ich verschwendete keine Sekunde an die Idee, in den Körperresten könnte womöglich Leben stecken. Der Schädel und Teile des Oberkörpers wirkten beinahe unversehrt, nur die Blickleiste des Torsos existierte nicht mehr. Auf ihren Verbleib entdeckte ich keinen Hinweis. Das Gesicht war eingedrückt. Ob die Leiche zu A-Kestahs oder zu A-Gidecajs Clan gehörte, das mußte ein Vergleich mit Fotos zeigen. Die Gliedmaßen waren zerschmettert. Arme und Beine wiesen Dutzende von offenen Frakturen auf; dort war das meiste Blut ausgetreten. Von den Fingernägeln der rechten Hand war praktisch nichts mehr übrig, jemand oder etwas hatte sie der Reihe nach abgebrochen. Die linke Hand, die mit der Zentrifaal-Hohlschaufel, war der Länge nach aufgerissen. Hätte sich darin Inhalt befunden, man hätte es jetzt gesehen. Aber da war nichts. -337-
Die Reste des dreigeteilten Rückens lagen auf dem Boden. Eine Vielzahl von Knochensplittern im Blut zeigte an, was mit den beiden Wirbelsäulen geschehen war. In Brusthöhe sowie in Hüfthöhe war der zentrifaalische Körper auseinandergerissen. Welche Kräfte dazu gehörten, konnte ich mir ungefähr ausrechnen. Ich hatte so etwas nicht oft gesehen, höchstens bei Unfällen. Wahrscheinlich hätte ein Bruchteil der Verletzungen ausgereicht, um den Tod der Person herbeizuführen. Es handelte sich aber nicht um einen Unfall. Ich bückte mich und untersuchte den Kopf. Die Sache bereitete mir größte Schwierigkeiten. Mit zusammengepreßten Lippen atmete ich so flach wie möglich. Der Geruch, den ich ganz zu Anfang bemerkt hatte, drang nun sehr intensiv an meine Nase, stammte also von der Leiche. »Sag mal, Perry ... Was machst du da?« fragte Reginald Bull gepreßt. »Ich überzeuge mich, daß das Gehirn wirklich nicht mehr am Leben ist.« »Und?« Am Hinterkopf war die Schädelplatte eingeschlagen, von einem stumpfen Gegenstand, etwa in der Größe einer Faust. Ich sagte tonlos: »Da lebt nichts mehr.« Die meisten Verletzungen stammten von einem scharfen Gegenstand oder von mehreren. Ich fühlte mich an die rechten Hände der Zentrifaal erinnert, an die sieben Finger mit den messerscharfen Nägeln. »Was jetzt, Perry?« »Ich halte es für das beste, wir geben Alarm.« Einen Augenblick schauten wir noch hilflos den Leichnam an - dann ließ ein Geräusch von hinten meinen Atem gefrieren. Und eine Stimme sagte: »Damit bin ich nicht einverstanden.« -338-
5. »Das war nur der Anfang.« »Du willst doch das Leben erhalten, A-Gidecaj. Und dennoch planst du einen Mord?« »Das ist nicht korrekt.« »Der Plan wurde geändert? Heißt es das?« »Nein. Ich plane keinen Mord. Ich plane keinen Tod. Ich plane siebzehn Tode.« (Psychotaktische Gesprächsprotokolle. A-Betchagas Geheimer Dienst. Auswahlverfahren ll.A. 19.) Hinter uns stand ein Zentrifaal. Er hatte sich genähert, ohne einen Laut zu verursachen. Am Gesicht erkannte ich A-Gidecaj. Die Erfahrung, die wir in der Stadt Gaalo mit Zentrifaal gesammelt hatten, sagte mir, daß der Clans-Führer sich im Zustand kaum beherrschter Erregung befand. Seine ruhige Stimme war nichts als Maske. Aber eine schlechte, vor uns stand eine Mordmaschine. Das Wesen war nur einssiebzig groß, kleiner als wir beide und allein, doch die Kräfteverhältnisse legten größte Vorsicht nahe. »Warte!« rief ich hastig. »Wir sind es nicht gewesen, A-Gidecaj! Wir haben nichts damit zu tun.« Der Zentrifaal sagte: »Das weiß ich. Ihr seid nur zu zweit. Ihr wärt niemals imstande gewesen, D-Koker zu verletzen.« »D-Koker?« »Eine Gefährtin meines Clans.« Er schob mich ohne sichtbaren Aufwand beiseite. Seine Fingernägel ritzten die Haut am linken Arm, nicht einmal mit Absicht, und hinterließen eine blutige Strieme. A-Gidecaj kniete vor dem Leichnam nieder Ich erinnerte mich, daß man das Geschlecht eines Zentrifaal von außen nicht bestimmen konnte. Man konnte es lediglich riechen. -339-
Es war demnach die Leiche einer Frau, die wir vor uns hatten. Jetzt wußte ich auch, woran der Geruch mich erinnerte; das bittere Aroma stammte vom Sexualhormon. Ich hatte es bei Zentrifaal-Frauen in Gaalo wahrgenommen, nur nicht so konzentriert. »Was ist hier passiert?« fragte ich A-Gidecaj. »Das geht dich nichts an!« »Ich will es wissen.« A-Gidecaj drehte sich plötzlich um und warf mir einen haßerfüllten Blick zu. »Du hältst den Mund, oder du kannst dich gleich neben D-Koker legen!« Deutlich genug, dachte ich. Der Clanführer tastete sorgfältig die zerbrochene linke Hand ab, die Hohlschaufel. Ich hatte den Eindruck, als suche er nach etwas. »D-Koker trug etwas bei sich?« fragte ich so sanft wie möglich. »Ja. Einen Embryo. Er wurde in der Hand ausgebrütet.« In meiner Kehle bildete sich ein dicker Kloß. Ich wagte nicht, ein zweites Mal nachzufragen. Die Zentrifaal-Hohlschaufel hatte etwas mit der Vermehrung der Wesen zu tun, das wußte ich, aber ich kannte nicht die ganzen Details. »Dieser Überfall - es war doch ein Überfall, A-Gidecaj? Hatte der etwas mit dem Embryo zu tun?« »Nein. Es handelt sich um einen Zufall.« »Zufall?« warf Bully plötzlich ein. »Das war ein bestialischer Mord.« A-Gidecaj drehte sich mit einer heftigen Bewegung um. »Hör zu, Dummkopf! Es gibt keine Morde in Plantagoo. Verwende irgendein anderes Wort. Oder halt deinen Mund! Du weißt nicht, woran du rührst!« Reginald Bull schwieg betreten. Vom oberen Ende der Rampe näherten sich Schritte. Kurz -340-
darauf waren wir von Zentrifaal umringt. Es handelte sich um fünfzehn Personen, also um den kompletten Rest von A-Gidecajs Clan. »Es ist besser, wenn ihr jetzt geht«, sagte der Clansführer mit dumpf tönender Stimme. »Sehr schnell! Überlegt euch, was ihr in Zukunft redet. Begeht keine Fehler!« Eine zweite Aufforderung war nicht notwendig. Bully und ich marschierten los, mit hastigen Schritten die Rampe hinab. Wir waren froh, als die scheinbar unberührte Stille der Bordnacht uns wieder umfing. Mitten in der Nacht, wir hatten uns gerade mal wieder schlafen gelegt, pochte es erneut an der Tür. Mir schwante allmählich, daß es mit der beabsichtigten Schlafkur nichts werden würde. Und wieder war es Demin, der Einlaß begehrte. »Was willst du?« fragte Reginald Bull mißgelaunt. Der Kleine duckte sich. »Ich bin wegen der Leiche hier«, antwortete er kleinlaut. Soviel Unfreundlichkeit hatte er nicht verdient. Ich hegte den Verdacht, daß Bully ihn mit Absicht so hart anfaßte: damit er Informationen lieferte, die er anders vielleicht nicht preisgegeben hätte. Bevor Bully noch etwas sagen konnte, trat ich an seine Seite und faßte ihn beim Arm. Der Dicke schwieg. Ich schob Demin ins Innere der Kabine und verschloß sorgfältig die Tür. »Wer kann uns jetzt noch reden hören?« fragte ich den Paradea. »Niemand.« »Dein Kommandant?« »Nein. Es ist wirklich nicht möglich.« »Gut.« Ich schaute den Kleinen nachdenklich an. »Von welcher Leiche sprichst du?« »Von der Zentrifaal-Leiche. Ich bin sicher, daß du davon weißt, Perry Rhodan.« -341-
»Vielleicht«, antwortete ich ausweichend. »Und wenn?« »Wir sind sicher, daß es einen Unfall gegeben hat. Und wir glauben, daß ihr etwas darüber sagen könnt.« »Warum fragt ihr nicht die Zentrifaal?« »Weil die nichts sagen würden«, antwortete Demin mit bestechender Logik. »Also gut«, sagte ich. »Wir wissen über die Leiche Bescheid. Nur mit deiner Wortwahl bin ich nicht ganz einverstanden. Das war kein Unfall, sondern das war nach allem, was ich sehen konnte, ein kaltblütiger Mord.« Mir war nicht ganz klar, aus welchem Grund, doch allein die Erwähnung des Wortes ›Mord‹ ließ den Kleinen am ganzen Leib zittern. »Das ist nicht korrekt, Perry Rhodan. Du mußt dich täuschen. Es muß ein Unfall gewesen sein. Die Paradea sind mit der CHIIZ gewiß nicht in einen Mordfall verwickelt.« »Hör zu, Demin: Sei nicht so aufgeregt. Niemand lauscht uns. das hast du selbst gesagt. Wolltest du die Wahrheit wissen oder nicht?« Darüber dachte der Kleine im Ernst eine ganze Weile nach. Dann sagte er: »Bitte sprich weiter.« »Diese Zentrifaal, D-Koker war übrigens ihr Name, wurde regelrecht zerstückelt. Ich gehe davon aus, daß sie von mehreren Artgenossen zugleich angegriffen wurde.« »Und weiter?« »Mehr passierte nicht. Der Angriff endete anscheinend erfolgreich. Ich glaube kaum, daß D-Koker sich selbst so zugerichtet hat.« Ich schaute den Paradea forschend an. »Also gut, Demin: Jetzt würde mich bloß noch interessieren, wie ihr von der Leiche erfahren habt.« »Durch einen Zufall. Eine Kamera zeigte uns, wie zwei Zentrifaal den Leichnam beseitigten. Sie benutzten eine Konverteranlage, die zum bordeigenen Recycling gedacht ist, für -342-
Speisereste und Abfall. Die Leiche war jedoch zu groß. So wurde die Maschine beschädigt. Daraufhin aktivierte sich automatisch die Kamera, in der technischen Sektion wurde ein Schaden-Signal ausgelöst .« »Und dann?« »Die zwei haben den Körper komplett zerlegt und in einer anderen Anlage beseitigt.« Ich konnte sehen, wie Bully im Gesicht einen grünlichen Stich annahm. Demin pflegte einen völlig nüchternen Umgangston. Was er aber sagte, bedeutete für Menschen eine Ungeheuerlichkeit. »Zur Aufklärung haben wir Infrarot-Spürer eingesetzt«, berichtete Demin weiter. »Wir besitzen an Bord der CHIIZ zwei Geräte, allerdings nicht sehr leistungsstark. Es gelang uns, mehrere Fährten zurückzuverfolgen. Das war sehr schwer. Die erste gehört D-Koker. Die zweite gehört einigen Zentrifaal aus A-Kestahs Clan. Nummer drei gehört dir, Perry Rhodan, und deinem Freund Reginald Bull. Und die vierte ordnen wir A-Gidecaj und seinen Leuten zu.« »Ich verstehe«, warf Reginald Bull plötzlich ein. »Nummer eins ist tot, Nummer zwei und Nummer vier gehören den Zentrifaal. Die kannst du nicht befragen. Als Nummer drei bleiben wir. Die logische Wahl.« »Das ist richtig. Ich danke für die Auskunft. Auch wenn es nicht sehr viel war.« »Ist das jetzt alles?« »Natürlich. Was sollte ich weiter fragen?« Schon wollte sich der kleine Paradea wieder entfernen da bremste ihn Bully: »Nicht so hastig! Wir verlangen eine Gegenleistung. Sobald sich weitere Zwischenfälle ereignen, wünschen wir von dir persönlich informiert zu werden. Was es auch ist, ganz egal.« -343-
Demin hob überrascht den Otterschädel. Seine starren Augen saugten sich förmlich am Gesicht Bullys fest. »Warum sollte es denn weitere Zwischenfälle geben?« »Ich fasse es nicht. Bist du so naiv?« Der Rothaarige schüttelte den Kopf. »Du glaubst doch nicht, es ist vorbei mit dem Morden? Daß die Zentrifaal aufhören, wenn sie einmal angefangen haben? Es tut mir leid, Demin, aber das war nur der Anfang.« Der Kleine richtete seinen Schlangenkörper auf, so hoch er konnte. »Ihr habt von den Zuständen in Plantagoo keine Ahnung. Es gibt kein Morden. Du redest Unsinn, Reginald Bull.« Sprach's und war verschwenden; nur die Kabinentür klapperte noch. Der Dicke öffnete den Mund, sagte aber kein Wort mehr. Unwillkürlich mußte ich grinsen. »Mit so was hast du nicht gerechnet, stimmt's?« »Stimmt.« Bull klappte den Mund wieder zu. »Unser Kleiner hat ja richtig Rückgrat. Schade nur, daß er so böse im Irrtum ist.« Innerhalb kürzester Zeit erwies sich die Prophezeiung als wahr. Schneller noch als angenommen, denn der Bord-Interkom summte ein Rufzeichen, bevor die Schlafphase zu Ende war. Am anderen Ende erschien Demin. Der Paradea zischelte aufgeregt: »Schnell! Ich will, daß ihr beide kommt.« »Was ist passiert?« »Kommt bitte.« Er nannte Deck und Sektion, dann war der Kontakt abgebrochen. In einem kleinen Schiff wie der CHIIZ erreicht man jeden Ort in zehn Minuten. Bully und ich zogen unsere Sachen über, dann legten wir so rasch wie möglich die wenigen Meter zurück. Schon aus der Entfernung hörten wir Stimmengewirr. Unsere Übersetzergeräte produzierten ein unverständliches Gemenge aus Worten, alle ohne Zusammenhang. Aufgeregte Mocksgerger rannten vorbei, durch die -344-
tuschelnden Trauben schlängelten sich Paradea, sogar Buage erkannte ich für einen Augenblick, bevor die Zahlmeisterin nach vorn entschwand. »Laßt uns durch. Laßt uns bitte passieren!« Wir verschafften uns mit Knüffen Respekt, wo es nicht mehr weiterging. Bis zu jener Stelle, die Demin beschrieben hatte, waren es nur wenige Meter. Ich starrte in schockierte Mienen, egal, wen ich ansah. Mocksgerger galten als sensible Naturen. Es war leicht, sie aus der Fassung zu bringen, doch was ich hier bemerkte, ging über ein simples ›aus der Fassung bringen‹ sehr weit hinaus. Der Grund war ebenso einfach wie erschreckend. In einer Gangkreuzung lag der Leichnam eines Zentrifaal. Die Gestalt war ähnlich zugerichtet wie D-Koker, in der Art des Todes unterschieden sich beide Fälle kaum. Diesmal verzichtete ich darauf, die Leiche zu untersuchen. Niemandem war gedient, wenn ich mir das noch einmal antat. »Schon wieder ein Unfall«, zischelte plötzlich eine Stimme neben mir. Sie gehörte Demin, und sie klang sehr leise und betroffen. »Ihr hattet recht.« »Leider. Waren schon Zentrifaal da?« »Noch nicht. Der Kommandant läßt die Clans soeben benachrichtigen.« »Ich gehe davon aus, daß sie ohnehin Bescheid wissen.« Bully schaute mit zusammengekniffenen Augen herüber. Wir hegten denselben Gedanken. Als Mörder kamen nur A-Gidecaj und sein Clan in Frage. Und ich war beinahe sicher, daß das Opfer zum Gefolge von A-Kestah gehörte. Da bemerkte ich ein Detail, das mir im ersten Schauder entgangen war. Einige Meter weiter, von einer Biegung halb verborgen, lag am Boden ein zweiter Körper. Ich faßte Bull am Ärmel. »Dicker, komm mit.« -345-
