Andre Mairock
Im Rauschen der Saalach Inhaltsangabe Felix, der Flussmeister, ist Witwer. Um seinen kleinen Sohn Benedi...
10 downloads
299 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Andre Mairock
Im Rauschen der Saalach Inhaltsangabe Felix, der Flussmeister, ist Witwer. Um seinen kleinen Sohn Benedikt und den Haushalt kümmert sich liebevoll Sabine, die einst beide Eltern durch ein Unglück verlor. Immer mehr reift in Felix der Entschluss, Sabine zu heiraten. Doch da ist Julia, eine Bauerntochter, deren Ruf nicht der beste ist. Sie hat ein Auge auf den Flussmeister geworfen und versucht mit allen Mitteln, ihn für sich zu gewinnen. Mit ihren Intrigen und Verleumdungen gelingt es ihr fast, die zarte Liebe zwischen Felix und Sabine zu zerstören.
Ungekürzte Lizenzausgabe der RM Buch und Medien Vertrieb GmbH und der angeschlossenen Buchgemeinschaften © 2001 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim Titelbild: Michael Wolf, München Bearbeitung, Lektorat und Satz: Pro libris Verlagsdienstleistungen, Marbach am Neckar Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck Printed in Germany Buch-Nr. 10310 1(1) Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
1
F
elix Falkner, der junge, stämmige Flussmeister, ging einsam und ohne Eile auf dem Dammweg heimwärts. Schwer und dröhnend schlugen seine Schaftstiefel auf die harte, steinige Erde. Seine Schritte verrieten die Müdigkeit eines langen Fußwegs. Er war heute die ganze weite Strecke abgelaufen, für die er als Flussmeister zuständig und verantwortlich war. Es war schon dunkel geworden. Still lag drüben das Dorf und man konnte seine Existenz jetzt nur noch durch einzelne Lichter erahnen, die aus den Fenstern der Wohnstuben oder über den Biegungen der Straße schimmerten. In der Ferne blinkten die grellen Scheinwerfer schnell fahrender Autos auf. Das Rauschen der Flussschnellen war das einzige Geräusch in der Nacht. Der junge Flussmeister hing seinen Gedanken nach. Sein Blick war auf die Gebirgskette gerichtet, die schwarz und zerklüftet in den nächtlichen Himmel hineinragte. Felix Falkner würde heute später heimkommen als sonst. Er war noch im Dorf gewesen und im Wirtshaus eingekehrt, hatte sich zu einem Häuflein Bauern gesetzt und an ihren Gesprächen teilgenommen. Nun war er schon beinahe ein Jahr hier in diesem Ort, ohne mit den Bewohnern des Dorfes näheren Kontakt bekommen zu haben. Er lebte sehr zurückgezogen und fühlte sich am wohlsten daheim, bei seiner Frau und seinem Kind. Das Dienstgebäude der Flussmeisterei, in dem er seine Wohnung hatte, war sehr abgelegen. Der einzige Zugang war dieser schmale Dammweg. Um mehr Kontakt zu den Leuten zu bekommen, hatte er heute beschlossen, auf dem Heimweg noch auf einen Sprung das Wirtshaus aufzusuchen und ein Glas Bier zu trinken. 1
Er hatte gehört, dass sein Vorgänger ein eifriger Wirtshausbesucher gewesen war und auch gern einmal über den Durst getrunken hatte. Dieser Vorliebe für den Alkohol hatte er es wohl auch zu verdanken, dass er wegen eines Leberleidens vorzeitig pensioniert werden musste … nun, so weit würde er selbst es natürlich nicht treiben. Aber Marlies, seine Frau, hatte schon Recht, wenn sie ihm manchmal vorwarf, dass er sich überhaupt nicht um die Freundschaft der Leute aus dem Dorf bemühte. Man legte es ihm vielleicht als Geiz oder Verschrobenheit aus, wenn er sich nie am Biertisch sehen ließ, oder man hielt ihn für einen Jammerlappen, der erst die Erlaubnis seiner Ehefrau dazu einholen musste. Gut, heute hatte er einmal mit den Leuten geplaudert und getrunken. Sein Blick fiel jetzt auf ein einsames Licht, das von der bewaldeten Höhe herabschimmerte. Es kam von einem einsamen Berghof, der dem Flussmeisterhaus am nächsten lag. Aber sogar diese Leute waren ihm bis heute fremd geblieben. Wegscheider, so nannte sich der Besitzer. Sein Anwesen war von stattlicher Größe, und man konnte annehmen, dass es ein wohlhabender Bauer war. Er wusste nur, dass Marlies dort täglich ihre Milch holte und auch sonstige Nahrungsmittel vom Wegscheiderhof bezog, Butter, Eier und Mehl. Damit sparte sie sich den weiten Weg zum Dorf. Sie sagte, dass die Wegscheiders nette Leute seien. Außer dem Bauern und der Bäuerin gebe es noch einen Sohn und eine Tochter, die beide schon erwachsen seien. Vielleicht wäre es gut, selbst einmal hinauf zu diesem Berghof zu gehen, wenn es wieder etwas zu holen gab, überlegte er. Nachbarn sollten sich wenigstens kennen, man wusste nie, wann man einander brauchte …
Er schaute den Fluss hinauf. Eigentlich hätte er jetzt das Licht sehen müssen, das ihm sonst immer von seinem Haus entgegenschimmerte. Aber es blieb alles dunkel. Darüber wunderte er sich, denn sonst wartete Marlies immer auf seine Heimkehr. 2
Unruhe erfasste ihn. Seine Schritte wurden größer und schneller. Marlies war schwanger, zum Herbstanfang erwartete sie ihr zweites Kind, und jäh durchzuckte ihn die bange Frage: Es wird doch nichts passiert sein? Als er am Morgen von daheim fortgegangen war, hatte sie frisch und munter gewirkt. Oder hatte sie sich nur so verhalten, damit er sich keine Sorgen machte? Er wusste, dass ihr diesmal die Schwangerschaft weit mehr zu schaffen machte als bei ihrem ersten Kind. Wenn sie auch nie klagte, sah er doch in ihrem Gesicht, wie schwer sie manchmal darunter zu leiden hatte. Er wurde von Angst gepackt. Warum war er nicht gleich heimgekehrt, als er seinen Streckengang beendet hatte, warf er sich vor. Gerade heute musste er ins Wirtshaus gehen und sich so verspäten! Das Rauschen des Wassers, das man in der Nacht bis ins Dorf herein hörte, kam näher. Etwa dreihundert Meter oberhalb seines Hauses stürzte der Fluss durch eine Felsenge herab. Felix Falkner eilte weiter. Als er sein Haus erreicht hatte und die Tür unverschlossen fand, wusste er, dass etwas geschehen sein musste. Er stürzte in die Wohnstube und schaltete das Licht an. Da sah er seine Frau auf der Couch liegen, das Gesicht totenbleich, die Augen geschlossen und von Schatten bedeckt, der Mund offen und die Lippen blutleer. Er eilte auf sie zu. »Um Himmels willen, Marlies! Was ist passiert?«, schrie er entsetzt. Ihre Augen öffneten sich einen Spalt, aber ohne ihn bewusst anzuschauen. Dann entdeckte er, dass sie in einer Blutlache lag. Auch der Boden neben dem Sofa war damit bedeckt. Er begriff, was geschehen war, stürzte zum Telefon und suchte nach der Nummer des Arztes. Hastig wählte er und wartete, wie ihm schien, eine endlose Zeit lang, darauf, dass am anderen Ende jemand abnahm. Ein Klingelzeichen, zwei, drei, vier … Was sollte er nur tun, wenn der Arzt gar nicht zu Hause war? … fünf, sechs … Schließlich meldete sich eine Männerstimme. 3
»Herr Doktor, hier spricht Flussmeister Falkner. Ich bin eben heimgekommen und habe meine Frau ohnmächtig vorgefunden, und rundum ist alles voller Blut!« »Ich komme sofort«, kam es vom anderen Ende der Leitung. »Hören Sie, Herr Doktor! Sie können nicht mit Ihrem Wagen bis zu meinem Haus fahren, nur bis zur Brücke. Dort warte ich auf Sie mit dem Motorrad!« »Ich habe verstanden!« Felix warf den Hörer auf die Gabel, stürmte hinaus und lief zum Schuppen, um seine Maschine herauszuzerren und startbereit zu machen. Dann jagte er auf dem schmalen, holprigen Weg den Flussdamm entlang.
Als der Arzt dem Flussmeister in das Zimmer folgte, erkannte er auf den ersten Blick, dass er zu spät kam. Schweigend stellte er seinen Koffer ab, ging auf die Frau zu, zog ihre Augenlider hoch und drückte sie wieder zu. Dann wandte er sich zu Felix um und schaute ihn stumm an. Der hatte sofort begriffen, was der Arzt nicht gleich zu sagen wagte. Wie von einer kalten Hand berührt, schauerte er zusammen. »Hier vermag ich nichts mehr zu tun, Herr Falkner«, hörte er den Doktor sagen. »Das heißt …?« »Ihre Frau ist tot.« Felix spürte den Händedruck des Arztes. »Trost kann ich Ihnen keinen geben …« »Es gibt keinen, Doktor!« »… aber ich fühle mit Ihnen, es tut mir Leid!« Felix schaute auf das bleiche, wächserne Gesicht der Toten nieder. Als er heute am frühen Morgen das Haus verlassen hatte, war sie noch unter der Tür gestanden und hatte ihm nachgewunken. Jetzt war sie tot. Vier Jahre war er mit seiner Marlies verheiratet gewesen. Anfangs hat4
ten sie sparen und vieles entbehren müssen. Zwei kleine, niedere Dachzimmer hatten ihnen als Wohnung gedient. Sein Verdienst hatte nicht zu mehr gereicht. Trotzdem waren sie glücklich gewesen, vor allem als Benedikt geboren wurde. Erst als er die Flussmeisterstelle zugesprochen bekam, ging es ihnen finanziell besser. Nun hatten sie eine größere Wohnung und ein neues, schöneres Leben nahm seinen Anfang. »Ich bin so stolz auf dich, Felix!«, pflegte sie zu sagen. »Du bist noch so jung und schon Flussmeister!« Nun war Marlies für immer verstummt. Nie mehr würden ihn diese schönen und treuen Augen anschauen! Nie mehr ihre Hand über sein Haar streichen, wenn er sich mit den Schwierigkeiten seiner Arbeit auseinander zu setzen hatte. Nie mehr würde sie ihm zulächeln, wenn er müde und abgespannt von seinem beschwerlichen Streckengang heimkehrte. Wie hatte er seine Frau geliebt! Dem starken, robusten Mann rollten die Tränen über die braunen, rauen Wangen. Der Arzt hatte sich an den Tisch gesetzt und begann zu schreiben. »Ich benötige noch ein paar Angaben von Ihnen, Herr Falkner«, sagte er jetzt in die Stille hinein. Felix drehte sich nach ihm um. »Bitte!« Es ging um die Daten der Verstorbenen. Mechanisch beantwortete Felix die einzelnen Fragen des Arztes, die zur Ausstellung des Totenscheines nötig waren. »Kinder?«, fragte der Arzt und sah Felix Falkner an. »Einen Sohn, Benedikt.« »Geboren?« Felix nannte das Datum. »Hm, also knapp über drei Jahre alt?« Der Flussmeister nickte. Der Arzt faltete den Schein zusammen und reichte ihn dem Mann. »Damit müssen Sie morgen zum Gemeindeamt gehen.« Dann richtete er nochmals einen Blick auf die Tote und von dort auf die Uhr. »Ihr Sohn schläft wohl schon?«, fragte er schließlich. 5
»Ich nehme es an. Sie hat ihn immer schon frühzeitig ins Bett gebracht.« Bestürzt stellte Felix fest, dass er bis zu diesem Moment keinen Gedanken an seinen kleinen Sohn verschwendet hatte. Er ging sofort hinaus und schaute in die Kammer, in der Benedikt sein Bettchen hatte. Er machte kein Licht und trat leise an das Bett heran, das unter dem Fenster stand. Er sah nur den dunklen Haarschopf und hörte die regelmäßigen Atemzüge des schlafenden Kindes. Gewaltsam musste er ein Aufstöhnen zurückhalten. Er schlich sich wieder leise hinaus und kehrte in die Wohnstube zurück. »Er schläft und hat sicher gar nichts davon mitbekommen, was passiert ist«, sagte er erschüttert. Auch der Arzt schluckte ein paar Mal. »Was ich nicht verstehe«, murmelte Felix, »ist, warum meine Frau Sie nicht zu erreichen versucht hat …« Er sah den Arzt ratlos an und erklärte: »Es ging ihr oft nicht besonders gut, und sie hat sich tapfer bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Aber dass sie nicht bei Ihnen angerufen hat, als … als das losging, kann ich nicht verstehen. Als ich gekommen bin, hat sie noch gelebt. Sicher hätte man sie retten können, wenn Sie früher hätten eingreifen können.« Der Arzt schüttelte den Kopf: »Ich kenne die Vorgeschichte der Schwangerschaft zwar nicht, weil sie bisher nicht meine Patientin war, sondern die Vorsorgeuntersuchungen bei ihrem Gynäkologen in der Stadt hat machen lassen, aber morgen hätte sie zum ersten Mal einen Termin bei mir gehabt …« Felix nickte: »Ja, sie hat es mir gesagt, dass sie nicht mehr den weiten Weg in die Stadt fahren wolle wegen der Untersuchungen.« »Sicher hat sie schon den ganzen Tag Schmerzen gehabt und nicht geahnt, dass es morgen schon zu spät sein könnte, ihrer Ursache auf den Grund zu gehen«, fuhr der Arzt fort. »Zu der Uhrzeit, als sie den Kleinen ins Bett gebracht hat, muss noch alles einigermaßen in Ordnung gewesen sein. Irgendwann danach haben die Blutungen eingesetzt, und mit ihnen so heftige Schmerzen, dass sie es gerade noch bis 6
zur Couch geschafft hat, bevor sie das Bewusstsein verlor. Wenn sie nur vorher schon bei mir angerufen hätte …« Betrübt schüttelte er den Kopf. »Es hat keinen Sinn, sich Gedanken darüber zu machen, wie es unter anderen Umständen gekommen wäre. Das bringt Ihre Frau auch nicht wieder ins Leben zurück. Ich würde Ihnen vorschlagen, die Tote so schnell wie möglich abholen zu lassen. Ihr Sohn sollte seine Mutter so nicht sehen müssen.« Das sah Felix ein. Er brachte den Arzt zurück zur Brücke, wo er seinen Wagen stehen hatte, und fuhr dann dem Dorf zu.
Auf einem schmalen, rauen Fußpfad, der ein Stück durch das Gestrüpp am Wildbach führte, stieg Felix Falkner am Tag danach hinauf zum Bergbauern Wegscheider. Er trug seinen dunklen Anzug und eine schwarze Krawatte. An der Hand führte er seinen dreijährigen Sohn, der noch nichts von dem Unglück verstand, das über sie hereingebrochen war. Er war wohl an der Hand des Vaters dabeigestanden, als zwei schwarz gekleidete Männer den Sarg hinaustrugen und auf einen Karren verluden, um ihn hinabzufahren zur Brücke, wo der Leichenwagen wartete. Aber dass der Vater ein so trauriges Gesicht machte und ein paar Mal mit dem Taschentuch die Tränen aus den Augen wischte, hatte ihn verwundert und nachdenklich gemacht. Denn bis heute hatte er den Vater nie weinen gesehen und hatte geglaubt, dass ein so großer und starker Mann überhaupt nicht weinen könne. Jetzt lief er an der Hand des Vaters und schaute wieder interessiert die Umgebung ab. Er hätte sich hier wohl gefürchtet, wenn er allein gewesen wäre, so unheimlich war es. Aber sein Vater war ja bei ihm und der war stark. Die Mutter hatte ihm einmal erzählt, dass der Vater einen schwimmenden Baum aus dem Fluss und die Uferböschung heraufgezogen habe. Felix Falkner hatte ganz andere Dinge im Kopf. Er dachte darüber nach, wie oft seine Frau diesen Weg gegangen war, um droben vom Wegscheiderhof die Milch und andere Nahrungsmittel zu holen. Wie 7
gern hatte sie das getan! Welche Freude hatte sie an der Natur und an der Bergwelt gehabt! »Wann kommt die Mutter wieder zurück?«, fragte der Bub plötzlich. Felix erschrak. Es war das erste Mal, dass das Kind nach, seiner Mutter fragte. Was sollte er ihm sagen? »Die Mutter kommt nicht mehr zurück, Benedikt. Sie ist im Himmel«, antwortete er schließlich. »Warum kommt sie nicht mehr?« »Wer einmal im Himmel ist, kann nicht mehr zurückkommen. Das ist sehr traurig für uns, weil sie nun nicht mehr bei uns sein kann wie früher, aber dort hat sie es schöner als hier, deswegen müssen wir uns damit abfinden.« Er musste noch mehr von diesen Fragen beantworten und überließ es dem Kind selbst, sich ein Bild über den Tod und den Himmel zu machen. Sie kamen jetzt an eine schmale Brücke, die hoch über die Klamm eines Wildbachs führte. Rauschend stürzte das Wasser über den Hang des Berges hinab zum Fluss, der tief unten vorbeiströmte. Das lenkte den Jungen ab. Er staunte jetzt über die gewaltigen Kräfte der Natur und stieß einen Ruf der Begeisterung aus. Der Flussmeister nahm ihn auf den Arm und trug ihn über den schwankenden Steg. »Wenn wir da hinunterfallen würden …?«, überlegte Benedikt. »Dann wären wir tot.« »So wie die Mutter? Wären wir dann bei ihr im Himmel?« »Nur wenn wir auch so brav waren wie die Mutter.« Seine Brust wurde so eng, als läge ein zentnerschwerer Stein darauf. Gleich hinter dem Steg führte der Weg an einem kleinen, alten Haus vorbei, das größtenteils aus verwittertem Holz über einem Steinsockel und einem Stück bröckelnder Mauer errichtet war. Das Dach war mit verwaschenen Schindeln bedeckt und an mehreren Stellen schadhaft. Schwere Steine lagen darauf, und es schien, als würden sie es zusammenhalten. Man hatte den Eindruck, dass hier Wind und Regen durch alle Ecken und Ritzen eindringen konnten. 8
Aber die Hütte war bewohnt. Das verrieten die Vorhänge an den Fenstern. Vor dem geöffneten Schuppentor stand ein altes Mütterlein und hackte auf einem Stock Reisig klein, von dem ein ganzer Haufen neben ihr lag. Sie hatte es wohl im Wald gesammelt. Sie hatte die Vorbeigehenden schon entdeckt und schaute ihnen neugierig entgegen. Sie trug ein Tuch auf dem Kopf, das sie unter dem Kinn geknotet hatte. Ihr Gesicht war hager und knöchern. Da schien sie plötzlich zu ahnen, wer der Mann mit dem Kind war. Vielleicht erriet sie es an seiner dunklen Trauerkleidung. Sie warf ihre Hacke weg und kam heraus auf den Weg. »Sie sind wohl der Flussmeister?«, fragte sie und sah ihn neugierig an. Felix nickte. »Ich hab schon gehört von dem schweren Leid, das Sie getroffen hat, und möchte Ihnen mein Beileid sagen!« Sie hatte eine tiefe, hölzerne Stimme. »Danke!«, antwortete er und wollte weiter. Aber die Alte trat ihm in den Weg. »So jung sterben müssen! Was hat Ihrer Frau gefehlt?« Der Flussmeister runzelte die Stirn. Er war nicht dazu aufgelegt, jedem, der ihm in den Weg kam, die Todesursache seiner Frau zu erklären. »Sie hatte eine Fehlgeburt«, sagte er kurz. »Und wohl kein Mensch da?« »Nein.« »Das ist schlimm!« Sie neigte sich teilnahmsvoll zu dem kleinen Benedikt hinab. »Und das arme Kind hat nun keine Mutter mehr!«, klagte sie. »Wenn man nicht wüsste, dass alles, was Gott tut, wohl getan ist, müsste man verzweifeln. Ich könnte weinen, Herr Falkner, glauben Sie mir! Schon deshalb, weil ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet bin!« »Mir?«, wunderte er sich. »Ich bin die Mutzlin.« Er wüsste mit diesem Namen nicht gleich etwas anzufangen und überlegte. 9
»Sie haben meinen Guido eingestellt!«, half sie ihm weiter. Jetzt wusste er, wer die Frau war: Die Mutter von einem seiner Arbeiter. »Niemand wollte ihn haben. Eine Weile hat er bei der Gemeinde gearbeitet als Straßenarbeiter, aber man hat ihn wieder heimgeschickt. Was kann der Guido dafür, dass er ein bisschen einfältig ist? Es gibt doch genug Arbeiten, die er trotzdem machen kann. Sie sind doch mit ihm zufrieden? Ich bin auch einmal so dagestanden wie Sie! Da brachten sie mir meinen toten Mann ins Haus. Bei der Holzarbeit ist er tödlich verunglückt, und ich stand mit meinem Guido allein da und habe gewusst, dass der Bub im Kopf schwach ist. Ihr Junge ist wenigstens gesund! Schaut auch sehr gescheit aus!« Das alles sprudelte aus der Alten wie aus einem Springbrunnen heraus. Ein paar Mal versuchte Felix, sich durch Flucht dem Wortschwall zu entziehen, aber sie ließ ihn nicht los und folgte ihm ein ganzes Stück auf seinem Weg. »Kann ich irgendetwas für Sie tun, Herr Falkner? Vielleicht auf den Jungen aufpassen, wenn Sie gerade einmal fort müssen? Ich tu's gern! Schon aus Dankbarkeit!« »Ich bringe das Kind eben hinauf zum Wegscheider. Die Bäuerin war heute früh bei mir und hat mir ihre Hilfe angeboten«, erklärte er. »Das ist recht! In einem solchen Unglück muss man einander beistehen!«, sagte sie. »Beim Wegscheider hat es der Junge gewiss gut!« Er nickte nur. »Sie lassen meinen Guido schon weiter bei Ihnen arbeiten, Herr Flussmeister? Oder haben Sie Klagen?« »Bis jetzt habe ich noch nichts gehört. Ihr Sohn ist kräftig, und denken können andere für ihn. Es wird schon gehen, glaube ich.« »Vergelt's Gott dafür, Herr Falkner! Und Gott mag Sie trösten und Ihnen helfen in Ihrem Leid!« Endlich blieb die Frau zurück. Als er sich später nach ihr umblickte, stand sie wieder an ihrem Hackstock. Er befasste sich jetzt in Gedanken mit diesem Mutzel, der vor mehreren Wochen zu ihm gekommen war und um Arbeit bei der Flussmei10
sterei gefragt hatte. Er hatte ihn eingestellt, denn er war kräftig gebaut und seiner Meinung nach durchaus zu gebrauchen. Er war ja nicht allein bei der Arbeit. Warum sollte er nicht bei ihm arbeiten, nur weil er in seiner Entwicklung offensichtlich zurückgeblieben war? Bis jetzt war ihm noch nicht zu Ohren gekommen, dass die anderen Arbeiter sich über Guido beklagt hätten. Er nahm sich vor, ihn bei der nächsten Gelegenheit etwas näher anzuschauen. Aber im Augenblick hatte er andere Sorgen. Seine junge Frau lag drunten im Dorf im Leichenhaus, und den kleinen Benedikt musste er in die Obhut fremder Leute geben. »Bist du müde, Benedikt?«, fragte er besorgt. Der Junge schüttelte seinen dunklen Haarschopf, der ihn so sehr an Marlies erinnerte. Auch seine Gesichtszüge glichen in vielem der Mutter. Er stöhnte. Der Bub blickte fragend zu ihm auf. »Was ist, Vater? Bist du traurig?« »Ich weiß gar nicht, was wir machen sollen ohne deine Mutter, Benedikt! Aber wir schaffen es, das verspreche ich dir!« »Die Mutter ist im Himmel und schaut immer auf uns herab. Darum schaffen wir es auch, glaubst du mir?« Er konnte im Augenblick nicht sprechen, ohne dass die Verzweiflung aus ihm hervorbrach. Aber der Bub schaute ihn voll banger Erwartung an. »Ja, Benedikt, ich glaube es!«, würgte er heraus.
2
E
s war ein schöner, auf das Beste bestellter Berghof, den der Bauer Wegscheider auf freier grüner Höhe bewirtschaftete. Das große Gehöft, das sich aus Wohnhaus, Scheune und Stallung zusammensetz11
te, lag so, dass die Fenster der Frontseite dem Tal zugekehrt waren und freien Ausblick auf das Dorf und den Fluss gewährten. Die Wohlhabenheit des Besitzers war schon an dem sauberen und freundlichen Anblick des Gehöftes zu erkennen. Tore, Tür und Fensterläden waren frisch gestrichen, das Mauerwerk schneeweiß getüncht. Auf der Brüstung des Altans, der über die ganze Stirnfront des Hauses verlief, standen Blumenkästen mit rotleuchtenden Geranien. Neben dem Wohngebäude stand zwischen zwei alten Ahornbäumen eine kleine Hauskapelle, die Zeugnis ablegte über die Frömmigkeit der Hofbewohner. Die weiten Wiesen standen in voller Blüte. Noch hatte die Heuernte nicht begonnen, aber es wurden bereits die Vorbereitungen hierzu getroffen. Die Maschinen standen unter dem Vordach bereit. An der Scheunenwand hingen die Sensen. Auf dem umzäunten Hausanger weidete die stattliche Viehherde des Wegscheiderbauern. Harmonisch und friedlich klang das Geläute der Kuhglocken über die Höhe. Ein Bauer wie der Wegscheider musste sich wie ein König in seinem Reich vorkommen. Als Felix sich dem Haus näherte, sprang ein großer Hofhund aus seiner Hütte hervor, riss und zerrte an seiner langen Laufkette und wollte die beiden Ankommenden daran hindern, das Haus zu betreten. Benedikt wich erschrocken hinter seinen Vater zurück, der ihn auf seinen Arm nahm. »Er kann uns nichts tun, Bub!«, ermutigte er ihn. »Er kann nicht los von seiner Kette.« Da erschien auch schon der Bauer an der Tür, ein älterer Mann von kraftvoller, gesunder Erscheinung. Sein Haupt war von ergrautem, filzigem Haar dicht bedeckt. Mit schweren und zögernden Schritten kam er den beiden entgegen. »Flussmeister Falkner?« Felix nickte. Sie reichten sich die Hand. »Mein Beileid!« »Danke!« Dann strich er mit seiner schweren Hand dem Jungen über den Haarschopf. »Es ist ein Jammer!«, sagte er mit einem Seufzer. »Wir ha12
ben uns immer gefreut, wenn Ihre Frau zu uns heraufstieg, um ihre Lebensmittel zu holen. Wie soll man es fassen können, dass sie nie wieder zu uns kommen wird!« Er verstummte, und minutenlang herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern. Felix sagte schließlich: »Ihre Frau war heute bei mir und hat mir angeboten, dass ich Ihnen mein Kind bringen darf, bis ich weiß, wie es am besten mit uns weitergehen kann.« »Das ist doch selbstverständlich. Ihr Sohn ist gut bei uns aufgehoben. Wenn es auch weit ist zu mir herauf, so sind wir immerhin die nächsten Nachbarn.« »Ich fürchte nur, wenn die Heuernte jetzt beginnt, wird Ihnen Benedikt vielleicht im Weg umgehen!«, meinte Felix. »Keineswegs! Meine Frau ist immer daheim und wird auf den Kleinen Acht geben. Zur Arbeit draußen habe ich meinen Sohn und meine Tochter. Außerdem ist heute mit den neuen Maschinen alles leichter und schneller getan als früher. Kommen Sie ein wenig herein!« Der Bauer ging voran und führte die beiden in eine großräumige, behagliche Bauernstube, in der es noch einen großen, bauchigen Kachelofen und einen mit grünen Ranken eingewachsenen Herrgottswinkel gab. Marlies hatte ihrem Mann viel vom Wegscheiderhof erzählt und ihn oft gebeten, er möge doch einmal mitkommen. Aber er hatte sich nie Zeit dazu genommen. Heute bereute er es, denn es war rührend, wie dieser Bauer ihn aufnahm. Nach und nach versammelten sich alle Mitglieder der Familie in der Stube, um den Flussmeister zu begrüßen und ihm ihr Beileid auszudrücken. Die Bäuerin war von hagerer Gestalt und fast von derselben Größe wie ihr Mann, sie musste die Sechzig schon erreicht haben. Der Sohn und die Tochter sahen sich ähnlich wie Zwillinge – vielleicht waren sie es ja wirklich? –, zwei junge, gesunde und hübsche Menschen. Die Bäuerin hob Benedikt zu sich empor und reichte ihn der Tochter. »Führ ihn ein wenig im Hof herum, Johanna!«, sagte sie. »Und zeig ihm vor allem unsere Tiere!« 13
Johanna nahm den Buben an der Hand, und er folgte ihr willig und neugierig. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen danken kann, was Sie da für mich tun!«, sagte Felix. »Sie brauchen uns gar nicht zu danken! Was wir tun, machen wir von Herzen gern«, sagte die Bäuerin. Der Bauer schlug vor, er solle sich noch ein wenig hinsetzen und vielleicht eine Kleinigkeit essen, aber Felix wollte sich dazu keine Zeit mehr nehmen, denn es gab für ihn drunten im Dorf doch noch einiges zu erledigen und zu regeln. »Der Bub bleibt vorläufig bei uns und wird sich bestimmt schnell eingewöhnen«, sagte die Bäuerin. »Alle kleinen Jungen mögen Bauernhöfe, es wird ihm gefallen. Und wir würden uns schämen, wenn wir nicht helfen würden, wo es nötig ist!« Der Bauer nickte dazu. Felix drückte dankbar die Hände dieser guten Leute. Dann machte er sich wieder auf den Weg hinab ins Dorf. Er musste den Tod seiner Frau beurkunden lassen und dann zum Pfarrer gehen, um das Begräbnis und den Gottesdienst zu bestellen. Schließlich musste er einen Gärtner suchen und Blumen kaufen, die er zum Leichenhaus tragen wollte. Viele Blumen! Und die schönsten sollten es sein!
Zur Beerdigung hatte Felix seinen kleinen Sohn mitgenommen. Er hatte ihm dazu ein neues dunkles Anzüglein beschafft, auf das der Junge sehr stolz war. Benedikt durfte auch mit in die Kirche und saß mit seinem Vater ganz vorne auf dem ersten Stuhl, der mit einem schwarzen Tuch bedeckt war. Nach dem Gottesdienst gingen sie auch noch zusammen in den Pfarrhof, wo der Vater die Gebühren für das Begräbnis entrichten wollte. Nachdem der Vater an der Türglocke gezogen hatte, wurde ihnen von einer älteren Frau geöffnet, die, nachdem Felix sein Anliegen vor14
gebracht hatte, die beiden ins Haus einließ und in ein großes Zimmer führte, wo sie ihnen freundlich Platz anbot. »Der Herr Pfarrer wird gleich kommen«, sagte sie und ließ sie allein. Der Tisch war mit Büchern belegt, einige davon, die wohl zur ständigen Benutzung auflagen und amtliche Eintragungen enthielten, waren aufgeschlagen. An der Wand zwischen den beiden Fenstern hing ein großes Kruzifix, und davor stand ein Betschemel. Es dauerte nicht lange, dann kam der Pfarrer herein, ein älterer Herr von freundlicher, ehrwürdiger Erscheinung. Auf dem ergrauten Kopf trug er ein schwarzes Käppchen, womit er seine Glatze verbarg, die sich seit einigen Jahren auszubreiten begann. Mit einem Händedruck begrüßte er den Witwer und drückte ihm sein Beileid aus. Darauf neigte er sich zu dem kleinen Buben hinab und stellte ein paar freundliche Fragen an ihn, während er mitleidig das Köpfchen streichelte. »Ich bin gekommen, um die Gebühren zu bezahlen, Herr Pfarrer!«, sagte Felix. »Damit dürfen Sie sich ruhig Zeit lassen«, meinte der Geistliche. »Ich nehme an, dass Sie andere Sorgen haben, die vordringlicher sind.« »Das ist richtig, Herr Pfarrer.« »Wollen wir nicht ein bisschen darüber sprechen? Es ist ein harter Schicksalsschlag, der Sie da getroffen hat. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie Ihnen im Augenblick zu helfen wäre, nachdem Sie mir berichtet haben, dass weder von Ihnen selbst noch von Ihrer Frau Angehörige da sind.« Sein Blick streifte über die kleine, sauber gekleidete Gestalt Benedikts, der artig auf seinem Stuhl saß und sich mit einer gewissen Scheu in dem fremden Zimmer umschaute. »Die größte Sorge wird Ihnen im Augenblick wohl das Kind machen«, fuhr der Geistliche verständnisvoll fort. »Da Sie Ihrer Arbeit nachgehen müssen und ständig unterwegs sind, wäre der Kleine sich selbst überlassen. Und das geht ja nicht. Vielleicht tragen Sie sich sogar mit dem Gedanken, den Kleinen in ein Heim zu geben. Das ist die nächstliegende Möglichkeit, das Kind wäre versorgt, beaufsichtigt und in guter Obhut, und trotzdem …« 15
Er brach ab und zuckte zweifelnd die Schultern. »Ich weiß, was Sie sagen wollen, Herr Pfarrer: Ein Kinderheim ersetzt nicht das Elternhaus.« »So ist es! Und vor allem käme es nach und nach zu einer Entfremdung zwischen Vater und Kind, die natürliche Bindung ginge allmählich verloren und damit auch die Liebe. Das ist eine alte Erfahrung.« Abermals ruhte der Blick des Pfarrers auf dem kleinen Benedikt. »Der kleine ist ja kein Waisenkind, er hat noch seinen Vater!« Falkner nickte mit herber Miene. »Für den Augenblick wäre wohl die beste Lösung, wenn Sie eine tüchtige Frau zu sich nähmen, der Sie nicht nur das Kind anvertrauen können, sondern auch den ganzen Haushalt, also eine Frau, die kocht, die wäscht und das ganze Haus in Ordnung hält und sich auch um Sie kümmert. Es geht ja nicht allein um das Kind, sondern auch Sie brauchen Beistand und Hilfe!« »Die Flussmeisterei liegt sehr weit vom Dorf ab, Herr Pfarrer. Überlegen Sie, welcher Weg zu machen ist, wenn bloß die tägliche Milch geholt werden muss! Meine Marlies hat diesen Weg nicht gescheut. Sie stieg immer gerne hinauf zum Wegscheider und fürchtete kein Wetter. Sie war sehr naturliebend, und ich bin es auch. Aber wo soll ich eine Frau finden, die dazu bereit wäre, diese Strapazen auf sich zu nehmen? Im Sommer geht es ja noch an, aber es kommt ja auch der Winter! Wer schon in fremden Häusern arbeiten muss, der sucht sich bestimmt einen bequemeren Platz als die Flussmeisterei! Außerdem werden heutzutage dafür Löhne gefordert, die ich als junger Flussmeister kaum bezahlen kann, wenigstens nicht auf die Dauer.« Der Pfarrer schaute nachdenklich vor sich nieder. »Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich mir gerade wegen dieser Frage Gedanken und Sorgen gemacht habe«, sagte er vor sich hin. »Dafür danke ich Ihnen, Herr Pfarrer!« Der schien jedoch nicht mehr auf diese Zwischenbemerkung zu achten. Er stützte seine Ellbogen auf dem Tisch auf und legte seinen Kopf in die Hände, als dächte er angestrengt über etwas nach. »Ich kenne da ein Mädchen, Sabine Burger«, begann er dann, so, als 16
spräche er mit sich selbst. »Sie ist freilich noch sehr jung, vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre. Sie stammt aus der Gegend meiner früheren Seelsorgerstelle, wo ich wirkte, bevor ich hierher kam. Sie war noch ein Kind, sechs oder sieben Jahre alt, als das schreckliche Unglück damals passiert ist. Der Gasofen im Schlafzimmer war defekt, und eines Nachts strömte Gas aus. Für die Eltern kam jede Hilfe zu spät, und auch Sabine wäre um ein Haar an Gasvergiftung gestorben. Eine Schulkameradin, die sie morgens abholen wollte, hat das Unglück entdeckt und war geistesgegenwärtig genug, sofort Hilfe zu holen. Sabine hatte glücklicherweise am offenen Fenster geschlafen, nur deshalb hat sie überlebt. Das Mädchen stammt von armen, aber anständigen und rechtschaffenen Eltern ab. Die Wohnung war nur gemietet, und auch sonst war nichts da, was das Kind hätte erben können. Natürlich habe ich mich als Pfarrer des Ortes sofort um das Kind gekümmert, als sich herausstellte, dass nicht einmal Verwandte da waren. Ich sorgte dafür, dass die Sabine in ein Waisenhaus kam, dessen Leiterin ich persönlich gut kannte und von der ich wusste, dass die kleine Sabine gut bei ihr aufgehoben sein würde. Ich habe das Mädchen nie ganz aus den Augen verloren, und sie schreibt mir immer noch regelmäßig. Augenblicklich arbeitet sie in einem reichen Privathaushalt, aber es scheint ihr dort nicht allzu gut zu gehen. Von der Oberin des Waisenhauses weiß ich, dass es nicht an ihrer Arbeit liegen kann, sie hat mir bestätigt, dass Sabine brav, fleißig und tüchtig ist.« Falkner hatte schweigend und nicht ohne Interesse zugehört. Der Pfarrer warf ihm jetzt einen Blick zu. »Sehen Sie, Herr Falkner, an dieses Mädchen habe ich gedacht. Es könnte Ihnen den Haushalt führen und sich um Ihr Kind kümmern. Es wäre bestimmt dankbar für eine neue Arbeitsstelle, und ich habe den Eindruck, dass Sie gut zu dem Mädchen wären. Ich setze mich gerne mit Sabine in Verbindung und bestelle sie her. Sie sind deswegen noch an nichts gebunden.« »Ob sie wohl wirklich bei mir arbeiten will?«, zweifelte der Flussmeister. »Wie jede andere würde sie die Einsamkeit meines Hauses abschrecken! Meinen Sie nicht?« 17
»Sabine ist vom Leben nicht verwöhnt worden, Herr Falkner. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es ihr in Ihrem Haus gefällt, und ich würde mich freuen, wenn ich nicht nur ihr, sondern auch Ihnen mit dieser Arbeitsvermittlung helfen könnte.« »Ich danke Ihnen dafür, Herr Pfarrer!« Der Pfarrer schaute wieder mitleidig auf das Kind, das immer noch recht brav neben seinem Vater saß und dem Gespräch zuhörte, ohne jedoch etwas zu verstehen. »In erster Linie müssen wir ja für den Kleinen sorgen, nicht wahr?«, lächelte der Pfarrer dem Knaben gütig zu. »Die Bauersleute Wegscheider haben sich bereit erklärt, das Kind so lange zu sich zu nehmen, bis ich eine Lösung gefunden habe«, erklärte der Flussmeister. Der Pfarrer nickte. »Die Wegscheiders sind gute Menschen. Man kann nur bedauern, dass sie so viel Verdruss mit ihrer Tochter haben! Aber in jeder Familie gibt es irgendwelche Probleme.« Felix schaute auf. »Mit ihrer Tochter?«, wunderte er sich. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen, sie macht doch einen guten Eindruck!« »Sie meinen die Johanna«, klärte der Pfarrer ihn auf. »Die ist freilich in Ordnung, und auch ihr Bruder, der Manfred. Die beiden sind übrigens Zwillinge.« »Das habe ich mir gedacht«, sagte Felix. »Sie sehen sich sehr ähnlich.« Der Pfarrer nickte. »Die Johanna wird wahrscheinlich im Herbst heiraten und weggehen, sie ist mit einem Bauernsohn aus dem Winkelmoos verlobt. Scheint mir ein recht anständiger Bursche zu sein. Aber es ist noch eine Tochter da, die Julia, sie ist ein oder zwei Jahre älter.« »Von der weiß ich nichts«, gab Felix Falkner zu. »Das glaube ich gern, denn es wird nicht viel über sie gesprochen. Schon als Kind war sie ein faules und eitles Ding, hat gelogen und hatte in der Schule ihren Kopf überall, bloß nicht beim Unterricht. Ich selbst habe sie nur noch im letzten Volksschuljahr im Religionsunterricht gehabt, aber auch ich hatte meine liebe Not mit ihr. Ebenso wenig war sie später daheim zur Arbeit zu bewegen. Stattdes18
sen zog sie bis in die späte Nacht mit den Burschen herum. Die Eltern haben sich alle Mühe mit ihr gegeben, aber sie konnten machen, was sie wollten, es half nichts. Die Bäuerin hat mich einmal gefragt, was sie denn bloß mit Julia falsch gemacht habe, aber ich habe ihr gesagt, sie dürfe sich nicht mit Selbstvorwürfen quälen. An ihren beiden wohlgeratenen jüngeren Kindern könne man ja sehen, dass an ihren Erziehungsmethoden nichts falsch sei. Manche Kinder lassen sich ganz einfach nicht erziehen, und so ein Kind war die Julia. Die Wegscheider-Eltern tun mir Leid; sie haben den Kummer mit ihr nicht verdient!« »Wo ist denn diese Julia jetzt? Auf dem Hof habe ich sie nicht gesehen.« »Sie wohnt nicht mehr auf dem Hof. Sie hatte sich wohl mit einem Mann eingelassen, einem Sommergast, und mit dem ist sie dann eines Tages bei Nacht und Nebel ausgerissen. Der Wegscheider war außer sich und wollte sie von der Polizei suchen lassen, aber sie war ja schon volljährig, und so wurde ihm gesagt, dass er so keine Handhabe hätte. Seine Tochter könne tun, was sie wolle, solange sie nicht mit dem Gesetz in Konflikt komme. Er hat dann auf eigene Faust versucht, sie in der Stadt zu finden, aber ohne Erfolg. Unter der Adresse, die der Mann, mit dem sie verschwunden war, hier angegeben hatte, war der Kerl gar nicht bekannt. Das ist schon zwei oder drei Jahre her, und ich habe gehört, Julia soll nicht mehr mit ihrem damaligen Liebhaber zusammen sein, sondern in der Stadt in einer Hotelküche arbeiten. Es heißt, sie habe sich inzwischen wenigstens wieder bei ihrer Familie gemeldet. Aber die Wegscheider-Leute reden natürlich immer noch nicht gerne über sie.« Felix erhob sich und nahm den kleinen Benedikt an die Hand. »Wenn ich die Sabine hier habe, werde ich sie zu Ihnen bringen.« »Der Weg ist weit, Herr Pfarrer!«, wandte Felix ein. »Das weiß ich …« »Wenn Sie mich anrufen, komme ich mit meinem Motorrad her«, schlug der Flussmeister vor. Aber der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Ich mache den Weg sogar 19
gern. Oder mögen Sie es nicht, wenn ich zu Ihnen komme?«, lächelte der Pfarrer. »Aber – ich bitte Sie …!« »Ich bin genauso wenig ein heiliger Mann wie Sie, mein lieber Flussmeister. Ich freue mich, wenn ich einem Menschen helfen kann. Aber manche wollen sich nicht helfen lassen, so wie diese Julia zum Beispiel, und dann stehe ich hilflos daneben und muss zusehen, wie deroder diejenige in sein Unglück rennt. Das ist das Schwerste, glauben Sie mir.« Mit einem kräftigen Händedruck gingen sie auseinander, und der kleine Benedikt bekam zum Abschied noch ein schönes farbiges Bildchen, das er vorsichtig in der Hand trug und ab und zu betrachtete.
