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Irving A. Greenfield
Horror Trip ins Hexenland
Originaltitel: TO SAVOR THE PAST Aus dem Amerikanischen von K. H. P...
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Irving A. Greenfield
Horror Trip ins Hexenland
Originaltitel: TO SAVOR THE PAST Aus dem Amerikanischen von K. H. Poppe Titelbild: C. A. M. Thole September 1976
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Erst gegen Morgen hatte es aufgehört zu schneien, und das Land lag bis zum Horizont wie unter einem dicken gleißenden Leichentuch. Der Mann auf der Smith Hill kniff die Augen zusammen, weil die Sonne ihn blendete, und starrte auf die Häuser und Hütten des Dorfs Salem. Er hieß Roger Andrew. Andrew war vor zwei Wintern aus Maine nach Salem gekommen, um die Schule zu übernehmen. Damals war John Cheever erkrankt, Andrew sollte ihn vertreten, aber Cheever hatte sich immer noch nicht erholt, und so war aus der vorübergehenden eine Beschäftigung auf Dauer geworden. Für die Farmer und die übrigen Einwohner von Salem Village war Andrew ein Fremder geblieben. Er war größer und breiter als die anderen Männer, ausgenommen Goodman Argall, der in der Stadt Salem vier Meilen weiter östlich eine Werft betrieb, und er trug einen Bart, während die meisten Männer glattrasiert 3
waren. Seine Haare waren schwarz und reichten ihm bis auf die Schultern, seine Nase erinnerte an einen Adlerschnabel, und seine Brauen waren ungewöhnlich buschig. Während die Leute von Salem die Windpockenepidemie, an der die Jüngsten und die Ältesten starben und die den Überlebenden gräßliche Narben zufügte, als Strafe des Himmels erklärten und in der Kirche um Gnade flehten, war Andrew Realist. Die Leute empfanden auch die wachsenden Schwierigkeiten mit den Indianern als göttliche Strafe, und der Reverend ließ bei jeder Gelegenheit seine quäkende Stimme erschallen und verkündete, der Zorn des Allmächtigen wäre provoziert worden, da ständig mehr Gläubige sich der Kirche und dem Gotteswort entzogen. Andrew war entschlossen, sich seine Skepsis nicht anmerken zu lassen. Er war nicht unzufrieden mit dem Schicksal, das
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ihn in diesen Winkel von New Jerusalem verschlagen hatte, das die Menschen der Massachusetts Bay Colony am Rand der Wildnis erschaffen wollten. Nachdenklich wandte er sich vom Anblick der grauen Häuser im Tal unter sich ab und spähte nach Westen, wo die Sonne tief über den Bergen stand. Hinter den Bergen dehnte sich Land, das noch kein Weißer betreten hatte. Das Land gehörte den Indianern, und im Vergleich dazu waren die Städte und Dörfer sogar die Metropole Boston nicht mehr als Staubkörner. Die Weißen hatten Angst vor dieser unendlichen Weite. Sie wähnten, von dort könnten finstere Mächte über sie hereinbrechen, um sie zu vernichten. Sie empfanden bereits die Hügel, die Salem Village auf drei Seiten umzingelten – nur im Osten war das Tal offen – als Bedrohung. Andrew fürchtete weder die Hügel noch die Wildnis. Er fürchtete lediglich, eines Tages Sa5
lem verlassen zu müssen und dann ernstlich in Schwierigkeiten zu geraten. Er war nicht abergläubisch, aber er nahm die innere Stimme, die ihn vor einer solchen Zukunft warnte, bitter ernst. Die Schatten der kahlen Bäume wurden länger, der Himmel über dem Meer im Osten nahm eine bleierne Färbung an. Andrew ging langsam zum Dorf hinab. Er kam an einer der Farmen vorbei, am Hoftor stand eine junge Frau. Andrew hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Anscheinend erwartete die Frau es von ihm, aber er fand nicht die richtigen Worte. Er ging schnell weiter. Im Zentrum des Dorfs blieb er stehen. Er bedauerte jetzt, die Frau nicht angesprochen zu haben. Er hatte den Verdacht, daß sie seinetwegen am Tor gelehnt hatte; sie hatte ihn angesehen, wie ein Mädchen einen guten Freund ansieht. Er war davon überzeugt, ihr noch nie
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begegnet zu sein, trotzdem wußte er, daß sie verwitwet war und Maude Bowin hieß. Er überlegte, woher er ihren Namen kannte und wieso sie wahrscheinlich seinetwegen an die Straße gekommen war, doch ihm fiel keine Erklärung ein. Schließlich gab er auf und trat in Ingersolls Ordinary. Er wollte etwas essen und sich einen Whisky gönnen. Am Morgen stellte er fest, daß sich das Schulhaus nicht dort befand, wo es eigentlich hätte sein müssen, nämlich in der Ipswich Road. Tatsächlich stand es Wand an Wand mit seiner Unterkunft, ohne daß auch nur ein einziger Mensch in Salem Village ein Wort darüber verlor. Andrew ahnte nicht, wann und weshalb diese Veränderung stattgefunden hatte. Meistens wurden Entscheidungen, die das Leben der Bevölkerung betrafen, im Versammlungsgebäude, das zugleich als Kirche diente, offen diskutiert, und häufig zogen sich diese Diskus7
