Christian Schwarz
Ihre letzte Botschaft Version: v1.0
Gehören Sie auch zu den Leuten, denen der Satz ›Es gib...
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Christian Schwarz
Ihre letzte Botschaft Version: v1.0
Gehören Sie auch zu den Leuten, denen der Satz ›Es gibt keine Geister!‹ locker‐flockig über die Lippen geht? Dann darf ich Ihnen versichern, dass Sie Unrecht haben, ganz und gar. Ich habe da so meine Erfahrungen, wissen Sie? Ach, übrigens, mein Name ist Kenneth Merryweather, von den berühmten Merryweathers und ich bin Rechtsanwalt, wie viele meiner Vorfahren auch. Ich bin zudem Texaner und ziemlich stolz darauf. Überhaupt sagt man uns Texanern ja nach, ein stolzer und eher unfreundlicher Menschenschlag zu sein. Das kann ich durchaus unterschreiben und irgendwie trifft diese Charakterisierung auch auf mich ganz persönlich zu. Ich kann schon unfreundlich sein. Aber nicht zu meinen Freunden. Denn Freunde sind mir heilig, die würde ich niemals im Stich lassen und alles für sie tun. Na, sagen wir fast alles …
Ob das eine typisch texanische Eigenschaft ist, weiß ich nicht ganz genau. Eine Eigenschaft der Merryweathers ist es auf jeden Fall. Und sie hat ganz direkt mit dieser unheimlichen Begegnung zu tun. Sie sind neugierig geworden? Gut. Dann will ich Ihnen meine Geschichte erzählen …
* Es begann mit dem 14. Geburtstag meiner Tochter Megan Martha. Megan Martha Merryweather ist dabei, sich in eine wunderhübsche junge Frau zu verwandeln und wird einmal der Stolz und die Augenweide des Merryweather‐Clans sein. Ich liebe mein Kind – aber pubertierende Gören sind etwas Furchtbares, das kann ich Ihnen guten Gewissens versichern. Und pubertierende Merryweather‐Gören setzen da meistens noch einen drauf. Megan Martha hatte also durchgesetzt – unterstützt von ihrer Mutter Clara – auch Jungs zu ihrer Geburtstagsparty einladen zu dürfen. Jungs! Mit 14! Das wäre, wenn es rein nach mir gegangen wäre, überhaupt nicht in die Tüte gekommen. In meinem Beruf sage ich meistens, wo’s lang geht, zu Hause hat diese Lotsenfunktion aber eher meine geliebte Frau Clara inne. Und so kam es, dass ich diesem moralisch verkommenen Ansinnen schlussendlich zustimmen musste. Zumal mich mein durchtriebenes Fräulein Tochter an meinem absoluten Schwachpunkt zu fassen kriegte. Sie erzählte mir nämlich, die drei Jungs, die sie neben zwei ihrer Freundinnen einzuladen gedenke, seien ihre besten Freunde. Die könne sie nicht einfach im Stich
lassen. Und überhaupt solle ich mir bloß nicht ins Hemd machen, schließlich sei sie ja so gut wie erwachsen. Nicht ins Hemd machen! Können Sie sich vorstellen, dass meine geliebte Tochter genau diesen Ausdruck gebraucht hat? Und dann gedenkt sie auch noch, mit 14 Jahren erwachsen zu sein! Pah … Und eins muss ich auch noch anmerken: Ich weiß natürlich ganz genau, dass meine Tochter Megan Martha nicht viel davon hält, unbedingt für ihre Freunde einzustehen. Eigentlich gar nichts. Sie ist da nicht wie ich, das habe ich ihr leider nicht vererben können. Nun ja, man kann nicht alles haben, auch wenn ich gerade diesen Charakterzug unheimlich gern an mein Kind weitergegeben hätte. Trotzdem hatte ich mich breit schlagen lassen, nicht nur die drei Jungs auf der Party zu dulden, sondern auch mein weithin berühmtes Barbecue zu machen und zusätzlich eine Menge schöner Fotos zu schießen. Also hatte ich den Grill angeworfen und die Rindersteaks à la Merryweather geradezu zelebriert. Das Wichtigste daran ist die Sauce, müssen Sie wissen. Na ja, während die Steaks bruzzelten, ging ich kreuz und quer durch unseren großen, schönen Garten, um Dutzende Fotos von den drei Mädchen und den drei Jungs zu machen. Sie liebten es, auf den großen, alten Bäumen herumzuklettern oder einfach zusammen zu sitzen und sich Gruselgeschichten zu erzählen. Ja, Gruselgeschichten, ganz richtig. Dabei hatte sich das reale Grauen längst selbst eingeladen. Aber wer hätte das zu diesem Zeitpunkt wissen können …? Zuerst muss ich erzählen, dass die drei Jungs zugegebenermaßen einen absolut netten und zurückhaltenden Eindruck machten. Ich sah schon, dass ich heute meine Pumpgun, die ich strategisch geschickt im Gartenhäuschen platziert hatte, nicht brauchen würde. Aber, bei Gott, ich hätte sie sprechen lassen, wenn ich auch nur eine
Jungenhand auf einem Mädchenschenkel gesehen hätte – speziell auf Megan Marthas Schenkel! Habe ich aber nicht … Während die Kinder aßen und mein Barbecue à la Merryweather überschwänglich lobten, konnte ich mich für zwanzig Minuten ins Gartenhäuschen zurückziehen und den ›Lone Star‹ durchblättern, meine heiß geliebte Tageszeitung. Allzu viel Interessantes gab es heute nicht: Steuerdebatte, Waldbrände in Kalifornien, ein tödlicher Unfall in Dallas, das Übliche eben. Nur die Meldung, dass der Kindermörder James Aider nun doch die 86 Dollar teure Giftspritze bekommen würde, konnte mich einigermaßen fesseln. Ich erinnerte mich noch gut an den Prozess vor ungefähr sechs Jahren. Aider hatte, gar nicht mal weit von hier, irgendwo bei Toledo Bend, ein kleines Mädchen umgebracht und war dafür zum Tode verurteilt worden. Mehrere Wiederaufnahme‐Anträge des Verfahrens waren abgelehnt worden, ebenso zuletzt ein Gnadengesuch. Gut so, dachte ich. Wieder 86 Dollar, die nicht besser angelegt sein könnten. Schweine wie Aider hatten kein anderes Schicksal verdient, als ihr beschissenes Leben in der Huntsville Unit zu beenden, dem ältesten Gefängnis in Texas, wo die ganzen Hinrichtungen stattfinden. Momentan saß Aider noch in der ›Polunsky Unit‹ ein. Auch kein schönes Schicksal. Ich selbst kenne den Todestrakt von Texas, im schönen Städtchen Livingston gelegen, ganz gut. Denn auch ich musste schon zweimal gemeine Mörder verteidigen. Als Pflichtverteidiger, versteht sich. Trotzdem ist das ein scheußliches Geschäft, weil ich eigentlich für ihren Tod bin. Stellen Sie sich nur mal vor, ich wäre erfolgreich und würde sie davor bewahren! Eine schauderhafte Vorstellung ist das. Ich gönne den verdammten Mördern nicht nur den Tod, sondern auch die Zeit im Polunsky‐Todestrakt, wo sie in völliger Isolation gehalten werden. Da haben sie dann jede Menge Zeit, sich über ihre
fürchterlichen Taten Gedanken zu machen – bis es heißt: ›Dead Man Walking‹ und Todesspritze. Gott sei ihrer armen Seele gnädig. Ich finde, das ist ein gutes System, auch heute noch. Alle Texaner finden das. Dann aber vergaß ich James Aider und die anderen 450 texanischen Todeskandidaten recht schnell, weil ich mich wieder um die Party kümmern musste. Mein Fräulein Tochter rief mich nämlich in einem Ton, der mir die Haare zu Berge stehen ließ. Aber das lässt sich mit ihrer Pubertät entschuldigen. Ein Zustand übrigens, der die unheimliche Begegnung erst möglich machte. Aber hören Sie einfach weiter zu. Die Party ging also ganz friedlich zu Ende. Ich brachte die beiden Filme, die ich durchgeschossen hatte, noch am selben Abend zur Entwicklung – weil Megan Martha die Bilder unbedingt morgen schon sehen wollte – und holte die Fotos am nächsten Tag ab, bevor ich in die Mittagspause ging. Ich setzte mich gemütlich in mein Lieblingsrestaurant und schaute mir die Fotos an. Alle gelungen, aber ich hatte auch nichts anderes erwartet. Da hatte ich mich mal wieder selbst übertroffen. Plötzlich erstarrte ich. Ungläubig sah ich auf das Foto, das soeben nach oben gekommen war. Ich fühlte gleichzeitig, wie sich ein unangenehm eisiges Prickeln meinen Rücken hinunterarbeitete. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – sieben! Auf dem Foto waren sieben Kinder zu sehen, die im Kreis auf dem Rasen saßen. Meine geliebte Megan Martha und ihre fünf Partygäste konnte ich eindeutig identifizieren. Das kleine Mädchen mit den strohblonden Zöpfen und dem blauen Schürzenkleid, das wie selbstverständlich im Kreis neben Megan Martha saß und direkt in die Kamera blickte, kannte ich nicht. Wie auch. Sie war gestern nicht da gewesen, definitiv nicht. Was also hatte sie auf dem Bild zu suchen? Und wer war sie? Ich schluckte. Das unangenehme eisige Kribbeln wurde stärker.
