Alfred Bekker
Die verpuppte Kolonie Bad Earth Band 6
ZAUBERMOND VERLAG
Die Wege der Freunde haben sich getrennt. Wä...
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Alfred Bekker
Die verpuppte Kolonie Bad Earth Band 6
ZAUBERMOND VERLAG
Die Wege der Freunde haben sich getrennt. Während John Cloud mit der RUBIKON durch die Portalschleuse der Andromeda-Perle in eine andere Epoche aufbricht, zieht es Scobee mit Macht zurück zur Milchstraße, um die dortigen Verhältnisse zu sondieren. Aber ebenso wie Andromeda hat sich auch die heimatliche Galaxis verändert. Und der Weg dorthin ist beileibe kein Katzensprung. Im Leerraum zwischen den Sterneninseln warten mannigfache Überraschungen und Gefahren. Und die schmerzliche Erkenntnis, dass es offenbar gar keinen Weg zurück in die Heimat mehr gibt. Das zumindest behaupten die geheimnisumwobenen Tormeister … Auf ihrem Weg zurück in die heimatliche Milchstraße stoßen Scobee und der Gloride Ovayran auf ein unerwartetes Phänomen im Leerraum. Es kommt zur Begegnung mit alten Bekannten … und absolut Fremden. Welche Rolle spielen die Felorer in ihrer bizarren Station im lichtarmen Schlund zwischen den Galaxien? Und welches Geheimnis birgt die Station selbst? Unerwartet auch das Wiedersehen mit einem Erzfeind, der zur Schlüsselfigur wird, die die »verpasste« Vergangenheit – die ja aufgrund der 200-Jahre-Transition übersprungen wurde – aufhellen könnte. Aber will er das überhaupt?
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Gefährten Boreguir, wird die RUBIKON-Crew um John Cloud im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine golden schimmernde Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Fontarayn, Angehöriger des geheimnisvollen Volks der Gloriden, wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine so genannte CHARDHIN-Perle befindet. Die Perle gehört zu einem universellen Netz von Perma-Stationen, die zu jeder Zeit existieren – bis in die tiefste Vergangenheit und fernste Zukunft, wie Fontarayn beteuert. Gleichzeitig räumt er ein, die Erbauer nicht zu kennen, obwohl sein Volk die Perlen wartet und verwaltet. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die für die Vernichtung von Fontarayns Schiff verantwortlich sind. Um der Treymor-Gefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Dort will Fontarayn nötigenfalls eine Zeitkorrektur herbeiführen lassen, die verhindert, dass die Treymor in den Besitz von Erbauer-Technik gelangen. Dadurch könnte diese Gefahr ein für alle Mal gebannt werden – aber es drohen auch Zeitparadoxa unbekannten Ausmaßes. Unter Clouds Kommando bricht die RUBIKON nach Andromeda auf – und erreicht die Nachbargalaxis schneller als je erwartet. Bei der Transition wird sie jedoch über zweihundert Jahre in die Zukunft geschleudert und findet Andromeda völlig anders vor als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Satoga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um
sich eigenem Bekunden nach friedlich dort anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee, Mitglied der Crew aus ersten Tagen, will diesen Transfer nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit dem Gloriden Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf, um die dortigen veränderten Verhältnisse zu erkunden. Doch lange bevor sie dort anlangen, finden sie die INSEL IM NICHTS …
1. Auf dem Weg in die Leere Scobee erwachte aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Sie atmete tief durch und öffnete die Lider, blinzelte erst einen Augenblick lang gegen das schwache Licht und machte die Augen dann wieder zu. Du bist eine Gestrandete, herausgerissen aus deiner angestammten Zeit – durch Mächte, auf die du nicht den geringsten Einfluss hattest. Aber hat es dir geschadet? Vielleicht wärst du gar nicht mehr am Leben, wenn du in deiner eigentlichen Epoche geblieben wärst … Scobee zögerte, die Augen erneut zu öffnen. Wirre Erinnerungen an noch verworrenere Träume beherrschten ihr Denken. So manches an Bildern und Szenen ging dabei wild durcheinander. Wie in einem Kaleidoskop hatte Scobee das Gefühl, alles auf einmal zu sehen. Zwanzig Überblendungen gleichzeitig, und doch schienen einige von ihnen klar identifizierbar. Du bist eine GenTec. Ein weiblicher Klon, geschaffen mit einem genetischen Programm, das dich einst zum Gehorsam zwang. Du warst Teil eines militärischen Projekts – aber das alles ist jetzt so unwichtig geworden. Nicht erst, seit du hier in Andromeda bist. Was spielt deine Vergangenheit noch für eine Rolle? Einen Lidschlag hatte der Flug an Bord der RUBIKON nach Andromeda gedauert – zumindest in der subjektiven Empfindung der Besatzungsmitglieder. In Wahrheit waren zwei Jahrhunderte vergangen, wie man später erfahren hatte. Die RUBIKON war bei der fehlgeschlagenen Transition nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit katapultiert worden. Erst im Zentrum von Andromeda hatte die Besatzung der RUBIKON vom Ausmaß dieser Zeitreise erfahren. Du hast etwas Ähnliches schon einmal erlebt, als dich der Einfluss eines Schwarzen Lochs ebenfalls zweihundert Jahre in die Zukunft riss. Eine Zukunft, in der die Menschen unter dem Namen Erinjij Angst und Schrecken in der Galaxie verbreiteten und unter der Herrschaft der Keelon-Master standen. Aber das erscheint
dir jetzt bereits wie ein Traum, der verblasst, sobald man erwacht … Kaum, dass sie überhaupt Gelegenheit gehabt hatte, die Zeit, in die sie das Schicksal schleuderte, wirklich zu verstehen, war sie nun erneut in einer Zukunft gelandet, in der sich vieles, wenn nicht alles verändert haben würde. Die gegenwärtige Lage in der Milchstraße zu erkunden, das war der Grund dafür gewesen, an Bord von Ovayrans Schiff zu gehen, denn die Heimatgalaxie der Menschheit war das erklärte Ziel des Gloriden – genau wie das ihre. Was werde ich dort vorfinden?, ging es ihr durch den Kopf. Das Erwachen in der Welt der Erinjij und Keelon-Master glich einem Albtraum – aber vielleicht war das nichts weiter als eine liebliche Ouvertüre im Vergleich zu dem, was noch kommen wird! Der Gedanke daran ließ sie manchmal nicht ruhen. Hin und wieder fiel sie dafür dann in einen umso tieferen, traumlosen und ihrer Empfindung nach beinahe todesähnlichen Schlaf.
Mindestens zwei irdische Wochen war es bereits her, dass sie die RUBIKON II verlassen hatte und an Bord des unter dem Kommando des Gloriden Ovayran stehenden Raumschiffs gegangen war. Aber auch diese Zeitbegriffe schienen hier draußen in der Unendlichkeit nicht dieselbe Rolle zu spielen. Könnte es sein, dass du jeglichen Maßstab verloren hast? Du bist wahrscheinlich der einzige Mensch in einem Umkreis von hunderttausend Lichtjahren oder mehr. Vielleicht ist es das Wissen um diese Tatsache, das dafür sorgt, dass alles, was deiner Existenz eine feste Größe geben könnte, zu verschwimmen scheint, jeder Maßstab, jede Vergleichsgröße, jeder Parameter, jeder Wert … Kein Mensch hat das je vor dir erlebt! Scobee schalt sich schon gleich darauf eine Närrin. Was sollte diese Grübelei? Warum sich melancholischen Stimmungen hingeben, die sie nur dabei behindern konnten, das zu tun, was sie sich als ihre Aufgabe gestellt hatte. Sie atmete tief durch. Ihr wohlgeformter, durchtrainierter Körper
straffte sich dabei. Noch hatte sie die Augen nur für einen kurzen Moment geöffnet, aber sie war zweifellos wach. Scobee versuchte sich an das zu erinnern, was sie geträumt hatte. Und damit die Schatten der Imagination festzuhalten. Vergeblich. Es muss vergeblich sein, überlegte sie. Sie hatte keine Ahnung, weshalb ihr diese Dinge auf einmal so unwahrscheinlich wichtig waren. Übertrieben wichtig, wie sie selbst erkannte, sobald ihr messerscharfer Verstand die Oberhand über das Gefühl gewann. Irgendetwas hatte sich grundlegend verändert. Das spürte Scobee, je länger dieser Flug dauerte. Jede Faser ihres Körpers schien mit immer sensibler werdenden Sensoren für dieses Phänomen ausgestattet zu sein. Jetzt erst öffnete Scobee die Augen dauerhaft. Ovayran, der gloridische Kommandant des Schiffes mit dem für Scobee recht seltsam klingenden Namen AUGE DES PERIGOR, hatte diesen Raum nach ihren Wünschen herrichten lassen, wobei sich ihre und die Vorstellungen eines Wesens, das nur einen Teil seines Lebens in körperlich greifbarer Form zubrachte und die restliche Zeit dafür als körperloses Energiewesen existierte, zweifellos voneinander unterschieden. So hatte man natürlich auf ihre Bedürfnisse nur in dem Maße Rücksicht nehmen können, wie diese von den Gloriden überhaupt verstanden worden waren. Du hast geschlafen und spürst dennoch Müdigkeit!, erkannte Scobee plötzlich. So etwas sollte eigentlich nicht sein. Vielleicht stimmt etwas mit dir nicht, aber du wirst, was dies betrifft, von Ovayran wohl auch keine kompetente ärztliche Hilfe erwarten dürfen … Scobee musste bei diesem Gedanken unwillkürlich schmunzeln. Na, also! Es geht doch! Scobee erhob sich von ihrem Bett und überlegte, wie sie den Nahrungsmittelspender so programmieren sollte, dass er auch etwas Genießbares ausspuckte. Mit der puren Energie, die die Gloriden in ihre Körper zu leiten pflegten, konnte die GenTec jedenfalls nicht das Geringste anfangen. Ganz im Gegenteil! Selbst ihre recht widerstandsfähige Physis wäre durch einen derartigen Energietransfer, wie er für Gloriden geradezu lebensnotwendig war, zerstört wor-
den. Der Bordrechner der AUGE DES PERIGOR war so programmiert worden, dass er in der Lage war, Nahrung zu produzieren, die den physiologischen und biochemischen Erfordernissen von Scobees Metabolismus entsprachen. Das bedeutete allerdings nicht, dass alles, was sie dann am Ende vorgesetzt bekam, auch tatsächlich schmackhaft war. Irgendwann wirst du dich sogar an diesen Fraß gewöhnen, war Scobee jedoch überzeugt. Durch die Berührung eines Sensorpunktes an der Wand wurde das System aufgerufen. Ein Holoquader erschien wie aus dem Nichts und zeigte ihr eine Auswahl verschiedener Gerichte, die der Bordrechner im Angebot hatte. Das schmeckt ohnehin alles gleich fade, dachte Scobee. Da sollte dir die Wahl doch nun wirklich nicht so wahnsinnig schwer fallen! Genüsse kannst du hier nicht erwarten … Ehe sie schließlich eine Entscheidung getroffen hatte, wurde sie abgelenkt, und das Knurren ihres Magens war zumindest für die nächsten Augenblicke in den Hintergrund gedrängt. Eine Lichterscheinung blendete sie plötzlich. Schützend und reflexartig schirmte sie mit der Hand ihre Augen ab. Gleißendes Licht drang durch die Decke des Raumes, den sie in den letzten Wochen als so etwas wie ihre Privatkabine angesehen hatte. Es war dennoch so grell, dass es in den Augen schmerzte. Scobee unterdrückte ein Aufstöhnen. Ovayran!, was soll das? Das Licht verdichtete sich zu einem immer heller werdenden Punkt. Schließlich formte sich eine gleißende Gestalt, die immer stärker Substanz annahm, und schließlich innerhalb des nächsten Lidschlags vollkommen materialisierte. Das Leuchten verschwand. Der Gloride hatte jetzt die körperliche Ursprungsgestalt eines androgyn wirkenden Humanoiden angenommen. Dieses Volk, dessen Aufgabe es war, die CHARDHIN-Perlen zu pflegen, die sich hinter dem eigentlich unüberwindlichen Ereignishorizont der übergroßen
Schwarzen Löcher im Zentrum einer Galaxie befanden, war auf dem Weg der zunehmenden Vergeistigung. Die Gloriden befanden sich in einem Zwischenstadium, waren in der Lage, sich in reine Energie zu verwandeln und in dieser Existenzform auch feste Materie zu durchdringen. Deswegen waren Türen für die Gloriden eigentlich unnötig und hatten eher den Charakter von Notausgängen, als dass sie wirklich gebraucht worden wären. Scobee hingegen war darauf angewiesen. Sektoren des Schiffes, die nicht über Türen zugänglich waren, konnte sie schlicht und ergreifend nicht betreten. Wie könnte man meine Lage beschreiben?, überlegte sie. Es ist viel von dem Einäugigen die Rede, der unter den Blinden König ist. Ich bin genau das Umgekehrte – ein Blinder unter lauter Sehenden. Und das ist alles andere als ein Witz, So jedenfalls kommt man sich in der Gesellschaft von Gloriden vor.
Scobee starrte den Gloriden leicht fassungslos an. Diese Zwitter aus androgynen Humanoiden und Energiewesen hatten eine deutlich andere Vorstellung von Privatsphäre, als er unter Menschen üblich war. Es war ihnen unverständlich, wieso ein Individuum einen Bereich benötigte, der von anderen nicht ohne deren Erlaubnis betreten werden durfte. Zwar kannten sie durchaus Privaträume und den zumindest zeitweiligen Rückzug des Einzelnen zur Meditation oder zu Studienzwecken. Aber über diese schwach ausgeprägten Ansätze hinaus schien ihnen jede Form des Territorialdenkens fremd zu sein. Wie auch immer, auch als Klon kann ich meine Säugetiervorfahren, die immer schön säuberlich ihr Revier abgegrenzt haben, wohl einfach nicht verleugnen!, ging es Scobee durch den Kopf. Es kann eben niemand über seinen Schatten springen. Aber das gilt wahrscheinlich für Menschen und Gloriden gleichermaßen … Sie hatte es inzwischen aufgegeben, den Besatzungsmitgliedern der AUGE DES PERIGOR beibringen zu wollen, dass Menschen es nicht besonders gut leiden konnten, wenn man ihren Privatbereich
ungefragt betrat. Die Gloriden hatten für derlei Gedanken einfach kein Verständnis. Ihre humanoiden Gesichter waren sich alle ziemlich ähnlich. Es gab kaum sichtbare individuelle Ausprägungen der Physiognomie. Dasselbe galt für ihre Gestalt. Die optisch erkennbaren Unterschiede zwischen einzelnen Gloriden waren minimal, aber Scobee hatte inzwischen gelernt, den einen oder anderen von ihnen einigermaßen sicher zu unterscheiden. Allen voran natürlich Ovayran, den Kommandanten dieses Schiffs, der für sie in erster Linie die Bezugsperson an Bord des goldenen Kugelraumers darstellte. »Sei gegrüßt, Scobee«, sagte der Gloride. An der vertrauten Art und Weise, in der er sie ansprach, erkannte sie ihn. Erst dann stellte sie fest, dass auch winzige Unregelmäßigkeiten und Asymmetrien in seinem Gesicht ihn eindeutig als Kommandanten der AUGE DES PERIGOR identifizierten. »Ich hoffe, ich habe dich nicht bei deiner Meditation zur Energieaufnahme gestört?« Trotz deines Aufenthaltes auf der RUBIKON weißt du nicht besonders viel über uns!, dachte Scobee leicht amüsiert. Unwillkürlich flog ein Lächeln über ihr Gesicht. »Nein«, antwortete sie schließlich nach einem kurzen Innehalten. »Ich war gerade fertig damit.« Sie seufzte. Für einen Gloriden war es nicht ganz einfach nachzuvollziehen, was der Schlaf für einen Menschen bedeutete. Zu sehr hatten sich diese schon in ihrer körperlichen Erscheinungsform sehr grazilen Lebewesen, die in ihrem Zustand als Energiewesen vollkommene Schwerelosigkeit genossen, innerlich von ihrer Physis entfernt. Der Körper hatte für sie nicht dieselbe Bedeutung wie für Wesen, deren Existenz vollkommen an diesen gebunden war. Scobee vermochte das nachzuvollziehen. Ab und zu brauchten die Gloriden eben einen Körper – etwa dann, wenn sie Energie tankten. Ansonsten war die energetische Form sehr häufig einfach viel praktischer. Immer dann, wenn es um raschen Transport, die Überwindung von Hindernissen aus Materie
oder schnelle Kommunikation ging, war die energetische Daseinsform von großem Vorteil. Einen kurzen Moment lang hatte Scobee überlegt, ob sie Ovayran gegenüber nicht einmal vorbringen wollte, dass sie es durchaus als unangenehm empfand, wenn Besatzungsmitglieder der AUGE DES PERIGOR, wann immer sie dies für richtig und geboten hielten, einfach in ihrem Raum auftauchten, um sie anzusprechen. Andererseits hatte Scobee innerhalb der gut zwei Wochen, die sie sich nun schon an Bord des Raumschiffs der Gloriden befand, erlebt, dass genau dies für Gloriden vollkommen selbstverständlich war. Einen Gloriden in einer derartigen Situation zurechtzuweisen, hätte bedeutet, ihn womöglich innerlich tief zu enttäuschen. »Ich habe das Bedürfnis, mich mit dir zu unterhalten«, äußerte der Gloride. Mit anderen Worten, du brauchst jemanden, der dir Langeweile vertreibt!, dachte Scobee – behielt diesen Gedanken allerdings höflichkeitshalber für sich. Während ihres Flugs, der sie aus dem galaktischen Zentrum der 150.000 Lichtjahre durchmessenden Andromeda-Galaxie heraus in Richtung Leerraum geführt hatte, war Ovayran des Öfteren mit diesem auf den ersten Blick etwas befremdlichen Anliegen an Scobee herangetreten. Ihr Gegenüber hatte geäußert, die Kommunikation mit Scobee deshalb zu schätzen, weil sie einen unabhängigen Standpunkt vertrete, was es ihm erleichtere, seinen eigenen Standpunkt zu definieren und die innere Stabilität zu erhöhen. »Die innere Stabilität«, so hatte Ovayran ihr gegenüber eröffnet, »besitzt für uns Gloriden eine zentrale Bedeutung. Man könnte auch behaupten, sie ist das Zentrum, um das unsere Kultur kreist – abgesehen vielleicht von dem Auftrag, den uns vor Äonen die Erbauer gaben …« Welch große Bedeutung diese so genannte innere Stabilität für jeden Gloriden – und insbesondere den Kommandanten eines Raumschiffs oder gar den Perlenweisesten – hatte, sollte ihr erst im Laufe der Zeit wirklich klar werden. »Ich habe nichts gegen eine Unterhaltung einzuwenden«, sagte
Scobee schließlich, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Andererseits war es wichtig, dass sie sich gegenseitig besser kennen lernten. Eine weite Reise ins Ungewisse lag schließlich vor ihnen. Eine Reise, die zwar für Scobee oberflächlich betrachtet in die Heimat Milchstraße führte – faktisch aber eine Galaxis zum Ziel hatte, von der man annehmen musste, dass sie sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten stark verändert hatte. »Das freut mich«, erklärte Ovayran, wobei sich Scobee fragte, ob es ihm überhaupt etwas bedeutete, dass seine Gesprächspartnerin Interesse an einer Kommunikation signalisierte. Scobee erklärte: »Ich würde es allerdings bevorzugen, wenn ich mit derartigen Anliegen zunächst indirekt konfrontiert würde.« »Indirekt?«, echote Ovayran. Er schien etwas irritiert zu sein. Also gab Scobee ihm eine nähere Erläuterung. »Ohne die körperliche Anwesenheit desjenigen, der dieses Anliegen hat!«, versuchte sie deutlich zu machen, was ihr missfiel. »Dies ist mein Raum – jedenfalls betrachte ich ihn während meines Aufenthalts auf der AUGE DES PERIGOR so. Und das bedeutet, ich gewähre den Zugang hierher oder ich tue das nicht.« Jetzt ist es raus!, dachte sie. Wahrscheinlich hätte ich das viel früher tun sollen. Sehr viel früher … Aber ich denke, es ist noch nicht zu spät. Zu Scobees Erleichterung war Ovayran keineswegs beleidigt. Im Gegenteil! Er signalisierte ein freundlich-neugieriges Forscherinteresse. »Sind das Menschen-Sitten?«, fragte der Gloride nach kurzer Pause. Emotionen wurden bei diesem Volk vor allem durch energetische Schwingungen ausgedrückt, die von Gloriden untereinander sehr wohl wahrgenommen werden konnten. Ein Mensch war unter ihnen jedoch wie ein Blinder unter Sehenden. Die Mimik der nach Belieben in den Zustand reiner Energie wechselnden Wesen wirkte dagegen … Ja, wie eigentlich?, dachte Scobee. Die Begriffe starr oder maskenhaft trafen nicht wirklich, was man als menschliche Frau beim Anblick
eines Gloridengesichts empfand. Diese Gesichter wirkten stets gelöst. Emotionale Regungen spielten sich in ihnen einfach nicht ab, was aus Sicht der Gloriden auch seinen Sinn hatte. Schließlich war es sicher sehr viel unkomplizierter für sie, sich gegenseitig mit Hilfe energetischer Schwingungen über ihre gefühlsmäßige Verfassung zu informieren. Damit hatten sie einen Ausdruck ihrer Emotionen gefunden, der sowohl in der physischen als auch in der rein energetischen Erscheinungsform ihrer Spezies funktionierte – und das vermutlich sehr viel besser, als wenn sie an dem vergleichsweise primitiven Spiel aus Gestik und Mimik festgehalten hätten, wie man es bei den meisten anderen Humanoiden oder entfernt humanoiden Völkern finden konnte. »Ja«, bestätigte Scobee. »Das sind Menschen-Sitten.« »Erstaunlich!« »Das ist eine Frage des Standpunktes.« »Bizarr!« »Ihr scheint nicht sehr viel Kontakt zu anderen Völkern zu haben, sonst würdest du diesen Begriff nicht in dem Zusammenhang verwenden«, sagte Scobee ruhig und gelassen. »Das ist wahr«, gab er zu. »Umso mehr genieße ich die Unterhaltungen mit dir. Dieses Konzept der Privatsphäre hat so etwas zutiefst Barbarisches an sich, dass es einem einen Schauder über den Rücken treiben kann!« »Ich nehme allerdings an, dass die meisten anderen intelligenten Spezies von einer gewissen Kulturstufe an so etwas wie Privatsphäre kennen.« »So sind wir Ausnahme und ihr die Regel?« »Ja«, bestätigte Scobee. »Interessant!«, stieß der Gloride hervor. Das Thema schien ihn kaum mehr loszulassen. »Sieh dich um im Universum!«, forderte Scobee ihn auf. »Selbst in dem kleinen Teil des Kosmos, den ich gesehen habe, ist das so.« »Mag sein, dass du Recht hast«, gestand ihr Ovayran zu. »Vielleicht hätten wir uns mehr für die niederen Spezies interessieren sollen … Aber es ist einfach ein Unterschied, auf welcher Seite des Er-
eignishorizonts man lebt …« »Das räume ich ein«, sagte Scobee. »Eine Entschuldigung für Interesselosigkeit und mangelnden Forschersinn sollte das aber auch nicht sein.« »Ich habe diesen Vorwurf nie erhoben.« »Ich selbst tue es! Wir Gloriden haben uns immer viel zu sehr in der Abhängigkeit der Erbauer gesehen, als dass wir etwas Eigenes entwickelt hätten, so wie unzählige Spezies, die das Universum bevölkern und sowohl Erhabenes als auch Niederträchtiges vollbringen. Wir hingegen vollbrachten aus eigenem Antrieb gar nichts. Wir wurden erwählt von den Erbauern. Sie teilten uns eine Aufgabe zu, die wir gewissenhaft bis auf den heutigen Tag zu erfüllen versuchen.« »Die Erbauer sind verschwunden«, gab Scobee zu bedenken. »Ich weiß, worauf du hinauswillst, Scobee!« »Wirklich?« »Du willst sagen, dass seit dem Verschwinden der Erbauer tatsächlich Zeit genug vergangen ist, um etwas Eigenes aufzubauen, eigene Entdeckungen zu machen, eine Technik zu erfinden, die wir nicht nur anwenden, sondern auch wirklich bis in den tiefsten Kern hinein verstehen! Aber es ist müßig, über die Fehler vergangener Äonen zu schwadronieren. Jetzt stehen wir vor dem Scherbenhaufen unserer langen Geschichte und müssen sehen, wie wir das zerrissene Netz der CHARDHIN-Perlen vielleicht doch wieder flicken. Falls das überhaupt noch möglich ist.« Der Gloride machte eine Pause. Er ging ein paar Schritte auf und ab. Das Gewand, das er trug, raschelte leicht dabei. Frühere Zeitalter der Menschheitsgeschichte mögen sich so oder so ähnlich einen Engel vorgestellt haben!, dachte Scobee. Schließlich fuhr Ovayran fort: »Du erhebst Besitzanspruch auf einen Teil unseres Schiffs.« »Wenn du es so ausdrücken willst und unter Besitz allein die Verfügungsgewalt verstehst …« »Das ist interessant! Dieser fast archaische, sehr starke Impuls, ein Territorium zu erobern und zu verteidigen! Wir kennen so etwas
nicht, aber wahrscheinlich sind wir einfach zu wenig in der materiellen Welt verhaftet, die für dich die einzig mögliche Existenzform darstellt.« »Mein Streben nach Privatsphäre hat nichts mit einem Besitzanspruch zu tun«, erwiderte Scobee. »So? Wirklich?« »Es geht um die Integrität des Einzelnen. Die Grenzen der Person, die sie von ihrer Umwelt unterscheiden.« »Diese Grenze ist Fiktion«, behauptete Ovayran. »Du solltest mir glauben. Es ist nichts weiter als ein Gedankenkonstrukt, das nichts mit der Realität zu tun hat – genauso wie die in eurer Kultur offenbar ursprünglich verbreitete Annahme, dass der Ereignishorizont nicht überschritten werden kann, ohne dass man dabei die Existenz verliert.« Innerhalb der letzten Wochen seit ihrem Aufbruch vom Zentrum Andromedas aus hatten sie des Öfteren über derartige Probleme gesprochen. Darüber, dass es möglicherweise für einen außenstehenden Beobachter so wirken könne, als ob ein in den Ereignishorizont des Schwarzen Loches eintretendes Raumschiff vollkommen verdampfte, während die subjektive Realität desjenigen, der diese Grenze überschritt, ganz anders aussehen konnte und er vielleicht überhaupt nichts von der gigantischen Gravitation spürte, die ihn eigentlich hätte zermalmen müssen. Ovayran konnte sich auf diesem physikalisch-philosophischen Gebiet geradezu in Rage reden. »Es gibt mehr als nur einen Zustand der Realität, oder um es anders auszudrücken: Es existieren verschiedene Ebenen der existenziellen zeitlichen Permanenz, wie ja seit unserem letzten Besuch auf der CHARDHIN-Perle im Zentrum Andromedas deutlich geworden sein dürfte.« Er argumentiert glasklar und kann mit einer Denkgeschwindigkeit aufwarten, die es mir schwer macht, ihm zu folgen!, dachte Scobee. Und doch sind diese Wesen nichts als kosmisches Hilfspersonal, das die legendären Erbauer der Perlen eingesetzt haben, um diese Stationen eines gigantischen, wahrhaft kosmischen Netzes warten und in Betrieb halten zu kön-
nen … Scobee versuchte sich einen Moment lang vorzustellen, über welche Fähigkeiten dann erst diese legendären Erbauer verfügt haben mussten. Das Gesicht des Gloriden hatte sich jedoch nicht verändert. Er starrte Scobee vollkommen regungslos an. Und doch hatte Scobee das Gefühl, dass in den Worten des Gloriden eine Emotion mitgeschwungen hatte. Einbildung? Oder hast du vielleicht bereits die Fähigkeit erlangt, energetische Schwingungen emotional zu interpretieren, wie es den Gloriden offenkundig möglich ist? Scobee glaubte, dass es eine tiefe Sorge war, die Ovayran erfüllte. Manchmal reicht es vielleicht einfach aus, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen und sich zu fragen, was man selbst an dessen Stelle empfinden würde, dachte sie dabei. Selbst dann, wenn man ansonsten so vollkommen unterschiedlich ist, wie es Menschen und Gloriden sind. Der Besuch auf der CHARDHIN-Perle jenseits des Ereignishorizonts des 3 x 10^7 Sonnenmassen schweren Schwarzen Lochs im Zentrum der Andromeda-Galaxie hatte geradezu bedrohliche Neuigkeiten gebracht. Die CHARDHIN-Perle Andromedas war vollkommen vom kosmischen Netz der anderen Black-Hole-Stationen isoliert! Und die Ursache lag dabei nicht darin, dass die Perle ihre Funktionsfähigkeit verloren hätte, sondern im Netz selbst. Außerdem hatte sie ihre Permanenz eingebüßt. Sie existierte nicht mehr vom Anbeginn der Zeiten bis zum schlussendlichen Zustand größtmöglicher Entropie, den das Universum am Ende seiner Existenz erreicht habe würde, sondern nur noch während einer Zeitspanne, die sowohl in Richtung Vergangenheit, als auch auf die Zukunft bezogen erschreckend kurz war. Dafür die Ursache zu finden, war Ovayrans Ziel. Am besten natürlich dadurch, dass er den Traum aller Gloriden erfüllt und endlich auf die legendären aber weithin unbekannten Erbauer stößt, die die CHARDHIN-Perlen und das dazugehörige Netzwerk einst erschufen …. dachte Scobee. Diese hoch entwickelten Wesen müssten sich dann wohl eine Menge unbequemer Fragen gefallen lassen. »Während unserer bisherigen Reise hast du mir einige Dinge über
deine alte Welt erzählt«, begann Ovayran schließlich. »Ich meine die Erde jener Epoche, in der du geschaffen wurdest.« Geschaffen wurdest, hallte es in Scobees Kopf wider. Für sie hatte das einen ganz bestimmten, sehr unangenehmen Beiklang. Es war, als ob man über sie wie über einen Gegenstand sprach – etwas, das irgendwann eine Fabrik verlassen hatte und nach Gebrauch weggeworfen werden konnte. Ein Werkzeug. Auf seine Weise perfekt, aber eben doch ein Werkzeug. Ovayran hatte seine Worte in großer Unbedarftheit einfach so dahingesagt. Der Gedanke, es mit einem Wesen zu tun zu haben, das keines natürlichen Ursprungs, sondern in der Tat sehr gezielt geschaffen worden war, schien für den Gloriden nicht weiter bedeutsam zu sein. Schließlich war ja letztlich nicht ausgeschlossen, dass auch die Gloriden nichts weiter als Produkte einer biotechnischen Schöpfung durch die Erbauer waren. Diese Vorstellung war für Ovayran jedoch keineswegs unangenehm oder bedrohlich. Scobee hielt diese Schöpfungs-Theorie sogar für sehr wahrscheinlich, denn wer immer es schaffte, Habitate jenseits der Ereignishorizonte von Wurmlöchern zu deponieren, und diese nach Belieben betreten und wieder verlassen konnte, der war buchstäblich zu allem fähig. Aber für Scobee hatte dies eine andere Dimension. Sie hatte den Umstand, dass sie als Klon zur Welt gekommen war, immer als einen Mangel angesehen und sich stets ein wenig so gefühlt, als wäre sie nicht wirklich auch Teil der Gattung Mensch. Allerdings hatte es auch viele gegeben, die ihre diesbezüglichen Ängste verstärkt hatten. Und auch wenn Scobee wusste, dass diese Befürchtungen unsinnig waren, so konnte die GenTec sie doch auch nicht einfach ignorieren. Sie würden immer Teil ihrer Persönlichkeit bleiben, solange sie lebte. Ovayran fuhr fort: »Ich habe deinen Erzählungen von der alten Erde sehr aufmerksam zugehört.« »Das habe ich bemerkt«, sagte Scobee. »Ich habe schon seit geraumer Zeit das Gefühl, dass auch die Welt, in der ich meine Existenz begonnen habe und in der ich sie eigent-
lich auch zu beenden hoffe, sich langsam, aber sicher auflöst. Daher dachte ich, dass es interessant sein könnte, von dir zu erfahren, wie man damit zurechtkommt.« »Überhaupt nicht«, sagte Scobee. »Oh …« Mit einer sarkastischen Antwort schien er nicht gerechnet zu haben. Vielleicht wusste er auch einfach nicht, was Sarkasmus war, und konnte Scobees Antwort daher nicht richtig einordnen. Scobee hatte nicht lange darüber nachgedacht, sondern einfach spontan aus dem Bauch heraus geantwortet. Und diese Antwort traf nun einmal genau das, was sie zu diesem Thema an Empfindungen in sich verspürte. Eine Pause entstand. Aus irgendeinem Grund empfand Scobee Verlegenheit. Schließlich erklärte Ovayran: »Dafür, dass du so schlecht damit zurechtkommst, machst du aber den Eindruck recht großer innerer Stabilität.« »Vielleicht weißt du nur nicht die Anzeichen dafür zu deuten, die bei einem Menschen von mangelnder innerer Stabilität zeugen, Ovayran!«, glaubte Scobee. Der Gloride ging darauf nicht weiter ein. Auf die Grenzen seiner eigenen Erkenntnisfähigkeit wurde er allgemein nicht gerne angesprochen, das war Scobee schon zuvor immer wieder aufgefallen. Vielleicht ist das sein wunder Punkt, dachte sie. Es war zweifellos besser, ihn zu respektieren. »Ich bedanke mich für die Zeit, die du für unser Gespräch zur Verfügung gestellt hast!«, sagte Ovayran plötzlich und brach damit den Dialog recht abrupt ab. Feigling!, dachte Scobee. Jetzt, da wir beide argumentativ die Messer gewetzt haben und es interessant werden könnte, machst du dich aus dem Staub! Dann verlor sein Körper auch schon an materieller Substanz. Er verblasste und verwandelte sich schließlich in eine gleißende Lichterscheinung, die seitlich durch eine der Wände, die Scobees Raum begrenzten, entschwebte. Im nächsten Augenblick war sie wieder allein.
Die AUGE DES PERIGOR hatte den Halo, die sternenarme Randzone Andromedas, erreicht. Sie war die größte Galaxie der lokalen Gruppe, zu der auch die Milchstraße gehörte. Zehn kleinere Zwerggalaxien waren ihre Trabanten und umkreisten sie in mehr oder weniger großen Abständen. Mit ihren Satelliten-Galaxien im Schlepptau bewegte sich Andromeda mit einer Geschwindigkeit auf die Milchstraße zu, die vermuten ließ, dass beide Systeme in ein paar Milliarden Jahren miteinander kollidieren würden, wobei das kosmisch betrachtet ein vollkommen normaler Vorgang war. Zwei Galaxien durchdrangen dann einander und verschmolzen zu einer Einheit. Zu wirklichen »Kollisionen« einzelner Sterne kam es wohl nicht viel häufiger als sonst auch, denn abgesehen von ihrer Sternenmaterie bestanden Galaxien vor allem aus einem: dem Raum dazwischen, der immer noch schier unendliche Weiten verhieß. Andromeda selbst war höchstwahrscheinlich durch eine Kollision entstanden. Die Struktur des galaktischen Zentrums dieses Systems legte es zumindest nahe. Die Aufzeichnungen der Gloriden sollten darüber Auskunft geben, dachte Scobee. Schließlich müssen sie auch in so ferner Vergangenheit bereits existiert haben. Ovayran hatte eine Konsole ohne direkten energetischen Zugang für Scobee einrichten lassen. Mit Hilfe der Sensorfelder, mit der die Konsole bedient wurde, hatte Scobee eine dreidimensionale Positionsübersicht aktiviert. Man konnte die Andromeda-Galaxie sowie die vorgelagerten Sternensysteme wie And I und And II sehen. Im Hintergrund befand sich die Milchstraße, die von Andromeda aus gut sichtbar war. Scobee hatte jedoch nur einen begrenzten Zugriff auf das Bordsystem. Das galt sowohl für den Bordrechner als auch für die eigens für Scobee angelegte Vorratskammer mit Nahrungsmitteln und alle anderen relevanten Einrichtungen und Gegenstände. Die Position der AUGE DES PERIGOR war auf der 3D-Übersicht deutlich markiert.
Scobee zoomte den gegenwärtigen Standort des goldenen Gloridenschiffs näher heran. Die gegenwärtige markierte Position schob sich langsam voran, ihrem Ziel entgegen. Und das war und blieb nun einmal die Milchstrasse. Ein breiter Ozean aus namenloser Schwärze gähnte zwischen den beiden Materie-Inseln. Die Sternendichte im Randbereich Andromedas war bereits sehr gering, und bald würde die AUGE DES PERIGOR auch die letzten Sonnen hinter sich gelassen haben. Gleichzeitig spürte Scobee ein leichtes Vibrieren unter den Füßen. Der mächtige Schiffsantrieb ließ von Zeit zu Zeit den Boden erzittern. Ovayran hatte versucht, ihr das Prinzip, nach dem dieser Antrieb funktionierte, zu erklären. Allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Für Scobee hatte sich das alles wie pseudotechnisches Gerede angehört. Irgendwie war bei ihr der Eindruck entstanden, dass weder Ovayran noch seine Besatzungsmitglieder, die auf der Brücke ihre so genannten Dienstzeitquanten als Steuermänner ableisteten, wirklich über die Funktionsweise des Antriebs Bescheid wussten. Sie konnten ihn bedienen und wohl auch kleinere Reparaturen am System vornehmen. Aber die technischen und naturwissenschaftlichen Grundlagen schienen ihnen nur oberflächlich klar zu sein. Scobee hatte Ovayran auf diesen Punkt einmal angesprochen. Zunächst war der Gloride der entsprechenden Frage ausgewichen, aber Scobee hatte nicht locker gelassen. Sie wollte einfach wissen, ob nur die CHARDHIN-Perlen oder die gesamte Technik der Gloriden Schöpfungen der Erbauer waren. Schließlich hatte Ovayran Scobee gegenüber eröffnet, wie es tatsächlich war. Scobee hatte es längst geahnt. »Auch die Schiffe sind Schöpfungen jener unbekannten Wesen, die die CHARDHIN-Perlen erbaut haben. Ihr technisches Wissen übertraf das unsere um ein Vielfaches. Und obgleich unser Volk seit Äonen nichts anderes tut, als die Perlen zu bewachen und den reibungslosen Betrieb zu gewährleisten, wären wir nicht in der Lage, selbst eine solche Perle zu bauen – geschweige denn, sie hinter dem Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs zu befestigen, wo es eigentlich kein Zurück mehr gibt.«
Scobee sah ihn erstaunt an. »Und ihr habt es in all den Äonen, seit dem Verschwinden der legendären Erbauer, nicht geschafft, die Perle und die offenbar nach ihrem Vorbild geschaffenen Raumschiffe so weit zu verstehen, dass ihr Kenntnis über deren technische Grundlagen gewonnen habt?«, wunderte sich Scobee. »Allein die Neugier hätte euch dazu bewegen müssen!« »Ich nehme an, Neugier war nicht unbedingt eine der Eigenschaften, die die Erbauer für die Verwalter ihrer Perlen bevorzugten.« »Sondern?« »Zuverlässigkeit und Gehorsam.« »Ich verstehe.« »Nein, das glaube ich kaum.« Die Antwort Ovayrans war durchaus reserviert. Zumindest hatte Scobee es so empfunden. Vielleicht ist das aber auch nur eine Projektion meinerseits!, dachte sie. »Es ist keineswegs so, dass wir nicht versucht hätten, die Erbauer zu finden«, hatte Ovayran zögernd gesagt. »Aber wer könnte behaupten, dass irgendeine andere Spezies im Universum bei der Erforschung ihrer Ursprünge erfolgreicher gewesen wäre! Der Mensch namens John Cloud, auf dessen Raumschiff du gereist bist, verstand doch wohl auch die technischen Grundlagen seines Schiffes nur mangelhaft. Eines Schiffes, das im Übrigen ebenfalls nicht von Angehörigen seiner Spezies erbaut worden ist, wie jeder sofort zu erkennen vermag, der auch nur einen Moment lang energetischen Kontakt zum Bordrechner hatte.« »Ich habe mit meiner Bemerkung die Fähigkeiten der Gloriden nicht herabsetzen wollen«, versicherte Scobee. Im Umgang mit Ovayran musste man offenbar immer aufpassen, auf dem schmalen Grat zwischen Offenheit und Diplomatie zu bleiben. Manche seiner Reaktionen verstand sie jedoch auch schlicht und ergreifend nicht. Aber das ging ihm gewiss ähnlich … »Im Grunde hast du vollkommen Recht, Scobee«, fand er, nachdem er ein paar Augenblicke lang scheinbar ziellos durch den Raum gewandert war und beinahe alle Gegenstände berührt hatte, die auf Scobees Wunsch zur Einrichtung gehörten. Viel war das nicht: ein
Bett, ein kleiner Schrank, die Konsole, eine Skulptur aus energetischer Pseudomaterie, an der sie gegenwärtig arbeitete … Gerade diese Skulptur schien es ihm angetan zu haben. Sie veränderte sich ständig – je nachdem, in welcher psychischen Verfassung man ihr gegenübertrat. Entweder bildete sie kompakte, starke Formen aus, oder sie zog sich im anderen Extremfall zu einem kleinen Ballon zusammen. Scobee hatte Deshralit – wie die energetische Pseudomaterie von Gloriden genannt wurde – auf Ovayrans Schiff kennen gelernt. Durch Kalibrierung eines Rechners, der mit einem Gravobeeinflusser verbunden war, konnte man die Ausformungen manipulieren und seine eigene Psycho-Statue erfinden. Immerhin vertrieb es sowohl die Zeit als auch depressive Stimmungen, die Scobee hin und wieder heimsuchten. »Wir hatten Äonen Zeit dafür, die Erbauer zu finden oder wenigstens ihre Technik so weit zu verstehen, dass wir in der Lage wären, die gegenwärtigen Probleme des Netzwerks selbst zu lösen. Aber eines solltest du vielleicht noch bedenken, Scobee.« Ihre Stirnmuskulatur bewegte sich. Die Tattoos, die bei ihr anstelle von Augenbrauen zu finden waren, hoben sich ein paar Millimeter empor. »Was?«, fragte sie. »Wer sagt uns, dass die Erbauer überhaupt wollten, dass wir sie finden?«, fragte Ovayran. »Wer sagt uns, dass sie in ihre Technik nicht vielleicht Spezifikationen eingebaut haben, die es verhindern, dass wir ihre Hinterlassenschaften verstehen.« »An diese Möglichkeit habe ich durchaus bereits gedacht, Ovayran«, erklärte Scobee. Aber es gab auch noch eine Möglichkeit, die Scobee viel näherliegend erschien, die sie allerdings Ovayran gegenüber verschwieg. Was, wenn die Erbauer dafür sorgten, dass irgendeine Spezifikation des gloridischen Organismus selbst verhindert, dass sie zu den Dingen in der Lage sind, die sie doch schon so lange anstreben? Scobee hatte schließlich erlebt, dass selbst die recht primitive Biotechnologie der Erde des mittleren 21. Jahrhunderts dazu in der Lage gewesen war, ein Programm in den genetischen Code der Gen-
Tecs einzubauen, das dafür sorgte, dass ein Klon unter allen Umständen loyal blieb. Ein Gehorsamkeitsprogramm, das sich sogar für die Gefolgschaft zu einzelnen Individuen anwenden ließ! War es wirklich so abwegig, dass auch die Erbauer etwas Derartiges mit den Gloriden getan hatten? Aber Scobee hatte mit Ovayran dieses Thema nicht vertiefen wollen. Einerseits war es zu dicht an dem, was ihre eigenen Albträume beflügelte, und andererseits hoffte sie wirklich inständig, dass die Gloriden mehr waren als nur bloße Marionetten der Perlenerbauer mit begrenzter Willensfreiheit.
Ovayran materialisierte in der Zentrale der AUGE DES PERIGOR. Sebuyan, einer von insgesamt fünf Steuermännern, die an Bord des von außen wie eine goldene Kugel oder die Miniaturausgabe einer CHARDHIN-Perle aussehenden Raumschiffs in wechselnden Dienstzeitquanten die Kontrolle über die Steuersysteme übernahmen, war gerade damit beschäftigt, den Rechner für die bevorstehende Fahrt durch den Leerraum zu kalibrieren. Insbesondere das Navigationssystem musste vor Antritt eines derartigen Fluges optimiert und an die Bedingungen des Leerraums angepasst werden. Normalerweise holte sich das Navigationssystem über die Außensensoren der AUGE DES PERIGOR ständig aktualisierte Positionsdaten herein, die durch Anpeilung von Sternenpositionen gewonnen wurden. Selbst bei einer so komplexen und hoch entwickelten Technologie, wie sie für das goldene Schiff kennzeichnend war, kam es sonst nämlich zu kleineren Abweichungen vom Kurs. Abweichungen, die sich auf kurzen Strecken kaum auswirkten. Aber auf Distanzen über zehntausende oder gar hunderttausende von Lichtjahren konnte die Abweichung von einem hundertstel Grad schon bedeuten, dass man sein Ziel um viele Lichtjahre verfehlte. Im Leerraum war diese Korrektur nur bedingt möglich. Es fehlten einfach nahe gelegene Fixpunkte für die Peilung. So musste auf weiter entfernte Objekte zurückgegriffen werden – fremde Galaxien, große und sehr aktive Pulsare, markante Radioquellen und anderes
mehr. Ovayran blickte zuerst auf den großen Holobildschirm, auf dem nur noch vereinzelt Sterne und ferne Galaxien zu sehen waren, darunter die Milchstraße. Die Mkuro-Triebwerke der AUGE DES PERIGOR liefen auf Hochtouren und hatten neunzig Prozent ihres Beschleunigungsvermögens erreicht. »Es wird eine Z-Raum-Turbulenz angezeigt«, meldete der gloridische Steuermann, der gerade sein Dienstzeitquantum in der Zentrale versah. »Ich werde die Triebwerksleistung auf 80 Prozent zurückfahren, um ein Überschreiten des mesonischen Grenzwertes zu vermeiden.« »Tu das«, stimmte Ovayran zu, obwohl ihm die damit verbundene Verzögerung ganz und gar nicht gefiel. Der Antrieb des goldenen Kugelschiffs basierte auf dem so genannten Z-Raum, einem Zwischenkontinuum. Die AUGE DES PERIGOR beschleunigte normalerweise mit der Kraft der Kleinen Perle bis auf die Hälfte der Lichtgeschwindigkeit. Ovayran hatte lange mit einem Gloriden in Verbindung gestanden, der sich Askuyan nannte und in einer 800 Millionen Lichtjahre entfernten CHARDHIN-Perle residierte, die sich im Zentrum einer Galaxie mit dem Namen PERIGORS HAND befand. Tatsächlich erinnerte die durch eine Galaxienkollision entstandene Form von PERIGORS HAND entfernt an eine siebenfingrige Hand und hatte daher ihren Namen erhalten. Außerdem hatte jener unbekannte Gloride, der dieser Galaxie ihren Namen verlieh, offenbar eine Vorliebe für die Sagengestalten der gloridischen Mythologie und den Namen auf Perigor, einen bekannten Helden aus jener Zeit, als die Gloriden noch vollkommen materiegebunden waren, bezogen. Eine Zeit, die im Bewusstsein von Ovayrans Volk so fern war, dass sie nur noch in Sagen und Legenden existierte. Der Gloride Askuyan jedenfalls hatte sich vorgenommen, die Natur jener Kraft der Kleinen Perle zu erkunden, die die Raumschiffe der Gloriden im Unterlichtbereich antrieb. Ovayran hatte lange mit ihm korrespondiert und ihn sogar be-
sucht, denn auch ihn hatte dieses Thema interessiert. Nicht so brennend stark wie Askuyan, der ihm offenbar sein gesamtes Leben – oder wie die Gloriden es auszudrücken pflegten: sein Existenzzeitquantum – gewidmet hatte. Aber immerhin stark genug, um die CHARDHIN-Perle im Zentrum von PERIGORS HAND regelmäßig zu besuchen. Solange das kosmische Netz einwandfrei funktionierte, war das keinerlei Problem gewesen. Wie weit eine Galaxie entfernt war, spielte für die Dauer des Transfers via Perle keine Rolle. Wichtig war nur, dass sich jenseits des Ereignishorizontes des zentralen Schwarzen Lochs eine CHARDHIN-Station befand. Doch nach und nach war die Verbindung zwischen den Perlen abgebrochen. Ovayran hatte die inzwischen von einem mysteriösen Aggressor eroberte Perle im Zentrum der Milchstraße erlebt – und vor kurzem war er in der Andromeda-Perle auf ähnliche Phänomene gestoßen. Das kosmische Netz, die Ewige Kette, war an mehreren Stellen bereits gerissen, und so war es auch zu einem unfreiwilligen Abbruch des Kontakts zwischen Ovayran und Askuyan gekommen. Als dieser seine Botschaften zunächst nicht beantwortet hatte, war in der Milchstraßen-Perle noch alles in Ordnung gewesen. Ovayran nahm an, dass Askuyan vielleicht dermaßen mit seinen Forschungen beschäftigt war, dass ihm einfach nicht einmal mehr das kleinste Minimalzeitquantum blieb, um jemandem, der einen sehr interessierten Anteil an seiner Forschung nahm, eine Antwort zukommen zu lassen. Erst die späteren Entwicklungen hatten Ovayran den Abbruch des Kontakts in einem anderen Licht erscheinen lassen. Die Perle im Zentrum von PERIGORS HAND war vielleicht genauso von der Außenwelt und dem kosmischen Netz abgeschnitten worden, wie dies nun auch mit Andromeda und vermutlich vielen weiteren Galaxien geschehen war, deren Perlen einfach keine Signale mehr empfingen. Weder Transporte noch Informationsübertragung schienen von einem gewissen Stadium an noch möglich zu sein.
