Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 40
Im Land des Nebels von Hans Kneifel
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – Der Atl...
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Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 40
Im Land des Nebels von Hans Kneifel
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – Der Atlanter dringt in das Land des Nebels ein. Vesta – Gefangener auf der Insel des Namenlosen. Aethia – Ein Mädchen aus dem Stamm der Vogelmenschen. Aethon – Ein Mann, der Dragon sein Leben schuldet. Aerula – Der Luftgeist stellt eine Frist. Seit der Stunde, da Arric der Rote seinen schändlichen Verrat beging und das Tor zwischen Dragons und Danilas Welt für immer verschloß, sind der Atlanter und sein Gefährte Ubali zu Gefangenen einer wilden und bizarren Umgebung geworden. Um sich behaupten zu können, müssen sie um ihr Leben kämpfen – und zwar jeder für sich, denn sie sind getrennt worden. Beide Männer haben wenig Hoffnung, ihre eigene Welt jemals wiederzusehen – dennoch geben sie nicht auf! Während Ubali, der Panther, den mannigfaltigen Gefahren des Dschungels trotzt und sich mit Thamai auf den langen Marsch in das Land Vitus macht, hat Dragon mit dem »Erbe des Träumers« eine tödlich gefährliche Mission übernommen. Dies zeigte sich besonders deutlich in dem Moment, als der Atlanter die Ruinen von Merlane erreichte, auf die »Ritter der Wüste« traf und am großen Turnier zum Ruhme Erthus teilnahm. Dragon, der Sieger des Turniers, wurde zum Verfemten und Gejagten – bis sich schließlich das Blatt wendete und Erthu, der Erdgeist, den Atlanter in den Augen der Merlaner rehabilitierte. Erthu erklärte sich auch bereit, Vesta, dem auf der Insel des Namenlosen gefangenen Herrn der Elemente, wieder Gehorsam zu leisten und das durch Akkeron drohende Chaos abwenden zu helfen – unter der Bedingung jedoch, daß es Dragon gelingt, Aerula, den Luftgeist, zu erreichen und zu überzeugen. Dies will Dragon versuchen, aber sein Weg scheint ein jähes Ende zu finden IM LAND DES NEBELS ...
1.
Die Mittagssonne tat seinen Knochen gut. Sie brannte auf den goldgelben Pelz, durchdrang ihn, wurde von der mächtigen schrägen Steinplatte aufgefangen und wärmte den Hals und den Bauch des alten Felsenlöwen. Er sah schräg hinunter in das kleine Tal, in dem der Mensch arbeitete. Seit zwei Nachtwechseln fügte der Mann Holz aneinander, verband es mit Klammern und dehnbaren Stricken, baute ein dreieckiges Ding, das jetzt fertig zu sein schien. Zweimal hatte der Felsenlöwe den Mann dort unten angegriffen. Er war alt und mußte aus dem Hinterhalt kämpfen, um noch Beute machen zu können. Sein Fell war räudig, der Kalk saß in den Gelenken, und die Zähne wackelten. Zweimal hatte der Mann den Angriff schnell und entschlossen abgewehrt. Das erstemal war ein Felsen von der Größe eines Kinderkopfes gegen den Hals des Löwen geprallt und hatte das Tier halbwegs vom Felsen gewischt. Das zweitemal war ein Pfeil in einen der Hinterläufe eingedrungen. Der Schaft brach ab, als der alte Löwe auf seiner Flucht sich am Stein scheuerte. Die Spitze blieb unter dem Fell stecken und eiterte jetzt langsam aus. Diese Krankheit schwächte den Löwen, dessen Augen noch immer scharf waren. Sie bewegten sich blitzschnell, und sonst verrieten nur der Schatten und die züngelnde Schwanzspitze, daß das Tier lebte. Ein drittesmal, dies wußte das Tier, griff er nicht mehr an. Obwohl der Hunger in seinen Eingeweiden wütete,
würde das Tier nur dann sich auf den Mann stürzen, wenn er unbewaffnet war. Und das war er seit Tagen nicht mehr. Zuerst war im Innern des Berges ein großer Lärm gewesen. Dann war dieser Mann herausgekommen, mit allen seinen furchtbaren Waffen – aber als er die schimmernde Eisfläche gesehen hatte, war er wieder in den Berg zurückgegangen, um etwas zu holen. Und jetzt baute er dort etwas. Er hämmerte und fügte zusammen, er verband und arbeitete mit einem kleinen scharfen Ding, mit dem er Fäden durch Stoffteile zog. Keinen Augenblick ließ er die Waffen, die griffbereit in seiner Nähe lagen, aus den Augen. Wind war aufgekommen, vor Stunden schon. Er brachte Sand mit sich. Langsam wandte der Felsenlöwe den Kopf und spähte in Richtung der aufgehenden Sonne. Dort erkannte er die riesige tiefliegende Wolke, die immer dort war, und dahinter den Berg, der jetzt im Dunst des Horizonts verschwunden war. Die Sonne war im Mittag. Die Hitze tat dem alten Löwen gut, aber er hörte und spürte das Grollen in seinen leeren Gedärmen. Er würde heute nacht wieder Ratten und Schlangen fangen müssen. Langsam schüttelte er seinen eckigen Schädel mit den langen, silbernen Schnurrhaaren und der schütteren Mähne, in der die Insekten krabbelten. Unmerklich wanderten die Schatten. Die Zeit verging wie jeden Tag. Der Wind, der jetzt heißer geworden war, warf dem Löwen Sandkörner in die Augen. Das Tier zwinkerte und übersah den Schatten, der in diesem Augenblick vor ihm über die Felsplatte wischte. Der Mann dort unten stand auf, befestigte Tuch an dem dreieckigen Gestell und trat mehrere Schritte
zurück. Er betrachtete stolz seine Arbeit, ebenso stolz, wie der Löwe in seinen frühen Tagen seine schnurrenden Weibchen oder eine frisch gerissene Beute betrachtet hatte. Von der kleinen Schlucht bis zum Rand der spiegelnden Fläche waren es mehr als fünfhundert Schritte dieses Menschen, also mehr als dreihundert Sprünge. Der Löwe glaubte zu wissen, daß der Mensch sein Gestell bis dorthin schleppen würde. Das war die beste Gelegenheit, Beute zu machen. Dann war der Mann wehrlos. Zum zweitenmal wischte hinter dem Löwen ein sichelförmiger, pechschwarzer Schatten über die sonnenglühenden Steine. Der Mann sammelte ein, was um das Gestell verstreut war. Säcke voller Quellwasser, die Waffen, Pakete, aus denen es verlockend nach Nahrungsmitteln roch, lange, glänzende Metallstreifen – die gleichen, die die Füße des Gestells bildeten –, Steine und anderes. Das meiste wurde rechts und links von einem kleinen Sitz verstaut, der sich an einem Ende des dreieckigen Gestells befand. Dann befestigte der Mann an der langen Querstrebe ein Seil, machte eine Schlinge und schlüpfte hinein. Als er sich nach vorn legte und gegen die schwere Last stemmte, bewegte sich das Gerüst. Es glitt leise knirschend durch den Sand. Der Mann nickte zufrieden, hob seine Waffe auf, die im Sonnenlicht funkelte, dann ging er zu der Quelle. Er badete und reinigte sich ausgiebig, verrichtete seine Notdurft und trank Wasser, dann zog er sich wieder an und ging zurück zu seiner rätselhaften Schöpfung. Die Spitze des Löwenschwanzes begann nervös zu zucken, die Muskeln des schweren Körpers strafften sich. Noch bewegte sich der hungernde Löwe nicht.
Als sich der Mann umdrehte und langsam, mit scharfen Augen, die Felsen absuchte, erstarrte der Löwe. Er war in seiner Regungslosigkeit nicht mehr von dem ihn umgebenden Gestein zu unterscheiden. Ein Sonnenstrahl traf die Stirn des Menschen, und plötzlich loderte dort wie ein nächtliches Feuer ein blutroter, funkelnder Glanz auf. Der Löwe schloß geblendet die gelben Augen, und als er sie wieder öffnete, zog der winzig wirkende Mensch dort unten mit seinen mächtigen Schultern das Dreieck über den Sand, auf die kalte, glänzende Fläche zu. Der Löwe wartete geduldig; er war ein nächtlicher Jäger, aber der Hunger trieb ihn weit über sich hinaus – jetzt würde er im Licht der Mittagssonne Beute reißen. Als sich der Mensch nicht mehr umdrehte, begann das Tier langsam über die Felsen zu schleichen. Der Schatten bewegte sich nochmals über den Fels. Aber noch war das Ding, das diesen sichelförmigen Schatten warf, nicht nahe genug heran, so daß es der Löwe hätte hören können. Wieder wanderte die Sonne weiter ... Plötzlich befand sich der Löwe dort, wo der Mann gearbeitet hatte. Das Tier roch Schweiß und Fleisch und die Spuren von anderen Dingen. Er riß den Kopf hoch und sah, daß das Dreieck mit dem flatternden Stoff zwischen dem Rücken des Mannes und ihm war. Wieder spannte der goldfarbene Jäger seine Muskeln, dann warf er sich in einem wilden Schwung vorwärts und hetzte, den Bauch fast auf dem Sand, in weiten Sprüngen dem Menschen nach. Die Entfernung verringerte sich. Der Mann sah sich nicht ein einziges Mal um. Das rutschende Ding, das drei tiefe Spuren in den Sand gegraben hatte, kam immer näher. Plötzlich war über dem Löwen das Schwirren großer Flügel, ein Luftzug ent
stand, dann klappte ein großer, scharfer Schnabel mit messerähnlichem Geräusch. Ein kurzer Krächzlaut war zu hören, dann schlug der riesige schwarze Bergadler in den Körper des Löwen ein. Acht scharfe Krallen bohrten sich durch die Haut in das Fleisch und die Muskeln. Ein Schnabel zuckte herab wie ein Blitz und traf den Löwen dicht hinter dem Schädel. Das Fell riß, eine große, tiefe Wunde entstand. Der Adler ritt auf dem Löwen, der Felslöwe schrie grollend auf und warf sich herum, aber das Tier ließ sich nicht abschütteln. Seine Krallen verkrampften sich um die Wirbelsäule des Tieres, und wie ein Hammer fuhr der Kopf mit dem Hakenschnabel immer wieder herunter, zerfetzte die Ohren, zielte nach den Augen. Der Löwe warf sich in den Sand und rollte sich auf den Rücken, brüllte donnernd vor Schmerz auf. Der Mann ließ das Seil fahren, griff zu seinem Schwert und stellte sich zum Kampf, der sich nur sieben Mannslängen hinter ihm im Erosionssand der Felsen abspielte. Eine Sandfontäne staubte auf, als der Löwe wieder auf die Beine kam. Der Adler schlug mit den Schwingen, wirbelte den Sand in die Luft und hackte dem Löwen das linke Auge aus. Der Vogel kreischte triumphierend auf, der Löwe schrie und versuchte, den Reiter abzuschütteln. Er sprang in die Luft, krümmte seinen blutigen Körper zusammen und warf sich auf den Rücken. Dann traf ihn der zweite furchtbare Schnabelhieb und vernichtete das rechte Auge. Der nächste Hieb tötete den halb wahnsinnigen und um sich schlagenden Löwen dadurch, daß der Schnabel wie ein geschliffener Dolch hinter dem Kopf die Wirbel spaltete und das Mark traf. Lautlos streckte sich der Löwe und zuckte einmal, dann fiel er zur Seite.
Der Adler löste seine Krallen, flatterte eine Mannslänge hoch und senkte sich dann auf den Kadaver. Mit gezielten Hieben riß der Schnabel die Bauchdecke auf und zerrte die Gedärme heraus. Der Adler beobachtete kurz den wartenden Mann, ob er ihm die Beute streitig machen würde, aber der Mensch stand mit gezücktem Schwert da und sah nur zu. Ich schob das Schwert wieder in die Scheide, warf einen letzten Blick auf den fressenden Riesenadler und schüttelte den Kopf. Eine Stunde lang hatte meine Wachsamkeit nachgelassen, und bestimmt hätte mich der alte Felsenlöwe angefallen. Ich hatte beide nicht gesehen; weder den kreisenden Adler noch den lauernden Löwen. Ich legte mir wieder das Seil über die Schultern und zog weiter, der Eisfläche entgegen. Sie strömte schon jetzt, obwohl ich noch fünfzig Mannslängen von ihr entfernt war, eine fühlbare Kälte aus. Mein Eissegler war primitiv, aber er würde mich auf alle Fälle dem geheimnisvollen Berg näherbringen, auf dessen Gipfel Aerula lebte. Der Große Klugg war besiegt, die beiden Ekkelunder befreit und fortgezogen, und die Aeruldonen schienen mich vergessen zu haben, falls es noch welche gab. Der Ostwind war ein Geschenk, das ich ausnutzen mußte, aber ich mußte hinter jedem Ding, jeder Beobachtung, die ich auf Danilas Welt machte, ein Geheimnis oder einen Anschlag auf mich wittern. Also würde auch der günstige Ostwind ein Geschenk mit zwei Bedeutungen sein. Der Kampf mit dem irren Magier war schon halb vergessen, ich konzentrierte mich auf mein nächstes Ziel. Irgendwann würde ich auch das Weltentor finden ... irgendwo, unter Umständen, die für mich eben
so lebensgefährlich sein würden wie alle anderen Abenteuer bisher. Sie waren alle schon Vergangenheit: auch Fräulein Honigvogel, die mir ihre nicht ganz selbstlose Liebe verehrt hatte wie einen Siegerpokal der Ritter von Merlane. Endlich erreichte ich den Rand der Eisfläche. Ich zog fluchend den Eisschlitten eine Strecke auf die Eisschicht hinauf und löste dann das Zugseil. Ich hatte sogar ein Paar primitive Schlittschuhe konstruiert, die mir weiterhelfen sollten, falls diese Konstruktion zusammenbrach. Langsam brachte ich das Segel, das Steuer und die verschiedenen Steuerstangen und Seilzüge in die richtige Stellung, dann sah ich mich um. Ich bin fertig! dachte ich. Ich arretierte das Segel, hielt mich neben dem Sitz fest und schob, zuerst langsam, dann immer schneller, den Schlitten an. Sand rieselte aus den Verbindungen auf das spiegelglatte Eis. Ich rutschte aus und riß mich wieder hoch, der Schlitten wurde schneller. Als ein Windstoß ins Segel fuhr und den Stoff ausbeulte und straffte, schwang ich mich in den Sitz und knotete die Seilschlinge um meinen Gürtel. Die Fahrt begann, wurde schneller, die Kufen zischten auf dem Eis. Ich fuhr mit bestem Rückenwind nach Westen. Aber vor mir sah ich nicht etwa Aerulas Luftreich, von Wolken eingerahmt, sondern nur den Nebel eines verschwimmenden Horizonts. Im Augenblick war ich jedoch außer Gefahr. Ich wickelte mich, so gut es ging, in meinen Mantel ein und zog ein gefaltetes Stück über den Kopf. Es wurde immer kälter. Der Eisschlitten auf seinen drei Kufen raste geradeaus, hin und wieder hob sich die linke oder rechte vordere Kufe vom Eis ab, dann steuerte ich mit
der dritten, direkt unter meinem Rücken, die ächzende und vibrierende Konstruktion wieder aus. Mein Arm ruhte auf dem Hebel der Steuerung, mit der anderen Hand hielt ich den Seilzug, der am Hauptbaum des zusammengesetzten Tuchsegels befestigt war. So raste ich stundenlang dahin, immer geradeaus. Der Schatten der Mastspitze war gewandert. Er beschrieb einen Drittelkreis. Zuerst war er im Segel gewesen, dann kam er herüber auf die rechte Seite und tanzte zwischen Baum und hinterer Kufe auf dem blanken Eis, dann berührte er mein Gesicht, und jetzt, zwei Stunden Ritt vor dem Dunst und dem Nebel, lag er links neben mir neben der Kuft. Die Sonne versank langsam hinter fernen Wolken, den Schwestern der Wolke Aerulathane, die ich wohl niemals wiedersehen würde. Ich kam dem Nebel immer näher. Was ist das? dachte ich. Der Nebel scheint zu leben, scheint sich zu bewegen. Der Wind brauste um meine Ohren. Das Segel knallte, und die Kufen schnitten singend ihre Spuren in die absolut glatte Eisschicht. Ich hatte es aufgegeben, mir Gedanken darüber zu machen, welche Naturgewalt hier mitten in der sonnenglastenden Wüste eine solch gewaltige Eistafel schaffen konnte. Hier galten andere Gesetze, als ich sie in Atlantis gelernt hatte. Auch für den riesigen Nebel, dem ich immer näher kam. Der Nebel war zweifellos keines natürlichen Ursprungs. Ich konnte die Geschwindigkeit des Eisschlittens nur innerhalb enger Grenzen bestimmen. Aber ich bewegte das Steuer und wich ein wenig nach Süden aus, veränderte die Stellung des Segels, dann drehte ich meinen 10
Kopf und blickte diese undurchsichtige Masse genauer an. Das ist das Werk des Luftgeists! durchfuhr es mich. Es kann nicht anders sein! Die Wand des Nebels, an der ich jetzt schräg entlangglitt wie an einer massiven Burgmauer, wallte und brodelte. Sie wirkte wie ein dicker Sud, der blasenwerfend auf dem Boden eines Kessels kochte. Aber darüber hinaus streckte der Nebel lange Tentakel aus, die suchend über die Eisfläche strichen und sich wieder mit der Hauptmasse verbanden. Dazu änderten bestimmte Stellen des Nebels, von handtellergroßen Flecken bis zur Größe von wuchtigen Häusern, ihre Farbe. Der Nebel selbst war bernsteinfarben, aber durch seine Dicke wirkte er wie massiver Lehm. Auch der Wind, der gegen die Nebelwand anbrandete, hatte keinerlei Einfluß auf die Tentakel, auf die Farbe und diese Mauer aus Nebel. Ich legte das Steuer noch mehr nach Süden. Jetzt raste mein ächzender Eisschlitten, dessen vordere Kufen immer wieder den Kontakt mit dem Eis verloren und wieder dumpf krachend heruntergezwungen wurden, zwanzig Mannslängen entfernt von den ersten Tentakeln entlang. Sie schienen mich zu hören oder zu sehen, denn riesige Flächen der Masse rechts neben mir färbten sich strahlend weiß. Riesige, ineinander verschlungene Greifarme bildeten sich aus, peitschten durch die Luft, erreichten mich aber nicht. Kein Zweifel! Ich war in Aerulas Reich angekommen! Hinter der Nebelwand, an der ich in achtungsvollem Abstand entlangraste, verbargen sich viele Dinge. Ich hörte plötzlich das heisere, wuterfüllte Bellen riesiger Tiere; vermutlich waren es gewaltige Hunde oder ähnli11
che Monstren. Dann wieder, als die Bewegung der Tentakel und stumpfen Arme mit meinem Eissegler mitlief, also von Norden nach Süden über die Wand geschoben wurde, konnte ich einen schrillen Schrei hören. Er klang wie der Todesschrei eines Tieres – oder eines Menschen. Ich schüttelte mich. Ich war der festen Überzeugung, daß diese Nebelbarriere, die offensichtlich angefüllt war mit Menschen und Tieren, die gegeneinander kämpften, einmal ein Ende haben mußte. Sie lag vor dem Berg Aerulas, und indem ich nach Süden segelte, würde es mir gelingen, sie an einer Stelle zu umgehen und übers Eis wieder nach Norden oder Nordwesten segelnd, zum Berg vorzustoßen. Eine deutliche Ahnung sagte mir aber, daß es nicht so einfach sein würde, wie ich es mir vorstellte. Also segelte ich nach Süden. Die Schreie, klirrende Laute und das Bellen, Fauchen und Röcheln begleiteten mich stundenlang. Mich begleiteten auch die Tentakel und der Farbwechsel. Es war, als habe dieser mächtige Nebel ein geheimes Eigenleben. Aber dann dachte ich an die Wolken mit eigenem Bewußtsein und eigener Geschichte, und ich wußte, daß auch der Nebel eine Schöpfung des Luftgeists war. Wieder vergingen Stunden ... Die Sonne versank, es wurde dunkler. Jetzt verwandelte sich die Szenerie in eine geheimnisvoll drohende Landschaft. Zur linken Hand hatte ich die Wüste und den fernen Saum der Berge, zur Rechten eine schwarze Masse, die immer dort, wo ich gerade vorbeifuhr, zu leuchten begann und unablässig nach mir griff. Die Spitze der Berge lagen noch im Bereich der letzten Sonnenstrahlen, als urplötzlich vor mir eine kleine Wolke auftauchte. Aerula-thanes Tochter? 12
Nein. Es war keine Wanderwolke. Sie kam plötzlich aus dem Himmel, der sich immer dunkler färbte. Wenn ich mich richtig erinnerte, dann kam diese Wolke auch nicht aus dem Nebel oder fiel von oben herab, sondern sie war plötzlich da. Ich raste direkt darauf zu, aber als ich versuchte, ihr auszuweichen, geschahen zwei verblüffende Dinge. Die Wolke wich vor mir zurück und blieb schräg vor mir, glich ihre Geschwindigkeit derjenigen meines Eisseglers an. Und sie veränderte sich. Aus ihr wurde eine Kugel, dann eine Linse. Die Linse verlor die flockige, schneeige Struktur und verwandelte sich in ein durchsichtiges Gebilde. Jetzt erkannte ich den Vorgang! Gleichzeitig mit diesem Erkennen war um mich herum ein schwirrender, singender Laut. Es klang wie Stahlsaiten, an denen man entlangstrich. Dieses Geräusch schwoll an und wurde durchdringender. Und ich hörte eine Stimme in meinen Gedanken. Vesta, der ehemalige Herr der Elemente, schickt einen Teil seiner selbst, um mit dir zu sprechen, Dragon! sagte die Stimme. Ich hatte, als sich die Wolke zu verändern begann, einen weiteren Kontakt mit Vesta erwartet. Schließlich trug ich Vestas Auge. Ich kauerte mit klappernden Zähnen auf meinem harten Sitz, steuerte entlang des kochenden, blasenwerfenden und nach mir fassenden Nebels, und Vesta hatte eine neue Botschaft für mich. Als die Vision weitersprach, wußte ich, daß meine schlimmsten Befürchtungen gerechtfertigt waren ...
13
2.
