Indiana Jones im Goldmann Verlag
Rob McGregor: Indiana Jones und die Macht aus dem Dunkel (43162) Rob McGregor: Indian...
216 downloads
1132 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Indiana Jones im Goldmann Verlag
Rob McGregor: Indiana Jones und die Macht aus dem Dunkel (43162) Rob McGregor: Indiana Jones und das Vermächtnis des Einhorns (43052) Martin Caidin: Indiana Jones und die Hyänen des Himmels (43163) Rob McGregor: Indiana Jones und der letzte Kreuzzug (9678) Campbell Black/James Kahn: Jäger des verlorenen Schatzes/Indiana Jones und der Tempel des Todes (9353) Wolfgang Hohlbein: Indiana Jones und die Gefiederte Schlange (9722) Wolfgang Hohlbein: Indiana Jones und das Schiff der Götter (9723) Wolf gang Hohlbein: Indiana Jones und das Gold von El Dorado (9725) Wolfgang Hohlbein: Indiana Jones und das Schwert des Dschingis Khan (9726) Wolfgang Hohlbein: Indiana Jones und das verschwundene Volk (41028) Wolfgang Hohlbein: Indiana Jones und das Geheimnis der Osterinseln (41052) Wolfgang Hohlbein: Indiana Jones und das Labyrinth des Horus (41145) Rob McGregor: Indiana Jones und die Herren der toten Stadt (42330) Rob McGregor: Indiana Jones und das Orakel von Delphi (42328) Rob McGregor Indiana Jones und der Tanz der Giganten (42329) Rob McGregor: Indiana Jones und das Geheimnis der Arche Noah (42824)
Campbell Black
Jäger des verlorenen Schaues James Kahn
Indiana Jones und der Tempel des Todes Rob MacGregor
Der Letzte Kreuzzug Drei Romane in einem Band nach den Filmen von George Lucas und Steven Spielberg
GOLDMANNVERLAG Umwelthinwcis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuchessind chlorfrei und umweltschonend.Das Papier enthält Recycling-Anteile. Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmender Verlagsgruppe Bertelsmann Jäger des verlorenen Schatzes TM and Copyright e der Originalausgabe 1981 bei Lucasfilm Ltd. (LFL) This translation published by arrangementwith Ballantine Bookj, A Division of Random House, Inc. Copyright G der deutschsprachigenAusgabe 1981 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Indiana Jones und der Tempeides Todes TM and Copyright O der Originalausgabe 1984 bei Lucasfilm Ltd. (LFL) This translation published by arrangement with Ballantine Books, A Division of Random House, Inc. Copyright C der deutschsprachigenAusgabe 1984 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Indiana Jones und der letzte Kreuzzug TM and Copyright 6 der Originalausgabe 1989 bei Lucasfilm Ltd. (LFL). All rights reserved. This translation published by arrangement with Ballantine Books, A Division of Random House, Inc. Copyright © der deutschsprachigenAusgabe 1989 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung:Design Team München Druck: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer:11592 SN Herstellung: Peter Papenbrok/sc Made in Germany ISBN 3-442-11592-2 . 7 9 10 8 6
Jäger des verlorenen Schatzes Aus dem Amerikanischen von Richard Daniel
Titel der Originalausgabe: Raiders of the Lost Ark Originalverlag:Ballamine Books, New York
Südamerika 1936 Der Urwald war dunkel und grün, geheimnisvoll, bedrohlich. Das wenige an Sonnenlicht, das die hohen Schranken des Geästs und wirr verschlungener Ranken durchdrang, war blaß, von milchiger Farbe. Die lastende, klebrige Luft troff vor Feuchtigkeit. Vögel kreischten gellend, als hätte man sie plötzlich mit riesigen Netzen eingefangen. Glitzernde Insekten huschten am Boden im Laub schnatterten und quiekten Tiere. In seinem unberührten Zustand hätte der Urwald unerforschtes Gebiet sein können, ein Fleck, für den es keine Landkarten gab, den niemand durchstreift hatte - das Ende der Welt. Acht Männer zogen langsam auf einem schmalen Pfad dahin, blieben ab und zu stehen, um eine herabhängende Ranke oder einen Ast abzuhacken, der den Weg versperrte. An der Spitze der Kolonne befand sich ein hochgewachsener Mann, der Lederjacke und Filzhut trug. Hinter ihm kamen zwei Peruaner, die argwöhnisch in den Dschungel starrten, und fünf unruhige Quechua-Indianer; diese plagten sich mit den beiden Maultieren ab, die Rucksäcke und Vorräte schleppten. Der Mann, der die Gruppe führte, hieß Indiana Jones. Er war muskulös auf eine Weise, wie man sie bei einem Athleten vermutet hätte, der über seine beste Zeit noch nicht ganz hinaus war. Seine schmutzigblonden Bartstoppeln waren seit einigen Tagen nicht rasiert worden, dunkle Streifen von Schweiß zeichneten ein Gesicht, das einmal auf gefällige, photogene Art gutaussehend gewesen sein mochte. Nun umgaben jedoch kleine Fältchen die Augen, Furchen zogen sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln, und die fast sanften, regelmäßigen Züge gewannen dadurch etwas Charaktervolles und Markantes. Es war, als hätten seine Erfahrungen mit der Zeit sein Aussehen gezeichnet. Indy Jones legte nicht die Vorsicht an den Tag, mit der sich die beiden Peruaner bewegten - sein sicheres Auftreten erweckte den Eindruck, als seien nicht sie hier zu Hause, sondern er. Trotzdem beeinträchtigte das forsche Auftreten sein Gefühl der Wachsamkeit nicht. Er kannte sich gut genug aus, um von Zeit zu Zeit beinahe unmerklich nach links und rechts zu blicken, stets darauf gefaßt, daß der Urwald eine Drohung, eine Gefahr erkennen ließ. Der plötzliche Ruck eines Astes oder das Knacken von verfaulendem Holz - das waren die Signale, die Gradpunkte auf seinem Gefahrenkompaß. Manchmal blieb er stehen, nahm den Hut ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und überlegte sich, was ihn mehr störte - die schwüle Feuchtigkeit oder die Unruhe der Quechuas. Immer wieder redeten sie in Ausbrüchen ihrer fremden Sprache aufgeregt miteinander, einer Sprache, die Indy an die Laute der Urwaldvögel erinnerte, jener Geschöpfe der undurchdringlichen Vegetation, der wabernden Dünste. Er schaute sich nach den beiden Peruanern um, nach Barranca und Satipo, und erkannte, wie wenig er ihnen in Wahrheit traute - und trotzdem mußte er sich auf sie verlassen, um aus diesem Urwald das zu holen, was er haben wollte. Was für ein Haufen, dachte er. Zwei verschlagene Peruaner, fünf Indianer in Todesangst, und dazu zwei störrische Maultiere. Und ich bin ihr Anführer. Mit einem Pfadfindertrupp wäre ich besser dran gewesen. Indy drehte sich nach Barranca um und fragte, obwohl er die Antwort zu kennen glaubte: »Worüber reden die Indianer?« Barranca wirkte gereizt. »Worüber reden die schon, Senor Jones? Über den Fluch. Immer über den Fluch.« Indy zog die Schultern hoch und richtete den Blick auf die Indianer. Indy verstand ihre abergläubische Furcht, ihren Glauben, und empfand in gewisser Beziehung sogar mit ihnen. Der Fluch - der uralte Fluch des Tempels der Chachapoya-Krieger. Die Quechuas waren damit aufgewachsen, er war fester Bestandteil ihrer Weltsicht. »Sagen Sie ihnen, sie sollen still sein, Barranca«, erklärte er. »Machen Sie ihnen klar, daß ihnen nichts zustoßen wird.« Die Salbe des Wortes. Er kam sich vor wie ein Quacksalber, der von einem unerprobten Serum eine Dosis zu verabreichen hat. Woher, zum Teufel, wollte er wissen, daß ihnen nichts zustoßen würde? Barranca sah Indy kurz an, dann sprach er mit scharfer Stimme auf die Indianer ein, und sie blieben eine Weile stumm - es war ein Schweigen, das unterdrückter Angst entsprang. Wieder konnte Indy ihnen das nachfühlen: Vage Trostesworte waren nicht in der Lage, Jahrhunderte des Aberglaubens ungeschehen zu machen. Er setzte den Hut wieder auf und schritt langsam auf dem Pfad weiter, eingehüllt von den Gerüchen des Urwalds, dem Duft der Pflanzen, die wuchsen, dem Gestank anderer, die verfaulten, uralter Kadaver, wimmelnd von Maden,
verrottenden Holzes, vertrocknenden Laubes. Man kann sich schönere Gegenden vorstellen, wo man sein will, dachte er, es gibt gewiß Besseres. Dann dachte er an Forrestal, stellte sich vor, wie er Vorjahren eben diesen Weg gegangen war, dachte an das Fieber in Forrestal, als er in die Nähe des Tempels gekommen war. Aber Forrestal war, so gut er als Archäologe auch gewesen sein mochte, von seiner Reise hierher nicht zurückgekommen - und was der Tempel an Geheimnissen enthielt, lag noch immer dort verborgen. Armer Forrestal. In dieser gottverlassenen Gegend gestorben zu sein, war ein teuflischer Grabspruch und einer, nach dem Indy keine Sehnsucht hatte. Er setzte seinen Weg durch den Urwald fort, gefolgt von den anderen. An dieser Stelle füllte der Dschungel schluchtartiges Gelände aus, und der Pfad durchzog die Schluchtwand wie eine alte Narbe. Vom Boden stiegen jetzt dünne Nebelschwaden auf, Dämpfe, von denen er wußte, daß sie im Verlauf des Tages dichter und undurchdringlicher werden würden. Der Nebel würde in dieser Schlucht hängen, als hätten die Bäume Spinnennetze geflochten. Ein großer Ara, bunt wie ein frischer Regenbogen, schoß kreischend aus dem Dickicht und flatterte hinauf in die Bäume. Indy erschrak kurz. Dann .schnatterten die Indianer wieder, gestikulierten wild mit den Händen, stießen einander an. Barranca drehte sich um und brachte sie mit einem gezischten Befehl zum Schweigen, aber Indy wußte, daß es immer schwerer werden würde, sie unter irgendeiner Kontrolle zu halten. Er konnte ihre Ängste so deutlich spüren wie die Feuchtigkeit, die auf seiner Haut lastete. Im übrigen bedeuteten ihm die Indianer weniger als sein wachsendes Mißtrauen gegen die beiden Peruaner, zumal gegen Bar-ranca. Das war ein Instinkt von der Art, auf die er sich stets verließ, eine Eingebung, die ihn fast während des ganzen Marsches begleitet hatte. Nur wurde das Gefühl immer stärker. Sie würden ihm für ein paar gesalzene Erdnüsse bereitwillig die Kehle durchschneiden, das wußte er. Es ist nicht mehr weit, sagte er sich vor. Als er dann erkannte, wie nah er dem Tempel war, als ihm klar wurde, wie wenig ihn noch vom Idol der Chachapoya trennte, erlebte er von neuem, wie Adrenalin ihn durchflutete: Er sah sich vor der Erfüllung eines Traumes, eines alten Schwures, den er im stillen geleistet, eines Gelübdes, das er vor sich selbst abgelegt hatte, als er in der Archäologie ein Anfänger gewesen war. Es war, als kehre er fünfzehn Jahre in seine Vergangenheit zurück, als fände er das vertraute Staunen wieder, den besessenen Drang, die dunklen Orte der Geschichte zu verstehen, also das, was ihn bei der Archäologie so angezogen hatte. Ein Traum, dachte er. Ein Traum nimmt Gestalt an, verwandelt sich aus Nebelhaftem zu Greifbarem. Und er konnte die Nähe des Tempels jetzt spüren, bis tief in die Knochen hinein. Er blieb stehen und lauschte wieder dem Geschnatter der Indianer. Sie wissen es auch. Sie wissen, wie nah wir herangekommen sind. Und das erschreckt sie. Er ging weiter. Durch die Bäume sah man in der Schluchtwand einen Riß. Der Pfad war fast unsichtbar geworden, überwuchert von Schlingpflanzen, erstickt von verfilztem Unkraut, das sich auf Wurzeln breitmachte -Wurzeln mit dem Aussehen von Gewächsen, die durch wahllos im Weltraum schwebende Sporen entstanden waren und sich hier aus einer bloßen Laune heraus ausgebreitet hatten. Indy hackte einen Weg frei, schwang den Arm, so daß seine Machete die Hindernisse zerteilte, als seien sie nur faserartiges Papier. Verdammter Urwald. Man durfte sich von der Natur nicht unterkriegen lassen, auch wenn sie, wie hier, alle Zügel hatte schießen lassen, wenn sie jedes Maß verloren zu haben schien. Als er eine Pause einlegte, war er schweißdurchnäßt, und seine Muskeln schmerzten. Trotzdem fühlte er sich wohl und stark, als er die zerteilten Ranken, die durchtrennten Wurzeln betrachtete. Dann nahm er wahr, daß der Nebel dichter wurde, kein kalter Nebel, kein Eishauch, sondern etwas, das aus dem Schweiß des Urwaldes selbst entstand. Er hielt kurz den Atem an und schritt durch den Tunnel. Sein Atem stockte erneut, als er das Ende des Weges erreichte. Da war er. Dort, in einiger Entfernung, umhüllt von mächtigen Bäumen, der Tempel. Einen Augenblick lang war Indy erfaßt von den seltsamen Verknüpfungen der Geschichte, einem Gefühl der Dauerhaftigkeit, eines Kontinuums, das zuließ, daß jemand namens Indiana Jones im Jahr 1936 am Leben sein und ein Bauwerk vor sich sehen konnte, das zweitausend Jahre früher errichtet worden war. Ehrfürchtig. Überwältigt. Ein Gefühl der Demut. Aber dies alles traf es nicht genau. Es gab keinen Ausdruck für seine Erregung. Eine Zeitlang brachte er kein Wort heraus. Er starrte nur das Bauwerk an und staunte über die Energie, die es gekostet haben mußte, ein solches Gebäude mitten in einem gnadenlosen Urwald zu bauen. Dann wurde er von den Rufen der Indianer in die Gegenwart zurückgerissen. Er fuhr herum und sah drei von ihnen auf dem Pfad davonstürzen und die Maultiere im Stich lassen. Barranca hatte die Pistole gezogen und zielte auf die flüchtenden Indianer, aber Indy packte das Handgelenk des Mannes, verdrehte es ein wenig und riß den Peruaner zu sich herum. »Nein«, sagte er. Barranca starrte Indy vorwurfsvoll an. »Sie sind Feiglinge, Senor Jones.« »Wir brauchen sie nicht«, gab Indy zurück. »Und wir brauchen sie nicht zu töten.«