Wir kämpften uns durch, bis wir vor der Leiche eines Mocksgergers standen. Die humanoide Gestalt lag auf dem Rücken. Ihr Gesicht war schwer zu erkennen. Wesen können im Tod einen erstaunlich veränderten Anblick bieten, wenn die Muskulatur erschlafft und wenn Körperkreisläufe aufhören zu funktionieren. »Kennen wir den?« fragte Bull. »Ich glaube, das ist Pitcher«, antwortete ich. »Unser Schlafwandler, Aber sicher bin ich nicht.« Die Leiche des Mocksgergers bot einen relativ unversehrten Eindruck. Durch die Mitte seines Körpers hatte sich ein dicker, mit scharfen Zacken bewehrter Gegenstand gebohrt. Die Wunde war ausgezackt, sie hatte stark geblutet, doch es war nur eine einzige. Ich nahm an, daß ein Zentrifaal ihn mit der rechten Hand getötet hatte. Im Vergleich zu D-Koker und zur zweiten Leiche eine ›saubere‹ Sache; kein langes Leiden, kein Haß, vermutlich eine nüchterne Exekution. Das machte es nicht besser, aber es warf ein bestimmtes Licht auf die Dinge, die sich an Bord der CHIIZ ereigneten. Irgend etwas passierte zwischen diesen Zentrifaal. Bully erschauerte. »Stell dir mal vor, Perry, daß der arme Kerl gar nicht an den Dingen beteiligt war, die hier laufen. Vielleicht befand er sich einfach nur zufällig in der Nähe.« »Das halte ich absolut für denkbar«, stimmte ich zu. »Ich nehme an, er wurde Zeuge des Mordes. Die Leute an Bord haben eine unüberwindliche instinktive Scheu, wenn Gewalttaten ans Licht kommen sollen.« »Offenbar nicht genug.« »Da hast du recht«, gab ich zu. »Aber sieh sie dir an, alle miteinander. Diese Betroffenheit ist echt. Die Mocksgerger haben so was nie erlebt.« »Und die Paradea?« »Die träumen zwar davon. Aber das ist etwas völlig anderes als die Realität. Wir dürfen die aggressiven Zustände von Gaalo -346-
nicht für ganz Plantagoo voraussetzen. Gaalo war ein Sonderfall. Hier draußen geht es sehr viel zarter besaitet zu.« »Nicht an Bord der CHIIZ«, meinte Bully düster. Er deutete auf Pitchers Leiche. »Da hätte auch einer von uns beiden liegen können, Perry. Ist dir das bewußt?« »Deutlichst. Wenn in diesem Schiff dermaßen die Regeln verletzt werden - wies ja wohl der Fall ist! dann geht etwas von erheblicher Bedeutung vor.« »Ich sehe das genauso. Drei Tote haben wir jetzt. Dabei bleibt es nicht, wetten?« In diesem Augenblick traten sechs Zentrifaal auf den Plan. Sie schoben nicht, sie brauchten auch nicht zu rempeln, sondern wurden durch eine Gasse unaufgefordert an den Tatort geleitet. Unter den schwarzgekleideten Todesengeln befand sich A-Kestah. Das Opfer gehörte zu seinem Clan. Eine Regung zeigte keiner der sechs. Lediglich A-Kestah kniete einen Moment nieder, verharrte für Sekunden, wischte sich in einer nicht deutbaren Geste über die Augenleiste. Der Clanführer gab einen kurzen Wink. Wortlos transportierten sie den Körper ab, genauer: das, was noch von ihm übrig war. Niemand getraute sich, ein Wort an sie zu richten. Bully wollte das ändern, doch ich hielt ihn am Arm zurück. Wir hatten schon einmal Glück gehabt, bei A-Gidecaj angesichts der ermordeten Frau, und ich sah keinen Sinn darin, das Geschick herauszufordern. So erfolgte der Abtransport in feierlicher Stille. Erst als die Zentrifaal nicht mehr zu sehen waren, brach das Geschnatter von neuem los. Mocksgerger gehörten zu den Rassen, die leicht vom Hundertsten ins Tausendste fielen. Wir hörten erstaunliche Dinge. Ihr Vorwurf richtete sich nicht gegen die Zentrifaal; im Gegenteil, allgemein wurden die Paradea für die sogenannten Unglücksfälle verantwortlich gemacht. -347-
Demin und seine Artgenossen waren schuld, hieß es. Sie waren es, die die Zentrifaal zum Wahnsinn trieben. Der Passagepreis sei viel zu hoch, es sei unmöglich, Schlaf zu finden. Wacklige und aggressive Naturen, wie die Zentrifaal welche waren, hielten dem nicht im notwendigen Maß stand. Und das schlimmste: Ich konnte nicht mit Sicherheit behaupten, daß sie im Unrecht waren. Was, wenn der Fehler wirklich bei den Otterschlangen lag?
6. »Träume sind ein angemessenes Behältnis.« Im Speisesaal trat die neurotische Spannung am deutlichsten zutage. A-Gidecaj und A-Kestah versammelten ihre Clans zur Mahlzeit, zeitgleich, wie es sich gehörte. Sie blockierten zwei Tische, an entgegengesetzten Enden des Raums, und ließen einander nicht aus den Augen. A-Kestahs Clan zeigte sich niemals vollständig. Von den mittlerweile nur noch fünfzehn Personen fehlten immer mindestens vier. Ich hegte den Verdacht, daß sie mit der Bewachung des mysteriösen Behälters befaßt waren. Es gab keine Ausfälle, kein böses Wort. Bedachte man die Todesopfer, konnte man die Zustände als gesittet bezeichnen. Die Passagiere reagierten unterschiedlich, einige mit Schweigen, andere mit nervösem Geflüster. Wieder andere kehrten um, wenn sie der Zentrifaal angesichtig wurden. Bull und ich irrten durch die Unterkünfte. Einerseits war das mit Risiko verbunden, mit ein bißchen Pech passierte uns dasselbe wie dem armen Pitcher. Jedoch: Welchen Sinn machte es, den Kopf in den Sand zu stecken? Wir waren keine Typen für Vogel-Strauß- Politik. -348-
Die Korridore waren belebt. Man hatte ständig Begegnungen, mehr oder weniger an jeder Ecke. Und die ganze Zeit hagelte es Blicke voller Argwohn. Speziell ein Vorfall blieb uns im Gedächtnis haften: Wir hörten wiederum Geräusche, es war ein Handgemenge, dieses Mal mit vielen schnellen Schritten und dumpfem Geschrei. Ein Dutzend Mocksgerger drängelten den Gang entlang. Keiner würdigte Bully oder mich eines Blickes. Und hinter der nächsten Ecke fanden wir einen Paradea, der sich gerade wieder vom Boden aufrappelte. Das Wesen trug einen grauen verschmierten Overall, es gehörte zur technischen Mannschaft. Sein schmaler Schlangenkörper wies mehrere Verfärbungen auf, die ich für Wunden hielt. Einer der drei Arme, die in der Körpermitte entsprangen, war zweifelsohne beschädigt. (Von einem Bruch zu sprechen wäre nicht ganz korrekt gewesen, da ein paradischer Arm keine Knochen besaß, sondern nur stützende Knorpelmasse.) Der Paradea gab winselnde Geräusche von sich. »Warte! Wir kommen schon!« Bevor wir zu Hilfe eilen konnten, war das Wesen bereits aufgesprungen und davongerannt. Der Paradea war verprügelt worden. Sich mit den Zentrifaal zu befassen, dazu fehlte unseren Mitpassagieren der nötige Mut. Oder die nötige Todesverachtung, überlegte ich. An diesem Tag ereignete sich nur eine einzige Transition. Wir erreichten ein fremdes System, um neue Passagiere aufzunehmen. Im Unterlichtflug näherten wir uns dem zehnten von zwanzig Planeten. Die Landung wurde für das Ende der folgenden Schlafperiode angekündigt. Aber das würde die Dinge nur komplizieren - wenn es an Bord der CHIIZ nochmals enger wurde. Die Zentrifaal und das Gros der Mocksgerger blieben ohnehin an Bord, ihr Ziel war das Zentriff-System. -349-
Von der Kabine aus checkten wir die Route des Seelenverkäufers. »Mist!« rief der Dicke. »Das ist ja plötzlich ein völlig neuer Kurs.« Im ersten Augenblick glaubten wir an eine weitere Verlängerung, und Bully stöhnte bereits; die Aussicht auf weitere Etappen, auf weitere Zwischenziele wirkte deprimierend. Aber diesmal kam es anders. Die Zahl der Planeten auf unserer Route hatte sich verringert. Es waren nur noch drei statt fünf. Bully testete eine ganze Weile an Bord herum, dann bekam er heraus, wie man den Kurs als dreidimensionale Linie darstellen konnte. »Schau mal, Perry! Das hier ist wirklich interessant.« Es erwies sich, daß die gestrichenen Zwischenziele den Flug nach Zentrifaal-Zentrum entscheidend verkürzten. Mit dem neuen Kurs gewannen wir zwei Tage. Das war ganz in unserem Sinn. »Sieht so aus«, meinte er, »als hätten die Paradea ihre Lektion gelernt. Sie wollen ihre gefährliche Fracht loswerden, und zwar so schnell wie möglich. Möchte nur wissen, wieso sie dann nicht direkt Z-Z ansteuern.« »Ich nehme an, sie müssen zwischendurch Treibstoff und Proviant ergänzen. Das hier ist nicht die GILGAMESCH.« Gegen Abend begaben wir uns in die Kabine zurück. Kaum daß im Schiff ein wenig Ruhe eingekehrt war, tauchte bereits Demin auf. »Es ist soweit«, zischte der Kleine. »Der Kommandant erwartet euch.« Demin führte uns nach oben, in Richtung Mannschaftsunterkünfte. Wir begegneten ungewöhnlich wenigen Schlafwandlern; es schien, als sei so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm eingekehrt. »Hast du eine Erklärung dafür, Demin?« fragte ich. »Wieso die plötzliche Stille in der CHIIZ?« »Wir fordern derzeit den Passagepreis nicht mehr. Es ist uns zu gefährlich geworden. Dieser Flug ist ein schreckliches Zuschußgeschäft.« -350-
»Das heißt, keine Belästigung mehr in den Träumen?« »Nein.« »Vielleicht solltet ihr es offiziell bekanntgeben. Dann würden die Passagiere euch nicht mehr verprügeln.« »Vielleicht. Aber dies ist nur ein Flug von sehr vielen, Perry Rhodan. Es darf sich in Plantagoo nicht herumsprechen, daß die Paradea auch umsonst befördern. Dann müßten wir es immer tun.« »Ich verstehe.« Wir erreichten die Trennlinie zwischen den Passagier- und den Mannschaftssektionen. Die Paradea behielten sich das obere Sechstel ihres Schiffes vor. Ich hätte gewettet, daß kaum ein Fremdwesen jemals die Grenze überschritten hatte. Demin stellte sich vor eines der Schotten. Es gab keine Bedienungselemente. Von der anderen Seite wurde eine Überprüfung vorgenommen, welcher Art auch immer, und nach einigen Sekunden Wartezeit fuhren vor unserer Nase die beiden Hälften beiseite. Dahinter kam eine gelbe Treppe zum Vorschein. Sie war kaum beleuchtet. Ich erkannte ein Stadium des Verfalls, das die schlechten Zustände im Passagiersektor noch übertraf. »Kommt!« Wir folgten Demin die Treppe hinauf. Hunderte von Stufen passierten wir, alle nur zehn Zentimeter hoch, was den kurzen Paradea-Beinen entgegenkam. Die Decke war zwei Meter hoch. Angesichts der paradischen Durchschnittsgröße - um hundert Zentimeter - schien das ein vernünftiger Wert zu sein. Die Treppe mündete auf einen gelbgetünchten, schmutzigen Gang. Er war nicht breiter als eineinhalb Meter, so daß für Bully und mich ein beengtes Gefühl entstand. Mit so etwas hatte ich gerechnet. Wer sich in den Wohnbereich von Wesen begibt, die halb so groß sind wie man selbst, darf nicht, unter Platzangst leiden. Auf dem Gang lagen -351-
Essensreste, in den Kanten sammelte sich Schmutz in grauen Flocken. Es roch sehr unangenehm. Nach kurzer Zeit erreichten wir ein zweites Schott. Nochmals die unsichtbare Kontrolle - und vor uns öffnete sich der Blick auf die vermutlich größte Halle in der CHIIZ. Sie reichte bis zur Raketenspitze hinauf. Die Höhe über alles betrug knapp vierzig Meter, was einem Sechstel der Schiffslänge entsprach. Demin zog uns auf eine Balustrade. Von dort führte eine schmale Hängebrücke weiter auf das Gebäude zu, das die Halle erfüllte. Mit einem gewissen Staunen musterte ich den Kokon; eine an zahllosen Seilen aufgehängte Wattekonstruktion, die ohne jeglichen Kontakt zum Boden oder zu den Wänden hin- und herschaukelte. Neben den Seilen stellten drei Hängebrücken die einzige Verbindung zwischen Kokon und Hallenrand dar. Das Ding wies eine graue Färbung auf, es wirkte ebenso wie die Gänge und die umgebenden Balustraden schmutzig. »Was ist das, Demin?« fragte Reginald Bull mit belegter Stimme. »Unser Heim-Ei. Darin sind die Unterkünfte und die Steuerzentrale der CHIIZ untergebracht.« »In dem wackligen Ding?« entsetzte sich Bull. »Dieses Heim-Ei«, erwiderte Demin ärgerlich, »besitzt eine höhere Stabilität als das gesamte Schiff. Seine Konstruktion stellt keine Gefährdung dar. - Also kommt! Der Kommandant erwartet uns.« Wir passierten die Hängebrücke, indem wir mit kurzen Schritten zur anderen Seite hasteten. Der letzte Satz führte auf eine vorgelagerte Plattform. Meine Schuhe sanken zur Hälfte in den Boden ein. Ich lugte skeptisch in den abgedunkelten Tunnel, der sich vor uns auftat. Demin bewegte sich trotz des Untergrundes mit großer Geschicklichkeit. Bevor wir unsere Musterung abgeschlossen hatten, war er bereits zehn Meter vorausgeeilt. -352-
