Sally Gardner
Ich, Coriander
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Ich, Coriander
Aus dem Englischen von
Anne Braun
cbj ist der K...
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Sally Gardner
Ich, Coriander
Sally Gardner
Ich, Coriander
Aus dem Englischen von
Anne Braun
cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-OIOO
Das für dieses Buch verwendete Fsc-zertifizierte Papier EOS
liefert Salzer, St. Polten.
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
1. Auflage 2006
© 2006 für die deutschsprachige Ausgabe cbj, München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
E-Book by Brrazo 10/2008
© 2005 by Sally Gardner
Die englische Originalausgabe erschien 2005
unter dem Titel »I, Coriander«
bei Orion Children’s Books, London
Übersetzung: Anne Braun
© 2005 by Linda Corry: Mädchengesicht auf dem Umschlag
Die Hintergrundszene des Umschlagbildes ist einem Kupferstich
von Wenzelslaus Hollar (1647) entnommen:
»Long View of London from Bankside«; Archiv Weidenfeld &
Nicolson
Umschlaggestaltung: Basic-Book-Design, Karl Müller-Bussdorf
Ku • Herstellung: WM
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN-10: 3-570-13104-1
ISBN-13: 978-3-570-13104-6
Printed in Germany
www.cbj-verlag.de
In liebender Erinnerung an meine unersetzliche Freundin
MARIA BJÖRNSON
****
Die Welt, in der wir leben, ist lediglich ein Spiegel, der unter seiner silbernen Oberfläche eine andere Welt verbirgt, ein Land, in dem die Zeit unwichtig und aller Macht beraubt ist. Dort hoffe ich, dich wiederzufinden. S. G.
Inhalt TEIL EINS 1 Eine Geschichte zum Erzählen 2 Der ausgestopfte Alligator 4 Rabenflügel 5 Die innere Hitze 6 Das Perlenhalsband TEIL ZWEI 7 Der Schatten 8 Was sein wird 9 Die Macht eines Windengewächses 10 Schlechte Neuigkeiten 11 Abschiede 12 Die Hand des Zorns TEIL DREI 13 Medlar 14 Das blaue Licht 15 Der Fuchsprinz 16 Aufgestickte Augen 17 Das verlorene Land TEIL VIER 18 Der schreckliche Schrei 19 Lücken in der Zeit 20 Hester 21 Die sonderbare Frau 22 Grünes Feuer
TEIL FÜNF 23 Geständnisse 24 Das Gewitter 25 Ein neues Gewand 26 Bisswunden 27 Das unsichtbare Seil TEIL SECHS 28 Die Nacht des Fuchses 29 Die Macht des Schattens 30 Bittersüß TEIL SIEBEN 31 Heimkehr 32 Allerliebste Fingerchen 33 Dem König, was dem König gebührt 34 Die ideale Ehefrau 35 Ein Narr und seine Perücke Der historische Hintergrund
Süße Themse, fließe sachte dahin,
bis dass mein Lied verklingt.
Edmund Spenser
Prothalamion
TEIL EINS
1
Eine Geschichte zum Erzählen
E
s ist Nacht und in unser altes Haus am Fluss ist endlich Ruhe eingekehrt. Das Baby ist in den Schlaf gewiegt worden und hat aufgehört zu schreien. Vor meinem Fenster ist nur das leise Plätschern der Themse zu hören. London ist in tiefen Schlaf gesunken und wartet darauf, dass der Nachtwächter den neuen Tag verkündet. Ich habe die erste von sieben Kerzen angezündet, um in ihrem Schein meine Geschichte niederzuschreiben. Neben mir auf dem Tisch liegt der seidene Beutel mit den Perlen meiner Mutter, daneben steht die Schatulle aus Ebenholz, deren unschätzbar wertvollen Inhalt ich erst jetzt zu begreifen beginne. Und daneben steht ein Paar silberner Schuhe, die mit dem Mond um die Wette zu glänzen scheinen. Ich habe so vieles zu erzählen, darüber, wie ich zu den silbernen Schuhen kam, und vieles mehr. Und da dies meine eigene Geschichte und zugleich ein Feenmärchen ist, beginne ich am besten ganz am Anfang. Mein Name ist Coriander Hobie. Ich bin das einzige Kind von Thomas und Eleanor Hobie, geboren im Jahr des Herrn 1643 unter dem Dach dieses Hauses. Es liegt nur einen Steinwurf von der London Bridge entfernt und die Themse fließt am rückwärtigen Teil des Hauses vor bei. An der Vorderseite, durch eine Mauer zur Straße hin 14
abgegrenzt, liegt der einst wundervolle Garten meiner Mutter, und man gelangt durch ein Holztor hinaus auf eine belebte Straße. Der Garten ist mittlerweile mit Un kraut zugewuchert, zu lange hat sich niemand um ihn gekümmert. Früher wuchsen dort Blumen und Kräuter aller Art, deren Wohlgerüche sogar die Themse duften ließen, doch inzwischen gibt es hier nur noch Rosmarin und Brennnesseln, wilde Rosen und dornige Sträucher. Es war dieser Garten, der unsere Nachbarn in Staunen versetzte und Anlass zu Gerede gab. Mein Vater hatte ihn für meine Mutter anlegen und ihr auch ein schmuckes Gartenhäuschen bauen lassen, das an die Rückseite sei nes Kontors angrenzt. Meine Mutter wusste, auf ihre stil le Art, mehr über Kräuter und deren Heilkräfte als jeder andere, und zusammen mit unserer Haushälterin, Mary Danes, konnte sie viele Stunden in ihrem Gartenhäuschen zubringen und alle möglichen Mixturen zusammenstel len, die destilliert und in kleine Fläschchen abgefüllt wurden. Als ich noch klein war, pflegte ich mich hinter den Röcken meiner Mutter zu verstecken und die Ohren zu spitzen, wenn ihre Freundinnen und Nachbarinnen mit Gebrechen und Leiden ankamen, um sich von ihr und ihren Arzneien heilen zu lassen. Später, als ich zu groß war, um mich noch zu verstecken, kamen sie mit anderen Anliegen, denn bis dahin hatte sich der Ruf meiner Mut ter als Heilkundige mit magischen Kräften verbreitet wie Distelwolle, die von den heißen Windstößen des Klat sches überallhin geweht wurde. Meine frühesten Erinnerungen sind der Garten und mein altes Zimmer, in dem ich auch jetzt sitze und des sen Wände meine Mutter mit Märchenszenen und Fabel tieren bemalt hat. Unter jede Szene hatte sie mit ihrer sauberen Schrift etwas geschrieben, und zu jedem Bild 15
kannte sie eine Geschichte, die sie so farbig zu erzählen wusste, dass sie ebenso lebendig wirkte wie die Farben, in denen sie gemalt war. Als ich noch klein war, fuhr ich gern mit meinem Finger die Buchstaben nach, um zu füh len, wie sich die spinnwebartige Schrift von den Holzpa neelen abhob, und ich pflegte die Worte vor mich hin zu sagen, als wären sie eine Schutzformel gegen alles Böse. Doch diese Bilder sind, genau wie die Blütenpracht des Gartens, längst verschwunden, sind weggewaschen und abgeschrubbt worden. Nur eine hauchzarte Spur der gol denen Buchstaben ist noch zu erahnen, die, genau wie die Erinnerungen, noch immer durchschimmern. Früher glaubte ich, das Leben meiner Mutter hätte erst mit mir begonnen, und es hätte bis zu meinem Eintreten in die Welt nichts gegeben. Nichts, das heißt, bis zu je nem Sommertag, an dem mein Vater, Thomas Hobie, meine Mutter auf einer Landstraße unter einer Eiche ste hen sah. Das ist die Geschichte, die er mir erzählt hat, eine Ge schichte, die ich über alles liebe. Als er noch ein junger Kaufmann war und den Kopf voller Träume hatte, inves tierte er all sein hart verdientes Erspartes, zusammen mit der Summe, die sein Vater ihm vermacht hatte, in ein Schiff, das nach Konstantinopel fahren und mit einer La dung voller Seide zurückkehren sollte. Doch leider erfuhr er dann, dass das Schiff in einem großen Sturm auf See verschollen war, sodass er von einem Tag auf den ande ren außer der Kleidung, die er am Leibe trug, nichts mehr besaß. In seiner Verzweiflung verließ mein Vater die Stadt und ging ungefähr zehn Meilen weit zu Fuß aufs Land, wo er hoffte, sich bei einem entfernten Vetter, einem ge wissen Master Stoop, etwas Geld leihen zu können. Doch 16
als er dort eintraf, erfuhr er, dass Master Stoop seinen langwierigen Kampf ums Überleben aufgegeben und sich ins Reich der Toten begeben hatte, sodass seine Witwe nun allein die Münder etlicher kleiner Stoops füttern musste. Mein Vater brachte es nicht über sich, sie um Geld zu bitten. Nachdem er ihr sein Beileid ausgesprochen hatte, machte er sich tief betrübt auf den Rückweg nach Lon don und wollte sich in sein Schicksal fügen. Es war schon zu später Stunde, als er auf einen merk würdig aussehenden Mann mit einem langen, verknote ten Bart stieß, der eine Laterne in der Hand hielt, so rund wie der Vollmond. Der Fremde erzählte ihm, er sei aus geraubt worden; Wegelagerer hatten ihm alles genom men, was er besaß, und ihm nur seine Laterne gelassen. Mein Vater hatte Mitleid mit dem Unglücklichen und gab ihm seinen Umhang, damit er wenigstens nicht frieren musste, und der Fremde nahm die Gabe dankbar an. »Junger Mann, Ihr besitzt ein offenes und großzügiges Herz und das ist mehr wert als alle Goldmünzen in einer Schatztruhe«, sagte der Fremde. »Morgen wird Euch Eu re Güte vergolten werden.« Mein Vater wünschte dem Mann alles Gute und sagte, er hoffe, dass ihm nichts Böses mehr widerfahre. Danach setzte er seinen Rückweg nach London fort und nur der Mond war sein Begleiter. Unterwegs überkam ihn eine große Müdigkeit, und er legte sich nieder, um ein paar Stunden zu schlafen. Am nächsten Morgen war er noch nicht viel weiter ge kommen, als ihn plötzlich das Gefühl überkam, sich ver laufen zu haben, denn im Dämmerlicht des Tagesanbruchs sah die Gegend ganz anders aus als noch am Vortag. Da ich diese Geschichte schon so viele Male gehört 17
hatte, dass ich sie Wort für Wort auswendig konnte, fiel ich meinem Vater an dieser Stelle regelmäßig ins Wort und sagte: »Aber du warst trotzdem auf dem richtigen Weg.« Dann lachte er und sagte: »Es war der Weg, der mich zu deiner Mutter führte! Wie hätte er da falsch sein kön nen?« In meinem kindlichen Denken kam es mir so vor, als hätte er meine Mutter innerhalb eines Tages kennen ge lernt und geheiratet. Als sie nach der Hochzeit gemein sam in die Stadt zurückkehrten, wurden sie mit der groß artigen Nachricht empfangen, dass das vermeintlich un tergegangene Schiff unversehrt und mit einer Ladung feinster Seide eingetroffen war. Von diesem Tag an führte mein Vater ein Leben voller Liebe und Glück. Kein anderes Schiff brachte seinem Besitzer mehr ein. Unbehelligt von Piraten, Schlachten oder Stürmen, segelte es friedlich durch alle Gewässer und brachte Schätze zurück, die eines Königs würdig gewesen wären. Es dauerte nicht lange, bis mein Vater so vermögend war, dass er für uns dieses Haus am Fluss bauen konnte, wo wir in großem Wohlstand lebten. Wir hatten eine Köchin und Bedienstete, die uns umsorgten, sowie Sam, den treuen Burschen meines Vaters. Ich habe mich nie gewundert, wie das alles so schnell gekommen war. Es war mir nie in den Sinn gekommen zu fragen, was die Familie meiner Mutter davon gehalten hatte, dass ihre Tochter einen bettelarmen jungen Mann heiratete, oder ob sie überhaupt eine Familie hatte. All diese Fragen und noch sehr viele andere stellte ich mir erst sehr viel später, als niemand mehr da war, der sie mir hätte beantworten können. Mein Vater besaß zwei Miniaturen, die kurz nach der 18
Hochzeit gemalt worden waren. Auf der einen trägt mei ne Mutter ein wunderschön besticktes cremefarbenes, mit winzigen, schimmernden Perlen besetztes Gewand. Ich stelle mir gern vor, dass sie genauso ausgesehen hat, als mein Vater sie an jenem Mittsommertag unter einer Ei che stehen sah – mit Wildblumen im Haar und einem Eichblatt in der Hand. Auch der Hintergrund des Gemäldes übte stets eine große Faszination auf mich aus. Wenn man das Bild be trachtete, kam man sich vor wie ein Vogel, der aus gro ßer Höhe auf die Landschaft herunterblickt. In einem Eichenwald sieht man eine Lichtung, auf der ein großes Haus steht, umgeben von einem gepflegten Garten. In der Ferne ragt ein Turm aus den Bäumen heraus, und ich glaubte sogar, oben auf diesem Turm eine Gestalt zu er kennen, die auf die Landschaft hinabblickt, als hielte sie nach jemandem oder etwas Ausschau. Am Waldrand ist eine Jagdgesellschaft mit Hunden zu erkennen. Im Ver gleich zu dem Haus und dem Turm wirken sie viel zu groß. Auf dem ausgestreckten Arm eines der Reiter sitzt ein Falke. Ein weiterer Reitersmann steht in den Steigbü geln und bläst in sein Horn. Ich hatte das Bild schon viele Male betrachtet, ehe mir das weiße Pferd und der Fuchs auffielen, die im Dickicht versteckt waren. Ich kann es mir nicht erklären, doch diese Entdeckung beunruhigte mich. Ein seltsames Unbehagen überkam mich, als wenn man irgendwie nirgendwo auf dieser Welt sicher wäre. Das Bild meines Vaters zeigt ihn als jungen, hübschen Burschen. Er ist glatt rasiert und trägt eine Kniebundhose und ein Leinenhemd, das mit demselben Muster bestickt ist wie das Kleid meiner Mutter. Der Hintergrund dieses Bildes könnte jedoch nicht unterschiedlicher sein. Man sieht eine Stadt, durch die sich, wie ein opalgrünes Band, 19
ein Fluss zieht. Auf den ersten Blick könnte man glau ben, es handle sich um London, doch die Häuser sind bunt gestrichen, und im Wasser kann man, unter einer Flotte von großen Schiffen mit geblähten goldenen Se geln, Meerjungfrauen, Wassermänner und Seeungeheuer erkennen. Schon als Kind wirkten diese beiden Gemälde auf mich sonderbar zeitlos, so als wären sie schon vor langer, langer Zeit und in einer ganz anderen Welt gemalt wor den. Inzwischen kenne ich ihre Bedeutung. Ich weiß, wa rum meine Mutter nie darüber reden wollte und warum ihre Vergangenheit mich in meinen düstersten Momenten einholte und mich zu etwas zurückführte, was sich nicht länger verleugnen ließ.
20
2
Der ausgestopfte Alligator
A
n den Prozess gegen König Karl I. kann ich mich nicht erinnern. Ich wusste auch nicht, was mit »Bür gerkrieg« gemeint war. Solche großen Ereignisse im Ge zeitenstrom der Geschichte gingen spurlos an mir vor über. Woran ich mich jedoch noch erinnere, ist das Ge fühl, geliebt und beschützt worden zu sein. Ich erinnere mich auch an den Duft des Parfüms meiner Mutter, dar an, dass ich immer bei meinen Eltern sitzen und mit ih nen zu Abend essen durfte und später in den Armen mei ner Mutter einschlief. Von ihren Küssen könnte ich viel erzählen. Darüber, wovon meine Mutter und mein Vater redeten, weiß ich nur noch wenig, abgesehen davon, dass es sie manchmal sehr traurig machte. Ich war noch zu klein, um zu begreifen, was für um wälzende Veränderungen eintraten, die auch unser Leben betreffen würden. Meine Welt drehte sich um unbedeu tendere Dinge. Einen ausgestopften Alligator, einen er trunkenen Barbier oder ein Paar silberne Schuhe fand ich mindestens ebenso interessant wie die Enthauptung eines Königs. An jenem Januartag schneite es und der Fluss begann zuzufrieren. Aufgeregt rannte ich zu Danes, um es ihr zu erzählen. Doch ich fand sie in Tränen vor, was höchst ungewöhnlich war, denn Danes hatte nicht nah am Was ser gebaut. Es sei eiskalter Mord gewesen, sagte sie und wischte sich die Tränen ab. 21
»Wer ist ermordet worden?«, fragte ich gespannt. »Der König«, entgegnete sie. »Ihn umzubringen, war eine böse und gottlose Tat, die sich noch einmal rächen wird.« »Wer hat das getan?« »Oliver Cromwell und seine Henker«, erklärte mir Danes. »Wie schrecklich! Nie hätte ich gedacht, dass wir so etwas jemals erleben würden! Dem eigenen König den Kopf abzuschlagen!« »Hast du es gesehen?«, wollte ich wissen. »Nein, nein, aber Master Thankless, der Schneider, war dabei. Er hat gesagt, es sei der schlimmste Anblick gewesen, dessen er jemals Zeuge wurde. Sie haben den Kopf des armen Königs hochgehalten, damit alle ihn se hen konnten, und das Volk ließ ein Stöhnen ertönen, wie London noch keines gehört hat. Wir leben in düsteren Zeiten, mein kleiner Spatz.« Da es Winter war, fand ich, dass sie Recht hatte. Danes schnauzte sich. »Der König ist tot«, sagte sie betrübt. »Lang lebe der König.« »Wie kann er tot sein und gleichzeitig leben?«, fragte ich verwirrt. Ich war zwar noch klein, aber so viel wusste ich schon. »Weil sein Sohn, Prinz Karl, noch lebt«, erklärte mir Danes. »Und er wird, durch Gottes Gnade, unser nächster König sein.« Es war ein bitterkalter Winter. Der Schnee hatte sich wie eine dicke weiße Decke über London gelegt und eine gespenstische Stille mit sich gebracht. Die riesigen Was serräder zu beiden Seiten der Brücke hatten ihr stamp fendes Drehen eingestellt, und die daran herunterhängen den gewaltigen Eiszapfen wurden immer länger und di 22
cker, während der Fluss allmählich zuzufrieren begann. Es sah ganz danach aus, als wollte sich Väterchen Them se einen langen weißen Bart wachsen lassen. Sobald der Fluss ganz zugefroren war, fand eine Frostkirmes darauf statt, und in den Zelten und Marktbu den wurden die herrlichsten Waren feilgeboten: Hand schuhe, Hüte, Stoffe, Töpfe, Pfannen, Nadeln, Murmeln, Püppchen, Kreisel, Lebkuchen und geröstete Kastanien. Die Tavernen machten gute Geschäfte mit Essen und Ale. Ich konnte bis spät in die Nacht das Singen und Grö len vor meinem Fenster hören und die heißen Pasteten riechen, die die Spaziergänger auf dem Eis in Versu chung führen sollten. Master Mullins, der Barbier, der ganz in unserer Nähe in Cheapside wohnte, war unter den Ersten gewesen, die sich aufs Eis gewagt hatten. Er hatte sein kleines, rotweiß gestreiftes Zelt aufgebaut, mit lautem Rufen neue Kun den angelockt und ihnen die gründlichste Rasur in ganz London versprochen. Die Leute beobachteten den wacke ren Barbier vom sicheren Ufer aus mit ehrfürchtiger Scheu und fragten sich, ob die Eisschicht wirklich schon stabil genug war. »Tretet näher!«, rief Master Mullins. »Das Eis ist so fest wie Stein und würde sogar das Gewicht des Teufels persönlich tragen.« Und um seine Worte zu beweisen, sprang er auf der spiegelglatten Eisfläche herum. »Master Mullins ist ein Tor«, sagte meine Mutter, als die Eisschicht auf der Themse erste Risse bekam und wir sahen, wie sich die anderen Budenbesitzer vor sichtig ans Ufer tasteten. Nur Master Mullins weigerte sich, seinen Standort aufzugeben. Als sich kein Kunde mehr zu ihm aufs Eis wagte, rief er den Leuten von seinem Zelt aus zu: »Worauf wartet ihr? Bei mir kriegt 23
ihr die besten Tinkturen der ganzen Stadt gegen Haar ausfall!« Master Mullins wurde bald darauf zum Tagesgespräch unserer Straße, aber nicht wegen seiner Wundermittel, sondern weil er plötzlich, mitsamt seiner Schüsseln und Rasiermesser, im Eis versank. Ich fragte Danes, was aus ihm geworden sei. »Ach, der alte Sturkopf«, sagte sie kopfschüttelnd. »Vermutlich hat er sein Zelt nun auf dem Grund des Flusses aufgeschlagen und wartet dort auf Kunden, um ihnen den neuesten Klatsch zu erzählen.« Danach stellte ich mir manchmal vor, wie Master Mul lins den Wassernixen die Haare schnitt oder den Seeun geheuern die Barte stutzte. Mit diesem Bild im Kopf machte ich mir keine Sorgen mehr um den Barbier und bedauerte nur, dass er den ausgestopften Alligator nicht mitgenommen hatte. Den Alligator hatte ein Kapitän namens Bailey mei nem Vater als Geschenk aus China mitgebracht. Er thronte bedrohlich im Arbeitszimmer meines Vaters, ganz oben auf der Ebenholzvitrine, deren Schlüssel hinter den leicht gelblichen Kieferknochen mit den rasiermes serscharfen Zähnen versteckt war. Die Schätze in dieser Vitrine hatten mich schon als Kind maßlos fasziniert: Muscheln, in denen das Meeresrauschen zu hören war, der Panzer einer kleinen Schild kröte, Schmetterlinge mit leuchtend blauen Flügeln. Doch als ich den Alligator zum ersten Mal sah, brach ich in Tränen aus, weil ich glaubte, er sei lebendig. Er sah sehr zornig aus und kein bisschen erfreut darüber, dass er ausgestopft worden war. »Es ist doch nur ein Baby-Alligator«, sagte mein Vater und hielt ihn mir vors Gesicht, damit ich ihn besser be 24
trachten konnte. »Keine Angst, er wird dich nicht bei ßen.« Doch ich wollte ihn nicht in meiner Nähe haben. Ich wusste, dass das Tier nur darauf wartete, dass wir den Raum wieder verließen, um zu neuem Leben zu erwa chen. Dieser Gedanke ängstigte mich so sehr, dass ich Alb träume hatte und Danes immer eine Kerze in meinem Zimmer brennen lassen musste, damit ich mir sicher sein konnte, dass der Alligator nicht zu mir kam. Danes sagte jedoch nie, dass ich ein Dummerchen sei, und insgeheim spürte ich, dass sie ebenso große Angst vor dem Alligator hatte wie ich. Als der Winter endlich vorbei war und dem Frühjahr Platz machte, geschah das so plötzlich, dass alle über rascht waren. Die Fenster wurden sperrangelweit aufge rissen, die Teppiche ins Freie geschleppt und tüchtig ausgeklopft, als wenn unser Haus eine große Decke wäre, aus der die Flöhe geschüttelt werden müssten. Alles wur de gewaschen, abgeschrubbt und auf Hochglanz poliert, bis es im ganzen Haus nach Lavendel und Bienenwachs duftete. Frische Blumensträuße schmückten alle Räume. Unsere Kleidung wurde gelüftet, die Bettwäsche gewa schen und Mutter schickte nach Master Thankless, dem Schneider. Neue Kleidung wurde in Auftrag gegeben, alte wurde abgeändert. Inmitten dieser ganzen Aufregung passierte etwas sehr Seltsames. Eines Tages lag ein Päckchen vor unserem Gartentor. Darauf stand kein Name, und es gab auch kei nen Hinweis darauf, von wem es kommen könnte. Das geheimnisvolle Päckchen wurde ins Haus gebracht und im Flur auf das Tischchen gelegt, bis jemand es für sich 25
beanspruchen würde. Jedes Mal wenn ich es dort liegen sah, verspürte ich ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch. Schließlich beschloss meine Mutter, es zu öffnen, wo bei sie sorgfältig nach irgendwelchen Hinweisen auf den Absender Ausschau hielt. Im Inneren befand sich ein Paar wunderschöne silberne Kinderschuhe. Sie waren mit zierlichen silbernen Stichen genäht worden und auf den Innensohlen war der Buchstabe C eingestickt. Ich wusste sofort, dass sie für mich bestimmt waren. »Darf ich sie gleich anprobieren?«, rief ich aufgeregt und hüpfte vor Freude auf und ab. Mutter schwieg und trug die Schuhe ans Fenster, um sie genauer zu betrachten. Sie schimmerten und glänzten, als wären sie aus reinem Glas. Und sie flüsterten mir zu: Schlüpf hinein, wir sind dein. »Bitte, bitte«, rief ich und zog an Mutters Röcken. »Ich will sie anziehen!« »Besser nicht«, sagte meine Mutter leise. Sie kehrte damit an den Tisch zurück und packte sie, zu meiner großen Bestürzung, wieder ein. Es brach mir fast das Herz, die wunderschönen Schuhe so unerwartet wieder verschwinden zu sehen. Ich würde sterben, wenn ich sie nicht bekäme! »Sie sind aber für mich«, rief ich voller Verzweiflung. »Schau, da steht der Buchstabe C – C wie Coriander!« »Ich habe Nein gesagt«, entgegnete Mutter. In ihrer Stimme lag auf einmal eine Schärfe, die ich nicht an ihr kannte. Das beunruhigte mich sehr, denn es war mir un begreiflich, warum ein so herrliches Geschenk ihr die Laune verdorben hatte. »Es tut mir Leid, Coriander«, sagte sie, nun wieder etwas sanfter, »aber diese Schuhe sind nichts für dich. Ich will nichts mehr davon hören. Schluss und aus.« 26
Aber es war nicht der Schluss. Es war erst der Anfang. Dass ich diese Schuhe nicht haben durfte, weckte in mir so etwas wie einen ständigen Hunger, der nicht ver gehen wollte. Ich wusste, dass sie noch im Haus waren. Ich war mir sicher, sie manchmal nach mir rufen zu hö ren, und wenn ich dem Geräusch folgte, führte es mich stets zur Tür von Vaters Arbeitszimmer. Wie sich später herausstellte, war es nicht der Alliga tor, vor dem ich hätte Angst haben sollen – es waren die silbernen Schuhe. Sie kamen aus einem Land, in das kein Schiff je segeln kann, von einem Ort, der auf keiner Landkarte der Welt verzeichnet ist. Nur diejenigen, die dorthin gehören, können es finden.
27
3
Die silbernen Schuhe
E
twas an meiner Mutter hatte sich verändert, seit die silbernen Schuhe angekommen waren. Sie wirkte besorgt und ließ mich nicht mehr aus den Augen. Und dann geschah noch etwas Seltsames. Ich spielte im Gar ten. Die Rundköpfe, die Feinde des Königs, versuchten, mich zu fangen, und um ihnen zu entkommen, hatte ich mich unter der Bank im Garten versteckt. Ich musste mich verstecken, weil ich ein königlicher Prinz war, der sich als Mädchen verkleidet hatte. Es war ein gutes Ver steck. Niemand wusste, dass ich dort war, auch nicht die Rundköpfe, und auf diese Weise konnte ich die Gesprä che der Erwachsenen belauschen. Meine Mutter hatte häufig Freundinnen und Besucher zu Gast, die kamen, um sie um Rat oder ein Heilmittel zu bitten. Auf diese Weise erfuhr ich sehr viel Neues. Nie hätte ich gedacht, dass das Herz Anlass zu so viel Kummer und Zwist sein könnte. Es konnte zerbrechen und wieder heilen. Es konnte verwundet und dann wieder heil wer den. Man konnte es verschenken und wieder zurückho len, verlieren und wiederfinden. Das alles konnte einem Herzen zustoßen, aber trotzdem lebte der betreffende Mensch weiter, allerdings – so die landläufige Meinung – mehr schlecht als recht. Mistress Patience Tofton war eine von Mutters Besu cherinnen. Ich hatte nicht sehr aufmerksam zugehört, bis plötzlich der Name Robert Bedwell fiel. Erst da spitzte 28
ich die Ohren, denn ich spielte oft mit seinen Söhnen. Die Bedwells lebten ein Stück flussabwärts von uns, in der Thames Street. Ich nahm an, dass ihr Vater dereinst eine Frau und die Jungen eine Mutter gehabt hatten, doch ich konnte mich nicht an sie erinnern. Patience Tofton weinte bittere Tränen, als sie Mutter nun ihr Herz ausschüttete. »Er will bestimmt eine Frau haben, die Lesen und Schreiben kann«, schluchzte sie, »eine jüngere als mich. Ich bin doch schon eine alte Jungfer.« Wie konnte sie so etwas Dummes sagen? Master Bedwell war wahrlich auch kein Jungspund mehr. Er würde sich gewiss freuen, wenn er wüsste, dass sich die hübsche Patience Tofton, die blond war und noch all ihre Zähne hatte, für ihn interessierte. Ich streckte den Kopf aus meinem Versteck. Meine Mutter sprach beruhigend und tröstend auf ihre Besuche rin ein, doch ich hörte nicht mehr zu. Ich sah, dass sie Patience auf beide Wangen küsste. »Meint Ihr wirklich, dass alles gut wird?«, fragte Pati ence und erhob sich, um zu gehen. Ich sprang aus meinem Versteck und rief: »Natürlich wird er Euch heiraten! Aber wartet nicht zu lange. Eure beiden Kinder können es kaum erwarten, geboren zu werden.« Erst nachdem ich das gesagt hatte, kam mir der Ge danke, dass es womöglich nicht sehr klug gewesen war. Patience Tofton fiel jedenfalls aus allen Wolken. Sie wurde leicht grün im Gesicht, stieß einen spitzen Schrei aus und sackte schließlich in sich zusammen. Ich hielt es für das Beste, mich ins Haus zu verziehen, und war froh, als ich das Gartentor klicken hörte. Als ich vorsichtig aus dem Fenster meines Zimmers linste, sah 29
ich Master Bedwell Mistress Tofton nach Hause beglei ten. Kurze Zeit später kam Mutter herein und setzte sich auf mein Bett. »Wieso hast du das zu Patience gesagt?«, fragte sie. »Ich weiß nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich weiß nur, dass sie Master Bedwell am Mittsommertag heiraten wird und dass sie einen Sohn und eine Tochter bekommen werden.« »Das ist alles?« »Ja«, sagte ich und kam ins Grübeln. »Na ja, das ist al les, was ich ganz sicher weiß.« »Coriander«, sagte meine Mutter und schaute mir in die Augen. »Du bist wie ich. Deshalb musst du dir eines mer ken: Halte deine Gedanken stets von deiner Zunge fern.« »Gut, ich werde nie mehr ein Wort über all die vielen Dinge sagen, die mir durch den Kopf purzeln«, gelobte ich kleinlaut. »Das wäre ein Jammer«, sagte meine Mutter lachend. »Machen wir es so: Du darfst sie deinem Vater, mir und Danes erzählen, aber keinem anderen. Einverstanden?« »Gut. Darf ich dann die silbernen Schuhe haben?« »Nein, Coriander. Glaub mir, sie wären nicht gut für dich.« Mutter klang sehr betrübt. »Ich hatte früher auch mal solche Schuhe. Ich trug sie siebzehn Jahre lang. Aber ich will, dass du andere Schuhe bekommst, Schuhe, die du dir selbst aussuchen darfst, keine Schuhe, die dich irgendwohin bringen, wo du nicht hingehen solltest.« »Aber ich habe sie doch ausgesucht«, wimmerte ich. »Ich will sie haben!« »Oh, Coriander, du bist noch zu klein, um es zu ver stehen«, sagte meine Mutter. »Du musst mir vertrauen. Ich weiß, was das Beste für dich ist.« 30
Aber was hätte schon besser für mich sein können als diese silbernen Schuhe? In unserer Familie wurde der Tag meiner Geburt immer groß gefeiert und ich wurde mit Geschenken überhäuft. In diesem Jahr hatte meine Mutter zur Feier des Tages einen Ausflug mit unserem Boot geplant. Ich wachte am Morgen schon sehr früh auf und blieb im Bett liegen, um die Sonnenstrahlen zu beobachten, die wässrige Schatten an die Wände warfen, und um die Straßenverkäufer zu hören, die auf dem Weg zur Brücke waren. Sobald der Stadtwächter die volle Stunde ausrief, sprang ich auf und rannte durch den Korridor ins Schlafzimmer meiner El tern. Ich fühlte mich wie ein bunter Kreisel, der sich vor Aufregung drehte. »Heute habe ich Geburtstag! Aufwachen!«, rief ich. Ich zog die Vorhänge des großen Himmelbetts zurück und sprang mit einem Satz hinein. »Das weiß ich«, meinte mein Vater lachend. »Und die ganze Straße weiß es auch schon.« Er bückte sich und zog eine Schachtel unter dem Bett hervor. Ich öffnete die Schachtel mit zitternden Fingern. Denn ich war mir ganz sicher, was darin sein würde. Doch dann sah ich sie: einfache, leblose, schwere silberne Le derschuhe. Eine traurige Nachahmung, ein hoffnungslo ser Versuch. Mit den silbernen Schuhen, die jemand vor unserem Gartentor abgelegt hatte, waren sie keinesfalls zu vergleichen. Tränen stiegen mir in die Augen und in meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß. »Tut mir Leid, mein Goldschatz«, sagte mein Vater. »Die anderen Schuhe kannst du nicht haben. Wir hatten gehofft, dass dir diese hier auch gefallen würden.« 31
Die ganze fiebrige Aufregung war von mir abgefallen und ich kletterte stumm vom Bett und kämpfte meine Tränen der Enttäuschung nieder. »Probiere sie doch an!«, schlug Mutter vor. Das tat ich. Doch sie waren zu hart und drückten an den Zehen. Ich drehte mich um, tief betrübt. »Coriander!«, rief meine Mutter. Ich blickte zurück in ihr Schlafzimmer. Der Fußboden hatte sich in ein Meer verwandelt und das Bett in ein Schiff, das ich nur aus weiter Ferne sah. Ich konnte die Stimmen meiner Eltern hören, ebenfalls aus weiter Ferne. Das Ganze dauerte etwa eine Minute oder weniger. Vielleicht habe ich es nur geträumt. Vielleicht aber auch nicht. Es war ein Bild, das mich nicht mehr losließ, und ich habe mich oft ge fragt, was geschehen wäre, wenn ich gehorcht und die silbernen Schuhe in Ruhe gelassen hätte. Wäre unser al ler Leben dann anders verlaufen? Langsam und betrübt kehrte ich in mein Zimmer zurück, wo Danes schon auf mich wartete, um mich anzuklei den. »Ah, was machst du für ein langes Gesicht, mein klei ner Spatz?«, fragte sie. »Gefallen dir deine neuen Schuhe nicht?« Ich blieb stumm. »Auweia, dann wirst du mein Geschenk vermutlich gar nicht haben wollen«, sagte Danes und holte ein mit einem seidenen Band verschnürtes Päckchen aus ihrer Schürzentasche. Darin befand sich ein Nähetui, das die Form eines Frosches hatte und wunderschön bestickt war. Es enthielt Nadeln, einen Fingerhut und eine zierli che kleine Schere sowie ein Musterbüchlein mit ver schiedenen Sticharten. Einen Augenblick lang war ich so 32
begeistert, dass ich meinen Kummer über die Schuhe ganz vergaß. Ich blieb allein mit meinem kleinen Nähetui, während Danes zu meiner Mutter ging, um ihr aufzuwarten. Ich konnte hören, wie mein Vater nach heißem Wasser ver langte und wie die silbernen Schuhe nach mir riefen. Im ersten Moment glaubte ich, dass ich es mir nur einbilde te. Dabei konnte ich genau sehen, woher der Ruf kam, als wäre er ein Rauchwölkchen aus der Pfeife meines Vaters. Ich stand auf und folgte dem Ruf die Stufen hinunter zum Arbeitszimmer. Coriander, Coriander, schlüpf hinein, wir sind dir gegeben. Weich und silbern warten wir, tanz mit uns durch dein Leben. Zuerst stand ich nur da und lauschte, doch dann nahm ich all meinen Mut in meine zitternden Hände und stieß die Tür auf. Das Arbeitszimmer lag im Dunkeln. Der Alligator stand unbeweglich und wie ein Herrscher, der alles sieht, auf der Vitrine aus Ebenholz, und das Band, an dem der Schlüssel befestigt war, hing einladend aus seinem Maul. Ich schloss die Tür und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Meine Hand lag noch auf der Klinke, mein Herz klopfte zum Zerspringen. Stille erfüllte den Raum. Da stand ich nun. Ich musste mich entscheiden. Würde mein Mut ausreichen? Ich gab mir einen Ruck. Ich wollte die Schuhe doch nur noch ein einziges Mal sehen, das war alles. Ich versuchte, einen Stuhl an die Vitrine zu tragen, um darauf zu klettern und mir den Schlüssel zu holen. Der Stuhl war viel zu schwer, sodass ich ihn schieben musste, 33
so leise, wie man einen schweren Stuhl nur schieben kann. Dann stand ich reglos da und wartete, ob jemand mich gehört hatte. Ich kletterte hinauf, stellte mich auf die Zehenspitzen und befand mich plötzlich Aug in Aug mit dem Alligator. Dieser sah aus der Nähe noch furcht erregender aus, und ich rechnete fest damit, er würde je den Augenblick zum Leben erwachen. Wollte ich die Schuhe wirklich unbedingt sehen? Oh ja, und wie! Mit halb geschlossenen Augen und vor Angst zitternd, griff ich ins Maul des Alligators und packte den Schlüssel. Falls der Alligator sein Maul zu klappte, so würde ich es nicht spüren und auch nicht se hen. Ich kletterte wieder vom Stuhl und schloss die Vitrine auf. In ihrem Inneren waren viele Schubladen mit wun derschönen Intarsien aus Zedernholz. Ich überlegte mir, welche davon ich zuerst öffnen sollte. Mit angehaltenem Atem stand ich da, als ich es plötz lich wieder hörte, diesmal kaum mehr als ein Flüstern. Coriander, Coriander… Ohne lange zu überlegen, zog ich eine der unteren Schubladen auf, und da standen sie, die magischen, schönsten Schuhe der Welt. Sie waren wie Glas. Sie wa ren wie Diamanten, wie die Sterne. Oh, dachte ich mir, was macht es schon, wenn ich mal ganz kurz hineinschlüpfe? Die Schuhe passten, als wären sie für mich nach Maß gefertigt worden. Verzückt blickte ich an mir hinunter und bestaunte ihre Schönheit. Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand. Vermutlich eine geraume Weile, denn ich erwachte wie aus einem Traum, als ich plötzlich wieder meinen Namen hörte, und diesmal war es kein Flüstern. »Coriander! Coriander? Wo steckt das Kind nur?« 34
Erschrocken versuchte ich, die Schuhe wieder auszu ziehen, doch sie wollten nicht mehr von meinen Füßen. Trotz der Panik, gleich ertappt zu werden, schaffte ich es gerade noch, die Schublade zu schließen und den Schlüs sel wieder im Maul des Alligators verschwinden zu las sen, als Danes auch schon die Tür aufriss. »Coriander, was machst du da, du kleine Göre?«, sagte sie. »Wir haben das ganze Haus nach dir durchsucht. Komm rasch, das Boot legt gleich ab.« Einer der Vorteile, direkt am Fluss zu wohnen, besteht darin, dass wir unseren eigenen Anlegeplatz haben, das Wassertor, und über ein paar Stufen direkt ins Boot ge langen. Deshalb brauchte ich meinen Rock kaum anzu heben und meine Schuhe blieben unbemerkt. Ich sagte mir, dass ich sie am Abend wieder ausziehen und zurück legen würde. Für den heutigen Tag aber gehörten sie mir. Wir wurden flussaufwärts nach Whitehall gerudert, wo die Stadt in grüne Wiesen und üppige Felder übergeht, das Wasser sein quecksilberfarbenes Schimmern verliert und fast so klar wird wie die Luft. An einer Wiese mit farbenprächtigen Blumen zogen unsere Ruderer das Boot an Land, und alle machten sich daran, diesen Tag des süßen Nichtstuns so angenehm zu gestalten wie nur mög lich. Körbe mit leckeren Speisen wurden unter einen Baum gestellt, Weinflaschen zum Kühlen ins Wasser gelegt. Und für jene, die sich sportlich betätigen wollten, wurden Angeln ausgegeben. Als eine eifrige Betriebsamkeit herrschte, schlich ich mich davon, setzte mich am Ufer ins Gras und hoffte, dass ich die Schuhe diesmal ausziehen könnte. Ich zog daran und sie glitten mühelos von meinen Füßen. Dass es mir vorher nicht gelungen war, hatte ich mir bestimmt 35
nur eingebildet. Ich versteckte sie unter einem Büschel Blätter, wo sie gewiss keiner finden würde. Auch meine Mutter zog ihre Strümpfe und Schuhe aus, hob ihre Röcke an und spielte mit mir auf der Wiese Fangen. Dabei löste sich ihr Haar, und mir fiel die Haube herunter, als wir ein ums andere Mal im Kreis über die Wiese rannten und uns schließlich kichernd zusammen auf den Boden fallen ließen. Ich machte für sie eine Halskette aus Gänseblümchen und pflückte Blumen, um sie ihr ins Haar zu stecken. Ich watete im Fluss, beobach tete kleine Fische, die mir um die Zehen schwammen, wurde von meinem Vater durch die Luft gewirbelt. Der Tag ging rasch vorüber. Es war Zeit, meine sil bernen Schuhe wieder zu holen. Ich achtete sorgsam dar auf, dass mein Rock die Füße bedeckte, als wir wie die römischen Kaiser auf Decken und Kissen unter einer di cken Eiche lagen und unser Festmahl verspeisten, nur dass wir statt Kerzen von flirrenden Sonnenstrahlen be schienen wurden. Mein Vater hatte drei Musikanten be stellt, die uns mit ihren Liedern erfreuten. Ich vergaß ganz, was ich getan hatte, und erinnerte mich erst sehr viel später wieder daran, als wir uns auf den Nachhause weg machten. Die Nacht war über den Fluss herangerollt und hatte den Tag vertrieben. Die Ruderer zündeten Kerzen auf den Booten an, sodass der Fluss schimmerte, als die Lichter auf ihm tanzten. Nach diesem aufregenden und herrlichen Tag an der frischen Luft und dem vielen Essen war ich auf einmal hundemüde. Da hörte ich meine Mutter mit strenger Stimme fra gen: »Coriander, wo hast du diese Schuhe her?« Ich war auf einen Schlag wieder hellwach und bemerk te mit Schrecken, dass meine Schuhe zu sehen waren. 36
»Ich…«, stammelte ich verlegen und wusste, dass ich gleich Arger bekommen würde. »Tut mir Leid, aber die anderen Schuhe drücken mich.« »Das war sehr ungezogen von dir«, sagte Mutter sicht lich enttäuscht. »Bedeutet das etwa…«, fragte nun mein Vater, der seinen Arm um mich gelegt hatte, »…dass du auf einen Stuhl geklettert und deine Hand in das Maul des Alliga tors gesteckt hast, um an den Schlüssel zu kommen?« Ich nickte. »Oh, oh. Ich bin beeindruckt. Ganz schön mutig für je manden, der solche Angst vor diesem Alligator hat wie du.« Mutter biss sich auf die Lippen und wandte den Blick ab. Ich wusste, dass sie böse auf mich war. »Eleanor, meine Liebe«, wandte Vater sich nun an sie, »ich weiß, dass sie das nicht hätte tun dürfen, doch heute ist Corianders Geburtstag. Warum darf sie diese Schuhe nicht endlich tragen? Ich finde, sie hat sie sich redlich verdient.« »Es sind die besten Schuhe, die ich je getragen habe!«, pflichtete ich ihm bei. Ich war so aufgeregt, dass ich mich nicht mehr zu rühren wagte, aus lauter Angst, er könnte es sich wieder anders überlegen. Mutter neigte den Kopf zu mir und starrte auf meine Schuhe. »Konntest du sie ganz leicht wieder auszie hen?«, wollte sie wissen. »Ja, es ging ganz leicht«, versicherte ich ihr voller Ei fer, was jedoch ganz und gar nicht stimmte. »Siehst du? Vielleicht waren deine Befürchtungen ja übertrieben«, sagte Vater. »Was kann ein Paar Schuhe schon anrichten?« »Sehr viel, Thomas«, entgegnete Mutter. »Und das weißt du.« 37
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Rabenflügel
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ch war wie benommen vor Freude darüber, dass ich die silbernen Schuhe behalten durfte. Mutter er wähnte sie nicht mehr, und ich wusste, dass sie mir ver ziehen hatte. Endlich gehörten sie mir – das war alles, was zählte. Und als ich Danes am nächsten Tag wie üb lich begleiten durfte, als sie Besorgungen machte, wollte ich die neuen Schuhe unbedingt anziehen. »Sie werden bestimmt ganz schmutzig bei dem vielen Schlamm und Matsch«, sagte Danes seufzend, als sie mir die Haare unter die Haube schob und meinen Rock glatt strich. Ich hätte es zwar niemals zugegeben, doch ich wusste, dass sie Recht hatte. Meine vornehmen Schuhe eigneten sich wirklich nicht für die verdreckten Straßen Londons. »Nein, werden sie nicht«, behauptete ich. »Es sind Zauberschuhe.« »Zauberschuhe, ach ja?«, meinte Danes und nahm den Weidenkorb vom Küchenregal. Wir wollten der Frau eines Stoffhändlers, die in einem Haus auf der Brücke wohnte und in letzter Zeit sehr leidend war, ein paar Heilmittel bringen. In diesem Augenblick kam Mutter mit einem Bündel Kräuter herein. »Du willst doch nicht etwa mit diesen Schuhen gehen, mein Schatz?«, sagte sie. »Doch«, sagte ich trotzig. »Du würdest sie nur schmutzig machen.« 38
»Sie werden nicht schmutzig«, versicherte ich ihr, »weil ich sie heute Morgen verzaubert habe.« »Glaubst du nicht«, sagte Mutter lächelnd und bückte sich, »dass es besser wäre, du würdest sie mit einer Zau berformel belegen, damit sie dich immer sicher nach Hause bringen?« Für ein, zwei Momente blickten wir beide andächtig auf meine Schuhe. »Sehr hübsch«, sagte Mutter dann. »Früher habe ich…«, begann sie, verstummte dann aber und gab mir ein Küsschen. »Also, geht schon, ihr zwei.« Es war, wie ich mich erinnere, ein schöner Frühlingsmorgen, der einen warmen Tag versprach. Auf der schmalen Straße vor unserem Haus drängelten sich die Leute auf dem Weg zur Brücke. Ich klammerte mich an Danes Hand. Da ich noch recht klein war, konnte ich nur Röcke und Hosenbeine sehen, die auf mich zukamen und sich an mir vorbeidrängten. Straßenhändler, Lehrbur schen und Fährmänner riefen nach Kunden. Inmitten die ses Durcheinanders aus Geräuschen und Menschen hörte ich plötzlich das Schnattern einer Gänseherde. Es klang wie hundert Fischweiber, die sich über den Preis ihrer Waren stritten. Ich zerrte an Danes’ Schürze und bat sie, mich auf den Arm zu nehmen. Vor Gänsen fürchtete ich mich. »Bist du dafür nicht schon zu groß, Coriander?«, sagte sie kopfschüttelnd und hob mich hoch, sodass ich sehen konnte, wohin wir gingen. Wenn ich getragen wurde, streckte ich immer gern die Arme hoch, um zu sehen, ob ich schon groß genug war, um die Schilder zu berühren, die an jedem Haus und je dem Laden hingen. Sie waren alle mit unterschiedlichen Motiven bemalt, damit man sehen konnte, wer wo wohn 39
te und wer was verkaufte. Auf unserem Schild war ein Maulbeerbaum zu sehen. Diese Schilder mussten hoch genug hängen, damit ein Pferd samt Reiter problemlos passieren konnte. In unserer engen Straße hingen einige Schilder jedoch so tief, dass ein Reitersmann nicht nur seinen Hut, sondern schlimmstenfalls auch seinen Kopf verlieren konnte, wie ich insgeheim fand. Nach einer Weile gelangten wir an die Brücke. »Ab hier kannst du wieder selbst gehen, mein kleiner Spatz«, sagte Danes, setzte mich ab und richtete sich wieder auf. Wir waren an der London Bridge angelangt, der einzi gen Brücke in ganz London, die über die Themse führt. Es gibt keine andere Möglichkeit, auf die andere Seite zu gelangen, es sei denn, man nimmt ein Fährboot. Die London Bridge ist eine wunderschöne Brücke. Ich liebte und fürchtete sie gleichermaßen. Ich fürchtete mich vor den aufgespießten Köpfen der Verbrecher am Traitors’ Gate, dem Verrätertor, die wie abscheuliche Kobolde auf die Passanten herunterglotzten, um sie daran zu erinnern, was für ein unrühmliches Ende Vagabunden und Anhän gern des Königs in dieser gottesfürchtigen Stadt drohte. Aber ich liebte das rege Treiben in den Läden, die Falk ner, die Straßenhändler, die überhängenden Gärten und die Fußgängerwege. Wie mein Vater sagte, gab es auf der ganzen Welt keine Brücke, die sich mit der unseren messen konnte. Als wir ankamen, waren alle Geschäfte bereits geöff net. Kutschen und andere Fuhrwerke rumpelten über die se wichtigste Durchgangsstraße und verscheuchten Fuß gänger und Hühner. Der Lärm war ohrenbetäubend: Kir chenglocken läuteten, Lehrburschen brüllten, Wasserrä der knarrten. Die Menschen hasteten hierhin und dorthin, ohne zu schauen, wohin sie gingen. In dieses menschli 40
che Durcheinander mischten sich Tiere vom Land, die auf den Viehmarkt getrieben wurden. Ich war mir sicher, dass ich verloren gegangen und im Meer der Menschen versunken wäre, wenn ich Danes’ Hand losgelassen hätte. Dieser Gedanke sorgte norma lerweise dafür, dass ich mich wie eine Klette an sie hefte te. Nicht aber heute. Heute war es etwas anderes. Heute trug ich meine neuen silbernen Schuhe. Obwohl ich sie mit einem Zauberspruch belegt hatte, machte ich mir ehr lich gesagt größere Sorgen darum, dass sie vom Straßen dreck schmutzig werden könnten, als dass ich selbst ver loren gehen könnte. Direkt vor uns stritten sich ein Kerzenverkäufer und eine Frau, die sich aus dem zweiten Stockwerk eines na hen Hauses lehnte. Der Straßenhändler war nass und roch alles andere als gut, und er beschimpfte die Frau, weil sie ihm einen Nachttopf über den Kopf geschüttet hatte. »Warum habt Ihr das getan?«, brüllte er. »Direkt hin ter Eurem Haus fließt der Fluss. Die Brücke ist eine Durchgangsstraße für anständige, gottesfürchtige Leute und keine Müllhalde!« Die Frau drohte ihm mit der Faust und schlug ihr Fenster wieder zu. Ich konnte nur hoffen, dass niemand sonst im Moment die Absicht hatte, seinen Nachttopf zu leeren, und klammerte mich noch fester an Danes’ Hand. »Pass auf, wo du hintrittst!«, ermahnte sie mich. Ich blickte nach unten und sah, dass meine Schuhe schimmerten wie ein Hitzeschleier an einem sehr heißen Tag. Ich zog meine Hand aus der von Danes, um meinen Rock ein Stück anzuheben, damit ich meine Schuhe bes ser sehen konnte. »Danes!«, rief ich. »Schau mal auf meine Schuhe!« Es kam keine Antwort. Ein gespenstischer Nebel hatte 41
sich herabgesenkt. Danes und alle anderen Menschen auf der Brücke waren plötzlich verschwunden. Und alles war still. Ich erschrak so sehr, dass ich nicht einmal um Hilfe rufen konnte. Ich stand nur reglos da, schloss die Augen und hoffte, wenn ich sie wieder öffnete, wäre alles wie der wie zuvor. Erst nach einer Weile wagte ich zu blin zeln. Der Nebel hatte sich gehoben, und ich sah, dass ich mutterseelenallein vor einem Geschäft stand, auf dessen Schild ein Spiegel abgebildet war. Ich überlegte, ob ich hineingehen und um Hilfe bitten sollte. Doch das Merk würdige war, dass ich diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht hatte und im selben Moment schon in dem Ge schäft stand. Darin war es düster und kühl, und es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an die Dunkelheit ge wöhnt hatten. Doch dann sah ich zu meinem Schrecken, dass auf dem Tresen ein großer Rabe thronte, schwarz wie die Nacht. Im ersten Moment wollte ich wieder aus dem Geschäft rennen, doch meine Schuhe konnten oder wollten sich nicht von der Stelle rühren. Der Rabe beobachtete mich aufmerksam und seine schwarzen Perlenaugen schim merten in der Dunkelheit. »Hab keine Angst«, sagte der Rabe. »Sie wartet oben auf dich.« Ich konnte mich vor Schreck nicht rühren. Unschlüs sig schielte ich dann zu der Tür, durch die ich hereinge kommen war. Als könne er meine Gedanken lesen, flog der Rabe auf und versperrte mir den Fluchtweg. Ich konnte spüren, wie viel Kraft in seinen ausgestreckten Flügeln schlummerte, als eine Welle gefiederter Dunkel heit auf mich herabstürzte. Vor lauter Angst, so glaubte ich, würde mir gleich das Herz zerspringen. Ich rannte 42
die Stufen hinauf, als ginge es um mein Leben, von einer namenlosen Angst gepackt, der Vogel könnte mir folgen. »Bitte lass es Danes sein, die auf mich wartet«, betete ich. »Bitte!« Doch sobald ich den Raum betrat, wurde mir schlagar tig klar, dass ich verloren war, unrettbar verloren, denn da war keine Danes, sondern nur eine alte Frau, die auf einem Stuhl saß und sich in einem goldenen Spiegel be trachtete. Der Raum war mit Holzpaneelen getäfelt, im Kamin brannte ein Feuer, doch die Flammen bewegten sich nicht, als wären sie nur gemalt. Das Bleiglasfenster hinter der alten Frau stand halb offen. Flirrende Licht strahlen wurden in verschiedene Richtungen an die Wand und auf den Fußboden geworfen und ich konnte einen Blick hinaus auf den Fluss erhaschen. Doch auch dort rührte sich nichts: weder das Wasser noch die Boote, die Menschen oder die Möwen in der Luft. Alles war ver stummt und erstarrt, ohne Wind oder Atem, als hätte eine unsichtbare Hand die Zeit angehalten. Alles, was ich hören konnte, war mein wild pochendes Herz. »Tritt näher, mein Kind«, sagte die alte Frau mit krächzender Stimme. »Hab keine Angst und lass dich von mir anschauen.« Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als aus diesem Zimmer zu rennen, doch meine Schuhe weigerten sich, sich in Bewegung zu setzen. Die alte Frau war mir auf einmal viel näher als eben noch. Sie hatte kleine Augen, eine Hakennase und einen Leberfleck am Kinn. Ihr Ge sicht wirkte wie eine Maske. »Kennst du mich nicht?«, fragte sie. Und für einen kurzen Augenblick wurde die Maske durchsichtig und ein anderes Gesicht von grausamer Schönheit schimmer 43
te hindurch. Welches dieser beiden Gesichter mir mehr Angst einjagte, hätte ich nicht zu sagen vermocht. »Nein«, antwortete ich. Ich wollte einen Schritt von ihr weg machen, doch die Schuhe verweigerten weiterhin ihren Dienst. In diesem Augenblick bemerkte ich, dass der Rabe auf unerklärliche Weise ebenfalls ins Zimmer gekommen war und nun auf der Rückenlehne ihres Stuhls saß. »Wie alt bist du?«, fragte die Alte. »Sechs Sommer«, erwiderte ich und schluckte. »So jung, so jung«, flüsterte sie. Ich starrte auf meine Füße. In meiner Hilflosigkeit musste ich an Danes denken und brach in Tränen aus. Mein Kummer schien die alte Frau nicht zu berühren. »Die Schuhe passen dir wirklich sehr gut«, sagte sie. »Es freut mich, dass sie dir gefallen. Das tun sie doch, nicht wahr?« Ich sagte nichts. Alle Wörter, die ich in mir trug, schienen an meiner Zunge festgefroren zu sein. »Cronus«, sagte die alte Frau, »was meinst du? Gefal len ihr die Schuhe?« »Aber natürlich«, antwortete der Rabe. »Sie wollte sie unbedingt haben.« Inzwischen schluchzte ich so sehr, dass meine Brust und meine Schultern bebten und ich mich fragte, ob ich gleich vor Angst zerspringen würde. Mir war heiß und schwindelig und ich war wie benommen. Endlich fand ich meine Stimme wieder und konnte stammeln: »Ich will nach Hause, bitte! Jetzt gleich.« Die alte Frau lächelte und hielt mir ihren goldenen Spiegel vors Gesicht. Das Glas bestand aus flüssigem, herumwirbelndem Silber. Mir war, als blickte ich in ei nen tiefen, tiefen Brunnen, und ich hatte das Gefühl, ich 44
könnte hineinfallen und für immer darin verschwinden. Mein Kopf fühlte sich an, als würde sich darin ein Gewit ter entladen. Die alte Frau musterte mich sorgfältig. »Was siehst du?« »Nichts«, murmelte ich kläglich. »Ich will nach Hau se.« Sie drehte den Spiegel um. »Wo ist dein Zuhause?« Ich sagte es ihr. »Und deine Mutter? Wie geht es ihr?« Die ganze Zeit, während die alte Frau redete, konnte ich die sanfte Stimme meiner Mutter hören, die ein ums andere Mal sagte: »Zieh die Schuhe aus, zieh die Schuhe aus.« Deshalb setzte ich mich auf den Fußboden und zerrte die Schuhe mit aller Kraft von meinen Füßen. Es kam mir vor, als hätte ich mich in einem Wald ver laufen und würde wie ein wildes Tier gejagt werden. Das Zimmer begann, sich um mich zu drehen, und ein schril ler Ton zuckte durch meinen Kopf. Dann war plötzlich alles silbern und gleich darauf dunkel. »Alles in Ordnung?«, hörte ich eine Stimme ganz in mei ner Nähe sagen. Als ich die Augen öffnete, blickte ich in das freundliche Gesicht von Master Thankless, dem Schneider. Eine Menschenmenge hatte sich auf der Brücke um uns geschart. »Ein Glück, dass Ihr sie gesehen habt«, sagte eine Pas santin. »Ist sie nicht die Tochter der weisen Frau?«, fragte ei ne andere. »Mir ist nicht gut«, flüsterte ich. »Das sieht man dir an der Nasenspitze an«, sagte Mas 45
ter Thankless. Behutsam hob er mich hoch und trug mich nach Hause. Ich wollte ihm erzählen, dass ich Danes ver loren hatte, aber mein Kopf pochte, und vor meinen Au gen flackerten Lichter. Ich hatte Angst, dass mir schlecht werden würde, wenn ich sie öffnete. Das Letzte, was er zu mir sagte, soweit ich mich erin nere, war: »Wo sind deine Schuhe?«
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Die innere Hitze
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ch glaubte, die ausgebreiteten Flügel des Raben gegen meine Fensterscheibe schlagen zu sehen, war mir sicher, nachts seinen brutalen Schrei zu hören. Ich glaubte, die alte Frau zu erkennen, die mich von einem Turm auf der anderen Seite des Ufers aus beobachtete. Ich war sicher, dass der Tod mit seiner großen Sense in der Hand vor meiner Tür stand, als warte er auf jeman den. Auf mich? Wie lange das Fieber andauerte, kann ich nicht sagen, denn alles stürzte zusammen, Dunkelheit und Licht wur den eins. Meine Mutter war bei mir, das spürte ich. Ebenso Da nes, die immer und immer wieder sagte: »Flieg nicht fort, mein kleiner Spatz.« Die Hitze draußen. Die Hitze in meinem Zimmer. Die Hitze in meinem Körper. So viel Hitze, dass ich kaum Luft bekam. Ich wurde mit Kissen gestützt, mir wurde ein bitteres Gebräu eingeflößt und das Brennen und Ju cken meiner Haut wurde mit Salben gelindert. Irgend wann wurde ich in das elterliche Schlafzimmer verlegt und lag dort im großen Bett. In der Hoffnung auf eine kühlende Brise standen die Fenster offen, doch die Luft war träge und schwer. Ich konnte die Rufe der Fährmän ner hören, »Westwärts, ho! ostwärts, ho!«, das Läuten der Glocken von Sankt Magnus, Sankt Georg und der Erlöserkirche, das Krächzen der Möwen. Die Rufe der 47
Straßenverkäufer bildeten das Hintergrundgeräusch zu meinen fiebrigen Albträumen. Darin schwebte mein Zimmer irgendwann davon und ich stand unvermittelt wieder in einem Wald. Ich konnte das Jagdhorn eines Jägers hören, sah die Schatten der Hunde, die mir nach setzten, spürte ihren heißen Atem in meinem Nacken. Wenn ich dann schreiend aufwachte, fühlte ich, wie alle Energie von mir wegschwappte wie das träge Wasser im Fluss bei Ebbe. Es war in einem der dunkelsten Momente, als mein Sehvermögen so schlecht war, dass ich kaum die Umris se des Gesichts meiner Mutter erkennen konnte, in dem ich die Fee zum ersten Mal sah. Glitzernd und funkelnd tanzte sie auf den Sonnenstrahlen, die sich an den Vor hängen des Fensters vorbeischmuggelten. Natürlich konnte ich nicht sicher sein, ob es wirklich eine Fee oder nur eine Gestalt meiner Träume war. Doch jedes Mal wenn ich die Augen aufschlug, sah ich sie über mir schweben. Sie wurde meine Glücksbringerin. Ich hatte das Gefühl, dass ich wieder gesund werden würde, wenn sie nur bei mir war. Als es mir endlich wieder besser ging, die Fensterlä den zurückgeklappt und die Vorhänge aufgezogen wur den, sah ich zum ersten Mal, dass das, was ich für eine Fee gehalten hatte, in Wirklichkeit ein wunderhübsches Püppchen war, das Danes für mich genäht hatte, als ich so krank darnieder lag. Die Puppe war aus Stoff und hat te winzige aufgestickte Finger und Füße. Sie hatte rote Haare wie unsere ehemalige gute Königin Elisabeth und eine Halskrause, die wie ein Paar Flügel wirkte. Ich nannte sie Beth und war kein bisschen enttäuscht dar über, dass sie nicht lebendig war. Ich erzählte nieman dem außer Beth von dem Raben und der alten Frau mit 48
