In Satans Hand von Adrian Doyle & Timothy Stahl
Nach Anums Tod lebt Lilith ein gespenstisches Leben im Bannkreis des T...
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In Satans Hand von Adrian Doyle & Timothy Stahl
Nach Anums Tod lebt Lilith ein gespenstisches Leben im Bannkreis des Teufels. Gabriel hat die heilige Stadt Jerusalem als Heerlager auserkoren und plant einen Kreuzzug, von dem weder die letzten Vampire noch die Menschen etwas ahnen. Er will die Ernte einbringen, die seine Vorgänger über viele Jahrhunderte ausgesät haben. Aber ist sie aufgegangen? Ist die Welt reif für die Herrschaft des Bösen? Wird am Ende der gefallene Engel Luzifer selbst durch das Tor stoßen, das sein Reich vom Diesseits trennt? Lilith ist verzweifelt, als Gabriel sich mit seinen Absichten brüstet. Aber was kann sie tun? Sie hat einen Pakt mit ihm geschlossen und ist ganz in Satans Hand …
Was bisher geschah … Im Dunklen Dom, der Heimstatt der Hüter, ist Anum erwacht, einer der Vampirfürsten, die vor Urzeiten über die Menschheit regierten. Er und Landru sind die letzten dieser Alten Rasse. Als Anum von Landrus Machtgelüsten und Versagen erfährt, nimmt er das Schicksal seines Volkes in die eigenen Hände. In Uruk trifft er auf die Halbvampirin Lilith, die seinem Einfluß verfällt und ihm nach Jerusalem folgt. Dort gelingt es ihr, Landru zu pfählen – scheinbar! Denn Gabriel, die Inkarnation Satans in dieser Epoche, hat einem Homunkulus Landrus Aussehen und Gedächtnis verliehen! Der echte Landru erfüllt indes den Pakt, den er mit Gabriel schloß: Im Weißen Tempel von Uruk befreit er eine dort eingekerkerte Loge des Satans, die Archonten, und führt sie nach Jerusalem. Nona, Landrus Geliebte, hat seinen scheinbaren Tod dort miterlebt, und da sie nicht von Gabriels List weiß, folgt sie voller Rachegelüste Lilith und Anum und beobachtet, wie die beiden sich im Haus des Gemüsehändlers Chaim einquartieren. Die Bewohner des Hauses kommen dabei ums Leben – bis auf die beiden Kinder David und Rahel, mit denen Anum Großes vor hat. Denn er will eine weitere Kelchtaufe durchführen, um das Geschlecht der Vampire wieder zu vermehren. Von Stonehenge aus strahlt Gabriel die gebündelte Seelenenergie von 350 Verbrechern in den nächtlichen Himmel. Denn hier ließ zu Zeiten König Minos’ die damalige Inkarnation des Satans den ersten Wolfskrieger einer Armee entstehen, die ihn dereinst in seinem letzten, alles entscheidenden Kampf unterstützen soll. Der Seelenstrahl trifft den Mond – und überall auf der Welt machen sich Werwölfe auf, gen Jerusalem zu ziehen und sich dort zur schrecklichsten Armee zu sammeln, die es je gegeben hat … auch der friedliche Chiyoda und seine Schüler, die dem Bösen abzuschwören hofften! Makootemane und Esben Storm – ein indianischer Vampir und ein australi-
scher Aboriginal –, können Chiyoda jedoch auf Traumzeitpfade entführen und dort die Verwandlung rückgängig machen. Anum tauft die beiden Chaim-Kinder mit Liliths Blut! Doch während David sich auflöst, geht mit Rahel eine sonderbare Verwandlung vor. Landru erkennt in ihr den Messias der Vampire, als er, wieder mit Nona vereint, Anum und Lilith angreift – und unterliegt! Nur Gabriel, der Anum köpft, verdankt er letztlich den Sieg. Gleich darauf gibt der Satan Lilith ihr Gedächtnis zurück, das sie während eines Aufenthalts in der Hölle verloren hatte, und läßt sie mit Nona und einem halbtoten Landru allein. Rahel aber konnte während des Zweikampfs entkommen. Nun offenbart Gabriel Lilith das Geheimnis seiner Existenz und das Wirken Satans in grauer Vorzeit: wie er Gottes Sohn versuchte und letztlich dessen Tod verschuldete – wodurch das Christentum erst wahrhaft groß wurde. Diesen Fehler will er nun korrigieren – und Lilith soll ihm dabei helfen …
Durch enge Straßen und Gassen eilten die Archonten im Licht der blutrot untergehenden Sonne den Zielen entgegen, die Satan ihnen genannt hatte. Einst im zarten Kindesalter verstorben, hatte der Teufel sie wiederbelebt und ihre vom Jenseits berührten Seelen miteinander verbunden. Niemand hielt die fahlweißen Männer und Frauen mit den blutroten Augen auf, als sie ihren rund um die Stadt verteilten Positionen entgegenstrebten. Von dort sollten sie die einstige Hauptstadt des Königreichs Jerusalem in einen Ort der Finsternis und der ewig Verdammten verwandeln …
»Ist es nicht … Ich meine … Gott, es ist wunderschön …!« Emerson Fitzgerald breitete die Arme aus und hob das Gesicht dem pastellfarbenen Abendhimmel entgegen, als rufe er wirklich seinen Schöpfer an, um die Schönheit Jerusalems zu preisen. Leanns schlanke Finger schlangen sich in seine Hand und drückten sie, wie um ihrem Mann zu zeigen, daß er nicht träumte; daß er tatsächlich in Jerusalem war – in der Stadt, die ihn mehr interessierte als jede andere der Welt, über die er soviel gelesen hatte. Emerson Fitzgerald war von der heiligen Stadt beinahe schon besessen. Aber es war eine rührende Art von Besessenheit, nicht verbissen, nur begeistert, und sie war ansteckend. Leann hatte er immerhin soweit infizieren können, daß sie Jerusalem zum Ziel ihrer Flitterwochen erkoren hatte – was für Emerson das schönste aller nur denkbaren Hochzeitsgeschenke gewesen war. Zwar schwor er Stein und Bein, daß er sich noch mehr darüber gefreut hatte, als Leann seinen Heiratsantrag angenommen hatte – sie selbst zweifelte allerdings daran. Doch das nahm sie ihm nicht übel. Seine Begeisterungsfähigkeit und sein Humor waren die Eigenschaften, die sie ne-
ben seinem blendenden Aussehen am meisten an ihm schätzte. Hand in Hand standen sie auf dem Balkon der Suite, die sie im luxuriösen American Colony Hotel am Fuß des Berges bezogen hatten, der ganz Jerusalem überragte. Eine perfektere Aussichtsplattform als den Skopus konnte es gar nicht geben. Von dort oben betrachtet mußte die Stadt, deren Wurzeln bis in die Zeit von König David zurückreichten, noch um ein Vielfaches magischer, atemberaubender wirken. »Laß ihn uns heute noch ersteigen!« Emerson zog seine frisch angetraute Frau spontan enger an sich und blickte tief in ihre Augen, in denen sich das Gold des Kuppeldaches zu spiegeln schien, unter dem der Felsendom behütet lag. »Heute noch?« Leann wiegte skeptisch den Kopf. Wer sie so gut kannte wie Emerson wußte, daß dies noch kein Nein bedeutete. »Es wird bald dunkel. Wie wäre es, wenn ich dich ersteige und wir uns den beschwerlichen Gipfel für morgen früh aufheben …?« »Wenn das ein eindeutiges Angebot sein soll, zeige ich mich vielleicht kompromißbereit …« »Kompromißbereit? Wie kannst du es wagen, bei einem solchen Angebot überhaupt zu zögern?« Leann fuchtelte in gespielter Empörung mit der Faust vor seinem Dreitagebart herum. »Du kennst mich«, verteidigte sich Emerson beherzt. »Ich will immer alles – und das möglichst gleichzeitig.« »Ja, du bist ein großer Junge …« »Das, was du gerade spürst, wird groß. – So groß, daß mir gar keine Wahl bleibt, als …« »Als?« Sie küßte das Grübchen auf seinem Kinn. »… an meiner Forderung nach einem Kompromiß festzuhalten.« »Schurke!« »Halb so schlimm. Erst widmen wir uns dem, was uns beiden Spaß macht – und danach sehen wir uns Jerusalem unter dem Sternenhimmel an! Einverstanden?« Leann nickte, als hielte sie noch einen Trumpf in der Hinterhand,
um dem zweiten Teil seines Vorschlags zu entgehen. »Unter einer Bedingung.« »Welche?« »Den Skopus nehmen wir nur dann in unser heutiges Programm auf, wenn du – nachdem ich mit dir fertig bin – überhaupt noch in der Lage bist, ihn zu erklimmen!« Emersons fuhr die Linien ihres sinnlich-anrüchigen Mundes mit der Fingerspitze nach – bis sie sich diesen Finger mit den Zähnen schnappte. Und Emerson, ohne loszulassen, daran vom Balkon weg ins klimatisierte Zimmer des American Colony zog. »Ich liebe dich«, seufzte er, während sie ihn von seiner Kleidung befreite, sich selbst aber zunächst nur den aufregenden String-Tanga abstreifte, der ihren Schoß und die rasierte Scham bedeckt gehalten hatte. Obwohl das knielange Sommerkleid sofort wieder über ihre Schenkel fiel, blitzte es in Emersons Augen verlangend auf. Erwartungsfroh fiel er rücklings aufs Bett und zog Leann mit sich. Sie versanken in der viel zu weichen Matratze, aber das störte nicht. Die Leidenschaft ging mit ihnen durch und schenkte ihnen unvergeßliche Wonnen. Weder Leann noch Emerson ahnten, daß dies das letzte Mal überhaupt war, daß sie sich gegenseitige Befriedigung schenken durften. Daß einer von ihnen die kommende Nacht nicht überleben sollte. Und der andere … … sich am Ende wünschen würde, nie gelebt zu haben …
* Zur gleichen Zeit … ZZZUUUWWW! »Wo sind wir?«
»Im Himmel!« Lilith spürte, wie ihr Gabriels Sarkasmus eine Gänsehaut erzeugte, die sogar den Symbionten, der sich an sie schmiegte, als wäre er ein natürlich gewachsener Teil ihres Körpers, mit einzubeziehen schien. Fröstelnd stellte sie fest, daß sie keinen Boden mehr unter ihren Füßen spürte. Denn unter ihr und Gabriel gähnte ein Abgrund. Schimmerte Jerusalem im letzten Licht des sterbenden Tages! Sie waren tatsächlich im Himmel – wenngleich nicht in dem, auf den der Teufel in Menschengestalt gerade angespielt hatte. »Du siehst«, verspottete sie der junge Mann mit dem sich selbst karikierenden Yuppie-Outfit, »es bedarf nicht unbedingt läppischer Flügel, um der Schwerkraft ein Schnippchen zu tragen. Einem wie mir genügt der Gedanke: Mein Wille geschehe! – und schon …« Letztlich war auch dies eine Verhöhnung des einen Gottes, der seinen Willen in Lilith verankert, der ihr aufgetragen hatte, die letzten Vampire, die von der Purpurseuche verschont geblieben waren, zu jagen und zu vernichten. Lilith stand in einer geschätzten Höhe von zweihundert Metern über der Jerusalemer Altstadt und sah, wie die Dämmerung über die Stadt zu kriechen begann. Widerwillig löste sie ihren Blick von der Tiefe. Aber statt sich Gabriel zuzuwenden, hob sie ihre linke Hand und öffnete sie. Über Monate hinweg hatte sie sich den Kopf über die Bedeutung des Fledermaus-Tattoos zerbrochen und sich gefragt, ob es überhaupt eine Bedeutung über den schmückenden Effekt hinaus hatte. Nun wußte sie es … wieder. DAS MAL WIRD VERLÖSCHEN, SOBALD DU DEN LETZTEN VAMPIR AUF ERDEN GEFUNDEN UND ZUR STRECKE GEBRACHT HAST! Nach dem Verschwinden der Tätowierung würde sie, so war es ihr versprochen worden, künftig kein Blut – welcher Farbe auch immer – trinken müssen!
Welcher Farbe auch immer … Hatte Gott ihr nicht aufgebürdet, sich nur noch von schwarzem Vampirblut zu ernähren, bis ihre Aufgabe erfüllt war? Rotes Menschenblut hatte sie geekelt, hatte ihrem Körper nicht mehr gemundet … Nach der Rückkehr aus der Hölle aber, nach dem Erwachen im Kloster Monte Cargano hatte Menschenblut sie plötzlich doch wieder in jeder Hinsicht befriedigt. Welche Farbe hatte das Blut, das sie jetzt, nach dem Wiedererwachen ihrer alten Persönlichkeit, rauschhaft anzog …? »Was ist?« Fragend blickte sie Gabriel an. »Es ist Zeit.« »Zeit wofür?« »Das weißt du. Zeit für Antworten! Im Felsendom hast du versprochen, mir nun endlich deine Pläne offenzulegen – auch deine Pläne mit mir. Halte dieses Versprechen!« »Das werde ich – gleich«, erwiderte Gabriel in einem Ernst, der ebenso gespielt sein konnte wie sein übliches Auftreten, das nichts ernstnahm. »Ich muß nur erst Vorbereitungen treffen, um dir meine Absichten auch bildhaft begreiflich zu machen. Du sollst mit all deinen Sinnen erfahren, was die Welt von mir zu erwarten hat. Und meine Kinder warten nur noch darauf, daß ich ihnen das Zeichen gebe –« »Deine Kinder?« echote Lilith. »Und was für ein Zeichen?« Der Leibhaftige ignorierte ihre erste Frage. »Das Zeichen für den Beginn einer neuen Zeit – meiner Zeit!« Lilith duckte sich unwillkürlich, weil sie mit einer weiteren Demonstration satanischer Macht rechnete. Tatsächlich hob Gabriel seine rechte Hand und – – schnippte mit den Fingern. Mehr tat er nicht. Nicht offensichtlich jedenfalls. Lilith indes ahnte, daß Gabriel das wahre Zeichen, von dem er gesprochen hatte, mit jeder anderen denkbaren Geste hätte unterlegen können; tatsächlich mußte es auf einer Ebene gegeben worden sein,
die sie nicht erfassen konnte. Der Ton des Fingerschnippens geisterte wie ein Echo durch den Himmel, wurde von unsichtbaren Wänden gebrochen und umschwirrte Lilith wie ein Schwarm zorniger Insekten. Das Geräusch schwoll an, bis es in ihren Ohren dröhnte, als stünde sie inmitten einer talwärts donnernden Lawine. Abrupt hörte es wieder auf. Dafür begann das, was Satans Kinder nach Erhalt des Signals in Gang setzten. Begann sich nicht nur die Finsternis einer Nacht über Jerusalem zu legen, sondern … »Allmächtiger!« entfuhr es Lilith, als sie sah, wie die Schatten unter ihr zu brodeln begannen, als wölkte fetter Rauch auf, der sich binnen weniger Sekunden über jedes Haus der Stadt gebreitet hatte und es ihren Blicken entzog! Ohne Gabriel vorzuwarnen, wechselte Lilith spontan in ihre Fledermausgestalt und versuchte die Finsternis mit ultrahohen Echolotimpulsen zu durchdringen. Vergeblich. Die Impulse wurden zurückgeschleudert und straften Lilith mit irrsinnigen Kopfschmerzen, bis ihr nichts anderes übrigblieb, als die Rückverwandlung zu vollziehen. »Was hat das zu bedeuten? Du Wahnsinniger bringst die Leute um? Alle, die dort unten –« Gabriel nickte und unterbrach sie mit gelassener Stimme: »Klug erkannt. Das und nichts anderes ist Sinn und Zweck der Sache.« Und leise, als spräche er plötzlich nur zu sich selbst, fügte er hinzu: »Heer, erscheine …«
* Sie schwitzten. Beide.
Und doch brach ihr überglückliches Lachen immer wieder in die Abendstille, die früh ein Tuch aus Dunkelheit über das herbstliche Jerusalem gesenkt hatte. Nur hoch am Himmel blinkten myriadenfach die Sterne. Und sich vorzustellen, daß dies alles Sonnen waren, Lebensspender für Planeten, die fremde Lebensformen beheimateten, war unvorstellbar und logisch in einem. Atemberaubend. Leann blieb stehen und rief Emerson zu, der sie an seiner Hand einfach immer höher den Trampelpfad zum Berg Skopus hinaufzog: »Laß uns eine Pause machen! Ich – ich bekomme keine Luft mehr!« »Wir sind gleich oben. Zwei Minuten. Das schaffst du! Und dann wird dich die Aussicht für alle Anstrengung entschädigen!« »Verdammt, das glaubst du wirklich!« »Verdammt sagt man nicht. Hattest du keine Kinderstube? Natürlich glaube ich das.« Leann fluchte, dann bremste sie den Vorwärtsdrang ihres Mannes absichtlich, indem sie einfach noch fauler und störrischer einen Fuß vor den anderen setzte. Dabei brachte sie das Kunststück fertig, zu schmunzeln. Sie waren immer noch frisch verliebt wie am ersten Tag, und letztlich war es das, was sie die selbst aufgebürdete Mühsal mit Lachen ertragen ließ. Das Lachen sollte ihr schnell vergehen. Kaum daß sie den Gipfel erreicht hatten, von dem aus ihnen nicht nur Jerusalem zu Füßen lag. In entgegengesetzter Richtung reichte der Blick bei klarer Witterung bis nach Jericho. »Was sagst du jetzt?« Emerson machte eine Geste, die sämtliche Lichter der Stadt einschloß; sie schienen einen Kontrapunkt zum Sternenzelt zu bilden. »Ich … Vorsicht!« Emerson zuckte zusammen. Er wirbelte herum und blickte dorthin, wohin auch Leann gerade den Kopf gedreht hatte, bevor sie er-
stickt aufgeschrien hatte. Während sich seine Frau furchtsam an ihn klammerte, begriff auch Emerson, daß dieser späte Ausflug vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war. »Hallo!« rief er der Gestalt in einiger Entfernung mit rauher Stimme zu. »Genießen Sie auch die Aussicht?« Ein Wind – eiskalt, fast einem Sog gleich – zerrte plötzlich an seinem Hemd und stach zugleich wie mit Eisnadeln in die schweißnasse Haut darunter. Der Fremde im Dunkel reagierte nicht. Er trug eine schlichte Kutte, wie sie Pilger tragen mochten. »Komm …« Leann versuchte Emerson fortzuziehen. »Suchen wir uns ein anderes Plätzchen.« Sie fröstelte. »Mir ist der Typ – unheimlich …« Mir auch, dachte Emerson Fitzgerald klamm, gleichwohl er sich etwas lächerlich dabei vorkam. Denn die Gestalt, die dort in einigen Schritten Entfernung stand, tat eigentlich nichts, was ihnen hätte Furcht einjagen dürfen. Sie spähte hinab auf die Stadt. So regungslos, daß das frischvermählte Paar Zweifel bekam, ob es sich nicht sogar um eine hier aufgestellte Statue handelte. Doch weder Emerson noch Leann zogen diese Möglichkeit länger als ein paar Atemzüge in Betracht. Nein, der Fremde – zweifellos war er männlichen Geschlechts – stand dort in ähnlicher Pose, wie auch Emerson es noch Sekunden zuvor getan hatte: Beide Hände waren auf den Lauf der Absperrung gestützt, der Oberkörper gerade, der Kopf leicht nach unten geneigt. »Laß uns gehen. Bitte –« Emerson Fitzgerald vernahm die Stimme seiner Frau, als dringe sie von weit her zu ihm, obwohl Leann doch direkt neben ihm stand. Ihre Hand legte sich um seinen Oberarm, die langen Fingernägel drückten sich durch den Stoff des Hemdes in sein Fleisch. Er spürte leisen Schmerz, und doch konnten weder Leanns Worte noch ihre Berührung Emerson aus der seltsamen Starre lösen, in die er
verfallen war. Wie gebannt fixierte er die seltsame Gestalt, die dort am Geländer stand. »Er … er tut irgendwas«, flüsterte Emerson lahm. »Unsinn«, gab Leann ebenso leise zurück. »Aber ich möchte nicht warten, bis er etwas tut. Komm schon!« Sie zog an Emersons Arm. Er streifte ihre Hand ab und ging einen Schritt auf den Fremden zu. »Ich kann es … spüren.« Emerson klang heiser. Zögernd streckte er die Hand in Richtung des Kuttenträgers aus, als fühle er nach etwas Unsichtbarem. »Merkst du denn nichts?« Er warf Leann einen raschen Blick zu. »Nein. Wovon redest du eigentlich?« Sorge und Furcht färbten ihre Stimme dunkel. »Emerson, was tust du denn? Komm zurück!« Aber er ging wie im Zwang einen weiteren Schritt auf den Fremden zu, der sich noch immer nicht rührte. Reglos starrte er auf die Stadt hinunter – zumindest schien es so, denn sein Gesicht lag im Schatten seiner Kapuze verborgen. Emerson wagte sich so nahe an ihn heran, daß er ihn mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können. Aber er tat es nicht. Er hielt nur die Hand leicht erhoben – und spürte es noch immer: ein leichtes Kribbeln, als sei die Luft von schwacher Elektrizität erfüllt. »Emerson!« Leann gab sich keine Mühe mehr, leise zu sein. Sie wollte nur noch weg von hier, ohne zu wissen, was konkret ihr solche Angst einjagte. Ein Fremder, der nichts anderes tat, als sich nicht zu bewegen und auf ihre Worte nicht zu reagieren, konnte doch unmöglich der alleinige Grund sein für solche Panik, oder? Leann schluckte hart und knetete nervös ihre Finger. Spürte sie vielleicht auch etwas, ohne sich dessen bewußt zu sein? Empfand sie es nur anders als Emerson? Schürte es (was immer es auch sein mochte) in ihr die Angst, während es in Emerson nur Neugier weckte?