Der Peruaner ließ die Pistole sinken, warf einen Blick auf Satipo, seinen Begleiter, und starrte Indy wieder an. »Wer soll die Lasten tragen ohne die Indianer, Senor? Es gehört nicht zu unserer Abmachung, daß Satipo und ich niedrige Arbeiten leisten müssen, nicht wahr?« Indy sah den Peruaner an, erkannte die eisige Kälte in den Augen des anderen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß dieser Mensch jemals lächelte. Er konnte sich nicht vorstellen, daß jemals Licht in die Seele Barrancas drang. Indy erinnerte sich, derart tote Augen schon einmal gesehen zu haben; bei einem Hai. »Wir lassen die Vorräte zurück. Sobald wir haben, was wir wollen, können wir das Flugzeug erreichen, bevor es dunkel wird. Wir brauchen keine Vorräte mehr.« Barranca spielte an seiner Pistole herum. Der Abzugsfinger juckt ihn, dachte Indy. Drei tote Indianer machen ihm gar nichts aus. »Stecken Sie das Ding ein«, sagte Indy. »Pistolen sind mir unsympathisch, Barranca, wenn ich nicht derjenige bin, welcher den Finger am Abzug hat.« Barranca blickte achselzuckend auf Satipo; zwischen den beiden fand eine stumme Verständigung statt. Sie würden sich den Augenblick aussuchen, das wußte Indy. Sie würden im geeigneten Moment losschlagen. »Stecken Sie's in den Gürtel, ja?« brummte Indy. Er warf einen kurzen Blick auf die beiden Indianer, die geblieben waren; Satipo bewachte sie. Sie schienen vor Angst halb gelähmt zu sein, sahen aus wie Zombies. Indy drehte sich nach dem Tempel um, verschlang ihn mit den Augen, genoß diesen Moment, kostete ihn aus. Der Nebel ringsum wurde dichter, eine Verschwörung der Natur, so, als wolle der Urwald seine Geheimnisse für immer bewahren. Satipo beugte sich vor und zog etwas aus der Rinde eines Baumes. Er hob vor Indy die offene Hand. Auf der Handfläche lag ein kleiner Pfeil. »Hovitos«, sagte Satipo. »Das Gift ist noch feucht -dreiTage, Senor Jones. Sie müssen uns auf den Fersen sein.« »Wenn sie wüßten, daß wir hier sind, hätten sie uns schon umgebracht«, erwiderte Indy ruhig. Er griff nach dem kleinen Pfeil. Primitiv, aber wirksam. Er dachte an die Hovitos, an ihre legendäre Wildheit, ihre uralte Anhänglichkeit an den Tempel. Sie waren abergläubisch genug, sich vom Tempel selbst fernzuhalten, aber auch so eifersüchtig, daß sie jeden töteten, der in die Nähe des Tempels kam. »Gehen wir«, sagte er. »Bringen wir es hinter uns.« Sie mußten wieder hacken und zerteilen, die wirr verschlungenen Ranken durchschneiden und zertrennen, die Schlingpflanzen auseinanderreißen, die wie Fußeisen am Boden lauerten. Indy blieb schweißüberströmt stehen, seine Hand mit dem Hackmesser sank herab. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, daß einer der Indianer einen starken Ast zurückbog. Es war der Schrei, der ihn blitzschnell herumfahren ließ. Sein Arm mit dem Messer war erhoben. Es war der wilde Schrei des Indianers, der ihn veranlaßte, zu dem Ast zu stürzen, als der Quechua mit gellenden Rufen in den Urwald hineinrannte. Der letzte Indianer folgte ihm, warf sich blindlings, in Panik, gegen die dornigen Äste und scharfkantigen Ranken. Dann waren beide verschwunden. Indy riß, das Messer erhoben, den Ast zurück, der die Indianer so erschreckt zu haben schien. Er war entschlossen, sich auf alles zu stürzen, was ihnen Todesangst eingejagt hatte, wollte die Klinge gebrauchen. Er zog den schweren Ast zur Seite. Sie hockte hinter dem wabernden Nebel. Aus Stein gemeißelt, zeitlos, das Gesicht war die Erfindung eines grauenhaften Alptraums, war die Skulptur eines Chachapoya-Dämons. Indy starrte sie kurz an, während er sich der Bösartigkeit des unwandelbaren Gesichts bewußt wurde, und begriff, daß man sie hier aufgestellt hatte, damit sie den Tempel bewache und jeden abschrecke, der hier vorbeikommen mochte. Ein Kunstwerk, dachte er und machte sich Augenblicke lang Gedanken über seine Schöpfer, über ihre Weltsicht, über die Art religiöser Ehrfurcht, die etwas so Schreckliches wie diese Statue hervorzubringen imstande gewesen war. Er zwang sich dazu, die Hand auszustrecken und den Dämon leicht an der Schulter zu berühren. Dann nahm er noch etwas anderes wahr, etwas, das noch mehr beunruhigte als das steinerne Gesicht. Das unheimlicher war. Die Stille. Die unheimliche Stille. Nichts. Keine Vögel. Keine Insekten. Kein Windhauch, der in den Bäumen raschelte. Nichts, als sei hier alles tot, als sei es von einer gottlosen, zerstörerischen Hand zum Schweigen gebracht worden. Er griff sich an die Stirn. Kalt, kalter Schweiß. Gespenster, dachte er. Hier wimmelt es von Gespenstern. Das war die Art von Stille, die man sich vor dem Beginn der Schöpfung hätte vorstellen können. Er entfernte sich von der Steinfigur, gefolgt von den beiden Peruanern, die bemerkenswert kleinlaut wirkten. »Was ist das, um Himmels willen?« fragte Barranca. Indy zog die Schultern hoch. »Ach, alter Plunder. Was sonst? Jede Chachapoya-Familie mußte einen haben, wußten Sie das nicht?« Barrancas Gesicht wirkte grimmig. »Sie scheinen das manchmal sehr leicht zu nehmen, Senor Jones.«
»Ist denn etwas anderes sinnvoll?« Der Nebel kroch, quoll, krallte, schien die drei Männer zurückzudrängen. Indy starrte durch die Dämpfe, blickte auf den Tempeleingang, auf die vielfach verschlungenen, primitiven Wandfriese, die im Lauf der Jahrhunderte der Vegetation, dem Gewirr von Sträuchern, Laub und Ranken erlegen waren. Aber was ihn stärker bannte, war der dunkle Eingang selbst, rund und klaffend wie der Mund einer Leiche. Er dachte daran, wie Forrestal in diesen schwarzen Schlund getreten war, die Schwelle zu seinem Tod überschritten hatte. Der Arme. Barranca starrte ebenfalls auf den Eingang. »Wie können wir Ihnen vertrauen, Senor Jones? Noch nie ist jemand lebend herausgekommen. Weshalb sollten wir Ihnen unser Vertrauen schenken?« Indy lächelte den Peruaner an. »Barranca, Barranca - Sie müssen lernen, daß auch ein elender Gringo manchmal die Wahrheit sagt.« Er zog ein Stück zusammengefaltetes Pergament aus der Brusttasche. Er starrte auf die Gesichter der Peruaner. Ihre Mienen waren leicht durchschaubar. Indy fragte sich, welche Kehlen hatten durchschnitten werden müssen, damit diese beiden Schurken zu der anderen Hälfte des Planes gelangt waren. »Das sollte Ihre Frage beantworten, Barranca«, sagte er und breitete das Pergament am Boden aus. Satipo zog ein ähnliches Pergament aus der Tasche und legte es zu dem, das Indy vorgewiesen hatte. Die beiden Hälften paßten genau zusammen. Eine Zeitlang sagte keiner etwas; die Grenzschwelle war erreicht, das wußte Indy, und er wartete angespannt. »Also, Amigos«, sagte er schließlich. »Wir sind Partner. Unsere Wünsche decken sich gewissermaßen. Gemeinsam besitzen wir einen vollständigen Grundrißplan des Tempels. Wir haben das, was vor uns noch keiner hatte. Wenn wir nun davon ausgehen, daß diese Säule hier die Ecke bezeichnet -« Bevor er zu Ende sprechen konnte, sah er wie bei einem in Zeitlupe aufgenommenen Film, daß Barranca nach seiner Pistole griff. Er sah, wie die schmale braune Hand sich um den Griff der silbernen Waffe schloß - und handelte. Indiana Jones reagierte schneller, als der Peruaner erwarten konnte; blitzschnell, kaum verfolgbar, zuckte er von Barranca zurück, griff gleichzeitig unter den Rücken seiner Lederjacke und holte eine zusammengerollte Lederpeitsche hervor, den Griff fest umklammernd. Seine Bewegungen gingen fließend ineinander über, Muskeln und Haltung und Gleichgewicht waren in völligem Einklang, mühelos bildeten Arm und Peitsche eine Einheit, wie zusammengewachsen. Er schwang die Peitsche, ein Knall durchschnitt die Luft, die Peitschenschnur wickelte sich fest um Barrancas Handgelenk. Er riß heftig daran, und der Schuß krachte in den Boden. Einen Augenblick lang regte sich der Peruaner nicht. Er starrte Indy fassungslos an, mit einem Gemisch von Verwirrung, Schmerz und Haß, schien nicht begreifen zu können, daß er übertölpelt und gedemütigt worden war. Als die Peitschenschnur um sein Handgelenk sich lockerte, fuhr Barranca herum und stürzte davon, hinter den Indianern her in den Urwald. Indy drehte sich zu Satipo herum. Der Peruaner hob die Arme über den Kopf. »Senor, bitte«, sagte er, »ich wußte nichts, nichts von seinem Plan. Er war verrückt. Ein Verrückter. Bitte, Senor. Glauben Sie mir.« Indy starrte ihn kurz an, dann nickte er und hob die beiden Hälften des Planes auf. »Sie können die Hände herunternehmen, Satipo.« Der Peruaner wirkte erleichtert und ließ steif die Arme sinken. »Wir haben den Grundriß«, sagte Indy. »Worauf warten wir noch?« Und er ging auf den Tempeleingang zu. Der Geruch war der von Jahrhunderten, die festgehaltenen Gerüche von Jahren des Schweigens und der Dunkelheit, der Feuchtigkeit, die vom Urwald hereindrang, des Wucherns von Pflanzen. Wasser tropfte von der Decke, herausgluckernd aus dem dichten Moosbewuchs, der dort entstanden war. Im Korridor wisperte es von Nagetierkrallen. Und die Luft - die Luft war unerwartet kalt, unberührt von Sonnenlicht, für immer im Schatten. Indy ging vor Satipo und lauschte auf den Widerhall ihrer Schritte. Fremdartige Geräusche, dachte er. Eine Störung der Toten – und einen Augenblick lang faßte ihn das Gefühl an, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, wie ein Plünderer, ein Räuber, einer, der die Absicht hat, Dinge zu beschädigen, die zu lange ihren Frieden hatten. Er kannte das Gefühl gut, diese Empfindung, etwas Falsches, Unzulässiges zu tun. Er befaßte sich nicht gern damit. Es war ganz so, als hätte man bei einer sonst erfreulichen Abendgesellschaft mit einem überaus langweiligen Gast zu tun. Er betrachtete seinen Schatten, der vor der Stablampe in Satipos Hand dahinglitt. Der Korridor schlängelte und wand sich, führte tiefer in das Tempelinnere hinein. Immer wieder blieb Indy stehen und warf einen Blick auf den Plan, indem er ihn vor die Lampe hielt. Er bemühte sich darum, die Einzelheiten der ganzen Anlage in sein Gedächtnis zurückzurufen. Er wünschte sich etwas zu trinken, seine Kehle war trocken, seine Zunge angeschwollen - aber er wollte keine Unterbrechung zulassen. Er konnte in seinem Schädel eine Uhr ticken hören, und jedes Ticken sagte zu ihm: Du hast keine Zeit, du hast keine Zeit.... Die beiden Männer kamen an Simsen vorbei, die aus den Wänden herausgehauen worden waren. Hier und dort
blieb Indy stehen und betrachtete die Gegenstände, die auf den Simsen lagen. Er ging sie durch, legte manches zurück, steckte anderes ein. Kleine Münzen, winzige Medaillons, Tonscherben, so klein, daß er sie mitnehmen konnte. Er wußte, was wertvoll war und was nicht. Aber all das bedeutete nichts im Vergleich zu dem, worauf es ihm wirklich ankam - das Idol. Er beschleunigte seine Schritte, und der Peruaner eilte hinter ihm her, keuchend vor Anstrengung. Und plötzlich blieb Indy wie angewurzelt stehen. »Warum geht es nicht weiter?« fragte Satipo. Seine Stimme klang, als käme sie aus einem von Hitze versengten Brustkorb. Indy sagte nichts. Er blieb wie erstarrt stehen und atmete kaum. Satipo trat verwirrt einen Schritt auf Indy zu, wollte ihn am Arm berühren, hielt aber inne, und seine Hand blieb wie die einer Statue in der Luft hängen. Eine riesengroße schwarze Tarantel kroch mit aufreizender Langsamkeit an Indys Rücken empor. Indy konnte ihre Beine spüren, die sich der Nackenhaut entgegenschoben. Er wartete, eine Ewigkeit, wie ihm schien, bis er fühlen konnte, daß das grauenhafte Wesen sich auf seiner Schulter niederließ. Er war sich Satipos panischer Furcht bewußt, konnte spüren, wie es den anderen drängte, gellend aufzuschreien und davonzustürzen. Er wußte, daß er rasch handeln mußte, dabei aber unauffällig, damit Satipo nicht die Nerven verlor. Mit einer blitzschnellen Bewegung griff Indy zu seiner Schulter hinauf und schleuderte das Geschöpf in die Dunkelheit hinein. Erleichtert ging er weiter, aber dann hörte er Satipo ächzen, drehte sich um und sah, daß zwei andere Spinnen auf den Arm des Peruaners herabfielen. Im nächsten Augenblick zuckte Indys Peitsche aus dem Schatten heraus und riß die Wesen herunter auf den Boden. Er trat schnell auf die krabbelnden Spinnen und zerstampfte sie mit der Stiefelsohle. Satipo war aschfahl geworden und schien einer Ohnmacht nahe zu sein. Indy griff nach ihm und hielt ihn am Arm fest, bis er sich erholt hatte. Dann zeigte der Archäologe den Korridor hinunter zu einem kleinen Raum vor ihnen, einer Kammer, die erhellt war durch einen einzelnen Sonnenstrahl, der durch ein Loch in der Decke hereinfiel. Die Taranteln waren vergessen; Indy wußte, daß andere Gefahren lauerten. »Genug, Senor«, stöhnte Satipo. »Kehren wir um.« Indy würdigte ihn keiner Antwort. Er hielt den Blick auf die Kammer gerichtet. Sein Gehirn arbeitete und rechnete, seine Einfallskraft half ihm, sich in die Gehirne der Wesen hineinzudenken, die vor so langer Zeit diesen Bau errichtet hatten. Sie mußten Wert darauf gelegt haben, die Schätze des Tempels zu schützen. Sie mußten Hindernisse und Fallen erwogen haben, um dafür zu sorgen, daß kein Fremder je in das Innerste des Tempels gelangte. Er trat näher heran, beherrscht von der instinktiven Vorsicht des Jägers, der im Wind Gefahr wittert, der Gefährdung spürt, bevor er Anzeichen dafür sehen kann. Er bückte sich, betastete den Boden, fand einen dicken Unkrautstengel, riß ihn heraus -hob den Arm und warf die Pflanze in die Kammer. Den Bruchteil einer Sekunde lang geschah nichts. Dann kam ein leise surrendes Geräusch, ein Knarren, und die Wände der Kammer schienen aufzubrechen wie riesige Kiefer, wie das Maul eines gigantischen Hais, und schnappten in der Mitte des kleinen Raumes krachend zusammen. Indiana Jones lächelte. Er wußte die Mühen der Tempelbauer, die Verschlagenheit dieser grauenhaften Falle zu schätzen. Der Peruaner fluchte halblaut vor sich hin und bekreuzigte sich. Indy wollte etwas sagen, als er an den mächtigen Zähnen des Steingebisses etwas stecken sah. Es kostete ihn nur einen Augenblick, um zu erkennen, was von dem scharfkantigen Metall dort zerschlitzt worden war. Forrestal. Halb Skelett, halb Mumie. Das Gesicht auf groteske Weise erhalten geblieben durch die Temperatur in der Kammer, die qualvolle Überraschung noch sichtbar, wie zur Warnung für jeden anderen festgeprägt, der den Wunsch haben mochte, den Raum zu betreten. Forrestal, durchbohrt an Brust und Lenden, schwarzgewordenes Blut am Buschkhaki, Todesflecken. Mein Gott, dachte Indy. Niemand hatte es verdient, so zugrunde zu gehen. Niemand. Trauer erfaßte ihn. Du bist da einfach hineingetappt, Freund. Du spieltest in einer viel zu hohen Klasse. Du hättest im Hörsaal bleiben sollen. Indy schloß kurz die Augen, dann trat er in die Kammer, zerrte die Überreste des Mannes von den spitzen Dornen und legte die Leiche auf den Boden. »Sie kannten diesen Menschen?« fragte Satipo. »Ja, ich kannte ihn.« Der Peruaner bekreuzigte sich wieder. »Ich glaube, wir sollten lieber nicht weitergehen, Senor.« »Sie werden sich von einer solchen Kleinigkeit doch nicht entmutigen lassen, wie?« Indy schwieg plötzlich. Er sah, wie die Metallspieße sich langsam zurückzogen und in die Wände glitten, aus denen sie gekommen waren. Er bestaunte die einfache Mechanik der Anlage - einfach und tödlich. Indy lächelte den Peruaner an und berührte kurz seine Schulter. Satipo schwitzte stark und zitterte am ganzen Körper. Indy trat in den Raum hinein, ein wachsames Auge auf die Dornen gerichtet, deren Spitzen in die Wände zurückklappten. Nach einiger Zeit folgte ihm der Peruaner, halblaut vor sich hin brummend. Sie durchquerten die Kammer und erreichten einen geraden Korridor von etwa fünfzehn Meter Länge. Am Ende des Ganges war eine Tür zu sehen, die erhellt war vom Sonnenlicht, das aus der Decke hereindrang.