Noch immer bin ich auf meiner Insel gefangen! Daher kann ich nur einen kleinen Teil von mir als Boten senden – es ist nicht anders als damals, als du und das Mädchen an die Felsen gebunden wart. Zögere nicht, Dragon, halte dich nicht auf! Versuche, so schnell wie möglich zu Aerula zu kommen, denn meine Lage ist nicht gut! Akkeron, der Bruder des Wanderers, von dem du mein Auge erhalten hast, ist bei Skortsch, dem Geist des Feuers. Er schickt sich an, ihn zu bezwingen. Wenn ihm dies gelingt, türmen sich zwischen meinem und deinem Wunsch unüberwindliche Hindernisse auf. Der Nachtwind war schärfer und kälter geworden. Auch das Eis schien sich verändert zu haben, denn die Fahrt meines Seglers wurde schneller. Ich fror noch mehr, weil ich nicht die geringste Bewegung hatte. Ich rief laut: »Aber was kann ich tun? Ich bin bereits auf dem Weg zu Aerula! Ich kann nicht mehr schneller reisen!« Wieder hörte ich diese wesenlose Stimme und sah flüchtige Bilder in meinen Gedanken und auch in der Linse vor mir, die immer noch mit deutlichem Abstand summend und mit stählern-singenden Geräuschen vor mir dahintrieb. Um zum Berg des Luftgeistes zu kommen, mußt du die Eisplatte verlassen. Segle noch ein Stück nach Westen, dann mußt du mitten hinein in die Nebelbank. Das Land dahinter ist eine Wilde Zone. Die Nebelbank ist ein dichter Ring, der wie eine Mauer Aerulas Berg umgibt. Versuche, so schnell wie mög14
lich durch den Nebel hindurchzukommen, denn diese Zone ist voller tödlicher Schrecken und Gefahren. Auch mein Auge kann dich kaum schützen. Du wirst alle deine List und Kraft brauchen und noch mehr. Stoße also schnell durch den Nebel, durchquere, so schnell du es nur irgend vermagst, die Wilde Zone, denn auch dort sind die Gefahren beträchtlich. Traue deinen eigenen Augen nicht! Traue niemandem und keinem! Aber wenn du auf die Graue Wölfin stößt, ihr kannst du vertrauen. Blicke sie mit Vestas Auge an und bitte sie, dich durch das Land des Nebels zu führen. Sie ist das einzige Geschöpf, dem du trauen darfst – aber auch ihre Freundschaft ist nicht ohne Tücken und Gefahren. Ich bitte dich, tue all das so schnell wie du kannst. Denke an Akkeron! Die Linse, die jetzt gläsern geworden war und offensichtlich den Widerschein der Sterne spiegelte, wurde unsichtbar. Sie schwand einfach dahin, ebenso wie der klingende Laut abnahm. Plötzlich war die Nachtluft vor mir wieder klar. Ich überdachte, während ich weiter an der Nebelmauer entlangraste, was ich gehört hatte. Gefahren warteten auf mich, die ich nicht einmal erahnte. Schaudernd kamen mir wieder die Schreie zum Bewußtsein, die ich zwar ununterbrochen gehört, ihnen aber in den letzten Stunden keine Beachtung geschenkt hatte. Ich atmete tief ein und aus, dann riß ich das Steuer herum, gab dem Großbaum mehr Leine und raste dem Nebel entgegen. Gierig streckte er mir schwefliggelb schimmernde Tentakel entgegen. Ich zog mit klammen Fingern mein Schwert. 15
Einige Augenblicke lang geschah nichts, außer daß meine Konstruktion sich bog und knarrend schwankte. Dann tastete der erste Tentakel nach dem Segel, ging hindurch wie durch Luft und züngelte nach mir. Mein Schwert beschrieb einen Halbkreis und traf den gelben Tentakel. Nichts geschah, der Schwung ließ die Breitseite des Schwertes gegen den Baum schlagen. Der Tentakel ergriff mich an der Brust, saugte sich fest, indem er auseinanderfloß, und ich fühlte ein eiskaltes Gefühl unter dem Mantel. Dann schien mein Auge zu wirken, oder der Nebel entschied, daß ich kein Fressen für ihn war. Der Arm zuckte zurück. Die anderen Tentakel in anderen Längen und anderen Farben vergaßen mich völlig. Sie bewegten sich zwar wie ein riesiges Nest aufgeregter Schlangen, aber sie deuteten in alle möglichen Richtungen. Jetzt rammte der Vorderteil des Eisseglers mit großer Geschwindigkeit mitten in den gelben Farbfleck hinein, der sich augenblicklich zusammenzog und verschwand. Der Nebel erreichte mich. Es war wie ein Faustschlag ins Gesicht. Eben noch hatte ich über der Spiegelfläche des Eises gefroren und nicht mehr an Wärme gehabt als den Schein der Sterne auf dem Eis. Der Nebel aber war brühwarm, feucht und roch nach den Ausdünstungen von Pflanzen und großen Tieren. Die Geräusche waren noch immer verschwommen, aber ich sah nicht weiter als bis zur Spitze des Eisschlittens. Noch immer Eis! Ich raste dahin, geradeaus nach Westen, durch den Nebel, der nichts erkennen ließ. Ich sah und erkannte nichts. Das hat den Vorteil, dachte ich grimmig, daß auch mich niemand sieht und erkennt! 16
Lange Augenblicke wartete ich, daß mein Eissegler mit voller Wucht gegen einen Baum oder einen Felsen krachen und mich aus dem Sitz schleudern und in einem Haufen Trümmer zurücklassen würde, aber ich wartete vergebens. In mir spannten sich die Muskeln. Meine Konzentration war plötzlich wieder so scharf, als würde ich mich von einem alten Löwen belauert wissen. Der Schweiß lief in breiten Bahnen über mein Gesicht, mein Mantel begann zu triefen, und wechselnde Schauer von Kälte und feuchter Hitze rannen über meinen Körper. Ich schlug die einfache Kapuze zurück und packte mein Schwert fester. Das Geräusch der Kufen veränderte sich. Es knirschte plötzlich, einige Rucke gingen durch das Fahrzeug, das zu schwänzeln begann und stark abgebremst wurde. Ich begriff. Die Eisfläche war zu Ende. Mit einem kurzen Ruck blieb der Segler stehen, die Kufen schnitten tief in Gras und Erde ein und blieben stecken. Ich löste den Knoten und schwang mich aus dem Sitz. Ich warf meine einfachen Schlittschuhe zur Seite; ich war sicher, sie nicht zu brauchen. Dann schnallte ich mein Gepäck los und warf den Bogen mit dem Köcher auf den Rücken. Mir stand ein Fußmarsch bevor, das war sicher. Während ich die Lasten zusammenband, horchte ich in den Nebel hinein. Ich sah nicht weiter als zwei Mannslängen. Der Nebel war von einem merkwürdigen Leuchten erfüllt. Es ließ die nächsten Einzelheiten erkennen, schluckte aber sowohl die Dinge, die in größerer Entfernung waren als auch die Urheber der schrecklichen Geräusche. Unter meinen Sohlen waren dickes, fettes Gras und Moos. Ich sah Käfer mit riesigen Zangen, die sich augenblicklich auf das Leder der Stiefel stürzten und ihre Kie17
fer hineinschlugen. Ich streifte sie beim Gehen ab und hoffte, daß ich die westliche Richtung einhalten konnte. Das Schwert in der rechten Hand, den Bogen auf dem Rücken, über der linken Schulter das Gepäck, in dem sich noch Reste meiner Ausrüstung von Merlane befanden – so ging ich los. Ich hoffte, ich würde mich genau in gerader Linie auf Aerulas Berg zubewegen. Ich hoffte es wirklich, denn nichts war leichter, als sich im Nebel zu verirren. Auf dem Moos hinterließen meine Stiefel silbern leuchtende Spuren. Ich sah zu, daß sie eine Linie bildeten. Nach dreißig Schritten hatte ich plötzlich das Gefühl, in eine neue, schreckliche Zone vorzustoßen. Kläffen und Geräusche tappender Füße waren rund um mich. Was waren das für Tiere? Ab und zu waren die Töne so nahe neben mir, daß ich herumfuhr und die Waffe hob, um mich zu wehren. Ein gellendes Gelächter, das sich mehrmals im Kreis um mich bewegte, erschreckte mich einige Schritte weiter. Ich blickte nach unten, als mein rechter Fuß plötzlich angehalten wurde. Eine Schlange hatte sich um den Knöchel gewickelt. Ich fuhr herum, als ich hinter mir das Hecheln eines jagenden Tieres hörte. Ich sah nur, wie in zwei Mannslängen Entfernung ein zottiges Tier mit langen, schlanken Läufen aus dem Nebel hervorkam und mit einem weiten Sprung wieder darin verschwand. Mein Schwert zuckte herunter und zertrennte die Schlange in zwei Hälften. Erst dann sah ich, daß es eine Pflanze gewesen war; eine mehrere Finger dicke Ranke mit langen, gelben Stacheln, die sich zuckend bewegte und langsam vom Leder löste. Ich ging weiter, nachdem ich den Pflanzenrest abgeschüttelt hatte. Verdammt! Wo war ich? 18
Es wurde immer dunkler, der Nebel verlor nach weiteren fünfzig Mannslängen seine eigene Leuchtkraft. Ich stapfte weiter und erkannte undeutlich hinter mir die glimmenden Fußabdrücke. Noch waren sie einigermaßen gerade. Sollte ich warten und mich den Gefahren aussetzen, die hier auf jedermann lauerten? Nein! So schnell wie möglich weiter und geradeaus! Vestas Bote warnte mich! Ich konzentrierte mich auf meinen Weg. Ich versuchte, weiterhin gerade zu gehen. Aber jetzt stieg das Gelände an, und andere Käfer und Insekten krabbelten an mir hoch. Ich wischte sie angeekelt weg. Wieder schlugen Ranken an meine Füße und klammerten sich daran. Das Moos trat zurück, ich zerrte und riß an den Gewächsen. Eine weiße Sandfläche tauchte vor mir auf. Als ich schon den ersten Schritt getan hatte, dachte ich an Treibsand und warf mich herum. Es war kein Augenblick zu spät, denn plötzlich öffnete sich im Ungewissen Dunkel ein tiefer Trichter in der vier oder fünf Mannslängen durchmessenden Sandzone. Vier harte, sichelförmig gekrümmte Zangen und ein großes, rot strahlendes Auge zeigten sich auf dem Grund des Trichters. Neben den Zangen sah ich Knochen, die noch die Spuren der Kiefer zeigten, tiefe Einschnitte, Kerben und gesplitterte Stellen. Ich begann den leichten Hang hochzuklettern. Sollte ich versuchen, ein Feuer zu machen und den Morgen und vielleicht auch mehr Licht abzuwarten? Ich entschloß mich, noch eine Weile weiterzugehen. Solange jedenfalls, wie ich es schaffen konnte, ohne mich vor Müdigkeit selbst kampfunfähig zu machen. Ich atmete den süßlichen Duft unbekannter Pflanzen ein und schritt weiter. 19
Aus dem Nebel schoben sich nun lange, spiralig aufgedrehte Ranken. Sie schienen hart wie Stahl zu sein. Ich hörte auf, mich zu wundern. Seitdem die Dunkelheit über diesen Teil von Danilas Welt hereingebrochen war, schien der Nebel um mich herum zu leuchten. Sehr schwach zwar, doch es genügte, um einige Schritte vor mir das Gelände erkennen zu können. Aber von der Anstrengung begannen mir die Augen zu tränen. Zudem schwitzte ich in dem feuchtheißen Nebel ununterbrochen. An meiner Haut hefteten Sporen und der Staub von zahlreichen Pflanzen, durch die ich hindurchgestapft war. Als ich näherkam, begannen die Ranken zu leben. Sie drehten sich schnell, dadurch wurden die Enden wie Peitschenschnüre durch die Luft gewirbelt. Sie saßen voller langer, widerhakenähnlicher Dornen, aus denen winzige Tropfen einer wasserklaren Flüssigkeit tropften. Sie schlugen nach mir, verknoteten und entwirrten sich wieder von selbst, drehten sich nach der einen Richtung und dann wieder zurück. Die Enden pfiffen durch den Nebel, und ich wehrte die Ranken mit vorsichtigen Schwerthieben ab. Sie waren zu dünn und zu biegsam, als daß ich sie hätte durchschlager können, aber es gelang mir, mit halb zerfetztem Mantel und einigen Schnitten in den Stiefeln durch diese lebenden Pflanzen hindurchzukommen. Und immer wieder ertönte das schaurige Geheul rechts und links im Nebel. Dann krachte ein Ast – oder war es ein Knochen? Jemand schrie gellend auf und verstummte ganz plötzlich, als habe ihm ein Raubtier die Kehle zerbissen. Ich zerriß einige Ranken, sprang vorwärts und stolperte. Beinahe wäre ich in einen mächtigen Baumstamm hineingerannt, der auf der ebenen Fläche der Hügelspit20
ze stand. Der erste Baum, den ich nach stundenlangem Marsch durch den Nebel gefunden hatte. Ich umkreiste einmal den Stamm mit den tiefhängenden, knorrigen Ästen. Ich sah kein Tier, keine Spuren, und auch die Geräusche kamen hier herauf nur sehr gedämpft. Hier würde ich bleiben. Ich fühlte mich müde genug, dazu schmerzten meine Füße in den halbhohen Stiefeln. Ich blickte den Stamm entlang. Ebenfalls keine Spuren von kletternden Raubtieren. In den Zweigen nahe der borkigen Rinde des Stammes sah ich keine Tiere, nicht einmal Vögel. Ich griff nach dem untersten Ast, zog mich hoch und kletterte dann vorsichtig weiter. Dichte Zweige umgaben mich, als ich mich langsam der Krone näherte. Ich wurde mißtrauisch. In einem Land, das von Tieren nur so wimmelte, war dieser Baum ohne Bewohner. Ich zuckte schließlich die Schultern und zog einen Dolch heraus. Mit einem wuchtigen Hieb trieb ich ihn in die Rinde und knöpfte dann aus meinem Stück Seil und einem Teil des Waffengurts eine Schlinge, in die ich schlüpfte. Auf diese Weise konnte ich nicht aus der Astgabel fallen. Ich öffnete einen Proviantbeutel und begann zu essen und zu trinken. Ich lauschte auf die Geräusche von Tieren, aber nichts änderte sich. Der Nebel brodelte und brachte ständig wechselnde Gerüche mit sich. Die verschwommenen Geräusche um den Baum herum und am Fuße des kleinen Hügels ähnelten noch immer jenen grausigen Tönen, die ich gehört hatte, bevor ich das Land des tödlichen Nebels betreten hatte. Ich aß langsam und machte mir dann aus dem mitgenommenen Mantel eine Art Lager. Ich saß halb, halb lag ich, auf Äste und die breiten Holzstämme der Gabelung gestützt. Nachdem ich gegessen hatte, schnitt ich 21
mit dem Schwert einige große Äste an und legte sie quer über die Gabelung, darüber den mehrmals gefalteten, schweißstinkenden Mantel, und darauf legte ich mich. Ich hatte mir vorgestellt, in dieser Nacht keinen Schlaf finden zu können, aber nach den ersten Momenten der Entspannung schlief ich übergangslos ein. Ich begann zu träumen ... Nachdem ich aus der Schlinge gerutscht und von Ast zu Ast fallend auf dem Boden aufgeschlagen war, schleppten mich die drei oder vier Dutzend Krieger zum Stamm zurück. Sie feuerten sich gegenseitig mit kreischenden Schreien und einer unbekannten Sprache an. Dann holten sie Seile, die dünn und zäh waren; dreifach aus den Sprungsehnen gejagter Tiere geflochten. Sie legten eine Schlinge um den dicken Stamm, rammten mehrere Dolche in meine Kleidung und nagelten mich damit an die Rinde. Ich war unfähig, mich zu rühren. Sämtliche Muskeln und Gelenke schmerzten von dem furchtbaren Fall. Ich wußte, daß ich in die Hände der Dalaugiri gefallen war, jenen Kämpfern, die Akkeron kämpften, ohne genau zu wissen, was das Ziel war. Sie rissen an dem Seil und begannen einen Rundlauf um den Stamm. Eine kleine Prozession bildete sich. Die kleinen gelben Kämpfer hüpften vorwärts und rückwärts, und die runden Schilde auf ihren Rücken sprangen auf und ab. Sie legten mit jeder Umkreisung des Baumes eine Schlinge mehr um meinen Körper. Zuerst um die Schienbeine, dann um die Knie, die Schenkel und Lenden, den Magen und die Brust. Ihr Lied war schauerlich, und das Vor und Zurück betäubte die Sinne. Das Seil schnitt tief in meine Brust, ich vermochte nicht mehr zu atmen. Aus 22
meiner Kehle löste sich ein langgezogenes, gurgelndes Geräusch. Sie wollten mich langsam ersticken. Die letzte Schlinge würde sich um meine Kehle legen und mit langsamem Druck erdrosseln. Ich rang nach Luft. Es wurde schwarz vor meinen Augen, ich hörte durch das Brausen in meinen Ohren, daß ich langgezogen röchelte und keuchte. Die Dalaugiri beendeten unter dem Geschrei der Umstehenden ihre letzte Runde. Die Schlinge legte sich um meinen Hals. Noch war sie locker. Der Zug um die Brust war schmerzend, und das Blut schoß mir zu Kopf. Dann erwachte ich. Ich fand mich, als ich mühsam die Augen aufschlug, unverändert auf meinem Lager. Ich mußte um mich geschlagen haben, denn das erste, was ich sah, war der schaukelnde Schild über meinem Kopf. Ich rang nach Luft. Rote und weiße Kreise tanzten vor meinen Augen. Ich war halb bewußtlos. Ich handelte, so gut ich es noch vermochte. Mit zitternden Fingern band ich die Knoten der Schlinge auf, die mich im Geäst hielt. Ich hatte die ganze Zeit über ein giftiges Gas eingeatmet – das war der Grund für diesen fürchterlichen Traum gewesen. Ich ließ mich mit letzter Kraft seitlich fallen, meine Finger lösten sich von dem dicken Ast. Ich fiel mehr, als ich kletterte. Schließlich erreichte ich den Boden. Ich taumelte und stolperte zwanzig Schritte vom Baumstamm weg, dann mußte ich mich übergeben. Der erste Atemzug im feuchtkalten Nebel des frühen Morgens erschien mir wie die frische Luft am Ufer des Meeres. 23
Langsam richtete ich mich auf, atmete tief durch und spürte, wie sich langsam mein Verstand wieder klärte. Ich griff an den Gürtel und legte die Hand auf den Griff des anderen Dolches. Ich verstand jetzt, warum kein Tier in dem Baum nistete. Ich wußte, warum es keine Spuren in der Nähe der knorrigen Wurzeln gab! Ich stand da, zitterte an allen Gliedern. In meinem Magen tobte es. Die Lungen stachen, und der Atem rasselte durch die Luftröhre. Ich war so gut wie wehrlos. Meine Ausrüstung und die Waffen hingen oben im Baum. Ich hätte es wissen müssen: Die Zeichen für die Gefährlichkeit des Baumes waren groß genug gewesen. Ich hob und senkte meine Arme, um meinen Brustkorb voller ungiftiger Luft zu pumpen. Ich war wieder völlig bei Bewußtsein. Der Baum sonderte durch die Löcher an den Unterseiten der Blätter und vielleicht auch durch die Rinde einen Duftstoff ab, der ihn vor Beschädigungen durch Tiere sicherte. Der Stoff trat in Form eines dünnen Gases aus und bildete zusammen mit der feuchtwarmen Luft und in den schützenden Blättern eine Art Kugel um den Baum. Ich hatte seit dem Einschlafen, ohne es zu wissen, eine Menge dieses Gases eingeatmet. Jedenfalls muß ich noch einmal hinauf und die Waffen und die Ausrüstung holen, dachte ich grimmig. Ich holte tief Luft, kletterte schnell hinauf und war kurze Zeit wieder zurück im blau verfärbten Laub zwischen den Wurzeln. Ich wußte, daß ich jetzt nichts essen konnte. In meinem Rücken begann sich der Nebel wieder heller zu färben, und die ersten feuchtwarmen Strömungen wehten den Hang aufwärts. Die Sonne war aufgegangen. 24
Jetzt hatte ich, als ich Waffen und Ausrüstung schulterte, wenigstens eine Art Wegweiser. Ich ahnte, daß er mir auch nicht viel helfen konnte in diesem Land des Nebels. Ich ging, die Sonne im Rücken und einen vagen grauen Schatten vor mir im Nebel, westwärts und den Hang hinunter. Der Geruch fauligen Wassers schlug in meine Nase.
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3.