Sie kam nicht dazu, den Gedanken weiterzuverfolgen, denn etwas geschah – etwas Sichtbares – mit dem Fremden! Emerson schrie gedämpft auf und zuckte zurück, als hätte er eine stromführende Leitung berührt. Leanns Schrei war viel lauter, obwohl sie nur sah, was da drüben seinen Lauf nahm. Die Gestalt dort, sie begann zu … leuchten? Leann fand kein anderes Wort dafür. Aber es war eine Art von Licht, wie die junge Frau es nie zuvor gesehen hatte. Düster, seltsam schmutzig wirkend und – beinahe materiell. Wie Nebel kam es ihr vor, und es schien, als schwitze der Fremde dieses dunkle Leuchten aus, denn es drang aus seinem Körper und durch den Kuttenstoff, der daraufhin so durchscheinend wurde, als löse er sich auf. Ganz ähnlich verhielt es sich mit dem hageren Leib unter der Kutte. Die Haut war leichenbleich, beinahe weiß, und zugleich schien sie wie aus milchigem Glas, denn darunter zeichneten sich schemenhaft Knochen und Organe ab – und etwas, das definitiv nicht in einen menschlichen Körper gehörte! Ein unförmiges, dunkles Ding war es, das sich in der Leibesmitte des Unheimlichen befand. Es blähte sich, wuchs, wucherte wie ein Geschwür im Zeitraffer. Und eben dieses Etwas war die Quelle des unmöglichen Lichts. Je größer es wurde, desto weiter breitete sich das nebelhafte Leuchten um die bizarre Gestalt herum aus. Aber noch immer regte sich der Fremde nicht. Ob das eigenartige, fast verzückte Lächeln schon zuvor auf seinen Lippen gelegen hatte, wußte Leann nicht … Und sie wollte es auch nicht wissen. Sie wollte nur weg! Etwas, das sie nicht selbst bestimmte, übernahm die Kontrolle über ihr Tun. Mit drei, vier Schritten war sie bei Emerson, der wie
gelähmt neben der leuchtenden Gestalt stand. Sein Mund formte unhörbare Worte. Leann packte seine Hand und riß ihn mit sich, genau in dem Moment, da die Wolke aus dunklem Licht sich bis zu dem Punkt ausbreitete, an dem Emerson eben noch gestanden hatte. Was wäre geschehen, wenn …? dachte Leann. Egal! schrie etwas dagegen. Lauf! Leann lief – oder wollte es zumindest tun. Aber Emerson stoppte sie, indem er erneut stehenblieb. »Mein Gott, schau doch nur!« entfuhr es ihm, erschrocken und ehrfürchtig in einem. Ohne es wirklich zu wollen folgte Leann mit ihrem Blick seinem ausgestreckten Finger. Er wies über die Aussichtsplattform hinaus, über die Stadt, und sie sah, was Emerson meinte – An elf weiteren, erhöht liegenden Stellen entlang einer gedachten Kreislinie um Jerusalem gloste Licht von der gleichen düsteren Art wie jenes, in das die unheimliche Gestalt hier gehüllt war. Und die Tatsache, daß sie jene anderen Lichter über die Distanz ausmachen konnten, bestätigte ihnen nur, daß sie es mit etwas ganz und gar Abnormem zu tun haben mußten. »Ich verstehe nicht, was –«, setzte Emerson Fitzgerald an. »Und ich will es gar nicht verstehen!« unterbrach ihn Leann. Sie wollte weiterlaufen, Emerson mit sich ziehen, aber er rührte sich nicht vom Fleck. Als sie sich nach ihm umwandte, in der Absicht, ihn anzuschreien, erstickte ihr schon der erste Ton im Hals. Und sie stand so starr wie ihr Mann – – fasziniert und entsetzt zugleich von dem, was jetzt geschah! Das wuchernde Etwas hatte den ganzen Leib des Fremden erobert, füllte ihn aus wie dunkel fluoreszierendes Gas … … und explodierte! Der Unheimliche riß den Mund so weit auf, daß es ihm die Kiefer
ausrenken mußte, und was in ihm steckte, entlud sich. Es schoß ihm in einem urhaften Schrei über die Lippen, mit irrsinniger Gewalt. Er spie dieses düstere, flüssig wirkende Glosen über die Brüstung der Aussichtsplattform, wo es allerdings nicht niederging, sondern jedem Naturgesetz hohnsprach – – denn es raste förmlich hinaus in die Nacht! Und über Jerusalem! Wie gelähmt sahen Emerson und Leann Fitzgerald mit an, wie an den elf weiteren Punkten um die Stadt herum dasselbe geschah: Auch dort entluden sich solche Lichtfluten und schossen auf das Zentrum Jerusalems zu, so daß das stilisierte Bild eines zwölfstrahligen Sterns entstand. Für zwei, drei Sekunden jedenfalls … … dann wurden die glosenden Leuchtspuren zu etwas wie einem körperlosen Moloch, der nicht länger Licht war, sondern Licht fraß! Alles Licht der Stadt sog dieses Etwas in sich auf. Binnen weniger Augenblicke lag Jerusalem unter völliger Dunkelheit. Erstickende Schwärze hatte sich wie eine dichte Wolkendecke darüber gebreitet, war in die Straßen und Gassen gesunken, füllte jeden Winkel. Unwillkürlich sah Leann nach oben. Und fror. Selbst das flimmernde Meer der Sterne war verschwunden und die Nacht dunkler als jede zuvor. Nur dort drüben – die Entfernung war in der Lichtlosigkeit nicht mehr zu schätzen – glommen zwei blutrote Punkte. In Augenhöhe. Und sie erloschen immer dann für einen flüchtigen Moment, wenn der Fremde dort die Lider schloß. Aber nicht er war es, der Leann den größten Schrecken einjagte … »Hast du das gehört?« stieß sie hervor. Emerson schloß seine Arme um sie, aber die Geste vermochte Leann nicht im mindesten zu beruhigen. Sein Nicken spürte sie nur. Als das Geräusch aus dem Dunkeln sich wiederholte, drängte sie
sich noch fester an ihren Mann. Über die Schulter hinweg versuchte sie die Finsternis mit Blicken zu durchdringen. Erfolglos … »Was ist das?« flüsterte sie. Zitterte sie, oder war es Emerson, dessen Zittern sich auf sie übertrug? »Ich weiß es nicht«, brachte er mühsam hervor. Seine Stimme klang fast so heiser wie dieses drohende Knurren aus dem Dunkel. »Hört sich an wie … ein Tier«, meinte sie, und ihre Phantasie erschuf ein Schreckensbild – – das im nächsten Moment schon von der Wirklichkeit weit übertroffen wurde!
* Unten in der Stadt, etwa zur selben Zeit »Soll ich …?« Yassir sog scharf die Luft ein. Sein Daumen schwebte über dem Knopf des Senders, den er mit schweißnasser Hand umklammert hielt und der nicht größer als eine Zigarettenschachtel war. »Nein, warte!« Omar, der mit in dem Versteck auf der gegenüberliegenden Straßenseite kauerte, war selbst ruhig und gefaßt, spürte aber deutlich die Nervosität seines Komplizen. »Noch ist nichts verloren. Die Parkgenehmigung an der Windschutzscheibe ist mit echtem Stempel versehen und von den Behörden abgesegnet. Hat ‘ne hübsche Stange gekostet, dafür ist es jetzt aber hieb- und stichfest. Wenn sie das kapieren, haben wir nichts zu befürchten. – Aber wenn du meinst, daß du mit der Situation nicht fertig wirst, gib den Zünder lieber mir, bevor du noch alles vermasselst!« Yassir schnaufte gereizt, als Omar die Hand ausstreckte. »Wer sagt, daß ich nicht damit fertig werde, he? Kümmer dich um dich, mach dir um mich keine Gedanken – sag mir nur, wenn du etwas siehst, was ich nicht sehen kann!«
Omar lachte leise in sich hinein. Er erweckte den Anschein, als wäre dies alles ein großer Spaß für ihn. Dabei sollte es blutiger Ernst werden. Morgen früh – nicht schon heute Nacht! Während Yassir sich weiter mit dem Teil des Geschehens begnügte, das die Straßenbeleuchtung aus der Dunkelheit riß, überblickte Omar das Geschehen mit einem Nachtsichtgerät, das er mit einer Hand gegen die Augen gepreßt hielt. Beide Palästinenser wußten: Falls die Lage sie zwang, den Sprengstoff vorzeitig zu zünden, würden auch sie den Anschlag nicht überleben – ganz zu schweigen von den israelischen Soldaten, die den Lastwagen gerade mißtrauisch inspizierten. Erst vor wenigen Minuten war die fünfköpfige Patrouille aus der Yosef Davidson-Allee in die vor dem Museum verlaufende Avraham Granot-Straße eingebogen und dann schnurgerade auf den in Eingangsnähe geparkten Lkw zugestiefelt. Yassir und Omar hatten ihn am frühen Abend dort abgestellt und sich unauffällig in ein nahegelegenes Dickicht zurückgezogen. Funkkontakt zum Hauptquartier der Untergrundzelle unterhielten sie nicht. Das Unternehmen verzichtete auf alles, was das geplante Attentat unnötig hätte gefährden können. Aber nicht alle Eventualitäten waren zu beeinflussen. Diese schwerbewaffnete Streife beispielsweise nicht … »Einer von ihnen«, spöttelte Omar, als wäre dies alles nur ein Film, in dem sie nicht wirklich ihr Leben riskierten, »kratzt sich ständig am Sack. Vielleicht hat er Läuse … bestimmt hat er Läuse! Diese eingebildeten Ärsche waschen sich so gut wie nie, das weiß doch jeder …« Yassir erwiderte nichts. Er konnte noch nicht einmal über Omars Bemerkungen grinsen. Ihm war es todernst. Und er hatte Schiß, selbst draufzugehen. Den Laster hierher zu fahren und im Auge zu behalten, bis das Museum, das seinen Besuchern die Geschichte des Staates Israel in teilweise unerträglichem Pathos nahebrachte, seine
Pforten wie an jedem Tag der Woche öffnete – das war eingeplant gewesen. Und damit hatte er auch fertig zu werden geglaubt. Aber die im Wagen versteckte Tonne TNT vielleicht vorzeitig zur Detonation bringen zu müssen, schien ihm nun, da diese Möglichkeit Konturen gewann, ein zu hoher Preis, um seinen Haß auf Regierung und Staat zu kanalisieren. Ein Scheißstaat, dachte Yassir. Der uns kleinhält und uns unsere verdiente Selbstbestimmung verwehrt! Leere Versprechungen waren alles, was die Knesset verabschiedete. Hinhaltemanöver. Und was Arafat betrieb, waren erbärmliche Katzbuckeleien, die der harte Kern der PLO nicht – Yassirs Gedanken kamen ins Schleudern. Er merkte, wie sich … etwas veränderte. Er stieß Omar mit dem Ellbogen so hart in die Seite, daß dieser fast den Restlichtverstärker fallen ließ und fauchte: »Was ist jetzt schon wieder?« »Merkst du das nicht?« »Was?« »Die – Luft.« »Die Luft?« Es klang, als glaubte Omar nun endgültig, er sei aus dem Rennen; ein Risiko, das er nicht länger tolerieren wollte und konnte. In diesem Augenblick begannen auch die Soldaten, die den Lkw umschwärmten, hektischer in ihrem Verhalten zu werden. Ihre Rufe waren laut genug, um das eine oder andere Wort aufzuschnappen. »Die laufen offenbar nicht mit Scheuklappen herum wie du«, gab Yassir seinem Komplizen kontra. »Dann solltest du dich vielleicht mit denen verbrüdern!« Bevor Yassir etwas erwidern konnte, füllte sich die Umgebung mit tintiger Schwärze, die alles noch so vage Licht erstickte. Jeder, der Zeuge des gespenstischen Vorgangs wurde, wußte in derselben Sekunde, daß dergleichen eigentlich nicht möglich und er-
klärbar war. Trotzdem passierte es. Schwärze ergoß sich wie eine Sturzflut über die Stadt, soweit das Blickfeld des Betrachters überhaupt reichte! Blickfeld? Yassir stand wie erstarrt in der Schwärze. Er wußte nicht, wie lange dieser Zustand angehalten hatte, bevor sich ein Ruf aus seiner Kehle löste, der jede Vorsicht fallen ließ. »Omar?« »Ich bin – hier …« Erschüttert stellte Yassir fest, daß das Selbstbewußtsein, das Omar gewöhnlich zur Schau stellte, wie weggefegt war. Nervös umspannten seine Finger den Fernzünder. »Allah – was ist das?« »Ich weiß es nicht!« Omars Stimme klang nicht nur mutlos, sondern auch sonst verändert. Yassir streckte die freie Hand aus und versuchte seinen Mitattentäter zu fassen zu bekommen. Es gelang. Seine Finger krallten sich in den Stoff von Omars zerschlissener Armeejacke. Dennoch suggerierte ihm die Präsenz des anderen keinerlei Gefühl von Sicherheit. Was ging hier vor? »Stromausfall«, krächzte Omar. »Im ganzen Viertel muß der Strom ausgefallen sein …« Yassir schüttelte den Kopf. Das war es nicht. Er wußte intuitiv, daß mehr dahinter steckte. Viel mehr, als ihnen allen lieb sein konnte! »Laß uns verschwinden!« preßte er hervor. »Los, komm schon! Hauen wir ab! Verschieben wir die Sache. Wir müssen zurück in die Zentrale. Dort weiß man vielleicht, was –« Der Rest des Satzes wurde von einem schrecklichen Geräusch übertönt.
Yassir überwand sein Entsetzen und rief: »Was war das?« Gleichzeitig riß er seine Hand von Omar zurück, und in seinem Mund sammelte sich ein Geschmack, als hätte er Galle erbrochen. Seine Nackenhärchen stellten sich auf. Automatisch streckte er seine Hand aus, um Omars Arm erneut zu erreichen. Er fühlte sich eingeschlossen wie in einer Höhle tief unter der Erde. Einerseits begannen ihn klaustrophobische Anwandlungen zu quälen, andererseits kam es ihm vor, als wäre noch kein Moment idealer gewesen als dieser, um aus dem Leben zu scheiden. Um all die Zwänge und Sorgen hinter sich zu lassen und – Er bekam Omars Jacke zu fassen. Aber gerade als er ihn näher an sich heranziehen wollte, befreite sich sein Komplize mit einem solchen Ruck aus der Berührung, daß wertvolle Zeit verrann, ehe Yassir begriff – zu begreifen meinte –, daß nicht Omar sich losgerissen hatte, sondern, daß Omar selbst fortgerissen worden war! Nachdem Yassir seine Verblüffung überwunden hatte, rutschte er auf den Knien seitwärts, den Arm ausgestreckt, und suchte den Widerstand, der ihm sein Hirngespinst widerlegt hätte … Aber Omar war fort. Omar kniete nicht mehr neben ihm! Statt dessen stieß Yassir gegen etwas Hartes am Boden. Als sich seine freie Hand darum schloß, wußte er, daß es das Fernglas mit Restlichtverstärker war, das Omar gehalten hatte. Es war naß. Klebrig. Yassir hob es vor die Augen und schaute durch die Optik. Obwohl es dumpf summte und Betriebsbereitschaft signalisierte, sah er durch das Glas ebensowenig wie mit seinem bloßen Auge. Als gäbe es keine noch so geringen Reste von Licht, die von leistungsfähiger Elektronik aufbereitet werden konnten … Wie ging das zu? Das Knurren von Hunden drang aus der Dunkelheit. Es hörte sich an, als befände sich dort ein ganzes Rudel und balge sich um einen
einzigen Knochen. Yassir brach der nackte Schweiß aus. Er ahnte, was der »Knochen« war – auch wenn er es nicht begreifen konnte. Nicht, woher die Hunde plötzlich kamen, und noch weniger, aus welchem Quell die abnorme Finsternis hervorgequollen war, die sich über ihn gestülpt hatte und, immer mehr fühlbar, Gewicht zu haben schien! Panik überkam ihn. Er ließ das Spezialbeobachtungsglas fallen und hörte, wie es aufschlug. Das Geräusch klang normal. Aber trotz dieses Bruchstücks von Normalität, das inmitten der atmenden Schwärze erhalten geblieben war, hatte sich die Furcht wie ein noch schwärzerer Nebel über Yassirs Verstand gesenkt. Ihm war, als würde diese Finsternis in seine Lungen kriechen und – – auch die Angst zudecken, die in dieser Situation nur allzu verständlich gewesen wäre. Die Angst, selbst auch auf die Bedeutung eines »Knochens« reduziert zu werden …
* »Hört sich an wie … ein Tier …« In Emersons Ohren klang noch Leanns Bemerkung nach, als sich die Schwärze, von der sie verschlungen worden waren, zu verändern begann. Zwei düsterrote Strahlen geisterten wie streng gebündelte Suchscheinwerfer durch das Dunkel, und Emersons erster Gedanke war: Es sind seine Augen. Die BLICKE seiner Augen … Er meinte den Unheimlichen, und obwohl es reiner Aberwitz schien, sich dies in der Realität vorzustellen, hielt Emerson an seinem Gedanken fest. Zumal er nicht weniger absurd war als das, was sie vor dem Einbruch der Schwärze beobachtet hatten. »Ruhig, ganz ruhig«, flüsterte er Leann zu, die sich in seinen Armen immer mehr verspannte. Zitternd und schutzsuchend wie ein
zu Tode erschrockenes Kind schmiegte sie sich an seine Brust. Sein Zureden beruhigte sie nicht. Wie hätte es auch? Er selbst hatte jede Zuversicht verloren, daß dieser Ausflug für sie noch einen glücklichen Ausgang nehmen konnte. Leann schrie auf, als das Licht sie berührte. Berührte und … an ihr haften blieb? »Emerson!« Ihr Mann hätte sich gewünscht, sie wäre nicht so überlaut gewesen, hätte die Aufmerksamkeit des Unheimlichen nicht noch mehr auf sich gezogen. Andererseits konnte er Leanns Reaktion mehr als verstehen. Sie hatte Todesangst. Wie er auch. Der einzige Unterschied war, daß er sich immer noch einbildete, sich nicht gehen lassen zu dürfen. Dabei erstickte er fast an seinen unausgesprochenen Gefühlen. Noch während er über Leanns Schulter auf den Rücken seiner Frau starrte, wo sich der glutrote Schimmer festgesetzt hatte, wiederholte sich das schon einmal gehörte fauchende Knurren ganz nah. Das Geräusch hatte nichts mit dem Licht zu tun, das sich wie zwei schwach verästelte, lang anhaltende Blitze durch die Schwärze bohrte, aber es schien sich daran zu orientieren. Plötzlich wußte Emerson, woran ihn der Fleck zwischen Leanns Schulterblättern noch erinnerte. An seine Militärzeit. An seinen Umgang mit modernsten Waffen, mit Laservisieren, die ein Ziel anpeilten und das Projektil exakt dorthin folgen ließen, wohin der scharf fokussierte Lichtpunkt vorausgeeilt war … Emerson wurde leichenkalt ums Herz. Die Warnung auszusprechen sparte er sich. In dem Moment jedoch, in dem er sich mit Leann zusammen zu Boden fallen lassen wollte, fiel ein Schatten
über den wie festgebrannten »Fleck«. Dem Schatten folgte eine Bewegung von solcher Schnelligkeit, daß Emerson nur noch zusehen konnte, was sie anrichtete. Zum Reagieren war es bereits zu spät. Leann erstarrte in seinen Armen, rückte dann wie von einem heftigen Stromschlag getroffen etwas von ihm ab, und dann spürte Emerson nur noch, wie sich ein heißer Schwall über ihn ergoß. Er wußte sofort, worum es sich handelte. Und Leanns Röcheln bestärkte ihn in seinem grauenvollen Verdacht. In einem letzten, verzweifelten Aufbäumen riß sie sich von ihm los, während ihr Körper in der sich ausweitenden »Aura« immer sichtbarer wurde. »Leann …« Emerson wollte seiner Frau zu Hilfe eilen, aber noch bevor er einen Schritt in ihre Richtung getan hatte, wurde ihm klar, daß ihr nicht mehr zu helfen war. Vor seinen Augen brach sie zusammen. Und hinter ihr tauchte für den Bruchteil einer Sekunde ein Schemen auf, der jede Phantasmorgie um Längen schlug. Ein – Es gibt kein Wort dafür, dachte Emerson. Dann tat er es. Das, wofür er sich selbst haßte: Statt zu Leann, die mit zerfetztem Rücken zu Boden gestürzt war und kaum noch einen Laut von sich gab, zu eilen, warf er sich herum und stolperte in entgegengesetzter Richtung in das Dunkel davon! Du Schwein! Er meinte nicht die Bestie, die Leann angefallen hatte – er meinte sich selbst. Meinte das feige Monster, dem das eigene Überleben in diesem Moment wichtiger geworden war als die vermeintlich unsterbliche Liebe, die der Tod gerade schied …
* »Du erbarmungsloses Scheusal!« »Du brauchst mich nicht zu loben …« Sie schwebten noch immer über der verschwundenen Stadt. Verschwunden, als wäre die Urgewalt eines Ozeans über sie hinweggeschwappt! »Was geht da unten vor?« fauchte Lilith. »Sieh doch selbst nach …« »Das könnte ich?« »Es käme auf einen Versuch an, oder? Ich werde dich jedenfalls nicht daran hindern.« Wie die reine Unschuld blickte Gabriel zu ihr herüber. »Du bist niederträchtig und weidest dich am Leid deiner Opfer – du würdest auch mich blind ins Verderben rennen lassen!« spie Lilith ihm entgegen. Gabriel legte nachdenklich den Kopf schief. Nach einer Weile, in der sich die Schwärze unter ihnen endgültig zu einem Bollwerk formierte, das den Anschein erweckte, als bestünde es aus massivem Stahl, nickte er. »Wahrscheinlich würde ich das. Wenn ich dich nicht noch bräuchte.« »Wozu?« »Du bist so ungeduldig. Dabei …« »Wozu?« In diesem Augenblick glommen an den Grenzen der Dunkelheit an zwölf verschiedenen Punkten Lichter auf. Sie tasteten sich wie glühende Schlangen stadteinwärts. »Es geht weiter«, kommentierte Gabriel, bevor Lilith eine entsprechende Frage stellen konnte. »Hörst du das?« Lilith lauschte. »Hunde …?« »Wölfe«, erwiderte Gabriel. »Ich dachte, du kennst den feinen Un-
terschied.« »Es müssen … unzählige sein …« »Nun, unzählig sind sie nicht, aber sie genügen. Sie sind das Heer, auf das ich gewartet habe, und es sind auch keine normalen Wölfe. Sie entsprechen Nonas Art.« »Werwölfe?« »Die Menschen nennen sie so.« Lilith erkannte, was sich dort unter der lichtlosen Schwärze anzubahnen begann – oder bereits abspielte. »Du hetzt Werwölfe auf Jerusalem …?« Gabriel schüttelte den Kopf, ohne daß diese Verneinung auch nur einen Augenblick lang Hoffnung in Lilith entfachte, die Wahrheit könnte halb so schlimm sein. Die Wahrheit war schlimmer. »Ich vernichte Jerusalem«, sagte der Teufel. »Ich tilge es für alle Zeit aus dem Gedächtnis der Gläubigen!« »Du kannst keine ganze Stadt ausrotten!« Gabriel blickte sie in ehrlichem Erstaunen an. »Nein?« Dieses knappe »Nein?« klang sehr viel teuflischer, als eine ausholende Beschreibung der zu erwartenden Greuel dies vermocht hätte. Spätestens in diesem Moment begriff Lilith, daß sie etwas tun mußte. Sofort. Ob sie allerdings noch etwas tun konnte, stand auf einem ganz anderen Blatt geschrieben …
* Yassir hastete aus dem Dickicht heraus, das ihm und Omar als Versteck gedient hatte. Zweige zerkratzten sein Gesicht. Die Wunden brannten. Doch darauf achtete er nicht. Mit dem linken Fuß stieß er gegen etwas Weiches, blieb daran hängen und wahrte sein Gleichgewicht im letzten Moment. Instinktiv bückte er sich und …
… fand Omar. Besser gesagt das, was von Omar noch übrig geblieben war. Yassirs freie Hand tauchte in etwas, das sich anfühlte wie Eingeweide – und dem Geruch nach zu urteilen auch war! Er zuckte zurück. Das Stoßgebet, das er zum Himmel schickte, geriet zum Kauderwelsch, das kein Gott verstanden hätte. Aber es spiegelte Yassirs Innenleben wider. Als sich die verzweifelten Schreie in seiner Umgebung mehrten, fragte er sich, ob sie nicht vielleicht schon länger zu hören gewesen waren, er aber einfach zu sehr auf sich selbst fixiert gewesen war, um ihnen Beachtung zu schenken. Wie benommen stellte Yassir fest, daß seine Linke immer noch den Sender festhielt. Den Zünder für die Autobombe! Omars Mörder mußte hier ganz in der Nähe sein. Wenn der Sprengstoff hochging, würde auch der Killer dies nicht überleben. Yassir betrachtete dies als letzten Trumpf für den Moment, da er selbst sterben sollte. Ich nehme dich mit, du Bastard! dachte er. Wer oder was auch immer du bist – ich nehme dich mit! Und die Soldaten? Die Patrouille, die den Lastwagen inspiziert hatte, kurz bevor alles Licht verschwunden war? Was war mit ihnen? Warum hörte er keine Schüsse? Von sehr weit weg glaubte er Sirenengeheul zu hören. Aber es konnte auch etwas völlig anderes sein. Etwas, das mit dem zusammenhing, was mit der pechschwarzen Finsternis über Jerusalem gekommen war! Oder über die ganze Erde, flackerte es durch Yassirs Hirn. Er war ein gläubiger Moslem. Es hatte ihn nicht daran gehindert, das Leben Unschuldiger auf sein Gewissen zu laden, denn zweifellos hätte die Autombombe zu der Uhrzeit, auf die der Zünder eingestellt war, ein Blutbad unter der Zivilbevölkerung angerichtet.