Hastig sah ich die anderen Fotos durch. Und tatsächlich: Sie tauchte auf gut zwei Dutzend Bildern auf. Sie kletterte in den Bäumen herum, bewegte sich zwischen den anderen Kindern und stand beim Grill. Und jedes Mal blickte das Mädchen direkt ins Objektiv. Ernst und durchdringend, wie es mir schien. »Ich werd verrückt«, murmelte ich und verschüttete etwas Kaffee. »Entweder hab ich jetzt einen an der Klatsche oder ich hab einen Geist fotografiert …« Da ein Merryweather aber prinzipiell keinen an der Klatsche hat und es auch keine Geister gibt, befand ich mich in einem schweren Dilemma, das ich momentan nicht auflösen konnte. Den ganzen Nachmittag konnte ich mich nicht mehr richtig aufs Arbeiten konzentrieren. Immer wieder holte ich die Bilder heraus und starrte sie an. Das änderte jedoch nicht das Geringste. Das Geistermädchen dachte nicht daran, sich plötzlich aus der Szenerie zu verflüchtigen. Geistermädchen? Obwohl ich bisher nicht an Geister und solchen Schwachsinn geglaubt hatte – wie gesagt – war ich nun anscheinend bereit, das Unglaubliche zu akzeptieren. Denn eine ›natürliche‹ Erklärung wollte mir einfach nicht einfallen, egal, was für geistige Kopfstände ich auch fabrizierte. Mein Gemütszustand schwankte zwischen wohligem Gruseln und tief empfundener Urangst. Na ja, vergessen Sie Letzteres. Ein Texaner kennt keine Angst. Ersetzen Sie es lieber durch ›Respekt vor dem Unbekannten‹. An diesem Tag ging ich wesentlich früher nach Hause als sonst. »Hallo Daddy, du bist heute so früh dran. Haben sie dich aus der Kanzlei geworfen?«, begrüßte mich meine Megan Martha. Reizend! »Ich hab was, das müsst ihr euch anschauen«, ächzte ich. »Das wird euch aus den Schuhen heben, garantiert!« »Du hast meine Partybilder versaut«, mutmaßte Megan Martha
völlig unzusammenhängend und ziemlich patzig. »Ein Merryweather versaut niemals irgendetwas, merk dir das«, antwortete ich. »Aber in gewissem Sinne hast du sogar recht.« »Also doch.« Megan Martha sah mich vernichtend an. »Setz dich erst mal, mein armer Ken«, schlug meine geliebte Clara vor. »Du bist ja völlig bleich und nervös. So kenne ich dich ja gar nicht. Willst du ein Bier?« Ich nickte. Meine fürsorgliche Frau Clara. Ich liebe sie. Und ich liebe Megan Martha, auch wenn sie nun dazu übergegangen war, mich wegen meiner Bemerkung eben aufs Übelste zu beschimpfen. Ich ließ mich in den Sessel sinken und knallte wortlos die Fototüten auf den Tisch. Im Fernsehen lief gerade ein Geisterschocker. Schon wieder so ein passender Zufall. Ich schüttelte mich und trank die ganze Flasche Bier auf Ex. Clara blickte mich stirnrunzelnd an. So süß sah sie aus. Megan Martha stellte ihre – seitens ihrer Mutter ungeahndet gebliebenen – Verbalattacken auf mich ein und fetzte die Fototüten auf. Die betreffenden Bilder hatte ich obenauf gelegt. Megan Martha wurde plötzlich weiß wie eine gekalkte Wand. Und auch Clara starrte die Fotos ungläubig an. Dann mich. Dann wieder die Fotos. Sie räusperte sich. »Kann es sein«, sagte sie schließlich, ohne das leichte Zittern in ihrer Stimme verbergen zu können, »dass wir gestern einen Gast hatten, von dem ich nichts weiß?« »Kennst du das Mädchen?«, stellte ich meiner Megan Martha eine eher theoretische Frage. Zu meiner grenzenlosen Überraschung zögerte sie. »Ich …«, stammelte sie, gab sich einen Ruck und nickte. »Dieses Mädchen, ich sehe es seit ein paar Wochen jede Nacht in meinen Träumen. Und als … ich meine, wenn ich manchmal mitten in der Nacht aufwache, steht sie im Zimmer oder draußen auf dem Balkon und schaut mich
an. Sie sagt irgendetwas, aber ich verstehe sie nicht. Und manchmal winkt sie.« Ich spürte, wie sich meine Nackenhärchen aufrichteten. Claras Glas zerschellte am Boden. Sie starrte unsere Tochter ungläubig an. So wie ich auch übrigens. »Aber sie ist nicht böse. Ich habe keine Angst vor ihr«, ergänzte Megan Martha schnell.
* Meine geliebte Frau Clara fasste sich als Erste wieder. »Entschuldigung«, murmelte sie und ging in die Küche, um einen Putzlappen zu holen. »Sie ist ein Geist, nicht wahr, Daddy?« Megan Martha rückte plötzlich ganz nah an mich heran. »Es gibt keine Geister«, sagte ich automatisch. »Aber ja, es sieht tatsächlich so aus.« »Erzähl dem Kind keinen Unsinn«, fuhr mich Clara aus ihrer putzenden Position heraus an. »Und du, meine liebe Megan, hörst gefälligst auf, uns mit deinen Gruselgeschichten zu verarschen. Ich weiß, dass du entschieden zu viel davon anschaust.« Wütend stand Clara auf, ließ den Putzlappen vorübergehend liegen und schaltete den Fernseher ab. Clara hatte tatsächlich ›verarschen‹ gesagt. Dieses Wort hatte ich noch nie aus ihrem Mund gehört. »Nein, Mom, das ist keine Geschichte«, erwiderte Megan Martha leise. »Ich habe bisher gedacht, ich bilde mir das nur ein mit dem Mädchen. Ich … habe mal in einem Film gesehen, dass es jungen Frauen in der Pubertät häufig passiert, dass sie so komische Sachen sehen. Das geht aber wieder weg, da muss man sich keine Sorgen machen. Deswegen hätte ich euch auch nichts davon erzählt.« Sie
schluckte. »Aber die Bilder sind der Beweis, dass sie tatsächlich da ist. Oder?« Jetzt, in diesem Moment, realisierte Megan Martha, dass sie es mit einer echten Erscheinung zu tun haben könnte. Sie zitterte plötzlich wie Espenlaub. Clara bemerkte instinktiv, dass die Situation nicht gespielt war. Sie schloss ihre Tochter in die Arme und drückte sie ganz fest. »Mein armes Kind«, murmelte sie und streichelte zärtlich ihre Wange. »Egal, was das da auf den Bildern ist, es gibt eine natürliche Erklärung. Die gibt es immer. Ich weiß nicht, welcher Teufel deinen Vater reitet, dir so einen Mist zu erzählen.« Sie sah mich böse an und drückte Megan Martha noch enger an sich. »Ich bin mir sicher, dass es sich um eine Überblendung handelt. So eine Doppelbelichtung, weißt du? Das gibt es manchmal. Dann überschneiden sich zwei verschiedene Motive auf einem Bild. Das wird hier auch passiert sein.« »Du erzählst den Mist, nicht ich«, fauchte ich eigensinnig zurück. Auch wenn Clara sonst das häusliche Heft in der Hand hatte, galt es nun, Profil zu beweisen. Auf diese Art und Weise lässt sich ein Texaner nämlich nicht überfahren. Und ein Merryweather schon zweimal nicht. »Ich weiß, wie Überblendungen aussehen«, fuhr ich fort. »Und das da sind keine. Doppelbelichtungen ergeben immer surrealistische Effekte. Aber das Mädchen da ist Teil der Szene. Sie passt perfekt hinein. Versteht ihr, was ich meine? Sie war da. Und doch wieder nicht.« Ich vermied diesmal das Wort Geist. »Ob sie wohl gerade da ist?«, fragte Megan Martha und sah sich furchtsam um. Clara sagte gar nichts mehr. »Keine Ahnung«, erwiderte ich. Wurden wir tatsächlich aus dem Unsichtbaren heraus beobachtet? Es sah so aus und es schmeckte mir absolut nicht. »Du sagst, dieses Mädchen besucht dich seit
ungefähr drei Wochen?« »Hör auf damit«, fauchte mich Clara nun doch wieder an. »Das geht nicht. Wenn wir die Sache totschweigen, wird sie dadurch nicht besser. Wir müssen reden. Also …?« »Ja, so ungefähr.« Megan Martha nickte. »Drei Wochen, das könnte hinkommen.« »Unser hübsches Haus ist über 150 Jahre alt«, spekulierte ich. »Ob hier mal ein Verbrechen passiert ist? Ob dieses Kind hier wohl ermordet wurde?« »Ich fasse es nicht«, fuhr mir Clara in die Parade und sich durch die Haare. »Bis gestern hast du den Teufel getan und an Geister geglaubt. Und jetzt redest du, als würdest du jeden Tag einen verteidigen.« »Eigentlich habe ich sogar bis heute Nachmittag nicht daran geglaubt«, präzisierte ich. »Aber wir haben die Bilder da. Gib mir eine plausible Erklärung dafür und ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil. Die Merryweathers sind auch deswegen das geworden, was sie sind, weil sie sich immer blitzschnell auf neue Gegebenheiten einstellen können.« »So, so«, murmelte Clara. »Wir wohnen seit über zwanzig Jahren in diesem Haus. Dann sag mir doch mal, warum sich dieses Mädchen jetzt erst meldet und nicht schon lange zuvor?« »Das weiß ich nicht«, gab ich zu. »Aber ich würde es gerne herausfinden. Deswegen werde ich ab heute bei dir im Zimmer schlafen, meine liebe Megan Martha. Wenn es den Geist tatsächlich gibt, dann will ich ihn auch sehen. Von Angesicht zu Angesicht. Und du musst nicht alleine sein.« Megan Martha löste sich von ihrer Mutter und umarmte mich. Sie war nicht mehr als ein Bündel Angst. »Danke, Daddy«, flüsterte sie. »Auf zur Geisterjagd«, sagte ich betont fröhlich.