Askuyan war jedenfalls der Ansicht gewesen, dass die Kraft der Kleinen Perle darauf beruhte, dass sich die gloridischen Raumschiffe an den Gravitationslinien entlangzogen, wie es primitive arachnoide Lebensformen an den netzartigen Strukturen taten, die sie ausspannten, um damit ihre Beute zu fangen. Allerdings basierte die Kraft der Kleinen Perle wohl nicht auf einem Netz, das von irgendjemandem aufgespannt worden war, sondern das sich ganz von selbst und den Gesetzen der Natur gehorchend gebildet hatte. Eine Struktur, die das gesamte Universum unsichtbar durchzog. Ovayran wusste, dass man mit der Kraft der Kleinen Perle durchaus auch noch weiter als bis zur halben Lichtgeschwindigkeit beschleunigen konnte. Aber ab diesem Wert begann sich der Effekt der Zeitdilatation auszuwirken. Ein Effekt, der den Betreffenden selbst in einer derart stabilen, über Äonen hinweg existierenden Gesellschaft wie der der Gloriden seiner Zeit entreißen und in eine unbekannte Zukunft schleudern konnte. Ein Gloride hatte daran normalerweise kein Interesse. Zwar war der Eintritt in den Z-Raum, der auch das Reich des Limbus genannt wurde, umso leichter, desto höher die Geschwindigkeit war und das betreffende Schiff sich der Lichtgeschwindigkeit annäherte. Aber da man bereits ab 0,5 LG unter der Voraussetzung, dass alle Systeme einwandfrei funktionierten, keinerlei Probleme beim Übertritt in das Reich des Limbus hatte, kam es kaum dazu, dass ein Gloridenschiff mit Hilfe der Kraft der Kleinen Perle den Wert von 0,5 LG überschritt. Die wenigen, die dies dennoch taten, hatten auch ihre Gründe dafür. Bei sehr wenigen war es vielleicht Forscherdrang, bei den anderen standen Schwierigkeiten im Existenzzeitquantum der Gegenwart dahinter, sodass sie die Flucht in ein fernes Zeitquantum antraten. Der Zwischenraum war ein Kontinuum, dessen Verständnis sich dem Gloriden vollkommen entzog. Ovayran wusste, dass die Gesetze der Physik des Normalraums dort nur bedingt galten. Aber es war keineswegs ein höherdimensionales Kontinuum wie der Hyperraum, der vor allem von Spezies, die die Gloriden für vergleichswei-
se primitiv hielten, zum Überlichtflug durch Transition genutzt wurde. Der Flug im Zwischenraum bedeutete nicht, dass das Gloridenschiff entmaterialisierte, wie es bei Transitionen jedweder Art der Fall war. Das goldene Schiff blieb lediglich in Form einer optischen Resonanz im Normalraum existent. Ein Trugbild, das für Messungen von außen nicht vom tatsächlichen Schiff unterscheidbar war. Zwischen Normalraum und Limbus existierte offenbar nur eine sehr dünne »Trennwand«, die es ermöglichte, während des gesamten Z-Raum-Flugs den Normalraum des durchflogenen Gebietes ortungstechnisch zu erfassen. Die AUGE DES PERIGOR hatte auf diese Weise zurzeit eine Existenzebene erreicht, die sie im Normalraum zu einem körperlosen Phantom machte, das in der Lage war, feste Materie zu durchdringen. Daher war das Schiff während des Z-Raum-Flugs so gut wie unangreifbar. Das galt allerdings nicht für die Unbilden des Zwischenraums, in dem es immer wieder zu Turbulenzen kam. Ausgelöst wurden diese Turbulenzen sehr häufig durch Verwerfungen im Netz der Gravitationslinien. Plötzliche Bewegung großer Massen konnte das bewirken. Es galt unter Raumkommandanten der Gloriden als ungeschriebenes Gesetz, dass man in solchen Fällen das Energielevel des ZRaum-Antriebs herunterschalten musste, da die Turbulenzen im Reich des Limbus ansonsten schwerwiegende Schäden am Schiff verursachen konnten. Sie brachten beispielsweise das Rechnersystem zum Kollaps – aus Gründen, über die wahrscheinlich kein einziger lebender Gloride wirklich Bescheid wusste. Im günstigsten Fall wurden bei besonders heftigen Turbulenzen verschiedene Sicherheitsschalter aktiviert, die das betreffende Kugelschiff dann in den Normalraum zurückkehren ließen. Aber wenn es zuvor zu einer plötzlichen Drosselung der Geschwindigkeit innerhalb des Z-Raums kam, wurde unter Umständen eine Rückkehr ins Normaluniversum unmöglich. Der Rechner kollabierte und falls er sich nicht wiederherstellen ließ, drohte eine ewige Gefangenschaft im Zwischenraum. Hier und da waren solche Schiffe beobachtet
worden. Sie irrlichterten als Geisterschiffe durch die Dunkelheit des Universums und hatten keinerlei materielle Substanz im Normalraum. Eine Beschleunigung des Geisterschiffs im Zwischenraum aus eigener Kraft war in den meisten Fällen auf Grund des kollabierten und nicht wieder herstellbaren Rechnersystems unmöglich. Kein Gloride besaß das Wissen der Erbauer, das offenbar dazu nötig war, um es dann von Grund auf neu konfigurieren zu können. Aber ein anderes Gloridenschiff konnte dem Geisterschiff auch nicht helfen. Eine Datenübertragung war zwar möglich, aber um die Mannschaft evakuieren zu können, hätte auch das Retterschiff seine Geschwindigkeit im Z-Raum mit dem Geisterschiff synchronisieren müssen, was bedeutete, dass bei den Rettern ebenfalls die Rechnersysteme kollabiert wären. Eine Reihe von Geisterschiffen war genau auf diese Weise entstanden. Manche von ihnen flogen schon seit ewigen Zeiten durch das All. Ihre Besatzungen hatten ihr Existenzzeitquantum schon seit langem verbraucht und befanden sich im Kontinuum der Nichtexistenz, wie Gloriden den Tod zu umschreiben pflegten. Eines dieser Geisterschiffe wurde gerade vom Ortungssystem erfasst. Ovayran hatte sich mit den Sensoren in direkte energetische Verbindung begeben, sodass er einen ungehinderten Zugriff auf die eingehenden Daten hatte. Manchmal fragte er sich, ob die einfachen, ausschließlich Materie gebundenen Völker, auf die Ovayran während seiner zahllosen Reisen in weit entfernte Gebiete des Universums gestoßen war, überhaupt dazu in der Lage waren, ohne eine energetische Teilentmaterialisierung einen vernünftigen Zugang zu den Rechnersystemen ihrer Schiffe oder anderen technischen Anlagen zu bekommen. Aber sie haben ihre Technik wenigstens meist aus eigener Kraft entwickelt!, meldete sich ein Kommentator, der irgendwo tief verborgen in seiner Seele lauerte und anscheinend nur darauf gewartet hatte, Ovayran mit einer kritischen Bemerkung einen Stich zu versetzen. Einen Stich, der im Übrigen genau ins energetische Zentrum traf, wie die Gloriden es auszudrücken pflegten. Ja, es stimmt. So primitiv diese Spezies auch sein mögen und so wenig
mich ihr Schicksal oder ihre Gewohnheiten in der Vergangenheit gekümmert haben – sie sind vielleicht doch in einer viel glücklicheren Lage als wir. Mühsam mussten sie sich ihre Technik erarbeiten. Aber gleichgültig, wie uneffektiv das erst gewesen sein mag und wie unzulänglich ihre Technik dann schlussendlich trotzdem war – sie erreichten all dies aus eigener Kraft. Und vor allem verstanden sie auch in der Regel, was sie taten. Sie wussten, warum ihre einfachen Mechanismen funktionierten. Wir Gloriden hingegen nutzen die Früchte der Erbauer-Technologie und sind noch nicht einmal in der Tage, das Rechnersystem zu rekonfigurieren, wenn es durch Z-Raum-Turbulenzen zum Kollaps gebracht wird! Ovayran ließ einen weiteren Holoschirm entstehen. Darauf war das Geisterschiff nun deutlich zu sehen. Dass es sich um ein Geisterschiff und nicht etwa um ein weiteres normales Gloridenschiff handelte, war dadurch erwiesen, dass es soeben einen Gasriesen durchflogen hatte, ohne dass sich dabei auch nur der kleinste messbarer Effekt gezeigt hätte. Und für ein Schiff im regulären Z-Raum-Flug war es schlicht und ergreifend zu langsam. Die Geschwindigkeit betrug gerade mal 0,0132 LG. So etwas kam nur bei Geisterschiffen vor. Darüber hinaus war das automatische Identifizierungssignal, dass von dem Schiff ausgesandt wurde, durch Z-Raum-Interferenzen stark verzerrt und viele Äonzeitquanten alt. Melancholische Gedanken bemächtigten sich Ovayrans Bewusstsein, während er die Daten über das Geisterschiff in sich aufnahm. Es erschien ihm wie ein Sinnbild gescheiterter Existenz. Weggeworfenes Leben, vergeudet aus Unachtsamkeit und der Unfähigkeit, die Systeme der goldenen Schiffe wirklich vollkommen verstehen und nicht nur benutzen zu können. »Es ist tatsächlich ein Geisterschiff. Die letzten Daten liefern dafür die endgültige Bestätigung!«, meldete jener Gloride, der im Augenblick sein Dienstzeitquantum als Ortungsoffizier in der Zentrale der AUGE DES PERIGOR ableistete. »Ja, ich weiß«, sagte Ovayran. »Wir können ihnen nicht helfen. Ihr ID-Signal ist darüber hinaus
bereits mehrere Äonzeitquanten alt«, erklärte der Ortungsoffizier. »Auch das ist mir bekannt.« »Offenbar geschahen auch in jener Vergangenheit, in der dieses Geisterschiff auf seine unglückselige Reise ging, Fehler Einzelner, die sich auf diese tragische Weise auswirkten …« »Nein«, sagte Ovayran. »Mit Fehlern Einzelner hat das nur bedingt etwas zu tun.« »Womit dann?«, fragte der Steuermann. »Hast du eine bessere Erklärung, Ovayran?« Die Antwort auf diese Frage blieb Ovayran schuldig. In diesem Augenblick öffnete sich eine der unsichtbar in die Wände eingelassenen Zugangstüren zur Zentrale der AUGE DES PERIGOR. Scobee trat ein. Die Brücke gehörte zu den Sektoren des Schiffs, die durch Korridore miteinander verbunden waren. Das galt allerdings längst nicht für alle Bereiche. Teile des Schiffs waren daher nur für Gloriden zugänglich, die einfach in ihre energetische Form wechselten, dabei eine Wand durchdrangen und sich am gewünschten Ort befanden. Für ein rein körperlich existierendes Wesen wie Scobee war die AUGE DES PERIGOR einfach nicht gemacht. Scobees Blick fiel unweigerlich auf die Holo-Projektion des Geisterschiffs. Sie zog die Stirnmuskulatur zusammen, wodurch sich die länglichen Tattoos zu Schlangenlinien kräuselten und über ihrer Nase eine tiefe Furche auf der ansonsten glatten Stirn erschien. »Ich wusste nicht, dass wir noch ein anderes Ziel ansteuern oder uns mit jemandem treffen«, stellte sie fest. »Das tun wir auch nicht«, erwiderte Ovayran. »Was du siehst ist nichts als ein Echo aus ferner Vergangenheit.« »So?« In knappen Worten versuchte Ovayran, Scobee zu erklären, was es mit den Geisterschiffen auf sich hatte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich wusste nicht, dass die Fahrt auf euren Schiffen derart gefährlich ist …«
»Das ist es eigentlich auch nicht«, erwiderte Ovayran. »Der Fehler liegt nicht bei den Schiffen, sondern bei uns. Wenn unsere Fähigkeiten größer wären, hätte man die Geisterschiffe vermeiden können. Aber letztlich sind und bleiben wir die Nachfahren des armen Perigor …« »Perigor?«, echote Scobee und zuckte anschließend mit den Schultern. »Das kommt im Namen deines Schiffes vor.« »Ja, das stimmt …«, bestätigte Ovayran mit ausdruckslosem Gesucht. »Ist Perigor der Name eines großen Gloriden aus eurer Vergangenheit.« »Ja, das könnte man sagen«, sagte Ovayran. »Allerdings ist Perigor nicht nur irgendein Held unserer Mythen. Er ist die Verkörperung unseres Ursprungs, auch wenn wir natürlich wissen, dass die Schilderungen über ihn wahrscheinlich reine Erfindung sind. Aber dass der Wert solcher Mythen auf einer übertragenen Ebene liegt, brauche ich dir ja wohl nicht zu erklären, Scobee.« Eigenartig, dachte Scobee. Die Erwähnung dieses Perigor scheint irgendetwas in ihm ausgelöst zu haben. Anders als sonst schien der Kommandant des goldenen Kugelschiffs im Moment alles andere als redselig zu sein. Er machte auf Scobee den Eindruck, in Gedanken versunken zu sein, auch wenn seinem Gesicht nicht das Geringste anzumerken war. »Wer war dieser Perigor, nach dem dieses Schiff benannt wurde?«, fragte Scobee und dachte dabei: Wenn Ovayran nichts dabei findet, mich mit seinen Gesprächswünschen zu überfallen, ohne dass es ihn dabei interessiert, ob mein Wunsch nach Kommunikation ebenso groß ist wie der seine, so brauche ich wohl auch kein schlechtes Gewissen zu haben, ihm Löcher in den Bauch zu fragen, wenn mir danach ist … Zunächst schwieg Ovayran. Scobee dachte schon, dass er das angesprochene Thema aus irgendeinem unerfindlichen Grund zu vermeiden versuchte und deswegen einfach schwieg, wie es ansonsten auch seine Art war. Aber das war nicht der Fall. Er schien einfach nur eine Weile gebraucht zu haben, bis er seine Gedanken geordnet hatte.
Ein Ruck ging durch seinen grazilen Körper. Er wandte Scobee den Kopf zu und sah ihr direkt in die Augen. »Das Schiff trug früher einen anderen Namen«, erklärte Ovayran. »Ich habe ihn geändert. AUGE DES PERIGOR – das passt sehr gut zu den Zielen, die ich mir gesetzt habe.« Erstaunlicherweise machte Ovayran jetzt etwas, was Scobee zuvor nur äußerst selten bei einem Gloriden gesehen hatte: eine Geste. Er deutete auf die Holodarstellung des Geisterschiffs, das gerade ein Asteroidenfeld durchflog, ohne dass es dabei zu Kollisionen kam. Es schwebte einfach durch die ungezählten Gesteinsbrocken hindurch, die seinen Weg kreuzten. Wie eine holographische Projektion, dachte Scobee. Ein Schiff, das hart an der Grenze zu unserer Realitätsebene entlangschrammt, ohne die unsichtbare Linie wieder überschreiten zu können … »Perigor ist eine gloridische Sagengestalt aus jener Zeit, da unser Volk noch vollkommen materieller Natur war und wir noch nicht über die Fähigkeit verfügten, uns in Energie zu verwandeln«, berichtete Ovayran. »Er war ein Gloride, dessen Existenzzeitquantum gerade begonnen hatte, das übrigens in jener Zeit noch viel knapper bemessen war, als es bei heute existierenden Gloriden der Fall ist. Perigor lebte in einer Galaxie, die unter der Bezeichnung Insel im Nichts in die Mythologie unseres Volkes eingegangen ist. Niemand weiß, ob die Insel im Nichts oder Perigor je existiert haben. Wir wissen nicht einmal, ob es tatsächlich jemals ein unerleuchtetes Zeitalter gab, in dem wir nicht den Erbauern der CHARDHIN-Perlen dienten, sondern ein auf uns selbst gestelltes, autonomes Leben führten. Es ist sogar möglich, dass wir in Wahrheit von den Erbauern geschaffen und gezielt herangezüchtet wurden, bis wir optimal an unsere Aufgaben angepasst waren … Aber so weit reicht die Erinnerung meiner Rasse nicht. Die Geschichte von Perigor spielt in jenem Äonzeitquantum, in dem sich alles miteinander verbindet und alles verliert: Wahrheit und Dichtung, Vergangenheit und der Wunsch nach einer Zukunft …« »Erzähle mir mehr von diesem Perigor«, hakte Scobee nach. Anstatt wochenlang nur darauf zu warten, dass das Schiff endlich die
heimatliche Milchstraße erreichte und sie sich dort umsehen und die neue Lage erkunden konnte, war es doch besser, etwas über die Kultur und Geschichte dieses seltsamen Volkes zu erfahren, dessen Fähigkeiten trotz Ovayrans Geringschätzung für die Leistungen seiner Spezies denen jedes Menschen ungeheuer weit überlegen waren. »Perigor hatte ein Raumschiff, das er DIE SUCHENDE nannte«, fuhr Ovayran fort. »Ein poetischer Name!«, meinte Scobee. »Vielleicht ist es ja auch nur Teil einer poetischen Erzählung und nicht der realen Geschichte!«, gab Ovayran zu bedenken. »Den größten Teil jener Galaxie, die die Gloriden Insel im Nichts nannten, war bereits von Perigors Volk erobert und besiedelt worden. Aber eine wabenförmige, irreguläre Zwerggalaxie die die Insel im Nichts umkreiste, war noch unerforscht. Perigor brach dorthin auf, obwohl die Oberen seines Volkes, die Inselweisesten, es ihm verboten hatten. Perigor jedoch stellte gegen alle Tradition und jedes Tabu seine eigene Weisheit über die Weisheit der Inselweisesten und brach auf. Ohne Zwischenfälle reiste er mit Hilfe der DIE SUCHENDE – bei der es sich keineswegs um einen perlenförmigen Raumer, wie er heute bei den Gloriden gang und gäbe ist, handelte, sondern um ein kreuzförmiges und sehr langes Schiff, das konzipiert war, um dauerhaft darauf zu leben … Zumindest wird das in der Überlieferung so berichtet. In der Zwerggalaxie, die unter der Bezeichnung Die Geheimnisvolle bekannt war, da es in ihrem Inneren sehr große Ortungsschatten unbekannter Ursache gab, traf Perigor auf eine Spezies, die in der Überlieferung als die Baumeister bezeichnet werden. Sie waren die Ursache der Ortungsschatten, denn sie verfügten über einmalige Fähigkeiten, sich zu tarnen und abzuschirmen. Ihre Wissenschaft und Technik war jener der Gloriden weit voraus. Selbst in vielen Äonzeitquanten hätten die Gloriden diesen Wissensstand nicht erreichen können. Perigor war beeindruckt, und die Baumeister machten ihm einen Vorschlag. Sie wollten ihm all ihr Wissen zugänglich machen, wenn er dafür bereit wäre, ihnen bedingungslos zu dienen.« »Klingt nach einem Angebot, von dem man besser die Finger las-
sen sollte«, meinte Scobee. Ovayran wandte das Gesicht in ihre Richtung. Er musterte sie ausdruckslos, seine Züge waren so weich und unkonturiert, dass man sich schwer vorstellen konnte, wie dieses androgyne Wesen überhaupt je zu einem regelrechten Zornesausbruch fähig sein sollte. »Perigor sah dies der Überlieferung nach vollkommen anders«, sagte Ovayran. »Er war viel zu fasziniert von den technischen Errungenschaften und Wundern, die er bei den Baumeistern kennen lernte, um ihr Angebot abzulehnen. So übergaben die Baumeister ihm einen Gegenstand, der wie ein übergroßes Juwel aussah. Sie nannten es Das Auge des Wissens und implantierten es ihm – genau in die Mitte der Stirn. Aber sie verbanden noch eine weitere Bedingung mit dieser Gabe: Perigor durfte sein Wissen nicht ohne Erlaubnis der Baumeister mit anderen teilen.« »Solche Geschichten haben es an sich, dass diese Bedingung nicht eingehalten wird«, sagte Scobee. »Ich nehme an, bei Perigor war das auch so!« »Er kehrte zur Insel im Nichts zurück«, berichtete Ovayran. »Die Baumeister hatten ihn mit dem Auftrag in seine alte Heimat zurückgeschickt, weitere Gloriden zu rekrutieren, die würdig waren, ebenfalls mit Augen des Wissens ausgestattet zu werden und den Baumeistern zu dienen. Nur die Besten der Besten sollten dafür in Frage kommen. Insbesondere brauchten die Baumeister Wartungspersonal für ihre wichtigsten Bauwerke – die Perlen am Rand der ewigen Finsternis, oder auch CHARDHIN-Perlen genannt. Die Knotenpunkte ihres kosmischen Netzes mussten ständig bemannt sein. Die Zahl der Baumeister hingegen war dazu einfach nicht groß genug. Perigor erfüllte seine Aufgabe, indem er den Baumeistern viele der Besten unter den Gloriden zuführte, die bereit waren, ihre Selbstständigkeit und Autonomie gegen die Teilhabe am unermesslichen Wissen dieser geheimnisvollen Wesen zu erkaufen, die sich selbst als Baumeister des Kosmos betrachteten. Aber Perigor tat noch etwas anderes. Er stellte sein Wissen dem Inselweisesten zur Verfügung. Und diesem drängte sich natürlich sofort die Frage auf: Warum sollen die Besten unter uns den Baumeis-
tern dienen, wo wir doch über Perigor eine Möglichkeit haben, uns dasselbe Wissen zunutze zu machen, das die Baumeister erst in vielen Äonzeitquanten erlangten? Und so machte der Inselweiseste Perigor – ebenso wie es die Baumeister getan hatten – ein Angebot, das so verlockend war, dass der Held dieser alten Sage es nicht abzulehnen vermochte. Der Inselweiseste sagte: ›Hilf mir, durch das Wissen der Baumeister ein mächtiges Gloriden-Reich aufzubauen. Du wirst großen Einfluss bekommen und an meiner Seite über dieses Reich herrschen. Bald, so wirst du sehen, hat unser Reich die Macht der Baumeister in den Schatten gestellt und wir können ihre Perlen am Rand der ewigen Finsternis eine nach der anderen erobern und selbst übernehmen.‹ Perigor war von diesem Vorschlag sehr angetan und versprach, dem Inselweisesten zu helfen. Aber die Baumeister erfuhren von den Plänen, die der Inselweiseste und seine Getreuen geschmiedet hatten und die letztlich darauf hinausliefen, zur stärksten Macht im bekannten Universum zu werden. Doch die Baumeister waren keineswegs bereit, tatenlos zuzusehen, wie jemand sie so schändlich hinterging. Sie schickten die Nashkandoo – das bedeutet in der Sprache der Altvorderen so viel wie die brutalen oder die Rücksichtslosen. Die Nashkandoo waren den Baumeistern so ergeben, wie es die Gloriden hätten sein sollen. Ein blutiger Rachefeldzug begann. Perigor geriet in Gefangenschaft der Nashkandoo. Ihm wurde das Auge des Wissens wieder entfernt. Die Baumeister bestraften die Gloriden damit, dass bis zum Ablauf des nächsten Äonzeitquantums kein Gloride die Ehre haben würde, den Baumeistern zu dienen, geschweige denn, an ihrem Wissen teilzuhaben. Stattdessen wurden von ihnen nun die Nashkandoo privilegiert.« »Was geschah mit Perigor?«, erkundigte sich Scobee. »Er wurde in das Stadium der Nicht-Existenz versetzt, so wie es dem Gesetz der Baumeister entsprach, die Perigors Tat als so schwerwiegend ansahen, dass sie eigentlich nicht zu sühnen war. Dem Inselweisesten hätte das Gleiche gedroht, sofern sie erkannt hätten, welch entscheidende Rolle er bei der Sache gespielt hatte. Doch das war offenbar nicht der Fall. So überlegen die Baumeister in
anderer Hinsicht auch gewesen sein mochten, der Inselweiseste schaffte es trotz all seiner erwiesenen Falschheit, die Baumeister wieder auf seine Seite zu bekommen. Er bot an, den Baumeistern auch ohne den Transfer von Wissen zu dienen. Und das ist leider der Zustand, der bis heute anhält. Wir sind in der Lage, die CHARDHIN-Perlen oder die goldenen Raumschiffe zu bedienen. Aber schon die Fertigung des kleinsten Ersatzteils würde unsere technischen Fähigkeiten übersteigen.« Scobee begann jetzt, die Namensgebung für das Schiff des Gloriden zu verstehen. »Dann bist du jetzt ausgezogen, um das verlorene Wissen Perigors zurückzugewinnen?« »Auf welche Weise das auch immer geschehen mag – ja. Wir haben auch gar keine andere Wahl, als endlich in diese Bereiche der Erkenntnis vorzudringen. Und was diese Legende angeht … Vielleicht ist sie nur ein Vehikel, um den Gloriden zu erklären, weshalb sie sich auf dem hohen Stand ihrer Fähigkeiten für mindestens ein halbes Äonzeitquantum zur Ruhe setzten und die Dinge sich selbst überließen!«
2. Der schwärzeste Punkt in der Dunkelheit »Sie ist ein Mensch«, sagte Ovayran. »Du sagst das so, als würde es etwas entschuldigen«, gab Dbaskuyan zurück. Er war einer der Steuermänner an Bord der AUGE DES PERIGOR und genoss Ovayrans vollkommenes Vertrauen. Die energetischen Divergenzen waren kaum messbar. Die beiden Gloriden waren soeben in jenem Raum materialisiert, in dem die ritualisierte Energieaufnahme stattfand. Überall saßen Gloriden in Schalensitzen unter trichterförmigen Apparaturen. »Die Menschenfrau mag ihre Unzulänglichkeiten haben«, gestand Ovayran zu. »Unzulänglichkeiten, die typisch sind für materiell gebundene Lebensformen, wie du sehr wohl weißt.« »Unzulänglichkeiten, die man ihr deswegen nicht zum Vorwurf machen kann?«, fragte Dbaskuyan. »Darüber bin ich mir nicht schlüssig«, bekannte Ovayran. »Jedenfalls ist es interessant, ihren Standpunkt zu verschiedenen Dingen zu erfahren. Es kann erfrischend sein, auf diese Weise eine andere Perspektive zu bekommen. Ist das wirklich so schwer vorstellbar?« »Ich weiß nicht. Die Frage ist doch immer, ob eine bestimmte Perspektive auch eine Relevanz für die eigene Erkenntnis hat«, fand Dbaskuyan. »Ich glaube nicht, dass es wirklich sinnvoll ist, die Gedanken irgendwelcher primitiver Lebensformen kennen zu lernen, zumal es sich in diesem Fall noch als besonderes Hindernis erweist, dass die Kommunikation nur auf akustisch-verbaler Ebene möglich ist und nicht durch einen direkten Austausch auf energetischer Ebene, der um so vieles schneller durchzuführen ist.« Die beiden Gloriden setzten sich in freie Schalensitze, über denen jeweils die Trichter zur Energieaufnahme hingen. »Ich habe gehört, dass diese Menschenfrau tatsächlich auf Nah-
rungsmittel als Energielieferanten angewiesen ist«, sagte Dbaskuyan, nachdem er durch einen leichten energetischen Impuls dafür gesorgt hatte, dass sich die Anlage auf seinen Kopf herabsenkte. Das Ritual der Energieaufnahme war eines der wichtigsten sozialen Ereignisse im Leben der Gloriden. Es diente auch der Kommunikation. Oft wurden in den Energieaufnahmeräumen Besprechungen durchgeführt, während alle Teilnehmer gemeinsam den energetischen Transfer durchführten. »Du hast richtig gehört, was die Energieaufnahme der Menschenfrau angeht«, bestätigte Ovayran zum blanken Erstaunen seines Gesprächspartners. »Diese Art der Ernährung mag uns in unserem heutigen Stadium exotisch vorkommen, aber Tatsache ist, dass sie im gesamten Universum sehr verbreitet ist und auch unsere Vorfahren –« »Sprich es nicht aus, Ovayran! Es ist so ekelhaft, dass einem der Energiehunger vergehen kann!«, meldete sich einer der anderen Gloriden zu Wort. Sein Name war Retoyan. »Es war aber so!«, verteidigte sich Ovayran – nicht ohne eine gewisse Freude am Schauder des anderen. »Wie auch immer – solche Themen bitte nicht beim Transfer!«, beharrte Retoyan, der für sein Festhalten an traditionellen Umgangsformen bekannt war. »Ich wusste nicht, dass du so zart besaitet bist, Retoyan!«, spottete Ovayran. Einige mental-energetische Entladungen umflorten Dbaskuyan. Aber da sie nicht feindselig waren, glaubte Ovayran die Grenzen des Humors nicht wirklich überschritten zu haben. Der Kommandant und Schiffsweiseste der AUGE DES PERIGOR wandte sich erneut Dbaskuyan zu, um den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. »Hör zu, ich möchte dir mal …« »Ja, zu Perigors Zeiten haben unsere Vorfahren vielleicht auch Nährstoffe aufgenommen und biochemisch umgewandelt, anstatt an einem direkten Energietransfer teilzunehmen«, fiel Dbaskuyan dem Kommandanten des Schiffes ins Wort, was in der gloridischen
Kultur durchaus nicht als Autoritätsverletzung des Vorgesetzten angesehen wurde. Das freie Wort, der freie Gedanke galten viel unter den Gloriden und die Autoritätsverhältnisse beschränkten sich streng auf jene Bereiche, die von dienstlichen Belangen geprägt waren. Ansonsten stand niemandem ein besonderer, über das normale Maß hinausgehender Respekt oder gar unverhältnismäßige Ehrerbietung zu. Weder dem Kommandanten eines Raumschiffs noch dem Perlenweisesten einer Chardhin-Perle. Die Gleichberechtigung aller hatte eine lange Tradition bei den Gloriden. Letztlich ging sie bis auf die legendäre Zeit Perigors zurück, als die Gloriden der Sage nach noch ein ganz normales, materiell gebundenes Volk gewesen waren, das die so genannte Insel im Nichts besiedelt hatte. Selbst der Inselweiseste hatte in jener mythischen Zeit keinerlei Privilegien besessen. Seine Autorität war ausschließlich durch die Aufgabe bestimmt gewesen, die er zu erfüllen gehabt hatte und für die nach Möglichkeit immer der Fähigste erwählt worden war. »Wie hat sich das Schiff technisch darauf einstellen können, für die Menschenfrau regelmäßig Nährstoffe herzustellen?«, fragte Dbaskuyan. »Ich bin zufrieden mit dem Ergebnis«, sagte Ovayran. »Kambesyan hat die Kalibrierung des Teilsystems vorgenommen. Die Menschenfrau äußerte allerdings ein wenig Kritik, was die geschmacklichen Qualitäten der für sie nach bestem biochemischen Wissen kreierten Lebensmittel angeht.« »Geschmack …«, echote Dbaskuyan. »Ich habe immer gedacht, so etwas gäbe es nur in diesen Geschichten um Perigor …« »Wie passend, dass unser Schiff seinen Namen trägt!«, mischte sich Retoyan erneut ein. »Wofür du maßgeblich die Verantwortung trägst, Ovayran«, gab Dbaskuyan zu bedenken. »Du weißt, dass ich für eine andere Namenswahl gewesen wäre …« »Ja, ich erinnere mich …«, bestätigte Ovayran. Der Schiffsweiseste ließ den angenehm prickelnden Energiestrom in sich hineinfließen. Danach würde er sich kräftiger fühlen. Stärker.
Wacher. Lebendiger. »Vielleicht ist das unser Fehler …«, murmelte er. »Während einer Unterhaltung mit der Menschenfrau ist mir der Gedanke gekommen …« »Was?«, hakte Dbaskuyan nach. »Dass wir viel zu lange nur auf uns selbst und unsere eigenen Belange gestarrt haben – bis auf wenige Ausnahmen, die sich für die materiell gebundenen Lebensformen interessierten und sich einen Rest von Forscherdrang bewahrten! Wir lebten auf unseren CHARDHIN-Perlen in der Gewissheit, dass die Erbauer an jede Eventualität gedacht und vorgesorgt hätten. Die zeitliche Permanenz der Perlen schien Sicherheit zu verheißen. Ewigkeit. Vom Anbeginn bis zum Ende aller Zeiten, wenn das Universum eines Tages seinen Hitzetod erleiden würde. Aber selbst diese Sicherheit können wir seit dem letzten Besuch auf der Andromeda-Perle nicht mehr als gegeben ansehen.« »Ovayran! Überhitze deine energetische Sphäre nicht!«, forderte Dbaskuyan. »Worüber kommunizieren wir denn hier? Über den Permanenz-Verlust lediglich einer einzigen CHARDHIN-Perle …« Ovayran widersprach jedoch entschieden. »Nein, Dbaskuyan. Ich bin überzeugt, dass dies nur der Anfang ist, an dessen Ende ein vollkommen zerstörtes kosmisches Netz steht. Die Risse in diesem Netz sind doch jetzt schon unübersehbar.« Ovayran brach ab. Er sprach nicht weiter. Die Gedanken, die ihn bewegten, schienen ihm im Moment nicht geeignet zu sein, um über sie öffentlich zu kommunizieren. Zumindest nicht, bevor er sich darauf nicht besser mental vorbereitet hatte, denn ihm war bewusst, dass er nur dann Kommandant dieses Schiffes bleiben würde, wenn es ihm gelang, trotz der angespannten Lage die persönliche Stabilität aufrecht zu halten. Vielleicht, so dachte Ovayran, steht auch das Ende der Gloriden unmittelbar bevor, auch wenn niemand dies bereits zugeben mag. Und was war mit den Erbauern? Wo waren jene Wesenheiten, die in der Legende um Perigor als Baumeister bezeichnet wurden? Warum schwiegen sie im Verborge-
nen und beobachteten vielleicht aus sicherer Distanz das Geschehen, das ihren Dienern nun zum Verhängnis wurde? Wenn ihr euch schon so klammheimlich, wie es mir den Anschein hat, von der kosmischen Bühne fortgestohlen habt, so hättet ihr wenigstens an die Folgen für jene denken können, die bereit waren, euch zu dienen.
Scobee verlor etwas den Bezug zur Zeit. Nur ihr Chronometer ließ sie noch einigermaßen ein Gespür für die Spannen behalten, die auf der Erde galten und letztlich von den astronomischen Daten ihrer Heimat abgeleitet worden waren. Ovayran bot ihr an, über eine Konsole in der Zentrale der AUGE DES PERIGOR Zugang zu den Ortungsdaten zu bekommen und damit Nachforschungen anstellen zu können. »Sobald wir deine Heimatgalaxie erreicht haben, bist du mit den Systemen vertraut und kannst dann das tun, weswegen du in die Milchstraße zurückkehren willst – dich umsehen!« Scobee hielt das für einen guten Vorschlag. Ovayran war sogar dafür, ihr offizielle Dienstzeitquanten zuzuteilen, doch unter den anderen gloridischen Besatzungsmitgliedern gab es dagegen starke Vorbehalte. Insbesondere Steuermann Sebuyan war strikt dagegen. Es gefiel ihm einfach nicht, dass eine Fremde wie Scobee als gleichwertiges Besatzungsmitglied angesehen wurde. Nicht einmal pro forma schien er das hinnehmen zu können. Scobee bestand auch keineswegs darauf. Sie war nur froh, eine Aufgabe zu haben. Die Handhabung der Konsole hatte sie sehr schnell heraus. Schon nach wenigen Tagen konnte sie sehr gut mit dem System umgehen. Sie führte verschiedene Messungen durch, versuchte einige der Zwerggalaxien anzupeilen, die um Andromeda kreisten, und spezialisierte sich schließlich für eine gewisse Weile auf einsame Sterne im Leerraum. Sterne, die wie übrig gebliebene Materiekrümel im Nichts herumvagabundierten und aus irgendeinem Grund bisher der Anziehungskraft jener gigantischen Schwarzen Löcher entgangen waren,
die sich im Kern jeder Galaxie befanden. Es gab mehr solcher Systeme, als Scobee ursprünglich geglaubt hatte, nur verloren sie sich in der Unendlichkeit, sodass man sie normalerweise nicht wahrnahm. Selbst unter Einbeziehung empfindlichster Ortungstechnik nicht.
Etwa ein Drittel der Strecke zwischen Andromeda und Milchstrasse hatte die AUGE DES PERIGOR inzwischen hinter sich gebracht. Dabei hatte sie sich permanent im Z-Raum-Flug befunden. Die ganze Zeit über war sie als quasi immaterielles Phantom durch den Leerraum gerast. Ein Beobachter im Normaluniversum hätte sie je nach eigener Position und Geschwindigkeit nur als eine Lichterscheinung wahrnehmen können, die sich scheinbar auch mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegte. Eine Täuschung, denn im Z-Raum flog sie mit einem Vielfachen dessen. Irgendwann wurde die Differenz zwischen dem NormalraumPhantom und dem im Z-Raum dahinrasenden Gloridenschiff zu groß. Das Phantom löste sich dann plötzlich auf und materialisierte Lichtjahre entfernt. Dem zeitweiligen Verantwortlichen für die Ortung fielen eigenartige Impulse auf, die von einem bestimmten Punkt mitten im Leerraum herrührten. Scobee überprüfte die Peilungen. Sie fand nicht den geringsten Fehler. »Meiner Analyse zufolge handelt es sich um leichte, aber periodisch auftretende Raumzeitverzerrungen«, meinte Scobee. Der Verantwortliche für die Ortung stimmte ihr zu. »Das Gesamtergebnis läuft auf die Existenz eines Schwarzen Lochs hinaus«, äußerte er. »Es kann nur noch eine Frage der Zeit sein, bis wir dessen Masse orten werden.« Im Grunde war die Existenz eines Schwarzen Lochs hier draußen im Leerraum nicht weiter ungewöhnlich. Eine jener Sonnen, die in dieser Leere existierten, war den Sternentod gestorben und hatte dasselbe Schicksal erlitten, das auch Sonnen bestimmten Typs inner-
halb von Galaxien unweigerlich bevorstand. Der Unterschied war in erster Linie, dass ein Schwarzes Loch im Leerraum zwischen den Galaxien optisch so gut wie überhaupt nicht auffiel, da es von einem Beobachter in der Regel nicht vor dem Hintergrund zahlloser leuchtender Fixsterne wahrgenommen werden konnte, deren Licht durch die unvorstellbar hohe Gravitationskraft verzerrt wurde. Scobee nahm eine Strukturanalyse der Gravitationslinien vor. Das Rechnersystem des Gloridenschiffs war außerordentlich benutzerfreundlich, auch wenn es eigentlich auf die viel höhere Eingabegeschwindigkeit durch die Übertragung energetischer Impulsmuster ausgerichtet war und nicht auf die Bedienung über Sensorfelder. Die Datenbank des Gloridenschiffs enthielt eine schier unüberschaubare Menge an Vergleichsdaten anderer Schwarzer Löcher. Ein statistischer Abgleich wurde automatisch erstellt. »Es gibt eine erhebliche Abweichung von den ansonsten für Schwarze Löcher typischen Verzerrungswerten«, stellte der für die Ortung Verantwortliche fest. Sein Name war Gebosyan, wie Scobee inzwischen mitbekommen hatte. Gebosyan wandte sich an Ovayran. »Ich interpretiere die Daten so: Es handelt sich zwar um ein Schwarzes Loch, aber es muss eine Besonderheit dort geben, denn die Verzerrungen der Gravitationslinien sind sehr untypisch. Außerdem korrelieren sie mit Verzerrungen der Raumzeitstruktur auf eine Weise, für die es in der Datenbank bislang kein Vergleichsmuster gibt.« »Ovayran, ich bin dafür, dass wir die Koordinaten dieses Schwarzen Lochs anfliegen, um nach der Ursache zu sehen«, mischte sich Scobee ein. »Es gibt gewiss viele interessante Phänomene im Leerraum«, gab Ovayran zu. »Aber wir sind nicht hier, um diese zu erforschen.« »Aber dieses Schwarze Loch liegt genau auf einer imaginären Linie Andromeda-Milchstraße, wie mir die Kartenfunktion des Rechners zeigt.« »Was vermutest du?«, fragte Ovayran. Scobee zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber es würde uns allenfalls ein paar Mittelzeitquanten kosten, wenn wir den Z-Raum-
Flug unterbrechen und das Objekt ansteuern.« »Dass dieses Objekt, wie sich unser Gast auszudrücken beliebt, in einer sehr speziellen geometrischen Beziehung sowohl zum Zentrum Andromedas als auch zum Zentrum der Milchstraße steht, hebt es zweifellos aus der Menge anderer Schwarzer Löcher hervor!«, gab Dbaskuyan zu. »Ehrlich gesagt, vermag ich da nicht an einen Zufall zu glauben. Diese doch sehr eigenartigen, von der Norm abweichenden Verzerrungen könnten künstlichen Ursprungs sein.« »Du meinst doch nicht etwa, dass sich im Leerraum eine CHARDHIN-Perle befindet?«, sagte Ovayran. »Nein, denn die verursacht keine zusätzlichen Verzerrungen«, erklärte Dbaskuyan. »Allerdings könnte es sein, dass wir auf eine andere technische Hinterlassenschaft treffen …« Er hat es nicht ausgesprochen!, dachte Scobee. Dbaskuyan hat nicht die Erbauer erwähnt, obwohl er zweifellos sie als Urheber dieser technischen Hinterlassenschaft in Verdacht hatte! Warum nicht? Wegen des übergroßen Respekts vor diesen legendären Wesen, deren Dienervolk die Gloriden seit so langer Zeit sind? Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen in der Zentrale der AUGE DES PERIGOR. Die Worte Dbaskuyans schienen auf die anderen anwesenden Gloriden durchaus Eindruck gemacht zu haben. Allerdings wusste Scobee den Grund dafür nicht wirklich einzuschätzen. Sie fragte sich einige Augenblicke lang, ob sie selbst vielleicht die Erbauer ins Gespräch bringen sollte. Falls es irgendein unausgesprochenes Tabu unter den Gloriden gab, so war sie als Außenstehende zweifellos am besten geeignet, es zu durchbrechen. Im schlimmsten Fall konnte sie sogar eher mit Nachsicht rechnen als einer der Gloriden. Keine Feigheit vor den Freunden!, nahm sich Scobee also vor und sagte laut: »Wenn dieses Objekt doch offenbar mit den CHARDHINPerlen in Beziehung steht, euer Volk davon aber bisher keine Kenntnis hatte und es auf keiner eurer Karten verzeichnet ist, so könnte es sich doch um eine technische Anlage aus der Frühzeit des kosmi-
schen Netzes handeln. Etwas, das nur Bedeutung hatte, solange die Ewige Kette noch in der Aufbauphase war, und später einfach zurückgelassen wurde. Es gab auch keinen Grund, um euch, die Wächter und Erhalter der Perlen, darüber zu informieren, da es keine Bedeutung mehr hatte. Aber heute könnte es uns vielleicht Hinweise auf die Erbauer geben!« Die Antwort war Schweigen. Lange quälende Augenblicke vergingen, ohne dass sich einer der Anwesenden äußerte. Sie standen starr da. Vielleicht spürten sie gegenseitig ihre Gemütszustände und Emotionen anhand der energetischen Emissionen, die von den Gloriden ausgingen. Aber das war eine Welt, die Scobee verschlossen war und zu der sie niemals Zugang haben würde. Sie tauschen so etwas wie energetische Blicke, und ich kann nichts davon sehen!, ging es ihr durch den Kopf. »Die Möglichkeit besteht tatsächlich«, gab Ovayran zu. »Sehr wahrscheinlich ist es nicht, dass sich hier eine Hinterlassenschaft der Erbauer befindet!«, gab Gebosyan zu bedenken. »Andererseits würde uns eine genauere Aufklärung des Sachverhalts wahrscheinlich tatsächlich nicht mehr als ein paar Mittelzeitquanten kosten …« Ovayran holte nacheinander die Meinung sämtlicher auf der Brücke befindlicher Gloriden ein. Schließlich traf er als Kommandant und Schiffsweisester eine Entscheidung. »Wir werden dieses Objekt ansteuern und die Ursache für die Verzerrungen erforschen«, erklärte er. »Aber ich werde unseren Aufenthalt auf drei Mittelzeitquanten begrenzen, falls sich nicht im Verlauf der Mission neue Gesichtspunkte ergeben, die die Annahme erhärten könnten, dass wir es tatsächlich mit einem Relikt der Erbauer zu tun haben!« Ovayran nahm die zustimmenden energetischen Schwingungen durchaus wahr. Zufriedenheit breitete sich in ihm aus, und seine innere Stabilität erreichte einen selten gekannten Gipfel. Warum haben sie so sehr gezögert, bevor sie es überhaupt gewagt haben, an die Möglichkeit zu denken, dass wir auf ein Relikt der Erbauer stoßen könnten?, fragte sich Scobee erneut. Scheuen sie instinktiv davor zu-
rück? Fürchten sie die Wahrheit? Ich werde Ovayran bei Gelegenheit darauf ansprechen.