Aber er hatte das Leben einiger opfern wollen, um die Zukunft seines Volkes in andere Bahnen zu lenken als die, die ihnen von der Knesset vorgezeichnet wurden. Wege ins Nichts. VERDAMMT! Er wollte nicht sterben! Aber wenn es nicht anders ging – wenn der Schrecken, der sich im Dunkel verbarg, es nicht anders zuließ … Während er den Fernzünder mit der Hand in die Tasche seiner Hose schob, griff Yassirs blutige Hand hinter sich und zog den Revolver, den er unter der dünnen Jacke im Gürtel trug. Es gab kein Ziel, auf das er die Waffe hätte richten können, und dementsprechend fand das Gefühl, nun sicherer zu sein, nicht statt. Im selben Moment, als er den Finger durch den Ring am Abzug schob, raste ein lautloser Komet über ihn hinweg und malte eine lavarote Spur in den Himmel. Im nächsten Moment zog ein zweiter Strich vorüber – ein dritter … vierter … Aus sämtlichen Richtungen schienen sich glühende Strahlen durch die Schwärze zu fräsen! Und dort, wo sie auf ein Hindernis trafen, hinterließen sie das düstere Leuchten, als wäre es phosphoreszierende Farbe. Auch in Yassirs unmittelbarer Nähe wurde etwas von den Balken aus Licht getroffen – – und seiner Unsichtbarkeit entrissen. Der Lastwagen! Die Bombe! Stocksteif starrte der Attentäter auf das farbverfälschte Bild des Lkw. Was ist, wenn Er es geschickt hat, glomm es in Yassir auf. Allah, der Allmächtige? Wenn Er den Verstoß gegen seine Gebote leid geworden ist – endgültig – und dies Seine Strafe ist …? Der Lkw zog Yassir magnetisch an. Das widernatürliche Zwielicht,
in das er getaucht war, strahlte kaum auf die Umgebung ab. Es schien isoliert, nur für das Objekt bestimmt, auf das der Strahl getroffen war. Dennoch half es, die Lähmung abzuschütteln. Yassir machte ein paar unsichere Schritte auf den Lastwagen zu. Was er dort wollte, wußte er selbst nicht. Und ob es klug war, die tickende Bombe aufzusuchen, noch weniger. Doch dann stoppte er jäh. Weil sich eine fremde Gestalt vor die leuchtende Silhouette des Lkw schob. Der Schattenriß eines Monsters! Das Ungeheuer, das Omar den Garaus gemacht hatte? Ohne nachzudenken richtete Yassir den Revolver auf die geduckt um das Fahrzeug schleichende Bestie und feuerte zwei, drei Schüsse hintereinander auf sie ab. Die Kugeln saßen. Yassir konnte sehen, wie das Biest mit jedem Knall zusammenzuckte. Es schluckte das Blei. Aber es fiel nicht. Die Treffer schienen es nicht einmal ins Straucheln zu bringen. Statt dessen drehte es den monströsen, übergroß auf zwei menschlichen Schultern sitzenden Schädel. Wandte das Gesicht – die Fratze – Yassir zu. Dem stockte fast das Blut in den Adern. Einen Moment glaubte er ohnmächtig zu werden. Dann spürte er das, was seine Hand umschloß. Die andere Hand. Er wußte, er würde sterben wie Omar. Warum ihn das Biest nicht ohnehin schon früher angegriffen hatte, spielte in diesem Moment keine Rolle. Es würde ihn angreifen. Und es war »kugelsicher«! Für ein solches Monstrum mußte er härtere Geschütze auffahren … In Ordnung, dachte er kalt. In der Sekunde, als sich der Schattenriß des Ungeheuers vom Hintergrund des Lkw löste, zeigte Yassir ein letztes Mal Emotion. »Djehenna!« brüllte er, zog wie in einem Krampf den Zünder aus der Tasche, und tat, was getan werden mußte.
* »Zur Hölle, was ist das?« Liliths Blick war auf das Meer aus Schwärze gerichtet, das nun ein Netz aus widernatürlichem Licht zu durchweben begann. »Die zweite Phase«, erklärte Gabriel. »Meine Kinder fangen an, sich selbst kennenzulernen – das volle Ausmaß der in ihnen schlummernden Fähigkeiten.« Je mehr das Dunkel von dem fahlen Leuchten durchdrungen und aufgespalten wurde, desto mehr erinnerte es an ein monströs durchblutetes Gehirn. Erstmals glaubte Lilith wieder verschwommene Strukturen der Stadt wahrzunehmen. Die Schreie und Schüsse, die eine Zeitlang bis zu ihr herauf gedrungen waren, wurden merklich leiser. So als dämpfe das nun stabiler werdende Feld aus Magie, das von den Rändern der Stadt her in jeden Winkel Jerusalems drang, gnädig die Geräusche und Stimmen. »Dieses Licht … es tut weh«, murmelte Lilith und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Das spürst du?« fragte Gabriel erstaunt. Ihm selbst schien es keine Probleme zu bereiten, hinabzuschauen wie bisher. »Was wundert dich daran?« »Nichts. Ich vergaß wohl für eine Sekunde, daß du auch menschliche Veranlagung in dir hast.« »Und deshalb schmerzt der Anblick?« »Dich schmerzt er nur – reinblütige Menschen aber werden nach kurzer Zeit daran erblinden.« Lilith ballte die Fäuste. Genug! dachte sie. Ich werde nicht länger von hier oben aus zusehen, wie – In diesem Augenblick schien sich eine Protuberanz aus der bis dahin »glatten« Fläche unter ihr zu lösen. Nein, keine Protuberanz, ein
… Pilz! Israel zählte zu den mutmaßlichen Atommächten, und im ersten Moment hielt Lilith es für absolut denkbar, daß zu dem Verderben, mit dem Gabriel die Bewohner der Stadt heimsuchte, noch eine zweite, von Menschen gestrickte Katastrophe kam – eine Nuklearexplosion! Welcher nicht Eingeweihte konnte schon verläßlich sagen, wo überall Kernwaffen gebunkert wurden … »Sie werden alle verseucht!« schrie Lilith. »Und wenn?« fragte Gabriel. »Doch abgesehen davon war das keine Atombombe. Nur ein konventioneller Sprengsatz.« Lilith starrte in das aufgerührte, sich aufbäumende Dunkel. Die schwarze »Beule«, die den Zenit ihrer Ausdehnung erreicht hatte und nun wieder langsam nach unten zu sinken begann. »Du verdammtes Monster!« Lilith verwandelte sich und durchbrach mit peitschendem Flügelschlag das, was sie die ganze Zeit in der Luft festgehalten hatte. Kaum fühlte sie sich frei, stellte sie den Flügelschlag ein und fiel, ohne von Gabriel daran gehindert zu werden, der Stelle entgegen, wo die Explosion stattgefunden hatte.
* Emerson Fitzgerald war gerannt wie nie zuvor in seinem Leben. Aber er hatte auch nie zuvor im Leben einen solchen Grund gehabt, zu rennen … Tränen strömten ihm übers Gesicht; nicht nur, weil der Schweiß in seinen Augen brannte. Er weinte um Leann – und vor Scham, weil er nichts getan hatte, um sie zu retten. Aber was hätte er tun können? Nichts. Gar nichts … Ganz gleich, was er unternommen hätte, alles hätte nur eines zur
Folge gehabt: daß er wie Leann ums Leben gekommen wäre. Und? fragte eine Stimme, hart wie ein Hammerschlag, der einen Punkt zwischen seinen Schläfen traf. Wäre der Tod nicht besser, als mit diesem Schuldgefühl zu leben? Du wirst es niemals loswerden, nie vergessen – verlaß dich darauf … DU FEIGER HUND! Emerson schluchzte, stolperte, stürzte, wie schon ein dutzend Mal oder öfter zuvor. Sein Gesicht schrammte über rissiges Straßenpflaster. Schweiß und Tränen fraßen sich sengend in die Schürfwunden. »Ich hab’s nicht anders verdient«, wimmerte er kläglich und richtete sich umständlich wieder auf, obwohl er am liebsten liegengeblieben wäre. Er glaubte sich am Ende seiner Kräfte, zu Tode erschöpft von der Flucht, die ihn den Skopus hinunter und bereits ein Stückweit in die Stadt geführt hatte, die nur fragmenthaft von diesem roten Leuchten erhellt wurde. Es war so sinnlos. Weil es kein Entkommen gab. Das Grauen lauerte überall – nein, es lauerte nicht, es eroberte Jerusalem, schlug erbarmungslos zu, wo immer Emerson Fitzgerald hinkam und hinsah. Schreckliche Monstren wüteten so hemmungslos, als wollten sie die Stadt in Blut ertränken. Die Schreie Sterbender umtosten Emerson wie ein Chor aus tiefster Hölle. Und die Finsternis verhüllte nicht jedes der mörderischen Szenarien gnädig vor seinem Blick. Wie Spotlights rissen die roten Lichtbahnen immer wieder einzelne Schauplätze aus dem Dunkel, so daß Emerson Zeuge werden mußte; weil er nicht wegsehen konnte – denn blindlings in die Schwärze zu starren schien ihm noch schlimmer … Ein Schuß krachte. Etwas Heißes sirrte so dicht an Emerson Fitzgeralds Ohr vorbei, daß er unwillkürlich aufschrie. Instinktiv ließ er sich fallen. Weitere Schüsse folgten. Die Kugeln jagten über ihn hinweg. Aus den Augenwinkeln erkannte Emerson auf der einen Straßen-
seite zwei uniformierte Männer, die mit ihren Waffen scheinbar aufs Geratewohl auf die gegenüberliegende Seite hielten und ins dort nistende Dunkel feuerten. Ein wütendes Heulen ließ vermuten, daß sie einen Zufallstreffer gelandet hatten. Ein massiger Schemen setzte über Emerson hinweg. Wieder Schüsse. Dann Schreie. Die Polizisten – oder was die Männer auch gewesen sein mochten – hatten ihren Einsatz mit dem Leben bezahlt … Emerson kroch auf allen Vieren davon, rappelte sich dann erst auf und rannte weiter … durch die Hölle! Er lachte irr auf. Hölle … Wie leicht es ihm auf einmal fiel, dieses Wort in Gedanken zu benutzen, mehr noch, an die Existenz einer Hölle zu glauben. Aber konnte es eine andere Erklärung geben für das, was in Jerusalem ausgebrochen war? Diese Bestien, sie konnten doch nur Dämonen sein, ausgespien von der Hölle – oder? Gentechnische Experimente, schoß es Emerson durch den Sinn, während er taumelnd weiterlief. Das wäre eine Erklärung – eine, die ihn zwar ebenso entsetzte, ihm aber immer noch besser gefiel, als daran zu glauben, daß es so etwas wie eine Hölle geben könnte. Aber wie paßte der seltsame Kerl, den er und Leann auf dem Berg getroffen hatten, in dieses Bild? Und die Finsternis, die Jerusalem gleichsam verschlungen hatte –? »Wahnsinn«, schnaufte Emerson. »Alles total irre … so irre wie ich …!« Er schrie auf und prallte zurück. In vollem Lauf war er im Dunkeln gegen eine Wand (oder irgend etwas anderes) gerannt. Für zwei, drei Sekunden trat blendende Helligkeit an die Stelle der Finsternis; nur eine Folge des Schmerzes. Als er verebbte, senkte sich von neuem Schwärze über Emerson Fitzgerald.
Aber der Schmerz hatte etwas bewirkt; er hatte Emersons Gedanken wieder zurechtgerückt. Er dachte klarer, nüchterner, und er dachte nach – darüber, was er tun konnte, wie er diesem Wahnsinn entfliehen konnte. »Sicher nicht, indem ich immer weiter in sein Zentrum hineinrenne«, sagte er im Selbstgespräch; der Klang seiner eigenen Stimme gab ihm etwas wie Halt. Er erinnerte sich an die Szene auf dem Berg Skopus. Die Finsternis hatte ihren Ursprung an zwölf Punkten um Jerusalem herum gehabt und sich von dort aus in Richtung der Stadt ausgebreitet – Beschränkte die Dunkelheit sich demzufolge nur auf Jerusalem? Konnte man ihr – und vor allem dem, was sie in sich barg! – entkommen, wenn man die Stadt verließ? Emerson Fitzgerald sprang auf. Es war einen Versuch wert! Schon deshalb, weil es der einzige war, der ihm blieb … Seine in Jahren angelesenen Kenntnisse über Jerusalem kamen ihm jetzt zugute. Er kannte die Straßen der Stadt fast so gut, als wäre er hier zu Hause. Die wenigen Punkte, die das rote Licht aus dem Dunkel schälte, genügten Emerson, um sich zu orientieren. Erfüllt von neuem Mut und banger Hoffnung lief er los, den kürzesten Weg aus Jerusalem hinaus suchend – – der ihn dennoch weiter durch die Hölle führen würde.
* Vor Yassirs geistigem Auge wiederholte sich der Moment der Explosion wieder und wieder. Wie ein Fraktalbild hatte er die Splitter auf sich zurasen sehen. Und sich blind irgendwo hin fallen lassen! Daß er noch lebte, begriff er nicht. Es war ein Wunder. Andere hatten weniger Glück gehabt. Allah akbar, rann es durch sein Hirn. Aber daß Gott »groß« war
und er ihm seine Rettung zu verdanken hatte, war Wunschdenken. Viel wahrscheinlicher war, daß ihn purer Zufall gerettet hatte. Er hatte sich hinter einer gußeisernen Skulptur in Deckung geworfen, die der Explosionswucht standgehalten hatte und stehengeblieben war. Genausogut hätte sie kippen und ihn unter sich zermalmen können … Der zweistöckige Museumsbau etwa war von der ungeheuren Druckwelle zum Einsturz gebracht worden. An der Vorderfront existierte kaum noch eine geschlossene Wand. Trägerstahl ragte aus dem Mauerabriß wie die Knochen eines Menschen, der bei einem Unfall Gliedmaßen eingebüßt hatte. Und auf dem Museumsvorplatz entdeckte Yassir die zerfetzten Überreste des Monsters, das im Moment der Detonation auf ihn zugestürmt war. Einer der rotglimmenden »Strahlen« hatte den verstümmelten Leichnam vielleicht auch nur zufällig getroffen – jedenfalls leuchtete er. Yassir sah jedes Detail der schrecklichen Kreatur, halb Frau, halb … Wolf? Ein Tiermensch? Welche Djehenna, welche Hölle hat dich ausgeboren? dachte er, als er auch schon das zornige Knurren hörte. Genau hinter sich. Er konnte gerade noch zur Seite hechten, und im Fallen fing sein Blick die lebendige Ausführung jenes Ungetüms auf, das von der Bombe getötet worden war! Schemenhaft, von keiner Aura umgeben, vollzog es Yassirs Ausweichversuch mit und katapultierte sich mit seinen muskulösen Hinterläufen (Beinen! Sie gehörten einem Hünen von Mann!) auf sein Opfer zu. Yassir schlug hart auf dem Boden auf. Arm und Schulter fingen das meiste ab. Trotzdem hatte er im ersten Augenblick ein Gefühl, als würden sich gebrochene Rippen in seine Organe bohren.
Es war auch der Augenblick, in dem der Schemen auf ihn zuschnellte. Yassirs Hand zuckte zu dem Revolver, den er wieder in den Gürtel geschoben hatte, weil dem anderen Ungeheuer mit herkömmlichen Kugeln nicht beizukommen gewesen war. Noch bevor er den Knauf der Waffe zu fassen bekam, stockte Yassir in seiner Bewegung. Er wußte, daß auch diese Monstrosität sich von so schlichten Mitteln nicht beeindrucken lassen würde. Nicht einmal bremsen. Er schloß die Augen. Dieser Reflex beraubte ihn der Chance, wenigstens verschwommen mitzubekommen, wer ihn wie rettete! Aber kaum hatte er die Augen geschlossen, erkannte er mit Entsetzen, daß die glutfarbene Düsternis sich von den dünnen Häuten der Lider nicht aussperren ließ. Sie schien sich wie ein unlöschbares Feuer in seinen Schädel hineinzubrennen. Bis es doch dunkel wurde. Stockfinster! Das nächste, was an seine Wahrnehmung herandrang, war bestialisches Gebrüll. Und das nächste, was er fühlte, war … Yassir erzitterte. Er versuchte sich den Gedanken und Gefühlen, die plötzlich in ihm wach wurden, zu verschließen. Aber es gelang ihm nicht. Er öffnete die Augen. Und war geblendet. Blind …
* Jüdisches Viertel, im verwüsteten Haus des Gemüsehändlers Chaim
Sie hatten beide den Tag nach der Schlacht wie in einem Traum miteinander verbracht. Landru litt immer noch unter den Nachwirkungen des Kampfes gegen seinen Bruder Anum, den dieser für sich entschieden hatte. Trotzdem war Anum tot, nicht Landru. Und Nona … Nun, die Werwölfin war unmittelbare Zeugin der Auseinandersetzung zweier Titanen gewesen und hatte am Ende Landrus Überleben gegen Lilith Edens Attacken mit ihrem eigenen Leben verteidigt. Wie eine Wölfin ihre Jungen … Nachdem der Mörder Anums – Gabriel – das Schlachtfeld auf höllischen Schwingen verlassen und dabei Lilith mitgenommen hatte, waren die beiden Gefährten durch viele Jahrhunderte im Haus der Chaims zurückgeblieben. Hatten ihre Kampfwunden geleckt. Und darüber hinaus hatte Nona ihrem Geliebten jene Nähe und Geborgenheit vermittelt, die dessen Selbstheilungskräften zustatten kamen. Ihre eigenen waren auf den Wolfsfluch reduziert. Das ewige Leben, einst vom Lilienkelch geschenkt, war ihr im Dunklen Dom des Ararat wieder genommen worden.* Seither alterte Nona wie jeder Mensch. Und noch einmal fünfhundert Lebensjahre würden es nicht werden … »Wo ist er?« fragte Landru, als er sich vom Boden aufrichtete, aber neben ihr sitzen blieb. »Wen meinst du?« Angesichts der zurückliegenden Geschehnisse Genugtuung, ja fast Glück zu empfinden, war sicherlich eine extreme Reaktion ihrer Hormone. Dennoch fühlte sich Nona von einer zentnerschweren Last befreit. Denn sie hatte Landru schon sterben sehen.** Hatte hilflos mitansehen müssen, wie Anum den Leichnam ihres Geliebten mit magischem Feuer zu einem Häuflein Asche verbrannte … *siehe VAMPIRA T29: »Die Wölfin« **siehe VAMPIRA T43: »Tod eines Mächtigen« und T46: »Wolfslegende«
… zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnend, daß nur ein Doppelgänger Landrus von Lilith Eden gepfählt worden war. Ein vom Satan perfekt modelliertes Double! »Den Kelch!« »Ich glaube … Er hat ihn mitgenommen. Bestimmt hat er das.« »Dafür wird er büßen!« Landru fletschte die Zähne. Auch er trug etwas von einem Wolf in sich. Dessen Zähigkeit und Schläue. Und für die Dauer seines bizarren »Lächelns« schöpfte Nona Hoffnung, daß er wieder ganz der Alte war, das Trauma des Bruderkampfes überwunden hatte … »Wofür?« fragte sie. »Für den Kelchraub?« »Für noch sehr viel mehr! Er kann nicht so unverwundbar und unantastbar sein, wie er sich gibt. Sonst hätte er diese Welt vor langer, langer Zeit im Handstreich erobert! – Nein, er hat Schwächen, die er selbst am besten kennt und die wir herausfinden müssen …!« »Wie?« »Ich weiß es noch nicht.« Das, fand sich Nona nach kurzem Aufflammen von Hoffnung auf dem Boden der Tatsachen wieder, ist das Dilemma. Und Gabriels Vorteil. Er weiß, was wir es nicht wissen. Er weiß vieles, was wir nicht einmal ahnen. »Du sagtest, er hat dich zur Führerin seines Heeres ernannt.« Landru stützte sich auf die Handflächen. Seine muskulösen Arme waren gespannt wie Stahltrosse. In den Tiefen seiner Augen brodelten Haß und Rachsucht. »Aber wo ist dein Heer? Und gegen wen sollst du es führen?« »Es sei unterwegs, hat Gabriel gesagt. Es solle bald hier eintreffen …« »In Jerusalem? Und dann? Warum mußte ich die Archonten hierher bringen? Obwohl, das Bringen war nicht das Problem. Ich mußte seine ›Kinder‹ aus ihrem Kerker befreien – etwas, das Er offenbar nicht vermochte! Das beweist, daß seine Allmacht sehr wohl an Grenzen stößt, und daß er List, Intrige oder andere Tricks einsetzt, um zum Ziel zu gelangen …«
»Hilft uns diese Erkenntnis weiter?« »Noch nicht.« »Du solltest ihn nicht unterschätzen.« Auch Nona richtete sich jetzt auf, brachte ihr Gesicht in Augenhöhe ihres Geliebten. »Neben all dem, was du über ihn gesagt hast, ist er auch stark! Er hat deinen Bruder, einen Hüter, wie beiläufig ins Jenseits befördert! Und dasselbe, fürchte ich, könnte er jederzeit mit uns tun!« »Zumindest sollen wir das glauben.« »Du glaubst es nicht?« Landru zuckte die Schultern. Er hatte sich erholt. Spürbar. Dennoch war er, mit Nonas Augen betrachtet, noch weit von dem Landru entfernt, der tausend Jahre als Reisender in Sachen Tod und Leben mit dem Lilienkelch um die Welt gewandert war. Ein Heilsbringer und Gralshüter der anderen Rasse neben den Menschen … Nona blickte hinüber zu dem Loch in der Wand, durch das sie und Landru sich Zugang ins magisch versiegelte Heim der Chaims verschafft hatten. Die Zerstörung hätte Polizei und Militär auf den Plan rufen müssen. Beides war nicht geschehen. Beides hatte eine Macht verhindert, die menschlichem Vermögen haushoch überlegen war. Aber warum hatte sie es verhindert? Nona beantwortete sich die unausgesprochene Frage selbst: Weil ich wichtig bin – Ihm wichtig! Ich bin sein … erster Krieger! Sein … Feldherr? Was für eine absurde und quälende Vorstellung zugleich! Aber sie spürte die tiefe Wahrheit der Offenbarung, die Gabriel ihr auf Kreta, umgeben von stummen Zeugen der Antike, gemacht hatte. Draußen war es dunkel geworden. »Was sollen wir tun?« fragte Nona. Sie wünschte sich, Jerusalem den Rücken zu kehren und mit Landru weit fort an einen Ort zu gehen, zu dem Gabriel keinen Zugriff hatte. Doch sie ahnte, daß eine solche Zuflucht nicht gab.