»Wir sind ganz nah«, sagte Indy, »so nah.« Er studierte noch einmal den Plan und klappte ihn zusammen, nachdem er sich die Einzelheiten eingeprägt hatte. Er setzte sich nicht sofort in Bewegung. Seine Augen suchten die Umgebung nach weiteren Gefahren, nach zusätzlichen Fallen ab. »Es sieht ungefährlich aus«, meinte Satipo. »Genau das macht mir Angst, mein Freund.« »Es ist ungefährlich«, wiederholte der Peruaner. »Gehen wir.« Satipo, plötzlich von Eifer erfaßt, trat vor. Und erstarrte, als sein rechter Fuß im Boden versank. Er stürzte nach vorn und schrie gellend auf. Indy handelte sofort, packte den Peruaner am Gürtel und zog ihn heraus. Satipo sank erschöpft zu Boden. Indy blickte auf den Boden, in dem der Peruaner eingebrochen war. Spinnweben, ein vielfältig verschlungenes Gewebe von Spinnennetzen, uralt, darüber eine dicke Staubschicht, und das Ganze sah aus wie ein Boden. Er bückte sich, hob einen Stein auf und ließ ihn durch das Spinnengewebe fallen. Nichts, kein Geräusch, kein Aufprall war hörbar. »Geht weit hinunter«, murmelte Indy. Satipo, noch nicht wieder zu Atem gekommen, schwieg. Indy starrte über die Fläche der Spinnweben hinweg zur Tür. Wie hinüberkommen, die Grube überwinden, wenn es keinen Boden gab? »Ich glaube, jetzt kehren wir um, Senor«, sagte Satipo. »Ja?« »Nein«, widersprach Indy. »Ich glaube, wir gehen weiter.« »Wie? Mit Flügeln? Meinen Sie das?« »Man braucht keine Flügel, um zu fliegen, Freund.« Er zog die Peitsche heraus und starrte zur Decke hinauf. In das Dach waren verschiedene Balken eingelassen. Sie mögen durchgefault sein, dachte er, aber vielleicht sind sie auch noch kräftig genug, mein Gewicht zu tragen. Auf jeden Fall lohnte ein Versuch. Wenn er nicht erfolgreich war, würde Indy dem Idol adieu sagen müssen. Indy schwang die Peitsche hinauf, sah, wie die Schnur sich um einen Balken wickelte, zerrte daran und prüfte die Festigkeit. Satipo schüttelte den Kopf. »Nein, Sie sind verrückt!« »Wissen Sie etwas Besseres?« »Die Peitsche trägt uns nicht. Der Balken wird brechen.« »Immer diese Pessimisten«, sagte Indy. »Immer die Ungläubigen. Vertrauen Sie ruhig auf mich. Tun Sie einfach, was ich mache, ja?« Indy umklammerte den Peitschengriff mit beiden Händen, zerrte noch einmal daran, dann schwang er sich langsam durch die Luft, war sich dabei ständig des trügerischen Bodens unter sich bewußt, der Dunkelheit des Schachtes, der unter den Schichten von Spinnweben und Staub tief hinabreichte, der Möglichkeit, daß der Deckenbalken brechen, die Peitschenschnur sich lösen konnte, und ... Aber er hatte kaum Zeit, an diese Dinge zu denken. Er flog durch die Luft, den Peitschenstiel umklammernd, spürte den Wind an seinem Gesicht. Er flog, bis er sicher war, den Rand des Schachtes hinter sich zu haben, um dann herabzuspringen und auf festem Boden zu landen. Er ließ die Peitsche über den Abgrund zu dem Peruaner zurückschwingen. Satipo murmelte etwas auf spanisch, vielleicht ein Stoßgebet. Indy fragte sich nebenbei, ob es in den Gewölben des Vatikans irgendwo einen Schutzheiligen für jene geben mochte, die Gelegenheit hatten, sich einer Peitsche als Beförderungsmittel zu bedienen. Er verfolgte, wie der Peruaner neben ihm hochkam. »Hab' ich doch gesagt, nicht? Besser als mit dem Bus.« Satipo erwiderte nichts. Selbst im Halbdunkel konnte Indy aber erkennen, daß sein Gesicht kalkweiß war. Indy zwängte den Peitschenstiel in einen Riß der Wand. »Für den Rückweg«, sagte er. »Ich halte nichts von Einbahnstraßen, Satipo.« Der Peruaner zog die Schultern hoch, als sie durch den sonnenbeschienenen Eingang in einen großen Kuppelsaal traten. In der Decke gab es Oberlichter, durch die breite Sonnenstrahlen auf den schwarzweiß gefliesten Boden fielen. Und plötzlich entdeckte Indy auf der anderen Seite des Raumes etwas, das ihm den Atem nahm, ihn mit tiefer Ehrfurcht erfüllte, eine Hochstimmung erzeugte, die er kaum zu fassen vermochte. Das Idol. Auf einer Art Altar stehend, zugleich zornig-wild und wunderschön, im Licht der Lampe goldglitzernd, schimmernd im Sonnenlicht, das durch die Decke hereindrang - das Idol. Das Idol der Chachapoya-Krieger. Was er dann empfand, war die Erregung einer überwältigenden Begierde, der Wunsch, durch den Saal zu stürmen und diese Schönheit zu berühren - eine Schönheit, umgeben von Hindernissen und Fallen. Welche Art von Falle war für den Schluß aufgehoben worden? Welche Falle umgab das Götzenbild selbst? »Ich gehe hin«, sagte er. Der Peruaner hatte die Figur ebenfalls entdeckt und blieb stumm. Er starrte das Götzenbild mit einem Ausdruck der Gier an, der verriet, daß nichts anderes mehr zählte, als diesen Schatz, als diese Beute in die Hände zu bekommen. Indy beobachtete ihn kurz und dachte: Jetzt hat er das Idol gesehen. Er kennt seine Schönheit. Man darf ihm nicht mehr trauen. Satipo wollte über die Schwelle treten, aber Indy hielt ihn zurück. »Denken Sie an Forrestal«, sagte er.
»Immer.« Indy starrte über das komplizierte Muster der schwarzen und weißen Fliesen hinweg, bestaunte die Präzision der Anordnung und die makellose Ausführung. Neben der Tür steckten zwei uralte Fackeln in verrosteten Halterungen aus Metall. Er griff hinauf, zog eine heraus, versuchte sich das Gesicht des letzten Menschen vorzustellen, der eben diese Fackel in der Hand gehalten haben mochte, dachte an die Zeitspanne - immer wieder blieb er fassungslos vor den Dingen, die so viele Jahrhunderte überdauert hatten. Er zündete die Fackel an, warf einen Blick auf Satipo, beugte sich vor und stieß mit dem anderen Ende der Fackel auf eine der weißen Fliesen. Er klopfte mehrmals darauf. Fest. Kein Widerhall, kein Vibrieren. Sehr fest. Er klopfte auf eine der schwarzen Platten. Es passierte, bevor er die Hand zurückziehen konnte. Ein Geräusch, als schnelle etwas durch die Luft, pfeifend schnell, dann fetzte ein kleiner Pfeil in den Schaft seiner Fackel. Er zog die Hand zurück. Satipo stieß den Atem aus und zeigte in den Saal hinein. »Er kam von dort«, sagte er. »Sehen Sie das Loch dort? Von dort kam der Pfeil.« »Ich sehe Hunderte von Löchern«, gab Indy zurück. Die Wände waren übersät mit schattenhaften Vertiefungen, von denen jede einen Pfeil enthalten mußte. Sobald man eine schwarze Fliese betrat oder darauf drückte, wurde eines der Geschosse abgefeuert. »Bleiben Sie hier, Satipo.« Der Peruaner drehte langsam den Kopf. »Wenn Sie darauf bestehen.« Indy trat, die lodernde Fackel in der Hand, vorsichtig in den Saal, mied die schwarzen Platten, stieg über sie hinweg, um die ungefährlichen weißen Platten zu erreichen. Er nahm seinen Schatten wahr, den der Fackelschein an die Wände warf, war sich der todbringenden Löcher bewußt, die man im Halbdunkel undeutlich erkennen konnte. Aber es war doch vor allem die Götzenfigur, die seine Aufmerksamkeit beanspruchte, deren unendliche Schönheit immer deutlicher wurde, je näher er herankam, das hypnotisierende Glitzern, der rätselhafte Ausdruck des Gesichts. Seltsam, dachte er, fünfzehn Zentimeter hoch, zweitausend Jahre alt, ein Klumpen Gold mit einem Gesicht, das man kaum schön nennen konnte - seltsam, daß Menschen darüber den Verstand verloren, daß sie dafür töteten. Und trotzdem hielt ihn das Bildwerk in seinem Bann, so daß er den Blick abwenden mußte. Konzentriere dich auf die Bodenfliesen, ermahnte er sich. Nur darauf. Auf nichts sonst. Laß deinen Instinkt hier nicht betäuben. Vor ihm auf einer weißen Platte, durchbohrt von Pfeilen, lag ein kleiner, toter Vogel. Er starrte ihn an, innerlich aufgewühlt, ergriffen von der Erkenntnis, daß die Tempelbauer, die Erfinder dieser Fallen, zu raffiniert gewesen sein würden, um allein die schwarzen Fliesen als Auslöser der tödlichen Pfeile zu verwenden. Wie ein Joker in einem Kartenspiel würde mindestens eine weiße Fliese ebenfalls todbringend sein. Mindestens eine. Und wenn es mehrere gab? Er zögerte, spürte, wie der Schweiß an ihm herunterrann, fühlte die Wärme des Sonnenscheins auf seinem Kopf, die Hitze der Fackelflammen an seinem Gesicht. Vorsichtig stieg er über den toten Vogel hinweg und starrte auf die weißen Platten, die zwischen ihm und dem Götzenbild lagen, als sei jede einzelne sein persönlicher Feind. Manchmal ist Vorsicht nicht genug, dachte er. Manchmal erringt man den Preis nicht, wenn man zögert, wenn man das letzte Risiko scheut. Vorsicht muß sich mit Einsatz verbinden - aber man muß wissen, daß man erträgliche Aussichten hat. Das Idol lockte ihn an. Es ließ ihn nicht los. Und hinter sich fühlte er Satipo, der vom Eingang aus zuschaute, ohne Zweifel Pläne schmiedend. Tu es, sagte er zu sich selbst. Was soll sein? Tu es, zum Teufel noch mal, was bringt die Vorsicht? Er bewegte sich mit der Anmut eines Tänzers. Er war unterwegs mit der eigenartigen Eleganz eines Mannes, der sich zwisehen Rasierklingen dahinschlängelt. Jede Fliese war jetzt möglicherweise eine Tretmine, ein Schritt konnte den Tod bedeuten. Er schob sich vorwärts und stieg über die schwarzen Platten, wartete darauf, daß sein Gewicht den Mechanismus auslöste, der die Pfeile in Schwärmen durch die Luft schnellen ließ. Dann war er näher an dem Altaraufsatz, an der Figur. An der Beute. Am Triumph. Und an der allerletzten Falle. Wieder blieb er stehen. Sein Herz hieb wuchtig an die Rippen, sein Pulsschlag dröhnte, in seinen Adern sengte das Blut. Schweiß tropfte von seiner Stirn und rann über seine Lider, machte ihn blind. Er wischte ihn mit dem Handrücken weg. Nur wenige Meter, dachte er. Wenige Meter. Und wenige Fliesen. Er hob nacheinander die Füße und setzte sie vorsichtig wieder auf. Wenn er je auf vollkommenes Gleichgewicht angewiesen gewesen war, dann jetzt. Das Götzenbild schien ihm zu winken, ihn zu rufen. Noch ein Schritt. Und noch einer. Er hob das rechte Bein, berührte die letzte weiße Platte vor dem Altar. Er war am Ziel. Er hatte es geschafft. Er zog eine Hüftflasche heraus, schraubte den Verschluß ab und trank in großen Zügen. Das hast du dir verdient, dachte er. Er steckte die kleine Flasche wieder ein und starrte das Idol an. Die letzte Falle. Worin konnte sie bestehen? Die letzte und größte Gefahr. Er überlegte lange, versuchte sich in die Gedanken jener Menschen hineinzuversetzen, die dieses Bauwerk
geschaffen und die Abwehranlagen ersonnen hatten. Nun gut, es kommt einer, der das Götzenbild mitnimmt, also muß es hochgehoben werden, man muß es von der dicken Platte aus poliertem Stein heben und an sich nehmen. Was dann? Irgendein Mechanismus unter der Figur reagiert auf die Entlastung, und das löst - was aus? Noch mehr Pfeile? Nein, gewiß etwas noch Gefährlicheres. Etwas noch Tödlicheres. Er strengte sein Gehirn an, dachte fieberhaft nach, alle Nerven waren zum Zerreißen angespannt. Er beugte sich vor und blickte am Sockel des Altars vorbei. Da lagen Steinsplitter, Schmutz, Kies, angesammelt seit Jahrhunderten. Vielleicht, dachte er. Es könnte sein. Er zog einen kleinen, verschnürten Beutel aus der Tasche, öffnete ihn, schüttete die Münzen heraus, die er enthielt, und begann den Beutel mit Erde und Steinen zu füllen. Er wog ihn eine Weile in der Hand. Vielleicht, dachte er noch einmal. Wenn du schnell genug bist. Du könntest es mit einer Schnelligkeit schaffen, auf die der Mechanismus nicht eingerichtet ist. Wenn es wirklich eine solche Falle war. Wenn, wenn, wenn. Zu viele Hypothesen. Er wußte, daß er unter anderen Umständen einfach weggegangen wäre, um die Konsequenzen so vieler Unwägbarkeiten zu vermeiden. Aber nicht jetzt, nicht hier. Er stand hoch aufgerichtet da, wog wieder den Beutel in der Hand, fragte sich, ob er wirklich soviel wog wie die Figur, hoffte es. Dann handelte er blitzschnell, riß das Idol an sich, warf den Beutel an die Stelle, wo die Figur gestanden war, mitten auf die Steinplatte. Nichts. Einen langen Augenblick nichts. Er starrte auf den Beutel, dann auf die Figur in seiner Hand, und auf einmal nahm er ein fremdartiges fernes Geräusch wahr, ein Grollen wie von einer riesigen Maschine, die sich in Bewegung setzte, als erwache etwas aus langem Schlaf, um brüllend, zerfetzend und zermalmend durch den Tempel zu fahren. Der Sockel aus poliertem Stein sackte plötzlich hinab - fünfzehn Zentimeter, zwanzig. Dann wurde der Lärm stärker, ohrenbetäubend, und alles begann zu schwanken und zu zittern, als brächen die Fundamente des ganzen Bauwerks zusammen, als platzten sie auseinander, klafften sie, während Ziegel und Holz splitterten und barsten. Er fuhr herum und lief, so schnell er konnte, über die Fliesen zurück, auf den Eingang zu. Und noch immer verstärkte sich der Lärm wie verzweifelter Donner, rollte und hallte durch die alten Gänge und Räume und Kammern. Er sprang auf Satipo zu, der unter der Tür stand, das Gesicht von purem Entsetzen gezeichnet. Nun bebte alles, der Bau war in Bewegung, Mauerwerk brach, Wände stürzten ein, alles zerfiel. Als Indy die Tür erreichte, drehte er sich um und sah einen Steinblock auf den Fliesenboden fallen und die Pfeile auslösen, die zu Tausenden ziellos durch den zusammenstürzenden Saal schwirrten. Satipo war schwer atmend zu der Peitsche getreten und schwang sich über die Grube hinweg. Als er auf der anderen Seite stand, sah er Indy kurz an. Wußte doch, daß es kommen wird, dachte Indy. Ich habe es gefühlt, ich habe es gewußt, und jetzt wird es geschehen, was kann ich tun? Er sah, wie Satipo die Peitsche vom Dachbalken herunterholte und in der Hand zusammenrollte. »Ein Geschäft, Senor. Ein Austausch. Das Idol gegen die Peitsche. Sie werfen mir die Figur zu, ich Ihnen die Peitsche.« Indy lauschte dem zerstörerischen Bersten und Krachen hinter sich und behielt Satipo im Auge. »Was für eine Wahl haben Sie, Senor Jones?« fragte Satipo. »Was ist, wenn ich die Figur in den Abgrund werfe, mein Freund? Dann haben Sie für Ihre ganze Mühe eine Lederpeitsche, nicht?« »Und was haben Sie für Ihre Mühe, Senor?« Indy zog die Schultern hoch. Der Lärm hinter ihm nahm immer noch zu; Indy konnte spüren, wie der ganze Tempel bebte und der Boden zu schwanken begann. Das Idol, dachte er - er konnte die Figur nicht einfach in den Abgrund fallen lassen. »Also gut, Satipo. Die Figur für die Peitsche.« Und er warf das Idol dem Peruaner zu. Er verfolgte, wie Satipo die Figur auffing, sie in die Tasche stopfte und die Peitsche auf den Boden fallen ließ. Der Peruaner lächelte. »Es tut mir ehrlich leid, Senor Jones. Adios. Und viel Glück.« »Ihnen kann es nicht mehr leid tun als mir!« schrie Indy, als er den Peruaner im Korridor verschwinden sah. Das ganze Gebäude begann heftig zu schwanken, wie eine rachsüchtige Urwald-Gottheit. Er hörte, wie Mauerwerk herabstürzte und Säulen brachen. Der Fluch des Idols, dachte er. Eine Sondervorstellung im Kino, ein Film, den die Kinder an Samstagnachmittagen in dunklen Filmtheatern erregt und mit Schaudern verfolgten. Es gab nur eines - eine einzige Möglichkeit, keine Alternative. Du mußt springen, sagte er sich. Du mußt alles auf eine Karte setzen und über den Schacht hinwegspringen, in der Hoffnung, daß die Schwerkraft auf deiner Seite ist. Hinter dir bricht die Hölle los, vor dir liegt ein bodenloser Abgrund. Also springst du, du fliegst in die Dunkelheit hinein und hältst dir selbst dabei die Daumen. Spring! Er holte tief Luft, warf sich hinaus in die Leere über dem Schacht, mit aller Kraft, die er aufbrachte, hörte dem
