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ICH, MENGSK. GRAHAM MCNEILL Ins Deutsche übertragen von Timothy Stahl DANKSAGUNG Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die an dieser Stelle meinen Dank verdienen, denn ohne sie hätte ich Ich, Mengsk wahrscheinlich nicht geschrieben. Das größte Dankeschön geht zunächst an meine Freunde bei Blizzard Entertainment Mark Gibbons, Andy Chambers und Jay Wilson -, die Chris Metzen mein Loblied sangen, der wiederum so gut war, einem Kerl wie mir die Chance zu geben, Hand an die StarCraft-Legende zu legen. Das eigentliche Schreiben von Ich, Mengsk war eine wahre Freude, was ich größtenteils Evelyn Fredericksen verdanke, die dafür sorgte, dass ich mich auf dem Weg hielt, und die mir dabei mit unbezahlbarem Feedback zur Seite stand. Die Reise eines Romans in die Regale einer Buchhandlung hat gerade erst begonnen, wenn man das Wort „Ende" tippt. Deshalb möchte ich Marco Palmieri danken für seine Geduld und seine Ratschläge während des Lektorats; er verlieh mir den Anschein, ich wüsste, was ich da tue. Danke, Leute, ich hoffe, ich habe euren Welten alle Ehre gemacht. Graham ANFÄNGE Valerian hörte das Klopfen an der Tür, schenkte ihm aber keine Beachtung, sondern konzentrierte sich stattdessen auf den lohfarbenen Portwein, der in dem teuren Glas aus geschliffenem Kristall kreiste, den er zwischen manikürten Fingern hielt. Es klopfte abermals, nachdrücklicher jetzt, und der Klang und das Drängen des Geräuschs verrieten Valerian Mengsk, wer da vor der Tür stand, ohne dass er danach fragen musste.
Er lächelte, während er an seinem Getränk nippte, doch die Regung wirkte heute fehl am Platze in seinem gut aussehenden Gesicht, so fehl am Platze, wie sie in jüngster Zeit übrigens an jedem Tag darin gewirkt hätte. Valerian schmiegte sich in die tiefen Lederpolster des Sessels, genoss die Hitze des Kohlefeuers im Raum und die Wärme des Portweins im Bauch. In den vergangenen Monaten hatte ihm nur sehr wenig Freude bereitet, denn die Zeit war undankbar und schmerzerfüllt gewesen. Der Schmerz war nicht der seine, körperlich jedenfalls nicht, aber es war hart gewesen, seine Mutter leiden zu sehen, während die zehrende Krankheit ihr das Fleisch von den Knochen schmolz und ihren Verstand verblassen ließ. Valerian blickte in seinen Portwein im Glas, ein erlesener Verschnitt mit vollem, dichtem Geschmack, der lange auf der Zunge verweilte und perfekt zum Wildgeflügel passte, das den Gästen serviert wurde, die im Hauptsaal seines Hauses auf ihn warteten. Sein Haus. Die Worte fühlten sich immer noch ungewohnt an, sie saßen noch nicht richtig. Valerian sah von seinem Glas auf, ließ den Blick durch den Raum schweifen und nahm jedes der exquisiten Details in sich auf: die teure Mahagonivertäfelung, die aufwändige Kommunikationseinrichtungen und ausgeklügelte Schutzmaßnahmen gegen elektronische Lauschangriffe verbarg, die seidenen Wandbehänge, die goldgerahmten Porträts und die geschmackvollen Deckenfluter, die den hohen Raum in warmes, angenehmes Licht tauchten. Die Ehrenplätze an den Wänden waren jedoch den vielen Waffen aus Valerians Sammlung vorbehalten, die zwischen den archaischeren Schmuckstücken hingen. Eine Falx mit langer Klinge ruhte auf silbernen Haken, Krummschwerter waren an ihren Parierstangen aufgehängt, und eine Vielzahl von Dolchen und bizarren runden Waffen, deren Klingen aus ledernen Handgriffen ragten, lagen in versteckt angebrachten Halterungen. Vitrinen entlang der Wände enthielten antike Pistolen aus Holz mit goldenen Intarsien und langläufige Musketen, an deren Schulterstützen Batterie-Packs befestigt waren. Eine Marmoreinfassung hielt das knackende Feuer im Zaum, und auf dem Kaminsims stand ein körniges Holo-Foto. Darin schimmerte das geisterhafte Bild einer Frau mit wehmütigen Au-
gen, von der Valerian den Blick geflissentlich abwandte. Er stierte ins Feuer und nippte von seinem Portwein, während sich hinter ihm die Tür öffnete. Nur eine Person würde es wagen, die Räume von Valerian Mengsk unaufgefordert zu betreten. „Hallo, Vater", sagte Valerian. Ein Schatten fiel über ihn. Valerian schaute auf und sah in das strenge, aristokratisch geschnittene Gesicht seines Vaters, das auf ihn herabblickte. Obgleich er das Gesicht von Arcturus Mengsk tausendmal in holografischer Form gesehen hatte, besaß der physische Auftritt seines Vaters eine machtvolle Präsenz, die reine Technik nicht einzufangen vermochte. Charismatisch nannte man das wohl. Arcturus war ein großer Mann, mit kräftigen Schultern und breit in den Hüften. Sein Haar war einmal dunkel gewesen und wies jetzt silberne Strähnen auf. Sein Bart war eher weiß als schwarz, und mochte das Alter an anderen Männern auch zehren, hatte es in Arcturus' Fall die natürliche Gravität und Würde, mit der er ohnehin schon reich gesegnet war, nur verstärkt. Der schwarze Gehrock seines Vaters glich dem des Sohnes und kaschierte die Statur nicht, sondern unterstrich deren Kraft. Goldener Schnurbesatz säumte den Rock, und breite bronzene Epauletten zierten seine Schultern. An seinem Gürtel hingen ein Degen mit Säbelkorb und eine wunderbar gearbeitete Pistole. Aber Valerian wusste, dass es Jahre her war, seit sein Vater Grund hatte, eine dieser Waffen aus Wut zu ziehen. „Ich habe geklopft", sagte Arcturus. „Hast du mich nicht gehört?" „Ich habe dich gehört", antwortete Valerian nickend. „Warum hast du mich dann nicht herein gebeten?" „Ich glaubte nicht, dass du eine Aufforderung zum Eintreten brauchtest, Vater", erwiderte Valerian. „Schließlich bist du der Kaiser, nicht wahr? Seit wann wartet ein Kaiser auf das Gutdünken anderer?" „Ich mag ja der Kaiser sein, Valerian, aber du bist mein Sohn." „Das bin ich", pflichtete Valerian ihm bei. „Jetzt, da es dir passt." „Du bist wütend", stellte Arcturus fest. „Das ist verständlich, nehme ich an. Es ist nur natürlich, sich derlei Dinge wegen unvernünftig zu benehmen."
„Derlei Dinge?", schnappte Valerian, erhob sich aus seinem Sessel und schleuderte das Portweinglas ins Feuer. „Verdammt noch mal, erweise mir wenigstens etwas Respekt!" Das Glas zersplitterte, und das Feuer brüllte auf, als der Alkohol rubinrot in den Flammen verbrannte. „Hast du denn gar keine Gefühle für andere?", schrie Valerian. Kaum waren ihm die Worte über die Lippen gekommen, wurde ihm bewusst, was er gerade gesagt und zu wem er es gesagt hatte. Valerian lachte bitter. „Was rede ich da? Natürlich nicht." Arcturus zeigte sich ungerührt von Valerians Ausbruch und verschränkte nur die Hände hinter dem Rücken. „Das war eine Verschwendung von gutem Portwein", sagte er. „Und eines schönen Glases, wenn ich das recht beurteile. Ich dachte, ich hätte dir beigebracht, wie man seinen Zorn im Zaume hält. Zumal, wenn er keinem Zweck dient." Valerian holte tief Luft, wandte sich von seinem Vater ab und ging zu einer Bar, die in die Wand eingelassen war. Spiegelglas, von einem undurchdringlichen Energiefeld umhüllt, schützte seine kostbaren Maltwhiskys und Portweine vor den Augen potenzieller Giftmischer. Diese Vorsichtsmaßnahme war auf Geheiß seines Vaters installiert worden, da jeder, der sich auch nur ein bisschen mit der Mengsk-Dynastie auskannte, von deren Vorliebe für erlesene Spirituosen wusste. Valerian hielt kurz inne, als er die Hand nach dem versenkten Messingknopf ausstreckte, der das Sicherheitsfeld deaktivierte, und betrachtete sein Spiegelbild. Valerians blondes Haar umspielte ein Gesicht, das so gut aussehend war, dass es an schön grenzte. Seine Züge waren eindeutig die seines Vaters, aber während die von Arcturus scharf geschnitten wirkten, wirkten die von Valerian durch die Gene seiner Mutter ein wenig weichgezeichnet. Volle Lippen und große, wie von Sturmwolken durchzogene Augen, deren Charme die Vögel von den Bäumen holen konnte, saßen in einem edlen Gesicht mit porzellanglatter Haut. Mit seinen einundzwanzig Jahren war er ein attraktiver Mann, und das wusste er, obschon er sorgsam darauf bedacht war, dieses Wissen unter einer Tünche aus Bescheidenheit zu verbergen. Was seine Anziehungskraft auf das andere Geschlecht natürlich nur erhöhte. Er drückte den Daumen auf den Knopf, und der Gen-Leser auf dessen Oberfläche verglich seine DNS mit den stündlich aktuali-
sierten Daten, die im Zentralrechner des Gebäudes gespeichert waren. Mochten ihm die Technologien der modernen Welt auch etwas Alltägliches sein, so verachtete Valerian doch die Vorstellung, dass die Funktion wichtiger sein könnte als die Form der Dinge. Ein leichtes Kräuseln der Luft war das einzige Anzeichen für das Erlöschen des Schutzfelds. Valerian öffnete die Glastür, um zwei neue Gläser einzuschenken. Er selbst entschied sich für einen weiteren lohfarbenen Portwein, für seinen Vater wählte er einen teuren rubinroten Spitzenwein aus. Valerian kehrte an den Kamin zurück, wo sein Vater in einem der beiden Sessel Platz genommen hatte. Seine Säbelkorbwaffe lehnte an der Armstütze. Arcturus nickte dankend, als Valerian ihm das Glas reichte. „Hast du dich etwas beruhigt?", fragte er. „Ja", sagte Valerian. „Gut. Es ziemt sich nicht für einen Mengsk, seine Gedanken offen zur Schau zu stellen." „Nein?" „Nein", sagte Arcturus. „Wenn die Menschen glauben, dich zu kennen, hören sie auf, dich zu fürchten." „Und was ist, wenn ich nicht gefürchtet sein will?", fragte Valerian, faltete die Rockschöße unter sich und setzte sich seinem Vater gegenüber. „Du würdest es vorziehen, geliebt zu werden?", entgegnete Arcturus und nippte von seinem Wein. „Kann man nicht beides sein?" „Nein", antwortete Arcturus. „Und bevor du fragst es ist immer besser, gefürchtet zu werden, als geliebt." „Du musst es ja wissen", meinte Valerian. Arcturus lachte auf, aber es schwang keine Wärme darin. „Ich bin dein Vater, Valerian, und billige Sticheleien werden daran nichts ändern. Ich weiß, dass du mich nicht so liebst, wie ein Vater geliebt werden sollte, aber das kümmert mich nicht sonderlich. Doch wenn du meine Nachfolge antreten sollst, wirst du etwas härter werden müssen." „Und wenn ich deine Nachfolge gar nicht antreten will?" „Unwichtig", versetzte Arcturus. „Du bist ein Mengsk. Wer sonst sollte es tun?" Wut regte sich in Valerian. „Ein Mengsk? Obwohl du mich einen
Bücherwurm genannt hast? Einen weibischen Weichling?" Arcturus winkte ab. „Übereilte Worte, die vor Jahren gesagt wurden", entgegnete er. „Du hast mich eines Besseren belehrt, also vergiss es. Punkte gegen mich zu sammeln, bringt dir nichts." Valerian kaschierte seine Verärgerung über die stoische Gelassenheit seines Vaters, indem er etwas Portwein trank und die aromatische Flüssigkeit erst in seinem Mund verweilen ließ, bevor er schluckte. Er beobachtete Arcturus, der das Schweigen nutzte, um den Blick über die Waffen, die an den Wänden hingen, schweifen zu lassen die einzige Gemeinsamkeit, über die sie sich unterhalten konnten, ohne Gefahr zu laufen, einander zu drohen oder zu grollen. „Du hast dir hier ein schönes Zuhause eingerichtet, Sohn", sagte Arcturus beiläufig. „,Zuhause'?", wiederholte Valerian. „Ich weiß nicht einmal, was dieses Wort bedeutet." Als er die Verwirrung in den Augen seines Vaters sah, fuhr er fort: „Bis vor ein paar Monaten war unser Zuhause einfach dort, wo wir uns gerade niederließen, bevor wir weiterziehen mussten. Von einem zerbröckelndem umojanischen Mond zum anderen. Oder auf eine der wenigen Orbital-Stationen, die die Zerg noch nicht zerstört hatten. Dieses Gefühl kennst du ja sicher, oder?" „Ja", antwortete Arcturus. „Ich hatte es allerdings vergessen. Lange Zeit war die Hyperion mein Zuhause, aber dann, nach allem was mit Jim geschah..." „Was ist mit Korhal IV?", fragte Valerian, der keine weitere Tirade über den Verrat von Jim Raynor über sich ergehen lassen wollte. Während der vergangenen paar Jahre hatte Valerian sich für die Abenteuer Jim Raynors begeistert und den früheren Marshal, der sich als Dorn im Fleische seines Vaters erwiesen hatte, insgeheim bewundert. Arcturus schüttelte den Kopf; es gelang ihm schnell, die Verärgerung über die Unterbrechung zu verhehlen. „Große Teile des Planeten sind wieder bewohnbar, und wir haben vieles von dem, was vernichtet wurde, wieder aufgebaut. Aber nicht einmal ich habe die Macht, den Schaden, den die Konföderation angerichtet hat, in so kurzer Zeit zu beheben. Korhal wird wieder Größe erlangen, daran zweifle ich nicht, aber es wird nie mehr sein, was es einst war."
„Vermutlich nicht", stimmte Valerian zu. „Ich hätte Korhal gerne vor dem Angriff gesehen." „Oh ja, es hätte dir gefallen, glaube ich", sagte Arcturus. „Das Palatine-Forum, die Goldene Bibliothek, das Kriegsfeld, die Sommervilla... ja, es hätte dir gefallen." Valerian beugte sich vor. „Ich möchte mehr über Korhal erfahren", sagte er. „Ich meine, von jemandem, der dort war. Keine trockenen Fakten aus Digi-Wälzern oder Holo-Zines nein, ich will wissen, wie es wirklich war. Von jemandem, der über den Boden Korhals ging und die Luft dieser Welt atmete." Arcturus lächelte und nickte, als habe er eine solche Bitte erwartet. „Na schön, Valerian, ich werde dir von Korhal erzählen, was ich selbst weiß und was ich mir im Laufe der Jahre zusammengereimt habe. Aber ich werde dir mehr als nur das erzählen wenn du klug genug bist, es zu hören." Arcturus stand auf und trank den Rest seines Rotweins. „Was meinst du damit?", hakte Valerian nach. „Die Geschichte von Korhal ist die Geschichte deines Großvaters und davon, was es heißt, ein Mengsk zu sein. Korhal war die Schmiede, in der unsere Dynastie in ihre Form gehämmert wurde, roh und blutig, auf dem Amboss der Historie." Valerian spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. „Ja, das ist es, was ich hören will." Arcturus nickte in Richtung der Frau, die der Holoschnitt auf dem Kaminsims zeigte. „Und ich werde dir von deiner Mutter erzählen." „Von meiner Mutter?" Valerian ging unwillkürlich in Abwehrhaltung. „Ja", sagte Arcturus, während er schon auf die Tür zuging. „Aber zuerst müssen wir sie begraben." BUCH EINS ANGUS 25 Jahre zuvor KAPITEL 1 Die Villa war dunkel, ihre Bewohner schliefen. Von außen wirkte
alles friedlich und still. Verletzlich. Er wusste natürlich, dass dem nicht so war. Ein Netz ineinander verwobener LaserStolperfallen umspannte die Villa. Bewegungsmelder wachten über die hohe Marmormauer, die sich um das Anwesen zog. In die Böden und Wände ringsum, in jede Öffnung waren Erschütterungsanzeiger eingelassen. Es war nicht die teuerste Alarmanlage, die man für Geld kaufen konnte, aber es fehlte nicht viel. Einzudringen in die Mengsksche Sommervilla, ein weiß gestrichener Bau, der auf einer Landzunge aus weißen Klippen thronte und die dunklen Wasser des Meeres überblickte, würde kein leichtes Unterfangen sein. Und die lautlose Gestalt ließ sich Zeit, als sie sich dem äußersten Rand der elektronisch überwachten Zone näherte. Der Scanner am Gürtel des Mannes, ein Gerät, wie es die Prospektoren des Konföderierten Erkundungskorps benutzten, war ein modifiziertes Landvermessungsmodell, ein Schwingungsdetektor, der auf die Wahrnehmung elektromagnetischer Echos von Vespene-Gas eingestellt war. Es war eine Kleinigkeit gewesen, die Sensoren so zu justieren, dass sie die Sicherheitslaser erkannten, und das Display mit der Spezialbrille zu verbinden, hinter der ein Teil seines jungen, gut aussehenden Gesichts verschwand. Damit so ein Gerät funktionierte, musste man die Frequenz der Laser sowie die genaue Mineralzusammensetzung der Kristalle, die sie erzeugten, kennen. Auch das war leicht in Erfahrung zu bringen gewesen von einem der Techniker, die das System erst im vorigen Sommer installiert hatten. Die Brille bleichte die Farben aus allem heraus. Das Mitternachtsblau des Himmels wurde rostfarben wiedergegeben, die Berge im Norden in einem tiefen Bronzeton und der Ozean in glänzendem Rot. Wie ein Meer aus Blut. Die Wände der Villa stellten sich dem Betrachter dunkel dar, die Laser und Sensoren strahlten wie silberne Schnüre, aufgespannt wie die Drähte der Stolperfalle eines Jägers. „Zu leicht", flüsterte er und schalt sich sogleich für die unnötig gesprochenen Worte. Die Gestalt ließ sich auf den Bauch nieder und robbte um die Nordseite der Villa herum. Auf diese Weise mied sie die Straße, die bis nach Styrling führte, und konnte sich im hohen Gras verbergen, das sich in der steifen Brise wiegte, die von der See her
wehte. Das Lasernetz verschob sich in regelmäßigen Intervallen, aber dank vorprogrammierter Algorithmen im Überwachungsgerät würde der Mann bereits einen toten Winkel erreicht haben, wenn das Netz sich verlagerte. Natürlich war kein Algorithmus vollkommen, und es bestand immer die Gefahr, dass er entdeckt wurde, aber er hatte Vertrauen in seine Fähigkeiten und sorgte sich nicht wegen etwaiger Fehler. Tatsächlich war ihm der Gedanke, möglicherweise zu versagen, gar nicht gekommen. Versagen, das war etwas, das anderen Leuten widerfuhr, nicht ihm. Er war gut in dem, was er tat, und er wusste es. Das gab ihm ein Zutrauen, das auf andere übersprang und das es ihm umso leichter machte, immer zu bekommen, was er wollte. Nun, fast immer. Er schob sich näher auf die Villa zu, bewegte sich weiterhin langsam und ohne Hast. Er wusste, dass übertriebene Eile bedeutete, der Katastrophe Tür und Tor zu öffnen, und so brauchte er beinahe zwei Stunden, um bis auf sechs Meter an die Wand heranzukommen. In die Mauervorsprünge waren passive InfrarotBewegungssensoren eingebaut, aber dabei handelte es sich um alte Systeme, die vor fast zehn Jahren installiert wurden und in etwa so hoch entwickelt waren wie jene, die den Magistrat irgendeiner Fringe-Welt schützten. Auf jeden Fall war es nichts, was man zum Schutz der Sommervilla eines der namhaftesten Senatoren Korhals und seiner Familie erwartet hätte. Die Kühlsysteme des schwarzen, hautengen Bodysuits, den die Gestalt trug, machte sie für diese Sensoren unsichtbar. Der Mann hatte dieses Kleidungsstück heimlich aus dem Innenfutter eines Schutzanzugs gefertigt, wie Bergarbeiter sie benutzten, wenn sie Hochtemperatur-Abbaugebiete untersuchten. Er lächelte, als er sich aufrichtete und die Strahlen über ihn hinweg strichen, ohne ihn wahrzunehmen. Wieder verschob sich das Lasernetz, und er erstarrte, als das neue Muster entstand. Er stieß den Atem aus, als er einen flimmernden, haarfeinen Lichtstrahl an seiner Wade sah, und schob sich vorsichtig aus dessen Bahn. Es würde weitere 17,3 Sekunden dauern, ehe das Netz sich abermals verlagerte, und er näherte sich der Wand so weit, dass er nicht riskierte, die Erschütte-
rungsmelder auszulösen. Er befand sich jetzt innerhalb des Lasernetzes, und so lange er sich dicht an der Mauer hielt ohne sie zu berühren -, war er für die Sicherheitsanlage der Villa unsichtbar. Er nahm sich kurz Zeit, um sich zu sammeln, dann pirschte der Mann um das Anwesen herum und auf die Lieferanteneingänge zu. Er erstarrte, als ein Lichtfleck auf den Boden fiel. Eine Tür ging auf. Ein Mann kam heraus, gefolgt von einem anderen, und die Gestalt verspürte einen Anflug von Furcht. Dann zündeten sich die beiden Männer Zigaretten an und begannen zu rauchen und zu plaudern. Die Gestalt atmete aus; ihr Herz hämmerte gegen die Rippen. Küchenpersonal, weiter nichts. Sie entfernten sich von der Tür und suchten hinter einem Anbau Schutz vor der Kälte, und die Gestalt nutzte die günstige Gelegenheit, um sich vorwärts zu schleichen und durch die Tür zu schlüpfen, wo sie die Linsen ihrer Brille hochklappte, als sie die Küche betrat. Wärme kam von den großen, aus Steinen gemauerten Öfen über den Mann. In der Luft hing noch der Geruch des letzten Mahls der Familie Mengsk. Um diese Abendstunde war die Küche leer. Die Köche und Dienstmägde hatten sich bereits zur Ruhe begeben, weil sie früh wieder aufstehen mussten, um das Frühstück zuzubereiten, und der Mann fragte sich kurz, warum die beiden Raucher um diese Zeit noch auf den Beinen waren. Er tat die Angelegenheit als bedeutungslos ab und ging weiter, von der Küche zu der Tür, die in die Haupteingangshalle führte, die er sachte aufdrückte, um in den düsteren Raum zu schauen. Porträts von Angus Mengsks illustren Vorfahren reihten sich an den Wänden, eine Anzahl geschmackvoller Statuetten, Vasen und Waffen, die seine Frau Katherine ausgewählt hatte, waren auf kannelierten Säulen ausgestellt. Im Gegensatz zur Würde dieser Kunstobjekte lagen am Fuß einer mit Teppich belegten Treppe, die zu den Schlafzimmern der Familie hinaufführte, einige Spielsachen verstreut, die Angus' jüngster Tochter Dorothy gehörten. Der Boden war in einem schwarz-weißen Schachbrettmuster gefliest. Die Gestalt verharrte abwartend, als auf der anderen Seite der Halle ein Wachmann eintrat und sich mittels Kehlkopfmikrofon mit seinen Kollegen im Sicherheitsraum in Verbindung setzte.
Angus Mengsk hatte innerhalb der Sommervilla nur eine Handvoll Wächter postiert. Er behauptete, hierher zu kommen, um dem Ärger, den Korhal mit der Konföderation hatte, zu entfliehen nicht um daran erinnert zu werden. Der Wachmann wandte sich von der Eingangstür ab und ging in Richtung des Speisesaals, wo er die Tür hinter sich schloss. Nachdem die Wache verschwunden war, trat die Gestalt rasch in die Eingangshalle und schlich die Treppe empor. Am oberen Ende blieb sie stehen und blickte den breiten Korridor entlang. Das Schlafzimmer, das Angus und Katharine teilten, lag linker Hand, aber die Gestalt bewegte sich in die entgegengesetzte Richtung, auf die Kinderzimmer der Familie zu. Der Boden bestand aus Holz, darauf lagen dicke Teppiche. Die Gestalt setzte ihre Schritte vorsichtig und mied die Stellen des Bodens, wo das Holz, wie sie wusste, knarrte. Vor einer massiven Tür, auf der ein bronzenes „A" prangte, blieb sie stehen und lächelte in sich hinein. Sie legte die Hand auf die Klinke, öffnete die Tür behutsam und huschte ins Zimmer. Der Raum war dunkel. Lange Bänke standen darin, bedeckt mit zerlegten Gerätschaften. Verschiedene Steine waren gekonnt zur Schau gestellt. Gerahmte Bilder von geologischen Strukturen und Felszusammensetzungen hingen an den Wänden, und in dem großen Eisengestellbett zeichneten sich unter einem Laken menschliche Umrisse ab. Als die Gestalt noch einen Schritt ins Zimmer hinein tat, sagte eine Stimme: „Ich nehme an, du hältst das für clever." Der Eingetretene drehte sich um und sah Achton Feld, den Leiter der Schutzbeauftragten der Familie Mengsk, in einem weich gepolsterten Ledersessel in der anderen Ecke des Raumes sitzen. Feld trug eine dunkle Uniformjacke und eine weite Hose, seine Hand ruhte auf dem Griff einer schweren Pistole. Er war groß und kräftig genau so, wie man sich einen Sicherheitsbeauftragten von der Statur her vorstellte. Die Gestalt in Schwarz entspannte sich und zog die Brille ab. Darunter kamen aristokratische Züge zum Vorschein, eine ausgeprägte Kinnpartie sowie die großen, lebhaften grauen Augen eines siebzehnjährigen Jungen. „Ich fand das in der Tat sehr clever von mir", sagte Arcturus Mengsk.
Achton Feld nahm das Landvermessungsgerät kritisch und nicht unbeeindruckt in Augenschein. Da hatte der Junge ein ganz ordentliches Infiltrationspaket zusammengestellt, und Feld würde die Sicherheitsvorkehrungen für die Sommervilla einer sehr gewissenhaften Überprüfung unterziehen müssen. Er legte das Gerät beiseite. Wenn Arcturus so weit kam, wie weit mochte dann erst jemand kommen, der Schlimmeres im Schilde führte? Über die Konsequenzen dieser Möglichkeit wollte Feld gar nicht nachdenken. Die Lage auf Korhal war brisant genug, auch ohne dass Angus Mengsk etwas zustieß. Einen derart offenherzigen Gegner der Konföderation im Bett zu ermorden, wäre ein Schlag, von dem sich die gerade erst flügge werdende Unabhängigkeitsbewegung auf Korhal womöglich nicht mehr erholen würde. „Solltest du nicht auf der Akademie in Styrling sein?" „Mir ist langweilig geworden", sagte Arcturus. Er saß auf der Bettkante, zog die Laken zurück und enthüllte eine Anzahl von Kissen, die so arrangiert waren, dass sie den Eindruck einer menschlichen Gestalt vermittelten. „Die haben mir nichts beigebracht, was ich nicht schon wusste." Das stimmte wahrscheinlich, dachte Feld. Arcturus Mengsk mochte vieles sein, unter anderem ein aufsässiger Teenager und egoistischer Gauner, der so viel Selbstvertrauen besaß, dass es in den Augen mancher Leute schon Hochmut war. Aber er war auch äußerst clever, und er tat sich in allem hervor, worin auch immer er sich versuchte. „Dein Vater wird nicht erfreut sein." „Wann ist er je über etwas, was ich tue, erfreut?", entgegnete" Arcturus. „Einmal Rebell, immer Rebell, wie?", meinte Feld. „Was soll das heißen?" „Nichts. Vergiss es", erwiderte Feld. „Warum bist du in euer eigenes Haus eingebrochen?" Arcturus zuckte die Schultern. „Weil ich wissen wollte, ob es möglich ist, nehme ich an." „Und das ist alles?" „Na ja, vielleicht auch, um meinen Vater zu ärgern." Arcturus lächelte. „Das wird mir nie langweilig." „Oh, ich bezweifle nicht, dass ihn das ärgern wird", sagte Feld. „Gerade jetzt. Und sobald er mich zur Schnecke gemacht hat, wird er sicher auch ein paar Takte mit dir reden wollen."
„Wie hast du es angestellt?", fragte Arcturus. „Wie hast du mich entdeckt? Mit dem Bodysuit war ich unsichtbar für die InfrarotKameras, und ich weiß, dass mich das Lasernetz nicht erwischt hat. Was hat es dir verraten?" „Und warum sollte ich dir das verraten? Wenn überhaupt, sollte ich dich in die Mangel nehmen, um herauszufinden, wie du so weit gekommen bist. Du hattest Hilfe, nicht wahr?" „Nein", sagte der Junge, aber Feld wusste, dass er log. Als Sohn eines Senators war der Junge in vielen politischen Künsten bewandert, und als Wahrheitsverdreher war er fast ebenso geschickt wie ein erfahrener Veteran des Palatine-Forums. Fast, aber nicht ganz. „Ohne Hilfe hättest du nie und nimmer gewusst, wie du dem Lasernetz ausweichen kannst." „Na schön", gab Arcturus zu. „Ich hatte Hilfe. Ich überredete Lon Helian, mir die Laserdaten zu geben, damit ich das Vermessungsgerät so modifizieren konnte, dass die Strahlen sichtbar wurden. Ich machte ihm weis, es sei für ein Schulprojekt." „Dann wird sich Lon Helian morgen früh einen neuen Job suchen müssen." „Ja, das wird er wohl müssen." Wut rührte sich in Feld über Arcturus' mangelnde Sorge um den Mann, dessen Leben er soeben um eines Streiches willen ruiniert hatte, und über das stete Verlangen des Jungen, die Grenzen seiner Fähigkeiten auszuloten. „Komm schon", sagte Arcturus. „Sag's mir. Wie hast du mich gefunden? Mit irgendeinem neuen System, von dem ich nichts weiß? Ein biometrisches Lesegerät? Ein DNS-Scanner?" Feld blickte in das junge, von Eifer geprägte Gesicht und spürte, wie seine Wut sich legte. Angus Mengsks Sohn besaß etwas, das jedermann seinen Zorn auf ihn vergessen und stattdessen mit Wohlwollen auf ihn blicken ließ. Nur sein Vater und seine Mutter schienen gegen seinen Charme gefeit zu sein. „Es war kein neues System, sondern ein altes, das du vergessen hast." „Ein altes System? Welches?" „AA Ziel 1", sagte Feld und nahm das Vermessungsgerät wieder auf. „AA Ziel 1?", wiederholte Arcturus. „Von dem habe ich noch nie gehört. Wird es von LarsCorp gebaut? Nein, warte, es muss von
Gemini sein, hab ich recht?" „Weder noch", antwortete Feld und zeigte auf sein Auge. „Augapfel. Ziel 1. Ich sah dich auf den Überwachungskameras, als du durch die Küche kamst." „Überwachungskameras? Was denn für Überwachungskameras?" „Die neuen Terra-Modell-Überwachungskameras, die dein Vater vorige Woche noch rasch wegen des Besuchs des umojanischen Botschafters installieren ließ." „Wer ist das?" „Interessierst du dich eigentlich für irgendetwas, das in diesem Haus vor sich geht und sich nicht um dich dreht?" „Nicht, wenn es etwas mit meinem Vater zu tun hat. Alles nur Politik und Geschäft, viel zu langweilig, um meine Aufmerksamkeit darauf zu verschwenden", sagte Arcturus. „Also, wer ist hier?" „Ein Mann namens Ailin Pasteur und seine Tochter", antwortete Feld. „Er ist scheinbar eine große Nummer auf Umoja, und er will mit deinem Vater über Handelsbeziehungen reden." Das stimmte nicht ganz, aber Arcturus hatte bislang so wenig Interesse für das Tun des Senators gezeigt, dass Feld sich jetzt nicht mit näheren Erklärungen aufhielt. Weltbewegende Ereignisse waren im Gange, und Arcturus hatte nichts anderes im Sinn, als seinen Vater wütend zu machen und seine Zeit mit seiner Clique von Speichelleckern an der Akademie oder seiner Fels- und Edelsteinsammlung zu verbringen. Nachdem Achton Feld das Vermessungsgerät konfisziert hatte, drehte er sich um und ging zur Tür. „Ach ja, und sag deinen Freunden am besten, dass das Spiel vorbei ist." „Meinen Freunden?", wiederholte Arcturus. „Was meinst du damit?" „Lass es", warnte Feld. „Schick sie einfach nach Hause. Es ist spät, und ich bin zu müde für weiteren Unsinn." „Ehrlich, Feld. Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst." Achton Feld sah den Jungen fest an, blickte hinter die aalglatte Fassade und die Fähigkeit, das Unglaubliche glaubhaft zu machen. Arcturus Mengsk konnte Techniker, die zehn Jahre Erfahrung auf dem Buckel hatten, mit wenigen Worten dazu bringen, die Daten eines Lasernetzes herauszugeben, aber Feld wusste,
dass das, was er jetzt hörte, die ungeschminkte Wahrheit war. Und das hieß... „Verdammt!", fluchte er und aktivierte das Funkgerät an seinem Handgelenk. „Alle Einheiten: Alarmstufe schwarz. Ich wiederhole: Alarmstufe schwarz." Feld wandte sich wieder an Arcturus. „Bleib hier", wies er ihn an. „Und versteck dich." „Was ist denn los?", rief Arcturus, als Feld schon zur Tür rannte. Feld zog seine Pistole und sagte nur: „Eindringlinge." Arcturus sah Feld zur Tür hinaus verschwinden, und es dauerte einen Moment, bis die Bedeutung der Worte des Sicherheitsleiters zu ihm durchdrang. Eindringlinge? Hier? Jetzt wünschte Arcturus, nicht versucht zu haben, sich mit den Sicherheitseinrichtungen im Hause seines Vaters zu messen auf einmal kam es ihm dumm und kindisch impulsiv vor. Dicht auf den Fersen dieses Gedankens folgte der, dass seine Familie wirklich in Gefahr sein mochte, und er spürte, wie sich ein Knoten aus heißer Angst um seinen Magen schlang. Dieses Gefühl ließ sich rasch unterdrücken, und entgegen Felds Anweisung hetzte Arcturus aus seinem Zimmer hinaus auf den Flur. Überall im Haus gingen die Lichter an, und laute Rufe weckten die Wachen auf ihren Posten. Als Türen zu schlagen begannen, fand Arcturus sich vor Unentschlossenheit plötzlich wie angewurzelt dastehen. Der harte Knall eines Pistolenschusses hallte durch den Gang, und der Schrei eines Menschen ließ Arcturus wieder in Bewegung geraten. Er lief den Korridor hinunter und kam schlitternd neben einer Tür zum Stehen, die mit Papierblumen behangen und an deren Holz die Zeichnung eines Ponys befestigt war. Bunte Buchstaben aus Pappe erklärten, dass dies „Dorothys Zimmer" war. Arcturus öffnete die Tür. Das Licht brannte, und er blieb abrupt stehen, als er seine vierjährige Schwester im Bett sitzen sah. Die langen dunklen Locken fielen ihr ungekämmt bis auf die Schultern. Verschlafen rieb sie sich die Augen. Neben ihr im Bett saß ein junges Mädchen, etwa in Arcturus' Alter, dessen blondes Haar wie Honig glänzte und dessen Gesicht so schön war wie sein Anblick hier überraschend. „Wer bist du?", wollte das Mädchen wissen und legte die Arme schützend um Dorothy.
„Das könnte ich dich auch fragen", entgegnete Arcturus. „Was hast du im Zimmer meiner Schwester zu suchen?" „Ich bin Juliana Pasteur", sagte das Mädchen. „Dorothy hat mich gebeten, hierzubleiben und ihr eine Geschichte vorzulesen. Darüber müssen wir wohl beide eingeschlafen sein. Du musst Arcturus sein. Weißt du, was los ist? War das ein Schuss?" „Ja, und ich bin nicht sicher, was genau los ist", sagte Arcturus und eilte zum Bett. „Ich glaube, wir werden angegriffen." „Angegriffen? Von wem?" Arcturus ignorierte die Frage und ging neben dem Bett in die Hocke. „Dotterblümchen", sprach er seine Schwester in ruhigem Ton mit ihrem Spitznamen an, „du musst aufstehen." Beim Klang von Arcturus' Stimme sah Dorothy ihn an, und sein Zorn wuchs, als er die Tränen in ihren Augen sah. Sein Vater und dessen Treiben kümmerten Arcturus nicht sonderlich, aber in seine Schwester war der Junge regelrecht vernarrt. Ihr Lächeln konnte das kälteste Herz zum Schmelzen bringen, und nicht einmal Angus konnte ihr irgendetwas abschlagen. „Wo gehen wir hin?", fragte Dorothy schläfrig. Bevor Arcturus antworten konnte, krachten weitere Schüsse. Dorothy quietschte erschrocken auf. Arcturus sah zu Juliana Pasteur hoch und sagte: „Pass auf sie auf. Ich sehe nach, was da los ist." Juliana nickte und hielt das kleine Mädchen fest umklammert, als die Tür des Zimmers aufplatzte und zwei Leute hereinstürmten. Arcturus sprang hoch, atmete jedoch erleichtert auf, als er sah, dass eine der beiden Personen seine Mutter war. Katherine Mengsk war hoch gewachsen, schön und schlank, aber sie war kein Mauerblümchen, das seine Zeit mit Stickereien und Liederabenden verbrachte. In ihrem Innersten steckte ein Kern aus Neostahl, und angesichts der Gefahr für ihre Kinder gewann diese Qualität die Oberhand. Sie blinzelte, als sie Arcturus hier sah, überwand ihre Überraschung aber binnen eines Herzschlags und zog ihre Kinder rasch an sich, während der Mann neben ihr zu Juliana lief. „Seid ihr in Ordnung?", fragte Katherine. „Arcturus? Dorothy?" „Uns geht's gut, Mutter", sagte Arcturus und löste sich aus ihrer Umarmung. „Wo ist Vater?" Katherine nahm Dorothy auf den Arm. „Er ist bei Achton. Ein paar Männer versuchen, ins Haus zu gelangen, und sie wollen sie
davon abhalten." Draußen wurden weitere Schüsse laut, und Dorothy brach in Tränen aus. Katherine wandte sich an den Mann, der mit ihr ins Zimmer gekommen war, und nickte zu Juliana hin. „Fehlt ihr etwas?" „Sie ist in Ordnung", sagte der Mann. Seine Stimme klang kräftig und angenehm. Arcturus schätzte den Mann auf das Alter seines Vaters, das hieß, er war Mitte vierzig. Seine Sorge um Juliana Pasteur verriet ihn als Ailin Pasteur, und Arcturus fand, dass er für einen Botschafter von einer so wichtigen Welt wie Umoja erstaunlich wenig beeindruckend war. Dünnes graues Haar und ein schwaches Kinn taten das ihre, um Ailin Pasteur zaghaft wirken zu lassen. Aber sein Vater hatte Arcturus schon früh eingetrichtert, dass es, wenn es um Politiker und Männer des Wortes ging, fast immer die scheinbar Harmlosen waren, die einen letztlich zu Fall brachten. „Was ist los, Mutter?", fragte Arcturus. „Werden wir wirklich angegriffen?" „Ja", sagte Katherine nickend. Seine Mutter hielt nichts von Schönreden das war eines der Dinge, die Arcturus an ihr liebte. Ailin Pasteur nahm seine Tochter an der Hand, während Katherine Mengsk sagte: „Wir müssen jetzt in den Schutzraum. Folgt mir und trödelt nicht." Das Knattern von Schnellfeuergewehren brüllte von irgendwo heran. Der Lärm war so laut, dass sich schwer bestimmen ließ, wo er aufbrandete, aber Arcturus war ziemlich sicher, dass er von dieser Etage kam. Er hörte Stiefeltritte und neuerliche Rufe. Arcturus zog ruckartig an der Hand seiner Mutter, als ganz in der Nähe weitere Schüsse fielen. Der Holzrahmen um die Schlafzimmertür zersplitterte unter Gewehrfeuer. Alle schrien und ließen sich zu Boden fallen. Arcturus hielt sich die Ohren zu, während Metall- und Holzteile von der zertrümmerten Tür niederregneten. Ein gewundener silberner Stachel rollte über den Teppich, ein dünner Metallkegel, so dick wie die Spitze seines kleinen Fingers. Arcturus erkannte es sofort: Munition, wie sie aus einem militärischen Sturmgewehr verschossen wurde. Aus einem C-14Gaußgewehr, um genau zu sein. Ein sogenannter Impaler, ein
„Pfähler". Er hörte dumpfe Laute von draußen, und zwei Männer wirbelten durch die Türöffnung. Einer war Achton Feld. Sein Slugthrower rauchte, und aus Wunden an Armen und Brust lief Blut. Der andere Mann war mit dem Impaler bewaffnet. Arcturus erkannte ihn als einen der Security-Leute seines Vaters. Jaq Delor war sein Name. Felds Blick schweifte durch den Raum. Dabei sprach er hastig in sein Schultermikrofon. „Angus, hier ist Feld. Ich hab sie. Wir sind in Dorothys Zimmer." Die Antwort entging Arcturus, weil wieder Schüsse aufbrüllten. Delor beugte sich kurz aus der Tür und feuerte ein paar Schüsse ab. Der Lärm der Waffe war ohrenbetäubend, zumal er sich mit Dorothys schluchzendem Aufschrei vermischte. „Achton", sagte Katherine. „Wo ist mein Mann?" „Unten, er organisiert die Verteidigung, aber er ist auf dem Weg", erwiderte Feld, rammte ein neues Magazin in den Griff seiner Pistole und spannte sie linkisch. „Wir müssen hier raus. In diesem Zimmer sind wir zu angreifbar. Der Schutzraum ist gleich den Gang runter." „Wir können nicht da hinaus!", sagte Ailin Pasteur. „Wir werden sterben." „Wir werden sterben, wenn wir hierbleiben, Ailin", entgegnete Katherine. „Wir haben keine Zeit zum Streiten", warf Feld ein. Der Blutverlust ließ sein Gesicht blass werden. „Sie kommen von zwei Seiten herein. Jaq, wie sieht's aus?" Jaq Delor hob sein Gewehr und spähte zur Tür hinaus, warf Blicke nach links und nach rechts. Er jagte eine Salve ImpalerGeschosse den Flur hinunter, und Arcturus hörte einen Schmerzensschrei. „Jetzt ist die Luft rein", sagte Delor, während der Lärm der Schüsse zunahm. Arcturus verstand einfach nicht, was hier vorging. Er hörte nichts außer einer sinnlosen Kakofonie aus Schreien nach Deckung, Sanitätern und Müttern. Wer gewann diesen Kampf? Wusste das jemand? „Jetzt!", rief Feld. „Los, los!" Feld war als Erster aus dem Raum, die Pistole vorgestreckt, während Delor Katherine, die immer noch Dorothy an sich drück-
te, Ailin Pasteur und Juliana durch die Tür scheuchte. Arcturus ging als Letzter, und Delor blieb bei ihm, als sie den Korridor entlang auf den Schutzraum zu rannten. Der Rauch der Schüsse erfüllte den Gang, und außer dem Boden konnte Arcturus im trüben Licht der flackernden Lampen, die zerschossen worden waren, nicht viel erkennen. Er passierte eine kräftige Gestalt, die am Boden lag, ein Toter mit einem Einschussloch im Hals. Blut spritzte aus dem fransigen Krater in der Kehle des Mannes, und Arcturus würgte ob des grässlichen, verbrannten und metallischen Geruchs des Todes. Ein Stück weiter den Gang hinunter lag noch ein Mann; diesem hatten ImpalerStacheln die Brust zerfetzt. Es sah aus, als sei er entzwei gesägt worden. Delor sicherte nach hinten, während Feld hinkend vorausging in Richtung des Schutzraums, ein befestigtes Schlupfloch in der Mitte des Hauses, ausgestattet mit genug Vorräten für vier Tage und einem Funksystem, mit dessen Hilfe man die Orbitalstationen Korhals erreichen konnte. Angus war gegen den Einbau eines so hässlichen Dings in ihrem Sommerhaus gewesen, hatte dann aber widerstrebend eingewilligt, nachdem ein durchgedrehter Psychopath Senator Nikkos und dessen Familie vor ein paar Jahren im Schlaf überfallen und ermordet hatte. Ein durchgedrehter Psychopath, der heute vermutlich ein neural resozialisierter Marine der Konföderation war. Arcturus stolperte, aber Delor verhinderte, dass er stürzte. Der Schutzraum lag vor ihnen, die Neostahltür stand offen, und kaltes Neonlicht fiel von drinnen heraus. Der verletzte Achton Feld lag zusammengesackt in der Türöffnung. Mit aschfahlem Gesicht versuchte er, seinen Slugthrower gerade zu halten. Hinter Arcturus klangen Rufe auf, drängend und fordernd. Jaq Delor ließ ihn los und kreiselte herum, ging auf ein Knie nieder und brachte das Gewehr hoch. Der Lauf gebar lärmend und leuchtend eine Ladung nach der anderen, und Arcturus schrie auf unter der unvorstellbaren Lautstärke der Waffe. Gaußgeschosse brüllten aus der Mündung, weitere Schmerzensschreie folgten. „Beeilung!", rief Delor. Kaum hatte er diesen letzten Befehl erteilt, wurde Jaq Delor von einer Impaler-Salve getroffen.
Es war, als hätte ihn eine Riesenfaust von der Seite her getroffen und gegen die Wand geschleudert. Blut spritzte auf Arcturus, und er sah entsetzt mit an, wie Delors Kopf haltlos nach vorne sackte, von der Wucht der Impaler-Geschosse beinahe abgetrennt. „Arcturus!", schrie seine Mutter aus dem Schutzraum, aber ihre Stimme erschien ihm blechern und war kaum zu verstehen. Alles, was er hören konnte, waren das letzte raue Keuchen von Delors Atem und das Geräusch, mit dem das Blut aus seinem aufgerissenen Hals schoss. Ohne es bewusst zu wollen, kniete Arcturus nieder und hob das Gewehr auf, das Delor hatte fallen lassen. Er hatte noch nie mit so einer Waffe geschossen, aber er ging davon aus, dass man nichts weiter zu tun brauchte, als sie auf das zu richten, was man töten wollte, und dann abzudrücken. Wie schwer konnte das schon sein? Eine Gestalt löste sich aus dem Rauch, der den Korridor erfüllte, ein bewaffneter Mann in dunkler Militärkleidung, gepanzert und mit einem komischen Helm auf dem Kopf. Eine Anzahl spitzer Auswüchse standen seitlich davon ab, und über dem Gesicht lag ein mattschwarzes Visier, in dem Arcturus sein eigenes Spiegelbild sehen konnte. Das Gewehr lag wie Blei in seinen Händen, aber er hob sie, ohne darüber nachzudenken. Der andere Mann hatte seine Waffe bereits in Anschlag gebracht, und Arcturus wusste, dass er es nicht mehr schaffen würde, selbst abzudrücken, bevor er zerfetzt wurde. Der Gedanke schürte jedoch mehr seine Wut als seine Angst. Bevor der andere schießen konnte, explodierte Arcturus Spiegelbild auf dem Visier des Helmes in einem Nebel aus Plexiglassplittern, Knochen und Hirnmasse. Ein weiterer Schuss traf den Helm des Mannes, dann noch zwei weitere. Der Mann fiel auf die Knie, während Hochgeschwindigkeitsgeschosse ihm Brust und Beine zerrissen. Arcturus drehte sich um und sah, wie seine Mutter auf ihn zumarschierte, Achton Felds Slugthrower in beiden Händen und vorgestreckt. Mit ihrem langen, offenen schwarzen Haar und dem wie ein Umhang flatternden Nachthemd wirkte sie wie eine Kriegerin aus den alten Mythen. Die Waffe donnerte in ihren Händen, und sie hielt nicht einmal
im Schritt inne, wie sie da schoss. Arcturus sah den Mann sterben und ließ das Gaußgewehr fallen, als die Hand seiner Mutter sich um seine Schulter klammerte. Er schaute auf und sah, dass ihr Gesicht vor Wut verzerrt war nicht vor Wut auf Arcturus, sondern auf den Mann, der es gewagt hatte, eines ihrer Kinder zu bedrohen. Katherine zog Arcturus auf die Beine und zerrte ihn regelrecht hinter sich her in den Schutzraum. Mit Ailin Pasteurs Hilfe drückte sie die schwere Tür des Raumes zu, dann gab sie den Schließcode in das Tastenfeld ein, das in die Wand eingelassen war. Arcturus atmete in tiefen Zügen die saubere recycelte Luft ein und spürte, wie seine Hände zitterten, nachdem er dem Tod so nah gekommen war. Er ballte die Fäuste, wütend darüber, dass er seine Schwäche so zeigte, und kämpfte seine Angst mit bloßer Willenskraft nieder. Als er seine Selbstbeherrschung zurückerlangt hatte, schaute er sich um. Achton Feld lag zusammengesackt an einer Wand, Brust und Schulter nichts weiter als klebriges rotes Nass, aber Arcturus konnte nicht erkennen, ob er lebte oder tot war. Juliana saß an der gegenüberliegenden Wand des Schutzraums und hielt Dorothy fest. Arcturus ging zu ihnen. Er strich seiner Schwester übers Haar und lächelte Juliana zuversichtlich an. „Dotterblümchen", sagte er. „Ich bin's. Jetzt sind wir in Sicherheit." Dorothy blickte auf, und Arcturus lächelte und legte jedes Quäntchen Aufrichtigkeit in seine Worte. „Du warst sehr tapfer, Kleines. Jetzt wird uns keiner mehr etwas tun." „Wir sind in Sicherheit?", fragte Dorothy zwischen zwei schniefenden Schluchzern. „Versprichst du mir das?" „Ich verspreche es dir", sagte Arcturus nickend. „Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht. Nie." „Nie und nimmer?" „Nie und nimmer", schwor Arcturus. Nachdem die Tür des Schutzraums versiegelt war, gab es nichts weiter zu tun, als zu warten. Und warten war etwas, das Arcturus Mengsk nicht besonders gut konnte. Er saß im Schneidersitz auf einem Klappbett, Dorothys Kopf ruhte auf seinem Oberschenkel, der Daumen steckte in ihrem Mund, und mit einem Arm um-
klammerte sie ein Stoffpony namens Pontius. Trotz allem, was passiert war, schlief sie tief und fest, und Arcturus fuhr ihr lächelnd mit einer Hand durch ihr dunkles Haar. Wie sich herausstellte, war Achton Feld am Leben, und Arcturus' Mutter tat, was sie konnte, um die Impaler-Wunde an seiner Schulter zu versorgen. Mit ihrem Sinn fürs Praktische, der sie zu einer so herausragenden Matriarchin der Familie Mengsk gemacht hatte, wies Katherine jedem von ihnen Aufgaben zu; zum einen, um sie von der Situation abzulenken, und zum anderen, damit sie etwas wirklich Nützliches taten. Arcturus war angewiesen, auf Juliana und Dorothy aufzupassen, während Ailin Pasteur die Vidkameras im Auge behalten sollte, damit sie sich ein besseres Bild davon machen konnten, was außerhalb des Schutzraums vorging. Der umojanische Botschafter nickte und nahm vor einer Wand aus Monitoren Platz, die eine Vielzahl von Aufnahmen sowohl des Grundstücks als auch aus dem Inneren der Mengskschen Sommervilla zeigte. Es überraschte Arcturus nicht, dass seine Mutter die Verantwortung übernommen hatte, so wenig wie es ihn überraschte, dass Pasteur sich ihr so bereitwillig unterordnete. Katherine Mengsk besaß eine Aura, die absolute Autorität, Zuversicht und Glaubwürdigkeit vermittelte. Auch mit siebzehn war Arcturus schon alt genug, um die Charakterstärke seiner Mutter zu schätzen zu wissen und sich bewusst zu sein, dass sein Vater im Laufe der Zeit gelernt hatte, sie nicht zu unterschätzen. Ohne von Achton Felds Verletzung aufzusehen sagte Katherine: „Ailin, was tut sich da draußen? Können Sie Angus sehen?" Arcturus sah zu, wie Pasteurs Blick über die Bilder vor ihm wanderte leere Gänge, Tote und schwarz gekleidete Gestalten, die verstohlen von einer Deckung zur nächsten huschten. Aber der Botschafter konnte nicht unterscheiden, ob es sich bei den Gestalten um die Angreifer oder Angus' Sicherheitskräfte handelte. Einige Kameras waren ausgefallen, auf den Bildschirmen war nur statisches Geflimmer zu sehen, sodass sich unmöglich sagen ließ, was im Einzelnen geschah. „Im Erdgeschoss halten sich immer noch Männer mit Gewehren auf, aber Angus kann ich nicht sehen, nein." „Dann halten Sie weiter Ausschau", sagte Katherine. Pasteur nickte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Monitore. Katherine stand auf und wischte sich die blutigen Hän-
de an ihrem Nachthemd ab. Das Gesicht seiner Mutter war angespannt und doch schön, und Arcturus lächelte in Erinnerung daran, wie sie über ihm gestanden und aus Felds Waffe geschossen hatte wie sie den Mann tötete, der im Begriff war, ihn zu erschießen. „Deine Mutter wirkt sehr ruhig", sagte Juliana Pasteur neben ihm. „Weiß sie mehr als wir?" Arcturus drehte den Kopf und sah Juliana an. Nun, da etwas Zeit vergangen war, hatte er sie eingehender in Augenschein genommen. Schon als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, fand er sie schön. Aber jetzt, da er sie genauer betrachtete, musste er erkennen, dass er ihr Unrecht getan hatte. Juliana Pasteur war mehr als nur schön sie war absolut umwerfend, und dass sie offenkundig keine Ahnung hatte, wie attraktiv sie war, machte sie noch bezaubernder. Die Mädchen auf der Akademie waren entweder eifrige Politikerinnen, die ihn langweilten, oder von akademischer Art, die zu verführen keine Herausforderung darstellte. Er spürte, dass Juliana zu keinem dieser beiden Lager gehörte. Das Nachthemd schmiegte sich um die Rundungen ihres Körpers, und seine siebzehnjährige Fantasie malte sich aus, wie sie wohl darunter aussah. Er schüttelte das Bild ab, weil ihm klar war, dass dies weder die rechte Zeit noch der passende Ort für derlei Gedanken war. „Meine Mutter ist eine starke Frau", sagte er schließlich. „Meine Mutter wurde krank und starb, als ich noch sehr jung war", erzählte Juliana. „Ich kann mich kaum an sie erinnern." Arcturus vernahm die matte Traurigkeit in ihrer Stimme, wusste jedoch nicht, was er sagen sollte. Mit Trauer konnte er nicht umgehen, weil er nie mitzufühlen vermochte mit jenen, die Verluste zu beklagen hatten. Er fühlte sich unwohl in ihrer Gegenwart. „Das tut mir leid", sagte er deshalb nur. Juliana nickte, scheinbar blind für sein Unbehagen. „Sind wir hier drinnen sicher?", fragte sie. Arcturus nickte, froh darüber, dass ihre Unterhaltung zu einem Thema wechselte, über das er mit einigem Sachverstand sprechen konnte. „Ja, absolut sicher", sagte er. „Die Wände dieses Schutzraums bestehen aus drei Fuß starkem Plast-Beton mit Verstärkungsstreben aus Neostahl. Man brauchte die größten Bohrer der Minen-
Gilde, mindestens einen BDE-1400, um da durchzukommen. Vielleicht sogar den 1600er." „Kennst du dich aus mit diesen Bohrern?" „Ein bisschen", antwortete er, mit genau dem Maß an Bescheidenheit, das ihr klar machte, dass er sich wirklich auskannte mit Bohrern. „Ich habe vor, eines Tages Prospektor zu werden." „Wirst du nicht in die Geschäfte deines Vaters einsteigen?" Arcturus Miene verfinsterte sich bei der Erwähnung seines Vaters. „Nein, nicht, wenn es nach mir geht. Es würde mich nicht überraschen, wenn seine Äußerungen gegen die Konföderation und seine Einmischung in Dinge, die ihn nichts angehen, der Grund wären, warum wir so in der Tinte sitzen." „Was die Konföderation tut, sollte jeden interessieren", meinte Juliana. „Mag sein", erwiderte Arcturus schulterzuckend und schaute zu Ailin Pasteur hinüber, um einen Hinweis darauf zu entdecken, wie die Lage außerhalb des Schutzraums war. „Ich weiß es einfach nicht, und es kümmert mich auch nicht. Ich möchte nur in Ruhe gelassen werden und meinen eigenen Weg in der Galaxie gehen." „Aber wenn die Konföderation so weitermacht wie bisher, dann wird niemand mehr seinen eigenen Weg gehen können." Arcturus blickte abermals hin zu Ailin Pasteur. „Hat dein Vater dir das erzählt?" „Nein, es war dein Vater", gab Juliana kokett zurück. „Dann interessiert es mich noch weniger." „Du bist nicht sehr höflich, was?" „Ich kenne dich nicht", erinnerte Arcturus sie. „Warum also sollte ich dir gegenüber höflich sein?" „Weil selbst Randweltler wissen, dass es sich gehört, Gäste höflich zu behandeln." Er bemerkte die Rötung ihrer Wangen und sah ein, dass sie recht hatte - er war rüde. Und zu einem so schönen Mädchen rüde zu sein kam ihm vor wie das Verhalten eines Wilden, nicht wie das eines Senatorensohns. Arcturus holte tief Luft und ließ sein bezauberndstes Lächeln aufblitzen, jenes, das die Herzen der Mädchen, an denen er auf der Akademie kurzzeitig Interesse fand, zum Schmelzen brachte. „Du hast recht. Ich bin unhöflich, und es tut mir leid. Es war ein... ungewöhnlicher Abend. Normalerweise benehme ich mich nicht so. Ich kann sogar ein ganz angenehmer Gesellschafter sein."
Sie musterte ihn, versuchte die Maske seiner hübschen Aufrichtigkeit zu Fall zu bringen, aber das hatten schon die begehrenswertesten Angehörigen der Oberen Zehntausend von Styrling versucht, und alle waren sie daran gescheitert. Gegen seinen charmanten Blick hatte auch Juliana Pasteur keine Chance. „Entschuldigung angenommen", sagte sie mit einem Lächeln, aber Arcturus wusste, dass sie noch nicht am Haken zappelte. „Du bist eine harte Nuss, wie? Das gefällt mir", sagte er. Nun, da sie ein gewisses Maß an Widerstand gegen seine Schliche gezeigt hatte, interessierte ihn Ailin Pasteurs Tochter noch weitaus mehr als zuvor. „Korhal mag ja eines der Juwelen in der Krone der Konföderation sein, aber Umoja ist auch nicht ohne Kultur und Lebensart." „Ich war noch nie dort", erwiderte Arcturus. „Vielleicht reise ich bald einmal hin wenn dort alle Mädchen so sind wie du." „Sind sie nicht, aber ich glaube, es würde dir dort gefallen." „Da bin ich mir ganz sicher. Würdest du mich herumführen?" „Vielleicht", antwortete Juliana. „Ich könnte dir den Sarengo Canyon zeigen." „Wo der Superträger abstürzte", wusste Arcturus. „Das soll ja ein atemberaubender Anblick sein." „Du machst dir gar keinen Begriff', sagte Juliana. „Nun, wenn wir die Nacht überleben, werde ich dich beim Wort nehmen", versprach Arcturus, und sein leichter Ton nahm der Bemerkung jegliche Gefahr. Juliana lächelte, aber bevor Arcturus weitersprechen konnte, meldete sich Ailin Pasteur zu Wort: „Katherine! Die Tür!" Arcturus schaute zu den Monitoren hinüber, aber die Vidkamera, die den Gang draußen überblickte, war im Kampf zerschossen worden. Aus dem Tastenfeld neben der Tür drang eine Reihe klickender Pieplaute. Katherine beugte sich vor, um die Sequenz in Augenschein zu nehmen, ehe sie ihren eigenen Code eingab. Dieser wurde mit einer weiteren Reihe von Tastenbewegungen von der anderen Seite her beantwortet, auf den wiederum Katherine reagierte. Sie nickte Ailin Pasteur zu, dann tippte sie eine letzte Zeichenfolge ein, die die Schlösser entriegelte. Arcturus verspürte eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung darüber, dass ihre Zeit hier drinnen nun kürzer war als erwartet. Aber er lächelte, als er spürte, wie Juliana nach seiner
Hand griff und sie in nervöser Vorfreude drückte. Die dicke Neostahltür des Schutzraums schwang auf, und Angus Mengsk, Senator von Korhal, Vater von Arcturus und Dorothy und Ehemann von Katherine, trat mit einem ImpalerGewehr in der Armbeuge ein. Angus war von breiter, kraftvoller Statur, sein dunkles Haar zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden, der, genauso wie sein Bart, von silbernen Strähnen durchzogen wurde. Seine Züge waren kräftig, knorrig vom Alter, und unter buschigen Augenbrauen blickte ein kaltes graues Augenpaar hervor. Er schwang das Gewehr über die Schulter und schloss seine Frau fest in die Arme. „Gott sei Dank, ihr seid in Sicherheit", sagte er. „Ich wusste, dass du auf sie Acht geben würdest." „Uns geht es gut", sagte Katherine. „Achton wurde getroffen, aber er wird es überleben. Ist es vorbei?" Angus entließ seine Frau aus der Umarmung und nickte. „Sie sind alle tot, ja." Arcturus schluckte nervös, als er sah, wie sein Vater endlich bemerkte, dass er auf dem Bett saß. Angus löste den Blick von ihm und schüttelte Ailin Pasteur die Hand. Das routinierte Lächeln eines Politikers trat an die Stelle seiner finsteren Miene. „Freut mich zu sehen, dass Sie am Leben sind, alter Freund." „Und Sie auch, Angus", erwiderte Pasteur. „Waren es Konföderierte?" „Vielleicht", antwortete Angus. „Darüber sprechen wir später, ja?" Pasteur nickte, und Angus trat an ihm vorbei, um vor Arcturus stehen zu bleiben. Das Politikerlächeln fiel von seinem Gesicht wie eine abgelegte Maske. „Was im Namen der Väter tust du hier, Junge?", wollte Angus wissen. „Hat man dich schon wieder von der Akademie geworfen?" „Ich freue mich auch, dich zu sehen, Vater", sagte Arcturus. KAPITEL 2 Angus Mengsk schenkte sich aus einer kostbaren Kristallkaraffe
großzügig Brandy ein und trank die bernsteinfarbene Flüssigkeit in einem Zug. Er schloss die Augen und ließ den heißflüssigen Geschmack seine Kehle auskleiden und seinen Magen wärmen, ehe er sich noch ein Glas eingoss. Er hob die Karaffe fragenden Blickes in Ailin Pasteurs Richtung, aber der umojanische Botschafter schüttelte den Kopf. „Nein, danke, Angus." „Ich weiß, Sie trinken nicht, Ailin", sagte Angus. „Aber unter diesen Umständen..." „Ich kann nicht, Angus." „Kommen Sie schon", drängte Angus. „Nur einer. Der wird Sie schon nicht umschmeißen." „Er hat doch gesagt, er möchte nicht", mischte sich Katherine ein, steckte den Stöpsel in den Karaffenhals und funkelte ihren Mann streng an. ,„Nur einen gibt es für mich nicht. Nicht mehr", sagte Pasteur. „Na gut", meinte Angus, zuckte mit den Schultern und ging mit seinem Glas zurück zum Tisch. Nach dem Angriff hatte Angus die Bewohner im Hauptspeisesaal der Sommervilla versammelt. Es handelte sich um einen langen, eichengetäfelten Raum, den ein erlesener Rosenholztisch dominierte, verziert mit geschnitzten pastoralen Szenen aus einem ländlich-idyllischen Korhal, das es wahrscheinlich nie gegeben hatte. Neben der Getränkebar stand ein exquisites Schachspiel, gefertigt aus Jett und Elfenbein. Die Figuren standen wie mitten in einer Partie vergessen; der weiße König war allerdings schachmatt. Angus' Frau nahm am Ende des Tisches neben Dorothy und Ailin Pasteurs Tochter Platz, und er selbst gestattete sich einen Augenblick stummer Erleichterung darüber, dass seinen Mädchen das schlimmste Blutvergießen dieser Nacht erspart geblieben war. Seine Stimmung verdüsterte sich jedoch, als er einen Blick zu Arcturus hinwarf, der mit vor der Brust verschränkten Armen dasaß und dessen Augen sich hartnäckig weigerten, denen seines Vaters zu begegnen. Achton Feld hatte sich aus seinem Krankenbett gequält, um sich ihnen anzuschließen. Der Mann sah furchtbar aus, seine Haut war grau und schmierig von Schweiß. Alle wussten sie, dass er sich besser ausgeruht hätte, aber man musste ihm zugute halten, dass er die Kraft gefunden hatte, teilzunehmen an ihrem Ge-
spräch darüber, was infolge dieser schrecklichen Nacht zu unternehmen sei und wie man die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen solle. Angus schritt an der Längsseite des Tisches entlang, seine Miene war voller Mordlust, seine Augen glühten vor Zorn. „Angus", sagte Katherine. „Setz dich, bevor du ein Loch in den Teppich läufst. Und beruhige dich." „Beruhigen?", explodierte Angus. „Die wollten uns in unserem eigenen Haus umbringen! Bewaffnete Männer kamen in unser Haus und versuchten uns zu ermorden! Ich schwöre, ich werde die Armee ins Palatine-Forum führen und Lennox Craven mit bloßen Händen erwürgen, wenn er etwas mit dieser Sache zu tun hat. Kat, wie, um Himmels willen, könnte ich mich in einer solchen Situation beruhigen?" „Weil du es musst", erwiderte Katherine kategorisch. „Du bist ein Senator Korhals und darfst dir den Luxus heilloser Wut nicht erlauben. Mit Wut erreichst du nichts, sie trübt nur dein Urteilsvermögen. Außerdem weißt du noch gar nicht, wer dahintersteckt. Vielleicht waren es ja nicht Craven und seine konföderierten Schergen." Lennox Craven war der Seniorkonsul des Senats von Korhal, der Mann, dessen Aufgabe es war, dafür Sorge zu tragen, dass der Wille der Konföderation zum Tragen kam und ihre Gesetze befolgt wurden und der einen kontrollierenden Einfluss auf die ihm unterstehenden widerspenstigen Senatoren ausübte. Angus verachtete den Mann, in seinen Augen war er kaum mehr als ein Handlanger der korrupten Alten Familien, die die Konföderation aus dem Verborgenen heraus regierten. Nichtsdestotrotz war Craven ein hervorragender Senator und gewiefter Geschäftsmann, und Angus hatte sich über den Marmorboden des Palatine-Forums hinweg mehr als nur ein hitziges Wortgefecht mit ihm geliefert. Die Familie Mengsk zählte ebenfalls zu den Alten Familien, war sogar eine der ältesten, und Craven wurde nicht müde, Angus daran zu erinnern, dass er dem Establishment, das ihm erst zu solcher Macht und solchem Reichtum verholfen hatte, ins Gesicht spucke. Angus atmete tief durch, nickte, lächelte Katherine zu und trank einen Schluck. „Du hast recht, meine Liebe", sagte er. „Ich muss in Ruhe darüber nachdenken. Achton? Hast du eine Vorstellung, was hier pas-
siert ist? Wer diese Männer waren?" „Profis", antwortete Achton Feld. „Sie waren gut, aber wir wurden rechtzeitig auf sie aufmerksam, dank Arcturus' kleiner Einlage. Ein paar Minuten später und... nun, ich will gar nicht daran denken, was hätte passieren können." „Und wir beide werden uns später über die Sicherheitsvorkehrungen hier unterhalten", versprach Angus und blickte seinen Sohn fest an. „Aber wer waren sie?" Achton Feld nagte kurz an seiner Unterlippe, dann sagte er: „Alles, was ich gesehen habe, lässt mich an eine korporative Todesschwadron denken, eine Black-Ops-Truppe, die Geschäftsrivalen tötet und sich mit Industriespionage, Entführung und so weiter beschäftigt." „Warum sollte es jemand auf Angus abgesehen haben?", fragte Katherine. „Und warum gerade jetzt?" „Vielleicht hat jemand Wind bekommen von den Dingen, die Angus in seiner Abschlussrede vor dem Senat anzusprechen gedenkt?", meinte Pasteur. „Damit werde ich auf jeden Fall für einige Verstimmung sorgen", pflichtete Angus ihm bei. „Aber bis dahin sind es noch Monate", widersprach Katherine. „Und deine geschäftlichen Interessen kommen Korhal nur zugute." „Viele Leute auf Korhal sind durch ihre Geschäfte mit der Konföderation sehr reich geworden", sagte Pasteur. „Viele Organisationen unterhalten Verbindungen sowohl zu Korhal als auch zur Konföderation, und Angus ist im Begriff, ihnen Ärger zu bereiten. Würde die Konföderation von Korhal vertrieben, verlören sie Millionen." „Ich weiß, es ist ziemlich aussichtslos, Achton, aber weisen die Toten irgendetwas auf, das uns verraten könnte, wer sie geschickt hat?", fragte Angus. Feld schüttelte den Kopf. „Bei der Ausrüstung, die sie verwendet haben, handelt es sich um ehemaligen Militärkram, alles Zeug, das man sich problemlos beschaffen kann, wenn man weiß, wo man danach suchen muss. Es sieht aus, als käme es von hier, aber sicher bin ich mir da nicht. Meine Nase sagt etwas anderes." „Und was sagt Ihnen Ihre Nase?", wollte Katherine wissen. „Dass wir es mit etwas Größerem zu tun haben als lediglich einem Konzern, der versucht, an seinen Ersparnissen festzuhalten."
„Wie kommst du darauf?", hakte Angus nach. „Weil all diese Toten Marines sind. Oder zumindest einmal waren." „Marines? Woher weißt du das?" Feld hob die Hand und tippte sich gegen den Nacken. „Sie wurden alle hirnmanipuliert. Alle sechs weisen NeuralResozialisierungsnarben auf." Ailin Pasteur räusperte sich. „Nun, das führt uns natürlich zur Konföderation." „Wahrscheinlich haben Sie recht, Ailin", sagte Angus, „aber es scheint mir selbst für die Konföderation zu plump." „Wirklich? Haben Sie von der Rebellion auf Antiga Prime gehört?" „Nein. Was für eine Rebellion? Auf UNN habe ich nichts darüber gesehen." „Nun, natürlich nicht", meinte Katherine. „Sagst du nicht selbst immer, dass die Alten Familien die Unternehmen kontrollieren, die die Nachrichtensender leiten? Die senden nur, was die Leute sehen sollen, ihre Version der Wahrheit in ZwanzigsekundenHäppchen." „Das ist wohl wahr", erwiderte Angus. „Aber was ist denn nun mit Antiga Prime?" „Ja, also, die Bevölkerung von Andasar City hat offenbar die Miliz der Konföderation rausgeworfen und den örtlichen Magistrat als Geisel genommen. Sie forderten ein Ende der Korruption durch die Konföderation, und ganze Bezirke leisteten ihrem Aufruf Folge, zu den Waffen zu greifen. In der Stadt herrschte praktisch schon eine offene Revolte, aber zwei Tage später landete ein Trupp von Marines unter Lieutenant Nadaner und eroberte die Stadt zurück. Und sie hinterließen keine Überlebenden." „Großer Gott", stöhnte Angus. „Wie viele Tote?" „Das weiß niemand ganz genau, aber meine Quellen sprechen von Tausenden." „Und genau das ist der Grund, weshalb wir hier vorsichtig sein müssen", erinnerte Katherine. „Wenn sich die Konföderation nicht scheut, ein solches Massaker anzurichten, dann schrecken sie gewiss auch nicht davor zurück, einen Senator und seine Familie umzubringen, nicht wahr?" „Aber warum sollten sie resozialisierte Marines schicken?", mischte Arcturus sich ein, den Blick von der Tischplatte hebend.
„Es ist doch ein Leichtes, diese Toten mit der Konföderation in Verbindung zu bringen, oder?" „Weil sie nicht mit einem Fehlschlag rechneten", erklärte Angus und kehrte zu der Kristallkaraffe auf seiner Bar zurück, wo er sich ein weiteres Glas Brandy einschenkte. „Die Befehlsgeber dieser Männer gingen davon aus, dass sie uns alle umbringen und keine eigenen Toten zurücklassen würden. Das nenne ich Hochmut!" „Warum machten sie sich dann die Mühe, ihre Männer wie gedungene Profikiller auftreten zu lassen?", wandte Arcturus ein. „Um ihre Verwicklung in die Sache glaubhaft leugnen zu können", sagte Achton Feld. „Für den Fall, dass die Attentäter in den Aufnahmen irgendeiner Überwachungskamera auftauchen. Konzerngesponserte Morde sind furchtbar, wenn auch nicht wirklich ungewöhnlich, aber wenn herauskäme, dass die Konföderation hinter der Ermordung eines prominenten Senators steckt..." „Auf dem ganzen Planeten würde eine Revolte ausbrechen", führte Katharine den Satz zu Ende. Angus lachte humorlos. „Da wünsche ich mir ja fast, dass sie mich erwischt hätten." „Sag so was nicht!", versetzte Katharine. „Niemals." „Verzeih, meine Liebe", bat Angus, blieb hinter seiner Frau stehen und küsste sie auf die Wange. „Ich hab's nicht so gemeint, aber ich habe das Gefühl, es wird eines schrecklichen Opfers bedürfen, um die Konföderation in die Knie zu zwingen. Wir werden sie nicht über Nacht schlagen, aber wir werden sie schlagen, und ich sage euch, wie." Abermals schritt Angus am Tisch entlang, während er redete und seine Stimme dabei zu jenem vollen Bariton wandelte, in dem er vor dem Forum sprach. „Ihre Arroganz wird ihnen zum Verhängnis werden. Sie glauben, sie könnten unmöglich etwas falsch machen, und wenn man das glaubt, begeht man Fehler. Mein Vater sagte einmal, wenn du nichts weiter als einen Hammer hast, dann sieht auf einmal alles wie ein Nagel aus." Angus hielt inne und wandte sich seinem Publikum zu. „Wir werden ihnen zeigen, was passiert, wenn der Nagel zurückschlägt." Der Speisesaal war leer, bis auf Angus und Arcturus, und über den beiden lag unbehagliche Stille, während der ältere Mengsk Brandy in zwei Schwenker goss. Mit beiden Gläsern in den Hän-
den ging Angus dorthin, wo sein Sohn saß, und reichte ihm eines davon. Arcturus blickte misstrauisch auf das Glas. Er wollte unübersehbar danach greifen, wusste aber nicht recht, ob er sollte oder nicht. „Mach schon, nimm es", sagte Angus. „Ich weiß, dass du eigentlich zu jung dafür bist, aber nach so einer Nacht kommt es darauf ja wohl kaum an, oder? Das ist etwas, das du dir hinter die Ohren schreiben kannst: Entscheide, auf was es ankommt und auf was nicht. Handle nach dem, was zählt, und vergiss den Rest." Arcturus nahm das Glas und schnupperte zaghaft an dem erlesenen Getränk. Die Stärke des Dufts ließ ihn die Nase rümpfen. Er nippte probeweise. Seine Augen weiteten sich, aber er schaffte es, ein Husten zu unterdrücken, und Angus spürte, wie seine Wut von ihm abließ, als er sich seinem Sohn gegenübersetzte. Achton Feld hatte erklärt, was Arcturus getan hatte, und sosehr er seinem Sohn auch zornig die Leviten lesen wollte, kam Angus doch nicht umhin, stolz zu sein auf den Erfindungsreichtum des Jungen und dessen Feuer, eine solche Nummer durchzuziehen. Aber aller grummeligen Bewunderung zum Trotz konnte er Arcturus nicht einfach so davonkommen lassen. „Wissen deine Tutoren an der Akademie, dass du fort bist?", fragte Angus. Arcturus blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk und lächelte. „In ein paar Stunden werden sie es wissen", sagte er. „Ich habe eine Nachricht mit angehängtem Komm-Virus an Direktor Steegmans Konsole geschickt. Er wird sie öffnen, während er seinen ersten Kaffee schlürft, und sie wird ihm so richtig den Tag vermiesen." Angus schüttelte den Kopf. „Dafür wird man dich rauswerfen." „Wahrscheinlich", pflichtete Arcturus bei, und Angus unterdrückte den Drang, ihn zu ohrfeigen. „Hast du eine Ahnung, wie viel dein Platz an der StyrlingAkademie gekostet hat?" Arcturus hob die Schultern. „Nein." „Einen Haufen Geld, und es gibt eine Menge aussichtsreicher Studenten, die nur darauf warten, deinen Platz einzunehmen." „Sollen sie ihn doch haben", meinte Arcturus. „Ich lerne da sowieso nichts."
Die Streitlust seines Sohnes wollte Angus hochfahren lassen, aber er zwang sich, daran zurückzudenken, wie er selbst an der Schwelle zum Mannesalter gewesen war sein ganzes Leben hatte noch vor ihm gelegen, und er hatte das Gefühl gehabt, alles zu wissen, was es über die Welt zu wissen gab. Arcturus war da nicht anders, und Angus begann die Geduld schätzen zu lernen, die sein Vater für ihn aufgebracht hatte. Er atmete tief durch, ehe er weitersprach. „Hör zu, Sohn. Du führst hier ein privilegiertes Leben, aber es ist für dich an der Zeit zu lernen, dass die Welt da draußen, jenseits dieser Mauern, rau ist und dass du dafür nicht gewappnet bist." „Ich werd's überleben." „Nein", erwiderte Angus rundheraus. „Das wirst du nicht. Ich kann nicht vorgeben, dass ich nicht beeindruckt wäre von dem, was du heute Nacht getan hast, aber solche Aktionen werden dich eher früher als später das Leben kosten." Arcturus lachte. „Jetzt wirst du aber melodramatisch." „Nein", versetzte Angus. „Ganz und gar nicht. Es ist die Wahrheit, und jetzt muss ich dich bestrafen." „Warum?", fragte Arcturus. „Wäre ich nicht gewesen, hätten diese Männer uns alle umgebracht." „Wenn du genau nachdenkst, wirst du feststellen, dass wir alarmiert wurden, als Feld dich erwischte." „War ja nur ein Scherz", sagte Arcturus. „Und überhaupt, ist das nicht etwas, worauf es nicht ankommt nach dem, was heute Nacht passiert ist? Oder gelten deine Lektionen für dich selbst etwa nicht?" Angus stellte sein Glas ab, beugte sich vor und verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch. „Du trägst die Anlagen zu einem Debattierer in dir, Sohn, aber Strafe muss sein. Dich ungeschoren davonkommen zu lassen würde Leichtsinn und Respektlosigkeit gegenüber der angemessenen Ordnung der Dinge, wie sie jeder geregelten Gesellschaft zugrunde liegt, heraufbeschwören." „Das musst gerade du sagen", meinte Arcturus. „Du zeigst doch so gut wie nie Respekt vor ,der angemessenen Ordnung der Dinge'. Von den anderen Studenten an der Akademie höre ich immer nur, dass du Korhal Ärger einträgst mit all deinen Reden über die Korruption der Konföderation und dass wir ohne sie besser dran wären. Warum musst du mich in solche Verlegenheit bringen?" Angus lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, überrascht über Arc-
turus' Wutausbruch und selbst zornig darüber, wie wenig sein Sohn von der Welt außerhalb der kleinen Blase seiner eigenen Realität begriff. „Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst, Sohn", sagte Angus. „Was die Konföderation auf Korhal treibt, ist kriminell. Überall herrscht Korruption, werden Schmiergelder bezahlt und wird Bestechung betrieben. Und wenn man Geld hat, ist das Gesetz nur ein Witz. Buchstäblich jeder Cent, den die Bewohner Korhals verdienen, füllt irgendeiner konföderierten Strohfirma die Konten, während unsere eigenen, unabhängigen Unternehmen am ausgestreckten Arm verhungern. Und nun sag mir, warum das die angemessene Ordnung der Dinge sein soll." „Das weiß ich nicht", antwortete Arcturus. „Ich möchte jedenfalls nichts weiter, als ein Prospektor werden." „Ein Prospektor? Im Dreck und Fels buddeln wie ein Kel-MorianPirat? Vergiss es. Du bist der Sohn eines Senators, Arcturus, und dir sind größere Dinge bestimmt, als nach Bodenschätzen zu graben." „Ich will aber keine größeren Dinge. Ich möchte einfach nur tun, was ich tun will und nicht, was du meinst, das ich tun sollte." „Du bist noch zu jung, um wirklich zu wissen, was du willst", hielt Angus dagegen. „Ich weiß jedenfalls, dass ich nicht in deine Fußstapfen treten will", schnappte Arcturus. „Verdammt, vielleicht gehe ich sogar zum Militär." „Das ist nicht dein Ernst. Du bist nur wütend", sagte Angus. „Du weißt nichts über die Wirklichkeit des Lebens, nichts darüber, was die Konföderation getan hat und noch tun wird, wenn ihnen niemand entgegentritt. In den Hunderten von Jahren, seit die Superträger abgestürzt sind, haben die Alten Familien alles an sich gerissen, mit Gewalt, Arglist und Korruption. Bald wird es nichts mehr geben, was sie nicht kontrollieren." „Na und? Wer sagt denn, dass das schlecht ist?" Angus kämpfte seinen Zorn nieder, aber er spürte, wie er angesichts des Eigensinns seines Sohnes immer gereizter wurde. Begriff der Junge denn nicht das Ausmaß der Korruption, das die Konföderation betrieb? Sah er denn nicht, welch furchtbares Schicksal alle rechtens denkenden Menschen erwartete, wenn sie sich nicht erhoben wider den alles beherrschenden, alles durchdringenden Einfluss einer fernen, gedanken- und gefühllosen Re-
gierung? Er blickte Arcturus ins Gesicht und erkannte, dass der Junge es nicht sah, und sein Herz sank. Mit seinen Reden im Palatine-Forum hatte Angus Mengsk widerspenstige Senatoren auf seine Seite gezogen, dank seiner rhetorischen Fähigkeiten eigentlich hoffnungslose Fälle gewonnen... nur seinen eigenen Sohn konnte er nicht davon überzeugen, dass die Konföderation ein großes, schreckliches Übel war, das alles bedrohte, was die freien Bewohner von Korhal in Ehren hielten. Angus Mengsk, aufwieglerischer Senator und Sohn Korhals würde vielleicht den Planeten retten aber darüber womöglich auch seinen Sohn verlieren. Diese Ironie entging ihm keineswegs. Am nächsten Morgen, die Sonne ging gerade über den Bergen auf, gähnte Arcturus, als er hörte, wie die Tür zu seinem Zimmer geöffnet wurde. Er drehte sich um und lächelte, als er Dorothy im Türrahmen stehen sah, ihr leuchtend blaues Stoffpony Pontius unter den Arm geklemmt. „Was ist, Dotterblümchen?", fragte er und richtete sich im Bett auf. „Warum streitest du dich mit Daddy?", wollte Dorothy wissen. Arcturus lachte. „Das ist eine große Frage für ein so kleines Mädchen." „Aber warum?" Arcturus schwang die Beine vom Bett und breitete die Arme aus, woraufhin Dorothy zu ihm rannte und auf seinen Schoß hüpfte. „Aua, du wirst ja jeden Tag schwerer", ächzte Arcturus. „Du wirst fett." „Werd ich gar nicht!", quiekte Dorothy und stieß ihm die Fingerspitzen in die Rippen. „Schon gut, schon gut! Du bist nicht fett!" „Sag ich doch", erwiderte Dorothy, zufrieden, dass sie den Zank gewonnen hatte. Sie schaute zu ihm auf, und ihr Blick verriet ihm, dass sie immer noch auf eine Antwort wartete. „Ich wünschte, du würdest nicht immerzu mit Daddy streiten", sagte Dorothy. „Das wünschte ich auch." „Warum tut ihr es dann?"
„Das ist schwer zu erklären, Dotterblümchen", antwortete er. „Vater und ich... nun, wir sind in vielen Dingen nicht einer Meinung, und er ist zu stur, um zuzugeben, dass er nicht immer recht hat." „Hast du denn immer recht?" „Nein, nicht immer, aber..." „Woher weißt du dann, dass Daddy nicht recht hat?" Arcturus öffnete den Mund, um auf ihre kindliche Logik zu antworten, kam jedoch ins Schwimmen, weil ihm keine Antwort einfiel, die sie beide zufriedenstellen würde. „Naja, das weiß ich wohl nicht. Aber er verlangt Dinge von mir, die ich nicht tun will." „Was denn zum Beispiel?" „Zum Beispiel will er, dass ich nicht der bin, der ich nun mal sein möchte", sagte Arcturus. „Wer möchtest du denn sein? Möchtest du nicht wie Daddy sein?" Arcturus schüttelte den Kopf. „Nein." „Warum nicht?" Ein leises Klopfen ersparte Arcturus die Antwort darauf. Er schaute auf und sah seine Mutter in der Tür stehen. Katherine Mengsk trug ein langes cremefarbenes Kleid mit einem mitternachtsblauen Mieder und wirkte so frisch und munter, als hätte sie die ganze Nacht geschlafen, anstatt von bewaffneten Soldaten gejagt zu werden. „Dorothy, es ist Zeit fürs Frühstück", sagte Katherine. „Aber ich hab keinen Hunger", erwiderte Dorothy. „Keine Widerrede, junge Dame", warnte ihre Mutter. „Geh in die Küche hinunter und lass dir von Seona eine Schüssel Haferbrei machen. Und rümpf nicht so die Nase. Geh schon." Dorothy reckte sich und gab Arcturus ein Küsschen auf die Wange, bevor sie von seinem Schoß rutschte und davonlief, wobei sie Pontius über den Boden hinter sich her schleifte. Nachdem Dorothy verschwunden war, stand Arcturus auf, zog sein Hemd an sowie eine dunkle Kniebundhose und streifte die Träger über seine Schultern hoch. „Du hast ihre Frage nicht beantwortet", erinnerte ihn seine Mutter. „Welche Frage?" „Warum du nicht wie dein Vater sein möchtest." Arcturus fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar und goss
sich aus einem silbernen Krug neben dem Bett ein Glas Wasser ein. Er nahm einen Schluck und ließ das Wasser im Mund kreisen, bevor er antwortete. „Weil ich mit meinem Leben etwas anfangen will, das meins ist, nicht seins." Seine Mutter trat ins Zimmer, anmutig und kraftvollen Schrittes, und legte Arcturus eine Hand auf die Schulter. Die Berührung war mütterlich und tröstend, und Arcturus wünschte, er könnte seinem Vater so nahe sein wie seiner Mutter. „Dein Vater will nur das Beste für dich, Arcturus", sagte sie. „Ach ja? Manchmal glaube ich, er will nur eine Kopie seiner selbst." Katherine lächelte. „Ich sehe viel von ihm in dir, das ist wahr, aber andererseits ist zu viel von mir in dir, als dass du jemals so sein könntest wie dein Vater." „Das erleichtert mich", seufzte Arcturus, aber das Lächeln verschwand von seinen Zügen, als er im Gesicht seiner Mutter sah, dass er sie mit dieser Bemerkung verletzt hatte. „Tut mir leid", sagte er. „Ich weiß, er ist ein guter Mensch, aber er versteht mich eben nicht." „Meinst du etwa, du wärst der erste Siebzehnjährige, der das von seinem Vater behauptet?" „Nein, wahrscheinlich nicht." „Du bist ein ausgesprochen kluger Junge, Arcturus. Du könntest Großes erreichen, wenn du es nur zuließest. Alles, was du anfängst, meisterst du innerhalb weniger Tage, und dein Vater möchte nur, dass du das Bestmögliche aus deinen Begabungen machst." „Ich erinnere mich daran, wie du mir, als ich in Dorothys Alter war, sagtest, ich würde einmal ein großer Führer werden", sagte Arcturus. „Aber das ist lange her." Seine Mutter nahm ihn bei den Händen und blickte ihn fest an. „Nein. Es stimmte damals, und es stimmt auch heute noch." Die großen Pläne seiner Mutter für seine Zukunft bereiteten Arcturus Unbehagen, und so wechselte er das Thema. „Muss ich wirklich zurück auf die Akademie?" „Ja, du musst. Ich weiß, es gefällt dir dort nicht, aber es bedeutet mir sehr viel, dass du deine Ausbildung abschließt. Du hast diese Nachricht mit dem Komm-Virus, die du an Direktor Steegmans Konsole schicktest, doch zurückgerufen, oder?"
„Habe ich." Arcturus grinste. „Aber es wäre es mir schon wert gewesen, rausgeschmissen zu werden, nur um sein Gesicht zu sehen, wenn das Virus seine privaten Dateien an die Eltern aller Studenten der Akademie geschickt hätte." Seine Mutter schüttelte verärgert den Kopf, aber er sah ihr an, dass die Vorstellung von Steegmans Demütigung auch sie insgeheim amüsierte. „Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was die ,privaten Dateien' dieses abscheulichen kleinen Mannes enthalten könnten." „Werden Ailin Pasteur und seine Tochter jetzt für eine Weile bei uns bleiben?", fragte Arcturus, als er aus einem anderen Teil des Hauses Geräusche vernahm, die Betriebsamkeit verrieten. Katherine runzelte leicht die Stirn, als sie sein Interesse spürte. „Ja, sie werden einstweilen unsere Gäste sein. Dein Vater hält es für angeraten, dass sie bei uns bleiben, bis er mehr Leibwachen zusammenrufen kann, die uns alle zurück nach Styrling begleiten." „Das klingt vernünftig." Arcturus nickte und versuchte, nicht allzu interessiert zu wirken, obwohl Katherine seine Nonchalance natürlich auf der Stelle durchschaute. Sie lächelte. „Sie ist sehr hübsch", sagte sie. „Juliana, meine ich." „Ja, das ist sie", stimmte Arcturus ihr zu. „Und ich glaube, sie mag mich." Seine Mutter beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. „Wer könnte dich nicht mögen, mein hübscher Junge? Und nun geh und frühstücke mit deiner Schwester. Ich bin sicher, sie wird versuchen, Seona etwas so Zuckersüßes abzuschwatzen, dass es sie tagelang nicht schlafen lässt." Arcturus machte sich auf den Weg nach unten und ging den Korridor entlang, der in der gestrigen Nacht noch vom Qualm der Schüsse und von Kampfgeräuschen erfüllt gewesen war. Die Leichen, die hier gelegen und ihr Blut über den Teppich verteilt hatten, waren weggeschafft worden, und die Hausangestellten entfernten die Flecken, die zurückgeblieben waren. Es kam ihm immer noch unwirklich vor, dass gestern Nacht Menschen versucht hatten, sie umzubringen. Der Gedanke, dass jemand wehrlose Zivilisten wegen so etwas Prosaischem wie Geld töten würde, schien ihm absurd. Aber wenn ihn das Studium der
Geschichte eines gelehrt hatte, dann die Tatsache, dass schon ganze Kulturen aus weit niedrigeren Beweggründen ausgelöscht worden waren. Um der Ehre willen zu töten oder zu sterben, für Ruhm, Land oder Freiheit schienen edlere Ideale zu sein. Aber Arcturus Mengsk hatte nicht vor, weder das eine noch das andere in absehbarer Zeit zu tun. Er setzte den Fuß auf die Treppe. Das Holz knarrte, und das Geländer war unter den Treffern von Impaler-Geschossen zersplittert. Ganze Teile waren herausgerissen, und die Wände aus Marmor und Gips waren mit Impaler-Kratern gesprenkelt. Als er unten anlangte, hörte Arcturus Stimmen aus dem Speisesaal. Die Tür stand ein wenig offen, und er hielt inne und identifizierte die Stentorstimme seines Vaters sowie die einschmeichelndere Ailin Pasteurs. Neugierig, worüber die beiden sprachen, schlich Arcturus näher zur Tür hin. „... genau der Grund, warum wir Ihre Hilfe dringender denn je brauchen, Ailin", sagte sein Vater. „Alleine schafft Korhal das nicht. Wir sammeln Kräfte, aber ohne die Unterstützung von Umoja wird uns die Konföderation zermalmen." „Das verstehe ich ja", erwiderte Pasteur, „aber Sie müssen die Unsicherheit Ihrer Position verstehen. Umoja kann sich nicht dabei erwischen lassen, wie es Sie offen unterstützt, Angus. Es fiel uns ohnedies schon schwer genug, den Einfluss der Konföderation zu minimieren, aber öffentlich mit einem Aufwiegler wie Ihnen, mein Teurer, in Verbindung gebracht zu werden, gäbe denen eine hervorragende Ausrede, den Druck auf uns zu erhöhen. Der Herrschende Rat ist bereit, Ihre Leute mit dem zu versorgen, was sie brauchen, aber unsere Beteiligung darf nicht bekannt werden." „Das ist selbstverständlich, Ailin, aber die Dinge spitzen sich zu. Der Überfall gestern Nacht zeigt doch nur, wie verzweifelt sie inzwischen vorgehen. Ich habe Fürsprecher im Senat und auf ganz Korhal, um diese Sache durchzuziehen, und Sie wissen nur zu gut, dass überall im Sektor lokale Konflikte ausbrechen. Es bedarf nur eines einzigen leuchtenden Beispiels dafür, dass die Konföderation geschlagen werden kann, und die alte Ordnung wird hinweggefegt. Korhal kann dieses Beispiel sein, aber nur, wenn Sie uns unterstützen." „Und das werden wir, aber wovon Sie hier sprechen... man wird Sie als Terrorist brandmarken."