Wenn die Saalach nach heftigen Gewitterregen oder infolge eines tagelangen Landregens Hochwasser führte, musste der Fluss gewissenhaft überwacht und die Schäden an den Wehren und Dammverbauungen festgestellt werden. Es durfte zu keinen Stauungen durch Ablagerungen von Geröll und Unrat kommen, damit die Flut nicht über die Dämme trat und das Land überschwemmte. Gerade die Krümmungen des Flussbetts, wo es zu solchen Ablagerungen kam, waren die ständig gefährdeten Stellen. Dann musste der schwere Raupenschieber in Einsatz gebracht werden, der mit heulendem Motor den Kies und Unrat beiseite schob, von wo er mit einem Bagger ausgehoben wurde. Hier und dort mussten die Dämme ausgebessert und befestigt werden. Zu allen diesen Arbeiten stand dem Flussmeister eine gewisse Anzahl von kräftigen und geübten Männern zur Verfügung, ebenso die erforderlichen Maschinen und Schleppkähne. Auf der weiten Strecke, die Felix Falkner zu überwachen und zu kontrollieren hatte, gab es ständig etwas zu tun, sodass seine Leute täglich im Einsatz waren. Ob Gefahr drohte, konnte er inzwischen schon am Rauschen abschätzen, das von der Enge herabdrang, wo das Wildwasser durch das Gebirge herunterstürzte. 20
Immer am Monatsanfang musste Felix in die Stadt fahren, um bei seiner vorgesetzten Dienststelle Bericht zu erstatten, die Abrechnungen vorzulegen und Bargeld für die Lohnvorschüsse abzuholen, die seine Leute während des kommenden Monats für die geleistete Arbeit erhalten sollen. Zwar wurde die monatliche Abrechnung auf die Bankkonten der Arbeiter überwiesen, aber jeweils zum Ende der Woche wurde jedem Arbeiter ein Vorschuss bar ausgezahlt. Diese Auszahlung nahm er daheim in seiner Wohnstube vor, wo er das Geld, gut im Schrank verschlossen, aufbewahrte. Marlies hatte das bisher immer für ihn vorbereitet, jetzt musste er es selbst tun. Jeden Tag stellte er von neuem fest, wie viele Dinge sie selbstverständlich und nebenbei für ihn erledigt hatte, und jeden Tag fehlte sie ihm mehr. Seine Arbeiter fanden, dass er seit dem Tod seiner Frau recht schweigsam geworden war. Früher, wenn sie sich zur Auszahlung in seiner Wohnstube versammelt hatten, war immer noch eine Weile geplaudert und gelacht worden, man hatte dazu eine Pfeife oder Zigarette geraucht und sich auf das Wochenende gefreut. Jetzt wickelte sich alles schweigsam und still ab. Wer es nicht spürte, wie schwer der Flussmeister unter dem Verlust seiner Frau litt, der sah es seinem Gesicht an, das hager und finster geworden war. Außerdem musste man feststellen, dass er jetzt leicht und schnell reizbar wurde, als hätte er keine Freude mehr an seiner Arbeit. Er rief die einzelnen Namen auf und reichte schweigend dem Betreffenden das Geld. Als Guido Mutzel an der Reihe war, schaute Felix auf und betrachtete den Mann etwas genauer. Er war ein kräftiger, untersetzter Bursche mit kurz geschnittenen Haaren. Seine Augen fuhren etwas unstet hin und her, sein schlecht rasiertes Gesicht war zu einem etwas dümmlich wirkenden Grinsen verzogen. Felix wandte sich an den Vorarbeiter: »Wie macht er sich denn, der Mutzel?« Die anderen lachten. »Es geht schon, wenn er etwas zu tun hat, wo's nichts zu denken gibt und jemand in der Nähe ist, der auf ihn aufpasst«, antwortete der Vor21
arbeiter, ein älterer Mann mit verwittertem Gesicht. Ihm oblag die Bedienung der Maschinen, wenn sie eingesetzt werden mussten. Außerdem war er dafür verantwortlich, dass immer alle Werkzeuge und Geräte in den Schuppen zurückgebracht wurden. Felix nickte. »Auch solche Leute sind für unsere Arbeit nützlich, Fellner. Oder ist der Aufwand, auf ihn aufzupassen, so groß, dass derjenige, der das macht, selbst keine Zeit mehr für seine Arbeit hat?« Fellner schüttelte den Kopf. »Nein, das ist kein Problem. Manchmal muss man ihn daran erinnern, dass er weitermachen soll und nicht herumträumen, aber sonst geht es schon.« Damit war die Unterredung beendet. Die Arbeiter grüßten, wünschten ihm ein schönes Wochenende und gingen davon. Den Guido hielt der Flussmeister noch zurück. Er wusste nicht, warum er sich gerade für diesen Mann so interessierte. »Wie gefällt es Ihnen bei uns, Mutzel?«, fragte Felix den jungen Arbeiter. Der Guido grinste und nickte. »Sie haben doch Ihr Haus droben am Wildbach?« Der Guido nickte abermals. »Hm. – Geben Sie das Geld, das Sie bei uns verdienen, Ihrer Mutter? Ich meine, sie könnte es doch sicher brauchen!« »Alles nicht«, gestand der Guido. »Was tun Sie mit dem Rest?« Keine Antwort. »Ins Wirtshaus tragen?« Der Guido grinste. »Manchmal«, gestand er dann. »Oder ich geh zum Kegeln.« »Ach so! Vergessen Sie bloß nicht, auch Ihr Haus droben ein bisschen herzurichten! Der Winter ist schnell da, und dann schneit es bei Ihnen zu allen Ritzen herein.« Wieder grinste der Mann nur. Felix schätzte ihn auf etwa dreißig Jahre. Seine breite Nase und die niedere Stirn ließen vermuten, dass er keine Leuchte war. Aber er schien wenigstens von gutmütiger Art zu sein, denn mit seinen Körperkräften, die man ihm ebenfalls ansah, hätte er manches anrichten können. 22
»Ist gut, Mutzel, gehen Sie jetzt nur heim! Gute Nacht!« »Gute Nacht!«, sagte der Guido und ging. Felix schaute ihm nach, als er auf dem Dammweg hinabschritt. Er ging auf das Dorf zu. Die Mutter würde sich wohl mit dem Geld begnügen müssen, das er noch übrig hatte, wenn er aus der Wirtschaft wieder heimkam. Schnell machte Felix noch die Abrechnung der Vorschüsse, dann schloss er den Schrank zu, griff nach seinem zerbeulten Hut und verließ das Haus, um zu den Wegscheiders hinaufzugehen, wo sein kleiner Benedikt immer noch war. Er hielt es daheim nicht mehr aus. Es war alles so still und leer. Wie hatte er sein einsames Flussmeisterhaus einmal geliebt, als noch Marlies, seine Frau, um ihn gewesen war und es mit Leben erfüllt hatte. Alles, was er sah und in die Hände nahm, erinnerte ihn an sie. Oft machte er sich jetzt Vorwürfe wegen seines heftigen Temperaments. Manchmal hatte er sie angeschrien, wenn etwas nicht nach seinem Kopf gegangen war. Sie hatte niemals Widerworte gegeben, auch dann nicht, wenn er im Unrecht gewesen war, sondern hatte ihn nur erschrocken angeschaut. Arme Marlies! Was hätte er darum gegeben, es wieder gutmachen zu können – doch es war zu spät! Hätte er es verhindern können, dass sie so früh und so rasch sterben musste? Diese Frage legte er sich oft vor und trug sie wie eine Last mit sich herum. Hätte er doch nur dafür gesorgt, dass sie rechtzeitig einen Arzt aufsuchte! Warum war er so selbstverständlich davon ausgegangen, dass es nicht so schlimm sein konnte? War diese Selbstverständlichkeit daran schuld gewesen, dass Marlies glaubte, sich tapfer zeigen zu müssen, egal wie schlecht sie sich fühlte? Oder wäre er damals doch gleich nach seinem Streckengang heimgekehrt, anstatt noch in die Wirtschaft zu gehen! In die Wirtschaft – es wäre zum Lachen gewesen, wenn es nicht so tragisch ausgegangen wäre. Ein Jahr lebte er jetzt hier, und es war sein erster Abend überhaupt in der Wirtschaft gewesen, noch dazu auf den ausdrücklichen Wunsch seiner Frau hin, die der Meinung war, er kapsle sich zu sehr von den Leuten ab, und ausgerechnet das hatte Marlies möglicherwei23
se das Leben gekostet. Wenn er nur eine Stunde früher gekommen wäre, hätte man sie vielleicht noch retten können … Vielleicht! Im Tal fing es jetzt an zu dunkeln. Langsam krochen die Nachtschatten am Rand der Berge hinauf. Laut rauschte die Saalach drunten durch die Enge.
3
E
s war wenige Tage später. Vom angeleinten Schleppkahn luden die Flussarbeiter das Steinmaterial aus, das zur Ausbesserung des Damms verwendet wurde. Es ging dem Feierabend zu, und es war für heute wohl die letzte Arbeit, die noch verrichtet werden musste. Seitdem die Sonne hinter dem Berg untergegangen war, kühlte sich die Luft langsam ab. Im Gesicht und auf den Körpern der Männer trocknete der Schweiß. Auf dem schmalen Dammweg kam mit schweren, müden Schritten der Flussmeister herauf. Er kehrte von seinem weiten Streckengang zurück. Als er bei seinen Leuten angekommen war, blieb er stehen, schob den Hut aus der Stirn und schaute ihnen schweigend bei der Arbeit zu. Nach einer Weile näherte sich ihm der Vorarbeiter. »Vor etwa einer halben Stunde kam der Pfarrer hier vorbei«, berichtete er. »Ich vermute, dass er vor Ihrem Haus auf Sie wartet. Wenigstens fragte er nach Ihnen, und ich sagte ihm, dass Sie noch auf der Strecke seien, aber bald zurückkommen würden.« Felix schaute sein Gegenüber an und fragte: »War er allein?« »Nein, eine junge Frau war bei ihm. Muss eine Fremde gewesen sein, wenigstens habe ich sie nicht gekannt.« Falkner nickte. »Ist gut, Fellner, ich geh dann gleich heim.« 24
Sie besprachen noch kurz die Arbeit, die am Tag darauf zuerst in Angriff genommen werden musste, dann ging der Flussmeister weiter, seinem Haus zu, das mit grauem Gemäuer einsam und verlassen auf dem Uferdamm auftauchte. Offenbar hatte der Pfarrer raschen Erfolg gehabt, wenn er heute schon dieses Mädchen mitbrachte. Felix sah den Dingen mit einigem Unbehagen entgegen. Ein völlig fremder Mensch würde wahrscheinlich bald mit ihm unter einem Dach leben, ob er sich daran gewöhnen konnte? Und überhaupt, er war doch noch ein junger Mann! Konnte das richtig sein, dass er mit einem so jungen Mädchen zusammen wohnte? Er wunderte sich über das Vertrauen, das der Pfarrer ihm schenkte. Aber vielleicht war dieses Mädchen von einer solchen Unansehnlichkeit, dass von vornherein eine Versuchung ausgeschlossen werden konnte, oder der Pfarrer kannte seinen Schützling gut genug, um über solche Befürchtungen hinwegsehen zu können. Jedenfalls würde sich kein Mensch etwas dabei denken, wenn der Pfarrer selbst ihm diese junge Angestellte vermittelte …
Sie standen neben dem Haus und schauten auf den Fluss hinab, als er daheim ankam. Zögernd ging er auf sie zu, darauf wartend, dass sie durch seine Schritte auf ihn aufmerksam würden und sich nach ihm umdrehten. So war es dann auch. Felix schaute in ein junges, schmales und etwas blasses Mädchengesicht mit großen, dunklen Augen, die sich mit einer kindlichen Neugier auf ihn richteten. Auch die Gestalt war mädchenhaft, fast schmächtig. Sie trug ein einfaches, aber sehr ordentliches Sommerkleid. Unter dem kleinen Strohhut lugte flachsblondes Haar heraus. Neben ihr stand ein kleiner Handkoffer. Länger konnte Felix sich mit der Fremden nicht befassen, denn der Pfarrer kam lächelnd auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Da wären wir also«, sagte er und deutete auf das Mädchen. »Das ist die Sabine Burger, von der ich Ihnen erzählt habe. Wie Sie sehen, ist 25
sie nicht abgeneigt, die Stellung bei Ihnen anzunehmen, und ich habe auch keinen Zweifel, dass wir uns in allem einig werden.« Felix reichte dem Mädchen die Hand zum Gruß und nannte seinen Namen. Sie begrüßte ihn mit einem bescheidenen, fast scheuen Lächeln. »Bitte, kommen Sie doch herein!«, sagte er jetzt, ging auf die Tür zu und sperrte auf. Sie folgten ihm in die Wohnstube, wo er zunächst das Fenster öffnete, weil die Luft verbraucht roch. Es war noch hell genug, sodass kein Licht gemacht werden musste. Er bot den beiden Platz an und setzte sich selbst ihnen gegenüber an den Tisch. »Ich komme eben erst von meinem Kontrollgang zurück«, erklärte er. »Wenn man den ganzen Tag unterwegs ist, weiß man, was man getan hat. Sie werden es gewiss verstehen, dass ich ein wenig abgespannt bin. Es war auch ein heißer Tag!« Es klang wie eine Entschuldigung. Er fühlte sich von den großen, dunklen Augen des fremden Mädchens beobachtet, und er konnte es ihr nicht verübeln. Schließlich sah sie ihn zum ersten Mal. »Ich kann Ihnen im Augenblick nicht einmal etwas anbieten«, fuhr er fort, »und weiß nicht, ob etwas im Kühlschrank ist, weil ich mich nicht darum gekümmert habe.« Der Pfarrer winkte freundlich ab. »Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken machen! Wir wollen jetzt nur kurz miteinander alles besprechen, und es sollte mich freuen, wenn ich Ihnen durch meine Mithilfe die augenblicklich schwerste Sorge abnehmen konnte. Ist der Kleine droben bei Wegscheiders?« Felix nickte. »Es war wirklich die beste Lösung, Herr Pfarrer, obwohl ich ihn sehr vermisse.« »Ich weiß. Deshalb ist es ja so notwendig, dass Sie jemand ins Haus nehmen.« Felix wandte sich an das Mädchen: »Sie wissen wohl, um was es sich handelt?« Sabine nickte. »Vor ein paar Wochen ist meine Frau gestorben, und ich bin nun mit meinem kleinen Benedikt allein«, fuhr er fort und schnaufte tief aus. 26
Sie nickte teilnahmsvoll. »Wochentags bin ich fast immer unterwegs und kann mich nicht um das Kind kümmern. In erster Linie brauchte ich Sie also dafür. Und was in einem kleinen Haushalt sonst noch für Arbeiten zu tun sind, das wissen Sie ja selbst. Ich möchte jedoch nicht verschweigen, dass wir hier sehr einsam wohnen. Sie haben ja gesehen, wie weit der Weg ins Dorf ist. Unser nächster Nachbar ist der Bergbauer Wegscheider, wenn wir von der alten Mutzlin mit ihrer baufälligen Hütte droben am Berg absehen. Es ist ein recht beschwerlicher Weg dort hinauf. Meine Frau hat vom Wegscheider-Hof immer die Milch und viele von den sonst notwendigen Lebensmitteln geholt. Es sind nette Leute, die Wegscheiders.« Der Pfarrer bestätigte seine Ausführungen mit einem stummen Nicken. »Ich halte es für meine Pflicht, Sie auf diese Schwierigkeiten hinzuweisen, bevor Sie sich zum Bleiben entschließen«, fuhr Felix fort. »Ich habe mich schon dazu entschlossen«, antwortete sie zu seiner Überraschung und warf einen Blick auf den Pfarrer. Ihre Stimme klang tief und dunkel. »Dann möchte ich Sie nur noch nach Ihrer Lohnforderung fragen«, sagte Felix. Sie zögerte ein wenig. »Ich stelle keine großen Ansprüche. Wenn Sie mir geben können, was ich bisher verdient habe, bin ich vollauf zufrieden.« Er lächelte ein wenig. »Und wie viel war das?« Sie nannte die Summe. Es war ein bescheidener Lohn. »Das ist weniger, als ich vermutet hatte. Wahrscheinlich kann ich sogar noch ein paar Mark drauflegen!«, meinte er. Sie öffnete ihren Handkoffer und entnahm ihm eine kleine Ledermappe. »Hier habe ich meine Papiere und meine Zeugnisse«, sagte sie und reichte ihm einen dicken Umschlag, den er an sich nahm. »Danke!« Der Pfarrer atmete auf. »Nun, dann wäre alles in Ordnung. Ich freue mich, Sabine, dass du nun zu meiner Pfarrei gehörst, und ich will hoffen, dass du dann und wann auch den Weg zu mir findest!« 27
»Sicher, Herr Pfarrer! Ich danke Ihnen!« »Schade, dass mein kleiner Benedikt nicht da ist!«, bedauerte der Flussmeister. »Mit dem müssen Sie sich schließlich auch verstehen!« »Das wird sie sicher«, meinte der Pfarrer. »Der Kleine ist wirklich ein liebes Kerlchen!« »Darf ich Ihnen jetzt das Haus zeigen?«, fragte Felix. Der Pfarrer ging noch mit, als sie in alle Räume schauten. »Kommt das Rauschen vom Fluss?«, fragte sie. Felix nickte. »Droben von der Enge. Stört es Sie?« »Es stört mich nicht, aber es ist mir aufgefallen«, lächelte sie. »Sie glauben gar nicht, wie schnell man sich daran gewöhnt. Ich höre es schon gar nicht mehr, außer wenn mich jemand darauf anspricht«, meinte Felix, nun ebenfalls lächelnd. Sabine begleitete den Pfarrer hinaus vor das Haus, wo sie noch eine Weile miteinander sprachen. Dann kam sie allein zurück. »Und was habe ich zunächst zu tun?«, fragte sie. »Wenn Sie Ihr Zimmer herrichten möchten? Die Wäsche ist in dem großen Schrank, der im Gang steht.« »Danke!« Sie griff nach dem Koffer. »Wenn Sie damit fertig sind, gehen wir zu Wegscheiders hinauf, falls Sie nicht zu müde sind.« »Nein, ich bin nicht müde.« »Ich möchte Ihnen meinen kleinen Sohn vorstellen und ihn, wenn er möchte, gleich mit heimnehmen. Außerdem brauchen wir auch etwas zu essen. Ich fürchte nämlich, dass überhaupt nichts mehr da ist!« »Dann lerne ich ja gleich den Weg kennen!« »Sie werden ihn oft gehen müssen!« »Das will ich auch gern tun.« Dann ging sie, um ihr Zimmer zu richten. Er stand in der Stube und schaute in den dämmernden Abend hinaus. Das Mädchen machte einen guten und ehrlichen Eindruck. Vielleicht würde es ja besser gehen, als er gedacht hatte? Er hörte ihren Schritt durch das Haus, als sie jetzt das Zimmer richtete. Auf einmal war wieder Leben im Haus. 28
So war es gewesen, als seine Marlies noch lebte. Sie hatte immer etwas im Haus zu tun gehabt, wenn er in der Stube saß. Er konnte seinen kleinen Benedikt wieder heimholen, und es war ihm zumute, als erfülle er damit eine Gewissenspflicht auch seiner toten Frau gegenüber. Wahrscheinlich hatte der Pfarrer Recht: Es würde schon alles gut werden!
Sie stiegen den Berg hinauf. Er ging auf dem schmalen Weg voran, und Sabine folgte ihm. Er hörte hinter sich ihren Atem. »Wenn ich zu schnell gehe, brauchen Sie es nur zu sagen!« »Nein, nein! Es ist mir nicht zu schnell.« Manchmal blieb er stehen, um sie auf einen der Berge hinzuweisen, deren Spitzen jetzt in der untergehenden Sonne feuerrot aufleuchteten. Er nannte ihre Namen, soweit er sie selber kannte, denn die Gegend war Sabine völlig fremd. Sie hörte ihm aufmerksam zu. – Später, als der Weg etwas breiter wurde, gingen sie nebeneinander. »Wo waren Sie denn bis jetzt?«, fragte er nach längerem Schweigen. Es war das Einzige, was er von ihr noch nicht wusste. Alles andere hatte der Pfarrer ihm ja erzählt. Da schilderte sie ihm kurz noch einmal ihr ganzes Schicksal, angefangen bei der schrecklichen Unglücksnacht, in der ihre Eltern an Gasvergiftung gestorben waren. Der Pfarrer hatte sich ihrer angenommen und sie in ein Waisenhaus gebracht, wo sie unter der Obhut von Klosterschwestern herangewachsen war, die Schule besucht und später die Hauswirtschaft erlernt hatte. Mit siebzehn Jahren hatte sie zu arbeiten begonnen, zunächst bei einem Förster, dessen Frau an einem schweren, unheilbaren Hüftleiden erkrankt war, zeitweilig überhaupt nicht gehen konnte und wohl auch große Schmerzen auszustehen hatte. Das sei wohl auch der Grund gewesen, meinte sie mit großem Verständnis, warum diese Frau so reizbar, verbittert und misstrauisch gewesen war, so dass es keine Angestellte länger als ein paar Monate bei 29
ihr aushielt. Aber sie habe diese Schikanen fast ein ganzes Jahr durchgestanden. Dann habe sie es einfach nicht mehr ausgehalten, weil die Frau sie zuletzt immer wieder des Diebstahls verdächtigt und mehrmals sogar die Polizei deshalb ins Haus geholt habe und auch von den offensichtlichsten Beweisen ihrer Unschuld nicht zu überzeugen gewesen sei. Schließlich habe sie gekündigt. Sie habe eine neue Stellung gesucht und sei so zu einer sehr reichen allein stehenden Witwe gekommen, deren Mann Hauptaktionär einer Exportfirma gewesen war und ein riesiges Vermögen hinterlassen hatte. Die Frau hatte ein schweres Augenleiden und war fast erblindet. Aber sie sei sehr gut zu ihr gewesen. Leider habe es nur knapp zwei Jahre gedauert; eines Morgens habe sie die Frau tot im Bett gefunden; während der Nacht war sie friedlich im Schlaf gestorben. »Ich ging zurück ins Waisenhaus, denn ich hatte keine andere Heimat«, fuhr sie fort. »Aber natürlich konnte ich dort nicht bleiben und suchte also eine neue Stellung. Ich stellte mich bei einer Unternehmerfamilie vor, die ein Hausmädchen suchte, und bekam die Arbeit. Es waren zwei Kinder da, die ich zu beaufsichtigen hatte, denn ihre Mutter war häufig auf Geschäftsreise und blieb oft wochenlang weg, wenn sie mit Geschäftspartnern in Übersee Verhandlungen zu führen hatte. Ihr Mann war zwar ebenfalls viel unterwegs, aber er war häufiger daheim als die Frau. Er war sehr freundlich zu mir, zu freundlich, wie mir nur allzu bald klar wurde, als er deutlicher wurde …« Mehr sagte sie darüber nicht, aber Felix Falkner verstand und fragte nicht weiter. »In meiner Ratlosigkeit wandte ich mich wieder an meinen früheren Pfarrer, mit dem ich immer noch in Verbindung stand, obwohl er längst seine Pfarrstelle gewechselt hatte. Er riet mir, das Haus so schnell wie möglich zu verlassen und notfalls wieder für ein paar Tage im Waisenhaus unterzuschlüpfen. Aber noch bevor ich das tun konnte – mein Arbeitgeber war außer Haus und ich konnte die Kinder ja unmöglich alleine lassen – hat mir der Pfarrer von Ihnen geschrieben. Ich habe dann heimlich nachts das Haus verlassen, als der Mann 30
von seiner Geschäftsreise zurückgekommen war, weil ich mich davor gefürchtet habe, ihm ins Gesicht zu sagen, dass ich kündige. Auf den Rest meines Lohns habe ich gerne verzichtet, wenn ich nur nicht noch einmal mit ihm reden musste.« Felix nickte und blickte gedankenvoll vor sich hin. Sie kamen jetzt an den Steg, der hoch über die Wildbachschlucht führte. Fast erschrocken wich Sabine zunächst davor zurück. Doch Felix ging bereits voraus. Die Hütte der alten Mutzlin tauchte auf. Das baufällige alte Haus wirkte wie ausgestorben, denn die Fenster waren geschlossen, und es war kein Mensch zu sehen. Der Weg führte jetzt in kräftiger Steigung am Hang eines grünen Hügels hinauf, der mit kurzem Almgras bewachsen war, auf das bereits der Nachttau fiel. Als sie die Höhe erreicht hatten, sahen sie den Wegscheiderhof vor sich liegen. Er erklärte ihr, dass sie vieles von dem, was sie benötigten, hier holen könne; die Milch, die Butter, Eier und sogar das selbst gebackene Brot. Die übrigen Dinge gäbe es nur beim Dorfkrämer. Aber sie brauche ihm nur immer zu sagen, was zu besorgen sei. Er würde diese Dinge dann am Abend mit heimbringen. Als sie sich dem Gehöft näherten und der große, starke Hofhund an seiner Laufkette wütend hin- und herzerrte, kam ihnen der kleine Benedikt schon entgegengelaufen. »Das ist er!«, sagte er mit einem wehmütigen Lächeln. »Mein kleiner Sohn.« Das Gehöft war umgeben vom kräftigen Duft des neuen Heus, das heute eingefahren worden war. Unter dem Vordach der Scheune standen die jetzt leeren Wagen und eine schwere Zugmaschine. Felix hatte das Kind, das auf ihn zugesprungen war, auf den Arm genommen, um ihn zu begrüßen. Das sonnenverbrannte und schweißverschmierte Gesichtchen des kleinen Benedikt verriet, dass er den ganzen Tag draußen zugebracht hatte. »Du hast wohl beim Heuen mitgeholfen?«, fragte der Vater. Der Bub nickte. 31
»Was hätten die Wegscheiders wohl getan, wenn sie dich nicht gehabt hätten!«, scherzte er und lächelte. Noch bevor sie am Haus ankamen, stellte Felix den Buben wieder auf die Füße und deutete jetzt auf seine Begleiterin. »Das ist die Sabine, Benedikt!«, erklärte er ihm. »Sie will für uns beide sorgen, wie es die Mutter getan hat. Darum sollst du ihr auch so gehorchen, wie du der Mutter gehorcht hast!« Der Junge schaute die fremde Frau jetzt mit großen, neugierigen Augen an. Sabine neigte sich zu ihm hinab und ergriff seine Hände. »Wir beide werden schon miteinander auskommen, was?«, sagte sie lächelnd und streichelte über seine Haare. Er nickte und schaute ihr treuherzig in die Augen. Es hatte den Anschein, als hätte er auf den ersten Blick Vertrauen zu der jungen Frau gefasst. »Jetzt sind wir nicht mehr allein, darum darfst du wieder heimkommen«, fuhr der Vater seine Erklärung fort. »Oder möchtest du lieber noch eine Weile hier bei den Wegscheiders bleiben?« Der Bub schüttelte den Kopf.
Der Bauer stand unter der Tür und erwartete sie. Mit einem scharfen Wort jagte er den Hund, der immer noch an seiner Kette zerrte, zurück in seine Hütte. Der Flussmeister stellte Sabine vor, und Wegscheider führte die beiden in die Stube, wo die Bäuerin dazukam. Falkner bedankte sich für alles, was sie für sein Kind getan hatten, und richtete dann mit der Bäuerin in der Küche einige notwendige Lebensmittel zusammen, die er fürs Erste mit heimnehmen wollte. In der Zwischenzeit blieb Benedikt an der Seite des fremden Mädchens, als wäre das von nun an sein Platz. Er ließ sich auch von ihr an der Hand führen, als sie später den Heimweg antraten. Felix Falkner ging voraus. Im Rucksack schleppte er die erworbenen 32
Lebensmittel. Die Dämmerung brach herein, und wenn sie unter den Bäumen oder durch dichtes Gebüsch gingen, war es schon richtig finster. »Es sind nette Leute, diese Wegscheiders«, meinte sie. Er nickte. »Es sind ausgezeichnete Nachbarn. Ich weiß nicht, was ich in den letzten Wochen ohne sie getan hätte.« »Sie haben jetzt in der Dämmerung nicht viel vom Haus gesehen«, setzte Felix das Gespräch fort. »Es ist ein schöner und sauberer Berghof.« »Die beiden jungen Leute sind wohl die Kinder?«, fragte sie. »Ja, sie sind Zwillinge.« »Das habe ich mir gedacht; sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Sonst ist wohl niemand da?« »Doch, noch eine weitere Tochter, aber sie ist nicht daheim. Ich kenne sie nicht und habe erst vor kurzem erfahren, dass es sie überhaupt gibt, aber nicht von den Wegscheiders selbst. Sie reden nicht darüber.« »Wie kommt das?« Er sprach zur Seite, damit sie ihn besser verstehen konnte. »Sie scheinen Sorgen mit ihr zu haben oder doch wenigstens gehabt zu haben. Es gibt eben in jeder Familie etwas, sonst ginge es den Menschen zu gut.« »Hat sie denn etwas angestellt?« »Das weiß ich nicht. Ich hab nur gehört, dass sie ein leichtfertiges Leben führt und ihrem Namen und ihren Eltern wenig Ehre macht. Man sollte die Wegscheiders besser nicht auf sie ansprechen. Darum erzähle ich es Ihnen, denn Sie werden öfter mit den Leuten zu tun haben.« »Ich verstehe.« Sie kamen jetzt wieder an der Hütte der alten Mutzlin vorbei. Bis auf ein Fenster im Erdgeschoss neben der Haustür waren alle Läden geschlossen. Hinter diesem Fenster bewegte sich jetzt der dürftige Vorhang. Ins Gespräch vertieft achteten sie nicht darauf. »Wer wohnt denn hier?«, fragte Sabine. »Eine alte Frau, verwitwet, mit einem Sohn, der geistig behindert ist.« »So ein furchtbares Schicksal!« 33
»So schlimm ist es gar nicht. Der Sohn arbeitet sogar bei mir, zwar noch nicht lang, aber ich konnte mich davon überzeugen, dass er zwar schwer von Begriff ist, aber sein Verstand für die Arbeit, die er tun soll, ausreicht.« Schon bevor sie den Steg erreichten, der über die Wildbachschlucht führte, sah Sabine eine menschliche Gestalt am Geländer des Stegs stehen, die den Weg versperrte. Die Gestalt auf dem Steg rührte sich nicht vom Fleck, auch als sie schließlich dort ankamen. Felix blieb stehen. »Würden Sie uns hinüberlassen, Guido?«, sagte er laut genug, um das Rauschen des Wassers zu übertönen. Jetzt machte der Mann auf dem Steg Platz und ging vor ihnen her. Sabine hielt die Hand des Kindes fest umklammert und achtete darauf, dass er keinen Fehltritt machte. »Was machen Sie denn da, Guido?«, fragte der Flussmeister den Mann, als sie drüben angekommen waren. Der Guido grinste nur und schielte dabei auf das fremde Mädchen. »Nichts, bloß schauen«, antwortete er dann. »Was gibt's denn hier in der Nacht noch zu schauen?«, meinte der Flussmeister. »An Ihrer Stelle würde ich mich ins Bett legen und ausruhen, Guido!« »Das mache ich auch bald.« »Ich wüsste an den Feierabenden etwas Besseres für Sie zu tun, als hier in der Gegend herumzustehen, Guido«, sagte er nicht ohne Schärfe. »Kümmern Sie sich um Ihre alte Mutter und hacken Sie ihr das Holz, das sie aus dem Wald heimbringt! Und flicken Sie das Dach, bevor es Ihnen in die Stube regnet! Oder warten Sie darauf, dass ein neues durch die Luft geflogen kommt?« Guido antwortete nicht, sondern grinste nur dümmlich, wie er das meistens tat, wenn er dem, was ihm gesagt wurde, geistig nicht so recht folgen konnte. Sabine war froh, als sie schließlich den Weg fortsetzten, und folgte Felix mit dem kleinen Benedikt.
34
Felix Falkner konnte mit seiner jungen Haushälterin zufrieden sein. Wenn er am Abend von seiner Arbeit oder von seinen weiten Kontrollgängen heimkam, fand er alles in bester Ordnung. Überall im Haus herrschte Sauberkeit und Freundlichkeit. Er brauchte sich nur an den Tisch zu setzen, da trug sie ihm auch schon das Essen auf, und er musste zugeben, dass sie vom Kochen etwas verstand. Überhaupt zeigte sie in allem einen großen Fleiß und viel Geschicklichkeit. Außerdem merkte er, dass Sabine die Liebe und das ganze Vertrauen seines Kindes gewonnen hatte. Der Bub hing dauernd an ihrem Rockzipfel, er lief ihr auf Schritt und Tritt nach und gehorchte ihr aufs Wort. Sabine duldete es nicht, dass er unbeaufsichtigt nach draußen ging, wegen des Flusses, der nahe am Haus vorbeirauschte. Sie fühlte sich verantwortlich für die Sicherheit und Gesundheit des Kindes. Der kleine Junge musste auch zeitig in sein Bett gehen. Davor wurde er noch gewaschen, was er ohne Protest über sich ergehen ließ. Danach setzte sie sich an sein Bettchen, erzählte ihm eine kleine Geschichte, sprach mit ihm ein kurzes Gebet, und dann schloss der Kleine folgsam die Augen. Anschließend räumte sie noch Küche und Wohnstube auf. Der Flussmeister saß am Tisch unter der Lampe und las die Zeitung, die er mit heimgebracht hatte, während Sabine, wie immer am Abend, Ordnung machte. Er lauschte ihren Schritten und den Geräuschen ihrer Verrichtungen und stellte wieder einmal fest, wie schrecklich still es gewesen war, bevor sie ins Haus gekommen war. Schließlich stellte er ihr die Frage, wie sie sich eingewöhnt habe. »Recht gut«, antwortete sie. »Ist es Ihnen nicht zu einsam hier?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin sehr gern allein, und ganz allein bin ich ja nicht: Ich habe das Kind um mich.« »Also zufrieden?« »Ich schon – wenn Sie es auch sind?« »Ich bin mehr als zufrieden, Sabine! Und mein kleiner Benedikt scheint es auch zu sein. Wie würde meine verstorbene Marlies sich freuen, wenn sie wüsste, in welch guter Obhut sich ihr Kind befindet. Der Bub war ihr Ein und Alles!« 35
Ein anderes Mal sagte er: »Heute Abend war ich noch im Dorf und klopfte am Pfarrhof an. Ich musste Ihrem Beschützer doch einmal sagen, wie dankbar ich bin, dass er mir eine so tüchtige Wirtschafterin verschafft hat. Ich sagte ihm, wie gut versorgt wir sind, und er hat sich sehr darüber gefreut.« »Ich tu nicht mehr als meine Pflicht!«, wehrte sie bescheiden ab. Er schüttelte den Kopf. »Wie Sie sich um mein Kind kümmern, das geht weit über Ihre Pflicht hinaus. Sie könnten sich sagen: Ich mache meine Arbeit, für die werde ich bezahlt, und damit basta! Kein Mensch könnte Ihnen das verübeln.« »Ich habe Kinder gern«, gestand sie lächelnd. »Das habe ich bereits bemerkt.« »Und den kleinen Benedikt ganz besonders!« Er warf ihr einen verwunderten Blick zu. »Warum?« »Er ist ein sehr netter und braver Bub. Vielleicht ist es auch das Mitleid, weil er noch so klein ist und keine Mutter mehr hat.« Er nickte. »Ich kann Ihnen nur danken für alles, was Sie für uns tun. Auch für mich, Sabine!«
So gingen die ersten Wochen dahin. Die Bauern hatten das Heu eingebracht. Sie düngten die Wiesen und freuten sich, wenn ein kräftiger Gewitterregen niederging und für das nötige Wachstum sorgte. Der Sommer war in diesem Jahr sehr trocken. An den Biegungen des Flusses tauchten an den Außenkurven Steine auf, die schon seit Jahren nicht mehr an die Oberfläche gekommen waren. Es kam kaum mehr zu Dammschäden. Die Arbeiter des Flussmeisters schnitten die Weiden und banden neue Reisigbüschel auf Vorrat, denn irgendwann würde der Regen wiederkommen und Hochwasser bringen, das gewaltige Schaden verursachen konnte. Gut, wenn man dafür gerüstet war. Felix kam jetzt an manchen Abenden früher heim als sonst. Wenn Sabine mit dem kleinen Benedikt zum Berghof der Wegscheiders hin36
aufgestiegen war, um einige Besorgungen zu machen, ging er ihnen entgegen, denn gewöhnlich hatte sie schwer zu tragen. Einmal traf er sie vor dem Haus der alten Mutzlin an. Die Frau war ihr in den Weg getreten, hatte sie aufgehalten, um mit ihr zu plaudern. Sie war eben neugierig wie alle alte Frauen und fragte Sabine bestimmt nach allen Regeln der Kunst aus, vermutete Felix. Erst als er bei ihnen ankam, trat die Mutzlin respektvoll zurück. »Was wollte sie denn?«, fragte er das Mädchen, als sie zusammen talwärts gingen. Er hatte ihr den Rucksack abgenommen und über seine Schultern gehängt. »Sie wollte nur wissen, woher ich komme«, antwortete sie. »Aha! Und?« »Ich habe ihr gesagt, dass der Pfarrer mich hergerufen habe, damit jemand für das Kind da sei.« »Das war gut. Es gibt nämlich überall Menschen, die anderen gern etwas Unschönes nachsagen möchten, vielleicht, dass der Flussmeister nichts Eiligeres zu tun hatte, als ein junges, hübsches Mädchen ins Haus zu nehmen. Es mag sogar sein, dass das eine und andere Lügenmaul daraus schließt, dass wir schon zuvor miteinander bekannt gewesen seien, vielleicht sogar hinter dem Rücken meiner verstorbenen Frau.« »Ist die Alte ein solches Lügenmaul?« »Ich weiß es nicht, denn ich kenne die Mutzlin zu wenig. Einmal habe ich mit ihr gesprochen, da hat sie gesagt, wie dankbar sie mir sei, dass ich ihren Sohn angestellt habe. Er verdient zwar nicht besonders viel, aber sicher ist sie schon über das Wenige froh.« Ein andermal, als er ihr wieder entgegenging, war sie in Begleitung des jungen Wegscheiders. Gewiss war es nett von dem jungen Bauern, wenn er ihr den Rucksack, der dick angefüllt war, so weit trug. Aber deswegen allein hatte der Mann ihr gewiss nicht seine Begleitung angetragen. Sabine gefiel ihm, das war offensichtlich. Er übergab den Rucksack dem Flussmeister, und Sabine bedankte sich lächelnd für seine Begleitung. »Das hab ich gerne für Sie gemacht«, sagte er. »Es ist zurzeit daheim ohnehin nicht viel zu tun.« 37
Dann kehrte er um, während Felix mit seiner Angestellten und dem Kind den Weg ins Tal fortsetzte. Es entging ihm jedoch nicht, dass der junge Wegscheider ihnen vom Steg aus nachblickte. Am Sonntag früh ging Sabine immer zur Kirche. Kein Wetter konnte sie davon abhalten. Sie bedauerte es im Stillen, dass Felix sich weniger daraus machte, obwohl er hin und wieder zum Spätgottesdienst ging. Sie verließ dann schon sehr früh das Haus und war gewöhnlich wieder daheim, bevor Vater und Sohn aufgewacht waren. Wenn Felix aufstand, war der Kaffeetisch meist bereits gedeckt. Sabine holte dann Benedikt aus dem Bett und machte ihn fertig. Zusammen frühstückten sie. Er war beeindruckt davon, wie schön sein kleiner Sohn schon am Tisch mitessen konnte und wie liebevoll sein Verhältnis zu Sabine war. Nicht ohne Erschrecken wurde Felix Falkner gewahr, dass er sich selbst mehr und mehr zu Sabine hingezogen fühlte. Dabei war Marlies erst seit ein paar Wochen unter der Erde! Er fühlte sich ihretwegen schuldig und schämte sich, und gleichzeitig war ihm klar, dass er sich davor hüten musste, Sabine auch nur die geringste Andeutung darüber zu machen. Nach ihren Erlebnissen mit dem vorherigen Arbeitgeber, dem Unternehmer, würde sie sonst vielleicht auch hier bei Nacht und Nebel aus dem Haus flüchten. Wenn sie am Abend Benedikt ins Bett brachte und noch eine Weile bei ihm blieb, um ihm noch eine Geschichte zu erzählen und mit ihm ein Gebet zu sprechen, stand Felix Falkner am Fenster und lauschte in das Haus. Aber er hörte nur das Rauschen des Flusses, bis ihre flinken Schritte wieder über die Treppe herabkamen. Dann ging sie in die Küche, um dort Ordnung zu schaffen. Er wanderte unstet in der Stube hin und her und wartete, bis sie endlich kam, aber natürlich kam sie nur, um auch hier noch alles aufzuräumen, was herumlag.
38
4
D
er Sommer hatte seinen Höhepunkt überschritten, die Tage wurden kürzer, die Sonne versank immer früher hinter den Bergen. Drei Monate war es nun her, dass Felix Falkner seine Frau begraben hatte. Wie verzweifelt war er am Anfang gewesen, wie ratlos war er dagestanden! Und wie leer war ihm das ganze Leben vorgekommen! Manchmal war er versucht, daran zu glauben, dass seine gute Marlies ihm von dort, wo sie jetzt war, immer noch zur Seite stand. Oder grenzte es nicht an ein Wunder, wie und unter welchen Umständen diese Sabine zu ihm ins Haus gekommen war? Als er damals den Pfarrer nach der Beerdigung aufgesucht hatte, nur um die Gebühren zu bezahlen, hatte er nicht daran gedacht, dass er durch ihn Hilfe in seiner Not und Ratlosigkeit finden würde. Er war zu jung, um allein zu bleiben. Außerdem würde er eines Tages seinem kleinen Benedikt eine neue Mutter geben müssen. Was hätte Marlies dazu gesagt? War es ein Verrat an seiner verstorbenen Frau, wenn er sich heute schon, knapp drei Monate nach ihrem Tode, mit solchen Gedanken befasste? Er hatte Angst, das war der Grund für diese Überlegungen. Angst, Sabine eines Tages, vielleicht schon bald, wieder zu verlieren. Der junge Wegscheider hatte schon unmissverständlich Interesse an ihr gezeigt, und er war im richtigen Alter für sie. Bald würden auch andere junge Männer ihr den Hof zu machen versuchen. Aber er konnte Sabine kaum daran hindern, zum Wegscheiderhof hinaufzugehen, nachdem er ihr zuerst gesagt hatte, sie solle die Lebensmittel dort kaufen. Ebenso wenig konnte er sie vom Dorf und vom Kirchgang abhalten, um zu verhindern, dass sich andere Verehrer einstellten. Er begriff, dass er mit ihr über diese Dinge reden musste, ehe es zu 39
spät war. Aber er schämte sich. Was würde sie von ihm denken? Er hatte Angst vor dem Sprechen, er hatte Angst vor zu langem Schweigen. Doch es war trotz allem immer noch einfacher zu schweigen, also beließ er es einstweilen dabei.