dem Spiegel, weil ich dachte, dass mir ohnehin niemand glauben würde. Master Thankless kam zu Besuch und brachte mir Kir schen und hübsche Murmeln mit. Ich war noch immer zu schwach, um aufzustehen, meine Beine sahen aus wie dürre Zweige, und deshalb lag ich auf einer Liege im Garten, im Schatten des Holzapfelbaums. »Wie geht es dir, kleine Mistress?«, erkundigte sich Master Thankless fröhlich. »Da hast du uns ja einen schönen Schrecken eingejagt.« »Es geht mir schon viel besser«, sagte ich und zeigte ihm Beth. »Wie hübsch! Hast du sie selbst gemacht?« »Nein«, antwortete ich und lachte. »Das war Mistress Danes.« »Kompliment, Mistress«, sagte Master Thankless zu Danes. »Ich glaube, Ihr könntet meinen Gehilfen so eini ges beibringen.« Danes errötete. »Ach was, nicht der Rede wert«, sagte sie verlegen. »Wir sind Euch zu großem Dank verpflichtet, Sir«, sagte meine Mutter zu unserem Besucher. »Wie lustig«, kicherte ich. »Dank an Master Thankless! Dabei heißt ›thankless‹ doch ›undankbar‹.« »Wenn du wüsstest, wie viel Spott mir mein Name schon eingebracht hat!«, sagte der Schneider gutmütig. »Oh…«, stammelte ich. »So hab ich es nicht ge meint…« »Das weiß ich doch«, versicherte er mir lächelnd. »Du bist ein gutes Kind. Es freut mich zu sehen, dass es dir schon viel besser geht.« Nach einer Weile entschuldigte sich Mutter und über ließ Master Thankless der Gesellschaft von Danes, damit 49
die beiden die anliegenden Nähaufträge besprechen konnten. »Es ist mir eine große Freude, der kleinen Dame hier ein neues Kleid zu nähen«, sagte der Schneider lächelnd. Ich widmete mich wieder meinem Spiel mit Beth, und weil er glaubte, ich würde nicht zuhören, beugte er sich vor und fragte Danes im Flüsterton: »Entschuldigt, aber ich würde zu gern wissen, was damals auf der Brücke wirklich passiert ist.« »Ich auch, Master Thankless, glaubt mir«, entgegnete Danes. »Die Brücke ist ein gefährlicher Ort. Erst letzte Woche sind zwölf Schafe wild geworden, haben sich in den Fluss gestürzt und den Druckerlehrling mit sich ge rissen.« »Ich weiß, ich weiß«, sagte der Schneider. »Aber ich verstehe nicht, wie die kleine Mistress überhaupt von Euch getrennt wurde. Und wieso verlor sie ihre Schu he? Eben noch sah ich euch beide vor dem Laden des Kurzwarenhändlers stehen und im nächsten Augen blick war die Kleine verschwunden. Und als ich sie fand, sah sie aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Und in welchem Zustand sie war! Es erscheint mir völ lig unmöglich, dass das alles so blitzschnell passieren konnte.« »Ich denke, werter Herr, da täuscht Ihr Euch«, entgeg nete Danes. »Mir kam es so vor, als sei sie endlos lange verschwunden gewesen.« »Nein, Mistress, das ist ja das Merkwürdige. Es war nicht sehr lange, das versichere ich Euch. Mein Gehilfe, Gabriel Appleby, war ebenfalls Augenzeuge und er wird Euch dasselbe sagen wie ich«, sagte der Schneider etwas verlegen. »Das Einzige, was für mich zählt«, sagte Danes mit 50
fester Stimme, »ist, dass Ihr sie gefunden habt. Und dafür werden wir Euch ewig dankbar sein. Alles andere hat keine Bedeutung.« »Verzeiht, dass ich es erwähne«, sagte Master Thankless, »doch es gibt Gerüchte, und nicht alle sind wohlmeinend.« »Das ist mir auch schon zu Ohren gekommen«, erwi derte Danes. »Man sollte meinen, die Leute hätten Besse res zu tun, als ihre Zeit mit unnützem Klatsch und Tratsch zu verschwenden.« Gierig lauschte ich jedem Wort, das gesagt wurde, und mir wurde mächtig bange. Ich hatte schon lange fragen wollen, was aus den Schuhen geworden war, traute mich aber nicht, weil ich spürte, dass ich selbst Schuld hatte an dem, was mir zugestoßen war. Hätte ich nämlich meiner Mutter gehorcht, wäre ich niemals verschwunden, nicht krank geworden und hätte nie diese schlimmen Albträu me gehabt. »Wie wahr«, sagte der Schneider, ehe er, fast im Flüs terton, fortfuhr: »Aber die Leute sagen, es sei…« »Nun, Master Thankless«, fiel Danes ihm ins Wort, »ich fürchte, nur der Himmel allein kennt die Antwort.« Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Erst als Danes sich hastig erhob, wurde mir klar, was der Schneider gesagt hatte. Danes seufzte. »Wir sollten inzwischen daran gewöhnt sein. Trotzdem stößt es mir immer wieder sauer auf.« Das Wort, das der Schneider geflüstert hatte, war »Hexerei« gewesen. Ich konnte mir nichts darunter vor stellen, doch als ich es leise vor mich hin murmelte, lief mir ein Schauder über den Rücken. Jener Sommer war der Beginn meiner Liebe zu Wörtern 51
und Stichen. Mit viel Geduld und großer Hingabe machte mich meine Mutter unter dem Holzapfelbaum mit den Buchstaben meines Namens vertraut. Es ist eine Kunst, die Feder richtig zu benutzen, und es brauchte viele Blätter Papier und einiges an Tinte, bis ich meinen Namen sauber schreiben konnte. Ich hasste es, wenn die Feder kleckste, was oft vorkam, und mir meine mit viel Mühe geschriebene Arbeit ruinierte. Doch wenn alles gut lief, blühten die Wörter auf dem Papier wie Blumen auf einer Sommerwiese. In meinem Lerneifer hatte ich einen so hohen Verbrauch an Tinte, dass der Tintenhändler es sich zur Gewohnheit machte, allwöchentlich an unsere Tür zu klopfen. Er hatte ein graues, ernstes Gesicht, das aussah, als wäre es aus Stein gemeißelt, sein Rücken war so krumm, dass er wie der Buchstabe C aussah, und man hätte meinen können, er sei Atlas, der in seinem großen hölzernen Tintenfass das Gewicht der ganzen Erde mit sich herumtrug. Vielleicht tat er das ja wirklich. Ich habe erfahren, dass Wörter eine große Macht besitzen, egal wie lang oder kurz sie sind. »Ist das für dich, kleine Mistress?«, fragte der Tinten verkäufer, während er die dicke Flüssigkeit behutsam durch einen Trichter in ein Steingefäß umfüllte. »Oh ja!«, sagte ich voller Stolz. »Na, wenn das mal keine Verschwendung ist, einem Mädchen das Schreiben beizubringen«, sagte der Tinten verkäufer. Mein Vater hingegen fand es gut, dass ich das Lesen und Schreiben erlernte, und er sagte, ich hätte einen wa chen Verstand, der mir im Leben sicher noch oft von Nutzen sein würde. Auf seinem Globus zeigte er mir alle Länder der Erde, und er zeigte mir auch Landkarten, auf 52
denen Neptun auf einem Felsen saß und auf sein großes feuchtes Königreich von Meerjungfrauen und Seeunge heuern hinunterblickte. Meine liebe Danes konnte weder lesen noch schreiben und hatte offenbar auch kein Bedürfnis, es zu erlernen. Aber dafür war sie äußerst geschickt im Nähen – sie musste die magischen Fingerspitzen einer Fee haben –, und ihre Stiche waren so fein und zart, dass sie mit der Nadel ganze Geschichten ausschmücken konnte. Ich hin gegen saß stundenlang da und versuchte, es ihr gleichzu tun, doch leider erlangte ich nie ihr Geschick. Als ich schließlich wieder einigermaßen bei Kräften war, beschlossen meine Eltern, mich mit Danes aufs Land zu schicken, nach Highgate, wo die Luft sehr viel besser sein soll als im überbevölkerten London. Ich sollte zur Schwester von Vaters früh verstorbenem Vetter, Master Stoop, gehen. Die hatte einen wohlhabenden Mann geheiratet, einen gewissen Master Gearing. Beth und ich waren nicht glücklich darüber. Ich war noch nie von zu Hause weg gewesen und hatte gehört, dass High gate ziemlich weit entfernt sein sollte. Am Vorabend unserer Abreise stand plötzlich Mistress Gearing vor unserer Tür. Sie war so schlicht gekleidet, wie ich es noch kaum an einer Frau gesehen hatte, und ich fragte mich, ob sie wohl sehr arm war. Meine Mutter und ich hatten kunstvoll bestickte Kleider, mit feinster Spitze besetzt, während Mistress Gearing einen einfa chen schwarzen Wollrock und eine dazu passende Jacke anhatte. Dazu trug sie eine gestärkte weiße Schürze und einen schmucklosen weißen Kragen. Sie hatte die Haare hochgesteckt und unter einer Kappe mit herunterhängen den Ohrenschützern versteckt, in der sie wie ein ver schrecktes Kaninchen aussah. In der Hand hielt sie einen 53
Blumenstrauß, in den sie ihre Nase vergraben hatte. Sie blieb mit dem Rücken ans Gartentor gelehnt stehen und weigerte sich eisern, unser Haus zu betreten. Ich fand ihr Verhalten höchst befremdlich und be schloss, auf keinen Fall einen Monat lang bei diesem schlecht gekleideten Kaninchen auf dem Land zu leben, egal wie gut die Luft dort auch sein mochte. »Seid Ihr mit der Kutsche gekommen, liebste Base?«, erkundigte sich meine Mutter. »Nein«, erwiderte Mistress Gearing. »Ich kam zu Fuß und nur mit Gott dem Herrn als Begleiter. Und mit sei nem Segen werde ich auch auf dieselbe Weise nach Hau se zurückkehren.« »Davon will ich gar nichts hören«, sagte meine Mut ter. »Ihr müsst ja wunde Füße haben. Jedenfalls seid Ihr herzlich eingeladen, die Nacht in unserem Haus zu verbringen. Mein Gemahl hat bereits eine Kutsche be stellt, die Coriander und Danes morgen nach Highgate fahren wird.« »Auf«, raunte Danes mir zu, »geh zu ihr und sag schön Guten Tag. Sie ist vermutlich etwas schüchtern und nicht mit den Umgangsformen in der Stadt vertraut.« »Nein, nein!«, rief das Kaninchen, als ich mich ihm näherte. »Nein, bleib, wo du bist, ich flehe dich an!« »Mistress Gearing«, sagte meine Mutter mit sanfter Stimme, »da muss ein Irrtum vorliegen. Nicht im Traum hätte ich Euch gebeten, Euch für eine Weile Corianders anzunehmen, wenn sie eine ansteckende Krankheit hätte.« »Mir kam zu Ohren, dass sie eine tödliche Krankheit hat«, sagte Mistress Gearing und schnüffelte so hektisch an ihrem Blumengebinde, dass sie prompt einen Niesan fall bekam. Dann platzte sie mit all ihren Ängsten und Befürch 54
tungen heraus und die Worte purzelten nur so aus ihrem Mund. »Ich wünschte, ich könnte sagen, dass die göttliche Vor sehung das Kind gerettet hat, doch wir haben höchst son derbare Dinge über Eure Familie gehört, und mein guter Gemahl lässt Euch ausrichten, dass er glaubt, dass bei der Genesung des Mädchens Hexerei, Feenwerk und schwarze Magie im Spiel waren. Wir selbst sind sehr gottesfürchti ge Leute und möchten nichts mit Teufelswerk zu tun ha ben.« »Ich muss schon bitten, liebste Base«, schnaubte Mut ter. »Was höre ich denn da?« Mistress Gearing streckte nur abwehrend eine Hand aus, ehe sie auf dem Absatz kehrtmachte und davonrann te, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Bei diesem An blick konnte sich meine Mutter nicht länger beherrschen und lachte lauthals los. Mein Vater fand diesen Zwischenfall weniger lustig. »Thomas«, sagte meine Mutter, »sie muss eine sehr dumme Frau sein.« »Sie hat mich nicht gewollt, weil sie denkt, ich sei von Feen geheilt worden«, meldete ich mich zu Wort. »So ein Unsinn!«, rief meine Mutter lachend. Doch Vaters Gesicht blieb ernst. »Das ist leider nicht zum Lachen, liebste Eleanor«, sagte er. »Thomas, schau doch nicht so ernst drein! Glaubst du nicht auch, dass diese Frau einfach nur eine Närrin ist?« »Ich glaube, dass du in Zukunft etwas vorsichtiger sein musst, Eleanor. Darum bitte ich dich, auch um mei net– und Corianders willen.« Sein Tonfall machte mir Angst. 55
»Unsere alte Welt ist fortgespült worden und eine neue Ordnung der Dummköpfe herrscht. Sei auf der Hut, meine Liebe. Sie haben einen unbarmherzigen Gott mit gebracht, der nichts verzeiht.«
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Das Perlenhalsband
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ch war neun Sommer alt, als meine glückliche, sorgenfreie kleine Welt zerbrach und mein ganzes Le ben auf den Kopf gestellt wurde. Es geschah an einem kalten Wintermorgen im Januar. Ich war in Mutters Schlafzimmer gewesen und hatte aus dem Fenster in den düsteren Himmel geschaut. Jetzt musste es nur noch schneien, dann könnte ich mit Ed mund Bedwell Schlitten fahren gehen. Er war inzwischen zwölf Jahre alt, sein Bruder dreizehn. Vor ungefähr drei Jahren hatte ihr Vater Mistress Patience geheiratet und sie hatten einen kleinen Bruder bekommen, pausbäckig und pummelig. Die beiden Großen besuchten mittlerwei le die Sankt-Pauls-Schule und darauf war ich richtig nei disch. Ich konnte auch gut schreiben und lesen, sehnte mich aber nach mehr Wissen. Großspurig erklärte mir Edmund, dass Latein und Griechisch für den schwachen Verstand eines Mädchens viel zu schwierig seien. »Und was war mit Königin Elisabeth?«, fragte ich herausfordernd, stützte die Hände in die Hüften und ver suchte, möglichst erwachsen auszusehen. »Sie hat all diese Dinge auch gelernt und sehr viel mehr.« »Das ist doch etwas ganz anderes«, ließ Edmund mich wissen. »Sie war eine Prinzessin und später Königin, kein einfaches Mädchen wie du.« »Das spielt keine Rolle. Es beweist, dass Mädchen ge 57
nauso gut sind wie Jungen«, behauptete ich im Brustton der Überzeugung. »Du wirst später die Frau eines Kaufmanns sein und einen großen Haushalt haben, um den du dich kümmern musst«, sagte Edmund altklug. »Besser, du lernst, wie man einen Haushalt führt. Dann bist du deinem Ehemann von Nutzen, so wie Mistress Patience unserem Vater. Überlass Latein und Griechisch lieber uns Männern.« Manchmal fand ich Edmund höchst ärgerlich. »Stimmt es, dass Mädchen einen schwächeren Verstand haben als Jungen?«, fragte ich später meine Mutter, während ich meinen Namen an die gefrorene Fensterscheibe schrieb. »Hat das Edmund Bedwell behauptet?«, sagte sie la chend. Ich nickte. »Du hast einen wachen, lebhaften Geist und das wird hoffentlich so bleiben. Master Edmund ist ein Dumm kopf. Aber jetzt sag mir, mein Goldschatz, welche Hals kette soll ich heute umlegen?« »Da muss ich nicht lange überlegen«, sagte ich, »die mit den rosa Perlen.« Sie lächelte. »Eine gute Entscheidung«, sagte sie und hielt die Kette ins Licht. »Sie war das erste Geschenk, das dein Vater mir gemacht hat. Komm, binde mir eine hübsche Schleife.« Sie drückte mir die Kette in die Hand. »Warum sind die Perlen trüb, wenn du sie nicht an hast, und so klar, wenn du sie trägst?«, fragte ich. »Wenn ich sie auf der Haut trage, erwärmen sie sich und werden klar«, erklärte mir Mutter und strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Du hast wirklich die schönsten roten Locken, die ich je gesehen habe.« »Ich hätte lieber solche Haare wie du.« 58
»Keine leichtsinnigen Wünsche! Du wirst einmal eine wunderschöne junge Frau sein, meine süße Coriander.« In diesem Moment trat Danes mit einem Tablett ein, auf dem heiße Schokolade und ein Teller Konfekt standen. »Bitte um Verzeihung, Mistress«, sagte sie und stellte die Becher und den Teller auf den Tisch, »aber unten ist Mistress Mullins, die Euch in einer privaten Angelegen heit zu sprechen wünscht. Mistress Potter ist ebenfalls gekommen, mit dem üblichen Problem. Himmel, gibt diese Frau denn nie Ruhe?« »Aber, aber«, sagte meine Mutter lächelnd. »Bleiben wir immer schön freundlich! Sag den beiden Frauen, dass ich gleich komme.« Ich setzte mich und goss meiner Mutter und mir heiße Schokolade ein. Danes nahm das leere Tablett und ver ließ den Raum. Meine Mutter erschauerte, als sie die Tür hinter Danes zumachte. »Es ist kalt hier drinnen. Ist das Fenster of fen?« Ich erhob mich, um nachzuschauen, und in diesem Moment prallte etwas Dunkles, Gefiedertes so ungestüm gegen die Scheibe, dass diese zerbrach. Mutter stand vor dem Spiegel. Plötzlich keuchte sie, und als ich mich zu ihr drehte, sah ich, dass sie eine Hand ausstreckte, um sich irgendwo festzuhalten. Was als Nächstes geschah, war wie ein böser Traum. Die Perlenkette um ihren Hals zersprang und die Perlen prasselten wie ein heftiger Re genguss auf die Holzdielen, hüpften empor und schlugen erneut auf den Boden. Mutters Augenlider begannen zu flattern, und plötzlich sank sie zu Boden, inmitten ihrer Röcke, die sich wie die Segel eines Schiffs bauschten. Die Klemmen lösten sich beim Fall aus ihrem Haar und mit einem dumpfen Geräusch schlug Mutters Kopf auf 59
den harten Boden auf und sie lag reglos inmitten ihrer blonden Haarpracht. Ich hatte noch versucht, sie aufzu fangen, und dabei einen Schokoladebecher vom Tisch gestoßen. Das Porzellan zersprang und der dunkle, kre mige Inhalt ergoss sich über den Fußboden und fraß sich in Mutters Gewand. Ein Schrei, ein schrecklicher Schrei durchbrach die Stille. Er konnte nur aus meinem Munde gekommen sein. Wie betäubt sah ich, dass die Tür aufgerissen wurde und Danes und zwei Dienstmägde hereinstürmten, mit hals brecherischen Bewegungen über die herumliegenden Perlen stolperten und verzweifelt ihr Gleichgewicht zu halten versuchten. Gleich darauf kam mein Vater hereingerannt. Auch er rutschte aus, fand wieder Halt und sein Gesicht wurde aschfahl. Er trug Mutter zu ihrem Bett und lockerte ihre Kleidung. Die Perlen klickerten über den Boden und ver schwanden unter den Möbelstücken. Ich kniete mich auf den Boden und sammelte so viele von ihnen ein, wie ich nur vermochte. Dabei konnte ich an nichts anderes den ken als daran, dass alles gut sein würde, solange die Per len nicht trübe wurden. Vier Tage lang lag meine Mutter still und stumm da, wie in tiefen Schlaf versunken. Keine ihrer eigenen Arz neien konnte ihr helfen. Schließlich, und entgegen Da nes’ Rat, ließ mein Vater den Arzt kommen. Doktor Turnbull hatte sich schon wie eine Flussratte vor unserem Haus herumgedrückt, wohl wissend, dass mein Vater irgendwann klein beigeben würde. Ich hatte diesen Mann noch nie gemocht. Er war ungepflegt, hatte langes graues Haar und stank nach Krankheit. In seiner Begleitung befanden sich zwei dürre, wortkarge Gehil fen, beladen mit Gläsern mit Blutegeln und anderen Fol 60
terinstrumenten. Missbilligend schnalzte der Arzt mit der Zunge, als er die Fläschchen sah, die Danes meiner Mut ter verabreicht hatte, und befahl, das Zimmer zu heizen, um das Fieber zu senken. Danach setzte er seine schwar zen Blutegel auf Mutters helle Haut und sagte, dass ihr fortan nichts eingeflößt werden dürfe, was er nicht aus drücklich erlaubt hätte. Danes wurde aus dem Krankenzimmer verbannt, und Doktor Turnbull flüsterte meinem Vater mit sichtlicher Genugtuung zu, dass sie seiner Patientin nur geschadet hätte. Mein Vater, rotäugig und blass vor Sorge, schwieg dazu. »Schickt ihn fort, Sir!«, flehte Danes ihn an. »Bitte, um Eleanors willen, schickt ihn fort!« »Nein, das kann ich nicht, solange es auch nur ein Fünkchen Hoffnung gibt, dass sie gerettet werden kann.« »Bitte!«, sagte Danes flehentlich. Doch es sollte nicht sein. Der Doktor durfte bleiben. Mistress Patience kam und hielt Wache an Mutters Krankenbett, ebenso wie Master Bedwell. Ein beständi ger Strom von Freunden und Nachbarn kam, um meiner Mutter ihre Aufwartung zu machen. Doch es ging ihr immer schlechter. Sie war so bleich wie ihre Betttücher, aber dennoch behauptete der Doktor steif und fest, er würde sie heilen. Als letzte Rettung kam er auf die Idee, ihr die Haare abzuschneiden und zwei tote Tauben an ihre Füße zu legen. »Was habt Ihr getan, Ihr Hornochse!«, rief mein Vater entsetzt aus, als er Mutter so sah. »Mit genau dieser Behandlungsweise«, behauptete Doktor Turnbull, als er Vaters wütendes Gesicht sah, »ist es mir neulich gelungen, das Fieber einer Frau zu senken.« »Ihr seid ein Narr, und das da…«, Vater deutete auf 61
die toten Tauben, »ist nichts anderes als Hexerei, Sir. Nein, schlimmer noch, denn es geschieht auch noch unter dem Deckmantel der Medizin!« »In meinem ganzen Leben bin ich noch nie so schmählich beleidigt worden«, fauchte der Doktor. »Dann wurde es höchste Zeit!«, schnaubte Vater und befahl dem Doktor und seinen Gehilfen, auf der Stelle sein Haus zu verlassen. Doch als der Arzt ging, kroch der Tod herein. Die Tauben wurden sofort entfernt und Danes machte es meiner Mutter so bequem wie nur möglich. Am Abend wurde in Mutters Zimmer eine einzelne Kerze angezün det und irgendwann muss mich jemand in mein Bett ge tragen haben. Denn darin lag ich, als ich in den frühen Morgenstunden vom Brüllen eines wilden Tiers erwach te. Vor Schreck blieb mir fast das Herz stehen, und ich begriff nicht, wer diesen Schrei ausgestoßen hatte, der eindeutig von irgendwo im Haus gekommen war. Ich sprang aus meinem Bett und stürmte ins Zimmer meiner Mutter. Mein Vater schrie, als würde man ihm die Seele aus dem Leib reißen. Danes nahm mich in die Arme. »Deine Mutter ist tot, mein kleiner Spatz«, sagte sie leise. Damit wäre der erste Teil meiner Geschichte erzählt und gleichzeitig erlischt meine Kerze.
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TEIL ZWEI
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Der Schatten
M
it sechs Glockenschlägen wird der Kirchengemeinde mitgeteilt, dass eine Frau gestorben ist, gefolgt von einem Glockenschlag für jedes Lebensjahr. Für meine Mutter schlug die Glocke dreiunddreißig Mal. Mein Vater ordnete an, sämtliche Fenster unseres Hauses zu öffnen, damit die Seele meiner Mutter nach Hause fliegen könne. Ein starker Wind fegte herein, ver strömte seinen Schmerz in jedem Zimmer, blies alle Ker zen aus und brachte einen Sprühregen von Nebel mit sich, der lange nach dem Schließen der Fenster noch in den Räumen hing. Danes wusch und parfümierte meine Mutter so liebe voll, dass sie aussah, als läge sie nur in einem tiefen Schlaf, kleidete sie in ein einfaches weißes Hemdkleid und bedeckte ihre kurz geschorenen Haare. Mutter sah so still und wunderschön aus, mit einer Haut wie Kerzen wachs, und in ihren gefalteten Händen hielt sie eine Christrose aus ihrem Garten. An die Fenster und um das Bett herum wurde schwarzer Trauerflor gehängt. Alle Bilder und Spiegel wurden zur Wand gedreht. Bei Master Thankless wurden Trauerkleidung und Trauerumhänge bestellt, Trauerringe wurden gekauft. Drei Tage lang lag meine Mutter in dem großen Eichenbett, an ihrer Seite mein Vater, der verzweifelt weinte und immer und im mer wieder sagte, dass man sie dort liegen lassen müsse, weil sie nur schlief und jederzeit wieder aufwachen könnte. 64
Für mich war es, als wären meine Welt zusammen gebrochen und die Mauern des Hauses eingestürzt. Ich wachte am Morgen auf und ging am Abend zu Bett, als wäre ich eine andere, jemand, der weder denken noch fühlen konnte. Am Tag der Beerdigung wurde mein Vater fast wahnsinnig vor Schmerz. Sein Bursche Sam half ihm beim Ankleiden und führte ihn zu unserem Boot hinun ter, denn Vater wirkte wie ein alter Mann, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ein Sarg war nicht bestellt worden, davon hatte mein Vater nichts hören wollen. Er wünschte, dass der Körper meiner Mutter di rekt in die Erde gebettet wurde, um diese fruchtbar zu machen. Sie hätte das so gewollt. Das war ein Umstand, der das Geraune und die Gerüch te laut werden ließ, denn es galt als höchst empörend, dass meine Mutter nicht auf einem Friedhof beigesetzt wurde. Das bestärkte die schlimmsten Befürchtungen unserer Nachbarn, die ohnehin stets den Verdacht gehegt hatten, Mutter sei eine Fremde gewesen, mit einem Auftreten und Umgangsformen, die nicht von dieser Welt waren. Erst in der Abenddämmerung brachen wir auf und Stille lag über dem Wasser. Der Himmel war von einem bläulichen Schwarz, Schneeflocken rieselten sachte her ab. Niemand begleitete uns. Kein Priester, keine Trauer gäste, es waren nur mein Vater und ich, Danes, die vier Ruderer und zwei Bedienstete. In ein weißes Leichentuch gewickelt, wurde der Leichnam meiner Mutter ins Boot gelegt. Schweigend machten wir uns auf den Weg fluss aufwärts. Das Plätschern des Wassers und der Rhythmus der Ruder waren das einzige Lied, das gesungen wurde. Wir ließen die Stadt hinter uns und fuhren aufs Land, an Whitehall vorbei, zu den Wiesen, die sie so geliebt hatte. 65
In der Dämmerung glich der Ort in keiner Weise je nem, den wir vor langer Zeit besucht hatten. Hier hatte ich mit meiner Mutter unter einem Blätterbaldachin ge tanzt, im Gras, das voller wilder Blumen gewesen war. Und genau hier, wo sie nun beerdigt werden sollte, in einem Grab, das wie eine klaffende Wunde in der Erde aussah, hatten wir damals unsere Proviantkörbe abge stellt, um sie vor der Mittagshitze zu schützen. Jeder von uns hielt eine Fackel in der Hand, ein Licht gegen die zunehmende Dunkelheit, und das Weiß von Mutters Leichentuch war das Einzige, was sich deutlich von der Dämmerung abhob. »Was sind wir anderes als Schatten, die für kurze Zeit im Licht tanzen«, sagte mein Vater, und Tränen liefen ihm über die Wangen. »Nie gab es ein entzückenderes Geschöpf als dich. Geh nun, geliebte Gemahlin, auf dass wir eines Tages wieder vereint sein mögen. Amen.« Er warf eine Rose in ihr Grab. »Wir leben, um zu sterben, und wir sterben, um ewig zu leben.« Als er diese Worte aussprach, hörte ich ein lautes Krächzen und hob den Kopf. Ein Rabe thronte hoch über unseren Köpfen in der Eiche, nur seine Umrisse zeichne ten sich vor dem nächtlichen Himmel ab und sein Schrei zerriss die Stille wie splitterndes Glas. Mein Vater griff nach meiner Hand und zog mich so eng an sich, dass ich in seinem Trauerumhang verborgen war. Mittlerweile war der Schneefall sehr viel stärker ge worden. Zwei Totengräber schaufelten das Grab zu, bis keine Vertiefung mehr zu sehen war. Wir standen reglos in der Kälte. Erst als die ganze Wiese von einer weißen Schneeschicht bedeckt war und sich das Grab darin ver lor, kehrten wir zum Boot zurück. Ich erschauerte, als ich 66
den schwermütigen Schrei des Raben hörte, der wie ein Lebewohl klang. Das Boot fuhr nun mit der auslaufenden Flut flussab wärts. Das Wasser war schwarz. Unser Boot war schwarz. Meine Mutter hatte alle Farben des Regenbo gens mit sich genommen. Es war, als hätten wir an jenem Tag nicht nur meine Mut ter, sondern auch einen Teil meines Vaters beerdigt, denn der Mann, der nun in seinem Arbeitszimmer saß und jede Nahrungsaufnahme verweigerte, hatte nichts mehr von dem starken, energischen Vater, den ich kannte. Sein Ge sicht war hager geworden, er hatte sich sein langes Haar geschnitten, sodass es nun in wirren Büscheln von seinem Kopf abstand. Er rasierte sich nicht mehr und schien es kaum noch zu merken, wenn jemand in seiner Nähe war. Ungestört konnte ich nun durch das ganze Haus strei fen. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte, dabei wünschte ich mir doch nur, meine Mutter wäre wieder hier. Joan, unsere Köchin, die nichts mehr zu kochen hat te, saß meist untätig und stumm am Küchentisch. Die Bediensteten ließen sich kaum noch sehen. Es war, als wäre das Haus verwunschen worden. Danes schien Mut ters Tod ebenso wenig zu verkraften wie mein Vater. Zwei kalte und schreckliche Monate vergingen. Der schwarze Trauerflor hing noch immer in jedem Raum. Die Betttücher auf dem großen Eichenbett waren noch nicht gewechselt worden und jeden Tag legte mein Vater eine neue Christrose auf Mutters Kissen. Ihre Kleider und ihren Schmuck durfte niemand auch nur anrühren. Ich begann schon zu glauben, dass diese Schwermut für immer auf unserem Haus lasten würde, als eines Abends Master Bedwell Vater seine Aufwartung machte. 67
Ich saß mit Vater zusammen in der Stube, wo wir bei de schweigend ins Feuer starrten. Um mich zu beschäfti gen, dachte ich mir eine Geschichte von einer Prinzessin und einem Drachen aus. Auch mein Väter hing seinen Gedanken nach, wurde jedoch unversehens in die Reali tät zurückgeholt, als eine Dienstmagd ihm mitteilte, Mas ter Bedwell sei gekommen. »Ich bin nicht da«, sagte Vater unwirsch. »Ich bin für niemanden zu sprechen.« »Ich muss mit Euch reden«, sagte da Master Bedwell und schob sich an der Dienstmagd vorbei. »So kann es nicht weitergehen.« »Es gibt nichts zu reden«, sagte mein Vater und wand te sich wieder zum Feuer. »Oh doch, sehr vieles muss besprochen werden. Ich würde Euch gern unter vier Augen sprechen«, sagte Mas ter Bedwell. Ich wollte schon aufstehen, doch Vater griff nach mei ner Hand und zog mich wieder neben sich. »Was gibt’s?«, fragte er. »Ich komme in einer sehr wichtigen Angelegenheit«, sagte Master Bedwell mit einem unsicheren Seitenblick auf mich. »Ihr könnt offen sprechen«, sagte Vater. Master Bedwell begann, vor dem Feuer auf und ab zu schreiten, ehe er sich den Flammen zuwandte, die an die sem Abend der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerk samkeit zu sein schienen. »Ihr habt Feinde und es gibt viel Gerede.« »Gerede gab es schon immer«, knurrte Vater. »Mir ist bekannt, dass die Leute sagen, Eleanor sei eine weise Frau, ja sogar eine Hexe gewesen. Die Menschen klam mern sich wie ertrinkende Seeleute an die Hoffnung ei 68
nes immerwährenden Lebens und eines versöhnlichen Gottes. Doch wenn ihnen dieser Gedanke nicht genügend Trost gibt, nehmen sie Zuflucht zu Zauberern, Magiern, Hexen und Feen, denen sie die Schuld an ihren Missge schicken in die Schuhe schieben können. Hauptsache, sie haben einen Sündenbock und müssen selbst keine Ver antwortung übernehmen. Was für Narren die Menschen doch sind!« Vaters Lachen klang hohl. »Begreift Ihr denn nicht, in welch gefährlichen Zeiten wir leben?«, fragte Master Bedwell und breitete beide Arme aus. »Klatsch verbreitet sich schnell. Alles, was Ihr besitzt, könnte Euch schon morgen weggenommen wer den, und Ihr wärt über Nacht ein mittelloser Mann.« »Was kann man mir noch nehmen?«, flüsterte Vater mit gesenktem Haupt. »Wo immer ich auch hingehe, meine Seelenpein werde ich nicht mehr los.« »Ich weiß und bitte um Verzeihung, doch ich spreche von Weltlichen Dingen. Ein Wort in das falsche Ohr könnte fatal für Euch sein. Oliver Cromwell beschlag nahmt das Hab und Gut all jener, die den König unter stützt haben, und Ihr habt nie einen Hehl daraus gemacht, dass Ihr die Enthauptung des Königs nicht gutgeheißen habt. Und nun noch diese üble Sache in Worcester.« Was in Worcester passiert war, wusste ich von Danes. Sie hatte mir erzählt, dass Oliver Cromwell dort den frisch gekrönten König von Schottland, Karl IL, besiegt hatte. Dem König, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt worden war, war es jedoch gelungen, nach Frankreich zu fliehen. »Und was soll ich Eurer Meinung nach tun?«, fragte Väter. »Heiratet wieder. Heiratet eine fromme Puritanerin.« »Wie bitte?! Eleanor ist kaum unter der Erde«, sagte mein Vater empört. 69
»Niemand kann Eleanor jemals ersetzen. Das ist mir klar. Doch Ihr könnt zweifellos eine gute Frau finden, mit der Ihr einigermaßen auskommt und die mit ihrer Frömmigkeit alle Gerüchte verstummen lässt. Auf diese Weise bleiben Euch Euer Haus und Euer Besitz erhalten. Ich habe gewisse Verbindungen nach Bristol, die Euch in dieser Hinsicht von Nutzen sein könnten.« »Das ist ja verrückt!«, rief mein Vater, erhob sich und ging mit großen Schritten ans Fenster. »Ich bin kein Puri taner. Ich kann diesen sittenstrengen Frömmlern nichts abgewinnen!« Wütend fuhr er sich durch seine Haarstop pel und wandte sich dann erst Master Bedwell zu. »Glaubt Ihr im Ernst, dass man mir alles wegnehmen könnte?« »Ohne den kleinsten Zweifel, werter Freund. Ihr habt gewiss gehört, was Master Needham widerfahren ist. Er wurde zugrunde gerichtet und musste Konkurs anmelden. Auch er hatte sich aus eigener Kraft emporgearbeitet, verfügte über keine Verbindungen zum Parlament oder zu den Puritanern, hatte keine Verwandten, die ihm ge holfen hätten. Wir befinden uns inmitten eines mächtigen Sturms, und ich fürchte, dass das Schlimmste erst noch kommt«, sagte Master Bedwell. »Seid so gut und denkt gründlich nach, damit Ihr nicht alles verliert!« An diesem Abend ging ich mit beklommenen Gefühlen zu Bett. Beim Aufwachen musste ich feststellen, dass das Fenster in meinem Zimmer aufgeweht worden war und der Regen hereinprasselte. Nur mit großer Mühe gelang es mir, das Fenster zu schließen. Doch auch dann noch klapperte es wie ein Skelett, das seine Knochen schüttel te. Blitze zuckten über den Himmel, und im ersten Au genblick glaubte ich, Dämonen und Alligatoren über 70
meine Wände huschen zu sehen. Mit klopfendem Herzen zog ich mir die Bettdecke über den Kopf. Ach, wie sehr wünschte ich mir, meine Mutter wäre hier, damit alles wieder so wie früher war! Da ich nicht mehr einschlafen konnte, kletterte ich aus dem Bett und ging ans Treppengeländer. Ich konnte se hen, dass die Tür von Vaters Arbeitszimmer im Erdge schoss offen stand und ein warmer Lichtschein in den kalten, düsteren Flur fiel. Auf Zehenspitzen und mit an gehaltenem Atem huschte ich die Stiege hinunter und hoffte bei jeder quietschenden Stufe, dass Vater kommen und mich retten würde. Schließlich stand ich an der Tür und blickte in das Ar beitszimmer. Mein Vater saß an seinem Schreibtisch. Vor ihm stand eine Schatulle aus Ebenholz, in die winzi ge Sterne eingearbeitet waren, und die im Kerzenlicht schimmerte. Ich hatte diese Schatulle noch nie bemerkt und war neugierig zu sehen, was sie enthielt. Ich trat nä her und rechnete fest damit, dass mein Vater jeden Au genblick aufblicken und mich fragen würde, was ich hier wollte. Doch als er schließlich den Kopf hob, schien er durch mich hindurchzusehen, als wäre ich gar nicht da. Ich stellte mich neben ihn und schaute in die Schatul le. Darin lag etwas Silbriges, so zart wie ein Spinngewe be oder Marienfäden. Vorsichtig streckte ich eine Hand aus und berührte es. Ich sprang vor Schreck fast an die Decke, als mein Va ter plötzlich murmelte: »Ich hätte ihn ihr zurückgeben sollen.« »Was hättest du ihr zurückgeben sollen?«, fragte ich flüsternd. Er hatte noch immer diesen entrückten Blick. »Ihren Schatten. Sie gab ihn mir in unserer Hochzeits 71
nacht und bat mich, gut darauf aufzupassen. Sie sagte auch, falls ich ihn ihr jemals zurückgeben würde, hätte sie keine andere Wahl, als mich zu verlassen, und dann wären wir für immer getrennt.« Ich stand da und schaute andächtig auf den Schatten, der auf dem Boden der Schatulle unruhig schimmerte. Sein schwacher Glanz weckte in mir die ferne Erinne rung an einen Spiegel, den ich einmal gesehen hatte. »Nun weiß ich nicht, ob ich das Richtige getan habe«, fuhr mein Vater leise fort, ehe er plötzlich die Stimme hob und fast schrie: »Mein Gott, habe ich das Richtige getan?« Ich fragte so behutsam wie nur möglich: »Vater, war meine Mutter eine Fee?« Mein Vater blickte auf, schaute mich an, als sähe er mich erst jetzt, und sagte: »Was machst du denn hier, Coriander?« »Der Wind hat mich aufgeweckt und da bekam ich Angst.« Er blickte wieder auf die Schatulle und machte sie has tig zu. »Wie lange stehst du schon da?« »Nicht lange. Ist das wirklich ein Feenschatten?« »Es ist nichts. Die Schatulle ist leer«, behauptete Va ter. »Aber ich habe doch gesehen…« »Nichts«, fiel mein Vater mir ins Wort. »Du hast nichts gesehen. Und auch nichts gehört.« Doch dann füg te er leise hinzu: »Nichts als ein Feenmärchen.«
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Was sein wird
I
ch wünschte, ich hätte die Maschen der Zeit wieder auftrennen können. Inzwischen waren sie verheddert und verwickelt. Hätte ich das gekonnt, wäre meine Mut ter noch immer hier und alles wieder gut gewesen. Doch nichts war gut, und ich fragte mich, ob es jemals wieder gut werden würde. Einige Monate nach Mutters Tod kam mein Vater aus Bristol zurück und sagte, er hätte eine fromme Witwe namens Maud Leggs kennen gelernt und würde sie am kommenden Mittwoch heiraten. Ich war versucht zu rufen: »Warte, bitte warte noch!«, doch sein Gesichtsausdruck sagte mir, dass das nicht rat sam gewesen wäre. Seit dem Tod meiner Mutter war Va ter ein niedergeschlagener Mann, der zu plötzlichen Stimmungsschwankungen neigte: ein Schiff auf rauer See, von unsichtbaren Stürmen hin und her geworfen, das seine Seekarten und Sterne für immer verloren hatte. Da nes sagte, er stünde wie unter einem bösen Zauber. Der Tag der Hochzeit rückte näher. Am fraglichen Morgen war mein Vater so launisch wie der Wind und regte sich über belanglose Kleinigkeiten auf: Sein Waschwasser war nicht warm genug, sein Hemd kratzte, seine Schuhe drückten, die Bediensteten waren zu lang sam, sein Kaffee war zu kalt. So ging es, bis Master und Mistress Bedwell kamen, um ihn zur Kirche zu begleiten. Ich wäre zu gern auch 73
mitgekommen, doch Vater hielt es für unnötig, da es nur ein schlichter Gottesdienst werden würde. Er weigerte sich, diese Heirat in irgendeiner Weise zu feiern, da er dies unter den gegebenen Umständen für unschicklich hielt. Das gab den Klatschbasen natürlich prompt neue Nahrung, denn es bestätigte ihnen, dass mein Vater etwas zu verbergen hatte. »Je schneller es vorbei ist, desto bes ser«, sagte er zu mir, ehe er aufbrach. Ich stellte mich mit Beth, meinem heiß geliebten Püppchen, ans Fenster und wartete auf Vaters Rückkehr. Es regnete ziemlich heftig, als das Gartentor endlich aufgestoßen wurde und Vater eintrat – mit einer breiten, unförmigen Frau, die wie eine Gans watschelte. Ihr folgte ein spindeldürres Mädchen, das sich sichtlich fehl am Platz fühlte. Mein Vater geleitete sie und die Bedwells rasch ins Haus, wo die kleine Hochzeitsgruppe dann im Flur stand und sich den Regen von Umhängen und Hüten schüttelte. Unsere Bediensteten eilten geschäftig herbei, nahmen die nassen Sachen entgegen und gaben den An kömmlingen die Möglichkeit, ein paar Worte zu reden, während sie noch verlegen dastanden, wie eine bunt zu sammengewürfelte Schar von Menschen auf einem Ge mälde. Meine Stiefmutter war wirklich keine Schönheit. Sie war von plumper Gestalt, und ihr Gesicht, das an eine abgeschrubbte Kartoffel erinnerte, war von Pockennar ben übersät. Zudem hatte sie schmale Lippen, kleine Au gen und eine breite Stupsnase, die sie gern rümpfte. Und sie stank nach saurer Milch. Als sie den Mund aufmach te, merkte man sofort, dass sie vom Land kam. »Ah«, sagte mein Vater, als ich die Treppe herunter kam, froh darüber, dass er etwas sagen konnte. »Das ist meine Tochter Coriander. Coriander, darf ich dir 74
Mistress Maud Leggs und ihre Tochter Hester vorstel len?« »Ihr wolltet sicher Mistress Hobie sagen, nicht wahr, Sir? Da ich ja nun Eure Frau bin«, sagte Maud und lä chelte ihn an, wobei sie eine Reihe schiefer schwarzer Zähne zur Schau stellte. Mein Vater zuckte bei ihren Worten zusammen, als wäre ein Bann gebrochen und ihm erst jetzt die Folgen seines Tuns bewusst geworden. Meine Stiefmutter musterte mich von Kopf bis Fuß und sagte: »Coriander, was für ein komischer Name.« »Es ist ein Name, der mir sehr am Herzen liegt«, sagte mein Vater barsch. »Sie hat ihn von ihrer Mutter erhal ten.« Missbilligend rümpfte Maud die Nase und schnüffelte. »Wahrlich kein christlicher Name!« Mein Vater überhörte den leisen Vorwurf und machte mit der allgemeinen Vorstellungsrunde weiter. »Das ist Mistress Mary Danes, die den Haushalt führt.« An der Art, wie Maud Danes anschaute, sah ich, dass ihr das absolut nicht behagte. Ein verlegenes Schweigen machte sich breit. »Kommt«, sagte Master Bedwell und griff hastig nach Mauds Ellbogen. »Ihr seid gewiss hungrig. Wie ich ge hört habe, wart Ihr recht lange unterwegs.« »Wir kamen mit Gottes Segen und dank seiner Gna de«, entgegnete Maud. »Ganz recht«, sagte Master Bedwell und führte sie in den Speisesaal. Hester blieb im Korridor stehen. »Wie alt bist du?«, fragte sie mich leise. »Neun Sommer. Und du?« »Zwölf Sommer«, entgegnete Hester. 75
»Hester!«, brüllte ihre Mutter da so laut, dass wir bei de zusammenzuckten. »Was hab ich nur getan?«, stöhnte Väter, sobald Hes ter zu ihrer Mutter geeilt war. Sehnsüchtig blickte er die Treppe hinauf, als erwarte er, dass gleich jemand auf dem Treppenabsatz auftauchen würde. »Es wird schon gut werden«, sagte ich und versuchte, ihn zum Speisesaal und zu unseren Gästen zu ziehen. Master Bedwell trat wieder heraus. »Lieber Nachbar, wo bleibt Ihr? Wir warten alle auf Euch!« »Was um alles in der Welt ließ Euch glauben, dass sie eine passende Frau für mich ist?«, schnaubte Väter. »Sie wurde mir vorgestellt, als ich das letzte Mal in Bristol war, von einer feinen Dame, die großes Verständ nis für Eure Situation hat«, sagte Master Bedwell und klopfte Vater auf den Rücken. »Sie war der Ansicht, dass Mistress Leggs genau die richtige Partie für Euch ist. Wartet ab! Es ist die Seele, die zählt, nicht das Äußere. Wie hat Oliver Cromwell so schön gesagt? ›Malt mich, mitsamt den Warzen und allem!‹« »Was kümmern mich die Aussprüche irgendwelcher Leute? Ich hätte es nicht tun dürfen«, sagte Vater. »Es ist für alle Beteiligten das Beste. Zumindest hat Coriander jetzt jemanden zum Spielen, und zudem steht auch fest, dass die Frau nicht unfruchtbar ist. Wer weiß, eines Tages schenkt sie Euch vielleicht sogar einen Sohn.« »Ein Sohn? Mit ihr?«, schnaubte Vater abfällig. »Kommt«, sagte Master Bedwell und packte Vater entschlossen am Arm. »Gehen wir zu den anderen.« Das bescheidene Hochzeitsmahl wurde schweigend ein genommen, da uns längst kein Gesprächsthema mehr einfiel. 76
Maud blickte sich im Speisezimmer um und erklärte, dass es nicht nach ihrem Geschmack eingerichtet sei. Und was die Bilder an der Wand betraf, so ließ sie uns wissen, solle man die Wände besser kahl lassen, als Bil der aufzuhängen, die einen nur auf unziemliche und gott lose Gedanken brächten. »Nun«, sagte Master Bedwell, redlich bemüht, etwas Konversation zu machen, »eine neue Hausherrin ist wie ein neuer Besen, der gut kehrt. Ich bin mir sicher, dass es ein paar Veränderungen geben wird. Damals, als ich meine liebe Patience heiratete…« »Zu viele Spiegel«, fiel Maud ihm ins Wort. »Gott der Herr hat nie in einen Spiegel geschaut.« Ich wunderte mich, woher sie das wusste, und wollte gerade nachfragen, als Patience, um ein unverfängliche res Thema zu finden, sagte: »Coriander lernt Latein und Griechisch.« Maud sah so empört aus, als hätte ihr jemand einen vollen Nachttopf vor die Füße geleert. »Ich bin nur eine einfache Frau und spreche das aus, was Gott mir eingibt. Welchen Nutzen soll es haben, das frage ich mich, einem Mädchen das Lesen beizubrin gen?« »Nun«, sagte Master Bedwell auf seine gutmütige Art, »das Lesen ist eine…« Maud ließ ihn wieder nicht aussprechen. »Ich kann weder lesen noch schreiben, und ich würde auch meiner Tochter niemals erlauben, sich damit zu beschäftigen. Ich bin der festen Überzeugung, dass das weibliche Gehirn für diese Dinge zu schwach ist, und Wörter würden es nur noch mehr verwirren. Nein, das Lesen der Bibel und anderer Bücher überlasse ich den überlegeneren Gehir nen der Männer.« 77
Mein Vater schüttete den Wein in sich hinein, als wäre es Wasser. Maud warf mir einen schiefen Blick zu. »Mit Lesen und ausgefallenen Namen tut man den jungen Dingern keinen Gefallen. Es bringt sie nur auf gottlose Gedan ken.« Danach fiel keinem mehr ein, was er hätte sagen können. Alle warteten sehnsüchtig darauf, vom Tisch aufstehen zu können – wie Kirchenbesucher in der Sonntagsmesse, wenn die Predigt wieder einmal allzu lange dauert. Nach einer Weile räusperte sich Master Bedwell, sagte, wie sehr er es bedauere, diese reizende Zusammenkunft ver lassen zu müssen, doch seine hochschwangere Patience brauchte leider etwas Ruhe. Mein Vater, inzwischen schon etwas unsicher auf den Beinen, bestand darauf, sie zur Tür zu bringen, und zog mich mit sich. »Ich hätte es niemals tun dürfen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich über den Tisch gezogen wurde«, raun te er Master Bedwell zu, sobald wir im Garten waren. »Es wird schon gut werden«, versicherte ihm Master Bedwell. »Wir haben nichts gemeinsam. Worüber könnte ich mich mit ihr schon unterhalten?«, fragte Vater und klam merte sich voller Verzweiflung an Master Bedwells Arm. »Versucht es doch wenigstens«, sagte Master Bedwell. »Es ist nur zu Eurem Besten, glaubt mir, mein Freund!« Gedankenverloren blickte Vater den Bedwells nach, als sie in ihre Kutsche stiegen und davonfuhren. Dann schloss er bedächtig das Gartentor, nahm meine Hand und flüsterte: »Es tut mir so Leid.« Und für einen Mo ment, wirklich nur einen kurzen Moment, sah ich meinen anderen Vater wieder vor mir, den fröhlichen, sanftmüti gen Mann, der mich so oft hochgehoben und im Kreis 78
herumgewirbelt hatte, der lachen und lieben konnte. Eine Träne rollte über seine Wange. Schniefend wischte er sie ab, und wir kehrten Hand in Hand ins Speisezimmer zu rück, wo Maud mit ihrer Tochter vor einem randvollen Teller saß. »Möbelstücke, mein guter Gemahl«, sagte sie mit vol lem Mund, »dürfen nicht zu wohlgefällig sein. Das wi derspricht reinen Gedanken. Tische mit gebogenen Bei nen locken den Teufel an.« Mein Vater starrte sie nur verblüfft an. »Dieses Haus muss für die Wiederkehr unseres Herrn Jesus Christus vorbereitet werden, denn wenn er kommt, um seinen rechtmäßigen Platz als König auf Erden ein zunehmen, braucht er als Erstes eine gute Mahlzeit in einem gottesfürchtigen Haus. Stimmt Ihr mir da nicht zu, verehrter Gatte?« Meinem Vater hatte es offenbar die Sprache verschla gen. Maud, die sich in keiner Weise von seinem Schwei gen beirren ließ, fuhr fort: »Er wird gewiss hungrig sein. Seit dem letzten Abendmahl ist schließlich viel Zeit ver gangen.« Mein Vater gab ein ersticktes Geräusch von sich und setzte sich wieder an den Tisch. Wortlos füllte er sein Glas nach und kippte den Wein dann in einem Schluck hinunter. »Auf jeden Fall«, sagte Maud, verschränkte die Arme vor ihrer üppigen Brust und schüttelte sich wie eine Hen ne, kurz bevor sie ein Ei legt, »wird es in diesem Haus einige Veränderungen geben müssen.« Anfangs hielt ich Maud einfach für dumm und glaubte, dass sich außer Hester niemand von einer Frau ein schüchtern ließe, die so alberne Sachen sagte, wie zum 79
Beispiel, dass Jesus Christus nie gelacht hätte oder dass alle Mädchen geistig minderbemittelt wären. Doch schon bald sollte ich schmerzlich erfahren, dass meine Stief mutter trotz – oder vielleicht wegen – all dieses Unfugs im Kopf eine sehr dunkle Seite hatte. Während der ersten Wochen wuselte sie durch das Haus wie ein nervöses, fettes Wiesel, schnüffelte in allen Ecken und Winkeln und beäugte alles ganz genau. Mein Zimmer missfiel ihr am meisten, weil die Bilder an den Wänden keine Bibelszenen zeigten, mit zu viel Blattgold und viel zu vielen Wörtern versehen waren. »Mir gefallen sie«, flüsterte Hester mir zu. Maud, deren Ohren nichts entging, herrschte ihre Tochter an: »Hat der Herrgott dich etwa nach deiner Meinung gefragt?« »Nein, Mutter«, sagte Hester betreten. »Dann hüte deine Zunge!«, fauchte Maud und gab Hester eine deftige Ohrfeige. »Du bist mir ein Dorn im Auge, sonst nichts!« Danach watschelte sie weiter, um einen silbernen Gegenstand auf der Kommode zu begut achten. »Alles in Ordnung?«, fragte ich Hester leise. Diese nickte. »Immer tue ich das Falsche oder sage das Falsche oder stehe am falschen Ort.« Maud drehte den Kopf. »Schweig!«, knurrte sie und zog Hester von mir weg. »Sonst lässt mir unser Herrgott schon wieder die Hand ausrutschen!« Es gab nur zwei Räume, die meine Stiefmutter nicht be treten konnte, sehr zu ihrem Verdruss. Der eine war Va ters Arbeitszimmer, der andere das Gartenhäuschen, das Mutters Reich gewesen war. Doch das bemerkte Maud 80
erst, als das Wetter besser wurde und sie ihre Aufmerk samkeit auf Mutters Garten lenken konnte. »All diese komischen Blumen, die keinen Respekt vor Gott dem Herrn haben, werden ausgegraben!«, erklärte sie und watschelte eines Morgens im späten Frühjahr in den Garten. »Wir werden sie durch gute, christliche Pflanzen ersetzen, die ordentliche englische Namen tra gen.« »Darf ich mir die Bemerkung erlauben, dass Ihr die Erlaubnis des Hausherrn einholen solltet, bevor Ihr etwas im Garten ausreißt«, sagte Danes. Maud hörte gar nicht auf sie. Resolut marschierte sie zum Gartenhäuschen und drückte ihr Gesicht an die Fensterscheibe, bis diese mit ihrem Atem beschlagen war. »Was haben wir denn da?« »Es ist das Gartenhäuschen meiner früheren Herrin«, erklärte Danes. »Hab ich es mir doch gleich gedacht! Ein Ort, an dem der Teufel seine Zaubermittel und Heilwässerchen brau en kann! Wo ist der Schlüssel?« »Den hat Master Hobie«, antwortete Danes. »Lüg mich nicht an, Weib!«, rief Maud. »Du hast den Schlüssel!« Danes wiederholte ihre Aussage, woraufhin Maud erbost und mit aller Kraft am Türgriff rüttelte. »Soll ich den Master holen?«, erbot sich Danes. Maud hörte abrupt auf zu rütteln und keuchte. »Es ist nicht nötig, meinen Gemahl damit zu behelligen. Das ist eine Sache, die wir Frauen unter uns regeln können.« »Ich fürchte, der Master würde sehr wohl etwas dage gen haben, wenn Ihr die Tür aufbrecht«, sagte Danes mit ruhiger Stimme. 81
Maud war inzwischen so wütend wie eine gereizte Hornisse. Hester wich vorsichtshalber ein paar Schritte zurück, als Maud mit dem Fuß aufstampfte und mit ihren derben Fäusten erneut gegen die Tür hämmerte. Schließ lich gab sie auf und zog Hester mit sich ins Haus zurück. »Na, Hester, was sagst du dazu?«, giftete sie. Hester starrte nur betreten auf den Boden, als wären alle Wörter aus ihr herausgefallen. »Der gütige Herrgott gebe mir Kraft! Warum bin aus gerechnet ich mit einem so dämlichen Kind geschla gen?«, stöhnte Maud. Hester starrte nur verängstigt und stumm auf den Boden. »Komisch! Findest du es nicht auch komisch«, rief Maud und schüttelte ihre Faust, »dass es einer Ehefrau nicht erlaubt ist, das Arbeitszimmer ihres Gemahls zu betreten? Dass ihr ein Gartenhäuschen versperrt bleibt? Ich finde es jedenfalls äußerst verdächtig!« Hester zuckte zusammen. »Ich sage dir eins: Der Teufel persönlich lauert in die sem Garten, vermutlich in Gestalt einer Schlange!«, zischte Maud. »Mutter, sag das nicht, ich bitte dich!«, sagte Hester und zitterte vor Angst. Maud ließ von ihr ab und wandte sich nun an Danes. »Ich glaube immer mehr, dass es in diesem Haus nicht mit rechten Dingen zugeht. Alles deutet auf Hexerei hin!«, sagte sie und schnüffelte. Hester begann zu wimmern. Ich stand nur da und wunderte mich. Es gab keine Schlangen in unserem Garten, nur Kräuter und Blumen, die Kranke wieder gesund machen konnten. »Was starrst du mich so an?«, bellte Maud mich plötz lich an. 82
»Tu ich nicht«, murmelte ich betreten. »Weißt du, wo der Schlüssel ist?« »Nein.« »Komm mal her, du kleine…« Schützend stellte sich Danes vor mich und richtete sich drohend auf, um mich vor Maud zu schützen. »Viel leicht solltet Ihr Euch etwas hinlegen, Mistress. Ihr seid nicht ganz auf der Höhe. Ich werde den Master bitten, nach dem Arzt zu schicken.« Meine Stiefmutter ließ sich kraftlos fallen, streckte die Beine aus und ihr plumper Körper sackte in sich zusam men wie eine abgewickelte Stoffbahn. »Erspar mir deine Meinung«, keuchte sie. »Ver schwindet, ihr zwei Hexen, alle beide! Ich weiß, welch neue Teufelei ihr im Schilde führt. Euretwegen hab ich jetzt Zahnschmerzen bekommen!« Überstürzt verließen wir das Haus, noch ehe meine Stiefmutter es sich wieder anders überlegen konnte. Auch auf der Straße konnten wir ihr übles Gezeter hören. Danes machte so große Schritte, dass ich Mühe hatte, an ihrer Seite zu bleiben. Ich hoffte, dass wir zu meinem Vater gingen, um ihm endlich die Augen über Maud zu öffnen, denn ich war mir sicher, dass ich das volle Aus maß ihres Zorns zu spüren bekommen hätte, wenn Danes mir nicht beigestanden wäre. Zu meiner Überraschung ging Danes entschlossen auf die Werkstatt des Schneidermeisters auf der London Bridge zu. Bei unserem Eintreffen half Gabriel Appleby, Master Thankless’ Gehilfe, gerade einer Dame mit einem großen Paket in eine Sänfte. »Was kann ich für Euch tun, gute Frau?«, sagte Gab riel höflich. 83
»Ich muss mit deinem Meister sprechen, unter vier Augen«, sagte Danes. »Kein Problem«, sagte Gabriel, führte uns in das Ge schäft und eine schmale Holzstiege hinauf, die zu Master Thankless’ Wohnräumen führte. »Mistress Danes, welche Freude, Euch zu sehen«, sagte Master Thankless. Doch als er meinen Gesichts ausdruck sah, fügte er erschrocken hinzu: »Kleine Mistress, was ist mit dir? Ist dir nicht gut? Du siehst blass aus.« »Ich muss Euch um einen Gefallen bitten«, begann Danes ohne Umschweife. »Ihr wart in der Vergangenheit immer so gut zu uns, und ich baue auf Eure Güte, um Euch um einen Gefallen zu bitten.« Master Thankless bat uns, Platz zu nehmen, und holte Kräuterwein und Konfekt. »Womit kann ich dienen?« »Wie Ihr wisst, haben wir neuerdings eine neue Haus herrin, der man es einfach nicht recht machen kann. Und nun behauptet sie auch noch, der Kräutergarten sei das Werk des Teufels höchstpersönlich.« »So ein Unfug!«, rief Master Thankless. »Und im Gartenhaus sollen ihrer Meinung nach Hexengebräu und Giftmischungen hergestellt worden sein. Sie tobt, weil sie den Schlüssel noch nicht in die Finger bekommen konnte, aber ich fürchte, sobald sie Zutritt hat, wird sie sämtliche Arzneien meiner Herrin zerstören, weil sie glaubt, sie seien des Teufels.« »Herrje, was ist aus unserer Welt geworden!«, rief Master Thankless. »Ich werde sie gern für Euch in Ver wahrung nehmen. Mein Keller ist groß und trocken. Es wäre schlimm, wenn diese Arzneien vernichtet werden würden. Wie oft bin ich selbst schon von einem dieser 84
kleinen Fläschchen geheilt worden, ebenso wie Freunde und Nachbarn von mir.« »Die neue Herrin ist eine strenggläubige Puritanerin.« Danes rückte mit ihrem Stuhl etwas näher und flüsterte ihm zu: »An der Sache ist etwas faul. Ein dunkles Ge heimnis umgibt sie, das ich noch nicht durchschaue.« Ich stand auf, ging ans Fenster und blickte hinunter auf die belebte Straße. Und da sah ich ihn zum ersten Mal, den buckligen Mann. Ganz in Schwarz gekleidet, stand er vor der Eingangstür eines Ladens auf der ande ren Straßenseite. Sein hoher Hut war in den Nacken ge schoben und runde grüne Gläser verbargen seine Augen. Doch ich spürte, dass er mich direkt anblickte, und ein Schauer lief mir über den Rücken. Danes sagt, das pas siert, wenn jemand einem über das Grab läuft. »Bis morgen dann«, sagte Master Thankless. »Gott segne Euch«, antwortete Danes und schickte sich an zu gehen. »Komm, wir müssen nach Hause, mein kleiner Spatz.« Ich blickte noch einmal nach unten. Der Bucklige war verschwunden.