Je weiter sich die AUGE DES PERIGOR dem Objekt näherte, desto größer wurde die sich ansammelnde Datenfülle. Mit immer größerer Gewissheit ließ sich nun sagen, dass es sich tatsächlich um ein Schwarzes Loch handelte. Keines jener gewaltigen, Materie verschlingenden Megamonster, wie man sie innerhalb des Zentrums von Galaxien fand, sondern ein vergleichsweise kleines Exemplar seiner finsteren Gattung. Da dieses einsame Schwarze Loch inmitten der Großen Leere zwischen den Galaxien so gut wie keine interstellare Materie in seiner Umgebung vorfand, gab es auch nicht den charakteristischen JetStream. Der Z-Raum-Antrieb wurde gedrosselt und der Übertritt in den Normalraum vorbereitet. Dieser Übertritt musste so erfolgen, dass die Austrittsgeschwindigkeit nicht wesentlich über 0,5 LG lag, um Effekte, die mit der Zeitdilatation zusammenhingen, tunlichst zu vermeiden. Auf den Holo-Projektionen in der AUGE DES PERIGOR war lediglich eine Veränderung der Geschwindigkeit durch die scheinbar verlangsamte Bewegung ferner Galaxien erkennbar. Ansonsten wies nichts darauf hin, dass das Gloridenschiff den Zwischenraum verlassen hatte. Jetzt wurde die für den Unterlichtbereich gebräuchliche Kraft der Kleinen Perle eingeschaltet, um den Bremsvorgang einzuleiten. Ein Rumoren durchlief das Schiff. Scobee hielt dies zunächst für eine normale, mit der Aktivierung der Kraft der Kleinen Perle einhergehende Erscheinung. Aber die Hektik, die jetzt die gloridische Besatzung zu erfüllen begann, machte ihr deutlich, dass dies offenbar doch nicht der Fall war. Die humanoiden Gesichter blieben weiterhin regungslos. »Was ist los?«, fragte Scobee, nachdem das Rumoren schließlich immer lauter wurde und das Schiff in Schwingungen versetzte, die
auch ihren Körper durchdrangen. Das unangenehme Gefühl, von innen zerrissen zu werden, durchflutete sie. Sie hielt sich an der Konsole fest, die man für sie eingerichtet hatte. Nur ganz am Rande bekam sie mit, dass die angemessenen Verzerrungen jetzt in unmittelbarer Nähe des gloridischen Schiffs Höchstwerte erreicht hatten. Dann war es plötzlich vorbei. Scobee taumelte zu Boden. Ein Gefühl der Benommenheit beherrschte sie. Sie hatte Mühe, ihre Gedanken klar zu ordnen. Was ist geschehen? Werden jetzt auch schon die Raumschiffe der Gloriden von Fehlfunktionen heimgesucht? Ovayran half ihr auf. »Die Gefahr ist vorbei.« »Was war das?« »Die Verzerrungen, die von dem Schwarzen Loch ausgehen, haben sich unmittelbar auf das Schiff übertragen können, als wir die Kraft der Kleinen Perle aktivierten. Dieser Antrieb basiert ja auf der Nutzung der Gravitationslinien, über die sich diese speziellen Raum-Zeit-Verzerrungen offenbar hervorragend fortpflanzen und dann im Schiff wie bei einem Resonanzkörper verstärkt haben! Wir haben jetzt die Kraft der Kleinen Perle erst einmal deaktiviert. Allerdings können wir ohne sie auch keinen Gegenschub erzeugen und bremsen.« »Dieses Problem werde ich schon in den Griff bekommen!«, mischte sich Dbaskuyan in das Gespräch ein. Der Steuermann der AUGE DES PERIGOR wandte den Kopf in Richtung seines Kommandanten. »Es müsste möglich sein, die Verzerrungen herauszufiltern und eine Resonanzbildung zu verhindern.« »Versuch dein Bestes.« »Die Erbauer scheinen dieses Problem gekannt zu haben«, erklärte Dbaskuyan wenige Augenblicke später. »Das Rechnersystem bietet mir eine Funktion zur Einrichtung eines wirksamen Filters an.« Einen solchen Filter werden wir auch dringend brauchen!, dachte Scobee. Ohne funktionierenden Unterlichtantrieb haben wir nicht den Hauch einer Chance, der Anziehungskraft des Schwarzen Lochs zu entkommen …
Die Einrichtung dieses Filters war nicht ganz so einfach, wie Dbaskuyan zunächst geglaubt hatte. Und so lange war die AUGE DES PERIGOR ohne Antrieb. Das bedeutete auch, dass sie ihre Fahrt nicht durch Gegenschub abbremsen konnte. Immer weiter näherte sich das goldene Glorienschiff dem Objekt, dessen sogartige Gravitation inzwischen auch spürbar wurde. Die AUGE DES PERIGOR wurde durch diesen Sog sogar noch beschleunigt. »Gibt es nicht vielleicht noch irgendeine andere Möglichkeit, die Annäherung abzubremsen?«, fragte Scobee. Ovayran konnte ihr in dieser Hinsicht keine Hoffnung machen. »Wir besitzen zwar an Bord gloridischer Schiffe noch eine dritte Antriebsart, aber die ist ausschließlich für die Region jenseits des Ereignishorizonts eines Schwarzen Lochs bestimmt. Dort gelten, wie du weißt, andere Gesetze.« Scobee erkundigte sich danach, auf welcher Grundlage dieser dritte Antrieb gloridischer Schiffe basierte. Aber die Antworten Ovayrans blieben äußerst unbefriedigend. Er erklärte, dass er darüber nichts wisse. Der so genannte Nagdragor-Antrieb war von den Gloriden nach jenem Zeitgenossen Perigors benannt worden, unter dem die Gloriden dem Mythos nach ein Hilfsvolk der Erbauer wurden. »Aber über das naturwissenschaftliche Prinzip hinaus, auf dem dieser Antrieb beruht, ist uns nichts bekannt.« »Und ihr habt nie ernsthaft versucht, es herauszufinden?«, wunderte sich Scobee. »Die Meisten von uns sahen niemals einen Anlass dafür, das zu tun. Der Antrieb funktionierte und setzte uns in die Lage, uns mit großer Sicherheit auch jenseits des Ereignishorizonts von Schwarzen Löchern bewegen zu können. Einige wenige versuchten natürlich, mehr zu erfahren und die Geheimnisse der Erbauer zu ergründen. Doch sie stießen auf eine Art von Mathematik, die kein Gloride nachvollziehen konnte. Unsere Rechnersysteme sind geprägt davon, aber bislang ist es keinem von uns auch nur ansatzweise gelungen,
die dahinter stehende Logik zu begreifen. Wir wissen nur eines: Dieser Antrieb hat mit derselben Kraft zu tun, mit deren Hilfe CHARDHIN-Perlen jenseits des Ereignishorizonts gewissermaßen befestigt werden können, so dass sie nicht ständig Gefahr laufen, weiter in das Schwarze Loch hineinzustürzen, wie es ansonsten zweifellos das Schicksal jeglicher Materie ist, die diese Grenze überschritten hat.« »Ihr habt darauf vertraut, dass alles so funktioniert, wie die Erbauer es konstruiert haben«, stellte Scobee sachlich fest. Ovayran zögerte zunächst, gab ihr dann allerdings voll und ganz Recht. »Genau so ist es. Umso schmerzhafter trifft uns nun die Erkenntnis, dass die Hinterlassenschaften der Erbauer keineswegs für die Ewigkeit erschaffen worden sind, so wie es zunächst den Anschein hatte.« Dbaskuyan mischte sich nun erneut in das Gespräch ein. »Du willst darauf hinaus, diesen dritten Antrieb zu benutzen, um uns vor der Anziehungskraft des Schwarzen Lochs zu schützen, Menschenfrau Scobee?« »Ja«, gab Scobee unumwunden zu. »Das ist unmöglich.« »Warum?« »Weil er sich erst jenseits des Ereignishorizonts aktivieren lässt. Eine Sicherheitsschaltung verhindert, dass man dies bereits tun kann, bevor das Schiff die Grenze in die ewige Nacht überschritten hat.« »Eine Schaltung, die wahrscheinlich zu unserem Besten installiert wurde«, meinte Gebosyan. »Wir sollten nichts daran zu ändern versuchen.« Ich glaube nicht, dass ihr mit dieser Einstellung jemals das Rätsel der Perlenerbauer lösen werdet!, dachte Scobee.
Die Sensoren und Abtaster der AUGE DES PERIGOR meldeten ein Objekt von mehreren Kilometern Größe, das bis jetzt unentdeckt geblieben war, da es sich im Ortungsschatten des Schwarzen Lochs befunden hatte. Jetzt kam es dahinter hervor. Die Holo-Projektion in
der Zentrale des Gloridenschiffs zeigte ein Infrarotbild, auf dem erkennbar war, wie das unbekannte Objekt hinter dem Schwarzen Loch hervorkam. Die Form war unregelmäßig. Die größte Ausdehnung in der Breite betrug 6,7 Kilometer und in der Länge 10,3 Kilometer. Zahllose stachelartige Fortsätze wuchsen aus ihm hervor. Wachsen …. dachte Scobee. Es hat tatsächlich etwas, das einen glauben lässt, es sei entstanden und nicht erbaut worden … Messungen ergaben, dass es offenbar in einer stabilen Umlaufbahn um das Schwarze Loch kreiste. Allein das schloss bereits ein natürliches Objekt aus, denn normalerweise wäre es sonst unweigerlich in den Schlund hineingezogen worden. Inzwischen war es Kambesyan – jenem Gloriden, der an Bord der AUGE DES PERIGOR offenbar besondere Kenntnisse im Umgang mit dem Bordrechner erworben hatte – gelungen, in Zusammenarbeit mit Dbaskuyan die KRAFT DER KLEINEN PERLE so zu reinitialisieren, dass nicht mehr mit einer Resonanzübertragung der Verzerrungen zu rechnen war. »Wir können die Kraft der Kleinen Perle erneut starten«, meldete Dbaskuyan seinem Kommandanten. Ovayran zögerte einen kurzen Moment. Beim letzten Versuch, die Kraft der Kleinen Perle einzuschalten, um den ungehinderten Sturz in das Schwarze Loch zu verhindern, war die AUGE DES PERIGIOR beinahe zerrissen worden, wie eine nachträgliche Schadensanalyse festgestellt hatte. Andererseits blieb der Besatzung wohl keine andere Wahl, als den Unterlichtantrieb erneut zu aktivieren. Eine andere Möglichkeit war, es darauf ankommen zu lassen, den Ereignishorizont zu überschreiten und dort den geheimnisvollen Nagdragor-Antrieb einzuschalten, mit dessen Hilfe Gloridenschiffe sich auch jenseits des Ereignishorizonts halten konnten. Aber wer wollte in dieser Situation schon darauf vertrauen, dass dies reibungslos funktionierte? Schließlich unterschied sich dieses Schwarze Loch ja offenbar in mancherlei Hinsicht von so vielen anderen, die die AUGE DES PERIGOR schon besucht hatte.
»Kraft der Kleinen Perle einschalten!«, befahl Ovayran. Dbaskuyan nahm die entsprechenden Schaltungen vor. Er legte dazu seine Hand auf ein Sensorfeld. Durch Abgabe kleinerer, exakt dosierter energetischer Impulse bediente er das System. Ein leises Brummen ließ den Boden der AUGE DES PERIGOR leicht erzittern. Für einen Augenblick dachte Scobee, dass erneut Verzerrungsresonanzen das Gloridenschiff im wahrsten Sinne des Wortes vor eine Zerreißprobe stellten. Aber dem war nicht so. Das Antriebssystem der Kraft der Kleinen Perle schien zu funktionieren. Das Problem lag woanders. »Ovayran, wir rasen weiter ungebremst auf das Schwarze Loch zu!«, meldete Dbaskuyan. »Es ist überhaupt kein Bremseffekt erkennbar!« »Aber – das ist doch unmöglich!« »Ich schalte jetzt die Kraft der Kleinen Perle auf Maximum.« Augenblicke vergingen. Das Brummen, das die AUGE DES PERIGOR durchdrang, veränderte leicht die Tonhöhe. Aber selbst Scobee konnte auf dem Ortungsschirm ihrer Konsole einwandfrei erkennen, dass diese Maßnahme nicht den geringsten Effekt gehabt hatte. »Außer der Anziehungskraft des Schwarzen Lochs – die wir mit Hilfe der Kraft der Kleinen Perle jetzt eigentlich leicht neutralisieren könnten – wirkt noch eine weitere Kraft auf die AUGE DES PERIGOR ein«, meldete jetzt Gebosyan. »Was ist das für eine Kraft?«, fragte Ovayran, der bereits selbst versucht hatte, dies herauszufinden. Bisher allerdings erfolglos. »Lässt sich bislang noch nicht sagen, aber Tatsache scheint zu sein, dass sie von dem Trabanten des Schwarzen Lochs ausgeht …« Die Gloriden versuchten alles, um die AUGE DES PERIGOR dem Sog dieses unbekannten, mehrere Kilometer großen Objekts zu entziehen. »Vielleicht handelt es sich um eine Art Traktorstrahl« glaubte Scobee. »Das würde bedeuten, dass dort, in diesem Orbitalobjekt jemand
oder etwas sitzt und nur darauf gewartet hat, uns einzufangen!«, meinte Ovayran. »Wie eine Spinne in ihrem Netz«, murmelte Scobee. »Wie bitte?«, hakte Ovayran etwas irritiert nach. »Das war kein Beitrag zur Problemlösung«, gestand Scobee zu. »Erkläre ihn mir trotzdem.« Scobee seufzte und war froh, dass der Gloride nicht in der Lage war, die menschliche Gestik und Mimik zu entschlüsseln. »Es handelt sich um ein im übertragenen Sinn gemeintes Bild. Spinnen sind eine Spezies meines Heimatplaneten Erde, die sich ähnlich verhalten, wie die mutmaßliche Besatzung des Orbitalobjekts.« »Ihr Menschen scheint einen ausgeprägten Sinn für Poesie zu haben, wenn euch selbst in Situationen höchster Bedrohung noch Sprachbilder von so großer Kraft einfallen! Aber vielleicht hat das mit eurem ganz und gar materieverbundenen Daseinszustand zu tun …« »Vielleicht auch nur damit, dass unser Gast sich des Ausmaßes der Bedrohung nicht wirklich bewusst ist!«, konnte Dbaskuyan sich eine Bemerkung nicht verkneifen, deren Bissigkeit nicht erst durch eine besonders akzentuierte Sprechweise hervorgehoben werden musste.
Je weiter sich die AUGE DES PERIGOR dem Orbitalobjekt näherte, desto deutlicher konnte die äußerst komplexe und unregelmäßige Struktur erfasst werden. Allerdings war das Objekt offenbar von außen vollkommen mit einer Substanz überzogen, die jegliche Ortung des Inneren wirksam verhinderte. Nicht einmal Temperaturwerte ließen sich gewinnen, obwohl man durch die Infrarotemission des Orbitalobjekts darauf schließen konnte, dass die Temperatur im Innern auf jeden Fall über dem Gefrierpunkt liegen musste. Aber abgesehen von diesen indirekten Rückschlüssen ließen sich auch durch die hoch entwickelten Ortungsverfahren, die der Besatzung der AUGE DES PERIGOR zur Verfügung standen, keinerlei Erkenntnisse über das Innere gewinnen.
»Wir docken an das Orbitalobjekt an«, meldete jetzt Dbaskuyan. Das geschah, ohne dass die Besatzung irgendeine Einflussmöglichkeit gehabt hätte. Ein leichter Ruck ging durch das Schiff. Der Bordrechner meldete über die Sprachausgabe, dass der Andockvorgang abgeschlossen war. »Das System erhält widersprüchliche Befehlseingaben«, war die letzte Meldung der Rechnerstimme. Niemand in der Zentrale gab darauf eine Antwort. Scobee war im ersten Moment etwas verwirrt. Sie blickte zuerst auf die Anzeigen ihrer Konsole, dann auf die schematische Darstellung der Holo-Projektion, wo genau zu sehen war, dass offenbar eine Verbindung von der Außenschleuse der AUGE DES PERIGOR zum Orbitalobjekt entstanden war. Erst jetzt fiel Scobee die Veränderung auf, die mit den Gloriden in der Zentrale vor sich gegangen war. Ovayran und die anderen Diensthabenden standen wie erstarrt da. Sie wirkten wie versteinert. Statuen gleich, die zwar mit unglaublicher Präzision geschaffen, aber doch zweifellos leblos waren. Scobee hatte das Gefühl, einen Stich zu bekommen. »Ovayran!«, stieß sie hervor. Aber der Kommandant und Schiffsweiseste der AUGE DES PERIGOR schien sie nicht zu verstehen. Zumindest war er nicht in der Lage, eine Antwort zu geben. Scobee ging auf Ovayran zu. Sie berührte ihn leicht, aber auch darauf reagierte er nicht. »Bordrechner!«, wandte sich Scobee an die Schiffs-KI. »Bitte auf Basis energetischer Impulse Kontakt zu Ovayran oder einem der anderen Diensthabenden herstellen!« »Kontaktaufnahme unmöglich. Der Grund dafür ist unbekannt.« »Dann alarmiere die anderen Besatzungsmitglieder.« »Du hast einen eingeschränkten Rechnerzugriff, der dich nicht dazu berechtigt, derartige Befehle zu geben, sondern dir nur Zugriff auf das Ortungssystem der AUGE DES PERIGOR gewährt sowie die Konfiguration jener Systemteile erlaubt, die für deine Ernährung und Lebenserhaltung zuständig sind. Allerdings ist dein Vorschlag
angesichts der gegenwärtigen Lage sinnvoll. Ich habe ihn deswegen bereits in Eigenautorisation durchgeführt.« »Und?« »Sämtliche gloridischen Besatzungsmitglieder der AUGE DES PERIGOR sind in einem handlungsunfähigen Zustand der Erstarrung, deren Ursache bislang nicht ermittelt werden konnte. Analyse wird fortgesetzt, stößt aufgrund widersprüchlicher Messergebnisse jedoch auf ungeahnte Schwierigkeiten. Erfolgsaussichten liegen bei unter dreißig Prozent.« »Wenn du schon nicht analysieren kannst, was genau die Ursache dieser Erstarrung ist, von der die Besatzung des Schiffs befallen wurde, so ist es dir doch sicher möglich, darüber zu spekulieren.« »Die Erstarrung setzte mit Abschluss des Andockvorgangs ein. Über den zeitlichen Zusammenhang hinaus ist auch eine Ursache/Wirkungsbeziehung sehr wahrscheinlich.« Scobee atmete tief durch. »Ich möchte das Orbitalobjekt betreten«, erklärte sie. »Ist das möglich?« »Der beim Andockvorgang gelegte Zugang zur Hauptschleuse ist mit Sauerstoffatmosphäre gefüllt. Temperatur und künstliche Schwerkraft sowie Druckverhältnisse entsprechen Bedingungen, in denen deine Spezies existieren kann. Über das Innere des Orbitalobjekts lassen sich nach wie vor nur Mutmaßungen anstellen. Dasselbe gilt für die Lebensbedingungen dort. Aber es ist anzunehmen, dass sie denen des Zugangskorridors ähneln.« »Ist es möglich, mit dem Orbitalobjekt in irgendeiner Form Kontakt aufzunehmen?« »Nein. Die Außenschicht schirmt alles ab. Weder unsere Peilstrahlen, noch Funkwellen oder irgendeine andere, uns bekannte Signalform vermögen die Beschichtung zu durchdringen. Der Versuch, mit Modifizierungen bekannter Signalformen die Beschichtungen zu durchdringen, ist bislang ebenfalls gescheitert. Eine Fortsetzung kann ich nicht empfehlen, da die Erfolgsaussichten zu gering sind.« »Besteht irgendeine Chance, die AUGE DES PERIGOR aus der Zwangskopplung zu befreien?« »Alles, was diesbezüglich unternommen werden könnte, ohne die
Sicherheit des Schiffs zu gefährden, ist bereits unternommen worden!« »Und … wenn man ein geringes Risiko in Kauf nimmt?« »Diese Entscheidung steht dem Schiffsweisesten und Kommandanten zu. Nicht einem Gastmitglied der Besatzung mit eingeschränktem Rechnerzugang.« »Ich verstehe«, murmelte Scobee. Sie konnte das Schiff weder befehligen, noch hatte sie irgendeine Ahnung, was man hätte unternehmen können, um die AUGE DES PERIGOR aus der Zwangsandockung zu befreien. Die Gloridenbesatzung war außer Gefecht gesetzt, und es war ein Zugang zum Schiff gelegt worden. Sah das nicht beinahe nach einer Einladung aus, sich in das Orbitalobjekt zu begeben, um sich dort umzusehen? Welche Möglichkeit bleibt dir überhaupt?, ging es ihr durch den Kopf. Die Hände in den Schoß legen, um abzuwarten, ob die Gloriden irgendwann wieder aus ihrem statuenähnlichen Zustand erwachen? Das kann es ja wohl nicht sein! »Bordrechner!« »Zu Diensten, Gast Scobee!« »Ich möchte, dass du die Außenschleuse öffnest. Oder ist die dafür notwendige Autorisation in meinem Status nicht enthalten?« »Sie ist enthalten.« »Gut.«
3. Würmer am Rande der Unendlichkeit Scobee rüstete sich mit Blaster und Ortungsgerät aus. Beides hatte sie von der RUBIKON mit auf das Schiff der Gloriden genommen. So ausgestattet begab sie sich zur Hauptschleuse der AUGE DES PERIGOR. Die Schiffs-KI legte ihr keinerlei Steine in den Weg und akzeptierte ihre Autorisation. Die Schleuse öffnete sich. Im letzten Moment zögerte Scobee. Offenbar wurde ihre Berechtigung anerkannt, sofern sie das Bedürfnis hatte, das Schiff zu verlassen. Aber galt das auch umgekehrt, wenn sie wieder an Bord kommen wollte? Sie stellte dem Bordrechner eine entsprechende Frage. »Die Erlaubnis zur Öffnung der Schleuse gilt auch bei der Rückkehr«, erklärte die Schiffs-KI. »Allerdings nur, falls der Schiffsweisestete nicht vorher Einschränkungen bestimmt.« »In Ordnung«, meinte Scobee und passierte die Schleuse. Nachdem sie auch das zweite Schleusenschott hinter sich gelassen hatte, befand sie sich in dem Korridor, der sich zwischen der AUGE DES PERIGOR und dem rätselhaften Orbitalobjekt gebildet hatte. Mit Hilfe ihres Ortungsgerätes versuchte sie, die Substanz zu bestimmen, aus der dieser Korridor bestand. Er war nicht mit der Außenbeschichtung identisch, die das gesamte Orbitalobjekt wie eine dünne Panzerung umschloss. Aber mehr ließ sich nicht sagen. Die Anlage war offensichtlich zu komplex für das von Scobee benutzte Analysegerät. Sie setzte einen Fuß vor den anderen und erreichte schließlich auch auf der anderen Seite eine Art Schleuse. Für einige Augenblicke war sie jedenfalls in einer Schleusenkammer gefangen, bevor sich auf der dem Orbitalobjekt zugewandten Seite ein Schott öffnete. Sie ging weiter.
»Jemand ist eingedrungen!« »Ich weiß.« »Ich dachte, die Besatzung wäre neutralisiert.« »Das Wesen, das jetzt zu uns kam, ist anders.« »Kann man dieses Anderssein spezifizieren?« »Die Analyse ist noch nicht abgeschlossen.« »Ich empfehle ein entschlossenes Vorgehen.« »Neutralisieren?« »Warum nicht! Es wäre das Sicherste.« »Nein, wir haben nichts zu befürchten. Neutralisieren können wir das Wesen immer noch.« »Wer geht ihm entgegen?« »Ich werde es persönlich tun.« Verschiedene Stimmen regten sich jetzt und widersprachen. »Du, Tormeister?« »Das ist keine Aufgabe für einen Tormeister!« Der Tormeister blieb gelassen. »Ich habe ein persönliches Interesse an diesem Wesen«, erklärte er. »Außerdem kann es kaum ein Zufall sein, dass dieses Schiff an diesem schwer zu findenden Ort aufgetaucht ist. Also möchte ich mich persönlich um die Angelegenheit kümmern.« Die Antwort bestand aus Schweigen. Die Entscheidung des Tormeisters wurde akzeptiert. »Ich möchte, dass unterdessen alles so weiterläuft wie bisher. Unsere Arbeit verträgt weder Verzögerung noch Unterbrechung. Und ich denke, jedem hier ist es bewusst, dass wir nur mit äußerster Präzision und Sorgfalt Erfolg haben werden!« »Ja, Tormeister!«, erklang ein vielstimmiger Chor.
Scobee betrat einen hallenartigen Raum, dessen Wände und Säulen offenbar aus demselben Material bestanden wie die Außenkruste des Orbitalobjekts. Ihr Ortungsgerät war nach wie vor mit der Analyse überfordert.
Vor allem war es unmöglich, die Substanz ortungstechnisch zu durchdringen und zu erkunden, was sich in den benachbarten Räumen befand. Scobee begriff langsam, dass die Kruste sehr viel dicker war, als die Schiffs-KI der AUGE DES PERIGOR zunächst angenommen hatte. Sie befand sich jetzt innerhalb dieser Schicht, die offenbar die Ursprungsform des Orbitalobjekts bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte. Aus dem Innern der Substanz drang ein Leuchten, das an Fluoreszenz erinnerte, sodass sowohl der Korridor als auch der hallenartige Raum in ein leicht grünliches, weiches Licht getaucht waren. Ein schabender Laut ließ Scobee erstarren. Sie griff zu dem Blaster, den sie bis dahin an einer Magnethalterung ihrer Kombination befestigt hatte. Mit der anderen Hand richtete sie das Ortungsgerät aus. Eine leichte Strukturverzerrung wurde angezeigt. Die Bewegung von etwas, dessen chemische Zusammensetzung nicht dem Krustenmaterial entsprach. Noch war es nicht zu sehen. Der Wald von Säulen, die an Stalaktiten erinnerten, verdeckte offenbar die Sicht. Was ist es?, fragte sich Scobee. Ein Mechanismus? Beim ersten Scan waren jedenfalls keinerlei Biofunktionen anmessbar. Die Analyse des Ortungsgerätes gab mehr Rätsel auf, als sie löste. Dann erschien es hinter einer der Säulen, die einen Durchmesser von mehreren Metern hatte. Es erinnerte entfernt an einen Wurm, der etwa die Größe eines Menschen hatte. Die vordere Körperhälfte war aufgerichtet, die hintere schabte über den Boden und erzeugte dabei jenes charakteristische Geräusch, das Scobee bereits aufgefallen war. Der Körper – falls das überhaupt der richtige Ausdruck war – schien aus unzähligen Einzelobjekten zu bestehen, die jeweils wie Achten aussahen und miteinander verzahnt waren. Ein Gesicht oder dergleichen war nicht erkennbar. Aus der Vorderhälfte ragten zwei Arme hervor, die ebenfalls aus unzähligen, ineinander verhakten Achten bestanden. Selbst die feingliedrigen
Greiforgane am Ende dieser Extremitäten wiesen diese Struktur auf. Das Ortungsgerät zeigte jetzt organisches Gewebe an. Der Kohlenstoffgehalt überstieg sogar den gewöhnlicher Fauna oder Flora um etwa ein Fünftel. Aber die biochemischen Vorgänge, die sich innerhalb des wurmförmigen Wesens abspielten, blieben äußerst rätselhaft. Entweder, es ist ein Lebewesen, das nach sehr fremdartigen Prinzipien funktioniert und dessen Biochemie sich mit keinem anderen organischen Lebewesen vergleichen lässt, das ich jemals vor mir hatte – oder es handelt sich doch lediglich um einen Mechanismus. Möglicherweise handelte es sich um eine Robotkonstruktion aus Kohlenstofffasern. Aber bislang war das alles nur Spekulation. Das wurmartige Ding stieß ein paar hochfrequente Laute aus. Sie taten Scobee in den Ohren weh. Ihr Gehör war nur in der Lage, einen Teil davon überhaupt wahrzunehmen. Der Rest konnte lediglich vom Scanner ihres Ortungsmoduls erfasst und aufgezeichnet werden und lag deutlich im für Menschen nicht hörbaren Ultraschallbereich. Scobees implantierter Übersetzungschip hatte bereits nach kurzer Zeit genug akustische Signale gesammelt, um für eine adäquate Übersetzung zu sorgen. »Sei gegrüßt, Eindringling. Es ist Felvert, der Torwächter, mit dem du sprichst.« »Mein Name ist Scobee«, stellte sich die GenTec vor. Noch ließ sie den Blaster schussbereit in der Rechten. »Warum habt ihr unser Schiff dazu gezwungen, sich anzudocken? Wieso wurde unsere Mannschaft außer Gefecht gesetzt?« »Du verlangst viele Erklärungen!« »Wundert dich das? Es ist ein Akt blanker Aggression, der unser Schiff hier festhält!« »Es hat euch niemand gezwungen, dass ihr euch diesem Ort nähert. Und du wirst zugeben müssen, dass er selbst unter Einsatz einer hoch entwickelten Ortungstechnik gar nicht so leicht zu finden ist. Niemand verirrt sich durch Zufall hierher, Scobee. Das steht fest.« Das wurmartige Wesen machte eine Pause. Es rutschte etwas nä-
her. Die kleinen Achten, aus denen sein Körper bestand, gerieten dabei in Bewegung. Es war ein grotesker Anblick, der Scobee unwillkürlich an ein zu einer Wurst zusammengedrehtes, überdimensionales Kettenhemd erinnerte. »Es besteht keine Notwendigkeit, eine Waffe auf mich zu richten, Scobee. Erstens wäre ich jederzeit in der Lage, deine Angriffe abzuwehren, und zweitens besteht meinerseits nicht die Absicht, dir zu schaden.« »Von den Gloriden an Bord der AUGE DES PERIGOR kann man das wohl nicht behaupten …« »So heißt also euer Schiff? Ein Name, der danach klingt, dass sein Urheber Fantasie hatte. Vielleicht kannst du mir bei Gelegenheit erläutern, was er bedeutet.« »Das ist eine lange Geschichte. Und außerdem bin ich hier, um Antworten zu bekommen – nicht um meinerseits Fragen zu beantworten.« »Welcher Spezies gehörst du an?«, fragte Felvert unbeirrt. Scobee begann einzusehen, dass sie bei Felvert, der sich Torwächter nannte, wohl keinerlei Chance hatte, ihm ihren eigenen Weg aufzuzwingen. »Ich bin ein Mensch«, sagte Scobee. Hätte ich besser Erinjij sagen sollen?, ging es ihr dabei durch den Kopf. Wahrscheinlich ist es gleichgültig, was ich ihm antworte. Er wird weder den einen noch den anderen Begriff kennen … »Ich bin ein Felorer«, erklärte Felvert. »Ihr lebt hier auf dieser Station?« »Du kannst es so nennen, ja.« »Was tut ihr hier?« »Wir beschäftigen uns mit – wie soll ich sagen? – physikalischen Phänomenen, wenn ich es mal allgemein ausdrücken darf.« »Du hast mich hier erwartet.« »Das ist richtig, Scobee.« »Weshalb?« Wieder erhielt Scobee keine Antwort, stattdessen nur eine unmissverständliche Anweisung. »Folge mir!«, verlangte Felvert. Das wurmartige Wesen wandte sich um. Wieder war dabei der
charakteristische, schabende Laut zu hören, der durch die Reibung der zahllosen Achten auf dem Boden entstand. Er scheint überhaupt nicht in Betracht zu ziehen, dass ich etwas anderes tun könnte, als seine Anweisungen zu befolgen!, erkannte Scobee erstaunt, als sie dem davoneilenden Felorer nachsah. Sie folgte ihm. Der Weg führte zwischen den säulenartigen Strukturen hindurch, die sich hier gebildet hatten. Ein seltsamer Ort!, dachte sie. Der Felorer erhöhte das Tempo. Scobee hatte ihm diese behände Schnelligkeit nicht zugetraut. Das schabende Geräusch wurde schriller, während der Körper des selbst ernannten Tormeisters immer schneller über den Boden kratzte. Wie genau die Fortbewegung dieses Wesens eigentlich funktionierte, darüber ließen weder Scobees Beobachtungen noch die Daten des Ortungsgerätes irgendwelche vernünftigen Rückschlüsse zu. Dasselbe galt für den Stoffwechsel des Felorers. Nicht einmal die Frage, ob er auf den in der Atemluft enthaltenen Sauerstoff überhaupt angewiesen war, ließ sich eindeutig klären, denn Scobee konnte bislang keine Atmungsorgane ausmachen, geschweige denn einen Luftstrom, der von dem Felorer in sich hineingesogen oder ausgestoßen wurde, wie es beim Einund Ausatmen der Fall war. Atmung ist ja nicht die einzige Möglichkeit, Sauerstoff aufzunehmen, dachte Scobee. Aber wie auch immer das bei diesem Riesenwurm funktioniert – sein Stoffwechsel muss sich trotz der organischen Basis seines Körpers auf eine Weise vollziehen, für die wir bislang kein Beispiel hatten! Scobee musste schließlich zu einem leichten Dauerlauf ansetzen, um dem Tormeister noch folgen zu können, der einen Zickzackkurs zwischen den zahllosen Säulen einschlug. Schließlich wartete er am Eingang eines Korridors. »Jetzt kommen wir in den Bereich, in dem sich die anderen Felorer befinden.« »Das klingt wie eine Warnung.« »Es ist ein Hinweis. Es sind nicht alle von uns der Meinung, dass du nicht neutralisiert werden müsstest.«
Eine unverhohlene Drohung, dachte Scobee. Benimm dich gut, oder es geht dir vielleicht doch noch wie den Gloriden – so lässt sich das wohl sinngemäß übersetzen! Weitere Erklärungen schien der Tormeister nicht für nötig zu halten. Der so genannte Hinweis, den er ihr soeben gegeben hatte, ließ sie ihre Situation teilweise in einem anderen Licht sehen. Es muss einen ganz bestimmten Grund dafür geben, dass Felvert mich abgeholt hat und offenbar bis auf weiteres auch nicht daran denkt, mit mir das zu tun, was er neutralisieren nennt! Es fragte sich nur, was der Sinn hinter diesem Verhalten war. Halte dich an mich, denn ich meine es gut mit dir und werde dich zumindest nicht töten – konnte es sein, dass auch diese Botschaft in den Worten des Felorers enthalten gewesen war? Scobee hatte zunächst nachhaken wollen, sich dann aber dagegen entschieden, da sie das Gefühl hatte, dass sie dadurch mehr Verwirrung gestiftet hätte, als Aufklärung zu erzielen. Du wirst schon sehen, was dich erwartet!, beruhigte sie sich.
Scobee folgte dem Felorer durch den Korridor, der immer schmaler und niedriger wurde. Schließlich war er so eng, dass Scobee dem Tormeister auf allen vieren hinterherkriechen musste, ehe sie schließlich in eine weitere Säulenhalle gelangten. Es herrschte reges Treiben. Mindestens hundert Felorer waren hier eifrig beschäftigt. Sie schabten über den Boden, sodass die dabei entstehenden Geräusche die Luft erfüllten. Die Meisten von ihnen standen um konsolenartige Geräte herum, die zum Teil in die Säulenstrukturen eingebettet waren, sodass beides miteinander auf sehr harmonische Weise miteinander verschmolz. Holo-Projektionen zeigten eine Darstellung des Schwarzen Lochs sowie des Orbitalobjekts, von dem Scobee noch immer nicht wirklich zu sagen vermochte, worum es sich eigentlich handelte – um die bizarre Forschungsstation der Felorer oder gar um ein Raumschiff? Jedenfalls war die Annahme, dass die Bewohner dieses Objekts über erhebliches technisch-physikalisches Wissen verfügen mussten, um
das bizarre Gebilde in seiner stabilen Umlaufbahn zu halten, wohl zutreffend gewesen. Das Schwarze Loch hob sich als dunkle Scheibe von dem künstlich erhellten Hintergrund ab. Ansonsten wäre es gar nicht sichtbar gewesen. Die Bahn der Station – keine Ellipse, sondern ein exakter Kreis – war optisch markiert worden. Das Orbitalobjekt selbst wurde so dargestellt, als ob es von außen beleuchtet wäre, obwohl es in Wahrheit natürlich ebenfalls nur ein dunkles Objekt in einer sehr dunklen Region des Universums und damit normalerweise unsichtbar war. Die Tatsache, dass die Felorer diese Art der Darstellung bevorzugten, schien dafür zu sprechen, dass diese bizarren Wesen entgegen dem äußeren Anschein sehr wohl auf eine optische Erfassung ihrer Umwelt angewiesen waren. Irgendwo in ihren aus achtförmigen Einzelelementen bestehenden Körpern mussten sich daher entsprechende Sinnesorgane befinden. Die meisten Felorer ließen sich von ihrer Arbeit nicht ablenken. Scobees Übersetzungschip war nicht in der Lage, sämtliche Gesprächsfetzen, die als schrille Quieklaute und auch als Ultraschallimpulse durch den Raum flirrten, richtig und schnell genug zu übersetzen. Aber Scobee bekam immerhin genug mit, um zu begreifen, dass irgendein wichtiges Ereignis bevorstand, auf das die Felorer hinarbeiteten. »Ihr Felorer beobachtet das Schwarze Loch«, stellte Scobee gegenüber Felvert fest. »Auch«, erwiderte der Torwächter. Er legt sich nicht fest, er weicht mit jeder Antwort aus!, dachte Scobee. Warum kann ich von diesem wandelnden Achter-Wurm nicht mal eine glasklare Auskunft bekommen? Was ist los mit dem Felorer? Versucht er ein guter Diplomat zu sein? Oder ist er einfach nur ein schwer zugänglicher Charakter? Vielleicht will er mich auf irgendeine Weise, die ich mir nicht einmal vorzustellen vermag, aufs Kreuz legen … In diesem Augenblick erschien ein Raster, das über die holographische Darstellung des Schwarzen Lochs gelegt wurde. Auf diese
Weise wurde erkennbar, dass sich der Ereignishorizont zusammenzog. Felvert war jetzt vollkommen regungslos. Nicht ein einziges Achterelement seines bizarren Körpers verbreitete jetzt noch den Hauch von Unruhe. Einer der anderen Felorer wandte sich an ihn. »Wir müssen auf 98 Prozent gehen, sonst haben wir eine instabile Transferlage, Tormeister.« »Wie ist der Pramsan-Faktor?« »Stabil.« Felvert reckte einen seiner Arme empor, sodass er auf den anderen Felorer zu deuten schien. »Dies ist mein Stellvertreter Ghrabert«, erklärte er Scobee gegenüber. »Dies ist das Tier, das an Bord des Kugelschiffs war?«, fragte Ghrabert. »Ob es sich um ein Tier handelt, werden wir feststellen. Immerhin kann es kommunizieren.« »Du weißt, dass ich dafür plädiere, es zu neutralisieren!« »Ja, das weiß ich. Aber ich bin der Tormeister.« »Es war nicht meine Absicht, dies in Zweifel zu ziehen, ehrenwerter Felvert.« »Gut.« Ghrabert wandte sich ab und rutschte auf eine der Konsolen zu, an der bereits zwei andere Felorer beschäftigt waren. »Ihr Felorer beeinflusst das Schwarze Loch!«, stellte Scobee überrascht fest, nachdem sich der Ereignishorizont auf der holographischen Darstellung jetzt deutlich hinter eine bestimme Markierung zurückgezogen hatte, woraufhin man das Raster ausblendete. Der offenbar künstlich eingeleitete Schrumpfungsprozess schien abgeschlossen zu sein. »Das ist richtig.« »Vermögen Tiere so etwas zu erkennen?« »Du musst Ghrabert verzeihen. Deine Physiologie ähnelt jener der hier gängigen Primitiv-Fauna so frappant, dass es durchaus Gründe gibt, deine Vernunft in Zweifel zu ziehen.«
Hat es irgendeinen Sinn, sich darüber zu ärgern, dass diese Mega-Achten dich für ein Haustier der Gloriden gehalten haben?, dachte Scobee. Wesen, die in der Lage sind, Schwarze Löcher zu manipulieren, kann man einen gewissen Grad von Überheblichkeit nicht wirklich verübeln … Schließlich dürften zumindest ihre mathematischen Fähigkeiten und ihr physikalisches Verständnis immens sein. »Es gibt kaum ein anderes Volk in diesem Universum, das auch nur ein annähernd vergleichbares Verständnis jener Vorgänge besitzt wie wir«, erklärte der Tormeister in aller Offen- und Unbescheidenheit. »Wenn ihr so hoch entwickelt seid – wieso konntet ihr da nicht während des Anflugs mit uns Kontakt aufnehmen?«, fragte Scobee. »Du fragst viel. Ist das unter deinesgleichen üblich?« »Das ist es. Nenn mir den Grund, Felvert! Den Grund dafür, dass unser Schiff mit einem Traktorstrahl angezogen und gefesselt wurde.« »Unser Schiff?«, echote Felvert. »War es wirklich auch dein Schiff – oder haben nicht vielmehr die Kreaturen, mit denen du gereist bist, die Kontrolle ausgeübt, und du warst nichts anderes als ein …« Er zögerte damit weiterzusprechen. »… Begleiter«, sagte er schließlich. »Gibt es einen Grund für mich, deine Fragen zu beantworten, wenn ich selbst von dir keinerlei Antworten bekomme?« »Eine archaische Logik. Sie hat etwas für sich, das gebe ich zu. Und ich weiß, dass sie hier weit verbreitet ist.« »Es war von einem Transfer die Rede …«, sagte Scobee. Und wenn ich die Begleitumstände hier sehe, dann erinnert mich das alles an das Wurmloch, zu dem einst der Planet Jupiter gemacht wurde, kurz bevor die Invasion der Keelon-Master einsetzte und die Erde unterwarf … Felvert gab darauf keine Antwort. Wohin seine Aufmerksamkeit ging, ließ sich auf Grund des Fehlens von klar erkennbaren Sinnesorganen nicht bestimmen. Aber die erstarrte Haltung, die er nun einnahm, deutete Scobee als ein Anzeichen dafür, dass ihn irgendetwas geistig stark beschäftigte. Vielleicht überwacht er die Arbeit seines uncharmanten Stellvertreters, überlegte die GenTec. »Der Transfer beginnt!«, meldete einer der anderen Felorer.
»Transfer erfolgreich abgeschlossen«, meldete ein weiterer. »Zeshlert-Faktor geringfügig über der Norm, aber noch im tolerierbaren Bereich.« »Der Zeshlert-Faktor soll trotzdem heruntergeregelt werden«, bestimmte Felvert. »Jawohl, Tormeister.« »Ich will nicht, dass auch nur das geringste Risiko eines KlesiertKollapses besteht, und du weißt, dass die statistische Wahrscheinlichkeit dafür bei erhöhtem Zeshlert-Einfluss um den Faktor drei erhöht ist – selbst, wenn die Werte noch innerhalb der Toleranz-Grenze sind.« »Transfer-Objekt überschreitet den Ereignishorizont!«, meldete jetzt Ghrabert. »Infrarot-Erfassung in 0,04 Relativzeiteinheiten.« Jetzt starrte auch Scobee angespannt auf die Holodarstellung. Im nächsten Moment erschien dort im Grenzbereich zur absoluten Finsternis, wo nicht einmal mehr das Licht der mörderischen Anziehungskraft des Schwarzen Lochs zu entkommen vermochte, ein … Ding. Die Form war unregelmäßig, und die Darstellung in der Holo-Projektion wurde farblich vollkommen verfremdet, um das Gebilde überhaupt sichtbar machen zu können. Der Maßstab war dabei natürlich nicht das menschliche Auge, sondern die irgendwo gewiss vorhandenen optischen Sinnesorgane der Felorer. Und doch – bei aller Fremdheit kam Scobee das Objekt irgendwie bekannt vor. Sie zermarterte sich das Hirn darüber, wo sie so etwas schon einmal gesehen hatte … und dann fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen. Ein Jay'nac-Schiff!, durchzuckte es sie.
4. Alte Bekannte »Das Schiff befindet sich im Anflug. Es wird in 0,2 Relativzeiteinheiten andocken«, lautete Ghraberts Meldung. »Das ist ein Jay'nac-Schiff!«, stellte Scobee unumwunden fest. »Haben die Felorer etwa mit den … Wurmlöchern zu tun, die dieses Volk benutzt?« »Du bist dieser Spezies schon begegnet?«, fragte Felvert. »Ja – auch wenn es mittlerweile … zweihundert Jahre her ist.« »Unseren Analysen nach entspricht das einer in Relativzeiteinheiten umgerechneten Spanne, die die physiologische Leistungsfähigkeit deines Körpers bei weitem übersteigt.« »Das ist richtig.« »Der Übergang in die Nichtexistenz und die anschließende Zersetzung deines Körpers ist Teil des genetischen Programms deiner Gattung.« »Ihr scheint sehr genaue Untersuchungen an mir durchgeführt zu haben, ohne dass ich was davon bemerkte …« »Trifft es etwa nicht zu, was ich gesagt habe?« So ausweichend er antwortet – so hartnäckig versteht er es, nachzufragen!, dachte Scobee. »Doch, es trifft zu«, erklärte sie. »Bei uns nennt man das Tod.« »Ist das nicht ein Begriff, der eher eine religiöse Konnotation aufweist?« »Ehrlich gesagt würde ich es vorziehen, ein anderes Mal mit dir zu philosophieren. Im Moment bin ich mehr an konkreten Informationen interessiert.« »Informationen – worüber?« »Zum Beispiel darüber, was die Jay'nac hier draußen im Leerraum zu schaffen haben? Was suchen sie hier? Etwas zu erobern gibt es hier definitiv nicht …« »Bist du dir da so sicher?«
Scobee blickte den Felorer irritiert an. War es Sarkasmus oder gar Ironie, was da in den Worten ihres absonderlichen Gegenübers mitschwang? Vielleicht ist es das Beste, Felvert einfach einen Teil der Wahrheit zu eröffnen, dachte Scobee. Sie sagte: »Durch eine fehlgeschlagene Transition erlebte ich einen Zeitsprung von zweihundert Jahren in diese Gegenwart, die eigentlich die Zukunft für mich sein müsste.« »Das Raumschiff, mit dem du hierher kamst, verfügt allerdings über keinen Transitionsantrieb«, stellte Felvert glasklar fest. »Es war ein anderes Raumschiff. Ich ging später von Bord, um in meine Heimatgalaxie zurückzukehren, da ich wissen möchte, was dort in der Zwischenzeit passiert ist. Die Jay'nac spielten damals in der Milchstraße, wie ich die Spiralgalaxie nenne, eine wesentliche Rolle …« »Deine Geschichte erscheint mir plausibel«, erklärte Felvert schließlich. »Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen.« »Aber ich würde gerne mitbekommen, wenn die Besatzung des Jay'nac-Schiffes an Bord geht!« »Komm mit!«, bestimmte der Felorer. »Du wirst nichts versäumen, was nicht wieder wettzumachen wäre.«
Abermals folgte Scobee dem felorischen Tormeister durch einen sehr engen Korridor, dessen Wände weitaus weniger fluoreszierten, als es bei den Gängen der Fall gewesen war, die sie bisher zusammen durchstreift hatten. »Wohin führst du mich?«, fragte Scobee. »In die Vergangenheit«, sagte Felvert. »Wie meinst du das?« »Warte es einfach ab. Ungeduld scheint ein Charakteristikum deiner Spezies zu sein. Angesichts der lächerlich kurzen Relativzeitspanne, während der sich eure Körper im Zustand der Funktionsfähigkeit zu halten vermögen, verstehe ich das jedoch. Aber ich bitte meinerseits um Verständnis dafür, dass ich nicht bereit bin, mich davon anstecken zu lassen.«
Die Aussicht, sich auf der Station einer Spezis zu befinden, die sich nicht nur für ihre Entscheidungen alle Zeit der Welt nahm, sondern diese Zeit offensichtlich auch tatsächlich zur Verfügung hatte, stimmte Scobee nicht gerade optimistisch. Schließlich wollte sie auf keinen Fall den Rest ihrer Lebenszeit hier festsitzen – so faszinierend das Beobachten eines Schwarzen Lochs kurzfristig auch sein mochte. Sie war fest entschlossen, einen Weg zurück in die Milchstraße zu finden, um zu erkunden, was sich dort in den letzten zweihundert Jahren ereignet hatte. Nichts und niemand würde sie davon abhalten können – auch kein Tormeister. Entweder sie fand eine Möglichkeit, die AUGE DES PERIGOR aus ihrem quasi eingefrorenen Zustand zu befreien, oder sie musste sich noch nach einem ganz anderen Weg umsehen, der sie zurück in die galaktische Heimat führte. Das Auftauchen des Jay'nac-Schiffs hatte ihr gezeigt, dass dieser Weg unter Umständen vielleicht gar nicht so lang und beschwerlich sein musste, wie es eine einigermaßen maßstabsgetreue Holo-Sternenkarte vielleicht vermuten ließ … Der schmale Korridor fand sein Ende in einem weiteren hallenartigen Raum, der wiederum durch zahllose tropfsteinähnliche Säulen gekennzeichnet war. Auch waren etwa fünfzig bis sechzig Felorer mit der Bedienung irgendwelcher Konsolen beschäftigt. Mehrere großformatige Holoschirme beherrschten ansonsten den Raum. In den Projektionen waren jedoch nur sich verändernde geometrische Objekte von ungeahnter Komplexität zu sehen, deren Farbgebung dauernd wechselte. Außerdem Kolonnen unbekannter Symbole, die sich mit einer Schnelligkeit verränderten, die es wirksam verhinderte, dass Scobees Übersetzungschip sie überhaupt wahrnehmen, geschweige denn entziffern konnte. Sie blieb kurz stehen, um sich dieses Treiben einige Augenblicke lang anzusehen. Es scheint um die Veranschaulichung sehr komplexer mathematischer Berechnungen zu gehen!, erkannte sie. Mehr davon erfassen zu wollen, schien für ein menschliches Gehirn – und das war und blieb Scobees Gehirn letztlich trotz der GenTec-Besonderheiten ihres genetischen Codes – vollkommen illusorisch. Allein das Tem-
po, mit der hier offenbar Gedanken ausgetauscht wurden, war dazu viel zu hoch. Die schrillen Sprachsignale der Felorer wurden ebenfalls mit einer Geschwindigkeit ausgetauscht, die es Scobee lediglich ermöglichte, einen Bruchteil davon mitzubekommen. Einzelne Begriffe, die aber nichts erklärten, sondern ihrerseits wieder neue Rätsel darstellten. Auf jeden Fall besteht der Unterschied zwischen Gloride und Felorer hauptsächlich darin, dass die Felorer tatsächlich zu verstehen scheinen, was sie tun, während die Gloriden im Großen und Ganzen nur die Anwender und Verwalter einer Technik sind, die ihnen von den Erbauern hinterlassen wurde. Einen Augenblick lang dachte Scobee darüber nach, ob nicht vielleicht die Felorer die von den Gloriden seit langem gesuchten Erbauer sein mochten … Aber wäre dann nicht die Begrüßung etwas weniger frostig ausgefallen?, ging es ihr durch den Kopf. Welchen Grund hätten die Felorer gehabt – vorausgesetzt sie wären tatsächlich die legendären Erbauer –, die gloridische Besatzung erstarren zu lassen und sie zur Handlungsunfähigkeit zu verdammen? Nein, das ergab nicht wirklich einen Sinn. Andererseits konnte es sich Scobee nicht vorstellen, dass es viele Spezies im Universum gab, die ein derart weitreichendes Verständnis der Physik von Schwarzen Löchern erreicht hatten, wie es bei den Felorern ganz offensichtlich der Fall schien. Scobee überlegte, dass eine Spezies, die über derart komplexes und weitreichendes Wissen verfügte, wahrscheinlich sehr alt war und schon seit Äonen existierte. Vielleicht wussten sie etwas von den legendären Erbauern, wenn sie es schon nicht selbst waren … Der Eingang zu einem sehr engen Durchgang lag jetzt vor ihnen. Er glich von der Größe her einem Kanalisationseinstieg, wie Scobee ihn noch aus dem 21. Jahrhundert kannte. Dieser Gang in die Tiefe war offenbar der Anatomie und Größe der Felorer angepasst. Es gab Griffe, die wohl ebenfalls für die Greiforgane dieser Spezies gedacht waren. Es wird nicht nur ziemlich schwer werden, sich durch den Durchgang zu zwängen, sondern auch nicht besonders angenehm, das eigene Ge-
wicht auf diese winzigen Haltegriffe zu stützen, dachte Scobee. Aber da sie gut trainiert war, sah sie der Herausforderung mit Gelassenheit entgegen. Der Felorer machte den Anfang. Mit überraschender Gewandtheit und Schnelligkeit glitt der Tormeister in die Tiefe und war wenig später verschwunden. Scobee folgte. Sie musste feststellen, dass innerhalb dieses Durchgangs keinerlei künstliche Schwerkraft herrschte. Die Griffe dienten daher nur zum Abstoßen, und auch wenn menschliche Hände im Vergleich zu den zarten Greiforganen der Felorer wie tierhafte Pranken wirken mussten, so bedeutete es für die GenTec doch keine Schwierigkeit, die Haltegriffe zu nutzen. Sie glitt in die Tiefe, stieß sich immer wieder ab und gelangte schließlich in einen Bereich, in dem es aus irgendeinem ihr unbekannten Grund keinerlei Fluoreszenz mehr gab. Es war stockdunkel. Der Einstieg erschien ihr wie ein fernes, grünes Licht. Beinahe wie das Licht eines weit entfernten Sterns. Scobees Augen stellten sich um, pegelten sich auf die neuen Verhältnisse ein. Sie stürzte buchstäblich ins Bodenlose. Als sie hinabblickte, sah sie dort wieder Licht. Wenig später fiel sie durch eine Öffnung in einen erleuchteten Raum hinein. Einen kurzen Moment erfasste sie Panik, als sie frei in der Luft schwebte, aber gleichzeitig spürte sie die Kraft eines Antigravfeldes. Sanft setzte sie auf dem Boden auf. Die Öffnung, durch die sie gekommen war, befand sich etwa zehn Meter über ihrem Kopf. Etwa zwei Meter neben ihr stand Felvert, der vollkommen ruhig wirkte und einfach abgewartet zu haben schien, bis Scobee den Abstieg sicher hinter sich brachte. Der Raum, in dem sie sich befanden, unterschied sich sehr deutlich von jenen Orten, an denen sich Felorer aufhielten. Die Wände waren glatt und aus einem Material, das Scobee aus irgendeinem Grund bekannt vorkam. Sie berührte die Wand leicht. Was für Geheimnisse mag dieses Orbitalobjekt noch enthalten? »Das, was ich dir zeigen möchte, befindet sich auf der anderen Seite dieses Raumes«, erklärte Felvert.