»Ich verbürge mich für eure Unversehrtheit. Es gibt hier keine Gefahr.« Bully und ich tauschten einen raschen Blick. Okay, hieß das, wir tun es. Ich war der erste, der sich auf das ›Abenteuer Heim-Ei‹ einließ. Beklommen tastete ich mich nach vorne, bis zu Demins Standort, und prüfte die Haltbarkeit der Pseudo-Watte. Anfangs schaukelte ich hin und her, praktisch mit jedem Schritt, dann gewöhnte ich mich an die Elastizität. Es fiel im Grunde leicht, die notwendige Kraft zu berechnen. Im Tunnel herrschte Düsternis. Ein rötliches Dämmerlicht war das einzige, was einem nichtnachtsichtigen Wesen wie mir die Orientierung erleichterte. »Perry?« tönte die Stimme Bullys dumpf herein. Die Watte schluckte jede Reflexion. »Wie sieht's aus?« »Keine Probleme. Du kannst mir folgen.« Bully schloß mit flinken Bewegungen auf. Er entwickelte ein erstaunliches Geschick. Wir passierten eine Art Schaltzentrale; ein von technischen Elementen übersätes Zimmer mit Metallboden, das ins Heim-Ei eingelagert war. Drei Paradea in grauen Overalls taten Dienst. Sie schauten uns an wie Gespenster, soweit sich das am praktisch nicht existenten Mienenspiel der Paradea festmachen ließ. »Es ist das erste Mal«, erläuterte Demin, »daß Fremde diese Sektion betreten. Sie wundern sich bloß. Mißversteht ihre Reaktion nicht.« »Schon gut.« Zwei weitere Zimmer lagen auf dem Weg, beide von derselben Sorte. Dann erreichten wir den Sektor, den ich auf Anhieb als eigentliche Kernzone des Heim-Eis erkannte. In einem kugelförmigen Abschnitt von zehn Meter Durchmesser wimmelten wie Maden in einem Apfel mindestens hundert Paradea: umeinander, übereinander und neben-353-
einanderher. PseudoWatte diente als stützendes Element. Die Paradea gebrauchten kaum ihre Arme und Beine, statt dessen schlängelten sie, im wahrsten Sinn des Wortes. Ich starrte einige Minuten wortlos auf das wimmelnde Nest. Körperkontakt, speziell von der hautengen Sorte, spielte anscheinend eine wichtige soziale Rolle. In Jahrtausenden des Fremdkontakts hatte ich mir etwas angewöhnt: niemals Ekel empfinden, sowenig menschliche Vorurteile haben wie möglich, schauen, was passiert. Danach richtete ich mich auch in diesem Augenblick. »Der Kommandant ist ungeduldig«, zischelte Demin. »Heißt das ...« Bully unterbrach sich und starrte unverwandt auf das Nest. »Nun, das soll wohl heißen, wir werden da drinnen erwartet?« »Ja. Bitte folgt mir! Habt keine Angst, sie träumen alle.« Demin fädelte sich ins Gewimmel ein. Die Paradea wichen etwas beiseite, ansonsten schenkten sie uns keinerlei Beachtung. Im rötlichen Licht erkannte ich ausnahmslos geschlossene Augen. Ich holte tief Atem, dann stützte ich mich mit beiden Händen auf die Körper zweier Otterschlangen, die sich am Rand der Traube befanden. Mit einem Satz rutschte ich mitten hinein. Es war eine interessante Erfahrung, ich kam direkt zwischen die Paradea zu liegen. Unter mir, neben mir, über mir wanden sich Körper. Sie fühlten sich glatt an, aber nicht glitschig, und ihre Muskelbewegungen unterschieden sich von allem, was ich kannte. Im ersten Augenblick kämpfte ich mit Abscheu. Doch der problematische Moment ging schnell vorbei. Das Geheimnis lag darin, dem Schlängeln nicht auszuweichen, sondern es als Bewegungsform in der Traube zu akzeptieren. Ich legte mich auf die Paradea unter mir. Bewegte sich ein Individuum über mich hinweg, nutzte es meinen Rücken, meinen Kopf und meine Beine als Halt. -354-
Zwischen den Schichten aus Paradea sorgte Pseudo-Watte dafür, daß das Gewicht für einzelne nicht zu groß wurde. Überall hingen Strings von elastischem Gewebe, sie wichen beiseite, immer nur für wenige Zentimeter. Dann schnellten sie in ihre Ausgangsposition zurück. »Kommst du, Perry Rhodan?« »Demin! Wo bist du?« »Hier, neben dir ...« Ich schaute zur Seite. Das einzige Ottergesicht mit offenen Augen - das mußte er sein. Dann blickte ich hinter mich; die Gestalt, die langsam näher kroch, das war Reginald Bull. »Ja, ich komme.« Für einen Menschen ist es nicht möglich, sich schlängelnd vorwärts zu bewegen. Daher führte ich kleine Schwimmbewegungen aus, verließ mich ganz auf die Watte und die Paradea. Immer wenn mir der Atem ausging, wenn ich Gewichte von achtzig oder mehr Kilogramm auf mir lasten spürte, lag ich ein paar Momente still. Die meiste Zeit ging es leicht, es gab keine Probleme, es sei denn mit der Orientierung. Demin gab die Richtung an. Nach einer Weile wußte ich nicht mehr, ob ich mich oben oder unten in der Traube befand. Und kurz darauf endete plötzlich die Bewegung. Es wurde völlig still. Ich begriff, daß wir den Mittelpunkt erreicht hatten. Zwischen lockeren Wattegespinsten, von den anderen völlig unbedrängt, baumelte der schrumpelige Körper eines anscheinend sehr alten Paradea. »Der Kommandant«, flüsterte Demin. »Geht hin und berührt ihn. Er wird wissen, wer ihr seid.«
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Bully und ich stützten uns an der Pseudo-Watte ab. Wir hatten mittlerweile Vertrauen gewonnen. Ringsum bewegten sich die Paradea, aber man hörte es mehr, als daß man in der fast vollkommenen Finsternis etwas sehen konnte. Kurz vor dem Kommandanten stockte ich. »Mein Name ist Perry Rhodan«, sagte ich. »Das ist Reginald Bull. Wir sind gekommen, um mit dir zu sprechen.« Wir warteten ein paar Sekunden. Keine Reaktion, der Kommandant rührte sich nicht. Ich fragte mich, ob er überhaupt noch am Leben war. »Kommandant! Mein Name ist...« »Laß das bleiben, Perry Rhodan«, meldete sich Demin von außerhalb der Sphäre. »Der Kommandant besitzt keinen Hörsinn mehr. Ich habe doch gesagt, daß ihr ihn berühren müßt.« »Und dann?« fragte Reginald Bull ärgerlich. »Zeichensprache oder was?« »Ihr werdet es sehen.« Ich gab mir einen innerlichen Ruck, veränderte meine Lage im Gespinst, so daß ich den alten Paradea mit einer Hand betasten konnte. Unter der schrumpeligen Schuppenhaut regte sich Muskulatur. Der Kommandant pulsierte ein bißchen, er war zweifellos am Leben. In meinem Geist entstand ein Bild. Drei Arme, die eine wimmelnde Herde hilfloser Schlangen umfaßt hielten. Die Arme spendeten Wärme und Geborgenheit. Ich hörte nichts, fühlte nichts, aber ich erfaßte den Kommandanten plötzlich unter der Bezeichnung Loom - das war sein Name. In einer fremden Begriffswelt schien Loom so etwas wie ein ›sorgender Vater‹ zu sein. Loom war sich unserer Gegenwart bewußt. Worte wurden nicht gewechselt, er hatte die Fähigkeit der Laut-Sprache verloren. Aber das machte nichts, weil wir mit geistigen Eindrücken kommunizierten. Es war derselbe Trick, der es den Paradea ge-356-
stattete, in anderer Leute Träume einzudringen. So ist es, Perry Rhodan. Ich nutzte die Gelegenheit, mich und meinen Begleiter Bully vorzustellen. Es braucht einige Disziplin, wenn man seine Vorstellungen in Bilder faßt. Weil es nicht das erste Mal war, daß ich in einer solchen Lage steckte, wußte ich sofort, worauf es ankam. Loom schien die ›Unterhaltung‹ zu genießen. Er gab ein brummendes Geräusch von sich. Ich erzeugte ein Bild meiner Heimatwelt Terra. Dann die Vision einer unendlichen Leere, die zwischen Terra und Plantagoo lag, als kurzer Gedankenfilm der Wächter und die Ebene aus Basalt, die Stadt Galorn, unsere Flucht an Bord der CHIIZ. Ihr seid Gestrandete. Schiffbrüchig und viele Millionen Lichtjahre von zu Hause weg. Ja. So ist es. Ich kann es mir fast nicht vorstellen. Aber Träume lügen nicht. Im Gegenzug berichtete der Kommandant von seinem Volk. Es war eine ungleich komplexere Geschichte, und ich erlebte sie mit großer Spannung mit. Die Paradea stammten aus der Southside von Plantagoo. Auf ihrem Heimatplaneten Pittor lebten sie in Großfamilien mit bis zu tausend Individuen, in siloartigen Gebäuden alle unter einem Dach, und berauschten sich gegenseitig an ihren ausgefallenen Träumen. Arbeit, Forschung und industrielle Produktion fanden auf Pittor außerhalb der Silos statt. Jeder Paradea freute sich, wenn er nach überstandenem Tag in die soziale Gemeinschaft zurückkehren konnte. Sie waren zurückgezogene Wesen, die Gemeinschaft von starkem Wir-Gefühl geprägt. Loom vermittelte mir lebendige Bilder einer Großfamilie. Im Prinzip war es dasselbe wie an Bord der CHIIZ: Gewimmel, Kriechen und Schlängeln immer um denselben gemeinsamen Mittelpunkt. -357-
Paradische Wohnsilos dienten stets als Behältnis für einen Kokon aus Pseudo-Watte. Auch das kannte ich bereits, es war dasselbe wie in unserer feuerroten Rakete. Das Grundproblem der Paradea hieß Aggressivität. Seit Ewigkeiten war es nicht mehr gestattet, Angriffslust in ihrer verletzenden Form offen auszuleben. Es gab eine spezifisch paradische Lösungsform: Aggressivität in Träumen. Tod, Qual und Folter als gegenstandslose Illusion. Das heißt, die Paradea sperren ihre wahren Triebe ein? Ja, Perry Rhodan. Und damit fahren sie gut. Träume sind ein angemessenes Behältnis. Loom machte einen erschöpften Eindruck. Die Qualität seiner Vision ließ ein bißchen nach. Es dauerte ein paar Minuten, dann gab er kein Lebenszeichen mehr von sich. Wir beschlossen, diese Schwächeperiode geduldig abzuwarten; eine Entscheidung, die sich bezahlt machte. Loom erholte sich kurze Zeit später. Er fuhr fort in seinem Bericht: Unter den Paradea gab es Entwicklungen, die Anlaß zur Sorge boten. Manche Wissenschaftler betrachten sie bis heute als sterbendes Volk. Nachkommen wurden jedenfalls auf Pittor seltener, ein vollständig gesundes Nest eine Rarität. Die Wurzel des Übels lag für jene Wissenschaftler in tiefer Vergangenheit. Damals, vor Tausenden von Jahren ... Als die Paradea sich in einem genetisch gesteuerten Prozeß offene Aggressionen abzüchteten. Aus welchem Grund wurde das getan, Loom? Ich weiß es nicht, Perry Rhodan. Kaum ein Paradea zweifelt daran, daß eine Notwendigkeit bestand. Wir vertrauen unseren Ahnen. Unsere Bevölkerungszahl schwindet, aber wir leben so, wie wir es für richtig halten. Das paradische Paradies offenbarte seine Schattenseiten. Ein bestimmter Prozentsatz von Paradea erkrankte im Lauf der Zeit. Niemand wußte genau, was der Grund war. Man fand lediglich -358-
heraus, daß bestimmte körperliche Krankheitsformen auf eine Krankheit der Seele zurückgingen. Befallene Paradea konnten nach außen hin vollständig normal erscheinen. Um jedoch zu überleben, um nicht irr zu werden und zu sterben, benötigten sie mehr als die Träume ihrer Artgenossen - sehr viel mehr. Sie brauchen einen härteren Stoff, vermutete ich. Ja. Die Phantasien und die Konfliktbereitschaft von Zentrifaal, Kroogh, Mocksgergern und anderen Wesen. Von der Gemeinschaft wurden solche Außenseiter an Bord der paradischen Transportraumer eingesetzt. Schiffe wie die CHIIZ fungierten als fliegende Therapiezentren. Nach einigen Jahren Dienst konnten die meisten Problemfälle als geheilt entlassen werden. Sie kehrten im inneren Frieden nach Pittor zurück, in den Schoß der Großfamilien. Andere taten für alle Zeiten Dienst auf den Passage-Raumern ... Ein tragisches Schicksal. Warte, Loom, einen Augenblick! Diejenigen Einwohner von Plantagoo, die sich von einem Paradea-Passagierschiff befördern lassen, profitieren also von nichts anderem als einer Sozialleistung der paradischen Gemeinschaft, gegenüber wenigen kranken Individuen? Korrekt. So ist es. Beide Parteien haben ihren Vorteil. Wenn sich also ein Paradea in die Träume eines Passagiers drängt, dann stillt er sein Verlangen nach Qual und Aggression? Ja. Dafür befördern wir unsere Passagiere ohne weiteren Preis. Wir müssen das tun, weil sonst niemand bereit wäre, mit uns zu fliegen. - Verstehst du nun, Perry Rhodan, weshalb niemand von eurer Immunität gegen unsere Traumgänger erfahren darf? Nein. Wir sind auf die Unterwerfung unserer Passagiere angewiesen. Wenn sie nun lernen, daß man sich den Paradea auch -359-
verweigern kann, dann sind wir am Ende. Ich bitte euch weiterhin um Schweigen. Diese Bitte erachte ich als gerechtfertigt. Die CHIIZ rettet euch schließlich vor eurem Verfolger. Loom hatte recht, es war nicht zu leugnen. Wir standen tief in der Schuld der Paradea. Es wird kein Problem sein, formulierte ich. Aber etwas anderes: Was machen wir mit den Zentrifaal? Ich nehme an, du hast einen Vorschlag, Perry Rhodan. Richtig. Mein Freund Reginald Bull und ich, wir stammen aus Verhältnissen, in denen Mord und Totschlag alltäglich sind. Wenn jemand der Sache gewachsen ist, dann wir. Ich möchte, daß du uns zur Lösung des Problems ermächtigst. Wir benötigen Unterstützung und Zugang zu allen Sektionen der CHIIZ. Darüber mußte Loom eine Weile nachdenken. Warum solltet ihr so etwas tun? fragte er. Weil wir befürchten, daß dieses Schiff das Zentriff-System sonst nicht mehr erreichen wird. Eine seltsame Vorstellung ... hier in Plantagoo. Wir hatten drei Morde. Die Zustände sind offenbar nicht so, wie sie sein sollten. Ja. Das ist wahr. Ich weise Demin und Buage an, daß alles zu eurer Unterstützung geschieht. Ihr werdet jedoch ausdrücklich nicht zur Gewaltanwendung ermächtigt. Ich antwortete: Das ist ohnehin nicht unsere Absicht. Wir werden versuchen, eine Politik der gezielten Deeskalation zu betreiben. Loomt der Kommandant, stieß ein mentales Gelächter aus. Das Wort ›Deeskalation‹ hörte er wohl zum ersten Mal, aber es schien ihm zu gefallen. In Plantagoo hatte es offenbar lange keine Streitigkeiten mehr gegeben, die man in großem Stil bereinigen mußte.