Dabei war mir elend zumute. Ich gebe es zu. Mein Respekt vor dem Unbekannten war ziemlich stark. Aber ich hatte schließlich Verpflichtungen meiner Familie gegenüber. Und ein Familienoberhaupt der Merryweathers hat stark zu sein und darf sich nicht gehen lassen, unter gar keinen Umständen. Es muss in der Lage sein, jedes Problem lösen zu können. Jedes. Auf zur Geisterjagd also …
* Ich hatte es mir auf der Couch in Megan Marthas Zimmer bequem gemacht und starrte in die Dunkelheit. Das heißt, es wäre sicherlich bequem gewesen, wenn mich nicht diese extreme Anspannung in ihren Klauen gehalten hätte. So aber harrte ich mit schweißfeuchten Händen und völlig verspanntem Nacken der Dinge, die da hoffentlich – oder besser nicht? – kommen würden. Unter anderen Umständen hätte ich die Begegnung mit einem Geist sicherlich nicht herausgefordert. Aber wenn dieser im eigenen trauten Heim erschien und sich auch noch an die geliebte Tochter heranmachte – aus welchen Gründen auch immer –, dann musste man sich diesem Problem stellen. Vor allem, wenn man ein Merryweather war. Aber das sagte ich wohl bereits … Ich gebe trotzdem zu, dass mir in dieser Nacht nicht wohl war in meiner texanischen Haut. Und meiner Megan Martha in ihrem Bett nebenan ging es nicht besser. Sie konnte ebenfalls nicht schlafen, auch wenn sie sich ruhig verhielt. Ich hörte es an ihren unregelmäßigen Atemzügen und ihrem gelegentlichen Seufzen. Unterhalten wollte sie sich aber genauso wenig wie ich. Meine Augen wanderten ständig im Zimmer umher und
musterten die grauen Silhouetten der Einrichtungsgegenstände. Draußen war Neumond und so gelangte nur wenig Licht durch das große, geöffnete Balkonfenster ins Zimmer. Immer, wenn ich mir einbildete, ein Punkt sei heller als die anderen, fixierte ich ihn wie hypnotisiert und kalte Schauer schüttelten meinen Körper. Materialisierte sich der Geist? Nein, ich hatte mir zum wiederholten Mal nur etwas eingebildet. Trotzdem wurde es von Mal zu Mal schwieriger, mein wild pochendes Herz, das ich weit oben im Hals spürte, wieder unter Kontrolle zu bekommen. Meiner armen Megan Martha erging es sicher ähnlich. Sie hatte mich inständig gebeten, ich solle mich doch zu ihr ins Bett legen, weil sie sich dann sicherer fühlen würde. Doch das hatte ich entrüstet abgelehnt. Ich bitte Sie, wo sind wir denn? Ein Vater bei seiner 14‐jährigen Tochter im Bett! Da hätte ich mich ja gleich freiwillig in der Polunsky Unit anmelden können. Neben dem angestrengten Starren lauschte ich angespannt auf jedes kleine Geräusch. Und es ist sicherlich nicht ehrenrührig, wenn ich sage, dass ich des Öfteren erschrocken zusammenzuckte. Ich weiß nicht, ob Ihnen klar ist, wie viele Geräusche so ein altes Haus nachts produziert. Es ächzt und stöhnt und knackt im Holz, draußen zwitschert mal wieder ein Vogel im Schlaf und im Dachstuhl laufen die Mäuse. Ausgeglichene Menschen stören sich nicht daran. Aber wenn man sich darauf sensibilisiert, kann einen das durchaus wahnsinnig machen. Immerhin hatte ich zwischendurch Zeit, diesen wunderbaren Duft einzuatmen, der durchs offene Fenster hereinströmte. Er wird von den riesigen Pinienwäldern des San Augustine Countys produziert, das die Wiege von Texas ist. Und darauf sind wir ›Augustines‹ mächtig stolz. Ich gähnte herzhaft. Trotz aller Anspannung klopfte langsam der
Schlaf an. Megan Martha hatte es nun doch ins Land der Träume geschafft, wie ich an ihren regelmäßigen Atemzügen hörte. Plötzlich war sie da. Es gab kein Licht, das langsam heller wurde und aus dem sie sich schälte, es gab kein Geräusch. Sie stand einfach da wie angeknipst – eine weiße, ätherische, leicht durchscheinende Gestalt. Zwischen Schminkkommode und Kleiderschrank stand sie und blickte mich unverwandt an. Ich fuhr erschrocken von der Couch hoch und starrte zurück. Ja, sie war es, ich erkannte sie sofort wieder: das kleine Mädchen von den Bildern, da bestand kein Zweifel. Einen Moment lang glaubte ich, mein Herz müsse stehen bleiben, ich schnappte verzweifelt nach Luft. Das kleine Mädchen sagte plötzlich etwas, ihr Mund formte Worte, aber dies geschah in gespenstischer Lautlosigkeit. Nettes Wortspiel übrigens in diesem Zusammenhang. Es war tatsächlich nicht ein Ton zu hören. Ich versuchte, die Worte von ihren Lippen abzulesen, aber es gelang mir nicht. Plötzlich bewegte sich der Geist des kleinen Mädchens. Sie schwebte zur Balkontür und sah mich auffordernd an. Sie winkte mir sogar. Ich hatte mich etwas beruhigt, sprang von der Couch hoch und näherte mich der Erscheinung vorsichtig. »Wer bist du, Mädchen?«, fragte ich mit kratzender Stimme. »Was willst du von uns?« Ich bemerkte, dass auch Megan Martha wach war und mir gebannt zusah. Als sei dies eine Antwort auf meine Frage, lockte mich das Geistermädchen mit dem Finger. Mit unverändert ernstem Gesicht, ohne nur die geringste Miene zu verziehen. Je mehr ich mich ihr näherte, desto intensiver wurde die Kälte, die sie umgab und die garantiert so wenig von dieser Welt war wie das Geistermädchen selbst. Die Kälte des Todes … Ich schüttelte mich.