Scobee wandte den Kopf. Mehrere quaderförmige Elemente befanden sich hier, deren Funktion Scobee nicht zu durchschauen vermochte. Aber plötzlich wusste sie, wo sie sich befand. Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen. Ein HAKAR!, durchzuckte es sie. Eine jener Kopien der SESHA/RUBIKON, die im Inneren des Aqua-Kubus entstanden sind? Sie folgte Felvert wie betäubt, der sie schließlich zu einem mannsgroßen Block führte, der sich jenseits der Quader befand. Scobee erstarrte für einen Moment, als sie erkannte, womit sie es zu tun hatte. Aber die Überraschung hielt sich eigentlich in Grenzen. Ein Stase-Block. Die Gestalt eines Foronen war darin gefangen. Die Nanorüstung bedeckte nahezu den gesamten Körper bis auf den Kopf. Es war unzweifelhaft ein augenloser, foronischer Schädel, der da aus der Rüstung herausragte – vollkommen erstarrt wie alles andere. Aber dieser Kopf zeigte deutliche Zeichen von Alterung. Er wirkte eingefallen, die Haut vergilbt und … faltig, so als würde sie nicht mehr richtig zu ihrem Träger passen. Wie ein zu groß gewordenes Gewand. Weitere Details fielen ihr auf. Und plötzlich wusste sie, wer vor ihr lag. »Siroona«, flüsterte sie.
Scobees Gedanken glitten zurück in die Vergangenheit, als Siroona und ihr Gefährte Sobek das Regiment auf der RUBIKON geführt und Scobee, John Cloud und die anderen, die das Schicksal an Bord des Rochenschiffs verschlagen hatte, nichts weiter als ohnmächtige Gefangene gewesen waren. Gefangene, die wohl oder übel die abenteuerliche Reise zur Großen Magellanschen Wolke hatten mitmachen müssen, wo die Foronen ihre eigenen Interessen verfolgten. Erst spät gelang es Cloud und seinen Getreuen, das Schiff an sich zu bringen und die Autorität über den Bordcomputer zu erlangen, woraufhin sich eine Phase anschloss, in der Siroona und Sobek als
Gefangene an Bord weilten, bevor sie sich schließlich davonstahlen, als die RUBIKON/SESHA unter dem Geleit der Satoga in die Milchstraße zurückkehrte. »Du kennst es?«, fragte Felvert. »Sie«, korrigierte Scobee. »Siroona ist weiblich, auch wenn man ihr das nach den Maßstäben meiner Spezies kaum ansieht.« »Weiblich?«, echote Felvert. »Ein Begriff, mit dem ich nichts anzufangen weiß, obwohl mir die Analyse deines Sprachmaterials zeigt, dass er eine hohe Relevanz für Individuen eurer Spezies zu haben scheint.« »Nicht nur meiner Spezies«, sagte Scobee. »Für die Foronen gilt das wohl auch.« »Sie ist dir vor zweihundert Jahren begegnet?« »Ja.« In knappen Worten erläuterte Scobee die Umstände. Sie erwartete dabei nicht, dass Felvert jedes Detail verstand. »Weißt du etwas darüber, wie Siroona hierher gelangte?«, fragte Scobee schließlich. Aber wieder einmal ignorierte Felvert ihre Frage schlichtweg. »Deine Erzählung klingt nicht gerade so, als wären Siroona und ihr Gefährte Sobek Individuen, deren Relativzeit man teilen möchte!« »Zweihundert Jahre sind seitdem vergangen!«, gab Scobee zu bedenken. »Ich bitte dich, Siroona aufzuwecken. Sie könnte für mich eine wertvolle Informationsquelle sein!« »Dazu bin ich nicht autorisiert«, antwortete der Tormeister. »Autorisiert?«, echote Scobee. »Wer bestimmt denn hier, wenn nicht du?« »Komm jetzt.« »Warum antwortest du mir nicht?« »Wir kehren um.« »Warum?« »Weil ich soeben die Meldung erhielt, dass das Schiff angedockt hat – und es ist doch auch dein Anliegen, mit den Besuchern in Kontakt zu treten, oder war das ein Missverständnis?« »Nein«, murmelte Scobee.
Sie fragte sich, wie der Tormeister diese Nachricht erhalten hatte. An seinem bizarren Körper war keinerlei technisches Equipment zu erkennen. Entweder diese Spezies war selbst in der Lage, Funkbotschaften oder andere Signale zu empfangen, oder das Empfangsgerät war in den Körper integriert – wie ein implantierter Chip bei einem Menschen. Es gibt noch eine Möglichkeit: Er hat einfach nur nach einer passenden Ausrede gesucht, um nicht länger deinen Fragen ausgesetzt zu sein!
Scobee und Felvert kehrten zurück an jenen Ort, der wie ein Kontrollraum in Bezug auf das Wurmloch gewirkt hatte, und von dem aus die Felorer über die für menschliche Begriffe geradezu unvorstellbaren Kräfte geboten, die in der Umgebung wirksam waren. Geleitet von mehreren Felorern kamen einige Jay'nac in die Kontrollhalle. Sie waren vielgestaltig. Die Mehrzahl hatte geometrische Formen, manche glichen verzerrten Pyramiden oder Quadern. Ihre Gestalten veränderten sich dauernd. Diese anorganischen Wesen basierten auf Silizium und nicht auf Kohlenstoff. Alles an ihnen unterschied sich von dem, was man ansonsten über das Leben wusste. »Sei gegrüßt, Scobee«, sagte eine Stimme. Scobee erkannte in diesem Augenblick einen der Anorganischen wieder. »Porlac!«, stieß sie hervor. Porlac hatte seinerzeit einen wertvollen Beitrag zum Frieden zwischen Jay'nac und Satoga geleistet. Die seitdem vergangenen zweihundert Jahre hatten ihm als Anorganischen natürlich nichts anhaben können, denn im herkömmlichen Sinn organischer Lebensformen alterte er nicht. Porlac bewegte sich auf Scobee zu. »Für ein organisches Wesen befindest du dich in einem überraschend guten Zustand. Ich hätte nicht gedacht, dich nach so langer Zeit noch einmal wiederzusehen.« Dann folgte ein Schwall von Worten, die einfach keinen Sinn ergaben.
Der Jay'nac schien zu bemerken, dass Scobee ihn nicht verstand. Felverts Reaktion war schwer zu deuten. Er verharrte mit den anderen Felorern mehr oder minder regungslos. Vielleicht erwartete er auch gar nicht, die Kommunikation zwischen zwei fremden und darüber hinaus sehr unterschiedlichen Lebensformen zu begreifen. Plötzlich spürte Scobee eine geistige Berührung. Es war unangenehm. Etwas drang in ihr Bewusstsein ein, durchforschte es. Sie spürte, dass es Porlac war, der das veranlasste. Sie hielt sich die Schläfen. Ein pochender Schmerz pulsierte dahinter. Dann war es plötzlich vorbei. Ihr war schwindelig. Porlac hatte sämtliche Sprachmuster aus ihrem Bewusstsein herausgesaugt. Offenbar nahm er an, dass die Verständigungsschwierigkeiten damit zu tun hatten, dass sein Wissen über ihre Sprache aktualisiert werden musste. Aber das ist nicht die Ursache!, war es Scobee sofort klar. Es muss etwas mit Porlac selbst zu tun haben … »Es ist viel Zeit vergangen«, äußerte Porlac. »Wo war es noch, dass wir uns das letzte Mal begegneten? Die Angaben, die ich dazu in deinem Bewusstsein fand, verwirren mich etwas … Ich …« Er zögerte. Er nahm offenbar mit den anderen Jay'nac Kontakt auf, ohne dass Scobee davon etwas mitbekam. Dann schien die GenTec auf einmal nicht mehr interessant für ihn zu sein. Er wandte sich an Felvert. »Wir hatten Unregelmäßigkeiten beim Transfer.« »Davon ist allerdings nichts von hier aus angemessen worden!«, mischte sich dessen Stellvertreter Ghrabert ein. »Meiner Ansicht nach verlief der Transfer vollkommen reibungslos. Was dir vielleicht als Turbulenz erschienen ist, weicht keineswegs von den Toleranzgrenzen ab!« »Ich möchte, dass der Ereignishorizont umgehend um zehn Prozent ausgedehnt wird!«, forderte Porlac. »Ich denke, dann sind die Probleme behoben.« »Mit Verlaub, dir fehlt das nötige mathematische Wissen, um das beurteilen zu können«, wandte Felvert ein und brachte seine ganze Kompetenz als Tormeister ein. »Wenn man den Ereignishorizont
verändert, hat das gravierende Konsequenzen, die vorher mathematisch simuliert werden müssen. So etwas kann man nicht einfach aus einer Laune heraus entscheiden.« »Entscheiden ist ein gutes Stichwort«, erklärte Porlac mit einem herrischen Gehabe, das Scobee in dieser Form bei ihm bisher nicht erlebt hatte. Es folgten einige Worte in der schrillen Sprache der Felorer, die Scobees Übersetzerchip nicht zu übertragen vermochte. Was ist da los? Ebenfalls Kommunikationsschwierigkeiten? Aber jetzt dürfte endgültig feststehen, dass die Ursache bei Porlac liegt!, ging es Scobee durch den Sinn. Was ist los mit ihm? Leidet er unter geistiger Verwirrung? »Ich will, dass mein Befehl umgehend ausgeführt wird!«, beharrte Porlac. »Ohne den Zeshlert-Faktor zu beachten? Das könnte bedeuten, dass dieses Wurmloch sich schließt und eine Rückkehr für dich und die Deinen unmöglich wird!« Erneut beriet sich Porlac mit den anderen Jay'nac. Er äußerte ein paar unverständliche Worte. Die Felorer waren ebenso überrascht wie Scobee, was sie daran zu erkennen glaubte, dass niemand aus der Mannschaft des Tormeisters es wagte, Porlac zu antworten. Scobee überlegte, wie sie die Situation beeinflussen konnte und ob dies überhaupt ratsam war. Der unberechenbare Faktor in Porlacs Reaktionen gefiel ihr nicht. Was war mit ihm passiert? Was war in der Milchstraße in den letzen zwei Jahrhunderten vor sich gegangen. Ich muss mehr darüber erfahren!, sagte sie sich. »Porlac!«, rief sie. Der Jay'nac ließ durch nichts erkennen, wie er auf die Ansprache durch Scobee reagieren würde. Er verharrte regungslos. »Du hast dich darüber gewundert, mich noch lebend anzutreffen, obwohl mein organischer Körper eigentlich nicht so lange leben kann!«, stellte Scobee fest. »Habe ich das gesagt?«, fragte Porlac. Eine Erwiderung, die Scobee einen Stich versetzte. Inwiefern war es überhaupt noch möglich, Kontakt mit Porlac aufzunehmen? Wie groß war der Grad der Verwirrung, der von ihm Besitz ergriffen
hatte? Ich werde mit Felvert darüber reden müssen, sobald sich eine Gelegenheit ergibt, mit ihm allein zu sein. »Wie war es dir möglich, so lange zu überleben?«, kam Porlac jetzt auf das Gespräch zurück, das Scobee begonnen hatte. Scobee berichtete in aller Offenheit von der Mission der RUBIKON ins Zentrum Andromedas und dem Zeitsprung bei der missglückten Transition. »Ich war zusammen mit den Gloriden der AUGE DES PERIGOR auf dem Weg zurück in die Milchstraße, um die dortige Situation zu erkunden. Ich nehme an, dass sich vieles geändert hat …« »Veränderung ist das Wesen allen Seins«, meinte Porlac. »Weich mir nicht aus, Porlac! Ich verlange nähere Informationen darüber, was dieser Stützpunkt inmitten der großen Leere zwischen Andromeda und der Milchstraße zu bedeuten hat. Was wollen die Jay'nac hier? Was hat es mit den Felorern auf sich, die hier als Torwächter fungieren und offenbar in euren Diensten stehen?« »Viele Fragen, Scobee …« »Und wie kommt es, dass ein Foronen-HAKAR, von einer eigenartigen Substanz bedeckt, um ein Schwarzes Loch mitten im Leerraum kreist?« »Dieses Schiff, das du HAKAR nennst, interessierte uns Jay'nac nur insofern, als es nach ein paar kleineren Modifikationen in der Lage war, die Torwächter zu beherbergen.« »Ihr habt es … gefunden?« »Ja, das trifft es, Scobee. Ich hoffe, meine Antwort konnte dich zufrieden stellen.« »Ich weiß noch immer nicht, welche Pläne ihr hier verfolgt.« »Wer gibt dir die Gewissheit, dass ich befugt wäre, dir darauf eine Antwort zu geben, Scobee?« »Ich werde mir notfalls die Informationen selbst besorgen. Irgendwie schaffe ich es schon, mich bis zur Milchstraße durchzuschlagen.« »Die Felorer, deren Gast – oder Gefangene? – du im Moment bist, hören deine Worte mit Interesse!«, stellte Porlac fest. Immerhin schi-
en sein Verstand im Augenblick wieder vollkommen normal zu arbeiten. Dementsprechend gab es auch keinerlei Kommunikationsprobleme. »Bist du denn berechtigt, die Foronin Siroona aus dem Stase-Schlaf zu wecken, Porlac? Ich würde sie gerne befragen.« Scobee bekam zunächst keine Antwort. Für sie unhörbar beriet sich Porlac mit den anderen Jay'nac. Zunächst war Scobee etwas irritiert darüber, wie lange diese Beratung anhielt. Die Felorer wirkten noch immer wie erstarrt und hielten sich sehr zurück. Wahrscheinlich waren sie erleichtert darüber, dass Porlac offenbar seine eigenen, absurden Befehle bereits wieder vergessen hatte und sich momentan in einem stabilen geistigen Zustand befand. Schließlich beendete Porlac den Dialog mit den anderen Jay'nac. Er näherte sich Scobee bis auf wenige Zentimeter. Sie wich nicht zurück und folgte damit ihrem Instinkt. »Dein Auftreten imponiert mir«, gab Porlac zu. »Dann wirst du mir meine Bitte erfüllen und mich umfassend informieren?« »Ich werde dir zumindest gestatten, die Schläferin zu wecken. Vielleicht hilft dir das ja weiter. Das Risiko schätze ich als gering ein, auch wenn es unter meinen Begleitern in dieser Frage durchaus abweichende Meinungen gibt.« »Danke.« Porlac entfernte sich wieder und wandte seine Aufmerksamkeit Felvert zu. »Ich möchte mich jetzt zurückziehen.« »Natürlich«, sagte Felvert. Scobee erschien das Verhalten des Felorer sehr unterwürfig. Worin genau das Autoritätsverhältnis zwischen den Jay'nac und den Felorern begründet war, vermochte die GenTec noch immer nicht zu sagen. Aber es musste für die Felorer durchaus gute Gründe geben, sich den Jay'nac dermaßen unterzuordnen, was umso erstaunlicher war, als die Fähigkeiten der Felorer jene der Anorganischen zumindest auf astrophysikalischem und mathematischem Gebiet bei wei-
tem zu übertreffen schienen. Die Abhängigkeit lag Scobees Analyse zufolge also eher auf Seiten der Jay'nac – nicht bei Felvert und seinen Artgenossen.
Einige der Jay'nac verteilten sich in der Kontrollhalle der Felorer. Es sah für Scobee danach aus, als wollten sie die Arbeit des Torwächters und seiner Mannschaft einer gründlichen Inspektion unterziehen. Ghrabert eilte hin und her und schien eifrig darum bemüht zu sein, den Jay'nac zu erläutern, was die Felorer gerade für Berechnungen anstellten, welche Modifikationen am Wurmloch eingeleitet wurden und wie sie in Zukunft die Transfermöglichkeiten noch reibungsloser zu gestalten gedachten. Scobee bekam davon nur Bruchstücke mit. Aber ihr fiel auf, dass die Kommunikationsgeschwindigkeit sehr viel höher war und sie dementsprechend auch größere Schwierigkeiten hatte, den Gesprächen zu folgen, wenn die Felorer untereinander kommunizierten, als wenn sie mit den Jay'nac in Kontakt traten. Irgendwie tröstlich zu wissen, dass man nicht das einzige Wesen an Bord dieses HAKARs ist, das eine etwas längere Leitung hat!, dachte Scobee. Porlac zog sich tatsächlich zurück. Wohin er verschwand, wusste Scobee nicht. Sie nahm an, dass er auf das angedockte Jay'nac-Schiff wechselte. Über den Grund konnte sie nur spekulieren. Porlacs anorganischer Körper musste sich jedenfalls nicht ausruhen, wie es für organische Lebewesen völlig selbstverständlich und unverzichtbar war. Aber es war durchaus möglich, dass sein Bewusstsein irgendeine Art von Regeneration benötigte. Scobee wusste letztlich einfach zu wenig über die Natur der Jay'nac, um das näher beurteilen zu können. Sie wandte sich an Felvert, der bereits im Begriff stand, sich den anderen Felorern zuzuwenden. »Felvert, ich möchte mit dir sprechen.« Die Redewendung »unter vier Augen« erschien ihr in Bezug auf ein augenloses Wesen wie Felvert unpassend. Der aus lauter achtförmigen Gewebeelementen bestehende Tor-
meister war bereits einige Meter von ihr davongerutscht. Der schabende Laut, der dabei entstand, wurde besonders durchdringend, als er kehrtmachte und zu der GenTec zurückglitt. »Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, wenn wir jetzt ein Gespräch führen …« »Ich möchte so schnell wie möglich hinunter in den HAKAR und Siroona aufwecken. Die Erlaubnis der Jay'nac habe ich – also ist ja wohl auch von deiner Seite her nichts mehr dagegen einzuwenden.« »Eine Genehmigung liegt vor, das ist korrekt.« »Wirst du mir helfen? Oder ist es dir lieber, ich sehe mich allein dort unten um.« »Ich werde dir helfen«, versprach der Tormeister. Scobee war sich ziemlich sicher, dass er dies nur deshalb äußerte, weil er vermeiden wollte, dass sie sich allein und ohne seine Kontrolle im Innern des HAKARs herumtrieb. Da begleitete er sie schon lieber, auch wenn es ihm offenbar nicht besonders passte, dass die Jay'nac die Erlaubnis zur Erweckung Siroonas gegeben hatten.
»Ich nehme an, auch dir ist der bedenkliche Zustand aufgefallen, in dem sich Porlac zumindest zeitweise befindet«, sagte Scobee, als sie gemeinsam erneut hinab in den HAKAR stiegen, um Siroona aus ihrem künstlichen Schlaf zu wecken. »Er reagierte sonderbar«, räumte Felvert ein. »Er gab vollkommen absurde Befehle und verhielt sich so, dass man an seiner geistigen Zurechnungsfähigkeit zweifeln muss!«, brachte Scobee die Dinge auf den Punkt. Die beschönigenden Formulierungen, mit denen der Tormeister die Situation beschrieb, gingen ihr ganz gehörig auf die Nerven. Wieso kann er die Dinge nicht einmal beim Namen nennen? Ist der Respekt vor den Jay'nac so immens, dass er das einfach nicht wagt – nicht einmal dann, wenn wir unter uns sind und er eigentlich auch nicht damit rechnen muss, dass Porlac je davon erfahren wird? »Was könnte mit ihm geschehen sein?«, hakte Scobee nach. »Ich weiß es nicht. Das ist für mich ebenso ein Rätsel wie für dich.
Aber deiner Analyse kann ich durchaus zustimmen.« »Du kannst von Glück sagen, dass ich ihn in eine Unterhaltung verwickelt habe und ihm hinterher die absurden Befehle, die er zuvor gab, nicht mehr bewusst waren«, gab Scobee zu bedenken. »Andernfalls wärst du gezwungen gewesen, den Ereignishorizont des Schwarzen Lochs so zu erweitern, wie es der Jay'nac gefordert hat.« »Das Risiko wäre erheblich gewesen!«, meinte Felvert, und in seinen Worten schwang ein tief empfundener Schauder mit, den wohl nur der wirklich nachempfinden konnte, dem die tatsächlichen Konsequenzen der Befehle klar waren. Und das konnte wohl nur jemand mit den mathematisch-physikalischen Fähigkeiten eines Felorers beurteilen. »Hättest du den Befehl denn befolgt, wenn Porlac darauf bestanden hätte?«, fragte Scobee. »Er scheint gerne mit dir zu kommunizieren. Das war unser aller Glück.« »Du hast meine Frage nicht beantwortet.« »Ich glaube, es wäre mir letztlich gelungen, ihn zu überzeugen.« »Wirklich? Wie kann man jemanden überzeugen, der gar nicht mehr in der Lage ist, den Gedankengängen zu folgen, die man ihm vorträgt!« Felvert schwieg zunächst. Schließlich stieß er hervor: »Du wirst mich nicht dazu bringen, die Autorität der Jay'nac in Frage zu stellen, sosehr du mich auch dazu zu verleiten versuchst. Wer garantiert mir denn, dass sie dich nicht am Ende nur deswegen hierher geschickt haben, um meine Loyalität als Tormeister zu überprüfen!« »Ich kann dir versichern, dass dies nicht der Fall ist.« »Diese Erklärung deinerseits nehme ich wohlwollend zur Kenntnis.« »Aber du glaubst mir nicht.« »Wenn ich telepathische Fähigkeiten besitzen würde, könnte ich es vielleicht. Und selbst dann müsste ich immer mit in meine Überlegungen einbeziehen, dass auch Gedanken der Manipulationsmöglichkeit unterliegen.« Scobee nickte. »Wie wahr!«, seufzte sie.
Schließlich erreichten sie den Stase-Block. Siroonas versteinerte Gestalt glich einer Statue. Nichts an ihr wies darauf hin, dass sie noch lebte. Eine Momentaufnahme – so stand sie da. Nicht einmal die Myriaden von Nanoteilchen, aus denen ihre Rüstung bestand, bewegten sich. Sie waren von derselben Starre befallen wie die Foronin, die sie trug. Felvert bediente die Schaltungen, die dafür sorgten, dass die Schläferin erwachte. Der Prozess dauerte seine Zeit. Siroona bewegte sich irgendwann sacht, wandte den Kopf. Scobee fühlte ihre Präsenz und erinnerte sich schaudernd an jene Zeiten, in denen sie den Hohen an Bord der RUBIKON mehr oder minder hilflos ausgeliefert gewesen war. Siroona regte sich stärker. Die Nanorüstung begann sich wieder in das einem wimmelnden Insektenschwarm gleichende, unruhige Etwas zu verwandeln, das sich an ihren Körper anschmiegte. Eine Rüstung mit Eigeninitiative, wie Scobee wusste. Die Myriaden von Nanoteilchen schwirrten durcheinander, bildeten Ströme und Muster, und Scobee bemerkte, wie ihr Blick geradezu gefangen genommen wurde. »Siroona!«, sagte sie leise. Es war nicht nötig, mit einem Foronen verbal zu kommunizieren. Sie waren hervorragende Telepathen. Scobee fühlte, wie ihr Bewusstsein abgetastet wurde. Aber Siroona schien lange nicht mehr so mächtig zu sein wie in jenen Zeiten, als sie und Sobek auf der RUBIKON das Zepter geschwungen hatten. Ihr augenloser, konisch wirkender Kopf zeigte mit der Vorderseite in ihre Richtung. »Scobee!«, sagte sie laut. Und im nächsten Moment konnte die GenTec die Gedanken der Hohen erfassen. Sie drangen förmlich in ihr Bewusstsein – einem spitzen Schrei gleich, der sich in das Gehör einbrennt. Ja, ich weiß, ich bin alt geworden. Alt und schwach. Was ist
geschehen? Ist wirklich so viel Zeit vergangen? »Zweihundert Erdenjahre«, erklärte Scobee. »Von unserem letzten Zusammentreffen an gerechnet.« Eine Zeit, die selbst auf Angehörige meiner Spezies eine gewisse Wirkung ausübt. Wieso hat dir der Zahn der Zeit nichts anhaben können? Und wieso – mir? Trotz Stase? Felvert fühlte sich bemüßigt, darauf zu antworten. »Es gab Unregelmäßigkeiten in deinem Konservierungsblock. Wir bemerkten sie schon bei unserer ersten Ankunft, aber wir sahen keinen Anlass, einzuschreiten.« Keinen Anlass, einzuschreiten – es ging ja auch »nur« um ein Leben … Scobee schauderte. Was Siroona bei diesen Worten dachte, blieb deren Geheimnis. Sie ließ sich keine Regung anmerken. »Eine fehlgeschlagene Transition hat mich in diese Epoche geführt.« Scobee räusperte sich. »So …« Ein einziges Wort nur sprach die Foronin. Sie wirkte gefasst, aber auch etwas hinfällig. Scobee hoffte nur, dass ihr geistiger Zustand nicht gelitten hatte. Siroona bewegte sich schleppend nach vorn. Sie wirkte noch gebrechlicher, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Kein Grund zu erschrecken, sandte sie Scobee und Felvert ihre Gedanken. Sag bloß, eine mächtige und über ihre gesamte Kraft verfügende Hohe wäre dir lieber, Scobee? In diesem Moment gelangte etwas in Scobees Bewusstsein, das wie das telepathische Foronenäquivalent eines höhnischen, reichlich zynischen Gelächters klang und das Scobee bis ins Mark frösteln ließ. Vermisst habe ich sie nicht!, dachte Scobee. Nicht wirklich jedenfalls! Siroonas Antwort war deutlich: Wenigstens bist du ehrlich, Scobee. Das kann man nicht von allen seinen Feinden behaupten. Und von Freunden schon gar nicht. »Wo ist Sobek?« So viel Anteilnahme an unserem Schicksal? »Ich bin auf dem Weg in die Milchstraße, um zu sehen, was in den letzten zwei Jahrhunderten geschehen ist. Ich muss einfach wissen,
was aus der Menschheit wurde und wie gegenwärtig die Situation in meiner Heimatgalaxie ist!« Es ist in Ordnung, wenn du laut sprichst. Es schmerzt zwar ein bisschen meine empfindlichen Sinne, und wie du weißt, hat ja auch Sobek die Lautsprache niemals bevorzugt, wie man verstehen kann. Sprich trotzdem. Deine Gedanken sind dann konzentrierter und erreichen mich nicht als ein primitiver diffuser Strom, bei dem zwei Drittel mit wirklichen Gedanken gar nichts zu tun haben, sondern als Emotionsmüll herausgefiltert werden müssen. Die Rüstung der Hohen begann sich auszudehnen. Die Nanoteilchen schwärmten jetzt auch über ihren Kopf, sodass dieser innerhalb weniger Augenblicke bedeckt war. Vielleicht will sie nicht, dass ich sehe, in welch erbärmlichen Zustand sie ist, überlegte Scobee. Die Rüstung schenkte Siroona andererseits auch mit Sicherheit einiges an Halt und Kraft, die das Mitglied der Hohen Sieben der Foronen allein nicht mehr aufgebracht hätte. Das bedeutete allerdings auch, dass die Gefahr, die von ihr ausging, weitaus geringer war. Zweifellos war sie nicht mehr wie früher in der Lage, anderen ihren Willen allein durch ihre Präsenz aufzuzwingen. »Wo ist Sobek?«, fragte sie. Im gleichen Moment traf Scobee auch ein begleitender Gedankenstrom mit großer Wucht. Aber der Unterschied zu ihrer früheren Kraft war dennoch deutlich spürbar. Du bist nicht mehr die Alte!, dachte Scobee. Unterschätze mich nicht!, war die gedankliche Erwiderung der Foronin. Eine unverhohlene Drohung. Aber Scobee hatte nicht den Eindruck, dass Siroona im Augenblick in der Lage war, dieser auch irgendwelche Taten folgen zu lassen. »Du hattest erwartet, dass Sobek dich erweckt?«, fragte Scobee. »Ja«, gestand sie. »Ich habe nicht die geringste Ahnung …« »Und was ist mit diesem missgestalteten Wurm?«, wandte sich Siroona mit all der für ihresgleichen so typischen Überheblichkeit an Felvert. »Ich bin Felvert – Tormeister aus dem Volk der Felorer«, erklärte
der Angesprochene überraschend neutral. Scobee fragte sich, ob es diplomatische Zurückhaltung war, die die Ruhe des Felorers erklärte, oder ob er einfach deswegen nicht durch die herablassende Art Siroonas verletzt wurde, weil er ihre Untertöne gar nicht verstand. Da Siroona ihre Worte gleichzeitig als verbale und als telepathische Botschaft abgegeben hatte, waren Übersetzungsschwierigkeiten so gut wie ausgeschlossen. Aber möglicherweise funktionierte das Bewusstsein des Felorers auf so andersartige Weise, dass Herablassung oder Arroganz für ihn völlig unbekannte Konstrukte waren, die er gar nicht ohne weiteres nachvollziehen konnte. Als Scobee über diesen Punkt nachdachte, erschien ihr auch die offenkundige Unlust des Felorers, ihr auf klare Fragen klare Antworten zu geben, in einem anderen Licht. Vielleicht hatte sie einfach nur noch nicht den richtigen Zugang zu ihm gefunden. Aber das lässt sich ja vielleicht noch optimieren, dachte sie. Siroona wandte sich wieder Scobee zu. »Eine fehlgeschlagene Transition nach Andromeda war die Ursache für deinen Zeitsprung?«, fragte sie. »Ja, das ist richtig«, bestätigte Scobee und überlegte: Warum stellt sie diese Frage? Siroona schien auf irgendetwas hinauszuwollen. Etwas, das Scobee im Moment noch nicht so recht klar vor Augen stand. »Wir konnten die Transition anmessen«, stellte Siroona fest. »Wo befindet sich die Original-SESHA jetzt. Ist die Arche der Foronen hier?« »Nein. Aber es erstaunt mich, dass die Transition SESHAs über eine dermaßen große Distanz angemessen werden konnte.« »So wie es uns erstaunt hat, dass die Arche überhaupt zu einer Transition und Überbrückung dieser gewaltigen Distanz – hin zur Großen Sterneninsel – fähig ist.« Die Große Sterneninsel … damit konnte nur Andromeda gemeint sein, schloss Scobee aus den Worten der Foronin. »Wir hatten Angehörige des Volkes der Gloriden an Bord, von de-
nen uns einer zeigte, wie SESHAs geheime Optionen eingesetzt werden können.« »Geheime Optionen … Nun, wie es scheint, hättet ihr besser nicht auf diesen Rat gehört«, gab Siroona zurück. »Ihr habt im wahrsten Sinne des Wortes viel Zeit vergeudet. Aber da bist du nicht die Einzige, der es so erging.« »Mit der Anomalie, die uns zum Verhängnis wurde, hatte unser gloridischer Ratgeber nichts zu tun«, meinte Scobee. »Wir hatten etwas an Bord, das wie ein Störfaktor wirkte und die Schiffs-KI bei der Transition gewissermaßen verwirrte – sofern das überhaupt die passende Beschreibung für die inneren Vorgänge eines Bordrechners sein sollte.« »Deine Wortwahl offenbart zumindest, dass dir wirklich profunde Kenntnisse darüber abgehen«, erwiderte Siroona mit der für sie typischen Selbstherrlichkeit. Scobee konnte sich einen bissigen Kommentar nicht verkneifen. »Immerhin sind wir mit eurer SESHA bis nach Andromeda gekommen – wenn auch zweihundert Jahre zu spät. So, wie das Ganze für mich aussieht, bist du hingegen schon auf halber Strecke an einem weniger gastlichen Ort hängen geblieben!« Ein Schwall von aufgebrachten Gedanken erreichte Scobee, und da wusste sie, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Felvert nahm dieses verbale Gefecht ohne erkennbare Reaktion hin. Was hier ablief, schien ihm mehr als fremd zu sein. Siroona trat noch einen Schritt auf Scobee zu. Sie hob die Arme. Die Rüstung wurde jetzt von unheimlichem Leben erfüllt. Die Ströme der Nanoteilchen wogten nur so hin und her. Scobee hatte keinerlei Erklärung dafür, aber sie wich instinktiv ein Stück zurück. Wo ist die Arche?, erreichte Scobee ein mehr als unfreundlicher telepathischer Impuls. Er war so drängend, dass für Scobee der Eindruck eines körperlichen Schmerzes entstand, der vom Kopf aus ihren gesamten Körper zu durchfluten schien. Aber das ist nur Illusion. In Wahrheit ist alles in Ordnung mit mir. Und von Siroona werde ich mich nicht kleinkriegen lassen. Dazu hat sie einfach nicht mehr das Format!
»Die Arche!«, fauchte die Foronin laut. »Wir können uns gegenseitig helfen, wenn du dich darauf einlässt, Siroona.« »Helfen? Wie soll das vonstatten gehen?« »Indem wir Informationen austauschen. Die Arche ist nicht hier, aber ich weiß gewiss mehr über ihren Verbleib, als du innerhalb der nächsten Jahre herausfinden könntest.« »Unterschätze mich nicht. Ich könnte einfach dein Bewusstsein –« »Wage es nicht!«, erwiderte Scobee. Einige Augenblicke lang geschah gar nichts. Felvert äußerte sich schließlich. »Anscheinend kennt ihr euch seit wirklich langer Zeit. Wer hätte das gedacht? Und die gemeinsame Vergangenheit scheint auch nicht immer von Harmonie geprägt gewesen zu sein.« »Nein, ganz und gar nicht«, bestätigte Scobee. »Mich würde es auch interessieren, wie du hierher kamst, Siroona – so war ja wohl dein Name«, meinte Felvert auf seine bemerkenswert sachliche und neutrale Art und Weise. »Du solltest auf ihn hören«, sagte Scobee. »Wenn es jemanden gibt, der uns beiden helfen könnte, von hier fortzukommen, dann ist es der Tormeister.« Siroona schien sich nach und nach tatsächlich etwas zu beruhigen. Vielleicht war es aber auch einfach nur die körperliche (und wohl auch mentale) Schwäche, die der Hohen zu schaffen machte. Man braucht eine Weile, um akzeptieren zu können, dass die eigene Zeit längst und lange vorüber ist, Siroona!, dachte Scobee. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe das zweimal durchmachen müssen! Siroonas telepatische Antwort darauf blieb unverständlich. Ein Schwall von Bildern und Begriffen, die Scobee nicht einzuordnen wusste. Dann versuchte sie, in Scobees Bewusstsein nach den Dingen zu forschen, die sie suchte. Antworten auf dem Verbleib SESHAs zu Beispiel. Doch der Erfolg war mäßig, was einerseits gewiss damit in Zusammenhang stand, dass sich Scobee mental abzuschotten versuchte, und andererseits dadurch bedingt war, dass Siroona einfach nicht verstand, was sie da vorfand.
Manche Dinge sollten besser erklärt werden!, gab Scobee nicht ohne Triumph zurück. Vielleicht hast du Recht!, lautete die überraschende Antwort. »So werde ich euch also berichten«, kündigte Siroona an. »Aber ich erwarte eine entsprechende Gegenleistung.« »Natürlich«, nickte Scobee.
5. Siroonas Vergangenheit Vor zweihundert Erdjahren, irgendwo am Rande jener Galaxis, die von den Erinjij als »Milchstraße« bezeichnet wurde … Der Rematerialisationspunkt der ARCHE wurde nahe der Großen Sterneninsel lokalisiert!, meldete die Künstliche Intelligenz des HAKARs, bei dem es sich um eine der Kopien der legendären Arche SESHA handelte, die im Kern von Tovah'Zara, in der Ewigen Stätte, aus dem Original dupliziert worden und danach in alle Richtungen ausgeschwärmt waren, um den Foronen eine neue Zukunft zu eröffnen. Eine Zukunft, die sie durchaus auch wieder nach Samragh, der alten, vor Äonen von den Virgh besetzten Heimat bringen mochte … »Wo?«, fauchte Sobek, der ausnahmsweise den akustischen Kanal benutzte, um mit der KI zu kommunizieren. Normalerweise hasste er es und tauschte sich mit ihr ausschließlich auf telepathischem Weg aus. Aber in diesem Fall gab er damit wohl seinem Bedürfnis nach, der Sache Nachdruck zu verleihen. Zu lange jagte er nun schon der Arche nach, der Ur-SESHA, aus der sämtliche HAKAR-Kopien »gezogen« worden waren. Aber die Kopien waren nicht mit dem Original vergleichbar. Das war eine Kopie nie. Zumal nicht bei einem symbolträchtigen Objekt wie dem Fluchtschiff, das sie vor den Virgh-Verfolgern gerettet hatte. Vor urlanger Zeit … In einer Phase, als die seinerzeit an Bord befindlichen Hohen schwächelten, hatte die Schiffs-KI eine folgenschwere Entscheidung getroffen und den Menschen John Cloud als Erste Autorität akzeptiert. Das war der Punkt gewesen, an dem Sobek den Kampf um das Schiff zumindest für den Moment hatte aufgeben müssen.
Aber natürlich hatte er nie daran gedacht, dies auf Dauer hinzunehmen. Wie haben sie es geschafft, zur Großen Sterneninsel zu gelangen?, fragte Sobek. Die Antwort der KI blieb sachlich und kühl. Es erfolgte eine Transition, wozu die Original-Arche offenbar fähig ist. Im System dieses Schiffs kann ich keine Funktion entdecken, die uns ein ähnliches Vorgehen erlauben würde. »Die SESHA-Kopien sind offenbar tatsächlich, wie wir längst vermuteten, mit der Original-Arche nicht völlig identisch«, stellte Siroona akustisch fest. Sie befand sich zusammen mit einigen anderen Foronen ebenfalls in der Zentrale von Sobeks HAKAR. In der Holosäule war ein Doppelsternsystem zu sehen, das aus einem roten Riesen und einem braunen Zwerg bestand, die sich gegenseitig umkreisten und außerdem noch von einer Schar von Planeten umlaufen wurden. Auffällig war, dass manche dieser Trabanten auf völlig irregulären, stark gegen die Systemebenen geneigten Bahnen entweder eine der beiden Sonnen oder sogar beide umwanderten. In einem zweiten Holosegment war eine schematische Darstellung zu sehen, die die Bahnverläufe veranschaulichte und in Beziehung zu den Positionen von Sobeks HAKAR-Flotte setzte. Die gegenwärtigen Standorte der einzelnen Schiffe waren gesondert markiert worden. Das System wurde von keiner intelligenten Spezies bewohnt. Den Sternenkatalogen der Foronen zufolge trug es die Bezeichnung Hecchiton-22.121. Sobek hatte diesen Ort lediglich angeflogen, um ein paar dringend benötigte Rohstoffe an Bord zu nehmen, die hier zu finden waren. Eine Zwischenstation auf der langen Odyssee, die sie bereits hinter sich hatten. Mehrere Beiboote waren derzeit noch im System unterwegs. In Kürze würden sie zurückgekehrt sein, wie eine Statusübersicht in der Holosäule verriet. Gerade war eines der Beiboote im Begriff, in seinen Hangar zurückzukehren.
Sobek nahm die entsprechende Meldung ohne irgendeine Reaktion zur Kenntnis. Er trat ein paar Schritte zur Seite und legte einen Arm auf den Steuer-Sarkophagsitz des Kommandanten, mit dessen Hilfe er den HAKAR zu lenken pflegte, und stützte sich ab. Die Nanorüstung zog sich vom Kopf des Anführers der Hohen Sieben zurück. Mit seinen Sinnen spürte er, dass es unter den anwesenden Foronen nicht nur Zustimmung zu seinen Plänen gab. Da schwelte seit längerem schon so etwas wie Widerspruchsgeist. Etwas, dem man am besten beizeiten entgegenwirkte, wie Sobek aus Erfahrung wusste. Bis jetzt hatte er nicht zugelassen, dass irgendjemand neben ihm hätte Macht gewinnen können. Er hielt die Zügel fest in der Hand. Alles musste einem einzigen Ziel untergeordnet werden: der Rückeroberung der Ur-SESHA. In diesem Augenblick meldete ihm die Schiffs-KI, dass Mecchit sich per Transportkapsel von einem der anderen HAKARs zu ihnen an Bord begeben hatte. Wenig später trat er durch den Türtransmitter und befand sich in der Zentrale. Sobek hatte Mecchits Präsenz bereits einige Augenblicke zuvor wahrgenommen. Sei gegrüßt, Sobek! Sobek erwiderte diese Begrüßung nicht. Er sah sie ohnehin eher als eine verschlüsselte Geste der Unterwerfung an. Mecchit schien klug genug zu sein, sich nicht offen gegen Sobek zu stellen. Jeder der das tat, hatte unter Umständen mit schweren Konsequenzen zu rechnen. Sobek war selbst für foronische Verhältnisse für seine Härte und äußerste Skrupellosigkeit bekannt. Aber – davon war er überzeugt – nur so konnte er erreichen, was er sich vorgenommen hatte. Hast du dir schon einmal Gedanken darüber gemacht, was Cloud und die Original-SESHA in der Großen Sterneninsel zu suchen haben? Das waren Siroonas Gedanken. Sobek drehte sich zu ihr um. Auch ihre Rüstung zog sich von ihrem Kopf zurück, sodass ihr augenloses Gesicht zu sehen war. Aber den Foronen standen weitaus intensivere Sinneseindrücke
zur Verfügung, als ein schlichtes Sehorgan mit optischen Sinneszellen sie hätte ermöglichen können … Ich grüble über nichts anderes, Siroona, lautete Sobeks Antwort. Seit die Transition angemessen wurde … Ich denke, es muss irgendetwas Großes sein, ohne dass ich mir im Moment etwas Konkretes darunter vorstellen könnte! »Ohne Grund wird John Cloud diese Reise wohl kaum angetreten haben, und ich denke, wir tun gut daran, uns dieser Frage noch etwas intensiver zu widmen!«, äußerte Siroona laut. »Bevor wir irgendetwas Unüberlegtes tun.« Es gibt fast nichts, was ich nicht hergeben würde, um dafür die OriginalSESHA zurückzubekommen!, erreichten Sobeks intensive Gedanken Siroona. Die Gefährtin des Anführers der Hohen Sieben erfasste, wie entschlossen Sobek war. Nichts und niemand würde ihn abhalten können, weiterhin wie ein Besessener der Ur-Arche der Foronen zu folgen. Mochte es ihn auch noch so viel kosten. Die Foronin war klug genug, sich ihm nicht in den Weg zu stellen und ihre Bedenken, die sie in der einen oder anderen Hinsicht hegte, zurückzustellen. Sobek hätte in seiner jetzigen Verfassung jeden noch so vorsichtigen Einwand allzu leicht als Illoyalität interpretieren können. Siroona schirmte ihren Geist ab. Vielleicht wäre es sinnvoller, sich wieder der Situation in Samragh zuzuwenden, als dieser Chimäre nachzujagen, die sich im Moment ohnehin in unerreichbarer Ferne befindet, dachte sie – allerdings ohne dass Sobek an ihren Gedanken teilhaben konnte. Samragh – die größere jener beiden der Milchstraße vorgelagerten Kleingalaxien, die sie als Satelliten umkreisten. Die alte Heimat der Foronen, bis sie vor ihren Feinden von dort hatten flüchten müssen. Mit der Original-SESHA waren Sobek und Siroona dorthin geflogen, um die Situation zu erkunden. Wenn es diesem Cloud nicht gelungen wäre, die Arche in seinen Besitz zu bringen, würden wir uns jetzt über dieses Problem überhaupt keine Gedanken machen müssen!, durchzuckte es sie.