Es war an einem Sonntagabend. Sabine hatte eben Benedikt ins Bett gebracht und arbeitete noch in der Küche. Es fing an zu dämmern, und in den Fensterscheiben spiegelte sich rot die untergehende Sonne, sodass es ziemlich hell im Zimmer war. Felix war noch einmal in seine Jacke geschlüpft, als wollte er ausgehen. Er stand mitten in der Stube und wartete. Endlich kam Sabine herein. »Ich habe mir überlegt, ob ich nicht wieder einmal ins Wirtshaus gehen sollte«, sagte er. »Es ist schon einige Zeit her, seitdem ich mich das letzte Mal dort sehen gelassen habe.« »Natürlich!«, meinte sie. Aber er zögerte noch. »Ich fahre mit dem Motorrad und bin bald wieder da.« »Sie brauchen sich nicht zu beeilen. Der Benedikt schläft schon, und ich werde bald dasselbe tun«, lächelte sie. Er nickte und schaute immer noch nachdenklich vor sich nieder. »Sabine …« »Bitte?«, fragte sie, als er nichts mehr sagte. »Würden Sie es aufdringlich finden, wenn ich Sie darum bitten würde, künftig du zu mir zu sagen? Ich ertappe mich in letzter Zeit immer wieder dabei, dass ich Sie versehentlich so anrede.« »Aber keineswegs!«, sagte Sabine überrascht. »Danke! Lach mich aus, wenn du willst, aber ich habe etwas auf dem Herzen, und so fällt es mir einfach leichter, darüber zu reden.« Sabine sah ihn verwundert an. »Ich sehe, wie sehr der Benedikt an dir hängt, es ist richtig rührend. Aber ich mache mir Sorgen, Sabine!« 40
»Sorgen? Weshalb denn?« »Ich habe Angst, du könntest uns vielleicht bald wieder verlassen.« Sie lachte. »Daran habe ich noch nie gedacht!« »Du bist ein junges Mädchen, und hübsch bist du auch. Sicher dauert es nicht mehr lange, und du hast einen Verehrer. Vielleicht hast du ihn sogar jetzt schon!« Sie lachte abermals. »Davon müsste ich aber auch etwas wissen!« »Oh, das ist nicht gesagt! Verehrer halten sich zunächst im Verborgenen. Sie erkunden erst einmal das Gelände, bevor sie auf Eroberung ausgehen. Dass du für jeden einmal eine wunderbare und liebenswerte Frau sein würdest, das steht außer Zweifel. Ich kann und muss das jedem bestätigen.« »Danke!«, sagte sie immer noch lächelnd. Er trat unter das Fenster, von dem das Licht der Abendröte hereinspiegelte. »Wenn du mich nicht wegschickst, dann hast du mich noch lange!«, sagte sie heiter in die Stille. »Dich wegschicken? Das werde ich ganz sicher niemals tun!«, antwortete er. Sie schüttelte den Kopf und erklärte: »Es ist jetzt noch nicht an der Zeit, davon zu sprechen, denn der Tod deiner Frau liegt noch nicht lange zurück und du hast ihn noch nicht überwunden. Trotzdem ist völlig klar, dass du eines Tages wieder heiraten wirst – und das solltest du auch. Benedikt braucht schließlich eine Mutter!« »Eine bessere als dich kann er nicht mehr finden. Ich bin ja nicht blind, Sabine, ich sehe, wie der Bub an dir hängt. Könnte es doch immer so bleiben, wie es ist! Und sollte sich einmal etwas ändern, kann es nur auf die Art sein, dass wir noch fester verbunden werden!« Mehr wagte er ihr nicht zu sagen. Er sah ihre großen, erschrockenen Augen, die unausgesprochene Frage, die darin lag. Fast hastig griff er nach seinem Hut, grüßte und ließ sie allein. An den Sonntagabenden war beim Dorfwirt ein lebhafter Betrieb. Es war das einzige regelmäßige Vergnügen vieler Bauern, sich an diesen Abenden am Biertisch zusammenzusetzen, um die Neuigkeiten 41
und Ereignisse der letzten Zeit durchzusprechen oder ein Kartenspiel zu machen. Der Flussmeister traf die Wirtsstube voll besetzt an. Lachen und Lärmen schlug an sein Ohr, der ganze Raum war von Pfeifen- und Zigarrenrauch vernebelt. Felix hätte sich einen schöneren Zeitvertreib vorstellen können, als hier zu sitzen, den Lärm anzuhören und die schlechte Luft zu atmen. Aber Marlies hatte Recht gehabt – man durfte sich von den Leuten nicht zu sehr abkapseln, wenn man zu ihnen gehören wollte. Felix ließ sich also an einen Tisch nieder, an dem noch ein Platz frei war, ohne darauf zu achten, welchen Nachbarn er zu seiner Seite hatte. Es dauerte nicht lange, da wurde er auch schon in die Unterhaltung einbezogen, obwohl sich die Gespräche in der Hauptsache um bäuerliche Belange und um die Dorfneuigkeiten drehten. Er konnte nicht viel dazu beisteuern, außerdem war er mit seinen Gedanken ganz woanders. Sie weilten noch daheim und kamen nicht mehr los von dem Gespräch, das er mit Sabine geführt hatte, ehe er weggegangen war. Ob sie ihn wohl verstanden hatte? Was mochte sie nun über ihn denken? Es half nichts; dieses Mädchen war der einzige Mensch, dem er sich bedingungslos anvertrauen konnte. Er liebte Sabine mit ihrem einfachen, bescheidenen Wesen. Er durfte sie nicht mehr verlieren. Welche Freude konnte er ihr wohl machen, um sie erkennen zu lassen, was sie für ihn bedeutete? Da wurde seine Aufmerksamkeit auf das Tischgespräch gelenkt: Der Name Wegscheider war gefallen. Einer der Bauern wusste zu erzählen, dass vor ein paar Tagen die Julia, die ältere Tochter der Wegscheiders, überraschend heimgekehrt sei. Man habe sie schon ein paar Mal im Dorf gesehen, aufgeputzt wie ein Mädchen aus der Stadt. Sie sei noch genauso frech wie früher und lache jedem ins Gesicht, der über ihre Aufmachung den Kopf schüttelt. Die einen meinten, sie verbringe nur ihren Urlaub daheim, andere wollten wissen, dass ihr wieder einmal der Boden unter den Füßen heiß geworden sei. In einem Punkt waren sie sich jedoch alle einig, nämlich, dass die Wegscheiders an ihrer Heimkehr wenig Freude 42
haben würden, es sei denn, das Mädchen hätte sich wirklich geändert. Aber daran glaubte niemand. Felix hörte den Reden schweigend zu. Er kannte diese Julia nicht und hatte auch kein Interesse daran, sich mit den anderen über sie das Maul zu zerreißen. Sabine wusste noch nichts von Julias Heimkehr, sonst hätte sie es ihm bestimmt erzählt. Wahrscheinlich erwähnten die Wegscheiders kein Wort darüber, und Sabine hielt die Fremde für einen Sommergast, wenn sie sie überhaupt schon zu Gesicht bekommen hatte. Eine ganze Weile drehte sich jetzt das Gespräch um diese Wegscheider Julia. Man erinnerte sich an die Skandale, die sie sich schon geleistet hatte. Unter den zahllosen Liebschaften, die sie angeknüpft hatte, gab es keine einzige, die nicht nach kurzer Zeit im Sande verlaufen wäre. Kein Wunder, denn eine Frau wie die Wegscheider Julia wagte keiner zu heiraten. Leichtfertigkeit, Eitelkeit und Arbeitsscheu waren schlechte Eigenschaften für eine Hausfrau und erst recht für eine Bäuerin, dessen waren sich auch die jungen Männer, mit denen sie sich herumtrieb, deutlich bewusst. Auf diese Weise wurde am Tisch das Ereignis diskutiert, und Felix hörte schweigend zu. Langsam lichtete sich jetzt die Wirtsstube. Die Kellnerin kassierte und wurde bald an diesen, bald an jenen Tisch gerufen. Immer wieder brachen ein paar Gäste auf, um sich auf den Heimweg zu machen. Auch der Flussmeister entschloss sich dazu. Er hatte sein Motorrad im Hinterhof des Wirtshauses abgestellt. Dort herrschte noch lauter und fröhlicher Betrieb, denn dort befand sich die Kegelbahn, die von mehreren Lampen hell beleuchtet war. Pausenlos rollte die Kugel über die Bahn und polterte gegen das Holz. Laut erscholl das Lärmen, Lachen und Schimpfen der Spieler. Ein paar Mal hörte Felix Falkner deutlich den Namen Guido rufen, aber er ging sofort wieder im lauten Auflachen der Menge unter. Es hörte sich an, als sei die ganze Gesellschaft total betrunken. Felix hatte bereits den Lenker seines Motorrads in der Hand, ließ ihn jedoch wieder los, als wieder jemand nach Guido rief, und ging nun 43
doch hinüber zur Kegelbahn, um nachzusehen, was es dort gab. Er fand etwa ein Dutzend junge Männer beisammen, mit aufgerissenen Hemdkragen, aufgestülpten Ärmeln, verschwitzten Gesichtern und zerzausten Haaren. Auf einem Tisch nebenan stand eine Anzahl Maßkrüge, denen fleißig zugesprochen wurde. Das Spiel schien eben dem Höhepunkt zuzutreiben, denn es war sehr laut, ein paar Burschen stritten sich um die Kugel, andere schrien auf sie ein. An der Kasse stand eine junge Frau, die die Münzen hütete, welche von den Spielern eingezahlt worden waren. Falkner hielt das junge Mädchen zunächst für eine Kellnerin, die dafür zu sorgen hatte, dass die Maßkrüge nicht leer stehen blieben. Aber er hatte sich getäuscht, denn auf einmal griff es ebenfalls nach der anrollenden Kugel und warf sie wie ein Profi auf die Bahn. Ein lautes Lachen und Lärmen setzte ein, als die Kegel fielen. Felix befasste sich etwas näher mit dieser Frau. Ihr Haar war kastanienbraun, der Mund grellrot geschminkt, ebenso waren die Augenwimpern und Brauen unnatürlich geformt und schattiert. An den Ohren baumelten große blinkende Ringe. Sie war schlank und gut gewachsen. Das Röckchen reichte ihr kaum bis zu den Knien. Das stellte er nur so nebenbei fest, weil er sich wunderte, dass hier unter diesem Haufen angetrunkener Burschen überhaupt eine Frau zu finden war. Und ganz allein! Seine weitere Aufmerksamkeit galt dem Mutzel-Guido, der betrunken am Tisch lehnte und beim Spiel einfach übergangen wurde. Man forderte ihn lediglich auf, den Einsatz zu entrichten, und dieser war anscheinend höher als der, den die anderen bezahlten. Guido wurde offenbar von dieser sauberen Gesellschaft nach Strich und Faden ausgenommen. Hier also brachte der Guido sein Geld durch, und daheim drohte ihm das Haus über dem Kopf zusammenzufallen, und seine alte Mutter trug aus dem Wald das Holz zusammen, um im Winter nicht erfrieren zu müssen. Nein, dafür hatte er ihm nicht Arbeit gegeben und seine Leute damit belastet, ihn dabei zu beaufsichtigen, als ihn sonst 44
niemand haben wollte. Nicht dafür, dass er sich samstags und sonntags betrinken und das Geld beim Kegelspiel hinauswerfen konnte. Ein mächtiger Zorn stieg in ihm auf. Noch hatte ihn von den Spielern keiner bemerkt, wenigstens schenkte ihm niemand Beachtung. Er stand im Dunkeln, vom Lichtschein nur ganz schwach gestreift. Eben drückten ein paar Burschen dem Guido mehrere Maßkrüge in die Hand, um sie in die Wirtschaft zu tragen und füllen zu lassen. Erst wurde ihm sein Geld abgeknöpft, und dann ließen sie ihn auch noch den Laufburschen spielen! Wankend kam der Guido heraus. Mit stierem Blick, das Gesicht zu einem blöden Lächeln verzogen, schaute er vor sich nieder und stieß beinahe mit dem Flussmeister zusammen, der ihm plötzlich in den Weg getreten war. »Tragen Sie die Krüge zurück und gehen Sie heim, Guido!«, sagte Falkner streng und laut genug, um verstanden zu werden. Guido blinzelte ihn an. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, das dumme Lächeln verschwand. »Hören Sie schlecht?«, fuhr Felix einen Ton lauter fort. »Sie sollen die Krüge wegstellen und heimgehen!« Guido schüttelte seinen Kopf. Seine Miene wurde trotzig. »Ich mache was ich will!«, widersetzte er sich. »Ich bin verantwortlich für die Arbeit, die Sie morgen wieder leisten sollen und wahrscheinlich nicht leisten können, wenn Sie um diese späte Stunde hier noch betrunken herumlaufen! Oder rechnen Sie damit, dass die anderen für Sie die Arbeit tun? Ihre alte Mutter weiß bestimmt nicht, womit sie morgen Brot kaufen soll, und Sie versaufen und verspielen hier Ihr Geld! So haben wir nicht gewettet, mein Lieber!« Er war jetzt so laut geworden, dass bereits neugierige Zuschauer auftauchten und näher kamen. Dadurch sah Guido sich vor den anderen blamiert. Vielleicht fürchtete er das Gespött, das er hernach würde einstecken müssen, weil er sich öffentlich vom Flussmeister ausschimpfen ließ. Also konnte er dessen Standpauke nicht auf sich sitzen lassen und brüllte: »Das geht Sie alles einen Dreck an!« 45
»Das wollen wir ja sehen, ob es mich was angeht. Wenn es Ihnen lieber ist, können Sie morgen früh Ihre Papiere bei mir abholen.« »Jawohl, das tu ich!«, schrie Guido zurück. »Gut, dann haben wir uns nichts mehr zu sagen.« Felix Falkner wandte sich ab und wollte gehen. »Blähen Sie sich nur nicht so auf, Flussmeister!«, brüllte ihm jetzt der Guido nach. »Sie sind auch nichts Besseres als wir! Und Ihr Flittchen auch nicht!« Da schnellte Felix herum und kam drohend zurück. »Wie? Was haben Sie da gesagt?« »So eine würde ich gerne auch einmal ins Bett nehmen«, höhnte Guido mit einem widerlichen Grinsen. Darauf ertönte eine Lachsalve von den Umstehenden. »Halten Sie den Mund, Guido, sonst können Sie etwas erleben!«, drohte Falkner. »Was können Sie mir schon groß tun!«, grinste Guido. »Da!« Er machte eine Handbewegung und schüttete Felix den Bierrest aus einem Krug ins Gesicht. Das Lachen darüber war noch nicht verklungen, da lag Guido schon der ganzen Länge nach auf dem Boden, niedergestreckt durch einen Faustschlag des Flussmeisters. Die Maßkrüge fielen auf den Boden und gingen zu Bruch. Stöhnend wollte der Guido sich erheben, aber es gelang ihm nicht, es fehlte ihm an Kraft. Falkner stand mit schmalen Augen da und schaute auf die Umstehenden. »Glotzt nicht so blöd!«, sagte er. »Ihr solltet euch alle miteinander schämen, dass ihr den Kerl zuerst besoffen macht und ihm dann das Geld abnehmt!« Sofort wurden Protestrufe laut. Felix begegnete dem Blick der jungen Frau, die ihn mehr bewundernd als entrüstet anzustarren schien. Aber er wandte sich ab und kehrte zu seinem Kraftrad zurück, ließ den Motor an, schaltete das Licht ein und fuhr davon, ohne durch irgendjemand daran gehindert zu werden. 46
Von diesem Erlebnis erzählte er Sabine nichts, obwohl es ihm noch tagelang im Kopf herumging. Vor allem die Bemerkungen Guidos über Sabine machten ihm zu schaffen. Er hätte darüber weggehen können, denn der Guido war schließlich geistig behindert, man durfte nicht alles ernst nehmen, was er sagte. Aber gewiss hatte er etwas nachgeplappert, was er anderswo gehört hatte. Aber wo? Bei der Arbeit wohl kaum, denn der Flussmeister kannte seine Leute und wusste, dass sie nicht auf den Gedanken gekommen wären, ihm und Sabine irgendetwas Ehrenrühriges nachzusagen. Wahrscheinlich kam es aus dem Dorf. Er nahm sich vor, demnächst einmal den Pfarrer aufzusuchen, um mit ihm darüber zu sprechen. Wie konnte er dagegen angehen, dass man sich über Sabine derartige Gemeinheiten erzählte? Guido hatte sich seit dieser Auseinandersetzung nicht mehr bei der Arbeit blicken lassen, auch nicht, um seine Papiere abzuholen. Felix hatte den Arbeitern Bescheid gesagt, dass Guido nicht mehr kommen würde, und damit war die Sache für ihn erledigt gewesen. Aber er hätte ihn sich doch gerne noch einmal vorgeknöpft, um vielleicht Näheres über die Quelle der Verleumdungen über ihn und Sabine zu erfahren. »Wenn der Mutzel-Guido kommen sollte, um seine Arbeitspapiere abzuholen, Sabine, dann sage ihm, er soll kommen, wenn ich zu Hause bin«, sagte er an einem Abend, als er mit Schreibarbeiten beschäftigt war und sie den Korb mit der Flickwäsche vor sich hatte. »Entweder vor sieben Uhr in der Frühe oder nach acht Uhr abends. Meinetwegen kann er auch am Sonntagmittag kommen.« »Er arbeitet nicht mehr bei dir?«, fragte sie erstaunt. »Nein.« »Was soll er denn sonst tun?« »Die Gemeinde wird für ihn und seine Mutter aufkommen müssen. Sie wird gut daran tun, nicht ihm, sondern seiner Mutter Geld zu geben, sonst versäuft er es bloß.« Er wandte sich wieder seinem Bericht zu, und sie wollte ihn nicht stören und nahm ebenfalls ihre Arbeit wieder auf. In der Stille hörte man das Rauschen des Flusses, aber wie Felix Sa47
bine an ihrem ersten Tag gesagt hatte, nahm auch sie es mittlerweile nicht mehr bewusst wahr. »Warst du heute droben bei Wegscheiders?«, fragte er auf einmal und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Nein, ich war schon mehrere Tage nicht mehr droben.« »So?«, wunderte er sich und drehte sich nach ihr um. »Wie kommt das?« »Es war nicht nötig, ich habe nichts gebraucht.« »Und die Milch?« »Ich habe letztens beim Krämer einige Dosen kondensierte Milch mitgenommen.« »Ach so! Natürlich, das geht auch. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass du nicht mehr gern zum Wegscheiderhof hinaufgehst. Ich weiß, der Weg ist weit und beschwerlich. Im Winter geht es ohne Schneeschuhe sowieso nicht. Ich werde die Wegscheiders gelegentlich aufsuchen und ihnen das erklären. Es sind nämlich gute Leute, und wir wollen sie nicht vor den Kopf stoßen.« Sie arbeiteten wieder eine Weile schweigend. »Übrigens habe ich gehört, dass die ältere Tochter der Wegscheiders vor einigen Tagen heimgekehrt ist«, begann er wieder und spielte mit seinem Kugelschreiber. »Ich hab dir schon von ihr erzählt. Sie ist von daheim weggelaufen, und keiner hat gewusst, wo sie sich aufhielt. Jetzt soll sie plötzlich wieder aufgetaucht sein. Bist du ihr droben schon einmal begegnet?« »Nein.« »Hat noch niemand etwas gesagt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« »Ist schon gut, Sabine. Die Tochter der Wegscheiders geht uns ja auch nichts an!«
48
5
S
chon am nächsten Sonntag machte Felix sich auf den Weg hinauf zum Wegscheiderhof. Gleich nach dem Mittagessen brach er auf. »Ich nehme die Papiere vom Guido mit und gebe sie gleich selbst bei seiner Mutter ab«, sagte er zu Sabine. »Sonst liegen sie womöglich noch wochenlang da.« Als der Flussmeister durch die Tür des alten Mutzelhauses eintrat, befürchtete er, das ganze Gerüst könne über ihm zusammenfallen. Alles sah morsch und wackelig aus, die Dielenbohlen waren löcherig und fingen an zu faulen, und auch die Möbel hatten schon bessere Tage gesehen. Die alte Mutzlin saß in ihrer Stube am Fenster, hatte eine Brille aus einfachem Drahtgestell vor den Augen und las in einem großen Gebetbuch. Guido war nirgends zu sehen. Offenbar war er gar nicht daheim. Der Raum war so niedrig, dass sich Felix Falkner, in der Furcht, er könnte sich den Kopf an der Decke stoßen, etwas gebeugt hielt. Die alte Frau legte das Buch weg, nahm die Brille ab und erhob sich mit einem Lächeln. »Das ist ja der Herr Flussmeister!«, rief sie überrascht und schaute sich etwas verlegen in ihrer wenig wohnlichen Behausung um. Es kam wohl selten einmal ein Mensch zu ihr, weshalb sie dieser überraschende Besuch ein wenig durcheinander brachte. Sie schaute sich nach ihrem besten Stuhl um, wischte mit der Schürze darüber und trug ihn herbei. »Bitte, setzen Sie sich doch ein wenig! Es sieht bei mir zwar nicht gerade einladend aus, aber es wird nicht die erste Armeleutehütte sein, die Sie betreten?« »Danke! Ich habe nicht viel Zeit«, lehnte der Flussmeister ihre Einladung ab. »Weil ich gerade hier in der Gegend war, wollte ich Guido einen Augenblick sprechen. Ist er daheim?« 49
Die Alte schüttelte den Kopf. »Leider nicht«, bedauerte sie. »Er wird wohl auch erst spät in der Nacht heimkommen.« »Ist er wieder auf der Kegelbahn?« Die alte Frau antwortete nicht gleich und schaute bekümmert vor sich nieder. »Ja, es ist ein Kreuz mit dem Buben, er hält es daheim einfach nicht aus! Sie nehmen ihm dort doch bloß das Geld ab, aber ich kann sagen, was ich will, es hilft nichts. Er tut doch, was er will. Ich glaube aber nicht, dass er heute ins Dorf gegangen ist, sondern eher, dass er sich droben beim Wegscheiderhof herumtreibt.« Der Flussmeister warf ihr einen verwunderten Blick zu. »Was tut er denn dort?« Sie kam ein paar Schritte näher und machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Da ist doch vor kurzem die Tochter, die Julia, wieder heimgekommen. Ich weiß nicht, ob Sie die kennen?« »Nein, ich kenne sie nicht.« Die Mutzlin strich sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn und rollte die Augen. »Ich sollte nicht schlecht über andere Leute reden, schon weil ich selbst genug Sorgen habe. Aber diese Wegscheider-Julia ist ein richtiges Luder, zieht mit den Burschen herum und hat schon manchen Ärger angerichtet. Sie ist vor ein paar Jahren mit einem Sommergast durchgebrannt. Aber anscheinend hat sie der jetzt wieder sitzen lassen, sonst wäre sie ja nicht zurückgekehrt. Die guten Wegscheiderleute können einem Leid tun. Was hat man doch oft mit Kindern durchzumachen!« Falkner hatte den Wortschwall der alten Frau geduldig über sich ergehen lassen. Seine Stirn war gefurcht. »Was hat das alles mit Ihrem Sohn zu tun?«, fragte er. »Er ist schon früher diesem Mädchen nachgestiegen«, fuhr die Mutzlin erregt fort. »Vielleicht hat sie ihren besonderen Spaß daran gehabt, ihn zum Narren zu halten, was ja keine Kunst ist. Und jetzt, da diese Julia wieder da ist, fürchte ich, dass Guido wegen ihr wieder so kopflos wird, dass er anfängt, seine Arbeit zu versäumen, und sie dann wieder verliert.« »Wo arbeitet er denn jetzt?« 50
Die Alte sah ihn mit offenem Mund an. »Heißt das, er ist nicht mehr bei Ihnen?« Felix schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid, Mutzlin, aber Ihr Sohn arbeitet nicht mehr bei mir.« Diese Antwort traf sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie musste sich erst davon erholen und starrte ihn wortlos an. »Wie lange schon nicht mehr?«, fragte sie schließlich. »Schon die zweite Woche.« »Warum? Was ist denn geschehen?« »Offensichtlich mag er nicht mehr arbeiten. Und ich habe keine Veranlassung, ihn festzuhalten.« Von der unerfreulichen Begegnung beim Wirtshaus wollte er doch lieber nichts erzählen, es hätte der alten Frau nur unnötig Kummer gemacht. Er griff in seine Tasche und zog einen dicken, verschlossenen Briefumschlag hervor. »Hier sind seine Papiere, die er bisher noch nicht bei mir abgeholt hat. Er kann sich also den Weg zu mir sparen. Er wird sie brauchen, wenn er an anderer Stelle eine Arbeit aufnehmen möchte.« Er legte den Umschlag auf den Tisch und ging mit einem kurzen Gruß davon. Die Mutzlin schaute ihm verstört nach, dann fiel ihr Blick auf den Umschlag. Es war nicht das erste Mal, dass man ihr die Papiere ihres Sohnes auf den Tisch legte.
Der Flussmeister ging weiter, um seinen Besuch droben beim Bauern Wegscheider zu machen und bei der Gelegenheit den Leuten zu erklären, warum Sabine in letzter Zeit so selten wegen der Milch und anderer Nahrungsmittel zu ihnen heraufkam. Sie sei eben doch von etwas schmächtiger und schwächlicher Statur. Darum finde sie den Anstieg auf die Dauer zu beschwerlich, besonders wenn stürmisches und regnerisches Wetter herrsche. Und er dürfe ihr die Strapazen nicht zumuten, denn in erster Linie sei sie doch für den kleinen Benedikt da. Sie möchten also Verständnis dafür haben und nicht etwa denken, die Le51
bensmittel seien ihnen plötzlich nicht mehr gut genug oder es sei sonst etwas vorgefallen. Im Gegenteil, er werde ihnen nie vergessen, was sie für ihn und das Kind nach dem Tod seiner Frau getan hatten. Sie saßen alle in der großen Bauernstube um den Tisch, der Bauer, die Bäuerin und die Zwillinge. Felix merkte sehr wohl, dass der junge Wegscheider ein wenig enttäuscht dreinschaute. Es schien ihm gar nicht zu gefallen, dass Sabine nicht mehr zu ihnen ins Haus kam, denn wie gern hatte er die Gelegenheit wahrgenommen, sie ein Stück ins Tal zurückzubegleiten und ihr den Rucksack zu tragen … Während sie sich dann noch über belanglose Dinge unterhielten, kam plötzlich Julia zur Tür herein. Sie setzte sich neben ihre beiden Geschwister an den Tisch, ohne sich darum zu kümmern, ob ihre Anwesenheit erwünscht war oder nicht. Niemand nahm Notiz von ihr und keiner erachtete es für notwendig, sie dem Flussmeister vorzustellen, der sie ja noch nie gesehen hatte. Mochte er sich denken, was er wollte, jedenfalls sah sich niemand dazu veranlasst, ein Wort zur Aufklärung zu sagen. Die Unterhaltung ging weiter. Der Bauer und Felix diskutierten friedlich ihre zum Teil gegensätzlichen Anschauungen über die Entwicklung verschiedener politischer und wirtschaftlicher Zustände, während die anderen interessiert und schweigend zuhörten. Auch Julia hörte zu, aber ihr Interesse galt mehr der Person des Flussmeisters als dem Gespräch der beiden Männer, die sich schließlich darauf einigten, dass eben jeder Stand seine Plage und jeder Mensch auf der Erde seine Sorgen habe, die ihm niemand abnehmen könne. Ab und zu streifte der Blick des Flussmeisters über das Gesicht der älteren Wegscheidertochter, die sich allein schon in ihrer Aufmachung von den anderen unterschied. Kein vernünftiger Mensch hätte dieses aufgetakelte Mädchen für eine Bauerntochter gehalten. Echt war an ihr vielleicht nur die braune Farbe ihrer Augen, die aber auch schon wieder grünlich schimmerte, wenn das Licht darauf fiel. Alles andere an ihr war ganz darauf ausgerichtet, Männern von der leichtfertigen Sorte zu gefallen. Felix hatte sie sofort wiedererkannt, obwohl sie an jenem Sonntagabend auf der Kegelbahn im Schatten gestanden hatte. Schon ihre gro52
ßen Ohrringe, billiger Modeschmuck, wie er aus der Nähe feststellen konnte, verrieten sie. Er fragte sich, wie dieses Mädchen aus guter, einfacher und arbeitsamer Familie zu ihrem unsoliden Lebenswandel gekommen war. Unglückliche Veranlagung, verbunden mit Verführung vielleicht? Es kamen jeden Sommer Fremde in den Ort, von denen nicht alle einem Liebesabenteuer abgeneigt waren. Ihre Aufmachung hatte sie sich sicher zugelegt, um die Männer unter den Sommergästen zu beeindrucken, die mit ihr flirteten. Was von solchen Kerlen zu halten war, musste ihr nun doch klar sein, nachdem sie ihre Erfahrungen gemacht hatte. Nur, warum änderte sie ihr auffälliges Aussehen nicht und machte aus sich wieder das einfache Bauernmädchen, als das sie geboren worden war? Warum ging sie nicht wie alle anderen zur Arbeit, sondern trieb sich mit betrunkenen, ausgelassenen Burschen bis in die Nacht bei zweifelhaften Vergnügungen herum? War sie selbst es, die sich von der Familie zurückgezogen hatte, oder ließ man sie nicht mehr an der häuslichen Gemeinschaft teilhaben, sodass sie aus Trotz nun gerade alle anderen vor den Kopf stieß? Felix bemerkte, mit welchen Blicken sie ihn ansah, aber er war sich nicht sicher, was sie ausdrückten. Es konnte ebenso gut Bewunderung wie Spott sein. Vielleicht auch ein bisschen Angst, er könne sie damals auf der Kegelbahn des Wirtshauses erkannt haben und plötzlich vor ihren Eltern davon zu sprechen anfangen. Aber er hütete sich, das zu tun. Plötzlich ging sie wieder hinaus, abermals, ohne dass jemand davon Notiz nahm. Sie ließ sich nicht mehr sehen, auch nicht, als er sich später verabschiedete, das Haus verließ und in Richtung Dorf ging. In Gedanken beschäftigte sich Felix immer noch mit der seltsamen Tochter der Wegscheiders, die er heute das erste Mal bewusst gesehen hatte. Dafür aber in aller Deutlichkeit, ohne dass jemand ahnte, was er von ihr wusste. Unter dem ganzen billigen Aufputz hätte ein junges, einfaches Mädchen stecken können, so, wie es auch ihre jüngere Schwester war. Doch in Julias Augen hatte er etwas entdeckt, das nicht zu einem einfachen 53
und natürlichen Menschen passen wollte. Sie unterschied sich nicht nur äußerlich von den anderen Mitgliedern ihrer Familie, sondern auch innerlich, und deshalb fand dieses Mädchen wahrscheinlich keinen Anschluss mehr an sie. Er schaute sich ein paar Mal um und blickte über die Landschaft hin. Drunten rauschte die Saalach. Der leichte Wind trug dieses Rauschen laut heran. Eine Weile hatte er das Gefühl, als würde die Wegscheidertochter irgendwo stehen und auf ihn warten oder aus einem der Wälder auf ihn zukommen. Er wusste nicht so recht, warum er damit rechnete. Vielleicht erwartete er, dass sie ihn auf den Abend beim Wirtshaus ansprechen wollte, ihn bitten, er möge doch daheim nichts davon verraten, dass er sie dort gesehen hatte? Aber möglicherweise war ihr das auch völlig gleichgültig. Der Abend fing an zu dämmern, als er das Dorf erreichte. Die Straße war menschenleer. Die Bauern waren bei ihrer Stallarbeit, die auch am Sonntag verrichtet werden musste. Er ging auf die Kirche zu, die auf einem Hügel thronte. Neben der Kirche befand sich der Pfarrhof. Es war die letzte Stelle, wo er noch vorzusprechen hatte. Dann wollte er auf schnellstem Weg heimkehren, denn er freute sich auf die behagliche Stube und auf Sabine.