Sausen der Luft zu, während er flog. Er hätte gebetet, wenn er dazu imstande gewesen wäre, gebetet darum, nicht von dem schwarzen Nichts unter ihm verschlungen zu werden. Nun fiel er herab. Der Schwung war verbraucht. Er stürzte. Er hoffte, daß er auf den anderen Schachtrand hinabstürzte. Aber das tat er nicht. Er konnte die Dunkelheit fühlen, muffig und feucht, spürte, wie sie von unten heraufschoß, und er riß die Hände hoch, suchte nach etwas, an dem er sich festhalten konnte, an irgendeiner Kante, irgend etwas. Er spürte, wie seine Fingerspitzen sich in den Schachtrand gruben, in die bröckelnde Kante, und versuchte sich hochzuziehen, während der Rand weich wurde und nachgab und gelockerte Steine in den Abgrund hinabfielen. Er schwang die Beine, krallte sich mit den Händen fest, warf sich wie ein gestrandeter Fisch hoch, um hinauf-, hinauszukommen, zu packen, was immer jetzt Sicherheit zu geben versprach. Alle Muskeln angespannt, ächzend, mit den Füßen an der Innenwand der Grube scharrend, versuchte er hochzukommen. Er durfte den hinterlistigen Peruaner mit dem Götzenbild nicht entkommen lassen. Er schwang wieder die Beine, strampelte, suchte nach einem Hebel, der ihm helfen würde, aus dem Schacht hinaufzusteigen, nach irgend etwas, egal, was es war, das spielte keine Rolle. Und die ganze Zeit über brach der Tempel auseinander wie eine armselige Strohhütte in einem Orkan. Er stöhnte, grub die Finger tiefer in die Erde über ihm, strengte sich an, bis seine Muskeln zu zerreißen und die Blutgefäße zu platzen drohten, zog sich hoch, während er hörte, daß seine Fingernägel unter dem Gewicht seines Körpers nachgaben und abbrachen. Fester, dachte er. Streng dich mehr an. Er setzte seine letzten Kräfte ein, blind vor Schweiß, mit vibrierenden Nerven. Irgend etwas muß nachgeben, dachte er. Irgend etwas reißt, dann wirst du bald wissen, was am Schachtboden ist. Er legte eine Pause ein, versuchte Kräfte zu sammeln, seine nachlassende Energie zusammenzuraffen, zog sich erneut Millimeter um Millimeter hoch. Endlich vermochte er das Bein über den Rand zu schwingen, sich über die Kante hinweg auf die relative Sicherheit des Bodens zu schieben – auf einen Boden aber, der schwankte und jeden Augenblick auseinanderzubersten drohte. Er stand unsicher auf und blickte in die Richtung, in der Satipo verschwunden war. Er war zu dem Raum gelaufen, wo sie Forre-stals Überreste entdeckt hatten. Die Kammer mit den Stahlkiefern. Die Folterkammer. Und plötzlich wußte Indy, was mit dem Peruaner geschehen würde, er kannte sein Schicksal plötzlich genau, bevor er noch das grauenhafte Klirren der spitzen Stangen hörte, bevor der Entsetzensschrei Satipos durch den Gang gellte. Er lauschte, griff nach seiner Peitsche und lief zur Kammer. Satipo hing an einer Seite, aufgespießt wie ein Falter von grotesker Größe in der Sammlung eines Wahnsinnigen. »Adios, Satipo«, sagte Indy, zog die goldene Figur aus der Tasche des Toten, zwängte sich an den Dornen vorbei und stürzte durch den Korridor hinter der Kammer. Vor sich sah er den Ausgang, das Licht an der Öffnung, das dichte Laub der Bäume dahinter. Und noch immer nahm das Grollen zu, schien seine Ohren zu sprengen, seine Knochen durchzuschütteln. Er drehte sich um und sah einen riesigen Felsblock durch den Korridor auf sich zurollen und immer schneller dahinrasen. Die letzte Falle, dachte er. Selbst wenn man in den Tempel gelangte, selbst wenn man alles überlebte, was an Gefahren lauerte, sollte man nicht lebendig davonkommen. Er raste weiter. Er hetzte wie ein Wahnsinniger zum Ausgang, während der gigantische Steinblock durch den Korridor donnerte. Er warf sich der Lichtöffnung entgegen und hechtete hinaus ins hohe Gras, gerade als der Steinblock an den Ausgang krachte und ihn für immer versperrte. Erschöpft und außer Atem blieb er auf dem Rücken liegen. Zu knapp, dachte er. Zu knapp, als daß man einen Trost darin finden könnte. Er wollte schlafen. Er wollte nichts anderes als die Gelegenheit haben, die Augen zu schließen und sich in die Dunkelheit tragen zu lassen, die Ruhe bringt, traumlose, tiefe Erleichterung. Du hättest dort tausend Tode sterben können, dachte er. Du hättest mehr Tode sterben können, als in einem ganzen Leben unterzubringen sind. Dann lächelte er, setzte sich auf und drehte die Figur in seinen Händen hin und her. Aber es hat sich gelohnt, sagte er sich. Das Ganze hat sich gelohnt. Er starrte die goldene Figur an. Er war immer noch in ihren Anblick vertieft, als ein Schatten auf ihn fiel. Sein Kopf zuckte hoch. Er kniff die Augen zusammen und starrte hinauf. Zwei Hovito-Krieger blickten auf ihn hinab, ihre Gesichter waren mit den grellen Farben der Kriegsbemalung beschmiert, die langen Bambus-Blasrohre hatten sie wie Speere erhoben. Aber es war nicht die Anwesenheit der Indianer, die ihn jetzt beunruhigte, sondern der Anblick des weißen Mannes, der zwischen ihnen stand. Er trug Safarikleidung und einen Tropenhelm. Indy sagte lange Zeit nichts. Der Mann mit dem Tropenhelm lächelte, und sein Lächeln war eiskalt und tödlich. »Belloq«, sagte Indy. Von allen Menschen auf der Welt ausgerechnet Belloq. Indy löste den Blick kurz vom Gesicht des Franzosen und starrte auf die Figur in seiner Hand, dann sah er an Belloq vorbei zu den Bäumen hinüber, wo an die dreißig Hovito-Indianer in einer Reihe nebeneinanderstanden.
Neben den Indianern stand Barranca, ein einfältiges, habgieriges Lächeln auf dem Gesicht, Ein Lächeln, das langsam der Verwirrung Platz machte, aus der dann ganz rasch ein starrer, leerer Ausdruck wurde, den Indy als Ankündigung des Todes erkannte. Die Indianer zu beiden Seiten des Peruaners ließen seine Arme los, und Barranca stürzte auf das Gesicht. In seinem Rücken steckten viele Pfeile. »Mein lieber Doktor Jones«, sagte Belloq. »Sie haben ein Talent, sich die falschen Freunde auszusuchen.« Indy sagte nichts. Er sah zu, wie Belloq die Hand ausstreckte und die Figur an sich nahm. Belloq betrachtete das Stück eine Weile genießerisch, drehte es hin und her und streichelte es zärtlich. Dann nickte er knapp, als wolle er eine unpassende Höflichkeit an den Tag legen. »Sie mögen angenommen haben, daß ich aufgegeben hätte. Aber wir stellen wieder einmal fest, daß es nichts gibt, was Sie besitzen können, ohne daß ich es Ihnen wegzunehmen vermag.« Indy schaute zu den Indianern hinüber. »Und die Hovitos erwarten, daß Sie ihnen die Figur übergeben?« »Gewiß«, antwortete Belloq. Indy lachte. »Naiv von ihnen.« »Sie sagen es«, gab Belloq zurück. »Wenn Sie nur ihre Sprache sprechen könnten, nicht wahr? Dann wären Sie natürlich in der Lage, ihnen zu erklären, wie es sich in Wirklichkeit verhält.« »Natürlich«, sagte Indy. Er sah zu, als Belloq sich den versammelten Kriegern zuwandte und das Idol hochhob. Wie auf Befehl, alle gemeinsam, so, als sei es einstudiert und lange geübt, legten die Indianer sich mit den Gesichtern nach unten auf den Boden. Ein Augenblick völliger Stille trat ein, ein solcher von primitiver Götterfurcht. Unter anderen Umständen wäre ich so beeindruckt, daß ich bleiben würde, um zuzusehen, dachte Indy. Unter anderen Umständen, aber nicht jetzt. Er schob sich langsam auf die Knie, blickte auf den Rücken Belloqs, schaute kurz zu den auf dem Boden liegenden Indianern hinüber - dann war er aufgesprungen und rannte auf die Bäume zu, wartete auf den Augenblick, in dem die Indianer aufstehen mußten und die Luft erfüllt sein würde vom Schwirren der Pfeile aus den Blasrohren. Er stürzte in den Wald, als er Belloqs Aufschrei hinter sich hörte, brüllend in einer Sprache, die gewiß die der Hovitos war, dann hetzte er durch das Unterholz, zurück zum Fluß und dem Wasserflugzeug. Lauf. Lauf, auch wenn du keine Kraft mehr im Leib hast. Hol die letzten Reserven heraus. Laufen sollst du! Dann hörte er die Pfeile. Er hörte sie durch die Luft fliegen, surren, pfeifen, eine Melodie des Todes. Er lief im Zickzack weiter, schlängelte sich durch das Dickicht, so schnell er konnte. Hinter sich hörte er Äste knacken und brechen, hörte, wie Ranken zerteilt wurden, als die Indianer ihn verfolgten. Er fühlte sich auf einmal von seinem Körper völlig losgelöst; er war über das Bewußtsein seines eigenen Körpers hinausgelangt, über die absurden Forderungen von Muskeln und Sehnen, trieb sich vorwärts auf eine Weise, die völlig automatisch war, eine Sache der Urreflexe. Er hörte gelegentlich einen Pfeil in einen Baumstamm klatschen, vernahm das erschrockene Flattern von Urwaldvögeln, die sich aus dem Geäst erhoben, das Quietschen von Tieren, die vor den anstürmenden Indianern davonstoben. Lauf, dachte er immer wieder. Lauf, bis du nicht mehr laufen kannst, und lauf dann noch ein Stück weiter. Denk nicht. Bleib nicht stehen. Belloq, dachte er. Meine Zeit wird kommen. Wenn ich das hier überstehe. Laufen - er wußte nicht, wie lange. Das Tageslicht verblaßte schon. Er blieb stehen, schaute hinauf zum dünnen Licht über den dichten Bäumen, dann stürmte er in Richtung des Flusses weiter. Was er jetzt mehr als alles andere hören wollte, war das lebenswichtige Geräusch rauschenden Wassers, was er sehen wollte, war das Flugzeug, das auf ihn wartete. Er warf sich herum und lief durch die Lichtung, zeitweise ungedeckt. Einen Augenblick lang wirkte die Lichtung, das Fehlen der Bäume, bedrohlich, die plötzliche Stille vor dem Abend beunruhigend. Dann hörte er die Schreie der Hovitos, und die Lichtung erschien ihm als schwarzer Mittelpunkt einer bizarren Schießscheibe. Er fuhr herum, sah Gestalten, hörte ein Sausen, als zwei Speere an ihm vorbeizischten - dann rannte er weiter, dem Fluß entgegen. Während er lief, dachte er: Sie bringen dir beim Archäologie-Seminar 101 keine Überlebensfähigkeiten bei, sie liefern keine Handbücher für das Überleben, während sie dich die Methodik der Ausgrabung lehren. Und ganz gewiß warnen sie dich nicht vor der Hinterlist eines Franzosen namens Belloq. Er blieb wieder stehen und lauschte den Geräuschen der Indianer hinter sich. Er nahm ein anderes Geräusch wahr, eines, das ihn mit Freude erfüllte, das ihn in Verzückung geraten ließ: das Rauschen von schnellströmendem Wasser, das Schwanken von Schilf. Der Fluß! Wie weit konnte er noch entfernt sein? Indy lauschte wieder, um Gewißheit zu erlangen, dann eilte er dorthin, wo die Geräusche herkamen. Er war von neuer Energie erfüllt, die Batterien waren wieder aufgeladen. Schneller jetzt, kraftvoller und schneller. Durch das Dickicht stürzen, das dich peitscht, auf die Kratz- und Schnittwunden nicht achten. Schneller und schneller. Das Geräusch wurde deutlicher. Das strömende Wasser.
Er stürzte zwischen den Bäumen heraus. Da! Unten an der Böschung, hinter dem dichtbewachsenen Ufer, der feindseligen Vegetation - der Fluß. Der Fluß und das Wasserflugzeug, auf dem Wasser tanzend. Er hätte sich nichts Herrlicheres vorstellen können. Er lief die Böschung entlang und begriff, daß es keinen mühelosen Weg durch die Vegetation hinunter zum Flugzeug gab. Es blieb auch keine Zeit, einen zu suchen. Du mußt am Ufer hinauf zu der Stelle, wo eine steile Klippe das Wasser überragt, und springen. Springen, dachte er. Na und? Was ist schon ein Sprung mehr? Er kletterte, während er unten einen Mann wahrnahm, der tief unten auf einer Tragfläche der Maschine saß. Indy erreichte eine Stelle fast genau über dem Flugzeug, starrte kurz hinunter, dann schloß er die Augen und trat ins Leere. Er prallte nicht weit von der Tragfläche entfernt in das laue Wasser, tauchte unter, als die Strömung ihn mitriß, schoß blindlings hoch und schwamm auf das Flugzeug zu. Der Mann auf der Tragfläche stand auf, als Indy eine Verstrebung packte und sich hochzog. »Starten, Jock!« schrie Indy. »Sofort! Nichts wie weg hier!« Jock hastete über die Tragfläche und kletterte in die Kanzel, während Indy atemlos auf den Passagiersitz stürzte und zusammensank. Er schloß die Augen und lauschte dem Brummen der Motoren, als das Flugzeug über den Fluß glitt. »Ich hatte nicht erwartet, daß Sie so plötzlich hereinschneien«, meinte Jock. »Sparen Sie sich die Witze, ja?« »Ärger, Kumpel?« Indy hätte am liebsten gelacht. »Bei Gelegenheit muß ich Ihnen das erzählen.« Er lehnte sich zurück und machte wieder die Augen zu, in der Hoffnung, Schlaf zu finden. Dann begriff er, daß das Flugzeug nicht abhob. Er setzte sich auf und beugte sich vor. »Abgesoffen«, sagte Jock. »Abgesoffen? Wieso?« Jock grinste. »Ich fliege das Ding nur. Die Leute haben immer den komischen Eindruck, daß alle Schotten große Mechaniker wären, Indy.« Durch das Fenster konnte Indy sehen, wie die Hovito-Indianer an einer seichten Stelle in den Fluß hineinwateten. Zehn Meter, noch sieben. Sie glichen grotesken Geistern vom Flußbett, die emporgestiegen waren, um irgendeinen Verstoß zu rächen. Sie hoben die Arme; ein Schwärm Speere flog auf den Rumpf der Maschine zu. »Jock...« »Ich bemühe mich ja, Indy. Ich bemühe mich.« »Ich finde, Sie sollten sich mehr anstrengen«, sagte Indy ruhig. Die Speere trafen das Flugzeug, klapperten auf die Tragflächen, prallten wie Hagelkörner an den Rumpf. »Ich hab's«, sagte Jock. Die Motoren sprangen stockend an, gerade als zwei von den Indianern zu einer Tragfläche geschwommen waren und daran hochkletterten. »Läuft schon«, sagte Jock. »Geht schon los.« Das Flugzeug setzte sich wieder in Bewegung, rauschte auf dem Fluß dahin und begann sich dann mühsam zu erheben. Indy sah, wie die beiden Indianer das Gleichgewicht verloren und gleich unheimlichen Urwaldgeschöpfen ins Wasser stürzten. Das Flugzeug stieg über die Baumwipfel empor, der Abwind schüttelte die Äste und trieb entsetzte Vögel in die letzten Strahlen der untergehenden Sonne hinaus. Indy lachte und schloß die Augen. »Dachte schon, Sie schaffen es nicht«, meinte Jock. »Wenn ich ganz ehrlich sein soll.« »Ich hatte nie Zweifel«, gab Indy zurück und lächelte. »Erholen Sie sich. Schlafen Sie. Vergessen Sie den Drecks-Urwald.« Indy döste einen Augenblick. Ruhe. Die Muskeln entspannen. Ein gutes Gefühl. Er hätte sich ihm lange überlassen können. Dann glitt etwas über seinen Oberschenkel. Langsam und schwer. Er öffnete die Augen und sah eine Königsschlange, die sich bedrohlich um seinen Schenkel ringelte. Er fuhr hoch. »Jock!« Der Pilot schaute um und lächelte. »Der tut Ihnen nichts, Indy. Das ist Reggie. Er tut keinem Menschen was.«
»Tun Sie das Ding weg, Jock.« Der Pilot griff nach hinten, streichelte die Schlange und zog sie zu sich in die Kanzel. Indy sah der Schlange nach, als sie davon-glitt. Ein alter Abscheu, unerklärlicher Schrecken. Bei manchen Menschen waren es die Spinnen, bei anderen Ratten, manche fürchteten sich vor geschlossenen Räumen. Bei ihm waren es Anblick und Berührung einer Schlange. Er rieb sich die Stirn, auf der wieder Schweißtropfen standen, und fröstelte plötzlich, als die nasse Kleidung an seinem Körper kühl wurde. »Behalten Sie sie bei sich«, sagte er. »Ich mag Schlangen nicht.« »Ich verrate Ihnen ein kleines Geheimnis«, erwiderte Jock. »Die meisten Schlangen sind netter als die meisten Menschen.« »Glaube ich Ihnen«, sagte Indy. »Aber halten Sie das Ding von mir fern.« Du glaubst, du bist in Sicherheit, dachte er, und auf einmal - eine Boa am Bein. Gehört wohl alles dazu. Er schaute eine Weile zum Fenster hinaus und sah, wie die Dunkelheit sich mit unergründlicher Gewißheit über den riesigen Urwald senkte. Du kannst deine Geheimnisse behalten, dachte Indy. Die kannst du allesamt behalten. Bevor er einschlief, eingelullt vom Brummen der Motoren, hing er noch dem hoffnungsvollen Gedanken nach, es möge nicht allzulange dauern, bis seine Wege sich mit denen des Franzosen wieder kreuzten.