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Die Macht eines Windengewächses
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eine Stiefmutter war wie die Winde, eine Pflanze, die überall wächst, wo es nicht erwünscht ist, und sich an allem festsetzt und hochrankt. Sie wohnte inzwi schen seit neun Monaten unter unserem Dach und ich hatte jeden Augenblick, jede Stunde, jeden Tag gezählt. Nach und nach erstickte sie in mir jegliche Lebensfreude und mir blieben nur Niedergeschlagenheit und wunde Knie. Denn wir mussten ständig beten, auf harten Kir chenbänken knien, uns viele Predigten anhören und dem Herrgott danken. Ihm für meine Stiefmutter zu danken, brachte ich nicht übers Herz, sodass ich ihm lieber dafür dankte, dass ich Danes hatte. Der einzige Raum, in dem das Echo der guten alten Tage nachhallte, war mein Zimmer, dessen Wände mit Bildern voller Magie und Zauber bemalt waren. »Was erzählen diese Bilder?«, fragte mich Hester ei nes Tages, als wir zufällig einmal allein waren. »Es sind Märchen, die meine Mutter mir erzählt hat«, erklärte ich ihr. »Möchtest du eines hören?« Hester nickte, und so erzählte ich ihr die Geschichte von der Prinzessin, die von einer bösen Frau in einen Turm eingesperrt und von einem mittellosen Schneider gesellen gerettet wird, der die Hexe mit einer List so klein zaubert, dass sie in einen Fingerhut passt. Hester lachte, als ich das erzählte. Als ich geendet hatte, fragte sie nervös: »Und wo kommt der Herrgott in dieser Geschichte vor?« 86
»In Märchen kommt er nie vor. Da geht es meist nur um Feen und Hexen.« Hester überlegte angestrengt. »Meinst du, Gott hat et was gegen Märchen?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht nicht«, antwortete ich. »Oder doch, falls deine Mutter Recht hat. Wie sie sagt, missfällt dem Herrgott sehr vieles.« Hester betrachtete wieder die Bilder an meiner Wand. »Ich wünschte, dem wäre nicht so«, sagte sie betrübt. Für ihre Mutter war die arme Hester der Sündenbock, an dem sie all ihre Launen ausließ. Maud schlug und trat sie, wann immer ihr danach war, und so wahr mir Gott hel fe – das war oft der Fall. Ein– oder zweimal versuchte sie auch, auf mich loszugehen, doch das ließ Danes nicht zu. Wenn Vater in der Nähe war, war meine Stiefmutter die Güte in Person, schleppte ihre Bibel an und bat ihn, ihr daraus vorzulesen. Am besten gefielen ihr die Stellen, in denen es um Überschwemmungen, Heuschreckenpla gen oder Flüsse voller Blut ging. Wenn es um Mord und Totschlag ging, blühte meine Stiefmutter richtig auf, als würde sie jede Minute des Elends, die Gottes Kreaturen erleiden mussten, genießen. »Hier drin«, sagte sie einmal und drückte die Bibel an ihre Brust, »steht die wahre Geschichte Englands ge schrieben, unsere Vergangenheit und unsere Zukunft.« Ich war zwar anderer Ansicht, doch das behielt ich wohlweislich für mich. Mein Vater hatte sich völlig in sich selbst zurückgezo gen, und er saß abends meist schweigend beim Essen, den Kopf meiner Stiefmutter zugewandt, als würde er auf das hören, was sie sagte. In Wirklichkeit aber, so glaube ich, war er im Geiste meilenweit entfernt, seine Gedan ken weilten irgendwo auf hoher See. 87
Erst wenn Maud anfing, gegen Danes zu wettern, mel dete Vater sich zu Wort. »Mistress, belasst diese Dinge so, wie sie sind. Ich will, dass alles so bleibt, wie es ist.« Dann war meine Stiefmutter immer wie vor den Kopf gestoßen und sichtlich gekränkt. Vermutlich hatte sie gehofft, einen Mann geheiratet zu haben, der kaum einen Ton herausbrachte, der sich alles gefallen ließ. Über ei nen schweigenden Mann kann man vieles denken, aber nur, bis er den Mund aufmacht. »Ich habe doch nur Gegenstände weggeräumt, von de nen ich weiß, dass sie unserem Herrn Jesus nicht gefallen würden«, verteidigte sie sich. »Vorläufig würde ich es vorziehen, wenn das Haus so bliebe, wie es mir und den meinen genehm ist«, entgeg nete mein Vater kühl. »Und wenn Jesus kommt, falls er kommt, dann kann er meinetwegen selbst die Bilder von der Wand nehmen und die Möbel umstellen.« »Alles, was ich tue, dient doch nur dem Wohle Eurer Seele, guter Gemahl«, sagte meine Stiefmutter leise und beleidigt. »Ich bin Tag und Nacht bemüht, aus Euch ei nen frommen Mann zu machen und Euer Heim für die Ankunft des Herrn herzurichten.« Mein Vater seufzte abgrundtief, nahm seine Pfeife und seine Papiere und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Mit zornblitzenden Augen blickte meine Stiefmutter ihm nach. »Ich bin hier die Hausherrin«, fauchte sie leise vor sich hin. »Und keine Hexenmagd wird mich daran hindern, meine Pflicht zu tun.« Die »Hexenmagd« war auf Danes gemünzt, die in den Augen meiner Stiefmutter die Wurzel allen Übels war. An einem Waschtag spitzte sich der Zwist zu. Zweimal im Monat brachte Danes unsere Wäsche mit 88
dem Boot über die Themse zum Waschhaus in Southwark. Dort blieb sie fast den ganzen Tag über, um ein Auge darauf zu haben, dass auch alles zu ihrer Zu friedenheit erledigt wurde. Sorgsam gebügelt, ordentlich gefaltet und nach Lavendel duftend, brachte sie die Wä sche am Abend von dort zurück. Meine Stiefmutter fand es unnötig, die Wäsche so häu fig außer Haus zu bringen, und befahl eines Tages, dass sie in Zukunft hier im Haus gewaschen werden sollte. Sie wischte alle Einwände Danes’ beiseite, und so kam es, dass wir ausgerechnet am nassesten Montag des Monats, nachdem es seit drei Tagen ununterbrochen geregnet hat te, den ersten häuslichen Waschtag abhielten. Da es kei nen Platz gab, um die Wäsche zu trocknen, wurden die tropfnassen Bett– und Tischtücher über die Geländer und Deckenbalken gehängt. Dass unser Haus mit den überall hängenden feuchten Tüchern wie eine Marktbude aussah, versteht sich von selbst. »Warum trocknet das Zeug denn nicht endlich?«, schimpfte meine Stiefmutter und stampfte zornig mit dem Fuß auf, während es rings um sie herum tröpfelte, als hätten die Regenwolken von draußen bei uns Zuflucht gesucht, um sich etwas aufzuwärmen. »Mistress«, sagte Danes höflich, »es war schon immer Brauch, die schmutzige Wäsche außer Haus zu geben und sauber und trocken zurückzubringen. Wir haben noch nie im Haus gewaschen. Es wird dem Hausherrn sicher nicht gefallen.« »Wie kannst du es wagen, mir zu sagen, was dem Hausherrn gefällt oder nicht! Es ist die reinste Geldver schwendung, wo wir so viel untätige Dienerschaft im Haus haben!«, rief meine Stiefmutter erbost. Später an diesem Abend, als mein Vater nach Hause 89
kam, war er tatsächlich alles andere als begeistert, als er die großen tropfenden weißen Tücher über dem Trep pengeländer hängen sah. Und seine Laune verschlechter te sich noch mehr, als er feststellen musste, dass es kein Abendessen gab, weil Joan den ganzen Tag mit dem Er hitzen von Wasser beschäftigt gewesen war. »Was soll das bedeuten?«, knurrte er. »Sind wir jetzt schon so tief gesunken, dass wir zu einem Waschhaus geworden sind und fremder Leute Wäsche waschen?« »Aber nein, mein guter Gemahl«, sagte meine Stief mutter beschwichtigend. »Ich wollte nur nicht, dass Ihr Euer Geld zum Fenster hinauswerft. Deshalb habe ich beschlossen, dass wir die Wäsche in Zukunft im Haus waschen.« »Weib«, antwortete mein Vater, »ich möchte Euch doch sehr bitten, die Haushaltsführung in Zukunft Danes zu überlassen! Das war schon immer so. Ihr habt gewiss Besseres zu tun, als Euch um die Wäsche zu kümmern, oder?« »Falls ich Euch gekränkt haben sollte, mein guter Ge mahl, möge mich der Herrgott bestrafen«, sagte Maud, und zu meiner großen Freude tat er das tatsächlich und bestrafte sie mit Zahnschmerzen. Die Schmerzen waren offensichtlich so schlimm, dass sie in ihrem Schlafzim mer blieb. »Muss sie jetzt sterben?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte Danes. Nach zwei Tagen des Jammerns und Stöhnens ver langte meine Stiefmutter nach Doktor Turnbull. Diesmal zögerte mein Vater keinen Augenblick. Ich war entzückt, die alte Flussratte wiederzusehen, und hoffte nur, dass er seinen Freund und Helfer, den Tod, mitgebracht hatte. »Braucht Ihr ein paar Tauben?«, fragte ich ihn eifrig. 90
Er schnaubte nur überheblich und schob mich achtlos zur Seite. »Vielleicht schwarze Blutegel?«, rief ich ihm fröhlich nach, als er die Treppe hinaufstieg. Doktor Turnbull überhörte mich geflissentlich und verschwand wortlos im Schlafzimmer meiner Stiefmut ter. »Sollten wir nicht den Barbier kommen lassen?«, frag te ich Danes, die Joan gerade in der Küche beim Backen von Lebkuchen half. »Warum, mein kleiner Spatz?« »Damit er Mauds Haare schneiden kann. Und dann le gen wir noch zwei tote Tauben an ihre Füße.« Danes lachte. »So krank ist die Mistress nun wirklich nicht.« »Woher weißt du das?«, fragte ich enttäuscht. »Weil sie noch immer futtert wie ein ganzes Bataillon Soldaten, Zahnschmerzen hin oder her.« »Es wäre gewiss besser«, sagte Joan, »wenn sie ihre Augen etwas mehr und ihren Bauch etwas weniger füt tern würde.« Gegen Ende der Woche ließ meine Stiefmutter, die noch immer zu kraftlos war, um ihr Zimmer zu verlassen, nach einem Prediger schicken. »Das ist ein gutes Zeichen«, sagte ich zu Danes. »Vielleicht sollten wir auch gleich den Barbier kommen lassen.« Danes schlang ihre Arme um mich. »Mein kleiner Spatz«, sagte sie, »wenn es darum geht, wer lebt und wer stirbt, ist das Leben nicht immer gerecht. Der Tod ist ei nes der großen Rätsel, das niemand begreifen kann. Ge gen eine Maud Leggs kommt außer einem Feuer oder der Pest nichts und niemand an. Wenn wir mit Tauben kä 91
men, würde sie Joan befehlen, diese zu einer Pastete zu verarbeiten.« Die Bettlägerigkeit meiner Stiefmutter hatte etliche Vorteile. Wir mussten nicht mehr jeden Abend endlos beten und zum ersten Mal seit dieser Heirat konnte ich einige Stunden allein mit meinem Vater verbringen. Hes ter musste bei ihrer Mutter bleiben und so konnten wir zwei wieder wie früher abends zusammen essen. Danach setzte ich mich noch zu ihm in sein Arbeitszimmer, wäh rend er seine Bücher durchsah. Ich war gern in diesem Zimmer. Es war der einzige Raum, der bisher vor Maud verschont geblieben war, da mein Vater ihn ständig abschloss. Er hatte auch Dinge aus dem ganzen Haus hierher gebracht, Dinge, an denen Maud nicht herumschnüffeln sollte. Darunter war auch die Eichentruhe meiner Mutter, die früher in ihrem ge meinsamen Schlafzimmer gestanden hatte. Es war eine große Truhe mit einem schweren Deckel, wunderschön geschnitzt mit Jagdszenen und Schlössern. »Was ist da drin?«, wollte ich wissen. »Die Kleider deiner Mutter«, antwortete mein Vater und hob den Deckel. Zuoberst lagen die beiden Gemälde, die er kurz nach der Heirat mit meiner Mutter hatte ma len lassen, und daneben die kleine Schatulle, in der, wie ich wusste, Mutters Feenschatten lag. Es war, als könnte ich hier die Schätze einer längst verlorenen Welt betrachten. Inmitten feinster Seidenstof fe lagen Erinnerungen, die mir teurer waren als alles Gold der Welt. Wieder einmal sah ich das Bild eines Schiffs vor mir, das auf das offene Meer hinaustrieb, und diesmal konnte ich die Stimme meiner Mutter hören, die mich leise rief.
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Schlechte Neuigkeiten
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ei Tage später erhob Maud sich wieder von ihrem Krankenbett und wirkte eisiger als je zuvor. »Mein guter Gemahl«, sagte sie an jenem Abend, als wir alle zum Abendessen am Tisch saßen, mein Vater schweigsam wie immer, sowie Hester, die blass und be drückt aussah. »Unter der gütigen und weisen Anleitung des Predigers Arise Fell habe ich viel Kraft aus meinen Gebeten geschöpft, und da kam mir der Gedanke, dass auch Coriander und meine demütige Tochter von seinem gewaltigen Wissen in allen Bibelangelegenheiten Nutzen ziehen könnten. Wenn…« An dieser Stelle verstummte sie, weil Vaters Verwal ter ins Zimmer trat und ihm ein Schreiben überreichte. Als mein Vater es überflog, wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Unbeirrt fuhr Maud fort: »Aus diesem Grund würde ich es sehr begrüßen, wenn Master Arise Fell hier bei uns leben könnte.« »Das kann nicht sein!«, rief mein Vater ungestüm und ohne auf Maud einzugehen. »Das muss ein Irrtum sein.« Er wandte sich an seinen Verwalter. »Ist der Bote noch da?« »Er wartet in der Halle, Sir. Auf Eure Antwort.« »O mein Gott«, stöhnte Vater, »wie viele Prüfungen willst du mir noch auferlegen?« »Mein guter Gemahl«, sagte Maud, »es ist eine Sünde, den Namen des Herrn zu missbrauchen. Gotteslästerung ist eine Todsünde.« 93
Mein Vater starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Wir sollten Gott den Herrn lobpreisen und ihm dan ken, dass er uns mit dieser Mahlzeit gesegnet hat«, sagte Maud, ehe sie sich einen weiteren Fleischbrocken zwi schen ihre schmalen Lippen schob. »Nein, Weib!«, sagte Vater so scharf, dass selbst Maud zusammenzuckte. »Ich habe dafür gesorgt, dass diese Mahlzeit auf dem Tisch steht, ebenso wie ich für alle anderen Annehmlichkeiten in diesem Haushalt ge sorgt habe. Und ich möchte Euch raten, dafür zu beten, dass auch morgen noch etwas Essbares auf diesem Tisch steht!« »Was wollt Ihr damit sagen?«, keuchte Maud und er stickte fast an ihrem Fleischbrocken. »Mein guter Ge mahl, ist alles in Ordnung?« »Nein, nein und nochmals nein«, fauchte Vater und erhob sich abrupt. »Das ist es nicht!« »Dazu kann ich nur sagen, gepriesen sei der Herr, dass er uns einen Prediger gesandt hat, der uns durch diese schwierige Zeit geleiten wird.« »Weib, was redet Ihr da?« »Arise Fell«, sagte Maud. »Habt Ihr mir denn nicht zugehört, mein guter Gemahl?« Mein Vater schritt zur Tür. »Allmächtiger, gib mir Kraft!«, stöhnte er. »Dann gehe ich davon aus, dass Ihr keine Einwände habt«, rief Maud ihm nach. Die Tür fiel hinter Vater ins Schloss. Ob er »ja« oder »nein« gesagt hat, weiß ich nicht. Maud saß jedenfalls mit selbstzufriedenem Schmunzeln da, nahm sich noch eine Scheibe Roastbeef und schenkte sich Rotwein nach.
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Später fand ich Vater in seinem Arbeitszimmer, wo er am Schreibtisch saß. Ich schlang ihm von hinten die Arme um den Hals und lehnte meinen Kopf an seinen Rücken. »Ich soll verhaftet werden«, sagte er leise. »Weshalb?« Er drückte mich an sich. »Weil ich König Karl bei der Flucht geholfen habe und weil auf meinen Schiffen Katholiken nach Frankreich geschmuggelt wurden. Aber dich betrifft das nicht, mein Schatz. Ich bin si cher, dass sich der Vorwurf schnell aus der Welt schaf fen lässt.« »Wann kommen sie dich holen?«, fragte ich bestürzt. Ich kämpfte gegen aufsteigende Tränen an und gegen einen Schrei, der wie ein flugunfähiger Vogel in meiner Kehle steckte. Am liebsten hätte ich geschrien: »Verlass mich nicht! Bitte, verlass du mich nicht auch!« »Noch nicht gleich«, antwortete Vater, »aber es ist nur eine Frage der Zeit. Das Schreiben stammte von jeman dem, der es gut mit mir meint und mich warnen wollte.« Die Flamme der Kerze auf seinem Schreibtisch fla ckerte, und als wir beide aufblickten, sahen wir einen buckligen Mann unter der Tür stehen, dessen insekten grüne Augengläser im Halbdunkel des Flurs aufblitzten, ehe er wieder verschwand. Am nächsten Morgen erfuhr ich von Sam, dem Bur schen meines Vaters, dass dieser in einer dringenden ge schäftlichen Angelegenheit unterwegs sei. Da wusste ich, dass uns das Glück endgültig verlassen hatte. Als ich an jenem Morgen mit Hester zusammensaß, be kam ich einen ersten Ausblick auf die Hölle. Maud rauschte in mein Zimmer, gefolgt von dem buckligen Mann. Weit davon entfernt, über das plötzliche Ver 95
schwinden ihres Ehemanns bestürzt zu sein, wirkte sie so selbstzufrieden, wie ich selten jemanden erlebt hatte. »Dies«, sagte sie voller Stolz, »ist der Prediger.« Es war, wie ich sofort erkannte, derselbe bucklige Mann, den ich neulich vor der Schneiderwerkstatt gese hen und der mich und Vater am Vorabend vom Flur aus angestarrt hatte. Er trug einen engen schwarzen Mantel, der an den Taschen und den Flicken am Ellbogen bereits durchgescheuert war, und der weiße Kragen um seinen Hals war schmutzig. Sein Haar war lang und dünn und hing in Rattenschwänzen herunter. Der Geruch, der ihn umgab, erinnerte an Schimmel, und seine grünen Augen gläser spiegelten das Licht. Er war ein Kakerlak in Men schengestalt, das sah ich auf den ersten Blick. Als er sich vorstellte, fiel mir auf, dass er für Hester offenbar kein Fremder war. Sie schaute ihn zwar nicht an, sondern blickte stur auf den Boden, doch ich konnte spüren, wie sich jeder Muskel in ihrem Körper anspann te. »Ich bin Arise Fell«, sagte der Prediger, »und mein Name spricht für sich. Arise heißt ›sich erheben‹, und ich bin gekommen, um euch zu lehren, euch über alles Böse zu erheben, um nie mehr in Sünde zu fallen.« Er legte die Hände zum Gebet zusammen und fuhr fort: »Erhebe sie, oh gütiger Herr, und rette sie, denn Gott ist unser Licht und unser Heil.« Wieder spürte ich einen Schauer über meinen Rücken laufen, wie damals auf der Brücke, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Dann schaute er mich streng an und sagte: »Ann, Tochter Evas, komm her!« Ich fragte mich, wen er wohl meinte, und drehte den Kopf, um zu sehen, ob während seines kleinen Vortrags 96
zufällig noch jemand eingetreten war. Hester stieß mich in die Seite. Langsam und unsicher trat ich vor. »Ann, was siehst du?«, fragte er und streckte seine knochigen, leeren Hände aus. Seine Finger waren schmutzig und sein langer gelblicher Daumennagel war gekrümmt wie die Kralle eines Vogels. »Nichts«, antwortete ich. Er drehte die Handflächen nach oben. »Was siehst du nun?« »Noch immer nichts«, sagte ich ratlos. »In dieser Hand«, intonierte Arise und hob langsam seine leere rechte Hand, »liegt der Zorn Gottes. In der anderen sein Heil. Und nun sag mir noch einmal – wie lautet dein Name?« »Coriander Hobie«, erwiderte ich. Ein grausames Lächeln kräuselte seine Mundwinkel, und ehe ich michs versah, bekam ich eine deftige Ohrfei ge. Vor lauter Schreck stand ich nur reglos da und fragte mich, ob das wirklich wahr sein konnte. »Ich frage dich noch einmal: Wie lautet dein Name?« »Co-ri-an-der«, wiederholte ich ganz langsam und deutlich, und diesmal war sein Schlag so heftig, dass ich rückwärts taumelte und auf dem Boden landete. »Lass sie!«, sagte Arise zu Hester, die sich helfend zu mir hinunterbeugte. »Steh auf.«, befahl er mir dann, dro hend über mich gebeugt. »Und zwar auf der Stelle!« Er packte mich am Kragen, schleppte mich durch das Zimmer und sein langer Daumennagel bohrte sich in meinen Nacken. Unsanft stieß er mich auf mein Bett, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich ab. Wie benommen und vor Empörung kochend, saß ich auf meinem Bett und war mir sicher, dass jeden Moment mein Vater oder Danes hereinkommen, mich retten und 97
den Buckligen aus dem Haus werfen würde. Ich wartete und wartete, während die düsteren Stunden quälend lang sam verstrichen. Es kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sich der Schlüssel endlich wieder im Schloss drehte und Danes vor mir stand. Ich rannte zu ihr und schlang meine Arme um sie. »Es tut mir ja so Leid, mein kleiner Spatz«, sagte sie. »Aber ich habe den halben Morgen damit zugebracht, nach dem Schlüssel zu suchen. Er hatte ihn versteckt.« »Wo ist mein Väter?« »Wenn ich das wüsste!«, seufzte Danes. »Er hat mir nur gesagt, dass ein Haftbefehl gegen ihn vorliegt, weil er dem König bei der Flucht geholfen hat. Er steckt bis zum Hals in Schwierigkeiten, das steht fest.« »Ich will aber, dass er zurückkommt und den buckli gen Mann wegschickt.« Tränen des Zorns rollten über meine Wangen. »Er hat kein Recht, hier zu sein!« »Psst, mein Kleines, psst«, flüsterte sie und führte mich hinunter in die Küche, wo ich Kräutertee und die Reste einer Truthahnpastete bekam. Den Großteil des Nachmittags verbrachte ich mit Da nes am Küchenfeuer. Doch irgendwann kam Arise her ein, mit meiner Stiefmutter im Schlepptau, die ihm wie ein kleines, rundes Ferkel folgte. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er erbost. »Habe ich nicht klar und deutlich gesagt, dass dieses Kind in seinem Zimmer bleiben muss, bis alle sündhafte Eitelkeit von ihm abgefallen ist?« »Ihr habt kein Recht, in diesem Haus Befehle zu ertei len, Sir«, erwiderte Danes und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. »Wenn Master Hobie zurück ist, werde ich ihm berichten, aufweiche Weise Ihr Eure Lehren erteilt.« 98
»Master Hobie werdet Ihr nicht mehr zu sehen be kommen«, antwortete Arise gelassen. »Er wird verhaftet werden, weil er an einer Verschwörung gegen unseren großen und mächtigen Lordprotektor, Moses persönlich, beteiligt war. Er hat den Sündern Babylons geholfen, aus unserem Land zu fliehen, und dem Sohn des Teufels, die heimatlichen Gefilde zu verlassen.« »Ihr habt kein Recht, so über meinen Vater zu spre chen!«, rief ich wütend. »Dies ist nicht Euer Haus.« »Schweig, Kind, sonst wird die Hand des Zorns auf dich niedergehen«, antwortete Arise unbeeindruckt. »Wie könnt Ihr es wagen!«, fauchte Danes. »Der Herr Jesus hat gesagt: Lasset kleine Kinder um mich sein, denn ihrer ist das Hi…« »Oh, das hab ich doch«, fiel Maud ihr ins Wort. »Ich hatte schon genügend mit kleinen Kindern zu tun.« »Wisst Ihr, was hier geschrieben steht, Mistress Mary Danes?«, sagte Arise mit heimtückischem Grinsen und zeigte auf den Stapel Papiere in seiner Hand. »Nein, wie könnte ich, Sir?«, sagte Danes. »Ich bin des Lesens nicht kundig.« »Es handelt sich um eine Anklageschrift gegen Euch«, sagte er, »eine Anklage vonseiten gottesfürchtiger Perso nen, die mit eigenen Augen bezeugen können, was in diesem Haus vor sich ging. Das werden sie notfalls auch vor Gericht aussagen.« »Gut so, Arise! Gib’s der Hexe!«, trällerte Maud und rieb sich vor Schadenfreude die Hände. Arise sprach weiter, wie ein Prediger auf seiner Kan zel. »Hier steht in guten, klaren, aufrechten Worten, dass Ihr dabei beobachtet wurdet, wie Ihr Beweisstücke in Form von frevlerischen Arzneien und Heilkräutern Eurer früheren Herrin beiseite geschafft habt. Dass Ihr den 99
Schneidergehilfen Gabriel Appleby dazu benutzt habt, alle Beweisstücke, die Satans Handabdrücke tragen, in ein Versteck zu bringen.« Inzwischen brüllte er nur noch. Das ganze Haus be gann zu beben. Er richtete sich auf, so gut wie es einem Buckligen nur möglich ist, und von seinen Augengläsern schienen Blitze zu zucken. »Hexen, Feengeister, Zauberer und alle anderen Un glückseligen, die selbige Unwesen um Hilfe ersuchen, versündigen sich ebenfalls gegen die Gebote des Herrn. Ich glaube, und der Allmächtige sei mein Zeuge, dass Ihr, Mary Danes…«, drohend richtete er seinen langen, dürren Zeigefinger wie ein Messer auf sie, »… mit dem Teufel und seinen Kohorten im Bunde steht.« »Oh«, zwitscherte meine Stiefmutter entzückt, »wie gut Ihr Euch auszudrücken wisst.« »Ich habe ganz gewiss nichts Böses getan«, erklärte Danes bestimmt. »Das zu beurteilen, solltet Ihr anderen überlassen«, brüllte Arise. »Ich bin fest davon überzeugt, dass die Ge richte sehr daran interessiert sein werden zu erfahren, was hier geschrieben steht.« Danes blieb stumm, und ich hatte das Gefühl, als wür de meine Welt zerbrechen, als Arise drohend hinzufügte: »Ich habe mehr als genügend Beweise, um Euch in den Kerker zu bringen, Weib. Und was Euren geliebten Herrn angeht, nun, auf den wartet in Tyburn bereits die Schlin ge des Henkers. Wer soll sich dann um das nichtsnutzige Kind hier kümmern?« Hester schluchzte. Ich rannte zu Danes und klammerte mich an sie. Sie war mein Anker, alles, was mir auf die sem sinkenden Schiff noch geblieben war. »Habe ich mich klar ausgedrückt? Wenn Ihr Eure Stel 100
lung in diesem Haus behalten wollt, solltet Ihr es Euch gut überlegen, ob Ihr Euch jemals wieder in meine Erzie hungsmethoden einmischen wollt.« Ich klammerte mich noch fester an Danes, doch Arise packte mich und schleppte mich nach oben, wo er mich erneut in meinem Zimmer einschloss. In jener Nacht lag ich in meinem Bett in dem golden be malten Zimmer und weinte bitterlich, bis Beths Gesicht tränen-nass war. Ich beobachtete die Spiegelungen des Wassers vom Fluss, die über meine Wände tanzten, und suchte Trost in den vertrauten Geräuschen, die von drau ßen hereindrangen. Meine Welt mochte zwar verloren sein, doch draußen nahm das Leben nach wie vor seinen üblichen Gang: Fährmänner, die sich um Passagiere strit ten, Betrunkene, die dem Mond ihre heimliche Liebe an vertrauten, sich zankende Katzen, der Nachtwächter, der jede neue Stunde ankündigte. Im ersten Licht der Dämmerung öffnete sich meine Tür und mein Vater kam leise herein und setzte sich auf mein Bett. »Pssst, mein Schatz, hör mir gut zu«, sagte er. »Nie mand weiß, dass ich hier bin. Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen. Ich muss weggehen, ich weiß nicht, für wie lange, doch wenn ich bliebe, wäre alles verlo ren.« »Dann nimm mich mit dir«, flehte ich ihn an. »Bitte!« »Das geht leider nicht, Prinzessin. Es wäre einfach zu gefährlich.« »Hier ist es auch gefährlich«, flüsterte ich. Mein Vater lächelte und wischte mir die Tränen ab. »Nicht so gefährlich wie dort, wo ich hingehe.« »Bitte, ich werde auch ganz brav sein, das verspreche 101
ich dir«, sagte ich und klammerte mich an ihn wie eine Ertrinkende. »Coriander, ich werde zurückkehren. Sei tapfer, für mich. Mir fällt es auch nicht leicht. Danes wird sich um dich kümmern. Aber jetzt muss ich gehen, mein Boot wartet schon.« Er küsste mich auf die Stirn und ich ließ ihn endlich los. Von meinem Fenster aus blickte ich ihm nach, und bit tere Tränen trübten meinen Blick, als ich das Boot mei nes Vaters im trüben Morgenlicht ablegen und flussab wärts in Richtung Deptford gleiten sah. Ich bin mir nicht sicher, um welche Stunde Arise Fell in mein Zimmer trat. Er war in Begleitung einer Hausange stellten, die Wassereimer und Bürsten mit sich schleppte. Voller Angst vor dem Zorn Gottes, zog ich mich in ei ne Ecke zurück. »Diese Wände«, sagte Arise, »müssen so lange ge schrubbt werden, bis alle Bilder der Hoffahrt und alle Kritzeleien des Teufels spurlos verschwunden sind. Hast du mich verstanden?« Es dauerte eine ganze Woche, bis alle Bilder abgewa schen waren. Ich weinte mehr Tränen, als Wasser in den Eimern war, bis nur noch hauchzarte Umrisse zu erkennen wa ren, und während ich Wand um Wand abschrubbte, ver suchte ich, alle Szenen in mein Gedächtnis einzuprägen. Am siebten Tag kam der bucklige Mann mit meiner Stiefmutter die Treppe herauf. »Wie lautet dein Name?«, fragte Arise Fell. »Ann«, sagte ich leise. »Amen!«, jubilierte meine Stiefmutter. Da begriff ich, dass auch mein Name mir gestohlen 102
und im Arbeitszimmer eingeschlossen worden war. Ich würde ihn wiederfinden müssen, denn wer war ich schon ohne meinen Namen?
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Abschiede
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chiffe brauchen stabile Anker, denn ohne sie würden sie ins offene Meer hinaustreiben. So war es auch mit unserem Haus. Unsere Bediensteten schüttelten be trübt die Köpfe und gingen, einer nach dem anderen, bis bald nur noch Danes und Joan übrig waren. Doch die arme Joan war viel zu verängstigt, um viel für uns tun zu können. Maud und Arise lehrten sie die Furcht vor dem Herrn, nannten sie eine Diebin und beschuldigten sie, Fleisch und andere Lebensmittel zu stehlen. Arise drohte ihr damit, sie in den Kerker von Newgate werfen zu las sen, was einem Todesurteil gleichgekommen wäre. Joan wurde so blass wie ein gerupftes Huhn und versuchte, sich ihren Weg zum Seelenheil zu erkochen. Als einziger Halt blieb mir nur noch Danes, und ich lebte in ständiger Angst, auch sie zu verlieren. In den ersten Tagen nach Vaters Aufbruch setzte ich all meine Hoffnungen darauf, dass Master Bedwell kommen und mich retten würde. Doch es sollte nicht sein. Unter den aufmerksamen Blicken von Arise Fell wurde Maud Leggs (wie ich sie insgeheim auch weiter hin nannte) immer geschickter in dem, was sie Besuchern wie Master und Mistress Bedwell erzählte, wenn diese kamen, um sich zu erkundigen, wie es uns in dieser schwierigen Zeit erging. Nicht nur dass gegen Vater ein Haftbefehl ergangen war, zudem wurden drei seiner Schiffe auf See als verschollen gemeldet. Master Bedwell kam, um zu fragen, ob er uns unterstützen könne. 104
Maud hielt sich ein Tuch an die Nase und säuselte: »Oh, ich danke Euch für Euer Mitgefühl. Was für ein schrecklicher Schlag für uns. Mein guter Gemahl wird gewiss zu Unrecht beschuldigt, dessen bin ich mir sicher, und im Moment tut er sicherlich alles, um seinen Namen und sein Geschäft zu retten. Nur aus diesem Grund ist er fortgegangen. Ich bete täglich, dass wir bald Nachricht von ihm erhalten.« Danach rang sie sich eine Träne ab, fuchtelte aufgeregt mit den Händen und flüsterte: »Sagt mir, Master Bed well, dass es nicht stimmen kann, was alle behaupten. Dass mein guter Gemahl ein Anhänger der Royalisten war.« Das alles wurde gesagt, während Hester und ich neben ihrem Stuhl standen, den Kopf gesenkt und den Blick starr auf den Boden gerichtet. Master Bedwell wurde sichtlich verlegen und sagte, soweit er Thomas Hobie kenne, sei er immer ein recht schaffener und aufrichtiger Gentleman gewesen. »Ganz meine Meinung«, sagte Maud und betupfte sich die Augen. »Und das Geschwätz, dass er den Papisten geholfen habe, ist nur eine dreiste Lüge.« Patience fragte mich freundlich, wie es mir gehe. »Wie Ihr mit eigenen Augen sehen könnt, geht es Ann sehr gut«, erklärte Maud. »Ihr meint sicher Coriander«, sagte Patience. »Oh nein«, erklärte Maud Leggs mit Nachdruck. »Wir nennen sie Ann, um sie auf den Weg zum Herrn zurück zuführen. Es ist nicht gut für ein Kind, wenn es einen Namen trägt, der zu Hochmut verleitet. Ann hingegen ist ein guter christlicher Name.« Patience runzelte die Stirn und wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. 105
Oh ja, Maud Leggs und Arise Fell verstanden sich darauf, Kritik schon im Keim zu ersticken. Als die Besu cher sich zum Gehen wandten, sagte Maud: »Ich danke von Herzen für Eure Anteilnahme. Kommt uns doch wieder einmal besuchen. Ehrlichen, gottesfürchtigen Menschen steht unsere Tür stets offen.« Arise führte die Besucher hinaus in die Halle und sag te frömmlerisch: »Ich bete täglich darum, dass Master Hobie bald wieder gesund und munter zu uns zurück kehrt, genau wie ich auch täglich darum bete, dass unser Herr Jesus Christus sich in Bälde unserer erbarmt und sich anschickt, nach London zu kommen, um sich seine Krone aufs Haupt zu setzen.« Die Bedwells kamen nie mehr, um sich nach unserem Wohlergehen zu erkundigen. Den frommen Frauen aus Arise Fells Herde, die re gelmäßig in unser Haus kamen, wie Hennen gackerten und ihre Schnäbel in unsere Angelegenheiten steckten, pflegte Maud Leggs, während sie in ihr Tuch weinte, zu sagen: »Wenn ich gewusst hätte, dass mein Mann ein Anhänger der Royalisten ist, hätte ich ihn natürlich nie geheiratet!« »Natürlich nicht«, wiederholten die frommen Frauen mit ihren Bibeln auf den Knien, während sie unser Kon fekt aufaßen und die edlen Weine meines Vaters tranken. »Und wenn ich daran denke«, schniefte Maud, »dass mein erster Mann – Gott hab ihn selig – ein Held war, der mit Cromwell in die Schlacht von Naseby zog und sein Leben für die große Sache gab! Er muss sich vor Kummer im Grab umdrehen!« Gacker, gacker, gacker, machten die frommen Frauen. »Das ist meine leibliche Tochter«, sagte Maud und zeigte auf Hester. »Und das da ist die Tochter meines 106
zweiten Mannes. Ohne die schwere Aufgabe, für sie zu sorgen, hätte ich dieser Stadt längst den Rücken gekehrt und wäre nach Hause zurückgezogen.« Mit diesen Neuigkeiten tänzelten die gackernden Frauen wieder in ihr trautes Heim zurück, um den Klatsch auszustreuen, so wie man Körner in einen Hüh nerstall wirft. Inzwischen kam niemand mehr bei uns vorbei, um zu fragen, wie es uns ging oder wann wir meinen Vater zu rückerwarteten. Ich fühlte mich in meinem eigenen El ternhaus wie eine Gefangene. Ich schlief allein in der Küche, stand alle Tage früh auf und durfte mich erst spät am Abend schlafen legen. Ich war zu einer Dienstmagd geworden, die alle niedrigen Arbeiten verrichten musste. Wenn mich jemand gesehen hätte, wäre er niemals auf die Idee gekommen, dass ich früher einmal die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns war und ein mit farben prächtigen Märchenbildern bemaltes Zimmer und Klei der besessen hatte, die einer Prinzessin würdig waren. Als es schließlich Winter wurde, hatte ich, infolge der täglichen Plackerei, längst die Übersicht verloren, wel chen Monat wir hatten oder gar welches Jahr. Weihnach ten ging fast unbemerkt vorüber, denn Cromwell hatte verboten, das früher so freudig begangene Weihnachts fest zu feiern. Vorbei, alles war vorbei. Vorbei jedes Lachen, jede Wärme und Herzlichkeit. Ich hatte das Gefühl, dass in jedem Winkel meines Elternhauses nur noch Teufel und Dämonen lauerten, bereit, sich auf mich zu stürzen und mich zu verschlingen. Alles, was mir von meinem alten Leben noch geblie ben war, war Beth, mein heiß geliebtes Püppchen.
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Die Hand des Zorns
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och nie im Leben hatte ich vor jemandem so große Angst gehabt wie vor dem buckligen Mann. Schon wenn ich seine Schritte auf den knarrenden Stufen hörte, begann ich zu zittern. Wenn er mich schlug, verlor ich alle Kontrolle und machte mir in die Hose. Wenn das warme Nass an meinen Beinen herunterlief, schämte ich mich mehr, als alle Worte der Welt es beschreiben könn ten. Dann blickte er mich voller Abscheu an und sagte, ich sei nichts weiter als ein Stück Vieh. Das gab mir den Rest. Hester machte nie auf den Bo den, nicht einmal wenn Arise und ihre Mutter gleichzei tig auf sie losgingen. Als ich sie darauf ansprach, sagte sie, sie habe sich längst daran gewöhnt und kenne es gar nicht anders. Ich kann mir nicht vorstellen, was ich ohne Hester ge tan hätte. Sie schmuggelte mir heimlich Essen ins Zim mer, gab mir Decken, damit ich des Nachts nicht fror. Wäre sie dabei erwischt worden, hätte sie das teuer be zahlt. Joan war viel zu verängstigt, um mir auch nur ei nen kleinen Happen zuzustecken, und die arme Danes war nicht in der Lage, mir mehr zukommen zu lassen als Worte des Trostes, obwohl ich ihr ansah, wie sehr sie darunter litt, mir nicht helfen zu können. Ich war in so großer Sorge, dass man eines Tages auch sie aus dem Haus werfen könnte, dass ich sie anflehte, ja nichts zu sagen, denn sie hatte ohnehin keinen Einfluss auf unseren neuen Hausherrn Arise Fell. 108
An einem kühlen Morgen, nachdem ich einen Eimer Kohle in den Salon geschleppt hatte, stand ich im Flur und schaute zum Fenster hinaus. Es schneite leicht, und die Themse ähnelte wieder einmal einer Szene aus einem Märchen, mit all den Häusern und Booten, die in dem wässerigen Winterlicht pudrig weiß glitzerten. Ich fragte mich, ob unser Herr Jesus, falls er jemals käme, über das Wasser des Flusses nach Whitehall gehen würde und ob die Gezeiten für ihn eine Pause einlegen würden. Würde er auf einem Esel über die London Bridge reiten, und falls ja, dann in alle Häuser blicken und all die vielen Kinder sehen, die in Angst vor dem lebten, was ihnen im Namen seines Vaters angetan wurde? Ich war so in meine Gedanken verloren, dass ich nicht hörte, wie sich der Bucklige von hinten an mich heran schlich. »Eitelkeit, nichts als hohle Eitelkeit«, keuchte Arise an meinem Nacken. »Müßiggang und Eitelkeit. Du, Ann, hast dein Spiegelbild betrachtet und dir gesagt, wie hübsch du bist, nicht wahr?« »Aber nein, Sir«, sagte ich erschrocken. »Was hast du dann getan?« »Ich habe darüber nachgedacht, wann unser Herr Jesus wohl kommen wird.« »Wie kannst du es wagen, den Namen des Herrn als faule Ausrede zu benutzen!«, brüllte Arise. Seine Hand des Zorns ging wieder einmal auf mich nieder, so heftig, dass mir die Haube vom Kopf fiel. »Du bist ein Geschöpf des Teufels, daran besteht kein Zweifel«, rief er und zog mich an den Haaren. »All diese Locken, so rot wie die Flammen der Hölle! Sie zeugen von deiner Eitelkeit, deinem Stolz!« »Was ist hier los?«, rief da Maud, die mit Hester aus 109
dem Salon getreten war und durch das Geländer zu uns hinaufspähte. »Nichts«, knurrte Arise und schleppte mich die steile Stiege hinunter in Richtung Küche. Rums! Bums! Rums! »Wo ist die Schere?«, bellte er Danes und Joan an, die bei unserem Eintreten zusammengezuckt waren. »Ich weiß es nicht genau, Sir!«, antwortete Danes. Arise durchwühlte die Anrichte, wobei er achtlos etliche Teller und Gläser zerbrach. Er riss eine Schublade nach der anderen auf, ließ sie donnernd auf den Boden fallen. End lich fand er, wonach er gesucht hatte. Die ganze Zeit über hatte er meine Haare nicht aus der Hand gelassen. »Lasst das Kind!«, sagte Danes, die vermutlich glaub te, er wolle mich umbringen, mit zittriger Stimme. »Schweigt, Weib! Ich habe Euch nicht nach Eurer Meinung gefragt.« Wie ein Rasender begann Arise, mir die Haare bü schelweise abzuschneiden. Ich wehrte mich nicht. Was hätte es schon genützt? »Wie könnt Ihr es wagen!«, rief Danes und trat auf ihn zu. Arise stieß sie mit dem Ellbogen so heftig zur Seite, dass sie stolperte und um ein Haar gefallen wäre. Sie richtete sich wieder auf und zischte: »Wie könnt Ihr es wagen, Euch als Mann Gottes zu bezeichnen?« Arise fing an zu brüllen. »Noch ein Wort von Euch, Mistress, und Ihr fliegt hochkant aus diesem Haus! Habe ich mich klar ausgedrückt?« Joan wimmerte leise vor sich hin. Ich hingegen weinte nicht, zum ersten Mal bei seinen Misshandlungen. Ich starrte nur wie versteinert auf den Fußboden. Denn dort lag, inmitten der zerbrochenen Teller, Gläser, Krüge, Kerzen, Töpfe und Pfannen, meine heiß geliebte Beth, die ich vorsichtshalber in der Anrichte versteckt hatte. 110
Beim Anblick meines Püppchens hörte Arise abrupt damit auf, an meinen Haaren herumzusäbeln. Er ließ mich los, kickte ein paar Scherben zur Seite und hob Beth hoch. »Gehört die dir?«, fragte er drohend. »Ja«, sagte ich und merkte, dass meine Knie weich wurden. »Kann ich sie bitte haben, Sir?« »Aha! Du liebst dieses Ding! Du hast dein Herz daran gehängt! Etwas anderes als Gott den Herrn in sein Herz zu schließen, ist Sünde!«, bellte Arise. »Lasst dem Kind doch seine Puppe – es hat so große Verluste erlitten«, wagte Danes einzuwerfen. »Dieses Kind«, rief Arise, packte mich am Arm und schüttelte mich unsanft hin und her, »dieses missratene Kind hat sich versündigt und muss bestraft werden!« Mit einer schnellen Handbewegung warf er Beth ins Feuer. Stumm und starr sah ich mit an, wie mein gelieb tes Püppchen auf den brennenden Kohlestücken landete. Doch plötzlich geschah etwas sehr, sehr Merkwürdiges. Beth richtete sich inmitten der Flammen auf, streckte ihre beiden Stoffarme aus, und die Flammen züngelten plötz lich nicht mehr zum Kamin hinauf, sondern richteten sich, wie die gespaltene Zunge einer Schlange, genau auf den Buckligen. Maud stieß einen spitzen Schrei aus, als Arises Beinkleider plötzlich Feuer fingen, sodass er ge zwungen war, mich loszulassen, um mit seiner Hand des Zorns und der des Heils auf die Flammen einzuschlagen. Der Gestank versengter Wolle lag in der Luft, und noch immer stand Beth aufrecht da wie die Heilige Jo hanna von Orleans, die den Flammen trotzte. Erst nach einer Weile löste sie sich in einer Myriade blitzender Funken auf, die zischend und spuckend aus dem Feuer direkt auf Arise und Maud zuschössen, sodass sie ge 111
zwungen waren, sich ganz ans andere Ende der Küche zu flüchten. Arise, der inzwischen vor ohnmächtigem Zorn kreide bleich geworden war und dessen Adern an der Stirn fast platzten, ließ seine Faust donnernd auf den Tisch nieder sausen. »Gott der Allmächtige sei mein Zeuge«, brüllte er und richtete seinen ausgestreckten Zeigefinger auf Danes, »dies ist der endgültige Beweis für die Hexenkraft, für die ich Euch, Weib, verantwortlich mache. Ich befehle Euch, dieses Haus auf der Stelle zu verlassen und nie wieder einen Fuß über die Schwelle zu setzen!« Ich rannte zu Danes und sie ergriff meine Hand. »Lass uns gehen, mein kleiner Spatz.« »Oh nein, nicht die kleine Hexe!«, rief Arise und riss mich von Danes weg. »Ich werde gehen, Sir, aber lasst mich das Kind mit nehmen.« »Niemals«, erwiderte Arise kühl. »Hinaus, ehe ich Euch dem Gericht übergebe! Ich hoffe, dass Ihr die Chance zur Rettung Eurer Seele ergreifen werdet, solang sie Euch offen steht. Der Herr ist gütig und kann einer Sünderin verzeihen.« Jeder weitere Einspruch wäre zwecklos gewesen. Da nes war machtlos. Das war auch mir klar. Fassungslos blickte ich ihr nach und hatte das Gefühl, nun vollends verloren zu sein. »Mutter«, sagte Hester schüchtern. »Ruhe!«, fauchte Arise. »Joan, was stehst du da und starrst so dumm? Mach dich wieder ans Kochen! Und du, Hester, hol einen Besen und putze diesen Saustall auf!« Ich machte einen letzten, verzweifelten Versuch, mich von dem Buckligen loszureißen, um Danes nachzurennen 112
und mit ihr fortzugehen. Doch er packte mich und schleppte mich mit roher Hand ins Arbeitszimmer. Maud folgte uns. Es war mir ein Rätsel, wie er an den Schlüssel zu Vaters Allerheiligstem gekommen war. Die Truhe meiner Mutter stand geöffnet und leer mit ten im Zimmer. Ihre Kleider lagen wie leblose Schmet terlinge über den ganzen Boden verstreut. Die kleinen Gemälde waren verschwunden, ebenso wie die Schatulle aus Ebenholz. Auf einen Schlag wurde mir bewusst, was der Buckli ge vorhatte, und die Angst davor ließ mich wie eine Wildkatze um mein Leben kämpfen. Ich bohrte meine Zähne in seinen Arm. Er stieß einen Schmerzensschrei aus und schlug mich so heftig, dass ich mich nicht mehr daran erinnere, wie ich in die Truhe verfrachtet wurde, sondern nur noch daran, wie sich der Deckel auf mich herabsenkte und das Licht verschwand. Ich versuchte, den Deckel aufzudrücken, doch er be wegte sich nicht. Ich rief um Hilfe, obwohl ich wusste, dass niemand kommen würde. Deshalb schloss ich ir gendwann resigniert die Augen, denn die Dunkelheit in meinem Kopf war nicht so schwarz oder so dicht wie die Dunkelheit, die ich sah, wenn ich die Augen offen hatte. Das war mein Ende. Nur meine Knochen und ein zer knülltes Kleid würden übrig bleiben, um von der Wahr heit meines Todes Zeugnis abzulegen. Nun ist der zweite Teil meiner Geschichte erzählt und eine weitere Kerze erlischt.
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TEIL DREI
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Medlar
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ch hatte immer geglaubt, dass es nur eine Welt gäbe, die Welt, in die ich hineingeboren wurde. Heute weiß ich, dass die Welt, in der wir leben, nicht mehr ist als ein Spiegel, der unter seiner silbernen Oberfläche eine andere Welt verbirgt, ein Land, in dem die Zeit unwich tig und all ihrer Macht beraubt ist. Für mich war dieses Land meine Rettung, denn ohne es wäre ich längst nur noch ein Haufen toter Knochen in einer Eichentruhe in dem früher herrschaftlichen Haus eines wohlhabenden Londoner Kaufmanns. Ich war mir sicher, dass mein Ende nahe war, dass der Tod schon auf mich wartete. In panischer Angst machte ich einen letzten verzweifelten Versuch, den schweren Deckel hochzustemmen. Doch es war hoffnungslos, und ich spürte, wie die Dunkelheit um mich herum mich zu ersticken drohte. Doch dann war da plötzlich ein Licht, ein wunder schönes, blendendes Licht – und mir war, als wären in einem Theater die Vorhänge aufgegangen. Im ersten Moment befürchtete ich, tot zu sein, denn der Winter war weggeschmolzen und ich stand mitten im Sommer, in einem Tag, so hell und strahlend wie bei der Bartholo mäus-Kirmes mit Trompetengeschmetter und Trommel wirbeln, und ich wurde von einer Heerschar von Grillen und dem Gezwitscher von Vögeln begrüßt. Wilde Blu men betörten mich mit ihrem lieblichen Duft, und Wie senkerbel, schön wie ausgelegte Spitze, nickte mir in der 115
sanften Brise zu; Hecken winkten mich heran wie Markt buden, die frische Brombeeren feilboten, und reife Erd beeren kicherten in ihren roten Kleidchen vor sich hin. Der Himmel war strahlend blau, kein einziges Wölkchen war zu sehen. Ich drehte mich um und erschrak, als ich einen son derbar aussehenden Mann dastehen sah. Er hatte einen langen, zu einem Knoten zusammengebundenen Bart und hielt eine Laterne in der Hand, die so rund wie der Voll mond war. Obwohl er so überraschend vor mir stand, kam er mir irgendwie vertraut vor, was mich stutzig machte, derweil ich genau wusste, dass ich diesen Mann noch nie zuvor gesehen hatte. »Sei gegrüßt, holde Maid!«, sagte er und machte eine tiefe Verbeugung. »Ich dachte schon, du würdest nie kommen. Warum hast du dir so viel Zeit gelassen?« Redete er mit mir? Ich war mir dessen nicht sicher, obwohl weit und breit niemand sonst zu sehen war. »Bin ich tot?«, fragte ich, was der seltsame Kerl of fenbar höchst erheiternd fand, und er sagte, als hätte ich etwas sehr Dummes gefragt: »Tod und Zeit gehören nicht hierher, Coriander.« »Woher kennt Ihr meinen Namen? Woher habt Ihr gewusst, dass ich kommen würde?« Verblüfft blinzelte ich ihn an und er streckte seine Hand aus. »Verzeih, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Medlar werde ich genannt. Ich kannte deine Mutter schon, als sie noch so jung war wie du, und ich hatte auch das Glück, in einer Mittsommernacht deinen Vater kennen zu lernen. Ein wahrer Gentleman, das muss ich schon sagen.« Ich starrte ihn nur an und wagte mir selbst kaum ein zugestehen, was mir gerade durch den Kopf ging. Ich 116
hatte das Gefühl, auf Wasser zu wandeln, so unsicher war ich mir im Moment aller Dinge, und ich befürchtete, jeden Augenblick zu versinken, für immer in den schim mernden Wellen zu verschwinden. Denn wenn sich schon die Jahreszeit verändern kann, indem man den De ckel einer Truhe zuschlägt, war es dann nicht vielleicht auch möglich, dass dieser Medlar wieder verschwand, wenn ich ihm nur eine Frage stellte? Deshalb blieb ich stumm und nahm mit Freude zur Kenntnis, dass ich noch am Leben war. Außerdem tröstete mich das Wissen, dass er meine Mutter gekannt und auch meinen Vater kennen gelernt hatte. »Ah, schöne Maid«, wollte Medlar erneut beginnen, als plötzlich ein Pferd mit einem Fuhrwerk den Weg ent langgezockelt kam. Ich hörte Glöckchengebimmel und den fröhlichen Gesang der Fahrgäste. Auf unserer Höhe angekommen, hielt der Kutscher an, und Medlar half mir beim Einsteigen. Die Fahrgäste mussten, wie ich auf den ersten Blick feststellte, auf dem Weg zu einer Hochzeit sein, aller dings zu einer Hochzeit, wie ich sie bislang nicht kannte, denn sie trugen Röcke und Hauben, Wämser und Westen, so farbenprächtig und üppig, wie nicht einmal ein Roya list sie jemals zu tragen wagen würde. Alle hatten wun derschönes Schuhwerk, und keiner sah aus, als würde er wie die Bewohner von London an Gliederschmerzen, schwarzen Zähnen oder einem traurigen Herzen leiden. »Willkommen«, sagten sie und rückten zusammen, um uns Neuankömmlingen Platz zu machen. Ich war heilfroh, dass niemand Medlar fragte, was er mit einer Vogelscheuche wie mir zu schaffen hätte. Unter den prächtig herausgeputzten Leuten kam ich mir mächtig fehl am Platz vor und war froh, dass niemand auf mich achtete. 117
Das Fuhrwerk holperte weiter und die Fahrgäste be gannen eine angeregte Unterhaltung. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, weil ich mich insgeheim noch immer darüber wunderte, wie ich aus der kalten Dunkelheit plötzlich in diesen strahlenden Sommertag hatte gelangen können. Es kann sich nur um Zauberei handeln, sagte ich mir vergnügt. »Da kippte der Melkschemel um und sie plumpste auf den Boden, direkt auf ihren Allerwertesten«, sagte die Frau neben mir lachend. Sie trug ein Kleid, das aussah, als sei es aus Distelwolle gewebt. »Hat sie nicht anders verdient«, meinte ihre Freundin. »Genau! Manche wünschen sich dies und das, ohne recht zu wissen, was sie wirklich wollen. Und wenn ihre Wünsche in Erfüllung gehen, was dann? Statt sich zu freuen, haben sie nichts Besseres zu tun, als gleich den nächsten Wunsch zu äußern«, sagte nun wieder meine Sitznachbarin. »Genau«, pflichtete die andere ihr bei. »Nie zufrie den!« »Wie traurig«, meinte die Frau in dem hauchzarten Distelwollekleid. »Stimmt, aber zumindest haben wir anderen dann et was zu lachen«, sagte ihre Freundin, woraufhin die bei den Frauen wieder losprusteten. »Geht Ihr auch zu der Hochzeit?«, wandte sich ein Herr mit einer großen Blume im Knopfloch an Medlar. »Natürlich«, antwortete dieser. »Wohin sonst könnte man an einem Mittsommertag wie diesem unterwegs sein?« Der Herr beugte sich vor. »Es wird gemunkelt, dass diese Hochzeit ganz allein Königin Rosmores Idee ist.« »Kam mir auch zu Ohren«, erwiderte Medlar. 118
»Wahrlich keine gute Idee, das kann ich Euch sagen«, sagte der Fremde. »Es ist, als erwarte man, dass Feuer und Wasser in trauter Eintracht zusammenleben. Wir wissen alle, wie es ausging, als das letzte Mal eine Heirat erzwungen wurde.« Alle Fahrgäste nickten wissend. Ich hätte zu gern gefragt, was damals war, traute mich aber nicht. Ein Mann mit Zylinder, der uns gegenübersaß, blickte sich besorgt um und sagte dann mit leiser Stimme: »Man sagt, wenn Prinz Tycho Prinzessin Unwin nicht hei ratet, wird die Königin ihn in einen Fuchs verwandeln.« »Nein, wie schrecklich!«, rief die Dame in dem Dis telwollekleid. »Gerüchten zufolge soll die Königin den Schatten in zwischen in den Händen haben«, fügte der Mann wich tigtuerisch hinzu und drückte die Brust heraus wie ein Gockelhahn vor dem ersten Krähen am Morgen. »Was Ihr nicht sagt!«, keuchte die Frau. »Angeblich soll sie richtig versessen darauf sein, ihre Tochter endlich unter die Haube zu bringen«, sagte nun eine füllige Frau, die einen Vogelkäfig auf dem Schoß hatte, der allerdings mit einem Tuch zugedeckt war. »Aber es ist ein Jammer, dass sie es ausgerechnet auf einen so entzückenden, gut aussehenden Prinzen abgese hen hat. Keine Ahnung, womit sich der arme Kerl diese höchst zweifelhafte Ehre verdient hat.« »Eines kann ich Euch sagen«, sagte der Mann mit dem Zylinder. »Wenn die Königin noch mehr Macht an sich reißt, sind wir alle verloren.« Er verschränkte die Arme und plötzlich flog ihm der Hut vom Kopf und hüpfte wie ein betrunkener Akrobat über den Weg. Der Kutscher hielt an, damit der Mann aussteigen und seine Kopfbede ckung zurückholen konnte. 119
»Aber nun Schluss mit allen Gerüchten«, sagte die stämmige Frau, nachdem der Mann wieder in die Kut sche geklettert war. »Heute wird eine Hochzeit gefeiert. Da wollen wir dem Brautpaar doch alles Gute wünschen und über angenehmere Dinge sprechen.« Ich fragte die Frau, was sie in ihrem Käfig hätte, doch sie lächelte nur geheimnisvoll und gab mir keine Ant wort. Ob sie wohl taub war? »Was ist in dem Käfig?«, wiederholte Medlar meine Frage. »Na, ein Hochzeitsgeschenk«, antwortete sie prompt. »Was denn sonst?« Sie zog das Tuch weg, und ich erblickte zu meiner Überraschung einen goldenen Vogel, der wie auf Kom mando zu trillern begann. Die Stäbe des Käfigs waren verdreht wie Karamellen aus Malzzucker, und während ich sie fasziniert betrachtete, blitzte an ihnen ein blaues Licht auf, das im Sonnenschein tanzte. »Oh, wie schön!«, rief ich entzückt aus. »Er ist für die Braut.« Etwas unsicher schaute sie zu Medlar. »Meint Ihr, mein Geschenk wird ihr gefallen?« »Aber gewiss«, antwortete Medlar zuvorkommend. Im Takt zum Getrappel der Hufe setzte das Fuhrwerk seinen Weg fort, bis wir an eine Abzweigung kamen. Direkt vor uns führte derselbe grasbewachsene Weg wei ter, auf dem wir bisher gefahren waren. Zu unserer Lin ken ging eine Straße ab, die jedoch schon in geringer Entfernung in ein Gestrüpp aus Brombeersträuchern und wilden Rosen mündete. Doch der Kutscher lenkte das Fahrzeug zielgerichtet auf genau dieses Dornengestrüpp zu, das auf mich wie spitze, eiserne Zähne wirkte. Ich wagte kaum hinzuschauen, weil wir gewiss gleich in Stü cke gerissen wurden. Doch erstaunlicherweise teilten 120
sich die Sträucher und Hecken, als hätten sie nur auf uns gewartet. Und kaum hatten wir sie unversehrt passiert, schlossen sie die Lücke wieder und wurden erneut zu einem undurchdringlichen Gestrüpp. Medlar lächelte mir zu. »Jetzt ist es nicht mehr weit«, sagte er. Wir fuhren eine Einfahrt hinauf und gelangten an ein großes, schmiedeeisernes Tor, das sich wiederum ohne jedes Zutun vor uns öffnete und hinter uns schloss. Ver blüfft musterte ich meine Mitreisenden und dachte, sie würden einen Kommentar dazu abgeben. Doch sie schie nen völlig unbeeindruckt, als wären Dornensträucher und Eisentore, die sich selbsttätig öffneten und schlossen, die normalste Sache der Welt. Die Hufe des Zugpferds klapperten nun über einen Kiesweg und wir gelangten an eine Biegung. Vor uns erhob sich das prächtigste Gebäude, das ich jemals gese hen hatte. Es hatte Fenster, die bis zum Boden reichten, und Marmorsäulen, die wie feinste Perlen schimmerten. Wie war es möglich, dass ein Gebäude aus so viel fun kelndem, glänzendem Glas bestand, dass es aussah, als wäre die Sonne höchstpersönlich Gastgeberin dieser Hochzeit? Doch mehr als ein kurzer Blick darauf war mir nicht vergönnt, denn unser Fuhrwerk zuckelte weiter, und das Gebäude verschwand alsbald wieder hinter einer Wand von Weißbirken. Ich hätte das Gebäude zu gern länger betrachtet, wäre zu gern hineingegangen, wünsch te mir sehnlichst, die Kutsche hätte angehalten.