Blitzschnell huschte ein weißer Schemen an mir vorbei, gerade in dem Bereich, innerhalb dessen ich zwar die Dinge wahrnahm, aber nicht mehr genau erkennen konnte. Vestas Auge half hier nicht. Weder die Ranken und Dornen gehorchten meinen Wünschen, noch ließen die Käfer und Insekten von mir ab. Aber ich hatte den Verdacht, daß ich um einen geringen Betrag besser sah. Nicht viel, aber es machte mich in gewisser Weise stärker. Oder bildete ich es mir nur ein, daß dieser Edelstein meinen Gesichtssinn schärfte? Wieder überholte mich ein weißes, etwas mehr als kniehohes Tier, das raschelnd von hinten kam und vor mir im Nebel verschwand. Die kreischenden Schreie, die ich gestern gehört hatte, waren verstummt, aber weit vor mir, irgendwo dort, wo ich das Wasser vermutete, erklangen Röcheln, heseres Bellen und das Gewirr menschlicher Stimmen. Sie hörten sich kehlig und fremd an; ich glaubte den Klang zu erkennen. Ich hatte ihn schon einmal gehört, Sogar im Traum! Es waren diese kleinen Krieger, die Dalaugiri. Zum erstenmal war ich ihnen begegnet, als sie auf ihren von Therani gezogenen Flößen Askaloth angriffen. Ich glaubte, daß viele Tausende hier gelandet waren, um gegen alles und jeden zu kämpfen, der Akkeron auf seinem Weg aufhalten konnte. Also würde ich sie mit einiger Sicherheit auch hier treffen. Diesmal waren es eine lange Reihe weißer Schatten, die wie riesengroße Hunde rechts und links von 26
mir vorbeisprangen und wieder vom Nebel geschluckt wurden. Ich ging durch niedrige Büsche, die vor meinen Schritten auswichen. Langsam neigte sich der Hang. Die Geräusche eines Kampfes, das Klirren von Waffen und der Geruch des Wassers wurden stärker. Ich zog mein Schwert und schritt voller böser Ahnungen weiter. Ich sah mich bereits entdeckt und von den Dalaugiri umzingelt. Zwanzig große Schritte ... Nasse, langfaserige Pflanzen wickelten sich um meine Stiefel. Der Boden gab nach, Nässe quoll daraus hervor. Ich drehte mich um, noch immer ging ich genau nach Westen, dem Mittelpunkt des Nebellandes jenseits der Nebelmauer zu. Fünfzig Schritte ... Ich kam in ein Flußbett, das mit weißem Geröll gefüllt war. Sand und Kieselsteine knirschten unter meinen Sohlen. Ich wußte natürlich nicht, ob es wirklich ein wasserleeres Flußbett war, aber alles, was meine Sinne aufnahmen, deutete darauf hin. Ich ging, so schnell ich konnte, weiter. Weit vor mir begann Wasser zu plätschern. Die Geräusche eines wütenden Kampfes wurden deutlich, daß ich an dem, was ich hörte, keinen Zweifel mehr zu haben brauchte. Ich erreichte, immer nur zwei bis drei Mannslängen weit sehend, das Ufer des Flusses. Ich erschrak, nachdem ich stehengeblieben und das Wasser angesehen hatte – der Fluß war reißend und tief. Vor mir ragte ein Fels direkt ins Wasser hinein, das sich an seinem Fuß brach und schäumend brodelte. Spuren! Spuren auf dem Felsen! dachte ich. Die Tiere, die an mir vorbeigerannt waren, mußten auf ihrem Weg ein Wasserloch durchquert haben, das ich nicht bemerkt hatte. Unzählige nasse Pfoten hatten auf dem glatten Felsen Spuren hinterlassen. 27
Laute Schreie vor mir, in geringer Entfernung, spornten mich an. Ich steckte das Schwert fest in den Gürtel und lief mit kurzem Anlauf den Felsen hinauf. Ich erreichte, mit beiden Armen mein Gleichgewicht haltend, sein Ende und blickte hinunter in das aufgischtende Wasser. Zwei Mannslängen tief ging es hier hinunter. Ein totes Tier mit prall aufgedunsenem Bauch trieb vorbei. Ich hob den Kopf und fragte mich, ob die wolfsähnlichen Tiere geschwommen waren, aber das hielt ich für fraglich. Gerade an der Grenze meiner Sehfähigkeit entdeckte ich dann den zweiten Felsen. Er lag tiefer als derjenige, auf dem ich stand. Mit einem gewagten Sprung konnte ich es vielleicht schaffen. Ich überlegte nicht lange, denn die Klageschreie und die schrillen Schreie des Todes vor mir wurden lauter und häufiger. Vermutlich waren es Bewohner des Nebellandes, die von den Dalaugiri gemetzelt wurden. Ich rannte über den Stein, warf mich mit aller Macht vorwärts und sprang dann auf den nächsten Felsen zu. Ich landete mit den Füßen, federte ab und konnte mich mit einer Hand festklammern. Auch hier sah ich auf dem Stein die Abdrücke vieler feuchter Pfoten. Also war ich auf dem richtigen Weg. Unter meinen Füßen lag eine Furt. Ich sprang von einem Stein zum anderen. Die Entfernungen wurden immer geringer, das Wasser schäumte in immer gefährlicheren Wirbeln unter mir. Mitten in einem der letzten Sprünge, als ich dachte, bereits auf festem Boden zu landen, wechselte der Nebel von einem Augenblick zum anderen seine Farbe. Was vorher noch bernsteingelb und von der Farbe hellen Lehms gewesen war, wurde jetzt feuerrot. Ich 28
strauchelte vor Schreck und warf mich im letzten Augenblick vorwärts. Nicht nur die Dalaugiri, sondern auch der Nebel hatten sich gegen mich verbündet. Ich war sicher, daß Aerula mir diese und noch folgende Hindernisse in den Weg warf. Der nächste Sprung brachte mich auf eine nasse Sandfläche. Der Kampf war jetzt direkt vor mir. Ich ließ meinen Bogen, den Köcher und das Gepäck zu Boden sinken und hob Schild und Schwert hoch. Ich rannte geradeaus, auf die Stelle zu, an der die Laute und Geräusche am schrillsten waren. Je mehr ich in den hellroten Nebel eindrang, desto besser hatte ich gelernt, mich nach dem Gehör und dem Gefühl zu bewegen, nicht nach dem, was meine Augen sahen. Langsam entdeckte ich die neue Umwelt. Ich stolperte über einen riesigen, weißen Wolf, dessen Blut stoßweise aus einer furchtbaren Halswunde rann. Ein kleiner Schild rollte auf mich zu, ich sprang darüber hinweg. Die Krieger, die nach dem Willen ihres neuen Herrn hier auf dem Nordkontinent gelandet waren, vielleicht um Aerulas Reich zu bereden, schienen nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein. Es war ein Dalaugiri, der tot zu meinen Füßen lag. Die Kehle war von einem Wolfsgebiß zerfetzt worden. Ich rannte weiter. Rechts und links von mir ertönten knurrende Laute. Zwei riesige Eiswölfe tauchten aus dem roten Nebel auf, das Fell blutig und mit blutigen Lefzen. Sie sprangen mich an. Ich rammte den Schild nach links und versuchte, den anderen Wolf mit dem Schwert abzuwehren, aber die Tiere sahen mich nur an, heulten kurz auf und sprangen zur Seite. 29
Vestas Auge! Sie haben es gesehen und greifen mich nicht an, dachte ich voller Freude. Ich duckte mich, als ein Speer ungezielt dicht über meinem Kopf durch die Luft flog. Die Laute der Wölfe kamen von überall her. Die Tiere schienen einen Kreis gebildet zu haben und kämpften gegen eine Gruppe Dalaugiri. Ich hatte soeben den Kreis durchbrochen, aber die Gegenwehr der kleinen gelbhäutigen Krieger war zusammengebrochen. Ich wich einem Verwundeten aus, der mich anstarrte und mit letzter Kraft seinen Dolch nach mir warf. »Du Narr!« schrie ich ihn an. »Ich will euch gegen die Wölfe helfen!« Er röchelte auf. Ein Blutstrom brach aus seinem Mund, und sterbend fiel er in den Sand zurück. Wieder einige Schritte, die mich zwischen zerbrochenen Speeren, anderen Waffen und zwei Toten hindurchführten. Jetzt hörte ich nur noch die Jagdschreie der Eiswölfe. Es waren große, starke Tiere mit fast schneeweißem, zottigem Fell gewesen. Lebten sie in dem Randgebiet zwischen Nebel und Eis? Ich wußte es nicht – wie so vieles andere. Wieder fiel ich beinahe über zwei tote Krieger. Sie hatten sich verzweifelt gewehrt. Drei getötete Wölfe lagen neben ihnen. Vor mir, halbwegs im roten Nebel, sah ich einen Wolf durch die Luft springen. Ein zweiter hatte sich im Nacken eines Kriegers festgebissen, und ein anderer Eiswolf zielte mit schräg gehaltenem Kopf genau auf die Kehle des Mannes, die ungeschützt war. Der Zusammenprall zwischen Tier und Mensch warf den Krieger auf den Rücken, der Wolf ließ los und kroch unter dem gestürzten Mann hervor, aber das andere Tier schlitzte dem Krieger den Hals auf. 30
Ich sprang auf den Wolf los und schwang die Klinge. Der Eiswolf hörte das Geräusch des heruntersausenden Schwertes und schoß neben meinen Beinen schräg davon. Ich hatte die Überreste einer kleinen Gruppe Dalaugiri vor mir, die zu anderen Gruppen im Nebel den Kontakt verloren und sich verirrt hatten. »Hilf mir, Fremder!« schrie plötzlich eine Stimme rechts von mir. Ich wirbelte herum, senkte den Schild und schrie zurück: »Ich komme! Halte aus!« Ich rannte mit riesigen Sprüngen auf den Ort zu, von dem der Hilferuf gekommen war. Ich wollte wenigstens mit einem der gelben Krieger reden, um zu erfahren, warum sie hier im Nebelland kämpften. Steinbrocken, niedergetrampeltes Flußgras und zerfetzte Büsche gerieten unter meine Füße, dann sprang ich über eine Leiche, sah einen tödlich getroffenen Wolf, der sich kriechend davonschleppte und vier andere, die von allen vier Seiten auf einen einzelnen Krieger eindrangen. Er wehrte sich, nur mit zwei langen Dolchen bewaffnet. Seine Hände und Arme zuckten wie Pfeile hierhin und dorthin. Ich duckte mich und griff den Wolf an, der mir am nächsten war. Das Schwert beschrieb einen sausenden Halbkreis, aber das Tier reagierte rasend schnell. Kaum hatten die grauen Augen des Eiswolfs das flammende Juwel in meiner Stirn erkannt, wich das Tier aus, sprang zurück und jaulte angstvoll auf, als ich es mit der Spitze des Schwertes verfolgte. Die anderen drei Wölfe brachen ihre Angriffe ab, als sie das Klagegeheul ihres Artgenossen hörten. Im gleichen Augenblick handelte der Krieger. »Sei verdammt!« schrie er erstickt. »Stirb, Dreiauge!« 31
Er holte aus, sein Gesicht verzerrte sich vor Haß. Trotz seiner schweren Wunden schleuderte er einen Dolch mit furchtbarer Kraft. Ich starrte ihn wie gelähmt an; eine solche Reaktion hatte ich wahrhaftig nicht erwarten können. Im letzten Augenblick rettete mich ein Reflex. Der Schildarm zuckte hoch, und die Spitze des Dolches bohrte sich eine Handbreit durch den Rand hindurch und kam drei Fingerbreit vor meinem Auge zum Stehen. Die Wölfe schienen dieses Zeichen erwartet zu haben. Sie sprangen vorwärts. Der erste Wolf huschte dicht über den Boden dahin, riß den roten Rachen mit den langen weißen Reißzähnen auf und schloß die Kiefer über dem rechten Kniegelenk des Kriegers. Der Mann schrie auf, aber er kämpfte bis zum letzten Augenblick. Seine linke Hand tauchte tief herab, der Dolch bohrte sich in den Hals des Raubtiers. Die beiden anderen Wölfe vermieden es, mich anzusehen. Sie wichen zwar vor mir und meinem Schwert aus, aber sie waren fest entschlossen, den Krieger umzubringen. Mordlust und Angst vor Vestas Auge stritten in den Tieren, aber sie befanden sich immer dort, wo ich gerade nicht war. Der zweite Wolf sprang dem Krieger in den Nacken, und der Dalaugiri stach wild hinter sich. Sein Bein war eine einzige Wunde, und seine Arme waren von tiefen Bissen übersät. Ich hörte die Knochen krachen, als ich versuchte, den dritten Wolf zu vertreiben. Als ich einmal hochsah, bemerkte ich ein Rudel von mindestens dreißig Wölfen, die einen Kreis bildeten und mit starren Augen auf die kämpfende Gruppe blickten. Sie standen eng um uns herum, Schulter an Schulter. Aber keines der Tiere 32
rührte sich und machte Anstalten, in den Kampf einzugreifen. Der Krieger warf sich nach vorn, aber beim ersten Schritt knickte er ein und krachte aufs Gesicht. Der Wolf in seinem Rücken überschlug sich, aber noch ehe ich heran war – ich wollte dem Krieger den Dolch aus der linken Hand schlagen und mich vor ihn stellen –, schnappten die mächtigen Kiefer des dritten Wolfes um den Hals des Mannes zu. Er wälzte sich halb auf die Seite. Die Wölfe sprangen zurück, der Krieger richtete seine brechenden Augen auf mich und röchelte stoßweise: »... verdammt ... sind gekommen ... zu töten ... Aerula ... niemals erreichen!« Er starb. Ich ließ das Schwert sinken und drehte mich langsam um. »Ihr Bestien! Ihr hättet mich angreifen sollen! Los, weg mit euch, oder ...« In einer kurzen Aufwallung blinder Wut rannte ich auf die zunächst stehenden Tiere zu. Sie warfen sich zurück, bellten oder kläfften warnend auf und rannten davon. Nacheinander verschluckte sie der rote Nebel. Ich hörte noch einige Augenblicke lang das Hecheln und das Tappen unzähliger Füße, dann herrschte rund um mich Totenstille. »Nichts!« sagte ich. Meine Brust hob und senkte sich. Ich stieß das Schwert in die Scheide zurück und zerrte den Dolch aus dem Schild. Ich steckte ihn zu den zwei anderen kurzen Waffen und ging zurück, um meine Ausrüstung zu holen. Die nutzloseste Waffe in dem feuchtwarmen Nebel waren wohl Bogen und Pfeile. Am Rand des Flusses wusch ich mich, trank Wasser und aß einiges von meinen schrumpfenden Vorräten. 33
Dann versuchte ich, durch den Nebel hindurch die Sonne zu erkennen. Ich sah sie – als einen winzigen Fleck größerer Helligkeit inmitten dieses glühenden Mediums. Es war fast Mittag, als ich weiterging. Die Sonne stand jetzt links über meiner Schulter. Vielleicht mußte man den Verstand eines Atlanters haben, um verrückt werden zu können. Jedenfalls merkte ich, als ich durch niedriges Buschwerk schritt, daß mein Verstand langsam, aber fühlbar zu leiden begann. Ich lief durch keine Landschaft, sondern kämpfte mich seit zwei Tagen durch einen Alptraum. Alles war eintönig: die Temperatur, denn der Nebel war noch immer feucht und warm, an einigen spärlichen Stellen etwas kühler, aber das Atmen war beschwerlich, und jeder Schritt ließ Ströme von Schweiß über den Körper rinnen. Es gab so gut wie keinen Schatten, weil kein deutlicher Unterschied zwischen Dunkelheit und Licht bestand. Ich konnte nicht weiter sehen als zwei, drei Mannslängen. Alle Dinge waren in Nebel gehüllt und zeigten sich erst viel zu spät, und dann auch noch undeutlich. Es gab keine Wolken, keine Horizonte, keine reinen Farben. Dazu kamen die Geräusche. Sie klangen unecht und gedämpft und auf jeden Fall immer geheimnisvoll. Die Tiere griffen mich zwar nicht an – abgesehen von den kleinen, bösartigen Käfern und Insekten –, aber ich wußle nicht, ob nicht ein riesiges Tier mich einfach deswegen niedertrampeln würde, weil ich zu klein war und der Riese mich nicht sah. Aber immerhin hatte ich solche Spuren noch nicht feststellen können. 34
Offensichtlich befand ich mich in einem flachen Tal. Rechts und links von mir schienen sich Hänge zu erstrecken, die von Wald bestanden waren. Ich hörte das leise Rauschen der Blätter, hörte Äste knacken und einen Teil der Geräusche, die ich mit Waldtieren gleichsetzen mußte. Ich ging auf einem Tierpfad, der sich entlang eines kleinen Baches schlängelte. Dieser Bach mußte etwa an der Stelle in den Fluß münden, an der ich das reißende Wasser überquert hatte. Plötzlich traf mich ein eiskalter Hauch. Eine Luftströmung brachte eisige Luft mit sich und einen stechenden Geruch. Es roch nach Aas, nach Verwesung. Wieder zog ich mein Schwert, aber ich verlangsamte meine Geschwindigkeit nicht. Der Pfad machte an dieser Stelle mehrere Windungen und Schleifen. »Bei Aerula!« entfuhr es mir. »Was ist das?« Als ich wieder das gerade Stück des Pfades betrat, sah ich dicht vor mir einen Dalaugiri-Krieger. Er stand mitten auf dem lehmigen Boden und machte, voll bewaffnet, eine Bewegung, als wolle er sich gegen einen unsichtbaren Gegner wehren. In seinem Gesicht stand nacktes Entsetzen. Er war gestorben, ohne zu wissen, was oder wer ihn getötet hatte. Er stand da wie aus Stein gehauen. Langsam, das Schwert waagrecht ausgestreckt, ging ich auf den Krieger zu. Er war tot, daran bestand kein Zweifel. Ich berührte mit der Spitze der Waffe die Brust des toten Mannes. Er war mehr als einen Kopf kleiner als ich, aber abgesehen von dem fassungslosen Entsetzen zeigte sein Gesicht den Ausdruck der Auszehrung, des Hungers und der Verzweiflung. Es war, als würde ich gegen einen Stein stoßen. Von dem Krieger ging jene eisige Kälte aus. 35
Ich senkte das Schwert und ging näher heran. Als ich meine Finger ausstreckte und die Gestalt berührte, wußte ich, daß sie zu Eis erstarrt war. Alles Wasser, alle Feuchtigkeit in den Körperzellen war gefroren wie das Eis im Innern eines Gletschers. Ich trat zurück. Die Gestalt schwankte, kippte nach vorn und schlug dann, nach rechts fallend, auf die großen Ufersteine. Sie zerbrach in lange, gezackte Eissplitter. Wer diesen Mann umgebracht hatte, schien ihm seine Körperwärme entzogen zu haben. Eine neue Gefahr für mich. Ich lachte kurz auf – gegen solche Gefahren war auch ein Atlanter und ein Träger von Vestas Auge machtlos. Die Wesen, die den Nebel des Todes bevölkerten, schienen wirklich Geschöpfe aus einer großen Hexenküche zu sein. Ich ahnte, daß ich ihnen nur mit Feuer beikommen konnte. Zwanzig Schritte weiter sah ich die Brücke. Sie bestand aus dicken Stämmen, die man mit dicken Lianen aneinandergefügt hatte. Sie führte über den Bach, und als ich dicht vor der ersten Bohle stehenblieb, sah ich, daß auf der anderen Seite des Wassers die Brücke in einen schmalen, aber deutlich sichtbaren Weg überging. Dies war ein deutlicher Hinweis. Aber er war zu deutlich, und ich wurde mißtrauisch. Trotzdem ging ich auf die Brücke zu, setzte meinen Fuß auf die wuchtigen Balken und fiel durch das Holz in das kalte, stinkende Wasser des Baches.
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4.
Ich blieb stehen, bis zu den Knien in der schwachen Strömung. Ein unsinniger Zorn erfüllte mich. Ich hörte in der Luft ein Schwirren, dann einen weiteren eisigen Luftzug und etwas, das wie ein geflüstertes Gelächter klang. Dann wurden die Balken durchsichtig und lösten sich in Nichts auf. Auch der Weg verschwand. Ich begann laut zu fluchen und watete aus dem Wasser hinaus. Ich setzte mich auf einen Stein und zog die Stiefel aus, um das Wasser aus ihnen zu schütten. Dann machte meine Wut kalter Überlegung Platz. Nach umherstreifenden Gruppen von Dalaugiri und Eiswölfen waren jetzt eine neue Gattung von Gefahren aufgetaucht. Ich nannte sie für mich selbst Nebelwesen, denn zweifellos waren sie Geschöpfe, die in dem Nebelland lebten und sich dadurch ernährten, daß sie anderen Lebewesen die Körperwärme entzogen. Es konnte aber auch sein, daß sie das Vorhandensein der Dalaugiri als Herausforderung betrachteten und die Krieger angriffen. Ich trocknete meine Füße am Mantel ab und schlüpfte wieder in die Stiefel. Die Illusion einer Brücke war verschwunden. Ich hatte eine große Menge Glück gehabt, denn ebenso hätte sich diese vorgespiegelte Brücke über einen gewaltigen Abgrund spannen können. Dann wäre ich jetzt tot. Ich mußte noch sorgfältiger auf meinen Weg achten und darauf, wohin ich meine Füße setzte. Weiter! Schneller! Irgendwann mußte der Nebel ein Ende haben. Die Sonne schien jetzt von vorn auf den Ne37
bel, was für mich zur Folge hatte, daß ich in eine Zone intensiver leuchtenden Nebels hineinmarschierte. Die Nacht wird furchtbar werden, dachte ich. Vorläufig benutzte ich noch den Tierpfad. Hin und wieder spürte ich auch ein Tier, das rechts von mir im Bach trank und beim leisen Klang meiner Schritte erschreckt davonhuschte. Es war merkwürdig still, alle Schreie fehlten und die Geräusche von Kämpfen. Als wäre es ein Signal gewesen, dieser Gedanke – links, hoch über mir am Hang, ertönte gerade in diesem Augenblick ein gewaltiges Knistern und Krachen. Es hörte sich an, als ob ein wütender Orkan einen Baumriesen umwerfen würde. Ich hörte das Rauschen von starken Ästen, die auseinander rieben. Blätter wurden knirschend abgerissen. Tatsächlich! Ein Baum kippte hinunter ins Tal. Ich blieb stehen und versuchte, den rotleuchtenden Nebel mit meinen Augen zu durchbohren. Ich sah einige Augenblicke lang nichts, aber das Gefühl der Drohung nahm zu. Dann, noch während der erste Baum auf mich zufiel, krachte ein zweiter. Endlich erkannte ich durch den Nebel die ersten Zweige. Der Baum schlug dicht hinter mir auf den Boden und wurde wieder hochgeprellt. Ich warf mich nach vorn und rannte los, wartete das Fallen des zweiten Baumes nicht mehr ab. Ich sprang durch federnde Büsche, zerschnitt mir die Haut an Ranken und Dornen und scheuchte ein kleines Wolfsrudel aus seinem Versteck. Hinter mir, nur einige Schritte, peitschten die Zweige des zweiten Baumes den Boden. Kopfgroße Steine polterten vom Hang herunter und sprangen über meinen Weg. Ich sprang in die Höhe, wich ihnen in Zickzacksprüngen aus und spürte wieder diesen eisigen Luftzug, hörte wieder dieses Gelächter. 38
Schon wieder hatten mich Nebelwesen angegriffen. Ich verließ die Krümmungen des Pfades und rannte geradeaus. Vor mir waren deutliche Spuren kleiner Füße. Ich sah dunkle Bündel weggeworfenen oder verlorenen Gepäcks, als ich vor dem Steinschlag floh, der hinter mir und zu meiner linken Seite den Hang hinunterpolterte. Vor mir war eine Gruppe der Dalaugiri hier entlanggeflohen. Ich übersprang in meiner rasenden Flucht große Büsche und wußte nicht, ob ich nicht direkt in einen Felsen oder gegen einen Baum rannte, weil ich im Nebel nichts sah. Aber ich legte eine Strecke von mehr als zweihundert Mannslängen in rasender Geschwindigkeit zurück und nichts geschah. Aber die Spur aus verlorenen Waffen und Ausrüstungsgegenständen war breiter geworden. Jetzt kam durch den roten, glühenden Nebel der schale Geruch eines erkalteten Feuers. Ich lief, langsamer geworden, mit dem Schwert in der Hand auf den Platz zu, an dem ich die Feuerstelle vermutete. Das Auge Vestas brannte in meiner Stirn, als der erste kurze Sonnenstrahl seit Tagen meinen Kopf traf. Wilde Hoffnung kam auf. Konnte es sein, daß das Land des tödlichen Nebels hier endlich aufhörte? Zwischen großen, sich leise schüttelnden Büschen trat ich auf eine kleine Lichtung hinaus. Ich erkannte die Ausdehnung an dem veränderten Geräusch der Schritte und an der Helligkeit, die um eine Spur zugenommen hatte. Nach drei weiteren, zögernden Schritten wußte ich, daß ich mich mitten im Reich der Nebelwesen befand. Ich stieß auf einen jungen Krieger, der ebenfalls versteinert war. Hinter ihm stand ein zweiter Mann mit erhobener Doppelaxt. Auch er trug den Ausdruck namenlosen 39
Entsetzens in seinem wilden, bärtigen Gesicht. Reif bildete sich am Rand seines Schildes. Ich ging langsam zwischen den starren Körpern hindurch, die eine vernichtende Kälte ausströmten. Die Pflanzen um ihre Füße waren verdorrt und welkten. Ich werde Feuer brauchen, um diesen Teil des Nebels durchqueren zu können! sagte ich mir. Ich sah etwa dreißig Dalaugiri. Sie hatten um ein großes Feuer gelagert, über dem noch jetzt die Reste eines kleinen Bratens hingen. Das Tier war auf einen Speer gespießt worden. Eine massive, zwei Handbreit starke Platte aus milchigem Eis lag über dem Feuer und hatte es erstickt und gelöscht. Tote Krieger, junge und alte Kämpfer, lagen, kauerten und standen in allen nur denkbaren Stellungen auf der Lichtung. Ich umrundete einmal diese Galerie des Schreckens und erkannte, daß die Nebelwesen von allen Seiten gleichzeitig auf die Krieger eingedrungen waren. Sie hatten ihr Werk in großer Schnelligkeit vollendet. Oder sie hatten – wie ich eben mit der nichtvorhandenen Brücke erfahren mußte – eine Illusion geschaffen, auf die sich die Krieger gestürzt hatten. Ich wußte es nicht, aber eine deutliche Ahnung sagte mir, daß ich es bald erfahren würde, früher und überraschender, als es mir lieb war. Ich begann zu überlegen. Die Krieger waren tot. Ich aber lebte. Und die Nebelwesen würden sehr schnell merken, daß ich mich zwischen den eisesstarren Gestalten aufhielt. Ich handelte schnell, warf meine Waffen neben dem Feuer zu Boden und kniete mich nieder. Ich holte tief Luft und blies in die Asche. Zuerst flogen die Flocken mir ins Gesicht, dann kollerten kleine, ausgebrannte Holzteile nach den Seiten, aber nach dem zwanzigsten Atemstoß kräuselte 40
sich vor meinen Augen Rauch schräg in die Höhe. Ich zog vorsichtig einen armlangen Knüppel aus dem erloschenen Feuer heraus, blies abermals auf das Ende und stellte fest, daß sich dort ein handlanges Stück Glut befand. Ich stand auf, schwenkte den Ast, und nach einigen Augenblicken loderte eine kleine Flamme aus dem Holz. Ich hob meine Waffen auf und blickte mich schweigend um. »Mich bekommt ihr nicht!« schrie ich, als die Flammen dieser provisorischen Fackel größer wurden. Ich mußte weiter, hier hinaus, durfte es nicht riskieren, von den Nebelwesen ein drittesmal angegriffen zu werden. In der linken Hand hielt ich jetzt die brennende Fackel, in der rechten das blanke Schwert. Wieder traf mich ein einzelner, verirrter Sonnenstrahl. Vestas Auge glühte auf. Die Ränder der Lichtung waren im Nebel versteckt, aber ich konnte sehen, wie sich dort im Dunst etwas bewegte. Es schienen Menschen zu sein oder Gestalten, die menschenähnlich waren. Ich sah nach dem Stand der Sonne, schüttelte mich und setzte zu einem kurzen, aber schnellen Lauf an. Vestas Auge verlieh mir tatsächlich andere Fähigkeiten. Sie wirkten auch hier im Nebel. Ich konnte offensichtlich ein kleines bißchen durch den Nebel sehen. Die anderen Lebewesen in diesem Land vermochten dies nicht – ich sah einen Bruchteil, vielleicht eine Mannslänge nur, weiter in die wogende, nasse Masse hinein. Die Gestalten tauchten auf. Ich schwang die Fackel. Das Holz knisterte, handlange Flammen loderten aus der Spitze des schwammigen Knüppels hoch, Rauch zog hinter mir her. Ich hatte die Zone des eisigen Todes verlassen und rannte wieder durch die feuchte Hitze des roten Nebels. Ich sprang 41
