Geheimnis-Roman Heft-Nr.: 134
Ihr unbekannter Feind Ein Bastei-Geheimnis-Roman von Luanna Churchill
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Geheimnis-Roman Heft-Nr.: 134
Ihr unbekannter Feind Ein Bastei-Geheimnis-Roman von Luanna Churchill
Eigentlich war alles so, wie es sich Marlene immer gewünscht hatte. Ferien in einem romantischen alten Farmhaus. Und das Zimmer mit den alten Gaslampen war wunderschön. Marlene konnte nicht ahnen, daß es für sie zu einer Todesfalle werden würde. Sie hielt es für einen Unfall, als sie durch ausströmendes Gas im Schlaf fast erstickt wäre. Auch die Geräusche, die sie in der Nacht hörte, ängstigten sie zuerst nicht. Jedes alte Haus hatte solche Geräusche. Aber dann erkannte Marlene zu ihrem Entsetzen, daß sie einen Feind hatte, der überall in den Schatten lauerte . . .
Marlene Mahoney wischte ärgerlich die Tränen fort, die sie zu blenden drohten. Schuldbewußt blickte sich die junge Frau im Raum um, um sicherzugehen, daß sie auch allein war. Sie schämte sich ihrer häufigen Anfälle von Selbstmitleid und achtete immer darauf, kein Publikum dabeizuhaben. Ständig diese dumme Heulerei, wo sie sich doch geschworen hatte, stark zu sein! Aber Marlene hatte wirklich nicht damit gerechnet, daß ihre Träume von ewiger Liebe und einem Kind schon so bald zerbrechen würden. Dan hatte kein Recht, ihr so etwas anzutun! Es war schon schlimm genug, entdecken zu müssen, daß der Mann, der geschworen hatte, sie immer zu lieben und zu umsorgen, eine krankhafte Neigung zum Trinken besaß und sich außerdem zu leichtfertigen Frauen hingezogen fühlte. Er mußte sie nicht auch noch wegen ihrer - wie er es nannte puritanischen Vorstellungen auslachen! Zuerst war Marlene so schockiert und wütend gewesen, daß ihre Trennung sie kaum berührt hatte. Aber nachdem die Scheidung rechtskräftig geworden war und sie vor den Scherben ihres jungen Lebens stand, hatte ihr Selbstbewußtsein arg gelitten. Anstatt der liebende Mittelpunkt einer Familie zu sein, wie sie es immer erhofft hatte, war sie zu einer abstoßenden Heulsuse geworden. »Verdammt! Verdammt, dieser Kerl!« stieß Marlene grollend hervor und warf ihren Kugelschreiber wütend in das kleine Heft, das neben der Schreibmaschine lag. Marlene war dankbar für die Position, die sie als Drehbuchautorin beim Fernsehen innehatte. Irgend etwas hatte sie damals davor gewarnt, ihren Job bei Excelsior Enterprises aufzugeben, nachdem sie Dan geheiratet hatte. Kopfschüttelnd starrte Marlene auf die Manuskriptseite, die korrigiert werden mußte. Als sie gerade mit der Arbeit beginnen wollte, flog die Tür auf, und Berthell Daugherty stürmte herein und warf sich in den abgenutzten Sessel neben der Tür. Das Mädchen
streckte die Beine weit von sich und ließ seine Arme kraftlos auf den Sessellehnen herunterhängen. Berthells große braune Augen blitzten vor Ärger, und sogar ihre roten Locken schienen vor Empörung zu zittern. »Was ist bloß los mit mir?« fragte sie wütend. »Nein, rufen Sie uns nicht an; wir melden uns«, zitierte sie spöttisch. »Wozu bezahle ich gutes Geld für einen Agenten, wenn er mir keine Aufträge bringen kann? ! « Marlene Mahoney mußte unwillkürlich lächeln. Berthell Daugherty war die temperamentvolle Achtzehnjährige, mit der sie ihre Wohnung teilte. Sofort nach ihrer Scheidung hatte Marlene sich auf Wohnungssuche begeben und war bei einer Besichtigung diesem hübschen, zierlichen Mädchen begegnet. Auch Berthell suchte eine Wohnung, und da sich die beiden von Anfang an gut verstanden, beschlossen sie schließlich, die Wohnung gemeinsam zu mieten. In Berthells Fall war es eine Frage der Sparsamkeit, aber Marlene suchte vor allem einen Menschen, der ihr Gesellschaft leisten würde. Sie hatte die Scheidung noch nicht soweit verkraftet, um allein leben zu können. Das war vor fünf Monaten gewesen. Berthell, das hatte Marlene schon am ersten Tag ihrer Begegnung festgestellt, war ein Mädchen aus dem Dorf, das einen KleinstadtSchönheitswettbewerb gewonnen hatte. Der erste Preis war eine Statistenrolle in einem Film gewesen, und die Filmgesellschaft bezahlte alle Kosten, einschließlich der Reise von der kleinen Stadt in Ohio nach Los Angeles. Von diesem Moment an wuchs in Berthell der grandiose Traum, ein bekannter Filmstar zu werden, und sie weigerte sich trotz der flehenden Briefe ihrer Großeltern, bei denen sie gelebt hatte, auf die heimatliche Farm zurückzukehren. Das meiste der kleinen Gage, die Berthell für die Statistenrolle erhalten hatte, verwendete sie für ein Zimmer in einem der besseren Hotels. Außerdem beauftragte sie einen Agenten.