„Ich ziehe den Begriff ,Freiheitskämpfer' vor", sagte Angus. „Das hängt davon ab, ob Sie gewinnen oder nicht." „Dann muss ich eben dafür sorgen, dass ich gewinne." Arcturus war sich bewusst, dass er Worte von großer Wichtigkeit hörte, ihren Sinn jedoch erfasste er nicht. Was plante sein Vater, das ihn zum Terroristen abstempeln würde? Das Wort allein war machtvoll, es beschwor Bilder herauf von geheimnistuenschen Leuten, die sich in den Schatten trafen, um zum Zwecke ihrer diabolischen Ziele den Tod Unschuldiger auszuhecken. Die Vorstellung, sein Vater könnte ein solcher Mensch sein, stieß Arcturus ab, und sein bisheriges stabiles Bild von seinem Vater als mächtige und kontrollierende, aber vor allem doch gütige Präsenz in seinem Leben schien nun auf einmal zerbrechlich wie Glas. Während diese Gedanken durch Arcturus' Kopf kreisten, hörte er Schritte, und er bemerkte zu spät, dass sie sich der Tür näherten, an der er lauschte. Er drehte sich um, war jedoch zu langsam, und eine schwere Faust bekam sein Hemd zu fassen und zerrte ihn in den Speisesaal, wo sie sich gestern Nacht versammelt hatten. „Spionierst mir hinterher, was?", fuhr Angus ihn an. „Was hast du gehört?" Arcturus wand sich im Griff seines Vaters. „Dass du ein Terrorist bist!", rief er. Angus wirbelte ihn herum und stieß ihn auf einen der Stühle nieder. „Nichts hast du gehört, Sohn", sagte Angus. „Diese Worte waren nicht für jemanden wie dich bestimmt." Arcturus sah hinüber zu Ailin Pasteur. Der Mann war offensichtlich ebenso überrascht wie besorgt darüber, dass Arcturus ihr Gespräch mitbekommen hatte. „Was willst du jetzt machen?", fragte Arcturus. „Wirst du Menschen ermorden?" Angus maß seinen Sohn mit hartem Blick, und die kalten grauen Augen schauten tief hinein in Arcturus' Herz. Arcturus sah, wie sein Vater innerlich eine Entscheidung traf. Pasteur erkannte das ebenfalls und sagte: „Angus... sind Sie sicher?" „Aye, er wird bald achtzehn. Es ist an der Zeit, dass er anfängt, sich wie ein Mann zu benehmen, also werde ich ihn wie einen be-
handeln." Arcturus verspürte bei den Worten seines Vaters eine nervöse Anspannung und fragte sich, ob sich all die Jahre, in denen er wie ein Erwachsener hatte behandelt werden wollen, jetzt an ihm rächen würden. „Nun, Junge, bist du bereit, ein Mann zu werden?" Arcturus zögerte ganz kurz, bevor er antwortete: „Ich bin bereit." „Gut", sagte Angus. „Das respektiere ich. Aber du musst dir im Klaren darüber sein, dass alles, was ich dir jetzt sagen werde, diesen Raum nicht verlassen darf." Angus hielt Arcturus die Hand hin. „Schwöre es mir, und ich werde dir alles erzählen." „Ich schwöre es", sagte Arcturus und schüttelte die Hand seines Vaters. „Na gut", meinte Angus und nahm im Schneidersitz neben Arcturus Platz. „Du weißt natürlich, dass ich die Korruption der Konföderation mit jeder Faser meines Seins verachte, aber es reicht noch tiefer. Die Alten Familien kontrollieren alles von ihrer Hauptwelt Tarsonis aus, und der ganze Apparat der Konföderation ist darauf abgestimmt, sie an der Macht zu halten, die Planeten, die ihrer Kontrolle unterliegen, auszubeuten und deren Schätze zu stehlen. Und genau damit muss Schluss sein." „Du willst gegen die Konföderation kämpfen?", fragte Arcturus. „Warum?" „Weil einer es tun muss", erwiderte Angus. „Sie haben ihr Reich zu weit ausgedehnt, und jetzt braucht man ihm nur, wie einem Kartenhaus, an der richtigen Stelle einen Stoß versetzen, um es zum Einsturz zu bringen. Die Menschen sind des Jochs der Konföderation um ihren Hals überdrüssig, Rebellion liegt in der Luft man kann es spüren." „Du wirst der Konföderation den Krieg erklären?", fragte Arcturus fassungslos. „Nun, nicht gerade den Krieg", entgegnete Angus. „Noch nicht jedenfalls." „Terrorismus", sagte Arcturus. „Ist es das?" „Ich zweifle nicht daran, dass jemand es so nennen wird, ja, aber wenn du darüber nachdenkst, lässt sich auch das, was die Konföderation treibt, leicht als Terrorismus bezeichnen." „Aber das ist doch nicht dasselbe."
„Ist es nicht?", erwiderte Angus. „Ist es nicht Ziel des Terrorismus, Menschen zu töten und so zu lähmen, dass derjenige, gegen den er sich richtet, sich deinem Willen beugt? Und lässt sich die Konföderation etwa nicht auf militärische Operationen ein, deren Zweck es ist, Menschen mittels Angst zu zwingen, sich dem Willen der Konföderation zu beugen?" „Aber das ist etwas anderes", sagte Arcturus. „Das ist Krieg." Angus schüttelte den Kopf. „Nein. Denn Ziel eines Krieges ist es nicht oder sollte es zumindest nicht sein -, die Armee des Feindes bis zum letzten Mann auszulöschen. Ziel eines Krieges ist es, so viele von ihnen zu töten, dass ihre Führer eine Fortsetzung des Krieges mehr fürchten als eine Kapitulation." „Dann ließe sich deiner Definition zufolge jeder kriegerische Akt als Terrorakt bezeichnen, weil sein Ziel Nötigung durch Furcht unter Gewaltanwendung ist." „Genau", sagte Angus, sichtlich zufrieden, dass er seinen Standpunkt deutlich gemacht hatte. „Trotzdem wirst du Menschen töten", sagte Arcturus. „Im Krieg sterben nun mal Menschen. Das ist bedauerlich, aber unvermeidbar", erwiderte Angus. „Ich wünschte, es wäre anders, aber die Konföderation hat sich das selbst zuzuschreiben. Im Gegensatz zu denen werden wir jedoch keine unschuldigen Zivilisten verletzen. Wir werden nur militärische Einrichtungen angreifen." „Es ist trotzdem falsch", beharrte Arcturus. „Es werden Menschen sterben, und du wirst sie getötet haben." Angus lehnte sich zurück. Enttäuschung kennzeichnete sein Gesicht. „Ich dachte, du wärst Manns genug, um zu verstehen, was getan werden muss, Arcturus, aber ich sehe, dass ich mich geirrt habe. Du bist noch ein Kind, und du denkst noch wie ein Kind, du bist nicht in der Lage, die Welt außerhalb deiner egoistischen kleinen Blase zu sehen." Die Worte seines Vaters trafen ihn schmerzhaft wie rot glühende Peitschenschnüre, und Arcturus spürte, wie sein Groll aufflackerte. Er stand auf, drehte sich auf dem Absatz um und schritt zur Tür des Speisesaals. „Angus!", zischte Ailin Pasteur. „Sohn", fuhr Angus auf. „Du darfst zu niemandem über diese Angelegenheit sprechen! Hast du verstanden? Zu niemandem. Niemals." „Ich habe verstanden", fauchte Arcturus.
KAPITEL 3 Sonnenlicht sickerte durch das Blätterdach der Baumwipfel und brachte die Landschaft zum Leuchten, während die silberfarbenen Ground Cars auf der Straße nach Styrling dahinrasten. Insgesamt waren es sechs Wagen, in einem fuhr die Familie Mengsk, in einem anderen saßen Ailin Pasteur und seine Tochter, und in den anderen vier befanden sich bewaffnete Männer. Bei den Ground Cars handelte es sich um 58er Terra Cougars, ein älteres Modell, für viele Senatoren Korhals jedoch das bevorzugte Transportmittel, wegen des massiv stählernen Fahrgestells und der starken Seitenverkleidung, die schon mehr als nur einen Attentatsversuch vereitelt hatten. Zwei der Fahrzeuge waren mit drehbaren Impaler-Geschützen ausgestattet, und der Konvoi fuhr in zügigem Tempo entlang der breiten Straße. Einen halben Kilometer voraus bildeten drei Vulture Hover Cycles die Vorhut und scheuchten den wenigen Verkehr, der hier herrschte, an den Fahrbahnrand. So früh am Morgen war kaum jemand unterwegs, aber Achton Feld ging kein Risiko ein und hatte seinen Leuten befohlen, erst zu schießen und dann zu fragen vorausgesetzt, es gab noch irgendetwas zu befragen, das den Beschuss der Vultures mit Granaten überstanden hatte. Die Konföderation hatte schon einmal versucht, Angus Mengsk zu ermorden, und Feld rechnete damit, dass man es ein weiteres Mal probieren würde. Arcturus sah die Landschaft draußen vorbeisausen. Üppiges Grün und warmes Gold vermengten sich zu einem Farbengemisch wie auf einem Gemälde, das man bei Regen draußen vergessen hatte. Die Mengsksche Sommervilla lag sechzig Kilometer südlich von Styrling, und die Gegend dazwischen gehörte zu den grünsten und fruchtbarsten auf ganz Korhal dennoch schrumpfte sie mit jedem Jahr um die Fläche, die sich der Industriekomplex der Stadt weiter ausbreitete. Sein Vater hatte den Platz genau deshalb ausgesucht weil er weit genug von Styrling entfernt war, um ihm das Gefühl zu vermitteln, er könnte der täglichen Hektik seiner Geschäfte und der Politik des Senats entfliehen, aber trotzdem so nahe, dass er sich nicht zu weit vom Schuss befand.
Arcturus spürte, wie sich seine Laune mit jedem Kilometer, der hinter dem Ground Car zurückblieb und ihn der Akademie näher brachte, verschlechterte. Sein Vater saß ihm gegenüber, das Gesicht eine undeutbare Maske, obgleich er lächelte, wann immer Arcturus' Mutter ihn ansah. Dorothy kniete auf dem Rücksitz neben ihm, Pontius fest umklammert, während sie durch das getönte Panzerglas des Fensters hinausschaute. Arcturus lächelte ob der schlichten Freude, die sich auf ihrem Gesicht zeigte, und er wünschte, zurückkehren zu können in eine Zeit, als das Leben noch einfacher gewesen war. Alles, was Dorothy im Sinn hatte, waren Pontius, Süßigkeiten und ihrem Vater nahe zu sein. Sie brauchte sich noch keine Sorgen darüber zu machen, jemanden zu enttäuschen oder in eine Rolle gezwungen zu werden, die sie nicht spielen wollte. Dotterblümchen würde immer Angus' Liebling bleiben, ganz egal, was sie anstellte, und Arcturus verspürte einen Stich, den ihm seine Verärgerung versetzte, schüttelte dieses Gefühl aber rasch ab, weil ihm klar war, wie albern es war, auf eine Vierjährige eifersüchtig zu sein. Trotz der freudigen Ausführungen seiner Mutter über die Farben des Laubes und die Schönheit der Gegend und trotz Dorothys Begeisterung über die Reise, war die Stimmung im Inneren des Wagens angespannt. Arcturus und sein Vater hatten seit den harschen Worten im Speisesaal am gestrigen Morgen nicht mehr miteinander gesprochen, und keiner der Beschwichtigungsversuche seiner Mutter vermochte die Kluft zu überbrücken, die sich mit jeder Minute des Schweigens vergrößerte. Arcturus fixierte seinen Blick auf die Landschaft, die sich ringsum entfaltete, während sich der Wagen zwischen den niedrigen Hügeln südlich der Stadt hindurchschlängelte. Trotz des unvermeidlichen Anwachsens der Industrie blieb Korhal trotzig eine grüne Welt. Die planetaren Verantwortlichen hatten schon vor langer Zeit genug Weitblick bewiesen, um in erneuerbare Energien zu investieren und strikte Gesetze zur Reinerhaltung der Luft festzuschreiben. Als Folge davon war Korhal einer der wenigen Planeten in der Konföderation, der sowohl eine gedeihende Achse des Handels und der Industrie als auch ein schöner, lebens- und besuchenswerter Ort war. Arcturus hatte die Welt bislang noch nicht verlassen, seine Ambitionen jedoch reichten über den Himmel Korhals
hinaus. Er sehnte sich danach, von Stern zu Stern zu reisen, neue Welten zu entdecken und sich sein Geld mit seinen Fähigkeiten zu verdienen, anstatt es einfach nur zu erben, wie sein Vater es getan hatte. Dass sein Vater auch unermüdlich gearbeitet hatte, seit er das Erwachsenenalter erreicht hatte, kam Arcturus nie in den Sinn. Es war auch nicht so, dass Arcturus etwas dagegen hatte, Reichtum, Titel und gesellschaftliche Stellung zu erben die dynastischen Traditionen von Korhal waren fest etabliert -, aber er wollte als ein Mann von sich reden machen, der dank seines eigenen Könnens an die Spitze gelangt war. Er wollte, dass die Menschen ihn ansahen und wussten, dass er das, was er war, mit Blut, Schweiß und Opferbereitschaft erreicht hatte. Seine Gedanken an die Zukunft stockten, als sein Blick zwischen den Ästen der Bäume hindurch auf ein silbern schimmerndes Gitter fiel ein Vorbote der Zivilisation. Trotz seiner schlechten Laune lächelte er, als er jenseits der breiten Einschnitte zwischen den Hügeln erste Blicke auf Styrling erhaschte. Styrling war eine riesige Stadt, ein Mekka kommerzieller Interessen und ein glitzerndes Symbol all dessen, was man in den zweihundert Jahren seit der Besiedlung des Planeten erreicht hatte. Arcturus liebte die Möglichkeiten, die die Stadt bot: den Reichtum, die Zerstreuung, das geschäftige Treiben und die blanke, pulsierende Menschlichkeit, die allem anhaftete. Alles, was man sich wünschen konnte und noch mehr -, war in Styrling zu finden, wenn man nur wusste, wo man zu suchen hatte. Das Ground Car fegte über einen Kamm, der sich entlang der Straße krümmte, und dann lag die Stadt wie ausgebreitet vor ihm. Ganz gleich, wie oft er es sah, es beeindruckte ihn jedesmal aufs Neue. Styrling war wie das gefrorene Nachspiel eines Tropfens, der in eine mit Quecksilber gefüllte Petrischale gefallen war, eine silberne Krone aufragender Strukturen, die in der Mitte hoch und majestätisch waren und deren Größe nach außen hin allmählich abnahm. Ein schwindelerregendes Netz aus Fly-overs umgab und durchdrang die strahlende Metropole wie Hunderte von Fäden dunkler Wolle, die hineingewoben waren, und die Stadt erstrahlte im Licht der blendenden Spiegelungen auf den Unmengen von Neostahl
und Glas, aus denen das Gros der Gebäude bestand. Die Architektur Styrlings war alles andere als subtil. Die meisten der Türme und Spiralbauten gehörten einem der Megakonzerne oder Repräsentanten einer der Alten Familien, und jeder Eigentümer versuchte, die Größe und Pracht der Bauten anderer zu übertreffen. Einst hatten elegant geschwungene Mauern den äußersten Rand der Stadt eingefasst, aber der wirtschaftliche Druck hatte einen großen Teil der Infrastruktur über diese Grenze hinaus gezwungen. Die reichsten Familien von Korhal unterhielten ihre Hauptquartiere innerhalb der Mauern von Styrling, und die Familie Mengsk bildete da keine Ausnahme. Der Mengsk Skyspire war ein mächtiger, festungsartiger Bau, der seine nächsten Rivalen überragte: das Continental Building, den LarsCorp Tower und die korhalsche Zentrale von Universal News Network. Arcturus hasste den Skyspire. Seine verwinkelten Linien und der neugotische Stil vertrugen sich seiner Ansicht nach nicht mit den schlanken, eleganten Designs seiner Nachbarn. In Arcturus' Augen handelte es sich um die architektonische Verkörperung seines Vaters: kalt, streng und kompromisslos. Die Stadt rückte näher, der Verkehr nahm zu, die Vultures fielen zurück und gesellten sich zu den Ground Cars, wie Hennen, die ihre Küken schützten. Arcturus schaute zu, wie der Verkehr etwas Lebendem gleich um sie herumfloss, sich seinem eigenen inneren Rhythmus folgend bewegte, und während er in die einzelnen Gesichter in den verschiedenen Fahrzeugen blickte, fragte er sich, wie das Leben derer sein mochte, die er da vorbeihuschen sah. Jedes davon stand für eine in sich geschlossene Welt, um die das Universum sich drehte, und Arcturus versuchte sich Geschichten zu den Gesichtern auszudenken, sich auszumalen, was für ein Leben diese Menschen führten. Wovon träumten sie, wonach strebten sie? Was ließ sie jeden Morgen aus dem Bett aufstehen, um in den Fabriken und Büros von Styrling zu arbeiten? Liebe? Ehrgeiz? Verlangen? Gier? Während er die Leute beobachtete, wie sie zur Arbeit gingen, sah Arcturus alles vor sich, was das Leben eines Menschen ausmachte Lachen, Streit, stoisches Schweigen und tausend andere Dinge. Er sah, wie Männer und Frauen sich unterhielten, Väter und Kinder, Liebende und Kollegen, jede dieser kleinen Welten erfüllt von ihren eigenen Hoffnungen und Träumen für die Zu-
kunft. Ein junges Mädchen mit einem gelben Haarband saß auf dem Beifahrersitz eines Ground Cars zwei Spuren weiter. Sie bemerkte, dass Arcturus sie ansah, und winkte ihm zu. Er lächelte, winkte zurück und verspürte eine unerklärbare Nähe zu diesen Menschen von Korhal, hatte auf irgendeine Weise das Gefühl, dass sie sein Volk waren. Er spürte eine Verwandtschaft mit den Gesichtern, die er um sich herum sah, ein Band zwischen sich und den Menschen, mit denen er seine Heimatwelt teilte, wie er es noch nie empfunden hatte. Das Fahrzeug mit dem Mädchen entfernte sich, bog in eine Ausfahrt ab und verschwand, und Arcturus richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Stadt ringsum, deren Schluchten aus Glas und Stahl sie verschlangen. Das angespannte Schweigen im Ground Car wurde erst gebrochen, als die Fahrt sie zu der chaotischen Baustelle des neuen Versammlungsforums von Korhal führte. Oder der Baustelle dessen, was einmal das neue Versammlungsforum von Korhal werden sollte. Hoch aufragende Kräne und gewaltige Maschinen für Erdarbeiten standen still um ein monströses, halb fertiges Gebäude aus Beton und frei liegendem Stahl herum, das aussah, als sei es von einer Armee von Plünderern überrannt worden. Entlang des Baustellenrandes reihte sich eine Anzahl von Fertigbauhütten, aber nirgends schienen Menschen oder Roboter zu arbeiten. Arcturus war kein Fachmann, wenn es um Ästhetik ging, aber selbst in seinen ungeübten Augen sah das Gebäude aus, als sei es den schlimmsten Albträumen eines geisteskranken Architekten entsprungen. „Schaut euch das an", sagte Angus Mengsk und stach mit einem Finger nach dem längst nicht fertiggestellten Bau. „Kann es ein noch deutlicheres Symbol für den moralischen Verfall und die Korruption im Herzen der Konföderation geben?" „Ach, bitte, nicht wieder diese Leier, Liebster", seufzte Katherine. Aber Angus ließ sich nicht verbieten, seiner Wut Luft zu machen. „Ich frage euch, wozu wir überhaupt ein neues Gebäude für den Senat brauchen? Was stimmt denn nicht mit dem PalatineForum? Zugegeben, es ist alt, aber es stecken Charakter und Tradition darin. Dieses neue Fiasko eines Gebäudes fasst alles
zusammen, was verkehrt ist an der Konföderation: Geld, das in die Taschen korrupter Offizieller fließt, verquere Prioritäten und hochmütiges Ignorieren der öffentlichen Meinung. Wusstet ihr, dass die Kosten sich inzwischen auf fünfhundert Millionen belaufen und ein Ende noch gar nicht abzusehen ist? Oh ja, und das nach einem ursprünglichen Kostenvoranschlag von sechsunddreißig Millionen! Und was ist aus diesem Geld geworden? Es wurde mit vollen Händen rausgeworfen, für eine Rezeption aus Sonnenholz von Chau Saran, zum Beispiel, und für Schmiergelder an die Stadtoffiziellen der Konföderation. Die bauen seit sechs Jahren an dem Ding, und es scheint nie fertig zu werden. Ja, ja, sie sagen, es würde Ende des Jahres fertiggestellt werden, aber seht es euch doch an... Ist das realistisch?" „Nein, Liebster, das ist es nicht", sagte Katharine pflichtgemäß. „Die Wahrheit ist, dass die Leute nur eines über die Konföderation wissen: Alles kostet das Vierfache dessen, was es kosten sollte, wegen der Bestechungsgelder, die man hinblättern muss, damit irgendetwas erledigt wird, und wegen all der neuen ,Steuern', mit denen auf einmal alle Projekte belegt werden, deren Ziel es nicht ist, den Alten Familien die Taschen zu füllen." „Dann solltest du der Konföderation dankbar sein für diese Munition", meinte Arcturus. „Oh, das bin ich, Sohn", erwiderte Angus. Die feurige Hitze seines Zornes ließ ihn die Spannung zwischen ihnen vergessen. „Dieses ganze Projekt war eine PR-Katastrophe, über die sich Gott sei Dank selbst UNN zu berichten traut, und ich beabsichtige, daraus so viel Kapital zu schlagen wie nur möglich." Angus fuhr fort in seiner Auflistung der vielen Fehler des Gebäudes und des Prozesses seiner Errichtung beziehungsweise seiner Nicht-Errichtung. Arcturus blendete die Worte aus, während das unfertige Bauwerk aus ihrer Sicht verschwand. So tief im Zentrum der Stadt wurde die kolossale Größe der Türme viel offensichtlicher. Schatten hüllten den Konvoi ein, und Arcturus spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief, während der Fahrer das Ground Car meisterlich durch den Verkehrsstrom fädelte. Menschen bevölkerten die Straßen, gut gekleidet und gesund, aber nur ein paar drehten sich um und schauten dem Konvoi hin-
terher. Auf den Straßen von Styrling sah man solcherlei nicht selten, weil viele Industriebosse und Senatoren auf diese Weise reisten. Sein Vater streckte die Hand aus und aktivierte die KommEinheit, die neben ihm in die Armlehne eingelassen war. „Ailin", sagte Angus, „wir nähern uns der Akademie, wo wir Arcturus aussteigen lassen. Wir werden also nicht weit hinter euch sein. Wollen wir hoffen, dass er dieses Mal dort bleibt." Diese letzte Bemerkung galt unverhohlen Arcturus, der sich von der Spitze seines Vaters nicht treffen ließ, obgleich seine Mutter ihrem Mann die Hand auf den Unterarm legte und ihn düster anfunkelte. „Ist gut, Angus", erwiderte Ailin Pasteur. „Ich werde im Skyspire auf euch warten." Die Komm-Einheit wurde abgeschaltet, und Arcturus seufzte, als sie am parkartigen Campus und den Sportplätzen der Akademie entlangfuhren. Hier war die Bebauung dünner und von der Größe her weniger vulgär, schließlich war dies ein Bezirk der Kultur und Erziehung, wo die jungen Köpfe der Zukunft zu willfährigen Bürgern der Konföderation geformt wurden. Arcturus kannte die Gegend gut, obwohl Direktor Steegman es den Studenten verbot, das von einer Mauer umgrenzte und von einem Sicherheitsdienst überwachte Gelände der Akademie zu verlassen. Dass derlei kleinliche Regeln nicht für ihn galten war eine Entscheidung, die Arcturus schon vor langer Zeit gefällt hatte, und er sowie eine Gruppe auserwählter Abenteurer waren oft vorgedrungen in die exotischen, neonbeleuchteten Tiefen der nächtlichen Stadt. Davon wussten seine Eltern natürlich nichts aber je weniger sie wussten von dem, was er so trieb, desto besser war es. Nach Arcturus' Ansicht war es am allerbesten, wenn Eltern so wenig wie möglich vom Treiben ihrer Abkömmlinge mitbekamen, weil sie, wenn sie darüber Kenntnis erhielten, nur versuchten, dem Treiben einen Riegel vorzuschieben. In der Ferne ragte der große Glockenturm der Akademie hoch über einer makellos gestutzten Reihe von Bäumen auf, und Arcturus seufzte abermals, als er daran dachte, sechs weitere Monate in sterilen Klassenzimmern zu hocken, „unterrichtet" von Idioten, die über Politik und Geschichte weniger wussten als er und von der großen Bestimmung schwafelten, die der Absolventen der
Schule harrte. Er schob diese düsteren Bilder beiseite, als das Ground Car langsamer wurde und in eine kiesbestreute Auffahrt einbog, die zum Sicherheitskontrollpunkt der Akademie führte. Diese Kontrollstelle bestand aus einem alten, aus Ziegeln errichteten Torhaus und zwei hölzernen Sägeböcken, die die Straße zum Campus blockierten, dazu eine Handvoll orangefarbener Plastikkegel, die davor standen. Der Wagen verlangsamte, als er das Torhaus erreichte und Old Rummy herauskam und sich vorbeugte, um die Insassen in Augenschein zu nehmen. Old Rummy war der Name, den die Studenten dem altehrwürdigen Pförtner verliehen hatten, und Arcturus hatte sich nie die Mühe gemacht, herauszufinden, wie er wirklich hieß. Ab dem Vormittag stank er nach Schnaps, und seine dicke Nase und die aufgequollenen Wangen waren durchzogen von den geplatzten roten Äderchen eines professionellen Alkoholikers. Arcturus roch seinen Atem und rümpfte die Nase. Heute hatte er wohl früher angefangen, vermutete er. „Morgen, Mr. Mengsk, Sir", grüßte Old Rummy und lupfte seine Mütze, als er Angus erkannte. Es gab kaum jemanden auf Korhal, der Arcturus' Vater nicht kannte; dafür hatten die UNN-Berichte über seine politische Effekthascherei sowie eine fast unentwegte Schelte der Konföderation gesorgt. In den meisten Gegenden Korhals war Angus beliebt, aber dort, wo sein Geld mit vollen Händen ausgegeben wurde und dazu zählte die Akademie -, schmeichelten sie ihm und feierten ihn wie einen König. Old Rummy schlurfte zu den Sägeböcken hinüber und räumte sie ächzend beiseite, dann las er die Plastikkegel auf und winkte das Ground Car durch. Der Fahrer gab Gas, und der Wagen fuhr weiter. „Zehn Millionen für verstärkte Sicherheitsvorkehrungen, um die Söhne und Töchter von Korhal vor Rebellenangriffen zu schützen", sagte Angus kopfschüttelnd, während sie Old Rummys grinsendes Idiotengesicht passierten und aufs Akademie-Gelände rollten. „Erinnerst du dich an den Ball, den die Akademie veranstaltete, um Gelder für diese Maßnahmen zu sammeln, Liebste?" „Oh ja, ich erinnere mich", sagte Arcturus' Mutter und schauderte vor Ekel. „Dieser fürchterliche Direktor Steegman benahm sich wie ein schmieriger Verkäufer, der die Höhergestellten um
Geld anbettelte. Ein äußerst geschmackloser Abend." Angus nickte. „Ich habe eine halbe Million gegeben, und nun schau dir die Sicherheitsvorkehrungen an, die damit angeschafft wurden: ein paar Holzplanken und Plastikkegel, die ein fetter Kerl in schlecht sitzender Uniform von Hand bewegt. Ich würde dieselbe Summe wetten, dass der größte Teil der Spendengelder in Steegmans Taschen wanderte." Arcturus legte diese Information in seinem Gedächtnis ab und sah dann, wie der massige Bau der Akademie von Styrling in Sicht kam, umgeben von perfekt getrimmten Bäumen und weitläufigen, saftig grünen Grasflächen. Die erlesensten Beispiele der Baumund Strauchschneidekunst schmückten den Rasen, und unter den aufmerksamen Blicken von Mister Miyamoto übten schon eine Anzahl von jungen Leuten mit Florett und Rapier. „Wären die Lehrer nicht so gut, würde ich den Jungen selbst unterrichten", fuhr Angus fort, und Arcturus musste ob dieser Vorstellung ein entsetztes Auflachen unterdrücken. Das Gebäude, annähernd hundert Jahre alt, bestand aus poliertem grauem Granit und roch unleugbar nach Geld. Ein prachtvoller Säulengang überschirmte den Eingang, und das Giebeldreieck zierten Heldendarstellungen sowie Symbole akademischer und martialischer Vortrefflichkeit. In Nischen längs des Gebäudes standen fein gemeißelte Statuen, und aufwändig gearbeitete Steintafeln füllten die Räume zwischen den hohen, schmalen Fenstern. Obschon das Gebäude alt war, es zählte sogar zu den ältesten auf Korhal, waren Traufen und Dach mit versteckt installierter Überwachungs- und Mithörtechnik bestückt, wenn es Arcturus auch ein Rätsel war, weshalb die Fakultät das Bedürfnis verspürte, den Studenten nachzuspionieren. Das Ground Car kam auf dem Kies am Fuß der breiten Steintreppe, die zum Haupteingang der Akademie hinaufführte, knirschend zum Stehen. Ein livrierter Pförtner lief herunter und öffnete die hintere Tür des Fahrzeugs. „Nun geh, mein Lieber", sagte Katherine. Arcturus nickte und wandte sich an Dorothy. „Bis bald, Kleines", sagte er. „Ich schreib dir viele Briefe, und Mami kann sie dir vorlesen." „Ich kann doch selber lesen, du Dummkopf, schmollte Dorothy. „Also les ich sie auch selber."
„Na, was bist du doch für ein kluges Ding, hm?", lachte er. Dorothy schlang die Arme um ihn und drückte ihn fest. „Du wirst mir fehlen, Arcturus." Er blinzelte überrascht. Normalerweise hatte Dorothy ihre Mühe mit dem Aussprechen seines Namens. Sie warf die Silben durcheinander und nannte ihn „Actress" oder „Arctroos", aber diesmal hatte sie ihn fehlerfrei formuliert. Arcturus löste Dorothys Arme von seinem Nacken und reichte sie ihrer Mutter, die ihm ein warmes Lächeln schenkte. „Nur noch ein Semester, mein Lieber", sagte sie. „Und dann wird dir die Welt offen stehen, versprochen. Wenn schon nicht für dich selbst, so tu es doch für mich. Bitte." Arcturus holte tief Luft und nickte. Seinen Vater konnte er enttäuschen, ohne Schuldgefühle zu befürchten, aber wann immer er glaubte, seine Mutter im Stich gelassen zu haben, traf es ihn wie ein Dolch ins Herz. „Na gut", erwiderte Arcturus. „Ich werde das Semester zu Ende bringen." „Das will ich dir verdammt noch mal geraten haben", versetzte Angus. „Ich will dich nämlich bis zu deiner Abschlussfeier nicht wiedersehen. Hast du mich verstanden?" Arcturus ließ sich nicht zu einer Antwort herab. Er stieg aus dem Wagen, schweigend und mit einem Hauch von Befriedigung ob des vernichtenden Blickes, den seine Mutter auf seinen Vater abschoss. Aber so befriedigend das auch sein mochte, es war doch nur ein winziger Ausgleich für die bittere Saat, die in seinem Herzen steckte. Nun ja, sobald er seinen Abschluss gemacht hatte, konnte er gehen, wohin er wollte. Irgendwohin, wo er so weit weg von Angus Mengsk sein würde, wie es nur ging. Drei Monate später wurde sein Versprechen, das Semester zu Ende zu bringen, auf eine harte Probe gestellt. Direktor Steegman hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass Arcturus nur deshalb ein Student der Akademie blieb, weil sein Vater viele der schulischen Einrichtungen großzügig unterstützte. Und er ließ ihn mehrfach wissen, dass er sich auf dünnem Eis, auf einem schmalen Grat bewegte, auf Messers Schneide stand... und
was es da noch an abgegriffenen Klischees gab. Der Unterricht war im Großen und Ganzen so weitergegangen wie zuvor, und dank all der zusätzlichen Aufmerksamkeit, die man ihm widmete (zweifellos auf nachdrücklichen Wunsch seines Vaters hin), fand Arcturus keinen Weg, der erdrückenden Langeweile der Akademie durch einen abendlichen Abstecher in die Stadt zu entgehen. Arcturus Mengsk war, wie es schien, an der Akademie ein Gezeichneter, und selbst seine frühere Kohorte hatte man offenbar vor den Gefahren gewarnt, die der Umgang mit ihm barg. Die Folge davon war, dass Arcturus während seines letzten Semesters den größten Teil seiner Zeit in der Schulbibliothek verbrachte, wo er jedes verfügbare Digi-Buch über Geologie, Politik, Psychologie und Kriegsführung wieder und wieder las. Viele dieser Bücher kannte er bereits auswendig, aber jedes weitere Lesen bescherte ihm neue Einblicke und frisches Verständnis. Wie versprochen, schrieb Arcturus an Dorothy, und ihre Antwortbriefe gehörten zu den wenigen Quellen von Freude und Wohlbehagen, die ihm geblieben waren. In ihren Briefen informierte seine Mutter ihn darüber, was in der Welt jenseits der Akademiemauern vor sich ging, und die Offenheit dieser Briefe überraschte ihn darin war die Rede von Revolten in den äußeren Kolonien und auf den Randwelten (von denen es eine wachsende Zahl gab), dazu gab es noch den neuesten Gesellschaftsklatsch. Ihre Briefe umschifften sorgsam die Erwähnung seines Vaters, aber Arcturus bedurfte keiner Briefe von daheim, um alles über Angus' Tun zu erfahren. Die UNN-Sendungen waren voll von Storys über seine hitzigen Reden, in denen er die Korruption der Alten Familien und der Konföderation anprangerte. Obwohl Angus die ansteigende Woge von Gewalt, die Korhal überflutete und in der Hunderte von konföderierten Marines durch Bombenanschläge und Hinterhalte der Rebellen ums Leben gekommen waren, öffentlich verdammte, war Arcturus überzeugt, dass er damit zu schaffen haben musste. Der objektive Teil von Arcturus empfand sogar Bewunderung für das Geschick, mit dem es Angus gelang, sich von der Gewalt zu distanzieren, während er unterschwellig andeutete, dass es sich dabei um eine unvermeidliche Folge der Unterdrückung durch die Konföderation handelte, und so Sympathie für die Ziele der Rebellen weckte.
Mochte er nun an der Akademie auch als eine Art Ausgestoßener gelten, hinderte das seine Kommilitonen doch nicht daran, ihm klarzumachen, was sie von seinem Vater hielten, Viele von ihnen stammten aus reichen Familien mit engen Verbindungen zur Konföderation, die dank Angus Mengsks vernichtenden Zornesäußerungen täglichen Beschämungen ausgesetzt waren. Obgleich Arcturus nichts mit der Politik seines Vaters zu tun haben wollte, besaß er doch genug Grips, um zu erkennen, dass das, was er sagte, einiges an Sinn ergab. Dennoch, die Vergeltungsdemütigungen, mit denen seine Kommilitonen ihn überhäuften, schürten seine Abneigung gegen das Oberhaupt der Familie Mengsk. Allerdings gab es nun etwas, das Arcturus diese Abneigung erträglich machte nämlich die anregende Zerstreuung, die ihm die Briefe boten, die er nun mit Juliana Pasteur wechselte. Binnen eines Tages nach seiner Rückkehr in die Akademie hatte Arcturus einen Brief von Juliana erhalten, in dem sie sich höflich nach seinem Befinden erkundigte sowie nach der Möglichkeit eines Treffens in der Zeit, da er den Campus verlassen durfte. Mit der Präzision eines Rasiermessers hatte Arcturus die wahre Bedeutung ihres Briefes erkannt und das blanke Interesse hinter den Plattitüden ausgemacht. Offenbar hatte sich die Beziehung, die in der kurzen Zeit im Schutzraum der Sommervilla seines Vaters zwischen ihnen entstanden war, trotz seiner Abwesenheit zur Blüte entwickelt. Oder vielleicht gerade deshalb. In seinem Antwortbrief erging Arcturus sich über die Schwächen seiner Kommilitonen, die Dummheit der Lehrer und seine Leiden innerhalb der gefängnisartigen Mauern der Akademie. Seine Worte waren wohlgewählt, geistreich, gelehrt und angefüllt mit so viel Missbilligung sich selbst gegenüber, dass jeder Verdacht auf Überheblichkeit, den seine Briefe erwecken konnten, von vornherein beigelegt wurde. Dass ein solches Vorgehen reine Berechnung war, fand Arcturus in keiner Weise falsch, und die überschwänglichen Briefe, die er im Gegenzug bekam, waren positiver Beweis des Erfolgs seiner Schreiben. Im Laufe ihrer Korrespondenz während des Semesters wurde immer deutlicher, dass Juliana Pasteur völlig verschossen in ihn war. Ganz im Gegensatz zu ihrer ersten frostigen Begegnung im
Schutzraum, schien Juliana seine Genialität inzwischen zu schätzen, und nun lotete sie aus, ob sie zusammenpassen würden. Obwohl er sich an ihre betörende Schönheit entsann, war ihre Begegnung für Arcturus doch zu einer fernen Erinnerung geworden, und er ließ in seinen Briefen an sie seiner Polemik freien Lauf, ab und zu durchsetzt mit grandiosen Vorschauen auf seine zukünftige Macht. Um bei der Wahrheit zu bleiben, hatte sein Verlangen, diese Freundschaft aufrechtzuerhalten, bereits nachgelassen; trotzdem schrieb Arcturus weiter an Juliana, aus dem Interesse heraus, sie letztlich ins Bett zu bekommen. Dies würde der letzte Akt im Meistern einer Herausforderung sein, die anfangs schwierig ausgesehen hatte und die am Ende doch, wie er nun wusste, ein Kinderspiel gewesen war. Die Wochen und Monate verstrichen wie hinter einem grauen Schleier. Der Unterricht langweilte ihn, und beleidigend leichte Aufgaben erfüllte er mit kaum einem Hauch von Anstrengung. Das Ende war absehbar, und als es nur noch zwei Wochen bis zur Abschlussprüfung waren, rief Direktor Steegman den gesamten Abschlussjahrgang in den großen Versammlungssaal im Hauptblock der Akademie. Der Versammlungssaal war ein prachtvoller Raum mit zedernholzgetäfelten Wänden, daran goldgerahmte Porträts namhafter früherer Studenten, die hohe Gewölbedecke von Eichengebälk gestützt. Jeden Morgen trat Steegman auf das Podium und hinter sein Rednerpult, um zu der gesamten Oberschule zu sprechen, die Ergebnisse der sportlichen Bestrebungen der Schule und wichtige Informationen zu verkünden. Gelegentlich wurde der Versammlungssaal auch für scharf überwachte Bälle genutzt oder als Vortragsort für zu Besuch kommende Würdenträger, die vor den Studenten über die Tugend der Staatsbürgerpflicht oder gleichermaßen öde Themen referierten. Die alle gleich uniformierten Studenten traten trübselig in den Saal, und Arcturus fragte sich kurz, welchem Referenten man sie heute ausliefern würde. Als er sich der Tür des Versammlungssaals näherte, verriet ihm das aufgeregte Gemurmel dahinter, dass heute etwas auf sie wartete, das über das Übliche hinausging. Er trat durch den bogenförmigen Eingang und passierte das Motto der Akademie, Aien Apisteyein, das in einer der toten Spra-
chen der Alten Erde so viel hieß wie „Strebe stets nach dem Besten". Der große Raum vor dem Podium war mit unbequemen Stühlen gefüllt, und auf jedem davon saß ein erregter Student. Direktor Steegman stand hinter seinem Pult und wirkte sehr selbstzufrieden. Aber es waren vor allem die drei in Habachtstellung hinter ihm stehenden kräftigen Gestalten, die Arcturus' Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie überragten Steegman um mehrere Fuß, standen kerzengerade, und ihre Oberkörper wirkten aufgrund der schweren Neostahlpanzerung, die sie trugen, mehr als imposant. Arcturus kannte die Panzerung aus den technischen Handbüchern, die er in der Bibliothek gelesen hatte. Das waren CMC-300 Powered Combat Suits, eine brandneue Entwicklung, die die überholte CMC-200-Serie ersetzte. Energiebetriebene Kampfanzüge wie sie die Soldaten des Marine Corps der Konföderation trugen. KAPITEL 4 Direktor Steegman kam ohne Umschweife zur Sache. Sobald alle Jungen aus der Oberklasse Platz genommen hatten, umfasste er das Pult mit beiden Händen und beugte sich nach vorne eine Haltung, von der er, wie Arcturus wusste, annahm, dass sie Autorität ausdrückte. In Wirklichkeit unterstrich sie lediglich, wie klein er war, aber entweder war das sonst noch niemandem aufgefallen, oder es war keinem in den Sinn gekommen, Steegman darauf hinzuweisen. „Wir können uns in der Tat glücklich schätzen", begann Steegman, und sein nasaler Tonfall nagte an Arcturus' Nerven, „tapfere Repräsentanten des Konföderierten Marine Corps bei uns begrüßen zu dürfen, die heute zu Ihnen sprechen möchten. Es ist uns eine große Ehre, und ich weiß, Sie werden ihnen einen frenetischen Willkommensgruß nach Art unseres Hauses bereiten." Diese letzte Bemerkung war eindeutig eine Anweisung, und die versammelten Jungen spendeten begeisterten Applaus, als Steegman vom Pult zurücktrat und einer der Marines vortrat. Seine schweren Schritte dröhnten auf dem Holzboden der Bühne. Er erreichte das Pult und nahm seinen Helm ab, womit er
enthüllte, dass er in Wahrheit eine Sie war. Und eine umwerfend schöne Sie noch dazu. Die Soldatin legte ihren Helm auf dem Pult ab und lächelte den anwesenden Knaben zu, die jetzt noch interessierter am Vortrag dieses Morgens schienen. Hinter der Frau teilte sich der Vorhang und gab den Blick frei auf einen großen Projektionsschirm, auf dem die rotblaue Flagge der Konföderation zu sehen war, die sich vor einem goldenen Sonnenuntergang dramatisch im Wind bauschte. Im Hintergrund spielte bewegende Musik, die von der Haussprechanlage in den Versammlungssaal übertragen wurde. „Guten Morgen, ich heiße Angelina Emillian", stellte sich die Soldatin vor. „Ich bin ein Captain der 33. Bodenangriffsdivision des Konföderierten Marine Corps, und ich bin heute auf Einladung Ihres Direktors hier, um über Berufslaufbahnen im Marine Corps zu sprechen." Captain Emillian trat an den Bühnenrand vor und stemmte die Hände in die Hüften. „Ich weiß, was Sie jetzt denken." Ein nervöses Kichern geisterte durch den Saal, das darauf hindeutete, dass Emillian sich vielleicht besser nicht vorstellen sollte, was viele der Jungen in diesem Augenblick dachten. „Und zwar: Warum, im Namen der heiligen Hölle, sollte ich dem Marine Corps beitreten wollen? Richtig? Schließlich dürfen Sie als Absolventen dieser Schule zweifelsohne damit rechnen, einen gemütlichen, gut bezahlten Job zu finden. Und es ist gefährlich, nicht wahr? Sie könnten ums Leben kommen. Das Corps ist für Loser, denen keine anderen Möglichkeiten offenstehen, stimmt's?" Arcturus sah, wie Direktor Steegmans Augen sich vor Überraschung weiteten. Captain Emilhans Präsentation fing offenbar nicht so an, wie er es sich vorgestellt hatte, und schon allein aus diesem Grund erwärmte Arcturus sich für die hübsche Soldatin. „Nun, wenn Sie das glauben, dann habe ich Neuigkeiten für Sie, meine Herren. Sie liegen völlig falsch." Captain Emillians Blick schweifte in die Runde, ihr Selbstvertrauen und ihre stählerne Haltung bannten jedermanns Aufmerksamkeit. „Das Konföderierte Marine Corps steht für drei Prinzipien", sagte Emillian und schlug sich mit der Faust in die Handfläche, um jedes einzelne zu betonen. „Stärke. Stolz. Disziplin. Diese Ideale befähigen das Konföderierte Marine Corps seit über hundertfünfzig Jahren, die Interessen der Konföderation entlang des galakti-
schen Randes zu verteidigen. Und jetzt denken Sie, dass die Marines nur resozialisierte Brathirne sind, aber ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass das nicht wahr ist. Marines kommen aus allen Schichten der Gesellschaft, aber eines haben sie gemeinsam die Aufopferungsbereitschaft für den Schutz der konföderierten Lebensart." Während Emillian sprach, zeigte der Projektionsschirm hinter ihr Bilder von lachenden Marines, die sich an Felswänden abseilten, Padball spielten oder auf Skiern über verschneite Hänge wedelten. In Arcturus' Augen hatten sie so viel Spaß, dass es ein Wunder war, wie sie nebenher noch Zeit fanden, richtige Soldaten zu sein. „Das Corps bietet jungen Männern und Frauen zahllose Möglichkeiten, den Sektor zu bereisen und wertvolle EchtweltErfahrungen zu sammeln. Wir trainieren Sie. Wir unterrichten Sie. Wir machen Sie zu effizienten Kämpfern, die sich den Respekt und die Bewunderung Gleichaltriger erwerben. Während Ihrer Dienstzeit entscheiden Sie, wo und was Sie lernen. Und nach Abschluss Ihrer kurzen Dienstzeit verfügen Sie über eine Charakterstärke, die Sie nirgendwo sonst finden." Jetzt zeigte der Projektionsschirm Marines, die sich durch einen Hindernisparcours kämpften. Männer und Frauen, unter deren Haut sich die Muskeln deutlich abzeichneten und die aussahen wie Filmstars. Wieder schienen sie einen Heidenspaß zu haben, trotz der körperlichen Anstrengung, und Arcturus fragte sich, wer diesen Reklamefilm gedreht haben mochte offensichtlich jemand, der keine Hemmungen vor visueller Übertreibung kannte. „Der Dienst im Corps ist eine ehrenhafte Tradition, und der Beitritt bringt viele Vorteile. Sold und Bedingungen wurden im Laufe der Jahre stetig besser, und kaum mehr als fünfzig Prozent der Rekruten erleben je ein richtiges Kampfgefecht. Aber mit der neuesten Waffen- und Schutztechnik ausgerüstet, hat ein Marine ohnedies kaum etwas zu befürchten vor denen, die bekämpft werden müssen. Und vergessen Sie nicht, dass Ihre Dienstzeit in Ihrer persönlichen Dauerakte verzeichnet wird. Verbinden Sie das mit dem Ruf dieser noblen Institution, und Sie haben den Schlüssel, der Ihnen nach Ihrem Ausscheiden jede Tür öffnet. Ein Leben im Marine Corps ist ein Leben ohne Beschränkungen. Ein Leben, das dem Gemeinwohl der Konföderation und all ihrer Angehörigen dient. Sie können ein Teil davon sein, meine Herren. Sie können
Änderungen bewirken. Sie können alles sein, was Sie nur werden wollen." Wider Willen fühlte Arcturus sich erfasst von dem allgemeinen Enthusiasmus, der den Versammlungssaal erfüllte. Die sich immerfort wiederholenden Bilder von gut aussehenden, zufriedenen Soldaten und Emillians charismatischer Vortrag wirkten zusammen und vermittelten ihm das Gefühl, dass ein Leben beim Militär vielleicht gar keine so schlechte Wahl war. Captain Emillian trat zurück und salutierte den versammelten Jungen, und die beiden Marines, die hinter ihr standen, wiederholten die Geste. Donnernder Applaus brandete auf, und Arcturus stellte fast überrascht fest, dass er mit den anderen Jungen aufstand, als diese sich erhoben, um Captain Emillian im Stehen Beifall zu klatschen. Sie lächelte und verbeugte sich knapp, dann drehte sie sich um und schüttelte Direktor Steegman die Hand. Es reizte Arcturus zum Lachen, wie armselig unbedeutend der Mann neben der gerüsteten Soldatin wirkte. Steegman kehrte an sein Pult zurück und gebot mit erhobener Hand Ruhe, die sich allerdings erst nach minutenlangem Applaus und gellenden Pfiffen einstellte. Als die jungen Männer und Frauen sich wieder setzten, sagte Steegman: „Danke, Captain Emillian, für diese bewegenden Worte. Ich bin sicher, Sie haben unserem Abschlussjahrgang viel Stoff zum Nachdenken gegeben." Abermals lief Gekicher durch die Reihen. „Und nun", fuhr Steegman fort, taub für die Wirkung, die seine ungeschickt gewählten Worte hervorgerufen hatten, „bitte ich Sie, einen Blick auf den Lesestoff zu werfen, den das Konföderierte Marine Corps freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Der Unterricht beginnt in einer Stunde, das gibt Ihnen reichlich Zeit, sich damit vertraut zu machen und mit den Rekrutierungssergeants des Corps zu sprechen." Arcturus folgte Steegmans Blick und sah entlang der Wand des Saales eine Reihe von Tischen, auf denen sich Broschüren und Bücher stapelten. Zuvor waren sie ihm nicht aufgefallen, sein Augenmerk hatte ganz Captain Emillian und ihrer Darbietung gegolten. Hinter den Tischen standen hochgewachsene, attraktive Marines beiderlei Geschlechts in makellos gebügelten Paradeuniformen, marineblau und mit blitzenden Knöpfen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
„Wegtreten", sagte Direktor Steegman, und die Jungen der Akademie erhoben sich wie in einer Welle und gingen erwartungsvoll zu den Tischen hinüber. Arcturus folgte der Herde, neugierig darauf, zu sehen, was im Angebot war. „Nun halt doch mal still", sagte Katharine Mengsk, während sie die rote Toga mit einer Bronzeklammer um die Schultern ihres Gatten befestigte. „Das ist so schon schwer genug, auch ohne dein dauerndes Gezappel." „Nervtötend ist das, weiter nichts", entgegnete Angus. „Warum muss ich dieses Ding tragen?" „Tradition", antwortete seine Frau. „Tradition." Angus spuckte das Wort aus wie den dreckigsten Fluch, den er kannte. „Du kannst die Rede zum Ende dieser Sitzungsperiode des Senats schlecht in deinem alten Anzug halten, oder?" „Na schön", brummte Angus. „Aber warum zwingst du mich, das Ding jetzt schon zu tragen? Die Rede steht doch erst in zwei Monaten an." Achton Feld unterdrückte ein Grinsen über Angus' Jammerei, während seine Frau ihn hierhin und dahin drehte, um den Sitz und Faltenwurf des Zeremoniengewandes eines Senators von Korhal zu ändern. Das Gewand war schwer, und es sah unbequem aus. Aber der Regierungsapparat von Korhal blickte auf eine lange Tradition zurück, wo es um den Pomp und die Förmlichkeit seiner Verfahrensweisen ging. „Weil es", sagte Katherine geduldig, „einiger Änderungen bedarf, mein Lieber. Es ist ein paar Jahre her, seit du es zuletzt getragen hast, und du bist nicht mehr so elfenhaft, wie du es einmal warst." „Du sagst also, ich bin fett", beklagte sich Angus. „Aber nicht doch", erwiderte Katherine leichthin. „Nur staatsmännischer." Angus wirkte nicht überzeugt, und Feld erhob sich von seinem Sessel und trat ans Balkonfenster des Skyspires, als er spürte, wie sein Brötchengeber ihn mit einem Blick maß, der prüfen sollte, ob Feld es wagte, über das Unbehagen des Senators zu lachen. Feld rückte das Holster unter seiner Jacke zurecht und zuckte
zusammen, als das Fleisch seiner Schulter sich dort spannte, wo die Ärzte sechs Impaler-Geschosse daraus entfernt hatten. Man hatte ihm gesagt, er könne von Glück reden, noch am Leben zu sein zehn Zentimeter weiter und die Treffer hätten seine Lunge perforiert. Monate schmerzhafter Hauttransplantationen und Operationen zur Knochenrekonstruktion hatten ihm reichlich Gelegenheit gegeben, dieses Glück zu verfluchen, sobald die Wirkung der Schmerzmittel nachgelassen und nicht einmal mehr Scotch geholfen hatte. Katherine zupfte weiter an Angus herum. Feld aktivierte das Kraftfeld, das den Balkon abschirmte, und ging nach draußen. Der Energieschirm hatte ein kleines Vermögen gekostet und schützte den Balkon nicht nur vor ballistischen Geschossen, Energiewaffen und elektronischer Überwachung, er hielt darüber hinaus auch den Wind ab, der ein Bauwerk in solcher Höhe umheulte. Feld trat an die von Hand gefertigte, schmiedeeiserne Brüstung des Balkons, stützte sich sanft mit den Ellbogen darauf und bewunderte die Aussicht, die kaum noch zu überbieten war. Der obere Balkon des Mengskschen Turmes befand sich im 160. Stockwerk des Gebäudes, gut achthundert Meter über den Straßen. Im Norden ragten die Berge auf wie die Wehrmauern einer Riesenburg, und im Süden wurde die Landschaft zunehmend grüner, bis sie an die azurblaue Linie des Meeres stieß. An einem klaren Tag wie diesem war die ferne Küste auszumachen, und durch das Fernrohr, das auf einem Dreibein am Rand des Balkons befestigt war, konnte man die Sommervilla als weißes Oval erkennen. Styrling breitete sich unter Feld als silbernes Netz aus, und an allen Seiten des Skyspires erhoben sich himmelhohe Türme wie Stalagmiten aus Stahl und Glas. Von hier aus zeigte sich die schiere Größe der pulsierenden Stadt, und dass ein derart gewaltiges Ballungszentrum in so kurzer Zeit gebaut worden war, zeugte von der Genialität und dem Engagement der Bevölkerung Korhals. Dass man es im Angesicht der wuchernden Korruption der Konföderation vollbracht hatte, machte die Leistung nur noch beeindruckender. Feld liebte Styrling: Von hier oben aus konnte er das Grün des Kriegsfelds sehen, dem Ort, an dem Korhal Mitglieds-
planet der Konföderation geworden war. Jener Tag war vor vielen Jahren so voller Verheißungen gewesen, heute jedoch diente das Kriegsfeld den Konföderierten Marines als Exerzierplatz und war nichts weiter als eine bittere Erinnerung daran, wie schlimm alles geworden war. Jenseits des Kriegsfelds lag das Palatine-Forum, der Sitz des Senats von Korhal. Sein bronzenes Dach strahlte wie ein Leuchtfeuer, schimmerte im Sonnenlicht wie geschmolzenes Gold. „Erhebend, nicht wahr?", sagte Angus, als er auf den Balkon neben Feld trat. „Erinnert uns daran, was wir zu erreichen trachten." Für einen großen, kräftigen Mann, wie er es war, verstand es Angus Mengsk, sich lautlos zu bewegen, wenn er es wollte. Feld hatte nicht gehört, wie er näher gekommen war. „Ja, ein wunderbarer Anblick", pflichtete Feld bei. „Man spricht vom Juwel in der Krone der Konföderation." „Das habe ich auch schon gehört, ja. Und jetzt willst du dieses Juwel also stehlen." „Vor deren Nase weg", sagte Angus mit einem Lächeln. „Dieses Juwel steht ihnen nicht zu. Nicht mehr." „Und was werden wir tun, wenn wir gewinnen?", fragte Feld. „Wenn wir gewinnen?", entgegnete Angus. „Glaubst du etwa, wir könnten die Konföderation nicht besiegen?" „Es ist mir inzwischen egal", antwortete Feld, richtete sich auf und straffte die Schultern. „Ich will ihnen einfach nur wehtun." „Oh, das werden wir, mein Freund. Mach dir da mal keine Sorgen", versprach Angus. „Du glaubst wirklich, dass wir sie zu Fall bringen können?" „Ja, das glaube ich." Angus nickte. „Ich würde das nicht tun, wenn ich es nicht glaubte. Es wird vielleicht nicht zu unseren Lebzeiten geschehen, aber was wir hier auf den Weg bringen, wird der Anfang von etwas wahrlich Außerordentlichem sein. Auch ein Erdrutsch beginnt mit einem einzelnen Steinchen, nicht wahr?" „Das stimmt." „Der Einfluss der Konföderation weitet sich aus", fuhr Angus fort, und sein Ton wurde feuriger, wie es immer der Fall war, wenn er von seinem Hass auf die Korruption sprach. „Aber die Leute, die über die Macht zu handeln verfügen, sind genau diejenigen, die nicht einsehen wollen, dass im Herzen dieser Macht etwas schrecklich Böses nistet."
„Warum ist das wohl so? Es muss doch offensichtlich sein, oder nicht?" „Natürlich ist es das, aber das Problem zu erkennen, zieht die moralische Verpflichtung nach sich, dann auch etwas dagegen zu tun", erwiderte Angus. „Und es haben zu viele Leute ein zu persönliches Interesse an genau dieser Entwicklung der Dinge, um dagegen aktiv zu werden." „Und du nicht?" „Die Alten Familien und der Rat können mir Schwierigkeiten bereiten, ja, aber sämtliche Geschäftsbereiche meiner Familie sind unabhängig. Meine Fabriken gehören allein mir, von den Hovercar-Werken bis hin zu den AAI-Produktionsstätten. Sie können nirgendwo Druck auf uns ausüben." „Nicht auf legale Weise jedenfalls." „Ich zweifle nicht daran, dass die Konfeds Piratenbanden und Söldnertruppen finanzieren werden, um uns jenseits des Planeten Ärger zu bereiten. Aber wir haben schon zu viel erreicht, um jetzt noch aufzugeben. Schon bald wird es uns möglich sein, mehr zu tun, als nur Bomben zu legen und einzelne Marine-Trupps in einen Hinterhalt zu locken. Schon bald werden wir in der Lage sein, ihnen den Krieg zu erklären." Feld vernahm die unverkennbare Wonne in Angus' Ton und fragte sich, ob der Senator denn wirklich begrüßte, was auf dem Spiel stand, wenn sie es mit der immensen Macht der Konföderation aufnahmen. Es hatte bereits Tote gegeben, und überall auf Korhal machten konföderierte Truppen knallhart Druck. Frühmorgendliche Angriffe auf diejenigen, die sie terroristischer Aktivitäten verdächtigten, waren an der Tagesordnung, und nur Felds Beharren auf wasserdichter Sicherheit und absoluter Isolation der verschiedenen aktiven Zellen voneinander hatten die Unversehrtheit der noch jungen Widerstandsbewegung bewahrt. Mochte über Korhal auch noch nicht das Kriegsrecht verhängt worden sein, so würde es doch keiner großen Anstrengungen mehr bedürfen, die Konföderation dorthin zu führen. „Lass uns mit Bedacht vorgehen", warnte Feld. „Wenn wir die Dinge überstürzen, laufen wir Gefahr, alles zu verlieren." „Du hast natürlich recht", sagte Angus. „Aber es wird der Moment kommen, da die Waage sich neigt, und wenn wir dann nicht handeln, werden wir das Nachsehen haben. Und dieser Moment wird bald kommen, Achton. Die Waffen und das Gerät, das von
Umoja hergebracht wird, machen uns mit jedem Tag stärker. Unsere Männer sind inzwischen beinahe so gut ausgerüstet wie die Marines." Das stimmte, wie Feld zugeben musste. Tag für Tag trafen von Umoja durch irgendwelche Scheinfirmen und auf den üblichen Frachtrouten Lieferungen „industrieller Bauteile" für die Mengskschen Fabriken ein. Harmlos beschriftet und mit den nicht zu beanstandenden Papieren versehen, waren diese Frachtcontainer in Wahrheit gefüllt mit Waffen, Munition, Sprengstoff, Rüstungen und Technologie, die es den Freiheitskämpfern von Korhal ermöglichten, im Auftrag von Angus Mengsk Verwüstungen unter den Konfeds anzurichten. „Ich hätte nie gedacht, dass Ailin Pasteur sich so einsetzen würde, wie er es tut." „Er ist ein guter Mann, und man sollte ihn nicht unterschätzen", sagte Angus. „Ich bezweifle nicht, dass er uns mehr um Umojas als um unseretwegen hilft, aber ich nehme, was ich kriegen kann." „Hat er immer noch vor, zu deiner Abschlussrede zu kommen?" Angus nickte. „Ja. Er und Juliana werden Ende der Woche nach Korhal zurückkehren." „Seine Tochter kommt auch?", fragte Feld. Er gab sich keine Mühe, seine Verärgerung zu verhehlen. „Davon war in den Sicherheitsbesprechungen aber keine Rede. Das macht die Dinge komplizierter. Warum wurde ich nicht darüber unterrichtet?" „Ich habe es selbst erst heute Morgen erfahren", antwortete Angus in sachlichem Ton. „Offenbar hat mein Sohn Ailins Tochter gebeten, ihn zu seinem Abschlussball zu begleiten. Und ärgerlicherweise hat sie die Einladung angenommen." Feld wandte den Blick ab und verfluchte Angus dafür, seinem ohnehin schon überarbeiteten Sicherheitspersonal auch noch diese unnötige Belastung aufzubürden. Feld hatte nach dem Überfall auf die Sommervilla nicht nur zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen, er ließ darüber hinaus auch sämtliche Angehörige der Familie Mengsk von Leibwächtern schützen. Katherine war vergleichsweise leicht zu behüten, da sie stets in Angus' Nähe war, und Dorothy wurde sicher zur Vorschule und wieder zurück gebracht. Arcturus allerdings schien es Spaß zu bereiten, Feld das Leben schwer zu machen. Und das war gewiss ein weiterer seiner Ränke, mit denen er Felds Geduld prüfte.
„Großartig", seufzte Feld. „Noch ein Problem, das ich eigentlich nicht brauchte. Als würdest du die Dinge nicht sowieso schon schwierig genug machen." „Ich weiß, worauf du hinaus willst, Achton, und die Antwort lautet immer noch nein." Feld wusste, dass er gegen Angus auf verlorenem Posten stand, aber das hielt ihn nicht davon ab, es wenigstens zu versuchen. „Hör zu", sagte er. „Du brauchst mehr Leibwächter, wenn du zum Forum gehst. Du bist zu angreifbar, und wenn du mir nicht erlaubst, mehr Männer an deine Seite zu stellen, kann ich für deine Sicherheit nicht garantieren." „Ich habe es dir doch gesagt", erwiderte Angus, und sein Tonfall machte deutlich, dass er dieses Thema allmählich satt hatte. „Ich werde nicht inmitten bewaffneter Soldaten zum Senat gehen. Ich darf nicht den Eindruck erwecken, als reiste ich wie ein Kriegsherr. Man muss mich als die Stimme des Friedens betrachten." „Aber..." „Nichts aber", unterbrach Angus. „Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Ich habe mich bereits mit einem ruinös teuren persönlichen Schutzfeld einverstanden erklärt, über das ich nicht glücklich bin, aber von Soldaten werde ich mich nicht umringen lassen. Das Forum ist ein Ort der Demokratie und der Debatte, und Lennox Craven wird mich als Tyrannen oder Thronräuber bezeichnen, wenn ich mit einem Gefolge bewaffneter Männer eintreffe." „Na schön, es ist schließlich deine Beerdigung", meinte Feld. „Ich sage dir nur, was ich denke. Hey, ich hätte einen gemütlichen Job auf Bronte bekommen können, wo man mir ein Vermögen dafür bezahlt hätte, reiche Kinder babyzusitten, weißt du?" „Und? Was hielt dich davon ab?" Feld seufzte. „Verdammt, ich wäre an Langeweile gestorben, das weißt du doch ganz genau." „Du bist ein Mann der Tat", pflichtete Angus bei. „Und du bist mein Freund. Darum bedeutet es mir sehr viel, wie du dich für meine Sicherheit engagierst." „Vergiss nur nicht, dass dir dieses Kraftfeld nur ein paar Minuten lang Schutz bietet, gerade lange genug, um bis zum Forum zu kommen." „Ja, das hast du mir schon dutzendmal gesagt." Feld schüttelte reuig lächelnd den Kopf. „Ich bekomme mein Geld auch dann noch, wenn du stirbst, oder?"
„Ehrlich, Feld, ich schwöre, du bist schlimmer, als meine Mutter es je war." „Sie war eine sensible Frau, deine Mutter", entgegnete Feld. „Pah, es gibt keinen Grund zur Sorge, Feld", behauptete Angus. „Du siehst Gespenster, das ist alles." Das Gedränge um die Tische herum hatte mittlerweile etwas nachgelassen, und Arcturus nahm eine der Broschüren auf. Eine animierte Grafik der Flagge der Konföderation flatterte unter den Worten: „Das Konföderierte Marine Corps ein Platz für Helden." Die beiden Marines, die unbeweglich hinter Captain Emillian gestanden hatten, zogen nun ihre Runden durch den Versammlungssaal, demonstrierten die Funktionsweise ihrer Schutzanzüge und erlaubten es den Studenten, die AGR-14 Gaußgewehre einmal selbst in die Hand zu nehmen. Arcturus legte die Broschüre zurück, gerade als sich der Rekrutierungssergeant über den Tisch beugte. Arcturus roch die Politur der Messingteile der Uniform, dazu das süßliche, etwas Übelkeit erregende Aroma von Waffenöl. Das Gesicht des Marines war offen und ernst, aber bar jeglicher anderer persönlicher Regung. „Denken Sie darüber nach, sich uns anzuschließen, Sohn?", fragte der Mann. „Vielleicht", gab Arcturus zurück. „Ich habe mich noch nicht entschieden." „Es ist ein ehrenwerter Beruf, Sohn", sagte der Marine. Er beugte sich noch ein klein wenig weiter vor, und Arcturus bemerkte die verräterische Ausbeulung von Resozialisationsnarben direkt unterhalb des Uniformkragens. „Wann sind Sie ins Corps eingetreten?", wollte Arcturus wissen. „Vor sechs Jahren, und ich habe nie zurückgeschaut", sagte der Marine, wie aus der Pistole geschossen, und Arcturus entging nicht, dass die Worte wie auswendig gelernt klangen. „Die beste Entscheidung, die ich je traf, Sohn, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe den ganzen Koprulu-Sektor bereist, alle Arten von Welten gesehen und viele interessante Leute getroffen." „Und umgebracht?", fragte Arcturus spitzbübisch. „Nun, das wollen wir einstweilen außen vor lassen", meinte der Marine. „Wie heißen Sie, Sohn?" „Arcturus Mengsk." „Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Arcturus. Also, was
Sie bedenken müssen, sind all die Möglichkeiten, die das Corps Ihnen bieten kann. Reisen, Selbstachtung, Ehre, Disziplin..." „Und? Haben Sie?", unterbrach Arcturus den Marine. „Jemanden umgebracht, meine ich." „Sehen Sie, Arcturus", erwiderte der Sergeant, „ein Marine zu sein, bedeutet, dass man ab und zu Menschen töten muss, aber nur diejenigen, die es verdienen. Wenn böse Leute versuchen, mich oder meine Kameraden zu töten, dann bleibt einem keine Wahl. Wenn jemand ein Gewehr auf dich richtet, nun, dann kann man nur eines tun, oder?" „Ich nehme an, das hängt davon ab, warum der andere das tut", wandte Arcturus ein. „Machen Sie wieder Ärger, Mengsk?", sagte da eine Stimme hinter ihm, und Arcturus erkannte den herablassenden Tonfall von Direktor Steegman. „Überhaupt nicht, Sir", erwiderte Arcturus und drehte sich auf dem Absatz um. „Ich versuche lediglich herauszufinden, worauf ich mich hier einlassen würde." „Ein Abstecher ins Militär würde Ihnen sehr, sehr gut tun, Mengsk", meinte Steegman. „Würde Ihnen die Klugscheißerei austreiben. Etwas militärische Disziplin brächte Sie rasch auf den rechten Pfad." „Ich wusste gar nicht, dass ich auf dem falschen bin, Sir." Der Direktor beugte sich vor, und Arcturus musste dem Drang widerstehen, ob des überwältigenden Geruchs von Steegmans Aftershave zu husten. „Ich kenne Typen wie Sie, Mengsk", zischte er. „Wenn es nach mir ginge, würde ich euch alle einziehen lassen. Eine Dosis militärische Ausbildung ist genau das, was es braucht, um aus einem Jungen einen Mann zu machen." Bevor Steegman nachlegen konnte, fiel ein Schatten über ihn. Arcturus blickte auf und in das Gesicht von Angelina Emillian. Aus der Nähe sah sie noch beeindruckender aus. Die wuchtige Kampfrüstung ließ sie Arcturus um eine zusätzliche Fußlänge überragen, und er war beileibe nicht klein. Direktor Steegman wirkte neben ihr wie ein Kind. „Und in welcher Einheit dienten Sie, Direktor Steegman?". „Wie bitte?" Captain Emillian lächelte zuckersüß. Ihr perfektes Lächeln präsentierte perfekte Zähne. „Ich fragte nur, in welcher Einheit Sie
dienten. Als Sie beim Militär waren." „Ich, äh... ich war nicht...", stammelte Steegman. „Das heißt, ich konnte nicht... weil..." Arcturus biss sich auf die Lippe und senkte den Blick, um seine Erheiterung über Steegmans Unbehagen zu verbergen. Als er wieder aufschaute, sah er, wie Steegman ihn anstarrte, das Gesicht vor Verlegenheit gerötet. „Dürfte ich kurz mit Mr. Mengsk sprechen?", fragte Emillian. Steegman nickte knapp und floh dann beinahe vor der Soldatin. „Ich glaube, ich liebe Sie", sagte Arcturus mit einem breiten Grinsen. „Da wären Sie nicht der Erste", erwiderte Captain Emillian. Arcturus sah Direktor Steegman nach und sagte: „Er hat immer vorgegeben, beim Militär gewesen zu sein, aber ich war mir fast sicher, dass er lügt." „Um ehrlich zu sein, hat er sich bei der Kolonialen Flotte beworben, aber er bestand die Aufnahmeprüfung und den Tauglichkeitstest nicht. Und unter uns, die Tauglichkeitstests für die Flotte sind ein Kinderspiel." „Danke jedenfalls, dass Sie mich vor ihm gerettet haben, Captain", sagte Arcturus. „Mr. Mengsk?", sprach Emillian ihn an, als er sich schon umdrehen wollte. „Ja?" „Ich habe Sie nicht aus reiner Herzensgüte aus der Schusslinie Ihres Direktors genommen. Ich möchte tatsächlich mit Ihnen reden." „Ach ja? Na gut, gerne", meinte Arcturus, erfreut über Emillians Interesse. Er sah, wie seine Kommilitonen neidvoll zu ihnen herschauten, und genoss die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde. „Danke, Sergeant Devlin", wandte Emillian sich an den Marine, der nach wie vor in Habachtstellung hinter Arcturus stand. „Das wäre dann alles." Der Marinesergeant salutierte zackig. „Ja, Ma'am." Damit schritt Captain Emillian davon, die Hände auf dem Rücken, und Arcturus musste sich beeilen, damit sie ihn nicht abhängte. „Bringen Sie immer resozialisierte Marines zu Rekrutierungsveranstaltungen mit?", fragte er. „Meistens", erwiderte Emillian. „Sie sind zwar keine großen
Redner, aber sie verstehen sich darauf, den Studenten auf ihre Fragen die richtigen Antworten zu geben." „Und was hat er gemacht?", wollte Arcturus wissen. „Dieser Sergeant Devlin, was hat er getan?" „Ich weiß es nicht", gab Emillian zurück. „Diese Akten sind versiegelt. Wenn Sie erst einmal ein Marine sind, resozialisiert oder nicht, ist Ihre Vergangenheit irrelevant. Sie sind dann einfach nur ein Marine, so simpel ist das." „Das ist ja sehr egalitär, aber ich glaube nicht, dass es die ganze Wahrheit ist." „Das ist es auch nicht, aber würden Sie lieber hören, dass er seine ganze Familie mit einem Schlachtermesser umgebracht hat? Oder vielleicht, dass es ihm Spaß machte, im Park kleine Jungs zu missbrauchen?" „Ich verstehe, was Sie meinen", sagte Arcturus. Er schaute über die Schulter nach hinten in das ausdruckslose Gesicht von Sergeant Devlin und stellte es sich wutverzerrt vor, in seiner Hand ein blutiges Messer. „Die Elite, die Stolzen, die Psychopathen...", murmelte er. „Sie versuchen sich über uns lustig zu machen, aber das wird nicht funktionieren, Arcturus", sagte Emillian mit einem Lächeln. „Nein? Warum nicht?" „Weil ich weiß, dass Sie bereits mit dem Gedanken spielen, sich uns anzuschließen." „Tue ich das?", erwiderte Arcturus. „Und woher wollen Sie das wissen?" „Ich weiß mehr über Sie, als Sie glauben. Ich habe Ihre Prüfungsergebnisse gesehen und Ihr psychologisches Profil gelesen. Ich weiß, dass Sie über hervorragende Führungsqualitäten verfügen sowie über ein Selbstvertrauen, das andere Menschen dazu bringt, Ihnen folgen zu wollen. Ich weiß, dass Sie ein Problem mit Autoritätspersonen haben, denen Sie sich überlegen fühlen, und ich weiß, dass Ihr IQ sich am oberen Ende des Genialitätslevels bewegt." „Diese Daten unterliegen der Geheimhaltung", sagte Arcturus, eher verärgert über ihre punktgenaue Beurteilung seiner Persönlichkeit, als über die Verletzung seiner Privatsphäre. Es gefiel ihm nicht, von anderen so leicht durchschaut zu werden. „Ja, das stimmt, aber Direktor Steegman gab uns Gelegenheit, uns über seine Studenten des Abschlussjahrgangs zu informieren,
bevor wir heute herkamen. Das erleichtert die Auswahl potenzieller Rekrutierungskandidaten ungemein." „Verstößt das nicht gegen das Gesetz?" „Davon bin ich fest überzeugt." Emillians unumwundenes Eingeständnis überraschte Arcturus, und er lächelte, als ihm der Grund dafür klar wurde. „Sie versuchen, die Befangenheit zwischen uns auszuräumen, indem Sie ein Geheimnis mit mir teilen", sagte er. „Sie denken, ich würde Ihnen mehr vertrauen, wenn ich wüsste, dass Sie mein psychologisches Profil gelesen habe, weil ich dann glauben müsste, Sie seien ehrlich zu mir und appellierten an meinen Sinn fürs Rebellische." Captain Emillian nickte. „Sehr gut. Und? Klappt es?" „Ein bisschen", gab Arcturus zu. Er genoss das Hin und Her zwischen ihm und dieser attraktiven Kriegerin. „Dann erzählen Sie mal, Arcturus", sagte Emillian, blieb an einem der Tische stehen und nahm einen Packen Handzettel auf. „Was wollen Sie mit sich anfangen, wenn Sie die Akademie erst einmal hinter sich haben?" „Ich dachte daran, Prospektor zu werden, zu den äußeren Welten zu reisen und unerforschte Bereiche des Alls zu erkunden. Da draußen gibt es Planeten, auf die noch nicht einmal die Konföderation ihren Fuß gesetzt hat. Ich möchte meine Spuren in der Geschichte hinterlassen einen Planeten benennen, etwas entdecken, das noch nie jemand gesehen hat. Sie wissen schon, das Übliche eben..." „Prospektor." Emillian nickte. „Das ist ein ehrenwerter Beruf. Wussten Sie, dass das Corps Ihnen dabei helfen kann?" „Wirklich? Wie?" „Die meisten unserer Einsätze finden auf den Randwelten statt. Wir treffen immerzu auf Bergleute. Sie könnten Erfahrungen aus erster Hand sammeln, wenn Sie mit Bergminen, Bergmännern und so weiter zu tun hätten. Ganz zu schweigen von der Übung, die Sie in Ihrer Freizeit bekämen. Die Fortbildungseinrichtungen auf den Schiffen unserer Flotte sind unübertroffen, ausgestattet mit besten Neural-Interface-Memo-Lehrern. Sie könnten sich im Schlaf völlig neue Fähigkeiten aneignen." „Klingt interessant", meinte Arcturus, und es überraschte ihn, festzustellen, dass er wirklich interessiert war. „Sie könnten es bei Weitem schlechter treffen als mit dem Corps", sagte Emillian und reichte ihm die Handzettel, die sie vom
Tisch genommen hatte. „Mit Ihren Prüfungsergebnissen qualifizieren Sie sich ohne Weiteres für eine Offiziersausbildung. Und wenn Sie Ihren Grunddienst abgeschlossen haben, können Sie jederzeit gehen, wenn Sie möchten, und die Fähigkeiten, die Sie beim Militär gelernt haben, im Zivilleben zur Anwendung bringen." „Äh... mein ,Grunddienst'... wie lange wäre der denn?", erkundigte sich Arcturus. „Das Corps bietet eine Reihe flexibler Ausbildungszeiten an", erwiderte Emillian in geschmeidigem Ton. „Es hängt ganz von Ihren Umständen ab sowie vom gegenwärtigen Gefahrenlevel, wie ihn das Oberkommando gerade definiert." „Und wie hoch ist dieser Gefahrenlevel zurzeit?" Emillian lächelte. „Niedrig", sagte sie. KAPITEL 5 Abschlussfeier. Beim Gedanken, endlich den Einschränkungen der Styrling-Akademie zu entfliehen, fühlte sich Arcturus von einem Schauer aus Nervosität und Erregung durchrieselt. Nach dem Morgen, als die Vertreter des Marine Corps zu Rekrutierungszwecken hier gewesen waren, hatte Arcturus festgestellt, dass er sich in Gedanken immer mehr mit der Idee anfreundete, dem Corps beizutreten. Er hatte sogar die elektronischen Bewerbungsunterlagen ausgefüllt nur eingereicht hatte er sie noch nicht. Die Vorstellung, den Beruf des Prospektors zu erlernen, während die Konföderation ihn dafür bezahlte, gefiel ihm, ebenso wie der Gedanke, dass sein Vater deswegen die Wände hochgehen würde. Und angesichts des momentan niedrigen Gefahrenlevels im Koprulu-Sektor würde er wahrscheinlich nur ein Minimum von drei Jahren absolvieren müssen, bevor er den Dienst quittieren und sein Leben als Prospektor beginnen konnte. Ja, die Idee war verlockend. Im Hinterkopf jedoch wurde er den Gedanken nicht los, dass sein Leben auf dem Spiel stehen könnte, und die Vorstellung, sich selbst in Gefahr zu begeben, behagte Arcturus nicht. War denn nicht das die Aufgabe der Marines Gefahren fernzuhalten! Er verdrängte das Militär aus seinem Kopf und konzentrierte
sich auf den Tag, der vor ihm lag. Er hatte genug zu bedenken, da brauchte er sich nicht auch noch zusätzliche Ablenkung zu verschaffen. Die Akademie war in Sonnenlicht getaucht, der graue Granit glänzte wie Marmor und verlieh dem Gebäude einen Anstrich von Modernität. Auf dem Rasen vor dem Hauptportal hatte man eine breite Bühne aufgebaut, davor stand Sitzreihe um Sitzreihe. Auf diesen Plätzen saßen die hundertsechsundfünfzig Studenten des Abschlussjahrgangs, die heute ihre Entlassung feierten (und das waren alle, denn eine Einrichtung vom Format der StyrlingAkademie erlaubte ihren Studenten etwas derart Prosaisches wie Durchfallen nicht), gekleidet in lange schwarze Umhänge, die mit hellblauer Seide gesäumt waren, und dazu trugen sie viereckige Hüte. Beiderseits der Sitzreihen in der Mitte der Rasenfläche waren Tribünen aufgestellt worden. Dort hatten die stolzen Eltern Platz genommen, die zuschauten, wie ihre Sprösslinge endlich die Schule abschlossen. Hinter dem Pult, an dem Direktor Steegman goldgeränderte Rollen ausgab, in denen die Diplome steckten, saßen die Lehrer und Meister der Akademie. Umrahmt wurden sie von namhaften früheren Absolventen der Akademie, den Vorsitzenden großer Unternehmen, bekannten Akademikern, Kunstmäzenen, Befehlshabern des Marine Corps, und auch der Polizeichef von Styrling war darunter. Der Direktor der Akademie trug sein goldfarbenes und schwarzes Zeremoniengewand inklusive der Casula und der hohen kegelförmigen Kopfbedeckung die ihn aussehen ließ wie einen alten Zuchtmeister -, und Arcturus war sicher, dass er unter all dem Stoff irgendetwas verbarg, das ihn größer wirken ließ. Das Schulorchester spielte schmissige Melodien, während die Studenten, einer nach dem anderen, auf die Bühne traten und von Steegman ihr Diplom entgegennahmen, jeweils unter dem herzlichen Applaus ihrer Eltern und dem knappen Beifall jener, deren Söhne oder Töchter ihr Diplom bereits bekommen hatten oder erst noch erhalten würden. Arcturus Mengsks Name stand in der Mitte der Liste, die ein Vertrauensschüler verlas, und er wartete angespannt darauf, dass er an der Reihe war, zur Bühne vorzugehen. Sein Blick wanderte über die Tribünen, und er lächelte, als er sah, wie seine Familie stolz auf ihn herunterblickte.
Dorothy sah, dass er zu ihnen hinschaute, und winkte eifrig. Seine Mutter grüßte etwas verhaltener, und selbst sein Vater schenkte ihm ein anerkennendes Nicken. Neben seinem Vater saß Ailin Pasteur, und neben ihm war Juliana. Es war das erste Mal seit dem Überfall auf die Sommervilla, dass Arcturus sie wiedersah, und abermals fühlte er sich wie gebannt von ihrer umwerfenden Schönheit. Abgesehen davon, dass er ihr Briefe schrieb, hatte Arcturus nicht weiter an sie gedacht. Aber sie nun leibhaftig da sitzen zu sehen, erinnerte ihn an das Verlangen, das sich bei ihrer ersten Begegnung in ihm geregt hatte. Der Student neben ihm, ein Idiot namens Toby Mercurio, folgte seinem Blick und sagte: „Wer ist die Schnalle, Mengsk? Süßer Hingucker." Mercurio stammte aus einer der neureichen Familien von Styrling, und seine Kinderstube ließ zu wünschen übrig; er bediente sich nach wie vor des Slangs, der aus der Gosse von Tarsonis eingeschleppt worden war. Dennoch konnte Arcturus ihm nicht widersprechen. „Ja", pflichtete er Mercurio voller Vorfreude auf den Abschlussball am Abend bei. „Genau das ist sie." „Du gehst heute Abend mit ihr zum Ball?" „So ist es, Toby." Arcturus blendete Mercurios unsinniges Geplapper aus und konzentrierte sich auf die Namen, die aufgerufen wurden. Er lächelte, als er hörte, dass bereits die Namen, die mit K anfingen, an der Reihe waren. Jetzt dauert es nicht mehr lange... Es gab nicht viele Namen mit K, und Arcturus spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, als sein eigener Name aufgerufen wurde. Er erhob sich von seinem Platz, schaute über die Schulter zu seiner Familie hinauf und trat in den Gang zwischen den Sitzreihen hinaus. Das Klatschen der Studenten klang etwas verhalten, aber Arcturus wusste, dass sich das gleich ändern würde. Hoch erhobenen Kopfes schritt er zur Bühne vor und dann zu den Stufen an der Seite hinüber. Der Schulfotograf machte ein Vidbild, und Arcturus' Blick schweifte dorthin, wo seine Eltern, wie er wusste, das Ereignis mit einer Holocam festhielten. Arcturus lächelte für den Fotografen, dann stieg er die Stufen empor und ging ohne Eile über die Bühne zu der Stelle, wo Steegman mit einem goldumrandeten Diplom auf ihn wartete.
Arcturus setzte sein einschmeichelndstes Lächeln auf und streckte die Hand aus, um die Rolle entgegenzunehmen. Es war Tradition, dass der Direktor dem Abschlussschüler gratulierte und ihm für die Zukunft alles Gute wünschte. Aber Arcturus gab sich nicht der Illusion hin, dass Steegman ihm gegenüber diese Geste zeigen würde. Und er wurde nicht enttäuscht. „Sie werden ein elendes Ende nehmen, Mengsk", sagte Steegman und reichte ihm das Diplom. „Ich habe einen Blick für die Schlechten. Und Sie sind der Schlimmste von allen." Arcturus nahm die ihm hingehaltene Rolle in die linke Hand und reichte dem Direktor die rechte, die Steegman, der sich vor den Eltern und anderen Gästen keine Blöße geben konnte, ergriff und schüttelte. „Danke", sagte Arcturus. „Ich hoffe, Sie genießen Ihren neuen Wohnsitz." Auf Steegmans Gesicht zeichnete sich Verwirrung ab, aber er fing sich rasch wieder und winkte Arcturus von der Bühne. Arcturus ging zügig um die noch sitzenden Studenten herum und hielt sein Diplom lächelnd in die Höhe, damit seine Eltern es sehen konnten. Miana war aufgestanden, sie klatschte und blickte ihn hingerissen und bewundernd an, und Arcturus lächelte. Er kehrte auf seinen Platz zurück und fischte schnell sein Fernterminal aus der Tasche. Kaum mehr als ein Kommunikationsgerät mit einem optischen Scanner, konnte die kleine Konsole sich doch aus der Entfernung in Computernetzwerke einklinken. So lange man den Verbindungsschlüssel und die Berechtigungscodes besaß, kam man ohne größere Schwierigkeiten in so ziemlich jedes Netz hinein. Arcturus gab flink die Codes für Steegmans Konsole ein, die er längst auswendig kannte dank der vielen Male, da er ins Büro des Direktors zitiert worden war, wo er im Spiegel hinter dem Schreibtisch des Idioten gesehen hatte, wie dieser die Zeichenfolgen eingab. Zahlen und Buchstaben flimmerten sekundenlang über den Bildschirm, dann zeigte er ein kleines Quadrat mit einer Textzeile darunter. DNS-Verifikation erforderlich. Arcturus presste eine Fingerspitze auf den optischen Scanner, und auf dem Monitor blinkte ein grünes Licht auf.
Identität bestätigt: Isaac Steegman. Arcturus legte die Konsole auf seinem Knie ab und zog den dünnen, transparenten Film ab, mit dem er seine rechte Hand präpariert hatte, bevor er zur Abschlussfeier gegangen war. Das biomimetische Einweg-Gel war im Chemielabor der Akademie leicht herzustellen gewesen und würde sich nun, da er es abgelöst hatte, binnen weniger Augenblicke im Sonnenlicht auflösen. Arcturus nahm die Konsole wieder zur Hand und öffnete Steegmans private Verzeichnisse. Er benutzte einen linguistischen Algorithmus, der auf einigen wohlgewählten Schlüsselwörtern basierte, und stieß rasch auf die Dateien, von denen er gewusst hatte, dass er sie finden würde. „Mein Gott, er hat nicht einmal versucht, sie zu verstecken", sagte Arcturus lachend. „Was ist das?", fragte Toby Mercurio, der neben ihm mit seinem Diplom in der Hand wieder Platz nahm. „Wirst du gleich sehen", antwortete Arcturus lächelnd. „Wart's nur ab." Schnell und methodisch markierte er alle Dateien, die sein Algorithmus zutage gefördert hatte, dann ließ er seine Konsole die Umgebung auf Fone und andere Konsolen hin scannen. Hunderte von persönlichen Bezeichnungen scrollten über den Bildschirm, darunter auch die seines Vaters und die des Polizeichefs, und mittels seiner Konsole würde Arcturus die ausgewählten Dateien zu jedem Einzelnen von ihnen schicken. Arcturus' Finger schwebte über dem Senden-Icon, und er zögerte für eine halbe Sekunde, kostete den Moment aus. „Dem Sieger fällt die Beute zu", flüsterte er und drückte Senden. Angus stützte sich mit den Armen auf das Balkongeländer des Skyspires und blickte über die nächtliche Stadtlandschaft Sterlings. Bei Tag war die Aussicht schon beeindruckend, nachts jedoch war sie wahrlich spektakulär. Ein Meer von Licht breitete sich über das Hinterland aus, das von den Bergen herunterwuchs; ein Netz miteinander verbundener Lichter, das an den Bäuchen der Wolken mit warmen goldenen Leuchten widerschien. Trotz des Aufruhrs, der auf Korhal herrschte, der Bombenanschläge und der Unruhen wie auch des Durchgreifens der Konföderation, versetzte es Angus stets in friedliche Stimmung, wenn
er bei Nacht hier oben war. Den Blick vom Balkon aus über die Stadt schweifen zu lassen, bescherte ihm einen Sinn für Perspektiven, der ihm oft abging, wenn er sich mit den Details jenes Lebens, für das er sich entschieden hatte, befassen musste. Manchmal war es gut, einen Schritt zurückzutreten von dem, was man tat, um sich das größere Bild anzusehen. Ja, die Dinge waren schwierig im Moment, aber mit jedem Schlag gegen die Tyrannei der Konföderation, lockerte sich deren Griff um Korhal ein wenig. Angus kratzte über eine längst verheilte Narbe an seinem Unterarm, die er sich auf einem Jagdausflug mit seinem Vater in den Wäldern der Provinz Keresh im Osten geholt hatte, wo er gelernt hatte, dass es kein gefährlicheres Tier gab als ein in die Ecke getriebenes. Achton Feld hatte Korhal das Juwel in der Krone der Konföderation genannt, eine passende Bezeichnung, und der Rat und die Alten Familien würden den Planeten nicht kampflos aufgeben. Nun, sie würden schon merken, wie sehr die Menschen von Korhal sich wünschten, sie loszuwerden. Angus spürte, wie sein Zorn wuchs, als er über die vielen Ungerechtigkeiten nachsann, die man den Bewohnern des KopruluSektors angetan hatte. Auf Tyrador X hatten die Einmischung der Konföderation und illegale Finanzgeschäfte zum Zusammenbruch der planetaren Wirtschaft geführt und Massenarbeitslosigkeit von globalem Ausmaß nach sich gezogen. Nur immense Darlehen (inklusive ruinöser Zinssätze) und eine ökonomische Umstrukturierung, die das gesamte System in die Hände der Alten Familien legte, hatten verhindert, dass die Bevölkerung ganzer Kontinente verhungern musste. Eine weitere bevorzugte Taktik bestand darin, Lockgeschäfte auf Randwelten anzuleiern wo die Alten Familien nicht unantastbar waren -, um die örtlichen Mitbewerber aus dem Rennen zu drängen. Und sobald alle Konkurrenz beseitigt war, verlangten die neuen Geschäftemacher für ihre Artikel zur Stillung der Grundbedürfnisse Wucherpreise. Während korrupte Geschäftsstrategien die favorisierte Vorgehensweise der Konföderation waren, schreckten die Alten Familien auch nicht davor zurück, sich mit Gewalt zu nehmen, was sie haben wollten.
Ein Prospektorenteam des Kel-Morian-Kombinats, das im Paladino-Gürtel zugange war einem Asteroidenfeld, in dem es auf den größeren Brocken gewaltige Mineralvorkommen gab -, war ausradiert worden, als CMC-Streitkräfte einen Überfall starteten, um den Teamleiter gefangen zu nehmen, ein Mann, der angeblich auf Tarsonis wegen Mordes gesucht wurde. Der Tod dieser Menschen wurde als Tragödie bezeichnet, aber binnen Tagen war eine Schürfmannschaft der Konföderation vor Ort, die unterstützt wurde von einer Marine-Garnison samt Schlachtkreuzer. Es gab Hunderte ähnlicher Geschichten über die Konföderation, Geschichten über Gier, Bestechung, Korruption und Vetternwirtschaft, die man sich bei einem Drink mit einem Schulterzucken und einem Kopfschütteln erzählte. Die Ungerechtigkeit all dessen schrie nach jemandem, der das Problem behob. Aber das Ausmaß der Konföderation ließ nicht zu, dass jemand genau dies tat. Das sei eben der Lauf der Dinge, sagte man. Angus Mengsk wollte beweisen, dass dieser Glaube falsch war. Der Gedanke, dass er die Gewalt in die Straßen und Städte Korhals gebracht hatte, erfüllte ihn nicht mit Stolz. Aber er wusste, dass es die einzige Möglichkeit war, die Menschen aufzuwecken und ihnen zu zeigen, was um sie herum vorging. Die Dinge begannen bereits, sich zu ändern. Angus zerrte den schamlosen Machtmissbrauch, den die Konföderation beging, ans Licht, und die Menschen machten endlich die Augen auf. Und was sie sahen, gefiel ihnen gar nicht. Wenn man auf UNN einen Bericht über Machtmissbrauch mitbekam, dann war das weit weg und leicht zu vergessen. Aber wenn der Ärger vor der eigenen Tür stattfand, wurde es schwer, ihn zu ignorieren. Und wenn dieser Machtmissbrauch anfing, den eigenen Lebensunterhalt und die Zukunft der Familie zu gefährden, würden selbst die apathischsten Zuschauer gezwungen sein, Stellung zu beziehen. Angus wollte keine Macht für sich selbst, und es verlangte ihn nicht danach, den gesichts- und gewissenlosen Rat mit einem Tyrannen aus eigenen Reihen zu ersetzen. Nein, wenn die Konföderation fiel, würde er sich am Aufbau einer neuen Demokratie beteiligen, die versuchen sollte, der gesamten Menschheit zu dienen und sich nicht dem Willen eines einzelnen Mannes beugte. Er spürte jemandes Gegenwart hinter sich und lächelte, als er
den Duft von Epiphany wahrnahm, dem Parfüm seiner Frau. Angus drehte sich um, und Katherine stand in dem grünen Kleid aus schimmerndem Taft mit dem marineblauen Oberteil, das sie vorhin zu Arcturus' Abschlussfeier getragen hatte, vor ihm. „Du siehst wunderschön aus, Kat", sagte Angus und nahm eines der beiden dünnstieligen Weingläser entgegen, die seine Frau in den Händen hielt. „Das hast du mir heute schon einmal gesagt, aber lass dich nicht abhalten, es wieder und wieder zu tun." Katherine lächelte. „Niemals", erwiderte Angus. „Wie konnte ich dich nur dazu überreden, mich zu heiraten?" „Das hast du nicht. Ich habe dir einen Antrag gemacht, erinnerst du dich nicht?" Angus nippte von seinem Wein. „Ich hatte dich in eine Lage manövriert, in der du keine andere Wahl mehr hattest." „Glaub das nur weiter." Es war ein bekanntes Spielchen zwischen ihnen, eines, das er und seine Frau oft gespielt hatten in den wenigen Momenten, die sie allein für sich hatten, abseits der Blicke anderer und den Zwängen von Geschäft und Revolution. Ihr Freien umeinander war stürmischer Natur gewesen, denn sie waren beide leidenschaftliche, unabhängige Menschen, die von niemandem überschattet oder eingeschränkt werden wollten. Aber während all dessen hatten sie das gemeinsame Bedürfnis nach einer Partnerschaft verspürt und erkannt, dass es auch befreiend sein konnte, eine Hälfte eines Paares zu sein. Ihre Hochzeit war der herrlichste Tag seines Lebens gewesen, und in ihrer Ehe waren sie einander Säulen der Kraft gewesen, hatten sich gegenseitig gestützt in Zeiten der Freude und der Verzweiflung und in ihrer Liebe zueinander nie gewankt. Katherine lehnte den Kopf an seine Schulter, und Angus küsste sie aufs Haar. „Schläft Dorothy?", fragte er. „Wie ein Stein", antwortete Katherine. „Der heutige Tag hat sie wirklich geschafft, das arme Ding." „Das überrascht mich nicht." „Ja, was für ein Tag, nicht wahr?", meinte Katherine, und Angus lachte so ausgelassen, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Als er sich wieder gefasst hatte, sagte er: „Du hattest schon immer einen Hang zur Untertreibung, Liebes."