Der Pfarrer empfing ihn mit freundlichem Wohlwollen. »Nett, dass Sie sich wieder einmal bei mir sehen lassen, Herr Falkner!«, begrüßte er ihn. »Ich habe eben an Sie gedacht.« »So? Hoffentlich nicht im Bösen!« »Dazu hätte ich keinen Grund, denn ich habe Ihnen nichts vorzuwerfen.« »Wirklich nicht? Zum Beispiel meinen spärlichen Kirchenbesuch?« »Das muss ich Ihnen überlassen, ob Sie dazu Zeit haben oder nicht. Nein, ich habe nur gerade die Beerdigung Ihrer Frau in die Akten eingetragen. Bitte, nehmen Sie Platz. Möchten Sie ein Glas Wein trinken?« 54
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging der Pfarrer gleich daran, zwei Gläser zu füllen. »Dieser Wein soll angeblich nicht schlecht sein. Urteilen Sie selbst, ob es wahr ist, ich bin kein Weinkenner.« Sie tranken sich zu. Es brannte noch kein Licht, obwohl es schon düster wurde im Zimmer. »Möchten Sie es lieber heller haben, dann mache ich Licht«, sagte der Pfarrer. »Nein danke!«, antwortete der Flussmeister. »Es gibt doch nichts zu lesen und nichts zu schreiben.« »Haben Sie mir etwas Besonderes mitzuteilen? Sind Sie mit Sabine zufrieden?« »Ohne jede Einschränkung. Es gibt nichts, worüber ich mich beklagen könnte, weder im Haushalt noch in ihrem Umgang mit dem Kind. Ehrlich gesagt, ich hätte keinen besseren Menschen finden können als dieses Mädchen.« »Das freut mich!« »Hoffentlich hat auch sie keine Klagen!« »Im Gegenteil, sie sagt, sie hätte es noch nie in ihrem Leben so schön gehabt wie jetzt, und sie macht auch einen glücklichen, zufriedenen Eindruck.« »Zu meinem kleinen Benedikt ist sie wie eine Mutter.« »So soll das auch sein. Der arme Bub muss einen Menschen an der Hand haben.« Der Pfarrer schob ihm ein Kistchen zu. »Zigarre?« »Danke!« Beide schwiegen, bis sie ihre Zigarren angezündet hatten. »Ich komme eben vom Wegscheiderhof«, berichtete der Falkner dann. »Seit mehreren Tagen ist die ältere Tochter wieder daheim. Ich habe sie gesehen. Man hat sie mir zwar nicht vorgestellt, aber ich gehe davon aus, dass sie es ist.« Der Pfarrer nickte. »Ja, ich habe davon gehört. Hoffentlich hat sie sich ihre Hörner abgestoßen, die Julia, dass sie endlich zur Besinnung kommt! Ich würde es den Eltern wünschen. Sie ist ein schwieriges Mädchen. Aber das habe ich Ihnen ja schon erzählt.« Der Flussmeister schaute auf die rauchende Zigarre in seiner Hand. 55
»Ich habe mir auch schon meine Gedanken darüber gemacht. Es hat mich etwas bestürzt, dass sie von keinem ihrer Angehörigen angesprochen wurde. Sie kam herein, setzte sich an den Tisch und kein Mensch sagte ein Wort zu ihr oder sah sie auch nur an, als ob sie gar nicht da wäre. Ich weiß wirklich nicht, was sie schon alles angestellt hat. Sollte sie aber tatsächlich heimgekommen sein, um ein neues Leben zu führen, muss man ihr auch die Gelegenheit dazu geben und wenigstens einmal ein freundliches Wort für sie haben.« Der Pfarrer sagte lange nichts und nickte stumm vor sich hin. »Ein Sprichwort heißt: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht … Die Wegscheiderleute haben schlechte Erfahrungen gemacht. Vielleicht hat sie auch nicht zu erkennen gegeben, ob sie mit gutem Willen heimgekommen ist oder nicht. Und es wird ihr auch schwer fallen, ihre Eltern um Verzeihung zu bitten. Da ist es verständlich, dass sie nicht mit offenen Armen aufgenommen wird. Wenn ich einmal Gelegenheit dazu habe, werde ich die Familie aufsuchen. Vielleicht vermag ich etwas zu erreichen.« Sie kamen dann auf den Mutzel-Guido zu sprechen, der auch ein Sorgenkind war, mit dem sich der Pfarrer eines Dorfes zu beschäftigen hatte. »Seine Mutter lebt von einer kleinen Versorgungsrente«, erklärte der Pfarrer. »Sein Vater ist vor etlichen Jahren bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen. Der alte Mutzel war kein angenehmer Zeitgenosse. Den größten Teil des Geldes, das er als Holzfäller verdiente, trug er ins Wirtshaus und betrank sich, und seine Frau konnte froh sein, wenn sie und das Kind nicht hungern mussten und keine Schläge von ihm bekamen. Was der Grund dafür sein könnte, dass Guido etwas zurückgeblieben ist, darüber kann man nur spekulieren. Vielleicht ist es die Folge der Prügel, die er schon als kleines Kind von seinem Vater bezogen hat. Oder von einer nicht behandelten Kinderkrankheit … jedenfalls war er von klein auf etwas schwer von Begriff.« »Bis vor kurzem dachte ich noch, er sei dumm, aber gutmütig. Er hat mir Leid getan«, warf Felix ein. »Aber dann hatte ich eine Begegnung 56
mit ihm, die mich ihn in einem ganz anderen Licht sehen ließ. Er hatte getrunken, und er war geradezu bösartig.« »Das glaube ich Ihnen gerne!«, meinte der Pfarrer. »Man müsste den armen Kerl irgendwie vom Alkohol fern halten können. Geben Sie ihm Geld in die Hand, und er betrinkt sich, genau wie sein Vater früher. Und dann lässt er sich nichts mehr sagen. Als er bei der Gemeinde als Straßenarbeiter eingestellt war, wollte man seinen Lohn an seine Mutter bezahlen, um das zu verhindern, aber damit war er natürlich nicht einverstanden, und zwingen konnte man ihn nicht. Da hätte man ihn schon entmündigen lassen müssen, aber das erschien dann doch übertrieben. Wenn man alle entmündigen wollte, die mit Geld nicht umgehen können, hätte man viel zu tun. Arbeiten kann er ja eigentlich, der Guido, aber nicht ohne Aufsicht, und so hat keiner auf Dauer für ihn Verwendung gehabt. Es war ein Glück, dass Sie ihm die Stelle am Fluss gegeben haben, vor allem seine Mutter ist Ihnen aufrichtig dankbar. Ich hoffe, bei Ihnen geht alles gut mit ihm.« »Ich muss Ihnen leider sagen, dass er nicht mehr bei mir arbeitet, Herr Pfarrer.« Dieser sah den Flussmeister entsetzt und ungläubig an. »Wie lange denn schon nicht mehr?«, fragte er schließlich. »Seit zwei Wochen.« »Wie ist es dazu gekommen?« Felix erzählte jetzt genauer, was sich an jenem Sonntagabend im Hinterhof des Wirtshauses zugetragen hatte. »… was mich schließlich um meine Beherrschung brachte, sodass ich ihn einfach niederschlug. Ich kann es nicht dulden, dass man versucht, Sabine durch den Dreck ziehen«, schloss Felix erregt und wütend seine Schilderung. »Es ist nicht anzunehmen, dass diese Ideen auf seinem eigenen Mist gewachsen sind, also muss er es von anderen gehört haben. Es geht dabei nicht nur um meinen, sondern auch um den guten Ruf von Sabine, wenn solche niederträchtigen Unterstellungen im Dorf herumgehen. Und das ist eigentlich der Zweck meines heutigen Besuches, Herr Pfarrer. Ich hätte gern Ihre Meinung dazu gehört.« 57
Der Pfarrer klopfte die Asche von seiner Zigarre. Auf sein Gesicht trat ein ruhiges Lächeln. »Mir selbst ist bis heute noch nichts davon zu Ohren gekommen«, sagte er dann. »Ich meine, dass wir darüber hinweggehen sollten. Es finden sich immer ein paar niederträchtige Menschen mit schmutziger Phantasie, aber auf deren Vorstellungen kommt es doch nicht an, sondern nur auf die Wirklichkeit. Und die sieht ja wohl so aus, dass Sie mit Sabine zufrieden sind und diese gerne bei Ihnen arbeitet. Versuchen Sie also, über diesen dummen Reden zu stehen, Herr Falkner! Es heißt nicht umsonst: Wer schlecht von anderen denkt, ist selbst schlecht.« »Meinen Sie wirklich, Herr Pfarrer?« »Ja.« »Gut, dann werde ich es versuchen.« »Wenn die Sabine am Sonntag bei uns in der Kirche ist, sucht sie mich danach immer noch kurz auf, um mir zu berichten, wie es ihr geht. Dagegen haben Sie wohl nichts einzuwenden?« »Absolut nichts.« »Sie sieht in mir immer noch ihren Beschützer und hat mich schon oft um Rat gebeten, wenn sie Probleme hatte. Sollten ihr auch nur die geringsten Bedenken gekommen sein, Herr Falkner, hätte ich das erfahren. Das dürfen Sie mir glauben!« »Ich glaube es.« »Sie ist gern bei Ihnen, sogar sehr gern. Auch das dürfen Sie glauben. Den kleinen Benedikt hat sie in ihr Herz geschlossen, als wäre er ihr eigenes Kind. Sie erzählt mir jedes Mal viel von ihm, und ich freue mich darüber.« Felix erhob sich. Der Pfarrer machte jetzt Licht, es war nun doch zu dunkel geworden. Dann ging er zum Fenster und griff nach der Schnur, um den Vorhang zuzuziehen. »Um diesen Klatschbasen den Wind aus den Segeln zu nehmen, gäbe es schon noch ein Mittel, ein sehr wirksames sogar«, sagte er und löste die Vorhangschnur, die sich verfangen hatte. Der Flussmeister wartete. 58
Endlich war die Schnur frei und der Vorhang ging zu. Der Pfarrer drehte sich nach ihm um und zeigte sein lachendes Gesicht. »Heiraten!«, sagte er. Felix blieb die Sprache weg. »Sie sind noch jung, Herr Falkner, Sie brauchen eine Frau!« »Es sind noch keine vier Monate, seitdem ich hier bei Ihnen war, um das Begräbnis zu bestellen, Herr Pfarrer!« »Ich weiß. Aber Not bricht das Gebot! Ich stehe nun lange genug in meinem Amt und habe schon viele solche Fälle erlebt. Die Toten sind unwiderruflich fort, wir können nur noch an sie denken und für ihre Seelen beten. Das Leben stellt aber Aufgaben, mit denen wir ohne sie fertig werden müssen. So ist es doch?« »Gewiss.« »Eine Ihrer wichtigsten Aufgaben ist, dass Sie Ihrem Kind wieder eine Mutter geben, und zwar eine gute, liebende Mutter! Wann Sie das tun, das hängt ganz allein von Ihnen selbst ab und nicht von der Meinung anderer. Es hängt auch von den Umständen ab, und nicht jeder kann damit so lange warten, wie andere es für richtig halten. Verstehen Sie mich jetzt?« Felix atmete tief durch und sagte dann: »Ich weiß, Herr Pfarrer, Sie meinen es gut mit mir und auch mit Sabine. Doch es ist eine Sache, für jemanden zu arbeiten, und eine ganz andere, diesen zu heiraten. Sicher liebt Sabine meinen Sohn und ist wie eine Mutter zu ihm, aber wie würde sie es auffassen, wenn ich sie fragen würde, ob sie mich heiraten will? Sie denkt dann womöglich, dass ich versorgt werden will, ohne Gehalt zu zahlen, und dass sie besser Ja sagt, bevor ich eine andere gefunden habe und sie damit wieder ohne Stellung dasteht. Ich bin Sabine zu großem Dank verpflichtet, ohne sie könnte ich mit meinem Sohn nicht zusammenleben. Auch Ihnen habe ich zu danken, denn ohne Sie wäre Sabine nicht zu mir gekommen. Aber Ihrem Rat kann ich diesmal nicht folgen, es käme mir nicht richtig vor.«
59
6
E
s war ein einsamer Weg, den der Flussmeister laut Vorschrift jede Woche einmal zurückzulegen hatte, wenn er die weite Strecke des Damms zur Überwachung und Kontrolle abging. Bei drohendem Hochwasser und winterlichem Eis musste er ihn sogar mehrmals in der Woche machen, um gleich die Schäden festzustellen und beheben zu lassen, durch die eine Gefahr erwachsen könnte. Er nahm es ernst mit seinem Dienst und war auch für seine Gewissenhaftigkeit bekannt. Er ordnete seinen Leuten die Arbeiten an, überwachte sie und griff auch selbst kräftig zu, wenn gerade Not am Mann war. Vielfach jedoch, besonders im Sommer bei niedrigem Wasserstand, blieb es bei belanglosen Kontrollgängen, die sicherheitshalber aber gemacht werden mussten. Der Höhepunkt des Sommers war überschritten. Es fing mittlerweile schon zu dunkeln an, wenn er am Abend von seinem Marsch zurückkehrte. Manchmal machte er dann noch einen Abstecher ins Dorf, machte ein paar Einkäufe für den Haushalt und kehrte auf eine kurze Rast im Wirtshaus ein. Eine der Neuigkeiten, über die dort gesprochen wurde, war in diesen Tagen, dass der Mutzel-Guido im Dienst der Gemeinde einige verschlammte und verschüttete Ablaufgräben auszuräumen hatte. Man hatte ihn kurzerhand mit einer Schaufel dazu ausgerüstet, als er wegen Hilfe zum Lebensunterhalt dort vorgesprochen hatte, nachdem er seine Arbeit beim Flussmeister verloren hatte. Wenn er schon aus öffentlichen Geldern eine Unterstützung beziehen wollte, sollte er dafür auch etwas tun. Und diese Arbeit erforderte nicht mehr Intelligenz, als Guido besaß. 60
Einmal im Monat fuhr der Flussmeister in die Stadt, um bei seiner zuständigen Dienstbehörde Bericht zu erstatten und die Lohngelder für seine Arbeiter abzuholen. Bei gutem Wetter setzte er sich auf sein Motorrad, weil er dann nicht an die Zeit gebunden war. Aber es gab auch Tage, an denen Wind und Regen solche Fahrten sehr ungemütlich gemacht hätten. Dann fuhr er nur bis zur nächsten Bahnstation und benutzte den Zug für den Rest der Fahrt. An einem solchen Schlechtwettertag geschah es, dass ihm bei der Heimfahrt auf dem Stadtbahnhof plötzlich ein bekanntes Gesicht auffiel. Es war die ältere Wegscheidertochter, mit der er unversehens am Bahnsteig zusammentraf. Als sich ihre Blicke begegneten, grüßte er sie, wofür sie ihm mit einem freundlichen Lächeln dankte. Dabei blieb es jedoch nicht, denn sie kam auf ihn zu, um ihm zu berichten, sie habe eben durch den Lautsprecher gehört, dass der Zug voraussichtlich vierzig Minuten Verspätung haben würde. »Das ist allerdings Pech«, sagte er und schaute sich nach einer Uhr um. »Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten«, fügte er nach einer Weile hinzu. Sie hatte einen dünnen Regenmantel an und um das Haar ein farbiges Seidentuch, das völlig durchnässt war. »Haben Sie keinen Schirm bei sich?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin schon seit ein paar Tagen daheim weg, da sah es noch nicht nach Regenwetter aus.« »Und jetzt fahren Sie wieder zurück?« Sie nickte. Kühl und feucht zog der Wind vorbei. Sie standen allein da. Er sah, dass sie vor Kälte zitterte. »Vierzig Minuten Verspätung?«, erinnerte er sich dann. »Das ist ziemlich lang! Da gehen wir doch lieber in den Warteraum.« Sie war sofort einverstanden. Im Warteraum fanden sie noch eine freie Bank, ließen sich darauf nieder und schauten über die Leute hin, die hier herumsaßen. Das Mädchen nahm das nasse Tuch vom Kopf und brachte das Haar in Ordnung. Er beobachtete heimlich ihr Gesicht. 61
»Wahrscheinlich wird der Omnibus auch weg sein, wenn wir ankommen«, bedauerte sie. »Dann muss ich den ganzen Weg zu Fuß heimgehen.« »Ich habe leider nur ein Motorrad am Bahnhof stehen und kann Sie nicht einmal zum Mitfahren einladen.« »Warum nicht?«, fragte sie mit kokettem Augenaufschlag. »Vielleicht wäre ich Ihnen sehr dankbar dafür!« »Bitte! Wenn Sie glauben, dass es Ihnen nicht zu kalt wird?« »Beim Gehen ist es auch kalt, und dann würde es viel länger dauern.« »Wenn Sie meinen, können wir es ja einmal versuchen.« »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen.« Sie war jetzt endlich fertig mit ihren Haaren, zog einen Taschenspiegel hervor und prüfte sich darin. »Bleiben Sie länger zu Hause?«, fragte er. »Voraussichtlich ja, obwohl ich damit niemandem eine Freude mache. Aber das werden Sie schon gemerkt haben, oder nicht?« Er sagte nichts und deutete nur eine stumme Verneinung an. »Ich kümmere mich nicht um fremde Familienangelegenheiten«, antwortete er dann. »Eigentlich bin ich mit Ihren Eltern erst bekannt geworden, als meine Frau starb. Ich habe in diesem Augenblick wirklich nicht gewusst, was ich anfangen soll. Gesund habe ich sie am Morgen verlassen und am Abend, als ich heimkam, sterbend angetroffen.« »Das ist ja furchtbar!« Er nickte und schaute vor sich hin. »Ihre Eltern haben mir mehr geholfen, als ich ihnen je vergelten kann. Sie haben meinen kleinen Benedikt vorübergehend in ihr Haus aufgenommen. Ich musste ja trotz allem arbeiten und konnte mich tagsüber nicht kümmern.« »Und wer kümmert sich jetzt um ihn, seit er wieder zu Hause ist?« »Eine Haushälterin.« »Wahrscheinlich eine Verwandte?« »Nein, ich habe keine Verwandten.« Sie schwieg, und er beobachtete sie wieder unbemerkt und stellte fest, dass sie, so wie sie da neben ihm saß gar keinen so schlechten Eindruck machte. Sie wirkte auch viel natürlicher, als er sie in Erinnerung 62
hatte. Die großen, baumelnden Ohrringe hatte sie mit kleinen, unscheinbaren vertauscht. Ihr Haar war von der Nässe geglättet. Ihr Profil war sogar recht hübsch, und wenn sie ihn anschaute, fand er auch in ihren braunen Augen nichts Boshaftes oder Hinterhältiges. Im Gegenteil, ihr Blick hatte sogar etwas von solider Zurückhaltung an sich. Oder täuschte sie ihn nur? Und wenn, warum tat sie es? »Ich bin Ihnen noch ganz besonderen Dank schuldig, Herr Flussmeister«, sagte sie plötzlich und schaute ihn mit einem verlegenen Lächeln an. »Wofür denn?« »Dass Sie mich bei meinem Vater nicht verraten haben.« Er stellte sich verwundert und unwissend. »Ich meine, dass Sie nichts davon erwähnt haben, dass Sie mich an jenem Sonntagabend beim Kegelspiel unter den Burschen gesehen haben …« »Das sind Sie gewesen?«, heuchelte er Erstaunen. Aber sie glaubte ihm nicht. »Sie haben mich genauso gut erkannt wie ich Sie!« »Ich habe nur eine Frau gesehen, aber nicht auf sie geachtet. Ich dachte, das sei eine Kellnerin, die die leeren Krüge nachzufüllen hatte.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie wollen mich nur schonen!« »Dazu habe ich keine Ursache, Julia, wenn ich Sie so nennen darf.« »Sie dürfen es und sollen es! Und ich muss Ihnen gleich noch mehr eingestehen, nämlich, dass ich nicht ganz unschuldig an der Auseinandersetzung war, die Sie mit Guido hatten …« »Was haben Sie damit zu tun gehabt?«, fragte er. Aber sie ging nicht darauf ein. »Als Sie Guido den Marsch geblasen haben und er dann so unverschämt geworden ist, wurde mir auf einmal klar, dass ich auf der falschen Seite stand. Ich habe mich ehrlich geschämt und habe mich seitdem nie mehr dazu verleiten lassen, auch nur in die Nähe des Wirtshauses zu kommen. Ich bin nach dem Krach auch gleich verschwunden. Wenn Sie meinem Vater berichtet hätten, dass Sie mich beim Kegelspiel unter den Burschen gesehen haben, hätte ich mit Sicherheit Ärger mit ihm bekommen.« 63
»Und das wollten Sie wohl nicht?« »Wie könnte ich so etwas wollen?« Er schaute auf die Uhr. »Es wird Zeit, sonst fährt uns noch der Zug vor der Nase davon«, sagte er in heiterem Ton. Sie gingen wieder hinaus. Es war inzwischen fast dunkel geworden. Überall leuchteten die Lampen. Eine Weile gingen sie auf dem Bahnsteig auf und ab. »Sagen Sie, Julia, warum machen Sie das überhaupt?« »Was denn?«, fragte sie zurück und sah ihn erstaunt an. »Dass Sie gerade das machen, was Ihre Eltern nicht gern sehen?« »Ich kann machen, was ich will, und sie sehen gar nichts gern an mir!« »Das ist doch gar nicht wahr!« »Wollen Sie damit sagen, dass ich lüge?«, fragte sie pikiert. Da fuhr eben der Zug ein, und mit ihnen stiegen nur wenige Fahrgäste zu. Es waren keine Bekannten darunter. Julia drückte sich frierend in die Fensterecke. Der Flussmeister setzte sich ihr gegenüber. Es dauerte nicht lange, dann fuhr der Zug ab. Sie schauten beide einige Zeit schweigend zum Fenster hinaus. »Wir können ruhig weitersprechen«, sagte Julia nach einer Weile. »Worüber?« »Fahren wir doch da fort, wo wir stecken geblieben sind! Sie fragten mich, warum ich gerade das mache, was meine Eltern nicht gern sehen.« »Ja, das habe ich gefragt, aber ich weiß eigentlich nicht so recht, ob mich das überhaupt etwas angeht. Ich bedauere jedenfalls, dass es so ist! Es könnte doch auch anders sein! Oder nicht?« »Wenn ich versuchen würde, Ihnen genau zu erklären, was bei uns zu Haus so los ist, müssten wir bis zur Endstation fahren und wieder zurück, und ich wäre wahrscheinlich trotzdem noch nicht fertig. Meine beiden jüngeren Geschwister wurden mir immer vorgezogen. Sie sind Zwillinge, vielleicht hat es damit etwas zu tun. Immer war ich diejenige, der die ganze Arbeit zugeschoben wurde, die sonst niemand 64
tun wollte, und wenn es Streit gab, war selbstverständlich ich der Sündenbock. Ich konnte mich noch so sehr darum bemühen, meine Eltern waren nie zufrieden mit mir. Als Kind habe ich dann immer heimlich gedacht: Wartet nur, wenn ich einmal groß bin, werd ich's euch zeigen! Und das habe ich dann auch getan, als es so weit war …« »Es geht mich zwar nichts an, aber glauben Sie nicht auch, dass es falsch gewesen ist, einfach von daheim wegzulaufen?« »Ich wollte frei sein!« »Aber Sie konnten dann doch nicht finden, was Sie suchten, oder? Immerhin sind Sie wieder zurückgekommen.« Sie sagte nichts mehr, sondern schaute durch das Fenster hinaus in die nächtliche, verregnete Landschaft. »Hören Sie, Julia«, begann Felix wieder, »ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es Ihnen wirklich gefällt, so in den Tag hineinzuleben, wie Sie es jetzt tun. Jeder Mensch braucht doch eine Aufgabe, auch wenn die nicht immer Spaß macht. Ich bin der Flussmeister. Glauben Sie, es ist bei einem Wetter wie diesem ein Vergnügen, die ganze weite Strecke abzugehen? Aber ich trage die Verantwortung für diese Aufgabe, und auch wenn es mich manchmal Überwindung kostet, meine Pflicht zu tun, bin ich doch auf diese Verantwortung stolz und möchte sie nicht missen. Bei Ihnen daheim gibt es so viel zu tun, und Ihre Eltern wären sicher froh, wenn Sie mit zupacken würden. Dort sollten Sie Ihre Aufgabe suchen, und wenn Ihre Eltern sehen, dass Sie bereit sind, Verantwortung zu tragen, werden Sie daheim ganz sicher, vielleicht schneller, als Sie es sich vorstellen können, akzeptiert werden. Was meinen Sie dazu?« »Wenn Sie es sagen, wird es schon so sein«, antwortete sie ohne Begeisterung. »Nein, nicht weil ich es sage, sondern weil es so ist!« Die Bremsen kreischten. Er stand auf. »Wir sind da!«, sagte er. Sie stiegen aus und gingen auf das Licht zu, das über dem Ausgang der Sperre brannte. Er hatte sein Motorrad, bevor er losgefahren war, unter das Vordach 65
eines Schuppens gestellt. Trotzdem waren die Sitze nass geworden, weil der Wind den Regen hereingeweht hatte. Er wischte mit seinem Taschentuch darüber. Danach war auch das Taschentuch nass, aber die Sitze nicht viel trockener. Also musste es eben so gehen. »Wie sind Sie mit Ihrer Haushälterin zufrieden?«, fragte Julia plötzlich. »Oh, ohne Einschränkung!« »Sie soll noch sehr jung sein, habe ich gehört.« »Einundzwanzig.« »Und schon so tüchtig?« Es klang ein wenig spöttisch. »Sehr tüchtig sogar!«, antwortete er und ließ jetzt den Motor an. Bei dem Krach konnten sie nicht mehr weitersprechen. Er wartete, bis sie hinter ihm Platz genommen hatte. »Halten Sie sich an mir fest!«, rief er ihr zu. »Ich fahre vorsichtig.« Der Scheinwerfer leuchtete auf, und die Maschine setzte sich in Bewegung. Wind und Regen schlugen ihnen entgegen. Sie versteckte sich hinter seinem Rücken und hielt sich an ihm fest. Sein Blick war auf die schmale, regennasse Straße gerichtet, auf der im Licht des Scheinwerfers die Pfützen schimmerten. Er spürte um seine Hüften die Umklammerung ihrer Arme, mit denen sie sich an ihm festhielt, wenn er in den engen Kurven die Maschine neigte, an seinem Rücken lag ihr Kopf, wodurch sie sich vor dem scharfen Fahrtwind zu schützen suchte. Sie musste schrecklich frieren, aber sie hatte Recht gehabt: Zu Fuß hätte sie sehr lange für ihren Heimweg gebraucht, und das in durchnässten Kleidern. Mit dem Motorrad würde er sie in wenigen Minuten zum Wegscheider-Hof gebracht haben, wo sie sich umziehen konnte. Nicht, dass sie sich noch den Tod holte. Dass er sich in letzter Zeit so viele Gedanken um diese Wegscheider-Julia machte … Nun hatte er ihr sogar eine Moralpredigt gehalten, gut gemeint, aber wohl vergeblich. Sicher lachte sie heimlich über ihn. 66
Obwohl er heute sehr spät daheim ankam, sah er schon von weitem das Licht aus dem Fenster der Wohnstube schimmern. Sofort hellte sich seine Stimmung auf. Wo ein Licht ist, gibt es Menschen, da herrscht Leben. Er hatte Julia noch bis zu ihrem Haus hinaufgefahren und vor der Tür abgesetzt. Das Gehöft war völlig im Dunkel gelegen. Der Hofhund war wach geworden und knurrend aus seiner Hütte herausgeschossen, aber das Mädchen hatte ihn mit ein paar Worten zum Schweigen gebracht. Sie hatte sich dann mit einem Händedruck von ihm verabschiedet und bedankt, und er war sofort weitergefahren. Jetzt stellte er die Maschine in den Schuppen, sperrte die Tür auf und betrat sein Haus. Sabine saß am Tisch unter der Lampe und arbeitete noch an ihrem Näh- und Flickzeug, das sie jedoch sofort wegräumte, als er eintrat. »Du hättest nicht auf mich warten sollen, Sabine!«, sagte er. »Der Zug hat heute so viel Verspätung gehabt, dass ich es bereut habe, ihn überhaupt benutzt zu haben.« Sie wollte ihm aus seinem nassen Mantel helfen, doch er lehnte dankend ab. »Mach dich nicht nass und schmutzig, Sabine! Das mache ich schon.« Er trug den Mantel hinaus, kam zurück und entledigte sich der schmutzigen Stiefel. »Das war ein Wetter heute, furchtbar!«, bemerkte er nebenbei. »Hast du Hunger?«, fragte sie. »Soll ich schnell ein paar Eier schlagen für Rührei?« »Eier?«, staunte er. »Haben wir denn frische Eier da?« »Sicher, haben wir!« »Du warst doch nicht etwa beim Wegscheider droben?« Sie schüttelte den Kopf. »Man hat sie am Abend gebracht, auch frische Butter und ein paar andere Dinge.« »Das gibt's ja gar nicht! Da bin ich aber platt!« Sie ging weg, um ihm die Eierspeise zu bereiten. Er schloss die Lohntüten mit den Vorschüssen in den Schrank ein und folgte ihr hinaus in die Küche, um sich zu waschen. 67
»Wer war denn von Wegscheiders da?«, fragte er nebenbei. »Der Manfred.« »Hm – das ist aber seltsam! Oder nicht?« »Die Bäuerin hat gemeint, dass wir vielleicht etwas brauchen könnten, weil ich bei dem schlechten Wetter sicher nicht bis ins Dorf gegangen sei, auf alle Fälle nicht mit dem kleinen Benedikt. Deshalb hat sie den Manfred hergeschickt.« Er suchte im Fenster sein Spiegelbild und strich sich sein Haar zurück. »Das ist sehr nett von der Bäuerin. Findest du nicht auch?« »Sicher …« »Aber?«, fragte er und wandte sich nach ihr um. Sie schaute ihn an. »Ich habe nichts gesagt!« »Aber du wolltest etwas sagen?« Sie schüttelte den Kopf. »Dann habe ich mich getäuscht«, sagte er und kehrte in die Stube zurück. Er saß am Tisch und blätterte in einem Schriftstück, als sie das Essen brachte. »Ich wäre bestimmt nicht vor Hunger gestorben, Sabine!«, sagte er lächelnd. »Aber wenn du etwas gerichtet hast, will ich es auch essen.« Es schien ihm auch sehr gut zu schmecken. »Der Benedikt schläft wohl?« »Ja, schon lange!« »Wenn es wieder einmal so spät werden sollte, Sabine, brauchst du nicht auf mich zu warten!« »Ich habe es gern getan, und gleichzeitig konnte ich von der Flickwäsche viel wegarbeiten.« »Hat sich sonst etwas ereignet?«, fragte er nach einer Weile. »Nein. Der Vorarbeiter war einmal da. Ich weiß nicht, was er wollte. Er hat lediglich gefragt, ob der Flussmeister schon da sei.« »Das hat sicher Zeit bis morgen«, meinte er. »Mich würde etwas anderes weit mehr interessieren, Sabine.« Sie schaute ihn fragend an. »Was zum Beispiel den jungen Wegscheider dazu bewogen hat, uns die Lebensmittel selbst zu bringen. Ich möchte fast glauben, dass die 68
Wegscheiders im Moment andere Sorgen haben, als an uns zu denken. Vielleicht lässt es in der Hauptsache dem Manfred keine Ruhe, dass du nicht mehr hinaufkommst?« Er merkte ihr sofort an, dass er auf dem richtigen Weg war. Das verriet ihm ihr verlegenes Lächeln. »Du kannst es mir ruhig sagen, wenn du meinst, dass es mich nichts angeht, Sabine«, fuhr er fort. »Normalerweise geht es mich auch wirklich nichts an. Ich muss dir dankbar sein, dass du bei mir und bei dem kleinen Benedikt bleibst, solange es sich machen lässt. Ich habe nur immer ein bisschen Angst, du könntest mir eines Tages davonlaufen.« »Das werde ich bestimmt nicht tun!«, widersprach sie ihm. Er zuckte die Schultern. »So geht es gewöhnlich los: Ein Bursche, der sich in dich verliebt hat, sucht und findet eine Gelegenheit, sich mit dir zu treffen. Du kommst nicht mehr hinauf zum Wegscheiderhof, also kommt er eben zu dir herunter. Die Johanna soll angeblich im Herbst heiraten und fortgehen. Die andere, die Julia, taugt nicht recht viel, also wird man beratschlagen, ob es nicht das Beste wäre, wenn der Sohn sich nach einer jungen Frau umschaut. Und ich frage mich, ob hinter seinem Besuch so etwas steckt. Ist es so, Sabine?« Sie beantwortete diese Frage weder mit Ja noch mit Nein und schaute nur etwas verlegen auf ihre Hände. »Ich habe ihm erklärt, dass ich ein ganz armes Mädchen bin, das keine Heimat hatte und seine Kindheit in einem Waisenhaus verbracht hat«, gestand sie schließlich, ohne aufzuschauen. Er hatte es nicht anders erwartet, trotzdem überraschte ihn ihr Eingeständnis und erweckte in ihm ein ganz unbehagliches Gefühl. »Außerdem würde ich nicht viel von Nutzen sein, weil ich von der Bauernarbeit so gut wie gar nichts verstehe«, fuhr sie fort. »Was er braucht, ist eine junge Bäuerin, die auch im Stall und draußen auf Wiese und Feld kräftig anpacken kann.« »Darauf hat er bestimmt erwidert, dass sich diese Arbeiten leicht erlernen lassen und sowohl er selbst und auch seine Eltern keinen Wert auf Vermögen legen, denn der Hof sei so gut bestellt, dass man gut darauf verzichten könne«, ergänzte er etwas spöttisch. 69
Sie schaute ihn verwundert und fragend an. Er lachte jetzt, aber es klang nicht echt. »Das weiß ich so genau, als hätte ich zugehört. Der Manfred hat sich ganz einfach in dich verliebt, und es mag sein, dass du auch den Eltern gefällst. Es fragt sich also nur, wie du dich selbst dazu stellst. Die Wegscheiders sind gute und rechtschaffene Menschen, daran gibt es nichts zu rütteln. Ich habe das selbst erfahren dürfen. Die Entscheidung wird also allein bei dir liegen, Sabine. Die Leidtragenden wären halt wir, ich meine damit den kleinen Benedikt und mich. Aber niemand kann von dir verlangen, dass du für uns dein Lebensglück opferst.« Er stand auf und fing an umherzugehen, sah aber gerade noch aus den Augenwinkeln, dass sie ihren Kopf schüttelte. »Ich glaube aber nicht, dass eine Heirat mit Manfred mein Lebensglück wäre«, sagte sie. Er wandte sich nach ihr um. »Warum nicht?« Darauf gab sie keine Antwort, aber sie wurde ein wenig rot. »Du meinst, dass du den jungen Wegscheider nicht lieben könntest?«, fragte er. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, antwortete sie. »Aber ich glaube eher nicht.« Er blieb vor ihr stehen und schaute auf sie nieder. »Schau, Sabine, genau das habe ich gemeint: Es prüfe, wer sich ewig bindet …« Er machte ein paar Schritte zum Fenster und blieb eine Weile stehen. »Hast du mit unserem Pfarrer schon einmal darüber gesprochen?«, fragte er dann. »Nein, wie käme ich dazu?« »Stimmt! Das ist ganz allein deine Sache!«, erwiderte er rasch. »Aber gerade, weil du mit deinem Schicksal dem Pfarrer gewissermaßen am Herzen liegst, möchte er dir vielleicht einen Rat geben. Und man darf natürlich nicht vergessen, dass sich einem jungen Mädchen ohne Vermögen nicht so oft die Gelegenheit bietet, in einen wohlhabenden Bauernhof einzuheiraten. Nur die Liebe darf dabei natürlich nicht fehlen, sie lässt sich durch nichts ersetzen.« 70
Sie antwortete nichts darauf, aber er sah an ihren unruhigen Händen, dass sie nervös war. »Wann hast du den Pfarrer das letzte Mal besucht, Sabine?« »Am Sonntag nach der Kirche, da ist immer die beste Gelegenheit dazu.« »Ich war auch neulich bei ihm, aber wegen einer ganz anderen Sache.« Sie warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Natürlich kamen wir dabei auch auf dich zu sprechen«, fuhr er in gleichmütigem Ton fort. »Ich habe ihm gesagt, wie gut wir beide, mein Kind und ich, durch dich versorgt sind und dass ich nur die eine Angst habe, du könntest uns eines Tages wieder verlassen.« Sie schüttelte wieder verwundert den Kopf. »Und, was meinst du, welchen Rat mir der geistliche Herr gab?« Er versuchte zu lachen, während sie gespannt auf die Antwort dieser Frage wartete. »Er schlug vor, ich sollte dich heiraten …« Er bemerkte, dass ihr eine neue Blutwelle ins Gesicht schoss. Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. »Dass der Tod meiner Frau erst vier Monate zurückliegt und dass ich den Eindruck erwecken würde, ich hätte sie schon vergessen, daran dachte er wohl nicht. Auch nicht daran, dass ich dich gerade durch eine solche Aufdringlichkeit aus dem Haus treiben könnte. Er scheint es für das Wichtigste zu halten, meinem kleinen Sohn wieder eine neue Mutter zu verschaffen. Ich bin nicht blind, Sabine, ich sehe, wie gut du zu meinem kleinen Benedikt bist und wie glücklich er ist, seitdem du bei uns bist. Im Augenblick weiß ich nicht, wie ich dir das danken könnte. Mir bleibt nichts anderes übrig, als dich höchstens immer wieder zu bitten: Bleib bei uns, Sabine! Ich bin freilich manchmal ein alter Brummbär, aber du weißt ja, was mir alles im Kopf herumgeht, man kommt müde heim, hatte vielleicht Ärger mit den Arbeitern oder es ist sonst etwas los, das einem Kopfzerbrechen macht …!« Sie hatte sich erhoben und ging langsam zur Tür. Dort wandte sie sich nach ihm um. Ihr Gesicht sah plötzlich erhitzt aus. »Ich denke gar 71
nicht daran, freiwillig aus diesem Haus zu gehen. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nirgends so wohl gefühlt wie hier, und Benedikt möchte ich am liebsten nie mehr hergeben. Sollte ich einmal gehen müssen, nehme ich den Benedikt mit!«, fügte sie lächelnd und mit einem Augenzwinkern hinzu. »Ich danke dir, Sabine!« »Gute Nacht!« Leise zog sie die Tür hinter sich zu. Er stand da und lauschte in die Stille des Hauses. Ein paar Mal hörte er noch ihre Schritte. Sie schaute noch nach dem Benedikt, ehe sie selbst schlafen ging. Der Regen klopfte an das Fenster, laut rauschte draußen die Saalach durch die Enge herab. Felix konnte den unbehaglichen Gedanken nicht unterdrücken, dass er dieses heikle Thema völlig falsch angepackt hatte. Was die Wegscheider-Julia über seine ›Moralpredigt‹ dachte, belastete ihn überhaupt nicht. Anders war es bei Sabine, die durfte ihn nicht missverstehen. Es bestand kein Zweifel, er liebte sie.
7
D
as Korn stand nun schnittreif, und die Bauern waren draußen und bemühten sich um die Ernte, die sie ihrer kargen Erde abrangen. So heiß wie an den hochsommerlichen Tagen brannte die Sonne nicht mehr auf die Täler, und der Berg warf wesentlich früher den Schatten über die Flur. Dennoch stand den Leuten der Schweiß im Gesicht, die in mühsamer Arbeit die Garben zusammentrugen und auf den Wagen luden. Die Tage waren jetzt kürzer, und so dauerte das emsige Treiben oft bis in die Nacht hinein. Jeder wollte möglichst viel oder gar alles unter Dach bringen, solange die Schönwetterlage andauerte. 72
Zur Überraschung und Verwunderung nicht nur der Wegscheiderleute, sondern auch aller Mitbürger, die davon hörten oder es selbst sehen konnten, sah sich die leichtfertige und arbeitsscheue Julia plötzlich dazu veranlasst, bei der harten Arbeit tatkräftig mitzuhelfen. Ohne dass sie von irgendeinem Menschen aufgefordert worden wäre, erschien sie eines Tages in einem einfachen, leichten Arbeitskleid und zum Schutz gegen die Sonne mit einem breitrandigen Strohhut auf dem Kopf und gesellte sich zu den anderen. Zunächst wollte niemand darauf vertrauen, dass ihr Sinneswandel anhielt. Man hielt es eher für eine Anwandlung ihres unberechenbaren Temperaments, die ebenso rasch wieder verfliegen konnte, wie sie gekommen war. Aber auch am nächsten Morgen trat sie wieder zur Arbeit an und auch an all den folgenden Tagen. Sie arbeitete mit dem gleichen Fleiß wie die anderen, und man sah, dass sie nichts verlernt hatte. Aber warum auf einmal? Hatte sie endlich eingesehen, dass es so, wie sie es getrieben hatte, nicht gehen würde oder wollte sie damit erreichen, dass man sie endlich wieder in den Kreis der Familie aufnahm? Der Wegscheider tauschte mit der Bäuerin manch fragenden Blick. Aber sie wusste auch nicht mehr als er selbst. Zum Abendessen setzte sich Julia mit den anderen an den Tisch, aß und hörte schweigend zu, was gesprochen wurde. Nach dem Essen ging sie hinaus und suchte ihre Kammer auf. Es kam aber auch vor, dass sie noch das Haus verließ, nachdem sie ihre Arbeitskleidung mit einem schöneren Kleid vertauscht hatte. Doch meistens blieb sie daheim und kam nicht mehr aus ihrem Zimmer. Bei einer solchen Gelegenheit beschloss der Wegscheider, mit der übrigen Familie über Julia zu sprechen. »Ich kann es immer noch nicht glauben, aber es ist wohl wirklich so«, sagte er mit gerunzelter Stirn. »Julia hat sich so verändert, ich erkenne sie nicht wieder. Wir sollten ihr zeigen, dass wir das zu schätzen wissen und sie endlich wieder wie ein normales Familienmitglied behandeln!« Die Bäuerin gab ihm sogleich Recht. Ihr fiel es zunehmend schwer, 73
das Mädchen weiterhin wie eine Aussätzige zu behandeln. Sie war immerhin ihre Tochter. Sie hatte Fehler gemacht, vielleicht sogar schlimmere, als man allgemein annahm. Aber wenn sie es nun bereute? »Auch Christus hat einer Sünderin verziehen«, sagte sie. »Er verzieh sogar einem Mörder und versprach ihm das Paradies!« »Die Sünderin und auch der Mörder haben bereut, Mutter! Das darfst du nicht vergessen!«, wandte Manfred, ihr Sohn, ein. »Sie bereut sicher auch!«, meinte die Bäuerin. »Das glaube ich nicht!« »Und warum glaubst du das nicht?«, fragte der Wegscheider seinen Sohn. »Ich kenne doch meine Schwester! Sie verfolgt damit irgendeinen Zweck, der genauso verwerflich ist wie alles, was sie bis heute getan hat!« »Und was soll das sein?« »Wenn ich das wüsste, Vater, würde ich dem einen Riegel vorschieben!« »Solange man etwas nicht weiß, darf man es auch nicht behaupten!«, verwies der Wegscheider seinen Sohn streng, und die Bäuerin nickte ihm beipflichtend zu. »Einen Verdacht darf man wohl noch hegen?«, beharrte der Junge eigensinnig auf seine Meinung. »Auch dazu muss man einen Grund haben!« »Und?« Aller Augen waren auf das unmutige Gesicht Manfreds gerichtet, bis er endlich zu sprechen begann: »Dann frage ich dich, was hat unsere Julia mit dem Mutzel-Guido zu schaffen?« Sein Blick ruhte jetzt noch herausfordernder auf dem strengen Gesicht des Vaters. Und als er keine Antwort bekam, fuhr er fort: »Der Guido ist ein Trottel, und ein Säufer dazu. Auch der Flussmeister hat den Kerl wieder zum Teufel gejagt. Jetzt fällt er wieder der Gemeindekasse zur Last. Die Arbeit, die der Guido gerade für die Gemeinde macht, ist sowieso nichts wert!« 74
»Man kann ihn doch nicht herumlungern lassen!«, warf der Bauer ein. »Dann gehört er in eine Anstalt!« »So ein Blödsinn«, sagte der Wegscheider kopfschüttelnd und mit gefurchter Stirn. »Guido ist nicht der Hellste, aber ein Fall für die Anstalt ist er ganz sicher nicht. Weißt du überhaupt, was so ein Heimplatz kostet, und hast du dir schon einmal überlegt, wer das dann bezahlen muss? Die Gemeinde nämlich. Und dass man auch auf eine alte Frau, die ohne ihren Sohn ganz allein dastehen würde, Rücksicht nehmen muss, daran denkst du wohl nicht?« »Weil die alte Mutzlin so viel von ihrem Guido hat!« »Er ist immerhin ihr Sohn!« »Und was für einer!«, höhnte Manfred. Schweigen. Vielleicht dachten alle in diesem Augenblick daran, dass man diese Bemerkung auch auf die eigene Familie übertragen könnte: Was für eine Tochter! Aber hatte die Julia in letzter Zeit nicht Anlass zur Hoffnung gegeben? »Jetzt weiß ich immer noch nicht, was das alles mit unserer Julia zu tun hat«, begann der alte Bauer wieder. »Ich habe sie in letzter Zeit schon ein paar Mal mit dem Guido zusammen gesehen«, berichtete der Sohn. »Dass kein anständiger Mann aus dem Dorf an ihr Interesse hat, wundert mich kaum nach allem, was sie sich geleistet hat. Aber dass sie sich jetzt mit dem Guido zufrieden geben könnte, das kann ich mir nicht vorstellen. Sie führt irgendetwas im Schilde, da bin ich ganz sicher!« »Sie wird ihn halt zufällig getroffen haben«, meinte die Bäuerin. Aber Manfred schüttelte unwillig den Kopf. »Was meinst du dann, was dahintersteckt?«, fragte der Wegscheider. »Was ich glaube, habe ich gerade gesagt, und mehr weiß ich auch nicht. Vielleicht irre ich mich ja auch, es würde mich sogar freuen, wenn es so wäre.« »Ich werde mit ihr reden«, entschloss sich schließlich der Bauer, und damit war die Unterredung beendet. Als der Mond hinter den Bergen heraufgekommen war und frei am 75
Himmel stand, fiel sein weißes Licht auf das Tal, es schimmerte auf den Wellen der Saalach. Ebenso hell leuchtete es auf das Felsgestein der Berge, zeichnete schwarz und scharf ihre Konturen ab und floss über die dunklen Flächen der Wälder herab. Drüben auf der Hauptstraße huschten die Scheinwerfer des Autoverkehrs hin und her. Vom Dorf schimmerten die Lichter herauf. Julia, die eigenwillige Wegscheidertochter, ging auf dem einsamen Weg am Damm flussabwärts. Sie schritt schnell aus, als habe sie ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen, das sie möglichst rasch erreichen wollte. Eine Weile war sie droben am Flussmeisterhaus vor dem beleuchteten Fenster gestanden und hatte Sabine beobachtet, wie sie die Kleidungsstücke nacheinander aus dem Korb holte, der neben ihr stand, über den Tisch breitete und mit dem Bügeleisen darüber fuhr, bis sie schön glatt zusammengelegt werden konnten. Das Mädchen gab sich mit großer Aufmerksamkeit dieser Arbeit hin, als hätte es sich einer Prüfung zu unterziehen. Es schaute kaum einmal hoch. Das schmale Gesicht mit den etwas hervorstehenden Backenknochen wurde ab und zu durch ein zufriedenes, beinahe glückliches Lächeln aufgehellt. Es mussten frohe und zuversichtliche Gedanken sein, mit denen es sich so nebenbei beschäftigte. Die Wegscheidertochter beobachtete das Mädchen mit einem Gefühl des Neides und der Feindseligkeit. Sie wusste, woher Sabine kam und dass sie nur ein einfaches, armes Mädchen war, aufgewachsen in einem Waisenhaus. Aber davon war ihr nichts mehr anzumerken. In ihrem hübschen Kleid, mit einer bunten Schürze davor, konnte man sie für eine junge glückliche Hausfrau halten. Ihre natürliche Anmut und Schönheit tat das Übrige. Sie konnte freilich verstehen, dass ihr Bruder, der zukünftige junge Bauer, sich in diese Sabine verliebt hatte. Niemand konnte behaupten, dass das Mädchen nicht wusste, wodurch man die Blicke der Männer auf sich zog, überlegte Julia voller Ärger. Wenn sie auch keinen Lippenstift benutzte und keinerlei kosmetische Mittel anzuwenden schien, verstand sie sich zu kleiden und 76
zu bewegen, sie wusste auch, wie man die Augen aufzuschlagen und zu lächeln hatte … Julia war Frau genug, um das zu erkennen. Sie konnte sich vorstellen, dass der Flussmeister sich über kurz oder lang in seine junge Haushälterin verlieben musste. Wenn es nicht schon geschehen war! Und das durfte nicht sein, denn sie selbst wollte Felix Falkner haben. Ihr, Julia, kam der Platz an der Seite des Flussmeisters zu, der sie vom ersten Moment an beeindruckt hatte. Auch sie war jung und hübsch, und dass sie arbeiten konnte, hatte sie ja wohl in den letzten Wochen bewiesen. Allerdings hatte Sabine ihr immer noch eines voraus: Ihren guten Ruf. Doch ein guter Ruf konnte Schaden nehmen, ehe man sich's versah, und vielleicht ließ sich dabei etwas nachhelfen … Ahnungslos verrichtete Sabine ihre Arbeit. Ab und zu strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die ihr beim Bücken ins Gesicht gefallen war. Wie hätte sie auch auf die Idee kommen können, dass draußen vor dem Fenster ein Mensch stand, ihr mit bösen, neidischen Blicken zuschaute und sich mit finsteren Plänen gegen sie beschäftigte. Sie hatte keine Ahnung davon, dass es überhaupt jemanden in der Gegend geben könnte, dem sie im Weg war und der ihr die Arbeit beim Flussmeister missgönnte. Julia schaute über die Gegenstände hin, die trotz der Einfachheit und Anspruchslosigkeit einen sauberen und behaglichen Eindruck machten und erraten ließen, dass hier eine tüchtige und fleißige Frauenhand am Werk war. Ihr Blick streifte die Wanduhr. Es war inzwischen neun geworden. Das war wohl die Zeit, zu der der Flussmeister von seinem Kontrollgang heimkehrte, denn Sabine schaute jetzt ebenfalls dorthin. Julia riskierte noch einen Blick und stahl sich vom Haus weg. Sie lief jetzt weiter flussabwärts, den Kopf voll eifersüchtiger Gedanken. Ab und zu blieb sie kurz stehen, um zu lauschen, ob nicht der Schritt des heimkehrenden Flussmeisters zu hören war. Aber sie war schon fast im Dorf, als sie ihn endlich herankommen sah. Laut und kräftig klangen seine schweren Schaftstiefel bei jedem Schritt auf der harten, steinigen Erde. 77
Als er bei ihr anlangte, blieb sie stehen. »Sind Sie es, Julia?«, fragte er. »Was tun Sie denn hier so allein auf diesem Weg?« »Ich gehe noch ein wenig spazieren«, antwortete sie gleichmütig. Das Mondlicht beschien ihre Gesichter. »Aber so spät …?«, fragte er verwundert. »Wir haben heute erst vor einer guten Stunde Feierabend gemacht«, antwortete sie. »Das Korn muss eingebracht werden, bevor es wieder zu regnen anfängt.« Das war ihm bekannt, aber neu war ihm, dass sie so selbstverständlich von dieser Arbeit sprach. Sie wusste genau, was er dachte. »Sie haben richtig verstanden, Herr Falkner! Ich stehe den ganzen Tag draußen und schinde mich mit den anderen in der Sonnenhitze ab. Schauen Sie meine Hände an! Sie sind voller Schwielen. Meine Haut wird allmählich zu einem Reibeisen!« Sie lachte dazu. Weiß schimmerten ihre Zähne. Dann streckte sie ihm ihre Hände hin. »Es wundert mich, dass gerade Sie sich so plagen!«, sagte er. »Aber Sie haben mir doch gesagt, ich solle das tun?« »Ich? – Ich habe Ihnen nichts zu befehlen, Julia. Ich habe Ihnen lediglich dazu geraten, damit Sie mit ihren Eltern wieder Frieden bekommen. In Wirklichkeit geht es mich ja nichts an, ich hatte lediglich Bedauern mit ihrer Familie und – und auch mit Ihnen.« Sie ging mit ihm bis zur Brücke zurück, zwang ihn jedoch durch ihr Zögern zum langsamen Gehen. »Man sollte wenigstens wissen, wofür man arbeitet«, sagte sie vor sich hin. »Schauen Sie, bei uns ist es doch so, dass eines Tages mein Bruder den Hof übernimmt, die Eltern gehen in den Austrag und die Töchter bleiben übrig, entweder verdienen sie sich ihr Geld bei fremden Bauern oder sie suchen sich sonst eine passende Stellung …« »… oder sie heiraten in einen anderen Hof ein, wozu ihnen eine entsprechende Aussteuer mitgegeben wird«, ergänzte er. »So ist es doch im Allgemeinen?« 78
»Dieses Heiratsgut muss man sich weiß Gott hart genug verdienen!«, sagte sie. »Arbeiten muss man überall, egal, wo man auch ist. Übrigens wird es doch sicher noch eine Weile dauern, bis in den Wegscheiderhof eingeheiratet wird. Meinen Sie nicht auch? Ihr Bruder ist noch sehr jung! Ich schätze ihn höchstens auf zwanzig, einundzwanzig Jahre, das ist noch zu jung für einen Bauern!« »Dreiundzwanzig ist er«, verbesserte sie. »Wenn meine Schwester im Herbst heiratet und weggeht, wird man statt einer Angestellten eine junge Frau als Bäuerin ins Haus holen. Die kommt billiger. Die Bauern denken wirtschaftlich, Herr Flussmeister!«, sagte sie mit spöttischem Unterton. »Vielleicht rechnet man ja damit, dass Sie an die Stelle Ihrer Schwester treten?« »Dann haben sie sich verrechnet!«, sagte sie gleichmütig. »Sie wollen also nicht daheim bleiben?«, fragte Felix. »Nein. Ich habe andere Pläne.« »Ach so! Das ist natürlich etwas anderes.« Sie kamen an die Brücke, an der sich ihre Wege trennen würden, und blieben stehen. »Ich finde es merkwürdig, dass Sie so allein in der Nacht herumlaufen, Julia«, sagte er jetzt und änderte das Thema. »Warum? Sie denken doch nicht, dass ich mich fürchte? Ich wüsste nicht, wovor.« »Die meisten Mädchen und Frauen gehen nicht gern allein durch die Nacht!« »Dann bin ich eben eine Ausnahme. Ich habe mir noch nie etwas dabei gedacht.« »Ich würde gern noch ein Stück mit Ihnen gehen, aber ich bin heute etwas spät dran und will Sabine nicht noch länger auf mich warten lassen.« »Danke! Ich möchte Sie nicht aufhalten!« Sie wandte sich der Brücke zu, drehte sich aber noch einmal um und lachte ihm zu. »Schade, dass ich nicht einen oder zwei Monate früher heimgekommen bin, dann 79
hätte ich mich bei Ihnen um die Stelle als Haushälterin beworben. Ich glaube, das hätte mir Spaß gemacht, und ich bin sicher, wir wären gut miteinander ausgekommen. Meinen Sie nicht auch?« »Es kann schon sein.« Darauf erwiderte sie nichts mehr, sondern ihre Gedanken schienen einen Sprung gemacht zu haben. »Ich würde gern mit Sabine näher Bekanntschaft machen. Man erzählt ja wahre Wunderdinge von ihr, sie sei tüchtig, bescheiden und zu allen Leuten freundlich. Jeder hat sie gern.« »Das kann man wohl sagen.« »Fürchten Sie, dass ich sie verderben könnte?«, fragte sie lächelnd und ein wenig spöttisch. »Das dürfte Ihnen kaum gelingen.« »Ich will es auch nicht!«, rief sie. »Im Gegenteil, ich möchte mir gern etwas von ihr aneignen, von ihrer Tüchtigkeit und von …« »Na, na, na … Jetzt tragen Sie aber zu dick auf, Julia!«, unterbrach er sie. »Tu ich das?«, tat sie erstaunt. »Sehen Sie, so ist das immer bei mir: Es wird nie ernst genommen, was ich sage. Daheim ist es genauso! Alle sehen, dass ich mich mit ihnen draußen auf der Wiese oder auf dem Feld abplage, aber denken Sie ja nicht, dass irgendjemand bis heute ein gutes Wort für mich gefunden hätte. Man lässt mich mitarbeiten und am Tisch mitessen. Im Übrigen bleibe ich ein ungebetener Gast. Ich finde es trostlos auf dem Hof, aber zurück in die Stadt will ich auch nicht, weil ich davon die Nase voll habe. Sie sind der einzige Mensch, dem ich das bisher erzählt habe. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte vom ersten Augenblick an Vertrauen zu Ihnen. Sie sind nicht so engstirnig und kleinlich wie alle anderen Menschen hier. Deshalb bewundere ich Sie!« »Sie überschätzen mich, Julia!«, entgegnete Felix Falkner. Aber sie achtete nicht darauf und fuhr fort: »Ich bin hier im Dorf ganz allein. Wenn ich eine Frage habe, kann ich mich nur mit mir selbst beraten. Wenn ich einen Halt suche, habe ich auch nur wieder mich selbst. Deshalb würde ich mich freuen, mit Sabine Kontakt zu bekommen! Oder würden Sie das nicht dulden?« 80
»Darüber müssen wir Sabine selbst entscheiden lassen«, meinte er. »Ich kann ihr nicht verbieten und auch nicht befehlen, mit wem sie sich abgibt.« »Außerdem besteht die Möglichkeit, dass wir sogar einmal in ein verwandtschaftliches Verhältnis treten. Ich wäre glücklich, wenn ich mir dann sagen könnte, dass wenigstens ein Mensch in der Familie ist, der mir nicht den Rücken zukehrt, wenn ich die Stube betrete.« Er starrte sie an. »Das verstehe ich jetzt nicht ganz«, gab er zu. »Was haben Sie eben gesagt?« Sie lachte leise. »Es mag schon sein, dass es Sie überrascht, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass mein kleiner Bruder bis über beide Ohren in Sabine verliebt ist. Ich habe keinen Zweifel daran, dass er eines Tages beim Vater auch durchsetzen wird, sie heiraten zu dürfen. Er war immer schon das Lieblingskind daheim und es wurde ihm nichts verwehrt.« Er schüttelte nur verständnislos den Kopf. »Eben sagten Sie mir, dass kein Mensch daheim mit Ihnen ein Wort spricht. Woher wollen Sie also wissen, dass Ihr Bruder hinter Sabine her ist?« »Man müsste schon stockblind sein, um das nicht zu bemerken. Wie käme Manfred sonst dazu, nach jeder noch so lächerlichen Gelegenheit zu suchen, um zur Flussmeisterei gehen zu können?« »So?«, staunte er. »Tut er das?« Sie nickte nur. »Aber sagen Sie Sabine nichts davon, bitte! Ich möchte nicht, dass sie in Verlegenheit gerät!« Sie schien sich plötzlich darauf zu besinnen, dass es nun höchste Zeit war, um heimzugehen. »Seien Sie mir nicht böse, dass ich Sie so lange aufgehalten habe, Herr Flussmeister!«, sagte sie. »Aber ich wollte mich halt auch einmal aussprechen. Ich danke Ihnen dafür! – Gute Nacht!« Gleich darauf eilte sie über die Brücke davon und verschwand drüben in der Dunkelheit. Auch er setzte seinen Weg fort. Schwer trafen seine Schritte auf der steinigen Erde auf.