Als die Zeit verging, keine Aufträge hereinkamen und ihr Geld immer weniger wurde, überwand Berthell ihren Stolz und nahm eine Stellung in einem Büro an. Sie bearbeitete die Kartei eines großen Kaufhauses und hatte beschlossen, dort zu bleiben, bis eines Tages die große Wende kommen würde, mit der sie fest rechnete. »Also war es wieder ein harter Tag, was?« fragte Marlene mitfühlend und fügte hinzu: »Dort auf dem Fernseher liegt ein Brief für dich. « Berthell vergaß augenblicklich ihre Niedergeschlagenheit. »Ein Brief? Für mich?« fragte sie begeistert. Und dann: »Ach, er ist nur von Grandma«, bemerkte sie ein wenig enttäuscht. »Sie vergißt mich wirklich nie - läßt auch nicht eine Woche vergehen, ohne mir zu schreiben.« Jetzt klang ihre Stimme zärtlich. Berthell schlitzte den Umschlag auf und zog ein Blatt heraus, das mit großer Kinderhand beschrieben war. Berthell lächelte, als sie zu lesen begann. Dann sagte sie zu Marlene: »Auch wenn es dich vielleicht zu Tode langweilt, solltest du das vielleicht hören.« Rasch sagte Marlene: »Ganz im Gegenteil, meine Liebe. Ich teile gern Grandmas Briefe mit dir. Sie schreibt so, daß man das Gefühl hat, neben ihr zu sitzen. Und Farmen haben mich immer schon sehr interessiert. Wenn ich einmal reich und berühmt werden sollte, dann möchte ich mir eine Farm kaufen, auf die ich mich zurückziehen kann, falls es mir in der Stadt zu hektisch wird.« »Also gut, du hast es so gewollt«, erwiderte Berthell lachend. Dann las sie vor: »Ich weiß, daß du das Leben hier sehr langweilig findest nach all der Aufregung dort, aber ich bezweifle, Kleines, daß du so glücklich bist wie wir hier.« Berthell hielt inne und räusperte sich umständlich. Dann blickte sie Marlene an und fragte gespielt gleichmütig: »Wie
würde es dir gefallen, morgens um fünf Uhr aufzustehen?« »Ich vermute, daß ich mich daran gewöhnen könnte«, erwiderte Marlene. »Deine Leute werden wohl mit den Hühnern zu Bett gehen, wie man so sagt.« »Manchmal bleiben sie sogar bis zehn Uhr auf. Wildes Leben, was? Hör dir das an: Wir haben ein neues Kalb und Olive Horn ein neues Baby. Es ist ein Junge, ihr elfter schon, und sie ist noch nicht einmal dreißig. Sie heiratete schon mit dreizehn. Grandpa behauptet immer, es sei eine Muß-Heirat gewesen, aber ich war nie sicher, ob es stimmt. Oh, übrigens kam Jimmy Watts vor kurzem vorbei. Seine Augen glänzen immer noch, wenn er deinen Namen hört. Er hofft, daß du jetzt bald nach Hause kommst.« Marlene lachte leise und fragte: »Du hast also einen Verehrer, der auf deine Heimkehr wartet?« Berthell schürzte verächtlich die Lippen. »Dieser komische Kauz sollte sich lieber einen Bauerntölpel suchen, der ihm den Pflug ziehen kann. Du solltest ihn mal sehen. Er hat Warzen und ein ganz pickeliges Gesicht.« »Was schreibt deine Großmutter sonst noch?« fragte Marlene neugierig. »Sie muß ein wunderbarer Mensch sein, der mit beiden Beinen fest auf der Erde steht - so ähnlich wie die Waltons im Fernsehen.« Berthell zuckte die Achseln und fuhr fort: »Morgen werden wir Apfelbutter machen. Nur so können wir all die Sommeräpfel verbrauchen. Einige Gläser werde ich mit Pflaumen mischen - für dich, meine Kleine. Ich weiß, daß es dein liebster Brotaufstrich ist.« Marlene leckte sich die Lippen und bemerkte: »Es gibt nichts Besseres als ein kräftiges Bauernessen. Vermißt du das eigentlich nicht?« Berthell nickte ernst. »Das ist etwas, was ich tatsächlich sehr vermisse. Wenn ich an Grandmas Pfannkuchen mit echtem