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Das blaue Licht
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uf dem Hof vor den Stallungen hielten wir schließ lich an. Hier herrschte mehr Trubel als an einem Markttag auf der London Bridge, denn jedes verfügbare Fleckchen war voll gestellt mit Kutschen und Fuhrwer ken, einige eher rustikal wie unser Gefährt, andere so elegant, dass sie nur Königen und Fürsten gehören konn ten. Wir stiegen aus und waren froh, die Beine wieder aus strecken zu können. Meine Mitreisenden rückten ihre Hüte und Hauben gerade und wischten sich den Staub von den Röcken und Beinkleidern, während sie aufgeregt durcheinander redeten. Sie verabschiedeten sich von Medlar und versprachen, später wieder nach ihm Aus schau zu halten. »Wer wohnt hier?«, fragte ich, sobald die anderen fort waren. »Das ist der Sommerpalast von König Nablus und Königin Rosmore. Morgen soll Rosmores Tochter heira ten.« »Ist das gut?«, fragte ich vorsichtig. Medlar lachte. »Für die Königin und ihre Tochter ja, für den Bräutigam weniger. Er wird zu dieser Heirat ge zwungen.« »Könnte er sich nicht einfach weigern?« Medlar lächelte. »Manchmal ist es klüger, sich den Wünschen der Königin zu fügen, besonders wenn man an seinem Leben hängt.« 122
Ich hätte zu gern Näheres erfahren und Medlar noch ein Dutzend Fragen gestellt, doch wir wurden von einem Hofnarr mit schneeweißem Gesicht unterbrochen. Er hat te eine Kappe auf dem Kopf, die unter dem Kinn mit ei ner hübschen Schleife zugebunden war, und trug eine Halskrause, so auffällig wie jene von Sir Walter Raleigh, dem englischen Seefahrer und Günstling unserer früheren Königin Elisabeth I. »Ich bin froh, dass ich Euch gefunden habe«, sagte er. »Alter Freund, wo habt Ihr gesteckt? Ich muss Euch et was Aufregendes erzählen. Kommt mit, ich zeige es Euch.« Medlar wandte sich an mich. »Bedauere«, sagte er, »aber ich muss gehen. Mach dir keine Sorgen, dir wird nichts geschehen. Ich hole dich nachher wieder ab.« »Wartet!«, rief ich. »Lasst mich mit Euch kommen!« Doch Medlar und der Narr waren bereits in der Men schenmenge verschwunden. Aus Angst, gleich mutter seelenallein dazustehen, eilte ich zu den Hochzeitsgästen zurück, die in dem diesigen Sonnenlicht wie bunte Schmetterlinge herumflatterten. Doch plötzlich tänzelten sie wie auf Kommando zu dem prächtigen Gebäude hin über. Ich stand da und überlegte mir, ob ich es wagen konnte, ihnen zu folgen. In der großen Eingangshalle war es so kühl, dass man sich vorkam, als wäre man an einem heißen Sommertag in einen Fluss gestiegen, und es dauerte ein Weilchen, bis sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Es war eine herrliche, geräumige Halle mit einer breiten Marmortreppe, die sich zu einer Galerie hinaufschwang, von der aus die bereits eingetroffenen Gäste auf die Neu ankömmlinge herunterblickten. Ich fühlte mich sehr un 123
wohl, denn ich war sicher, dass ich unter all den prächtig gekleideten Menschen herausstach wie ein vom Blitz getroffener Baum. Lakaien gingen herum mit silbernen Tabletts, auf de nen Kelche mit Wein standen. Aus Angst, als Eindring ling erkannt zu werden, hielt ich nach einem ruhigen Plätzchen Ausschau, an dem ich mich verstecken könnte. Ich schaute in mehrere Räume. In einem stand eine riesi ge Tafel, die bereits für die Hochzeitsfeier gedeckt war, in einem weiteren Raum gab es Paneelwände und einen gewaltigen offenen Kamin. Aber überall herrschte ein reges Kommen und Gehen, sodass ich lieber weitersuch te. Zu guter Letzt entdeckte ich einen sehr langen, elegan ten Saal, dessen Wände eine Vielzahl vergoldeter Spiegel zierten. Entlang den Wänden standen elegante vergoldete Stühle und der Holzboden schimmerte wie Honig. Noch nie im Leben hatte ich so viele Spiegel auf einmal gese hen. Ich schritt durch den Raum und schaute in alle Spie gel, doch zu meiner großen Verblüffung konnte ich mich in keinem von ihnen sehen. Ich sah zwar stets den nicht enden wollenden Raum und die vergoldeten Stühle, die nur auf die vielen Damen und Herren zu warten schienen, doch ich, Coriander, war nirgends zu sehen. Ich erblickte nur ein blaues Lichtpünktchen, das sich bewegte, wenn ich mich bewegte, und stehen blieb, wenn ich stehen blieb. Deshalb kam ich zu dem Schluss, dass diese Spie gel aus magischem Glas bestehen mussten, um der Eitel keit der Menschen keinen Vorschub zu leisten. In diesem Augenblick kam eine Gruppe von lärmen den Kindern hereingestürmt, die sofort die Schuhe aus zogen und über den glatt polierten Boden rutschten. Als ich zufällig wieder in einen Spiegel blickte, konnte ich 124
sie zu meiner Überraschung in den Spiegeln sehen. Ich sah die Kinder ebenso deutlich wie die Stühle und die Wände. Warum aber konnte ich mich selbst nicht sehen? Als die Kinder plötzlich direkt auf mich zugerannt kamen, zuckte ich erschrocken zusammen und wich zur Seite, doch sie verfolgten mich unbeirrt weiter. Ich wich nach rechts und nach links aus, aber das machte keinen Unterschied. Vorsichtshalber zog ich mich hinter einen der Stühle zurück und sah, dass die Kinder verdutzt mit ihrer Jagd auf mich innehielten. Kaum traute ich mich jedoch wieder hinter dem Stuhl hervor, fingen sie erneut mit ihrem Spielchen an. Bald schon stellte ich fest, dass sie mich zu fangen versuchten, sobald ich sie anblickte, jedoch stehen blieben, wenn ich mich abwandte. Ich hielt mir die Hand an die Stirn. »Jetzt ist es weg«, sagte ein kleiner Junge enttäuscht. »Nein, da ist es!«, rief ein anderer, sobald ich die Hand wieder wegnahm. Ich versuchte es noch einmal und noch einmal. Das winzige blaue Licht erschien. Das winzige blaue Licht verschwand. Das fand ich auf einmal richtig aufregend, denn wenn von mir nichts zu sehen war als der winzige blaue Lichtpunkt, dann konnte ich durchaus etwas muti ger sein. Ich ließ die Kinder stehen und kehrte, wesentlich zu versichtlicher, in die große Eingangshalle zurück. Ich schlängelte mich durch die Menschenmenge und stieg die breite Treppe hinauf. Oben angelangt setzte ich mich an die Brüstung der Galerie, was ich auch in unserem Haus in London immer gern gemacht hatte, um die neuen Gäste ankommen zu sehen. Im Gegensatz zum strengen London schien es den Damen und Herren hier nichts auszumachen, so pompös 125
wie möglich aufzutreten, ohne Angst, sich damit zum Gespött der Leute zu machen. Sie waren so farbenpräch tig herausgeputzt wie Pfaue und Papageien, so zart wie Libellen und Nachtfalter. Ich erblickte Gewänder aus Rosenblättern, Juwelen in der Form von Tautropfen, Sei denstoffe, so fein wie Spinnennetze. Was hätte mein Va ter dafür gegeben, solch edle Stoffe einkaufen zu kön nen! Seit dem Tod meiner Mutter war meine Welt, so wie ich sie bisher gekannt hatte, immer mehr zerbröckelt, jegliche Freude oder Farbe war daraus gewichen. Arise, mit seiner Hand des Zorns, hätte mir beinahe das Rück grat gebrochen. Das winzige blaue Licht wäre um ein Haar erloschen. Doch hier in dieser exotischen Welt, un ter all diesen skurrilen Leuten, hatte ich das Gefühl, end lich zu Hause angekommen zu sein. Das blaue Licht wollte gern anfangen, inmitten all der Hochzeitsgäste zu tanzen. Denn hier fühlte ich mich sicher und geborgen. Ich wurde jedoch jäh aus meinen angenehmen Gedan ken gerissen, als ich aus einem der Korridore, die von der Galerie wegführten, laute Stimmen hörte. Neugierig wollte ich ihnen nachgehen, doch aus Angst, mich zu verlaufen, machte ich nach ein paar Schritten wieder kehrt. Da hörte ich auf einmal ein durchdringendes Krächzen, und als ich den Kopf hob, erblickte ich einen riesigen schwarzen Vogel, der wie ein bedrohlicher Um hang aus Federn auf mich zu schoss. Erschrocken zog ich den Kopf ein und duckte mich, als er auch schon über mich hinwegsauste. Es war ein beängstigend großer Ra be, dessen ausgebreitete Flügel fast die Wände streiften. Er flog direkt auf die zweiflüglige Tür am Ende des Kor ridors zu, die sich öffnete, als hätte sie nur auf seine An kunft gewartet. 126
Ohne zu bedenken, was ich da tat oder in welche Ge fahr ich mich damit begeben könnte, folgte ich ihm und stand unversehens in einem mit Holzpaneelen verkleide ten Schlafzimmer, dessen Wände und Decke mit Mär chenszenen bemalt waren, sehr ähnlich denen in meinem eigenen Zimmer zu Hause. In der Mitte des Raums stand ein Himmelbett. Durch riesige Fenster, die vom Boden bis an die Decke reichten, konnte man auf einen wunder schönen Park hinunterblicken. An dem Tisch am anderen Ende des Raums saß eine pummelige junge Frau. War sie Unwin? Ich konnte sie im Spiegel sehen, mit ihrem Dop pelkinn, das fast bis an ihre Brust reichte. Sie trug ein Korsett, aus dem oben und unten Fleischwülste heraus quollen und in dem sie aussah wie eine zu voll gestopfte Fleischpastete. Der Rabe nahm keine Notiz von ihr. Stattdessen hüpf te er auf die Lehne eines breiten Ohrensessels, doch ich konnte nicht sehen, ob jemand darin saß. Dann hörte ich es. »Mein Schöner«, sagte eine kratzige Frauenstimme. »Wo hast du gesteckt?« Vorsichtig machte ich ein paar Schritte rückwärts, hoffte, die Fußbodenbretter würden nicht knarren, und hielt mir eine Hand vor die Stirn, damit man das blaue Licht nicht sah. Ich wünschte, ich wäre dem Raben nicht so unüberlegt gefolgt. Bitte, dachte ich bestürzt, lass nicht zu, dass er spricht. Er darf nichts sagen. Ich hatte panische Angst, dass sich meine schlimmsten Befürch tungen bewahrheiten könnten. »Ist der Prinz endlich da?«, rief die junge Frau. »Das nicht, doch er ist bereits auf dem Weg, Euer Ho heit«, erwiderte der Rabe. »Beeil dich, Unwin. Kleide dich endlich an!«, befahl die Frau in dem Sessel. 127
»Das Kleid steht mir aber nicht!«, quengelte Unwin, nachdem eine Zofe ins Zimmer gehuscht kam, beladen mit einer sich bauschenden weißen Wolke aus Spitze und Satin. Sie zog so heftig an dem Kleid herum, dass der Stoff einen Riss bekam. Die Frau auf dem Sessel läutete ein Glöckchen und eine weitere Kammerzofe kam her eingeeilt. »Das ziehe ich nicht an!«, schimpfte die Braut und stampfte mit dem Fuß auf. Dann nahm sie die Puderquas te, mit der sie bisher herumgespielt hatte, und schlug sie so heftig auf die Kommode, dass eine Wolke von Puder aufwirbelte und die arme Zofe husten musste. »Hinaus mit euch, ihr Schwachköpfe!«, kreischte sie. »Seht nur, was ihr angerichtet habt!« Ratlos blickten die beiden Kammerzofen zum Ohren sessel, und ich konnte eine lange, vogelähnliche Hand sehen, die sie fortwinkte. Nach einem hastigen Knicks machten die beiden, dass sie wegkamen. Die Besitzerin der Hand erhob sich und ging auf die trotzige Braut zu. Ich musste an die Unterhaltung in der Kutsche zurückdenken. Aha, das also musste Königin Rosmore sein! »Bleib ganz ruhig, geliebtes Töchterlein. Solche Sor gen sind deiner nicht würdig. Diesmal wird nichts schief gehen. Vertrau mir! Cronus und ich haben alles sehr sorgfältig arrangiert.« Ich wusste plötzlich mit erschreckender Sicherheit, dass ich den Raben früher schon einmal gesehen hatte und dass das freundliche Gesicht der Königin nur eine Maske war. Dahinter verbarg sich die alte Hexe, die ich damals auf der London Bridge getroffen hatte. Königin Rosmore wandte sich von ihrer Tochter ab. Sie blickte genau in meine Richtung, als sie leise zu dem 128
Raben sagte: »Sorge dafür, dass uns Medlar diesmal nicht in die Quere kommt!«
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Der Fuchsprinz
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berstürzt stolperte ich die Marmortreppe hinunter und hinaus auf die Kieseinfahrt. Ich war heilfroh, weg von der Königin und ihrem Raben zu sein. Ratlos stand ich dann da und überlegte, wohin ich gehen könnte, während immer noch weitere Hochzeitsgäste eintrafen. Oh, was war nur mit mir? Ich befand mich in einer Welt, in die ich meinem Gefühl nach gehörte, und doch war ich nicht körperlich anwesend. Ein fremder Mann hatte mich hierher gebracht, der behauptete, meine Mut ter gekannt zu haben. Ich musste ihn unbedingt wieder finden, um ihm wenigstens eine wichtige Frage zu stel len: War es der Schatten meiner Mutter, über den vorhin gesprochen worden war? Ein flaues Gefühl im Magen sagte mir, dass ich die Antwort längst kannte. Ich ärgerte mich über mich selbst. Warum war ich nicht mutiger? Ich sollte kühner sein, furchtloser. Doch das konnte ich nicht. Ich war noch viel zu bestürzt über das, was ich bis jetzt erlebt hatte. Ich entfernte mich von der Einfahrt und versteckte mich hinter ein paar sorgsam zurückgeschnittenen He cken. Von hier aus konnte ich einen Waldweg sehen, der von goldenen Sonnenstrahlen beschienen wurde. Ich ging diesen Weg entlang, bis ich ein Geräusch hörte, das ich sowohl kannte als auch liebte. Es war ein Plätschern und Gluckern – mal lauter, mal leiser. Dort, am Fuß eines steilen Abhangs, versteckt hinter Bäumen und Strauch werk, sah ich das Blaugrün eines Flusses schimmern. 130
Woran liegt es nur, fragte ich mich, dass Wasser im mer so beruhigend auf mich wirkt? Vielleicht lag es dar an, dass ich in der Nähe der Themse aufgewachsen war. Als ich nun diesen Fluss sah, hatte ich das Gefühl, von einem lang vermissten alten Freund begrüßt zu werden, und ein schmerzliches Heimweh nach allem, was ich ver loren hatte, packte mich. Stolpernd rannte ich durch ein dichtes Gewirr aus vio lett blühendem Fingerhut und blieb erst stehen, als ich fast am Ufer angekommen war, weil ich etwas strahlend Weißes aufblitzen sah. Mucksmäuschenstill stand ich da und glaubte zuerst, meine Augen spielten mir einen Streich. Denn dort, direkt am Ufer des Flusses, stand ein wunderschöner weißer Hengst. Das Tier schaute kurz in meine Richtung, senkte dann den Kopf und begann, von dem herrlich klaren Wasser zu trinken. Vorsichtig bewegte ich mich weiter. Da erblickte ich in einiger Entfernung einen jungen Mann. Er ging auf das Pferd zu und legte seinen Kopf an dessen Hals. Ich trat noch einen Schritt näher. Da knackte ein kleiner Ast un ter meinem Fuß und das Pferd, schneeweiß und glänzend, scheute. Zu meinem Entsetzen zog der junge Mann sofort sein Schwert. »Wer ist da?« Ich hatte mich noch nie für das andere Geschlecht in teressiert und auch keine Absichten, es jemals zu tun, da ich bereits mitbekommen hatte, dass das Verliebtsein und die Liebe recht gefährliche Dinge sind, bei denen man den Kopf und auch sein Herz verlieren kann. Doch als ich an jenem Nachmittag dastand und den jungen Mann zum ersten Mal sah, wurde mir auf einen Schlag 131
klar, wie es ist, wenn plötzlich der Blitz der Liebe ein schlägt. »Wer ist da?«, wiederholte er. »Ich weiß, dass jemand da ist. Zeig dich! Ich fürchte mich nicht vor dir!« Reglos blieb ich stehen. Ich wusste, dass dies der Bräutigam war, auf den alle warteten. Doch er war nicht dazu bestimmt, Unwin zu heiraten, dessen war ich mir sicher. Der Mann im Fuhrwerk hatte Recht gehabt, als er sagte, die beiden seien wie Feuer und Wasser. Der junge Mann setzte sich auf den Boden und ver grub das Gesicht in den Händen. Das Pferd kam zu ihm, beschnupperte seinen Nacken und schließlich lehnte er seinen schwarzen Haarschopf an die schneeweiße Mähne. Ich vergaß, dass ich nur ein winziges blaues Licht war, und sagte leise: »Entschuldige, aber ich habe wirklich keine bösen Absichten.« »Wer bist du? Zeig dich endlich!« »Das kann ich nicht«, gestand ich. »Dann bist du nicht die Königin, die versucht, mich hereinzulegen?« »Nein«, antwortete ich. »Mein Name ist Coriander.« Ich ging auf ihn zu und konnte sehen, wie sich mein blauer Lichtpunkt in seinen Augen spiegelte. Seine Au gen waren von einem herrlich dunklen Braun. Ich erstarr te zu einer Salzsäule, als er die Hand ausstreckte und mit grenzenloser Behutsamkeit mein Gesicht betastete, meine Augen, meine Nase, meinen Mund, meine Ohren, wie ein Blinder, der nur mittels seiner Finger sehen kann. Ich wollte es eigentlich nicht niederschreiben, denn die Erinnerung daran ist mir bis heute peinlich. Doch eine solche Zärtlichkeit war schon so lange aus meinem Leben verschwunden, dass mir nun Tränen in die Augen schossen. 132
Er nahm meine Hand und führte mich zu dem stattli chen weißen Hengst. »Hab keine Angst vor ihm. Er hat deine Anwesenheit lange vor mir gespürt.« Das Pferd hob den Kopf und ich streichelte seine Mähne mit zitternden Fingern. »Woher kommst du?«, fragte der Prinz. »Das kann ich nicht genau sagen«, erklärte ich ihm. »Ich wurde in eine Truhe eingesperrt und dachte, ich müsste sterben.« »Medlar war davon überzeugt, dass du eines Tages kommen würdest«, sagte der Prinz lächelnd. »Es freut mich sehr, dich endlich kennen zu lernen.« »Und wie heißt du?«, fragte ich. »Tycho«, antwortete er. »Mein Name ist Tycho.« Hinter uns knackte ein Zweig und Tychos Gesicht ver finsterte sich – es war wirklich, als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. »Hat dich jemand gesehen?«, fragte er. »Nein.« »Weiß die Königin, dass du hier bist?« »Nein.« Ich wollte nicht, dass er fortging. In seiner Nähe fühlte ich mich sicher und geborgen. »Warum heiratest du, ob wohl du es gar nicht willst?«, wagte ich zu fragen. »Ich habe keine andere Wahl. Wenn ich mich weigere, wird Rosmore mich verzaubern. Sie wird mich in einen Fuchs verwandeln, jagen und erschießen lassen.« Seine Worte stürzten mich in große Verwirrung. Das durfte doch nicht wahr sein! »Meine Mutter hat mir Märchen erzählt, in denen sol che Dinge vorkommen, aber ich hätte nie gedacht…« »Sie hat dir Dinge von dieser Welt hier erzählt«, fiel er mir ins Wort. »Und hier bei uns geschehen sie tatsächlich.« 133
»Warum sollte die Königin so grausam sein?« Er schwieg. Der Himmel über uns verdunkelte sich plötzlich und der Rabe in seinem pechschwarzen Feder gewand stürzte sich auf uns herab. Das Pferd bäumte sich auf. Erschrocken wich ich ins Unterholz zurück, um mich zu verstecken. Der Riesenvogel landete auf einem Ast in Tychos Nähe. »Was hält Euch noch vom Palast fern?«, fragte Cronus drohend. »Nichts. Ich wollte nur noch darüber nachdenken, was auf mich zukommt.« »Ah, an all das, was Reichtum mit sich bringt«, krächzte der Vogel, und seine kleinen schwarzen Augen blitzten auf. Mit einer Flügelspitze deutete er auf einen Turm, der sich aus dem Wald erhob. »Die Königin beo bachtet Euch längst. Sie hat Jagdreiter ausgeschickt, die Euch zum Palast geleiten sollen.« Ich hob den Kopf und sah eine Gruppe hoch gewach sener Reiter am Ufer entlang auf uns zureiten. Sie trugen Westen in der Farbe von feuchtem Blut und ihre Hunde bellten und knurrten bedrohlich und ließen ihre messer scharfen Zähne aufblitzen. Mitleid mit den armen Pfer den überkam mich. Sie waren so klein, viel zu klein für die Reiter, und in ihren Augen lag die nackte Angst, als sie nun mit angelegten Ohren tapfer vorwärts preschten. Tycho ging zu seinem prächtigen Schimmel, der die verschreckten Tiere der Jagdreiter um etliche Handbreit überragte und im goldenen Licht richtig majestätisch wirkte. Tycho blickte mich an, und einen Moment lang befürchtete ich, ich sei plötzlich sichtbar geworden. Errö tend stellte ich mir vor, was er von mir denken würde, wenn er mein zerlumptes Kleid und mein lieblos gestutz tes Haar sah. 134
Sachte berührte er mich am Arm und flüsterte: »Ich werde dich nicht vergessen. Vergiss du mich bitte auch nicht!« Ich sah mit Schrecken, dass der Rabe in meine Rich tung blickte, und begriff, dass ich etwas tun musste. Ich beugte mich zu Tycho und sagte so leise wie möglich: »Verweigere dich dieser Heirat. Folge deinem Herzen.« Tycho blickte mich eindringlich an, dann wandte er sich von mir ab, um Cronus zu folgen. Eine unsägliche Traurigkeit überfiel mich, als ich mit ansehen musste, wie die Jagdreiter und ihre Hunde den Bräutigam und sein Pferd zum Palast eskortierten. Der arme Tycho sah aus, als würde er zu seiner eigenen Hin richtung geführt.
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Aufgestickte Augen
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ir war klar, dass ich mich nicht ewig verstecken konnte. Ich musste Medlar finden. Vielleicht konnte er diese Heirat verhindern und Tycho davor be wahren, in sein Unglück zu rennen. Es war schon recht spät, als ich wieder am Palast an kam. Der große schwarze Hund der Nacht, mit seinem Bauch voller Sterne, war gerade dabei, den Tag zu ver schlingen. In der Eingangshalle herrschte große Aufregung. Die Gäste tuschelten miteinander wie ein Vogelschwarm zur Abendzeit, ehe sie in den langen Saal mit den vielen Spiegeln und den zierlichen vergoldeten Stühlen geführt wurden. Hinter uns schlossen sich die Türen mit einem lauten, jammervollen Dröhnen, das in meinen Ohren fast wie eine Totenglocke klang. Ich blieb im Hintergrund und hielt eifrig Ausschau nach Medlar, der jedoch nirgends zu sehen war. Wo mochte er sein? Was konnte ich tun? Sollte ich besser wieder zu den Stallungen zurückgehen? Die Gäste nahmen Platz und verstummten. Auf einmal ertönte eine Trompetenfanfare, die großen Türen schwangen auf und Königin Rosmore trat ein, majestä tisch und stolz, in einem prachtvollen Gewand mit Schleppe. Um den Hals trug sie einen üppigen Pelz und auf ihrem Kopf eine schwer aussehende Federkrone. Ihr Gewand war mit mindestens einhundert aufgestickten Augen versehen, die sich bewegten, wie ich verblüfft 136
bemerkte. Sie öffneten und schlossen sich und schauten durch den Raum, als würden sie nach jemandem oder etwas suchen. Hinter ihr trat König Nablus ein. Er wirkte schwach und recht wackelig auf den Beinen und stützte sich auf einen Stock. Sein Körper war verbogen und verwachsen wie ein uralter Walnussbaum, sein langes graues Haar fiel ihm über die Schultern. Er wirkte, als würde er die ganze Last der Zeit auf seinen Schultern tragen. Doch er nickte der Menschenmenge zu und bei seinem Näher kommen senkten die Männer den Kopf, die Frauen machten einen Hofknicks. Ich bewegte mich durch den großen Saal, immer an der Wand entlang, und freute mich, wenn ich mein blau es Licht in einem der Spiegel erblickte, das zusammen mit all den anderen Lichtern im Saal tanzte. Der König und die Königin schritten auf ein Podium zu. Dort wurde der König von einigen Höflingen in Empfang genommen und auf einen Stuhl gesetzt. Unbeholfen blinzelnd saß er da, sein Gesicht wie in maßloser Verwunderung erstarrt. Kleine Glöckchen begannen zu bimmeln, Rosenblätter fielen herab wie Schneeflocken und winzige Lichter blinkten durch den Saal. Es war der perfekte Rahmen für eine Märchenhochzeit. Und doch wusste ich, genau wie die anderen Gäste, dass hier etwas nicht stimmte. Der Rabe flog herein und landete auf dem ausge streckten Arm der Königin. Sie neigte das Haupt, als ihr der Vogel etwas ins Ohr flüsterte. »Ist ein Fremdling unter uns?«, fragte sie plötzlich. Im Raum wurde es mucksmäuschenstill. So still, dass man sogar die Rosenblätter auf den Boden fallen hören konnte. Oh nein – ich war entdeckt worden. Ein Schrei stieg in 137
meiner Kehle hoch. Doch zu meiner grenzenlosen Er leichterung hörte ich die Anwesenden wie aus einem Munde rufen: »Keine Fremdlinge hier.« »Dann lasst uns mit der Zeremonie beginnen!«, rief die Königin. Trompeten erschallten, und der Saal war plötzlich von Musik erfüllt, als die Braut und der Bräutigam eintraten. Es sah jedoch eher so aus, als würde die Braut, sichtlich älter als der Prinz, einen trotzigen Neffen wider seinen Willen auf eine Tanzfläche schleppen, als ihren Bräuti gam zur Trauung zu führen. Verdutzt starrte ich auf ihr Gewand. Es sah genauso aus wie jenes, das meine Mutter auf dem Gemälde trug. Sie hatte auch Blumen ins Haar geflochten. Der Unter schied aber war, dass meine Mutter wunderschön gewe sen war und meinen Vater geliebt hatte, während diese Braut hier alles andere als eine Schönheit war und ver mutlich niemanden so sehr liebte wie sich selbst. Die Musik verstummte und ein zittriger Mann trat auf das Podium. Er wirkte völlig verängstigt und schien mehr Talent dafür zu haben, Sätze anzufangen, als sie zu Ende zu führen. Erst als die Königin mit ihrer behandschuhten Hand unwillig auf die Lehne ihres Sessels schlug und Cronus ungeduldig mit den Flügeln schlug, fand der Mann die Sprache wieder. »Wir haben uns heute hier versammelt«, sagte er sto ckend, »um einen Prinzen und eine Prinzessin im Bund der Ehe zu vereinen. Wir wollen dafür Zeugnis ablegen, dass diese Ehe reinen Herzens und aus freien Stücken…« »Genug! Vermähle sie endlich und fertig!«, rief die Königin energisch. Der Bräutigam trat einen Schritt vor und wandte sich an die Königin. 138
»Ich kann es nicht tun«, sagte Tycho. Die Anwesen den schnappten nach Luft. »Vergebt mir«, fuhr er dann, an die Gäste gewandt, fort, »aber ich will nicht ohne Lie be heiraten. Ich liebe die Prinzessin nicht und werde sie auch nie lieben können.« »Ihr seid ein Narr! Ihr wisst nicht, was Ihr sagt. Weiter mit der Zeremonie!«, rief die Königin ungehalten. »Richtig! Weiter!«, kreischte Unwin und zog den zit ternden Mann so heftig am Ärmel, dass es ihm erneut die Sprache verschlug. »Sprich es endlich aus und er gehört mir!« Tycho verließ das Podium und ging entschlossenen Schrittes durch den langen Saal auf die Tür zu. »Schließt die Türen!«, befahl die Königin, die prompt mit voller Wucht zuknallten. Ihr Gesichtsausdruck war wieder ruhig, ein Ausbund an Sanftmut. »Hör auf mit dieser Kinderei, Tycho! Komm wieder her und lass uns mit der Hochzeit fortfahren!« Der König erhob sich plötzlich und stolperte an den Rand des Podiums. »Hochzeit? Geht es um meine geliebte Tochter? Ist sie es, mein innig geliebtes Kind?« Seine Höflinge stürzten sich auf ihn und führten ihn zu seinem Sessel zurück. »Lasst den König sprechen!«, rief Tycho. »Wenn Ihr Euch traut, lasst den König zu Wort kommen!« Die Augen der Königin blitzten vor Zorn, während die Hochzeitsgäste aufgeregt von ihren zierlichen Stühlen sprangen. »Nein!«, kreischte die Braut mit so schriller Stimme, dass die vergoldeten Spiegel klirrten. »Ich lasse mir mei ne Hochzeit nicht verderben!« 139
Im selben Augenblick schoss ein grüner Blitz aus dem ausgestreckten Zeigefinger der Königin und traf Tycho, der wie betäubt zu Boden fiel. »Mit dir werde ich auch allein fertig!«, brüllte sie. »Wozu brauche ich Jagdreiter oder Schatten? Ich be komme auch so, was ich will!« »Dann tut es«, sagte Tycho, während er sich wieder aufrappelte. »Zeigt allen, zu wie viel Boshaftigkeit Ihr fähig seid!« Die Königin schickte einen weiteren grünen Blitz in seine Richtung und wieder ging Tycho zu Boden. Vergoldete Stühle wurden umgeworfen. Männer, Frauen und Kinder duckten sich ängstlich. Ohne groß zu überlegen, rannte ich zu Tycho. »Bist du verletzt?« »Nein«, flüsterte er und richtete sich mühsam wieder auf. »Aber du musst so schnell wie möglich von hier weg. Du bist in Gefahr.« Als die Königin sah, dass Tycho sich zum zweiten Mal erhob, verkündete sie den verschreckten Gästen: »Setzt euch wieder! Die Hochzeit findet wie geplant statt!« »Es wird keine Hochzeit geben!« Tychos Stimme hall te laut und deutlich durch den Saal. Die prächtigen Türflügel schwangen auf. Davor stand der große stattliche Schimmel. Bei seinem Anblick zuck te selbst die Königin zusammen und sämtliche Augen an ihrem Gewand schlossen sich. Tycho küsste mich auf die Wange, stieg auf und war auch schon verschwunden. Nach seinem Abgang ström ten auch die Gäste überstürzt aus dem Raum. Ich blieb wie angewurzelt stehen, wo ich war. Die Königin beugte sich über ihre Tochter, die sich 140
vor Wut auf den Boden geworfen hatte und mit Händen und Füßen auf den Fußboden einhämmerte. »Du hast es mir versprochen!«, brüllte Unwin. »Du hast versprochen, dass diesmal nichts schief gehen wür de. Du hast gesagt, du seist so mächtig, dass alle dir ge horchen müssen!« »Was ist passiert?«, stammelte der König. Er erhob sich und rief, unter Mitleid erregendem Zittern, erneut: »Ist es meine Tochter? Ist es mein geliebtes Kind?« Die Königin blickte in meine Richtung. Sämtliche Augen an ihrem Gewand waren nun weit aufgerissen. »Wer ist da?«, rief sie wütend. Ich drehte mich um und rannte davon. »Ich weiß, wer du bist. Ich werde dich finden. Es gibt für dich kein Versteck. Das wirst du mir teuer bezahlen«, zischte sie. Ich rannte aus dem Saal. Die Eingangshalle lag nun mehr verlassen da, der Kiesweg war leer. Als ich noch einmal zurückblickte, konnte ich nur den Mondschein sehen, der sich in den vielen Fenstern des Palastes spie gelte. Ich rannte, oh, wie bin ich gerannt! Ich hatte keine Ahnung, wohin ich rannte, doch ich blieb erst stehen, als ich vor einer Scheune stand. In ihrem Inneren kauerte ich mich vor Erschöpfung ins Stroh und schlief sofort ein.
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Das verlorene Land
A
ls ich wieder erwachte, stellte ich verwundert fest, dass meine Haare wieder lang und dick waren. Ich lag in einem mit wunderschönen Schnitzereien verzierten Bett aus Ebenholz, und das Tageslicht spielte mit den Vorhängen, sodass die Sonnenstrahlen bis in meine schläfrige Dunkelheit gedrungen waren. Einer der Son nenstrahlen fiel auf eine Schale dampfenden Wassers. Mit einem Schlag war ich hellwach und richtete mich kerzengerade auf. Wie war das möglich? Gestern Abend war ich in einer Scheune eingeschlafen. Wer um alles in der Welt hatte mich in dieses vornehme Bett gelegt? Das konnte nur Medlar gewesen sein und ein Gefühl großer Erleichterung durchflutete mich. Ich stieg aus dem Bett. Da lagen meine Kleider, frisch gewaschen und geflickt, als wäre jemand leise hereinge kommen, hätte an diesem Morgen schon alles für mich hergerichtet und wäre dann lautlos wieder verschwunden. Ich zog mich an und öffnete die Tür, um nach Medlar zu suchen, der mich sicher schon erwartete. Als ich in den Korridor trat, wurde mir klar, dass ich mich noch immer im Sommerpalast befand. Nein, das durfte nicht sein! Jeden Augenblick konnte die Königin auftauchen und mich ertappen. Ich kehrte ins Schlafzimmer zurück, schloss die Tür und lehnte mich ratlos dagegen. Doch was ich dann sah, stürzte mich in noch größere Verwirrung. In dem kurzen Zeitraum mei ner Abwesenheit hatte sich das Zimmer vollkommen 142
verändert, als hätte jemand einen bösen Zauber ausge sprochen. Alles in dem Zimmer war auf einmal von einer dicken Staubschicht überzogen. Die Vorhänge, durch die vorhin die Sonne geblinzelt hatte, waren nur mehr ein Haufen Spinnweben. Die Betttücher waren zerfetzt und zerlumpt, Federn quollen aus der Matratze, und die Waschschüssel hatte Risse und war angeschlagen, als hätte sie schon ewig niemand mehr angerührt. Es war nur noch eine ver kommene, verwahrloste Kammer, nichts weiter. Mein Kopf schmerzte plötzlich wie bei einem heran ziehenden Gewitter. Ich warf einen Blick in den Korri dor. Auch dieser hatte sich vollständig verändert. Die feinen Perserteppiche, die eben noch auf dem frisch ge wienerten Boden gelegen hatten, waren verschwunden, durch trockenes Laub ersetzt, das raschelte, als ich dar über ging. Der ganze Palast ächzte und stöhnte, die Balken knackten wie bei einer großen Galeone, die Schiffbruch erlitten hatte und nun am Strand vor sich hin faulte. Ich schaute an die Decke, die beim letzten Blick mit farbenprächtigen Märchenszenen bemalt gewesen war. Inzwischen war nur noch ein schwerer, kalter Himmel zu sehen, der mir durch ein gewaltiges Loch in den Dach sparren zuzwinkerte. Ich spitzte die Ohren, und als ich kein menschliches Geräusch hörte, beschloss ich, all meinen Mut zusam menzunehmen und nach unten in den Saal zu gehen, in dem die Hochzeit hätte stattfinden sollen. Das Glas in den zertrümmerten Spiegeln war trüb. Überall auf dem regennassen Fußboden lagen welke Blü tenblätter und umgestoßene vergoldete Stühle. Ich zuckte zusammen, als ich plötzlich ein Scharren hörte, und hoff te im ersten Moment, dass Medlar vielleicht doch hier 143
war. Ich rannte zum Podium, wo die beiden Sessel noch standen, die nun mit Moos überwachsen waren. Eine Spinne kroch gemächlich darunter hervor. Die große Flügeltür, die sich auf Kommando geöffnet und ge schlossen hatte, hing schief in ihren Angeln. Ich ging wieder in die Halle. Vor dem Auftauchen der Königin fürchtete ich mich nicht mehr. Offenbar war die ser Ort vor langer, langer Zeit verlassen worden. Es kam mir vor, als würde er seit hundert Jahren schlafen. Ich wagte mich in einen anderen Raum. Hier war es dunkel, die Fenster waren nachlässig mit Brettern verna gelt. Ein riesiger Eichentisch stand mitten im Zimmer. Auf der mir zugewandten Hälfte lag ein frisch gestärktes, viereckiges weißes Tischtuch. Eine Schale mit noch hei ßem Haferbrei schien auf jemanden zu warten, der ihn essen wollte. Daneben standen ein Krug mit warmer, kremiger Milch, Butter und Honig, ein Laib frisch ge schnittenen Brotes lag da. Genau in der Mitte des Tisch tuchs stand eine Kerze mit bereits zurechtgeschnittenem Docht. Ich setzte mich an den Tisch und aß, als hätte ich seit Monaten nichts mehr gegessen, so groß war mein Hun ger. Schließlich, als ich reichlich satt war, lehnte ich mich zurück und beobachtete einen Käfer, der gemäch lich über die Tischplatte krabbelte. Nach einer Weile stand ich wieder auf. In der Stille des leeren Raums schien plötzlich eine unerklärliche Be drohung zu liegen und ich musste unwillkürlich an den ausgestopften Alligator im Arbeitszimmer meines Vaters denken. Welche Angst ich damals vor ihm gehabt hatte, in jener anderen Zeit, in meiner anderen Welt. Mit klopfendem Herzen verließ ich das Gebäude, so schnell ich konnte. Draußen war es so kalt, dass meine 144
Zähne anfingen zu klappern, und als ich mich umschaute und die kahlen Bäume sah, schwante mir, dass nicht nur im Palast eine gewaltige Veränderung vor sich gegangen war. Auch die Jahreszeit hatte sich verändert. Während ich schlief, hatte der Winter seine frostigen Klauen in die Erde geschlagen. Als ich den Kiesweg hinunterging, dessen Unebenheiten im Boden zeigten, dass hier schon viele Pferde und Fuhr werke unterwegs gewesen waren, begann es zu schneien. Ich ging auf die Stallungen zu. Auch sie waren verlassen. »Ist jemand da? Medlar?«, rief ich. Meine Stimme hallte über den leeren Hof, doch nur Wind und Schnee flüsterten mir eine Antwort zu. Mutlos ließ ich mich auf eine Stufe in der Nähe der zugefrorenen Pferdetränke sinken und überlegte mir, was ich tun könnte. Meine Finger waren taub geworden, mei ne Füße schmerzten vor Kälte, mein Atem blies geister hafte Spuren in die Luft. »Schöne Maid!«, sagte Medlar. »Ich habe schon nach dir gesucht.« Ich hob den Kopf. Mir war so kalt, dass sein Erschei nen weder Freude noch Trauer in mir hervorrief. Alles in mir war vor Kälte erstarrt. Medlar legte mir seinen Um hang um die Schultern, zog mich auf die Beine und führ te mich in einen Raum über den Ställen. Hier brannte ein Feuer. Die Holzdielen waren kahl, ein Tisch und zwei Stühle waren das ganze Mobiliar. Ich setzte mich. »Wo wart Ihr?«, fragte ich. »Warum habt Ihr mich al lein gelassen?« Medlar blieb mir die Antwort schuldig. Stattdessen stellte er meinen Stuhl näher ans Feuer und rieb meine Hände aneinander, um sie zu wärmen. 145
»Ich muss dich zurückbringen«, sagte er. »Mich zurückbringen? Wohin?«, fragte ich. »Nach Hause, nach London.« »Nein!«, rief ich in wilder Entschlossenheit und ent zog ihm meine Hände. »Das wäre mein sicheres Ende!« »Ich kann dir versichern, dass dem nicht so ist.« Med lar nahm einen Topf vom Feuer und füllte zwei Gläser mit einem warmen, würzigen Getränk, das direkt in mei ne Füße und Finger zu fließen schien. Er zündete seine Laterne an, die wie ein kleiner Vollmond in dem verräu cherten Raum hin und her schaukelte. »Wer seid Ihr?«, fragte ich. Er lächelte mich an. »Wer bin ich?«, wiederholte er nachdenklich und strich sich über den Bart. »Eine gute Frage, auf die es zweifellos eine Antwort geben muss. Ich bin vieles. Ich bin ein Reisender. Ich bin des Königs Magier. Ich bin der Sucher der Schatten. Ich war der Lehrer deiner Mutter, und vor vielen, vielen Monden traf ich deinen Vater auf einer Straße, die nach London führ te. Ich kann nur einen Bruchteil deiner Frage beantwor ten, doch ich fürchte, das wird dir reichen müssen.« »Das wart Ihr?«, sagte ich verblüfft, und mir fiel ein, dass mein Vater mir von einem Mann erzählt hatte, der überfallen und ausgeraubt worden war. »Dein Vater gefiel mir auf Anhieb«, sagte Medlar. »Im Gegensatz zu den anderen Sterblichen wünschte er sich nicht sehnlichst, dass alles besser werden würde. Er akzeptierte sein Schicksal mit Würde, hatte aber dennoch auch ein Herz für andere. Ich war es, der deine Mutter auf eben diese Straße bei London brachte, weil ich mir dachte, dass die Liebe und das Schicksal das Übrige tun würden. Und ich hatte Recht!« Ich muss ihn mit offenem Mund angestarrt haben, 146
denn er sagte: »Trink aus, dann fühlst du dich wieder besser.« Ich schlürfte das herrlich warme Getränk und erneut durchströmte mich ein angenehmes Gefühl von Wärme. »Warum habt Ihr Tycho nicht geholfen?« »Hätte ich das getan, hätte Rosmore meine Anwesen heit bemerkt und all meine Mühe wäre vergebens gewe sen. Du dagegen hattest die Macht, ihm zu helfen, und hast es auch getan«, sagte Medlar. »Aber ich bin doch nur ein blaues Licht«, sagte ich. »Ich habe keinerlei Macht.« »Es gibt vieles, was du nicht verstehen kannst«, ant wortete Medlar. »Ich habe dafür gesorgt, dass du ein blaues Licht warst, um dich zu schützen.« Er seufzte. »Hat deine Mutter dir von unserer Welt erzählt?« »Nein, sie hat mir nur ein paar Märchen erzählt.« »Aber sie hat dir doch gewiss von ihrer Kindheit er zählt«, sagte Medlar. Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Ich sah, dass meine Antwort ihn enttäuschte. »Tja, das ist bedauerlich«, sagte er betrübt und zupfte an seinem Bart. Es war mir peinlich, dass ich nichts über die Vergan genheit meiner Mutter wusste, und deshalb sagte ich: »Ich habe aber ihren Schatten gesehen.« »Tatsächlich?«, rief Medlar. »Oh, schöne Maid! Wann war das?« »Es ist schon lange her, kurz nach ihrem Tod. Er war in einer Ebenholzschatulle im Arbeitszimmer meines Vaters.« »Wie sah er aus?«, fragte Medlar und blickte mich ge spannt an. »Er war silbrig, ganz hauchdünn. Danach habe ich ihn allerdings nie mehr gesehen.« 147
»Der Schatten muss gefunden und hierher gebracht werden«, sagte Medlar. »Wieso das? Warum wollt Ihr ihn haben?« »Der Schatten deiner Mutter war die Ursache großen Jubels, denn dass ein Schatten die Ehre des immerwäh renden Lichts besitzt, kommt nur äußerst selten vor. Und zudem hat der Schatten eine so große Macht, dass er auch in unermesslich großem Ausmaß für Böses benutzt werden kann. Die Königin hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um in seinen Besitz zu gelangen, doch wenn ihr das gelänge, wäre sie allmächtig. Der Schatten ist derzeit ungebunden und ungeschützt. Er ist in die Hände von Sterblichen gefallen, die zu ihrem eigenen Vorteil damit herumgespielt haben, und dadurch ist ein dünner Strahl der Zeit in unsere Welt gefallen. Welche Auswirkungen das hat, sieht man an unserem geliebten König und in zwischen auch an seinem Sommerpalast.« In meinem Kopf herrschte ein schreckliches Durch einander an Gedanken, und es gab so vieles, was ich un bedingt noch wissen wollte, doch auf Anhieb kam mir nur eine einzige Frage über die Lippen: »Werde ich mei ne Mutter jemals wiedersehen?« »Nein«, antwortete Medlar mit sehr ernster Stimme. »Das ist nicht möglich. Sie hat sich dafür entschieden, in eurer Welt zu sterben. Über den Tod dort haben wir kei ne Macht.« Er rückte seinen Stuhl näher zu mir und nahm meine Hand. »Ich muss dich bitten, den Schatten für uns zu fin den.« »Ich? Nein!«, rief ich erschrocken. »Ich bin nicht mu tig genug. Ich bin zu schüchtern. Und auch zu ängstlich.« »Bei der Hochzeit«, sagte Medlar, »habe ich dich ab sichtlich dir selbst überlassen. Ich wollte sehen, wie viel 148
von deiner Mutter in dir steckt. Du hast das Herz einer Löwin, Coriander. Du warst mutig genug, in das Schlaf gemach der Königin zu gehen, nicht zu schüchtern, das feurige Ross zu streicheln, und auch nicht zu ängstlich, um einen Prinzen zu retten.« Ich saß da, um Worte verlegen, und versuchte zu be greifen, in welcher Lage ich mich befand. Ich konnte es noch immer nicht recht fassen, dass dies das Land war, aus dem meine Mutter stammte. Warum hat sie mir nie davon erzählt?, fragte ich mich. Warum ist sie lieber ge storben, als hierher zurückzukehren? Medlar schwieg, als er sah, dass Tränen über meine Wangen rollten. Er beugte sich vor, zog ein in Leinen stoff gewickeltes Päckchen unter seinem Stuhl hervor und überreichte es mir. Darin lagen die silbernen Schuhe. So viele merkwürdige Dinge waren mir in letzter Zeit widerfahren, doch die Schuhe erstaunten mich am meis ten. Wortlos starrte ich sie an. Ich hatte ganz vergessen, wie wunderschön und kunstvoll sie waren. Ich hielt sie ins Licht der Kerze und sie schimmerten wie Glas. »Coriander, diese Schuhe wurden eigens für dich ge macht und für niemanden sonst«, sagte Medlar. »Es konnte nicht ausbleiben, dass sie dich finden würden. Sie wurden so gemacht, dass sie mit dir zusammen wachsen. Sie wurden ohne mein Wissen mit einem Zauberspruch belegt. Deiner Mutter ist es gelungen, einen Teil davon zu löschen, doch nicht alles. Nun darfst du sie wiederha ben.« Ich nahm sie erneut in die Hand. Sie waren so weich und leicht wie Schwanenfedern. »Sobald du sie an den Füßen hast«, sagte Medlar, »wirst du wieder in der Truhe liegen.« 149
Ein Jagdhorn erschallte. Es zerriss das Schweigen vor dem Fenster, zerschnitt es wie ein Messer. Medlar und ich rannten ans Fenster und stießen die Fensterläden auf. Draußen war es dunkel, es schneite noch immer und die Birken hoben sich bläulich von dem schwarzen Hinter grund ab. Zwischen ihnen galoppierte ein großer Schim mel, ein Fuchs lief neben ihm her. Ich konnte auch die Umrisse der Jagdreiter und ihrer Hunde sehen. Da begriff ich, dass Königin Rosmore ihre schlimme Drohung wahr gemacht hatte. Tycho war ein Fuchs ge worden! Ein scharfer Schmerz in meinem Mittelfinger durch zuckte mich, und ich sah, dass ich mir am Holz der Fens terläden einen Splitter eingezogen hatte. Drei Blutstrop fen fielen in den frisch gefallenen Schnee. Rote Rubine auf weißem Samt, dachte ich. Ein lautes »Halali!« dröhnte durch den Wald. »Wenn ich den Schatten finde, ist Tycho dann geret tet?«, fragte ich. Medlar nickte. Ich ließ meine Zehen in den ersten Schuh gleiten. »Sagt mir noch eines, bevor ich gehe: Wie hieß König Nablus’ Tochter?« Und er sagte das, was ich in meinem Herzen längst wusste. »Eleanor.« Damit ist der dritte Teil meiner Geschichte erzählt und eine weitere Kerze erlischt.
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TEIL VIER
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Der schreckliche Schrei
I
n pechschwarzer Dunkelheit wachte ich auf, zusammengekauert und unfähig, mich zu rühren. Ich wusste sofort, dass ich wieder in der Truhe lag. Zuerst hörte ich nur gedämpfte Stimmen, gleich darauf einen lauten Knall, als die Tür des Arbeitszimmers aufgerissen und an die Wand gedonnert wurde. »Nein, das verbiete ich Euch! Aus dem Weg, Sir! Wir sind ein ehrenwertes, gottesfürchtiges Haus. Ihr habt kein Recht, Euch unbefugt Eintritt zu verschaffen!«, rief un missverständlich die empörte Stimme von Arise Fell. »Wenn Ihr mich nicht hineinlasst, hole ich den Wachtmeister. Ich habe guten Grund zu glauben, dass die Leiche von Coriander Hobie hier in einer Truhe einge schlossen ist«, knurrte eine Stimme, die ich nicht kannte. »Kapitän Bailey«, sagte nun eine dritte Stimme, die ich als jene von Master Thankless erkannte, »schaut! Das muss die Truhe sein, von der mein Gehilfe gesprochen hat.« Dann hörte ich ein leises Stimmchen, das vermutlich Hester gehörte. »Ja, Sir, in dieser Truhe liegt sie.« »Ruhe, du Tölpel! Red keinen Unsinn!« Das war ein deutig Maud. »Öffnet sofort diese Truhe!«, sagte nun wieder die schroffe Stimme. »Ich weigere mich! Diese Truhe gehört mir nicht, und ein Prediger kann sich nicht einfach am Eigentum ande 152
rer vergreifen, sofern dieses Eigentum nicht anstößig ist in den Augen des Herrn.« »Ich habe gehört, dass Ihr Euch sehr wohl schon an den meisten Besitztümern von Master Hobie vergriffen habt. Schluss mit dem Theater, öffnet die Truhe!« Ich klopfte mit aller Kraft an die Wand meines Gefäng nisses. Ich musste so schnell wie möglich hier heraus und den Schatten finden, um Tycho zu retten. Ich hatte keine Zeit zu verlieren. Für Erklärungen war später noch Zeit. »Ich bin hier drin!«, rief ich. »Holt mich heraus!« Aus Mauds Mund kam ein schrecklicher Schrei. »Potzblitz! Sie lebt!«, rief Master Thankless. »Moment, wir holen dich sofort heraus!«, rief die bar sche Stimme. »Master Thankless, wir brauchen ein paar Werkzeuge. Wie kann ein Mensch zu so etwas fähig sein? Und noch dazu, wo Ihr Euch Prediger nennt!« Ich hörte, dass sich die Tür des Arbeitszimmers schloss. Maud wimmerte. »Ooooh, Arise, es kann nur ein Ge spenst sein, das uns verfolgen und quälen wird. Die Kno chen des Mädchens werden uns verraten. Wir sind erle digt!« »Schweig und hüte deine Zunge, Frau! Hör mir gut zu! Wir bleiben bei unserer Geschichte. Sie ist weggelau fen. Wir dachten, sie sei mit Mistress Danes geflohen und ertrunken. Und jetzt hat sie sich, ohne dass wir es bemerkt hätten, dank Hexerei und mithilfe des Teufels, wieder ins Haus geschlichen und sich in der Truhe ver steckt.« »Wie denn? Wo sie doch abgeschlossen ist!«, flüsterte Maud. »Dafür wird Gott der Herr in seiner Allmacht gesorgt haben.« 153
»Meinst du, es waren ihre Knochen, die vorhin an die Truhe gepocht haben?« »Nein, Frau, das meine ich nicht!« »Ich habe dir doch gleich gesagt, dass du tun sollst, was die Frau gesagt hat, solange du noch die Möglichkeit hattest«, sagte nun wieder Maud. »Du hättest sie in den Fluss werfen sollen. Dann hätten die Ratten sie aufge fressen. Hätten wir sie ganz aus dem Weg geschafft, be kämen wir jetzt keinen Arger.« »Sei endlich still, Weib!«, herrschte Arise sie an. »Du bist mir wahrlich keine Hilfe. Lass mich nachdenken. Wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren.« »Es ist der Teufel, der gekommen ist, um uns zu ho len, Arise. Ich kann den Galgen in Tyburn schon rie chen«, stammelte Maud. »Du solltest dir besser ein paar schöne Sprüche aus der Bibel zurechtlegen, denn sie werden gewiss verfaultes Fleisch und Knochen in dieser Truhe finden!« »Halt endlich deinen dummen Mund. Überlass das Reden mir!« Ich hörte die anderen ins Zimmer zurückkehren und auch, wie sie dann mit Gewalt das Schloss aufbrachen und den Deckel hochhoben. Im ersten Moment war das Licht so grell, dass ich meine Retter gar nicht erkennen konnte. Betroffenes Schweigen machte sich breit. Ich richtete mich auf und versuchte, aus der Truhe zu steigen, doch meine Beine wollten mich nicht tragen. Dann erkannte ich Master Thankless’ vertrautes Ge sicht. »Oh, Master Thankless, ich bin ja so froh, Euch zu se hen!«, rief ich. »Nicht froher als ich, dich zu sehen, so gesund und 154
munter«, sagte der Schneidermeister. »Obwohl ich beim besten Willen nicht begreife, wie das möglich ist. Es ist ein Wunder, nein, ich begreife es nicht.« »Ihr kennt mich nicht, Mistress«, sagte nun der Mann mit der Knurrstimme, »doch ich bin Kapitän Bailey. Ich führte eines der Schiffe Eures Vaters. Einen freundliche ren und ehrbareren Mann als ihn habe ich nie gekannt.« Da fiel mir mein Vater wieder ein. »Wisst Ihr, wo er ist?«, fragte ich. »Ich weiß lediglich, dass er noch lebt, doch über sei nen Aufenthaltsort kann ich Euch nichts sagen«, erwider te der Kapitän. Meine Augen hatten sich mittlerweile an die Helligkeit gewöhnt, und ich merkte, dass der Raum wie durch Zau berwerk geschrumpft war. Das galt auch für Maud, denn wenn meine Augen mich nicht trogen, war ich inzwi schen größer als sie. Ich war fast so groß wie Arise Fell und nur einen Kopf kleiner als der Kapitän. Wie dies möglich war, war mir ein Rätsel, und auch die Anwe senden starrten mich ungläubig an. Wäre Hester nicht gewesen, hätte mich die allgemeine Verdutztheit vielleicht irritiert, doch beim Anblick der schmalen Gestalt, die kraftlos an der Wand lehnte, erschrak ich zutiefst. War das überhaupt Hester? Sie war schrecklich dünn, ihre Augen waren eingefallen und ihr Gesicht leichenblass. »Ich dachte, sie hätten dich umgebracht«, schluchzte sie, »und ich konnte nichts tun!« »Was hab ich dir gesagt, du Spatzenhirn? Ruhe!«, fauchte Maud und machte Anstalten, sie zu ohrfeigen. Ich stieg aus der Truhe. Bei Hesters Anblick fühlte ich mich plötzlich wie mit einem schweren Gewicht wieder in dieser Welt verwurzelt. Mir war klar, dass ich sie in diesem Zustand nicht allein lassen konnte. 155
Als Maud sah, dass ich einen Schritt auf sie zu mach te, wich sie zurück und versuchte, sich hinter Arise zu verstecken, der abwehrend beide Arme ausstreckte. Mit zitteriger Stimme rief er: »Das ist der Beweis, dass Hexe rei im Spiel ist. Du bist ein Geschöpf des Teufels.« Ich beugte mich über Hester. Sie schlang die Arme um meinen Hals und stammelte: »Es tut mir ja so Leid, dass ich dir nicht früher helfen konnte. Gott sei mein Zeuge, dass ich es wahrlich versucht habe.« Master Thankless zog Hester behutsam hoch. Ich konnte sehen, dass ihr das Aufstehen Schmerzen bereite te. »Ich weiß nicht, was in diesem Haus vor sich geht«, wandte sich Master Thankless dann an Arise, »doch ei nes kann ich Euch sagen: Der einzige Teufel in diesem Raum seid Ihr! Komm, Coriander, du und Hester dürft keinen Augenblick länger unter diesem Dach bleiben.« »Ich kann nicht, Sir«, sagte Hester und entzog ihm kraftlos ihre Hand. »Tut mir Leid, Sir. Aber ich bin krank. Lasst mich am besten hier.« Und schon lehnte sie sich wieder an die Wand und sackte auf den Boden, so leblos, als wäre sie mein altes Püppchen Beth. »Hester«, sagte ich eindringlich, »was haben sie dir angetan?« Der Kapitän bückte sich und hob sie hoch, als wäre sie ein Sack Federn. Er wandte sich an Arise. »Wie könnt Ihr es wagen, Euch als einen Mann Gottes zu bezeichnen?« Ich folgte Kapitän Bailey und Master Thankless hin aus auf die Straße, wo eine Kutsche wartete. Sobald wir darin Platz genommen hatten, musterte mich Master Thankless kopfschüttelnd. »Potzblitz, ich kann es noch immer nicht fassen, Cori ander«, sagte er kopfschüttelnd. 156
»Woher habt Ihr gewusst, wo Ihr mich findet?«, fragte ich. »Mein Gehilfe, Gabriel Appleby, hat euer Haus beo bachtet, und Hester fand den Mut, sich ihm anzuvertrau en«, antwortete Master Thankless. »Doch es ist mir ein Rätsel, was in diesem Haus passiert ist. Nach allen Ge setzen der Natur müsstest du längst tot sein.« Er wickelte eine Decke um Hester und wir fuhren schaukelnd und ruckelnd durch die Thames Street bis zur großen Brücke. Vor der Schneiderwerkstatt schritt ein junger Mann nervös auf und ab. Bei seinem Anblick dachte ich mir, dass Master Thankless vermutlich noch einen Gehilfen eingestellt hatte. Und ich fragte mich, warum Gabriel nicht hier war, um uns in Empfang zu nehmen. »Ihr wart nicht zu spät dran? Sie ist noch nicht tot?«, rief der junge Mann aufgeregt, während er seinem Meis ter half, die schwache Hester aus der Kutsche zu heben. »Nein, noch nicht«, antwortete Kapitän Bailey. »Lauf, Gabriel, hol den Doktor!«, sagte Master Thankless. »Los, spute dich!« Und der junge Mann rann te davon, als ginge es um sein Leben. Verdutzt starrte ich ihm nach. Als ich Gabriel das letzte Mal gesehen hatte, war er noch ein Junge gewe sen, kaum älter als Hester, aber gewiss noch kein Mann. Ich kam mir vor wie ein Matrose, der nach einer langen Seefahrt nach Hause zurückkehrte, ohne zu wissen, wie lange er fort gewesen war, welche Jahreszeit in der Hei mat gerade herrschte, welches Jahr man schrieb. Vermut lich wirkte ich ziemlich verloren, denn Master Thankless nahm meine Hand und sagte freundlich: »Komm, Corian der, hilf mir, Hester ins Haus zu bringen.« Wir halfen Hester die Stiege hinauf, wo Neil, die 157
Dienstmagd, mir half, Hester auszukleiden. Wir waren beide tief betroffen, als wir die Peitschenspuren auf ihrem Rücken sahen, ebenso wie der Doktor, der wenig später eintraf. Er äußerte die Befürchtung, dass sie diese Nacht nicht überleben könnte, und sagte voller Zorn, dass ein Christenmensch nicht einmal seinen Hund so übel zurich ten würde. London sei voller Scharlatane und Schurken, die sich unter dem Deckmantel der Rechtschaffenheit und Frömmigkeit als Prediger und Propheten ausgäben. Nachdem der Doktor einen Umschlag auf Hesters schlimmste Wunden gelegt und ihr eine Arznei einge flößt hatte, wuschen wir sie und legten sie ins Bett. Ich setzte mich zu ihr, hielt ihre Hand und versuchte, mir einen Reim auf die ganze Sache zu machen. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn ich er wachte so plötzlich, als hätte mich jemand geschüttelt. Suchend blickte ich mich um und sah im Fenster plötz lich ein Spiegelbild aufblitzen. Zuerst glaubte ich, meine Mutter sei im Raum, und mein Herz begann, wie wild zu klopfen. Ich war auch sicher, ihre Stimme zu hören, die mir sagte, was ich zu tun hätte. Doch dann wurde mir klar, dass das Gesicht, das mich anblickte, mein eigenes war. Ich rief Gabriel und bat ihn, bei Hester Wache zu halten, damit ich nach unten gehen konnte, wo ich Master Thank less und den Kapitän in angeregtem Gespräch vorfand. »Ich habe in meinem Leben schon manch sonderbare Dinge erlebt«, sagte der Kapitän, »doch bei allen Heiligen war das heute wahrlich das Sonderbarste. Wenn Ihr mich fragt, kann es hier nicht mit rechten Dingen zugehen.« »Ah, Coriander«, sagte der Schneidermeister, als er mich sah, »kann ich etwas für dich tun?« »Ich wollte Euch fragen, ob Ihr die Heiltinkturen mei ner Mutter noch habt.« 158
»Oh ja, natürlich. Sie sind sicher in meinem Keller verwahrt.« »Ich glaube, es müsste auch ein Mittel darunter sein, das Hester helfen könnte.« »Gut, gehen wir hinunter!«, sagte Master Thankless und führte mich in seine Kellerräume. Die kleinen Fläschchen lagen in Körben zwischen Stroh und sahen allesamt sehr ähnlich aus. »Auweia, jetzt haben wir den Salat«, sagte Master Thankless. »Die Fläschchen sind nicht beschriftet. Woher sollen wir wissen, was sie enthalten? Und Mistress Danes ist leider nicht da, um uns zu helfen.« »Ich brauche ein Fläschchen, in dem sich eine violette Blüte befindet«, sagte ich. »Falls wir es nicht finden, wird Hester wohl kaum durchkommen.« »Ich fürchte, ich habe zu lange gewartet«, stöhnte Master Thankless. »Ich hätte sofort in das Haus gehen sollen, als Gabriel mir erzählt hat, wie die arme Hester behandelt wird. Na ja, such du in dem einen Korb, ich suche in dem anderen. Wenn es ein solches Fläschchen gibt, dann werden wir es schon finden!« Sorgfältig nahmen wir ein Fläschchen nach dem ande ren in Augenschein, doch vergebens. In keinem war eine violette Blüte zu sehen. Ratlos stand ich da. Doch dann beschloss ich, meiner inneren Stimme zu folgen. Ich schloss die Augen und griff wahllos nach einem der Fläschchen. »Wenn du dich täuschst«, sagte der Schneidermeister, um mich zu trösten, »dann macht es vermutlich keinen großen Unterschied.« »Master!«, rief Gabriel in diesem Moment von oben. »Kommt rasch! Ich glaube, es geht mit ihr zu Ende!« 159
Mein Herz klopfte zum Zerspringen, als ich, gefolgt von Master Thankless, die Treppe hinaufhetzte. Hester war totenblass und gab beim Atmen ein ras selndes Geräusch von sich. Kapitän Bailey sagte leise, er hätte dieses Röcheln in seinem Leben schon oft gehört, aber nur von Menschen, die im Begriff standen, vor ihren Schöpfer zu treten. Ohne lange zu überlegen, erbrach ich das Siegel des Fläschchens und tröpfelte den Inhalt vorsichtig auf Hes ters Zunge, wobei ich aufpasste, ja keinen Tropfen zu verschütten, genauso, wie ich es meine Mutter und Da nes schon oft hatte tun sehen. Danach saß ich da und hielt Hesters eine Hand, während Gabriel ihre andere hielt. Der Mond kam, um über Hester Wache zu halten, und schickte seinen Lichtkegel in ihr Zimmer. In jener Nacht blieben wir alle bei Hester, und ich erinnere mich, dass ich irgendwann gegen Morgen einschlief und erst von den Schreien der Möwen wieder aufwachte. Auch Gabriel war eingeschlafen und lag mit dem Kopf auf Hesters Bett. Master Thankless döste auf einem Stuhl neben der Tür. Der Kapitän war gegangen. Er hatte ge sagt, dass sein Schiff mit der morgendlichen Flut auslau fen müsse. Hesters Atem ging regelmäßig. Als ich ihre Hand los ließ, um die Fensterläden zuzumachen, sagte sie leise: »Coriander?« »Oh, Hester«, sagte ich überrascht, und als ich sah, dass sie die Augen offen hatte, brach ich vor Freude in Tränen aus. »Du bist noch bei uns!« »Wo sollte ich denn sonst sein?«, flüsterte sie. Beim Klang ihrer Stimme hob Gabriel den Kopf. »Bei Gott dem Herrn, ein Wunder ist geschehen!« 160
Und er küsste ihre Hand, während er gleichzeitig lachte und weinte. Als ich Gabriel und Hester beobachtete, begriff ich, dass ich tatsächlich sehr lange fort gewesen sein musste, denn als ich in die Truhe eingesperrt wurde, hatten die beiden sich noch nicht einmal gekannt. Master Thankless erhob sich. Er ging an den Tisch, auf dem ich das leere Fläschchen abgestellt hatte, nahm es hoch und hielt es ins Licht. »Schau nur, Coriander! Auf dem Boden liegt eine vio lette Blüte!«
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Lücken in der Zeit
B
is zu diesem Moment hatte ich versucht zu verdrängen, dass sich etwas an mir verändert hatte. Doch in den gemächlichen Tagen, die mit Hesters Genesung ein hergingen, wurde mir klar, dass ich drei volle Jahre lang weg gewesen war und inzwischen fünfzehn Sommer alt sein musste; doch wie das möglich gewesen war, diese Frage wagte ich mir nicht zu stellen. Nicht nur dass mei ne Haare wieder lang waren und ich größer war und kaum noch in mein altes Kleid passte. Auch mein Körper hatte sich verändert. Mir war, als sei ich in ein neues Haus gezogen, dessen Räume zu erforschen ich mich noch scheute. Doch andererseits fand ich den Gedanken auch tröstlich, denn da ich erst vor kurzem die Welt mei ner Mutter verlassen hatte, blieb mir vielleicht mehr Zeit als angenommen, um den Schatten dorthin zurückzubrin gen. Master Thankless sagte, das Geschehene sei jenseits allen menschlichen Begreifens, obwohl er natürlich klug genug war, dies vor seinen Kunden zu verheimlichen. Stattdessen dachte er sich eine Geschichte aus, die mein dreijähriges Verschwinden erklärte und die er den endlo sen Fragen aller, die seinen Laden betraten, entgegen hielt. Folgendes erzählte er ihnen: Ich sei von zu Hause weggelaufen, um Mistress Danes zu finden. Als sich das als unmöglich erwies, sei ich nach Hertfordshire gegan gen, wo mich eine gute puritanische Familie aufnahm. Drei Jahre habe ich in ihren Diensten gestanden, ehe ich 162
nach London zurückkehrte, um in Erfahrung zu bringen, was aus meinem Vater geworden war. In der Hoffnung, ihn zu finden, hätte ich mich heimlich in mein Elternhaus geschlichen, doch als ich dort Arise Fells Stimme hörte, hätte ich mich rasch in der Truhe versteckt, wo ich wenig später gefunden wurde. »Ich habe aber gehört, dass sie ganze sechs Monate darin eingesperrt war«, sagte eine Frau. »Nein, länger«, meinte eine andere. »Angeblich soll es mindestens ein Jahr gewesen sein.« Master Thankless brachte alle Klatschmäuler zum Schweigen, indem er mit fester Stimme sagte: »Ich kann Euch versichern, meine Damen, dass es nur eine Sache von Stunden war, wenn überhaupt.« Mehr bekam man nicht aus ihm heraus, egal wie lange jemand auch herumbohrte. Danes wäre sicher stolz ge wesen auf ihren Freund, den Schneider. Bald schon wurde es offensichtlich, dass Gabriel es kaum ertragen konnte, von Hester getrennt zu sein, und auch Hester wurde ganz unruhig, wenn er nicht in der Nähe war. Das bedeutete, dass Gabriel kaum noch an seine Arbeit dachte. »Es tut mir Leid, Meister«, sagte Gabriel bedrückt. »Aber das Problem ist, dass ich unsterblich in sie verliebt bin.« Master Thankless lachte. »Ach ja? Darauf wäre ich nie gekommen!« Gabriel senkte die Stimme. »Außerdem befürchte ich, dass die beiden Bösewichte sie wiederholen könnten.« »Warum sollten sie?«, fragte ich. »Weil Hester als Einzige bezeugen kann, was sie alles verbrochen haben«, erklärte mir Master Thankless. 163
»Aber nein«, widersprach ich. »Joan, unsere Köchin, ist doch auch noch da. Sie kann gewiss einiges erzählen.« Master Thankless legte mir eine Hand auf den Arm. »Coriander, Joan ist tot.« »Wie? Warum?«, stotterte ich. »Sie ist die Treppe hinuntergefallen«, sagte der Schneider. »Oder wurde gestoßen, was viel wahrscheinlicher ist«, warf Gabriel ein. »Das ist zumindest meine Meinung. Ich glaube, die beiden würden selbst Hester umbringen, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn sie wussten, dass sie ungestraft davonkämen.« Ich konnte kaum glauben, was er da sagte. Ich war noch zu betroffen über Joans Tod. Sobald Gabriel die Erlaubnis bekam, Hester Gesell schaft zu leisten, übernahm ich seine Arbeit im Geschäft. Hester hatte bald wieder einen gesunden Appetit und Farbe im Gesicht. Gabriel machte es großen Spaß, Hester alle möglichen Kleinigkeiten zu bringen, die er irgendwo fand. Hester stellte sie alle zu sich ans Bett und hütete sie wie ihren Augapfel. Ich glaube, in ihrem früheren Leben hatte sie nie ein Geschenk bekommen. »War es Hester, die Euch erzählt hat, was sie mit mir gemacht haben?«, fragte ich Master Thankless eines Abends, als wir noch zusammensaßen, um ein Kleid fer tig zu nähen. »Letztlich ja, aber am Anfang war es Mistress Danes«, sagte der Schneider. »Nachdem Arise sie aus dem Haus geworfen hatte, kam sie direkt zu mir. Sie war in schrecklicher Verfassung und so durcheinander, dass ich kaum begriff, was sie mir erzählte – abgesehen davon, dass sie sich allergrößte Sorgen um dich machte und vor 164
hatte, nach Master Hobie zu suchen. Ich tat, was ich konnte, um sie zum Bleiben zu überreden, und bot ihr an, in meinem Haus zu leben, doch sie sagte, das sei unmög lich, sie dürfe keine Minute verlieren. Zu meinem größ ten Bedauern sah ich sie seither nie wieder.« Mehr konnte Master Thankless mir nicht sagen. Es fiel ihm schwer, darüber zu reden, was während meiner Ab wesenheit geschehen war, fast so, als könne er kaum glauben, dass ich tatsächlich so lange fort gewesen war. Es machte die Sache natürlich nicht einfacher, dass auch ich es für klüger hielt, über das Erlebte zu schweigen. Wir schlichen um dieses Thema herum wie die Katze um den heißen Brei, doch dank der spärlichen Informationen, die ich Gabriel und seinem Lehrmeister entlockt hatte, konnte ich mir irgendwann ein gewisses Bild von den drei mir fehlenden Jahren machen. Nachdem Danes abgereist war, machte sich Master Thankless so große Sorgen, dass er sich eines Tages ein Herz fasste und in die Thames Street ging, um sich nach mir zu erkundigen. Doch er musste sich eine von Arises erzürnten Predigten anhören und zog wie ein begossener Pudel wieder von dannen. Der Arme, er hätte zu gern in Erfahrung gebracht, wie es mir ging, doch was konnte er tun? Außer dem üblichen Klatsch und Tratsch seiner Kundinnen hatte er keinerlei Beweise dafür in der Hand, dass etwas nicht stimmte, und daraus konnte er den bei den Bösewichtern keinen Strick drehen. Dann war Joan gestürzt und gestorben. Ab diesem Zeitpunkt spitzten sich die Klatschgeschichten immer mehr zu und der Schneidermeister machte sich noch grö ßere Sorgen. Denn nur Hester sah man zum Markt gehen, während ich wie vom Erdboden verschwunden war. Er stand kurz davor, Maud bei den Behörden anzuzeigen, 165
als die frommen Bet-Schwestern von Arises Bibelhaus in Ludgate das Gerücht in Umlauf setzten, es ginge mir gut, und es wäre Arise Fell gelungen, mich auf den Weg zu Gott dem Herrn zu bringen und den Teufel in mir zu zäh men. Einige Zeit später erklärte Arise mit tiefem Bedau ern, all sein Bemühen sei – leider – vergeblich gewesen, denn ich sei davongelaufen, um Danes zu suchen. Diese sei, in den Augen von Master Fell, eine böse Frau, eine Hexe, und ich als ihr Lehrmädchen keinen Deut besser. Wäre Gabriel nicht gewesen, hätte Master Thankless niemals mehr erfahren. Wie der Schneidermeister es so schön ausdrückte: »Der junge Appleby mag zwar vieles sein, aber ein guter Schneider wird er nie. Als Spion wäre er eher geeignet. Dafür hat er Talent. Als er sich vor nahm, das Haus in der Thames Street zu überwachen, legte er wesentlich mehr Eifer an den Tag, als er jemals beim Nähen gezeigt hat.« Im August geschah dann Folgendes: Wie mir der Schneidermeister sagte, war es ein sehr heißer Monat gewesen, und die Themse roch alles andere als ange nehm, als bei Twickenham zwei Leichen aus dem Fluss gezogen wurden, die vom Schilf monatelang unter Was ser festgehalten worden waren. Es gab viel Gemunkel, wer diese beiden bis zur Unkenntlichkeit entstellten Lei chen sein könnten, bis Maud erklärte, es handle sich zweifellos um mich und Danes. Das hätte ihn anfangs sehr bestürzt, erzählte Master Thankless, doch tief in sei nem Herzen glaubte er es nicht und gab Gabriel seinen Segen, um weitere Nachforschungen anzustellen. Gabriel lieh sich einen Umhang und einen Zylinder aus und ging in das Bibelhaus in Ludgate, das zu seiner großen Überraschung sehr vornehm möbliert war. Er hat te das sichere Gefühl, dass der Großteil aus dem Besitz 166
meines Vaters stammen musste, doch dass die Möbel nicht gegen bare Münze verkauft worden waren, ver wunderte ihn sehr. In der Folgezeit gab es nicht mehr viel zu berichten, bis Arise und Maud eines Tages Besuch bekamen. Wie Gabriel erfuhr, handelte es sich um eine Kutsche aus Bristol. Da dies der einzige Besucher war, der in den letzten Monaten jemals ihr Haus betreten hatte, war dies auch die einzige Gelegenheit, bei der Hester allein auf den Markt geschickt wurde. Es war das erste Mal, dass Gabriel mit ihr reden konnte, obwohl die Arme zitterte und sich vor Angst wand, als befürchte sie, die Mauern der umlie genden Häuser hätten Augen und Ohren, die sie beobach teten und belauschten. Sie flüsterte Gabriel zu, der Besu cher sei ein Anwalt namens Tarbett Purman. Und dann brach alles aus ihr heraus: Sie gestand ihm ihre schlimms ten Ängste, erzählte von den merkwürdigen Geräuschen, die sie im Haus hörte, dem Knacken und Ächzen. Sie war sicher, dass es sich bei den beiden Wasserleichen nicht um Danes und mich handeln könne; ihrer Meinung nach befand sich mein Grab viel näher am Haus, sogar direkt im Haus, nämlich im Arbeitszimmer meines Vaters. Gabriel spürte, dass Hester in großer Gefahr schwebte, und kletterte eines Nachts über die Gartenmauer, um sie wiederzusehen. Hier konnten sie sich kurz unterhalten. Danach war Hester aber wie vom Erdboden verschwun den. Gabriel war sehr verzweifelt und sagte seinem Meis ter, er sei der festen Überzeugung, dass wir inzwischen beide in der besagten Truhe lägen. Doch ohne konkrete Beweise waren dem Schneider noch immer die Hände gebunden, bis er schließlich, lange nach dem Fund der beiden Wasserleichen, ein Schreiben von Master Bedwell erhielt. Nun wusste er mit absoluter Gewissheit, dass Da 167
nes nicht ertrunken war, denn die Bedwells hatten sie in Frankreich getroffen. Da sie noch immer dort weilten und sich somit nicht persönlich um meinen Verbleib kümmern konnten, baten sie Master Thankless, sich nach mir zu erkundigen. Als ich diese lange Geschichte hörte, bedauerte ich zu tiefst, dass ich nicht – wie Gabriel – ein Junge war, denn nur dann hätte ich eine Gelegenheit gehabt, den Schatten auf eigene Faust zu finden und somit Tycho zu retten. Stattdessen kam ich mir schrecklich nutzlos vor, und al les, was ich sagen konnte, war: »Was hätten wir nur ohne Euch gemacht, Master Thankless?« »Ich glaube, du solltest dich eher bei Gabriel bedanken als bei mir«, antwortete er. »Aber darf ich dir jetzt auch eine Frage stellen?« »Natürlich.« »Wie war es möglich, dass du ohne Wasser und Essen drei Jahre lang in dieser Truhe überleben konntest?« »Danes hat einmal zu mir gesagt, die Welt sei ein Ge heimnis, eingehüllt in ein Gebet«, antwortete ich. »Bitte, fragt mich nicht, wo ich war, denn ich kann es Euch nicht verraten.« »Ich sehe, dass du nicht darüber reden möchtest. Eines will ich dir aber sagen. An dem Tag, als du noch klein warst und in der Nähe meines Geschäfts plötzlich ver schwunden bist, wusste ich, dass du etwas ganz Besonde res bist. Und dann noch deine silbernen Schuhe und die Arzneien, die deine Mutter hergestellt hat! Solche magi schen Dinge sind nicht von dieser Welt, der Welt des Kreuzes und des gekreuzigten Jesus.« Es sollte nicht lange dauern, bis Maud Leggs in die Schneiderei gewatschelt kam. Sie war inzwischen so 168
breit geworden, dass sie sich seitlich durch die Eingangs tür quetschen musste. Mit einer Stimme, die eher an ein Fischweib als an die Frau eines angesehenen Kaufmanns denken ließ, begann sie, Master Thankless die übelsten Vorhaltungen zu machen. »Mistress, ich muss schon sehr bitten!«, sagte dieser. »Vergesst nicht, wer Ihr seid!« Das konnte die aufgebrachte Frau einen Moment lang beruhigen, wenigstens so lange, bis Gabriel und ich die verdutzten Kundinnen aus dem Laden scheuchen und die Tür schließen konnten. »Ich will meine Tochter sehen!«, brüllte Maud so laut, dass man sie im ganzen Haus und vermutlich auch auf der halben Brücke hören konnte. »Bitte, mäßigt Euren Ton, Mistress. Eure Tochter ist noch krank.« »Das kümmert mich einen Dreck! Sie stellt sich nur krank, um sich vor der Arbeit zu drücken! Ich will sie mit nach Hause nehmen!« »Niemand wird mit Euch nach Hause gehen, Mistress, weder heute noch morgen oder übermorgen«, antwortete der Schneider mit Bestimmtheit. »Ich will sofort meine Tochter sehen!«, wiederholte Maud störrisch. »Wenn ich Euch bitten dürfte, Mistress, dies ist mein Geschäft und ich möchte Euch nicht hier haben. Geht bitte!« Doch Maud hörte gar nicht auf ihn. »Hester, du unge zogenes Miststück, komm auf der Stelle herunter, sonst kriegst du eine Tracht Prügel, dass dir Hören und Sehen vergeht!«, bellte Maud ins Treppenhaus hinein. »Wenn Ihr nicht auf der Stelle geht, Mistress«, sagte Master Thankless, »werde ich den Wachtmeister rufen. 169
Ich bin sicher, dass er sich gern mal mit Euch unterhalten würde.« »Na und, tut, was Ihr nicht lassen könnt!«, rief Maud erbost. »Ruft ihn! Ein erbärmliches Schneiderlein wie Ihr kann mir doch keine Angst einjagen!« »Das glaube ich Euch gern«, antwortete Master Thankless gelassen. »Und dass der Wachtmeister Euch fragen wird, wo das ganze Mobiliar und die edlen Weine von Master Hobie abgeblieben sind, beeindruckt Euch gewiss auch nicht, oder?« Maud schnappte entgeistert nach Luft. »Gabriel«, sagte Master Thankless, »holst du bitte den Wachtmeister her?« »Moment«, sagte Maud. »Nur keine Eile! Das ist doch nicht nötig. Wie Ihr wisst, missfallen Gott dem Herrn hoffärtige, ausgefallene Möbel. Geschwungene Beine und andere Dekorationen beleidigen sein Auge. Arise Fell sagt, sie seien das reinste Sodom und Gomorrha, und er muss es wissen!« »Tja, das sollte man annehmen«, antwortete Master Thankless. »Und die teuren Weine fand er gewiss nicht minder anstößig.« »Oh nein«, erwiderte Maud spontan. »Die haben wir getrunken. Ich meine…« »Und Gott der Herr hatte auch nichts dagegen, dass Ihr Eure Tochter geschlagen und ausgepeitscht habt und sie fast verhungern ließet? Und dass Ihr Eure Stieftochter in eine Truhe eingesperrt habt?« »Ihr seid der Teufel!«, fauchte Maud. »Ihr verdreht mir die Worte im Mund, sonst nichts!« »Nein, Mistress«, entgegnete Master Thankless, »Ihr seid es, die hier eine Menge verdreht. Wollt Ihr jetzt end lich freiwillig gehen oder nicht?« 170
Maud schnaufte, keuchte und stampfte mit ihrem stämmigen Fuß auf den Boden. »Aber ich werde wieder kommen, verdammt sollt Ihr sein! Ihr habt kein Recht, über mich und meine Tochter zu bestimmen!«, brüllte sie noch, ehe die Eingangstür hinter ihr zufiel. Das Glöck chen über der Tür bimmelte noch, als sie schon lange weg war. Master Thankless und ich rannten nach oben, wo Hes ter blass und zitternd in ihrem Bett saß. »Lieber sterbe ich, als zu ihr zurückzugehen«, stam melte sie. »Keine Angst, du kannst für immer hier bleiben«, ver sicherte ihr Master Thankless. »Sie kriegt dich nur über meine Leiche hier heraus.« »Ich werde den beiden den Hals umdrehen, wenn sie dich auch nur anfassen1.«, erklärte Gabriel mit solcher Inbrunst, dass wir alle lachen mussten. Sogar Hester rang sich ein Lächeln ab, während Gabriel feuerrot anlief. Später an diesem Tag, als ich bei ihr saß, sagte Hester: »Ich habe mir überlegt, dass geschriebene Wörter sehr viel mächtiger sind, als wenn man sie nur ausspricht. Stimmt doch, oder?« »Ja, ich denke schon«, sagte ich. »Arise gewinnt jedes Streitgespräch mit Worten aus der Heiligen Schrift. Dann klingt er immer so klug und belesen. Geschriebene Wörter sind eindeutig und un missverständlich, doch wenn ein Mensch dieselben Wor te ausspricht, können sie plötzlich eine ganz andere Be deutung haben.« »Ja, Wörter können so verdreht werden, dass sie alles Mögliche bedeuten«, bestätigte ich. »Aber wenn sie niedergeschrieben sind, ist das sicher nicht so einfach.« 171
»Stimmt«, sagte ich. »Würdest du meine Worte für mich niederschreiben? Als Schild gegen alle Lügen, die verbreitet, und alle fal schen Taten, die begangen wurden? Bitte, Coriander, tust du das für mich?« »Natürlich. Und noch viel mehr«, sagte ich. Hester nickte zufrieden und sank ermattet in ihre Kis sen. Was nun folgt, sind Hesters Worte. Es ist Hesters persön liche Geschichte.