»Wir müssen ihn finden«, knurrte Landru. »Und dann?« »Dann müssen wir ihn vernichten – bevor er …« Landru wollte noch etwas sagen, doch in diesem Moment geschah es. Das Lampenlicht im Raum erlosch. Beide, Landru und Nona, hatten vorübergehend das Gefühl, in einer tiefen Ohnmacht zu versinken, so warnungslos erfolgte der Entzug des Lichts. Vielleicht war der Kosmos einst von dieser selbst für Landrus Augen undurchdringlichen Nacht, die Jerusalem in diesem Moment in ihren Würgegriff nahm, umschlungen gewesen; bevor ein schöpferischer Funke sie schließlich erhellt und Sterne gesät hatte. »Wo bist du?« rief Nona panisch. Die Desorientierung hielt nur einen Herzschlag lang an, dann empfand sie ein sie selbst erschreckendes Wohlgefühl. »Immer noch dort, wo ich war«, sagte Landru. Er bemühte sich um einen sachlichen Tonfall, als er hinzufügte: »Eine neue Teufelei.« »Magie?« »Gabriels Fähigkeiten haben mit der Magie der Urvampire nichts gemein. Die Kräfte, derer er sich bedient, sind dunkler, archaischer. Hütermagie manipuliert die Natur der Dinge – aber er schafft völlig neue Gesetze …!« Nona schwieg und nagte an ihrer Unterlippe, ehe sie sich, von Schwärze verhüllt, in ihre Wolfsgestalt verwandelte. Sofort wurde die Akzeptanz der Dunkelheit noch größer, ebenso das Wohlbehagen. »Warum sagst du nichts?« Nona spitzte die Ohren. Sie meinte … etwas zu hören. In sich? Oder außerhalb? »Nona!« Es bereitete ihr Anstrengung, den Wolf in sich noch einmal zurückzudrängen. Dennoch tat sie es. Landru zuliebe.
»Wie geht es dir?« fragte sie. »Bist du schon wieder fähig, dich zu verwandeln?« »In eine Fledermaus?« »In einen Wolf! Dann hörst und fühlst du vielleicht auch, was ich gerade wahrnahm.« Sie wußte nicht, ob er ihrer Bitte Folge leistete. Sie selbst aber gab dem inneren Drang erneut nach und … … verstand plötzlich die Stimmen aus der Dunkelheit. SIE SIND EINGETROFFEN, rann es heiß durch ihr Hirn, als Landru in unmittelbarer Nähe ein gräßliches Heulen aus wölfischem Rachen anstimmte. Sie sind da, dachte Nona. Aber wo sind sie so plötzlich hergekommen? Fremde Gedanken mischten sich in ihre eigenen. Gedanken, die ihr verrieten, was geschehen war. Und was noch geschehen mußte. Nona huschte zur Tür. Sie sah die Tür nicht, aber sie wußte noch, wo sie war – so präzise, als wäre ein dreidimensionales Raster in die Finsternis projiziert worden. Das Heulen hinter ihr verstummte. Eine Stimme rief: »Wohin gehst du? Bleib! Hörst du nicht? Was hast du –?« Nona achtete nicht länger darauf. Es war geschehen. Der Fluch, mit dem der Teufel vor langer Zeit eine hochschwangere Frau im Steinkreis von Stonehenge belegt hatte, beinhaltete viel, viel mehr als sinnloses Jagen oder Fressen in Monstergestalt. Und sie würde dafür sorgen, daß das Heer, das sich über Jahrhunderte vermehrt und gebildet hatte, seinen Sinn und Zweck erfuhr!
* Die Schwärze reflektierte Liliths Echolot-Impulse, aber ihr schien, als würden Salven glühender Pfeile daraus, mit denen ihr Hirn be-
schossen wurde. Der Schmerz lag jenseits menschlicher Vorstellungskraft. So nicht! Du schaffst mich nicht! NEIN! … Mit solchen Gedanken, Durchhalteparolen gleich, füllte sie ihr Denken, um sich abzulenken gegen die Schmerzen. Es gelang ihr leidlich … Die Finsternis, unter der Jerusalem begraben lag und die durchwirkt war von rotglühendem Aderwerk, schien Lilith entgegenzuspringen, als sie mit angelegten Flügeln in die Tiefe raste, geradewegs auf jene Stelle zu, an der sie von oben die Explosion beobachtet hatte. Was sie sich hier erhoffte, wußte sie selbst nicht genau. Es war ein Anhaltspunkt, nicht mehr – aber auch nicht weniger. Und in diesem undurchschaubaren Spiel sah Lilith sich gezwungen, jede noch so geringe Möglichkeit zu nutzen, um (fast buchstäblich) Licht ins Dunkel zu bringen. Was geht unter dieser Schwärze vor? fragte sie sich. Wütet darunter der Tod – oder Schlimmeres? Und was wird geschehen, wenn ich sie beLilith kam nicht dazu, die Frage im stillen zu vollenden. Sie schlug in die Finsternis ein wie in einen Ozean, der nichts als die Unendlichkeit des Universums spiegelte. Lilith spürte nichts; jedenfalls nichts, was auf physischer Ebene zu empfinden gewesen wäre. Dennoch fühlte sie sich innerhalb der Schwärze anders als draußen – aber schon der Versuch, diese Veränderung gedanklich in Worte zu fassen, wollte ihr kaum gelingen. Ihr war, als wäre nicht nur sie in die Finsternis eingetaucht, sondern als sei zugleich etwas aus dieser Dunkelheit in sie gedrungen. Allerdings fühlte sie sich davon nicht beeinträchtigt … Was war es? Schleichendes Gift? Egal! peitschte Lilith sich weiter. Kein Zögern, kein Zaudern – nur vorwärts! Sie breitete die Flügel aus, bremste ihren Sturzflug ab, verwandel-
te ihn in ein horizontales Gleiten, um sich nicht selbst unangespitzt in den Boden zu rammen. Obwohl sie nichts anderes tat, als auf Gabriels Wirken zu reagieren, genoß Lilith es, endlich wieder das Heft in der Hand zu halten. Viel zu lange war sie kaum mehr als eine Marionette gewesen, an deren Fäden andere gezogen hatten, nur von Selbstzweifeln und ständiger Unsicherheit erfüllt. Vorbei! Genug! schrie sie stumm. Nachdem der Leibhaftige ihr alle Erinnerung zurückgegeben hatte, fühlte Lilith sich jetzt endlich wieder wie sie selbst. Und sie sah sich selbst klarer denn je zuvor. Sie wußte, wer sie war, was sie war, und wie sie war. Lilith hatte ein deutliches Bild ihres Selbst; es war, als sei alles Unwichtige abgeschliffen worden, das Ganze reduziert auf das Wesentliche, befreit von unnötigem Ballast. Ihr Selbstbewußtsein war erstarkt, ihr Denken verlief in klarer strukturierten Bahnen. Entschlossenheit zählte plötzlich wieder zu ihren charakterlichen Merkmalen, war vielleicht das bestimmendste. Und vielleicht hatte sie sich gerade deswegen kurzerhand, ohne lange zu überlegen, vom Himmel hinab in die Hölle gestürzt, in die Gabriel Jerusalem verwandeln wollte – – oder schon verwandelt hatte? Das Szenario, das sich Lilith bot, legte diesen Schluß fast nahe! Zwei, drei Sekunden lang verhielt sie auf der Stelle, schlug mit den Flügeln; dann verwandelte sie sich in ihre menschliche Gestalt zurück und fiel. Nicht mehr als zwei Meter betrug die Distanz bis zur Straße hinab. Lilith federte den Aufprall ab, drehte sich noch in der Hocke um die eigene Achse und erfaßte mit raschem Blick, was hier geschehen war – und noch geschah! Die Umgebung war zumindest soweit in jenes rötliche Licht getaucht, daß Lilith sich orientieren konnte. Die Bombe, deren Detonation sie aus der Höhe gesehen hatte, hatte im weiten Umkreis alles verwüstet. Fahrzeuge waren zerfetzt
worden, Gebäudefassaden zerstört, und ein paar Schritte entfernt lag etwas Feuchtschimmerndes, das einmal ein Mensch gewesen sein mußte – Lilith zwang sich, eine halbe Sekunde lang genauer hinzusehen. Und fror plötzlich. Nein, das war kein Mensch gewesen. Zumindest nicht im Moment des Sterbens. Der Tod hatte das Bestienhafte der Kreatur konserviert – das zähnestarrende Maul, muskulöse Glieder, blutfeuchtes Fell … Und dieser Werwolf war nicht der einzige, der Jerusalem heimsuchte. Wie Gabriel es ihr gesagt hatte. Die nächste Bestie war ganz nahe, zum Greifen fast – – und sie griff an! Lilith erkannte das Monster lediglich als Schemen, der sich nur durch seine Bewegung von der Dunkelheit abhob. Deutlich erkannte sie dagegen den Mann, der stellenweise wie mit roter Leuchtfarbe beschmiert aussah. Und wenn sie nichts dagegen unternahm, würde sich dieses Rot mit dem Rot seines Blutes vermengen … Der Werwolf sprang den Mann mit hochgerissenen Pranken an – – und Lilith warf sich dazwischen. Mit vorgestreckten Fäusten traf sie die Bestie im Sprung und stieß sie aus der Bahn. Zumindest für den Moment war das potentielle Opfer außer Gefahr. Lilith verwandelte ihre Bewegung in eine Schulterrolle und kam noch vor dem Werwolf wieder auf die Füße. Ihr plötzliches Auftauchen hatte ihn zudem aus dem Konzept gebracht und verschaffte Lilith zwei wertvolle Sekunden, in denen sie die Bestie in sich entfesselte. Ihre Fingernägel wuchsen zu Krallen, ihre Züge verzerrten sich in animalischer Blutlust, während sie dem Symbionten befahl, sie vom Hals bis zu den Füßen zu umhüllen, auch wenn sie wenig Hoffnung hatte, daß der lebende Stoff sie vor den Wolfspranken schützen
konnte. Er konnte es nicht … Lilith schrie auf. Der Hieb der Bestie war so rasch gekommen, daß sie ihm nicht hatte ausweichen können. Klauen zerrissen den Symbionten über ihrer Brust und verletzten die Haut darunter. Nur dadurch, daß die Wucht des Schlags sie nach hinten trieb, blieben Lilith tiefere Wunden erspart. Noch … Gegen den nächsten Hieb wappnete sich Lilith mit einer herumliegenden Autotür, die von der Explosion abgerissen worden war. Die Krallen der Kreatur frästen sich förmlich in das Blech hinein, verhakten sich und rissen Lilith den improvisierten Schild aus den Händen. Unter der nächsten Attacke konnte sie wegtauchen. Dafür ging sie nun ihrerseits in den Gegner! Ihr Schulterstoß trieb den Werwolf nach hinten, ein blitzschnell angesetzter Fußhaken ließ ihn straucheln und rücklings stürzen. Sofort setzte Lilith nach. Ihre Krallen zielten nach der Kehle des Monsters, doch bevor sie traf, senkte der Wolf den Schädel, riß das Maul auf und schnappte nach Liliths Hand. Hart schlugen die Zähne aufeinander. Im allerletzten Moment hatte Lilith ihren Schlag ablenken können. Ein brutaler Tritt ließ sie zurücktaumeln und selbst beinahe fallen. Sie rang um ihr Gleichgewicht, fand Halt am Wrack eines zerstörten Fahrzeugs, als der Werwolf schon auf sie zuraste, sprang, sie umstieß und unter sich begrub. Sein aufgerissenes Maul schoß auf Lilith zu. Stinkender Atem streifte sie wie Gluthauch. Noch in der Sekunde mußte das monströse Gebiß der Bestie Liliths Gesicht zerfleischen – – aber wieder ging der Biß ins Leere … denn Lilith war verschwunden! So jedenfalls mußte es dem Werwolf vorkommen … Knurrend richtete er sich auf seine Hinterläufe auf, wandte den Schädel von links nach rechts, doch als er sich umdrehen wollte,
stürzte etwas mit gewaltiger Wucht auf ihn herab und riß ihn von den Beinen. Lilith hatte sich in ihre Fledermausgestalt transformiert, um dem Monster für den Moment zu entkommen, und über ihm hatte sie sich zurückverwandelt und kurzerhand fallen lassen. Sie wußte, daß sie der wölfischen Kreatur im direkten Kampf unterlegen war. Sie hatte nur eine Chance: schnell sein, wenn sie das Überraschungsmoment nutzen konnte – – jetzt! Der Werwolf lag benommen vor ihr, war aber schon dabei, wieder hochzukommen. Lilith beugte sich vor, packte das Monstrum, stemmte es mit vampirischer Kraft in die Höhe, ging zwei, drei Schritte und stieß ihre Last dann mit aller Gewalt von sich. Hinein in das glühende Wrack eines umgestürzten Lastwagens. Die Bestie brüllte auf, heulte und verstummte. Aus ihrer Brust ragte etwas wie ein blutiger Speer – ein metallener Pfahl, der zum Ladeflächenaufbau des Fahrzeugs gehörte. Die Explosion hatte ein Stück davon weggefetzt und an der Rißstelle fingerdicke Dornen entstehen lassen, die dem Werwolf jetzt zum Verhängnis geworden waren. Zwei, drei Sekunden gönnte sich Lilith, um Atem zu schöpfen und alles Vampirische aus ihren Zügen zu vertreiben. Dann wandte sie sich um und sagte betont jovial: »Alles in Ordnung, Fremder, Sie können –« Lilith erstarrte. Ihre Augen weiteten sich. Sie wollte rufen, schreien, doch jeder Ton erstickte ihr im Halse. Der Mann, den der Werwolf angegriffen hatte, stand allerhöchstens zehn Schritte von Lilith entfernt. Trotzdem hörte sie das harte, häßliche Geräusch, mit dem Waffenstahl über seine Zähne rieb; und sie glaubte es selbst dann noch zu hören, als sich die Lippen des Mannes um den Revolverlauf schlossen, den er sich selbst in den
Mund geschoben hatte. Sein Gesicht wirkte geradezu erschreckend entspannt, seine Augen wie tot. Seine Lider schlossen sich, und Lilith kam es vor, als würde er ihr beruhigend zublinzeln. »Nein!« brachte sie endlich hervor. »Tun Sie das nicht –!« Sie hob beschwörend die Hände. Der Finger am Abzug zuckte, begann sich zu krümmen. Lilith sprang nach vorne, verwandelte sich in der Bewegung, schoß als Fledermaus auf den Mann zu, berührte das kühle Metall des Revolvers, wollte dem anderen die ledernen Schwingen ins Gesicht schlagen – – und wurde zurückgeschleudert wie von einem Fausthieb, als Yassir abdrückte …
* Nachdem Nona gegangen war, hatte Landru mit dem Gedanken gespielt, ihr blind durch die Schwärze nachzuhasten und sie aufzufordern, dem unseligen Zwang, der sie trieb, zu widerstehen. Doch erstickend wie Treibsand hatte sich das Dunkel um ihn angefühlt, hatte seine Entschlußkraft auf den Nullpunkt sinken lassen. Und nun … war sie schon so weit weg, daß er sie vermutlich nicht mehr gefunden hätte in dieser Nacht, die war wie keine andere davor. Er sank wieder auf den Boden zurück und wartete. Wer ihn in dieser Pose hätte sehen können, der hätte einen Geschlagenen vorgefunden. Einen, der nicht mehr ein noch aus wußte und auch keine Ziele mehr in diesem Leben hatte. Denn nur der Rache wegen weiterzuleben, nur um eine dumme Art von Stolz zu befriedigen, das erschien ihm, da er nun allein mit sich und seinen Gedanken war, als allzu fades Motiv. Irgend etwas in ihm, das die an Selbstaufgabe grenzende Niedergeschlagenheit immer noch nicht akzeptieren wollte, suchte nach
Gründen, die ein Weiterleben lohnenswert gemacht hätten. Und unweigerlich schweiften seine Gedanken zu – – dem Mädchen. Zu dem Kind, dem er hier in diesem Haus in die Augen geblickt hatte – vor oder während des Kampfes gegen seinen Bruder Anum. Sie ist es, hatte ihn die Erkenntnis mit unglaublicher Wucht getroffen. Sie ist die Gesandte, der Messias der Vampire, den ich seit vielen hundert Jahren bei jeder Kelchtaufe zu finden hoffte … Aber konnte es wirklich sein, daß Anum dieses besondere Kind aus einer Milliarde Kindern, die diesen Erdball bevölkerten, zufällig herausgelesen hatte? Undenkbar! Oder doch …? Anum war nicht mehr. Der Teufel Gabriel hatte ihn enthauptet und seinen Kopf an einen unbekannten Ort entführt. Nur der Torso seines Bruders lag noch in dem Raum, in dem er gestorben war. Landru fröstelte. Gemeinsam hätten wir diese Welt gestalten sollen – einst, in ferner Zukunft. Zwanzig Geschwister, von derselben Mutter geboren und mit fast unbegrenzten Möglichkeiten ausgestattet, um die Hohe Zeit einzuläuten … Aber wir haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ohne den Satan … Er spürte keine noch so schwache Dankbarkeit, weil Gabriel ihn letztlich vor des Bruders tödlichem Zorn gerettet hatte. Mit dem Unheiligtum der Vampire, dem magischen Lilienkelch hatte Anum Landru den Schädel spalten wollen – Es war anders gekommen. Anum, der Hohe Mann und Erste Hüter, war Gabriel unterlegen, und die Art und Weise, wie dies geschehen war, erstickte jede Hoffnung, irgend jemand könnte dem leibhaftigen Satan gewachsen sein! Angesichts der Machtdemonstration, die der Teuflische geliefert hatte, rückte selbst die Tatsache in den Hintergrund, daß Anum und
Lilith kurz vorher eine erfolgreiche Taufe mit dem verloren geglaubten Lilienkelch gelungen war. Aber das Mädchen, das sie bei dieser Zeremonie zur Vampirin erweckt hatten, war seit Gabriels Auftritt spurlos verschwunden. Obwohl es denkbar war, glaubte Landru nicht daran, daß es in den magischen Gewalten umgekommen war. Dieses Kind, dachte er, ist die Zukunft. Daran klammerte er sich. Inmitten von pechfarbener Schwärze. Inmitten von kalter Einsamkeit. Plötzlich wußte er, daß er sich schon einmal so gefühlt hatte wie heute. Und auch damals hatte er die lähmenden Gefühle überwunden. Damals, am Anfang der Zeit, nachdem er begriffen hatte, wer hinter dem Kelchdiebstahl und dem Vernichtungsfeldzug gegen die Alte Rasse steckte … Ich werde es wieder schaffen! dachte Landru. Irgendwo dort draußen irrt jetzt ein Mädchen umher, das den Funken in sich trägt, der alles zum Besseren wenden kann. Wenn ich jetzt noch den Kelch – Der Gedanke gerann. Draußen zuckte es wie Blitze durch die Schwärze. Rotglühende Strahlen, die, wohin sie auch trafen, Umrisse sichtbar werden ließen, Dinge aus der Unsichtbarkeit wieder herausrissen … Landru stand auf und trat ans Fenster, durch das er den Vorgang beobachtet hatte. Die Finsternis schien in Bewegung geraten zu sein wie ein Mahlstrom. Und rasend schnell gewannen die Plätze der Stadt, wo das verdorben wirkende Licht auftraf und Auren wob, an Zahl. Landru merkte, wie schmerzhaft es war, auf die leuchtenden Objekte zu blicken. Wie durch und durch ihm dieses Zwielicht ging … Durch das spaltweit offenstehende Fenster, vor dem er stand, hörte er Laute, die von der Straße herauftönten. Nach Anums Versiegelung schienen nun auch die Sperren verschwunden zu sein, die Gabriel errichtet hatte.
Landru lauschte eine Weile dem Wolfsknurren und -heulen, das zu ihm heraufwehte. Zwischen den Häuserfronten sah er schattenhafte Bewegung. Erschütternde Schreie drangen zu ihm vor. Die Schreie Sterbender. Was genau ging da draußen vor? War das Heer erschienen, zu dessen Anführerin Gabriel Nona erkoren hatte? Aber woher so plötzlich? Sie hatten sich aus aller Herren Länder nach Jerusalem wenden müssen. Tage oder Wochen der Reise wären notwendig gewesen, sie hier eintreffen zu lassen. Oder, dachte Landru, hat Er sie geholt, wie er mir und den Archonten die letzte Wegstrecke verkürzte? Mit einem Fingerschnippen …? Wie viele mochten es sein, die seine Armee bildeten? Ein paar Hundert, ein paar Tausend …? Donnergetöse wie in einem Krieg flammte allenthalben in der Stadt auf. (Und irgendwo irrt ein kleines Mädchen …) Landru wußte nicht, ob er Nona für immer verloren – an den Teufel verloren – hatte. In diesen Minuten bewegte ihn etwas anderes noch stärker als seine Gefährtenschaft mit der Werwölfin. Vorhin hatte er sich kurz in einen Wolf verwandelt, jetzt – nachdem er den Fensterflügel weit aufgerissen hatte, wurde er zum geflügelten Tier, das sich hinaus in den Mahlstrom aus Licht und Schatten stürzte, vom Haus der Chaims floh und … … nicht weit kam. Landru stellte abrupt den Schlag der Schwingen wieder ein. Und dann fiel er. Vergaß das Mädchen, in dem er den Messias der Vampire erkannt zu haben glaubte. Fand nichts, absolut nichts dabei, sich irgendwo dort unten sämtliche Knochen auf betonhartem Pflaster zu brechen …
*
Momente lang fühlte Lilith sich blind und taub von dem Schuß, der unmittelbar vor ihr abgefeuert worden war. Die Waffe hatte sich in der Hand des Mannes aufgebäumt, und Lilith war von der Wucht erst zurück und dann zu Boden geworfen worden. Noch im Liegen transformierte sie sich zurück in menschliche Gestalt und rappelte sich auf, den Kopf schüttelnd, um die Benommenheit loszuwerden. Der Selbstmörder lag drei, vier Schritte entfernt, den Revolverlauf noch an den Lippen. Sein Gesicht war unversehrt, doch Lilith mußte nicht genauer hinsehen, um zu wissen, daß es nicht mehr als eine Maske war. Was sich dahinter befunden hatte, war von der Kugel in die Nacht gesprengt worden. Warum hatte der Mann das getan? Diese Frage beschäftigte Lilith unablässig. Hatte ihn der Angriff des Werwolfs derart schockiert, daß sein Verstand daran zerbrochen war? Hatte er in seiner Verwirrung nicht mehr mitbekommen, daß Lilith das Monster besiegt hatte, und einen leichteren Tod gesucht als den durch die Zähne und Pranken der Bestie? Diese Möglichkeit wollte ihr nicht einleuchten, obwohl es die einzig denkbare schien. Das Ekelgefühl unterdrückend, trat Lilith schließlich doch näher an den Toten heran, um ihn in Augenschein zu nehmen. Sein Kopf lag in einer immer größer werdenden Blutlache. Die Augen des Mannes standen offen. Glanzlos starrten sie zu Lilith hoch und – »Was –?« murmelte sie und kniete neben dem Leichnam nieder. Mit dem Daumen schob sie das linke Augenlid des Toten etwas höher und erkannte, daß sie sich nicht geirrt hatte. Was indes nicht bedeutete, daß sie ihre Beobachtung auch verstand. Die Iris des Mannes hatte sich verändert: seltsam krustig, beinahe wie getrocknetes Blut.