Ahornsirup denke, an ihre selbstgemachten Würste oder den geräucherten Schinken, dann läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Das ist etwas anderes als die Hamburger, mit denen wir uns hier vollstopfen. « »Psst! Soll ich vor deinen Augen verhungern? Ich kann schon an nichts anderes denken«, beklagte sich Marlene lachend. »In ein paar Tagen müssen wir die Miete bezahlen«, erwiderte Berthell mürrisch. »Ich kann meinen Anteil diesmal leider nicht aufbringen, Marlene.« »Mach dir darüber keine Gedanken. Ich bekomme bald Geld«, erwiderte Marlene gutmütig. »Ich weiß, aber ich will dich nicht ausnutzen. Ich glaube, ich werde nie ein Filmstar werden. Deshalb könnte ich auch genausogut dieser widerlichen Stadt den Rücken kehren und nach Hause zurückfahren«, überlegte Berthell traurig. »Dort werde ich wenigstens vermißt, und man hat mich gern.« Sie reichte Marlene den Brief und fügte hinzu: »Hier, lies selbst.« Nachdem Marlene die Zeilen überflogen hatte, bemerkte sie: »Ich frage mich, was wir Stadtmenschen ohne die Leute vom Land anfangen würden.« Berthell sagte abwesend: »Weiß ich auch nicht. Wir würden wohl vor Hunger eingehen.« »Oder lernen, mit Vitaminen und Chemie zu überleben«, erwiderte Marlene lächelnd. Berthell schob das Kinn vor. »Du weißt, daß ich ziemlich stur bin. Ich würde wirklich nur sehr ungern meine Niederlage zugeben und auf die Farm zurückkehren. Ich hatte solche hochgeschraubten Erwartungen, als ich hierherkam, und sieh mich jetzt an! « Marlene runzelte die Stirn. »Kleines, du mußt dir klarmachen, daß Hollywood und Los Angeles voller Mädchen
sind, die an gebrochenem Herzen leiden und ihren verlorenen Träumen nachhängen. Ich habe Glück gehabt, daß mein Talent im Schreiben liegt. Ich würde nur sehr ungern mit all den anderen um miserable Statistenrollen in einem dummen Film anstehen. Das könnte ich nie.« »Wahrscheinlich könnte ich auch eine Weile weiterarbeiten und sehen, was sich tut. Vielleicht kommt noch eine Wende«, sagte Berthell nachdenklich. Dann schüttelte sie resolut den Kopf. »Nein, ich werde das nicht länger mitmachen. Ich fange besser mit dem Packen an. Ich werde zurückgehen, einen langweiligen Bauernsohn heiraten, seine langweiligen Kinder aufziehen und eine langweilige Matrone in einem langweiligen Ort werden«, sagte sie wehmütig. Marlene protestierte. »Der Brief deiner Großmutter hat dich in einem sehr empfindlichen Moment erreicht. Bist du sicher, daß du das Richtige tust, indem zu zurückgehst?« Sie hatte sich an die Gesellschaft des temperamentvollen Mädchens gewöhnt und dachte mit Schrecken daran, daß sie jetzt plötzlich wieder mit ihrer Einsamkeit allein fertigwerden müßte. »Wir können uns nicht so einfach trennen«, protestierte Marlene heftig. »Wenn du es dir vielleicht noch einmal überlegst. . .« »Es hat keinen Sinn«, fiel ihr Berthell ins Wort. »Ich lasse dich nur ungern allein, aber es bleibt mir nichts anderes übrig.« Sie musterte ihre Freundin einen Moment scharf und platzte dann heraus: »Warum fährst du nicht auch nach Hause, Marlene? Sicher wären deine Eltern auch froh, dich wieder bei sich zu haben.« Marlene machte ein wehmütiges Gesicht. »Du wirst wohl auch bemerkt haben, in welchem Ton sie mir schreiben«, sagte sie spöttisch. »Ich bin der letzte Mensch auf der Welt, den sie jetzt bei sich haben wollen. Weißt du, sie leben in einer Kleinstadt in Wisconsin, wo jeder über das Leben der anderen
