H. W. Springer
DER DOPPELGÄNGER Mondstation 1999
Science – Fiction – Roman
Bastei Lübbe
BASTEI-TASCHENBUCH BAND 25...
24 downloads
1406 Views
670KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
H. W. Springer
DER DOPPELGÄNGER Mondstation 1999
Science – Fiction – Roman
Bastei Lübbe
BASTEI-TASCHENBUCH BAND 25010 MONDSTATION 1999 © Copyright by ITC Incorporated Television Company Ltd Deutsche Lizenzausgabe 1978 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach
Printed in Western Germany Titelbild: ATV Umschlaggestaltung: Roland Winkler Satz: Neo-Satz, Hürth Druck und Verarbeitung: Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh ISBN 3-404-00953-3
Schweigend betrat Helena Russel mit zehn in weiße Gewänder gehüllten Gestalten die Zentrale der Mondbasis. Sie umringten den Sessel des Commanders und richteten ihre Laserpistolen auf Koenig. „John Koenig“, sagte Helena ruhig, „du bist ein Diener des Bösen und eine ständige Gefahr für unsere Welt. Diese Gefahr muß jetzt beseitigt werden!“ Auf Alpha 1 herrscht das Chaos. Einzelne Gruppen der Alphaner kämpfen um die Macht. Niemand merkt, daß die Besatzung längst unter dem Einfluß der Esper steht.
I
Wieder einmal näherte sich der steuerlos durch den Weltraum rasende Erdenmond einem unbekannten Sonnensystem. Und wieder einmal flackerte in den Menschen der Mondbasis Alpha 1 die brennende Hoffnung auf, endlich der drangvollen Enge des unterlunaren Basiskomplexes entgehen und einen Planeten finden zu können, der sich zur Besiedlung eignete. Die Sehnsucht der Alphaner nach frischer, natürlicher Luft, nach wärmenden Sonnenstrahlen, nach unbeschränkter Bewegungsfreiheit war in den letzten Monaten immer größer geworden. Es konnte eigentlich nur noch eine Frage der Zeit sein, bis der ständige Zwang, in einer künstlichen Umgebung auf engstem Raum mit immer denselben Mitmenschen zusammenleben zu müssen, eine gewaltige psychische Explosion unter den versprengten Menschen von der Erde heraufbeschwor. Und wie schon oft in der Vergangenheit sah es so aus, als ob die Hoffnungen nicht unbegründet waren. Der Stern, der das vor dem Mond liegende System beherrschte, gehörte wie die heimische Sonne zum Spektraltyp G. Sonnen dieses Typs hatten im Normalfall Planeten hervorgebracht. Und wenn einer dieser Planeten sein Zentralgestirn im Bereich des sogenannten Lebensgürtels umlief, konnte mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, daß er erdähnliche Verhältnisse aufwies. Noch war der Mond zu weit von der fremden Sonne entfernt, um es den hochempfindlichen Sensoren der Alphaner zu ermöglichen, die planetaren Gegebenheiten zweifelsfrei festzustellen. Immerhin bestand schon bald Gewißheit darüber, daß es Planeten gab. Den angemessenen Gravitationsfeldern
nach zu urteilen mindestens fünf, wahrscheinlich sogar mehr. Und mit jeder Astronomischen Einheit, die der Mond näher herankam, würden die Meßinstrumente mehr Erkenntnisse gewinnen. Schließlich war es so weit… Acht Planeten konnten identifiziert werden. Der Sonnenabstand der äußeren vier betrug eine Milliarde Kilometer und mehr. Gasbälle, die als Lebensträger nicht in Frage kamen. Dasselbe traf zu auf den innersten Planeten, eine Gluthölle vom Zuschnitt des Merkur. Die drei mittleren Welten jedoch. Ungeduldig warteten die Alphaner darauf, daß der Computer an Hand der Meßergebnisse Simulationsbilder der Planetenoberflächen auf den großen Sichtschirm in der Kommandozentrale zauberte.
»Phantastisch!« murmelte Commander John Koenig. Wie gebannt hingen seine Augen an den dreidimensionalen, farbigen Bildsequenzen, die über den Zentralbildschirm huschten. Natürlich, es handelte sich nur um spekulative Projektionen, aber die Wahrscheinlichkeit, daß der Computer die von den Sensoren übermittelten Daten fehlinterpretierte, war äußerst gering. Er persönlich zweifelte nicht daran, daß diese zweite Welt des Sechsplaneten-Systems der Vorstellung vom Paradies tatsächlich sehr nahekam. Gerade war eine Strandlandschaft zu sehen, wie sie sich der Commander faszinierender kaum ausmalen konnte. Seine Erinnerungen an Tahiti und Martinique enthielten bei weitem nicht diesen südlichen Zauber, der sich jetzt hier vor ihm ausbreitete. Gelber, unerhört feinkörniger Sand, der wie Goldstaub glänzte… ein kobaltblaues Meer, am Horizont von
schneeweißen Gischtkronen gekrönt… blutrotes Sonnenlicht, das Land und Wasser in eine überirdische Aura purer Schönheit tauchte… John Koenig empfand es beinahe als einen blasphemischen Akt, daß sich Helena Russell, die neben seinem Kommandosessel stand, in diesem Augenblick die Nase putzte. Wie profan, dachte er, wie billig. Und da sagte man immer, daß Frauen empfindlicher und intensiver auf Stimmungen reagierten als Männer. Das konnte ja wohl nicht so ganz stimmen. Er war ein Mann, aber niemals wäre es ihm eingefallen, zu diesem Zeitpunkt loszuprusten wie ein Seehund. Unwillig wandte er sich vom Bildschirm ab und funkelte die Chefin des alphanischen Gesundheitswesens an. »Muß das sein, Helena? Diese ungewöhnliche Atmosphäre… nimmt dich das nicht gefangen?« Die Augen der Ärztin weiteten sich in leichtem Erstaunen, Sie war es nicht gewohnt, daß er so mürrisch mit ihr sprach. »Doch«, antwortete sie, »es nimmt mich gefangen. Selten in meinem Leben hat mich etwas derartig abgestoßen wie diese Bilder da.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf den Schirm, und der Commander nahm wahr, daß der Zeigefinger zitterte. Er runzelte die Stirn. Was war los mit Helena? Abgestoßen fühlte sie sich von diesen Bildern, die aus einem Wirklichkeit gewordenen Traum zu stammen schienen? Sie mußte verrückt geworden sein! Koenig widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Bildfläche. Ein Szenenwechsel war eingetreten. Der Computer simulierte jetzt eine neue Planetenlandschaft, völlig andersgeartet, aber sicherlich nicht weniger beeindruckend als das zauberhafte Strandpanorama von vorhin.
Bilder aus einem malerischen Wald präsentierten sich auf dem Schirm. Mächtige Bäume, unter deren hohem Laubdach eine üppige Vegetation ihre Pracht entfaltete. Exotische Blüten von nie gesehener Buntheit bildeten einzigartige Blumenteppiche. Romantische Quellen sprangen aus moosbesetzten Steinen, bildeten glitzernde Wasserläufe, die sich durch das Pflanzenparadies schlängelten. Und diese Wunderwelt war voller Leben. Vögel, deren Gefieder in allen Färben des Spektrums schillerte, schwirrten umher. Ihr Erscheinungsbild war so plastisch, daß John Koenig ihr Trillern, Pfeifen und Singen beinahe vermißte. Aber natürlich ging die Simulation des Computers nicht so weit, daß sie auch akustische Eindrücke von der beobachteten Welt beinhaltete. Aber auch ohne Töne war die Illusion, der Wunderwelt dieses Planeten greifbar nahe zu sein, fast perfekt. Nicht nur Vögel belebten den Märchenwald. Es gab auch libellenartige Wesen mit ätherischen, durchscheinenden Flügeln, andere Insekten, die nicht widerwärtig, sondern putzig wirkten, ja selbst größere Tiere, die an irdisches Rotwild erinnerten, dieses jedoch, was Anmut und Grazie anging, bei weitem übertrafen. Nirgendwo zeigten Flora und Fauna Merkmale, die das menschliche Auge beleidigten oder gar abstießen. Überall war nur Schönheit, Ästhetik… tiefer Frieden. Erneut wechselte die Bildfolge auf dem Schirm. Eine Totale wurde sichtbar, die Totale einer weitgestreckten Landschaft, die sich bis in die Unendlichkeit fortzusetzen schien. Eine riesige grüne Ebene dehnte sich unter einem strahlend blauen Himmel. Hochgewachsenes Gras, das unwillkürlich an die Prärie Nordamerikas denken ließ, wogte wellenförmig auf und ab, als ein sanfter Wind darüber hinwegstrich. Ein breiter Fluß, dessen Wasser so klar war, daß man sich darin spiegeln konnte, zog sich quer durch das satte Grün. Ganz in der Ferne
erhoben sich sanft ansteigende Hügel und wurden eins mit dem wolkenlosen Horizont. Es war nicht allein der Zauber der Natur, der John Koenigs Herz schneller schlagen ließ. Seine Ergriffenheit wurde vor allem anderen aus der Erkenntnis genährt, daß es auf diesem Planeten keine Zivilisation zu geben schien. Nichts deutete darauf hin, daß diese Welt intelligente Lebewesen hervorgebracht hatte. Eingriffe in die Natur wären sonst spürbar gewesen. Aber davon konnte keine Rede sein. Nirgendwo gab es etwas Künstliches, eine Ansiedlung zum Beispiel oder sonstige Spuren geplanten Tuns. Dieser Planet war… ein Geschenk des Himmels. Wer ihn in Besitz nahm, raubte niemandem etwas. John Koenig lächelte still vor sich hin. Es sah ganz so aus, als ob die Alphaner endlich auf die neue Heimat gestoßen waren, nach der sie sich so lange vergeblich gesehnt hatten.
Doktor Helena Russell war entsetzt. Die Simulationsbilder, die der Computer von der Planetenoberfläche auf den Bildschirm bannte, gehörten wirklich zu den abstoßendsten Dingen, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Dieser Planet hatte allerbeste Aussichten, als der unwirtlichste, lebensfeindlichste, höllischste in das Logbuch der Mondbasis Alpha 1 einzugehen. Noch mehr als der schreckliche Planet selbst entsetzte sie jedoch etwas anderes: die Reaktion einiger Besatzungsmitglieder, nicht zuletzt die John Koenigs. Er, Tony Verdeschi, der Sicherheitschef, Chefpilot Alan Carter, noch einige Alphaner schienen regelrecht fasziniert zu sein von den grauenhaften Bildern, die sich da via Mattscheibe in die Kommandozentrale drängten. Beim besten Willen, sie
verstand nicht, wie ein zivilisierter Mensch an diesen Szenen des Chaos, der Gewalt, der ungebändigten Wildheit Gefallen finden konnte. Helena mußte sich zwingen, den Blick nicht vom Bildschirm abzuwenden. Die Bilder, die gerade über die Mattscheibe huschten, waren ein einziger gestaltgewordener Alptraum. Eine Strandszene war es. Turmhohe Brecher klatschten mit Urgewalt gegen schroffe Felsen. Das Wasser – wenn es sich überhaupt um Wasser handelte – war eine grauschwarze, dickflüssige Brühe, die an Jauche denken ließ. Die unappetitliche Flüssigkeit warf Blasen und schäumte wie dreckige Waschlauge. Der ganze Strand, pockennarbige Felsen und wirr herumliegendes Geröll, war mit einem schleimigen Jauchefilm bedeckt. In ihrer Jugend hatte Helena auf Long Island im Staate New York einen Küstenstreifen gesehen, der durch einen ausgelaufenen Öltanker verseucht worden war. Der Anblick der verschandelten, vergewaltigten Naturlandschaft hatte sich fest in ihr Gedächtnis eingebrannt. Im Vergleich zu den Bildern, die jetzt auf der Bildfläche sichtbar waren, erschien ihr die Ölpest jedoch wie eine Einladung zum Badeurlaub. Szenenwechsel auf dem Schirm… Der Computer simulierte jetzt eine Waldlandschaft. Völlig verwachsene Bäume mit schorfigen Borken, die aussahen, als seien sie mit Krebsgeschwüren übersät, duckten sich unter einem düsteren, wolkenverhangenen Himmel. Überall wucherte Unterholz, grau in grau. Pilzähnliche Gebilde platzten auf und spuckten widerwärtiges zähflüssiges Gallert aus. Armdicke Lianen zuckten, und farblose Blütenkelche öffneten sich wie gierige Schlünde. Ein Bach wälzte sich durch die abartige Flora, sonderte dabei brodelnde Dämpfe ab, die sich wie ein Pesthauch am Ufer niederschlugen.
Und der Wald lebte. Ekelhafte Lebewesen stapften, glitten, schwirrten durch das Gehölz. Menschenkopfgroße Spinnen, über und über behaart… oberschenkeldicke Schlangen mit messerscharfen, gebogenen Zähnen und unsagbar tückischen Augen… saurierartige Ungeheuer, die mit wuchtigen Schwanzschlägen Bäume knickten, als seien es Streichhölzer… riesige Insekten mit drohend gereckten Stacheln… Vögel, die nur aus Krallen und mörderischen Schnäbeln zu bestehen schienen… Und alle stürmten aufeinander los und lieferten sich gnadenlose, mit unwahrscheinlicher Wildheit geführte Kämpfe. Helena mußte sich abwenden, denn das fürchterliche Gemetzel ließ Brechreiz in ihr aufsteigen. Schließlich verschwand der Horrorwald vom Bildschirm und machte einer weiträumigen Ödlandschaft Platz, einer Landschaft wie man sie sich desolater und hoffnungsloser kaum vorstellen konnte. Aus einem Boden, der wie verbrannt aussah, wuchsen kümmerliche Stengel hervor, die farbmäßig kaum vom Untergrund zu unterscheiden waren. Ein Fluß, der dieselbe Jauche mit sich führte, die Helena schon von den Strandbildern her kannte, durchzog das Gelände wie eine gewaltige Kloake. Ein hurrikanartiger Sturm peitschte über das Land hinweg und trieb eine nachtschwarze, wirbelnde Dreckwolke vor sich her. Aus dem düsteren Himmel zuckten Blitze hernieder, und gewaltige Regengüsse verwandelten die Ebene in Sekundenschnelle in dunklen Schlamm. Und noch eine Erkenntnis übermittelte die Computersimulation. Der Planet war bewohnt. Von intelligenten Lebewesen!
Im Hintergrund, an eine gezackte Bergkette geklebt, waren Gebäude zu erkennen. Unerhört massive, trutzburgartige Bauten, die Zyklopenhände errichtet zu haben schienen. Mittels Zoomeffekt holte der Computer die Bauwerke näher heran. Die Bewohner der Bollwerke wurden optisch nicht erfaßt, wohl aber das, was sie taten. Aus zwei Bauten, die sich, etwa tausend Meter voneinander entfernt, gegenüberlagen, brachen gewaltige Feuerstrahlen hervor, von schwarzem Rauch begleitet. Und der faule Feuerzauber blieb nicht ohne Wirkung. In den Mauern beider Bauwerke entstanden Risse und Löcher, Gesteinsbrocken lösten sich aus dem Verbund und polterten in die Tiefe. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis beide Burgen in Schutt und Asche lagen. Hier wurde ein Krieg geführt, ebenso unbarmherzig und gnadenlos wie unter den Bestien in dem Horrorwald. Helena schüttelte sich. Dieser Planet war in jeder Beziehung mörderisch, war in jeder Beziehung tödlich. Er kam als neue Heimat unter gar keinen Umständen in Frage. Und Helena war deswegen in keiner Weise traurig.
Selten hatte es in der Kommandozentrale ein derartiges Durcheinander gegeben. Jeder sprach mit jedem, laut unsachlich, ja hysterisch. Es wurde gestikuliert, geschrien, geschimpft, höhnisch aufgelacht. Und die Fronten, die sich zwischen den Besatzungsmitgliedern gebildet hatten, traten immer deutlicher zutage: Frauen auf der einen Seite, Männer auf der anderen. Für Commander John Koenig war es gar keine Frage, wer hier bewußt einen Konfrontationskurs eingeschlagen hatte. Das sogenannte schwache oder auch schöne Geschlecht natürlich,
das ihm in diesen Augenblicken allerdings gar nicht so schön erschien. Eine ganze Weile hörte sich Koenig das Gezeter an. Dann reichte es ihm. Ruckartig stand er aus seinem Kommandosessel auf. »Ruhe!« Seine Stimme übertönte alle anderen, und es trat tatsächlich Ruhe ein, von der John Koenig jedoch den Eindruck hatte, daß es nur eine künstliche Ruhe vor einem neuen Sturm war. Alle, Männer und Frauen gleichermaßen, sahen ihn an. Immerhin zollte man seiner Position noch Respekt, stellte er mit einer gewissen Befriedigung fest. »Ich hatte bisher eigentlich immer gedacht, daß wir ausnahmslos erwachsene und vernünftige Menschen sind«, sagte er so ruhig wie möglich. »Versuchen wir also, die Dinge emotionslos und nur vom klaren Verstand geleitet, zu analysieren.« Er nickte Maya, der jungen Psychonierin, zu. Mit ihrem scharfen Intellekt und ihren überlegenen geistigen Fähigkeiten schien ihm das Mädchen noch am ehesten geeignet zu sein, die Verrücktheiten ihrer Geschlechtsgenossinnen vertreten zu können. Maya pflegte im allgemeinen, streng logisch zu denken. »Also, Maya«, forderte er sie auf, »würdest du uns bitte erzählen, wie die Computersimulation ausgesehen hat, die wir uns gerade alle gemeinsam angeschaut haben.« »Natürlich, John«, sagte die Psychonierin, ebenfalls um Sachlichkeit bemüht. »Ich habe die Bilder eines wahren Höllenplaneten gesehen. Ein Ozean und Flüsse, die aus einer Kloake gespeist zu werden scheinen…« »Lächerlich!« rief Tony Verdeschi, der Sicherheitschef, dazwischen. »Sie muß geträumt haben, als die Simulation ablief.«
Sofort fing es unter den Besatzungsmitgliedern wieder an zu brodeln. Der Commander mußte erneut lautstark für Ruhe und Ordnung sorgen. Obgleich er seinem Freund Tony voll und ganz zustimmte, ersuchte er ihn doch energisch, sich mit Kommentaren zurückzuhalten. »Maya, du bist wieder dran«, bedeutete er der Psychonierin. Das Mädchen sprach weiter: »Gebirge so zerfressen wie faule Zähne in einem medizinischen Lehrbuch, krebsartig wuchernde, abstoßende Flora, ekelerregende Fauna, Intelligenzwesen, die einen barbarischen Krieg führen…« »Genug!« sagte der Commander scharf. Er mußte sich eisern beherrschen, nicht zu Maya hinzugehen, um sie zu schütteln und zu beuteln. Er verstand beim besten Willen nicht, warum sie aus einer Traumwelt eine Perversion machen wollte. Was bezweckte sie damit – sie und die anderen Frauen, die jetzt beifällig zu ihrer Beschreibung nickten? »Schlagen wir einen anderen Weg ein«, sagte er beherrscht. »Wir sind uns im klaren darüber, daß wir kein wirkliches Abbild des Planeten gesehen haben, sondern lediglich eine Simulation, die vom Computer auf Grund registrierter Meßdaten erstellt wurde. Stimmst du mir da zu, Maya?« »Natürlich, John.« Welch verblüffende Einigkeit, dachte Koenig. Er nahm den Faden wieder auf und sagte: »Lassen wir jetzt einmal die Simulation außer acht und konzentrieren wir uns auf die einzelnen Meßdaten, einverstanden?« Maya nickte. Koenig verließ seinen Kommandostand und ging zu der Computerkonsole hinüber, auf der die Schwerkraft des Planeten angezeigt wurde. »Was liest du hier, Maya?« fragte er die Psychonierin, die inzwischen an seine Seite getreten war. »1,9 g«, sagte Maya prompt.
Der Commander atmete schwer. Der Ausdruck lautete eindeutig 0,87 g, und doch behauptete sie etwas ganz anderes. Er ging zur nächsten Konsole. Hier wurde die Planetenatmosphäre aufgeschlüsselt. »Wieviel Anteil an Sauerstoff?« wollte er wissen. »Achtundzwanzig«, antwortete das Mädchen unverfroren. Das war zu viel für John Koenig. »Neeeeiiin!« schrie er sie an. »Es sind einundzwanzig Anteile Sauerstoff. Warum lügst du so unverschämt?« »Das frage ich dich, John!« sagte Maya eisig. Und Sandra Benes, die vor der Konsole saß, sprang ihr hilfreich zur Seite. »Ich weiß wirklich nicht, warum Sie die Anzeigen verfälschen, Commander«, unterstellte sie ihm dreist. »Maya hat völlig recht. Achtundzwanzig Anteile Sauerstoff.« Brüsk wandte sich John Koenig ab und kehrte zu seinem Sessel zurück. Noch immer hatte er die Aufmerksamkeit aller, auch wenn hier und dort bereits wieder Privatdiskussionen begannen. »Hört mir zu, ihr verbohrten Töchter Evas«, rief er laut. »Es scheint euer Ziel zu sein, diesen herrlichen Planeten so hinzustellen, als ob er zur Besiedlung ungeeignet ist. Ihr wollt nicht auf dieser Welt leben, alle Raumteufel mögen wissen, warum nicht. Aber ich sage euch eins. Wenn wir uns dem Planeten noch etwas mehr genähert haben, werden wir ein Expeditionsschiff losschicken. Und wenn dieses Schiff die Computersimulation bestätigt… Nun, ob ihr wollt oder nicht, dann wird dieser Planet unsere und eure neue Heimat!« Nach diesen entscheidenden Worten wurde es in der Kommandozentrale noch hektischer als vorhin.
II
Befriedigt betrachtete Helena Russell die Anzeigen auf dem Monitor, der die Körperfunktionen der Patientin überwachte. Blutdruck, Herzmuskeltätigkeit, Atemkurve – alles normal. Nur die Körpertemperatur lag noch etwas hoch. Aber es war wohl nicht daran zu zweifeln, daß auch das Fieber bald ganz abklingen würde. Laura Wynette befand sich in ausgezeichneter Verfassung. Der schreckliche Unfall, den sie bei ihrer Arbeit im Labor erlitten hatte, würde ohne dauerhafte Folgen bleiben. Schon jetzt war kaum noch etwas davon zu erkennen, daß sich die junge Frau schwere Verbrennungen dritten und vierten Grades zugezogen hatte. Die verkohlten und verschorften Hautstellen waren durch Bioskin ersetzt worden. Der Heilungsprozeß hätte gar nicht besser verlaufen können. Laura schlief ihrer baldigen Genesung entgegen. Helena nickte ihrem Mitarbeiter Doktor Ben Vincent zu. »Ich glaube, wir können zufrieden sein, nicht wahr, Ben?« Der Arzt winkte ab. »Kleine Fische! Ich habe schon Patienten wieder hingekriegt, die waren viel übler dran als diese Zuckerpuppe hier.« Ärger stieg in Helena auf. Vincent bediente sich in jüngster Zeit eines Tons, der ihr überhaupt nicht gefallen wollte. Und dann diese unübersehbare Arroganz. Ich, ich, ich! Er tat ganz so, als würde er die gesamte Krankenstation ganz alleine schmeißen. Sie fragte sich, woran es lag, daß er auf dem besten Weg war, sich von einem liebenswürdigen Kollegen, ja, einem guten Freund, in einen richtig unangenehmen Menschen zu verwandeln.
Brüsk wollte sie sich entfernen, blieb dann aber doch noch. John Koenig hatte den Krankenraum betreten und kam jetzt auf das Bett Laura Wynettes zu. »Mal sehen, was die Drückeberger so machen«, knurrte er. Sein Gesicht war verkniffen, als er Helena herausfordernd ansah. »Na, wie geht’s der verdammten Simulantin?« »Laura ist keine Simulantin«, entrüstete sich die Ärztin. »Wie du recht gut weißt, hat sie einen schweren Unfall gehabt…« »Unfall, ha!« unterbrach sie der Commander. »Ein klassischer Fall von Selbstverstümmelung ist das gewesen. Wir kennen das ja mit diesen jungen Dingern. Zu faul zum Arbeiten. Ist ja auch bequemer, gemütlich im Bett zu liegen und andere für sich schuften zu lassen.« »John!« Helena war fassungslos. Wie konnte er dem armen Mädchen nur solche Gemeinheiten unterstellen! »Ich bin überzeugt davon, daß sie längst aufstehen könnte«, redete John Koenig weiter. »Stimmt’s, Ben?« Doktor Vincent nickte. »Sicher, Commander. Sie tut so, als sei sie sterbenskrank. In Wirklichkeit fehlt ihr nichts mehr. Sie ist längst wiederhergestellt.« »Ben, was redest du denn da?« sagte Helena voller Empörung. Erregt funkelte sie ihren Mitarbeiter an. »Brauchst dich gar nicht so aufzuspielen, meine liebe Helena«, giftete Vincent zurück. »Ich bin ein viel besserer Mediziner als du. Und wenn ich sage, daß diese kleine Schlampe längst wieder okay ist, dann entspricht das voll und ganz den Tatsachen.« Der Commander klopfte dem Arzt auf die Schultern. »Lassen Sie nur, Ben. Ich bin völlig einer Meinung mit Ihnen, Helena deckt diese Simulantin natürlich. Die stecken doch alle unter einer Decke, diese Weiber.«
Helena reichte es jetzt. »Was fällt dir ein, John Koenig? Du bist zwar der Commander der Basis, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht…« »Halt’s Maul!« sagte Koenig grob. »Was?« Helena glaubte nicht recht zu hören. Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. »Ich verbitte mir das!« schnauzte Koenig. »Du scheinst wohl nicht zu wissen, wen du vor dir hast, was? Wenn du noch einmal Despot zu mir sagst, entbinde ich dich von deinen Pflichten. Ist das klar?« »Despot?« wiederholte Helena mit vor Erstaunen geweiteten Augen. »Ich soll Despot gesagt haben?« »Auch noch leugnen, was?« Hilfesuchend wandte sich Helena an Doktor Vincent. »Ben, sag doch was. Ich habe doch nicht…« »Doch!« behauptete der Arzt. »Du hast Despot zu ihm gesagt. Das gehört sich nicht, meine liebe Helena. Schließlich ist er der Kommandant.« »Aber…« »Lassen wir das!« bellte John Koenig. »Jetzt wollen wir erst einmal dieser Simulantin Beine machen.« Er trat ganz dicht ans Bett Laura Wynettes heran und beugte sich über die Patientin. Mit hartem Griff zerrte er ihr die Bettdecke weg. »Los, steh auf, du Luder!« Helena stöhnte auf. »John, bitte…« Er hörte nicht auf sie. Mit beiden Händen packte er die schlafende junge Frau am Hals und schüttelte sie. »Aufstehen, habe ich gesagt.!« Hilflos flog der Kopf des Mädchens hin und her. Mein Gott! durchfuhr es Helena. Er hat den Verstand verloren. Er wird sie umbringen. Sie mußte eingreifen. Sofort!
Voller Sorge um das Wohl ihrer Patientin wollte sie dem rasenden Commander in den Arm fallen, kam jedoch nicht dazu. Ben Vincent verstellte ihr den Weg. »Wenn du den Commander angreifst, meine liebe Helena, dann muß ich dich zu Boden schlagen«, sagte er mit einer Stimme, die vor Kälte klirrte. »Ben…« »Du hast gehört, was ich gesagt habe!« Ja, Helena hatte gehört, was er gesagt hatte. Und doch fiel es ihr unendlich schwer zu begreifen, daß es Realität war, was sich hier im Raum abspielte. Ben Vincent, ihr langjähriger, immer zuverlässiger und warmherziger Mitarbeiter! Und John Koenig, der Mann den sie zu lieben glaubte! Zwei Menschen, die sie fast so gut zu kennen gedacht hatte wie sich selbst. Welch ein Irrtum! Sie hatten die Maske fallen lassen und sich als das entpuppt, was sie wirklich waren: herzlose, gewalttätige Rohlinge, denen alles zu fehlen schien, was einen Menschen ausmachte. Am liebsten hätte Helena geweint. Aber sie beherrschte sich. Diese Menschen sollten ihre Tränen nicht sehen. Koenig wandte sich jetzt vom Bett ab, nachdem er die Patientin brutal in die Kissen zurückgeschleudert hatte. »Ich gebe dir vierundzwanzig Stunden, Helena«, herrschte er sie an. »Wenn das faule kleine Luder dann nicht wieder auf dem Posten ist, komme ich und hole sie. Und dann… Well, es gibt Mittel und Wege…« Ohne ein weiteres Wort verließ er den Krankenraum. Auch Ben Vincent ging wenig später hinaus. Helena blieb allein mit der schlafenden Patientin zurück, die zum Glück die grobe Behandlung durch den Commander unbeschadet überstanden hatte.
Jetzt hätte Helena weinen können, aber sie tat es nicht. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft, und es dauerte auch gar nicht lange, bis sie zu einem Entschluß kam. So nicht, meine Herren!
Tony Verdeschi fühlte sich gar nicht so glücklich in seiner Haut. Weder in seiner Eigenschaft als Sicherheitschef von Alpha 1, noch als Privatmensch. Keine Frage, die Entdeckung des Planeten, den die einen Paradise, die anderen hingegen Hell nannten, hatte zu schwerwiegenden Zerwürfnissen unter den Alphanern geführt. Natürlich, die völlig unsinnige, bewußte Fehlinterpretation einwandfreier Meßdaten, die einmütige Ablehnung von Paradise als Kolonisationswelt durch sämtliche Frauen mußte Spannungen hervorrufen. Daß die Gräben zwischen den Geschlechtern aber gleich so tief, ja, geradezu unüberbrückbar aufgerissen waren, machte ihm große Sorgen. Sein beruflicher Instinkt sagte ihm, daß ihm und den Leuten seines Sicherheitsdienstes allerhand Unerfreuliches bevorstand. Auch rein privat wirkte sich die Situation sehr negativ für ihn aus. Sein Verhältnis zu Maya hatte sich merklich abgekühlt. Die tiefe zwischenmenschliche Beziehung, die zwischen ihm und der schönen Psychonierin bestand, war im Begriff, auseinanderzubröckeln. Und diese Tatsache schmerzte Tony Verdeschi sehr. Sein Herz rebellierte dagegen, und auch sein Verstand warnte ihn davor, es bis zum äußersten kommen zu lassen. Verdeschi beschloß, eine Aussprache mit Maya herbeizuführen. Verdammt noch mal, zwei erwachsene Menschen, die einiges füreinander übrig hatten, mußten doch in der Lage sein, zu einer Übereinstimmung zu kommen.
Warum lange zögern? Tony entschied sich, gleich mit Maya zu reden. Per Commlock wählte er ihren Code. Sie hielt sich in ihrem Privatquartier auf, meldete sich sofort. »Du?« »Ja, ich, Maya.« »Was willst du – mit mir über Hell reden?« »Nein, ich hatte nicht vor, über Paradise…« »Hell!« »Na schön, wegen mir auch Hell«, gestand Tony Verdeschi um des lieben Friedens willen zu. »Aber mir geht es jetzt nicht um den Planeten, mir geht es um uns. Ich möchte mich einmal mit dir aussprechen, Maya.« Das Gesicht der Psychonierin drückte nicht allzuviel Bereitschaft aus. »Du glaubst, das hat noch Zweck?« fragte sie. »Ich hoffe es, Maya!« »Wenn du meinst… Gut, dann komm zu mir.« Ihr Bild verschwand von dem kleinen Kontrollschirm des Commlocks. Verdeschi machte sich gleich auf den Weg, erreichte wenig später die Tür ihres Privatquartiers. Natürlich hätte er mit Hilfe seines Commlocks die Tür öffnen können, aber er wollte nicht zudringlich erscheinen. Deshalb klopfte er an, als sei er irgendein Fremder, der einen Höflichkeitsbesuch abstattete. Maya öffnete. Persönlich, nicht durch Aktivierung ihres Commlocks. Ein gutes Zeichen? fragte sich der Sicherheitschef. Er betrat den Raum. Hinter ihm ließ Maya die Tür zugleiten. »Also?« Ein Blick in ihre Augen genügte ihm, um zu erkennen, daß sie nicht versöhnlich gestimmt war. Sie funkelte ihn regelrecht
an wie eine Teufelin. »Was ihr Kerle euch so herausnehmt, geht Lichtjahre zu weit«, fauchte sie. »Wer nimmt sich was heraus?« fragte Verdeschi ruhig, bemüht ruhig. »John Koenig, zum Beispiel. Ich habe gerade mit Helena gesprochen. Unser großartiger Kommandant führt sich auf, als sei er der Herr des Universums. Und warum, frage ich dich? Nur weil er uns Frauen zeigen will, daß wir sooo klein sind. Er – ihr alle – wollt uns fertig machen, um uns dann willenlos zu diesem Höllenplaneten schleppen zu können. Aber ich sage dir eins, Tony…« »Maya, wir wollten doch nicht über Paradise sprechen!« »Hell, heißt der Planet«, berichtigte die Psychonierin sofort. »Hell, Hell, Hell!« »Schon gut, schon gut.« beschwichtigte Verdeschi. »Maya…« Er streckte die Arme aus, wollte sie an sich ziehen. Sie aber wich zurück, als sei er irgendein Ungeheuer. »Das kannst du mit mir nicht machen, du terranischer Bauernlümmel!« tobte sie. »Was…« »Ich habe es nicht nötig, mich von dir meine kleine psychonische Dirne nennen zu lassen!« Der Sicherheitschef war völlig perplex. »Ich soll gesagt haben, du bist…« Er schwieg. Die unschönen Worte wollten ihm gar nicht über die Lippen. »Verschwinde jetzt, du Primitivling«, keifte Maya weiter. »Wenn du wüßtest, wie du mich anwiderst. Die Schnapsfahne, die du wieder verbreitest…« Keinen Tropfen hatte Tony in den letzten Tagen getrunken. Natürlich, sie sagte das alles nur, um ihn zu kränken. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er sie. Was fand er eigentlich an ihr? fragte er sich plötzlich. Sie kam ihm auf einmal häßlich vor, häßlich und fremd. Ihre Augen standen zu
weit auseinander, ihre Nase war spitz und viel zu lang, und ihre unangenehm vorgewölbten Lippen hatten eine abstoßende blaue Färbung. Er mußte verrückt gewesen sein, sich in sie verliebt zu haben. Wer war sie denn? Die Angehörige einer fremden Rasse, einer ziemlich perfiden Rasse sogar. Eigentlich war für ein Fremdwesen wie sie in der Basis gar kein Platz. Ja, dachte er, dies war ein Gedanke, der weiterverfolgt werden sollte. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging. Die wüsten Beschimpfungen, die sie ihm noch mit auf den Weg gab, würde er sicherlich nicht vergessen.
III
Auf dem Weg zur Krankenstation mußte Helena am FitneßCenter der Basis vorbei. Sie hatte schon die Eingangstür passiert, als sie auf einmal wie angewurzelt stehen blieb. Schreie drangen an ihr Ohr, Schreie der Angst und des hell lodernden Entsetzens. »Hilfe! Hiiilfe…« Es war die Stimme einer Frau in höchster Not. Helena fuhr herum und aktivierte ihr Commlock. Das Funksignal ließ die Tür des Centers aufgleiten. Die Ärztin stürmte regelrecht in den Gymnastikraum hinein. Und wieder blieb sie wie vom Donner gerührt stehen. Das Bild, das sich ihren Augen bot, war ungeheuerlich, ja, war geradezu unglaublich. Vier Personen waren anwesend – drei Männer und eine Frau. Die Männer hatten die Frau auf eine Matte geworfen. Zwei von ihnen hielten sie fest, und der dritte war dabei, ihr den Overall vom Leib zu reißen. Keine Frage, daß sie beabsichtigten, dem Mädchen Gewalt anzutun. Sie gingen äußerst brutal und gemein vor, lachten hämisch und sparten auch nicht mit schmutzigen Kommentaren. Die junge Frau strampelte verzweifelt, kam aber gegen die rohen Kräfte ihrer Peiniger nicht an. »Aufhören!« schrie Helena. Die Kerle, die von allen guten Geistern verlassen zu sein schienen, bemerkten sie erst jetzt. Ihre Köpfe fuhren herum. Helena blickte in verzerrte, von wilder Leidenschaft geprägte Gesichter. Tückische Augen starrten zurück.