Es war in der Tat ein besonderer Tag gewesen der Tag, an dem sein Sohn endlich seinen Abschluss gemacht und ein ehemaliger Student den Direktor der Akademie ins Gefängnis abgeführt hatte. Als Angus' Fon in seiner Tasche getrillert hatte, war er erst verärgert über die Störung bei der Abschlussfeier seines Sohnes gewesen, weil er strikte Anweisung an all seine Untergebenen gegeben hatte, dass man ihn nicht anrufen solle. Dann hatte er das vielstimmige Klicken, Piepsen und Pfeifen von Hunderten Fonen und persönlichen Konsolen vernommen, auf denen Datenströme eingingen. Kollektive Verwunderung hatte sich in der Menge ausgebreitet, und Angus spürte, wie sich sein Magen zusammenzog, als er erkannte, dass das Ursprungssignal von Arcturus' Konsole ausging. „O Gott, was hat er denn jetzt wieder angestellt?", flüsterte Angus, als der Bildschirm seines Fons aufleuchtete und sich eine Anzahl von Dateien darauf öffnete. Sein geübtes Auge erfasste ihre Inhalte rasch, und sein Zorn nahm zu, als er die verschiedenen Kontobewegungen und -auszüge durchging. „Dieser diebische kleine Bastard...", zischte Angus. Er schaute auf und sah dieselbe Wut auf mehreren anderen Gesichtern, die jetzt zornig auf den Direktor der Styrling-Akademie blickten. „Ich habe doch gesagt, dass er nichts weiter ist, als ein verfluchter Gauner!" „Wer?", fragte Katherine, verwirrt ob der plötzlich angespannten Atmosphäre. „Steegman", knurrte Angus, und Dorothy zuckte zusammen. „Das sind seine Privatkonten. Die kleine Kröte hat über die Jahre Millionen aus dem Schulbudget und dem Spendentopf abgezweigt." Jetzt erhoben sich die Ersten, und wütendes Stimmengewirr übertönte die Klänge des Schulorchesters und die ausgerufenen Namen der Abschlussschüler. Auf der Bühne wirkte Steegman gleichermaßen verdutzt und ungehalten über die Störung. Lautstark verlangte er nach Ruhe und Ordnung. Aber als ein wutschnaubender Schulrat auf ihn zu marschierte und ihm eine tragbare Konsole vor die Füße warf, wurde sein Gesicht bleich vor Schrecken. Er begriff, was das gesamte Publikum da gerade zu sehen bekommen hatte. Als er so auf den Tag zurückblickte, musste Angus lachen in der
Erinnerung an Steegmans halbherzige Versuche, die Ankläger zu beschwichtigen. Zu Gewaltausschreitungen war es nur deshalb nicht gekommen, weil der Polizeichef den Direktor weggezerrt und in sein Ground Car verfrachtet hatte unter dem lauten Jubel und Applaus der ganzen Studentenschaft. Die Nachricht hatte schnell die Runde gemacht, denn Arcturus war sehr gründlich vorgegangen, und noch in derselben Stunde wurde der Skandal auf UNN gemeldet. Steegman unterhielt keine Kontakte zu Leuten mit Einfluss, und ein großer Teil des Geldes, das er gestohlen hatte, stammte von einigen sehr reichen und sehr mächtigen Familien. Sie würden Steegman den Wölfen zum Fraße vorwerfen, und das Gericht würde ihm gegenüber keine Gnade walten lassen. Nach Steegmans Verhaftung hatte der Vizedirektor versucht, die Lage zu beruhigen, letztlich aber kapituliert vor der Schar wütender Eltern und jubilierender Schüler, die ihre Hüte johlend in die Luft warfen. Ein Aufruhr war nur durch die ansteckende Schadenfreude der Studenten verhindert worden; sie tanzten, lachten und sangen, als Steegman unehrenhaft abtransportiert wurde. Gegenseitige Beschuldigungen und eine gewissenhafte Untersuchung des Ausmaßes der Korruption des Direktors würden mit Sicherheit folgen. Nach Steegmans Abgang standen Personal und Eltern ratlos herum, bis der Vizedirektor sie wie einen zusammengerotteten Pöbel ins Hauptgebäude führte, während die jubelnden Studenten auf dem Rasen weiterfeierten. Ein paar der Meister der Akademie wollten den Abschlussball, der für den Abend geplant war, absagen, aber nach all dem Vergnügen dieses Tages war klar, dass die Studenten ein so rasches Ende der Feierlichkeiten nicht zulassen würden. Nun, da der Tag hinter ihnen lag, standen Angus und Katherine beisammen und tranken Wein, während der Urheber des jüngsten Schelmenstreichs sich auf seinem Abschlussball amüsierte. „Ich sollte eigentlich wütend auf ihn sein", sagte Angus. „Auf wen?", fragte Katherine. „Auf Arcturus. Auf wen denn sonst?" Katherine lachte leise. „Ich weiß, aber heute ist es schwer, wütend auf ihn zu sein. Schließlich hat er jetzt seinen Abschluss in der Tasche, und du kannst nicht behaupten, Steegman hätte nicht verdient, was passiert ist."
„Oh, das hat er wohl verdient", pflichtete Angus mit einem Lächeln bei. „Und dass er seine gerechte Strafe in aller Öffentlichkeit erhalten hat... Es macht mir beinahe nichts aus, das Geld verloren zu haben, nur weil ich dabei sein und zuschauen durfte." Katherine reckte sich und küsste ihn auf die Wange. „Wofür war das?" „Brauche ich einen Grund, um meinen Mann zu küssen?" „Nein. Nie." „Gut. Ich bin stolz auf dich", sagte Katherine. „Das weißt du doch, oder?" Angus nickte. „Das weiß ich." „Ich bin stolz auf euch beide, auf dich und auf Arcturus. Ihr seid euch sehr ähnlich, weißt du?" Angus runzelte die Stirn und sah seine Frau an. „Der Junge ist halsstarrig." „Er ist ganz der Sohn seines Vaters", meinte Katherine lachend. Angus grunzte unwillig. „Er ist klug, und er hat die Fähigkeit, alles zu erreichen. Und da will er sein Talent als Prospektor vergeuden, auf den Randwelten herumfliegen und sich mit Hinterwäldlern und Kel-Morian-Piraten abgeben? Das ist kein Leben für einen Mengsk. Wir sind für Größeres und Besseres geschaffen." „Würde ich dich nicht besser kennen, könnte ich glauben, aus dir spräche Hochmut", sagte Katherine. „Aber du weißt, dass das nicht so ist", entgegnete Angus. „Du siehst es doch auch du hast dem Jungen oft genug gesagt, dass etwas Großes aus ihm werden kann, wenn er nur will." „Aber genau das ist doch der Punkt, verstehst du nicht? Er muss es wollen. Inzwischen solltest du doch wissen, dass du Arcturus zu nichts zwingen kannst, was er nicht will. Je mehr du ihn auf einen bestimmten Weg zu drängen versuchst, umso mehr wird er sich dir widersetzen." „Halsstarrig", wiederholte Angus. Aber sein Ton war diesmal sanft. „Genau wie du es warst", erinnerte ihn Katherine. „Bis du mich kennenlerntest." Angus trank einen Schluck Wein und neigte den Kopf, um sie zu küssen. „Dann lass uns hoffen, dass die Frauen in seinem Leben so klug und besänftigend sind wie du." Katherine lächelte ihn an, und Angus Mengsk wusste, dass es keinen glücklicheren Mann gab als ihn.
Der Versammlungssaal war verwandelt worden. Für gewöhnlich handelte es sich um einen nüchternen, kalten Ort für Ankündigungen, die neuesten Sportergebnisse und langweilige Vorträge, aber jetzt war es ein Ort der Festlichkeit. Hunderte von Studenten füllten den Saal, tranken, tanzten und genossen den schieren Spaß dieses Tages. Natürlich waren Steegmans Verhaftung und Arcturus' Anteil am Untergang des Direktors die einzigen Gesprächsthemen. Von der Bühne dröhnte Musik, unter der Decke blitzten bunte Lichter, Luftschlangen hingen von den Wänden, und selbst die Porträts waren mit falschen Nasen und Barten geschmückt worden. Das Thema des Balls war „Fremdwesen ferner Welten", und auf einem Leuchtbanner strahlten die Worte: „Klasse von '78! Sie kamen von den Sternen!" Aus Pappmache gefertigte Aliens jeglicher Art hingen an Drähten von den Deckenbalken, ragten aus Punschschüsseln oder traten aus liebevoll gebauten Höhlen und Behausungen, die sich an den Wänden reihten. Die Fantasie der Studenten hatte Purzelbäume geschlagen, und in der vergangenen Woche hatte im Kunst- und Werkunterricht ein regelrechter Schöpfungsrausch geherrscht. Eine Heerschar grotesker Kreaturen erfüllte den Versammlungssaal: Riesenechsen, knollige Quallen mit unzähligen Augen, schlangenartige Wesen mit peitschenden Schwänzen und Tentakelmäulern. Am Bühnenrand tummelten sich haifischartige Geschöpfe und haarige, vielbeinige Spinnen mit langen Hälsen und furchterregenden Greifzangen. Arcturus wusste, dass die Menschheit besessen war von fremdem Leben, seit sie das erste Mal in den Nachthimmel aufgeblickt und sich gefragt hatte, was da draußen wohl sein mochte. Daher war die Tatsache, dass die Wissenschafts- und Erkundungsschiffe und -sonden der Konföderation keinerlei Hinweise auf überlebende intelligente Fremdwesen fanden, auch ein Quell steter Frustration für diejenigen, die glaubten, dass die Menschen nicht allein in der Galaxie waren. Natürlich hieß es von einigen Forschern, sie hätten uralte Ruinen entdeckt, von denen sie behaupteten, es handele sich um die Überreste fremder Zivilisationen. Aber die meisten Menschen hiel-
ten diese angeblichen Entdeckungen für aufwändige Schwindeleien. Und dann gab es da noch die großen Insektenwesen auf Umoja, die von der Bevölkerung dieser Welt domestiziert worden waren. Aber diese Kreaturen konnte man kaum als intelligentes Leben bezeichnen. Selbst die Bandmitglieder waren als Aliens kostümiert Latexprothesen ließen sie aussehen wie fürchterliche Geschöpfe mit knorriger Stirn, langen Haaren und stachelübersäten Rüstungen. Die Wirkung war eher komisch als angsteinflößend, und das war wohl, so vermutete Arcturas, auch Sinn und Zweck des Ganzen. Normalerweise verabscheute er solche Veranstaltungen, heute jedoch musste er zugeben, dass er sich wahnsinnig amüsierte. Vielleicht hielt das Hochgefühl noch an, das von der Aufdeckung der Verbrechen Steegmans am Nachmittag herrührte. Schließlich war es zutiefst befriedigend gewesen, zuschauen zu dürfen, wie der widerliche kleine Kerl abgeführt wurde. Und Arcturas hatte dafür gesorgt, dass der Direktor genau wusste, wer seine Vergehen aufgedeckt und sein Leben zerstört hatte. Es mochte aber auch an dem hübschen Mädchen an seiner Seite liegen, denn Juliana Pasteur war, daran ließ sich nicht rütteln, das bezauberndste Geschöpf im ganzen Saal. Wenn er aber ehrlich war, dann wusste Arcturas, dass es weder das eine noch das andere war stattdessen lag es am Beifall, den ihm seine Kommilitonen spendeten, sowie daran, dass man ihn jetzt beinahe schon verehrte. Sein vorheriger Status des Ausgestoßenen war nun, da Steegman Geschichte war, vergessen, und auf einmal nahm Arcturas eine Stellung ein, die eher der eines Kriegshelden entsprach. Es war ein berauschendes Gefühl. „Arcturus?", sagte Juliana, als die Lautstärke der Musik nachließ. „Hmmm?", machte er. „Du siehst aus, als seist du meilenweit weg." Sie reichte ihm ein Glas Punsch. „Tut mir leid", erwiderte er mit einem gewinnenden Lächeln und nahm das Glas entgegen, während er seine Aufmerksamkeit wieder auf das schöne Mädchen richtete, das neben ihm stand. Juliana Pasteur trug ein knöchellanges Kleid aus elfenbeinfarbener Seide, dazu ein samtenes Bustier, das ihre erblühende Figur umschmiegte und ihre zarten Züge betonte. Das blonde Haar fiel
in goldenen Locken über ihre Schultern, und ihren Hals zierte eine dünne silberne Kette mit einem umojanischen Saphir. Arcturus trank einen Schluck Punsch und hob eine Augenbraue. „Da ist ja Alkohol drin." Juliana nickte. „Ich sah, wie ein paar Studenten Flaschen hineinkippten, aber ich glaube nicht, dass sich daran jemand stören wird. Nicht nach einem Tag wie heute." „Nein." Arcturus grinste. „Wohl kaum." Juliana nahm seine Hand und lächelte ihn an. In den Monaten, da sie einander geschrieben hatten, hatte er die Macht genossen, die er über sie zu haben schien. Aber jetzt, da sie bei ihm war, wusste er die Realität dessen, was er getan hatte, erst richtig zu schätzen. Julianas ganze Körpersprache verriet Arcturus, dass sie sich in ihn verliebt hatte, was eigentlich albern war angesichts der wenigen Male, da sie sich wirklich gesehen hatten. Um ehrlich zu sein, wusste er nicht recht, wie er damit umgehen sollte, denn obschon er sie mochte und sie gerne um sich hatte, erwiderte er ihre starken Gefühle gewiss nicht im gleichen Maße. „Tanz mit mir", sagte Juliana, als die Band die ersten Takte eines Liedes in gemäßigterem Tempo spielte, was Paare aus dem ganzen Saal auf die Tanzfläche lockte. Da keine Anstandswauwaus zugegen waren, wollten die Studenten der Akademie sich diese Gelegenheit zu einem Tanz, der die Chance zum Körperkontakt bot, nicht entgehen lassen. „Tanzen?", fragte Arcturus. „Ich glaube nicht, dass..." Juliana nahm ihm sein Glas ab, bevor er protestieren konnte, dann stellte sie auch ihres weg. „Das war keine Bitte", sagte sie und führte ihn auf die Tanzfläche. Arcturus folgte ihr nervös angesichts der Aussicht darauf, sich zum Narren zu machen, aber auch erfreut über die Aufmerksamkeit, die ihm und Juliana zuteil wurde. Arcturus musste zugeben, dass sie ein attraktives Paar waren, Juliana in ihrem elfenbeinfarbenen Kleid und er in seinem exquisit geschneiderten Smoking und dem goldenen Kummerbund. Der Wunsch, sie zu küssen, kam ihm in den Sinn, und auf einmal schien ihm die Vorstellung, eng mit Juliana zu tanzen, gar nicht mehr so übel. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und hob die Arme. „Du tanzt
doch, oder?" „Ist aber lange her", gestand er, nahm ihre linke Hand und legte seine rechte auf ihre Hüfte. „Meine Mutter zwang mich, Tanzstunden zu nehmen, als ich klein war. Um mich auf meinen Eintritt in die Gesellschaft vorzubereiten. Ich habe das immer gehasst." „Keine Sorge", meinte Juliana und schob seine Hand nach hinten. „Das wird schon." „Ich fürchte, ich werde nicht der Tänzer sein, den du dir erhoffst." „Vertrau mir, Arcturus, das fällt dir alles wieder ein." „Naja, du kannst jedenfalls nicht sagen, ich hätte dich nicht gewarnt, wenn ich dir auf diese teuren Schuhe latsche." Juliana lächelte, und sie begannen sich im Takt der Musik zu bewegen. Arcturus glaubte, er hätte die Schritte, die er in jenen lange zurückliegenden Stunden gelernt hatte, längst vergessen. Aber tatsächlich fing er, nach den ersten unsicheren Versuchen, an, sich mit der Musik zu bewegen, anstatt gegen sie. Er und Juliana gingen wie natürlich im Rhythmus ihrer gemeinsamen Bewegung auf, und er kam sich vor, als läge der Tanzunterricht gerade erst hinter ihm. Eine Reihe von Tänzern drehte sich an ihnen vorbei, die Mädchen machten Juliana Komplimente über ihr Kleid und die Jungen gratulierten Arcturus überschwänglich dazu, Steegman abgesägt zu haben. „Die mögen dich wirklich hier", sagte Juliana und sah zu ihm auf. „Bedauerst du nicht, dass du die Akademie verlässt?" Arcturus lachte und schüttelte den Kopf. „Kein bisschen." „Wirklich nicht? Ich werde, glaube ich, traurig sein, wenn ich das Umoja-Institut nächstes Jahr verlasse." „Weil man dich mag und du keinen Vater hast, der nur Ärger macht und für den man sich schämen muss." „Und? Was wirst du jetzt mit dir anfangen, wo du doch so froh bist, die Schule hinter dir zu haben?" Arcturus antwortete nicht sofort; erst überlegte er, wie viel er ihr von seinen Zukunftsplänen erzählen sollte, denn sie wollte eindeutig eine Rolle darin spielen. „Ich möchte immer noch Prospektor werden", sagte er. „Aber ich glaube, das werde ich nicht gleich tun." „Nein? Was denn?", fragte Juliana und drückte sich fester gegen
ihn. „Ich glaube, ich werde ins Marine Corps eintreten." Juliana sah ihn scharf an. „Ins Marine Corps?" „Ja, ich denke, es würde sich gut machen, wenn mein Lebenslauf eine Dienstzeit beim Militär aufwiese", sagte Arcturus. Arcturus sah ihr an, dass ihr die Aussicht, er könne zu den Marines gehen, Unbehagen bereitete aber ob aus Sorge um seine persönliche Sicherheit oder wegen moralischer Einwände, konnte er nicht sagen. „Was meinst du?", wollte er wissen. „Ich... weiß nicht recht", erwiderte Juliana. „Es klingt gefährlich, aber wenn es das ist, was du willst..." „Es ist ein Sprungbrett, weiter nichts", erklärte Arcturus. „Ich habe ja nicht vor, beim Militär zu bleiben. Wenn ich meine Grundausbildung absolviert habe, höre ich auf und bin dann Prospektor, wie ich es immer vorhatte." „Deinem Vater wird das nicht gefallen." „Es kümmert mich einen Dreck, was ihm gefällt und was nicht", versetzte Arcturus. „Das ist mein Leben, und deshalb tue ich, was ich will, und nicht das, was ich seiner Meinung nach tun sollte. Nächste Woche werde ich achtzehn, und dann kann er mich nicht mehr aufhalten." Juliana schaute ihm in die Augen, sah die unumstößliche Entschlossenheit darin und nickte. „Dann finde ich es wundervoll. Ich weiß, dass du der beste Soldat sein wirst, denn sie je hatten." Arcturus wollte lachen darüber, wie leicht Juliana auf seine Sicht der Dinge umschwenkte, trotz der Anti-KonföderationsPropaganda, mit der ihr Vater sie zweifellos füttern würde. „Binnen sechs Monaten wirst du General sein", sagte sie. „Mein Held." Arcturus spürte die Gunst des Augenblicks, ließ Julianas Hand los und hob ihr Kinn mit einer sanften Berührung seiner Fingerspitzen an. Sie wusste wohl, was er vorhatte, und schloss die Augen, den Mund leicht geöffnet, als sie ihr Gesicht dem seinen näherte. Ihre Lippen trafen sich zum Kuss. Julianas Haut war warm, ihre Lippen weich. Sie hielt ihn fest, als hätte sie Angst, ihn loszulassen, und die Studenten unmittelbar um sie herum jubelten bei dem Anblick. Von diesem Jubel fühlte Arcturus sich bestätigt. Er verstand ge-
nau, was das bedeutete. Es bedeutete, dass er alles haben konnte, was er wollte. KAPITEL 6 Tausende Menschen säumten Senator's Parade, die marmorgepflasterte Straße, die vom Kriegsfeld zum Palatine-Forum führte. Ihr Jubel war ohrenbetäubend, und Achton Feld musste sich konzentrieren, um die Updates seiner Leute zu hören, die ihm das Mikrofon in seinem Ohr übermittelte. Er war seit Sonnenaufgang auf den Beinen und überwachte die allerletzten Vorbereitungen für Angus Mengsks Zug durch das Herz der Stadt. Nach dem Überfall auf die Sommervilla hatte Feld die Maßnahmen zum Schutz des Senators zwar verstärkt, aber dies war der Moment, vor dem er sich seit Wochen fürchtete. Angus' natürliche Ignoranz gegenüber allen Gefahren, die ihm drohten, hatte Feld Dutzende schlaflose Nächten bereitet, in denen er sich Gedanken machte über Attentäter der Konföderation, irre Einzelgänger oder einfach nur allzu eifrige Unterstützer Lennox Cravens. Um nach derlei Bedrohungen Ausschau zu halten, hatte Feld Männer in der ganzen Menge verteilt, alle ausgestattet mit Detektoren, die justiert waren auf die Spektralfrequenz der Legierungen, die zur Herstellung der Munition für Slugthrowers und Stachelpistolen verwendet wurden. Damit ließen sich die meisten Schusswaffen aufspüren, aber er wusste nur zu gut, dass es einer visuellen Entdeckung bedürfen würde, wenn irgendjemand in der Menge eine kompliziertere Waffe bei sich trug. Die Atmosphäre war wie elektrisch aufgeladen, die Stimmung der Menge schlug höchste Wellen (was durchaus ein Grund zur Dankbarkeit war), als man auf Angus' Ankunft wartete. Heute war der letzte Tag der diesjährigen Sitzungsperiode des Senats von Korhal, und es war Tradition, dass der beim Volk populärste Senator die Abschlussrede hielt. Seit er gegen die Tyrannei der Konföderationsherrschaft Stellung bezogen hatte, war es klar gewesen, dass es Angus Mengsk sein würde, den die Menschen von Korhal zum Redner bestimmen würden. Felds Blick wanderte die Straße entlang; stählerne Barrieren
hinderten die Menschen an deren Betreten. Transparente, auf denen Angus' Name stand, wurden hochgehalten, dazu Fahnen mit dem Wolfskopf-Emblem des Mengskschen Familienwappens. Der Weg selbst war frei, und der weiße Bau des Forums strahlte an seinem Ende wie ein Leuchtfeuer. Das Dach glühte im Licht der Sommersonne, als stünde es in Flammen, und selbst Feld musste zugeben, dass es ein beeindruckender Anblick war. Wenn alles gut ging, würde Angus durch das große Eichenportal des Forums treten und dann vor den versammelten Senatoren und angereisten Würdenträger des Planeten stehen, um seine Rede zu halten. Und danach... nun, danach würde die Dynamik zwischen Korhal und der Konföderation auf alle Zeit eine andere sein. Feld hörte ein Doppelklicken in seinem Ohrknopf und spürte, wie ein Adrenalinstoß durch seine Blutbahn jagte. Angus war unterwegs. Und da sah Feld auch schon, wie der silberfarbene '58er Terra Cougar langsam um die Biegung der Straße kam, die dorthin führte, wo er auf seinen Arbeitgeber und Freund wartete. Das Ground Car bewegte sich in gemächlichem Tempo, und Feld wünschte sich im Stillen, es würde schneller fahren, derweil das Lärmen der Menge nun, da Angus' Eintreffen sich herumsprach, anschwoll. Endlich blieb das Fahrzeug vor ihm stehen, und Feld beeilte sich, den Wagenschlag zu öffnen. Die Tür glitt nach oben. Angus tauchte in der vollen Pracht seiner leuchtend roten Toga aus dem Ground Car auf. Er richtete sich auf, winkte erhobenen Kopfes und mit einem warmen ungekünstelten Lächeln in die Menge. Nach ihm verließ Katherine Mengsk das Fahrzeug, und auf ihr verweilte Felds Blick ein klein wenig länger. Sie trug ein schlichtes und doch elegantes kornblumenblaues Kleid, und ihr dunkles Haar war so hochgesteckt, dass es die klassischen Linien ihrer Wangenknochen zur Geltung brachte. Angus drehte sich um und nahm Katherines Hand, aber ehe er sich in Richtung des Endes der Senator's Parade bewegen konnte, trat Feld zu ihm und sagte: „Was zum Teufel tust du da, Angus?" „Ich gehe zum Forum, Achton", erwiderte Angus, unverändert lächelnd. „Wie sieht es denn aus?" „Für mich sieht es so aus, als würdest du den Sicherheitsplan, den wir besprachen, unverfroren in den Wind schlagen. Was tut
Katherine hier? Sie sollte doch am Forum auf dich warten." „Er hat mir nicht gefallen, dein Plan", sagte Angus. „Und jetzt geh mir aus dem Weg. Ich werde mit meiner Frau zum Forum gehen, und ich will nicht, dass du mir wie ein Wachhund auf dem Fuße folgst." „Willst du umgebracht werden?", fragte Feld. „Ist es das?" „Sei nicht albern nicht einmal die Konföderation würde es heute versuchen", schnauzte Angus. „Außerdem werden wir beide von diesem Kraftfeld, das du mir aufgeschwatzt hast, geschützt. Es wird nichts passieren." Feld trat zurück und ließ Angus an sich vorbeigehen, aber er war so wütend, dass es jeder Beschreibung spottete, weil der Senator den Sicherheitsplan, der seinen Schutz garantieren sollte, einfach so über den Haufen geworfen hatte. Angus hatte wahrscheinlich recht, wenn er meinte, heute würde nichts passieren, aber Felds Erfahrung zufolge war es für gewöhnlich genau ein solcher Augenblick wenn man seine Deckung senkte -, in dem der Feind zuschlug. Feld verfluchte Angus' Bedürfnis nach dramatischen Gesten und schickte rasch ein Situations-Update an seine Männer in der Menge. Dann schloss er die Tür des Ground Cars, dankbar dafür, dass Angus wenigstens nicht auch noch Dorothy mitgebracht hatte. Das Fahrzeug würde Angus in diskretem Abstand folgen, für den Fall, dass ein rascher Abgang nötig würde, doch Feld hoffte ganz fest, dass es dazu nicht kommen würde. Er ging neben dem Ground Car her und ließ den Blick über die Menge schweifen, während Angus unter begeistertem Jubel und Beifall die Straße hinunterging. Alle Gesichter waren auf ihn und seine zauberhafte Gattin gerichtet. Feld wusste, dass jeder Einzelne dieser Menschen eine potenzielle Bedrohung sein konnte. Ich hätte diesen Job auf Brontes annehmen sollen, dachte er. Angus fühlte sich von der Stimmung der Menschen durchströmt, und er wusste, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, Katherine mitzubringen. Er bedauerte nur, dass er seine Frau nicht gebeten hatte, auch Dorothy und Arcturus mitzunehmen, doch verwarf er diesen Gedanken auch schnell wieder. Ein so kleines Mädchen wie Dorothy zu einer solchen Veranstaltung mitzubringen wäre dumm gewesen, und Arcturus... nun,
sein Sohn hätte ohnehin nie eingewilligt. Sie hatten seit den Ereignissen bei der Abschlussfeier nur wenig miteinander gesprochen. Seine Geschäfte mit Ailin Pasteur und die Vorbereitungen auf den heutigen Tag hatten den Großteil von Angus' Zeit beansprucht. Arcturus hingegen hatte den Großteil seiner Zeit seit der Abschlussfeier mit Pasteurs Tochter verbracht. Eigentlich hatten Angus und sein Sohn sich nur gestern beim Frühstück wirklich unterhalten, als Angus, trotz des warnenden Blickes seiner Frau, das Thema angeschnitten hatte, was Arcturus denn nun mit seinem Leben anfangen wolle. „Ich habe mich noch nicht entschieden", sagte Arcturus, und Angus' politischer Instinkt witterte ein Ausweichmanöver. „Ich könnte ein Gespräch mit Nestor Jürgens arrangieren", bot Angus beiläufig an. „Er leitet eine meiner Werkzeugfabriken in Fairstem. Ein guter Mann du könntest viel von ihm lernen." „Was sollte ich denn von einem Fabrikleiter lernen?", fragte Arcturus. „Nestor ist mehr als nur ein Fabrikleiter", erwiderte Angus, etwas verärgert über die Undankbarkeit seines Sohnes. „Alle meine Leute leiten ihre Geschäfte selbstständig. Sie sind Hauptgeschäftsführer und Finanzmanager in einer Person, aber natürlich müssen sie mir Rechenschaft ablegen. Du bist jetzt achtzehn, und du könntest dich einarbeiten in die Methoden, deren man sich bedienen muss, um auf dem Markt Erfolg zu haben. Und du würdest dir Fähigkeiten aneignen, die du brauchst, wenn du meine Nachfolge antrittst." „Deine Nachfolge antreten?" Arcturus spuckte die Worte aus. „Ich habe meine eigenen Pläne." „Sagtest du nicht, du hättest dich noch nicht entschieden, was du tun willst?" „Hab ich aber." Als Arcturus nicht weitersprach, lehnte Angus sich zurück. „Nun? Willst du uns alle auf die Folter spannen?" „Du wirst es schon erfahren", sagte Arcturus, und sein Ton gefiel Angus überhaupt nicht. Seit Arcturus' Vorstellung bei der Abschlussfeier wusste Angus, dass die Gedanken seines Sohnes verschlungenste Pfade gehen konnten. Arcturus hatte sich vom Frühstückstisch entschuldigt, und nur weil Dorothy ihre Haferflocken über den Tisch verschüttet hatte,
war Angus ihm nicht gefolgt, um ihn zur Rede zu stellen und Erklärungen zu verlangen. Angus verbannte die Gedanken an Arcturus aus seinem Kopf und drückte Katherines Hand ein wenig fester. Er wandte sich ihr zu und küsste sie auf die Wange, und die Menge geriet aus dem Häuschen. Sie gingen Senator's Parade entlang. Das schimmernde Weiß des Forums schien sie förmlich anzuziehen. Am oberen Ende der Treppe stand eine hochgewachsene Gestalt in einer roten Toga, und Angus lächelte, als er Lennox Craven erkannte, Seniorkonsul des Senats und der Mann, der ihn förmlich willkommen heißen würde. „Das muss ihn innerlich umbringen", sagte Angus. „Mich persönlich begrüßen zu müssen." Katherine brauchte nicht zu fragen, wen er meinte. Sie lächelte zurück. „Gewiss, aber ich kann nicht behaupten, dass er mir deswegen leid täte." Angus hörte den stählernen Klang in ihrer Stimme. Er wusste, Katherine war überzeugt, dass Craven die Männer geschickt hatte, die in die Sommervilla eingedrungen waren, um sie zu töten. Wahrscheinlich hatte sie recht, aber ohne konkrete Beweise konnten sie ihn nicht in aller Öffentlichkeit beschuldigen. „Ich werde es genießen, mit anzusehen, wie sich der Bastard windet", sagte Angus. „Vorsicht, Liebster", warnte Katherine in die Menge winkend. „Es sind ein Dutzend Holokameras auf dich gerichtet, und es wäre unglücklich, wenn dir jemand diese Worte von den Lippen abläse." „Stimmt", erwiderte Angus. „Wie immer bis du der Wind, der mein Sturmtoben besänftigt." „Das ist meine Aufgabe." Sie lächelte. „Sorge du nur dafür, dass der Bastard sich windet." Lennox Craven war kein Mann, der seine Gefühle öffentlich zur Schau stellte, aber als er Angus Mengsk mit kaum verhohlener Genugtuung auf sich zukommen sah, konnte er nur mit Mühe verhindern, dass sich sein Gesicht vor Wut verzerrte. Obschon in eine rote Toga gekleidet, die der von Mengsk glich, wusste Craven sehr gut, dass er nicht annähernd so imposant oder beeindruckend wirkte wie sein Erzfeind. Aber andererseits
hatte er es auch nie darauf angelegt, sich zu einem selbst ernannten Mann des Volkes zu machen. Er wusste ganz genau, dass das Gesicht, das Mengsk in der Öffentlichkeit zeigte, nicht sein eigentliches war, ebenso wenig wie das Dutzender müßiggängerischer Schauspieler und Schauspielerinnen, die Tag und Nacht auf dem Entertainmentkanal von UNN zu sehen waren. Mengsk mochte ja so tun, als sei er der Vorkämpfer des kleinen Mannes, und gegen die angeblichen Ungerechtigkeiten der Konföderation aufbegehren. Aber hatte nicht auch er Vorteil geschlagen aus all dem, was der Rat von Tarsonis verfügt hatte? Verdankte Mengsk seinen Wohlstand etwa nicht eben jenem Apparat, den er in seinen Reden im Forum und den unablässigen Interviews auf UNN so schadenfroh attackierte? Nein, Lennox Craven kannte das wahre Gesicht von Angus Mengsk, was es nur noch ärgerlicher machte, dass er hier stehen musste, als wären sie die besten Freunde. Nicht einmal mit Schmiergeldern und der Einforderung sämtlicher Gefallen, die man ihm schuldete, hatte er verhindern können, dass Angus die Herzen seines Volkes und das Recht auf die Schlussrede vor dem Senat gewann. Der Rat hatte sich ganz klar ausgedrückt: Angus Mengsk musste zum Schweigen gebracht werden. Wenn es so weit käme, dass sich eine der bestgehüteten und verwöhntesten Welten der Konföderation gegen eben diese wandte, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis andere versuchen würden, diesem Beispiel zu folgen. Und das durfte man nicht zulassen. Seine Zahlmeister verlangten Ergebnisse, und Lennox Craven allein hatte es bislang versäumt, ihnen diese zu liefern. Abertausende Menschen säumten die Straßen, und Craven konnte sich nicht erinnern, wann zuletzt eine solche Zahl von Leuten erschienen war, um einen Senator zum Forum marschieren zu sehen. Er entsann sich des Jahres, als er ausgewählt worden war, die Abschlussrede zu halten, und seine Verbitterung über die Gleichgültigkeit, die die Menschen damals gezeigt hatten, drohte ihn jetzt angesichts von Angus' Beliebtheit zu ersticken. Er richtete sich zu voller Größe auf, als Angus und seine Frau den Fuß der breiten Treppe erreichten, die zum Säuleneingang und dem mächtigen schwarzen Tor heraufführten, hinter dem der
große Debattiersaal lag. Angus drehte sich um und winkte noch einmal in die jubelnde Menge, hob beide Arme und nahm den Beifall entgegen. Dann wandte er sich um, nahm seine Frau bei der Hand und begann die Stufen emporzusteigen. Craven sah die Genugtuung in Mengsks Augen und betete, der Mann möge stolpern und auf die Schnauze fallen, oder dass sonst etwas geschehen mochte, das ihm seinen pompösen Hochmut austrieb. Aber Angus erreichte das obere Ende der Treppe ohne Zwischenfall, und Craven legte ein eingeübtes Lächeln und die würdevolle Miene eines erfahrenen Senators auf, der dabei war, einen seiner liebsten Freunde willkommen zu heißen. „Angus Mengsk, Sie haben ja eine wahre Schar von Menschen mitgebracht", sagte er zur Begrüßung. „Und Katharine, Sie sehen hinreißend aus. Es ist mir wie immer eine Freude, Sie zu sehen." Mengsks Frau knickste in geschmeichelter Manier und sagte: „Danke, Lennox." Angus Mengsk trat mit ausgebreiteten Armen vor, und Cravens Lächeln verging. Großer Gott, erwartet der Mann etwa eine Umarmung? Die Menge tobte, und Craven wusste, er musste mitspielen in dieser Schmierenkomödie von einer Freundschaft. Er breitete seinerseits die Arme aus, und Mengsk schloss die seinen wie ein Bär um ihn. Dann klopfte er Angus unbeholfen und auf angemessen brüderliche Art und Weise auf den Rücken und hoffte, dass das genügte. „Ich weiß, dass Sie es waren, der diese Männer schickte, um mich umzubringen", flüsterte Mengsk. „Ich wollte nur, dass Sie das wissen, bevor ich Sie da drin vernichte." Craven versteifte, aber ehe er etwas erwidern konnte, ließ Mengsk ihn los und ging auf die große Eingangstür zum Forum zu. Katherine Mengsk fegte an Craven vorbei, den Blick in den seinen gebohrt, während sie ihrem Mann folgte. Obwohl sie nichts sagte, nagelten ihn ihre kalten Augen fest wie einen Schmetterling an der Wand eines Sammlers. Lennox Craven atmete tief durch, um sich zu fassen, dann folgte auch er Angus Mengsk ins Forum. Schon jetzt fürchtete er sich vor dem, was dieser verdammenswerte Kerl in seiner Rede von sich geben würde.
Von innen war das Palatine-Forum nicht weniger prächtig als von außen. Der Boden des Vestibüls bestand aus großen Tafeln schwarzen Marmors, den goldene Adern durchzogen, und die Säulen wanden sich in schwindelerregende Höhen empor. Die Alabasterwände waren mit großflächigen Malereien versehen, welche die Pioniere der heroischen Vergangenheit Korhals zeigten: verehrte Senatoren, unerschrockene Raumfahrer, große Architekten, militärische Befehlshaber und weitblickende Philosophen. Angus und Katherine durchquerten das Vestibül und gingen auf die bronzene, doppelflügelige Tür zum großen Saal des Forums zu, hinter der lebhaftes Stimmengewirr hervordrang. Lennox Craven schloss zu ihnen auf, aber Angus würdigte ihn keines Blickes. Katherine drückte Angus' Hand. Abermals war er dankbar für ihren Beistand, der ihm Kraft gab. Sie wandte sich ihm zu und sagte: „Ich liebe dich." „Ich liebe dich auch", erwiderte Angus, ohne zu zögern. Katherine lächelte und ging zu einer seitlich im Vestibül gelegenen Tür, die, wie Angus wusste, zur Besuchergalerie führte. Die Tradition gebot, dass nur Senatoren den Hauptsaal durch diese Bronzetür betraten, daher musste Katherine sich seine Rede von dort oben aus anhören, zusammen mit den anderen Familien und geladenen Gästen. Er wartete ein paar Minuten während deren er Lennox Craven mit Missachtung strafte -, bis er sicher sein konnte, dass Katherine den ihr zugeteilten Platz erreicht hatte. Dann trat er auf die Tür zu. Sie schwang auf, und Angus spürte, wie sein Herz zu rasen begann, als er der versammelten Senatoren und Würdenträger ansichtig wurde, die seiner Ankunft harrten. Ja, dachte er, das ist mein Augenblick... „Da ist deine Mutter", sagte Ailin Pasteur, und Arcturus drehte sich um und sah, wie Katherine Mengsk sich zwischen den Familienangehörigen hindurchschob, die auf der Besuchergalerie saßen. Sie erblickte ihn, und ihre Augen leuchteten auf ob dieser freudigen Überraschung, und einen Moment lang empfand Arcturus ehrliches Bedauern über das, was er im Begriff war, ihr anzutun.
Juliana saß hinter ihrem Vater, nervös und aufgeregt ob der Ehre, dabei sein zu dürfen, wie Angus Mengsk die Schlussrede vor dem Forum von Korhal hielt. Seit der Abschlussfeier hatte sie viel Zeit mit Arcturus verbracht, allerdings hatte er dank der ständigen Anwesenheit einer Anstandsdame keine Gelegenheit gehabt, sie ins Bett zu locken. Stattdessen hatten sie den größten Teil ihrer Zeit mit scharf überwachten Spaziergängen durch Styrling verbracht, und obgleich er nie müde wurde, ihren Kopf mit seinen grandiosen Zukunftsplänen zu füllen, wurde er allmählich ihrer Gesellschaft müde. Das würde allerdings bald schon kein Problem mehr sein, ging es ihm durch den Sinn, und er dachte dabei an das Bündel von Papieren, das in seiner Tasche steckte. Nur Juliana wusste, was er vorhatte, aber er wusste seinerseits, dass sie nichts sagen würde. Seine Mutter lächelte, während sie sich ihrer kleinen Gruppe näherte; offensichtlich freute sie sich, ihn hier zu sehen. Sie lächelte Leuten zu, die sie passierte, und Arcturus erkannte die natürliche Zuneigung, die jedermann für seine Mutter empfand. Katherine Mengsk war nicht nur die bezaubernde Gattin eines Senators, sie stand darüber hinaus auch etlichen wohltätigen Einrichtungen vor und ging viele Probleme an, die Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft betrafen. Sie war die Erste gewesen, die das Thema des Kinderhandels zwischen den Welten aufgegriffen hatte. Sie hatte den Menschen die Augen geöffnet für das Los der Obdachlosen in Styrling und viele medizinische Organisationen ins Leben gerufen, die den zahllosen Kriegsopfern halfen. Seine Mutter hatte für jeden, an dem sie vorbeiging, ein freundliches Wort, und der Anblick ihres ungezwungenen Lächelns und ihrer natürlichen Grazie ließen Arcturus erkennen, warum sie bei der Bevölkerung Korhals so beliebt war. Endlich langte seine Mutter bei ihnen an, und Arcturus rückte auf der Holzbank beiseite, damit sie sich neben ihn setzen konnte. Sie beugte sich herüber und küsste ihn auf die Wange. „Ich freue mich so, dass du gekommen bist, Arcturus", sagte sie, und ihr Lächeln war warm und herzlich. „Ich freu mich auch", erwiderte Arcturus. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Pasteurs und sagte: „Ailin, wie schön, dich hier zu sehen. Und Juliana, Angus wird sich
so darüber freuen, dass du gekommen bist, um dir seine Rede anzuhören." Juliana lächelte Katharine schüchtern zu, und Arcturus entging nicht, dass sie eine gewisse Ehrfurcht vor seiner Mutter zu haben schien. „Danke, Mrs. Mengsk." „Nenn mich doch Katherine, bitte, mein Liebes." Sie lächelte und tätschelte Arcturus' Knie. „Du gehörst jetzt ja praktisch zur Familie." Ailin Pasteur erwiderte Katherines Lächeln und sagte: „Das hätte ich mir um nichts auf der Welt entgehen lassen, Katherine. Die Menschen werden sich noch lange an diesen Tag erinnern." „Daran habe ich keinen Zweifel", sagte Katherine und strahlte, als der Zeremonienmeister mit der Bronzespitze seines Stabes auf den Marmorboden des Saales klopfte. Unter ihnen strafften sich die Senatoren, und auf der Galerie beugten sich alle nach vorne, als die bronzenen Türflügel aufschwangen und Angus Mengsk eintrat. Als Angus den großen Kuppelsaal des Senats betrat, hob er in einer triumphalen Geste beide Arme. Mit diesem Schritt übertrat er sowohl symbolisch als auch tatsächlich eine Schwelle. Wie eine verlockende Frau hob sich auch das Palatine-Forum seine größten Schätze bis zum Schluss auf, und wie immer verspürte Angus tiefen Stolz, Respekt und Ehrfurcht für all das, was dieser Saal repräsentierte: Demokratie, Willensfreiheit und Erlösung von aller Tyrannei. Der Boden war zweifarbig gefliest, in erster Linie hatten Porphyr und Serpentin Verwendung gefunden. Beiderseits lagen drei breite niedrige, marmorverkleidete Stufen; auf den untersten saßen die wichtigeren Senatoren auf ihren geschwungenen Stühlen. Die beiden Stufen darüber waren breiter, und auf ihnen standen Hunderte nobel gekleidete Männer und Frauen, der gesamte Senat von Korhal sowie ausgewählte Würdenträger, die zu diesem Ereignis eingeladen worden waren. Die Wände waren halbhoch mit grauem Marmor getäfelt, gesäumt von einer Zierleiste, über der ein Muster aus anderen Marmorplatten begann, das nur von drei Nischen unterbrochen wurde, in denen Statuen standen. Weiter oben, fast schon unter der Kuppeldecke, fanden sich rechteckige graue Felder mit goldfarbener Beschriftung: die verfassungsmäßigen Grundsätze, festgelegt von den ersten Siedlern auf Korhal, und die Prinzipien,
nach denen das Volk regiert wurde. Die Kuppel selbst bestand aus dick vergoldeten Kassetten, quadratischen Feldern, in deren Mitte goldene Kreise eingelassen waren. Direkt unterhalb der Kuppel lag die Besuchergalerie, wo diejenigen Platz nehmen konnten, die zwar wichtig genug waren, um ins Palatine-Forum Einlass zu finden, aber doch nicht so bedeutsam, als dass sie Fuß in den Hauptsaal hätten setzen dürfen. Von dort oben aus schaute Ailin Pasteur zu, genau wie Katherine, die stolz auf Angus' Auftritt wartete. Er widerstand dem Wunsch, ihr zuzuwinken. Als er den Blick weiter wandern ließ, war er ebenso überrascht wie erfreut, Arcturus neben ihr zu sehen. Angus nahm an, dass Katherine ihren Sohn wahrscheinlich emotionell erpresst hatte, um ihn hierher zu bekommen. Kurz fragte er sich, warum Katherine ihm nicht gesagt hatte, dass Arcturus hier sein würde, dann verdrängte er den Gedanken aus seinem Kopf. Was Arcturus betraf, gab Angus sich mit allem zufrieden, was der Junge anzubieten bereit war. Er blickte in die Kuppel hinauf, während die Senatoren donnernden Beifall spendeten, und er kostete diesen Moment in der Gunst seiner Kollegen aus. Als er den richtigen Augenblick für gekommen hielt, senkte er den Blick langsam auf die Flagge der Konföderation, die dem Eingang gegenüber hing und unter der sich die Plinthe des Seniorkonsuls befand. Von dieser Plinthe aus würde Angus seine Rede halten, und so schritt er durch den Saal darauf zu. Noch immer den Applaus im Ohr, trat er auf die Plinthe und schaute hoch zu der rotblauen Flagge. Sein vernichtender Blick machte keinen Hehl aus seiner Verachtung für all das, wofür sie stand. Gier, Korruption und moralischer Stillstand. Mit einer raschen Bewegung griff er nach oben und riss sie herunter. Die Lautstärke des Jubels der versammelten Senatoren verdoppelte sich. Arcturus beobachtete die Gesichter der Menschen drunten im Senatssaal und ringsum auf der Galerie; sie klatschten und jubelten. Es erstaunte ihn, dass sie dermaßen angetan sein konnten von seinem Vater. Sahen sie ihn denn nicht als das, was er war
ein gewöhnlicher, sturköpfiger Mann, der nicht wusste, wie man zuhörte? In diesem Augenblick dämmerte in Arcturus eine Erkenntnis. Es kam nicht darauf an, wie ein Mensch wirklich war, es zählte nur das, was er der Welt zeigte. Die Bevölkerung von Korhal kannte den wahren Angus Mengsk nicht, sie kannte nur das Bild, das er sie sehen ließ, seine geschickt angelegte Persönlichkeit, deren Zweck es war, andere für seine Ziele zu gewinnen. Es war egal, dass sein Vater genauso Mensch und damit fehlbar war wie sie — wichtig war nur, was er diesen Leuten bedeutete und ihnen versprach. Arcturus hatte schon immer gewusst, dass gewöhnliche Menschen leicht zu manipulieren waren. Aber zu sehen, wie angeblich gebildete Männer und Frauen so mühelos mitzureißen waren, kam für ihn einer Offenbarung gleich. Er lehnte sich zurück, als sein Vater durch den Saal zur Plinthe des Seniorkonsuls ging, immer noch im Applaus der anderen Senatoren badend. Dieses Ereignis war eine heilsame Lektion über die Macht der Wahrnehmung versus Wirklichkeit. Aber Arcturus hatte keine Lust, sich noch eine der leidenschaftlichen Tiraden seines Vaters über die Schandtaten der Konföderation anzuhören. Davon hatte er im Laufe seines jungen Lebens so viele gehört, dass er bis ans Ende seiner Tage genug davon haben würde. Es war Zeit. Arcturus holte tief Luft und griff in seine Jackettasche, zog die Papiere heraus, die er heute Morgen unterschrieben hatte, und legte sie in seinen Schoß. Er schaute zu seiner Mutter hin, und abermals hatte er ein etwas schlechtes Gewissen wegen dem, was er zu tun im Begriff war. Aber er wusste trotzdem, dass er das Richtige tat, das Richtige für sich. Weil es das war, was er tun wollte. Seine Mutter spürte seinen forschenden Blick und sah zu ihm her. Ihr Klatschen verebbte, als sie die Papiere sah, die er vor sich ausgebreitet hatte, und die darauf prangenden Insignien. „Arcturus...", begann sie zögernd. „Was ist das?" „Eintrittspapiere, Mutter", antwortete er. „Für das Konföderierte Marine Corps. Ich war heute Morgen im Rekrutierungsbüro." Katherine senkte den Blick auf die Papiere, und ihre Verwirrung verwandelte sich binnen eines Herzschlags in kaltes Entsetzen. „Oh Arcturus, nein... bitte nicht... Was hast du getan?"
Sie wollte nach den Papieren greifen, aber er war schneller und nahm sie auf, bevor seine Mutter sie berühren konnte, während die Lautstärke des Jubels der Menge plötzlich anschwoll. „Arcturus, was hast du getan?", schrie seine Mutter. „Sag es mir!" „Ich werde Soldat", erklärte er. „Nein, nein, das wirst du nicht!", sagte Katherine. „Das wirst du nicht. Arcturus, wenn das ein Scherz sein soll, dann ist es ein sehr geschmackloser." „Ich scherze nicht, Mutter", entgegnete Arcturus. „Seit heute Morgen gehöre ich zum Offizierskorps der 33. Bodenangriffsdivision unter Commander Brantigan Fole." „Nein, nein, das tust du nicht. Das ist nur ein übler Streich, nicht wahr?", sagte seine Mutter, und Arcturus las echte Panik in ihren Augen. „Nicht wahr? Sag mir, dass das einer von deinen dummen Streichen ist!" Ihr heftiger werdender Streit und Katherines schriller und lauter werdende Stimme zogen erste Aufmerksamkeit anderer Gäste, die in der Besuchergalerie saßen, auf sich. Der Applaus war immer noch laut, und Jubel hallte durch den Saal und übertönte ihre Worte für all jene, die nicht in ihrer unmittelbaren Nähe saßen. „Das ist kein Streich, Mutter", sagte Arcturus, und kalte Wut stieg in ihm auf. Wie konnte sie etwas, das ihm derart wichtig war, für einen Streich halten? Hier ging es um sein Leben, und sie dachte, er scherze? „Ich gehe noch heute Nachmittag", sagte er. Seine Mutter versetzte ihm eine Ohrfeige. Ein überraschtes Aufkeuchen breitete sich nach dem Laut, mit dem ihre Handfläche seine Wange traf, ringsum aus wie Wellen auf einem Teich. „Du dummer, dummer Junge", ereiferte sich Katherine. „Du dummer, egoistischer Junge. Willst du damit deinem Vater wehtun? Willst du mir wehtun? Hast du überhaupt eine Ahnung, was du da getan hast?" „Ich weiß genau, was ich getan habe", erwiderte Arcturus. Die kränkende Ohrfeige seiner Mutter hatte seinen Entschluss nur noch gefestigt. „Und du hast es mir eben noch ein wenig leichter gemacht." Katherine fasste nach ihm, aber er stieß ihre Hände beiseite und stand auf. Seine Mutter blickte zu ihm hoch. Tränen rannen ihr
über die Wangen, aber das kümmerte Arcturus nicht mehr. Er steckte seine Eintrittspapiere wieder ein und sagte: „Auf Wiedersehen, Mutter. Sag Dorothy, es tut mir leid, dass ich keine Gelegenheit hatte, mich von ihr zu verabschieden. Sag ihr, ich werde ihr schreiben." „Nein!", schluchzte Katherine. Ihr schmerzvoller Aufschrei ging unter in dem Applaus, der den Senatsaal nach wie vor erfüllte. „O Gott, bitte, tu das nicht! Arcturus, bitte, bitte... warte!" Arcturus schenkte der furchtbaren, schmerzhaften Trauer seiner Mutter keine Beachtung und schritt durch die staunend auf der Galerie sitzende Besucherschar. Er spürte ihrer aller Blicke auf sich, doch er hielt den Kopf hoch erhoben, entschlossen, diesen Ort würdevoll zu verlassen. Eine kräftige Hand packte ihn am Arm, und er drehte sich um und wollte die Person wegen dieser Unverschämtheit anfahren. Ailin Pasteur stand hinter ihm, sein Gesicht eine Maske des Zorns. „Das wird dir dein Vater nie verzeihen, Arcturus." „Das erwarte ich auch nicht", versetzte Arcturus und schüttelte die Hand des umojanischen Botschafters ab. „Warum musstest du das ausgerechnet heute tun?", wollte Pasteur wissen. Arcturus erwiderte Pasteurs festen Blick nicht minder hart. Der Mann fuhr unter der Entschlossenheit in Arcturus' Augen wie geschlagen zurück. „Manchmal muss man eben etwas Dramatisches tun, um seinen Standpunkt klarzumachen", sagte Arcturus. Pasteur schüttelte bedauernd den Kopf und richtete den Blick auf Arcturus' weinende Mutter. „Nun, Junge", sagte er traurig, „das hast du jedenfalls erreicht. Ich hoffe nur, dass du nicht eines Tages bereuen wirst, was du heute getan hast." „Das werde ich nicht", versprach Arcturus, wandte sich um und ging davon. BUCH ZWEI ARCTURUS KAPITEL 7 Das Dropschiff kreischte durch die obere Atmosphäre von So-
nyan, die Flügel zogen Feuerschweife hinter sich her wie ein dahinfegender Phönix. Auf den Panzerplatten des Hitzeschildes kräuselte sich orangefarben flammendes Feuer. Im Kielwasser des Schiffs blieb ein Dampfstreifen zurück, während es rasend schnell der Planetenoberfläche entgegensank. Wie es mit Flugmaschinen so war, bewies sich auch in diesem Fall, dass man mit einem ausreichend starken Zwillingsantrieb alles in der Luft halten konnte. Die Vorderflügel waren stummelkurz und bewegten sich vor und zurück. Dahinter erwachten gewaltige Düsenantriebe hustend zum Leben, als das Schiff in die Atmosphäre eintauchte. Dropschiffe dienten dazu, Streitkräfte der Konföderation sicher und schnell beides Ansprüche, denen sie nicht ganz gerecht wurden in die Schlacht zu transportieren, und Arcturas wusste das, während er die Metallrange neben seinem Kopf umklammerte. Aber unabhängig von all dem hatten die Entwickler keinen Gedanken an die Bequemlichkeit ihrer Schiffe verschwendet. Dropschiffe konnten in ihren Frachträumen alles transportieren, von Trappen bis hin zu Belagerungspanzern, und daher war die riesige Zelle im Schiffsbauch, die Arcturus' voll gerüstete Marines beherbergte die „Dominion-Einheit" -, eine ölige stauberfüllte Höhle aus Metall. Das Dropschiff erbebte, als es abgefangen wurde. Das Brüllen des Windes und der Maschinenlärm machten eine Unterhaltung unmöglich, es sei denn, man benutzte den Helmfunk. Neben den sechs Soldaten in ihren gepanzerten Anzügen transportierte das Schiff noch einen riesigen Belagerungspanzer, dessen kolossale, ächzende Masse von klirrenden Ketten festgehalten wurde und der den größten Teil des Schiffsinnenraums vereinnahmte. Es verstieß gegen die Regeln, so viele Soldaten zusammen mit einem Belagerungspanzer aufzunehmen, aber der entsprechende Befehl war von ganz oben gekommen, und so früh in seiner Karriere würde Arcturus den Teufel tun und Befehle in Frage stellen. Seine fünf Soldaten saßen im rückwärtigen Bereich des rot erleuchteten Abteils auf unbequemen Metallbänken, die aussahen, als hätte ein blinder Schweißer sie im Schiffsrumpf befestigt. „Nun, was erwartet uns, LT?", fragte Yancy Gray zum hundertsten Mal. „Wo fliegen wir hin?" Arcturus seufzte. Der temperamentvolle Junge von Tarsonis gab nie nach, bis er eine Antwort bekam, und er war der merkwürdig
naiven Überzeugung, dass die Befehlskette ihn über sämtliche Stadien des Geschehens auf dem Laufenden zu halten habe. Er war noch nicht lange genug beim Militär, um zu wissen, dass die Frontschweine wie Champignons waren: Sie wurden schön im Dunkeln gelassen und mit allem möglichen Mist zugedeckt. „Oh Mann, wie oft willst du das noch fragen, Yancy?", fragte de Santo. Ihre Miene verriet Streitlust. „Der LT wird uns schon sagen, was los ist, wenn er's weiß. Stimmt's, LT?" Diamond de Santo (oder Dia, wie ihre Kameraden in der Einheit sie nannten) war eine dunkelhäutige junge Frau, die auf Tyrador IX aufgewachsen war. Sie war die Tochter von Vertragsarbeitern, die sich in einem der vielen Badeorte und Resorts abplagten, welche den Planeten zu einem solchen Refugium für die Sprösslinge der Alten Familien machten. Heerscharen von Männern und Frauen, die einem der vielen Konföderierten Finanzinstitute Geld schuldeten, wurden gezwungen, dort zu arbeiten, um ihre Schulden abzuzahlen und dafür Sorge zu tragen, dass die Gäste keinen Finger zu rühren brauchten. Unnötig zu erwähnen, dass Diamond de Santo keine sonderliche Freude an diesem Leben hatte, und darum hatte sie sich im erstbesten Rekrutierungsbüro, das sie an ihrem achtzehnten Geburtstag finden konnte, eingetragen. In den sechs Monaten, die Arcturus sie nun kannte, hatte er in ihr den Kern einer guten Soldatin erkannt, einer Soldatin allerdings, die sich ständig provoziert fühlte, sodass sie mit jedem Wort Streit suchte und auf alles mit Widerspruch reagierte. Arcturus mochte sie sehr. Und dank einer seltsamen inneren Anziehungskraft erkannte de Santo eine verwandte Seele und zeigte Arcturus gegenüber eine Loyalität, die ihn an die Beziehung zwischen seinem Vater und Achton Feld erinnerte. „Hey, ich frag ja nur", sagte Yancy. „Ist doch nichts Verkehrtes, wenn man wissen will, was gespielt wird, oder? Ich hätte eigentlich frei haben sollen, bis dieser neue Einsatzbefehl kam." „Wir hätten alle frei haben sollen", sagte de Santo betont und ohne einen Hehl aus ihrem Ärger über diesen besonderen Geniestreich der Obrigkeit zu machen. Sie war nicht die Einzige, die wütend darüber war, dass man ihnen den Ausgang gestrichen hatte. Arcturas hatte nach Korhal zurückkehren wollen, um seine Mutter und Dorothy aufzusuchen.
Er hatte sie nicht mehr gesehen, seit er in den Militärdienst eingetreten war, nur geschrieben hatte er ihnen oft über das Netzwerk der Konföderation. Seine Mutter hatte ihm schließlich geantwortet, auch wenn ihren Worte nicht dieselbe Offenheit und Wärme innewohnte, wie es in den Briefen der Fall gewesen war, die sie ihm geschrieben hatte, als er noch auf die Akademie ging. Ihre Korrespondenz drehte sich um Neuigkeiten über seine Schwester und Korhal (und die dortigen Schwierigkeiten), erwähnten seinen Vater aber kaum über die Information hinaus, dass er bei guter Gesundheit sei. Dorothy hatte ihm gar nicht geantwortet, und er wusste, dass sie wahrscheinlich immer noch verstimmt war wegen seines plötzlichen Verschwindens. Wenn dieser Einsatz vorbei war, würde er hoffentlich Gelegenheit haben, die Dinge mit seiner Familie wieder ins Lot zu bringen, nachdem ihm die vergangenen anderthalb Jahre gezeigt hatten, wie sehr er sie vermisste. Selbst seinen Vater, was Arcturas gewaltig überraschte. Juliana und Arcturas hatten sich jedoch sehr viel geschrieben, und es hatte den Anschein, als sei sie immer noch an ihm interessiert, obwohl sie Lichtjahre voneinander getrennt waren. Sie hatten vereinbart, sich, wenn er endlich Urlaub bekam, auf Tyrador IX zu treffen, ehe er nach Korhal weiterreiste, und er musste zugeben, dass er sich darauf freute, sie wiederzusehen. Mit Arcturas' Tagträumerei war es vorbei, als Yancy mit behelmtem Kopf in seine Richtung nickte und sagte: „Ich wette, was du willst, dass der LT schon weiß, wo's hingeht. Ja, hundert Credits, dass er es längst weiß." „Verdammt, die Wette würde ich annehmen, wenn ich wüsste, dass du die Scheißkohle hast", erwiderte Chuck Horner. Sein breites Randweltlergrinsen nahm der Bemerkung alle Gehässigkeit. Horner war das, was Arcturus' Vater geringschätzig einen „guten Kerl" genannt hätte, ein kräftiger, breitgesichtiger Hauer von einer der abgelegensten Welten der Konföderation, wo die Menschen sich schon glücklich schätzen durften, wenn sie den ganzen Tag lang Strom hatten. Auf den ersten Blick war Chuck Horner auch genau das, aber Arcturus hatte überrascht feststellen müssen, dass hinter dem arglosen Äußeren ein ebenso scharfer wie schneller Verstand steckte. „Aber du hast keine zwei Cents, die du aneinanderreihen könn-
test", fuhr Chuck fort. „Jedenfalls nicht, nachdem Chun Leung und ich dir neulich beim Pokern alles bis auf deine Unterhose abgeknöpft haben." „Ihr hattet nur Glück", meinte Yancy. „Glück?" Chuck schnaubte. „Mein Daddy und vor ihm schon sein Daddy haben Armee-Poker gespielt, bevor du ein Funkeln im Auge deiner Mama warst. Die haben mir alles beigebracht, was ich weiß und kann." „Ach ja?", konterte Yancy. „Willst du dein Glück heute Abend noch mal versuchen?" „Was willst du denn setzen?", warf der bereits erwähnte Chun Leung ein. „Mir gehören ja schon dein Sold und deine Schokoladenration von nächster Woche. Du hast nichts mehr, was Big Dog dir abnehmen will." „Ich mache einen Monat lang Mayumi für dich sauber", bot Yancy an. „Der Junge will unbedingt spielen", sagte de Santo mit einem Lachen. „Kommt nicht in Frage." Chun Leung legte sich sein ImpalerGewehr über den Schoß, um den glänzenden, geölten Lauf zu streicheln. Mayumi war der Name, den Chun Leung seiner Waffe gegeben hatte, die sein ganzer Stolz und sein Augenstern war. Er ölte und reinigte das Gewehr mit wahrer Besessenheit, und während die Waffe eines jeden anderen zerschrammt und zerkratzt war, sah Leuns Impaler aus, als käme er frisch aus der Fabrik. „Ich bin der Einzige, der Hand an mein kleines Dingelchen legt", sagte Leung. „Ja, genau das haben die Mädchen auf Pridewater auch gesagt", stichelte de Santo. Leung zeigte ihr den Finger. „Legst du's drauf an?", fragte er. „Ich kann dir gerne zeigen, warum man mich Big Dog nennt, Kleines." Arcturus hörte dem Geflachse zu und nahm die unterschwellige Furcht hinter ihrem scheinbar lockeren Hin und Her wahr. Bisher hatten die Befehlshaber der 33. sie noch nirgendwohin geschickt, wo es allzu gefährlich war. Aber obwohl seine Soldaten nur wussten, was sie an Gerüchten im Speisezelt gehört hatten, konnten sie doch spüren, dass diese Mission anders sein würde. Nur ein Angehöriger der Einheit beteiligte sich nicht an dem Wortgefecht, und Arcturus wusste: Wenn es irgendwo im Himmel
einen Gott gab, dann hatte er einen merkwürdigen Sinn für Humor. Toby Mercurio, ein weiterer Absolvent der Styrling-Akademie, saß Arcturus gegenüber, mit hängenden Schultern, den Blick zu Boden gewandt. Nachdem er in den vergangenen sechs Monaten versucht hatte, Mercurio auf den Stand des Rests der Einheit zu bringen, wusste Arcturus, dass das Leben eines Soldaten nichts für seinen Kommilitonen war. Obgleich Mercurios Eltern reich genug waren, um ihn auf eine teure Schule zu schicken, war der Junge doch kein echtes Styrling-Material. Er hatte sich in der Schule halbwegs über Wasser gehalten, aber es waren seine überdurchschnittlichen Leistungen beim Padball gewesen, die ihm den Abschluss ermöglicht hatten. Im Beruf half ihm das allerdings nicht weiter, und ohne das Sicherheitsnetz einer richtigen Qualifikation war Toby in der realen Welt ins Straucheln gekommen. Es folgte eine Reihe bedeutungsloser Jobs als Bürohengst in einem der Werke seines Vaters, und in jedem davon hatte er mit Glanz und Gloria versagt, und schließlich ein trunkener Nachmittag, nach dem er mit einem Mordskater und einem Packen Eintrittspapiere zu sich gekommen war. In den achtzehn Monaten, seit Arcturus eingerückt war, hatte er festgestellt, dass das Leben eines Soldaten aus langen Strecken der Langeweile bestand, gefolgt von hektischen Zeiten voller Einsätze und Brüllerei. Worauf im Fall der Dominion-Einheit weitere Phasen der Langeweile folgten. Diese Mission versprach etwas mehr Action, und so überraschend es für ihn auch war, Arcturus freute sich auf den potenziellen Kampfeinsatz. Er hatte gelernt, sich in einem Kampfanzug gefechtsmäßig zu bewegen, und er konnte einigermaßen zielsicher mit einem Gaußgewehr umgehen. Aber es war sein Verständnis für Schlachtfeldtaktiken, kombiniert mit seiner Begabung, andere Menschen um sich herum zu inspirieren und das Unmögliche machbar scheinen zu lassen, das ihn in den Rang eines Lieutenants hatte aufsteigen lassen. Senior-Offiziere beabsichtigten, ihn die Karriereleiter weiter emporklettern zu lassen, aber bevor er sich an diesen Aufstieg machen konnte, musste er echte Kampferfahrung sammeln. Deshalb wurde die Dominion-Einheit nach Sonyan geschickt. „Na, kommen Sie schon, LT", sagte Chuck Homer. „Hat der
Junge recht? Wissen Sie, warum wir hier sind?" Arcturus fühlte die Blicke aller auf sich. Der Plaststahl ihrer Helmvisiere ließ ihre Gesichter ein wenig verschwimmen. „Ja, Charles", erwiderte Arcturus. Die anderen belustigte es, dass er Chucks vollen Namen nannte. „Ich weiß, warum wir hier sind. Ich bin Offizier es ist meine Aufgabe, das zu wissen." „Und? Worum geht's?", wollte Yancy wissen und beugte sich vor. „Piraten? Plündernde Söldnerbanden, die wehrlose Kolonisten und ihre schönen Töchter terrorisieren?" „So was in der Art", antwortete Arcturus. Die Aussicht darauf, ihre Ausbildung endlich praktisch anwenden zu dürfen, ließ Freudenschreie und Jauchzen durch den Helmfunk hallen. Arcturus hob eine Hand, um seine Einheit zum Verstummen zu bringen, und sagte: „Wir landen auf einem Planeten namens Sonyan, genauer gesagt in Camp Juno, wo wir auf andere Einheiten der 33. treffen, um bei der Evakuierung von Personen zu helfen, die in illegale Tiefkern-Abbauarbeiten verwickelt sind." „Werden wir jemanden umlegen?", fragte Chun Leung und tätschelte Mayumis Mündung. „Das hoffe ich nicht", sagte Arctums, „aber viele der Menschen auf Sonyan werden ihren Besitz wohl nicht aufgeben wollen." „Tja, dann werden wir ihnen eben zeigen, wie falsch das ist, was sie treiben", meinte Chuck Homer und klatschte Chun Leung ab. Auch Yancy und Dia schienen voller Vorfreude zu sein, nur Toby Mercurio fiel nicht mit ein, wie immer. „Ich wette, ich lege mehr um als du, Dia", sagte Yancy. „Na, sicher", grinste de Santo. „Mann, du weißt ja kaum, welches Ende von dem Gewehr du auf den Feind richten musst. Wenn wir in ein Feuergefecht geraten, bleibst du hübsch vor mir, hörst du?" Flackernde Textzeilen rollten über das Helmdisplay von Arcturus' Kampfanzug, und im Frachtraum begann das rote Licht zu blinken. „Ruhe jetzt", gebot er. Seine Stimme machte der gutmütigen Kabbelei mühelos ein Ende. „Wir setzen zur Landung an, also haltet euch bereit." Vor Sonyan hatte Arcturus exakt drei andere Planeten gekannt. Er war auf Korhal aufgewachsen, einer üppigen Welt mit gemä-
ßigtem Klima, warmen Sommern und milden Wintern, und er hatte angenommen, dass die meisten anderen bewohnbaren Welten der Konföderation ganz ähnlich waren. Seine Ausbildung auf den riesenhaften Orbitalschiffswerften von Dylar IV und sein erster Einsatz auf Pridewater hatten ihm diesen Glauben rasch ausgetrieben und deutlich gemacht, dass Menschen, wenn sie nur ausdauernd genug waren, so ziemlich überall leben konnten. Sonyan allerdings war eine Welt, die aufzusuchen man einen wirklich triftigen Grund brauchte, vom dort Leben ganz zu schweigen. Als die Landungsrampe scheppernd auf den hart gebackenen Sandboden des Planeten schlug, heulte sengend heißer Wind ins Dropschiff, der Arcturus und seine Soldaten kurz erblinden ließ. Während sie ausstiegen, stürzte eine Gruppe von Technikern an ihnen vorbei, um den Belagerungspanzer auszuladen, und Arcturus widerstand dem Impuls, sie anzuschreien. Stattdessen stapfte er die Rampe hinunter und betrat die grobkörnige Oberfläche einer anderen Welt. Das Visier von Arcturus' Helm verdunkelte sich aufgrund der Helligkeit, als er sich einen ersten Eindruck von ihrem neuen Posten verschaffte. Camp Juno duckte sich in eines der Täler zwischen den felsigen Ausläufern einer hoch aufragenden rötlich braunen Gebirgskette. Sandstürme wehten von den Gipfeln herab, und der Himmel war von der Farbe abblätternden Rostes. Das kränklich gelbe Rund einer Sonne hing tief über den Bergen, warf lange dünne Schatten über deren Flanken und über das Lager. In der Mitte des Camps befand sich ein Befehlsstand aus Fertigbauteilen. Die Pressmetallplatten waren blank gescheuert und mitgenommen vom ständigen Ansturm des Staubes, mit dem der Wind sie bombardierte. Die rotierende Schüssel eines Kommunikationssatelliten scannte das Terrain, und eine Anzahl deprimierend identischer Gebäude umgab das Befehlszentrum aus Standard-Fertigbauten, wie man sie in jeder militärischen Niederlassung der Konföderation vorfand Baracken, Speiseräume, Lazarett und Landeplattformen sowie Hangars mit großen Toren, Vorratsdepots und Trainingseinrichtungen. Drahtspiralen füllten die regelmäßigen Abstände zwischen sechs Geschütztürmen, die entlang des Lagerperimeters standen und deren Satellitenschüsseln den Himmel nach Bedrohungen absuchten. Marines joggten truppweise durchs Camp, und emsige War-
tungsarbeiter reparierten beschädigte Gebäude. Trotz der Zahl der Menschen, die er sah, nahm Arcturus eine entspannte, gemütliche Atmosphäre wahr, die über Camp Juno lag. Das Training ging nicht drängend vonstatten, und die Haltung der Marines, die Wache standen, verriet keine besondere Achtsamkeit. Ein paar Köpfe wandten sich ihnen zu, als er seine Leute aus dem Rumpf des Dropschiffs führte, aber das ohnedies mäßige Interesse an ihrer Ankunft legte sich schnell. „Und was jetzt, LT?", fragte Yancy und schulterte sein Gewehr. „Wo ist unser Empfangskomitee?" Arcturus fragte sich dasselbe, erwiderte jedoch nichts. Es stand einem Offizier nicht gut zu Gesicht, zuzugeben, dass er nicht wusste, was vorging. Eigentlich hatte der Leiter der Lagersicherheit sie in Empfang nehmen sollen, aber sie standen mutterseelenallein auf der Landeplattform. „Vorsicht auf der Rampe!", rief einer der Techniker im Inneren des Dropschiffs und ersparte es Arcturus damit, Yancy eine Antwort geben zu müssen. Kaum war die Warnung ertönt, als auch schon das kehlige Grollen des Panzermotors aufklang. Schmutzige blaue Ölqualmwolken ausstoßend schob sich der Belagerungspanzer aus dem Dunkeln und fuhr ruckelnd über die Rampe herab. Arcturus sah zu, wie der Panzer sich rumpelnd vom Schiff entfernte, die Techniker im Schlepp. „Verdammt, das Ding ist vermutlich älter als du, Chuck", sagte Dia de Santo. „Dia, Schätzchen", erwiderte Chuck in seinem gedehnten Randweltler-Dialekt. „Du nennst es vielleicht alt ich nenne es erfahren." „Na, dann ist das ein sehr erfahrener Panzer", meinte Yancy. „Du kannst mich mal, Söhnchen", sagte Chuck mit einem vielsagenden Blinzeln in de Santos Richtung. „Wenn ich die Wahl habe zwischen einem Fohlen und einer Stute, steige ich lieber auf die Stute. Die weiß, was sie tut und zeigt, wo's lang geht." „Reden wir immer noch über Panzer?", fragte Yancy. „Achtung!", rief Chen Leung, und die Marines der DominionEinheit standen augenblicklich stramm. Arcturus drehte sich um und sah einen Marine in voller Kampfmontur von der Befehlszentrale her auf ihn und seine Leute zuschreiten. Auf den Schultern des Marines machte er die Abzeichen eines Captains aus. Hinter
dem Offizier marschierte eine zwei Mann starke Eskorte. Arcturus hob eine Augenbraue, als er, durch die gleißende Helligkeit und den Staub blinzelnd, etwas Vertrautes an der Haltung und Gangart des Marines zu erkennen glaubte. Der Captain blieb vor Arcturus stehen und maß ihn mit einem raschen Blick von Kopf bis Fuß. „Lieutenant Arcturus Mengsk meldet sich zum Dienst, Sir", sagte er und salutierte zackig. „Dominion-Einheit bereit zum Einsatz, Sir." „Rühren, Mengsk", sagte der Captain, und Arcturus lächelte, als ihm klar wurde, warum sein Vorgesetzter ihm so bekannt vorgekommen war. Das spiegelnde Helmvisier des Captains klappte auf, und Arcturus blickte in das Gesicht von Captain Angelina Emillian, der Frau also, die die Saat für das Interesse am Militär in ihn gelegt hatte, damals, es schien so lange her, auf der Styrling-Akademie. Arcturus entspannte sich, wenn auch nur ein wenig. Emillian mochte zwar ein vertrautes Gesicht sein, aber sie war immer noch Captain und er Lieutenant. Auch er musste die Befehlskette respektieren. „Schön, Sie wiederzusehen, Mengsk", sagte Emillian. „Man hat Sie also zum Lieutenant befördert?" „Ja, Sir", erwiderte Arcturus. „Die Generalsjobs waren schon alle vergeben." Emillian lächelte. „Ihre große Klappe haben Sie nicht verloren, wie ich sehe. Vielleicht hatte Ihr Direktor ja recht mit seiner Meinung über Sie. Lässt man ihn noch unterrichten?" „Nein, Sir", antwortete Arcturus. „So weit ich gehört habe, wurde er wegen Veruntreuung und Betrug zu sechzig Jahren in der Strafkolonie auf Bharel verurteilt. Ich nehme an, er war kein geeigneter Kandidat für eine Resozialisierung." Emillian entging der Stolz in seinem Ton nicht, und sie fragte: „Und ich nehme an, Sie hatten damit nichts zu schaffen?" „Das kann ich nicht sagen", entgegnete er und räumte damit jeglichen Zweifel aus, den Emillian an seiner Komplizenschaft beim Sturz und Fall Steegmans noch gehabt haben mochte. „Das dachte ich mir", sagte sie. Mit dem Daumen wies sie auf seine Marines. „Und was hat es mit denen auf sich?" „Dominion-Einheit, Sir", erklärte Arcturus. „Zum Einsatz bereit, Sir. Sie brauchen es nur zu sagen."
„Dominion-Einheit?", wiederholte Emillian. „Hübscher Name. Haben Sie sich den ausgedacht?" „Ja, das habe ich", antwortete Arcturus nickend. „Ich fand, er klingt angemessen eindrucksvoll." Emillian schüttelte grinsend den Kopf und schritt die Reihe der Marines ab. Ihr strenger Blick bohrte sich in den jedes einzelnen Soldaten und ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihr weniger als nichts bedeuteten. „Okay, zuhören, Marines!", rief sie. „Willkommen auf Sonyan, dem miesesten Dreckloch diesseits der Kernwelten. Das hier ist kein Bootcamp, aber es ist auch nicht das Paradies. Wo immer Sie also vorher stationiert waren und dachten, dort sei es schlimm gewesen, vergessen Sie das hier ist es schlimmer. Das Essen ist erbärmlich, die Unterkünfte haben mehr Löcher als eine Impaler-Zielscheibe, und Sie werden, bevor Sie von hier verschwinden, mindestens einmal im Lazarett gewesen sein. Fragen?" Die meisten der Marines der Dominion-Einheit hielten ihrem Blick stoisch stand, weil sie wussten, dass die beste Reaktion auf eine solche rhetorische Frage Schweigen war. Diese Soldatenweisheit war Yancy Gray allerdings offenbar fremd. „Was sollen wir denn im Lazarett, Sir?", fragte er. Captain Emillian umkreiste ihn, das Visier ihres Helmes kaum einen Zoll von seinem Gesicht entfernt. Arcturus fuhr innerlich zusammen; es machte ihn wütend, dass ihn einer seiner Marines so beschämte. „Haben Sie etwas gesagt, Soldat?", fragte Emillian. „Äh... Sie wollten doch wissen, ob jemand Fragen hätte", erwiderte Yancy. „Ich habe eine. Eine Frage, meine ich." „Das reicht, Gray", schaltete sich Arcturus ein. „Der Captain wird mich informieren, und dann sage ich Ihnen, was Sie wissen müssen. Um Ihretwillen hoffe ich, dass Sie ins Lazarett eingeliefert werden, weil Sie erschossen wurden, dann können Sie wenigstens keine dummen Fragen mehr stellen." Emillian entließ Yancy nicht aus ihrem Blick, und er schaute starr auf einen Punkt irgendwo über ihrer rechten Schulter. Schließlich wandte der Captain sich ab und trat, die Hände auf dem Rücken verschränkt, vor die Einheit. „Um Private Grays Frage zu beantworten, Sie werden das Laza-
rett wahrscheinlich deshalb aufsuchen, weil auf Sie geschossen wurde und zwar von verstimmten Bergarbeitern, die mit illegalem Tiefkernabbau begonnen haben auf diesem Felsen, der aber zufällig im Besitz der Konföderation ist." Arcturus hatte nicht gewusst, dass Sonyan eine Konföderationswelt war. Diese kleine Information war nicht Teil seines Briefings vor dem Abflug von Pridewater gewesen. Andererseits hatte sich dieses Briefing ja auch in den Worten „Gehen Sie nach Sonyan und warten Sie auf Befehle" erschöpft. Wie auch immer, so weit draußen am Rand hing der Besitzanspruch auf eine Welt in erster Linie davon ab, wer über die meisten Leute und die stärkeren Waffen verfügte. Nach dem Eintreffen der Dominion-Einheit und des Belagerungspanzers schien diese Ehre nun der Konföderation zuzufallen. „Die meisten dieser Bergleute wurden bereits umgesiedelt", fuhr Emillian fort, und dabei ging sie auf und ab, „aber es gibt da noch ein paar hartnäckige Sturköpfe, und es wird Ihre Aufgabe sein, sie aus ihren Löchern zu scheuchen. Das wird ein hartes Stück Arbeit, weil diese Kerle sich tiefer eingegraben haben als ein tyradorischer Blutwürger. Aber Sie werden Hilfe erhalten. Wir haben dreißig Marines und eine Handvoll Firebats, die Sie begleiten werden. Und jetzt haben wir auch einen Belagerungspanzer. Aber geben Sie sich keiner falschen Hoffnung hin, Marines -man wird auf Sie schießen, und es wird auch auf Ihrer Seite Opfer geben." Emillian räusperte sich. „Diesen letzten Teil kann ich Ihnen garantieren." Ihr Blick schweifte über die kurze Reihe der Gesichter. „Denn Sie, Glückspilze, die Sie sind, werden morgen früh um 6 Uhr einen Angriff auf Turanga Canyon starten." Die Sonne stand bereits hell und heiß am Himmel, als Arcturus um fünf Uhr von seinem Feldbett aufstand und zum Speisesaal ging, um zu frühstücken und einen Becher 1-A-Militär-Koffein in sich hineinzuschütten. Das Frühstück bestand aus kalorienreichem, klebrigem Zeug, das so schmeckte, wie es stank. Aber es lieferte immerhin die Energie, die ein Marine für einen Kampfeinsatz brauchte. Während er dasaß und nachdenklich den braunen Brei betrachtete, den man ihn auf den Teller geklatscht hatte, nahm Captain Emillian ihm gegenüber Platz. „Guten Morgen, Lieutenant", grüßte sie und machte eine ni-
ckende Kopfbewegung in Richtung des Essens. „Nicht gerade das, woran Sie gewöhnt sind, nehme ich an, hm?" „Nicht unbedingt, nein", pflichtete er bei. „Aber die Mensa der Styrling-Akademie könnte es mit diesem Laden hier durchaus aufnehmen." „Dann verstehe ich, warum das Marine Corps Ihr Interesse weckte." Schweigend aßen sie ihr Frühstück, und Arcturus nutzte die Gelegenheit, Angelina Emillian eingehender in Augenschein zu nehmen. Sie war immer noch hübsch, nur fiel ihm jetzt eine Narbe auf, die voriges Mal noch nicht da gewesen war, eine blasse Linie, die über ihrem Ohr begann und unter dem Haar verschwand. „Habe ich mir auf Chau Sara geholt", sagte sie, ohne aufzuschauen. „In einer der Strafkolonien kam es zu einem Gefängnisaufstand dort, wo die Schlimmsten der Schlimmen einsitzen, Massenmörder, Vergewaltiger, Serienkiller. Wir kamen routinemäßig vorbei, um ein paar zur Resozialisierung abzuholen, als es passierte. Ich war in der Zelle eines Insassen namens Wyan Schaen, um ihn zu beurteilen, als er die Waffe einer der Wachen in die Finger bekam. Und damit schoss er mir ins Gesicht." „Dumm gelaufen", meinte Arcturus, was eine peinliche Untertreibung war. Aber Emillian schien sich nicht daran zu stören. „Ja, das war es, aber ich hatte Glück. Die Kugel prallte vom Inneren meines Helms ab und streifte mich nur, bevor sie hinten austrat." „Was haben Sie dann getan?" „Da war so viel Blut um mich herum, dass der Vollidiot mich für tot hielt", sagte Emillian. „Ich war wohl ein paar Sekunden lang weggetreten, aber als ich wieder zu mir kam, sah ich ihn mit dem Rücken zu mir am Gitter stehen. Also stand ich auf und brach ihm das Genick, und dann machte ich, dass ich rauskam." „Ich bin beeindruckt", sagte Arcturus, und er meinte es ehrlich. „Nicht der Rede wert", entgegnete sie. „Wie auch immer, wir bekamen unsere neuen Rekruten, und ich hatte eine neue Narbe, mit der ich Lieutenants beeindrucken kann, die noch grün hinter den Ohren sind. Erzählen Sie mir etwas über Ihre Einheit, Mengsk. Gute Leute?" Arcturus ließ den Blick den Tisch entlangwandern, wo die Dominion-Marines saßen und mit den Soldaten plauderten, die mit ihnen zum Turanga Canyon fliegen würden.
„Ja", antwortete er dann. „Bevor der Befehl für diesen Einsatz kam, freuten sie sich auf ihren Ausgang. Wir alle freuten uns darauf, aber sie sind gute Soldaten. Ein paar etwas besser als die anderen, aber sie befolgen Befehle, und sie kämpfen hart." „Das reicht doch", sagte Emillian. Arcturus hatte die verräterischen Narben einer neuralen Resozialisierung an den Marines gesehen, mit denen seine Leute sprachen. „Verraten Sie mir etwas, Captain. Sie haben bereits dreißig Marines hier, alle darauf getrimmt, Befehle zu befolgen, ohne Fragen zu stellen." „Ja? Und?" „Wozu brauchen Sie uns?" Emillian antwortete zwischen zwei Bissen Rührei. „Haben Sie schon einmal an der Seite eines resozialisierten Marines gekämpft?" „Nein." „Wenn Sie es getan hätten, würden Sie diese Frage nicht stellen", sagte Emillian. „Verstehen Sie mich nicht falsch, das sind ausgezeichnete Soldaten, und sie tun alles, was man von ihnen verlangt. Aber sie sind nicht imstande, Initiative zu ergreifen, und sie reagieren nicht besonders gut auf Änderungen während des Kampfes. Geben Sie ihnen einen Befehl, der leicht zu befolgen ist, und es gibt keine Probleme. Aber sobald die Dinge etwas aus dem Ruder laufen, sind sie, nun ja, ein wenig verloren. Ich verlange immer nach Marines, denen man nicht das Hirn gebraten hat. Stattdessen schickt man mir leider immer nur mehr von denen." „Und Sie glauben, sechs von uns machen einen Unterschied?" „Sechs von Ihnen und ein Belagerungspanzer, lassen Sie uns den nicht vergessen." „Natürlich", sagte Arcturus. „Diese Bergarbeiter, das muss ein taffer Haufen sein." „Wie kommen Sie darauf?" „Sie glauben offensichtlich nicht, dass die sich einfach ergeben werden, wenn sie uns sehen. Habe ich recht?" „Ja, Sie haben recht." „Das dachte ich mir", erwiderte Arcturus. „Warum werden sie sich nicht ergeben?" „Weil sie es nicht getan haben, als wir sie das letzte Mal angriffen. Sie setzten sich mit Goliath-Walkers, Luftabwehrraketen und einer ganzen Menge Schusswaffen zur Wehr. Andererseits hatten
wir letztes Mal aber auch keinen Belagerungspanzer. Und keine Dominion-Einheit", ergänzte sie mit einem Lächeln. Der Belagerungspanzer war schon gestern Abend aufgebrochen. Sie sollten an der Mündung des Turanga Canyons auf ihn treffen, von wo aus er Artillerie-Unterstützung leisten würde, während die Marines zum Stützpunkt der Bergarbeiter vorrückten. „Erinnern Sie sich an unser Gespräch in Styrling?", fragte Arcturus. „Sicher", erwiderte Emillian. „Warum fragen Sie?" „Sie sagten, kaum fünfzig Prozent aller Marines würden je ein richtiges Kampfgefecht erleben. Mir scheint, das war eine leichte... Übertreibung." „Ganz und gar nicht", erwiderte Emillian. „Etwa fünfzig Prozent aller Rekruten der Marines scheiden entweder schon während der Grundausbildung aus, kommen bei Ausbildungsunfällen ums Leben oder erleiden Verletzungen, die sie als Invalide an irgendeinen Schreibtisch fesseln." „Das heißt also, wer die Grundausbildung überlebt, zieht beinahe garantiert in den Kampf, ja?" „Das kommt in etwa hin", antwortete Emillian mit einem ironischen Zucken ihrer Augenbrauen. „Wenn man es so ausdrückt, klingt es gleich nicht mehr so verlockend." „Daher die verlagerte Betonung", sagte Emillian, stand auf und trug ihr Tablett zum Abstellwagen. Arcturus folgte ihr und schob sein Tablett unter das von Emillian in den Wagen. „Das verstehe ich. Jetzt." Emillian drehte sich um, und der stählerne Ausdruck in ihren Augen verriet Arcturus, dass der informative Teil des Frühstücks vorbei war. „Gut. Zeit, an die Arbeit zu gehen, Lieutenant. Sammeln Sie Ihre Leute und melden Sie sich in zehn Minuten auf der Startbahn. Wir brechen um fünf Uhr dreißig auf, also kommen Sie nicht zu spät, sonst bringe ich Ihren Arsch vors Kriegsgericht. Und jetzt Abmarsch!" Und Arcturus setzte sich in Bewegung. Arcturus saß da, sein Gaußgewehr an der Schulter und den Körper gegen den zerklüfteten Felsen gepresst, der ihn vor der Kugelsalve schützte, die von oben herabsägte. Hoch über ihnen
stand sengend die Sonne am Himmel, ein zitronengelbes Rund, das so nah zu sein schien, dass man nur die Hand auszustrecken brauchte, um es zu berühren. Sein Atem ging rau und stoßweise, und im Mund schmeckte er Blut, weil er sich beim Absturz in die Zunge gebissen hatte. Die Mitglieder der Dominion-Einheit duckten sich mit ihm zwischen die Felsen, alle wirkten sie abgekämpft, aber sie lebten noch. Was, wie Arcturus klar war, einem verdammten Wunder gleichkam, wenn er sich das eisige Entsetzen in Erinnerung rief, das ihn befallen hatte, als die Explosion ein riesiges Loch in die Flanke des Dropschiffes riss. Was dann passiert war, daran konnte er sich kaum erinnern, abgesehen von den hurrikanartigen Winden, die durchs Truppenabteil brüllten, sich blähende Flammen und die furchtbaren Schmerzensschreie kampfgestählter Marines. Seine Erinnerung setzte erst in dem Moment wieder ein, da er in einem Gewirr aus verbogenem Metall lag, rings um ihn herum Flammen, den Blick nach oben gerichtet auf eine ölig schwarze Rauchsäule, die am Himmel zu kratzen schien. Hände packten ihn unter den Achseln und schleiften ihn vom Wrack weg, und als er gegen einen Felsblock gelehnt wurde, sah er, dass Chuck Horner sein Retter war. „Was ist geschehen?", brachte er hervor. „Missile", sagte Horner. „Sie haben am Eingang des Tales ein Geschütz in Stellung gebracht. Der Pilot hat es nicht gesehen, und wir bekamen ein Wärmelenkgeschoss genau in den Auspuff. Jetzt ist mindestens die Hälfte der Marines tot, und der verfluchte Belagerungspanzer ist auch noch nicht da." „Emillian?", fragte Arcturus. „Wo ist der Captain?" „Der Captain ist kampfunfähig, Sir", antwortete Yancy Gray von der anderen Seite der Bodenrinne her. „Ich glaube, sie hat sich das Kreuz gebrochen." Grays Worte hatten Arcturus' Gedanken wieder auf Kurs gebracht, und jetzt zog er sich auf die Beine, wobei er sich an einem Felsvorsprung abstützte. Er musste die Leute zusammentrommeln und sich überlegen, was als Nächstes zu tun war. Sein Blick streifte die reglos auf dem Rücken liegende Gestalt Emillians, und er erkannte, dass Yancy absolut recht hatte: Emillian würde in diesem Kampf nicht mitmischen. Ihre Rüstung würde sie für eine Weile am Leben halten, doch
ihre Beine und ihr Rückgrat waren auf eine Weise verdreht, für die sie nicht geschaffen waren, und Arcturus war klar, dass sie nicht lange durchhalten würde, wenn sie nicht schnell in ärztliche Behandlung kam. Zwanzig Meter weiter unten im Tal lag die zerstörte Hulk des Dropschiffs in einem Haufen brandgeschwärzter Stahltrümmer. Der Pilot hatte alles versucht, um ihre Landung so sanft wie möglich zu gestalten, aber wenn der Antrieb einer Explosion zum Opfer gefallen und das nächste Stück flachen Bodens hundert Kilometer entfernt war, ließ sich nicht viel ausrichten. Dicke bauchige Rauchwolken stiegen aus dem Wrack auf, und das Feuer fraß knisternd und knackend Munitionspakete und Stim-Spender. Arcturus hatte kurz durchgezählt und festgestellt, dass elf der Marines, die sie im Dropschiff begleitet hatten, tot waren und acht weitere zu schwer verletzt, um noch kämpfen zu können. Drei der Firebats waren ebenfalls tot, ihren eigenen Waffen zum Opfer gefallen, als sie im Feuer des Absturzes hochgingen. Damit blieben elf von Emillians resozialisierten Marines und zwei Firebats, die an der Seite der Dominion-Einheit kämpfen konnten. Kaum hatte Arcturus alle beisammen, knatterte eine Geschosssalve aus den Felsen über ihnen herab. „Deckung!", rief er, aber der Befehl war überflüssig. Schrille Ping-Geräusche Metall, das auf Stein traf und abprallte dröhnten ohrenbetäubend. Wie eine unerschöpfliche Schachtel mit Nägeln, die aus großer Höhe über einem Steinboden ausgeleert wurde. Schwer atmend riskierte Arcturus, als der Beschuss etwas nachließ, einen Blick aus seiner Deckung heraus, und er sah einen ganzen Haufen Schützen auf den Felsen dort oben. Etwa zwanzig Mann, schätzte er, gepanzert, mit Helmen und strapazierfähiger Ausrüstung. Gewiss keine Soldaten, eher Söldner oder Piraten, die von den Bergleuten angeheuert worden waren. Arcturus schob sein Gewehr um die Felskante und drückte ab, ohne wirklich zu zielen. Er wollte lediglich das Feuer erwidern. Die Rüstung fing den Rückstoß mühelos ab, und obwohl seine Schüsse weit daneben gingen, fühlte er sich danach besser. Die Soldaten der Dominion-Einheit hielten sich im Schutz der Felsen und blickten nach oben. Der Ausdruck ihrer Gesichter reichte von aufkeimender Panik bis hin zu Begeisterung. Weitere Stachelgeschosse prasselten zu ihnen herunter, und Arcturus sah,
wie eine konzentrierte Salve einen der verletzten Marines zerfetzte. Der Mann zuckte wie unter Stromschlägen. Seine Rüstung bot Schutz vor den meisten Handfeuerwaffen, aber der Dauerbeschuss aus Impaler-Gewehren hatte die bereits angegriffenen Teile seiner Panzerung durchschlagen. Wen auch immer diese Bergarbeiter zu ihrer Verteidigung angeheuert hatten, sie verstanden ihr Geschäft. Weitere Schüsse gingen nieder und nagelten die Marines zwischen den Felsen fest. Arcturus erkannte, dass sie nur zwei Möglichkeiten hatten. Sie konnten sich entweder zurückziehen und versuchen, die Talmündung zu erreichen, oder trotz des Beschusses ihre Mission fortsetzen. Rückzug war keine Option, die Arcturus gefiel, nicht nach so vielen Toten, aber er wollte im Angesicht einer unbekannten Anzahl von Schützen auch nicht heldenhaft in den Tod laufen. Sein Blick nach oben hatte ihm gezeigt, dass das Gros der Männer über ihnen hinter scharf gezackten Felsvorsprüngen in einem Engpass inmitten eines Gewirrs aus drahtigen Büschen lauerte. Darüber war das Gestein strahlend weiß, wie von der Sonne ausgebleicht. Während eine Gruppe schoss, lud die andere nach. So ratterten die Impaler-Geschosse fast ununterbrochen herab und klimperten gegen die Felsen rings um die Dominion-Einheit. Arcturus hatte gesehen, dass das Tal sich in seinem Verlauf in Richtung der Männer verengte. Vor ihren Angreifern fiel der Boden steil ab und bot keine Deckung; es wäre kollektivem Selbstmord gleichgekommen, da hinaufzustürmen. Aber die felsigen Wände beiderseits der Stelle, wo die Marines festgenagelt waren, ließen sich mit minimaler Anstrengung erklettern. Etwa vier Meter höher schien der Boden flacher zu werden und mit verkümmerten Bäumen und Geröllhaufen übersät zu sein. Ideale Deckung, aus der heraus sie ihre Angreifer von den Flanken her attackieren konnten. Arcturus drehte sich um und öffnete einen Funkkanal zu den beiden überlebenden Firebats. Sie duckten sich in ihre Deckung. Ihre klobigen Anzüge aus rotem Panzermaterial waren durch den Absturz stark verbeult und zerschrammt, aber ihre PerditionFlammenwerfer schienen noch voll funktionsfähig zu sein. „Hier spricht Lieutenant Mengsk", sagte er. „Melden Sie sich."