über einen niedergebrochenen Baumstamm und hielt an. Vor mir standen etwa zwölf Mädchen oder junge Frauen. »Geht aus dem Weg!« sagte ich, aber ich senkte das Schwert. Dann erinnerte ich mich schlagartig an die Brücke aus Baumstämmen und sah genauer hin. Ich faßte die Anführerin dieser kleinen Gruppe scharf ins Auge. Sie war ebenso schön wie die anderen Frauen, und sie trug wie alle anderen nur winzige Stücke von Eiswolfspelz an ihrem vollkommenen, golden gebräunten Körper. Sie starrte mich schweigend, aber in deutlicher Herausforderung an. »Ihr seid nicht wirklich!« stieß ich hervor. Durch den Nebel, den Rauch der improvisierten Fackel über meinen Kopf, trat ich auf die Anführerin zu. Ich starrte zurück, begegnete ihrem lächelnden, kühnen Blick. Dann sah ich, daß ein Teil ihrer Schultern durchsichtig zu werden begann; ich konnte durch das gebräunte Fleisch plötzlich die Mädchen sehen, die hinter der Anführerin standen. Ich begriff sehr schnell, daß es jetzt um mein Leben ging. Als ich vorwärtssprang, wußte ich, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Ich sprang mitten in eine unsichtbare Wand aus eisiger Kälte hinein. Die Nebelgeister! Mein Arm schwang herunter. Die Fackel beschrieb einen weiten Halbkreis und deutete dann auf die Anführerin. Sie wurde binnen weniger Augenblicke unsichtbar, durchsichtig, floß in den roten Nebel hinein. Ich holte tief Luft und spürte, wie die Kälte in meine Lippen und die Lungen biß. Die schönen Mädchen lösten sich auf, als ich mich ihnen näherte. Sie verschwammen im Nebel und im Rauch der Fackel. Mein Schwert schnitt durch die Kälte, aber ich konnte nichts treffen. Ich rann42
te geradeaus, und ich fühlte mich, als laufe ich durch eiskaltes Wasser. Ich konnte nur mein Keuchen und die Geräusche meiner Schritte hören, die hartgefrorene Äste und Pflanzenteile zerbrachen. Hinter mir erhob sich eine Wolke aus Eiskristallen in die kaum bewegte Luft. Endlich erreichte ich die ersten Baumstämme am Rand der Lichtung. Nur schnell weg von hier! Weiter, schneller und hinaus aus dieser verdammten Zone! dachte ich. Die Dalaugiri waren gestorben, weil sie nicht Vestas Auge besaßen und die Wirklichkeit nicht von der Illusion unterscheiden konnten. Mich hatte das Juwel gerettet. Ich hatte begreifen können, daß die Brücke ebenso wie die Körper dieser verlockenden Sirenen nur Illusionen waren. In meinem Rücken fühlte ich noch den Hauch der Kälte, als ich mich im Zickzack zwischen den Baumstämmen hindurchbewegte und die Büsche durchschritt. Ein Blick auf den verwaschenen Fleck der Helligkeit, auf die Sonne also, und ich wußte, daß ich meine Richtung abermals ändern mußte. Meine Kräfte waren mehr als strapaziert. Aber ich nahm alle meine Energie zusammen und wußte, daß ich mich mit jedem Schritt meinem Ziel näherte. Mein Ziel war das Weltentor und die Rückkehr nach meiner Welt, aber die Hindernisse vor diesem Punkt, vor dieser entscheidenden Stunde, hatten sich vor mir aufgebaut. Ich mußte Vesta befreien, dann erst konnte ich mit meiner Rückkehr zu Amee rechnen, nach Myra. Stundenlang stolperte und wankte ich weiter durch den Nebel. Noch immer brannte der schwammige Ast. Ich sah und hörte kein einziges Tier, keinen Laut. Vielleicht hatten die Nebelwesen in diesem Teil alles Leben ausgerottet? 43
Der Boden unter meinen Sohlen trug keinerlei Spuren von Tieren. Nur hin und wieder sah ich abgestorbene Zweige und Blätterbüschel, als ob hier eine Bahn aus eisiger Kälte vorbeigezogen wäre. Jetzt erst, nach viel zu langer Zeit, traf mich der Schock der Erkenntnis. Abermals war ich – nur durch eine schnelle Reaktion – dem Tod entkommen. Sie hatten mir ein schönes Bild vorgespielt, und beinahe hätte ich mich in dieselbe starre Bewunderung gestürzt wie die Dalaugiri. Der Unterschied zwischen Überleben und schnellem Tod war niemals so deutlich und so geringfügig gewesen wie hier im Land des Todesnebels. Zuerst zerriß ich meine Kleidung, als ich stundenlang durch den Wald irrte, immer wieder versuchend, die Sonne nicht aus den Augen zu verlieren. Ich umrundete Stämme, kämpfte mich durch Büsche, verfing mich in Ranken und in den alten Netzen von Spinnen. In den Netzen hingen noch die ausgesaugten Körper riesiger Insekten. Dann wechselte die Landschaft und ging binnen ganz kurzer Zeit in eine wellige, pampasähnliche Gegend über. Mannshohe Gräser, immer wieder durchbrochen von den klappernden Formen abgestorbener, weißer Bäume, bauten sich als weitere Hindernisse vor mir auf. Ich marschierte, immer müder und grimmiger werdend, mit meiner dahinschwindenden Fackel weiter, durch die raschelnden, messerscharfen Halme hindurch. Jetzt hörte ich auch wieder Geräusche. Sie wurden deutlicher und häufiger. In der Luft über mir hörte ich die trägen Schwingen riesiger Vögel, die langsam über mich hinwegstrichen und mich nicht zu sehen schienen. 44
Die Sicht verschlechterte sich, als die Sonne unaufhaltsam dem Westen entgegen sank. Ich sah immer wieder auf den Helligkeitsunterschied und erschrak nach einiger Zeit. Obwohl die Sonne noch weit über dem Horizont stand, wurde ihr Licht schwächer und geringer. Verschwand sie hinter einer Wolke? Oder hatte sich Aerulas Berg zwischen die Sonne und mich geschoben? Ich wußte es nicht ... Ich schwitzte. Meine Lippen und meine Kehle waren ausgedörrt. Mein ganzer Körper hatte sich seit dem Sonnenaufgang mit Staub, Schmutz und abgestorbenen Pflanzenteilen bedeckt. Teile meiner Kleidung waren zerfetzt und dreckig. Nur meine Waffen hatten keinen Schaden gelitten. Für einige Tage hatte ich noch Nahrung, und die Hitze der Fackel brannte jetzt durch das Leder meiner Handschuhe auf der Haut. Ich mußte rasten ... das erkannte ich mit jedem weiteren Schritt. Ich zuckte die Schultern und sah, daß die Sonne jetzt verschwunden war. Drei Mannslängen weit lag das Gelände offen vor mir. Es war, als würde ich mich in einer gläsernen Kugel durch einen Sandsturm bewegen. Die Außenwelt war nur eine Welt der bedrohlichen Geräusche. Unsichtbare Vögel über mir; sie kamen so tief herunter, daß ich entweder den starken Luftzug oder die Berührung ihrer weichen Federn spürte. Unsichtbare Tiere hinter mir. Ich hörte das Bellen, das Reißen von Halmen, das Schnappen großer Kiefer und die Geräusche der Pfoten. Ich wollte den kleinen Rest des Knüppels wegwerfen, besann mich aber – die Glut konnte dieses Meer aus 45
trockenem Gras in eine einzige Zone alles vernichtenden Feuers verwandeln. Also schleppte ich den Stumpf weiter mit mir und ging Schritt um Schritt durch diesen höllischen Nebel weiter. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich, ohne es zu ahnen, bereits tief in dem Zustand beginnender Verwirrung. Der ständige Nebel, dieses ununterbrochene Wallen und Brodeln, hatte mich halb wahnsinnig gemacht. Das Grasmeer schien endlos zu sein. Es nahm kein Ende. Ich begann, unsicher zu werden. Ging ich noch immer nach Westen, dem Berg entgegen? Was bedeuteten die Geräusche? Waren die Nebelwesen noch immer hinter mir her? Würde ich diese Nacht ausschlafen können? Ich wußte nichts! Plötzlich blieb ich stehen. Ich hatte den Geruch frischen Wassers in der Nase. Der Nebel schien auf den letzten fünfzig Schritten abgekühlt zu sein; ich empfand ihn nicht mehr als feucht und stickig, sondern als prickelnd und frisch. Meine Stimmung hob sich, die Müdigkeit schien zu vergehen, je mehr ich mich dem Wasser näherte. Schließlich, nach weiteren zweihundert langen Schritten, knirschte Sand unter meinen Stiefeln. Ich wurde langsamer und sah mich um. Ich befand mich, soweit ich dies erkennen konnte, am sandigen Ufer eines Sees oder eines großen Tümpels. Ich lief langsam auf einen Haufen trockenes Treibholz zu, schichtete einen pyramidenförmigen Stapel auf und nahm dann den letzten Rest meiner Fackel. Dreißig Atemzüge später brannte ein großes, fast rauchloses Feuer. Ich ließ meine Waffen zu Boden gleiten und blieb regungslos stehen. Es roch nach brennendem Holz und nach fauligem Fisch. 46
Ich ging zwanzig Schritte nach jeder Richtung, um zu sehen, wo ich mich wirklich befand. Das Wasser im Norden war frisch und spülte mit kleinen Wellen über Sand und weiße Kiesel. Zog ich die Linie, von der ich nur einen kleinen Ausschnitt sehen konnte, weiter durch, dann war es nur ein kleiner Teich, nicht größer als hundert Mannslängen durchmessend. Treibholz und tote Fische lagen herum, zwischen ihnen merkwürdige, mannsgroße Gebilde, die wie aus durchsichtigem Stoff gemacht schienen. Sie sahen aus wie Quallen. Schaudernd betrachtete ich die angefressenen Saugnäpfe, in denen Käfer und Insekten krabbelten. Rechts und links der Sandfläche standen schwere, wuchtige Felsen, die weit ins Wasser hineinragten. Eine Barriere aus Büschen, Bäumen und faulendem Holz zäunte den halbmondförmigen Strand ein. Hier wollte ich die Nacht verbringen, und ich suchte mir einen sicheren Platz aus – oder ein Fleckchen, von dem ich glaubte, daß es sicher war. Ein Winkel zwischen Felsen, Strand und dem Wall aus Treibholz. Ich schleppte meine Waffen hierher, achtete auf den Sand, konnte aber nur die Spuren von kleinen Tieren sehen. Keine Raubtierfährten, aber auch kein Abdruck von den Pfoten eines Tieres, das den Namen Graue Wölfin tragen konnte. Augenblicke später hatte ich die Stiefel ausgezogen, hielt die Füße ins Wasser und packte meine bescheidenen Vorräte aus. Die Füße schmerzten, teils von der Anstrengung, teils von dem eiskalten Wasser. Das Prasseln des Feuers schuf einen geringen Ausgleich, es klang vertrauenserweckend und strahlte Wärme und Sicherheit aus. Ich fühlte mich ausgelaugt und schläfrig. Hunger, Durst und Müdigkeit hatten mich fest in ihrem Griff. 47
Ich aß, trank Wasser aus dem See und nutzte das letzte Licht dazu aus, mich zu waschen, ein paar Mannslängen zu schwimmen, im Mantel abzutrocknen und zuzusehen, wie sich der Nebel langsam abermals färbte. Aus dem roten Nebel wurde, in Schleiern und in langgezogenen Streifen von Westen her treibend, ein giftgrünes, brodelndes Gewoge und Gemenge. Langsam zog ich die Hosen an, schloß den Gürtel und legte meine Waffen neben mich hin. Endlich hatte ich genug Ruhe, um über alles nachzudenken und – vielleicht – ausschlafen zu können.
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5.
Es war der Morgen des sechsten Tages, den ich im Nebelland verbrachte. Aus dem giftgrünen Nebel war jetzt ein eisig blauer Dunst geworden. Ich hatte sämtliche Vorräte verbraucht. Mein Gepäck war nur um einiges leichter geworden. Tagesmarsch um Tagesmarsch hatte ich zurückgelegt. Durch Wälder und riesige, leere Kiesflächen. Durch Buschland und über kleine, scharfkantige Barrieren aus Steinen und Felsen, mit hartem, dornigem Gestrüpp bewachsen. Ich war ohne Hoffnung, entmutigt und erschöpft. Ich schleppte mich jetzt durch den eisblauen Nebel dahin, mit schlurfenden Schritten, knurrendem Magen und ausgedörrten Lippen. Mehr als fünf Tage im Land des Todesnebels ... Der Unterschied zwischen Tag und Nacht war verwischt worden. In der Nacht glomm der Nebel und störte den Schlaf ebenso wie die nicht abreißenden Geräusche und Schreie rund um die Lagerstätten. Am Tag konnte ich immerhin der Sonne nachgehen oder mich an ihr orientieren. Aber ich war mutlos geworden und hatte fast jede Hoffnung verloren, jemals aus dem Gebiet des Nebels zu entkommen. »Welch ein verdammtes Land!« seufzte ich auf. Meine Stimme war ebenso rauh wie die Töne, das Winseln und das geifernde Bellen hinter dem Vorhang des Nebels. Ich hatte bisher nur feuchte, triefende Pflanzen gefunden und nicht einmal Früchte, um meinen Hunger stillen zu können. Nur hin und wieder ein Was49
serloch oder den Vorrat an Regenwasser in einem großen, zusammengerollten Blatt. Ging ich tatsächlich noch nach Westen, auf den Berg Aerulas zu? Ich glaubte es, aber ich konnte nicht sicher sein. Ich war verwirrt und hatte Angst. Nicht so sehr um mich selbst, sondern darum, daß ich versagt und mein Ziel aus den Augen verloren hatte. Einige Kämpfe lagen hinter mir. Sie verschwammen bereits in der Erinnerung zu undeutlichen Passagen. Ich war zweimal mit einer kleinen Gruppe abgerissener und erschöpfter Dalaugiri zusammengetroffen, die mich augenblicklich angegriffen hatten. Sie schienen förmlich ein inneres Bild von mir mit sich zu haben, denn sie erkannten mich sofort und stürzten sich mit geschwungenen Waffen auf mich. Aber meine Kraftreserven waren größer, und schließlich hatte ich mich durch Flucht gerettet. Der Nebel lichtete sich nicht. Der Ring aus dieser rätselhaften Materie lag um den Berg, und diese Barriere schien dicker und ausgedehnter zu sein, als ich in meinen schlechtesten Träumen geahnt hatte. Was sollte ich tun? Jetzt merkte ich, daß ich mich schon wieder in einer anderen Landschaftszone befand. Sand knirschte bei jedem Schritt. Trockene Gräser wurden zertreten, winzige Insekten rannten bei der Berührung mit den Sohlen nach allen Seiten davon. Die Spur, die ich in dieser triefenden Wüste hinterließ, war verwischt und würde jedem, der mir folgte, verraten, daß ich am Ende war. Ich hatte eine unwirklich lang erscheinende Strecke auf einer fremden Welt zurückgelegt, in einem hektischen Rennen von Hindernis zu Hindernis. Unzählige 50
Kämpfe und Abenteuer waren die Marksteine meines Weges. Mein Ziel lag irgendwo im Geheimnisvollen. Ich sollte einen Kampf der Geister mitentscheiden, und ich konnte nicht mehr sein als nur eine winzige und unbedeutende Figur in einem Spiel, das ich nicht kannte. Wenn ich Aerulas Berg nicht erreichte, konnte ich Vesta nicht befreien, und dann würde ich niemals mehr das Tor finden, das mich auf meine Welt zurückbrachte. Nach einigen fünfzig Schritten konnte ich die Schreie und die Geräusche eines Kampfes nicht mehr überhören. Meine Sinne und Nerven schienen sich zum letztenmal aufzubäumen. Meine Hand zuckte herunter zum Schwertgriff. Ich holte tief Atem und rannte auf die Quelle der Kampfgeräusche zu. Mein drittes Auge schien zu leuchten. Während ich rannte und über die Steine sprang, schöpfte ich neue Kraft. Das sechstätige Einerlei von Nebel und Halbdunkel hatte mich mehr erschöpft als die Quälerei des Marsches. Vielleicht brachte mich dieser Kampf, der im Unsichtbaren ablief, aus dem Nebel heraus. Drei Mannslängen weit konnte ich sehen. Ich erkannte tiefe, langgezogene Spuren im Sand und sah ausgerissene Grasbüschel. Jaulen, Hecheln und Winseln, dazwischen langgezogene knurrende Laute von bösartiger Schärfe waren zu hören. Sie kamen aus dem Nebel direkt vor mir, aber sie wichen aus, schienen vor mir zu flüchten, zogen sich immer weiter zurück. Ich machte längere Schritte und größere Sprünge. Die Spuren wurden tiefer. Auf dem Sand sah ich glitzernde, diamantähnliche Tropfen. Trotz des blauschimmernden Nebels schien die Sonne auf diese Tropfen zu fallen. 51
Zischend glitt mein Schwert aus der Scheide. Ich merkte mir den Platz, an dem ich die Waffen und den Mantel zu Boden schleuderte. Denn jetzt sah ich Bewegungen und Gestalten – dicht vor mir. Ich sprang darauf zu. Als erstes, am Ende der Schleifspuren, sah ich einen riesigen Wolf von eisgrauer Farbe, dessen Rute und Hinterläufe den Boden berührten und zuckend im Sand schleiften. Genauer gesagt wurden sie geschleift und vorwärts gezerrt. Der Oberkörper und die Vorderläufe der Bestie hingen in der Luft. Sie waren von langen, schlauchartigen Armen umschlungen. Ich sprang abermals näher heran und fühlte, wie Vestas Auge in meiner Stirn aufzuglühen schien. Mein Schwert beschrieb einen Halbkreis und schlug in einen der Arme. Ich blickte nach oben. Eine riesige, fast durchsichtige Halbkugel schwebte dort. Vom Rand der Halbkugel, von der Stelle, an der sie wie auseinandergeschnitten wirkte, hingen lange Fäden herunter, die ebenfalls durchsichtig waren und Knoten besaßen. Jedesmal, wenn ein solcher Knoten den Körper des Wolfes – ich sah flüchtig, daß es eine Wölfin war! – berührte, zuckte das Tier zusammen wie unter einem furchtbaren Peitschenhieb. Die Fäden schienen mich zu sehen und schlängelten sich mir entgegen wie die Tentakel des Nebels vor sechs Tagen. Ich hieb wild um mich und schlug ein paar Fäden ab. Dann traf mich ein Knoten am ungeschützten Oberarm. Ein Hieb wie von einem weißglühenden Schwert zuckte durch meinen ganzen Körper. Ich warf mich 52
halb zurück, und halb stolperte ich, und beinahe hätte ich mein Schwert fallen gelassen. Ich schrie auf. Die graufarbene Wölfin biß und schlug um sich, aber sie wurde von der durchsichtigen Qualle davongeschleppt. Das Tier war für dieses Luftwesen zu schwer, die Qualle konnte die Bestie nicht in die Luft heben, sondern zerrte sie hinter sich her. Wieder sprang ich nach vorn und in die Höhe. Ich schlug zu und trennte zwei der langen, züngelnden Fäden von dem Quallenkörper ab. In der Mitte der Halbkugel sah mich ein großes, dunkles Auge an, und unterhalb des Auges, neben hornigen Kiefern oder Mandibeln sah ich die langen Arme mit den riesigen Saugnäpfen. Sie klammerten sich an das Fell der Wölfin, aber sie hafteten nicht völlig daran. Immer wieder rutschten sie ab und hinterließen in dem Fell blutige Spuren. Ich zielte nach dem Auge, aber ich konnte nur einen der acht Arme abschlagen. Mehrmals trafen die Knoten und Schnüre das blitzende Metall des Schwertes, aber die Schläge, die meinen Körper erschütterten, waren viel schwächer, und ich spürte sie in der Hitze des Kampfes nicht. Ich sah, wie aus dem abgetrennten Stumpf des Armes jene glitzernden Tropfen, die ich bereits im Sand erblickt hatte, zu Boden fielen und zu leuchten begannen. Der andere Teil des Fangarms ringelte sich kraftlos auf und fiel von dem Körper ab, schlug in den Sand und blieb dort zuckend liegen. Wieder traf mein Schwert und trennte einen Tentakel fast ab. Ich rannte um die Wölfin und um die Fäden herum, schlug zu, riß mein Schwert zurück und hieb abermals zu. Wieder fiel ein Arm. Kraftlos schlossen und öffneten sich die Saugnäp53
fe. Die Wölfin biß in einen anderen Arm, ihr Maul bedeckte sich mit weißem Schaum. Dann schnitt die Spitze meines Schwertes in die dicke, zähe Haut des ballartigen Oberteils der Qualle. Zischend entwich die Luft, und mehrere Tentakel lösten sich von selbst. Ich kämpfte weiter, aber ich bezeichnete die Wölfin jetzt nicht mehr als Bestie, denn ich hatte erkannt, daß es sich um die Graue Wölfin handeln mußte. »Warte! Wir haben die Qualle gleich besiegt!« stieß ich keuchend hervor und hob abermals mein Schwert. Die Qualle sackte tiefer, die Vorderpfoten der Wölfin berührten den Boden. Erst jetzt konnte sich das Tier besser und mit mehr Kraft wehren. Dadurch, daß die Qualle jetzt nicht mehr so hoch schwebte, konnte ich besser an sie heran. Mehrere Tentakel schnellten sich mir entgegen. Ich sprang zur Seite, wirbelte herum und schlug eines dieser furchtbaren Werkzeuge knapp neben dem breiten, mit Sägezähnen bewehrten Schnabel ab. Zwei, der langen Fäden wickelten sich wie Schnüre um mein Schwert und begannen daran zu zerren, aber ich riß die Waffe mit aller Gewalt zurück. Wieder riß ich einige Fäden aus. Die Wölfin kam für einen Augenblick frei, rannte einige Schritte aus dem Bereich der Arme und Saugnapfe hinaus und griff dann wieder an. Sie blutete aus vielen Wunden, und sicherlich war sie nicht weniger als ich erschöpft. Von beiden Seiten griffen wir jetzt die Luftqualle an. Mein Schwert zischte durch den dünnen Nebel und traf fast mit jedem Schlag. Die Öffnung im Ballon hatte sich wie durch Zauberkraft wieder geschlossen, aber nur noch vier Tentakel schnellten wie lange, dicke Peitschenschnüre durch die Luft und richteten die Haken an den Enden und die tellergroßen Saugnäpfe auf uns. 54
Aus tiefen Wunden sickerte das weiße, klebrige Blut der Qualle zu Boden. Aber sie flüchtete nicht. Es war deutlich, daß sie auch schwer verwundet und halb kampfunfähig war. Die Wölfin heulte wütend auf und sprang senkrecht fast eine Mannshöhe in die Luft. Ihre langen, weißen Zähne, von denen einer abgesplittert war, gruben sich in den Rand der Halbkugel. Ich duckte mich unter dem vorletzten Tentakel. Einige Tropfen der Lebensflüssigkeit fielen auf meine Unterarme und erzeugten brennende Spuren. Dann schnitt mein Schwert, dicht an den Ohren des Tieres vorbei, die Tentakel ab. Mit einem pfeifenden Geräusch entwich Luft oder Gas aus dem halben Ballon. Die Hülle wurde schlaff. Das Auge vergrößerte sich, dann zog sich eine milchige Hornhaut darüber. Der Schnabel, der weitaus breiter war als der eines Vogels, krampfte sich zusammen. Die Qualle fiel langsam zu Boden und verlor den letzten Rest ihrer Füllung. Sie lag da wie die Fetzen eines weggeworfenen Kleidungsstückes. »Wir haben gesiegt!« sagte ich mit rauher Stimme. Die Wölfin kam um den Kadaver der Qualle herum und auf mich zu. Ihre Bewegungen waren schlaff und ohne Energie. Als sie vor mir stand und die Vorderbeine spreizte, bemerkte ich, daß sie am ganzen Körper zitterte. Die blutige Zunge hing weit zwischen den Lefzen hervor. Ich erinnerte mich an die Wirkung von Vestas Auge und dachte scharf und so konzentriert, wie ich es gerade noch konnte:
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Ich und du, wir sind Geschöpfe Vestas. Ich trage Vestas Auge in meiner Stirn. Sieh mich an, Graue Wölfin! Die Wölfin senkte den Kopf, hielt ihn etwas schräg und starrte mich schweigend aus großen, grünen Augen an. Sie wirkten auf überraschende Weise menschlich, fast wie die Augen eines Mädchens. Ein Strom wilder, ungeordneter Gedanken drang auf mich ein. Ich versuchte, aus dieser undeutlichen Masse von Empfindungen und kreatürlichen Vorstellungen für mich eine Antwort herauszusuchen. Ich konnte nur einen deutlichen Eindruck entnehmen. Du hast mit mir zusammen gekämpft, und wir haben diesen Lufträuber besiegt und getötet. Ich verdoppelte meine Anstrengungen, in das tierische Bewußtsein der Wölfin einzudringen. Vesta hat mit mir gesprochen. Er hat gesagt, ich würde dich treffen. Er befiehlt dir, mich aus dem Nebelland hinauszuführen! Schnell, sonst sterben wir beide! Ich entsann mich jetzt, daß mit einiger Wahrscheinlichkeit auch die Berührungen aus der Luft, die ich mehr als ein dutzendmal gespürt hatte, nicht von den Schwungfedern großer Vögel, sondern von den Tentakeln treibender und schwebender Luftquallen stammten. Ich preßte meine Hand auf das Amulett, aber die Wölfin schien mich dadurch kaum besser zu verstehen. Immerhin löste sich ihre gespannte Angriffshaltung ein wenig, und sie kam näher und rieb endlich ihren großen, spitzen Schädel an meinem Knie. Bring uns aus dem Nebel hinaus! Wir müssen zum Berg Aerulas! 56
Ich sah und vernahm Gedanken und Empfindungen. Als ob sie durch die größere Nähe der Wölfin klarer geworden wären, konnte ich verstehen, daß sie und die anderen Eiswölfe aus dem Eisland gekommen und in Scharen nach dem Nebelland gerannt waren, um die kleinen gelben Krieger zu hetzen und zu reißen. Die Wölfin setzte sich jetzt auf ihre Hinterkeulen und begann, mit ihrer langen Zunge die Wunden zu lecken. Kannst du mich aus dem Nebelland hinausführen? Das Raubtier mit dem ergrauten, blutigen Fell war von den Fäden und den Schlägen, die sie ausgeteilt hatten, betäubt und bewegte sich noch immer nicht mit der Geschmeidigkeit eines tierischen Jägers. Der erbitterte Kampf, den sie der Qualle geliefert hatte, schien sie an den Rand ihrer Kräfte gebracht zu haben – wie mich auch. Du mußt mich aus dem Nebel hinausbringen! sagte ich halblaut. Die Graue Eiswölfin hob den Kopf, warf mir einen prüfenden Blick zu und nickte mehrmals. Dann fuhr sie damit fort, ihr Fell zu lecken und zu striegeln. Nur langsam verschwanden die blutigen Streifen aus dem weißgrauen, langen Fell. Die Wölfin, das entnahm ich ihren Gedanken und den schnell aufeinanderfolgenden Gedankenbildern und kurzen Szenen, war etwas Besonderes unter ihrem Volk und in den Rudeln. Sie war eine Einzelgängerin, die nur hin und wieder mit den Rudeln jagte. Aber sie besaß als Jägerin und Kämpferin uneingeschränkten Ruhm, und jeder Wolfsrüde begehrte sie und wollte mit ihr Junge zeugen. Sie dachte eben in diesem Augenblick daran, wie sie aus dem Nebel hinaus in den Sonnenschein rennen würde ... 57
Ja! Dorthin muß ich! Schnell, ehe wir hier überfallen werden! Plötzlich sah ich ein deutliches Bild in den ungeordneten Gedanken des Tieres: Sie, die Wölfin, trottete aus dem Nebel hinaus, und ein Mann – ich war es! – folgte ihr. So ist es recht! Ich winkte dem Tier, dann säuberte ich das Schwert und stieß es in die Scheide zurück. Ich folgte meinen eigenen Spuren und sammelte Bogen, Köcher und Mantel auf, desgleichen den leeren Wassersack und die wenigen Habseligkeiten, die mir auf meiner Wanderung noch übriggeblieben waren. Dann kehrte ich zu dem Tier zurück, das sich in der Zwischenzeit erholt zu haben schien, denn die Wölfin stand da, drehte den Kopf über die Schulter und sah mich an. In ihrem Blick lag eine deutliche Aufforderung. Dann trottete sie einige Schritte geradeaus. Ich folgte ihr. Inzwischen war es Mittag geworden, und der helle Fleck im blausilbernen Nebel stand genau über uns. Langsam bewegten wir uns weiter nach Westen. Und schon nach etwa einer Stunde mußte ich mir eingestehen, daß ein Tier in vielen Dingen besser war als ein Mensch. Die Wölfin führte mich sicher nicht auf dem kürzesten, aber doch auf dem am wenigsten anstrengenden Weg von der Stelle fort, an der die Luftqualle sie überfallen hatte. Ein schneller Marsch begann. Und am frühen Nachmittag verschwand die Wölfin, rannte durch den Nebel davon und trieb ein gazellenähnliches Tier derart schnell und geschickt auf mich zu, daß ich kaum Zeit hatte, einen Dolch aus dem Gürtel zu reißen und das Tier zu töten. Wir teilten uns das Fleisch. 58
6.