Helena kannte die Männer gut. Es waren die beiden Piloten Mark MacInlock und Bill Fraser sowie Manuel Perez, der leitende Ingenieur der Eagle-Wartungsmannschaft, allesamt Männer, die sich im allgemeinen vorbildlich verhielten. Fraser war sogar glücklich mit einer Computertechnikerin verheiratet. Heute aber mußten sie vom Teufel besessen sein. ‘Das Mädchen konnte Helena nicht erkennen. Langes schwarzes Haar fiel ihr ins Gesicht und machte es unkenntlich. Die junge Frau bäumte sich jetzt auf. »Doktor Russell, um Gottes willen, helfen Sie…« Ihre panikerfüllt hervorgestoßenen Worte brachen ab, gingen in ein Wimmern über, als ihr Bill Fraser eine schallende Ohrfeige versetzte. Helena hatte das Gefühl, als würde sie selbst ins Gesicht geschlagen. »Fraser, Sie Unmensch!« schrie sie und eilte auf die Gruppe zu. Die ungezügelten Wildheit, die in den Augen der Männer brannte, veranlaßte sie jedoch unwillkürlich, ihre Schritte zu verhalten. Diese Wahnsinnigen waren zu allem fähig. »Ah, die schöne Helena«, tönte MacInlock. »Ob sie gekommen ist, um bei unserer kleinen Party ein bißchen mitzumachen?« Die anderen beiden quittierten seine Unverschämtheit mit einem johlenden Lachen. »Ich hab’s ja immer gesagt«, feixte Manuel Perez. »Je kühler so ein Weibsstück aussieht, desto heißer wird es, wenn es sich richtig ins Zeug legt. Wie ist es, du Eisberg? Willst du dich nicht in einen Vulkan verwandeln?« Der Ingenieur wollte sich schier ausschütten vor Lachen. Er ließ das auf der Matte liegende Mädchen los und kam auf Helena zu. Die nackte Gier stand in seinen Augen, als er sagte: »Ich habe schon immer was für Blondinen übrig gehabt.«
Die Ärztin wich zurück. Sie fürchtete sich jetzt vor diesen Männern, die vollkommen außer Kontrolle geraten waren. »Gehen Sie weg, Sie… Sie…« Ihr fehlten die Worte, um all das ausdrücken zu können, was sie von Perez und den anderen beiden dachte. »Gib dir keine Mühe«, rief Fraser seinem Kumpan zu. »Bei der arroganten Zicke kannst du nicht landen. Die wird erst kuschen, wenn sie auf Paradise gemerkt hat, daß sie ohne uns Männer elendig eingeht.« »Na, mal sehen«, grunzte der Mexikaner. Er machte eine blitzschnelle Bewegung und hatte auf einmal einen Laser in der Hand. Ein bösartiges Grinsen machte sein Gesicht zu einer teuflischen Grimasse. »Und bist du nicht willig, dann brauche ich Gewalt!« zitierte er zynisch. Helena wich noch weiter zurück. Furcht griff nach ihrem Herzen, als der Ingenieur die tödliche Waffe auf sie richtete. »Bleib’ stehen, Eisberg!« keuchte Perez. »Sonst kriegst du einen kleinen Vorgeschmack von Paradise.« Abwehrend hob Helena die Arme. »Machen Sie sich nicht unglücklich, Perez. Seien Sie vernünftig!« »Das rate ich dir, Eisberg!« In Helena gewann jetzt die Angst die Überhand über den Wunsch, dem immer noch leise vor sich hinwimmernden Mädchen beizustehen. Sie drehte sich auf dem Absatz um und lief wie von Furien gehetzt zurück zur Tür. »Stehengeblieben!« brüllte Perez. Er lief jetzt ebenfalls, war schon fast bei ihr. Helena hatte ihr Commlock noch in der Hand. Sie ließ die Tür aufgleiten, stürzte darauf zu. »Na warte, du Schlange«, hörte sie den Ingenieur hinter sich schimpfen. Und dann brodelte der Fußboden vor ihren Füßen. Perez hatte auf den Auslöser des Laser gedrückt und zielte auf sie.
Helena stieß einen Angstschrei aus und warf sich förmlich nach draußen. Aber selbst als die Tür hinter ihr automatisch zuglitt, glaubte sie sich noch nicht in Sicherheit. Sie floh weiter den Korridor entlang, verlangsamte ihre Schritte erst, nachdem sie die nächste Biegung hinter sich hatte. Zwei Alphaner kamen ihr entgegen – Tom Stills, ein Techniker aus der hydroponischen Anlage, und der Linguist Jacques d’Estelle. Aufgeregt stürzte Helena auf die beiden Männer zu. »Tom, Jacques, schnell! Sie müssen etwas tun!« »So, was denn?« fragte Stills ziemlich uninteressiert. »Im Gymnastikraum«, sprudelte Helena hervor. »Es ist entsetzlich… MacInlock, noch zwei andere… sie… sie sind dabei, ein Mädchen zu vergewaltigen!« Stills und d’Estelle sahen sich an, grinsten. »Na und?« sagte d’Estelle dann. »Da müßt ihr Weiber euch schon mal langsam dran gewöhnen, schöne Helena. Wenn wir erstmal auf Paradise sind…« Er lachte hinterhältig, und sein Begleiter fiel gleich ein. Fassungslos blickte Helena den beiden Männern nach, die inzwischen weitergegangen waren, als hätte man sie nur nach der genauen Uhrzeit gefragt. Großer Gott, fragte sie sich, haben denn diese Kerle alle den Verstand verloren?
John Koenigs Commlock summte. Er zog es aus der Gürtelschlaufe und schaltete auf Empfang. Das Gesicht Helenas erschien auf dem kleinen Bildschirm. »Ja?« fragte der Commander. Die Störung war ihm im Augenblick gar nicht recht. Er hatte gerade begonnen, die logistischen Vorbereitungsarbeiten für den geplanten Exodus zum Planeten Paradise in Angriff zu nehmen.
»Ich weiß nicht, ob es Sie interessiert, Commander«, hörte er die kalte, förmliche Stimme der Ärztin, »aber im Fitneß-Center sind drei Dreckskerle dabei, einem Mädchen Gewalt anzutun.« Im ersten Moment erschrak John Koenig bis ins Mark. Eine Vergewaltigung? Das war eine ganz, ganz böse Sache. So etwas hatte es in all den Jahren niemals gegeben. Je mehr er darüber nachdachte, konnte er es auch jetzt nicht glauben. Die Frauen in der Basis erzählten in jüngster Zeit nur noch dummes Zeug. Diese Meldung Helenas machte da höchstwahrscheinlich keine Ausnahme. Leeres Gerede, um Unfrieden zu stiften. »Wer tut wem Gewalt an?« erkundigte er sich. Schließlich war es seine Pflicht als Kommandant, auch Gerüchte auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. »Perez, MacInlock, Fraser! Das Mädchen, ich weiß nicht. Ich habe sie leider nicht erkannt.« Natürlich nicht, dachte der Commander. Wahrscheinlich handelte es sich um die sagenhafte Frau im Mond. »Gut, ich komme«, sagte er trotzdem. »Wo soll sich das abspielen – im Fitneß-Center?« »Ja, Herrgott!« »Warte da auf mich. Over.« John Koenig schaltete sein Commlock aus. Er stand auf. Bevor er die Kommandozentrale verließ, fiel sein Blick auf Anette Fraser, die vor ihrer Computerkonsole saß. Einer Eingebung folgend, trat er auf die junge Frau zu. »Anette, nur zu ihrer Information«, sagte er. »Doktor Russell hat mich gerade wissen lassen, daß Ihr Mann gerade dabei ist, einer fremden Frau zu Leibe zu rücken. Was sagen Sie dazu?« Die Technikerin blickte hoch. Der Haß, der in ihren Augen blinkte, entsetzte ihn. »Fraser?« stieß sie hervor. »Ja, das sieht ihm ähnlich. Diesem Lumpen ist alles zuzutrauen!«
»Ja, ja«, sagte der Commander. Er wandte sich ab. Es war sinnlos geworden, mit den Frauen überhaupt noch zu sprechen. Sie waren derart verblendet, daß man sie kaum noch als vernunftbegabte Wesen bezeichnen konnte. Er machte sich auf den Weg zum Gymnastikraum, erreichte ihn wenig später. In respektvoller Entfernung von der Eingangstür wartete die Ärztin. Jetzt, als sie ihn sah, trat sie auf ihn zu. In ihren Augen glitzerte derselbe Haß, derselbe Abscheu, den er kurz zuvor bei Annette Fraser registriert hatte. »Sind sie noch drin?« fragte der Commander. »Natürlich! Hörst du das Mädchen nicht schreien?« »Tut mir leid, ich höre nichts.« Innerlich seufzte John Koenig. Er hatte er geahnt. Leeres Gerede, sonst steckte nichts hinter der ganzen Sache. Er griff nach seinem Commlock. Helena Russell hob die Hand. »Bevor du die Tür öffnest, solltest du deinen Stunner nehmen. Die Kerle sind außer Rand und Band. Perez hat mit dem Laser auf mich geschossen.« Der Commander rümpfte die Nase. »Aber nicht getroffen, wie?« »Zum Glück nicht. Die Spuren kannst du aber noch sehen. Der Hitzestrahl hat ein Stück des Fußbodens vernichtet.« »Na schön.« Niemand sollte ihm nachsagen, er würde seine Aufgaben nicht ernst nehmen. Der Commander zückte seinen Stunner, machte dann mit Hilfe des Commlocks die Tür auf. Er trat ein, gefolgt von Helena, die sich hinter seinem Rücken versteckte. Noch immer hörte er kein Mädchen schreien. Und nachdem er sich mit der Situation im Fitneß-Center vertraut gemacht hatte, wunderte ihn das nicht im mindesten. Es gab gar kein Mädchen. Lediglich drei Männer waren anwesend – Mark MacInlock, Bill Fraser und Manuel Perez.
Wenigstens in dieser Hinsicht hatte Helena die Wahrheit gesagt. Die beiden Piloten übten an einem Doppelexpander, während der Ingenieur seine Reflexe in einem Zweikampf mit dem computergesteuerten Boxdummy testete. Die Männer waren so in ihre sportliche Tätigkeit vertieft, daß sie die Ankömmlinge noch gar nicht bemerkt hatten. »Na, Helena, wo ist denn das arme, gequälte Mädchen?« fragte Koenig spöttisch. »Siehst du es? Hörst du es noch schreien?« Die Miene der Ärztin verhärtete sich noch mehr. »Nein, ich sehe sie nicht mehr, und ich höre sie auch nicht mehr.« »Und wo soll sie geblieben sein? Haben die Wüstlinge sie etwa irgendwo versteckt?« »Versteckt? Nein…« Helena ließ ihre Blicke durch den Raum huschen. Wie ein Geier, der nach Beute sucht, dachte der Commander unwillkürlich. »Da!« sagte sie plötzlich. Ihr Zeigefinger stach in die Luft wie eine Lanze, deutete zu den Pneumomatten hinüber. »Diese… Schwerverbrecher, diese Mörder! Sie haben ihr Opfer getötet!« John Koenig war zwar einiges an falschen Anschuldigungen gewohnt. Aber dies setzte allem doch die Krone auf. Vor allem empörte ihn auch die Heftigkeit, mit der Helena ihre ungeheuerlichen Verleumdungen von sich gab. »Was ist da, verdammt?« fragte er grob. »Ich sehe kein Opfer, und schon gar kein totes. Ich sehe da überhaupt nichts. Drei Pneumomatten…« »Und die Asche?« schrillte die Doktorin. »Siehst du die Asche nicht? Diese Unmenschen haben das Mädchen mit ihren Lasern zu Asche verbrannt!«
Der Commander war am Ende seiner Geduld angelangt. »Da ist keine Asche!« brüllte er mit Stentorstimme. »Du mußt wahnsinnig sein, Helena Russell!« Natürlich wurden jetzt die drei Männer im Fitneß-Center aufmerksam. Abrupt hörten sie mit ihrer Körperertüchtigung auf. Für Manuel Perez wirkte sich das nachteilig aus. Ein rechter Haken des Boxdummys erwischte ihn am Hinterkopf und schickte ihn zu Boden. »John!« Mark MacInlock blickte erstaunt und befremdet auf den Stunner in Koenigs Hand. Der Commander kam sich richtig albern vor. Hastig ließ er die Lähmwaffe verschwinden. »Die Doktorin erhebt schwere Vorwürfe gegen euch«, sagte er. »Ihr sollt ein unbekanntes Mädchen vergewaltigt und dann mit euren Lasern verbrannt haben.« Nach diesen Worten kam er sich noch alberner vor. »Was?« MacInlock sah so aus, als ob er nicht wüßte, ob er lachen oder empört sein sollte. »Ihr habt die Beschuldigung gehört.« Bill Fraser lachte dann auch. »John, das… das ist doch absurd! Ein Witz, nicht wahr?« Helena Russell mischte sich in das Gespräch. »Einen Witz nennen Sie das, Fraser?« keifte sie mit einer Stimme, die John Koenig an eine Alarmsirene denken ließ. »Sie Schwein! Sie Mörder!« Manuel Perez hatte die Nachwirkungen des Dummyschlages jetzt überwunden, stand wieder auf seinen Füßen. »Na, na, Doktor«, meinte er, »bei allem Respekt, den ich als Kavalier vor Frauen habe…« »Seien Sie ganz still, Sie mexikanischer Wüstling«, tobte die Ärztin. »Sie waren doch der Schlimmste.« Mit funkelnden Augen sah sie den Commander an. »Der Schweinehund wollte
sogar auf mich los. Und als ich flüchtete, hat er mit seinem Laser mordlustig hinter mir hergeschossen.« »Das ist der Gipfel!« verwahrte sich Perez gegen diese Unterstellung. »Ich habe nicht einmal einen Laser bei mir. Commander, Sie können mich einer Leibesvisitation unterziehen…« Koenig winkte ab. »Kein vernünftiger Mensch wirft Ihnen etwas vor, Manuel«, beruhigte er den heißblütigen Mexikaner. Helena stampfte mit dem Fuß auf. »Ah, ich bin also kein vernünftiger Mensch!« Sie fuhr herum, zeigte auf eine bestimmte Stelle des Plastikbelags, mit dem das Fitneß-Center ausgelegt war. »Und was ist das?« schrie sie anklagend. Alle vier Männer nahmen die bewußte Stelle in Augenschein. »Ja, was soll denn da sein?« forschte MacInlock. Er drückte das aus, was auch der Commander dachte. In seinen Augen sah der Fußboden dort kein bißchen anders aus als im übrigen Raum auch. Die Ärztin bückte sich, fuhr mit der Hand über den Boden. »Hier hat Perez’ Laserstrahl den Belag geschmolzen«, schrie sie. »John, willst du ernsthaft behaupten, daß da nichts ist?« »Genau«, sagte der Commander, »genau das will ich behaupten. Es ist wie mit der Asche des… hm… verbrannten Mädchens. Reine Phantastereien, meine liebe Helena.« »Ihr Hunde!« tobte die Ärztin. Schaum trat ihr vor den Mund, und ihre Augen waren wie feurige Kugeln. »Ihr steckt alle unter einer Decke. Eine Kanaille schützt die andere. Frauenschänder! Mörder! Ver…« John Koenig trat auf sie zu, griff nach ihrem Arm. »Helena, du bist krank«, sagte er fast sanft. »Du mußt dich mal in deiner Station untersuchen lassen. Doktor Vincent…« Vehement riß sie sich los. »Faß mich nicht an, du Unhold!« Sie wich zurück, als sei er eine wilde Bestie, die sie mit Haut und Haaren verschlingen wollte.
Der Commander schüttelte nur den Kopf. Es hatte keinen Zweck. Man konnte mit ihr nicht reden. Er wandte sich an Mark MacInlock. »Was war los, Mark?« fragte er. »Ist sie überhaupt vorhin hier reingekommen?« Das bestätigte der Pilot. »Ja, sie hat sich hier aufgebaut wie eine Kaiserin, uns ein Weilchen zugesehen und uns dann gefragt, ob wir schon für den Dschungelkrieg auf Hell üben. Kurz darauf ist sie dann wieder gegangen.« Helena Russell zitterte vor Wut. »Das… das ist infam!« tobte sie. Unfreundlich sah sie der Commander an. »Ich finde etwas ganz anderes infam«, sagte er kalt. »Dich nämlich, Helena!« Dann forderte er die drei Alphaner auf, mit ihrer Körperertüchtigung fortzufahren, und verließ das FitneßCenter.
IV
Völlig außer sich kam Helena Russell in ihrem Privatquartier an. Das schreckliche Erlebnis im Fitneß-Center, der anschließende ‘Lokaltermin’ mit Koenig, die monströsen Lügen dieser Vertreter der sogenannten Krone der Schöpfung – all dies hatte sie geistig und körperlich furchtbar mitgenommen. Sie griff nach ihrem Commlock, wählte den Code Mayas. Sie hoffte nur, daß sich die Psychonierin in ihrem Quartier befand. Falls sie sich in der Kommandozentrale aufhielt, würde sie nicht alles sagen können, was ihr auf dem Herzen lag. Maya meldete sich nicht sofort. Fast eine halbe Minute verging, und Helena fing bereits an, sich Sorgen zu machen. Es war keineswegs ausgeschlossen, daß es sich bei dem unglücklichen Mädchen im Gymnastikraum um das erste und letzte Opfer vertierter Männer gehandelt hatte. Sie fühlte Erleichterung, als Maya sich auf dem kleinen Bildschirm zeigte. »Maya, wo bist du? Was machst du gerade?« Die Psychonierin sah besorgt aus. »Große Psyche, Helena! Was ist los? Du bist ja völlig außer dir!« »Ich muß mit dir reden, Maya. Bist du allein?« »Ja, ich habe gerade eine Ventilatordusche genommen und…« »Hör zu, Maya«, fiel ihr Helena ins Wort. »Es ist etwas Entsetzliches geschehen. Sie haben eine von uns umgebracht. Es muß etwas geschehen. Sofort!«
»Umgebracht?« Bestürzung zeichnete sich in dem schönen Gesicht des Mädchens vom Planeten Psychon ab, das jedoch in jeder Beziehung längst eine echte Alphanerin geworden war. »Ja, umgebracht! Maya, wir müssen etwas unternehmen. Wir müssen uns zusammentun und…« »Warte«, unterbrach sie Maya. »Das ist kein Gespräch für das Commlock. Ich komme zu dir. Wo…« »In meinem Quartier.« »Bis gleich«, sagte Maya und schaltete ab. Wenig später war sie bereits da. Obgleich ihr Quartier in einem anderen Wohnkomplex lag, hatte sie nicht einmal eine Minute benötigt. »Bist du geflogen?« fragte Helena erstaunt. »Erraten«, lächelte die Psychonierin. Helena begriff sofort. Maya besaß die einzigartige Gabe der Molekularumwandlung. Sie konnte die Struktur ihrer Körperzellen nach Belieben verändern und sich in ein anderes Wesen verwandeln. In eine Katze, in einen Fisch, in einen Vogel – ganz wie sie wollte. Das Lächeln Mayas verflog sofort, als ihr Helena berichtete, was im Fitneß-Center geschehen war. »Du hast nicht erkannt, wer das Opfer war?« fragte sie anschließend. »Leider nicht. Schwarze Haare… jung, dem Körper nach zu urteilen. Wir müssen versuchen, festzustellen, wer fehlt. Das wird natürlich nicht ganz einfach sein, zumal wir wohl keinen Rundruf starten können. Die Kerle würden uns bestimmt daran hindern.« Maya nickte. Sie hatte sich in einen Sessel gesetzt, stand aber jetzt wieder auf. Prüfend blickte sie sich im Raum um. »Suchst du etwas Bestimmtes, Maya?« »Ja«, erwiderte die Psychonierin. »Ich frage mich, ob es in deinem Quartier versteckte Kameras und Mikrophone gibt.«
»Aber nein!« Die Psychonierin verzog das Gesicht. »Bist du sicher, Helena?« »N… nein.« »Siehst du!« Maya fuhr fort, das Quartier zu inspizieren. Ihre psychonischen Augen zeichneten sich durch besondere Sehschärfe aus, und ihr technisches Verständnis suchte unter allen Alphanern seinesgleichen. Ihr entging so leicht nichts. Als sie sich wieder setzte, war sie zufrieden. Kein Mikrophon, keine Kamera. »Ist es nicht schrecklich?« sagte die Ärztin. »Wir entwickeln schon eine hochgradige Paranoia.« Maya schüttelte den Kopf. »Paranoia, Verfolgungswahn? Nein, Helena. Paranoia hat ihren Ursprung in krankhafter Einbildung. Und davon kann in unserem Fall leider keine Rede sein. Was sich hier zur Zeit in der Basis abspielt, ist harte Realität. Die Männer haben uns Frauen den Kampf angesagt, und es ist gar keine Frage, daß wir uns dagegen schützen müssen.« »Deshalb wollte ich mit dir reden«, sagte Helena. »Maya, wir müssen etwas unternehmen. Wir können nicht tatenlos zusehen, wie die Männer uns… uns…« »… vergewaltigen und umbringen!« »Ja.« Helena strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, sah ihre Gesprächspartnerin dann ernst an. »Maya, ich weiß nicht, wie die Beziehung der Geschlechter zueinander auf Psychon ausgesehen hat. Bei uns auf der Erde war es jedenfalls so, daß der Mann von der grauen Vorzeit an die Frau unterdrückt, geknechtet und allgemein als ein Wesen zweiter Klasse angesehen hat. Und warum? Nur auf Grund seiner körperlichen Überlegenheit, auf Grund seiner Stärke, auf Grund seiner ausgeprägten Befähigung, anderen den Schädel einzuschlagen. Im Laufe der Jahrtausende hat sich an diesem
Sachverhalt, von unbedeutenden Nuancen abgesehen, nichts geändert. Erst in jüngster Zeit, als es im Zuge der technischen Entwicklung weniger auf rohe Kräfte als vielmehr auf Verstand und Anpassungsfähigkeit ankam, ist es uns Frauen gelungen, die sogenannte Gleichberechtigung zu gewinnen. Heute können wir uns neben den Männern behaupten, ohne den geringsten Anlaß zu haben, irgendwelche Unterlegenheitskomplexe zu entwickeln. Wir können in jeder Beziehung mit den Männern mithalten, ja, wir sind sogar dabei, sie in manchen Dingen zu übertreffen.« Maya lächelte. »Du weißt, daß ich viele eurer Bücher gelesen habe. Ich kenne die Bemühungen der irdischen Frauen um ihre volle Emanzipation. Und aus meiner Sicht kann ich nur feststellen, daß die Bemühungen erfolgreich gewesen sind. Man sieht es deutlich an uns beiden. Ich bin der höchste technische Offizier der Mondbasis Alpha 1, und du bist die Chefin des gesamten Gesundheitswesens.« »Richtig«, stimmte ihr die Ärztin zu. »Damit kommen wir zum springenden Punkt. Es sieht ganz so aus, als ob diese Entwicklung der Männerwelt ganz und gar nicht paßt. Sie, die Männer, können es nicht verwinden, daß sie ihre scheinbare Überlegenheit eingebüßt haben, daß sie nicht länger imstande sind, uns zu tyrannisieren und zu knechten. Und nun ist da auf einmal dieser Planet Hell. Eine rauhe, ungezügelte Welt. Eine Welt, in der die Gewalt regiert. Eine Welt, in der Körperkräfte wieder gefragt sind. Der Anblick Heils muß schlummerndes Gedankengut in den alphanischen Männern freigelegt, muß atavistische Triebe in ihnen geweckt haben. Sie sehen die Chance, die Entwicklung wieder umzukehren, sehen die Chance, die alten hierarchischen Strukturen wieder zu errichten. Der starke Mann kämpft gegen die wilde, unbarmherzige Natur! Und das schwache Weib kann froh sein, wenn es von ihm geschützt wird. Und der Preis für diesen
Schutz? Die Frauen werden wieder zu Menschen zweiter Klasse, zu Menschen, die nicht lange gefragt werden, was sie wollen, sondern die nur noch zu parieren haben. Und wenn sie das nicht tun… Nun, wir haben jetzt hier in der Basis schon einen kleinen Vorgeschmack von dem bekommen, was uns dann erwartet. Terror, brutale Gewalt, Vergewaltigung und Tod! Maya, ich frage dich: sollen wir das hinnehmen?« »Nein!« sagte die Psychonierin entschlossen. »Wir werden es nicht hinnehmen. Wir werden kämpfen! Und ich habe da auch schon meine ganz bestimmten Vorstellungen. Paß auf…«
V
Näher und näher kam der Planet Paradise. Die Stunde, in der das Expeditionsschiff ausgesandt werden konnte, lag nicht mehr fern. Die Meßdaten hatten sich bestätigt. Paradise bot in der Tat ideale Voraussetzungen zur Besiedlung, auch wenn die Frauen unter den Computertechnikern nach wie vor hartnäckig die Meßergebnisse fehlinterpretierten. John Koenig fragte sich, ob der Langmut, den er mit den Operatorinnen hatte, nicht langsam lächerlich war. Natürlich hätte er diese Obstruktion längst damit ahnden müssen, daß er sämtliche Vertreterinnen des femininen Geschlechts aus der Kommandozentrale hinauswarf. Der Commander saß am Computerterminal seines Kommandostandes und rief zur Kontrolle noch einmal die Daten des Unternehmens Exodus ab, die er zusammen mit zuverlässigen Mitarbeitern in mühevoller Kleinarbeit ausgearbeitet hatte. Exodus lief in drei Phasen ab. Zuerst würde ein Eagle die Verhältnisse auf Paradise an Ort und Stelle erkunden. Danach würde aus Spezialisten bestehende Expedition aufbrechen, um eine bis ins kleinste Detail gehende Überprüfung vorzunehmen. Und wenn dieses Spezialistenteam grünes Licht gab, dann endlich würde es so weit sein: Evakuierung der Mondbasis und Umzug aller Alphaner in die neue Heimat. Alle drei Phasen mußten minutiös geplant und abgewickelt werden. Die Geschwindigkeit des Mondes war hoch, die Zeitspanne, in der der Mond das Planetensystem durchkreuzte, somit entsprechend kurz – relativ gesehen. Wenn die für jede der drei Phasen zur Verfügung stehende Zeit überschritten
wurde, mußte das ganze Unternehmen scheitern. Das aber durfte nicht geschehen. Die Sterne mochten wissen, wann der Mond jemals wieder auf eine Welt stoßen würde, die die günstigen Bedingungen von Paradise auch nur in etwa erreichte. John Koenig war voller Optimismus. Er hoffte zuversichtlich, daß sich auch die einmütige Ablehnung der alphanischen Frauen legen würde, wenn sie den Planeten erst einmal mit eigenen Augen gesehen hatten. Noch aber war es nicht so weit…
Zusammen mit rund zehn anderen Frauen betrat Helena Russell die Kommandozentrale. John Koenig glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Daß die Weiber immer verrückter wurden, war ja inzwischen nichts Neues mehr. Diese Gruppe aber hatte gute Chancen, die Narrenkrone zu erringen. Helena und die anderen trugen nicht wie gewohnt ihre praktischen und bequemen Overalls, sondern hatten sich in weiße Gewänder gehüllt. Die Frauen sahen aus wie die Ehrenjungfrauen bei irgendeiner Zeremonie zweifelhafter Zielsetzung. Und so verrückt wie ihr Äußeres war auch das, was sie taten. Schweigend verteilten sie sich in der Zentrale. Vier von ihnen, mit der Ärztin an der Spitze, kamen auf Koenigs Kommandostand zu und umringten seinen Sessel. Der Commander wollte sich gerade gegen diesen Unsinn verwahren – schließlich war das Herz der Mondbasis Alpha 1 keine Bühne für eine absurde Komödie – als ihm das Wort plötzlich in der Kehle steckenblieb. Die Frauen hatten auf einmal Waffen in den Händen – Laser, Phaser, Stunner. Und diese Waffen richteten sich unmißverständlich auf ihn.
»John Koenig«, sagte Helena ruhig, »du bist ein Diener des Bösen und eine ständige Gefahr für unsere Welt. Diese Gefahr muß jetzt beseitigt werden!« Ob er wollte oder nicht, der Commander mußte lachen. Es tat ihm schrecklich leid, aber er konnte diese üble Schmierenkomödie nicht ernstnehmen. »Ein Diener des Bösen?« wiederholte er. »Mephisto, Satan – etwas in dieser Richtung?« Die Ärztin ließ sich durch seine triefende Ironie nicht aus dem Konzept bringen. »Das Böse in dir«, sagte sie unbeeindruckt, »ist der finstere Urtrieb des Steinzeitmenschen, der Despotismus des antiken Tyrannen, die Gewalttätigkeitsmentalität des mittelalterlichen Landsknechts. Alles das, was wir längst überwunden zu haben glaubten, wuchert in dir wie eine Krebsgeschwulst. Und nicht nur in dir, sondern in allen Alphanern, die sich einst hochtrabend als Krone der Schöpfung bezeichneten. Aber damit hat es jetzt ein Ende, John Koenig!« Der anzügliche Lächeln gefror im Gesicht des Commanders zu einer Grimasse, als er den kalten Glanz in den Augen Helenas und der anderen Frauen sah. Teufel auch, die meinten es ernst! »Komm, Helena«, sagte er leicht heiser, »tu den Laser weg. Er könnte losgehen.« »Er wird losgehen, wenn du Widerstand leistet!« Helenas Stimme klang so unerbittlich wie die eines Scharfrichters. Alarmiert blickte sich der Commander in der Kommandozentrale um. Überall das gleiche Bild. Frauen bedrohten Männer mit Waffengewalt. Und es waren nicht allein die Weißgewandeten, die mörderische Handstrahler umklammert hielten. Auch die Operatorinnen an den Konsolen beteiligten sich an dem bösen Spiel. Yasko, die Japanerin hielt einen Stunner auf ihren Kollegen Pandit Madhva gerichtet.
Leigh Anderson zielte auf Alan Carter, und Tony Verdeschi hatte die zweifelhafte Ehre, Sandra Benes’ Laser vor die Nase gehalten zu bekommen. Den anderen männlichen Besatzungsmitgliedern passierte dasselbe. Allen alphanischen Männern schien es wie John Koenig selbst zu gehen. Die anfängliche Belustigung war Bestürzung gewichen, nachdem sie begriffen hatten, daß sich anscheinend sämtliche weiblichen Wesen in der Basis allen Ernstes gegen die Männer verschworen hatten. »Und was soll das werden, wenn es fertig ist?« fragte Koenig die Ärztin, bei der es sich wohl um die Anführerin der verrückten Weibertruppe handelte. »Ganz einfach, John. Wir übernehmen das Kommando über die Basis!« »Ich bin also meines Postens als Kommandant enthoben, ja?« »So ist es. Wenn du also…« Sie sprach nicht weiter, denn in diesem Augenblick kam es zu einem Zwischenfall. Alan Carter sprang vehement von seinem Sitz auf. »Verdammt, ich lasse mich doch hier nicht für dumm verkaufen!« schrie er. Die Frauen ließen ihm keine Chance, irgend etwas zu unternehmen, Leigh Anderson und eins der weißgewandeten Mädchen, eine Krankenschwester aus der Krankenabteilung, schossen gleichzeitig auf ihn. Die Augen des Piloten wurden riesengroß. Wie ein zugeklapptes Taschenmesser brach er zusammen und blieb reglos auf dem Boden liegen. »Wir haben euch gewarnt!« sagte Helena Russell eisig. Totenstill war es in der Kommandozentrale geworden. Auch der letzte hatte jetzt begriffen, daß der Spaß endgültig zu Ende war. Der Commander war der erste, der sich von der geistigen Lähmung wieder erholte, die alle Männer in der
Kommandozentrale erfaßt hatte. Blitzschnell, bevor ihn Helena oder eine der anderen Frauen daran hindern konnte, beugte er sich vor und hieb mit der Faust auf den Knopf, der in der ganzen Basis Alarmstufe rot ausrufen würde. Instinktiv schloß er anschließend die Augen. Er wollte nicht sehen, daß Helena, die Frau, die er zu lieben geglaubt hatte, auf ihn schoß wie auf ein wildes Tier. Der tödliche Laserstrahl blieb aus. Statt dessen hörte er die Ärztin nur kurz auflachen. »Damit erreichst du gar nichts. John«, sagte sie mit unverhülltem Hohn. »In diesen Augenblicken übernehmen wir in allen Abteilungen der Basis das Kommando. Du hast mit deinem Alarmruf also lediglich Licht zur Sonne getragen.« John Koenig schlug die Augen wieder auf, biß sich auf die Lippen. Es sah ganz so aus, als ob die Frauen ihre Aktion generalstabsmäßig geplant hatten. Er konnte sich lebhaft vorstellen, daß nicht zuletzt Maya eine tragende Rolle in dem gewalttätigen Intrigespiel übernommen hatte. Die Psychonierin befand sich nicht unter den Frauen, die jetzt die Zentrale unter Druck setzten. Vermutlich leitete sie an anderer Stelle einen ähnlichen Einsatz wie hier Helena. »Gib mir deine Waffe«, befahl die Ärztin und streckte verlangend die linke Hand aus. Mit der Rechten hielt sie nach wie vor den Laser umklammert. John Koenig zögerte. Wenn er seinen Phaser abgab, kam das sozusagen einer offiziellen Kapitulation gleich. »Und wenn ich es nicht tue, Helena?« preßte er hervor. »Was ist dann?« »Zwing uns nicht, Gewalt anzuwenden, John. Laß dir das Beispiel Carters als Warnung dienen.« »Du würdest wirklich auf mich schießen. Helena?« »Ja!«
Dieses eine Wort kam so entschlossen, so… brutal, daß es dem Commander kalt den Rücken hinunterlief. Großer Gott, dachte er, wo sind wir nur hingekommen? »Also gib mir die Waffe, John.« Und als Koenig immer noch zögerte, schoß sie tatsächlich. Ein Stück der Plastikverkleidung des Computerterminals platzte weg, als der Lichtstrahl aus dem Laser zuckte. Resigniert händigte John Koenig der Ärztin seinen Phaser aus. Er hatte schon manche Niederlage in seinem Leben erlitten. Diese jedoch war die bitterste. In der jüngsten Vergangenheit hatten die Angehörigen mehrerer Fremdrassen die Gewalt über die Basis an sich gerissen. Daß aber eines Tages eine fünfte Kolonne aus den eigenen Reihen dasselbe tun würde, hätte Koenig niemals für möglich gehalten. Natürlich wäre es möglich gewesen, Gegenwehr zu leisten, vielleicht sogar die Aggression der Frauen zurückzuschlagen. Aber John Koenig wollte kein Blutbad unter Alphanern, denn trotz allem waren und blieben die Frauen Angehörige der Basis, für deren Wohlergehen er sich verantwortlich fühlte. Er glaubte nicht, daß er es wirklich fertiggebracht hätte, eine Waffe gegen Helena oder eine der anderen Frauen einzusetzen. Seine Phaserübergabe war für die übrigen Männer in der Zentrale ein Signal. Auch sie streckten die Waffen – im wahrsten Sinne des Wortes. Triumph leuchtete in den Augen Helena Russells auf.