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Hester
I
ch wurde von Mutters strenger Hand und Vaters Mitgefühl erzogen. Mein Vater war ein großer Mann von sonnigem Gemüt, ganz im Gegensatz zu meiner Mutter, die von Kopf bis Fuß voller Zorn und Wut steckte. Wir hatten ein kleines Gehöft am Rand des Waldes von Savernake, mit Hühnern, vier Schafen und einer Milchkuh. Meine Mutter gebar öfter als diese Kuh, doch die Kälber überlebten fast all meine kleinen Geschwister, die wie Blumen noch vor dem Erblühen wieder zur Erde zurückkehrten. Nur mein Bruder Ned, sechs Sommer älter als ich, und ich selbst überlebten. Er allein wagte es, zu Mutters großem Verdruss, sich ihr ab und an zu wi dersetzen. So lebten wir mehr schlecht als recht vor uns hin, in ständiger Angst vor Mutters Wutanfällen. Ich glaube, mein Vater war froh, als der Krieg kam und er ihr ent fliehen konnte. Ich wollte nicht, dass er ging, und bettelte ihn an zu bleiben. Doch er nahm mich in den Arm und sagte, es sei seine Pflicht, zu gehen und dafür zu kämpfen, dass alle Menschen in Freiheit leben könnten. In den Augen des Herrn seien alle Menschen gleich und so sollte es auf Erden auch sein. Meine Mutter hinderte ihn nicht am Fortgehen und sagte nur, sie sei froh, einen Faulpelz wie ihn los zu sein. Jedenfalls trat mein Vater in Cromwells Armee ein, was man ihm nicht verdenken konnte. Da er an Mutters Wut 173
anfälle gewöhnt war, konnten ihn auch tausend Royalis ten auf einmal nicht schrecken. Nach seinem Weggang oblag es Ned und mir, unsere kleine Landwirtschaft weiterzuführen. Dick wie Mutter inzwischen war, konnte sie nicht einmal mehr ihre eige nen Zehen berühren, sondern saß meist schimpfend am Feuer. Wenn der Topf leer war, drohte sie damit, Vater bei seiner Rückkehr umzubringen, weil er uns mit so we nig Vorräten sitzen lassen hätte. Ned und ich arbeiteten, so hart wir konnten, damit sie ihm nichts antun würde. Doch es nützte nichts. Dabei hätte ich mir gar keine Sor gen darum zu machen brauchen, was Mutter unserem Vater antun könnte, denn er wurde nach der Schlacht von Naseby als vermisst gemeldet, was nur bedeuten konnte, dass er tot war. Meine Mutter, längst an Verluste gewöhnt, nahm diese Nachricht mehr als gefasst auf und sagte, nun, da sie end lich frei war, hätte sie Lust, sich einmal in der Stadt um zusehen, wo man sicher gutes Geld verdienen könnte. Mein Herz jedoch, das genau wie Neds nicht so verhärtet war wie das unserer Mutter, hörte bei der schlimmen Nachricht über unseren Vater vor Kummer fast auf zu schlagen. Unsere Nachbarn, die Worts, hatten einen Sohn, der genau wie unser Vater als vermisst gemeldet wurde. Trotzdem kehrte er nach einigen Monaten gesund und munter nach Hause zurück. Nun ja, etwas angeschlagen war er schon, aber dennoch! Da wollte Ned erst recht nicht mehr weggehen, egal wie heftig Mutter mit dem Stock auch auf ihn einschlug. Er ließ sich nicht beirren. So gut es ging, bearbeiteten wir zusammen die Felder und kümmerten uns um die Tiere. Uns wehte ein rauer Wind um die Nase, in jenen Jahren nach Vaters Weggang. 174
Dann schlich sich der bucklige Mann in unser Leben. Er bezeichnete sich als Prediger und Prophet und hielt Ansprachen, bei denen sich seine Zuhörer vor Angst krümmten. Meine Mutter brachte ihn immer öfter in un ser Haus und gab ihm von dem Wenigen zu essen, das wir hatten. Ned schimpfte und sagte, er hätte nicht so hart gearbeitet, damit sie nun alles verschenkte. Irgendwann erfuhren wir, dass unser Vater noch lebte. Es ging ihm aber nicht gut, denn er hatte in einer Schlacht ein Bein verloren. Doch Ned und ich waren heilfroh, weil unsere Gebete offenbar erhört worden wa ren, und Ned hätte sich am liebsten gleich auf den Weg gemacht, um ihn nach Hause zu holen. Ich hoffte, dass Vater den Buckligen sofort aus dem Haus werfen würde und dann alles wieder gut wäre. Doch es sollte leider nicht sein. Mutter verbot Ned, unseren Vater abzuholen. »Ein Mann mit nur einem Bein ist zu nichts mehr zu gebrauchen«, sagte sie. »Außerdem ist er bestimmt so wieso längst tot, bis du ihn findest, und dann haben wir das Geld für deine Reise zum Fenster hinausgeworfen.« Es kam zu einem heftigen Streit zwischen Mutter und Ned, und Mutter brüllte so böse, wütende Sachen, dass ich Angst hatte, unser kleines Häuschen würde einstür zen. Ich versteckte mich bei den Tieren im Stall, und als ich mich wieder herauswagte, war Ned verschwunden. Er hatte mir versprochen, so bald wie möglich mit Vater zurückzukommen, doch das tat er nicht, und ich war völ lig hilflos und auf mich allein gestellt. Meine Mutter muss die Namen von Vater und Ned von einem Tag auf den anderen aus ihrem Herzen gestri chen haben, denn sie erwähnte keinen von beiden jemals wieder. Für sie drehte sich alles nur noch um Arise. Er hatte ihr weisgemacht, dass Jesus bald wiederkehren und 175
der neue König von England werden würde. Und wir müssten uns alle auf seine Ankunft vorbereiten, indem wir das Land von Hexen und Zauberern befreien, die al lesamt mit dem Teufel im Bunde stünden. Arise wusste sehr gut mit Worten umzugehen und meine Mutter war wie verhext von ihm. Sie erklärte mir, sie würde ihm folgen, wohin er auch ginge, und da er seinen Lebensunterhalt durch seine Reisen verdiente, war sie wild entschlossen, mit ihm zu gehen. Ich flehte sie an zu bleiben, aber da sagte sie nur, ich könne ja allein blei ben und verhungern. Wir verkauften die Schafe, die Kuh und die Hühner, doch viel brachte uns das nicht ein, weil sie schon alt waren und auch nicht viel Fleisch auf den Rippen hatten. Wir machten uns auf den Weg in Richtung Bristol, blieben aber in den Dörfern. Meine Mutter nahm ihren Mädchennamen Leggs wieder an, Jarret war der Name meines Vaters gewesen. Arise Fell hatte ebenso viel Zorn und Eifer im Leib wie sie, was ihr offenbar mächtig gefiel. Wenn Zorn die Waffe Gottes war, wie Arise sie glauben gemacht hatte, dann war sie bereit, das Schwert zu ergreifen und in den Kampf zu ziehen. Es war Arise, der ihr einredete, dass nur eine Hexe daran schuld sein konnte, dass sie fast alle ihre Kinder schon im zarten Alter verloren hatte. »Hier bei uns gibt es aber keine Hexen«, hatte meine Mutter geantwortet. Da sprang Arise auf und schlug so heftig auf den Tisch, dass mir der Schreck in alle Glieder fuhr. »Das ist es ja genau, was die Hexen und Quacksalbe rinnen einem weismachen wollen! Sie verstecken sich in Dörfern. Aber ich werde sie finden, wo immer sie auch 176
Unterschlupf suchen! Und ich werde keinen Stein auf dem anderen lassen!«, brüllte er. Meine Mutter rührte sich nicht, aber ich sah ein Lä cheln über ihr Gesicht huschen. »Ah, da muss ich an die Worts denken. Sonderbar, dass ausgerechnet ihr Sohn aus dem Krieg nach Hause kam, wo doch so viele andere Männer ihr Leben lassen mussten. Meine Nase hat mir schon immer gesagt, dass an dieser Frau etwas faul ist.« »Na also! Welchen Beweis brauchst du noch? Da hast du deine Hexe!«, rief Arise triumphierend. Meine Mutter blickte drein wie eine Katze am Sahne topf. »Ah! Deshalb also sind so viele meiner Kinder ge storben, jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen! Wegen dieser Hexe!« Ich hingegen glaubte, dass meine kleinen Geschwister eher wegen Mutters Wutanfällen und durch die Schläge gestorben waren, die sie bekamen, wenn sie schrien, aber das behielt ich natürlich für mich. Jedenfalls begann damit alles. Arise erklärte meiner Mutter, dass sie nur ihre gute Nase einsetzen müsse, um eine Hexe zu »erschnüffeln«. Schniefen konnte meine Mutter gut. Das war schon immer eine Angewohnheit von ihr gewesen, sie konnte gar nichts dagegen tun. Und meistens wischte sie sich danach die Nase am Ärmel ab. Arise sagte, das solle sie in Zukunft unterlassen, und er gab ihr ein Tuch. Das solle sie sich an die Nase halten und ruhig auch hinein schnäuzen, Hauptsache, es sei immer schön sauber und weiß. »Hexen sind schmutzig«, meinte Arise. »Gottesfürch tige Menschen dagegen stets sauber.« Er kaufte uns beiden neue schwarze Kittel und Jacken 177
und schwarze Umhänge, und wenn wir so durch die Dör fer zogen, sahen wir aus wie Raben. In der Folgezeit begleiteten wir Arise, wohin immer Gott der Herr seine Schritte lenkte. Die Leute hielten ihn und meine Mutter für Mann und Frau. Mich hielten sie für Arises Tochter und meine Mutter ließ sie in dem Glauben. Wir verbreiteten Angst und Schrecken, wo immer wir auch hinkamen. In jedem Dorf und jeder Ortschaft pflanzte Arise den Samen der Gottesfurcht in die Kir chengemeinde. Seine Predigten waren so kraftvoll und Furcht erregend, dass manche Frauen ohnmächtig wur den, was meine Mutter mit einem Schniefen als erstes Indiz für eine Verbindung mit dem Teufel deutete. Denn was der Teufel am allerwenigsten ausstehen könne, pflegte Arise zu sagen, sei, den Namen des Herrn laut ausgesprochen zu hören. Die Kunde von dem wortgewaltigen Prediger verbrei tete sich in Windeseile und alle fürchteten ihn. Es hieß auch, dass er sich von den Männern Geld geben ließ, da mit Maud ihre Frauen und Töchter nicht als Hexen über führte. Seine Hexenjagd brachte Arise eine Menge Geld ein, denn so mancher Vater, Ehemann, Bruder oder On kel zahlte einen hohen Preis, damit meine Mutter nicht zu intensiv schniefte und schnüffelte. Ich schäme mich noch heute für das Unheil, das wir über diese armen Menschen brachten. Und weil ich nichts damit zu tun haben wollte, wurde das Verhältnis zwischen Mutter und mir noch schlechter, als es ohnehin schon war. Der Sommer verging und der Winter stand bevor. Es war eine harte Zeit, wegen des Kriegs und weil nur we nige Bauern übrig waren, um die Felder zu bestellen. 178
Sehr viele Menschen machten sich auf den Weg in die Städte und hofften, dort ihr Brot verdienen zu können. Am Weihnachtstag kamen wir in ein kleines Dorf, in dem Arise wie üblich predigte. Nur eine einzige Frau hielt es nicht für nötig, zu kommen und ihm zuzuhören, und das war ein armes, altes Weib. Die Nase meiner Mutter erschnüffelte sie und Arise bezichtigte sie prompt der Hexerei. Sie flehte Arise an, sie in Frieden zu lassen, doch für ihn und meine Mutter war die Alte ein gefunde nes Fressen. Sie drangen in ihr Haus ein und zerrten die arme, schwache Frau von ihrem Krankenlager. Während sie lauthals verkündeten, dass man den Teufel zu jeder Zeit und bei jeder sich bietenden Gelegenheit bekämpfen müsse, schleppten sie die arme Frau an den Fluss, wo Arise seine Hand des Zorns hob und auf die Frau ein schlug. Ich flehte Mutter an, die Frau in Ruhe zu lassen, doch dafür bekam ich eine so kräftige Ohrfeige, dass ich stürz te. Kaum war ich wieder auf den Beinen, sah ich, dass Arise begonnen hatte, die Frau mit seiner Hand des Zorns und mit einem Stock auf den Kopf zu schlagen, bis sie wehrlos am Boden lag. Meine Mutter ließ sich von ihm anstecken und sie traktierte die arme Frau mit Fußtritten. Es war ein furchtbarer Anblick. Schließlich warfen sie die Frau ins Wasser, wo sie wie ein Stein unterging. Das bewies, dass sie unschuldig war, denn wäre sie wieder aufgetaucht, wäre sie eindeutig der Hexerei überführt gewesen, wie Arise behauptete. Das mag ja zutreffen. Doch wie dem auch sei, man kommt in keinem Fall le bendig aus dem Wasser. Nach diesem Vorfall zogen sich die Dorfbewohner in ihre Häuser zurück und verriegelten ihre Türen. Auch Arises Drohungen von der ewigen Verdammnis konnten 179
sie nicht mehr einschüchtern. Niemand gab uns eine Un terkunft und wir waren gezwungen weiterzuziehen. Es war eine kalte Nacht mit einem mächtig kalten Wind, der einem bis in die Knochen drang. Meine Mutter und Arise waren ungewöhnlich still; offenbar hatten sie all ihre Kraft dabei verbraucht, die schwache alte Frau umzubringen. Tränen strömten über mein Gesicht, als ich hinter ih nen her stapfte und voller Sehnsucht an meinen liebevol len Vater und meinen tapferen Bruder Ned dachte. Ich bedauerte zutiefst, dass ich kein Junge war, denn dann hätte auch ich ehrenwert in einer Schlacht fallen können. Wir zogen weiter, bis wir nach Bristol kamen. Dort mieteten wir uns in einer Herberge in der Nähe der Hauptstraße ein.
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Die sonderbare Frau
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ch war sehr froh über unsere Unterkunft, denn die Zimmer waren sauber, doch leider war sie nicht nach dem Geschmack von Mutter und Arise, da zu viele Rei sende hier Halt machten und Geschichten von Hexenjä gern mitbrachten. Eines Tages wurde getuschelt, am Weihnachtstag sei eine arme, alte, wehrlose Frau umge bracht worden. Sie sei geschlagen und getreten und schließlich in den Fluss geworfen worden. Als Arise das hörte, wurde er nervös wie ein Fuchsschwanz voller Flö he, denn er befürchtete, der Henker sei schon hinter ihm her. Überstürzt verließen wir die Herberge, ehe jeman dem einfallen konnte, dass es ein grünäugiger, verwach sener Prediger gewesen war, der die alte Frau mit Gewalt ins Wasser gestoßen hatte. Wir gingen ins Stadtzentrum und mieteten uns oberhalb einer Taverne ein. Es war ein lauter, verdreckter Ort, in dem es vor Ungeziefer nur so wimmelte, und mein Leben dort war ein ständiger Kampf gegen den Schmutz. Es sollte nicht lange dauern, bis Arise das Geld aus ging, das er bei seiner Hexenjagd eingenommen hatte, denn meine Mutter hatte einen unstillbaren Appetit und er selbst einen nicht minder großen Durst. Jeder be schimpfte den anderen, an der Misere schuld zu sein, und meine Mutter brüllte, Arise solle sich schleunigst einfal len lassen, wie er zu Geld kommen wolle, denn sie hätte den weiten Weg nach Bristol nicht gemacht, um hier zu verhungern. 181
Arise ging Abend für Abend fort, aber nicht etwa ins Gemeindehaus, sondern in die Taverne im Erdgeschoss. Und wenn er spätabends wieder heraufkam, stank er nach Likör und ließ sich lautstark über das baldige Kommen von Jesus Christus aus. »Er ist bereits auf dem Weg hier her! Hast du das gehört, Frau: auf dem Weg hierher!« Wenig später, als wir die letzte Münze ausgegeben hatten, kam Arise eines Abends mit Tarbett Purman an. Tarbett Purman erinnerte mich an einen Aal oder sonst ein glitschiges Tier, das an düsteren Orten haust. »Das ist Hester«, sagte Arise mit seiner Predigerstim me und legte die Hand des Zorns und die Hand des Heils zusammen, sodass sie aussahen wie ein kleiner Kirch turm. Master Purman befahl mir, mich vor ihn zu stellen. Dann musste ich mich langsam drehen, was ich auch brav tat. »Ich mag sie lieber etwas draller, am Bauch und oben herum – kurz gesagt eben richtige Frauenzimmer«, sagte er und schlang seinen Arm um meine Mutter. »Ich mag richtige Weiber.« Das schien meiner Mutter zu schmeicheln und sie lachte. Arise war auch zufrieden, denn Master Purman legte eine Münze auf den Tisch. Tarbett Purman wurde zu einem regelmäßigen Besu cher. Wenn er geschäftlich unterwegs war, brachte Arise andere fromme Herren an, die sich der Befreiung Eng lands von allen Sündern verschrieben hatten und die ebenfalls jeder eine Münze auf den Tisch legten. Die meisten Abende in jenem kalten Winter verbrach te ich zusammengekauert auf den Stufen vor unserem Zimmer, damit ich aus dem Weg war. Meine Mutter verbrachte die Tage meist im Bett, wo 182
sie aß oder schlief, während ich verzweifelt versuchte, unser Zimmer sauber zu halten. Das waren die einzigen Tage, an denen meine Mutter einigermaßen friedlich war. Ich fragte oft, wann wir wieder nach Hause gehen würden. »Wozu?«, fauchte sie dann. »In die armselige Hütte, neben der meine toten Kinder begraben sind? Das schlag dir aus dem Kopf. Dank Arise haben wir hier genügend zu essen und genügend Geld.« Ich dachte schon, mein Leben würde für immer so weitergehen, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte. Dann, eines Tages, kam eine Dame und fragte nach meiner Mutter. Ich dachte, es sei Tarbett Purmans Frau, denn ich zweifelte nicht daran, dass er verheiratet war. Die Dame trug einen Umhang aus feinstem Wollstoff und unterschied sich auffällig von den Vagabunden, Rei senden und arbeitslosen Gesellen, die in unserer Herber ge wohnten. »Geh und sag deiner Mutter, sie soll sich ankleiden«, sagte die Frau zu mir, und ich wunderte mich, woher sie wusste, dass meine Mutter um diese Tageszeit noch im Bett lag. Ich rannte die Stiegen hinauf und sagte meiner Mutter, dass ich glaubte, Tarbett Purmans Ehefrau wolle sie se hen. Mühsam hievte Mutter sich aus dem Bett und sagte, sie würde dieser Frau gehörig die Meinung sagen, ja wohl! Es war alles andere als einfach, meine Mutter an zukleiden, denn weil ich ihre Sachen kaum zubekam, jammerte sie ununterbrochen, ich hätte ihr Oberteil und ihren Rockbund zu heiß gewaschen, sodass alles ge schrumpft sei. Dann wollte ich rasch das Bett glatt strei chen, war aber noch nicht damit fertig, als die fremde Frau auch schon unser Zimmer betrat. 183
Diese Frau hatte etwas an sich, was mir Angst machte, doch ich könnte nicht sagen, was es war. Ich fragte, ob ich ihren Umhang nehmen und trocknen solle. Doch sie lehnte ab und setzte sich so dicht neben das Feuer, dass ihre Kleidung richtig zu dampfen anfing. Meine Mutter schien ausnahmsweise einmal um Worte verlegen zu sein, denn es handelte sich eindeutig um eine feine Dame. »Ihr solltet heiraten«, sagte sie zu meiner Mutter. Im ersten Moment war meine Mutter sprachlos, was wahrlich nicht häufig vorkam. »Ich?«, stammelte sie, sobald sie ihre Sprache wieder gefunden hatte. »Ich glaube, ich bin noch verheiratet.« »Das ist ein unwichtiges Detail. Es scheint Euch nicht weiter zu stören, wieso sollte es also mich stören?« »Aber… aber…«, stammelte meine Mutter. »Schweigt, Maud Jarret«, sagte die Fremde, »und hört mir gut zu!« »Woher kennt Ihr meinen Namen?« »Ich kenne Euren Namen und Euren Charakter. Ihr und dieser Prediger habt einiges auf dem Kerbholz«, sag te die Fremde lachend. »Mit dem hab ich nichts zu tun«, sagte meine Mutter und wich einen Schritt zurück. »Ich bin eine gottesfürch tige…« »Ihr seid eine Schlampe, weiter nichts«, sagte die Frau barsch. »Ich weiß alles über Euch. Ich weiß, was Ihr und Arise Fell verbrochen habt. Und ich weiß auch sehr ge nau, wie es zwischen euch steht.« Meine Mutter versuchte, sich zu verteidigen, doch die Fremde in dem feuchten Umhang ließ sie gar nicht erst aus reden. In einem Ton, als würde sie gerade erwähnen, dass heute Dienstag sei, sagte sie: »Ihr seid eine Mörderin.« 184
»Bin ich nicht! Das bin ich nicht!«, krächzte meine Mutter und warf sich auf die Knie. »Ich wurde nur vom rechten Weg abgebracht!« »Hört mit dem Gejammer auf«, sagte die Frau unwil lig. »Wen Ihr umgebracht habt, interessiert mich nicht. Solange Ihr tut, was ich von Euch verlange, wird von mir niemand etwas erfahren. Habt Ihr mich verstanden, Maud Jarret?« Meine Mutter nickte. »Wie Ihr wünscht.« »Nehmt ein Bad und richtet Euch etwas her.« »Nein, Mistress. Ich bade nie«, rief Mutter erschro cken. »Wasser ist ungesund.« »Tut, was ich Euch sage, damit Ihr nicht so fürchter lich nach altem Fisch stinkt.« »Nach altem Fisch stinken nur Hexen«, sagte meine Mutter und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. Die Frau auf dem Stuhl lachte. »Dann hat Eure Nase wohl die ganze Zeit nichts anderes gerochen als Euch selbst!« Doch statt loszubrüllen und zu toben, stand meine Mutter nur da und zog ängstlich den Kopf ein. »Es geht um einen reichen Kaufmann, einen Witwer mit einer Tochter«, fuhr die Fremde fort. Meine Mutter trat einen Schritt näher, denn das Wort »reich« zog sie wie magisch an. »Und warum sollte der etwas mit mir zu tun haben wollen?«, fragte sie. »Unter anderen Umständen könnte ihn nichts auf der Welt dazu bringen, sich mit Euch einzulassen, doch Oli ver Cromwell hat beschlossen, die Ländereien und Be sitztümer aller Royalisten einzuziehen, die dereinst auf seiten des Königs standen. Und besagter Kaufmann hat 185
ein recht ansehnliches Haus am Ufer der Themse. Um es behalten zu können, muss er sich nun als guter Republi kaner zeigen. Und dafür braucht er eine erzfromme Puri tanerin als Frau.« Sie lachte. »Ihr seid genau das, wonach ich gesucht habe: Ihr werdet die Erinnerungen an seine geliebte Gattin nicht auslöschen können. Also tut einfach Eure Pflicht und haltet den Mund. Das ist alles, was ich von Euch will.« »Ich würde ja schrecklich gern nach London gehen«, sagte meine Mutter. »Aber wie könnte ich Arise im Stich lassen?« »Davon war nie die Rede«, sagte die Frau. »Arise kann bald nachkommen.« Meine Mutter schien noch etwas unschlüssig, doch als die Fremde eine Hand voll Goldmünzen unter ihrem Umhang hervorzauberte und auf den Fußboden schleu derte, stürzte Mutter sich darauf wie ein Schwein auf den Futtertrog. »Also macht Euch fein!«, sagte die Frau und blickte verächtlich auf meine Mutter hinunter. »Lasst Euch neue, anständige Kleidung nähen. Besucht den Gottesdienst! Und geht Arise und seinen Gefährten vorläufig aus dem Weg. Den Rest könnt Ihr mir überlassen. Vergesst nicht, Ihr seid eine Witwe, eine rechtschaffene Witwe mit nur einer Tochter. Habt Ihr verstanden?« Aus ihrem Umhang schienen auf einmal grüne Dämp fe aufzusteigen, aber das konnten natürlich auch irgend welche Lichtspiegelungen sein. Meine Mutter blickte nicht einmal auf. Als die Dame ging, war sie noch immer mit dem Einsammeln der Goldmünzen beschäftigt. Am Abend kam die Frau noch einmal zurück und schickte mich nach draußen, weil sie sich mit Mutter und Arise allein unterhalten wollte. Ich war froh darüber, 186
denn ich hatte keine Lust, mir anhören zu müssen, was für Tricks und Gemeinheiten sich Arise ausdenken wür de. Ich saß auf den Stufen vor dem Haus und beobachtete einen großen schwarzen Raben, der herumhüpfte und sonderbare Spuren im Schnee hinterließ. Am nächsten Morgen kam ein elegant gekleideter Diener und brachte uns zu einer neuen Unterkunft. Oh, was für ein Traum! Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so vornehm gewohnt, bis später, als wir nach London zogen. Wir hatten zwei Dienstmädchen und eine Köchin. Neue Kleidung wurde bestellt und meine Mutter wurde unter lautstarkem Protest gebadet. Ihr Haar wurde von Läusen und Flöhen befreit. Dasselbe galt auch für mich, und ich genoss es sehr, dass meine Haut nicht mehr juckte und die Flohbisse endlich heilen konnten. Meine Mutter verkühlte sich und blieb für ein paar Tage im Bett, wo sie sich mit viel Essen und natürlich auch mit Konfekt verwöhnen ließ, was ihre Stimmung merklich hob. Wir gingen häufig zur Kirche, wo ich in brünstig darum betete, dass wir Arise nie mehr wiederse hen würden. Wir fasteten auch, denn die Dame mit dem Umhang wollte, dass meine Mutter beim ersten Treffen mit deinem Vater nicht mehr ganz so unförmig wäre. Das Fasten bekam meiner Mutter nicht, und die Be diensteten mussten sie in ihrem Zimmer einschließen, wo sie herumbrüllte, bis sie heiser war. Die Dienstmädchen hatten den Auftrag, gar nicht darauf zu achten. Sie hörten nicht hin, wenn meine Mutter Gift und Galle spuckte, sondern blieben stumm. So führten wir eine Weile, ohne jegliche Besucher, ein ruhiges Leben, gewöhnten uns ans Waschen und an die Reinheit sowohl am Körper als auch im Geiste. Dann kam dein Vater zu Besuch. Ich glaube, er er 187
schrak, als er sah, wie dick meine Mutter war und wie dünn ihr Haar war. Sie erklärte ihm, das läge am Kum mer über den Tod ihres Ehemanns. Er sagte, das könne er sehr gut nachvollziehen, denn auch seine geliebte Gattin sei vor drei Monaten gestorben. Als er das sagte, schos sen ihm Tränen in die Augen. Ich bin nicht gut im Zählen, aber ich glaube, dass wir ungefähr sechs Monate in diesem Haus lebten. Wenn das stimmt, bedeutet es, dass die Dame mit dem Umhang eine Hellseherin war, denn bei ihrem ersten Besuch muss deine Mutter noch gelebt haben. Ich sah deinen Vater vor der Heirat nur dieses eine Mal. Er schien so erfreut, dass unser Haus sauber war und meine Mutter gut roch, dass er ihre schwarzen Zäh ne übersah. Jedenfalls reisten wir bald danach nach London. Ich war sicher, dass du mich nicht mögen würdest, weil wir so kurz nach dem Tod deiner Mutter schon bei euch einzogen. Aber ich sagte mir, dass ich das nicht per sönlich nehmen dürfe. Doch dann, als ich sah, wie nett und freundlich du zu mir warst, konnte ich es fast nicht fassen, dass Gott der Herr mir eine Schwester wie dich geschenkt hat. Ich spürte sofort, dass ich dich für immer lieben würde. Wenn ich mir an jenem ersten Tag bei euch eines hätte wünschen dürfen, dann dies: dass meine Mutter niemals euer Haus betreten hätte. Ich wusste, wie jähzornig und böse sie war, und betete jeden Abend darum, dass der Herr uns schützen und verhindern möge, dass Arise Fell nachkommen würde. Doch Gott hat meine Gebete nicht erhört. Wie es weiterging, ist dir bekannt, bis hin zu jenem 188
furchtbaren Tag, als Arise dir so unsanft die Haare ab schnitt. Nachdem er dich ins Arbeitszimmer geschleift hatte und sein Toben plötzlich verstummte, begannen Joan und ich, die Küche sauber zu machen und das Fleisch für das Abendessen vorzubereiten, während wir stumm beteten, dass Arise die Güte haben würde, dich am Abend wieder in die Küche kommen zu lassen. Doch das war nicht der Fall. Auch nicht am darauf folgenden Tag und mir wurde immer banger. Ich flehte sowohl Ari se als auch meine Mutter an, dich wieder freizulassen, ehe du größeren Schaden nehmen würdest, doch allein schon für diese Bitte wurde ich böse verprügelt. Sie sag ten mir, ich solle mich nicht in Dinge einmischen, die mich nichts angingen. In meiner Hilflosigkeit begann ich damit, auf dem Speicher für jeden Tag, an dem du eingeschlossen warst, einen Strich in den Balken zu ritzen. Ich machte immer sechs Striche nebeneinander und sonntags dann einen Querstrich. Und je mehr Sonntage vergingen, desto grö ßer wurde meine Befürchtung, du wärst tot. Nach deinem Verschwinden war Joan nicht mehr die Alte. Sie war ständig am Weinen, beklagte ihr Schicksal und sagte, dass sie weder angemessen entlohnt und er nährt würde noch untergebracht wäre. Wütend warf Arise daraufhin ihre wenigen Habseligkeiten in den Fluss. Er sagte ihr auch, dass sie so schlecht sei, dass ihr die ewige Verdammnis drohe. Wenig später ist Joan die Kellertreppe hinunterge stürzt und hat sich schwer verletzt. Arise sagte, er könne es sich nicht leisten, Doktor Turnbull kommen zu lassen, und sie solle lieber zu Gott dem Herrn beten, damit die ser sie wieder gesund machen würde. Ich stützte Joan auf dem Weg in ihr Mansardenzimmer, wo sie auf ihrer Prit 189
sche lag und sich vor Schmerzen krümmte. Daraufhin kam meine Mutter heraufgepoltert und brüllte die Arme an, endlich mit dem Geschrei aufzuhören. Joan sah nur eine Chance, ihrem traurigen Los zu ent kommen, und diese ergriff sie auch. Schon am nächsten Morgen war sie tot. Arise und meine Mutter blickten höchst zufrieden drein, als ihre Leiche auf einem Karren davongefahren wurde. Ich sah ihr lange nach und war mir sicher, dass ich die Nächste sein würde. Nach Joans Tod lagen alle Haushaltspflichten bei mir, und ich tat, was ich konnte. Aber es waren so viele Räu me zu putzen und so viele Feuer zu machen und so viele Treppen zu steigen, dass ich bald jedes Zeitgefühl verlor. Ich hatte keine Minute für mich und große Angst vor dem, was mir noch bevorstand. Eines Tages erzählten mir meine Mutter und Arise hocherfreut, dass du und Mistress Danes im Fluss gefun den wurden und dieses Kapitel somit abgeschlossen sei. Tief in meinem Herzen wusste ich, dass es nicht wahr war, aber ich biss mir auf die Zunge und behielt meine Meinung wohlweislich für mich. Unser Leben ging weiter seinen gewohnten Gang. Nach und nach verschwanden immer mehr Möbelstücke und es wurde immer stiller und kälter im Haus. Arise machte es sich zur Gewohnheit, abends alle Räume abzuschließen und ins Wirtshaus zu gehen. Dann saß meine Mutter allein herum und jammerte, wie ungerecht das sei, nach allem, was sie für ihn getan hätte. Spätabends knarrte und ächzte es im ganzen Haus. Meine Mutter, die noch nie viel Fan tasie gehabt hatte, schaute dann ängstlich drein und frag te mich, wer oder was das sein könnte. Ich wusste auch keine Antwort, doch Angst hatte ich ebenfalls. Mutter blühte richtig auf, als eines Tages Tarbett Pur 190
man zu Besuch kam. Zum allerersten Mal durfte ich al lein auf den Markt gehen, um etwas zur Bewirtung unse res Gastes einzukaufen. Bevor ich das Haus verließ, ver passte Arise mir noch eine Tracht Prügel und drohte, wenn ich trödelte, würde mich bei meiner Rückkehr er neut die Hand des Zorns erwarten. An jenem Tag traf ich Master Gabriel Appleby zum ersten Mal. Ich hatte schreckliche Angst, dass jemand sehen könnte, dass wir uns unterhielten. Ein paar Tage darauf kletterte er, zu meiner großen Überraschung, über die Gartenmauer, um mich wiederzusehen. Ich war so verlegen, dass ich kaum ein Wort über die Lippen brach te, doch ich nahm das bisschen Mut, das ich noch besaß, zusammen und erzählte ihm alles, auch das Aller schlimmste – nämlich dass ich befürchtete, du wärst tot. Er war unglaublich nett und ich durfte meinen Kopf an seine Schulter lehnen. Er bot mir auch an, mich in Master Thankless’ Haus mitzunehmen, aber ich lehnte ab, weil mir klar war, dass meine Beine mich nicht mehr so weit tragen würden. Und am nächsten Tag standen Master Thankless und der Schiffskapitän vor der Haustür.
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Grünes Feuer
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as ist alles, was ich zu erzählen habe«, sagte Hester. »Ich hoffe, dass meine Worte aufrichtig und eindeutig an meiner Stelle die Wahrheit sprechen.« »Hester, sie tun noch mehr als das«, sagte ich. »Sie beweisen, dass du so tapfer und redlich bist wie dein Va ter.« In Hesters Augen schimmerten Tränen. »Wenn du wüsstest, wie Leid es mir tut, dass ich nie den Mut auf brachte, mich an deinen Vater zu wenden und ihm die Wahrheit zu sagen.« »Er hätte dir sowieso nicht zugehört«, sagte ich trös tend, »er hörte nur noch das Rauschen seines eigenen Kummers.« Hesters Worte waren aufrichtig und mehr als eindeu tig. Wie Speere durchdrangen sie meine Brust. Meine Mutter hatte noch gelebt, als Rosmore Maud zur Ehe mit meinem Vater gedrängt hatte! Welche Rolle hatte sie beim Tod meiner Mutter gespielt? Mein Herz wurde schwer, denn mir wurde klar, so klar wie der helle Tag, dass Rosmore es nur auf Mutters Schatten abgesehen hat te. Ich wusste nicht, wo dieser sich befand, denn das Ar beitszimmer meines Vaters war inzwischen leer geräumt, und die Schatulle aus Ebenholz, in der ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war gewiss auch verschwunden. Ich beschwor Hester, so schnell wie möglich wieder gesund zu werden, damit ich zum Haus in der Thames Street zurückkehren konnte. 192
Der Winter ging vorüber und der ersehnte Frühling hielt Einzug. Die Themse war eisfrei und bespülte erneut das Ufer auf der Southwark-Seite, sodass die Fährleute nach dem kalten Winter endlich wieder Arbeit hatten. Doch nicht nur Eis und Schnee waren getaut, es herrschte insgesamt eine freiere Atmosphäre. Die Kun den und Kundinnen, die in die Schneiderei kamen, legten wieder mehr Wert auf farbenprächtige Stoffe und elegan te Kleidung. Sie begannen sogar, über die Schließung der Theater zu murren und darüber, dass das Weihnachtsfest und das traditionelle Aufstellen eines Maibaums verboten worden waren. Im vorausgegangenen Frühjahr wären solche Bemerkungen noch zu gefährlich gewesen. Ich begann zu hoffen, dass mein Vater bald heimkehren würde. Master Thankless ließ sich von der allgemeinen Be geisterung anstecken, nahm die Bibel von der Ladenthe ke und ließ sie in einer Schublade verschwinden. Er über legte sogar schon, ob er sein altes Schild wieder aufhän gen sollte, auf dem Königlicher Hoflieferant stand. Meh rere angesehene Herren, die kamen, um ihre schwarzen Wämser abändern zu lassen, behaupteten, Cromwell sei inzwischen ein starker Mann und die Leute täuschten sich gewaltig, wenn sie glaubten, er hätte es nicht auf die Krone abgesehen. »Warum sollten wir einen anderen König haben wol len, wenn der eine, den wir schon haben, gesund und munter, aber arm wie eine Kirchenmaus in Holland lebt?«, meinten andere. Ich fand es spannend, diesen Unterhaltungen zu lau schen. Master Thankless sagte, das Anprobieren neuer Kleidungsstücke sei die beste Gelegenheit, Neues zu er fahren, denn da gingen die Leute am ehesten aus sich 193
heraus. Am meisten freute ich mich über die neuesten Gerüchte von Arise und Maud, denn es ging meist dar um, wie tief sie inzwischen gesunken waren. »Ist es zu fassen, dass sie das einst so schöne Haus dermaßen heruntergewirtschaftet haben?« »Angeblich soll fast das ganze Mobiliar verschwunden sein.« »Was hat sie sich nur dabei gedacht, ich wüsste es zu gern, als sie diesen buckligen Prediger bei sich aufge nommen hat?« »Und wenn ich daran denke, was für eine reizende, vornehme Dame Mistress Eleanor Hobie war! Ich werde nie vergessen, wie sie mich damals von meinem Schüt telfrost geheilt hat!« »Und die Tochter soll so krank sein, dass sie das Bett hüten muss. Niemand weiß, ob sie jemals wieder gehen kann!« Und dann flüsterten sie auch ganz, ganz leise: »Und was war eigentlich mit Coriander? Könnt Ihr mir das er klären, verehrter Schneidermeister?« Zum Abschluss pflegten die meisten zu sagen: »Herr je, was Master Hobie wohl sagen würde, wenn er hier wäre?« In einer bitterkalten Nacht wurde ich von Gabriel ge weckt, der mir erzählte, er hätte grüne Flammen aus mei nem Elternhaus schlagen sehen. Ich kleidete mich in aller Eile an und ging in die Werkstatt hinunter. Vom hinteren Fenster aus konnte man die Thames Street sehen, doch etwas Verdächtiges war nicht zu erkennen. »Verzeih«, sagte Gabriel. »Ich hätte dich nicht wecken sollen. Aber ich hätte geschworen, dass ich grüne Flam men gesehen habe.« »Ich glaube dir«, sagte ich. Wir holten unsere Umhän 194
ge und gingen auf die menschenleere Straße hinaus. Eine dünne Schicht pulverigen Schnees lag unberührt auf dem Kopfsteinpflaster. »Wer ist da unterwegs?«, hörten wir jemanden rufen. »Seid Ihr das, Appleby?« »Ja«, rief Gabriel zurück, als auch schon der Nacht wächter vor uns auftauchte. »Dacht ich mir’s doch«, sagte dieser und hielt seine Laterne hoch. »Und wer ist in Eurer Begleitung?« »Coriander Hobie.« »Und was treibt euch beide zu dieser späten Stunde noch hinaus in die Kälte?« »Ich habe in der Thames Street Flammen gesehen«, erklärte Gabriel. »Ah, von dort komme ich gerade her. Hab’s auch ge sehen«, sagte der Nachtwächter. »Höchst verwunderlich, nicht wahr? Aber ein Feuer ist dort nicht ausgebrochen, dessen hab ich mich vergewissert.« Es hatte begonnen zu schneien, mir war kalt und mei ne Zähne klapperten. »Kommt mit, ihr zwei«, sagte der Nachtwächter freundlich. »Bei dieser Kälte sollten wir nicht hier he rumstehen.« Er führte uns in sein Pförtnerhäuschen und ließ uns vor dem warmen Feuer Platz nehmen. »Eines kann ich euch sagen: Ich bin heilfroh, wenn der neue Tag an bricht«, sagte er, reichte uns zwei Becher heißen Grogs und blickte besorgt die Bridge Street auf und ab. »Ich sollte es vielleicht besser nicht sagen«, fuhr er dann fort, »aber ich bin mächtig froh über eure Gesellschaft. Heute Nacht habe ich es schon ganz schön mit der Angst zu tun bekommen und sogar meinem Hund standen die Haare zu Berge. Hab ihn noch nie so verängstigt gesehen.« 195
Der Hund lag neben dem Feuer und ließ die Tür die ganze Zeit über nicht aus den Augen. Der Nachtwächter hatte gerade die zwölfte Stunde ausgerufen, als plötzlich eine Kutsche aus Richtung Southwark über die Brücke gefahren kam. Weil sie ziem lich schnell fuhr und die Straßen wegen des Schnees äu ßerst glatt waren, wollte der Nachtwächter die Kutscher warnen. »Hab schon seit langem keine so große Kutsche mehr gesehen«, erklärte er nun gerade. »Sie wurde von vier prachtvollen, stattlichen Rössern gezogen und die beiden Kutscher waren ganz in Rot gekleidet.« »Wohin waren sie unterwegs?«, fragte ich beklom men, und ein Schauer lief mir über den Rücken. »Das ist es ja, was mich so stutzig machte. War es vielleicht der Teufel?«, fragte der Nachtwächter. »Die Kutsche ist einfach verschwunden, ungelogen, sobald sie an unserem Ende der Brücke ankam. Gott sei mein Zeu ge, dass ich nicht lüge, aber die Kutsche hinterließ keine Spuren im Schnee, nichts wies darauf hin, dass sie jemals die Brücke überquert hat. Meine Frau, ja die glaubt an Feen und derlei mehr, aber ich doch nicht! Hab keine Zeit für solchen Unfug, aber ich sage allen Ernstes, dass ich mir keinen Reim auf das machen kann, was ich da gesehen hab.« Das Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich fragte: »Ist die Kutsche später zurückgekommen?« »Nein«, lautete die Antwort. »Habt Ihr sonst noch etwas beobachtet?«, wollte Gab riel wissen. »Ach ja, einen Raben hab ich gesehen, ungelogen«, sagte der Nachtwächter. »Es war ein gewaltiger schwar zer Rabe, der hinter der Kutsche her flog. Bei seinem 196
Anblick bekam ich ‘ne richtige Gänsehaut. Was sagt ihr dazu?« Was ich dazu zu sagen gehabt hätte, sprach ich lieber nicht aus, so erschrocken war ich über das soeben Gehör te. »Äußerst merkwürdig, in der Tat«, sagte Gabriel. Wir wollten uns gerade verabschieden, als ein Wachtmeister in der Tür auftauchte. Auch er schien sehr aufgeregt zu sein. »Habt ihr die grünen Flammen in der Thames Street gesehen?«, keuchte er. »Hab ich«, antwortete der Nachtwächter. »Und der junge Appleby hier ebenfalls.« »Höchst verwunderlich«, sagte der Wachtmeister. »Ich bin eigens nachschauen gegangen, aber von einem Feuer keine Spur! Die Nachbarn sagten auch übereinstimmend, dass sie grüne Flammen gesehen hätten und eine schwar ze Kutsche vor dem Haus von Master Hobie.« »Ihr habt die Kutsche gesehen?«, fragte Gabriel aufge regt. »Nein«, erwiderte der Wachtmeister, »und ich glaube auch nicht, dass sie jemals dort war. Im Schnee sind kei nerlei Spuren zu sehen.« Wir überließen den Nachtwächter und den Wacht meister ihrer angeregten Unterhaltung und kehrten zum Haus des Schneidermeisters zurück. Als wir gerade die Haustür öffneten, fuhr mir der Schreck in alle Glieder, als ich das Krächzen eines Vogels hörte. Ich drehte den Kopf und sah den Raben gerade noch auf den Fluss zu fliegen. Ich hatte schreckliche Angst. Als der Nacht wächter von der fremden Kutsche erzählt hatte, war mir sofort klar geworden, dass darin niemand anderer sitzen konnte als Königin Rosmore, noch immer auf der Suche nach dem Schatten. 197
»Was ist mit dir?«, fragte Gabriel. »Du bist so blass. Hast du dich erschreckt?« »Nein«, antwortete ich. »Ich bin nur müde.« Ohne ein weiteres Wort ging ich zu Bett, konnte aber lange nicht einschlafen. Stattdessen lag ich wach und fragte mich, was ich tun sollte. Die Zeit wurde allmählich knapp. Ich musste mich so bald wie möglich in das Haus in der Thames Street schleichen, doch wie? Da fiel mir ein, dass mein Vater oft gesagt hatte, der Fluss sei nie derselbe. Ständig verändert er sich, jeder Gezeitenwechsel bringt Neues mit sich und spült Altes weg, obwohl an der Oberfläche alles wie immer aussieht. So verhielt es sich auch mit mir. Als ich mich nun an ei nem Tiefpunkt wähnte, beim besten Willen nicht wusste, was tun, änderte sich plötzlich alles. Denn in Master Thankless’ Geschäft trat jemand, mit dem ich längst nicht mehr gerechnet hatte – Danes! Damit wäre der vierte Teil meiner Geschichte erzählt und zugleich erlischt eine weitere Kerze.
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TEIL FÜNF
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Geständnisse
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m Abend von Danes’ überraschender Rückkehr schickte Master Thankless Nell los, um eine von Mistress Garnets leckeren Wildpasteten zu kaufen. »Aber nur die allerbeste, lass dir das gesagt sein!«, trug er ihr auf. »Macht doch nicht so viele Umstände«, wehrte Danes ab. »Ach was!«, widersprach Master Thankless fröhlich, machte die Fensterläden zu und schloss die Eingangstür ab, da ohnehin bald Ladenschluss war. »Eure Rückkehr muss gefeiert werden.« Vor lauter Angst, sie könne wieder verschwinden, ließ ich Danes nicht aus den Augen. Als Master Thankless merkte, dass ich sie zu gern eine Weile für mich allein gehabt hätte, sagte er: »Coriander, mach dich nützlich und zeige Mistress Danes ihr Zimmer!« Ich führte Danes nach oben, und wir setzten uns an das Fenster, das zum Fluss hinausging. »Was für eine Schönheit du geworden bist!«, sagte sie zärtlich. »Du siehst aus wie deine Mutter. Oh, mein Spatz, wenn du wüsstest, wie lang und schlimm diese Jahre für mich waren. Ich wagte kaum noch zu hoffen, dich jemals wiederzusehen.« »Wo warst du?«, fragte ich gespannt. Danes runzelte die Stirn. »Auf der Suche nach deinem Vater bin ich zuerst nach Frankreich, dann in die Nieder lande gereist. Dass ich ihn nicht gefunden habe, lag nicht 200
an mangelndem Eifer, glaub mir! Schließlich sind mir Master und Mistress Bedwell über den Weg gelaufen. Sie boten mir sofort ihre Hilfe an, doch letztlich konnten sie nichts für mich tun, denn aufgrund der politischen Lage wagten sie es nicht, nach London zurückzukehren. Ich hatte mittlerweile das Gefühl, schon viel zu viel Zeit ver geudet zu haben, und dachte nur noch daran, möglichst schnell wieder hierher zu kommen. Das Reisen ist, wie du dir vielleicht denken kannst, alles andere als einfach. So, aber jetzt habe ich genug erzählt. Lassen wir dieses Thema.« Sie seufzte und nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände. »Erzähl du mir lieber, mein kleiner Spatz, wohin du derweil ausgeflogen bist.« Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass wir wirk lich ungestört waren, erzählte ich ihr im Flüsterton alles, was ich erlebt hatte. Und zum ersten Mal sprach ich in dieser Welt die Namen aus, die ich so lange in meinem Herzen eingeschlossen hatte. Ich erzählte ihr von Medlar und Tycho, von Königin Rosmore und Cronus. Ich er zählte ihr auch von König Nablus und Unwin, vom Sommerpalast und von der geplatzten Hochzeit. Und na türlich auch von dem Spiegel und dem Schatten. Sie erschauderte. »Allmächtiger! Ich darf gar nicht daran denken, was dir passiert wäre, wenn Medlar nicht gewesen wäre!« »Weißt du etwas über die Vergangenheit meiner Mut ter?«, fragte ich. Gedankenverloren blickte Danes zum Fenster hinaus. Dann sagte sie so leise, dass man fast hätte glauben kön nen, die Worte kämen nicht von ihren Lippen, sondern wären nur ein Windhauch: »Einmal habe ich ihren Schat ten gesehen.« Ich fühlte, wie sich meine Stimmung wandelte, die 201
schweren Wolken abzogen und mein Körper wieder zu atmen begann. Als Danes mir erzählte, was drei Monate vor dem Tod meiner Mutter geschehen war, kam es mir so vor, als sei in einem dunklen Raum eine Kerze angezündet worden, und mir wurde mit Schrecken klar, dass es genau zu dem Zeitpunkt gewesen war, als Rosmore zum ersten Mal bei Maud aufgetaucht war. Danes erzählte mir, dass meine Mutter die Schatulle aus Ebenholz anstarrte und das sichere Gefühl hatte, dass das, was sich darin befunden hatte, gestohlen worden sei. »Ich machte mir große Sorgen«, sagte Danes. »Erst nach einer Weile machte sie die Schatulle auf, und ich konnte sehen, dass darin etwas Schimmerndes lag. Ich weiß noch, wie beeindruckt ich war, als deine Mutter etwas herausnahm, was wie hauchdünne Gaze oder Ma rienfäden aussah. Es schimmerte in ihren Händen, ehe es plötzlich in ihre Haut einzudringen begann. Deine Mutter fing an zu verblassen. Ich schrie ihren Namen und erst da riss sie das hauchzarte Gewebe wieder von sich weg und legte es hastig in die Schatulle zurück.« »Das war ihr Feenschatten«, sagte ich. »Deine Mutter erklärte mir, der Schatten habe die Macht, sie in die Welt zurückzuholen, aus der sie gekom men war, was sie auf jeden Fall verhindern wollte. Sie sag te, nur mein Schrei hätte sie davor bewahrt. Als wäre sie gerade aus tiefer Trance erwacht, sagte sie leise, sie hätte in die Zukunft geblickt. Offenbar hatte sie diese Schatulle an ihrem Hochzeitstag deinem Vater anvertraut, ihn gebeten, immer gut darauf aufzupassen und sie ihr nie zurückzu geben, denn sonst würde er sie verlieren. Ich musste ihr ebenfalls versprechen, dieses Geheimnis für mich zu be halten, was ich bis zum heutigen Tag auch getan habe.« 202
»Ich muss ihren Schatten finden und zu Medlar brin gen«, sagte ich. »Denn sonst muss Tycho sterben. Der Schatten birgt viel zu viel Macht in sich, als dass man ihn Scharlatanen wie Arise und Maud überlassen sollte.« »Ich weiß nur eines ganz gewiss, mein Spatz, und zwar, dass deine Mutter dich sehr geliebt hat und dass dein Vater dich nie verlassen wollte. Ich habe viel dar über nachgedacht, denn die ganze Sache ist wie ein gro ßes Puzzle, bei dem viele Teilchen fehlen. Aber ich glau be, dass diese silbernen Schuhe von damals aus dieser anderen Welt gekommen sind. Deine Mutter wollte sie sogar in den Fluss werfen, damit du sie nie in die Finger bekämst, während ich – genau wie du – nichts Schlim mes an ihnen finden konnte.« »Meine Mutter hatte Recht«, sagte ich. »Ich habe mir schon oft den Vorwurf gemacht, dass sie vermutlich noch am Leben sein könnte, wenn ich nicht so versessen auf diese Schuhe gewesen wäre.« Ich hatte einen Kloß im Hals und war nahe daran, in Tränen auszubrechen. Danes umschlang mich mit beiden Armen, und wir sa ßen schweigend da, jede in ihre Gedanken versunken. In der Ferne hörten wir die üblichen Straßengeräusche: die Rufe der Straßenhändler, der Fährmänner, das Knarren des Wasserrads, und ich spürte, dass sich in mir wieder ein Gezeitenwechsel vollzog. Unten in der Stube war der Tisch mit einem weißen Tuch gedeckt, im Kamin loderte ein helles Feuer und überall brannten Kerzen. Wir setzten uns zu einem Fest essen, wie früher die Könige und Königinnen. Nach der Mahlzeit holte Master Thankless seine Laute, und wir sangen und tanzten und waren so fröhlich, als wenn Weihnachten wäre.