Gabriels Worte fielen ihr ein. Menschen werden davon erblinden. Hatte das rote Licht, das die Finsternis durchwob, etwa diese Wirkung? Lilith kam zu keinem anderen Schluß. Und unbewußt sah sie sich um, ließ den Blick hierhin und dorthin wandern, um zu überprüfen, ob sie selbst noch klar zu sehen vermochte. Erleichtert stellte sie fest, daß ihre Sichtweise (noch?) nicht verändert war – soweit sie das anhand der herrschenden Verhältnisse eben überprüfen konnte. Denn noch immer dominierte die undurchdringliche Schwärze um sie her. Das rote Leuchten riß nur Fragmente ihrer Umgebung aus dem Dunkel; so etwas wie einen Abglanz dieses mysteriösen Lichtes gab es allerdings nicht. Es beschränkte sich allein auf Teile des Ganzen und strahlte nicht über die Grenzen dieser Teilbereiche hinaus. Um so unheimlicher nahmen sich die Geräusche aus, die von überallher auf Lilith eindrangen: Heulen und Knurren, Schüsse, und immer wieder Schreie, die so abrupt verstummten, daß nur der Tod sie beendet haben konnte. Manche klangen weit entfernt, andere wieder ganz nahe. Lilith schauderte und flüsterte ins Nichts: »Was hast du getan, du kleiner Bastard?« Gallebitterer Geschmack füllte ihren Mund, als sie an Gabriel dachte und daran, was er ihr über sein Tun verraten hatte. Daß er nicht übertrieben hatte, davon wurde sie jetzt zumindest Ohrenzeugin. Und der Kampf eben hatte ihr überdies gezeigt, welches Grauen der Leibhaftige in Jerusalem entfesselt hatte. Wo sollte das hinführen? Was war Gabriels Ziel? Lilith erhob sich. Sie würde nichts über die Absichten des Satans herausfinden, wenn sie tatenlos hier hockenblieb. Daß sie im Aufstehen den Revolver aus den Fingern des Toten
nahm, wurde ihr in diesem Moment gar nicht bewußt …
* Wie lange mochte es her sein, daß erst die lichtlose Nacht und dann die lavarote Glut über Jerusalem gekommen war wie heimtückischer Knochenfraß? Nicht lange, dachte Landru. Zerschmettert lag er am Boden. Benommen dämmerte er in Agonie. Im Sturz hatte er sich zurückverwandelt und war in seiner humanoiden Gestalt durch das Dach eines Hauses gebrochen. Der Boden hatte seinen weiteren Fall gebremst. Zwischen Schutt und aufgewirbeltem Staub lag er röchelnd und begriff nicht, was er getan hatte. Denn er selbst hatte sich fallen lassen. Der Glaube, das Auffinden des kelchgetauften Mädchens könnte noch irgend etwas am Verlauf der Ereignisse ändern, war ihm nach wenigen Flügelschlägen abhanden gekommen. Plötzlich – und unwiederbringlich. Sinnlos. Alles war sinnlos. Weiterzukämpfen bedeutete nur, die eigene Qual und Marter zu verlängern! Im Innern des Dachstuhls, in dem er gelandet war, herrschte die Finsternis, die Landru schon im Haus der Chaims erlebt hatte. Nur durch das Loch in der Schräge konnte er das Geflimmer wahrnehmen, das sich wie ein Netz durch die Stadt zu flechten begann. Ein Netz aus Licht. Ebenso widernatürlich wie die Dunkelheit und – Er blinzelte. Sein Blick wurde trübe. Und der in ihm wütende Schmerz ebbte nicht ab, im Gegenteil. Sein Körper half sich nicht wie gewohnt. Erlittene Wunden, erlittene Brüche blieben. Was war mit seiner Fähigkeit der Regeneration? Seinen Selbstheilungskräften? Nicht einmal nach dem Säurebad im Ararat hatten sie kapituliert, und hier versagten sie?
Steckte Gabriel dahinter? Waren es die Einflüsse, die innerhalb der Zwielichtzone wirkten? Oder bin ich es selbst, der nicht WILL, daß ich genese? Am tiefsten erschütterte ihn der letzte Gedanke. Aber nur kurz. Trotz einiger Brüche und Prellungen schaffte er es, über den Boden zu rutschen und sich am Kniestock des Daches aufzusetzen. Mit dem Rücken lehnte er gegen das rauh verputzte Mauerwerk und starrte wieder hinauf zu dem Kraterloch, das er geschlagen hatte. Langsam, wie in einer letzten Beschwörung der Macht, die ihn in diese Ausweglosigkeit getrieben hatte, hob er die Arme, die er nur als Schatten vor dem Glutrot des Himmels sah. Sekundenlang hielt er sie erhoben. Und dachte an bessere Zeiten, in denen er das, was er sich jetzt selbst zufügte, anderen zugefügt hatte. Als das Gelübde nach dem Verlust des Lilienkelchs ihn daran gehindert hatte, Blut wie andere Vampire zu trinken und zu genießen … Zu sehen war nicht, was geschah. Er selbst aber spürte das Brennen, mit dem unsichtbare Klingen seine Arme schlitzten, seine Pulsadern auftrennten, der Länge nach von den Handgelenken bis zu den Ellbeugen … und wie es herausrann: warm, klebrig und unsichtbar, weil genauso schwarz wie das Dunkel, in dem sich Landru verkrochen hatte wie ein Tier, das zum Sterben seine Ruhe suchte! Eine Weile kauerte er da und beobachtete sich mit völligem Unverständnis. Was tue ich da? Wieso beschleunige ich mein Ende auch noch …? Gabriel mußte dahinterstecken! Er entledigt sich meiner. Wie er sich Anums entledigt hat. Und sich Liliths entledigen wird. Und Nonas. Und – Landrus Körper begann zu zittern und konvulsivisch zu zucken, ohne daß er dem Einhalt gebieten konnte. Meine Freiheit nach Erfüllung des Paktes war nur Illusion. Er hatte nie
vor, mich davonkommen zu lassen. Und nun, da ich ihm keinen Nutzen mehr biete, ende ich, wie alle enden werden, die ihren Zweck erfüllt haben … Er versuchte gegen das, was ihm einredete, sich selbst morden zu wollen, anzukämpfen. Er wußte, daß dieser aberwitzige Einfall nicht aus ihm selbst kommen konnte. Dennoch erwies sich die Anziehungskraft, die der nahende Tod bereits jetzt auf ihn ausübte, als stärker. Todessehnsucht. Ich – sehne – mich – NICHT – danach! Sinnlos. Vergebens. Ein Vampir der verblutet … Es war so absurd. Und dennoch nicht mehr aufzuhalten. Blut floß aus Landrus aufgeschlitzten Adern. Versickerte im gestampften Lehm des Dachbodens. Der Saft, von dem alles Leben abhing, das sich anmaßte, über die Geschicke anderer bestimmen zu wollen. Ströme wurden zu Rinnsalen. Und das dumpfe Pochen in seiner Brust wurde leiser. Schwächer. Landru selbst wurde müde. Die Augen fielen ihm zu. Er atmete flach. Dann gar nicht mehr. Und sein Herz stand still. Aus der Ferne glaubte er Anums Stimme zu hören. Aber Licht am Ende des finsteren Schachtes, in den er stürzte, sah er nicht. Auch dort, von wo Anum ihn rief, war Schwärze. Ewige, endlose Nacht. Ich komme, Bruder, dachte Landru. Dann erlosch auch das letzte Licht, das seines Geistes. Irgendwo in dieser Stadt, die nun dem Satan gehörte …
*
Lilith hatte den Rand des Bereichs, der durch die Bombenexplosion verwüstet worden war, fast schon erreicht, als sie des ungewohnten Gewichts in ihrer rechten Hand gewahr wurde. Sie senkte den Blick und war gleichermaßen erstaunt wie erschrocken, als sie den Revolver sah. Fast instinktiv wollte sie die Faust öffnen, um die Waffe kurzerhand fallenzulassen. Doch statt dessen schloß sich ihre Hand fester um das Griffstück, und ihr Zeigefinger schmiegte sich regelrecht um den Abzug, während ihr Daumen so behutsam über den Hahn strich, als handle es sich um etwas Lebendes. Sekundenlang fixierte sie die Waffe, verfolgte ihr Blick wie fasziniert das wabernde Spiel roten Lichtes, das gleichsam auf dem brünierten Metall klebte. Dann sah sie über die Schulter zurück, dorthin, wo sich düsterrot der Tote im Dunkel abzeichnete, kaum mehr erkennbar. Er hat es hinter sich, dachte Lilith wehmütig, fast – neidisch. Sie erschrak bis ins Mark! War das wirklich ihr Gedanke gewesen? Und schlimmer noch als der bloße Gedanke war das gewesen, was Lilith empfunden hatte, nur für den Bruchteil einer Sekunde zwar, aber doch so deutlich, daß etwas wie ein Echo davon noch jetzt in ihr nachschwang: Sehnsucht … nach dem Tod. Das ist absurd! schrie sie tonlos. Das bin nicht – ICH! Warum nicht? wisperte etwas zwischen ihren Gedanken, schmeichelnd wie eine warme Brise. Wofür lohnt es sich denn zu leben – in einer Welt wie dieser? Ohne es wirklich zu wollen, ließ Lilith den Blick schweifen und fand neben Finsternis nichts als Tod und Zerstörung, während ihr Ohr nur Laute auffing, die von Gewalt und Leid kündeten. Wer …, es bereitete Lilith solche Mühe, einen klaren, eigenen Gedanken zu fassen, daß ihr der Schweiß ausbrach, WAS bist du? Warum … tust du das? Die Erlösung, kam es in ihr zurück, ich bin deine Erlösung!
Lilith zitterte wie im Fieber. Ein simpler Gedanke geriet zum Kraftakt. Hatte der Fremde, der sich vor ihren Augen erschossen hatte, ebenfalls diese Stimme in sich gehört? Und hatte er nichts anderes getan, als ihr zu folgen, zu tun, was sie ihm geheißen hatte? Wenn es so war, dann, so dachte Lilith angestrengt, sollte sich dieses ETWAS an ihr die Zähne ausbeißen! Ganz gleich, auf welchem Wege es in sie gefahren war, sie würde ihm widerstehen, es austreiben und – Lilith schwindelte. Es war wie ein wohliger Rausch. Sie fühlte sich benebelt, aber es war ein angenehmes Gefühl, so leicht, schwerelos … »Nein …« Ihre Stimme hatte kaum noch Volumen, das Wort tropfte ihr kraftlos von den Lippen. Es klang wie das Nein einer Frau, die sich nur zum Schein noch zierte vor dem, was ein Mann von ihr wollte. Erspare dir die Qualen des Lebens in einer solchen Welt, flüsterte das ETWAS weiter. Laß es enden, dieses Leben. Es ist so leicht … Tu es – jetzt! Als müsse sie ein zentnerschweres Gewicht bewegen, so mühsam hob Lilith die rechte Hand. Zitterndes Ächzen drang aus ihrem Mund. Schweiß lief ihr über das Gesicht. Sie roch den Pulverschmauch, noch bevor ihr Blick das dunkle Mündungsauge des Revolvers traf. Dann schmeckte sie ihn auf den Lippen, spürte die Kühle des Metalls auf der Zunge und hörte zum zweiten Mal in dieser Nacht das häßliche Geräusch, mit dem Waffenstahl über Zähne rieb. Nicht … ich will … Der Gedanke verging, ehe sie ihn vollenden konnte. Ich will … Ich will! War dies die Stimme ihrer Gedanken – oder die des Fremden? Lilith wußte es nicht mehr zu unterscheiden. Und es zählte auch nicht
mehr, war nicht länger von Bedeutung. Nichts würde mehr von Bedeutung sein – gleich … Kann ich so denn sterben? fragte sie sich auf einer anderen, fernen Ebene ihres Denkens. Kann mich eine Revolverkugel töten? Sicher nicht, wenn sie mich in Brust oder Bauch träfe – – aber in den Kopf? Ins Gehirn? Vielleicht … Hoffentlich … Gleich würde sie Gewißheit haben. Lilith sehnte sich nach dem Tod. Danach, daß alles vorbei wäre. Keine Sorgen mehr, keine Angst, nur noch Ruhe … Keine Zweifel mehr. Kein Zögern. Ihr Finger bewegte den Abzug. Stockte kurz, als der Druckpunkt erreicht war. Sie hörte das leise Geräusch, mit dem der Hahn zurückglitt. Gleich würde er mit tödlicher Wucht auf das Patronenende schlagen und – Ein Schrei! Der Schuß.
* Emerson Fitzgerald kannte den kürzesten Weg aus Jerusalem. Diesen Weg aber auch zu finden, bereitete ihm zunehmend größere Mühe. Denn sein Augenlicht – erlosch …? Mit beiden Händen fuhr sich Emerson wieder und wieder über das Gesicht, als habe sich dort etwas festgesetzt, das seinen Blick trübte. Doch alles, was er damit erreichte, war, daß die Schrammen, die er sich bei den inzwischen unzähligen Stürzen im Finstern zugezogen hatte, immer heftiger brannten und nicht aufhörten zu bluten. Inzwischen unterschieden seine Augen nur noch zwischen Schwarz und Rot. Konturen oder gar Details konnte Emerson Fitzgerald kaum noch erkennen.
Trotzdem wußte er, daß er auf dem richtigen Weg war. Und daß er seinem Ziel, dem Stadtrand von Jerusalem, schon nahe sein mußte. »Nur ein kleines bißchen Glück brauche ich«, flüsterte er hoffnungsvoll, »dann kann ich es schaffen.« Und flehend, den fast blinden Blick nach oben gerichtet, fügte er hinzu: »Bitte, hilf mir. Wenn es dich gibt, dann laß mich nicht allein – nicht jetzt!« Gibt Gott etwas auf Feiglinge? ging es ihm durch den Sinn. Auf Männer wie dich, die ihre Frauen im Stich lassen? Die Antwort darauf verweigerte sich Emerson Fitzgerald. Geradeaus, immer geradeaus! hämmerte er sich ein, mit ausgestreckten Armen durch die Finsternis taumelnd. Er war am Fuße des Berg Skopus entlanggelaufen und mußte sich jetzt auf der Sederot Sir Winston Churchill befinden, nahe des Hadassah-Hospitals, das quasi auf der Peripherie Jerusalems lag. Wenn er das Krankenhaus fand und passierte, würde er die Stadt verlassen haben und vielleicht dem Grauen entkommen sein. Aber seine Chancen standen schlecht … Zwar hegte Emerson Fitzgerald nach wie vor die Hoffnung, daß sich das entsetzliche Geschehen auf das Stadtgebiet beschränkte, aber die Stadtgrenze zu erreichen und zu überschreiten – wie sollte ihm das gelingen … nahezu blind? Daß er es bis hierher geschafft hatte, kam schon einem Wunder gleich. Manches Mal war das Heulen der Ungeheuer so nahe gewesen, daß er damit gerechnet hatte, im nächsten Moment ihren stinkenden Atem im Nacken spüren zu müssen. Und dann ihre Krallen, die ihm den Rücken auffetzten – wie Leann … Das dumpfe Knurren klang wie das Donnergrollen eines nahenden Gewitters. Es drang in Emersons Ohr wie eine Vibration, die sich durch seinen ganzen Körper fortsetzte. Die Knie zitterten ihm und wollten sein Gewicht nicht länger tragen. Kraftlos sackte er zu Boden, so langsam, als böte ihm die schwarze Luft trägen Wider-
stand wie Morast. Hilflos sah sich Emerson Fitzgerald um, oder vielmehr wollte er es, aber er tat nichts anderes, als den Kopf hin und her zu drehen, ohne etwas anderes zu sehen als Finsternis, die von konturlosen roten Flecken durchsetzt war. Sein geistiges Auge schuf daraus dämonische Fratzen, aus Glut modelliert, mit schwarzen Mäulern und endlosen Schlünden. Er hörte leise Schritte, tappend, wie von nackten Füßen. Sie umschlichen ihn, entfernten sich dann, und wurden wieder lauter, kamen näher. Auf Händen und Knien kroch Emerson Fitzgerald davon, irgendwohin, nur weg von diesen Schritten. Doch sie folgten ihm. Jemand spielte mit ihm Katz und Maus. Sein Mörder? Der Stoff seiner Hose riß, seine nackten Knie schrammten über den rissigen Asphalt, brannten, als rutsche er über eine glühende Herdplatte. Emerson Fitzgerald wimmerte, schluchzte. Und war beinahe froh, daß Leann ihn in dieser erbärmlichen Verfassung nicht sehen konnte. Schon im nächsten Moment empfand er Scham für den bloßen Gedanken, so schmerzhaft, daß er sich krümmte und am Boden wand wie ein getretener Hund. Wozu noch fliehen? fragte er sich apathisch. Warum es noch versuchen? Ich will nicht mehr … Will nur noch eines … Emerson Fitzgerald ließ sich nach hinten sinken. Ergeben streckte er die Arme aus, bot dem unsichtbaren Gegner seine Brust ungeschützt dar. »Tu es«, keuchte er. »Laß mich sterben … Bitte!« Er lauschte auf die Schritte. Und hörte sie nicht. Nur rasselnden Atem, der sich aus seiner Kehle quälte. Ansonsten – beinahe Stille. Nur von fern drang Lärm zu ihm, der
von Kämpfen kündete, die nur einen Sieger kannten – die Bestien. Emerson spürte, wie sein verkrampfter Körper sich entspannte. Wie die Angst wich. Wie die Todessehnsucht nachließ – Bis hinter ihm etwas aufbrüllte, röhrte und rasend schnell näher kam! Erschrocken, aber doch schwerfällig wälzte sich Emerson Fitzgerald herum, kam auf dem Bauch zu liegen und stierte blind in die Richtung, aus der das Brüllen auf ihn zuraste. Er blinzelte ins Nichts, spürte und meinte gar zu hören, wie seine Lider über trockene, welke Augäpfel rieben. Der Asphalt unter ihm vibrierte unter der Wucht dessen, was da kam und das Emerson nicht zu erkennen vermochte. Aber es mußte verdammt nahe sein, denn das Heulen und Dröhnen drohte ihm schier die Trommelfelle zu zerreißen, und er konnte die Nähe fühlen. Gleich mußte es da sein, über ihm, ihn zermalmen oder was auch immer – Und dann – – war es vorbei.
* Vorher Der Sirenenton klang wie das Brüllen eines tödlich verwundeten Tieres, markerschütternd, gänsehauterzeugend, in den Ohren schmerzend. Aber keiner der Männer, die es hörten, geriet in Panik oder stellte auch nur unnötige Fragen. Jeder wußte aus hundertfacher Übung, was er zu tun hatte, und er tat es rasch und sicher. Nur ein Außenstehender hätte den Yehuda-Militär-Stützpunkt, zwischen Jerusalem und Jericho gelegen, mit einem Ameisenhaufen verglichen, der in Aufruhr geraten war.
Die Truppenalarmierung erfolgte mit minutiöser Präzision. Das Geräusch schwerer Stiefeltritte auf Asphalt erfüllte die Nacht, die von gewaltigen Scheinwerferbatterien taghell erleuchtet wurde. Befehle wurden gebellt, Motoren dröhnten, Turbinen heulten. Erste Fahrzeuge setzten sich in Bewegung, Hubschrauber stiegen auf. Der Grund des Alarms hatte sich längst wie ein Lauffeuer auf dem Stützpunkt verbreitet: Krise in Jerusalem! Worin diese Krise bestand und wer sie ausgelöst hatte, darüber war so gut wie nichts bekannt. Aber als Verursacher kamen nur die PLO oder der Irak in Frage, allen fadenscheinigen Friedensbemühungen zum Trotz. Von einer schwarzen Wolke, die über Jerusalem lag, war vereinzelt die Rede unter den Männern. Womit die Schlußfolgerung nahelag, daß es sich um einen Gasangriff handelte. Entsprechend waren die Soldaten ausgerüstet mit Schutzanzügen und -masken. Leutnant Rawi Oz war gerade im Begriff, sich auf den Fahrersitz des Jeeps zu schwingen, als ihn eine Stimme erreichte. »Leutnant?« Der scharfe Tonfall ließ den jungen Offizier in unbequemer Haltung erstarren. Er saß noch nicht richtig hinter dem Steuer, hing über dem Sitz, das linke Bein noch draußen. Scheiße! dachte er. Niemand hatte seine eigenmächtige Aktion bemerken sollen – und am wenigsten dieser Mann. Schwere Schritte näherten sich ihm, verstummten neben dem Fahrzeug. Rawi Oz wandte den Kopf. »General?« »Was soll das werden?« fragte der hagere Mann, auf dessen Uniform eine Unzahl von Abzeichen im Scheinwerferlicht glitzerte. Seine grauen Augen wirkten wie poliertes Metall, sein Mund glich einer dünnen Kerbe, die wie mit dem Messer in sein hartes Gesicht geschnitten schien. »Ich muß nach Jerusalem«, gab Leutnant Oz zurück. Der General nickte. »Das ist richtig. Aber –«, er wies auf den Jeep,
»– das ist nicht Ihr Platz, Leutnant. Sie sollten von Befehls wegen in einem der Hubschrauber sitzen – mit den Männern Ihres Zuges.« »Leutnant Kollek vertritt mich.« »Auf wessen Befehl?« »Auf meinen eigenen.« »Eine solche Entscheidung liegt nicht in Ihrer Befugnis«, sagte der General. »Ich weiß.« Rawi Oz schluckte, wich dem harten Blick seines Vorgesetzten allerdings nicht aus. »Ich möchte meiner Familie beistehen. Was immer in Jerusalem geschieht – ich will bei meiner Frau und meinen Kindern sein«, erklärte er, und nach einer Pause fügte er in verändertem Ton, fast leise hinzu: »Um deinen Enkelkindern zu helfen, Vater.« Er wußte, daß Eliazar Oz es haßte, wenn er ihn auf dem Stützpunkt und im Dienst überhaupt als Vater anredete. Familiäre Bindung durfte hier keine Rolle spielen, war seine Devise. Und in der Regel gab Rawi Oz seinem Vater recht, denn er hatte es schwer genug als Sohn des Stützpunkt-Kommandierenden: Söhnchen war sein Spitzname, und nicht jeder der Männer benutzte diese Bezeichnung im freundschaftlichen Ton. Viele waren der Meinung, Rawi Oz würde eine Sonderbehandlung genießen, weil General Oz sein Vater war. Daß eher das Gegenteil der Fall war, ignorierten sie. Immerhin gab es kaum einen Drecksauftrag, an dem Rawi Oz nicht teilnehmen mußte – sein Vater sorgte dafür, daß Rawi sich die Hände schmutziger machte als die meisten anderen. Heute aber wollte Rawi Oz auf sein vermeintliches Privileg pochen! Ein ungutes Gefühl nagte in ihm, etwas, das ihm sagte, daß seine Familie ihn brauchte, dringender denn je. Die Gewißheit, die ihm dieses Gefühl eingab, entsetzte ihn regelrecht, und er würde sich durch nichts und niemanden davon abbringen lassen, ihm nachzugeben.