Die diensthabenden Männer des Sicherheitsdienstes hielten sich in ihrem Bereitschaftsraum auf. Ihre Abteilung hatte gegenwärtig kein Aktivitätshoch, denn die Basis wurde zur Zeit nicht durch irgendwelche Gefahren von außen bedroht. Dennoch wurden Wachsamkeit und Handlungsbereitschaft bei ihnen groß geschrieben. Ihr Chef hatte mögliche
Schwierigkeiten mit den Frauen der Basis prophezeit. Und der professionelle Instinkt, den Tony Verdeschi besaß, trog ihn nur selten. Deshalb waren die SD-Leute trotz ihrer Muße weit davon entfernt, ihren Bereitschaftsdienst als eine willkommene Fortsetzung der letzten Freischicht anzusehen. Sie würden in der Lage sein, jeder potentiellen Gefahr sofort wirksam entgegentreten zu können. Glaubten sie… Als die Gefahr dann aber ganz überraschend konkret wurde, hatten sie dennoch keine Chance. Sie vertrieben sich ihre Zeit mit der gewohnten Beschäftigungstherapie. Die einen spielten Schach oder ‘Raumschlacht’ gegen den Computer und versuchten zum hundertsten Mal vergeblich, das übermächtige Elektronengehirn zu besiegen. Die anderen studierten Mikrobücher mit Hilfe ihrer Lesescanner, beschäftigten sich mit ihrem Audio-Logbuch oder spielten, wie es ihre Vorfahren schon vor hundert Jahren getan hatten, ganz einfach Karten. Plötzlich aber war mit all diesen Spielereien Schluß. Tony Verdeschi stürmte in den Bereitschaftsraum. »Los, alle sofort mitkommen«, rief der Sicherheitschef befehlend. »In Strahlenschutzbunker Zwo haben sich zwei Alphanerinnen verbarrikadiert und drohen an, eine Neutronengranate zu zünden. Total ausgeflippt, diese Weiber!« Die Männer vom Sicherheitsdienst brauchten nur Sekunden, um voll einsatzbereit zu sein. Aktionshungrig folgten sie ihrem Chef zu den Schutzbunkern, die in der tiefsten Ebene des unterlunaren Basiskomplexes lagen. Mit Tony Verdeschi an der Spitze drangen sie in Bunker Zwo ein. Die Männer brauchten auch nicht lange, um festzustellen, daß hier gar keine zwei verrückten Frauen die Sicherheit von Alpha 1 bedrohten. Diese Erkenntnis aber kam bereits zu spät.
Als sie sahen, wie sich Tony Verdeschi urplötzlich in eine Energiespindel und anschließend in einen weißen Vogel verwandelte, wußten sie, daß sie einem Metamorphosetrick der Psychonierin Maya aufgesessen waren. Bevor sie handeln konnten, schlossen sich die Schotts des Schutzbunkers. Die SD-Leute saßen in der Falle.
Auf einmal waren sie da – zehn, zwölf, fünfzehn Frauen mit Handwaffen in den Händen. Anführerin der weiblichen Sturmtruppe war Doktor Margarethe Seymour, eine der leitenden Mitarbeiterinnen der Forschungsabteilung. Doktor Seymour war eine Frau in mittleren Jahren, kurzhaarig, etwas gedrungen, nicht gerade hübsch, auf ihre Art aber interessant. Sie war bekannt für ihren Humor und ihren urgesunden Mutterwitz. Von Humor konnte jetzt jedoch keine Rede sein. Die Doktorin gab sich todernst, energisch, barsch. Auch die Techniker, die anfänglich an einen schlechten Scherz, an irgend eine Laune der in der letzten Zeit unberechenbaren Frauen gedacht hatten, wurden schnell eines Besseren belehrt. »Wer Widerstand leistet, wird niedergeschossen«, machte sie den Männern kompromißlos klar. »Wir würden es nicht gerne tun, aber wenn man uns dazu zwingt…« Die nicht ausgesprochenen Worte ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Gösta Berglund, zuständig für die Wartung des Dampfkondensators, glaubte trotzdem nicht daran, daß die Frauen wirklich Ernst machen würden. Er packte das armlange Thermometer, mit dem er gerade gearbeitet hatte, wie eine Keule und trat drohend auf die Doktorin zu.
»Macht, daß ihr verschwindet, ihr wahnsinnigen Flintenweiber«, forderte er voller Zorn, »sonst…« Es gab kein ‘Sonst’ für ihn. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, drückte Margarethe Seymour auf den Auslöser ihres Stunners und jagte Berglund einen Lähmstrahl voll ins Gesicht. Der Mann prallte wie von einem Hammerschlag getroffen zurück, taumelte gegen das Betongehäuse des Kernreaktors, rutschte wie in Zeitlupe daran entlang und sank dann in merkwürdig verkrümmter Haltung zu Boden. Empörung wurde unter den Kollegen Berglunds laut. Diese steigerte sich noch, als Seymour verbot, daß sich jemand um den Niedergeschossenen kümmerte. »Ein Mann, der bereit ist, mit Sauriern zu kämpfen, ist ja wohl auch hart genug, einen Lähmschock heil zu überstehen«, sagte sie mit blankem Zynismus in der Stimme. Nur die drohend erhobenen Waffen hielten die Techniker davon ab, sich auf die Frauen zu stürzen. Kochend vor Wut mußten sie sich darauf beschränken, ihre Gegnerinnen haßerfüllt anzusehen. »Los, marsch, alle in den Turbinenraum«, befahl die Doktorin. »Wir hätten euch alle gerne schön zusammen.« »Du mußt wahnsinnig sein«, verwahrte sich Doktor Wesley Dukes gegen diese Aufforderung. »Der Reaktorbetrieb muß ständig unter Kontrolle gehalten werden. Anderenfalls kann es zu einem schrecklichen Unglück kommen.« »Quatsch«, sagte Margarethe Seymour lakonisch. »Das kannst du vielleicht einer Krankenschwester erzählen, aber nicht mir. Der Reaktor arbeitet völlig störungsfrei. Stundenlang, tagelang… Abmarsch!« Knurrend setzten sich die Männer in Bewegung und gingen zum Turbinenraum hinüber. Dort warteten bereits Kollegen aus anderen Betriebsstätten der Kraftwerkszentrale auf sie –
ebenfalls von wildblickenden Amazonen mit vorgehaltenen Waffen bedroht. Daß in diesem Augenblick von der Kommandozentrale Rotalarm ausgelöst wurde, konnten die Alphaner nur mit einem frustrierten Achselzucken registrieren. Bei den Frauen verursachte der Alarm hingegen befriedigte Heiterkeit. Aber noch war nicht jeder Widerstandswille in den Technikern abgestorben. »Im Gegenteil…« Hans Ditterle, der mit Gösta Berglund ein Team bildete, lauerte auf seine Chance. Und er hatte auch schon eine Idee, wie der Spieß umgedreht werden konnte. Die Wut loderte in ihm wie eine Fackel, Berglund war sein bester Freund, und es drängte ihn mit Macht danach, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Außerdem hatte er auch noch einen anderen Grund, mit den Weibern abzurechnen. Seine langjährige Freundin Moira, eine Laborassistentin, hatte ihm den Laufpaß gegeben. Nicht, daß ihn dieser Umstand besonders geschmerzt hatte. Er war von sich aus bereits drauf und dran gewesen, die Beziehung zu dem Mädchen zu lösen. Was ihn aber bis in den Grund seiner Seele getroffen hatte, war ihre Abschiedsbemerkung gewesen. Sie hatte ihn einen Hanswurst genannt, aus dem auch auf Hell kein richtiger Mann werden würde. Und eine solche Beleidigung wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Moira und all die anderen Weiber sollten noch erfahren, daß er sehr wohl ein Mann war. »Wer von euch einen Laser, Phaser oder Stunner bei sich hat – her damit!« tönte Margarethe Seymour. »Und ich warne euch, Männlein: macht keine Dummheiten! Ihr würdet es bereuen.« Ein Mädchen trat auf Hans Ditterle zu. »Deine Waffe, Bürschchen!«
Die Frau begleitete ihre Aufforderung mit einem unmißverständlichen Schwenken ihres Stunners. »Habe keine Waffe bei mir«, knurrte Ditterle. »Ich bin sicher, du lügst, Bürschchen«, bekam er zur Antwort. »Aber das haben wir gleich.« Den Stunner nach wie vor zielsicher auf ihn gerichtet, fing sie an, ihn nach verborgenem Waffenbesitz abzutasten. Ihre Berührung war ihm unangenehm, ja, ekelhaft. Er hatte das Gefühl, daß eine glitschige Schlange über ihn hinwegkroch. Am liebsten hätte er seinen Abscheu mit einem Faustschlag ausgedrückt, aber der Stunner ließ ihm das doch nicht sehr ratsam erscheinen. Er war froh, als die Frau die Leibesvisitation zu Ende brachte. Erfolglos natürlich, denn er hatte wirklich keine Waffe bei sich. »Brav, brav«, lobte das Mädchen höhnisch. »solche wie du sind uns am liebsten.« Wirst dich noch wundern, du kleine Schlampe, dachte Hans Ditterle rachsüchtig. Mit Erleichterung nahm er zur Kenntnis, daß sich die Frau von ihm abwandte und auch sonst keine der anderen sonderlich auf ihn achtete. Ohne Waffe stufte man ihn offensichtlich als absolut harmlos ein. Unauffällig bewegte sich Hans Ditterle rückwärts, der Stirnwand des Turbinenraums entgegen. Linker Hand stand der gewaltige, ummantelte Block der Turbine. Zahlreiche Rohrleitungen zweigten davon ab – Verbindungen zur Dampferzeugungsanlage des Reaktors, zum Kondensator, zur chemischen Aufbereitung. Die Rohrleitungen der letzen Kategorie waren an der Stirnwand verlegt. Und ihnen galt Ditterles ganzes Interesse. Langsam schob er sich näher. Er machte dabei ein betont harmloses, fast ängstliches Gesicht. Niemand konnte ihm
ansehen, daß er im Begriff war, der gesamten Situation eine hoffentlich entscheidende Wende zu geben. Dann stand er an der Wand. Mit schnellem Blick überzeugte er sich davon, wo das nächste Absperrventil saß. Knapp drei Meter von ihm entfernt! Die zugehörige Regelarmatur befand sich in Kniehöhe. Noch immer schenkte man ihm von Seiten der Frauen nur flüchtige Aufmerksamkeit. Die Rebellinnen waren voll damit beschäftigt, die restlichen Techniker zu entwaffnen. Ditterle schaffte es, an das Ventil heranzukommen, ohne Mißtrauen zu erwecken. Er schob die rechte Hand in eine Overalltasche, holte ein Taschentuch hervor und tat dann so, als sei ihm das Tuch aus der Hand geglitten. Es flatterte zu Boden, blieb fast genau unter der Armatur liegen. Wie von ungefähr bückte sich Ditterle, um das Tuch wieder aufzuheben. Dabei konnte niemand etwas finden. Und dann wurde der Techniker ungemein schnell. Die Regelarmatur wurde durch seinen davorkauernden Körper verdeckt. Während er mit der linken Hand nach dem Taschentuch langte, packte er mit der anderen den Drehknopf und drehte daran. Ein rotes Warnlicht flammte auf, das aber außer ihm selbst niemand sehen konnte. Hastig drehte er weiter, zog dann den Regler, der den Schieber öffnete, nach unten. Geschafft! Heißer, weißer Dampf quoll aus dem Ventil, formte sich zu dichten Wolken, die sich in Sekundenschnelle im ganzen Turbinenraum ausbreiteten. Der Dampf war im Inneren des Systems bereits abgekühlt worden, hatte aber immer noch eine ziemlich hohe Temperatur. Diese reichte allerdings nicht aus, Verbrühungsgefahr heraufzubeschwören. Dies hatte Hans Ditterle auch gar nicht beabsichtigt. Ihm war es allein um den
Vernebelungseffekt gegangen, den der hervorschießende Dampf mit sich brachte. Und in dieser Beziehung konnte er einen vollen Erfolg verzeichnen. Binnen kürzester Zeit war der Turbinenraum ein einziges großes Dampfbad. Die Schwaden hatten eine solche Dichte, daß man keinen halben Meter weit blicken konnte. »Auf die Weiber!« brüllte Ditterle. »Zeigt ihnen, wer hier der Herr im Hause ist!« Bevor er den Schieber öffnete, hatte sich Ditterle die Position der ihm am nächsten stehenden Frau gemerkt. Jetzt sprang er mit einem gewaltigen Satz auf das Flintenweib zu. Die Frau sah ihn erst, als seine Hände bereits nach ihr griffen. Sie konnte von der Waffe in ihrer Hand keinen Gebrauch mehr machen. Ditterle schlug ihr auf den Unterarm. Sie stieß einen Wehlaut aus und mußte den Stunner fallen lassen. Der Techniker warf sich auf sie und riß sie zu Boden. Auch die anderen Männer im Raum hatten ihre Chance sofort erkannt. Die Frauen konnten mit ihren Waffen nichts anfangen, denn die im Nebel hin- und herzuckenden Gestalten waren nur aus allernächster Nähe zu erkennen. Und damit hatten die Amazonen ihren einzigen Vorteil verloren. Im körperlichen Zweikampf Mann gegen Mann – Mann gegen Frau – waren sie hoffnungslos unterlegen. Innerhalb weniger Augenblicke hatten die Männer sie überwältigt. Die Invasion des Generatorenzentrums war gescheitert. Jetzt endlich kamen die Männer dazu, auf den Rotalarm den Vorschriften entsprechend zu reagieren: das Generatorenzentrum wurde von der übrigen Basis hermetisch abgeriegelt.
Es waren zwiespältige Gefühle und Gedanken, die Tom Stills hatte, als er vor dem kleinen Kirschbaum stand. Dieser weißblühende Baum gehörte im Gegensatz zu allen anderen Gewächsen in der hydroponischen Anlage nicht der Allgemeinheit, sondern ihm ganz allein. Er hatte den Baum gepflanzt und in jahrelanger Mühe hochgepäppelt, er hatte ihn immer wieder mit speziellen Nährlösungen versorgt, hatte ihn mit UV-Licht bestrahlt, kurz und gut, er hatte alles getan, was nur eben möglich gewesen war, um ihn zum Früchtetragen zu bringen. Und nun sah es tatsächlich so aus, als ob zum ersten Mal in all den Jahren richtige rote Kirschen an den Zweigen hängen würden – wie im Garten seiner Großeltern. Lange hatte Tom Stills auf diesen Augenblick gewartet, und doch würde er ihn nach Lage der Dinge höchstwahrscheinlich nicht miterleben können. Er wurde sich bewußt, daß jemand an seine Seite getreten war. Aus den Augenwinkeln erkannte er Angel Gavin, eine seiner Kolleginnen. Auch in der hydroponischen Anlage war es – wie überall in der Basis – zu schweren Spannungen zwischen Männern und Frauen gekommen. Im Moment aber hatte Tom Stills keine Lust zum Streit. Der blühende Kirschbaum stimmte ihn melancholisch. »Es ist irgendwie traurig«, sagte er. »Zum ersten Mal wird er in diesem Jahr Kirschen tragen. Und trotzdem kann ich keine einzige davon essen.« »Warum nicht, Tom?« fragte das Mädchen. Stills lächelte. »Weil wir im Augenblick der Reife nicht mehr hier, sondern auf Paradise sein werden.« »Du irrst, Tom«, sagte seine Kollegin mit eigentümlicher Betonung. Stills drehte sich zu ihr um, runzelte die Stirn. Angel Gaven hatte eine Sprühpistole in den Händen. Diese hielt sie
allerdings so, als handele es sich nicht um ein Werkzeug zur Benetzung von Gemüsepflanzen, sondern um eine Waffe. Abwehrend hob Stills die Hand. »Tu das Ding runter, Angel. In meinem Gesicht soll kein Spinat wachsen.« Die junge Botanikerin dachte nicht daran, der Aufforderung nachzukommen. Mit indifferentem Gesichtsausdruck drückte sie den Abzughebel nach unten. Ein betäubendes Gasgemisch schoß aus der Düse, das Tom Stills augenblicklich das Bewußtsein raubte. »Du wirst deine Kirschen doch essen können«, sagte das Mädchen und senkte die Sprühpistole.
Jacques d’Estelle saß in seinem Privatquartier und gab sich seiner Lieblingsbeschäftigung hin: er versuchte, die ungeheuer komplizierte Schriftsprache der Oceanier zu entziffern, einer humanoiden Rasse, mit der die Alphaner vor kurzer Zeit in Berührung gekommen waren. Die Arbeit war äußerst schwierig. Die Deutung der altägyptischen Hieroglyphen nahm sich dagegen beispielsweise als reines Kinderspiel aus. Gerade jetzt hatte er einen möglicherweise entscheidenden Durchbruch erzielt. Er kam aber nicht dazu, den Triumph auszukosten, denn in diesem Augenblick schrillte Alarm durch sein Quartier. Red Alert! D’Estelle fuhr aus seinem Pneumosessel hoch, als stünden die extraterrestrischen Aggressoren bereits hinter ihm. In fliegender Hast stürzte er zu einem Wandschrank und riß den Raumanzug hervor. In Rekordgeschwindigkeit war er hineingeschlüpft und hatte die Helmklappe geschlossen. Dann wartete der Linguist darauf, daß Informationen über die Natur der Gefahr eingingen, die die Basis bedrohen mußte.
Aber der Kommunikator blieb stumm. Es kamen weder Informationen noch irgendwelche weiteren Anweisungen. In einem solchen Falle besagten die Vorschriften, daß sich alle Alphaner, die nicht dem Katastrophenschutz oder verwandten Institutionen angehörten, auf dem schnellsten Weg in die Schutzräume zu begeben hatten. D’Estelle, der nicht unbedingt zu den mutigsten Besatzungsmitgliedern der Basis gehörte, zögerte nicht länger. Möglicherweise kamen nur deshalb keine Weisungen aus der Kommandozentrale, weil diese der unbekannten Gefahr bereits zum Opfer gefallen war. Jeden Augenblick konnte das Unheil auch über die Wohnkomplexe hereinbrechen. Die rechte Hand des Linguisten flog zum Commlock, um die Tür zu öffnen, Panik stieg in ihm auf, als das Funksignal ohne Wirkung blieb. Das elektronische Türschloß reagierte nicht. Eingeschlossen! D’Estelle lief zu einem anderen Wandschrank, ließ eine Schublade aufspringen, griff nach dem darin liegenden Handlaser. Er hatte die Waffe seit undenklichen Zeiten nicht benutzt, aber das machte nichts. Die Lasertechnik war so weit entwickelt, daß die Dinger absolut keine Wartung brauchten. Entschlossen zielte er auf die Tür, legte den Daumen auf den Auslöser. Dann aber kamen ihm Bedenken. Was war, wenn die Kommandozentrale den Computer ganz bewußt angewiesen hatte, Commlocksignale zu ignorieren? Dies konnte eine Maßnahme sein, deren Zweck es war, die Privatquartiere vor Eindringlingen zu schützen. Ein gewaltsames Türöffnen könnte bei einer derartigen Computerprogrammierung fatale Folgen haben. Ein Schutzfeld, das wie eine solide Mauer wirkte, baute sich automatisch auf. Wer versuchte, die gewaltsam aufgesperrte Tür zu passieren, würde sich lediglich den Schädel einrennen.
Nein, es war nicht ratsam, das elektronische Schloß zu zerstören. Jacques d’Estelle versuchte, von sich aus Verbindung mit der Zentrale zu bekommen, hatte damit jedoch keinen Erfolg. Die Zentrale antwortete nicht. Furchtsam zog sich der Linguist in die äußerste Ecke seines Privatquartiers zurück. Den Laser behielt er schußbereit in der Hand. Aber seine Hand zitterte so, daß er im Ernstfall wahrscheinlich nur seinen eigenen Fuß treffen würde. Die Waffenabteilung der Mondbasis Alpha 1 war ohne jeden Zweifel die bestgeschützte Sektion des ganzen unterlunaren Komplexes. Die Sicherheitsvorkehrungen beschränkten sich nicht allein auf die Präsenz von Schutzschirmen, lückenlosen Überwachungssystemen und jederzeit feuerbereiten Defensivund Offensivwaffen. Auch was den Zugang der Alphaner zur Waffenabteilung betraf, war hier alles anders als in den übrigen Sektionen. Nur speziell autorisierte Personen durften die Abteilung betreten. Und Jameson, der hartgesottene Chef des Arsenals, verwendete seinen ganzen Einfluß darauf, den Kreis dieser Personen möglichst gering zu halten. Selbst autorisierten Personen begegnete er mit stetigem Argwohn, so als fürchte er, daß sich jemand still und heimlich ein Raketengeschütz unter den Nagel riß. Zu den ganz wenigen Alphanern, denen Jameson unbegrenztes Vertrauen entgegenbrachte, gehörte John Koenig. Normalerweise! Als der Commander aber jetzt die Posten am Eingang passiert hatte und auf ihn zutrat, blieb auch er von dem tief verwurzelten Mißtrauen des Waffenchefs nicht verschont. Jamesons Mißtrauen hatte einen guten Grund. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er mit dem Commander per Commlock über die waffentechnische Bestückung des Expeditionsschiffes konferiert. Zu diesem Zeitpunkt war
Koenig noch in der Kommandozentrale gewesen. Wie er es geschafft haben sollte, die räumliche Entfernung zwischen Zentrale und Arsenal sozusagen im Flug zurückzulegen, war Jameson ein Rätsel. Oder auch nicht! Im Flug… Jameson hatte so seine ganz bestimmten Gedanken, ließ sich diese jedoch in keiner Weise anmerken. »Sie haben in unserem Gespräch etwas vergessen, Commander?« fragte er. »Noch Vorschläge?« »Nein, eigentlich nicht«, antwortete Koenig. »Es war doch wohl alles gesagt, oder?« »Na, wenn Sie meinen…« Jameson sah den Kommandanten von der Seite an, fand jedoch keine neue Nahrung für seinen Verdacht. Geringer wurde dieser dadurch allerdings nicht. Es gab Leute, die sich stets hervorragend in der Gewalt hatten. »Ich möchte etwas anderes mit ihnen besprechen, Jameson«, sagte Koenig. »Etwas, das nicht für fremde Ohren geeignet ist. Gehen wir an einen ruhigeren Ort. Hier stehen mir zu viele Leute herum, einverstanden?« »Natürlich.« Der Waffenchef ging vor, geleitete den Commander an den Waffenbatterien vorbei zu seinem Kommandostand. Dieser hatte weitgehende Ähnlichkeit mit der Zentrale. Auch hier zahlreiche Computerkonsolen, Bildschirme, Steuerpulte. Wie von der Zentrale aus war es möglich, die Mondoberfläche und den Weltraum zu überblicken, eine Unerläßlichkeit zur erfolgreichen Abwehr eines Angriffs von außen. Personell allerdings hielt Jamesons Reich keinen Vergleich mit der Kommandobrücke John Koenigs aus. Lediglich zwei Mitarbeiter des Waffenchefs waren im Augenblick anwesend und beschäftigten sich mit Routinearbeiten.
Aber selbst diese beiden waren dem Commander noch zu viel. »Wenn Sie die zwei noch nach draußen schicken würden, Jameson?« meinte er leise. »Wie ich schon andeutete… was ich Ihnen zu sagen habe, ist streng vertraulich.« »Natürlich«, sagte der Waffenchef wieder. »Vorher will ich Ihnen aber noch etwas zeigen, Commander. Rein privat, von Mann zu Mann sozusagen.« »Ja?« Jameson grinste. »Kommen Sie.« Er ging auf die Konsole eines der beiden Männer zu, boxte ihn kumpelhaft in die Seite. »Zeigen Sie dem Commander doch mal Ihr Magazin, Blanchard«, forderte er den Mann auf. »Mein… mein Magazin?« fragte der Mann unsicher zurück. »Ja, ja. Sie kennen Blanchards Magazin doch noch nicht, oder Commander?« John Koenig schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, Jameson, ich weiß nicht, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist…« »Ah, das müssen Sie einfach gesehen haben, Commander. Da lacht das Herz, kann ich Ihnen sagen. Also, Blanchard?« Der Untergebene Jamesons hatte eine Schublade geöffnet und entnahm ihr jetzt eine abgegriffene, schon reichlich zerfledderte Broschüre. Der Waffenchef nahm sie ihm aus der Hand, blätterte kurz darin und schlug dann eine Seite auf. »Na, Commander, ist das was?« sagte er und hielt John Koenig die auf dieser Seite abgebildete Fotografie hin. Der Commander warf einen schnellen Blick darauf, errötete und wandte sich wieder von dem Bild ab. »Sehr hübsch«, sagte er nur. »Um zur Sache zu kommen…« »Wir sind bei der Sache, Commander!« Jameson klappe das Magazin zu, griff dann gedankenschnell nach seinem Stunner, legte auf Koenig an und drückte ab.
Wie vom Blitz gefällt brach der Getroffene zusammen. Und in der Bewußtlosigkeit setzte die Metamorphose ein. Aus John Koenig wurde… die Psychonierin Maya. Der Waffenchef zog die Mundwinkel nach unten. »Merk dir eins für die Zukunft, mein liebes Kind«, sagte er gleichmütig. »Ein Mann wird selten rot, wenn er ein tolles Fotomodell sieht.« Maya konnte seine Worte allerdings nicht mehr hören.
VI
Nach und nach gingen in der Kommandozentrale die Meldungen aus den einzelnen Abteilungen ein. Es handelte sich, aus der Sicht der Frauen gesehen, weitgehend um Erfolgsmeldungen. Nahezu sämtliche Sektionen waren den konzentriert vorgetragenen Stoßtruppunternehmungen der Amazonen mehr oder weniger kampflos in die Hände gefallen. Lediglich in zwei Abteilungen war der Überraschungsangriff gescheitert: im Generatorenzentrum und in der Waffenabteilung. Ansonsten beherrschten die Frauen jetzt die gesamte Basis. Auch von den Männern, die sich zum Zeitpunkt des Überrumpelungsmanövers in ihren Privatquartieren aufgehalten hatten, drohte keine Gefahr. Der Computer war so umprogrammiert worden, daß niemand sein Quartier verlassen konnte. Die Privatquartiere waren somit geradezu ideale Gefängniszellen. Folgerichtig brachten die Frauen die von ihnen überwältigten Männer in ihren jeweiligen Privaträumen unter und gewannen auf diese einfache Weise ihre uneingeschränkte Handlungsfreiheit zurück, da sie sich nicht länger als Gefangenenwärter betätigen mußten. Dennoch fiel ein dunkler Schatten auf die Sonnenseite des triumphalen Erfolgs: Maya, die Alphanerin, die mit ihren außerordentlichen Fähigkeiten eine Schlacht ganz allein entscheiden konnte, befand sich in den Händen des Gegners. Und das gefiel Doktor Helena Russell, der neuen Kommandantin der Mondbasis, überhaupt nicht.
John Koenig war einer der wenigen Alphaner, die noch nicht in ihren Privatquartieren eingeschlossen worden waren. Helena hatte sich entschlossen, ihn vorerst noch in der Kommandozentrale zu belassen. Sie brauchte ihn als Vermittler im Dialog mit den beiden noch verbliebenen Widerstandsnestern im Kraftwerk und im Arsenal. »Du solltest versuchen, ihnen klarzumachen, daß eine Kapitulation nach Lage der Dinge das beste ist, John«, sagte sie eindringlich. »Sie werden es tun, wenn du es ihnen befiehlst. Für sie bist du nach wie vor der Kommandant.« »Auch für dich und deine Horde bin ich nach wie vor der Kommandant«, antwortete der Commander brüsk. »Selbst wenn du jetzt in meinem Sessel sitzt.« Der Anflug eines Lächelns kräuselte Helenas Mundpartie. »Wenn es deinem Ego schmeichelt, kann ich anordnen, daß man dich weiterhin mit ›Commander‹ anspricht. Möchtest du?« John Koenig schnaubte verächtlich. Es war ihm egal, wie man ihn ansprach. Ein Commander ohne Befehlsgewalt – das war wie Rauch ohne Feuer. Es führte kein Weg daran vorbei, daß die Befehlsgewalt auf Helena übergegangen war. Aber das bedeutete natürlich unter gar keinen Umständen, daß er sich nun dieser neuen Gewalt beugen würde. Rundheraus lehnte er es ab, in irgendeiner Weise auf Generatorenzentrum oder Waffenabteilung einzuwirken. Helena machte ein ärgerliches Gesicht. »Das ist sehr kurzsichtig von dir, John. Du weißt, daß wir ihnen das Leben sehr schwer machen können, ohne daß wir dabei das geringste Risiko eingehen müssen.« Es war nicht sehr schwierig zu erraten, was sie meinte. Die Kommandozentrale war das Herz, war die Leitstelle der gesamten Basis. Fast alle Funktionsabläufe konnten von hier aus gesteuert werden. So war es beispielsweise der Zentrale
möglich, das Kraftwerk abzuschalten, während das Generatorenzentrum selbst gegen den Willen der Zentrale dies nicht tun konnte. Die Programmierung des allgegenwärtigen Zentralcomputers, der natürlich ebenfalls durch die Zentrale kontrolliert wurde, war dafür verantwortlich. Koenig ging nicht auf die unterschwellige Drohung der Ärztin ein, schwieg nur verbittert. »Wir könnten ihnen die Luftzufuhr abschneiden«, wurde Helena jetzt deutlicher. »Und wir könnten natürlich auch die Temperaturen ganz rapide abfallen lassen. Kann das in deinem Sinne sein,… Commander?« »Das wäre Mord«, sagte Koenig scharf. Helena schüttelte den Kopf. »Ich würde es Selbstverteidigung nennen, John. Ihr habt mit den Feindseligkeiten angefangen. Ihr wollt uns zu diesem Höllenplaneten verschleppen. Und ihr habt auch den ersten Mord begangen!« »Mord – wir?« »Denk an das Mädchen im Fitneß-Center.« Tief stöhnte der Commander auf. »Mein Gott, nicht das wieder! Wann wird es endlich in deinen Kopf hineingehen, daß MacInlock, Fraser und Perez kein Mädchen umgebracht haben, daß überhaupt kein Mädchen dagewesen ist?« »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, und deshalb erübrigen sich alle weiteren Diskussionen über diesen Punkt.« Helena funkelte ihn böse an. »Ich frage dich zum letzten Mal, John Koenig: wirst du Generatorenzentrum und Waffenabteilung zur Kapitulation auffordern oder nicht?« Der Commander überlegte kurz, trat dann vor die Sprechmembrane des Allround-Kommunikators und schaltete das Gerät ein. »Commander Koenig an Generatorenzentrum und Waffenabteilung. Doktor Dukes und Jameson, bitte melden!« »Hier Jameson«, kam die Bestätigung des Waffenchefs.
Kurz darauf erklärte auch der Leiter des Kraftwerks Hörbereitschaft. »Was jetzt kommt, ist ein Befehl, dem unbedingte Folge zu leisten ist«, sagte John Koenig betont. Dann sprach er ganz schnell weiter. »Sofern noch nicht geschehen – alle Mann sofort Raumanzüge anlegen und Helmklappen schließen. Es besteht die große Gefahr, daß Luftzufuhr und Temperatur…« Wütend hämmerte Helena Russell auf den Knopf, der die Verbindung unterbrach. Drei den Kommandostand umringende Alphanerinnen richteten Stunner auf den Commander. »Du hast es nicht anders gewollt«, zischte die Doktorin. Dann gab sie ihre Befehle.
Mit seinem Befehl, Raumanzüge anzulegen, rannte John Koenig bei Jameson und seinen Leuten offene Türen ein. Dies war selbstverständlich nach Mayas Gefangennahme und dem anschließenden Heulen der Alarmsirenen sofort geschehen. Immerhin wußte der Waffenchef nach Koenigs offensichtlich gewaltsam gestoppter Warnung nun, daß sich die Frauen zur Fortsetzung der Kampfhandlungen entschlossen hatten. Er hatte eigentlich auf einen echten Sturmangriff gehofft. Einen solchen abzuwehren, wäre ihm und seinen Männern mit Leichtigkeit gelungen. Die unmittelbar hinter dem Eingang in Stellung gebrachten automatischen Phaser und der Raketenwerfer hätten den Aggressorinnen einen heißen Empfang bereitet und ihnen eine Abfuhr erteilt. Daß die Frauen nun aber nicht den direkten Schlagabtausch suchten, sondern sich auf die Taktik des ›Aushungerns‹ verlegen wollten, überraschte ihn nicht. Etwas ähnliches hatte er eigentlich längst erwartet. Aber gab es nicht einen altbewährten militärischen Wahlspruch, der da lautete: Angriff ist die beste Verteidigung?
Zunächst wies er seine Mitarbeiter an, die bisher noch offen getragenen Helme zu schließen. So verloren die angekündigten Gewaltmaßnahmen ihren ersten Schrecken. In den Raumanzügen waren seine Alphaner sicher, so lange, wie der Energievorrat reichte. »Was ist mit der Psychonierin?« wollte Heckstall, sein Stellvertreter, wissen. »Sollen wir ihre Helmklappe auch schließen?« »Ja«, entschied Jameson sofort. »Wir sind keine Mörder.« Eigentlich hätte das mit Betäubungsmitteln unter Kontrolle gehaltene Mädchen ja eine bittere Lektion verdient gehabt, sinnierte Jameson. Wider Willen ertappte er sich jedoch dabei, daß er trotz allem noch immer so etwas wie Sympathien für Maya empfand. Und dabei stand doch fest, daß sie längst nicht mehr die Maya war, die er schätzen gelernt hatte. Du wirst doch nicht etwa sentimental werden, alter Junge? rügte er sich selbst. Er beruhigte seinen harten Kern mit der Überlegung, daß eine tote Maya ihm nichts nützen konnte, eine lebende aber einen beachtlichen Geiselwert besaß. Zur Abwehr der nun drohenden Gefahr eignete sich Mayas Geiselstatus jedoch nicht. Jetzt mußten schärfere Geschütze aufgefahren werden. Im wahrsten Sinne des Wortes…
Verkniffen blickte John Koenig auf die Monitorbatterie, die mit dem Lebenserhaltungssystem der Basis gekoppelt war. Jeder Monitor gab die Verhältnisse in einer anderen Sektion an. Der Commander interessierte sich jedoch ausschließlich für Monitor drei und Monitor acht. Drei war das Generatorenzentrum und acht die Waffenabteilung.
Die übermittelten Daten waren für beide Sektionen ungefähr gleichlautend – gleichlautend bedenklich. Druck und Temperatur sanken langsam aber stetig ab. Und die Atemluft wurde ständig dünner. »Mörderin!« sagte der Commander und blickte Helena Russell vernichtend an. »Sei nicht albern, John Koenig«, antwortete die Ärztin. »Ich habe dir gerade einen Vortrag über Selbstverteidigung gehalten. Und ganz davon abgesehen…du weißt so gut wie ich, daß sie längst ihre Raumanzüge angezogen haben.« »Eine Anzugbatterie reicht nicht ewig. Und dann?« Helena Russell zuckte die Achseln. »Wir haben sie zur Kapitulation aufgefordert. Wer nicht hören will…« »Du willst eine Ärztin sein?« schäumte der Commander. »Das oberste Gebot eines Arztes lautet: Menschenleben retten. Und was tust du? Du vernichtest Menschenleben!« Wieder trat dieser harte Glanz in Helenas Augen, den der Commander nun schon zur Genüge kannte. »Ich möchte noch einmal betonen, John Koenig, daß wir bisher noch niemanden getötet haben. Ganz im Gegensatz…« »Ja, ja«, winkte Koenig ab. Er wußte, daß sie jetzt wieder von dem angeblichen Opfer im Gymnastikraum anfangen wollte, und diesen Schwachsinn kannte er schon nicht mehr hören. Irgendwie war das alles sinnlos. Man redete aneinander vorbei, unterstellte sich gegenseitig die ungeheuerlichsten Dinge und war nun inzwischen auch dazu übergegangen, diese ungeheuerlichen Dinge tatsächlich zu tun. Und dies alles letzten Endes nur wegen des Planeten Paradise. Langsam begann er sich zu fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn die Sensoren die Traumwelt niemals erfaßt hätten. John Koenigs Überlegungen wurden unterbrochen, als das Gesicht Jamesons auf dem großen Zentralbildschirm erschien.