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Das Gewitter
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er Sommer hielt Einzug, und es wurde immer wärmer, bis es in London zu guter Letzt so unerträg lich heiß war, dass man das Gefühl hatte, eine dicke De cke läge über der Stadt. Sämtliche Fenster in der Werk statt, im Laden und in den Wohnräumen wurden sperran gelweit aufgerissen, um auch die schwächste Brise he reinzulassen. Eine Seuche breitete sich aus, wie meist, wenn es sehr heiß war, und alle hatten Angst, sie könne wieder so schlimm werden wie die letzte. Danes sagte mir, sie wäre wirklich verheerend gewesen. Damals waren ihre beiden Eltern gestorben, und sie selbst war nur verschont geblieben, weil sie weit draußen auf dem Land gearbeitet hatte. Master Thankless pflegte regelmäßig einmal die Wo che auszugehen, um die Listen mit den Pestopfern zu überprüfen, die in jedem Stadtviertel aushingen. Von Woche zu Woche stieg deren Zahl und ganz London leb te in Angst und Schrecken. In keinem geringeren Buch als der Bibel steht ge schrieben, dass die Menschheit von einer gewaltigen Pest epidemie heimgesucht werden würde, doch ich war sicher, dass damit nicht diese hier gemeint war. Die Reichen und so gut wie alle, die Verwandte oder Freunde auf dem Land hatten, gingen kein Risiko ein. Sie verriegelten ihre Häu ser in London und ließen sich von Kutschen, Fuhrwerken oder Lastkähnen aus der Stadt bringen. 204
»Und das nennt sich Fortschritt?«, stöhnte Master Thankless, als eine endlose Prozession von Fuhrwerken an seinem Geschäft vorbeizog. »Wisst ihr, dass es früher, zu Zeiten von Königin Elisabeth, nur ganz wenige Kut schen gab?« Und er seufzte, als zwei Kutscher, die nicht aneinander vorbeikamen, sich wüst beschimpften, weil keiner nachgeben wollte. Die Zahl der Pestopfer stieg weiter an. Ich hegte zwei Hoffnungen, eine etwas freundlicher als die andere: Die unschöne Hoffnung, die für mich fast zu so etwas wie einem Gebet wurde, war, dass Maud und Arise sich mit dieser todbringenden Krankheit anstecken mögen. Und falls nicht, dass sie dann zumindest planen könnten, Lon don zu verlassen. Nur dann hätte ich die Chance, in mein Elternhaus zurückzukehren, um mich dort umzusehen. Doch es sollte nicht sein. Maud Leggs und Arise Fell blieben wie zwei Dachse in ihrem Bau sitzen. Master Thankless war froh, dass sein Haus direkt auf der Brücke lag, denn hier wehte stets eine leichte Brise. Wir kamen überein, dass es am besten wäre, wenn wir alle zusammenblieben, zumindest so lange, bis die Zahl der Pestopfer abnehmen würde. In diesen ruhigen Tagen erzählte Hester auch Danes die Wahrheit über Maud und Arise. Nachdem sie geendet hatte, blickte sie uns traurig an. »Meint ihr, ich werde auch so wie meine Mutter?«, fragte sie. Danes ging zu ihr und nahm sie in den Arm, als wäre sie noch ein kleines Kind. »Unsinn«, sagte sie leise. »Nur keine Bange. Du bist die süßeste Blume, die jemals auf einem Misthaufen erblüht ist.« In diesen Tagen fühlte ich mich irgendwie einge schränkt durch das ständige Tragen eines Rocks und das 205
Benehmen, das von jungen Damen erwartet wurde. Die Monate vergingen, und ich hatte noch nichts unternom men, um in den Besitz des Schattens zu kommen. Ehrlich gesagt wusste ich nicht einmal, wie ich es überhaupt an stellen sollte. Ich sagte Danes, dass ich nicht länger warten könnte. Ich musste mir etwas einfallen lassen. »Ich habe alle ent täuscht«, sagte ich. »Ach, du Dummerchen«, sagte sie und krempelte ihre Ärmel hoch. »Mit solchen Gedanken erreichst du gar nichts.« Es war Mittwoch, ihr Backtag, und sie begann, den Teig so resolut zu kneten, als sei er ein widerspensti ges Argument. Es war heiß in der Küche, die Art von Hitze, bei der man so richtig schön schläfrig wird. Meine Augenlider wurden immer schwerer, doch auf einmal schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Was wäre, wenn Arise wüsste, dass die silberne Gaze in der Schatulle Macht über Ros more hatte und er sie damit erpressen könnte? Dann wür de er alles bekommen, was er sich nur wünschte. Er wür de garantiert keinen Moment zögern, um so viel wie möglich aus ihr herauszupressen. Danes wischte sich die Hände ab und eine Mehlwolke stieg auf und schwebte langsam und träge durch die Kü che. Danes holte einen Steinkrug, goss zwei Becher Ho lunderwein ein und stellte sie auf den Tisch. »Na, du mü des Mädchen«, sagte sie lächelnd zu mir. »Komm und setz dich zu mir.« In diesem Moment betrat Gabriel die Küche. »Was für eine Hitze!«, stöhnte er. »Ich glaube, ich bekomme Kopfschmerzen.« »Ein Gewitter liegt in der Luft«, sagte Danes und er hob sich erneut, um auch ihm etwas zu trinken zu holen. 206
»Ich wünschte, ich könnte mir deine Kleidung ausbor gen, Gabriel«, begann ich ohne langes Drumherumreden. »Als Junge verkleidet, könnte ich mit dir kommen, wenn du das Haus in der Thames Street beobachtest. Vom Fluss aus könnte ich mich vielleicht sogar durch das Wassertor ins Haus schleichen.« Gabriel lachte. »Ha, du als Junge? Mit diesen langen Locken?« Danes musterte mich erstaunt. »Klingt gar nicht so dumm.« »Soll das ein Witz sein?«, fragte Gabriel. »Nein, ganz und gar nicht«, sagte ich. Mein Herz klopfte plötzlich zum Zerspringen. Vielleicht war das die Lösung, nach der ich so lange gesucht hatte! Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen? »Das wäre doch viel zu gefährlich«, gab Gabriel zu bedenken. »Na schön, dann gehe ich eben allein.« »Auf gar keinen Fall!«, sagte Gabriel. »Ehe du dich versiehst, liegst du wieder in dieser Truhe und hast ein Messer in der Brust.« »Aber, aber«, meinte Danes beschwichtigend, »muss man denn immer gleich mit dem Schlimmsten rechnen?« »Warum willst du überhaupt in dieses Haus zurück kehren?«, fragte Gabriel, ohne auf Danes’ Einwurf zu achten. »Ich dachte, du wärst heilfroh, von dort weg zu sein!« »Bin ich auch. Ich bin sehr froh, dass ich hier wohnen kann. Ohne Master Thankless wäre ich längst nicht mehr am Leben. Doch in diesem Haus gibt es etwas, was ich dringend brauche. Etwas, was früher meiner Mutter ge hört hat und an seinen richtigen Platz zurückgebracht werden sollte.« 207
»Schlafende Hunde soll man nicht wecken!«, sagte Gabriel. »In diesem Haus wirst du nichts mehr finden. Sie haben so gut wie alle Möbel fortgeschafft.« »Es handelt sich nur um eine kleine Schatulle«, erklär te ich ihm. Gabriel erhob sich. »Ich bedauere aufrichtig, dass dei ne Familie so viel Leid erfahren musste, aber jetzt in das Haus zurückzukehren, würde nichts nützen«, sagte er schroff. »Schlag es dir aus dem Kopf.« Diesen Satz hörte ich nicht zum ersten Mal. Meine Mutter hatte mich vor den silbernen Schuhen gewarnt. Aber ich hatte damals nicht auf sie gehört und wollte es auch diesmal nicht tun. Ich grübelte noch vor mich hin, wie ich Gabriel am besten überzeugen konnte, als es in der Küche auf einmal so dunkel wurde, als wäre es unvermittelt tiefe Nacht geworden. Es war so düster, dass Danes Kerzen anzünde te und die Fenster schloss. Und dann ertönte auch schon ein mächtiges Donnergrollen. Das ganze Haus erbebte und Neil kam die Treppe heruntergestürzt und versteckte sich unter dem Tisch. »Der Zorn Gottes bricht über uns herein«, wimmerte sie. Ich schaute zum Fenster hinaus. Die Natur kann, dach te ich mir, wenn sie will, wesentlich größeren Schaden anrichten als jede Schlacht unter Menschen. Und wäh rend ich noch hinausblickte, riss ein grellgelber Blitz di rekt über dem Fluss den pechschwarzen Himmel auf. »Wo ist Hester?«, fragte Gabriel plötzlich besorgt. »Sie wollte bei Mistress Kent ein paar Kindersachen abliefern«, sagte Danes. »Aber sie dürfte bald zurück sein. Sie weiß, dass ich ihren Lieblingskuchen backe.« Ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel und gleichzeitig setzte heftiger Regen ein. 208
»Ich gehe ihr entgegen«, sagte Gabriel. »Sie sollte bei einem solchen Gewitter nicht allein unterwegs sein.« »Warte um Himmels willen noch ein Weilchen«, sagte Danes, »zumindest bis das Schlimmste vorüber ist.« »Der Regen macht mir nichts aus«, entgegnete Gabriel. »Das ist kein Regen«, murmelte Neil, »das ist der Be ginn einer Sintflut. Wir werden alle weggeschwemmt.« »Sie sind so gut wie verheiratet«, meinte Danes, nach dem Gabriel überstürzt die Küche verlassen hatte, und holte ihren schön goldenen, noch warmen Kümmelku chen aus dem Ofen. Ich ging nach oben, um Master Thankless beim Schließen der Fensterläden zu helfen. Lauter, grollender Donner ertönte und es goss wie aus Kübeln. Die Regen tropfen klatschten so hart aufs Pflaster, dass sie dort ab prallten und wieder hochhüpften. Der Schneidermeister und ich schauten zu, wie der Regen den ganzen Straßen dreck in die Rinnsteine spülte. Eine Kutsche ratterte vor bei und der Mann auf dem Kutschbock war nass bis auf die Haut. Die Leute rannten hektisch durcheinander und suchten einen Unterschlupf, kauerten sich unter Torbögen und in Eingänge. Zwischen den beiden Häuserreihen hin gen tropfnasse Wäschestücke auf der Leine, und man konnte kein Wort verstehen, so laut war das Prasseln des Regens. Weil das Gewitter überraschend hereingebrochen war, lagen die Waren der Ladenbesitzer pitschnass in der Gosse. Druckwerke der Druckerei von gegenüber waren weggeweht worden und lagen nun in den Pfützen, die Tin te war verlaufen und die Wörter waren verschmiert. »Wir werden alle ertrinken«, hörte ich Neil winseln. Und auf einmal kam mir der Gedanke, dass sie Recht behalten könnte, denn das Wasser auf der Straße und das Wasser im Fluss schienen immer mehr miteinander zu 209
verschmelzen. Master Thankless schloss seine Ladentür, fasste mich am Ellbogen und führte mich wieder nach unten. »Ist Gabriel noch nicht zurück?«, fragte Danes, als wir die Küche betraten. »Nein, vermutlich wird er mit Hester zusammen bei Mistress Kent bleiben, bis das Schlimmste vorbei ist«, sagte Master Thankless und setzte sich an den Tisch. »Nicht gut fürs Geschäft, dieses Wetter, aber wenigstens reinigt es die Luft. Komm hoch, Neil«, sagte er schmun zelnd, »solange du dich da unten versteckst, kriegst du keinen Kümmelkuchen.« Erst jetzt kroch Neil wieder unter dem Tisch hervor und saß nervös da, während die Schleusen des Himmels weiterhin weit geöffnet blieben. »Ein derart plötzliches Gewitter ist oft der Vorbote großer Ereignisse«, bemerkte Master Thankless. »Meine Mutter hat mir erzählt, ein Gewitter entsteht, wenn Hexen mit einem Sieb am Himmel entlangreiten«, sagte Neil ängstlich. »Unsinn!«, meinte Danes. In diesem Moment läutete die Türglocke, und Gabriel kam die Treppe heruntergepoltert, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. »Sie ist fort!«, rief er aufgeregt. »Sie ist verschwun den!« »Immer langsam, junger Mann«, sagte Master Thankless beschwichtigend. »Wer ist verschwunden?« »Sie war nie bei Mistress Kent.« »Wovon redest du?«, fragte der Schneider nach. »Von Hester«, jammerte Gabriel. »Hester ist spurlos verschwunden.«
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In Männerkleidung
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ir wurde sofort klar, was passiert war. Hester war entführt und in die Thames Street verschleppt worden. »Aber warum?«, fragte Master Thankless. »Was kön nen sie jetzt noch von Hester wollen?« »Dafür sorgen, dass sie den Mund hält«, meinte Danes grimmig. »Das hab ich schon die ganze Zeit befürchtet«, knurrte Gabriel. »Aber dafür drehe ich ihnen den Hals um!« »Beruhige dich bitte, Gabriel!«, sagte Danes mit fester Stimme und legte ihm die Hände auf die Schultern. Dann zog sie ein kleines Fläschchen aus ihrer Schürzentasche. »Nimm das!« Er trank das Fläschchen brav leer, saß dann da und vergrub sein Gesicht in den Händen. »Ich liebe sie«, sag te er leise. »Ich kann nicht ohne sie sein.« »Ich weiß«, antwortete Danes, »und wir werden sie zurückholen. Aber zuerst müssen wir einen Plan machen. Ohne genaue Planung ist noch keine Schlacht gewonnen worden.« Gabriel blickte auf. »Ich habe aber keinen Plan«, sagte er ratlos. »Aber ich«, sagte ich. »Dafür brauche ich Männer kleidung und eine Kappe, unter der ich meine Locken verstecken kann.« Neil brach in Gelächter aus, verstummte aber abrupt, als sie die ernsten Gesichter der anderen sah. 211
»Und dann?«, wandte sich Master Thankless an mich. »Dann fahre ich mit einem Boot ans Wassertor meines Elternhauses und schaue, ob ich irgendwie ins Haus ge langen kann. Ich glaube zu wissen, wo ich Hester finde.« Master Thankless schritt nachdenklich auf und ab, und einen schrecklichen Augenblick lang befürchtete ich, er würde Nein sagen. »Gut, aber Gabriel muss dich begleiten. Allein lasse ich dich auf keinen Fall gehen. Das wäre viel zu gefähr lich.« »Coriander, wenn du Recht hast und sie haben Hester bereits in ihren Klauen, was denkst du dann, was sie mit dir machen, wenn sie dich auch zu fassen kriegen?«, sag te Gabriel kopfschüttelnd. »Nein, erkläre mir einfach, wie die Räume angelegt sind und wo ich Hester finde. Dann hole ich sie allein da heraus.« »Nein, du brauchst mich«, sagte ich und bemühte mich, möglichst überzeugend zu klingen, denn dies war die einmalige Gelegenheit, auf die ich schon so lange gewartet hatte. Ich durfte sie mir nicht entgehen lassen. Ich musste ins Haus gelangen und den Schatten finden. Ich musste. »Gabriel, schweig und hör dir Corianders Plan an«, sagte Master Thankless energisch. Ich fasste neuen Mut. »Könnt Ihr uns ein Boot besorgen?« Master Thankless nickte. »Ich habe einen guten Freund, Master Starling. Er wird uns helfen. Aber bist du dir wirklich ganz sicher, Coriander?« Am liebsten hätte ich laut »ja, ja, ja« gerufen, be herrschte mich aber und sagte ruhig und sachlich: »Ja.« »Dann sollten wir keine Zeit verlieren!«, meinte er. Während er passende Kleidung für mich zusammen 212
suchte, zeichnete ich sorgfältig den Grundriss meines Elternhauses auf, damit Gabriel ihn sich einprägen konn te. Ich erklärte ihm alles sehr genau. »Das ist die Stiege, die zum Dachgeschoss führt«, sag te ich. »Gut, und diese Tür da links führt zu deinem früheren Zimmer«, ergänzte Gabriel und fuhr den Weg mit dem Finger nach. »Und die fünfte Stufe auf der zweiten Treppe knarrt«, wiederholte ich. »Genau wie die sechste«, sagte er. »Richtig!« »Ich habe das Gefühl, ich kenne das Haus so gut wie meine Westentasche«, sagte Gabriel zuversichtlich. Ich hingegen war bei all den Erklärungen eher etwas unsicher geworden, weil ich schon so lange nicht mehr dort gewesen war, doch das behielt ich wohlweislich für mich. Danes half mir beim Ankleiden. Sie steckte meine langen Haare unter eine große Kappe und färbte meine helle Gesichtshaut mit Walnussöl dunkler. Ich tupfte mir noch ein paar zusätzliche Tropfen auf Kinn und Wangen, damit es so aussah, als würde mir ein Bart sprießen. Als ich anschließend in den Spiegel blickte, sah ich nicht mich, sondern das Gesicht eines jungen Mannes. Sogar Gabriel musste zweimal hinschauen, als ich, um ihn nachzuahmen, mit möglichst großen, plumpen Schrit ten in den Verkaufsraum kam. »Coriander?«, fragte er ungläubig. »Ganz recht, Gabriel«, sagte ich. »Menschenskind, du siehst ja aus wie ein Mann.« Und als Neil, welche die ganze Zeit oben gewesen war, hereinkam und mich sah, warf sie den Kopf in den 213
Nacken und lächelte mich kokett an. Als ihr dämmerte, wer ich war, lief sie vor Verlegenheit rot an. »Oh nein, ist es zu fassen!«, rief sie. »Ihr gebt einen hübschen Kerl ab, Mistress, fast noch ansehnlicher als Master Appleby.« Und zum ersten Mal an diesem schrecklichen Tag musste selbst Gabriel schmunzeln. Es war dunkel und regnete noch immer, als wir uns auf den Weg machten. Ich war bestrebt, mir nicht anmerken zu lassen, wie nervös ich war, als ich mit Gabriel über die Bridge Street zur Sankt-Magnus-Kirche ging, wäh rend Master Thankless und Danes uns besorgt nachblick ten. »Hier, nimm«, sagte Gabriel, als wir in der Thames Street ankamen, und drückte mir einen Dolch in die Hand. Beim Anblick der funkelnden Klinge wäre mir die Waffe vor Schreck fast aus der Hand gefallen. »Nur für den Notfall«, raunte Gabriel mir zu. Ich hastete hinter ihm her und hatte alle Mühe, mit seinen langen Schritten mitzuhalten. Es war ein schönes Gefühl, keinen einengenden Rock zu tragen, doch das Gewicht des Dolchs und das, was er bedeutete, erinnerten mich ständig daran, dass das hier alles andere als ein harmloses Kinderspiel war. Wir eilten an der Taverne vorbei und die Stufen zur Themse hinunter, und plötzlich wünschte ich mir, wir könnten gemütlich in dem Wirtshaus sitzen, Kräuterwein trinken und uns die Geschichten der Fährmänner anhö ren, statt das auszuführen, was wir uns vorgenommen hatten. »Bist du bereit?«, fragte Gabriel. Ich nickte. 214
»Du kannst es dir immer noch anders überlegen«, sag te er. »Es ist noch nicht zu spät.« Ich schüttelte nur den Kopf, aus Angst, meine Stimme würde mich verraten. Der Fährmann erwartete uns schon auf der untersten Stufe. »Alles in Ordnung, Master Starling?«, sagte Gabriel zur Begrüßung. Der Mann schnaubte. »Mal ehrlich, wer fährt bei ei nem solchen Wetter schon freiwillig auf den Fluss? Kein Mensch! Nicht wenn man für dasselbe Geld eine schöne Droschke mieten kann, die einen trockenen Leibes ans Ziel bringt.« Gabriel drückte Master Starling einen kleinen Beutel in die Hand. Der Mann kippte die Münzen in seine ge waltige Pranke. »Sehr freundlich von Euch, Sir. Besten Dank«, sagte er und gab Gabriel seine Laterne. »Wir werden zurück sein, ehe die Uhr zwölf geschla gen hat«, versicherte ihm Gabriel und stieg in das Boot. Master Starling streifte mich mit einem kurzen Blick und fragte: »Und wer ist dieser Bursche da?« »Unser neuer Lehrling«, antwortete Gabriel, während ich etwas unsicher an Bord kletterte, da ich dies ohne fremde Hilfe nicht gewöhnt war. »Noch ein bisschen grün hinter den Ohren, hm?«, meinte der Fährmann und grinste, ehe er die Stufen hin auf zur Schenke eilte. »Lasst ihn lieber nicht an die Ru der, sonst seid ihr morgen früh noch nicht zurück!« Die Themse hat etwas Wildes, Ungestümes, was man jedoch nicht bemerkt, wenn man sie vom sicheren Ufer aus betrachtet. Sie ist ein wilder, rauer Fluss, der seinen 215
eigenen Willen hat und sich nicht zähmen lässt. Doch das begriff ich erst, als wir nun flussabwärts getrieben wur den und dem ganzen Ausmaß ihrer aufgewühlten Kraft ausgesetzt waren. Gabriel ruderte, wobei er angestrengt versuchte, sich möglichst in Ufernähe zu halten, damit man uns von den Häusern aus nicht sehen konnte. Da der Regen inzwi schen aufgehört hatte, standen die Fenster offen, und aus den von Kerzenlicht erhellten Zimmern drangen verein zelte Wortfetzen an unsere Ohren. Irgendwo schlug ein Hund an, ein anderer Hund antwortete darauf. Mein Elternhaus lag im Dunkeln. Die Stufen, die vom Hintereingang zum Fluss führten, waren leer und über spült, grünlicher Schleim klebte daran. »Vielleicht sind sie gar nicht zu Hause«, flüsterte ich. »Wetten, dass doch?«, antwortete Gabriel verkniffen. Wir vertäuten das Boot direkt am Wassertor. Gabriel richtete sich auf und versuchte, das Gitter anzuheben. Es gab kein bisschen nach. Niedergeschlagen sank er wieder auf die Ruderbank. »Was jetzt?«, sagte er mutlos. Plötzlich schoss ein gleißender grüner Lichtstrahl zum Fenster des Arbeitszimmers heraus und über den Fluss. Hastig löschte Gabriel unsere Laterne und ruderte ein Stück weiter, damit wir einen besseren Blick hatten. Stumm starrten wir auf das Haus und fragten uns, was wir wohl gerade gesehen hatten. Da passierte es erneut! Ein grünes Licht kam aus dem Fenster und flitzte wie ein geworfenes Messer über das Wasser. Als hätten wir uns ohne Worte verständigt, ruderte Gabriel wieder auf das Wassertor zu, und diesmal zogen und zerrten wir, als ginge es um unser Leben. Einen Moment lang dachte ich, das Boot würde kentern, doch zum Glück konnten wir es wieder ins Gleichgewicht 216
bringen und stellten fest, dass wir das Tor so hoch anhe ben konnten, um darunter hinwegzufahren. So leise wie möglich und mit eingezogenen Köpfen glitten wir hinein. Das Wasser des Flusses schlug plätschernd an die Stufen und die Mauer. Als etwas an uns vorbeihuschte und ne ben den Stufen plumpsend ins Wasser fiel, zündete Gab riel die Laterne wieder an. »Heiliger Bimbam, was war das?«, stammelte er, drehte sich um und hielt die Laterne hoch. Eine Ratte starrte uns kurz an, ehe sie eilends das Wei te suchte. Ich konnte kaum glauben, dass dieser düstere, unange nehm feuchte Ort, in dessen einst weißes Gestein die Ge zeitenmarken eingeritzt waren, früher Schauplatz aufge regten, fröhlichen Kommens und Gehens gewesen war. Nun wirkte er verlassen und gespenstisch düster und das Wasser der Themse unter unserem Boot zeigte bedroh lich dunkle Wirbel. »Je schneller wir Hester finden, desto schneller kön nen wir wieder weg von hier«, raunte Gabriel mir zu, während er das Boot an einem Pfahl vertäute. Lautlos huschten wir die Stufen hinauf zur Hintertür, die zu meiner Überraschung jedoch verschlossen war. Oh nein! War mein ganzer schöner Plan von Anfang an zum Scheitern verurteilt? Doch dann fiel mir ein, dass wir damals ja einen Ersatzschlüssel versteckt hatten. Ich streckte die Hand aus und griff zwischen zwei ganz be stimmte Mauersteine, von denen einer etwas ausgehöhl ter war als der Rest, und wurde zum Glück fündig. Gabriel steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn langsam um. Das dumpfe Klicken klang in meinen Ohren laut wie ein Donnerschlag, und ich rechnete fest damit, Arise gleich mit gezücktem Schwert vor uns auf 217
tauchen zu sehen. Mit klopfendem Herzen warteten wir, und als alles ruhig blieb, schob Gabriel langsam die Tür auf, und wir betraten den dunklen Hausflur. Könnte ein Haus jemals Mitleid mit sich selbst haben, dann wohl dieses, mein früheres Elternhaus, das völlig verschmutzt und verwahrlost wirkte. Es roch muffig, und man spürte, dass seit Hesters Verschwinden hier niemand mehr gefegt oder aufgewischt hatte. Obwohl ich in diesem Haus aufgewachsen war, dauer te es ein Weilchen, bis sich meine Augen an die Dunkel heit gewöhnt hatten und ich die vertrauten Umrisse des Flurs erkannte. Doch plötzlich ging zu unserer großen Bestürzung die Tür des Arbeitszimmers auf und ein Lichtkegel fiel in den Flur. Mein Herzschlag setzte aus. Oh weh – jemand hatte uns gehört und würde gleich nachschauen kommen, was los war. Wir blieben wie an gewurzelt stehen und hielten die Luft an, doch nichts ge schah. Niemand kam. Gabriel atmete erleichtert aus und drückte kurz meinen Arm, ehe er, lautlos wie eine Katze, die Treppe hinaufschlich. »Gnädige Frau«, hörte ich eine Stimme aus dem Ar beitszimmer, »meine lieben Freunde könnten das, was Ihr wollt, durchaus besitzen, doch sie sind der Ansicht, dass ihnen ihre Mühe nicht ausreichend entlohnt wurde.« »Tarbett Purman«, antwortete eine Stimme, die ich un schwer als jene von Rosmore erkannte, »habe ich Maud nicht ihre Tochter zurückgebracht, mit der sie nun ganz nach Belieben verfahren kann? Habe ich diesen beiden erbärmlichen Sterblichen in den letzten Jahren nicht alles gegeben, was sie haben wollten – und noch mehr? Alles im Ausgleich für den Schatten. Wo ist er also?« Ich lauschte so gebannt, dass ich die Geräusche, die von einer Tür hinter mir kamen, anfangs gar nicht wahr 218
nahm, doch in der nun folgenden Stille konnte ich etwas hören, was sich wie das Scharren von Krallen auf Steinstufen anhörte. Und als das Scharren lauter wurde und die Tür zu beben begann, als versuchte ein riesengroßes Tier auszubrechen, schnürte mir die Angst den Hals zu. Ich war wie gelähmt, verspürte die Art von Angst, bei der plötzlich alles in ein strahlend weißes Licht getaucht ist. Ich schloss die Augen, umklammerte den Griff des Dolchs und musste mich eisern beherrschen, um ja kei nen Schrei auszustoßen. »Er ist wieder da!«, hörte ich Maud sagen. »Wer oder was?«, fragte Rosmore. »Nichts, gar nichts«, entgegnete Arise mit nur müh sam beherrschter Stimme. »Von dir lasse ich mich nicht für dumm verkaufen, du jämmerliches Frettchen. Du weißt genau, was es ist.« Ein weiterer Lichtblitz zuckte von ihrem Finger, und ich konnte durch die offene Tür sehen, wie Arise Fell auf die Knie sank. »Bitte nicht mehr!«, winselte er. »Es ist nicht meine Schuld. Ihr solltet Euren grünen Blitzstrahl auf Master Purman richten. Es ist allein seine Schuld!« »Steh auf, du elender Sterblicher, und sag mir endlich, was ihr mit dem Schatten gemacht habt!« Arises Stimme verriet seine Furcht. »Ich hatte ihn schon für Euch bereitgelegt«, erklärte er, »doch dann fiel er dem ausgestopften Alligator ins Maul und…« »Ich wollte ihn natürlich sofort dort herausholen, ver ehrte Dame«, fiel Tarbett Purman ihm ins Wort, »doch plötzlich wurde der Alligator lebendig und biss mich in die Hand. Unter allergrößten Schmerzen versuchte ich, ihn abzuschütteln, und dabei ist er bedauerlicherweise aus dem Fenster gefallen.« 219
»Und wo ist er jetzt?«, zischte Rosmore ungehalten. »Dort unten«, sagte Maud und zeigte in Richtung des dunklen Flurs, genau an die Stelle, an der ich mich ver steckt hatte. »Und er wächst und wächst, mit jedem Tag ein Stück mehr. Es hört gar nicht mehr auf. Und mit je dem Tag hämmert er lauter gegen die Tür.« Gleich würde Rosmore in den Flur kommen, um sich den Alligator anzusehen. Dann war es um mich geschehen! »Aber Ihr könnt den Zauber gewiss wieder rückgängig machen. Ihr seid so mächtig«, sagte Maud mit zitternder Stimme. »Nein, Weib«, fauchte Rosmore. »Das kann und will ich nicht tun. Das überlasse ich euch dreien!« Ein grüner Lichtstrahl zuckte über den Fußboden, und im selben Moment zogen Arise, Maud und Tarbett ängst lich die Köpfe ein, weil die riesigen Flügel und Krallen eines Raben auf sie zuschwirrten. Cronus! Zum Glück kam Gabriel mit Hester die Treppe herun ter. »Schnell!«, flüsterte er und packte mich am Arm. »Wer ist da?«, rief Rosmore. »Tarbett, schau nach dem Mädchen. Es darf uns auf keinen Fall entwischen!« Ich wollte Gabriel noch davor warnen, die hintere Tür zu öffnen, doch es geschah alles viel zu schnell. Er war schon draußen und winkte uns hektisch zu den Stufen. Von dem Alligator war nichts zu sehen, man sah nur den Widerschein des Monds auf dem Fluss. Hester und ich kletterten ins Boot, und Gabriel packte die Ruder, wäh rend ich uns mit aller Kraft von den Stufen abstieß. Zu spät! Der Rabe tauchte auf und flog mit lautem Krächzen über unsere Köpfe hinweg. Gabriel hob ein Ruder, um nach dem Vogel zu schlagen, und das Boot begann, sich wie ein wild gewordener Kreisel im Kreis 220
zu drehen. Der Rabe ließ sich jedoch nicht einschüchtern und setzte zu einem weiteren Angriff an. Die dunkle Wasseroberfläche spritzte auf, ein gelblicher, mit spitzen Zähnen bewehrter Kiefer schnappte sich den Strick unse res kleinen Boots. »Setz dich!«, rief ich gerade noch rechtzeitig, denn das Boot sauste los, wie von Furien gezogen. Wir konnten eben noch die Köpfe einziehen, als wir auch schon unter dem Wassertor hindurchfuhren, hinaus auf die Themse. Der Rabe zog seine Kreise und schlug mit den Flügeln, doch wir ließen ihn bald schon hinter uns zurück. Sobald unser Boot etwas langsamer wurde, griff Gab riel nach den Rudern und hatte die Kontrolle über das Boot binnen kurzem wiedererlangt. Das Wasser bäumte sich noch einmal kurz auf, als ein großer dunkler Körper kehrtmachte und wieder flussaufwärts schwamm. »Was um alles in der Welt war das?«, keuchte Gabriel. »Keine Ahnung«, log ich. »Aber viel wichtiger ist doch, dass wir Hester bei uns haben und sie gesund und munter ist.« Als wir mit dem Boot neben der Brücke anlegten, rief der Nachtwächter gerade Mitternacht aus. »Das lob ich mir! Zwölf habt Ihr gesagt und genau zwölf ist es!« Master Starling klopfte Gabriel anerken nend auf den Rücken. »Sieht ganz so aus, als hätte sich der kleine Ausflug gelohnt«, fügte er mit einem Blick auf Hester hinzu. »Das könnt Ihr laut sagen, Sir!«, antwortete Gabriel mit zufriedenem Grinsen und schlang seinen Arm um Hesters Schultern. Oben an den Stufen verabschiedeten wir uns von dem Mann und wollten uns gerade trennen, als auf einmal ein lauter Schrei über das Wasser hallte. 221
»Was war das?«, entfuhr es mir, und ich drehte mich noch einmal zum Fluss. Wir spitzten die Ohren. »Oh, wahrscheinlich zwei Streithähne«, meinte Gab riel. Ein weiterer schrecklicher Schrei durchdrang die Nacht, gefolgt von einer gespenstischen Stille.
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Bisswunden
B
ei Flut schimmert der Fluss immer wie Quecksilber. Als sei er der legendäre Stein der Weisen, verwan delt er Tag für Tag Schiffsladungen in Säcke voller Gold und Silber, Wohlstand und Reichtum der Stadt. Mit je dem Gezeitenwechsel spült er die Sünden der Stadtbe wohner fort – oder zumindest erhoffen diese es und beten darum. Denn Väterchen Themse bestraft seine lasterhaf ten Kinder nie, obwohl sie seine natürlichen Reichtümer verschleudern und mit ihrer Gier sein Wasser verschmut zen. Immer wenn das Wasser abläuft, enthüllt der Fluss seinen verdreckten Bauch, seine Geheimnisse, halb ver steckt im Schlamm seiner Ufer. Manchmal weigert er sich, die in ihm deponierten Passagiere aufs offene Meer hinauszutragen, und sie treiben wie altes Holz, das ein fach nicht untergehen will, an der Oberfläche. So war es auch mit der Leiche von Tarbett Purman. Wie ein her umhüpfender Korken wurde sie zwischen den Pfeilern der London Bridge gefunden, und die Fährmänner, die sie aus dem Wasser zogen, sagten später, die Augen sei en weit aufgerissen und das Fleisch sei mit tausend klei nen scharfen Wunden übersät gewesen. Ich wurde früh geweckt. Eine sehr ernste Danes sagte mir, ich solle mich möglichst rasch ankleiden und in die Küche kommen. Das tat ich auch, obwohl ich noch sehr müde war. 223
Es war letzte Nacht sehr spät geworden, bis wir end lich alle ins Bett gekommen waren. Master Thankless, ebenfalls bereits angekleidet, schritt unruhig auf und ab. Gabriel und Hester standen da und hielten sich an den Händen. »Was ist passiert?«, fragte ich beklommen, weil alle so ernst dreinblickten. »Tarbett Purman ist tot«, sagte Gabriel. »Schlimmer als tot. Angeblich soll er auf grausame Weise umgebracht worden sein«, fügte Master Thankless hinzu. »Umgebracht? Wer sagt das?« »Seine Leiche wurde im Fluss gefunden. Master Star ling kam vorhin vorbei und sagte, der Wachtmeister sei schon an Ort und Stelle. Gabriel wird des Mordes be schuldigt, angeblich aus Eifersucht und weil Tarbett sei ne Zukünftige entführen wollte«, erklärte mir Danes. »Nein!«, rief ich fassungslos aus. »Wer kam denn auf diese verrückte Idee?« »Wer wohl? Arise und Maud natürlich«, sagte Gabriel mit grimmiger Miene. »Aber es stimmt nicht! Ich war…« »Das spielt keine Rolle«, fiel Gabriel mir ins Wort. »Kein Mensch stellt die Aussage eines Lehrburschen über die eines Predigers. Ich werde verhaftet und ge hängt, noch ehe ich oder sonst jemand meine Unschuld beweisen kann.« Hester brach in Tränen aus. Ich wünschte mir sehn lichst, nicht so völlig verschlafen zu sein, denn im Mo ment konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. »Das lasse ich nicht zu«, sagte Master Thankless. »Ich werde sie nicht in deine Nähe lassen. Gabriel, du bist wie ein Sohn für mich. Ich habe deinem Vater und deiner 224
Mutter vor ihrem Tod versprochen, gut für dich zu sor gen, und dieses Versprechen werde ich auch halten. Zum Kuckuck, sie werden dich nicht kriegen!« Dem Schnei der standen Tränen in den Augen, als er Gabriel umarm te. »Ihr wart der gütigste Meister, den ich mir nur wün schen konnte«, sagte Gabriel. »Und ich kann Euch nicht sagen, wie Leid es mir tut, dass ich Euch nun so viel Är ger mache.« »Arger?«, sagte der Schneider. »Du machst mir keinen Arger. Was hätte ich ohne dich gemacht? Coriander wäre längst tot, Hester für uns verloren…« »Kapitän Bailey!«, rief ich aus. Alle blickten mich fragend an. »Wir müssen uns an den Kapitän wenden! Er kann Gabriel vielleicht aus der Stadt schmuggeln«, erklärte ich. »Eine ausgezeichnete Idee, doch leider dürfte es nicht so einfach sein, ihn ausfindig zu machen, und uns bleibt nicht viel Zeit«, gab Master Thankless zu bedenken. »Und was ist mit Master Starling?«, sagte ich, als mir wieder einfiel, welch große Hilfe uns der Fährmann letz te Nacht gewesen war. »Er findet den Kapitän gewiss schneller als wir.« »Das ja«, entgegnete Master Thankless. »Aber trotz dem wird er nicht wissen, ob das Schiff des Kapitäns im Moment noch in Rotherhithe liegt oder schon auf hoher See ist. Ich muss mich erst erkundigen.« »Nein«, widersprach Danes mit fester Stimme. »Ihr müsst hier bleiben und Gabriel verstecken. Ich werde gehen und Hester mitnehmen. Es wirkt weniger verdäch tig, wenn sich zwei Frauen, eine junge und eine ältere, nach einem Kapitän erkundigen.« »Stimmt«, meinte Gabriel. 225
»O Gott, ich weiß es nicht«, sagte der Schneider mit besorgter Miene. Wortlos ging Hester aus der Küche und kehrte mit zwei Umhängen zurück, einem für sich und einem für Danes. »Seid mir nicht böse, Master Thankless«, sagte sie. »Aber wir werden den Kapitän finden. Und er wird wis sen, was zu tun ist.« »Passt bitte auf euch auf«, sagte Gabriel und küsste Hester zärtlich auf die Wange. »Komm, wir dürfen keine Sekunde verlieren«, mahnte Danes. »Wir müssen ans Ufer und den Fährmann fin den!« Danes und Hester waren kaum fort, da wurde auch schon laut und vernehmlich an die Ladentür gehämmert. »Aufmachen! Wir haben einen Haftbefehl für Gabriel Appleby!« »Schnell!«, flüsterte der Schneidermeister und hob ei ne Falltür im Küchenfußboden hoch. Die darunter lie genden Stufen führten in einen der Brückenpfeiler hinun ter, wo Master Thankless seine Stoffe aufbewahrte. Gab riel zögerte keinen Augenblick, wir machten die Falltür wieder zu und schoben den Küchentisch darüber, den wir zusätzlich mit ein paar Körben voll stellten. Das Glöckchen an der Ladentür unten bimmelte wei ter, als würde der Leibhaftige versuchen, sich Einlass zu verschaffen. »Öffnet diese Tür, sonst treten wir sie ein!« »Das wird nicht nötig sein«, rief Master Thankless, als er die Stufen hinaufhastete, um die Ladentür aufzuschlie ßen. Ein Wachtmeister stürmte herein, gefolgt von einem 226
Wachsoldaten, beide mit schmutzverkrusteten Schuhen. Sie blickten grimmig um sich und schienen vor Dienstei fer fast zu platzen. »Wo ist Euer Gehilfe Gabriel Appleby?«, fragte der Wachtmeister drohend. »Er ist unterwegs und stellt Waren zu. Warum? Wor um geht es?« Der Wachtmeister drückte dem Schneidermeister ein Papier in die Hand. »Verstoß gegen das sechste Gebot – du sollst nicht töten! Es geht um Mord!« Polternd stürm te er die Stiege hinauf in die Wohnetage, während der Soldat unten blieb, um sich im Laden und in der Werk statt umzusehen. »Für wen ist dieser Fetzen?«, fragte der Soldat und hielt mit spitzen Fingern ein fast schon fertig genähtes Kleid hoch. »Für eine bescheidene, fromme Dame«, erklärte der Schneider. Der Soldat riss die Ärmel ab. »Der Apostel Paulus sagte, wir sollen Gott gefallen wollen, nicht der Welt. Dieser Fetzen hier ist unschicklich, wahrlich kein Klei dungsstück für ein frommes Frauenzimmer«, erklärte er abschätzig und riss auch gleich noch das Oberteil ent zwei. »Bitte nicht!«, rief der Schneider flehentlich. »So etwas tragen nur Huren«, erklärte der Soldat ve hement und stach nun mit seinem Messer auf das Rock teil ein. »Die Weibsbilder sollten sich so schlicht kleiden, dass kein Mann auf dumme Gedanken kommt und im Geiste bei Gott verweilen kann.« »Schaut euch die an!«, rief der Wachtmeister, der Neil gerade die Treppe herunterschleifte. »Hat sich unter ei nem Bett versteckt! Wer ist sie?« 227
»Ich bin die Dienstmagd von Master Thankless«, japste Neil. »Und wo ist Gabriel Appleby?« »Bei meiner Ehre, Sir, das weiß ich nicht«, antwortete Neil. »Du weißt, was mit verlogenen Frauenzimmern pas siert«, fauchte der Wachtmeister, nahm ein leeres Glas und ließ es direkt vor Neils Füße fallen, wo es klirrend zersprang. Neil verschränkte die Arme vor der Brust und schien sichtlich verärgert über seinen rüden Ton und sein Benehmen. »Komm, schauen wir in der Küche nach«, sagte der Wachtmeister zu seinem Begleiter, und die beiden tram pelten ins Untergeschoss und begannen mit sichtlichem Vergnügen, die Küche auf den Kopf zu stellen. »Ist Euch noch immer nicht eingefallen, wo Euer Lehrling steckt?«, fragte der Wachtmeister. »Nein«, antwortete der Schneider. Der Wachtmeister ging an den Kamin und nahm einen Humpen vom Sims, den Master Thankless vor dem Bür gerkrieg von einem seiner Kunden geschenkt bekommen hatte. Bedächtig las er die Inschrift vor: »Ein Geschenk von Lord Selbury. Hm, warum kommt mir dieser Name bloß so bekannt vor? Ach ja! Eine schöne Hinrichtung vergess ich nie! Wenn ich mich recht erinnere, war er einer der Königstreuen, der sich als Wegelagerer ver suchte, nachdem seine Ländereien von unserem großen Führer Oliver Cromwell beschlagnahmt wurden.« Er warf den Humpen auf den Boden und stellte drohend sei nen Stiefel darauf. »Seid Ihr Euch immer noch sicher, dass Ihr nicht wisst, wo Euer Lehrling ist?« Master Thankless, dem inzwischen Schweißtropfen über die Stirn liefen, wiederholte sein »Nein«. Der Stiefel 228
trat zu und schon war der Humpen nur noch ein Scher benhaufen. Der Wachtmeister beugte sich vor, funkelte Master Thankless zornig an und spuckte ihm die nächsten Worte förmlich ins Gesicht. »Ihr kennt die Strafe, die auf Falschaussage steht. Nicht mehr lange und Ihr werdet neben Eurem Lehrling am Galgen baumeln.« Master Thankless schwieg. »Was haben wir denn da?«, rief der Soldat triumphie rend, schob den Küchentisch zur Seite und stieß die Kör be herunter. Die Falltür kam zum Vorschein. »Da unten ist nur ein Lagerraum, in dem ich meine Stoffe aufbewahre«, erklärte der Schneidermeister. »Aufmachen!«, befahl der Wachtmeister. Betont langsam hob Master Thankless die schwere Falltür hoch. Der Soldat stieß ihn unsanft aus dem Weg und stellte seinen Fuß auf die oberste Sprosse. In diesem Moment ertönte ein lauter Ruf aus dem La den und gleich daraufkam ein weiterer Wachsoldat in die Küche gestürmt. »Schnell! Kommt! Er ist auf der Bridge Street gesehen worden und läuft in Richtung Innenstadt!« Wie ein geölter Blitz sprang der erste Soldat wieder von der Hühnerleiter, rannte am Schneider vorbei und polterte, gefolgt vom Wachtmeister, die Treppe hinauf. Sie knallten die Ladentür so heftig zu, dass die ganze Hausfront bebte. Die allgemeine Erleichterung war unbeschreiblich. Keiner von uns wagte ein Wort zu sagen, bis sich der Tumult auf der Straße gelegt hatte. Master Thankless, Neil und ich standen in der Küche, inmitten des Chaos, und starrten auf die offene Falltür, bis Gabriel den Kopf herausstreckte. Da sah er das Durcheinander und die 229
Scherben. »Oh nein! Was habe ich Euch angetan!«, rief er aus. »Nichts, was nicht repariert oder wieder ganz gemacht werden könnte«, antwortete der Schneidermeister. »Doch einen Gehenkten kann nichts und niemand in dieser schönen Stadt wieder heil machen. Komm, versteck dich auf dem Dachboden.« »Schweine sind das, nichts anderes! Nein, schlimmer noch als Schweinemist!«, schimpfte Neil. »Schaut bloß, was sie angerichtet haben!« Wütend begann sie, die Scherben zusammenzulesen. »Haben den ganzen Stra ßendreck mitgeschleppt und überall verteilt. Diese Mist kerle! Ich könnte sie…« »Psst, Neil!«, sagte ich und musste mir angesichts ih rer Empörung ein Schmunzeln verkneifen. »Wie ich sie hasse!«, schimpfte Neil weiter. »Wenn nur der König hier wäre! Alles wäre mir lieber als Cromwell und seine Spießgesellen!« Den Rest des Tages verbrachten wir mit Aufräumen und in der Furcht, der Wachtmeister könnte zurückkeh ren. Doch erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit läutete es erneut, diesmal eher zurückhaltend. Danes, Hester und Kapitän Bailey huschten in den bereits abgedunkelten Laden und eilten hinunter in die Küche. »Wo ist Gabriel?«, fragte Hester, als sie ihren Umhang ablegte. »In Sicherheit«, konnte ich sie beruhigen. »Er ist oben auf dem Dachboden. Komm mit!« Wir kamen jedoch nur bis an die Stiege, die hinaufführte, denn Gabriel hatte sie gehört und kam uns entgegengeeilt. Als Hester sich in seine Arme warf, hielt ich es für angebracht, die beiden allein zu lassen, und kehrte in die Küche zurück. »Was war hier los?«, fragte Danes, als sie Neil mit ih 230
ren aufgelösten Haaren und einem Eimer in der Hand sah. »Der Wachtmeister und sein Soldat haben hier gewü tet, diese Schweine!«, erklärte Neil ruppig. »Sie wollten das ganze Haus auf den Kopf stellen. Und haben so gut wie alles kaputtgemacht, was sie in die Finger bekamen. Gibt es etwas Widerlicheres als diese Rundköpfe?« »Welche Freude, Euch zu sehen, guter Kapitän!«, sagte der Schneidermeister. »Falls die beiden Hüter des Geset zes zurückkommen, muss ich um mein Leben bangen.« »Dann kommen wir ja keinen Augenblick zu früh«, entgegnete der Kapitän. In diesem Moment traten Gabriel und Hester ein. »Ich habe niemanden ermordet, Sir«, beteuerte Gab riel, der vor lauter Sorge innerhalb des einen Tages um Jahre gealtert schien. »Das glaub ich dir, mein Junge«, sagte der Kapitän. »Aber wir sollten so schnell wie möglich aufbrechen. Hol deinen Umhang und deinen Hut. Mit der nächsten guten Flut will ich nach Frankreich segeln. Was sagst du dazu?« »Kann Hester bitte auch mitkommen, Sir?«, lautete Gabriels Kommentar. »Ausgeschlossen, mein Junge«, sagte der Kapitän la chend. »Dich nehme ich mit. Aber allein.« »Dann werde ich nicht gehen«, sagte Gabriel. »Ich kann nicht ohne Hester sein. Sie ist mein Leben.« Das Lächeln des Kapitäns erlosch. »Was sagst du dazu, Hester?«, fragte er. »Ich will nicht von Gabriel getrennt sein. Ich liebe ihn von ganzem Herzen.« »Tja, das ist ein schönes Dilemma«, meinte der Kapi tän und blickte Hilfe suchend den Schneider an. 231
Danes ergriff als Erste das Wort. »Der Wachtmeister wird nach einem einzelnen jungen Mann Ausschau hal ten. Wäre es da nicht sicherer, wenn sie als junges Ehe paar zusammen reisen? Und Hester kann wirklich nicht ohne Gabriel sein. Sie würde sich vor Kummer verzeh ren.« »Ich stimme Mistress Danes zu«, sagte Master Thankless nach kurzem Überlegen. »Es ist wirklich bes ser, wenn sie nicht hier bleibt. Denn wenn der Wacht meister sie findet, wird er sie gewiss mit Gewalt in die Thames Street zurückbringen.« »Genug geredet«, sagte der Kapitän. »Kommt, ihr zwei. Dann nichts wie weg von hier. Sobald wir auf See sind, werde ich euch trauen.« Nie habe ich Hester glücklicher gesehen als in diesem Moment und das galt auch für Gabriel. Was immer ihnen die Zukunft auch bringen würde, sie hatten einander! »Hier«, sagte Master Thankless und drückte Gabriel einen Beutel mit Münzen in die Hand. »Das müsste fürs Erste reichen.« »Ich kann Euer Geld nicht annehmen, Meister«, sagte Gabriel verlegen. »Keine Widerrede, junger Mann! Und ich hoffe, dass ihr zwei wieder nach Hause kommt, sobald sich die Sa che geklärt hat. Verstanden? Ab sofort bist du ein freier Geselle.« Master Thankless begleitete das kleine Grüppchen noch ein Stück mit der Laterne, um sicherzustellen, dass sie gut ans Ende der Brücke gelangten, denn es war di cker Nebel aufgezogen, der für eine Flucht natürlich wie gerufen kam. Wir blickten ihnen lange nach und waren sehr froh, als Master Thankless nach einer Weile zurück kehrte und uns berichten konnte, dass sie unbehelligt in 232
ein Boot steigen konnten und inzwischen den Tower pas siert haben müssten. Vor weiteren Besuchen des Wachtmeisters und des Soldaten blieben wir zum Glück verschont. Es gab viele, die sich meldeten und schworen, Gabriel gesehen zu ha ben, entweder in der Innenstadt oder in Bankside, wo früher Shakespeares Globe Theater gestanden hatte, und es wurde öffentlich verkündet, dass Gabriel Appleby, ein Lehrbursche aus der Bridge Street, polizeilich gesucht wurde. Doch damit war die Sache noch nicht zu Ende. Master Thankless war fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass die Anklage gegen Gabriel fallen gelassen wurde, und er und Danes waren zuversichtlich, dass das gelingen konn te. Der Sheriff zog eine Gerichtsprüferin hinzu, eine ge wisse Mistress Parfitt. In meinen Augen ist es eine ziem lich üble Aufgabe, herumzuschnüffeln und nachzuprüfen, wie die Leute gestorben sind, doch Mistress Parfitt war eine angesehene Person und stand im Ruf großer Tüch tigkeit. Sie erklärte, dass Tarbett Purman allem Anschein nach weder erstochen oder erdolcht worden, sondern ei nem furchtbaren Unfall zum Opfer gefallen war. Infolge dessen wurde seine Leiche nicht zur Bestattung freigege ben, was in den Augen von Danes und Master Thankless ein gutes Zeichen war. Die Pest entließ die Stadt allmählich aus ihrem Wür gegriff, und die Menschen kehrten nach und nach vom Land zurück, gierig auf neue Klatschgeschichten. Tarbett Purmans sonderbares und jähes Ende war ein beliebter Gesprächsstoff. Ein angesehener Apotheker erklärte sich bereit, die Leiche zu untersuchen, die – wie ich befürch tete – inzwischen sicher schon verwest und höchst unap 233
petitlich sein musste. Der Mann erklärte, dass die zahl reichen Wunden an Tarbett Purmans Leiche unmöglich von einem Dolch oder einem Messer stammen konnten. Es seien Wunden, deren Verursacher eher im Tierreich zu suchen sei. Seiner persönlichen Meinung nach, fügte er düster hinzu, könne es sich bei diesem Mord nur um ein Werk des Teufels handeln, was eindeutig belegte, sofern dies überhaupt noch nötig war, dass dieser auf der Erde sein Unheil trieb. Der Alligator war kein Teufel. Ich kannte jedoch je manden, der durchaus ein Teufel war, und diese Person trug den Namen Arise Fell.