sionen wochen- und monatelang hin, wobei die Richtigkeit eines Gesichtspunkts selten den Ausschlag gab. Wichtiger war die Beharrlichkeit der einen oder anderen Partei. Die Einwohner dieses neuen Zion waren halsstarrig wie die Patriarchen im alten Testament und noch streitsüchtiger. Das Gesetz diente ihnen ausschließlich als Instrument ihrer persönlichen Machtentfaltung, und folgerichtig prozessierte beinahe jeder gegen jeden. Im allgemeinen ging es um Lappalien, aber manchmal stand mehr auf dem Spiel, zum Beispiel Landbesitz, und nur selten waren die Gegner mit einem Gerichtsurteil zufrieden, nicht einmal, wenn sie gewonnen hatten. Regelmäßig hatten sich die Sieger einen triumphaleren Erfolg erhofft, während die Unterlegenen auf Revanche sannen. Andrew nahm die veränderte Situation kommentarlos zur Kenntnis, und Minuten später hatte er die frühere Lage der Schule aus seinem 8
Gedächtnis verdrängt. Er stieß die Tür auf und trat in das leere Klassenzimmer. Er kümmerte sich um das Feuer in dem steinernen Kamin und vergewisserte sich, daß die Stühle und Tische in der richtigen Reihenfolge standen: vorn die kleinen für die jüngeren Kinder, weiter rückwärts die großen. Er war allein für den gesamten Unterricht zuständig, vom Alphabet bis zur Geometrie. Allerdings kamen für die anspruchsvolleren Fächer nur Söhne wohlhabender Väter in Betracht. Die übrigen Schüler wanderten ins Berufsleben ab, sobald sie halbwegs lesen, schreiben und rechnen konnten. Andrew ging vors Haus und läutete die Schulglocke. Der Himmel war mit grauen Wolken bedeckt, und die Luft war so kalt, daß der Atem sich in Dampf verwandelte. Nach und nach trudelten die Kinder ein, einige laut und mit Gelächter, andere mit deutlichem Mißvergnügen, wieder anderen – die älteren – mit einer steifen Würde. Andrew beschäftigte 9
sie: die Oberstufe mit Geographie, die Mittelstufe mit Kopfrechnen, die Unterstufe mit einem Lesebuch. Gegen Mittag schickte er die Kinder nach Hause, holte sich von nebenan Hut und Mantel und ging über die Straße zu Ingersoll. Nach dem Essen um ein Uhr war er wieder in seiner Schule, wenig später kehrten auch die Kinder zurück. Abermals Kontinente, Ziffern, läppische Texte. Als Thomas Haine, der zehnjährige Nachzügler eines Farmers, der schon fünf verheiratete Kinder hatte, sich mit dem großen Einmaleins plagte, fing es an zu schneien. Andrew trat zum Fenster und blickte hinaus. »Es schneit«, sagte er abwesend. »Der Wind ist stärker geworden.« Thomas Haine lachte albern, Andrew achtete nicht darauf. Er starrte auf die weißen Flocken und spürte ein tiefes Unbehagen. Der Schnee erinnerte ihn an etwas, das sich nicht in Worte fassen ließ. Jedesmal wenn er zupacken wollte, 10
verschwand es wie hinter einem Nebel. Gedankenlos ging er zur Tafel, griff sich ein Stück Kreide und zeichnete zwei große Kreise. Er deutete die Konturen der Erdteile an und wandte sich zu den Schülern um. »Hier ist Europa«, sagte er tonlos und zeigte mit dem Finger. »Diese riesige Fläche ist Rußland, die Gelehrten streiten sich, ob es zu Europa gehört oder nicht, und wir werden diesen Streit jetzt nicht klären. Weiß einer von euch, wo China liegt?« Ann Putnam hob die Hand, Andrew nickte. »China liegt neben Europa«, verkündete sie. Andrew war mit dieser wenig präzisen Antwort zufrieden, er zeichnete China ein. Er forderte die Klasse auf, die Lage Nordamerikas zu beschreiben. »Auf der anderen Seite des Meeres«, erklärte der älteste Schüler, »gegenüber von England. Aber Sie haben Amerika nicht so gemalt, wie es im Buch abgebildet ist…« 11
»Ja.« Andrew besah sich seine Skizze. Die Konturen des nordamerikanischen Kontinents auf der Tafel wichen in der Tat erheblich von denen im Lehrbuch ab. Im Augenblick hätte er nicht sagen können, warum er sie anders dargestellt hatte. »Vielleicht bin ich klüger als das Buch.« Die Kinder lachten. Andrew teilte Europa in Staaten ein, beschriftete Afrika, Südamerika und die Gewürzinseln. Abigail Williams erkannte Westindien wieder, ein anderes Kind die Hudson Bay. Andrew fügte den Nordpol hinzu, trat zwei Schritte zurück und betrachtete die beiden Erdhälften. Sein Werk gefiel ihm nicht; etwas fehlte. Spontan ging er noch einmal zu der Tafel und zeichnete unten in jede Erdhälfte einen Halbkreis ein und schrieb: Antarktis. »Was ist das?« fragte einer der älteren Jungen. Andrew drehte sich nicht zu ihm um.