Hinter der Scheibe seines Raumhelms wirkte es besonders hart, kantig und kompromißlos. »Ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen, Doktor Russell«, kam seine knarrende Stimme. »Sie geben auf?« fragte die Doktorin hoffnungsvoll. Der Waffenchef setzte eine Miene auf, die voller Verachtung war. »Sie sollten mich besser kennen, Doktor Russell!« Helena nickte. »Da haben Sie recht. Ich darf also annehmen, daß Sie mir eine Drohung zukommen lassen wollen.« »Eine Warnung, würde ich sagen.« »Ich höre, Mr. Jameson.« »Sie haben mir ein Ultimatum gestellt, Doktor Russell«, sagte der Waffenchef. »Jetzt stelle ich Ihnen eins. Ich habe einen unserer schweren Kohlenstoffdioxyd-Laser so aufgestellt, daß ich die Kommandozentrale genau im Visier habe. Es dürfte Ihnen bekannt sein, daß die Lichtstrahlen aus dieser geringfügigen Entfernung scharf genug fokussiert bleiben, um die dazwischenliegenden Wände zu durchdringen wie Papier. Und auch die Schutzschirme der Zentrale werden einem konzentrierten Beschuß nicht lange standhalten. Ich gebe Ihnen eine halbe Stunde Zeit. Wenn bis dahin in meiner Abteilung und im Generatorenzentrum nicht wieder normale Verhältnisse herrschen, werde ich auf den Knopf drücken!« Helena Russell wurde blaß. Und auch die anderen Frauen in der Kommandozentrale machten erschrockene Gesichter. Sie alle kannten Jameson, kannten seine stählerne Härte, kannten seine Schonungslosigkeit gegen sich selbst und gegen andere. »Sie… Sie würden allen Ernstes die halbe Basis in Schutt und Asche legen, Jameson?« vergewisserte sich Helena mit spürbarer Unsicherheit. »Wenn es sein muß, die ganze!« sagte der Waffenchef mit unbewegtem Gesicht. »Sie haben noch achtundzwanzig Minuten und fünfundvierzig Sekunden. Over.«
Der Bildschirm wurde dunkel. Jameson hatte die Verbindung unterbrochen. John Koenig war sich nicht sicher, ob Jameson seine Drohung wirklich wahrmachen würde. Er konnte nur hoffen, daß der Waffenchef bluffte – im Interesse aller. Laut sagte er: »Ich würde tun, was er verlangt. Helena. Jameson ist kein Mann, der halbe Sachen macht.« Helena beachtete ihn nicht. Sie und ihre Mitverschwörerinnen berieten. Argumente flogen hin und her. Die Alternative einer Evakuierung der Zentrale wurde in Erwägung gezogen, wurde wieder verworfen. Jameson konnte sein Lasergeschütz auch auf jedes x-beliebige andere Ziel richten. Schließlich kamen die Frauen zu einem Entschluß. Helena gab Anweisung, die Verhältnisse in Arsenal und Kraftwerk wieder zu normalisieren. Patt…
VII
Nach dem Intermezzo mit Jameson waren Helena und die anderen Frauen zu der Ansicht gekommen, daß die Anwesenheit des Commanders in der Zentrale nicht mehr von Nutzen sein würde. Wie alle Männer aus den Abteilungen, in denen die Frauen die Oberhand behalten hatten, sollte er ebenfalls in seinem Privatquartier eingeschlossen werden. Drei Alphanerinnen eskortierten ihn – Annette Fraser, die blonde Computertechnikerin, und zwei Mädchen aus dem Labor. Alle drei hielten Stunner in den Händen und ließen keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit, die Lähmungswaffen im Bedarfsfall auch einzusetzen. Sie veranlaßten ihn, ein paar Schritte vor ihnen herzugehen und folgten ihm wachsam wie gut abgerichtete Hunde. Während er und die Frauen sich durch die leeren Korridore zum Wohnkomplex A bewegten, arbeiteten die Gedanken John Koenigs fieberhaft. Er war sich vollkommen darüber im klaren, daß er keine Chance mehr haben würde, in die weitere Entwicklung der Dinge einzugreifen, wenn er erst einmal in seinem Quartier hockte. Dort würde er zwangsläufig zur Untätigkeit verurteilt sein. Er mußte versuchen, den Frauen zu entfliehen. Die große Frage war nur, wie. Mehrmals wandte er den Kopf. Aber jedesmal mußte er erkennen, daß die drei Amazonen voll konzentriert waren. Sie ließen ihn keinen Moment aus den Augen, hielten die Stunner unverwandt auf ihn gerichtet. Im Falle eines Fluchtversuchs würde er unweigerlich zu Boden gestreckt werden.
Und schon war die Tür seines Quartiers erreicht, ohne daß er eine Möglichkeit gefunden hatte, sich der Kontrolle seiner Wächterinnen zu entziehen. Annette Fraser steckte ihren Lähmstrahler weg und griff nach dem Commlock. Gleich würde sie den geänderten, John Koenig unbekannten Code wählen, um die Tür zu öffnen. Und dann war die letzte Chance dahin. Zwei Stunner waren jetzt noch auf ihn gerichtet. Ein Treffer aus nur einem Lähmstrahler würde bereits genügen, seinen Körper augenblicklich zu immobilisieren. Dennoch mußte er es jetzt wagen. Und John Koenig wagte es… Im selben Moment, in dem die Tür seines Quartiers aufglitt, ließ er sich blitzschnell zu Boden sinken und warf sich gleichzeitig rückwärts. Er prallte gegen die Beine einer der beiden Laborantinnen. Das Mädchen geriet ins Straucheln, ruderte mit den Armen und verlor ihn dabei aus dem Visier des Stunners. John Koenig federte wieder hoch und packte sie an den Hüften. Die andere hatte aufgepaßt, drückte auf den Auslöser ihrer Waffe. Der Lähmstrahl, der unmittelbar auf das Nervenzentrum einwirkte, brach aus dem Stunner. Aber er traf nicht den Commander, sondern die Kollegin der Amazone, die von Koenig jetzt als menschliches Schutzschild benutzt wurde. Augenblicklich wurde die junge Frau in seinen Armen schlaff. Er gab ihr einen Stoß, so daß sie gegen die Laborantin mit dem schußbereiten Stunner stieß. Auch diese bekam jetzt Gleichgewichtsschwierigkeiten. Der Stunner zeigte plötzlich unfreiwillig zur Decke. Und schon war der Commander bei ihr, griff nach ihrem Arm, entwand ihr die Waffe. Keinen Augenblick zu früh…
Annette Fraser hatte schnell reagiert, hatte das Commlock bereits wieder mit dem Stunner vertauscht. Bevor sie jedoch abdrücken konnte, kam ihr John Koenig zuvor. Der Strahl aus der von ihm eroberten Waffe streckte die Computertechnikerin zu Boden. Der Commander war kein Mensch, der die Gewalt liebte. Und schon gar nicht, wenn sie sich gegen Frauen richtete. In der gegenwärtigen Situation jedoch konnte er sich keine falsche Rücksichtsnahme leisten. Ohne auch nur im geringsten zu zögern, immobilisierte er auch die dritte Frau. Die Tür zu seinem Privatquartier stand noch offen. Koenig wußte, daß er es sich eigentlich nicht erlauben konnte, Zeit zu verlieren. Trotzdem opferte er ein paar Sekunden, stürmte in das Quartier hinein und riß einen Wandschrank auf. Im Handumdrehen hatte er die Gegenstände gepackt, die er höchstwahrscheinlich dringend brauchen würde: Reservecommlock, einen Laser, den Raumanzug. Augenblicke später stand er wieder draußen im Korridor. Dann rannte er los. Er zweifelte nicht daran, daß die Frauen in der Kommandozentrale seine Befreiungsaktion ganz genau mitbekommen hatten. Überall in den Korridoren gab es Kontrollkameras, deren routinemäßigen Aufnahmen in die Zentrale überspielt wurden. Und mit Sicherheit saß dort eine Frau vor dem Monitor, die mittlerweile längst Alarm gegeben haben würde. Es gab nur zwei Sektionen in der Basis, in denen er seine momentane Bewegungsfreiheit nicht sofort wieder verlieren würde: das Generatorenzentrum und die Waffenabteilung. Aus seiner gegenwärtigen Position hätte er das Kraftwerk schneller erreichen können. Dennoch entschied er sich dafür, den Versuch zu unternehmen, sich zum Arsenal durchzuschlagen.
Die Möglichkeiten, Einfluß auf die rebellischen Frauen zu nehmen, waren in Jamesons Reich ungleich höher. Aber es war noch ein weiter Weg bis zum Waffendepot. Zunächst mußte er erst einmal den Wohnkomplex hinter sich lassen. Und schon fingen die Schwierigkeiten an. Zwanzig Meter vor ihm öffnete sich eine Tür. Eine Frau im weißen Gewand trat hervor, den Stunner bereits erhoben. Nahezu automatisch flog seine Hand mit dem eigenen Lähmstrahler hoch. Sein Daumen drückte den Auslöser nach unten. Die Frau klappte zusammen. Weiter stürmte der Commander vorwärts. Eine Stimme ertönte, Helena Russells Stimme. Sie drang aus den Lautsprechern, die in die Decken eingelassen waren. »Bleib stehen, John Koenig! Du kommst nicht weit.« Abwarten, sagte der Commander leise. Unbeirrt setzte er seine Flucht fort, auch wenn jetzt vollkommen klar war, daß sein weiterer Fluchtweg mit Hindernissen gepflastert sein würde. »John!« ertönte die Stimme der Ärztin wieder. »Ich will mit dir reden.« Aufhalten willst du mich, meine Liebe, dachte Koenig. Aber auf derartig durchsichtige Manöver fiel er nicht herein. Fast hatte er die Grenze des Wohnkomplexes erreicht, als das geschah, was er erwartet hatte. Der Korridor wurde abgesperrt. Aus Decke und Boden wuchsen dicke Glassegmente, die sich in der Mitte vereinigten und eine solide Mauer bildeten. Dadurch ließ sich der Commander jedoch nicht stoppen. Während des Laufens wechselte er den Stunner gegen den Laser aus. Und als er dann vor der Glasbarriere stand, stellte er den Lichtwerfer auf maximale Leistung und richtete ihn auf die Scheibe.
Das Glas schmolz wie Eis in der Sonne, tropfte auf den Boden. In Sekundenschnelle war eine Öffnung geschaffen, durch die Koenig hindurchschlüpfen konnte. Der Wohnkomplex lag jetzt hinter ihm, die Korridore des Freizeitzentrums vor ihm. Koenig arbeitete weiter mit dem Laser, zielte damit auf die erste Kontrollkamera, die jetzt in seinem Blickfeld erschien. Und als er um die nächste Gangbiegung kurvte, zerstörte er die zweite und dritte. Unsichtbar machen konnte er sich auf diese Weise nicht, wohl aber die Beobachtung erschweren. In schnellem Lauf durchquerte er die Anlagen des Freizeitzentrums. Hier herrschte sonst meistens Hochbetrieb, in dieser Zeit der Unruhe und das Aufruhrs aber lag es natürlich da wie ausgestorben. Er erreichte einen Einstiegschacht des TransportröhrenSystems. Das TR-System diente dem schnellen Personen- und Warenverkehr durch den weitverzweigten, aus einer ganzen Reihe von Ebenen bestehenden Basiskomplex. In einem Röhrengefährt würde John Koenig binnen kürzester Zeit die Waffenabteilung erreichen können. Dennoch zögerte er. Gegebenfalls konnte ihm das TR-System zur tödlichen Falle werden. Schließlich kletterte er doch in die bereitstehende Röhre. Seine Bedenken waren zwar nicht geschwunden, aber er sagte sich, daß er es zu Fuß wahrscheinlich gar nicht schaffen würde. Und vielleicht kam ihm das Glück zu Hilfe. Die Kamera, die den Schacht überwachte, hatte er jedenfalls zerstört, so daß die Frauen in der Zentrale nicht gleich auf den richtigen Gedanken kommen konnten. Lichtschein flackerte im Röhrentunnel auf, als er sein Ziel in die Tastatur tippte. Und schon jagte das computergesteuerte kleine Gefährt los. Die aluminiumverkleideten, gekrümmten Wände des Tunnels flogen vorbei wie riesige silberne Vögel.
Mit rasender Geschwindigkeit blieb das Freizeitzentrum zurück. Abwärts ging die Fahrt, denn das Waffendepot lag aus Sicherheitsgründen in einer der unteren Ebenen. Das Röhrensystem war weitverzweigt. Trotzdem sorgte der Computer dafür, daß das Ziel auf dem allerkürzesten Weg angesteuert wurde. Und mit jeder Sekunde, die dahintickte, wuchsen die Chancen des Commanders, das Arsenal tatsächlich zu erreichen. Seiner Schätzung nach konnte es nicht mehr weit sein, als die befürchtete Störung dann doch noch eintrat. Die Röhre verringerte ihre Geschwindigkeit so abrupt, daß Koenig nach vorne geschleudert wurde. Allein der Sicherheitsgurt, der jeden Passagier nach dem Einsteigen automatisch in seine schützende Obhut nahm, bewahrte ihn vor körperlichem Schaden. Ein Stück rutschte das Gefährt noch weiter, blieb dann stehen. Verdammt, er hatte es geahnt! Irgend jemand in der Zentrale hatte richtig geschaltet. Und da zur Zeit die Reisetätigkeit in der Basis so gut wie ruhte, war es natürlich nicht schwer gewesen, ihn zu lokalisieren. Durch den Notausstieg verließ der Commander die Röhre und stieg in den Tunnel hinaus. Zwielicht hüllte ihn ein. Das stark reflektierende Leichtmetall sorgte jedoch dafür, daß er sich recht gut orientieren konnte. Zu Fuß hastete er weiter, der gemäßigten Abwärtsneigung des Tunnels folgend. Irgendwann würde er auf einen Einstiegsschacht stoßen. Dort konnte er dann wieder aus der ›Unterwelt‹ auftauchen. Dann erlosch das Licht. Böse lachte John Koenig auf. Helena und ihre Helferinnen, taten alles, um ihm das Leben schwerzumachen. Er hielt es
durchaus für möglich, daß sie als nächsten Schritt die Sperrung der Luftzufuhr in Erwägung zogen. Nicht nur deshalb blieb er stehen und schlüpfte in den Raumanzug. In den Helm war ein leistungsstarker Scheinwerfer eingearbeitet, der die letzte Maßnahme der Zentrale hinfällig machte. Wenig später bewegte er sich wieder vorwärts. Er konnte nur vermuten, wo ungefähr er sich zur Zeit befand. Das Tunnelsystem sah überall mehr oder weniger völlig gleich aus. Aber er glaubte doch nicht, sich zu irren, wenn er davon ausging, daß die Waffenabteilung nicht mehr allzu fern sein konnte. Nach mehreren hundert Metern stieß er auf einen Einstiegschacht. Und kurz darauf stand er wieder in einem vernünftig begehbaren Korridor. Ja, er hatte sich nicht getäuscht. Dieser Korridor gehörte zur Sektion des physikalischen Labors. Hundert Meter weiter lag der Eingang zu Jamesons Reich. Aber er war noch lange nicht am Ziel. Das physikalische Labor war eine jener Abteilungen, die die Frauen ›erobert‹ hatten. Wenn sie merkten, daß er jetzt hier aufgetaucht war… Sie merkten es. John Koenig war gerade wieder losgerannt, als zwanzig Meter von ihm entfernt plötzlich die Luft flimmerte. Der Commander hatte eine sofortige Erklärung für das Phänomen: es war ein Energievorhang, ein Schutzschirm. Innerlich stöhnte er auf. Für ihn gab es keine Möglichkeit, den Energieschirm zu durchbrechen. Zwar würde er bei konzentriertem Laserbeschuß zusammenbrechen, aber die Kraft eines Handlasers reichte bei weitem nicht aus, um das Kraftfeld entscheidend zu belasten. Für ihn gab es hier kein Durchkommen.
Er drehte sich auf dem Absatz um, um sein Glück auf der anderen Seite zu versuchen. Sofort fuhr ihm der Schrecken in die Glieder. Auch hier wurde er mit einer Wand aus flirrender Energie konfrontiert. Gefangen! Hinter der fluoreszierenden Barriere glitt jetzt seitlich eine Tür auf. Mehrere Frauen, Mitarbeiterinnen des physikalischen Labors, traten hervor. Sie alle hielten Waffen in den Händen. Über Lautsprecher hörte er wieder Helena Russells Stimme. »Gib auf, John! Du kannst nicht entkommen. Wirf deine Waffen weg und ergib dich.« John Koenig stand etwa in der Mitte zwischen den beiden Energiewänden. Resignation überkam ihn. Ja, Helena hatte recht. Er saß in der Falle, nichts ging mehr. Es war wohl wirklich am besten, zu kapitulieren und sich in das Unvermeidliche zu fügen. Dann aber riß er sich zusammen. Er gönnte den Frauen den Triumph nicht. Außerdem war es schlecht für die Moral der Männer, die in Generatorenzentrum und Waffenabteilung noch hinhaltenden Widerstand leisteten. Das Arsenal war ebenfalls an das System der Kontrollkameras angeschlossen. Jameson und seine Leute würden jetzt wahrscheinlich vor dem Monitor sitzen und Zeuge seiner Aufgabe sein. Er durfte den Männern kein schlechtes Beispiel bieten. »Nein!« rief er laut. »Ich gebe auf keinen Fall auf. Kommt doch und holt mich!« Helena Russell meldete sich wieder. »John, sei nicht töricht. Wir wollen keine Gewalt. Streck die Waffen, und dir passiert nichts.« Auch der Commander wollte kein Blutvergießen. Deshalb steckte er den Laser, den er beim Anblick des ersten Schutzschirms gezogen hatte, wieder weg und nahm statt
dessen den Stunner in die Hand. Wenn sie ihn holen wollten, mußten sie einen der beiden Schirme ausschalten. Oder aber… Dem Commander fiel es schwer, den Gedanken zu Ende zu denken, aber er konnte ihn auch nicht einfach ignorieren. Es gab natürlich noch eine Möglichkeit für seine Gegenspielerinnen, ihn auszuschalten, ohne ein Risiko dabei einzugehen. Irgendwie glaubte er aber doch nicht daran, daß sich Helena dazu entschließen würde, denn damit würde sie das Todesurteil über ihn fällen und auch gleich vollstrecken. »John!« Die Stimme der Ärztin klang gepreßt, zitterte sogar ein bißchen. »Ich habe nichts mehr zu sagen«, rief der Commander. »John, du weißt, daß wir dich nicht holen müssen!« Koenig atmete schwer. Sie würde doch nicht wirklich… Nein, er glaubte es noch immer nicht. Sie wollte ihn bluffen, wollte ihn einschüchtern. »John, dein letztes Wort?« »Mein letztes Wort!« Es hörte sich an wie ein Seufzer, als die Ärztin sagte: »Es ist deine Entscheidung, John.« Also doch? fragte sich der Commander verzweifelt. Sie machten es tatsächlich… Der Energievorhang, hinter dem die Frauen standen, setzte sich in Bewegung, schwebte langsam, ganz langsam auf ihn zu. Unwillkürlich wich der Commander zurück. Und da sah er, daß ihm auch der Schutzschirm auf der anderen Seite entgegenkroch, genauso langsam, aber genauso unerbittlich. Sein Schicksal war besiegelt. Wenn sich die beiden Energiewände in der Mitte trafen, würde er zerquetscht werden wie eine Laus. »John, gib auf, du hast keine Chance!« Die Stimme Helena Russells löste einen Wutanfall in John Koenig aus. Er ließ den Stunner fallen, riß mit einer wilden
Bewegung den Laser wieder hervor. Er richtete ihn mit verzerrtem Gesicht auf die Deckenkamera und den danebenliegenden Lautsprecherschlitz und drückte so lange auf den Auslöser, bis beides nur noch eine unkenntliche Masse war. Als er den Laser aber wieder sinken ließ, wußte er nur zu gut, daß sein Feuerhagel letzten Endes nur eine leere Geste gewesen war. Die Energiewände wanderten weiter auf ihn zu. Beide mochten jetzt noch etwa fünfzehn Meter von ihm entfernt sein. Und mit jeder Sekunde verringerte sich der Abstand weiter. Selbst wenn er jetzt bereit gewesen wäre, zu kapitulieren, hätte er es der Kommandozentrale nicht einmal mehr mitteilen können. Gleichzeitig mit dem Lautsprecher hatte er auch das Aufnahmemikrophon zerstört. Aus und vorbei… John Koenig bereitete sich innerlich auf sein Ende vor. Dann aber geschah etwas völlig Unerwartetes. In dem Korridor, der weiter zur Waffenabteilung führte, tauchten plötzlich mehrere Alphaner auf. Männer, keine Frauen. An ihrer Spitze erkannte der Commander durch den flimmernden Energievorhang hindurch Jameson, den Chef des Arsenals. Jameson und seine Leute hatten ein karrenähnliches Gefährt bei sich, das sie vor sich herrollten. Und auf diesem Gefährt… Ein Lasergeschütz! In einer Entfernung von etwa zehn Metern vor dem Energievorhang machten sie halt. Jameson hob winkend die Hand, trat dann hinter den Laser. Und eine Sekunde später brach aus dem Geschütz ein armdicker Lichtstrahl von blendender Helligkeit hervor und traf auf die Energiewand. Ein einzigartiges Feuerwerk war die Folge. Grelle Blitze zuckten durch den Korridor, pflanzten sich kaskadenförmig fort. Funken sprangen umher wie Millionen von
explodierenden Sternen. Die Energiewand wurde zu einer bunten Palette, die in allen Farben des Spektrums leuchtete. Geblendet machte John Koenig die Augen zu. Aber selbst durch die geschlossenen Lider drang die Lichtorgie hindurch. Blinzelnd nahm er wahr, daß sich die Farben schließlich zum Blaubereich hin verschoben. Rot, Orange und Gelb gab es nicht mehr. Das Grün verflüchtigte sich, dann auch das Blau. Violett war jetzt die vorherrschende, die einzige noch verbliebene Farbe. Der Commander wußte, was das bedeutete. In wenigen Augenblicken würde der Schirm zusammenbrechen, würde der Laserstrahl keinen Widerstand mehr finden. Ganz eng drückte er sich an die Wand, um gleich nicht von der geballten Lichtkraft des Lasers getroffen zu werden. Und dann war es so weit. Von einem Sekundenbruchteil zum anderen existierte die erste Barriere nicht mehr. Der Laserstrahl traf auf den zweiten Schutzschirm und entfesselte ein neues Feuerwerk. Der Weg zur Waffenabteilung war frei. »Kommen Sie, Commander«, rief der Waffenchef. John Koenig ließ sich nicht lange bitten.
VIII
»Und nun, Commander?« fragte Jameson. »Sturm auf die Bastille?« John Koenig saß dem Waffenchef in dessen Kommandostand gegenüber. Nachdenklich sah er den Mann an, dessen entschlossener Einsatz ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. »Sturmangriff, Jameson? Ich kann mich mit dem Gedanken nicht befreunden. Was auch geschehen ist und vielleicht noch weiter geschehen wird – die Frauen sind und bleiben Alphaner.« »Die Frauen sind wahnsinnig geworden, Commander. Ihre Verblendung kennt keine Grenzen. Wenn es uns nicht in allerkürzester Zeit gelingt, das Heft wieder in die Hand zu bekommen, ist alles zu spät. Wir haben uns Paradise jetzt weit genug genähert. Das Expeditionsschiff muß sofort gestartet werden. Wenn wir noch länger zögern, können wir Unternehmen Exodus vergessen. Und wie ich die Sache sehe, ist genau das das Ziel der Frauen.« Der Commander nickte. »Sie sehen die Dinge ganz richtig, Jameson. Die Frauen wollen mit aller Gewalt verhindern, daß wir Paradise zu unserer neuen Heimat machen. Nur aus diesem Grund haben sie ihre… äh… Revolution inszeniert.« »Und das nehmen wir hin?« Jameson deutete auf einen Monitor, auf dem sich der in sanftem Blau schimmernde Planetenball wie ein Fanal der Hoffnung von der trostlosen Schwärze des Weltraums abhob. »Sollen wir wirklich auf diese einmalige Chance verzichten, Commander?«
»Nein«, sagte Koenig, »ich beabsichtige nicht, unsere vielleicht einmalige Chance ungenutzt verstreichen zu lassen.« »Heißt das…« »Das Expeditionsschiff wird starten! Es steht bereits auf der Rampe, nicht wahr?« »Ja«, bestätigte der Waffenchef. »Aber was nutzt uns das? Sie wissen so gut wie ich, daß die Oberflächenlaser von der Zentrale aus kontrolliert werden können. Wenn Sie oder ich oder einer meiner Leute den Eagle starten… Doktor Russell wird unverzüglich den Befehl geben, ihn abzuschießen.« »Nicht unbedingt«, lächelte der Commander. »Was haben Sie mit Maya gemacht, Jameson?«
Der Waffenchef war, was die Person der Psychonierin betraf, nicht das geringste Risiko eingegangen. Maya war kein Kind der Erde. Obwohl sie von der äußeren Erscheinung her praktisch nicht von den übrigen Alphanern unterschieden werden konnte, differierte ihr Metabolismus doch stark von dem der Terraner. Jameson hatte nicht lange herumexperimentiert, auf welches Betäubungsmittel sie nun am besten ansprach. Immer wenn er der Ansicht gewesen war, daß sie gleich aus ihrer Besinnungslosigkeit erwachen würde, hatte er zum Stunner gegriffen und ihr eine neue Ladung Lähmstrahlen in das hübsche Gesicht gejagt. Rauh wie diese Behandlung auch war, ihre Notwendigkeit stand außer Zweifel. Ohne jede Frage konnte Maya, wenn sie im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte war, von keinem Alphaner gebändigt werden. John Koenig trat an die Liege heran, auf die Jameson das Mädchen gelegt hatte. Selbst in ihrer tiefen Bewußtlosigkeit sah Maya aus wie das blühende Leben. Ganz sicher würde sie von der strapaziösen Stunnerbehandlung keinen Schaden
davontragen. Wie sie so dalag, wirkte sie ungemein unschuldig und harmlos. Und doch schlummerte in ihr ein Kräftepotential, das jeder Gegner in Angst und Schrecken versetzen konnte. »Sie fliegt mit zum Planeten Paradise«, sagte der Commander. »Sie?« Über Jamesons kantiges Gesicht huschte ein Schatten. »Auf diese Weise wird der Flug zur Selbstmordmission. Der Pilot kann schon jetzt sein Testament machen.« »Ich werde der Pilot sein«, erwiderte Koenig. »Und ich hoffe doch, daß es mir gelingen wird, mich vor ihren Verwandlungstricks zu schützen.« »Aber wozu, Commander? Warum wollen Sie eine Frau mitnehmen? Noch dazu eine, die ausgesprochen gemeingefährlich ist!« »Ich habe einen ganz bestimmten Grund, mir eine Frau als Copilotin auszusuchen. Die Alphanerinnen wehren sich mit Zähnen und Klauen gegen eine Besiedlung von Paradise. Sie nennen den Planeten Hell und reden von chaotischen Lebensverhältnissen. Nun, ich habe die stille Hoffnung, daß ein unmittelbarer Kontakt mit Paradise einen Sinneswandel herbeiführen könnte. Maya ist eine der Wortführerinnen des Frauenaufstands. Wenn sie sich für eine Kolonisation entscheiden würde, wären wahrscheinlich alle unsere Probleme gelöst.« »Sie glauben das, Commander?« »Ich hoffe es, Jameson.« Der Waffenchef zuckte vielsagend die Achseln. »Sie sind der Boß«, murmelte er. John Koenig drückte auf den Knopf des Kommunikationssystems, der eine Verbindung mit der Zentrale herstellte. Auf dem Monitor erschien das Gesicht von Sandra Benes.
»Geben Sie mir die sogenannte Kommandantin«, verlangte der Commander. Die Computertechnikerin verschwand vom Schirm, machte Helena Russell Platz. Die Ärztin wirkte verbissen. Ihre Augen strahlte Feindseligkeit aus. Der Commander konnte sich vorstellen, daß er einen nicht viel anderen Eindruck vermittelte. Er hatte Helena keineswegs vergessen, daß sie den Befehl gegeben hatte, ihm zwischen den Energieschirmen die Hölle heiß zu machen. »Was willst du?« fragte sie schroff. Koenig grinste schief. »Frau Kommandantin, ich bitte um Starterlaubnis für Eagle Drei«, sagte er zynisch. Natürlich faßte Helena seine Worte als pure Provokation auf. »Mir ist nicht nach dummen Scherzen zumute«, antwortete sie ausgesprochen unwirsch. »Das ist kein Scherz, Helena.« Sie begriff, daß er es tatsächlich ernst meinte. Unglaube trat in ihre Züge. »Du willst…« »… zu Paradise fliegen, ja.« Die Doktorin wurde wütend. »Daß du es wagst, mich auch nur danach zu fragen! Aber bitte sehr, ich kann dich nicht hindern, zu starten. Aber eins sollst du wissen: wir werden dich mit der Oberflächenabwehr in Atome zerfetzen. Wie dir bekannt sein dürfte, können wir deinem Spießgesellen Jameson von der Zentrale aus die Kontrolle über die Außenabwehr entziehen.« Koenig nickte gleichmütig. »Ist mir bekannt, ja. Vielleicht erinnerst du dich, daß ich mal Kommandant dieser Basis war. Ich dachte mir, daß du so reagieren würdest, und deshalb wollte ich vor dem Start mit dir reden. Ich möchte dich davon in Kenntnis setzen, daß ich Maya an Bord haben werde. Wenn du deine Busenfreundin umbringen willst… Daran kann wiederum ich dich nicht hindern, meine liebe Helena.«
Einige Sekunden sagte die Ärztin gar nichts. Nur in ihren Augen brannte ein böses Feuer. »Du willst sie also als Faustpfand mißbrauchen«, stellte sie erbittert fest. »Das auch«, gab der Commander freimütig zu. »Mein eigentliches Motiv, Maya mitzunehmen, ist jedoch ein anderes. Ich habe die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, daß wenigstens eine von euch Verrückten noch einen letzten Funken Verstand mobilisieren kann.« Kommentarlos unterbrach Helena Russell den Kontakt. Jameson, der das Gespräch mitverfolgt hatte, blickte den Commander zweifelnd an. »Und Sie glauben wirklich, daß Sie unbehelligt starten können?« Der Commander deutete auf den Monitor, der das Bild von Paradise zeigte. »Blau ist die Farbe der Hoffnung«, sagte er.
IX
Als John Koenig die Düsen des Ealge-Raumers zündete und sich das Schiff feuerspuckend von der Startrampe löste, um in den atmosphärelosen Mondhimmel zu stoßen, hatte er doch ein drückendes Gefühl in der Magengegend. Schön, er rechnete nicht eigentlich damit, daß die mörderischen Oberflächenbatterien ihr vernichtendes Feuer auf ihn eröffnen würden. Die Tatsache aber, daß die Aktionen der Alphanerinnen gegenwärtig kaum vorausgesehen werden konnten, ließ dennoch genug Raum für dunkle Befürchtungen. Die Atomhölle des Nukleartriebwerkes sorgte dafür, daß die kraterübersäte Mondoberfläche schnell hinter dem Eagle zurückblieb. Der Mond wurde zur Halbkugel, zum Ball und schließlich nur noch zu einem Punkt, den die Sonne dieses Systems in weißes Licht tauchte. Langsam machte sich in John Koenig Erleichterung breit. Zwar war er noch lange nicht aus der Reichweite der alphanischen Raumabwehr heraus, aber da er nun schon so weit gekommen war, bestanden jetzt doch berechtigte Aussichten, daß man ihn auch ungeschoren weiterfliegen lassen würde. Helena hatte sich wohl doch nicht entscheiden können, Maya zu opfern. Daß sie auch wegen seiner eigenen Person Rücksichten nahm, wagte er, nach allem was inzwischen geschehen war, stark zu bezweifeln. Die Zeiten, in denen er und Helena ein Herz und eine Seele gewesen waren, schienen weit, weit in der Vergangenheit zu liegen. Traurig, sehr traurig, aber wahr.
Und Maya? Die Frage, ob zwischen ihm und der Psychonierin noch ein Rest des alten Vertrauensverhältnisses übrig geblieben war, würde sich wohl bald beantworten. Immer wieder warf er der jungen Frau prüfende Seitenblicke zu. Angeschnallt saß sie neben ihm auf dem Copilotensitz des Eagle-Cockpits. Sie war nach wie vor nicht bei Bewußtsein. Und bei diesem Zustand wollte es John Koenig auch bis zur Landung auf Paradise belassen. Andernfalls bestand durchaus die Möglichkeit, daß sich Jamesons Prophezeiung bewahrheitete: der Flug konnte zur Selbstmordmission werden. Kaum merklich kam Paradise näher. Millionen von Kilometern lagen noch zwischen Eagle Drei und dem Traumplaneten. Der Bildschirm des Raumschiffs zeigte Paradise nicht als Computersimulation, sondern so, wie er wirklich aus dieser Entfernung aussah – als Lichtpunkt, kleiner noch als der Mond. Die Sensoren jedoch wußten es besser. Dieser Lichtpunkt war ein Born des Lebens, ein Hort der Geborgenheit, die Erfüllung lang gehegter Wünsche. Der Commander konnte es kaum erwarten, seinen Fuß endlich auf den jungfräulichen Planetenboden zu setzen.
Mit bösartig bohrenden Kopfschmerzen erwachte Maya aus ihrer Besinnungslosigkeit. Sie war klug genug, sich nicht im geringsten anmerken zu lassen, daß sie wieder bei Bewußtsein war. Sie hielt die Augen geschlossen und achtete auch konzentriert darauf, daß ihre Augenlider nicht verräterisch zuckten. Zuerst mußte sie sich über die Situation klar werden, in der sie sich befand. Was war geschehen? Jameson, dieser ausgekochte, wachsame Bursche, hatte ihre Commander-Maskerade durchschaut und sie mit einem Stunner betäubt. Und dann? War der Versuch der Alphanerinnen, die Basis in die Hand zu
bekommen, gescheitert – gescheitert durch ihr Versagen? Das mußte sie schnellstens herausfinden. Immer noch die Leblose vortäuschend, spannte sie ihre Sinne an. Da waren klickende, summende, brummende Geräusche, außerdem die nahen Atemzüge eines Menschen. Darüber hinaus nahm sie ein leichtes Vibrieren wahr. Dies alles paßte nicht in die Waffenabteilung. Sie hatte vielmehr den Eindruck, sich an Bord eines Raumschiffs zu befinden. Die sterile Luft und die Tatsache, daß sie saß und sich ein Gurt um ihren Körper spannte, legte diesen Gedanken nahe, so widersinnig ihr dieser auch erschien. Sie wagte es jetzt, die Augen ganz kurz aufzuschlagen. Sofort schloß sie sie wieder. Aber dieser eine Blick hatte bereits genügt. Ja, sie befand sich an Bord eines Eagle. Sie saß auf dem Sitz des Copiloten, und der Mann neben ihr war John Koenig. »Brauchst gar nicht zu schauspielern«, hörte sie seine Stimme. »Ich habe sehr wohl gemerkt, daß du wieder bei dir bist.« Maya öffnete die Augen wieder und sah den Commander an. Er hatte einen Stunner in der Hand und wirkte entschlossen genug, jeden Augenblick auf den Auslöser zu drücken. Die Waffe zeigte genau auf ihr Gesicht. Er konnte sich voll auf sie konzentrieren, hatte den Eagle offenbar auf automatische Steuerung geschaltet. Plötzlich empfand sie es als absurd, daß er sie mit einer Waffe bedrohte. »Du kannst das Ding weglegen, John«, sagte sie. »Schließlich sind wir keine Feinde.« »Was du nicht sagst!« Unverwandt hielt Koenig den Stunner umklammert und zielte weiterhin damit auf ihr Gesicht. »Wirklich, John, ich meine, was ich sage.« Er schüttelte den Kopf. »Du kannst mich nicht täuschen, Maya. Ich weiß, daß du
dich bei der geringsten Unaufmerksamkeit von mir in irgendein Biest verwandeln und mir an den Kragen gehen wirst.« »Warum sollte ich?« Noch während sie diese Frage stellte, wurde ihr bewußt, wie albern sie war. Natürlich hatte John allen Grund, anzunehmen, daß sie ihn angreifen würde. Der Frauen der Mondbasis Alpha 1 hatten den Aufstand geprobt, hatten versucht, das Kommando gewaltsam an sich zu reißen. Warum? fragte sie sich auf einmal. Je mehr sie darüber nachdachte, desto verrückter fand sie das ganze Unternehmen. Was waren die Beweggründe gewesen, die zur Auflehnung gegen die Männer geführt hatten? Deren Bestrebungen, die Frauen auf dem Planeten Hell zu versklaven? Die Vergewaltigung und Ermordung eines alphanischen Mädchens durch Mark MacInlock, Bill Fraser und Manuel Perez? Wider Willen mußte sie lachen. Ausgerechnet Mark MacInlock und Bill Fraser, das war ja lächerlich. Und die Versklavungsidee war noch lächerlicher. Oder? Maya fühlte den argwöhnischen Blick des Commanders auf sich ruhen, erkannte den Mißmut in seinem Gesicht. »Du findest das alles sehr lustig, ja?« fragte er böse. Sofort unterdrückte Maya das unfreiwillige Lachen. Natürlich, John mußte ja einen ganz falschen Eindruck von ihren Gedankengängen bekommen. »Lustig?« wiederholte sie. »Nein, ich…« Sie wollte ihm gerade erklären, was sie wirklich gedacht hatte, als ihr Blick auf die Kontrollinstrumente des Cockpits fiel. Abrupt hörte sie auf zu sprechen und runzelte die Stirn.
Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie auf die Monitoren. Auf dem einen zeichnete sich das Fernbild eines Planeten ab. »Soll das Paradise sein?« erkundigte sie sich. John Koenig verzog den Mund. »Paradise? Ihr pflegt diesen Planeten Hell zu nennen.« »Ist es…« »Ja, es ist Paradise. Wir befinden uns im Anflug.« »Aha.« Maya wandte ihren Blick von dem Planeten ab und konzentrierte sich auf einen anderen Monitor. Dieser zeigte das ganze Sonnensystem, in dem sie sich aufhielten – die Sonne, ihre Planeten und den Erdenmond. Und diese Systemübersicht machte sie sehr stutzig. »Wie ist es möglich?« »Ist was möglich?« fragte John. »Die Planeten! Es sind wieder acht. Genauso viele wie wir angemessen haben, als wir uns dem System anfänglich näherten.« John Koenig schnaubte. »Hör auf, mich zu veralbern, Maya! Es hat sich längst herausgestellt, daß die ersten Meßergebnisse falsch waren. Diese Sonne besitzt sechs Planeten und nicht einen einzigen mehr.« »Und was ist das?« Maya deutete auf den Monitor. »Sind das acht Planeten oder nicht?« Der Commander lächelte humorlos. »Ich hatte immer gedacht, daß die Leute vom Planeten Psychon in der Astrophysik bewandert sind. Ich muß mich da geirrt haben. Zu deiner Information: die beiden zusätzlichen Weltraumkörper, die du da siehst, sind unser Mond und die Sonne dieses Systems.«
»Ich kann sehr wohl eine Sonne von einem Planeten unterscheiden«, sagte Maya scharf. »Und auch das Aussehen unseres Mondes ist mir bekannt.« »Aber?« »Es sind trotzdem acht Planeten! Und ich frage mich, warum du es hartnäckig leugnest.« John Koenig lachte dazu nur verächtlich. Maya seufzte. Es war wie in der Basis. Die Männer hatten die Daten bewußt falsch interpretiert, und John behielt auch hier an Bord des Eagle diese abstruse Verhaltensweise bei. Für sie gab es gar keine Frage, daß diese fremde Sonne acht Planeten besaß – die vier äußeren Gasgiganten, den sonnennahen Glutplaneten und drei Welten im Bereich des Lebensgürtels. Aber gerade diese letzte Erkenntnis war es, die Maya zu schaffen machte. In der Basis hatte sie von den drei Planeten des Lebensgürtels nur einen registriert – Hell eben. John hatte in einem Punkt völlig recht. Alle Alphaner, Männer und Frauen, waren zu der Überzeugung gekommen, daß die ersten Messungen, die auf acht Planeten hindeuteten, fehlerhaft gewesen waren. Nun aber stellte sich die Richtigkeit der ersten Messungen heraus. Maya fragte sich, wie es gekommen war, daß die beiden zusätzlichen inneren Planeten nach der anfänglichen Ortung für die Augen der Alphaner, ihre eigenen eingeschlossen, regelrecht verschwunden gewesen waren. Und da Planeten naturwissenschaftlichen Gesetzen folgten und sich nicht einfach unsichtbar machen konnten, gab es nur eine einzige Erklärung: irgend etwas konnte mit den Augen der Alphaner nicht gestimmt haben. Eine Art geheimnisvoller Schleier mußte darüber gelegen haben. Und während dieser Schleier für sie durchsichtig geworden war, trübte er Johns klaren Blick nach wie vor. Ja, so mußte es sein, wenn es auch völlig verrückt erschien.
Wieder wandte sich Maya konzentriert den Kontrollen des Eagle zu. Sie studierte die Daten von Hell. Und was sie dabei feststellte, überraschte sie nach Lage der Dinge nur noch gelinde. »John?« »Ja?« »Tu mir einen Gefallen.« »Ich werde den Stunner nicht weglegen!« sagte er energisch und entschlossen. Maya winkte ab. »Das meine ich nicht. Sag mir eins: Wie hoch ist die Schwerkraft von… Paradise?« »Was soll der Unsinn?« antwortete der Commander ungnädig. »Diesen Quatsch haben wir doch in der Kommandozentrale schon bis zum Erbrechen durchgehechelt.« »Sag es mir trotzdem noch einmal, John.« Der Commander zuckte die Achseln. »Na schön. Ich weiß zwar nicht, was du dir davon versprichst…« Er beugte sich vor und blickte auf die Anzeigen der Gravitationssensoren. »0,87 g«, las er ab. »Genau wie immer. Du wirst mir natürlich jetzt einreden wollen, daß dort 1,9 g steht.« Das wollte ihm Maya keineswegs einreden. Sie wußte sehr gut, daß sie und alle anderen Frauen in der Zentrale in der Tat eine Schwerkraft von 1,9 g registriert hatten. Aber das stimmte offensichtlich nicht. Die Gravitationssensoren von Eagle Drei gaben weder 0,87 g noch 1,9 g an, sondern präsentierten statt dessen einen Wert von 1,15 g. Maya nannte John Koenig die tatsächliche Messung. Er lachte heiser. »Dachte ich mir doch, daß du mir mit den 1,9 g kommst.« »Ich sagte, 1,15 g, John!« »Eben, eben, 1,9 g«, wiederholte er unbeirrt. »John, willst du mich nicht verstehen?«
Der Commander umklammerte den Stunner fester und machte damit eine drohende Bewegung. »Sag gefälligst nicht blödsinniger, chauvinistischer Hampelmann zu mir!« Maya blinzelte. »Was soll ich gesagt haben?« »Ich warne dich, Maya! Noch so eine Unverschämtheit, und ich drücke auf den Auslöser. Hier an Bord bin ich wieder der Kommandant. Und ich verbitte mir, von dir als Fuzzy des Weltraums bezeichnet zu werden!« Wieder blinzelte Maya. Fuzzy? Wer bei der großen Psyche war Fuzzy? Und sie sollte ihn so bezeichnet haben? Er sah so ernst, so wütend aus, als ob sie ihn wirklich beschimpft hätte. Sie erinnerte sich an eine ganz bestimmte Szene in der Basis, an eine Szene mit Tony. Der Mann, den sie liebte, war nach einer Kette von Auseinandersetzungen um Nichtigkeiten in ihr Privatquartier gekommen, um eine Versöhnung herbeizuführen. Diese Versöhnung war jedoch zum Fiasko geworden, da er behauptet hatte, von ihr aufs übelste beschimpft worden zu sein. Angeblich hatte sie ihn als terranischen Bauernlümmel und widerwärtigen Saufbold abqualifiziert, obgleich tatsächlich nicht eine einzige dieser Vokabeln von ihr benutzt worden war. Und nun dasselbe in Grün. John hörte Worte, die sie gar nicht geäußert hatte, es sah ganz so aus, als ob er nicht nur einen Schleier vor den Augen, sondern auch noch einen Tonverzerrer vor den Ohren hatte. In aller Ruhe machte Maya noch einen zweiten Test. Wie sah es mit dem Sauerstoffanteil der Planetenatmosphäre aus? Die Meßinstrumente der Basis hatten einen Anteil von achtundzwanzig Prozent ausgewiesen, die Männer waren jedoch mit der Behauptung gekommen, daß es sich lediglich um einen Anteil von einundzwanzig gehandelt habe. Eagle Drei hingegen gab fünfundzwanzig Prozent an.
»John«, sagte Maya so friedlich wie möglich, »würdest du mir bitte die Daten der Atmosphäre von He… von Paradise aufschlüsseln?« Er reagierte unwirsch, fragte sie abermals, was der ganze Unsinn solle, kam dann aber schließlich ihrer Bitte nach. Wie erwartet redete er von einundzwanzig Anteilen Sauerstoff in der Planetenatmosphäre. Ja, für Maya stand es jetzt fest: Commander John Koenig sah und hörte nicht gut. Sie wollte ihm zu verstehen geben, was sie herausgefunden hatte, kam aber nicht dazu. Kaum hatte sie ›John‹ gesagt, als er mit scharfer Stimme ins Wort fiel. »Paß auf, Maya, wenn du die geringsten Anstalten machst, dich zu verwandeln, werde ich dich auf der Stelle wieder betäuben. Ist das klar?« Maya lehnte sich betont friedfertig im Copilotensitz zurück und faltete zusätzlich die Hände. »Keine Bange, John. Ich habe nicht vor…« Sein Gesicht wurde zur Grimasse. »Ich habe dich gewarnt!« zischte er. Und dann jagte er einen Lähmstrahl aus dem Stunner, der Maya wieder in die Bewußtlosigkeit stürzen ließ.
John Koenig empfand tiefes Bedauern. Seine Hoffnungen, daß Maya vielleicht endlich vernünftig werden würde, schienen sich nicht zu erfüllen. Nach wie vor versuchte sie, ihm dieselben unsinnigen Meßdaten einzureden, mit denen sie und ihre Geschlechtsgenossinnen die Männer bereits in der Basis geplagt hatten. Und nun war sie sogar im Begriff gewesen, ihre Phantastereien noch zu steigern. Dieses dumme Gerede von den zwei zusätzlichen Planeten… Er begriff einfach nicht, wie
ein vernünftiger Mensch, der Maya ja im Grunde genommen zweifellos war, derart verbohrt sein konnte. Man sollte meinen, sie und die übrigen Alphanerinnen hätten ein meterdickes Brett vor dem Kopf. Daß sie ihn wieder mit häßlichen Beleidigungen eingedeckt hatte und drauf und dran gewesen war, ihn unter Zuhilfenahme eines Metamorphosemanövers zu überrumpeln, konnte unter diesen Voraussetzungen nicht weiter überraschen. John war Realist. Er glaubte nicht mehr daran, daß die Psychonierin nach der Landung auf Paradise anderen Sinnes werden würde. Jameson schien eine bessere Menschenkenntnis zu besitzen als er. Der Waffenchef hatte gleich gesagt, daß Mayas Mitnahme verlorene Liebesmühe sein würde. Und genau danach sah es jetzt aus. Die Enttäuschung mit der Psychonierin änderte jedoch grundsätzlich nichts an den Absichten des Commanders. Er würde sich an Ort und Stelle von den Lebensverhältnissen auf Paradise überzeugen. Und wenn sich die optimistischen Erwartungen bestätigten – woran er nicht im mindestens zweifelte – würde er mit aller Kraft versuchen, Unternehmen Exodus trotz der Maßnahmen der alphanischen Frauen doch noch zu einem glücklichen Ende zu bringen. Eagle Drei hatte sein Ziel jetzt fast erreicht. Längst war der Autopilot ausgeschaltet worden. Der Commander flog den Raumer wieder selbst. Die Bremsdüsen feuerten bereits, denn der Planet war nur noch einige tausend Kilometer entfernt. Strahlend blau wie die heimische Erde schwebte er im All. Im Kranz des Sonnenlichts erschien er dem Commander wie ein blitzender Saphir, den ein meisterhafter Edelsteinschleifer geschaffen hatte. Hier und dort konnten die Kameraaugen des Eagle die dichte Wolkendecke bereits durchdringen. Die zauberhaften Bilder einer paradiesischen Welt, die der Computer bereits perfekt simuliert hatte, schimmerten hervor.
Der Anblick ließ John Koenigs Enttäuschung über Maya ganz in den Hintergrund seines Bewußtseins treten. Vorrang hatten jetzt die euphorischen Gedanken, die die bevorstehende Landung in ihm hervorrief. Er lenkte den Eagle in einen Orbit um Paradise, umkreiste den Planeten mehrmals in den unteren Schichten der Exosphäre, drang dann in die Ionosphäre und schließlich in die Stratosphäre ein. Die Wolken der Troposphäre glitten unter ihm dahin wie pastellfarbene Wattebäusche. Die ganze Zeit über hielt der Commander die Ortungsinstrumente im Auge. Kein einziges von ihnen gab alarmierende Meldungen ab. Funksignale, nach denen er auf allen möglichen Frequenzen forschte, konnte er nicht auffangen – jedenfalls keine, die ihren Ursprung auf der Planetenoberfläche hatten. Das deckte sich voll und ganz mit den Lebenssensoren, die allein die bioplasmischen Auren von unintelligenten Lebewesen, also von Tieren, registrierten. Nach einigen weiteren Umrundungen, die die bisherigen Erkenntnisse nur bestätigten, tauchte der Commander dann in die Troposphäre ein und durchstieß die kilometerdicke Wolkenschicht, die Paradise einhüllte. Wie hatten die Frauen doch gesagt? Fürchterliche Stürme sollten über den Planeten hinwegpeitschen. Kein Wort davon stimmte. Der Eagle wurde nicht einmal von Turbulenzen belästigt. Er glitt durch die Wolken hindurch wie durch das luftleere Vakuum des Weltraums. Und dann lag die Planetenlandschaft unmittelbar unter ihm. Unwillkürlich stieß der Commander einen Ruf des Entzückens aus. Ja, er hatte den Garten Eden, von dem die Alphaner so lange geträumt hatten, gefunden. Der Computer in der Basis wurde in jeder Beziehung bestätigt. Da waren sie, die phantastischen Landschaften: die azurblauen Ozeane und Flüsse, die sanft geschwungenen
Hügel, die romantischen Täler, die blühenden Wälder, die weit gestreckten grünenden Ebenen… Und er, Commander John Koenig, von der ach so fernen Erde, war der erste Mensch, der sie mit eigenen Augen sah. Wie im Traum steuerte er den Eagle über Paradise hinweg. Bisher hatte er immer geglaubt, daß die Erde der schönste Planet des ganzen Universums war. Nun aber wurde er eines Besseren belehrt. Die Schönheit der Erde verblaßte vollkommen gegen diese paradiesische Pracht und Herrlichkeit. Die Sensoren arbeiteten auf Hochtouren, lieferten die Informationen, die die optischen Bilder ergänzten. Temperaturen, Atemluft, Druckverhältnisse, Schwerkraftgegebenheiten… alles war geradezu ideal. Die Analysekammern saugten Luft an, untersuchten sie auf Schadstoffe und möglicherweise gefährliche Mikroorganismen, übermittelten ihre Diagnosen dem Bordcomputer. Und dieser meldete dem Commander, daß dem menschlichen Organismus nichts, aber auch gar nichts passieren konnte. Auch die unwillkommenen Strahlen der Sonne wurden von der Ozonschicht des Planeten perfekt abgeschirmt. Ja, jetzt stand es hundertprozentig fest: Paradise war der Planet der alphanischen Träume. Er trug seinen Namen, den Namen, den ihm die Männer gegeben hatten, vollkommen zu recht. John Koenig bedauerte es in diesem Augenblick, daß Maya noch immer betäubt war. Diese Bilder mußten sie doch ganz einfach davon überzeugen, daß ihre Vorstellungen von einem Höllenplaneten abwegig waren. Neue Hoffnungen, doch noch mit der Psychonierin zu einer Übereinstimmung zu kommen und damit alle anderen Alphanerinnen wieder vernünftig werden zu lassen, keimten in ihm auf.
Da er das dringende Bedürfnis verspürte, irgend jemandem von seinen Entdeckungen zu erzählen, schaltete er das Bordfunkgerät ein und gab der Basis auf dem Mond einen ausführlichen Situationsbericht durch. Helena Russell war es, die Stellung dazu nahm. »Du kannst dir deine schmutzigen Lügen sparen, John Koenig«, hörte er ihre Stimme, »wir wissen, was wir von deinen Worten zu halten haben. Gib dir keine Mühe, John. Du kannst uns nicht täuschen.« Trotz dieser herben Absage, die natürlich zu erwarten gewesen war, kehrte keine Ernüchterung in John Koenigs Innerstes ein. Paradise war wie Balsam für sein Gemüt. Er suchte jetzt nach einem Landeplatz für den Eagle. Mit gedrosselter Geschwindigkeit ließ er den Raumer über die Oberfläche des Planeten hinweggleiten. Mehrmals traf er Vorbereitungen, Eagle Drei niedergehen zu lassen, zog das Schiff dann aber doch wieder hoch. Jedesmal versammelten sich auf dem in Aussicht genommenen Landeplatz possierliche Tiere, er brachte es nicht übers Herz, sie durch das Feuerinferno, daß der landende Eagle entwickeln würde, zu gefährden. Schließlich aber fand er eine ideale ›Rampe‹, ein flaches, grasbewachsenes Gelände unweit eines Bergrückens. »Adam zieht ein ins Paradies«, sagte er zu sich selbst. Dann ließ er den Raumer nach unten sinken.
X
Die äußere Luftschleuse schwang auf, und John Koenig trat hinaus in die Welt, von der er sich wünschte, daß sie die neue Heimat für alle Alphaner werden würde. Fast andächtig setzte er den Fuß auf das leuchtend grüne Gras, das den Eagle von allen Seiten umgab. Der Commander stutzte, verhielt seinen Schritt. Ja, der grüne Teppich war überall, auch dort, wo die Feuerstrahlen der Bremsdüsen den Boden eigentlich glasiert und verbrannt haben müßten. Dann aber sah er, daß er sich geirrt hatte. Natürlich, da waren sie doch, die Spuren, die dem Boden ihren Stempel aufgedrückt hatte. Verkohlte Grasreste, vor Hitze geschmolzene, inzwischen aber wieder erkaltete Sandkristalle, kleine Krater, die die entfesselte Energie in das Erdreich gerissen hatte. Die schräg am Himmel stehende Sonne mußte ihn geblendet, mußte seinen Augen einen Streich gespielt haben. Deshalb hatte er gerade überall nur Grün gesehen. Mit langsamen, bedächtigen Schritten entfernte sich John Koenig ein Stück von seinem Schiff. Die strahlende Sonne wärmte seine Haut, ein Gefühl, das durch den lauen Wind, der über das Land wehte, zu einem echten sensuellen Erlebnis wurde. Tief sog er die frische würzige Luft in die Lungen und nahm das Aroma einer unverbrauchten, unberührten Natur in sich auf. Seine Augen konnten sich nicht sattsehen an der lieblichen Landschaft, die sich vor ihm ausbreitete wie die Bilder eines gestaltgewordenen Urlaubsprospekts nostalgischen Angedenkens. Dort war der bereits aus der Luft gesichtete Hügelkamm, auf der anderen Seite ein Waldstück,
das sein Herz lachen ließ. Zwischen Hügeln und Wald, unweit des gelandeten Eagle, schlängelte sich ein kleines Flüßchen durch die Grasebene, auf dessen blaue Wasser die Sonnenstrahlen verwirrende Muster zauberten. Auf dieses Flüßchen ging der Commander jetzt zu. Es reizte ihn ungemein, seine Hände in die schwache Strömung zu halten, seine Haut mit dem kühlen Naß zu benetzen. Ja, er nahm sich sogar vor, gleich den Overall vom Leib zu streifen und in das Wasser hineinzusteigen. Ein Bad, ein Bad in richtigem Wasser, das war etwas, was es in der Mondbasis Alpha 1 nicht gab. Das Wasser war dort streng rationiert. Die Alphaner mußten mit Ersatzlösungen wie Ventilatorduschen vorlieb nehmen. John Koenig erreichte das Flußufer, blieb stehen. Eine ganze Weile betrachtete er das Spiel der Wellen, sah zu, wie dann und wann ein silberner Fisch aus dem Wasser sprang und wieder in sein Element eintauchte. Schließlich ließ er sich auf die Knie nieder und streckte die Hände nach der schimmernden Wasseroberfläche aus. In diesem Augenblick bekam er einen dumpfen Schlag auf den Hinterkopf, der ihn völlig überraschend traf. Ein stechender Schmerz bereitete sich in seinem Schädel aus. Es wurde ihm schwarz vor Augen. Schwäche ergriff Besitz von seinem Körper. Er merkte, wie er haltlos nach vorne kippte, konnte sich jedoch nicht dagegen wehren. Ich werde ins Wasser stürzen und jämmerlich ertrinken! durchzuckte es ihn. Aber das war nur ein Trugschluß. Er schlug auf, nicht jedoch im Wasser, sondern auf bretthartem Steinboden. Diese Empfindung bekam er noch mit. Dann hörte die Welt vorübergehend auf, für ihn zu existieren.
Maya erwachte wieder aus der Bewußtlosigkeit. Erneut war es zuerst der bohrende Kopfschmerz des Stunnerschocks, der auf sie eindrang. Ohne mit der Wimper zu zucken, wartete sie darauf, daß der Schmerz etwas abebbte. Aus Erfahrung wußte sie, daß dies in wenigen Minuten der Fall sein würde. Diesmal, das nahm sie sich fest vor, sollte John Koenig sie nicht abermals überraschen. Während sie ganz ruhig im Sessel des Copiloten sitzenblieb, bemühte sie sich schon, ihre Umgebung auf sich einwirken zu lassen. Zunächst vermißte sie das Vibrieren des Raumschiffs. Auch die typische Geräuschkulisse betriebsamer Aggregate konnte sie nicht wahrnehmen. Was war geschehen? Hatte John die Triebwerke ausgeschaltet? War er etwa bereits gelandet? Und John selbst? Sie hörte ihn nicht atmen, merkte nichts davon, daß er neben ihr saß. Sie wagte es schließlich, die Augen aufzuschlagen. Es war tatsächlich so, wie sie nun schon vermutet hatte: John Koenig befand sich nicht im Cockpit. Und Eagle Drei durchkreuzte nicht mehr die Weite des Weltraums, sondern war ›vor Anker‹ gegangen, wie sie auf dem Hauptmonitor leicht feststellen konnte. Mayas Augen wurden groß, als sie erfaßte, daß die Szene auf dem Schirm eine Standaufnahme der derzeitigen unmittelbaren Nachbarschaft des Eagle war. Eine Alptraumlandschaft unter düsterem, von mörderischen Stürmen umtobtem Himmel? Nein, davon konnte keine Rede sein, ebensowenig wie von einer Traumszenerie, von der die alphanischen Männer in den höchsten Tönen geschwärmt hatten. Was sich hier auf dem Monitor abzeichnete, war etwas ganz anderes. Maya sah einen wolkenbedeckten, aber keineswegs bedrohlich wirkenden Himmel. Und unter diesem Himmel
dehnte sich so weit das Kameraauge reichte… eine Zivilisationslandschaft aus! Häuser, bestellte Äcker, weiter in der Ferne eine Brücke, die einen Fluß überspannte. Und Maya sah Menschen! In dieser einen Beziehung hatte die Computersimulation also doch recht behalten: Dieser Planet war bewohnt. Die Psychonierin wandte ihren Blick vom Monitor ab. Wie es aussah, hatte John den Eagle verlassen. Zeit für sie, dasselbe zu tun. Sie löste den Sicherheitsgurt, der sie im Copilotensitz festhielt, und stand auf. Schwierigkeiten hatte sie dabei nicht. Der Stunnerschock war im Begriff, ganz abzuklingen. Und die leichte Schwäche, die sie noch in den Gliedern spürte, überwand sie mit der ihr eigenen Energie. Bevor sie das Cockpit verließ, machte sie sich noch mit den neuesten Meßdaten vertraut. Sie hatten sich seit ihrem kurzen Zwischenerwachen im Weltraum nicht geändert, wohl aber vervollständigt. Eine hundertprozentige Analyse der Planetenatmosphäre lag inzwischen vor. Diese Analyse befriedigte Maya, besagte sie doch, daß die Atemluft des Planeten für Terraner und auch für Psychonier nicht schädlich war. Es gab da zwar einige Mikroorganismen, die Hämophilie hervorrufen konnten. Der Bordcomputer gab jedoch an, daß der menschliche Metabolismus Antikörper besaß, die den Angriff der fremden Bakterien auf Dauer abwehren würden. Für Maya persönlich ergab das keine Probleme. Psychonier litten nicht unter der Bluterkrankheit, da sie das Gerinnen ihres Blutes durch eine einfache Molekularumwandlung steuern konnten. Maya war schon an der Verbindungstür zum Passagierabteil des Eagle, als sie noch einmal umkehrte. Es war nicht unbedingt ratsam, waffenlos zu bleiben – wegen John und
nicht zuletzt auch wegen der fremden Bewohner dieses Planeten. Nach einigem Suchen fand sie einen Phaser in einem Ablagefach. Sie nahm ihn an sich und behielt ihn aus Sicherheitsgründen gleich in der Hand. Dann machte sie sich auf den Weg. Als sie das Passagierabteil durchquerte, merkte sie, daß die Atmosphäre des Planeten bereits in den Eagle eingedrungen war. Die Atemluft war nicht so steril wie gewohnt, und auch der höhere Sauerstoffanteil machte sich bemerkbar. Maya kam zur Schleuse. Sie runzelte die Stirn, als sie sah, daß sowohl die Innenschleuse als auch die Außenschleuse offenstanden. Sie begriff das nicht. John Koenig war sonst ein Mensch, der stets umsichtig und verantwortungsvoll vorging. Wie konnte er nur so töricht gewesen sein, alle Sicherheitsvorkehrungen einfach außer acht zu lassen? Die Planetarier konnten mühelos ins Schiff eindringen, falls ihnen danach zumute war. Kopfschüttelnd durchquerte sie auch den Schleusenraum und trat dann an die Einstiegluke heran. Sie tat dies sehr vorsichtig, denn im Gegensatz zu John wollte sie kein Risiko eingehen. Das Monitorbild hatte ihr nicht verraten, wie es vor der Schleuse aussah, und so war es durchaus denkbar, daß dort bereits ein Empfangskomitee bereitstand, dessen Zielsetzungen zweifelhafter Natur sein mochten. Maya hielt sich zunächst hinter der Seitenwandung der Schleusenkammer verborgen und lauschte nach draußen. Stimmen, die in unbekannter Sprache miteinander redeten, drangen an ihr Ohr. Maya strengte ihren Gehörsinn bis zum äußersten an, konnte Johns Stimme jedoch nicht heraushören. Das gab ihr zu denken. Nach Lage der Dinge wäre eigentlich zu erwarten gewesen, daß er mit den Fremden palaverte. Dem schien aber nicht so zu sein.
Wo war John? Der offenen Schleuse nach zu urteilen konnte er sich nicht weit entfernt haben. Warum also hörte sie ihn nicht? Sie entschloß sich, ganz auf Nummer Sicher zu gehen. Gedankenschnell nahm sie eine Transformation vor und verwandelte sich in einen kleinen grauen Vogel. In dieser Gestalt würde sie kaum Aufmerksamkeit erregen, wenn sie den Eagle verließ. Dachte sie… Als sie dann aber aus der Schleuse schwirrte und ihre Vogelaugen umherschweifen ließ, wurde ihr augenblicklich klar, daß die Planetarier sie sehr wohl bemerkt hatten. Eine Reihe von schlanken Männern hatte sich vor dem Raumschiff versammelt. Sie alle standen fast bewegungslos da und starrten ihr entgegen. Mehrere harte Schläge trafen sie mit voller Wucht. Der Vogel, der Maya war, stürzte ab.
XI
Als John Koenig wieder zu sich kam, wußte er zuerst gar nicht, was los war. Unsicher schlug er die Augen auf, schläfrig, träge. Die Müdigkeit, die ihm in den Knochen steckte, verflog jedoch ziemlich schnell, als die Erinnerungen zurückkamen. Er sah sich am Flußufer knien, das schillernd blaue Wasser vor sich. Dann war da auf einmal dieser Schlag gewesen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der Schlag hatte ihn nach vorne gerissen, der Wasseroberfläche entgegen. Nur, daß sich diese auf einmal in unbegreiflicher Art und Weise in soliden Stein verwandelt hatte. Was, bei allen Raumteufeln… Der Commander wurde sich jetzt seines Körpers bewußt. Dieser war völlig nackt und lag auf einem kühlen Untergrund. Er fuhr hoch und sank vor Überraschung wieder zurück. Er befand sich in einem engen, fast quadratischen Raum, der einen Durchmesser von vielleicht vier Metern haben mochte. Steinmauern, die ohne jeden Zweifel künstlicher Natur waren, wuchsen knapp zwei Meter in die Höhe. Der Raum hatte weder Türen noch Fenster und war vollkommen leer, wenn man einmal von dem getrockneten Grünzeug auf dem steinernen Fußboden und dem blakenden, kerzenähnlichen Gebilde in der einen Ecke absah. Ein Gefängnis! durchfuhr es erschreckend den Commander. Selten in seinem Leben hatte er sich dermaßen hilflos gefühlt. Diese Hilflosigkeit hatte ihren Ursprung nicht so sehr in seiner Situation, die fraglos der eines Gefangenen entsprach. Was ihm weitaus mehr zuschaffen machte, war die Tatsache, daß er
absolut nicht verstand, wie er überhaupt in diese Situation geraten war. Es gab eigentlich nur die Erklärung, daß ihn jemand niedergeschlagen und dann in dieses Loch hier geschleppt hatte. Aber wer war dieser jemand gewesen? Maya? Nein, diesen Gedanken konnte er getrost vergessen. Bevor er den Eagle verließ, hatte er sich davon überzeugt, daß die Psychonierin noch in tiefer Bewußtlosigkeit lag. Und selbst für den Fall, daß sie überraschend schnell aufgewacht war, konnte sie nicht in Frage kommen. Dieses Gefängnis hier stand schon länger, mußte also von Unbekannten errichtet worden sein. Nur daß es diese Unbekannten gar nicht geben konnte. Paradise war ein Planet, auf dem kein intelligentes Leben existierte. Die Sensoren der Mondbasis Alpha 1 und von Eagle Drei hatten das eindeutig festgestellt. Und doch… John Koenig ballte die Fäuste. Er fand ganz einfach keine Erklärung. Prüfend fuhr er mit der Hand über seinen Hinterkopf und befühlte die Stelle, an der er den dumpfen Schlag gespürt hatte. Wieder wurde er überrascht. Er hatte zumindest eine dicke Beule erwartet, vielleicht sogar eine Platzwunde. Aber da war nichts dergleichen. Unter dem Haar fühlte sich der Kopf ganz normal an. Und selbst als er hart auf die bewußte Stelle drückte, hatte er keinerlei Schmerzgefühle. War er also doch nicht niedergeschlagen worden? Leise vor sich hinfluchend, mußte er sich eingestehen, daß er auch diese Frage nicht beantworten konnte. Er stand auf und machte sich daran, sein Gefängnis zu untersuchen. Irgendwie war er hereingekommen. Es mußte also zwangsläufig eine Türöffnung geben. Und wenn er sie fand… nun, vielleicht gelang es ihm, sich einen Weg nach draußen zu bahnen.
Eine Viertelstunde später hatte er erneut Grund, an seinem Verstand zu zweifeln. Er war ganz konzentriert vorgegangen, hatte die Felsenmauern Stück für Stück in Augenschein genommen, befühlt und abgeklopft. Und doch hatte er keine Spur von einer Öffnung gefunden. Der Fels war glatt und fugenlos, und es konnte gar keinen Zweifel mehr bestehen, daß es tatsächlich keine Tür gab. Wie er in das Loch gekommen war, blieb damit ein ungelöstes Rätsel – ein weiteres in der Liste, die langsam unübersehbar wurde. Völlig frustriert ließ er sich wieder auf das Grünzeuglager zurücksinken, schloß die Augen, um besser nachdenken zu können. Nicht, daß es etwas half… Und als er noch so dalag und Gedanken wälzte, die sich unentwegt im Kreis drehten, geschah etwas, das haargenau in den Rahmen des Rätselhaften paßte, mit dem er hier konfrontiert wurde. In der gegenüberliegenden Ecke seiner Felsenzelle hörte er plötzlich ein Geräusch. Wie von einer giftigen Schlange ins Bein gebissen, zuckte er hoch. Und sah Maya, die dort wie hingezaubert auf dem Boden lag.
John Koenig beugte sich über die Psychonierin. Maya war nackt wie er selbst. Aber obgleich sie eine Frau war, die das Blut jedes Mannes in Wallung bringen konnte, blieb er ganz ruhig. Er sah in ihr jetzt nicht die Frau, sondern die Alphanerin, die seine Hilfe brauchte. Maya war bewußtlos. Und während er bei sich noch keine Erklärung für seinen Blackout gefunden hatte, schien die Ursache im Falle Mayas ziemlich klar zu sein. Sie litt nicht mehr unter den Nachwirkungen des Stunnerschocks, sondern
hatte ganz offensichtlich einen harten Schlag ins Gesicht bekommen. Die blutunterlaufene Schwellung auf der Stirn sprach eine deutliche Sprache. Tiefe Sorge um das Mädchen erfüllte ihn, eine Sorge, die an sich ganz selbstverständlich war, ihm aber doch zum Nachdenken Anlaß gab. Hatte er nicht noch vor kurzem echte Haßgefühle gegen Maya gehegt? Und nicht nur gegen Maya, sondern auch gegen alle anderen Alphanerinnen, Helena, besonders Helena, eingeschlossen? Diese negativen Empfindungen erschienen ihm auf einmal als verrückt, als ganz und gar abwegig. Wenn er jetzt beispielsweise an Helena dachte, spürte er richtige Stiche in der Herzgegend. Er sollte Helena hassen? Nein, das genaue Gegenteil war der Fall, selbst wenn er bedachte, daß sie ihm recht übel mitgespielt hatte. Und genauso war es mit Maya, nur daß seine Empfindungen, was sie anging, ganz anders geartet waren. Immer wieder fühlte er ihren Puls und lauschte nach ihrem Herzschlag. Klare Erkenntnisse, wie es um ihr Befinden bestellt war, konnte er dadurch allerdings nicht gewinnen. Die Körperfunktionen eines Psychoniers waren nicht identisch mit denen eines Erdenmenschen. Aber das störte den Commander eigentlich nicht. Es tröstete ihn schon, eine gewisse Gleichmäßigkeit von Puls- und Herzschlag zu registrieren, was wohl als gutes Zeichen gedeutet werden durfte. Seiner Schätzung nach war seit dem überraschenden Auftauchen Mayas mindestens eine halbe Stunde vergangen, als er endlich ein kaum merkliches Zucken ihrer Augenlider beobachtete. Dann lag sie wieder so still da wie zuvor. John Koenig lächelte leicht. Er kannte Maya, kannte ihre ungeheure Selbstbeherrschung, kannte ihre kaltblütige Art, sich auf gefährliche Situationen einzustellen. Er zweifelte nicht daran, daß sie mittlerweile aus der Bewußtlosigkeit erwacht
war, dies aber noch nicht zu erkennen geben wollte, um später den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite zu haben. Mit Sicherheit hatte sie jetzt alle Sinne angespannt, um sich klarzuwerden, wo und in welcher Lage sie sich befand. »Kein Rotalarm, Maya«, sagte der Commander weich. »Nur ich bin hier. Und ich sehe in dir inzwischen keine Gegnerin mehr.« Es dauerte noch ein paar Sekunden, dann schlug sie prompt die Augen auf. »John, hier bist du also!« Sie stützte sich auf die Ellenbogen und ließ ihre Blicke durch den Raum huschen. Der Commander war ein bißchen irritiert. Maya schien nicht sonderlich überrascht zu sein, sich in diesen Verhältnissen wiederzufinden. Maya blickte ihn an, sah anschließend an sich selbst hinunter. Ein ironischer Zug trat in ihr hübsches Gesicht. »Adam und Eva im Paradies, was?« sagte sie mit gespielter Heiterkeit. John Koenig seufzte tief. »Wir scheinen ähnlich zu denken. Auch ich muß gestehen, daß ich mich nach der Landung wie Adam gefühlt habe.« Mißbilligung sprach aus Mayas Miene, als sie fragte: »Hast du deshalb die Luftschleuse von Eagle Drei sperrangelweit offenstehen lassen?« Der Commander zuckte die Achseln. »Warum sollte ich nicht? Ein unbewohnter Planet, dessen Atmosphäre keinerlei Anlaß zu Bedenken gibt…« »Unbewohnter Planet?« echote die Psychonierin. »Ich begreife dich nicht ganz, John. Spätestens bei der Landung müßte dir doch die Stadt aufgefallen sein.« »Die Stadt?« Koenig hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie redete.