Berlin In einem Büro in der Wilhelmstraße saß ein Offizier in der schwarzen SS-Uniform an einem Schreibtisch -ein Mann namens Eidel. Er starrte auf die Aktenstapel, die vor ihm lagen. Dem Besucher Eidels, der Dietrich hieß, war klar, daß der kleine Mann die Aktenstöße als Ausgleich brauchte. Er kam sich damit groß und wichtig vor. Es ist heutzutage überall so, dachte Dietrich. Man beurteilt einen Mann und seinen Wert nach dem Berg von Papierkram, den er aufhäufen kann, nach der Zahl der Gummistempel, die er benützen darf. Dietrich, der sich als aktiven Menschen betrachtete, seufzte innerlich und blickte zum Fenster, an dem eine hellbraune Jalousie herabgelassen worden war. Er wartete darauf, daß Eidel das Wort ergriff, aber der SS-Offizier schwieg schon geraume Zeit, so, als sollte sogar sein Schweigen etwas von dem vermitteln, was er als seine eigene Bedeutsamkeit betrachtete. Dietrich blickte auf das Führerbild an der Wand. Wenn man es genau nahm, kam es gar nicht darauf an, was man von Leuten wie Eidel hielt - schlaff, ein Schreibtischhocker, gespreizt, in armselige Büros eingesperrt -, weil Eidel zu Hitler direkten Zugang hatte. Man hörte sich also das an, was er zu sagen hatte, und man lächelte dazu, und man gab sich so, als sei man geringeren Ranges. Schließlich gehörte Eidel zum engsten Kreis des Führers, zur Leibstandarte. Eidel fuhr mit den Händen über seine Uniform, die frisch gewaschen und gebügelt zu sein schien. »Ich hoffe, ich habe Ihnen die Bedeutung dieser Sache klargemacht, Oberst.« Dietrich nickte. Er war ungeduldig. Er haßte Büros. Eidel stand auf, stellte sich auf die Zehenspitzen wie ein U- Bahn-Fahrgast nach einem Haltegriff, von dem er weiß, daßer zu weit entfernt ist; dann ging er zum Fenster. »Der Führer wünscht, daß dieser Gegenstand beschafft wird. Und wenn er einen Wunsch ausspricht, versteht sich ...« Eidel verstummte, drehte sich um und starrte Dietrich an. Er gestikulierte mit den Händen, um anzudeuten, daß das, was durch den Kopf des Führers ging, für geringere Sterbliche ohnehin unbegreiflich sei. »Ich verstehe«, sagte Dietrich und trommelte mit den Fingern auf seinen Aktenkoffer. »Die religiöse Bedeutung ist von Wichtigkeit«, fuhr Eidel fort. »Selbstverständlich ist es nicht so, daß der Führer ein besonderes Interesse an jüdischen Altertümern als solchen hätte.« Er unterbrach sich und lachte sonderbar, so, als glaube er, einen guten Witz gemacht zu haben. »Ihn interessiert mehr die symbolische Bedeutung des Stückes, wenn Sie verstehen.« Dietrich kam es so vor, als lüge Eidel und versuche hier etwas zu vertuschen. Es fiel schwer, sich vorzustellen, daß der Führer in diesem Zusammenhang auf symbolische Bedeutung Wert legte. Dietrich starrte auf das Telegramm, das Eidel ihm vorhin zu lesen gegeben hatte, dann blickte er wieder auf das Bild des Führers, das ernst und grimmig von der Wand herabschaute. Eidel sagte in der Art eines Oberlehrers: »Wir kommen nun zur Frage des Fachwissens.« »Gewiß«, nickte Dietrich. »Wir kommen im besonderen zur Frage des archäologischen Fachwissens.« Dietrich sagte nichts. Er sah, wohin das führte. Er begriff, was man von ihm wollte. »Ich fürchte, das übersteigt meine Fähigkeiten«, erklärte er. Eidel lächelte schwach. »Aber Sie haben Beziehungen, soviel ich weiß. Sie haben Verbindung zu den höchsten Autoritäten auf diesem Gebiet. Habe ich recht?« »Darüber ließe sich streiten.« »Dafür bleibt keine Zeit«, gab Eidel zurück. »Ich bin nicht hier, um darüber zu debattieren, was höchste Autorität bedeutet, Oberst. Ich bin, wie Sie, hier, um einen bestimmten Befehl auszuführen.«
»Daran brauchen Sie mich nicht zu erinnern«, antwortete Dietrich. »Ich weiß«, sagte Eidel. Er stützte sich auf seinen Schreibtisch. »Und Ihnen ist klar, daß ich von einer ganz bestimmten Autorität in Ihrem Bekanntenkreis spreche, deren Fachkenntnisse auf diesem Spezialgebiet für uns von unschätzbarem Wert sein werden. Richtig?« »Der Franzose«, sagte Dietrich. »Genau.« Dietrich schwieg lange. Er fühlte sich ein wenig beunruhigt. Es kam ihm vor, als sehe ihn Hitlers Gesicht mahnend und vorwurfsvoll an. »Und seine Vertrauenswürdigkeit ist nicht gerade die beste.« »Der Franzose ist schwer zu finden«, erklärte er. »Wie jeder, der sich als Söldner bezahlen läßt, nimmt er Aufträge auf der ganzen Welt an.« »Wann haben Sie zuletzt von ihm gehört?« Dietrich zog die Schultern hoch. »Als er in Südamerika war, denke ich.« Eidel betrachtete seine Hände, die schmal und blaß und trotzdem plump wirkten, wie die eines Menschen, dem es versagt geblieben ist, Konzertpianist zu werden. »Sie können ihn finden«, stellte er fest. »Verstehen Sie, was ich sage? Ist Ihnen klar, woher dieser Befehl kommt?« »Ich kann ihn finden«, sagte Dietrich. »Aber ich warne Sie gleich -« »Sie sollen mich nicht warnen, Oberst.« Dietrich spürte, wie seine Kehle trocken wurde. Dieser kleine, schwachsinnige Angeber und Schreibtischhengst. Es hätte ihm Spaß gemacht, ihn zu erdrosseln, ihm die Akten in den Schlund zu stopfen, bis er daran erstickte. »Nun gut, ich betone - der Franzose kostet viel.« »Kein Thema«, sagte Eidel. »Man geht davon aus, daß Sie wissen, wie Sie sich zu verhalten haben. Die Sache ist die, Oberst: Sie werden ihn finden und zum Führer bringen. Aber das muß rasch geschehen. Es muß gestern erledigt sein, wenn Sie verstehen.« Dietrich starrte die Jalousie an. Es erfüllte ihn mit Angst und Schrecken, daß der Führer sich mit Lakaien und Dummköpfen wie Eidel umgeben hatte. Das deutete auf eine gewisse Einschränkung der Urteilsfähigkeit im Umgang mit Menschen hin. Eidel lächelte, so, als belustige ihn Dietrichs Unruhe. Nach einer Pause sagte er: »Es eilt natürlich. Offenkundig interessieren sich auch andere dafür. Diese Herrschaften vertreten nicht die Interessen des Reiches. Drücke ich mich klar genug aus?« »Völlig«, sagte Dietrich. Er dachte kurz an den Franzosen. Er wußte, daß Belloq sich derzeit in Südfrankreich aufhielt, obwohl er das Eidel nicht mitzuteilen gedachte. Die Aussicht, mit Belloq ins Geschäft kommen zu müssen, war es, die ihn erschreckte. Der Franzose hatte eine Glätte an sich, die völlige Skrupellosigkeit verbarg, absoluten Egoismus, eine Mißachtung jeder philosophischen, politischen und glaubensmäßigen Anschauung. Wenn etwas Belloqs Interessen entsprach, war es von Gültigkeit. Wenn nicht, war es ihm gleichgültig. »Mit den anderen Herrschaften wird man kurzen Prozeß machen, wenn sie auftauchen sollten«, fuhr Eidel fort. »Sie brauchen sich damit nicht zu befassen.« »Dann äst es ja gut«, sagte Dietrich. Eidel griff nach dem Telegramm und warf einen Blick darauf. »Was wir besprochen haben, bleibt unter uns, Oberst. Das brauche ich eigentlich nicht zu betonen, nicht wahr?« »Sie brauchen es nicht zu betonen«, wiederholte Dietrich gereizt. Eidel kehrte an seinen Platz zurück und starrte den Besucher über den Aktenberg hinweg an. Er schwieg kurze Zeit, dann tat er so, als sei er erstaunt, Dietrich vorzufinden. »Sie sind immer noch hier, Oberst?« Dietrich umklammerte seine Aktentasche und stand auf. Es fiel schwer, gegenüber diesen schwarzuniformierten Hanswursten nicht Haß zu empfinden. Sie taten wirklich so, als gehöre ihnen die Welt. »Ich wollte eben gehen«, sagte Dietrich. »Heil Hitler«, sagte Eidel und streckte den Arm aus. An der Tür antwortete Dietrich ebenfalls mit dem deutschen Gruß.
Connecticut Indiana Jones saß in seinem Büro im Marshall-College. Er hatte eben seine erste Vorlesung des Semesters im Archäologie-Seminar 101 gehalten, und sie war gut abgelaufen. Sie lief immer gut ab. Er lehrte gern und wußte, daß er seine Leidenschaft für das Thema seinen Studenten vermitteln konnte. Aber jetzt war er ruhelos, und das störte ihn. Er wußte genau, was er eigentlich tun wollte. Indy legte die Beine auf den Schreibtisch, wobei er ein paar Bücher herunterstieß, dann stand er auf und ging im
Büro hin und her - sah es nicht als den vertrauten Ort, der es sonst war, seine Zuflucht, sein Versteck, sondern als die Zelle irgendeines Fremden. Jones! ermahnte er sich. Indiana Jones, sei vernünftig. Die Gegenstände rings um ihn schienen für eine Weile ihren Sinn zu verlieren. Die große Wandkarte von Südamerika wurde zu einem unwirklichen Farbklecks, zu einer abstrakten Schmiererei. Die Tonnachbildung des Götzen sah plötzlich albern und häßlich aus. Er griff nach der Figur und dachte: Für so etwas hast du dein Leben eingesetzt? Bei dir muß eine Schraube locker sein. Oder mehrere. Er behielt die Nachbildung der Götzenfigur in der Hand und betrachtete sie abwesend. Seine Besessenheit von altertümlichen Dingen kam ihm plötzlich abscheulich und unnatürlich vor. Eine unsinnige Vernarrt-neit m die alte Geschichte - mehr als das, das Bedürfnis, die Hand auszustrecken und sie zu berühren, festzuhalten, sie durch ihre Überreste und Funde zu verstehen, heimgesucht zu werden von den Gesichtern längst zu Staub zerfallener Künstler und Handwerker, umgeistert von der Vorstellung der Hände, die schier Unvergängliches geschaffen hatten. Und das alles nicht vergessen, nie ganz vergessen, nicht, solange man selbst am Leben war und mit einem diese unvernünftige Leidenschaft. Einen Augenblick lang kehrten die alten Empfindungen zurück, überschwemmten ihn mit der Erregung, die er das erstemal als Student gespürt hatte. Wie lange war das her? Fünfzehn Jahre? Zwanzig? Darauf kam es nicht an. Die Zeit war für ihn etwas anderes als für die meisten. Die Zeit war etwas, das man durch ihre verschütteten Geheimnisse entdeckte - in Tempeln, in Ruinen, unter Geröll und Staub und Sand. Die Zeit dehnte sich aus, wurde elastisch, erzeugte das Staunen darüber, daß alles, was je gelebt, mit allem verbunden war, das jetzt existierte - ja, daß im Grunde der Tod gar nichts zu bedeuten hatte, weil so viel blieb. Ohne Bedeutung. Er dachte an Champollion bei der mühseligen Arbeit am Stein von Rosette, an den Triumph, die alten Hieroglyphen endlich entziffert zu haben. Er dachte an Schliemann und seine Ent- deckung des alten Troja. An Flinders Petrie, der die Gräber der ägyptischen Vorgeschichte bei Nakada ausgegraben hatte. An Wolleey und seine Entdeckung der Königsgräber von Ur im Irak. An Carter und Lord Carnavon und ihren Zufallsfund, das Grab Tut-ench-Amuns. Da hatte alles angefangen. Mit diesem Augenblick der Entdeckung, der dem inneren Auge eines Orkans glich. Man wurde mitgerissen, davongetragen, zurückbefördert mit einer Art Zeitmaschine, von der die Schreiber utopischer Romane keine Vorstellung hatten - eine ganz persönliche Zeitmaschine, die ganz private Leitung zur fernen Vergangenheit. Er balancierte die Nachbildung des Götzen auf der Hand und starrte sie an, als sei sie eine persönliche Feindin. Nein, dachte er, dein schlimmster Feind bist du selbst, Jones. Du hast dich hinreißen lassen, weil du unter Forrestals Papieren die Hälfte eines Lageplans gefunden hast - und weil du unbedingt zwei Halunken trauen wolltest, die über die andere Hälfte verfügten. Schwachkopf. Und Belloq. Er war eigentlich der Schlaukopf. Belloq hatte den Blick für das Vielversprechende. Belloq war immer schon gewesen - vergleichbar mit den Schlangen, die dir so zuwider sind. Unbemerkt unter einem Stein hervorgleitend, glitschig und raubgierig, zustoßend auf das, was gar nicht selbst gejagt war. Vor seinem inneren Blick tauchte Belloq auf - das schmale, gut geschnittene Gesicht, die schwarzen Augen, das Lächeln, hinter dem sich die Verschlagenheit verbarg. Er dachte an andere Begegnungen mit dem Franzosen. Er erinnerte sich an die höhere Schule, als Belloq sich den Preis der archäologischen Gesellschaft durch eine Arbeit über Formationskunde erschlichen hatte beruhend auf Indys eigenen Nachforschungen. Auf irgendeine Weise hatte Belloq davon abgeschrieben, Zugang dazu gefunden. Indy hatte nichts beweisen können und es auch gar nicht versucht, weil er nicht als schlechter Verlierer hatte dastehen wollen, als Neider. '1934. Denk an den Sommer dieses Jahres, dachte er. 1934. Schwarzer Sommer. Er hatte monatelang eine Ausgrabung in der Rub al Khali-Wüste Saudi-Arabiens geplant. Monate angestrengter Arbeit und unzähliger Vorbereitungen, des Betteins um finanzielle Unterstützung, des Aufbauens, des Beharrens darauf, daß seine Instinkte nicht trogen, was die Ausgrabungsstelle anging, daß dort die Überreste einer Nomadenkultur zu finden waren, einer vorchristlichen Kultur. Und dann? Er schloß die Augen. Selbst heute noch erfüllte ihn die Erinnerung mit Bitterkeit. Belloq war ihm zuvorgekommen. Belloq hatte dort Ausgrabungen gemacht. Gewiß, der Franzose hatte nur weniges von historischer Bedeutung gefunden, aber das war nicht das Eigentliche. Das Eigentliche war, daß Belloq wieder bei ihm gestohlen hatte, und er, Indy, zum zweitenmal keine klare Möglichkeit zu erkennen vermochte, es zu beweisen.