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Das unsichtbare Seil
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ch hatte in letzter Zeit viel über Röcke nachgedacht und darüber, wie es möglich war, dass sie die Welt für uns Frauen so viel kleiner machten, als sie in Wirk lichkeit war. Befreit von Kleidern, unbelastet durch Schürzen, die eine Frau an Heim und Herd binden, ste hen einem Mann in seinen Beinkleidern fast alle Mög lichkeiten offen. Doch abgesehen davon, war mein kur zer heimlicher Besuch mit Gabriel in der Thames Street eine Enttäuschung gewesen, denn mein sehnlichster Wunsch, den Schatten zu finden, hatte sich leider nicht erfüllt. Ich träumte davon, mich wieder als Mann zu ver kleiden, denn ich sah keine andere Möglichkeit, um mich noch einmal in das Haus schleichen zu können. Inzwischen waren Gabriel und Hester seit einer Wo che fort und ich träumte Nacht für Nacht denselben Traum: Ich wurde von Jagdhunden verfolgt und musste um mein Leben laufen. Alles um mich herum war weiß, dicke Schneeflocken fielen vom Himmel und die Bäume des Waldes waren kahl und dunkel. Neben mir rannte ein Fuchs, der mich hin und wieder mit seinen braunen Au gen anschaute. Die Hunde und Jäger setzten uns weiter nach, doch ich konnte nur das große weiße Pferd sehen, dessen Umrisse sich deutlich vor dem dunklen Nacht himmel abzeichneten. Ich spürte den keuchenden Atem der Hunde hinter mir und befürchtete, mein Ende sei na he. 235
Dann waren die Hunde auf und über mir. Ich sah ihre gefletschten Zähne, die Speichelfäden, die von ihren Lef zen hingen. Doch dann merkte ich, dass sie es gar nicht auf mich abgesehen hatten. Mit heraushängenden Zungen umringten sie den Fuchs, bereit, ihn auf Kommando zu zerfetzen. Das Horn eines Jägers schallte über die Felder und ich sah Blutspuren im Schnee. An diesem Punkt wachte ich immer auf und spürte ge nau, dass ich nach dem Stundenglas meiner jetzigen Welt nicht länger warten durfte. Ich musste den Schatten fin den und Tycho retten. Master Thankless oder Danes konnte ich nichts von meinem Vorhaben verraten, denn die beiden hatten we gen Gabriel und Hester schon genügend Sorgen. Der Ge danke, dass mein Verschwinden sie noch mehr betrüben würde, bereitete mir schwere Gewissensbisse. Trotzdem blieb ich bei meinem Entschluss. Den gan zen trüben Tag lang ging ich mein Vorhaben im Geiste immer wieder durch. »Du bist so zappelig wie ein Sack voller Flöhe«, sagte Danes, als wir im Laden Stoffe falteten. Zu gern hätte ich ihr wie früher alles erzählt, doch nun brachte ich nur den ausweichenden Satz über die Lippen: »Wenn erst der König zurück ist, wird alles wieder gut werden.« »Damit hast du sicher Recht«, antwortete Danes, »doch wann wird das sein? Der alte Tyrann erfreut sich noch bester Gesundheit und herrscht über England wie ein König, obschon ihm die Krone fehlt. Ich fürchte, er wird uns noch eine ganze Weile in seinen eisernen Klau en halten.« Darauf wusste ich nichts mehr zu sagen, auch weil ich befürchtete, dass ich mich sonst möglicherweise verraten 236
hätte. Mit Schrecken dachte ich daran, dass dies viel leicht mein letzter Tag auf dieser Erde war. Sah ich mei ne geliebte Danes und Master Thankless heute vielleicht zum letzten Mal? Bei diesem Gedanken musste ich gegen aufsteigende Tränen ankämpfen. »Was bedrückt dich?«, fragte Danes unvermittelt. »Nichts«, antwortete ich und rang mir ein Lächeln ab. »Nichts, was eine Umarmung nicht mildern könnte.« Danes roch immer so herrlich nach frischem Brot und Lavendel, ein Geruch, der für mich Heimat bedeutete. Ich wollte diesen Geruch für immer in meiner Erinnerung behalten, um ihn wie ein Blumensträußchen überallhin mitnehmen zu können. Als wir gerade den Tisch für das Mittagessen deckten, kam Master Thankless in die Küche gestürmt. »Eben als ich den Laden abschließen wollte, kam Master Starling vorbei, um mir zu sagen, dass Hester und Gabriel sicher in La Rochelle angekommen sind«, rief er überglücklich, fasste Danes an den Händen und tanzte mit ihr durch die Küche. »Darauf müssen wir einen trin ken!« Und er holte seinen teuersten Brandy aus dem Schrank. Ich bemühte mich redlich, mich mit ihnen zu freuen, obwohl meine Hände so eisig kalt waren wie meine Füße und der Brandy auf meiner Zunge so bitter schmeckte wie meine Schuldgefühle. Was sie morgen sagen wür den, wenn sie mein Verschwinden bemerkten – daran wollte ich lieber nicht denken. Ich schrieb einen Zettel und legte ihn auf mein Bett, damit Master Thankless ihn morgen früh Danes vorlesen konnte. Ich hoffte, dass dies sie ein wenig trösten würde. Als alle zu Bett gegangen waren, schlüpfte ich zum zweiten Mal in die Kleidung eines jungen Mannes, wi 237
ckelte meine silbernen Schuhe in ein Tuch und stopfte sie unter mein Wams. Ich nahm sie mit in der Hoffnung, dass sie mich auf irgendeine – mir unerklärliche – Weise wieder in das Königreich meiner Mutter bringen würden. Als der Nachtwächter die mitternächtliche Stunde aus rief, tapste ich leise die Stiegen hinunter. Alles war ruhig. Ich blickte noch einmal kurz durch den Ladenraum und dachte, dass der noch hier sein würde, wenn ich fort war, und dieser Gedanke hatte etwas Tröstliches. Ich war froh über den Mondschein, denn mein Eltern haus lag in völliger Dunkelheit. Keine Laterne an der Fassade brannte. Unser Wappen mit dem Maulbeerbaum, das früher so stolz über dem Tor prangte, war verblasst, die Farben blätterten ab. Ich wickelte meinen Umhang enger um mich und blickte die Straße auf und ab, um ganz sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war. Das Gartentor ließ sich auch ohne Schlüssel öffnen. Ich hatte Danes schon oft dabei beobachtet und es auch selbst versucht, als ich noch klein war, obwohl mir damals die nötige Kraft fehl te. In dieser Nacht ging es ganz leicht. Ich steckte den Zeigefinger ins Schloss, drückte ein Häkchen zur Seite und das Tor war offen. Im fahlen Mondlicht sah der Gar ten vertrocknet und traurig aus, verkümmert mangels Pflege und Wasser. Als ich mich ins Haus schlich, herrschte rings um mich Totenstille. Im Flur brannte, genau wie bei meinem letzten Besuch, kein Licht. Trotz der Dunkelheit konnte ich vor der Hintertür, die zum Wassertor führte, einen wie Kraut und Rüben übereinander gestapelten Berg von Tischen und Stühlen ausmachen. Vermutlich sollte dieser merkwürdige Aufbau den Alligator fern halten, denn ei nen anderen Grund dafür konnte ich mir nicht vorstellen. 238
Auf einmal packte mich eine fleischige Hand von hinten am Arm. »Ich hab sie, Arise!«, rief Maud die Treppe hinauf. »Sie ist wie ein Junge gekleidet, aber ich kenne ihren Geruch.« Keine Antwort. »Arise!«, quiekte sie aufgeregt. »Hörst du mich? Sie ist zurückgekommen, genau wie du gesagt hast!« Ich entwand mich ihrem Griff. »Erspar dir die Mühe«, knurrte sie. »Diesmal ent kommst du uns nicht.« Sie sah sehr ungepflegt aus, hatte die Augen weit auf gerissen. Eine Haube trug sie nicht. Stattdessen hing ihr langes, dünnes Haar in zwei fettigen Zöpfen herab, und man konnte genau sehen, dass sie etliche kahle Stellen auf dem Kopf hatte. Ihr Atem roch nach ranziger Butter, und ihre Kleidung stank, als wäre sie seit langem nicht mehr gewaschen worden. Plötzlich tauchte oben auf dem Treppenabsatz ein Licht auf und Arise stand da. Er hielt eine Laterne in der Hand, deren Licht sich in seinen grünen Augengläsern spiegelte, was ihm das Aussehen eines Insekts verlieh. »Ann!«, rief er theatralisch aus. »Du bist zu uns zu rückgekehrt!« Im ersten Moment stieg meine alte Angst vor ihm wieder in mir hoch, doch ich nahm all meinen Mut zu sammen und rief: »Ann? So heiße ich nicht und das wisst Ihr genau!« »Wie kannst du es wagen, so mit einem Mann Gottes zu sprechen!«, rief Maud und holte aus. Beim Anblick ihrer drohend erhobenen Hand wäre ich fast wieder in meine alte hilflose Rolle zurückgefallen. Doch dann hör te ich eine Stimme in meinem Kopf, die ganz ruhig sagte: 239
Du bist größer als sie, du bist fast schon eine erwachsene Frau. Setz dich zur Wehr! Resolut packte ich ihr Handgelenk und fauchte: »Wagt es, mich anzufassen, Maud Jarret, und Ihr werdet es ewig bereuen!« Meine Stimme klang stark, wesentlich stärker, als ich mich fühlte. Zu meiner Überraschung wich sie zurück. »Arise«, krächzte sie nur, »bring sie um, damit wir wenigstens etwas vorweisen k…« »Schweig, Frau!«, befahl Arise und kam langsam die Stufen herab auf mich zu. Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf. Lieber sterbe ich, sagte ich mir, als mich von diesem buckligen Kerl noch einmal einschüchtern zu lassen. Er kam näher, mitsamt seiner Alkoholfahne, und ich fand es beruhi gend, dass er nicht mehr so groß war wie in meiner Erin nerung. »Was suchst du hier?«, fragte er. »Dasselbe wie Ihr«, erwiderte ich. »Und was könnte das sein?«, fragte er spöttisch weiter. »Feensilber«, sagte ich. »Hör nicht auf sie«, jammerte Maud. »Sie ist der Teu fel, der versucht, uns zu überlisten.« »Nein, das bin ich nicht«, erklärte ich mit fester Stim me. Ich sagte es für Hester, für Joan und für Danes. Ich sagte es für meinen Vater und ich sagte es auch für mich, Coriander. »Ihr seid es, der auf die Worte des Teufels gehört hat! Ihr seid es, der gemordet und betrogen hat, und das nur im Namen Eurer eigenen Habgier.« Arise lachte, ein hohles, verlegenes Lachen, und hob drohend die Hand. Ohne mit der Wimper zu zucken, fauchte ich ihn an: »Ihr selbst seid der einzige Teufel hier!« 240
In diesem Augenblick ging ein Ruck durch den Stapel von Möbelstücken, die krachend in sich zusammenstürz ten. Die Tür zum Fluss schwang auf. Arise ließ die Hand sinken, wich ein paar Schritte zurück und klammerte sich ans Geländer. Denn aus dem Durcheinander von Tischen und Stühlen ragte plötzlich die Schnauze eines beängsti gend großen Alligators. Ich blieb, wo ich war, während Maud zu Arise eilte, sich Hilfe suchend an ihn klammerte und ihn beschwor, sie zu beschützen. Er ließ seine Hand des Zorns auf sie niedersausen, doch sie ließ ihn nicht los. »Rette mich!«, kreischte sie, doch die Hand des Heils hielt eisern die Laterne fest, die hektisch hin und her baumelte, sodass Licht und Schatten über ihre entsetzten Gesichter huschten. Ich betrachtete die beiden Gestalten und verspürte nichts als Abscheu. Ich wusste, dass ich von dem Alligator nichts zu befürchten hatte. Er kam in den Flur und stellte sich neben mich, als hätte er nur auf mich gewartet. »Los, mach!«, brüllte Arise das Tier an. »Bring sie um! Bring sie um, genau wie du es mit Tarbett Purman gemacht hast!« Der Alligator hob langsam den Kopf und blickte mich an. Ich erriet seine Gedanken und nickte. Mit erstaunli cher Schnelligkeit bewegte sich die Bestie dann auf die beiden Gestalten am Treppengeländer zu. Maud stieß Arise hektisch zur Seite, um sich an ihm vorbei auf der Treppe in Sicherheit zu bringen. »Nein!«, rief Arise. »Das Mädchen!« Sein langer Fin gernagel richtete sich auf mich. Doch der Alligator ging unbeirrt weiter auf ihn zu. Ich folgte ihm. Der Alligator schnappte nach Arises Knöchel. Arise stieß einen markerschütternden Schrei aus und 241
versuchte, sein Bein aus dem Maul des Untiers zu ziehen. »Komm her und hilf mir!«, rief er verzweifelt die Treppe hinauf. Der Alligator ließ los. Arises Strumpf war blutge tränkt. Hektisch humpelte er die Stufen hinauf, drückte sich an der vor Angst wie versteinerten Maud vorbei und stolperte zum früheren Schlafzimmer meines Vaters. Ich hörte das Klirren von Schlüsseln. Maud rannte ihm nach, doch er schlug ihr die Tür vor der Nase zu. »Lass mich rein!«, rief sie und hämmerte mit beiden Fäusten an die Tür. »Nein, Frau«, rief Arise. »Es schert mich nicht, was aus dir wird!« Maud drehte sich zu mir und wimmerte: »Rosmore wird jeden Augenblick hier sein. Dann seid ihr beide er ledigt.« Der Alligator glitt auf sie zu. Maud konnte sich vor Angst nicht mehr rühren. Der Alligator musste nur einmal mit seiner schuppigen Pranke zuschlagen und schon gab die Tür nach. Doch bis auf die Laterne war das Schlafzimmer leer. Arise war auf die Fensterbank geklettert und streckte abwehrend seine Hand des Zorns aus, während er sich mit seiner Hand des Heils an den Fenstergriff klammerte. »Bleib mir vom Leib, Feenkind! Bleib weg!« »Wie lautet mein Name?«, fragte ich. »Ann«, antwortete er. Der Alligator klappte seinen mächtigen Kiefer auf. Die messerscharfen Zähne funkelten im Mondlicht. »Wie lautet mein Name?«, wiederholte ich. »Coriander«, rief Arise und ließ vor Angst den Schlüs selbund fallen. Er drückte sich so stark gegen die Bunt glasscheibe, dass diese unter seinem Gewicht knackte. 242
Mit einem lauten Klirren zerbrach die Scheibe dann und der Prediger stürzte in den vorbeifließenden Fluss. Ich rannte ans Fenster und schaute hinunter. Im dunk len Wasser der Themse war nichts zu sehen. Ich konnte nur hoffen, dass dies das Ende des Predigers war. Ich hob die Laterne und den Schlüsselbund auf und folgte dem Alligator die Stufen hinunter und zum Ar beitszimmer meines Vaters. Ich schloss die Tür auf. Der Raum war ebenso kahl und leer wie das Schlafzimmer im ersten Stockwerk. Der Alligator stand vor der Vitrine aus Ebenholz und riss erneut seinen mächtigen Kiefer auf. Ich blickte auf die spitzen, scharfen Zähne und sein eierschalenfarbenes Maul und musste plötzlich daran denken, wie ich damals als Kind hineingefasst hatte, um den Schlüssel für die Vitrine herauszuholen, in der meine silbernen Schuhe versteckt waren. Auf einmal wusste ich, was zu tun war. Ich kniete mich auf den Boden, und als das Licht der Laterne auf flackerte und plötzlich schwächer wurde, wehte der scharfe Wind von Rabenflügeln herein. Der Vogel kam ins Zimmer geflogen, gefolgt von Rosmore. Hastig erhob ich mich wieder. Der Alligator klappte das Maul zu. »Tja, Coriander, endlich sehen wir uns wieder.« Ros more trug einen langen, staubigen Umhang, der aussah, als sei er aus Spinnweben gemacht. Ihre unbarmherzigen, kalten Augen musterten mich. Cronus ließ sich auf ihrem ausgestreckten Arm nieder. »Sag, mein Schöner, was haben wir denn da?« »Eine leibhaftige Prinzessin, wie mir scheint«, antwor tete der Rabe. »Und wem sieht diese Prinzessin ähnlich?«, fragte Rosmore weiter. 243
»Wenn mich nicht alles täuscht«, krächzte der Rabe, »Eurer Stieftochter, Prinzessin Eleanor.« »Du kluger Vogel«, flüsterte sie. »Nun sag mir auch, woran ich immer denken muss, wenn ich den Namen Eleanor höre.« »Dass sie sich Eurem Befehl widersetzte, davonlief und sich einem gewöhnlichen Sterblichen in die Arme warf.« »Ah«, seufzte die Königin. »Welch schmerzliche Er innerung! Doch ihre Tochter kann diesen Fehltritt wieder gutmachen. Komm her, mein Kind, und gib mir endlich, was mein ist.« Während Rosmore sprach, halb zu dem Raben, halb zu mir, hatte ich über ihre Schulter hinweg eine Gestalt beo bachtet. Wie eine Riesenratte war sie zur Hintertür, die zum Fluss führte, hereingeschlüpft: ein tropfnasser Arise. Seine grünen Augengläser hatte er verloren, und man konnte nun sehen, dass seine blassen Augen die Farbe von Fischschuppen hatten. Der Rabe krächzte laut, als Rosmore herumwirbelte und einen Arm ausstreckte. Ein grüner Lichtstrahl aus ihrem Finger ließ Arise schmerzverkrümmt auf die Knie fallen. »Du hast dein Versprechen nicht gehalten!«, fauchte Rosmore. »Habgier und Selbstsucht haben dich über mannt.« »Woher sollte ich wissen, dass sie in der Truhe nicht sterben würde?« »Du Narr!«, rief sie mit bösem Lachen. »Du hast dir mutwillig meinen Arger zugezogen. Hast du dir etwa eingebildet, du könntest eine Feenkönigin überlisten? Hab ich dich nicht davor gewarnt, dich in Dinge einzu mischen, von denen du nichts verstehst?« 244
Ein weiterer grüner Lichtstrahl schleuderte Arise fast bis zur Decke, wo er sich wie ein wild gewordener Krei sel drehte, während das Flusswasser von seinem schwarz schimmernden Mantel tropfte. Maud versuchte, sich unauffällig zur Treppe zu schlei chen, die hinauf zum Dachboden führte. Als Rosmore dies sah, lachte sie höhnisch. »Nein, bitte«, winselte Maud. »Verschont mich, beste Frau!« In diesem Augenblick verzog der Alligator sein Maul zu einem Lächeln. Hastig bückte ich mich und zog die silbernen Marienfäden, den Schatten meiner Mutter, zwi schen seinen Zähnen hervor. »Gutes Mädchen«, sagte Rosmore, als sie sah, was ich in den Händen hielt. »Lasst ihn herunter«, bettelte Maud, näherte sich Rosmore und zupfte vorsichtig an deren Spinnwebenum hang. »Das haben wir nicht verdient. Lasst Arise herun ter, dann gehen wir fort.« »Schweig!«, fauchte Rosmore. »Ich lasse nicht mit mir spaßen. Ich habe euch ganz klar gesagt, was geschieht, wenn ihr mir nicht gehorcht.« »Ich wünsche mir doch nur, dass er sich keine Kno chen bricht«, flehte Maud weiter. »Ah, noch ein Wunsch! Nein, wie amüsant! Habe ich euch nicht gesagt, dass ihr sehr sorgfältig darauf achten sollt, was ihr euch wünscht?« Rosmore lachte wieder. »Vielleicht geht er ja in Erfüllung. Du wünschst dir also, dass die Knochen des Buckligen heil bleiben? Das kannst du haben!« »Nein!«, rief Arise erschrocken aus. »Das wünscht sie sich nicht!« Grünes Licht blitzte aus Rosmores Finger, schlängelte 245
und wand sich durch die Luft, bis hinauf an die Decke, wo Arise sich noch immer im Kreis drehte. Seine Hände griffen nach dem Seil aus Licht, und auf einmal sackte er nach unten, als steckte sein Kopf in der Schlinge des Henkers von Tyburn, und sein Körper zuckte und ver drehte sich. Dann regte er sich plötzlich nicht mehr. Ich wusste sofort, dass Arise Fell tot war. Maud kreischte wie eine Wahnsinnige. »Schweig, du hirnloses Weibsstück!«, rief Rosmore ungehalten. »Schweig, sonst wirst du ihm gleich Gesell schaft leisten!« Maud schlug sich ihre dicken Wurstfinger vor den Mund und starrte benommen auf das Knochenbündel zu ihren Füßen. Ungerührt wandte sich Rosmore wieder an mich und flüsterte Cronus zu: »Sag es ihr, mein Schöner! Sag ihr, dass sie ihn mir geben soll. Sag du es ihr!« Ich schaute auf den silbrigen Schatten in meinen Hän den, der sich unter meinem staunenden Blick auf meine Haut legte und mit ihr verschmolz, bis er spurlos ver schwunden war. Der Rabe flatterte ungläubig mit seinen breiten Flü geln und auf dem Fußboden lag plötzlich wieder ein kleiner, ausgestopfter Alligator. Ich sagte mit einer Stimme, die wie aus weiter Ferne zu kommen schien: »Das ist der Schatten meiner Mutter. Er gehört mir!« Der Raum begann zu verblassen, Rosmore wurde zu einem dünnen Schleier. Nur noch ihre Stimme war zu hören, die zischte: »Ich werde dich töten. Du entkommst mir nicht!« Ihre Worte verhallten nach und nach und dann war sie ganz fort. 246
Ich fühlte mich so, wie sich ein Vogel in der Luft füh len muss, wenn er aus großer Höhe auf eine Stadt herun terblickt, als zuerst die Häuser der Thames Street und dann ganz London unter mir verschwanden. Und ich wusste genau, wo ich war. Somit wäre der fünfte Teil meiner Geschichte erzählt und eine weitere Kerze erlischt.
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TEIL SECHS
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Die Nacht des Fuchses
I
ch war allein in einem Wald, rings um mich herum tanzten Schneeflocken und das spärliche Licht fiel in gespenstischem Blau durch die dunklen Bäume. Diesen Ort kannte ich nur zu gut. Seit ich bei Master Thankless in der Bridge Street lebte, hatte ich oft davon geträumt. Das war die Stelle, wo sie den Fuchs erschießen wollten. Ich hörte das Horn eines Jägers und begann zu rennen. Ich befand mich wieder in meinem Albtraum, doch diesmal würde es kein Erwachen geben. Ich rannte und rannte! Ich rutschte aus, stolperte, fiel, richtete mich wieder auf und hastete weiter, bis ich schließlich vor Erschöpfung nicht mehr konnte. Mein Atem stieg in die Luft wie Dampf, der aus einem Koch topf entweicht. Wie festgefroren vor Angst stand ich da, schloss die Augen und hoffte, nur ein blauer Lichtpunkt zu sein, obwohl ich tief in meinem Herzen wusste, dass dem nicht so war. Ein Schauer überlief mich, als ich plötzlich den heißen Atem eines Pferdes in meinem Nacken spürte. Ich wirbel te herum und erblickte Tychos weißen Hengst. Meine Er leichterung war groß, doch leider nur von kurzer Dauer. Die Rufe der Jäger kamen näher, schallten von Baum zu Baum, hallten durch den gefrorenen Wald. Waren sie hinter mir oder vor mir? Ohne lange zu überlegen, packte ich die Mähne des Pferdes und schwang mich mit großer Mühe auf seinen Rücken. Noch nie zuvor hatte ich auf 249
einem Pferd gesessen, und ich war mir sicher, dass ich in kürzester Zeit herunterfallen würde. Doch es war, als spürte das Pferd meine Furcht, denn es verlangsamte den Schritt, bis ich mich an seinen Rhythmus gewöhnt hatte. Erst dann fiel es in einen kraftvollen Galopp. Ich klam merte mich an ihn, als ginge es um mein Leben. Wir ließen den Wald hinter uns und galoppierten über Wiesen und Felder, die von Stechpalmen gesäumt waren und wie Ausschnitte aus Danes’ Handarbeiten aussahen. Meine Haube rutschte mir vom Kopf und mein Haar flat terte im Wind. Als ich einmal wagte, den Kopf zu dre hen, konnte ich in einiger Entfernung verschwommen die Umrisse der Jäger erkennen. Wir ritten ohne Halt weiter, bis der Schimmel schließ lich auf einem Hügel stehen blieb. Von hier aus konnte ich ins Tal blicken. Aus den verschneiten Baumwipfeln ragte ein Turm. In seiner Nähe entdeckte ich mehrere kleine Weiler, die in Bodensenken lagen. Rauch quoll aus den Schornsteinen. Was hätte ich nicht dafür gege ben, im Moment auch gemütlich irgendwo an einem warmen Feuer sitzen zu können! Die Nacht brach herein, der Mond zeichnete sich als wässerige Träne am Himmel ab. Die Kälte war mir bis ins Mark gedrungen. Schneeflocken wirbelten mir ins Gesicht, meine Finger waren taub. Ich erschrak, als ich eine schwarze, von vier feurigen Rappen gezogene Kut sche erblickte, die wie ein gezücktes Messer durch die weiße Winterlandschaft in Richtung des Turms schoss. Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Rosmore war in der Nähe! Als könnte der Schimmel er neut meine Furcht spüren, zog er sich rasch in den Schutz der silbrigen Bäume zurück. Als ich das Heulen von Wölfen und den Ruf einer Eule hörte, vergrub ich das 250
Gesicht in der weichen Mähne des Pferdes und suchte Trost in seiner Wärme, in seinem Geruch. An einer verfallenen Hütte blieb das Pferd schließlich stehen und scharrte ungeduldig mit den Hufen. Ich glitt von seinem Rücken und betrachtete den ungastlichen Ort. Als das Pferd mein Zögern bemerkte, schob es mich sanft vorwärts, durch das von einem eisigen Wind aufgewühlte Schneegestöber. Meine Zähne klapperten, und ich war inzwischen so durchfroren, dass ich meine Hände nicht spüren konnte, als ich die Tür aufstieß. Blinzelnd stand ich im Türrahmen und starrte ins Dunkel. »Ist da jemand?«, rief ich leise und erschrak zutiefst, als mir ein schwaches Stöhnen antwortete. »Wer ist da?«, wisperte ich. Als wäre er neugierig darauf, die Antwort auf meine Frage zu hören, schien plötzlich der Mond herein, und in seinem fahlen Lichtschein erblickte ich einen verwunde ten Fuchs. Ein Pfeil steckte in seiner Seite, aus der Blut auf die Holzdielen tropfte. »Nein!«, schrie ich. »Bitte nicht! Das darf nicht sein!« Ich kniete mich neben den Fuchs und hielt seine Pfote. Ich war zu spät gekommen! Der Fuchs lag im Sterben, seine dunklen Augen waren trüb. Während ich sein Fell streichelte, liefen mir dicke Tränen übers Gesicht, und ich hatte das Gefühl, in meinem Kummer zu ertrinken. Mit erschreckender Klarheit wurde mir bewusst, dass Rosmore mich, genau wie Tycho, jagen und töten lassen würde. Und weshalb? Wegen eines Schattens, von dessen Kräften ich nichts wusste. Sollte ich mich wie ein Lamm hinlegen und mit dem Fuchs zusammen sterben? Ver zweiflung überwältigte mich. Was nützte es schon, sich noch länger zu wehren? Ich schluchzte und meine silbri 251
gen Tränen tropften auf das blutgetränkte Fell des Fuch ses. Ein namenloser Schmerz bemächtigte sich meiner, der Schmerz um alles, was ich verloren hatte, um alles, was hätte sein können. Plötzlich erwachte ich wie aus einem tiefen Schlaf und begriff nicht, was passiert war. Ich lag zusammengekau ert auf dem Fußboden, war mit einem Fell zugedeckt. Das kühle Licht eines Wintermorgens fiel durch die schadhaften Fensterläden, Schnee wehte ins Innere des Raumes. Den sterbenden Fuchs konnte ich nirgends ent decken, nur ein Häufchen zierlicher Tierknochen lag da. Wenn er letzte Nacht gestorben war, musste er noch hier liegen! Doch ich konnte in der leeren Hütte weit und breit keine Spur von dem Fuchs entdecken. War alles nur ein Traum gewesen? Was konnte pas siert sein? Wo war der Fuchs? Wo war das weiße Pferd? Ich fühlte mich mit einem Mal sehr verlassen, völlig al lein mit meiner Angst. Meine Glieder waren steif vor Kälte, doch ich sprang so hastig auf, dass sich die kleine Hütte um mich zu dre hen begann und ich mich an einem Holzregal abstützen musste. Im Kamin war ein schwaches Flämmchen zu sehen, das um sein Überleben kämpfte. Wer hatte es an gezündet? Der Pfeil, der letzte Nacht vermutlich noch in der Flanke des Fuchses gesteckt hatte, lehnte neben ei nem Stapel Brennholz. Blinzelnd starrte ich auf das verstaubte Regal. Spielten mir meine Augen einen Streich oder lag da wirklich ein wunderschön gearbeitetes, mit Diamanten geschmücktes goldenes Medaillon? Was hatte ein solcher Schatz in die ser verlassenen Hütte zu suchen? Wer hatte es hierhin gelegt? »Ich wusste, dass du kommen würdest«, hörte ich da 252
eine sanfte männliche Stimme hinter mir sagen. »Ich wusste, dass ich dich wiedersehen würde. Dass du kom men und mich retten würdest.« Ich wirbelte herum. Im Türrahmen stand ein junger Mann mit langem, wirrem Haar und einem Bart, der fast sein ganzes Gesicht bedeckte. Er wirkte so ungepflegt, dass ich mich im ersten Moment an ein wildes Tier erin nert fühlte. Die Kleidung schlotterte um seinen dürren Körper, als würde sie jemand anderem gehören. »Coriander, deine Verkleidung kann mich nicht täu schen. Erkennst du mich denn nicht?«, fragte er. Ich starrte ihn an. Ja, die Stimme erkannte ich wieder, auch die schönen braunen Augen, die mir so vertraut schienen. »Tycho?«, fragte ich ungläubig, als würde ich meinen eigenen Worten nicht trauen. »Richtig«, sagte er und trat einen Schritt näher. Er be wegte sich, als sei ihm sein eigener Körper fremd. »Ich… ich verstehe nicht«, stammelte ich. »Gestern Abend warst du ein verwundeter Fuchs mit einem Pfeil im Leib.« »Coriander, seit ich mich geweigert habe, Unwin zu heiraten, bin ich ein Fuchs. Rosmore hat mich mit einem Fluch belegt. Deshalb musste ich mich hier in Medlars Hütte verkriechen.« »Medlar?«, wiederholte ich. »Du kennst ihn?« »Sehr gut sogar«, antwortete Tycho. »Medlar war da von überzeugt, dass du wieder kommen und den Schatten mitbringen würdest, und er hat auch mich in dieser Hoff nung bestärkt. Nur wegen dieser Hoffnung in meinem Herzen konnte ich so lange um mein Überleben kämpfen und so lange durchhalten.« »Ich wünschte, ich hätte früher kommen können«, sag te ich. »Doch es war mir nicht möglich.« 253
»Ich habe dich betrachtet, während du schliefst, und mich gefragt, warum mich deine silbernen Tränen heilen konnten. Ich kann es mir nur so erklären, dass du den Schatten mitgebracht hast. Habe ich Recht?« Ich nickte. »Ich danke dir von ganzem Herzen«, sagte Tycho überschwänglich und kam auf mich zu. Erschrocken wich ich zurück. »Entschuldige«, sagte er betrübt und ließ den Kopf hängen. »Du findest mich abstoßend, so wie ich im Moment aussehe.« »Nein«, antwortete ich. »Das nicht, aber ich bin be stürzt, dich in diesem Zustand zu sehen. Ich hatte gehofft, wenn ich den Schatten mitbringe, wäre alles gut.« »Der Zauber wird erst dann endgültig gebrochen sein, wenn Rosmore nicht mehr ist.« Ich schämte mich meiner Reaktion. Es stimmte, er sah anders aus als früher. Doch er war immer noch der Mann, an den ich in London Tag für Tag gedacht hatte. Was hatte der Arme alles durchgemacht, und wie einsam und verlassen musste er sich gefühlt haben, da außer seinem Schimmel ihm niemand Gesellschaft geleistet hatte! Er ging zu dem Regal, griff behutsam nach dem gol denen Medaillon und ließ es aufschnappen. Eine süße Musik füllte den kargen Raum, sanft wie eine Schlafme lodie. Sie klang sehr fremd an diesem kalten, verlassenen Ort, und ich fühlte mich an meine Mutter und an unser Haus in der Thames Street erinnert, damals als meine Welt noch in Ordnung gewesen war. »Hier«, sagte Tycho und zeigte mir ein winziges Bild nis, das wie ein Fingerabdruck in dem goldenen Medail lon lag. »Das bist du. Aber das Bild wird dir nicht ge recht. Du bist viel, viel schöner. Deine Augen sind grün wie ein Fluss.« 254
»Wo hast du es her? Wer hier hat gewusst, wie ich aussehe?« »Medlar ist dir in die andere Welt gefolgt. Er kennt Mittel und Wege.« Ich trat auf Tycho zu und ergriff seine Hände. »Ich freue mich von ganzem Herzen, dich wiederzusehen.« Er schaute mir tief in die Augen. »Seit unserem ersten Treffen verging kein Tag, an dem ich nicht an dich ge dacht hätte.« »Mir erging es nicht anders. Ich habe mir oft ge wünscht, dich wiederzusehen«, sagte ich errötend. »Aber gewiss nicht in diesem Zustand«, sagte er la chend. »Rosmore ist zurück«, sagte ich leise. »Gestern Abend sah ich ihre Kutsche.« »Dann müssen wir von hier fort!« Er ging zur Ein gangstür und stieß einen langen, leisen Pfiff aus. Nichts geschah. Das weiße Pferd ließ sich nicht bli cken. Tycho pfiff ein zweites Mal. Totenstille lag über den verschneiten Wiesen und Feldern. Selbst der Wind schien gefroren zu sein. Etwas stimmte hier nicht! »Coriander!«, rief Tycho. Er schloss hastig die Tür, rannte auf mich zu und riss mich zu Boden. Und noch im selben Moment schoss der Rabe zum Fenster herein. Die morschen Fensterläden zersplitterten und der Riesenvo gel stürzte sich mit ausgestreckten Klauen auf uns. Tycho warf sich schützend auf mich, als Cronus angriff und mit seinen scharfen Klauen Tychos Wams zerfetzte. Mit blo ßen Händen schlug Tycho nach dem Vogel, der daraufhin mit rauschenden Flügeln das Weite suchte. »Du bist verletzt«, sagte ich bestürzt und streichelte Ty chos Arm. Ein silbriger, hauchdünner Lichtstrahl kam aus meinem Finger und die Wunde war nicht mehr zu sehen. 255
Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Denn ich hatte Angst. Große Angst. »Was war das?«, fragte ich. »Hab keine Angst, Coriander«, sagte Tycho. »Der Schatten gehört dir zu Recht. Er ist in dir und niemand kann ihn dir wegnehmen, es sei denn, du lässt es zu.« Er griff nach einem Stock und öffnete die Tür einen Spaltbreit. »Was hast du vor?« »Wir müssen fliehen.« »Nein«, sagte ich und zog ihn zurück. »Schau!« Ich zeigte auf das Feuer, dessen Flammen wie auf ei nem Gemälde plötzlich kerzengerade in die Höhe fla ckerten. Das hatte ich schon einmal gesehen, damals bei meinem ersten Zusammentreffen mit Rosmore auf der London Bridge! Deshalb war ich ganz sicher, dass sie auch jetzt in der Nähe war. Tycho machte die Tür wieder zu und ging vorsichtig ans Fenster. Draußen war das Schnauben und Wiehern von Pferden zu hören. Die Jäger waren da! »Glaubt ihr wirklich, ihr könnt entkommen? Wenn ihr euch da nicht täuscht!«, krächzte der Rabe hämisch und so laut, dass er das ohrenbetäubende Bellen der Jagdhun de übertönte. Wir kauerten uns an die Wand der Hütte, Tycho noch immer mit dem Stock in der Hand. »Kommt heraus, sonst hetzen wir die Hunde auf euch!«, kreischte Cronus. In Tychos Augen blitzte der nackte Zorn auf. Ich klammerte mich an seinen Arm und hatte große Angst, er könne etwas Unbedachtes tun. Zwei groß gewachsene, kräftige Jäger standen plötzlich in der Tür. Wir waren verloren! Tycho richtete sich auf und stürzte sich auf sie, 256
um mich zu beschützen. Sie holten aus und Tycho flog rückwärts durch den ganzen Raum. Ich rannte zu ihm und berührte sein Gesicht. Erneut sah ich das geheimnisvolle Licht von mir zu ihm fließen. Er richtete sich wieder auf. »Was habt ihr hier zu suchen?«, fauchte er die Jäger an und zog mich hinter seinen Rücken. »Für dich interessieren wir uns nicht mehr«, antworte te einer der beiden Jäger abfällig. »Wir wollen das Mäd chen. Also geh aus dem Weg, sonst bist du ein toter Mann!« »Bitte, Tycho«, rief ich besorgt. »Tu, was sie sagen!« Der Jäger stieß Tycho von mir weg, der jedoch erst aufgab, als ihm der Jäger den Arm um den Hals gelegt hatte. Der andere packte mich und zerrte mich von Tycho weg, als wäre ich nur eine Puppe. »Und was machen wir mit dem?«, sagte der andere und versetzte Tycho einen Rippenstoß. »Nimm ihn mit!«, sagte der Jäger, der mich festhielt. »Sobald er wieder ein Fuchs ist, kann die Jagd weiterge hen!«
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Die Macht des Schattens
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s muss gegen Mittag gewesen sein, als wir endlich beim Turm angelangten. Dieser war düster und be drohlich, ein Ort, den nicht einmal die Sonne bescheinen wollte, und ich wusste, dass dieser Turm auf dem Ge mälde meiner Mutter abgebildet war. Ein eiskaltes Ge fühl der Panik ergriff mich. Der Turm war hoch, sehr hoch, erbaut aus schwarzen Steinen. Er hatte keine Fenster und lag in einer trostlosen Gegend. Selbst die Bäume hielten respektvollen Abstand ein, denn nichts gedieh an diesem frostigen Ort. Die Jäger und ihre Hunde schleppten Tycho auf eine Seite des Turms und banden ihn an einen Pfahl. Ich wur de unsanft ins Innere gestoßen. »Nein!«, brüllte Tycho und kämpfte wie ein wildes Tier, um sich zu befreien. »Lasst sie gehen! Nehmt mich, nicht sie! Lasst sie frei!« Ein Jäger ließ seine Reitgerte durch die Luft sausen. »Schnauze, Fuchs!«, rief er, gab mir einen Stoß und warf die Tür hinter mir zu. Die Stille an diesem düsteren, feuchten Ort war be ängstigend, und ich hatte das Gefühl, als würden die Steinmauern jegliche Wärme aus meinem Körper saugen. Ein unnatürlich grünes Schimmern flirrte in der Luft, und ich erblickte Stufen, die schon von vielen Füßen ausge treten worden waren. Bestimmt hatten alle, die jemals dort hinaufgegangen 258
waren, es wie ich mit schwerem Herzen und noch schwe reren Schritten getan. Die Stufen führten zu einer Eichentür, die sich knar rend öffnete, als hätte sie nur auf mich gewartet. Ich fand mich in einem Raum mit nur drei Wänden wieder, dessen Decke in einer Spitze auslief. Die Wände bestanden aus schließlich aus kleinen grünen Glasscheiben. Es war, als sei man tief unter Wasser. Rosmore saß in einem prunkvollen Sessel, dessen Rü ckenlehne wie riesige hölzerne Schwingen geschnitzt waren. Sie selbst wirkte in ihrem dunkelvioletten Ge wand und mit einer Stola aus Rabenfedern wie ein son derbarer Vogel, der nicht fliegen konnte. Sie hielt einen Spiegel in der Hand und neben ihr thronte Cronus auf einer Stange und beäugte mich aufmerksam. Ich stand reglos da und versuchte, möglichst ruhig zu atmen. Ich zitterte vor Kälte und Angst und war vor Hunger so geschwächt, dass meine Wahrnehmung mir einen Streich spielte, denn ich glaubte plötzlich, eine endlose Reihe von Rosmores zu sehen, eine hinter der anderen, bis ins Unendliche. »Ich habe viel zu lange auf diesen Tag warten müs sen«, sagte sie und streichelte über den Kopf des Raben. »Nicht wahr, mein Schöner?« »Viel zu lange«, bestätigte Cronus. »Was habe ich mit Euch zu schaffen?«, fragte ich kühn, obwohl ich ganz weiche Knie hatte. Rosmore lachte, und ihr Gesicht, scharf wie ein Mes ser, rückte in mein Gesichtsfeld, als sie sich zu mir vor beugte. »Was wohl? Hat deine Mutter es dir nie erzählt? Muss ich es dir sagen?« »Oh ja, tut es!«, krächzte der Rabe. 259
»Dann hör gut zu, Coriander. Vor vielen, vielen Jah ren, lange vor deiner Geburt, kam mir zu Ohren, dass deinem Großvater, König Nablus, eine Tochter geboren wurde, gesegnet mit dem Schatten des ewig währenden Lichts. Oh, Cronus, sieh nur! Coriander ist verblüfft! Weißt du, wie selten ein solcher Schatten ist? Er ist die wertvollste Gabe, die eine Fee besitzen kann, und mir war sofort klar, dass er eigentlich für mich bestimmt ge wesen war! Ganz gewiss nicht für irgendeine erbärmli che, weinerliche Göre, die diese seltene Gabe gar nicht zu schätzen wusste!« »Ich verstehe es trotzdem nicht…«, sagte ich. »Das überrascht mich nicht«, schnaubte Rosmore. »Du bist deiner Mutter Kind, wie ich sehe. Der Schatten birgt Schönheit. Der Schatten birgt das Leben selbst. Er birgt Macht, unermessliche Macht. Mit ihm werde ich über dieses Reich herrschen.« »Ganz recht«, ließ Cronus sich vernehmen, »und des halb schmiedeten wir einen Plan. Ihr brachtet König Nablus’ Gemahlin ein Geschenk. Und bedauerlicherwei se war sie dann innerhalb einer Woche tot.« Rosmore legte sich die Hand aufs Herz. »Was für ein Verlust!«, rief sie theatralisch aus. Ich wich zurück. Siedend heiß fiel mir der Tag ein, an dem meine Mutter erkrankt war. Wie sie fiel, wie die Perlen über den Fußboden hüpften, wie der Rabe mit sei nen Flügeln die Glasscheibe zertrümmert hatte. Cronus! Ich schnappte nach Luft, als wäre ich geschlagen worden. Rosmore war nicht nur für den Tod meiner Großmutter, sondern auch für den Tod meiner Mutter verantwortlich! »Dein armer Großvater, der so unvermittelt allein mit seinem Neugeborenen dastand, war natürlich untröstlich. Es war wahrlich nicht leicht, den trauernden König dazu 260
zu überreden, sich mit mir zu vermählen und mir seine kleine Tochter Eleanor anzuvertrauen.« Sie lachte. »Wie süß und empfindsam sie war! Oh, und wie ich es genoss, ihr das Leben zur Hölle zu machen! Aber natürlich hatte ich dank eines Zaubers dafür gesorgt, dass der König geblendet war und nichts davon mitbekam.« Rosmore hielt den Spiegel hoch und richtete ihn auf mich. Ich fiel auf die Knie und hielt mir den Bauch. »Wie könnt Ihr so grausam sein!«, rief ich. Mir war, als würde eine unsichtbare Hand an meinen Eingeweiden zerren, und ich sah mit Bestürzung einen Hauch des silbrigen Schattens aus meinem Körper ent fliehen, wie angezogen von der dunklen Oberfläche des Spiegels. Die zarte silbrige Wolke schwebte zwischen uns in der Luft. Rosmore beugte sich mit dem Spiegel noch ein Stück näher zu mir. »Törichtes Mädchen! Ich habe den rechten Augen blick abgewartet, ließ eigens diesen Spiegel anfertigen, der den Schatten einfangen kann, und wartete, bis Elea nor etwa in deinem Alter war. Doch sie floh und glaubte, mich damit überlistet zu haben. Nun jedoch wird der Schatten endlich mein sein! Du kannst mir nicht lange Widerstand leisten. Du bist eine Närrin, dass du es über haupt versuchst!« Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf die Armlehne ihres Sessels. »Aber wenn du noch eine Weile leiden willst, bitte schön! Ich habe schon so lange gewartet, da kommt es auf ein paar Minuten mehr oder weniger nicht mehr an!« »Was macht Ihr mit mir?«, keuchte ich. Ich litt Höl lenqualen, als mir der Schatten nun mit unsichtbarer Ge walt entrissen werden sollte. »Ich hole mir nur, was mir rechtmäßig zusteht.« Ich nahm mir vor, sie zum Weiterreden zu ermuntern, 261
denn ich hatte gemerkt, dass die Schmerzen etwas erträg licher wurden, wenn sie redete. »Der Schatten eines Kindes ist noch sehr unfertig. Das volle Ausmaß seiner Kraft besitzt er erst, wenn er ausge wachsen ist. Ich habe für deine Mutter eine Heirat arran giert und wollte ihr den Schatten in der Hochzeitsnacht stehlen.« Ich fühlte meine Kräfte zusehends schwinden, schaffte es aber noch zu fragen: »Was hat Euch daran gehindert?« Rosmore stellte abrupt das Trommeln ein und antwor tete wütend: »Eleanor, Eleanor! Allein schon ihren Na men zu hören, machte mich krank! Sie dachte, sie könne mich austricksen. Heiratete einen Sterblichen, ging nach London, baute ein Kräutergärtchen an, heilte Kranke!« Rosmore lachte verächtlich. »Und was hat es ihr ge bracht? Sie sah sich als Hexe, als weise Frau. Ha, sie fand genau das Ende, das sie verdient hatte!« »Ihr habt sie umgebracht!«, brüllte ich. »Und wenn dem so wäre? Deine Mutter hatte ge glaubt, sie könne den Schatten von mir fern halten. Sie hat ihn in einer mit Blei verstärkten Schatulle versteckt, damit ich ihn nicht finden konnte. Ganz schön klug, denn wir können nicht durch Blei blicken.« »Lasst mich gehen!«, rief ich flehentlich. »Oh nein! Du wirst sterben, genau wie deine Mutter, aber erst, wenn ich den Schatten habe! Soll ich dir verra ten, wie ich dich gefunden habe?« »Nein!«, kreischte ich. »Medlar«, fuhr Rosmore seelenruhig fort. »Medlar hat dem König berichtet, dass er eine Enkelin habe. Cronus hat das Gespräch zufällig mit angehört, nicht wahr, mein Schöner?« »In der Tat«, bestätigte der Rabe. 262
»Und der König hatte nichts Besseres zu tun, als für die kleine Prinzessin ein Paar silberne Schuhe anfertigen zu lassen.« »Was?«, rief ich. »Es war der König?« »Dein Großvater. Du weißt, wer du bist. Aber glaubst du, ich hätte mich so schnell geschlagen gegeben? Ich be legte die Schuhe mit einem Zauber. Und ich reiste zur London Bridge, um dich zu sehen. Ich wollte mir Eleanors Tochter ansehen. Du kommst ganz nach ihr. Ein schwa ches Wesen, ein Schmetterling, dem man die Flügel aus reißen, ein Mäuschen, mit dem man spielen kann.« Während sie sprach, tat ich mein Möglichstes, um den Schatten in mir zu halten. Aber ich hatte große Angst, dass sie noch stärker ziehen würde, denn dann wäre ich vermutlich gestorben. »Gib auf!«, befahl sie. »Gib endlich auf, in deinem ei genen Interesse.« Ich lag bereits schmerzverkrümmt auf dem Boden, als ich plötzlich die Stimme meiner Mutter hörte. Und sie klang ruhig und sicher, als sie sagte: »Coriander, du hast den Schatten noch. Halte ihn fest! Sie kann ihn dir nur wegnehmen, wenn du es zulässt!« Mühsam hob ich den Kopf und schaute Rosmore an. Ich sah ihren Mund, der wie eine offene Wunde aussah, hörte jedoch keinen Ton. Ich wusste nicht genau, wer sie war, doch ich hasste sie glühend, weil sie meine Mutter getötet und meine heile Welt zerstört hatte wegen ihrer maßlosen, erbärmlichen Habgier. Je mehr ich mich auf diese Gedanken konzentrierte, desto erträglicher wurden die Schmerzen, und ich merk te, dass ich wieder in der Lage war, mich zu erheben. Als ich das tat, fühlte ich, wie das silbrige Licht langsam wieder in meinen Körper eindrang. 263
Rosmore trat näher. »Wage es nicht!«, fauchte sie und streckte den dunk len Spiegel wie eine Waffe aus. »Der Spiegel, Coriander«, hörte ich die Stimme mei ner Mutter sagen, »der Spiegel!« Mit neuer Zuversicht streckte ich meine Hand nach dem Spiegel aus. Silbriges Licht strömte aus meinen Fin gerspitzen, und als ich Rosmore den Spiegel mit einer schnellen Bewegung wegriss, versank der Schatten wie der vollständig unter meiner Haut. Nun hatte ich die Macht, die ich brauchte, und wusste mit einem Mal genau, was ich tun musste. Ich richtete den Spiegel auf Rosmore. Sie zuckte zusammen, fasste sich aber recht schnell wieder. »Glaubst du, du könntest mich überlisten? Dir werde ich es zeigen! Das Tageslicht sei ausgelöscht!«, befahl sie. »Der Prinz möge wieder ein Fuchs sein!« Sie hob die Hand und der Himmel verdunkelte sich urplötzlich und wurde so schwarz wie mitten in tiefer Nacht. Der Rabe erhob sich von seiner Stange und schwang sich immer höher bis zur Spitze des gläsernen Dachs. Von dort aus stürzte er sich pfeilschnell auf mich herab. Ich hob beide Hände, um ihn abzuwehren, und sah, wie das Licht des Schattens aus meinen Fingern strömte und den Raben einfing, um ihn mit voller Wucht auf den Steinboden zu schleudern. »Cronus, mein Schöner!«, rief Rosmore erschrocken aus, ehe sie sich bleich vor Zorn an mich wandte. »Ver flucht mögest du sein, Mädchen! Dafür werde ich dich töten!« Die Zeit schien sich plötzlich zu verlangsamen. Ich konnte Rosmores Gezeter hören. Ich sah den Raben mit einem herabhängenden Flügel über den Boden humpeln. 264
Und mit einem Mal wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich ließ all meinen Zorn, all die Trauer und allen Kummer um das, was mir widerfahren war, in mir aufsteigen. Die se Gefühle waren wie ein verworrenes, verheddertes Wollknäuel, das an die Oberfläche stieg, den Spiegel durchdrang und wie ein abgeschossener Pfeil mitten in Rosmores Herz drang. Sie schrie auf, als sie getroffen und an die Wand aus grünem Glas geschleudert wurde, die klirrend zersplitter te. Eiskalte Windböen fegten herein. »Nein!«, brüllte sie und streckte verzweifelt beide Hände aus, um die Kugel aus silbrigem Licht abzuweh ren. Ich zuckte mit keiner Wimper. Ich wusste, wie stark ich war. Ich brauchte bloß mit den Fingern zu schnippen und schon verfügte ich über noch mehr Licht. Rosmore stieß einen durchdringenden Schrei aus, als sie rücklings durch das zersplitterte Glas stolperte und vergeblich nach Halt suchte. Ich rannte zu der Stelle, an der sie hinausgefallen war, und sah sie im Sturzflug auf den Erdboden fallen und explodieren. Wie ein gewaltiges Feuerwerk zerbarst sie in tausend Lichtfünkchen, die zi schend durch die Luft sausten, ehe sie erloschen. Der Pferde bäumten sich voller Panik auf, als Rosmo res Bann endlich gebrochen war. Direkt vor meinen Au gen verwandelten sich die Jäger und ihre Hunde in Ra ben, die sich flügelschlagend in den Himmel erhoben, um den pechschwarzen Schwanz der Nacht zu jagen. Er schöpft ließ ich den Spiegel sinken und sah seine Flüs sigkeit auf den Boden rinnen. Als ich zur Wendeltreppe rannte, flatterte Cronus un sicher mit den Flügeln, ehe er sich ungeschickt in die Lüfte erhob und durch die Öffnung im zerbrochenen Glas ins Freie flog. 265
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Bittersüß
I
ch hörte Tycho meinen Namen rufen. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte ich die Treppe hinunter, weil ich es kaum erwarten konnte, ihn zu sehen. Es ver schlug mir fast den Atem, als ich bemerkte, wie großartig er aussah. »Coriander, der Bann ist wahrhaftig gebrochen!«, rief er überglücklich. »Ich bin wieder ich selbst! Alles wird so werden, wie es einst war! Rosmore ist tot! Schau, das Frühjahr muss nicht mehr hinter den Kulissen auf seinen Auftritt warten. Es hat die Bühne erobert! Und das ist nur der Anfang! Alles wird sich ändern!« Er fasste mich um die Taille und drehte sich übermütig mit mir im Kreis. Das weiße Pferd kam und beschnupperte Tychos Na cken. Lachend tätschelte er die prachtvolle Mähne und sagte zu mir: »Wir beide sind sehr stolz auf dich. Du hast großen Mut bewiesen.« »Aber es gibt noch so vieles, was ich nicht verstehe«, sagte ich. »Warum hat meine Mutter nicht gewusst, welch große Macht der Schatten besitzt? Er hätte sie ret ten können.« Tycho seufzte. »Von Medlar weiß ich, dass Rosmore sie so wüst behandelt und belogen hat, dass deine Mutter den Schatten nur als schwere Last sah. Sie wollte sich seiner entledigen, ihn gleichzeitig aber auch nicht Ros more überlassen, deren wahre Natur sie schon früh er kannt hat. Deshalb ließ deine Mutter den Schatten in die Schatulle einschließen.« 266
»Er ist in meine Haut eingedrungen«, sagte ich. Tycho legte mir den Arm um die Schultern. »Er war für dich bestimmt, das weiß ich genau.« Ich lehnte den Kopf an ihn. »Und nun?«, fragte ich. »Komm mit zu mir nach Hause! Ich möchte dir meine Stadt zeigen! Dort gibt es einen Fluss, der so grün schimmert wie tausend Opale.« »Und in dem es«, sagte ich im Flüsterton, »Wasserni xen und Wassergeister gibt, welche die Boote von einem Ufer zum anderen schieben. Und eine Brücke führt über den Fluss, eine Brücke, auf der Häuser stehen, ein jedes in einer anderen Farbe gestrichen.« »Woher weißt du all das?« »Mein Väter hat ein Bild von sich und im Hintergrund ist so eine Stadt abgebildet«, antwortete ich. »Meine Familie lebt in einem Palast an diesem Fluss«, sagte Tycho. »Oh, Coriander, es gibt so viel mehr in die ser Welt als den kleinen Ausschnitt, den du bisher gese hen hast. Nun, da Rosmore tot ist, wird unser Land wie der das goldene Land werden, das es immer war. Ich möchte dir die wunderschön bemalten Häuser zeigen und die Geschäfte der Kaufleute, die mit Stoffen handeln, die edler und kostbarer sind, als ein menschliches Auge je mals gesehen hat. Ich möchte mit dir auf den Kobold markt gehen, mit dir in einem von Wässergeistern gezo genen Boot flussabwärts fahren, damit du den Liedern und Geschichten der Wassernixen lauschen kannst. Ich verspreche dir von ganzem Herzen, dass ich dich ewig lieben und gut für dich sorgen werde. Geh nicht mehr weg. Bitte bleib hier, Coriander! Du gehörst hierher!« Oh ja, ich wollte bei ihm bleiben! Das wünschte ich mir mehr als alles andere auf der Welt, und für einen kurzen Augenblick, einen verrückten Augenblick, glaub 267
te ich, es sei möglich. Doch dann fielen mir all jene ein, die ich zurückgelassen hatte. Wie sonderbar das alles war! Ich war hier, hatte mich so sehr nach einem Wieder sehen mit Tycho gesehnt. Doch nun schmeckten meine Sehnsüchte auf einmal wie eine bittere Frucht in meinem Mund, und ich sagte: »Ich bedauere es zutiefst, doch ich kann nicht mit dir gehen. Ich muss zurück, um zu erfah ren, was aus meinem Vater geworden ist.« »Ich fürchte, dann kann ich dich nicht überreden«, sagte Tycho. Und er fasste mich am Kinn, hob mein Ge sicht zu sich hoch und küsste mich. Ich stand da wie in einem Traum, unfähig, mich zu rühren. »Warum kommst du nicht mit mir? Lass dir von mir meine Stadt zeigen«, sagte ich, »und unser Haus am Fluss.« Eine wilde Hoffnung bemächtigte sich meiner, die je doch rasch wieder verebbte, als Tycho antwortete: »Ich wünschte, ich könnte es. Doch genau wie du muss ich noch einige Dinge klären.« Ich blickte in seine braunen Augen und konnte darin die Planeten und Sterne sehen. »Die Zeit ist das Einzige, was gegen uns ist«, sagte er, »denn unsere Welten werden von unterschiedlichen Uh ren regiert. Wer weiß, vielleicht habe ich einen langen weißen Bart wie Medlar, wenn wir uns das nächste Mal treffen, oder du bist eine verheiratete Frau. Was dann?« Er küsste mich erneut. »Komm nach Hause!«, sagte er eindringlich. »Komm mit zu mir nach Hause, jetzt gleich!« Ich hatte das Gefühl, an einem Scheideweg zwischen zwei Welten zu stehen. Ich musste wählen zwischen die sem Land der Träume und Versprechungen und meinem Leben, meinem realen Leben in London. Die Entschei 268
dung fiel mir umso schwerer, da ich Tychos Berührungen auf meiner Haut und die Sehnsucht nach seiner Nähe in meinem Herzen spürte. Dieser Moment würde niemals wiederkehren, egal welchen Weg ich auch einschlug, und ich würde mein weiteres Leben ohne Reue leben müssen. Die silbernen Schuhe unter meinem Wams drückten an meine Brust, ich hörte die süße Stimme meiner Mutter rufen, und da wurde mir klar, dass ich zurückkehren und meinen Vater suchen musste. Schon um meiner Mutter willen musste ich mein kindliches Verlangen unterdrü cken. Ihretwegen musste ich eine Frau werden und meine Aufgaben im Leben annehmen. »Ist es nicht schon sehr viel, dass wir uns getroffen und ineinander verliebt haben?« »Nein«, erwiderte Tycho. »Ich spüre genau, dass ich nur mit dir vollständig bin. Ohne dich ist der kleine Jun ge in mir für immer verloren.« »Ich muss zurückkehren«, sagte ich. »Das weiß ich«, antwortete er seufzend, gab mir einen letzten Kuss und stieg auf seinen Schimmel, um in den Wald zu reiten. Es brach mir fast das Herz, als ich ihm nachschaute, und deshalb zwang ich mich, den Blick abzuwenden. Um mich abzulenken, zog ich die silbernen Schuhe unter meinem Wams hervor und wickelte sie behutsam aus. Tränen, Sturzfluten von Tränen, trübten meinen Blick. Erst als ich in den ersten Schuh geschlüpft war, erlaubte ich mir, wieder aufzublicken. Tycho war am Waldrand stehen geblieben und schaute zu mir zurück. Wie gern wäre ich zu ihm gelaufen! Als er sich nach einer Weile abwandte und langsam weiterritt, brach mir fast das Herz. Ein Teil von mir ging mit ihm fort, und als ich meinen zweiten Fuß in den anderen Schuh steckte, fragte 269
ich mich, ob ich mich jemals wieder heil und ganz fühlen würde. Und damit wäre der sechste Teil meiner Geschichte er zählt und eine weitere Kerze erlischt.
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TEIL SIEBEN
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Heimkehr
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as Rad hatte eine volle Drehung gemacht und ich fand mich im Arbeitszimmer meines Vaters wie der. Merkwürdigerweise standen alle Möbelstücke an ihrem angestammten Platz. Der ausgestopfte Alligator war der König der Ebenholzvitrine und unter dem vergit terten Fenster stand die Truhe meiner Mutter. Wie son derbar! Ob Rosmores Tod etwas mit dieser Veränderung zu tun hatte? Ich ließ meine Blicke durch den Raum schweifen und hatte das Gefühl, außerhalb der Zeit zu stehen, ohne zu wissen, ob sich die Zeiger der Uhr rückwärts oder vor wärts gedreht hatten. Im Kamin brannte ein Feuer, und ich dachte bei mir, dass das Jahr vermutlich noch jung war, wenn man Anzündholz und Kohle brauchte. Ich hörte Schritte draußen im Flur, die sich dem Ar beitszimmer näherten, und versteckte mich flugs neben der Ebenholzvitrine. Wer würde gleich die Tür öffnen? Zu meiner riesengroßen Überraschung war es mein Va ter! Er war bereits geschäftsmäßig gekleidet und hielt einen Stapel Briefe in der Hand, von denen er einen ge rade las. Er sah älter aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Sein Haar war ergraut und sein Gesicht wettergegerbt. »Vater!«, flüsterte ich, und da wirbelte er herum, nicht minder überrascht bei meinem Anblick als ich bei sei nem. Die Briefe fielen ihm aus der Hand. Wir standen da und starrten uns an wie zwei Fremde. Ich hörte die Uhr 273
im Flur schlagen, und erst da begriff ich, dass ich wirk lich wieder in dieser Welt angekommen war. So ängstlich, als würde er zu einem Geist sprechen, wisperte er: »Coriander?«, und musterte mich so ungläu big, als würde er seinen Augen nicht trauen. »Träume ich oder bist du es wirklich, so sonderbar gekleidet?« »Ich bin es wirklich, Vater«, erwiderte ich. »Ich bin zurückgekehrt.« Vorsichtig und gemessenen Schrittes kam er auf mich zu und nahm mich in die Arme. Erst nachdem er sich auf diese Weise vergewissert hatte, dass ich aus Fleisch und Blut war, kamen ihm die Tränen. »Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren«, schluchzte er. »Für immer…« Ein Klopfen an der Tür. Hastig wandte Vater sich ab, zückte ein Taschentuch und putzte sich die Nase. »Wer ist da?« »Danes, Sir.« Mein Vater ging zur Tür, öffnete sie jedoch nur einen Spaltbreit und ließ Danes eintreten, ehe er sie rasch wie der schloss. »Was ist geschehen, Sir? Geht es Euch nicht gut? Oh, was ist mit Euren Briefen passiert?« Er trat einen Schritt zur Seite und deutete auf mich. »Oh du meine Güte!«, rief Danes und eilte auf mich zu. »Hab ich es nicht immer gesagt, Sir, dass sie eines Tages zu uns zurückkehrt? Oh, mein kleiner Spatz, ich hab’s gewusst, dass du nicht für immer von uns wegge flogen bist! Aber warum trägst du noch immer Jungen kleidung?« »Jetzt ist keine Zeit für lange Erklärungen. Diese Kleidung muss verschwinden!«, sagte mein Vater ein dringlich. 274
Doch es war bereits zu spät. Erneut klopfte es an die Tür. Mein Vater machte einen Satz, um niemanden eintre ten zu lassen, doch vergeblich. Denn schon traten Mistress Bedwell und ein kleines Mädchen mit einem Korb in der Hand ein. »Ich wollte mich nur kurz verabschieden«, sagte Mistress Bedwell. »Patience«, sagte Vater und stellte sich ihr in den Weg. »Habt Ihr das Baby gesehen?« »Oh ja! Ein entzückendes kleines Kerlchen! Er sieht seinem…« Sie verstummte, als sie die im ganzen Raum verstreuten Briefe entdeckte. »Ist Euch nicht gut?«, frag te sie besorgt. »Eure Augen sind gerötet. Ich hoffe, Ihr habt keine schlechten Nachrichten erhalten.« »Nein, nein, alles bestens, danke. Darf ich Euch zum Gartentor begleiten?« »Wer ist der Junge da? Warum versteckt er sich?«, fragte da das Kind und zeigte auf mich. Mistress Bedwell drehte den Kopf und vor Überra schung fiel ihr die Kinnlade herunter. »Ihr erinnert Euch noch an Coriander?«, sagte mein Vater. »Aber gewiss«, sagte sie verblüfft. »Welche Freude, dich wiederzusehen!« Erst da fiel ihr mein Aufzug auf. »Aber warum, wenn ich mir die Frage gestatten darf, bist du so ungewöhnlich gekleidet?« Mein Vater nahm mir das Antworten ab. »Coriander ist soeben vom Land zurückgekommen. Wir hielten es für sicherer, wenn sie als junger Mann gekleidet reist. Ihr wisst ja, wie gefährlich Landstraßen sein können und…« »Wie Recht Ihr habt, Sir, wie Recht«, fiel Danes ihm ins Wort. »Ich habe ganz schauderhafte Geschichten von 275
Vagabunden und Straßenräubern und noch schlimmeren Gestalten gehört. In diesen schrecklichen und gesetzlosen Zeiten kann man nicht vorsichtig genug sein!« »Das ist zweifellos wahr. Und wie geht es dem Vet ter?«, wandte sich Mistress Bedwell wieder an mich. Ich machte ein Gesicht, als wusste ich, wovon sie sprach. »Oh, er ist auf wundersame Weise wieder genesen«, sagte Danes hastig. »Jawohl«, pflichtete mein Vater ihr bei. »Unserem Herrgott sei Dank! Er hat sich von seinem Totenbett er hoben, um noch ein paar Tage zu leben.« Mistress Bedwell schaute noch verdutzter drein, als mein Vater und Danes eine Geschichte zum Besten ga ben, die so lang und ausschweifend war, dass man ganz den Faden verlor. Es war, als würde man zwei gestrande te Fische beobachten, die verzweifelt versuchten, wieder ins rettende Nass zu gelangen. Der armen Patience fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Was für eine Geschichte! Das raubt einem ja fast den Atem«, sagte sie beeindruckt. »Doch wie dem auch sei, Coriander, es ist wunderbar, dass du wieder da bist! Mein lieber Edmund hat oft nach dir gefragt. Er wird entzückt sein, wenn ich ihm nachher erzählen kann, dass du wie der unter uns weilst. Aber etwas ganz anderes«, fuhr sie fort, »was sagst du zu dem Baby?« Wieder wusste ich nichts zu sagen. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wessen Baby sie meinte. »Es ist ganz allerliebst«, sagte ich und hoffte, dass dies die richtige Antwort war. Schließlich sind Babys immer allerliebst, nicht wahr? »Master Hobie, Ihr müsst mit Coriander irgendwann 276
in den nächsten Tagen zum Mittagessen kommen. Aller dings besser nicht in diesem Aufzug«, sagte sie lachend. »Wie wär’s mit Mittwoch? Wir müssen noch so vieles nachholen. Edmund würde sicher gern alles über Eure Reise erfahren, Sir.« »Aber gern, mit dem größten Vergnügen«, antwortete mein Vater. »Komm, Sarah«, sagte Mistress Bedwell zu dem Kind an ihrer Seite, das mich noch immer mit großen Augen anstarrte. »Wo hast du diese silbernen Schuhe her?«, fragte mich das Mädchen. Ich erklärte ihm, dass sie eigens für mich angefertigt worden waren. »Kommt«, sagte Danes ungeduldig, »ich führe Euch hinaus.« Und sie eilte geschäftig davon, sodass den bei den Besucherinnen nichts anderes übrig blieb, als ihr zu folgen. Sobald sie draußen waren, schloss Vater die Tür und lehnte sich erleichtert dagegen. »Ich glaube, sie hat es uns abgenommen.« Plötzlich mussten wir beide lachen. »Dieses Baby, von dem sie sprach«, sagte ich, »Vater, erzähl: Wer hat ein Baby bekommen?« »Zuerst musst du mir verraten«, erwiderte mein Vater, »wie du wieder zu diesen silbernen Schuhen kamst.«
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Allerliebste Fingerchen
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ls ich die Tür zu Hesters Zimmer öffnete, bot sich mir ein entzückendes Bild. Eine strahlende Hester mit rosigen Wangen saß in einem Schaukelstuhl. An ihrer Brust lag ein Baby, das seine winzige Faust an sie presste und beim Saugen leise schmatzte wie ein Vogeljunges. Langsam löste Hester ihren Blick von dem Baby und sagte: »Oh, Coriander, ich wusste, dass du zurückkom men würdest. Wie oft habe ich deinem Vater versichert, dass du eines Tages wiederkommen würdest!« »Hester, ich fasse es nicht! Schau dich nur an! Die Mutterschaft bekommt dir ausnehmend gut«, sagte ich entzückt. Hester lächelte. »Ich bin so rund und prall wie ein Laib Brot. Nur Haut und Knochen bin ich fürwahr nicht mehr.« Das Baby hatte aufgehört zu saugen, und sie reichte es mir so behutsam, als wäre es eine zarte Blume. »Wie heißt er?«, fragte ich. »Joseph Appleby, nach meinem Vater.« Was für ein Wunder so ein Säugling ist! Ein neues Wesen, das nur darauf wartet, sich zu entfalten. Die win zige Hand von Klein-Joseph war das Vollkommenste, was ich jemals gesehen hatte, sein Gesichtchen barg eine Vielzahl von Träumen. Er roch nach Milch, als er sich an mich kuschelte, und als er dabei zufällig auf seine Fin gerchen stieß, saugte er gierig daran, bis er in meinen Armen einschlief. 278
»Oh, was hast du da an?«, sagte Hester überrascht. »Ist es nicht dieselbe Kleidung, die du in jener schreckli chen Nacht trugst, als Tarbett Purman ums Leben kam?« »Ja, du hast Recht. Obwohl ich nur kurz weg war, scheint hier so vieles passiert zu sein.« »Coriander, träumst du? Du warst anderthalb Jahre fort!« »Über ein Jahr? Das kann nicht sein! Was haben wir heute für einen Tag?« »Das kann ich dir genau sagen, denn ich habe jeden einzelnen Tag gezählt, seit du fortgegangen bist. Heute haben wir den zweiten Tag des Aprils des Jahres 1660.« »Erzähl«, sagte ich gespannt. »Ihr konntet also ohne Probleme aus Frankreich zurückkehren?« »Nun, Freunde des Königs haben dafür gesorgt, dass alle Vorwürfe gegen Gabriel fallen gelassen wurden«, sagte Hester. »Dein Vater hat sich sehr für ihn einge setzt.« »Moment mal«, sagte ich. »Nicht so hastig. Der Kö nig?« »Ja, König Karl IL Hat dir dein Vater nicht erzählt, dass er die ganze Zeit beim König im Exil war? Er stellte das einzige Schiff, das ihm noch geblieben war, in den Dienst Seiner Majestät. Du solltest mal hören, wenn Sam erzählt, was für Abenteuer sie erlebt haben!« »Hester, was redest du da? Wie – Oliver Cromwell lässt sich inzwischen vom König dreinreden? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen!« »Nein, Gott behüte! Cromwell ist tot!« »Tot?«, wiederholte ich verblüfft. »Nur deshalb konnten wir doch nach England zurück kehren! Aber jetzt erzähl du, wie es dir ergangen ist«, sagte Hester. 279
»Nein«, widersprach ich, »das kann warten. Zuerst will ich wissen, wie ihr im Ausland meinen Vater getrof fen habt!« »Nun, das kam so: Als wir in La Rochelle an Land gingen, wussten wir zuerst nicht, was wir tun sollten. Wir brauchten dringend Arbeit und Geld, wussten aber nicht, wem wir trauen konnten. Es gab viele englische Flücht linge in der Stadt und Besorgnis erregende Gerüchte, die sich letztlich und glücklicherweise jedoch nicht bewahr heitet haben. Und als wir schließlich ohne einen Penny dastanden – wen sahen wir da?« Sie verstummte, blickte verzückt auf ihr Baby und streichelte behutsam über sein Händchen. »Sind das nicht die süßesten Fingerchen, die du je gesehen hast? So klein und zart…« »Ja, ja, Hester. Es sind die allerliebsten Finger, die ein Baby nur haben kann. Aber jetzt verrate mir um Himmels willen, wen ihr da gesehen habt!« »Na, Sam natürlich, den Burschen deines Vaters.« »Was hat er dort gemacht?«, wollte ich wissen. »Tja, das war vielleicht ein Glück! Das Schiff deines Vaters war in La Rochelle vor Anker gegangen und des halb war Sam auch dort. Und er hat uns erzählt, dass dein Vater verzweifelt auf Nachricht von dir wartete.« Wieder verstummte Hester und sagte: »Ist das Baby Gabriel nicht wie aus dem Gesicht geschnitten?« »Hester, bitte«, flehte ich sie an. »Erzähl mir bitte al les von Anfang bis Ende, ohne abzuschweifen. Deine ständigen Unterbrechungen bringen mich ganz durchein ander.« »Entschuldige«, sagte Hester. »Ich weiß nicht, wie es kommt, aber wenn man ein Baby hat, kann man kaum noch an etwas anderes denken.« »Versuch es trotzdem, um meinetwillen!«, bat ich sie. 280
»Ich habe deinem Vater alles über meine Mutter und Arise Fell erzählt. Ich ließ wirklich nichts aus. Ich habe ihm erzählt, dass sie dich in der Truhe eingesperrt hatten, du aber, wie durch ein Wunder, heil wieder herausge kommen bist, obwohl du drei Sommer lang verschwun den warst. Gabriel hat ihm von der Nacht erzählt, in der Tarbett Purman ums Leben kam und dass er deshalb des Mordes beschuldigt wurde.« Wieder betrachtete Hester liebevoll ihren Säugling, ehe sie fortfuhr: »Nun, als dein Vater erneut die Segel setzte, nahm er uns mit. Und als wir erfuhren, dass unserer Heimkehr nach England nichts mehr im Wege stand, bot er uns an, bei ihm in der Thames Street zu wohnen. Er gab Gabriel Arbeit, und als ich ihn fragte, ob er auch mich be schäftigen könne, weißt du, was er da gesagt hat?« Ich schüttelte den Kopf. »Er sagte, dass er nicht zulassen würde, dass seine Tochter jemals als Dienstmädchen arbeitet. Er ließ mich gar nicht erst ausreden. Kannst du dir das vorstellen? Nach allem, was ich ihm hatte erzählen müssen, nannte er mich noch immer ›seine Tochter‹! Er hat auch gesagt, dass ich für ihn niemals etwas anderes sein würde.« Auf einmal brach sie in Tränen aus. »Oh, Hester, ich bitte dich! Hör auf zu weinen. Sonst fängt das Baby auch noch an.« »Meinst du, er hat nicht richtig gehandelt?« »Ich hätte nichts anderes von ihm erwartet. Du bist meine Schwester, Hester, was auch immer passiert.« »Wie kann ein Mensch einem Säugling etwas Böses antun?«, fragte Hester nachdenklich, während sie erneut liebevoll ihr Kleines betrachtete. »Das weiß ich auch nicht«, sagte ich und blickte lä chelnd auf den dunklen Haarschopf von Klein-Joseph. 281
»Meine Mutter hat es getan.« »Hester, du bist nicht wie sie.« »Ich weiß, aber der Gedanke betrübt mich dennoch. Ich finde es einfach unvorstellbar. Bist du müde? Ich kann ihn in die Wiege legen, wenn du willst, Coriander.« »Nein, ich halte ihn gern im Arm.« Sie lachte. »Und ich erst! Ich habe ihn sogar nachts am liebsten bei mir. Danes sagt, es sei auch besser, als wenn er allein in der Wiege liegt, wo es ihm womöglich zu kalt oder zu warm ist. Mistress Bedwell ist anderer Meinung. Sie sagt, ich sollte mir eine Amme zulegen und ihn nicht die ganze Zeit mit mir herumtragen. Ich würde ihn zu sehr verhätscheln.« Ich lachte. »Das ist Unsinn!« Hester schien erleichtert. »Stimmt, ich fühle mich ein fach wohler, wenn ich ihn bei mir habe.« »Hester, tu das, was dein Gefühl dir sagt. Hör nicht auf Patience Bedwell.« Schwere Stiefel kamen die Treppe herauf. »Coriander!«, rief Gabriel, als er den Raum betrat. Er wirkte stolz wie ein Pfau und sah aus wie ein Mann. »Wie schön, dich wiederzusehen! Als Danes es mir so eben erzählt hat, fiel ich aus allen Wolken!« Ich erhob mich und er nahm mir Klein-Joseph ab. »Hab ich nicht einen wunderschönen Sohn?«, sagte Gabriel, während er sich zu seiner Frau setzte. »Ich habe gerade versucht, von Hester zu erfahren, wann ihr aus Frankreich zurückgekehrt seid«, sagte ich. »Vor vier Monaten, im Januar. Sobald wir erfuhren, dass Englands Tage der Republik gezählt waren und der König bald zurückkehren sollte. Es brach deinem Vater fast das Herz, dass du nicht da warst, als er nach so vie len Jahren wieder nach Hause kam.« 282
»Aber ich habe ihm immer wieder versichert, dass er sich keine Sorgen zu machen brauche«, sagte Hester, »und dass du schon einmal lange weg warst und auch diesmal heimkehren würdest!« »Er hatte es allerdings ganz schön schwer«, ergriff Gabriel nun wieder das Wort, »denn die Nachbarn und Bekannten stellten mehr Fragen, als er beantworten konnte.« »Du solltest die Bridge Street mal sehen!«, sagte Hes ter, um das Thema zu wechseln. »Nicht wahr, Gabriel? Alle Häuser sind frisch gestrichen worden, die Flaggen wehen wieder und an fast jedem Geschäft hängt ein Schild mit der Aufschrift Königlicher Hoflieferant. Es sieht wunderhübsch aus, Coriander.« Gabriel legte ihr einen Arm um die Schultern. »Wie wahr«, sagte er mit einem zufriedenen Blick auf seine kleine Familie. Ich überließ sie ihrem Glück und ging wieder nach un ten, wo Vater mich im Flur erwartete. »Ich kann es noch immer nicht fassen, dass ich dich wiederhabe«, sagte er.