Bescheid weiß. Sie versuchen immer noch, den Skandal um meine Scheidung zu vertuschen. Sie halten mich für ein zügelloses Frauenzimmer, nur weil mein Mann und ich nicht miteinander ausgekommen sind.« »Oh, wie leid mir das für dich tut«, sagte Berthell bedrückt. Doch dann hellten sich ihre Augen auf, und sie rief begeistert: »Ich weiß! Du kommst einfach mit zu mir nach Hause! Da du deine Arbeit ohnehin per Post abschickst, könntest du ja überall arbeiten. Wer weiß? Vielleicht findest du ja einen unserer Bauerntölpel unwiderstehlich und willst gar nicht mehr fort.« Marlenes Züge verhärteten sich. »Ein Mann ist wirklich das Allerletzte, was ich brauche. Vielen Dank.« »Das glaubst du jetzt«, erwiderte Berthell vernünftig, »aber du bist noch jung und viel zu hübsch, um allein zu bleiben. « Marlene runzelte nachdenklich die Stirn. Natürlich war sie nicht an einem neuen Partner interessiert, aber sie konnte sich auch nicht mit dem Gedanken anfreunden, ganz allein zu leben. Rasch sagte sie: »Ich komme mit dir, vorausgesetzt, daß deine Großeltern einverstanden sind. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie begeistert sein werden. Haben sie Telefon?« »Klar!« Berthells Gesicht strahlte vor Freude, und sofort war sie voller Pläne. »Ich bezahle das Gespräch. Aber rufe sie an und versichere dich, daß sie auch einverstanden sind«, schlug Marlene vor. Berthells Aufregung steckte an und sie hoffte, daß die Großeltern Berthells Plan annehmen würden. Berthell blickte auf ihre Armbanduhr. »Sie werden jetzt alle zu Hause sein. Um diese Zeit essen sie.« Es dauerte zwei Stunden, bis Berthell endlich die Verbindung bekam. Die Großmutter meldete sich am anderen Ende der Leitung und ihre Stimme klang so warm und beruhigend, daß Berthell in Tränen ausbrach. Es stellte sich heraus, daß die Großeltern die Freundin ihres kleinen
Mädchens herzlich willkommen hießen und überglücklich waren, ihre Enkelin bald wiederzusehen. Nachdem Berthell aufgelegt hatte, war sie plötzlich sehr ernüchtert. In den fünf Monaten ihres Zusammenseins hatte sie ihrer Freundin nie von ihrer Familie erzählt. Sie ließ sich in den verschlissenen Sessel fallen und begann zu sprechen. »Weißt du, Marlene, Grandma und Grandpa sind die einzigen Eltern, die ich je gekannt habe. Ihre einzige Tochter war meine Mutter. Sie und Dad begaben sich ein paar Monate nach meiner Geburt auf eine zweite Hochzeitsreise und ließen mich bei meinen Großeltern zurück. Ich erinnere mich natürlich nicht daran, aber ich habe die Geschichte so oft gehört, daß ich alles klar vor mir sehe. « Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Sie kamen gerade nach Hause, nach einer wunderschönen Woche in der Hauptstadt. Sie waren überglücklich, ihr Baby und die Familie wiederzusehen. Sie nahmen den Zug bis Maltville, das etwa achtzehn Meilen von der Farm liegt, mußten dann jedoch einen Pferdewagen mieten, weil ein furchtbarer Sturm wütete. Kein Auto konnte die schlammbedeckten Straßen befahren, und die Schnellstraße wurde erst ein paar Jahre später gebaut. Auf dem Weg waren sie gezwungen, einen Fluß zu überqueren, der bei normalem Wetter völlig unbedeutend war.« Berthell räusperte sich bewegt und erzählte weiter: »Durch den Sturm war das Wasser im Fluß angestiegen, und der Kutscher konnte die Furt nicht sehen. Die Pferde gerieten in ein tiefes Loch, und die Kutsche kippte um. Da es heftig regnete, waren Türen und Fenster verschlossen, und so konnten meine Eltern sich nicht befreien. Dem Fahrer gelang es, ans Ufer zu schwimmen. Später folgten auch die Pferde und zogen die Kutsche hinter sich her. Aber da waren meine Eltern schon ertrunken. Deshalb hängen meine Großeltern so an mir. Ich bin alles, was ihnen von ihrer Tochter geblieben ist. Sie sagen, ich sei das genaue Abbild meiner Mutter.«