„Private Eugene Malik", kam die erste Antwort. „Private Harper Utley", sagte der zweite Mann. „Malik, Utley, ich möchte, dass Sie beide genau in der Mitte hochsteigen und mir Feuerschutz geben. Auf mein Zeichen hin halten Sie auf die Felsen zu, die die Schützen als Deckung benutzen, und nehmen sie unter Dauerfeuer. Verstanden?" „Sir, ja, Sir!", erwiderten sie unisono, und aus den Waffen, die an ihren Panzerhandschuhen befestigt waren, zischten blaue Hitzekegel. Zufrieden, dass die Firebats ihre Aufgabe kapiert hatten, wandte Arcturus sich an die resozialisierten Marines, die den Absturz überlebt hatten und noch einsatzfähig waren. Er wies auf diejenigen, die sich ihm am nächsten befanden, und sagte: „Ihr zwei bleibt bei den Verletzten. Die anderen unterstützen Malik und Utley. Zwingt die Bastarde mit Impaler-Dauerbeschuss in Deckung. Alles klar?" Kopfnicken und zackiges Salutieren versicherten ihm, dass sie ihn verstanden hatten. Arcturus richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine eigenen Leute, als sich ein Impaler-Querschläger in seinen Schulterschutz bohrte. „Was haben Sie vor, LT?", rief Dia de Santo, während Arcturus das Geschoss von seiner Rüstung wischte, als wäre es ein Stäubchen auf seinem besten Anzug. „Wir werden diese Schützen ausschalten und weiter vorrücken", antwortete er. „Sir, das ist Wahnsinn!", schrie ChuckHorner. „Wir haben keine Ahnung, wie viele von denen da oben noch auf uns warten!" Arcturus schüttelte den Kopf und zeigte den Marines der Dominion-Einheit die geballte Faust. „Wir gehen, und das ist ein Befehl. Wenn die Firebats und Emillians übrige Männer losschlagen, laufen Horner, Mercurio und Yancy da rüber zu den Felsen auf der rechten Seite. Der Rest von euch folgt mir nach links." Er sah die Furcht und den Zweifel in ihren Gesichtern und sagte: „Hört zu, Soldaten! Wahrscheinlich kommen bereits weitere von denen um unsere Flanke, um uns den Rückweg abzuschneiden." Angesichts des Terrains und der Tatsache, dass sie hier unten festsaßen, stimmte das wahrscheinlich nicht, aber es schadete nicht, ihnen ein wenig Angst einzujagen. „Entweder wir rücken vor und kämpfen, oder wir werden wie
Anfänger in Stücke geschossen!", rief Arcturus. „Wir sind die Dominion-Einheit, und wir killen jeden, der sich uns in den Weg stellt." Chun Leung packte Mayumi fester und rammte ein frisches Magazin in die Waffe. „Jetzt sprechen wir dieselbe Sprache!", sagte er. KAPITEL 8 Lodernde Fahnen aus flüssigem Feuer wehten brüllend durchs Tal hinauf, als Malik und Utley aus ihrer Deckung hervorkamen. Die beiden rot gepanzerten Soldaten rückten vor. Flammendecken legten sich vor ihnen über die Felsen und Büsche des Tales. Arcturus konnte die Hitze ihrer Flammenwerfer selbst hinter ihnen und durch seine Rüstung hindurch spüren. Impaler-Geschosse hämmerten auf die zwei Firebats ein, aber ihre Panzerung war stärker und schwerer als die gewöhnlicher Marines, und so trotzten die beiden Privates dem Beschuss und drängten weiter nach vorne. Das Gesträuch rings um die feindlichen Schützen fing augenblicklich Feuer, die Flammen knackten und tanzten wie in Ekstase. „Jetzt!", rief Arcturus undkletterte die felsige Schräge, neben der er Deckung gefunden hatte, empor. Chun Leung und Dia de Santo folgten ihm, ihre Gewehre fest an die Brust gedrückt. Weiteres Gewehrfeuer wurde hinter ihnen laut, als Emillians Marines den Firebats folgten und im Vormarsch aus der Hüfte schossen. Einer der Marines wurde umgemäht, kaum dass er seine Deckung verlassen hatte; ein Hagel rasiermesserscharfer Stacheln ließ sein Visier zersplittern und die Rückseite seines Helmes aufplatzen. Die anderen hielten nicht inne und marschierten den Widerständlern weiter entgegen. Arcturus suchte und fand Halt an Felsnasen und in Sprüngen und zog sich mit kräftigen Bewegungen nach oben. Die Rüstung verstärkte seine Körperkraft, und so gelang es ihm, sich ohne Schwierigkeiten über die Kante der Schluchtwand zu hieven. Er rollte sich auf die Seite und brachte sein Gaußgewehr in Anschlag. Sein Blick wanderte zur anderen Seite hinüber und fand Yancy, Chuck und Toby, die sich über die Felsen zogen und De-
ckung suchten. Unter ihm bestrichen die Firebats den Feind weiterhin mit ultraheißen flüssigen Feuerstößen. Einer der beiden, Arcturus wusste nicht, welcher es war, hinkte stark; sein Beinschutz war über dem Knie von Geschossen zerfetzt worden, und Blut rann ihm den Oberschenkel hinab. Mehrere andere Marines lagen am Boden, aber das Augenmerk der Söldner war auf die vorrückenden Kämpfer fixiert, und die anderen nahenden Gegner hatten sie noch nicht bemerkt. Arcturus öffnete einen Funkkanal zur Dominion-Einheit und sagte: „Bewegt euch, Leute. Macht schnell und zieht die Köpfe ein." „Verstanden LT", antwortete Chuck und führte Yancy und Mercurio davon. Arcturus nickte in sich hinein. Horner hatte echtes Potenzial, ganz natürlich übernahm er das Kommando über seinen kleinen Trupp, und Arcturus machte sich im Geiste eine Notiz, Homers Fähigkeiten zu fördern falls sie diese Begegnung überlebten. „Chun, Dia", sagte er, „auf geht's." Arcturus ging ihnen voran, hastete vorwärts, so tief geduckt, wie seine Rüstung es erlaubte, und stets in der Deckung der Felsen. Das Herz hämmerte ihm beim Rennen in der Brusl, ständig rechnete er damit, dass ihn und seine Soldaten gleich eine Impaler-Salve treffen würde. Arcturus hörte das beinahe pausenlose Dröhnen von Gewehrfeuer, Schreien und Explosionen aus dem Canyon, und so wusste er, dass die Männer, die er geschickt hatte, noch immer kämpften. Von unten stieg ein kochender orangefarbener Flammenpilz auf und verkündete den Tod eines Firebats, Sekunden später gefolgt von einer zweiten Explosion. Der Gestank von Flammenwerferbrennstoff erfüllte die Luft, und Arcturus vernahm weitere Schreie sterbender Soldaten. Direkt voraus und nicht weit entfernt machte er etwas Weißes aus und erkannte dann die Felsen, hinter denen ihre Angreifer sich verschanzt hatten. Er grinste in wilder Vorfreude von Angst erfüllt und zugleich in wahrer Hochstimmung. Arcturus ging auf ein Knie nieder und wies mit der Faust auf die weißen Felsen. „Bleibt links und rechts von mir", sagte er. „Wir rücken bis zu diesen Felsen vor und dann schlagen wir mit allem zu, was wir haben." De Santo und Leung nickten, und Arcturus sah auf ihren Gesich-
tern dieselbe Begeisterung, die sie vermutlich auf seinem sehen konnten. „Dann los", zischte Chun Leung und tätschelte Mayumis glänzenden Lauf. „Du sagst es, Big Dog", erwiderte de Santo und stieß ihre Faust gegen die von Leung. „Kommt", befahl Arcturus. Er rannte zu den Felsen hinüber, stemmte den Fuß gegen einen Brocken und schaute in den Canyon hinunter, während de Santo und Leung in Stellung gingen. Der Anblick unter ihnen war wie eine Szene geradewegs aus der Hölle: Der Talboden stand in Flammen und war mit geschwärzten Leichen bedeckt. Ein paar verletzte Söldner schrien und umklammerten blutende Wunden, aber ihr Schmerz kümmerte Arcturus nicht. Diese Männer hatten versucht, ihn und seine Marines umzubringen, und damit waren sie in seinen Augen weniger als nichts. Wie er vermutet hatte, waren beide Firebats tot, genau wie ungefähr die Hälfte von Emillians resozialisierten Marines. Aber sie hatten ihren Job getan und die Aufmerksamkeit der Söldner auf sich gezogen, während die Dominion-Einheit um deren Flanke herumkam. Auf der anderen Seite des Canyons sah Arcturus, wie Horner, Yancy und Mercurio hinter den Felsen hochkamen und ihre Waffen auf den Feind unter ihnen richteten. Ein paar der Söldner schauten nach oben, als die Dominion-Einheit über ihnen auftauchte, und Arcturus genoss die Panik in ihren Mienen. „Feuer!", rief Arcturus. Ein verheerender Hagel aus Impaler-Geschossen ging auf die Söldner nieder. Ihre leichtere Körperpanzerung hatte dem Gaußfeuer aus so kurzer Distanz nichts entgegenzusetzen. Arcturus bestrich die Männer unter sich mit Schüssen. Blutige Fontänen spritzten empor, wo seine Treffer Schädel bersten ließen oder Glieder von Leibern rissen. Im Kreuzfeuer gefangen, hatten die Söldner keine Chance. Sie tanzten unter der Wucht der Salven, saßen deckungslos fest und konnten nicht zurückschlagen. Die Echos der Schüsse erfüllten den Engpass des Canyons ohrenbetäubend laut und schrill. Ein paar der Söldner schafften es, ihre Gewehre in Anschlag zu bringen, aber es waren nicht genug, und es war zu spät sie wur-
den gnadenlos niedergemäht. Einer der Männer sah ein, dass es hoffnungslos war, sich wehren zu wollen. Er warf seine Waffe von sich und hob beide Hände, um sich zu ergeben. Arcturus schnitt ihn mit einem knappen Feuerstoß in zwei Hälften. Binnen weniger Sekunden war es vorbei, und als die Marines der Dominion-Einheit das Feuer einstellten, wurde es still in der Schlucht. Beißender Rauch stieg von den heiß geschossenen Läufen ihrer Gewehre auf, während sie einander ungläubig anblickten schockiert von dem Blutbad, das sie angerichtet hatten, und doch auch wie berauscht davon, ihr erstes Feuergefecht überlebt und gewonnen zu haben. „Gute Arbeit, Leute", lobte Arcturus. Sein Herzschlag normalisierte sich erst jetzt wieder, nachdem sie diese Männer, wie in einem Traum gefangen, getötet hatten. Der Boden der Schlucht sah einem Schlachthof ähnlich, zerfetztes Fleisch und Blut vermengten sich zu zähen breiigen Lachen, die in der Hitze bereits zu klebrigen Pfützen gerannen. „Mann, diesen Hurensöhnen haben wir es aber gezeigt!", rief Yancy und reckte das Gewehr triumphierend in die Höhe. Chuck Horner salutierte Arcturus, und selbst Toby Mercurio machte endlich einmal einen frohen Eindruck. Neben ihm ließen Dia de Santo und Chun Leung ihre Helme zusammenstoßen, und er spürte, wie sie ihm, von Triumph erfüllt, auf die Schulterpanzerung schlugen. „Sie haben es geschafft, LT!", schrie de Santo. „Wir haben den ganzen verdammten Haufen abgeknallt!" „Das haben wir", pflichtete Arcturus bei. Erst jetzt wusste er das Gemetzel, das er angefühlt hatte, zu würdigen. Er wusste, dass manche Menschen gewaltige und furchtbare Schuldgefühle hatten, wenn sie andere töteten. Aber als er den Blick über die aufgerissenen Hüllen aus Fleisch und Knochen schweifen ließ, die vor Minuten noch lebende atmende Menschen gewesen waren, empfand er nichts für sie. Rein gar nichts. Arcturus blickte durch den optischen Zielsucher zum Lager der Bergarbeiter hinauf und hielt Ausschau nach irgendeinem Hinweis auf Waffentechnologie wie den Geschützturm, der ihr Dropschiff abgeschossen hatte. Und tatsächlich ragten vor dem Lager zwei weitere Geschütze mit kreisenden Satellitenschüsseln auf, ähnlich
denen, die es in Camp Juno gab. Die Bergwerksanlage war eine gut organisierte Ansammlung von Gebäuden aus vorgefertigten Teilen und errichtet auf einem künstlich angelegten Plateau vor der Mündung einer großen Kluft in der Bergflanke, die dem Eingang zur Höhle eines prähistorischen Ungeheuers ähnelte. Der Rand des Plateaus war zu einem Verteidigungswall aufgeschüttet, inklusive Schützenlöchern aus Sandsäcken und Betonbunkern. Hinter den Barrikaden stampften zwei Goliath-Walkers hin und her, die drehbaren Kanonen ihrer Waffenarme und das MissileSystem über der Pilotenkanzel himmelwärts gerichtet. Wegen der Goliaths machte Arcturus sich keine allzu großen Sorgen sie wurden in erster Linie gegen Luftziele eingesetzt, aber die Gefährlichkeit ihrer Waffen durfte man auch als Bodenangreifer nicht einfach abtun. Jedenfalls hatte er genau das Richtige, um die Goliaths zu bekämpfen. Er lächelte, als er die Bergleute und ihre Söldner panisch umherrennen sah, entsetzt über das, was auf der zerfurchten Straße, die zum Haupttor des Bergwerkskomplexes führte, gerade in Sicht gekommen war. Dreißig Minuten nach dem Ende des Kampfes war der Belagerungspanzer endlich in den blutigen Canyon gerumpelt. In der Zeit bis dahin hatte die Dominion-Einheit die Waffen und Munition der gefallenen Marines eingesammelt und die Toten geborgen. Von den Marines, die im Fahrwasser der Firebats angegriffen hatten, waren nur noch fünf am Leben. Die anderen lagen in einer ordentlichen Reihe neben den acht Verwundeten und denjenigen, die beim Absturz umgekommen waren. Die Leichen der Söldner wurden zur Seite geschleift, die Waffen nahm man ihnen ab, aber abgesehen davon kümmerte man sich nicht um sie. Sie bestellten einen Evakuierungsflieger, der Captain Emillian und die Verletzten zurück nach Camp Juno bringen sollte. Nachdem Arcturus dessen Startbestätigung erhalten hatte. fuhren er, die Dominion-Einheit und die fünf resozialisierten Marines mit dem Panzer weiter das Tal hinauf. Schließlich hatten sie noch einen Job zu erledigen. „Oh ja!", rief Yancy Gray, der auf der flach abfallenden Schnauze des Panzers stand und das Gleichgewicht wahrte, indem er sich an der gewaltigen Kanone festhielt. „Jetzt zieht ihr den
Schwanz ein, was? Habt die Hosen voll, weil wir uns einen Panzer besorgt haben, wie? Oh ja!" Die Reichweite des Belagerungspanzers war groß genug, um das Lager der Bergleute von der Stelle aus anzugreifen, wo sie sich jetzt befanden. Die Hauptkanone verfügte über mehr als genug Feuerkraft, um das Camp in eine rauchende Ruine zu verwandeln, und dabei hatten sie keine Gegenwehr zu befürchten. Aber Arcturus wollte die Anlage nicht zerstören, wenn es sich vermeiden ließ, nicht, wenn die Chance bestand, sie einzunehmen und selbst zu nutzen. „Halt die Klappe, Yancy", sagte Arcturus, reichte Mercurio den optischen Zielsucher und nahm seinen Helm ab, den er auf den Kettenschutz des Panzers stellte. Dann sprang er zu Boden. „Chuck, Dia. Ihr kommt mit mir. Schultert eure Waffen und überzeugt euch, dass sie gesichert sind." Horner und de Santo sprangen auf den hart gebackenen Boden herab, während Arcturus bereits die Straße in Richtung der Bergwerksanlage hinaufging, das Gewehr am Riemen über der Schulter. Nach dem wütenden Toben der Schlacht vorhin war es jetzt fast friedlich. Die Straße zur Mine war relativ geschützt vor den heftigen Winden, die von den Bergen herunterfegten. Arcturus sah, wie aus dem Komplex über ihm fünf Männer auftauchten. Drei waren bewaffnet wahrscheinlich weitere Söldner -, die anderen beiden von der abgehärteten, stets schmutzigen Erscheinung eingefleischter Prospektoren. „Was haben Sie vor, LT?", fragte Chuck Horner. „Ja, das hab ich mich auch gerade gefragt", warf de Santo ein. „Wir werden mit ihnen reden", erklärte Arcturus. „Und Sie bitten, sich zu ergeben." „Sich ergeben?", echote Horner. „Ehrlich gesagt, LT, die sehen mir nicht so aus, als wollten sie sich ergeben." „Das überlassen Sie mal mir, Charles." Die beiden Gruppen trafen an einer Straßenbiegung aufeinander, etwa zweihundert Meter vom Eingang des Camps entfernt, und Arcturus spürte die Feindseligkeit der Bergarbeiter wie einen Hieb. Einer der Männer war klein und stämmig, seine Haut ledrig und fleckig von einem Leben unter harten Bedingungen. Der andere war ebenfalls von stämmiger Statur, aber in seinen Augen lag eine Wachsamkeit, die Arcturus verriet, dass nicht er es war, der das Reden übernehmen würde.
Die Söldner hielten sich im Hintergrund, ließen jedoch keinen Zweifel daran, dass sie mehr als nur bereit waren, ihre Waffen zu benutzen. Bevor Arcturus auch nur den Mund öffnen konnte, hielt ihm der erste Mann ein Bündel abgegriffener, ölfleckiger Papiere hin und sagte: „Dieses Land gehört euch nicht, Konföderierter. Das ist unser Claim, ganz legal. Geh und sag deinen Bossen, dass wir die Papiere und alles Nötige haben, um das zu belegen. Hast du verstanden?" Arcturus nickte höflich und sagte: „Ich bin Lieutenant Arcturus Mengsk vom Konföderierten Marine Corps. Spreche ich mit dem Leiter dieser Einrichtung?" Der Mann mit den Papieren musterte ihn argwöhnisch und erwiderte: „Ja, tust du." „Und Sie sind?" „Lemuel Baden aber das ist völlig egal. Wir haben uns nichts zu sagen." „Das sehe ich anders", meinte Arcturus. „Denn das stimmt nicht ganz. Ich habe einen Belagerungspanzer, der sagt, dass wir eine wichtige Angelegenheit zu besprechen haben." „Ach ja? Und die wäre?" „Ihre sofortige Kapitulation und Umsiedlung auf einen anderen Planeten." Baden schnaubte. Arcturus vermutete, es sollte sich dabei um ein Lachen handeln. „Kapitulation? Verdammt, du hast vielleicht Nerven, Junge. Wie alt bist du überhaupt? Zwanzig? Einundzwanzig ?" „Neunzehn." Jetzt lachten beide Prospektoren. „Geh nach Haus, Junge", sagte Baden. „Ich kapituliere nicht. Schon gar nicht vor einem Kind, das sich noch nicht mal rasieren muss." „Oh, ich glaube, Sie werden doch kapitulieren", entgegnete Arcturus. „Mehr noch, ich bin mir da sogar ganz sicher." „Und warum?" „Weil ich einen Belagerungspanzer habe, und wenn Sie sich nicht ergeben, werde ich diese Anlage zum Teufel jagen." „Dass ich nicht lache", feixte Baden. „Das wagst du nicht." „Stellen Sie mich auf die Probe", forderte Arcturus ihn auf, ohne Badens feindseligem Blick auszuweichen.
Arcturus sah, wie sich an den Schläfen des Bergmanns Schweißperlen sammelten. Er erkannte Mut in Badens Augen, aber auch Vorsicht, weil er den jungen Soldaten, der vor ihm stand, nicht durchschauen konnte. „Im Moment versuchen Sie herauszufinden, ob ich bluffe", sagte Arcturus. „Ich versichere Ihnen, das tue ich nicht. Ich bluffe nie. Wenn diese Unterredung nicht mit Ihrer Kapitulation endet, werden Sie und jeder in Ihrer Anlage binnen zehn Minuten tot sein. Das garantiere ich Ihnen." „Dann sollten wir euch jetzt vielleicht einfach umlegen", meinte Baden. „Das könnten Sie, aber dann würden meine Leute Sie töten, und alle würden umsonst sterben", erwiderte Arcturus. „Sie sehen, Ihnen bleibt nur eine Möglichkeit." Baden warf seinem Gefährten einen Blick zu, und dieser sagte: „Das könnt ihr gottverdammten Konföderierten nicht mit uns machen! Diese Mine gehört uns, und wir lassen sie uns von euch nicht wegnehmen." Arcturus ging über die Worte des Mannes hinweg. Er wusste, dass Baden der Mann war, mit dem es hier zu verhandeln galt. „Bleib ruhig, Bill, überlass das mir", sagte Baden. Er sah wieder Arcturus an. „Geben Sie mir zwanzig Minuten, damit ich mit meinen Leuten reden kann?" „Natürlich", antwortete Arcturus. „Aber wenn Sie danach nicht kapitulieren, werden Sie erfahren, über welche Schlagkraft dieser Panzer verfügt. Und glauben Sie mir, das wollen Sie nicht." Baden nickte, dann stapfte er mit seinen Begleitern wortlos zurück zur Minen-Anlage. Arcturus sah ihnen nach, dann machte er auf dem Absatz kehrt und lief wieder hinunter zu der Stelle, wo seine Marines und der Belagerungspanzer auf ihn warteten. Als sie dort anlangten, schlug Arcturus gegen die Flanke des Panzers. „Nicht feuern." „Dann haben Sie geblufft?", fragte de Santo. „Nein", erwiderte Arcturus. „Wie ich Baden schon sagte, ich bluffe nie. Ich weiß jetzt schon, dass er kapitulieren wird." „Sind Sie sich da sicher?", hakte Chuck Homer nach. „Mir kam der Kerl vor wie ein störrisches Maultier." Arcturus nickte. „Richtig. Aber er ist nicht dumm." „Sir?" De Santo hob fragend eine Augenbraue. „Er weiß, dass ich die Mine vernichten und jeden dort töten
werde, wenn er sich nicht ergibt", erklärte Arcturus. Chuck Horner schaute Arcturus schief an. „Sie machen keine Scherze, oder?" „Nein", entgegnete Arcturus. „Ich mache keine Scherze. Und Lemuel Baden weiß das." Das Lazarettgebäude von Camp Juno war in jeder Hinsicht ein steriler, antiseptischer Ort. Die vorgefertigten Wände waren strahlend weiß und mit Keramikfliesen verkleidet, die das harte Licht der grün gestrichenen Lampen, die von der Decke hingen, reflektierten. Der Bau ähnelte einer dicken Röhre, die man der Länge nach aufgeschnitten hatte, um die beiden Hälften dann zu Boden fallen zu lassen. Auf der offenen Fläche hatte man mit Stellwänden kleinere Räume geschaffen, die mit Betten bestückt waren, und an der Decke befestigte Abzugshauben versuchten und schafften es nicht -, die stehende Luft zirkulieren zu lassen und den Desinfektionsgeruch zu mindern. Sanitäter machten ihre Runden, schauten nach den Verletzten, lasen Werte ab und verabreichten Schmerzmittel, während Marines, die anstatt ihrer Rüstungen jetzt Drillichzeug trugen, die Kameraden besuchten, die nicht zu stark betäubt waren. Arcturus hatte erwartet, dass es im Lazarett laut zugehen würde, aber das war nicht der Fall; es war nur erfüllt von den leisen Geräuschen schwer arbeitender Profis vor dem Hintergrund des Maschinensummens. Die Atmosphäre war ruhig, was vor allem daran lag, dass der Großteil der verwundeten Marines stark betäubt war, weil viele von ihnen resozialisiert waren. Zahlreiche Untersuchungen hatten ergeben, dass extreme Traumata eine negative Wirkung auf die Stärke der über die ursprünglichen Erinnerungen implantierten neuralen Reprogrammierung haben konnten, und niemand wollte das Risiko eingehen, dass diese Marines in ihre früheren mörderischen Persönlichkeiten zurückfielen. Da er die grausigen Details einiger der brutaleren Verbrechen kannte, die von hiesigen Marines begangen worden waren, bevor man ihren Gehirnen akzeptable Verhaltensmuster eingeprägt hatte, war Arcturus froh, dass solche Vorsichtsmaßnahmen getroffen wurden. Er entdeckte Captain Emiilian in einem der kleinen Räume, den
sie sich mit drei anderen verletzten Soldaten teilte, zwei Männern und einer Frau, und er ging zu ihr. Emillian lächelte, als sie Arcturus näher kommen sah, dann verzog sie das Gesicht, als sie versuchte, sich aufzusetzen; das Gestell aus silbrigem Stahl, das ihr Becken und ihre Beine umspannte, machte selbst diese simple Bewegung furchtbar schmerzhaft. Die Schwellungen um Auge und Kiefer waren zurückgegangen, und ihre Prellungen schimmerten rötlichbraun. Gegenüber der Narbe, die Emillian sich auf Chau Sara geholt hatte, zog sich jetzt eine weitere Linie aus roten Stichen über ihre Haut. Alle Patienten des Raumes hingen am Tropf- und kompliziert aussehenden Überwachungsapparaten, und Arcturus schlängelte sich vorsichtig durch ein Gewirr aus Kabeln, um an Emillians Bett zu gelangen. „Guten Morgen, Captain", begrüßte er sie. „Morgen, Lieutenant", erwiderte Emillian, während Arcturus neben ihrem Bett Platz nahm und am Fußende eine tragbare Konsole ablegte. „Sie sehen gut aus." „Na sicher", sagte Emillian. „Ich sehe beschissen aus. Niemand will mir einen Spiegel geben. Was schließen Sie daraus?" „Dass Sie selbst dann, wenn Sie fast umgebracht werden, noch schrecklich eitel sind?" „Passen Sie bloß auf, Kamerad", erwiderte Emillian. „Ich mag ja ans Bett gefesselt sein, aber ich bin immer noch Ihr vorgesetzter Offizier." Arcturus hob in gespielter Kapitulation die Hände. „Ich habe verstanden", sagte er. „Der Rest der Mission verlief gut, habe ich gehört?" „Ja", antwortete Arcturus. „Wir erreichten die Turanga-Anlage und nahmen sie ein, ohne dass ein Schuss gefallen wäre. Abgesehen von der Schießerei im Canyon, nachdem man uns vom Himmel geholt hatte." Bei der Erwähnung des Absturzes verdüsterte sich Emillians Gesicht. „Ich kann mich an nichts erinnern", sagte sie. „Man hat mir erklärt, ich hätte mir den Kopf an einer Runge angeschlagen, wodurch mein Helm zerbrochen sei. Hätte mir fast den Schädel zermalmt." „Sie hatten Glück", meinte Arcturus.
„Ja, das höre ich andauernd." „Jetzt haben Sie zumindest zwei zusammenpassende Narben", sagte Arcturus. „Das ist vielleicht ein Trost." „Entschuldigen Sie." „Erzählen Sie mir vom Rest der Mission", forderte Emillian ihn auf. „In groben Zügen hat mir einer der wenigen von meinen Marines, die sie lebendig zurückbrachten, Bericht erstattet, aber Geschichtenerzählen gehört nicht zu ihren Stärken, wissen Sie?" „Um ehrlich zu sein, viel mehr gibt es nicht zu vermelden." „Wenn jemand ,um ehrlich zu sein' sagt, heißt das im Allgemeinen, dass er lügt." „Das werde ich mir merken", erwiderte Arcturus. „Aber den Rest kennen Sie vermutlich schon. Nachdem seine zwanzig Minuten um waren, kam Lemuel Baden heraus und sagte, seine Leute würden abziehen. Sie deaktivierten ihren Reaktor und schalteten die Geschütztürme ab, und ich ließ sie von zwei Dropschiffen zum Debriefing hierher bringen, bevor sie den Planeten verließen. Wir haben die Anlage gesichert, und ein Team von uns nimmt die Einrichtung bereits unter die Lupe. Ich möchte um die Erlaubnis bitten, dieses Team zu beaufsichtigen, Captain." „Sie träumen immer noch davon, Prospektor zu werden, was?" „So ist es", gestand Arcturus. „Und wie haben Sie Baden zur Kapitulation überredet?" „Ganz einfach. Ich sagte ihm, ich würde die Anlage mit dem Belagerungspanzer platt machen." „Das war alles?" „Ja", sagte Arcturus. „Ich war sehr überzeugend." „Hätten Sie das Feuer eröffnet, wenn sie nicht aufgegeben hätten?" „Natürlich", antwortete Arcturus, ohne zu zögern. „Wozu soll man eine Drohung aussprechen, wenn man nicht bereit ist, sie nötigenfalls durchzusetzen?" „Das wäre eine sehr kostspielige Entscheidung gewesen, Lieutenant", sagte Emillian. „Eine Menge Leute, die besser bezahlt werden als wir, haben deutlich gemacht, dass die Anlage unbeschädigt bleiben sollte." „Und das ist ja auch der Fall. Baden wusste, dass ich es ernst meine, und er wollte nicht sterben. So einfach ist das."
Emillian schüttelte den Kopf. „Nein, Mengsk, so einfach ist das nicht." „Nein?" „Nein. Vergessen Sie nicht, ich habe Ihre Akte gelesen und weiß alles über Sie", erinnerte ihn Emillian. „Ich weiß, dass Sie, was Sie sagen, ernst meinen, aber Sie sagen nicht immer, was Sie denken. Sie behalten so gut wie alles, was Sie beschäftigt, für sich, und Sie zeigen niemandem, was Sie denken, es sei denn, Sie wollen es. Und in jenem Augenblick wollten Sie, dass Baden weiß, was Sie denken." „Das mag so sein", erwiderte Arcturus. „Und es hat ja auch geklappt, oder nicht?" „Das hat es", antwortete Emillian. „Und allein dafür verzeihe ich Ihnen vielleicht, dass die meisten meiner Soldaten in diesem Canyon getötet oder verkrüppelt wurden." „Es war ein Manöver wie aus dem Lehrbuch", entgegnete Arcturus. „Ein Teil zog die Aufmerksamkeit des Feindes auf sich, der andere umging seine Flanke." „Fast wie aus dem Lehrbuch. Weil die Leute, die für die Ablenkung sorgen, nicht ums Leben kommen sollen. Störfeuer? Schon mal was davon gehört?" „Ja, aber es gab keine andere Möglichkeit, unter Garantie dafür zu sorgen, dass die Aufmerksamkeit der Söldner nach vorne gerichtet blieb." „Tja, das haben Sie ja auch verdammt gut hinbekommen", sagte Emillian, strich sich das Haar aus dem Gesicht und griff nach einem Glas Wasser, das neben ihrem Bett stand. Sie stöhnte vor Schmerz, und Arcturus beugte sich rasch zur Seite und gab ihr das Glas in die Hand. „Danke", sagte Emillian. „Und jetzt verraten Sie mir, warum Sie wirklich hier sind." „Wie bitte?" „Kommen Sie schon, Sie sind doch nicht hergekommen, nur um sich meine neueste Narbe anzusehen, oder?" Arcturus hob die Schultern, dann sah er ein, dass es sinnlos war, weiter mit seiner Absicht hinterm Berg zu halten. Emillian hatte ihm die Wahrheit angesehen, entweder anhand seiner Körpersprache oder schlicht mit dem Instinkt eines ranghöheren Offiziers. „Es gibt da eine Sache, die ich mit Ihnen besprechen wollte,
ja...", begann Arcturus. „Na los, spucken Sie es aus", verlangte Emillian. „Glauben Sie, ich hätte nichts Besseres zu tun, als hier zu sitzen und Ihnen zuzuhören? In diesem Laden arbeiten heiße Konföderations-Ärzte, und als Mädchen muss man an die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Dienst denken..." Arcturus lächelte. „Und jetzt versuchen Sie, mich mit dem Einsatz von Humor zu beruhigen." „Herrje, man kann es auch übertreiben mit dem Analysieren", brummte Emillian. „Muss an den Schmerzmitteln liegen. Für gewöhnlich gehe ich subtiler vor. Also, worum geht es?" Arcturus nahm die tragbare Konsole vom Fuß ihres Bettes auf und aktivierte sie mit einer Berührung. Ein grünes Leuchten breitete sich über den Bildschirm aus, gefolgt von den Insignien des Marine Corps. „Ich habe Lemuel Badens Debriefing beobachtet", sagte Arcturus. „Wer hat das Debriefing geleitet?" „Captain Graves flog zu diesem Zweck von Camp Larson her." „Ein guter Mann", meinte Emillian. „Arbeitet schnell und erzielt Resultate." „Nun, Badens Debriefing war jedenfalls sehr schnell vorbei. Ob man allerdings behaupten kann, dass es zufriedenstellend verlief, ist eine andere Sache." „Was meinen Sie damit?" „Lemuel sagte, die Mine gehöre von Gesetzes wegen ihm und den anderen Bergleuten, und ihr Anspruch habe schon bestanden, bevor die Konföderation Interesse an Sonyan zeigte. Er hatte entsprechende Papiere, aber es scheint, als wären sie konfisziert worden, und nun raten Sie mal? Jetzt sind sie unauffindbar." Emillian zuckte mit den Schultern. „Schlamperei in der CorpsVerwaltung. Passiert doch ständig." „Das glaube ich gern", erwiderte Arcturus trocken und drehte die Konsole um, sodass Emillian den Bildschirm sehen konnte. „Wie auch immer, ich habe in der Registrierungsdatenbank von Kel-Morian nachgesehen, und dort sind die Schürfrechte für Turanga Canyon auf einen gewissen Lemuel Baden von Tarsonis eingetragen, und das schon seit sechs Jahren." „Worauf wollen Sie hinaus?" „Das erste Schiff der Konföderation, das auf Sonyan landete,
war die Jonestown im Jahr 77." Emillian verschränkte die Arme. „Verstehe. Und Sie glauben, es käme darauf an, dass die zuerst hier waren?" „Etwa nicht? Wenn sein Anspruch auf die Mine legal ist, haben wir sie ihm dann nicht gerade gestohlen?" „Behalten Sie diesen Mist für sich, Soldat", versetzte Emillian. „Und ich möchte ihn nicht noch einmal hören. Lemuel Baden gehört zum Kel-Morian-Kombinat, ein Haufen nichtsnutziger Gauner und Piraten. Verdammt, die meisten dieser Prospektoren sind ohnehin gesuchte Verbrecher." „Verallgemeinern Sie das nicht ein wenig?" „Tu ich das? Hören Sie zu, Mengsk, die Kernwelten sind abhängig von den Mineralien und Treibstoffen, die aus Minen wie diesen gefördert werden wollen Sie wirklich, dass wir diesen Kel-MorianVerbrechern verpflichtet sind? Sonyan gehört jetzt zur Konföderation, und alles auf dieser Welt gehört der Konföderation. Und das Marine Corps wird für den Schutz unserer Lebensart kämpfen. Haben Sie das verstanden?" „Ja, aber wie..." „Aber nichts, Lieutenant", unterbrach ihn Emillian, beugte sich vor und senkte die Stimme. „Wenn Sie beim Militär überleben wollen, müssen Sie aufhören, sich wie ein verdammter Pfadfinder zu benehmen. Bei den Marines befolgt man die Befehle, die man erhält. Und das ist alles. Punkt. Wenn Sie Ihre Nase weiterhin in Angelegenheiten stecken, die Sie nichts angehen, kann es leicht passieren, dass sie Ihnen abgebissen wird. Darum geht es bei den Marines, Mengsk. Befehle. Wenn wir anfangen, uns zu überlegen, welche Befehle wir befolgen wollen und welche nicht, wissen Sie, wo das hinführen würde? In die Anarchie. Und das werde ich in der 33. nicht zulassen." Wut rührte sich in Arcturus. Er sagte: „Klingt so, als wollten Sie, dass jeder Einzelne so wäre wie Ihre resozialisierten Marines. War das nicht genau der Grund, weshalb Sie die Dominion-Einheit hinzugezogen haben? Weil wir keine hirnlosen Roboter sind? Weil wir selber denken können?" „Ich habe Sie hinzugezogen, weil ich gute Offiziere brauche, die zuverlässig Befehle befolgen", entgegnete Emillian. „Ich dachte, Sie würden das begreifen, Mengsk, aber vielleicht habe ich mich ja geirrt. Halten Sie sich etwa für einen Rebellen, so wie Ihr Vater? Ist es das?"
„Was hat mein Vater mit der ganzen Sache zu tun?" „Ich habe Ihren Vater auf UNN gesehen", antwortete Emillian. „Er sprach sich eindeutig gegen die Konföderation aus und sorgt auf Korhal für Ärger. Sind Sie wie er, suchen Sie Ärger, wo es keinen geben muss?" „Ich bin nicht im Geringsten wie mein Vater", erklärte Arcturus. „Ach ja? Für mich sieht es aber beinahe so aus", meinte Emillian und zeigte auf Arcturus' Konsole. „Ich bin nicht im Geringsten wie mein Vater", wiederholte Arcturus, mit Nachdruck diesmal. „Es ist mir allenfalls peinlich, wenn er Ärger macht, wo es keinen geben muss." „So wie Sie es hier tun", sagte Emillian. Ihr Ton verlor etwas von seiner Schärfe, und sie lehnte sich zurück. „Hören Sie, ich will Ihnen nichts Böses, Mengsk, aber glauben Sie mir, das ist ein Pfad, auf den Sie keinen Fuß setzen wollen. Das Marine Corps ist eine Maschine, und wir sind alle nur Rädchen in dieser Maschine. Wenn Sie anfangen, aus der Reihe zu tanzen, werden Sie entweder von der Maschine verschluckt und ausgespuckt, oder sie bricht zusammen. Ausspucken können Sie sich meinetwegen lassen, aber ich werde nicht erlauben, dass unser Teil der Maschine zusammenbricht. Wenn Sie anfangen, der Obrigkeit mit Ihren dämlichen Fragen ans Bein zu pissen, wird Commander Fole nämlich mich zur Rechenschaft ziehen. Haben Sie mich verstanden?" „Ich habe Sie verstanden", antwortete Arcturus. „Und Sie haben recht. Ich werde keine Fragen mehr stellen." „Gut", sagte Emillian, suchte aber in seiner Miene nach einem Anzeichen dafür, dass er ihr nur Honig ums Maul schmierte. Arcturus wusste, dass sie sich darauf verstand, Menschen zu durchschauen, aber sie hatte absolut recht, wenn sie sagte, er zeige niemandem, was unter seinem Äußeren vorging. Seine Miene war vollkommen ausdruckslos, und Emillian entspannte sich, zufrieden, dass sie seine Zweifel im Keim erstickt hatte. „Okay", sagte sie. „Und jetzt genießen Sie Ihren Urlaub, Mengsk. Gehen Sie nach Hause, ruhen Sie sich bei Ihrer Familie aus, essen Sie gut, lassen Sie sich volllaufen oder ficken. Mir ist es egal, so lange Sie nur mit klarem Kopf zurückkommen. Verstanden?" „Ja." Arcturus nickte. „Verstanden." „Gut, und jetzt raus hier, Soldat, ich brauche etwas Schlaf."
Arcturus nickte noch einmal und schob im Aufstehen den Stuhl nach hinten. Er salutierte vor Emillian und suchte sich einen Weg durch das Gewirr der Drähte und Kabel der Überwachungsapparate neben den Betten. Als er sich von Emillian abwandte, fragte sie: „Haben Sie Kinder, Mengsk?" Arcturus schüttelte den Kopf. „Nein. Das wissen Sie doch." „Gut so." „Was soll das heißen?" „Stellen Sie sich mal vor, wie die geraten würden - bei Ihrer Familie." KAPITEL 9 Arcturus stieg aus dem Ground Car, einem glänzenden 79er kobaltblauen Terra Zephyr, und rückte dabei den Kragen seiner Ausgehuniform zurecht. Er interessierte sich eigentlich nur insofern für Motorfahrzeuge, als dass sie Mittel zum Zweck waren, ihn von A nach B zu bringen. Aber selbst er musste zugeben, dass der Zephyr ein feines Maschinchen war, mit sanften eleganten Linien, einer Innenausstattung aus weichem Leder und einem Motor, der schnurrte wie eine zufriedene Katze. Er wandte sich um und reichte Juliana Pasteur seine Hand, die seine galante Geste akzeptierte und sich mit müheloser Eleganz aus dem Ground Car helfen ließ. Die zwei Jahre, da er Juliana nicht gesehen hatte, waren ihr gut bekommen und hatten sie vom hübschen Mädchen zur schönen Frau erblühen lassen. Mit inzwischen achtzehn Jahren war ihre Figur an den richtigen Stellen gerundet, und sie trat so selbstbewusst und sicher auf, wie die meisten anderen Frauen es sich nur erträumen konnten. In ihrem schlichten, rückenfreien schwarzen Kleid und mit dem geschmackvollen Schmuck, der zu ihren Augen passte, zog Juliana die Blicke auf sich, als sie Arcturus' Arm nahm. Die Nacht war mild und warm, vom Meer her wehte eine leicht salzige Brise, und Juliana schlang eine Stola aus reiner Pashmina-Wolle um ihre Schultern, während sie den baumgesäumten Cepheid Boulevard auf das Restaurant zugingen. In diskretem Abstand folgten ihnen zwei breitschultrige Männer
in grauen Anzügen umojanisches Sicherheitspersonal, das Juliana begleitete, wann immer sie ihre Heimatwelt verließ. Arcturus konnte spüren, dass sie ihn nicht mochten, oder zumindest das, wofür seine Uniform stand, aber das überraschte ihn nicht. Die Konföderation versuchte schon ewig, Umoja in ihre Arme zu zwingen, doch die Umojaner waren ein entschieden unabhängiges Volk und weigerten sich hartnäckig, sich mit der Regierung von Tarsonis zusammenzuschließen. Cepheid Boulevard war eine zur Fußgängerzone umgewandelte Straße im Zentrum des Freizeitviertels von Elsecaro, einer der exklusivsten Resort-Städte auf Tyrador IX, und deshalb mussten sie den Rest des Weges zu Fuß gehen. Arcturus störte das nicht, gab es ihm doch Gelegenheit, die nach Zimt duftende Luft zu genießen und die Tatsache, dass nicht auf ihn geschossen wurde. Tyrador IX war eine der jüngeren Kolonialwelten, ein Planet, der seine Schwesterwelt Tyrador VIII mit umkreiste. Seit seiner Kolonisierung war Tyrador IX dank seiner Entfernung zu der Hektik auf Tarsonis und seiner einzigartigen Ökologie ein beliebtes Urlaubsziel. Der Orbitaltanz, den die beiden äußersten Planeten des Tyrador-Systems vollführten, bescherte Tyrador IX eine unvorstellbare Vielzahl von Ökosystemen und Klimazonen. Eine Reise von nur wenigen Kilometern konnte zu einem gewaltigen Unterschied in Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder Bodenbeschaffenheit führen, was es den geschäftstüchtigen Kolonisten erlaubte, ein regelrechtes Wunderland zu erschaffen, in dem sich nahezu jedes Paradies nachbilden ließ. Ski-Resorts fanden sich Seite an Seite mit Dschungellandschaften und unverfälschten Küstenorten, wo unerschrockene Touristen in den smaragdgrünen Wassern tauchen und den verspielten tyradorischen Narwal beobachten konnten. Geradezu schmerzhaft schöne Wüsten erstreckten sich im Schutz hoch aufragender, schneegekrönter Gipfel, wo die Reichen und Berühmten in Bergvillen wohnten, die nur per Orbitalflieger zu erreichen waren. Viele der Alten Familien hielten sich auf Tyrador IX private Enklaven, Anwesen, die ihnen die Möglichkeit zu buchstäblich jeder Art von Urlaub boten. Gerüchten zufolge handelte es sich dabei auch oft um Verstecke für die schwarzen Schafe der Familien, und böse Zungen behaupteten, es würden viele uneheliche Abkömmlinge hierher geschickt, weit fort von Tarsonis und den Enthül-
lungsreportern. Arcturus scherte sich nicht um derlei Dinge, er war es zufrieden, einfach zu entspannen und seine Freizeit zu genießen, fernab aller Gedanken ans Töten. Er war erst am Morgen auf Tyrador IX eingetroffen und würde morgen oder spätestens übermorgen nach Korhal Weiterreisen. Eine Woche darauf musste er zu seiner Einheit zurückkehren, und deshalb würde er keine Zeit damit vergeuden, an Kampfanzüge, C-14-Gaußgewehre oder Blut und Tod zu denken, so lange er das nicht musste. „Es ist wunderbar, oder?", meinte Juliana, den Arm unter den seinen geschoben und zu den fabelhaften Gebäuden zu beiden Seiten aufblickend. Arcturus lächelte. „Ja. Deutlich besser jedenfalls als das, woran ich gewöhnt bin. SCVs mögen ja eine effiziente Baumethode sein, aber sie tendieren in puncto Architektur doch zu einer gewissen Gleichförmigkeit." „Ich liebe es", sagte Juliana. „Keins sieht aus wie das andere." Das stimmte. Der Boulevard war mit unregelmäßig gemusterten Ziegeln gepflastert, und die Bauwerke ringsum verströmten einen rustikalen Charme und eine Individualität, die auf den Kernwelten leider fehlte. Sie gingen vorbei an Läden mit Fassaden aus Holz, wo Touristenkram verkauft wurde, und daneben lagen die Kunstgalerien einheimischer Maler und Delikatessengeschäfte, die Köstlichkeiten aus dem ganzen Sektor feilboten. Restaurants und Bars in jedem nur denkbaren Stil wetteiferten um ihre Aufmerksamkeit, und das wogende Aroma von einem Dutzend verschiedener Küchen verschmolz zu einem Büffet der Wahrnehmungen, das einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Nachdem er sich so lange von dem Fraß aus der Kantine ernährt hatte, merkte Arcturus auf einmal, wie sehr ihm ordentliches Essen wirklich abging. Seidene Lampen hingen von schmiedeeisernen Pfählen und durch das Geäst von Bäumen schlängelten sich Fiberoptikleitungen, bunte Lichter, die dem Boulevard eine angenehm festliche Atmosphäre verliehen. Menschen drängten sich auf den Straßen, Männer und Frauen von unübersehbar nobler Herkunft und wohlhabend. Arcturus bemerkte, dass viele dieser Gesichter sich auf seltsame und ein wenig unheimliche Art ähnelten, und er nahm an, dass die meisten von ihnen mittels kosmetischer Operationen und Gentherapie erschaffen worden waren.
Straßenkünstler unterhielten die Passanten mit Musik, Puppenspiel und Zaubertricks, und auf der Brise trieb das Lachen der Menschen. Ein Stück weiter die Straße hinunter machte Arcturus eine Gruppe von Soldaten aus, die vor einer Kneipe tranken. Ihr lautstarkes Geschrei nach Nachschub und die anzüglichen Pfiffe, die sie vorbeigehenden Frauen nachschickten, standen im Gegensatz zum Rest des Boulevards. Sie erblickten Arcturus, und die Lautstärke ihres Treibens sank fast auf der Stelle. Arcturus nickte den Soldaten respektvoll zu; die Abzeichen auf ihren Uniformen wiesen sie als Privates und Unteroffiziere aus. Einer der Soldaten, ein Junge, der kaum alt genug schien, um überhaupt eine Uniform tragen zu dürfen, stand auf und salutierte, als Arcturus vorbeiging. ,,'n Abend, Lieutenant, 'n Abend, Miss", sagte der Junge, und Arcturus konnte seine Alkoholfahne aus mehreren Schritten Entfernung riechen. ,,'n Abend, Soldat", erwiderte Arcturus, grüßte zurück und blieb neben der Kneipe stehen. Keiner dieser Männer konnte resozialisiert sein. Deshalb wäre es unhöflich gewesen, nicht ein paar Worte mit ihnen zu wechseln; andererseits wollte er auch nicht zu vertraut mit ihnen umgehen. „Wie heißen Sie, Sohn?", fragte er. „Private Shaw, Sir. 57. Marine-Pionierbataillon, Sir." „Führt ihr euch auch anständig auf, Männer?", fragte Arcturus mit einem breiten Grinsen. „Sir, ja, Sir!", antworteten die Soldaten lautstark und hoben ihre Gläser. „Gute Arbeit, Männer", sagte Arcturus. „Weitermachen. Und benehmt euch." „Bestimmt, Sir", erwiderte Private Shaw. „Machen Sie sich keine Sorgen, Sir." „Ich mache mir nicht um Sie Sorgen", erklärte Arcturus, „sondern um die einheimischen Frauen." Die Soldaten lachten, und Arcturus salutierte ein weiteres Mal, ehe er sich umwandte und mit Juliana weiterging. Das Lärmen der Soldaten schwoll wieder an, als Juliana seinen Arm drückte. „Du siehst sehr schneidig aus in deiner Uniform", sagte sie. „Sie steht dir." Arcturus lächelte. Er sah gut aus in der Uniform. Zwei Jahre Mi-
litärdienst hatten ihm Fleisch auf den Knochen und Muskeln in den Gliedern beschert. Seine Züge waren härter geworden, und er trat mit einer Selbstsicherheit auf, die er als junger Mann zwar gewiss besessen hatte, die ihm aber erst jetzt zur zweiten Haut geworden war. „Danke, Juliana. Ich habe dir ja schon gesagt, dass du heute Abend wundervoll aussiehst, aber man kann einer Dame nie genug Komplimente machen, oder?" „Das kann man sicher nicht", stimme Juliana ihm zu. „Es ist zwei Jahre her, seit ich dich gesehen habe, Arcturus, und ich wollte dich beeindrucken." „Das ist dir hervorragend gelungen", sagte Arcturus und ließ den Blick schweifen. „Und jeder Mann, der einen Puls hat, scheint derselben Ansicht zu sein." Sie lächelte und sagte: „Nun, wenn ich die Blicke anziehe, dann bin ich nicht die Einzige. Du erregst ja auch ziemliches Aufsehen..." Arcturus war durchaus aufgefallen, dass ihm einige der Frauen zulächelten und auch ein paar Männer -, die über den Boulevard spazierten, aber er hatte ganz bescheiden entschieden, es nicht zu erwähnen. Einige dieser Blicke waren unverhohlen lüstern, aber die meisten nickten ihm doch einfach nur aus Respekt vor seinem Dienst beim Militär zu. „Tja, es heißt ja, dass Frauen auf Männer in Uniform stehen." „Das stimmt auch", erwiderte Juliana in gespielt unterwürfigem Ton. „Wir sind das schwache Geschlecht und erliegen den subtilen Schlichen der Männer nur allzu leicht." Wenn du wüsstest, dachte Arcturus. Das Restaurant war eine kuriose Mischung aus Randweltkitsch und Kernweltschick, und Arcturus konnte sich nicht entscheiden, ob er es nun furchtbar fand oder zauberhaft. Juliana nahm ihm die Entscheidung ab, als sie bei dem Anblick lachte, in die Hände klatschte und erklärte, es sei herrlich „authentisch". Der Boden bestand aus Holz, war abgewetzt und farblos von den Schuhen tausender Gäste und die Luft erfüllt von kräftigen, anheimelnden Düften. Etwa hundert Leute saßen im Restaurant, und das lebhafte Raunen ihrer Gespräche schuf eine angenehme Kulisse. Man geleitete sie zu einer gemütlichen Nische, die von den Ti-
schen links und rechts durch Holzteiler mit eingelassenen Buntglasscheiben abgetrennt wurde. Die Sitze waren bequem. Bei einer hübschen Kellnerin, die sich ehrlich zu freuen schien, sie bedienen zu dürfen, gaben sie ihre Bestellung auf. Eine Weile plauderten sie über dies und das, Juliana erzählte ihm Geschichten über ihr letztes Jahr am Umoja-Institut und ihr neues Leben als angehende Anwältin. Sie hatte als Beraterin bei einer Firma angefangen, die sich auf die stellaren Verschiffungsgesetze spezialisiert hatte, und sie hoffte, in spätestens zwei Jahren ihre volle Zulassung zu bekommen. Sowohl Juliana als auch ihr Vater reisten noch immer regelmäßig nach Korhal, um Arcturus' Vater zu besuchen, aber sie spürte, dass dieses Thema einem vergnüglichen Abend nicht zuträglich war, und so sprach sie nur nebenbei über Korhal. Arcturus erzählte im Gegenzug von seinem Leben bei den Marines, von seinem Einsatz auf Pridewater und dem Kampf im Turanga Canyon, sparte die blutigsten Einzelheiten jedoch aus und verschwieg sein mangelndes Bedauern über den Tod, den er gesät hatte. Es gab Dinge, über die sprach man bei Tisch einfach nicht. Das Essen kam schnell, und Arcturus war ein klein wenig überrascht, dass es wirklich ausgezeichnet war. Er hatte ein Gericht mit Andouillewurst, Shrimps und würziger Senfsauce bestellt, während Juliana sich für eine sahnige Polenta mit einem Ragout von Champignons und Würstchen entschied. Sie ließen einander von ihrem Essen kosten und tranken Wein, der aus einer durchscheinenden blauen Glaskaraffe eingeschenkt wurde. Beim Essen flirteten sie ungehemmt miteinander. Arcturus vermischte genau die richtige Menge an Komplimenten mit Humor, um Juliana unentwegt zum Lächeln zu bringen, und sie fasste immer wieder über den Tisch, um seine Hand zu nehmen oder über seinen Arm zu streichen. Die Unterhaltung floss ungezwungen und leicht dahin, und ohne es recht gemerkt zu haben, musste Arcturus feststellen, dass er sich fantastisch amüsierte. Juliana trank einen Schluck Wein und fragte: „Und gefällt es dir, Soldat zu sein?" Die Frage überraschte Arcturus, denn sie kam aus heiterem Himmel und er hatte sich bemüht, seine Schilderung des Alltags beim Militär so neutral wie möglich zu halten.
„Ich denke schon", antwortete er. „Ich glaube, es gibt mehr, was mir gefällt, als andersherum. So lange man tut, was einem befohlen wird, ist es nicht übel." „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass dir das gefällt", meinte Juliana. „Ich habe ja kein generelles Problem mit Autorität", erklärte Arcturus. „Ich habe nur dann ein Problem damit, wenn ich die Person, die mir den Befehl gibt, für einen Schwachkopf halte. Ich würde sagen, das Marine Corps ist wie jede andere Organisation in der Hierarchie gibt es gute und schlechte Leute. Das Dumme ist nur, bei den Marines kann es leicht passieren, dass du der schlechten Leute wegen umgebracht wirst." „Sag so was nicht", mahnte Juliana. „Man soll das Schicksal nicht herausfordern." Arcturus lachte leise. „Schicksal? Ich glaube nicht an Schicksal. Ein Mensch trifft seine eigenen Entscheidungen und muss mit den Folgen leben. Logik und Ordnung bestimmen unser Leben, nicht das Schicksal. Wie auch immer, nachdem ich jetzt echte Kampferfahrungen gesammelt habe, wird es nicht mehr lange dauern, bis ich befördert und auf einen Posten versetzt werde, der weiter von der Front entfernt ist." „Habe ich es dir nicht gesagt?" Juliana lachte. „Ich habe dir doch gesagt, dass man dich schnell zum General machen wird." „Na ja, du hast von sechs Monaten gesprochen, aber ich glaube, es wird ein kleines bisschen länger dauern." „Haarspalter." „Entschuldige." „Und lernst du die Bergarbeit kennen? Schürfen, bohren und so weiter?" Arcturus hob die Schultern. „Bis jetzt nur insofern, als dass wir andere Minenbesitzer enteignen. So scheint es auf den Randwelten zu laufen. Der Geheimdienst schickt Erkundungstrupps auf die jeweiligen Planeten, die in Erfahrung bringen, was dort abgebaut wird, wer es abbaut und mit wem diese Leute zusammenarbeiten. Dann durchsuchen die Datenschnüffler die Netze und versuchen eine Lücke im Gesetz oder einen Eintrag im Strafregister zu finden, um den Einsatz bewaffneter Marines zu rechtfertigen, die die Eigentümer vertreiben." „Das ist ja furchtbar", meinte Juliana kopfschüttelnd. „Und da wundert sich der Rat von Tarsonis, warum Umoja kein Bündnis
eingehen möchte." „So schlimm ist das gar nicht. Ich habe eine Reihe von Teams beaufsichtigt, die Minen übernommen haben, und dabei habe ich viel gelernt. Oder zumindest habe ich viel darüber gelernt, wie man eine Mine nicht leitet." „Aber die Konföderation stiehlt diese Claims", machte Juliana deutlich. „Mein Vater sagt, der Rat wird mit jedem Jahr gieriger und dass man sich bald nicht einmal mehr die Mühe machen wird, gesetzliche Rechtfertigungen für diese Diebstähle zurechtzubiegen. Er sagt, letzten Endes werden sie sich einfach mit Gewalt nehmen, was sie haben wollen, und bald wird es niemanden mehr geben, der sie aufhalten könnte." „Das klingt, als hätte es mein Vater gesagt." „Ja, nun, vielleicht hat er ja recht, weißt du?", sagte Juliana zögerlich, wohl wissend, dass sie einen Streit riskierte, wenn sie Angus Mengsk erwähnte. Aber der Gedanke an Angus machte Arcturus gar nicht so wütend. Zu seiner Verärgerung musste er feststellen, dass ihn, je mehr Zeit verging, eine unangenehme Erkenntnis befiel: Vieles von dem, was sein Vater gesagt hatte, ergab jetzt Sinn... Als er aufwuchs, hatte Arcturus seinen Vater stets als strengen, autoritären Patriarchen der Familie Mengsk gesehen, einen Mann, den die Sorgen und Ambitionen seines jungen Sohnes nicht im Geringsten kümmerten. In Arcturus' jugendlicher Vorstellungswelt war Angus niemals selbst jung und wild gewesen, hatte nie erfahren, wie es war, ein Teenager zu sein. Ein Mensch, der besessen war von dem irrigen Glauben an seine eigene unendliche Weisheit und dem überheblichen Gefühl, dass ihm alles zustünde und er unsterblich sei. „Vielleicht", gab Arcturus zu, und der erstaunte Ausdruck von Julianas Gesicht brachte ihn zum Lächeln. „Ich sage nicht, dass er mit allem recht hatte, aber je mehr ich sehe, desto mehr denke ich, dass er vielleicht doch wusste, wovon er sprach." „Und was bedeutet das jetzt für dich?" „Ich weiß es nicht", antwortete Arcturus, und dieses Eingeständnis war schmerzhafter, als er es sich vorgestellt hatte. Sein Selbstvertrauen hatte ihn durch die stürmische Beziehung mit seinem Vater geleitet, aber zu wissen, dass er seine Bestimmung nicht so klug gesteuert hatte, wie es seine Absicht gewesen war, war eine zutiefst unangenehme Erkenntnis.
„Ich muss meine Zeit bei den Marines zu Ende bringen", sagte er, „aber danach breche ich ins All auf und lasse das hier alles weit hinter mir. Irgendwohin, wo die Konföderation keine Interessen verfolgt und wo ich mein Leben leben kann, fernab von politischen Spielchen und Korruption." „Ein solcher Ort wird schwer zu finden sein." „Mag sein", gab Arcturus zu. „Aber wenn ich nach Korhal zurückkehre, werde ich lange und angestrengt darüber nachdenken, wo er zu finden sein könnte." „Wirst du deinen Vater besuchen, wenn du wieder daheim bist?" „Ja", sagte Arcturus. „Es ist das erste Mal, dass ich zurück nach Korhal gehe, darum hat Mutter ein großes Familienessen organisiert. Da ist meine Anwesenheit natürlich Pflicht. Aber ich fürchte mich davor." „Ach, Unsinn", meinte Juliana und griff über den Tisch nach seinen Händen. „Es wird ganz wunderbar sein." „Ich hoffe es", erwiderte Arcturus mit einem Lächeln. Die Vorstellung der Wiederannäherung zwischen ihm und seiner Familie verursachte ihm ein fremdartiges, aber nicht unangenehmes Gefühl in der Magengrube. „Aber um dir die Wahrheit zu sagen", fuhr er fort, „mache ich mir wegen des Wiedersehens mit Dorothy mehr Sorgen. Ich glaube, sie ist immer noch wütend darüber, dass ich weggegangen bin, und dieses kleine Mädchen kann fürchterlich nachtragend sein." „So klein ist sie nicht mehr", erinnerte ihn Juliana. „Sie ist jetzt eine altkluge Sechsjährige, die große Matriarchin ihrer Grundschule." Arcturus lächelte bei dem Gedanken daran, wie Dorothy in der Schule das Regiment führte. „Sie ist eine Mengsk", sagte er. „So sind wir eben." Nach dem Essen beglich Arcturus die Rechnung, und sie traten aus dem Restaurant hinaus in den nach Meer duftenden Abend über Tyrador IX. Die Lichtergirlanden in den Bäume schimmerten wie kleine Sterne. Ihre Helligkeit nahm zu, dann ab und wieder zu, und die Seidenlaternen schaukelten im frischen Wind, der von der Küste herwehte. Es war kühler geworden, und Juliana zog ihre Pashmina-Stola enger um ihre Schultern. Auf dem Cepheid Boulevard war jetzt mehr los als zuvor, die Menschen wurden
angezogen von den flimmernden Lichtern, der festlichen Atmosphäre und den vielen Attraktionen, die einzig dem Zweck dienten, ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Arcturus blickte in die lächelnden Gesichter, die ihn passierten gut aussehende Männer und Frauen -, und er empfand einen Anflug von Verärgerung darüber, dass er so schnell wieder gehen musste. Tyrador IX war ein Ort der Annehmlichkeiten und der Erholung, und es wäre schön, schon bald wieder hierher zu kommen. Juliana schob ihre Hand in die seine, und so spazierten sie Händchen haltend die Straße zurück. Die beiden umojanischen Sicherheitskräfte folgten ihnen in diskretem Abstand. „Danke", sagte Juliana. „Wofür?" „Für heute Abend. Ich habe mich wunderbar unterhalten, Arcturus. Ich bin gerne mit dir zusammen." Arcturus lächelte, erfreut über das Kompliment und erwiderte: „Ja, ich hatte auch viel Spaß." „Du klingst so überrascht", meinte Juliana. „Das wollte ich nicht", sagte Arcturus. Plötzlich merkte er, dass es ihn wirklich traurig machte, sie morgen verlassen zu müssen. „Es ist nur schon eine Weile her, seit ich zuletzt in so feiner Gesellschaft war. Wenn man viel Zeit mit Soldaten verbringt, vergisst man schnell, wie schön es ist, einen Abend mit einer bezaubernden Frau zu verbringen." „Nun, so lange du mich bezaubernd findest, ist doch alles in Ordnung." „Du bist bezaubernd", betonte Arcturus. „Ich glaube, du weißt es nur nicht, und das macht es so unfassbar." Juliana drückte seine Hand, blieb stehen, neigte den Kopf nach hinten und küsste ihn. „Dir ist aber schon klar", sagte sie, „dass du mit deinen Schmeicheleien alles erreichen kannst, oder?" „Dann gewöhn dich am besten schon mal daran", gab er zurück und erwiderte ihren Kuss. Ganz in der Nähe klang rauer Jubel auf. Arcturus schaute auf und sah die Soldaten, an denen sie vorhin vorbeigekommen waren. Sie winkten ihnen von der Kneipe aus zu und hoben grüßend ihre Gläser. „Genau wie beim Abschlussball", sagte Juliana lächelnd. Arcturus lächelte ebenfalls und grüßte die Marines schelmisch
zurück. „Fast", sagte er. „Ich glaube, diese Männer sind ein bisschen härter als die Studenten der Akademie." Noch während Arcturus dieser Gedanke durch den Kopf ging, richteten sich seine Nackenhaare auf. Er drehte sich um und erblickte eine Gruppe von fünf Männern, die bei einer der handgefertigten schmiedeeisernen Bänke am Rand des Boulevards standen. Sie wirkten irgendwie fehl am Platze, ihre Züge waren rau und verkniffen die Gesichter von Männern, die ohne ausgewogene, gesunde Ernährung groß geworden waren. Das war eine der besonderen Facetten der menschlichen Entwicklung, die Arcturus entdeckt hatte dass schon ein ganz kurzer Blick auf die Knochenstruktur des Gesichts einer Person genügte, um zu verraten, wie sie aufgewachsen war. Selbst die Gesichtshaut entwickelte sich anders und unterschied die Reichen von den Armen. Diese Männer fielen in die letzte Kategorie, ohne jeden Zweifel, und Arcturus fragte sich, warum sie nicht weitergingen. Vielleicht waren sie Vertragsarbeiter, die gerade Pause machten, dachte er in Erinnerung an Diamond de Santos Familie, die hinter den Kulissen geschuftet hatte, um die Resorts auf Tyrador IX zu solchen Paradiesen zu machen. Aber warum waren sie dann hier und mischten sich unter die Resort-Gäste und die Höhergestellten? Einer der Männer schaute direkt zu Arcturus her. Es war ein Mann in einem klobigen Trenchcoat, der ihm bis zu den Schienbeinen reichte. Auf seinem kahl geschorenen Kopf war eine Schlange eintätowiert, die sich um sein Ohr wand. „Stimmt was nicht?", fragte Juliana, die seine plötzliche Angespanntheit spürte. „Hm? Nein, es ist nichts...", erwiderte er, weil er sie nicht beunruhigen wollte. Als sie seinem Blick folgte, schaute Arcturus hinter sie, wo ihre Leibwächter herumstanden; beide beobachteten zwei silbern schimmernde Flieger, die über ihnen vorbeizogen. Er sah wieder zu dem kahlköpfigen Mann mit der Schlangentätowierung hin, und ihre Blicke trafen sich über die lachende Menge hinweg. „Juliana, geh rein", sagte er, als er den harten Blick eines Profikillers erkannte. „Was?", fragte sie, aber Arcturus war schon in Bewegung und
zog sie zu den Bodyguards, während er die Männer an der Bank nicht aus den Augen ließ. Der Kerl mit dem Tattoo sah, wie Arcturus wegging und wusste, dass seine Tarnung aufgeflogen war. Er sagte etwas zu den Männern neben ihm und fasste unter seinen langen Mantel. Arcturus langte instinktiv nach seinem Slugthrower, aber seine Hand griff ins Leere die Pistole lag in ihrem verschlossenen, schaumstoffgepolsterten Futteral im Safe seines Hotelzimmers. Schlangen-Tattoo hob eine langläufige Waffe, ein AGR14Sturmgewehr älteren Typs, und der Anblick ließ Arcturus' Herz gegen seine Rippen hämmern. Er hatte die Grundausbildung mit einem solchen Gewehr absolviert, eine nicht zu unterschätzende Waffe, die hülsenlose Überschall-Geschosse abfeuern konnte, deren Treffer von einem Menschen nichts übrig ließ außer zerfetztem Fleisch und Knochen. Die vier Begleiter des tätowierten Killers präsentierten eine bunte Mischung von Pistolen und Gewehren. „Schusswaffe!", rief Arcturus. Köpfe drehten sich, zu langsam jedoch, und Arcturus riss Juliana mit sich um, als er die Schreie der Leute ringsum hörte, sobald sie die Waffen erblickten. Juliana schrie auf, als sie zu Boden schlug, aber der Laut ging unter im ohrenbetäubenden Brüllen der Schüsse. Das AGR-14 war eine machtvolle Waffe, gebaut, um einzuschüchtern und um zu verwunden, und Arcturus krabbelte auf allen vieren davon, Juliana an seiner Seite. Er schaute zu den Attentätern hinüber und sah, wie sie die Fassade der Kneipe neben ihnen unter Beschuss nahmen. Das Holz verwandelte sich wie explodierend in Splitter, das Glas zerbarst zu einer Million Diamanten. Marines tanzten unter den Schüssen, Blut spritzte, und das Geräusch von Kugeln, die in Fleisch schlugen, war wie ein Hammer, der immer wieder auf ein rohes Steak herunterklatschte. Arcturus sah, wie Private Shaw von den furchtbaren Einschlägen nach hinten geschleudert wurde, seine Brust löste sich unter einer Salve regelrecht auf. Auch andere wurden getroffen, und Arcturus sah, wie ein Soldat von Schüssen beinahe in zwei Hälften zersägt wurde. Auch hinter Arcturus krachte es jetzt, und er beobachtete, wie einer von Julianas Leibwächtern auf ein Knie niederging, die Pistole im Beidhandanschlag nach vorne gestreckt. Einer der Schüt-
zen fiel um, sein Hinterkopf fehlte plötzlich, und der Bodyguard legte ruhig auf ein zweites Ziel an. Bevor er ein weiteres Mal abdrücken konnte, traf ihn jedoch eine Gewehrsalve in die Brust, und es warf ihn zurück, eine blutige Linie aus Einschusslöchern auf der Brust, als sei hinter seinen Rippen eine Granate hochgegangen. Julianas anderer Aufpasser eilte zu ihnen herüber. „Geben Sie sie mir!", rief er. Arcturus nickte und drängte Juliana zu dem Mann. „Arcturus!", schrie sie, aber er zwang sich, ihr Flehen zu überhören, als er die Pistole des getöteten Leibwächters auf dem Boden entdeckte. Er kroch auf die Waffe zu und hob sie auf, dann warf er sich auf den Rücken und richtete die Pistole auf die Bank. Horden von Menschen rannten in panischem Durcheinander über den Boulevard, schrien ob des Grauens, das Einzug gehalten hatte. Die Kneipe war eine Ruine aus Trümmern und Scherben. Tische waren umgekippt worden, Stühle umhergeworfen, und über den Bereich davor lagen blutige Leichen verstreut, wie die Opfer einer Massenerschießung. Schlangen-Tattoo und seine drei Kameraden beharkten die Front mit weiteren Schüssen, ließen die Toten unter den Einschlägen zucken. Das Gemetzel an den Marines schürte die Wut in Arcturus. Die Pistole bäumte sich in seiner Hand auf, und ein weiterer der Schützen stürzte zu Boden. Arcturus rollte herum, kam auf die Knie und nahm abermals Ziel. Er legte einen weiteren Gegner um, stanzte ein blutiges Loch in seine Brust. Seine Komplizen drehten sich in die Richtung der neuen Bedrohung. Eine weitere Pistole bellte, und Arcturus wusste, dass Julianas anderer Bodyguard das Feuer erwiderte. Die Kugel des Mannes ging daneben, und Schlangen-Tattoos Kumpan riss sein Gewehr hoch, einen hasserfüllten Ausdruck in den Augen. Arcturus drückte zuerst ab, aber sein Schuss ging fehl. Eine Kneipenlampe, die den ersten Kugelhagel wie durch ein Wunder überstanden hatte, zerbarst zu gläsernem Regen. Überschallprojektile jagten auf Julianas Beschützer zu, blutige Fontänen rissen ihn von den Füßen. Schlangen-Tattoo eröffnete das Feuer auf Arcturus, aber ein flüchtender Tourist in Blumenmusterhemd bekam die Salve ab. Der unglückselige Urlauber fiel, während fehlgegangene Geschos-
se den Boden neben Arcturus aufrissen. Aber er ließ seinem Angreifer keine zweite Chance. Er visierte ihn über den Lauf seiner Pistole hinweg an und drückte ab. Schlangen-Tattoo wurde herumgewirbelt, seine Schulter war nur noch eine breiige Masse aus zertrümmerten Knochen und sprudelndem Blut. Er ließ sein Gewehr fallen und kippte vor Schmerzen schreiend nach hinten. Arcturus sprang auf und zur Seite, als der letzte noch lebende Schütze sein Gewehr herumschwang. Bevor er feuern konnte, jagte Arcturus ihm zwei Kugeln in die Brust. Der Mann wankte und war tot, ehe er den Boden berührte. Arcturus entließ einen langen, zittrigen Atemzug; jetzt erst wurde ihm bewusst, wie deckungslos er gewesen war. Die schwere Panzerung einer Kampfrüstung gewährte einem Marine nahezu vollkommenen Schutz vor Handfeuerwaffen. Aber wenn die Kugeln flogen, nahm man diesen Schutz nur allzu schnell als selbstverständlich hin und vergaß wie Arcturus es gerade getan hatte -, dass ohne Rüstung selbst die kleinste Schusswaffe tödlich sein konnte. Er richtete die Pistole nach links und rechts und blieb in Bewegung. Zwar bezweifelte er, dass noch weitere Schützen auf der Lauer lagen, aber Leichtsinn zahlte sich nicht aus. Er huschte hinüber zu den Trümmern der Kneipe. Seine Schritte knirschten über zerbrochenes Glas und pulverisiertes Holz. Dutzende, nein, ganze Scharen von Leichen füllten die Kneipe, zerfetzt und verstümmelt von dem blindwütigen Sperrfeuer. Soldaten und gut gekleidete Zivilisten lagen nebeneinander, wenn schon nicht im Leben, so doch im Tode gleich. Arcturus stieg über zerstörtes Mobiliar hinweg, bis er über dem Urheber und einzigen Überlebenden dieses Massakers stand. Schlangen-Tattoo wimmerte vor Schmerz. Wo seine Schulter gewesen war, klaffte ein Krater aus rohem Fleisch. Er krallte die glänzende rote Hand in die Wunde, sein Atem war ein gequältes Hecheln. Als Arcturus näher kam, sah er auf. Seine Haut war wächsern und schweißüberströmt. „Konföderierter Bastard...", stieß er pfeifend und vor Schmerz ächzend hervor. „Was zum Teufel war das?", verlangte Arcturus zu wissen. „Was glaubtet ihr damit zu erreichen?" „Ich habe... keine Angst... zu sterben", spie Schlangen-Tattoo
hervor. „Und... ich werde nicht reden... Du kannst mich ebenso gut... gleich umbringen..." „Auch recht", sagte Arcturus und schoss ihm ins Gesicht. Arcturus hielt Juliana fest an sich gedrückt. Sie zitterte schluchzend, ihre Schultern verkrampften, hoben und senkten sich unter der Gewalt ihres Leids. Ihre Hand krallte sich in seinen Rücken, und ihre Tränen schienen nie mehr versiegen zu wollen. Arcturus hatte Kämpfe hinter sich und wusste, wie man mit der Belastung und der Angst, die Begegnungen mit dem Tod hinterließen, fertig wurde. Doch für Juliana war diese Erfahrung neu, und er wusste, dass sie ihre Angst, ihre Wut und ihre Trauer herauslassen musste. Nach der Schießerei hatte Arcturus seine Waffe fallen lassen und war zu ihr geeilt, und jetzt hielt er sie fest, bis die Streitkräfte von Tyrador in kreischenden, gepanzerten Fahrzeugen eintrafen. Heulende Orbitalflieger, strahlend weiß und mit dem geflügelten Merkurstab versehen, dem universellen Zeichen der Heiler landeten in aufsteigenden Wolken aus Staub und Abgasen. Grün gekleidete Sanitäter verteilten sich effizient in der Menge, versorgten die Verletzten und beruhigten die Lebenden, während Vollzugsbeamte die toten Angreifer bargen und zu Boden gefallene Waffen einsammelten. Sirenengeheul, Schreie und Rufe verschmolzen miteinander, stiegen in den Nachthimmel auf und zerstörten die Aura der Unverletzbarkeit, die die Bewohner und Besucher von Tyrador IX zu haben glaubten, für alle Zeit. Bis jetzt war dies ein Planet gewesen, von dem jeder meinte, er sei weit weg von allem Kummer, den Politik und Krieg brachten. Aber diesen Irrtum und die Naivität dieser Illusion hatte die Gräueltat des heutigen Abends auf brutale Weise ausgeräumt. Jetzt war man nirgendwo mehr sicher. Der lange Arm der Gewalt reichte sogar bis hierher, auf den Spielplatz der Reichen und Mächtigen. Arcturus und Juliana beantworteten eine Flut von Fragen, die verschiedene Offizielle ihnen stellten, aber nach, wie ihnen vorkam, einer Ewigkeit durften sie den Ort des Geschehens endlich verlassen nachdem Arcturus sich noch einverstanden erklärt hatte, sich am Morgen bei der örtlichen Milizstation der Konföderation zu melden, um eine umfassende Aussage über seine Rolle im Blutvergießen dieser Nacht zu Protokoll zu geben.
Worte wie „Held", „Belobigung" und „Medaille" machten bereits die Runde. Ein Polizeiflieger hatte sie zu Arcturus' Hotel gebracht, und kaum hatten sie die Schwelle zu seinem Zimmer übertreten, war Juliana in Tränen ausgebrochen. Arcturus führte sie zum Bett und setzte sich neben sie, erlaubte ihr zu weinen, wohl wissend, dass alles, was er jetzt sagte, abgedroschen und bedeutungslos sein würde. Sie saßen fast eine Stunde lang da, bis Julianas Schluchzen nachließ und sie sich von seiner Schulter löste. Ihre Augen waren verquollen, das Make-up lief ihr in schwarzen Rinnsalen übers Gesicht. Ihr goldfarbenes Haar hing herunter, ihre Haut war äschern. Sie sah schmerzhaft schön aus in ihrer Verletzlichkeit. „Es tut mir leid...", sagte sie. „Ich sehe furchtbar aus. Ich..." Arcturus strich ihr mit einer Hand durchs Haar und küsste sie auf die Stirn. „Du siehst besser aus, als sonst jemand aussehen würde nach dem, was du heute Nacht durchgemacht hast." „O Gott... all diese Menschen", hauchte sie. „Sie haben so viele Menschen umgebracht." Arcturus nickte. „Ja, das haben sie, aber sie werden niemandem mehr etwas tun. Sie sind tot. Ich habe sie getötet." „Ja", sagte sie, „das hast du. Du warst so tapfer. Du hast mir das Leben gerettet." „Nein", entgegnete Arcturus. Er versuchte, bescheiden zu klingen, freute sich aber über die Vorstellung, als Held betrachtet zu werden. „Ich tat nur, was ich tun musste. Vergiss nicht, für solche Dinge bin ich ausgebildet. Ich habe gehandelt, ohne nachzudenken. Hätte ich darüber nachgedacht, wäre ich am Boden liegen geblieben. Mit einer Pistole gegen fünf Männer, die mit Sturmgewehren bewaffnet sind...? Captain Emillian wird sich Strapse aus meinen Eingeweiden machen lassen, wenn sie das hört." „Das wird sie nicht", sagte Juliana und zog ihn an sich. „Sie wird in dir den tapfersten Mann sehen, dem sie je begegnet ist. Genau wie ich." Arcturus erkannte, dass Juliana ihre Emotionen jetzt wieder im Griff hatte, und sie hatte den Schrecken der Schießerei mit mehr Fassung und Entschlossenheit verdaut, als es den meisten Soldaten gelang. Er sah den eisernen Kern in ihr und fühlte sich an die
Stärke erinnert, die er in seiner Mutter sah. Als der Blick ihrer saphirblauen Augen den seinen traf, entdeckte er eine wilde Leidenschaft, die seine eigene reflektierte. Die volle Wucht dessen, was heute Abend geschehen war, brach sich in ihnen beiden Bahn, und die Vernunft wurde beiseite gefegt, als sie einander verzweifelt in die Arme schlossen. Arcturus drückte seine Lippen gegen die von Juliana, und sie erwiderte seinen Kuss mit heißem Drängen. Sie zerrten aneinander, rissen sich die Kleider vom Leib. Das Gefühl, dem Tod ins Auge geblickt zu haben, und die Erregung des Tötens jagten als unbeherrschbarer Sturm durch ihre miteinander verschmelzenden Körper, und sie sanken, beide nur eins im Sinn, nach hinten. Arcturus ertrank im Verlangen. Seit er Juliana zum ersten Mal begegnet war, hatte er das gewollt, und er ergab sich dem Augenblick, ohne an die Folgen zu denken. Folgen, die zwei Leben für immer aneinander binden konnten. Bald schon würden sie gezwungen sein, sich wieder voneinander zu trennen, aber heute Nacht setzten Arcturus und Juliana alles daran, die Gedanken an ihre eigene Sterblichkeit auszutilgen, indem sie das Leben und das Menschsein auf die ursprünglichste aller Weisen zelebrierten. KAPITEL 10 Korhal. Sein Geburtsplanet. Erst als er wieder Fuß auf den Boden dieser Welt setzte, wurde Arcturus bewusst, wie sehr er sie vermisst hatte. Er stieg aus dem Orbitalflieger, der ihn von der John Lomas hergebracht hatte, und folgte der Menge, die dem Ausgang des Starports entgegendrängte. Wegen der AntiKonföderations-Unruhen, die UNN von Korhal meldete, hatte Arcturus seine Uniform im Gepäck verstaut, seine Marine-CorpsErkennungsmarken trug er jedoch um den Hals, um sich das Passieren der Sicherheits-Checkpoints zu erleichtern. Unter normalen Umständen hätten seine Marken ihm ein problemloses Passieren erlaubt, heute jedoch dauerte der Weg vom Flieger bis zur Ankunftshalle nervenaufreibende zwei Stunden, der Höhepunkt seiner siebentägigen Reise von Tyrador IX und Juliana hierher. Ihre Trennung war voller Gefühl und herzzerreißend gewesen.
Für sie jedenfalls. Als das Licht der Dämmerung durch das verspiegelte Glas seines Hotelfensters fiel, war Arcturus mit dem schalen Geschmack von Bedauern im Mund wach geworden. Julianas schlafende Gestalt, deren Konturen sich unter den zerwühlten Laken wie nachgezogen abzeichneten, ließ ihn nichts weiter empfinden als tiefe Verärgerung darüber, dass er der Leidenschaft nachgegeben und seine Gefühle sein Urteilsvermögen getrübt hatten. Ja, er hatte mit Juliana ins Bett gewollt, und er hatte einige Anstrengungen unternommen, um dieses Ziel zu erreichen. Aber nun, da es passiert war, verspürte er eine seltsame Reue. Vielleicht hatten ihn die Gräuel des gestrigen Abends tiefer berührt, als er gedacht hatte. Jetzt jedenfalls, im schwachen Licht des frühen Morgens, hatte er das Gefühl, es ginge etwas zu Ende... und doch war da auch das Bewusstwerden neuer Anfänge. Es war eine ganz merkwürdige Mixtur aus Empfindungen. Leise schlüpfte er aus dem Bett, zog sich an und sammelte seine Sachen auf. Bevor er sich aus dem Staub machen konnte, erwachte Juliana und lächelte. Er blieb noch so lange, um mit ihr zu frühstücken. Und sie trennten sich mit dem gegenseitigen Versprechen, dass sie einander bald wiedersehen würden. Sie weinte bei dem Gedanken, dass er sie verließ, und er hielt sie angemessen lange fest, ehe er sich aus ihrer klammernden Umarmung löste. Und damit war er gegangen. Arcturus wusste nicht genau, was er nun von Juliana Pasteur hielt. Einerseits war sie eine wunderschöne Frau, aber andererseits das wurde ihm klarer denn je war sie doch nichts anderes gewesen als eine Übung zur Befriedigung seiner eigenen Eitelkeit. Auch wenn es länger gedauert hatte, als er es erwartet hatte, so hatte er doch alles bekommen, was er von ihr gewollt hatte, und somit war sie für ihn nur noch von geringem Interesse. Ihr Interesse an ihm war natürlich ungemindert, aber um dieses Problem konnte er sich ein andermal kümmern. Arcturus verdrängte Juliana Pasteur aus seinem Denken, ging an Bord der John Lomas und flog nach Korhal... Als er nun auf die Ankunftshalle zuhielt, sah er auf Schritt und Tritt bewaffnete Patrouillen der Konföderations-Miliz. Gruppen von Männern und Frauen mit harten Augen, die die Menge nach potenziellen Gefahren durchforsteten.
Ist es wirklich so schlimm geworden? Auf UNN hatte es ein paar Berichte über den Ärger auf Korhal gegeben Aufruhr, Überfälle und gelegentlich ein Bombenanschlag -, aber die Medien hatten all das zu voneinander unabhängigen Vorfällen heruntergespielt, die von einzelnen Irren begangen wurden. Jetzt allerdings, da er sich selbst hier auf Korhal befand, war Arcturus sich diesbezüglich nicht mehr so sicher. „Mein Vater war fleißig", flüsterte er vor sich hin. Die Tür zur Ankunftshalle öffnete sich, und er sah sich einer Menge erwartungsfroher Gesichter gegenüber, Männer, Frauen und Kinder, die sich auf ein Wiedersehen mit ihren Lieben freuten. Arcturus schulterte seine Reisetasche, ließ den Blick schweifen und hielt Ausschau nach einem vertrauten Gesicht. Als er schließlich eines entdeckte, war es keines, mit dem er gerechnet hatte. „Willkommen daheim", begrüßte ihn Achton Feld und nahm ihm die Tasche ab. „Feld?", wunderte sich Arcturus. „Wo sind meine Eltern? Und wo ist Dorothy?" „Sie sind drunten an der Küste", antwortete Feld, „in der Sommervilla." „Und sie konnten nicht selber herkommen?" „Nicht gefahrlos." Arcturus seufzte. Es hätte ihn eigentlich nicht überraschen dürfen, dennoch hatte er die schwache Hoffnung gehegt, dass seine Eltern sich die Mühe machen würden, herzukommen, um den verlorenen Sohn im Herzland der Familie willkommen zu heißen. Er bemerkte, wie Feld ihn mit Blicken maß. „Was ist?" „Du bist nicht mehr derselbe", stellte Feld fest. „Irgendetwas an dir ist anders." „Was meinst du damit?" „Ich weiß es nicht genau, aber du siehst auf jeden Fall besser aus, das ist gewiss." „Freut mich, dass du das so siehst." Feld nickte müde ob Arcturus' Sarkasmus. „Also dann... gehen wir zum Ground Car." Vom Schlafzimmer aus, das er sich mit seiner Frau teilte, beobachtete Angus, wie das silberfarbene Ground Car die Straße ent-
lang auf die Sommervilla zukam, und in seiner Magengrube lauerte ein Gefühl von Schwere. Es war zwei Jahre her, seit er seinen Sohn zuletzt gesehen hatte, und die Emotionen jenes Tages, an dem Katherine ihm unter Tränen erzählt hatte, dass Arcturus den Marines beigetreten war, hatten nichts von ihrer furchtbaren Macht verloren. Angus rang darum, die Ruhe zu bewahren, als er an Dorothys Tränen an jenem Abend zurückdachte, daran, dass Katherine auf eine Familienversöhnung gehofft hatte. Dass Katherine glücklich war, bedeutete Angus Mengsk mehr als alles andere auf der Welt, und er hoffte, diesen Abend hinter sich bringen zu können, ohne seinen abtrünnigen Sohn anzubrüllen. „Bist du bereit?", fragte Katherine von der Schlafzimmertür her. „Er ist gleich hier." Angus drehte sich um und schenkte seiner Frau ein Lächeln. „Ich weiß nicht, ob ich bereit bin, aber lass uns trotzdem gehen." „Bitte, Angus du hast es versprochen", erinnerte ihn Katherine. „Ich weiß", erwiderte er und griff nach ihr. Sie kam ins Zimmer und nahm seine Hände. „Aber ich kann nicht vergessen, wie sehr er dich verletzt hat. Wie er uns alle verletzt hat." „Du musst es vergessen. Arcturus ist unser Sohn." „Aber in die Armee eintreten", sagte Angus kopfschüttelnd. „Unter allen Möglichkeiten, mich zu enttäuschen..." „Hör auf, unterbrach ihn Katherine, und das in einem Ton, der Angus verriet, dass er sich auf dünnem Eis bewegte. „Er ist unser Sohn, und er ist hier willkommen, ohne Wenn und Aber. Hast du mich verstanden?" „Natürlich, meine Liebe, aber der Junge macht mich nun mal wütend." Katherine lächelte. „Niemand geht uns so unter die Haut, wie die Menschen, die wir lieben." „Vor allem die Familie", sagte Angus. „Vor allem die Familie", pflichtete Katherine bei. „Sie könnten uns nicht so ärgern, würden wir sie nicht lieben." „Das stimmt wohl", meinte Angus. „Wo ist Dorothy?" „Sie ist in ihrem Zimmer." „Kommt sie herunter?" „Noch nicht", erwiderte Katherine. „Sie kuschelt sich an Pontius und sagt, sie wolle Arcturus nicht sehen."
„Ich verstehe nicht, warum du ihr das durchgehen lässt und mir nicht", grummelte Angus. „Schmollst du wirklich, weil du etwas tun musst, das eine Sechsjährige nicht tun will?" „Nein..." „Schäm dich, Angus Mengsk", tadelte Katherine. „Und nun komm. Lass uns nach unten gehen." „Na schön", gab Angus zurück, holte tief Luft und zog sein Jackett straff. „Wie sehe ich aus?" „Wie ein Vater", befand Katherine. Das Ground Car kam auf dem Hof der Villa zum Stehen, und Arcturus stieg in dem Moment aus, als seine Eltern auf die Treppe vor der Eingangstür heraustraten. Sein Vater war in einen makellosen, streng geschnittenen aschgrauen Anzug mit dem Wolfskopfemblem auf der Brusttasche gekleidet, seine Mutter trug ein elegantes Kleid in Kornblumenblau. In der Luft lag der frischwürzige Geruch von Salzwasser, und vom Meer her wehte eine angenehme Brise. Unter den aufmerksamen Blicken von fünf bewaffneten Wachen, die in den Schatten des Hofes bereitstanden, richtete Arcturus sich gerade auf, straffte die Schultern und versuchte, die Mienen seiner Eltern zu deuten. Seine Mutter lächelte warm, und Arcturus glaubte, sogar in den strengen Zügen seines Vaters die Andeutung eines Willkommensgrußes zu entdecken. Feld trat mit seiner Reisetasche an ihm vorbei, und Arcturus folgte ihm. Als er den Fuß der Treppe erreichte, kam seine Mutter herunter und umarmte ihn, und jeder Gedanke an Reserviertheit war dahin, als Tränen sich über ihre Wangen ergossen. „Oh, Arcturus...", schluchzte sie. „Es ist so schön, dass du zu Hause bist. Du hast uns so gefehlt." Er erwiderte die Umarmung seiner Mutter und verspürte eine machtvolle Freude darüber, wieder hier zu sein. Er ergab sich diesem Gefühl, und Jahre der Verbitterung rückten unter der schlichten Ehrlichkeit der Liebe seiner Mutter in weite Ferne. Schließlich ließ seine Mutter ihn los, und er sah sich seinem Vater von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Der Augenblick dehnte sich, und die Wärme des Willkommens von eben verging wie eine leise Erinnerung. Dann endlich reichte sein Vater ihm die Hand.
„Schön, dich zu sehen, Sohn", sagte Angus. Arcturus lächelte, auch wenn es ihn Mühe kostete. „Ich freue mich auch, Vater." Sie schüttelten einander steif die Hand, aber Arcturus erkannte dennoch, dass sein Vater sich wirklich freute, ihn wiederzusehen. „Du hast dich verändert", stellte Angus fest. „Das sagte Feld auch schon", erwiderte Arcturus. „Aber er scheint nicht zu wissen, worin diese Veränderung besteht." „Ich sehe es in deinen Augen. Du bist älter geworden. Du hast Dinge getan, die dich altern ließen." „Ist das gut?" „Das weiß ich noch nicht", antwortete sein Vater und ließ seine Hand los. Arcturus sah, wie seine Mutter die Stirn runzelte, und wandte sich an sie. „Wo ist Dorothy?" „Sie ist oben", sagte seine Mutter. „Sie schläft. Ich wollte sie nicht wecken." Arcturus registrierte ihr Zögern und hakte nach: „Komm schon, Mutter. Wo ist sie wirklich?" „Sie ist oben", wiederholte Katherine. „Sie ist nur... nun, sie ist immer noch wütend auf dich." „Nach zwei Jahren?" „Die Wut eines Menschen kann lange währen", warf sein Vater ein. Arcturus nickte. „Ich weiß. Ist sie in ihrem Zimmer?" „Ja", verriet Katherine, „aber vielleicht solltest du warten, bis sie aus freien Stücken herunterkommt, mein Lieber." „Das finde ich nicht", gab Arcturus zurück. „Ich habe vor allem eines gelernt: Es ist immer am besten, ein Problem direkt anzugehen." „Das haben die Marines dir beigebracht?", fragte Angus. „Nein, das hast du mir beigebracht", antwortete Arcturus und ging an seinen Eltern vorbei in die Villa. Die Eingangshalle sah noch genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte mit ihrem Schachbrettmuster-Boden, der dunklen Vertäfelung, den goldgerahmten Porträts. Die Kunstobjekte seiner Mutter standen nach wie vor auf ihren weißen Marmorsäulen, und kaum hatte er die Schwelle übertreten, kehrten hundert Kindheitserinnerungen zurück. Er stand im warmen Korridor und ließ die Gerüche des Hauses
in einem verhaltenen Angriff auf seine Sinne über sich hinwegziehen: das Bohnerwachs, das in die Holzböden gerieben worden war, der Duft eines langsam garenden Abendessens, die Politur, die man für das Besteck verwendete... Arcturus konnte das Treiben des Personals in der Küche hören, das Knarren und Ächzen eines alt gewordenen Hauses, das die Sonne wärmte, und das Brummen des Generators tief im Keller. Das Haus sprach zu ihm in einer Sprache der Sinne, eine Kombination aus tausend verschiedenen Anblicken, Geräuschen und Gerüchen, aber sie alle verschmolzen zu einem einzigen Gefühl. Er war zu Hause. Wie viele Soldaten tagträumten von zu Hause? Alle, selbst diejenigen, die nicht viel hatten, auf das sie sich am Ende ihrer Dienstzeit freuen konnten. Ein Zuhause war für die meisten Leute beim Militär eine idealisierte Vorstellung, aber jetzt und hier, in dem Haus, in dem er als Heranwachsender jeden Sommer verbracht hatte, wusste Arcturus, dass dies kein Traum war. Arcturus stieg die Treppe hinauf, mied die knarrenden Stufen wie er es als Kind immer getan hatte und ging auf Dorothys Zimmer zu. Er lächelte, als er sah, dass ihre Tür immer noch mit bunten Buchstaben bedeckt war. Er klopfte sacht an, dreimal lang, dreimal kurz, der Geheimcode, den sie benutzt hatten, als sie kaum dem Kleinkindalter entwachsen war. „Geh weg!", erklang auf der anderen Seite der Tür eine Stimme. „Dotterblümchen, ich bin's", sagte er. „Arcturus." „Ich weiß." Arcturus erkannte, dass er so nicht weiterkam, drückte die Tür auf und trat ein, wo er sah, dass Dorothys Zimmer sich in der Zwischenzeit verändert hatte. Es lagen immer noch Spielsachen überall verstreut, aber jetzt war Ordnung darin, eine Hierarchie, an deren Spitze eindeutig Dorothy stand. Seine Schwester lag auf dem Rücken mitten auf ihrem Bett, Pontius, das Pony, fest an die Brust gedrückt. Das alte Pony sah ein wenig abgegriffen aus, aber das störte Dorothy nicht. „Hallo, Dotterblümchen", sagte Arcturus. „Ich bin wieder zu Hause." „So nennt mich niemand mehr", schmollte Dorothy. „Ich bin kein Baby mehr." Arcturus durchquerte das Zimmer, blieb neben dem Bett stehen
und blickte auf Dorothy hinunter, die tatsächlich gewachsen war, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Sie war zu einem hübschen kleinen Mädchen erblüht, mit den charakteristischen hohen Wangenknochen ihrer Mutter und der sturmumwölkten Stirn ihres Vaters. Sie trug ein modisches Kleid, und ihr Haar war zu zwei Zöpfen geflochten. Selbst im Liegen sah sie mit jedem Zentimeter aus wie eine Mengsk. Er lächelte. „Okay. Wie nennt man dich jetzt?" „Dorothy, du Dummkopf, antwortete sie, als sei dies das Offenkundigste auf der Welt was, wie er zugeben musste, wohl auch der Fall war. „Wie sollte man mich denn sonst nennen?" „Entschuldige, ja, daran hätte ich denken sollen", gestand er und setzte sich auf die Bettkante. „Ich will nicht mit dir reden", behauptete Dorothy und drehte sich von ihm weg auf die Seite. „Tja, das ist zu dumm", erwiderte Arcturus. „Dann muss ich das Geschenk, das ich dir geben wollte, eben behalten. Vielleicht schenke ich es ein paar armen Kindern." „Mir egal", sagte sie. „Ich will es sowieso nicht." „Das ist schade. Es ist nämlich ein echt schönes Geschenk." „Ich hab doch gesagt, ist mir egal", wiederholte Dorothy, und Arcturus sah ein, dass er mit schlichten Appellen an die Gier eines Kindes nichts erreichen würde. Wie stets musste er sich auf emotionale Erpressung verlegen. „Ich habe dir jeden Tag geschrieben, aber du hast mir nicht geantwortet", sagte er. „Du hast mir gefehlt. Ich habe dich wirklich vermisst, Schwesterchen." „Warum bist du dann weggegangen?", heulte sie, drehte sich zu ihm um und schleuderte Pontius nach ihm. Das Stoffpony fiel zu Boden, und Arcturus wich nach hinten, als Dorothy sich auf die Knie erhob und mit ihren winzigen Fäusten immer und immer wieder auf seine Brust einschlug. „Du bist weggegangen, ohne mir auf Wiedersehen zu sagen", schluchzte sie. Er ließ sie ihrer Enttäuschung wortlos Luft machen, und als sie fertig war, legte er die Arme um sie und hielt sie fest. „Ich weiß, das habe ich getan, und es tut mir leid. Ich wollte dich nicht so verlassen." „Warum hast du es dann getan? Ich konnte mich nie von dir verabschieden."