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Dem König, was dem König
gebührt
A
n diesem Abend, nachdem ich gebadet und frische Kleidung angezogen hatte, saß ich bei meinem Vater im Arbeitszimmer und genoss das warme Feuer im Ka min. Es kam mir vor, als wären wir zwei Reisende, die von weit entfernten Orten zurückgekehrt waren, um uns von unseren Abenteuern zu erzählen und dann feststellen zu müssen, dass unsere Reiserouten sich teilweise deck ten. »Verzeihst du mir?«, fragte er leise. »Was?« »Dass ich dich bei Maud und dem Prediger zurückge lassen habe.« »Du wusstest ja nicht, wie abgrundtief schlecht sie wa ren.« »Nein, das wusste ich nicht«, murmelte er und erhob sich, um im Feuer zu stochern, was Funken den Kamin hinaufstieben ließ, die wie Drachenatem aussahen. »Aber ich hätte mich nicht in meinen eigenen Kummer vergra ben dürfen, sondern mich mehr um dich und unsere Zu kunft kümmern sollen.« »Du hast dein Bestes gegeben.« »Wenn du wusstest, wie mich der Gedanke an den Schatten deiner Mutter gequält hat. Ich hatte ihn in mei nem Arbeitszimmer in einer Schatulle aufbewahrt und hoffte, er wäre dort in Sicherheit…« 284
»Ich weiß, ich habe ihn gesehen. Eines Abends, als ich nicht einschlafen konnte, kam ich noch einmal herunter und sah dich, über die Schatulle gebeugt, an deinem Schreibtisch sitzen. Der Deckel war geöffnet, und du hast mich gefragt, ob es besser gewesen wäre, wenn du ihn ihr zurückgegeben hättest.« »Tatsächlich?« Vater blickte mich mit großen Augen an. »Ich erinnere mich nicht daran. Ich war vor Kummer wie von Sinnen.« »Vater«, sagte ich tröstend, »es war mutig von dir, ih rem Wunsch Folge zu leisten.« »Das nennst du mutig? Nein, es war nicht mutig, son dern tollkühn«, antwortete er. »Sie gab mir ihren Schat ten in unserer Hochzeitsnacht. Ich musste ihr verspre chen, immer gut darauf aufzupassen. Ich begriff jedoch nicht, was sie meinte. Als sie krank war, wollte ich ihn ihr zurückgeben. Doch sie wollte nichts davon hören. Ich hätte ihn ihr aufdrängen sollen. Oh, was war ich nur für ein Narr!« Wütend schlug er mit der Hand an den Kamin. »Du hast nur getan, was sie wollte«, wiederholte ich. »Ja, und dann ist sie gestorben! Wäre sie vielleicht noch am Leben, wenn ich ihr ihren Schatten aufgedrängt hätte?« »Sie hätte vielleicht noch eine Weile in ihrer Welt ge lebt, wäre aber dort von ihrer Stiefmutter, Königin Ros more, umgebracht worden. Die hatte es nur darauf abge sehen, Mutters Schatten in ihre Gewalt zu bringen. Väter, glaub mir, du hast das Richtige getan. Rosmore trifft alle Schuld an Mutters Tod. Deshalb hat auch keine der Arz neien gewirkt. Und vergiss nicht: Mutter wollte hier in unserer Welt sterben. Sie wollte nicht dorthin zurückkeh ren, woher sie gekommen war.« Vater setzte sich zu mir und nahm meine Hand. 285
»Ihr war klar, dass ihr dann für immer getrennt gewe sen wärt«, fuhr ich fort. »Weil sie hoffte, dass ihr dank der Güte des Allmächtigen eines Tages wieder vereint sein werdet, wollte sie in dieser Welt sterben. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn du ihr den Schatten zu rückgegeben hättest.« »Coriander, woher weißt du das alles? Wenn das, was du sagst, zutrifft, dann hast du mir eine Riesenlast von der Seele genommen.« »Es trifft zu, Vater. Ich verspreche dir, dass dem so ist.« Er blickte lange ins Feuer, ehe er sagte: »Was ist mit dem Schatten geschehen?« »Die Verantwortung für den Schatten liegt nunmehr bei mir. Er ist da, wo er hingehört.« »Und die silbernen Schuhe?«, fuhr Vater fort. »Ich habe nicht begriffen, warum Eleanor sich so gesträubt hat, sie dir zu geben. Sie sagte mir zwar, dass sie glaubte, ihre Stiefmutter hätte sie mit einem bösen Fluch belegt, aber das konnte ich mir nicht so recht vorstellen. Es fiel mir ehrlich gesagt leichter, es nicht zu glauben.« »Was hat sie dir noch erzählt?«, fragte ich. »Dass diese silbernen Schuhe dir geschickt wurden, um dich in ihre Welt zu locken. Sie erzählte mir von ihrer Stiefmutter und dass sie befürchtete, dass diese verzwei felt nach dem Schatten suchte. Und wenn ihr das gelän ge, würden wir dich früher oder später verlieren.« »Wie kam sie auf diese Idee?«, fragte ich. »Weil du ebenso zu ihrer Welt gehörst wie zu unse rer.« »Sag mal, Vater, warst du auch in jenem Land?«, frag te ich. »Ich habe ein Bild von dir gesehen, auf dem du vor einem Fluss mit Nixen stehst.« »Diese Bilder erhielten wir kurz nach unserer Hoch 286
zeit. Eleanor sagte, sie seien ein Geschenk ihres Vaters. Ich habe ihn allerdings nie kennen gelernt, denn ich war nie in jenem Land. Es ist mir wirklich ein Rätsel, wieso dieses Bildnis mir so ähnlich sieht. Oh, Coriander, ich hätte dich nie im Stich lassen dürfen. Warum habe ich dich nicht mitgenommen, als du mich darum gebeten hast? Ich konnte nie vergessen, wie du zu mir hochge blickt und deine dünnen Armchen um meinen Hals gelegt hattest. Ach, könnte ich die Zeit zurückdrehen! Ich bin wie ein Narr davongerannt und habe mir eingeredet, es sei alles in Ordnung.« »Vielleicht war es das ja«, sagte ich versonnen. Danes kam mit einem Krug Ale und einem Teller Kümmelkuchen herein. Sie stellte die Sachen auf den Tisch und sagte: »Sir, habt Ihr Coriander schon von Maud erzählt?« »Nein!«, rief ich. »Oh ja, Vater, erzähl! Wie ist es ihr ergangen?« Vater rang sich ein gequältes Lachen ab. »Man fand sie hier im Haus«, sagte er, »neben einem Haufen Kno chen, die – wie sie schwor – die sterblichen Überreste von Arise Fell waren. Der Wachtmeister nahm sie fest, und da sich die Polizei keinen Reim auf ihr Geplapper machen konnte, wurde sie ins Gefängnis von Newgate gebracht und wegen Mordes angeklagt.« »Es waren tatsächlich die Knochen von Arise Fell«, sagte ich. »Soll mir nur recht sein! Es wurde viel gemunkelt, als man den Prediger plötzlich nicht mehr zu Gesicht bekam. Kaum war ich in London, eilte ich hierher. Ich war mehr als entsetzt, als ich sah, in welch verwahrlostem Zustand das Haus war und wie fürchterlich es stank. So gut wie alle Möbel waren verschwunden, es hausten nur noch die 287
Ratten hier. Voller Zorn ging ich zum Gefängnis, um Maud zur Rede zu stellen. Sie bot keinen schönen An blick, glaub mir. Ihre Haut war wund und von Furunkeln übersät. Der Allmächtige stehe mir bei, aber ich war so wütend auf sie, dass ich sie am liebsten am Galgen gese hen hätte! Sie bettelte und sagte unter Tränen, dass sie vom rechten Weg abgekommen und alles das Werk des Teufels sei. Ich glaubte ihr kein Wort. Erst dann wurde sie vernünftig und gestand mir, dass sie und Arise von irgendeiner alten Hexe viel Gold bekommen hatten. Im Gegenzug hatten sie versprechen müssen, dich umzu bringen und den Schatten deiner Mutter zu finden. Aber offenbar versuchten sie, die Alte übers Ohr zu hauen, was sie teuer zu stehen kam. Maud redete die ganze Zeit in der Mehrzahl, als wenn Arise noch bei ihr wäre.« »Was ist aus Maud geworden? Wurde sie gehängt?« »Sie flehte mich an, mich für ihre Freilassung einzu setzen. Dann würde sie mir verraten, wo all meine Möbel seien.« »Im Gemeindehaus Ludgate, nicht wahr?«, sagte ich schmunzelnd. »Richtig«, antwortete Vater. »Die elenden Betschwes tern hatten meinen ganzen Besitz! Mit Ausnahme des ausgestopften Alligators hatten Arise und Maud alles aus dem Haus geschafft. Nachdem ich im Prozess ausgesagt hatte, wurden Maud und der ganze frömmlerische Verein in die Neue Welt abgeschoben.« »Ich finde«, sagte Danes mit ruhiger Stimme, »dass sie Euch sehr dankbar sein kann.« »Hesters wegen wollte ich nicht, dass die Frau gehängt wird. Das arme Mädchen hat im Leben schon genug Schlimmes mitgemacht. Schade nur, dass Danes mich nicht fand, als sie eigens nach Frankreich kam.« 288
»Dass unsere Wege sich nie gekreuzt haben, Sir, be dauere ich auch sehr«, sagte Danes. »Ich habe allen Erns tes befürchtet, Ihr wäret tot.« Als der Mai in voller Blüte stand, wurde Karl II. zum König von England ausgerufen. In ganz London herrsch ten Jubel, Trubel, Heiterkeit, und die Stadt wirkte wie eine übermütige alte Witwe, die sich nach dem obligato rischen Trauerjahr zum ersten Mal wieder herausputzt. Überall herrschte freudige Aufregung. Man blickte voller Zuversicht in die Zukunft, und an jeder Straßenecke er tönte der Ruf: »Gebt dem König, was dem König ge bührt!« Gleich am Tag nach meiner Rückkehr ging Danes mit mir zu Master Thankless. Hester hatte Recht gehabt: Die Bridge Street war kaum wieder zu erkennen, eine fiebri ge Verwandlung war im Gange. Gebäude wurden neu gestrichen, Fenster repariert, Flaggen aufgehängt für den König, der über die große Brücke in London Einzug hal ten sollte. Unweit der Bridge Street war ein riesiger Mai baum aufgestellt und ebenfalls mit der königlichen Fahne geschmückt worden. Einige Soldaten versuchten, sie her unterzuholen, doch das Volk widersetzte sich, und so blieb sie an ihrem Platz. Die Straßen waren ein einziges Farbenmeer. Noch nie hatte ich – in dieser Welt – so viele Menschen in fröhli chen Farben gesehen wie an diesem Morgen in der Tha mes Street. Es war vorbei mit den düsteren Schwarz– und Grautönen. Auffällige Farben wie Scharlachrot, Rosa, Gelb und Violett erfreuten das Auge. Es war offensichtlich: Das Land war der strengen Pu ritaner überdrüssig. Inzwischen schien es kaum noch nachvollziehbar, dass Oliver Cromwell jemals Anhänger gehabt hatte. 289
Unterwegs trafen wir Mistress Jones, die darüber jammerte, dass so viel Geld aus dem Fenster geworfen und so ein Aufhebens gemacht wurde. »Wenn wir nicht einmal mehr die Rückkehr des Königs feiern können, was dann?«, entgegnete Danes ungerührt. »Hmmm«, meinte Mistress Jones. »Ich furchte, wir werden es noch bereuen, dass wir den König zurückge holt haben. Ich finde, wir hätten besser daran getan, die fromme Republik aufrechtzuerhalten.« Danes warf sich in die Brust. »Wie könnt Ihr das sa gen? Oliver Cromwell war ein unrechtmäßiger Tyrann!« »Komm«, sagte ich hastig und griff nach ihrem Ellbo gen. »Wenn wir herumstehen und plaudern, werden wir nie mit unseren Besorgungen fertig.« »Also wirklich, manche Leute…«, sagte sie kopf schüttelnd, als wir auf das Geschäft des Schneiders zu strebten. Ich musste schmunzeln. »Zumindest macht Mistress Jones keinen Hehl daraus, dass sie zu Cromwells Anhän gern gehört hat. Ich wette, von den anderen würde das kaum einer zugeben.« Die Türglocke bimmelte fröhlich, und es dauerte nicht lange, bis Neil herbeigeeilt kam. Bei meinem Anblick schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen. »Ist es die Möglichkeit? Ich glaub, ich seh nicht recht! Du bist wieder da, Coriander, gesund und munter!«, rief sie. »Und was für eine hübsche Lady aus dir geworden ist! Du würdest sogar dem König den Kopf verdrehen!« Master Thankless hob den Kopf vom Zuschneidetisch. »Coriander!«, rief er, eilte herbei und küsste mich auf beide Wangen. »Hab ich es nicht immer gesagt, Mary, dass sie zurückkommen und schöner denn je sein wür de?« 290
»Geht es Euch gut?«, fragte ich. »Und wie! Ich fühle mich wie ein feiner Herr«, ant wortete der Schneidermeister. »Wenn die Geschäfte so weiterlaufen, bin ich bald reicher als der König. Alle Welt will sich neu einkleiden. Die Leute wollen so farbig herumlaufen wie Pfauenschwänze oder Sittiche.« Aufgeregt führte er uns in seine Küche und öffnete ei ne Flasche Rheinwein. Sein neuer Lehrling Tom, ein junger Mann mit frischem Gesicht, brachte ein paar Stoffballen an, die wir uns anschauen sollten. »Jemand hat mir zugeflüstert, dass du dringend ein paar neue Kleider nach der neuesten französischen Mode brauchst. Stimmt das?«, fragte mich Master Thankless schmunzelnd. »Oh ja«, sagte ich aufgeregt. Master Thankless nahm sich endlos Zeit, mir seine kostbarsten Stoffe zu zeigen, und verriet mir augenzwin kernd, dass sie ausschließlich für seine Lieblingskunden bestimmt waren. Zu guter Letzt entschied ich mich für einen zartgrünen, geblümten Satinrock und einen passen den Unterrock aus gestreifter Seide. Dazu wählte ich ein Oberteil aus wassergrünem Taft mit langen Ärmeln, be setzt mit silberner Spitze und Perlen, und zur Krönung des Ganzen eine Art Schürze, die man zurückbinden konnte, damit meine schönen Röcke hervorblitzten. »So«, sagte Master Thankless zufrieden, nachdem er meine Maße genommen hatte und wir alles besprochen hatten, »bei meiner Ehre, damit wirst du wie eine Prin zessin aussehen. Aber sag, hat Danes dir schon das Neu este erzählt?« »Ich glaube, nicht«, sagte ich etwas zögernd, weil ich nicht wusste, worauf er anspielte. Danes errötete, was höchst untypisch für sie war, und 291
sagte verlegen: »Natürlich nicht. Wir hatten doch verein bart, damit zu warten, bis wir wieder alle vereint sind.« »Um was für eine Neuigkeit geht es?«, fragte ich ge spannt. Master Thankless griff nach Danes’ Hand und sagte mit breitem Lächeln: »Mistress Danes – Mary – hat ein gewilligt, mich zu heiraten.« »Nein!«, rief ich überrascht und sprang auf. »Oh Gott, das ist ja wunderbar! Wie ich mich für euch freue!« Vor Begeisterung fiel ich beiden um den Hals. »Wer hätte das gedacht, nicht wahr?«, sagte Danes, deren Wangen sich gerötet hatten. »Dabei war ich der Ansicht, in meinem Alter findet man keinen mehr, der einen liebt.« »Unsinn!« Master Thankless strahlte sie an. »Du bist wie edler Wein. Je reifer, desto besser!«
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Die ideale Ehefrau
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bwohl ich von so vielen glücklichen Menschen umgeben war, verspürte ich oft eine unbestimmte Traurigkeit. Manchmal, wenn ich meinen Vater oder Da nes anschaute oder Hester und ihren Säugling, war es, als fiele ein Sonnenstrahl in einen abgedunkelten Raum, und meine Gedanken trugen mich in jene andere Welt, zu Tycho und allem, was ich dort zurückgelassen hatte. Ich wusste, dass ich mit meiner Rückkehr die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es war ganz im Sinne mei ner Mutter, denn meine Zukunft war hier. Doch auch die ses Wissen konnte meinen Schmerz nicht lindern. Dazu trugen auch die Bedwells nicht bei, die offenbar beschlossen hatten, dass ich die ideale Ehefrau für Ed mund abgeben würde. Ja, alle schienen davon überzeugt zu sein, mit Ausnahme von mir. Eine unverheiratete Tochter konnte für einen Vater offenbar ein rentables Geschäft sein, Hauptsache, es dauerte nicht zu lange, bis sich ein passender Bewerber einstellte. »Ich bin nicht bereit, einen Mann zu heiraten, den ich seit meinen Kindertagen nicht mehr gesehen habe«, sagte ich zu Vater, der in mein Zimmer gekommen war, wäh rend Danes mich frisierte und mir Blumen ins Haar flocht. »Das versteht sich von selbst, mein Kind«, antwortete er. »Aber ich bin sicher, dass Edmund dir gefallen wird. Wie ich gehört habe, ist er ein intelligenter, gut ausse 293
hender junger Mann mit ausgezeichneten beruflichen Aussichten. Er strebt eine politische Laufbahn an.« Was sollte ich dazu sagen? Dass ich kein Paket war, das man kaufen oder verschiffen konnte? Danes schnürte mein Oberteil so eng wie möglich, während Vater weiter redete. »Er ist ein ehrgeiziger junger Mann, und mein Glück wäre perfekt, wenn nicht nur der König wieder über Eng land herrscht, sondern zugleich auch meine Tochter ver sorgt wäre.« »Kaum bin ich zurück, schon willst du mich wieder loswerden«, warf ich ihm vor. Mein Vater machte ein betroffenes Gesicht. »Aber nein, so war es nicht gemeint! Ich will doch nur dein Bestes. Und ich will dich nie wieder verlieren.« Oh, ich brannte darauf, ihm von Tycho zu erzählen. Ich warf einen kurzen Blick auf Danes, doch deren Ge sichtsausdruck gab mir zu verstehen, dass es besser war zu schweigen. Die Bedwells luden uns wie versprochen für Mittwoch zum Essen ein und Danes half mir beim Anziehen mei nes neuen Kleides. Ich bin niemand, der sich stolz im Spiegel betrachtet, doch was ich nun darin erblickte, überraschte und freute mich. Ich war eine hübsche junge Frau. Danes stand da und sagte, neben mir würde sogar die Sonne vor Neid erblassen. Mein Vater pflichtete ihr bei und sagte, ich hätte noch nie entzückender ausgese hen. Er trug seine neue Lockenperücke, einen breiten Spitzenkragen, einen pflaumen-blauen Samtanzug und darüber einen bestickten Mantel. Wir gäben ein wunder schönes Pärchen ab, sagte Danes, und obwohl das Haus der Bedwells nicht weit weg lag, bestellte mein Vater zur Feier des Tages eine Sänfte. 294
Während des Essens ging es sehr förmlich zu, wir un terhielten uns nur über belanglose Themen und die Kon versation war so flach wie eine silberne Servierschale. Ich war, ehrlich gesagt, ein wenig neugierig darauf gewesen, Edmund wiederzusehen. Wir wurden neben einander gesetzt, und er hatte mich mit einem übertriebe nen Handkuss begrüßt, währenddessen aber Beifall hei schend auf die anderen Gäste geschielt. Ich spürte sofort, dass es mit uns nichts werden würde. Er kokettierte mit seinen Tugenden wie manche Frauen mit ihrer Sittsam keit. Während des ganzen Essens redete er nur darüber, was er seit seinem Weggang aus Cambridge alles erreicht hatte. Man hätte fast glauben können, die Wiedereinset zung des Königs sei allein sein Verdienst. Langer Rede kurzer Sinn: Der Mann war ein gut aussehender, lang weiliger, aufgeblasener Hohlkopf. Nach dem üppigen Mahl fuhren wir im Boot der Bed wells ein Stück den Fluss hinauf. »Ein perfektes Paar, sie sind wie füreinander geschaf fen«, hörte ich Mistress Bedwell meinem Vater zuflüs tern. Ich saß neben Edmund, fühlte mich steif und unwohl und stellte fest, dass Danes mein Oberteil viel zu eng ge schnürt hatte. Dass ich ziemlich wortkarg war, fiel Ed mund offenbar nicht auf; ihm reichte es voll und ganz, seine eigene Stimme zu hören. Ich betrachtete derweil die vielen schmucken kleinen Boote und genoss die un gewohnte, freudige Atmosphäre der Stadt. Man spürte förmlich, dass etwas in der Luft lag, dass ein tief greifen der Wandel bevorstand. Die Ufer wurden allmählich wieder grün und die in den letzten Jahren so sträflich vernachlässigten Häuser erstrahlten in neuem Glanz. Die Tavernen waren voller Menschen, und wir konnten im 295
Vorbeifahren Jubelrufe auf den neuen König hören, die wie Kieselsteine über das Wasser hüpften. »Die Theater sollen bald wieder eröffnet werden. Der König ist ein großer Freund von Bühnenstücken«, sagte Edmund. »Wir sollten uns bei einer solchen Gelegenheit auch einmal öffentlich zeigen.« Das Antworten konnte ich mir sparen. Ich musste nur lächeln und interessiert dreinschauen, dann war er zufrie den. Offenbar war ich in seinen Augen nur ein schönes Anhängsel, ein angenehmer Zeitvertreib. Wir fuhren bis zum Whitehall-Palast, wo alles für die baldige Ankunft des Königs vorbereitet wurde. Ich be trachtete die mächtig lange Steinmauer und musste daran denken, dass der Vater des neuen Königs damals auf die ser Mauer zu seiner Hinrichtung geführt worden war. Oh, wie hatten sich die Zeiten geändert! Im Palast wimmelte es von Menschen, und Edmund schien alles andere als entzückt, dass auch der Pöbel, wie er es nannte, Zutritt hatte. Ein junger Mann lüftete seinen federgeschmückten Hut und verbeugte sich theatralisch, als er an mir vorbeiging. »So ein aalglatter Stutzer«, schnaubte Edmund. »Der Kerl ist mit so vielen Bändern geschmückt, dass man meinen könnte, er hätte sämtliche Geschäfte von London ausgeplündert und ginge jetzt mit seiner Beute hausie ren.« Mistress Bedwell sagte schmunzelnd, Edmund sei ein höchst geistreicher junger Mann, was in meinen Augen nicht direkt für ihren eigenen Sinn für Humor sprach. Wir spazierten durch den königlichen Garten, ehe wir anschließend wieder zum Haus der Bedwells zurückfuh ren, wo wir uns verabschieden konnten. Ich hatte es ge nossen, wieder einmal eine Flussfahrt zu machen, White 296
hall und so viele andere Menschen zu sehen. Vor Aufre gung hatten sich meine Wangen gerötet, was Edmund vermutlich zu seinen Gunsten auslegte. Unsere Heirat war für ihn zweifellos schon eine abgemachte Sache. »Coriander!«, rief Hester, als wir das Haus betraten. »Komm schnell! Ich muss dir eine wunderbare Neuigkeit erzählen.« Ich eilte nach oben in ihr Zimmer. KleinJoseph schlief tief und fest in seiner Wiege, während Hester aufgeregt auf ihrem Bett saß. »Hester, was machst du? Solltest du dich nicht ausru hen?«, sagte ich. »Hab ich schon«, sprudelte es aus ihr heraus. »Aber du errätst nie im Leben, wer gekommen ist!« »Wer?« »Mein Bruder Ned. Er hat halb England durchkämmt, um mich zu finden. Kannst du dir das vorstellen?« Es klopfte an der Tür und Danes kam mit einem frisch gewaschenen Kleid herein. »Coriander, dein Vater bittet dich, nach unten zu kommen, um unseren Besucher kennen zu lernen«, sagte sie. Ich strich meinen Rock glatt und eilte ins Arbeits zimmer. Ned Jarret war ein stämmiger Mann mit rotem Gesicht und roten Händen. Die Ähnlichkeit mit Maud war so frappierend, dass ich im ersten Moment einen Schreck bekam. Doch sobald er den Mund aufmachte, war alle Ähnlichkeit mit Maud vergessen, denn er entpuppte sich als einer der freundlichsten, liebsten Männer auf der Welt. Und seine Geschichte war sowohl traurig als auch bewegend. Ich erfuhr, dass er in die Kämpfe verwickelt wurde und Cromwells neuem Parlamentsheer beitrat. Deshalb 297
dauerte es etliche Jahre, bis er seinen Vater fand, der in großer Armut in Birmingham lebte. Ned hatte eine Kopfverletzung erlitten und wurde noch lange von den schlimmen Szenen verfolgt, die er miterleben musste. Fast war ihm alle Freude am Leben vergällt. Er kümmerte sich um seinen Vater, so gut er konnte, und später fanden sie zum Glück beide eine Ar beit im Norden, bei einem Bauern, der im Bürgerkrieg all seine Söhne verloren hatte und dem jede Hilfe willkom men war, selbst jene von Kriegsverletzten. Dort fanden Vater und Sohn etwas Frieden. Ned war noch mitten im Erzählen, als Hester herun terkam. Vater und ich ließen die beiden Geschwister al lein, denn wir spürten, dass Hester mit ihrem Bruder un ter sich sein wollte. An diesem Abend waren wir eine stattliche Gruppe bei Tisch: Danes, Master Thankless, Hester und Gabriel, Sam, Ned, mein Vater und ich. Die Kerzen waren schon heruntergebrannt, als erst die Hälfte der Geschichten er zählt waren. »Sei ehrlich, Ned«, sagte Gabriel, »wie lange hast du gebraucht, um Hester zu finden?« Mit ruhiger Stimme antwortete Ned: »Ich wünschte, ich hätte schon früher mit meiner Suche begonnen, doch mein Kopf war noch so wirr von den Erinnerun gen an das viele Blutvergießen, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Und als ich wieder in unser Dorf zurückkehrte, hörte ich so wilde Gerüchte, dass ich anfangs gar nicht wusste, was ich glauben sollte und was nicht.« »Lebt Euer Vater noch?«, fragte mein Vater. »Nein, Sir. Er ist am letzten Michaelistag gestorben, Gott sei seiner Seele gnädig.« 298
»Das tut mir Leid. Und es tut mir auch Leid, dass Ihr Hester nicht früher gefunden habt.« »Mir auch, denn ich hätte mich riesig gefreut, Vater wiederzusehen. Und ich hätte mich auch zu gern um euch beide gekümmert«, sagte Hester mit Tränen in den Augen. Ned griff nach ihrer Hand. »In unseren Gebeten warst du stets bei uns.« Hester schluchzte, und nach einer Weile sagte mein Vater: »Ich muss Euch sagen, lieber Ned, dass Ihr mir eine Riesenlast von der Seele genommen habt. Ich bin von Herzen froh, dass meine Heirat mit Maud Leggs in jeder Hinsicht ungültig war.« »Fürwahr, Ihr konntet nie mit ihr verheiratet sein. Es gibt kein Gesetz, das einer Frau erlaubt, zwei Ehemänner gleichzeitig zu haben.« »Ned«, sagte mein Vater, »ich kann Euch versichern, dass ich Eure Mutter in dem Glauben heiratete, sie sei eine Witwe, deren Mann im Krieg gefallen ist.« »Das glaube ich Euch gern«, erwiderte Ned. »Sie war eine schreckliche Frau ohne ein Fünkchen Güte oder Nachsicht. Als ich noch ein Kind war, dachte ich, sie sei ein Mensch gewordener Gewittersturm. Und dass sie kein leichtes Leben hatte, hat sie vermutlich noch härter und gnadenloser gemacht.« Hester lehnte den Kopf an die Schulter ihres Bruders. »Die Angst, dich niemals wiederzusehen, brachte mich fast um den Verstand. Was aus unserer Mutter ge worden war, ließ mich gleichgültig«, sagte Ned. »Doch du lagst mir immer sehr am Herzen, Hester. Du warst so ein tapferes kleines Mädchen und wurdest immer nur grausam ausgenutzt. Wie viele Nächte habe ich wach gelegen und habe mich gefragt, was wohl aus dir gewor den ist! Nach allem, was ich über unsere Mutter und den 299
Prediger gehört hatte, rechnete ich fast schon mit dem Schlimmsten. Umso mehr freue ich mich jetzt, zu sehen, dass du glücklich verheiratet bist und deinen Platz im Leben gefunden hast.« Dieser Abend war der heiterste seit langem. Ich fand, dass wir eine höchst ungewöhnliche Ansammlung waren, ein Rundkopf, der für Cromwell gekämpft hatte, und Royalisten, die den König unterstützt hatten, jeder von ihnen willens, für seine Überzeugung zu sterben. Und doch saßen wir jetzt alle hier zusammen, und es gab mehr, was uns vereinte als trennte. »England ist in zwei Teile gerissen worden«, sagte Ned. »Es hieß Bruder gegen Bruder und Vater gegen Sohn. Aber es kann zu nichts Gutem führen, wenn ein Hund anfängt, seinen eigenen Schwanz aufzufressen.« »Wie wahr«, sagte mein Vater. »Aber jetzt ist ein neu es Jahrzehnt angebrochen und das ist zugleich ein neuer Beginn. Hoffen wir, dass der König einen Weg findet, um die alten Wunden zu heilen. Möge in den Brunnen Wein fließen, kein Blut!« Hester blickte meinen Vater fragend an. »Master Ho bie, wenn meine Mutter nie rechtmäßig mit Euch verhei ratet war…« »Das einzig Gute, was durch deine Mutter in mein Haus kam, warst du«, antwortete mein Vater lächelnd. »Schau nur, was für eine wunderbare Familie ich habe! Das ist etwas, worauf ich wirklich stolz sein kann.« »Ganz meine Meinung«, sagte ich, »denn wäre Maud nicht in unser Leben getreten, hätte ich nie eine so tapfe re und liebe Schwester bekommen.« Nach dem Essen bei den Bedwells kam Edmund jeden Tag auf einen Besuch bei uns vorbei, ob er nun will 300
kommen war oder nicht. Inzwischen waren mir seine Be suche schon fast ein Graus. Ich wünschte, ich könnte et was für ihn empfinden, doch das war nun einmal nicht der Fall. »Er sieht doch recht gut aus«, meinte Hester. »Das will ich nicht bestreiten«, entgegnete ich. »Und er ist gescheit. Wirklich, Gabriel hat gesagt, er könnte sogar dem Bischof noch Religionsunterricht ertei len, wenn er es darauf anlegte.« »Das bezweifle ich nicht. Aber Hester, ich empfinde nichts für ihn. Einfach gar nichts.« »Das kommt vielleicht noch mit der Zeit. Weißt du, Mann und Frau heiraten oft aus Vernunftgründen und die Liebe kommt erst später.« »Hester, hättest du Gabriel geheiratet und wärst mit ihm nach Frankreich geflohen, wenn du ihn nicht geliebt hättest?« »Nein«, sagte Hester, »aber das war etwas anderes. Ich meine…« »Nein, ist es nicht!«, fiel ich ihr ins Wort. »Lieber werde ich eine alte Jungfer, als dass ich einen Mann hei rate, der mir nichts bedeutet.« »Oje«, seufzte Hester. »Du hast dein Herz längst ver schenkt. Das merkt man dir an.« Daraufhin konnte ich nur nicken, weil ich vor lauter Schluchzen kein Wort mehr herausbekam. Je mehr Edmund sich mir aufdrängte, desto größer wurde meine Sehnsucht nach Tycho. Warum ließ Ed mund mich nicht in Frieden, gab mir keine Chance, wie der zu mir selbst zu kommen? Vielleicht könnte ich ihm gegenüber dann andere Gefühle entwickeln, was ich al lerdings ernsthaft bezweifelte. Abends, wenn ich allein in meinem Zimmer war, be 301
trachtete ich die silbernen Schuhe und wünschte mir, die ganze Sache wäre anders ausgegangen. Ich schlief schlecht, hatte keinen rechten Appetit: Kurz gesagt ich war ruhelos und niedergeschlagen. Beinahe bereute ich meinen Entschluss zurückzukommen. Dann musste ich mir die Augen abtupfen und mich ermahnen, nicht so kindisch zu sein. Mein Verhalten ließ vermutlich alle glauben, ich wür de die Gefühle von Edmund erwidern, der ganz offen sichtlich davon überzeugt war, sein von Gott gegebenes Recht sei, mich zu heiraten. Wie ich ohne mein Zutun und so überraschend schnell in diesen Schlamassel gera ten konnte, war mir ein Rätsel und verursachte mir auch Schuldgefühle. Ich empfand nun einmal nichts für Ed mund Bedwell und ich glaube, es wäre mir am liebsten gewesen, er hätte sich in Luft aufgelöst. Immer wieder ging mir durch den Kopf, dass die Menschen den Wunsch haben, dass im Leben alles seine Ordnung hat, und eine Heirat war für eine Frau nun einmal die normale Bestimmung. Auf diese Weise ging der Monat Mai seinem Ende zu. In unserem Haus, genau wie im übrigen London, war die Rückkehr des Königs Hauptgesprächsstoff. Alle wollten seinen Einzug in London zum großen Feiertag werden lassen, und jede Familie schmiedete eigene Pläne, wie sie diesen Tag begehen wollte. Jene, die das Glück hatten, dass ihr Haus entlang der Strecke lag, die der König und sein Gefolge zurücklegen würden, stellten fest, dass sie auf einmal wesentlich mehr Freunde hatten als jemals vermutet. Von Master Thankless’ Haus aus hatte man zweifellos einen hervorragenden Ausblick. Wir vereinbarten, gleich am frühen Morgen zu ihm zu gehen, bevor die Straßen 302
überfüllt waren. Vermutlich würde ganz London auf den Beinen sein. In unserem Haushalt herrschte große Aufregung, weil mein Vater gefragt worden war, ob er den König auf sei nem Ritt nach Whitehall eskortieren wolle. Gerüchten zufolge sollte er für seine Verdienste um Seine Majestät sogar zum Ritter geschlagen werden. Als Danes davon erfuhr, schien sie plötzlich zu schweben, so stolz war sie auf meinen Vater. »Oh, Sir«, sagte sie leise und betupfte sich die Augen, »Eleanor hat immer gesagt, dass Ihr ei nes Tages ein bedeutender Mann sein werdet.« Am Vorabend hatte Edmund uns einen Besuch abges tattet und gesagt, dass er meinen Vater unter vier Augen sprechen wolle. Ich sah ihn nur vom Treppenabsatz im oberen Stockwerk aus. Endlich hatte sich England seines Tyrannen entledigt, doch ich selbst fühlte bei jeder Dre hung des Stundenglases meine eigene Freiheit wie Sand körner davonrieseln. Edmund ging wieder, ohne nach mir gefragt zu haben, und ich war heilfroh, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Gleich darauf rief Väter mich in sein Arbeitszimmer. Er trug bereits zur Probe seine Reiterkleidung und seine Sattel tasche stand fertig gepackt neben der Haustür. Er würde zum königlichen Gefolge gehören, das Seine Majestät auf dem triumphalen Zug durch die Stadt begleiten würde. »Du ahnst vermutlich, was Edmund wollte«, begann Vater. Mir wurde ganz bang ums Herz, denn ich wusste, was gleich kommen würde. »Edmund hat um deine Hand angehalten«, sagte mein Vater. »Er zählte eine Menge guter Gründe auf, warum du seine Frau werden solltest. Tja, dein Verehrer hat alles bestens geplant, wie es scheint.« 303
»Ich wünschte, er würde mich endlich in Frieden las sen«, seufzte ich gereizt. »Nun, er scheint wild entschlossen, dich zu heiraten. Und ich würde sagen, dass er wahrlich keine schlechte Partie ist.« »Aber Vater, ich liebe ihn nun einmal nicht. Und wer de ihn auch nie lieben können.« Für mich selbst überra schend, kam es plötzlich noch über meine Lippen: »Ich liebe einen anderen.« So, nun war es ausgesprochen. Mein Vater stand am Fenster und schaute auf den Fluss hinunter. Die Glocken hatten angefangen zu läuten. »Das habe ich befürchtet«, sagte er und wandte sich wieder mir zu. »Man sieht es dir an der Nasenspitze an. Wer ist dieser Mann? Und wo ist er?« »Er stammt aus Mutters Welt, ist ein Prinz und heißt Tycho. Ich habe ihn verlassen, um zu dir zurückzukom men. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich werde ihn niemals wiedersehen«, sagte ich betrübt. »Als ich deine Mutter an jenem Tag unter der großen Eiche stehen sah«, sagte Vater, »habe ich mich auf den ersten Blick in sie verliebt. Ich wäre ihr bis ans Ende der Welt gefolgt. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich merkte, dass sie meine Gefühle erwiderte.« Er räusperte sich, ehe er fortfuhr: »Coriander, ich kann dich nicht zwingen, einen Mann zu heiraten, den du nicht liebst. Das wäre töricht. Du musst der Stimme deines Herzens folgen, mein Kind.« »Das ist ja das Problem, Vater. Mein Herz ist nicht hier in dieser Welt und deshalb fühle ich mich wie ge spalten.« »Meine arme Coriander«, sagte Vater mitfühlend. »Ich muss gestehen, dass ich insgeheim gehofft hatte, du wür 304
dest bleiben, wenn du Edmund heiratest. Ich kann den Gedanken, dich wieder zu verlieren, kaum ertragen. Doch eines weiß ich genau: Wenn deine Mutter noch leben würde, würde sie dir raten, all deinen Mut zusam menzunehmen und deinen Gefühlen zu folgen. Das hat sie schließlich auch getan. Mir ist klar, dass du mit Ed mund nie wirklich glücklich wärst, und nebeneinanderher zu leben, reicht nicht aus. Ich bitte dich nur zu warten, bis der König seinen rechtmäßigen Platz wieder einge nommen hat. Wenn du dann deine silbernen Schuhe an ziehen willst, kannst du mit meinem Verständnis rech nen.« »Vater, dafür ist es bereits zu spät«, sagte ich. »Das hoffe ich nicht.« Er küsste mich auf die Wange und ging hinaus, während ich in seinem Arbeitszimmer stehen blieb und weinend auf die vorbeifließende Them se hinunterblickte und mich, wie der Fluss, zwischen zwei Welten hin– und hergerissen fühlte.
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Ein Narr und seine Perücke
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ie Kirchenglocken, die so lange geschwiegen hatten, weckten London am nächsten Morgen mit ih rem Geläut, um die baldige Ankunft des Königs zu ver künden. Eine fiebrige Aufregung lag in der Luft. Edmund kam am frühen Morgen vorbei und hielt um meine Hand an. Es war wirklich kein guter Moment, weil alle in Hektik waren. Da stand er, mitten im Flur, in ei nem neuen Anzug, dessen Jacke ihm bis zu den Knien reichte, seidenen Strümpfen, Kniehosen und Schleifen an den Schuhen. Er trug auch eine üppige Perücke, die ihm nicht so recht passte und die sein Gesicht klein und ge wöhnlich aussehen ließ. »Coriander, kann ich dich bitte unter vier Augen spre chen«, sagte er, als Hester gerade mit dem Säugling im Arm die Treppe herunterkam, der sich ausgerechnet in diesem Augenblick übergab und seinen neuen Anzug schmutzig machte. In der Küche hörte ich eine Pfanne laut scheppernd auf die Steinfliesen fallen. Ned schob sich in Hemdsärmeln mit einer Schüssel Wasser an uns vorbei. »Wir werden nie im Leben rechtzeitig fertig«, hörte ich Danes stöhnen. Edmund ließ sich nicht beirren und stieß die Tür zu Va ters Arbeitszimmer auf, als würde es bereits ihm gehören. »Oh, kann es nicht warten?«, bat ich ihn. »Dies ist kein guter Zeitpunkt.« 306
»An einem so hohen Feiertag? Ich wusste keinen bes seren«, sagte er, schob mich resolut ins Zimmer und schloss die Tür, um die vertrauten Geräusche meiner Familie auszublenden. »Ich möchte, dass du meine Frau wirst.« Mir fiel nicht ein, was ich außer einem unverblümten »Nein« hätte sagen können. Doch mein Schweigen konn te Edmund nicht in seinem Eifer bremsen. »Du musst zugeben, dass wir wie füreinander geschaffen sind. Unsere beiden Familien hätten nur Vorteile. Ich habe bereits mit deinem Vater gesprochen. Dafür, dass du mei nen guten Namen tragen wirst, erwarte ich von dir, dass du mir ordentlich den Haushalt führst, unsere Kinder zu got tesfürchtigen Christen erziehst und mir stets gehorchst…« Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. »Und mich als deinen Ehemann liebst und ehrst.« Am liebsten hätte ich laut gelacht. Ich musste mir auf die Lippen beißen, um es nicht zu tun. Doch das schien Edmund völlig zu entgehen, denn er redete weiter, als hätte ich seinen Antrag angenommen. »Wie du weißt, werde ich mich um einen Sitz im Par lament bewerben, und von meiner Gemahlin erwarte ich selbstverständlich, dass sie mich in allen Punkten unter stützt.« Er drehte sich so, dass ich seine spitzen, unversöhn lichen Gesichtszüge gut sehen konnte, zückte ein gebügel tes Taschentuch und putzte sich geräuschvoll die Nase. Oh bitte, komm zum Ende, dachte ich gequält und hoffte, dass endlich jemand auf der Suche nach mir he reinkommen und Edmund von diesem leidigen Thema ablenken würde. Er räusperte sich. »Coriander, ich habe mich mit ein paar wichtigen Persönlichkeiten beraten, und wir sind der Meinung, dass es am besten wäre, wenn man dich als 307
Ann Bedwell kennt. Das ist für die Gemahlin eines Mit glieds des Parlaments ein schicklicherer Name.« Ich erwiderte, so höflich ich vermochte, dass er ver mutlich die falschen Personen gefragt hätte, denn mein Name wäre Coriander und ich dächte nicht im Traum daran, ihn zu ändern. »Ich dachte doch nur…«, sagte er verwirrt. »Ich weiß genau, was du dir gedacht hast«, zischte ich. »Mein Äußeres darf bleiben, nur mein Inneres passt dir nicht. Ich soll eine andere werden. Doch das kann ich nicht. Ich wurde bereits einmal meines Namens beraubt und musste darum kämpfen, ihn zurückzubekommen. Mein Name ist Coriander. Ich bin nicht die Ann, die du gern hättest.« »Ich schlage vor«, entgegnete Edmund, »dass du dir mein Angebot durch den Kopf gehen lässt, bevor du eine überstürzte Entscheidung triffst, die du später nur bereu en würdest.« »Meine Antwort, lieber Edmund, lautet Nein.« Danes rettete mich aus dieser heiklen Situation. Ohne Edmunds Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen, kam sie ins Arbeitszimmer gestürmt. »Beeil dich, mein Spatz! Das Boot wartet schon, um uns zur Brücke zu bringen. Wir dürfen keinen Augen blick dieses wunderbaren Tages verpassen!« »Also wirklich, Madam«, fauchte Edmund, »solltet Ihr nicht anklopfen, bevor Ihr hereinkommt? Wir sind hier nicht in einem Kuhstall!« Danes war einen solchen Ton nicht gewohnt und dar aus machte sie auch keinen Hehl. Ich dachte schon, sie würde ihm gleich gehörig die Meinung sagen, als plötz lich auch Gabriel hereinplatzte. »Kommt endlich, meine reizenden Damen! Alle war 308
ten auf euch!« Erst da erblickte er Edmund. »Wollt Ihr auch mitfahren, Sir?« »Allmächtiger, hat man denn keinen Moment Ruhe in diesem Haus?«, schnaubte Edmund, ohne auf Gabriels Frage einzugehen. Ich griff nach Danes’ Arm und verließ den Raum. Da bei fühlte ich mich wie ein Kanarienvogel, der aus sei nem Käfig schlüpfte. Wir gingen die Stufen zum Wasser tor hinunter, wo bereits alle, einschließlich Hesters mit ihrem Säugling, im Boot warteten. Unwillkürlich musste ich an die Nacht denken, in der Gabriel und ich hierher gekommen waren, um es mit Maud und Arise aufzunehmen. Gabriel schaute mich an, als würde ihm gerade derselbe Gedanke durch den Kopf gehen, und drückte lächelnd meine Hand. Als wir durch das Tor in den hellen Sonnenschein hin ausglitten, war ich überrascht über das festliche Ausse hen der Themse. Jedes Boot, jeder Kahn und jedes Fähr boot war mit farbenprächtigen Bändern und Blumen ge schmückt. Die Menschen sangen und winkten sich zu, als sei ganz London eine einzige große Familie, und ich war mächtig aufgeregt. Ich spürte, dass etwas Außergewöhn liches unmittelbar bevorstand. An den Stufen neben der Brücke stiegen wir aus und mischten uns unter die Menschenmenge, von denen alle nach einem möglichst guten Aussichtspunkt suchten, um die königliche Prozession vorbeiziehen zu sehen. Wir schoben uns durch die Massen bis zu Master Thankless’ Haus, wo Neil uns schon erwartete. »Ein Glück, dass ihr endlich da seid«, rief sie. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viele Leute mich schon bestechen wollten, um ins Haus zu dürfen, weil man von da aus einen herrlichen Blick hat.« 309
»Ich hoffe, du hast sie alle abblitzen lassen«, sagte Danes besorgt. »Aber sicher«, sagte Neil lachend, die wie ein Wach hund neben der Ladentür stand. »Schaut mal auf die Straße! Sie ist schon mit Blumen übersät! Ist euch klar, dass wir Seine Majestät gleich leibhaftig vor uns sehen werden? Ich glaube, ich werde bei seinem Anblick vor Freude ohnmächtig werden!« Der Verkaufsraum sah ganz anders aus als sonst. Alle Stoffballen waren weggeräumt worden und auf der La dentheke standen Platten mit Braten, Rind– und Hühner fleisch, Pasteten und anderen Leckereien, Orangen und den ersten Erdbeeren der Saison. »Na, was sagt ihr dazu?«, fragte Neil voller Stolz. »Ich würde sagen«, meinte Gabriel, »dass es aussieht wie ein königliches Bankett.« Master Thankless kam und begrüßte uns mit einem Tablett voller Champagnergläser. Wir waren eine fröhli che Gesellschaft und stellten fest, dass man von den Fenstern im oberen Stockwerk aus wirklich einen unver gleichlichen Blick auf die Bridge Street hatte. Man konnte alles bestens sehen. Die Menschen unter uns standen dicht gedrängt. Andere waren aus den Fenstern geklettert und saßen auf den Dächern, um einen guten Blick auf die kö nigliche Prozession zu erhaschen. Die Brücke selbst war mit goldenen Stoffbändern geschmückt, die Fenster waren mit silbernen Stoffbahnen verschönert worden. Und alles glänzte und blitzte im morgendlichen Sonnenschein. »Als Oliver Cromwell damals in die Stadt einzog, hat ihm kein Mensch Blumen auf den Weg gestreut«, be merkte Danes, wobei sie tunlichst darauf verzichtete, ihn bei seinem Spitznamen »Old Noll« zu nennen, um Ned nicht zu kränken. 310
»Oh, daran erinnere ich mich noch gut«, sagte Master Thankless. »Wir hatten alle eine Heidenangst, einer sei ner Soldaten könnte auf die Idee kommen, jeden Londo ner Bürger zu erschießen, der zufällig auf der Straße war. Unfassbar, wenn man sieht, wie sich das Blatt gewendet hat!« Wir mussten noch eine ganze Weile warten, bis wir den König zu sehen bekamen, doch als er am Traitor’s Gate ankam, schwollen die Rufe aus der Menge so sehr an, dass wir wussten, dass er näher kam, noch ehe wir ihn erblickten. Was soll ich sagen über den Moment, als der König vorbeiritt? Wir lehnten uns aus dem Fenster, um zu win ken und zu jubeln. Ich war entzückt über seinen Anblick: Er sah aus wie ein Sagenheld, war ganz in Weiß und Gold gekleidet, hatte langes dunkles Haar und ein an sprechendes Gesicht. Lächelnd grüßte er seine Unterta nen links und rechts des Weges. Hester hielt ihren Säug ling hoch, Danes weinte vor Rührung, und Neil musste festgehalten werden, weil sie sonst in ihrer Begeisterung womöglich noch aus dem Fenster gefallen wäre. Die all gemeine Begeisterung war so riesig, dass sich selbst Ned, ein Puritaner durch und durch, anstecken ließ. Auf einmal überkam mich ein sonderbares Gefühl. Al les verschwamm vor meinen Augen und ich konnte plötzlich nur noch den König auf seinem stattlichen wei ßen Ross deutlich sehen. Wie in Trance starrte ich auf die ses Pferd. Seine Mähne und sein Fell glänzten, als würden sie vom Mond beschienen, und auf einmal sah ich, wie es sachte den Kopf schüttelte, um mir dann direkt in die Au gen zu blicken. Mein Herz begann, wie wild zu schlagen. War es möglich? Konnte es wirklich sein? Ich wagte kaum, mir diesen Gedanken zuzuflüstern. 311
Dann war plötzlich alles wieder wie zuvor: das Glo ckengeläut, das Stimmengewirr, die Jubelrufe, die Pro zession, der vorbeireitende König auf seinem Pferd. »Alles in Ordnung, Coriander?«, hörte ich Danes fra gen. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.« »Entschuldigt mich. Ich brauche etwas Luft«, keuchte ich. »Komm näher ans Fenster«, sagte Ned und trat zur Seite. »Nein danke. Ich gehe lieber ins Freie.« Und schon huschte ich aus dem Zimmer. Ich hatte das dringende Bedürfnis, ganz schnell nach Hause zu gehen. Als ich die Ladentür aufriss, stand Edmund plötzlich vor mir und versperrte mir den Weg. Er griff nach mei nem Arm, drängte mich wieder ins Innere und machte resolut die Tür zu. »Wie du weißt, habe ich bereits mit deinem Vater ge sprochen. Meine Familie ist im Haus von Alderman Har court und wünscht, dass ich dich zu ihnen bringe, damit wir unsere Verlobung bekannt geben können.« »Ich brauche frische Luft«, sagte ich und versuchte, mich an ihm vorbeizudrängen. Er hielt mich fest. »Mein Antrag kam vermutlich et was überraschend für dich.« Irritiert funkelte ich ihn an. »Edmund, begreifst du denn nicht, dass mir nichts an dir liegt? Ich werde dich nicht heiraten. Niemals!« »Das würdest du schwer bereuen!«, erwiderte Edmund kühl und drückte meinen Arm noch fester. Ich riss mich los. »Lass mich in Frieden! Du bist ein Narr, Edmund Bedwell!« Nach diesen Worten raffte ich meine Röcke zusammen und stürmte ins Freie, mitten hinein in die Menschenmenge. Ich hörte Edmund noch 312
ein Stück hinter mir herrennen, während ich mich durch die Massen schlängelte, doch irgendwann hatte ich ihn abgeschüttelt. Das Gedränge war unglaublich, der Lärm ohrenbetäubend. Ich hetzte vorbei an den festlich geklei deten, ausgelassenen Menschen. Irgendwann glaubte ich, Medlar zu sehen, der fröhlich seine Laterne schwang. Doch im nächsten Augenblick war er wieder verschwun den, und ein lauter Aufschrei ging durch die Menge: »In den Brunnen fließt Wein!« Die Schreie wogten wie ein Windstoß durch die Menschenmassen, die nun plötzlich alle in eine Richtung drängten. Ich rannte und rannte, immer weiter und weiter. Erst am Gartentor meines Elternhauses blieb ich stehen. Das Herz klopfte mir bis zum Halse. Ich strich meinen Rock glatt und zupfte mein Oberteil zurecht. Mein Haar hatte sich gelöst, und so hob ich beide Hände, um meine Lo cken wieder einigermaßen mit den Haarklemmen zu bändigen. »Bitte lass es nicht zu, dass ich mich irre«, sagte ich laut zu mir selbst. »Bitte!« Mit zitternden Fin gern schob ich den Riegel zurück. Im ersten Augenblick glaubte ich, das Licht spiele mir einen Streich oder ich hätte eine Träne im Auge, denn der Garten meiner Mutter war ein einziges Blüten– und Farbenmeer, mehr als jemals zuvor. Rosmarin, Thymian, Koriander, Minze, die Rosen, Ringelblumen und Laven delsträucher schimmerten wie Juwelen. Sachte fuhr ich mit den Fingern darüber, ein Heer von Schmetterlingen erhob sich aus den Blüten und flatterte hinauf zur Sonne, wobei ihre Flügel im Rhythmus meines Herzens schlugen. Der Garten schien verlassen zu sein, doch dann drehte ich den Kopf und blickte zur Haustür. Und da stand er, auf den Stufen, schimmernd wie ein Hitzeflimmern. Von einer grässlichen Angst erfüllt, dass meine Augen mich 313
täuschen könnten, ging ich langsam über den Gartenpfad auf ihn zu. Ich sah nur noch ihn. Tycho! Es war Tycho. »Du bist gekommen!« Er nahm mein Gesicht in seine Hände. »Coriander, wie könnte ich jemals wieder ohne dich leben? Du bist mein Schatten. Du bist mein Licht. Willst du die meine werden, Coriander?« Ich schlang beide Arme um seinen Hals, und da wurde mir klar, dass diese Welt und die Welt unterhalb des sil bernen Spiegels eins geworden waren, alles gut war und eine gemeinsame Zukunft vor uns lag. Der Morgen bricht an und der Nachtwächter verkündet den neuen Tag. Meine Geschichte ist erzählt, nicht beim Stundenglas dieser Welt geschrieben. Und damit blase ich die letzte Kerze aus.
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Wenn wir Schatten euch beleidigt O so glaubt – und wohl verteidigt Sind wir dann – ihr alle schier Habet nur geschlummert hier, Und geschaut in Nachtgesichten Eures eigenen Hirnes Dichten. William Shakespeare Ein Sommernachtstraum (Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel)
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Der Historische Hintergrund
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iese Geschichte spielt in den Anfangszeiten des Commonwealth, nachdem die Royalisten den Bür gerkrieg verloren hatten und König Karl I. im Januar 1649 in White-Dall hingerichtet worden war. Es war die Zeit eines großen Experiments: Englands Versuch, die Monarchie abzuschaffen und eine Republik zu werden. Was damals um 1650 geschah, hat das englische Parla ment und die Monarchie zu dem gemacht, was es heute ist. Es ist für uns schwer nachvollziehbar, welches Entset zen die Hinrichtung des Königs beim Volk hervorrief. Bis dahin hatte man geglaubt, der König sei ein von Gott auserkorener Monarch, der sein Volk als Oberhaupt der Kirche von England regieren sollte. Auch Karl I. glaubte bis zum Ende an sein göttliches Recht, über England zu herrschen. Allerdings war er mit einer Katholikin verhei ratet, was seinem Ansehen beträchtlich schadete. Da er weder ein guter Politiker noch ein weiser Herrscher war, traf er ein paar schlechte und unkluge Entscheidungen, die letztlich zum Auslöser des Bürgerkriegs wurden. Der Bürgerkrieg brachte grausame, blutige Schlachten und Auseinandersetzungen mit sich, die Familien und Nachbarn entzweiten, das Land verwüsteten und viele Menschen bis an den Rand des Hungertods brachten. Es gab zwei Lager: die königstreuen Royalisten und die Pu ritaner (wegen ihrer kurz geschorenen Haare auch »Rundköpfe« genannt). Die Puritaner waren strenggläu bige Protestanten, die eine Reform der Kirche von Eng land anstrebten, um zu verhindern, dass sie wieder in den 318
Einflussbereich der römischkatholischen Kirche zurück fiel. Für sie war allein die Bibel Quelle der Wahrheit, und sie glaubten, dass man sich am Sonntag ausschließlich dem Gebet und dem Singen von Psalmen widmen müsse. Tanzen, Theaterspielen, Singen, Musik und andere Ver gnügungen lehnten sie strikt ab. Oliver Cromwell war ihr großes Vorbild und der Oberbefehlshaber ihrer Armee, genannt New Model Army oder Parlamentsheer. Der Bürgerkrieg endete mit der Hinrichtung des Kö nigs. Es folgten zehn Jahre des »republikanischen Com monwealth« unter der Führung von Oliver Cromwell. Cromwell ließ die Theater und Schauspielhäuser schlie ßen und verbot das Feiern von Weihnachten. Auch heid nische Bräuche wie das Aufstellen von Maibäumen wur den untersagt, und wer nicht zum Gottesdienst erschien, musste eine Geldstrafe bezahlen. Viele der alten Kirchen wurden geplündert, ihre farbigen Glasfenster eingewor fen und Reliquien verbrannt, denn jeder Pomp wurde abgelehnt. Gottesdienste sollten in möglichst schlichtem Rahmen abgehalten werden. Radikale protestantische Sekten schossen plötzlich wie Pilze aus dem Boden: Levellers, Ranters, Quäker, Dig gers und viele mehr, eine noch extremer in ihrer Glau bensanschauung als die andere. Dazu gehörten auch die Fifth Monarchists. Sie waren sehr radikal in ihren An sichten und eifrig bestrebt, England von allen Sündern zu befreien. Erst dann könnte das »Fünfte Reich« errichtet werden, jenes von Jesus Christus, der kommen würde, um sich Englands Krone aufs Haupt zu setzen. Für eine gewisse Zeit hatte diese Sekte großen Einfluss, doch ir gendwann fand sogar Oliver Cromwell ihre Forderungen zu haarsträubend, und er distanzierte sich von ihnen. London überstand den Bürgerkrieg relativ unbescha 319
det, derweil der König die Hauptstadt verlassen hatte und nach Oxford gegangen war. Als sich Cromwells Sieg immer klarer abzeichnete, wurde vernünftigerweise be schlossen, die Tore der London Bridge zu öffnen und Cromwell widerstandslos in London einziehen zu lassen. Die Söhne des hingerichteten Königs und seine Frau Henrietta Maria waren rechtzeitig ins Exil geflüchtet, doch 1653 kehrte der älteste Sohn, Karl, nach Schottland zurück, wo er zum König gekrönt wurde und eine Armee aufstellte, um Cromwell in der Schlacht von Worcester entgegenzutreten. Obwohl der junge König wacker kämpfte, konnte es seine Truppe nicht mit Cromwells großer Armee aufnehmen. Der neunzehnjährige Karl wurde vernichtend geschlagen und musste fliehen. Auf ihn wurde ein Kopfgeld ausgesetzt und er kam mehrmals nur knapp mit dem Leben davon. Einmal musste er sich sogar in der Krone einer Eiche verstecken, während Sol daten mit Spürhunden nach ihm suchten. Nach sechs Wochen des Versteckens gelang ihm jedoch die Flucht nach Frankreich. Oliver Cromwell musste feststellen, dass das Regieren in Friedenszeiten schwieriger ist als in Kriegszeiten. Er übte Vergeltung an allen, die früher den König unter stützt hatten, und konfiszierte ihre Ländereien und ihr Vermögen. Zu jener Zeit war es ratsam, sich als frommer Puritaner auszugeben. Doch dann hatte Cromwell mit dem Parlament genauso große Probleme wie König Karl I. vor ihm. Am Ende wurde er zu einem richtigen Dikta tor. Als ihm die Krone Englands angeboten wurde, lehnte er jedoch ab und beschloss, es lieber bei dem Titel »Lordprotektor« zu belassen, der ihm 1653 verliehen worden war. Cromwell starb im September des Jahres 1658. Sein 320
Sohn Richard, dem das Volk den Spitznamen »Tumbledown Dick« gegeben hatte, übernahm die Macht, war jedoch nicht mit dem Führungsgeschick seines Vaters gesegnet. Als General Monck, einer von Cromwells er gebensten Anhängern, erkannte, dass England kurz vor einem weiteren Bürgerkrieg stand, traf er eine sehr muti ge Entscheidung: Gegen den Willen der Armee forderte er Karl IL auf, als König nach England zurückzukehren. Das war der Beginn der Restauration.
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Danksagung
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ch möchte mich von ganzem Herzen bei Jane Fior bedanken, für all ihre Unterstützung, ihre Klugheit und ihre bewundernswerte Fähigkeit, mich auf dem rech ten Weg zu halten und mich auch wieder dorthin zurück zuführen, wenn ich in eine Sackgasse geraten war. Eben falls bedanken möchte ich mich bei meiner Agentin Ro semary Sandberg, die mir im Laufe der Jahre immer wie der Mut zugesprochen hat; bei meiner Verlegerin Fiona Kennedy für ihre Begeisterung und Loyalität; bei Lauri Hornik und Dial Books für ihren Zuspruch und ihren Ei fer; sowie bei Judith Elliott, einer unglaublich talentierten Lektorin, die Wörter und Sätze, die noch nicht ganz durchdacht waren, aufgegriffen, erkannt und neu geord net hat, und die stets davon überzeugt war, dass ich wei ter gehen könne, als ich jemals für möglich gehalten hät te. Ohne sie und Jane wäre dieses Buch sicher etwas blasser geblieben.
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