Und jetzt das Götzenbild. Indy schreckte aus seiner Versunkenheit hoch und hob den Kopf, als die Tür aufging. Marcus Brody schaute herein, halb vorsichtig, halb besorgt. Er betrat das Zimmer. Indy betrachtete Marcus, den Konservator des National Museums, als seinen engsten Freund. »Indiana«, sagte Marcus leise. Indy streckte die Hand mit de,m Götzen aus, als wolle er die Figur dem anderen hinhalten, dann warf er sie plötzlich in den Papierkorb. »Ich hatte die echte Figur in der Hand, Marcus. Das echte Stück.« Indy setzte sich und lehnte sich zurück, die Augen geschlossen, rieb die geschlossenen Lider. »Das hast du mir erzählt, Indiana. Das hast du mir schon erzählt«, sagte Brody. »Gleich, als du zurückgekommen bist. Weißt du noch?« »Ich kann sie wieder in die Hand bekommen, Marcus. Das ist möglich. Ich habe es mir genau überlegt. Belloq muß sie verkaufen, nicht? Und wo wird er das tun, hm?« Brody sah ihn nachsichtig an. »Wo denn, Indiana?« »In Marrakesch und nirgendwo anders.« Indy stand auf und zeigte auf die Gegenstände, die auf dem Schreibtisch lagen. Es waren die Einzelstücke, die er aus dem Tempel mitgenommen hatte. »Schau. Sie müssen etwas wert sein, Marcus. Auf jeden Fall so viel, daß ich nach Marrakesch fahren kann, nicht?« Brody blickte kaum auf die Stücke, sondern legte die Hand auf Indys Schulter, freundschaftlich und sorgenvoll zugleich. »Das Museum kauft sie, wie üblich. Ohne Fragen. Aber über das Idol reden wir später. Ich möchte dich mit ein paar Leuten bekanntmachen. Sie kommen von weit her, um mit dir zu sprechen, Indiana.« »Was für Leute?« »Sie kommen aus Washington, Indiana. Nur, um mit dir zu sprechen.« »Wer ist das denn?« fragte Indy ungeduldig. »Militärische Abwehr.« »Militärische was? Bin ich etwa in Schwierigkeiten?« »Nein. Ganz im Gegenteil, offenbar. Sie scheinen deine Hilfe zu brauchen.« »Die einzige Hilfe, die ich brauche, ist die, das Geld zu beschaffen, damit ich nach Marrakesch fahren kann, Marcus. So viel wird beim Verkauf doch zu erzielen sein.« »Später, Indiana, später. Zuerst möchte ich, daß du mit den Leuten sprichst.« Indy blieb vor der Karte von Südamerika stehen. »Ja«, sagte er. »Ich spreche mit ihnen, wenn es dir so viel bedeutet.« »Sie warten im Hörsaal.« Sie traten in den Korridor hinaus. Ein hübsches, junges Mädchen tauchte vor Indy auf. Sie trug Bücher unter dem Arm und gab sich Mühe, beflissen und studierwillig auszusehen. Indys Miene hellte sich auf, als er sie sah. »Professor Jones«, sagte sie. »Ahm -« »Ich hatte gehofft, wir könnten uns besprechen«, sagte sie schüchtern und warf einen Seitenblick auf Marcus Brody. »Ja, sicher, Susan, klar, ich weiß, das habe ich versprochen.« »Aber nicht jetzt«, warf Marcus Brody ein. »Nicht jetzt, Indiana.« Er wandte sich dem Mädchen zu. »Professor Jones muß an einer sehr wichtigen Sitzung teilnehmen, meine Liebe. Warum rufen Sie ihn nicht ein paar Stunden später an?« »Ja«, murmelte Indy. »Bis Mittag bin ich wieder da.« Das Mädchen lächelte enttäuscht und entfernte sich. Indy sah ihr nach und bewunderte ihre Beine. Er spürte, daß Brody ihn am Ärmel zupfte. »Hübsch. Entspricht ganz deinen Maßstäben, Indiana. Aber später, ja?« »Später«, sagte Indy und löste den Blick widerstrebend von dem Mädchen. Brody öffnete die Tür zum Hörsaal. In der Nähe des Podiums saßen zwei Offiziere der Army. Sie drehten die Köpfe, als die Tür aufging. »Wenn das die Musterungskommission ist, ich habe schon gedient«, sagte Indy. Marcus Brody führte Indy zu einem Stuhl auf dem Podium. »Indiana, ich möchte dir Colonel Musgrove und Major Eaton vorstellen. Das sind die Herren, die eigens aus Washington gekommen sind, um mit dir zu sprechen.« »Freut mich«, sagte Eaton. »Wir haben viel von Ihnen gehört, Professor Jones. Doktor der Archäologie, Fachmann für das Okkulte, Beschaffer von wertvollen Raritäten.« »So kann man es auch nennen«, meinte Indy. »Das mit den seltenen Raritäten klingt vielversprechend«, stellte der Major fest. Indy warf einen Blick auf Brody, der das Wort ergriff. »Ich bin sicher, daß alles, was Professor Jones für unser Museum hier tut, im Einklang mit den Maßstäben der internationalen Vereinbarung über den Schutz von Altertümern ist.« »Aber ganz gewiß«, sagte Major Eaton. »Sie sind ein vielseitiger Mann, Professor«, erklärte Musgrove.
Indy winkte ab. Was wollten die beiden? »Soviel ich weiß, haben Sie an der Universität Chicago bei Professor Ravenwood studiert«, sagte Major Eaton. »Ja.« »Haben Sie eine Ahnung, wo er sich derzeit aufhält?« Ravenwood. Der Name weckte Erinnerungen von solcher Heftigkeit in Indy, daß er innerlich erschrak. »Nur Gerüchte, nicht mehr. Ich habe gehört, er sei in Asien. Genau weiß ich es nicht.« »Nach unseren Informationen standen Sie in sehr engen Beziehungen zu ihm«, warf Musgrove ein. »Ja.« Indy rieb sich das Kinn. »Wir waren Freunde. Aber seit Jahren haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Ich fürchte, wir haben uns zerstritten. So könnte man es jedenfalls nennen.« Zerstritten war noch höflich ausgedrückt. Eher ein totales Zerwürfnis. Dann dachte er an Marion. Das war eine unerwünschte Erinnerung, etwas, was er aus den tiefen Schichten in seinem Gedächtnis erst zutage fördern mußte. Marion Ravenwood, das Mädchen mit den wunderschönen Augen. Die Offiziere flüsterten miteinander und schienen zu einer Entscheidung zu gelangen. Eaton wandte sich Jones wieder zu und sagte mit ernster Miene: »Was wir Ihnen jetzt mitteilen, muß vertraulich behandelt werden.« »Sicher«, sagte Indy. Ravenwood - wo paßte der alte Mann in diese rätselhafte Geschichte hinein? Und wann gedachte man endlich zur Sache zu kommen? Musgrove ergriff das Wort. »Gestern fing eine unserer europäischen Zweigstellen eine Mitteilung ab, die von Kairo nach Berlin ging. Die deutschen Vertreter in Ägypten waren offenbar von Erregung ergriffen.« Musgrove warf einen Blick auf Eaton und wartete darauf, daß dieser fortfuhr, so, als sei jeder einzelne nur zur Offenbarung von Bruchstücken der Information befugt. »Ich weiß nicht recht, ob ich Ihnen da etwas mitteile, das Sie schon wissen, Professor Jones«, sagte Eaton, »wenn ich die Tatsache erwähne, daß die Deutschen seit zwei Jahren Archäologenteams durch die ganze Welt jagen -« »Das ist mir nicht entgangen.« »Gut. Sie scheinen voller Gier nach allen religiösen Altertümern zu suchen, die sie in die Hände bekommen können. Unseren Geheiminformationen zufolge ist Hitler vom Okkulten besessen. Er soll sogar einen persönlichen Wahrsager beschäftigen, wenn das der richtige Ausdruck ist. Und im Augenblick hat es ganz den Anschein, daß in der Wüste bei Kairo streng geheime archäologische Ausgrabungen stattfinden.« Indy nickte. Das Gespräch langweilte ihn. Er wußte von Hitlers scheinbar endlosen Bemühungen, die Zukunft zu erraten, Gold aus Blei zu machen, den Stein der Weisen zu finden, was auch immer. Nimm irgendwas, dachte er; wenn es nur absurd genug ist, scheint der Mann mit dem Schnurrbart sich dafür zu interessieren. Indy sah zu, als Musgrove ein Blatt Papier aus seiner Aktentasche zog. Musgrove behielt es in der Hand und sagte: »Die Mitteilung enthält Angaben zu den Tätigkeiten in der Wüste, aber wir wissen nicht, was wir davon halten sollen. Wir dachten, daß sich vielleicht Ihnen der Sinn erschließt.« Er reichte Indy das Blatt hinüber. Darauf stand: UNTERNEHMEN TANIS SCHREITET FORT. BESCHAFFEN AUFSATZ STAB DES RE. ABNER RAVENWOOD; USA. Er las die Wörter noch einmal, die Gedanken waren plötzlich klar, das Denken geschärft. Er stand auf, starrte Brody an und sagte fassungslos: »Die Nazis haben Tanis entdeckt.« Brodys Gesicht war blaß und wirkte grimmig. »Verzeihen Sie«, erklärte Eaton. »Ich komme da leider nicht mit. Was sagt Ihnen der Name Tanis?« Indy ging vom Podium zum Fenster. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Er stieß das Fenster auf und atmete die frische Morgenluft ein, die angenehm kühl in die Lunge drang. Tanis. Der Stab des Re. Ravenwood. Wie eine Flut kam es zurück, die alten Legenden, die Geschichten, die Fabeln. Er wurde schier erdrückt von den Dingen, von Wissen, das er jahrelang in sich gespeichert hatte - in einem solchen Maß, daß es ihn drängte, das rasch loszuwerden, es hinter sich zu bringen. Nur langsam, ermahnte er sich. Erklär es ihnen langsam, damit sie es verstehen können. Er drehte sich um und sagte zu den Offizieren: »Es wird da vieles für Sie nicht so leicht verständlich sein. Möglicherweise. Ich weißes nicht. Das hängt von Ihren persönlichen Ansichten ab, so viel kann ich Ihnen gleich verraten. Okay?« Er schwieg kurze Zeit und blickte auf ihre verständnislosen Gesichter. »Die Stadt Tanis ist einer der möglichen Fundorte für die verlorengegangene Bundeslade.« »Bundeslade?« sagte Musgrove. »Was meinen Sie damit?« »Ich spreche von der Lade, also dem Kasten, der Truhe, worin die Israeliten, die Juden, die Zehn Gebote aufbewahrten.« »Moment mal«, sagte Eaton. »Sie meinen die Zehn Gebote Gottes?« »Ich meine die echten Steintafeln, diejenigen, welche Moses vom Berg Sinai herabbrachte. Die ersten zerschlug er ja, als er sah, wie sein Volk um das Goldene Kalb tanzte. Er war auf dem Berg gewesen und hatte mit Gott geredet und die Gebote gehört, während sein Volk unten Orgien feierte und Götzenbilder aufstellte. Er wurde also zornig und zerbrach die Tafeln.«
Die Gesichter der beiden Offiziere waren ausdruckslos. Indy wünschte sich, den Männern etwas von der inneren Erregung vermitteln zu können, die er selbst empfand. »Moses bekam neue Gesetzestafeln von Gott, die Isrealiten legten sie in die Lade und nahmen sie überallhin mit. Als sie sich im Land Kanaan niederließen, wurde die Bundeslade in den Tempel Salomons gestellt. Dort bliebt sie lange Zeit, kam auch in andere Tempel... und verschwand.« »Wohin?« fragte Musgrove. »Niemand weiß es.« Brody sagte in geduldigerem Ton als Indy: »Ein ägyptischer Pharao eroberte um 926 v. Chr. Jerusalem. Er hieß Scheschonk. Es kann sein, daß er sie nach Tanis bringen ließ -« »Wo er sie in einer Geheimkammer versteckt haben könnte, die >Schacht der Seelen < genannt wurde«, warf Indy ein. Es blieb einige Zeit still. »Jedenfalls heißt es so«, fuhr Indy schließlich fort. »Aber jedem, der sich an der Lade vergriffen hat, scheint es schlecht ergangen zu sein. Bald, nachdem Scheschonk nach Ägypten zurückgekehrt war, ging Tanis unter, von einem Sandsturm in Wüste verwandelt, der ein ganzes Jahr dauerte.« »Der obligatorische Fluch«, meinte Eaton. Indy ärgerte sich ein bißchen. »Wenn Sie so wollen«, sagte er ungeduldig. »Aber während des Kampfes um Jericho trugen hebräische Priester die Lade sieben Tage um die Stadt herum, bis die Mauern einstürzten. Und als die Philister die Lade angeblich stahlen, zogen sie das ganze Unheil auf sich - einschließlich der Plagen von Aussatz und Ratten.« »Das ist ja alles ganz interessant«, sagte Eaton, »aber weshalb wird ein Amerikaner in einem Nazi-Telegramm erwähnt, falls wir wieder zur Sache kommen dürfen?« »Er ist der Fachmann für Tanis«, sagte Indy. »Tanis ließ ihn nicht los. Er besaß sogar Fundstücke von dort. Aber die Stadt selbst hat er nie aufspüren können.« »Aus welchem Grund sollten die Deutschen sich für ihn interessieren?« fragte Musgrove. Indy überlegte. »Ich habe den Eindruck, daß die Nazis den Aufsatz für den Stab von Re suchen. Und sie glauben, daß Abner ihn hat.« »Der Stab von Re«, sagte Eaton. »Das klingt alles so weit hergeholt und wenig glaubwürdig.« Musgrove, der sich für das Thema weit mehr zu erwärmen schien, beugte sich vor. »Was ist der Stab von Re, Professor Jones?« »Ich zeichne Ihnen das auf«, gab Indy zurück. Er ging zur Tafel und begann rasch zu skizzieren. Während er mit der Kreide zeichnete, sagte er: »Der Stab von Re soll angeblich der Schlüssel für den Aufbewahrungsort der Lade sein. Ein sehr raffinierter noch dazu. An sich war das ein langer Stock, vielleicht knapp zwei Meter hoch, niemand weiß es genau. Jedenfalls hatte er einen besonderen Aufsatz, ein Kopfstück in Gestalt der Sonnenscheibe, in deren Mitte ein Kristall angebracht war. Können Sie mir folgen? Man mußte den Stab in einen ganz bestimmten Kartenraum in Tanis tragen - dort war die ganze Stadt in Miniaturform nachgebildet. Wenn man den Stab zu einer ganz bestimmten Tageszeit an eine ganz bestimmte Stelle in diesem Raum steckte, schien die Sonne durch den Kristall im Aufsatz und lenkte einen Strahl auf das Stadtmodell, um den Ort zu bezeichnen, wo sich der Schacht der Seelen befand -« »Wo die Lade versteckt war?« ergänzte Musgrove. »Richtig. Und das ist vermutlich der Grund, weshalb die Nazis diesen Aufsatz oder Knauf oder wie man ihn nennen will, in ihren Besitz zu bringen trachten. Das erklärt, daß Ravenwood in dem Telegramm erwähnt wird.« Eaton stand auf und begann ruhelos hin und her zu wandern. »Wie sieht diese Lade eigentlich aus?« »Das zeige ich Ihnen«, sagte Indy. Er ging mit raschen Schritten durch den Saal, zog ein Buch aus einem Regal und blätterte, bis er eine große farbige Abbildung fand. Er zeigte sie den beiden Offizieren. Sie starrten schweigend auf die Illustration, die eine biblische Schlacht darstellte. Die Armee der Israeliten warf den Feind nieder; vor den Reihen der Juden trugen zwei Männer die Bundeslade, einen länglichen, goldenen Kasten, auf dem zwei goldene Cherubim mit verhüllten Häuptern angebracht waren. Die Juden trugen den Kasten an zwei Stangen. Er war aufgehängt an Ringen an seinen Ecken. Ein Gegenstand von außerordentlicher Schönheit - aber noch eindrucksvoller als das Aussehen war der durchdringende, grelle Strahl von weißem Licht und Flammen, der den Flügeln der Engel entsprang, eine Licht- und Feuer-Fontäne, die der zurückweichenden Armee entgegenschoß und Entsetzen und Verwüstung hervorzurufen schien. Musgrove sagte beeindruckt: »Was soll das sein, das aus den Flügeln kommt?« Indy zog die Schultern hoch. »Wer weiß? Blitzschlag. Feuer. Die Macht Gottes. Wie man es auch nennen mag, es war angeblich imstande,