„Ich... ich musste gehen", gab er zurück. „Ich konnte nicht hierbleiben." „Warum? Wegen Daddy?" „Nein, es war wegen mir. Ich musste weggehen und etwas für mich tun, etwas, das nicht seine Idee oder sein Plan war. In die Armee einzutreten war meine Art, das zu tun." „Du hättest sterben können", weinte Dorothy. „Soldaten werden immerzu erschossen und in die Luft gesprengt. Ich bekomme das jeden Tag in den Nachrichten mit, auch wenn Mommy und Daddy nicht wollen, dass ich mir das ansehe. Ich habe immer nach dir Ausschau gehalten. Ich habe mir die Nachrichten angesehen und mich gefragt, ob du getötet worden bist." Arcturus drückte seine weinende Schwester an sich; er hatte nie darüber nachgedacht, was sie durchmachen musste. Dass sie sich fragte, ob er noch lebte oder tot war. Seine Eltern hatten ihr gewiss versichert, dass er am Leben und wohlauf war, aber welche Macht konnte es schon mit der Vorstellungskraft einer Sechsjährigen aufnehmen? „Es tut mir leid, Dorothy, wirklich. Ich wollte nie, dass du dich um mich sorgst. Ich bin dein großer Bruder ich kann schon auf mich aufpassen." „Und wer passt auf mich auf? Du bist mein großer Bruder, und du hast versprochen, dafür zu sorgen, dass mir nichts passiert. Aber dann bist du fortgegangen, und mir hätte alles Mögliche passieren können. Diese bösen Männer hätten zurückkommen und Mommy und Daddy und mich erschießen können. Oder eine Bombe hätte uns in die Luft sprengen oder diese Rebellen mit ihren Gewehren hätten uns erschießen können, weil Daddy so viel Geld hat." Die Worte sprudelten aus Dorothy hervor, und Arcturus brach es beinahe das Herz. Dorothy war ein selbstsicheres, redegewandtes Mädchen, und eine Mengsk noch dazu, aber sie war trotzdem erst sechs. Er musste einsehen, dass er das vergessen hatte. „So etwas hätte nicht passieren können", behauptete er so nachdrücklich, wie er konnte. „Daddy bezahlt Achton Feld zu viel Geld, als dass dir irgendetwas zustoßen könnte. Und jetzt, wo ich ein Soldat bin, habe ich ein großes Gewehr und einen ganzen Zug Marines, die dich beschützen werden, versprochen." Sie drückte ihn fest, und er lächelte, weil er wusste, dass er sie
zurückerobert hatte. „Ich hab dich vermisst", schniefte sie. „Ich hab eine ganze Woche lang geweint, als du weggegangen bist." „Tut mir leid", sagte er noch einmal. „Aber jetzt bin ich für eine Weile wieder da, und ich verspreche dir, diesmal gehe ich nicht weg, ohne dir Bescheid zu sagen." „Mommy vermisst dich auch sehr. Ich hab sie weinen gehört. Daddy hat dich auch vermisst. Er hat es nie gesagt, aber ich konnte es ihm ansehen." Arcturus legte ihr einen Finger unters Kinn und hob ihr kleines Gesicht an. „Ich liebe dich, Dorothy. Und ich werde dich immer lieben." „Ich liebe dich auch", sagte sie. „Und es ist schon okay du kannst mich Dotterblümchen nennen, wenn du magst." „Danke." „Bitte", gab Dorothy zurück. „Und wo ist nun mein Geschenk?" Das Abendessen war im Hause Mengsk oft eine aufwändige Angelegenheit, es wurde im eichengetäfelten Speisesaal abgehalten und bestand aus mehreren Gängen und einer großen Auswahl von Weinen, und im Kamin brannte ein prächtiges Feuer. Angus Mengsk saß an einem Ende der langen Rosenholztafel, Katherine am anderen und Arcturus in der Mitte zur Rechten seines Vaters. Dorothy saß Arcturus gegenüber und trank aus einem Becher mit frisch gepresstem Apfelsaft. Wie es Usus war, hockte Pontius neben ihr am Tisch vor seinem eigenen Gedeck. Arcturus und sein Vater hatten vor dem Essen ein Glas Portwein getrunken, unter gewöhnlichen Umständen ein Verstoß gegen die Etikette, aber Angus hatte sich nie gerne an Vorschriften gehalten ein Zug, den er, ohne es zu wissen, seinem Sohn vererbt hatte. Angus hatte weißen Portwein getrunken, Arcturus bevorzugte einen dunkleren, rubinfarbenen, und sie hatten sich einander gegenüber ans Schachbrett gesetzt, während seine Mutter Dorothy fürs Essen zurechtmachte. Die geschnitzten Figuren standen zum Kampfbereit, aber weder Vater noch Sohn hatten Lust auf eine Partie. Arcturus hatte seinen Vater geschlagen, als er elf war, und seitdem hatten sie nie wieder gespielt. Sie unterhielten sich zurückhaltend, wobei es Arcturus nicht überraschte, feststellen zu müssen, dass sein Vater die Konföde-
ration so lautstark und wortreich verdammte wie eh und je. Die besondere Zielscheibe von Angus' Zorn war dieser Tage die Tatsache, dass der Bau des neuen Forums von Korhal aufgegeben und zugunsten eines überteuerten Wohnprojekts eingeebnet worden war. Natürlich war der Vertrag über den Abriss mit einer Firma abgeschlossen worden, die im Besitz einer der Alten Familien war, der Tygores, und den Auftrag für den Neubau hatte ein entfernter Neffe von Andrea Tygore erhalten. Die Zeiten änderten sich, aber die Korruption, so schien es, blieb dieselbe. Arcturus leerte sein Glas, als seine Mutter und Dorothy den Speisesaal betraten. Sein Vater lächelte beim Anblick seiner Tochter, und Arcturus wurde daran erinnert, dass Angus Mengsk neben allem politischen Aktionismus, seiner Ablehnung der Konföderation und der Komplizenschaft bei terroristischen Aktivitäten trotzdem ein liebender Vater war. Die Familie nahm am Tisch Platz, und das Essen begann. Die etwas angespannte Atmosphäre wurde aufgelockert durch Dorothys aufgeregtes Geplauder über ihre Vorschulklasse und die vielen Kinder, mit denen sie spielte. Als er sah, wie die Gesichter seiner Eltern quasi zum Leben erwachten, erkannte Arcturus, dass es einige Zeit her sein musste, seit Dorothy sich so geöffnet hatte. Man unterhielt sich über dies und das, aber es entging Arcturus nicht, dass seine Mutter alle potenziell gefährlichen Themen geschickt umschiffte. Der erste Gang wurde aufgetragen, eine Trüffelcreme, garniert mit Pastetenscheibchen, und Arcturus tat kund, wie gut es ihm schmeckte. Wie viele Ehefrauen reicher Männer, kümmerte Katherine Mengsk sich persönlich um die Haushaltsführung, und die Mehrzahl der Gerichte, die auf den Tisch kamen, waren Eigenkreationen, in denen hiesige Zutaten Verwendung fanden, fein abgestimmt auf den Geschmack der Familie. Ein leichter Sekt wurde mit dem ersten Gang serviert, dem rasch ein Pilzrisotto mit jungem Rucola, Manchegokäse und einer Zitronenpetersiliensauce folgte. An eine Ernährung gewöhnt, die aus Verpflegungspäckchen und Kantinenessen bestand, hatte Arcturus Mühe, die bloße Menge des Essens zu bewältigen, aber ein Lavendelsorbet reinigte ihm die Geschmacksknospen gerade rechtzeitig für ein gebratenes Rosmarinschweinefilet mit Tomatenportweinsauce und Gruyere.
Schließlich wurde eine flache Schale Süßkartoffelkuchen mit Blutorangen-Bourbon-Glasur serviert, dazu Schlagsahne mit Muskat, und nach einer Portion wusste Arcturus, dass er keinen Bissen mehr herunterbringen würde. Kaffee wurde aufgetragen und eine kleine Schüssel mit Minzplättchen in die Mitte des Tisches gestellt. „Mutter, das war sensationell", lobte Arcturus, als der letzte Teller abgeräumt war. „Absolut", pflichtete Angus bei, und Katherine lächelte, weil ihr Sohn und ihr Ehemann wenigstens einmal einer Meinung waren. „Das freut mich", sagte sie. „Ich habe dieses Menü extra für dich zusammengestellt. Ich wollte, dass die Familie gemeinsam isst. Es ist zu lange her, seit wir alle an diesem Tisch beisammensaßen. Findet ihr nicht?" Arcturus verbarg sein Lächeln über diese scheinbar unschuldige Frage seiner Mutter; er erkannte eine eiserne Faust im Samthandschuh, wenn er eine sah. „Natürlich", erwiderte Angus, der ebenso verstand, und Arcturus wechselte mit seinem Vater über den Tisch hinweg einen wissenden Blick. Die Leichtigkeit dieses Blickes und die natürliche Art und Weise, wie er zu ihm hinübergeschaut hatte, überraschten ihn ebenso sehr, wie sie offenbar auch seinen Vater überraschten. „Das hat mir gefehlt", gestand Arcturus. „Es ist schön, wieder daheim zu sein." „Ich bin froh, dass du wieder da bist", sagte Dorothy, und damit war das Thema beendet. Danach brachte Katherine ihre Tochter zu Bett, allerdings nicht, bevor ihr Vater und ihr Bruder sowohl sie als auch Pontius umarmt und geküsst hatten. Als die Damen des Hauses fort waren, schlich sich die Distanziertheit zwischen ihnen, die sich verflüchtigt hatte, als Katherine und Dorothy hereingekommen waren, wie ein tückischer Schatten zurück in den Raum. „Ein Glas Portwein?", fragte Angus, und Arcturus nickte. „Roten für mich", bat er. Angus schenkte zwei Gläser ein und reichte Arcturus eines davon. Einen Moment lang standen sie schweigend da, und Arcturus sah, wie sein Vater angestrengt nach den richtigen Worten suchte. In Katherines Gegenwart war die Konversation leicht von der Zunge gegangen und belanglos dahingeplätschert. Ohne ihren beruhigenden Einfluss jedoch flackerte die Spannung zwischen
den beiden Leittieren wieder auf. „Ich bin froh, dass du gekommen bist, Sohn", begann Angus endlich. „Deine Mutter hat sich für heute Abend viel Mühe gegeben. Und Dorothy, na ja, du siehst ja, wie sehr sie sich freut, dich wiederzusehen." „Und du?", wollte Arcturus wissen. „Freust du dich, mich wiederzusehen?" „Natürlich. Das weißt du doch. Du bist mein Sohn." „Ich weiß, aber unser letztes Gespräch verlief nicht gerade freundschaftlich." „Du warst gerade den Marines beigetreten", erwiderte Angus. „Mein Sohn, ein Marine der Konföderation... was hast du erwartet?" „Ich hatte erwartet, dass du meine Entscheidung respektierst, verdammt noch mal", versetzte Arcturus. Angus seufzte und nippte von seinem Portwein. „Versuchst du einen Streit anzufangen, Arcturus?" „Nein", entgegnete Arcturus. „Das will ich wirklich nicht. Es ist nur... nun, wir waren in vielen Dingen nicht einer Meinung, oder?" „Das mag sein." „Genau. Und als ich damals auf Korhal lebte, hatte ich das Gefühl, dass du mit jedem Blick, den du auf mich warfst, nach Fehlern gesucht hast. Nichts, was ich je getan habe, war für dich gut genug." „Das ist lächerlich", behauptete Angus. „Ich wollte nur das Beste für dich. Das verstehst du doch, oder?" „Das Beste für mich? Bist du dir da sicher? Oder wolltest du das Beste für dich! Was ich wollte, schien nicht wichtig zu sein. Dich hat nur interessiert, ob ich ein würdiger Nachfolger für dich wäre." Angus füllte sein Glas ein weiteres Mal und nutzte diese Zeit, um seinen Zorn niederzukämpfen. Arcturus war sich im Klaren darüber, dass es nur auf eine Weise enden konnte, wenn er seinen Vater so provozierte, aber die Worte platzten einfach aus ihm heraus. Zwei Jahre angestauter Gefühle brachen sich jetzt Bahn, und er konnte es nicht verhindern. „Arcturus, du bist mein Sohn, und ich wollte immer nur das Beste für dich. Du bist intelligent, und du kannst der Beste sein in allem, was du je sein willst. Aber dein Leben damit zu vergeuden, für ein tyrannisches, korruptes Regime zu kämpfen, das die Kont-
rolle über alles in der Galaxie an sich reißen will, ist einfach nur dumm." „Jetzt bin ich also dumm?" „Das habe ich nicht gesagt. Du hörst mir ja nicht einmal zu, du hörst nur, was du hören willst, damit du diesen Streit verlängern kannst." Arcturus wusste, dass sein Vater die Wahrheit sagte, aber die Erinnerung an Private Shaw drängte sich in seinem Kopf in den Vordergrund. Das Bild des zerfetzten Leichnams des Jungen, wie er in einer Blutlache auf dem Boden einer Kneipe auf Tyrador IX lag, trübte sein für gewöhnlich klares Denken. „Nein, so ist es ganz und gar nicht", erwiderte Arcturus. „Wie ist es dann?", fragte Angus. „Das wüsste ich nämlich wirklich gern." „Es geht um das, was du auf Korhal tust", sagte Arcturus. „Die Bombenanschläge und der Aufruhr. Du und Feld und eure Bande von Revolutionären schürt hier doch immer noch das Feuer des Hasses, oder nicht?" „Nicht so laut, verdammt!", zischte Angus. „Warum? Hast du Angst, dass dich dieser Marine der Konföderation den Behörden melden könnte?" „Dazu wärst du fähig?", gab Angus zurück, entsetzt über die Vorstellung, dass sein Sohn sich gegen ihn wenden könnte. „Nein, natürlich nicht, aber ich habe die Realität dessen gesehen, was Leute wie ihr tut", antwortete Arcturus. „Ich habe die Toten und das Blut auf Tyrador IX gesehen, und ich habe die Schreie gehört. Du magst ja in der Lage sein, mit deinem Gerede über Korruption und klugen Wortspielereien zu rechtfertigen, was ihr treibt, aber ich habe gesehen, was zurückbleibt. Ich habe gesehen, wie Männer gnadenlos niedergeschossen wurden und weiß Gott wie viele unschuldige Passanten ins Kreuzfeuer geraten sind. Wenn es das ist, was du tust, dann will ich nichts damit zu schaffen haben." „Der Anschlag auf Tyrador IX hatte nichts mit mir zu tun, Arcturus", sagte Angus und ging einen Schritt auf ihn zu. „Das schwöre ich. Wir greifen nur militärische Ziele an. Krieger. Weil Krieg herrscht, mach dir da nichts vor." „Militärische Ziele?", wiederholte Arcturus und zog seine Erkennungsmarken unter dem Hemd hervor. „Was glaubst du, wozu die mich machen? Sag schon, würdest du mir eine Bombe unter-
schieben oder einen anderen Angriff befehlen, bei dem ich sterben könnte, wenn es nur in deinen großartigen Plan passt?" „Natürlich nicht! Arcturus, warum tust du das? Deine Mutter wollte, dass wir heute Abend wieder zu einer Familie werden. Mach ihr das doch nicht kaputt." „Es war ein Fehler herzukommen", meinte Arcturus, stellte sein Glas ab und wandte sich zur Tür. „Ich sollte gehen." „Nein, Arcturus, bitte bleib", sagte Angus, folgte ihm und fasste ihn am Arm. „Für deine Mutter und Dorothy, wenn schon nicht meinetwegen." Arcturus drehte sich zu seinem Vater um. „Morgen früh bin ich weg." Weitab des Juwels, als das das Styrling strahlte, war die Dunkelheit des Himmels vollkommen. Arcturus saß auf der Bank aus Walnussholz, die sein Vater am Ende des Weges von der Villa gebaut hatte, und schaute zu, wie das Meer an den Klippen in silbernen Kaskaden explodierte. In der Mitte der Bank war eine Bronzeplakette mit einer Inschrift zum Gedenken an Arcturus' Großvater Augustus befestigt, aber die Worte waren grün verwittert und nicht mehr zu lesen. Er saß da und schaute auf zu den Sternen und fragte sich, zu welchem er als Nächstes reisen würde. Die Möglichkeiten waren endlos, und wahrscheinlich würde er bei den Marines viele, viele verschiedene Welten sehen. Und wenn er des Lebens beim Militär einmal müde war und dieser Zeitpunkt, das wusste er, kam rasch näher -, würde er abmustern und an den Rand ziehen, gerade so weit draußen, dass er frei war. Arcturus spürte ein Vibrieren in der Tasche und nahm sein Fon heraus. Er wartete, bis das Rufsignal endete, dann klappte er das Gerät auf. Eine weitere Nachricht von Juliana. Damit waren es fünfzehn, seit er auf Korhal angekommen war. Er seufzte und steckte das Fon wieder ein, als er hinter sich Schritte hörte. „Stört es dich, wenn ich mich zu dir setze?", fragte Achton Feld. „Wenn du gekommen bist, um mich zum Bleiben zu überreden, verschwendest du nur deinen Atem." „Das habe ich nicht vor. Ich weiß, dass es vergebliche Liebesmüh ist, dich zu irgendetwas überreden zu wollen."
Arcturus nickte und deutete auf die Bank. „Dann setz dich." Die beiden Männer saßen eine Weile schweigend nebeneinander und begnügten sich damit, den majestätischen Anblick, der sich ihnen bot, zu genießen. Weiter draußen war die See wie ein riesengroßer schwarzer Spiegel, der die Sterne als winzige, wogende Punkte reflektierte. Ab und zu blitzte ein silbriger Streifen über den Himmel. Arcturus wollte glauben, dass es sich um Sternschnuppen handelte, auch wenn er wusste, dass es einfach nur Raumschiffe waren, die in die Atmosphäre eintauchten. „Du wirst das bedauern, weißt du?", sagte Feld schließlich. „Was?" „So zu verschwinden. Du weißt nicht, was in der Zukunft passieren wird willst du also wirklich, dass das deine letzte Erinnerung an deine Familie ist?" „Du bist melodramatisch, Feld", erwiderte Arcturus. „Das passt nicht zu dir." „Das bin ich nicht, Arcturus. Glaub mir, was auf Korhal geschieht, ist gefährlicher, als du ahnst. Die Konföderation ist hier in Panik, und jeder, der schon einmal in einer Schlacht gewesen ist, weiß, dass der Feind dann am gefährlichsten ist. Sie werden alles versuchen, und so gut ich auch bin, angesichts solcher Verzweiflung kann ich niemandes Sicherheit garantieren." „Ist es wirklich so schlimm?" Feld nickte nur und erwiderte: „Du kannst nie nach Hause zurück. Sagt man nicht so?" „Wer sagt das?" „Sie. Man. Wer auch immer. Es ist egal." „Und was bedeutet das?" „Wenn man hier auf Korhal lebt, glaubt man, es sei der Mittelpunkt der Welt, man denkt, es könne sich nie etwas ändern. Dann geht man fort und bleibt für ein paar Jahre weg. Und wenn man zurückkommt, hat sich alles verändert. Die Verbindung ist zerbrochen. Was man wiederzufinden hoffte, ist nicht mehr da, und was einem gehörte, ist fort. Man muss lange weggehen, bevor man zurückkommen und sein Volk wiederfinden kann, die Welt, auf der man geboren wurde. Aber für dich ist das jetzt noch nicht möglich. Du bist nicht bereit, nach Korhal zurückzukehren. Oder vielleicht ist Korhal nicht bereit für dich, ich weiß es nicht." „Seit wann bist du denn ein Philosoph, Feld?" „Ich bin herumgekommen", antwortete Feld, „und ich habe das
eine oder andere aufgeschnappt. Überstürze nichts, okay? Wenn du gehen willst, schön, dann geh, aber sag erst auf Wiedersehen. Geh nicht so wie letztes Mal." „Keine Brücken abbrechen? Ist es das, was du meinst?" „Ja, das ist es wohl", sagte Feld. „Verabschiede dich und geh dann. Und komm nicht zurück, bis du bereit bist, zurückzukommen. Mach einen sauberen Schnitt bis dahin." Arcturus' Fon trillerte abermals, und er wusste, ohne nachzusehen, wer es war. Juliana. „Ein sauberer Schnitt sagst du?" „Ja." „Ich glaube, du hast recht, Feld." KAPITEL 11 Arcturus lehnte den Kopf nach hinten gegen die Sperrholzwand des Büros, schloss die Augen und ließ sich vom Brummen der Heizlüfter und dem Klappern von Lieutenant Cestodas Tastatur in den Halbschlaf wiegen. Es würde ohnehin noch mindestens eine halbe Stunde dauern, bis er in Commander Foles Büro vorgelassen wurde. Termine mit Brantigan Fole verschoben sich immer nach hinten. Der bullige Befehlshaber der 33. Bodenangriffsdivision des Konföderierten Marine Corps folgte für gewöhnlich seinem eigenen Zeitplan. Lieutenant Lars Cestoda, der Adjutant, dessen Aufgabe es war, die Termine des Commanders zu koordinieren, war ein bissiger und pedantischer Mensch und auf den ersten Blick ein ganz untypischer Soldat, der jedoch im positiven Sinne in der detailliert geordneten Regelwelt des Militärs aufging. Trotz der Lüfter, die das Büro heizten, spürte Arcturus noch immer die Kühle in der Luft und zog seine Uniformjacke fester um sich. Er musste bald eine neue anfordern, diese alte spannte längst um seine breiten Schultern und den kräftigen Brustkorb. Der Ruf in Commander Foles Büro in Camp Hastings war aus heiterem Himmel erfolgt, so wie es beim Marine Corps mit den meisten Befehlen war. Aber dieser Fall roch wichtig, und darum war Arcturus vorzeitig gekommen, obgleich er wusste, dass es eine Weile dauern würde, bevor der Commander sich herabließ,
ihn zu sehen. Das Vorzimmer war schlicht und zweckmäßig eingerichtet; das Mobiliar bestand nur aus einer unbequemen Couch, auf der Arcturus hockte, zwei metallenen Aktenschränken (die so alt und zerschrammt waren, dass sie gut von der Sarengo stammen konnten) sowie dem Schreibtisch nebst Stuhl, wo Lieutenant Cestoda saß. An den Wänden waren mit Reißzwecken ein paar Rekrutierungsplakate der Marines befestigt, was Arcturus ein wenig überflüssig vorkam, denn wer diese Plakate sah, gehörte aller Wahrscheinlichkeit nach bereits zum Marine Corps. Arcturus stand auf und dehnte sich. Er wartete nun seit einer Stunde und hatte bereits eine Ausgabe von Battle Flag durchgeblättert, der Zeitschrift des Konföderierten Marine Corps. Die Druckversion des Magazins war längst durch digitale Fassungen ersetzt worden, und diese Ausgabe hatte schon bessere Zeiten gesehen. Cestoda blickte irritiert auf, als Arcturus sich erhob. „Kann ich etwas für Sie tun, Captain?", fragte Cestoda, als habe Arcturus gegen eine ungeschriebene Regel dieses Büros verstoßen. „Nein", gab Arcturus zurück. „Ich vertrete mir nur die Beine. Haben Sie eine Ahnung, wann der Commander Zeit haben wird?" „Gleich." „Das haben Sie schon vor einer halben Stunde gesagt." „Dann hätten Sie ja nicht noch einmal fragen müssen." Arcturus trat an Cestodas Schreibtisch und setzte sich auf die Kante, wohl wissend, dass ihn das stören würde. Und tatsächlich funkelte Cestoda ihn an, aber Arcturus hielt dem Blick ungerührt stand. „Die Etymologie Ihres Namens ist Ihnen doch bekannt, oder nicht?", fragte Arcturus, während er einen Stift vom Schreibtisch nahm. Cestoda riss ihn ihm aus der Hand. „Die was?" „Etymologie", wiederholte Arcturus langsam. „Das ist der Begriff für die Herkunft eines Wortes und wie es seine gegenwärtige Bedeutung erlangte. Ich habe gefragt, ob Sie wissen, was Ihr Name bedeutet." „Er bedeutet gar nichts", sagte Cestoda. „Es ist einfach nur ein Name." „Oh, ganz im Gegenteil, mein Bester, in vergangenen Zeiten war der Name eines Menschen das, was ihn definierte. Viele Na-
men rühren von Berufen her, wie Schmidt und Boettcher etwa, während andere sich auf die Wesensart oder das Aussehen beziehen." „Und was hat das mit mir zu tun?" „Nun, sehen Sie, bei Cestoda handelt es sich um eine Klasse von parasitären Plattwürmern, die im Verdauungstrakt von Wirbeltieren leben und Nahrung aufnehmen, die ihr Wirt vorverdaut hat. Hässliche Kreaturen, kaum mehr als ein Körper mit lediglich rudimentärem Kopf, der einzig dazu dient, sie mit ihrem Wirt zu verbinden. Und eine der häufigsten Beschwerden, die sie verursachen, ist Übelkeit. Dachte nur, das könnte Sie interessieren." Arcturus erhob sich von Cestodas Schreibtisch, ehe dieser etwas erwidern konnte, und trat an das isolierte Fenster, durch das der Blick hinausging auf das karge, bläulich schimmernde Hinterland von Onuru Sigma. Die Bauten von Camp Hastings duckten sich unter dem kobaltblauen Himmel, und jenseits der Wehrtürme erstreckte sich die eisige Tundra Hunderte von Meilen weit bis hin zu steilen Gletschern, die kilometerhoch zum Himmel emporragten. Die Versiegelung rings um das Glas löste sich auf, und die beißende Kälte der arktischen Temperaturen dieses Planeten stahl die wenige Wärme, die von den Lüftern produziert wurde. Arcturus musterte sein Spiegelbild, sein raues und doch gut aussehendes Gesicht auf dem getönten Glas. Seine Wangen waren scharf gezeichnet, und er trug jetzt einen sorgsam gestutzten Bart, der seinen vollen Mund umschloss. Seine Augen waren so durchdringend wie eh und je, wenn auch sehr viel älter, als es die eines 24-Jährigen sein sollten, und sein Haar war dicht und schwarz. Er lächelte, als er erkannte, dass er das Ebenbild seines Vaters war. Eine jüngere, besser aussehende Version seines Vaters natürlich. Obwohl in buchstäblich jeder UNN-Sendung Bilder von Angus Mengsk auftauchten dem „Irren von Korhal", wie sie ihn nannten -, war es doch lange her, seit Arcturus bewusst an seinen Vater gedacht hatte. Fast fünf Jahre waren vergangen, in denen er seine Familie nicht gesehen hatte, und obschon er kein Wort mit seinem Vater gewechselt hatte, hielt er doch regelmäßig Kontakt zu seiner Mutter und Dorothy. Seine Schwester war gerade elf geworden, ein Alter, angesichts
dessen Arcturus sich wirklich alt fühlte. Es schien erst gestern gewesen zu sein, dass Dotterblümchen zur Welt gekommen war, aber nun drehten sich ihre Vidfon-Gespräche um Jungs und Partys und darum, wie sehr sie es hasste, das Haus nicht ohne eine Soldateneskorte verlassen zu können. Die Schwierigkeiten auf Korhal standen kurz davor, vollends außer Kontrolle zu geraten, und die Experten waren sich einig, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis das Kriegsrecht verhängt würde. Arcturus sorgte sich nicht um seinen Vater, der sich entschieden hatte, so ein gefährliches Leben zu führen, aber er fürchtete unentwegt um seine Mutter und seine Schwester. Er hatte Dorothy einst versprochen, nie zuzulassen, dass ihr etwas passierte, und Felds Warnung, dass er für ihre Sicherheit nicht garantieren könne, hallte noch immer in seiner Erinnerung nach. Er drehte sich um, als er ein Läuten von Cestodas Schreibtisch hörte, und lächelte ob des verärgerten Blickes, der über die Züge des Mannes geisterte, während er Foles Stimme aus dem Knopf in seinem Ohr lauschte. Cestoda sah auf und sagte: „Commander Fole ist jetzt bereit, Sie zu empfangen." Der befehlshabende Offizier der 33. Bodenangriffsdivision war so kurz geraten wie ein Hydrant, dazu leicht reizbar und kurz angebunden; viele seiner Soldaten walzte er mit diesen Eigenschaften kurzerhand platt. Sein grau meliertes Haar war kurz geschoren, und seine Haut wies infolge der Strahlung Hunderter verschiedener Sonnen die Farbe und Beschaffenheit alten Leders auf. Zwischen seinen Zähnen klemmte eine Zigarre, die allerdings nicht brannte, und dazu kaute er Tabak, etwas, das er sich angewöhnt hatte, als er am äußeren Rand stationiert gewesen war. Er hatte es auch nicht wieder aufgegeben, als er in zivilisierte Raumgegenden zurückgekehrt war. Seine Uniform war tadellos gebügelt und mit so vielen Sternen dekoriert, dass sich ein Planetarium von ansehnlicher Größe damit hätte bestücken lassen. Arcturus nahm Haltung an und salutierte dem Commander, der den Gruß erwiderte, ohne den Blick von den Papieren zu heben, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten. Neben dem Commander stand ein weiterer Offizier, dessen weiße Uniform das Rangabzeichen eines Captains zeigte. Der Captain war breitschultrig und stellte die Macht seines
Rangs wie eine Bedrohung zur Schau. Sein Gesicht war zerfurcht und drückte Hochmut und Streitlust aus. Arcturus verspürte sofort eine Abneigung gegen ihn. Er schätzte den Mann auf etwa vierzig, womit er alt war für einen Captain; seine Statur war allerdings beeindruckend für einen Mann seines Alters. „Setzen Sie sich, Captain", sagte Fole. „Ich habe eine Aufgabe für Sie." „Ja, Sir", erwiderte Arcturus und nahm vor Foles Schreibtisch Platz. „Das ist Edmund Duke", erklärte Fole und wies mit dem Daumen auf den Mann, der neben ihm stand. „Ein Captain des AlphaBataillons. Seine Einheit bricht zur Vespene-Mine am NorandaGletscher auf, und ich möchte, dass die Dominion-Einheit mitgeht." Arcturus nickte. Er hatte vom Alpha-Bataillon gehört; dabei handelte es sich angeblich um die besten Kämpfer der Konföderation, das hieß also die brutalsten -, deren Motto „Als Erste rein, als Erste raus" lautete. Ihr Spitzname war Blood Hawks, was nach Arcturus' Meinung Bände sprach. „Ja, Sir. Und die Mission?" „Die Leute dort überzeugen, dass es zu ihrem Besten ist, weiterzuziehen und uns die Mine zu überlassen. Die Kel-Morans waren emsig in diesem System, und die Obrigkeit glaubt, dass etwas Großes im Gange sein könnte, worüber man natürlich nicht erfreut ist. Wir sollen den Deckel auf der Sache draufhalten und dafür sorgen, dass diese verdammten Piraten nicht zu übermütig werden. Sie wissen schon, das Übliche eben." „Das Übliche", wiederholte Arcturus müde. Wenn Fole seinen Tonfall wahrgenommen hatte, ließ er es sich nicht anmerken, aber Arcturus sah, wie Duke sich gleichsam die Nackenhaare sträubten. „Wenn Sie das Alpha-Bataillon haben, wozu brauchen Sie dann die Dominion-Einheit?" „Laut Befehl von oben sollen wir ein paar unserer aktiven Truppen zusammenschmeißen. Ich denke darüber nach, Ihre Leute ins Alpha-Bataillon zu integrieren, darum soll Duke eine Beurteilung im Einsatz vornehmen, um sicherzustellen, dass jeder das Zeug dazu hat." Die Vorstellung, die Dominion-Einheit könnte unter das Kom-
mando von Edmund Duke geraten, entsetzte Arcturus. Obwohl er dem Mann vorher noch nie begegnet war, wusste er doch instinktiv, dass er ein arroganter Angeber war. Und als er in Dukes grinsendes Gesicht sah, war ihm klar, dass er ihn richtig einschätzte. Dieselben arroganten Mienen sah er auf UNN, wann immer die Reporter über das Tun der Alten Familien berichteten. „Edmund Duke?", fragte er. „Von den Dukes auf Tarsonis?" „Ganz recht", dehnte Duke. „Ich habe gehört, die meisten Ihrer Jungs sind Bauerntrampel von den Randwelten. Stimmt das? Von den Randwelten kommen nur zwei Dinge, Junge..." „Ja, ja, ich weiß", unterbrach Arcturus ihn und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Commander. „Sir, das können Sie nicht ernstlich in Erwägung ziehen. Sie können die DominionEinheit nicht unter das Kommando dieses Mannes stellen." „Wollen Sie mir erzählen, was ich mit meiner Division tun darf und was nicht, Mengsk?", entgegnete Fole. „Nein, Sir", beeilte Arcturus sich zu sagen, „aber..." „In Ordnung", fuhr Fole fort, als hätte Arcturus nichts gesagt. „Sie sind ein guter Offizier, Mengsk, und die Leute respektieren Sie. Aber ich lasse Sie im Handumdrehen Latrinen schrubben, wenn Sie mir noch einmal vorschreiben wollen, was ich zu tun habe. Ist das klar?" „Kristallklar, Sir", antwortete Arcturus. „Und was kümmert Sie das überhaupt? Sie mustern doch ohnehin bald ab, also kann es Ihnen doch egal sein, unter wessen Kommando die Einheit steht." „Ich möchte nur sicher sein, dass meine Leute in guten Händen sind, Sir", erwiderte Arcturus und funkelte Duke dabei an. „Nun, das ist nicht mehr Ihr Problem, Mengsk", erklärte Fole. „Und jetzt scheren Sie sich raus und sorgen Sie dafür, dass Ihre Leute bereit sind. Einsatzbesprechung ist um neunzehn Uhr, die Dropschiffe starten um zwanzig Uhr." Ein bösartiger Wind polierte die eisigen Hänge unterhalb def Vespene-Mine am Noranda-Gletscher. Arcturus beugte den helmgeschützten Kopf nach unten, um der Wucht den geringsten Widerstand zu bieten. Sein Blick war auf den bläulichen Schneekamm weiter vorne gerichtet, hinter dem die Mine selbst lag. Der gemaserte Himmel über dem Kamm war schmutzig von Dampfund der Verfärbung durch unzureichende Abgaskontrollen. Er
schritt neben Edmund Duke einher, dessen weiße Rüstung mit Dutzenden von Rangabzeichen und Kampfauszeichnungen übersät war. Es schien, als habe er Prahlhans hin oder her in etlichen Schlachten seinen Mann gestanden. Das machte ihn Arcturus nicht sympathischer, aber zumindest zog er nicht an der Seite eines Anfängers in den Einsatz. Einhundert Marines stapften, in Kampfformation über die zerklüfteten Hänge verteilt, dem Kamm entgegen. Zu ihrer Unterstützung wurden sie von sieben Goliath-Walkern begleitet, aber selbst diesen robusten Maschinen verlangte das Terrain alles ab; ihr Gyrosantrieb hatte Mühe, sie auf dem tückischen Eis und Schnee zu stabilisieren. Vulture Hover Cycles flitzten um die Flanken herum, und über das Heulen des Windes hinweg hört Arcturus das Röhren von zwei Wraith, die über ihnen kreisten. Die Dropschiffe, mit denen sie aus Camp Hastings gekommen waren, hatten sie einen Kilometer weiter hinten abgesetzt, weil die Aerodynamik der Schiffe vor den starken Winden und der geringen Sichtweite kapitulieren musste. „Das ist eine Streitmacht, was, Mengsk?", meldete Duke sich über die Funkverbindung zwischen ihren Helmen. „Haben Sie schon mal so eine Zurschaustellung der Macht der Konföderation gesehen?" „Es ist beeindruckend", gestand Arcturus. „Ist einige Zeit her, seit ich eine solche Menge geballter Feuerkraft gesehen habe." „Ja, ich wünschte nur, ich hätte einen dieser Belagerungspanzer." „Das Eis hier ist nicht fest genug", sagte Arcturus. „Wahrscheinlich hätten wir ihn in einer Spalte verloren, bevor wir auch nur einen halben Kilometer weit gekommen wären." „Das weiß ich, aber mit einem von diesen Babys hätten wir diese verfluchten Bergleute einfach so davonscheuchen können, wie Sie diese Feiglinge am Turanga Canyon." „Davon haben Sie gehört?" „Na, sicher. Haben Sie recht gut gemacht, aber Sie hatten verdammtes Glück, dass keiner von denen Eier in der Hose hatte." Arcturus schüttelte den Kopf über Dukes simplifiziertes Verständnis jenes Einsatzes, sagte aber nichts, während sein Kollege fortfuhr: „Wenn es nach mir ginge, würden wir diese Dreckbuddler mit ein paar Impaler-Salven davonjagen, und das wär's dann gewesen."
„Wenn auch etwas hart", meinte Arcturus. „Hart? Was glauben Sie, für wen Sie arbeiten die Pfadfinder? Das hier ist das Konföderierte Marine Corps, und wenn Sie je etwas aus sich machen wollen, Mengsk, müssen Sie sich ein wenig Skrupellosigkeit aneignen." „Ach, wirklich?" „Ja, verdammt", erwiderte Duke und ließ seine gepanzerte Hand schwer auf sein Gaußgewehr klatschen. „Mit diesen Babys legt man sich besser nicht an." „Eine Frage, Edmund... Es stört Sie doch nicht, wenn ich Sie Edmund nenne, oder? Wie kommt es, dass ein Angehöriger einer der Alten Familien im Rang eines Captains Minenleute herumscheuchen muss? Angesichts des Einflusses Ihrer Familie und der Kampferfahrung, die Sie offensichtlich gesammelt haben, wundert es mich, dass man Sie nicht längst schon zum General ernannt hat." Duke blieb stehen und wandte sich ihm zu, und Arcturus konnte den kalten Zorn in seinen Augen sehen. „Doch, es stört mich, wenn Sie mich Edmund nennen. Und weshalb ich hier bin, geht Sie verdammt noch mal nichts an. Wir haben unsere Befehle, und ich bin ein Mann, der Befehle befolgt, also, warum halten Sie nicht die Klappe und befolgen Ihre?" Arcturus lächelte, als Duke weiter den Hang hinaufstapfte, und er ließ ihn ein gutes Stück vorausgehen, ehe er sich selbst wieder in Bewegung setzte. „Ui, Captain, sieht ganz so aus, als hätten Sie den Großen verärgert", meinte Chuck Horner, der zu ihm aufschloss. „Was haben Sie denn zu ihm gesagt?" „Nicht viel", erwiderte Arcturus. „Was macht die Einheit, Lieutenant?" „Alles okay", antwortete Horner. „De Santo beschwert sich über den Einsatz, Yancy quasselt ununterbrochen, Chun Leungs jammert, dass dieses Wetter nicht gut für Mayumi sei, und Toby hat noch keinen Ton gesagt, seit wir gelandet sind also alles wie immer, würde ich sagen." Chuck Horner war seit den Kämpfen auf Sonyan Arcturus' inoffizieller Stellvertreter, eine Aufgabe, die er mit bewundernswertem Engagement erfüllte und mit der er sich schließlich die Beförderung zum Lieutenant verdient hatte.
Arcturus drehte sich um und schaute nach hinten, wo die blau gepanzerten Gestalten der Dominion-Einheit in diskretem Abstand zu den Marines des Alpha-Bataillons marschierten. Ihre Art zu gehen und ihre Haltung waren ihm so vertraut, als würde er selbst in ihrer Haut stecken, und er nickte jedem Einzelnen zu, als sie zu ihm aufschlossen. „Was gibt's, Captain?", wollte Yancy wissen. „Sind wir schon da?" „Fast", antwortete Arcturus und deutete auf den Kamm, der etwa hundert Meter über ihnen lag. „Gleich dahinter." „Das ist ein Wetter, was?", meinte Chun Leung. Er hielt sein Gewehr schützend vor die Brust, um es vor dem ärgsten Wind zu bewahren. Sein Visier war beschlagen, und die Panzerung seiner Rüstung war fleckig von den Schadstoffen in der Luft, nur seine Waffe war immer noch pieksauber. „Auf Parragos war's schlimmer als hier, weißt du noch?", entgegnete Yancy. „Daran will ich gar nicht mehr denken", grummelte Chun Leung. „Hab Monate gebraucht, um den ganzen Dreck aus Mayumis Verschluss zu kriegen." „Wird das hier auch wieder so was?", fragte Dia de Santo. Arcturus musste nicht nachfragen, was sie damit meinte. Bei den meisten ihrer Missionen in den vergangenen Jahren ging es um die Sicherung von Minen oder Probebohrstellen im Grenzgebiet des Kel-Morian-Kombinats. Entweder darum, oder um die schwer bewaffnete Unterstützung örtlicher Vollstrecker. Überall im Gebiet der Konföderation kam es immer häufiger zu Aufruhr und Protestaktionen, an denen sich Tausende beteiligten, und man konnte UNN nicht mehr einschalten, ohne nicht mindestens einen Bericht über unzufriedene Teile der Bevölkerung zu sehen, die entweder die Polizei angriffen oder unter wehenden Bannern marschierten. Natürlich wurden diese Fälle zu Ausnahmen heruntergespielt, aber die Erfahrungen der Dominion-Einheit und Arcturus' eigener letzter Besuch auf Korhal verrieten ihm, dass alles viel schlimmer war, als alle vermuteten. Die Konföderation verfaulte von innen heraus, und die Verantwortlichen hielten sich nur noch mit den Fingerspitzen an ihrer Macht fest. „Wieder so was?", wiederholte Arcturus, und ein plötzlicher Schauder lief ihm über den Rücken. „Ich glaube nicht, nein."
„Was meinen Sie damit, Captain?", fragte Yancy. „Ich habe das Gefühl, dass Duke nicht mit offenen Karten spielt", sagte Arcturus, womit er die militärische Vorschrift, andere Offiziere gegenüber niedrigeren Dienstgraden nicht zu kritisieren, außer Acht ließ. „Sie halten ihn für gefährlich?", hakte Chuck Horner nach. „Allerdings, Charles", erwiderte Arcturus. „Ich weiß nur nicht, für wen er das ist." Der Noranda-Gletscher ragte über ihnen auf, ein massiver Steilhang aus blauem Eis auf der gegenüberliegenden Seite eines flachen Meteoritenkraters, der vor Tausenden von Jahren ins Eis geschlagen worden war. Der Kamm des Kraters führte zu beiden Seiten gekrümmt davon, und der jenseitige Rand war über drei Kilometer entfernt. Die Steilwand des Gletschers wuchs Tausende von Metern in die Höhe, wie die Wohnstatt von Göttern aus einer alten Legende. In der Mitte der flachen Senke teilte ein dunkler Riss das Eis, und auf ganzer Länge stiegen gelblich grüne Dampfschwaden aus dem Spalt. Ein gigantischer, metallener Raffineriebau aus riesigen Rohren, hochaufragende Bottiche und flammende Schlote hockten in der Kratermitte wie eine ölfleckige Riesenspinne, die umgeben war von einer Schar Fertigbauschuppen und grob gezimmerter Unterkünfte. Männer in Schutzanzügen gingen dort unten ihrer Arbeit nach, ohne sich der Marines bewusst zu sein, die bereit waren, einzumarschieren und ihnen ihren Lebensunterhalt wegzunehmen. Und riesige Trucks mit Spikes knirschten über das Eis und luden Container mit dem wertvollen Gas. Es sah aus, als sei das Ganze mitten in eine Ruinenstadt hineingebaut worden, gezackte und gewundene Formationen aus kristallgeädertem Stein ballten sich um die Konstruktionen jüngeren Datums. Die Architektur dieser Ruinen war ein Geheimnis, aber irgendetwas daran wollte der Größe nach gar nicht zu den Menschen passen, die sich hier abmühten. Brantigan Foles Marines lagen an der Windschattenseite des Kraters und blickten hinab in die gewaltige Senke. Hinter ihnen kauerten die Goliaths, und die Vultures zogen noch weiter hinten Kreise über dem Schnee. Hoch über ihnen flogen die Wraith Schleifen, hinter Wolken verborgen, das Antriebsbrüllen nicht zu
hören. Ein trommelndes Vibrieren wurde durch das Eis zu den wartenden Marines herangetragen, und Arcturus kam nicht umhin, das Geschick zu bewundern, mit dem die Erbauer dieser Anlage es geschafft hatten, die Raffinerie über dem Vespene-Geysir zu verankern. Wie hatten sie das Problem des sich verschiebenden Eises bewältigt, wie hielten sie die Sammelköpfe stabil? Arcturus konnte es kaum erwarten, hinunterzugehen und den Komplex unter die Lupe zu nehmen. „Verdammt, die müssen ganz schön tief gebohrt haben, um da auch nur ein bisschen Vespene rauszuholen", meinte Chuck Horner. „Stimmt", erwiderte Arcturus. „Dem Briefing zufolge befindet sich das Vespene fast dreißig Kilometer tief unter dem Eis." „Mann, das ist tief, staunte de Santo. „Es muss doch Orte geben, wo man leichter rankommt, oder?" „Die gibt es zweifellos, aber das hier ist ein ungewöhnlich großer unterirdischer Geysir", erklärte Arcturus. „Und obwohl es infolge der Tiefe mit einigen sehr schädlichen Chemikalien kontaminiert ist, ist das Vorkommen doch so gewaltig, dass es den zusätzlichen Aufwand und die Gefahr lohnt." „Gefahr?", wiederholte Yancy. „Was denn für eine Gefahr? „Also mal abgesehen davon, wie gefährlich es ist, über einer mordsmäßigen Gletscherspalte zu bohren." „Schauen Sie sich die Farbe des Gases an, das aus den Abzügen kommt", sagte Arcturus. „Sehen Sie diese Gelbtönung?" „Ja." „Das ist Schwefelwasserstoff, ein sehr giftiges und leicht entflammbares Gas. Wenn man das mit Vespene vermengt, hat man eine höchst instabile Mischung." „Dann ist dieses Fleckchen hier als eine einzige riesige Bombe?", fragte Dia de Santo. „Potenziell, ja", antwortete Arcturus. „Na, toll", seufzte de Santo. „Das wird ja immer besser." Arcturus ließ seine Marines über die Gefährlichkeit dieser Mission meckern und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das unter ihnen liegende Ziel. Das Gelände war offen und einladend, leicht zu überqueren, aber es bot kaum Deckung. Und um an die Zentralraffinerie selbst heranzukommen, mussten die Marines
durch das Gewirr aus verlassenen Wartungsschuppen und schiefen Lagerhangars manövrieren. Die flammenden Abgase machten deutlich, dass die Anlage genutzt wurde, allerdings herrschte auffallend wenig Aktivität für eine so große Raffinerie. Es hatte fast den Anschein, als bewegten sich die wenigen Arbeiter, die zu sehen waren, rein mechanisch. Irgendetwas an dem ganzen Bild weckte Arcturus' Argwohn, aber bevor er weiter darüber nachdenken konnte, kam Edmund Duke geduckt auf ihn zugelaufen und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. „Sind Ihre Leute bereit, Mengsk?", wollte Duke wissen. „Das sind wir", bestätigte Arcturus. „Wie wollen Sie die Sache angehen?" Es passte ihm nicht, sich Duke unterordnen zu müssen, aber Commander Fole hatte klargemacht, wer bei dieser Operation die Zügel in der Hand hielt. Duke sah ihn an, als hätte er eine dumme Frage gestellt. „Verdammt, was glauben Sie denn, wie ich die Sache angehen will? Wir gehen schnurstracks zu denen hin und erschießen jeden, der sich uns in den Weg stellt. Ich marschiere mit dem Großteil der Männer, den Vultures und fünf von den Goliaths voraus. Sie und Ihre Leute kommen mit dem Rest nach." „Captain Duke", sagte Arcturus und gönnte ihm den vollen Titel, um seinem Ego zu schmeicheln. „Das scheint mir etwas ungeschickt. Wir wissen nicht, was da unten auf uns wartet, und ich habe meinen Soldaten gerade gesagt, dass die Gase, die sich dort sammeln, äußerst gefährlich sind. Wir müssen hier sehr vorsichtig sein." „Vorsichtig... meine Fresse!", schnauzte Duke und winkte ab. „Dort unten ist nichts außer einem Haufen von Bauerntrampeln, die im Dreck wühlen, Mengsk. Nichts, womit wir nicht klarkämen. Oder wollen Sie mir erzählen, dass Ihre Jungs nicht das Zeug dazu haben?" Arcturus spürte, wie sich ihm bei dieser Beleidigung seiner Einheit die Nackenhaare sträubten, aber er beherrschte sich, weil er wusste, dass er Duke diesen Schlagabtausch gewinnen lassen würde, wenn er seine Wut zeigte. „Ganz und gar nicht. Die Dominion-Einheit ist zum Einsatz bereit, aber wir müssen die Sache durchdenken. Wir können da nicht einfach reingehen und wild um uns schießen."
„Und warum nicht, verdammt noch mal?" Arcturus schob sich bäuchlings zur Abbruchkante vor und wies auf die Raffinerie. „Sehen Sie sich die Zahl der Wartungsschuppen und der aufgegebenen Bauten dort unten an. Es kann gut sein, dass da hundert oder noch mehr Männer nur auf uns warten. Womöglich laufen wir denen ins offene Messer. Mir gefällt das nicht, Duke. Das riecht nach einer Falle." „Mengsk, ich rieche hier nur eines, Feigheit nämlich", knurrte Duke. „Und jetzt machen Sie Ihre gottverdammte Truppe bereit, sich in Marsch zu setzen, sonst zerre ich Ihren Arsch vors Kriegsgericht!" Das Alpha-Bataillon formierte sich und brach auf Dukes Befehl hin auf, kam hoch und marschierte über den Kamm auf die Raffinerie zu. Die Minenarbeiter ließen fast augenblicklich alles stehen und liegen und zogen sich zum Zentrum der Anlage zurück. Die Marines stürmten über das Eis, ihre automatisierten Rüstungen erlaubten ihnen, die Distanz zum Ziel im Laufschritt zurückzulegen. Fünf der Goliaths staksten mit Dukes Männern übers Eis, die schweren Auto-Geschütze feuerbereit. Wie Pfeile schossen die Vultures über die Eisfläche, schneller als die Marines, und umkreisten die Raffinerie, die Granatwerfer geladen und entsichert. Arcturus wartete, bis Duke die Raffinerie fast erreicht hatte, bevor er seinen Leuten und den zwanzig Mann, die sein Kollege ihm großzügigerweise überlassen hatte, den Befehl zum Aufbruch erteilte. Die beiden übrigen Goliaths stapften neben ihnen her, jeweils einer links und rechts von ihrer aufgelockerten Formation. Aber Arcturus glaubte nicht, dass sie hier von großem Nutzen sein würden, weil sie auf nichts feuern konnten, ohne befürchten zu müssen, die eigenen Leute zu treffen. „Mann, die Sache stinkt schlimmer als dieser Tote, den wir auf Pho-Rekh fanden", meinte Chuck Horner. „Bleibt auf der Hut", befahl Arcturus. „Und Chuck, Sie halten Verbindung mit den Dropschiffen, ja?" „Klar, aber wenn der Wind nicht nachlässt, werden sie uns nicht viel nützen." „Das weiß ich auch. Tun Sie's einfach." „Sir, ja, Sir!", erwiderte Chuck. Der autoritäre Ton seine vorgesetzten Offiziers war nicht zu überhören gewesen.
Arcturus beobachtete, wie Dukes Männer die äußeren Bau ten der Raffinerie erreichten, sie im Sturmschritt passierten und sich verteilten, um das Zielobjekt zu sichern. Nichts geschah, und Arcturus stieß die Luft aus, die er an gehalten hatte. Vultures rauschten hinter den Männern her, und die Goliaths nahmen einen Weg über den gefrorenen Kies, der als ebene Oberfläche diente. In der Höhe dröhnte ein Wraith, sein spiralförmiger Kondensstreifen zeichnete sich am Himmel ab, und als er in geringer Höhe über die Raffinerie hinwegbrüllte, wölkten Eissplitter auf. Als der Wraith sich ein Stück entfernt hatte, hörte Arcturas aus der Anlage das metallene Husten eines Missile-Abschusses. Wie er den Laut über das Dröhnen des Wraith und das Hämmern des Blutes in seinen Ohren hinweg so deutlich hören konnte, wusste er nicht. Aber er hätte beim Leben seiner Schwester geschworen, dass er es so klar vernahm, als wäre die Missile direkt neben ihm abgefeuert worden. Auf einer glühenden, von Feuer gekrönten Säule aus weißem Rauch schraubte sich das Geschoss aus einem der baufälligen Vorratsschuppen heraus in die Luft, Fetzen eines Tarnnetzes hinter sich herziehend. „Oh nein...", flüsterte Arcturus. Erst schien es, als könnte die Missile den Wraith unmöglich erreichen, aber dann flammte der Raketenantrieb auf und das Geschoss stieg mit enormer Geschwindigkeit nach oben. Der Pilot des Schiffes sah die Gefahr und beschleunigte, drehte das Gefährt und steuerte himmelwärts. Die Missile explodierte keine zwei Meter von der Pilotenkanzel entfernt und verwandelte den vorderen Teil des Schiffes in einen grell orangefarbenen Feuerball. Wirbelnde Wrackteile trudelten, schwarzen Rauch nach sich ziehend, nach unten und schlugen ins Eis ein. Als sei der Abschuss des Wraith ein Signal gewesen, ertönte aus der Anlage vor ihnen das Rattern und Knallen fernen Handwaffenfeuers. Arcturus sah Mündungsfeuer aufblitzen und hörte über den Helmfunk laute Warnrufe. Diese Minenarbeiter würden nicht kampflos aufgeben. Eine Flammensäule zischte gen Himmel, gefolgt von einem ratterten Stakkato sekundärer Explosionen. Bewaffnete Männer in
grünen energiebetriebenen Kampfanzügen ergossen sich aus den Vorratsschuppen, die sie eben noch verlassen geglaubt hatten, und eröffneten das Feuer auf Dukes Männer. Goliaths in gleicher Aufmachung stapften ins Blickfeld, und aus den Waffenaufsätzen an ihren Armen barsten Feuerströme hervor. „Alle Mann vorwärts!", rief Arcturus und rannte los. „Bewegung!" So lange die Gegner noch in den Kampf mit Dukes Männern verstrickt waren, schossen sie nicht auf Arcturus und seine Einheit. Aber das würde sich bald ändern, wenn sie die Lücke nicht schlossen. Sie hielten auf ein hangarartiges olivefarbenes Gebäude mit durchhängendem Dach zu. Wenn sie es schafften, diesen Bau zu umrunden, konnten sie den Kämpfern, die Dukes Männer attackierten, vielleicht in den Rücken fallen. Ein Vulture kreischte um das Gebäude herum, gejagt von Impaler-Salven, die aus Löchern in den Wänden des Baus kamen, auf den Arcturus' Männer zuliefen. Der Pilot ließ seine Maschine wie eine Schlange hin- und herzucken. Er fädelte sich zwischen den Salven hindurch, aber ohne Hilfe würde er nicht lange durchhalten. „Goliaths!", schrie Arcturus. „Feuer auf diese Schützen! Los!" Die beiden bewaffneten Walker verhielten, und ihre Arme drehten sich in die Höhe und herum. Die kreisenden Läufe brüllten plötzlich auf, und meterlange Flammenzungen leckten daraus hervor. Flackernde Funken und zerfetztes Metall platzten aus den Wänden des Gebäudes. Tausende von Geschossen zerschnitten das Blech wie ein Plasmaschneidbrenner, der einem Wahnsinnigen in die Hände gefallen war. Ganze Metallstreifen fielen aus den Wandungen heraus, gefolgt von zerrissenen Toten. Nur um ganz sicher zu gehen, zischten noch zwei Missiles aus den Schulterwaffen der beiden Goliaths in die von ihren Armwaffen geschaffenen Öffnungen hinein. Beide explodierten fast gleichzeitig innerhalb des Gebäudes, und das Dach ruckte unter den Detonationen in die Höhe. Flammen wölkten auf, und Rauch kochte aus den zertrümmerten Wänden und dem löchrigen Dach. Der Vulture-Pilot salutierte knapp, bevor er sein Hover Cycle kreischend wendete und sich wieder in die Schlacht stürzte. „Mengsk!", rief Duke über Funk. „Wo zum Teufel stecken Sie? Wir brauchen Hilfe, und zwar jetzt, auf der Stelle!"
„Sind schon unterwegs, Duke", gab Arcturus zurück. „Halten Sie durch." Der Kampf tobte am Rand der Anlage, Gruppen gepanzerter Soldaten hetzten aus der Deckung zersplitternder Trümmer hinter Stapel aus Stahlteilen und feuerten kurze Salven aufeinander ab. Arcturus wies mit einer knappen Geste nach rechts, in die Richtung, in die der Vulture-Pilot geflogen war, und führte seine Männer in die Anlage hinein. Impaler-Geschosse schepperten gegen Stahl und Panzerungen. Explosionen flammten auf, Schrapnell Splitter prallten von den Wänden der Bauten ab. Zum Glück war niemand dumm genug gewesen, in unmittelbarer Nähe der Raffinerie zu schielten, aber das war gewiss ein Wunder, das nicht ewig währen würde. Hier, nahe der Anlage, war die Luft ölig und gelb, und dichter Nebel rankte sich um ihre Knöchel. Arcturus hörte über Funk Rufe und schlitterte an der Ecke des Gebäudes in Deckung. Weiter vorne konnte er die Falle erkennen, die man ihnen gestellt hatte. Die scheinbar leeren Bauten waren in Wirklichkeit geschickt konstruierte Stützpunkte, die nur unfertig und verlassen aussahen. Ein gegnerischer Goliath stampfte um die Ecke und richtete den kreiselnden Waffenaufsatz auf Arcturus. „Runter!", schrie er und ließ sich in den Bodennebel fallen. Eine brüllende Naht aus Geschossen schnitt wie eine feurige Klinge durch die Luft, fetzte den eisigen Boden auf und ließ pulverisierte Kiessplitter in alle Richtungen spritzen. Trotz der Helmdämpfung war der Lärm ohrenbetäubend. Arcturus hörte Schreie und die hellen Hammerschläge, mit denen die Geschosse Panzerung und Fleisch durchschlugen. Ein Körper fiel auf ihn, eine Hälfte davon größtenteils abgerissen. Blut quoll aus zerfetztem Fleisch und spritzte bogenförmige Muster auf Arcturus' Brustpanzer. Er musste den Brechreiz niederkämpfen, als er sich durch ein zertrümmertes Helmvisier von Toby Mercurios leblosen Zügen angestarrt sah. Der Goliath donnerte durch einen Haufen von Blechtrümmern, und eine weitere brüllende Salve jagte durch den Nebel auf sie zu. Marines, die sich verteilt hatten, feuerten auf den gepanzerten Walker, aber ihre Schüsse zeigten kaum Wirkung. Arcturus drückte Mercurios Leichnam von sich herunter und rollte auf die Knie, als ein neuerlicher Hagel von 30-mmGeschossen
das bisschen Deckung, das ihnen geblieben war. zu Splittern aus Plaston und Metallfetzen zermahlte. Eine Reihe von Explosionen blühte an den Beinen des Goliaths auf, und er strauchelte; die Kanonen drehten sich, um diese neue Bedrohung aufs Korn zu nehmen. Arcturus sah, wie der Vulture, den sie vorhin gerettet hatten, auf den Walker zufegte. Aus der Frontsektion des Hover Cycles wurde eine Reihe von Granaten abgefeuert, und um den Goliath herum erblühten weitere Feuerblumen. Es reichte nicht, und Arcturus erkannte, dass der Pilot sich mit seinem edelmütigen Versuch, sie zu retten, sein eigenes Grab geschaufelt hatte. Dann zischte eine Missile an ihm vorbei und schlug in die Pilotenkanzel des feindlichen Walkers ein. Als die Missile explodierte, spie die Maschine Feuer und ging als flammende Masse zerbeulten Metalls zu Boden. Arcturus drehte sich um und sah einen seiner eigenen Goliaths; die blaurote Flagge der Konföderation auf der Vorderseite war ein mehr als willkommener Anblick. Rauch stieg aus den MissileAbschussvorrichtungen, und die Erkenntnis, wie nah sie dem Tod gewesen waren, ließ ihn bebend ausatmen. Der Vulture-Pilot zog seine Maschine herum und jagte ins Getümmel davon, ohne auf ein Dankeschön ihrerseits zu warten. „Sir!", rief eine Stimme durch Rauch und Chaos. „Sir! Sind Sie okay?" Er schaute auf und sah Dia de Santo, das Visier ihres Helms zersprungen und versengt. Blut lief ihr über den Arm, wo ihre Rüstung durchbohrt worden war, und er erkannte, dass ihre Augen den glasigen Ausdruck hatten, der sich nach Stim-Gebrauch einstellte. „Ja... ja, Dia. Mir fehlt nichts", sagte er und stemmte sich hoch. Chuck Homer rannte zu ihm, seine Rüstung verbeult und zerschrammt. „Heilige Scheiße", sagte er, als er Mercurios Leiche sah. Chun Leung und Yancy Gray behielten die Umgebung im Auge, während Arcturus den Kopf schüttelte und sein Gleichgewicht wiederfand. „Was jetzt, Sir?", rief Homer. „Hier ist die Kacke echt am Dampfen. Duke, dieser Idiot, hat uns da eine Scheißsuppe eingebrockt!" Arcturus nickte und blickte abermals um die zerstörte Gebäude-
ecke herum. Das Innere der Minen-Anlage war zum Kriegsgebiet geworden. Marines lagen tot und sterbend am Boden, während ImpalerGeschosse als horizontaler Regen hin- und herflogen. Explosionen stiegen pilzartig gen Himmel, und Feuer leckte an den Rändern der Unterkünfte. Die Mission, die so einfach ausgesehen hatte, war in ein Desaster von epischem Ausmaß umgeschlagen. Duke und seine Männer hatten sich den Weg in einen der Stützpunkte erkämpft und ihn besetzt, ein brutales und heroisches Unterfangen, das ihnen wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Schüsse krachten aus Schießscharten und mähten die gepanzerten Soldaten nieder, die versuchten, den Stützpunkt zu stürmen. Rauch und Flammen verhüllten einen großen Teil des Schlachtfelds, aber Arcturus konnte trotzdem erkennen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis man Duke und seine Leute überrannte. Er ging auf ein Knie nieder und wandte sich an seine Männer. „Lasst hören wie viele sind wir?", verlangte er zu wissen. Insgesamt hatte er noch sechzehn Marines und einen Goliath, der andere lag am Boden, ein brennender Haufen, aus dem explodierende Munition hüpfte. Arcturus hatte nicht mitbekommen, dass er vernichtend getroffen worden war. „Charles! Haben Sie noch Kontakt mit den Dropschiffen?" „Ja, aber das hilft uns nicht viel, so lange wir dermaßen unter Beschuss liegen!", erwiderte Homer. „Diese Piloten wären schön blöd, wenn sie ihre fliegenden Särge in diesen Scheißsturm steuern!" „Sagen Sie ihnen, dass sie keine andere Wahl haben, wenn sie nicht standrechtlich erschossen werden wollen!" „Ich geb's so weiter, aber ich sag Ihnen, diese Jungs sind nicht bescheuert." „Machen Sie schon!" Arcturus öffnete einen Kanal zum Piloten des verbliebenen Wraith und erteilte neue Befehle. Bis jetzt hatte er sein Schiff hoch genug gehalten, um weiterem Missile-Beschuss zu entgehen, aber das musste sich ändern, wenn sie aus dieser Klemme herauskommen wollten. Dann ging er die Kanäle durch, bis er Duke erreichte. „Edmund!", rief er. „Hier ist Mengsk." „Verdammt, wo bleiben Sie?", schnauzte Duke. „Wir werden
hier massakriert!" Arcturus umriss dem belagerten Captain rasch seinen Plan, der Duke nicht gefiel, aber er war zumindest schlau genug, um einzusehen, dass es nur so vielleicht noch ein Morgen für ihn gab. „Okay, Mengsk, wir machen es auf Ihre Tour. Ende." Nachdem die Befehle erteilt waren, wandte Arcturus sich wieder an seine Marines und sagte: „Wir rücken auf mein Zeichen hin vor und bilden einen Korridor zwischen uns und Captain Duke. Wir geben ihm und seinen Leuten Deckung, um sie aus der Anlage herauszulotsen, und dann können uns die Dropschiffe abholen. Verstanden?" Sie hatten verstanden, und er sah, wie in ihren Augen ein Feuer aufflammte bei der Vorstellung, es diesen Kel-Morians heimzuzahlen. Sein Ohrknopf schrillte, und er wandte sich vom Kampfgeschehen ab. „Alle Mann, Achtung! Wraith kommt!" Ein unvermittelter Überschallknall kündigte die Ankunft des Wraith an, der dann im Tiefflug über sie hinwegdröhnte und das Feuer eröffnete. Eine Kaskade aus Laserschüssen schnitt mitten durch das Camp, zerriss Dutzende von grün gepanzerten Soldaten und ließ die Tracks explodieren, die das Vespene-Gas geladen hatten. Einer der Tracks detonierte in einem Sturmhagel aus rasiermesserscharfen Trümmerstücken und sprühendem Gas. Feuer fraß sich durch die Feindeslinien, und die Schüsse verstummten, als die Schützen in Flammen aufgingen und starben. Die donnernde Salve von aus der Luft abgefeuerten Missiles hämmerte durch die gegnerische Schar, und Leiber flogen durch die Luft, während Rauchund Flammensäulen himmelwärts stiegen. „Jetzt!", befahl Arcturus, und seine Marines stürmten aus ihrer Deckung und auf Dukes Stützpunkt zu. Mit Arcturus an der Spitze bildeten sie einen Kordon aus Soldaten, während sie die überlebenden Gegner mit Dauerfeuer zwangen, die Köpfe einzuziehen. Arcturus sah, wie sich ein feindlicher Soldat aufrichten wollte und jagte ihm eine Impaler-Salve in den Schädel. Weitere Soldaten erhoben sich. Wraith fehlte es an echter Effektivität, wenn es um den Angriff auf Bodenziele ging, aber der Schock und der Lärm der Attacke hatten ihnen wenigstens etwas Luft verschafft. Duke und seine Männer strömten aus dem zerstörten Stützpunkt und kamen zu ihnen, und unter dem De-
ckungsfeuer der wenigen verbliebenen Goliaths begann sich die Streitmacht der Konföderation aus dem Hinterhalt zurückzuziehen. Neben Arcturus explodierte etwas, und er schlug zu Boden. Sein Gewehr wirbelte davon, und auf seinem Helm-Display blinkten Warnlichter. Im Plaststahl bildete sich ein langer Riss, und beißender, nach faulen Eiern stinkender Schwefelgeruch drang ihm in die Nase. Er kam auf die Knie und fühlte sich von einer Reihe hell klingender Hammerschläge getroffen. Er fiel nach hinten und sah zwei grün gerüstete Soldaten auf sich zukommen. Es waren gute, disziplinierte Soldaten, ihr Beschuss ließ nicht nach, nagelte ihn am Boden fest. Weitere rote Icons blitzten in seinem Display auf, warnten vor unmittelbar bevorstehender Rüstungspenetration. Dann stürzte einer der feindlichen Soldaten, sein Visier eine rote Maske, wo es von einer gezielten Impaler-Salve durchschlagen worden war. Arcturus blickte auf und sah Chun Leung über sich stehen, Mayumi fest an die Schulter gedrückt, während er ruhig auf den zweiten Gegner zielte und ihn mit einem nicht minder gezielten Feuerstoß niederschoss. Als die direkte Gefahr ausgeräumt war, schlang Leung sich die geliebte Waffe über die Schulter und reichte Arcturus die Hand. „Bei allem Respekt, Sir, aber das ist nicht der beste Zeitpunkt, um sich ein Weilchen hinzulegen." Arcturus wollte lachen über die Absurdität dieser Bemerkung, ergriff aber stattdessen nur Leungs helfende Hand und zog sich hoch. Nicht weit entfernt explodierte wieder etwas, und kaum war Arcturus auf den Beinen, sah er, wie ein merkwürdiger Ausdruck in Chen Leungs Augen trat. Blutiger Schaum spritzte von innen gegen sein Visier. „Leung!", schrie Arcturus. Jetzt sah er den handgroßen Schrapnellsplitter, der sich von hinten in Leungs Helm gebohrt hatte. Als Chun Leung auf die Knie fiel, reichte er Arcturus sein Gewehr. „Passen Sie auf sie auf, sagte Leung und kippte tot zur Seite. Arcturus sah, wie sich Leungs Helm mit Blut füllte und sein Gesicht dahinter verschwand, entsetzt von der plötzlichen, willkürlichen Art seines Todes. Er drückte Mayumi fest an seine Brust, und nach einem letzten Blick auf Chun Leungs Leichnam drehte er sich um und rannte seinen sich zurückziehenden Männern nach. „Captain Mengsk!", rief eine Stimme in seinem Ohr. „Hier
spricht Lieutenant Wang in Wraith One Fox Three. Over." „Was ist, Lieutenant?", erwiderte Arcturus, rückwärts laufend und mit Leungs Gaußgewehr auf den sich neu formierenden Feind schießend. „Eure Dropschiffe kommen, aber ihr bewegt besser eure Ärsche. Auf euch kommt da ordentlich was zu. Boden- und Lufteinheiten. Und was Großes noch dazu, Schlachtschiff, große. Sieht so aus, als machten die Typen ernst." „Verstanden", erwiderte Arcturus. „Können Sie uns mehr Deckung geben?" „Ich hab noch Sprit und Munition für einen Überflug", antwortete Lieutenant Wang. „Dann muss das eben reichen. Mengsk, Ende." Arcturus fand sich neben Edmund Duke wieder, und der Mann wirkte eher wütend als erschöpft von den Ereignissen des Tages. Duke musterte ihn, und in seinen Augen funkelte widersinnige Verärgerung. „Sie haben sich verdammt Zeit gelassen!", war alles, was er sagte. Arcturus verbiss sich eine zornige Entgegnung, während auch noch der letzte Goliath umkippte; seine Missiles verbrieten in der Hitze der Explosion und schlitterten über das Eis, als wären sie bewusst abgeschossen worden. Ein Vulture krachte ins Eis, nachdem eine Salve von Impaler-Geschossen den Antrieb getroffen hatte, woraufhin die Maschine in Flammen aufgegangen war. Das Hover Cycle zerbarst beim Aufprall in tausend Stücke, und der Pilot wirbelte über die Felsen, jeder Knochen im Leib gebrochen. Arcturus hoffte, dass es nicht jener Pilot war, der ihnen vorhin geholfen hatte. Die Minenanlage stand von vorne bis hinten in Flammen, und Arcturus wunderte sich, dass der Komplex noch nicht in einer einzigen gewaltigen Explosion in die Luft gegangen war. Den Blick zum Gletscher über der Anlage gerichtet, sah er dunkle Schemen vor dem Mitternachtsblau des Himmels. Raumschiffe. Unmöglich, riesige Kolosse aus Neostahl sanken auf feuerspeienden Düsen wie Racheengel vom Himmel hernieder. Über den Gletscher hinweg näherte sich eine Flotte von Schiffen, und Arcturus wusste, dass der Konflikt zwischen der Konföderation und den Kel-Morians nun das Stadium von Geplänkeln und Überfällen hinter sich gelassen hatte. Das hier war et-
was viel, viel Größeres. Er holte die Überlebenden des Angriffs ein, als die heulenden Schemen ihrer Dropschiffe, deren Piloten dem Ansturm des feindlichen Feuers und der Naturgewalten trotzten, um ihre Kameraden zu retten, in den Krater herunterjagten. „Wir müssen Schutzengel haben", sagte Arcturus und rannte auf die Rampen der Dropschiffe zu. Arcturus stieg aus dem stinkenden, rot beleuchteten Dropschiff, kaum dass es auf dem Landegitter von Camp Hastings aufgesetzt hatte. Marines wankten aus den blutigen, rauchverhangenen Innenräumen und wurden von Ärzten und Sanitätern in Empfang genommen. Eines der Dropschiffe war während der Evakuierung abgestürzt, aber als Arcturus den Blick über die Reihen der Überlebenden wandern ließ, musste er enttäuscht feststellen, dass Duke nicht an Bord jenes Schiffes gewesen war. Das Camp war in Aufruhr, als hätte jemand die ganze Belegschaft unter Strom gesetzt. Arcturus riss sich den Helm vom Kopf und holte tief Atem. Selbst der faulige Geruch der Luft hier war nicht so schlimm wie der des Blutes und des Schweißes in seinem Helm. Chuck Homer, Yancy Gray und Dia de Santo schritten die Rampe herunter und blieben neben ihm stehen. Homers Blick fiel auf das Gewehr, das Arcturus bei sich trug. „Chun Leung?" Arcturus schüttelte den Kopf. „Verdammt", war alles, was Chuck dazu zu sagen hatte. Arcturus fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und sah zu, wie SCVs sich daran machten, das Camp abzubauen. Bodencrews zerrten bereits Tankschläuche zu den Dropschiffen, und gepanzerte Marines schleppten silbrige Stahlkisten von den Gebäuden zu den großen Fliegern. „Was zum Teufel ist hier los?", fragte Yancy. „Sieht aus, als machten wir die Fliege", meinte de Santo. „Und zwar schnell." Das sah Arcturus auch so. Wo er auch hinschaute, sah er, wie militärisches Personal mit dem Abbau des Stützpunkts beschäftigt war, zusammenpackte, was sich wiederverwenden ließ, und vernichtete, was nicht mehr zu gebrauchen war. Mitten in diesem kontrollierten Chaos entdeckte er Commander
Fole, der in einem energiegetriebenen Kampfanzug steckte und das Geschehen mit gewohnter Brüskheit dirigierte. Arcturus schulterte Mayumi und ging zu ihm. Fole sah ihn kommen und nickte knapp. „Freut mich, dass Sie es geschafft haben, Mengsk." „Danke, Sir", erwiderte Arcturus. „Was geht hier vor?" „Wie sieht es denn aus? Wir ziehen uns von Onuru Sigma zurück." „Was? Warum?" „Weil dieser Konflikt gerade heißer als die Hölle geworden ist", sagte Fole. „General Mah Sakais Kel-Morians schaffen Schlachtkreuzer und Streitkräfte in Brigadestärke heran, um uns von diesem Felsbrocken zu schubsen." „Schlachtkreuzer? Wo haben die denn so große Schiffe her?" „Es ist einerlei, wie sie daran gekommen sind, sie haben sie, das ist alles, was zählt", versetzte Fole, während Edmund Duke zu ihnen herüber stapfte. Fole stemmte die Hände in die Hüften und sagte: „Nun, da Sie beide hier sind, kann ich Ihnen die schlechte Nachricht verkünden. Von ganz oben kam der Befehl, dass jedermanns Dienstzeit gerade verlängert wurde, darum hoffe ich, dass keiner von Ihnen vorhatte, bald nach Hause zu gehen." „Verlängert?", echote Arcturus. „Warum?" „Weil wir, meine Herren, jetzt offiziell mit dem Kel-MorianKombinat im Krieg liegen", erklärte Fole. KAPITEL 12 Arcturus justierte die Einstellungen an der Seite des Resonators und wischte die Feuchtigkeit vom Display, während sich die grünen Linien darauf verschoben und tanzten. Die gravimetrischen Werte schwankten, und obwohl er sicher war, dass sich unter seinen Füßen ein beträchtliches Depot befand, wollten die Geräte nicht bestätigen, was sein Instinkt ihm sagte. Arcturus sah auf von dem Magnet-Resonator und ließ den Blick über die Grabungsstätte schweifen. Das Gelände lag in einem der tiefen, dunstverhangenen Täler von Pike's Peak, und das frei geräumte Terrain wurde beherrscht von sechs hoch aufragenden Bohrtürmen, die das harte Gestein am Grund des Flussbetts ent-
kernten. Zerschrammte Unterkünfte und Lagercontainer verteilten sich über die trockeneren Bereiche des Talbodens, während Männer in SCVs an den Kernbohrungen arbeiteten und ruckelnde Siebe Tag und Nacht sortierten, was zutage gefördert wurde bisher nichts von Wert. Arcturus wusste, dass er viel riskierte mit diesem Unternehmen, in das der größte Teil des Geldes geflossen war, das er mit den letzten beiden Minen gemacht hatte. Nur hatte seine Intuition, die ihm in der Vergangenheit so gute Dienste geleistet hatte, das reichhaltige Flöz kostbarer Mineralien, von dem er sicher war, dass es sich tief unter dem Regolith verbarg, bis jetzt nicht entdeckt. Die flacheren Täler machten sich bezahlt für andere Prospektoren, nur diese Tiefe weigerte sich standhaft, irgendwelche Schätze preiszugeben. Er fluchte und schlug mit der Handfläche gegen die Maschine, als eine Stimme hinter ihm sagte: „Warum hörst du nicht auf mich, Arcturus? In diesem Tal gibt es nichts, was irgendetwas wert wäre." „Es ist hier, Dia", entgegnete Arcturus und sah sich nach Dia de Santo um, die ihn ihrerseits musterte, die Hände in die Hüften gestemmt. „Ich kann es spüren." Wie Arcturus trug auch de Santo die strapazierfähige Kleidung, die typisch war für die meisten Prospektoren am äußeren Rand: schwere Hosen, eine gefütterte Jacke mit vielen Taschen und ein verbeulter Helm. Sie hatte ihr dunkles Haar momentan zu Dreadlocks geflochten und im Nacken zu einem festen Pferdeschwanz zusammengebunden. De Santo beugte sich gerade vor, um einen Blick auf den Resonator zu werfen, als eine zuckende Sinuskurve über das Display wogte. Endlich löste Arcturus sich von dem Magnet-Resonator, richtete sich auf und fuhr zusammen, als ihm ein scharfer Schmerz durch den Rücken schoss. „Kommt vom vielen Bücken", sagte de Santo. „Da wirst du wohl recht haben", gab Arcturus zurück, rieb sich mit der Hand über das schmutzige Gesicht und dann durch die Haare. Es war jetzt von grauen Strähnen durchzogen, und er wusste, dass es noch mehr werden würden. Er hatte Angus gestern auf UNN gesehen, und das Haar seines Vaters war inzwischen fast komplett silbern; aber so durfte er wenigstens hoffen,
dass er später einmal keine Glatze bekommen würde. „Du bist kein junger Spund mehr", erinnerte ihn de Santo lächelnd. „Immerhin, du bist fast dreißig." „Ich bin erst achtundzwanzig", korrigierte Arcturus sie. „Noch geht es bergauf." „Ja, aber du kannst schon sehen, von wo aus es bergab geht. Nicht mehr lange, und dann..." „Du bist heute ja in Jubelstimmung, Dia. Was ist los?" De Santo zuckte mit den Schultern und wies mit einer winkenden Geste auf die Arbeiten, die ringsum im Gange waren. „Das fragst du? Schau dich doch um, Arcturus", sagte de Santo. „Wir sind jetzt seit zwei Monaten hier und haben nichts gefunden, für das es sich lohnen würde, auch nur noch einen Tag länger zu bleiben. Ich weiß, du glaubst, in diesem Tal lässt sich ein Volltreffer landen, aber hier ist nichts." „Es ist etwas da, Dia, ich bin mir ganz sicher", beharrte Arcturus. „Ich kann es spüren." „Oh, du kannst es spüren, ja? Wie kommt es dann, dass die geologischen Karten, die gravimetrische Analyse und die Gesteinsproben alle dasselbe sagen? Hier ist nichts, und du wirst alles verlieren, wenn wir nicht endlich zusammenkratzen, was uns noch geblieben ist, und weiterziehen." Arcturus hob die Augenbrauen. „Was uns noch geblieben ist? Ich glaube mich zu erinnern, dass es zum größten Teil mein Geld war, mit dem dieses Unternehmen anfing ich kaufte all diese Maschinen auf Pump und heuerte die Arbeiter dafür an. Bei unserem ersten Versuch machten wir ein wenig Profit, genug, um unsere Schulden zu bezahlen, und beim zweiten Mal war es eine ganze Menge. Du hast dich gut gemacht für einen Ex-Marine, Dia, aber bilde dir nur nicht ein, dass du dasselbe Risiko trägst wie ich." „Verdammt, du bist ein egoistischer Bastard, Arcturus Mengsk", fauchte de Santo. „Ich habe meine Anteile aus den ersten beiden Minen komplett in diese hier investiert, und ich laufe Gefahr, genauso viel zu verlieren wie du. Mann, ich dachte, wenn wir aus dem Marine Corps raus wären, würdest du kein so arrogantes Arschloch mehr sein, aber weißt du was? Du wirst immer schlimmer." „Danke für deine Offenheit", sagte Arcturus. „Und? Wolltest du irgendetwas Bestimmtes, oder bist du nur hergekommen, um mich anzumeckern?"
„Ein bisschen von beidem", erwiderte de Santo müde. „Schön, du hast deine Meinung zum Ausdruck gebracht", sagte Arcturus. „Was gibt es noch?" „Auf der Vidsys-Konsole ist eine Nachricht für dich. Dachte, das würde dich interessieren." Arcturus holte tief Luft, rang seine Verärgerung über de Santos Störung nieder, wusste aber tief in seinem Inneren, dass sie recht haben mochte. „Na schön", meinte er schließlich. „Bleib du hier am Resonator, ich seh mal nach, worum es sich handelt." De Santo nahm vor dem Display des Geräts Platz, während er sich auf den Weg zur Zentralunterkunft machte, wo sich die Crew zum Essen und nach getaner Arbeit zur Entspannung versammelte. Im Laufen drehte er sich noch einmal um. „Weißt du zufällig, von wem die Nachricht ist?" Er vermutete, dass der Absender entweder seine Mutter oder Dorothy war. „Der Quellcode ist der von Umoja", antwortete de Santo. „Umoja?" „Ja, irgendein Typ namens Pasteur." Arcturus streifte Stiefel und Jacke ab, als er in den Eingangsraum der Unterkunft trat, und ließ sich nach der Schwüle der Grabungsstätte von dem trockenen Luftzug abkühlen. Als er seinen Helm aufhängte, bemerkte er, dass seine Handflächen schweißnass waren, und er gestand sich ein, dass er besorgt war. Was konnte Ailin Pasteur nach all den Jahren von ihm wollen? Es war fast zehn Jahre her, seit er den Mann zuletzt gesehen hatte, und ihre letzten Worte waren nicht freundlicher Natur gewesen. War es vielleicht Juliana, die die Konsole ihres Vaters benutzte? Er hoffte, dass es nicht so war. Er hatte Achton Felds Rat befolgt und einen sauberen Trennstrich zwischen seinem früheren Leben und der Zukunft gezogen, als er Korhal vor all der Zeit verlassen hatte. Während der Höllenjahre des Gildenkriegs hatte er weder an Juliana gedacht noch war er auch nur ein einziges Mal nach Hause zurückgegangen. Stattdessen hatte er sich für das Studienprogramm des Marine Corps eingeschrieben und in Vorbereitung auf den Tag, an dem er vor Brantigan Fole hintreten und aus dem Dienst ausscheiden konnte, zahlreiche Qualifikationen für den Bergbau und in Mine-
ralkunde erworben. „Verdammt, es passt mir nicht, Sie zu verlieren, Mengsk", hatte Fole gesagt, als Arcturus sein Entlassungsgesuch über den Schreibtisch des Commanders geschoben hatte. „Die KelMorians sind auf der Flucht, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihnen keine andere Wahl mehr bleibt, als sich zu ergeben. Sind Sie sicher, dass Sie nicht noch eine Weile warten wollen, Sohn? Sie sind jetzt Colonel, aber wenn diese ganze Sache vorbei ist, wird man Beförderungen verteilen wie Gratisproben. Sie könnten General werden, wenn Sie wollten." „Nein, Sir", erwiderte Arcturus. „So verlockend diese Aussicht auch ist, aber ich habe meine Zeit abgeleistet, und jetzt will ich nur noch raus." „Was werden Sie mit sich anfangen, Mengsk? Sie sind ein Soldat. Sie sind zum Soldaten geboren. Ich glaube nicht, dass das Zeug zum Zivilisten in Ihnen steckt. Kommen Sie schon, Sohn, was wir alles getan, was wir alles gesehen haben... Wie können Sie danach wieder ein ganz gewöhnlicher Kerl sein wollen?" „Bei allem Respekt, Sir", sagte Arcturus, „ich gehe wegen all dem, was wir getan haben." „Was soll das heißen?", wollte Fole wissen, und nun war alle Jovialität von ihm abgefallen. Arcturus seufzte. „Ich nehme an, dass ich einfach nicht mehr an das glaube, wofür wir kämpfen." Fole hatte ihn von oben bis unten gemustert und ohne ein weiteres Wort seine Entlassungspapiere unterschrieben. Arcturus schüttelte die Erinnerung ab und drückte die Tür zum Freizeitraum auf. Der Raum war spartanisch eingerichtet, die wenigen Möbel zerschrammt von den vielen Malen, die sie von einem potenziellen Claim zum nächsten verschifft worden waren. In einer Ecke stand ein alter Cine-Viewer, wo man sich die neuesten Nachrichten von UNN oder seine LieblingsHolo-Serie ansehen konnte. Um einen zerkratzten Resopaltisch herum gruppierten sich ein paar Stühle, von denen keiner zum anderen passte, und in einer Ecke stand, der Filzbelag verblichen und mit Klebeband geflickt, ein Billardtisch. Hinter einem Perlenvorhang lag eine kleine Küche, und am anderen Ende der Unterkunft, wo Arcturus und ein paar andere schliefen und ihre wenigen Habseligkeiten aufbewahrten, befand sich ein Gemeinschaftswaschraum.
An der Stirnwand stand die Vidsys-Konsole, ein verbeultes Gerät, das sie gebraucht gekauft hatten und das nie ganz so funktioniert hatte, wie der Verkäufer es versprochen hatte. Aber es erfüllte seinen Zweck in ausreichendem Maß, und Arcturus besaß genug technisches Geschick, um es am Laufen zu halten und seinen Leuten die Möglichkeit zu bieten, wenigstens in flüchtiger Verbindung mit zu Hause zu bleiben. Auf dem schmutzigen, ölfleckigen Kontrollfeld der Konsole blinkte ein rotes Lämpchen, und Arcturus setzte sich auf den Stuhl davor. Er ließ sich einen Moment lang Zeit, um sich zu sammeln, strich sich noch einmal mit den Händen durchs Haar und wischte sich den gröbsten Dreck aus dem Gesicht, wie er es immer tat, bevor er ein Gespräch begann. Ein unnötiges Ritual, da die Nachricht aufgezeichnet sein musste, aber es hatte Arcturus nie gefallen, irgendetwas anzufangen, ohne präsentabel auszusehen. Zufrieden drückte er den roten Knopf, und der Bildschirm füllte sich mit statischem Flimmern, das schließlich dem körnigen Bild zweier dreizackiger Sterne wich. So gut er sich auch mit elektronischen Dingen auskennen mochte, war es Arcturus doch nie gelungen, die Farbwiedergabe richtig hinzubekommen. Aber er wusste, dass einer dieser Sterne tiefschwarz war und der andere blütenweiß. Dies war das Planeten-Emblem von Umoja, und Arcturus holte tief Luft, als das Bild verblasste und durch das Gesicht von Ailin Pasteur ersetzt wurde. Er war gealtert, sein Gesicht von tiefen Furchen gezeichnet und sein Haaransatz erschreckend weit nach hinten gewichen. Arcturus erkannte, dass die Jahre für Ailin Pasteur eine Last gewesen waren und dass er ihr Gewicht in den Augen trug. „Hallo, Arcturus", sagte Pasteur. „Ailin", erwiderte Arcturus und erlag der Gewohnheit der meisten Leute, die solche Nachrichten sahen und glaubten, ihr Gegenüber befände sich tatsächlich am anderen Ende der Verbindung. „Es ist lange her, seit wir miteinander gesprochen haben, also fasse ich mich kurz." Pasteur mochte gealtert wirken, aber seine Stimme hatte nichts von ihrer Kraft verloren, und Arcturus war insgeheim beeindruckt, während Pasteur fortfuhr. „Deine Mutter sagte mir, dass du das Marine Corps verlassen hast und jetzt in den Territorien des äußeren Randes als Prospek-
tor arbeitest. Nun, du hast ja immer gesagt, dass es das sei, was du tun wolltest, dann ist das ja immerhin etwas. Aber es hat sich vieles verändert, seit du dein altes Leben hinter dir gelassen hast, Arcturus, Veränderungen, denen du dich stellen musst. Ich habe bisher keinen Kontakt zu dir aufgenommen, weil Juliana mich bat, es nicht zu tun, aber, wie gesagt, die Dinge haben sich geändert." Arcturus runzelte bei Pasteurs Worten die Stirn. Was hatte sich geändert? „Ich möchte, dass du nach Umoja kommst", sagte Pasteur. „Ich weiß, dass du es wahrscheinlich nicht möchtest, aber ich appelliere an jedes Quäntchen Menschlichkeit, das du noch in dir haben magst. Komm nach Umoja, Arcturus. Sobald du kannst." Pasteurs Abbild verblasste auf dem Schirm, und Arcturus nagte an seiner Unterlippe, während er über das nachdachte, was er gerade gehört hatte. Er spielte die Nachricht noch zweimal ab, suchte nach der Bedeutung, die sich hinter Pasteurs Worten verbergen mochte. Aber er entdeckte nichts, was über das Gesagte hinausging. Er schüttelte den Kopf und ging in die Küche, um sich etwas Heißes zu trinken zuzubereiten, und mit einer Blechtasse, in der Militärkaffee dampfte, suchte er sein Quartier auf. Etwas hatte sich geändert, und es war etwas, dem er sich stellen musste... Was um alles in der Welt konnte das sein? Das Zimmer, das Arcturus im Unterkunftsgebäude bewohnte, gewährte allenfalls einen kleinen Einblick in seine Persönlichkeit. Er hielt es so sauber, wie es in einem Prospektoren-Lager möglich war, und das war nicht besonders sauber. An einer Wand stand ein schmales Feldbett, dahinter ein metallgrauer Spind. Am Fuß des Bettes türmten sich Kleidungsstücke, die gewaschen werden mussten, und auf einem zusammenklappbaren Tisch in der Ecke lagen einige Teile eines zerlegten elektronischen Geräts. Die Wände bestanden zum Großteil aus blankem Stahl, nur an einer hing, auf stoffumwickelten Bolzen ruhend, ein poliertes Gaußgewehr, und an eine andere waren sich wellende Holo-Bilder geheftet. Aus einem dieser Bilder heraus winkte ihm Dorothy und warf ihm eine Kusshand zu. Das Bild war an ihrem dreizehnten Geburtstag aufgenommen worden, und im Vordergrund stand ein
mit flackernden Kerzen geschmückter Kuchen. Dorothy wurde rasch zum Augapfel aller jungen Burschen in Styrling, und die Söhne aller Familien mit Geld rissen sich darum, ihr den Hof zu machen, wurden aber allesamt von ihrem Vater abgewiesen, der ihnen den Rat mit auf den Weg gab, nicht zurückzukommen, bevor Dorothy einundzwanzig war. Arcturus streckte die Hand aus und berührte das Bild, wie er es so oft tat, und sein Blick wanderte über die anderen Fotos. Eines war von ihm mit Juliana auf dem Abschlussball, auf einem anderen erhielt er von Brantigan Fole seine Colonelstreifen, und wieder ein anderes zeigte ihn in heldenhafter Pose auf einem glitzernden Mineralflöz stehend, seinem ersten Fund. Ein letztes Bild zeigte die ganze Familie Mengsk auf dem Balkon des Mengskschen Skyspires. Als es aufgenommen wurde, war Arcturus selbst gerade dreizehn geworden, und seine Eltern standen stolz hinter ihm, seine Mutter mit Baby Dorothy im Arm. Im Hintergrund breiteten sich die silbernen Türme von Styrling aus. In jenem Moment war Arcturus, so weit er sich erinnerte, zum letzten Mal wirklich glücklich gewesen. Er räumte ein paar Sachen vom Bett, setzte sich auf die klumpige Matratze und lehnte den Rücken an die Wand, an der das Gewehr hing. Arcturus trank von seinem Kaffee und zuckte zusammen, als er sich die Zunge daran verbrannte. Er stellte die Tasse ab, um den Kaffee abkühlen zu lassen, und griff nach oben, um das Gaußgewehr von der Wand zu nehmen. Mayumi. Chun Leungs Waffe. Er hatte es nicht fertiggebracht, sich von der Waffe zu trennen, als er die Marines verließ. Weil er das Gefühl hatte, es wäre nicht richtig, die Waffe einfach zurückzulassen oder sie einem anderen zu geben. Er hatte das Gewehr sauber und so gut wie möglich in Schuss gehalten, aber er wusste, dass es längst nicht mehr in dem makellosen Zustand war wie damals in Chun Leungs Händen. Arcturus machte sich ans Werk und zerlegte die Waffe, um sie zu reinigen, während er sich an die Soldaten erinnerte, die im Korps unter ihm gedient hatten. Obwohl de Santos Gegenwart eigentlich eine ständige Erinnerungsstütze war, hatte er doch eine ganze Zeit lang nicht mehr bewusst an die Dominion-Einheit gedacht, und die Gesichter verschwammen im Labyrinth seines Ge-
dächtnisses. Chun Leung und Toby Mercurio waren auf Onuru Sigma gefallen, ebenso sehr wegen Dukes dickköpfiger Dummheil wie auch wegen der Falle, die ihnen die Kel-Morians gestellt hatten. Yancy Gray war auf Artesia Prime gestorben, als ihr Konvoi von einer wimmelnden Woge aus dem Boden brechen der Spinnenminen attackiert wurde. Die Explosion hatte ihm die Beine zerfetzt, und nicht einmal das Geschick der Feldärzte hatte ihn retten können. Er starb schreiend auf der blutgetränkten Ladefläche eines Tracks. Nur Chuck Homer und Dia de Santo hatten zusammen mit Arcturus das Ende ihrer verlängerten Dienstzeit erlebt. Wie Arcturus es erwartet hatte, musterte Dia ab und entschied sich, ihn in die Territorien des äußeren Rands zu begleiten, um ihm zu helfen, seinen Traum vom Leben als Prospektor zu verwirklichen. Sie hatte ihre kargen Ersparnisse investiert und war selbst eine verdammt gute Prospektorin geworden, die ein Naschen dafür hatte, ob ein Fund sich auszahlen würde. ,Was soll ich denn sonst machen? Zurück nach Tyrador IX gehen und für reiche Typen schuften? Nicht in diesem Leben', hatte sie geantwortet, als er sie einmal fragte, warum sie ihm nach ihrer Zeit bei den Marines gefolgt war. Er vermutete, dass dies nicht die ganze Geschichte war, aber er hatte sie nicht gedrängt, mit Einzelheiten herauszurücken. Chuck Homer hatte sich für ein Leben als Zivilist entschieden, und Arcturus war froh, dass sein Stellvertreter der schließlich als Captain im Sold stand den Krieg unversehrt überstanden hatte. Homer heiratete eine Frau, die er im Urlaub kennengelernt hatte, und mit ihr zusammen wollte er ein neues Leben anfangen. Arcturus hatte Chuck die Hand geschüttelt und ihm Glück gewünscht. „Danke, Sir", sagte Chuck, als sie an den Docks über dem Gasriesen Dylar IV auseinandergingen. „Ich schätze, wir könnten jetzt alle eine Extraportion Glück gebrauchen. Ich glaube, ich hatte in diesem ganzen Krieg mehr Glück, als ich es mir erhoffen durfte, also nehme ich Ihre guten Wünsche dankend an. Carla und ich ziehen nach Mar Sara, wollen sehen, ob wir's dort zu was bringen. Sie ist ein bisschen jung und idealistisch, aber das waren wir ja alle mal." Arcturus sah Chuck Horner nie wieder.