Plötzlich war das Kind weg. Doch bereits im nächsten Moment sah ich es unten im Garten zwischen unseren alten Bäumen stehen und hoch winken. Da ich mich im Trainingsanzug auf Megan Marthas Couch gelegt hatte, konnte ich nun sofort aufbrechen. Ich hastete durchs Haus nach unten und verursachte dabei wohl einen Höllenlärm. Ich stürmte durch die Haustür und … Tatsächlich, da stand sie immer noch. Als sie bemerkte, dass ich da war, schwebte sie langsam Richtung Pinienwälder, die sich weitläufig auch hinter unserem Haus erstrecken. Ich hastete hinterher. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass Megan Martha oben auf dem Balkon stand, wunderbar gegen das jetzt erleuchtete Zimmer wahrzunehmen. Und meine geliebte Clara daneben, den Arm um die Schultern unserer Tochter gelegt. Sie hatte ebenfalls wach gelegen. Das Geistermädchen bewegte sich nur so schnell, dass ich gerade folgen konnte. Ich keuchte, hastete über Stock und Stein und knallte der Länge nach hin, weil ich in der Dunkelheit kaum etwas sah. Das tat fürchterlich weh, aber ein Merryweather hat seine Zähne schließlich deswegen, um sie zusammenbeißen zu können. Heute allerdings nicht mehr … Ich konnte kaum noch stehen und musste die Verfolgung aufgeben. Ich fluchte erbittert, als das Geistermädchen die neue Lage bemerkte und sich, zwischen zwei alten Pinien stehend, übergangslos auflöste. War sie enttäuscht? Können Geister überhaupt Gefühle haben? Ich war jedenfalls enttäuscht. Und ich fluchte erneut wie ein Hafenarbeiter in Corpus Christi, weil ich zurückhumpeln musste. Die nächste Nacht wollte ich besser vorbereitet sein. Ich möchte nicht sagen, dass die Sache anfing, mir Spaß zu machen, nein, das sicher nicht. Aber wenn ein Merryweather mal Blut gerochen hat,
dann läuft er auf der Fährte, bis er das Wild erlegt hat. Ich war jedenfalls mehr als neugierig, wohin mich das Geistermädchen führen wollte …
* Den ganzen Morgen lang konnte ich mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren. Meine Gedanken galten dem ganz und gar Unheimlichen, das mich so unversehens aus meiner heilen, fest gefügten Welt gerissen hatte – und der Aussage meiner geliebten Frau Clara, die Stein und Bein schwor, sie hätte ›nicht ein Zipfelchen von der angeblichen Erscheinung‹ gesehen. Sie fragte mich allen Ernstes, ob ich noch ganz richtig im Kopf sei. Meine nächtliche Aufführung sei auf jeden Fall ziemlich grotesk gewesen. Ich weiß, dass meine Clara nicht die Augen vor den Tatsachen verschließt und wenn diese noch so ungewöhnlich sind. Hätte sie das Geistermädchen gesehen, hätte sie sich damit abgefunden – und auch die Fotos nicht mehr als Überblendungen bezeichnet, was sie weiterhin hartnäckig tat. Warum also konnten Megan Martha und ich die kleine, bleiche Gestalt mit dem schneeweißen Gesicht sehen und Clara nicht? Sie hätte sie nämlich sehen müssen, als sie auf dem Balkon neben Megan Martha stand. Unsere Tochter hatte den Geist von dort oben deutlich wahrgenommen und ihre Mutter ein paar Mal darauf hingewiesen. Aber Clara hatte nur verständnislos mit den Schultern gezuckt, wie mir Megan Martha erzählt hatte. Die nächste Nacht nahte mit Riesenschritten und ich wurde immer aufgeregter. Es kostete mich einige Mühe, das zu verbergen und das souveräne Merryweather‐Oberhaupt zu spielen, aber es gelang mir ganz gut.
Gegen die Proteste Claras legte ich mich wieder zu Megan Martha ins Zimmer. Dieses Mal mit Taschenlampe und guten Schuhen ›bewaffnet‹. Clara hatte es empört abgelehnt, ebenfalls im Zimmer ihrer Tochter zu nächtigen. »Damit würde ich ja eingestehen, dass ich an diesen Blödsinn glaube«, hatte sie geschnaubt. Gott sei Dank hatte sie es sich dieses Mal verkniffen, sich über Megan Marthas und meinen Geisteszustand auszulassen. Was sie wirklich dachte, weiß ich bis heute nicht. Egal. Weil ich ungefähr wusste, was auf mich zukommen könnte, war ich lange nicht mehr so aufgeregt wie vergangene Nacht, dafür aber angespannt wie der Bogen eines Hasinai‐Indianers. »Glaubst du auch, dass das Mädchen nicht böse ist?«, fragte Megan Martha in die Dunkelheit hinein. »Ich bin mir sogar sicher«, beruhigte ich sie, obwohl das nicht den Tatsachen entsprach. Denn was ist schon sicher, wenn man es unversehens mit dem Geist eines kleinen toten Mädchens zu tun hat, über dessen Motive man nichts weiß? Ich sehnte die Erscheinung geradezu herbei. Und musste nicht allzu lange warten. Interessanterweise erschien das Geistermädchen wieder, kurz nachdem Megan Martha eingeschlafen war. Wieder stand sie plötzlich neben der Schminkkommode, wieder bestand sie aus diesem ätherischen, leicht durchsichtigen Weiß, das auch ihre Kleider umfasste. Dass sie strohblonde Haare hatte und ein blaues Schürzenkleid trug, konnte ich hier nicht mal erahnen. Ich wusste es aber von den Fotos. Wieder winkte mir die kleine, bleiche Gestalt, das Spiel von gestern Nacht wiederholte sich. Ich konnte sie dieses Mal ein ganzes Stück weiter durch das unwegsame nächtliche Gelände verfolgen.
Mein Bein tat zwar noch etwas weh, aber ich ignorierte den Schmerz. Plötzlich war meine Führerin aus dem Reich der Toten weg und tauchte auch nicht mehr auf. Ich ärgerte mich. War ich einfach zu langsam gewesen? Oder gab es einen anderen Grund? Hing es vielleicht mit meiner Tochter zusammen, in deren Nähe sie immer auftauchte? In der dritten Nacht verfolgte ich ›mein Geistermädchen‹, wie ich sie bereits heimlich nannte, mit dem Auto. Und ich hatte Megan Martha dabei. Tatsächlich konnten wir über gut vier Meilen hinweg an ihr dran bleiben. Immer wieder tauchte sie kurz am Straßenrand der Farm Road 353 auf und war auch im Scheinwerferkegel meines Chevis deutlich zu sehen. Im künstlichen Licht wirkte sie noch bleicher und durchscheinender und ich hatte den Gedanken, dass sie so etwas wie ein Tor in die Welt der Toten war. Gerade dieser Gedanke jagte mir kalten Schauder über den Rücken. Fast hätte ich das Steuer verrissen. Auch Megan Martha starrte bleich und angespannt auf die nächtliche Straße. Immer wieder machte sie mich auf die Geistergestalt aufmerksam, obwohl ich sie selbst längst wahrgenommen hatte. Wie es schien, sahen die anderen Autofahrer, die um diese nachtschlafene Zeit ebenfalls noch unterwegs waren, die Erscheinung nicht. Sie reagierten auf jeden Fall nicht ungewöhnlich. Da Geister auch mal Bestandteil der materiellen Welt waren, müssten sie eigentlich wissen, dass normale Straßenautos Straßen zum Fahren brauchen. Mein Geistermädchen ignorierte diese unabänderliche Tatsache aber urplötzlich und tauchte ein paar hundert Yards abseits der Farm Road im freien Gelände auf. Während man einen normalen Menschen auf diese Distanz in der Dunkelheit nicht mehr hätte sehen können, stand sie dort wie ein
Leuchtfeuer aus diesem überirdischen weißen Licht. »Verdammt!«, quetschte ich zwischen den Zähnen hervor und bremste so stark, dass fast die Hälfte der Reifen auf dem Asphalt kleben blieb. »Komm bitte wieder auf die Straße zurück, Mädchen. So schaffen wir’s nicht.« Sie tat uns den Gefallen nicht. Wir stiegen aus und folgten ihr zu Fuß, kamen aber nicht weit, da hier sehr unwegsames Gelände war. Als das Geistermädchen wahrnahm – mit welchen Sinnen auch immer – dass wir nicht mehr folgen konnten, verschwand es einfach. Als wir zum Wagen zurückkehrten, den wir mit offenen Türen hatten stehen lassen – leichtsinnigerweise, wie ich eingestehen muss – stand ein Polizeiauto dahinter. Sheriff Nathan Tindall erwartete uns und fragte, ob er helfen könne und was hier los sei? Ich redete mich damit heraus, dass wir ein seltsames Tier gesehen hätten und hinterher gelaufen wären. Der gute Nat Tindall glaubte uns nicht, das war ihm anzusehen. Da er mich aber als ehrenwerten, gesetzestreuen Mann kennt, hakte er nicht weiter nach. Wir fuhren zurück. Enttäuscht schlug ich die Faust in die Handfläche. »Ich befürchte, dass wir so nicht weiterkommen. Wir müssen es anders anstellen.« »Aber wie, Daddy?« »Verzweifle nicht, mein Kind, ich habe bereits eine Idee.« Ein Merryweather hat schließlich immer eine Idee …
* Gleich am nächsten Tag ging ich ins örtliche Büro des ›Lone Star‹ und besuchte eine gute alte Freundin.