Marlene blickte Berthell voller Mitleid an. Berthell sprach mit leiser Stimme weiter: »Berthell, dieser alberne Name, ist eine Verbindung aus den Namen meiner Eltern. Meine Mutter hieß Bertha und mein Vater Russell, und so haben sie mich eben Berthell genannt.« Sie verstummte, und Marlene sagte nach einer Weile: »Ich hatte mich schon gewundert, wie du zu dem Namen gekommen bist. Ich finde ihn schön, und dein Schicksal tut mir sehr leid, Liebes. Aber deinen Worten nach zu urteilen, müssen deine Eltern sehr glücklich miteinander gewesen sein, und du mußt einsehen, daß es für deine Großeltern ein Segen ist, daß du ihnen geblieben bist.« »Das hoffe ich«, sagte Berthell ernst. Dann hellte sich ihr Gesicht auf, und sie rief: »Wann sollen wir abreisen? Wir müssen unsere Reise planen.« »Mein Wagen ist fast neu. Er sollte uns also hinbringen«, schlug Marlene vor. »Ohio, wir kommen!« Sie sprachen bis zum Abend über ihre Fahrt, aufgeregt wie zwei Schulmädchen, die sich auf eine Reise um die Welt vorbereiteten. An diesem Abend erhielt Berthell einen Anruf von ihrem Agenten. An seinem Ton erkannte sie, daß er sie für verzweifelt genug zu halten schien, jede Art von Beschäftigung anzunehmen, solange sie nur etwas mit dem Showgeschäft zu tun hatte. Seine folgenden Worte bestätigten ihren Verdacht. »Ich habe eine tolle Gelegenheit für Sie, Kleines«, sagte er mit verschwörerischer Stimme. »Ginos Bar sucht ein gutaussehendes Go-Go-Girl zum Vortanzen. Ich glaube, Sie sind genau das, was die suchen.« Berthell wie seinen Vorschlag empört ab und informierte ihn kühl, daß sie seine Dienste nicht länger in Anspruch nehmen werde. Sie konnte es sich allerdings nicht verkneifen, eine kleine Lüge anzubringen. Stolz sagte sie: »Man hat mir eine großartige Stellung in
einem Theater in Ohio angeboten. Wissen Sie, ich bin dort nämlich nicht ganz unbekannt.« Als die Mädchen schließlich auf dem Weg nach Ohio waren, überfielen Berthell plötzlich doch Zweifel, ob es richtig war, auf die Farm zurückzukehren. Sie sagte zu Marlene: »Ich werde wohl nie wieder so weit nach Westen kommen. Warum nehmen wir uns also nicht die Zeit, uns auf dem Weg alles anzusehen? Wenn du Geld dazu hast, natürlich nur. Großvater wird dir deine Ausgaben erstatten, sobald wir zu Hause sind.« Marlene vermutete, daß ihre Freundin es doch heimlich bedauerte, die Glitzerstadt Los Angeles für immer verlassen zu müssen, und so erwiderte sie freundlich: »Wer weiß, vielleicht komme ich auch nie wieder hierher. Machen wir also das Beste aus der Reise, was? Ich kann abends an meinen Drehbüchern arbeiten, und was das Geld betrifft, vergiß es, Kind. Es ist mein Dankeschön für all die Monate, in denen du mir Gesellschaft geleistet hast, als ich dich brauchte.« Sie waren noch nicht weit gefahren, als Berthell vorschlug, einen Anhalter mitzunehmen. »Auf keinen Fall!« wehrte Marlene entschieden ab. »Fremde mitzunehmen, ist der beste Weg, ermordet oder beraubt zu werden. Wie fändest du es, brutal zusammengeschlagen und in der Wüste zurückgelassen zu werden?« »Aber er war so jung und hübsch! Er sah wirklich nicht aus, als könnte er etwas Böses tun«, protestierte Berthell. »Er wäre bestimmt auch unterhaltend gewesen. Hast du seine Gitarre gesehen?« Marlene fuhr unbeirrt weiter. »Pretty Boy Floyd, der berühmte Frauenmörder, sah auch sehr gut aus. Wir können das Radio anstellen, wenn wir Unterhaltung haben wollen.« Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als der Wagen plötzlich zu schwimmen begann und nach einer Seite zog. Kein Zweifel, ein Reifen war platt! Marlene bremste und stieg aus.