Aber die Situation war nun einmal so, wie sie war, und Siroona hatte ein bisschen das Gefühl, dass Sobek das eigentliche Ziel etwas zu Gunsten der Wiederbeschaffung der Ur-SESHA aus dem Sinn verloren hatte. Was, wenn dieser Cloud einfach ferne Orte im Universum anzufliegen versucht?, fragte sich die Foronin. Musste wirklich eine besondere Absicht oder gar ein ausgeklügelter Plan hinter der Tatsache stehen, dass dieser erbärmlich schwach wirkende Angehörige einer Spezies, die man als Erinjij bezeichnete, die selbst für foronische Verhältnisse schier unglaubliche Distanz bis zur benachbarten Großgalaxie zurückgelegt hatte? Sobek hatte inzwischen längst die Tatsache registriert, dass sie ihre Gedanken ihm gegenüber weitgehend abgeschottet hatte und nur noch zuließ, dass er mit seinen besonderen Sinnen die Oberfläche ihres Bewusstseins erfasste. Mehr ließ sie einfach nicht mehr zu. Eine Spur Trotz war auch ein Grund für die Haltung. Soll er sehen, was er davon hat! Soll er sich ruhig darüber wundern, weshalb ich meinen Geist vor ihm verschließe … Sobek nahm diesen Umstand zunächst ohne Kommentar hin. Siroona erkannte schnell, dass dies unter anderem mit der Anwesenheit Mecchits zu tun hatte. Er weiß, dass ich letztlich – selbst bei der einen oder anderen Differenz – seine Gefährtin und Verbündete bin, ging es Siroona durch den Kopf, ohne dass Sobek diesen Gedanken belauschen konnte. Aber bei Mecchit sieht die Sache schon ganz anders aus. »Ich bin dafür, nach Samragh zu fliegen«, erklärte Mecchit nun – laut und bestimmt. Für Sobek war das ein Angriff. Aber er war klug genug, zunächst noch in der Deckung zu verharren. Wirklich interessant, deine Ansichten zu erfahren!, sandte Sobek. Die Wiederbeschaffung der Original-SESHA wird von dir also nicht mehr als erste Priorität gesehen … »Ich meine nur, dass wir die Situation in Samragh nicht vernachlässigen dürfen. Unser alter Feind, die Virgh, scheint ausgeschaltet worden zu sein, und so ergäbe sich vielleicht die Möglichkeit für unser Volk, seine aufgegebenen Welten wieder in Besitz zu nehmen
…« Unter den anderen Foronen stieß diese Ansicht durchaus auf Sympathie. Sobek nahm die entsprechenden telepathischen Impulse wahr. Einer der Foronen trat vor. Er hieß Gransitt. Die Tatsache, dass sich überhaupt jemand zu Wort meldete, der nicht dem exklusiven Kreis der Hohen Sieben angehörte, ließ Sobek aufhorchen. Wessen Stellvertreter ist Gransitt?, ging es ihm sofort durch den Kopf. Dass er aus eigener Initiative handelt, kann wohl getrost ausgeschlossen werden. Schließlich kennt auch Gransitt das Risiko, sich mit mir anzulegen! Es musste also jemanden geben, der Gransitt deckte und ihm wahrscheinlich sogar irgendwelche weitreichenden Versprechungen für die Zukunft gemacht hatte. Und diese Versprechungen müssen es in sich gehabt haben, sonst wäre wohl nicht einmal so ein Narr darauf hereingefallen!, schoss es durch Sobeks Gedanken. Innerlich kochte der Erste unter den Hohen Sieben. Aber davon ließ er nicht das Geringste nach außen dringen. Er hatte sein Bewusstsein vollkommen abgeschlossen, sodass auch seine mentale Präsenz nichts darüber verriet, in welchen inneren Aufruhr ihn der Umstand gestürzt hatte, dass Gransitt es tatsächlich wagte, sich ihm entgegenzustellen. Der erste Verdacht fiel natürlich auf Mecchit, und Sobek hatte bereits erwogen, diesen unverhohlenen Opponenten ebenso offen anzugreifen und zu vernichten. Besser jetzt als später, wenn er erst einmal mächtig geworden war. Das Feuer der Opposition musste so früh wie möglich ausgetreten werden. Dieser Devise war er stets gefolgt und hatte bislang gute Erfahrungen damit gemacht. Schließlich war er nicht von ungefähr an die Spitze der Hohen Sieben gelangt und hatte sich bisher dort gehalten, auch wenn mit Sicherheit in den abgeschirmten Bewusstseinstiefen des einen oder anderen vorgeblichen Gefährten ganz andere Gedanken zu finden waren. Gransitt strahlte eine für Sobek überraschend starke Präsenz aus. Worin das begründet liegen mochte, wusste Sobek nicht. Vielleicht hatte das Bewusstsein, mit der Unterstützung ein oder mehrerer un-
ter den Hohen Sieben zu handeln, ihn innerlich dermaßen gestärkt, dass nun dies die Folge davon war. Und was, wenn es nicht nur einer ist, der hinter ihm steht?, kam Sobek ein Gedanke, der ihn einige Momente lang doch ein wenig beunruhigte. Umso mehr würde es darauf ankommen, die Deckung nicht zu früh zu verlassen. Erst zuschlagen, wenn du weißt, dass du der Sieger sein wirst!, nahm sich Sobek vor. So bringe deine Argumente vor!, verlangte Sobek, aber aus den telepathischen Begleitimpulsen und jenem Teil seiner mentalen Präsenz, die er die anderen nun für einige Augenblicke spüren ließ, war die Geringschätzung nicht zu überhören. Er hatte einen Gedanken geschickt, der wie eine freundliche Aufforderung zu einem sachlichen Dialog gewirkt hatte. In Wahrheit jedoch wusste jeder der Anwesenden, dass es sich um nichts weiter als eine blanke Drohung mit dem Versprechen eines qualvollen Todes handelte. Sobek stellte fest, dass sämtliche Anwesenden im Moment ihre Bewusstseinsinhalte nahezu perfekt abschirmten. Aber das war nicht weiter verwunderlich. Was hast du vorzubringen, Gransitt?, fragte Sobek. »Ich kann in deinem Plan, der Ur-SESHA in die Große Sterneninsel zu folgen, keinerlei vernünftige Abwägung zwischen dem Aufwand und dem zu erwartenden Ertrag erkennen«, äußerte Gransitt. »Wir dürfen davon ausgehen – und greifen dabei auf deinen eigenen Bericht zurück –, dass die Virgh in Samragh nicht mehr herrschen, und sollten deshalb schleunigst zusehen, dort die Lage zu klären, anstatt den Großteil der zur Verfügung stehenden Ressourcen darauf zu verwenden, der Arche nachzujagen!« Einige Foronen-Bewusstseine öffneten sich vorsichtig, und so erfüllten zustimmende Impulse den Raum, was Sobek alles andere als gut gelaunt zur Kenntnis nahm. Diesmal würde es vielleicht nicht ganz so einfach werden, die anderen wieder unter seinen Willen zu zwingen. Vielleicht hatte er sie in der Vergangenheit einfach zu selbstherrlich angeführt und zu wenig auf ihre Einwände geachtet.
Sobek wandte sich Mecchit zu, der etwas abseits stand. Sein Kopf war vollkommen von der Nanorüstung bedeckt. Ist deine Angst so groß, dass du dich nur mit geschlossener Rüstung in meine Nähe wagst, Mecchit?, fragte Sobek höhnisch. Seine Präsenz wurde so stark, dass jetzt ein Ruck durch den Hohen Mecchit ging. Du irrst dich!, lautete dessen Antwort. Ein schwacher Gedankenimpuls, wenig überzeugend und außerdem von nur geringer mentaler Präsenz des Hohen unterstützt. »Gib es zu!«, forderte Sobek laut und vernehmlich und fügte als stummen Gedankenimpuls noch hinzu: Oder bist du tatsächlich der Feigling, der andere vorschickt, um selbst nicht in die Schusslinie zu geraten, und der nur aus dem geschlossenen Helmvisier heraus zu kämpfen bereit ist? Wie kannst du es wagen, mir eine Kreatur wie Gransitt als Gegner in einem argumentativen Streit vorzusetzen? »Du irrst dich!«, beharrte Mecchit. »Ich habe niemals einen anderen beauftragt, jene Worte zu sagen und die Gedanken zu denken, die ich selbst formen kann!« Alles nur Gewäsch, Mecchit! »Nein!« Aber wir werden sehen, wie du dastehst, wenn dein Sprachrohr zerbrochen ist! Sobek hob den Arm und innerhalb von Sekundenbruchteilen schoss ein Strahlenblitz aus seiner Rüstung hervor. Er erfasste Gransitt und streckte ihn nieder. Regungslos blieb der Forone liegen. Im Gegensatz zu den Angehörigen der Hohen Sieben war er weder von einer Nanorüstung umgeben noch bewaffnet. Demonstrativ schritt Sobek über den toten Foronen hinweg. Es herrschte mentales Schweigen. Nicht ein einziger Gedankenimpuls erreichte Sobek in diesen düsteren Augenblicken kurz nach dem begangenen Mord. »Ich habe deine Autorität nie bestritten, Sobek, und ich habe auch niemanden beauftragt, in meinem Namen zu sprechen«, erklärte nun Mecchit mit einem für Sobeks Geschmack überraschenden Selbstvertrauen. Würdest du dein Bewusstsein daraufhin erforschen lassen?, fragte der
Hohe. »Ja, das würde ich!« Wenn Mecchit mir das anbietet, bedeutet dies eigentlich, dass ich in seinem Bewusstsein nichts finden werde!, glaubte Sobek. Das Risiko wäre für ihn sonst viel zu groß, zumal er in dem Moment, in dem ich in sein Bewusstsein eindringe und dort buchstäblich das Unterste zuoberst kehre, ziemlich verwundbar wäre … Ich allerdings ebenfalls! Einen Moment noch überlegte Sobek, ob er den dafür notwendigen Aufwand an Kraft tatsächlich rechtfertigen konnte. Was, wenn sich jemand anders hinter dem unverschämten Auftreten Gransitts verbirgt, als ich bisher annahm?, fragte sich Sobek. Vielleicht sogar jemand, auf dessen Loyalität der Anführer der Foronen immer fest gebaut hatte. »Ich will eine offene Abstimmung!«, forderte Sobek schließlich. »Eine Abstimmung ausschließlich unter den Hohen. Jeder möge dabei ohne die Anwesenheit seiner mentalen Unterstützer auskommen.« Wie wäre es mit einem Kompromiss, Sobek?, fragten Siroonas Gedanken. Wie könnte der aussehen? Wie der aussehen könnte? Lass Mecchit doch mit einem Teil der HAKAR-Flotte nach Samragh fliegen, während der Rest der Flotte versucht, die Ur-SESHA wieder in die Hände zu bekommen. Vorausgesetzt natürlich, für Letzteres gibt es überhaupt eine technische Möglichkeit, denn die Antriebsreichweite eines gewöhnlichen HAKARs ist, wie hier wohl allen klar sein dürfte, deutlich geringer. Dieser Vorschlag löste zunächst sowohl Überraschung als auch Befürchtungen aus. Siroona, warum tust du das?, dachte Sobek. Auf einmal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Sie musste es gewesen sein, die den Foronen Gransitt aufgestachelt hatte. »Die Frage der technischen Machbarkeit eines Flugs zur Großen Sterneninsel sollte in der Tat geklärt werden, bevor wir in dieser Hinsicht irgendetwas unternehmen!«, meinte ein anderer Forone.
Für diese Stellungnahme gab es unter den Anwesenden eine so große Welle der Zustimmung, dass sich Sobek zunächst hütete, irgendetwas dagegen unternehmen zu wollen. Nimm den Kompromiss an!, schlug Siroona vor. Sie hatte ihr Bewusstsein auf eine Weise abgeschirmt, die dafür sorgte, dass nur Sobek diese Botschaft verstand. Wir sind nicht in einer Situation, in der wir uns einen internen Kampf erlauben können, Sobek. Daran solltest du denken. Wenn du wirklich die Arche zurückhaben willst, müssen alle Kräfte gebündelt werden! Der Ärger, den Sobek empfand, war noch immer deutlich zu spüren. Es war für Siroona nicht leicht, seiner negativen Präsenz standzuhalten. Sie sammelte ihre Kräfte. Lass Mecchit nach Samragh fliegen!, forderte Siroona unmissverständlich. Es ist das Beste! In allem anderen wirst du dich ja ohnehin durchsetzen – auf deine gewohnt rigorose Weise! Es dauerte einige Augenblicke, bis Sobeks Antwort Siroona – und nur sie! – erreichte. Mecchit kann froh sein, eine Fürsprecherin wie dich zu haben, sonst wäre er jetzt schon tot! An alle gerichtet sandte er einen anderen Gedankenstrom. Ich werde darüber nachdenken und dabei auch Mecchits Standpunkt mit einbeziehen. »Ich bin dagegen, Ressourcen zu verschwenden«, sagte Mecchit. »Wir sollten uns darauf konzentrieren, die alte Heimat wieder in Besitz zu nehmen. Ist es nicht das, wovon wir immer träumten? Jetzt sind die äußeren Bedingungen dafür gegeben, und es wäre ein Frevel am foronischen Erbe, wenn wir diese Gelegenheit verstreichen ließen!« Ich habe deine Argumentation verstanden!, lautete Sobeks eisige Erwiderung. Seine Präsenz war dabei gleichzeitig so mächtig und abweisend, dass Mecchit es für besser hielt, dieses Thema zunächst nicht noch einmal anzusprechen – zumal die Unterstützung dafür zu schwinden begann. Der Respekt und die Furcht vor Sobek waren einfach immens groß.
Mecchit erkannt, dass sich die meisten jener, die vorsichtig signalisiert hatten, ihn und seine Position unterstützen zu wollen, im Moment in einer abwartenden Haltung befanden. Sie hatten bei Sobek auf ein Zeichen der Schwäche gewartet. Irgendeine Kleinigkeit, die sich so interpretieren ließ, als hätte Sobek vielleicht doch nicht alles im Griff. Aber der Erste unter den Hohen Sieben hatte nichts dergleichen erkennen lassen. Im Gegenteil. Für Mecchits Geschmack hatte er erschreckend souverän und im foronischen Sinne des Wortes präsent gewirkt. Es wird sehr schwer werden, etwas gegen ihn zu unternehmen, ging es Mecchit durch den Kopf, ohne dass er irgendwem gestattete, an diesem Gedanken teilzuhaben. »Wir werde uns schon bald wieder hier treffen, um unsere Beratung fortzusetzen«, kündigte Sobek jetzt laut und vernehmlich an. »Ich möchte mich zunächst über die technischen Möglichkeiten informieren, doch zur Großen Sterneninsel zu gelangen. Danach werde ich entscheiden!« Niemand erhob Einwände. Die anderen Foronen verließen die Zentrale bis auf diejenigen, die hier ihren Dienst verrichteten. Mecchit wechselte auf seinen eigenen HAKAR. Siroona blieb jedoch bei ihrem Gefährten. Das vergesse ich dir nie, Siroona! Ein Gedanke wie ein Giftpfeil. Aber Siroona war souverän genug, dieser Attacke standzuhalten. Ach, Sobek, ich hoffe wirklich, dass du nie vergisst, was ich für dich getan habe.
Sobek legte sich in seinen Kommandosarkophag. Daraufhin verschmolz sein Bewusstsein mit dem Schiff. Er war der HAKAR und hatte einen direkten Zugang zum Bordrechner, der noch weitaus unmittelbarer als die telepathische Kommunikation war, die er ansonsten im Umgang mit der KI bevorzugte. Ich will mit den HAKARs zur Großen Sterneninsel und möchte, dass du
dafür einen Plan entwirfst, erklärte Sobek. Mit der KI der Original-Arche war diese hier nicht vergleichbar, wie Sobek immer wieder schmerzlich hatte feststellen müssen. Ihre Fähigkeiten waren nicht auf demselben Level. Das war mit der Grund, weshalb die Original-SESHA für Sobek etwas Einzigartiges darstellte. Wenn es nur um irgendeinen HAKAR gegangen wäre – den hätte er John Cloud und seiner Piratenbesatzung getrost überlassen können. Dir ist bewusst, dass die Reichweite eines HAKARs für eine Reise zur Großen Sterneninsel nicht ausreicht?, vergewisserte sich die Schiffs-KI unterdessen. Sobek wurde ungehalten. Ich will, dass du mir einen Plan eröffnest, wie es eben doch möglich wäre. Dass dabei Schwierigkeiten zu überwinden sind, ist mir klar. Es dauerte einige Augenblicke, bis Sobek eine Antwort der KI erhielt. Es gäbe schon eine Lösung, die zumindest theoretisch praktikabel wäre …
Siroona wechselte auf Mecchits HAKAR. Mecchit war überrascht, sie zu sehen. »Nanu, so hoher Besuch?«, fragte er. Ich denke, dass wir miteinander reden müssen. »Meinetwegen.« In der Zentrale des HAKARs waren einige Foronen, die mit Routinetätigkeiten beschäftigt waren. Die Feineinstellung der optischen Sensoren gehörte dazu. Man hätte sie natürlich auch der KI überlassen können, aber die Erfahrung zeigte, dass es besser war, wenn foronische Sinne beurteilt hatten, wie die Qualität der Schiffssensoren zu sein hatte. Siroona erfasste sofort, was die anwesenden Foronen taten. »Weiß Sobek, dass du hier bist?« Laut beantwortete Siroona diese Frage nicht, aber ihr Gedankenstrom erreichte Mecchit. Gibt es etwas, das Sobek nicht weiß?
Leiche Ironie schwang darin mit. Wahrscheinlich nicht, lautete Mecchits Erwiderung. Sie kommunizierten auf einem vollkommen abgeschirmten telepatischen Level miteinander. Die anderen Besatzungsmitglieder konnten nichts davon mitbekommen. Hätten sie einen getrennten Raum aufgesucht, um sich auszutauschen – sie wären nicht ungestörter gewesen. Das Wichtigste war, dass Sobeks Präsenz sie beide hier weder einschüchterte, noch die Gefahr bestand, dass er sogar den Inhalt ihrer Kommunikation erfuhr. Siroona war sich der Tatsache durchaus bewusst, dass Sobeks Vertrauen zu ihr einen ziemlichen Knacks bekommen hatte. Vertrauen, das im Wesentlichen auf gemeinsamen Machtinteressen fußte – nicht auf Emotionen, die primitivere Organismen miteinander verbanden. Du warst es, der Gransitt instruiert hat, nicht wahr?, erriet Mecchit. Der Arme – Sobek hat an ihm demonstriert, dass er – im übertragenen Sinn natürlich – doch Zähne hat! Siroonas Antwort wirkte kühl. Ich mag diese archaischen Wortspiele nicht, meinte sie. Rassen mit Zähnen sind doch immer gleich verdächtig, einer niederen Evolutions- und Kulturstufe anzugehören. Die mentale Entsprechung eines schallenden Gelächters drang zu Siroona. Sie registrierte sein offenbar grenzenloses Selbstbewusstsein und fand seine Art, die Präsenz herauszukehren, schon fast übersteigert. Vielleicht würde Mecchit dafür irgendwann einmal bitter bezahlen müssen. Das lag durchaus im Bereich des Möglichen. Gransitts Ende war schnell und leicht gewesen. Bei zukünftigen Opponenten Sobeks war dies keineswegs garantiert. Niemand wusste besser als Siroona, wie grausam der Erste unter den Hohen Sieben reagieren konnte. Oft genug hatte Siroona es mit angesehen, entweder in teilnahmsloser Neutralität oder als seine Handlangerin und Verbündete. Gefährtin – das war eigentlich der Rang, den sie beanspruchte. Aber manchmal fragte sie sich insgeheim, ob Sobek ihre Rolle genauso sah. Möglicherweise lag hier auch ein tragisches Missverständnis vor. Aber so genau wollte Siroona in diesem Moment gar nicht darüber nachdenken. Sie wollte einfach nur das tun, was sie zur Erhaltung
einer einheitlichen foronischen Macht für sinnvoll hielt.
Als Sobek das nächste Mal eine Versammlung in der Zentrale seines HAKARs einberief, hatte er sehr genaue Vorstellungen von dem, was zu geschehen hatte. Mit Hilfe der Schiffs-KI hatte er einen Plan erstellt, wie es im Zusammenspiel der eigentlich dazu untauglichen SESHA-Kopien doch ermöglicht werden konnte, zur Großen Sterneninsel zu gelangen, wo er die Ur-SESHA zu finden hoffte. »Ein einzelner HAKAR ist nicht in der Lage, diese Distanz zu überbrücken, so viel ist klar«, sagte er. Er hob seinen von der Rüstung bedeckten Arm und ballte die Pranke zur Faust. »Ich gäbe wirklich viel dafür zu wissen, wie Cloud und seine Bande es geschafft haben, SESHA zu einer Transition zu bringen … Offenbar wurde seinerzeit in Tovah'Zara doch nicht, wie selbst von mir angenommen, alles lückenlos dupliziert, was das Heiligtum unseres Volkes ausmacht. Wie auch immer, wir sind gezwungen, unseren eigenen Weg zur Großen Sterneninsel zu finden – und wie es scheint, gibt es diesen Weg auch tatsächlich. Zumindest in der Theorie. Inwiefern er auch in der Praxis zum Erfolg führt, wird sich herausstellen …« »Das bedeutet, wir werden jetzt enorme Ressourcen für einen Plan zur Verfügung stellen, von dem wir allenfalls wissen, dass er theoretisch funktionieren kann?«, sagte Mecchit. Na, wenigstens bist du nicht so ein Feigling, der sich von irgendeiner niederen Charge vertreten lässt!, durchzuckte es Sobek. Er ließ es dabei mit voller Absicht zu, dass den Gedanken alle Anwesenden mitbekommen konnten, und ließ sie gleichzeitig seine Präsenz in einem Maß spüren, die so manch weniger widerstandsfähiges Wesen schlicht und ergreifend getötet hätte. Gleichzeitig aber dachte Sobek auch an Siroonas Worte und Gedanken der letzten Zeit. Vielleicht hatte sie in mancher Hinsicht Recht. Sobek war zumindest inzwischen bereit, den einen oder anderen Gedanken, den sie geäußert hatte, als richtig anzuerkennen – auch wenn ihm so manches davon nicht gefiel. Zum Beispiel ihre
Einschätzung von Mecchits Position und seinen Reserven an Kraft und heimlichen Anhängern. Inzwischen aber gestand Sobek sich selbst gegenüber gerade in diesem Punkt durchaus eine Fehleinschätzung ein. Mecchit war stärker, als er geglaubt hatte, und es war vermutlich eine unverzeihliche Torheit, den offenen Kampf jetzt zu suchen. Besser, er zögerte diese Auseinandersetzung noch hinaus. Auf jeden Fall dachte Sobek daran, das Heft des Handelns nicht aus der Hand zu geben. Einer der wichtigsten strategischen Punkte in jedem Krieg war es, den Ort und den Zeitpunkt der Schlacht bestimmen zu können. Und genau diesen Vorteil wollte Sobek nutzen. Es war einfach nicht ratsam, sich vorschnell provozieren zu lassen. Es sah allerdings fast so aus, als würde Mecchit genau dies beabsichtigen. Eigenartig, bisher habe ich dich immer für einen gehalten, der versucht, aus dem Hinterhalt anzugreifen!, dachte er und sorgte dafür, dass ausschließlich Mecchit diese Botschaft bekam. Die Gesichter – wobei dies ein Begriff war, mit dem die Foronen zwar wie viele intelligente, entfernt humanoide Völker die Vorderseite ihres Kopfes bezeichneten – beider Foronen waren in diesem Augenblick höchster mentaler Anspannung einander zugewandt. Unter Foronen war das eine Art Ritual. Manchmal könnte man auf den Gedanken kommen, unsere sehr fernen Vorfahren hätten vielleicht Hörner oder Geweihe auf dem Kopf gehabt!, überlegte Siroona, als sie die beiden Hauptkontrahenten des Streits sich so gegenüberstehen sah. Ein mentales Duell. Vielleicht ist es das, was die Situation wirklich trifft … Jetzt erweist es sich, wie groß Sobek wirklich ist und ob er dazu fähig ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Nicht nur für sich selbst, sondern für uns alle. »Ich habe deine Einwände wohl bedacht und bin zu dem Entschluss gekommen, dass es in der Tat wichtig ist, dass jemand in der Urheimat Samragh nach dem Rechten sieht – und wer wäre dafür besser geeignet als du, Mecchit?« Du willst mich los sein!, erreichten Sobek nun für einen Augenblick Mecchits beinahe hasserfüllte Gedanken. Du willst verhindern, dass ich die Reise zur Großen Sterneninsel mitmache – aus welchem Grund
auch immer! Mecchit war dermaßen außer sich, dass er seine Gedanken nicht wirklich zu verbergen mochte. Die anderen Anwesenden waren teilweise recht schockiert über diesen Ausbruch. Nur Sobek nicht. Sein bis dato überwiegend verdeckt handelnder Kontrahent hatte durch diesen Ausbruch seine eigene Schwäche demonstriert. Für Sobek war das mehr als günstig. Aus Erfahrung wusste er, dass es immer sehr viel wirkungsvoller war, jemanden sich selbst desavouieren zu lassen, als wenn man das selbst in die Hand nehmen musste. Im vorliegenden Fall schien Mecchit dies auf klassische, beinahe perfekt zu nennende Weise gelungen zu sein. »Mein Plan sieht vor, dass mehrere HAKARs hintereinander geschaltet werden – wie bei einer primitiven mehrstufigen Rakete«, nahm Sobek seinen Faden wieder auf. »Die ausgebrannten Elemente werden unterwegs abgestoßen. Die Schiffs-KI schlug vor, dass sie einfach zurückgelassen werden – aber das wäre Verschwendung …« Der ganze Plan gleicht einer einzigen Verschwendung!, dachte Mecchit. Um nach Andromeda und wieder zurück zu gelangen, müsste er ein Drittel unserer Flotte quasi opfern. Schiffe, die uns zum Wiederaufbau unserer alten Heimat nicht mehr zur Verfügung stünden. Mecchit behielt diesen Gedanken jedoch für sich. Allenfalls seine Skepsis war für die anderen anwesenden Foronen spürbar. Mecchit wusste noch nicht genau, wie er sich nun verhalten sollte. Er hatte sich schon sehr weit vorgewagt. Vielleicht sogar zu weit. Und wenn es Sobek tatsächlich gelingt, die Ur-Arche an sich zu bringen sowie Cloud gefangen zu nehmen, kann er im schlimmsten Fall sogar in Erfahrung bringen, dass ich diesem Menschen einen HAKAR angeboten habe, um die Ur-SESHA in meinen Besitz zu bringen … Es war schwer zu sagen, wie Sobek auf diese Neuigkeit reagieren würde. Aber Mecchit war sich der Tatsache bewusst, dass diese besonders ungünstige Entwicklung für ihn einem Todesurteil gleichkommen konnte. Andererseits fragte er sich zunehmend, inwiefern es wirklich seinen Interessen diente, den Flug zur Großen Sterneninsel zu verhin-
dern. Vielleicht war es ja gar nicht so schlecht, wenn Sobek dort anlangte – und man es so arrangierte, dass er nicht mehr in der Lage war, zurückzukehren. Sollte er doch seiner Ur-SESHA nachjagen, während Mecchit ein neues Foronenreich aufbaute und sich zum alleinigen Regenten aufschwang! Also hielt Mecchit sich im Weiteren erst einmal zurück, zumal er spürte, dass sich die Unterstützung für seine offene Opposition in engen Grenzen hielt. Interessierte Neugier. Mehr konnte er beim besten Willen im Augenblick noch nicht bei der Mehrheit der Foronen für seinen Kurs ausmachen. In der Sache war die Zustimmung gewiss sehr viel größer, aber die Foronen waren im Allgemeinen Opportunisten. Sie fügten sich der Macht – und die lag unzweifelhaft in Sobeks Händen. Noch, dachte Mecchit. Noch … In seinem Hirn begannen die Gedanken nur so zu rasen, während Sobek seinen Plan weiter erläuterte. Einen Plan, der gleichermaßen größenwahnsinnig und selbstherrlich war – und vielleicht sogar eine Gefahr für die Zukunft der Foronen. Aber es schien nichts und niemanden zu geben, der ihn davon hätte abhalten können. Nicht einmal Siroona. »Die ausgebrannten HAKARs werden die Funktion von Weltraumbahnhöfen übernehmen. Sie werden an bestimmten, genau festgelegten Punkten auf dem Weg zur Großen Sterneninsel stationiert. Transportkapseln werden von einer Station zur anderen geschickt, sodass eine dauerhafte Verbindung entsteht. Den Berechnungen der Schiffs-KI nach reichen vier solcher Stationen aus ausgebrannten HAKARs bis nach Andromeda.« »Du willst sagen, dass du mit vier aneinander gekoppelten HAKARs die Große Sterneninsel erreichen willst?«, fragte einer die niederen Foronen. Er hieß Nabak und hatte auf Sobeks Schiff eine exponierte Stellung innerhalb der Besatzung inne. Er sorgte unter anderem für die Disziplin an Bord, die er mit eisernem Willen durchsetzte. Er galt als jemand, der Sobek treu ergeben war. Dass ausge-
rechnet er jetzt diese Rückfrage stellte, ließ Mecchit aufhorchen. Gab es da etwa einen Zwist zwischen Sobek und seinem Lakaien? Mecchit hatte einen besonderen Sinn für das Erkennen feinster Spannungen entwickelt, die sich vielleicht machtpolitisch ausnutzen ließen. Wie man einen derartigen Sinn erfolgreich einsetzte, offenbarte Sobeks Vorbild nur zu deutlich … »Es sind nicht nur vier HAKARs«, korrigierte Sobek seinen Lakaien. Er ließ dabei nicht erkennen, wie er Nabaks Frage einschätzte. Jeder will nach oben, kommentierte Mecchit in seinen Gedanken die Situation. Das gilt für einen der Niederen wie Nabak ebenso wie für die Hohen Sieben. Wer würde es ihm verdenken wollen, wenn er es leid wäre, nur den machtlosen Erfüllungsgehilfen zu mimen? Allerdings glaube ich nicht, dass seine mentale Präsenz wirklich für eine größere Rolle taugt … Er sollte seine Grenzen kennen, sonst könnte es ihn teuer zu stehen kommen. Aber noch ein anderer Gedanke formte sich in Mecchits Kopf. Warum sollte er dieses Spiel, dessen grausames Ende aus seiner Sicht der Dinge bereits absehbar war, nicht ausnutzen? Entweder um Sobeks Plan zu verhindern!, blitzte es durch Mecchits Bewusstsein wie ein heller Strahl. Oder um Sobek endlich loszuwerden! »Ich brauche für mein Vorhaben insgesamt zehn HAKAR-Einheiten«, verkündete Sobek in diesem Moment. Er äußerte dies, als sei es bereits ein fester Beschluss, der von allen getragen wurde und dem alle zugestimmt hatten. Den Gedanken, dass es vielleicht noch ernsthaften Widerstand zu überwinden gab, schien er von vornherein völlig auszuschließen. Die Präsenz, die in diesem Augenblick von ihm ausging und ihn wie eine unsichtbare Aura umgab, war so enorm, dass alle Foronen im Raum insgeheim zugeben mussten, dass sie davon mehr als nur beeindruckt waren. Selbst jene, die Sobek insgeheim am liebsten in den Schlund eines Quoakselwurms gewünscht hätten. Sobek fuhr fort: »Mit meinem eigenen HAKAR will ich in der Großen Sterneninsel operieren. Von den verbleibenden neun Einheiten werden zwei die Milchstraße wieder erreichen, wovon eine konvertertechnisch betrachtet völlig am Ende ihrer Möglichkeiten sein
wird. Eine weitere HAKAR-Einheit soll in Bolcrain verbleiben, um nach der Rückkehr meines Flaggschiffs die Möglichkeit zu haben, dort aktiv zu werden. Am Ende steht dann eine permanente Relaisverbindung zwischen den Sterneninseln!« Die Idee schien Sobek geradezu zu elektrisieren. Er setzte seine Erläuterungen in einem konzentrierten Gedankenstrom fort und verriet, wie er sich ein Transportsystem von Kapseln vorstellte, die von einem im Leerraum fixierten und energetisch ausgebrannten HAKAR zum nächsten transferierten. »Wir bauen die Schienen eines galaktischen Zugsystems!«, erklärte Sobek. Jetzt ist er übergeschnappt, dachte indessen Siroona. Immer klarer wurde ihr mit der Zeit, dass Sobek die Prioritäten nicht richtig setzte und ein vielleicht zu hohes Risiko einging. Was ist, wenn diese HAKAR-Bahnhöfe den Anforderungen nicht standhalten?, überlegte sie. Ihre Zweifel waren mit der Zeit immer mehr gewachsen. Aber sie wäre niemals auf den Gedanken gekommen, Sobek die Gefolgschaft aufzukündigen. Nein, dachte sie. Ich werde nicht von seiner Seite weichen. Besser in der Großen Leere zwischen den Sterneninseln verloren gehen, als von Sobeks Zorn vernichtet zu werden! Eine ganze Weile herrschte mentales Schweigen. Die Anwesenden hielten sich zurück und warteten ab, was geschehen würde. Niemand wagte den ersten Schritt zu einem Kommentar – und das mit gutem Grund. Ich sehe, dass niemand unter euch das Schicksal Gransitts teilen möchte!, dachte Sobek. Und er ließ es ganz bewusst zu, dass die anderen diesen Gedanken mitbekamen. Mecchit beobachtete die Situation sehr genau. Vor allem die Reaktion der anderen Hohen war für ihn wichtig. Von Siroona erwartete er keine Unterstützung. Was Orac und Sarac betraf, so hatten sie sich ebenso wie Ogminos und Epoona zunächst überhaupt nicht an den Diskussionen beteiligt, sondern alles nur stumm hingenommen. Ihr Respekt vor Sobek musste enorm sein. Keiner von ihnen war Mecchit im Vorfeld dieser unausweichlichen Auseinandersetzung vertrauenswürdig genug erschienen, um ihn in
eventuelle Umsturzpläne einzuweihen. Im Zweifel kehrten sie doch unter Sobeks Herrschaft zurück – wenn es hart auf hart kam und sie eine Entscheidung zu treffen hatten, die vielleicht ihr Leben kosten konnte. Keiner von euch hat den Mumm, eines Tages an Sobeks Stelle zu treten!, erkannte Mecchit. Umso wichtiger ist es für unser Volk, dass ich da bin und bereitstehe, wenn die Gelegenheit kommt … Mecchit begann zu begreifen, dass er sich in Geduld üben musste. Eine schnelle Veränderung der Lage in seinem Sinn würde es nicht geben. Das war angesichts Sobeks Machtfülle und des nach wie vor unerklärlich großen Einflusses, den er auf die Foronen und insbesondere die anderen noch lebenden Mitglieder der Hohen Sieben hatte, so gut wie ausgeschlossen. Vielleicht werde auch ich ein größeres Risiko eingehen müssen, überlegte Mecchit. Orac – einer der Hohen – erkundigte sich nach technischen Details dieses ersten Verbindungsstücks, das zwischen den Sterneninseln errichtet werden sollte. Er bezweifelte die Berechnungen, ließ sich aber von Sobek überzeugen, dass alles durchdacht war und seine Richtigkeit hatte. »Ist es denn auf längere Sicht Teil deines Planes, auch unsere alte Heimat Samragh an diese Bahnhöfe anzuschließen?«, erkundigte sich Ogminos. »Wenn wir sie erst erobert haben und dort wieder die Herrschaft ausüben – natürlich!«, bekannte Sobek und fügte telepathisch hinzu: Oder glaubst du etwa, ich hätte unsere Wurzeln vergessen? Niemand würde es wagen, so etwas zu äußern!, lautete Ogminos' Erwiderung. Eigentlich hatte Mecchit erwartet, dass während dieser Zusammenkunft von den anderen Hohen noch mehr Stellvertreter ins Spiel gebracht und nötigenfalls wie wertlose Bauern geopfert worden wären. Aber das geschah nicht. Nanu, keine Stellvertreter, die vorgeschickt werden, um im Feuer meiner Präsenz zu schmoren?, ließ Sobek alle Anwesenden an seinen zyni-
schen Gedankengängen teilhaben. Bitte! Jetzt wäre der Zeitpunkt, sich zu beweisen oder zu verglühen wie eine Sternschnuppe! »Ich unterstütze Sobeks Plan«, sagte Mecchit plötzlich laut. Der Gedankenstrom, mit dem diese Worte unterlegt waren, wurde von einer sehr starken Präsenz getragen, die Sobek immerhin für den Bruchteil eines Augenblicks sogar zu beeindrucken vermochte. Die Überraschung war perfekt. Was für angenehme Gedanken erreichen mich da!, spottete Sobek, der im ersten Moment kaum glauben konnte, dass Mecchit es wirklich ernst meinte. Er fragte sich, welche Teufelei Mecchit jetzt wohl vorhatte, denn ihm war klar, dass sein Kontrahent eigentlich einen anderen Kurs hatte nehmen wollen und wohl kurzfristig umdisponiert hatte. Aber warum nur? Weil er die Machtverhältnisse anerkannt hatte und einsah, dass gegenwärtig – noch – keine Chance gegen Sobek bestand? Im Zweifel war es unter Foronen stets der Instinkt für die Machtverhältnisse, der Entscheidungen in die eine oder andere Richtung herbeiführte. So musste es wohl auch dieses Mal sein. Mecchit trat vor, näherte sich Sobek bis auf eine Distanz von kaum zwei Schritten. Die Rüstung umschwirrte ihn unruhiger denn je. Aber das musste nicht unbedingt etwas mit der psychischen Verfassung ihres Trägers zu tun haben. Schließlich waren die Rüstungen der Foronen mit einer Steuerung ausgestattet, die dafür sorgte, dass ihre Träger optimal geschützt und im Kampf unterstützt wurden. Es war gut möglich, dass Mecchits Rüstung die Situation erfasst hatte und sich nun in einem Status erhöhter Alarmbereitschaft befand, bereit, jederzeit einen offenen Kampf auf Leben und Tod zu eröffnen. »Ich halte den Vorschlag des erhabenen Sobek für genial. So nahe es einerseits liegt, nach Samragh zurückzukehren und angesichts der dort wahrscheinlich beseitigten Virgh-Gefahr wieder Fuß zu fassen, so wichtig ist es doch auch, dass die Ur-Arche der Foronen nicht im Besitz primitiver Barbaren verbleibt. Es mag Opfer fordern
und uns vor neue, nie gekannte Herausforderungen stellen, aber wir müssen einiges riskieren, um SESHA wieder in unseren Besitz zu bringen.« »Ich freue mich über deine argumentative Unterstützung«, äußerte Sobek, und in seinen Worten klang eine deutliche Portion Hohn und Spott mit. »Ich bin jederzeit bereit, dich nach Kräften bei der Vorbereitung dieser Mission zu unterstützen, Sobek.« »Das weiß ich zu schätzen! Aber vielleicht ist es besser, du bereitest deine eigene Samragh-Mission vor!« »Ganz wie du es befiehlst, Sobek!« Vergiss das nie, Mecchit. »Wie könnte ich!« Du wärst nicht der Erste. Und wohl auch nicht der Letzte.
Mecchit hatte ein Beiboot seines HAKAR ausgeschleust. Er war allein an Bord. Auf einem Holoschirm war der Braune Riese des Systems Hecchiton-22.121 zu sehen. Er schob sich vor den Roten Riesen und warf dort einen Schatten von der etwa zwanzigfachen Größe eines Normalplaneten. Da gleichzeitig auch noch mehrere Trabanten beider Sonnen Schatten auf die hellrote Oberfläche des größeren der beiden Sterne warfen, wirkte dieser wie mit einem Muster schwarzer Punkte übersät. Wenn dieses bizarre System nicht unzweifelhaft natürlichen Ursprungs wäre, so könnte man auf den Gedanken kommen, dass es von einem FarbAstheten so arrangiert wurde!, überlegte Mecchit. Mecchit wusste von primitiven Völkern, die mit Hilfe einfacher Farbdarstellungen Kunstwerke erschufen. Kunstwerke von archaischer Schönheit. Auch die foronische Kultur kannte den Begriff der Kunst, wenngleich die bildliche Darstellung darin so gut wie keine Rolle spielte. Bilder – gleichgültig in welcher Form – waren etwas für primitive Lebensformen, die auf den ebenso primitiven Gesichtssinn angewiesen waren. Ihnen standen keine verfeinerten Sinne zur Verfügung,
die in der Lage waren, die Dinge an sich wahrzunehmen. Mecchit aber wusste die optische Kunst durchaus zu schätzen. Er hatte darauf verzichtet, sich in den Steuersarkophag des Beibootes zu legen, fühlte sich durchaus in der Lage, auch optische Eindrücke gebührend einzuschätzen und zu verarbeiten. Der Forone brauchte nicht einmal den Kopf zu bewegen, um die Holodarstellung ganz zu erfassen und ein exaktes Abbild in seinem Kopf entstehen zu lassen. Die Vorbereitungen sowohl zu Mecchits eigener Mission Richtung Samragh, als auch Sobeks Plan betreffend, die große Sterneninsel zu erreichen und der Crew um John Cloud zu folgen, schritten unaufhaltsam voran. Voller Ungeduld sorgte Sobek dafür, dass durchgehend an diesen Projekten gearbeitet wurde. Ohne Unterlass. Zwei HAKARs waren bereits aneinander gekoppelt. Gerade konnte man im Licht der beiden Doppelsterne sehen, wie ein dritter sich auf die beiden anderen, bereits zusammengeschlossenen Raumschiffe zubewegte. Mecchit beobachtete den Koppelungsvorgang. Gleichzeitig wurde ein Beiboot aus Sobeks HAKAR ausgeschleust. Es strebte einem der Planeten des Doppelsternsystems entgegen – offenbar, um Rohstoffe an Bord zu nehmen. Insbesondere einige sehr seltene Edelgase und Transurane, die hier vorkamen und als Katalysatoren in den Triebwerken Verwendung fanden, mussten vor einer so langen Reise unbedingt ergänzt werden. Signaturen erfassen!, befahl Mecchit dem Bordrechner des Beiboots. Dem Objekt folgen?, kam die Rückfrage. Nein, entschied Mecchit. Aber den Weg des Beiboots ortungstechnisch verfolgen. Mecchit wollte wissen, wer an Bord war, und das konnte er unter Umständen anhand der über einen Abgleich der von den Sensoren erfassbaren Daten erreichen – den individuellen Einstellungen und Modifikationen am System des Beiboots, die sich in der unterschiedlichen Emission von Signaturen zeigten und mitunter den Piloten verrieten. Es ist Nabak!, erkannte Mecchit. Der Treueste unter Sobeks Lakaien.
Aber vielleicht entspricht das ja nicht mehr so ganz dem aktuellen Stand der Dinge … Das Beiboot strebte einem trocken-heißen Planeten entgegen, dessen Atmosphäre zwar über 25 Prozent Sauerstoffgehalt aufwies, aber darüber hinaus auch sehr viel Methan und giftige Schwefelverbindungen vorzuweisen hatte, sodass selbst für die meisten Sauerstoffatmer dort ein Überleben ohne Druckanzug unmöglich war. Feuerwelt war dieser Planet vorläufig genannt worden, was damit zu tun hatte, dass der hohe Sauerstoffanteil dafür sorgte, dass sich bereits durch geringen Funkenflug oder elektrische Entladungen in der Atmosphäre verheerende Brände bildeten, die kaum zu löschen waren. Schon aus dem Weltraum waren die Brandgebiete erkennbar. Die dichte Vegetation, die sich zumindest in den wasserreichen Polregionen des Planeten hatte ansiedeln können, wurde durch diese Brände offenbar regelmäßig stark dezimiert. Rauchsäulen verdeckten bisweilen große Areale der Oberfläche. Die schmutzig braunen Rußwolken zogen schließlich um den gesamten Planten, und es musste oft Jahre dauern, bis sich die Partikel wieder abgesetzt hatten. Aber da diese Brände so häufig waren, war die Atmosphäre ständig mit diesen Teilchen gesättigt, und auch das war ein Grund dafür, weshalb sich nicht einmal ein physisch robuster Forone auf der Feuerwelt ohne Rüstung oder zumindest einen Raumanzug bewegt hätte. Die Rußpartikel waren äußerst schädlich. Ihre chemische Zusammensetzung war so giftig, dass die Gefahr von bösartigen Veränderungen im Bereich der Atmungsorgane um den Faktor dreißig erhöht wurde, wenn ein Forone ihnen auch nur für kurze Zeit schutzlos ausgeliefert war. Für eine Besiedlung wäre diese Welt nur nach erheblichen Modifikationen in Frage gekommen. Aber da es in diesem Raumsektor ohnehin genug trocken-heiße Sauerstoffwelten gab, die für Foronen günstige Bedingungen boten, wäre niemand auf die Idee gekommen, den damit verbundenen Aufwand zu betreiben.