An diesem Abend schöpfte ich neue Hoffnung. Ich hatte mit Hilfe von Schwamm und Feuersteinen ein Feuer entfachen können. Das Tier und ich lagerten direkt neben einer kleinen Quelle, die von sechs gewaltigen Felsen umstanden war. Der Nebel hatte sich in eine schwarze, undurchdringliche Masse verwandelt. Es wurde Nacht. Zwischen den Felsen brannte das Feuer, mein Wassersack war prall gefüllt, die Wölfin lag neben den Flammen, und ihre Augen schienen heller zu brennen als das Feuer. Dreißig Mannslängen weiter, jenseits der Felsen, war eine Wasserstelle, an die zahllose Tiere kamen. Der Umstand, daß dieses instinktgeleitete Tier ruhig war, beruhigte auch mich. Ich drehte den Ast über der Glut und bestreute die großen Bratenstücke mit Salz aus meinen letzten Vorräten. Der Raum zwischen den Steinwänden war fast gemütlich zu nennen. Wanderer hatten hier oftmals haltgemacht; ich sah es an den schwarzen Feuerkreisen. Aber der letzte Wanderer schien vor ungezählten Jahrzehnten hier geschlafen zu haben. Das Fleckchen atmete abgrundtiefe Verlassenheit aus. Wieviel Lichtwechsel werden wir noch unterwegs sein ? Die Wölfin hatte das Fleisch gefressen und sich im Wasser der Quelle gebadet. Jetzt leckte sie ihr Fell sauber. In den flackernden Flammen strahlten ihre Fangzähne. Ich umklammerte mein Amulett und hatte die Frage an das Raubtier gerichtet. Wieder sah ich Bilder und Gedankenfetzen. 59
Die Angriffe auf die Kriegerhorden der Dalaugiri ... die tagelangen Wanderungen von Wolfsrudeln und Einzelgängern durch den ständig die Farbe wechselnden Nebel ... den Kampf gegen die Luftqualle ... dann den langen Tag, an dem ich der Wölfin gefolgt war. Schließlich Bilder von der Helligkeit im Nebel, also dem Anbruch eines neuen Tages. Wieder Abbildungen eines Weges, der auch für die Wölfin nichts anderes war als eine Mischung aus Geruchsspuren und einem kleinen, sichtbaren Ausschnitt der Landschaft. Schließlich das Bild eines Berges, hinter dem die Sonne versank. Noch an diesem Tag? Also nach dem Morgen? fragte ich stumm in Gedanken. Das Bild wurde schärfer und blieb im Bewußtsein des Raubtiers verankert. Wir würden also morgen abend das Nebelland verlassen. Konnte ich sicher sein? Ich zuckte die Schultern. Im Augenblick fühlte ich mich so wohl wie schon seit vielen Tagen nicht mehr. Das Bad im eiskalten Quellwasser hatte mir gutgetan. Meine Kleidung trocknete dampfend am Feuer. Die vielen Schürfwunden verschorften, die blauen Flecke und die Prellungen hatten zu schmerzen aufgehört, und der feine Sand, mit dem ich meine Haut abgerieben hatte, färbte sich rot und ließ ein Gefühl der wohltuenden Müdigkeit zurück. Der Geruch des schmorenden Bratens, von dem Fetttropfen ins Feuer fielen und dort zischend und qualmend verbrannten, trug dazu bei, daß ich mich zurücklehnte und mir vorstellte, schon morgen abend wieder die Sonne und später die Sterne zu sehen. Die Stimmung, die mich noch Augenblicke vor dem Zusammentreffen mit der Grauen Wölfin fest in ihrem 60
niederdrückenden Griff gehabt hatte, war verflogen. Ich sah jetzt den weiteren Weg mit anderen Augen. Kennst du den Berg, auf dem Aerula wohnt? fragte ich aufs Geratewohl. Augenblicklich hörte die Wölfin auf, ihr Fell mit der Zunge und mit den Krallen zu putzen. Sie drehte den Kopf und blickte mich starr aus ihren grünen Augen an. In das dreieckige Gesicht des Raubtiers kam etwas, das ich als Ausdruck der Furcht deutete. Dann empfing ich einen durcheinanderwirbelnden Strom wirrer Vorstellungen. Undeutlich tauchte ein riesiger Berg auf, der wie ein schroffer Spitzkegel aussah. Wolken umlagerten den Gipfel. Zwischen dem Berg und dem Rand des eisblauen Nebels flatterten riesige Vögel, die im Sturzflug auf die Wölfin und mich herabstießen. Und jedes einzelne Bild im tierischen Verstand war von Furcht förmlich getränkt. Dann, unvermittelt, schob sich über diese Bilder eine andere Vorstellung. Die Wölfin »sah« sich selbst. Sie sprang hoch, jaulte und heulte durchdringend auf und rannte von mir weg, zurück in den Nebel. Dort verschwand sie einen langen Augenblick später. Zwischen meinen Fingern schien das Amulett magische Strahlen und Impulse auszusenden. Der Stein über meiner Nasenwurzel blinkte und funkelte im Flammenschein. Die Wölfin starrte mich an, unruhig und aufmerksam geworden. Jetzt schien sie endgültig erkannt zu haben, daß ich von Vesta eine gewisse Macht verliehen bekommen hatte. Du wirst mich also verlassen, dachte ich angestrengt, wenn wir die Zone des Sonnenlichts wieder erreicht haben? Wieder mußte ich dieses Bild sehen. Unter den Schatten eines großen Schwarms der hellen Riesenvögel rann61
te die Graue Wölfin zurück in den Nebel, um weiterhin mit vielen ihrer Artgenossen nach den letzten Dalaugiri zu jagen. Endlich war das Fleisch gebraten. Ich aß riesige Stücke des Bratens, wendete meine Kleidungsstücke und schlief schließlich ein, in den löcherigen Mantel gehüllt. Die Wölfin saß neben dem verglimmenden Feuer und bewachte meinen Schlaf. Drei oder vier Stunden nach Sonnenaufgang, also nach der Stunde, in der sich der Nebel wieder in diese kalt leuchtende Flut verwandelt hatte, hielt die Wölfin plötzlich an. Sie riß den Kopf hoch und drehte ihn langsam. Ich blieb ebenfalls stehen, legte die Hand an den Schwertgriff und lauschte angestrengt. Wir befanden uns jetzt in einem hügeligen Buschland, das von großen Weideflächen durchsetzt war. Häufig hatten wir die Reste alten Rinderkots gefunden. Ich mußte annehmen, daß es hier einmal weidende Rinderherden gegeben hatte. Was hast du? Witterst du Feinde? dachte ich eindringlich. Ich erhielt keine Antwort. Das Tier stand da wie aus Stein gehauen. Nur das hechelnde Atmen war zu hören. Dann sprang die Wölfin plötzlich nach vorn und trabte schnell in diesem eigentümlichen Gang davon. Ich begann ebenfalls zu rennen und wurde schneller, um ihre Spuren nicht zu verlieren. Wir rannten durch den Nebel und über ein Stück freie Fläche, die mit hohem, verfilztem Gras bewachsen war. Der eisgraue Körper des Tieres verschwand im Nebel, aber ich sah die schmale Spur vor mir und folgte ihr. 62
Dann erreichte mich ein anderes Bild. Die Angst war aus den Gedanken des Raubtiers verschwunden. Gier und Mordlust schlugen auf mich ein und verwirrten mich. Die Wölfin hatte ein Opfer gerochen oder aufgespürt. Ich verdoppelte meine Geschwindigkeit und zog langsam das Schwert, während der lange Bogen gegen meinen Rücken und in die Kniekehlen schlug. Ein scharfes Knurren vor mir, dann ein heller, menschlicher Schrei. Ich machte drei lange Sätze, sprang mitten in einen Busch hinein, kämpfte mich frei, indem ich mit dem Schwert wütend in die Zweige schlug und Äste kappte, dann stand ich in einem kleinen Halbkreis aus Baumstämmen und hohen, knorrigen Wurzeln. Ich sah die Wölfin. »Halt!« schrie ich laut. Das Tier warf sich gerade vorwärts, um mit den Fängen die Kehle eines Menschen zu erreichen und die Schlagader zu zerfetzen. Ich sah nur einen langen, schlanken Körper, der sich verzweifelt und hilflos zwischen den Wurzeln und auf den runden Moospolstern herumwälzte, dann änderte die Wölfin die Richtung ihres Sprunges und landete mit den Vorderpfoten zwischen den Wurzeln. Ich rannte um den Körper herum und sah flüchtig, daß es sich um ein Mädchen handelte. Mein Schwert blitzte auf, als ich mich zwischen das Mädchen und das Tier warf, das dicht vor mir stehenblieb, das Fell gesträubt, drohend knurrend und den Rachen weit aufgerissen. Graue Wölfin! Das ist ein Mensch wie ich! dachte ich scharf. Langsam wich die Wölfin zurück. Die tiefen Falten auf der spitzen Schnauze verschwanden. Das grollende Knurren hörte auf und wurde zu einem kaum hörbaren 63
Jaulen. Ich bewegte mein Schwert hin und her und zeigte dem Tier die scharfe Spitze. Ich kämpfe mit dir gegen die Luftqualle! richtete ich meine Gedanken an das Tier. Aber ich kämpfe gegen dich um das Leben eines Menschen. »Hilf mir!« wimmerte das Mädchen hinter mir. Es hatte eine helle Kinderstimme. Zurück, Wölfin! Es gibt anderes Wild für dich! Vergiß nicht, daß ich Vestas Macht besitze! Tu diesem Mädchen nichts! Ich wandte mich halb um und sagte beruhigend: »Keine Sorge. Ich werde dir helfen, Mädchen.« Die Wölfin verlor ihre Angriffshaltung. Das gesträubte Fell glättete sich wieder. »Du wirst mich und das Mädchen aus dem Nebelland hinausführen!« sagte ich laut. »Und dort draußen magst du Tiere reißen, soviel du willst. Aber keine Menschen! Still jetzt, ich muß mich um unseren Fund kümmern.« Sie trottete ein paar Schritte davon, rieb ihren Hals an der borkigen Rinde eines Baumstamms und verhielt sich dann ruhig. Ich drehte mich um und sah zum erstenmal genau, wen die Wölfin gewittert und angegriffen hatte. Ein Mädchen. Ein Mädchen, in helles, dünnes Leder gekleidet und – mit Flügeln! Mit langen, zusammengefalteten Schwingen, die sich eng an ihren Rücken preßten. Langes, blondes Haar lag auf dem dunkelgrünen Moos. Aus hellen Augen sah mich das Mädchen angstvoll an, bis ich begriff und das Schwert in die Scheide zurückschob. Ich kauerte mich neben ihr nieder. »Bist du verletzt?« fragte ich halblaut. Sie nickte und hob schwach den Arm. 64
»Ich habe mir die Schwinge gebrochen oder verletzt. Es tut sehr weh. Ich bin in den Baum gestürzt.« Vorsichtig schob ich die Arme unter ihren Rücken und richtete sie in sitzende Stellung auf. »Wie heißt du?« fragte ich. »Und du kannst wirklich fliegen? Wie ein Vogel?« »Ich bin Aethia«, sagte sie und wimmerte auf, als sich ihr linker Fuß bewegte. »Wir sind ein mächtiger Stamm, wir von dem Berg Aerulas. Natürlich kann ich wie ein Vogel fliegen. Aber nicht jetzt.« Ich warf einen Blick auf die Wölfin, die uns beide aufmerksam beobachtete. »Dein Fuß. Er schmerzt, nicht wahr?« Ich legte Köcher, Mantel und Bogen ab und kümmerte mich um das Mädchen. Die langen Federn einer Schwinge waren geknickt und brachen jetzt ab. Die dünnen Knochen des Flügels schienen nicht gebrochen zu sein, aber zweifellos waren Gelenke verstaucht und Sehnen und Muskeln gezerrt. Das Gelenk des Knöchels war verstaucht und schwoll jetzt an. »Ich werde dich tragen müssen. Wie geschah dies alles?« fragte ich. »Übrigens, ich bin Dragon.« »Dragon. Der Dreiäugige!« sagte sie und versuchte ein Lächeln, aber wieder verzog sie schmerzhaft das Gesicht. »Dies ist das Auge Vestas.« »Vesta? Wir dienen Aerula, dem Luftgeist. Ich war zu schnell und zu tief. Ich kam in den Nebel hinein, sah nichts mehr und flog mitten in einen Baum hinein. Ich viel von Ast zu Ast und zu Boden.« Aethia war ein schlankes, graziles Mädchen. Sie war nicht so jung, wie der Klang ihrer Stimme vermuten ließ. Wache Intelligenz sprach aus ihrem Gesicht – es gab kei65
nen Vergleich zu jenen stumpfsinnigen, düsteren Gestalten der Aerulkanen, gegen die ich gekämpft hatte. »Ich bringe dich zu deinem Stamm zurück. Wie weit ist es?« fragte ich und hob sie probeweise auf. Sie war leicht, aber sie würde trotzdem eine schwere Last werden, wenn der Weg zu lang war. »Weniger als ein Tagesmarsch. Aber die vom Berg Aerulas werden mich suchen. Besonders Aethon.« »Dein Mann?« »Er ist mein Bruder. Dieses Tier ... wird es mich wieder angreifen? Ist es dein Gefolgsmann?« Als einzige Waffe trug Aethia einen geschliffenen Dolch in einer ledernen Scheide am Gürtel. Ich befestigte Köcher und Bogen wieder über meinen Schultern und legte die flache Hand auf das Amulett. »Graue Wölfin!« sagte ich laut. Das Tier hob den Kopf und stieß einen kurzen, undeutbaren Laut aus. »Führe uns ins Land des Lichts! Hinaus aus dem Nebel, zum Berg Aerulas!« Die Wölfin senkte den Schädel, drehte sich auf der Stelle und trottete langsam auf den Zwischenraum zweier dünner Stämme zu. Ich schob die Arme unter den Rücken und die Kniekehlen und hob Aethia auf. »Wir gehen hinaus aus dem Nebel!« sagte ich. Sie lächelte mich an, aber ihr Blick irrte ab und heftete sich auf das Juwel in meiner Stirn. »Es leuchtet«, sagte Aethia. »Dein drittes Auge leuchtet. Warum hast du die drei Augen, Dragon?« »Es ist das ›Auge Vestas‹, Aethia«, erklärte ich halblaut und folgte der Wölfin. Ich achtete darauf, daß weder der verletzte Flügel noch der Knöchel irgendwo anstießen. »Vesta gab es mir durch einen seiner Freunde.« »Wir vom Berg kennen dies nicht.« 66
Ich hielt das Mädchen in meinen Armen und schleppte es durch einen kleinen Wald. Die Wölfin lief vor uns her und sah sich immer wieder um. Ihre Angriffslust war völlig verschwunden. Aber noch immer befanden wir uns mitten im Nebel. Er wurde auch nicht heller oder durchsichtiger. Nach einem kurzen Schweigen fragte ich weiter. Inzwischen hatte ich auf Danilas Welt lernen müssen, daß selbst das Unmögliche möglich war – nicht nur möglich, sondern geradezu wahrscheinlich. »Wie groß ist dein Volk, Aethia?« fragte ich. Obwohl ich versuchte, sie vorsichtig zu tragen und mich nicht ruckhaft zu bewegen, schrie Aethia hin und wieder leise auf. »Wir sind zweitausend!« sagte sie. »Und ihr wohnt in der Nähe des Berges?« »Ja!« Sie berichtete mir, daß der Stamm, der sich Die vom Berg Aerulas nannte, von Aethoarch beherrscht wurde, einem milden, gerechten alten Mann, der bereits seine Flugfähigkeit verloren hatte. Aerula, der Luftgeist, gab denen vom Berg Befehle, indem er die Gedanken, die Wünsche und das Verhalten der Bergbewohner nachdrücklich beeinflußte. »Wo wohnt ihr eigentlich? Auch an diesem Berg?« erkundigte ich mich. Wir verließen jetzt diesen kleinen Wald. Ich drehte meinen Körper und schlängelte mich durch die Büsche. Die Wölfin führte uns sicher und zuverlässig. Mein Befehl hatte gewirkt, oder das Auge Vestas hatte das Tier in seinen Bann geschlagen. »Wir leben in großen Familien. Jede Familie hat ein Haus, das aus Höhlen und Mauern besteht!« sagte Aethia 67
und sah mich an. »Woher kommst du, Dragon mit den drei Augen?« »Aus einem anderen Teil der Welt«, sagte ich. »Vesta hat mich geschickt. Ich muß mit dem Luftgeist sprechen.« »Das wird schwierig werden!« sagte sie. »Denn du kannst nicht fliegen, Dragon.« Ich lachte grimmig auf. »Das ist wohl richtig!« Sie berichtete mir, während wir uns dem Berg näherten, was ich wissen mußte. Es deckte sich mit den undeutlichen Befehlen oder Anordnungen, die ich von der Vesta-Vision erhalten hatte. Die Vogelmenschen wohnten in übereinandergebauten Höhlen und Wohnungen in den Flanken des riesigen Berges. Sie waren flugfähig, aber weniger in der Art der Vögel, sondern mehr wie die Segler. Ständig herrschten rund um den Berg verschiedene Aufwinde und Luftströmungen, deren sie sich ständig bedienten. Sie lernten die Kenntnisse der Strömungen schon als Kinder. »Du willst zu Aerula, Mann mit den drei Augen?« fragte sie ein wenig spöttisch. Wir gingen über eine saftige Wiese. Auf dieser Weide waren noch vor kurzer Zeit Herden gewesen. Die Wölfin schien jetzt etwas zu zögern. Wenn ich die Stellung des Flecks verwaschener Helligkeit richtig deutete, war es früher Nachmittag, ein paar Stunden nach dem höchsten Sonnenstand. Vorsichtig wechselte ich die Griffe um den schlanken, warmen Körper des Mädchens. »Ich muß zu Aerula!« sagte ich mit Entschiedenheit. Wieder lachte sie auf. »Wir leisten Aerula unbedingten Gehorsam. Wir sind willige Diener des Luftgeists. Aus der Mitte des großen Berges, aus den Flanken, wo wir wohnen, erhebt sich die 68
Spitze des Berges. Sie ist völlig glatt und für einen gewöhnlichen Menschen nicht zu bezwingen.« Das Bild, das ich aus den Gedanken der Wölfin übernommen hatte, war also richtig. Ein weiteres Hindernis also. Ich fluchte lautlos in mich hinein, aber mein Gesicht zeigte nicht, was ich wirklich dachte. »Es ist so«, sagte ich, »daß ich nicht tun kann, was ich will, sondern tue, was ich tun muß!« »Das verstehe ich nicht ganz!« sagte sie leise und schüttelte den Kopf. Das blonde Haar kitzelte mich an der Wange. »Das ist nicht wichtig«, meinte ich. »Aber wie es auch immer sein mag, ich muß den Gipfel des Berges erreichen. Könnt ihr mir nicht helfen?« »Ich weiß es nicht. Wir helfen dir, wenn es Aerula erlaubt!« erwiderte sie. »Ich kann dir nicht helfen. Ich habe eine gebrochene Schwinge.« Ich konnte mir ohne langes Überlegen denken, daß Aerula alles andere tun würde, nur nicht den Flügelmenschen befehlen, mich zum Gipfel, in die schwarzen Wolken hinein, hochzu schleppen. »Du hast eine gebrochene Schwinge, aber ich bin ein Fremder in diesem Gebiet, der ein Ziel, aber kein Wissen hat«, erklärte ich. »Dein Stamm wird nach dir suchen, Aethia?« »Ja. Und besonders mein Bruder!« erwiderte sie. Schweigend gingen wir weiter. Die Wölfin vor uns, in zwei Mannslängen Abstand. Langsam, vorsichtig, aber mit weit ausholenden Schritten, folgte ich dem Raubtier. Das Mädchen blickte mich unverwandt an, aber immer dann, wenn ihre Augen sich auf das Juwel in meiner Stirn heftete, wurde sie ernst und nachdenklich. Ihre Schwinge und ihr Fuß schienen mehr und mehr zu schmerzen. Ich wurde ungeduldig und sehnte den Au69
genblick herbei, an dem wir durch die letzte Schicht Nebel in das Sonnenlicht eintreten würden. Es mußte so ähnlich sein wie das Erlebnis eines Tauchers, der mit dem letzten Rest Luft durch das Wasser, aus großer Tiefe kommend, in die rettende Helligkeit hineinstieß. »Warum willst du eigentlich die Spitze des Berges erreichen?« fragte Aethia. Mir schien, daß der Nebel heller und durchsichtiger geworden wäre. Mehr Sonne flutete hindurch. Die Wölfin lief noch immer im gleichen Abstand vor uns her. »Ich muß mit Aerula sprechen!« sagte ich leise. »Warum?« »Das erkläre ich dir später!« erwiderte ich. »Warum nicht jetzt?« »Weil es noch nicht an der Zeit ist!« erklärte ich. Das Mädchen wurde in meinen Armen schwerer und schwerer. Und es war deutlich, daß ihre Schmerzen zunahmen. Auf der Stirn und der Oberlippe Aethias glänzten kleine Schweißperlen. »Es wird heller!« sagte ich. Der Nebel, der bisher von eisblauer, drohender Farbe gewesen war, wurde durchsichtiger. Der Wolf lief schneller und machte plötzlich kleine Sprünge. Ich wurde unwillkürlich schneller. Der Boden unter uns federte, und dann, ganz unvermittelt ... Licht flutete über uns. Es war so, wie ich es mir gedacht hatte. Wir waren eben noch im Nebel, dann schoben wir uns hinaus in die gleißende Helligkeit. Es war genau der Punkt zwischen höchstem Mittag und dem Einbruch der nächtlichen Dunkelheit. Ich schloß überwältigt die Augen und zwinkerte dann. 70
»Wir sind aus dem Land des Todesnebels heraus!« sagte ich fast flüsternd. Ich wußte, daß ich einen weiteren Sieg erkämpft hatte. Zuerst umfaßte ich mit einem langen Blick die Landschaft, die vor uns war. Sie lag im hellen Schein der Sonne, die mir in die Augen leuchtete. In der Mitte dieses grünen, farbigen Bildes sah ich den Berg. Er war gewaltig. Er sah aus wie ein Spitzkegel. Seine Basis erhob sich in sanfter Kurve aus den grünen Hügeln. Er war mehr als einen Tagesmarsch entfernt. Je höher der Berg wurde, desto mehr Schroffen und Spalten sah ich. Zwischen ihnen wuchsen kleine Sträucher. Dann konnte ich die winzigen runden Löcher von terrassenähnlichen Wohnungen erkennen. Sie ähnelten mehr den Fluglöchern von Bienen. Und über allem erhob sich, immer schlanker und glatter werdend, der Gipfel des Berges. Auch jetzt war die Spitze in schwarzen, wogenden Wolken verborgen. Mein nächster Blick zeigte mir Hunderte von geflügelten Menschen. Sie suchten nach uns. In ihren Händen trugen sie Speere mit großen, glänzenden Spitzen und lange Messer.