Das begriff Maya wohl. Ihre Augen verengten sich, als sie ihn mit eigentümlichem Gesichtsausdruck ansah. »Sag mir, was du gesehen hast, John. Immer noch einen Planeten, der eurem biblischen Garten Eden gleicht?« »Natürlich. Paradise ist ein Garten Eden! Davon bin ich nach wie vor überzeugt.« »Obgleich du hier eingesperrt worden bist?« Damit hatte sie einen wunden Punkt berührt, was Koenig weder bestreiten konnte, noch bestreiten wollte. »Na ja«, sagte er, »ich gebe zu…« »Beschreib mir den Landeplatz des Eagle, John«, forderte ihn das Mädchen auf. Der Commander tat es. Und als ihm Maya anschließend erzählte, was sie gesehen und erlebt hatte, weigerte sich sein Verstand, es zu glauben. Eine Stadt, fremde Menschen? Unmöglich! »Ich weiß, was ich gesehen habe, Maya«, sagte er fest. »Und die Sensoren des Eagle…« »Ein gutes Stichwort«, unterbrach ihn Maya. »Die Sensoren des Eagle… du weißt noch, was sie angezeigt haben?« »Im großen und ganzen, ja!« »Sehr schön. John, bist du bereit, einen kleinen Test zu machen?« »Einen Test? Maya, was soll der Unsinn! Du versuchst doch schon wieder, mir irgendeinen Unsinn einzureden.« »Keineswegs«, verwahrte sich Maya fast leidenschaftlich gegen diesen Vorwurf. »Ich will dich nur an Hand eines praktischen Beispiels davon überzeugen, daß dich deine heißgeliebten Sensoren getäuscht haben. Genauer gesagt, daß du die Sensoren falsch interpretiert hast.« In stummer Verzweiflung schloß der Commander kurz die Augen. Oh, Gott, dachte er, nicht dies schon wieder! Mit Fehlinterpretationen hatten in der Basis die ganzen Differenzen
zwischen Männern und Frauen angefangen. Er hatte nun wirklich gedacht, daß die rätselhaften Umstände, die ihn und Maya getroffen hatten, das Mädchen endlich zur Aufgabe ihrer Phantastereien gebracht hätten. »Bitte, John«, drängte Maya. »Du kannst nichts dabei verlieren, nur etwas gewinnen – Erkenntnisse nämlich.« Ihr beinahe flehender Tonfall, der nichts mehr von der in letzter Zeit zur Gewohnheit gewordenen Kasernenhofsprache an sich hatte, ließ den Commander einlenken. »Also gut«, sagte er. »Wie soll dein Test aussehen?« »Ganz simpel«, antwortete die Psychonierin eifrig. »Ich habe dich schon ein paarmal im Gymnastikraum Kniebeugen machen sehen. Eine Spezialität von dir, nicht wahr?« »Kniebeugen halten fit.« »Hast du einen persönlichen Rekord?« »Ich habe da nie mitgezählt. Aber ich glaube doch, daß ich meistens so an die hundert geschafft habe.« Maya lächelte. »Na, dann mach doch mal hundert.« »Kniebeugen?« »Ja.« »Maya, was soll…« »Bitte, John!« Der Commander kam sich höchst albern vor. Aber wenn er Maya damit wirklich einen Gefallen tun konnte… Er fing an. Auf, nieder! Auf, nieder! Auf, nieder! Maya zählte laut mit. Bis fünfzig klappte es ausgezeichnet. Als es dann aber auf die sechzig anging, bekam er die ersten Schwierigkeiten. Bei siebzig war er bereits in Schweiß gebadet, und bei achtzig japste er wie ein Hund, den ein unduldsamer Herr immer wieder ein Stöckchen apportieren ließ. Mit äußerster Energie mußte er sich dazu zwingen weiterzumachen. Als er die neunzigste Kniebeuge hinter sich gebracht hatte, war er fast am
Ende seiner Kräfte. Er kam sich vor wie Sisyphus, der keinen Stein, sondern eine Eisenkugel rollte. Die letzten zehn trieben ihn fast zur Verzweiflung. Rote Nebel fingen an, vor seinen Augen zu wallen, und die Muskeln in seinen Unterschenkeln verkrampften sich schmerzhaft. Von den Haarspitzen bis zu den Fußsohlen war er schweißnaß. Und als Maya schließlich laut hundert sagte, ließ er sich wie ein Toter auf das Grünzeuglager fallen. Er brauchte mehrere Minuten, um wieder halbwegs zu Atem zu kommen. Mühsam und immer noch total erschöpft setzte er sich auf. Er fragte sich, was ihn bewegt hatte, diese Tortur durchzustehen. Kindischer Ehrgeiz, Maya zu beweisen, was für ein toller Kerl er war? Oder vielleicht auch das unbestimmte Gefühl, daß der Test eine nützliche Sache war und tatsächlich gewisse Erkenntnisse bringen würde? Er wußte es nicht so genau, und es spielte jetzt auch keine Rolle mehr. In jedem Fall hatte er die verlangten hundert Kniebeugen geschafft. Maya würde ihm wohl jetzt verraten, was der Zweck der Übung gewesen war. »Anstrengend?« fragte Maya lächelnd. Ihn versöhnte, daß aufrechtes Mitleid aus ihrer Stimme sprach. »Kann man wohl sagen«, ächzte er. »So schwer sind mir hundert Kniebeugen noch nie gefallen.« »Komisch, nicht?« »Well…« »Besonders komisch, wenn man bedenkt, daß Paradise doch eine Schwerkraft hat, die um einiges geringer ist als im FitneßCenter der Basis, oder? Wie war das doch noch?« Maya überlegte. »0,87 g, stimmt’s?« Ja, verdammt, Maya hatte recht! Die Schwerkraft des Planeten war um mehr als zehn Prozent niedriger als gewohnt. Eigentlich hätten ihm die hundert Beugen schon allein aus diesem Grunde viel leichter fallen müssen als in der Basis.
Aber genau das Gegenteil war der Fall gewesen. Und wenn er es sich genau überlegte – er hatte tatsächlich nicht das Gefühl, weniger zu wiegen als auf dem Mond. Viel eher… »Hast du begriffen, was ich dir mit diesem Kniebeugentest demonstrieren wollte?« fragte Maya. Der Commander biß sich auf die Lippen. »Du wolltest mir handfest vor Augen führen, daß die Schwerkraft von Paradise nicht 0,87 g sind. Richtig ist allein 1,15g. Und genau das zeigen die Sensoren des Eagle auch an.« Sie sagte das so ernsthaft, so überzeugt, daß der Commander geneigt war, ihr zu glauben. Seine Bereitwilligkeit dazu wurde natürlich durch das Ergebnis des Kniebeugentests, der nun wirklich einige Aussagekraft besaß, nicht unwesentlich gefördert. Maya fuhr fort, Zweifel in ihm freizusetzen. »John«, sagte sie, »hast du im Moment das Gefühl, daß ich dir feindlich gesinnt bin? Habe ich dich hier in der Zelle schon mal als einen chauvinistischen Schweinehund oder so was Ähnliches tituliert?« »Nein«, erwiderte er, »ich glaube, daß du mir zur Zeit freundschaftliche Gefühle entgegenbringst. Und Beschimpfungen hast du hier auch noch nicht vom Stapel gelassen. Die letzten Verunglimpfungen hast du in Eagle Drei über mich ausgeschüttet.« »Das stimmt nicht«, widersprach Maya ihm heftig. »Auch im Eagle ist kein böses Wort über meine Lippen gekommen.« »Maya, bitte – ich habe es doch ganz genau gehört!« »Du glaubst, Schimpfwörter von mir gehört zu haben. Genauso wie du glaubst, 0,87 g vom Monitor abgelesen zu haben. Beides – und noch manches andere mehr – stimmt nicht. Du hast dich von Trugbildern leiten lassen. Jetzt aber scheint auch bei dir der Schleier von den Augen gewichen zu sein. Du bist wieder in der Lage, die Realitäten so in dich
aufzunehmen, wie sie wirklich sind, nicht wie dich jemand glauben machen will.« Das war starker Tobak, den sie ihm da vorsetzte. Und doch hatte er das bohrende Gefühl, daß viel Wahres an dem war, was sie gesagt hatte. Auch er sah inzwischen einiges mit anderen Augen. Sollte wirklich jemand ihm, Maya und den übrigen Alphanern etwas vorgegaukelt haben? Wenn dieser fremde Planet nicht das Paradise der alphanischen Männer und auch nicht die Hölle der alphanischen Frauen, sondern etwas ganz anderes war, dann konnte man davon ausgehen, daß der Computer tatsächlich das wahre Bild von der Planetenoberfläche simuliert hatte, daß jedoch kein einziger Alphaner in der Lage gewesen war, dieses wahre Bild zu erkennen. Alles nur Hirngespinste also? Alles nur Einbildungen – die Beschimpfungen und Verdächtigungen, das angebliche Verbrechen an dem hypothetischen alphanischen Mädchen, das Helena beobachtet zu haben glaubte und das unmittelbar zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Alphanern und Alphanerinnen geführt hatte? »Wer?« fragte John Koenig leise. »Wer sollte ein Interesse daran haben, uns Dinge vorzugaukeln – Männern und Frauen völlig entgegengesetzte Dinge?« »Ich habe da eine Theorie«, antwortete die Psychonierin. »Und die wäre?« »Ich könnte mir vorstellen, daß die anderen beiden Planeten, die Nachbarn von Paradise, eine Rolle spielen. Erst haben wir sie gesehen, dann waren sie verschwunden und inzwischen sind sie aus dem Dunkel des Vergessenwerdens wieder aufgetaucht. Vielleicht geht von diesen zwei Welten eine Art hypnotischer Einfluß aus, dem wir beide jetzt nicht mehr unterliegen, weil sich die planetare Konstellation geändert hat.«
»Hm«, machte der Commander. »Und wie finden* wir heraus, ob an deiner Theorie etwas dran ist?« »Das können wir nur, wenn es uns gelingt, aus diesem Gefängnis herauszukommen. Hast du eine Idee…« John Koenig lächelte schief. »Oh, das ist kein Problem. Wir brauchen nur denselben Weg zu beschreiten, auf dem wir hereingekommen sind.« Diesen Weg hatte Maya allerdings auch nur im Zustand der Bewußtlosigkeit zurückgelegt.
XII
»Nun gut«, sagte Maya, »wenn es denn gar nicht anders geht, werde ich eben etwas tun müssen, was ich gar nicht so gerne tue. Ich werde mich in ein mikroskopisches Kleinstlebewesen verwandeln und mich durch die Felsenstruktur dieser Felsen hindurcharbeiten. Anders kommen wir ja wohl hier nie raus.« John Koenig sah ihr an, daß ihr der Gedanke, ein Mitglied des Mikrokosmos werden zu müssen, gar nicht behagte. Er wußte auch, warum, denn Maya hatte ihm vor einiger Zeit einiges über ihr Transformationstalent erzählt. Je kleiner ein Lebewesen war, dessen Gestalt sie annahm, desto mehr Körperenergie brauchte sie dazu. Das hing irgendwie mit der molekularen Umstrukturierung ihrer Körperzellen zusammen. Ganz hatte er die biophysikalischen Aspekte nicht verstanden, was aber nicht weiter verwunderlich war. Der ganze Transformationsvorgang war ihm ein Rätsel, das er mit seinen naturwissenschaftlichen Vorstellungen ohnehin nicht in Einklang bringen konnte. Maya bereitete sich auf die Verwandlung vor. Sie lächelte ihm noch einmal zu. »Mach dir keine Sorgen, John. Irgendwie wird es mir schon gelingen, auch dich hier rauszuholen.« Der Commander nickte. Sein Vertrauen in die junge Psychonierin war groß. Jetzt wieder, nachdem er wußte, daß er und Maya wieder dieselben Interessen und Ziele verfolgten. Sie konzentrierte sich. Gleich würde ihr menschlicher Körper in einer lichtreichen Energiespindel vergehen, um dann in neuer Form wieder zu materialisieren.
»Viel Glück«, wünschte er ihr und damit letzten Endes auch sich selbst. Dann aber geschah etwas, womit weder er noch die Psychonierin gerechnet hatten. Maya schwankte plötzlich, als habe sie einen heftigen Schlag bekommen. Sie taumelte, versuchte, sich auf den Füßen zu halten, schaffte es jedoch nicht. Ihr Körper klappte zusammen, und wenn der Commander nicht blitzschnell zugegriffen hätte, um sie aufzufangen, wäre sie schwer auf den harten Steinboden gestürzt. Sofort war John Koenig klar, daß er eine Ohnmächtige in den Armen hielt. Was diese Ohnmacht allerdings hervorgerufen hatte, war ihm vollkommen schleierhaft. Hatte sie Schwierigkeiten mit der Transformation gehabt? Hatte irgendeine fremde Kraft auf sie eingewirkt? Er besaß keinerlei Anhaltspunkte, die ihn auch nur ahnen ließen, wie es zu ihrem Kollaps gekommen war. Sanft ließ er das Mädchen auf das Grünzeuglager niedersinken. So weit ihm das möglich war, untersuchte er sie. Und dabei stellte er mit großer Erleichterung fest, daß Puls und Herzschlag keinen Anlaß zur Hoffnungslosigkeit gaben. Sie würde in absehbarer Zeit wieder zu sich kommen. Eins jedoch stand fest: ihr Versuch, dieses Felsengefängnis zu verlassen, war kläglich gescheitert. Und das gab ihm doch schwer zu denken.
Maya war noch immer ohne Bewußtsein. Wie zuvor schon saß John Koenig neben ihr auf dem Strohersatz und wartete darauf, daß sie sich wieder erholte. Noch konnte von einem Liderzucken, das ihr Erwachen ankündigte, keine Rede sein. Alles war und blieb ruhig in der Felsenhöhle. Das kerzenähnliche Gebilde in der Ecke, dessen unbekanntes
Brennmaterial unerschöpflich zu sein schien, tauchte den Raum in flackerndes Licht. Der tanzende Feuertropfen sorgte für die einzige Bewegung in dem engen Gefängnis. Der Commander überlegte gerade zum hundertsten Mal, wie er und Maya in diesen vollkommen geschlossenen Raum hineingekommen waren, als er eine ganz überraschende Antwort auf diese brennende Frage erhielt. Die Luft um ihn herum schien plötzlich zu flirren, schien sich elektrisch aufzuladen. Koenig spürte ein Kribbeln am ganzen Körper, ein Kribbeln, das zuerst nicht unangenehm war, mit fortschreitender Dauer jedoch an Intensität zunahm, zu einem leichten Brennen auf der Haut wurde und dann in einen schneidenden Schmerz überging. John Koenig hatte auf einmal die fatale Empfindung, daß sich tausend Messerspitzen an jeder einzelnen Stelle in seinen Körper bohrten. Auf einmal aber nahm er den Schmerz nicht mehr wahr, vergaß ihn völlig. Etwas anderes, etwas, das ihn mit lähmendem Entsetzen erfüllte, nahm sein Bewußtsein völlig in Beschlag. Er sah, wie seine Beine, seine Arme, sein ganzer Körper durchscheinend wurde, wie er sich langsam aber sicher aufzulösen schien. Auch seine Sinnesorgane wurden von dem unheimlichen, unbegreiflichen Prozeß erfaßt. Sein Blick trübte sich. Die Felsenwände verschwammen vor seinen Augen, wurden zu einem farblosen, undefinierbaren optischen Brei. Innerhalb weniger Augenblicke wurde es ganz dunkel um ihn. Er wollte einen Schrei ausstoßen, konnte es jedoch nicht, denn er besaß jetzt keine Stimmbänder mehr, keinen Mund, kein Gesicht. Krampfhaft versuchte er, sich auf den Schmerz zu konzentrieren. Er sah in ihm das einzige, was in dieser unfaßbaren Situation noch Realität zu besitzen schien. Aber auch das war ein Trugschluß. Selbst der Schmerz existierte
nicht mehr, konnte nicht mehr existieren, weil es seinen Körper nicht mehr gab. Nur noch sein Bewußtsein, sein Geist, sein Id existierte, losgelöst von allem Körperlichen, schwebend im großen Nichts eines unendlichen Universums, in dem es keine Materie gab. Nach einer Zeitspanne, die so kurz wie die Dauer eines Herzschlags oder auch so lang wie die Entstehungsgeschichte des Weltalls gewesen sein mochte, wurde sein Id dann wieder eins mit dem Körper. Der Schmerz kam zurück, schneidend und bohrend wie zuvor, das Gefühl des Körperlichen stellte sich wieder ein, so, als habe er es niemals vermißt, und auch die Sinnesorgane fuhren fort, ihren Dienst zu verrichten. Der Commander fühlte, sah und hörte wieder. Und das, was er sah und hörte, ließ ihn unwillkürlich daran denken, daß dies alles nur eine Illusion war, daß er dies alles nur träumte. In seinem tiefsten Inneren aber wußte er, daß er voll und ganz in die Realität zurückgekehrt war.
Es waren zehn, nein, zwölf Männer, die den Commander kreisförmig umringten. Sie hatten in einer Art Lotusposition auf dem Boden gehockt, standen jetzt jedoch auf. Zwei von ihnen traten auf ihn zu. John Koenig war immer ein Mensch gewesen, der es verstand, sich in Gedankenschnelle auf eine neue, ungewohnte Situation einzustellen. Und auch diesmal gelang ihm das nach der spontanen Ungläubigkeit des ersten Moments nahezu sofort. Er befand sich in einem großen, saalartigen Raum mit hohen Steinmauern. Unverzüglich drängte sich ihm der Vergleich mit der Gefängniszelle auf, in der er gerade noch zusammen mit Maya gesteckt hatte. Der einzige Unterschied bestand
praktisch nur darin, daß die Dimensionen hier eine ganz andere Größenordnung aufwiesen. Und daß diese fremden Männer anwesend waren. Es waren Männer, die auf den ersten Blick vollkommen menschlich erschienen. Ein zweiter Blick offenbarte jedoch, daß sie Angehörige einer fremden Rasse sein mußten. Von der Statur her wirkten sie feingliedriger, zerbrechlicher als Terraner und Alphaner. Ihre Kopfform war schmal, machte auf den Commander einen irgendwie überzüchteten Eindruck. Die Hautfarbe war blaß, nahezu farblos, erinnerte an menschliche Albinos, wozu auch das schneeweiße Haar paßte. Die Hauptunterschiede zwischen den Menschen und diesen Fremden machte sich jedoch bei den Augen bemerkbar. Die Augen der Männer waren groß, sehr groß sogar. Und sie wurden fast völlig von riesigen Pupillen ausgefüllt, in denen ein gelbes, verzehrendes Feuer zu leuchten schien. Diese Augen waren dem Commander unheimlich. Ja, er empfand fast so etwas wie instinktive Furcht vor ihnen. Es hätte ihn kaum gewundert, wenn leibhaftige Flammen aus diesen Augen geschlagen wären, die danach trachteten, ihn zu verbrennen. Aber solche Spekulationen waren selbstverständlich purer Unsinn. Dennoch mußte sich John Koenig regelrecht dazu zwingen, die eigenen Augen bei der Annäherung der beiden Männer nicht niederzuschlagen. Sie standen jetzt dicht vor ihm, starrten ihn an, womit sie ein eigenartiges Gefühl der Beklemmung in ihm auslösten. »Komm mit uns, John Koenig«, sagte der eine in perfekt akzentuiertem Englisch. Die Überraschung des Commanders hätte nicht größer sein können. Nicht nur, daß sie seine Sprache sprachen, sie kannten auch noch seinen Namen. Woher, verdammt noch mal? fragte er sich.
Und dann fragte er nicht nur sich selbst, sondern auch den Fremden, der ihn angeredet hatte. Die Antwort, die er bekam, befriedigte ihn ganz und gar nicht. »Das spielt keine Rolle, John Koenig«, sagte der Mann. »Komm jetzt mit uns.« Dazu war der Commander nicht bereit. Zuerst wollte er Antwort auf einige brennende Fragen. Wer waren diese Fremden? Wie war er in ihre Mitte gekommen? Was hatten sie mit ihm vor? Er sagte ihnen, was er wollte, erreichte damit jedoch überhaupt nichts. »Du hast hier nichts zu fragen, John Koenig«, bekam er Bescheid, »du hast nur zu tun, was wir von dir verlangen.« Das sah John Koenig ganz anders. Er entschloß sich, in die Offensive zu gehen. Alle diese Fremden wirkten schwächlich, waren ihm, was die Körperkraft anging, hoffnungslos unterlegen. Waffen konnte er an ihnen nicht erkennen. Sie waren weitgehend unbekleidet, hatten lediglich ein kunstvoll geschwungenes buntes Tuch um ihren Körper gewickelt, das kaum als Versteck für einen Phaser oder etwas Artverwandtes dienen konnte. »Paß auf, Gelbauge«, sagte der Commander drohend. »Wenn du mir jetzt nicht sofort erklärst, was hier gespielt wird, dann bekommst du bösen Ärger, verstanden?« »Du überschätzt dich, John Koenig«, erwiderte der Fremde unbeeindruckt. »Wenn hier jemand Ärger bekommt, dann nicht wir, sondern höchstens du selbst.« Wider Willen blieben diese lakonisch dahingesprochenen Worte nicht ohne Wirkung auf den Commander. Wer sich so ruhig und überlegen gab, mußte aus einem Gefühl der Stärke heraus handeln. Trotzdem – er wollte sich nicht einschüchtern lassen. Wenn er diesen Fremden nicht von Anfang an bewies,
daß sie mit ihm nicht umspringen konnten wie mit einem dummen Jungen, dann geriet er immer mehr ins Hintertreffen. »Na, das wollen wir dann doch mal sehen!« sagte er laut. Und dann wollte er nach dem Körpertuch greifen, um den Mann ein bißchen in die Mangel zu nehmen. Er hatte nicht den Hauch einer Chance, kam nicht einmal dazu, die Hand überhaupt nur zu heben. Die gelben Raubtierpupillen des Fremden wurden noch größer, verstärkten ihren feurigen Glanz noch mehr. Ein richtiger Blitz schien aus ihnen zu zucken. Der Fremde stand ganz ruhig da, bewegte sich nicht. Und doch bekam der Commander auf einmal einen brutalen Schlag gegen die Stirn, der ihn zurückfahren und in die Knie brechen ließ. John Koenig begriff. Der Fremde besaß parapsychische Talente. Ohne jeden Zweifel hatte er ihn mit einer Psychoattacke abgewehrt und zu Boden gebracht. Jetzt konnte sich der Commander auch denken, was das für ein Schlag gewesen war, der ihn nach der Landung betäubt hatte. Und Mayas Zusammenbruch in der Zelle fand damit ebenfalls eine einleuchtende Erklärung. »Steh auf, John Koenig«, sagte der Fremde lässig. »Wir haben schon genug Zeit vergeudet.« Der Commander wußte, wann er ein Spiel verloren hatte. Ächzend stellte er sich wieder auf die Füße. »Gehen wir«, sagte der Fremde. John Koenig leistete keinen weiteren Widerstand.
Drei der Fremden führten den Commander aus dem saalartigen Raum hinaus. Was er draußen sah, überraschte ihn nicht einmal sonderlich. Nach Mayas Erklärungen war er darauf vorbereitet gewesen. Ja, die Psychonierin hatte vollkommen recht gehabt.
Da lag eine Stadt. Nicht in unmittelbarer Nähe, sondern vielleicht achthundert bis tausend Meter entfernt. Die Stadt erinnerte ihn irgendwie an die irdische Vergangenheit, an jene Zeit, als die moderne Technik ihren Siegeszug noch nicht angetreten hatte. Auch in dieser Stadt war, soweit er das aus der Entfernung erkennen konnte, nichts von einer Technik zu sehen, die über mittelalterliche Verhältnisse hinausging. Es schien keinen motorisierten Fahrzeugverkehr zu geben, keine Telegraphenmaste, keine Hochspannungsleitungen, nichts von all den anderen Dingen, die das Leben in einer moderneren Zivilisationsgesellschaft ausmachten. Das Gebäude, das er gerade mit seinen Begleitern verlassen hatte, war ein tempelähnliches, wuchtiges Bauwerk. Die Völker der Antike hatten solche Monumentalbauten hochgezogen, um ihren Göttern zu huldigen. John Koenig sah den Eagle. Das Raumschiff war in etwa dreihundert Metern Entfernung von dem ›Tempel‹ auf seinen Teleskopbeinen niedergegangen. Tief atmete der Commander durch. Jetzt konnte es keinerlei Zweifel mehr geben, daß Mayas Theorie den tatsächlichen Sachverhalt ziemlich genau getroffen hatte. Ja, ihm war etwas vorgegaukelt worden. Er hatte einen Hügelkamm gesehen, einen prächtigen Wald, einen romantischen kleinen Fluß. Und nichts davon existierte in Wirklichkeit. Die drei Fremden bedeuteten ihm, zu Eagle Drei hinüberzugehen. Notgedrungen kam Koenig der Aufforderung nach. Während er zusammen mit den Planetariern auf das wartende Raumschiff zusteuerte, begann sich eine Gedankenkette in seinem Gehirn zu formen. Die Fremden waren parapsychisch begabt, darüber konnte es keinen Zweifel mehr geben. War es da nicht naheliegend, daß sie auch für die Trugbilder verantwortlich zeichneten, die den
Alphanern und Alphanerinnen so unterschiedliche Scheinrealitäten ins Bewußtsein gepflanzt hatten? Auch Hypnogaben zählten zur Parapsychologie, genauso wie Telekinese, Telepathie und Teleportation. Weitere Erklärungen boten sich an. Die Versetzung seiner Person aus der Zelle in den Tempel – das wäre das typische Beispiel einer Teleportation gewesen. Und die Tatsache, daß der Fremde ihn in perfektem Englisch angesprochen hatte… Kein Kunststück für einen Telepathen. Verdammt, es sah ganz danach aus, als ob die Frauen in der Basis mit ihrem Höllenplaneten gar nicht so falsch gelegen hatte. Nur daß sich das Höllische ganz anders darstellte, als ihnen die Gaukelbilder vortäuschten. John Koenig fragte sich, wie es kam, daß Maya und er jetzt nicht mehr unter dem hypnotischen Einfluß der Fremden standen. Hielten sie es nicht mehr der Mühe wert, ihnen beiden etwas vorzumachen? Das war durchaus eine Möglichkeit, die in Betracht gezogen werden konnte. Und warum das alles? überlegte er. Warum war in den männlichen Alphanern die Vorstellung von einem paradiesischen Traumplaneten erweckt worden, in den alphanischen Frauen jedoch das genaue Gegenteil? Irgendwie ergab es keinen Sinn. Schön, die Vortäuschung eines Garten Eden konnte das Ziel verfolgen, die Alphaner nach Paradise – lächerlicher Name unter Berücksichtigung des tatsächlichen Sachverhalts – zu locken. Warum aber gleichzeitig auch Bilder vorgetäuscht wurden, die nur einen abschreckenden Effekt auslösen konnten, blieb dem Commander schleierhaft. Er hoffte nur, daß er bald zu des Rätsels Lösung kommen würde – in seinem eigenen Interesse und im Interesse aller Alphaner. Der Eagle war jetzt erreicht. Natürlich stand er nicht auf einer Grasfläche, sondern auf gemauertem Untergrund, dem
Tempelvorplatz nämlich. Nach Lage der Dinge wunderte sich der Commander nicht darüber, daß er den Raumer ausgerechnet hier in der unmittelbaren Nähe von Stadt und Tempel gelandet hatte. Höchstwahrscheinlich hatten ihn die Fremden mit ihren hypnotischen Fähigkeiten genau dorthin geleitet, wo sie ihn gerne haben wollten. Der Planetarier, der es übernommen hatte, den Sprecher der anderen zu machen, deutete auf die offenstehende Luftschleuse. »Steig ein, John Koenig«, sagte er. Der Commander tat es.
John Koenig wurde klar, was die drei Fremden in Eagle Drei wollten, als er die Anweisung bekam, die Luftschleuse zu schließen. Einer von ihnen blieb im Passagierabteil zurück. Die anderen beiden geleiteten ihn ins Cockpit und forderten ihn auf, sich auf den Pilotensitz zu setzen. Sie selbst zwängten sich zu zweit in den Copilotensessel, was ihnen bei ihrer schlanken Statur nicht einmal schwerfiel. »Starten!« sagte der Sprecher. Dieses Kommando hatte John Koenig erwartet. Und es gefiel ihm gar nicht. Nach wie vor hatte er nicht die geringste Ahnung, was die Planetarier eigentlich im Schilde führten. Planten die Esper nun nach der bereits vollzogenen heimlichen Gedankeninvasion einen direkten Angriff auf die Mondbasis? Der Gedanke erschreckte ihn. Du mußt die Alphaner warnen! fuhr es ihm durch den Kopf. Und da es sehr fraglich war, ob er dazu noch einmal eine so gute Chance bekam wie in diesen Augenblicken, beschloß er, so schnell wie möglich zu handeln. »Wohin soll ich starten?« fragte er betont harmlos. »Keine Fragen stellen, starten!« bekam er zur Antwort.
Achselzuckend traf John Koenig die Startvorbereitungen. Dabei hatte er Gelegenheit, die Anzeigen der Sensoren in Augenschein zu nehmen. Es war genau so, wie Maya gesagt hatte. Die Daten, die den Planeten Paradise betrafen, stimmten in keinem Punkt mit denen überein, die er in Erinnerung hatte. Die ganze Zeit über hatte er tatsächlich etwas abgelesen, was da gar nicht stand. Auf dem Monitor, der eine Gesamtübersicht des Sonnensystems präsentierte, sah er jetzt auch die beiden restlichen, von Maya erwähnten Planeten, die sein von Gaukeleien getrübter Blick bisher nicht wahrgenommen hatte. Ihr Anblick gab ihm zu denken. Es mußte einen Grund geben, warum die Esper Maßnahmen ergriffen hatten, die verhinderten, daß diese beiden Welten in das Bewußtsein der Alphaner dringen konnten. Was für einen Grund? Wieder einmal stand er vor einer Frage, auf die er keine Antwort wußte. Die Fremden neben ihm rissen ihn aus seinen Überlegungen. »Starte endlich, John Koenig!« sagte der Sprecher mit barscher Stimme. Der Commander zündete die Triebwerke. Und wenige Augenblicke später erhob sich Eagle Drei wie auf einem Feuerstuhl reitend in den sonnenüberfluteten Planetenhimmel. In John Koenig breitete sich jetzt Optimismus aus. Das Cockpit eines Eagle war sein Element. Hier fühlte er sich zu Hause, ganz im Gegensatz zu den Espern, für die ein Raumschiff etwas völlig Fremdes war. Es mußte doch mit dem Teufel zugehen, wenn es ihm nicht gelang, aus diesen Voraussetzungen Kapital zu schlagen. Es gab viele Möglichkeiten, die Esper zu überlisten und die völlige Freiheit wiederzugewinnen. Wenn er zum Beispiel…
»An deiner Stelle würde ich es nicht mit einem Trick versuchen«,sagte der Sprecher warnend. »Es würde dir sehr, sehr schlecht bekommen!« John Koenig biß sich auf die Lippen. Natürlich, die Fremden waren Telepathen. Sie konnten seine Gedanken lesen, wußten jederzeit, was in seinem Kopf vorging. Wenn er etwas gegen sie unternehmen wollte, mußte er es ganz überraschend tun, um ihnen keine Gelegenheit zum Eingreifen zu geben, mußte er ganz spontan… Seine rechte Hand flog zu dem Knopf, der die Andruckneutralisatoren ausschaltete. Ohne die Neutralisatoren würden augenblicklich zwanzig g auf die Eagle-Besatzung einwirken, würde sie hilflos in die Sitze pressen und… So blitzschnell er auch gehandelt hatte, seine Hand erreichte den Knopf trotzdem nicht. Ein mörderischer Schmerz durchzuckte die Hand, schleuderte sie zur Seite. Dem Commander war, als würde jeder einzelne Nerv mit glühenden Zangen gepackt. Gequält blickte er zur Seite und bemerkte, daß die großen gelben Augen des zweiten Esper starr auf die Hand gerichtet waren. »Aufhören!« ächzte er. »Ich wollte nicht… « »Doch, John Koenig, du wolltest uns immobilisieren«, sagte der Sprecher. »Und das, obgleich ich dich kurz zuvor noch gewarnt habe.« Immer noch hielt der grausame Schmerz an, so lange, bis der Folterknecht schließlich seine unheimlichen Augen von der Hand abwandte. Die plötzliche Schmerzfreiheit erschien dem Commander wie ein Geschenk des Himmels. Er wußte jetzt, daß es sehr schwer werden würde, die Esper hereinzulegen. Ihre Fähigkeit, selbst spontane Entschlüsse bereits im Ansatz zu erkennen und sich darauf einzustellen, machte sie zu schier übermächtigen Gegnern.
»So ist es«, wurde diese Erkenntnis von dem Sprecher ironisch bestätigt. Trotzdem war John Koenig nicht bereit, einfach aufzugeben. Es ging nicht nur um ihn persönlich, es ging hauptsächlich um das Wohl der Alphaner in der Basis. Und sein Verantwortungsgefühl trieb ihn dazu, sofort den nächsten Versuch zu starten. Wieder flog seine Hand gedankenschnell nach vorne. Und diesmal blieb der erwartete Psychoschock aus. Sein Zeigefinger konnte auf die Funktaste tippen und damit Sprechverbindung zur Station auf dem Mond herstellen. »Mayday!« rief John Koenig hektisch in das Mikrophon. »Planet Paradise ist unbedingt zu meiden. Wird von Espern beherrscht. Unternehmen Exodus darf nicht stattfinden. Over.« Er schaltete wieder ab, denn er konnte in der gegenwärtigen Situation keine Rückfragen beantworten. Dennoch durchströmte ihn ein Gefühl der Zufriedenheit. Er hatte es geschafft, die Alphaner zu warnen, ohne daß die Esper in der Lage gewesen waren, ihn daran zu hindern. Dann aber, als er logisch nachdachte, begriff er, daß sie natürlich sehr wohl in der Lage gewesen wären, die Absendung des Funkspruchs zu vereiteln, wenn sie das gewollt hätten. Aber ganz offenbar kümmerte es sie gar nicht, ob er die Alphaner nun auf drohende Gefahren aufmerksam machte oder nicht. Die Gründe dafür lagen auf der Hand. »Du bist sehr klug, John Koenig«, spottete der Sprecher. Dann kam er zur Sache. Er wies den Commander an, zuerst eine Reihe von Flugmanövern in der Atmosphäre von Paradise vorzunehmen. Interessiert beobachteten die Esper jeden einzelnen seiner Handgriffe. Und natürlich lasen sie auch unentwegt die Gedanken, die er dabei anstellte.