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7. »Klägliche Gestalten.« »Welchen Unterschied macht es, A-Gidecaj, ob du selbst stirbst oder dein Gegner?« »Der Unterschied liegt in der Effizienz.« »Erläutere das!« »Wenn ich für meinen Gegner den Tod herbeiführe, so liegt darin eine maximale Effizienz. Verliere ich selbst das Leben, so könnte das eine Effizienz von Null bedeuten.« »Außer?« (Einen Augenblick herrscht Schweigen.) »Außer es gelingt mir, durch meinen Tod eine möglichst effiziente Schwächung des Gegners herbeizuführen.« »Wirst du im Ernstfall so verfahren, A-Gidecaj?« »Natürlich.« (Psychotaktische Gesprächsprotokolle. A-Betchagas Geheimer Dienst. Auswahlverfahren ll.A. 19.) Auf einem namenlosen Planeten stand die Landung bevor. Die Schlafperiode an Bord der CHIIZ war praktisch vorbei. Über die Hängebrücken ging es zurück, in normale Schiffsgefilde. »Zuerst benötigen wir weitere Informationen«, sagte Bully. »In erster Linie praktisches Zeug. Wie macht ihr das eigentlich, wenn ihr euch in die Träume der Passagiere einschaltet?« »Ich verstehe die Frage nicht.« »Na ja, macht ihr es vom Heim-Ei aus? Oder müßt ihr in der Nähe des Opfers sein?« Der kleine Paradea zischte böse. »Unsere Passagiere sind keine Opfer. Sie sind Helfer und Spender, und wir befördern sie mit allem Respekt, auch wenn sie Furcht empfinden.« »Also von wo aus?« fragte Bully unerbittlich. »Ich denke nicht, daß ...« -361-
»Hör mal zu, Demin«, fiel der Dicke ihm ins Wort. »Ich habe das Gefühl, du willst uns irgendwas verschweigen. Die Anweisung des Kommandanten lautet allerdings ein bißchen anders. Wir bekommen jede Hilfe, sagte Loom.« »Ja, du hast recht, Reginald Bull.« Demin wurde nochmals kleiner, wenn so etwas möglich war. »Um von den Träumen eines Passagiers zu partizipieren, ist es nötig, bis auf wenige Meter an ihn heranzugehen. Je näher, desto besser. Wir verfügen in der CHIIZ über ein spezielles Tunnelnetz. Das Netz zieht sich durch das gesamte Schiff. Jede Kabine ist daran angeschlossen.« »Geheime Gänge?« »Ja. Man kann sie ausschließlich vom Wohnbereich aus betreten. In der Passagiersektion gibt es keine regulären Zugänge, lediglich einige Notschleusen. Keiner, der größer ist als ein Paradea, könnte sie passieren.« »Also auch wir nicht?« »Nein. Wir bewegen uns kriechend durch die Schächte. Ihr seid zu dick.« Wenn sich Reginald Bull von dieser Formulierung beleidigt fühlte, so zeigte er es nicht. Ich fragte Demin: »Als du in unseren Träumen erschienst, wo warst du da?« »Drei Meter über euch. In einem Tunnel, der über der Kabinendecke kreuzt. Ihr hättet in dieser Bordnacht meine ersten Spender sein sollen. Die Paradea waren über das Netz ausgeschwärmt, um ihren Hunger zu stillen. Eure Kabine gehörte zu meinem Bezirk.« »Könnt ihr eigentlich Gedanken lesen?« »Nein. Wir saugen lediglich Träume auf: Gefühle, Schmerzen Qual. Das, was wir selbst nicht mehr ausreichend entwickeln.« »Ihr könnt also nicht feststellen, was die Zentrifaal denken?« »Auf keinen Fall.« »Und was ist mit diesem Behälter, den A-Kestah und sein -362-
Clan an Bord gebracht haben? Hat der Behälter Träume?« »Ja. Jeder von uns Paradea hat sich bereits an seiner Qual berauscht. Der Behälter ist wie ein Sarg. Nur daß die Leiche im Inneren noch nicht gestorben ist. Wirklich verlockend.« Ich schaute Reginald Bull ratlos an; auf Anhieb hatte ich nicht den Schimmer einer Idee, wie sich das Tunnelnetz für unsere Zwecke nutzen ließ. »Sag mal, Demin ...« Bully schaute den kleinen Paradea durchdringend an. »... wenn ihr an jede Kabine bis auf zwei oder drei Meter herankommt, dann habt ihr doch sicher Möglichkeiten, die Gespräche im Inneren zu belauschen.« »Niemals!« entrüstete sich der Paradea. »Käme das je heraus, wir wären in Plantagoo für das nächste Jahrhundert erledigt. Die Paradea achten zu allen Zeiten die Privatsphäre ihrer Passagiere.« Doch Bull zeigte wenig Neigung, sich erweichen zu lassen. »Wir haben drei Tote an Bord. Ich bin der Meinung, daß unter diesen Voraussetzungen ein Bruch der Privatsphäre gerechtfertigt ist.« »Ja, aber ...« »Kein ›Aber‹, Demin. Es geht um die Kabinen der Zentrifaal. Wir wollen wissen, was in diesen Kabinen gesprochen wird. Ich gebe euch sechs Stunden Zeit. Bis dahin müssen über jeder Zentrifaal-Unterkunft Abhöranlagen installiert sein. - Besitzt ihr die nötigen technischen Mittel dazu?« Demin ließ sich mit der Antwort eine Weile Zeit. »Sicherlich«, sagte er. »In sechs Stunden also. Es ist ein Unrecht, aber wir werden es tun.« Unser Weg führte zur Unterkunft des Gidecaj-Clans. Es handelte sich um einen abgeteilten Sektor. Am Zugang standen zwei Zentrifaal Wache. »Was wollt ihr hier?« Die Stimme klang angriffslustig. Es war der linke der beiden Wächter, der da sprach. Der andere hielt den Mund und be-363-
schränkte sein Interesse auf den Korridor. So als stellten wir lediglich ein Ablenkungskommando dar. »Wir möchten A-Gidecaj sprechen.« »Verschwindet! Ich denke nicht, daß sich Gidecaj für euch interessiert.« Ich hatte ein seltsames Gefühl, als stünde jeden Moment ein Angriff bevor. Unsinn. Mit berechnender Höflichkeit fragte ich: »Bist du sicher, daß du für eine solche Entscheidung die Kompetenz besitzt?« Der Zentrifaal wollte schon aufbrausen, das erkannte ich trotz der Ausdruckslosigkeit seiner schwarzen Blickleiste. Aber er hielt sich eisern in der Gewalt. »Also gut. Ich werde A-Gidecaj fragen.« Er machte auf dem Absatz kehrt, stürmte in eine der Kabinen, klopfte nicht einmal. Nach wenigen Sekunden kam er mit seinem Clanführer wieder zum Vorschein. Er und sein schweigsamer Wächterkollege traten ein paar Schritte vor. Wir standen zwischen drei Zentrifaal gleichsam eingekeilt. A-Gidecaj musterte uns ausgiebig. »Was wollt ihr?« fragte er nach einer Weile. »Wir kommen in einer Vermittlungsmission im Auftrag der Paradea.« »So.« »Es hat an Bord der CHIIZ drei Mordfälle gegeben. Wir möchten die Kampfhandlungen bis Zentrifaal-Zentrum gern eingestellt wissen. Dazu ist es notwendig, daß jemand zwischen den Parteien vermittelt.« »Was für Parteien?« fragte A-Gidecaj gleichgültig. »Die eine besteht aus A-Kestah und seinem Clan. Die andere Partei bist du. Natürlich mit deinen Leuten.« »Dann nimm zur Kenntnis, Perry Rhodan, daß ich an keinem Konflikt teilnehme. Ich weiß von keinem Mord. Was A-Kestah unternimmt, ist für mich absolut ohne jeden Belang.« -364-
Ich schüttelte ärgerlich den Kopf. Gidecaj hatte anscheinend die Absicht zu mauern, das wurde mir klar. »Und was«, fragte ich vorsichtig, »ist mit deiner Gefährtin D-Koker?« Keine Antwort. »Nicht zu vergessen der Embryo«, schob ich unerbittlich hinterher. Einen Augenblick hatte ich Angst, der Zentrifaal vor mir würde die Beherrschung verlieren. Ich verlagerte mein Gewicht auf die Zehenspitzen, nahm heimlich die Konterhaltung der Dagor-Schule ein - aber nichts passierte. »Ihr verschwindet besser sehr schnell«, empfahl A-Gidecaj mit gepreßter Stimme. Und das taten wir, bevor er es sich anders überlegen konnte. Die erste Stufe unserer geplanten Deeskalation konnte man als glatt gescheitert betrachten. Blieb noch die zweite Seite. Wir passierten einen Ringkorridor, der bis zur entgegengesetzten Seite der Rakete führte, stiegen zwei Decks tiefer, schauten in einen verfallenen Gang. Dort fanden wir die Unterkünfte der Gruppe A-Kestah. Die Verhältnisse waren so gut wie identisch. Zwei Zentrifaal standen Wache, während sich von den übrigen keiner sehen ließ. Ich stellte mich vor die beiden Wächter hin und sagte freundlich: »Mein Name ist Perry Rhodan. Ich würde gern mit A-Kestah ein Gespräch führen.« Daß sie sich wunderten, konnte ich mir denken. Zentrifaal wurden selten angesprochen, eben weil sie als aggressiv und schwer berechenbar galten. In den flachen Gesichtern zeigte sich keine Reaktion. Der eine antwortete: »Es ist im Augenblick aber nicht möglich.« »Zu einem späteren Zeitpunkt?« hakte ich nach. Ich erntete ein unwilliges Zucken der Gesichtsmuskulatur. »Darüber werde ich keine Auskunft geben.« -365-
»Wir würden gern auf A-Kestah warten.« Die beiden Wächter tauschten einen raschen Blick. »Dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte der zweite, der bislang den Mund gehalten hatte. »Danke.« Wir sahen uns um, entdeckten im kahlen Gang natürlich keine Sitzgelegenheit, suchten eine wenig verschmutzte Stelle am Boden und hockten uns hin. Von hier konnte man die Unterkunft des Clans gut überschauen. Den Zentrifaal-Wächtern schien das nicht zu schmecken. Sie starrten drohend herüber, sagten aber keinen Ton. »Nur nicht einschüchtern lassen«, brummte Reginald Bull. »Kein Gedanke«, gab ich ebenso leise zurück. Unsere Übersetzergeräte reagierten nicht, so daß die Wächter selbst mit gutem Gehör keine Chance hatten. »Warten wir ab, wie lange es noch dauert.« Zwei Stunden hockten wir in dem Korridor. Die Stunde der gemeinsamen Mahlzeit rückte unerbittlich näher; also jener Zeitpunkt, an dem sich A-Kestah zeigen würde. Ich legte Wert darauf, ihn vorher zu sprechen. Plötzlich stand eine Tür offen, die anderen folgten kurz darauf. Fünf Zentrifaal kamen zum Vorschein, darunter der Clanführer. Die Tür ganz hinten war die einzige, die verschlossen blieb. Ich nahm an, daß dort der geheimnisvolle Behälter lagerte und die vier übrigen Personen ihn bewachten. Zwischen den Wächtern und den anderen kam es zum Getuschel. Dann schauten alle auf uns - kein sonderlich angenehmes Gefühl. Einer aus der Gruppe löste sich und kam heran. Es war A-Kestah persönlich. »Ihr wollt mich sprechen«, sagte er kalt. »Also los! Verschwendet nicht meine Zeit.« Bully und ich erhoben uns höflich. Ich entgegnete: »Es geht um die drei Mordfälle.« -366-
»Es existieren keine Morde.« »Die Sprachregelung ist mir egal. Jedenfalls sind wir im Auftrag der Schiffsführung hier. Wir sollen durch Verhandlungen dafür sorgen, daß es nicht zu weiteren Unfällen kommt.« »Was für Verhandlungen?« A-Kestah sah ehrlich überrascht aus. An so etwas hatte er im Traum nicht gedacht; oder er bewies soeben das, was Menschen mit dem Wort ›Humor‹ bezeichneten. »Meine Vorstellung ist folgende: In drei Stunden findet sich eine Abordnung deines Clans in einem noch zu bestimmenden Raum ein. Zur gleichen Zeit erscheint eine Abordnung des Clans von A-Gidecaj. Reginald Bull und ich werden ebenfalls anwesend sein und zwischen den Parteien vermitteln. Wir werden die Vorfälle besprechen und zusehen, daß wir einen Kompromiß finden.« »Waffenstillstand sozusagen«, fügte Bully hastig hinzu, als er A-Kestahs finstere Miene sah. »Vereinbarungen auf höchster Ebene. Wir suchen eine Möglichkeit, ohne weitere Opfer den Weg nach Zentrifaal-Zentrum zurückzulegen. Das sind noch zwei Tage. Das müßte ohne Blutvergießen möglich sein.« »Schweig!« A-Kestah starrte uns zornig an. Jedes Wort, das gefallen war, hatte ihn weiter aufgebracht. »Diese Sorte Rederei kenne ich zur Genüge. Ich habe nichts als Verachtung dafür übrig. Friede um jeden Preis. Was für ein niedriges Motiv für ein Gespräch! Ich lehne ab, versteht ihr? Es wird kein Gespräch geben.« Voller Verachtung ließ er seine Blicke von Bully zu mir, dann wieder zurück wandern. »Leute wie ihr, dieser undifferenzierte Friedenswille ... Ihr erscheint mir wie Abziehbilder der Galornen. Keinen Funken Stolz, keine eigene Persönlichkeit. Klägliche Gestalten!« -367-
Mit diesen Worten wandte sich A-Kestah ab. Der Zentrifaal winkte seinen Leuten, dann begaben sie sich zu fünft in Richtung Speisesaal. Ich registrierte, daß sich die Zahl der Wächter auf sechs erhöhte - die beiden am Eingang zu den Unterkünften blieben unverändert stehen. Einmal wandte sich A-Kestah noch an uns. quasi im Vorübergehen: »Übrigens, ich will euch hier nicht mehr sehen. Lungert woanders herum, wenn ihr schon nichts zu tun habt.«
Bis die Abhöranlage installiert war, dauerte es vier Stunden. In diese Zeit fiel die Landung der CHIIZ. Bully und ich kümmerten uns nicht darum. Statt dessen nutzten wir die Bewegungsfreiheit, die Loom uns eröffnet hatte. Wir besichtigten die Hauptzentrale, oben im gelben Sechstel. Unter den wachsamen Augen der Zahlmeisterin Buage ließen wir uns Schaltwege und technische Daten erklären. Unser gezogenes Fazit wurde eindrucksvoll bestätigt. Während Bully die Bezeichnung ›Gurkenraumer‹ passend fand, beschränkte ich mich auf das Wort ›antik‹ - allerdings meinten wir beide dasselbe. Die Rakete war ein Fall fürs technische Museum. Einen Vorteil gab es jedoch: Die Bedienungselemente waren leicht zu verstehen. Mit etwas Erfahrung in Fremd-Technologie fand man sich rasch zurecht. Als nächstes auf der Liste stand der Heckbereich. Wir hatten schon einmal versucht, uns Zugang zu verschaffen, am Anfang der Reise, zu jener Zeit allerdings vergeblich. Diesmal wurden wir anstandslos eingelassen. Im Heck befand sich die technische Hardware, eigentlich alles, was Platz wegnahm, der klassische Triebwerkssektor. Wir ließen uns den groben Aufbau erklären, den Rest erkundeten wir selbst. -368-
In zwei Bereiche gliederte sich das Heck. Zuerst das sekundäre Abteil: Schaltanlagen, Vorratskammern, Betriebsstoffe. Hier wurde das Gros der mechanischen Arbeit getan. Dann die eigentliche High-Tech-Zone: darin alles, was explodieren konnte oder mit tödlichen Strahlendosen arbeitete. Sämtliche ›gefährlichen‹ Geräte waren in einer Scheibe von dreißig Meter Höhe untergebracht. Sie bildeten das eigentliche Heck der Rakete. Der Witz lag in einem drei Meter hohen Zwischendeck, einer Art Trennschicht ohne jede Einrichtung. Oberhalb war die sichere Seite - unterhalb bewegte man sich sozusagen auf eigene Gefahr. Im Notfall ließ sich die unten liegende High-Tech-Scheibe komplett vom Rumpf sprengen. Entsprechende Schaltungen waren rasch entdeckt, sie lagen am Zugang zur Scheibe und waren mit einer Plombe gesperrt. Der Boden im Zwischendeck wies fünf hell erleuchtete Löcher auf. Es handelte sich um Kontrollschächte. Jeder führte an eines der technischen Nervenzentren. Mir fiel auf, daß sich kein paradischer Techniker sehen ließ. Der eigentliche Kernbereich lief wartungsfrei. Wenigstens ein gutes Zeichen, überlegte ich. Eine Holographie diente als Wegweiser. Die Darstellung flimmerte, es war ein ziemlich primitives Ding. In leicht verständlichen Symbolen, jeweils mit Schriftzeichen in Goo-Standard ergänzt, wurde zwischen den Sektoren getrennt. Wir schauten uns der Reihe nach alles an. Solange die CHIIZ auf festem Boden stand, war das Risiko gering. Impulstriebwerke standen als Nummer Eins (mit einem Wort: schockierend!); dann der komplette Transitionsblock, im Grunde ein verläßliches, wenngleich simples Stück Technologie. Schacht Nummer Drei hätte laut Wegweiser zum Reaktor führen sollen. Statt dessen fanden wir uns beim Schutzschirm der Rakete wieder. -369-
Es dauerte ein paar Sekunden, bis wir den Irrtum bemerkten. Der Feldgenerator ähnelte tatsächlich einem Kraftwerk. »Mit ein bißchen Phantasie ...«, murmelte Bully. »Und das hier, das dürfte eine Thermokanone sein. Für Asteroidenabwehr, schätze ich. Armselig.« »Ich frage mich, was ein Wegweiser soll, der nicht korrekt programmiert ist.« »Tja.« Reginald Bull schüttelte den Kopf. Er lächelte dünn. »Da staunt der Laie, und der Fachmann ... Aber lassen wir das.« Antigrav und Andruckabsorber bildeten die Nummer Vier, diesmal korrekt ausgeschildert - und im letzten Schacht fanden wir den Reaktor der CHIIZ. Beim Anblick einer Wandung, die ganz offensichtlich mehrfach geflickt worden war, wurde mir kalt und heiß. Die Sprengvorrichtung, die den gesamten Ring von der Rakete trennen konnte, besaß meiner Meinung nach ihre Berechtigung.