Captain Emillian war natürlich beim Marine Corps geblieben, aber Arcturus hatte keine Ahnung, was nach seinem Abschied aus ihr geworden war. Trotz ihres Geredes über die Jagd auf gut aussehende Ärzte, wusste Arcturus, dass Emillian eine Berufssoldatin war und zweifellos bis zuletzt beim Militär bleiben würde bis sie entweder auf irgendeinem namenlosen Schlachtfeld fiel oder in den Ruhestand ging. Ersteres mochte wahrscheinlicher sein, aber wenn jemand das Zeug dazu hatte, dieser Wahrscheinlichkeit ein Schnippchen zu schlagen, dann war es Angelina Emillian. Arcturus und Dia de Santo waren per Schiff in die Territorien des äußeren Rands gereist und hatten ihr Prospektorenund Bergbau-Unternehmen auf den Weg gebracht, indem sie Fälle übernahmen, für die sich die größeren Gesellschaften aus dem einen oder anderen Grund nicht interessierten, und damit hatten sie sich rasch einen Ruf als geschickte und engagierte Mitbewerber gemacht. Ihr erster Treffer hatte ihnen erlaubt, ihre Schulden zu begleichen und größeres, leistungsstärkeres Bohrgerät sowie eine modernere Vermessungsausrüstung anzuschaffen. Ihr zweiter Treffer war deutlich größer ausgefallen und bescherte ihnen ein Heidengeld, aber die Einmischung des Kel-MorianKombinats und des Konföderierten Erkundungskorps war allzu lästig geworden, und so hatte Arcturus den Claim für ein kleines Vermögen verkauft und war tiefer in den Raum vorgestoßen. Die Welten am alleräußersten Rand wurden weniger frequentiert und hatten das Potenzial für noch größere Treffer, auf die sonst niemand Anspruch erhob, aber das hieß auch, dass sie abgeschiedene und willkommene Ziele für Piratenbanden oder schwer bewaffnete Konkurrenten waren. Mit dem Geld, das ihnen der zweite Treffer eingebracht hatte, kauften Arcturus und de Santo ein altes Raumschiff mit dem Namen Kitty Jay und bestückten es mit neuer Ausrüstung, talentierten Arbeitern, SCVs und sogar einer Handvoll Ex-Marines zu ihrem Schutz. Auf Pike's Peak waren sie aufgrund diverser Prospektorengeschichten und eines alten Prüfberichts gestoßen, den Arcturus in einer vergessenen Datenbank der Konföderation gefunden hatte. De Santo hatte sich zunächst gescheut, auf der Basis solch dürftiger Informationen alles aufs Spiel zu setzen, aber Arcturus war hartnäckig geblieben, und seine Nase hatte ihn noch nie getrogen
bis heute zumindest. Denn wie es ihm vor kaum 20 Minuten so nachdrücklich vorgehalten worden war, hatten sie hier noch nichts von Wert gefunden, und wenn sie nicht bald Erfolg hatten, würde ihr schwindendes Kapital erschöpft sein. Das war ein deprimierender Gedanke, und Arcturus verdrängte ihn, während er mit einem ölgetränkten Lappen der Länge nach über das Gaußgewehr rieb. Die Waffe war so sauber, wie sie es nur sein konnte, und er machte sich daran, sie wieder zusammenzusetzen, derweil er sich fragte, ob er sie je würde einsetzen müssen, um diesen Claim zu verteidigen. Der Gildenkrieg den schmissigen Namen hatte UNN geprägt ging ins vierte Jahr, und nach allem, was Arcturus von den Kämpfen gesehen hatte, wusste er, dass Brantigan Fole recht hatte. Die Kel-Morians würden verlieren. Es blieb abzuwarten, was das für kleine Unternehmen wie das seine bedeutete, aber Arcturus ging davon aus, dass es nicht lange dauern würde, bis die Konföderation ihr Augenmerk auf die noch nicht beanspruchten Vorkommen im äußeren Rand richtete. Arcturus ließ das letzte Waffenteil einrasten und schob das Magazin in den Schacht. Er legte das Gewehr quer über seine Knie, lehnte den Kopf nach hinten an die Wand und ließ den Blick über die Holografien an der gegenüberliegenden schweifen. Er betrachtete das Bild, das Juliana und ihn zeigte, wie sie in die Holocam lächelten, und er schmunzelte bei der Erinnerung daran und fragte sich wieder, was Ailin Pasteur von ihm wollen mochte. Es war unwahrscheinlich, dass es etwas mit seiner Familie zu tun hatte; andernfalls hätte er von seiner Mutter oder Dorothy Nachricht bekommen. Vielleicht war Juliana etwas zugestoßen, aber warum hätte Pasteur sich in diesem Fall an Arcturus wenden sollen? Er wusste noch nicht einmal, ob er der Aufforderung, nach Umoja zu reisen, überhaupt nachkommen würde. Er war Ailin und seiner Tochter nichts schuldig und dementsprechend nicht verpflichtet, eine solche Reise auf sich zu nehmen. Aber die Neugier nagte doch in seinem Hinterkopf. Sein Gedankenfaden riss, als draußen auf dem Flur rennende Schritte aufklangen und die Stimme von Dia de Santo, du seinen Namen rief. Er legte das Gewehr neben sich aufs Bett. als de Santo auch schon ins Zimmer stürmte. Ihre Augen leuchteten vor
Aufregung, und sie atmete schwer. „Heilige Hölle, Arcturus, beweg deinen Arsch nach draußen Los!" „Was ist denn? Was ist los?" „Du hattest recht", keuchte de Santo. „Verdammt, du hattest recht. Es ist unglaublich." „Ganz langsam, Dia", sagte Arcturus, schwang die Beine vom Bett und stand auf. De Santo warf sich ihm um den Hals und umarmte ihn fest. Arcturus befreite sich von ihr und schob sie auf Armeslänge von sich. „Hör zu, Dia. Beruhige dich. Wovon redest du? Was ist unglaublich?" Sie holte ein paarmal tief Luft, bevor sie sprach, aber Arcturus sah die Begeisterung in ihren Augen und spürte, wie ein Funken ihrer Erregung auf ihn übersprang. „Der Claim", sagte de Santo endlich. „Du hattest recht es liegen Mineralien unter uns, aber wir konnten sie nicht sehen. Es hat sich herausgestellt, dass der Resonator von einer höher liegenden Schicht aus Eisenstein abgelenkt wurde." „Bist du sicher?", fragte Arcturus. „Hast du es überprüft?" „Ja, einer der Bohrer brachte eine Kernprobe hoch, die eine Lage aus Magnetit und Schiefer aufwies. Nachdem ich den Resonator so eingestellt hatte, dass er das herausfilterte... oh Mann, das musst du dir anschauen. Es ist das größte Lager, das ich je gesehen habe. Wir sind reich, Arcturus!" „Okay, jetzt krieg dich wieder ein, Dia." „Nein, Arcturus, vergiss es. Das ist ein Riesending. Ich habe noch nie von einem Flöz dieser Größe gehört. Das wird noch Geld abwerfen, wenn unsere Enkel in Rente gehen!" Vier Tage später dauerte die Feier noch immer an. De Santo hatte hinsichtlich der Größe des Fundes nicht über-, sondern im Gegenteil eher untertrieben, und nachdem der Resonator genau justiert war und durch die Eisensteinschicht hindurch reichte, schien der Mineralflöz darunter weder in Länge noch Breite ein Ende zu nehmen. Als Arcturus bestätigte, dass sie tatsächlich fündig geworden waren und die ersten Proben nach oben gebracht wurden, hatten die versammelten Arbeiter und Marines den Alkohol ausgepackt und die Party war wirklich losgegangen. Momentan wurden größere Bohrvorrichtungen zusammengesetzt, um den gewaltigen Fund rascher abzubauen, und Arcturus
wusste mit Sicherheit, dass dieser Treffer ihn zu einem wirklich reichen Mann machen würde. Reicher als irgendein Prospektor in der Geschichte der Konföderation es selbst nach lebenslangem Suchen und Graben je geworden war. Der Freizeitraum war mit Menschen gefüllt, Minenarbeiter, Prüfer und Soldaten. Das schwerere Bohrgerät sollte morgen in Betrieb genommen werden, und die SCVs hatten gute Vorarbeit für den Bau einer Raffinerie geleistet. Heute Abend jedoch war Entspannung für alle angesagt. Dies war vermutlich für Monate das letzte bisschen freie Zeit, weil sie jetzt eine dauerhaftere Anlage um den Claim bauen mussten, und alle kosteten das aus. Arcturus saß auf einem der Stühle am Tisch, hörte dem aufgeregten Geschnatter seiner Leute zu und ließ sich von ihnen zu seinem intuitiven Riecher gratulieren, der ihnen diesen Glücksfall beschert hatte. Alle erwarteten, durch diesen Fund reich zu werden, und endlich sah es so aus, als könnte das wirklich der Fall sein. Flaschen mit Alkohol wurden herumgereicht, man stieß auf das weitere Schicksal an. Arcturus lauschte den großen Plänen seiner Männer, wofür sie ihr Geld ausgeben wollten, und nahm einen Becher entgegen, in dem sich mörderisch starker Fusel befand. Dia de Santo saß neben ihm, grinste breit und zappte durch die wenigen Kanäle, die sie auf dem Cine-Viewer empfingen. Verschiedene Bilder flackerten in der Ecke des Raumes auf, Werbespots in erster Linie, aber Arcturus setzte sich auf, als in der Projektion auf einmal ein vertrautes Gesicht in den Fokus geriet. Er las den Text, der unter dem Bild vorbeilief, und als er sah, wie de Santo die Hand ausstreckte, um abermals umzuschalten, sagte er hastig: „Warte. Mach mal lauter." Die Lautsprecher knisterten und kratzten, aber schließlich hörte Arcturus die Stimme seines Vaters, obwohl sie im Trubel des Freizeitraums fast unterging. „Ruhe!", befahl Arcturus, und augenblicklich wurde es still im Raum. Er stand auf und trat direkt vor den Viewer, während der Text ein weiteres Mal über den unteren Bildschirmrand lief. Kriegsrecht auf Korhal, nachdem Senator Angus Mengsk der Konföderation den Krieg erklärte! Tarsonis verspricht strenge Vergeltungsmaßnahmen! Die Viewer-Projektion zeigte Angus, der von einem Podium he-
runter, das, wie Arcturus erkannte, auf dem Kriegsfeld errichtet worden war, zu einer vieltausendköpfigen Menge sprach. Ein Meer bewundernder Gesichter blickte zu seinem Vater auf, während dieser sich über sein liebstes Thema ausließ, die zügellose Korruption der Konföderation. UNN blendete seine Worte zwar aus, aber Angus' Faust stieß beim Sprechen in die Luft wie gegen einen unsichtbaren Widerstand, und die Menge beantwortete seinen Ruf zu den Waffen mit ohrenbetäubendem Jubel. Arcturus sah seine Mutter und Dorothy stolz hinter seinem Vater stehen, während der Moderator angewidert von planetenweiten Aufständen sprach sowie von der Besetzung des UNN-Turms und Angriffen auf Außenposten der Konföderation, wo es zu Tausenden von Toten gekommen sei. Das Bild wanderte jetzt hin und her zwischen in Flammen stehenden Kasernen der Konföderation, riesigen, grelle Banner schwenkenden Menschenmengen auf den Straßen und Angus, der seiner Schar von Gefolgsleuten predigte wie ein feuriger Demagoge eines Kultes wider Hölle und Verdammnis. War das der Grund, weshalb Ailin Pasteur wollte, dass er nach Umoja kam? Wusste Pasteur etwas, worüber UNN nicht berichtete? „Strenge Vergeltungsmaßnahmen", sagte er. Was hieß das? Arcturus wandte sich vom Cine-Viewer ab und stürmte den Flur hinunter zu seinem Zimmer. Dort stieß er die Tür auf und begann, eine Tasche zu packen, in die er die wenige noch saubere Kleidung, die er hatte, hineinstopfte. Sekunden später trat Dia de Santo in den Raum. Ihr Gesicht verriet ihre Besorgnis. „Was tust du da, Arcturus?" „Ich gehe", sagte er. „Sieht man das nicht?" „Das ist doch ein Witz, oder? Du kannst jetzt nicht gehen!" „Das wirst du gleich sehen." „Wir sind drauf und dran, den größten Mineralfund diesseits von Long Sleep zu machen, und du willst gehen? Verdammt, Arcturus, wir brauchen dich hier. Ich brauche dich hier." „Keine Sorge, Dia", erwiderte Arcturus und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ich bin bald wieder da. Ich fliege mit der Kitty Jay nach Umoja, aber ich komme wieder, versprochen." „Nach Umoja? Warum zum Teufel musst du dahin?" „Ich muss Ailin Pasteur sprechen", antwortete Arcturus. „Und dann muss ich mich vergewissern, dass meine Familie in Sicherheit ist."
Durch einen Nebel aus Dampf und qualmendem Öl betrat Arcturus die Oberfläche Umojas. Oder zumindest betrat er die hitzebeständige Keramikplattform, die soeben ein paar hundert Meter tief in der Oberfläche Umojas versunken war. Ein feuchter Film wie von Schwüle klebte an seiner Haut, und die Hitze, die von den Antriebsaggregaten der Kitty Jay ausstrahlte, erwärmte die Luft. Von einer Welt zur anderen zu reisen bereitete Arcturus Unbehagen. Die unbekannten Dimensionen des Weltraums und all das, was in seiner gewaltigen Leere lauern mochte, beschworen in seiner Vorstellung Bilder von unbekannten Aliens und piratischen Korsaren herauf. Als Herr über seine eigene Bestimmung beunruhigte es ihn zutiefst, wenn er sein Schicksal in die Hände eines anderen legen musste, auch wenn es so qualifizierte waren wie die von Morley Sanjaya, des Piloten, der bei ihm anheuerte, als er die Kitty Jay gekauft hatte. Zwar konnte er selbst kein Raumschiff fliegen, aber Arcturus war ziemlich sicher, dass er es rasch lernen würde, wenn er es nur versuchte. Und er würde den Flug hierher in deutlich unter den zwei Wochen schaffen, die er jetzt gedauert hatte... Ailin Pasteurs Privatlandeplattform war leer. Die unterirdischen Wände bestanden aus einer Mischung von Fels und Metall, übersät mit den schwarzen Schmauchspuren der vielen Orbitalschiffe, die hier ankamen und abflogen. Über einer Schutztür rotierte ein bernsteinfarbenes Licht, und aus dem Lautsprecher, der in die Wand eingelassen war, drang statisches Summen. Das Licht erlosch, und die Schutztür fuhr rumpelnd nach oben. Ein Trupp von Männern in Kampfanzügen aus hellblauem Panzermaterial und mit Gaußgewehren in den Händen marschierte auf die Plattform heraus, gefolgt von einem Mann, der einen dunklen Anzug und einen Schlechtwetterumhang trug. Ailin Pasteur. Arcturus hatte Pasteur zum letzten Mal im Rahmen der Abschlusssitzung des Senats von Korhal gesehen, wo der Mann ihn dafür schalt, wie er seine Mutter behandelt hatte. Im Nachhinein sah Arcturus nun ein, dass er an jenem Tag etwas grob gewesen sein mochte, und das trug Pasteur ein paar Pluspunkte ein. Pasteur blieb am Fuß der Treppe stehen, die zur Landeplattform
hinaufführte. „Hallo, Ailin", sagte Arcturus und schulterte seine Reisetasche. „Ich würde ja guten Morgen oder guten Abend wünschen, aber ich weiß nicht, ob es Morgen oder Abend ist." „Es ist Abend, Arcturus", erwiderte Pasteur. „Willkommen auf Umoja." Obgleich er die Worte mit formeller Höflichkeit sprach, spürte Arcturus den Groll dahinter. War das eine Show für die Soldaten, die hinter Pasteur standen? „Danke", entgegnete Arcturus, stieg von der Plattform und wies mit einer Hand in Richtung der offenen Schutztür. „Sollen wir?" Pasteur nickte und machte auf dem Absatz kehrt, während er den Soldaten mit einem Fingerschnippen bedeutete, ihm im dicht geschlossenen Glied zu folgen. Pasteur führte Arcturus durch eine Reihe von Felskorridoren, die aussahen, als seien sie mithilfe von Fusionsschneidern angelegt worden. Arcturus nahm die Qualität und den Typ des Gesteins zur Kenntnis und lächelte, als er sich dabei ertappte, wie er die Dichte des Felsens kalkulierte sowie die Menge, die sich davon pro Stunde würde abbauen lassen. Pasteur, der neben ihm ging, bemerkte das Lächeln und fragte: „Gibt es irgendetwas Komisches?" „Eigentlich nicht", sagte Arcturus. „Ich trag nur immer noch meinen Prospektorenschädel. Hören Sie, warum verraten Sie mir nicht, worum es hier geht, Ailin? Mein Unternehmen ist gerade auf ein riesiges Mineralvorkommen gestoßen, und wir müssen mit dem Abbau beginnen, bevor das Erkundungskorps der Konföderation davon Wind bekommt. Also schießen Sie schon los, was gibt es?" „Das solltest du dir selbst ansehen", meinte Pasteur. Arcturus seufzte. „Wenn es etwas mit meiner Familie zu tun hat, dann will ich es jetzt wissen." „Oh, es hat durchaus etwas mit deiner Familie zu tun", versetzte Pasteur, „aber ich habe versprochen, nichts zu sagen. Und ich stehe zu meinem Wort." Diese letzte Bemerkung schien besonders spitz zu sein, und Arcturus fragte sich, was er getan hatte, um solche Feindseligkeit zu verdienen. Aber Pasteur ging nicht weiter darauf ein, und Arcturus drang nicht in ihn, während sie tiefer in den Komplex gingen. Sie erreichten einen Aufzug, in dessen glänzender silber-
stählerner Kabine sie zur Oberfläche hinauffuhren. Vor dem Lift erstreckte sich der breite Korridor eines Wohnsitzes von beträchtlicher Größe, ganz ähnlich der Mengskschen Sommervilla. Die Wände bestanden aus weißem Marmor, der Boden aus einer Mischung aus poliertem Hartholz und teuer aussehenden Läufern. Eine eiserne Wendeltreppe führte wieder hinab in den Fels und breite, mit Teppich belegte Stufen nach oben zu einer weiteren Etage empor. Über dem Flur wölbte sich eine strahlende, mit Buntglas durchsetzte Kuppel, und darunter schwebte ein Kerzenleuchter, der flackerndes Licht verbreitete. „Sehr hübsch", sagte Arcturus, während Ailin Pasteur ihn auf eine Tür aus massivem Holz zuführte. Pasteur öffnete die Tür und gab Arcturus das Zeichen einzutreten. Arcturus ging an Pasteur vorbei und betrat einen lang gestreckten Raum mit teuren Möbeln und einem knisternden Feuer, das in einem großen Kamin brannte. In der Luft lag der Duft von heißem Kaffee und süßem Obst, und Arcturus sah Juliana in einem Sessel neben dem Kamin sitzen. Sie schaute auf, als er hereinkam, und ihre Miene wandelte sich bei seinem Anblick überraschenderweise zum Ausdruck ehrlicher Freude. Juliana war erwachsen geworden über all die Jahre. Züge, die mädchenhaft und kokett gewesen waren, als Arcturus sie zuletzt gesehen hatte, waren nun fraulich und stark. Ihre gute Figur hatte Juliana nicht verloren, und als sie aufstand und ihr Kleid glatt strich, fühlte Arcturus sich einmal mehr an die Haltung und Anmut seiner Mutter erinnert. Arcturus trat tiefer ins Zimmer und blieb abrupt stehen, als er sah, dass vor dem Kamin ein kleiner Junge auf dem Boden saß. Er war in eine dunkle Hose und ein dazu passendes Hemd gekleidet, und sein schulterlanges goldfarbenes Haar war zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden. Arcturus war in derlei Dingen kein Experte, aber er schätzte das Alter des Jungen auf etwa sechs oder sieben Jahre. Der Knabe saß inmitten eines Haufens aus bunten Plastikbausteinen, aus denen er allem Anschein nach gerade eine Ruinenstadt baute. Zwischen diesen Ruinen standen kleine Spielzeugsoldaten, und Arcturus schaute zu, wie das Kind sich bewegte und dazu mit dem Mund Geräusche machte.
„Wir haben Besuch", sagte Juliana, und der Junge sah auf. Arcturus empfing ein bezauberndes Lächeln von dem Kleinen und hatte das Gefühl, in den Bauch getreten worden zu sein. Das Kind sah hinreißend gut aus, war mit hohen Wangenknochen gesegnet, mit großen grauen Augen und samten Haut. Die Nase wies die Andeutung einer ganz schwache n Krümmung auf. „Was ist hier los?", zischte Arcturus, während Ailin Pastem hinter ihm die Tür schloss. „Valerian", sagte Juliana. „Sag hallo zu deinem Vater." BUCH DREI VALERIAN KAPITEL 13 Valerians Blick flackerte, und Ailin Pasteur lächelte, als er sah, wie der Junge gegen die Müdigkeit ankämpfte, die ihn zu überkommen drohte. Es war ein langer Tag gewesen und die Emotionen hatten hohe Wellen geschlagen, während sie auf das Eintreffen von Arcturus' Schiff warteten. Sein Enkel war aufgeregter als sie alle zusammen gewesen, was keine Überraschung war nach all den reich ausgeschmückten Geschichten, mit denen Juliana ihm in den vergangenen sieben Jahren den Kopf gefüllt hatte. Ailin saß auf Valerians Bettkante und lächelte, während sein Enkel wütend gegen den Schlaf anblinzelte. „Aber ich bin gar nicht müde, Opa", behauptete Valerian. „Warum kann ich nicht mit meinem Daddy sprechen? Ich hab doch den ganzen Tag auf ihn gewartet." „Dann schadet es doch auch nichts, wenn du vorher noch einmal schlafen musst, oder? Er wird auch morgen früh noch hier sein." Ailin hoffte inständig, dass das stimmte, denn wenn er aus seinen Unterhaltungen mit Angus und Katherine in Bezug auf Arcturus eines gelernt hatte, dann war es die Erkenntnis, dass ihr Sohn zur Unberechenbarkeit neigte, wenn es darum ging, länger an einem Ort zu bleiben. „Er ist genau, wie ich ihn mir vorgestellt habe", sagte Valerian, und Ailin zwang sich, nicht besorgt dreinzublicken. Juliana hatte die Erwartungen des Jungen hinsichtlich seines Vaters seit dem
Tag seiner Geburt hoch geschraubt, trotz Ailins Warnungen, dies nicht zu tun. Es war für Ailin ein steter Quell der Verstörung, wie Juliana den Kerl immer noch dergestalt verehren konnte, nachdem er sie so furchtbar behandelt hatte auch wenn das zum Teil daher rührte, dass er von Valerians Existenz gar nicht gewusst hatte. Er erinnerte sich immer noch an den Tag, da Juliana ihm gebeichtet hatte, dass sie schwanger war. Stolz und Freude hatten sich mit Wut und Angst vermischt, als ihm klar geworden war, dass Juliana Arcturus nicht sagen würde, dass er Vater wurde. Bis heute konnte er ihre Gründe dafür nicht verstehen, wo sie ihn doch jahrelang aus der Ferne bewundert hatte. Sie hatten sich heftig gestritten über ihre Weigerung. Arcturus über ihre Schwangerschaft zu unterrichten, und diese Streitigkeiten waren erst zu einem Ende gekommen, als Juliana gedroht hatte, zu gehen und ihm nie zu erlauben, ihr Kind zu sehen, sollte er den Mengsks gegenüber auch nur eine Andeutung machen. Was sollte ein Vater angesichts eines solchen Ultimatums also anderes tun, als nachzugeben? In Julianas Weltbild gab es Dinge, die Arcturus auf seiner Suche nach Größe vollbringen musste, und davon durfte sie ihn nicht ablenken, ehe die rechte Zeit gekommen war. Nun, da Arcturus seine Militärzeit hinter sich hatte, war dieser Moment offenbar gekommen. Obgleich es ärgerlich gewesen war, mit ansehen zu müssen, wie seine Tochter zugunsten der bevorstehenden Mutterschaft auf ihre sich anbahnende Anwaltskarriere verzichtet hatte, war Juliana doch glücklich, und er konnte die Freude, die ihm das Miterleben dieses Glückes bereitete, nicht leugnen. Als Valerian zur Welt gekommen war, schien ihre Freude vollkommen gewesen zu sein. Ailin liebte den Jungen innig aber es war auch leicht, Valerian zu lieben, so gesegnet wie er war mit der Anmut seiner Mutter und den markanten Zügen seines Vaters. Als Valerian größer geworden war, hatte er eine rasche Auffassungsgabe und teuflischen Schalk bewiesen, den Ailin von seinen Reisen nach Korhal und seinen früheren Begegnungen mit der Familie Mengsk nur zu gut kannte. Nur ein- oder zweimal hatte Ailin gespürt, dass seine Tochter es bedauerte, ihre Karriere aufgegeben zu haben. Aber sie brauchte nur in Valerians hübsches Gesicht zu blicken, und alle Reue wurde
von einer Woge der Zärtlichkeit hinweggespült. Nach der plötzlichen und schockierenden Bekanntschaft mit seinem Sohn war Arcturus recht blass geworden, und endlich einmal war ihm keine scharfzüngige Bemerkung eingefallen. Ailin, ein Meister im Lesen der Gefühle anderer, hatte erkannt, wie in Arcturus der Zorn wuchs, und Valerian in Sicherheit gebracht vor dem hässlichen Drama, das sich drunten zweifellos entspann. Valerian hatte protestiert, aber Ailin hatte gelernt, im Leben des Jungen die starke Hand zu sein, die seine Mutter ganz gewiss nicht war. „Wird Daddy jetzt bei uns wohnen?", fragte Valerian in Ailins Gedanken hinein. „Ich weiß es nicht, Val", erwidere Ailin, nicht bereit, seine Antwort schön zu reden. Das tat Valerians Mutter schon zur Genüge. „Er ist ja gerade erst angekommen, und ich weiß nicht, was er tun wird." „Mum möchte, dass er bleibt." „Ich nehme an, du hast recht, aber mach dir darüber keine Sorgen. Schlaf ein bisschen, hm?" „Wo war mein Daddy denn?", wollte Valerian mit der unstillbaren Neugier eines Kindes wissen. „Er war in der Armee, Valerian." „Hat er gegen böse Leute gekämpft? Oder gegen Aliens?" Aliens. Valerian kam immer wieder auf Aliens zurück. Seit Ailin ihm unter Protest eine Gutenachtgeschichte über eine Invasion von Wesen aus einer anderen Welt vorgelesen hatte, war der Junge fasziniert von der Vorstellung, dass es einmal andere Lebensformen gegeben haben könnte (oder sogar noch gab), irgendwo in der Galaxie. Ailin und Juliana waren mit Valerian, als er noch ein kleiner Junge war, zu den weit abgelegenen Canyons und Flussbetten von Umoja gefahren, um nach Relikten dieser untergegangenen Zivilisationen zu suchen im Schutz einer bewaffneten Eskorte natürlich. Dass ihm der große Erfolg verwehrt blieb, hatte Valerian nicht verzagen lassen; er hatte trotzdem eine ganze Menge „alter" Artefakte ausgegraben seltsam geformte Steine, versteinertes Holz und die Schalen und Gehäuse toter Lebewesen, von denen er stolz behauptete, es handele sich um die Überreste von Aliens. „Nein, Valerian, ich glaube nicht, dass dein Vater gegen Aliens
gekämpft hat." „Gegen wen hat er denn dann gekämpft?" „Das ist schwer zu beantworten", sagte Ailin und suchte nach einem Weg, Valerian zu erklären, ohne ihn zu erschrecken, wo sein Vater gewesen war und was er getan hatte. Sosehr Ailin die Institution des Konföderierten Marine Corps auch verhasst war, wollte er Valerian doch nicht der idealisierten Vorstellung berauben, die er von seinem Vater hatte, bevor er den Mann richtig kennengelernt und sich seine eigene Meinung gebildet hatte. Arcturus würde die heroischen Bilder noch früh genug aus dem Kopf des Jungen vertreiben, dessen war Ailin sich sicher. „Ich wette, mein Daddy ist ein Kriegsheld", meinte Valerian. „Ich wette, er hat Hunderte von Männern getötet." „Das hat er bestimmt", sagte Ailin. „Aber jetzt ist er kein Soldat mehr, oder?" „Nein, jetzt nicht mehr." „Was macht er dann jetzt?", fragte Valerian. „Mum sagt immer nur, dass er großartige Arbeit leistet, aber ich weiß eigentlich gar nicht, was das heißt." „Ich habe gehört, er arbeitet seit seinem Ausscheiden aus der Armee als Prospektor auf den Randwelten", erzählte Ailin. „Und er soll ein ziemlich guter sein." „Ist er reich?" „Das weiß ich nicht, aber so, wie es sich anhört, könnte er es bald sein." „Gut", befand Valerian. „Ich will auch reich sein." Ailin lächelte. „Du weißt aber schon, dass wir auch nicht gerade arm sind, oder?" „Ich weiß, aber wenn ich groß bin, will ich Aliens suchen, und dazu werde ich viel Geld brauchen, oder?" „Das nehme ich an", erwiderte Ailin lachend. „Du wirst eine Flotte von Raumschiffen brauchen, die besten Archäologen, die man für Geld bekommen kann, und alle möglichen Werkzeuge." „Och, Archäologen werd ich nicht brauchen. Ich will selber graben." „Wirklich?" „Natürlich", sagte Valerian. „Wenn jemand Aliens findet, dann will ich das selber sein. Sonst macht das doch keinen Spaß." „Da hast du wohl recht, das hatte ich nicht bedacht", räumte Ailin ein. Stolz und Liebe füllten sein Herz angesichts Valerians be-
geisterter Miene. „So, und jetzt schlaf, Val. Du hast morgen einen großen Tag." „Ja...", seufzte Valerian, zog die Bettdecke bis unters Kinn hoch, und mit einem zufriedenen Lächeln fielen ihm die Augen zu. „Morgen werde ich meinen Daddy kennenlernen." Ailin Pasteur erhob sich und schaltete die Lampe neben Valerians Bett aus. Dann ging er zur Tür und schlüpfte aus dem Zimmer seines Enkels. „Ja", sagte er. „Du wirst deinen Vater kennenlernen. Ich hoffe nur, dass er deinen Erwartungen entspricht." Arcturus konnte es immer noch nicht ganz fassen. Er war Vater...? Er war Vater? Aber wie...? Das war die Frage, die ihn am meisten beschäftigte, unmittelbar gefolgt von einem geistigen Tritt in den Allerwertesten. Wie glaubst du denn, dass es passiert ist, du Idiot? Er wollte etwas sagen, aber die Worte wollten nicht kommen. Er wollte es abstreiten, aber die Züge des Jungen waren unverkennbar. Jede Linie seines Gesichts war die eines Mengsks, und der analytische Teil von Arcturus' Gehirn hatte erkannt, dass der Knabe in der Tat ein gut aussehendes Bürschchen war, geradezu verschwenderisch gesegnet mit den besten Genen, die seine Eltern zu bieten hatten. Erst als Ailin mit dem Jungen verschwunden war, hatte Juliana etwas gesagt. Arcturus hörte es nicht. Sein Kopf war erfüllt vom Rauschen tausender Fragen und seines Blutes, das ihm durch den Körper raste. Das Knistern des Feuers kam ihm vor wie das Brüllen eines gewaltigen Infernos, und er spürte, wie die Luft aus seinen Lungen ihm durch Hals und Mund rieb. Juliana erhob sich mit schmerzhafter Miene aus ihrem Sessel und ging mit ausgestreckten Armen durch den Raum auf ihn zu. Ohne nachzudenken nahm er sie in die Arme und hielt sie fest, während ihr Kopf an seiner Schulter ruhte und sie Dinge flüsterte, die er nicht verstand. So stand er ein paar Augenblicke lang da, bis die Realität der Situation ihn überschwemmte wie ein Tsunami aus Wut und einem Gefühl von Verrat. Arcturus packte Juliana an den Armen und drückte sie von sich, als sei sie von einer scheuß-
lichen Krankheit befallen. „Ich habe einen Sohn?", fragte er und trat einen Schritt zurück. „Ja", antwortete Juliana breit lächelnd. „Du hast einen wunderbaren Sohn. Sein Name ist Valerian." „Ein guter Name", fand Arcturus. „Stark." Juliana nickte. „Ich wusste, dass dich das freuen würde. Er passt auch zu ihm." Arcturus freute sich über den Namen, aber es gab drängendere Dinge zu bereden. „Warum zum Teufel hast du es mir nicht gesagt?", wollte er wissen. „Du hast das all die Jahre vor mir geheim gehalten? Warum hast du das getan, Juliana? Warum?" Sie wich vor seinem Zorn zurück, und er sah die Furcht in ihren Augen. Normalerweise hätte ihn eine solche Reaktion abgestoßen, aber jetzt genoss er sie, er wollte sie verletzen, ihr die Kränkung heimzahlen, ein solches Geheimnis vor ihm zu haben. Ein solches Geheimnis... „Verdammt, antworte mir!", fuhr Arcturus auf, als sie sich abwandte und näher an den Kamin trat. Sie hielt sich am Kaminsims fest und hustete in ein Taschentuch, bevor sie sich wieder zu ihm umdrehte. „Ich dachte, du würdest dich freuen", sagte sie. „Mich freuen? Darüber, dass du mich belogen und die Tatsache für dich behalten hast, dass ich... dass wir zusammen ein Kind haben? Was zum Teufel hast du denn erwartet? Dass ich mich darüber freuen würde? Dass ich mich glücklich fühlen würde zu erfahren, dass ich Vater bin genau in dem Moment, da mein Leben endlich in die Richtung geht, von der ich immer geträumt habe?" „Darum konnte ich es dir bis jetzt nicht sagen!", schrie Juliana. „All die großen Pläne und Träume, von denen du mir erzähltest ich wusste, dass ich mich dem nicht in den Weg stellen durfte, bis du bereit warst, es in die Tat umzusetzen. Ich weiß, dass du nur ins Marine Corps eingetreten bist, um deinen Vater zu ärgern, und ich konnte dir nichts von Valerian sagen, während du im Gildenkrieg kämpftest." „Warum nicht?", fragte Arcturus. Sein Blick fiel auf ein Getränketablett, das auf einer Kommode stand, und er schenkte sich ein Glas fast bis zum Rand voll mit etwas Bernsteinfarbenem und stechend Riechendem.
„Zu wissen, dass du einen Sohn hast, hätte dein Leben nur schwerer gemacht." Arcturus trank einen großen Schluck. „Wovon redest du?" „Ich wollte nicht, dass du an etwas anderes denken musst als nur daran, am Leben zu bleiben, Arcturus. Ich wollte nichts tun, das dich ablenken und umbringen könnte. Aber jetzt bist du nicht mehr beim Militär, und ich bat Vater, ein Auge darauf zu halten, was du tust." Arcturus füllte sein Glas ein weiteres Mal; es handelte es sich um irgendeine Art von Brandy. Er hoffte, dass er alt und teuer war. „Wenn du ein Auge auf mich gehalten hast, dann weißt du ja, dass ich gerade auf das größte Mineralvorkommen gestoßen bin, von dem ich je gehört habe. Meine Crew arbeitet daran, während wir uns hier unterhalten, und ich sollte eigentlich dabei sein. Ich stehe unmittelbar davor, alles zu erreichen, was ich jemals wollte, und da präsentierst du mir eine solche Überraschung. Vielen, vielen Dank dafür, Juliana. Dein Timing ist ausgezeichnet!" In ihren Augen erwachte blitzend ein Feuer zum Leben. „Glaubst du, ich hatte keine Träume, Arcturus? Erinnerst du dich nicht, dass ich gerade in einer Anwaltskanzlei angefangen hatte? Ich war gut, und vor mir lag eine vielversprechende Karriere, bis ich schwanger wurde." „Keine sehr fortschrittliche Firma, wenn man dich deshalb gefeuert hat", meinte Arcturus. „Du hättest sie verklagen sollen." „Ich wurde nicht gefeuert, vielen Dank", versetzte Juliana, „Sie wollten, dass ich nach Valerians Geburt zurückkomme, aber ich wollte mich ganz unserem Kind widmen." „Sehr löblich", sagte Arcturus und schenkte sich zum dritten Mal ein. Er spürte bereits, wie die Stacheln seines Zorns unter der Stärke des Getränks stumpf zu werden begannen. „Valerian ist dir sehr ähnlich, Arcturus. Er ist klug, charmant, und was immer er tut, er tut es mit äußerster Entschlossenheit. Du wirst ihn mögen, ich weiß, dass du ihn mögen wirst." Arcturus drängte diesen Gedanken beiseite, erholte sich immer noch von der Eröffnung, dass er einen kleinen Sohn hatte und der Tatsache, dass er ihn überhaupt nicht kannte. Sieben Jahre des Lebens seines Sohnes waren vergangen, und bis jetzt hatten Valerian und er sich noch nie gesehen. „Weiß es mein Vater? Meine Mutter? Dorothy?"
Juliana schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte, dass du es zuerst erfährst. Es stand mir nicht zu, deiner Familie von Valerian zu erzählen." „Stimmt", sagte Arcturus und verfiel für einen Moment in Schweigen, bis ihm ein Gedanke kam. „Was ist?", fragte Juliana, die eine Erkenntnis in seinem Gesicht heraufdämmern sah. „Es war auf Tyrador IX, nicht wahr?", erwiderte er. „Kannst du dich noch an ein anderes Mal erinnern, dass wir miteinander schliefen?" „Natürlich nicht. Sei nicht so melodramatisch. Ich denke nur laut nach", entgegnete Arcturus. „Lass mir doch mal eben Zeit, meine Gedanken zu ordnen. Du kannst mir nicht so einen Brocken hinwerfen und erwarten, dass ich gleich wieder sachlich sein kann." Er wollte wieder nach der Flasche greifen, verzichtete dann jedoch darauf. Er stellte das Glas zurück und ging durch das Zimmer, wobei er sich mit einer Hand durch sein Haar strich. „Sachlich?", fragte Juliana. „Was hat das denn mit sachlich zu tun? Du hast einen Sohn, und du hast die Chance, ihn kennenzulernen. Mich wieder kennenzulernen. Wir können jetzt eine Familie sein." „Eine Familie?" Arcturus blieb vor ihr stehen. „Ich... ist es das, was du von mir willst? Dass ich alles hinter mir lasse, um herzukommen und mit dir und dem Jungen auf Umoja zu leben?" „Der ,Junge' heißt Valerian." „Ich weiß, wie er heißt, Juliana." „Warum hast du dann Angst, seinen Namen auszusprechen?", konterte sie. „Fürchtest du, dich ihm stellen zu müssen, wenn du seinen Namen sagst? Dass er dann wirklich wird?" „Nein, natürlich nicht, sei nicht albern." „Warum nennst du ihn dann nicht bei seinem Namen?" „Valerian", sagte Arcturus. „Valerian, Valerian, Valerian. So, bist du jetzt glücklich?" Juliana schlug ihn auf die Wange, und er musste gegen den Impuls ankämpfen, zurückzuschlagen. Er entsann sich einer gleichermaßen schmerzhaften Ohrfeige, die seine Mutter ihm gegeben hatte. Rückblickend musste er sich eingestehen, dass er die Ohrfeige damals verdient hatte, und er konnte nicht abstreiten, dass er auch diese jetzt nicht unverdient bekommen hatte.
„Es tut mir leid, Juliana", sagte er schließlich. „Aber ich kann nicht alles aufgeben, was ich gerade aufbaue, um hierher zu kommen und mit euch glückliche Familie zu spielen. Ich kann es einfach nicht." „Was willst du dann? Haust du einfach ab, wie du es immer machst? Weglaufen, anstatt dich den Dingen zu stellen?" „Ich laufe vor nichts weg", warnte Arcturus. „Natürlich tust du das", gab Juliana zurück. „Du bist ins Marine Corps eingetreten, um vor deinem Vater wegzulaufen, und du bist vor mir weggelaufen, kaum dass wir uns näherkamen. Und jetzt läufst du vor deinem Sohn weg. Vor deinem Erben." Julianas Worte trafen ihn wie Hammerschläge, weil er einsehen musste, dass sie die Wahrheit sagte. Anstatt sich den Ereignissen an den Kreuzungen seines Lebens zu stellen, hatte er sich von ihnen abgewandt und den Weg des geringsten Widerstands genommen. Würde auch dies wieder so eine Situation sein? Arcturus stand kurz davor, alles zu erreichen, was er je gewollt hatte, aber was taugte das alles, wenn es auf einem Fundament aus Sand errichtet wurde? Vielleicht war jetzt die Zeit gekommen, sein Leben zu ordnen und an sein Vermächtnis zu denken. Sein Vater war schließlich nur ein paar Jahre älter gewesen, als er ihn zum Sohn bekommen hatte. „Na gut, Juliana." Er räusperte sich. „Ich bleibe. Ich werde mit dem... mit Valerian sprechen. Ich werde ihn kennenlernen, und er wird mein Erbe sein, wie du sagst." Sie warf sich ihm an die Brust und schlang die Arme wieder um ihn. „Ich bin so glücklich. Ich wusste, du würdest Teil dieses Lebens sein wollen, sobald du Valerian siehst." Wieder löste Arcturus sich von Juliana, wenn auch mit weniger Gewalt als zuvor. „Lass uns nichts überstürzen", meinte er. „Ich sagte, ich möchte ihn kennenlernen, aber ich weiß immer noch nicht, ob ich wirklich schon bereit bin, auf alles zu verzichten, was ich mir aufgebaut habe." „Das verlange ich auch gar nicht", erwiderte Juliana, umfasste mit beiden Händen sein Kinn und drückte ihr Gesicht gegen das seine. „Siehst du es denn nicht? Du musst nichts aufgeben. Wir können alle zusammen sein. Wir alle. Wir können alles haben, wovon wir je geträumt haben. All die großen Pläne, von denen du mir immer erzählt hast, sie gehen jetzt in Erfüllung, genau in die-
sem Augenblick. Du musst es nur sehen wollen." Arcturus lächelte. Vielleicht zeigten Julianas Worte Wirkung, vielleicht war es auch der Alkohol, der durch seine Blutbahn kreiste. Aber was es auch war, Arcturus war überrascht, dass die Vorstellung ihn nicht entsetzte. Vielleicht konnten sie ja wirklich eine ganz normale Familie sein. Arcturus erwachte mit einem schweren Kopf und der Frage, wo er war was ihm aber rasch wieder einfiel. Er fühlte sich erfrischt und wunderbar ausgeruht. Die Fertigbauunterkünfte eines Minenlagers und die Enge eines Raumschiffs waren ungestörtem Schlaf nicht gerade zuträglich, und er hatte ganz vergessen gehabt, wie schön es war, eine Nacht in einem weichen Bett zu verbringen. Er streckte sich, genoss die Wärme und ließ die Schmerzen der vergangenen sechs Monate aus seinen Knochen fließen. Er lächelte, doch dann wurde die herrliche Unbekümmertheit des Erwachens von der kalten, harten Erinnerung an die Ereignisse des gestrigen Abends abgelöst, und alles stürmte wieder auf ihn ein. Juliana. Valerian. Sein Sohn... Die sanfte Leichtigkeit des Morgens floh aus seinem Körper. Er stemmte sich hoch und sah sich in dem holzgetäfelten Zimmer um, das mit geschmackvollen Möbeln, schweren Vorhängen und diskret angebrachten technischen Annehmlichkeiten ausgestattet war. Die Funktionalität des Raumes war typisch umojanisch, und der schmale Ausschnitt eines staubig orangefarbenen Himmels, den er durch das Fenster sehen konnte, bestätigte dies. Arcturus schwang die Beine aus dem Bett. Der Wunsch, sich in der Wärme der dicken Bettdecke zu wälzen, war verflogen, kaum dass er sich des Grundes entsann, weshalb Ailin Pasteur ihn hierher bestellt hatte. Jetzt verstand er wenigstens, warum der Mann bei seiner Begrüßung alles andere als freundlich gewesen war. Schnell und ohne viel Umstände säuberte Arcturus sich unter der Schalldusche, eine erlesene, elegant gestaltete Apparatur. Die Herstellerfirma gehörte keiner der Alten Familien; derlei Unabhängigkeit war wohl typisch für die meisten Häuser auf Umoja, wie Arcturus annahm. Die Dusche war, was ihn ein wenig über-
raschte, effizient und gründlich, vibrierte ihm Schweißpartikel und abgestorbene Hautzellen vom Leib, ohne ein paar darunter liegende Hautschichten gleich noch mit abzuschmirgeln. Er rasierte sich mit einem ebenso effizienten Schallrasierer und kämmte sich die Haare. Dann zog er einen dunkelgrauen Anzug und dazu kniehohe Stiefel an. Der Anzug war gereinigt und gebügelt worden, die Stiefel auf Hochglanz poliert. Ailin Pasteurs Dienstpersonal arbeitete gründlich, so viel stand fest. „Zeit, die Suppe auszulöffeln", sagte er, verließ das Zimmer und ging einen marmorverkleideten Korridor entlang, der in die Eingangshalle mündete, wo Arcturus am Abend zuvor das Haus betreten hatte. Die Tür des Salons war offen, und von drinnen hörte Arcturus Stimmen. Eine davon erkannte er als die von Ailin Pasteur. Er trat ein. Der umojanische Botschafter hatte in dem Sessel Platz genommen, in dem am Vorabend seine Tochter gesessen hatte. Er sprach mit einem seiner Funktionäre, der sich mit einem Griffel auf einer Handkonsole Notizen machte. Pasteur, sein Gesicht eine undurchschaubare Maske, blickte auf, als Arcturus hereinkam. „Guten Morgen, Ailin", grüßte Arcturus. „In der Tat", erwiderte Pasteur. „Haben Sie gut geschlafen?" „Das können Sie sich gar nicht vorstellen", antwortete Arcturus. „Nachdem ich fast ein Jahr lang auf Felsboden und in Feldbetten geschlafen habe, könnte ich zwar überall schlafen, aber ja, es war sehr bequem, danke." „Hunger?" „Und wie", sagte Arcturus. Pasteur nickte seinem Diener zu, und der Mann verbeugte sich, bevor er sich aus dem Zimmer zurückzog und die Tür hinter sich schloss. „Wo ist Juliana?", fragte Arcturus. „Draußen, mit Valerian. Sie graben wieder den Garten um." „Haben Sie keine Gärtner?" Ailin lächelte, wenn auch ohne Wärme. „Doch, doch, aber das meinte ich nicht. Valerian ist ein angehender Archäologe. Er gräbt fast so gerne im Erdboden wie ein anderer junger Mann, an den ich mich erinnere." „Vielleicht gerät er nach mir", sagte Arcturus. „Ich glaube, das tut er."
„Sie klingen enttäuscht." „Nein, ich bedaure es nur, dass du so viel von Valerians Leben versäumt hast. Die Jahre, als Juliana heranwuchs, zählen zu den glücklichsten, die ich je hatte, aber dir wird diese simple Freude immer fremd sein." „Das ist ja wohl kaum meine Schuld, Ailin", erinnerte ihn Arcturus. „Ich wusste doch nicht einmal, dass es ihn gibt." „Hätte es denn einen Unterschied gemacht, wenn es anders gewesen wäre?" „Ehrlich? Ich weiß es nicht. Ich bin meinen eigenen Fehlern gegenüber nicht blind, aber ich sagte, dass ich für eine Weile bleiben werde, um den Jungen kennenzulernen. Und ich werde dafür sorgen, dass er nur das Beste bekommt." „Wir können für ihn sorgen", erklärte Pasteur. „Ich bin ein reicher Mann, Arcturus." „Das weiß ich, aber Valerian ist mein Sohn, und ich werde für ihn sorgen. Ich will keinem Menschen verpflichtet sein, Ailin, und ich werde keine Almosen annehmen. Selbst wenn dieser Claim, den ich gefunden habe, nur einen Bruchteil dessen wert ist, was ich glaube, werde ich mir um Geld nie wieder Gedanken machen müssen. Und deshalb gilt das auch für Valerian." „Na schön", meinte Ailin. „Das freut mich zu hören." Arcturus vernahm die schwelende Ablehnung in Pasteurs Tonfall und sagte: „Sie können mich nicht dafür verantwortlich machen, nicht hier gewesen zu sein. Juliana hat mir nie von Valerian erzählt." „Ich weiß, aber ob sie dir nun etwas gesagt hat oder nicht, Tatsache bleibt, dass du nicht hier warst. Du hast nicht gesehen, wie sie Valerian allein großzog, du hast nicht gehört, wie sie nachts weinte, und du hast alles verpasst, wovon ein Vater Teil sein sollte. Es fällt mir schwer, dich anzusehen und dich nicht zu bemitleiden, weil du all das nicht erlebt hast." „Bemitleiden Sie mich nicht, Ailin", erwiderte Arcturus. „Ich brauche Ihr Bedauern nicht." „Na gut, kein Mitleid, aber Bedauern. Juliana hätte dich bei all dem an ihrer Seite haben sollen, aber das hat sie nicht. Und das lag nicht daran, dass sie dir nie von Valerian erzählte, sondern daran, dass du sie ausgeschlossen hast, um deinen eigenen Träumen nachzugehen. Wir werden es nie erfahren, aber ich glaube, wenn Juliana es dir früher gesagt hätte, wärst du trotz-
dem deiner Wege gegangen und hättest sie mit dem Baby allein gelassen. Oder irre ich mich da?" „Wahrscheinlich nicht", gestand Arcturus. „Aber jetzt bin ich hier, oder nicht?" „Ja, und das ist der einzige Grund, aus dem ich dir gegenüber wenigstens etwas Höflichkeit walten lasse. Ich kenne dich, Arcturus Mengsk. Du bist ein egoistischer Mensch, der sich, wie ich glaube, nur für sich selbst interessiert. Ich glaube, du könntest ein sehr gefährlicher Mann sein, aber du bist der Vater meines Enkels, und ich bin willens, dir noch eine Chance einzuräumen, mich nicht zu enttäuschen." „Zu freundlich." „Ich meine es ernst", versetzte Pasteur, und die Vehemenz seines Tones ließ Arcturus zurückfahren. „Du trägst jetzt Verantwortung, und wenn du dich ihr nicht gewachsen zeigst, werde ich dafür sorgen, dass du Valerian nie wieder siehst." „Das klingt wie eine Drohung." „Das ist eine Drohung." „Nun, dann verstehen wir uns ja wenigstens." Zu einer Fortsetzung der Diskussion kam es nicht, weil Pasteurs Diener wieder eintrat, ein silbernes Tablett in Händen, das mit einer dampfenden Kanne süßen Tees und einem Teller mit Gebäck, Käse und kaltem Braten beladen war. Der Mann hielt das Tablett neben Arcturus' Sessel, und dünne Metallbeine fuhren aus der Unterseite des Tabletts aus. Pasteur dankte dem Mann, der daraufhin den Raum verließ. „Wir leben in gefährlichen Zeiten, Arcturus", sagte Pasteur, als die Tür wieder geschlossen war. „Die Fronten verschieben sich alte Kriege neigen sich ihrem Ende zu und neue nehmen ihren Anfang." „Sie sprechen vom Gildenkrieg?" „Der Gildenkrieg ist vorbei", erwiderte Pasteur. „Das weiß die Konföderation, und das wissen die Kel-Morians, sie haben es nur noch nicht akzeptiert. Die Konföderation ist zu mächtig, und wenn die letzten Schüsse auch noch nicht gefallen sind, versichere ich dir doch, dass sie bald fallen werden. Und dann wird die Konföderation ihr nächstes Ziel aufs Korn nehmen." „Und was glauben Sie, welches Ziel das sein wird? Umoja?" „Vielleicht", meinte Pasteur, „aber es werden bereits Schritte unternommen, um Umoja zu schützen."
„Was für Schritte?" „Schritte, über die ich jetzt noch nicht sprechen möchte", antwortete Pasteur. Arcturus fragte sich, wovon Pasteur reden mochte, aber er drang nicht weiter in ihn. Wenn Pasteur ihm seine Geheimnisse anvertrauen wollte, würde er es zu gegebener Zeit tun. „Hast du in letzter Zeit mit deiner Familie gesprochen?", fragte Pasteur. Der plötzliche Themawechsel überraschte Arcturus. „Nein, schon seit einer ganzen Weile nicht mehr, aber das ist einer der Gründe, weshalb ich kam. Ich sah auf UNN den Bericht über die Verhängung des Kriegsrechts." „Ja, die Lage auf Korhal ist hoch explosiv." Arcturus schenkte sich etwas Tee ein und nahm sich ein mit Zimt bestäubtes Stück Gebäck. „Erzählen Sie mir, was passiert ist", sagte er. „Ich habe auf UNN Berichte über Bombenanschläge, Gräueltaten von Terroristen und Überfälle auf die Miliz der Konföderation gesehen, aber ich vermute, dass all diese Geschichten entweder stark übertrieben oder nur halb wahr sind. Und alles, was ich von meiner Mutter gehört habe, war so rätselhaft, dass es beinahe unverständlich ist." „Sie ist nur vorsichtig", erwiderte Pasteur und goss Tee in seine Tasse. „Geheimagenten der Konföderation überwachen alles, was von Korhal kommt, insbesondere Funksendungen von Mitgliedern deiner Familie. Der Skyspire und die Sommervilla werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit rund um die Uhr beobachtet." „Ich weiß, dass Sie und mein Vater hinter den meisten Attacken gegen die Konföderation auf Korhal stecken, aber bedeutet ihr denn wirklich eine Gefahr für sie?" „Und was für eine", antwortete Pasteur. „Korhal ist eine der wichtigsten Welten in der Konföderation, ein Modell dafür, was die ersten Kolonisten in diesem Sektor zu errichten hofften. Jahrzehntelang feierten die Alten Familien Korhal als das Juwel in ihrer Krone, eine beispielhafte Welt, die voller Stolz alles darstellte, was sie erreichen konnten. Sie glaubten, das Beispiel Korhals würde Moria und Umoja überzeugen, der Konföderation beizutreten, aber da irrten sie sich. Es führte uns nur das Joch der Tyrannei noch deutlicher vor Augen, und jetzt, da Korhal rebelliert, fürchten sie, wenn ihre Vorzeigekolonie sich gegen sie wendet,
könnten andere versucht sein, dasselbe zu tun." „Glauben Sie, dass meine Familie in Gefahr ist?" „Ich weiß, dass sie in Gefahr ist", sagte Pasteur. „Deine Familie ist seit der Abschlussrede deines Vaters im Palatine-Forum in Gefahr. Aber das wüsstest du selbst, wenn du lange genug geblieben wärst, um sie dir anzuhören." „Bitte, wir wollen doch nicht wieder auf diesem Thema herumreiten", bat Arcturus. „Das ist Schnee von gestern, und ehrlich gesagt langweilt es mich, wenn Sie mir das immer wieder unter die Nase reiben. Erzählen Sie mir von meiner Familie." Pasteur lehnte sich in seinem Sessel zurück und beruhigte sich sichtlich. „Du hast recht. Entschuldige, Arcturus, aber ich denke immer noch an die Tränen, die deine Mutter an jenem Tag vergoss. Es ist nicht leicht, dir zu verzeihen." „Sie hat mir verziehen." „Sie ist deine Mutter", sagte Pasteur. „Mütter verzeihen eben." Arcturus musterte Pasteurs Gesicht, während dieser sprach, und er sah die tiefen Falten um seine Augen und den Schimmer auf seiner Kopfhaut, wo sein Haar kaum mehr Substanz hatte als dünne Schwaden grauen Rauches. Die Jahre heimlicher Unterstützung der Rebellen seines Vaters auf Korhal hatten ihren Tribut gefordert. „Achton Feld ist ein guter Mann, aber ihm stehen nicht die Mittel der Konföderation zur Verfügung. Er hat Wunder gewirkt, den Schutz deiner Familie betreffend, und er hat es ebenso seinem Glück wie seinem Geschick zu verdanken, dass bis jetzt nichts passiert ist. Aber die Feinde deines Vaters brauchen nur einmal Glück zu haben, und schon ist es vorbei." Arcturus war schockiert. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass die Lage auf Korhal so brisant war. Die Berichte über seinen Vater hatten dessen Bedeutung größtenteils heruntergespielt oder ihn als rasenden Irren dargestellt, was ihm wie er jetzt erkannte eigentlich sofort hätte sagen müssen, wie ernst die Konföderation Angus tatsächlich nahm. „Glauben Sie, die Konföderation wird versuchen, ihn umzubringen?" „Es ist möglich", antwortete Pasteur. „Angus ist eine derart wichtige Galionsfigur, dass man so etwas Direktes durchaus versuchen könnte, aber ich denke, die Tatsache, dass er so präsent ist, wird ihn davor bewahren. Wenn es im Rat von Tarsonis je-
manden gibt, der auch nur einen Funken Verstand hat, wird man sich im Klaren darüber sein, dass es mehr schaden als nutzen würde, wenn man Angus ins Visier nähme." Arcturus schnaubte spöttisch. „Ja, und Verstand ist ja schließlich etwas, für das der Rat bekannt ist." „Darum glaube ich ja, dass es so gefährlich ist. Dein Vater und Achton Feld haben eine Volksarmee auf die Beine gestellt, deren Zahl in die Millionen geht, harte, disziplinierte und loyale Leute. Und die Bewegung, die dein Vater unter der Zivilbevölkerung und auch auf benachbarten Welten ausgelöst hat, die Unterstützung, die er erfährt, bedeuten, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Konföderation gezwungen sein wird, sich endgültig von Korhal zurückzuziehen." „Das klingt, als brauchten sie keine Hilfe." „Sei nicht so naiv", entgegnete Pasteur. „In genau dieser Situation ist der Rat von Tarsonis am gefährlichsten wenn man fürchten muss, Korhal zu verlieren und keinen anderen Ausweg zu haben als Gewalt." „Sprechen Sie von einer Invasion?", fragte Arcturus fassungslos, angesichts der Vorstellung, die Marines der Konföderation könnten seinen Geburtsplaneten stürmen. Pasteur hob die Schultern. „Vielleicht, aber eigentlich glaube ich es nicht. Felds Armee ist gut ausgebildet und mit den besten Waffen ausgerüstet, die wir zur Verfügung stellen konnten Gewehre, Sprengkörper, Panzer, Luftabwehrraketen... einfach alles. Eine Invasion würde der Konföderation herbe Verluste bereiten, und ich denke, dass sie ein solches Risiko nicht eingehen würde." „Und wenn Sie sich irren?" „Dann wird es zu einem Blutvergießen kommen, wie wir es noch nie erlebt haben", erklärte Pasteur. KAPITEL 14 Arcturus fand sie ganz hinten im Garten, am Ufer eines Flusses. Valerian arbeitete emsig an einer kleinen Bucht, die er offensichtlich mit einer winzigen Schaufel selbst gegraben hatte, während Juliana nicht weit entfernt im Gras saß. Arcturus ging zu ihnen, nahm dabei tiefe Atemzüge der leicht würzigen umojanischen Luft und genoss den Duft einer Atmosphäre, die nicht von den Abga-
sen des Antriebs der Kitty Jay, Ölgestank oder dem Geruch von versengtem Metall oder umgepflügten Erdreichs und Gesteins verpestet war. Ailin Pasteurs Haus auf Umoja war groß und wohlproportioniert, aus weißem Stahl und breiten Scheiben bronzefarben getönten Glases gefertigt und von einer angenehmen Symmetrie und elegantem Design, die mit der natürlichen Landschaft harmonierten, deren Gras und Bäume sich ständig auf den polierten Materialien widerspiegelten. Arcturus wusste, dass ein solches Heim selten und teuer sein musste auf einem Planeten wie Umoja, wo das Klima oft rau war und Grundstücke zu Höchstpreisen gehandelt wurden. Wasseratomisierer sorgten dafür, dass der Garten vor dem Haus grün und üppig blieb, und eine Armee von Robotgärtnern pflegte die zahlreichen Hecken und Lauben, die wie Tupfen über den sanft geschwungenen Hang verteilt waren. Der Pfad, dem Arcturus folgte, führte zu einem träge dahinfließenden Fluss am anderen Ende des Gartens, und diskret verborgen hinter einer Reihe von Hecken lag die Landeplattform, auf der Arcturus' Schiff am gestrigen Abend aufgesetzt hatte. Sie hatten ihn noch nicht bemerkt. Valerian war in seine Grabarbeiten vertieft, und Julianas Augenmerk galt ganz allein ihrem Sohn, ihrer beider Sohn, korrigierte sich Arcturus. Valerian bückte sich, nahm etwas Schlamm auf und hielt ihn seiner Mutter stolz zur Inspektion hin. Sie nickte, nahm ihn entgegen und packte ihn neben einem Bücherstapel auf ein Tablett, als Valerian endlich auf Arcturus aufmerksam wurde. „Dad!", rief er, ließ den Spaten fallen und kletterte aus der Bucht. Juliana drehte sich infolge des Ausrufs ihres Sohnes um und lächelte, als sie Arcturus sah. Valerian war über das Gras auf ihn zugestürmt, und Arcturus musste feststellen, dass er vor diesem Augenblick mehr Angst gehabt hatte als damals auf Onuru Sigma, als der Goliath ihn aufs Korn genommen hatte. Valerian stieß sich ab, flog wie eine Rakete heran, und Arcturus fing ihn mit beiden Armen auf, während der Junge ihm die seinen um den Hals schlang und wie verrückt lachte. Es überraschte Arcturus, wie leicht der Junge war Valerian wog fast nichts. „Dad! Du bist hier! Ich wollte gestern Abend mit dir reden, aber Großvater meinte, ich sei zu müde, aber das war ich gar nicht,
ehrlich nicht, ich schwör's." Arcturus wusste nicht, was er sagen sollte. Es hatte ihm nie ein Problem bereitet, sich mit Dorothy zu unterhalten, als sie noch jünger war, aber sie war seine kleine Schwester, und er kannte und liebte sie seit dem Tag ihrer Geburt. Valerian war sieben Jahre alt, und dies war ihre erste Begegnung. Was sagt man zu seinem Sohn, wenn er sieben ist und man ihn nie kennengelernt hat? „Ist schon gut, Valerian", sagte Arcturus schließlich. „Ich glaube, dein Großvater hatte recht. Und ich denke, ich war auch zu müde." Arcturus setzte Valerian ab und wurde von ihm zu der gegrabenen Bucht geführt, wo der Junge gearbeitet hatte. „Ich möchte dir meine Ausgrabung zeigen", erklärte Valerian. „Willst du sie sehen? Ich suche nach Aliens." „Im Garten?" „Naja, nicht nach eigentlichen Aliens, nur nach ihren Fossilien. Weißt du, was Fossilien sind?" „Aber ja", antwortete Arcturus. „Ich betreibe nämlich selbst auch Ausgrabung, weißt du?" „Weiß ich, hat mir meine Mom gesagt", erwiderte Valerian. „Sie sagt, du bist der beste Schürfer in der ganzen Galaxie." „Hat sie das?", entgegnete Arcturus, als sie an Juliana vorbeigingen. „Ja, sie hat gesagt, du warst ein großer Soldat, und dann wurdest du Prospektor. Und dass du reich wirst und dass du der beste Schürfer überhaupt bist und..." „Valerian", unterbrach ihn Juliana, „immer mit der Ruhe. Zeig deinem Vater, was du bis jetzt gefunden hast." „Klar, ja, mach ich", sagte Valerian und ließ sich neben dem Tablett mit seinen Funden auf die Knie fallen. Arcturus ging neben ihm in die Hocke, während Juliana sich eine Locke honigblonden Haars aus dem Gesicht strich. Im Sonnenlicht fiel Arcturus auf, wie blass ihre Haut war, bleich und ohne den leicht goldenen Schimmer, den die von Valerian aufwies. Sie bemerkte seinen Blick und wandte sich wie beschämt ab. „Ich glaube, ich lasse euch Jungs für eine Weile allein", meinte Juliana, erhob sich und zerzauste Valerians Haar. „In Ordnung?" „Ja", gab Valerian zurück, ohne von seinen Fundstücken aufzusehen.
Arcturus nickte Juliana zu und sah die verzweifelte Hoffnung in ihren Augen. „Wir kommen schon klar", sagte er. „Ich bin sicher, dass wir nicht gleich in Schwierigkeiten geraten werden. Was meinst du, Valerian?" „Kein Problem", pflichtete der Junge bei. Juliana ging zum Haus zurück, und Arcturus schaute ihr nach. Nun, da er den ersten Schrecken darüber, einen Sohn zu haben, verdaut hatte, entsann er sich seines einstigen Verlangens nach Juliana. Ailin Pasteurs Tochter war stets ein Elan eigen gewesen, der ganz natürlich und mühelos wirkte. Aber jetzt stellte Arcturus fest, dass diese Eleganz völlig verschwunden war. Nein, nicht verschwunden nur anders geworden... Hatte das Muttersein Juliana so verändert, oder sah er sie nur wie durch andere Linsen, die Zeit und Distanz ohne sein Wissen geschliffen hatten? Eher Letzteres, vermutete er, denn schön war Juliana nach wie vor. In gewisser Hinsicht war sie sogar noch schöner geworden. Gestern Abend hatte er sich gefragt, ob sie vielleicht doch eine Familie werden würden. Aber wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass das brennende Begehren, das er einmal verspürt hatte, heute kalt und erloschen war. Das taktlose Tageslicht erstickte sämtliche Wunschträume, die in diese Richtung gingen. Arcturus wollte einen Erben, das stimmte gewiss, aber ein Familienleben...? Er wandte sich wieder dem Jungen zu, als dieser etwas sagte. „Entschuldige bitte, ich war nicht bei der Sache." „Ich glaube, das ist ein Alien", wiederholte Valerian und hielt ein Stück einer Schale in die Höhe, die selbst Arcturus als schartiges Teil des Gehäuses einer auf Umoja vorkommenden Insektenart erkannte. „Ja, ich glaube, du hast recht. Wahrscheinlich ein geflügeltes Riesenmonster aus einer anderen Galaxie." „Meinst du wirklich?" „Oh, ohne jeden Zweifel", erwiderte Arcturus und hob ein Stück versteinerter Rinde auf. „Und das sieht aus wie die Schuppe irgendeiner fremdartigen Echse, findest du nicht?" Valerian nickte weise. „Ja, das hab ich mir auch schon gedacht. Eine große menschenfressende Echse, die einen ganzen Trupp Soldaten mit einem Biss verschlingen könnte. Hast du so was mal gesehen, als du Soldat warst?"
Arcturus schüttelte den Kopf. „Nein, und darüber bin ich auch heilfroh. Ich hätte nicht mit Haut und Haaren verschlungen werden wollen." „Naja, das verstehe ich", sagte Valerian. „Das wäre ja auch ganz schön dumm." Arcturus nahm seinen Sohn genauer in Augenschein, während dieser in seinen Funden wühlte und einen nach dem anderen aufnahm, um ihn zu beäugen. Zwar trug er die genetische Prägung eines Mengsk, dennoch sah Valerian weder Arcturus noch Angus wirklich ähnlich. Der Junge war dünn, viel dünner als selbst Dorothy es in seinem Alter gewesen war, und seine Arme waren mager und nicht von Muskeln definiert. In Valerians Alter war Arcturus bereits ein ordentlicher Sportler gewesen und hatte sich recht gut auf den Umgang mit dem Duellschwert verstanden. Natürlich hatte Arcturus in diesem Zeitalter der Gaußgewehre und Missiles für eine archaische Waffe wie ein Schwert kaum Verwendung, aber die harten Lektionen hatten seine Muskeln trainiert und ihn Balance und die Wertschätzung der Kampfkünste gelehrt. Angesichts Julianas Wesensart war es unwahrscheinlich, dass sie ihren Sohn zu derlei Studien ermuntert hatte, und das Schimmern von Schweiß auf Valerians Stirn zeugte von mangelnder Ausdauer. „Sind das deine Bücher?", wollte Arcturus wissen, als Valerian damit fertig war, ihm den Kram zu zeigen, den er aus dem Flussufer geholt hatte. „Ja, das waren Moms, aber sie gab sie mir, und ich kann sie behalten." „Darf ich?", fragte Arcturus und griff nach den Büchern. „Klar." Arcturus nahm den zuoberst liegenden Band, ein dünnes Bilderbuch über Archäologie inklusive grafischer Darstellungen von Tierskeletten und Bodenschichten. Er erinnerte sich, dieses Buch als Kind selbst gelesen und es Dorothy geschenkt zu haben. Als er das nächste Buch betrachtete, sagte Valerian: „Das ist mein liebstes. Mom hat es mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt." Das Buch war in Leder gebunden, die Titelseite mit Goldfäden gesäumt und der Titel in geschwungener Kursivschrift gedruckt. „Gedichte der Zwielichtsterne", las Arcturus, schlug das Buch auf und blätterte darin. Im Inneren fanden sich Farbdrucke, die
Fantasietiere darstellten, und eskapistische Reime, die von uralten Wesen erzählten, die in ferner Vergangenheit zwischen den Sternen umhergewandert waren. Er las eines der Gedichte, eine alberne Banalität aus mehreren kruden Versen, die sich kindischer, übertriebener Gleichnisse bedienten. Im Weiterblättern erkannte Arcturus schnell, dass alle Gedichte in dem Buch gleichermaßen Unsinn und nichts weiter als verachtenswert waren. So etwas las Valerian? Ein rascher Blick über die Rücken der anderen Bücher entlarvte eines als Führer zum Verständnis der inneren Seele, das andere beschäftigte sich mit der Geschichte Umojas. Wenigstens das war etwas Lesenswertes. „Ist das deines?", fragte Arcturus und hielt den Gedichtband hoch. „Ja, ich hab sie alle gelesen, aber das ist mein Lieblingsbuch. Mom liest mir jeden Abend vor dem Schlafengehen daraus vor." „Und so etwas gefällt dir? Keine Bücher mit Militär- oder Abenteuergeschichten?" „Solche Bücher darf ich nicht haben. Mom sagt, die Galaxie sei so schon fürchterlich genug", antwortete Valerian. „Sie sagt, so was brauchte ich nicht zu lesen. Sie sagt, es würde mich nur aufregen." „So, so, tut sie das..." „Ja. Aber das da gefällt ihr auch." „Aber du bist doch ein Junge du solltest Abenteuergeschichten und all so was lesen. Von Weltraumschlachten und Helden. Mein Vater gab mir Logan Mitchell Grenzmarshal, als ich so alt war wie du. Das ist ein Klassiker. Hast du das gelesen?" Valerian schüttelte den Kopf. „Nein. Worum geht es darin?" „Es handelt von einem Mann namens Logan Mitchell, der auf einer der Randwelten für Recht und Ordnung sorgt. Jede Menge Waffen, jede Menge Mädchen und jede Menge Schießereien mit korrupten Offiziellen. Logan ist flink mit seinem Mundwerk und seinen Fäusten, und kein Schurke entkommt ihm. Eigentlich ganz simple Geschichten, aber sie machen Spaß und es spritzen Blut und Gedärme." „Warum sollte ich über Blut und Gedärme und Schießereien lesen wollen? Das klingt schrecklich." „Ich dachte immer, alle Jungen lesen so was gern." „Nun, ich eben nicht", entgegnete Valerian. „Ich mag keine Waffen."
„Hast du schon mal geschossen?" „Nein." „Möchtest du?" Arcturus sah das Strahlen in den Augen des Jungen und lächelte. Das hatte er sich gedacht. Wie die meisten Menschen, die behaupteten, Waffen nicht zu mögen, hatte Valerian noch nie selbst eine abgefeuert, wahrscheinlich noch nicht einmal eine in der Hand gehalten. Das Abfeuern einer Waffe hatte etwas an sich, das in jedem, ob Mann oder Frau, einen ursprünglichen Drang ansprach. Selbst eingefleischte Pazifisten konnten den Kick nicht leugnen, den es bedeutete, einen Schuss aus einer machtvollen Waffe abzugeben und sei es nur auf eine Zielscheibe aus Papier. „Dann komm mal mit", sagte Arcturus. „Ich habe ein Gaußgewehr und einen Slugthrower an Bord der Kitty Jay. Es ist Zeit, dass du etwas übers Mannsein lernst." Valerian legte sich auf sein Bett und kämpfte darum, die Tränen der Wut und Enttäuschung zurückzuhalten, während er seine Schulter, die vom Kolben des Gaußgewehrs seines Vaters geprellt und blau verfärbt war, mit einer schmerzlindernden Salbe einrieb. Hätte Valerian Waffen nicht sowieso schon gehasst, hätte er in der Zeit, die sein Vater mit ihm verbracht hatte, gelernt, sie gründlichst zu verachten. Die vergangenen sieben Tage mussten als die beste und die schlimmste Woche in Valerians Leben gelten. Die beste, weil sein Dad hier und genauso war, wie er ihn sich vorgestellt hatte: groß, stark und gut aussehend. Alles, was sein Dad gesagt hatte, klang klug und wichtig, auch wenn sich vieles davon Valerians Verständnis entzog. Und die schlimmste, weil ihm nichts von allem, was Valerian tat, gut genug zu sein schien. Valerian hatte jeden Tag als Chance begrüßt, die Anerkennung seines Vaters zu gewinnen, und jeden Tag hatte er gehofft, so zu sein wie er, wenn er einmal groß war. Er ertappte sich da bei, wie er versuchte, die Gesten seines Vaters nachzuahmen seine Art zu gehen, seine Haltung, sogar seine Sprache. Zu dumm nur, dass sein Vater vielen von Valerians Versuchen, seine Zuneigung auszudrücken, wenig oder gar keim Beachtung schenkte; ihm schien nur aufzufallen, was Valerian nicht konnte. Die Lektionen mit dem Gaußgewehr und dem Slugthrowedr
waren eine Katastrophe gewesen. Der heftige Rückstoß des Gewehrs hatte Valerian auf den Rücken geworfen, und die ruckende Pistole hatte ihm das Handgelenk verstaucht. Die Waffen waren laut, und selbst wenn es ihm gelang, sie gerade zu halten, schaffte er es nicht, eines der Ziele, die sein Vater am Flussufer aufgestellt hatte, zu treffen. Jeder Fehlschuss schien seinen Dad zu verärgern, aber ganz egal, wie sehr er sich konzentrierte, den Lauf entlang blinzelte und die Zunge gegen die Oberlippe drückte, er lernte weder noch machte es ihm Spaß, eine Waffe abzufeuern. Nicht nur das, seine Lieblingsbücher waren in den Müll gewandert und durch neu hochgeladene Digi-Bücher über Ökonomie, Geschichte, Technologie und Politik ersetzt worden alles Dinge, die ihn nicht interessierten, und in keinem dieser Bücher stand etwas über Aliens. Die Inhalte verwirrten ihn und waren voller großer Worte, die er nicht verstand. In keinem dieser Bücher standen Geschichten, abgesehen von den historischen, aber auch die waren langweilig und hatten keine Bilder über die Teile, die so klangen, als könnten sie interessant sein. Was Valerian allerdings Spaß machte, waren die Sparringskämpfe mit den Holzschwertern, die er und sein Dad sich auf dem Rasen vor dem Haus lieferten. Das Gewicht des Schwerts war ungewohnt, aber seine gewandten Hände verstanden es, die „Waffe" flink und geschickt rings um seinen Körper herumzuführen. Obwohl er am Ende dieser Übungen stets voller Prellungen war und ihm alles weh tat, blickte sein Dad ihn ohne jenen fast schon gewohnten Ausdruck von Enttäuschung an und nickte. „Du bist schnell", sagte sein Dad, nahm seinen Arm und drückte ihn fest, „aber dir fehlt die Kraft. Du musst Muskeln und Ausdauer aufbauen, wenn du ein Schwertkämpfer werden willst." „Aber warum muss ich denn ein Schwertkämpfer werden?", hatte Valerian dagegengehalten. „Jetzt, da es Schusswaffen gibt, kämpft doch sicher niemand mehr mit Schwertern." „Und wenn du deine Schusswaffe nicht bei dir hast oder dir die Munition ausgeht? Was machst du dann? Außerdem geht es beim Erlernen des Umgangs mit einem Schwert nicht nur ums Kämpfen, es lehrt dich auch Balance, Schnelligkeit, Koordination, Disziplin. Alles Dinge, die dir leider fehlen, wie ich fürchte." Das hatte weh getan, denn es war grob und unnötig gewesen.
Sein Großvater hatte mit seinem Dad gestritten, nachdem Valerian ihm erzählt hatte, was er gesagt hatte. Valerian hatte in seinem Zimmer bei geschlossener Tür gehört, wie sie einander angeschrien hatten. Großvater hatte gestern das Haus verlassen, und obgleich Valerian nicht wusste, was los war, war ihm doch aufgefallen, wie besorgt sein Großvater ausgesehen hatte. Seine Mom hatte ihm gesagt, der Regierungsrat von Umoja sei zu einer Krisensitzung (was immer das auch sein mochte) einberufen worden und dass etwas sehr Wichtiges vorgehe. Sie hatte nicht gesagt, worum es sich dabei handelte, aber Valerian vermochte die Stimmungen seiner Mutter so mühelos zu deuten, als hätte sie ausgesprochen, was sie bewegte. Und er wusste, dass sie sich Sorgen machte. Aber nicht nur wegen Großvater sie war auch nicht allzu erfreut über seinen Dad. Allerdings behielt sie ihre Meinung für sich, so weit Valerian wusste. Jedenfalls hatte er nicht gesehen, wie die beiden sich stritten. Da Ailin Pasteur außer Haus war, genehmigte sich Arcturus selbst ein weiteres Glas von dessen Brandy und ließ sich in einen der Ledersessel vor dem Kamin sinken. Er nippte an seinem Getränk, zufrieden mit dem Geschmack, und dachte zurück an seinen ersten winzigen Schluck Brandy an jenem Abend, als die Attentäter der Konföderation in die Sommervilla eingedrungen waren, um sie alle umzubringen. In der Erinnerung an diesen Tag sah Arcturus sich im Speisezimmer sitzen und mit seinem Vater reden, und plötzlich verspürte er einen völlig unerwarteten Anflug von nostalgischem Schmerz darüber, dass diese Zeiten längst vergangen waren. Damals war alles einfacher gewesen, fand er, rief sich dann jedoch ins Bewusstsein, dass solches Denken nur der rosige Nebel der Verklärung war, der Probleme abmilderte, die seinerzeit doch riesig und verhängnisvoll gewesen waren. Die Zeit, das wusste er, vermochte die erlebte Wahrheit zu verzerren, vergangene Freuden hervorzuheben und Nöte herabzuspielen. Obwohl er noch ein junger Mann war, fühlte sich Arcturus inzwischen alt. Das lag zum Teil zweifellos daran, dass er nun einen Sohn hatte, ein Faktor, der jedem Mann das Gefühl gab, gewaltig älter geworden zu sein wenn auch nicht unbedingt reifer.
Arcturus fragte sich, ob sich auch sein Vater so gefühlt haben mochte, als er mit seinem neu geborenen Sohn konfrontiert worden war. Er glaubte es nicht, weil Angus neun Monate Zeit gehabt hatte, sich mehr und mehr an die Vorstellung zu gewöhnen. Arcturus hatte die Vaterschaft hingegen wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Doch der Gedanke war noch nicht in ihm verwurzelt, und anstatt sich gegen die Tatsache, nun einen Sohn zu haben, zu wehren, hatte Arcturus begonnen, sich einzureden, dass es so am besten sei er hatte einen Erben, ohne die Jahre des Windelwechselns und schlafloser Nächte durchmachen zu müssen. Er hatte eine Nachricht nach Korhal geschickt, ausdrücklich adressiert an seine Mutter und Dorothy, in der er seine Eltern über diese neueste Entwicklung unterrichtete. Allerdings hatte er etliche Tage gebraucht, um sich zu überlegen, wie er sie über Valerians Existenz informieren konnte, ohne selbst schlecht dazustehen. Das war nicht einfach gewesen. Arcturus hatte gegen Kel-Morian-Piraten gekämpft, wütende Schürfer hatten auf ihn geschossen, und er hatte es mit tobenden vorgesetzten Offizieren zu tun gehabt, aber sich zusammenzureißen, um eine Nachricht aufzuzeichnen, die er nach Hause schicken und in der er seiner Familie mitteilen wollte, dass er jetzt Vater war, das war die nervenaufreibendste Erfahrung seines Lebens gewesen. Arcturus erinnerte sich, als er mit acht oder neun Jahren beim Ballspiel eine der Zierfiguren seiner Mutter zerbrochen hatte. Er hatte tagelang Blut und Wasser geschwitzt, bis er endlich genug Mut zusammengerafft hatte, um ihr zu sagen, dass er es gewesen war. Das Gefühl, das ihn jetzt erfüllte, als sein Finger über dem Aufzeichnungsknopf der Vidkonsole schwebte, ähnelte unangenehm jener kalten Furcht, die ihn gepackt hielt, als er, in den Schweiß der Schuld gebadet, vor dem Atelierraum seiner Mutter gestanden hatte. Er lächelte, als ihm klar wurde, dass es egal war, wie alt man war Eltern würden immer Autoritätspersonen bleiben, und es wurde nie einfacher, ihnen etwas Schwieriges mitzuteilen. Genauso wie man immer ihr Kind blieb, obwohl man erwachsen wurde, in Schlachten zog, sich ein Leben aufbaute und vielleicht sogar
eine eigene Familie gründete. Vor der evolutionären Dynamik zwischen Eltern und ihren Kindern gab es kein Entrinnen. Jedenfalls hatte er die Nachricht über Valerian nach Korhal geschickt, und es waren drei Tage ohne Antwort vergangen, was ihn überraschte. Er hatte damit gerechnet, dass seine Mutter sich auf die Nachricht hin, dass sie Großmutter war, mehr oder weniger sofort melden würde. Und Dorothy... sie war jetzt Tante. Wenn jemand mit Schadenfreude reagieren würde, dann sie. Arcturus wusste, dass Dorothy seinen Sohn lieben würde. Aber was für eine Beziehung würde er zu Valerian haben? Würde zwischen ihnen eine Bindung entstehen, oder würde es da immer eine Distanz geben, wie es zwischen Arcturus und seinem Vater der Fall gewesen war? Die vergangene Woche hatte ihm Hinweise darauf geliefert, wie ihre Beziehung sich entwickeln würde, und es war keine angenehme Erkenntnis, feststellen zu müssen, dass es wohl eine von Enttäuschungen geprägte werden würde. Der Junge war schwach und zeigte keinerlei Anzeichen der Fähigkeiten und Vorlieben, die ein Mann brauchte, um als Mann zu gedeihen. Arcturus wollte bald nach Korhal reisen, um Valerian seiner Familie in aller Form vorzustellen, und der Junge musste abgehärtet werden, sollte er ihm ein würdiger Nachfolger werden. Unterdessen hatte er von Diamond de Santo Nachricht den Claim betreffend erhalten, und die Neuigkeiten waren durch die Bank gut. Die ersten Kernproben, die man aus dem Boden geholt hatte, waren so rein, wie man es sich nur vorstellen konnte, und der Ertrag übertraf alles, was die Arbeiter je gesehen hatten. Arcturus lächelte bei der Erinnerung an die Erregung in de Santos Stimme, als sie vom Wert des Claims gesprochen hatte. Außerdem hatte sie ein Gerücht erwähnt, das in den Kreisen der Gilden kursierte und demzufolge der Gildenkrieg tatsächlich vorbei war und die Kel-Morians verloren hatten. Davon hatte Arcturus noch nichts gehört, da es in Ailin Pasteurs Haus keine Cine-Viewers gab, weil diese angeblich sowieso nur Propaganda der Konföderation und hirnlose Melodramen zeigten. Diese Einschätzung teilte Arcturus durchaus, und so hatte er über die Konsole der Kitty Jay Fernverbindung zu einem UNN-Satelliten aufgenommen, und tatsächlich kam auf diesem Kanal die triumphierende Nachricht über die Niederlage der Kel-Morians.
Bilder von marschierenden Marines und Hunderten glänzenden Belagerungspanzern liefen über den Schirm, und der regelrecht überschäumende Moderator sprach von der feigen Kapitulation aller feindlichen Kräfte, gerade so, als hätte die Militärmaschine der Konföderation das blutigste Regime, das man sich nur vorstellen konnte, zerschlagen und nicht etwa eine lose Allianz von Piraten und Schürfern. War Ailin Pasteur deshalb fortgerufen worden? Gelangweilt und ein wenig angewidert von der Wonne, die man bei UNN über den Sieg des eigenen Zahlmeisters empfand, hatte Arcturus die Verbindung unterbrochen und war ins Haus zurückgekehrt, um sich den Brandy einzuschenken, der ihn nun ebenso wärmte wie das knisternde Kaminfeuer. Arcturus genoss diesen seltenen Augenblick des Alleinseins, als hinter ihm auch schon Juliana den Raum betrat. Er registrierte das Zögern ihres Schrittes und wusste, dass es einen weiteren Streit über den Jungen ankündigte. „Was gibt es, Juliana?", fragte er, ohne sich umzudrehen. „Dein Sohn ist wieder in Tränen aufgelöst", antwortete sie. „Warum überrascht mich das nicht?" „Warum bist du nur so?", erwiderte Juliana, kam um den Sessel herum und blieb vor ihm stehen. „Was meinst du damit?" „Warum bist du so hart zu Valerian?", überging sie seine Frage. Ihr Gesicht war hart und wutverkniffen. „Siehst du denn nicht, wie er dich verehrt? Obwohl du ihn herabsetzt, wann immer du ihn siehst. Er hat seinen Dad gerade erst kennengelernt, und du kannst nichts anderes tun, als ihm zu sagen, wie schlecht er in allem ist." Arcturus setzte sein Glas ab. Jetzt war er wütend auf sie. „Weil er in allem schlecht ist. Er kann noch nicht einmal ein Gewehr halten, geschweige denn damit schießen. Die Bücher, die du ihm aufgehalst hast, lassen ihn glauben, alle Menschen schmückten sich mit Blumen und seien lieb zueinander. Und er ist spindeldürr, hat kein Fleisch auf den Knochen und wird schon von leichtesten gymnastischen Übungen müde. Wenn ich hart zu ihm bin, dann nur, um den Schaden gutzumachen, den du mit deinem Verhätscheln angerichtet hast." „Wir lieben ihn, Arcturus", sagte Juliana. „Wir zwingen ihn nicht zu Dingen, von denen wir glauben, dass er sie tun sollte. Ich
dachte, gerade du wüsstest das zu respektieren. Unserem Sohn steht es frei, was er lernen und wofür er sich begeistern möchte." Arcturus schüttelte den Kopf. „Genau dieser dumme Unsinn verhindert, dass er vorbereitet ist auf das Leben außerhalb dieser gemütlichen kleinen Blase, die du um ihn herum errichtet hast. Du erziehst ihn zu einem Bücherwurm und Schwächling, Juliana. Die Galaxie ist hart und hässlich, und wenn du ihn weiterhin so erziehst, wird er nicht überleben, wenn er sich ihr allein stellen muss, verstehst du mich?" „Ich verstehe sehr gut", erwiderte Juliana. „Du willst ein Ebenbild deiner selbst aus ihm machen!" „Und wäre das so schlimm?", gab Arcturus zurück und sprang auf. „Ich habe wenigstens etwas aus mir gemacht. Ich bin hinaus in die Galaxie, ich habe echte Erfahrungen gesammelt und mein Schicksal mit eigenen Händen geschmiedet. Was wird der Junge jemals selbst zustande bringen? Er ist ein Mengsk, und er ist für Großes geschaffen, aber so wird er nie zu etwas bringen." „Was er mit seinem Leben anfangen will, ist allein seine Sache", sagte Juliana. „Wir können seinen Lebensweg nicht für ihn wählen." „So ein Quatsch", ereiferte sich Arcturus. „Kinder brauchen Disziplin, und du hast es versäumt, ihm das beizubringen. Er ist zu jung, um den richtigen Weg zu erkennen, wenn er vor ihm liegt, also ist es unsere Aufgabe, ihn auf diesen Weg zu führen." Juliana ballte die Hände zu Fäusten, und Arcturus sah, wie die Stärke, von der er geglaubt hatte, sie habe sie verloren, wie die in ihr aufstieg. „Ich wünschte, du könntest dich reden hören, Arcturus. Ich wünschte wirklich, dein jüngeres Ich könnte hören, was du jetzt redest." „Was soll das heißen?" „Du bist all das geworden, wogegen du rebelliert hast, als du jünger warst. Du bist dein Vater geworden." „Sei nicht albern, Juliana ich bin nicht wie mein Vater, nicht im Geringsten." Sie lachte bitter. „Für jemanden, der so clever ist, kannst du ganz schön blind sein, Arcturus. Ich habe mir all das angehört. was du mir im Laufe der Jahre erzählt hast, die hoch fliegende Pläne für die Zukunft und deine Ambitionen, Großes zu leisten, und ich habe dir geglaubt. Ich denke, auf irgendeine Weise glaube ich immer noch, dass du Großes vollbringen wirst, aber du
wirst es nicht mehr allein tun. Du hast einen Sohn, und er braucht seinen Vater." „Und ich tue, was ein Vater tun muss, Juliana. Ich schenke ihm den Nutzen meiner Erfahrungen, um einen Mann aus ihm zu machen." „Er ist erst sieben lass ihn ein Kind sein", bat Juliana. „Muss er denn jetzt schon erwachsen werden?" Arcturus war gerade im Begriff, zu einer vernichtenden Erwiderung anzusetzen, als die Tür aufging und einer von Ailin Pasteurs Dienern eintrat. Sofort spürte Arcturus die Dringlichkeit des Anliegens des Mannes. „Was ist?" Juliana kreiselte herum und fuhr den Mann an. „Eine Nachricht für Mr. Mengsk", sagte der Diener. „Eine Nachricht?", wiederholte Arcturus. „Und dafür mussten Sie uns stören? Ich sehe sie mir später an." „Nein, Sir", beharrte der Mann. „Es handelt sich nicht um eine Aufzeichnung, sondern um eine Echtzeit-Verbindung mit Korhal." Arcturus runzelte die Stirn. Eine Echtzeit-Kommunikation zwischen den Welten war unfassbar teuer, und die Möglichkeit dazu stand nur denjenigen zur Verfügung, die Zugriff auf leistungsfähigstes und modernstes Gerät hatten. „Mit Korhal? Ist es meine Mutter?", hakte er nach. „Nein, Sir, es ist ein Mr. Feld", antwortete der Mann. „Und ich fürchte, er hat schlechte Neuigkeiten." Arcturus barg die Brandyflasche in seinem Schoß, obwohl er genau wusste, dass es das Falscheste war, was er tun konnte, wenn er sie bis zum letzten Tropfen leerte. Aber richtig und falsch kümmerten ihn nicht mehr. Seine Tränen waren längst getrocknet, die Trauer jedoch riss immer noch wie mit stählernen Klauen an seinem Herzen. Felds Worte hallten in seinem Kopf wider. „Sie sind tot... alle..." Sie waren so tief in sein Gedächtnis eingraviert, dass sie nie wieder auszulöschen waren, Es war unmöglich, es konnte nicht möglich sein. Niemand konnte den Ring von Leibwächtern um sie herum durchdrungen haben. Niemand konnte die vielfachen Sicherheitsvorkehrungen, die sie vor Schaden schützten, überwinden. Es war unmöglich.