81
Julia folgte der schmalen Straße, die durch das dunkle Ufergebüsch führte. Da fühlte sie sich plötzlich am Arm gepackt und zurückgerissen. Ohne darüber zu erschrecken, machte sie sich mit einer heftigen und unwilligen Bewegung frei und stieß die kräftige Männerhand von sich. »Was willst du denn schon wieder? Kann man denn keinen Weg mehr gehen, ohne plötzlich auf dich zu treffen?«, rief sie zornig. »Was hast du denn mit dem Flussmeister zu schaffen gehabt?«, fragte der Guido. Sie ging so rasch weiter, dass er ihr kaum zu folgen vermochte. »Red!«, herrschte er sie an. »Später, Guido! Ich habe mir etwas ausgedacht, das dir gefallen wird! Der Flussmeister hat dich doch entlassen, und das ärgert dich sicher! Und ich weiß, wie du ihm eins auswischen kannst …« Sie blieb stehen und rang nach Atem. Das wilde, dunkle Ufergebüsch blieb hinter ihnen zurück. Weiß lag das Band der Straße im Mondlicht vor ihnen und wand sich zwischen den taufeuchten Wiesen den Berghang hinauf. Weiter oben mündete sie in den Wald ein. »Sag's!«, forderte er sie auf. Aber sie schüttelte den Kopf. »Später!« »Warum nicht gleich?«, wollte er wissen. »Weil du vielleicht deinen Mund nicht halten kannst und etwas sagst, wenn du besoffen bist!« »Ich saufe nicht mehr!«, beteuerte er. »Seit wann denn das?«, fragte sie ungläubig. Er grinste sie an. »Wegen dir«, gestand er dann. Sie ging wieder weiter, und er folgte ihr. Plötzlich blieb sie stehen und drehte sich zu Guido um. Auf ihrem Gesicht lag ein einladendes, werbendes Lächeln. »Wir zwei müssen zusammenhalten, Guido!« gurrte sie. Felix Falkner hätte den falschen Ton in ihrer Stimme zweifellos sofort bemerkt, und vermutlich wäre er auch den meisten anderen Leuten aufgefallen. Aber Guido bemerkte ihn nicht. »Ja«, schmachtete er. »Mich mag hier keiner und dich auch nicht. Darum werden wir uns 82
zusammentun. Meinst du nicht?«, säuselte sie mit treuherzigem Augenaufschlag. »Ja«, antwortete er wieder glücklich. »Ich hab jetzt wieder Arbeit, und diesmal werde ich sie behalten. Ich hab schon Geld gespart, noch nicht viel, aber wenigstens angefangen. Dann wird das Haus hergerichtet. Wenn du mich heiratest, kriegst das ganze Geld, das ich heimbringe.« »Nächstes Jahr, Guido, ja?« Er schaute sie enttäuscht an. »Und warum nicht schon jetzt?« »Wir müssen erst deine Mutter so weit bringen«, klärte sie ihn auf. »Das geht nicht von heute auf morgen; sie wird zuerst bestimmt dagegen sein.« »Die frage ich nicht!«, murrte er. »Das geht doch nicht, wie soll ich so bei euch im Haus leben?« »Du!«, stieß er plötzlich leidenschaftlich hervor und warf seine langen Arme um sie wie ein gefährlicher Polyp. Julia machte sich energisch frei. »Noch sind wir nicht so weit, Guido! Du wirst mir zuvor noch zeigen müssen, was du für mich zu tun bereit bist!« »Alles!«, keuchte er. Sie lief jetzt hastig weiter, und er folgte ihr dicht auf dem Fuß. Von der dunklen Höhe schimmerte ein einsames Licht herab. Es kam vom Wegscheiderhof. Sie wunderte sich, dass dort so spät überhaupt noch jemand auf war. Hatte man vielleicht vergessen, das Licht auszuschalten? Das kam hin und wieder einmal vor. In der Nähe rauschte der Wildbach durch die tiefe, enge Klamm. Das Geländer am Steg tauchte auf. Das Mondlicht verwandelte die ganze Umgebung in eine unheimliche Kulisse. Gleich hinter dem Steg erhob sich das alte, baufällige Häuschen der Mutzlin. Es lag völlig im Dunkel, nur das Mondlicht spiegelte sich in den Fensterscheiben. Julia betrat den Steg und klammerte sich am Geländer fest. Ihr Atem ging keuchend vom raschen Anstieg. Der Guido streckte die Hand aus und tastete verliebt über ihr Ge83
sicht. »Komm mit mir ins Haus!«, bat er. »Ich zeige dir, was ich alles richten und ausbessern möchte.« »Heute nicht, Guido, ein andermal vielleicht.« »Warum nicht? Meine Mutter schläft schon längst und hört uns nicht.« Aber sie schüttelte den Kopf. »Nein!« Obwohl sie unablässig in die Tiefe der Klamm hinabstarrte, merkte sie, dass er sie argwöhnisch beobachtete. »Ich überlege gerade, ob der Flussmeister ein anständiger Kerl ist oder doch nur ein Schuft wie alle anderen.« Seine Miene nahm sogleich einen misstrauischen Ausdruck an. »Warum? Was geht dich der Falkner an?«, knirschte er zwischen den Zähnen hervor. »Ich habe immer noch Angst, er könnte meinen Eltern erzählen, dass er mich mit den Burschen beim Kegelspiel gesehen hat. Mein Vater wäre sicher sehr zornig.« Sie warf Guido einen mitleidheischenden Blick zu. »Vielleicht wirft er mich sogar aus dem Haus.« Er grinste zufrieden. »Darum hast du ihm heut den Weg abgepasst?« Sie nickte. »Falls deine Eltern dich aus dem Haus werfen wollen, kommst du zu mir!«, bot er ihr an. Aber damit schien sie sich nicht zufrieden zu geben. »So nicht, Guido! Wenn ich zu dir komme, dann sollen mir meine Eltern schon etwas mitgeben! Wenn ich von daheim so viel bekomme, dass wir dein altes Haus in Stand setzen können, wird auch deine Mutter nichts mehr einzuwenden haben.« Das leuchtete ihm ein. »Bist eine Schlaue, du!«, grinste er. »Aber ich mache mir Sorgen, dass der Flussmeister uns dazwischenkommen könnte,« sagte Julia mit bekümmertem Gesicht. »Was, wenn er es doch meinen Eltern erzählt? Dann werfen sie mich aus dem Haus, und sicher enterbt mich mein Vater, und dann habe ich überhaupt nichts. Wenn dieser Falkner nur von hier weggehen würde!« »Aber das macht er sicher nicht.« Julia trat ganz dicht an Guido heran und murmelte: »Wenn wir es geschickt anstellen, vielleicht doch. Ich habe schon einen Plan, wie das 84
gehen könnte, aber ich muss ihn erst noch richtig durchdenken. Aber dieser Plan geht nur dann, wenn du mir dabei hilfst, Guido.« »Ich tu alles für dich, Julia!«, rief Guido und sah nicht das heimtückische Aufleuchten in ihren Augen. Plötzlich riss er sie in seine Arme und versuchte sie zu küssen. Diesmal ließ sie es geschehen.
Leise, wie ein Dieb, schlich sich Julia daheim ins Haus. Sie hatte sich gestreckt, um einen Blick durchs Fenster in die beleuchtete Stube zu werfen, konnte aber niemand sehen. Offenbar hatte man also doch das Licht zu löschen vergessen. Desto überraschter war sie, als plötzlich die Stubentür aufging und der Vater auf der Schwelle stand, und zwar genau in dem Augenblick, als sie gerade daran vorbeischleichen wollte. »Komm einen Augenblick herein zu mir!«, sagte er. Sie folgte ihm in die Stube. Er schaute sie forschend an. »Wo kommst du denn so spät noch her?«, fragte er sie. »Ich bin noch ein bisschen spazieren gegangen.« Man sah ihm an, dass er das nicht glauben wollte. »Komisch!«, knurrte er. »Was gäbe ich darum, wenn du nur einmal die Wahrheit sagen würdest, auch wenn sie noch so bitter wäre!« »Was willst du denn wissen?«, fragte sie trotzig. »Wo du dich heute herumgetrieben hast!« »Nirgends und überall«, antwortete sie gleichmütig. »Ich bin spazieren gegangen, bis zum Fluss hinab, dort habe ich den Flussmeister auf dem Dammweg getroffen, der gerade von seinem Streckengang heimkam. Wir haben uns verplaudert, und so ist es ein bisschen spät geworden.« Seine Augen lagen immer noch forschend auf ihrem Gesicht. »Das ließe sich eventuell nachprüfen«, meinte er und warnte sie damit zugleich. »Man brauchte nur den Falkner zu fragen.« 85
»Bitte! Es ist mir sogar recht, wenn du es dir bestätigen lässt. Anders wird mir ja doch nicht geglaubt!« »Das ist deine eigene Schuld!« Sie schaute ihm herausfordernd ins Gesicht, ohne etwas darauf zu erwidern. »Nach allem, was wir mit dir erlebt haben, wissen wir nicht mehr, was wir dir glauben können!«, fuhr er fort. Sie sagte noch immer nichts. »Ich meine, wir haben es deutlich genug gezeigt, dass wir keine Rabeneltern sind, die ihre Kinder einfach aus dem Nest werfen, obwohl du unsere Geduld bis zum Überdruss auf die Probe gestellt hast, darüber gib's wohl keinen Zweifel. Oder?« Sie schwieg. »Niemand hat dir die Tür gewiesen, als du wieder heimgekommen bist. Heimlich haben wir gehofft, dass du jetzt vielleicht doch vernünftig geworden bist. Dass du in letzter Zeit so tüchtig mitarbeitest, darüber freuen wir uns sehr. Das wollte ich dir heute noch sagen, darum habe ich auf dich gewartet.« Er wandte sich jetzt ab und machte ein paar Schritte durch die Stube. »Du möchtest dich doch auch einmal anständig verheiraten?«, setzte er seine Rede fort. »Dazu braucht man einen besseren Ruf, als du ihn jetzt hast. Aber das kann sich im Lauf der Zeit von alleine regeln, wenn die Leute keinen Grund mehr haben, über dich zu tratschen. Wir verzeihen dir jedenfalls gern alles, was gewesen ist, wenn wir sehen, dass du nun einen besseren Weg einschlägst.« Es war nicht zu erkennen, welche Wirkung seine Worte auf sie hatten. Ihr Gesicht blieb verschlossen. Sie schaute ihm abwartend nach, als er mit schweren Schritten durch die Stube ging. Dann wandte er ihr plötzlich wieder seinen Blick zu. »Dass du mit dem schwachsinnigen Guido irgendein übles Spiel treibst, will ich doch nicht annehmen?«, fragte er plötzlich. Diesmal reagierte sie recht heftig. »Wieso?« »Du triffst dich doch hin und wieder mit ihm?« »Wenn er mir halt gerade über den Weg läuft …« 86
Ihre Antwort schien ihn nicht zu befriedigen. »Das wäre der Gipfel, wenn sich die Tochter vom Wegscheiderbauern mit einer solchen Kreatur abgeben würde!« »Was geht mich der Guido an?«, fragte sie verächtlich. »Das frage ich mich auch.« »Du glaubst doch nicht, dass ich …?« »Ich will es nicht glauben, dass du es so weit treiben könntest«, erwiderte er. Sie sagte nichts mehr. »Geh jetzt in dein Bett. Ich hoffe, wir haben uns verstanden?« Sie nickte. »Gute Nacht!« Leise zog sie die Tür hinter sich zu. Der Bauer atmete tief ein.
8
F
elix Falkner stand vor dem geöffneten Schrank und las noch einmal seinen Bericht durch, ehe er ihn einsteckte. Er nahm die Lohnliste und andere Niederschriften an sich, machte den Schrank zu und drehte den Schlüssel um. Es war am frühen Morgen, die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Himmel erglänzte bereits von den Strahlen, die sie vorausschickte. Der neue Tag versprach schönes und trockenes Wetter. Auf dem Tisch stand das Frühstück, das Sabine eben hereingebracht hatte. Außerdem hatte sie ein paar Brote gerichtet und eingewickelt, die er immer mitnahm, wenn er zum Flussamt in die Stadt fuhr. »Der Kaffee wird kalt!«, mahnte sie, als er sich immer noch nicht an den Tisch setzte. »Das schadet nichts«, meinte er. »Ich bin gleich so weit.« Es dauerte noch einen Moment, weil gerade die Arbeiter kamen und aus dem Ge87
räteschuppen ihre Werkzeuge holten. Er ging hinaus, um dem Vorarbeiter seine Anweisungen für die Arbeiten zu geben, die an diesem Tag zu verrichten waren. Dann erst nahm er sein Frühstück ein und machte sich nebenbei fertig. Als er so weit war, gehen zu könne, zögerte er noch, als hätte er ihr noch etwas zu sagen, wisse aber nicht, wie er damit beginnen sollte. »Gehst du heute ins Dorf?«, fragte er schließlich. »Nein, es ist nichts zu besorgen. Der Benedikt hat sich gestern einen Dorn in den Fuß getreten. Ich habe ihn zwar gleich herausgemacht, trotzdem hat sich die Wunde entzündet. Er kann also nicht so weit gehen, und ich möchte ihn nicht allein lassen.« Er nickte zustimmend. »Kann ich etwas mitbringen?« »Nein, es ist alles da.« »Gut. – Was ich noch sagen wollte: Es kann sein, dass die ältere Wegscheidertochter einen Besuch machen wird. Nur, dass du davon weißt.« Sie war überrascht und schaute ihn fragend an. Er lächelte verständnisvoll. »Ihr Besuch gilt nicht mir, Sabine!« »Wem dann?«, fragte sie. »Dir!« Nun wurden ihre Augen noch größer. »Mir? – Das ist doch nicht möglich. Ich kenne sie ja gar nicht!« »Gerade deshalb wahrscheinlich. Im Dorf will niemand mehr mit ihr zu tun haben«, erklärte er. »Neulich habe ich sie abends getroffen. Sie stand zufällig auf dem Damm, anscheinend war sie im Dorf gewesen. Wir gingen ein Stück bis zur Brücke miteinander, und da verriet sie mir, dass sie gern mit dir bekannt werden möchte, weil sie praktisch keinen Menschen hat, mit dem sie einmal ein Wort sprechen kann. Ich habe ihr natürlich gesagt, dass du selbst entscheiden musst, ob du das willst oder nicht. Es ist ihr ohne weiteres zuzutrauen, dass sie plötzlich vor der Tür steht.« »Ich verstehe nicht, wieso sie das unbedingt will!«, sagte Sabine verwirrt. »Im Grunde genommen verstehe ich es auch nicht, Sabine. Aber vielleicht glaubt sie, sich so mit ihrer künftigen Schwägerin gut stellen zu 88
können. Ihrer Meinung nach will der junge Wegscheider dich tatsächlich einmal als Bäuerin auf seinen Hof holen.« Sie starrte ihn an. Er lächelte etwas verlegen. »Natürlich wird auch das nur von deiner Entscheidung abhängen«, sagte er dann. »Darüber habe ich bereits entschieden!«, antwortete sie jetzt mit fester Stimme. »Manfred scheint mich auch verstanden zu haben, denn seitdem ist er nicht mehr gekommen.« Er zuckte die Schulter. »Freilich darf man nicht alles für bare Münze nehmen, was diese Julia erzählt. Aber welcher junge Mann, der über beide Ohren in ein Mädchen verliebt ist, gibt sich schon beim ersten Mal geschlagen?« »Ich bleibe, was ich bin!« Es klang hart und entschlossen. Er schaute sie überrascht an. »Haushälterin beim Flussmeister?« »Solange ich als solche benötigt werde.« Sie schauten sich eine Weile stumm und ernst an. »So sehr hängst du an dem kleinen Benedikt?«, fragt er dann. »Ja, er braucht mich, auf alle Fälle so lange, bis du wieder heiratest.« Abermals schaute er sie eine Weile schweigend an. »Dann erst darf der junge Wegscheider zu dir kommen?«, fragte er zögernd. Aber sie schüttelte den Kopf. »Dann gehe ich wieder fort.« »Dazu wird es nicht kommen, Sabine, wenigstens soweit es an mir liegt! Und was würde Benedikt sagen, wenn ich ihm eine neue Mutter gäbe, die anders aussieht als du?« Sie ging zum Tisch, um mit dem Abräumen zu beginnen. »Das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Aber du weißt, dass er dich liebt!« »Ich nehme es an.« »Dann weißt du auch, was er sagen würde, wenn seine neue Mutter aussehen würde wie du!« Ihre Hände zitterten, sodass sie das Geschirr auf den Tisch zurückstellen musste, das sie bereits aufgenommen hatte. Er merkte es und näherte sich ihr. »Nicht erschrecken, Sabine, ich rede dummes Zeug! 89
Ich bin dir einfach nur dankbar für jeden Tag, den du hier bleibst. Ich muss es auch für den Benedikt sein, denn er ist noch zu klein, um zu begreifen, dass das auch einmal vorbei sein könnte. Er meint, es müsste so sein und so bleiben, wie es heute – Gott sei Dank! – bei uns ist! Also, mach's gut, Sabine! Bis zum Abend!« Er ging jetzt rasch davon. Schon gleich darauf knatterte der Motor seines Motorrades. Sie stand am Fenster und schaute ihm nach, als er scharf die Kurve nahm und auf dem Weg davonfuhr.
Am Abend, bevor Sabine den kleinen Benedikt ins Bett brachte, kümmerte sie sich noch um seine verletzte Ferse. Sie reinigte den Fuß, strich frische Salbe auf und wollte den Verband erneuern. Da läutete plötzlich die Türglocke. Bevor Sabine hinausging, um zu öffnen, schaute sie erst durch das Fenster. Die Arbeiter vom Fluss hatten schon vor einer Weile ihre Werkzeuge und Geräte in den Schuppen zurückgebracht und waren in den Feierabend gegangen. Der Vorarbeiter hatte den Schlüssel hereingereicht, eine gute Nacht gewünscht und sich mit den anderen auf den Heimweg gemacht. Draußen stand Julia. »Lass deinen Fuß so liegen, Benedikt, ich muss bloß schnell die Tür aufschließen!«, sagte Sabine. »Ist's der Vater?«, fragte der Bub. »Nein, jemand anders.« Sie ging hinaus und öffnete die Tür. Julia lächelte ihr freundlich und – so schien es Sabine – ein wenig verlegen entgegen, sagte guten Abend und fragte, ob sie kurz hereinkommen dürfte. »Bitte!«, lud Sabine sie ein und führte sie in die Stube. Sie wollte ihre Überraschung und ihr Misstrauen verbergen, aber es gelang ihr nicht ganz. Die Wegscheidertochter hatte sich so flott hergerichtet, dass es 90
für einen bloßen Nachbarschaftsbesuch fast ein bisschen übertrieben wirkte. Das Kleid, das sie anhatte, war von modischem Schnitt und betonte ihre Figur. Um den Hals hatte sie eine Kette mit einem Medaillon. Ihre sonst ein wenig wilde Frisur hatte sie locker hochgebunden und an ihren Ohren schimmerten goldene Ringe. Sabine bot ihr Platz auf einem Stuhl an und beschäftigte sich wieder mit dem kleinen Benedikt, an dessen Fuß sie jetzt einen Verband anlegte. Befremdet und misstrauisch betrachtete der Bub den Gast. »Was ist ihm denn passiert?«, fragte Julia. »Einen Dorn hat er sich eingetreten«, berichtete Sabine. »Oh je! Steckt er noch drin?« »Nein, ich habe ihn schon herausgemacht, trotzdem eitert die Wunde noch.« »Der arme Kerl!«, sagte die Besucherin und machte ein recht mitleidiges Gesicht. »Es ist nicht mehr so schlimm, was, Benedikt?«, meinte Sabine. Benedikt schüttelte den Kopf, ließ aber die fremde Frau nicht aus den Augen, während sein Fuß eingebunden wurde. Julia lächelte ihm wohlwollend und freundlich zu, fand aber keine Erwiderung. »Er ist eigentlich ein recht armes Kind«, sagte sie schließlich. »Gut, dass er es noch nicht so versteht.« »Wieso?«, fragte Sabine. »Ich meine, so klein und schon keine Mutter mehr!« »Das ist natürlich schlimm.« Julia kam plötzlich heran und streichelte dem Buben über das Haar, aber er zog sofort den Kopf weg und schaute sie abweisend an. »Gefalle ich dir nicht?«, lachte sie. »Oder kannst du mich nicht leiden?« Der Bub wandte sich seiner Betreuerin zu und schaute sie hilflos an. »Er kommt selten unter Menschen, darum fremdelt er ein bisschen. Er kennt nur die Leute, die hier täglich ein- und ausgehen«, klärte Sabine sie zu seiner Entschuldigung auf. Dann hob sie ihn vom Stuhl und stellte ihn auf die Füße. »So, mein kleiner Mann, jetzt gehen wir ins Bett!« »So früh schon?«, wunderte sich der Gast. 91
»Kleine Kinder gehören zeitig ins Bett, nicht wahr, Benedikt? So – und jetzt sage der Julia schön gute Nacht!« Etwas zögernd streckte er dem fremden Mädchen die Hand hin, entzog sie ihr jedoch sehr rasch wieder und hängte sich an Sabine. »Bitte, nehmen Sie Platz! Ich komme gleich zurück«, sagte Sabine und ging mit dem Kind weg. Die Wegscheidertochter schaute ihnen missgünstig nach. Der kleine Benedikt war es gewöhnt, dass Sabine noch ein wenig an seinem Bett sitzen blieb, ihm noch eine Geschichte erzählte und mit ihm ein Gebet sprach. Darauf wollte er auch heute nicht verzichten, und Sabine sah nicht ein, warum sie ihren Schützling wegen dieser fremden Frau um diese kleine Freude bringen sollte. Sie musste eben warten, es war sicher sowieso nichts Wünschenswertes von ihrem Besuch zu erhoffen. »Was will denn die bei uns?«, fragte der Bub. »Das weiß ich auch nicht, Benedikt.« Er schaute sie mit seinen Kinderaugen fast ängstlich an. »Sabine, du bleibst aber schon bei uns?« »Aber freilich! Warum sollte ich nicht bleiben?« »Nicht, dass die für dich hierher kommt!« Sie schüttelte verwundert den Kopf. »Wie kommst du denn darauf?« »Weil sie mich so komisch angelacht hat!« »Du hast ihr halt gefallen, und vielleicht meint sie es gut mit dir.« »Ich mag sie überhaupt nicht!«, sagte er trotzig. »Warum nicht? Sie hat dir doch nichts getan!« »Ich mag bloß dich!« »Das ist aber nicht ganz richtig, Benedikt! Man muss alle Menschen gern haben!« »Das kann ich aber nicht! Ich mag bloß dich und den Vater.« Sie saß an seinem Bettchen und streichelte über sein Haar. Ihr Blicke hingen gedankenverloren am Fenster, durch das noch das letzte Tageslicht hereindrang. »Warum schaust du so?«, fragte er, nachdem er sie eine Weile beobachtet hatte. 92
Sie lachte ihm zu. »Schau ich nicht richtig?« »An was denkst du?« »Ich? – Ich habe mir eben gedacht, wenn dein Fuß morgen noch nicht besser ist, rede ich mit deinem Vater, und dann besuchen wir einmal den Onkel Doktor …« Unterdessen saß die Wegscheider-Julia allein in der Wohnstube und schaute sich aufmerksam darin um. Es war das erste Mal, dass sie hier war. Jeden einzelnen Gegenstand unterzog sie einer genauen Betrachtung und stellte fest, dass alles blitzsauber war. Über den Tisch in der Ecke war eine saubere bunte Decke geworfen, eine Blumenvase stand darauf mit frisch geschnittenen Rosen. Darüber hing ein Kruzifix, das noch mit verdorrten Weidenkätzchen, wahrscheinlich vom Palmsonntag her, geschmückt war. Über den Boden waren schmale buntgewebte Läufer gelegt. Da entdeckte sie einen Schrank, der schwer und breit zwischen den beiden Fenstern an der Wand stand. Es war ein Sekretär, an dem ein Schreibpult herabgelassen werden konnte. Hier verwahrte der Flussmeister seine geschäftlichen Unterlagen und wohl auch das Geld, das er an seine Arbeiter auszuzahlen hatte. Auf dem Schrank standen einige Ordner, die er anscheinend jederzeit griffbereit zur Hand haben wollte. Sie stellte fest, dass am Schrank der Schlüssel steckte … Was für eine Gelegenheit! Sie horchte in das Haus. Nichts rührte sich, kein Schritt, keine Stimme. Nur das Rauschen der Saalach, die weiter droben durch die Enge herabstürzte. Im Nu war das Mädchen am Schrank und öffnete das Schreibbrett, warf einen Blick auf die kleinen Schubladen, die rechts und links übereinander das Innere füllten. Die Schubladen waren nicht verschließbar, sondern hatten nur einen Messingknopf, an dem man sie auf- und zuschieben konnte. Ein paar waren leer, in anderen befanden sich Unterlagen, Belege, Listen und anderer Papierkram. Julia schloss den Schrank zu, zog den Schlüssel ab und ließ ihn in ihrer Tasche verschwinden. In ihren dunklen Augen war ein gefährlicher Glanz. Als Sabine bald darauf zurückkehrte, saß Julia unschuldig auf ihrem Stuhl und schaute ihr lächelnd entgegen. 93
»Er ist es gewöhnt, dass ich immer noch ein wenig an seinem Bett sitzen bleibe«, entschuldigte Sabine ihr langes Wegbleiben. »Ich glaube, in diesem Punkt habe ich ihn ein wenig verwöhnt.« »Das ist doch nicht schlimm«, meinte Julia und richtete ihr Kleid. »Ich würde es auch nicht anders machen.« Sabine räumte noch die Salbe und Binde weg. Dann machte sie Licht, weil es jetzt zu dunkeln anfing. »Der Flussmeister ist wohl noch gar nicht daheim?«, fragte die Julia. »Nein, er ist in die Stadt gefahren, um Bericht zu erstatten und die Abrechnungen für die Löhne vorzulegen. Er kommt ganz unterschiedlich zurück, je nachdem, wie viel es zu besprechen gibt. Ich kann Ihnen also nicht sagen, wann er eintreffen wird, falls Sie zu ihm persönlich wollten.« Sie trug ihr Handarbeitskörbchen zum Tisch, setzte sich und begann mit ihrer abendlichen Beschäftigung. »Nein, nein, ich wollte nicht den Flussmeister aufsuchen, sondern Sie, Sabine!«, erläuterte die Wegscheidertochter und rückte ihren Stuhl näher an den Tisch heran. »Ist etwas Besonderes?«, fragte Sabine und beobachtete das Gesicht der Besucherin. »Eigentlich nicht. Ich wollte nur, dass wir uns ein bisschen näher kennen lernen. Das habe ich auch dem Flussmeister gesagt, als er mir einmal zufällig auf dem Dammweg begegnete. Hat er nichts davon erzählt?« »Doch, ich kann mich erinnern, dass er etwas gesagt hat.« »Um es gleich vorweg zu sagen: Ich fühle mich manchmal furchtbar einsam und verlassen«, fuhr Julia fort und spielte verlegen mit der bunten Tischdecke. »Sie wundern sich vielleicht darüber, weil wir daheim auf dem Hof genug Leute sind. Aber was hat man von Geschwistern, wenn die einen nicht leiden können und das bei jeder Gelegenheit zeigen? Haben Sie auch Geschwister, Sabine?« »Nein, ich bin ein Einzelkind.« »Dann wissen Sie auch nicht, wie ›gut‹ Geschwister es meinen können. Außerdem, am Tag wird gearbeitet, und abends geht man früh 94
ins Bett. Der eine mag das so, der andere nicht. Ich möchte wenigstens manchmal noch eine kleine menschliche Aussprache. Der Weg ins Dorf ist mir aber zu weit, drum habe ich mir gedacht, ob wir uns nicht hin und wieder ein bisschen zusammensetzen könnten. Sie sind doch am Abend, wenn Sie Benedikt ins Bett gebracht haben, auch viel allein, wenn der Flussmeister noch unterwegs ist. Die Tage werden immer kürzer, und wie gesagt, ich mag nicht immer mit den Hühnern schlafen gehen. Ich würde beispielsweise gerne auch ein bisschen handarbeiten, so wie Sie. Aber bei uns hat niemand Interesse daran. Wie wär's, wenn ich mal etwas mitbringen würde, Strick- oder Stickzeug?« »Ich bin hier nur die Haushälterin, wenn Sie es so nennen wollen«, entgegnete Sabine, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen. »Ich habe kein Recht, Gäste ins Haus einzuladen, ohne den Flussmeister zuvor um Erlaubnis zu fragen.« »Das habe ich bereits getan«, fiel die Wegscheidertochter ihr rasch ins Wort. »Er hat nichts dagegen und meinte, die Entscheidung läge ganz bei Ihnen, Sabine.« Ihre Blicke begegneten sich jetzt, hafteten eine Weile aneinander, fragend, forschend, misstrauisch. Sabine hatte das unbehagliche Gefühl, dass Julia etwas völlig anderes im Sinn hatte als das, was sie gesagt hatte, und sie hier nur das Mittel zum Zweck sein sollte. Aber zu welchem Zweck? »Ich kann mir schon vorstellen, warum Ihnen Bedenken kommen«, fuhr die Besucherin fort und tastete mit den Fingern die Zeichnungen in der Tischdecke nach. »Ich bin ein bisschen in Verruf gekommen, weil ich damals von daheim weggelaufen bin. Man hat mir unschöne Dinge nachgesagt. Sicher haben Sie schon davon gehört, aber ich versichere Ihnen, dass die Leute maßlos übertreiben. Ich habe mich durch die Versprechungen eines jungen Mannes locken und verführen lassen, aber dann meinen Fehler erkannt, und nun bin ich wieder hier. Bin ich deswegen ein schlechter Mensch?« Sie wartete auf eine Antwort. Aber die kam nicht. »Das Schlimmste daran ist, dass die eigenen Eltern und Geschwister als Erste über mich den Stab gebrochen haben. Ich galt als Verlorene«, 95
nahm Julia ihre Rede wieder auf. »Aber ich selbst kam mir gar nicht so verloren vor. Was hatte ich denn verbrochen? Da war ein junger Mann im Ort, der verbrachte seinen Sommerurlaub hier. Er hat sich als Ingenieur ausgegeben. Ich lernte ihn bei einem Trachtenfest kennen. Plötzlich stand er vor mir und holte mich zum Tanz. So hat es angefangen. Wir trafen uns bald jeden Abend, machten weite Spaziergänge oder manchmal auch einen Ausflug mit dem Auto. Ich war verliebt und sehr glücklich. Als meine Eltern davon erfahren haben, haben sie mir den weiteren Umgang mit dem jungen Mann untersagt, obwohl ich schon volljährig war. Der Vater schlug mir ins Gesicht, nannte mich eine Dirne und jagte mich zur Stube hinaus. In der Nacht habe ich heimlich das Haus verlassen, und am anderen Tag bin ich mit meinem Geliebten davongefahren. Ich habe wirklich geglaubt, dass er es ernst mit unserer Liebe meint. Aber er war ein Schuft. Nach einiger Zeit hat er sich einfach aus dem Staub gemacht. Ich hab nie mehr etwas von ihm gehört. Ein paar Jahre habe ich mich in der Fremde durchgeschlagen, weil ich nicht heimzukommen gewagt habe. Aber Sehnsucht nach Zuhause habe ich schon gehabt, und sie wurde immer stärker. Aus diesem Grund bin ich dann doch noch heimgekehrt. Zuerst hat man mich wie eine Verbrecherin behandelt, die aus dem Zuchthaus heimkommt. Niemand hat ein Wort mit mir gesprochen, man ist mir ausgewichen, als hätte ich die Pest. Aber ich habe mich bemüht, sie wieder zu versöhnen, und besonders hart gearbeitet, um ihnen zu zeigen, dass ich gerne wieder ein Teil der Familie sein will. Neulich hat mich der Vater sogar in die Stube gerufen, um sich mit mir auszusprechen. Ich meine, es ist nun alles gut.« Eine Weile blieb es still, als lausche sie auf das Rauschen des Flusses. Vor den Fenstern stand jetzt die Nacht. »Nun kennen Sie mich, Sabine«, begann die Wegscheidertochter wieder zu sprechen. »Ich weiß natürlich nicht, wie Sie über mich urteilen, aber nach allem, was ich so von Ihnen gehört habe, sind Sie ein sehr vernünftiges Mädchen, sodass ich hoffe, Sie brechen nicht vorschnell den Stab über mich. Vor allem haben Sie keine großen Bezie96
hungen zum Dorf. Dort werde ich nämlich immer noch als das Miststück betrachtet, das den Eltern so viel Ärger bereitet hat. Gerade an einer Freundschaft mit Ihnen würde mir sehr liegen!« »Von wem wollen Sie denn wissen, dass ich vernünftig bin?«, fragte Sabine. »Die Leute haben über jeden etwas zu reden, auch über Sie! Sie werden im Ort sehr gelobt. Natürlich schon deshalb, weil der Pfarrer, mit dem Sie ja in Verbindung stehen, Sie hergebracht hat. Vielleicht legen Sie, wenn wir uns erst einmal etwas besser kennen gelernt haben, ein gutes Wort für mich ein bei dem geistlichen Herrn? Dafür könnte ich Ihnen nicht genug danken.« Es war schwer festzustellen, ob sie das im Ernst oder nur im Spott meinte. »Die Hauptsache ist jedenfalls, dass Sie das ganze Vertrauen des Flussmeisters besitzen«, fuhr die Julia im gleichen Ton fort. »Woher wollen Sie das wissen?« »Von ihm selbst!«, triumphierte die Besucherin. »Ich weiß sogar noch mehr: Nämlich, dass Sie auch bei uns auf dem Wegscheiderhof einen guten Freund haben!« Sabine schaute auf. Julia kicherte. »Es gibt dort einen jungen Mann, der total in Sie verliebt ist und Sie am liebsten gleich zur Bäuerin machen würde. Wirklich, Sabine, Sie brauchten nur zu wollen! Mein Bruder hat bei den Eltern schon immer alles durchgesetzt.« »Darüber möchte ich jetzt nicht sprechen!«, erwiderte Sabine abweisend. »Warum nicht?« »Weil es keinen Sinn hat!«, erwiderte Sabine nachdrücklich. Die Wegscheidertochter kniff die Augenlider zusammen. »Alles hat seinen Sinn, Sabine! Und wenn es nur der wäre, dass Sie damit ein paar böse Mäuler stopfen, die Gerüchte über Sie verbreiten.« Sabine schaute auf. »Was sollen das für Gerüchte sein?« »Gerüchte gibt es in jedem Dorf und über jeden Menschen. Schauen Sie, Sabine, der Flussmeister ist ein junger Mann, Sie leben mit ihm 97
zusammen und Sie schlafen mit ihm unter einem Dach. Sie glauben nicht, wie schnell da eine Verleumdung zusammenkommt!« »Das kann nicht wahr sein!«, flüsterte Sabine und wurde blass. »Sie glauben nicht, wie böse und gemein manche Menschen denken. Aber wenn nun bekannt werden würde, dass sich zwischen dem Sohn der Wegscheiders und der Haushälterin des Flussmeisters etwas anbahnt, wäre es damit schnell vorbei. Verstehen Sie mich?« Sabine wollten diesen Reden nicht mehr weiter folgen. Sie überlegte noch einmal gründlich, was sie da gehört hatte. Ihr erster Gedanke war, dass sie zunächst mit dem Flussmeister sprechen müsste, und dann wollte sie auch den Pfarrer zu Rate ziehen. Es ging schließlich nicht nur um ihren Ruf allein, sondern auch um das Ansehen und die Ehre Felix Falkners. In diesem Augenblick erklang vor dem Haus Motorlärm. Durch die Fensterscheiben huschte das Licht eines Scheinwerfers. Der Flussmeister war heimgekehrt. Der Scheinwerfer erlosch, eine Weile blieb es still, dann hörte man seinen schweren Schritt vor der Tür. Gleich darauf kam er in die Stube. »Ach, ist Besuch da?«, sagte er gut gelaunt und legte seinen Hut ab. »Ich habe mir erlaubt, Sabine ein wenig Gesellschaft zu leisten«, erwiderte Julia und erhob sich sofort. »Bitte, bleiben Sie ruhig sitzen! Sie stören nicht!« Sabine legte ihre Handarbeit weg und schickte sich an, Felix das Essen zu bereiten und aufzutragen. »Später, Sabine!«, sagte er. »Ich bin nicht hungrig und esse lieber nachher noch eine Kleinigkeit. Was macht der kranke Fuß vom Benedikt?« »Er eitert immer noch.« »Meinst du nicht, wir sollten mit ihm zum Doktor gehen?« »Das wollte ich heute schon fragen. Er sagt zwar, dass es nicht mehr wehtut, aber die Wunde ist entzündet.« Er nickte, holte seine Brieftasche aus der Jacke und ging zum Schrank. Als er den Schlüssel nicht sah, griff er in seine Taschen. »Habe ich denn den Schlüssel heute Morgen abgezogen?«, fragte er. 98
Sabine hatte am Morgen nicht darauf geachtet, und wusste es nicht. Julia stand bescheiden und abwartend daneben. Er durchsuchte alle seine Taschen ohne den Schlüssel zu finden, und wandte sich nochmals an seine Haushälterin. »Hast du ihn vielleicht genommen, Sabine?« »Nein.« »Oder gar der Benedikt?« »Das ist nicht möglich, er kann ihn ja gar nicht erreichen.« Er nickte. »Wo hab ich ihn dann hingesteckt? – Nun, er wird sich wieder finden.« »Das Haus verliert nichts«, lächelte die Besucherin. »Das sage ich auch«, erwiderte er und griff noch einmal in alle seine Taschen. »Nichts zu machen!« Er steckte die dick gefüllte Brieftasche wieder ein. Sie enthielt nach seinen Besuchen in der Stadt immer viel Bargeld, das für die Auszahlung der Vorschüsse benötigt wurde. Darauf wandte er sich an die Wegscheidertochter. »Es gibt Nebel heute Nacht und ist stockfinster.« »Ich finde schon heim«, meinte sie lächelnd. »Ja? Fürchten Sie sich nicht?« »Ich glaub nicht, dass mir jemand etwas tut!« Er zuckte die Schultern. »Ich gehe ein Stück mit Ihnen«, entschloss er sich und griff nach seinem Hut. Julia reichte Sabine, die schweigend und abwartend dabeigestanden hatte, freundschaftlich die Hand. »Ich komme bald wieder, wenn ich darf!«, sagte die Wegscheidertochter. »Haben Sie kein Tuch für den Kopf?«, fragte Felix. »Es ist feuchter und kalter Nebel draußen!« »Als ich daheim weggegangen bin, war noch nichts davon zu merken.« Falkner wandte sich an Sabine: »Kannst du ihr ein Tuch leihen, bitte?« Sabine ging zur Kommode und brachte, worum er sie gebeten hat99
te. Julia band es um ihren Kopf. »Ich bring’s in den nächsten Tagen zurück.« »Ich bin bald wieder da, Sabine«, sagte er. Dann gingen sie. Sabine schaute noch einmal nach dem Kind und betrat leise die Kammer. Sie machte kein Licht und näherte sich im schwachen Schein, der durch die Tür vom Gang hereinfiel, dem Bettchen. Der Bub schlief, sein Atem ging fast lautlos. Sie befühlte seinen Hals und stellte mit Erleichterung fest, dass er kein Fieber hatte. Sie schlich sich wieder davon und ging in die Küche, um für das verspätete Essen zu sorgen. Sie war beunruhigt und hatte das Gefühl, als ob das Leben in diesem Haus eine unheilvolle Wende genommen hätte. Sie mochte Julia nicht, ihre Freundlichkeit kam ihr aufgesetzt und falsch vor. Außerdem konnte sie überlegen so lange und so viel sie wollte, sie fand keine Erklärung dafür, was diese Frau auf einmal bei ihnen wollte. Die Ausrede, dass sie sich einsam fühle und bei ihr ein wenig Geselligkeit suche, war gar zu fadenscheinig gewesen. Wieso sollte Julia plötzlich nichts mehr mit sich anzufangen wissen? Sabine konnte sich nur vorstellen, dass sie es auf Felix Falkner abgesehen hatte. Der Flussmeister war Witwer, er hatte ein Kind und musste früher oder später wieder heiraten. Wie schlau hatte sie es angefangen, dass er sie heute noch heimbegleiten musste, wenn er nicht als unhöflich und rücksichtslos gelten wollte. Sie hatte genau gewusst, dass in dieser Nacht dichter Nebel einfallen würde, er war schon wie eine Fahne über dem Lauf des Flusses gelegen, als sie am Abend gekommen war. Trotzdem hatte sie gewartet, bis der Flussmeister heimkehrte. Auch dass sie sich für ihren Besuch so aufgeputzt hatte, ergab so auf einmal einen Sinn. Nicht Sabine hatte sie damit beeindrucken wollen, sondern Felix. Ob es ihr wohl gelungen war? Sabine hatte ihren eigenen Begriff von Schönheit, und für diese Art von Schönheit war es nicht nötig, sich so aufzutakeln. Die musste von innen kommen, und aus dieser Perspektive konnte sie Julia nicht viel abgewinnen. 100
Felix Falkner wusste über die Wegscheider-Julia vielleicht mehr als viele andere. Sicher ließ er sich nicht so einfach von ihr einwickeln. Damit wollte Sabine sich trösten, fand aber dennoch keine Ruhe. Er kam lange nicht zurück, und sie nahm an, dass er bis zum Berghof mitgegangen war. Vielleicht aber kamen sie beim Nebel nicht so schnell voran? Sie musste das fertige Essen warm stellen. Sie deckte gerade den Tisch, als sie endlich seinen schweren Schritt hörte. Sein Gesicht war von der kalten Luft gerötet, an seinen Augenlidern schimmerte die Nebelnässe. »Wer es immer noch nicht glauben will, dass wir mitten im Herbst stehen, der braucht heute bloß durch den Nebel zu gehen!«, sagte er fröhlich, legte Hut und Jacke ab und schlüpfte aus den Stiefeln. Sabine trug sofort das Essen auf. »Jetzt habe ich doch noch einen Mordshunger bekommen!«, sagte er und langte kräftig zu. »Bist eigentlich ein geplagtes Geschöpf, Sabine! Bis in die späte Nacht hinein musst du in der Küche werkeln, bloß, weil der Herr Flussmeister nicht heimkommt!« »Das ist nicht weiter schlimm!« »Setz dich her zu mir, wir wollen noch ein paar Worte miteinander sprechen!« Sie zog sich einen Stuhl hervor und ließ sich darauf nieder. Er beobachtete ihr Gesicht und fand es nicht so heiter und zufrieden wie sonst. »Was fehlt, Sabine? Hast du Sorgen?« »Nein, was sollte ich für Sorgen haben?« »Vielleicht mit dem Benedikt? Macht der Fuß wirklich Probleme?« »Ich glaub's nicht. Vorhin war ich bei ihm, er schläft fest und hat kein Fieber.« »Dann wird es schon wieder vergehen. Lieber Himmel, was habe ich als kleiner Junge für Verletzungen heimgebracht! Kein Mensch hat sich darum gekümmert!« »Ich möchte nur nicht unvorsichtig sein!« »Das weiß ich, Sabine. Wenn du meinst, dass es notwendig ist, einen Arzt aufzusuchen, ich habe gewiss nichts dagegen und verlasse mich ganz auf dich.« 101
Sie wunderte sich, dass er nichts über Julias Besuch erwähnte. War es ihm so gleichgültig? Oder wollte er nicht darüber sprechen? Erst als er mit dem Essen fertig war und den Teller zurückgeschoben hatte, begann er: »Wie bist du mit deinem Besuch zurechtgekommen?« Sie schaute ihn erstaunt an. »Mit meinem Besuch?« Er lachte. »Nimmst du vielleicht an, dass er mir gegolten hat?« »Ich habe überhaupt nichts angenommen«, erwiderte sie hart. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, welches Interesse sie an mir haben sollte.« Er holte seine kurze Pfeife und den Tabak. »Vielleicht an mir?«, fragte er heiter. »Das weiß ich nicht.« Er stopfte seine Pfeife und zündete sie umständlich an. »Sie sieht in dir ihre zukünftige Schwägerin«, sagte er nebenbei. »Das ist ja Unsinn!« »Wirklich? So unsinnig finde ich es nicht einmal. Der Jungbauer da droben wirft bestimmt nicht gleich die Flinte ins Korn, Sabine! Das darfst du mir glauben. Der Bursche hat es sich in den Kopf gesetzt, dich zu seiner Frau zu machen. Für dich sind das bestimmt keine schlechten Aussichten; der Wegscheiderhof zählt zu den größten Anwesen hier.« »Warum fängst du immer wieder davon an?«, fragte sie gereizter, als es sonst ihre Art war. »Willst du mich am Ende loshaben?« Er war überrascht. »Aber Sabine! Wie käme ich dazu? Nichts würde ich mehr bedauern, als wenn du von hier weggingst. Andererseits aber habe ich kein Recht, dich bei mir festzuhalten, wenn es um dein Glück und um deine Zukunft geht.« Sie stand plötzlich auf und wandte sich ab. Er legte seine Pfeife weg und folgte ihr. »Was hast du? Habe ich etwas Unrechtes gesagt? Dann tut es mir Leid!« Sie wandte sich nach ihm um. Ihre Augen schimmerten feucht, ihr Mund zuckte und ihre Nasenflügel bebten. Sie war erregt. »Sabine!« »Ich habe mit dem Sohn vom Wegscheider nichts zu tun und wer102
de nie etwas mit ihm zu tun haben! Das habe ich schon mehr als einmal gesagt. Wieso fängst du immer wieder davon an? Vielleicht willst du mich ja wirklich loshaben. Ist es wegen dem Gerede, das im Dorf über uns verbreitet wird? Aber ich werde mich nicht ohne weiteres verdrängen lassen, mögen sie reden, was sie wollen! Der Benedikt braucht mich!« Er erschrak über ihre Heftigkeit. »Ich glaube, du hast mich völlig missverstanden, Sabine. Ich habe dir eben gesagt, nichts würde ich mehr bedauern, als wenn du von uns fortgingst. Jawohl, der Benedikt braucht dich! Und ich? Ich brauche dich auch, Sabine. Als ich damals vor dem Leichnam meiner jungen Frau stand, glaubte ich, der Himmel müsste einstürzen. Grau und hoffnungslos lag das Leben vor mir. Es gab keinen Trost.« Seine Stimme klang gepresst. Er schaute eine Weile zu Boden, von der Erinnerung übermannt. Als er wieder aufschaute und Sabines Blick suchte, fand er, dass sie sehr bleich war. Auf ihren Wangen glänzten ein paar Tränen. »Dann bist du gekommen!«, fuhr er fort. »Nein, nein, es war kein Zufall! Es war auch nicht dein Pfarrer, der dich zu mir geschickt hat. Geschickt hat dich der gute Geist der Toten! Das habe ich schon einmal gesagt. Oder habe ich es nur gedacht, wenn ich allein im Rauschen der Saalach meine weiten Wege ging?« Er griff plötzlich nach ihren Händen. »Ich habe von dem widerlichen Geschwätz im Dorf gehört und immer Angst gehabt, du könntest deine Sachen packen und fortgehen, wenn du davon erfährst. Mir selbst macht es nichts aus. Ich habe mich um mein Kind zu kümmern und dafür zu sorgen, dass es den Verlust seiner Mutter nicht so sehr spürt. Da habe ich dir ebenfalls zu danken, Sabine, und das ist sehr viel! Es ist wie der schön geworden bei uns. Ich kann mir nur wünschen, dass es so bleiben möge. Eine Zeit lang konnte ich nicht einmal mehr das Rauschen des Wassers hören; es war wie eine Stimme aus dem Grab. Und jetzt ist es wieder so friedlich und fröhlich wie früher. Alles ist wieder voller Leben. Auch das habe ich dir zu verdanken, Sabine!« Er ließ sie los und machte ein paar Schritte durch die Stube. 103
Es dauerte noch eine Weile, bis er sich von seinen Gedanken befreit hatte. Dann stand er vor dem Schrank, griff an die Tür und versuchte sie zu öffnen. Aber das Schloss sperrte. »Ich möchte bloß wissen, wo ich den Schlüssel hingebracht habe!«, meinte er kopfschüttelnd. »Es war ja nichts drin im Schrank, was abgesperrt werden müsste! Habe ich ihn denn in Gedanken abgezogen und irgendwo hingelegt? Aber wo bloß?« Sabine wusste es nicht; sie hatte nicht Acht gegeben. Er schaute sie nachdenklich an. »Ich habe das ganze Geld für die Vorschüsse der nächsten Wochen in der Tasche. Soll ich sie denn mit mir herumschleppen?« Sie lächelte ihm zu. »Es muss doch sonst noch einen Platz im Haus geben, den man abschließen kann«, meinte sie. »Wenn der Schlüssel hier im Haus sein muss, wird er sich doch wieder finden!« »Du hast Recht. Man kann auch pedantisch und engstirnig wie ein Rhinozeros sein! Einstweilen werde ich das Geld anderswo aufbewahren, und der Schlüssel wird sich schon wieder finden.« Damit fanden sie wieder ihren heiteren Ton.