8. »Wetten werden angenommen!« »Was steckt in deinem Innersten, A-Gidecaj?« »Das geht dich nichts an.« »Aber ich möchte es wissen.« »Das tiefste Innere, das ich besitze, ist bitterschwarz. Ich habe es niemals lange angesehen. Es hätte mich vielleicht erschreckt.« (Psychotaktische Gesprächsprotokolle. A-Betchagas Geheimer Dienst. Auswahlverfahren H.A.19.) Die Vorrichtung zum Lauschen war zu neunzig Prozent installiert. Einige Schallverstärker, so hatte man gesagt, und es konnte losgehen. -370-
Wir saßen schon wieder oben, im gelb gestrichenen Sechstel der Rakete, auf den viel zu kleinen und für unsere Zwecke eigentlich nicht brauchbaren Möbeln der Paradea. Das Schiff hatte sich auf flammenden Impulstriebwerken gerade in die Luft erhoben. Der namenlose Planet blieb unter uns zurück. An der Situation hatte sich nichts verändert, jedenfalls nicht in nennenswertem Umfang. Einige Mocksgerger weniger, ein kompletter Groß-Kroogh mehr, das wär's gewesen. »Der Erfolg war also gleich Null?« fragte Demin deprimiert. »Richtig«, antwortete Bully grimmig. »Wir können froh sein, daß wir uns nicht einen Satz heiße Ohren gefangen haben.« Demin schaute den Dicken verständnislos an. Ich lächelte. Das Übersetzergerät hatte den ›Satz heiße Ohren‹ sicher wörtlich ins Goo-Standard übertragen. »Wann ist es denn soweit?« fragte Bully nach einer Weile ungeduldig. »Ein paar Minuten noch.« Die Mahlzeit im Speisesaal hätte fast in einer Schlägerei geendet, als A-Kestahs Leute auf die des A-Gidecaj trafen. Insofern wurde es höchste Zeit. Ich dachte mit einem unguten Gefühl an die bevorstehende Schlafphase. Nach allen Erfahrungen, die wir hatten, würde es erneut zu Opfern kommen. Wir brauchten die Abhöranlage dringender denn je. Gespräche hatten keinen Sinn, Verbarrikadieren genauso wenig. Wenn die Zentrifaal richtig in Fahrt gerieten, war die gesamte CHIIZ betroffen. Und außerdem: A-Kestah hatte mit seinem Vorwurf, wir seien Abziehbilder von Galornen, nicht mal unrecht. Bully und ich hielten uns für Vertreter des Friedens. So gesehen waren wir in Plantagoo am richtigen Platz. »Warum sperren wir die ganzen Idioten nicht einfach in einen Hangar und lassen sie aufeinander los?« schimpfte Bully. Dann grinste er über das ganze Gesicht, die roten Stoppelhaare ließen ihn zu einem pausbäckigen kleinen Jungen -371-
mutieren, mit nichts als grobem Unsinn im Kopf. »Einfach Schluß mit dem Problem«, flachste er. »Wir warten, bis sie sich totgeprügelt haben. Kurzer Prozeß, Wetten werden angenommen! Oder wir lassen ihnen schlicht die Luft ab, wenn´s zu viel wird.« »Was für ein perverser Vorschlag!« entrüstete sich Demin. »So etwas hätte ich nicht erwartet. Ohne Atemluft würden sie ersticken.« »Falsch, mein Lieber Erst mal platzen wie die Luftballons! Der Druckunterschied, du verstehst?« Bully lachte immer noch, die Rolle als blutrünstiger Barbar schien ihm zu liegen. »War ja auch bloß Spaß, Kleiner. Keine Angst, wir tun deinen Freunden mit den Mörderträumen nichts zuleide.« Demin zischte ein paar leise Worte, die ich nicht verstand. Nichts von Bedeutung, überlegte ich. Ich hatte mich unter den Mocksgergern umgehört. Es kursierte immer noch das Gerücht, die Paradea hätten die Zentrifaal mit Traumattacken in den Wahnsinn getrieben. Schlafen mochte von den Mocksgergern kaum noch einer, Zusammenbrüche wie die von Pitcher hatte ich ebenfalls beobachtet. Und das, obwohl es seit letzter Nacht definitiv keine Belästigung in den Träumen mehr gab. Ob man gegen ausgemachten Nonsens dieser Art ankam? Ich zweifelte daran, jedenfalls hatten Argumente keinen Sinn. Die Situation an Bord des Seelenverkäufers erinnerte mich an eine akute Massenparanoia. »Perry!« Ich schreckte auf. »Was denn?« Bull deutete auf den Monitor. Als farbiges Schema standen im Bauplan der CHIIZ zwei mal sechzehn Kabinen markiert. Es handelte sich um die Unterkünfte der Zentrifaal. In diesem -372-
Augenblick fingen die Kabinen der Reihe nach zu blinken an. Mit anderen Worten, der Anschluß ans Abhörsystem hatte geklappt. Wir besaßen die Möglichkeit, von hier aus Mikrofone anzuwählen und die Ergebnisse aufzuzeichnen. Jeder Ton, den irgendwer in den Unterkünften produzierte, wurde in die positronischen Speicher gebannt. Ich klickte eine der Kabinen an. »... war ich als Clanloser in Cursor unterwegs, in der Hauptstadt, immer auf der Flucht vor...« Die nächste Kabine: »... nein, sage ich. Ich verspüre wirklich keinen Durst auf ...« Und: »... machen wir uns nicht die geringsten Sorgen. Es wird Tote geben, Millionen Tote. So kannst du´s in der Stadt erleben, wenn du dich im Simultantank verzaubern läßt. Millionen Tote, stell dir das vor! Ist es nicht grandios?« »Ja!« »Sobald wir Z-Z erreichen, dann ...« »Die Arbeit muß getan sein ...« »... wird Caliform kommen, und die würdelosen Jahre enden.« »... hatte mich der Steuereinnehmer aufgespürt. Respekt ! Im schlimmsten Viertel! Ich hätte ihn getötet, hätte ich ihn nur töten können, ich hätt's so gern getan ...« Es wurde praktisch überall gesprochen. Beide Claris präsentierten sich redselig, ganz im Gegensatz zu ihren öffentlichen Auftritten. »... drücke ich ihr die Luft ab, sehr langsam, bis sie ...« »A-Betchaga? Der ist noch immer an der Macht ...« »... nein, nein! Das Standard-Schlachtschiff hat 780 Meter Kantenlänge. Alle differierenden Angaben kannst du völlig ..,« Bully schlug auf die AUS-Taste, der Strom der Stimmen stockte. Gleichzeitig schüttelten wir die Köpfe. »So kommen wir nicht weiter«, sagte der Dicke. »Zuhören können wir denen bis zum Jüngsten Tag. Wir müssen rauskriegen, welche Unterhaltungen wichtig sind und welche nicht.« -373-
»Aber das geht doch nur, indem wir lauschen«, jammerte Demin. »Ich ertrage das nicht. Sie reden nur über schlimme Dinge.« »Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, erklärte ich. »Wir geben der Positronik bestimmte Schlüsselbegriffe. Nehmen wir zum Beispiel Tod, Angriff, D-Koker, Plan, Hinterhalt, Mord und so weiter. Die Positronik wertet dann selbständig aus. Wir hören nur noch das an, was die entsprechenden Begriffe enthält.« Die Idee wurde für gut befunden. Während wir uns von den Stimmen der Zentrifaal berieseln ließen, erstellten wir eine Liste und fütterten sie dem Bordcomputer ein. Ich nahm eine letzte gezielte Schaltung vor. Eine der Kabinen, eine aus dem Clan A-Kestahs, war zwar belegt, man bemerkte deutlich das Atmen - aber nicht ein einziges Wort ertönte. Nur ab und zu klopfende Geräusche, das war alles. Wir hörten noch ein paar Minuten dem beinahe schon greifbaren Schweigen zu. »Was soll das, Perry?« »Ich glaube, Dicker, das ist die Kabine mit dem Behälter.« »Aber die Wächter sagen keinen Ton.« »Richtig. Das ist es ja.« Wir hofften schon, daß gar nichts mehr passieren würde. Der Tag war verstrichen, ebenso der folgende mit einer Unzahl von Transitionen. Was die Abhöranlage zutage förderte, entpuppte sich als belanglos. Bis Zentrifaal-Zentrum waren es noch sieben Stunden Flug, als der Interkom uns aus dem Schlaf riß. »Was denn?« rief ich ins Mikrophon. »Hier spricht Demin. Wir haben eine Häufung der Suchbegriffe.« »Welche sind es?« »Tod, Plan, Angriff, eigentlich alle.« -374-
»Wir sind auf dem Weg.« Es dauerte keine Minute, dann sprinteten wir los. Im Laufen schloß ich die Jacke, Bully spuckte einen Brocken Nahrung aus. Wir bogen im höchsten Tempo um die Ecken. Auf die Mocksgerger, die hinter uns herpöbelten, nahmen wir keine Rücksicht. Buage, die Zahlmeisterin, nahm uns mit allen Zeichen von Erregung in Empfang. Sie stand am Eingang zur paradischen Wohnsektion. Wir wurden in einen Raum mit Anschluß zur Positronik geführt. Demin zappelte aufgeregt. »Da seid ihr ja. Kommt, ich spiele euch die entsprechenden Passagen vor!« Wir setzten uns und lauschten. Zuerst war Stille, dann hörte ich mehrere Stimmen auf einmal. Am Ende war es nur ein einziger, der redete. Ich erkannte seine Stimme als die von A-Gidecaj: »Es ist soweit. Das Konzept ist klar? Wirklich jedem? - Wir führen die Unfallplanung wie besprochen durch. Alles entspricht den psvchotaktischen Gesprächen. Niemand bleibt am Leben, A-Kestah und sein Clan werden vollständig ausgelöscht. Ich erwarte von jedem Teilnehmer dieses Kommandos eine bedingungslose Opferbereitschaft. - Irgend jemand, der sich äußern möchte?« Ein paar Sekunden lang war völlige Stille. Keiner besaß den Mut, etwas zu sagen. Vielleicht gab es auch nur keinen, der das Bedürfnis empfand. »Gut. Mir ist bekannt, daß einige von euch Bedenken hegen. Denkt daran, Caliform darf Z-Z unter keinen Umständen erreichen.« Zustimmendes Gemurmel ertönte als Antwort. »Wir starten. Plätze werden nach Absprache eingenommen.« Bully und ich horchten weiter, aber von diesem Augenblick an herrschte Schweigen. Wir hörten das Poltern von Gegen-375-
ständen. Lebewesen bewegten sich und holten Atem - und dann klapperten nur noch die Türen. Ein kurzes Gespräch. Alles war gesagt worden. Mir wurde klar, daß A-Gidecaj und seine Leute nichts anderes waren als Killer. Es gab einen Plan, das ging aus den Äußerungen hervor. Dieser Plan schien seit längerem zu existieren. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, daß A-Gidecaj und seine Leute ihre Gegner an Bord der CHIIZ erwartet hatten. Aus welchem Grund denn? Als erstes fiel mir der Behälter ein, den A-Kestahs Leute bewachten. Die Kiste mußte etwas mit dem Ausdruck »Caliform« zu tun haben. Aber was bedeutete das nun, Caliform? Die Währung von Zentrifaal-Zentrum, sehr viel Geld? Eine Maschine, eine Erfindung? Alles unwahrscheinlich. Ein Wesen, das im Sarg steckte? Oder - und das war die absurdeste Vermutung von allen - eine Waffe gegen die mysteriösen Galornen? Wenn ich erfahren wollte, was wirklich lief, mußte der Überfall vereitelt werden. A-Gidecaj hatte nicht erwähnt, an welchem Ort es zur Sache ging. Sein Ziel, dessen war ich jedoch sicher, stellten die Unterkünfte dar. »Demin!« kommandierte ich. »Wir brauchen Stimmen aus dem Quartier von A-Kestah.« »Augenblick.« »... leben wir in Würdelosigkeit und ohne Stolz. Bis zu dem Tag, da wir alle zu ...« »... einer wie der legendäre A-Gedeonta damals, vor tausend Jahren ...« »Stopp, Demin.« »Das war alles?« wunderte sich der kleine Paradea. »Ja. Sie leben noch. Das wollte ich wissen. Wie alt ist die Aufzeichnung von A-Gidecaj, die wir eben hatten?« Demin berührte ein paar Tasten, dann zischelte er: »Elf -376-
Minuten, Perry Rhodan.« Eine Sekunde lang erwog ich, A-Kestah und seine Leute per Interkom zu warnen. Aber das hätte den Kampf nur beeinflußt, vielleicht an einen anderen Ort verlagert, bestimmt nicht verhindert. Wir brauchten etwas anderes. Jemand mußte sich zwischen die Parteien stellen. Ich schaute Bully an, der Dicke erhob sich mit einem Ruck, zur selben Zeit wie ich. Anzunehmen, daß A-Gidecaj einen Zeitpunkt festgelegt hatte. Der konnte praktisch in jeder Sekunde sein. Wenn wir Glück hatten, reichte es gerade eben. »Was wollt ihr tun? He, was wollt ihr? Gebt bitte Antwort!« Ich öffnete die Tür. »Wir sehen zu, daß wir sie stoppen können. Sie dürfen gar nicht erst anfangen. Dann gibt's eine Chance.« »Wartet!« rief der Kleine. »Ich komme mit!« »Nein.« Bully stoppte ihn mit einer resoluten Handbewegung. »Du stehst bloß im Weg. Dabei hast du nichts zu suchen, nichts für ungut.« Hinter uns fiel die Tür zu, Demin und Buage blieben zurück. Wir befanden uns weit oben in der Rakete, bis zum Kabinentrakt von A-Kestah waren es hundert Meter Höhendifferenz. Das meiste davon legten wir im zentralen Antigravschacht zurück. Wir sanken nieder, es konnte gar nicht schnell genug gehen. Unseren Ausstieg blockierten fünf Mocksgerger, die sich über etwas gestritten hatten. Es sah aus, als wollten sie sich gegenseitig an die Kehle springen. Aber das war eine Täuschung. Reginald Bull brüllte sie lautstark aus dem Weg. Wir kümmerten uns nicht um beleidigte Blicke. »Hier lang, Dicker! Komm schon!« Bull hätte fast die falsche Biegung genommen. Wir hasteten eine Schräge hinauf, zwei 100-Meter-Läufer, pfeifende Lungen, im dritten Endspurt hintereinander. Und plötzlich stockten wir. Da vorne begann der Kabinentrakt. Der Flur, von dem die Türen abzweigten, ließ sich nicht überschauen. -377-