Aber was Feuerwelt anging, so würde es vielleicht auf Grund des reichen Vorkommens an verschiedenen Katalysatorstoffen eines Tages doch eine andere Entscheidung geben. Vielleicht sollte ich versuchen, Nabak auf meine Seite zu ziehen, dachte Mecchit. Auch wenn ihm das Risiko recht hoch erschien, so war die Chance wahrscheinlich nie wieder günstiger als jetzt, da es offenbar zu Differenzen zwischen Sobek und Nabak gekommen war. Außerdem wird es Sobek wohl kaum wagen, jetzt etwas gegen mich zu unternehmen, überlegte Mecchit. Selbst dann nicht, wenn er ahnen sollte, was ich vorhabe, oder Nabak eventuell seinem Herrn und Meister doch treuer ergeben ist, als ich bislang geglaubt habe und sofort zu ihm geht, wenn er von mir ein Angebot erhalten sollte! In diesem Augenblick dockte die dritte HAKAR-Einheit an. Mehrere Beiboote wurden jetzt ausgeschleust – offenbar um den Vorgang des Andockens zu überwachen. Der Plan Sobeks, der auf den Berechnungen seiner Bord-KI fußte, war technisch nicht ganz so einfach zu realisieren, wie sich das der Anführer der Hohen Sieben zunächst gedacht hatte. Immer wieder beorderte Sobek Techniker von anderen HAKAR-Einheiten auf sein Flaggschiff, dem er inzwischen einen neuen Namen gegeben hatte. Er nannte es nun MALRAGH – das war ein alter, fast mythischer foronischer Begriff für die Große Sterneninsel, zu der es sie zog. Malragh – die von vielen Umkreiste. Ein Name, der sich auf die Tatsache bezog, dass ihr zehn kleinere Sternenballungen vorgelagert waren. Ist es nicht eine Ironie?, überlegte Mecchit. Erst habe ich alles unternommen, um Sobeks Aufbruch nach Malragh zu verhindern – jetzt kann ich es kaum erwarten, dass er endlich verschwindet. Aber diesen freudigen Augenblick werden die technischen Schwierigkeiten bei der Zusammenstellung des HAKAR-Verbundes wohl leider noch etwas hinauszögern …
6. Eine Frage der Präsenz Eine dreidimensionale Projektion veranschaulichte ein paar komplizierte Berechnungen, bei denen Sobek vom Bordrechner unterstützt wurde. Er hatte sich in einen der zahllosen Räume zurückgezogen, die es auf der MALRAGH gab, wie er seinen HAKAR seit kurzem zu nennen pflegte. Siroona betrat den Raum durch einen aufgeschalteten Türtransmitter. Sobek hatte grübelnd in einem Schalensitz Platz genommen, den der Anführer der Foronen für sich konfiguriert hatte. »Die Vorbereitungen zur Malragh-Mission sind noch nicht so weit gediehen, wie du geplant hattest – nicht wahr?«, stellte Siroona fest. Sobek hob den Kopf. Gleich darauf ließ er ihn von dem Nano-Gewimmel seiner Rüstung bedecken. Eine Geste, die Siroona wohl nicht von ungefähr so empfand, als wollte Sobek sich zurückziehen. Es trifft doch zu, was ich gesagt habe! Oder etwa nicht?, ließ sie einen ziemlich ärgerlichen Gedanken zu ihm durchdringen. Ja, lautete sein überraschendes Eingeständnis. Die Schwierigkeiten liegen im Detail – aber Mecchit ist ja auch immer noch nicht nach Sam ragh aufgebrochen! Das sollte für dich keineswegs ein Grund zur Beruhigung sein, stellte Siroona daraufhin fest. »Hörst du mich, Sobek?« Die Präsenz deiner Gedanken war nicht zu ignorieren, lautete die Antwort. »Eines Tages wird dich deine Überheblichkeit zu Fall bringen. An deiner Stelle würde ich mir Gedanken darüber machen, was geschieht, wenn die technischen Schwierigkeiten noch länger anhalten!« Was wird dann deiner Meinung nach sein?, erkundigte sich Sobek. Glaubst du etwa, es gäbe außer Mecchit jemanden unter den Hohen Sieben, der es wagen würde, sich mir in den Weg zu stellen? Die anderen – du natürlich ausgenommen, meine Vorsehung – sind doch nur zahnlose
Malragh-Quallen, die in Wahrheit niemals den Mumm haben werden, mir gefährlich zu werden! Malragh-Quallen waren mythische, in foronischen Legenden und Sagen erwähnte Ungeheuer. Welche Lebensformen in Malragh aber wirklich existierten, davon hatte man in der Zeit, in der diese Bezeichnung entstanden war, natürlich noch nichts wissen können. »Ich würde mir dessen nicht allzu gewiss sein«, sagte Siroona. Welchen Grund sollte ich zur Besorgnis haben? »Ich habe mit Orac und Ogminos gesprochen.« Und? »Dir ist sicher aufgefallen, dass sie sich bislang sehr zurückgehalten haben.« Das ist richtig – trifft aber auch auf Epoona und Sarac zu. Der einzige Opponent ist Mecchit. »Der einzige offene Opponent ist Mecchit«, schränkte Siroona ein. »Das ist ein feiner Unterschied. Ich nehme an, dass die anderen erst aus der Deckung hervorkommen, wenn sie annehmen, dass du wankst.« Du glaubst, dass sie die Auseinandersetzung mit Mecchit abwarten? »Ja. Seine Präsenz ist überraschend stark geworden. Vielleicht ist dir das auch schon aufgefallen!« Du glaubst, dass diese Auseinandersetzung unvermeidlich ist? »Ja.« Ich wiederum habe gute Gründe anzunehmen, dass sie niemals stattfinden wird. »Dann weißt du mehr als ich?« Sobek blieb ihr die Antwort auf diese Frage schuldig. Stattdessen sagte er nun laut und von einem sehr intensiven Gedankenstrom begleitet: »Ich habe einen Auftrag für dich.« »So?« »Ich möchte, dass du den Netzaufbau übernimmst und dafür sorgst, dass die Verbindung zwischen den ausgebrannten HAKAREinheiten funktioniert.« Sobeks Worte versetzten ihr einen Stich, aber die intensive Präsenz, mit der er sie vortrug, machten ihr deutlich, dass die Angele-
genheit für ihn entschieden war. Dann wirst du mich nicht zur Großen Sterneninsel Malragh mitnehmen?, zog sie die einzige logische Konsequenz aus dem, was Sobek geäußert hatte. Schweigen. Was? – Bin ich dir nicht einmal mehr eine Antwort wert?, ging es Siroona durch den Sinn. Sie ließ es ganz bewusst zu, dass Sobek diese Aussage mitbekommen konnte. Er sollte wissen, wie sie darüber dachte, auch wenn sie keinen offenen Widerspruch gewagt hätte. Über die Transportkapseln wären wir innerhalb kürzester Zeit miteinander verbunden, gab Sobek gedanklich zurück. Ich brauche für diese Aufgabe jemanden, dem ich vertrauen kann. Und wie du selbst bemerkt hast, ist das bei den anderen Hohen nur mehr bedingt der Fall. Dem stimmte Siroona zu. Das ist richtig, bekannte sie. Sobek erklärte: Ich möchte keinem meiner verborgenen Feinde die Gelegenheit geben, den dünnen Rettungsfaden zu durchtrennen, an dem ich in der Großen Sterneninsel hängen werde. Und dieser Faden ist natürlich die Kette der Relaisstationen, die dann die einzige Verbindung zurück darstellen. »Wenn diese Verbindung gekappt wäre, hätte Mecchit …« Oder wer auch immer, Siroona! »… die Möglichkeit, in aller Ruhe die Macht an sich zu reißen, ohne sich vorher noch mit dir auseinander setzen zu müssen!« Du sagst es! Also kann ich davon ausgehen, dass ich mich auf dich verlassen kann? »Gewiss, meine Vorsehung.« Das ist gut zu wissen. Ganz besonders in einer Zeit wie dieser, Siroona. »Das ist mir bewusst.« Ein großer Plan mit einem großen Ziel liegt vor uns. Und es wird sich zeigen, ob wir stark genug sind, es zu erreichen. Siroona schwieg. Es ist dein Ziel, Sobek – und dein Plan, dachte sie dabei, aber diesen Gedanken schirmte sie ab und ließ es nicht zu, dass er ihn espern konnte.
Funkkontakt herstellen!, befahl Mecchit dem Bordrechner seines vom HAKAR erschaffenen Beiboots. Wenig später kam die Verbindung zu Stande. Ein Abbild von Nabak, dem Lakaien Sobeks, erschien als Hologramm ungefähr anderthalb Meter von Mecchit entfernt. Die Projektion war so wirklichkeitsnah, dass ein Wesen mit weniger feinen Sinnen, das bei der Erfassung seines Gegenübers etwa nur auf den Gesichtssinn angewiesen gewesen wäre, den Unterschied zum realen Original nicht hätte feststellen können. »Sei gegrüßt, Nabak!« »Sei ebenso gegrüßt, Mecchit!« »Wie ich annehme, ist der Bedarf an bestimmten Katalysator-Stoffen noch immer nicht gedeckt!« »Das hängt mit der Zusammenschaltung der HAKAR-Einheiten zusammen. Darum haben wir einen erhöhten Bedarf, aber die Vorkommen im System Hecchiton-22.121 sind sehr reichhaltig, sodass zumindest die Beschaffung keinerlei Probleme bereiten wird.« »Vor allem auf der Feuerwelt.« »Das ist wahr.« »Du bist schon einige Male dorthin geflogen …« »Auch das trifft zu, Mecchit.« »Ich habe gehört, die starken elektrischen Entladungen verursachen ein angenehmes Kitzeln der foronischen Feinsinne.« »Manche sagen das.« »Du nicht?« »Ich erfülle dort nur meine Aufgabe.« »Vielleicht werde ich mich selbst davon überzeugen müssen.« »Dem steht nichts entgegen, Hoher Mecchit.« »Glaubst du, dass ihr die technischen Probleme in absehbarer Zeit in den Griff bekommt?« »Wir sind guten Mutes, auch wenn der Hohe Sobek etwas ungeduldig ist.« »Ja, das ist nun mal seine Art.« »Ein Charakter ändert sich nicht. Du kennst dieses Sprichwort.« »Ich wünsche dir eine erfolgreiche Fahrt, Nabak.«
»Nabak, Ende.« Das Hologramm verschwand. Nabak hatte die Verbindung unterbrochen. Er war wohl erleichtert darüber, den Dialog mit dem größten Rivalen seines Herrn nicht weiter fortsetzen zu müssen. Ihn zu verweigern, wäre allerdings ebenso gefährlich gewesen, denn schließlich konnte niemand sagen, ob nicht mittelfristig ein Führungswechsel bei den Foronen stattfinden würde. Auf sehr indirekte Art und Weise hatte Mecchit Sobeks Lakaien ein Treffen auf der Feuerwelt angeboten. Und Nabak hat dieses Ansinnen nicht von sich gewiesen!, erinnerte sich Mecchit zufrieden. Dort auf der Feuerwelt konnte er Nabak ungestört ansprechen. Hier im Raum war das nicht möglich. Man musste immer damit rechnen, dass selbst verschlüsselte Funksignale abgehört wurden, und außerdem konnte er auf die Entfernung auch nicht die Präsenz seines Gegenübers so deutlich spüren, wie dies für ein derart delikates Gespräch nötig war. Ich werde ihm anbieten, in meine Dienste zu treten – geht er darauf nicht ein, wird er die Feuerwelt nicht mehr verlassen …
Zwei Gestalten in den Nanorüstungen der Hohen Sieben kamen an Bord der MALRAGH. Es handelte sich um Ogminos und Orac. Sobek befand sich nicht in der Zentrale. Er hatte sich in einen der zahllosen anderen Räume der HAKAR-Einheit zurückgezogen, um sich mental etwas zu erholen. Lediglich Siroona empfing also die beiden Mitglieder des Septemvirats. Aber selbstverständlich hatte Sobek deren Anwesenheit auf dem Schiff noch im Augenblick ihrer Ankunft durch die Wahrnehmung ihrer Präsenz bemerkt. Der folgende gedankliche Dialog blieb betont sachlich und vermied jegliches überflüssige Beiwerk an Emotionen. Orac: Wir möchten mit Sobek sprechen. Siroona: Er hat sich zur mentalen Rekreation zurückgezogen. Was ist euer Anliegen?
Orac: Wir haben einen Modifizierungsvorschlag zum geplanten Transportkapsel-Netz Siroona: Ich werde Kontakt mit Sobek aufnehmen. Ogminos: Die Sache duldet keinen Aufschub. Siroona: Es wird nicht an mir liegen, sie zu verzögern. Orac: Das wissen wir zu schätzen, Siroona. Siroona war sich dabei der Tatsache bewusst, dass Sobek diesen Dialog längst registriert hatte. Aber das entsprach ihrem Plan. Sie nahm wie versprochen mentalen Kontakt zu ihm auf. Ich werde die beiden empfangen, kündigte er ihr gegenüber an. Sie sollen in den Raum kommen, in dem ich mich gerade befinde. Siroona war zufrieden. Sie glaubte nicht, dass Sobek misstrauisch geworden war. Aber sicher konnte man in dieser Hinsicht nie sein, das wusste sie aus Erfahrung. Sobek hatte sich schließlich nicht umsonst bislang an der Spitze halten können – trotz aller Rückschläge, die er in der einen oder anderen Hinsicht hatte erleiden müssen. Legst du Wert auf meine Anwesenheit bei dieser Zusammenkunft?, fragte sie. Die Antwort ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Nein.
Sobek empfing Orac und Ogminos in einer holographischen Landschaft, die jener Umgebung entsprach, die Foronen bevorzugten: in trocken-heißem Wüstenklima. Welten mit dieser Eigenschaft wurden von den Foronen als Siedlungsräume eindeutig bevorzugt. Die Urheimat hatte ebenso ausgesehen. Zur mentalen Erholung erschuf sich Sobek – und nicht nur er – ab und zu einen Ort, den man ein holografisches Paradies nennen konnte. Nur dass die foronische Vorstellung des Paradieses nun wirklich überhaupt nichts mit einem Garten Eden irdischer Prägung gemein hatte … Sobek genoss die – wenn auch nur simulierten – Strahlen der weißblau schimmernden Sonne, die die sandige Oberfläche auf über siebzig Grad Celsius erhitzte. Er hatte eigens seine Rüstung abgelegt, um sich dem vollen Genuss hinzugeben.
Für das Echte war diese Simulation zwar kein Ersatz, aber immer noch besser als nichts. Es werden die Zeiten wiederkehren, da unser Volk auf Welten wie dieser siedeln, begrüßte der Anführer der Hohen Sieben die beiden Ankömmlinge Orac und Ogminos, die aus dem Türtransmitter getreten waren. Ihre Nanorüstungen zogen sich von ihren Köpfen zurück. Einige Augenblicke lang nahm wohl auch sie die anregende Simulation gefangen. Schließlich teilten sie die fundamentalen Sehnsüchte aller Foronen mit ihrem Oberhaupt. Eine schöne Kreation!, entfuhr es Orac auf gedanklichem Weg. Es machte tatsächlich den Eindruck einer spontanen, unkontrollierten Äußerung, was bei Foronen außerordentlich selten der Fall war. Ich kann der Äußerung Oracs nur zustimmen, erklärte Ogminos auf seine sehr viel gefasstere und kontrolliertere Art. »Ihr wolltet mit mir kommunizieren«, stellte Sobek laut fest und wandte sich den beiden Mitgliedern des ehemaligen Septemvirats zu, von denen nach Monts Tod nur noch sechs am Leben waren. Orac und Ogminos wandten einander kurz die augenlosen Schädel zu, was Sobek als Indiz dafür nahm, dass sie zunächst noch untereinander Gedanken austauschten, die nicht für den Gastgeber bestimmt waren. Sobeks Vermutung wurde noch dadurch erhärtet, dass er eine Übertragung von mentaler Energie zu spüren glaubte. Sehr schwach nur; wahrscheinlich hatten sich beide Beteiligte große Mühe gegeben, diese Übertragung abzuschirmen. Aber für jemanden mit Sobeks geistiger Kapazität blieb so gut wie nichts wirklich verborgen … Er gab seiner am Boden liegenden Rüstung den Befehl, zu ihm zurückzukehren. Der Schwarm von Nanoteilchen kroch an seinem Körper empor, schmiegte sich an ihn und hüllte ihn als unaufhörlich durcheinander wirbelndes Gewirr aus unzähligen pechschwarzen Punkten ein, die sich in permanenter Bewegung befanden. Es dauerte nicht einmal eine Sekunde, und Sobek stand wieder in voller Foronenrüstung vor den beiden Hohen. Er fand zum einen, dass es unwürdig war, den beiden ohne Rüstung gegenüberzutreten – schließlich war er ihr Anführer, und das
erforderte einen Respekt gebietenden Auftritt –, und zum anderen vertraute er im Grunde niemandem, war deshalb ständig auf die Möglichkeit eines Angriffs gefasst – sowohl psychischer als auch physischer Natur. Nur Wachsamkeit und Misstrauen hielten ihn auf Dauer an der Macht, darüber hatte sich Sobek nie irgendwelche Illusionen gemacht. Noch fürchteten ihn alle – auch die anderen Hohen. Aber sobald sich auch nur ein klitzekleines Zeichen von Schwäche offenbarte, würden sie über ihn herfallen wie ein Rudel Raubtiere. Das stand so fest wie die Umdrehungsgeschwindigkeit der Großen Sterneninsel Malragh. Bringt euer Anliegen vor!, verlangte Sobek. »Wir haben auch schon mit verschiedenen anderen Hohen diskutiert …«, begann Ogminos. Mit Mecchit? »Auch mit Mecchit«, bestätigte Orac und war dabei sichtlich bemüht, nicht den Hauch einer emotionalen Regung erkennen zu lassen. Ogminos fuhr fort: »Wir haben uns mit deinem Plan, eine Verbindung zur großen Sterneninsel Malragh zu schaffen, einverstanden erklärt, wie du weißt!« Genau genommen habt ihr euch neutral verhalten und euch gar nicht geäußert, ging es Sobek dabei durch den Kopf – ein Gedanke, den er jedoch nicht zu den beiden Hohen durchdringen ließ. Ihr habt einfach nur keinen Widerspruch angemeldet. Das war alles. Wahrscheinlich wolltet ihr euch alle möglichen Optionen offen halten, was euch niemand verdenken kann – ich am allerwenigsten. Sobeks Sinne waren geschärft wie selten. Er konzentrierte seine volle Aufmerksamkeit auf das, was er von der Präsenz seiner Gegenüber wahrnahm. Sobek suchte nach feindseligen Signalen, wurde aber nicht fündig. Wenn ihr eins gelernt habt, dann, euch perfekt abzuschirmen. Immerhin … Orac ergriff das Wort. »Wir möchten, dass unsere alte Heimat Samragh in das Netzkonzept mit einbezogen wird.«
Hatten wir dies nicht bereits als eine Option erörtert?, fragte Sobek und überlegte gleichzeitig, wer den beiden Hohen wohl diese Idee eingeimpft haben mochte. Mecchit? Oder vertrat da noch jemand anderes seine Interessen aus dem Verborgenen heraus? Er musste Acht geben, um die Veränderungen – und möglicherweise sogar gerade vonstatten gehende Koalitionswechsel – innerhalb des Septemvirats nicht zu verpassen. Hatte er sich vielleicht zu sehr seinem Lieblingsprojekt gewidmet, das nahezu seine gesamte Aufmerksamkeit beanspruchte? Die Suche nach der Ur-Arche und ein Sieg über John Cloud, der ihn so furchtbar gedemütigt und als Gefangenen auf seinem eigenen Schiff gehalten hatte … Das beseelte ihn, aber Sobek erkannte nun, dass er darüber vielleicht das eine oder andere in seiner Umgebung nicht mit der Klarheit wahrgenommen hatte, die erforderlich gewesen wäre, um die Entwicklungen antizipieren zu können. Aber das würde sich ändern. Jeder, der versuchte, eine Intrige gegen ihn zu spinnen, sollte sich am Ende in seinem eigenen Netz verfangen. Mecchit hatte er natürlich auf seiner Rechnung gehabt. Gegen ihn habe ich meinen Spielzug bereits gemacht!, überlegte er vollkommen abgeschirmt von den beiden anderen Hohen. Vielleicht werde ich auch noch gegen jemand anderes entschlossener vorgehen müssen … Von den Gedanken, die ihn beschäftigten, ließ Sobek lediglich die emotionale Begleitmusik in abgedämpfter Form zu Orac und Ogminos dringen. Sollten sie das interpretieren, wie sie wollten. Etwas mehr Respekt vor ihrem Anführer konnte ihnen keineswegs schaden, wie Sobek fand. Seine Vorgehensweise verfehlte ihre Wirkung nicht bei Ogminos und Orac. Sie traten kurz untereinander in Kontakt, ehe Orac schließlich zum eigentlichen Gesprächsgegenstand zurückkehrte. »Wir halten es für ratsam, eine Direktverbindung nach Samragh zu schaffen. Es mag sein, dass wir in der Milchstraße Fuß fassen können. Hier und da haben wir ja bereits Stützpunkte auf potenziellen Siedlungswelten errichtet. Aber wenn auch nur der Hauch einer Chance besteht, die alte Heimat Samragh wieder in unseren Besitz
zu bringen, sollten wir nicht zögern, die dafür nötigen Schritte einzuleiten!« Niemand hat dem je widersprochen!, antwortete Sobek mit einer geradezu beängstigenden Intensität. Aber warum sollte eine Dauerverbindung notwendig sein, bevor Mecchit die Verhältnisse in Samragh überhaupt genauer erkundet hat? »Weil dadurch das Risiko eines Fehlschlags minimiert wird«, erklärte Orac. »Wir wären jederzeit in der Lage, binnen sehr kurzer Zeit Kräfte nach Samragh zu verlegen, falls das notwendig sein sollte. Und umgekehrt wäre es Mecchit jederzeit möglich, genauso schnell zurückzukehren …« Genau darin bestand das Problem bei dieser Variante des Plans. Eine Verbindung nach Samragh hatte Sobek eigentlich nur als eine zukünftige Option in seine Gedankengänge eingeschlossen gehabt. Nicht als ein Projekt, dessen Umsetzung unmittelbar in Angriff genommen werden musste. Dies sollte allenfalls nach seiner Rückkehr aus der Großen Sterneninsel geschehen. Auf keinen Fall früher. Denn das hätte nur seinem Kontrahenten Mecchit in die Hände gespielt. »Wer hat euch diesen Gedanken eingepflanzt?«, fragte Sobek jetzt mit dröhnender Stimme und einer mentalen Energie, die einen unangenehmen Druck auf seine Gegenüber ausübte. »Wer?« Eine knappe Frage, die unmissverständlich eine ebensolche Antwort verlangte. Sobek war nicht bereit, Ausflüchte hinzunehmen oder ausweichende, diplomatische Floskeln. Er wollte wissen, wer sein Gegner war. Nur Mecchit? Oder gab es noch andere, die er in Kürze mit aller Gewalt zu bekämpfen hatte? Sobek zermarterte sich das Hirn darüber, wer das wohl sein konnte. Der stille Sarac, der sich bisher – ähnlich wie Ogminos und Orac – völlig aus den Beratungen herausgehalten hatte? Oder gar … Siroona? Sollte sich seine schlimmste Befürchtung in Bezug auf ihre Loyalität bestätigen? Er nahm Kontakt mit dem Bordrechner auf, ließ sämtliche Kommunikations- und Transportdaten nach Siroonas Aktivitäten durchforsten … und musste feststellen, dass Teile dieser
Daten nicht mehr existierten. Wer außer ihr hätte die Möglichkeit gehabt, so etwas zu tun – noch dazu in Anwesenheit des Anführers der Hohen Sieben? Vielleicht hatte er den Fehler gemacht, Siroona zu unterschätzen. Aber das Geheimnis, das sie jetzt umflorte, würde er nicht unaufgeklärt lassen. Andererseits war er sich durchaus bewusst, wie vorsichtig er vorgehen musste. Schließlich war Siroona bislang seine einzige klare Verbündete gewesen, die damit ihr eigenes Schicksal auch in gewisser Weise mit dem seinen verflochten hatte. Stürzte er, konnte sie nur unter ganz besonderen Umständen damit rechnen, danach noch eine Position mit erheblicher Machtfülle zu bekleiden. Wenn man sie überhaupt am Leben ließ. Er selbst, daraus machte Sobek keinen Hehl, hätte sie getötet, wenn er in der Situation seiner Herausforderer und Konkurrenten gewesen wäre. Selbst dann, wenn sie als Verräterin den Umsturz erst ermöglicht hätte. Ich werde Siroona zur Rede stellen!, nahm er sich vor. Außerdem fragte er sich, welches Interesse sie wohl daran haben konnte, eine Verbindung nach Samragh bereits in diesem frühen Stadium zu öffnen. Wahrscheinlich würden zwei HAKAR-Einheiten für ein solches Vorhaben ausreichen, schließlich war die Distanz nach Samragh um ein Vielfaches geringer als zur Großen Sterneninsel Malragh. »Wir unterstützen nach wie vor deinen Plan, Sobek«, erklärte Orac. »Daran hat sich nicht das Geringste geändert – wie sich auch nichts an unserer Loyalität zu dir geändert hat!« Warum fordert ihr dann eine derart gravierende Abänderung meines Plans?, fauchten Sobeks Gedanken, und die mentale Kraft, mit der sie gesandt wurden, ließ die beiden Hohen ein paar Schritte zurückweichen. Die Oberflächen ihrer Rüstungen zeigten eine verstärkte Aktivität, die sich erst nach und nach wieder beruhigte. Wie erkaltende Lavaströme begannen die Nanopartikel sich schließlich wieder zu formieren, aber Sobek registrierte sehr wohl die Abwehrbereitschaft seitens seiner Gäste. »Es ist keine gravierende Änderung«, erklärte Ogminos. »Es han-
delt sich lediglich um eine Modifikation. Mehr nicht.« Und Orac ergänzte: »Die Möglichkeit, in Samragh wieder Fuß zu fassen, bietet sich vielleicht nur in einem sehr schmalen Zeitfenster. Wenn die Virgh tatsächlich beseitigt sind – worauf einiges hindeutet –, so kann ich mir nicht vorstellen, dass dieses Machtvakuum lange existieren wird. Also sind wir gezwungen zu handeln. Unsere Nachfahren würden es uns in tausenden von Generationen nicht verzeihen, wenn wir diesen Moment ungenutzt verstreichen ließen!« Und das ist nicht nur unsere Meinung, ergänzte Ogminos. Mental fühlte sich das für Sobek wie eine unverhohlene Drohung an. Er argwöhnte bereits, dass sich alle anderen Angehörigen des Septemvirats vielleicht hinter seinem Rücken geeinigt hatten und im Augenblick nur keiner den Mut hatte, einen Putsch durchzuführen. Möglicherweise bestand unter den Verschwörern auch einfach nur Uneinigkeit darüber, wer denn die Nachfolge antreten sollte. Sieh es positiv, sagte sich Sobek – natürlich völlig abgeschirmt. Das bedeutet schließlich, dass auch Mecchit nicht die nötige Unterstützung zusammenklauben konnte. Noch nicht. »Die Arche hat im Moment Priorität«, argumentierte Sobek. »Sie ist in der Tat wichtig«, stimmte Ogminos zu. »Niemand von uns hat das je ernsthaft bezweifelt.« »Mit Ausnahme von Mecchit.« »Ich habe nicht von Mecchits Ansichten gesprochen.« Orac äußerte sich jetzt in einem sehr konzentrierten Gedankenstrom: Wir handeln im Interesse eines neuen Foronenreichs, dessen Keimzelle wir sein sollten. Das hat Priorität. Dass unsere Möglichkeiten wesentlich besser wären, wenn wir die Ur-SESHA in unserem Besitz hätten, steht außer Frage. Aber gleichzeitig sind wir dafür, aus Mecchits Mission nicht nur eine bloße Kundschafteroperation werden zu lassen. Sobek überlegte. Den kalten Grimm, der in ihm aufgekocht war, versuchte er im Zaum zu halten. Nur kühler Machtinstinkt konnte ihn in seiner Position halten, dessen war er sich bewusst. Und dieser Machtinstinkt ließ ihn schließlich eine Entscheidung fällen. Ich werde der Abänderung des Plans zustimmen, teilte er seinen bei-
den Gästen mit. »Das zeugt von Weitblick«, lobte Orac. Sobek war die Entscheidung keineswegs leicht gefallen, doch er war schlussendlich zu der Überzeugung gelangt, dass ihm keine andere Wahl blieb, als diesen Weg zu gehen. Einen Weg, den nicht er gewählt hatte, sondern jemand anderes in seiner unmittelbaren Umgebung – und der dafür noch zur Rechenschaft gezogen werde würde. Aber es hatte keinen Sinn, einer verpassten Chance nachzutrauern. Die Dinge waren nun mal, wie sie waren. Man musste die Realitäten anerkennen. Das war der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg zum eigenen Überleben. Jeder, der diese Lektion missachtete, das wusste Sobek nur allzu gut, wurde dafür früher oder später hart bestraft. Sobeks Überlegungen waren ganz einfach. Er musste sich fürs Erste der Gefolgschaft von Orac und Ogminos versichern. Dazu gab es keine Alternative, zumal ihr Vorschlag auch noch bei anderen Angehörigen der Hohen Sieben Rückhalt gefunden zu haben schien. Aber bis es so weit war und Mecchit nach Samragh aufbrach, konnte viel geschehen. Vielleicht auch etwas, das es nötig machte, die Lage vollkommen neu zu überdenken. Etwas, das ganz unmittelbar mit Mecchit zu tun hatte
7. Duell auf der Feuerwelt Mecchit hatte dem Bordrechner seines Beiboots den Befehl gegeben, eine Kurve um die bislang miteinander gekoppelten HAKARs zu fliegen. Das diente unter anderem dazu, sich über den Fortgang des Projekts zu informieren, was selbst Sobek nicht anzweifeln konnte. Anschließend beschleunigte das Beiboot und flog zu einer Gruppe von weit entfernten Gesteinsbrocken, deren größte Elemente Planetengröße erreichten, aber unregelmäßig geformt waren. Dieser Schwarm von Objekten war vermutlich das, was von einem sehr viel größeren Begleiter des Doppelsterns Hecchiton-22.121 übrig geblieben war, der in grauer Vorzeit entweder in die Gravitationsmühle zwischen dem Roten Riesen und dem Braunen Zwerg geraten und dort zermalmt worden war oder aber eine Kollision mit einem anderen kosmischen Objekt hinter sich hatte, deren kinetische Energie gewaltig gewesen sein musste. Jedenfalls umkreisten diese Überreste das Hecchiton-22.121-System in einer kometenähnlichen Bahn, die die Bruchstücke im Verlauf mehrerer Jahrtausende bis auf 0,1 astronomische Einheiten an Sonne Hecchiton-22.121-rot heranführte. Die Trümmerstücke wurden dann stark beschleunigt. Und je nachdem, welche Position Hecchiton-22.121-braun zu diesem Zeitpunkt gerade einnahm, konnte es geschehen, dass sie zwischen beiden Sonnen hindurchgeschleust und wie mit einer Gravitationsschleuder wieder hinaus ins All befördert wurden. Ihren äußersten Punkt hatte die Bahn des Trümmerfeldes in einer Entfernung von 290 Astronomischen Einheiten. Für das Beiboot von Mecchits HAKAR, das diesen Punkt beinahe erreicht hatte, war diese Strecke ein Katzensprung. Es beschleunigte, ging kurz auf Überlichtflug und kehrte anschließend in einem weiten Bogen zum Doppelstern-System zurück. Mecchit liebte den Flug durch den freien Raum. Für ihn verband sich damit das Gefühl der Freiheit, und es ließ ihn die Herrschsucht
Sobeks leichter ertragen, wenn er für sich persönlich zumindest die Fiktion aufrechterhielt, dass er die freie Entscheidung hatte, einfach davonzufliegen. In Wahrheit hatte er diese Option natürlich nie gehabt. Sobek konnte es schon aus Interesse des eigenen Machterhalts nicht dulden, wenn einer der Hohen Sieben ihm in dieser demonstrativen Weise die Gefolgschaft aufgekündigt hätte – und genau so hätte der Anführer der Foronen dieses Verhalten interpretiert. Es gab keine Freiheit, hatte Mecchit inzwischen erkannt. Jedenfalls nicht, solange ein anderer regierte. Die einzige Möglichkeit zur Autonomie bestand darin, selbst die Oberherrschaft auszuüben. Und diesbezüglich verfolgte Mecchit schon seit längerem einen Plan. Allerdings schritten die Dinge nicht halb so schnell voran, wie er es sich gewünscht hätte. Immer schwerer fiel es ihm, die Geduld zu behalten. Er sagte sich dann, dass Sobek nur darauf wartete, dass er die Kontrolle verlor und eine unbedachte Reaktion zeigte, die es dem Anführer erlaubte – womöglich sogar mit Unterstützung der anderen Hohen Sieben – ihn, Mecchit, zu vernichten. Jetzt nur keinen Fehler machen!, nahm sich Mecchit vor. Dann könnte die Zukunft sehr vielversprechend sein! Der Bordrechner seines Beibootes steuerte vollkommen selbstständig zum System zurück. Eine kleine gedankliche Anweisung genügte, um die Landung auf der Feuerwelt zu veranlassen. Rotbraun zeigte sich deren Oberfläche in der Holosäule, die in der Zentrale des Beibootes erschien. Die Regionen, in denen Brände ausgebrochen waren, konnte man selbst aus dieser Entfernung schon deutlich erkennen. Sie wurden durch ein deutliches Dunkelrot gekennzeichnet und betrafen vor allem die dicht bewachsenen, grünlichen Polregionen, in denen es auch flüssiges Wasser, ein paar kleinere offene Gewässer, gab. Die größten Wasservorräte waren auf diesem Planeten jedoch hundert bis zweihundert Meter unter der Oberfläche zu finden. Regelmäßig kam dieses Wasser durch den hohen Druck, der dort herrschte, in Form riesiger Geysire wieder zutage. In den Wüstenregionen,
die die Feuerwelt wie ein Gürtel umgaben, verdunstete dieses Wasser natürlich sofort durch die enormen Hitzegrade, die hier erreicht wurden. In den Polregionen war dies anders. Das Beiboot drang im Sinkflug in die Atmosphäre ein. Nabaks Schiff wurde geortet!, meldete der Bordrechner. Mecchit ließ sich die Position als Holodarstellung veranschaulichen. Offenbar lag der Landeplatz von Nabaks Raumer an der Grenze zwischen der bewachsenen nordpolaren Zone und der sich im Süden anschließenden Wüstenregion. Der Abgleich mit den Scannerdaten ergab, dass dies eine Region war, in der die gesuchten Katalysator-Stoffe am häufigsten und in der höchsten Konzentration und Reinheit vorkamen. Die Foronen hatten dort ein kleines Camp eingerichtet, das für den Abbau zuständig war. Es handelte sich allerdings nur um ein Provisorium. Ob dauerhaft ein Stützpunkt errichtet werden sollte, war noch nicht entschieden. Manche – darunter auch Mecchit – hielten das für sinnvoll. Andere scheuten den materiellen Aufwand und glaubten, dass die den Foronen derzeit zur Verfügung stehenden Mittel gezielter eingesetzt werden sollten. Aber auf diese kleinen Meinungsverschiedenheiten kam es jetzt nicht an. Das waren Lappalien im Vergleich zu der alles entscheidenden Frage, wer die Foronen künftig führen sollte. Mecchits Bereitschaft, sich der Diktatur Sobeks zu unterwerfen, war jedenfalls im Verlauf der Zeit immer geringer geworden. Er konnte kaum den Moment erwarten, dass dessen Allüren ein Ende fanden und seine eigene Regentschaft begann. Dafür hatte er gelebt und gekämpft. Dafür war er mittlerweile auch bereit, ein höheres Risiko einzugehen. Die Zeiten, in denen er vorsichtig und ausschließlich im Verborgenen agiert hatte, waren vorbei. Wenn er nicht irgendwann Flagge zeigte, konnte sich schließlich auch niemand dieser Lösung anschließen. So und nicht anders hatten auch die stolzen mythischen Helden der foronischen Vergangenheit, noch vor Beginn des Raumzeitalters, gehandelt. Mecchit hatten diese Geschichten über ruhmreiche Helden stets
gelangweilt, weil er sie schon früh als unrealistisch angesehen hatte. Aber inzwischen hatte er seine Ansichten in diesem Punkt geändert. Er hatte erkannt, dass diese Geschichten sehr wohl etwas mit seinem eigenen Leben und seiner Existenz als ein foronischer Kommandant zu tun hatten. Der Wert lag dabei nicht so sehr in der zweifelhaften historischen Wahrheit der darin behaupteten und mitunter recht fantastischen Ereignisse, sondern vielmehr in einer Art innerer Wahrheit. Diese Helden hatten sich in ähnlichen Situationen befunden wie Foronen im Hier und Jetzt. Sie hatten Entscheidungen treffen müssen, wie es Mecchit jetzt bevorstand, und bei mancher dieser Entscheidungen waren tragische Entwicklungen die Folge gewesen. In anderen Fällen Triumph und Machtgewinn.
Als das Beiboot in die Atmosphäre der Feuerwelt eindrang, entschloss sich Mecchit doch noch dazu, sich in die Steuerung einzuschalten. Das hatte weniger damit zu tun, dass der Bordrechner nicht in der Lage gewesen wäre, die Landung allein zu schaffen. Vielmehr konnte Mecchit auf diese Weise sein Vehikel besser spüren. Das Beiboot sank bis auf eine Höhe von knapp hundert Metern über der Oberfläche und flog anschließend in Richtung von Nabaks Landeplatz. Sowohl das dazugehörige Camp als auch Nabaks Raumer waren sehr leicht zu orten. Das Camp sandte sogar einen ständigen Peilstrahl aus, um Shuttle-Fahrzeugen die Landung zu erleichtern. In der Äquatorgegend gab es kaum Wolken. Allenfalls in großer Höhe waren ein paar schmutzig braune Flecken zu sehen, die durch den Einfluss von giftigen Schwefelverbindungen so aussahen. Ein Paradies mit ein paar Schönheitsfehlern!, überlegte Mecchit. Aber wir wollen uns hier ja auch nicht dauerhaft niederlassen, sondern schon sehr bald wieder unsere alten Heimatwelten in Samragh in Besitz nehmen … Eine Welle des Optimismus durchströmte das Mitglied der Hohen Sieben. Sprachen nicht langfristig alle Faktoren für ihn? Wenn Sobek in der Großen Sterneninsel Malragh verschwunden
war, würde sich das Blatt sehr schnell wenden. Zumindest redete sich Mecchit das ein. Und Nabak war ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. Je weiter sein Boot in Richtung Norden vordrang, desto bewölkter wurde der Himmel. Gewaltige Gewitter brauten sich zusammen. Immer wieder kam es zu elektrischen Entladungen. Es regnete, aber dieser säuregesättigte Regen erreichte in den seltensten Fällen überhaupt die Oberfläche. Bevor das geschah, war er – zumindest in den südlich gelegenen Regionen – bereits wieder verdunstet und bildete erneut Wolken. Ein Kreislauf, der den Boden als Zwischenstation des Wassers weitgehend außen vor ließ, wie Mecchit erstaunt feststellte. Regenfälle, die in größerem Ausmaß auch die Oberfläche benetzten und für eine Wiederauffüllung der dortigen Reservoire sorgte, gab es nur im Norden. Immer wieder konnte man gewaltige Blitze zur Oberfläche zucken sehen. Schon die optische Erscheinung dieser Blitze unterschied sich deutlich von den Blitzen, die man auf Welten mit geringerem Sauerstoffanteil ausmachen konnte. Die Atmosphäre geriet im Verlauf des Blitzkanals regelrecht in Brand. Je weiter die Blitze zur Oberfläche vordrangen, desto mehr ähnelten sie den Feuerschweifen von Kometen. Gab es an der Oberfläche irgendetwas, das auch nur einigermaßen als Brennmaterial geeignet war, so schlugen sofort Flammen empor und waren kaum noch in Schach zu halten. Gewaltige Vegetationsgebiete standen rund um den Nordpol in Flammen. Die dazugehörigen Rauchwolken nahmen ganzen Regionen das Sonnenlicht. Winde ließen sie nach Süden ziehen. Es konnte Tage oder Wochen dauern, bis die Strömungsverhältnisse der Feuerwelt-Atmosphäre sie so verteilt hatten, dass sie nicht mehr einen erheblichen Teil des Lichts schluckten. Vorübergehend konnten diese Wolken selbst in den äquatornahen Gebieten für einen Temperatursturz und Lichtverhältnisse, die einer mondhellen Nacht entsprachen, sorgen. Mecchits Beiboot landete in unmittelbarer Nähe von Nabaks Raumer auf der Piste, die zu dem provisorischen Prospektoren-
Camp gehörte. Auch die Shuttles anderer HAKARs waren hier zu finden. Man war außerdem gerade dabei, eine Transportkapselstation zu errichten. Aufgrund der außerordentlich heftigen elektromagnetischen Entladungen galt diese Option auf der Feuerwelt jedoch nur als eingeschränkt sicher. Um die Station richtig abzuschirmen, wäre ein erheblicher Aufwand nötig gewesen, den man für ein Provisorium einfach nicht betreiben wollte. Schließlich ging es nur um einige Gramm an sehr seltenen Katalysatorstoffen, die aus Bodenerzen oder Oberflächengestein angereichert wurden. Manche wurden auch aus der Atmosphäre entnommen. Das galt etwa für die Edelgase, die besonders in Bodennähe eine außerordentlich hohe Konzentration von über zehn Prozent erreichen konnten, was einmalig in diesem Teil der Galaxis war. Selbst in den Sternenkatalogen von Samragh, die das alte Foronenreich angelegt hatte, waren Welten mit derart hohen Edelgaskonzentrationen in der Atmosphäre unbekannt. Mecchit verließ den Steuersitz und passierte anschließend mit vollkommen geschlossener Nanorüstung die Außenschleuse des Beibootes. Ohne Rüstung wäre ein Aufenthalt für Mecchit tödlich gewesen, denn die Nanopartikel filterten unter anderem die für den foronischen Organismus schädlichen Bestandteile der Feuerwelt-Atmosphäre heraus. Auch der überaus hohe Sauerstoffanteil musste reduziert werden. Die Folge hätten sonst Halluzinationen sein können. Mecchit trat ins Freie. Mit seinen Sinnen nahm er die Umgebung wahr. Das Camp war auf einer kargen Hochebene errichtet und von jeglichem Pflanzenwuchs befreit worden, bevor man diesen Standort ausgewählt hatte. Der Grund dafür war einleuchtend. Ein Brand hätte die Baracken des Camps ansonsten innerhalb kürzester Zeit verschlingen können. Aber die Pflanzenwelt dieses Planeten schien außerordentlich hartnäckig zu sein. Denn schon schimmerte es zwischen den Steinen am Boden wieder grünlich. Nicht mehr lange und die Vegetation würde sich anschicken, das ihr gestohlene Terrain
zurückzuerobern. Ihrer Kraft und Hartnäckigkeit – darüber machte sich niemand im Camp irgendwelche Illusionen – hatten selbst die technisch so hochstehenden Foronen nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Die Vegetation der Feuerwelt hatte sich schließlich daran gewöhnt, dass sie regelmäßig durch die gewaltigen Flächenbrände zurückgedrängt wurde. Aber sie hatte den Kampf aufgenommen und gezeigt, dass sie sich auch unter diesen widrigen Bedingungen behaupten konnte. Ein Blitz zuckte durch die Luft, gefolgt von einem gewaltigen Donnergrollen, das Mecchit dazu veranlasste, seinen Hörsinn augenblicklich abzuschirmen, um ihn nicht irgendeinen irreparablen Schaden erleiden zu lassen. Der Blitz wurde zu einem charakteristischen Feuerschweif. Brandgeruch hing in der Luft. Der Blitz schlug in einen von den Foronen dafür aufgestellten Mast ein, fuhr zischend an ihm hinunter und entlud sich schließlich in der Oberfläche des Planeten. Eine mäandernde Spur aus geschmolzenem Gestein würde man noch in einige Tiefe verfolgen können. Insgesamt zehn solcher Blitzableiter sicherten das Gelände um das Camp herum.
Mecchit fand Nabak in der Nähe einer Grube, die man ausgehoben hatte, um tiefer unter die Oberfläche dringen zu können. Der angehäufte Abraum verhinderte von hier aus die Sicht auf das eigentliche Camp. Nabak war in Begleitung zweier weiterer Foronen, und eine Kleinigkeit erregte Mecchits Misstrauen. Alle drei verfügten über ausgesprochen hochwertige Rüstungen. Zwar war das Tragen von Nanoschutzanzügen auf der Oberfläche der Feuerwelt für jeden Foronen ein Muss, aber was die Qualität und damit auch die Kampfkraft anging, gab es erhebliche Unterschiede zwischen den Rüstungen, die den Hohen Sieben zur Verfügung standen, und denen einfacher Foronen.
Der Unterschied lag dabei in erster Linie nicht in der technischen Beschaffenheit der Nanopartikel, aus denen die Rüstungen geformt wurden, sondern in der Qualität der Steuerung, die dafür sorgte, dass sie mehr als nur eine zweite Haut waren. Sie waren gleichzeitig auch eine Art Beschützer, der von jedem potenziellen Angreifer erst einmal überwunden werden musste. Beschützer mit eigener Intelligenz und Kampftaktik, die notfalls sogar in der Lage waren, unabhängig von ihrem Träger zu agieren. Mecchit näherte sich der Dreier-Gruppe, die ihn zunächst nicht bemerkte. Mecchit nahm an, dass sie mit dem Scannen tieferer Bodenschichten beschäftigt war. Einer der drei hatte den Arm seiner Rüstung zu einem Trichter geformt, der in die Grube gerichtet wurde. Offenbar, um Eindrücke der Bodenbeschaffenheit zu verstärken. Nabak!, sprach Mecchit den Lakaien Sobeks auf gedanklicher Ebene an, ohne dass die beiden anderen Foronen diese Botschaft ebenfalls erhielten. Dennoch drehten sich alle drei zur selben Zeit zu ihm um. »Die Anwesenheit eines Hohen ehrt unsere Prospektorentätigkeit!«, erklärte einer der beiden Begleiter Nabaks. Er nutzte dabei eine der Funkfrequenzen, die seiner Rüstung zur Verfügung standen, und nicht den direkten Weg der Gedankenübertragung. Mecchit war von einem Augenblick zum anderen ziemlich ernüchtert. Hatte das Vorgehen des Prospektors einen bestimmten Grund? Fürchtete er, dass er beim direkten geistigen Kontakt mit einem der Hohen vielleicht zu viel über den abgeschirmten Bereich seiner Gedanken verraten würde, weil es ihm angesichts der hohen Präsenz seines Gegenübers unmöglich war, sich genügend zu kontrollieren? Was bist du für ein misstrauisches Wesen geworden!, dachte Mecchit für sich. Du nimmst schon immer mehr Züge von Sobek an. Aber vielleicht ist das gar kein schlechtes Zeichen. Schließlich bist du ja auf dem Weg, der dich dorthin führen soll, wo Sobek bereits ist: ganz nach oben, an die Spitze unseres Volkes! »Wer seid ihr?«, fragte Mecchit ebenfalls über Funk zurück. »Von
welchem Schiff stammt ihr?« Als Septemvirats-Mitglied hatte er das Recht, solche Fragen zu stellen, und es stand ihm zweifellos auch zu, darauf umgehend eine eindeutige Antwort zu erhalten. »Unsere Namen sind Grebek und Tkebek!«, funkte der Zweite von ihnen, während der Erste seinen Trichter zurückbildete, woraufhin sich einige Turbulenzen in den Nanoströmen seiner Rüstung über den gesamten Körper fortsetzten und zu eigentümlichen Mustern führten, die sich schließlich wieder auflösten. »Wir wurden von HAKAR-72 abgestellt, der unter dem Kommando von Zecchitos steht!« Zecchitos – einer der niederen Kommandanten, die bei den SESHA-Kopien eingesetzt wurden. Sein Rang war nicht hoch genug, um bei den Besprechungen Sobeks dabei zu sein, geschweige denn etwa das Privileg zu genießen, sich bei Fragen von allgemeinem Interesse zu Wort melden zu dürfen. Dennoch war der Name Zecchitos für Mecchit durchaus ein Begriff. Zecchitos galt als ein Gefolgsmann von Ogminos, der auch wiederholt versucht hatte, ihn als einen seiner Stellvertreter in die Versammlungen auf Sobeks Schiff einzuschleusen, was ihm jedoch nicht gelungen war. Sobek wollte einfach keine Ausweitung jenes Kreises von Foronen, die er bei Entscheidungen in Kenntnis zu setzen oder gar zu konsultieren hatte. Plötzlich registrierten Mecchits verfeinerte Sinne erwachende energetische Konzentrationen in den Rüstungen von Nabaks Begleitern. In Mecchits Hirn überschlugen sich die Gedanken. Es musste einfach einen Grund haben, dass zwei niedere Foronen Anzüge trugen, die selbst einem Hohen gut zu Gesicht gestanden hätten. Eine Falle!, durchzuckte es Mecchit. Blitzschnell reagierte er. Er riss die Arme hoch, richtete sie auf die beiden Begleiter von Nabak. Die Rüstung formte innerhalb eines Augenblicks Waffenmündungen. Energieblitze zuckten daraus hervor und erfassten die beiden mit voller Wucht. Sie taumelten zurück. Auch ihre Anzüge formten Waffenmündungen. Aber Mecchit ließ sie nicht zum Schuss kommen. Erneut zuckten die Strahlenblitze hervor. Nabak feuerte jetzt ebenfalls.
Die Rüstung schützte Mecchit, auch wenn ihr energetisches Level bedenklich sank. Er konzentrierte sein volles Abwehrfeuer auf Nabak, der zu Boden geschleudert wurde. Elektrische Blitze umflorten seinen Nanoschutz. Er war kurzeitig außer Gefecht gesetzt – ebenso wie die beiden Begleiter, die taumelnd zurückwichen. Ein einziger Augenblick kann alles entscheiden!, sandte Mecchit seinen Gedankenstrom, dem er eine schmerzhafte Intensität verlieh, so machtvoll, dass seine Gegner mental aufschrien. Ich bin einer der Hohen – das habt ihr nicht bedacht. Ihr nicht und der nicht, der euch arme Narren schickte. Die besten Rüstungen sind wertlos, wenn nicht die nötige Geisteskraft dahinter steht! Aber insgeheim wusste Mecchit sehr genau, dass der Anschlag um ein Haar erfolgreich verlaufen wäre. Dann nämlich, wenn das Trio die Gelegenheit erhalten hätte, zuerst zuzuschlagen. Sein Instinkt hatte Mecchit vor der Vernichtung bewahrt. Sein Instinkt für die Gefahr. Mit seiner geballten mentalen Präsenz nutzte Mecchit den Augenblick, in dem seine Gegner handlungsfähig waren. Er zwang die Bewusstseine der Rüstungen nacheinander unter seinen Willen. Das war nicht schwer. Sie waren schwach und eigentlich dazu da, sich einem der Hohen zu unterwerfen. Die Nanorüstungen von Nabaks beiden Begleitern schrumpften daraufhin immer mehr zusammen. Mecchit zwang sie dazu, ihr Volumen zu verringern. Die Körper der beiden Foronen wurden dabei buchstäblich ausgepresst. Foronisches Blut und Körpergewebe quollen aus der Kragenöffnung. Anschließend befahl er den Steuerungen der Rüstungen die Selbstvernichtung. Was zurückblieb, waren zwei breiige Klumpen zerdrückter foronischer Körpersubstanz, die mit einer Schicht winziger, staubfeiner Nanopartikel überdeckt war. Der Wind trug diese Teilchen davon.