Berthell maulte: »Wenn wir den Anhalter mitgenommen hätten, dann hätte er uns den Reifen wechseln können.« »Ich habe schon sehr viele Reifen gewechselt«, erwiderte Marlene gleichmütig. »Ach, ich weiß auch, wie es gemacht wird«, sagte Berthell, »aber es wäre mir lieber, wenn es jemand anderer für mich erledigen würde. « Marlene blickte sie streng an. »Komm, Berthell. Wir beide sind jeder Situation gewachsen. Nun, beinahe jeder«, fügte sie hinzu. Nach diesem unerwarteten Aufenthalt beschloß Marlene etwa zweihundert Meilen weiter, für heute haltzumachen. Sie fanden ein kleines, ordentliches Hotel. Marlene verbrachte fast den ganzen Abend in dem hübschen Zimmer und arbeitete an ihrem Drehbuch. Berthell streifte einen Badeanzug über und wollte den Swimmingpool des Hotels testen. Es war erst nach Mitternacht, als Marlene ihre junge Reisegefährtin wiedersah. Sie hatte bei ihrer Arbeit nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Als sie auf die Uhr sah, begann sie, sich um Berthell zu sorgen und wollte sie gerade suchen, als die Tür aufflog und Berthell hereinstürmte. Ihre Worte überschlugen sich, als sie erregt ausrief: »Weißt du, was? Ich habe gerade einen tollen Typ getroffen. Er lebt in Hollywood und ist auf dem Heimweg. Du wirst dir nicht vorstellen können, was er beruflich macht!« »Du wirst es mir sicher sagen«, erwiderte Marlene trocken. »Er ist Gebrauchsgraphiker«, verkündete Berthell mit dramatischem Gesichtsausdruck. »So? Ist das etwas Besonderes?« »Klar! Und weißt du, was? Er stellt Modelle ein - für fünfundzwanzig Dollar die Stunde!« Berthell blickte Marlene triumphierend an.