Anschließend forderte sie ihn auf, den Luftraum von Paradise zu verlassen und in den Weltraum vorzustoßen. Und wieder achteten sie konzentriert auf alles, was er tat. Sinn und Zweck der Übung wurden dem Commander schnell klar. Den Espern ging es darum, alles zu lernen, was für die Handhabung des Eagle erforderlich war. Koenig fungierte sozusagen als Fluglehrer. Für einen normalen Menschen war es vollkommen unmöglich, innerhalb kürzester Zeit ein fähiger Raumschiffpilot zu werden. Aber der Commander zweifelte nicht daran, daß dies bei Telepathen, die sich im übertragenen Sinne regelrecht in den Lehrer hineinversetzen konnten, grundlegend anders war. John Koenig versuchte ein paarmal, sie bei der Bedienung der Kontrollen bewußt in die Irre zu führen. Aber das bekam ihm schlecht. Sie merkten es jedesmal und zwangen ihn durch die brutale Verabreichung von Psychoschocks, Berichtigungen vorzunehmen. Als es dann zurück zum Tempel ging, war John Koenig so niedergeschlagen wie nie zuvor in seinem Leben.
XIII
Vor Erstaunen sperrte Yasko, die junge Japanerin am Funkgerät, den Mund auf, nachdem die Stimme John Koenigs verklungen war. Auch den anderen Frauen in der Kommandozentrale, die die Funkmeldung des Commanders mitbekommen hatten, ging es nicht viel anders. »Das nenne ich eine Überraschung«, rief die blonde Computertechnikerin Leigh Anderson aus. »Der Commander hat aufgehört, uns etwas vorzumachen!« Sie drückte damit aus, was alle dachten. Heftige Diskussionen, die den Sinneswandel John Koenigs zu ergründen versuchten, brandeten auf. Unterdessen benachrichtigte Yasko Helena Russell, die sich im Augenblick nicht in der Zentrale aufhielt. Wenig später war die Doktorin zur Stelle. »Spielen Sie mir eine Aufzeichnung des Funkspruchs vor, Yasko«, wies sie die Japanerin an. Yasko kam der Aufforderung nach. Zum zweiten Mal war John Koenigs Stimme zu hören. »Mayday! Planet Paradise ist unbedingt zu meiden. Wird von fremden Intelligenzwesen, von Espern, beherrscht. Unternehmen Exodus darf nicht stattfinden. Over.« Auch die Kommandantin der Mondbasis Alpha 1 war aufs äußerste überrascht. Alles hatte sie erwartet, aber das nicht. John schien endlich vernünftig geworden zu sein. Sie merkte, daß die guten Gefühle ihm gegenüber, die sie in jüngster Zeit kaum noch gespürt hatte, plötzlich wieder wach wurden. Seine Stimme hatte hektisch und wie unter großer
Nervenanspannung hervorgepreßt geklungen. Ob er sich in Gefahr befand? »Haben Sie versucht, sich wieder mit ihm in Verbindung zu setzen, Yasko?« erkundigte sie sich. »Ja«, antwortete die Technikerin. »Aber Eagle Drei meldet sich nicht mehr.« »Versuchen Sie es noch mal!« Yasko versuchte es, hatte damit aber keinen Erfolg. Weder John Koenig noch Maya gingen auf die Kontaktbemühungen ein. Helena nagte an der Unterlippe. Sie machte sich Sorgen. Nicht nur um Maya, sondern auch um John. Besonders um John, wie sie sich eingestehen mußte. Und dieses Eingeständnis ärgerte sie nicht einmal. Es muß etwas geschehen, überlegte sie, ja, es muß etwas geschehen. Und zwar schnell.
Auch in der Waffenabteilung wurde der Funkspruch des Commanders aufgefangen. Jameson hörte ihn mit großer Befriedigung. Na also, dachte er, damit stand ja wohl nun zweifelsfrei fest, daß die Verhältnisse auf Paradise voll und ganz den Erwartungen entsprachen. Ob Helena Russell und ihre verrückten Weiber nun ihren Widerstand gegen die Besiedlung des Planeten endlich aufgeben würden? Nun, er wagte es zu bezweifeln. Wahrscheinlich hielten sie den Funkspruch des Commanders für ein neues Täuschungsmanöver und blieben auch weiterhin auf Kollisionskurs. Jameson fragte sich, ob Maya inzwischen ihre Meinung geändert hatte. Wahrscheinlich nicht, denn in diesem Fall hätte der Commander wohl dafür gesorgt, daß sie ihren verbohrten
Geschlechtsgenossinnen nahelegte, den Widerstand gegen das Unternehmen Exodus aufzugeben. Da der Commander die Psychonierin aber gar nicht erwähnt hatte… Well, alles weitere konnte man sich denken. Trotzdem hielt er es für angebracht, sich mit der selbsternannten Kommandantin in Verbindung zu setzen. »Was sagen Sie zu dem Funkspruch des Commanders?« fragte er, als ihr Bild auf dem Kommunikationsschirm erschien. »Er hat mich…beeindruckt«, antwortete die Doktorin. »Ach, wirklich?« Helena Russell ging nicht auf den leicht anzüglichen Ton des Waffenchefs ein. »Johns Mitteilung dürfte einiges zwischen uns ändern«, meinte sie. »Wir ziehen dann ja wohl jetzt wieder an einem Strang, oder?« »Das hoffe ich, Doktor Russell.« »Keine Frage – wir müssen John und Maya helfen. Die Frage ist nur, wie.« »Helfen?« »Ich bin davon überzeugt, daß sie sich in Gefahr befinden. Und deshalb… « »Sagen Sie mal, wovon reden Sie denn da?« unterbrach sie der Waffenchef. »Ich höre immer etwas von ›helfen‹ und ›Gefahr‹. Fangen Sie doch wieder mit Ihrem Quatsch an?« »Jameson…« »Ich will von Ihnen jetzt nur eins wissen: Sind Sie damit einverstanden, daß wir Paradise kolonisieren, oder sind Sie nicht einverstanden?« Das Gesicht der Doktorin verzog sich. »Kolonisieren? Sie müssen verrückt geworden sein!« »Sie!« schimpfte der Waffenchef. »Wenn Sie wieder persönlich werden…«
»Ich will nicht persönlich werden, aber mir scheint, daß wir mal wieder aneinander vorbeireden. Haben Sie den Funkspruch Johns noch im Kopf?« »Natürlich«, grollte Jameson. »Würden Sie ihn wiederholen?« »Was soll…« »Bitte, Jameson!« Wenn sie bitte sagte… Der Waffenchef sah zwar nicht viel Sinn darin, zitierte die Botschaft des Commanders dann aber doch: »›Alphaner und Alphanerinnen! Planet Paradise ist phantastisch. Ideale Lebensbedingungen. Unternehmen Exodus muß sofort begonnen werden. Over.‹ Na, war es richtig?« Helena Russells Miene nahm einen Ausdruck offenen Abscheus an. »Sie sind unverbesserlich, Jameson! Jetzt gehen sie sogar schon hin und verfälschen die Nachrichten Ihrer eigenen Seite! Ich weiß wirklich nicht, was Sie sich davon versprechen, Mann.« »Ah, ich verfälsche also. Was denn, wenn ich fragen darf?« Helena wiederholte die Worte des Commanders. Die Folge war wildes Hohngelächter von seiten des Waffenchefs. »Wie gehabt«, grunzte er. »Sie behaupten dies, und wir behaupten das. Aber ich sage Ihnen eins, Doktor Russell…« »Drohen Sie mir nicht, Jameson«, fuhr ihm die Ärztin dazwischen. »Es ist keineswegs gesagt, daß Sie mit Ihren schweren Lasern wirklich so großartig dastehen, wie Sie glauben. Aber ich will keine Auseinandersetzung mit Ihnen. Jetzt nach Johns Alarmruf schon gar nicht.« »Alarmruf, da kann ich ja nur lachen!« »Lachen Sie so laut und so lange, wie Sie wollen«, kanzelte ihn die Ärztin ab. Ein nachdenklicher, überlegender Zug trat in ihr Gesicht. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Jameson. Wir schicken einen weiteren Eagle zum Planeten Hell, um die Situation an Ort und Stelle zu sondieren.«
»Das hatten wir schon. Eagle Drei…« Die Doktorin winkte ab. »Eagle Drei hat berichtet, wie es auf Hell aussieht. Nur wollen Sie es nicht glauben. Und deshalb mein Vorschlag: Wir schicken einen weiteren Eagle. Sie werden ihn steuern, und ich fliege als Copilot mit. Sind Sie damit einverstanden?« »Einverstanden«, sagte Jameson sofort.
XIV
Wieder kam Maya aus der Bewußtlosigkeit zu sich. Langsam verlor sie die Übersicht, wie oft sich dieser Vorgang in der jüngsten Vergangenheit schon wiederholt hatte. Sie erwachte, tat etwas und wurde prompt wieder betäubt. Jetzt aber, das nahm sie sich fest vor, war ein für allemal Schluß damit. Diesmal würde sie sich nicht überraschen lassen. Deshalb handelte sie auch schon, bevor irgend jemand registrieren konnte, daß sie wieder bei sich war. In Gedanken stellte sie sich einen Stugar vor. Stugars waren Kleinstlebewesen von ihrem Heimatplaneten Psychon, die trotz ihrer Minimalgröße von nicht einmal drei Millimetern zu den gefährlichsten Bestien gehörten, die sie kannte. Stugars fraßen alles, was ihnen vor die mikroskopisch kleinen Zähne kam, wobei es keine Rolle spielte, ob es sich um organische oder anorganische Materie handelte. Und alles, was sie fraßen, verdauten sie augenblicklich und schieden es auch sofort wieder aus. Maya konzentrierte sich, ließ ihren Geist jede einzelne Körperzelle durchdringen, wie sie es einstmals von ihrem Vater gelernt hatte. Ihre psychische Kraft riß die Kleinstbauteile der Körperzellen aus ihrem Verbund und setzte sie in pure Energie um. Für Bruchteile von Sekunden existierte sie nur als eine Zusammenballung von Quanten. Dann setzte die vorprogrammierte Rücktransformation ein, und aus dem Mädchen Maya war ein Stugar geworden. So schnell, daß ein menschliches Auge kaum folgen konnte, rannte Maya auf ihren sechs Beinpaaren auf die nächste Felswand zu. Und schon schlugen sich ihre zähnestarrenden
Kiefer in das Gestein, schabten mit ungeheurer Geschwindigkeit Partikel davon ab und ließen sie in den Verdauungssack gleiten. Hier wurden die für den Energiehaushalt benötigten Nährstoffe aufgesogen, der große Rest sofort wieder abgesondert. In wenigen Sekunden bereits war der Stugar Maya zentimetertief in den Fels eingedrungen und für jeden hypothetischen Beobachter unsichtbar geworden. Unentwegt arbeitete sich Maya weiter vor, das jeweils vor ihr liegende Gestein fressend, dem Metabolismus nutzbar machend und wieder ausscheidend. Maya wußte, daß sie sich beeilen mußte. Sie konnte die stugarische Gestalt nur für eine gewisse Zeit beibehalten. Dann würde die Rückverwandlung in ihren psychonischen Körper einsetzen. Und falls sie zu diesem Zeitpunkt noch in dem Felsen steckte, war sie verloren. Sie konnte nur hoffen, daß die Felsplatte, durch die sie sich hindurchwühlte, nicht zu dick war. Sie fraß, verdaute, schied aus, wieder und immer wieder. Immer weiter drang sie vor, aber noch kündigte sich nicht an, daß die Gesteinsschicht bald endete. Langsam flackerte so etwas wie Panik in Maya auf, als sie sich vergegenwärtigte, daß inzwischen schon mehr als eine halbe Stunde vergangen sein mußte. Sie begann zu erkennen, daß sie wohl doch zu überstürzt gehandelt hatte. In der Zelle hatte es frische Atemluft gegeben. Folglich mußte es auch einen Zugang geben, durch den die Luft einströmen konnte. Wenn sie sich etwas mehr Zeit genommen hätte, um diesen Zugang zu suchen… Sicherlich hätte sie auf diese Weise einen Weg gefunden, der auf einfachere Art und Weise ins Freie führte.
Aber zu solchen Überlegungen war es jetzt zu spät. Sie war ein Stugar, und daran konnte sie jetzt nichts mehr ändern. Für sie gab es nur noch eins: sie mußte durch diesen Fels hindurch. Wie eine Wahnsinnige ließ sie ihre diamantharten Beißer wirbeln. Zentimeter um Zentimeter rückte sie weiter vor. Dasselbe geschah jedoch auch mit den Zeigern der unsichtbaren Uhr, die körperlos in ihrem Bewußtsein tickte. Und dann endlich, als die Grenze des Beharrungsvermögens in einem anderen Körper fast schon erreicht war, hatte es der Stugar Maya geschafft. Die mahlenden Kiefer stießen ins Leere. Sonnenlicht strömte ihr entgegen. Die Gefahr, in ihrer richtigen Gestalt von den Felsmassen zerquetscht zu werden, war gebannt. Maya bedauerte fast, daß Stugare stumm waren und nicht jubilieren konnten.
Die drei Esper brachten John Koenig in den ›Tempel‹ zurück. Auf dem Weg hatte der Commander kurz mit dem Gedanken gespielt, einen Fluchtversuch zu wagen, diesen aber sofort wieder fallen lassen. Der Sprecher der Planetarier hatte ihn nämlich wie nebenbei wissen lassen, daß seine Nützlichkeit für die Esper eigentlich erschöpft sei und man nun auf ihn gut verzichten könne. Wenn er also meine, daß er fliehen müsse… Diese Andeutung hatte Koenig genügt. Nicht nur bei gewissen Dienststellen auf der heimischen Erde schien der lakonische Ausdruck ›Auf der Flucht erschossen‹ Anwendung zu finden. Als die Esper ihn dann im Tempel nötigten, wieder in einen Kreis von Männern zu treten, leistete er keinen Widerstand. Die Augen aller Anwesenden richteten sich gelb brennend auf ihn. Und wieder geschah das, was er schon in der Zelle erlebt hatte. Die Psi-Kräfte der Esper lösten seinen Körper auf
und transportierten ihn auf diese Weise zurück in das Felsenloch. Dort wurde aus dem körperlosen Etwas dann wieder John Koenig. Er bemerkte sofort, daß Maya nicht mehr da war. Ob ihr Verschwinden allerdings positiv oder negativ zu deuten war, wußte er nicht. War es ihr gelungen, zu fliehen? Oder hatten die Esper sie aus der Zelle geholt? Er konnte nur hoffen, daß ersteres der Fall war. Die Unsicherheit trug nicht dazu bei, seine schwere Frustration zu dämpfen. Der Planet Paradise wurde immer mehr zu einer Hölle für ihn. Oh, Helena, dachte er, wenn du wüßtest, wie recht du hattest. Maya war am Fuße eines monumentalen Bauwerks zum Vorschein gekommen, das eine Höhe von etwa hundert Metern haben mochte und aus gewaltigen Steinquadern zusammengesetzt worden war. Sie erinnerte sich, diesen Bau bereits flüchtig von Eagle Drei aus gesehen zu haben. Das Raumschiff und die in unmittelbarer Nähe gelegene Stadt konnten also nicht weit sein. Sofort faßte sie einen Plan. Was sie vor allen Dingen brauchte, waren Informationen. Sie mußte wissen, was hier für Menschen lebten, warum man sie und John gefangen genommen hatte. Und sie mußte wissen, ob den Alphanern von diesen Menschen Gefahr drohte. Aus Erfahrung wußte sie, daß unauffälliges Umschauen der beste Weg war, zum Erfolg zu kommen. Und darauf baute sich auch ihr Plan auf. Noch in ihrer Stugargestalt sah sie in einiger Entfernung Menschen, einzeln oder in kleinen Gruppen. Mit den scharfen Facettenaugen des Stugars notierte sie die körperlichen Details der Fremden, ihre überschlanken Gestalten, die
Albinocharakteristika, die von der alphanischen Norm abweichenden Gesichtsmerkmale. Dabei fiel ihr auf, daß es ausschließlich Männer waren, die sich in ihrem Blickfeld aufhielten. Dieselbe Beobachtung hatte sie auch schon im Eagle gemacht. Frauen schienen in dieser Welt nicht so gefragt zu sein. Für ihre Absichten spielte das allerdings keine Rolle. Ein männlicher Planetarier war ihr genauso recht. Sie spürte jetzt ganz deutlich, daß ihre Stunden als Stugar gezählt waren. Die Rückverwandlung in ihre psychonische Gestalt stand unmittelbar bevor. So schnell sie konnte, kroch sie in eine winklige Nische des Bauwerks, wo sie vor neugierigen Augen geschützt war. Dort nahm sie ihren natürlichen Körper an. Bevor sie an eine neuerliche Transformation denken konnte, mußte sie etwas warten. Ihre geistigen Kräfte, die die Umstrukturierung ihrer Körpermoleküle steuerten, mußten sich zunächst wieder regenerieren. Sie hatte Glück. Niemand wurde auf sie aufmerksam, niemand störte ihre dringend erforderliche Erholungspause. Schließlich war sie wieder so weit. Die nächste Transformationsphase konnte beginnen. Maya konzentrierte sich, verwandelte sich dann in einen der Einheimischen. Notgedrungen in ein männliches Exemplar, da ihr die Physiognomie des weiblichen Teils der Spezies unbekannt war. Maya wartete noch ein bißchen. Dann trat sie entschlossen aus dem Sichtschutz der Nische hervor.
So als sei sie hier geboren und aufgewachsen, wanderte Maya durch die fremde Stadt.
Keiner der Bürger schenkte ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit, ja, es gab nicht einmal jemanden, der sie auch nur richtig ansah. Diese auffällige Nichtbeachtung galt allerdings nicht nur speziell ihrer Person, sondern schien in dieser Stadt zum guten Ton zu hören. Distanz war sozusagen oberstes Gebot. Dazu paßte auch, daß Maya nicht ein einziges Mal beobachten konnte, daß sich zwei oder auch mehr Planetarier unterhielten. Wenn mehrere von ihnen zusammen waren, dann verkehrten sie völlig stumm miteinander. Und noch eins fand Maya bestätigt: Frauen schienen in der Tat nicht gefragt zu sein. Unter den Tausenden von Planetariern, die sie sah, befand sich nicht eine einzige Frau. Eine reine Männergesellschaft? Es sah fast so aus, obgleich es natürlich letzten Endes aus rein biologischen Gründen nicht möglich sein konnte. Oder? Manchmal, das wußte sie aus Erfahrung, ging die Evolution seltsame Wege. Soweit sie es beurteilen konnte, war das Entwicklungsniveau dieser Rasse nicht sehr hoch. Moderne Technik glänzte durch Abwesenheit. Die Häuser, die Straßen, die Fortbewegungsmittel – all dies war doch recht primitiv. Die Planetarier waren ein Volk der Handwerker und Ackerbauern, die mit bescheidenen Hilfsmitteln für das Lebensnotwendige sorgten. Große Bedeutung schienen typische Männerbeschäftigungen wie Sport, Spiel und der Genuß von Rauschmitteln zu haben. Maya konnte die Planetarier bei allerlei Körperertüchtigungsbeschäftigungen beobachten, die sie ihren eher schwächlich wirkenden Gestalten eigentlich gar nicht zugetraut hätte. Und immer wieder sah sie Männer, die ganz offensichtlich schwer um ihre Körperbeherrschung zu ringen hatten oder in tranceähnlichen Zustand versunken waren.
Insgesamt hatte sie in keiner Weise den Eindruck, daß die Planetarier irgendwie den Mond bedrohen konnten. Gleichzeitig aber wußte sie auch, daß die Planetarier gar nicht so harmlos sein konnten, wie es den Anschein hatte. Wesentliches mußte ihr bisher entgangen sein, denn es gab doch einige Dinge, die sie nicht vergessen durfte. Da war einmal die Tatsache, daß man sie und John mehrmals auf geheimnisvolle Weise niedergestreckt und in ein unzugängliches Felsenloch gesteckt hatte. Und dann waren da natürlich auch noch die Trugbilder, die die Sinne der Alphaner verwirrt hatten. Diese Trugbilder mochten ihren Ursprung durchaus auf diesem Planeten haben. Maya wußte, daß noch einige Arbeit vor ihr lag. Inzwischen hatte Maya bereits mehrmals in einer versteckten Ecke der Stadt vorübergehend ihre psychonische Gestalt wieder angenommen, um ihren ›Akku‹ aufzuladen. Jetzt war sie auf ihrer Wanderung durch die Stadt wieder in die Nähe des Monumentalgebäudes gekommen, von dem aus sie sich zu ihrer Expedition auf den Weg gemacht hatte. Vom Stadtrand aus konnte sie den Eagle sehen. Das Raumschiff war für die Planetarier ganz offensichtlich eine Attraktion. Zahlreiche Männer hatten sich in der Nähe versammelt und starrten den Raumer an. Maya verstand das. In dieser techniklosen Welt mußte ein Ding, das aus dem Himmel gekommen war, natürlich einen sensationellen Eindruck machen. Jeder Bürger der Stadt war es sich schuldig, das Wunderwerk einmal aus der Nähe zu betrachten. Zwanglos mischte sich Maya unter die Menschenansammlung. Es verwunderte sie nicht, daß wiederum ausnahmslos Männer vertreten waren. Auch das gewohnte Schweigen, das Fehlen jeglicher Unterhaltung, konnte sie jetzt auch nicht mehr überraschen.
Etwas anderes überraschte sie jedoch, ja, schockte sie regelrecht. Die Triebwerke von Eagle Drei röhrten plötzlich auf! Keine Frage – der Raumer war im Begriff, zu starten. John! durchzuckte es die Psychonierin. Nur er konnte im Cockpit sitzen. Die technisch unbedarften Einheimischen waren wohl kaum in der Lage, die hochkomplizierten Armaturen zu bedienen. Fieberhaft überlegte sie. Als sie ihre Flucht aus dem Felsenloch gestartet hatte, war sie so versessen darauf gewesen, blitzschnell zu verschwinden, daß sie es nicht riskiert hatte, sich überhaupt um ihn zu kümmern. Sie hatte natürlich angenommen, daß er sich noch in der Zelle befand, als sie in die Felsenwand hineingekrochen war. Nun aber kamen ihr in dieser Beziehung Zweifel. Irgendwie mußte es ihm gelungen sein, zu fliehen. Vielleicht schon vor ihrem eigenen Absetzmanöver, vielleicht aber auch erst danach. In jedem Fall aber schien er es geschafft zu haben, sich zu Eagle Drei durchzuschlagen. Und nun war er drauf und dran, seine Flucht in unerreichbare Regionen fortzusetzen. Maya faßte einen gedankenschnellen Entschluß. Sie glaubte zwar nicht, daß John sie im Stich lassen würde. Sicherlich hatte er vor, gut gerüstet zurückzukommen, um sie herauszuholen. Dieser Komplikation der Dinge konnten sie und er jedoch aus dem Wege gehen, wenn sie es schaffte, noch an Bord zu kommen, bevor der Eagle vom Planetenboden abhob. Hastig kalkulierte sie ihre Chancen. Sie stand ungefähr zweihundert Meter von dem Raumer entfernt. Dies war eine Strecke, die sich in Sekundenschnelle bewältigen ließ. In ihrer augenblicklichen Gestalt konnte sie es jedoch nicht wagen, zu Eagle Drei hinüberzusprinten. Die Planetarier, in deren Mitte sie stand, gerieten in Bewegung, wichen zurück.
Verständlich, denn der Lärm des Triebwerks und das ultraheiße Gas der Düsen ließen einen größeren Abstand sinnvoll erscheinen. Wenn sie nun anstatt zurückzuweichen auf das Schiff zurannte, würde sie auf der Stelle auffallen. Das aber mußte sie unter allen Umständen vermeiden. Nur zu gut hatte sie noch in Erinnerung, daß die Planetarier sie bei ihrem ersten Erscheinen als Vogel gewaltsam aus der Luft geholt hatten, ohne daß sie bisher wußte, wie dies geschehen war. Eine Wiederholung dieses unliebsamen Vorfalls wollte sie jetzt nicht in Kauf nehmen. Diesen Überlegungen folgend, wich sie gemeinsam mit den anderen zurück. Etwas Zeit hatte sie noch. Die Triebwerke des Eagle mußten erst warmlaufen, bevor der eigentliche Start erfolgen konnte. Maya nutzte das Durcheinander, das um sie herum herrschte. Sie konnte mit einiger Zuversicht davon ausgehen, daß niemand speziell auf sie achtete. Kurz entschlossen verwandelte sie sich in einen Stint vom Planeten Hoax. Ein Stint war ein mausgroßes Tier, das unerhört schnell laufen konnte und farbmäßig vom Steinboden kaum unterschieden werden konnte. Die Transformation war in Sekundenschnelle vollzogen. Die aufzuckende Energiespindel würden die Planetarier kaum richtig deuten können. Maya, der Stint, rannte los, flog regelrecht über den Platz – nur daß es gar keinen Vogel gab, der sich so schnell fortbewegen konnte. Es dauerte nur ein paar Herzschläge, bis eins der Teleskopbeine des Eagle unmittelbar vor Maya auftauchte. Stints konnten auch hervorragend klettern. Maya hatte keine Schwierigkeiten, bis zur äußeren Schleusentür zu gelangen.
Der insgeheim befürchtete Schlag aus dem Nichts war ausgeblieben. Es war ihr gelungen, die Planetarier erfolgreich zu täuschen. In ihrer Stintgestalt konnte sie die bereits geschlossene Schleusentür nicht durchdringen. Sie verwandelte sich deshalb wieder in einen Stugar. Und dessen alles zernagenden Zähnen war die Tür nicht gewachsen. Wenig später befand sich Maya in der Schleusenkammer. Und da merkte sie auch schon, daß Eagle Drei mit auf brüllendem Triebwerk in die Höhe schoß.
XV
Lange brauchte John Koenig diesmal nicht in seinem Felsengefängnis zu bleiben. Schon wenige Minuten, nachdem er sich grübelnd auf dem Grünzeuglager niedergelassen hatte, holten ihn die Esper wieder – auf dem Weg, der ihm nun langsam schon vertraut war. Derselbe Planetarier, der auch bei dem Testflug immer das Wort an ihn gerichtet hatte, nahm ihn im Empfang. »Komm mit«, raunzte er den Commander an. Ein zweiter Esper gesellte sich noch dazu. Die beiden führten John Koenig aus dem saalartigen Raum hinaus in eine fast identische Halle. Auch hier hockte eine Männergruppe kreisförmig zusammen und starrte mit brennenden Augen ins Nichts. Es hatte den Anschein, daß die Planetarier für gewisse Psi-Betätigungen eine Art Pool bilden mußten, um die allgemein gültigen Naturgesetze zu überlisten. Dieser zweite Konzentrationsraum war jedoch nicht das Ziel von Koenigs Begleitern. Die Halle wurde nur durchquert. Endstation war schließlich ein benachbarter kleinerer Raum, der den alten Spartanern einrichtungsmäßig große Freude bereitet hätte. Es gab ein paar hölzerne Sitzhocker, sonst nichts. Der Sprecher bedeutete dem Commander, sich auf einem der höchst unbequemen Dinger niederzulassen. John Koenig tat dies, und auch die beiden Esper nahmen Platz. Offenbar war eine Art Verhör geplant, hatte Koenig den Eindruck. Er irrte sich nicht.
Der Sprecher eröffnete die Runde mit einer Feststellung: »Wir haben aus deinen Gedanken gelesen, daß diese Maya verschwunden ist.« Die Worte erfüllten den Commander mit Zufriedenheit. Die Kerle hatten Maya also ganz offenbar nicht aus dem Loch geholt. Folglich mußte sie es geschafft haben, zu fliehen. »Ja«, gab der Sprecher zu, »sie ist geflohen. Erzähle uns etwas über dieses Individuum.« Die Forderung überraschte den Commander ein bißchen. Warum fragten sie ihn? Sie waren Telepathen. Warum hatten sie nicht alles, was sie über Maya wissen wollten, unmittelbar ihrem Bewußtsein entnommen? Er rief sich noch einmal die Eingangsfeststellung des Espers ins Gedächtnis zurück. »Wir haben aus deinen Gedanken gelesen, daß diese Maya verschwunden ist!« Anscheinend waren sie von Mayas Abwesenheit erst durch seine Feststellung dieses Sachverhalts aufmerksam geworden. Wieso? John Koenig war ein Mensch, der es verstand, logisch zu denken. Es kam eigentlich nur eine einzige Schlußfolgerung in Frage: die Esper waren nicht in der Lage, Mayas Gedanken zu lesen! »Beschäftige dich nicht mit Dingen, die dich nichts angehen!« schnauzte ihn der Sprecher an. Der offene Ärger, der aus der Stimme des Kerls sprach, war sozusagen die amtliche Bestätigung für John Koenigs Hypothese. Sie konnten wirklich nicht in Mayas Bewußtsein hineinhorchen! Ein neuer Gedankengang ließ ihn jedoch wieder zweifeln. Als sich Maya zum ersten Mal mit dem Gedanken trug, sich in ein Mikrowesen zu verwandeln, um sich in dieser Gestalt durch des Fels hindurcharbeiten zu können, hatten sie sie mit
einem Psychoschock außer Gefecht gesetzt. Demnach mußten sie Mayas Absicht doch erkannt haben. Der Commander dachte kurz über den Widerspruch nach und fand dann auch eine Lösung. Maya hatte ihm, John Koenig, gesagt, was sie vorhatte. Durchaus möglich, daß die Esper also nur durch ihn hinter Mayas Plan gekommen waren. Und dasselbe konnte auch auf ihren gescheiterten Ausbruchsversuch aus der Luftschleuse des Eagle zutreffen. Ja, so mußte es sein. Es blieb also dabei: die Esper konnten Mayas Bewußtsein nicht anzapfen! »Berichte uns mehr über die Verwandlungsfähigkeiten dieser Maya«, verlangte der Sprecher. Den Teufel werde ich! dachte der Commander. Und da er nicht wollte, daß er unbeabsichtigt Informationen preisgab, dachte er an etwas ganz anderes. Er ließ seine Gedanken zu einem Baseballspiel aus dem Jahre 1992 zurückwandern, erinnerte sich daran, wie der Schlagmann Lee Donahue den Ball zu einem Home Run auf die Reise geschickt hatte… Plötzlich war ihm so, als habe Lee Donahue mit seinem Meisterschlag nicht den Ball, sondern seinen Schädel getroffen. Ein Psychoschock von bösartiger Intensität drang auf ihn ein, schleuderte ihn rückwärts von dem Hocker hinunter, so daß er auf den Steinboden stürzte. »Das soll dich lehren, John Koenig!« zischte der Sprecher. »Steh’ auf, und setz dich wieder hin.« Mühsam rappelte sich der Commander auf und nahm wieder auf dem Hocker Platz. »Schweine!« dachte er. »Widerwärtige Sadisten!« Für Beleidigungen waren die Esper wohl nicht empfänglich. Der insgeheim erwartete nächste Psychoschock blieb aus.
»Also, John Koenig, wie ist das nun mit den Verwandlungskünsten dieser Maya?« Schokoladenpudding, dachte der Commander, einen herrlichen Schokoladenpudding mit Vanillesauce und… Jetzt kam der Schock. Er war noch brutaler als der erste. Schwer ging John Koenig zu Boden. Und der gräßlich in seinem Kopf wühlende Schmerz hielt an. »Nun, John Koenig?« ›I am dreaming of a white Christmas…‹ Die nächste Psychoattacke erlöste den Commander von seinen Qualen und ließ ihn in eine gnädige Ohnmacht sinken. Daß die Esper ihn wieder in seine Felsenzelle zurückbeförderten, konnte er nicht mehr zur Notiz nehmen.
XVI
Den überwiegenden Teil der Flugzeit zum Planeten Paradise – oder Hell – legten Jameson und Helena Russell schweigend zurück. Anfänglich hatten sie noch versucht, sich wie vernünftige und zivilisierte Menschen zu benehmen. Aber es stellte sich bald heraus, daß auch Unterhaltungen über belanglose Dinge kaum möglich waren. Die grundlegenden Differenzen, die die beiden führenden Alphaner voneinander trennten, ließen sich einfach nicht überbrücken. Der Waffenchef blieb unbeirrbar bei seiner Meinung, daß der Zielplanet eine Traumwelt war, deren Makellosigkeit Commander John Koenig ausdrücklich noch einmal bestätigt hatte. Immer wieder verwies er hartnäckig – borniert, wie die Doktorin es nannte – auf die Monitoren und Anzeigen der Sensoren, die ihn in seiner Ansicht bestätigten. Helena Russell nahm den genau entgegengesetzten Standpunkt ein. Für sie war Hell das, was sein Name besagte – eine Höllenwelt. Eine so höllische Welt, daß ihr inzwischen sogar schon ernste Bedenken gekommen waren, ob es überhaupt Sinn hatte, diese Rettungsmission durchzuführen. John Koenig hatte sich nicht mehr gemeldet und reagierte auch nicht auf abgesandte Funksprüche. Und von Maya fehlte überhaupt jede Spur. Immer mehr kam sie zu der Überzeugung, daß John und der Psychonierin gar nicht mehr zu helfen war. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie längst Opfer der feindlichen Intelligenzwesen geworden waren, von denen John berichtet hatte, sah sie als sehr groß an.
Es war hauptsächlich Jamesons Drohung, sie brutal aus dem Schiff zu schmeißen, wenn sie weiterhin versuchte, den Weiterflug zu sabotieren, die Helena veranlaßte, sich in ihr Schicksal zu fügen. Im Geiste sah sie sich ebenfalls bereits als Opfer der aggressiven Fremdwesen, deren Kompromißlosigkeit der Computer ja bereits simuliert hatte. Und der Planet kam näher und näher.
Auf einmal saß Helena stocksteif im Pilotensessel. Wie gebannt hingen ihre Augen an den Monitoren und Kontrolltafeln des Eagle-Cockpits. »Jameson!« »Was wollen Sie?« »Sehen Sie doch, Jameson! Die Anzeigen… Sie… sie haben sich auf einmal alle geändert!« Der Waffenchef brauchte nur einen flüchtigen Blick auf das Instrumentenarrangement zu werfen, um zu wissen, daß die Doktorin jetzt wieder ein paar von ihren verrückten Minuten bekam. Er antwortete gar nicht, sondern grinste nur zynisch. Damit gab sich die Ärztin aber nicht zufrieden. »Jameson, Sie müssen das doch auch bemerken! Alles ist anders geworden. Da sind auf einmal zwei neue Planeten im System aufgetaucht und… Ja, ich gebe es zu, Hell scheint tatsächlich eine ganz andere Welt zu sein, als ich bisher geglaubt habe. Nicht so teuflisch, wie ich dachte, aber… eben ganz anders!« Fast mitleidig sah sie der Waffenchef an. »Sie sind in meinen Augen ein armer Mensch, Doktor Russell… Wissen Sie was? Sie gehören nicht als Ärztin vor das Krankenbett, sondern als Patientin in das Krankenbett. Sie sind nämlich total bescheuert!« Diesen letzten Satz sagte er laut, beinahe brüllend, und mit allem Nachdruck.
Verzweifelt schüttelte Helena den Kopf. »Jameson, seien Sie doch einsichtig. Es gehen Dinge vor, die… die… Herrgott, ich begreife dies ja alles selbst nicht. Ich weiß nur eins: irgend jemand, irgend etwas hat uns alle getäuscht! Mir ist es wie Schuppen von den Augen gefallen. Sie hingegen…« »… sind borniert wie ein dämlicher Ochse«, ergänzte Jameson den angefangenen Satz. »Ich weiß auch nur eins, Doktor Russell! Nämlich daß mir Ihr Geschwätz immer mehr auf den Geist geht. Tun Sie mir den Gefallen und halten Sie endlich Ihren Mund.« Helena schlug mit der Faust auf die Seitenlehne des Copilotensitzes. »Herrgott, Jameson…« »Ah!« schrie der Waffenchef. »Darauf habe ich schon lange gewartet. Sie bedrohen mich, Sie wollen mich gewaltsam daran hindern, Paradise anzusteuern. Aber das wird Ihnen nicht gelingen. Ich habe mich vorbereitet.« Blitzschnell beugte er sich vor und hatte auf einmal eine Druckspritze in der Hand. Ehe es sich Helena Russell versah, hatte er die Spritze angesetzt und ihr den Inhalt in den Arm gejagt. Entsetzt blickte ihn die Ärztin an. Sie hob die Hand, wie um verspätete Gegenwehr zu leisten, sank dann aber plötzlich schlaff in ihren Sessel zurück. »Keine Angst, Doktor Russell«, sagte Jameson. »Ich habe Ihnen da kein tödliches Gift verabreicht. Nur ein Beruhigungsmittel, das Sie ein bißchen beruhigen wird.« Er lachte erheitert auf. »Wissen Sie, daß Sie mir das Zeug selbst mal verordnet haben?« Die Doktorin hörte ihm gar nicht zu. Völlig apathisch hing sie in den Gurten ihres Sessels.