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7.
Die Graue Wölfin lief drei Mannslängen weit in die lichtüberflutete Landschaft hinein, dann drehte sie sich um. Ihr Blick schien anzudeuten, daß sie sich unsicher und bedroht fühlte. Sie hob den Kopf und jaulte auf, streckte die Schnauze in die Luft und warf sich herum. Dann begann sie zu rennen, lief in einem Halbkreis zuerst hinaus in die Landschaft voller Farben und Sonnenlicht, dann wieder zurück in den Nebel. Mit zwei, drei Sprüngen warf sie sich in die Nebelwand hinein, die wie eine blaue Mauer aus Eis dastand und weder wogte noch Tentakel ausstreckte. Sie verschwand, und wir konnten nur noch ihr Heulen und Jaulen hören. »Sie hat uns bis hierher geführt, Aethia«, sagte ich. »Jetzt ist sie wieder zurückgekehrt zu den Rudeln, die im Land des Todesnebels jagen und Beute machen.« Als ich daran dachte, wer ihre Beute sein würde, schauderte ich. »Dort ist mein Bruder, Dragon!« rief Aethia aus. »Er kommt auf uns zu!« Ich ging Schritt um Schritt vorwärts. Obwohl das Mädchen in meinen Armen inzwischen so schwer wog wie ein Felsblock, ließ ich sie nicht zu Boden gleiten. Ich spürte die Last kaum noch, denn die Freude darüber, endlich aus dem Nebel hervorgekommen zu sein, überwältigte mich. Jetzt bildeten die Vogelmenschen über Aethia und mir einen riesigen Schwarm, der langsam tiefer kam. Es war wie in jedem Gedankenbild der Wölfin: die Män72
ner zielten mit Speeren und großen Dolchen auf uns. Aethias Brust hob sich, und sie rief laut und gellend: »Aethon! Ich bin hier! Komm zu mir!« Aus der großen Wolke der blonden, hellhäutigen Vogelmenschen löste sich eine einzelne Gestalt. Ein junger Mann schwebte direkt auf uns zu, hob sich im letzten Augenblick und flatterte mit den mächtigen Schwingen, dann sank er senkrecht hinunter ins Gras und kam mit stoßbereitem Speer auf uns zu. Aethia lachte kurz und sagte: »Bruder, das ist kein Feind. Er hat mich vor einer Wölfin gerettet.« Der Speer senkte sich. Mit einigen Schritten kam Aethon heran und sah mich an. Als er das leuchtende dritte Auge bemerkte, schien er zu erschrecken. »Sie ist verletzt, am Knöchel und an der Schwinge!« sagte ich und hoffte, daß andere Vogelmenschen mir endlich das Mädchen aus den Armen nehmen würden. Tatsächlich landeten auch eine Anzahl großer, kräftiger Männer, als ich mit dem Bruder des Mädchens sprach. »Eine Wölfin?« erkundigte sich Aethon verwundert, rammte den Speer in die Erde und streckte seine Arme aus. Vorsichtig bettete ich das Mädchen hinein und war etwas enttäuscht, als sich der Griff ihres Arms um meinen Nacken löste. »Ja. Die Graue Wölfin. Sie wurde von einer Luftqualle bedroht und beinahe getötet.« »Ich verstehe. Es gibt viele Aeraquen hier entlang der Nebelwand. Er hat dir wirklich nichts getan, Schwester?« Aethia schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Er hat mein Leben gerettet. Du wirst Dragon, dem Dreiäugigen, die Opfergabe bringen müssen.« 73
Über den Körper des Mädchens hinweg starrte mich Aethon betroffen an. Er übergab seine Schwester an die anderen Flügelmenschen, die sich mit dem Mädchen flatternd in die Luft erhoben und davonflogen, dem fernen Berg zu. Einige Augenblicke waren sie eine einzige Wolke aus schlagenden Flügeln und langen Gliedmaßen, dann blieben wir allein zurück. Die anderen wirkten wie ein Vogelschwarm, der sich schnell entfernte. Aethon kam auf mich zu und blieb starr stehen. »Schon seit drei Tagen suchten wir unsere Schwester! Aerula sagte uns, daß sie im Nebel verschwunden ist. Du hast sie gerettet!« Ich nickte und fragte mich, warum er diesen förmlichen, fast rituellen Ton anschlug. Dann begriff ich: Die Opfergabe ... was immer das sein würde. »Das ist richtig.« Aethon hob beide Arme zum Himmel, dann ließ er sich schwer auf die Knie fallen und beugte den Oberkörper, bis er fast flach auf dem Boden lag und seine Fingerspitzen die Stiefel berührten. »Du hast Leben des Stammes gerettet. Wir schulden dir ein Leben, Fremder mit den drei Augen. Ich bin der nächste Blutsverwandte Aethias, also nimm mein Leben. Zieh dein Schwert und schlag zu.« Er zog die Arme an sich, winkelte sie ab und legte den Kopf darauf. Dies war also die Opfergabe. Ich überlegte fieberhaft, dann zog ich langsam mein Schwert. Der Junge hatte sein Leben mir übergeben, und da dies ein Ritual war, konnte ich nur mit einem anderen Ritual antworten. »Ich nehme deine Opfergabe an«, sagte ich mit drohender Stimme. »Aber ich schenke Aerula und dir dein Leben zurück. Ich nehme statt deines Lebens deine Freundschaft!« 74
Ich holte mit dem Schwert aus. Es gab ein sausendes Geräusch, und Aethon zuckte zusammen. Aber er bewegte sich nicht, als die Spitze des Schwertes eine Handbreit vor seinem Kopf tief in das Erdreich drang und dort steckenblieb. »Steh auf, Aethon!« sagte ich. Er erhob sich langsam und heftete seinen Blick auf das Schwert vor seinen Knien. »Nun sind wir Freunde und Lebensbrüder!« sagte er mit unsicherer Stimme. Er zog das Schwert aus dem Boden und übergab es mir feierlich. »Lebensbrüder und Freunde!« bestätigte ich. Wir standen dicht voreinander und sahen uns in die Augen. Aerula hatte einen großen Stamm starker Diener, dies war deutlich. Die Vogelmenschen waren alle – soweit ich sie gesehen hatte – blond und kräftig, schnell und mit wachem Verstand. Ich nickte und wandte dann den Kopf. Die Nebelmauer umgab den Kreis der Landschaft, in dessen Mitte sich der Berg erhob. Von hier aus zur Flanke von Aerulas Massiv betrug die Entfernung mehr als einen Tagesmarsch. Ich betrachtete die unregelmäßige Mauer aus blauschimmernder Materie, die an einigen Stellen langsam, fast unmerklich wuchs, sich dafür aber an anderen Stellen zurückzog. Das Land ringsum schien meistenteils bestellt zu sein. Ich sah Rinderherden in der Ferne und Rauchsäulen, die aus den Hütten der geflügelten Hirten aufstiegen. »Aerula sagte euch, daß ich kommen würde. Ich, Dragon der Dreiäugige?« richtete ich plötzlich eine Frage an den jungen Mann. »Ja. Woher weißt du es?« Aethon war mehr als erstaunt. Er betrachtete mich mit einer Mischung aus Scheu und Verwunderung. Je75
desmal, wenn ich den Blick auf die verborgene Spitze des Berges richtete, durchlief mich ein Schauer. Unter der Sonne von Merlane, wo ich an den steilen und bröckelnden Ruinen hinaufgeklettert war, schien dieses Abenteuer leicht gewesen zu sein, verglichen mit der Aufgabe, an den glatten Wänden des Geisterberges hinaufzusteigen. Aber ich würde es tun müssen! »Mein drittes Auge ist ein Geschenk Vestas, des ehemals Mächtigen. Dadurch weiß und kann ich etwas mehr als andere Sterbliche«, erklärte ich. »Aerula hat euch befohlen, mich ungeschoren zu lassen?« Er nickte langsam und murmelte: »Wenn wir dich sehen, beginnt eine Zeit von drei Tagen«, er schluckte, weil er sich vorstellte, was er wegen der Befehle des Luftgeists zu tun haben würde. »In diesen drei Tagen dürfen wir dich nicht im geringsten stören.« Inzwischen hatte der große Schwarm der Vogelmenschen den Berg erreicht. Wir sahen einzelne lange Ketten in den Löchern der übereinander hängenden Wohnungen verschwinden. Mit sich trugen die Vogelmenschen das verletzte Mädchen, dessen Schwinge und Fuß behandelt werden würde. »Drei Tage also!« murmelte ich. »Drei Tage lang kann ich ungestört handeln. Was sagte Aerula weiter? Welche Befehle?« »Nach Ablauf der drei Tage, also zwischen Mittagssonne und Abenddämmerung, müssen wir dich hetzen und jagen. Wir haben Befehl, dich zu töten, wenn du bis dahin den Gipfel nicht erreicht haben solltest – den obersten Gipfel, der in den Wolken versteckt ist.« Drei Tage für ein Vorhaben, das auch in zwanzig Tagen ohne die Hilfe der Vogelmenschen nicht durchzuführen war! 76
Ich hatte schon auf dem langen, einsamen Weg mehrmals überlegt und mir vorgestellt, wie ich es anschicken konnte, den Gipfel zu erklettern. Unzählige Möglichkeiten hatte ich verworfen; ein paar, die einigermaßen phantastisch zu nennen waren, blieben übrig. Aber dann zeichnete sich eine vage Idee ab, die einigen Erfolg versprach. Ich dachte an die Graue Wölfin und sagte schließlich: »Ihr sollt mich also verfolgen und töten. Das heißt Verfolgung und Kampf mit allen Mitteln?« fragte ich. »So befahl es uns Aerula. Und weil wir seine Befehle in Form von Gedanken empfangen, wird der ganze Stamm dem Luftgeist gehorchen.« »Das ist klar!« meinte ich. »Wo ist der nächste Hirte – oder vielmehr, wo finde ich die nächste Herde?« Aethon deutete nach rechts, wo die Nebelwand sich ein wenig nach innen ausgebeult und ein Stück Weideland verschlungen hatte. »Dort. Zwei Stunden schneller Marsch!« »Die Hirten, denke ich«, warf ich leichthin ein und schulterte wieder meine Waffen, »werden ein Nachtlager und etwas zu essen haben für mich.« Aethon grinste kurz. Ich hatte den Eindruck, er wollte mir etwas sagen, was eindeutig gegen Aerulas Anordnungen verstieß, mir aber helfen würde. »Besonders dann, wenn du ihnen im nächtlichen Kampf gegen die Aeraquen helfen kannst. Ich sehe, daß du einen guten Bogen hast.« Jetzt grinste ich zurück. Ich hatte voll verstanden, was er meinte. »Einen guten Bogen, lange Pfeile und ein sicheres Auge!« erklärte ich.
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»Dann wirst du in den geflügelten Hirten gute Freunde finden. Aber sei gewiß, daß auch sie von Aerula wissen, wer du bist, Dragon Dreiauge!« »Ich habe nichts anderes erwartet. Und du? Wirst du jetzt zurückfliegen und dich um Aethia kümmern?« »Das muß ich tun!« sagte er. »Ich wünsche dir alles Glück, das du brauchst, mein Lebensbruder und Freund!« Er hob grüßend die Hand, dann falteten sich seine mehr als mannslangen Schwingen aus. Aethon nahm einen kleinen Anlauf, neigte den Kopf und warf sich schräg in die Luft. Er flatterte davon, gewann schnell Höhe, und seine Flügelschläge wurden langsamer und sicherer, je höher er flog und je mehr er sich entfernte. Ich war wieder allein. Ich lachte kurz auf; sie waren jetzt neutral, jene Vogelmenschen. Aber in drei Tagen würden sie sich in erbarmungslose Feinde verwandeln. Obwohl ich das Mädchen gerettet hatte. Ich zögerte nicht lange und lief los. Mein Ziel lag bei den Herden, die zwischen der Nebelwand und dem flachen Einschnitt des Tales weideten. Ich hätte eigentlich einige Tage Ruhe gebraucht, aber Aerula gestattete es nicht. Gegen den Luftgeist hatte ich keine Chance, wenn ich nicht mit jeder List und jeder winzigen Möglichkeit arbeitete, die mir zu Gebote standen. Der gewaltige Berg blieb links von mir, als ich in einem kräftesparenden Trab in die Richtung der Herden lief. Ich wußte, es waren halbwilde Tiere, die den Vogelmenschen Milch, Häute und Horn gaben. Sie liefen das 78
Jahr über frei herum, trafen sich aber immer wieder an den Tränken, den Salzlecken und den Pferchen, in denen sie gemolken wurden. Ich kam gut voran; die Landschaft war seit langen Jahren bearbeitet worden. Rechts von mir ragte die Nebelwand hoch. Während ich dem Ziel immer näher kam, betrachtete ich immer wieder diese hochragende Mauer aus pulsierendem Nebel. Ein dicker Kreisring umgab den Berg. In der Mitte dieses Ringes, mehr als einen Tagesmarsch von seinen inneren Grenzen entfernt, lag mein Ziel. Eines der letzten Hindernisse vor meinem Weg zurück in meine Welt. Der Berg. Ich war völlig auf mich allein gestellt. Und ich mußte schnell handeln, denn bereits jetzt hatte der Wettlauf mit der Zeit begonnen. Ich kam an einigen verstreuten Gruppen der mittelgroßen, langfelligen Rinder vorbei. Sie rissen die Köpfe hoch, betrachteten mich aus dunklen, großen Augen. Einige von ihnen senkten die langen, geschweiften Hörner. »Nur ruhig!« rief ich ihnen zu und rannte weiter. Von einem hohen, fast völlig entlaubten Baum schwang sich ein Hirte, ein Vogelmensch, der in seiner Hand ein kleines Bündel dünner Speere hielt. Er schwebte in einer flachen Kurve auf mich zu und landete neben mir. Einen langen Moment blickte er in mein Gesicht, auf das leuchtende Auge Vestas, dann sah er auf die Herde, über meine Schulter. »Du bist Dragon Dreiauge, nicht wahr? Aerula hat uns von dir alles gesagt. Was willst du hier?« Ich lachte ihn an und nahm langsam den Bogen von der Schulter. »Eure Herden sind halbwild, aber ihr braucht sie. Und ich weiß, daß Aeraquen immer wieder die Tiere überfal79
len. Ich will euch im Kampf gegen die Luftquallen helfen.« Unwillkürlich ging der Blick des Hirten hinüber zum Berg. Das Massiv beherrschte alles, das Bewußtsein der Menschen ebenso wie die Landschaft. »Ich dachte, du würdest den Berg besteigen, Fremder!« »Alles zu seiner Zeit!« erwiderte ich. »Ihr Hirten seid nicht sehr zahlreich, nicht wahr?« Langsam schüttelte der Vogelmensch den Kopf. Er begriff mich nicht. Aber er war gewillt, mir zu helfen und meine Fragen zu beantworten. »Nein. Wir sind nur wenige. Und wir können nicht immer verhindern, daß die Aeraquen uns die jungen Rinder stehlen und die alten in Fetzen reißen.« »Ich bin hier, um euch zu helfen!« sagte ich fest und legte meinen Mantel auf den Boden. »Wann ist die Zeit, in der die Luftquallen die Herden angreifen? Wann kommen sie?« »Bei Einbruch der Nacht!« Ich deutete auf den Baum und auf eine einfache, aber große Hütte. Die Sonne würde noch drei oder mehr Stunden brauchen, bis sie den Horizont berührte, bis sie auf der gegenüberliegenden Seite in dem Kreisring aus Nebel versank. »Bis zur. Dämmerung werde ich mich erholen. Hast du etwas zu essen und zu trinken für mich, Hirte?« »Ja. Komm mit mir!« Es war ein Mann in mittleren Jahren, stark, gebräunt und mit harten Federn in seinen dunkelbraunen Schwingen. Er trug nicht mehr als einen großen Lendenschurz aus gegerbtem Fell mit seinem breiten Gürtel, in dem Dolche, Feuerzeuge und ein Beil steckten. Seine Bewegungen waren schnell und sicher. Wir gingen über die 80
Weide, deren Gras abgefressen war, bis zu dem überdachten Haus. »Hier hinein flüchten sich oft die Tiere, wenn die Aeraquen aus dem Nebel kommen«, erklärte er. In einer Ecke war ein Podest. In einem Ring aus hartgebackenem Lehm und kantigen Steinen brannte ein kleines Feuer. Wir setzten uns, und mir wurde frisches Brot und saftiger Käse, kalter Braten und duftende, gelbe Butter vorgesetzt. Der Hirt schenkte aus einem großen Weinschlauch einen polierten Becher voll und schob ihn über die gescheuerten Bretter. »Ich begreife dich nicht, Dragon!« sagte der Vogelmensch schließlich, als ich mich zufrieden zurücklegte, die Waffen neben mir. »Du willst mit Aerula sprechen, der auf der Spitze des Berges wohnt.« »Richtig!« sagte ich und sah mich um, wo ich ein Bad nehmen konnte. Ich bemerkte den schmalen Bach hinter dem Haus. Der Hirte flüsterte: »Du weißt, was nach weniger als drei Tagen geschehen wird?« Auf einigen anderen hohen Bäumen sah ich undeutlich die Körper von Vogelmenschen, die über die Herden wachten. Zwischen den großen, dunkelfelligen Tieren liefen kleinere, schafsähnliche Tierchen umher und weideten. »Ich weiß es!« sagte ich. »Und ich hoffe, daß ich vor dieser Frist den Gipfel des Berges erreicht habe.« »Aber ...«, er wurde ganz aufgeregt, »du bist hier! Du trinkst in großer Ruhe und wartest! Du müßtest schon längst beim Berg sein und dort klettern.« Je mehr ich an meinen Plan dachte, desto sicherer wurde ich. Ich trank den Becher leer und erwiderte abschließend: 81
»Ich habe einen Plan, schneller und leichter zum Berg zu kommen als mit meinen Füßen. Aber ihr werdet alles sehen und miterleben. Ich werde mich jetzt ein wenig ausruhen und dann für den nächtlichen Kampf vorbereiten.« »Ich glaube«, schloß der Vogelmensch mit Entschiedenheit, »daß ich dich nicht verstehe. Oder vielleicht bist du verrückt?« Ich lachte kurz. »Vielleicht.« Ich wusch mich und rieb mich mit einer Salbe ein, die mir der Hirte schenkte. Dann schlief ich eine Stunde, sah meine Waffen durch und fühlte mich, als die Dämmerung sank, ausgeruht und voller Tatendrang. Ich wartete auf die Aeraquen.
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8.