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»Das steht doch, was es ist«, sagte er leise wie zu sich selbst. »Sie ist da, sie ist ganz im Süden der Welt…« »In meinem Buch nicht!« sagte der Junge energisch. Andrew erwachte wie aus einem Traum. Er wandte sich zu dem Jungen um und fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. Er warf die Kreide aufs Pult und lachte verlegen. »Eines Tages wird sie auch in den Büchern sein«, sagte er. »Wir werden es erleben.« Die Klasse schwieg. Andrew starrte wieder ins Schneegestöber, das eine hypnotische Wirkung auf ihn auszuüben schien, die Kinder hatte er vergessen. Endlich meldete Ann Putnam sich noch einmal zu Wort. Sie wollte wissen, wo Jerusalem lag. Andrew ging zu der Tafel und bezeichnete Jerusalem mit einem Kreuz. Der seltsame Schwebezustand, in den das Schneetreiben ihn versetzt hatte, hielt bis spät in die Nacht an. Ruhelos marschierte Andrew 13
in seinem Zimmer auf und ab und achtete nicht darauf, daß im Kamin das Feuer herunterbrannte und Kälte sich ausbreitete; er zermarterte sich das Gehirn nach einer Antwort auf eine Frage, die zu formulieren er nicht imstande war. Nach einer Weile ließ er sich am Tisch auf einen Stuhl fallen, aß Speck und Brot und spülte beides mit einem Schluck Whisky hinunter, dann fing er systematisch an zu suchen, ohne zu ahnen, wonach er suchte. Er durchstöberte die Truhe, die noch aus Maine stammte, aber sie enthielt nur Wäsche und Kleider. Er kramte in den beiden Schränken und durchwühlte die Schubladen einer Kommode. Was immer er suchte, es mußte in dieser Hütte zu finden sein, dessen war er ganz sicher. Er zweifelte nicht daran, daß er es mitgebracht hatte. Schließlich kroch er auf Händen und Knien zum Bett und langte darunter und berührte mit den Fingerspitzen einen ledernen Gegenstand. Er zog ihn hervor und stellte fest, 14
daß der Gegenstand eine Arzttasche war. Noch einmal griff er unters Bett und beförderte ein dickes Tagebuch zum Vorschein. Er schleppte die Tasche und das Buch zum Tisch. Er war davon überzeugt, daß Tasche und Buch ihm gehörten. Auf dem Anhänger der Tasche und auf der Titelseite des Buchs stand ein Name: Paul Klee. »Paul Klee«, flüsterte er.»Paul Klee…« Er ging zum Kamin, fischte ein Stück Glut heraus und steckte eine zweite Kerze an. Mißvergnügt stellte er fest, daß sein Gehirn nicht richtig funktionierte, sonst hätte er die zweite Kerze an der ersten anzünden können. Er steckte die Kerze in einen Leuchter und klappte das Buch auf. Mechanisch setzte er sich wieder an den Tisch auf den Stuhl, der ein wenig zu klein für ihn war wie alles in diesem Haus, sogar die Balkendecke war zu niedrig. Wenn er stand, mußte er den Kopf einziehen. Er sah sich um und wun15
derte sich, daß er plötzlich seine Umgebung zur Kenntnis nahm, als wäre er nicht längst an sie gewöhnt. Er starrte dorthin, wo die wenigen Möbel standen. Das Licht reichte nicht so weit, trotzdem wußte er, daß sie da waren, dann atmete er tief ein, schlug die letzte Eintragung im Buch auf und las. Montag, 15. Februar 2150: Eine entsetzlich unruhige Nacht, schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als ein Somintab zu nehmen, dennoch fürchterliche Träume, an die ich mich indes jetzt bei Tageslicht nicht mehr erinnern kann. Ich hätte nicht herkommen sollen, hier sind zu viele Leute. Ein anderes historisches Gehege wäre vorteilhafter gewesen. Andrew las die wenigen Zeilen immer wieder, dann stand er auf und ging zum Kamin und starrte in die Glut. Er war also Paul Klee, zugleich war er Roger Andrew, wenigstens hier in Salem Village. Er sagte einige Male den Namen Paul Klee vor sich hin. Endlich gab er sich ei16