Mit Dorothy Allison war ich schon zur Schule gegangen und wir hatten uns die ganzen Jahre über nicht aus den Augen verloren. Wir waren gute Freunde, auch wenn ich sie für eine eher mäßige Journalistin hielt. Aber für den Gefallen, den sie mir tun sollte – und den sie mir auch noch schuldete –, war sie gut genug. Ich legte ihr die Fotos mit dem Geistermädchen auf den Tisch und erzählte ihr von Megan Marthas Geburtstagsparty, aber nichts von den anderen nächtlichen Aktionen, das brauchte sie nicht zu wissen. Sie sollte lediglich die Fotos veröffentlichen und den ›Lone‐Star‹‐ Lesern die Frage stellen, ob jemand dieses Mädchen kannte. In der Redaktion war das tote Kind auf jeden Fall nicht bekannt, auch wenn ein Fotograf glaubte, sich dunkel an das Gesicht erinnern zu können. Dorothy Allison, die zwar nicht besonders kompetent aber besonders attraktiv war, tat mir den Gefallen gern. Sogar mehr als das! Sie war so heiß auf die Story, dass ich es anschließend bereute, damit den noch ausstehenden Gefallen eingefordert zu haben. Es wäre nämlich auch so gegangen. Na egal, wir Texaner sind von Natur aus großzügige Menschen. Und ein Merryweather gönnt seinen Freunden doppelt und dreifach etwas. Kommende Nacht schlief Megan Martha bei uns im Schlafzimmer und auch hier besuchte uns das Geistermädchen. Meine Tochter und ich konnten sie sehen, Clara jedoch nicht. Immerhin konnte sie die Kälte spüren, die plötzlich den Raum ausfüllte und das machte sie nachdenklich. Mehr aber auch nicht. Auf jeden Fall ignorierten wir diesmal die Bemühungen des Mädchens, weil es sowieso nichts gebracht hätte, auch wenn es mir schwer fiel. Trotz meiner bleiernen Müdigkeit, die von den letzten drei unruhigen Nächten herrührte, wäre ich am liebsten sofort hinterher gejagt. Der Aufmacher‐Artikel im ›Lone Star‹ am nächsten Tag war der
Hammer. Unter der etwas missverständlichen Schlagzeile ›Geisterkind feiert beim Rechtsanwalt Geburtstag‹ hatte meine liebe Dorothy Allison gleich vier Farbbilder veröffentlicht, auf denen die Erscheinung jeweils gestochen scharf zu sehen war. Überall in der Stadt wurde ich darauf angesprochen – zweimal sogar als Sensationsmacher und Fälscher beschimpft –, aber niemand konnte mir weiterhelfen. Bis abends – ich war noch keine fünf Minuten zu Hause – ein Polizeiauto vorfuhr. Diesem entstiegen San‐Augustine‐Sheriff Nathan Tindall – den Sie ja bereits kennen – und ein grimmig aussehender, groß gewachsener, massiger Mann. Der rückte seinen weißen, breitkrempigen Hut zurecht, nestelte an der blauen Krawatte über dem blütenweißen Hemd und kam dann breitbeinig aufs Haus zu, immer einen Schritt vor Tindall gehend. Die Cowboystiefel, den Pistolengürtel und den Stern an seiner linken Brustseite hätte ich gar nicht mehr sehen müssen, um zu wissen, wer da auf mich zurollte. Was um alles in der Welt will ein Texas Ranger von mir?, dachte ich verblüfft. Und dann auch noch mit dem County‐Sheriff im Schlepptau? Ob Sie mir glauben oder nicht: Dass es mit dem Geistermädchen zusammenhängen könnte, dieser Gedanke kam mir in diesem Moment nicht. Es war aber so. Der Ranger, ein mexikanisch aussehender Typ, stellte sich als Sergeant Rudy C. Jaramillo vor. »Company A aus Houston?«, protzte ich ein wenig mit meinen Kenntnissen, die aber so außergewöhnlich auch wieder nicht waren. Fast jeder Texaner weiß über die Texas Ranger Bescheid, die sich einerseits ihrer 180‐jährigen Tradition verpflichtet fühlen, andererseits aber modernste Mittel äußerst erfolgreich einsetzen, wenn es um die innere Sicherheit von Texas geht. Die Elitetruppe der Texas Ranger, die dem texanischen Department für innere
Sicherheit angehört, ist in Sachen Verbrechensbekämpfung wesentlich erfolgreicher als das FBI und das sage ich nicht nur, weil ich Texaner bin. Die 116 Männer und Frauen sind gewöhnlich hoch motiviert, intelligenter und cleverer als unsereins und in sechs Kompanien überall in Texas stationiert. Für unsere Ecke ist die in Houston stationierte Company A zuständig. Und das war der Grund für meine Frage an Jaramillo. »Company G, San Antonio«, sagte er knapp. »Ich grüße Sie, Mister Merryweather. Dürfen wir reinkommen? Wir müssen Sie dringend sprechen.« Ich runzelte die Stirn. Wenn ich sage, dass die Ranger in sechs Kompanien unterteilt sind, dann stimmt das zwar so weit. Damit habe ich aber die Sondereinheit unterschlagen, die ungeklärte Kapitalverbrechen untersucht und die in San Antonio ihr Hauptquartier hat, also schon ein paar Meilen weg von hier. Jetzt war ich sehr gespannt, warum ein Typ der Company G den weiten Weg auf sich genommen hatte, um mit mir zu reden. Gleichzeitig begann es mir allmählich zu dämmern, wohin das Gespräch steuern könnte, da ich es als Anwalt momentan mit keinem Kapitalverbrechen zu tun hatte. Jaramillo legte denn auch tatsächlich den ›Lone Star‹ von heute auf den Tisch und deutete per Kinn auf die Bilder mit dem Geistermädchen. »Wir waren ziemlich verblüfft, als wir heute morgen diese Bilder zu Gesicht bekamen«, sagte er und tippte nun sogar mit dem Finger darauf. »Und, ich muss es gestehen, Mister Merryweather, auch ein klein wenig entsetzt. Denn bei dem Geisterkind, das Sie da fotografiert haben wollen – ich sage es erst mal ganz vorsichtig – handelt es sich um einen Fall, an dem die Company G arbeitet.« Er lehnte sich zurück und nippte an seinem Wasser, das ihm Clara freundlicherweise hingestellt hatte. Sie war sicherlich ziemlich neugierig. Aber die beiden Gents hatten darum gebeten, mich
alleine sprechen zu dürfen. Jaramillo fixierte mich. »Aus dem Artikel schließe ich, dass Sie keine Ahnung haben, um wen es sich bei der Geistererscheinung handelt?« »Nicht die geringste. Da Sie aber daran arbeiten, Mister Jaramillo, werden Sie es mir sicher gleich sagen.« Er nickte und seine Präsenz füllte den ganzen Raum aus. Ich war schwer beeindruckt. Und Sheriff Tindall wohl auch, das sah man ihm an. »Diese Fotografien sind überaus beeindruckend, Mister Merryweather«, sagte Jaramillo. »Die Originale, die Sie der Zeitung überlassen haben, werden momentan auf ihre Echtheit hin untersucht. Hoffen wir mal, dass Sie sich keinen Scherz erlaubt haben, denn das könnte ziemlich unangenehme Folgen für Sie haben.« »Die sind echt«, sagte ich leicht verunsichert. »Jedenfalls habe ich sie nicht bewusst gefälscht. Sie können gerne auch die anderen untersuchen, ich habe noch eine Menge mehr davon.« Ich stand auf, holte die Bilder und legte sie auf den Tisch. Jaramillo sah sie nur kurz durch und nickte schließlich. »Okay, Mister Merryweather, ich glaube Ihnen erst mal. Bei dem Mädchen, das da so unverhofft auf Ihren Fotos erschienen ist, handelt es sich um die achtjährige Amelie Busch. Das Kind wurde vor etwa sechs Jahren von einem Sexualstraftäter namens James Aider ermordet, etwa 40 Meilen von hier bei Toledo Bend. Die Leiche wurde allerdings bis heute nicht gefunden. Man nimmt an, dass Alder sie in dem ausgedehnten Sumpfgebiet dort beseitigt hat.« Ich nickte und mir wurde auf einmal ganz komisch. »Ja, ich erinnere mich. Und von Aider habe ich erst neulich gelesen. Er soll doch jetzt die Giftspritze bekommen, das Schwein. Und wissen Sie, wann ich das gelesen habe? Während der Geburtstagsparty meiner Tochter, während … während diese Amelie schon um uns herum