9
S
chon wenige Tage später kam Julia abermals am Abend ins Flussmeisterhaus. Der vorgeschobene Anlass dazu war die Rückgabe des Tuches, das Sabine ihr für den Heimweg geliehen hatte. Sie kam recht spät, weil es daheim viel zu tun gab und lange nicht Feierabend gemacht werden konnte. Sie war von überschwänglicher Freundlichkeit, half sogar Sabine noch bei der Arbeit und begleitete sie, als sie den kleinen Benedikt ins Bett brachte. Nur mit Mühe vermochte die Sabine ihren Widerwillen gegen Julias aufdringliche und, wie sie zu spüren glaubte, heuchlerische Freund104
lichkeit zu verbergen. Aber sie wusste nicht, wie sie es anfangen sollte, Julia loszuwerden. Am meisten ärgerte sie sich darüber, dass die Fremde so hartnäckig versuchte, den kleinen Benedikt von sich einzunehmen. Nicht, dass sie damit Erfolg gehabt hätte, was für Sabine wenigstens eine kleine Genugtuung darstellte. Benedikt mochte Julia nicht, das war ihm deutlich anzumerken. Auch diesmal wartete die Julia so lange, bis der Flussmeister heimkam. Sie setzte sich zu Sabine an den Tisch und schaute ihr bei der Handarbeit zu, redete wieder davon, dass sie selbst künftig auch mehr handarbeiten wolle und bot ihr schließlich zu ihrer unangenehmer Überraschung das Du an. »Ich möchte nämlich, dass wir gute Freundinnen werden!«, sagte sie. »Ich würde gerne öfter kommen und abends noch ein bisschen mit dir plaudern.« Sabine wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sie wollte weder du zu Julia sagen noch weitere Besuche von ihr, aber das konnte sie ihr kaum ins Gesicht sagen. Julia schien keine Notiz davon zu nehmen, dass Sabine alles andere als begeistert wirkte, und redete munter weiter. »Wo hast du das Handarbeiten gelernt?«, fragte sie. »Bei den Schwestern.« »Ach ja, du warst ja in einem Waisenhaus!« Sabine nickte. »Nächstes Mal bringe ich auch etwas mit, nur werde ich mich wahrscheinlich sehr dumm anstellen, weil ich es seit Jahren nicht mehr gemacht habe. Hilfst du mir dabei?« Sabine erklärte sich dazu bereit. Was konnte sie denn anderes tun? Zu ihrer Verwunderung stand die Wegscheidertochter plötzlich auf und band ihr Tuch um den Kopf. »Jetzt muss ich aber heim, sonst finde ich vielleicht nicht mehr durch den Nebel!« Sie verabschiedete sich rasch und versprach, bald wiederzukommen. Sabine schaute kopfschüttelnd auf die Tür, die sich hinter der Besucherin geschlossen hatte. 105
Felix Falkner kam sehr spät heim. Er war heute wieder auf Streckengang gewesen, und Sabine vermutete, dass er hernach noch das Dorfwirtshaus aufgesucht hatte, wie er es häufig tat. Als er endlich kam, schaute er etwas düster drein, so, als hätte es Ärger gegeben. Er sagte jedoch nichts, und Sabine wollte nicht fragen. Sie brachte ihm das Essen. »Etwas Neues?«, fragte er. »Nein. Der Fuß von Benedikt heilt sehr schön. Wir brauchen nicht zum Arzt zu gehen.« »Das ist erfreulich. Hast du Besuch gehabt?« Sie nickte. »Ja, die Julia war schon wieder da.« »Gefällt dir das nicht?« Sie zögerte mit der Antwort. »Ich kann dir nicht sagen, warum, aber ich habe kein Vertrauen zu ihr. Heut wollte sie, dass wir du zueinander sagen.« Er lachte. »Ja, bei der Julia geht es schnell mit den Freundschaften!« »Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie es nicht ehrlich meint und irgendwas im Schilde führt. Das macht mir ein bisschen Angst.« Er unterbrach das Essen und schaute sie an. »Was soll sie denn im Schilde führen?« »Wenn ich das wüsste … es ist nur ein Gefühl. Ich fühle mich einfach unbehaglich, wenn sie da ist. Vielleicht sehe ich ja nur Gespenster.« Er nahm sein Essen wieder auf. »Ich habe dir gesagt, es liegt ganz allein in deiner Entscheidung. Wenn du nicht willst, dass die Julia zu dir kommt, schick sie einfach weg!« »Dann mache ich sie mir zur Feindin.« »Und? Was ist dabei?« Sie zuckte die Schultern. Felix hatte selbst keine Hemmungen, sich über die Vorstellungen anderer Leute hinwegzusetzen. Es hatte keinen Sinn, ihm erklären zu wollen, dass sie es nicht fertig brachte, Julia einfach ins Gesicht zu sagen, sie wolle mit ihr nichts zu tun haben. 106
Es war Freitagabend, und die Arbeiter kamen in die Stube, um ihre Lohnvorschüsse in Empfang zu nehmen. Sie setzten sich der Reihe nach auf die Bank, die unter den Fenstern entlanglief und warteten darauf, dass ihr Name vom Flussmeister aufgerufen wurde. Einer nach dem anderen schrieb seinen Namen unter die Empfangsbestätigung und erhielt sein Geld. Damit war wieder eine Arbeitswoche vergangen. Man wünschte sich gegenseitig ein schönes Wochenende, dann gingen die Männer davon. Felix Falkner ging noch in den Schuppen und schaute nach, ob alle Geräte und Werkzeuge zurückgebracht worden waren, und schloss das Tor zu. Sabine kam mit Eimer und Lappen in die Stube, um den Schmutz aufzuwischen, den die Männer hinterlassen hatten. Anschließend durfte Benedikt mit dem Vater noch hinauf zur Enge gehen und dem rauschenden und schäumenden Wasser zuschauen, das mit Gewalt aus dem Felsspalt hervorbrach. Wenn der kleine Benedikt an der Hand seines Vaters ein Stück durch die Gegend gehen durfte, was selten genug vorkam, weil der Flussmeister wenig Zeit dazu hatte oder schon zu müde war, stellte der Bub oft die wunderlichsten Fragen, die nicht einfach zu beantworten waren. Jetzt schaute er auf die rauschende Flut hinab und wollte wissen, woher denn das viele Wasser käme. »Aus der Erde.« »Aber es muss doch einmal zu Ende sein?« »Nein, es wird nie zu Ende sein.« »Warum nicht?« »Weil die Erde immer wieder Wasser erhält. Ist sie trocken, dann kommen die Wolken, es fällt der Regen und dringt in die Erde ein.« Eine Weile schaute das Kind nachdenklich vor sich hin. »Das Wasser fließt zum Meer, oder?«, fragte er dann. »Ja, es mündet in die größeren Flüsse ein und macht so seinen Weg zum Meer.« »Und von dort kommt es wieder zurück, gell?« »Wieso?« 107
»Weil die Tröpfchen dort verdunsten und Wolken bilden, die der Wind herantreibt und als Regen auf die Erde fallen lässt.« »Woher weißt du das?«, wunderte sich der Flussmeister. »Von der Sabine. Sie hat mir einmal eine Geschichte von einem Wassertropfen erzählt. Den hat die Sonne aus dem Meer geholt, er ist verdunstet und mit vielen, vielen anderen Tropfen zusammen eine Wolke geworden und dann als Regen auf die Erde gefallen. Und dann ist der kleine Wassertropfen wieder zurück ins Meer geschwommen …« Felix Falkner nickte. »Die Sabine weiß eine Menge solcher Geschichten«, plauderte der Kleine. »So?« »Jeden Abend, wenn sie mich ins Bett bringt, bleibt sie noch bei mir sitzen und erzählt mir eine Geschichte. Dann beten wir noch und dann …« »Dann musst du schlafen.« Der Bub nickte. »Hast du sie gern, die Sabine?« »Ja. Sie ist immer fröhlich und nett. Bloß wenn die Julia kommt, da macht sie oft ein böses Gesicht.« »So?« »Ich mag sie auch nicht!« »Wen? Die Julia? Aber sie tut dir doch nichts?« »Nein. Aber ich mag sie trotzdem nicht.« Sie kehrten langsam wieder zum Haus zurück. Schweigend schaute Felix Falkner vor sich hin und hörte nur noch mit einem Ohr auf das, was der Junge noch plauderte. »Sie muss immer bei uns bleiben, die Sabine, gell, Vater?«, sagte Benedikt plötzlich und riss den Flussmeister damit aus seinen Gedanken. »Weißt du, Benedikt, wenn sie nicht will, kann ich sie nicht festhalten.« »Aber du kannst die Julia wegjagen, dann bleibt die Sabine schon!« »Ach so!« »Du hast doch auch Sabine lieber als die?« »Freilich …« 108
Die Sonne brach durch das Geäst der hochstämmigen Fichten und warf leuchtende Gitter auf den dunklen Weg. Herb duftete die Walderde nach Feuchtigkeit und Herbst. Die Nebelnächte, die es jetzt häufig gab, hinterließen so viel Nässe, dass sie im Gehölz tagsüber nicht mehr trocknete. Wo die Sonnenstrahlen hereindrangen, webten Spinnen ihre Fäden. Immer wieder stieß man mit dem Gesicht gegen diese feinen Netze und hatte dabei ein unangenehmes Gefühl. Sabine und der kleine Benedikt durchstreiften den Bergwald. Das Mädchen trug einen Korb am Arm und schaute nach essbaren Pilzen aus, von denen sie schon jede Menge gesammelt hatte. Seitdem sie wusste, dass der Flussmeister gern Pilze aß, machte sie sich bei gutem Wetter oft auf den Weg, um danach zu suchen. Sie wollte ihm damit eine Freude machen. Schließlich hatte sie es noch nie in ihrem Leben so schön gehabt wie jetzt im Flussmeisterhaus. Und sie war noch nie so glücklich gewesen … Der Bub lief neben ihr her und freute sich an jedem Tier und an jedem Vogel, er entdeckte immer wieder etwas. Bald war es ein Berghase, der scheu davonhoppelte, bald ein Reh, das in mächtigen Sprüngen das Weite suchte. Dann gab es eine Menge Vögel, die laut und fröhlich zwitscherten. Von jedem wollte er den Namen wissen, und Sabine gab ihm so gut Auskunft, wie sie konnte. Allerdings kannte sie auch nicht jeden der Vögel, die es im Wald gab und konnte ihn daher nicht immer zufrieden stellen. Deshalb nahm sie sich vor, möglichst bald ein Buch über Vögel zu kaufen. Oft waren sie lange im Wald unterwegs, und als sie einmal besonders weit gegangen war, fragte Benedikt: »Was tun wir, wenn wir nicht mehr heimfinden?« »Dann müssen wir eben so lange suchen, bis wir einen Weg finden.« »Wenn es aber dunkel wird?« »So lange dürfen wir nicht warten. Wir brauchen nur auf das Rauschen des Flusses zu achten, dann wissen wir, wo die Enge liegt, und in ihrer Nähe ist unser Haus.« Das leuchtete ihm ein. Er fand Sabine sehr klug. »Bist du schon müde?« 109
Er schüttelte nur den Kopf. »Ich habe bald so viel beisammen, dass wir heimgehen können.« Später kamen sie auf einen Weg, in dem die Räder von Holzfuhrwerken tiefe Furchen in die Erde gedrückt hatten, die gerade mit Schotter aufgefüllt wurden. Aber es war niemand zu sehen. Nur in einem Haufen schwerer, grober Schottersteine steckte eine Schaufel. »Dort ist jemand!«, sagte das Kind. Sie schaute dorthin, wo sein Finger hinzeigte. Etwa zweihundert Meter von ihnen entfernt sah sie eine sonnige Lichtung, bedeckt mit filzigem Gras. Sabine musste sich über die scharfe Beobachtungsgabe des Buben wundern; er sah offenbar alles. Dort in der Sonne saßen zwei Menschen am Boden. Sie selbst hätte sie vermutlich gar nicht entdeckt. Die beiden saßen mit dem Rücken zu ihnen, ein Pärchen, ein Mann und eine Frau. Sabine sah zu ihnen hin, aber dann fuhr sie zusammen, griff nach der Hand des Kindes und flüsterte hastig: »Komm! Wir gehen!« und zog ihn mit sich fort, zurück in das dichte Gehölz. Erst nachdem sie ein gutes Stück gelaufen waren, wurden ihre Schritte langsamer. Aber sie blickte sich noch ein paar Mal um. »Warum hast du dich gefürchtet?«, fragte der Bub. »Ich habe mich nicht gefürchtet.« »Doch! Du hast dich gefürchtet! Wer waren die zwei?« »Ich weiß es nicht, Benedikt.« – ›Gott sei Dank, er hat sie nicht erkannt‹, dachte Sabine. »Aber du bist doch vor ihnen davongelaufen?«, wunderte er sich. »Meinst du, dass es böse Menschen waren?« »Das kann schon sein.« Was hätte sie darum gegeben, wenn sie jetzt Muße gehabt hätte, über ihre Entdeckung nachdenken zu können. Aber das Kind gab keine Ruhe. »Gibt es im Wald Räuber?« »Die kann es überall geben, Benedikt. Aber ich habe noch nie davon gehört, dass es hier im Wald Räuber gibt.« »Ich glaube auch nicht, dass das Räuber waren. Es war doch eine Frau dabei! Frauen können keine Räuber sein, oder doch?« 110
»So? Eine Frau war dabei? Das habe ich gar nicht bemerkt.« Er lachte jetzt so laut heraus, dass es durch den Wald hallte. »Und du bist davongelaufen, als ob es Räuber gewesen wären.« »Wir gehen jetzt heim, Benedikt, sonst wird es zu spät. Heute kommt dein Vater früher.« »Das muss ich ihm erzählen! Oder willst du das nicht?« Sie lachte jetzt. »Du darfst es ihm ruhig sagen.« »Auch dass du dich gefürchtet hast?« »Jawohl. Frauen fürchten sich schneller als die Männer.« »Ich hab mich nicht gefürchtet!«, prahlte er. »Dafür bist du auch ein Mann!«, lachte sie. Aber der Flussmeister kam doch wieder sehr spät heim, so dass Benedikt bereits ins Bett gegangen war und schlief. Julia war noch eine Weile da gewesen, und vor der drückte sich der Bub freiwillig. Sie war allerdings heute nicht lange geblieben, weil sie angeblich sofort wieder heim musste, um der Mutter zu helfen. Morgen wurde Brot gebacken, und so musste heute noch der Teig gemacht und angesäuert werden. Warum war sie überhaupt gekommen? Nur um die frisch gerührte Butter zu bringen? Solange das Hochdruckwetter anhielt, gab es jede Nacht Nebel. Wie eine graue Wand stand er vor dem Fenster. Sabine schaute gedankenverloren hinaus. Sie dachte über das nach, was sie heute da droben im Bergwald gesehen hatte. Sie hatte sich vorgenommen, mit dem Flussmeister darüber zu reden. Und jetzt kamen ihr auf einmal Zweifel, ob sie sich nicht doch getäuscht hatte. Nein, wenn sie sich nicht ganz sicher war, durfte sie ihm nichts sagen. Der Mann war Guido gewesen, das stand fest, und es ließ sich auch einfach erklären: Er musste droben die Löcher des Waldweges auffüllen. Das verriet auch die Schaufel, die im Schotterhaufen steckte. Er stand ja im Dienst der Gemeinde, seitdem der Flussmeister ihn entlassen hatte. Wer aber war die Frau gewesen? Sie hatte gedacht, es sei die Wegscheider-Julia gewesen, aber die Frau im Wald hatte ein anderes Kleid angehabt als Julia, als sie heute Abend hier gewesen war, sie hatte auch 111
eine andere Frisur gehabt, und außerdem sah man Julia nie ohne ihre blinkenden Ohrringe, wie ihr jetzt einfiel. Und die Frau im Wald hatte keine Ohrringe getragen. So sagte sie nichts, als Felix Falkner heimkam. Aber es geschah etwas anderes. Als er beim Essen am Tisch saß und sich von Sabine erzählen ließ, was sich während des Tages alles ereignet hatte, ging plötzlich die Tür auf, und der kleine Benedikt stand in seinem Schlafanzug da. »Was ist denn mit dir noch los?«, fragte der Flussmeister. Auch Sabine war überrascht. Sie merkte sofort, dass der Kleine noch nicht geschlafen hatte. Offenbar hatte er gewartet und gelauscht, bis er den Vater endlich heimkehren hörte. Er ging auf seinen Vater zu. »Hat es die Sabine dir schon erzählt?«, fragte er mit großen Augen. »Was denn?« »Dass wir uns heute im Wald gefürchtet haben?« Felix Falkner warf Sabine einen überraschten Blick zu. Aber sie lächelte dem Kind zu. »Du auch?«, fragte sie. »Ich habe gemeint, du hättest dich nicht gefürchtet. Du hast mich doch sogar ausgelacht! Und jetzt kannst du nicht schlafen?« »Was ist denn passiert?«, wollte der Flussmeister wissen. »Nichts«, antwortete Sabine. »Wir haben heute im Wald Pilze gesucht.« »Und hoffentlich auch gefunden?« Sie nickte. »Einen ganzen Korb voll!« »Ausgezeichnet! Und was war dann?« »Auf einer Lichtung sahen wir zwei Menschen sitzen. Im ersten Moment bin ich darüber ziemlich erschrocken und mit dem Benedikt in den Wald zurückgeflüchtet.« »Sie hat gemeint, es könnten Räuber sein!«, erläuterte der Junge. »Räuber?«, staunte der Flussmeister. Aber Sabine lachte. »Räuber können es nicht gewesen sein, Benedikt!« »Aber du hast es zuerst gemeint!«, verteidigte sich der Bub. 112
»Man redet halt so im ersten Schreck.« Benedikt wandte sich an den Vater. »Gibt es im Wald Räuber?« Der schüttelte den Kopf. »Ich hab noch nie etwas davon gehört. Eher gibt es sie im Dorf und erst recht in der Stadt. Was soll ein Räuber im Wald anfangen, wo tagelang kein Mensch hinkommt, den er berauben kann? Nein, ein Räuber geht lieber dorthin, wo es viele Menschen gibt.« »Jetzt weißt du es«, fügte Sabine hinzu. »Es gibt nichts zu fürchten, und jetzt musst du schlafen!« Sie nahm ihn auf den Arm und trug ihn in die Kammer zurück. Als sie wieder in die Stube kam, fragte Felix: »Was war nun wirklich?« »Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht, weil ich zu rasch davongelaufen bin. Der Bub hat sich womöglich die schlimmsten Gedanken gemacht. Unversehens haben wir auf der sonnigen Lichtung ein Pärchen überrascht.« »Ach so! Jetzt verstehe ich!«, rief er. »Hoffentlich habt ihr dieses Pärchen nicht gerade bei etwas ertappt, was der Junge nicht sehen sollte …« »Nein, das nicht«, unterbrach sie ihn. »Dann ist ja alles gut«, meinte er und setzte seine Mahlzeit fort. »Es tut mir nur Leid, dass der Bub nicht einschlafen konnte. Er hat sich anscheinend doch aufgeregt.« »Mach dir keine Gedanken darüber, Sabine. Er ist jetzt völlig zufrieden.« Eine Weile blieb es still. »Hast du das Pärchen erkannt?«, fragte er plötzlich. »Nur den Mann.« Er schaute auf. »Und?« »Es war der Guido, der jetzt droben auf der Waldstraße die Schlaglöcher auffüllt. Wenigstens steckte eine Schaufel im Steinhaufen.« Er schaute sie ungläubig an und lachte. »Der Guido? Mit einer Geliebten?« »Ob es seine Geliebte war, das weiß ich nicht. Sie haben uns den Rücken zugekehrt.« 113
Felix schüttelte den Kopf: »Da soll der Guido droben im Wald die Schlaglöcher auffüllen und setzt sich stattdessen gemütlich in die Sonne! Das sieht ihm ähnlich, wenn keiner da ist, der auf ihn aufpasst! Aber wer mag die Frau sein, die sich mit einem solchen Kerl abgibt? Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Da sieh an, hat sogar einer wie der MutzelGuido noch seine Chancen. Wer weiß, eines Tages werden wir es womöglich sogar erleben, dass er seine Hochzeit feiert!« Er lachte laut auf. Sabine räumte dann den Tisch ab und trug das Essgeschirr in die Küche. Felix rauchte jetzt seine Pfeife und blätterte in einer Zeitung, die er mitgebracht hatte. Die Sache war für ihn abgeschlossen. Und dann kam es zu einer neuen Überraschung. Sabine holte aus der Kommodenschublade eine frische Tischdecke heraus, um sie gegen die alte auszutauschen. Als sie die alte vom Tisch streifte, polterte etwas auf den Boden. Sie bückte sich danach und hielt einen Schlüssel in der Hand. »Da ist er ja!«, rief sie erstaunt und erfreut. »Was denn?« »Der Schlüssel zum Schrank! Oder ist er es nicht?« »Tatsächlich!«, sagte er, nahm ihn ihr aus der Hand und probierte ihn am Schloss. Er passte. »Na also!«, sagte er. »Aber wie kommt er hier unter die Decke?«, fragte sie verwundert. »Das weiß ich natürlich auch nicht. Vielleicht habe ich ihn hingelegt, als gerade keine Decke darauf war. Und du hast ihn nicht bemerkt, als du die Decke darübergeworfen hast.« Sie schüttelte verständnislos und ungläubig den Kopf. »Es mag sein, wie es will. Der Schlüssel ist gefunden! Ich sage ja immer, das Haus verliert nichts.« Aber Sabine war sich sicher, dass der Schlüssel nicht mehrere Tage lang unter der Tischdecke gelegen haben konnte – sie hätte die Ausbuchtung doch irgendwann bemerken müssen. Wie war er also dort hingekommen? Sie dachte noch darüber nach, als sie schon in ihrem Bett lag und auf das stete Rauschen des Flusses horchte, bis sie bald darauf einschlief. 114
10
F
ür die jüngere Tochter der Wegscheiders nahte der Abschied. In den nächsten Tagen würde sie an ihrem neuen Heimatort ihre Hochzeit feiern. Sie wurde Bäuerin auf einem schönen Hof eines benachbarten Dorfes. An einem Abend stand zur Überraschung Sabines Manfred Wegscheider vor der Tür des Flussmeisterhauses. »Ist der Flussmeister schon daheim?«, fragte er. »Nein, aber er wird jeden Augenblick kommen.« »Darf ich hereinkommen, Sabine?« »Um was geht es?« »Der Vater schickt mich. Wir haben heute Abend eine kleine Abschiedsfeier für unsere Johanna. Sie heiratet doch übermorgen und zieht weg. Der Bräutigam und seine Eltern sind gekommen. Wir würden uns freuen, wenn der Flussmeister, mit dem wir doch immer in guter Nachbarschaft zusammengelebt haben, auch bei dem Abschied dabei wäre.« Sie führte ihn in die Stube, wo der kleine Benedikt auf dem Boden saß und allerlei Spielzeug um sich hatte. »Er wird bald kommen«, sagte sie mit einem Blick auf die Uhr und bot ihm Platz an. »Ich hätte mich natürlich gefreut, wenn du auch dabei sein könntest, Sabine«, sagte er etwas unsicher. »Das würde sich schlecht machen lassen, Manfred. Ich kann Benedikt nicht allein lassen.« »Aber du könntest ihn mitnehmen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er bei uns schläft. Als seine Mutter starb, war er ein paar Wochen bei uns, das weißt du doch.« 115
Sie schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht recht, was ich bei der Feier soll.« Manfred sah das Mädchen nachdenklich an. Er schien mit sich zu ringen, und schließlich begann er: »Ich bin noch nicht darüber weg, Sabine, dass ich von dir eine Abfuhr bekommen habe, und ich weiß nicht, ob ich überhaupt jemals darüber hinwegkomme!« Sie schaute auf den kleinen Benedikt hinab, der ein Spielauto hinund herschob. »Du liebst eben einen anderen!«, fuhr er fort. »Und dafür kann und darf ich dir nicht böse sein. Ich fürchte bloß, dass du eines Tages sehr enttäuscht sein wirst, und das würde mir sehr Leid tun!« Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, aber er schaute nicht auf. »Du hast dich eben ganz auf das Haus hier eingestellt«, fuhr er fort. »Auf den kleinen Buben da, der dir ans Herz gewachsen ist, und auch auf den Mann.« »Was willst du damit sagen?«, fragte sie ihn fast unwillig. »Für mich ist es kein Geheimnis mehr, dass du den Flussmeister liebst, Sabine. Ich will dir auch nicht im Weg sein, darum bin ich nie mehr gekommen. Dass ich dich weiterhin gern habe, das darf mir niemand verübeln.« »Ich bin keine Bäuerin, Manfred!« »Du hättest es werden können!« Sie schüttelte den Kopf. »Wollen wir nicht über etwas anderes reden? Wenn nun deine Schwester vom Hof geht, werdet ihr sie sicher sehr vermissen. Ich meine auch bei der Arbeit.« »Ja, ich werde sie vermissen. Wir sind Zwillinge und haben uns prächtig verstanden. Sie wird mir fehlen, aber es lässt sich nichts machen. Und was die Arbeit betrifft, haben wir für sie eine Haushälterin eingestellt, sie kommt nächste Woche.« »Und was ist mit deiner anderen Schwester, der Julia? Sie arbeitet doch auch mit?« »Ach die!«, sagte er und machte eine verächtliche Handbewegung. »Auf die kann man sich doch nicht verlassen. Wenn sie heute arbeitet, heißt das noch lange nicht, dass sie das morgen auch noch macht. 116
Wäre ich Herr im Haus, hätte ich sie ohnehin längst hinausgeworfen. Meine Eltern glauben mir nicht, dass es nur ein falsches Spiel ist, was sie mit ihnen treibt! Ich habe ihnen schon gesagt, dass ich kommen sehe, dass wir mit ihr noch Ärger ins Haus bekommen werden. Aber man ist mir sogar böse, weil ich so hartherzig bin und nicht verzeihen kann. Die Mutter hat mir schon vorgehalten, dass sogar Christus der Sünderin verziehen habe. Aber wenn die Sünderin aus der Bibel ihre Reue nur geheuchelt hätte, wäre ihr doch auch nicht verziehen worden, oder?« »Weißt du denn so sicher, dass Julia nur heuchelt?« »Ja, das weiß ich, denn ich kenne sie lange genug. Ich könnte dir von ihr Dinge erzählen, dass dir die Haare zu Berg stehen würden!« »Aber was, wenn du dich irrst und sie sich wirklich geändert hat? In diesem Fall würdest doch sicher auch du vergessen und verzeihen wollen, oder nicht?« »Du sprichst wie ein Pfarrer oder wie meine Mutter!«, spöttelte er. »Gerade um dich tut es mir Leid, Sabine! Wenn du mich nicht lieben kannst, lässt es sich nicht ändern. Deswegen darf ich den Mann nicht hassen, dem deine Liebe gehört. Wahrscheinlich hat er dir nichts versprochen, also ist er auch kein Schuft. Er ist nur blind und sieht nicht, in welches Unglück er rennt!« Sie drehte sich heftig nach ihm um. »Wovon sprichst du eigentlich?« Er erwiderte ebenso herausfordernd ihren Blick. »An deinem Aufbrausen erkenne ich, dass du es längst erraten hast«, sagte er ruhig. »Eben weil ich dich gern habe, rate ich dir, packe hier deine Sachen und …« »… und heirate mich?«, unterbrach sie ihn schroffer, als es sonst ihre Art war. Aber er schüttelte ruhig den Kopf. »… und geh fort!«, verbesserte er. »Mit jedem Tag, den du noch hier bist, wächst du mit dem Kind fester zusammen. Es wird dir immer schwerer fallen, von ihm zu gehen, und für den Buben wird es auch nicht einfacher werden, sich an eine neue Mutter zu gewöhnen, besonders an eine solche …!« Ihr Gesicht wurde bleich, die Züge starr. Plötzlich beugte sie sich zu 117
dem spielenden Buben hinab und richtete ihn auf. »Du musst jetzt ins Bett, Benedikt!« Ihre Stimme klang hart, sodass der Bub sie ganz erstaunt anschaute und dann einen vorwurfsvollen Blick auf den Mann warf. Es dauerte lange, bis sie zurückkam. Schweigend räumte sie das Spielzeug weg. »Bist du mir jetzt böse?«, fragt er nach einer Weile. Sie antwortete nicht. »Es tut mir Leid, aber mir würde das Gewissen keine Ruhe mehr lassen, wenn ich noch länger schweigen wollte. Meine Schwester geht angeblich oft abends zu dir. Sie hat plötzlich eine große Freude an Handarbeiten und stillen Unterhaltungen.« Seine Stimme triefte vor Hohn. »Hast du wirklich geglaubt, dass sie deinetwegen kommt?« »Nein«, gab sie jetzt ehrlich zu. »Sie verfolgt damit einen ganz anderen Zweck, Sabine! Ihr geht es um den Flussmeister!« Das wusste sie selbst, deshalb widersprach sie ihm nicht. »Ein Blinder könnte sehen, dass sie hinter ihm her ist, schon allein daran, dass sie ihm ständig irgendwo wie zufällig begegnet. Es vergeht fast kein Tag mehr, an dem er sie nicht bis zu unserem Hof hinauf begleitet. Und sie kleidet sich ganz anders als bisher, so wie sie glaubt, dass sie ihm besonders gefällt! Und der Flussmeister lässt sich von ihr wie ein Tanzbär an der Nase herumführen.« Schweigen. Laut rauschte die Saalach über die Enge herab. »Es würde mir schrecklich Leid tun, wenn du hier so lange warten würdest, bis Julia als zweite Frau ins Haus kommt!« »Das wird nicht geschehen!«, rief sie heftig und empört. Er erhob sich jetzt und zuckte die Schultern. »Ich glaube, ich werde nicht weiter auf den Flussmeister warten. Du kannst ihm ja auch bestellen, dass mein Vater ihn für heute Abend einladen möchte. Es kann sogar sein, dass er inzwischen selbst zum Hof hinaufgegangen ist, falls die Julia ihn wieder abgepasst hat. Dann warte ich hier ohnehin vergeblich.« Er ging zur Tür, wandte sich aber noch einmal nach ihr um. »Es ist mir schwer ums Herz, Sabine, das darfst du mir glauben! Ich wünsche 118
dir nicht, dass dein Flussmeister dir von Julia ausgespannt wird, aber ich sehe kommen, dass genau das passieren wird. Du wirst dir überlegen müssen, was du dann tun willst. Also … gute Nacht!« Sie begleitete ihn heute nicht einmal bis vor die Tür, sondern blieb stehen, wo sie war. Die Stunden gingen dahin. Der Flussmeister kam nicht. Sabine fröstelte. Die Nächte wurden allmählich kalt, besonders wenn die dichten Herbstnebel einfielen. Die unsinnigen Behauptungen des Jungbauern gingen ihr unablässig im Kopf herum. Alles in ihr sträubte sich gegen die Vorstellung, Manfred könne mit seinen düsteren Prophezeiungen Recht haben. Sie konnten ganz einfach nicht wahr sein! Aber je länger sie in die Stille des Hauses und auf das Rauschen des Wassers lauschte, desto unsicherer und ängstlicher wurde sie. Sie hatte Felix Falkner kennen gelernt als fleißigen und berufstüchtigen Mann, der gewissenhaft seinen Dienst versah, seine weiten Wege machte und in unermüdlichem Einsatz war, wenn vom Fluss her Gefahr drohte. Sie wusste, dass er von seinen Arbeitern geschätzt wurde. Er war freundlich und gut zu seinem Sohn. Aber kannte sie ihn deswegen gut genug, um einschätzen zu können, ob er sich von Julia umgarnen lassen würde? Nur noch ganz selten sprach er von seiner Frau. Manchmal schon hatte sie ihn dabei ertappt, dass er ihr nachschaute, aber nie war er ihr zu nahe getreten. Sie ahnte, dass er sie achtete und dass er wusste, wie weit er bei ihr gehen durfte, ohne seinerseits ihre Achtung zu verlieren. Aber bei Julia brauchte er nicht zu befürchten, dass er einmal zu weit gehen könnte. Sie wartete wohl nur darauf, ihn so weit zu bringen. Das war es auch, was der Jungbauer heute gemeint hatte. Der Zeiger der Uhr näherte sich der Mitternachtsstunde, und der Flussmeister kam nicht. Da wusste sie, dass er tatsächlich zum Wegscheiderhof gegangen war, ohne ihr vorher Bescheid zu sagen. Schließlich löschte sie das Licht, ging die Treppe hinauf und schaute noch einmal nach dem kleinen Benedikt. Er schlief tief und fest. Ahnungslos und in seinem selbstverständlichen Vertrauen an das Leben hatte er seinen Mund zu einem Lächeln 119
geformt, das einen letzten frohen Gedanken verriet, bevor er eingeschlafen war. Sabine spürte plötzlich einen Kloß im Hals, und auf einmal brach sie in Tränen aus. Um Benedikt nicht zu wecken, schlich sie sich gleich aus dem Zimmer und suchte ihr eigenes auf. In diesem Augenblick ging drunten die Tür. Sie hätte gerne das Ganglicht ausgeschaltet und wäre leise in ihr Bett gegangen, aber dazu war es zu spät. Felix Falkners Schritt erklang bereits auf den Dielen. »Sabine! – Bist du noch auf?«, rief Felix laut. Sie ging über die Stiege hinab. »Nein, nein, du brauchst nichts mehr für mich zu tun, du kannst ruhig ins Bett gehen!« Sie nickte und wollte wieder umkehren. »Warte!«, rief er. »Was hast du? Hast du geweint?« Sie schüttelte den Kopf, aber er merkte, dass sie log. »Was ist denn passiert? Ist etwas mit Benedikt?« »Nein.« »Was ist es dann?« »Nichts.« »Komm doch noch einen Augenblick in die Stube!« Er nahm sich sehr zusammen, trotzdem merkte sie, dass er nicht mehr ganz nüchtern war. Er schaute sie blinzelnd an, weil das Licht seine Augen blendete. »Es tut mir Leid, dass es so spät geworden ist«, begann er dann. »Ich kam zufällig noch zum Wegscheiderhof hinauf und wollte mich nicht aufhalten. Aber dort feiern sie gerade den Abschied der jüngeren Tochter, die heiratet und auszieht von daheim. Ich musste mich zu ihnen an den Tisch setzen, mitessen und mittrinken. Ich bin voll bis zum Hals. Wann trinke ich schon Wein? Und dann so einen starken?« Er lachte und machte ein paar unsichere Schritte. »Ich hab es mir schon gedacht«, antwortete sie. »Wieso? Wie konntest du das wissen?« »Manfred war am Abend da und hat es gesagt.« »Soso! Der Manfred!«, wiederholte er gedehnt und ein wenig spöttisch. »Was hat er gesagt?« 120
»Er wollte dich für den Abend einladen.« »Mich? Und dich nicht?« »Ich kann nicht weg und gehe auch nicht weg, weil ich den Benedikt nicht allein lasse.« »Den hätte niemand gestohlen!« So grob hatte er noch nie gesprochen. Es kam wohl, weil er betrunken war. »Ich habe dir schon einmal gesagt: Solltet ihr beide Ernst machen, dann lass es mich früh genug wissen, Sabine, nicht, dass ich eines Tages wieder allein dastehe! Ich weiß nicht, ob der Pfarrer gerade noch eine weitere junge Nonne zur Hand hätte, die sich um mich und meinen Sohn kümmern könnte.« Diese Worte ärgerten und verletzten sie. »Ich habe nichts zu sagen«, antwortete sie kurz. »Wie lange willst du mich noch anlügen, Sabine?« »Ich lüge nicht!« »Doch, du lügst!«, sagte er plötzlich schroff und runzelte finster die Stirn. »Es geht mich nichts an, welchen Burschen du einmal heiratest, ob es ein Bauer oder Stallarbeiter ist. Aber ich muss es wissen, wenn du das Heiraten im Sinn hast, weil ich dann schnell jemand anders brauche, der sich um Benedikt kümmert!« »Wer behauptet, dass ich heiraten will? Es ist überhaupt nicht wahr!«, entgegnete sie heftig. Er schaute sie mit einem Blick an, den sie noch nie an ihm gesehen hatte. »Da geht man fleißig am Sonntag in die Kirche, sucht Zuflucht bei Gott und dem Pfarrer und schwindelt sich so durchs Leben. Es wäre besser gewesen, für dich und auch für mich, wenn du bei den Nonnen geblieben wärst!« Jetzt lief auch ihr die Galle über. »Das ist gemein!«, schrie sie und floh aus der Stube. Sie lag in ihrem Bett und konnte nicht begreifen, wie es plötzlich zu einem solchen Auftritt kommen konnte. Wieso war er so grob zu ihr gewesen? Was hatte sie denn verbrochen? Sie hatte alles getan, dass Felix sich daheim wohlfühlen konnte, hatte sich bemüht, ihm 121
zu helfen in seiner Trauer und in seiner Sehnsucht nach der verlorenen Frau. Sie war von Anfang an glücklich gewesen im Flussmeisterhaus, und jeder Tag war schöner geworden. Benedikt war ihr Ein und Alles gewesen, und ihre Liebe zu dem Kind dehnte sich langsam aus auf den Mann. Sie war so glücklich gewesen wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie starrte in die Nacht, die Augen von den Tränen verschleiert, die jetzt unaufhaltsam hervordrangen. Alles kam ihr jetzt wieder in den Sinn, was der Wegscheidersohn gesagt hatte. Sie hatte ihm nicht glauben wollen, jetzt aber sah sie, wie Recht er hatte. Vermutlich redete Julia Felix ein, sie wisse genau, dass Sabine und Manfred sich längst über eine Heirat einig geworden seien. Sie hatte geahnt, dass dieser Frau nicht zu trauen war, aber dass Felix sich so widerstandslos von Julia einwickeln ließ, dass er ihr jedes Wort glaubte und stattdessen nun Sabine vorwarf, sie würde ihn anlügen, war ihr unbegreiflich. Wie sollte es nun weitergehen mit ihr, wenn sie künftig jederzeit damit rechnen musste, von Felix mit solchen Verdächtigungen konfrontiert zu werden? Würde sie das überhaupt ertragen können? Aber sie würde es aushalten müssen, für Benedikt. Sie konnte den Jungen unmöglich im Stich lassen. Sie hätte gerne den Pfarrer zu Rate gezogen, aber dann hätte sie ihm sagen müssen, dass sie den Flussmeister liebte … Ihre Gedanken beschäftigten sie so lebhaft und angespannt, dass sie nicht einmal mitbekam, als der Flussmeister sein Zimmer aufsuchte. Erst gegen Morgen fiel sie für eine Weile in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie plötzlich aufschreckte, später als sonst, aber noch nicht zu spät. Rechtzeitig stand sie in der Küche am Herd und bereitete das Frühstück. Vor dem Fenster stand noch die graue Nacht und versperrte dem neuen Tag den Weg. Später bewegten sich draußen ein paar Lichter um das Haus. Das waren die Arbeiter, die jetzt ihre Geräte und Werkzeuge aus dem Schuppen holten. Sabine erschrak, als sie den Schritt des Flussmeisters im Haus hörte. Sie fürchtete sich davor, ihm nach dem nächtlichen Auftritt unter die Augen zu treten. Sie hörte seine Stimme, als er draußen seinen Arbei122
tern Anweisungen gab. Die Lichter verschwanden, es wurde still draußen. Die Leute waren ans Werk gegangen. Sabine trug das Frühstück in die Stube. Dort war es dunkel, nur das dämmerige Morgenlicht drang zu den Fenstern herein. Sie ging hinaus und wollte Felix suchen, aber der Schuppen war abgesperrt. Es war niemand mehr da. Er war ohne Frühstück weggegangen.