Namenlose Furcht erfüllte Nabak. Er lebte noch, aber mit seinen Sinnen hatte er natürlich wahrgenommen, was mit seinen beiden Be-
gleitern geschehen war. Und eigentlich gab es keinen Grund, weshalb Mecchit mit ihm nicht dasselbe tun sollte. Dessen Präsenz hatte Nabak voll im Griff. Vor allem übte er die Herrschaft über Nabaks Rüstung aus und konnte ihn auf diese Weise wie einen Gefangenen halten. Er ist mächtiger als ich, und ich habe ihm nichts an gleichwertiger Kraft entgegenzusetzen!, dachte er in seinem abgeschirmten Bereich. Aber offenbar war Mecchit in der Lage, auch dorthin vorzudringen. Das erkennst du spät, Nabak!, höhnte der Hohe. Anschließend hatte Nabak das Gefühl, als würde eine fremde mentale Macht nach seinem Bewusstsein greifen und dort das Unterste zuoberst kehren. Mecchit nutzte die momentane Schwäche seines Gegners, um dessen Ego nach den Informationen zu durchsuchen, die er brauchte. Nabak zu befragen war nicht einmal mehr nötig, ein Umstand, der die Angst des Foronen noch weiter ansteigen ließ. Welchen Grund konnte es für Mecchit schließlich geben, ihn am Leben zu lassen – wenn nicht den, an bestimmte Informationen herankommen zu wollen? An Informationen, über die nur Nabak verfügte … Mecchit durchforstete dessen Geist. Und er fand schnell, was er brauchte, denn Nabak war kaum noch in der Lage, sich wirksam abzuschirmen. Selbst die persönlichsten Bewusstseinsbereiche lagen nun fast schutzlos vor Mecchit ausgebreitet. So erfuhr der Hohe, dass es keinen Dissens zwischen Nabak und seinem Herrn Sobek gab. Es handelte sich um nichts anderes, als eine Inszenierung, die den Sinn gehabt hatte, Mecchit zu veranlassen, Kontakt mit Nabak aufzunehmen, um diesen auf seine Seite zu ziehen. Natürlich war auch Sobek klar gewesen, dass jemand wie Nabak im Kampf kaum eine Chance gegen Mecchit hatte. Also war es unumgänglich, für Unterstützung zu sorgen. Zecchitos, der Kommandant der HAKAR-72, war hier hilfreich gewesen. Gegen das Versprechen, demnächst an allen Beratungen an
Bord des Flaggschiffs teilnehmen zu dürfen, hatte er zwei zuverlässige Assassinen zur Verfügung gestellt. Und um ganz auf Nummer Sicher zu gehen, waren sie mit Rüstungen von besserer Qualität ausgestattet worden. Ein perfider Plan!, sandte Mecchit dem am Boden liegenden Nabak. Er veranlasste dessen Rüstung dazu, das Volumen geringfügig zu verkleinern, was eine ungeheure Welle von Schmerz über Nabak brachte. Töte mich!, schrien die Gedanken des erfolglosen Attentäters in Sobeks Diensten zurück. Töte mich, denn das ist es doch, was du jetzt vorhast! Der Hass in Mecchits Seele drohte tatsächlich, übermächtig zu werden. Wieder musste er an sich halten und dafür sorgen, dass der kühle Machtinstinkt nicht in den Hintergrund geriet. Am liebsten hätte er auch Nabak wie ein lästiges Insekt in dessen schrumpfender Rüstung zerquetscht, bis das Blut in Fontänen hervorspritzte. Ausgedrückt wie eine faulige Frucht. Aber Mecchit besann sich eines Besseren. Er hatte alles an Informationen, was ihm relevant erschien, aus dem Bewusstsein seines Kontrahenten herausgesaugt. Dieser Grund, ihn am Leben zu lassen, fiel also tatsächlich weg. Aber vielleicht gab es noch einen anderen. Warum nicht den ursprünglichen Plan beibehalten? Warum Nabak nicht zu Sobek zurückschicken? Warum diesen nicht glauben lassen, dass er sich retten konnte, ohne dass sein Bewusstseinsinhalt ausspioniert werden konnte? Jede Situation kann man zu seinem Vorteil nutzen, äußerte Mecchit seine Gedanken. Du kennst diesen Satz. Er ist aus den foronischen Weisheiten des Heiligen Magantos … Ein Gedanke, heute so wahr wie vor Äonen auf unserer Ur-Heimat, als unsere Vorfahren noch nicht in der Lage waren, Sternenbarken zu bauen und sich mit ihnen von System zu System zu bewegen! Nabak horchte auf. Noch immer hatte er das Gefühl, keine Luft zu bekommen und zusammengequetscht zu werden. Aber die Qualität der mentalen Präsenz, mit der Mecchit jetzt auf ihn einwirkte, hatte
sich deutlich geändert. Möchtest du leben, Nabak? Eine klare Frage. Und Nabaks Antwort darauf war ebenso eindeutig: Ja! Mecchit fuhr fort: Ich schenke dir deine erbärmliche Existenz! Allerdings zu meinen Bedingungen! Nabak brauchte nicht lange überzeugt zu werden. Er war ohnehin nichts anderes mehr als ein Bündel schmerzender Nerven, umgeben von einer zu engen Rüstung, die nicht mehr unter seiner Kontrolle stand. Ich werde alles tun, was du verlangst, erhabener Mecchit! Alles! Mecchit streckte die Hand aus. Das freut mich zu hören!, erklärte er. Im nächsten Moment gab er die Kontrolle über die Rüstung wieder frei. Nabak würde nicht so töricht sein, Mecchit jetzt noch einmal anzugreifen. Der Lakai Sobeks wusste, dass er nicht die geringste Chance hatte und er nun völlige Offenheit und Kooperationsbereitschaft zeigen musste. Mecchit hatte schließlich Nabaks Bewusstsein durchforstet, sodass dieser davon ausgehen musste, keine Geheimnisse mehr zu haben. Es gab nichts, was er noch vor Mecchit verbergen konnte. Ich wusste, wie wir eine Übereinkunft treffen könnten!, meinte Mecchit. »Ich gehe auf alles ein«, kam es über Funk zurück, als Nabak seine Rüstung wieder kontrollieren konnte. »Sag mir nur, was ich tun soll …« Was würde dein Herr mit dir anstellen, wenn er davon erführe, wie sehr du versagt hast? »Ich weiß es nicht. Vielleicht würde er mich töten.« Dann darf er es nie erfahren! »Wie soll das vonstatten gehen?« Du erklärst ihm, dass deine beiden Begleiter dich und nicht das vorgesehene Opfer zu töten versuchten! Die Kampfspuren werden bis zu deiner Rückkehr noch an den Nanopartikeln deiner Rüstung nachweisbar sein. Das wird deine Behauptung unterstützen. Nabak war kein Dummkopf. Er begriff sofort die Implikationen,
die es hatte, wenn auf diese Weise vorgegangen wurde. »Das bedeutet, Sobek wird annehmen, dass Zecchitos' Mörder mich töten wollten, um den Anschlag zu verhindern!« Natürlich. Sobek wird denken, dass Zecchitos ein falsches Spiel treibt und ihm jemand anders etwas mehr versprochen hat als nur eine Teilnahme an den Beratungen. Vielleicht sogar eine Erhebung in den Stand eines Septemvirat-Mitglieds. Schließlich ist in diesem Gremium seit Morns Tod ein Platz verwaist. »Sobeks Hass wird sich auf Ogminos richten«, schloss Nabak. Muss uns beide das kümmern? »Nein.« Davon abgesehen kann es sich Sobek im Moment nicht leisten, gegen Ogminos vorzugehen. Aber es wird für dauerhaftes Misstrauen zwischen beiden sorgen, was für mich nur von Vorteil sein kann. »Dein Scharfsinn ist zu bewundern!« Dein Leben liegt in meiner Hand, das ist dir doch klar? Nabak bestätigte dies. »Vollkommen!« Sicherheitshalber führte Mecchit dem unterlegenen Attentäter aber dann doch noch einmal vor Augen, welche Folgen es für ihn haben konnte, wenn er Mecchit in Zukunft nicht ebenso treu ergeben sein würde, wie er das in der Vergangenheit Sobek gegenüber gewesen war. Ich habe Teile deines Bewusstseinsinhalts mental gespeichert. Und wann immer ich will, kann ich diese Speicherungen deinem Herrn durch einen einfachen Gedankenstrom zugänglich machen. Du wirst jetzt insgeheim einwenden, dass dies keinen Beweis darstellt, denn wenn ich die Speicherungen in meinem Gehirn vornehme, werden sie Teil meines Bewusstseins und ihre Herkunft ist nicht mehr nachweisbar. Aber du solltest darauf nicht spekulieren! Sobek wird die Information, die ich ihm im Fall deiner Untreue zugänglich mache, durchaus richtig einzuschätzen wissen! Und außerdem wäre es für ihn ein Leichtes, dich einer ähnlichen mentalen Prozedur zu unterziehen, wie ich es soeben getan habe. Die Übereinstimmungen können ihm dann eigentlich nicht entgehen. »Ich weiß«, funkte Nabak kleinlaut zurück. Dass du auf die Gnade deines Herrn nicht setzen kannst, solltest du am besten wissen, gab Mecchit zu bedenken.
»Das ist mir durchaus bewusst«, behauptete Nabak. »Ich werde alles tun, was du verlangst. Ohne jede Einschränkung.« »Dann wirst du jetzt zu Sobek zurückkehren und ihm das berichten, was wir abgemacht haben. Welche Konsequenzen er daraus zieht, bleibt ihm überlassen. Wenn er Ogminos bestrafen will, dann ist mir das nur recht, aber ich glaube, dazu ist Sobek zu klug.« »Das glaube ich auch.« »Du wirst also die Reise zur Großen Sterneninsel Malragh mitmachen, wie es ohnehin vorgesehen ist. Aber im entscheidenden Moment wirst du dafür sorgen, dass der Faden jenes Netzes, das Sobek zu spinnen versucht, zerreißt und er hilflos jenseits der großen Leere zurückbleibt.« »Und ich?«, fragte Nabak. Die mentale foronische Entsprechung eines höhnischen Gelächters drang zu Nabak hinüber. Du wirst deinen Herrn natürlich auf seiner unglückseligen Odyssee begleiten. Ist es nicht das, was du ohnehin wolltest? Aber wer weiß … wir bleiben ja in Kontakt. Vielleicht finde ich zwischenzeitlich noch eine andere Verwendung für dich …
Mecchit kehrte zurück zu seinem Beiboot. Er begab sich in den Steuersitz und startete umgehend. Langsam hob der kleine Rochen – das Miniatur-Abbild eines HAKAR – vom Boden ab und gewann an Höhe. Mecchit drehte eine Runde über der von starken elektrischen Entladungen geprägten Polarregion. Die großen Brände flackerten überall auf, wo die Blitze einschlugen. Aber die Vegetation hatte das probate Gegenmittel, um sich gegen diesen Dauerfeldzug des Feuers zu schützen: Sie hatte die Fähigkeit, sehr schnell zu wachsen, und außerdem konnten die Wurzeln der abgebrannten Pflanzen notfalls auf sich gestellt überleben. Wie ein Sinnbild immerwährenden Krieges wirkte der Überlebenskampf der Feuerwelt-Flora auf Mecchit. Ein fast poetisches Bild, wie er fand. Nur nicht sentimental werden, wies er sich selbst zurecht.
Er fragte sich außerdem, wie lange Zecchitos wohl noch zu leben hatte und ob auch Ogminos Konsequenzen erwarten musste. Falls ja, bedeutete dies in jedem Fall einen Vorteil für Mecchit, denn diese Bedrohung würde den zögernden – und nach Mecchits Ansicht feigen – Ogminos vielleicht endgültig auf Mecchits Seite treiben. Wenn Sobek sein Leben bedrohte, war er vielleicht gezwungen, endlich eindeutig Stellung zu nehmen, was er bislang vermieden hatte. Die Zeiten, in denen er sich um die Frage herummogeln konnte, auf wessen Seite er stand, waren dann endgültig vorbei. Mecchit hatte mit seinem Beiboot inzwischen die Polarregion überflogen, überschritt nun den Wendekreis und näherte sich den trockenen Wüstengebieten, die den Äquator dieser wundersamen Welt in einem sehr breiten Gürtel umsäumten. Er flog zunächst im Tiefflug und zog die Maschine dann hoch. Das Gefühl, eins mit dem Beiboot zu sein, durchströmte ihn dabei. Das Raumschiff war wie eine Verlängerung seines eigenen Körpers und seiner Sinne. Zwischen beidem schien es keinerlei Abgrenzung mehr zu geben. Dann erreichte ihn plötzlich die Störmeldung des Bordrechners. Ein Fehler im System wurde angemahnt. Ein sich selbst reproduzierendes Subsystem war in den Bordrechner eingedrungen und hatte sogar Teile von dessen Datenbanken unbrauchbar gemacht. Daten wurden falsch verknüpft oder waren nicht mehr auffindbar. Ist die Rückkehr zum Mutterschiff noch möglich?, fragte Mecchit den Bordrechner. Nein, kam die prompte Antwort. Es war der letzte Kommentar, den er überhaupt über die telepathische Verbindung erhielt. Danach war dieser Kommunikationskanal stumm. Das System schien vollkommen zusammengebrochen zu sein. Mit einem Mal umgab ihn nur noch Schwärze. Die Sinne des Schiffes waren von Mecchits Wahrnehmung getrennt. Er lag in seinem Steuersarkophag und war umgeben von namenloser Finsternis.
Sobek … du durchtriebenes Aas!
8. Sobeks Netz Siroona! Sie spürte die Präsenz und wusste sogleich, dass es keine angenehme Kommunikation sein würde, die ihr bevorstand. Was wusste er? Was hatte er aus Orac und Ogminos herausgesaugt? Seiner mentalen Stärke hatte keiner der anderen Foronen etwas auch nur annähernd Gleichwertiges entgegenzusetzen. Siroona hatte das für sich akzeptiert. Mecchit würde dies wahrscheinlich niemals anerkennen können. Siroona! Ein zweiter Ruf. Herrischer als der erste. Gebieterischer. Und mit latent vorhandener, unterschwelliger Grausamkeit. Ich bin hier!, signalisierte Siroona telepathisch, hatte aber ansonsten ihren Geist vollkommen abgeschirmt. Sie spürte, wie er sich näherte, wie seine Präsenz intensiver wurde. Und sie spürte auch den Groll, der sich in dem Anführer der Hohen Sieben angestaut hatte. Keine noch so düstere Seite an dir wäre mir nicht vertraut, Sobek … Das solltest du wissen! Niemand kennt dich, wie ich dich kenne … Jetzt erschien Sobek. Er trat durch einen der Türtransmitter in den Raum, den Siroona nach ihren eigenen Vorstellungen gestaltet hatte und der gefüllt war mit zahllosen Schädelnachbildungen, die an Fäden aus reiner Energie von der Decke herabhingen und auf diese Weise ein bizarres Mobile bildeten. Ein Mobile, das im Übrigen bereits auf kleinste psychische Schwankungen mentaler Energie reagierte. So auch jetzt. Die pure Präsenz Sobeks hatte die Schädel – bei denen man nicht sagen konnte, bei welchen von ihnen es sich um echte Exemplare handelte und welche lediglich Nachbildungen waren – bereits dazu veranlasst, immer stärker zu zittern. Sie vibrierten förmlich. Siroona erhob sich in dem ihrem Körper angepassten Lager und
trat Sobek entgegen. Sie trug keine Rüstung. Er soll sehen, dass ich keine Angst vor ihm habe!, dachte sie und ließ Sobek diesen Gedanken durchaus erfassen. Warum sollte er es nicht wissen? Sie hatte nichts zu verbergen. Du steckst dahinter!, stellte Sobek fest. Du hast deinen Einfluss auf Orac und Ogminos ausgeübt, damit sie mir Knüppel zwischen die Beine werfen … Siroona widersprach ihm gedanklich, blieb dabei aber vollkommen kontrolliert. Sich der Wut Sobeks entgegenstellen zu wollen, hatte ebenso wenig Sinn, wie sich der Gravitationskraft eines Schwarzen Lochs zu widersetzen. Siroona hatte das schon vor langer Zeit eingesehen. Sie spürte plötzlich die geradezu erdrückende Präsenz Sobeks. Wage es nie wieder, hinter meinem Rücken eigene Pläne zu verfolgen! Siroona wich zurück. Die Versuchung war groß, die Rüstung herbeizurufen und dafür zu sorgen, dass sie sich schützend um ihren Körper schmiegte. Aber Siroona widerstand diesem Reflex und ließ die Nanorüstung, wo sie war – in einer Ecke des Raums nämlich. Als Rüstung war sie gar nicht mehr erkennbar. Ein dunkler Klumpen, wie aus Myriaden von winzigen Insekten bestehend, die wechselseitig zusammenklumpten oder in undurchschaubaren Strömen durcheinander wirbelten. Ich habe einen Weg gesucht, unserer Zukunft zu dienen, Sobek! Ein starker negativer Impuls erreichte sie. Ein gewöhnlicher Forone wäre vielleicht tot darunter zusammengebrochen oder für immer dem vollkommenen Wahnsinn verfallen. Aber Siroona hielt stand. Du hast mit Mecchit gemeinsame Sache gemacht!, fauchten Sobeks Gedanken. Aber Siroona widersprach deutlich und mit sehr klaren Gedankenimpulsen. Erforsche mein Bewusstsein. Es steht dir alles offen. Ich werde nicht die geringste Abschirmung vornehmen, wenn du es verlangst. Dann wirst du sehen, dass du zu Unrecht an meiner Loyalität zweifelst. Aber ich musste dennoch tun, was für uns das Beste ist, auch wenn du dies nicht einzusehen vermagst.
Sobek stieß einen grollenden Laut aus, mit dem allerdings keinerlei verbale Botschaft verbunden war, und sandte anschließend seine Gedanken. Ich bin der Erste unter den Hohen Sieben. Ich führe unser Volk noch vor allen anderen des Septemvirats. Mir schuldet ihr Gehorsam. Siroona blieb überraschend ruhig. Das zweifelt nie jemand an!, erklärte sie. Und mein Angebot ist durchaus ernst gemeint! Sobek begann mit seinen mentalen Fühlern ihren Geist zu berühren. Aber Siroona spürte, dass seine Prüfung nur oberflächlich war. Vielleicht wollte er gar nicht jedes Detail erfahren, das Siroona in ihrem Bewusstsein verbarg und für gewöhnlich auch gut abschirmte. Erschreckt dich das? Sobek hob den Kopf. Was meinst du? Siroona näherte sich Sobek bis auf einen Schritt. Dass du dich in meinem Bewusstsein spiegelst! Du erfährst nicht nur etwas über mich, wenn du mein Bewusstsein erforschst. Fast genauso viel wirst du über dich erfahren! Aber mir scheint, das kommt dir wie ein Albtraum vor. Sobek ließ seinen Kopf von der Rüstung verdecken. Er verkroch sich regelrecht dahinter. Zumindest empfand Siroona es so. Du hast nicht gewusst, dass so viel von dir auch in mir vorhanden ist, nicht wahr? Sobeks Antwort war aufrichtig. Nein, bekannte er. Es wird alles nach Plan verlaufen, war Siroona zuversichtlich. Du wirst Andromeda erreichen, und Mecchit hat in der Zwischenzeit etwas zu tun, das dir später nützen wird, wenn du seinen Teil des Verbindungsnetzes einfach übernehmen kannst. Nicht mehr lange, und der Tag kommt, da du dich Mecchits entledigen wirst … Sobek schwieg. Er informierte Siroona nicht darüber, dass die finale Auseinandersetzung mit Mecchit längst begonnen hatte – und bereits entschieden war. Die Verbindung nach Samragh spielte jetzt keine Rolle mehr.
Ein eintreffender Funkspruch beendete die für beide Seiten – aber vor allem für Siroona – recht unerfreuliche Kommunikation.
Es war Nabak. Die Kommunikation in diesen Raum!, befahl Sobek. Die kleinen Schädel von Siroonas bizarrem Mobile tanzten jetzt wild durcheinander. Das ist es also, was ihn wirklich erregt, dachte Siroona – diesmal abgeschirmt. Wie gut … Eine Holosäule erschien mitten im Raum. Sie zeigte zunächst Nabaks Beiboot. Anschließend verformte sie sich und bildete Nabaks Gestalt in einem Größenverhältnis von ungefähr siebzig Prozent des Originals nach. »War deine Mission erfolgreich?«, fragte Sobek. »Erfolgreich nur insofern, als ich meine eigene Existenz retten konnte.« »Elender! Sei froh, dass du Versager im Moment außerhalb meiner Reichweite bist!« »Ich sprach nicht von einem Kampf mit Mecchit.« »Ach, nein?« »Ich wurde von Zecchitos' Getreuen angegriffen. Sie wollten mich töten, um Mecchits Ende zu vereiteln, was ihnen leider auch gelungen ist.« Sobek ballte die Pranke zur Faust. Welch archaische Geste!, dachte Siroona. Es gab nur wenige Foronen, die diese Geste benutzten, die gewiss aus der Frühzeit des Foronenvolkes stammte, als es noch keine Weltraumfahrt gegeben hatte. Aber vielleicht ist es das, was ihn von anderen unterscheidet, überlegte sie. Dieser archaische Wille, sich durchzusetzen und anderen seinen Willen aufzuzwingen. Das macht ihn im Moment wohl auch im Kreis der Hohen Sieben einzigartig. Siroona war sich bewusst, dass es im Moment niemanden unter den überlebenden Hohen gab, der in Sobeks Fußstapfen hätte treten können. Für sie war das allein schon Grund genug, ihn zu unterstützen. Abgesehen von Gründen, die mit purem Opportunismus zu tun hatten – aber der war unter Foronen alles andere als ehrenrührig. »Komm an Bord, Nabak!«, forderte Sobek indessen. »Ja, Herr.«
»Ich will alles genauestens geschildert bekommen.« »Ja, Herr.« Ein Gedankenbefehl schaltete die Verbindung aus, und die Holosäule verschwand. Aber die Schädel des Mobiles zitterten auf eine ganz eigentümliche Weise, die Siroona noch nie bemerkt hatte. Ein Ausdruck der ungeheuren Spannung, unter der Sobek jetzt steht!, war ihr klar. Sie wusste, dass sie auf der Hut sein musste – gerade in Augenblicken wie diesem. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Sobek seinen Unmut in blanker Mordlust abreagierte. Er hat einen gewissen Trieb, der ihn in Richtung des eigenen Untergangs zieht, war Siroona klar. Eine Seite an ihm, die ich beachten muss, um zu verhindern, dass er mich eines Tages mit in seinen Abgrund reißt. Spätestens dann werde ich meine Loyalität aufkündigen müssen. Sobek beschäftigten in diesen Augenblicken ganz andere Dinge. Er ging unruhig wie ein gefangenes Tier auf und ab. Dabei stieß er dumpfe, unartikulierte Laute aus. Die unbewusste Begleitmusik seiner Gedanken, die er ohnehin nur in Siroonas Gegenwart aus sich herausdringen ließ. Auch etwas, was uns verbindet, dachte Siroona. Sie hatte ihre verfeinerten Sinne in diesem Moment vollkommen auf Sobek ausgerichtet, um jede auch noch so geringfügige Änderung seiner Verfassung mitzubekommen. Die starke Präsenz eines sehr deutlichen Gedankens bildete sich. So deutlich, dass Siroona ihn in demselben Augenblick wahrzunehmen vermochte, da er in Sobeks Bewusstsein Gestalt annahm. Kommandant Zecchitos ist Ogminos' Mann. Mögen die üblen Götter unserer Vergangenheit wissen, was man ihm dafür versprochen hat, dass er seine Mörder gegen meinen Lakaien einzusetzen versuchte! Aber ungesühnt soll es nicht bleiben!
Mecchit hatte das Gefühl, im Nichts zu schweben. War das der Tod? Das Stadium des Nicht-Seins? Eine Dunkelheit – wie ein langer Schlaf oder eine Phase mentaler Taubheit …
Aber Mecchit war nicht bereit, sich der aufkommenden Agonie hinzugeben. Ohnmächtige Wut erfasste ihn. Du liegst in einem Sarkophag und weißt, dass dein Raumschiff jetzt der Planetenoberfläche entgegenstürzt, ohne dass du es verhindern kannst. Mehrfach hatte er schon versucht, die Herrschaft über den Bordrechner zurückzugewinnen. Vergeblich. Das System hatte einen Gesamtfehler gemeldet und sich danach nicht mehr reaktivieren lassen. Die vertraute telepathische Gedankenstimme antwortete nicht mehr. Eine Reinitialisierung war fehlgeschlagen. Außer ein paar Lichterscheinungen war dadurch nichts ausgelöst worden. Die Verbindung zu den Sensoren, die Mecchit normalerweise wie Sinnesorgane seines eigenen Körpers benutzen konnte, war gekappt. Das Schlimmste war, dass er auch keinen Notruf senden konnte. Eigentlich wäre es sonst keine Schwierigkeit gewesen, ein weiteres Beiboot von seinem Mutterschiff zu starten und ihn damit zu retten. Aber das war nun nicht möglich, weil überhaupt nichts mehr funktionierte. Jetzt aufgeben? Eine kurze Frist bleibt dir noch … Je nachdem, in welchem Winkel dein Beiboot in die Atmosphäre der Feuerwelt stürmt, wirst du verglühen oder auf der Oberfläche aufschlagen. Vielleicht auch eine Mischung aus beidem … Die Logik sagte ihm, dass sein Schiff aufgrund des hohen Sauerstoffanteils der Atmosphäre wahrscheinlich sogar schon in den äußeren Schichten der Feuerwelt-Atmosphäre verglühen würde. Ein weithin sichtbares Fanal … Eine Sternschnuppe über einer Wüste. Hast du dir deinen Tod so vorgestellt, Mecchit? Der Forone weigerte sich, die Fakten, die so folgerichtig und logisch erschienen, einfach hinzunehmen. Er klammerte sich an das Leben wie ein Ertrinkender an die letzte Schiffsplanke. Und da war der Hass, der letztlich noch stärker war als der Wille zu überleben. Grenzenloser Hass auf Sobek, dessen teuflischem Plan er erlegen war. Du hast dich zu sicher gefühlt. Es war zu leicht, der Falle auf der Oberfläche zu entkommen. Nabak, dieser Narr, der als Bauer in einem Schachspiel übermächtiger Kontrahenten hin- und hergeschoben wird, wusste
wahrscheinlich gar nichts davon, dass Sobek noch eine zweite Option hatte. Sonst hätte ich es in seiner Präsenz gespürt … Die Zeit schien sich zu dehnen. Ein Augenblick konnte sich im Angesicht des Todes zu einer Ewigkeit ausweiten. Sein Verstand arbeitete so stark wie selten zuvor, eine Flut von Gedanken durchraste sein Hirn. Ein letzter Versuch!, sagte er sich. Ein letzter Gedankenbefehl, um das System zu reinitialisieren und die Herrschaft darüber zurückverlangen … Aber das war leichter gedacht als getan. Ein einziger Moment … Er musste nur lang genug sein, um aus dem Sarkophag herauszukommen, der jetzt sein tödliches Gefängnis war. Mecchit nahm all seine Kräfte zusammen, legte seine gesamte Konzentration in diesen einen Gedankenstrom, mit dem er versuchte, den Neustart des Bordrechners auszulösen. Wieder flackerten ein paar Lichter in der Dunkelheit. Für kurze Momente hatte er die Wahrnehmung eines braungelben Halbrunds. Das war ein Bildausschnitt, der über die optischen Sensoren des Beibootes übertragen wurde und einen Teil der Feuerwelt zeigt. Er glaubte die ersten Moleküle der Atmosphäre zu spüren. Hier begann die Stratosphäre des Planeten. Die Luftdichte war dort um den Faktor tausend geringer als an der Oberfläche. Doch schon das reichte aus, die Oberflächentemperatur des Beibootes zu erhöhen. Noch war das nicht dramatisch. Aber das würde sich schnell ändern. Die Bilder verschwanden wieder. Mecchit stieß den Sarkophagsitz auf und sprang daraus hervor. Sowohl seine Körperkraft als auch die Kraft seiner Foronenrüstung hatte er dazu eingesetzt. Er wurde an die Decke geschleudert, da die Regulierung der künstlichen Schwerkraft nicht mehr richtig funktionierte und die gegenwärtigen Gravitationswerte wohl erheblich unter der Norm lagen. Aber die Rüstung schützte ihn. Er schaffte es, auf die Beine zu kommen, und wusste, dass es jetzt nur noch eine Rettung gab. Ich muss hier raus!, erkannte er. Jetzt und sofort.
Über den telepathischen Kommunikationskanal versuchte er noch einmal, Kontakt zum Bordrechner aufzunehmen, aber dieser meldete erneut nur einen katastrophalen und irreparablen Gesamtfehler. Systemdeaktivierung in zehn Mikro-Zeiteinheiten! Eine Meldung, die bei Mecchit fieberhafte Aktivität auslöste. Er begab sich zur Außenschleuse. Der Bordrechner zählte den Countdown bis zur Abschaltung aller Systeme herunter. Mecchit erreichte inzwischen die Außenschleuse und versuchte sie zu öffnen. Befehl irregulär, beschied ihm der Bordrechners. Mecchit zögerte nicht lange, sondern streckte beide Arme seiner Rüstung aus. Es bildeten sich Waffenmündungen. Blasterstrahlen schossen daraus hervor und schmolzen sich durch das erste Schleusenschott. Nachdem er dasselbe anschließend mit dem Außenschott durchführte, entwich die Luft mit einem Fauchen. In einer riesigen Fontäne schoss sie ins All und kondensierte dort sofort. Innerhalb weniger Augenblicke war das Loch groß genug für Mecchit. Er konnte dem Sog des austretenden Sauerstoff-Stickstoff-Gemischs nicht länger widerstehen und wurde ebenfalls in hohem Bogen ins All geschleudert, drehte sich dabei immerzu um die eigene Achse. Die Rüstung schützte ihn vor den verderblichen Einflüssen des Weltraums. Für eine Weile konnte er mit ihrer Hilfe auch im freien Raum überleben. Mecchit versuchte seine Eigenumdrehung so gut es ging zu stoppen. Er sah, wie sein Beiboot auf die Feuerwelt hinabtrudelte und schließlich in der Atmosphäre verglühte. Eine helle Leuchterscheinung entstand. Sie erinnerte an ein Stück entzündetes Magnesium. Schließlich war nichts mehr von dem Beiboot zu sehen. Mecchit sandte unterdessen einen Funknotruf an seinen HAKAR. Es dauerte nicht lange, bis ein Beiboot ausgeschleust wurde, ihn anpeilte und schließlich an Bord nahm. Mecchit war außer sich vor Wut. Na warte, Sobek! Warte, bis mein Spion dir die Verbindung abschneidet,
die dir in der Großen Sterneninsel vorgaukelt, jederzeit nach Bolcrain zurückkehren zu können … Dann wirst du als Gestrandeter für alle Ewigkeit in Malragh bleiben müssen!
Die HAKARs, die Sobek für seinen Plan, zur Großen Sterneninsel Malragh aufzubrechen, brauchte, wurden nach und nach erfolgreich aneinander gekoppelt. Mochte der Anführer der Foronen dabei auch äußerst ungeduldig sein, so brauchte die technische Vorbereitung der Mission einfach ihre Zeit. Ein Umstand, an den vor allem Nabak ihn immer wieder erinnerte. Er war einer der wenigen niederen Foronen, die sich das überhaupt erlauben durften, ohne Gefahr zu laufen, mental oder körperlich in erheblicher Weise misshandelt zu werden. Während der Vorbereitungsphase zeichnete sich gerade Nabak durch besonderen Einsatz aus. Wie gut, dass ich ihn nach seiner Rückkehr nicht wegen seines Versagens getötet habe!, dachte Sobek zum wiederholten Mal. Siroona hingegen misstraute Nabak seit dessen Heimkunft aus einem unerfindlichen, ihr selbst nicht erklärlichen Grund. Mentale Disharmonie konnte man so etwas nennen. Misspräsenz. Siroonas verfeinerten Sinne hatten sie eigentlich nie getrogen, und sie war immer am besten damit gefahren, ihren Instinkten bedingungslos zu vertrauen und auf jede Warnung zu achten, die von ihnen übermittelt wurde. Aber in diesem Fall wollte sie sich nicht mit der Angelegenheit an Sobek wenden. Ihr Verhältnis zueinander hatte bereits unübersehbar gelitten. Sie wollte auf keinen Fall, dass sich die entstandene Kluft noch vertiefte. Also schwieg sie. Behielt ihre Gedanken für sich und beließ ihre Sinnesorgane gleichzeitig im Status höchster Aufmerksamkeit. Vielleicht irre ich mich ja auch und bin einfach nur überreizt durch die Strapazen, denen wir alle in der letzten Zeit ausgesetzt waren, ging es ihr durch den Kopf. Allerdings glaubte sie selbst nicht daran. Das Unbehagen nagte
einfach an ihr. Und es gab nichts, was daran von Grund auf etwas hätte ändern können.
Mecchit schloss zwei HAKARs zusammen. Mit beiden würde er nach Samragh fliegen, wobei einer von ihnen dort als Kapselbahnhof zurückbleiben sollte, während sein anderes Schiff innerhalb Samraghs noch maximal manövrierfähig sein würde. Samragh war auf diese Weise kurz davor, eine der ersten Stationen des von Sobek geplanten Verbindungsnetzwerks zu werden. Über den missglückten Anschlag sprach Mecchit nicht. Er begegnete Sobek mit einem Maximum an Neutralität und Verschlossenheit. Sobek registrierte das durchaus, wusste andererseits aber auch, dass er im Moment keinen zweiten Schlag gegen seinen Kontrahenten wagen konnte. Mecchit ging es umgekehrt genauso. Koexistenz – das war der Begriff, der ihr augenblickliches Verhältnis charakterisierte. Für Mecchit war dies nur im Bewusstsein erträglich, dass der entscheidende Schlag bereits vorbereitet war und unweigerlich folgen würde, sobald die dazu nötige Ausgangslage eintrat. Allein dieser Gedanke machte es ihm möglich, seine brodelnden Emotionen unter einer undurchdringlichen Maske zu verbergen. Bevor Mecchits Doppel-HAKAR schließlich Richtung Samragh aufbrach, berief Sobek noch einmal eine Versammlung ein. Mecchit ließ es sich nicht nehmen, daran teilzuhaben. Auch Zecchitos war anwesend. Der foronische Kommandant, der als Gefolgsmann von Ogminos galt, hatte nach dem gescheiterten Attentat schon gar nicht mehr damit gerechnet, überhaupt jemals auf eine von Sobeks Versammlungen eingeladen zu werden. Umso erfreuter war er, dass er zu dieser erlauchten Gesellschaft hinzugezogen wurde, bei der Mecchit verabschiedet und die große Zukunft der Foronen beschworen werden sollte. Er ahnte nicht, aus welchem Grund Sobek ihn hinzugezogen hatte. Der Anführer der Foronen brauchte ihn aus zweierlei Gründen. Ei-
nerseits empfand er einen schier übermächtigen Durst nach Rache. Er wollte denjenigen, von dem er glaubte, dass er seinen möglichen Triumph über Mecchit vereitelt hatte, leiden sehen. Sobek empfand das als sein Recht. Und es gab niemanden unter den Foronen, der ihm da ernsthaft widersprochen hätte. Außerdem hatte Sobek nach der unerfreulichen Entwicklung, die mit Mecchit und der Exkursion nach Samragh in Zusammenhang stand, das Bedürfnis, seine Autorität zu demonstrieren. Autorität aber waren nach Sobeks Ansicht stets auch die Macht und das Recht, jemanden zu töten. Darin allein wurde sie wirklich für alle erkennbar. Nachdem Mecchit verabschiedet worden war, rechnete Sobek mit Zecchitos ab. Mit seiner übermächtigen geistigen Kraft zwang er den Kommandanten der HAKAR-72 vor den aufmerksamen Sinnen aller, in die Schleuse zu gehen, das Außenschott zu öffnen, sich der Nanorüstung zu entledigen und hinaus in die Kälte des Alls zu springen. Die jämmerliche Angst-Präsenz von Zecchitos' Bewusstsein war für alle spürbar, bis Vakuum und Kälteschock dem ein Ende setzten. Es herrschte betretenes mentales Schweigen, nachdem dies geschehen war. Ihr sollt wissen, dass jeder, der mich verrät oder auch nur daran denkt, mich zu verraten, ein Schicksal erleiden wird, das noch viel schlimmer ist!, sandte er seine Gedanken an alle. Dass ich in Zukunft für eine Weile weit von der Mehrheit unter euch entfernt sein werde, heißt nicht, dass ihr mich weniger zu fürchten brauchtet! Niemand unter den Anwesenden wäre in diesem Augenblick dazu bereit gewesen, öffentlich einen kritischen Gedanken zu äußern. Sobek wiederum erschien die Disziplin wieder hergestellt. Er wandte sich an Siroona. Seine Sinne erfassten sie, tasteten sie regelrecht ab. Sie spürte es und verharrte in Erwartung irgendeiner Boshaftigkeit, bei der ihr nichts anderes übrig blieb, als sie schlicht und ergreifend zu ertragen. Zecchitos starb auch für dich, Siroona, behauptete er. Siroona erkannte sofort, dass dieser Gedankenimpuls nur ihr al-
lein galt und keiner der anderen Anwesenden ihn hatte wahrnehmen können. Sie wagte es nicht, eine andere Reaktion zu zeigen als: Ja, Sobek. Eine Pause folgte. Dann sagte der Führer der Foronen: Unsere Mythen berichten von stellvertretenden Opferungen. Das kommt aus einer barbarischen Zeit vor Erfindung der Raumfahrt, wirst du einwenden. Aber ich weiß nicht … vielleicht sollte man diese Sitte reaktivieren. Sie scheint recht effektiv zu sein, wenn es darum geht, sich der Gefolgschaft anderer zu versichern.
Nur wenig später löste Sobek die Versammlung auf. Die Beteiligten kehrten auf ihre jeweilige SESHA-Kopie zurück. Mecchits Doppel-HAKAR brach nach Samragh auf. Sobek verfolgte den Abflug des zusammengekoppelten Doppel-Schiffs über die Holosäule seiner eigenen Befehlszentrale. Nabak stand in der Nähe. »Das ist der erste Schritt zur Errichtung des Netzes, das dir vorschwebt, Sobek!« Schweig, Nabak!, wies dieser ihn zurecht. Ja, Herr, kam es kleinlaut zurück. Der Erste unter den Hohen Sieben wollte sich einfach nicht durch das inhaltsleere Gerede eines Niederen aus der Tiefe seiner eigenen, schwerwiegenden Gedanken reißen lassen.
Es dauerte noch ein paar Umläufe von Hecchiton-22.121-braun um seinen riesigen roten Zwilling, bis endlich auch der gewaltige Zehner-HAKAR Sobeks bereit zum Aufbruch war. Der Foronenführer ließ das Gros seines Volkes mit eindeutigen Anweisungen zurück und startete. Als der Zehner-HAKAR den Halo erreichte, wurde der erste HAKAR aus dem Verbund gelöst und in eine Umlaufbahn um eine gelbe Sonne mit insgesamt 23 planetengroßen Trabanten gebracht. Sobek gab dieser Sonne den Namen Nachtlicht, denn hier draußen im Halo war die Sternendichte äußerst gering. Die Lichter am
Nachthimmel eines Planeten waren rare Objekte. Die wenigen etwas heller leuchtenden Objekte waren ferne Galaxien. Und eine von ihnen war ihr Ziel. Die Große Sterneninsel Malragh. Die Distanz bis dorthin war selbst für foronische Verhältnisse enorm. Selbst Sobek erfasste am Rand der Großen Leere ein leichter Schauer. Aber er war wild entschlossen, die Fernreise zu dem verwaschenen Lichtfleck, der das Ziel darstellte, zu wagen. Auch wenn sie noch so riskant sein mochte. All das wird anders werden, wenn ich erst einmal die Ur-SESHA wieder unter meiner Kontrolle habe!, glaubte er im Gedenken daran, dass der Originalarche offenbar andere, weitaus bessere Antriebssysteme zur Verfügung standen als ihren Kopien. Der abgekoppelte HAKAR wurde in eine stabile Umlaufbahn um Nachtlicht gebracht. Notfalls besaß dieses Schiff immer noch genug Energie, um auch eigenständig operieren zu können, falls die Lage es erfordern sollte. Danach ging es für den restlichen HAKAR-Verbund weiter in den Leerraum. In Abständen, die so exakt wie möglich bemessen waren, wurden weitere HAKARs abgekoppelt. Zur Fixierung dienten meist einsame Sterne, die durch den Leerraum vagabundierten, auch Planeten-Irrläufer ohne Zentralgestirn, braune Zwerge, die irgendeine Galaxienkollision vor Milliarden von Jahren aus dem Verband ihrer ursprünglichen Galaxis herausgerissen und auf eine Reise in die finstere Ewigkeit geschickt hatte, und dergleichen mehr fanden sich darunter … Der so genannte Leerraum war in Wahrheit keineswegs völlig leer. Die Materiedichte war hier nur millionenfach geringer, als dies innerhalb einer Galaxie der Fall war, und man musste manchmal lange nach einem Objekt suchen, das sich dazu eignete einem HAKAR »Gesellschaft« zu leisten. Wann werden sich unsere Wege trennen?, fragte Siroona den Anführer der Foronen, nachdem sie den dritten HAKAR abgespalten hatten. Nach der vierten Station – im Halo der Großen Sterneninsel Malragh,
erklärte Sobek ihr. Siroona verlangte: Tu mir einen Gefallen. Welchen?, fragte Sobek. Lass Nabak bei mir, erwiderte Siroona zur Überraschung des Ersten unter den Hohen Sieben. Sobek konnte sich darauf zunächst keinen Reim machen. Warum?, fragte er. Siroonas Gedanken entsprachen nicht der Wahrheit. Ich werde seine Hilfe und seine besonderen Fähigkeiten benötigen, wenn ich die Aufgabe erfüllen soll, die du mir übertragen hast! Sobek überlegte kurz. Irgendetwas ließ ihn zögern. Dann endlich kam seine Antwort. So sei es!
Die vierte Station wurde am Rande der Großen Sterneninsel Malragh fixiert. Siroona blieb dort zusammen mit der foronischen Besatzung, zu der auch Nabak abgestellt wurde. Dem als Lakaien Sobeks bekannten Foronen gefiel diese Entscheidung zunächst nicht, doch dann fügte er sich. Sobek brach von hier aus auf ins Innere Andromedas, während Siroona sich in die Aufgabe stürzte, die ihr Sobek gestellt hatte. Erste Testläufe wurden mit Transportkapseln durchgeführt. Deren Transfer klappte reibungslos. Innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeit hatten sie den Weg bis zurück zu der inzwischen RUDIMENT-1 genannten Station im Halo Bolcrains zurückgelegt und damit die Große Leere überwunden. Einzelne Foronen wurden bis zum dortigen Halo geschickt und kehrten wenig später wieder unbeschadet zurück. In der folgenden Zeit war Siroona damit beschäftigt, das System zu optimieren und die verwendeten Transportsysteme bestmöglich einander anzupassen, sodass auch die mitunter auftretenden Interferenzen vermieden wurden. Ich muss zugeben, dass es ein Plan von einzigartiger, kühner Größe war, Sobek!, dachte sie. Vom Anführer der Foronen hörte sie vorerst nichts mehr. Er war
im dichten Sternengewimmel Malraghs verschwunden, und Siroona wartete auf seine Rückkehr. Aber was das anging, gab sie sich keinen Illusionen hin. Die Ur-SESHA zurückzuerobern, war nicht so einfach. Sobek würde eine Menge Geduld und Jagdinstinkt brauchen, um sein Ziel schließlich zu erreichen. Nabak unterstützte Siroona bei ihrer Aufgabe. Seine Beiträge zur Stabilisierung des entstehenden Netzes waren sehr wertvoll, seine Kenntnisse bei der Feinabstimmung von Übertragungssystemen erstaunlich. Aber ihr fiel auf, dass mit den Testsprüngen der Transportkapseln auch, im Transmittersignal versteckt, Datenströme verschickt wurden. Siroona isolierte diese Signale, und es gelang ihr schließlich auch in mühevoller Kleinarbeit, sie mit Hilfe der KI zu entschlüsseln. Als ihr das gelungen war, wusste sie, dass ihr Misstrauen Nabak gegenüber von Anfang an gerechtfertigt gewesen war. Siroona suchte Nabak in seinem Privatraum auf. Nabak erhob sich von seinem Lager, auf dem er mentale Regeneration durch meditative Versenkung gesucht hatte. Siroona? Nabak war leicht verwundert, als er bemerkte, dass die Angehörige der Hohen Sieben durch den Türtransmitter gekommen war, ohne sich vorher anzukündigen. Die Präsenz der Foronin war dabei – zumindest nach außen hin – noch neutral. »Ich habe eine Transmission verfolgt, die Daten mit dem Transmittersignal verschickte«, stellte Siroona laut fest. »Und diese Transmission stammt von dir!« »Das lässt sich erklären –«, behauptete Nabak. Der mentale Keulenschlag, den Siroona ihrem Gegenüber versetzte, brachte Nabak zum Schweigen. Nabak hatte den Kräften Siroonas nichts auch nur annähernd Gleichwertiges entgegenzusetzen. »Warum nur, Nabak?«, fragte die Foronin. »Das ist das Einzige, was ich noch nicht verstehe. Wie konnte der Treueste unter denen, die Sobek folgen, so etwas tun und als Spion für seine Feinde arbeiten!« »Das ist nicht wahr!«, verteidigte sich Nabak äußerst kläglich. Er
hob einen Arm und fasste sich an den Kopf, denn Siroonas mentale Kräfte saugten jetzt all das aus seinem Hirn heraus, was er bisher vor ihr zu verbergen versucht hatte. Es war noch immer schwierig. Nabak schien außerordentlich begabt darin zu sein, bestimmte Areale seines Bewusstseins geradezu hermetisch abzugrenzen, während er andere Bereiche mit oft schockierender Offenheit jedem präsentierte, der sie wahrzunehmen wünschte. Siroona erkannte, dass dieses Verhalten offenbar reiner Taktik entsprang. Der Lakai Sobeks schien ganz bewusst bestimmte Bereiche seines Denkens abzuschirmen – und zwar schon seit langem. Aber das, was Siroona fand, reichte schon aus, um zu erkennen, was hier gespielt wurde. »Was wurde dir versprochen, damit du so tief sinken konntest, deinen Herrn zu verraten?«, fragte sie. »Das Überleben«, war Nabaks einfache Antwort. »Das ist alles?« »Du solltest mich nicht töten, Siroona. Ich kann dir auf bisher ungeahnte Art helfen!« »Auf diese Hilfe werde ich in Zukunft verzichten.« »Willst du diese Entscheidung wirklich in Sobeks Abwesenheit treffen? Er weiß, wie unersetzlich ich für ihn bin, und wird sehr erzürnt sein, wenn er erfährt, dass …« Ehrlich gesagt interessieren mich deine Gedanken nicht mehr, versetzte sie telepathisch. Ungefragt erläuterte ihr Nabak dennoch, wie es dazu gekommen war, dass er nun auf der Seite Mecchits stand. Er schlug vor, nun wiederum in einer Kampagne zugunsten Sobeks tätig zu werden. Aber Siroona lehnte ab. Sie tötete ihn kurz und schmerzlos. Und ohne die hochwertige Foronenrüstung zu beschädigen. Seine sterblichen Überreste überließ Siroona dem freien Weltall …
9. Die Bedrohung Du wirst mit mir zufrieden sein, Sobek! Siroona betrat die Transportkapsel. »Alles in Ordnung?«, erklang Fultrans Stimme, ein Forone, der auf einer HAKAR-Basis im Halo der Großen Sterneninsel stationiert war. »Ja«, bestätigte Siroona. Die Transportkapsel würde sie über viele zehntausend Lichtjahre hinweg zur nächsten fixierten HAKAR-Einheit bringen. Sie wollte die erste intergalaktische Straße des neuen Transportnetzes nun, nachdem alle Probeläufe positiv verlaufen waren, auch selbst testen. Die Station im Milchstraßen-Halo war ihr Ziel. Das System wurde aktiviert. Die Transportkapsel, die in einem speziell dafür umfunktionierten Großraum der ehemaligen HAKAR-Einheit stand, entmaterialisierte. In dem Moment, in dem die Materie der Kapsel und ihres Inhaltes in sein transmittierbares Strukturmuster umgewandelt worden war, ging die Weiterreise in Nullzeit vonstatten. Die Kapsel materialisierte in der nächsten Station, irgendwo im Leerraum. Dort wurde dieselbe Prozedur vorgenommen, um wiederum die darauf folgende Relaisstation zu erreichen. Insgesamt dauerte diese erste Reise bis in den Halo der Milchstrasse etwas mehr als eine Stunde. Aber wenn erst einmal alle damit verbundenen Handlungsschritte mit einer gewissen Routine durchgeführt wurden und sich die Bedienungsmannschaften der einzelnen Stationen entsprechend eingearbeitet hatten, würde eine Überbrückung der großen Leere zwischen den Galaxien binnen weniger Minuten möglich sein. Ein Forone namens Dabei begrüßte sie bei ihrer Ankunft. Er war als Kommandant der Station im Milchstraßen-Halo zurückgelassen worden. Der Reihe nach nahm Siroona vom Relais aus Kontakt zu den
wichtigsten foronischen HAKAR-Kommandanten auf. Darunter waren natürlich alle erreichbaren Angehörigen der Hohen Sieben. Die HAKAR-Schiffe der Foronen operierten in verschiedenen Sektoren der Galaxis. Das nächste Projekt würde für Siroona darin bestehen, die intergalaktische Verbindung bis nach Samragh auszubauen – so wie es dem Plan entsprach, den sie selbst unterstützte und gegen den sich Sobek so lange gewehrt hatte. Manchmal musste man auch den Höchsten der Hohen in seinem eigenen Interesse manipulieren. Ich hoffe, du bist auf deiner Suche nach der Ur-SESHA ebenso erfolgreich, wie ich es bislang auf meiner Mission war. Sosehr es ihr auf der einen Seite auch gefiel, in eigener Verantwortung zu handeln, sosehr wünschte sie sich doch auf der anderen Seite auch, dass Sobek zurückkehrte. Er ist der Einzige, der die nötige Durchsetzungskraft besitzt, um die hochtrabenden Pläne unseres Volkes auch in die Tat umzusetzen, war ihr klar. Es reicht nicht, geniale Ideen zu haben oder mit akribischer Sorgfalt an der Verwirklichung eines Einfalls zu arbeiten. Es bedarf der kompromisslosen Durchsetzungskraft und Rücksichtslosigkeit eines Sobek, um die Foronen wieder zu dem zu machen, was sie einst waren … Optimismus erfüllte Siroona in einem Maß wie schon lange nicht mehr. »Die Verbindung über die Große Leere hinweg klappt hervorragend«, bestätigte Dabei. »Und die Kommunikation mit den in der Milchstraße operierenden HAKAR-Einheiten funktionierte ebenfalls reibungslos. Der ehrgeizige Plan nimmt Gestalt an, Siroona!« »Wie wahr!«, stieß die Foronin sowohl verbal als auch in einem hoch konzentrierten, mentalenergetisch angereicherten Gedankenstrom hervor.