Na ja, sagte der Waffenchef zu sich selbst, war vielleicht ein bißchen üppig, die Dosis. Aber er tröstete sich damit, daß seine Maßnahme sicherlich ihren Zweck erfüllen würde. Während des restlichen Fluges konnte ihm die Doktorin nicht mehr mit ihrem penetranten und grotesken Gerede in die Quere kommen. Befriedigt wandte er sich wieder seinen Kontrollen zu.
Eagle Fünf glitt wie ein riesiger Adler durch die Wolkenschichten des Planeten, den die einen Paradise, die anderen Hell nannten. Fast glücklich saß Jameson in seinem Pilotensessel. Er bedauerte in diesem Augenblick, daß die alphanischen Raumer keine Fenster hatten, die man öffnen konnte. So sehr verlangte es ihn danach, die klare Atemluft der Traumwelt endlich in seine Lungen ziehen zu können. Doktor Russell, die inzwischen die Nachwirkungen der Druckspritze halbwegs überwunden hatte, teilte seine Begeisterung ganz und gar nicht. Mit unglücklichem Gesichtsausdruck blickte sie auf den Bildschirm, über den die weißlichen Wolken dahinflatterten. Bedingt durch die Spritze hatte sie sich zuletzt ganz zurückgehalten. Jetzt jedoch merkte ihr der Waffenchef an, daß sie wohl gleich wieder mit ihren Phantastereien loslegen würde. Und als der Eagle schließlich die letzte Wolkenschicht durchstoßen hatte, fing sie auch schon an. »Da haben wir es, Jameson! Jetzt können Sie es mit Ihren eigenen Augen sehen!« »Ja«, erwiderte der Waffenchef, »ich kann es mit meinen eigenen Augen sehen. Es ist wahrhaftig ein Traum. Dieses Grün, dieses Blau… Ah, daß ich das erleben kann!«
An sich war Jameson alles andere als ein Mensch, der leicht ins Schwärmen geriet. Sein Job brachte es mit sich, daß er seine Umgebung stets mit überaus nüchternen Augen sah. Der Anblick der lieblichen Planetenoberfläche ließ ihn jedoch beinahe vergessen, daß er ein Mann der Tat, ein Verfechter des harten Realismus und kein Träumer war. »Sehen Sie doch, Doktor Russell«, sagte er mit uncharakteristisch weicher Stimme. »Diese Hügel, diese Wälder, diese Seen…« »… diese Städte, diese Menschen«, fuhr die Ärztin fort. »Jameson, Sie müssen wahnsinnig sein, daß Sie dies alles ignorieren. Dieser Planet ist bewohnt, und er hat etwas Traumhaftes, noch etwas Fürchterliches an sich. Die Landschaft ist karg, die Berge sind etwas schroff, und auch die Wasser sehen nicht sehr einladend aus. Dies ist nicht der Planet Hell, wie ihn uns Sensoren und Computer angekündigt haben. Aber es ist ganz sicherlich auch nicht Paradise.« Helena war sich bewußt, daß ihr Gleichmut, ihr nur geringes Engagement, allein auf das Beruhigungsmittel zurückzuführen war, das noch durch ihr System spukte. Anderenfalls wäre sie wahrscheinlich in echte Panik geraten. Sie wußte, daß auf dieser Welt trotz ihrer scheinbaren Alltäglichkeit das Unheimliche lauerte. Jameson lieferte den Beweis. Dieses unbekannte Unheimliche mußte ihn verzaubert haben, mußte ihn blenden, mußte ihn unempfänglich für die Wirklichkeit machen. Und so wie ihm war es wohl allen Alphanern gegangen. Sie alle hatten Dinge gesehen, die gar nicht existierten. Und die Ursprungsquelle all dieser Täuschungen mußte auf diesem Planeten hier verborgen sein. Jameson, blind wie er war, ahnte nichts davon. Und sie hatte nicht die Kraft, nicht die Energie, sich aufzulehnen. Der Waffenchef traf jetzt die Landevorbereitungen. Im Gleitflug flog Eagle Fünf über eine Ebene hinweg. In der
Ferne war eine größere Ansiedlung sichtbar. Und wie es aussah, flog Jameson genau darauf zu. Wenig später landete er, ganz in der Nähe der Stadt, unweit eines Bauwerks, das alle anderen überragte. Während der Waffenchef voller Enthusiasmus den Eagle gar nicht schnell genug verlassen konnte, blieb sie ganz ruhig in ihrem Sessel sitzen. Sie wußte genau, daß die Fremden kommen würden, um sie zu holen. Und sie irrte sich nicht. Eine Weile später hatte sie dann Gelegenheit, Wiedersehen mit John Koenig zu feiern.
XVII
Maya hatte sich auch durch die innere Schleusentür gekämpft. Jetzt befand sie sich, immer noch in der Gestalt eines Stugars, im eigentlichen Inneren des Raumschiffs. Sorgen, daß nun ein Leck in der Wandung entstanden war, brauchte sie sich nicht zu machen. Indem der Stugar das von ihm Zernagte sofort wieder ausschied – abzüglich einiger Atome, die sich in Energie umgesetzt hatten – war es zu keinem Zeitpunkt zu einem Loch gekommen. Beinahe hätte Maya einen schwerwiegenden Fehler gemacht. Als sie sich sicher im Inneren wußte, wollte sie sofort die Stugarform aufgeben und ihre normale Gestalt annehmen. Im letzten Augenblick wurde ihr jedoch noch klar, daß John Koenig nicht allein an Bord war. Sie hörte ein Geräusch – aus dem Passagierabteil! Da John aber in der Startphase den Eagle kaum in die Obhut des Autopiloten gegeben hatte und sich mit Sicherheit im Cockpit aufhielt, mußte ein Unbekannter für das Geräusch verantwortlich sein. Diesen Überlegungen folgend, behielt sie die Stugargestalt noch bei und fraß sich in das Passagierabteil durch. Trotz seiner Winzigkeit besaß ein Stugar scharfe Augen, die auf Grund ihrer Facettenform auch keinerlei Sichtbeschränkungen unterlagen. Somit konnte Maya die beiden Planetarier, die sich im Passagierabteil aufhielten, sofort sehen. Sie hatten sich, wie es vorschriftsmäßig Reisenden geziemt, in zwei Sesseln angeschnallt und saßen so lässig da, als seien sie die natürlichen Herren des Schiffes. Das machte Maya stutzig. Und überaus vorsichtig.
Immer noch als Stugar durchquerte sie das Passagierabteil. Sie fiel den beiden Planetariern dabei nicht auf, denn sie verhielt sich absolut lautlos, und für das übrige sorgte ihre minimale Körpergröße. Ohne die geringsten Schwierigkeiten gelangte sie ins Cockpit. Und dort erwartete sie eine nicht gelinde Überraschung. John Koenig war gar nicht da! Ein Planetarier saß auf dem Pilotensitz. Und auch der Platz des Copiloten wurde von einem Fremden eingenommen. Mit großem Erstaunen nahm Maya zur Kenntnis, daß der Pilot Kontrollen und Armaturen durchaus fachmännisch handhabte. Ein bißchen langsam vielleicht, jeden Handgriff vorher abwägend, aber ohne jeden Zweifel doch mit ausreichender Kompetenz. Maya begriff es nicht. Ein Angehöriger eines Volkes von Bauern und Handwerkern flog ein hochkompliziertes alphanisches Raumschiff, als habe er eine langwierige Pilotenausbildung hinter sich gebracht. Da dies aber wohl kaum möglich war, gab es nur die Möglichkeit, daß der Pilot ein einzigartiges Naturtalent war. Und da hatte sie gedacht, den Planetariern würde das Verständnis für moderne Technik fehlen! Wie dem auch war – es stand fest, daß sie falsch spekuliert hatte, daß sie eine irrige Vermutung angestellt hatte. John Koenig war nicht an Bord, befand sich damit höchstwahrscheinlich nach wie vor in dem Felsenloch des Monumentalgebäudes. Mayas Gedanken jagten sich. Was sollte sie jetzt tun? Die Planetarier nacheinander aufs Korn nehmen und ausschalten? Große Mühe, eine solche Aktion reibungslos über die Bühne zu bringen, würde sie nicht haben. Die Planetarier waren völlig ahnungslos, wußten nichts von ihrer Anwesenheit. Und es gab
so viele tödliche Lebewesen, in die sie sich verwandeln konnte, daß den Fremden nur wenig Chancen bleiben würden. Dennoch zögerte sie, den Gedanken in die Tat umzusetzen. Auf einem der Kontrollmonitoren hatte sie erkannt, daß das Ziel des Flugs einer der beiden Planeten zu sein schien, deren Existenz allen Alphanern so lange verborgen geblieben war. Nach kurzem Überlegen entschloß sich Maya, mit ihrem Angriff auf die Invasoren des Eagle noch zu warten. Es interessierte sie brennend, wie es auf dem Zielplaneten aussah und was die Planetarier dort wollten. Der Grund für ihre Taktik lag auf der Hand. Die Sinne der Alphaner waren auf geheimnisvolle Art und Weise verwirrt worden. Und Maya hatte so eine Ahnung, daß der Planet, zu dem sie jetzt unterwegs war, in diesem Verwirrspiel eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hatte. Warten wir also ab, sagte sie zu sich selbst. Während des Flugs war Maya nicht imstande, die ganze Zeit über als Stugar zu existieren. Dazu lag allerdings auch keine Veranlassung vor. Sie konnte es sich leisten, den überwiegenden Teil der Flugzeit als Psychonierin Maya zu verbringen. Dies tat sie, indem sie sich im Lagerabteil des Eagle aufhielt, wo sich keiner der Planetarier blicken ließ. Maya konnte es sich sogar gemütlich machen und in einer Mondwanze versteckt stundenlang schlafen. Der Schlaf tat ihr gut, denn sie regenerierte verbrauchte Kräfte und schuf Reserven für zukünftige Anstrengungen. Zwischendurch machte sie immer wieder Abstecher ins Cockpit, um auf dem laufenden zu bleiben. Jedesmal kam sie zu der Gewißheit, daß auch der Zielplanet eine Welt war, auf der es intelligente Lebewesen gab. Der Monitor, der bioplasmische Auren registrierte, sprach eine eindeutige Sprache.
Auch darüber hinaus lernte sie einiges über diesen Planeten. Er war beträchtlich kleiner als Hell, hatte ansonsten aber Lebensverhältnisse zu bieten, die überaus vorteilhaft mit denen Heils konkurrieren konnten. Die Schwerkraft lag knapp unter 1 g, der Sauerstoffanteil der Atmosphäre war nicht so hoch, die Luftfeuchtigkeit hingegen niedriger. Auch die mittleren Temperaturen gestalteten sich weitaus günstiger. Wenn ein Stugar in der Lage gewesen wäre, zu lächeln, dann hätte Maya es getan. Die alphanischen Männer hatten einen Planeten Paradise genannt, der in Wirklichkeit nur recht bescheidenen Lebenskomfort garantierte. Wenn sie gewußt hätten, daß ein anderer Planet in diesem System den Namen des Garten Eden viel eher verdiente, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Und dann war es so weit. Eagle Drei hatte den fremden Planeten erreicht, ging in einen Orbit und setzte schließlich zur Landung an.
Diesmal hatten die Sensoren und Monitoren Maya keine Irrbilder vorgegaukelt. Paradise II erwies sich in der Tat als Planet, der alphanische Träume erfüllen konnte – wenn er nicht bewohnt gewesen wäre und damit als Kolonisationsobjekt nicht in Betracht gezogen werden durfte. Die Planetarier hatten den Eagle vor einem kleinen Talkessel zwischen zwei sanft ansteigenden Hügeln niedergehen lassen. Maya konnte sich denken, warum sie ausgerechnet diesen Landeplatz gewählt hatten. Auf dem Bildschirm war zu sehen gewesen, daß in dem kleinen Talkessel eine Ansiedlung lag. Und dieser Ansiedlung wollten die Planetarier von Hell offensichtlich einen Besuch abstatten. Die vier verließen das Raumschiff. Maya, in ihrer Stugargestalt, schloß sich ihnen an.
Ungute Befürchtungen stiegen in ihr auf, als sie erkannte, daß sich die Männer bewaffnet hatten. Jeder von ihnen führte einen Phaser und einen Stunner mit sich, die aus dem Lager von Eagle Drei stammten. Es sah so aus, als ob die vier den Bewohnern der nahen Ansiedlung nicht eben freundschaftlich gesinnt waren. Vielleicht aber wollten sie auch nur Vorsicht walten lassen. Maya erfaßte schnell, daß Paradise II über eine vielfältige Fauna verfügte. Darunter befand sich auch eine handgroße, haarige Spezies, die Ähnlichkeit mit den Stints hatte. Maya begrüßte das. So vorteilhaft die Stugargestalt für gewisse Zwecke war, zur schnellen Fortbewegung im Gelände eignete sie sich kaum. Die ›Hairies‹ jedoch waren dafür geschaffen und paßten zudem auf natürliche Weise in die Landschaft. Die Psychonierin zögerte deshalb nicht lange, Hairygestalt anzunehmen. Die Planetarier von Hell marschierten inzwischen auf den Talkessel zu. Daß sie immer noch nicht miteinander sprachen, wunderte Maya jetzt nicht mehr. Auch an Bord des Eagle waren sie so stumm gewesen wie tote Fische. Maya war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, daß sie über Kommunikationsmittel verfügten, die ihr bisher entgangen waren. Der Einschnitt zwischen den beiden einander gegenüberliegenden Hügeln wurde jetzt erreicht. Schon waren die ersten Häuser im Talkessel zu erkennen. Erstaunt nahm Maya zur Kenntnis, daß die Häuser, was die Bauweise anging, weitgehende Ähnlichkeit mit den Gebäuden hatten, die sie von Hell her kannte. Diese Ähnlichkeit konnte kein Zufall sein. Waren die beiden Planeten einst von derselben Rasse besiedelt worden? Oder standen die beiden Planeten auf irgendeine Weise kommunikationstechnisch miteinander in Verbindung?
Ja, so mußte es sein. Die vier Männer von Hell waren bisher sehr zielstrebig vorgegangen und taten dies auch noch. Ohne gewisse Kenntnisse von Paradise II wären sie dazu kaum in der Lage gewesen. Maya hatte schon an Telepathie gedacht, war aber von dieser Überlegung wieder abgekommen. Telepathen wäre ihre Anwesenheit an Bord wohl nicht entgangen. Und dennoch… Die Ansiedlung lag jetzt vor den Planetariern und dem Hairy Maya, der ihnen in geringem Abstand auf dem Fuß folgte. Keine Frage jetzt mehr, daß es eine kulturelle Verbindung zwischen Paradise II und Hell gab. Die Art, wie dieses Dorf angelegt war, die Bauweise, die spezifischen Eigenarten – all dies deutete darauf hin. Die nahe Verwandtschaft mit der Stadt auf Hell, die Maya durchwandert hatte, wäre selbst einem vollkommenen Ignoranten aufgefallen. Nur daß hier alles etwas freundlicher, harmonischer, graziöser wirkte. Maya war gespannt, ob sich auch die Menschen von Hell und Paradise II so ähnlich waren wie ihre Ansiedlungen. Vorerst jedoch kam sie nicht dazu, Vergleiche anzustellen. Keiner der Einheimischen ließ sich blicken. Das Dorf lag da wie ausgestorben. Und doch deutete vieles darauf hin, daß sich hier noch vor ganz kurzer Zeit Menschen geregt haben mußten. Ob sich die Dorfbewohner versteckten? überlegte Maya. Hatten sie Angst vor den Männern, die auf einem Feuerstuhl aus dem Himmel gekommen waren? Bald wußte Maya, daß sie mit dieser Vermutung genau ins Schwarze getroffen hatte.
Die vier Männer von Hell hielten jeder eine Waffe in der Hand, als sie auf das vielleicht größte Gebäude des Dorfes losmarschierten.
Maya mußte jetzt vorsichtig sein. Hier im Dorf liefen die Hairies nicht frei herum. Wenn sie zu nahe an die Planetarier herankam, mochten diese auf sie aufmerksam werden. Und ein Phaserstrahl auf einen lästigen Nager war schnell abgegeben. Die Psychonierin drückte sich schnell eng gegen die – Wand des Nachbarhauses, als die vier auf die Eingangstür des größeren Gebäudes zutraten. Die Tür bestand aus wuchtig aussehendem Holz und war offenbar fest zugesperrt. Die herkömmlichen Versuche, ins Haus hineinzukommen, scheiterten. Und auch als sie die Tür mit harten Fußtritten bearbeiteten, gab diese nicht nach. Mayas Verdacht schien sich zu bestätigen. Die Einheimischen hatten sich anscheinend verbarrikadiert. Nicht, daß es die vier störte. Einer von ihnen hob den Phaser und drückte auf den Auslöser. Er hatte die Waffe wohl auf molekulare Desintegration geschaltet, denn die Tür löste sich förmlich in ihre Bestandteile auf. Schon drangen die Planetarier in das Gebäude ein. Es hielt Maya jetzt nicht mehr auf ihrem Warteposten. So schnell sie die flinken Hairybeine tragen konnten, huschte sie auf die desintegrierte Tür zu und schlüpfte ins Haus. Die Planetarier waren unterdessen weiter vorgedrungen, hatten sich gewaltsam den Weg durch eine zweite klobige Tür gebahnt. Maya vollzog den Anschluß. Die Männer achteten nicht auf sie, denn sie hatten jetzt anderes im Sinn. Es ging einen schmalen Korridor entlang, von dem diverse Seitentüren abzweigten. Schon die erste sprengten die vier mit der Brachialgewalt des alphanischen Phasers. Einer von ihnen steckte den Kopf in den dahinterliegenden Raum, zog ihn aber gleich wieder zurück. Er sagte nichts. Trotzdem schienen die anderen ihn verstanden zu haben. Wie auf Kommando gingen sie weiter – zur nächsten
Tür. Das gewalttätige Spiel wiederholte sich. Einmal noch und ein zweites Mal noch. Dann fanden die vier, was sie suchten. Der Phaserstrahl zerfetzte die nächste Tür, und diesmal gingen die Planetarier nicht weiter, sondern stürmten in den Raum hinein. Sofort drangen Angstschreie an Mayas Hairyohren, verzweifelt, panikerfüllt, voller Entsetzen. Hartes, grausam klingendes Männerlachen wurde hörbar, dazu das Poltern umstürzender Gegenstände und das Zischen der Handfeuerwaffen. Maya rannte, huschte ebenfalls in den Raum, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß sie sich möglicherweise in akute Lebensgefahr brachte. Ein schreckliches Bild bot sich ihren kleinen Knopfaugen. Der Raum, ziemlich groß, war voller Menschen – ausnahmslos Frauen, abgesehen natürlich von den vier Eindringlingen. Schreiend duckten sich die meisten von ihnen hinter hölzerne Platten oder preßten sich gegen die Wände, so, als wollten sie in sie hineinkriechen. Es half ihnen nichts. Mitleidlos richteten drei der Planetarier immer wieder ihre Stunner auf die einzelnen Frauen und brachten sie mit Lähmschocks zu Boden. Aber nicht alle Frauen ließen diese brutale Behandlung tatenlos über sich ergehen. Einige versuchten sich zu verteidigen, warfen sich mit Holzknüppeln und ähnlichen Gegenständen den Angreifern entgegen. Ihr Mut zahlte sich nicht aus. Der vierte Kerl, der mit dem Phaser, erwies sich als wahrer Satan. Gnadenlos legte er mit dem Phaser auf die Verteidigerinnen an und tötete sie. Lodernder Zorn brach in Maya auf. Diese Verbrecher! Diese Mörder! Diese Unholde!
Ohne lange zu überlegen, verwandelte sie sich in einen Chulgar, ein skorpionartiges Lebewesen des Nyrthe-Systems. Ein Chulgar war schnell und… tödlich. Maya schnellte auf den gnadenlosen Killer mit dem Phaser zu, sprang gegen sein Bein und jagte ihm einen ihrer acht Giftstachel ins Fleisch. Das Gift wirkte so schnell, daß der Mörder nicht einmal mehr dazu kam, sich des Verhängnisses bewußt zu werden, das ihn getroffen hatte. Leblos brach er zusammen. Da war Maya schon bei dem nächsten Planetarier und drückte ihren zweiten Stachel ab. Auch dieser Mann versank in ewigem Vergessen. Maya ließ ihre Chulgargestalt weiterspringen, brachte den dritten Mann und kurz darauf auch den vierten zur Strecke. Sie verspürte dabei keinerlei Gewissensbisse. Diese Unmenschen hatten nach dem ungeschriebenen Gesetz des Universums den Tod verdient. Sie überlegte noch, wie sie sich nun den überlebenden Frauen präsentieren sollte, als sich diese Frage von selbst beantwortete. »Wir danken dir, Maya«, hörte sie eine der Einheimischen sagen.
XVIII
Gondolo – so hatte sich die fremde Frau Maya vorgestellt. Sie war nicht mehr jung, diese Frau, aber mit ihrer feingliedrigen Gestalt und dem faltenlosen, weißen Gesicht, in dem die goldenen Augen leuchteten wie Sterne, wirkte sie auch nicht alt. Maya saß ihr in einem spärlich möblierten kleinen Raum auf einem Schemel gegenüber und lauschte ihren Erklärungen, die in der Tat erstaunlich waren. Die Bewohner von Hell und Paradise II gehörten einem Volk, einer Rasse an, und es handelte sich ausnahmslos um Menschen, die über beachtliche Psi-Kräfte verfügten. Aber nicht diese seltenen Fähigkeiten waren es, die sie grundsätzlich von den anderen Rassen der Milchstraße unterschieden. Dieses Unterscheidungsmerkmal war etwas ganz anderes: Frauen und Männer lebten getrennt, die einen auf Hell, die anderen auf Paradise II. Nur zu Fortpflanzungszwecken begegneten sich Männer und Frauen zu genau festgelegten Zeiten – an neutraler Stätte, dem dritten Planeten des Lebensgürtels, den die Auserwählten mit Hilfe einer Psi-Brücke erreichen konnten. Maya konnte es kaum glauben. »Aber das ist unnatürlich«, sagte sie fast leidenschaftlich. »Eine Begegnung zwischen Mann und Frau nur zu Zwecken der Fortpflanzung. Eine Begegnung ohne Liebe…« »Liebe?« hakte Gondolo ein. »Unter uns kann es keine Liebe geben. Eine Eigenart unseres telepathischen Talents ist, daß Frauen nur die Gedanken von Frauen und Männer nur die Gedanken von Männern lesen können. Ein Zusammenleben der Geschlechter ist unmöglich, weil es auf Grund dieses
Umstands zu automatischen Frontstellungen kommt. Stell dir das so vor, Maya: Du bist mit Frauen zusammen, deren Gedanken, deren geheimste Wünsche du kennst und denen deine Gedanken ebenfalls eine offene Schreibtafel sind. Nun kommt ein Mann dazu. Du weißt nicht was er denkt, was er will, was er beabsichtigt, kannst dich nur darauf beschränken, zu glauben, was er dir sagt, ohne es nachprüfen zu können. Schon entsteht das Mißtrauen, das in dir bohrt wie ein Stachel. Belügt er dich, betrügt er dich, macht er dir etwas vor?« Maya schüttelte den Kopf. »Wir Alphaner sind keine Telepathen. Auch wir können nicht nachprüfen…« »Das ist etwas anderes, Maya. Ihr wißt nicht, wie es ist, wenn man keine Geheimnisse voreinander hat, wenn man jemandem bis auf den Grund der Seele blicken kann. Unsere Frauen und unsere Männer, jeweils untereinander, aber wissen es. Und deshalb… Glaube mir, Maya, es ist unmöglich. Unsere Vorfahren haben dies schon vor Äonen erkannt und deshalb die Trennung der Geschlechter herbeigeführt. Es war die einzig mögliche Entscheidung.« Maya dachte an den Krieg der Geschlechter in der Mondbasis, und auf einmal begriff sie. Ja, Mißtrauen konnte tödlich sein. »Eins verstehe ich trotzdem nicht«, sagte sie. »Welchen Sinn hatte dieser mörderische Überfall der vier Männer auf euer Dorf?« »Sie wollten einige von uns rauben und zu ihrer Welt verschleppen.« »Warum dies?« wunderte sich Maya. »Ich denke, auch eure Männer haben erkannt, daß ein Zusammenleben unmöglich ist.« »Ein Zusammenleben auf der Basis der Gleichberechtigung, der gegenseitigen Achtung, ist unmöglich, ja. Nicht jedoch ein Zusammenleben anderer Art. Ein Zusammenleben von Herr
und Sklavin halten unsere Männer, genauer gesagt, ein Teil unserer Männer, sehr wohl für erstrebenswert. Grundsätzlich jedoch haben sie keine Chance, Sklavinnen in ihre Gewalt zu bringen. Ihre Welt und unsere Welt liegen räumlich zu weit auseinander, um über eine Teleportationsbrücke erreicht werden zu können. Und auf dem Paarungsplaneten sorgt das Gleichgewicht der Psi-Kräfte dafür, daß es nicht zu Gewaltakten kommen kann. Als dann aber euer Mond in unserem Sonnensystem auftauchte, war plötzlich alles anders.« »Inwiefern?« fragte Maya wißbegierig. Gondolos Blick umflorte sich. »Weißt du, Maya. Unsere telepathischen Fähigkeiten sind sehr ausgeprägt. Wenn keine Störungen auftreten, beispielsweise durch das Strahlenfeld der Sonne, können wir fremde Gedanken aus sehr weiter Entfernung aufnehmen und beeinflussen.« Aha, dachte Maya, beeinflussen! Schon konnte sie gewisse Zusammenhänge erfassen. Gondolo bestätigte ihr gleich, daß ihre Gedanken in die richtige Richtung gegangen waren. »Unsere Männer wurden auf euch aufmerksam«, sprach sie weiter, »und erkannten ihre Chance sofort. Eure Raumschiffe hatten es ihnen angetan. Wenn es ihnen gelingen konnte, diese in ihren Besitz zu bringen, war unsere Welt für sie nicht mehr unerreichbar. Sie mußten euch nur dazu bringen, ihre Welt mit euren Eagles anzufliegen. Und da sie aus euren Gedanken lasen, wie sehnlichst ihr euch einen Planeten wünscht, auf dem ihr euch niederlassen könnt…« »… haben sie unseren Männern vorgegaukelt, daß das Paradies auf sie wartet!« ergänzte Maya. »Ja, so ist es.« Gondolo fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ich muß euch um Vergebung bitten, Maya, aber wir Frauen wußten uns keine andere Art, als uns gegen unsere Männer zu schützen. Und da wir auf die Alphaner keinen Einfluß nehmen
konnten, mußten wir uns an euch Alphanerinnen halten. Wir beeinflußten euch dahingehend, daß ihr euch mit allen Mitteln gegen Flüge zum Planeten unserer Männer wehrtet. Vergeblich, wie sich herausgestellt hat.« Maya nickte. »Unser Waffenchef und unser Commander konnten sich durchsetzen und mich ausschalten. Sag mir Gondolo, wie kam es, daß ich auf einmal von eurem Einfluß frei war und die Dinge so sah, wie sie wirklich sind? Und wieso konnten weder Alphaner noch Alphanerinnen euren Planeten und den… äh… Paarungsplaneten wahrnehmen?« Bereitwillig gab Gondolo Auskunft: »Du wurdest von unserem Einfluß frei, weil der Psi-Kontakt gestört war, als das Strahlungsfeld der Sonne zwischen unsere Welt und euren Raumer geriet, und warum ihr alle, Alphaner und Alphanerinnen, unsere Welt und den Paarungsplaneten nicht sehen konntet? Nun, weder wir noch unsere Männer hatten ein Interesse daran, daß ihr darauf landet.« Langsam sah Maya klar. Sie verstand die Maßnahmen der Frauen von Paradise II sogar, obgleich der Basis dadurch viel Kummer entstanden war… und sich John Koenig nach wie vor in einer verzweifelten Situation befand. »Nicht nur er«, sagte Gondolo, die ihre Gedanken gelesen hatte, leise. »Was sagst du da?« fragte Maya überrascht. Sie erfuhr, daß inzwischen ein zweiter Eagle zum Planeten Hell aufgebrochen war und daß sich dessen Besatzung, Helena und Jameson, inzwischen in der Gewalt der Planetarier befand. Gondolo gab zu, daß sie und ihre Frauen wohl einen Fehler gemacht hatten, als sie John Koenigs Funkspruch fast unmanipuliert in das Bewußtsein der Alphanerinnen gelangen ließen. »Wir gingen davon aus, daß die Warnung des Commanders abschreckend genug war, um eure Frauen von der Welt unserer
Männer fernzuhalten«, sagte Gondolo. »Wir konnten nicht ahnen, daß Helena Russell trotzdem starten würde, um dem Commander zu helfen.« Maya lächelte. »Siehst du, Gondolo, das ist die Liebe, die ihr nicht kennt. Selbst eure massiven Beeinflussungen waren nicht imstande, sie ganz erkalten zu lassen.« Dan überlegte sie, wie sie es anstellen konnte, das verliebte Paar und den Ledernacken Jameson aus ihrer bedrohlichen Lage zu befreien. Gondolo versuchte ihr beim Überlegen zu helfen.
XIX
Gondolo, die sich vorgenommen hatte, einiges an Alphanern und Alphanerinnen wiedergutzumachen, begleitete Maya auf ihrem Rückflug zu Hell. Die Psychonierin lenkte Eagle Drei in eine Kreisbahn um den Planeten. Irgendwelche Gefahren waren damit nicht verbunden. Eine telepathische Beeinflussung konnten die Planetarier weder bei ihr noch bei Gondolo vornehmen, da sie Frauen waren. Psychoschocks waren zu schwach, um den Eagle beeinträchtigen zu können. Außerdem war Gondolo in der Lage, diese mit ihren eigenen Psi-Fähigkeiten zu kontern und damit unschädlich zu machen. Und auch eine Invasion des Eagle durch Teleportation war aus den gleichen Gründen nicht möglich. Dank der alphanischen Technik hatten die Frauen damit alle Vorteile auf ihrer Seite. Bevor sie in die Offensive ging, erkundigte sich Maya zum wiederholten Mal nach dem Befinden der drei Gefangenen. Gondolo, die Helenas Gedanken lesen konnte, beruhigte sie. »Es geht ihnen gut«, gab sie Auskunft. »Sie sitzen nach wie vor in der Zelle und warten.« »Gut!« Maya ließ Eagle Drei in die Atmosphäre eintauchen und steuerte den Raumer dorthin, wo Helena, der Commander und der Waffenchef gefangengehalten wurden. Mit eingeschalteten Schutzschirmen und feuernden Düsen hielt sie den Eagle genau über dem tempelähnlichen Gebäude, von dem sie inzwischen wußte, daß die Planetarier dort ihre Psi-Brücken aufbauten, in der Luft. Die schweren Kohlenstoffdioxyd-Laser zeigten genau auf den Monumentalbau.
Eagle Fünf stand in unweiter Entfernung. Mit Befriedigung stellte Maya fest, daß die Lasergeschütze des Bruderschiffes nicht in Feuerbereitschaft waren. Weiterhin stellte sie fest, daß sich mehrere Planetarier am und wahrscheinlich auch im Schiff aufhielten. Sie drückte auf die Funktaste. »So, Gondolo, jetzt bist du dran«, sagte sie und deutete auf das Mikrophon. »Sprich hinein.« Gondolo tat es, sagte etwas, was so viel hieß wie ›Eagle Fünf bitte melden!‹ Und Eagle Fünf meldete sich fast sofort. Gondolo blickte Maya fragend an. »Mach ihnen klar«, sagte Maya, »daß wir zu keinerlei Kompromissen bereit sind. Wir verlangen die sofortige Freilassung der drei Gefangenen und ihren ungehinderten Abflug mit Eagle Fünf.« Genau dies tat Gondolo. Aus der Hörmembrane schallte eine Antwort, die nur aus wenigen Silben bestand. »Die Antwort lautet ›Nein!‹«, sagte Gondolo. Maya nickte grimmig. Ihre rechte Hand drückte auf den Auslöser des einen Lasergeschützes. Ein schenkeldicker Lichtstrahl schoß aus dem Bauch des Eagle und riß das obere Drittel des Monumentalgebäudes weg. Maya wußte, daß sie die Alphaner damit nicht gefährdete, da diese unter der Planetenoberfläche gefangengehalten wurden. »Sag’ ihnen nochmal, was wir verlangen«, wies sie Gondolo anschließend an. Gondolo sprach in das Mikrophon, bekam jedoch keine Antwort. Statt dessen konnte Maya auf einem der Sichtmonitoren erkennen, daß sich die Mündung eines Lasergeschützes von Eagle Fünf aus dem Leib des Schiffes hervorschob.
Sofort ließ sie ihr eigenes Geschütz wieder feuern. Das zweite Drittel des Gebäudes existierte nicht mehr. »Sag’ ihnen, daß jede weitere Bewegung der Bordgeschütze von Eagle Fünf eine Katastrophe nach sich ziehen wird, Gondolo.« Diesmal hatte Gondolo Erfolg. Die Laserkanone von Eagle Fünf, noch lange nicht schußbereit ausgerichtet, blieb ruhig. Und die Männerstimme drang wieder aus der Hörmembrane. Maya verstand nicht, was sie sagte, aber der gehetzte, angstvolle Unterton entging ihr keineswegs. Über Gondolos Gesicht huschte ein triumphierendes Lächeln. »Sie kapitulieren, Maya! Wir haben es geschafft!« Der Psychonierin fiel ein Stein vom Herzen. Sie war ungeheuer erleichtert, daß sie nicht gezwungen wurde, auch noch das untere Drittel des Gebäudes wegzuradieren, denn sie wußte von Gondolo, daß sich dort Menschen aufhielten, während alles darüber nur Pompzwecken diente. Blieb nur zu hoffen, daß die Planetarier nicht doch noch einen faulen Trick auf Lager hatten. In jedem Fall behielt Maya die Laser von Eagle Fünf scharf im Auge, auch wenn jetzt mehrere Planetarier aus dem Raumer herauskletterten und zusammen mit ihren davor wartenden Rassegenossen eiligst davongingen. Es sah nicht nach einem faulen Trick aus. Eine Weile später sah Maya auf dem Bildschirm Helena, John Koenig und Jameson. Unbehelligt konnten sie zu Eagle Fünf hinübergehen und einsteigen. Und ein paar Augenblicke später hatte Maya Funkkontakt mit dem Commander. »Gratuliere, Maya. Das war phantastisch!« Die Spannung in Maya löste sich mit einem befreiten Auflachen.
Nur wenige Worte wechselten die Alphaner jetzt noch. Sie alle waren interessiert daran, dem ungastlichen Planeten Lebewohl zu sagen. Mit donnernden Triebwerken löste sich Alpha Fünf schließlich vom Boden und schoß in die Höhe. Auch Maya ließ ihren Raumer steigen. Nicht viel später befanden sich beide Schiffe im Weltraum. Die Planetarier versuchten nicht, John Koenig mit einer Psychoattacke erneut ihren Zielen gefügig zu machen. Durch Funkkontakt stellte sich heraus, daß sie auch aufgehört hatten, den Alphanern auf dem Mond weiterhin Trugbilder vorzugaukeln. Die Warnung, die ihnen Maya erteilt hatte, war auf fruchtbaren Boden gefallen. Eagle Fünf kehrte auf direktem Weg zum Mond zurück. Maya mußte noch einen kleinen Umweg machen, um Gondolo auf ihrer Heimatwelt abzusetzen. Sie holte alles aus den Triebwerken heraus, was diese hergaben, denn sie konnte es kaum erwarten, wieder in der Basis zu sein. Tony Verdeschi würde schon auf sie warten!