Mitten auf dem Gang lagen zwei Körper: Zentrifaal. Beide waren tot, das ließ sich auf einen Blick sagen; nicht so zugerichtet wie D-Koker, dazu hatte wohl die Zeit gefehlt, aber mit zerschmetterten Schädeldecken. Ich begriff, daß A-Gidecaj und seine Leute sie lautlos getötet hatten. Und wir zwei, Bully und ich, wir kamen dahergestürmt wie die Trampeltiere. Mir wurde klar, daß es mit der Vermittlung nichts mehr werden würde. Der Angriff hatte schon längst begonnen. Geräuschlose Annäherung konnten wir vergessen, also nahmen wir den ganzen Schwung der Bewegung mit. Wir übersprangen die beiden Leichen mit einem Satz und stürmten in den Kabinenflur. Vor den geschlossenen Türen standen verteilt fünfzehn Zentrifaal. Sie hatten sich in die Türrahmen geschmiegt, deshalb sahen wir sie erst jetzt, im buchstäblich letzten Moment, als es praktisch zu spät war. Mitten zwischen den Wesen in Schwarz kamen wir zum Stehen. Die Killer reagierten so gut wie ansatzlos. Je zwei von ihnen stürzten sich auf uns. Ich hatte keine Möglichkeit mehr, mich um den Dicken zu kümmern. Ich klappte zusammen wie ein Taschenmesser, mit sehr viel größerer Geschwindigkeit, schnellte mich in irgendeine Richtung. Mit den Schultern prallte ich gegen die Wand. Es krachte, aber das Schlüsselbein brach nicht. Eine ausgestreckte Hand erwischte mich an der Brust. Was normalerweise wenig gemacht hätte - aber in diesem Fall handelte es sich um die Klaue eines Zentrifaal. Zum Glück war es nicht die Rechte, das hätte ich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht lebend überstanden. Lediglich die Linke erwischte mich, die schwarze Hohlschaufel, aber auch die war hart wie Eisen. Ich stürzte schwer zu Boden, der Ohnmacht nahe, und rettete mich nur dank eines Reflexes zur Seite. -378-
Neben mir krachten sieben Fingernägel in die Wand. Es war unglaublich, aber nicht die Nägel brachen, sondern das Material splitterte. Im selben Moment flogen ringsum die Türen auf. A-Kestah! Der gegnerische Clan hatte reagiert. Freund und Feind zu unterscheiden, das war nun unmöglich. Ich fühlte mich wie von einer Lawine verschüttet. »Bully!« brüllte ich. »Bully! Wo bist du?« Keine Antwort. Ein Fußtritt hätte mein Gesicht zweifellos zertrümmert - hätte ich nicht den Kopf zur Seite gerissen. Mit den Handkanten traf ich das Bein, mit beiden zugleich, und es war ein vernichtender Treffer. Ich nahm an, daß ich das Bein des mir unbekannten Zentrifaal gebrochen hatte. »Bully!« Ich schnellte mich nach vorn, vorbei an zwei kämpfenden Zentrifaal, schaffte es nicht, wurde erneut getroffen. Von der Stirn tropfte Flüssigkeit über die Wangen. Es war mein eigenes Blut, nicht das gelbe der Zentrifaal. Mit einem weiten Sprung brachte ich mich in Sicherheit. Wobei Sicherheit wohl das falsche Wort war: Einem Zentrifaal, der direkt vor meinen Augen vom Boden tauchte, lief ich direkt in die Arme. Ich erkannte augenblicklich A-Gidecaj. Die Ausgangsposition war häßlich. Der andere stand mit gehobenen Armen da, ich befand mich noch im Versuch, meine Lage zu stabilisieren. Aber der Zentrifaal kämpfte nicht. Hee ... Seine schwarze Blickleiste platzte, während ich wie in Zeitlupe hinsah. A-Gidecaj war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr am Leben. Sein Körper wurde schlaff. Ich sah die Faust, die ihn von hinten durchbohrt hatte, konnte aber nicht das Gesicht des Täters entdecken. Der Augenblick verging wie eine Momentaufnahme in einem rasenden Wirbel. Zentrifaal gegen Zentrifaal, das erinnerte ein -379-
bißchen an wildgewordene Männer von Ertrus. Aber Ertruser hätten mich längst in hundert Einzelteile zerlegt. Ich versuchte, das Ende des Flurs zu erreichen, hinaus auf den Hauptkorridor, von dort in Sicherheit. Kurz zuvor wurde ich in die Zange genommen. Einer packte mich, der zweite holte aus - und im selben Moment kam ein rasender Berserker über sie. Es war Reginald Bull. Die drei fielen hin, ich traf einen Zentrifaal mit dem Stiefel, der zweite wurde plötzlich von einem Artgenossen aufs Korn genommen. »Danke, Dicker!« schrie ich. Bully kam auf die Beine. Wir schleppten uns nebeneinander zum Korridor. Als wir praktisch in Sicherheit waren, folgte uns mit irrsinniger Dynamik eines der Wesen in Schwarz. Bully und ich ließen uns zur Seite fallen. Aber der Zentrifaal war nicht auf tote Terraner aus. Er sprintete vorbei, ließ uns links liegen und rannte in den Korridor. Für seine Artgenossen mochte das eine unverzeihliche Feigheit bedeuten. Ich dagegen hielt ihn für den ersten Zentrifaal, der an Bord der CHIIZ so etwas wie Hirn bewies. »Haltet ihn auf!« brüllte jemand im Goo-Standard-Dialekt. Aus dem Handgemenge schälte sich zur Hälfte ein Körper; es war A-Kestah, ich erkannte die Mimik wieder. Einen Augenblick lang tauchte A-Kestah unter, kam wieder zum Vorschein, und mitten aus dem Getümmel brüllte er zum zweiten Mal: »Haltet ihn fest! Er wird sonst den Reaktor sprengen!« Bis ich in Gedanken soweit war, dauerte es weniger als eine Sekunde. Dann begriff ich: Der Zentrifaal, den wir soeben hatten flüchten sehen, war in einem Selbstmord-Auftrag unterwegs.
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9. »Über mein Volk kommen unendliches Leid und ein Jahrhundert ohne Würde.« »Laß sehen, Alter.« Bully beugte sich über mich, er musterte meine Stirn. Mit der Hand wischte er das Blut beiseite. Es war eine hastige Bewegung, die mir große Schmerzen verursachte. »Halb so wild. Du wirst kein großes Problem damit haben.« Das Ganze hatte fünf Sekunden gedauert. Fünf verlorene Sekunden, dachte ich. Wir rappelten uns auf, ließen die kämpfenden Zentrifaal zurück und rannten wiederum zum Antigravschacht. Es war derselbe Weg, den auch der Flüchtende genommen hatte. Wir erkannten es daran, daß er eine Spur verdatterter Mocksgerger hinter sich herzog; sie starrten zum Schacht, als sei der Teufel persönlich auf den Plan getreten. Ein Zentrifaal konnte schneller rennen als ein Mensch. Aber im Gegensatz zu ihm besaßen wir Ortskenntnis, und das war unser Vorteil. Ob wir ihn einholten oder nicht, das hing nicht zuletzt von seiner Geschicklichkeit ab. Er wird den Reaktor sprengen. Ich fragte mich, woher A-Kestah das wissen wollte. Gut möglich, daß es sich um eine Vermutung handelte. Bully und ich bogen im Höllentempo um die letzte Kurve. Da war er schon, der Schacht. Wir schnellten vorwärts und prallten gegen die Wand auf der anderen Seite - bevor der abwärts gerichtete Zug uns erfaßte. »Da unten«, stieß der Dicke hervor. »Perry!« Ich wischte das Blut von der Stirn, das sich wieder gesammelt hatte, und starrte abwärts. Eine schwarze Blickleiste schaute empor, von starrem -381-
Mienenspiel umgeben. Der Zentrifaal besaß hundert Meter Vorsprung. Im Schacht waren das zwei Minuten; die man nicht aufholen konnte, weil ein Antigravschacht für alle mit derselben Geschwindigkeit arbeitete. In diesem Moment erreichte unser Gegner das untere Ende. »Verflucht!« preßte Bull hervor. Unser Atem ging rasend schnell. Es war eine fürchterliche Sache, im Schacht festzuhängen, während hundert Meter tiefer entschieden wurde: über unser Leben und über das der vielen Passagiere. Durch den Schacht gellte der schrille Laut einer Sirene. Demin, Buage und der Kommandant hatten sich entschlossen, Alarm zu geben. Ob es Nutzen brachte, daran wagte ich zu zweifeln. »Aus dem Weg!« schrie ich. Sieben Mocksgerger hatten sich in den Schacht geworfen, aus reiner Panik, und versuchten irgendwo hinzukommen, wo sie nichts verloren hatten. »Raus aus dem Schacht! Raus hier!« Das mußte man ihnen lassen: Auf die geeignete Ansprache reagierten sie. Bevor sie uns aufhalten konnten, sprangen sie bereits ins nächste Deck. Ich hoffte, daß der Zentrifaal am Eingang zum Triebwerkssektor aufgehalten wurde. Zehn Sekunden, zwanzig, das unterste Passagierdeck rückte näher. Was, wenn der Zentrifaal einen Hinterhalt legte? Unsinn, er hätte sich ins eigene Fleisch geschnitten. Wer in Selbstmordmission unterwegs ist, der hält sich nicht mit Verfolgern auf. Kontakt. Wir landeten mit beiden Füßen, sprangen durch die Schachtöffnung zur Seite, aus dem abwärts gepolten Sog in den Korridor. Den Weg kannten wir bereits. Offensichtlich auch der Zentrifaal, denn das Schott zum Triebwerkssektor stand sperrangelweit offen. -382-
In der Tür lag ein sich windender Paradea. Der Zentrifaal hatte ihn angegriffen und verletzt, jedenfalls legte das die Art seiner Verwundung nahe. Das Zucken hörte auf, als wir uns näherten; lautlos starb der Paradea. »Der weiß ganz genau, wo er hin muß!« stieß Reginald Bull bitter hervor. Im Triebwerkssektor war die Hölle los. Otterschlangen bewegten sich ohne jede Kontrolle, sie hatten so etwas wie einen Alarm offenbar nie erlebt. Chaos und technischer Zustand gingen Hand in Hand, und mittendrin rannte ein Selbstmord-Attentäter. Wir passierten das sekundäre Abteil mit Schaltanlagen und Vorratskammern. Der Zentrifaal konnte praktisch überall sein. Der letzte Korridor - darauf setzten wir unsere Hoffnung. Jenseits erstreckten sich bereits das Zwischendeck und die HighTech-Scheibe. Wenn er diesen Gang passiert hatte, so wußten wir, dann war er nicht mehr aufzuhalten. Ich schlug mit der Faust auf den Öffnungskontakt. Die Schotthälften fuhren beiseite. Im Zwischendeck, das sich unter uns erstreckte, lag ein getöteter Paradea. Der Oberkörper des Wesens sah regelrecht zerrissen aus, zweifellos die Spur einer rechten Zentrifaal-Hand. Wir hielten inne und starrten auf die fünf Schächte, die ans Heckende der Rakete führten. »Zu spät«, sagte Reginald Bull tonlos. Der Dicke wurde leichenblaß. »Er ist schon beim Reaktor.« Bully wollte sich nach unten fallen lassen, dem Selbstmörder hinterher, doch ich griff seinen Arm und hielt ihn fest. »Warte. Da war doch was ...« »Nämlich?« »Ich erinnere mich, daß man die High-Tech-Scheibe absprengen konnte.« Reginald Bull ballte die Fäuste. »Dahinten ist die Schaltung!« rief er. -383-
In die Korridorwand eingelassen lag ein verplombter Kasten. Wir sprangen hin, rissen mit vereinten Kräften den Deckel ab und starrten auf einen einzigen grauen Hebel, der zum Vorschein kam. »Bully! Das Trennschott muß zu! Sonst ersticken wir!« Der Dicke berührte den Öffnungskontakt, die Hälften fuhren wie in Zeitlupe zusammen. Es dauerte Ewigkeiten. Ich betete um jeden Sekundenbruchteil, mit übersteigertem Hörvermögen nahm ich jedes Knirschen, jedes Ächzen der Lagertaschen wahr. Ich spürte förmlich, wie der Zentrifaal ganze Arbeit leistete. Wie er mit gezielten Griffen die automatische Kontrolle außer Kraft setzte, die ganze Zeit, die ganzen drei Sekunden, die es dauerte. Gurkenraumer. Mir wurde klar, wie recht Bully gehabt hatte. Eigentlich mußte er längst fertig sein. Die Kettenreaktion war nicht mehr aufzuhalten. Wenn wir Glück hatten, blieben noch wenige Momente übrig. »Verdammt, dieses Trennschott ist ein Witz!« Reginald Bull trat gegen die Hälften, bis sich der letzte Schlitz zusammenschob. »Na also!« Bull hob den Daumen, »Grünes Licht, Perry!« Ich riß den Hebel herunter Und es passierte gar nichts. Ich versuchte es ein zweites Mal. Hoch, runter, nichts. Beim dritten Versuch brach der Hebel ab. Weshalb ich immer noch nicht aufgab, wußte ich nicht, aber ich sagte ruhig: »Bully! Sieh zu, ob du das hier reparieren kannst.« »Was zum ...« »Schnell!« Immer noch hegte ich Hoffnung, irrwitzig und ohne Aussicht, aber ich sprang hin und ließ das Schott wieder beiseite fahren. Über eine Leiter erreichte ich den Grund. Ich stand mitten im Zwischendeck. Und in diesem Moment tauchte aus einem der fünf Schächte der Zentrifaal auf. -384-