Auch nicht durch einen General Eliazar Oz! »Das kann ich nicht zulassen, Rawi«, sagte dieser. Die Tatsache, daß sein Vater ihn beim Namen nannte, wertete der junge Mann schon als Teilerfolg. »Ich bitte dich darum, Vater«, flehte er in genau dem Maß, das ihn in den Augen seines Vaters nicht als Waschlappen dastehen lassen würde, sondern nur als zutiefst besorgtes Familienoberhaupt. General Oz wies dorthin, wo Soldaten in bereitstehende Hubschrauber kletterten und Fahrzeuge beluden und besetzten. »All diese Männer«, erklärte er, »haben Familie. Soll ich allen erlauben, ihre Pflicht zu vernachlässigen?« »Meine Familie ist auch deine Familie. Ist das kein Grund für dich, eine Ausnahme zu machen?« »Es dürfte kein Grund sein …«, erwiderte Eliazar Oz nachdenklich. »Aber?« Der General wandte sich ab. Einen Moment lang fürchtete Rawi, sein Vater würde ihn kurzerhand stehenlassen und davongehen. Statt dessen brüllte Eliazar Oz zwei Namen. »Kemelman! Loti!« Zwei Männer, die ein Stück entfernt eine schwere Kiste in Richtung eines Transporters schleiften, drehten sich in Richtung des Generals und nahmen Haltung an. Er winkte sie zu sich, sie kamen im Laufschritt und salutierten zackig, nannten Dienstgrad und Namen. »Ich habe einen Sonderauftrag für Sie«, erklärte Eliazar Oz ohne Umschweife. Er deutete auf seinen Sohn. »Sie werden Leutnant Oz begleiten, Vorab-Kommando ins Krisengebiet. Ich erwarte Ihren Bericht über Funk.« Er nannte ihnen noch ein Codewort, unter dem sie sich melden sollten, um direkt mit ihm verbunden zu werden, dann drehte er sich um und ging. Sein winziges Lächeln sah nur sein Sohn. Und dessen Flüstern hörte niemand: »Danke, Vater …«
Lautstark trieb Leutnant Oz die beiden Soldaten zur Eile an. Sie hatten noch nicht richtig Platz genommen, als Rawi auch schon das Gaspedal durchtrat und den Jeep mit kreischenden Reifen vom Stützpunkt jagte. Irgend etwas sagte ihm, daß jede Sekunde zählte. Und ein boshaftes Stimmchen, kaum hörbar, wisperte ihm ein, daß es bereits zu spät war – nicht nur für seine Familie, sondern für ganz Jerusalem …
* »Großer Gott!« entfuhr es Isaak Loti. »Du sollst den Namen des Herrn nicht unnütz führen«, flüsterte Jakob Kemelman. Rawi Oz schwieg. Jerusalem war – verschwunden …? So schien es jedenfalls. Das Tal vor den drei Männern schien wie mit Teer ausgegossen; nichts als Schwärze, undurchdringlich dicht, lag dort, wo Jerusalem sein sollte – sein mußte … oder gewesen war? »Was ist das?« fragte Kemelman tonlos. Er rieb sich die Stirn, mit der er hart gegen die Windschutzscheibe geschlagen war, als Rawi Oz den Jeep vor Schreck mit einer Vollbremsung zum Stehen gebracht hatte. »Sieht aus wie … eine Wolke.« Oz wußte selbst, wie unzutreffend sein Vergleich war. Aber ein anderer wollte ihm nicht einfallen. »Die verdammt finsterste Wolke, die die Welt je gesehen hatte«, meinte Loti sarkastisch. »Weißt du eine bessere Erklärung?« schnauzte Oz über die Schulter. »Reg dich ab, Söhnchen.« »Halt die Fresse, Idiot!«
Rawi Oz’ Nerven lagen blank angesichts des unerklärlichen Phänomens. Er war darauf gedrillt, gegen Feinde aus Fleisch und Blut sowie gegen deren Technik und Waffen zu bestehen – aber auf das, womit er hier konfrontiert wurde, war er nicht vorbereitet. »Giftgas«, erinnerte sich Rawi Oz einer möglichen Erklärung, die auf dem Stützpunkt kursierte. »Masken auf!« befahl er. »Was haben Sie vor?« fragte Kemelman. »Näher ran – und dann rein!« Rawi Oz gab wieder Gas. Er dachte an seine Frau und Kinder, die er in dieser Finsternis wußte. Einen anderen Gedanken gestattete er sich nicht. Der Jeep raste die abschüssige Straße hinab. Die Distanz zu der Schwärze, die sich wie eine kompakte Masse über Jerusalem gestülpt hatte, schmolz. »Ich halte das für keine gute Idee«, meinte Jakob Kemelman. Er nestelte am Verschluß seiner Gasmaske. Seine Stimme klang verzerrt, nicht nur des dämpfenden Gummis wegen. »Für bessere habe ich ein offenes Ohr«, gab Oz dumpf zurück. Kemelman schwieg. »Fahr doch erst mal alleine rein, Söhnchen«, schlug Isaak Loti vom Rücksitz her vor. Oz konnte das Grinsen des anderen regelrecht spüren. Loti konnte ihn nicht ausstehen. Sie hatten ihre Ausbildung gemeinsam absolviert und sich anfangs auch angefreundet gehabt. Später dann hatte Loti so manches Mal über die Stränge geschlagen und sich etliche Disziplinarverfahren eingefangen. Deshalb war er nicht befördert worden. Rawi Oz dagegen schon, und Loti nutzte nun jede Gelegenheit, um kundzutun, daß Rawi nur auf Fürsprache seines alten Herrn hin die Karriereleiter hochstieg. »Wie wär’s, wenn ich dich vorausschicke?« erwiderte der Leutnant. »In der Hoffnung, daß du nicht zurückkommst?« »Leck mich.«
»Das wird ein Nachspiel haben«, warnte Rawi Oz. »Wird mir dein Alter den Arsch versohlen?« »Nein, aber vielleicht werde ich dir die Schnauze polieren.« »Versuch’s ruhig.« »Äh, sollten wir nicht besser …?« Jakob Kemelman wies zaghaft nach vorne. Die Finsternis füllte mittlerweile das gesamte Blickfeld der Männer. Wie eine lichtschluckende Mauer ragte sie vor dem Jeep auf. »… erst einmal zu Fuß erkunden, was es damit auf sich hat?« vollendete Kemelman seine Frage. »Nein!« knirschte Rawi Oz. Und ließ den Jeep in die Dunkelheit rasen!
* Es geschah – nichts. Nichts von dem jedenfalls, was die drei Männer insgeheim befürchtet haben mochten. Daß die Schwärze das Material ihrer Schutzkleidung zersetzen würde etwa, oder das Blech des Fahrzeugs. Der Jeep jagte durch die Finsternis – durch absolut lichtlose Dunkelheit. Weder links noch rechts oder nach vorne hin war etwas zu erkennen. Das Licht der Scheinwerfer reichte keine Fingerbreite in die Finsternis. Dann aber – »Da!« rief Kemelman. »Was ist das?« »Etwas Rotes«, sagte Loti leise. Seine Selbstsicherheit bröckelte hörbar. Rote Leuchtspuren durchzogen die Dunkelheit, fingen sich irgendwo, rissen Teilansichten der Umgebung aus dem Dunkel. Es war ein Gefühl, als führe man durch eine Geisterbahn. »Da vorne bewegt sich etwas!« rief Kemelman.
»Da liegt einer!« schrie Rawi Oz. Sein rechter Fuß wechselte zum Bremspedal, drückte es bis zum Bodenblech durch. Die Reifen radierten lautstark über den Asphalt. Das Fahrzeug schlingerte. »Ein Mann! Da liegt ein Mann auf der Straße!« brüllte Kemelman. Der Mann verschwand im toten Winkel der Motorhaube. Dann stand der Jeep. Atemlose Stille senkte sich über die Dreiergruppe. »Haben wir ihn …?« Jakob Kemelman schluckte hart. »Sehen wir nach«, meinte Loti und sprang aus dem Wagen. Oz und Kemelman folgten ihm. Die ausgestreckten Finger des Mannes, der auf der Straße lag, berührten den Vorderreifen des Jeeps. »Verdammt knapp, Söhnchen«, grunzte Loti. »Das ist Können«, gab Rawi zurück. »Aber davon verstehst du ja nichts.« Sie beugten sich zu dem Mann hinab, drehten ihn vorsichtig auf den Rücken. Er stöhnte, schlug die Augen auf und starrte blicklos zu ihnen auf. »Was …?« setzte Emerson Fitzgerald mühsam an. »Wer … sind Sie?« »O Mann, ein verdammter Engländer«, entfuhr es Loti. »Lassen wir ihn liegen, Leute.« Rawi Oz’ Schlag kam ansatzlos. Er warf Isaak Loti hart gegen den Kühlergrill des Wagens. »War mir ein Herzensbedürfnis«, sagte der Leutnant. Dann wandte er sich wieder dem Verletzten zu. »Können Sie mich verstehen, Sir?« fragte er auf englisch. Emerson Fitzgerald nickte ächzend. Rawi stellte sich und seine Begleiter vor, dann fragte er: »Was ist hier geschehen? Haben Sie etwas ge-« Er brach ab; der Mann war zweifelsohne blind. Es wäre unangebracht gewesen, ihn zu fragen, ob er etwas gesehen hatte.
Aber Fitzgerald nickte: »Ich habe alles gesehen!« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Bis ich blind wurde. Das verdammte rote Licht muß schuld daran sein …« »Okay, Sir«, sagte Oz. »Berichten Sie.« Und Emerson Fitzgerald erzählte. Immer schneller kamen ihm die Worte von den Lippen. Jedes einzelne erleichterte ihn. Der Schmerz über Leanns Verlust allerdings wich ebenso wenig wie sein Schuldgefühl …
* »Der Typ spinnt doch!« knurrte Isaak Loti, nachdem Emerson Fitzgerald alles berichtet hatte, was er erlebt und gesehen hatte. »Ich wünschte, es wäre so, Sir«, flüsterte Fitzgerald. Rawi Oz versuchte die Finsternis mit Blicken zu durchdringen; natürlich erfolglos. Aber seine Phantasie reichte aus, um darin all das zu erkennen, was Emerson Fitzgerald beschrieben hatte. Und die Geräusche in der Ferne, die Schreie und das Heulen und Brüllen taten ein Übriges, um die imaginären Szenarien des Grauens mit Leben zu erfüllen. »Ich glaube ihm«, sagte er rauh. »Wir sollten verschwinden«, meinte Jakob Kemelman. Er hatte sich erhoben; die Uzi im Anschlag drängte er sich an das Fahrzeug, als suchte er Schutz. »Ich meine, der Mann hier –«, er wies auf Fitzgerald hinab, »– braucht ärztliche Hilfe. Deshalb sollten wir …« »Vor allem sollten wir Bericht erstatten«, sagte Rawi Oz. Er stand auf, lehnte sich in den Jeep, griff nach dem Handmikrofon des Funkgeräts. Er drückte die Sprechtaste, nannte das Codewort, das sein Vater ihm gesagt hatte, dann wartete er auf Antwort. Doch nichts rührte sich. Nicht einmal statisches Rauschen drang aus dem Empfänger. »In Ordnung«, knirschte Oz. Er warf das Mikrofon achtlos in den
Fußraum. »Raus hier!« Gemeinsam hievten sie Emerson Fitzgerald in den Fond des Jeeps. Dann wendete Rawi Oz das Fahrzeug und fuhr zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Ein nahezu unmögliches Unterfangen bei den herrschenden Sichtverhältnissen. Trotzdem trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Motor röhrte. Und die Reifen – quietschten! »Verdammt, was ist das?« entfuhr es ihm, weniger ärgerlich als vielmehr erschrocken. »Leutnant«, meldete sich Jakob Kemelman vom Beifahrersitz, »ich glaube, wir bewegen uns nicht von der Stelle.« Der Gestank verbrannten Gummis schwängerte die Luft. Rawi Oz nahm den Fuß vom Gas, legte den Leerlauf ein, zog die Handbremse an. Dann stieg er aus, beugte sich zum Vorderrad hinab und fluchte. Das Profil des Reifens war vollständig abgerieben. Ätzender Geruch stach Oz in die Nase. »Wir kommen hier nicht raus«, erklärte er, an seine Männer gewandt. Er stieß die Faust blindlings in die Schwärze. »Was immer das hier ist – es hält uns fest!« »Und jetzt?« fragte Jakob Kemelman bang. Rawi Oz hob die Schultern. »Vielleicht kann er es uns sagen«, meinte Isaak Loti. Mit dem Lauf seiner Maschinenpistole wies er über das Heck des Jeep hinweg in die Finsternis – – aus der sich ein monströser Schemen löste und auf sie zukam! »Feuer!« schrie Rawi Oz. Doch sein Befehl ging schon im Hämmern von Lotis Waffe unter.
* Sie hätte geschworen, es bereits zu spüren … Zu spüren, wie das
Projektil aus dem Lauf der Waffe ihren Schädelknochen zersplitterte! Zeitlupenhaft war der Schmerz in sie gefahren. Wie in einer extrem verlangsamten Filmsequenz hatte dieses Empfinden ihr suggeriert, die Kugel wühle sich vernichtend in ihr Gehirn! Doch der Donnerhall verklang, und nichts war vorbei. Im Gegenteil. Eine Stimme sagte: »Es ist Zeit – komm!« Die Stimme gehörte Gabriel, aber Lilith wollte immer noch sterben, SIE WOLLTE ES! Benommen starrte sie auf den Revolver in ihrer Hand. Er hatte funktioniert. Sie hatte den Schuß nicht nur gehört, auch gefühlt. Aber irgend etwas hatte verhindert, daß die Kugel auch in der Realität, außerhalb ihrer Vorstellung traf … »Laß mich!« keuchte sie und wollte sich erneut die Mündung an die Schläfe setzen. Doch ehe sie zum zweiten Mal abdrücken konnte, schien der Knauf glühend heiß zu werden. Die Waffe entglitt ihren Fingern, und dann … … fühlte sie eine fremde, kühle Hand in ihrer, die ihr Linderung verschaffte, obwohl die vorherige Hitze auch nur perfekte Illusion gewesen war. »Laß mich los!« »Du willst sterben …« »Und wenn schon!« »Du wirst gleich wieder leben wollen …« Mit dieser Behauptung zog er sie mit sich fort. Der Schauplatz wechselte auf die für Gabriel typische Art und Weise. Das surrende Geräusch war noch nicht verklungen, als Lilith sich losriß und den Ort wiedererkannte. Sie waren in den Felsendom zurückgekehrt. Aber diesmal waren sie allein, ganz allein, und das Gewölbe unter der Kuppel wurde von einem warmen, angenehmen Licht erhellt,
das nichts mit dem gemein hatte, das draußen die Menschen erblinden ließ, wenn sie ihm lange genug ausgesetzt waren. Hinter den Fenstern aber waberte es weiter, bewies, daß es nur hier, aber nirgends sonst in Jerusalem aufgehört hatte … »Hatte ich recht?« »Womit?« fauchte Lilith. Seine frostigen Blicke schienen Eisblumen auf ihre Seele zu malen. Vielleicht war Lilith nie vorher bewußt geworden, wie fremdartig Gabriel war. Hinter dem Gesicht eines Vampirs wurde, wenn er die Maske seiner Zivilisiertheit fallen ließ, eine Grimasse sichtbar – aber immerhin eine Grimasse, die immer noch Ähnlichkeit mit einem Menschen besaß. Hinter Gabriels Zügen, das wurde Lilith in diesem stummen Augenblick klar, lauerte etwas völlig Unmenschliches, etwas so Grauenhaftes, daß ihr der Atem und der Herzschlag stocken würden, wenn sie dessen jemals ansichtig würde! »Hör auf, dich von deiner Angst leiten zu lassen«, sagte Gabriel. »Es ist vorbei – hatte ich recht?« »Was ist vorbei?« »Die Lebensmüdigkeit. Du willst nicht mehr sterben. Hier drinnen habe ich eine Enklave geschaffen, in der das Feld der Archonten ausgeschlossen bleibt.« Lilith starrte ihn an. Die Kälte wollte nicht mehr aus ihr weichen. »Du willst sagen … deine ›Kinder‹ waren schuld daran, daß ich mir vorhin eine Kugel in den Kopf jagen wollte?« »Du weißt jetzt, was in den anderen Bewohnern der Stadt vorgeht«, sagte Gabriel. »Du weißt jetzt, was unbändige Todessehnsucht ist. Ich wollte, daß du es erfährst.« »Warum?« Lilith versuchte ihre Gefühlswelt neu zu ordnen. Es fiel ihr unsagbar schwer. Erneut wurde der Wunsch wach, zu töten – nicht sich selbst, sondern dieses WESEN, das sich anmaßte, Richter über Hunderttausende zu spielen!
»Damit du dir klar wirst, was in Jerusalem geschieht – und daß niemand die Mittel hat, dem Lauf der Dinge jetzt noch Einhalt zu gebieten. Von mir einmal abgesehen. Aber den Teufel werde ich tun und es aufhalten.« Er lachte hohl. »Im Gegenteil.« »Was willst du tun?« Gabriel schob sich so nah vor Lilith, daß sie den Riß sehen konnte. Den haarfeinen Riß, der senkrecht durch Gabriels Gesicht lief und der sich jetzt wie unter innerem Druck zu einem Wulst aufblähte. So als wollte er tatsächlich seine Menschmaske sprengen. Und auch der Atem, der Lilith streifte, als er weitersprach, roch verändert. War heiß und schwül und schwefelig. »… ich werde dir nun den Preis nennen, den du dafür zahlen sollst, daß ich dich aus Mayab vor deinem sicheren Ende bewahrte!« Lilith erzitterte. Er nahm ihre Hand und zog sie zu der Brüstung hinüber, die sich um den Fels mit dem angeblichen Fußabdruck Mohammeds zog. Gabriel machte eine Handbewegung, und eben dieser Fels begann sich knirschend über die Gesetze der Schwerkraft hinwegzusetzen und zu heben, bis er fast unter der vergoldeten Kuppel schwebte. Dort aber, wo er seit biblischer Zeit geruht hatte, klaffte ein Loch, das bis tief in die Erdrinde zu führen schien. »Die Gläubigen«, sagte Gabriel verächtlich, »nennen es den Brunnen der Seelen. Angeblich versammeln sich darin die armen Seelen der Toten, ehe sie zum Himmel aufsteigen …« Er lachte. Sein Gelächter rief ein schauriges Echo in der Tiefe hervor, und für einen Moment stellte Lilith sich schaudernd vor, daß sie nicht nur Gabriels Lachen an den Wänden des senkrechten Stollens sich brechen hörte, sondern tatsächlich arme Seelen an diesem scharfen Klang zerschellten … »In Wahrheit«, sagte Gabriel, nachdem er sich wieder gezügelt hatte, »ist es nur ein Loch. – Glaubst du das?« »Nein! Du hättest mich nicht hierher gebracht und dieses Kunststück –«, sie wies zu dem schwebenden Fels empor,»– vollbracht,
wenn es nur gegolten hätte, ein simples Loch freizulegen!« »Wer weiß.« Gabriel drehte sich ihr zu und nahm auch ihre andere Hand, ohne daß Lilith ihn daran hinderte. Die Preisgabe ihres Pfandes hatte er ihr versprochen, die Nennung der Tat, die er als Gegenleistung für ihre Rettung aus Mayab erwartete. Diese Bereitschaft wollte sie nicht durch unbedachte Gesten gefährden. Satans Berührung war erträglich. Noch. Denn abermals fühlte sie, wie hauchdünn (zerschlissen vom zu langen Aufenthalt?) die Schicht war, mit der er sich umhüllt hatte. Wie hoch die Anspannung darunter war, unter der scheinbar so jugendlich glatten Haut. »Vielleicht ist es kein Loch, sondern ein Grab …« Mit diesen Worten schleuderte Gabriel sie über die Brüstung hinein in den Schlund! Lilith blieb keine Abwehrchance. Im rasenden Fall riß sie den Kopf in den Nacken und wollte sich in eine Fledermaus verwandeln, da sah sie ihn kommen! Der Felsen, den Gabriel zuvor in die Lüfte gehoben hatte, krachte hernieder und verschloß den Schacht wie ein gigantischer Pfropfen! Schluß, Ende, aus! dachte Lilith, während sie weiter stürzte, als wäre sie von einer Klippe in einen Abgrund geworfen worden und versinke nun in den finsteren Untiefen des sich darunter erstreckenden Ozeans. Die Metamorphose mißglückte. Ihr Körper gehorchte ihrem Wollen nicht. Tiefer und tiefer sog der Planet sie ein. Aber irgendwann mußte das Ende des Schachtes kommen … Der Fallwind wirbelte in Liliths Haar. Gepreßte Schreie lösten sich aus ihrem Mund. Und während sie weiter stürzte, hatte sie plötzlich das groteske Gefühl, Gabriel immer noch ganz nahe zu sein – vielleicht näher als je zuvor, seit ihre Wege sich gekreuzt hatten! Und dann begriff sie, was er ihr antat. Begriff es im selben Moment, als das Schreckensszenario auf sie einstürmte, das nur jemand
ersonnen haben konnte, der das Urböse selbst in sich trug – oder den unversiegbaren Haß eines gefallenen Engels … Gabriel ließ Lilith an seiner VISION teilhaben. An dem Plan, der das Ende bedeutete. Für alle Menschen dieser Erde …!
* Die Salve aus Lotis Maschinenpistole markierte eine Spur von der linken Schulter bis zur rechten Hüfte des hünenhaften Angreifers. In dem vorherrschenden roten Licht sah Rawi Oz kein Blut spritzen, nur dunkle Löcher, die sich wie eine Perforationslinie über den fellbewachsenen Oberkörper dieser – Kreatur zogen. Die Wucht der Treffer trieb das Ungeheuer zurück. Animalisches Heulen drang aus der aufklaffenden Schnauze, aber es klang vielmehr wütend als schmerzerfüllt. Oz visierte den liegenden Körper an, zog den Stecher seiner Waffe durch und ließ ihn nicht wieder los, bevor das Magazin leer war. Automatisch schob er ein neues ins Griffstück der Uzi, während links und rechts Kugeln aus den Waffen seiner Kollegen an ihm vorbeisirrten. Der Lärm war ohrenbetäubend – – und die Zahl der Gegner scheinbar unerschöpflich! Immer mehr dieser tierhaften Monstren spie das Dunkel ringsum aus. Sie schienen aus nichts anderem als Muskeln, Klauen und Zähnen zu bestehen, und blanke Mordlust war zweifellos ihre einzige Triebkraft. »Verdammt, was sind das für Dinger?« kreischte Jakob Kemelman. »Frag nicht, schieß!« schrie Isaak Loti. Seine Worte gingen über in ein langes, kehliges Brüllen, das dem der Ungeheuer an Gewalt kaum nachstand. Voller Wut und Haß schwenkte er die Uzi hin und her, wechselte mit fliegenden Fingern die Magazine, und Oz zollte ihm im Stillen Bewunderung dafür, daß er sich vom Entsetzen nicht
übermannen ließ. Im Gegensatz zu ihm selbst … Er kostete ihn echte Anstrengung, nicht einfach dazustehen und wie gelähmt zuzusehen, wie sich einzelne Bestien trotz etlicher Treffer nicht stoppen ließen in ihrer Angriffswut. »Sie … sind unsterblich«, entfuhr es ihm rauh. »Unsinn!« knurrte Loti. »Du mußt nur die richtige Stelle treffen, Söhnchen!« Sein nächster Schuß erwischte eines der Ungeheuer genau zwischen die bernsteinfarbenen Lichter. Aus ihrem Hinterkopf spritzte etwas Dunkles in die Nacht. Stumm kippte das Monster nach hinten weg. »Alles kla-? Aaarrrggghhh!« Ein Schatten war mit irrsinniger Geschwindigkeit von hinten auf Isaak Loti zugejagt, hatte ihn umgerissen und unter sich begraben. Muskelbepackte Arme wirbelten, messerscharfe Klauen blitzten, und dann spürte Rawi Oz widerlich warme Spritzer in seinem Gesicht. Er schoß auf das Ungeheuer, während Loti noch gurgelnd schrie. Der Soldat starb mit seinem Mörder. »Kemelman! Vorsicht!« Rawis Warnung kam zu spät. Kemelmans Kopf verschwand für eine Sekunde wirbelnd im Dunkeln, schlug dann dumpf auf die Motorhaube des Jeep und rollte Oz von dort aus direkt zwischen die Füße. Die Pranke seines Mörders hatte dem jungen Mann die Schutzmaske vom Gesicht gerissen. Nahezu kreisrund geöffnete Augen starrten zu Rawi empor. Er erbrach sich in Jakob Kemelmans totenstarres Gesicht … Sengender Schmerz riß ihn aus der Apathie. Seine linke Schulter schien mit einemmal in Flammen zu stehen, kochend heiß kam ihm das Blut vor, das aus der Wunde quoll.