war. Oder bei uns. Oder mit uns, wie auch immer. Seltsamer Zufall, oder?« Ich schüttelte mich und meine Arme waren plötzlich von Gänsehaut bedeckt. »Hm«, brummte Jaramillo. »Ob das was zu bedeuten hat? Die Sache ist nämlich die, Mister Merryweather: Aider wurde damals aufgrund zahlreicher Indizien zum Tode verurteilt, die ihn allesamt schwer belasteten. Das Gericht war sich sicher, dass er es getan hat …« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Sie formulieren das so seltsam«, sagte ich, plötzlich hellhörig geworden. »Gut erkannt, Mister Rechtsanwalt.« Er grinste, wurde aber sogleich wieder ernst. »Vor zwei Jahren haben wir einen Kinderporno‐Ring ausgehoben, der im Internet aktiv war. Unter den vielen scheußlichen Kinderfotos war auch eines, das der verschwundenen Amelie Busch verblüffend ähnelt. Wir haben das Gesicht vermessen und noch einige andere Dinge angestellt und sind uns trotzdem nicht sicher. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem Kind um die verschwundene Amelie handelt, ist aber eher größer als kleiner. Deswegen wurde der eigentlich schon abgeschlossene Fall Aider ein Fall für uns. Wir sehen das Verbrechen momentan als ungeklärt an. Der angebliche Mord könnte auch eine Entführung mit Missbrauchsdelikt sein.« »Ich glaub’s nicht«, ächzte ich. »Warum weiß die Öffentlichkeit nichts davon? Und wenn Aider demnächst die Giftspritze bekommt und es stellt sich heraus, dass er doch unschuldig ist …« Nicht dass ich wirklich Mitgefühl gehabt hätte. Selbst wenn Aider diese Amelie nicht ermordet hatte, war er doch ein vorbestrafter Sexualtäter. Und die gehörten alle an die Nadel. »Aider hat eine kleine Chance, demnächst wieder frei zu kommen«, eröffnete Jaramillo. »Das ist in Texas zwar extrem selten, weil im Zweifelsfall lieber mal Unschuldige hingerichtet werden, als dass man einen Mörder entkommen lässt – aber hier könnte es
passieren.« Er grinste schräg. »Wir sind aus ermittlungstaktischen Gründen bisher nicht an die Öffentlichkeit gegangen, Sie wissen ja, wie das läuft. Und stellen Sie sich mal vor: Wir machen der armen Mutter Hoffnungen, die sich dann nicht erfüllen. Grausam wäre das. Trotzdem: Dass Alder demnächst die Spritze bekommt, ist nur eine von uns in die Welt gesetzte Finte. Wir standen im Fall Amelie kurz vor dem Durchbruch, wir waren uns sicher, das betreffende Kind demnächst zu finden und die Zusammenhänge zu klären …« Jaramillo setzte den Hut ab und kratzte sich am Kopf. »Und dann entdeckten wir heute morgen diese Bilder.« »Ich verstehe«, sagte ich. »Wenn ein Geist auftaucht, bedeutet das gewöhnlich, dass den oder die Betreffende das Zeitliche gesegnet hat.« »So könnte man es ausdrücken. Das stürzt mich persönlich in eine schwere Glaubenskrise.« »Glauben Sie denn an Geister?«, fragte ich den Texas Ranger. »Wollen Sie eine ehrliche Antwort, Mister Rechtsanwalt? Nein, ich glaube nicht daran – ich bin mir sicher, dass es sie gibt. Wir hatten bereits entsprechende Fälle zu lösen, auch wenn Ihnen das unwahrscheinlich vorkommen mag.« »Nicht unbedingt«, murmelte ich. »Nicht mehr. Ich bin bekehrt.« Ich weiß nicht, was an Jaramillo war, dass ich unendliches Vertrauen zu ihm gefasst hatte und ihm nun die Geschichte unserer nächtlichen Geisterjagden erzählte. Er lauschte genauso fasziniert wie Tindall. Nun zeigte auch der County‐Sheriff, dass er nicht zu den Begriffsstutzigen gehörte. »Als ich Sie neulich nachts mit Ihrer Tochter angetroffen habe, da waren Sie gerade hinter dieser … Erscheinung her, stimmt’s?« Ich nickte. »Gut kombiniert, Sheriff. Ich beginne zu ahnen, warum man Sie auf diesen Posten gesetzt hat.«
Er warf mir böse Blicke zu, weil der Witz zugegebenermaßen etwas verunglückt war. »Nun würde mich noch interessieren, warum Amelies Geist, nennen wir es einfach mal so, ausgerechnet bei Ihnen auftaucht, Mister Rechtsanwalt«, sagte Jaramillo. »Meines Wissens hatten Sie nie etwas mit dem Fall Aider zu tun. Oder gibt es da Verbindungen, die mir bisher entgangen sind?« Ich schüttelte den Kopf. »Die gibt es nicht, Mister Texas Ranger, Sie sind angemessen informiert. Ich habe mich auch schon gefragt, wieso der Spuk ausgerechnet bei uns hier auftaucht. Ob es etwas mit dem Haus an sich zu tun hat? Etwas anderes kann ich mir momentan nicht vorstellen. Und ich wüsste gar zu gerne, was uns das Mädchen nun eigentlich zeigen will.« »Wissen Sie was?«, fragte Jaramillo. »Ich auch! Also gut. Die Erscheinung, wie sie Tindall zu nennen beliebt, kommt sicherlich wieder. Ich will sie mit eigenen Augen sehen. Vielleicht kann ich ihr ja folgen. Ich habe da etwas mehr Erfahrung als Sie, Mister Rechtsanwalt. Und wenn das nicht geht, will ich sie wenigstens nochmals fotografieren. Mit einem Spezialfilm. Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich heute Nacht hier bleibe?« Es ging völlig in Ordnung. Ein Merryweather würde einen Texas Ranger immer und überall unterstützen. Nun ja, eine Wahl hätte ich sowieso nicht gehabt …
* Um es kurz zu machen: Die Aktion wurde ein Fiasko für Texas Ranger Rudy C. Jaramillo. Mein Geistermädchen tauchte zuverlässig auf, nachdem Megan Martha eingeschlafen war und Jaramillo konnte es tatsächlich fotografieren. Allerdings blind, denn er konnte die Erscheinung, wie
befürchtet, tatsächlich nicht sehen. Und so musste auch die Verfolgung schlussendlich scheitern. Jaramillo wollte aber nicht locker lassen und versprach, übermorgen mit einem Spezialteam wieder anzurücken. Gut, sollte er … Ich selbst hatte nicht vor, so lange zu warten. Zumal ich den Rangern in diesem speziellen Fall nicht viel zutraute. Und so beschloss ich, die Mutter der toten Amelie aufzusuchen. Vielleicht konnte sie mir ja Dinge erzählen, die mir behilflich waren, das Ganze zu verstehen. Megan Martha wollte unbedingt mitkommen und mir war das nur recht. Schließlich schien sie so eine Art Schlüsselfigur zu sein – warum auch immer. Den Namen und die Adresse der Frau holte ich mir aus den damaligen Prozessakten. Und County‐Sheriff Nat Tindall war so freundlich, mir zu bestätigen, dass Deborah Busch ihren Wohnsitz seither nicht gewechselt hatte. Jetzt, da wir unter uns waren, deutete er an, dass er den Texas Ranger Rudy C. Jaramillo am liebsten zum Mond geschossen hätte – weil dieser Mexikaner war. Deswegen vertraute er auch nur mir seine spekulative Version der Geschichte an: Tauchte Amelies Geist etwa deswegen auf, um James Alders Freilassung zu verhindern? Wollte sie so zeigen, dass sie tatsächlich tot war und nicht identisch mit dem Mädchenfoto aus dem Internet? Dass sie doch von Aider ermordet worden war, entgegen der Annahme der Texas Ranger? Das war immerhin interessant und ich gestehe, dass mich Tindalls Worte faszinierten. Nur die Tatsache, dass der Spuk ausgerechnet bei den ehrenwerten Merryweathers auftauchte, konnte auch er nicht plausibel erklären. Trotzdem, ich dachte die ganze Fahrt nach Toledo Bend darüber nach, auch wenn es schwer fiel. Obwohl es früher Abend war, brannte die Sonne noch immer erbarmungslos auf die weiten
Prärien, über die vereinzelt Longhorn‐Herden zogen. In diesem wunderbar hellen Licht zerfaserte jeder Gedanke an Geister fast von selbst. Und doch: Dieses Land hier war einst die Heimat der Hasinai‐ Indianer gewesen, noch lange bevor der selbstständige Staat Texas 1845 von den USA annektiert worden war. Und die Hasinai, speziell der Stamm der Ayish, hatte eine Menge Indianergeister gekannt und diese in schöner Regelmäßigkeit beschworen, wenn man den alten Geschichten glauben durfte. Waren es wirklich nur Geschichten? Oder war mehr dran an den Hasinai‐Geistern? Warum mir das gerade jetzt einfiel, weiß ich nicht. Und ich hätte im Leben nicht vermutet, dass das mit meiner Geschichte zu tun haben könnte. Und doch war es so … Wir erreichten die Adresse, an der wir Deborah Busch finden konnten, ohne Probleme. Das große alte Haus im spanischen Stil stand etwas abseits, gehörte aber trotzdem noch zu dem elenden Kaff, das nicht mehr als zwei Dutzend Häuser aufwies. Hinter dem Anwesen der Buschs erstreckte sich ein ausgedehntes Wald‐ und Sumpfgebiet, in dem wahrscheinlich Amelies Leiche lag – verschwunden auf Nimmerwiedersehen. Ich fröstelte trotz der Hitze. Da ich zuvor angerufen hatte, erwartete uns Deborah Busch bereits. Ich war nicht wenig erstaunt, in der verhärmten, traurig und übernächtigt wirkenden Frau, die einmal sehr hübsch gewesen war, eine alte Bekannte vor mir zu haben. Eher eine flüchtige Bekannte, die ich vor Jahren einmal auf einem Kongress getroffen hatte. Die Welt war eben klein. Auch Deborah Busch erkannte mich auf Anhieb wieder, wie es schien. Auch sie musterte mich eindringlich, dann glitt ein Lächeln über ihre Züge. Sie begrüßte uns zwar herzlich, aber ich bemerkte doch, wie angespannt und hypernervös sie war. Sie bat uns ins Haus.