Mein Gegner zeigte genau die Sorte Verwirrung, die ich sehen wollte. Ich schaute auf die Schächte, auf den holographischen Wegweiser, und trotz meiner Lage hatte ich ein breites Grinsen im Gesicht. Der Zentrifaal war auf den falschen Wegweiser hereingefallen. Genau wie wir beim ersten Mal. Statt am Reaktor war er beim Schutzschirmaggregat gelandet. Ich wischte mir Blut aus dem Gesicht. »Da bist du ja«, sagte ich. Das bleiche Gesicht meines Gegenübers zeigte mit einemmal keine Verwirrung mehr. Der Zentrifaal erkannte seinen Gegner. Ich stellte ein handfestes Problem dar, das er aus dem Weg räumen mußte. Aus seiner Sicht: eine lästige Hürde, leichter zu bewältigen als die Frage, wo eigentlich der Reaktor geblieben war. Meine Kniegelenke knickten ein. Rücken- und Bauchmuskulatur spannten sich unsichtbar. Jetzt! Mit einem tänzelnden Schritt wich ich beiseite, ehe der Selbstmord-Kandidat mich erwischte. Die rechte Hand strich am Gesicht vorbei. Ich spürte den Luftzug, der Hieb kam knapper als erwartet. Schulmäßig nutzte ich meinen Schwung, traf mit einer uralten Dagor-Technik seine Hüfte, landete einen wuchtigen Treffer. Die Wirkung war verheerend. Das Knacken, das ich hörte, zeigte einen zertrümmerten Knochen an. Aus dem Mund meines Gegners drang ein Schmerzensschrei, und ich hoffte bereits, daß damit der Kampf entschieden wäre. Weit gefehlt. Der Zentrifaal schwang sich aus dem Fallen zum Angriff auf. Verletzt oder nicht, ich sah ihn auf mich zufliegen, auch wenn ich die Bewegung nicht nachvollziehen konnte. Instinktiv ließ ich mich nach hinten kippen. Alles andere war sinnlos, ich hatte nur diesen einen Moment. Ein zweites Mal verfehlte mich die ausgestreckte Rechte. Was aber wenig änderte, denn die linke, die eisenharte Hohlschaufel-385-
Hand, traf mit voller Stärke meinen Kopf. Der Zentrifaal rauschte über mich hinweg. Ich merkte, wie mich eine Sekunde lang Ohnmacht umfing. Es wurde dunkel und wieder hell, alles innerhalb eines Wimpernschlags. Wehrlos erwartete ich den tödlichen Hieb. Aufspringen oder beiseite werfen, dazu fehlten Kraft und Koordination. Aber nichts geschah. Warum? Etwas nichts Vorhergesehenes mußte passiert sein. Bully - schon zur Stelle? Aber nein, nicht in den wenigen Sekunden. Mit einem ächzenden Geräusch kam ich hoch. Mein Kopf dröhnte, als hätte ich gefährlich engen Kontakt zu einer Abrißbirne hinter mir. Und als ich mich umdrehte, lag der Zentrifaal nur einen Meter entfernt. Er ruhte auf dem Bauch, die Arme unter sich verschränkt. Sein Körper zeigte keine Regung mehr. Ich konnte mich nicht erinnern, daß ich einen zweiten Treffer gelandet hätte; jedenfalls keinen mit dieser Wirkung. Ich bewegte mich auf Händen und Knien zu ihm, tippte vorsichtshalber die schwarzen Stiefel an. Der Zentrifaal gab ein schwaches Stöhnen von sich. Also lebte er. Ehe er sich erholen konnte, kam ich vollends auf die Beine. Ich stellte mich neben ihn, riß ihn aus der Bauchlage auf den Rücken. Bevor ich den entscheidenden, betäubenden Schlag anbrachte, bemerkte ich die riesengroße gelbe Lache, die sich rings um ihn ausbreitete. »Mein Gott...« Mir wurde übel, und ich wußte nicht, ob als Folge des Schädeltreffers oder des Anblicks. Beim Sturz war der Selbstmörder in seine eigene Hand gefallen. Bauch und Brustkorb waren aufgeschlitzt. die Rechte und die schaufelförmige Linke von Blutflüssigkeit überströmt. Ich kniete neben ihm nieder. Mir wurde klar, daß ich für den armen Kerl nichts mehr tun konnte. In diesem Augenblick -386-
empfand ich nichts als Mitleid. Auch wenn dasselbe Individuum eben noch mehr als fünfhundert Wesen hatte auslöschen wollen. Ich berührte die linke Hand des Zentrifaal und hielt sie fest. Ob er bei Bewußtsein war, das vermochte ich nicht zu sagen. Die schwarze Blickleiste verhinderte Aussagen dieser Art, sie war mit herkömmlichen Augen nicht vergleichbar. Aber plötzlich stand der Mund offen, jener schmale Schlitz am Ende des Kinns, und hervor kamen geflüsterte Worte, die ich kaum noch verstehen konnte. Ich brachte mein Übersetzergerät so nahe heran wie möglich. »... nun ist alles zu spät«, hörte ich es wispern. »Caliform wird den Krieg nach Zentrifaal-Zentrum tragen. Über mein Volk kommen unendliches Leid und ein Jahrhundert ohne Würde ...« Als ich das hörte, lief mir ein Schauer über den Rücken. Mir war klar, daß der Zentrifaal das, was er da sprach, aus tiefstem Herzen glaubte. Ich brachte meine Lippen in die Nähe seiner Ohren. »Wovon sprichst du?« fragte ich eindringlich. Der Zentrifaal lachte leise. Daß er starb, schien ihn nicht sonderlich zu kümmern. »Bitte antworte mir!« drängte ich. »A-Gidecaj sagte, es gibt keine Morde in Plantagoo. Aber du und die anderen, ihr wart nichts anderes als ein Mordkommando. Aus welchem Grund? Was ist Caliform?« Erneut das Lachen. »Du stellst die falsche Frage, Fremder ... Frage nicht: ›Was ist Caliform?‹ - sondern: ›Wer?‹« Die Stimme des Zentrifaal war leiser geworden, und mir wurde klar, daß ich aus ihm keine Antwort mehr hervorlocken würde. Es hatte keinen Zweck, Schluß damit. Statt dessen faßte ich wieder seine Hände. Und dann sprach er doch noch, überraschend klar und deutlich und ein letztes Mal: »Wir wollten Caliform nicht ermorden. Wir wollten lediglich einen Unfall herbeiführen. Du begreifst den -387-
feinen Unterschied?« Die zweigeteilte, völlig hirnrissige Moral wurde mir deutlich offenbar. Das Volk der Zentrifaal wurde zum Frieden gezwungen, obwohl es sich dafür nicht eignete. Durch seinen Körper lief ein Zucken. Es war vorbei. Als ich aufblickte, hatte sich ein Haufen Personen um mich und die Leiche versammelt. Die eine Person war Reginald Bull. In den anderen erkannte ich A-Kestah und vier Zentrifaal aus seinem Clan, alle mehr oder weniger beschädigt. »Bist du in Ordnung, Alter?« Ich warf dem Dicken einen beruhigenden Blick zu. »Alles klar.« Obwohl ich in allen Gliedern eine überwältigende Mattigkeit verspürte, kam ich auf die Beine. »Gidecajs Leute sind ohne Ausnahme tot«, teilte A-Kestah mit. Er hatte dicke Schrammen im Gesicht, außerdem hing einer seiner Arme schlaff herunter. »Der hier war der letzte. Fremder, wir sind dir zu Dank verpflichtet. Ich erkenne hiermit ausdrücklich an, daß wir in deiner Schuld stehen. Du hast ein unersetzliches Leben gerettet.« »Ein Leben?« wunderte ich mich. »Von welchem Leben sprichst du?« Der Clanführer antwortete: »Ich meine das Leben von Caliform.« »Du weißt, daß mir der Name nichts sagt?« »Natürlich. Aber das wird sich ändern. Wir stellen dir Caliform vor. Warte nur noch eine halbe Stunde.« Ich hatte ein ungutes Gefühl, als ich das hörte. Lebensretter sein ist eigentlich eine gute Sache; aber allmählich packte mich die Neugierde, was für ein seltsames Leben ich da eigentlich gerettet hatte. Ich schleppte mich zum nächsten Interkom und nahm Kontakt mit den Paradea auf. Zwei Minuten dauerte es, dann hatte ich Demin auf der anderen Seite. Ich erklärte ihm in kurzen Worten, -388-
was geschehen war. Kurz darauf wurde das Alarmsignal ausgeschaltet. Zeit wurde es, ich hatte das Geklingel kaum noch ertragen. »Und was ist mit den Zentrifaal?« fragte der Kleine. »Sind sie alle ...?« »Tot? Ja, einige.« »Aber nicht alle, nehme ich an.« »Keine Angst«, beruhigte ich ihn. »Ich bin sicher, daß wir die Sache im Griff haben. Die Gefahr, die von ihnen ausging, ist jedenfalls gebannt.« »Wirklich?« Schüchtern kam das, voller unterdrückter Ängste. Was sich in der CHIIZ abgespielt hatte, überstieg eindeutig das Begriffsvermögen eines durchschnittlichen Plantagoo-Bewohners. »Du kannst dich darauf verlassen.« A-Kestah hätte zum augenblicklichen Stand jederzeit sein Leben für unseres riskiert, gleich, ob er uns mochte oder nicht. Die Sicherheit, von der ich gesprochen hatte, existierte ganz real. Bully und ich stiegen mit den Zentrifaal ins nächste Deck, dann weiter hinauf. Die Begegnung mit Caliform stand kurz bevor. Von Normalität konnte keine Rede sein. Die Mocksgerger an unserer Route liefen in weitem Bogen davon, wenn sie unsere Gesichter sahen. Aber die Atmosphäre von Bedrohlichkeit existierte nicht mehr. Ganz allmählich machte sich ein Hauch von Ruhe breit. Der Kabinentrakt, in dem A-Kestah und seine Leute untergebracht waren, bot den Anblick eines Schlachtfelds. Es war eine Konfrontation mit dem Grauen, ein Stilleben der furchtbarsten Sorte. Auf dem Boden lagen - in jedem erdenklichen Zustand zweiundzwanzig Leichen. A-Gidecaj mit elf seiner Leute, also praktisch der gesamte Clan, dazu zehn Opfer aus dem Clan des -389-
A-Kestah. Fast alle Wunden stammten von den rechten Händen der Zentrifaal. Bilder wie aus einem Horrorfilm. Und wir dachten schon, daß wir so etwas in Plantagoo nicht sehen müssen. A-Kestah stieg in bemerkenswerter Ruhe über die Leichname hinweg. So etwas wie Mitleid schien er nicht zu empfinden. Er führte uns und seine restlichen Leute über den Flur, stockte vor der allerletzten Kabine. Der Blick, den er hinter die Tür warf, war schon deutlich engagierter. Ich erlebte sein Aufatmen so fühlbar mit, als ob ich in der Haut des Clanführers steckte. »Kommt!« sagte er. »Ich zeige euch etwas.« Er winkte uns hinter sich in die Kabine. Auf der zweckentfremdeten Pritsche lag jener geheimnisvolle Behälter, den er mit seinem Clan die ganze Zeit gehütet hatte. Das Ding sah aus wie ein Sarg. Es war zwei Meter lang, einen halben Meter hoch, einen Meter breit. »Ich möchte wissen, was das ist«, sagte ich mit ruhiger Stimme. »Da drinnen«, antwortete er, »liegt Caliform.« »Der Grund des Ganzen.« »Ja.« A-Kestah trat ans Kopfende des Behälters und löste eine Schaltung aus, die ich von meinem Standort nicht erkennen konnte. Eine Sekunde später klaffte ein Spalt im Sarg. Die offene Nut führte einmal um den Behälter herum. Lediglich an einer der Längsseiten gab es so etwas wie Scharniere, die man nicht lösen konnte. A-Kestah schlug bedächtig den Deckel auf. Mit atemloser Spannung verfolgte ich, was darunter zum Vorschein kam. Es war ein regloser Zentrifaal. »Caliform?« fragte Reginald Bull. »Das ist richtig.« -390-
»Wieso kämpft ihr eigentlich so erbittert um eine Leiche?« »Du irrst, Fremder. Caliform lebt. Ich sagte doch bereits, ihr habt sein Leben gerettet.« Wie er so dalag, machte er einen fast exotischen Eindruck. Ich blickte auf einen Zentrifaal von schätzungsweise 1,80 Meter Größe. Für eine Person seines Volkes war das ein absolut stattliches Maß. Die Körperkräfte schienen dagegen unterdurchschnittlich ausgeprägt. Statt schwarzer Kleidung, so wie praktisch jeder andere seines Volkes, den ich kannte, trug Caliform einen hellgrauen Anzug. Sein Gesicht war schmal. Ich empfand es als sehr ausdrucksvoll, trotz der schwarzen Blickleiste und des kaum sichtbaren Mundes. Dieser reglose Körper hatte etwas, auch wenn ich es nicht definieren konnte. »Caliform befindet sich im Tiefschlaf«, erläuterte der Clanführer. »Er träumt, aber sein Geist kommt niemals an die Oberfläche.« »Und wieso wird so ein Aufhebens um den Kerl gemacht?« fragte Reginald Bull. »Weil Caliform der wichtigste politische Führer der Zentrifaal ist.« »Wichtige politische Führer werden nicht auf diese Weise befördert«, antwortete der Dicke prompt. Die Erwiderung ließ A-Kestah sichtbar wütend werden. »Dieser schon! Du redest von Dingen, die du nicht verstehst. Caliform ist ein Exil-Führer. Seine Anwesenheit in der Heimat wird vom Volk gewünscht, nicht jedoch von der Regierung. Mit der CHIIZ kehrt er nach Zentrifaal-Zentrum zurück, um seine rechtmäßige Herrschaft anzutreten!« »Na ja ... Und wieso liegt Caliform dann im Tiefschlaf? Wieso habt ihr ihn nicht in einer Maskierung eingeschleust?« »Es gibt Mittel und Wege, eine Maske zu durchschauen. -391-