Dem nächsten Hieb des Angreifers entging Rawi nur, weil der erste Schlag ihn zwei, drei Schritte nach vorne hatte taumeln lassen. Die Zeit bis zum dritten reichte dem Leutnant, um sich umzudrehen und den Monsterschädel in Stücke zu schießen. Dann übernahm etwas die Kontrolle über seinen Körper, für das es nur das Wort Überlebensinstinkt gab. Jetzt machte sich bezahlt, daß sein Vater ihn in der militärischen Ausbildung hart hergenommen hatte. Oz’ Verstand schaltete sich aus, nur noch Reflexe steuerten ihn. Für Überlegungen war keine Zeit mehr. Als sei er aus Gummi, so elastisch tauchte er unter den Attacken der Gegner weg. Er warf sich förmlich in den Jeep, dabei wild, aber immer noch gezielt um sich feuernd. Mit einer Hand startete er das Fahrzeug. Sein Wendemanöver brachte ihn für zwei, drei Sekunden aus der Reichweite der Ungeheuer. Dann gab er Vollgas, ließ den Jeep leicht nach links und rechts pendeln; wie ein Rammbock brach er sich Bahn durch die gegnerische Phalanx. Die Monstren wurden zu beiden Seiten förmlich wegkatapultiert. Nur eine der Bestien schaffte es, mit einem Satz auf der Motorhaube zu landen. Ihre Pranke stieß mit aller Gewalt durch die Windschutzscheibe. Splitterndes Glas prasselte Rawi Oz entgegen. Automatisch nahm er den Kopf zur Seite und entging damit auch den Klauen des Ungeheuers, die neben seiner Schulter die Rückenlehne des Sitzes zerfetzten. Ein abrupter Dreh am Lenkrad, links, dann rechts, und Vollbremsung! Das Monster rutschte von der Haube. Und wieder Gas! Der Jeep vollführte einen regelrechten Bocksprung nach vorne, die Reifen mahlten hör- und spürbar über das Ungeheuer. »Was … was tun Sie da?« Emerson Fitzgerald! Der Leutnant hatte den Verletzten im Fond
des Wagens ganz vergessen gehabt und erschrak, als der Engländer ihn unvermittelt ansprach. »Ich bring uns hier raus«, gab er zurück. »Raus? Aber ich dachte, das geht nicht, weil –« »Geht nicht gibt’s nicht.« Rawi Oz hatte Mühe, überzeugend zu klingen. »Wo fahren Sie hin?« fragte Emerson Fitzgerald. Oz warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. Fitzgerald stierte blind um sich. Der Anblick schnürte dem Leutnant fast die Kehle zu, so mitleiderregend empfand er ihn. »In die Stadt«, sagte er dann. »In die Stadt? Aber dort ist es noch schlimmer! Glauben Sie mir!« »Mag sein«, erwiderte Rawi Oz bitter. Er wollte Jerusalem nicht allein verlassen, wenn es denn überhaupt einen Ausweg gab. Er war hergekommen, um seine Familie zu retten. Aber nach allem, was er inzwischen erlebt hatte, war er in dieser Hinsicht bescheidener geworden – – er wollte seine Familie wenigstens noch einmal sehen …
* Etwas krabbelte über ihre Stirn. Lilith wollte es wegwischen, als sie begriff, daß es Gabriel war, der sie streichelte. Erschrocken fuhr sie auf. In ihr hallte der Traum nach, in dem sie am Boden des Schachtes zerschellt war, in den Gabriel sie – Verwirrt blickte sie um sich. Und die Erinnerung ergoß sich wie ein Sturzbach über sie. So machtvoll, daß sie aufbrüllte und Gabriels Hand wegschlug. Sie befand sich immer noch – oder wieder – im Felsendom, der einen unversehrten Eindruck machte. Die Brüstung um den Heiligen Fels war unversehrt. Es gab kein Indiz für das, was sie erlebt zu
haben glaubte. »Wie gefällt dir mein Vorhaben?« Lilith schloß die Augen. Sofort waren die Bilder wieder da, die Gabriel ihr geschickt hatte. »Du bist nicht nur skrupellos, du bist wahnsinnig!« Sie riß die Augen auf, als sie hoch in den Stand gezerrt wurde. Dieselbe Hand, die sich gerade noch in Zärtlichkeit geübt hatte, grub sich brutal in den Symbiontenstoff, der Lilith kleidete, und hob sie daran empor. Das flüchtige Gefühl von tausend Nadelstichen, als versuchte das Mimikrykleid Wurzeln in sie zu bohren, beachtete sie kaum. »Ja, wahnsinnig!« Sie hatte das Bedürfnis, es ihm noch einmal, noch tausendmal entgegenzubrüllen! Er schlug ihr ins Gesicht. Lilith hatte das Gefühl, von blanken Knochen getroffen zu werden. Der Schmerz raubte ihr fast die Besinnung. Aber Gabriel schien ihre Nehmerqualitäten genau zu kennen und seinen Hieb exakt dosiert zu haben. »Reiß dich zusammen!« zischte er. Und kaum gemäßigter fügte er hinzu: »Du kennst jetzt das Schicksal der Welt!« Das Schicksal der Welt … Lilith starrte auf die Faust, die sich um das Dekolleté ihres Catsuits gewickelt hatte. Obwohl ihre Augen jetzt offen waren, hämmerte ein Stakkato von Bildern auf ihren Geist ein; Szenen, die das wahre Gesicht ihrer Umgebung überlagerten. Nur Gabriels kalte Fratze blieb davon unbetroffen, sie war und blieb präsent, gemahnte Lilith unaufhörlich, in wessen Gewalt sie geraten war. Wie sehr bereute sie es, dem Teufel ihre Seele verpfändet zu haben. Einem Teufel, der nicht nur kein Erbarmen kannte, sondern der sich zum Ziel gesetzt hatte, von Jerusalem aus die ganze Welt zu erobern – die ganze Erde mit Finsternis, Tod und Verderben zu über-
ziehen! Jerusalem war der Anfang. Gabriels Vision aber beinhaltete, daß das, was hier begonnen hatte, weiterging. Wie eine unersättliche Freßzelle sollten sich Zwielicht und Schatten über den Globus ausbreiten. Eine alte Bekannte, Nona, sollte Satans Heer – Abertausende von Werwölfen – von Schlacht zu Schlacht führen, Land um Land erobern, während Gabriel Unfrieden stiftete, Intrigen sponn und Nationen aufwiegelte, sich in unsinnigen Kriegen gegenseitig auszulöschen, und so der Finsternis weiteren Vorschub leistete … Am Ende – noch nie hatte dieses Wort größere Berechtigung und eine gräßlichere Bedeutung besessen – würde die Erde öde und leer sein, entvölkert und verwüstet von dunklen Kräften, barbarischen Horden, Seuchen und nuklearem Fallout … Die Werwölfe, die Archonten … sie waren nur der Katalysator, der die Menschen dazu bringen würde, sich selbst und gegenseitig auszurotten. Das alte Mißtrauen, der Gegner müsse hinter den Geschehnissen stecken, die der Teufel selbst in Gang gesetzt hatte, würde Zwietracht, Haß und blinde Zerstörungswut zum Ausbruch bringen. Jerusalem war nur die Keimzelle. Das Krebsgeschwür würde keinen noch so winzigen, noch so verborgenen Flecken auf dem ganzen Globus schonen. Finsternis, Schatten und der Abglanz der Hölle würden sich als undurchdringliche Wolke um die Erde ballen und vielleicht nie wieder einen Strahl Sonnenlicht zum Boden dringen lassen … Lilith wünschte, es wäre unvorstellbar gewesen. Aber in Gabriels Nähe, im Dunstkreis des Leibhaftigen, war es vorstellbar! Der Feldzug, den dieser Satan in Angriff genommen hatte, würde das Ende der Zivilisation bedeuten, vielleicht das Ende allen Lebens. Und was doch überlebte, was in den Schatten sein Dasein weiter
fristen durfte, würde sich wünschen, tot zu sein! Wer sollte dem noch Einhalt gebieten? Gabriel hatte alle Widersacher aus dem Weg geräumt – oder zum Bestandteil seiner Pläne gemacht. Wie auch Lilith! »Warum?« flüsterte sie, gelähmt von der Einsicht, daß es kein Argument gab, das Gabriel von dem einmal eingeschlagenen Weg würde abbringen können. »Was hast du davon, alles Leben auszulöschen? Dahinter kann kein Sinn stecken!« »Du begreifst es immer noch nicht?« »Wie sollte ich?« »Es geht darum, SEIN Werk zu zerstören. Und dann die Pforte für jene Macht zu öffnen, die im Dunkel zu Hause ist. Das Siegel im Monte Cargano, es wird dem Sturm, den ich entfache, nicht standhalten. Das Tor wird brechen – und für alle Zukunft offen bleiben. Eine neue Schöpfung wird Einzug halten. Diese Welt wird der Anfang sein – aber nicht das Ende.« Gabriel schon wieder von einem »Anfang« schwärmen zu hören (ja, er schwelgte geradezu in den dunklen Prophezeiungen vom Niedergang der Schöpfung), überstieg jedes Maß an Erträglichkeit. Ich muß etwas tun! Muß es verhindern – ABER WIE? Alle, die sich Gabriel in den Weg gestellt hatten, waren gescheitert. Diese Manifestation Luzifers war stärker als alle vorherigen Versuche des gefallenen Erzengels, sich im Diesseits zu etablieren. Vielleicht, weil er länger als in früheren Zeiten Atem geholt hatte, ehe er einen Splitter seiner selbst entsandte. London war ihm eine Lehre gewesen. London vor mehr als dreihundert Jahren! Nicht mehr dreigestaltig, sondern als der Eine war Gabriel erschienen, als der Widderköpfige, der sich erst selbst seiner Bedeutung hatte bewußt werden müssen …! Und nun war er zu etwas herangewachsen, das nicht mehr zu stoppen war – von nichts und niemandem auf dieser Welt!
Heiß rann es durch Liliths Brust. Das Blut in ihren Adern schien siedend heiß geworden zu sein und sie von innen her verbrennen zu wollen. Die Scham schürte es. Der Schock, diesem Werkzeug Luzifers in die Hände gespielt zu haben, statt es aufzuhalten, als es noch möglich gewesen wäre! Es tröstete wenig, nie den Auftrag erhalten zu haben, sich Gabriel oder seinesgleichen in den Weg zu stellen. Der Kampf gegen die letzten Vampire war von dieser Stunde an nicht nur hinfällig geworden, sondern zur Groteske verkommen. Denn mit den Vampiren würden auch die Menschen verschwinden. Abermillionen Menschen! »Du elender Henker!« In Gabriels Blick glomm dasselbe Zwielicht wie draußen, jenseits der Wände des Felsendoms. Licht, von dem Lilith fürchtete, es könnte wie Schlangen in ihre Augen kriechen und sie erblinden lassen. Aber diese Furcht war nichts gegen das Grauen, das Gabriel dem Rest der Menschheit angedroht hatte. »Ich werde nicht nur Leben nehmen«, sagte er mit dunkler Stimme, »sondern auch neues Leben spenden. – Womit wir bei dir wären, Lilith Eden, Geschöpf aus Licht und Schatten. Reden wir über den Nachwuchs, den du mir nach dem Endsieg schenken wirst und den ich nicht erst aus dunklen Gräbern bergen muß, um ihm meinen Odem einzuhauchen …« Und während Liliths Züge entgleisten, drängte er sich mit einem Raunzen noch enger – eng und lüstern – an sie.
* Das Netz aus rotem Licht genügte Rawi Oz, um sich zu orientieren
und den richtigen Weg zu finden. Und mehr wollte er gar nicht erkennen – es reichte ihm völlig aus, was er hören mußte, während er den Jeep durch die Straßen steuerte. Und er sah immer noch mehr als genüg … Brutale Schlächtereien. Sterbende Männer, Frauen, Kinder. Triumphierende Bestien. Und – er wollte es nicht glauben – Menschen, die sich den Ungeheuern gleichsam entgegenwarfen! Aber nicht etwa, um die Monstren anzugreifen, sondern so, als würden sie sich ihnen im wörtlichen Sinne zum Fraße vorwerfen, wie Lemminge in den Tod stürzen …! Wer sollte Jerusalem noch retten? fragte sich Rawi Oz. Automatisch sah er nach oben. Die Truppen mußten die Stadt doch längst erreicht haben. Worauf warteten sie noch? Andererseits – würde das Militär etwas ausrichten können in dieser Lage? Wie viele Ungeheuer mochten in Jerusalem eingefallen sein? Und … gab es überhaupt noch etwas zu retten? Rawi Oz verbat sich jeden weiteren Gedanken in dieser Richtung. Das Haus, in dem er mit seiner Frau und den drei Kindern eine Wohnung hatte, befand sich an der Verlängerung der Via Dolorosa außerhalb der Altstadt Jerusalems, in Sichtweite des Löwentors. Reglose Körper, in blutrotes Licht gehüllt, lagen auf der Straße und auf den Gehwegen zu beiden Seiten. Rawi Oz’ Hoffnung, in diesem Szenario noch Lebende vorzufinden, schwand mit jedem Meter, den er seinem Ziel näherkam. Sein Magen schmerzte wie im Griff einer eisigen Faust, eine unsichtbare Schlinge nahm ihm die Luft zum Atmen. Vereinzelte Schemen bewegten sich im Dunkeln, kaum erkennbar zwar, aber allein ihre Größe und die Art ihrer Bewegung verrieten dem Leutnant, daß er es nicht mit Menschen zu tun hatte. Seine Uzi spie Blei in die Nacht. Markerschütterndes Heulen löste das Echo der Schüsse ab. Rawi Oz stieg aus dem Jeep, sicherte nach allen Seiten. Angesichts
der Feinde, mit denen er es zu tun hatte, war diese Maßnahme kaum mehr als Selbstbetrug. Diese Gegner konnten von überallher kommen und rasend schnell zuschlagen. Nur Glück half gegen diese Bestien. Bisher hatte Rawi Oz es gehabt … Sein Blick wanderte an der erst vor einigen Wochen restaurierten Fassade des Hauses empor. Hinter keinem der Fenster brannte Licht. »Becky?« Oz wollte rufen, aber der Name seiner Frau quälte sich nur krächzend aus seiner Kehle. Sie hätte ihn ohnedies nicht hören können … Rawi senkte den Blick wie auf einen lautlosen Befehl hin – und schrie auf! Die Beine knickten ihm weg wie morsche Hölzer. Hart schlug er mit den Knien auf den Asphalt – und ins Blut seiner Frau. Nur ihr Gesicht war unversehrt geblieben … Rawi Oz schob seine Arme unter Beckys Oberkörper, drückte sie an sich. Klebrig und kalt war sie schon. Seine Tränen fielen in ihr Gesicht, rollten ihre Wangen hinab, und Rawi flüchtete sich in die Illusion, sie dürften weinend voneinander Abschied nehmen. Schritte klangen hinter ihm auf. Unsicher, tappend. Keine Gefahr … »Was ist?« fragte Emerson Fitzgerald leise. »Diese Ungeheuer … sie haben auch … meine Frau …«, schluchzte Rawi. Emerson Fitzgerald legte ihm die Hand auf die Schulter. Eine geringe Geste im Grunde, in dieser Situation aber war sie Rawi Oz mehr wert als jedes tröstende Wort. Fitzgerald mußte seinen Schmerz nachvollziehen können, schließlich kannte er ihn aus eigenem Leid. Oz ließ seine tote Frau zu Boden sinken. Zögernd sah er sich um. »Die Kinder«, flüsterte er mit bebenden Lippen. »Wo sind die Kinder?«
Der Magen drehte sich ihm um bei der bloßen Vorstellung, sie so vorzufinden wie Becky … Aber durfte er sich denn noch Hoffnung machen? »Hören Sie das?« fragte Fitzgerald plötzlich. Rawi nickte, und als ihm einfiel, daß der andere es nicht sehen konnte, sagte er rasch: »Ja, das sind … Stimmen! Ich erkenne sie. Das sind sie – meine …« Er rief die Namen seiner Kinder. Laut hallten sie von den Fassaden ringsum wider. Die zarten Stimmen wurden lauter, kamen näher, Schatten bewegten sich in der Finsternis. »Kommt!« schrie Rawi. Er erhob sich, lief ihnen entgegen. »Kommt her, schnell, beeilt euch! Ich bin es!« Er breitete die Arme aus. In der Ferne – Heulen und Knurren. Lauter und lauter. Näher und näher. Rawi Oz rannte. Und die drei schattenhaften kleinen Gestalten rannten – vor ihm weg? Wieder schrie er ihre Namen. Die monströsen Laute der noch unsichtbaren Feinde übertönten seine Stimme beinahe. Die Kinder rannten schneller. Und weiter weg. Dorthin, wo aus der Schwärze das Keuchen und Grollen der Ungeheuer drang. »Mein Gott, was tut ihr?« brüllte Rawi Oz. Seine Stiefel hämmerten ein wildes Stakkato auf den Asphalt. Trotzdem entschwanden die drei Schatten aus seiner Sicht, verschmolzen von neuem mit der Finsternis. Lediglich die Stimmen seiner Kinder hörte Oz noch … für ein paar Sekunden. Dann – – nur noch das gierige Knurren und Schmatzen ihrer Mörder … Oz erstarrte mitten im Lauf. In ihm zerbrach etwas fast hörbar. Und dazwischen drang etwas hervor – etwas Flüsterndes, Wärmendes, Verlockendes, dem sich Rawi nur zu gern ergab … Fast gemächlich ging er weiter in die Richtung, in die seine Kinder
ihm vorausgegangen waren. Schritte näherten sich ihm von hinten. Ohne sich umzudrehen fragte er: »Wollen Sie mir folgen?« Er spürte Emerson Fitzgeralds Nicken, fühlte, daß den anderen der gleiche Wunsch erfüllte, der auch in ihm wachgeworden war. Der Schmerz verband sie, und gemeinsam würden sie ihm entrinnen. Endgültig. Monströse Schatten hetzten ihnen entgegen, schälten sich aus Röte und Schwärze. Daß über ihnen die Finsternis andere Dinge entließ, lauter brüllend als die Ungeheuer und Sturm entfachend, registrierten weder der Israeli noch der Engländer. Unbeirrbar strebten sie vorwärts. Über ihnen begann es zu donnern. Kraftlose Blitze flammten für Bruchteile von Sekunden auf. Die Bestien warfen sich Rawi Oz und Emerson Fitzgerald entgegen. Doch die Männer starben, bevor die Monster über sie kommen konnten. Dann zerrissen die Salven der Helikoptergeschütze auch die Wölfe.
* Der Aufschrei fand nur in Lilith statt – und war dennoch betäubend laut! »Du wolltest doch«, hörte sie Gabriels Stimme wie durch dicke Watte, »endlich den Preis erfahren, den du mir schuldest. Er ist wahrhaftig nicht zu hoch für ein Leben wie deines, oder?« Ihr war … nicht einfach nur schlecht, ihr war vollkommen elend. Und als Gabriel sie aufreizend anlächelte, brüllte sie: »Laß mich los, sofort, du Scheusal! Und faß mich nie mehr an, sonst –« »Du verstehst offenbar immer noch nicht«, sagte er. »Es ist längst
keine Frage des Wollens mehr, keine Frage gegenseitiger Sympathie. Ich habe dir den Preis genannt, den ich für die Rettung aus Mayab verlange. Im Dschungel von Yucatán bewahrte ich dein Leben, damit du mir dereinst Leben schenkst. – Und keine Sorge, ich verfüge über wirksame Mittel und Wege, dir das Zusammensein mit mir nicht nur erträglich zu machen. Du wirst es genießen. Am Ende wirst du darum winseln, daß ich nicht mehr ablasse von dir … Du ahnst ja nicht, wie es sein kann. Aber einen Vorgeschmack sollst du jetzt schon erhalten. Ich will dir diesen Mann wenigstens zeigen …« »Wage es nicht, mir noch näher zu kommen!« Gabriels niederträchtiges Grinsen war nur der Anfang. Einen Moment später schien eine kaum sichtbare Naht in seinem Gesicht zu platzen. Ein … Spalt wurde sichtbar! Ein Riß, der sich rasend nach oben und unten erweiterte! Ungläubig starrte Lilith auf das, was darunter zum Vorschein kam. »Wir werden ein wundervolles Paar abgeben«, fuhr Gabriel gleichmütig fort, als wüßte er gar nicht, wie ihm geschah. Aber seine Stimme wirkte plötzlich verändert. Dunkler. Hallender. Voluminöser. Lilith spürte, wie die Übelkeit die letzten Winkel ihres Körpers erreichte. Sie bäumte sich in Gabriels stählernem Griff auf. Selbst der Symbiont schien die Nähe und Ausdünstung dessen, was aus der Maske des jungen Mannes hervorbrach, nicht länger zu ertragen. Wie tot fiel er von Lilith ab, sank zu Boden wie eine morsche Masse aus eingetrockneten Spinnweben. Von einem Moment zum anderen stand Lilith da, wie sie sich diesem Wesen niemals hätte präsentieren wollen. Ihre vollen Brüste waren gegen den Oberkörper des Satans gedrückt, weil dessen Hände Lilith an sich zogen. So fest, daß sie kaum noch atmen konnte. Doch obwohl der Ekel überhand nahm, obwohl sie den Teufel von sich stoßen wollte … vermochte sie es nicht.
Etwas hinderte sie daran. Lilith erschrak vor sich selbst. Fröstelnd dachte sie: Ich kapituliere? Das darf nicht sein! Ich kann nicht zulassen, daß er … mich befleckt!!! Gabriels knöchern gewordenes Lächeln rammte sich wie ein Dorn in ihr Herz. Und seine Worte nicht minder. »Jetzt und während der Paarung«, schnarrte der Knochenmund, »wirst du meine wahre Gestalt schauen dürfen. Der Rest der Welt ist dafür noch nicht reif. Nun, wie gefalle ich dir? Unsere Kinder werden viel von ihrem Vater haben …« Lilith wollte sich brüllend abwenden. Doch Gabriels glosender Blick bannte sie. Des Teufels Maske war gefallen. Als hätte eine Eierschale sich geöffnet, war Gabriels wahrhaftiges Wesen geschlüpft … »Du wirst mich nicht lieben, aber ehren«, hörte Lilith die Worte Satans zwischen dessen fauchendem Atem. »Wirst du das tun?« Seine Hände, von denen jede Illusion von Fleisch und Haut abgefallen waren, glitten tiefer. Sie kneteten Liliths straffe Pobacken. Ein knöcherner Finger fuhr in den engen Spalt und – Lilith zuckte wie elektrisiert zusammen. Es kostete sie beinahe alle Selbstachtung, zu spüren, wie es sie … erregte? Wie ihr Atem schneller ging? Ihr Herz in ein dämonisches, kaum erträgliches, rauschhaftes Crescendo verfiel …? »Hör – jetzt – bitte – auf …!« »Warum so zimperlich?« Gabriel – oder vielmehr etwas, das sich weder anhörte, noch die geringste Ähnlichkeit mit dem Jüngling Gabriel hatte – lachte grell auf. Lilith schloß die Augen. Es half. Wenigstens ein paar trügerische Sekunden lang. Dann befahl sie sich selbst, wieder hinzuschauen. Den Vater ihrer künftigen Brut mit Respekt zu behandeln. Respekt …
Ich stehe im Wort. Ich habe eingewilligt, ihm zu geben, was immer er eines Tages von mir fordert … O GOTT! »In Ordnung«, sagte Gabriel, »für den Moment ist es genug. Aber wir kommen darauf zurück. Und dann …« Aus seinem Mund kroch etwas hervor. Es dauerte, bis Lilith begriff, daß das schwarz Verdorrte die Zunge dieses Wesens war, und die Vorstellung, er könnte ihr seinen Respekt auch damit eines Tages bekunden wollen, zerrte ihr fast den Boden unter den Füßen weg. Dabei, das ahnte sie im selben Atemzug, würde diese Zunge noch das harmloseste sein, womit er sie zu »beglücken« gedachte … Das Monstrum lachte schallend, als würde es die Gedanken hinter Liliths Stirn kennen. Dann klatschte es in die Hände und … … wie von Zauberhand geführt schmiegte sich wieder die menschliche Maske um den Alptraum, den Lilith nicht nur geträumt, sondern mit jeder Faser ihres Seins zu spüren bekommen hatte!