Ich hatte Deborah bereits telefonisch von den Geburtstagsfotos erzählt und sie konnte es nicht abwarten, sie zu sehen. Den Artikel im ›Lone Star‹ hatte sie nicht gelesen, da sie die Zeitung gar nicht bezog – etwas, das ich kaum verstehen kann, aber die Leute sind eben verschieden. Als Deborah die Fotos sah, starrte sie zuerst wie hypnotisiert darauf, dann fing ihr ganzer Körper an zu beben. Gleich darauf schluchzte sie hemmungslos und erlitt einen regelrechten Weinkrampf. Es kostete uns einige Mühe, sie zu beruhigen. Als sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte, erzählte ich ihr die ganze Geschichte. Ich ließ nichts aus, auch die nächtlichen Erscheinungen nicht. Das schaffte Vertrauen. Und so musste ich Deborah nicht erst mühsam zum Sprechen überreden. Wir verstanden uns und es sprudelte nur so aus ihr heraus. James Alder war vor ungefähr sieben Jahren hierher ins Dorf gezogen. Auf den ersten Blick war er ein netter, freundlicher Junggeselle. »Meine kleine Amelie hatte sich mit Aider befreundet und war oft bei ihm«, fuhr Deborah fort. »Ich sah das nicht sehr gerne, aber das Kind war richtiggehend vernarrt in das Schwein. Außerdem hatte sie hier keine Freunde in ihrem Alter. Und weil Aider es sehr gut mit Kindern konnte, duldete ich es eben. O Gott, warum habe ich nicht auf meine Gefühle gehört?« Sie trocknete vorsichtig ein paar Tränen. »Als dann meine kleine Amelie verschwunden war, begann eine riesige Suchaktion. Die Polizei ging davon aus, dass sich mein Kind im Sumpf verirrt hatte. Aber das habe ich nie geglaubt. Amelie ging niemals in den Sumpf. Dann fand die Polizei schnell heraus, dass James Aider Jahre lang in Alabama gesessen hatte – wegen Kindesmissbrauchs!« Sie blickte mich an, als müsste ich darauf irgendwie reagieren.
Doch da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, schwieg ich. Schließlich erzählte sie: »Die Suchaktion wurde abgeblasen, Aider durch die Mangel gedreht. Der Kerl verwickelte sich umgehend in Widersprüche, als er verhört wurde. Er hatte kein Alibi für den Zeitpunkt ihres Verschwindens. Zudem fand die Polizei einige von Amelies Sachen bei ihm, darunter ihre Lieblingsohrringe, die ich ihr verehrt hatte und die sie niemals hergegeben hätte. Aider behauptete, sie hätte sie ihm geschenkt. Lüge! Aber das hätte ihm noch nicht das Genick gebrochen.« »Ja, ich weiß«, nickte ich mitfühlend. »Ich habe die Akten durchgeblättert. Die Polizei fand ein bisschen von Amelies Blut an einem seiner Hemden.« Sie nickte und starrte auf den Tisch. »Aider wollte sich damit herausreden, das Kind sei mit einer blutenden Wunde zu ihm gekommen, die er verarztet habe. Aber das haben ihm die Geschworenen auf Grund seiner Vergangenheit nicht geglaubt und er wurde zum Tode verurteilt.« Ich nickte erneut und fragte mich, ob Aider wohl frei gekommen wäre, wenn er ein Weißer gewesen wäre. Keine Ahnung. Aber er hätte sicher um einiges bessere Chancen gehabt … Wieder weinte Deborah Busch leise vor sich hin. »Ich bin untröstlich, dass wir die Sache wieder aufgewühlt haben«, entschuldigte ich mich. »Aber ich fand es trotzdem richtig und wichtig, mit dir darüber zu reden.« »Das ist es auch«, erwiderte sie. »Du musst dich also nicht dafür entschuldigen, Ken. Ich … ich muss euch noch etwas sagen. Mir ist Amelies Geist ebenfalls erschienen. Viele Jahre lang. Jede Nacht ist sie in meinen Träumen aufgetaucht oder stand als Geistergestalt in meinem Zimmer. Kommt euch das irgendwie bekannt vor?« Wir starrten Deborah Busch mit offenen Mündern an. »Und?«, fragte ich dann.
»Ich habe gedacht, ich sei über den Tod meiner Tochter psychisch krank geworden und bilde mir das alles nur ein. Ich war deswegen Jahre lang in psychiatrischer Behandlung. Aber … aber mein Kind kam trotzdem jede Nacht zu mir.« »Was hat sie gemacht?«, wollte Megan Martha wissen. »Das Gleiche wie bei euch. Sie hat mich gelockt, so, als wolle sie mir etwas zeigen. Gütiger Herrgott, ich habe niemals auf sie reagiert. Mein Kind war wirklich bei mir. Und ich habe es nicht verstanden …« Sie biss verzweifelt auf die Knöchel ihrer geballten Faust und wurde von einer Flut neuerlicher Weinkrämpfe durchgeschüttelt, gegen die der erste harmlos gewesen war. Sie durfte sich an meiner Brust ausweinen und es ist sicher nicht übertrieben, wenn ich sage, dass ein Merryweather‐Herzschlag so gut wie jede Frau beruhigen kann. »Vor gut vier Wochen besuchte mich meine Amelie dann urplötzlich nicht mehr«, murmelte Deborah unvermittelt. »Wie bitte?« »Ja, nach all den Jahren, in denen sie jede Nacht zu mir gekommen war, blieb sie plötzlich weg. Keine Albträume, keine Geistererscheinungen mehr. Ich war glücklich, weil ich glaubte, endlich wieder ins seelische Gleichgewicht zu kommen. Aber jetzt bin ich nur noch entsetzt. Warum kommt mein Kind nicht mehr zu mir?« »Vier Wochen«, erwiderte ich. »Das ist der Zeitpunkt, an dem sie zum ersten Mal bei Megan Martha aufgetaucht ist.« »Ich hätte eine Bitte an euch«, sagte Deborah Busch. »Tut mir einen großen Gefallen und übernachtet heute bei mir. Vielleicht taucht mein Kind ja dann wieder hier auf. Jetzt, da ich weiß, dass sie real ist, möchte ich sie unbedingt wieder sehen.« Sie ist nicht real, sie ist ein Spuk, dachte ich, sprach es aber nicht laut aus. Stattdessen sagte ich: »Das halte ich für keine schlechte Idee. Ich
denke, wir machen es.« Ich blickte meine geliebte Tochter an. »Ist das okay? Ich schreibe dir auch eine Entschuldigung, wenn du morgen in der Schule fehlst.« Megan Martha lächelte zustimmend …
* In dieser Nacht fingen die Dinge an, sich zu klären. Wir waren alle sehr nervös. Deborah und ich saßen im Sessel, während es sich Megan Martha auf der Couch bequem gemacht hatte. Wir warteten, dass sie endlich einschlief, aber das geschah erst kurz nach drei Uhr nachts. Als ich ihre regelmäßigen Atemzüge hörte, schaute ich angespannt im dunklen Zimmer umher. Deborah war es aber, die ihre tote Tochter zuerst entdeckte. Ich hörte sie neben mir aufkeuchen – und sah den Spuk ebenfalls. Amelie stand draußen auf der Terrasse und drückte ihr totenbleiches Gesicht gegen die Scheibe. So sah es auf jeden Fall aus. Dann lockte sie wieder mit dem Finger und entfernte sich ein Stück. Ich machte Licht. »Amelie, da bist du ja wieder«, schluchzte Deborah mit flehend ausgestreckten Armen und zitterte dabei wie ein kalifornischer Wolkenkratzer bei Erdbeben, »bitte verzeih, dass ich so dumm war. Du willst uns etwas zeigen, nicht wahr, mein armes Kind …« Megan Martha und ich hatten Mühe, an Deborah dranzubleiben, die ihrer toten Tochter mit unglaublicher Energie folgte. Mit unverändert ernstem Gesicht führte uns Amelies Geist gut zwei Meilen über Stock und Stein, weg von den Sümpfen, tief in einen Pinienwald hinein. Da unsere Taschenlampen nur kleine Lichtkegel hatten, war es schwierig, aber dieses Mal konnten wir dranbleiben. Plötzlich stoppte das Geistermädchen abrupt.