„Sie haben sie umgebracht. O Gott, Arcturus...es tut mir so leid..." In dem Augenblick, da er Achton Felds Gesicht sah, hatte er gewusst, dass etwas nicht stimmte. Das Bild auf dem Vidsys war körnig und von Statik verwaschen gewesen, das Signal schlecht, nachdem es über eine derart riesige Distanz und unzählige Relais, Verstärker und Trägerwellen weitergeleitet worden war. Eine solche Unterhaltung war vergleichbar mit dem Läuten des Fons mitten in der Nacht, das einen aus dem Schlaf reißt und auf der Stelle eine tiefe, nagende Furcht im Bauch weckt. Niemand rief mit guten Neuigkeiten im Dunkeln an. Und niemand nahm die Kosten und Mühen einer Echtzeit-Verbindung wegen guter Neuigkeiten auf sich. „Was gibt es, Feld?", hatte Arcturus gefragt, als er vor dem Vidsys-Gerät saß, über das er die Nachricht von Valerians Geburt nach Korhal geschickt hatte. „Es tut mir leid, Arcturus, es tut mir furchtbar leid...", sagte Feld, und Tränen liefen ihm über die Wangen. „Es tut dir leid...? Was denn? Feld, spuck's schon aus. Was ist passiert?", drängte Arcturus, während sich das Bleigewicht kalter Angst auf seinen Magen senkte. „Sie sind tot... alle...", schluchzte Achton Feld. „Wer?", fragte Arcturus, als Feld nicht weitersprach. „Alle...", schniefte Feld. Es bereitete ihm Mühe, Worte zu formen. „Angus... deine Mutter. Sogar... sogar Dorothy." Arcturus hatte das Gefühl, in ihm habe sich eine gewaltige schwarze Leere aufgetan. Seine Hände begannen zu zittern, und er fror. Seine Mund wurde trocken und sein Denken hörte auf zu funktionieren, war nicht imstande, die Realität dessen, was Feld gerade gesagt hatte, zu verarbeiten. „Nein", sagte er schließlich. „Nein, du irrst dich. Das kann nicht sein. Du musst dich irren, Feld! Sie können nicht tot sein! Nein, das lass ich nicht zu!" „Es tut mir so leid, Arcturus. Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Alles war ganz normal... Alle Sicherheitssysteme funktionierten. Sie funktionieren immer noch... Ich weiß es einfach nicht." Arcturus spürte, wie seine Glieder taub wurden, als unterstünden sie nicht länger seiner Kontrolle. In seinem Kopf brüllte ein Rauschen, wie das des Meeres, das gegen die Klippen unterhalb der Sommervilla brandete. Auf dem Bildschirm bewegte sich Felds
Mund, aber Arcturus hörte seine Worte nicht mehr. Er presste sich die Hände gegen die Schläfen, und Tränen der Trauer und Wut flossen aus ihm, und mit ihnen irgendetwas anderes, Schreckliches, etwas, das ihn leer zu saugen drohte. Als hätte er ein Emetikum für Emotionen eingenommen, strömte sein Menschsein mit den Tränen aus ihm heraus und damit jedes noch so winzige Quäntchen Gefühl, das er je für seine Familie gehegt hatte. Jeder Anflug von Leidenschaft, und jedes Stückchen Zurückhaltung wurde von einer Flut heißer Tränen fortgespült. Das blanke, unfassbare Ausmaß dessen, was geschehen war, sank in sein Bewusstsein. Es war zu viel. Niemand konnte einen derart niederschmetternden Verlust erleiden und nicht daran zerbrechen. Die Macht seiner Trauer durchraste ihn wie ein Hurrikan, zerriss Ketten des Ehrgefühls und der Gnade, fegte all seine Gedanken hinweg bis auf einen, der wie ein Leuchtfeuer einen Strahl der Hoffnung bot, ein dünner Ast, an den er sich klammern konnte wie ein Ertrinkender. Rache. Die Menschen, die ihm das angetan hatten, würden sterben. Alle. Arcturus wusste, dass nur die Konföderation dahinterstecken konnte. Nur die Konföderation hatte Agenten, die fähig und schamlos genug waren, ein so abscheuliches Verbrechen zu begehen. Nur die Konföderation hatte den Nerv, zu glauben, sie könnte damit davonkommen. Nun, Arcturus Mengsk würde der Konföderation diese Idee austreiben. Was hatte sein Vater einmal zu ihm gesagt? Wenn alles, was du hast, ein Hammer ist, dann sieht bald alles aus wie ein Nagel... Die diamantene Klarheit des Gedankens hob die Schwere seiner Trauer auf, und er holte tief Luft und spürte dabei, wie Entschlusskraft in ihm aufstieg. Seine letzten Tränen versiegten, sein Rücken streckte sich. „Erzähl mir, was geschehen ist", sagte Arcturus. Seine Stimme klang eisig und beherrscht. „Ich... sie sind tot, reicht das nicht?", entgegnete Feld. „Du musst nach Korhal zurückkommen."
„Oh, ich werde zurückkommen", versprach Arcturus. „Aber erzähl mir, was passiert ist." Feld sah das drängende Verlangen in seinen Augen und nickte, wobei er sich mit einer Hand über das Gesicht wischte. Arcturus war beeindruckt. Man konnte über Achton Feld ja sagen, was man wollte, aber er war ein Profi. „Ich war auf dem Weg zum täglichen Sicherheitsbriefing, genau wie jeden Tag", berichtete Feld und zog mit bemerkenswerter Disziplin seine eigenen Mauern wider die Trauer hoch. „Ich passierte die biometrischen Erkennungsscanner, zog meine Karte durch und ging ins Penthouse. Normalerweise wartete Angus schon auf mich, aber an dem Morgen war er nicht da, was mich gleich misstrauisch machte. Katherine... ich meine, deine Mutter hatte immer Kaffee aufgesetzt, aber ich roch ihn nicht. Das war immer das Erste, was mir auffiel, weißt du? Der Duft von frischem Kaffee. Aber nicht an diesem Morgen. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, und so machte ich mich daran, das Apartment zu durchsuchen." „Was hast du gefunden?" Feld atmete tief durch. „Ich fand niemanden. Es gab keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen. Absolut nichts. Aber die Tür zum Balkon war offen." „Und?", drängte Arcturus, als Feld nicht fortfahren wollte. Er sah, dass es Felds ganzer Selbstbeherrschung bedurfte, um weiterzusprechen, und Arcturus machte sich aufs Schlimmste gefasst. Seine Kiefermuskeln verhärteten sich. Er hatte das Schlimmste doch schon erfahren... was konnte da noch kommen? Feld nickte. „Ich ging auf den Balkon hinaus. Und dort fand ich sie. Das verdammte Schutzfeld hatte nachgegeben, und da lagen sie... als würden sie nur schlafen. Deine Mutter, Dorothy und dein Vater. Tot." „Wie sind sie gestorben?" „Macht das einen Unterschied?", versetzte Feld. „Warum zum Teufel musst du so etwas wissen?" „Ich muss es wissen", erwiderte Arcturus. „Ich weiß nicht warum, aber es ist eben so..." „Sie wurden erschossen", sagte Feld. „Katherine und Dorothy wurden erschossen. Eine Kugel ins Herz, eine in den Kopf." „Und mein Vater? Wurde er auch erschossen?" Wieder zögerte Feld, sein Gesicht war abgewandt, als wolle er
Arcturus' Blick meiden. „Nein, er wurde nicht erschossen. Ihn haben sie enthauptet." „Was?", schrie Arcturus auf. „Enthauptet? Was soll das heißen?" „Du hast es doch gehört", gab Feld aufgebracht zurück. „Sie haben ihm den Kopf abgeschnitten, Arcturus! Und wir können ihn nicht finden. Diese kranken Hurensöhne haben seinen Kopf mitgenommen!" Wenig später hatte er die Verbindung unterbrochen, nachdem er Feld gesagt hatte, er solle warten, bis er wieder von ihm hörte. Dass er sich melden würde, sobald er sich überlegt hatte, was er nun tun wollte. Er schritt aus dem Raum, kehrte ins Zeichenzimmer zurück, wo er sich vorhin noch mit Juliana gestritten hatte und griff sich die Brandyflasche. Eine Stunde verging, vielleicht auch mehr, aber Arcturus merkte nicht, wie die Zeit verstrich. In seinem Kopf drehte sich alles in eine Million verschiedener Pfade, während er versuchte, der klaffenden Leere in seiner Seele Herr zu werden. Er trank den Brandy in großen Schlucken. Das Getränk war so stark wie eh und je, aber es schien keine Wirkung auf ihn zu haben. Sein ganzer Körper war unempfänglich für die Kraft des Alkohols, und er trank die halbe Flasche, bis er sie ins Feuer schleuderte, wo sie splitternd zerbrach. „Was für eine Verschwendung von gutem Brandy...", zischte er, als der Alkohol mit hellen Flammen verbrannte. Er hörte, wie hinter ihm die Tür aufging. „Arcturus", sagte eine männliche Stimme. „Es tut mir so leid. Ich bin sofort gekommen, als ich davon hörte." Er drehte sich um und sah Ailin Pasteur und Juliana in der offenen Tür stehen, als trauten sie sich nicht, zu ihm aufs Feld seiner Trauer zu treten, sodass sie sich damit begnügten, von der Seitenlinie aus zuzuschauen. Sein Herz verkrampfte sich vor Verachtung. Julianas Gesicht war tränenverschmiert, und sie hielt Valerian fest an sich gedrückt. Die Augen des Jungen waren groß und voller Furcht. Er verstand nicht recht, was vor sich ging. Doch befreite er sich aus den Armen seiner Mutter und kam zu Arcturus herüber. „Sind deine Mom und dein Dad tot?", fragte er.
Arcturus nickte. „Ja, Valerian, das sind sie. Und meine Schwester auch." „Wie sind sie gestorben?", fragte Valerian. „Sei still, Valerian!", schaltete sich Juliana ein. „So etwas fragt man nicht." „Die Konföderation hat sie ermordet", sagte Arcturus mit tiefer, bedrohlich klingender Stimme. „Sie haben sie ermordet, weil mein Dad sich gegen sie aussprach. Sie ermordeten sie, weil sie Tiere sind." Valerian streckte die Hand aus und legte sie Arcturus zögerlich auf die Schulter. „Es tut mir leid, dass sie tot sind", flüsterte Valerian. Arcturus blickte seinem Sohn in die Augen und sah darin die echte Aufrichtigkeit eines Kindes, seine Miene frei von den Vorbehalten und der Reserviertheit Erwachsener. „Danke, Valerian", sagte er. Ailin Pasteur trat näher und führte Valerian zu seiner Mutter zurück. Dann nahm er Arcturus gegenüber Platz und sagte: „Was immer du als Nächstes vorhast, ich verspreche dir, die Unterstützung Umojas ist dir gewiss." „Wie sie meinem Vater gewiss war?", entgegnete Arcturus bitter. „Mehr noch als ihm", erwiderte Pasteur. „Arcturus, ich komme gerade von einer Krisensitzung des Regierungsrats, und Rat Jorgenson hat im Zuge der Niederlage der Kel-Morians die Gründung eines umojanischen Protektorats verkündet. Diese Organisation soll unsere Kolonie vor der Tyrannei der Konföderation bewahren, ihrer Politik der Ausdehnung entgegenstehen und all jenen eine sichere Zuflucht bieten, die für die Freiheit einstehen." „Sehr edel von Ihnen", meinte Arcturus. „Wenn auch etwas spät." „Da magst du recht haben", gab Pasteur zu, „aber es ist ein Anfang." „Ein Anfang...", sagte Arcturus, den Blick starr ins knisternde Feuer gerichtet. „Ja, ein Anfang." Plötzlich bohrte sich ein furchtbarer Gedanke mit der Wucht eines Impaler-Geschosses durch Arcturus' Gehirn, und er sah hinüber zu Valerian und Juliana. Angst verkrampfte ihm die Eingeweide und raubte ihm den Atem. „Was ist?", fragte Pasteur, dem die Eindringlichkeit dieses Bli-
ckes nicht entging. „Juliana... du und Valerian, ihr müsst verschwinden", sagte Arcturus und erhob sich. „Auf der Stelle." „Was? Ich verstehe nicht... wovon redest du?" „Sie wissen Bescheid", sagte Arcturus, ging im Zimmer hin und her, und seine Gedanken krachten gegeneinander wie ein Konvoi von Ground Cars bei einem Auffahrunfall. „Und wenn sie es noch nicht wissen, dann werden sie es bald wissen." „Ganz langsam, Arcturus", sagte Pasteur. „Wer weiß was?" „Die Konföderation", gab Arcturus zurück. „Die Nachricht über Valerian, die ich an meine Familie schickte. Wenn sie gut genug sind, um Felds Sicherheitsvorkehrungen auszuschalten, dann wissen sie hundertprozentig auch, wo ich bin und dass ich einen Sohn habe. Wir sind die letzten Kleinigkeiten, die es noch zu erledigen gilt und wenn es um Mord geht, lässt die Konföderation nichts unerledigt." „Du glaubst, sie kommen hierher? Nach Umoja?", fragte Juliana und drückte Valerian noch fester an sich. Arcturus lachte, ein hohler Laut, der aus dem ödesten, leersten Teil seiner Seele kam. „Glaub nur nicht, dass sie nicht kommen werden. Sie werden alles tun, was nötig ist, um ihre Feinde zu vernichten. Du musst fort von hier und in Bewegung bleiben, sonst werden sie dich finden. Und das darf nicht geschehen." „Sei nicht albern", meinte Pasteur. „Wir sind hier bestens geschützt." „Albern?", entgegnete Arcturus. „Wenn die Mörder meiner Familie in der Lage sind, die Schutzvorrichtungen des Skyspires zu überwinden, dann können sie hier einfach hereinmarschieren und euch alle im Handumdrehen umbringen. Nein, die einzige Möglichkeit, solchen Leuten zu entgehen, besteht darin, nicht hier zu sein, wenn sie kommen." „Er hat recht, Daddy wir müssen fort", sagte Juliana, die Stimme brüchig vor Angst. Doch Arcturus wusste, dass es Angst um Valerian war, nicht um sich selbst. „Ich werde nicht zulassen, dass Valerian etwas zustößt." Pasteur zögerte, dann nickte er widerstrebend. „Ich werde binnen einer Stunde ein Schiff zur Verfügung haben." „Und bleibt in Bewegung", mahnte Arcturus. „Haltet euch nicht zu lange an einem Ort auf." „Du kommst nicht mit uns?", fragte Juliana.
„Nein", antwortete Arcturus. „Sie wissen es noch nicht, aber die Konföderation hat sich gerade den größten Feind geschaffen, den sie je haben wird." „Was hast du vor?", wollte Pasteur wissen. „Ich werde die Konföderation vernichten", zischte Arcturus. „Mit Stumpf und Stiel ausmerzen." KAPITEL 15 Das Schwert kam in einem silbernen Bogen auf ihn zu, und Valerian drehte die Handgelenke, um seine eigene Waffe zur Parade zu heben. Die Klingen trafen mit dem Kreischen von Stahl aufeinander, und er drehte sich aus der Konterbewegung, als Meister Miyamotos Schwert vorstieß. Valerians Schwert senkte sich und wehrte den Hieb ab, während er dem Angriff nach hinten auswich. Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht, und sein Atem ging in kurzen, scharfen Stößen. Meister Miyamoto hingegen wirkte so feierlich und unerschütterlich, wie er es immer tat, ganz gleich, ob er nun Tee einschenkte oder fehlerfreie Schwertstreiche führte. Gekleidet in ein cremefarbenes Keikogi, war Meister Miyamoto so undurchschaubar wie stets. Kein Zucken seiner Miene verriet seinen nächsten Zug in diesem gefährlichen Ballett namens Schwertkampf. Valerian trug die gleiche Trainingskleidung, nur maßgeschneidert für seine kleinere Gestalt eines Neunjährigen, die endlich zugenommen hatte, als er älter wurde und mehr Sport trieb. Er war immer noch schlank, wirkte fast asketisch, aber in den vergangenen zwei Jahren waren seine Schultern und Arme kräftiger geworden und deuteten vielversprechend auf den Mann hin, der er einmal werden mochte. Sie waren allein im Garten. Meister Miyamoto gestattete niemandem, bei ihrem Training zuzuschauen, nicht einmal Valerians Mutter. Grob gebaute Mauern aus großen Steinen umschlossen den Garten, ein rechteckiger Hof mit sanft wogenden Pflanzen, frisch gejäteten Kräuterbeeten und einem schiefergepflasterten Sparringbereich an der Ostmauer. In der Mitte des Gartens gurgelte friedlich ein Brunnen, und die Luft war dünn und trug den erdigen Duft reifen Getreides heran.
In dieser Region von Icarus IV duftete es immer, denn die lehmige Fruchtbarkeit des Bodens bot beste Voraussetzungen für die Landwirtschaft, und so roch es stets nach bevorstehender Ernte und chemischen Düngern. Auf den Kronen der hohen Mauern hockten Vögel, die einzigen Zuschauer, die Valerians harten Trainingsritualen beiwohnten, und ihre zwitschernde Unterhaltung war wie der Chor amüsierter Theaterbesucher, die die Erniedrigung eines Jungen durch die Hand eines Fechtmeisters genossen. „Was bedeutet Sieg?", fragte Miyamoto, während er sein Schwert langsam hob und wieder senkte. „Den Feind zu bezwingen", antwortete Valerian und drehte sich, als Meister Miyamoto zur Seite glitt. „Nein", entgegnete Miyamoto und stieß blitzartig nach Valerian. „Das reicht nicht." Valerian wehrte den Angriff ab sein Tempo war beeindruckend und schlug von der Seite her nach seinem Trainer. Doch seine Klinge ging ins Leere, und er erkannte, dass Meister Miyamoto ihn zu dieser Attacke verleitet hatte, als dessen Klinge ihn schmerzhaft auf den Bizeps traf. „Was denn dann?", jaulte er auf. Jedesmal, wenn er eine Frage nicht richtig beantwortete, erteilte ihm Meister Miyamotos Waffe einen schmerzhaften Verweis. „Ihn zu vernichten", erklärte Meister Miyamoto. „Ihn aus dem Gedächtnis aller Lebenden zu löschen. Es darf nichts übrig bleiben von ihm und seinem Tun. Du musst alles, was er je geleistet hat, zermalmen und jede Spur seiner Existenz aus allen Aufzeichnungen tilgen. Von einer solchen Niederlage wird sich kein Feind je erholen." Meister Miyamotos Schwert umkreiselte seinen Körper in einer Serie perfekt ausgeführter Manöver, die, hätte Valerian sie versucht, ihm alle Glieder und die Ohren vom Leib getrennt und ihm den Tod beschert hätten. „Das", erläuterte Meister Miyamoto, „ist es, was Sieg bedeutet. Du wüsstest das, hättest du die Bücher auf der Leseliste deines Vaters studiert. Oder das, welches ich dir gab." „Das habe ich gelesen", beteuerte Valerian, ging in die Grundstellung und verbeugte sich vor Meister Miyamoto. „Nicht genau genug. Noch mal." Valerian nickte und nahm einmal mehr die En-GardePosition
ein, die lange Klinge vor sich ausgestreckt. Nach drei Stunden Training mit Meister Miyamoto brannten ihm die Arme vor Erschöpfung, und in seiner Brust war ein Gefühl, als seien seine Lungen in Flammen aufgegangen. Meister Miyamoto erwiderte Valerians Verbeugung, dann umkreisten sie einander. Ihre Schwerter blitzten in der Nachmittagssonne. „Der Feind fällt in großer Zahl über dich her", sagte Meister Miyamoto. „Was tust du?" Valerian rief sich den Text in Erinnerung, auf den sein Lehrer sich bezog. Es handelte sich um eine Abhandlung, die man aus den Datengrüften der Reagan geborgen hatte, jenes Superträgers, der die Kolonisten nach Umoja gebracht hatte. Angeblich geschrieben von einem alten Kriegerkönig der Erde handelte es sich um Anweisungen zu den Künsten der Kriegsführung, der Diplomatie und Selbstdisziplin. Das Buch hatte keinen offiziellen Titel, aber Meister Miyamoto nannte es Das Buch der Tugenden und schien es auswendig zu kennen. Valerian hatte es gelesen, weil es weit oben auf der Liste mit genehmigten Texten stand, die sein Vater für ihn erstellt hatte, nur fiel es ihm schwer, sich an die Lehren darin zu erinnern, während er versuchte, einem schmerzhaften Hieb von der flachen Seite der Klinge seines Meisters zu entgehen. „Rasch", sagte Meister Miyamoto, das Schwert zum Schlag erhoben. „Du sollst nicht darüber nachdenken. Wissen sollst du es!" Valerian hob seine Klinge, ließ seinen Geist zurückfließen, hin zu den vielen Abenden, da er an seinem Schreibtisch gesessen hatte, bis die Schrift auf den Buchseiten vor seinen müden, brennenden Augen verschwamm. Er hatte es ein dutzend Mal gelesen, und während er seine Gedanken auf die Spitze des Schwerts seines Lehrers konzentrierte, kamen die Worte zu ihm, ohne dass er bewusst daran denken musste. „Am besten versucht man, sie in einen Engpass oder an einen umschlossenen Ort zu leiten", sagte Valerian. „Warum?" Ein Klaps gegen den Körper. „Damit ihre Zahl gegen sie arbeitet." Eine fließende Parade. „Wie geschieht das?" Ein Stoß vor die Brust. „Wenn sie zusammengedrängt sind, behindern die Vorderen die Hinteren." Eine weitere Parade und eine Riposte. Valerian bewegte sich nach links und griff seinerseits an. „Das
Drängen von hinten hindert die Vorderen am Rückzug oder daran, einen besseren Weg zu suchen." „Sehr gut", lobte Meister Miyamoto, während er Valerians Angriffe mühelos parierte. „Und was ist Balance?" „Sie ist der Schlüssel zum Erfolg", antwortete Valerian und lächelte, weil ihm die Worte abermals einfielen, ohne erst darüber nachsinnen zu müssen. „Warum?", wiederholte Meister Miyamoto, entschärfte eine ungeschickte Attacke und ließ seine Klinge um die von Valerian kreisen. „Ein Anführer, der sein Vertrauen in Waffen setzt, lässt sich überlisten", erwiderte Valerian, wehrte den Hieb ab und drehte sich nach rechts um. „Dann muss er all seine Krieger im Kampf auf engem Raum trainieren", meinte Miyamoto. „Nein, denn dann verlöre er seine Schlagkraft ans Feuer des Feindes", entgegnete Valerian. „Sehr gut. Was also bedeutet es, Balance zu haben?" „Es bedeutet, dass alle Teile einer Armee harmonisch zusammenwirken müssen, damit ihre Effektivität größer ist als die Summe ihrer einzelnen Elemente." Meister Miyamoto nickte und senkte seine Klinge. Flink drehte er die Waffe und schob sie in die Scheide an seinem Gürtel. „Für heute sind wir fertig", sagte er. Valerian war erleichtert, denn sein Körper tat überall weh, aber er war auch enttäuscht, weil er die Lehren aus dem Buch der Tugenden endlich zu schätzen lernte und auf sie zuzugreifen begann, während er trainierte. Es war nur ein Anfang, aber es war ein wichtiger Anfang, das spürte er. Er erwiderte Meister Miyamotos Verbeugung, schob sein Schwert in die Scheide und fuhr sich mit den Händen durch das blonde Haar. Er trug es lang und während des Schwerttrainings zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und der goldene Glanz war nicht weniger strahlend als zu seiner Kinderzeit. Meister Miyamoto machte auf dem Absatz kehrt. Er ging über einen gepflasterten Weg auf den Brunnen in der Mitte des Gartens zu, setzte sich auf die Umgrenzungsmauer des Brunnens und tauchte die Hand in das kalte Wasser. Valerian folgte dem Schwertmeister, nahm neben ihm Platz, schöpfte eine Handvoll Wasser aus dem Brunnen und benetzte
sein Gesicht damit. „Du wirst besser", sagte Meister Miyamoto. „Das freut mich." „Danke", erwiderte Valerian. „Es ist ein hartes Stück Arbeit, aber ich glaube, ich fange an, es zu begreifen." „Das braucht Zeit", meinte Miyamoto. „Alles Gute fußt auf Mühen. Ich erinnere mich, deinem Vater dasselbe gesagt zu haben." Plötzlich war Valerians Interesse geweckt, denn bis jetzt hatte Meister Miyamoto nicht von seinem Vater gesprochen, nur damals, als er hergekommen war. Miyamoto war ein paar Wochen, nachdem Valerian und seine Mutter von Umoja geflohen waren, eingetroffen und hatte Juliana mitgeteilt, dass Arcturus Mengsk ihn beauftragt hatte, den Jungen in allen Dingen des Kampfes und Wissens zu unterrichten. Seine Mutter war wütend gewesen über die Eigenmächtigkeit seines Vaters, aber die Angelegenheit stand nicht zur Diskussion. Meister Miyamoto hatte seine Stellung an der Akademie in Styrling nur gegen eine immens hohe Summe auf gegeben, um der Lehrer des Jungen zu werden. Doch allein Valerians Wunsch, die Anerkennung seines Vaters zu gewinnen, hatte Juliana dazu bewegt, Miyamoto nicht wieder fortzuschicken. „Sie haben meinen Vater im Umgang mit dem Schwert unterrichtet?", fragte Valerian. „Das habe ich." Miyamoto nickte. „Er wirft einen langen Schatten, Valerian, aber ich hoffe, dass du aus ihm heraustreten und dein eigenes Potenzial erkennst und zu nutzen lernst." „Ich wette, er war gut mit dem Schwert", meinte Valerian. „Er sieht aus, als könne er kämpfen." „Er war ein ordentlicher Schwertkämpfer", räumte Miyamoto ein. „Er war stark und gewann die meisten Kämpfe, bevor der erste Streich geführt war." „Wie das?" „Zum Kämpfen gehört mehr als nur das Führen eines Schwertes", erklärte Miyamoto. „Oft wird ein Mensch von seinen eigenen Zweifeln bezwungen." „Das verstehe ich nicht." „In jedem Wettstreit mit Waffen, in dem Leben und Tod vom Ergebnis abhängig sind, lässt die Angst die meisten Menschen den Gegner stärker, schneller und geschickter wirken", ging Miyamoto ins Detail. „Solche Zweifel nähren sich nur selbst. Um zu gewinnen, muss man ganz und gar an die eigenen Fähigkeiten
glauben. Man darf nicht im Mindesten an sich zweifeln." „Und das konnte mein Dad?" Miyamoto erhob sich, als hätte er entschieden, schon zu viel gesagt zu haben. „Ja, dein Vater hatte vollkommenes Vertrauen in seine Fähigkeiten. Aber der Sieg ist nicht das einzige Maß eines Mannes." „Nicht?" „Nein, es gibt auch noch die Ehre. Ein Mann mag alles verlieren, was er hat, doch seine Ehre behält er. Nichts ist wichtiger. Vergiss das nie, Valerian, ganz gleich, ob dir irgendjemand etwas anderes erzählen will. Auch dein Vater." „Ehre ist wichtiger als sterben?" „Ganz recht", sagte Miyamoto. „Manche Dinge sind es wert, dafür zu sterben." „Zum Beispiel?" „Edle Ideale zu verteidigen oder für die Unterdrückten zu kämpfen. Ein ehrenwerter Mensch muss Tyrannen, die über die Schwachen herrschen wollen, fest und unerschrocken gegenübertreten. Der Missbrauch von Macht ist immer zu bekämpfen, und Männer der Ehre sehen nicht tatenlos zu, wie solch Böses existieren darf." „Genau wie mein Dad", sagte Valerian stolz. Meister Miyamoto verbeugte sich vor ihm. „Nein", entgegnete er traurig. „Eben nicht wie dein Vater." Valerian zog seine Trainingskleidung aus und warf sie in seinem Schlafzimmer auf den Boden. Dann schnappte er sich ein Handtuch und ging ins Bad, wo er den Hahn aufdrehte und von der Wanne zurücktrat, während kaltes Wasser aus dem Duschkopf gurgelte und spritzte. Schließlich erwärmte sich das Wasser, und Valerian trat unter die heißen Strahlen. Im Laufe des vergangenen Jahres, das er mit seiner Mutter auf Icarus IV verbracht hatte, hatte Valerian sich daran gewöhnt, mit Wasser zu duschen anstatt mit Schallwellen wie zu Hause auf Umoja. Das heiße Wasser entspannte seine Muskeln und erfrischte ihn auf eine Weise, wie es die Entfernung von Schmutzmolekülen und toten Hautpartikeln mittels Schwingungen einfach nicht konnte. Obwohl es verschwenderisch war, Wasser auf derart großzügige Weise zu benutzen, fand Valerian, dass es sich doch lohnte. Er trat aus der Dusche, begann sich abzutrocknen und hielt kurz
inne, um sich in dem hohen Spiegel an der Tür zu betrachten. Er war zwar jung, aber sein Körper entwickelte sich schnell, und die Muskulatur seines Oberkörpers nahm täglich zu. In Begleitung eines Trupps von Soldaten joggte er jeden zweiten Morgen rund um den bewachten Perimeter der umojanischen Agraranlage eine Strecke von sechs Kilometern und freute sich über seine sich verbessernde Ausdauer. Er spannte die Muskeln an und posierte vor dem Spiegel, gab sich der Vorstellung hin, dass er ein kühner interplanetarer Held sei wie sein Vater. Trotz Meister Miyamotos Worten war Valerian stolz auf das, was sein Dad tat. Valerian kehrte in sein Schlafzimmer zurück, ein unaufgeräumter Raum, der gefüllt war mit Büchern, einem ungemachten Bett und silbrigen Truhen voller Kleidung. Seine Sammlung von Fossilien, Steinen und fremdartigen Artefakten stellte er stolz in einer Reihe gläserner Vitrinen zur Schau, und an den Wänden hing eine Anzahl antiker Waffen. Sie hatten dem Vorbesitzer des herrschaftlichen Hauses gehört, in dem nun sie lebten zweifellos die vornehmste Unterkunft, in der sie seit ihrem Aufbruch von Umoja gewohnt hatten -, und Valerian hatten sie sosehr gefallen, dass er sie behalten hatte. Er hatte Meister Miyamoto gefragt, ob er mit einigen der exotischer anmutenden Waffen einem Krummsäbel, einem Breitschwert und einem Falchion trainieren könne. Aber sein Lehrer hatte ihm verboten, andere Waffen auch nur anzurühren, bis er den Umgang mit einem gewöhnlichen Schwert beherrschte. Dennoch schadete es ja nicht, sie um sich zu haben, denn viele davon waren schlicht Hunderte von Jahren alt und gaben ihm das Gefühl einer Verbindung zu lange vergangenen Zeiten. In gewisser Weise erleichterten sie es ihm, an dem Glauben festzuhalten, dass in vergessenen Zeitaltern einmal eine fremde Zivilisation existiert hatte. Die Vorstellung, dass etwas Millionen von Jahren her sein konnte, war fast unmöglich zu begreifen, aber ein paar hundert Jahre, das war einfach, und fußend auf solch kleinen Schritten konnte er sich dann längere Zeitspannen ausmalen. Valerian machte Platz auf seinem Bett und zog eine locker sitzende Hose und ein blaues Hemd aus teurer Seide an. Dann setzte er sich auf die Matratze, nahm die Ausgabe von Buch der Tugenden zur Hand, die Meister Miyamoto ihm gegeben hatte, und begann zu lesen. Im Gegensatz zu den meisten von Valerians
anderen Büchern handelte es sich bei diesem um ein altmodisches mit Seiten aus Papier, die in einen Umschlag aus Leder gebunden waren, dessen Innenseite wiederum eine Inschrift aus Buchstaben aufwies, die er nicht entziffern konnte. Meister Miyamoto hatte gesagt, sein eigener Vater habe diese Worte am Morgen seines Todes geschrieben. Nur auf langes Drängen hin hatte Meister Miyamoto Valerian endlich verraten, was sie bedeuteten. Valerians Lehrer hatte das Buch aufgenommen, und obwohl er die Inschrift zweifellos auswendig kannte, hatte sein Blick die Buchstaben auf dem Papier nachgefahren. Seine Stimme wurde von aufsteigenden Emotionen fast erstickt, als er die Abschiedsworte seines Vaters las. „Was ist Leben?", las Meister Miyamoto. „Es ist das Aufblinken eines Glühwürmchens in der Nacht. Es ist der winzige Schatten, der über das Gras streicht und sich im Sonnenuntergang verliert." Valerian hatte die Worte wunderbar erhebend gefunden und hinab auf den Wolfskopf geschaut, der mit goldenem Faden auf die Brusttasche seines Hemdes gestickt war. Das Symbol der Familie Mengsk. Valerian trug es voller Stolz, wann immer er an einem sicheren Ort war. Bei ihren seltenen Ausflügen in die Öffentlichkeit, so hatte man ihn gewarnt, durfte er nichts zeigen, was ihn mit seinem Dad in Verbindung bringen könnte. In Anbetracht dessen, wie sein Dad in den Medien dargestellt wurde, war dies eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme. Es war zwei Jahre her, seit er seinen Vater gesehen hatte; er hatte auf der unterirdischen Plattform gestanden, wo sein Schiff, die Kitty Jay, lag. Für Valerian war es ein Gefühlschaos gewesen. Es hatte ihn traurig gemacht, zu sehen, wie sein Vater fortging, aber selbst als Kind hatte er die Spannung bemerkt, die zwischen seiner Mom, seinem Dad und seinem Großvater herrschte. Er verspürte eine Vertrautheit in diesem Drama: Sein Dad ging weg und ließ seine Mutter zurück, und es blieb an seinem Großvater hängen, sich um die emotionalen Folgen zu kümmern. Obgleich er über diesen Moment noch nie in solchen Worten nachgedacht hatte, wusste er doch, dass sie die Wirklichkeit trafen, ganz so, als seien sie ausgesprochen worden. Sein Vater ging neben ihm in die Knie und sah ihn festen Blickes an.
„Ich hätte gern mehr Zeit mit dir verbracht, Valerian", sagte er. „Ja", erwiderte Valerian. „Das wäre schön gewesen." „Es gibt noch viel zu tun, wenn du ein würdiger Erbe werden willst, aber auf mich wartet Arbeit, und dabei kannst du mir noch nicht helfen. Du bist noch nicht stark und noch nicht klug genug, aber du wirst es werden. Du wirst in den kommenden Jahren viel Schlechtes über mich hören, aber du sollst wissen, dass nichts davon wahr sein wird. Was ich tue, gilt dem Wohl der Menschheit. Vergiss das nie." Und Valerian hatte es nie vergessen. Trotz der Vorbehalte seiner Mutter verfolgte Valerian eifrig jeden Bericht auf UNN, der seinen Vater betraf. Er sah Bombenanschläge, Attentate und wie die Revolution sich über den Sektor ausbreitete. Einige der Berichte waren so lächerlich, dass selbst ein Neunjähriger sie durchschauen konnte, andere jedoch schienen die blanke, nicht zu beschönigende Wahrheit zu sein. Bilder von verbrannten Körpern und zerfetzten Leichen, die aus durch Sprengstoff zerstörten Gebäuden der Konföderation getragen wurden... Brennende Fahrzeuge der Konföderation, aufs Korn genommen von einer der vielen Rebellengruppen, die sich langsam, aber sicher unter dem Banner und der Führung seines Vaters sammelten... Fabriken, die den Alten Familien gehörten, wurden bombardiert, jedes Ziel sorgfältig ausgewählt, um der wirtschaftlichen Infrastruktur der Konföderation den größtmöglichen Schaden zuzufügen... Davon war natürlich in keinem dieser Berichte die Rede, aber Meister Miyamoto sorgte dafür, dass Valerian stets nach der Antwort auf die wichtigste Frage suchte, wenn er sah, was sein Vater getan hatte: Warum? Warum wurde gerade diese Fabrik zerstört? Warum wurde gerade dieser Offizielle getötet? Jede Frage zwang Valerian, über die simplen, blutigen Fakten der Tat hinauszublicken und nach einem tieferen Zweck als dem der bloßen Schadensverursachung zu suchen. Obschon es schwer war, sich so viele Bilder von Tod und Leid anzusehen, war Valerian doch sicher, dass all das einem höheren Ziel diente. Diese Menschen waren Teil der Konföderation, und sie hatten die Eltern und die Schwester seines Dads kaltblütig ermordet. Meister Miyamoto hatte Valerian gedrängt, die Dinge nicht einfach nur so schwarz und weiß zu sehen. Aber unter dem Verlust,
den ein junger Mensch empfand, hatten derlei tiefere Betrachtungen kaum eine Chance. Hochgeistige Ideale waren ja schön und gut bis man vor der Prüfung stand, auch im Angesicht einer persönlichen Tragödie an ihnen festzuhalten. Die Konföderation hatte seinem Dad die Eltern und die Schwester genommen, und Valerian hatte zwei Großeltern und eine Tante verloren, die er nicht kannte, die kennenzulernen er niemals eine Chance gehabt hatte. Wenn es das nicht wert war, Blut darüber zu vergießen, was dann? Valerian wusste, dass überall im Raum der Konföderation nach seinem Vater gefahndet wurde, dass er ein gesuchter Terrorist und Mörder war. Aber diese Stempel hatten ihm seine Feinde aufgedrückt, und darum schenkte Valerian ihnen kaum Beachtung. Er wusste, wer sein Vater war, und er wusste, dass er, wenn er seinen Vater wiedersah wann immer das auch sein mochte -, nicht wieder jene Enttäuschung sein würde, die er, wie er jetzt wusste, bei ihrer ersten Begegnung für ihn gewesen war. Er erinnerte sich, wie seine Mutter ihm unter Tränen erzählt hatte, dass sein Vater ihn einen Bücherwurm genannt hatte, einen weibischen Schwächling ein Geständnis, das sie später bereute, das sich aber nicht mehr ungeschehen machen ließ. In diesem Augenblick hatte Valerian sich geschworen, dass man nie wieder so von ihm denken würde, und er hatte angefangen, Sport zu treiben, als hinge sein Leben davon ab. Es hatte ein paar Kontakte zu seinem Vater gegeben, aber alle waren durch seinen Großvater erfolgt, und sie waren allenfalls sporadisch zu nennen. Icarus IV war der fünfte Ort, an dem sie innerhalb von zwei Jahren lebten, und es sah aus, als würde es nicht der letzte sein. Valerian versuchte, sich nirgends heimisch zu fühlen, weil er wusste, dass jederzeit der Befehl ergehen konnte, der sie anwies, abermals umzuziehen. Dann würde Valerians Großvater sie auf einen weiteren abgeschiedenen umojanischen Außenposten oder in eine abgelegene Kolonie schicken, um sie zu verstecken, und das Ganze ging wieder von vorne los. Die Notwendigkeit dieses Vorgehens wurde Valerian auf brutale Weise vor Augen geführt, als er sich einmal darüber beklagte, andauernd umherziehen zu müssen, und seine Mutter bat, ihn nicht schon wieder woandershin zu schleifen. Sie hatte eingewilligt, noch ein wenig länger zu bleiben, aber eines Nachts war Valerian von den Rufen von Soldaten, von Schüssen und dem Wi-
derschein von Explosionen geweckt worden. „Kein Wort, kein Ton, Val, mein Schatz", sagte seine Mutter, zerrte ihn aus seinem Bett und reichte ihn einem umojanischen Soldaten in zerschrammter Kampfrüstung. Valerians Erinnerungen an damals waren ungeordnet und bruchstückhaft, aber er wusste noch, wie er durch die Nacht getragen wurde, wie die Dunkelheit unter dem stotternden Blitzen von Feuer aufriss. Er war gefallen, als der Mann, der ihn trug, zusammenbrach, wurde jedoch wieder aufgehoben und begriff im selben Moment, dass der erste Soldat getötet worden war. Man hatte sie an Bord des Dropschiffs gescheucht, das stets in der Nähe bereitstand, und als es brüllend und ruckelnd in die Höhe stieg, klammerte Valerian sich an seine Mutter und sagte: „Mommy? Wird Dad uns jemals zu sich holen?" „Ja, mein Schatz", hatte sie geantwortet. „Das wird er. Eines Tages." Während der Pilot sie in Sicherheit brachte, hatte Valerian stundenlang dagelegen, den Kopf im Schoß seiner Mutter, und hatte sich von ihr über das goldene Haar und die Sorgen fortstreichen lassen. Er hörte sie weinen und tat so, als schliefe er, und ließ sie glauben, es sei ihr gelungen, ihn zu beruhigen. Nie wieder hatte Valerian sich beklagt über die Notwendigkeit, nie lange an einem Ort zu bleiben. Es war schwer, ständig unterwegs zu sein, aber so schwer es auch für ihn sein mochte, keine richtigen Freunde und keine Stabilität im Leben zu haben, wusste er doch, dass es für seine Mom noch schwerer war. Sie versuchte es zu verbergen und leugnete es, wann immer er das Thema zur Sprache brachte, aber Valerian wusste, dass sie sehr krank war. Was ihr genau fehlte, war ihm nicht bekannt, aber er sah die graue Blässe ihrer Haut und wie das Gewicht von ihren Knochen abzuschmelzen schien, ganz gleich, wie viel sie aß was auch zu besten Zeiten nicht sehr viel war. Nachts hörte er sie rau husten, und er weinte, wenn er an ihre Schmerzen dachte und daran, dass sie nichts dagegen tun konnte. Während all dem war Valerians drängendste Frage: Warum? Warum kam sein Dad nicht zu ihnen? Er wusste, dass sein Großvater ihn über Julianas Erkrankung informiert haben musste, aber die Wochen und Monate vergingen, ohne dass sein Vater sich blicken ließ. War es ihm egal?
Es fiel Valerian schwer, über die sich türmenden Beweise für die Gleichgültigkeit, die sein Vater für ihr Los empfand, hinwegzublicken und sich das Bild zu bewahren, das er sich als Kind von ihm geschaffen hatte. Moms Krankheit wurde stets stillschweigend als Thema fallen gelassen, wann immer er darauf zu sprechen kam. Aber Valerian wusste, dass es außerordentlich ernst sein musste, wenn man es derart vor ihm verheimlichte. Eine ganze Reihe von Ärzten war gekommen und gegangen, und keiner von ihnen schien etwas parat zu haben, um Moms furchtbares raues Husten zu lindern oder sie wieder an Gewicht zunehmen zu lassen. Er hatte Begriffe gehört wie „langfristig", „inoperabel", „unheilbar", „nicht lebensfähig", „nicht zu behandeln" und andere, die er nicht verstand, aber ihre Bedeutung war nur allzu klar. Mit jedem Eintreffen eines neuen Doktors verspürte Valerian einen Anflug von Hoffnung. Aber stets erlosch diese Hoffnung, wenn auch dieser Mediziner wieder abreiste. Sein Großvater jedoch war offensichtlich nicht bereit aufzugeben, auch wenn sein Dad das bereits getan zu haben schien. Valerian spürte, wie seine Wut zunahm, und er versuchte, sie zu unterdrücken. Eines der Dinge, die sein Vater ihn gelehrt hatte, war hängen geblieben dass Wut ein vergeudetes Gefühl war. „Wütende Menschen tun dumme Dinge, Valerian", hatte sein Dad gesagt. „Sprich, wenn du wütend bist, und du wirst jedes Wort bereuen. Wenn du also spürst, wie du wütend wirst, denke an die Konsequenzen, bevor du handelst." Er legte das Buch beiseite, schloss die Augen und versuchte, das Auf und Ab seiner Emotionen zu besänftigen. Doch das fiel ihm schwer bei all dem Lärm, der von unten zu ihm heraufdrang. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass dieser Lärm von unten für diese Tageszeit nicht normal war, und er setzte sich auf, als er bemerkte, wie aufrührend dieser Lärm anmutete. Valerian hörte jemanden weinen und ging rasch zur Tür seines Zimmers. Irgendetwas stimmte da nicht, und so eilte er hinunter und strebte dem großen Raum im hinteren Teil des Hauses entgegen, der ihnen am Abend als anheimelnder Ort zum Beisammensein diente. Er vernahm laute Flüche und wieder Weinen, und eine kalte Hand legte sich um sein Herz, als er sich plötzlich fragte, ob sei-
ner Mom etwas zugestoßen sein mochte. Valerian rannte nun und schlitterte in das Zimmer, aus dem das Weinen kam. Der Raum war voller Menschen, und alle starrten wie gebannt auf etwas, das der Cine-Viewer als flackerndes holografisches Bild in die Zimmerecke warf. Zuerst empfand Valerian Erleichterung, als er seine Mutter in der Mitte des Raumes stehen sah. Dann aber fiel ihm auf, dass um ihn herum viele Leute waren, die aussahen, als hätten sie die denkbar schlimmste Neuigkeit erhalten. Ein paar Köpfe wandten sich ihm zu, die Gesichter tränenverschmiert, dann richteten die Blicke sich schnell wieder auf das sich abspielende Drama, das der Cine-Viewer zeigte. Das Bild war unscharf und dunkel, aber von hier aus betrachtet, schien es einen großen schwarzen Ball darzustellen. „Was ist denn los?", fragte Valerian. „Warum sind alle so traurig?" „Oh, Val, mein Liebling", sagte seine Mom, eilte zu ihm und nahm ihn fest in die Arme. „Oh, Schatz, es geht um Korhal." „Korhal? Der Planet, von dem Dad kommt? Was ist damit?" Seine Mutter zögerte, als sei sie nicht sicher, ob sie ihm sagen sollte, was passiert war. „Es ist schon gut, Mom", ermunterte er sie. „Sag's mir." „Korhal... gibt es nicht mehr, mein Schatz." „Gibt es nicht mehr? Wie kann es einen ganzen Planeten nicht mehr geben?", wollte Valerian wissen. „Der ist doch viel zu groß, um einfach weg zu sein." Seine Mutter rang um Worte, Tränen liefen ihr aus den Augen. „Ich meine... nun... Korhal wurde..." „Die Konföderation hat einen thermonuklearen Schlag gegen Korhal geführt", sagte Meister Miyamoto, der neben Juliana trat. „Eintausend nukleare Missiles der Apocalypse-Klasse, so heißt es in der Pressemeldung des Militärs." Valerian spürte, wie sich sein Magen verkrampfte und schreckliche Angst ihm alle Glieder lähmte. „Korhal ist vernichtet? Und Dad? Ist Dad tot?" „Nein! Nein, er lebt", sagte seine Mom. „Wir haben Nachricht von deinem Großvater erhalten, kurz nachdem die ersten Meldungen kamen. Deinem Dad geht es gut." Erleichterung durchflutete ihn, und er löste sich aus Moms Armen, während alle anderen im Raum unverwandt auf die Bilder
des Cine-Viewers blickten. Valerian stand vor der flackernden Darstellung Korhals, sah auf die schwarze Kugel, auf die mit elementarer Gewalt ein nuklearer Hagelsturm niederging. Die einst üppige und grüne Welt war nun eine superheiße Hölle aus schwarzem Glas und Phantomen. Selbst mit seinem beschränkten Verständnis der physikalischen Wirkung nuklearer Explosionen wusste Valerian, dass eintausend Missiles ein maßloser Overkill waren. Ein derart überwältigender Angriff musste alles, was auf der Oberfläche des Planeten lebte, ausgelöscht haben. „Wie viele Menschen lebten auf Korhal?", fragte er, „Über fünfunddreißig Millionen", sagte Meister Miyamoto. „Alle tot." Die Vorstellung einer solchen Verheerung lehrte Demut. Dass so viele Menschen in so kurzer Zeit ausradiert werden konnten, war unvorstellbar. Was für ein Wahnsinniger konnte eine dermaßen böswillige Zerstörung auslösen? „Und das hat die Konföderation getan?", fragte Valerian. „Menschen ohne Ehre haben das getan", erklärte Meister Miyamoto. KAPITEL 16 Grünlich leuchtende Flammen schlugen aus der zerbombten Munitionsfabrik, aber Valerian wusste nicht, ob die Farbe von den entzündeten Chemikalien, die ausgelaufen waren, herrührten oder von der Darstellung des Cine-Viewers. Feuerwehren kämpften eine aussichtslose Schlacht gegen den Brand, und Sanitäter trugen schreiende Männer und Frauen aus dem zerstörten Gebäude heraus. Valerian empfand kein Mitleid mit diesen Menschen sie waren Angestellte der Alten Familien und damit Teil des Systems, das die korrupte Konföderation am Leben erhielt, jene Leute, die vor sechs Jahren Korhal vernichtet hatten. Das Bild wechselte von der brennenden Fabrik zu einem jungen Mann mit sandfarbenem Haar, der am Rand einer Absperrung stand, die gesichert wurde von Marines der Konföderation in voller Kampfmontur und mit schussbereiten Gaußgewehren.
„Eine weitere Gräueltat, begangen von Arcturus Mengsk und seinen Söhnen von Korhal, die uns zwingt, die Zahl der Toten in die Tausende zu beziffern", sagte der Reporter in angemessen aufgebrachtem Tonfall, aber auch nicht ohne Genuss, und davon reichlich, wie Valerian fand. „Eine noch unbekannte Anzahl von Bomben, die mit unheimlichem Geschick überall in der AresMunitionsfabrik angebracht wurden, führte zu ihrer völligen Zerstörung. Es gibt noch keine offiziellen Angaben zur genauen Opferzahl, die hier durch den jüngsten terroristischen Anschlag ermordet wurden, aber eines ist sicher: Diese Zahl ist groß. Zurück zu Ihnen, Michael." Valerian stellte den Ton ab und schüttelte den Kopf, während das Bild der brennenden Fabrik durch das von Neonlicht ausgeleuchtete, verchromte Innere des UNN-Studios auf Tarsonis abgelöst wurde. Die Nachrichtensendung war schon ein paar Tage alt, und er zweifelte nicht daran, dass vieles von dem, was der Reporter gesagt hatte, stimmte was heutzutage eine Seltenheit war. Die Söhne von Korhal... Ein passender Name, fand Valerian, ein Name, den sein Vater offenbar nach dem Atomangriff auf Korhal geprägt hatte, als er anfing, Reste von Rebellenbanden und verstreute revolutionäre Gruppierungen um sich zu scharen, um die Konföderation zu stürzen. Diese bunt zusammengewürfelten Soldaten waren zu einer Armee geschmiedet worden, die sich, wenn es stimmte, was er von seinem Großvater hörte als große Bedrohung für die andauernde Existenz des gegenwärtigen Regimes erwies. Dennoch sah man auf UNN nur Berichte, in denen Arcturus Mengsk als Wahnsinniger bezeichnet wurde, als Verrückter, der irre redete, über den Äther seine angebliche Göttlichkeit verkündete und von Fremdwesen sprach, die den Rat von Tarsonis unter Drogen setzten, mittels deren sie die Entscheidungen des Gremiums steuerten. Wenn UNN einmal Ausschnitte aus den Übertragungen seines Vaters sendete, was sehr selten geschah, waren sie so verstümmelt, zensiert und manipuliert, dass selbst ein Kind erkennen konnte, wie entstellt der ursprüngliche Inhalt war. Es war acht Jahre her, seit Valerian seinen Vater zum letzten Mal gesehen hatte, acht Jahre aufgezwungener Umzüge und Reisen von Planet zu Planet, um den Attentätern und Mordkommandos der Konföderation stets einen Schritt voraus zu bleiben. Ob
nun tatsächlich noch solche Killer hinter ihnen her waren, das war zweitrangig wenn ihr Leben auf dem Spiel stand, durften sie kein Risiko eingehen. Dieses Versteck war nach Valerians Meinung ein besonders öder Zufluchtsort, allerdings hatte es den Vorteil, in relativer Nähe zu Umoja zu liegen, von wo aus heimlich Vorräte geliefert und Nachrichten überbracht wurden, die seit Wochen oder sogar Monaten überholt waren. Valerian erhob sich von seinem Bett, streckte sich und überlegte, ob er eine Runde laufen sollte, ehe er sich wieder seinen medizinischen Digi-Büchern über onkologische Forschungen widmete. Stationiert in einer Umlaufbahn über einem ungastlichen Felsbrocken, der Van Osten's Moon genannt wurde, (obwohl es gar kein Mond war, weil es nichts gab, um das er kreisen konnte), verdiente Orbital 235 nicht einmal einen Namen, so abgeschieden und unbedeutend war dieser Ort für alle anderen. Schuld an der Langeweile, die ihn in dieser Orbitalstation quälte, hatte er jedoch selbst Valerian hatte diese Örtlichkeit persönlich aus einer Liste geeigneter Kandidaten ausgewählt, weil er die Bezeichnung aus einem archäologischen Bericht kannte, den ein Dr. Jacob Ramsey verfasst und den er vor zwei Jahren gelesen hatte. Auf Van Osten's Moon hatte man alte Ruinen entdeckt, und Orbital 235 war quer durchs All geschickt worden und diente seither nicht länger als Stützpunkt für Minenarbeiten, sondern für archäologische Ausgrabungen. Die Expedition war aufgrund mangelnder Finanzierung aufgegeben worden, und die Ruinen hatte man nie vollständig erkundet, sehr zu Dr. Ramseys Verdruss, wie der frustrierte Ton seines Berichts verriet. Doch Ramseys Verlust war Valerians Gewinn gewesen, und er hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt, Ruinen zu erforschen, die eine Fremdrasse hinterlassen haben mochte, nachdem er seine Sammlung von „Fossilien", die aus Gärten und Flussufern stammten, schon vor Langem aufgelöst hatte. Bis jetzt war er erst einmal in Begleitung einer Eskorte von Soldaten drunten auf dem kargen Felsbrocken gewesen trostloses, zerklüftetes Ödland. Die Oberfläche von Van Osten's Moon gab einem das Gefühl, man laufe auf etwas, das ein Teil von etwas viel Größerem sein sollte. Aber wo dieses Empfinden herkam, das wusste Valerian
nicht. Die Atmosphäre war sandig und kalt, als atme man an einem eisigen Wintertag. Zwar brauchte man keine Atemgeräte, aber in der dünnen Luft wurde einem schnell schwindlig, und man verlor leicht die Orientierung. Um nicht die Aufmerksamkeit des Erkundungskorps der Konföderation zu erregen, wurde die Forschungsausrüstung in mehreren Ladungen angeliefert, und es würde noch etwas dauern, bis Valerian genug davon zusammengebaut hatte, um die Ruinen gründlich unter die Lupe nehmen zu können. Was er allerdings bis jetzt davon gesehen hatte, war in atemberaubendem Maße ehrfurchtgebietend „Ehrfurcht gebietend" im wahrsten Sinne des Wortes, im Sinne von „Ehrfurcht, Staunen und Bewunderung hervorrufend". Die Ruinen lagen am Rande der Welt und überblickten, was einst ein Meeresbecken gewesen sein mochte, ragten hoch über die Tafelberge ringsum auf, spiralförmige Stummel abgebrochener Türme und eingestürzte Höhlen, die zu riesig und geometrisch zu perfekt waren, um von irgendetwas anderem erschaffen worden zu sein als von der Hand intelligenter Wesen. Alles, was Valerian erblickte, barg eine merkwürdige Fusion von Organischem und Künstlichem durch das Gestein verwitterter Wände zogen sich seltsam aussehende Legierungen. Schluchten, Berge und Kavernen waren kunstfertig den Bedürfnissen der Erbauer angepasst. Er fand gewaltige, hohe Höhlen mit runden, gerippten Decken und geschwungene Tunnel, die tief unter die Oberfläche von Van Osten's Moon hinabreichten. Einerseits war er zwar froh, dass die Stätte in weiten Teilen unerforscht geblieben war, andererseits wunderte Valerian sich über die Dummheit der Bürokraten, die einen derart herrlichen Fund nicht finanzieren wollten. Die Größe und das anzunehmende Alter dieser Stätte waren erstaunlich, die Felszersetzung ließ auf Zeitspannen schließen, die eher an geologische Zeitalter gemahnten als an irgendwelche Zeiträume, die für Menschen vorstellbar waren. Wer diese Anlagen erbaut hatte, war ein Geheimnis, eines, von dem Valerian das Gefühl hatte, es lüften zu können, stünden ihm nur die geeigneten Mittel und genug Zeit zur Verfügung. Obwohl sein Vater versichert hatte, dass es ihm und seiner Mutter nie an Geld mangeln würde der Mineralfund, auf den er gestoßen war, bevor sie sich kennengelernt hatten, erwies sich als scheinbar
unversiegbare Geldquelle, die inzwischen von einer ansehnlichen Armee von Soldaten sowie Panzern und Goliaths geschützt wurde -, wusste Valerian, dass die Zeit gegen ihn arbeitete. Nachdem sein Vater der meistgesuchte Mann der Galaxie geworden war, würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis die Bluthunde wieder nach ihren Fersen schnappten und sie zwangen, weiterzuziehen. Die Krankheit seiner Mutter hatte ihn bereits gezwungen, mit der Erkundung der fremdartigen Ruinen zu warten, aber das Treiben seines Vaters würde ihn zwingen, sie zurückzulassen. Das Ergebnis blieb sich gleich. Valerian fuhr mit seinen Dehnübungen fort; er wusste, dass ein anstrengender Lauf seinen Stress und die Wut auf seinen Vater zu einem Teil abbauen würde. Es war schwer, wütend auf jemanden zu sein, den man so lange nicht gesehen hatte, aber Valerian brauchte nur an den Zustand seiner Mutter zu denken, und schon flammte die Glut der Verbitterung in neuem Feuer wieder auf. Es klopfte nervös an der Tür seines Zimmers, und er sagte: „Herein, Charles." Die Tür öffnete sich, und ein junger Mann, nur ein paar Jahre älter als Valerian, trat ein. Er trug einen tadellos geschneiderten Anzug, und seinen Kopf krönte ein Schopf struppiger roter Haare, die einen starken Kontrast zur Blässe seines Gesichts bildeten. Charles Whittier war vor einem Jahr zu ihrer umherziehenden Flüchtlingsgruppe gestoßen; er war der Berater und Leibdiener, den sein Vater geschickt hatte. Valerian war überzeugt, dass Whittier seinem Vater Bericht erstattete, nur warum er das tat, war ihm nicht ganz klar. Valerian stellte sich dumm, aber er traute Whittier nicht uneingeschränkt über den Weg für ihn war Whittier ein fähiger Diener, der Valerian ebenso bereitwillig wie kompetent zur Verfügung stand, nicht mehr und nicht weniger. „Guten Morgen, Sir", sagte Whittier. „Ich hoffe, ich störe Sie nicht." „Ganz und gar nicht", erwiderte Valerian. „Ich wollte gerade zum Laufen aufbrechen." „Oh, dann fürchte ich, mit einem Anliegen gekommen zu sein, dass Ihnen nicht zupass kommen könnte." „Und das wäre?" „Ihre Mutter... sie wünscht Sie zu sprechen", antwortete Whit-
tier. Valerian ging durch die stählernen Gänge der Orbitalstation. Die Leuchtstreifen, die in Wände und Decke eingelassen waren, bleichten Leben und Farbe aus allem heraus. Die Beleuchtung hatte früher zu einer Bergbauanlage gehört, und dort waren die Sichtverhältnisse wichtiger gewesen als Ästhetik, ein Konzept, das Valerian verstand, auch wenn er es nicht unbedingt guthieß. Alles an Bord von Orbital 235 war schlicht und zweckmäßig, wie es zu erwarten war an einem Ort, wo Platz Vorrang hatte und kräftige, vor allem grob motorisch veranlagte Männer einen Großteil ihrer Zeit verbringen sollten. Die Luft war trocken und wiederaufbereitet, und Valerian ertappte sich zum etwa hundertsten Mal bei dem Wunsch, wieder auf Umoja zu sein, mit seiner würzigen Luft und dem kupfernen Himmel. Er ging schnellen Schrittes. Sein Körper rang jetzt mit der Pubertät und veränderte sich täglich. Er sah immer noch so gut aus, dass er fast schön war. Seine Haut war makellos und sein Haar golden. Seine Züge wandelten sich vom Jungen zum Mann, aber er konnte bereits erahnen, wie sie letztlich aussehen mussten, und er wusste, dass sie perfekt sein würden. Whittier ging neben ihm, seine Beine schienen sich doppelt so schnell zu bewegen wie die von Valerian, nur um mit ihm Schritt halten zu können. Er war schlank und schien fit, aber der Mann besaß kaum Energie, etwas, womit Valerian im Übermaß gesegnet war. „Wie klang sie, als Sie mit ihr sprachen?", fragte Valerian. „Eigentlich wie immer, Sir. Allerdings wirkte sie heute ein wenig lebhafter." „Wirklich? Das ist gut. Irgendeine Ahnung, warum?" „Nein, Sir", erwiderte Whittier. „Allerdings erhielt sie ein Kommunique von ihrem Vater." „Woher wissen Sie, von wem es stammte, Charles?", wollte Valerian wissen. „Haben Sie es sich erst angesehen?" „Das habe ich ganz sicherlich nicht", verwahrte sich Whittier. „Die bloße Vorstellung...! Ihr Großvater schickt zu Monatsanfang immer eine Nachricht. Es ist Monatsanfang, ergo kommt die Nachricht von Ihrem Großvater." „Anfang welchen Monats? Wir sind im All, Charles."
„Ich führe einen Kalender über die Tagesrotationen auf Umoja und Tarsonis, um unsere Zeit in Relation dazu zu berechnen. Unter solch abgeschiedenen Verhältnissen ist es der Orientierung zuträglich, wenn man sich nach einem festgesetzten Referenzpunkt richten kann." „Sind Sie viel durchs All gereist?" „Mehr als mir lieb ist", lautete Whittiers unverbindliche Antwort. Valerian wollte noch weitere Fragen stellen, glaubte aber, keine wirklich aufschlussreichen Antworten zu erhalten, und so ließ er das Thema ruhen und konzentrierte sich darauf, warum seine Mutter ihn zu sich gerufen haben mochte. Juliami Pasteur war keine gesunde Frau, ihre Krankheit hatte sich im Laufe der vergangenen sechs Jahre noch verschlimmert. Nach seinem fünfzehnten Geburtstag hatte Valerian darauf bestanden, zu erfahren, was ihr fehlte, und endlich hatte sie ihm die Wahrheit gesagt über das, was die Ärzte herausgefunden hatten Obschon er sich manchmal wünschte, sie hätte es nicht getan. Bei seiner Mutter hatte man ein Karzinom diagnostiziert, einen seltenen Krebsbefall des neuroendokrinen Systems. Der Krebs war in ihrem Darm entstanden und über die Jahre langsam gewachsen, weshalb es so lange gedauert hatte, bis sie herausfand, dass es schlechter um sie stand, als sie zunächst annahm. Als sie schließlich einen Arzt aufsuchte, hatte der Krebs bereits auf ihre Leber übergegriffen und begonnen, andere Teile ihres Körpers mit unvorstellbarer biologischer Aggressivität anzugreifen. Das Fortschreiten war langsam, aber stetig erfolgt und hatte sie ihrer Vitalität beraubt und das Fleisch von den Knochen gefressen. Nicht einmal die modernsten Operationsmethoden hätten den Krebs besiegen können, ohne sie dabei selbst zu töten. Valerian hatte mit ihr geweint, als sie es ihm sagte und ihn sanft durch dieselben Reaktionen leitete, die sie bereits durchgemacht hatte: Leugnen, Schock, Wut, Traurigkeit, Schuldgefühl und Angst. Sie würde sterben und hatte sich damit arrangiert. Das war mehr, als Valerian vermochte. Er hatte seine Ausflüge zur Oberfläche des Planetoiden, den sie umkreisten, augenblicklich eingestellt und sich stattdessen in die Erforschung der Krankheit seiner Mutter gestürzt, trotz der offenbaren Aussichtslosigkeit dieser Bemühungen. Vielleicht weil man ihr gesagt hatte, dass sie noch etliche Jahre leben konnte, ehe sie
sterben musste, hatte seine Mutter versucht, ihn davon abzuhalten, seine Zeit mit der Suche nach der Möglichkeit einer Wunderheilung zu verschwenden. „Wenn man kämpft, um an etwas festzuhalten, kann dieses Etwas bisweilen zerstören", sagte sie eines Abends zu ihm, als sie ihn im Arm hielt, während er weinte. „Lass uns die Zeit genießen, die uns noch bleibt, Val. Lass mich zusehen, wie du aufwächst und dein Leben lebst. Vergeude es nicht damit, gegen Windmühlen zu kämpfen." Aber nichts, was sie sagte, konnte sein Bedürfnis stillen, irgendetwas zu tun, auch wenn dies ein Feind sein mochte, den zu bekämpfen ihm die Mittel fehlten. Er fand heraus, dass weder die modernsten Intraskoplaser Geräte, die bestimmte Bereiche des Körpers mit exakt definierter Hitze bestrahlen konnten noch die neuesten Medikamente oder auch Nano-Brachytherapie diesen Feind töten konnten, ohne vorher sein Opfer umzubringen. Doch Valerian war ein Mengsk, und er gab nicht einfach auf. Er forderte weitere Digi-Bücher und die aktuellsten Forschungserkenntnisse der besten medizinischen Einrichtungen auf Umoja und Tarsonis an (natürlich auf sicherem Wege, damit nicht bekannt wurde, wo sie sich versteckten). „Sir?", sagte Whittier, und Valerian zuckte zusammen. Er hatte nicht gemerkt, dass sie den Raum seiner Mutter erreicht hatten, und fragte sich, wie lange er so dagestanden hatte. „Wollen Sie nicht hineingehen?", fragte Whittier. Valerian holte tief Luft. „Doch. Natürlich will ich hineingehen." Valerian saß neben dem Bett seiner Mutter, hielt ihre Hand und wünschte, er könnte etwas von seiner eigenen Energie auf sie übertragen. Er hatte reichlich davon, was hätte es also geschadet, die kosmische Balance auszugleichen? Aber so funktionierte das Universum nicht, das wusste er. Dem Universum war es egal, dass guten Menschen Schlimmes widerfuhr, und ebenso gleichgültig war ihm das Los sterblicher Kreaturen, die im Schutt der Welten umherkrochen, ganz gleich, was diejenigen, die an göttliche Wesen glaubten, auch behaupteten. Seine Mutter saß aufrecht in ihrem Bett, die Haut blass und durchscheinend, als sei sie zu straff über ihre Gesichtsknochen gespannt. Das Haar fiel ihr über die Schultern, doch war die einst goldene Fülle zum kränklichen Gelb eines chronischen Rauchers
geworden. Sie war immer noch schön, aber es war eine stille Schönheit, erkauft mit der Akzeptanz des Todes. Es fiel Valerian schwer, sie anzublicken, weil er fürchtete, die Kontrolle über seine Gefühle zu verlieren, wenn er zu lange hinschaute. In Momenten wie diesem verfluchte er seinen Vater für die Lektionen in emotionaler Beherrschung. „Warst du heute bei deinen Ruinen, Val?", fragte sie. „Nein, Mom", antwortete er. „Das war ich nicht. Ich geh nicht mehr hinunter, das weißt du doch." „Ach ja, ich vergaß", sagte sie und machte eine abwinkende Bewegung mit ihrem knochigen Arm. „Es wird schwerer, Dinge zu behalten, weißt du?" Valerian sah sich in dem Raum um, dessen nüchterne Zweckmäßigkeit ihn an den Arbeitsplatz eines Leichenbestatters erinnerte. Er hasste den Gestank der Niederlage, der den Raum erfüllte. „Hast du Durst?", fragte er, nur um irgendetwas Sinnvolles zu sagen. Sie lächelte. „Ja, mein Schatz. Schenk mir doch bitte etwas Wasser ein, ja?" Valerian füllte zwei Plastikbecher mit lauwarmem Wasser, reichte ihr einen davon und wartete, bis sie ihn sicher mit beiden Händen umfasst hielt, bevor er losließ. Sie hob den Becher an ihr hageres Gesicht, nippte vom Wasser und reichte ihn dann lächelnd zurück. „Charles sagte mir, du hättest heute eine Nachricht bekommen", sagte Valerian. „Das habe ich", erwiderte seine Mutter mit einem Lächeln, das ihr Gesicht nur noch leichenähnlicher aussehen ließ. „Von deinem Großvater." „Was weiß er diesen Monat zu erzählen?" „Er sagt, dein Vater wird uns besuchen kommen." Valerian fiel der Trinkbecher aus der Hand. Der gewundene Felsendorn ragte über Valerian auf wie das Horn eines gewaltigen, eingegrabenen Narwals, die Oberfläche hier vernarbt und da glatt geschliffen von unzähligen Jahrhunderten. Er strich mit der Hand darüber und spürte die kribbelnde Wärme, die von der gerieften Oberfläche des Felsgesteins ausging und im krassen Gegensatz zu der Kühle der umgebenden Luft
stand. Blanke Wände aus geschwungenem Fels wuchsen in die Höhe und bildeten eine natürliche Schlucht, von der Valerian annahm, dass sie einst von rippenartigen Steinbalken überdacht worden war, die nun zu Trümmern zerbrochen und weit verstreut zu seinen Füßen lagen. Eisiger sandiger Wind heulte durch die Schlucht und beklagte den Einsturz eines so mächtigen Bauwerks, und Valerian überlegte, was für eine Katastrophe geschehen sein mochte, um diese Zerstörung anzurichten. Die dünne Atmosphäre kräuselte den Himmel, in weiter Ferne pulsierten Sterne, ihr Licht bereits Jahrtausende alt. Er zog die dicke Jacke fester um sich und rückte seine Schutzbrille zurecht, bevor er die mit losem Geröll übersäte Schräge weiter hinabstieg, die zu der gewaltigen Höhlenöffnung dort unten führte. Er war schon in dieser Höhle gewesen und hatte zwischen ihren schimmernden Hybridwänden eine tiefe Verbindung zur Vergangenheit verspürt. Das Wissen, dass längst vergessene Hände diesen uralten Palast mit beeindruckender Kunstfertigkeit erschaffen hatten, bereitete ihm ein elektrisierendes Gefühl, war es doch Beweis dafür, dass in der Galaxie schon lange vor der Ankunft der Menschen Leben existiert hatte. Die Geheimnisse, die hier noch begraben liegen mochten, waren unermesslich, und Valerian sehnte sich nach einer Gelegenheit, die Tiefe dieser Mysterien auszuloten, sowohl um der Erkenntnisse willen als auch der Belohnung wegen, die sie ihm eintragen würden. Valerian hielt inne und gönnte sich einen Augenblick, in dem er die Einsamkeit genoss, und er lächelte still, als ihm bewusst wurde, dass er wahrscheinlich im ganzen Leben noch nicht so allein gewesen war wie jetzt. Er war der einzige Mensch auf diesem Felsen, und das Freiheitsgefühl, das dieses Wissen in ihm weckte, war berauschend. Die Nachricht, dass sein Vater Orbital 235 aufsuchen würde, hatte Valerian verdrossen und reizbar gemacht. Er konnte sich nicht mehr auf seine Forschungen konzentrieren, und seine Mutter hatte ihn sogar gescholten etwas, das sie so gut wie nie tat. Frieden fand er nur auf der Oberfläche von Van Osten's Moon, allein mit seinen Gedanken und den Ruinen einer vergessenen fremden Spezies. Was hatte die Erbauer hierher geführt, und was
war aus ihnen geworden? Rätsel, von denen Valerian sicher war, sie lösen zu können, wenn er nur die Zeit dazu fand. Zeit. Zeit war der Dreh- und Angelpunkt. Zeit, die er und vor allem seine Mutter nicht hatten. Es war ihm gelungen, Charles Whittier zu überzeugen, ihn ohne Eskorte auf die Oberfläche von Van Osten's Moon hinunterzulassen, und so hatte er einen der beiden Flieger der Station nahe der Mündung einer der größten Schluchten gelandet. Er war mit einer locker sitzenden Arbeitshose und einer dick isolierten Jacke bekleidet. Auf dem Rücken trug er einen Rucksack, in dem sich ein Funkgerät, Vermessungsausrüstung sowie Essen und Wasser befanden. In einem Schulterholster steckte ein Slugthrower, und sein Lieblingsschwert hatte er sich an die Hüfte gegürtet. Er suchte die Einsamkeit, aber er wollte nicht durch fremde Ruinen streifen, ohne gewisse Vorsichtsmaßnahmen getroffen zu haben. Der Weg entlang der felsigen Schlucht war bisher ganz einfach gewesen, dennoch bereitete ihm das Luftholen Mühe, und darum stülpte er sich die Atemmaske eines kleinen Sauerstofftanks über Mund und Nase. Vom Boden stieg eine Staubwolke auf, und Valerian schaute nach oben, wo er die zweite Landefähre der Orbitalstation aufblinken sah. Sie kreiste über ihm und kam näher, um an der Mündung der Schlucht niederzugehen. Er verfluchte die Störung und war fast schon im Begriff, einfach weiterzugehen (zum Teufel mit den Neuankömmlingen!), aber dann zwang er sich doch, davon abzusehen. Die Fähre setzte ohne Probleme auf, und binnen weniger Augenblicke öffnete sich die Seitenluke, und eine groß gewachsene Gestalt trat heraus in die Zwielichtwelt von Van Osten's Moon. Valerian erkannte ihn sofort, und sein Herz hämmerte ihm gegen den Brustkorb. Die machtvolle Statur des Mannes dort war unverkennbar, selbst aus dieser Entfernung. Sein Vater. Arcturus Mengsk stieg die Leiter herunter und machte sich auf den Weg zu seinem Sohn. Valerian sah, dass sein Vater dasselbe trug wie er, strapazierfähige Arbeitskleidung und grobe Stiefel. Wie Valerian hatte sich auch sein Vater einen Rucksack über die Schultern gestreift, und er bewegte sich mit der natürlichen Si-
cherheit eines Menschen, der es gewohnt war, die Zügel in seinen Händen zu halten. Während sein Vater näher kam, nahm Valerian sich die Zeit, um ihn eingehend zu betrachten. Arcturus' Haar war immer noch dunkel, doch an seinen Schläfen und in seinem Bart zeigten sich die ersten grauen Spuren. Erst Mitte dreißig, schien der andauernde Krieg gegen die Konföderation seinen Vater frühzeitig altern zu lassen dennoch war er nach wie vor eine imposante und stolze Gestalt. Trotz der dünnen Atmosphäre schien die Anstrengung seinem Vater nichts auszumachen; festen, steten Schrittes kam er über das raue Terrain auf ihn zu. Er winkte seinem Sohn, und Valerian erwiderte den Gruß, ohne es eigentlich zu wollen. Seine Mutter hatte ihm einmal erzählt, dass manche Leute sich förmlich überschlugen, um seinem Vater zu gefallen, ohne ihr Verhalten wirklich erklären zu können. Valerian fragte sich, ob dieser realitätsverzerrende Effekt in diesem Augenblick auch auf ihn wirkte. Arcturus stemmte sich auf eine umgestürzte Felsplatte und atmete die dünne Luft tief ein. „Das macht frisch, was?", sagte Arcturus. Valerian nahm die Atemmaske ab und erwiderte: „Das ist alles? Das ist deine Begrüßung nach acht Jahren?" „Ah, du bist wütend", sagte Arcturus, hielt inne und setzte sich auf einen glatten Steinbrocken. „Eine natürliche Reaktion, durchaus. Musst du mir für eine Weile Vorwürfe machen, ehe wir uns wie Männer unterhalten können? Das wird nichts bringen, aber wenn du das Gefühl hast, es tun zu müssen, nur zu." Valerian spürte, wie der Wutausbruch, dem er eigentlich freien Lauf hatte lassen wollen, in seiner Brust verging, und die zornige Entgegnung, die ihm auf der Zunge lag, geriet zur Totgeburt. „Sicher", meinte er. „Ebenso gut könnte ich auf diese Steine hier wütend sein, das wäre genau dasselbe." „Worte, die man in der Wut spricht, sind nichts weiter als heiße Luft, Valerian. Sie treffen kaum einmal ins Schwarze, richten keinen Schaden an, tun niemandem weh, welchen Sinn sollten sie also haben? Es gibt keine Worte, die so gründlich vernichtend sind, wie die Worte, die man sich gründlich überlegt hat." „Du musst es ja wissen", sagte Valerian. „UNN lässt dich ausse-
hen wie einen durchgedrehten Wahnsinnigen." Arcturus winkte ab. „Was auf UNN läuft, glaubt doch sowieso niemand, und je mehr sie mich verleumden, desto mehr Menschen wachen auf und erkennen, dass ich der Konföderation Kopfzerbrechen bereite." „Und? Tust du das? Der Konföderation Kopfzerbrechen bereiten?" Sein Vater stand auf, kam zu ihm und musterte ihn von Kopf bis Fuß wie ein besonders prachtvolles Stück Vieh. „Oh ja, ich würde sagen, das tue ich. Die Konföderation ist im Begriff zu fallen ich kann sehen, wie die Sprünge mit jedem Tag tiefer und breiter werden. Mein Vater und dein Großvater wussten, was sie taten, aber sie planten nicht im großen Stil." „Und du tust das?" „Allerdings", erwiderte Arcturus und nickte in Richtung der Höhlenöffnung, zu der Valerian unterwegs gewesen war. „Wie wär's, wenn du mir zeigst, womit du dir auf diesem kahlen Stück Fels die Zeit vertreibst?" Valerian nickte und setzte sich ohne ein weiteres Wort in Bewegung, folgte einem unsichtbaren Pfad die Schräge hinab und auf den gähnenden Eingang der Höhle zu. Ihre Ausmaße waren gewaltig, und sie brauchten noch eine Stunde, um die Sohle der Schlucht zu erreichen, wo die hoch aufragenden Wände sie in Schatten und Kälte hüllten. Die Felsoberflächen waren glatt und glasig transparent, wie unter starker Hitze gebrannt, und wiesen Streifen von etwas auf, das aussah wie glänzendes Metall. Im Herzen der Felsen lagen perfekt gerundete Edelsteine begraben. „Faszinierend", meinte sein Vater. „Die Oberfläche sieht magmatisch aus, scheint jedoch metamorph zu sein. Weißt du, worum es sich bei der Substanz des Protoliths handelt?" „Nein", antwortete Valerian, und auf einmal wünschte er sich, er wüsste mehr über die Gesteinsformation und hätte speziellere Ausrüstung zur Verfügung. „Ich weiß nicht einmal, was das heißt." „Ach so, ja, das hätte ich mir denken können", sagte Arcturus. „Metamorphisches Gestein entsteht, wenn eine bereits existierende Gesteinsart, der Protolith, in etwas ganz Neues verwandelt wird." „Was könnte eine solche Verwandlung auslösen?"
Arcturus presste die Hand gegen den Felsen und berührte mit der Stirn die glatte Oberfläche. „Für gewöhnlich wird so etwas durch hohe Temperaturen und den Druck der darüberliegenden Gesteinsschichten verursacht, aber es könnten auch tektonische Prozesse wie kontinentale Kollisionen dahinterstecken. Jede entsprechend große geologische Kraft, die gewaltigen horizontalen Druck, Reibung oder Verschiebungen bewirkt, könnte so etwas auslösen. Aber ich glaube nicht, dass wir es in diesem Fall mit einem natürlichen Phänomen zu tun haben." „Warum nicht?" „Weil das, was diese Transformation bewirkt hat wenn es überhaupt eine Transformation war -, nicht in geologischen Zeitspannen stattfand. Ich vermute, es geschah buchstäblich über Nacht. Allerdings bin ich gerade erst angekommen. Ich bin sicher, du hast dir die geologischen Formationen bereits eingehender angesehen." Valerian hatte noch keine Gelegenheit gefunden, mehr zu tun, als sich die Ruinen nur anzuschauen. Er nahm jedoch an, dass sein Vater das schon wusste und, vielleicht nicht einmal mit Absicht, ein Spielchen trieb, um seine Überlegenheit zu demonstrieren. „Natürlich", entgegnete Valerian und versuchte, seine Position wieder zu festigen. „Meine Untersuchungen haben ergeben, dass es sich bei dieser Formation um eine Mischung aus natürlichen Kräften und künstlicher Entstehung handelt. Hier, schau dir das an wo die natürliche Felskammer geschmolzen und mit etwas verbunden wurde, das aussieht wie eine Art Verstärkung aus Metall." Arcturus besah sich die Stelle, auf die Valerian zeigte, genauer. „Ja, eine Neostahlstütze in Plaston." Valerian winkte seinen Vater weiter. „Komm, lass uns hineingehen. Es ist wirklich erstaunlich. So etwas hast du noch nicht gesehen." „Sei dir da mal nicht so sicher ich habe in den vergangenen paar Jahren eine ganze Menge gesehen." „Aber so etwas noch nicht", versprach Valerian. Sein Vater stand in der Mitte der Höhle, aber sie so zu nennen. bedeutete, ihre unglaubliche, unbegreifliche Größe immens herunterzuspielen. Es war eine gigantische Kathedrale aus Licht,
Stein und Metall, von einer alten Götterrasse tief im Herzen des Berges erschaffen. Denn es konnten nur Götter gewesen sein, die einen derart massiven Berg so ausgehöhlt hatten, dass er in den Millionen, wahrscheinlich sogar Milliarden von Jahren, seit sie dieses Bauwerk ersonnen hatten, nicht eingestürzt war. Anmutig geschwungene steinerne Rippen wölbten sich unter der Decke, jede einzelne davon stärker als die Hülle eines Schlachtkreuzers. Kragstein, so groß wie Belagerungspanzer, ragte aus den Wänden, und Strebepfeiler stützten hängende Kreuzblumen und elegant abfallende Bogengänge aus Stein. Die Entfernung ließ sie schmal und zierlich wirken, aber Valerian vermutete, dass die meisten mindestens zwanzig Meter maßen. Die Wände selbst schienen auf natürliche Weise von innen heraus zu schimmern. Licht jagte entlang der Metalladern, die sich durch das Gestein zogen, und erweckte den Eindruck eines flackernden Glühens von elektrischem Strom. Edelsteine pulsierten mit schwachem Leuchten, wie im Takt eines unendlich trägen und unhörbaren Herzschlags. Wie gedrechselt aussehende Stalaktiten ragten spitz zulaufend von oben herab, bohrten sich aus der Decke heraus wie eine umgekehrte Krone aus Eis, die dem Berg aufs Haupt gedrückt worden war. In den oberen Bereichen der riesigen Höhle hing leichter Dunst, ein Wolkensystem, das die Luft befeuchtete und dabei die interne Luftfeuchtigkeit reduzierte. Das Innere der Höhle schien noch klarer darauf hinzuweisen, dass sie von Hand erschaffen worden war, wobei ihre Größe jedes vergleichbare Menschenwerk verhöhnte. Ganze Flotten hätten darin Platz gefunden, und vielleicht, so dachte Valerian, waren ja auch irgendwann einmal ganze Flotten hier untergebracht gewesen. „Unglaublich", sagte Arcturus, und es überraschte Valerian, echte Emotion in seiner Stimme zu hören. „So etwas habe ich noch nie gesehen." „Hab ich dir doch gesagt", erwiderte Valerian, erfreut darüber, dass es ihm gelungen war, seinen Vater in Staunen zu versetzen. „Und du glaubst, das ist das Werk einer fremden Rasse?" „Du etwa nicht?", gab Valerian zurück. Er war überrascht von der Frage. „Ich nehme an, dass es möglich ist", meinte sein Vater, „aber selbst wenn es stimmt, was macht das für einen Unterschied?
Wer immer die Erbauer waren, sie sind längst tot und vergessen." „Bist du denn nicht neugierig darauf, wer sie waren? Welch große Geheimnisse wir von ihnen erfahren könnten?" „Nicht sonderlich. Sie sind heute nur noch Staub, und niemand erinnert sich an sie. Wie großartig können sie also gewesen sein?" Valerians Enttäuschung über die halsstarrige Weigerung seines Vaters, die Konsequenz solcher Enthüllungen zu begreifen, wuchs mit jedem Wort, das Arcturus aussprach, und er spürte, wie er zunehmend gereizter wurde. Aber er schüttelte all das ab, als auf einmal das, was er seinem Vater hatte sagen wollen, aus seinem Hinterkopf nach vorne drängte. „Wo warst du all die Jahre?", platzte es aus ihm heraus. „Warum hast du uns nie geholt? Waren wir dir egal?" Sein Vater löste seine Aufmerksamkeit von der riesigen Höhle und vergaß ihre Majestät binnen eines Augenblicks, als er erkannte, dass es mit der schönen Vorstellung, dass zwischen Vater und Sohn ein Band entstand, vorbei war. „Es war zu gefährlich", sagte er einfach nur. „Die Konföderation will mich tot sehen, und wenn sie wüssten, wo ihr seid, würden sie euch benutzen, um an mich heranzukommen. Dahinter steckt kein großes Geheimnis, Valerian." „Meine Mutter ist krank", erklärte Valerian. „Wusstest du das?" „Ja." „Kümmert es dich?" „Natürlich kümmert es mich", versetzte Arcturus. „Was soll diese kindische Frage?" „Kindisch? Ist es kindisch, sich zu fragen, wo du warst, während die Mutter deines Sohnes stirbt?" „Ailin sagte mir, der Krebs deiner Mutter sei inoperabel", erwiderte Arcturus. „Stimmt das?" „Ja", bestätigte Valerian, während er darum rang, seine Wut und seinen Schmerz zu bezähmen. „Und diese ständige Flucht von einem Planeten zum anderen und von Mond zu Mond tut ihr nicht gut. Das macht es nur noch schlimmer." „Und was hätte es gebracht, wenn ich zu euch geeilt wäre außer dass ich euch damit beide in Gefahr gebracht hätte?", fragte Arcturus. „Wolltest du, dass ich dir helfe, deiner Mutter die Hand zu halten, während sie auf dem Sterbebett liegt? Ja? Nun, Valerian, dann tut es mir leid, aber das hätte niemandem geholfen. Ich habe größere Probleme, als dich zu trösten. Oder deine Mutter."
Valerian wollte sich auf seinen Vater stürzen und ihm die teilnahmslose Miene mit den Fäusten aus dem Gesicht prügeln, aber er beherrschte seinen Zorn. Er gab es nur höchst widerwillig zu, aber Valerian bewunderte die Fähigkeit seines Vaters, rein logisch zu denken und sich zu konzentrieren im Angesicht von Fakten, die einen anderen Menschen aus der Fassung gebracht hätten. Dennoch gab es Dinge, die er seinem Vater zu sagen hatte, weil sie gesagt werden mussten, ganz gleich, ob sie seine Rüstung aus Selbstgefälligkeit durchdringen würden oder nicht. „Größere Probleme? Wie die Konföderation zu stürzen?" „Richtig", sagte Arcturus. „Und ein solches Ziel verlangt Opfer. Wir haben im Laufe dieses Krieges alle Menschen verloren, die uns nahestanden, mein Sohn, auch ich meine Eltern, Dorothy, Achton." „Wer ist das?" „Er war der Sicherheitsbeauftragte meines Vaters und ein guter Mann." „Was ist mit ihm geschehen?" „Er befand sich auf Korhal, als die Missiles kamen." „Oh." „Aber ihr Tod wird einen Sinn bekommen, wenn die Konföderation zerschlagen ist und du und ich vortreten, um die Lücke zu füllen. Wir können es schaffen, Valerian. Hinter mir steht eine Armee, die allem, was die Konföderation ins Feld führen kann, gleichkommt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Konföderation zerbricht, und dann können wir über das regieren, was übrig bleibt. Aber wir können es richtig machen und ein Reich zum Wohle der Menschheit gründen." „Zum Wohle der Menschheit?" Valerian spuckte die Worte förmlich aus. „Du meinst zum Wohle der Mengsk-Dynastie." Arcturus zuckte mit den Schultern. „Ich sehe da keinen Unterschied." „Und dazu willst du mich an deiner Seite?", fragte Valerian, bemüht, die Hoffnung aus seiner Stimme fernzuhalten. „Natürlich", antwortete Arcturus, kam zu ihm und packte ihn an den Schultern. „Du bist mein Sohn, und du bist ein Mengsk. Wer sonst wäre würdig, als mein Nachfolger neben mir zu stehen?" „So hast du bislang nicht gedacht", erinnerte ihn Valerian. „Ich habe gehört, was du über mich gesagt hast. Du hast mich einen Bücherwurm, genannt, weibisch und schwach."