Marlene nickte weise. »Und er möchte, daß du für ihn Modell stehst?« Berthell kicherte begeistert. »Woher weißt du das?« »Wie viele Stunden in der Woche?« »Das hat er nicht gesagt.« »Das habe ich mir gedacht«, erwiderte Marlene kopfschüttelnd. »Sei vernünftig, Mädchen. Dieser Mann ist vermutlich genausowenig ein Gebrauchsgraphiker wie du und ich!« »Aber er muß viel Geld haben. Er hat mir seinen Cadillac gezeigt«, rief Berthell empört, sofort bereit, ihren neu gewonnenen Freund zu verteidigen. »Woher weißt du, daß es seiner ist? Er könnte irgendeinem Gast des Hotels gehören. Oder vielleicht ist der Wagen sogar gestohlen. « Berthell schnitt eine Grimasse. »Du mißtraust wohl allen Männern, was?« »Nicht allen, Kleines. Nur vielen von ihnen«, erwiderte Marlene ehrlich. »Du könntest natürlich recht haben. Vielleicht hat er mir einfach etwas erzählt«, gab Berthell zu. »Du kämpfst wirklich mit dir, nach Hause zurückzukehren, nicht wahr?« fragte Marlene verständnisvoll. Das jüngere Mädchen nickte langsam. »Sobald ich auf der Farm eintreffe, wird man in der ganzen Umgebung wissen, daß ich in Kalifornien versagt habe.« »Du hast Glück, daß du überhaupt ein Zuhause hast, wohin du zurückkehren kannst«, sagte Marlene ruhig. »Weißt du eigentlich, daß die meisten der Schauspieler, die für das Fernsehen und den Film arbeiten, weniger als zweitausend Dollar im Jahr verdienen?« »Woher weißt du das?«
»Der Vorsitzende der Schauspielergewerkschaft hat es mir erzählt.« Dann fügte sie hinzu: »Ich wette, daß nicht viele Modelle fünfundzwanzig Dollar die Stunde verdienen.« »Wahrscheinlich hast du recht«, gab Berthell mürrisch zu. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Aber meine Leute zu Hause werden sehr beeindruckt sein, wenn sie hören, wie bekannt du beim Fernsehen bist.« Marlene lächelte schwach. »Es gibt Dutzende von Drehbuchschreibern, die wesentlich besser bezahlt werden als ich, obwohl ich nicht klagen kann.« »Meine Großeltern brauchen ja nicht zu wissen, daß du nicht zu den ganz Großen gehörst. He, warum tun wir nicht einfach so, als wäre ich deine Sekretärin?« Sie erwärmte sich für die Idee und fuhr fort: »Ich kann Schreibmaschine schreiben und stenographieren.« »Wie würdest du erklären, daß du kein Gehalt bekommst?« »Dazu werde ich mir schon etwas einfallen lassen.« »Ich kann dir nicht dabei helfen, deine Familie zu belügen, Berthell«, sagte Marlene entschieden. »Okay, dann sage ich ihnen eben die bittere Wahrheit.« Sie preßte fest die Lippen zusammen. »Und noch etwas. Ich werde Zimmer und Verpflegung bezahlen, während ich bei euch bin«, verkündete Marlene entschlossen. »Das werden sie nicht annehmen. Du bist meine Freundin.« »Irgendwie werde ich mich für ihre Gastfreundschaft erkenntlich zeigen.« »Na, hoffentlich denkst du noch so, nachdem du eine Weile bei uns gewesen bist.« Berthell musterte Marlene scharf. »Ich hoffe, daß es dir nichts ausmachen wird, in ein anderes Jahrhundert zurückversetzt zu werden. Und ich verlasse mich darauf, daß du dich nicht vor Gespenstern fürchtest.«
*** Marlene drängte Berthell, ihr zu erklären, was sie mit Gespenstern gemeint hatte. Berthell reagierte schnell, als sie das blasse Gesicht ihrer Freundin sah. »Oh, ich wollte dich nicht erschrecken, Marlene«, rief sie erschrocken. »Grandma wird allmählich alt - sie und Grandpa sind weit über sechzig -, und ich glaube, sie bildet sich gewisse Dinge ein. In einigen ihrer Briefe schrieb sie, sie habe sonderbare Geräusche gehört, und sie erwähnte es auch, bevor ich die Farm verließ. Aber ich habe nicht darauf geachtet. Mach dir keine Gedanken. Wahrscheinlich ist es nicht mehr als die Einbildungskraft einer alten Frau.« Die beiden Mädchen waren über eine Woche unterwegs, bevor sie erschöpft endlich ihr Ziel Maltville erreichten. Berthell zeigte Marlene im Vorüberfahren alles Sehenswerte der kleinen, geschäftigen Kreisstadt. Marlene war beeindruckt. »Wenn es das ist, worüber du gesprochen hast, dann bin ich bereits begeistert«, freute sie sich. »Ich dachte, wir kämen in richtiges Hinterland.