Auch wir blieben stehen. Ich keuchte vor Anstrengung. Doch schließlich fasste ich mir als Erster ein Herz und trat näher. Amelie wich nicht zurück. Als ich nur drei Yards von ihr entfernt stand, erfasste mich heiliges Grauen, ich musste mir erst mal den kalten Schweiß von der Stirn wischen. So nahe war ich ihr nie zuvor gewesen, die Kälte, die sie verstrahlte, war noch unheimlicher als sonst. Aber es war eher ihre Nähe, die mich lähmte. Sie deutete auf einen Punkt direkt vor sich. Nur mühsam konnte ich den Blick von ihr abwenden, weil ich zum ersten Mal ihre Züge im Detail sehen konnte – noch im Tode ein hübsches Mädchengesicht. Sollte Aider, der dieses junge Leben ausgelöscht hatte, in der tiefsten Hölle verrecken! Aber ein Merryweather ist auch einer solchen Situation gewachsen und so leuchtete ich den Waldboden vor dem Mädchen ab. Der Lichtkegel riss ein paar alte, verfaulte Bretter aus der Finsternis, die zwischen dem ganzen Unkraut, das hier wucherte, kaum zu sehen waren. Ich erkannte aber, dass sie ein finsteres Loch abdeckten. »Bleibt zurück!«, zischte ich den anderen zu, die sich ebenfalls herangewagt hatten. Deborah wollte sich ihrem toten Kind nähern, aber Amelie ließ es nicht zu. Ich leuchtete unterdessen in das Loch hinein, während mein Herz wie rasend klopfte. Plötzlich erstarrte ich endgültig zu Eis. Noch heute höre ich den eigenen Schreckensschrei in meinen Ohren gellen. Denn im Strahl der Taschenlampe starrte mir das mumifizierte Gesicht eines Kindes entgegen. Auch die Reste einer blauen Kittelschürze brannten sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis. Ganz sicher: Dieses grauenhafte Bild werde ich ein Leben lang nicht
mehr vergessen. Ich ächzte und sank vor Schwäche zu Boden. Alles an mir zitterte. Dabei bemerkte ich, dass sich Amelies ernstes Gesicht plötzlich entspannte und von einem seligen Lächeln überzogen wurde. Und ich schwöre Stein und Bein, dass ich ein zufriedenes, erleichtertes Seufzen hörte, bevor das Schemen plötzlich und ohne Vorwarnung verwehte. Ich hielt die beiden anderen davon ab, ebenfalls in das Loch zu leuchten und rief umgehend Rudy C. Jaramillo an, dessen Nummer ich hatte. Der Texas Ranger schwebte per Helikopter mit einem ganzen Stab von Helfern im Morgengrauen ein. Jaramillo persönlich stieg in das gut zwölf Yards tiefe Loch, das sich als uralter Brunnenschacht herausstellte. Ich durfte der Bergungsaktion zusehen. Im ersten Licht des Tages waren jetzt Einzelheiten zu erkennen. Der Leichnam lehnte, teilweise von Wurzeln überwachsen, in halb sitzender, halb liegender Stellung an der Wand. Das rechte Bein stand unnatürlich ab. »Mindestens drei Mal gebrochen«, hörte ich Jaramillos dumpfe Stimme, nachdem er das tote Kind von allen möglichen Seiten fotografiert hatte. Danach stieg die Spurensicherung ins Grab, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Zwei Stunden dauerte das. Als die Frau des Dreierteams wieder nach oben kam, war sie unglaublich nervös und fahrig. Und das will bei so jemandem wirklich etwas heißen. »Sergeant«, sagte sie leise, »das … das müssen Sie sich ansehen. Es ist richtig gruselig. Wahnsinn …« Sie schüttelte sich. Jaramillo nickte. »Ich hab’s gesehen, ich war bereits unten. Falls Sie’s vergessen haben sollten. Dann mal hoch mit ihr.« »Was ist das?«, flüsterte ich, als ich die sterblichen Überreste auf der Trage vor mir betrachtete. Die tote Amelie hatte nicht nur einen Bleistift in den Fingern
klemmen, unter der blauen Schürze war auch die Ecke eines kleinen Buches sichtbar. Jaramillo fingerte es hervor und blätterte es vorsichtig durch. Er schluckte schwer. »Nicht zu fassen. Das ist das Tagebuch der Kleinen. Ein Wunder, dass es sich nicht aufgelöst hat. Lag wohl ziemlich gut unter der Schürze.« Er zögerte. »Hm, da steht: Liebes Tagebuch, ich bin in das Loch gestürzt und habe schreckliche Angst. Mir ist so kalt. Mein Bein tut so furchtbar weh. Ich will heim zu meiner Mami. Kannst du nicht machen, dass meine Mami mich findet? Oder mein Freund James?« Plötzlich kniff Jaramillo die Augen zu engen Schlitzen zusammen, seine Mundwinkel flatterten. Ungläubig starrte er auf das Buch, dann schluckte er und las stockend weiter. »Liebes Tagebuch, ich bin jetzt nicht mehr ganz alleine. Heute Nacht war plötzlich ein Indianer‐Opa bei mir im Brunnen. Mit Federn im Haar und vielen Falten, er muss mindestens schon dreihundert Jahre alt gewesen sein, so runzlig war der. Er hat so komisch geleuchtet und war durchsichtig. Und er hat gelächelt, aber er wollte kein Wort mit mir sprechen. Schade. Aber er ist ganz lieb, ich habe keine Angst vor ihm. Er hat mich getröstet. Vielleicht kommt er mich wieder besuchen.« Das hatte er wohl getan. Insgesamt drei ›Besuche‹ erwähnte Amelie in ihrem Tagebuch und es klang tröstlich in ihrer ungelenken Ausdrucksweise. »Halluzinationen kurz vor dem Verdursten«, urteilte Jaramillo, aber es klang nicht halb so sachlich, wie er es beabsichtigt hatte. Vielleicht hat Amelie in ihrer kindlichen Fantasie ja das wahre Alter des Indianers ziemlich genau getroffen, dachte ich. Ich glaubte keinen Moment lang an Halluzinationen. Ich glaubte viel eher, dass der Geist eines alten Hasinai‐Medizinmannes der unglücklichen kleinen Amelie beigestanden hatte, als es ans Sterben ging. Und Jaramillo sah die Sache wohl ähnlich, auch wenn sein offizielles Statement
anders klang. Hin und wieder muss auch ein Merryweather weinen und dies war so ein Moment. Es war also ein simpler Unfall gewesen. Dadurch wurde James Aider voll und ganz entlastet. Seither ist Amelie Buschs Geist nie mehr wieder aufgetaucht …
* Zwei Wochen später besuchte ich Deborah Busch, um zu sehen, wie es ihr ging. Sie hatte die Ereignisse besser als erwartet überstanden. Beim Kaffee erzählte ich ihr, wie ich mir die Dinge zusammenreimte. »Ich bin mir sicher, dass Amelie nach ihrem Sturz in den Brunnen vom Geist eines Hasinai‐Medizinmannes besucht worden ist. Die Gegend ist uraltes Indianergebiet, sie hatten hier viele heilige Ecken. Na ja, es könnte doch sein, dass diese Begegnung es dem Geist der toten Amelie ermöglicht hat, selbst den Lebenden zu erscheinen. Vielleicht hat ihr der Indianergeist einen entsprechenden Weg gezeigt. Sie ist dir erschienen, um dich zum Brunnen zu führen. Lange Jahre. Sie hat einfach nicht aufgegeben, auch wenn du nicht reagiert hast. Ich denke, damit wollte sie ihren besten Freund James Aider verzweifelt vor der Giftspritze retten. Ich habe übrigens mit dem bekannten Parapsychologen Peter Ballantine, dessen Name dir sicher auch etwas sagt, darüber gesprochen. Er ist meiner Meinung. Wir denken, dass Amelie die Taktik gewechselt hat, nachdem es wirklich Ernst für Aider wurde und sie sich dir nach wie vor nicht verständlich machen konnte.« Ich lächelte mein überlegenes Lächeln, das mich so ungemein überzeugend machte und dozierte weiter: »Sie wandte sich also von dir ab und tauchte bei der Familie Merryweather auf.«
»Aber warum gerade bei euch?« »Nun, Ballantine meint, dass sich Geister sehr häufig die Verwandtschaft aussuchen, um bei ihr zu spuken. Blut ist eben dicker als Wasser, auch nach dem Ableben. Und es ist nicht selten so, dass nur die direkten Verwandten den Geist sehen können, wegen der verwandten Aura … Sagt Ballantine.« Ich grinste schräg. »Das kommt hier aber alles nicht in Frage. Ballantine schlägt also vor, dass meine Megan Martha in ihrer Pubertät starke meditative Fähigkeiten ausgebildet hat, die Amelies Geist magisch angezogen haben. Über Megan Marthas Träume konnte sich Amelies Geist dann manifestieren, sich aber nur eine gewisse Zeit existent halten. Wahrscheinlich hat auch Amelie selbst eine ziemlich starke Aura gehabt und so wurde sie auf dem Film sichtbar. Das ist schon des Öfteren passiert, sagt Ballantine. Und ich muss wohl auch ziemlich stark medial veranlagt sein, dass ich sie gesehen habe. Wie auch immer, sie muss ein wirklich prachtvolles Mädchen gewesen sein, eins nach meinem Geschmack. Tut alles für ihre Freunde und gibt nicht auf. Diesen Charakterzug habe ich auch und hätte ihn wahnsinnig gerne meiner Tochter vererbt.« »Aber das hast du. Sie war deine Tochter, Ken Merryweather«, sagte Deborah trocken. »Sag bloß, du erinnerst dich nicht mehr an unsere wunderbare Liebesnacht vor vierzehn Jahren …?« ENDE