Berge einzuebnen und ganze Gegenden zu verwüsten. Nach Moses' Worten war eine Armee, die im Besitz der Bundeslade war, unbesiegbar.«Indy blickte auf Eatons Gesicht und entschied: Der Kerl hat keine Phantasie. Den bringt nichts aus der Ruhe. Eaton starrte mit einem unmerklichen Achselzucken auf das Bild. Ungläubigkeit, dachte Indy. Die Skepsis des Berufssoldaten. »Wie stehen Sie selbst zu dieser... sogenannten Macht der Bundeslade, Professor?« »Wie ich schon sagte, das kommt darauf an, was man glauben will. Es hängt davon ab, ob man bereit ist, dem Mythos eine gewisse Wahrheit zu unterstellen.« »Sie weichen aus«, erwiderte Musgrove mit einem Lächeln. »Ich bin vorurteilslos«, gab Indy zurück. Eaton hob den Kopf. »Aber ein Verrückter wie Hitler... Es könnte sein, daß er wirklich an diese Macht glaubt, nicht? Er könnte das restlos geschluckt haben.« »Möglich«, sagte Indy. Er starrte Eaton zerstreut an und verspürte plötzlich ein vertrautes Gefühl der Vorahnung, eine innere Anspannung. Die untergegangene Stadt Tanis. Der Schacht der Seelen. Die Bundeslade. Hier entzog sich eine fremdartige Harmonie dem rationalen Denken, und sie verlockte ihn mit verführerischem Sirenengesang. »Er bildet sich vielleicht ein, mit der Bundeslade sei seine Militärmacht unbesiegbar«, sagte Eaton mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Wenn er wirklich das Ganze geschluckt hat, arm ich mir zumindest den psychologischen Vorteil ausmalen, den er sich davon erwartet.« »Da ist noch etwas«, warf Indy ein. »Der Überlieferung zufolge wird die Bundeslade zu dem Zeitpunkt wieder aufgefunden werden, wenn der echte Messias auftritt.« »Der echte Messias«, sagte Musgrove. »Für den hält Hitler sich vielleicht«, warf Eaton ein. Es wurde still. Indy blickte wieder auf die Illustration, auf die grelle Lichtzunge, die aus den Flügeln der Engel schoß und die zurückweichenden Feinde versengte. Eine Kraft, die alle anderen Kräfte übertraf. Die nicht mehr zu beschreiben war. Er schloß kurz die Augen. Was, wenn das wirklich wahr sein sollte? Was, wenn es eine solche Kraft wirklich gab? Nun gut, versuche du, logisch zu denken, versuche das so zu sehen, wie Eaton es tut, führe es zurück auf eine alte Mär, auf etwas, das von fanatischen Juden verbreitet worden ist. Schreckenspropaganda gegenüber ihren Feinden, eine Art psychologischer Kriegsführung. Trotzdem zeigte sich hier etwas, das man nicht einfach übergehen, nicht beiseiteschieben konnte. Er öffnete die Augen und hörte Musgrove seufzen. »Sie haben uns sehr geholfen«, sagte der Colonel. »Ich hoffe, wir dürfen uns wieder an Sie wenden, falls das nötig sein sollte.« »Jederzeit, meine Herren, jederzeit«, nickte Indy. Man schüttelte sich die Hände, dann begleitete Brody die Offiziere zur Tür. Indy blieb allein zurück und klappte das Buch zu. Er beschäftigte sich eine Weile mit seinen Gedanken und war gleichzeitig bemüht, das wachsende Gefühl der Erregung zu unterdrücken. Die Nazis haben Tanis gefunden - der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Susan sagte: »Ich hoffe, ich habe dich nicht in Verlegenheit gebracht, als du mir Brody aus dem Büro gekommen bist. Ich meine, ich war ja wirklich ... auffällig.« »Gar nicht«, sagte Indy. Sie saßen im vollgestopften Wohnzimmer in Indys kleinem Holzhaus. Das Zimmer war voll von Erinnerungsstücken an Reisen, an Ausgrabungen, von wieder zusammengesetzten Tonvasen und winzigen Statuetten, von Tonscherben und Landkarten und Globen - ein Durcheinander wie in meinem Leben selbst, dachte er manchmal. Das Mädchen zog die Knie an die Brust und ließ den Kopf darauf sinken. Wie eine Katze, dachte er. Eine kleine, zufriedene Katze. »Ich liebe dieses Zimmer«, sagte sie. »Ich liebe das ganze Haus ... aber vor allem dieses Zimmer.« Indy stand vom Sofa auf und ging im Zimmer herum, die Hände in den Taschen. Das Mädchen störte ihn aus irgendeinem Grund. Manchmal hörte er gar nicht hin, wenn sie etwas sagte. Er hörte nur ihre Stimme und nicht, was sie von sich gab. Er goß sich etwas zu trinken ein, schlürfte und trank; das Getränk brannte in seiner Brust ein angenehmes Glühen, wie eine winzige Sonne, die dort unten aufleuchtete. »Du wirkst heute so abwesend, Indy«, sagte Susan. »Abwesend?« »Dich beschäftigt etwas. Ich weiß nicht.« Sie zog die Schultern hoch. Er ging zum Radio, schaltete das Gerät ein, hörte kaum auf die Stimme, die für Maxwell-Kaffee warb. Das Mädchen stellte einen anderen Sender ein. Tanzmusik. Abwesend, dachte er. Weiter weg, als du dir vorstellen kannst. Meilenweit. Meere und Kontinente und Jahrhunderte weit entfernt. Er dachte plötzlich an Ravenwood,
an ihr letztes Gespräch, an den schrecklichen Wutanfall des alten Mannes. Während er dem Echo dieser Stimmen lauschte, fühlte er sich traurig, enttäuscht von sich selbst; er hatte eine zerbrechliche Wahrheit in die Hände genommen und sie zerbrochen. Marion ist rettungslos verliebt in Sie, und aas haben Sie ausgenützt. Sie sind achtundzwanzig Jahre alt, ein erwachsener Mann, möchte man meinen, und Sie haben die hirnlose Verliebtheit eines jungen Mädchens ausgenützt und Ihren eigenen Zwecken dienlich gemacht, nur, weil sie glaubt, sie liebe Sie wirklich. »wenn ich gehen soll, Indy, mußt du es sagen. Ich kann das verstehen, wenn du allein sein willst.« »Nein, ist schon gut. Wirklich. Bleib nur.« Jemand klopfte an die Tür; auf der Veranda knarrte es. Indy verließ das Wohnzimmer und ging in die Diele. Er sah draußen Marcus Brody stehen. Der Konservator lächelte geheimnisvoll, als bringe er Neuigkeiten von ganz besonderer Art. »Marcus«, sagte Indy. »Dich habe ich nicht erwartet.« »Ich glaube doch«, sagte Brody und öffnete die Fliegengittertür. »Gehen wir ins Arbeitszimmer«, schlug Indy vor. »Warum nicht ins Wohnzimmer?« »Gesellschaft.« »Ah. Natürlich.« Sie betraten das Arbeitszimmer. »Du hast es geschafft, wie?« sagte Indy. Brody lächelte. »Sie wollen, daß du die Bundeslade vor den Nazis herausholst.« Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Indy wieder Worte fand. Er wurde von Hochstimmung erfaßt, von einem Gefühl des Triumphes. Die Bundeslade. »Ich glaube fast, ich habe mein ganzes Leben daraufgewartet, so etwas zu hören.« Brody blickte auf das Schnapsglas in Indys Hand. »Sie haben mit ihren Vorgesetzten in Washington gesprochen und sind dann zu mir gekommen. Sie brauchen dich, Indy. Sie wollen dich haben.« Indy setzte sich an seinen Schreibtisch, starrte in sein Glas und schaute sich dann im Zimmer um. Eine merkwürdige Empfindung erfüllte ihn plötzlich; hier ging es um mehr als nur um Bücher und Artikel und Landkarten, um mehr als Spekulationen, Gelehrtenstreit, Diskussion, Fachdebatten - etwas ganz Wirkliches hatte alle die Wörter und Bilder verdrängt. »Da die Herren Militärs sind, schlucken sie natürlich nicht alles über die Wirkung der Lade und so weiter«, erklärte Brody. »Mit solchen Märchen wollen sie nichts zu tun haben. Sie sind schließlich Soldaten, und Soldaten halten sich für beinharte Realisten. Sie wollen die Lade - und ich zitiere, wenn ich das noch zusammenbringe - wegen ihrer Historischen und kulturellen Bedeu-tung< und weil >ein derartiger Gegenstand von unschätzbarem Wert nicht in den Besitz eines faschistischen Regimes gelangen sollVorschußdes amerikanischen Militärs< genannt hatte. Er besaß mehr als fünftausend Dollar, das er inzwischen als >Nachdrucks Warum hast du dich hinreißen lassen? Bei einem Mädchen, das noch gar nicht erwachsen war? Aber sie war ihm nicht unerwachsen vorgekommen, sie war eine Kind-Frau gewesen. Ihr Blick und ihr Aussehen hatten mehr gezeigt als ein Mädchen, das heranwuchs. Hör auf damit, vergiß es, ermahnte er sich. Du mußt dich jetzt mit anderen Dingen beschäftigen. Und Nepal ist nur ein Schritt auf dem Weg nach Ägypten. Ein weiter Schritt. Indy spürte, wie das Flugzeug kaum merklich herabsank, dann starker nach vorn kippte, dem Landeplatz entgegenrauschte. Er konnte aus der Schneewüste die schwach funkelnden Lichter einer Stadt auftauchen sehen. Er schloß die Augen und wartete auf den Augenblick, in dem das Fahrwerk den Boden berührte und das Flugzeug die Rollbahn hinunterfegte, bevor es abgebrernst wurde. Dann rollte das Flugzeug zu einem
Flughafengebäude - es war nicht viel mehr als ein großer Hangar, den man offenbar zu einem Abfertigungsgebäude umgebaut hatte. Er stand auf, räumte seine Papiere und Bücher zusammen, zog die Reisetasche unter dem Sitz heraus und ging durch die Maschine. Den Mann im Regenmantel unmittelbar hinter sich nahm Indiana Jones nicht wahr. Ein Passagier, der in Schanghai zugestiegen war und ihn auf dem letzten Teilstück der Reise ständig beobachtet hatte. Der Wind, der über das Flugfeld fegte, war beißend kalt und durchschnitt Indys Kleidung. Indy senkte den Kopf und hastete auf den Hangar zu, hielt mit der einen Hand seinen alten Filzhut fest, umklammerte mit der anderen die Leinentasche. Dann war er im Gebäude, das nicht viel wärmer wirkte. Die einzige Wärme schien von den dicht zusammengedrängten Leibern zu kommen, die er sah. Er brachte rasch die Zollformalitäten hinter sich, dann war er umringt von Bettlern, hinkenden Kindern, blinden Kindern, ein paar Männern mit Schüttellähmung, einigen zusammengeschrumpften Menschen, deren Geschlecht nicht erkennbar wurde. Sie klammerten sich an ihn, flehten ihn an, aber da er die Art der Bettler aus anderen Teilen der Welt kannte, wußte er auch, daß es besser war, nichts zu geben. Er zwängte sich hindurch, erstaunt von der Geschäftigkeit, die hier herrschte. Es war ebensosehr Bazar wie Flughafengebäude, voller Verkaufsstände und Tiere, dem Gewimmel eines Marktplatzes. Männer brieten Innereien auf Kohlenpfannen, andere würfelten hingebungsvoll, wieder andere schienen Esel zu versteigern - die Tiere waren in einer Reihe aufgestellt und mit Stricken gefesselt, Haut und Knochen, aus mehr bestanden sie nicht, dazu glanzlose Augen und räudiges Fell. Die Bettler drängten ihm nach. Er ging schneller, vorbei an den Buden, die Geldwechslern gehörten, Verkäufern von fremdartigen Früchten und Gemüsen, vorbei an den Teppich- und Tuchhändlern, an den Schneidern, die Lederbekleidung aus Yak-Häuten anboten, vorbei an den primitiven Imbißstuben und den Ständen, die kalte Getränke feilboten, umzingelt von Gerüchen, dem Gestank brodelnden Fetts, dem Duft von Parfüms, den Gerüchen unbekannter Gewürze. Er hörte, wie jemand im Gedränge seinen Namen rief. Indy blieb stehen und schwang ein wenig die Leinentasche, um die Bettler abzuwehren. Er starrte in die Richtung, wo die Stimme hergekommen war. Er sah das Gesicht von Lin Su, selbst nach so vielen Jahren war es ihm noch vertraut. Er zwängte sich zu dem kleinen Chinesen durch, und sie schüttelten sich eifrig die Hände. Lin Su, dessen faltiges Gesicht zu einem fast völlig zahnlosen Lächeln verzogen war, nahm Indy beim Ellenbogen und führte ihn durch einen Ausgang hinaus auf die Straße - wo ein Sturmwind, scharf und heftig, von den Bergen herabgeheult kam und zwischen den Häusern dahinfegte, als suche er Rache. Sie traten in einen Hauseingang. Der kleine Chinese hielt immer noch Indys Arm fest. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte Lin Su in einem Englisch, das zugleich kurios und gemessen klang, das aber auch verriet, daß seine Sprachkenntnisse ein wenig eingerostet waren. »Es sind viele Jahre.« »Zu viele«, sagte Indy. »Zwölf? Dreizehn?« »Wie Sie schon sagen, zwölf...« Lin Su machte eine Pause und blickte die Straße hinauf. »Ich habe natürlich Ihr Kabel erhalten.« Seine Stimme wurde leiser, als seine Aufmerksamkeit auf eine Bewegung auf der Straße gerichtet wurde, auf einen Schatten, der an einem Eingang vorbeihuschte. »Sie werden die Frage verzeihen, alter Freund. Folgt Ihnen jemand?« Indy sah ihn erstaunt an. »Nicht daß ich wüßte.« Indy blickte auf die Straße. Er sah nichts als die mit Fensterläden verschlossenen Fassaden kleiner Läden und das blasse Licht von der Farbe einer Kerosinflamme, das aus dem offenen Eingang einer Kaffeestube fiel. Der kleine Chinese zögerte kurz, dann sagte er: »Ich habe Erkundigungen für Sie eingezogen, wie Sie es wünschten.« »Und?« »In einem Land wie diesem ist es schwer, rasch Informationen zu erhalten. Das ist Ihnen klar. Die fehlenden Nachrichtenverbin-dungen. Und natürlich das Wetter. Der vermaledeite Schnee erschwert alles. Das Telefonsystem ist primitiv, wenn es über-haupt vorhanden ist.« Lin Su lachte. »Ich kann Ihnen aber sagen, er Ravenwood, als man das letztemal von ihm hörte, in der Gegend von Patan gewesen ist. Dafür kann ich mich verbürgen. Alles andere, was ich erfahren habe, sind Gerüchte und der Rede kaum wert.« »Patan, sagen Sie. Wie lange ist das her?« »Schwer zu sagen. Die letzte zuverlässige Nachricht stammt von vor drei Jahren.« Lin Su zog die Schultern hoch. »Ich bin sehr traurig, daß ich nicht mehr vermochte, mein Freund.« »Sie haben es sehr gut gemacht«, sagte Indy. »Besteht die Aussicht, daß er noch dort sein könnte?« »Ich kann Ihnen sagen, daß niemand davon weiß, er habe das Land verlassen. Darüber hinaus ...« Lin Su fröstelte und schlug den Mantelkragen hoch. »Immerhin«, meinte Indy. »Ich hätte natürlich gern mehr geliefert. Ich habe die Hilfe nicht vergessen, die Sie mir zuteil werden ließen, als ich das letztemal in Ihrem großen Land war.« »Ich habe nur eine Eingabe an die Einwanderungsbehörde gemacht, Lin Su.« »Gewiß, aber Sie teilten mit, ich sei in Ihrem Museum beschäftigt, obwohl das gar nicht zutraf.«
»Eine Notlüge«, sagte Indy. »Aber Freundschaft ist nichts anderes als die Summe von Freundlichkeiten.« »Sie sagen es.« Indy fühlte sich bei den orientalischen Förmlichkeiten, bei diesen Sprüchen, die aus den Schriften eines drittklas-sigen Konfuzius stammen mochten, nicht immer wohl, aber er begriff, daß Lin Su sich so typgemäß benahm, weil er das Gefühl hatte, man erwarte das von ihm. »Wie komme ich nach Patan?« Lin Su hob einen Finger in die Luft. »Da kann ich Ihnen helfen. Ich habe mir sogar schon die Freiheit genommen. Kommen Sie mit.« Indy ging mit dem kleinen Mann ein Stück die Straße hinunter. Vor einem Gebäude stand ein schwarzes Auto unbekannter Machart. Lin Su zeigte mit Stolz darauf. »Ich stelle Ihnen mein Automobil zur Verfügung.« »Geht das wirklich?« »Gewiß. Im Inneren finden Sie die erforderliche Karte.« »Ich bin überwältigt.« »Eine Kleinigkeit«, sagte Lin Su. Indy ging um das Auto herum. Er schaute durch das Fenster hinein, sah die zerfetzte Lederpolsterung, durch die Sprungfedern herausragten. »Was ist das für ein Modell?« fragte er. »Eine Promenadenmischung, fürchte ich«, sagte Lin Su. »Es ist von einem Mechaniker in China zusammengebaut und unter einigen Kosten an mich geliefert worden. Ein Teil Ford, ein Teil Citroen. Ich glaube, daß von einem Morris auch etwas zu finden ist.« »Und wie lassen Sie da etwas reparieren?« »Das kann ich beantworten. Ich halte die Daumen, daß nie etwas defekt wird.« Der Chinese lachte und gab Indy die Schlüssel. »Bis jetzt hat mich das Fahrzeug nicht im Stich gelassen. Das ist auch sehr gut, weil die Straßen hier über die Maßen schlecht sind.« »Erzählen Sie von den Straßen nach Patan.« »Schlecht. Wenn Sie Glück haben, können Sie dem Schnee jedoch entgehen. Folgen Sie der Route, die ich auf der Karte eingezeichnet habe. Dann sollte Ihnen nichts zustoßen.« »Ich kann Ihnen nicht genug danken«, sagte Indy. »Sie bleiben nicht über Nacht?« »Leider nicht.« Lin Su lächelte. »Sie haben... wie ist der Ausdruck? Ah, ja. Eine feste Frist?« »Richtig, die habe ich.« »Ihr Amerikaner«, sagte er. »Sie haben es immer eilig. Und leiden immer an Magengeschwüren.« »Bis jetzt haben sie mich verschont«, meinte Indy und öffnete die Autotür. Sie knarrte vernehmlich. »Der Gang ist schwer zu betätigen«, sagte Lin Su. »Die Steuerung ist wackelig. Aber Sie kommen an Ihr Ziel und wieder Zurück.« Indy warf seine Tasche auf den Beifahrersitz. "Was kann man von einem Auto mehr verlangen?« »Viel Glück, In-di-a-na.« Es klang wie ein chinesischer Name, wenn Lin Su ihn so aussprach. Sie tauschten einen Händedruck, dann schloß Indy die Autotür. Er drehte den Schlüssel im Zündschloß herum, hörte den Motor aufheulen, dann rollte das Fahrzeug. Er winkte dem kleinen Chinesen zu, der schon die Straße hinunterlief und über das ganze Gesicht strahlte, als sei er stolz darauf, seinen Wagen einem Amerikaner geliehen zu haben. Indy blickte auf die Karte und hoffte, daß sie genau war, weil er davon überzeugt sein konnte, daß er hier keine Hinweisschilder vorfinden würde. Er fuhr stundenlang auf den ausgefahrenen Straßen dahin, die Lin Su auf der Karte eingezeichnet hatte. Als es dunkel wurde, schienen die Berge ringsum wie riesige Gespenster näher heranzurücken. Er war froh, daß er in den Pässen oft nicht sehen konnte, wie steil es neben der Straße hinabging. Hier und dort, wo die Straße verschneit war, mußte er ganz langsam fahren und manchmal sogar aussteigen, um sich den Weg freizuschaufeln. Eine trostlose Gegend. Unwirtlich in einem Maße, das jeder Beschreibung spottete. Indy fragte sich, wie das sein mußte, wenn man hier lebte und nichts als ewigen Winter kannte. Das Dach der Welt, so hieß es. Durchaus glaubhaft, aber eben ein schrecklich einsames Dach. Lin Su konnte es offenbar ertragen, aber es war wohl die ideale Lage für sein Geschäft: Ein- und Ausfuhr von Gütern, wo die ganze Konterbande der Welt hindurchgeschleust wurde, ob es gestohlene Kunstwerke, Altertümer, Waffen oder Rauschgifte waren. Die Behörden sahen darüber hinweg, die Beamten hielten die Hände auf. Indy fuhr gähnend und schläfrig weiter, sehnte sich nach Kaffee, um sich ein wenig aufzupulvern. Meile um Meile lauschte er dem Quietschen und Ächzen der Stoßdämpfer, dem Knarren der Reifen im Schnee. Und ganz plötzlich, bevor er sich auf der Karte vergewissem konnte, erreichte er die Außenbezirke einer Stadt. Der Ort schien keinen Namen zu haben, Schilder fehlten. Er hielt am Straßenrand an und faltete die Karte auseinander.