Eine Funktransmission traf ein. In der Holosäule der Stationszentrale formte sich die Gestalt von Raborek, dem Nachfolger von Zecchitos in der Funktion des Kommandanten von HAKAR-72. »Abgesehen von ein paar eigenartigen elektromagnetischen Phä-
nomenen, mit denen das Ortungssystem unserer Einheit nichts anzufangen wusste, haben wir keinerlei besonderen Vorkommnisse zu vermelden.« »Das freut mich zu hören«, erwiderte Siroona. Wahrscheinlich hatte es auch zur Beruhigung der Situation beigetragen, dass sich Sobek und Mecchit derzeit weit voneinander entfernt aufhielten, sodass sie ihren Konkurrenzkampf nicht fortsetzen konnten. Seit Nabaks Ende war auch die letzte Option, die Mecchit besessen hatte, um diesen Zweikampf aus der Distanz weiterführen zu können, erloschen. Insgeheim beglückwünschte sich Siroona dazu, dies mit ihrer sehr persönlichen und aus dem Verborgenen heraus vorgetragenen Strategie letztlich bewirkt zu haben. Mochte Sobek voranpreschen, so musste es doch auch jemanden geben, der die Geschicke im Hintergrund wob. Kommandant Raborek wollte gerade mit einem etwas ausführlicheren Lagebericht beginnen, da brach die Verbindung plötzlich ab. Siroona wies die KI an, nach dem Fehler zu suchen. Ohne Erfolg. Der Kommunikationspartner sendet nicht mehr, lautete die schlichte und ausgesprochen nüchterne Analyse des Rechners. Gleichzeitig war die Position von HAKAR-72 nicht mehr erfassbar. Siroona nahm sofort Kontakt zu Orac auf und berichtete ihm, dass HAKAR-72 mitten im Kommunikationsvorgang verschwunden sei. »Wir bekommen kein Peilsignal mehr, und der Datenstrom riss plötzlich ab.« »Übersende mir die letzten Positionsdaten von Raboreks Schiff!«, forderte Orac. »Sie sind bereits im Datenstrom dieser Transmission enthalten. Betrachtet es als offiziellen Befehl, nach dem verschwundenen HAKAR zu suchen.« Siroona – in der Hierarchie der Foronen nach Sobek die anerkannte Nummer zwei, war durchaus berechtigt, solche Befehle zu erteilen. Das wurde auch von Orac akzeptiert. »Wir haben einige seltsame Daten aufgeschnappt«, berichtete Orac. »Ich weiß nicht, ob sie mit dem Verschwinden des HAKAR zu
tun haben, der zeitliche Zusammenhang ist jedoch durchaus augenfällig.« »Raborek sprach von elektromagnetischen Erscheinungen, die ihm und seiner Mannschaft Rätsel aufgeben würden.« »Ja, aber diese elektromagnetischen Emissionen – darunter harte Gamma-Strahlung – scheint nur ein Begleitphänomen des eigentlichen Ereignisses zu sein.« »Sprich offen, Orac. Was geht hier vor?« »Es sind Explosionen, Siroona. Explosionen von unglaublicher Heftigkeit. Und der HAKAR-72 befand sich in einer Zone, in der wir solche Vorgänge angemessen haben.« »Sucht trotzdem nach dem Schiff.« »Natürlich.« Obwohl Gedankenübertragung über diese große Entfernung unmöglich war, glaubte Siroona so etwas wie eine zweite, stumme Botschaft zu empfangen, die ihr sagte, dass die Chancen, das Schiff noch in einem unversehrten Zustand zu finden, gegen null gingen. Der totale Kommunikationsausfall musste eine dramatische Ursache haben. »Sobald es irgendwelche Neuigkeiten gibt, möchte ich darüber informiert werden«, forderte sie. »Das werden wir tun«, versicherte Orac. Einen Moment lang dachte Siroona darüber nach, ob es einem der beiden Hauptkonkurrenten an der Spitze des Foronenvolkes – Sobek oder Mecchit – vielleicht doch gelungen war, einen Weg zu finden, um entgegen aller Widrigkeiten ihren Zweikampf über die unglaubliche Distanz der Großen Leere zwischen den Galaxien hinweg fortzusetzen. Aber dieser Gedanke erschien Siroona schon im nächsten Augenblick mehr als absurd. Wie hätte das gehen sollen? Und außerdem war sie überzeugt, in der Lage zu sein, zu bemerken, was vor sich ging. Wirklich? Vielleicht hast du sowohl Sobek als auch Mecchit einfach unterschätzt! Doch die eintreffenden Ortungsergebnisse sorgten dafür, dass Si-
roona diesen Gedankengang nicht weiter verfolgte. Der Forone, der sich an Bord der Station besonders gut mit der Optimierung des Ortungssystems auskannte, war Faradran. Er stand an seiner Konsole, nahm geistigen Kontakt mit der KI auf und konfigurierte die Ortung auf eine Weise, die die Resultate auf erstaunliche Weise verbesserte. »Wir können bereits von hier aus dem Halo eine Vielzahl von ungewöhnlichen Explosionen in der gesamten Galaxis anmessen«, erklärte Faradran. »Was ist das für ein Flächenbrand, der da in Gang gekommen ist?«, fragte Siroona. »Jedenfalls scheint er sich unaufhaltsam voranzufressen. Es scheint nichts zu geben, was sich ihm in den Weg stellen könnte. Die Zahl der Explosionen, die unser System anzeigt, steigt exponentiell.« Was geht da vor?, fragte sich Siroona. Etwas, von dessen wahrer Tragweite wir im Moment vielleicht noch nicht gar nichts ahnen?
Auf einer dreidimensionalen Projektion der Milchstraßen-Galaxis war jener Bereich markiert, der von den Explosionen betroffen war. Es handelte sich um einen ganzen Spiralarm, zu dem das gegenwärtige Operationsgebiet der Foronen ebenso gehörte wie das in Expansion begriffene Reich der Erinjij, denen John Cloud entstammte. Einem Flächenbrand gleich setzten sich die Explosionen von System zu System fort. Die Gamma-Strahlen und Radio-Emissionen waren jetzt nicht mehr zu übersehen. Eine Nachricht von Ogminos traf ein. Danach gab es zu mindestens zehn HAKAR-Einheiten derzeit keinen Kontakt, und die Chance, diese Schiffe wiederzufinden, wurde als äußerst gering eingestuft. »Ogminos, was geschieht in Bolcrain?«, verlangte Siroona zu wissen. »Wenn ich das nur sagen könnte. Irgendetwas bedroht hier die Existenz allen Lebens, so viel hat sich für mich bereits herauskristallisiert. Ist es vielleicht möglich, mit Sobek Kontakt aufzunehmen?« »Das habe ich schon versucht«, versicherte Siroona.
»Und Mecchit?« »Derzeit besteht kein Kontakt nach Samragh.« »So ist das Netz, das wir aufbauen wollten, bereits zerrissen, noch ehe es zur Gänze fertig gestellt war«, lautete Ogminos' nüchterne Feststellung.
Die Zeit verstrich, und die Meldungen der einzelnen HAKARs aus Bolcrain wurden immer alarmierender. Die Explosionen breiteten sich aus, und Schiffe, die Vorstöße in die betroffenen Regionen unternahmen, kehrten nicht mehr zurück. Jeder Versuch, eine Verbindung zu ihnen herzustellen, erwies sich als erfolglos. Erneut unternahm Siroona auch Kontaktversuche zu Sobek und Mecchit. Doch beides scheiterte. Siroona stand in der Zentrale der im Halo der Milchstrasse befindlichen RUDIMENT-Station, betrachtete die holographische Darstellung Bolcrains, auf der das von den rätselhaften Explosionen betroffene Gebiet markiert war, und konnte so mitverfolgen, wie sich die betroffene Zone immer weiter ausdehnte. Gleichzeitig stieg die Zahl jener HAKARs, zu denen kein Kontakt mehr bestand. Siroona entschloss sich schließlich zu einem verzweifelten Befehl. »An sämtliche HAKARs, die diese Botschaft empfangen!«, funkte sie mit maximaler Sendestärke in die Galaxis. »Ich, Siroona, Mitglied der Hohen Sieben, befehle hiermit den Rückzug aller Einheiten aus Bolcrain. Sammelpunkt ist die der Großen Sterneninsel Samragh zugewandte Station im Halo. Wir nennen sie RUDIMENT-1. Die genauen Positionsdaten sind im Datenstrom dieser Transmission enthalten …« In der Folgezeit trafen die ersten HAKARs bei der Station ein. Sie berichteten davon, dass in Bolcrain etwas vollkommen Unerklärliches vor sich ging. Einheiten, die sich den Explosionsherden genähert hatten, waren nicht mehr aufgetaucht, und jeder Kontaktversuch zu ihnen fehlgeschlagen. Siroona war sich der Tatsache bewusst, dass ihr Befehl für den
Großteil der SESHA-Kopien zu spät gekommen war. Nur ein kläglicher Rest von ungefähr zwei Dutzend HAKARs sammelte sich um die RUDIMENT-Station, darunter auch die Schiffe von Orac und Ogminos. Epoonas Einheit blieb hingegen ebenso verschollen wie zahllose andere Schiffe. Orac wechselte zur Station. Ogminos traf wenig später ein. »Ich suche noch immer nach einer Erklärung für das, was in dieser Galaxis geschehen ist!«, sagte Siroona und setzte in Gedanken hinzu. Aber ich fürchte, ihr wisst nicht mehr als ich … Das ist leider wahr!, lautete Oracs Antwort. Dennoch – wir müssen die Lage besprechen und uns auf das vorbereiten, was uns vielleicht noch erwartet … »Hegst du einen Verdacht?«, fragte Siroona. Ich beobachte nur – so wie wir alle –, was geschieht. Eine unheimliche Macht greift nach diesem Teil des Universums. Eine Macht, der auch wir nicht das Geringste entgegenzusetzen haben. Ogminos erklärte: »Noch wissen wir nicht einmal, ob es sich um das Phänomen einer natürlichen Katastrophe handelt, oder ob es eine Entwicklung ist, die einen künstlich geschaffenen Ursprung hat …« Siroona stand nicht der Sinn danach, sich in Spekulationen zu ergehen. Wahrscheinlich kann man jetzt nur noch das Schlimmste verhindern und dafür sorgen, dass wenigstens ein kleiner Teil unseres Volkes gerettet wird! »Das macht auf mich schon beinahe den Eindruck von Resignation«, meinte Ogminos. »Warum sitzen wir hier tatenlos, anstatt in die Galaxis zurückzukehren und noch so viele der Unseren wie möglich zu retten?« »Weil es keinen Sinn hat«, lautete Siroonas endgültig klingende Antwort. »Wir würden ein unnötiges Risiko eingehen und am Ende gar die Verantwortung dafür tragen, dass unser Volk zur Gänze vom Antlitz des Universums verschwindet.« Siroona trug diesen Standpunkt mit so großer Überzeugungskraft vor, dass keiner der anderen Hohen ihr zu widersprechen wagte. Des Weiteren gab sie den Befehl, dass sich jene HAKARs, die sich
retten konnten, gestaffelt um die RUDIMENT-Station zu formieren hatten. »Du rechnest damit, dass wir es mit einem wie auch immer gearteten Feind zu tun haben?«, fragte Ogminos. Ich rechne mit nichts Speziellem, lautete Siroonas gereizte Antwort. Aber ich möchte auf alles vorbereitet sein …
In der Folgezeit schien sich die Situation in Bolcrain zu beruhigen. Tage und Wochen – gemessen an den astronomischen Daten ihrer foronischen Ur-Heimat – vergingen. Faradran versuchte ständig, die Ortungssysteme der Station zu optimieren. Allerdings registrierte er immer weniger Explosionen, bis sie schließlich zur Gänze zum Erliegen kamen. Allerdings schien in gleichem Maße die Ortung immer größeren Einschränkungen unterworfen zu sein. Hast du eine Theorie, woran das liegt?, fragte Siroona. Faradran verneinte. Ich weiß nur, dass es den für die Ortung zuständigen Offizieren auf den HAKARs ähnlich ergeht, berichtete er. Was in dieser Galaxie genau vor sich geht, ist mir immer noch ein Rätsel. Gründe für Explosionen gibt es viele. Aber ein derartiger Ortungsschleier, der sich immer dichter über die Galaxis zu legen scheint … Ich habe nicht einmal den Ansatz einer Theorie, die ein solches Phänomen erklären könnte. Siroona konnte sich durch eine Direktverbindung zur KI der RUDIMENT-Station davon überzeugen, dass Faradran keineswegs übertrieb. In weiten Gebieten waren inzwischen gar keine AbtasterErgebnisse mehr zu erzielen. Es war unmöglich geworden, irgendetwas zu orten, während aus anderen Regionen Bolcrains noch ein mehr oder minder schwacher Strom an Daten floss. Schwache Rinnsaale zumeist, die, wenn die Entwicklung anhielt, vermutlich ebenfalls bald versiegt sein würden. Wieder und wieder versuchte Siroona, in Verbindung mit Mecchit und Sobek zu treten. Was auch immer in der Vergangenheit zwischen beiden gestanden hatte – jetzt ging es um eine Bedrohung, die die Gesamtexistenz der Foronen bedrohte, und da gerieten persönli-
che Zerwürfnisse und das Gerangel von Konkurrenten in den Hintergrund … Warum antworten sie nicht?, fragte sich Siroona mit wachsender Verzweiflung. Sobek! Was ist los? Mecchit? »Erhabene Siroona!«, meldete sich plötzlich Faradran zu Wort und riss sie damit aus ihren Gedanken. »Was gibt es, Faradran?« Sie merkte dem Ortungsspezialisten an, dass etwas wirklich Außergewöhnliches geschehen sein musste. Etwas, das ihn die persönliche Abschirmung seiner Gedanken für ein paar Augenblicke vollkommen hatte vergessen lassen. Siroona spürte seine wachsende Angst, die aufkeimende Panik und die Verzweiflung, die Faradran jetzt offenbar in nie gekannter Weise ergriffen hatten. Faradran!, wies sie ihn mit einem mentalen Impuls zurecht. Einem Impuls, der sich zumindest vorerst stabilisierend auf seine zutiefst erschütterte Seelenverfassung auswirkte. »Da ist etwas … Ich kann es mit der Ortung erfassen und sein Ausbreitungsgebiet bestimmen. Aber ich kann unmöglich sagen, um was es sich handelt …«, brachte Faradran heraus. »Nur eines ist sicher: Es wird uns in Kürze erreichen!« Siroona stellte umgehend einen Direktkontakt zur KI her, um sich selbst ein Bild von dem Geschilderten zu machen. Ihre Sinne verschmolzen mit den Sensoren der Station. Aber was sie wahrnahm, schockierte auch sie. Ihre Gedanken rasten und die nackte Furcht griff nach ihr. Nein!
Orac, Mitglied der foronischen Führungsriege, betrat die Zentrale seines HAKAR-33 durch einen der Türtransmitter. Nur selten war es ihm in letzter Zeit vergönnt gewesen, zur Ruhe zu kommen, zu meditieren oder gar zu schlafen. Er fühlte sich geistig leer wie lange nicht mehr. Seine Vitalität befand sich auf einem absoluten Tiefpunkt. Ebenso sein Optimismus, speziell die Zukunft des Septemvirats und der noch existierenden Foronen betreffend.
Schon Monts Tod hatte die Schar der Sieben dezimiert, so dass es immer weniger Sinn machte, von den Hohen Sieben zu sprechen, wie die Foronen es traditionellerweise taten. Mecchit war in Samragh verschollen. Ja, Orac wagte es, diesen Gedanken tatsächlich auch in Gegenwart anderer ohne Abschirmung von sich zu geben. Verschollen war durchaus der richtige Begriff. Es war wahrscheinlich, dass Mecchits Mission längst gescheitert war. Schließlich hatte er bei seinem Aufbruch davon ausgehen können, über die Transportkapsel-Stationen jederzeit Unterstützung zu erhalten. Aber diese Verbindung war gekappt worden. Man kann nur hoffen, dass Mecchit nicht auf die Idee gekommen ist, nach Bolcrain zurückzukehren. Das wäre vermutlich sein sicheres Ende gewesen – so wie bei vielen von uns. Welch kläglicher Rest doch nur am Leben geblieben ist … Ein ohnmächtiger Zorn erfüllte Orac, obgleich er wusste, dass dieser Zorn nicht den geringsten Sinn hatte, denn er zürnte vielleicht etwas ganz und gar Kaltem und Teilnahmslosem. Dem Universum selbst und den Umständen, die dazu geführt hatten, dass etwas Schreckliches Einzug in diese Region des Kosmos gehalten hatte, eine Naturkatastrophe, die den meisten Foronen und den Bolcrain-Völkern zum Verhängnis geworden war. Zu den im Sternendschungel Bolcrains Verschollenen gehörten auch zwei weitere Mitglieder der Hohen Sieben. Sarac und Epoona. Wahrscheinlich werden wir von ihnen ebenso wenig etwas hören wie von all den anderen … Und Sobek? Wo ist er jetzt, unser Anführer? Wo ist er in der Stunde der Not? Er jagt seinem eigenen Traum nach, während die Foronen untergehen … Die Ortung meldete das Auftauchen von einem unbekannten, bisher nicht zu analysierenden Etwas. Ein Kraftfeld? Oder eine Art Strahlung? Das Ortungssystem erkannte nichts dergleichen und fand auch keinerlei Übereinstimmungen zu den gespeicherten Vergleichsmustern. Aber was mochte es dann sein, das sich mit so rasender Geschwindigkeit und scheinbar unaufhaltsam ausbreitete.
Es erreicht den HAKAR-33!, erkannte Orac. Die Schiffe der Überlebenden waren gestaffelt um die Station im Halo positioniert worden, und Oracs HAKAR war eines der am weitesten vorgezogenen Schiffe. HAKAR-21 meldete ebenfalls, von der eigenartigen Essenz erfasst worden zu sein. Danach brach der Kontakt ab. Eine Explosion wurde angemessen, und Orac ahnte, dass auch für sein eigenes Schiff das Ende gekommen war. Kapseln benutzen und das Schiff verlassen!, lautete der letzte Befehl des Hohen. Aber er gelangte nicht mehr zur Ausführung.
Die nicht identifizierbare Essenz erfasst die Station!, meldete die KI. Siroona begab sich über den Türtransmitter der Zentrale direkt in den Kapselraum und dort in eines der Transportsysteme. Jene Schiffe, die von der eigenartigen Essenz erfasst worden waren, existierten jetzt nicht mehr. Aber Siroona wollte überleben. Sie startete ihre Rettungskapsel über den telepathischen Zugang zur Stations-KI. Das System wurde aktiviert. Gegenwärtig versuchen mehr als 365 Foronen, die Kapseln zu erreichen!, stellte der Rechner nüchtern fest. Soll die Startsequenz deiner Einheit verzögert werden? Siroonas Antwort ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Nein! Das Schicksal der Stationsbesatzung war ihr schlicht und ergreifend egal. Noch während die geheimnisvolle Essenz deren Natur die foronischen Sensoren einfach nicht zu erfassen vermochten, die ersten Sektoren der RUDIMENT-Station durchflutete, entmaterialisierte die Transportkapsel, um irgendwo in der Großen Leere in Nullzeit wieder stofflich zu werden.
Transfer geglückt, meldete sich die KI.
Siroona erkannte, dass es sich um die KI einer anderen Station handelte, die sich auch sogleich identifizierte. Willkommen auf RUDIMENT-2! Erleichterung erfasste Siroona. Sie war mit knapper Not der Katastrophe entronnen, die wahrscheinlich inzwischen sämtlichen Foronen, die in Bolcrain zurückgeblieben waren, das Leben gekostet hatte. Aber ich existiere noch! Siroona verließ die Kapsel und ließ sich über eine Transmittertür in die Zentrale der Station versetzen. »Kommandant Gesrades begrüßt die erhabene Siroona!«, empfing sie der hiesige Kommandant, der Siroona sofort erkannte. Sie begegnete ihm mit einer freundlichen, aber auch besorgten Gedankenflut, um ihn umgehend zur Hilfe zu animieren. »Was ist mit RUDIMENT-1 geschehen?«, fragte er. Vernichtet. »Das bedeutet …« Es gibt keine Foronen mehr in Bolcrain, von wo ich gerade noch flüchten konnte. »Wir konnten die Bedrohung, die sich dort zusammenbraute, aus der Ferne orten. Aber die Ergebnisse ergaben keinen Sinn!« Uns ist es nicht besser ergangen. Ich weiß nicht, was dort geschehen ist. Es war ein unfassbares Etwas, eine unidentifizierte Essenz, die nach unseren Raumschiffen und schließlich auch nach RUDIMENT-1 griff. »Glaubst du, sie könnte auch RUDIMENT-2 und die anderen Stationen verschlingen?« Siroona war sich nicht sicher. Jedenfalls werden wir alles tun, um das zu verhindern. »Natürlich.« Versucht, mit Sobek Kontakt aufzunehmen. Ich habe mich vergeblich bemüht. »Ja, Herrin.« Versucht es immer wieder. Seine Rückkehr ist unsere letzte Hoffnung.
Siroona blickte in die Holosäule. RUDIMENT-2 kreiste um einen einsamen Streuner – einen Riesenplaneten, der als eine Art intergalaktisches Geschoss seinen Weg durch die Große Leere nahm. Was diesen Himmelskörper auf seine Bahn gebracht hatte, war nicht mehr festzustellen. Auf jeden Fall lag dieses Ereignis Milliarden Jahre zurück. Eigentlich hatte sie vor, sich etwas Ruhe zu gönnen. Ein wenig mentale Erholung würde ihr gut tun und ihr helfen, ihre Interessen durchzusetzen. Das war auch vonnöten angesichts der ungeheuerlichen Bedrohung, mit der sie es zu tun hatten. Doch Siroona bekam nicht die Möglichkeit, sich auszuruhen. Gerade als sie die Zentrale von RUDIMENT-2 über den Türtransmitter verlassen wollte, bemerkte sie das Aufkommen geradezu hektischer Aktivität unter den anwesenden Foronen. Was ist los?, verlangte sie von der KI zu wissen. Es wurde ein außergewöhnliches Systemereignis mit noch nicht abschätzbaren Konsequenzen registriert!, lautete die lapidare Antwort. Offenbar hatte auch die KI noch nicht wirklich erfasst, was passiert war. »Unerklärliche Aktivität im Bereich der Transmitter und der Transportkapseln!«, meldete einer der Foronen. Ursache!, verlangte Kommandant Gesrades zu wissen. Aber er bekam keine sinnvolle Antwort darauf. Weder vom Bordrechner noch von den anwesenden Foronen. Chaos brach aus. Die Kommunikation nahm chaotische Züge an. Dann ging ein heftiges Zittern durch die gesamte Station. Nach wenigen Sekunden war es vorbei. Statusbericht!, verlangte Siroona. Die Auskünfte der KI waren ernüchternd. Es ist zu einer Rückkopplung unbekannter Ursache über das aufgebaute Netzwerk der RUDIMENT-Stationen gekommen. »Was bedeutet das?«, fragte Siroona. »Ist eine Transmission der Transportkapseln noch möglich?« Negativ.
Diese Antwort war für Siroona wie ein Keulenschlag. Sie veranlasste einen der Foronen der Stationszentrale von RUDIMENT-2, von seiner Konsole wegzuspringen, wollte sich selbst ein Bild machen. Sie nahm eine Reihe von Schaltungen vor und erschrak, als ihr auf den Anzeigen die volle Wahrheit präsentiert wurde. Die Verbindung, das Netzwerk, das eben erst mit großer Mühe aufgebaut wurde, existiert … nicht mehr!, stellte sie fest. Die KI konnte ihr nur zusammen. Und noch eins draufsetzen. Der Schaden ist irreparabel.
Siroona verließ die Zentrale ohne irgendeine mentale oder verbale Botschaft an einen der anwesenden Foronen. Mag sie ihr Schicksal ereilen!, dachte sie. Sie aber wollte nicht als Gefangene auf einer Station bleiben, die zwar einmal ein Raumschiff gewesen, aber längst nicht mehr in der Lage war, auch nur eine einzige Astronomische Einheit zurückzulegen. Zeiten vollkommener Einsamkeit und Isolation standen den Foronen von RUDIMENT-2 bevor. Nach und nach würden sie zugrunde gehen, wenn erst die Energievorräte erschöpft waren. Es gab keine Hoffnung auf Hilfe über das Kapsel-System. Der Einzige, dessen Rückkehr Hoffnung verhieß, war Sobek. Aber auch er konnte die Große Sterneninsel Malragh nicht mehr so einfach verlassen. Davon abgesehen war Sobek wohl auch ohnehin noch für lange Zeit mit der Suche nach der Ur-Arche beschäftigt. Wer weiß, wann und ob er überhaupt zurückkehrt!, ging es Siroona jetzt resignierend durch den Sinn. Die Gedankenstimmen von Kommandant Gesrades und den anderen auf RUDIMENT-2 befindlichen Foronen erreichten sie. Es klang wie ein Chor der Verzweifelten. Siroona! Was sollen wir tun? Sag es uns! Sei unsere Herrin und führe uns von hier fort! Siroona ignorierte die Stimmen.
Sie sah jetzt nur noch eine einzige Möglichkeit, um dem ureigenen Dilemma zu entkommen. Der Stasisschlaf … Eines Tages wird Sobek kommen und mich retten … Ich weiß es!
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Aber als sie die Menschenfrau vor sich sah, erkannte sie sie sofort wieder. Es waren weniger ihre äußeren Attribute, die sie für Siroona unverwechselbar machten, als vielmehr die Art, wie sich die mentale Präsenz der Menschenfrau anfühlte. Scobee! Sie hatte diese Frau nicht erwartet. Aber jetzt war sie froh, überhaupt irgendwann wieder aus der Stasis geholt worden zu sein.
10. In der Gegenwart … Sie hat ausdrücklich erwähnt, dass auch die galaktische Region, in der die Erde liegt, von den Explosionen betroffen war!, rief sich Scobee in Erinnerung. Die GenTec hatte erfahren wollen, was in der Milchstraße in den letzten zwei Jahrhunderten geschehen war. Das, was sie jetzt bereits wusste, ließ sie bis ins tiefste Innere ihrer Seele erschaudern. Nach Siroonas Erzählung war es gut möglich, dass so etwas wie die Menschheit gar nicht mehr existierte. Eine Katastrophe von solch gigantischem Ausmaß, wie die Foronin es geschildert hatte, konnte selbst ein mächtiges Sternenreich wie das der Erinjij restlos auslöschen. Auch die Foronen hatten ja schließlich kein probates Mittel gegen die nicht identifizierbare Essenz gefunden, die sich auf geheimnisvolle Weise in der Galaxis ausgebreitet hatte, ohne dass es dagegen ein Mittel zu geben schien. »Eine interessante Geschichte, die du uns berichtet hast«, äußerte sich nun Tormeister Felvert. Er bewegte sich ein Stück zur Seite. Sein aus Achten bestehender Körper geriet dabei in eine eigentümliche innere Unruhe, die auf Scobee ausgesprochen irritierend wirkte. Allerdings wohl nicht nur auf sie, denn die GenTec hatte das Gefühl, dass auch Siroona diesem Wesen jetzt erstmalig ihre gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Vor dem Hintergrund des noch Fremderen ist das Fremde nicht mehr gar so fremd!, erreichte Scobee ein Gedankenstrom Siroonas. Ein Gedanke, der offenbar nur für sie allein bestimmt war. Zumindest sprach dafür die Tatsache, dass Felvert darauf in keiner Weise reagierte. Bist du einer der Herren dieser Station?, fragte Siroona wenig später Felvert. »Wir sind die Felorer. Unsere Aufgabe ist es, das Wurmloch für Passagen vorzubereiten und es so zu manipulieren, dass ein Transport jederzeit möglich ist!«
Diese Worte des Felorers schienen Siroona aus verständlichen Gründen geradezu zu elektrisieren. Mit einem Mal wirkte sie wesentlich aktiver und entschlossener, auch wenn sie die Erscheinungen des Alters, die sich ihres foronischen Körpers bemächtigt hatten, nun beim allerbesten Willen nicht mehr leugnen konnte. Selbst jemand wie ich erkennt das!, dachte Scobee und bedachte dabei nicht, es mit einer Telepathin zu tun zu haben. Das mag wohl sein, Menschenfrau!, lautete die Erwiderung, die mit einer fast schon melancholischen Präsenz einherging, die so stark war, dass Scobee beinahe davon angerührt worden wäre. Aber sie zwang sich dazu, sich nicht emotional einfangen zu lassen. Zwar erkannte die GenTec die Tragik an, die sich ins Siroonas Leben abgespielt hatte. Andererseits hatte Scobee nicht vergessen, welche Rolle die Foronin seinerzeit an Bord der RUBIKON gespielt hatte. Und schon wandelt sich das Mitleid in Hass!, kommentierte die Foronin Scobees Gedanken. »Wenn jemand die unschmeichelhaften Gedanken eines anderen Individuums nicht zu ertragen vermag, sollte er sich besser aus dessen Bewusstsein heraushalten!«, hielt Scobee ihr vor und sprach dabei im Brustton tiefster Überzeugung. Siroona ging darauf nicht weiter ein. Sie wandte sich an Felvert. »Es gibt also eine Möglichkeit, um von hier zu entkommen.« »Wir empfinden uns hier keineswegs als Gefangene.« »Ihr reist mit Hilfe von Wurmlöchern durch das Universum … Faszinierend! Und offenbar sehr viel effektiver als die Methode, die Sobek sich seinerzeit ausgedacht hatte.« Sie wandte den augenlosen Kopf. Hast du je wieder von ihm gehört?, erkundigte sie sich bei Scobee. »Nein«, antwortete die GenTec. Dabei zogen sich die Tattoos über ihren Augen leicht zusammen, sodass sie eine Schlangenlinie bildeten. Ich spüre eine sehr starke und sehr fremde Präsenz … »Wir sollten diese Kreatur Porlac vorstellen«, meinte Felvert. Die Herablassung, mit der er das in Bezug auf Siroona sagte, überraschte Scobee. Ansonsten teilte sie jedoch seine Meinung.
Scobee, Felvert und Siroona verließen den Raum, in dem die Foronin so lange im Stase-Block gelegen hatte, und suchten jenen Ort auf, von dem aus die Felorer das Wurmloch mit Hilfe einer Technik kontrollierten, die ebenso hoch entwickelt wie fremdartig war. Interessiert sah sich Siroona die Scharen von Felorern an, die an ihren Systemen arbeiteten, Sensorfelder auf Konsolen betätigten oder angeregt über mathematische Fragen diskutierten, für die sie eine besondere Leidenschaft zu hegen schienen. »Wann ist dein Volk hierher gekommen und hat RUDIMENT-2 … verändert?«, wandte sich Siroona abermals an Felvert. Dieser antwortete ausweichend. »Das ist lange her«, sagte er. Scobee spürte, wie Siroonas Präsenz intensiver wurde. Fast schon erdrückend, obwohl die GenTec gleichzeitig auch spürte, dass nicht sie, sondern Felvert der Adressat dieses Drucks war. Doch aus irgendeinem Grund schien der Felorer für telepathische Impulse weitaus weniger empfänglich zu sein, als es Siroona lieb gewesen wäre. Felvert zeigte sich vollkommen unbeeindruckt. Auf diese Weise ließ sich wahrscheinlich kein Quäntchen Wissen aus ihm herausholen. »Es ist lange her, seit wir hierher kamen, Siroona«, erklärte Felvert. »Aber jeder, der sich mit den mathematischen Grundlagen der Zeit sowie den ihr übergeordneten Dimensionen befasst, der erkennt sehr schnell, wie relativ sie ist. Eine variable Größe, so würde ich das beschreiben.« »Mir ist nicht nach einem allgemein-philosophischen Gespräch«, erklärte Siroona – diesmal sicherheitshalber verbal, um sicherzugehen, dass ihre Botschaft auch wirklich beim Adressaten ankam, was bei telepathischen Impulsen offenbar nicht immer sichergestellt werden konnte. Offenbar funktionierte das Denken dieses geheimnisvollen Wesens und seiner Artgenossen nicht auf dieselbe Weise, wie das bei Wesen wie Scobee oder Siroona der Fall war. Trotz der ersten, sehr zaghaften und durch vielerlei Missverständ-
nisse geprägten Begegnung schien Felvert gewillt zu sein, den Dialog fortzusetzen. Zumindest so lange, wie dem Tormeister daraus kein eindeutiger Nachteil, sondern vielleicht sogar Vorteile erwuchsen. »Schade, dass du die Leidenschaft für die Mathematik nicht teilst – denn ihre Abstraktionen sind in meinen Augen die höchste und reinste Form der Philosophie«, bekannte Felvert. »Letztlich geht es immer um dieselbe Sache – die Frage, welche Beziehung man zum Universum hat.« Jetzt werd bitte nicht esoterisch, du Wurm!, konnte die gealterte Siroona einen mit ausgesprochener Bissigkeit unterlegten Gedanken nicht zurückhalten. Glücklicherweise nahm der Felorer diese eindeutige Zurückweisung nicht dramatisch und reagierte recht sachlich und geschäftsmäßig. Später wurde sie Porlac vorgestellt. Der Anorganische empfing sie in einer eigens dafür hergerichteten Kammer, die abseits des Kontrollraums lag. Scobee benutzte den Scanner, den sie immer noch bei sich trug. Sie machte eine interessante Entdeckung, die sie zuerst kaum glauben konnte, als sie auf die Anzeige starrte. Das erste auffällige Merkmal war der hohe Siliziumgehalt in dem Material, das die Kruste auf dem HAKAR bildete und die ehemalige RUDIMENT-Station der Foronen vollkommen eingehüllt hatte. Aber erst jetzt, da Scobee auch Porlacs Jay'nac-Körper scannen konnte und die Ergebnisse unmittelbar nebeneinander sah, fiel es ihr auf. Das Foronenschiff ist vollkommen mit Jay'nac-Substanz umhüllt worden!, wurde ihr klar. Sie fragte sich, ob dieser Stoff noch lebte … Aber vielleicht war das auch gar nicht die richtige Fragestellung. Schließlich war das, was organische Lebensformen darunter verstanden, wohl grundverschieden von dem, was die Existenz der Anorganischen ausmachte. Existenz – das ist tatsächlich ein Begriff, der viel besser auf diese Anorganischen passt als »Leben«, äußerte sich Siroona in einem konzentrierten, an Scobee gerichteten Gedankenstrom. Offenbar hatte sie
die Gedanken der Gen-Tec mitverfolgt, was Scobee eindeutig missfiel. Aber Siroona ignorierte es. »Das ist die Schläferin«, erklärte unterdessen Felvert Porlac und deutete dabei mit einer seiner vergleichsweise kleinen Extremitäten auf Siroona. »Ich weiß«, raunte Porlac. Es blieb für eine ganze Weile seine einzige Äußerung, und Scobee fragte sich, ob er bereits wieder in jenen Zustand geistiger Umnachtung zurückgefallen war, in dem Scobee ihn hier, auf der ehemaligen RUDIMENT-Station, schon einmal erlebt hatte. Er näherte sich Siroona und schien sie einer eingehenden Überprüfung zu unterziehen. Anschließend wandte er sich Scobee zu. »Ich denke, es gibt Wegbegleiter, die einen angenehmeren Charakter haben und ihre Umgebung außerdem nicht so stark mit ihrer mentalen Präsenz malträtieren. Daran solltest du immer denken, Scobee.« »In Gegenwart einer Foronin bleibt einem kaum etwas anderes übrig«, erwiderte Scobee. Ihren Sinn für Humor teilte jedoch keiner der Anwesenden. Insbesondere nicht Porlac. Also beendete Scobee schließlich das ihrer – vermutlich subjektiven – Empfindung nach bedrückende Schweigen und wandte sich an Porlac. »Siroona hat uns einiges von dem berichtet, was in der Milchstraße geschah. Es gab dort vor zweihundert Jahren eine Katastrophe.« »Ja, das entspricht der Wahrheit«, bestätigte Porlac. »Wobei sich das Wort Katastrophe wohl nur auf organische Lebensformen beziehen kann.« »Ich möchte mehr darüber wissen!«, verlangte Scobee unmissverständlich. Die Ungewissheit, die sie die ganze Zeit über geplagt hatte, war mittlerweile ins Unerträgliche gestiegen. Sie musste jetzt einfach Klarheit haben. Siroona unterstützte Scobee dabei. Auch sie wollte die Rätsel dieser Katastrophe endlich gelöst sehen.
»Weißt du etwas über die Ursache der zahllosen Explosionen, die damals die Galaxis verwüsteten und den Großteil meines Volkes vernichteten?«, fragte sie. »Die Katastrophe ereignete sich vor gut zweihundert eurer Jahre«, erklärte Porlac. »Überall und auf allen bewohnten Planeten explodierten sämtliche energieerzeugenden Geräte. Das galt für Fusionsreaktoren ebenso wie für simpelste elektrische Aggregate. Natürlich waren auch die Antriebssysteme von Raumschiffen betroffen.« »Was ist die Ursache gewesen?«, drängte Siroona. »Die Explosionen habe ich mit Hilfe der Ortung von RUDIMENT-1 mitbekommen, aber es gab keine erkennbare Ursache!« Porlac ließ die Frage der Foronin unbeantwortet und fuhr fort: »Die Milchstraße fiel in die Primitivität zurück. Sämtliche auf Elektrizität beruhende Technologie funktioniert dort nicht mehr. Einzig und allein die Jay'nac können noch innerhalb des Krisengebiets operieren.« »Wieso?«, hakte Siroona sofort nach. »Weil wir aus uns selbst heraus in der Lage sind, interstellare Distanzen zu überbrücken.« »Was ist mit Sobek?«, fragte Siroona. »Haben die Jay'nac von ihm gehört? Ist er vielleicht tot?« Auch auf diese Frage erfolgte keine Antwort. Stattdessen strömten jetzt Dutzende von Jay'nac in den Raum. Sie waren eingekreist. »Kommt mit mir – an Bord meines Schiffes«, verlangte der Anorganische. Es klang nicht nach einer Aufforderung, die man missachten durfte. »Gilt diese Anweisung auch für mich?«, wunderte sich Felvert. »Ja«, war die Antwort. »Aber ich habe hier eine Aufgabe zu erfüllen.« »Wir brauchen dich. Vielleicht.« »Auf dem Schiff?« »Ja.« Weder Porlac noch Felvert waren besonders kommunikationsfreudig, wie es schien.
Die Jay'nac nahmen Scobee, Siroona und Felvert in ihre Mitte. Ein Vorgang, der Scobee durchaus an eine Gefangennahme erinnerte. Gemeinsam gelangten sie schließlich über einen Korridor zur Schleuse von Porlacs Schiff. Die Gänge im Innern des Jay'nac-Schiffes waren kahl, die Räume schmucklos. Und manchmal war es gar nicht so einfach, die vielgestaltigen Besatzungsmitglieder von der Einrichtung zu unterscheiden. Porlac führte sie an einen Ort, wo eine Holosäule das Schwarze Loch und die darum kreisende Station zeigte. Dann startete sein Sternenschiff. Es löste sich von der Station und beschleunigte. In einer anderen Holosäule konnte Scobee das angedockte Gloriden-Fahrzeug sehen, dessen Crew noch immer versteinert war. »Hast du dir inzwischen überlegt, was mit der Crew des Raumschiffs geschieht, mit dem ich hierher gelangte?«, fragte Scobee. »Sie bleiben, wo sie sind«, erklärte Porlac mit stoischer Ruhe. »Und wohin werden wir gebracht?«, erkundigte sich Scobee als Nächstes. Sie hatte kein gutes Gefühl, als sie auf die Antwort Porlacs warten musste. Das Raumschiff steuerte auf das Wurmloch zu und würde in wenigen Augenblicken darin wie aufgesogen verschwinden. »Ihr wolltet doch in die Milchstraße«, sagte Porlac. Scobee zögerte, darauf zu antworten. Der Anorganische nahm es zum Anlass, fortzufahren. »Euer Wunsch soll erfüllt werden. Ihr kommt mit mir dorthin, wo alles im Sterben liegt …« Noch während er sprach, wurde das Schiff von den höherdimensionalen Gewalten erfasst … und verschlungen. ENDE
Glossar Weibliche in-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Ovayran Ein Gloride aus der CHARDHIN-Perle der Milchstraße. Reiste mit seinem Artgenossen Fontarayn an Bord der RUBIKON nach Andromeda. Als feststeht, dass die Andro-Perle aufgegeben werden soll, und die RUBIKON unter John Clouds Führung den Zeitsturz durch die Portalschleuse der Perle vorbereitet, bietet Ovayran Scobee an, diese Exkursion nicht mitzumachen und stattdessen mit ihm zur Milchstraße zurückzukehren, um die dort aktuelle Lage zu sondieren. Scobee willigt ein und verabschiedet sich – vorerst oder für immer? – von ihren Gefährten. Die Perle CHARDHIN So benannt vom Gloriden Fontarayn: Eine golden schimmernde, kugelförmige Station, die hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Super-Black-Holes verankert ist. Ihr Durchmesser beträgt gigantische hundert Kilometer. Fontarayns Volk, die Gloriden, sind quasi das »Wartungspersonal« dieser Perlen – von denen es unzählige in unzähligen Galaxien gibt. Der Clou jedoch ist, dass diese Stationen, deren Erbauer nicht einmal die Gloriden zu kennen scheinen, permanent existieren – vom Anbeginn der Zeiten bis Scobee
Die Treymor
… ans Ende aller Zeiten? Vieles, was diese Hinterlassenschaft eines uralten Volkes betrifft, ist noch ungeklärt. Sicher ist jedoch: Die Milchstraßen-Perle scheint aus dem Netz der übrigen CHARDHINStationen herausgefallen zu sein. Und sie wurde von Unbekannten, die spezielle »Gloriden-Fallen« hinterließen, offenbar gezielt ausgeschlachtet und entvölkert. Ein Volk käferartiger Intelligenzen, die einst eine Gloriden-Expedition überwältigten, welche nach den rätselhaften ERBAUERN suchte, und sich deren Technologie zu Eigen machte. Danach bauten die Treymor sich ein geheimes Reich in Zentrumsnähe der Milchstraße auf, das beständig im Expandieren begriffen ist. Um es vor der Außenwelt zu verbergen, bedienen die Treymor sich der speziellen Fähigkeiten der Saskanen, eines ebenfalls dort ansässigen Volkes, dem Boreguir angehörte. Die weitenteils latent vorhandene Fähigkeit der Saskanen, sich »vergessen« zu machen, wird – lange Zeit ohne deren Wissen – von den Treymor missbraucht, um eine Art Unsichtbarkeitsfeld um ihr Imperium zu legen. Nicht einmal hoch entwickelte Ortungssysteme können diesen Schleier durchdringen. Erst als die RUBIKON mit Hilfe der Gloriden auf ein anderes »Realitätslevel« gehievt wird, fällt der Vorhang, und das Rochenschiff vermag im Reich der Treymor zu operieren.
Vorschau Die hermetische Galaxis von Susan Schwartz Vergangenheit – vor zweihundert Jahren: Mecchit dringt in die Große Magellansche Wolke, von den Foronen Samragh genannt, vor und verschafft sich ein Bild der Lage nach dem Virgh-Niedergang. Gegenwart I: Die RUBIKON geht durch die Portalschleuse der Andromeda-Perle und wagt den Sturz in eine ungewisse Vergangenheit. Gegenwart II: Scobee erreicht die Zentralwelt der Jay'nac und erfährt Details über das Große Sterben, das über die Milchstraße gekommen ist. Mehr und mehr Steine des Puzzles fügen sich zusammen. Und immer unwahrscheinlicher wird es, dass das organische Leben in der Menschengalaxis – die nahezu hermetisch von der übrigen Lokalen Gruppe abgeschottet scheint – noch eine Zukunft hat …