« »Laß dich von Maltville nicht irreführen«, warnte Berthell. »Ich gebe zu, daß es ziemlich modern ist. Hier fand der Schönheitswettbewerb statt. Aber bis jetzt hast du noch nichts gesehen. Wenn du Hinterland haben wolltest, keine Sorge, du wirst es schon bald sehen.« »Ich glaube, du übertreibst«, schalt Marlene. »Ich muß ja fast glauben, daß du mich davontreiben willst, bevor wir überhaupt ankommen.« »Du wirst schon sehen«, unkte Berthell. »Vielleicht sollte ich dir ein wenig über die Bewohner von High-Hill-Farm erzählen, damit der Schock nicht zu groß für dich ist.«
»Das wäre nicht schlecht«, stimmte Marlene zu. »Nun, ich beginne am besten mit meinen Großeltern«, sagte Berthell nachdenklich. »Versteh mich bitte nicht falsch, Marlene. Ich liebe sie sehr und würde sie um nichts in der Welt hergeben, aber, weißt du, ich habe mich schon an sie gewöhnt. Grandma ist groß, einen Meter fünfundsiebzig, von sehr kräftiger Statur. Sie kann sehr heftig werden, hat jedoch einen phantastischen Sinn für Humor. Ich glaube, sie hat keine einzige Falte in ihrem runden Gesicht.« »Das hört sich zu schön an, um wahr zu sein«, bemerkte Marlene. »Aber warte - das Merkwürdige ihres Wesens kommt noch. Sie ist schrecklich puritanisch und haßt alles Moderne. Sie trägt ihr graues Haar immer noch mit strengem Mittelscheitel und hat es zu einem Knoten gebunden. Zum Glück ist ihr Haar von Natur aus wellig, und so sieht es nicht zu hausbacken aus. Aber das wäre ihr natürlich gleichgültig. Und ihre Kleider! Sie trägt immer noch bodenlange Hauskleider mit weiten Röcken und langen Schürzen darüber. Und es stört sie gar nicht, wenn ihre Kleider einer Reparatur bedürfen. Sie sieht gewöhnlich so aus, als käme sie direkt aus einem Lumpensack, aber das ist wohl verständlich. Sie kann ja nicht elegant aussehen, wenn sie Großvater so oft auf dem Feld hilft. Sie besitzt für ihr Alter unglaubliche Ausdauer. « »Nun, es ist ihr Heim, warum sollte sie sich nicht so kleiden, wie es ihr gefällt?« fragte Marlene lächelnd. »Zu Hause ist es schon in Ordnung, glaube ich, aber wenn sie ihre Sonntagssachen anzieht, wie sie sie nennt, dann ist es auch ein bodenlanger schwarzer Rock und dazu eine hochgeschlossene weiße Bluse mit Stehkragen. Am Hals trägt sie eine uralte Brosche. Sie sieht aus, als käme sie gerade aus einem Wildwestfilm, aber die Leute im Dorf akzeptieren sie und haben sie sehr gern. « »Und dein Großvater? Ist er mit
ihrer Art, sich zu kleiden, einverstanden?« »Oh, er ist genauso. Zu Hause trägt er meist verschlissene Latzhosen und alte blaue Arbeitshemden. Auf dem Kopf hat er fast immer einen breitrandigen Strohhut, der schon längst auf den Müll gehört. Im Winter vertauscht er ihn mit einer Pelzkappe mit Ohrenklappen, und dazu trägt er eine alte Schafsfelljacke. Er hat einen Bart, und damit sieht er richtig finster aus, aber er ist der sanfteste Mann, den ich mir vorstellen kann. Er ist sehr groß und sehr schlank. Grandma und Grandpa tragen beide altmodische Goldrandbrillen, wie sie zur Zeit Benjamin Franklins getragen wurden.« »Was für ein malerisches Paar müssen sie sein«, sagte Marlene beeindruckt. »Sie besitzen grenzenlose Energie«, fuhr Berthell fort. »Sie tanzen leidenschaftlich gern Volkstänze und nehmen an jedem Fest im Ort teil.« »Hattest du nicht auch von einem Großonkel oder Onkel gesprochen?« fragte Marlene neugierig. »Beides«, erwiderte Berthell. »Grandmas Bruder, Arzy Robinson, lebt auch auf der Farm. Er ist zehn Jahre jünger als Grandma, schmächtig gebaut und hat dünnes rötliches Haar und viele Sommersprossen im Gesicht. Er ist Junggeselle und lebte schon immer bei uns. Früher war er ihnen eine große Hilfe, aber dann hatte er einen Unfall und verlor einen Fuß. Er hat einen künstlichen Fuß, weigert sich jedoch, ihn zu tragen. « »Was meintest du mit >beides