Er knipste die Deckenbeleuchtung an und kam zu dem Schluß, daß er Patan erreicht haben mußte, weil es auf Lin Sus Karte keine zweite größere Ortschaft gab. Er fuhr langsam durch den weitgedehnten Außenbezirk, vorbei an armseligen Hütten und fensterlosen Lehmbauten. Dann erreichte er das, was nach einer Durchgangsstraße aussah, eine schmale Durchfahrt, mehr eine Gasse mit winzigen Läden und engen Gängen, die sich in unheimlichen Schatten verloren. Er stoppte und schaute sich um. Eine sonderbare Straße - und viel zu still. Indy kam plötzlich zum Bewußtsein, daß hinter ihm ein anderes Fahrzeug nachkam. Es fuhr mit einem Schlenker an ihm vorbei und wurde schneller. Als es verschwand, wurde ihm klar, daß es das einzige andere Auto war, das er auf dem ganzen Weg gesehen hatte. Was für ein gottverlassenes Loch! dachte er und versuchte sich vorzustellen, daß Abner Ravenwood hier lebte. Wie konnte ein Mensch das nur aushaken? Jemand kam ihm auf der Straße entgegen. Ein Mann, ein großer breitschultriger Mann in einer Pelzjacke, der wie ein Betrunkener hin- und herschwankte. Indy stieg aus und wartete, bis der Mann mit der Pelzjacke herangekommen war, bevor er ihn ansprach. Der Mann roch nach Schnaps, und das so stark, daß Indy den Kopf wegdrehen mußte. Der andere trat argwöhnisch zur Seite, als erwarte er, überfallen zu werden. Indy hob die Arme und streckte die Hände aus, die Innenflächen nach oben, um seine Harmlosigkeit zu bezeigen, aber der Mann trat nicht näher heran. Er beobachtete Indy mißtrauisch. Er schien gemischtrassiger Abstammung zu sein, mit Augen, die orientalisch aussahen, und breiten Backenknochen, die an einen Mongolen denken ließen. Versuch es einfach mit Englisch, dachte Indy. »Ich suche Ravenwood«, sagte er. Das ist absurd, fügte er im stillen hinzu. Mitten in der Nacht in einem wildfremden Ort, und du fragst nach einem Menschen in einer Sprache, die hier keiner versteht. »Ein Mann namens Ravenwood.« Der Mann glotzte ihn verständnislos an. Er öffnete den Mund. »Kennen-Sie-Mann-namens-Ravenwood?« Ganz langsam, wie bei einem Schwachsinnigen. »Raven-wood?« sagte der Mann. »Getroffen, Freund«, nickte Indy. »Raven-wood.« Der Mann schien an dem Namen herumzu-kauen. »Ja. Genau. Wir stellen uns also jetzt die ganze Nacht hierher und lallen uns gegenseitig etwas vor«, meinte Indy resigniert, durchfroren und erschöpft, wie er war. »Ravenwood.« Der Mann lächelte plötzlich, drehte sich um und zeigte die Straße hinauf. Indy folgte dem Finger mit seinem Blick und entdeckte in der Ferne ein Licht. Der Mann legte die gewölbte Hand an den Mund, als trinke er. »Ravenwood«, wiederholte er unablässig und zeigte nach hinten. Er begann nachdrücklich zu nicken. Indy ließ es sich gesagt sein, daß er diese Richtung einschlagen sollte. »Sehr verbunden«, sagte er. »Ravenwood«, erwiderte der Mann. »Ja, genau, richtig«, sagte Indy und ging zum Auto zurück. Er stieg ein und fuhr weiter, hielt an dem Licht, das der Mann ihm gezeigt hatte, und bemerkte erst jetzt, daß er ein Wirtshaus vor sich hatte, an dem, ausgerechnet, ein Schild in englischer Sprache hing: THE RAVEN. Der Rabe, dachte Indy. Der Mann hatte ihn falsch verstanden. Durcheinander und betrunken dazu, das war alles. Immerhin, wenn das der einzige Laden war, der in diesem Kaff geöffnet hatte, konnte er hier haltmachen und feststellen, ob irgend jemand sich auskannte. Er stieg aus und nahm erst jetzt den Lärm wahr, der aus der Kneipe drang, das Stimmengewirr, das Geschrei und Gelächter einer ganzen Anzahl von Gästen, die schon stundenlang tranken. Es war ein Geräusch, das er schätzte, eines, an das er gewöhnt war, und es wäre ihm nichts lieber gewesen, als sich zu den Angeheiterten zu gesellen. Nichts da, sagte er sich. Du hast nicht einen so weiten Weg zurückgelegt, um dich vollaufen zu lassen wie ein verirrter Tourist, der einmal erleben will, wie die unteren Stände sich vergnügen. Du hast ein Ziel, das klar umrissen ist. Er ging zur Tür. Du bist ja schon weiß-Gott-wo herumgekommen, dachte er, aber das ist wohl der Gipfel. Als er hineintrat, sah er einen bunt zusammengewürfelten Haufen, ein Gemisch aus aller Herren Länder. Es war, als hätte jemand einen Schöpflöffel genommen, ihn in ein Glas getaucht, in dem alles schwamm, was die Welt an Typen hervorgebracht hatte, und den Inhalt hier in dieser absurden, einsamen Dunkelheit ausgegossen. Das ist wahrhaftig der Gipfel, dachte Indy belustigt. Sherpa-Bergführer, Nepalesen, Mongolen, Chinesen, Inder, bärtige Bergsteiger, die aussahen, als würden sie in ihrem jetzigen Zustand von einer Trittleiter kippen, verschiedene Leute, denen man nicht auf Anhieb ansah, wo sie herkamen. Das ist wahrhaftig Nepal, dachte er, und das ist das Treibgut des internationalen Rauschgifthandels, der Schmuggelorganisationen, der Banditen. Er schloß hinter sich die Tür, dann entdeckte er hinter der langen Bartheke an der Wand einen ausgestopften riesengroßen Raben, die Flügel drohend gespreizt. Reichlich unheimlich, dachte er. Und es beunruhigte ihn, daß diese seltsame Übereinstimmung zwischen Abners Familiennamen und dem Namen dieses Lokals aufgetaucht war. Zufall? Er trat vor in den Raum, der nach Schweiß und Alkohol und Tabakrauch roch. Er nahm den süßlichen Geruch von Haschisch in der Luft wahr. An der Bartheke, wo die meisten Gäste sich versammelt hatten, war etwas im Gange. Eine Art
Trinkwettbewerb. Auf der Theke stand eine lange Reihe von Schnapsgläsern. Ein großer, breiter Mann, der mit australischem Akzent etwas rief, stand schwankend davor, hob die Hand und tastete blind nach dem nächsten Glas. Indy trat näher heran. Eine Wette. Er fragte sich, wer der Gegner des Australiers sein mochte. Er zwängte sich durch das Gedränge, um das festzustellen. Als er es sah, als er den Gegner bei dem Wettbewerb erkannte, wurde ihm einen Augenblick schwindlig, seine Brust schnürte sich zu, ein Stich durchfuhr seinen ganzen Körper. Und sekundenlang stülpte die Zeit sich um, verwandelte sich wie eine vor langer Zeit gemalte, bis jetzt unberührte Landschaft. Eine Illusion. Eine Fata Morgana. Er schüttelte den Kopf, als könnte ihn das in die Wirklichkeit zurückreißen. Marion. Marion, dachte er. Die dunklen Haare, die in weichen Wellen auf ihre Schultern herabfielen, die großen, klugen braunen Augen, die Welt mit leichter Skepsis betrachtend, ein wenig ungläubig angesichts dessen, wozu der Mensch fähig war - Augen, bei denen es ihm stets so vorgekommen war, als blickten sie in das Innerste hinein, als könnten sie die geheimsten Triebfedern erkennen; der Mund -vielleicht war nur der Mund ein wenig anders geworden, ein wenig härter, der Körper ein wenig voller. Aber es war wirklich Marion, die Marion seiner Erinnerung. Und sie stand hier und hatte sich mit einem Bären von Australier in eine Trinkwette eingelassen. Er schaute zu, wagte kaum sich zu bewegen, während die Umstehenden Nebenwetten auf den Ausgang des Wettbewerbs abschlössen. Selbst dem ahnungslosesten Zuschauer mußte es als kaum denkbar erscheinen, daß der Australier von einer Frau unter den Tisch getrunken werden konnte, die nicht viel über einssechzig groß war. Aber sie kippte einen Schnaps nach dem anderen, ohne hinter dem Mann zurückzubleiben. Irgend etwas in Indy, eine Verkrampfung, ein steinharter Knoten, löste sich plötzlich und wurde weich. Er hätte sie am liebsten aus diesem Irrenhaus herausgeholt. Nein, wies er sich zurecht. Sie ist kein Kind mehr, nicht länger Abners Tochter - sie ist eine Frau, eine junge, schöne Frau. Und sie weiß, was sie tut. Sie wird allein fertig - sogar hier, mitten in diesem Gewühl von Verkommenen, Straßenräubern und Besoffenen. Sie kippte wieder ein Glas. Die Zuschauer brüllten. Mehr Geld flog auf die Theke. Jubelgeschrei. Der Australier taumelte, griff nach einem Glas, verfehlte und kippte um wie ein gefällter Baum. Indy war beeindruckt. Er sah zu, als sie die schwarzen Haare zurückwarf, nach dem Geld auf der Theke griff und den Gästen etwas zurief; obwohl er die Sprache nicht kannte, wurde aus ihrem Tonfall klar, daß sie den Wettbewerb für beendet erklärte. Ein Glas stand jedoch noch auf der Theke, und man sah, daß keiner sich zu entfernen gedachte, bevor sie auch dieses geleert hatte. Sie schaute sich im Kreis um und sagte: »Penner.« Dann kippte sie den Schnaps hinunter. Die Zuschauer brüllten wieder auf, Marion schwenkte die Arme, und das Gedränge begann sich aufzulösen. Murrend und schlurfend ging man zur Tür. Der Barmann, ein Nepalese, sorgte dafür, daß die Leute auch wirklich gingen, und drängte sie in die Nacht hinaus. In einer Hand hielt er einen Axtstiel. In einem Lokal wie diesem braucht man vielleicht sogar mehr als das, um schließen zu können, dachte Indy. Dann war es an der Theke leer, die letzten Nachzügler hatten den Raum verlassen. Marion ging hinter die Theke, hob den Kopf und sah Indy an. »He, hörst du nicht? Wohl taub, wie? Schluß! Hast du verstanden? Bairra tschakaiho?« Sie ging auf ihn zu. Auf einmal blieb sie wie angewurzelt stehen, als ginge ihr ein Licht auf. »Hallo, Marion«, sagte er. Sie rührte sich nicht. Sie starrte ihn nur an. Er versuchte sie so zu sehen, wie sie jetzt war, nicht als die Erscheinung in seinem Gedächtnis, und das fiel ihm auf einmal schwer. Wieder schnürte sich etwas zu in ihm, diesmal in seiner Kehle. »Hallo, Marion«, sagte er noch einmal. Er setzte sich auf einen Barhocker. Einen Augenblick lang glaubte er, in ihrem Blick eine alte Empfindung aufleuchten zu sehen, etwas, das dort eingesperrt war - aber was sie als nächstes tat, verblüffte ihn völlig. Sie ballte die Faust, holte blitzschnell aus und traf ihn mit Wucht am Kinn. Er kippte vom Barhocker herunter, blieb am Boden liegen und schaute zu ihr hinauf. »Mich freut es auch, dich wiederzusehen«, sagte er, rieb sich das Kinn und grinste. »Steh auf und verschwinde!« sagte sie. »Warte, Marion.« Sie blieb vor ihm stehen. »Ein zweites Mal geht das genausogut«, sagte sie und ballte wieder die Faust. »Das glaube ich«, sagte er. Er schob sich auf die Knie hoch. Durch Unterkiefer und Kinn ging ein schmerzhafter Stich. Wo hatte sie gelernt, so zuzuschlagen? Wo hatte sie überhaupt gelemt, so zu trinken? Was sagt man? dachte er. Aus dem Mädchen wird eine Frau, und die Frau weiß sich zu helfen.
»Ich habe dir nichts zu sagen.« Er stand auf und wischte sich den Schmutz von der Kleidung. »Okay, okay«, sagte er. »Mag sein, daß du nicht mit mir reden willst. Das kann ich verstehen -« »Sehr einsichtsvoll von dir.« Die Bitterkeit, dachte Indy. Verdiente er sie denn? Nun ja, vielleicht. »Ich bin hier, um mit deinem Vater zu sprechen«, sagte er. »Da kommst du zwei Jahre zu spät.« Indy bemerkte aus dem Augenwinkel, daß der Nepalese den Axtgriff in der Hand wog. Ein bedrohlich aussehender Bursche, eigentlich. »Schon gut, Mohan. Ich mache das schon.« Sie wies mit einer verächtlichen Handbewegung auf Indy. »Geh nur nach Hause.« Mohan legte den Axtgriff auf die Theke. Als sie ihm zunickte, ging er achselzuckend zur Tür und verließ das Lokal. »Was heißt >zwei Jahre zu spät