* »Das ist nicht wahr. Du kannst nicht ernsthaft …« »Ich kann! – Und du mußt.« »Du willst Kinder zeugen – mit mir?« »Luzifer wird es gutheißen.« »Wie – kommst du darauf?« »Ich bin ein Splitter von ihm. Sein Wille ist mein Wille und umgekehrt.« Lilith preßte die Faust gegen ihren Mund, als wollte sie sich damit knebeln. Oder ersticken. Unterhalb der Faust krümmte sich immer noch Gabriels Hand um ihr Gelenk. Hart, wie in der gerade erlebten Phantasie, zog er sie an sich. Mit beiden Händen. Bestürzt stellte Lilith fest, daß der Körpergeruch, den er verström-
te, sie erregte. Sie ahnte, daß er sie auf diese Weise zu beeinflussen versuchte, aber dieses Wissen allein reichte nicht aus, Begehrlichkeiten, die in ihr erwachten, unterdrückt zu halten. Er ist der Teufel! machte sie sich klar. Satan persönlich! Wenn er seine Drohung wahr macht, sterbe ich vor Ekel …! Gabriel ließen die Gefühle, die sich in ihrem Gesicht, in ihrer ganzen Haltung spiegelten, kalt. »Hast du nicht auch davon geträumt, mit einem anderen Mörder Kinder zu zeugen?« fragte er höhnisch. »Wolltet ihr nicht mit diesem Ding dort«, er wies auf den Lilienkelch, den unsichtbare Kräfte schwebend über dem Heiligen Stein des Felsendoms hielten, »eine neue Rasse von Vampiren gebären, die als eure Statthalter über alle wichtigen Orte der Erde wachen sollten?« »Als ich davon träumte, war ich nicht ich selbst«, rechtfertigte sich Lilith. »Vielleicht hättest du mir meine verlorene Identität nicht zurückgeben sollen. Dann hättest du leichteres Spiel. So aber …« »Leichteres Spiel?« spottete Gabriel. »Wozu? Ich bettele nicht um deine Gunst, ich verlange! Dies ist der Preis. Höre in dich, und du wirst erkennen, daß du keine Möglichkeit hast, abzulehnen. Du bist unsterblich. Du wirst mir viele Kinder schenken – Kinder, die für ein Leben in Finsternis gerüstet sind!« »Wenn du alle Menschen auslöschst, werde ich bald sterben«, sagte sie. »Ich lebe von Menschenblut. Hast du das vergessen?« »Vampirblut«, korrigierte er. »Dir wurde befohlen, dich vom Blut deiner Feinde zu ernähren. Hast du das vergessen?« Er wußte alles. Aber allwissend war er nicht. »Auch meine Feinde werden dann nicht mehr sein – oder?« »Ich bin Satan, Luzifers Gesandter! Ich habe deinen Blutgeschmack schon einmal nach Gutdünken geändert. Was hindert mich, es ein weiteres Mal zu tun? Wenn Mensch und Vampir nicht mehr sind, wirst du dich vom Blut unserer Nachkommen nähren! Ich habe entschieden!«
Dieses »Ich habe entschieden!« klang wie ein unanfechtbarer Urteilsspruch in letzter Instanz. Aber vor welchem Gericht? Angesichts dessen, was gerade dabei war, Jerusalem zu verschlingen, war Lilith geneigt, zu glauben, Armageddon sei angebrochen, die Zeit des Jüngsten Gerichts. Nur der Richter war von anderer Qualität als erwartet: nicht Gott, sondern dessen ewiger Gegenspieler. Lilith spürte, wie sie den Boden unter den Füßen verlor. Es war ein anderes Gefühl wie während des vermeintlich freien Falls vorhin. Und es unterschied sich ebenso von ihrem Aufenthalt im Himmel über Jerusalem an Gabriels Seite. Ihr Innerstes driftete haltlos in eine Richtung, von der Lilith am liebsten niemals erfahren hätte, wohin sie führte. »Was …?« Sie räusperte sich. »Was für Kinder könnten einer Verbindung wie der unseren wohl entspringen? Ich wage es mir nicht vorzustellen!« »Aber du beginnst dich an den Gedanken zu gewöhnen?« Gabriel drängte sich noch dichter an sie. Sein Körper war jung und straff. Und dort, wo er sich gegen ihre Lenden preßte, schien es hart und verlangend zu pochen. »Darüber würde sich niemand mehr freuen als ich. – Oder traust du mir ein Gefühl wie Freude nicht zu?« »Dir traue ich alles zu!« »So gefällst du mir schon besser.« »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet: Wie werden sie aussehen, wie werden sie beschaffen sein, und wovon werden sie sich ernähren?« Gabriel legte den Kopf schief. Im ersten Moment sah es aus, als müßte er scharf nachdenken. Dann dämmerte es Lilith, daß er in seinen Gedanken weit fort war. Ganz woanders. Als sich seine starre Haltung wieder lockerte und der Glanz in seinen Augen neu entflammte, sagte er: »Es kann sein, daß ich dich für
kurze Zeit alleinlassen muß. Die Situation anderenorts könnte es verlangen.« »Wo?« »Du wirst nie wissen, was ich weiß«, sagte er grob. »Dein Status erfordert dies nicht. Er verlangt nur eines von dir.« … dir und der kommenden Welt voller Finsternis Kinder zu schenken. Satanische Kreaturen, vollendete Lilith für sich selbst, was Gabriel, der Leibhaftige, unausgesprochen ließ. Der Felsendom erzitterte in seinen Grundfesten, als der Teufel sich kurz darauf wie eine heulende Sturmbö entfernte. Lilith blieb reglos zurück, blieb stehen, wo sie stand, und ihr war, als lägen Satans Hände immer noch wie Ketten um ihre Haut. Um ihre Kehle. Irgendwann merkte sie, daß sie den Lilienkelch anstarrte. Irgendwann begriff sie, daß – wenn es noch eine Chance gab, Satans Pläne zu durchkreuzen – der Schlüssel dazu ausgerechnet in diesem Ding steckte, das soviel Unheil über unzählige Menschen gebracht hatte. Aber vielleicht war es auch gerade deshalb prädestiniert, das dunkelste aller Zeitalter von der Welt abzuwenden … Ich muß es wenigstens versuchen! dachte Lilith. Selbst wenn ich dabei umkomme! Denn was konnte schrecklicher sein als das Leben, das Gabriel für sie vorgesehen hatte? Ohne sich über die Folgen ihrer Handlung in letzter Konsequenz bewußt zu sein, leitete sie ihre Verwandlung ein und flog auf das einzigartige Kleinod zu, das die Ur-Lilith dereinst aus Magie und Traum gewoben hatte …
* Des Teufels Heer wurde nicht müde, die Kräfte seiner Kämpfer er-
schöpften sich nicht, und ihre Lust am Töten ließ nicht nach. Wohl aber schienen einige von ihnen satt von ihren Opfern und ließen deswegen nach in ihrem blutigen Tun. Es war eine der Aufgaben von Satans erster Kriegerin, dafür zu sorgen, daß das Morden nicht endete, daß jede einzelne der Bestien Beute riß, solange es noch Beute gab. Und Nona erfüllte diese ihre Pflicht. Als Wölfin patrouillierte sie durch die blutigen Straßen Jerusalems, und wo sie einen ihrer Art traf, der sich träge zurückziehen wollte, trieb sie ihn mit lautem Brüllen wieder hinaus in die Stadt, hetzte ihn auf das menschliche Wild. Und nicht einer vermochte sich ihrem Befehl zu widersetzen. Die Werwölfe erkannten ihre Autorität an, als trüge sie ein flammendes Zeichen der ihr verliehenen Macht auf der Stirn. Sie selbst legte nicht Hand an. Das blutige Werk durfte sie den anderen überlassen. Zudem wollte sie gar nicht daran teilhaben. Denn was um sie her geschah, entsetzte Nona, auf einer Ebene ihres Bewußtseins zwar, die sie nicht zu kontrollieren vermochte, aber das so empfundene Grauen ließ sie zweifeln an dem, was sie den anderen befahl. Allein, sie kam nicht dagegen an. Sie mußte tun, was im Sinne Satans war. Und gerade das machte ihr zu schaffen. Denn dieses Blutbad schien so … sinnlos. Unmöglich kam ihr vor, was Gabriel wirklich damit bezweckte. Und doch wußte sie, daß er es schaffen konnte; denn sie teilte des Teufels Zuversicht, so wie er ihre Sinne teilte und Nona selbst als Werkzeug benutzte, seit er den tiefverwurzelten Ruch in ihr wachgerufen und sie zur Führerin seiner Armee bestellt hatte. Im Zuge dieser Überlegungen erinnerte sie sich unweigerlich an Landru, den sie zurückgelassen hatte, als bedeute er ihr nichts mehr. Aber dem war nicht so; zu lange währte ihre Gefährtenschaft schon,
und zu einzigartig war sie, als daß der Satan sie zur Nichtigkeit degradieren könnte. Was würde geschehen, wenn Landru auf die mordende Wolfsmeute traf? Würden sie auch ihn –? Ich muß zu ihm! gellte es durch den Schädel der Wölfin, als würde ihr menschliches Ich darin aufschreien. Aber der Wunsch, zu Landru zurückzukehren, zerstob. Buchstäblich fast. Denn der tief schwarze Himmel über Jerusalem schien in dieser Sekunde zu explodieren! Höllenlärm rollte wie Donner über die Stadt. Und dann begannen die Angreifer zu feuern, aus allen Rohren – und die Todesgewalt ihrer Waffen konnte selbst Satans Heer gefährlich werden!
* Nona sah ihre Krieger sterben. Nicht alle freilich, aber viele erwischten die Geschosse des angreifenden Militärs, das mit Hubschraubern und Panzerfahrzeugen in Jerusalem eingefallen war. Nona wußte nicht, wie viele Werwölfe Gabriel aus aller Welt mit Hilfe seiner uralten Kinder nach Jerusalem geholt hatte; nur, daß ihre Zahl gewaltig sein mußte. Trotzdem, es zählte jeder einzelne! Ihre gewaltige Masse war Satans Trumpf, und deshalb war jeder tote Wolf ein möglicherweise entscheidender Verlust, der den Plan des Bösen gefährden konnte. Es sollte mich nicht kümmern, dachte Nona – vergebens: denn sie konnte nicht anders, als sich um das Erreichen des Zieles zu sorgen. Sie war Satans Hand, sein verlängerter Arm, und sie konnte sich seinem Willen nicht widersetzen. Denn sein Wille war ihr Wille – – und so rief sie ihn. Flehte den Leibhaftigen um Hilfe an, daß er etwas unternehmen möge gegen die Waffengewalt des Feindes.
Und Satan reagierte. Er kam als Sturm über Jerusalem und nutzte die verschmolzene Macht seiner Kinder, die nach wie vor in weitem Kreis erhöht um Jerusalem standen. Mit purer Geisteskraft griffen die Archonten in die Schwärze, ballten sie wie mit unsichtbaren Titanenfäusten. Überall dort, wo Helikopter in der Luft hingen und Kampffahrzeuge fuhren, veränderte sich die Struktur der Finsternis, formte sich zu konturlosen Kokons, wob Menschen und Maschinen ein – und zog sich zusammen, immer weiter, enger, fester. Metall knirschte und kreischte unter unvorstellbarer Krafteinwirkung. Funken sprühten, Treibstoff entzündete sich, Feuerbälle wollten auflohen, doch die kompakte Schwärze erstickte sie – und entließ am Ende nur Trümmer … … von Maschinen – und Menschen.
* Nona wollte aufatmen, aber es blieb beim Versuch. Es war, als stecke in ihrem Rachen eine knöcherne Faust, die nichts daraus entließ. Die Wölfin lauschte, in sich wie um sich herum, auf ein Zeichen des Satans. Nichts. Er schien sich zurückgezogen zu haben, überließ Nona das Feld, auf das er sie gesetzt hatte, eine Schachfigur in seinem Spiel. Unweigerlich dachte sie wieder an Landru. Wo mochte er sein? Konnte sie ihn finden, so wie sie ihn früher stets zu finden vermocht hatte, egal, wo auf der Welt er sich auch befand? Sie hatte sich nur treiben lassen müssen, und eine nicht wirklich wahrnehmbare Witterung hatte sie zu ihm geführt. Nona versuchte es. Schloß die Augen, schaltete ihr Denken ab. Wollte nur gehen, irgendwohin, in die richtige Richtung … … aber sie stand bewegungslos. Nichts lenkte sie, nichts trieb sie an.
Was bedeutete das? Hieß das, daß Landru –? Wie im Reflex verwandelte sich Nona in ihre menschliche Gestalt. »Nein!« entfuhr es ihr. »Nicht wieder! Nicht noch einmal, Landru. Ich habe dich schon einmal verloren geglaubt. Ich ertrage diesen Schmerz nicht noch einmal –« Glaubst du? Die Stimme hämmerte förmlich zwischen Nonas Gedanken. »Was hast du ihm angetan?« fragte sie zischend. Sie ahnte, daß Gabriel über Landrus Schicksal Bescheid wußte. »Was ist mit Landru?« Er sollte dich nicht mehr interessieren, antwortete der Satan in ihrem Kopf. »Das tut er aber«, erwiderte Nona. »Und du wirst nichts daran ändern!« Sei dir da nicht zu sicher. Deine Bestimmung ist nicht länger die, die Hure eines Vampirs zu sein. Du stehst und gehst fortan an meiner Seite! Nona ignorierte Gabriels Worte. »Wo ist er?« verlangte sie zu wissen. Wie du willst. – Geh zu ihm … Und plötzlich wußte Nona, wo sie Landru finden würde. Die Spur zu ihm war deutlicher denn je zuvor, wie markiert mit einer Farbe, die nur ihre Augen sahen. Nona folgte ihr, rannte wie kaum zuvor in ihrem Leben! Als säße ihr der Teufel im Nacken.
* Nur der Tod wohnte noch in diesem Haus. Die Menschen, die darin gelebt hatten, lagen in ihrem Blut, ihre Körper waren zerrissen, und Nona bedauerte jenen unter ihnen, der als letzter gestorben war – weil er den Tod zuvor dutzendfach hatte erleben müssen. Aber einer, durchfuhr es sie, einer MUSS noch leben in diesem Haus! Landru …
Sie wußte, daß sie ihn hier finden würde. Wußte es einfach, obwohl sie seine Nähe nicht auf dieselbe Weise spüren konnte wie früher. Es war schlichte Gewißheit, und Nona ahnte, wo sie herrührte – wer sie ihr eingab. Tat er es nur, um sie zu narren? Sicher nicht … Oder doch? Sie stieg die Stufen empor, erreichte die letzte Etage und erkannte, daß sie noch weiter hinauf mußte. Über eine wacklige Leiter und durch eine Luke erreichte sie den Dachboden des Hauses. Rötliches Licht fiel wie erstarrter Nebel durch ein Loch im Dach. Etwas mußte durch den Krater dort hereingestürzt sein – jemand … »Landru!« Nona sah nur die Umrisse der Gestalt, aber sie kannte sie gut, so lange schon, daß sie die Konturen unter Tausenden erkannt hätte. Neben dem Liegenden warf sie sich auf die Knie. Mit fliegenden Händen wollte sie den reglosen Leib untersuchen – – und berührte kalte, klebrige Feuchte. Landrus Unterarme waren der Länge nach aufgeschnitten, Blut färbte die Haut schwarz und hatte den Boden getränkt. Soviel Blut, daß sich unmöglich noch ein Tropfen in Landrus Adernetz befinden konnte. Sein Herz … Nona suchte vergebens nach seinem trägen Schlag. Sein Gesicht … totenkalt und starr. Seine Augen … stumpf und leer. Landru … war tot. Wirklich diesmal. Endgültig. Nona wußte es – – weil der Satan es wußte! Das Heulen der Wölfin drang hinaus in die finale Nacht, ganz und gar anders im Ton als das Heulen ihrer Krieger, die draußen tobten – und für eine Weile verstummten, als sie das Klagen ihrer Herrin
vernahmen. Totenstille senkte sich über Jerusalem. Die heilige Stadt schwieg wie im Gedenken an den mächtigsten aller Vampire auf Erden …
* Flirrender Purpur pflügte eine Schneise in den Mahlstrom aus schattenhaftem Licht, der Lilith aufhalten wollte – der versuchte, ihren Flügelschlag zum Stocken zu bringen, als bewegte sie sich durch zähen Kleister. Purpur war die Magie des Kelchs, den sie im Felsendom erweckt und dann, in Gabriels Abwesenheit, daraus entführt hatte! Gabriel, der diesen Diebstahl und auch ihren Fluchtversuch jeden Moment bemerken mußte – wenn dies nicht bereits geschehen war. Verzweifelt peitschten Liliths Schwingen, stoben Gedanken wie Funken durch das winzige Hirn des Tieres, in das sie sich verwandelt hatte. Nicht nur, um zu entkommen, nicht nur um sich selbst vor einem Schicksal schlimmer als der Tod zu bewahren … nein, auch um – – die Welt zu retten! Minimal war ihre Chance. Dennoch versuchte sie daran zu glauben. Luzifer und seine Inkarnation wollten Gottes Schöpfung ausradieren und durch eigene … Kreaturen ersetzen! Monstren, die Liliths Schoß entschlüpfen sollten, um eine verödete, leere Erde neu zu bevölkern … Stopp! Nicht weiter! Kehr um! Du bist ihm verpflichtet! Du KANNST dich seinem Wollen nicht verweigern! Denk an Mayab. Denk an den PAKT …! wisperte es in ihrem Hirn. Sie verschloß sich vor der tiefen Wahrheit, die darin steckte. Sie lauschte in sich und suchte Trost in der Erinnerung, es schon
einmal dorthin geschafft zu haben, wohin es sie auch jetzt trieb. In einem letzten Aufbäumen, im fast aussichtslosen Bemühen, nicht auch diese allerletzte Chance ungenutzt verstreichen zu lassen! Jerusalem lag bereits hinter ihr. Dennoch hörte die rotdurchwobene Dämmerung nicht auf. Weit reichte Satans Nacht über Jerusalem hinaus. In ihre Berge versunken – versunken auch in Krieg und Greueln – blieb die Stadt hinter Lilith zurück. Und endlich, endlich durchstieß sie die »Wand«, die normale Dunkelheit vom Zwielicht der Hölle trennte! Ein Zwielicht, das die Sinne der Fledermaus anders empfanden als halb menschliche, halb vampirische Augen. Woran liegt es, dachte Lilith, daß ich nicht erneut der Todessehnsucht verfalle? Hat Gabriels heimtückische Strahlung in diesem Körper keine Macht über mich? Antwort, das wußte sie, hätte nur Gabriel selbst geben können. Aber darauf verzichtete sie gern. Sie mußte es nicht wissen. Sie mußte nur – Was geschah jetzt? Eben noch war sie dem Feld aus Düsternis entkommen gewesen, und nun … steckte sie wieder mitten darin? Wie ein Raubtier, das sein fliehendes Opfer in einem gewaltigen Sprung doch noch einmal einholte, erweiterte sich die Zone um Jerusalem schlagartig und erfaßte die Fledermaus, die den purpurleuchtenden Kelch in ihren Fängen hielt! Festzuhalten jedoch vermochte sie Lilith nicht. Die Hoffnung trieb sie an, unterwegs zu dem Einzigen, der den Bruch des Tores, das Regiment des Urbösen noch verhindern konnte. Wenn er davon erfuhr. Wenn sie es nicht nur bis Uruk schaffte, sondern auch durch den Tunnel der Zeit hindurch zu IHM … zu dem Punkt, da ER diese Welt noch, nicht verlassen gehabt hatte! Gen Uruk!
Der Weg war unfaßbar weit auch für das geflügelte Tier, in das sie sich verwandelt hatte. Und Satan benötigte nur ein ZZZUUUWWW!, um sie wieder einzufangen! Er würde nicht zögern, es zu tun. Seiner Vision zuliebe. Ihre Chance stand eins zu Unendlich. Aber Lilith war entschlossen, sie trotzdem zu nutzen!
* »Warum?« Nonas Stimme tropfte ins Dunkel. »Wie konnte das geschehen? Wer hat es getan?« Er selbst! meldete sich Gabriel in Nona. »Das glaube ich nicht!« knurrte sie. Ihre Trauer schlug in Zorn und Haß um, die kein Ventil fanden. Wie du meinst. Aber es stimmt. Er konnte sich der Todessehnsucht, die ich über die Menschen dieser Stadt brachte, um sie zu willfährigen Opfern zu machen, nicht entziehen. Er öffnete sich die Adern, wie er es selbst bei seinen Opfern zu tun pflegte, und seine magische Selbstheilungskraft versagte angesichts meiner Macht. – Wenn man es recht bedenkt, hat dein Freund zum ersten Mal in seinem Leben etwas richtig gemacht. Denn … wer bräuchte diesen Narren noch? Des Teufels Lachen ließ Nona erzittern, weil es, wie auch seine Stimme, in ihr erklang. »Ich!« heulte sie auf. »Ich brauche ihn!« Unsinn! Du hast mich – wie könntest du jemanden außer mir brauchen? – Los, steh auf Wölfin! Nona gehorchte wie in Trance. Unendlich müde wirkten ihre Schritte, als sie zu der Bodenluke zurückging. Ihre Augen waren unverrückbar auf Landru gerichtet, bis seine Leiche wieder mit der Dunkelheit verschmolz und Nonas Blick entschwand. Wie er auch aus ihrem Leben verschwand.
Aus einem Leben, das nicht mehr wirklich ihr gehörte. Im Grunde hatte sie es verloren, wenn nicht schon zuvor, dann hier oben, an Landrus Seite. Vergeblich suchte Nona Trost in diesem Gedanken. Aber sie fand nur Haß auf den Satan, der letztlich als Landrus Mörder gelten mußte! Und den sie doch nie würde zur Rechenschaft ziehen können … ENDE des vierten Teils
ARMAGEDDON – Die letzte Schlacht von Adrian Doyle und Timothy Stahl Die Lage könnte aussichtsloser nicht sein: Gabriels Armee des Chaos hat Jerusalem in eine Zone finsterer Magie verwandelt. Und dieses »Geschwür« soll sich nach seinem Willen über die ganze Erde ausbreiten! Wenn ihn niemand aufhält, sind die Tage der Menschheit gezählt. Verzweifelt flieht Lilith mit dem Lilienkelch nach Uruk, wo sie den Zeitkorridor weiß. Durch ihn will sie zum Anfang der Zeit, zum Schöpfer selbst gelangen und seinen Beistand für die Zukunft erflehen! Es ist ihre letzte Chance. Doch ist Armageddon noch aufzuhalten, die letzte, entscheidende Schlacht gegen das Gute und die Herrschaft des Antichristen über die Erde?