„Worte, die vor langer Zeit im Zorn gesprochen wurden", entgegnete Arcturus und tat den Schmerz, den seine Worte verursacht hatten, mit einer lässigen Handbewegung ab. „Aber schau dich jetzt an! Ich bin stolz auf dich, mein Junge. Und ich bin beeindruckt ich kann nicht so tun, als sei ich das nicht. Du hast viel erreicht, seit wir uns das letzte Mal sahen." „Das habe ich nicht für dich getan, Vater", erklärte Valerian. „Ich hab's für mich selbst getan." „Das weiß ich, und das ist gut so. Ein Mann sollte nichts tun, nur um andere zu beeindrucken er muss alles um seiner eigenen Wertschätzung willen tun." „Und was ist, wenn ich nicht dein Nachfolger werden will?", fragte Valerian. „Du hast mein Leben lange aus der Ferne gelenkt und scheinst nun zu glauben, dass ich immer nach deiner Pfeife tanzen werde. Aber so bin ich nicht, Vater. Ich stehe auf eigenen Füßen, und ich treffe meine eigenen Entscheidungen." Sein Vater lächelte und nickte, ließ seine Schultern los und setzte sich auf einen Steinbrocken. „Ich erinnere mich, wie ich vor langer Zeit etwas Ähnliches zu meinem Vater sagte." Valerian spürte, wie die Wut aus ihm floss, und trank einen großen Schluck Wasser aus einer Plastikflasche, die er aus seinem Rucksack holte. „Hat es dir etwas genützt?" „Eigentlich nicht", gestand Arcturus und nahm die Flasche, die Valerian ihm reichte. „Ich nannte ihn einen Mörder und Terroristen, aber inzwischen habe ich viel Schlimmeres angerichtet, als er jemals getan hat. Ich glaube, wenn dir jemand etwas wirklich Furchtbares antut, ist es leichter, die eigenen Vergeltungsmaßnahmen zu rechtfertigen, ganz gleich, wie schändlich sie sind. Die Konföderation hat meine Eltern getötet und meine Heimatwelt ausgelöscht, was könnte ich tun, das an eine Gräueltat solchen Ausmaßes auch nur heranreichen würde?" „Ich weiß es nicht", antwortete Valerian. „Ich glaube, ich will es gar nicht wissen." „Was willst du dann, Valerian?" „Ich will Teil deines Lebens sein, aber ich möchte meinen eigenen Weg gehen." „Das habe ich auch zu meinem Vater gesagt", erwiderte Arcturus. „Allerdings habe ich seither herausgefunden, dass Zeit und Geschichte uns zu ergreifen wissen, um sich unsere Begabungen
zunutze zu machen, egal, was wir selbst wollen." „Was meinst du damit?" „Ich meine, dass uns das Schicksal manchmal auf Wege zwingt, die es für uns bestimmt hat, und es gibt nichts, was wir dagegen tun könnten." „Denkst du, das ist es, was dir passiert ist?" „Kann sein, aber ich glaube es nicht." „Warum nicht?" „Weil das Schicksal nach meiner Pfeife tanzt", sagte Arcturus. Valerian lachte darüber, aber sein Lachen erstarb, als er erkannte, dass sein Vater keineswegs scherzte. KAPITEL 17 „Das Schicksal tanzt nach meiner Pfeife..." Diese Worte fielen Valerian wieder ein, während er auf den gewaltigen AAI-Holoschirm auf dem Zentralmarktplatz von Gramercy City, Hauptstadt von Tyrador VIII, schaute. Die Artificial Advertising Intelligence projizierte ein dreißig Meter breites und neun Meter hohes Bild auf ein schimmerndes Podium vor einem riesigen Wolkenkratzer. Normalerweise warb die AAI für Kleidung, Softdrinks oder die neuesten Ground Cars, aber heute versprach es, anders zu werden. Über dem Podium flackerte ein dreidimensionales Abbild des Gesichts seines Vaters, der einmal ohne Störung seitens der Zensoren der Konföderation oder der UNN-Cutter zu denen sprach, die ihn sehen wollten. Mehr als zehntausend Menschen Händler, Einkäufer, Geschäftsleute, Flüchtlinge, Kriminelle und Gesetzeshüterbevölkerten den Platz, alle stumm und von nervöser Erregung erfüllt, während sie den Worten lauschten, die aus den in das Podium eingebauten Lautsprechern dröhnten. Die Stimme von Arcturus Mengsk wurde untermalt von herrlichen, bewegenden Bildern hinreißender Landschaften und WraithJägern, die in Formation flogen. „Meine lieben Terraner", begann Valerians Vater, und seine Stimme donnerte wie die eines strengen, aber großmütigen Gottes. „Ich spreche zu euch im Zuge der jüngsten Ereignisse, um euch zur Vernunft zu rufen. Möge kein Mensch die Bedrohungen
unserer Zeit leugnen. Während wir einander bekämpfen, gespalten von dem kleinlichen Streit aus unserer gemeinsamen Geschichte, wendet sich eine größere Gefahr gegen uns und droht alles zu vernichten, was wir erreicht haben." Valerian beobachtete die Gesichter der Menschen von Gramercy City rings um ihn herum und empfand ein wenig Ehrfurcht, in einer so riesigen Menge zu stehen. Bis vor Kurzem hatte die größte Menschenansammlung, die er je gesehen hatte, aus etwa einem Dutzend Bediensteter im Haus seines Großvaters auf Umoja bestanden was so lange her zu sein schien, als sei es in einem anderen Leben gewesen. Auf Tyrador VIII unterzuschlüpfen war Valerians Idee gewesen sich mitten auf einem dicht bevölkerten Planeten quasi unter jedermanns Augen zu verstecken, obschon ihre auferzwungene Flucht nun, angesichts des Schicksals der Konföderation in den vergangenen Monaten und dieser neuesten Verkündung, ein Ende zu finden schien. „Es ist Zeit für uns, als eine Nation und als Einzelne, unsere lang währenden Fehden beizulegen und uns zu einen", fuhr die Stentorstimme seines Vaters fort, derweil das Bild auf dem Schirm jetzt mächtige Schlachtkreuzer zeigte, die majestätisch über Korhal dahinglitten. „Auf uns kommt die Flut eines nicht zu gewinnenden Krieges zu, und wir müssen Zuflucht in geschützteren Bereichen suchen, wenn wir nicht überrollt werden wollen." Das Bild eines Schlachtkreuzers der Konföderation, der vom Bug bis zum Heck in Flammen stand, füllte jetzt den Schirm, und die Menge jubelte ein kollektiver Ausbruch jahrzehntelang unterdrückter Wut und Frustration. Valerians Vater fuhr fort: „Die Konföderation gibt es nicht mehr, die vermeintliche Einigkeit und den angeblichen Schutz, die sie einst bot, sind nur noch Phantome... eine Erinnerung. Und nun, da unsere Feinde schalten und walten können, wie es ihnen passt, an wen wendet ihr euch da, um Schutz zu suchen?" Die Bildermontage lief weiter, der Jubel dauerte an, als das zerstörte Konföderationsschiff ersetzt wurde durch ruckelige Aufnahmen eines, wie Valerian jetzt wusste, Schiffes der Protoss und einen Schnappschuss eines höheren Zerg-Organismus, der durchs All trieb. „Die Verheerung, die von den fremden Invasoren angerichtet wurde, ist offenkundig. Wir haben mit ansehen müssen, wie un-
sere Häuser und Gemeinden durch exakt kalkulierte Angriffe der Protoss vernichtet wurden. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie unsere Freunde und Lieben von den albtraumhaften Zerg verschlungen wurden. Aber so beispiellos und unvorstellbar diese Gräuel auch sein mögen, sie sind die Zeichen unserer Zeit." Aufflammende, brutale Bilder von kämpfenden Wraith flirrten über den Schirm, worauf sie schossen, war jedoch nicht zu erkennen. „Die Zeit, uns unter einem neuen Banner zu sammeln, ist gekommen, meine lieben Terraner", erklärte Arcturus. „Einigkeit macht stark, und etliche der Splittergruppen haben sich uns bereits angeschlossen. Aus den vielen Einzelnen werden wir ein untrennbares Ganzes schmieden, das sich nur noch vor einem einzigen Thron verneigt. Und von diesem Thron aus werde ich über euch wachen." Ein Kribbeln lief über Valerians Haut, aber er wusste nicht, ob es von Erleichterung herrührte oder von Angst. Die Worte seines Vaters hatten eher wie eine Warnung geklungen, weniger wie ein Schutzversprechen. Die Darstellung kehrte zurück zu den hoch aufragenden Spiralbauten, die gegenwärtig inmitten der äschernen Verheerung des niederträchtigen Angriffs der Konföderation auf Korhal wieder errichtet wurden. Die Kamera zoomte die Gebäude näher heran und ruhte schließlich auf einer riesigen schwarzen Flagge, die ein Symbol zeigte, das in den vergangenen Jahren jedermann vertraut geworden war ein roter Arm, dessen Faust eine Peitsche hielt, und die Peitschenschnur bildete einen Kreis um den Arm. Die Söhne von Korhal. Die Kamera verharrte auf der Fahne, während Arcturus seine Schlussworte sprach. „Von heute an soll kein Mensch mehr gegen einen anderen Menschen Krieg führen. Keine terranische Organisation soll sich gegen diesen Neuanfang verschwören. Und kein Mensch soll sich mit fremden Mächten einlassen. Und allen Feinden der Menschheit rate ich: Stellt euch uns nicht in den Weg, denn wir werden unseren Weg gehen, um jeden Preis." Statik bildete eine flimmernde Säule aus weißem Rauschen, als die Stimme von Arcturus Mengsk verklang und durch das reglose Symbol der Söhne von Korhal ersetzt wurde. Valerian wandte sich von der riesigen AAI ab, als er das bekannte Klicken und Zischen vernahm, mit dem der Holoprojektor
sich daran machte, die Botschaft noch einmal zu wiederholen. Valerian brauchte sie nicht noch einmal zu hören die Worte hatten sich ihm eingeprägt, sobald sie sein Ohr erreichten. Er drehte sich um und ging durch die überfüllten Durchgangsstraßen, drängte sich gegen die Flut jubelnder Menschen, die in Richtung des Zentralmarkts liefen. Valerian fand eine Seitenstraße, die er kannte, und dort ein kleines Cafe, in das er oft ging. Es war leer, als er es betrat, und Valerian nahm sich ein heißes Getränk und legte gewissenhaft ein paar Geldscheine auf den zerschrammten Holztresen. Er setzte sich ans Fenster und schaute zu, wie die jubilierende Menge mit vor Freude strahlenden Gesichtern vorbeizog. Valerian wusste, dass die Menschen hier diesen Tag für eine Weile in glanzvoller Erinnerung behalten würden: den Tag, an dem die verhasste Konföderation gestürzt und ersetzt worden war durch... Nun, bis heute hatte niemand recht gewusst, wer die Autoritätslücke füllen würde, die das plötzliche und schockierende Ende der Konföderation hinterlassen hatte. Niemand außer Valerian Mengsk. Denn er hatte genau gewusst, wer es sein würde. Die sektorenweite Ausstrahlung hatte es nur noch bestätigt. Sein Vater hatte sich zum Kaiser des Terranischen Dominions erklärt, Arcturus Mengsk I., aber noch wusste niemand, ob dieser Anspruch legitim war. Valerian hatte einige Leute von Wahlen reden hören, während andere lautstark einen Mann unterstützten, der bis vor Kurzem noch im ganzen von Menschen besiedelten Raum als Terrorist verdammt worden war. Einmal mehr hatte sich die Redensart bewahrheitet, derzufolge die Geschichte von den Siegern geschrieben wird. Das Schicksal tanzt nach meiner Pfeife... In den drei Jahren, die vergangen waren, seit er seinen Vater diese Worte hatte sagen hören, hatte Valerian begriffen, was sein endgültiges Ziel war. Er hatte erlebt, wie sich seine Mutmaßungen zur Gewissheit gewandelt hatten, als sein Vater eine Streitmacht nach der anderen, die ihm von der Konföderation auf den Hals gehetzt worden war, besiegen konnte mit einer Mischung aus List, brutaler Gewalt und der Zurschaustellung absoluter Rücksichtslosigkeit, die Valerian immer noch erschütterte, wenn er nur daran dachte. Im vorigen Jahr war es tatsächlich zu etlichen Veränderungen
gekommen, die allesamt derart beispiellos schnell erfolgt waren, dass es schwer war, sie wirklich zu verstehen. Der erste Schock hatte die Menschheit erschüttert, als bekannt wurde, dass die Welten Chau Sara und Mar Sara vernichtet worden waren, und zwar von einer Flotte von Schiffen, die einer fremden Rasse namens Protoss gehörten. Der nächste hatte nicht lange auf sich warten lassen, denn beide Welten waren zerstört worden, um eine zweite fremde Rasse zu vernichten, eine Spezies, deren Name bald zum Synonym für vollkommene Verheerung und parasitäre Überschwemmung von einer Welt nach der anderen geworden war: die Zerg. Valerians anfängliche Erregung über den nunmehr unleugbaren Beweis für die Existenz fremden Lebens hatte einen Dämpfer erhalten durch die Erkenntnis, dass weder die Protoss noch die Zerg als mögliche Errichter der alten Bauwerke, er hatte beschlossen, dass es sich um eine Art Tempelanlage handeln musste, die er auf Van Osten's Moon erkundet hatte in Frage kamen. Die Zerg waren ein scheußlicher Haufen genetisch mutierbarer Kreaturen, die nur von ihren verfluchten Instinkten und einer unstillbaren Fresslust angetrieben wurden, während die Protoss ein seltsames, reserviertes Volk psionischer Krieger waren. Obschon letztere Rasse über Technologien verfügte, die den terranischen weit überlegen oder einfach nur anders waren, schien es doch unwahrscheinlich, dass sie zu neuem Leben erwachte Nachkommen der Tempelerbauer waren. Die Nachricht, dass die Menschen nicht mehr allein waren, hatte man mancherorts mit Schrecken aufgenommen und anderswo mit religiöser Ekstase. Die einen wollten diese Neuankömmlinge mit offenen Armen und herzlich willkommen heißen, während andere gemäß dem gegenwärtigen Zeitgeist zum Krieg rüsteten. Letztere Gruppe erwies sich als die scharfsichtigere. Mit der Ankunft dieser fremden Rassen breitete sich im Raum der Konföderation offener Krieg aus, in dem örtliche Scharmützel zu regelrechten Revolten ausuferten. Und natürlich war Arcturus Mengsk zur Stelle, um die Flammen anzufachen. Flüchtlinge wichen vor den Wogen dieses zunehmend heftiger werdenden Krieges zurück, und die Auseinandersetzungen reichten im ganzen Sektor von terroristischen Angriffen bis hin zu planetenweiten Schlachten. Tag für Tag starben Tausende, und für die Konföderation folgte eine Katastrophe auf die andere, als sie
nach und nach die Herrschaft über ihre Kolonialwelten verlor. Dann kam die Zerstörung von Antiga Prime. Die Wahrheit war natürlich unterschlagen worden, aber Valerian wusste aus berufenem Munde von seinem Großvater nämlich -, dass der große Arcturus Mengsk gestohlene Psi-Emitter-Technik eingesetzt hatte, um die Zerg zu dieser Kolonie der Konföderation zu locken, wo sie seine Feinde vernichten sollten, was aber auch die Protoss angezogen hatte, die alles Leben auf dem Planeten zu vernichten trachteten. Das Entsetzen, das diese Katastrophe auslöste, hatte sich in den übrigen Kolonien der Konföderation ausgebreitet wie ein Virus in einer Barackensiedlung auf einer Randwelt. Der Flüchtlingsstrom war zur reißenden Flut geworden, und Frachter, die vollgepfercht waren mit verängstigten Menschen, flohen zu Tausenden aus den Epizentren der Kämpfe in die Territorien am äußeren Rand. Valerian erinnerte sich an die Reaktion seiner Mutter auf die Nachricht über die Komplizenschaft seines Vaters am Untergang von Antiga Prime sie war sichtlich zusammengesackt unter der Erkenntnis, was aus dem Mann geworden war, den sie einmal liebte. Valerian hatte schon vor Längerem erkannt, dass die einst edlen Ideale seines Vaters, das Joch der tyrannischen Konföderation abzuwerfen und die Korruption der Alten Familien zu beenden, verwelkt und durch den Wunsch nach einem eigenen Reich ersetzt worden waren. Seine Mutter verachtete, was aus seinem Vater geworden war, aber insgeheim bewunderte Valerian die Zielstrebigkeit, mit der Arcturus dieser einen Ambition nachging, wohl wissend, dass es ihm bestimmt war, sie eines Tages zu erreichen. Der Gedanke schlug immer noch eine ambivalente Saite in ihm an. Kurz nach der Zerstörung von Antiga Prime hatte sein Vater ihm und seiner Mutter befohlen, sich einen neuen Zufluchtsort zu suchen, einen, der weitab der Kernwelten dessen lag, was von der Konföderation noch übrig war. Es war typisch für seinen Vater, eine so barsche Nachricht zu schicken, aber Valerian hatte gespürt, dass mehr dahintersteckte als sollte bald ein fürchterliches Ereignis in Gang gesetzt werden, von dem Valerian und Juliana so weit wie nur möglich entfernt sein mussten. Er hatte nicht gewusst, worum es sich dabei handelte, bis die
Kunde vom Fall von Tarsonis, der Hauptwelt der Konföderation, zu ihnen drang. Wie zuvor schon Antiga Prime, wurde auch Tarsonis von den Zerg überrannt, von seinem Vater dorthin gelockt, um seine Feinde zu vernichten. Und seine Feinde, das waren immer noch und fast ausschließlich die Alten Familien, die seine Eltern und Schwester ermordet und auf Korhal Millionen von Menschen zum Tode verurteilt hatten. Was Racheakte anging, so musste Valerian zugeben, dass es ein Geniestreich war. Kühn, ohne Gnade und unaufhaltsam. Die Konföderation starb mit Tarsonis. Tarsonis war so lange die Stütze des von Menschen bewohnten Raumes gewesen, dass die Kolonien nun in sich zusammenfielen und -brachen, sodass Arcturus Mengsks Dominion in den Ruinen über die Niederlage seiner Feinde triumphieren konnte. Kaum war die Konföderation gefallen, hatte sein Vater Kontakt aufgenommen und ihm mitgeteilt, dass nun der Zeitpunkt nahte, an dem er Valerian bitten würde, als sein Sohn ins Rampenlicht zu treten. Valerian konnte nicht abstreiten, dass diese Vorstellung verlockend war, denn er war inzwischen achtzehn und bereit, seinen eigenen Platz auf der galaktischen Bühne einzunehmen. Er war nun selbst ein Mann intelligent, gelehrt, charmant und bewandert im Umgang mit Schwert, Gewehr und Rhetorik, je nachdem, wie Gelegenheit und Ehre es gerade geboten. Aber ob er der Nachfolger sein würde, den sein Vater sich vorstellte... Nun, das war eine ganz andere Sache. Valerian trank aus und verließ das verwaiste Cafe. „Zeit, nach Hause zu gehen", sagte er. Letzten Endes dauerte es noch weitere sechs Monate, bis Valerian seinen Vater wiedersah. Das Dominion aus der Asche der Konföderation aufzubauen verschlang mehr Zeit und stellte größere Herausforderungen an den neuen Kaiser, als vorherzusehen gewesen war. Zunächst hatte Valerian das nichts ausgemacht. Er war zufrieden damit gewesen, nun, da sie nicht mehr ständig von einem Ort zum anderen umziehen mussten, um den Killertrupps der Konföderation zu entgehen, zusammen mit seiner Mutter Zeit im Haus seines Großvaters auf Umoja zu verbringen. Aber als die Wochen sich zu Monaten dehnten, wuchs seine Un-
geduld, und die auferzwungene Müßigkeit des Lebens auf Umoja begann an ihm zu nagen. Er war der Sohn eines Kaisers, und doch hatte er nichts Wichtiges zu tun. Der schlechte Zustand seiner Mutter war fortgeschritten, jeder Remission folgte ein Wiederaufleben der unsichtbaren Krankheit, die sie auffraß. Neue Technologien hatten ihr Fortschreiten verlangsamt, sie aber nicht zum Stillstand bringen können, und die Ärzte hatten ihn mit düsteren Mienen darüber informiert, dass seiner Mutter höchstens noch sechs Monate blieben. Doch das sagten sie schon seit Jahren, und seine Mutter hatte sie alle mit Zähigkeit und ihrem Mut überrascht. Wenn Valerian sich einmal nicht um seine Mutter kümmerte, verbrachte er seine Zeit damit, unter dem strengen Blick von Meister Miyamoto seine ohnehin schon zu fürchtenden Fähigkeiten im Umgang mit Schwert und Gewehr zu verfeinern. Sein alter Lehrer hatte ihn zurück nach Umoja begleitet und Valerian zum besten Schüler erklärt, den er je unterrichtet hatte. Er verschlang jedes Digi-Buch, das er in die Hände bekommen konnte, lernte alles über die Protoss und die Zerg, was es über sie in Erfahrung zu bringen gab. Er durchkämmte die Informationsnetzwerke nach Anzeichen neuer Ruinen fremdartigen Ursprungs. Aber unter den Nachwirkungen des Krieges war die Archäologie niemandes Priorität, nur für ihn stand sie weiterhin ganz oben. An diesem Abend ging Valerian mit seiner Mutter hinaus in den Garten des Hauses seines Großvaters, wo sie dem Pfad zum Fluss folgten, der im Sonnenuntergang wie geschmolzenes Kupfer schimmerte. Seine Mutter hatte ihn gebeten, sie zum Ufer zu begleiten, und so hatten sie sich auf den Weg gemacht, derweil die Diener das Abendessen vorbereiteten. Juliana aß nur noch sehr wenig, Valerians Appetit jedoch war so groß wie eh und je. Er trug einen eng anliegenden kohlengrauen Anzug, dazu kniehohe Stiefel aus glänzendem schwarzen Leder, ein zweireihiges Jackett, das mehr als nur ein wenig nach Soldat aussah, und einen dunkelroten Schal, den er sich um die Schultern geschlungen hatte. Sein Haar war offen, es fiel in goldenen Kaskaden herab, sodass er das Ebenbild seiner Mutter zu ihren besten Zeiten war. Jetzt, da es keinen Grund mehr gab, seine Abstammung zu verheimlichen und er vielmehr allen Grund hatte, sie zur Schau zu
stellen, trug Valerian voller Stolz eine bronzene Wolfskopfmedaille der Familie Mengsk an der Brust. Seine Mutter saß in einem automatischen Rollstuhl, den sie mittels eines Alphawellen-Readers steuerte, den sie hinter dem rechten Ohr trug. Die Rückkehr nach Umoja hatte der Verfassung seiner Mutter besser getan, als die jahrelangen medizinischen Behandlungen und schmerzhaften Chemotherapien. Intramuskuläre Nanostimulatoren hatten verhindert, dass ihre Muskeln vollends verkümmerten, und es war wunderbar zu sehen, dass ein Teil ihrer Vitalität wiederhergestellt war. Obgleich Valerian wusste, dass sie dieses Leben nicht mehr lange durchhalten konnte, freute er sich von Herzen, sie wieder lächeln zu sehen, weil sie daheim war. Die Luft war rein und frisch, der erdbraune Himmel erstreckte sich warm und wie Honig zum fernen Horizont, während der Tag sich seinem Ende zuneigte. Ringsum roch es würzig nach vielerlei Düften, und Valerian atmete tief ein, was ihn sogleich zurücktrug in die Zeit, da er ein Junge gewesen war, in eine Zeit, in der er noch nichts wusste vom Ausmaß der Galaxie um ihn herum. „Es ist schön, wieder zu Hause zu sein, nicht wahr?", sagte seine Mutter. Ihre Stimme war dünn und doch kräftiger, als sie es seit Jahren gewesen war. „Ich meine, zurück auf Umoja." Valerian nickte. „Ja, obwohl es mir immer noch schwerfällt, mich jetzt irgendwo zu Hause zu fühlen." „Ich weiß, mein Schatz", erwiderte seine Mutter. „Und es tut mir leid das war keine Art aufzuwachsen, von einem Ort zum anderen geschoben zu werden." „Das war doch nicht deine Schuld. Schließlich blieb uns keine andere Wahl." „Ich weiß, aber du sollst wissen, dass ich dir gerne eine normale Kindheit ermöglicht hätte." ,„Eine normale Kindheit'?", wiederholte Valerian. „Was ist das eigentlich? Gibt es so etwas überhaupt?" „Natürlich. Ich hatte eine vollkommen normale Kindheit, als ich hier aufwuchs." „Ja, das mag wohl sein", meinte Valerian, als sie um eine Wegbiegung bei einer Gruppe von Pappeln gingen und der Fluss in Sicht kam. „Und ich erinnere mich gern an diesen Ort obwohl für mich zu vieles geschehen ist, um ihn noch als Zuhause zu betrachten."
„Das ist traurig", sagte Juliana und deutete auf eine Stelle, aus der ein Stück aus dem ansonsten glatten Flussufer herausgebissen zu sein schien. „Erinnerst du dich an die kleine Bucht dort?" „Ja", antwortete er mit einem Lächeln. „Ich weiß noch... dort habe ich immer nach fremdartigen Fossilien gegraben." „Ich war so stolz auf dich", sagte Juliana. „Ich bin stolz auf dich, Valerian. Du bist zu einem so wunderbaren, gut aussehenden Jungen herangewachsen. Mein Herz zerbirst fast vor Stolz, wann immer ich dich ansehe." „Mutter, hör auf!", flehte Valerian, dem ihr Loblied peinlich war, obwohl er es trotzdem auch genoss. „Das ist mein Ernst", sagte sie, eindringlicher diesmal. „Mir bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit, und es gibt Dinge, die ich dir noch sagen muss, mein Schatz. Und ich wollte, dass du dich an etwas Schönes aus deiner Kindheit erinnerst, bevor ich sie dir sage." „Was denn?", fragte er, augenblicklich alarmiert, als er etwas Endgültiges in der Ankündigung seiner Mutter erkannte. „Du musstest so schnell erwachsen werden, und ich weiß, das war schwer für dich, aber du wirst bald noch ein bisschen erwachsener werden müssen. Ich werde nicht mehr lange da sein..." „Sei still, Mutter", unterbrach Valerian sie, kniete neben ihr nieder und nahm ihre Hand. „Diese Ärzte wissen nicht, wovon sie reden. Nicht einer von ihnen lag richtig, was deinen Zustand angeht. Du hast sie alle verblüfft, und ich weiß, dass du uns alle überleben wirst." „Du bist so lieb", sagte sie und strich ihm über die Wange, „aber wir wissen beide, dass die Krankheit mich am Ende kriegen wird, ganz egal, wie schnell ich renne." „Bitte", sagte Valerian mit zittriger Stimme. „Rede nicht so." „Ich muss, es tut mir leid", erwiderte Juliana. Tränen traten in ihre Augenwinkel. „Aber warum?" Auch Valerian war zum Weinen zumute. „Weil dein Vater bald hier sein wird, und ich bin nicht mehr stark genug, um mich ihm zu widersetzen, wenn ich das überhaupt jemals war." Diese letzte Bemerkung war voll Bitternis und schien ihr die Kraft zu geben weiterzusprechen. „Dein Vater ist ein gefährlicher Mann", erklärte seine Mutter. „Ich meine nicht nur für seine Feinde. Er benutzt Menschen, Valerian. Er benutzt sie, er saugt sie aus, und wenn er mit ihnen fertig ist, spuckt er
sie aus. Ich habe mein Leben darauf verschwendet, an ihn zu glauben, und es bräche mir das Herz, müsste ich denken, dass du dieselbe Art von Mann wirst wie dein Vater. Ich gab meine Träume für deinen Vater auf, dachte, er brauchte mich und dass er zu mir kommen würde, wenn es an der Zeit wäre. Aber er kam nie." „Warum sagst du das alles, Mutter? Das brauche ich nicht zu wissen." „Doch", entgegnete sie und drückte seine Hand mit aller Kraft. „Doch, das musst du wissen. Du musst stark genug sein, um dem Einfluss deines Vaters zu widerstehen. Bewundere ihn meinetwegen er hat viele bewundernswerte Eigenschaften -, aber versuche nicht so zu sein wie er, ganz egal, was geschieht. Sei in jeder Hinsicht du selbst und lass nicht zu, dass er dich hin- und herschiebt wie eine seiner Schachfiguren." Valerian spürte die Macht ihres Anliegens in jedem einzelnen ihrer Worte, als nutzte sie jedes letzte Quäntchen ihrer Energie, damit er sie wirklich verstand. Er begriff den Grund ihrer Verbitterung über seinen Vater, aber war sie tatsächlich einverstanden mit den großen Zielen, die sein Vater verfolgte, und den Opfern, die nötig waren, um sie zu erreichen? Valerian blickte in die tief eingesunkenen Augen seiner Mutter. Er sah den Schmerz und die Sorge, die sie erfüllten, und auf einmal glaubte er, dass sie den Preis der Ambitionen seines Vaters vielleicht nur allzu gut kannte... „Verstehst du, was ich sage?", fragte sie drängend. „Bitte sag mir, dass du mich verstehst." „Ich verstehe dich", antwortete er, obgleich er es in Wahrheit nicht tat. „Ja, ich verstehe dich. Man mag Vater vieles vorwerfen können, aber seinen Sohn würde er nicht opfern, um zu erreichen, was er erreichen will." „Ich hoffe, du hast recht, Val", sagte sie und nahm ihn in die Arme. „Ich hoffe wirklich, dass du recht hast." Minutenlang saßen sie da, hielten sich aneinander fest und ließen ihren reinigenden Tränen hemmungslos freien Lauf. Valerian holte tief Luft, dann ließ er die knöcherne Gestalt seiner Mutter los. „Ich liebe dich, Valerian", sagte sie. „Mein wunderbarer, schöner Junge. Du bist das Beste, was ich mit meinem Leben angefangen habe." Valerian versuchte zu antworten, aber ihm war die Kehle zu
eng, um zu sprechen, und sein Denken war gelähmt von der Vorstellung, seine Mutter zu verlieren. Er wischte sich mit einem Taschentuch die Augen sauber und tupfte mit dem Handballen die letzten Tränen fort. Das war nicht die Art eines Mengsk, dachte er. Ein Mengsk war stärker, sein Herz eine Feste... Valerian drehte sich um, als er hinter sich das Knirschen von Kies hörte und den charakteristischen Schritt von Charles Whittier erkannte, der immer noch sein ständiger Begleiter war. Mit Whittier kam Valerians Großvater, Ailin Pasteur. „Was gibt es, Charles?", fragte Valerian. „Es tut mir sehr leid, Sie stören zu müssen, aber wir erhielten soeben eine Bestätigung von General Duke." „Und?", sagte Valerian, als Whittier nicht weitersprach. „Er war nicht allzu erfreut darüber, seine Schiffe hinter den äußeren Markern belassen zu müssen. Er verlangt, seine Schiffe in die Umlaufbahn von Umoja bringen zu dürfen, bevor er dem Kaiser gestattet, Fuß auf die Planetenoberfläche zu setzen." „Und ich habe ihm gesagt, er solle sich seine Forderungen in den Arsch schieben", warf Ailin Pasteur ein. Der Ausbruch seines Großvaters schockierte Valerian, weil er wusste, wie sehr er Kraftausdrücke als Zeichen schlechter Erziehung und mangelnden Wortschatzes verachtete. „Ich wette, das kam bei Duke gut an", meinte Valerian. Er war Edmund Duke nie begegnet, aber Großvater hatte ihn über dessen Ruf informiert und darüber, wie er zu den Söhnen von Korhal übergelaufen war, als sein Schiff inmitten eines wütenden Zergschwarms abgestürzt war. Valerian hatte sofort eine Antipathie gegen ihn verspürt, weil ihm Meister Miyamotos Lehren und seine Vorstellung von Ehre einfielen. So antiquiert derlei Vorstellungen heute auch sein mochten, in Valerians Seele hatten sie nach wie vor ihren festen Platz. „Das ist mir egal", fuhr sein Großvater fort. „Der Regierungsrat ist in Sorge über die Richtung, in die Arcturus sein Terranisches Dominion lenkt. Zu behaupten wir seien nicht gerade froh über die Vorstellung einer Flotte von Kriegsschiffen des Dominions, die im Orbit um Umoja parkt, wäre eine Untertreibung." „Und was hat Duke gesagt?" „Duke hat nichts gesagt, Sir", antwortete Whittier. „Der Kaiser
selbst meldete sich zu Wort." Valerians Kopf ruckte bei der Erwähnung seines Vaters hoch. „Der Kaiser erklärte sich einverstanden mit den Bedingungen Umojas", sagte Whittier, und Valerian konnte die Speichelleckerei in der Stimme seines Beraters hören. „Und wann wird er hier sein?" „Er wird an Bord eines Kanonenboots zu uns reisen. Er hat veranlasst, gleich am Morgen hier einzutreffen." Valerian nickte und sah zu, wie die Sonne über dem Horizont niederging und das schwindende Rund die Landschaft in den rostigen Glanz alten Blutes tauchte. „Hat es geklappt?", fragte die gepanzerte Gestalt, die im Zugang zur Schiffsbrücke stand. Der Helm dämpfte die Stimme, aber der verzweifelt drängende Ton war nicht zu überhören. „Es hat geklappt", bestätigte der Techniker, der sich im ölfleckigen Overall über ein zerschrammtes, notdürftig zusammengeflicktes Funkgerät beugte. „Das Zeug, das wir auf Braxis bekommen haben, hat getaugt. Ich konnte alle Datenlinks des Dominions decodieren. Wir haben alles: seinen Flugplan, IFF-Codes, das komplette Manifest und den Zielort. Der Pilot berechnet uns bereits einen Kurs." Die Gestalt nickte, ihre Hände ballten sich zu Fäusten. „Gut. Bleiben Sie dran und halten Sie die Ohren offen." „Wird gemacht." Die Gestalt drehte sich um und ging einen metallverkleideten Gang entlang, der tiefer in das Raumschiff hineinführte. Auf etlichen Panzerplatten des energiebetriebenen CMC-300Kampfanzugs prangte die rotblaue Flagge der Konföderation. Um die Schulter hatte die Gestalt sich ein Gaußgewehr geschlungen, und in einem Beinholster steckte ein Kampfmesser mit langer Klinge. Die Wände des Korridors waren von Schüssen zerbeult, von den Treffern der Schiff-zu-Schiff-Laser versengt und korrodiert von den bio-organischen Waffen der Zerg. Das Schiffsinnere hatte unzweifelhaft schon bessere Zeiten gesehen. Es war ein Wunder, dass das Schiff überhaupt noch raumtauglich war, bedachte man den Schaden, den es in der Schlacht um Tarsonis genommen hatte, als Mengsk diese Höllenmonster auf sie alle losgelassen hatte.
Die Gestalt drang tiefer ins Schiff vor und passierte Unterkünfte, wo konföderierte Marines ihre Rüstung reinigten und zum hundertsten Mal ihre Waffen zerlegten. Zwischen diesen Krieger gab es keine geschwätzigen Plaudereien mehr dafür hatten der Sturz der Konföderation und der Tod von allem, was ihnen lieb gewesen war, Sorge getragen. Schließlich erreichte die Gestalt eine Metalltür und schlug mit einem schweren Kampfhandschuh auf den Melder. „Herein", sagte eine Stimme mit lakonischem Akzent. Die Gestalt betrat den Raum und nahm den Helm ab. Captain Angelina Emillian schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch das zerzauste Haar. „Wir haben, was wir brauchen", sagte sie an den Mann gewandt, der auf der Kante des einzigen Bettes im Raum saß. Seine weiße Uniformjacke stand offen und entblößte eine haarlose, muskulöse Brust, während er ein großes Gewehr polierte, das quer über seinem Schoß lag. „Alles?", hakte er nach und legte das Gewehr beiseite. „Ja", antwortete Emillian. „Die Codes, die wir auf Braxis erhielten, werden noch benutzt. Sie wissen noch nicht, dass wir den Stützpunkt bei Boralis angegriffen haben, also haben sie sich nicht die Mühe gemacht, sie zu ändern." „Ausgezeichnete Arbeit, Angelina", lobte er, stand auf und schloss seine Jacke. „Rufen Sie die Marines zusammen und warnen Sie sie, dass ihnen ein schwieriger Einsatz bevorsteht. Wenn Ihr Dropschiff einmal unterwegs ist, gibt es kein Zurück mehr. Wir können Sie nicht rausholen, bevor Sie ihn umgebracht haben." „Das macht nichts", erwiderte Emillian. „So lange dieser Bastard Mengsk nur stirbt, ist mir alles andere egal." „Ich weiß", sagte er. „Glauben Sie mir, ich verstehe Hass nur allzu gut." „Ich habe ihn ausgebildet, wussten Sie das?" „Ja", antwortete er. „Und darum weiß ich, dass Sie ihn töten werden. Sie sind besser als er." Emillian nickte in Richtung seines Gewehrs. „Sind Sie sicher, dass Sie nicht mit uns kommen wollen? Ich weiß doch, wie gerne Sie dieses Gerät benutzen." „Diesmal nicht", gab er zurück. „Unsere neuen Verbündeten bereiten neben dem Attentat auf Mengsk eine weitere Mission vor,
und ich muss Ihnen helfen, sie zu koordinieren." „Ach ja? Und worum geht es bei dieser anderen Mission?" „Um die Schiffswerften auf Dylar IV", erklärte Samir Duran. KAPITEL 18 Als er auf Umoja das letzte Mal auf seinen Vater gewartet hatte, war Valerian sieben Jahre alt gewesen. Er erinnerte sich an seinen naiven Optimismus ob des Gedankens, den heroischen Mann kennenzulernen, der für ihn weit über allen anderen Sterblichen stand. Die Parallele zwischen damals und heute bestand darin, dass Arcturus Mengsk nun buchstäblich über allen anderen Sterblichen stand. Kaiser Arcturus Mengsk der Erste. Das klang seltsam, so als habe es sich noch nicht gesetzt und müsse sich seinen Rang als Titel erst noch verdienen. Valerian unterdrückte ein Gähnen und wünschte sich, er hätte vorige Nacht schlafen können. Er redete sich ein, es läge daran, dass er zu viel Koffein getrunken hatte. Aber er wusste, dass es der Gedanke daran gewesen war, als Sohn des Kaisers anerkannt zu werden, der ihm die schlaflose Nachi bereitet hatte. Wenn ihm die Mittel des Dominions zur Verfügung standen, gab es nichts mehr, was sich außerhalb seiner Reichweite befand. Er würde an der Spitze ganzer Teams von Archäologen nach Van Osten's Moon zurückkehren können oder zu sonst einer Ausgrabungsstätte, die in jüngerer Zeit ans Licht gekommen waren. Der Tag hatte strahlend hell und warm begonnen, als bereite sich Umoja selbst darauf vor, den neuen Kaiser willkommen zu heißen, und die Sonne stand als aufgeblähter roter Kreis am kupfernen Himmel. Valerian stand vor dem Haus seines Großvaters auf dem Rasen, gekleidet in seinen feinsten Anzug und die besten Stiefel sowie den allgegenwärtigen roten Schal, der seine breiten Schultern wie eine Rüstung betonte. Sein Schwert hing tief an seiner linken Hüfte, und auf der anderen Seite steckte eine handgearbeitete Blasterpistole im Holster. Er bot das perfekte Bild eines kaiserlichen Sohnes, und trotz der Vorbehalte seiner Mutter dem heutigen Tag gegenüber, erkannte er doch, dass es sie freute, wie gut er aussah. Sie saß in ihrem Rollstuhl und trug die schmeichelhafteste Klei-
dung, die sich für ihre schmerzhaft dünne Figur schneidern ließ. Ihr Haar war gewaschen und sauber, und trotz allem, was sie gestern Abend am Flussufer über seinen Vater gesagt hatte, konnte Valerian sehen, dass sie ein wenig Make-up aufgelegt hatte. Selbst diejenigen, die sein Vater von sich gestoßen hatte, gaben sich Mühe, in seiner Gegenwart präsentabel auszusehen. Bei ihnen standen sein Großvater, Charles Whittier und Meister Miyamoto Letzterer in der vollen Pracht seiner besten Kampfkleidung -, hinter ihnen eine Reihe von Ailin Pasteurs Dienern. Es war Whittiers Idee gewesen, das Dienstpersonal zur Begrüßung des neuen Kaisers bereitstehen zu lassen, und obschon es Valerians Großvater zuwider gewesen war, einen solchen Zirkus aufzuführen, hatte Valerian ihn überzeugt, dass es nichts schaden könne. „Dem großen Kaiser gefällt es, uns warten zu lassen", grummelte Pasteur. „Nun, der Regierungsrat hat ihn gezwungen, seine Schiffe vor den äußeren Markern zu parken", erinnerte Whittier. „Und Kanonenboote sind nicht die schnellsten Schiffe. Ein Schlachtkreuzer wäre sehr viel früher hier eingetroffen." Valerians Großvater murmelte irgendetwas vor sich hin. Valerian verstand es nicht, konnte es sich aber zusammenreimen. Ailin Pasteur und Charles Whittier hatten einander anfangs auf dem falschen Fuß erwischt und sich nie bemüht, den richtigen zu finden. Er vermutete, dass sein Großvater nicht sicher war, welchem Mengsk gegenüber Whittier loyal war, was Valerian bewies, dass Ailin Pasteur sehr scharfsichtig war, was Menschenkenntnis anging. „Da", sagte Meister Miyamoto und deutete auf einen Lichtpunkt in den orangefarben gefleckten Wolken. Valerian schaute hoch und spürte, wie sein Herzschlag sich um eine Nuance beschleunigte, als er die leuchtende Kruzifixform eines Schiffes sah, das durch die Atmosphäre drang. Zwei leichtere Schiffe schwirrten Schleifen ziehend schützend über und unter dem größeren herum. Valerian merkte, wie jemand seine Hand nahm, senkte den Blick und sah, wie seine Mutter den sich nähernden Fliegern sorgenvoll entgegenschaute. „Es wird schon alles gut werden", meinte Valerian. Sie sah mit einem schwachen Lächeln zu ihm auf. „Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe", bat sie ihn.
„Das werde ich nicht", versprach er. Die Formen lösten sich aus den Wolken, und Valerian erkannte das mittlere Schiff als schweres Kanonenboot, ein kämpferisch wirkendes Vehikel mit breitem Rumpf, dass seit der Entwicklung der Wraith-Fighter als überholt galt. Aber seine Reichweite war beträchtlich, und es taugte zu interplanetaren Flügen, und darum war es nie ganz aus dem Inventar verschwunden. Angesichts der Verluste, die er im Krieg gegen die Konföderation hinnehmen musste, vermutete Valerian, dass sein Vater es sich nicht leisten konnte, wählerisch zu sein, wenn es um Kriegsgerät ging. Bei den anderen beiden Schiffen handelte es sich um Wraith, schnittige Jagdflieger, die Boden- und Luftzielen gleichermaßen gefährlich werden konnten. Das Kanonenboot verlangsamte seinen Sinkflug und drehte sich zur Landung. Die ventralen Korrekturtriebwerke setzten ein, als es sich dem Boden näherte. Die knollenförmigen Gondeln waren zu breit, als dass das Schiff in den unterirdischen Hangar gepasst hätte, aber der Pilot begnügte sich damit, neben dem offenen Schott der Plattform zu landen. Die Wraith setzten ihre Patrouillenflüge fort, während das Kanonenboot seinen schweren Leib auf dem Boden aufsetzte. „Das wächst nie mehr nach", brummte Pasteur, als die Düsen des Kanonenboots das Gras versengten. „Du setzt doch Roboter zur Gartenpflege ein, wo also liegt das Problem?", fragte Valerian mit einem Lächeln. „Darum geht es nicht", erwiderte sein Großvater. „Das ist mangelnder Respekt vor anderen, darum geht es." Einer weiteren Diskussion wurde Einhalt geboten, als sich die Seitenluke des Kanonenboots rumpelnd und dampfend öffnete. Rauch kräuselte sich, während ein Dutzend Soldaten in Kampfanzügen die Rampe heruntertrabte und beiderseits als Ehrengarde Aufstellung nahm. Inmitten des Rauchs erschien eine Gestalt, und Valerian lächelte über die Theatralik, mit der sein Vater ins umojanische Sonnenlicht trat. Kaiser Arcturus Mengsk trug einen langen braunen, mit Goldfaden gesäumten und brokatgefütterten Staubmantel. Sein Anzug war im Stil der Ausgehuniform eines Marines gehalten, die glänzende Gürtelschnalle zeigte einen Wolfskopf. Seine Stiefel waren poliert, und an seiner Hüfte hing in verwe-
genem Winkel ein langes Schwert. Als Arcturus die Rampe herunterschritt, sah Valerian, dass sein Vater gealtert war, das Silber in seinem Bart und Haar trat deutlicher zutage als bei ihrer letzten Begegnung. Doch trotz aller Altersanzeichen war sein Vater noch keine vierzig, und er bewegte sich mit der Sicherheit und der Kraft eines halb so alten Mannes. Alles an ihm strahlte völliges Vertrauen in sich selbst aus, und Valerian wusste, dass dies bei jedem anderen Menschen arrogant gewirkt hätte bei seinem Vater war es schlicht Ausdruck einer Tatsache. Die Soldaten blieben hinter Arcturus zurück, als er mit zielstrebigen Schritten über den Rasen kam. Valerian bemerkte das Erschrecken in seinen Augen beim Anblick Julianas. In diesem kurzen Moment völliger Offenheit erhaschte Valerian einen Blick auf die Angst seines Vaters vor Gebrechlichkeit und Dingen, die er nicht mittels seines gefürchteten Intellekts oder seiner Macht und Kraft bekämpfen konnte. Valerians Großvater trat vor, um Arcturus zu begrüßen. Seine Botschaftermaske glitt ihm förmlich übers Gesicht, als er die Hand eines Mannes schüttelte, mit dem er von einem Gefühl ins andere gestürzt war: Bewunderung, Misstrauen, Wut, Verzeihen und schließlich wieder Misstrauen. „Arcturus, willkommen auf Umoja." „Ich erinnere mich noch an das letzte Mal, da Sie das zu mir sagten, Ailin", erwiderte Arcturus. „Es war damals nicht ehrlich gemeint, und ich glaube, dass Sie es auch jetzt nicht ganz ehrlich meinen." „So lange Sie in Frieden hier sind, heißen wir Sie willkommen", entgegnete Pasteur. „Immer schön diplomatisch bleiben, was?", sagte Arcturus, dann wandte er sich Valerian zu, um ihn zu begrüßen. Als sein Vater trat er mit offenen Armen vor ihn, und sein Gesicht leuchtete vor echt empfundener Freude. „Mein Junge, es tut meinem Herzen gut, dich zu sehen. Du siehst gut aus, sehr gut." „Es geht mir auch gut, Vater", erklärte Valerian, umarmte ihn und ertrug eine Reihe herzhafter Klapse auf den Rücken. Seinem Vater fielen solche kameradschaftlichen Gesten leicht, aber Valerian waren sie immer unangenehm gewesen und erzwungen vorgekommen. Valerian löste sich von seinem Vater, und dieser wandte sich an
Juliana. „Wenn du es wagst zu behaupten, ich sähe gut aus, dann nehm ich dieses Schwert und durchbohre dich damit", warnte sie ihn. „Ich wollte sagen, dass es gut tut, dich zu sehen", erwiderte Arcturus. „Aber du siehst besser aus, als man es mir weismachen wollte, und das ist gut." „Ich fühle mich geschmeichelt", entgegnete Juliana, aber Arcturus hatte sich bereits Charles Whittier und Meister Miyamoto zugewandt und spielte ganz den jovialen Mann des Volkes. Valerian durchschaute die Falschheit dieser Rolle und wunderte sich, dass andere das nicht taten. Vielleicht war er seinem Vater ähnlicher, als er wusste, und deshalb in der Lage, diese Scharade zu entlarven, als sei es seine eigene. Schließlich trat sein Vater zurück und sagte: „Ihr seid mir alle sehr lieb, meine Freunde, und es bedeutet mir sehr viel, dass wir uns, nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, im Zuge meines großen Triumphs so begegnen dürfen." Arcturus trat wieder vor, legte einen Arm um Valerian und zog ihn vor den versammelten Zuschauern an seine Seite. „Wir leben in bewegten Zeiten", sagte Arcturus. „Aber wenn wir gemeinsam voranschreiten, können wir alles erreichen, was wir wollen. Als Vater und Sohn werden wir für jedermann eine bessere Welt erschaffen." Die Dienerschaft applaudierte höflich, und Valerian wollte die Worte seines Vaters von Herzen gern glauben und fühlte sich von der Größe seiner Zukunftsvision ein wenig mitgerissen. Nur Meister Miyamoto wirkte unbeeindruckt und blickte bestürzt zum Himmel. „Sind das Ihre?", fragte er, seine Augen gegen die Sonne abschirmend. Valerian folgte Miyamotos Blick, und ein Adrenalinstoß schoss ihm heiß durch den Körper. Vier Wraith-Jäger, auf denen die Flagge der Konföderation prangte... und die im Sturzflug zum Angriff ansetzten. „Alle rein!", rief Arcturus. Die versammelte Menge bedurfte keiner ausdrücklichen Aufforderung und flüchtete zum Haus. Die beiden Wraith, deren Aufgabe es war, am Himmel über dem Kaiser zu patrouillieren, reagierten, sobald ihre Piloten erkannten, dass die Codes, die sie über IFF erhielten, nicht stimmten, aber
da war es bereits zu spät. Der erste Jäger explodierte, als ein Strom greller Laserpfeile eine Naht über den Rumpf zog und den rechten Flügel abriss. Der zweite Wraith entging der ersten Salve und konnte das Feuer erwidern. Erstaunlicherweise zeigten die Schüsse des Piloten Wirkung auf einen der Angreifer und zerstörten das Cockpit in einem Schauer aus superheißem Glas und Blut. Der feindliche Jäger trudelte bodenwärts, pflügte als spektakulärer Feuerball durchs Gras, überschlug sich, krachte ins Haus und übertönte die panischen Schreie, die die Luft erfüllten. Zertrümmerter glasierter und verbeulter Stahl sank ein, und schwarzer Rauch stieg aus dem Wrack auf, das sich in die Mauer des Hauses gebohrt hatte. Die Gegenwehr des Dominion-Piloten währte jedoch nur kurz die anderen drei Jäger der Konföderation kesselten ihn ein und vernichteten sein Schiff in einem Hagel von Laserfeuer. Brennende Wrackteile stürzten in den Fluss und ließen hohe Wasserfontänen aufsteigen. Valerian hob seine Mutter aus ihrem Rollstuhl und trug sie fest an sich gedrückt zum Haus; es gab keine Möglichkeit, sie würdevoller in Sicherheit zu bringen. Zischende Energiepfeile sägten über den Rasen, als der erste Wraith im Tiefflug herankam. Ein halbes Dutzend der Diener seines Großvaters war bereits niedergemäht, ihre Körper von innen heraus zerrissen, nachdem die brutal heißen Laserschüsse ihr Fleisch durchdrungen hatten. Valerian ließ sich fallen, als die rubinroten Pfeile den Boden links und rechts von ihm aufrissen. Er schmeckte Erde und Blut und roch den Gestank von verbranntem Fleisch. Seine Mutter schrie vor Schmerz auf, er wälzte sich zur Seite und sah sie hilflos neben sich liegen. Über ihnen kreischten die Wraith der Konföderation, ihre auf den Flügeln montierten Waffen feuerten auf die hilflosen Ziele unter ihnen. Die Marines seines Vaters erwiderten das Feuer auf die Wraith, während sie sich zum Haus hin zurückzogen, aber das Bodenfeuer von Handwaffen scherte die Piloten nicht. Impaler-Geschosse schlugen nur Funken aus den Rümpfen der Jäger oder gingen ganz fehl, aber immerhin lieferten sie etwas, das einer Gegenwehr zumindest ähnelte. Das Kanonenboot, das seinen Vater nach Umoja gebracht hatte, startete seinen Antrieb, aber bevor es abheben konnte, wurde es
von einer vernichtenden Feuersalve der feindlichen Wraith getroffen. Eine der Antriebsgondeln explodierte und spie weißglühende Fragmente in alle Richtungen. Rasiermesserscharfe Schrapnellsplitter brachten fliehende Männer und Frauen in einem blutigen Sturm zu Fall, während das Kanonenboot sich zur Seite neigte. Es pflügte eine gewaltige Furche in den Boden, schleuderte Erdreich und Schlamm davon, als der eine verbliebene Antrieb brüllend zum Leben erwachte und das Schiff um seine eigene Achse drehte. Das Kanonenboot schlingerte ein letztes Mal, dann verschwand es aus dem Blickfeld, stürzte in den offenen Schacht der Landeplattform, für die es vorhin zu groß gewesen war. um hineinzupassen. Nun, da eine der Antriebsgondeln zerstört war, stellte sich dieses Problem nicht mehr. Valerian hörte jemanden seinen Namen rufen und blickte über den leichenübersäten Rasen hinweg zum Haus, wo er sah, wie sein Vater und Großvater sich in den Schutz einer zurückgesetzten Tür duckten. Beide Männer gestikulierten wild zu ihm herüber, während die Wraith eine Kehre flogen, um ein weiteres Mal im Tiefflug anzugreifen. Valerian vergeudete keine Zeit damit, nach oben zu schauen. Er hob seine Mutter kurzerhand wieder hoch und rannte so schnell er konnte in Sicherheit. „O Gott, Val, ich habe solche Angst!", schrie sie. „Keine Sorge", keuchte er. „Ich lass nicht zu, dass dir etwas passiert." Das Haus schien auf einmal unmöglich weit weg zu sein, als trüge jeder seiner Schritte es weiter und weiter fort von ihm. Die Soldaten seines Vaters beharkten den Himmel mit Impaler-Feuer, und Valerian riskierte einen Blick nach hinten, als er das charakteristische Geräusch hörte, das ein heranrasendes Dropschiff ankündigte. Es klang, als würde die Luft zerhackt. Eine schwere Landefähre in den Farben der Konföderation stürzte rasend schnell durch die Wolken, ein Angriffsschiff mittlerer Größe, das Platz bot für etwa zwanzig bis dreißig Soldaten, abhängig von ihrer Ausrüstung. Valerian zwang sich, schneller zu rennen, und dann war er plötzlich an der Tür. Sein Vater packte ihn und zerrte ihn ins Haus. Der Atem brannte in seinen Lungen, und sein Herz raste wie nie zuvor. Seit er acht gewesen war, hatte er mit Schusswaffe und Schwert trai-
niert, aber jetzt hatte er zum ersten Mal echtes Kampfgeschehen erlebt. Valerian übergab seine Mutter an Charles Whittier, der sie auf einer geschnitzten Holzbank absetzte, während Ailin Pasteur die Tür zuschlug und per Magnetschloss verriegelte. Sie befanden sich in der Eingangshalle des Ostflügels, ein Vestibül mit Terrazzoboden, das die Hauptempfangsräume mit den Gästeunterkünften verband. Neben seiner Mutter und seinem Vater sowie Meister Miyamoto, Whittier und Ailin Pasteur befanden sich noch fünf Soldaten und eine Handvoll schluchzender Hausangestellter hier. „Was zum Teufel soll das, Mengsk?", verlangte Ailin Pasteur zu wissen. „Wer versucht uns umzubringen?" Sein Vater atmete durch und legte Valerian die Hände auf die Schultern. Die Erleichterung darüber, dass sein Sohn noch lebte, war ihm deutlich anzusehen. „Es gab da einigen... Widerstand gegen meine Regentschaft", sagte er, drehte sich um und zog sein Schwert, während die Soldaten sich um ihn herum postierten. „Ich kann nur vermuten, dass es sich hier um eine Manifestation dieses Widerstands handelt." „Widerstand?", platzte Ailin heraus. „Das ist mehr als nur verfluchter Widerstand diese Leute werden uns umbringen!" Arcturus lachte Pasteur ins Gesicht. „Uns umbringen? Seien Sie nicht albern, Ailin." „Dieses Haus ist keine Festung, Arcturus. Diese Tür wird sie nicht lange aufhalten." „Sie werden uns nicht umbringen, Ailin", wiederholte Arcturus. „Sie scheinen sich dessen ja sehr sicher zu sein", versetzte Pasteur. „Das bin ich in der Tat", erwiderte Arcturus. „Eines Tages mag ich sterben, ja, aber nicht heute. Nicht durch die Hand von Narren, die es nicht akzeptieren können, dass sie geschlagen wurden. Charles, wie steht es mit dem Funkverkehr? Ich brauche Verstärkung." Charles Whittier, der immer noch Juliana Pasteur stützte, hielt eine Hand gegen das Ohr gepresst, in dem das Lämpchen eines Funkknopfs blinkte. „Die lokalen Netzwerke sind alle blockiert, Sir", meldete er. „Unsere Widersacher scheinen ein elektromagnetisches Impulsnetz um uns herum gezogen zu haben, und ich glaube nicht, dass ei-
nes der Funkgeräte im Haus leistungsstark genug ist, um dieses Netz zu durchdringen, jedenfalls nicht rechtzeitig. Außerdem empfange ich Hunderte von Kanälen mit weißem Rauschen. Selbst wenn jemand unseren Funkruf empfangen könnte, wäre die Störung zu groß, um das Signal auch zu verstehen." Arcturus nickte. „Sie benutzen einen Cassandra-Scrambler. Wir können also keine örtliche Hilfe erwarten. Nun, dann müssen wir uns anderswo umschauen." „Es gibt kein Anderswo", sagte Ailin Pasteur. „Es gibt immer jemanden, an den man sich wenden kann", entgegnete Arcturus. Während sein Vater sprach, drückte Valerian sich gegen die Wand und spähte durch die Glasscheibe neben der Tür. Ein Schrapnellsplitter hatte ein sauberes Loch ins Glas gestanzt, und er sah, wie das Dropschiff der Konföderation auf dem Rasen aufsetzte. Die Kufen pressten große Erdbrocken aus dem weichen Boden. Die Rampe senkte sich, und eine Schar gepanzerter Marines erschien. Sie verteilten sich und rückten paarweise und vorsichtig auf das Haus zu. „Sie kommen", sagte Valerian und wandte sich wieder seinem Vater zu. „Marines. Mindestens dreißig." Sein Vater nickte und richtete das Wort an Ailin Pasteur. „Haben Sie hier ein Versteck? Einen Schutzraum?" „Ja, im Zentraldienstbereich." „Gehen Sie dahin. Nehmen Sie Valerian, Juliana, Charles und zwei meiner Soldaten mit", befahl Arcturus. „Schließen Sie sich ein und warten Sie auf die Kavallerie. Verstanden? Ihr drei Soldaten und Miyamoto, ihr kommt mit mir." „Arcturus", schluchzte Juliana. „Was hast du vor?" „Ich besorge uns Hilfe", antwortete er. „Das einzige Funkgerät, das einen Cassandra-Schirm durchdringen kann, befindet sich an Bord des Kanonenboots. Wenn wir es dahin schaffen, kann ich Duke und seine Jungs herrufen." „Ich gehe mit dir", sagte Valerian. „Ich laufe nicht davon." „Nein", erwiderte sein Vater. „Du bringst dich in Sicherheit." „Ich gehe mit dir", wiederholte Valerian. „Basta, keine Widerrede." Arcturus war bereit, einen Streit mit ihm auszufechten doch dann erkannte er seine Entschlossenheit. Valerian spürte, wie ihm das Herz in der Brust hüpfte, als er den Stolz in den Augen seines
Vaters sah. „Das Kanonenboot ist in den Landeschacht gestürzt, richtig?", vergewisserte sich Arcturus. „Ja", sagte Valerian. „Die Maschine brannte durch, und dann ist es hineingefallen." „Das heißt, wir können es vom Haus aus erreichen." „Arcturus, das ist Wahnsinn!", rief Juliana. „Edmund Dukes Schiffe sind zu weit weg, um rechtzeitig herzukommen, und das Funkgerät des Kanonenboots ist aller Wahrscheinlichkeit nach zerstört." „So wie ich Duke kenne, ist er sowieso schon auf halbem Weg hierher", erklärte Arcturus. „Entschuldigung, Ailin. Aber Sie haben doch nicht wirklich geglaubt, ich würde meine Schiffe so weit draußen lassen, oder?" „Verdammt, Arcturus", erwiderte Pasteur. „Sie gehen zu weit." Arcturus lachte hohl. „Wenn Duke rechtzeitig hier eintrifft, werden Sie froh darüber sein." Valerian richtete sich gerade auf, als sein Vater sich ihm zuwandte und ihm ein Gaußgewehr reichte. „Bist du bereit?" Er lud die Waffe durch. „Ich bin bereit." Sein Vater übernahm die Führung, und Valerian, Meister Miyamoto sowie die drei Marines hetzten hinter ihm her. Das brennende Wrack des abgestürzten Wraith blockierte ihnen den zunächst gewählten Weg durchs Haus, aber Valerian führte sie um das Hindernis herum, und so erreichten sie den verborgenen Aufzug in der Haupteingangshalle. Die Stromversorgung war unterbrochen, darum nahmen sie die Treppe, stürmten in verzweifelter Hast Absatz um Absatz nach unten. Von oben hörte Valerian Schüsse, und er hielt inne, hinund hergerissen zwischen dem Wunsch, seinem Vater zu folgen, und dem Gefühl, seine Mutter beschützen zu müssen. Ihm wurde bewusst, dass er sich nicht einmal von ihr verabschiedet hatte, und schon stieg er eine Stufe zurück nach oben. „Sei kein Narr!", rief Arcturus. „Wir können ihnen nur helfen, wenn wir das Kanonenboot erreichen." Valerian zögerte, wusste jedoch, dass sein Vater recht hatte, und ging weiter nach unten, zwei Stufen auf einmal nehmend. Schließlich langten sie unten an und tauchten ein in das Netz aus Gängen, Wartungskammern und Vorratsräumen, das um die Lan-
deanlage verlief. Dichter Rauch wölkte auf und wand sich durch den unterirdischen Komplex. Aus den Sprinklern, die in die Decke eingelassen waren, sprühte Wasser. Der beißende Gestank brennenden Treibstoffs, Gummis und Plastiks brachte Valerian zum Husten. Die Hand vor dem Mund half da kaum. Er zuckte zusammen, als er Glas brechen hörte, drehte sich um und sah Meister Miyamoto an einer Notfallsäule stehen, aus der er drei Atemmasken zog. Eine reichte er Valerian, die zweite Arcturus und die letzte setzte er selbst auf. „Wo geht es zur Plattform?", fragte Arcturus. Die Maske ließ seine Stimme widerhallen und künstlich klingen. „Ich erinnere mich nicht mehr an den Grundriss." „Da lang", sagte Valerian und rannte tief gebückt, um dem Rauch zu entgehen, in einen Seitengang. Die Dämpfe stachen ihm nach wie vor in die Augen, und in seinem Mund war ein Geschmack wie von Teer, dennoch konnte er das Hochgefühl nicht leugnen, das es ihm bereitete, mit seinem Vater in die Schlacht zu ziehen. Valerian führte sie durch ein Gewirr aus Tunneln, bis sie die Schutztür erreichten, die auf die Plattform hinausführte. Der gewaltige Aufprall des Kanonenboots hatte die Neostahltür aus ihrer Verankerung gerissen, sodass sie nun verbeult auf dem Betonboden lag. Sie stiegen über die zerstörte Tür hinweg und drangen in die Kaverne der Landeplattform vor. Das Kanonenboot lag schräg und verkantet da, der Rumpf war weit aufgerissen, wo die Felswände des Schachts die Hülle aufgeschlitzt hatten. Aus der verbliebenen Maschine quoll Rauch nach oben, dem hellen Oval aus Tageslicht entgegen, und unter dem zertrümmerten Schiff sammelten sich Pfützen aus brennendem Treibstoff. „Wir müssen uns beeilen", sagte Arcturus. „Verdammt richtig", pflichtete Valerian ihm bei. „Ich habe keine Lust, mit einem explodierenden Kanonenboot in die Luft zu fliegen, nein, danke." „Ja, das wäre kein sehr heroisches Ende deines Lebenswegs, was?", meinte sein Vater. „Dann wollen wir mal dafür sorgen, dass es dazu nicht kommt, hm?" Damit machte sein Vater sich daran, die Schräge aus verbogenem Metall und Trümmern hinauf und dem Riss in der Hülle ent-
gegenzuklettern. Als er die klaffende Wunde in der Flanke des Schiffes erreichte, drehte er sich um und rief zu Valerian hinunter: „Pass du auf, dass weder von oben noch durch den Gang eine Überraschung auf uns zukommt. Sobald unsere Feinde das Signal aus dem Kanonenboot empfangen, werden wir Besuch bekommen, verlass dich drauf..." KAPITEL 19 Valerian ging hinter einer verbogenen Metallplatte aus der Außenhülle des Kanonenbootes in Deckung und richtete sein Gewehr in den Gang, durch den sie gekommen waren. Meister Miyamoto bezog Valerian gegenüber Stellung, und die drei Marines seines Vaters fanden Deckung, aus der heraus sie den Feind mit Flankenfeuer bestreichen konnten. Irgendwann würden die Angreifer feststellen, dass ihre Zielpersonen sich nicht im Haus befanden. Und sobald die gegnerischen Marines darauf gekommen waren, wo ihre Opfer hingegangen waren und warum, würden sie ihnen alles entgegenwerfen, was sie hatten. Valerian und seine Soldaten hatten haufenweise Trümmer und Schutt zum Kanonenboot geschleppt, um behelfsmäßige Barrikaden zu errichten und die Munition, die sie für die Gaußgewehre noch hatten, untereinander verteilt. Die Uhr lief, aber sie waren bereit. Jedenfalls so bereit, wie es fünf Männer sein konnten, die dreißig ausgebildete Soldaten aufhalten wollten. Die Hitze in der Kaverne war erstickend, und hinter der Atemmaske lief der Schweiß über sein Gesicht. Seine Atemzüge klangen unglaublich laut, und seine periphere Sicht betrug praktisch null. Entnervt riss er sich die Maske herunter und warf sie neben sich zu Boden. Die Luft war knapp und sauerstoffarm, aber ein großer Teil des Rauches aus dem Wrack wurde durch den breiten Landeschacht nach oben geleitet. Nicht die besten Bedingungen, um einen Kampf zu bestreiten, aber wer durfte schon jemals einen Kampf unter idealen Bedingungen führen? Und Valerian war willens, Atemprobleme in Kauf zu nehmen, wenn er dafür die Männer, die er töten musste, wirklich zu sehen bekam.
Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht, versuchte flach zu atmen und blinzelte immer wieder, um seine Augen feucht zu halten. Er konnte das leise Echo von Schüssen hören und fragte sich, wo sie wohl herkamen. War es seinem Großvater und Charles gelungen, seine Mutter in Sicherheit zu bringen, während die Marines seines Vaters ihnen den Feind vom Hals zu halten versuchten? Oder hörte er das Echo von Schüssen im Hinrichtungsstil wie jene also, die dem Leben der Eltern seines Vaters und seiner Schwester ein Ende gesetzt hatten? Der Gedanke, dass seine Mutter in echter Gefahr schwebte, ließ ihn beinahe zurücklaufen, aber er zwang sich mit aller Macht zu bleiben, wo er war. Sich von seinen Gefühlen lenken zu lassen, würde ihn den Kopf kosten, und damit wäre niemandem gedient, am wenigsten ihm selbst. Er blickte zum Kanonenboot auf. Was dauerte da nur so lange? War das Funkgerät zerstört? War sein Vater in diesem Moment dabei, es zu reparieren? Wie viel Zeit war überhaupt vergangen? Valerian stellte fest, dass er nicht einmal ansatzweise schätzen konnte, wie viel Zeit seit dem Beginn des Angriffs verstrichen war. Es kam ihm so vor, als wären es Stunden, er vermutete aber, dass es höchstens eine war. Die Dehnbarkeit der Zeit in einer Kampfsituation war etwas, worüber er gelesen hatte, aber er hatte nie damit gerechnet, sie selbst einmal zu erleben. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten, und blickte zu der Stelle hinüber, wo Meister Miyamoto geduckt wartete. Sein einstiger Lehrer erwiderte den Blick, wies mit einem Finger den Gang hinunter, und Valerian wurde der Mund trocken, als er das Trampeln von Stiefeln und hervorgebellte Befehle vernahm. Das war es. Der Feind, vor dem er sein Leben lang davongelaufen war, hatte ihn endlich gefunden. Aber diesmal lief Valerian Mengsk nicht davon. Diesmal kämpfte er. Er drückte sich den Kolben des Gaußgewehrs gegen die Schulter und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, als er sah, wie Schatten durch die Öffnung der zerstörten Schutztür stiegen. Er warf einen Blick zurück zum Kanonenboot und drängte seinen Vater im Stillen, sich doch zu beeilen. Zwei Konföderierte Marines kamen geduckt um den zerfetzten Türrahmen. Meister Miyamoto richtete sich aus seiner Deckung auf und eröffnete das Feuer. Eine meterlange Feuerzunge leckte
aus der Mündung seiner Waffe. Der erste Marine ging zu Boden. Meister Miyamotos perfekt gezielte Salve hatte das Visier durchschlagen und das Innere des Helms mit Eisenspikes gefüllt. Valerian drückte ab und nahm den zweiten Marine unter Beschuss. Der Rückstoß des Gaußgewehrs war fürchterlich. Eigentlich sollte er von einem energiebetriebenen Kampfanzug abgefangen werden, doch einen solchen trug Valerian nicht. Das Brüllen der Waffe war ohrenbetäubend, aber Valerian hielt sie starr aufs Ziel gerichtet, weil er wusste, dass die Rüstung des Soldaten nur unter konzentriertem Punktbeschuss nachgeben würde. Der Mann fiel, als auch die drei Soldaten seines Vaters das Feuer eröffneten. Der zusätzliche Beschuss zerriss die Rüstung des Marines und bespritzte die Wand hinter ihm mit Blut. Valerian duckte sich wieder hinter seine Deckung, als Gegenfeuer durch die Türöffnung sägte. Impaler-Geschosse prasselten gegen das Metall um ihn herum, und er zuckte zusammen, als ihm ein Querschläger über den Arm schnitt. Er hörte Rufe, erhob sich abermals und jagte einen Feuerstoß in Richtung der Türöffnung. Schusslärm erfüllte die Luft, Projektile klatschten gegen Trümmer und Fels, als die feindlichen Marines einen Vorhang aus Unterdrückungsfeuer woben. Valerian hörte etwas über den Boden schlittern, und sein Herz hüpfte ihm scheinbar in den Hals, als er sah, wie eine sanft wackelnde ovale Scheibe unmittelbar neben ihm zur Ruhe kam. Ohne zu überlegen, ging er auf ein Knie nieder, nahm die Granate auf und warf sie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie explodierte im allernächsten Augenblick mit einem entsetzlich lauten Krachen, und die Druckwelle warf ihn auf den Rücken. Er kam wieder auf die Knie, hustete und versuchte, Luft in seine Lungen zu zwingen. Valerian hörte Schreie und Rufe nach Sanitätern, die blechern und unmöglich weit entfernt klangen. Er spürte warme Nässe in seinen Ohren, fasste nach oben, und als er sich seine Finger besah, waren sie blutig. Eine schmierige Nebelbank aus beißendem Rauch wölkte von der Stelle auf, an der die Granate explodiert war. Valerian tastete nach seinem Gewehr. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es ihm bei der Detonation aus den Händen gerissen worden war. Weitere Salven klangen auf, aber er konnte nicht feststellen,
wer da schoss. Er fand sein Gewehr und hob es auf. Der obere Teil der Barrikade, hinter der er Schutz gefunden hatte, war von der Wucht der Explosion weggerissen worden. Valerian wurde bewusst, dass sein Oberkörper pulverisiert worden wäre, hätte er sich aufgerichtet, um die Granate zurückzuwerfen. Etwa sieben Marines wanden sich schreiend am Boden, die Leiber aufgerissen, die Eingeweide über den Fels verteilt. Trümmer ihrer Rüstungen und zerfetzte Körperteile lagen umher, aber es war unmöglich, festzustellen, wie viele Männer genau gestorben waren. Rufende Marines versuchten ihre verletzten Kameraden in Deckung zu ziehen, aber Valerian und Miyamoto ließen keine Gnade walten und mähten sie mit tödlichem Kreuzfeuer nieder. Valerian verspürte mit fast unwiderstehlicher Macht den Anflug eines Hochgefühls und den Drang zu lachen in sich aufsteigen. Inmitten all des Tötens und Todes war dieses Empfinden absurd, und plötzlich wurde ihm klar, wie lächerlich dieser Kampf eigentlich war. Männer, die einander nie begegnet waren, versuchten sich gegenseitig umzubringen. Valerian wusste, warum er kämpfte um seine Liebsten zu beschützen und sein eigenes Leben zu retten. Aber diese Marines? Wofür kämpften sie! Für ein gestürztes Regime, das sie belogen und die Wahrheit ihres eigenen Lebens wahrscheinlich mittels gewaltsamer Gehirnoperation ausradiert hatte. Das war kein Grund, für den es sich zu sterben lohnte, und doch waren sie hier und führten einen tödlichen Kampf. Während er derlei schwere Gedanken wälzte, flogen in hohem Bogen drei Granaten in den Raum. Valerian sah sie kommen, ließ sich fallen und verfluchte seine Dummheit. Mitten in der Schlacht war keine Zeit, um über die Absurdität des Krieges zu philosophieren, und doch war es ihm in dem Moment vorgekommen wie das Natürlichste auf der Welt. Seltsam, was die Gedanken unter Stress so trieben. Die Marines hatten ihre Lektion offenkundig gelernt, und die Granaten explodierten, sobald sie aufschlugen. Granaten detonierten nach oben und außen hin, darum presste Valerian das Gesicht gegen den Boden, als die immense Wucht der Detonation über ihn hinwegbrüllte. Zwei der Soldaten seines Vaters verschwanden in einem sen-
gend orangefarbenen Feuerball, und das Kanonenboot schwankte gefährlich, als die Druckwelle das Geröll lockerte, auf dem es ruhte. Weitere erstickende Rauchwolken quollen in die Höhe, und Valerian wusste, dass es mit ihrer Gegenwehr vorbei war. Er hörte das Heranstürmen der Marines und das Geräusch andauernden Gaußfeuers, das sich wie das Reißen von Stoff anhörte. Impaler-Spikes prallten sirrend von Metall und Neostahl ab, und der letzte der Soldaten seines Vaters schrie vor Schmerz auf, als er fiel. Valerian hustete, rollte sich herum und kam hoch. Diesmal hatte er sein Gewehr festgehalten, und obwohl er wusste, dass es sinnlos war, richtete er es auf die Marines, die auf ihre Stellung zu rückten. Ein anhaltendes brüllendes Heulen, wie das Dröhnen der gewaltigsten Sturmfront, erfüllte die Kaverne um die Landeplattform. Valerian fiel auf die Knie, die Hände gegen die Ohren gepresst und der alles übersteigenden, unfassbaren Lautstärke hilflos ausgeliefert. Die Marines vor Valerian lösten sich in einem Sturm aus blendendem Licht auf, wurden zerrissen von Hochgeschwindigkeitsgeschossen und explodierten wie nasse rote Säcke aus Fleisch. Er schaute nach oben und sah, wie das am Heck des Kanonenboots montierte Geschütz aus allen vier Mündungen feuerte. Rüstung, Knochen und Fleisch verdampften unter der Zerstörungswut des Kanonenbeschusses. Die blanke Tötungskraft der Waffe war aus solcher Nähe absolut furchterregend. Valerian konnte seinen Vater erkennen, der hinter dem Geschütz saß und das Feuer gnadenlos über ihren Feinden hin- und herschwenkte. Im selben Moment schlugen aus dem oberen Teil des Kanonenbootrumpfs Funken, und Querschläger prallten davon ab. Valerian blickte hoch und sah ein halbes Dutzend Marines, das von oben herunter in den Landungsschacht feuerte. Das Panzerplexiglas der Geschützkanzel hielt so lange, dass sein Vater sich aus dem Sitz des Kanoniers fallen lassen konnte. Doch binnen Sekunden war die kleine Kanzel eine Trümmerruine aus zerbrochenem Plastik und zerfetztem Metall. Weitere Schüsse hagelten von oben herab, und Valerian wich geduckt nach hinten, als neben ihm Impaler-Geschosse in den Boden hämmerten. Er spürte, wie ihn eine Hand am Arm packte, und er drehte sich mit erhobenem Gewehr seinem Angreifer zu.
Meister Miyamoto schlug den Lauf beiseite, und Valerian stieß schaudernd die Luft aus, als ihm klar wurde, wie nahe er daran gewesen war, Miyamoto zu erschießen. „Wir müssen ins Kanonenboot", keuchte Miyamoto. Blut lief ihm aus einer Kopfwunde, und seine Kleidung war an Schulter und Hüfte rot getränkt. „Sie sind verletzt." „Ich weiß", erwiderte Miyamoto typisch knapp. „Aber daran kann ich nichts ändern." Valerian nickte und drückte sich gegen die verbeulte Hülle des Kanonenboots. Sie konnten sich nicht aus ihrer Deckung lösen die Marines über ihnen würden sie kurzerhand hinwegfegen. Valerian hörte weitere Schüsse, die auf der anderen Seite der Tür laut wurden. „Die da wissen nicht, dass das Geschütz des Bootes zerstört ist", zischte Miyamoto eine Vermutung, weshalb ihre Feinde sich nicht zeigten. „Aber das wird nicht so bleiben. Wir müssen hier weg." „Ja", stimmte Valerian zu. „Verdammt, ich hoffe, es ist meinem Vater gelungen, eine Nachricht an Duke zu schicken." „Entweder ist es ihm gelungen oder nicht", sagte Miyamoto. „Er müsste inzwischen hier sein." „Aber das ist er nicht, darum müssen wir weiterkämpfen." „Sie können aus Ihrer Lehrerhaut einfach nicht raus, was?", gab Valerian zurück und kroch um die Kante des Rumpfes herum, wobei er sich duckte und aufpasste, sich den Marines über nicht zu zeigen. „Weil es immer noch mehr zu lernen gibt", konterte Miyamoto. „Der Mensch, der glaubt, alles zu wissen, weiß in Wirklichkeit nichts." Valerian lachte auf, aber es war etwas leicht Verzweifeltes daran. Trotz der Gefährlichkeit ihrer Lage und der Schmerzen, die seine Verletzungen ihm bereiten mussten, fand Meister Miyamoto immer noch die Zeit für ein Bonmot. „Da", sagte er, beugte sich vor und zeigte auf ein Loch, das in die Unterseite des Kanonenboots gerissen worden war. „Da können wir durchklettern." Meister Miyamoto nickte und warf einen Blick nach hinten, um nach Anzeichen Ausschau zu halten, ob ihre Angreifer sich schon hereinwagten.
„Geh du zuerst", forderte Miyamoto ihn auf. „Ich gebe dir Deckung." Valerian widersprach nicht, schlang sich das Gewehr über die Schulter, sank auf den Bauch nieder und kroch durch das Loch. Er zuckte zusammen, als er einen Feuerstoß hörte, und wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie Meister Miyamoto sein Gewehr fallen ließ und auf die Knie sank, eine klaffende, blutige Wunde im Bauch. Die Augen seines früheren Lehrers waren geschlossen, seine Züge friedvoll, während er neben ihm zu Boden sackte. Valerian schaute auf, sah einen Marine in zerschrammter und verbeulter Rüstung hinter Miyamoto stehen und hob die Hände. Ganze Platten waren aus der Rüstung des Marines herausgerissen, und Impaler- und Schrapnelltreffer bedeckten fast jeden Quadratzentimeter des Anzugs. Den Helm hatte der Marine verloren, Blut verklebte sein kurz geschorenes Haar, das blond war, und jetzt erst erkannte Valerian, dass Miyamotos Mörder eine Frau war, Anfang vierzig. Und selbst durch die Maske aus Blut, Dreck und Schweiß sah er, dass sie außerordentlich attraktiv war. War es besser, von einem gut aussehenden Marine oder einem hässlichen getötet zu werden? Der Gedanke ließ ihn lächeln, und er kicherte ihr ins Gesicht. „Mann, du bist vielleicht ein verrückter Hurensohn", sagte die Frau und hinkte auf ihn zu, das Gewehr starr auf seine Brust gerichtet. „Es wird mir ein Vergnügen sein, dich zu erschießen." Valerian wollte nach seinem Gewehr greifen, wusste aber, dass er binnen eines Herzschlags tot sein würde, wenn er auch nur einen Finger in die Richtung seiner Waffe rührte. Aber er war sowieso tot, und sie wussten es beide. Im Näherkommen verengten sich die Augen der Frau, und sie stieß ein bellendes Lachen aus. „Ich fasse es nicht", sagte sie. „Du bist Mengsks Sohn, nicht wahr? Mit diesem Gesicht musst du irgendwie mit ihm verwandt sein. Verdammt, wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe!" „Ich bin Valerian Mengsk", erwiderte er stolz. „Sohn von Kaiser Arcturus Mengsk dem Ersten." „Das bezweifle ich nicht, du bist genauso verflucht arrogant wie er." Valerians Körper spannte sich an. „Wer sind Sie?", wollte er wissen. „Warum tun Sie das?"
„Was schert es dich, wer ich bin? Ich werde dich umbringen, mehr brauchst du nicht zu wissen." „Ich möchte den Namen meines Mörders wissen", erwiderte er. „Angelina Emillian", antwortete sie. „Ich habe deinen alten Herrn fürs Marine-Korps rekrutiert und ihm alles beigebracht, was er weiß. Man könnte also sagen, dass ich diesen Fehler jetzt wiedergutmache." Emillian hob ihre Waffe. „Adieu, Valerian." Doch bevor sie abdrücken konnte, blitzte das Flirren silbernen Stahls auf, und das Gewehr explodierte, als Meister Miyamoto mit letzter Kraft sein Schwert durch den Magnetbeschleuniger trieb. Valerian blinzelte geblendet, während Emillian wankte, die nutzlose Waffe fallen ließ und das Kampfmesser zog, das sie am Bein trug. Mit einem wütenden Knurren sprang sie auf Valerian zu. Er riss sein Gewehr hoch und jagte ihr den Rest des Magazins entgegen. Die meisten seiner Geschosse prallten wirkungslos gegen ihren Brustpanzer, aber aus ihrem Hals spritzte auf einmal Blut, und sie landete mit einem gurgelnden Aufschrei neben ihm. Valerian hielt seinen Finger auf den Abzug gedrückt, sein Atem ging schwer und rau. Der Feuermechanismus heulte, weil das Magazin längst leer war. „Guter Schuss", sagte eine Stimme hinter ihm, und er drehte den Kopf und sah, wie sein Vater aus dem Loch im Bauch des Kanonenboots auftauchte. „Danke", schnaufte Valerian, ließ das Gewehr fallen und blickte zu Meister Miyamoto. Valerian sah, dass der Mann tot war und dankte seinem Lehrer im Stillen dafür, dass er ihm das Leben gerettet hatte. Sein Vater ging neben Angelina Emillian in die Hocke, und Valerian konnte den Ausdruck seines Gesichts beinahe lesen: teils Wut, teils Bedauern. „Ich hätte nie damit gerechnet, Sie wiederzusehen", sagte er, und es erstaunte Valerian, dass die Frau nicht tot war. Seine Impaler-Spikes hatten ihren Hals durchbohrt und die Schlagader aufgerissen. Sie war noch am Leben, aber sie hatte allenfalls noch Augenblicke. „Schön wär's...", keuchte sie. Ihre Worte klangen nass und gurgelnd.
„Sie sind für nichts gestorben", sagte Arcturus. „Das wissen Sie doch, oder?" „Leck mich, Mengsk", erwiderte Emillian mit blutigem Husten. „Auf mich kommt es jetzt sowieso nicht mehr an, die UED wird dich ein für allemal erledigen." „Wer?", hakte Arcturus nach. „Wer ist die UED?" Emillian drehte den Kopf in Valerians Richtung. „Verdammt, ich hatte recht, Mengsk. Ich wusste, wenn du Kinder hättest, würden sie nur Ärger machen..." „Angelina, wer ist die UED?", verlangte sein Vater zu wissen. Aber Angelina Emillian war tot. Das Innere des Kanonenboots roch nach Treibstoff, verbranntem Fleisch und Eisen. Valerian hustete ein paarmal, dann rammte er ein frisches Magazin mit Impaler-Spikes in sein Gewehr. Der Kiel des Schiffes war verbogen, Teile des Decks waren aus dem Rahmen gesprungen. Funken knisterten besorgniserregend aus zerbrochenen Abdeckungen, und zerrissene Schläuche spien schäumende Hydraulikflüssigkeit aus. Die Lampen flackerten und zischten, die Elektronik summte und spuckte in dem Takt, in dem Batterien des Kanonenboots ausund wieder einsetzten. Der Inhalt der Spinde war über das Deck verteilt: Spielkarten, Feldflaschen, Zeitschriften und die persönlichen Dinge der Marines, die seinen Vater nach Umoja begleitet hatten. Valerian suchte Halt an einer ächzenden Stütze. „Hast du es geschafft, eine Nachricht an Duke abzusetzen?" „Ich glaube schon", antwortete sein Vater, während er durch einen Riss in der Schiffsflanke spähte. „Du glaubst es? Du weißt es nicht?" Sein Vater schüttelte den Kopf und überprüfte rasch sein Gewehr. „Mit einem Cassandra-Scrambler ist es schwer zu sagen, was raus- und reinkommt, aber ich denke, Duke hat mich gehört. Ich jedenfalls habe ihn sosehr fluchen hören, dass ich annehmen muss, er weiß, was los ist." „Glaubst du, er kommt?" „Das glaube ich, ja. Edmund Duke mag vieles sein, aber so lange er meint, von einer Zusammenarbeit mit mir profitieren zu können, wird er mir gegenüber loyal sein. Und im Augenblick weiß er, dass er an meiner Seite am ehesten etwas aus sich ma-
chen kann." „Ich hoffe, dass du recht hast", sagte Valerian und gesellte sich zu seinem Vater, der am Riss in der Schiffshülle stand. „Da bin ich mir ganz sicher", gab sein Vater zurück. „Wenn Edmund auch nur einen Funken Verstand hat, hat er seine Sensoren ohnehin auf Umoja gerichtet, seit ich das Kommandoschiff verlassen habe. Mit etwas Glück hat er sich in Bewegung gesetzt, sobald er die Waffenentladungen geortet hat." Valerian lud seine Waffe durch, als sie von draußen Stimmen hörten. Er lugte durch ein Schrapnellloch und sah Marines zehn an der Zahl, voll bewaffnet und gerüstet -, die sich einen Weg durch die Trümmer suchten, die den Raum füllten. Valerian und Arcturus waren jetzt auf sich allein gestellt, und da ihnen nur zwei Gaußgewehre zur Verfügung standen, war Valerian sich im Klaren darüber, dass sie kaum eine oder gar keine Chance hatten, ihre Gegner zu bezwingen. Aber er fand, dass es schlechtere Wege gab, die ihm bestimmte Lebensspanne zu beenden, als im Kampf an der Seite seines Vaters zu sterben. „Wir können sie nicht alle aufhalten", sagte Valerian. Arcturus grinste. „Aber versuchen können wir es ja." Valerian nickte, ermutigt von der Haltung seines Vaters und drückte das Gewehr gegen die Schulter. Die Marines entdeckten sie und griffen an. Valerian und Arcturus eröffneten gleichzeitig das Feuer. Ihre Impaler-Spikes hämmerten gegen den nächsten ihrer Angreifer. Der Marine strauchelte und fiel, aber seine Rüstung bewahrte ihn vor Verletzungen. Valerian wich zurück, als ein Geschosshagel gegen das Schiff prasselte, winzige pyramidenförmige Spikes, die sich durch ihre Wucht in die Innenseite der Rumpfhülle bohrten. Sein Vater gab eine Salve ab und fuhr zurück in Deckung. Das Brüllen des Gaußfeuers erfüllte das Kanonenboot, ein kreischendes Heulen von Metall, das auf Metall schlug. Abermals richtete Valerian sein Gewehr durch den Riss in der Hülle und schoss auf einen rot gepanzerten Marine, als dieser über die Reste einer ihrer provisorischen Barrikaden stieg. Impaler-Spikes trommelten gegen den Mann, aber er schüttelte die Treffer ab und rückte näher. Weitere Schüsse prallten funkensprühend von der Schiffshülle ab, und Valerian wusste, dass die Hoffnung, diese Marines zu
stoppen, müßig war. Waren die vorherigen Angreifer noch von einer Zuversicht erfüllt gewesen, die sich als falsch und tödlich erwiesen hatte, gingen diese nun keine unnötigen Risiken mehr ein. Sie arbeiteten paarweise zusammen und gaben einander abwechselnd Feuerschutz, während sie unaufhaltsam vorrückten. Valerian stieß ein frisches Magazin in seine Waffe, sein letztes, und atmete tief durch. Das war's, das war das Ende, und wie konnte man besser abtreten, als mit Glanz und Gloria? Er schaute zu seinem Vater hin und sah in seiner Miene dieselbe Entschlossenheit, dafür zu sorgen, dass ihr Ende ein denkwürdiges sein würde. „Bist du bereit?", fragte er. „Ich bin bereit", erwiderte Arcturus. Gemeinsam fuhren sie herum, die Gewehre erhoben und eröffneten das Feuer. Und plötzlich war der Landeschacht erfüllt von einer Kaskade aus weißglühenden Pfeilen blendenden Lichts, die von oben herab jagten. Heftige Explosionen blühten himmelwärts, und das Kanonenboot schaukelte nach hinten, als eine Druck- und Hitzewelle darüber hinweg rollte. Die gewaltigen Einschläge erschütterten das beschädigte Schiff dermaßen stark, dass der Kiel auseinanderbrach. Arcturus und Valerian wurden aufs Deck geschleudert, während die strömende Flut aus Licht die Welt außerhalb ihrer Zuflucht regelrecht zermalmte. Endlich versiegte der Wasserfall aus geschmolzenem Licht, und Valerian blinzelte die glühenden Flecken, die über seine Augen zogen, fort. Seine Ohren klingelten vom Lärm der Explosionen, aber er lebte, und damit hatte er schon nicht mehr gerechnet. Sein Vater lag nicht weit von ihm entfernt, wirkte benommen, ansonsten aber unverletzt. „Was zum Teufel...?", keuchte Valerian, der draußen nichts außer geschwärzten Wänden und völliger Zerstörung sah. Arcturus lachte. „Hab's dir doch gesagt...", krächzte er. Valerian schaute nach oben. Ein riesenhafter Stahlmoloch, der über der Landeluke schwebte und dem Gesetz der Schwerkraft trotzte, sperrte das Licht aus. Der Dunst ungeheurer Hitze umflirrte seine Maschinen, und Valerian hielt sich die Ohren zu, um sich vor dem Rumpeln zu schüt-
zen, das ihm die Zähne schmerzen ließ. Auf beiden Seiten einer höhlenartigen Andockbucht prangte ein roter Arm, der auf schwarzem Grund eine Peitsche umfasst hielt und Valerian brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er auf die Unterseite eines Schlachtkreuzers des Dominions starrte. Eine gedehnte Stimme mit schwerem Akzent dröhnte aus externen Lautsprechern. „Wer hat hier eine heldenhafte Rettung bestellt?", fragte General Edmund Duke. Unmittelbar nach dem Kampf ließ sich kein Hinweis darauf finden, wie diese hartnäckigen Konföderierten es geschafft hatten, die Einzelheiten über den Besuch des Kaisers auf Umoja in Erfahrung zu bringen. Ebenso wenig war festzustellen, was es mit jener UED auf sich hatte, von der Angelina Emillian vor ihrem Tod gesprochen hatte doch dieses Rätsel sollte nur allzu bald gelöst werden. Arcturus versprach Ailin Pasteur eine gründliche Untersuchung des Falles, und obwohl keine direkten Anschuldigungen ausgesprochen wurden, war doch klar, dass der Kaiser die Umojaner einer gewissen Komplizenschaft verdächtigte. Weitere Schiffe des Dominions waren auf dem Weg zum Kaiser, und in Reaktion darauf waren Großschiffe des Protektorats unterwegs, um ihn zu überzeugen, dass es in seinem vorrangigen Interesse sei, seine Schiffe so schnell wie möglich abzuziehen. Die Überlebenden der Attacke versammelten sich in Ailin Pasteurs großem Speisesaal, erschüttert und blutverschmiert, aber froh, am Leben zu sein. Als Valerian seine Mutter erblickte, rannte er zu ihr, ließ sein Gewehr fallen und umarmte sie, während sie Freudentränen weinte, ihn lebend wiederzusehen. „Ich dachte, du seist tot", schluchzte sie. „Ich bin ein Mengsk", erwiderte er. „Wir sterben nicht so leicht." EMDEN Aber erst müssen wir sie begraben... Valerian saß in dem Ledersessel vor dem erlöschenden Kohlenfeuer und schwenkte lohfarbenen Portwein in seinem Glas, während sein Vater sich noch einen bernsteingoldenen Brandy ein-
schenkte. Das war nicht, was er für gewöhnlich trank, aber in Ailin Pasteurs Haus hatte er immer Brandy getrunken, und er sah keinen Grund, daran etwas zu ändern. Die Trauerfeier für Juliana Pasteur war kurz, aber würdevoll gewesen, und beigewohnt hatten ihr der größte Teil des umojanischen Regierungsrats sowie einige der engsten Berater des Kaisers. Ailin Pasteur hatte die Grabrede für seine Tochter gehalten, und es hatte niemanden überrascht, dass er Arcturus nicht bat, ein paar Worte zu sprechen. Valerian hatte eigentlich etwas sagen wollen, aber als der Augenblick kam, war er nicht fähig gewesen, sich zu rühren, so fest drückte ihn die Last der Trauer auf seinen Platz. Der Tod seiner Mutter war das Schmerzhafteste, was Valerian je erlitten hatte. Es hatte nach dem Angriff auf das Haus ihres Vaters weitere achtzehn Monate gedauert, ehe sie gestorben war; ihren letzten Atemzug tat sie einen Monat vor Valerians einundzwanzigstem Geburtstag. Es war kein leichter Tod gewesen das letzte Jahr hatte sie ans Bett gefesselt zugebracht, und nur in wenigen Momenten waren ihre Gedanken noch klar gewesen. Valerian hatte diese Monate an ihrer Seite verbracht, ihre Hand gehalten, ihr den Schweiß von der Stirn getupft und aus Gedichte der Zwielichtsterne vorgelesen. Oft vergaß sie, wer er war, oder sie hielt ihn für ihre längst verflossene Liebe, Arcturus, ihren großen, strahlenden Prinzen. Das war schwer zu ertragen gewesen, denn sie hatte sich an einen Mann erinnert, den es nicht mehr gab, wenn es ihn überhaupt je gegeben hatte. Ihr letzter Morgen war herrlich gewesen, die Sonne stand als leuchtende Bronzescheibe am Himmel, vom Fluss her wehte ein frischer Wind und trug die Düfte ferner Provinzen und das Versprechen unentdeckter Länder mit sich. Valerian hatte die Vorhänge aufgezogen und gesagt: „Heute ist ein wunderschöner Tag." „Du solltest laufen gehen", meinte seine Mutter. „Es ist so lange her, dass du draußen warst." „Vielleicht mach ich das", erwiderte er. „Später." Sie nickte und setzte sich im Bett auf. Zwar hatte die Krankheit seine Mutter eines großen Teils ihrer einstigen Schönheit beraubt, aber das Kupferlicht der eben auf-
gegangenen Sonne badete sie in einem perlenartigen Glanz, von dem die meisten gesunden Menschen, geschweige denn Krebspatienten, nur träumen konnten. „Du siehst heute wunderschön aus", sagte Valerian. Sie lächelte und bat ihn: „Setz dich zu mir." Valerian nahm auf dem Stuhl neben ihrem Bett Platz, aber sie schüttelte den Kopf. „Nein, aufs Bett." Er tat ihr den Gefallen, und sie legte die Arme um ihn und zog ihn an sich, wie sie es so oft getan hatte, als er ein kleiner Junge war. Sie strich über sein goldenes Haar und küsste ihn auf die Stirn. „Mein lieber Junge", sagte sie. „Du bist alles, was ich mir je gewünscht habe. Erinnerst du dich an den Tag am Fluss, vor dem Angriff auf das Haus deines Großvaters?" „Ja, ich erinnere mich. Was ist damit?" „Weißt du noch, was ich da zu dir gesagt habe?" „Ja", antwortete er, argwöhnisch ob des Verlaufs, den die Unterhaltung nahm. „Du warst seitdem so gut zu mir, mein Schatz, aber jetzt ist es Zeit, dass du dein eigenes Leben lebst. Du kannst dich nicht mehr an mich fesseln." „Was meinst du damit?" „Damit meine ich, dass es an der Zeit für dich ist, auf eigenen Beinen zu stehen, Val", sagte seine Mutter eindringlich, und er konnte ihren Herzschlag wie einen eingesperrten Vogel in ihrem Brustkorb flattern spüren. „Du hast alles versucht, um mir zu helfen, hast gegen etwas gekämpft, das sich nicht bekämpfen lässt, aber jetzt ist es Zeit loszulassen." „Nein", sagte er. In seinen Augen sammelten sich Tränen, während er sie festhielt. „Du musst", erwiderte Juliana. „Akzeptanz ist der einzige Weg, den Tod zu besiegen, mein wunderschöner Junge. Ich habe mich damit abgefunden, und jetzt musst auch du es tun. Sag mir, dass du es verstehst..." Valerian schloss die Augen, nicht willens, die Worte auszusprechen, und doch wohl wissend, dass sie recht hatte. Er hatte so lange gegen das Unausweichliche angekämpft, dass er vergessen hatte, wie vergebens dieser Kampf von Anfang an gewesen war. Seine Mutter starb, und ein Teil von ihm würde mit ihr sterben, aber so lange er lebte, würde auch ein Teil von ihr weiterleben. Das war ihr Vermächtnis an ihn. Ihre Güte und ihre Leidenschaft
waren immer schon Teil seines Naturells gewesen, ihr Leben, ihre Schönheit und Vitalität Teil seiner Seele. Aber das galt auch für die Rücksichtslosigkeit und Entschlossenheit seines Vaters, um jeden Preis ans Ziel zu kommen. Diese Qualitäten, die seine Eltern ihm vererbt hatten, waren in ihm verschmolzen und hatten ihn zu dem Menschen gemacht, der er war. Doch erst jetzt begriff er, was das bedeutete. Er war weder seine Mutter noch sein Vater er war Valerian Mengsk, mit all den Qualitäten und Makeln, die ein solches Dasein mit sich brachte. Die Dinge, die er von beiden geerbt und gelernt hatte, würden stets seine Schritte lenken, aber die letztendliche Entscheidung darüber, wo sein Leben hinführte, war allein ihm überlassen. „Ich verstehe es", sagte er, und er wusste, dass sie die Wahrheit in seinen Worten fühlte. „Das weiß ich, mein Lieber. Du machst mich so stolz." „Ich liebe dich", sagte er, und Tränen liefen ihm übers Gesicht. „Ich liebe dich auch, Valerian", sagte seine Mutter. Das waren die letzten Worte, die sie zu ihm sprach, ihr Herz gab endgültig auf, als sie ihn an jenem strahlenden Morgen auf Umoja festhielt. Valerian war aufgestanden und hatte ihr die Hände im Schoß gefaltet, gelächelt ob der Feierlichkeit, die er in ihr sah. Die Linien des Kummers, der Sorge und des Schmerzes waren im Tod aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie ruhte in Frieden, und sie war wunderschön. Sein Vater war eine Woche später nach Umoja gekommen, und sie waren umeinander herumgeschlichen wie die größten Wölfe eines Rudels, einer schätzte die Stärke des anderen ab, während die Trauergäste zur Beerdigung eintrafen. Nun, da die Beisetzung vorüber war und die Gäste erlesenen Wein tranken und Canapes aßen, hatten sich Vater und Sohn in Valerians Studierzimmer zurückgezogen. „Dein Großvater hat eine schöne Rede gehalten", meinte sein Vater, schenkte sich Brandy ein und nahm gegenüber von Valerian Platz. „Es war sehr bewegend." „Ja, aber das war zu erwarten gewesen", erwiderte Valerian, die Stimme hohl und leer. „Schließlich ist er Politiker." „Das stimmt wohl", pflichtete Arcturus ihm bei. „Nun?", fragte Valerian, als sein Vater in Schweigen verfiel. „Du
wolltest mir von Korhal erzählen. Von deinem Vater. Und meiner Mutter." „Ja", sagte Arcturus leise und ließ den Brandy in seinem Glas kreisen. „Sitzt du bequem?" Dann redete sein Vater stundenlang, erzählte ihm von seiner Jugend auf Korhal, seiner Zeit beim Marine-Korps der Konföderation und davon, was zwischen ihm und Juliana geschehen war. Die Offenheit seines Vaters hatte Valerian erst überrascht, aber bald war ihm klar geworden, dass Arcturus Mengsk keinen Grund mehr hatte, irgendjemanden zu belügen. Zumeist sprach sein Vater, aber als die Geschichte zur Gegenwart aufschloss, streute Valerian eigene Erinnerungen in die Erzählung seines Vaters ein. Am Ende versanken beide Männer in Schweigen. Es war ein Schweigen, das nicht unangenehm war, nur der Raum zwischen zwei Menschen, die sich noch nicht entschieden hatten, was sie zueinander sagen wollten. Valerian brach das Schweigen als Erster. „Ich werde nicht so sein wie du", sagte er. „Das verlange ich auch nicht von dir", erwiderte sein Vater und trank einen Schluck Brandy. „Das wollte ich nie. Ich wollte nur, dass du jemand bist, auf den ich stolz sein kann." „Und bist du das? Stolz auf mich?" Sein Vater dachte einen Moment lang über die Frage nach, bevor er antwortete. „Ja. Ich bin stolz auf dich. Du bist intelligent, und du hast Mut, zwei Eigenschaften, mit denen du es in dieser Galaxie weit bringen wirst. Aber du hast mehr zu bieten als nur das, Valerian. Du hast Größe in dir, genau wie ich, und alles, worüber wir heute gesprochen haben, bestätigt meine Überzeugung, dass wir Mengsks für Größeres geschaffen sind, als andere sich von ihrem Leben erhoffen dürfen." „Ich bin ich, Vater, und ich werde kein Leben in deinem Schatten führen." Sein Vater lachte leise. „Und das erwarte ich auch nicht von dir. Ach, Valerian, so vieles von dem, was du sagst, erinnert mich an die Auseinandersetzungen mit meinem Vater vor all den Jahren." Arcturus stand auf und trank sein Glas aus. „Manchmal glaube ich, wir sind bis in alle Ewigkeit dazu verdammt, die Fehler unserer Väter zu wiederholen." „Ich werde nicht dieselben Fehler machen wie du", versprach
Valerian. „Nein, ich bin sicher, dass du das nicht tun wirst", stimmte Arcturus zu. „Du wirst deine eigenen begehen." „Das ist nicht sehr beruhigend." „So war es auch nicht gemeint, Sohn", sagte Arcturus. „Und jetzt komm, reiß dich zusammen wir haben ein Imperium zu errichten." ENDE ÜBER DEN AUTOR Graham McNeill stammt aus Schottland und entging knapp einer beruflichen Laufbahn als Landvermesser, indem er im Jahr 2000 bei Games Workshop anfing, wo er sechseinhalb Jahre als Spieleentwickler arbeitete. 2006 wagte er den Sprung ins kalte Wasser und wurde Vollzeitschriftsteller, was recht gut zu laufen scheint. Neben vierzehn Romanen hat Graham viele Sciencefiction- und Fantasy-Kurzgeschichten geschrieben sowie Comics getextet. Er lebt in Nottingham, England. Mehr über Grahams Arbeiten, was er sonst so treibt und wo er auftauchen wird, kann man auf seiner Website www.grahammcneill.com erfahren.