Es kam zu keiner Aussprache mehr, obwohl Sabine sie suchte. Wenn der Flussmeister heimkam, war seine Miene so kalt und verschlossen, dass sie keinerlei Lust mehr dazu verspürte, und alle Worte, die sie sich ausgedacht und dafür vorbereitet hatte, blieben unausgesprochen. Sie war überzeugt, dass eine ganz gemeine und schwer wiegende Verleumdung im Gang war. Von wem sie ausging, war nicht schwer zu erraten. Doch nun erwachte auch ihr Trotz. Sie war sich keiner Schuld bewusst und hatte auch keine Abbitte zu leisten. Ihr Verhältnis dem Kind gegenüber hatte sich nicht geändert. Der Bub war den ganzen Tag um sie, lachte und plauderte und war glücklich. Sie ließ sich nichts anmerken und spielte mit ihm wie zuvor. Und dennoch schien der kleine Benedikt von Zeit zu Zeit stutzig zu werden. Oft schaute er sie lange an, auch wenn sie es nicht bemerkte. »Bist du traurig?«, konnte er plötzlich fragen. »Nein, warum sollte ich traurig sein?« Sie tat fleißig und tüchtig ihre Arbeit und ging am Sonntag in die Kirche, wie es sich für eine ›Nonne‹ gehörte, dachte sie zornig. Auffallend war, dass Julia in letzter Zeit nicht mehr kam. Anscheinend wusste sie den Flussmeister nun auch an anderen Orten zu treffen. Einmal ertappte Benedikt Sabine dann doch, als sie sich gerade die Tränen von den Augen wischte. »Weinst du?«, fragte er erschrocken. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich rasch ab. Aber es ließ dem Buben keine Ruhe. Als der Flussmeister am Abend 123
heimkam, stieg Benedikt noch einmal aus dem Bett und kam plötzlich in die Stube. »Was ist denn noch?«, fragte der Flussmeister unwillig. Er hatte eben mit dem Essen begonnen. Das Kind kam zutraulich auf ihn zu wie immer. »Vater, die Sabine weint manchmal«, sagte er. »Frage sie doch, warum! Mir sagt sie es nicht!« »Das geht dich nichts an und mich auch nicht!«, antwortete Falkner. Sabine kam eben herein, um noch ein paar Zutaten auf den Tisch zu stellen. Sie war erschrocken, als sie den Jungen sah. »Du sollst in dein Bett gehen! Vorwärts!«, herrschte der Vater ihn an. Sabine warf ihm einen verweisenden Blick zu, nahm das Kind bei der Hand und führte es weg. »Das darfst du nicht mehr tun!«, mahnte sie ihn. »Dein Vater ärgert sich, wenn du immer wieder aufstehst!« »Ich habe ihm nur gesagt, dass du geweint hast, und er soll dich fragen, warum.« »Jeder Mensch ist einmal traurig. Aber das geht alles wieder vorbei.« »Der Vater ist gar nicht mehr so wie früher!« »Das meinst du bloß. Er kommt am Abend oft müde heim und will seine Ruhe. Manchmal gibt es auch Ärger bei der Arbeit, da ist man dann nicht gut aufgelegt.« Er gab sich endlich zufrieden. »So – und jetzt wird geschlafen!«
124
11
E
s war Freitagabend, und die Arbeiter saßen in der Stube, um ihren Lohnvorschuss in Empfang zu nehmen. Da stellte es sich heraus, dass von den Lohntüten, die im Schrank eingeschlossen waren, eine fehlte. Felix Falkner konnte sich jedoch gut daran erinnern, dass er sie vollzählig mitgebracht und auch kontrolliert hatte, bevor er den Schrank abgeschlossen hatte. Den Schlüssel hatte er bei sich getragen, sodass niemand den Schrank ohne Gewalt hatte öffnen können. Er warf alles, was in den Fächern des Schrankes war, heraus und wühlte sämtliche Papiere durch. Aber da half alles Suchen nichts, die Lohntüte fehlte. Er wandte sich nach seinen Leuten um, die ihn neugierig beobachteten. »Es tut mir Leid, Stocker, aber dein Geld ist nicht da!« »Nicht da?«, fragte der Betroffene erstaunt. Der Flussmeister suchte alle seine Taschen durch, in der Hoffnung, sie dort zu finden. »Hm«, brummte er. »Natürlich kann ich dich nicht ohne Geld wegschicken! Aber beim Teufel, wo habe ich es bloß hingebracht?« Einem Gedanken folgend, untersuchte er das Schloss, aber es verriet keinerlei Gewaltanwendung, keine Beschädigung. »Gestohlen worden ist es jedenfalls nicht!«, sagte er. »Es hat niemand den Schlüssel zum Schrank, nur ich, und ich trage ihn Tag und Nacht bei mir!« Die Männer schüttelten verständnislos die Köpfe und murmelten ein paar Worte der Verwunderung. So etwas war noch nie vorgekommen. Der Flussmeister durchwühlte erneut die Papiere. Er stieß einen derben Fluch aus. »Es ist wie verhext! Es ist einfach nicht da! Da bleibt mir nichts anderes übrig, als den Lohn von meinem Geld auszulegen. Irgendwann muss sich die Lohntüte ja finden! Vielleicht habe ich sie doch am Schalter des Büros liegen lassen!« »Sicher!«, meinten die Männer. 125
Auf Grund der Liste zahlte der Flussmeister von seinem Geld dem Mann den Lohnvorschuss aus. Er ging nicht mehr mit seinen Arbeitern hinaus zum Schuppen, sondern suchte weiter und kehrte den ganzen Inhalt des Schrankes um, riss Schublade um Schublade heraus und suchte sämtliche Aktenordner durch. Nichts. Sabine kam herein, um gleich den Schmutz wegzuwischen, den die Männer mit ihren schweren Stiefeln gewöhnlich zurückließen. Erstaunt schaute sie auf den wütenden Flussmeister am geöffneten Schrank. »Eine Lohntüte fehlt!«, sagte er. »Eineinhalb Jahre mache ich das schon, und noch nie hat es so etwas gegeben!« Was sollte sie dazu sagen? Irgendetwas musste sie wohl sagen, immerhin war es seit Tagen wieder das erste Wort, das er an sie richtete. »Sie kann doch nicht verloren gegangen sein?« »Es könnte höchstens einmal passieren, dass ich eine aus Versehen am Schalter liegen lasse. Aber ich habe doch alles kontrolliert, bevor ich es in den Schrank eingeschlossen habe. Ich kann mich genau erinnern!« »Dann müsste die Lohntüte gestohlen worden sein!«, meinte sie. »Dazu muss man zuerst den Schrank aufbrechen. Aber es ist nichts zu sehen.« »War der Schrank abgesperrt?« »Ja.« »Gott sei Dank!« Er warf ihr einen Blick zu. »Wieso sagst du das?« »Sonst käme ich vielleicht noch in Verdacht, das Geld weggenommen zu haben!« Er stutzte, aber mehr über den Ton, in dem sie gesprochen hatte, als über die Worte selbst. »Rede doch keinen Unsinn!« »Ich war heilfroh, als sich damals der Schlüssel wieder gefunden hat! Es hätte ja sein können, dass du den Verdacht bekommen hättest, ich hätte ihn weggenommen.« »Sabine! Habe ich ein Wort darüber gesagt?« »Gesagt nicht, aber eventuell gedacht!« 126
Er schnaubte vor Zorn, sagte aber nichts mehr. »Wir wollen nur hoffen, dass die Lohntüte sich wieder findet wie damals der Schlüssel«, sagte sie und machte sich an ihre Arbeit. »Ich habe dem Mann nun eben von meinem Geld seinen Vorschuss gegeben. Man weiß ja, dass die meisten Leute von der Hand in den Mund leben.« Missmutig räumte er den Schrank ein und schloss ihn ab. Darauf ging er hinaus in den Schuppen, um auch dort noch nach dem Rechten zu sehen. Der kleine Benedikt wartete vergeblich darauf, dass er mit seinem Vater noch zum Wildbach hinaufgehen durfte. Er nahm ihn nicht mit. »Dein Vater hatte heute Ärger, und da will er lieber alleine sein, das nächste Mal darfst du schon wieder mitgehen«, tröstete Sabine den Jungen. Am Abend kam Felix Falkner wieder auf das verschwundene Geld zu sprechen. »War dieser Tage jemand da?«, fragte er, als Sabine, nachdem sie Benedikt in sein Bett gebracht hatte, in die Stube kam. »Nein, ich kann mich nicht erinnern. Außer dem Manfred neulich, der dich zur Abschiedsfeier seiner Schwester einladen wollte, ist schon länger kein fremder Mensch mehr ins Haus gekommen.« Sie bemerkte, dass sich bei diesem Namen sein Gesicht verfinsterte. Nun war sie sicher, dass ihm über ihre Beziehungen zu dem Jungbauern etwas erzählt worden war, was ihn geärgert hatte. Wahrscheinlich hatte man ihr etwas in die Schuhe geschoben, was sein Vertrauen zu ihr erschüttert hatte. Sie zweifelte auch nicht daran, wer sie verleumdet hatte. »Bist du einmal kurz weggegangen, ohne die Tür abzuschließen?«, fragte er nach einer Weile wieder. Sie dachte nach und verneinte es. »Ich kann mir einfach nicht erklären, wo das Geld hingekommen ist! Man kann nicht einmal die Polizei verständigen, weil keine Spur von einem Einbruch zu entdecken ist.« Sabine räumte jetzt die Kleidung und Spielzeug Benedikts weg und schaffte noch Ordnung in der Stube. 127
»Es ist nur gut, dass ich gerade so viel Geld daheim hatte und den Stocker ausbezahlen konnte«, murmelte er vor sich hin. »Sonst hätte ich bis zum Wegscheider hinaufgehen müssen, um es mir von ihm auszuborgen.« »Ich hätte es schon auch auslegen können!«, sagte sie. Aber darauf ging er nicht ein. Schweigend zog er jetzt die Schuhe an. Offenbar wollte er fort. Sie ging jetzt in die Küche, um auch dort noch die letzte Arbeit zu tun. Gleich darauf schon verließ er das Haus. Sie horchte, ob er wohl mit seinem Motorrad wegfuhr, das er immer benützte, wenn er seinen Weg ins Dorf nahm. Aber es blieb alles still.
Ein paar Wochen waren seitdem vergangen. Das Verschwinden der Lohntüte konnte nicht aufgeklärt werden. Es gab keinen Hinweis auf einen Diebstahl, weshalb der Flussmeister daran glauben musste, so unbegreiflich es ihm auch schien, dass das Geld verloren gegangen war. Er musste also den Schaden selbst tragen. Anhaltende und ausgiebige Regenfälle hatten den Pegelstand des Flusses stark ansteigen lassen. Das Gebirge war tief herab mit Wolken verhängt, die düster und triefend die Höhen bedeckten. Dort, wo die Bewölkung einmal kurz aufbrach, schimmerte der erste Neuschnee von der Felsregion herab. Es gab jetzt viel Arbeit am Fluss. Das Hochwasser schwemmte Geröll und Unrat herab, es wirkte hier und dort zerstörend an den Dämmen und Verbauungen. Vom frühen Morgen bis zum Einbruch der Nacht war der Flussmeister mit seinen Leuten im Einsatz. Durchnässt und abgespannt kam er jetzt an den Abenden heim, wo er ein warmes Stübchen und kräftiges Essen vorfand. Sogar die trockenen Kleider lagen bereit, um sein nasses Zeug gleich austauschen zu können. Sabine dachte an alles und umsorgte ihn. Aber es blieb eine Spannung zwischen ihnen. Es wurde nur noch gesprochen, was unbedingt gesagt werden musste, es gab keine Mitteilsamkeit mehr, keine gemüt128
liche Unterhaltung. Nach dem Abendessen fuhr Felix normalerweise gleich wieder fort. Ab und zu gab es immer noch schönes Wetter und Sabine konnte die Wäsche manchmal noch im Freien aufhängen. Abends musste sie dann aber wegen des Nebels auf jeden Fall wieder hereingeholt werden. So ging sie an einem Abend kurz vor der Dämmerung noch vor das Haus, um die Wäsche abzuhängen. Der kleine Benedikt lief hinter ihr her. Aus dem Stall, an dem das Tor offen stand, hörte sie ein polterndes Geräusch. Sie schaute hinein und sah den Vorarbeiter darin herumhantieren. Sie sprachen ein paar Worte miteinander, denn Sabine mochten auch die Arbeiter des Flussmeisters sehr gern. Benedikt nahm ihr den Wäschekorb aus der Hand und lief voran, um ihr schon alles ordentlich bereitzustellen. »Ist es wirklich wahr, was man jetzt manchmal hört? Der Flussmeister wird jetzt so oft mit der Wegscheidertochter gesehen«, fragte der Mann und strich nebenbei seinen widerspenstigen Bart aus dem Mund. Sabine verbarg ihr Erschrecken. »Das weiß ich nicht, Fellner«, antwortete sie. »Ich bin ja nicht dabei.« Der Mann grinste. »Freilich nicht. Aber ich kann es gar nicht fassen, dass er sich mit diesem Frauenzimmer einlassen und vielleicht gar noch ans Heiraten denken könnte. Sie ist ein missratenes Geschöpf, das weiß jedes Kind im Dorf.« »Dann wird er es auch wissen«, meinte sie. »Liebe macht blind!«, grinste der Mann. »Der Wegscheider wäre freilich froh, wenn er dieses Mädchen auf solche Weise losbringen könnt. Da gäbe er bestimmt einen schönen Batzen Geld dazu!« »Mich geht das nichts an, Fellner. Er wird schon wissen, was er zu tun hat.« Sie bemerkte, dass Benedikt weggelaufen war, und eilte ihm nach, denn sie hatte immer Angst, dass er dem Wasser zu nahe käme. Aber der Bub hatte nur den Wäschekorb ordentlich unter der Wäscheleine abgestellt und wartete nun darauf, dass sie nachkam. Die Mitteilung des Vorarbeiters hatte sie völlig durcheinander gebracht. Es war ja 129
furchtbar, dass nun schon die Leute im Dorf von Felix und Julia sprachen! Aber diese Julia wusste anscheinend, wie es eine Frau anstellen musste, um bei Männern Gefallen zu finden. Da sie im Dorf verschrien war und wohl auch bleiben würde, hatte sie wohl begriffen, welch einmalige Chance der Flussmeister für sie war, der sich um die öffentliche Meinung überhaupt nicht kümmerte. Manfred hatte es ihr gesagt, aber sie hatte ihm nicht glauben wollen … Als sie zum Haus zurückkehrten, war es still im Schuppen. Der Vorarbeiter war inzwischen weggegangen, und das Tor war geschlossen. An der Schwelle der Haustür blieb sie überrascht stehen. Sie begegnete dort einem Mann, der anscheinend gerade aus der Stube gekommen war und ihr verlegen zulächelte. Es war nicht der Vorarbeiter, an den sie zunächst gedacht hatte. Der Mann war Guido. »Was ist?«, fragte sie. »Ich möchte zum Flussmeister«, antwortete der Guido mit flackernden und scheuen Augen. »Er ist noch nicht da.« »Wo ist er?« »Drunten am Fluss«, antwortete sie. »Gerade war der Vorarbeiter noch im Schuppen, vielleicht ist er noch da. Er weiß besser Bescheid.« Der Guido nickte. »Dann werde ich ihn schon finden«, sagte er und ging hinaus. Als der Flussmeister am Abend heimkam, überlegte sie, ob sie ihn auf die Begegnung mit Guido ansprechen sollte, aber vermutlich hatte der ihn am Fluss ohnehin getroffen. Es ging sie nichts an, was er gewollt hatte. Vielleicht hatte er nur wieder um Arbeit gebeten, weil man bei der Gemeinde wahrscheinlich schon wieder genug von ihm hatte. Also sagte sie nichts.
Bei der nächsten Auszahlung am Freitagabend war wiederum eine Lohntüte aus dem verschlossenen Schrank verschwunden. Diesmal war es das Geld des Vorarbeiters, und dessen Lohn war um einiges hö130
her, sodass er auch einen höheren Vorschuss bekam. Es kam zur gleichen Szene wie das erste Mal, nur dass der Flussmeister diesmal noch wütender wurde, denn er erkannte jetzt, dass hier keine Leichtfertigkeit und kein Versehen vorliegen konnten, sondern ein ganz gemeiner und raffinierter Diebstahl. Als er sich nach seinen Leuten umwandte, sprang ihm die Wut förmlich aus den Augen, und was er vorbrachte, schrie er so laut, dass die Wände wackelten. Der kleine Benedikt, der bei Sabine in der Küche war, lief furchtsam auf sie zu und hängte sich an sie. »Warum schreit der Vater so?«, fragte er ängstlich. »Ich weiß es nicht. Vielleicht hat er Streit mit einem der Männer. Das kommt schon mal vor. Uns geht das nichts an. Du brauchst dich nicht zu fürchten.« Langsam beruhigte sich der Bub, ging aber nicht mehr von ihr weg. Dann flog plötzlich die Tür auf. Der Flussmeister stand auf der Schwelle. Sein Gesicht war wie aus Stein gehauen. »Heute ist das Gleiche schon wieder passiert«, sagte er mit dumpfer, drohender Stimme. »Diesmal fehlt das Geld vom Fellner.« Ein derbes Fluchwort ließ sowohl das Mädchen als auch das Kind zusammenfahren. Ein leises, ängstliches Wimmern des Kindes brachte Sabine zum Handeln. »Wie viel ist es?«, fragte sie und trat ihm mit blutleerem Gesicht entgegen. Er nannte die Summe. »Es kommt nicht auf ein paar Groschen mehr oder weniger an, sondern, dass es weg ist. Sind denn Diebe im Haus?«, schrie er heraus. Sabine ging an ihm vorbei, verließ den Raum und eilte ihrer Kammer zu. Der kleine Benedikt war hinter ihr hergelaufen und stand nun zitternd und weinend da. Sie setzte ihn auf ihr Bett. »Bleib da, bis ich dich hole«, sagte sie, ging dann an ihren Schrank und raffte eilig das Geld zusammen. Als sie in die Küche zurückkehrte, war niemand mehr da. Sie ging in die Stube, wo sie die Arbeiter in gewohnter Weise der Reihe nach auf der langen Bank sitzen sah. Der Flussmeister stand am Schrank und wühlte in den Papieren. 131
Da ging sie auf ihn zu und legte das Geld auf das Pult. »Hier!« Er schaute sie verwirrt an. »Was ist damit?« »Damit kannst du Fellner seinen Vorschuss bezahlen«, sagte sie ruhig. Ehe er ein Wort der Erwiderung fand, ging sie hinaus, ohne auf die verwunderten Blicke zu achten, die ihr von den Arbeitern folgten. Erst nach einer Weile hörte sie, dass die Männer das Haus verließen. Sofort ging sie in die Stube, um wie immer den Boden aufzuwischen. Es war niemand mehr da. Der Flussmeister befand sich draußen im Schuppen und kontrollierte Geräte und Werkzeuge. Sie erschrak, als er plötzlich hereinkam. In der letzten Zeit hatte er sich so verändert, sie konnte sich kaum mehr vorstellen, wie friedlich und schön es einmal in diesem Haus gewesen war. Warum war es nicht mehr so? Was war geschehen, dass sich alles so verändert hatte? Er vertrat ihr den Weg, als sie weggehen wollte. »Warum hast du das getan?« Sie starrte ihn nur entsetzt an. »Ich meine, warum hast du dein Geld geholt?«, fügte er, sich beherrschend, hinzu. »Damit du dem Fellner den Lohn auszahlen konntest und ich mir nicht Sorgen machen musste, dass du später hier wieder den wilden Mann spielst!«, antwortete sie fest. »Benedikt hat sich vor dir gefürchtet. Merkst du nicht, was du damit anrichtest, so vor dem Kind herumzuschreien? So kann das nicht weitergehen!« »Der Benedikt! Was hat das mit meinem Sohn zu tun? Wer tut ihm denn etwas?«, stieß er hervor. »Es geht um den Diebstahl! Du hast Recht, so kann es nicht weitergehen. Ich muss bei der Polizei eine Anzeige wegen Diebstahls erstatten.« »Ja.« »Gegen unbekannt …« Seine Augen funkelten wie eine angefachte Glut. »Ja, natürlich.« »Du wirst dein Geld zurückbekommen, sobald ich das nächste Mal zur Bank gehe. Ich danke dir für deine Hilfe! In Zukunft kann ich natürlich kein Geld mehr in diesem Schrank lagern.« 132
»Natürlich nicht«, antwortete sie. Er wandte sich ab, und sie verließ die Stube. Gleich darauf holte sie Benedikt aus ihrer Kammer, der mit ängstlichem und bleichem Gesicht auf sie wartete. An seinen Wangen klebten Spuren von Tränen. »Komm nur, es ist alles wieder gut«, sagte sie. »Dein Vater hat sich nur geärgert, weil die Lohngelder nicht gestimmt haben.«
Wenn die alte Mutzlin hinab ins Dorf ging und sich mit müden Schritten auf der Straße dahinschleppte, hatte jedermann mit ihr Mitleid. Man wusste, wie kümmerlich sie sich durch das Leben schlug und wie schwer sie es hatte, das Notwendigste für ihren armseligen Haushalt zu beschaffen. Wer es nicht glauben wollte, der brauchte nur auf ihre ausgemergelte Gestalt und in ihr spitzes, kantiges Gesicht zu schauen. Ihre altmodische, abgetragene Kleidung vollendete das Bild eines Menschen, der an den Gütern dieser Erde keinen Anteil hatte. Der eigentliche Kummer, den sie mit sich herumtrug, waren nicht die dürftigen Verhältnisse, in denen sie lebte, denn daran hatte sie sich schon lange gewöhnt. Weit schwerer trug sie an der Sorgenlast, die ihr durch ihren zurückgebliebenen Sohn Guido auferlegt worden war. Wie oft hatte er sich bemüht, eine Arbeit zu bekommen, doch bei keiner Arbeitsstelle hatte man ihn länger als ein paar Wochen behalten. Er war nun einmal langsam – im Denken, und auch bei der Arbeit. Und so war er immer wieder der Gemeinde zur Last gefallen, die ihn, um ihm das Unterstützungsgeld nicht völlig nutzlos zu schenken, zu einfachen Arbeiten heranzog. Das Geld, das er bekam, trug er allzu oft ins Wirtshaus, ohne darüber nachzudenken, dass er und seine Mutter auch essen mussten. Ging sie also einmal ins Dorf, trug sie einen Korb in der Hand, aber nicht, um darin ihre Einkäufe zu verstauen, denn die waren nicht groß, sondern um die Gaben heimtragen zu können, die ihr gewöhnlich gereicht wurden. Sie war keine Bettlerin. Aber diese und jene Bäuerin, die sie vorbeigehen sah, rief sie ans Fenster und reichte ihr etwas her133
aus. Entweder ein paar Eier oder ein Stück frisch gebackenes Brot oder ein Häuflein Fett und ein Stück Fleisch von der Hausschlachtung. Man hatte Mitleid mit der armen, alten Frau. Sie stieg dann noch hinauf zum Friedhof und zupfte das Unkraut aus dem eingefallenen Grabhügel ihres Mannes. Nur beim Bauern Wegscheider wurde die alte Mutzlin nie gesehen, obwohl der Hof ihrem Haus am nächsten lag. Keine Not und kein Hunger hätten sie vor die Tür dieses Berghofes zu treiben vermocht. Das rührte noch von früher her, als dem Wegscheider ein junges Schwein aus dem Stall gestohlen und ihr Mann sofort des Diebstahls bezichtigt worden war. Es war damals sogar die Polizei ins Haus gekommen. Ob ihr Mann das Schwein wirklich gestohlen hatte, konnte nie einwandfrei festgestellt werden. Gestanden hatte er es jedenfalls nicht, und die Mutzlin hatte nichts von einem Schwein gesehen. Seit dieser Zeit hatte sie nichts mehr mit den Wegscheiderleuten zu tun gehabt und wollte auch nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Ihre Genugtuung hatte sie gehabt, als es hieß, die ältere Wegscheidertochter sei ein Luder geworden. Wenn der Tag erlosch und die Nacht früh über die spätherbstliche Landschaft hereinbrach, saß die alte Mutzlin noch im Dunkeln hinter den zerschlissenen Fenstervorhängen und schaute hinaus, obwohl es kaum etwas zu sehen gab, höchstens, dass der Flussmeister vorbeiging, wenn er noch zum Wegscheiderhof hinauf musste. Gewöhnlich geschah das erst, wenn es schon dunkel war, aber sie erkannte ihn an seiner großen, kräftigen Gestalt und an seinem festen Schritt, wenn er drüben auf dem Wildbachsteg auftauchte. Meistens jedoch gab es durch dieses Fenster nichts zu sehen, wenigstens keine Menschen. Dann schaute sie dem Herbstwind zu, der draußen die Bäume schüttelte. Es waren einsame Stunden, in denen sie das Licht sparte und es zu schade war, ins Bett zu gehen, weil der Ofen noch warm hielt. Das Holz, das sie über den Sommer in den Wäldern gesammelt hatte, reichte den ganzen Winter für ein warmes Stübchen. Der Guido trieb sich draußen irgendwo herum, er lief jeden Abend 134
weg und kam meistens erst spät in der Nacht heim. Wo er sich aufhielt, wusste die Mutzlin nicht, und wenn sie ihn einmal fragte, gab er ihr keine Antwort. Erst als es kalt wurde im Stübchen und ein Frösteln über ihren Rücken lief, kroch die alte Mutzlin in ihr Bett, um dann noch stundenlang wach zu liegen. Sie hörte es noch, wenn der Guido heimkam, in der Stube herumkramte, vor sich hinbrabbelte und dann endlich sein Zimmer aufsuchte. Aber diesmal war es ihr, als hörte sie zwei verschiedene Stimmen, und wenn sie nicht alles täuschte, war die zweite Stimme die einer Frau. Die Mutzlin richtete sich so leise wie möglich in ihrem Bett auf und lauschte angestrengt. Da! Ein leises, kicherndes Auflachen verriet nun eindeutig, dass es sich um die Stimme einer Frau handelte. Da stieg eine böse Ahnung in ihr auf. Sie kroch aus dem Bett, schlüpfte in ihr Kleid und steckte ihre dünnen Haarzöpfe fest. Zwei Gesichter schauten ihr überrascht entgegen, als sie die Stubentür öffnete, aber ihr Blick traf nur die Frau, die Wegscheider-Julia. Guido und sie standen mitten in der Stube beisammen und hielten sich an den Händen, ließen aber in dem Augenblick voneinander ab, als die Mutzlin über die Schwelle trat. »Was willst du denn?«, fragte Guido und trat seiner Mutter entgegen. Aber die Alte schob ihn beiseite und ging auf das Mädchen zu. »Was tust du denn hier bei uns?«, fragte sie. »Das hat dich nicht zu kümmern!«, antwortete der Guido anstelle der Julia. Die Alte achtete immer noch nicht auf ihn, sondern stand jetzt dicht vor dem Mädchen. »Ist dein Ruf noch nicht verdorben genug, dass du nun bis in die späte Nacht hinein mit dem Deppen da herumstreunst?« Das war ein Angriff nach zwei Seiten zugleich. Während das Mädchen nur spöttisch auflachte, geriet der Guido in Rage. »Schau bloß, dass du in dein Bett kommst!«, knirscht er durch die Zähne. »Was wir miteinander haben, das geht dich einen Dreck an!« Doch die Alte konnte sich nicht von Julia abwenden. »Schau, dass du schleunigst hinauskommst!«, rief sie mit überschnappender Stim135
me. »Zu was willst du ihn wohl anstiften, du Schlampe, du minderwertige?« Diese Beleidigung hätte jedes andere Mädchen aus der Haut fahren lassen, nicht aber die Julia. Sie verlor nicht einen Augenblick ihren Gleichmut, sondern lachte nur darüber. Anders Guido: Voller Zorn darüber, dass sie Julia beleidigt hatte, packte er seine Mutter und schleuderte sie gegen die Tür, wo sie mit einem lauten Schrei zu Boden stürzte. Julia stockte der Atem. ›Dieser Vollidiot!‹, dachte sie erbost. Das hätte noch gefehlt, dass Guido in ihrem Beisein seine eigene Mutter umbrachte. Sie hatte ja gleich ein ungutes Gefühl gehabt, als er sie bedrängt hatte, noch zu ihm ins Haus zu kommen. Hoffentlich war der alten Frau nichts passiert! Wie sollte sie ihre Anwesenheit erklären, falls sie Hilfe holen mussten … Sie eilte auf Guidos Mutter zu, half ihr auf und stützte sie. Diese war noch ein wenig schwach auf den Beinen, aber sie schien nicht ernsthaft verletzt zu sein. Julia atmete auf. Guido kam nun auf sie zu, doch voller Zorn stieß sie ihn mit aller Kraft von sich: »Du solltest dich schämen! Pfui Teufel!« Der Guido schrak zurück. »Geh in dein Bett, Mutzlin!«, wandte sie sich dann an die Alte. »Ich geh jetzt auch! Mit einem solchen Grobian möchte ich nichts zu tun haben!« Der Guido streckte seine Hand nach ihr aus, aber sie schlug ihm kräftig auf die Finger und machte ein wütendes Gesicht. Dann ging sie weg und warf die Tür hinter sich zu. Der Guido wollte ihr nachrennen, aber seine Mutter verstellte ihm den Weg. Sie schauten sich eine Weile an. Die Mutzlin rang immer noch nach Atem. Was sie da erlebt hatte, ging über ihr Begriffsvermögen. Der eigene Sohn hatte sich an ihr vergriffen. Das hätte sie niemals für möglich gehalten. Sie schaute auf ihren Sohn, der jetzt vor ihr stand wie ein hilfloses Kind, das den Milchtopf zerbrochen hatte und auf seine Strafe wartete. Das harte Wort, das ihr auf der Zunge lag, blieb unausgesprochen. Sie war zu verwirrt. Sie ließ ihn stehen und kehrte in ihre Schlafkammer zurück. 136
Aber wenn sie gehofft hatte, dass durch diese wüste Szene sich etwas an seinem Lebensstil ändern würde, war es eine Täuschung gewesen. Nach wie vor lief der Guido an den Abenden davon und kam zur späten Nachtstunde heim. Die Julia brachte er jedoch nicht mehr mit. Eines Tages machte die alte Mutzlin eine merkwürdige Entdeckung. Es geschah nicht oft, dass sie in der Wäschetruhe ihres Sohnes herumkramte. Aber hin und wieder musste sie dort die Kleidung hervorsuchen, die zu waschen und zu flicken war. Bei dieser Gelegenheit fiel ihr eine kleine Pappschachtel in die Finger, die mit einer dünnen Schnur zusammengebunden war. Neugierig drehte sie das Päckchen in den Händen, und es ließ ihr keine Ruhe, bis sie die Schnur löste und es öffnete. Die Augen wollten ihr aus dem Kopf fallen vor Überraschung; denn es war Geld, was sie fand. Geld in verschiedenen Banknoten. Sie zählte nach und wunderte sich über die Höhe der Summe. Wo kam dieses Geld her? Als der Guido am Abend heimkam, stellte sie ihn gleich zur Rede. Er war außer sich vor Wut, dass sie seine Sachen durchsucht hatte. Aber sie ließ sich nicht einschüchtern. »Woher hast du dieses Geld?«, schrie sie ihn an. »Gespart!« Sie konnte darüber nur lachen. »Gespart! Wovon denn?«, brüllte sie hysterisch. »Gestohlen hast du es, gib es wenigstens zu!« »Halt den Mund!«, drohte er und hob die Hand. »Ich will die Wahrheit wissen, und solltest du mich umbringen!« Er schäumte vor Zorn und wich zurück. »Von der Julia hab ich's«, antwortete er schließlich. »Wir werden nächstes Jahr heiraten. Gleich im Frühjahr werde ich das Haus richten lassen. Sie will mir nach und nach das Geld dazu geben. Ihr Vater ist reich, er kann und wird uns schon dabei helfen.« »Also habt ihr es dem Wegscheider gestohlen?« »Nein!«, brüllte er. »Wem dann?« »Niemand!« 137
Sie musste sich auf einen Stuhl niederlassen, denn die Beine trugen sie nicht mehr. »Es ist furchtbar mit dir, Guido. Ich kann nicht mehr«, stöhnte sie. »Ich bringe das Geld zur Polizei! Die wird wohl herausfinden, wem es gehört.« Dem Guido wich jeder Tropfen Blut aus dem Gesicht. Mit irren Augen starrte er sie an. »Das wirst du nicht tun, Mutter!«, keuchte er. »Du spinnst! Ich habe nicht gestohlen! Das Geld ist von der Julia!« »Dann gib es ihr zurück!« Einen Augenblick schien er sich nicht schlüssig zu sein, was er nun tun sollte, doch schließlich riss er ihr die Schachtel aus der Hand und nahm sie an sich. »Tust du, was ich sage?«, fragte sie. »Ja«, antwortete er nach einer Weile zögernd und fast tonlos. Dann ging er weg.
12
S
abine arbeitete noch in der Küche, nachdem sie den kleinen Benedikt in sein Bett gebracht hatte. Der Flussmeister war nach dem Essen mit einer Laterne in den Schuppen gegangen, weil er etwas an seinem Motorrad reparieren wollte. Sabine schaute sich nach der Tür um, als sie jemand kommen hörte. Es war Julia, die sie anlachte und freundlich grüßte. »Ich bin lange nicht mehr da gewesen, Sabine, aber seitdem meine Schwester geheiratet hat und weggezogen ist, werde ich mit der Arbeit einfach nicht mehr fertig. Ich gehe in den Stall und helfe danach der Mutter noch in der Küche. Du weißt ja selbst, wann man da zu seinem Feierabend kommt. Du scheinst heute auch spät daran zu sein?« »Ich hab es gleich«, antwortete Sabine zurückhaltend. 138
Julia kam nahe an sie heran. »Du trägst eine nette Schürze! Selbst gemacht?« Sabine nickte. »Es ist bloß eine Arbeitsschürze.« »Aber hübsch! Lass sehen!« Sie war wieder von einer abstoßenden Freundlichkeit und Aufdringlichkeit. Bildete es sich Sabine nur ein, oder war da wirklich auch ein Hauch Schadenfreude zu vernehmen? Natürlich wusste Julia längst, dass es in der letzten Zeit im Flussmeisterhaus nicht mehr stimmte. Und das hatte sie ja gewollt … Die beiden Frauen gingen in die Stube, Sabine nahm die Schürze ab und hängte sie an den Nagel. »Der Flussmeister ist wohl noch unterwegs?«, fragte Julia. »Nein, er ist draußen im Schuppen. Ich glaube, dass etwas an seinem Motorrad zu reparieren ist.« »Ich habe ihm nämlich vom Vater etwas auszurichten. Das werde ich am besten gleich tun, nicht dass er noch wegfährt.« Sie kam lange nicht zurück, es kam überhaupt niemand mehr, und Sabine blieb den ganzen Abend allein. Es war spät, als sie den Flussmeister in der Küche am Waschbecken hörte, wo er seine Hände wusch. Als er dann hereinkam, war sein Gesicht verschlossen wie immer. Sabine packte ihre Sachen zusammen, wünschte ihm eine gute Nacht und zog sich in ihr Zimmer zurück. Am Vormittag des nächsten Tages machte sie sich mit dem kleinen Benedikt auf den Weg ins Dorf, um einige Besorgungen zu machen. In letzter Zeit hatte Felix sich überhaupt nicht mehr darum gekümmert, ob er für den Haushalt etwas mitbringen könnte. Sie machte den Weg jedoch gern, nur um mal wieder herauszukommen aus diesem Haus, in das so große Kälte eingezogen war. Auch der Bub hatte seine Freude daran und plauderte munter drauf los. Der Flussmeister kam vor dem Abend nicht heim, das wusste sie, deshalb hatten sie auch gar keine Eile. Sie kaufte für ihren kleinen Begleiter im Dorf ein belegtes Brötchen, das er auf der Stelle verzehrte. Benedikt fand es herrlich, mit Sabine ins Dorf gehen zu dürfen. Am frühen Nachmittag kamen sie wieder heim, und sie wunder139
te sich, dass die Haustür offen stand. Der Flussmeister saß in der Stube vor seinem Schreibpult und erledigte seine schriftlichen Arbeiten. Morgen war wieder der Tag, an dem er in die Stadt auf das Amt musste. Sonst hatte er dafür alles erst immer am Abend vorbereitet. Sabine spürte wieder die unerträgliche Spannung. Sie arbeitete in der Küche und im Haus, und der kleine Benedikt wich nicht von ihrer Seite. Feinfühlig bemerkte auch er die ungute Stimmung im Haus und lehnte sich noch fester an seine Beschützerin an. Am Abend trat dann die Katastrophe ein. »Ich habe die verloren gegangenen Lohntüten endlich gefunden«, sagte Felix Falkner zu Sabine, und brach damit ein Schweigen, das schon seit Tagen währte. »Wirklich?«, fragte sie, verwundert über den eigentümlichen Ausdruck, mit dem er sie dabei ansah. »Ja, aufgerissen und leer«, fügte er hinzu. »Wo?« Ihre Blicke begegneten sich. »In deinem Schrank!« Sie starrte ihn fassungslos an, und die Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Das ist nicht wahr!«, rief sie dann. »Leider ist es so, ich habe sie selbst gefunden. Es tut mir ehrlich Leid, Sabine. Ich habe es immer für ausgeschlossen gehalten, dass du etwas mit dem gestohlenen Gela zu tun hast, und musste doch Gewissheit haben. Deshalb habe ich heute deinen Schrank durchsucht. Es ist zwar kein schöner Zug von mir, aber der Dieb musste hier im Haus sein, außer uns beiden aber ist niemand da, denn den Benedikt dürfen wir nicht mitzählen. Ich werde mich selbst kaum bestehlen, also …« Sie stand voll Empörung auf und schaute ihn jetzt bebend vor Zorn an. »Und diese Niedertracht traust du mir zu?« »Eben nicht, darum habe ich nichts gesagt, bevor ich mir sicher war.« »Und worin liegt die Gewissheit?« »Die Tüten lagen in deinem Schrank, unten in einer Schublade.« »Jeder Mensch, der ins Haus gekommen ist, kann die Tüten hineingelegt haben, ohne dass ich es bemerkt habe!« Er ging nicht darauf ein. »Auch den Nachschlüssel habe ich gefunden.« 140
»Was für ein Nachschlüssel?« »Ein Nachschlüssel für den Schrank. Er war in der Tasche deiner Arbeitsschürze …« Sie war fassungslos. »Ich bin keine Diebin!«, rief sie und brach in Tränen aus. »Willst du behaupten, dass ich lüge?« Er ging an den Tisch, warf die Tüten hin und den Schlüssel. »Hier! Von selbst stellt mir ein Dieb diese Dinge nicht zu! Verstehst du das nicht?« »Bitte, zeig mich sofort an!« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das werde ich nicht tun. So undankbar bin ich nicht, Sabine. Du hast viel getan für meinen Sohn und auch für mich.« »Ich verlange, dass ich angezeigt werde! Sonst tu ich's selbst!«, rief Sabine aufgebracht. Felix schüttelte den Kopf: »Nein. Es bleibt unter uns, was war, und kein Mensch soll etwas erfahren.« Sabine zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen und flüchtete aus der Stube, rannte die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Sie musste jetzt allein sein. Auch wenn sie unschuldig war, sie würde es nicht beweisen können. Sie hätte Felix sagen können, dass auch Julia die Möglichkeit gehabt hatte, all das zu tun, was er nun ihr selbst vorwarf. Aber wozu? Es war für sie das Ende in diesem Haus, daran gab es wohl nichts mehr zu ändern. In der ersten Verwirrung dachte sie sogar daran, den kleinen Benedikt mit sich zu nehmen, wie sie es einmal, in besseren Zeiten, im Scherz angedroht hatte. Aber natürlich war ihr klar, dass man ihr das als Kindesentführung ausgelegt hätte. In dieser Nacht tat Sabine kein Auge zu. Als am folgenden Morgen der Flussmeister das Haus verlassen hatte, um in die Stadt zu fahren, und auch von den Arbeitern, die aus dem Schuppen das Gerät holten, nichts mehr zu sehen war, zog Sabine Benedikt warm an, denn es war ein kalter Tag und durch die Luft wirbelten die ersten spärlichen Schneeflocken. Sie brachte ihn zum Weg141
scheiderhof und bat die Bäuerin, auf den Buben aufzupassen, bis sie zurückkomme. Sie müsse dringend in die Stadt fahren, und der Flussmeister sei heute auch den ganzen Tag unterwegs. Die Bäuerin erklärte sich gerne dazu bereit, und Benedikt war ja kein Fremder in dem Haus. Er fühlte sich gleich wohl und ging mit dem Wegscheidersohn fröhlich und ahnungslos in den Stall. Niemand sah die Tränen, die Sabine vergoss, als sie auf der schmalen Straße zum Dorf hinabstieg und drunten im Tal über die Brücke des Flusses ging.