Individualorter und so weiter. Zu gefährlich. Caliform hat sich aus Gründen der Sicherheit selbst für den Tiefschlaf entschieden.« »So.« A-Kestah berührte weitere Schaltungen am Ende des Sarges, ebensowenig erkennbar wie die ersten. Durch den Sarg wehte ein eisiger Hauch; ich spürte es, auch wenn ich einen Meter entfernt stand. »Und jetzt?« »Jetzt werde ich Caliform erwecken.« »Warum so plötzlich?« »Wegen A-Gidecaj. Daß das Killerkommando sich an Bord befand, bedeutet etwas. Mit einiger Sicherheit wußte der Geheimdienst des Herrschers über die bevorstehende Rückkehr Bescheid. Sie hatten nur keine Ahnung, mit welchem Schiff Caliform kommen würde, und sie wußten auch nicht, wann.« »Woraus schließt du das?« fragte ich interessiert. »Aus der Tatsache, daß A-Gidecaj selbst nicht präzise informiert war. Und aus der Qualität seines Clans. Hätte man gewußt, wann und wie Caliform ankommt, hätte man ein Kommando von extrem hoher Qualität geschickt. Das war nicht der Fall. Bis auf weiteres gehe ich davon aus, daß sämtliche Passagierschiffe mit Kurs Z-Z ein Killerkommando an Bord tragen.« »Jedes einzelne?« fragte Bully ohne rechten Glauben. »Das kann doch nicht sein, A-Kestah.« »Es sind nicht so viele, wie du vielleicht denkst.« »Ein paar hundert jedes Jahr?« »Ein paar Dutzend. - Jedenfalls wußten wir zu Anfang gar nicht, was A-Gidecaj und seine Leute wollten. Wir spürten lediglich das Taxieren, die potentielle Feindseligkeit.« Ich bemerkte eine Gebärde, irgend etwas im Sarg hatte sich bewegt. Ein Finger zuckte. Der kleinste Finger an Califorms Hand krümmte sich. -392-
A-Kestah beäugte sorgfältig das geringste Detail. Unvorstellbar, daß ihm etwas entgehen könnte. Aber noch war es nicht soweit, sonst hätte er nicht weitergesprochen. »Die ersten Zusammenstöße mit dem Clan Gidecaj waren normal. Zentrifaal streiten sich zuweilen, ihr wißt das vermutlich. Und dann der Tod dieser Frau. Wir wußten nicht, daß sie einen Embryo trug. Jedenfalls, D-Koker wurde von uns beim Spionieren erwischt, deshalb ließ ich sie verfolgen und zur Rede stellen. Es kam zum tödlichen Kampf. D-Koker wollte eher sterben als ihren Auftrag nennen.« »Das war also der erste Akt«, murmelte ich. »Ja. Wir waren gewarnt, A-Gidecaj hatte kein leichtes Spiel. Irgend etwas brachte ihn dann auf die Spur. Am Ende muß A-Gidecaj gewußt haben, daß sich Caliform an Bord befand. So kam es zum letzten Angriff.« »Und zum Selbstmordversuch«, ergänzte Bully. »Exakt.« Der Dicke wollte noch etwas sagen, aber A-Kestah unterbrach ihn mit einem resoluten Zeichen. Im Inneren des Sarges war der reglose Körper nicht länger ohne Leben. Ich sah, wie die linke Hand sich hob, wie der Hohlraum der organischen Schaufel sich öffnete und verschloß. Ein Mensch hätte jetzt die Augen geöffnet. Doch Caliform besaß keine Augen im menschlichen Sinn. Er gab keine Geräusche von sich, er fing nicht schwer zu atmen an. Ein solches Muster an Selbstbeherrschung hatte ich nicht oft erlebt. Caliform sprach einfach: »Ich bin wach.«
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10. »Erinnerst du dich noch?« »Was würdest du tun, A-Gidecaj, wenn du gestorben bist?« »Wer gestorben ist, kann nichts mehr tun.« »Und wenn es doch möglich wäre?« »Ich bin kein Träumer.« »Was, wenn deine Seele fliegen könnte?« »Ich habe keine Seele. Wenn ich gestorben bin, werde ich Staub sein.« »Wie schade, A-Gidecaj!« »Schade? Diesen Gedanken lehne ich ab. Ich habe die Regeln nicht gemacht, aber ich akzeptiere sie. Alles andere wäre Zeitverschwendung.« (Psychotaktische Gesprächsprotokolle. A-Betchagas Geheimer Dienst. Auswahl verfahren ll.A. 19.) Ich konnte sehen, wie die Zentrifaal erschauerten. Sie, die soeben einen tödlichen Kampf überstanden und der Schiffsexplosion durch reines Glück entgangen waren, zeigten eine Regung dieser Art. Das Wesen im Sarg machte keine Anstalten, sich zu erheben. Statt dessen die knappe Frage: »Befinden wir uns bereits auf Zentrifaal-Zentrum?« »Nein, Caliform.« »Warum nicht?« »An Bord dieses Schiffes hielt sich ein Killerkommando auf. Es war beauftragt, dein Leben auszulöschen.« »Was ist mit dem Kommando?« »Wir haben es besiegt. Allerdings nicht ohne Hilfe dieser Fremden hier.« Die Geste wies auf uns. Caliform kam mit dem halben Oberkörper hoch. Auch ohne sichtbare Pupillen merkte ich, daß wir von Kopf bis Fuß gemustert wurden. -394-
»Hilfe?« hakte Caliform nach. Sein Tonfall wirkte plötzlich drohend, und ich sah, wie sich der Clanführer vor ihm instinktiv duckte. »Das ist richtig.« »Heißt das, diese Fremden haben Dinge getan, zu denen mein Geleitkommando allein nicht imstande war?« »Nun ...«, druckste A-Kestah, »so muß man es wohl ausdrücken.« »Besteht eine Verpflichtung diesen Fremden gegenüber?« »Ja. Ohne ihr rechtzeitiges Eingreifen wäre keiner von uns mehr am Leben.« Caliform stützte sich mit beiden Händen, der schaufelförmigen Linken und der nagelbewehrten Rechten, auf den Rand seines Behälters. In einer fließenden kraftvollen Bewegung kam er hoch. Auf Anhieb hatte er so schwächlich gewirkt; ich begriff, daß es eine Täuschung war, daß man ein Unterschätzen dieser Person teuer bezahlen würde. Eine Weile ließ Caliform unschlüssig die Füße baumeln. Seine Atmungsorgane produzierten ein pfeifendes Geräusch, das jedoch mit jeder Sekunde nachließ. Dann stand er plötzlich auf eigenen Beinen. Die Zentrifaal im Raum taten allesamt einen Schritt rückwärts. Nicht aus Furcht, wie ich annahm, sondern aus Respekt. »Aus welchem Grund wurde ich geweckt, A-Kestah? Bist du nicht imstande, unseren Dank abzustatten?« »Es hatte mit den Fremden nichts zu tun, Caliform.« »Sondern?« »Allein mit dem Killerkommando. Das Attentat beweist, daß deine Ankunft auf Z-Z vor der Zeit bekannt wurde. Unsere Geheimhaltung ist aller Wahrscheinlichkeit nach unterlaufen worden. Du mußt neue Entscheidungen treffen. Deshalb haben wir dich geweckt.« Darüber dachte Caliform ein paar Sekunden nach. Dann sagte er: »Gut gemacht.« -395-
Und ich hatte selten jemanden so erleichtert gesehen wie A-Kestah und seine Leute. »Wie lange haben wir noch bis Z-Z?« fragte das Wesen. »Wenige Stunden, Caliform. Zwei Transitionen.« »Besitzt dieses Schiff einen Hyperfunksender?« » Gewiß.« »Gut. Ich werde nachdenken, was zu tun ist. Anschließend bekommen unsere Leute Instruktionen. Ich möchte, daß ihr nun alle diese Kabine verlaßt.« A-Kestah und seine Leute drehten auf dem Absatz - da sprach Caliform zu mir und Reginald Bull: »Nein, ihr nicht. Mit euch möchte ich reden.« Er wartete, bis die Überlebenden des Clans den Raum verlassen hatten. Lange Zeit schauten wir uns an, jeder im Bemühen, den anderen zu taxieren. »Ich habe niemals Wesen wie euch gesehen«, sagte Caliform schließlich. »Wir stammen nicht aus Plantagoo. Unsere Heimat ist eine sehr ferne Galaxis.« Und Reginald Bull fügte hinzu: »Schiffbrüchige, sozusagen.« Im Gegensatz zu allen anderen, die wir eingeweiht hatten, reagierte Caliform nicht mit Unverständnis. Dieser Zentrifaal besaß die Gabe der Phantasie. Er versuchte abzuschätzen, ob die Konstellation mit zwei Außergalaktikern ihm Vorteile brachte oder nicht. »Was wollt ihr eigentlich auf Zentrifaal-Zentrum?« fragte er unvermittelt. »Wir benötigen ein Raumschiff«, antwortete ich. »Man sagte uns, die Chance sei auf deinem Heimatplaneten noch am größten.« »Das ist richtig«, meinte Caliform nachdenklich. »Ich schätze euch beide als sehr intelligent ein. Anders als A-Kestah und seine Versager. Also wißt ihr längst, daß die Raumschiffe von Plantagoo euch nicht in eine ferne Galaxis bringen können.« -396-
»Klar«, sagte Bull, »wissen wir. Das Schiff wird auch nur gebraucht, um zu den Galornen zu kommen. Wir hoffen, daß die uns helfen.« Caliform lachte leise. »Galornen suchen? Ein kühner Plan. Was übrigens den Wahrheitsgehalt eurer Geschichte unterstreicht. Die Bewohner von Plantagoo wären niemals auf eine derart einfältige Idee gekommen.« Eine ganze Weile schien er intensiv in Gedanken verstrickt. Wir störten ihn nicht, während er durch die enge Kabine wanderte. »Wie auch immer«, erklärte er am Ende, »ich habe mich entschieden, euch ein Angebot zu machen. Wenn ihr mir noch eine Weile behilflich seid, gebe ich euch das benötigte Raumschiff.« »Wie sieht diese Hilfe aus?« fragte ich. »Das werden wir sehen«, wich er aus. »Sobald wir Z-Z erreichen. Ich habe etwas vor, was nicht ganz einfach zu realisieren ist.« »Eine durchaus verlockende Aussicht. Aber mit Schwierigkeiten verbunden, nehme ich an. Handelt es sich vielleicht um einen politischen Umsturz? Um so etwas wie eine Revolution?« »Ja«, sagte Caliform einfach. Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken. Ich konnte mir jetzt erklären, wieso es an Bord der CHIIZ zu so viel Gewalt gekommen war. Wir hatten ohne Absicht mitten in ein Wespennest gestochen. Die Erfahrung lehrte, daß ein Umsturz zu blutigen Unruhen führte. An so etwas wollte ich um keinen Preis beteiligt sein, auch nicht um den Preis eines Raumschiffs. »Wir behalten uns Bedenkzeit vor, Caliform. Bis wir die besagten Schwierigkeiten genauer einschätzen können.« »Wie ihr wollt. Ich gebe euch Gelegenheit dazu. - Wenn ihr mir jetzt noch eure Namen nennt?« Der Dicke deutete eine Verbeugung an. »Gestatten, Reginald Bull.« Er grinste breit. -397-
»Ich bin Perry Rhodan.« Ohne Grinsen. Der Zentrifaal und ich starrten uns die ganze Zeit an. Es gab immer neue Details zu entdecken, in der Körperhaltung ebenso wie im Mienenspiel. Er hatte Format, dieser Caliform, Charisma und einen starken Intellekt, aber ich war mir nicht darüber im klaren, ob er auch so etwas wie Moral besaß. »Wir reden später weiter«, sagte ich. »Wenn du dich erholt hast.« Die Entscheidung irritierte ihn sichtlich. »Wie ihr wollt.« Mit einer brüsken Geste wandte er sich ab. »Geht jetzt!« Er war derjenige, der das Ende einer Unterredung verkündete; nur nicht in unserem Fall, es würde keine Unterordnung geben. Ich nahm mir vor, darauf strikt zu achten. Bully und ich verließen die Unterkunft. Es gab die eine oder andere Blessur zu pflegen, gelinde ausgedrückt, und die Müdigkeit in allen Gliedern ließ sich keine Minute mehr ignorieren. Ich wünschte mir eine Mahlzeit, eine Dusche und ein Biopflaster für die Stirn. »Na, Perry?« freute sich Reginald Bull. »Ist doch gar nicht so schlecht gelaufen. Jetzt bekommen wir unser Raumschiff fast umsonst.« »Abwarten, Dicker.« »Wieso?« »Erinnerst du dich noch, was Demin damals über den Behälter sagte, in dem Caliform lag?« »Nein.« »Demin sagte, die Kiste stecke voller Tod und Blut und Gewalt.« Reginald Bull dachte eine Weile nach, dann wurde seine Miene wieder finster, und er sagte: »Das heißt gar nichts. Demin hat nur über Träume gesprochen.« »Ich weiß ...« Die feuerrote Rakete CHIIZ transitierte im Lauf der nächsten -398-
Stunden zweimal. Caliform hatte mittlerweile seine Leute informieren lassen; mit anderen Worten, seine Ankunft auf Z-Z erhielt offiziellen Charakter. Was das bedeutete, vermochten wir nicht abzuschätzen. Der letzte Sprung führte ins Zentriff-System. Am 29. Dezember 1288 NGZ stand die Landung unmittelbar bevor.
11. Einige tausend Lichtjahre entfernt, nahe beim Galornenstern, schwebte ein Objekt von der ungefähren Form eines Eis. Es besaß eine Länge von 38 Metern und eine maximale Dicke von 20 Metern. Die Außenhülle der Kapsel war weiß, auf das Innere gab es keinen Hinweis. Der einzige Passagier hatte das Objekt soeben getauft. Von jetzt an trug es den Namen PEGOOM. Foremon, der Wächter der Basaltebene von Galorn, stand in einem milde beleuchteten Raum im Inneren der Kapsel. Mit dem Schiff besaß er die Möglichkeit, Perry Rhodan und Reginald Bull zu verfolgen. Mörder des vierten Boten von Thoregon, verantwortlich für eine Tat, die so ungeheuerlich war, daß es jede Vorstellung sprengte. Es gab zwei Probleme. Erstens wußte er nicht, wohin sich die beiden gewandt hatten. Plantagoo stand ihnen offen, also mußte er warten, bis er in beliebiger Form einen Hinweis erhielt. Foremon machte sich keine Gedanken, daß sie womöglich für immer untergetaucht wären. Wesen von solch abgrundtiefer Schlechtigkeit konnten gar nicht verschwinden. Sie würden immer für Ärger sorgen - und dann wollte er schon zur Stelle sein. Sein zweites Problem betraf die Nahrungsmittel. Er war es gewohnt, über die Füße Mineralien aufzunehmen. Mit den -399-
Segelohren akkumulierte er Sonnenlicht, das ihm die Energie zur Bewegung und zum Morphen lieferte. An Bord der Kapsel gab es beides nicht. Bis zur Erstarrung und zum Hungertod blieb eine Frist von maximal drei Stunden. Sofern er sich nicht allzuviel bewegte, hieß das; aber ohne Bewegung keine Suche nach Nahrungsmitteln. Foremon wußte nicht, wie er das Dilemma lösen sollte. ENDE
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