Lautlos und in mittlerer Höhe kamen sie aus dem Nebel wie Geistererscheinungen. Sie jagten einzeln, aber dies war ihre Stunde. Nur noch ein Fingerbreit der Sonne sah über die jenseitige Nebelwand hervor – Dämmerung breitete sich aus, die Schatten verschmolzen ineinander. Die Luft wurde wunderbar kühl und weich. Ein erregender Duft schien über das Land zu ziehen, als ich aus der Deckung einiger zusammengewachsener Baumstämme heraustrat und zusah, wie die Herden in wildem, steifbeinigem Galopp aus allen Richtungen kamen und auf die überdachten Schutzzonen zurannten. Neun oder zehn Vogelmenschen warfen sich aus den Wipfeln und Zweigen der Beobachtungsbäume, verständigten sich untereinander durch schrille Pfiffe und versuchten, die Luftquallen anzugreifen. Die Quallen, die groß genug waren, ein kleines Rind mit sich zu schleppen, wichen aus. Trotz ihrer vergleichsweise geringen Geschwindigkeit waren sie ausgezeichnete Schweber. Sie manövrierten mit Mitteln, die ich nicht kannte. Sie kamen mit dem nächtlichen Wind. Hier erwärmte sich Luft, wurde von allen Seiten in die Richtung des Berges gezogen und vereinigte sich dort zu einer Säule. In der Nacht war der Gipfel deutlich zu sehen, hatte mir der Hirte erklärt. Die ersten Speere flogen durch die Luft, aber die wenigsten der Geschosse trafen. Zwanzig oder mehr lange Fäden, acht oder neun Tentakel mit riesigen Saugnäpfen, ein ballonähnlicher Körper, der einen Durchmesser von mehr als einer halben Mannslänge hatte ... wie Schemen 83
glitten die Aeraquen heran und senkten sich mit wild rudernden Armen auf die flüchtenden Tiere herunter. Ich sah eine Qualle, die eines der schafsähnlichen Tiere vom Boden gerissen, erdrosselt und fortgeschleppt hatte, wieder im Nebel verschwinden. Ich blickte ihr nach, den geöffneten Köcher über der Schulter und einen der langen Pfeile mit den mehrfach gespaltenen, geschliffenen Eisenspitzen zwischen den Fingern. Zwei der Hirten hatten sich auf eine Aeraque gestürzt, sie in der Luft in die Enge treiben können. Jetzt stachen sie immer wieder mit ihren Speeren in den großen, prallen Ballon hinein, der runzlig wurde und seine Gasfüllung verlor. Die Aeraque wehrte sich heftig. Ihre Arme peitschten durch die Luft, aber sie erreichten die Vogelmenschen nicht, die sich immer über dem Ballon hielten. Ich wartete noch. Dann kam sie. Die Königin der Quallen. Ein riesiges Tier, dessen Ballon kaum kleiner war als ein Zelt. Die gasgefüllte Körperzelle hatte einen Durchmesser, der größer war als eine Mannslänge. Ich lief langsam aus der Deckung heraus und ließ die Aeraque nicht aus den Augen. Sie schleppte ihre Tentakel hinter sich her und kurvte in sieben Mannslängen Höhe auf ein junges Rind zu, das sich in den Zweigen eines Busches verfangen hatte. Die Vogelmenschen schossen wie Schwalben durch die Luft und versuchten, möglichst viele Aeraquen zu töten. Ihre Speere und die Wurfäxte blitzten in den letzten Sonnenstrahlen auf. Schreie ertönten. Die Aeraquen jedoch kämpften völlig lautlos. Fast gleichzeitig hatten die Riesenqualle und ich sich dem Rind genähert. Ich blieb stehen. Ich spreizte die Beine und ging in Schußhaltung. Der linke Arm streckte sich, der Griff des Bogens ruhte fest 84
in der behandschuhten Faust. Zwischen den drei mittleren Fingern der Rechten hielt ich den Pfeil, klammerte sie um die Bogensehne und zog sie dann bis zum Ohr aus. Ich fixierte mein Opfer mit den Augen, wanderte mit dem Oberkörper bei jeder Bewegung mit. Dann, als sich die Fangarme wie ein Trichter zu öffnen begannen, streckte ich die Fingerspitzen. Die Bogensehne riß den Pfeil mit sich, schlug gegen den Lederschutz des linken Unterarms. Fauchend und mit einem singenden Heulen jagte der Pfeil davon, durch die Abendluft und direkt in das Auge des Tieres. Die Wirkung war erstaunlich. Während ich über die Schulter griff und blitzschnell einen zweiten Pfeil aus dem Köcher zog, erstarrten für einen langen Augenblick die Fangarme und der lockere Vorhang aus Nesselfäden. Die Qualle zischte kurz auf. Der Pfeil hatte die Hülle des halbkugeligen, riesigen Balles nicht verletzt, aber der Schnabel mit den breiten Zahnreihen schloß und öffnete sich rasend schnell. Es klang wie das Zähneklappern eines Riesen. Das Auge lief aus. Eine schmale Bahn, klar und durchsichtig wie Wasser, rann zu Boden, als die Aeraque niedersackte. Ich riß mein Schwert hervor und rannte auf den Busch zu. Die ersten Nesselfäden erreichten das junge Rind, trafen es, klammerten sich an Ohren und an das Gehörn des Tieres, das qualvoll aufschrie und mit den Läufen um sich schlug. Es mußte rasende Schmerzen empfinden. Warte nur, Aeraque! dachte ich. Ich werde dich in kurzer Zeit zu meinem willfähigen Werkzeug gemacht haben. 85
Die Qualle landete schwer auf dem jungen Rind. Die Fangarme wanderten ziellos über den Körper und saugten sich mit den doppelt handgroßen Saugnäpfen fest. Ich sprang hinzu, klappte mit einem Hieb einen zurückfedernden Ast und erreichte die Räuberin. Während rund um mich in der Luft der Kampf der Quallen gegen die Hirten und der Versuch der Vogelmenschen, die Herden mit ihren Messern, Beilen und Speeren zu verteidigen, unter Flügelschlagen, Pfiffen und Schreien vor sich ging, hieb mein Schwert zwei Fangarme ab. Einige schneidende Bewegungen aus sicherer Entfernung kappten ein halbes Dutzend der Nesselfäden. Dann schob ich schnell mein Schwert in den Gürtel und wickelte das Seil, das mir der Hirte gegeben hatte, von der Schulter. Ich hielt es mit der Hand und mit den Zähnen fest und wickelte einen Teil um drei Tentakel. Schnell war ein Knoten geschlungen, war das Seil angezogen und um einen starken Wurzelstock geschlungen. Das junge Rind schrie jämmerlich, bewegte in panischem Schrecken seinen Körper und kippte schließlich zur Seite. Ich knotete das Seil fest und hatte die Luftqualle mit diesem starken, aus Sehnen geflochtenen Seil an den Boden gefesselt. Aber das blinde Tier, in dessen ausgelaufener Augenhöhle noch immer der lange Pfeil steckte, um den sich die Fangarme ringelten, wehrte sich mit einer unbegreiflichen Hartnäckigkeit. Es wußte nicht, daß es bereits besiegt war. »Warte nur ...«, knurrte ich. Mit einem Schwerthieb beendete ich die Leiden des jungen Rindes. Noch immer, bereits in der tiefsten Dämmerung, kämpften die Hirten gegen die Quallen. Beide Seiten dieses seltsamen Kampfes hatten Erfolge: einige 86
Aeraquen schleppten junge Rinder mit sich zurück in den Nebel, andere hatten jene weißfelligen kleinen Grasfresser umklammert und verschwanden mit ihnen, aber ich sah auch Aeraquen, die, von den Speeren der Vogelmenschen getroffen, zu Boden fielen und dort starben. Gellende Pfiffe und das Rauschen der mächtigen Schwingen ertönten ununterbrochen über mir. Die Stunde der Aeraquen neigte sich ihrem Ende zu. Hier, außerhalb des Nebels, jagten sie nur in der Dämmerung. Innerhalb des Nebels schienen sie den ganzen Tag über nach Beute zu gieren. Ich wußte genau, was ich zu tun hatte, und ich handelte schnell und mit zielsicheren Bewegungen. Ich schnitt, nachdem die Aeraque fest mit dem Boden oder den Wurzeln des großen Busches verankert war, mit dem Schwert sämtliche Nesselfäden ab. Dann riß ich den langen Pfeil aus dem leeren Auge, reinigte ihn flüchtig in den Blättern und schob ihn zurück zu den anderen Geschossen in den Köcher. »Bald wirst du mir gehorchen ...«, murmelte ich voller Ingrimm. Ich merkte nicht, daß ich schwitzte und daß meine Finger vor Spannung zitterten. Mit drei gezielten Schwerthieben schnitt ich drei Tentakel ab und knotete kleine Stücke des Seiles um die Stümpfe. Obwohl die anderen Tentakel ziellos und schnell durch die Luft wirbelten, sich krümmten und streckten, gelang es mir, mit Schlingen und Knoten die Tentakel zu fesseln und aus diesen erbarmungslosen Waffen zwei dicke Stränge zu machen. Die beiden Stränge hingen auf zwei Seiten der Schnittfläche herunter, und zuletzt verband ich sie mit einigen Seilstücken. 87
Ich hielt inne. Die Dunkelheit war fast vollkommen. Im Licht der Sterne konnte ich zu wenig von dem erkennen, was ich hier getan hatte. Ich bahnte mir rückwärtsgehend einen Weg aus dem Gebüsch heraus und rannte zum Feuer der Hirten, die aus allen Richtungen langsam zu diesem Platz zurückkehrten. Für diese Nacht war der Kampf zu Ende. Ich riß eine der Fackeln aus dem Stapel heraus, entzündete sie an dem kleinen Feuer und rannte zurück. Ich rammte das Bündel harzgetränkter Stäbe in den Boden und zerrte das tote Kalb aus dem Busch heraus. Der Nachtwind war stärker geworden und wehte von Osten nach Westen – aber im westlichen Teil der runden Landschaftsfläche würde er von Westen nach Osten wehen. Jetzt erkannte ich mehr und deutlichere Einzelheiten. Die Aeraque war so gut wie gelähmt. Sie konnte ihre Tentakel nicht mehr bewegen. Jeweils vier von ihnen – nein, es waren zweimal drei – waren zusammengeschnürt und ungefährlich. In sicherer Entfernung von den hornigen Krallen am unteren Ende der langen Fangarme befand sich eine Art Sitzschlinge, die fast den Boden berührte. Der halbkugelige, riesige Ballon aber war unversehrt. Der Wind zerrte an dem Tier. Nur das geflochtene Sehnenseil hielt die gewaltige Aeraque noch am Boden. Ich grinste schweigend in mich hinein und überlegte, was nun zu tun war. Ich drehte mich um und versuchte, in der sternklaren Nacht den Gipfel des Berges zu erkennen. Die Wolken waren verschwunden. Ich sah alles etwas verschleiert und unscharf. Aber ich glaubte zu erkennen, daß über den Wohnungen der Vogelmenschen 88
sich der glatte Gipfel erhob. Dieses Stück nahm mehr als ein Drittel des gesamten spitzkegeligen Massivs ein. Irrte ich mich, oder war der spitze Kegel oben flach abgeschnitten wie das Unterteil der Aeraque? Ich wandte langsam den Blick, als zwei Hirten auf mich zuschwebten und neben der Fackel aufsetzten. »Dreiäugiger! Du hast die größte aller Aeraquen gefangen. Aber warum hast du sie festgebunden? Willst du sie zu Tode martern?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein!« sagte ich deutlich. »Sie soll mich mit dem Nachtwind zum Berg Aerulas bringen. Wann ist der Wind am stärksten?« Die Antwort kam schnell: »Mitten in der Nacht. Noch zwei Stunden oder etwas mehr.« »Dann«, sagte ich, »werden wir noch etwas essen und ruhen. Hat Aerula euch verboten, mir einen Fellmantel zu schenken?« »Nein, ganz bestimmt nicht!« Ich verwendete den letzten Rest des Sehnenseils dazu, die Seilschlinge des provisorischen Sitzes an eine zweite, noch dickere Wurzel zu binden. Nun konnte ich sicher sein, daß selbst der stärkste Nachtwind und jeder Versuch der Qualle, sich loszureißen, keinen Erfolg haben würden. Ich ging mit erhobener Fackel zu meinem Bogen und dann mit den Hirten zurück zum Haus. »Nur sieben Stücke sind entführt worden. Kein Großvieh!« sagte einer. »Aerthoy ist von den Nesselfäden getroffen worden. Er liegt da wie tot!« »Er wird sich erholen. Wir werden Nachtwache bei ihm halten.« 89
Die Hirten schleppten das tote Jungrind mit sich und sprachen untereinander, es aufzubrechen und das Fleisch zu braten. Derjenige, den ich zuerst getroffen hatte, setzte sich neben mich und fragte mit offensichtlichem Erstaunen: »Dragon! Du willst zwischen den Tentakeln der großen Aeraque zum Berg Aerulas schweben?« »So ist es!« sagte ich. Ich kämpfte gegen die Zeit, aber ich konnte dem Nachtwind nicht befehlen, schneller zu werden. »Du mußt entweder der mutigste Mensch sein, den wir jemals getroffen haben – oder dich führt ein mächtiger Geist!« murmelte ein anderer Hirte. Vierzehn Hirten saßen über den trägen Rindern auf dem Podest. Der Rest der Hirten verteilte sich auf fünf andere Zonen zwischen dem Berg und der Nebelfront. »Weder noch, Freunde!« bekannte ich. Natürlich war ich froh über diesen Sieg, der mir leichter gefallen war als gedacht. »Aber ich bin ein Mensch, der gegen seinen Willen hierher verschlagen wurde und nur dann seine Heimat erreichen kann, wenn er eine Anzahl von Prüfungen besteht.« »Warum willst du zu Aerula?« Wieder machte der Weinschlauch die Runde. Braten und Würste, die über der Glut gebraten wurden, wanderten um den Tisch. Es war fast ein ausgelassenes Fest, ohne Furcht oder Mißtrauen. Und dennoch – in weniger als drei Tagen würden diese gleichen Männer, die hier mit mir tafelten, als gehorsame Diener des Luftgeists ihre Speere nach mir schleudern ... dort drüben, an der steilen Wand dieses dreimal verfluchten Berges. Ich konnte es in Worten nicht mehr ausdrücken, wie sehr ich mich nach meiner Welt sehnte, nach der Umarmung Amees, nach dem Anblick meines Sohnes. 90
Ich verdrängte mit Gewalt diese Gedanken und murmelte: »Weil ich versuchen muß, die einzelnen Elementargeister wieder unter die Gewalt Vestas zu bringen. Dieses dritte Auge hat mir Vesta gegeben. Ich bin sein Diener. Und Vesta wird es auch sein, der mir den Weg in mein Heimatland zeigt.« Die Hirten murmelten: »Das verstehen wir. Aber du wirst eine harte Zeit haben. Nicht einmal wir, die wir im Aufwind schweben und auch ohne Wind fliegen können, haben jemals den obersten Gipfel erreicht.« Ich biß in eine Wurst und erwiderte undeutlich: »Das Leben ist hart, Freunde!« Zwei Stunden lang blieb ich bei den Hirten. Wir tranken und aßen, während das Feuer brannte. Ich berichtete ihnen etwas von meinen Abenteuern, seit ich das Weltentor verlassen hatte. Die Hirten handelten nicht bewußt gegen die Befehle Aerulas, aber ich erfuhr im Verlauf dieser Zeit viel von ihnen und von den Gegebenheiten des Stammes. Schließlich gaben sie mir einen Mantel, der aus kleinen Fellen mit gelblichem, gekräuselten Haar gefertigt war. Ich schnallte meine Waffen um und verließ die Männer kurz vor Mitternacht. Als ich in ihrer Begleitung zu der Qualle ging, die vergeblich an ihren Fesseln zerrte, fluchte ich lautlos in mich hinein. Ich hatte dieses Abenteuer nicht gewollt! Drei Seile, darüber lag der Fellmantel, auf dem Fell saß ich und hielt mich an den Schlaufen der Tentakel-Fesseln fest. Im Licht der Fackeln glänzten die Messer der Hirten. 91
Der Nachtwind war jetzt nicht mehr stoßweise, sondern ein ziemlich heftiger, aber stetiger Wind, der genau in die Richtung des Berges wehte. Ich saß sicher und fest und sagte mit rauher Stimme: »Schneidet die Seile durch, Freunde!« »Viel Glück, Dreiäugiger!« »Danke. Und gebe Aerula, daß wir uns nicht als Feinde wiedertreffen – dort an der Spitze des Berges.« »Wir freuen uns, wenn du siegen wirst!« Es gab zwei ruckhafte Stöße, als die Schneiden der Dolche die Seile kappten. Die Qualle erhob sich augenblicklich und stieg mit verblüffender Schnelligkeit aus den obersten Zweigen des Busches auf. Ich schwankte in meinem Sitz, aber ich konnte mich leicht ausbalancieren. »Ich danke euch, Hirten!« schrie ich, von der blinden Aeraque nach oben gerissen. Jetzt begriff ich, warum diese durchsichtigen Tiere in der Dämmerung jagten. In der Nacht würden sie von dem Aufwind weggerissen werden und am anderen Tag in der Hitze der Sonne vergehen. Denn sie waren Geschöpfe des Nebels und der Dunkelheit. Hin und wieder fiel ein Tropfen aus dem blinden Auge in meinen Nacken, aber ich entfernte mich von dem Halbkreis der Fackeln und dem kleinen Feuer. Die Hirten schwenkten die Fackeln als Zeichen, daß sie mir alles Glück wünschten. Ich glaubte es ihnen ebenso, wie ich davon überzeugt war, daß sie mich leidenschaftslos umbringen würden, den Befehlen des Luftgeists gehorchend, der ihr aller Herr war. Höher und höher ... Der Flug wurde schneller und führte auf den Berg zu ... Ich hielt mich fest, schwankte, sah dicht vor meinen Augen die großen Saugnäpfe, die sich gierig und den92
noch hilflos öffneten und schlossen wie ein hungriger Mund. Meine Gedanken waren auf die kommende Aufgabe konzentriert. Ich konnte den Berg bezwingen, wenigstens in den beiden unteren Dritteln. Aber ich wußte noch immer nicht, wie ich es anstellen sollte, das letzte Drittel hinter mich zu bringen. Eine Stunde verging in lautlosem Schweben. Unter mir, im schwachen Licht der Sterne, huschte die Landschaft vorbei. Ich sah Weiden und Wälder, kleine Teiche und Flüsse. Ich erkannte wenige Hütten und sah hin und wieder Lichtschein in den Höhlen der Vogelmenschen in den Bergesflanken. Die blinde, gefesselte Aeraque versuchte sich zu wehren, aber sie vermochte nichts mehr. Sie besaß keine Nesselfäden mehr; die Wunden hatten sich geschlossen. Sie besaß nur noch sechs Tentakel, die mit Seilschlingen zusammengeschnürt waren. Und ihr riesiger Ballon war ein hilfloser Spielball des Windes. In dieser Höhe, mehr als vierhundert Mannslängen mochte sie jetzt betragen, wurde der Wind zum Sturm, der mich mit sich riß. Der Berg wuchs und kam näher. Die Vogelmenschen dort – von denen einige um das Lager der verletzten Aethia saßen – ahnten nicht, daß ich der ablaufenden Zeit ein Schnippchen geschlagen hatte. Aber nur dann, wenn alle Einzelheiten meiner Überlegungen zutrafen. Es war abenteuerlicher als ein Flug mit Aerula-thane. Und es ging immer höher hinauf. Die Zeit verstrich. Ich dachte und spürte meinen Magen. Ich hielt mich fest und wußte, daß ich nur eine einzige Möglichkeit hatte, den Flug zu beenden: ich mußte dann mit meinem Schwert einen Schnitt durch die gasgefüllte Halbkugel machen. 93
Ununterbrochen stieg ich höher. Die Aeraque wurde mit magischer Schnelligkeit noch immer genau auf den Berg hin gezogen und getrieben. Sah mich Aerula? Hatte er mich bereits entdeckt und sprach mit den Vogelmenschen? Würde ich dort landen, wo ich beabsichtigte? Mir nützte in diesem Augenblick zwar das theoretische Wissen eines ausgebildeten Atlanters, aber nichts würde mich davor bewahren, in den Klippen der beiden unteren Drittel zu zerschellen. Und noch immer hatte ich keine Vorstellung davon, wann ich den Berg erreichen und wie ich das letzte, glatte Drittel des Spitzkegels bezwingen würde. Ich hatte eine furchtbare Vision: Die Qualle, mein Transportmittel, schoß entlang der Schrunde und Spalten des Berges an dessen Flanke vorbei und raste weiter, der jenseitigen Nebelwand entgegen. Es war zum Verzweifeln. Ich konnte nicht handeln, denn während des ganzen Fluges war ich ausschließlich zur Passivität gezwungen.
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9.
Stundenlang trieb die Qualle auf den Berg zu. Nach dem Erreichen einer bestimmten Höhe hatten wir einen leichten Zickzackkurs eingeschlagen, der aber unverändert auf den Berg zuführte. Jetzt, als die Sterne langsam zu schwinden begannen, erfaßte uns der eigentliche Höhenwind. Im Sog der starken Strömung schwankte die Aeraque, ich hielt mich fest an den Schlaufen und beobachtete die Spalten und Schrunde des Berges. Mein Sitz wurde immer unsicherer, zumal sich die Aeraque noch immer wehrte und die Tentakel bewegte. Längst lagen die Wohnhöhlen der Vogelmenschen unter mir. Der Himmel wurde heller, und jetzt riß uns der Sog in eine spiralige Bahn um den Gipfel des Berges. Ich blickte nach oben, durch den glasklaren Ballon hindurch und sah, daß sich die ersten Wolken um die Bergspitze zu bilden begannen. Wir näherten uns auf Steinwurfweite der Felswand, schlingerten gefährlich hin und her, wurden nach oben gerissen und sackten wieder einige Mannslängen nach unten durch. Ein höllischer Tanz begann. Der Sturm riß und zerrte an meinen Haaren und der Kleidung. Die Pfeile klapperten trotz des Fangriemens im Köcher. Die große Aeraque glitt in dem schneidend kalten, heulenden Wind entlang der Felsenklippen und an ihnen schräg nach oben. Wir befanden uns jetzt schon auf der anderen Seite des Berges. In einer weiten Spirale riß uns der Wind nach oben. Die Landschaft war klein und unbedeutend geworden. Mindestens eintausend Mannslängen war der Fuß des Berges entfernt. Das Gewölk verdichtete sich über 95
mir. War Aerula tatsächlich dort oben und wartete auf mich? Kalter Schweiß brach mir aus. Ich blickte nach unten, in die furchtbare Tiefe und die scharfzackigen Spalten, dann wieder auf die vorbeirasende Wand, nach oben in die dräuenden Wolken. Im ersten Morgenlicht erkannte ich weit über mir den Beginn der glatten Wand, die ich zu ersteigen hatte. Der Berg hatte an der Stelle, wo er in diese wie geschliffen wirkende Fläche überging, einen Durchmesser von mehr als hundert Mannslängen. Aber er verjüngte sich zusehends. Die Aufwärtsbewegung hielt an. Wir wurden schneller, die Kreise der Spirale verengten sich. Ich sah, wie sich vor meinen Augen einzelne Schlingen zu lockern begannen. Die Augenblicke schienen sich in kleine Ewigkeiten dehnen zu wollen. Und dann, ganz unvermittelt, packte uns ein Windstoß, eine unsichtbare Faust. Sie riß uns aus dem Windstrom heraus, trieb uns immer schneller auf die Felsen und die verkrüppelten kleinen Gewächse zu, direkt auf eine dreieckige Zunge aus Geröll, die sich unterhalb der glatten Wandung ausbreitete und unvermittelt in einen Absturz überging. Rasend schnell näherte sich die Aeraque dieser Fläche. Ich zog die Beine an und machte mich auf einen Absturz gefaßt. Aber der Wind schwankte abermals und drückte die Qualle nach unten. Wir berührten die Geröllfläche, ich griff nach dem Schwert und ließ mich seitlich aus der Schlinge fallen. Ich riß den Fellmantel mit mir, als ich stürzte. Mit einem wilden Schwung landete ich zwischen kargen Büschen und auf kleinem Gesteinsschutt. Die Qualle wurde durch ihre Fangarme und die nachschlei96
fenden Seile aufgehalten und ebenfalls auf das Gestein geschmettert. Dann herrschte plötzlich Stille, nur durchbrochen von dem sausenden Geräusch des Windes. Einzelne Steine rollten und klapperten aufeinander. Ich stand auf und tastete meine Glieder und Gelenke ab. Nichts war gebrochen, nur einige Schrammen zogen sich über meine Haut. Ich drehte mich um und blickte direkt in die Morgensonne. Der Sturm hatte uns wieder nach Osten zurückgebracht, woher ich gekommen war. Die Aeraque bewegte sich. Sie zuckte mit den zusammengebundenen Tentakeln und schien immer schwächer zu werden. Dann hörte ich hoch über mir ein Geräusch, das ich sofort erkannte. Ein Stein schlug im Fall gegen die Felswand. Ich wußte plötzlich, was dieses Geröllfeld zu bedeuten hatte. Ich sprang zur Seite und hastete halb kletternd, halb stolpernd, zwischen Felsbrocken und kniehohen, zerzausten Büschen durch die Felsen. Hinter mir schlug der erste Brocken mit einem krachenden Geräusch in die Steine und zersprang in hundert Splitter, die bösartig summend nach allen Seiten sprangen. Dann kam ein Hagel von kopfgroßen, scharfkantigen Steinen herunter. Sie fielen nicht an eine Stelle, sondern sie prallten in der Luft zusammen und verteilten sich. Die Steine und die langen Splitter prasselten lawinenartig herunter, krachten gegen die glatte Wand und purzelten übereinander. Dreieckige Trümmer schlugen wie Blitze hinter meinen Fersen ein. Ich versuchte, einen schrägen Hang hinaufzukommen. Staub und kleiner Kies fielen in meinen Nacken und prasselten auf meinen Rücken. 97