Als der Flussmeister am späten Abend heimkam – er war noch im Wirtshaus eingekehrt – fand er das Haus dunkel, verschlossen und leer. Die Stube war ungeheizt. Da glaubte er zu wissen, was vorgefallen war. Er machte Licht und schaute in alle Räume. Auf dem Tisch in der Küche lag ein Zettel. Zögernd griff er danach, bereits ahnend, was darauf stand. Er las: »Ich gehe, denn auch wenn ich an allem unschuldig bin, kann ich unter diesen Umständen nicht mehr im Haus bleiben. Mein erster Weg ist zur Polizei, dort werde ich den Vorfall melden und meine vorläufige Adresse angeben. Ich bitte nur darum, den kleinen Benedikt in dem Glauben zu lassen, dass ich wiederkomme, so lange, bis er mich vergessen hat. Ich habe ihn, bevor ich den Ort verlassen habe, zu Wegscheiders gebracht. Danke noch einmal für alles und ich wünsche das Beste für dich und das Kind. Sabine.« Er steckte den Zettel in seine Tasche. Sein Gesicht glich einer steinernen Maske, die nicht erkennen ließ, was er in diesem Augenblick dachte und fühlte. Gleich darauf ging er aus dem Haus und schloss die Tür zu. Gedankenverloren lief er durch die Nacht hinauf zum Wegscheiderhof. Auf dem Steg der Wildbachschlucht blieb er lange stehen, hielt sich am Geländer fest und schaute hinab in die schwarze Klamm, durch die das Wasser rauschend ins Tal stürzte. Er schaute auf die dunklen, blinden Fenster des verlotterten Hauses der alten Mutz142
lin. Es kam ihm vor wie ein böser Traum, und er erschrak, als ihm bewusst wurde, dass alles Wirklichkeit war. Langsam ging er weiter, vorbei an der morschen Hütte. Er sah nicht, dass sich an einem der dunklen Fenster der zerschlissene Vorhang bewegte. Sein Blick lag auf dem einsamen Licht, das vom Wegscheiderhof herunterschimmerte. Es war im Augenblick sein einziger Trost, dass er zu seinem Sohn kam.
Über Nacht war dann der Winter da. Nach einem heftigen Sturm, der mehrere Tage andauerte, setzte plötzlich starker Schneefall ein. Als Felix Falkner an einem Morgen die Tür aufschlug, lag eine kniehohe Schneedecke vor ihm, die jeden Laut zu ersticken schien. Sogar das Rauschen von der Enge kam heute gedrosselt herab. Er stapfte hinaus zum Schuppen, ergriff eine Schneeschaufel und bahnte sich damit eine schmale Gasse hinaus auf den Damm und rund um das Haus herum. Es war noch immer nicht hell geworden, da kam schon Julia heran. Sie hatte Gesicht und Hände warm eingepackt, war mit einer dicken Hose bekleidet und trug feste Schuhe. Lachend stand sie vor ihm. »Ich hätte nicht gedacht, dass du heute kommen würdest, bei dem tiefen Schnee«, sagte er. »Es war nicht gerade leicht, aber es ging.« Seitdem Sabine das Haus verlassen hatte, besorgte Julia für Felix den Haushalt. Sie betreute den kleinen Benedikt, hielt das Haus in Ordnung und stellte dem Flussmeister, wenn er am Abend heimkehrte, dass Essen auf den Tisch. Das hatte sie ihm selbst angeboten. Der Wegscheider war nicht begeistert gewesen, aber er hatte eingesehen, dass es eine vernünftige Idee war. Er bestand aber darauf, dass Julia zum Schlafen nach Hause kam, sonst hätte es, seiner Meinung nach, im Dorf sofort wieder Gerede gegeben. Aber Julia genügte es schon, wenn sie wenigstens bei Tag in diesem Haus sein konnte, in dem sie eines Tages mit Felix als dessen Frau le143
ben wollte. Sie konnte mit sich zufrieden sein, denn Felix zeigte sich für ihre Hilfe nicht nur dankbar, sondern ließ in letzter Zeit endlich auch erkennen, dass er nicht abgeneigt war, ihre Beziehung zu vertiefen. Sie musste ihm natürlich Zeit lassen, denn sie begriff durchaus, dass er immer noch oft an Sabine dachte. Sie durfte nichts überstürzen und auch keinen Fehler machen. Den größten Kummer bereitete ihr der kleine Benedikt, weil er sie rundweg ablehnte. Er widersetzte sich ihren Liebkosungen, er verweigerte ihr den Gehorsam und oft sogar auch das Essen. Seit Sabine fort war, wurde er immer stiller und verschlossener, magerte ab und hatte auch keine Freude mehr am Spielen. Jeden Tag fragte er nach Sabine. Anfangs gab Julia sich alle Mühe, den Buben für sich zu gewinnen, aber schließlich wurde sie ungeduldig und ärgerlich. Wie kam der kleine Teufelsbraten eigentlich dazu, sie dauernd zurückzustoßen, wo sie doch alles für ihn tat, was ein Kind sich wünschen konnte? Sie beklagte sich beim Flussmeister über Benedikts Widerspenstigkeit, und dieser stauchte das Kind zusammen: »Sabine kommt nicht mehr!«, brüllte er. »Für dich ist jetzt die Julia da, und du hast ihr zu gehorchen!« In seinem Bettchen weinte der Junge, bis der Schlaf ihm die Tränen trocknete. Nach dem Schneefall kam der Frost. In strahlender Sonne schimmerte an den Bäumen der Raureif, an den Gewässern klirrte das Eis, das sich am Ufer entlang gebildet hatte. Felix Falkner und seine Leute waren jetzt täglich im Einsatz, um die Stauungen zu beseitigen und den zugewehten Dammweg frei zu pflügen. Wenn der Föhn kam und Hochwasser mit sich brachte, musste man überallhin Zugang haben. An einem solchen klaren, sonnigen Frosttag begegnete der Flussmeister dem Pfarrer, der eben auf dem Weg zu ihm war. Sie gingen ein Stück miteinander. »Da ich Sabine schon lange nicht mehr in der Kirche oder bei mir gesehen habe, möchte ich doch einmal nach ihr schauen«, sagte der Geistliche. 144
»Sabine ist nicht mehr bei mir, Herr Pfarrer.« Dieser glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Wie?« »Mich wundert, dass Sie noch nichts davon wissen, Herr Pfarrer. Ich habe angenommen, dass sie zuvor noch bei Ihnen war, sonst hätte ich Ihnen Bescheid gesagt.« »Nein, sie war nicht bei mir. Ich weiß gar nichts.« »Als ich an einem Abend heimkam, lag auf dem Tisch ein Zettel, auf dem sie mir mitteilte, dass sie das Haus verlassen habe. Mein Kind sei beim Wegscheiderbauern …« »Allerhand!«, brummte der Pfarrer. »Und warum ist sie weggelaufen?« Der Flussmeister zuckte mürrisch die Schultern. »Wahrscheinlich hat es ihr bei mir nicht mehr gefallen.« »Das denke ich auch«, erwiderte der Pfarrer, ohne dabei seine Gedanken zu verraten. Felix blieb stehen und runzelte seine Stirn. »Kommen Sie jetzt nur nicht auf den Gedanken, dass ich sie durch Annäherungsversuche vertrieben habe!«, sagte er grimmig. »Es ist wahr, ich habe ihr mein ganzes Vertrauen geschenkt, und ich scheue mich nicht, Ihnen zu gestehen, dass ich mich in sie verliebt hatte. Aber ich habe es ihr nie gesagt, weil ich Angst hatte, ich würde sie damit erschrecken. Ich wollte damit warten, warten …« Er schlug sich gegen die Stirn, und wandte sich wieder zum Gehen. Der Pfarrer beobachtete ihn verwundert. »Wenn man einen Menschen liebt, ist es keine Sünde, oder?«, fuhr der Flussmeister fort. »Als ich meine Frau verlor, stand ich da ohne einen Funken Hoffnung, dass es für mich noch einmal eine Freude oder ein Glück auf der Erde geben könnte. Höchstens noch Arbeit und Sorgen um mein Kind. Aber diese Freude und dieses Glück kamen mit Sabine in mein Haus. Ach, was hat das Reden heute noch für einen Sinn! Auf einmal schwand das Vertrauen, es kam zu Spannungen, die sie wahrscheinlich nicht ertrug. Sie lief weg. Aus!« Schweigend gingen sie weiter auf dem weißen Weg. Bei jedem ihrer Schritte knirschte der Schnee. Droben vor der Enge stand das einsame 145
Flussmeisterhaus. Aus dem Kamin stieg der Rauch dünn und kerzengerade zum frostigen, strahlenden Himmel. »Wer hütet Ihr Kind denn jetzt?«, fragte der Pfarrer und sah Felix prüfend an. »Die Wegscheidertochter.« »Die Julia?« Der Flussmeister nickte. »Sie kommt am Morgen und geht am Abend. So will es ihr Vater. Meinetwegen könnte sie auch in meinem Haus schlafen, denn es ist bestimmt kein Spaß, im Winter bei diesem schlechten Wetter hin- und herzulaufen.« »Und es geht gut?« »Ja, es geht gut.« »Auch mit dem Kind?« »Sicher.« Der Pfarrer blieb stehen. »Eigentlich habe ich dann nichts mehr in Ihrem Haus zu suchen, Herr Falkner. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich lieber umkehren. Der Weg ist weit genug bei dieser Kälte.« »Freilich …« Der Pfarrer reichte dem Mann die Hand. »Es tut mir Leid, Herr Flussmeister, wirklich Leid!« »Was tut Ihnen Leid, Herr Pfarrer? Dass ich niemand Besseren gefunden habe als die Julia?« Es klang verbittert und spöttisch. »Dass es überhaupt so gekommen ist!«, antwortete der Pfarrer. »Man muss es nehmen, wie es kommt. Die Hauptsache ist, dass man damit fertig wird.« »Gewiss. Ich wünsche Ihnen alles Gute!« »Danke!«
Wieder einmal kam es zu einer heftigen Szene im Flussmeisterhaus, weil der kleine Benedikt sich seiner Betreuerin immer noch mit allem Nachdruck widersetzte. Felix Falkner war über das verstockte Kind so erbost, dass er ihm eine Ohrfeige gab. Benedikt wusste, Sabine hätte 146
es nie geduldet, dass man ihn geschlagen hätte, sie wäre dem Vater in den Arm gefallen. Langsam begann er, auch den Vater zu hassen. Nachts in seinem Bett weinte er sich fast die Augen aus vor Sehnsucht nach Sabine. »Jeden Tag fragt er, ob denn die Sabine nicht bald käme«, berichtete Julia dem Flussmeister. »Du musst halt Geduld haben«, meinte er. »Eines Tages wird er sie vergessen haben.« »Hast du sie vergessen?«, fragte sie lauernd. Er antwortete nicht gleich. Dann sagte er: »Was heißt vergessen? Ich bin kein Kind mehr. Aber ich weiß auch, was ich zu tun habe. Und ich werde es dir nie vergessen, was du für mich tust.« Es genügte ihr zunächst, dass er so warm und vertraut zu ihr redete. Das andere würde schon von selbst kommen. Er war ein gesunder und junger Mann. Er brauchte eine Frau.
Es war schon spät am Abend, als Felix Falkner noch in der Stube saß und seine schriftlichen Arbeiten erledigte. Die große Kälte war einem lauen Föhnwind gewichen, der eingefallen war und den Schnee feucht und schwer zusammendrückte, die Eiszapfen von den Dachrinnen warf und die Bäume kahl schüttelte. Das Rauschen der Saalach war stärker geworden und wuchs mehr und mehr an. An den Fenstern fegte der Wind vorbei und warf einzelne schwere Regentropfen gegen die Scheiben. Es war eine unruhige Nacht. Wie die Natur draußen, war auch Felix Falkner heute von einer eigenartigen Unrast befallen worden. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, er hatte wirklich keinen Grund, sich in dem Leben, das er jetzt führte, wirklich wohlzufühlen. Benedikt machte ihm große Sorgen. Er lehnte Julia immer noch vehement ab und war durch nichts davon abzubringen. Er fragte zwar nicht mehr täglich nach Sabine, aber das mochte daran liegen, dass Julia mittlerweile sehr gereizt auf diese Fragen reagierte. 147
Und Julia … sie war keine Sabine, was den Haushalt betraf, aber sie machte ihre Sache ganz ordentlich. Und doch schien ohne Sabine im Haus immer noch etwas Wichtiges zu fehlen. Felix Falkner arbeitete so spät noch, um sich zu beruhigen. Aber er fand keine Ruhe. Plötzlich sprang auch noch die Tür auf und erinnerte ihn daran, dass er nicht zugeschlossen hatte, als er heimkam. Er war mit der Julia noch ein Stück den Berg hinaufgegangen, damit sie bei dem Wind sicher heimkam. Am Steg über den Wildbach hatten sie sich getrennt. Jetzt hatte der Wind die Tür aufgeschlagen. Er erhob sich und wollte hinausgehen. Da stand der Guido auf der Schwelle. Er war ohne Hut, der Wind schien ihn von seinem Kopf geweht zu haben. Sein struppiges, ungepflegtes Haar hing ihm in die Stirn. Sein Gesicht glich einer hässlichen Fratze. Er sah zum Fürchten aus, aber der Flussmeister war nicht so leicht zu erschrecken. Er war lediglich empört über die Frechheit, dass Guido einfach bei ihm eindrang und dazu noch zu so später Stunde. Wütend ging er auf ihn zu. »Was wollen Sie?«, brüllte er ihn an. Guido zog eine Schachtel aus der Tasche und warf sie auf den Tisch. »Da! – Es gehört Ihnen.« »Was ist das?« »Geld.« »Was für Geld?« »Das Ihnen gestohlen wurde.« Einen Augenblick stand der Flussmeister regungslos da. Dann griff er nach der Schachtel und riss sie auf. Es war tatsächlich das gestohlene Geld. Jetzt packte er den Guido bei den Schultern und schüttelte ihn. »Wie sind Sie an das Geld herangekommen? Heraus mit der Sprache!« Der Guido rollte die Augen wie ein Irrer, und er stieß hervor: »Sie hat gesagt, ich solle die Lohngelder stehlen, so lange, bis man Sie selbst verdächtigen und absetzen würde. Dann müsse sie auch keine Angst mehr haben, daheim aus dem Haus geworfen zu werden. Sie brachte mir einen Schlüssel, der zu Ihrem Schrank passte. Dann lag ich vor 148
dem Haus auf der Lauer, bis Ihre Haushälterin einmal herauskam, um Wäsche aufzuhängen oder sonst etwas. Ich sprang ins Haus, sperrte auf und nahm eine Lohntüte weg.« Felix Falkner versuchte angestrengt, einen Sinn in Guidos Bericht zu erkennen. Er hatte die leeren Lohntüten in Sabines Schrank gefunden, aber das Geld hatte Guido gehabt. »Sie« war offensichtlich nicht Sabine, sondern jemand anders, das ergab sich aus dem Zusammenhang dessen, was der Mann gerade gesagt hatte. Er hatte Sabines Schrank durchsucht … weil Julia eine Andeutung gemacht hatte, die ihn auf den Gedanken gebracht hatte. Julia war häufig abends bei Sabine gewesen. Sie konnte sowohl den Nachschlüssel gemacht als auch die leeren Lohntüten und den Nachschlüssel später bei ihnen im Haus versteckt haben. Er brauchte wohl nicht mehr zu fragen, wer die Auftraggeberin von Guido war. Seine Brust dehnte sich, als müsste sie zerspringen. »Und weiter?«, schrie er und schleuderte den Guido an die Wand. Der schien es gar nicht zu beachten. »Nächstes Frühjahr wollte sie mich heiraten«, fuhr er fort. »Ich sollte das Geld behalten und das Haus damit herrichten lassen. Heute Abend habe ich mit ihr gesprochen, aber sie hat mich ausgelacht und verspottet und hat mich einen Dorfdeppen geheißen …« Der Guido stöhnte und krümmte sich. »Auf dem Steg war es, wo ich auf sie gewartet habe …« Felix Falkner hatte plötzlich Mitleid mit Guido. »Bist ein armer Hund!«, sagte er, ging an den Tisch und zählte das Geld nach. Es stimmte bis auf den letzten Groschen. »Weil du gestanden hast und sogar selbst zu mir gekommen bist, mache ich keine Anzeige, Guido. Ich gebe dir sogar wieder Arbeit, wenn du willst.« Es kam keine Antwort. Unheimliche Stille war im Raum. Am Fenster klopfte der Wind, er heulte vor der Tür, als wäre er in den Gang eingedrungen. »Hörst du, Guido?« Doch als er sich umwandte, sah er sich allein. Er eilte hinaus, die Haustür stand offen und wurde im Sturm hin und her geworfen. 149
Felix ging hinauf über die Stiege und schaute nach seinem Sohn. Er schlief. Der Mann stöhnte auf, denn erst langsam wurde ihm bewusst, was Julias heimtückische Intrige alles ausgelöst hatte: Sabine war fortgegangen, nachdem er sie fälschlich des Diebstahls verdächtigt hatte. Seinen Sohn hatte er dann dieser Schlange Julia ausgeliefert. Er hatte ihn sogar einmal geschlagen, weil er sich ihr widersetzt hatte. Wie hatte er nur so blind sein können! Er kehrte in die Stube zurück, schlüpfte in seine Stiefel und in seine Jacke und zog die Mütze über den Kopf. Dann verließ er das Haus, sperrte die Tür zu und stieg durch den Matsch gegen den Berg an. Am Steg des Wildbaches klammerte er sich am Geländer fest, um bei der Nässe nicht abzurutschen. Er ging vorbei an der Hütte der Mutzlin, die wie ein verlassenes Wrack dunkel am Weg lag. Auch der Wegscheiderhof lag völlig im Dunkeln. Als er näher kam, raschelte das Stroh in der Hundehütte. Er brauchte nur ein paar Worte zu sagen, und der Hofhund beruhigte sich wieder. Es kannte ihn bereits, denn er war oft genug da gewesen. Laut und kräftig polterte er an die Tür, bis ein Fenster aufging. »Was ist los?«, fragte der Bauer. »Ich bin's, der Flussmeister.« »Was ist denn passiert?« »Ich muss sofort mit Julia sprechen.« An der Stimme des Flussmeisters mochte der Bauer erkennen, dass etwas Schlimmes vorgefallen sein musste. »Gleich!«, sagte er und schloss das Fenster. Das laute Klopfen hatte auch den Sohn geweckt, er war schneller an der Tür als der Vater und ließ den Flussmeister ein. Sie gingen in die Stube. Felix Falkner musste erst verschnaufen. Inzwischen kam auch der Bauer. »Es tut mir Leid, Wegscheider, aber ich kann nicht bis morgen warten. Gerade eben habe ich erfahren, dass deine Tochter, zusammen mit Guido Mutzel, für den Diebstahl der Lohntüten in meinem Haus verantwortlich ist. Sie hat meinen Schrankschlüssel gestohlen und sich ei150
nen Nachschlüssel machen lassen. Dann hat sie den Schlüssel wieder heimlich zu mir ins Haus gebracht, und Guido hat sich dann bei passender Gelegenheit mit dem Nachschlüssel ins Haus geschlichen und eine der Lohntüten mitgenommen. Julia hat die Sabine in Verdacht gebracht, indem sie den Nachschlüssel und die Lohntüten in Sabines Sachen versteckt hat und mich durch Andeutungen dazu gebracht hat, misstrauisch gegen Sabine zu werden. Jetzt ist mir alles klar! Alles! Oh, ich Idiot!« Der Bauer warf seinem Sohn einen Blick zu. »Hol sie her!«, befahl er mit düsterem Gesicht. »Ich kann sie nicht verteidigen und will es auch nicht«, sagte er. »Sie soll dafür büßen, und müsste ich sie selbst anzeigen. Auf eine Schande mehr oder weniger, die sie mir schon gemacht hat, kommt es nun nicht mehr an.« Er sagte es verbittert und verzweifelt. Die Bäuerin kam herein. »Was ist denn nun schon wieder passiert?«, fragte sie erschrocken, als sie die ernsten Mienen der beiden Männer sah. »Die Julia …«, setzte der Bauer an, dann verstummte er wieder. »Was hat sie getan?« Niemand antwortete. Manfred kam zurück und wandte sich an den Vater. »Sie ist nicht daheim, das Bett ist unberührt«, sagte er. Felix zog die Mütze wieder über den Kopf. »Nichts für ungut«, wandte er sich an den Bauern. »Ich weiß nicht, was diese Nacht noch geschieht, aber ich bitte schon jetzt um Verzeihung, gewissermaßen als Vorschuss!« Rasch ging er fort. »Er ist verrückt!«, sagte Manfred. »Er wird doch nicht …?«, fragte die Bäuerin, als wäre ihr ein schrecklicher Gedanke gekommen. »Was meinst du denn?«, fragte der Wegscheiderbauer. »Er braucht sie nur irgendwo anzutreffen. Er ist stark wie ein Bär und weiß vielleicht gar nicht, wie weit er gehen darf.« Jetzt hatten sie alle verstanden. »Ich gehe ihm nach«, entschloss sich Manfred und machte sich fertig. 151
13
D
er neue Tag brach an wie jeder andere. Nach einer schlaflosen Nacht betrat der Flussmeister die Stube und machte Licht. Alles war leer, furchtbar leer. Er ging in die Küche und schaute im Kühlschrank nach Milch, die er für den kleinen Benedikt wärmen wollte. Er fand auch ein Stück Brot und Butter. Er wusste, dass er heute alles selbst machen musste; es würde niemand mehr kommen, um ihm zu helfen. Seine Leute traten die Arbeit an. Er hörte sie im Schuppen. Der Vorarbeiter meldete sich, um sich Anweisungen geben zu lassen. »Wie ist das Wetter, Fellner?«, fragte der Flussmeister. »Der Wind lässt nach, es wird wieder kalt.« »Der Wildbach hat vielleicht Geröll herabgeschwemmt. Man musste die Stauungen wegräumen.« »Ist recht.« »Noch etwas, Fellner. Es kann sein, dass ich ein paar Tage nicht da bin. Nehmen Sie die Schlüssel zu sich und machen Sie selbst, was zu tun ist. Ich muss dringend weg. Das Amt verständige ich telefonisch.« Der Vorarbeiter schaute verwundert auf, fragte aber nicht weiter, sagte nur: »Sie können sich auf mich verlassen!« »Das weiß ich, Fellner. Macht es gut!« Darauf holte er den kleinen Benedikt aus dem Bett. »Wir müssen uns gleich fertig machen, weil wir wegfahren.« In dem Kind erwachte die Neugierde. »Wohin?« »Wir holen Sabine zurück.« Eine Weile schaute der Bub ihn ganz verwirrt an. »Ja! Ja!«, rief er dann voll Freude. Felix hatte die schlaflose Nacht damit verbracht, sich genau zu über152
legen, was er jetzt zu tun hatte. Zuerst führte ihn der Weg zur Polizei. Der Dienst habende Beamte empfing ihn freundlich und bedauerte wortreich, dass der Diebstahl in seinem Haus bis jetzt noch nicht aufgeklärt werden konnte. Der Flussmeister ging nicht darauf ein, er wolle nur wissen, ob hier bei der Dienststelle die Adresse der Sabine Burger bekannt sei. »Natürlich, die Angaben wurden sogar überprüft«, antwortete der Polizist. »Deshalb kann ich mir auch nicht vorstellen, dass sie es war, die den Diebstahl begangen hat. Immerhin hat sie ihn ja auch selbst angezeigt.« »Nein, ich glaube auch nicht daran. Ich möchte lediglich wissen, wo sie sich jetzt befindet.« Der Beamte blätterte in dem Akt nach. »Sie arbeitet im städtischen Altersheim in Vorwald und wohnt auch dort. Wir haben schon drei Tage später von ihr die Meldung erhalten.« »Dann hat sie schnell eine neue Stellung bekommen«, meinte der Flussmeister. »Bei dem heutigen Personalmangel …« »Danke!« Der kleine Benedikt durfte zum ersten Mal im Zug fahren. Das war ein Festtag für ihn, schon deshalb, weil er den Zweck der Reise wusste: Sie holten Sabine zurück … Als sie dann vor einem großen grauen Gebäude standen, das von einer verschneiten Parkanlage umgeben war, zögerte der Flussmeister lange, ehe er sich zum Eintritt entschließen konnte. »Ist die Sabine im Haus?«, fragte der Bub. »Ja.« »Warum gehen wir nicht hinein?« »Natürlich gehen wir hinein«, antwortete der Mann und drückte auf die Klingel. Die Tür öffnete sich, aber es war kein Mensch da, sie standen in einem breiten, kahlen Vorraum. Eine Flügeltür aus Glas führte weiter in das Innere des Hauses. Auf den Gängen sahen sie einige Leute gehen oder herumstehen. Eine Pflegerin kam auf sie zu. »Zu wem möchten Sie?« 153
»Ich möchte Sabine Burger sprechen, die hier arbeitet.« »Einen Moment bitte. Ich hole sie her.« »Danke!«, sagte der Flussmeister und atmete schwer. Benedikt und er schauten der Pflegerin nach, als sie den Gang entlang lief und dann durch eine der vielen Türen verschwand. »Kommt sie jetzt?«, fragte der Bub flüsternd. »Ja, sie wird kommen.« Der Mann hielt die kleine Hand des Kindes fest, doch plötzlich löste Benedikt sie aus der des Vaters, stieß einen Freudenschrei aus und rannte los. Felix sah auf. Sabine kam auf dem langen Flur heran, und da war der kleine Benedikt auch schon bei ihr und warf seine Arme um sie. Felix sah, wie sie erschrak, sich dann aber zu dem Kleinen hinabbeugte, ihn auf die Arme nahm und an sich drückte. Da würgte es ihn wieder in der Kehle, als müsste er laut aufschreien. Er sah die Tränen in den Augen von Sabine, als sie jetzt zögernd auf ihn zukam. »Sabine!« Sie blickte sich um. »Gehen wir hinaus in den Vorraum«, sagte sie und ging voran. Er folgte ihr. Benedikt hatte seine Arme um ihren Hals gelegt, als dürfte er sie nie mehr loslassen. Sie waren jetzt allein. »Ich bin ein Trottel gewesen, Sabine, ein ganz idiotischer!«, stieß er hervor. »Es ist so albern, wenn ich dich jetzt um Verzeihung bitte, denn das tut jeder, der Unrecht bereut. Aber ich möchte dir etwas ganz anderes sagen und weiß jetzt nicht, wie ich beginnen soll!« Sie wischte die Tränen aus den Augen. »Man hat ein Verbrechen begangen!«, fuhr er fort. »Ich habe es nicht durchschaut. Ich habe mich wie ein Idiot an der Nase herumführen lassen.« »Es hat sich aufgeklärt?«, fragte sie. »Ja.« »Alles?« »Alles!« 154
Sie schaute jetzt den Mann an, der in seiner Hilflosigkeit zerknirscht dastand. Alles kam ihr wieder in Erinnerung, das einsame Haus am Fluss, das Rauschen der Saalach droben an der Enge, die Berge und Wälder, der Mann, der am Abend heimkam von weiten Wegen und schwerer Arbeit, robust und stämmig … Das Kind fand das ganze Gerede viel zu weitschweifig. Es war doch alles ganz einfach: Sie waren gekommen, um Sabine abzuholen. »Warum macht du dich nicht fertig?«, fragte er. »Hast du vergessen, dass wir heute kommen?« »Es liegt jetzt wohl viel Schnee um das Haus?«, fragte sie, nur um etwas zu sagen. Der Bub beschrieb ihr die Landschaft und den Winter am Fluss. »Machst du dich jetzt fertig?«, fragte er wieder. »Morgen. Heute geht es nicht mehr«, antwortete sie. »Warum nicht?« »Ihr seid einen Tag zu früh gekommen!« Sabine zwinkerte Felix zu. Das Kind schaute auf seinen Vater. »Es stimmt schon, Benedikt«, bestätigte der Mann lächelnd und zwinkerte zurück. »Ich habe mich in den Tagen verzählt.« Der Junge war enttäuscht. »Wir übernachten in der Stadt und holen Sabine eben morgen ab!«, fügte Felix hinzu. Damit war der Bub einverstanden. So fuhren sie in die Stadt und schliefen in einem kleinen, hübschen Zimmer eines Gasthauses. Als Benedikt am Morgen erwachte und sich befremdet umschaute, sah er den Vater schon völlig angezogen am Fenster stehen. Es war heller Tag, und dichter Nebel stand vor dem Fenster. »Ich bin wach!«, rief der Junge, nachdem er sich erinnert hatte, wo sie überhaupt waren. »Das ist recht, dann werden wir dich gleich anziehen.« Benedikt sprang aus dem Bett, ließ sich waschen und anziehen, und dann gingen sie hinab in die Gaststube, um zu frühstücken. Der Flussmeister ging zum Telefon, suchte aus dem Buch die Nummer, die er wählen wollte, und sprach dann eine ganze Weile in den 155
Hörer. Als er an den Tisch zurückkam, machte er ein fröhliches Gesicht. »Sabine kommt gleich«, berichtete er. »Fahren wir zusammen heim?« »Ja.«
Sie waren vom Bahnhof des Nachbarortes bis zur Brücke mit dem Taxi gefahren, den Rest des Weges mussten sie zu Fuß zurücklegen. Der Himmel klarte sich auf, es gab wieder Frost. Felix trug seinen Sohn auf der Schulter. Sabine folgte ihm. »Ich freue mich wieder auf das Rauschen der Saalach«, sagte sie. »Wenn du dich nur nicht davor fürchtest, im Frühjahr, wenn sie Hochwasser führt!«, meinte er. »Nein, ich fürchte mich nicht mehr.« »Wenn du dieser Tage zum Pfarrer gehen möchtest, wäre es mir recht. Er soll alles erfahren!« »Das will ich gern tun«, erwiderte sie und sah ihn ernst an. Er blieb plötzlich stehen, denn von droben kam ihnen der Vorarbeiter entgegen. »Der Fellner?«, fragte er sich. »Was will er wohl?« Der Mann kam heran. Der Flussmeister stellte den Jungen auf die Beine. »Ist etwas los, Fellner?« Der Mann nickte. »Sie müssen sofort zur Polizei kommen, Herr Falkner!« »Ich?«, wunderte sich Felix. »Was soll ich denn dort?« »Man hat mich beauftragt, es Ihnen sofort zu sagen, wenn Sie zurückkommen!« Felix merkte, dass der Mann in Sabines Gegenwart und der des Kindes nicht sagen wollte, was passiert war. Er sah das erschrockene Gesicht von Sabine. »Es ist mir nichts davon bekannt, dass ich unter Polizeiaufsicht stehe!«, sagte er heiter. »Aber wenn es schon so wichtig ist, möchte ich die Herren Gesetzeshüter doch nicht warten lassen.« Er gab Sabine die Schlüssel in die Hand. »Ich komm gleich nach«, sagte er. »Du kennst 156
dich ja aus daheim.« Sabine nahm Benedikt an sich und ging mit ihm weiter. Der Flussmeister kehrte um, vom Vorarbeiter begleitet. »Jetzt reden Sie, Fellner! Was gibt es?« Der Mann berichtete ihm jetzt, dass sie gestern am Vormittag in der Talsperre des Wildbaches etwas schwimmen sahen, was wie ein menschlicher Körper aussah. Sie hatten sofort die Bergung vorgenommen, aber leider zu spät, das Unglück musste schon während der Nacht geschehen sein. Die Leiche sei bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt gewesen, man hatte lediglich feststellen können, dass es sich um eine Frau handelte. »Natürlich haben wir sofort die Polizei gerufen, die dann den Fall in die Hand genommen hat. Schon wenige Stunden später war die Mordkommission da«, berichtete der Mann. »Weiter!«, drängte Felix den Fellner ungeduldig. »Es wurde festgestellt, dass es sich um das Opfer eines Verbrechens gehandelt hat.« »Wurde die Leiche identifiziert?« »Ja.« »Die Wegscheider-Julia?« »Ja, sie war es. Woher wissen Sie das, Herr Flussmeister?« »Weil ich nichts anderes mehr erwartet habe«, sagte Falkner düster. »Wer mit dem Feuer spielt, kommt darin um, heißt ein altes Sprichwort. Die Julia hat in letzter Zeit meinen Haushalt geführt. Natürlich möchte man mich bei der Polizei verhören. Das versteht sich von selbst. Was sagen die Wegscheiders dazu?« »Es war ein großer Schrecken für sie und auch für das Dorf.« »Das kann ich mir denken. Die Leute tun mir Leid, Fellner, denn ein solches Ende haben sie sicher nicht erwartet.« Als Felix Falkner sich bei der zuständigen Dienststelle meldete, war außer dem wachhabenden Polizisten auch ein Kriminalbeamter in Zivil da, der offenbar diesen Fall zu bearbeiten hatte, denn er kam sofort auf ihn zu, als er sich vorgestellt hatte. Der Flussmeister schilderte alles wahrheitsgetreu, was sich in jener 157
Nacht zugetragen hatte, als Guido ihm das gestohlene Geld wiedergebracht hatte. »Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich ihr in diesen Stunden begegnet wäre«, beschloss er seinen Bericht. »Gott sei Dank habe ich sie nicht mehr gesehen.« »Und wie wollen Sie mir nun erklären, dass Ihnen ein anderer diese Arbeit abgenommen hat?«, fragte der Kriminalbeamte. »Ich glaube, dass ich es Ihnen nicht nur erklären, sondern auch beweisen kann!«, antwortete der Flussmeister ruhig. »Nur wenn es in jener Nacht geschah, bevor ich mit meinem Kind wegfuhr, reicht mein Alibi nicht aus, im Gegenteil, man könnte annehmen, dass ich mich aus dem Staub machen wollte. Ich wundere mich sowieso, dass man noch keinen Haftbefehl gegen mich erlassen hat.« »Das kann jederzeit geschehen!« »Es wird nicht nötig sein. Nach allem, was der Mutzel-Guido zu mir gesagt hat, bin ich sicher, dass er die Tat begangen hat. Wie ich Ihnen geschildert habe, hat Julia ihn benutzt, um meine Haushälterin aus dem Weg zu schaffen, weil sie sich selbst bei mir einschleichen wollte, was ihr leider nur allzu gut gelungen ist. Sie hat ihn dazu gebracht, indem sie ihm weismachte, sie wolle ihn heiraten. Der Mann ist geistig zurückgeblieben und hat ihr jedes Wort geglaubt. In jener Nacht, hat er mir gesagt, hat er sie auf ihrem Heimweg abgepasst, doch sie hat ihm ins Gesicht gelacht und gesagt, er sei ein Trottel und sie werde ihn nicht heiraten. Daraufhin hat er wohl die Kontrolle über sich verloren. Ich bin sicher, dass er es war. Als er mir das Geld zurückbrachte, war der Mord wohl bereits geschehen. Ich stelle mich gern zur Verfügung, so lange, bis die Tat aufgeklärt ist. Ich möchte Sie nur bitten, mich dem Mutzel-Guido gegenüberzustellen.«
Die Dunkelheit war eingebrochen, als Felix in Begleitung des Kriminalbeamten und eines Polizisten vor dem Mutzelhaus ankam. Die Tür war versperrt, die Fenster alle dunkel. Die Hütte machte wieder den Eindruck eines verlassenen Wracks. 158
Felix klopfte fest an die Tür. Nichts rührte sich, niemand kam, um zu öffnen. Sie sahen sich einen Augenblick an. »Aufmachen! Polizei!«, rief der Wachtmeister zu den oberen Fenstern hinauf. Nichts. Keine Antwort. Felix Falkner ahnte, dass hier etwas nicht stimmte. Er warf sich ein paar Mal gegen die Tür, bis sie aus den Angeln sprang. Die Stablampe des Polizisten flammte auf. Sie drangen in das Haus ein und betraten zuerst die Stube. Die Mutzlin kauerte am Boden an die Wand angelehnt. Sie stöhnte und vermochte sich anscheinend nicht aufzurichten. An ihrem Hals waren Würgemale. Felix eilte auf sie zu, hob sie vom Boden auf und legte sie auf eine alte Liege. Die Blicke der Alten verrieten, dass sie wohl kurz zuvor erst die Besinnung wiedererlangt hatte. Sie schaute verwundert und furchtsam um sich. »Ich bin es, der Flussmeister, Mutzlin!«, rief Felix. »Was ist denn geschehen?« »Er wollte mich umbringen«, keuchte sie. »Mein eigener Sohn wollte mich umbringen!« Sie musste sich immer wieder verschnaufen, ehe sie weitersprach. »Da bin ich gestanden am Fenster und hab auf ihn gewartet. Er stand draußen auf dem Steg. Dann kam sie, die junge Wegscheiderin. Ich habe gehört, wie sie einander anschrien – und dann würgte er sie, bis sie über das Geländer hinabstürzte …« Die drei Männer schauten sich an. »Die ganze Nacht kam er nicht heim, auch am nächsten Tag nicht, erst heute Abend«, fuhr die alte Frau keuchend fort. »Da hab ich's ihm gesagt, was er getan hat und dass er ein Mörder sei …« Sie wussten genug. Der Kriminalbeamte wechselte mit dem Polizisten ein paar Worte, der gleich darauf die Stube verließ, um das Haus zu durchsuchen. »Was sollen wir mit der Mutzlin machen?«, fragte der Kriminalbeamte den Flussmeister. 159
»Ich laufe zum Wegscheider hinauf, vielleicht kann man sie dort aufnehmen. Man darf sie jetzt nicht allein lassen!« Der Kriminalbeamte nickte. Bevor Felix sich auf den Weg machte, trat der Wachtmeister mit dem völlig verstörten Guido in die Stube, den er in seiner Kammer vorgefunden hatte. Widerstandslos ließ er sich nun Handschellen anlegen und von den beiden Beamten abführen.
Sabine musste lange warten, bis der Flussmeister in dieser Nacht heimkam. Der kleine Benedikt war längst glücklich und selig eingeschlafen; er hatte ja seine Sabine wieder. Als sie ihn ins Bett brachte, strich er ihr noch über die Wangen. »Mutter!«, flüsterte er dabei und drückte sein Gesicht an sie. »Ich bin nicht deine Mutter, Benedikt!«, sagte sie verwundert. »Der Vater hat gesagt, ich darf dich so nennen! Und ich will es! Du bist meine Mutter. Ja? Bist du's?« Da konnte sie nicht anders, als zu nicken. Sie hatte die Stube warm eingeheizt und warf immer wieder einen bangen Blick auf die Uhr. Es ging schon auf Mitternacht zu, als der Flussmeister endlich völlig erschöpft ankam. »Die Wegscheider-Julia ist tot, Sabine. Der Guido hat sie umgebracht, und beinahe hätte er auch noch seine Mutter getötet, weil sie Zeugin seiner Tat geworden war.« Sie starrte ihn mit blassem Gesicht an. »Die Einzelheiten erzähle ich dir später. Machen wir dem Entsetzen für heute ein Ende! Reden wir lieber von dir … und von mir: Ich bin ein Hornochse und habe alles falsch gemacht, was ein Mensch nur falsch machen kann. Ich habe gesprochen, als ich hätte schweigen sollen, und geschwiegen, als ich hätte reden müssen. Im Nachhinein ist mir klar, wie dumm ich mich benommen habe. Ich hätte dir mehr vertrauen müssen … ich hätte auch darauf vertrauen müssen, dass du nicht vor mir davonläufst, wenn ich dich frage, ob du meine Frau wer160
den willst. Benedikt ist in dieser Hinsicht viel klüger als ich!«, fuhr er fort. »Wie der Pfarrer so gern aus der Bibel zitiert: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, dann könnt ihr nicht ins Himmelreich eingehen …« »Dann wollen wir eben so sein wie Kinder!«, sagte sie lächelnd. »Große Kinder, die von den kleinen lernen müssen, wie man seine Liebe verschenken kann, ohne etwas dafür zu fordern!« Er schaute sie bewundernd an. »Sabine, du bist wunderbar. Wie sehr habe ich dich vermisst!« »Ich bin wieder bei euch und freue mich, weil ihr mich braucht.« »Und ich werde dich nie mehr gehen lassen!«
161