Ich sprang auf einen Felsblock zu, riß die Arme auseinander und preßte mich flach an den Stein. Zwischen meinen Füßen krachte ein kopfgroßer Brocken an den Felsen und zerschellte. Als sich ein Teil des Hanges in Bewegung setzte und auf den Abgrund zurutschte, sah ich die Qualle. Ein Teil des Steinschlags hatte sie getroffen. Der Ballon war zerschlagen und unter einem Haufen rutschenden Gerölls begraben. Ich rutschte darauf zu, watete förmlich durch die Steine und faßte nach dem Seil. Ich wickelte es um meine Hände und stemmte mich gegen den Zug der Steine. Die Morgensonne fiel voll auf die schräge Fläche. Während die Steine rollten und sich gegeneinander schoben, zerrte ich an dem Kadaver. Er war wichtiger für mich als meine Waffen. Unter den Sohlen meiner Stiefel rutschte das Geröll, aber ich brachte es fertig, meinen Fellmantel und die Qualle aus der Flut der Steine zwischen die Büsche zu zerren. Die Geräusche der fallenden Steine hörten auf. »Verdammt!« sagte ich erschöpft. Ich setzte mich und betrachtete die halb zermalmten Reste der Aeraque. Dieser Kadaver sollte mich zum Gipfel hinauf bringen. Ich war nur meiner Kräfte nicht sicher, denn ich hatte nur noch knapp zweieinhalb Tage. Ich zog mein Schwert und stocherte im zähen Muskelfleisch der Fangarme. Dragon! Ich rufe dich, Dragon mit den drei Augen! Ich schrak zusammen. Deutlich hatte ich diese Worte in meinen Gedanken gehört. Unwillkürlich hatte ich meine Hand auf das Amulett gelegt. Ich erstarrte und richtete mich auf. Hatte mich Aerula gerufen? Ich bin Aerula. Ich rufe dich! Ich erwiderte halblaut: 98
»Ich höre, Aerula. Du beginnst schon jetzt, mich umzubringen.« In meinen Gedanken zeichnete sich ein lautloses Gelächter ab. Der Luftgeist sprach zu mir wie jener Rest Vestas, aber er zeigte sich nicht. Ich wartete, bis sich das Lachen gelegt hatte. »Dieser Steinschlag, Dragon, war das letzte Hindernis vor der glatten Bergwand. Es wird dir nichts mehr geschehen. Ich werde meine Macht nicht mehr anwenden, bis du zu mir vorgedrungen sein wirst. Aber denke daran, daß dir nicht mehr viel Zeit geblieben ist!« Ich stand auf und legte den Kopf in den Nacken. Etwa hundert Mannslängen weit konnte ich jetzt sehen, aber am Morgen, hatten die Hirten gesagt, hingen die schwarzen Wolken besonders tief. Das bedeutete, daß ich nicht einmal wußte, wie lang diese selbstmörderische Strecke war. Eines schien mir sicher zu sein: Ich würde kein Felsband finden, keinen Platz zum Ausruhen, und keine Möglichkeit, dort oben zu schlafen. Es war die härteste Prüfung in Ausdauer und Anstrengungen, die ich vor mir haben konnte. »Das weiß ich Aerula. Ich werde deinen Sitz erreichen!« Du wirst ebenso zerschmettert werden wie jeder andere. Ich werde abwarten, was geschieht! Die Stimme schwieg. Ich war wieder allein, allein auch mit meinen Gedanken. Ich brauchte nicht mehr zu überlegen, was ich zu tun hatte – ich wußte alles und hatte mir jeden Handgriff und jeden Schritt zurechtgelegt. Ich löste den Schwertgurt; ich würde keine Waffe brauchen. Dann legte ich alles an Ausrüstung ab, was ich entbehren konnte. Nur den Mantel würde ich mitnehmen. 99
Während ich alles, was ich hatte, ablegte und auf einen Haufen schichtete, aß ich einen kleinen Teil meiner Vorräte. Dann begann ich, mit dem Schwert die Schnüre um die Tentakel aufzuschneiden und die Tentakel in Stücke zu hacken. Ich achtete darauf, daß ich sie an den Stellen durchtrennte, die zwischen den einzelnen Saugnäpfen lagen. Ich befestigte probeweise einen Saugnapf an einem Handgelenk, ergriff das zähe, fast trockene Fleisch und schlug mit der Faust auf einen Steinbrocken. Schmatzend haftete der Saugnapf, und ich konnte den Stein ohne Mühe hochheben. Ich arbeitete weiter, schnallte lange Stücke unter meine Sohlen und band sie mit dem Sehnenseil fest. Andere Teile waren als Reserve gedacht. Ich fand, während ich den Kadaver der Aeraque zerhackte, eine Variante dieses tödlichen Spiels, die meine Chancen ein wenig verbessern mochte – aber immer, während der gesamten ekelhaften Arbeit wußte ich ein paar Dinge mit Gewißheit. Entweder starb ich zerschmettert hier auf der Geröllhalde, oder mich durchbohrten die Speere der Vogelmenschen ... Oder ich erreichte Aerula. Ich zitterte, obwohl der Schweiß mir in breiten Strömen über den Körper lief. Langsam kippte und drehte ich mein rechtes Handgelenk. Mit einem saugenden Laut löste sich die große tellerförmige Fläche vom glatten Stein. Direkt vor meinen Augen war die Marmorierung des Felsens. Winzige Adern durchzogen ihn. Die volle Hitze und das grelle Licht der Sonne schlugen wie mit Hämmern auf meinen Körper ein. Nur die beiden Saugnäpfe unter meinen Sohlen und der Napf in meiner 100
linken Hand hielten mich noch fest. Der Mantel war an meinem Rücken hinter dem Gürtel befestigt. Noch spürte ich ihn nicht. Ich hob den rechten Arm, so weit ich konnte. Dann schlug ich die Hand wieder gegen den Stein. Der Saugnapf haftete augenblicklich. Durch den Druck des Armes war Luft seitlich hinausgedrückt worden, und der beträchtlich verringerte Druck hielt mich an der glatten Fläche fest. Ich preßte den rechten Fuß an die Wand, bewegte ihn hin und her und löste den Saugnapf ab. Dann hob ich das Bein und setzte den zweiten Saugnapf wieder an. Dann begann ich mit der linken Hand und zog den linken Fuß nach. Verdammte Hitze! Meine Lippen waren trocken und rissig. Der salzige Schweiß biß in meinen Augen, und schon jetzt, nicht mehr als fünfzig Mannslängen über der Geröllfläche, fühlte ich meine Kräfte schneller schwinden, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber ich würde weiterkämpfen, bis ich bewußtlos an den Saugnäpfen hing oder abstürzte. Mich erfüllte eine kalte Wut. Ich kämpfte aus Trotz und Haß, ich war taub und blind gegen alle normalen Gedanken. Ich haßte das Schicksal, das mich zwang, Dinge zu tun, die ich niemals bei klarem Verstand getan hätte. Wieder zog ich mich höher. Einmal rechts mit zwei langsamen Bewegungen, dann links, ebenso langsam. Ab und zu setzte ich einen Saugnapf nicht richtig ein, und er haftete nicht. Oder einen der vier Näpfe löste sich, und mein Arm rutschte. Einmal hatten sich gleichzeitig beide Saugnäpfe an den Stiefelspitzen gelöst, und ich hatte Augenblicke lang hilflos an den Händen gehangen. 101
Noch jetzt zitterten meine Knie und tobten meine Nerven. Oder noch immer. Ich machte weiter. Ich verlor das Zeitgefühl und schloß mich immer mehr von der Umwelt ab. Es gab nur vier Befestigungspunkte, die ich nicht einmal anblickte. Ich sah nur noch den Stein vor meinen Augen, der eine immense Hitze ausströmte und das Licht zurückwarf. Ich dachte an alles und nichts. Wie eine Schnecke, aber ohne eine schleimige Spur, kroch ich die glatte Wand hinauf. Handbreit um Handbreit, langsam, zäh, verbissen. Der warme Wind trocknete den Schweiß so schnell, daß ich zu frieren begann. Was ich angenommen hatte, bewahrheitete sich: es gab nicht einmal einen fingerbreiten Spalt im Fels, keine Absätze, kein Band, auf das ich meine Füße hätte stellen können. Der Fels war glatt wie geschliffener Marmor. Wie ein Wahnsinniger, auf ein einziges Unternehmen eingeschränkt, hob und senkte ich methodisch und in immer gleicher Folge meine Hände und Füße. Immer wieder zog ich mich hoch, verlagerte mein Gewicht, kletterte weiter. Die Sonne beendete ihren Weg über das Firmament. Die Wolken zogen sich zurück, kletterten höher und verschwanden schließlich. Ich konnte, wenn ich den schmerzenden Nacken bog, die glatte Wand sehen, die irgendwo dort oben aufhörte. Die Nacht kam. Der Wind wurde stärker. Die Wärme des Felsens nahm überraschend schnell ab. Ich begann zu frieren und sehnte mich danach, aufhören zu können. Nur eine Stunde Ruhe! Aber ein größerer Teil von mir sagte immer wieder, daß ich gegen die Zeit arbeitete. Also stieg ich weiter, wie ein Automat, immer 102
weiter, halb besinnungslos, langsam, halb im Wahnsinn befangen ... Die Nacht verging. Ich wurde zum erstenmal ohnmächtig, als die Morgensonne mich traf. Ich wußte nicht, wann ich wieder zu mir kam, aber als ich die Augen öffnete, traf mich der Schreck wie ein Pfeilschuß ins Herz. Nur meine linke Hand und mein rechter Fuß hafteten noch am Fels. Die Saugnäpfe! Ich zitterte, aber ich nahm meine letzten Kraftreserven zusammen und handelte. Der linke Fuß, der eingeschlafen war und zu prickeln und zu stechen begann, schlug vor; die tote Qualle oder ein Teil von ihr haftete noch ein wenig. Dann löste ich mit der Rechten zwei weitere Saugnäpfe vom Gürtel, befestigte sie an der Wand und riß mehrmals daran. Sie haften! Bei der verfluchten Aeruia! Sie hafteten wirklich! Ich band mit der rechten Hand, so gut ich es vermochte, die Seile an den Gürtel und vergewisserte mich viermal, ehe ich die linke Hand vom Felsen löste, daß ich sicher hing. Inzwischen hatte die fieberhafte Arbeit meine Müdigkeit wie weggeblasen, die Todesangst trieb mich zu nie vorstellbaren Höchstleistungen. Ich hing am rechten Fuß und an den beiden neuen Saugnäpfen. Ich dachte keinen Augenblick daran, daß ich mich abermals in Gefahr brachte, während ich in stundenlanger Arbeit und mit mühsamen Verrenkungen an den Sohlen neue Saugnäpfe befestigte. Die Möglichkeit, mich in einer Nacht an den Felsen zu »kleben«, war mir unten auf der nicht mehr sichtbaren Geröllhalde eingefallen, als ich die Qualle in Stücke hieb. 103
Ich sah die Landschaft nicht mehr, und das war vielleicht gut so. Die Wolken hatten sich wieder gesenkt, und das bedeutete heute und jetzt, daß ich nicht mehr dem vollen Sonnenlicht ausgesetzt war. Nacheinander ersetzte ich alle vier Näpfe und versuchte dann, meinen letzten Proviant zu erreichen. Ich aß den Braten, würgte ein Stück hartes Brot hinunter und trank mit großer Gier den Weinschlauch leer. Den leeren Behälter ließ ich einfach in den dunklen Nebel fallen, der mich wieder umgab. Die Sonne verschwand völlig, und das bedeutete, daß ich nicht mehr wußte, welche Stunde des Tages zählte. Ich ging wieder in die Ausgangsstellung und löste dann die beiden Saugnäpfe vom Gürtel. Wieder kroch ich weiter. Je höher ich kam, desto mehr war ich überzeugt, daß ich in Wirklichkeit die kleine Fläche niemals erreichen würde. Wieder handelte ich nur noch stur und ohne vernünftige Gedanken. Ich war wie besessen und merkte doch, wie meine Kräfte nachließen. Höher und höher ging es hinauf. Ich verlor zuerst den Sinn für die Zeit, dann für die Entfernung, schließlich litt mein Bezug zur Wirklichkeit. Ich sah aus den Wolken Gestalten kommen, die mich vom Felsen reißen wollten. Und irgendwann wurde ich abermals bewußtlos. Ehe mein Bewußtsein sich völlig von meinem Körper trennte, gelang es mir noch, die beiden Saugnäpfe der Aeraque am Felsen zu befestigen. Dann sackte ich in den sechs Haltepunkten zusammen.
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10. Es konnte zwei Stunden später sein ... Oder zwei Tage. Oder ich war schon tot und erlebte dies alles noch einmal. Ich sah, daß die Sonne um den Felsenkegel herumgewandert war. Unter mir lag, völlig frei, die Landschaft. Ich sah ganz klar. Ich war jenseits dieses Punktes, an dem Überlegungen wie Hoffnung oder Schmerz noch galten. Ich war praktisch bereits tot, aber ich hatte es noch nicht begriffen. Trotzdem kletterte ich weiter. Ich wußte, daß jeder einzelne Nerv und jeder Muskel unerträgliche Schmerzen ausstrahlen mußten, aber ich spürte sie bereits nicht mehr. Aber meine Überlegungen waren von gläserner, ungewohnter Klarheit. Irgendwo in diesen meinen Gedanken saß ein winziger Kobold, der mir immer wieder zuflüsterte, daß ich in wenigen Augenblicken die oberste Plattform erreichen und mich über den Rand ziehen würde. Ununterbrochen kletterte ich weiter. Dem Lichtschein und den Schatten nach zu urteilen, war es zwischen frühem Abend und Sonnenuntergang. Und plötzlich wußte ich, daß ich dennoch verlieren würde. Aber ebenso wußte ich, daß es nicht mehr weit sein konnte. »Nein! Noch nicht!« stieß ich hervor. Ich spähte über die rechte und dann über die linke Schulter nach unten. Es war die Zeit, in der sich die Vogelmenschen sammeln und zu mir heraufkommen würden. Ich sah noch keinen Vogelmenschen – und nicht einmal einen Vogel oder ein Tier, daß ich mit den Vogelmenschen verwechseln konnte. Unberührt und fremder 105
denn je lag die Landschaft unter mir. Ich vermochte nicht mehr abzuschätzen, wie hoch ich wirklich gestiegen war. Weiter. Mit Bewegungen, die ich nicht mehr steuerte. Mein Geist und mein Körper hatten sich voneinander getrennt. Mein Körper kletterte weiter, und mein Geist befand sich irgendwo anders. Die Zeit verging, und ich sah die breiten Linien der Schatten wandern. Der Ring des Nebellandes lag zu einem Drittel unter mir, von den letzten Sonnenstrahlen ausgeleuchtet. Alles war in Wirklichkeit nicht vorhanden, war nur ein Trugbild, das ich nicht begriff. Ein Traum, nichts anderes. Aber ich mußte erwachen! Ich mußte aufhören zu schlafen und weiterklettern, um vor den Vogelmenschen die Wolken oder die Plattform oder Aerula zu erreichen. Die Saugnäpfe der Aeraque hielten die Belastung noch immer aus und zogen mich Stück um Stück höher. Ich riß den Kopf herum, als neben mir ein scharrendes, stählernes Krachen ertönte. Mit einem letzten Blick erhaschte ich das Aufblitzen eines metallenen Speerblattes. Ich verrenkte den Hals und sah, daß die Vogelmenschen da waren. Sie stiegen nicht höher, sondern sie hatten mich schon die ganze Zeit über beobachtet, in der Luft wartend wie große Raubvögel. Ich erkannte einen großen Schwarm und schrie auf. »Geht weg! Noch nicht! Die Zeit ...« Meine ausgetrockneten Lippen gehorchten mir nicht. Aus meiner Kehle rang sich ein heiseres, würgendes Stöhnen. Der zweite abgefeuerte Speer schlug dicht über meinem Kopf in den Stein, hieb feine Splitter und Körner heraus, die in meine Augen fielen. Ich zog den Kopf 106
zwischen die Schultern und beschleunigte meine Bewegungen. Keiner der Vogelmenschen sagte etwas. Sie verständigten sich nicht einmal mit ihren Pfiffen. Sie hatten nur die Aufgabe von Aerula erhalten, mich zu töten, wenn ich nicht die Untergrenze der Wolke erreicht hatte. Ich hob den Kopf. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Ich sah deutlich den Rand der runden Plattform über mir. Nicht mehr als fünf Mannslängen! Nicht mehr! Dreißig Bewegungen noch! Und dicht über der Plattform schwebte eine runde, geballte Wolke, die sich zusammengezogen hatte. Aerula! Ich fühlte die Todesangst, als ein Schauer von Waffen rund um mich gegen den Stein schlug. Die Spitzen scharrten über die Fläche, verbogen sich und warfen die Holzschäfte zurück. Ein großer Schatten schwebte hinter mir und bewegte die Flügel. Jetzt wird er den Speer zwischen meine Schulterblätter rammen, dachte ich. Mein Leben, kurz genug seit dem Aufwachen im Schrein, war hier, in einer fremden Welt zu Ende. Die Gestalten dieses kurzen Lebens zogen in rasender Folge an mir vorbei. »Schneller, Dreiauge! Nur noch zwei Mannslängen!« sagte eine helle, deutliche Stimme. »Ich schütze dich!« Ich weiß nicht, wie ich gehandelt hatte. Bewegte ich mich wirklich weiter, wie sie vermuten mußten? Oder war ich vor Schrecken und Überraschung wie gelähmt? Wieder schlugen Waffen gegen den Fels. Aber ich hörte hinter mir ein lautes Stöhnen. Ich drehte den Kopf und sah Aethon, den Bruder des geretteten Mädchens, der einen Speer aus dem Arm zog. Blut schoß aus einer 107
tiefen Wunde. Ein zweites Geschoß drang durch seinen Flügel, aber der Vogelmensch flatterte weiterhin hinter meinem Rücken. Eine laute, befehlsgewohnte Stimme donnerte: »Geh zur Seite, Aethon! Du handelst wider den Befehl Aerulas! Versündige dich nicht!« Der Schwarm versuchte, an mich heranzukommen. Aethon drehte sich in der Luft und packte mich mit einer blutigen Faust am Gürtel. Ich fühlte mich leichter und angehoben, in die Höhe gedrückt und gezerrt ... meine Arme und Beine arbeiteten wie rasend. Und dann, mit weit aufgerissenen Augen, sah ich, daß ich mich über den Rand schob. Der Stein sank direkt vor meiner Nase nach unten. Ich winkelte einen Arm an und legte den Ellenbogen auf die Kante, schlug die Hand mit dem Saugnapf gegen den blanken Felsen. Einige letzte Bewegungen. Neben meinem Arm traf ein Speer die Platte, schlug hart gegen den Ellbogen und schlitterte mit einem Geräusch über den Stein, das das Blut gerinnen ließ. Ich hörte hinter mir einen lauten Schrei, der plötzlich abriß, und die Faust in meinem Rücken löste sich. Mein linkes Knie berührte die Kante. Stille. Niemand sprach. Nur noch fernes Flügelrauschen. Mehrere Vogelmenschen stürzten sich mit zischenden Schwungfedern senkrecht in die Tiefe, dem tödlich getroffenen Jungen nach. Ich zog den rechten Fuß hoch und stemmte mich weiter. Dann lag ich in der Mitte einer Fläche, die nicht größer war als zehn Mannslängen Durchmesser. Ich wälzte mich auf den Rücken und dachte zum erstenmal während der letzten Tage daran, daß ich mich auf der absoluten Spitze eines riesigen Berges befand, 108
mindestens eineinhalbtausend Mannslängen über der Landschaft. Dann verlor ich abermals das Bewußtsein. Obwohl die große, schwarze Wolke alles verhüllte, herrschte hier auf dem Plateau ein mildes, gelbes Licht. Es mußte geregnet haben, denn ich spürte keinen Durst mehr. Ich richtete mich auf, blieb aber sitzen. »Ich bin hier, Aerula!« rief ich. Meine Stimme gehorchte mir wieder – wunderbarerweise. Über mir sah ich den Kern der Wolke. Eine Mischung aus einem Feuerrad, aus einem kochenden, brodelnden Glutnebel und einer Kugel mit Ausläufern und auf die Hülle gespiegelten Bildern. Ich löste mit zitternden Fingern und mit schwachen Bewegungen die Schnüre und warf nacheinander alle jetzt völlig nutzlosen Saugnäpfe über die Kante. Dann begriff ich und legte die kalte Hand auf das Amulett. Ich zog den Mantel aus dem Gürtel und schlang ihn mit der linken Hand um meine Schultern. Ich bin hier, Aerula! Auf deinem Gipfel! wiederholte ich in Gedanken. Die Bilder in dem spiegelnden Etwas, die Bilder von Blitzen und dahintreibenden Wolken, wurden schneller, die Farben leuchtender. Ich, sehe es. Ich habe jeden Augenblick deines Kampfes mit angesehen. Du hast es geschafft, Sterblicher, Dragon mit den drei Augen. Du hast es nicht erwartet, Luftgeist? Ich starrte auf die Bilder, die in schneller und verwirrender Folge Dinge und Abläufe zeigten, die alles etwas mit den Wirkungen eines Luftgeistes zu tun hatten. Flüchtig dachte ich wieder einmal daran, ob Aerula nun weiblich oder männlich war. Ich wußte es nicht, und es 109
schien auch nicht wichtig zu sein. Ich habe es nicht erwartet, nein! Aber das, was du geleistet hast, übersteigt das Maß dessen, was ein Sterblicher tun kann. Ich habe derlei noch niemals erlebt. Also beuge ich mich vor dir, du Mann mit Vestas Auge. Dir, dem Abgesandten Vestas, vertraue ich mein Innerstes an. Ich unterwerfe mich Vesta, mein Freund. Ich nickte, dann formulierte ich meine Gedanken. Ich nehme an. Auch Erthu, der Erdgeist, der unter der Prächtigen Stadt Merlane lebt, ist bereit, sich Vesta wieder unterzuordnen, wenn er dich an seiner Seite weiß. Ich werde dein Innerstes – ich weiß nicht, was du damit meinst – an Vesta übergeben. Aber noch eines: Ich werde in den nächsten Tagen keinen Schritt tun. Du tust also gut daran, mich hier abholen zu lassen. Von den Vogelmenschen oder von Aerula-thane, die meine Freundin ist. Wieder spürte ich das Lachen des Luftgeists. Die Antwort war zweigeteilt. Ohne daß ich sehen konnte, woher er kam, rollte plötzlich ein kleiner Ball vor mir über die abgesägte Bergfläche und blieb neben meinen Knien liegen. Wieder loderten die farbigen Bilder und die Abläufe eines Kaleidoskops in der dunklen Wolke auf. Der Ball sah aus, als sei er mit Luft gefüllt. Seine Hülle schimmerte, und woraus sie bestand, konnte ich nicht einmal ahnen, selbst dann nicht, als ich den Ball ergriff und zwischen mein nasses Hemd und die Haut schob. Der Ball war wunderbar kühl. Der Luftgeist übermittelte mir folgende Gedanken: Du bist der Sieger. Zusammen mit dir und Erthu sollte es gelingen, Vesta wieder zum Herrn dieser Welt zu machen. Nein, Dragon Dreiauge, du brauchst nicht 110
hinunter zu klettern oder dich von den Vogelmenschen tragen zu lassen. Ich habe, als du wie tot dalagst und ich versuchte, dich ein wenig zu heilen, Aerula-thane gerufen. Sie ist schon auf dem Weg hierher. Sie kommt hierher ins Nordland, um dich von diesem Gipfel zu holen und nach Süden zu bringen. Aber dort hast du noch die Aufgabe, Vesta zu befreien! Es klang wie eine Frage. Ich erwiderte: Mit Erthu und dir zusammen, Aerula, wird es mir leichter gelingen als dieser Aufstieg. Wann darf ich Aerula-thane erwarten? Ich werde dich einschläfern und wecken, wenn die Wolke kommt. Sie wird auch deine Waffen abholen. Es war so! Aerula besaß die Macht, meinen erschöpften Körper auf geheimnisvolle Weise zu heilen. Ich fühlte es. Trotz des Umstandes, daß ich weder Durst noch Hunger oder Müdigkeit und Schmerzen empfand, wußte ich, daß sich mein Körper nicht binnen einiger Stunden oder Tage restlos erholen konnte. Aber vielleicht blieb ich einige Tage bei den Vogelmenschen und ließ mich von ihnen pflegen, was Aerula sicher befehlen würde. Aethon! Ich erschrak. Ich hatte etwas vergessen. Sofort fragte ich: Aerula! Ein junger Vogelmensch, dessen Schwester ich rettete, opferte sein Leben für mich. Er deckte mich mit seinem Körper. Sie haben ihn gesperrt! Wohlwollende Gedanken überfluteten mich. Wenn es dein Wunsch ist, dann werde ich Aethon zu mir nehmen und seine schweren Wunden heilen. Noch ist er nicht tot, aber er würde in wenigen Stunden sterben. Du kannst keine Toten auferwecken? 111
Nein. Soll ich ihn heilen? »Ja. Ich bitte darum!« Unwillkürlich sprach ich laut aus, was ich dachte. Er war also, tödlich von den Speeren verwundet, abgestürzt. Einige Vogelmenschen, das sagte mir der Luftgeist, hatten sich ihm nachgestürzt, ihn kurz vor dem Beginn des zerklüfteten Bergsockels aufgefangen und in eine der Pueblohöhlen gebracht. Dort lag er nun, sterbend. Aber plötzlich – auch das schilderte Aerula – war er von einem kleinen, hurrikanartigen Wirbelwind weggerissen und in die schwarze Wolke über meinem Kopf entführt worden. Du wirst ihn ganz bestimmt heilen? fragte ich drängend. Ich verspreche es dir, Dreiauge! Ich zog den Mantel enger um meine Schultern und lockerte den Griff der Hand um das Amulett. Mein Körper mochte keine Müdigkeit spüren, aber mein Verstand war völlig ausgelaugt. Aerula? Ja? Schläfere mich ein! Lasse Aerula-thane mich irgendwo absetzen, meinetwegen bei Aethia oder Aethoarch, wo ich mich erholen kann. Ich merke, daß ich langsam verrückt zu werden beginne. Und – tue es schnell! Wieder ein wohlwollendes Lachen. Die letzten Gedanken hörte ich schon nicht mehr richtig. Aerula schläferte mich schnell ein. Ich sank auf meinen Fellmantel und lag auf dem höchsten Punkt der Umgebung, mitten auf dem Plateau, ein kleines Bündel Mensch, der sich angemaßt hatte, die Geister von Danilas Welt zu bezwingen. ENDE 112
Dragon gelang, was noch kein Sterblicher vor ihm fertigbrachte! Er erreichte Aerulas Gipfelreich und versicherte sich der Unterstützung des Luftgeists. Was aber widerfährt inzwischen Ubali, Dragons Kampfgefährten? Sein abenteuerlicher Weg durch Danilas Welt wird im nächsten Dragon-Band von Hugh Walker geschildert. Der Roman erscheint unter dem Titel: VERDAMMTE DES DSCHUNGELS
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