nen Ruck, nahm ein kupfernes Tintenfaß und eine frisch angespitzte Gänsefeder vom Kaminsims und kehrte an den Tisch zurück. Er setzte sich, tauchte die Feder in die Tinte und schrieb. Montag, 15. Februar 1692: Alle übrigen Eintragungen in diesem Buch stammen aus dem Jahr 2150 und betreffen mein Leben zu jener Zeit. Die vorhergehende Eintragung habe ich erst heute morgen gemacht, und zwar mit einem sogenannten Chemiestift, den Francis mir geschenkt hat, als ich im Januar aus dem Psychological Reorientation Center kam. Er legte die Gänsefeder aus der Hand und überlegte, dann blätterte er weiter vorn im Tagebuch, um die Richtigkeit der Datumsangabe zu überprüfen. Er hatte sich nicht geirrt, er hatte den Stift am 7. Januar erhalten. Er schrieb weiter. Offenbar ist mein Gedächtnis zuverlässiger, als ich bisher annahm, obwohl ich jetzt einen ande-
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ren Beruf ausübe und einen anderen Namen habe. Abermals dachte er nach. Ihm dämmerte, daß sein Erinnerungsvermögen nur teilweise intakt war. Er wußte nicht mehr, was geschehen war, ehe man ihn ins Reorientation Center geschickt hatte, und auch die Erlebnisse im Center waren bis zur Unkenntlichkeit verblaßt. Er hatte den Verdacht, daß er von diesen Erlebnissen träumte. Er tauchte den Kiel in die Tinte und kritzelte hastig wie in Panik. Ich gelte in dieser Siedlung als der Schullehrer Roger Andrew, aber früher war ich der Neurochirurg Dr. Paul Klee. Mir ist weder der Mechanismus dieser Transformation verständlich, noch begreife ich, wie ich von einer Epoche in eine andere versetzt worden bin. Vermutlich habe ich den Ort – nämlich die Marblehead Historical Preserve, zu der die Stadt Salem gehört – nicht verlassen. Die grundlegenden Arbeiten von Dr. Tollar und seinen Schülern haben 18
experimentell bewiesen, daß Menschen wie ich, die an einem sogenannten ZeitverschiebungsSyndrom leiden, schwerer zu beeinflussen sind als Individuen, die in einer Gesellschaftsordnung voller ständiger Wechsel leben können, ohne innerlich Schaden zu nehmen; denn was heute Tatsache ist, kann bekanntlich morgen schon als Fiktion gelten und umgekehrt. Die Wahrheit ist relativ – doch darauf möchte ich lieber nicht eingehen. Jedenfalls habe ich auf solche Manipulationen empfindlich reagiert, nicht einmal Drogen haben geholfen, deswegen wurde ich in ein Reorientation Center in der Nähe von Philadelphia gebracht. Nach drei Monaten intensiver psychologischer Behandlung wurde ich als brauchbar befunden, wieder in die Gesellschaft integriert zu werden. Das war Anfang Januar. Vor zwei Wochen hatte ich einen heftigen Anfall von Schüttelfrost. Sobald er vorüber war, telefonierte ich mit dem Koordinator meines Distrikts und 19
erhielt die Erlaubnis, die Marblehead Historical Preserve aufzusuchen, die zu den zahlreichen Gehegen gehört, welche die Regierung unterhält, um den Bürgern eine Möglichkeit zu verschaffen, aus unserer hektischen Zeit wenigstens vorübergehend und scheinbar in einen vergleichsweise ruhigen Abschnitt der Geschichte zu flüchten. In Marblehead und Sturbridge wird die Epoche des kolonialen New England kultiviert, in Williamsburg und Jamestown ist es der koloniale amerikanische Süden; im Mittelwesten und im Westen sind weitere solche Gehege der Föderation, aber über Einzelheiten bin ich nicht informiert. Staatsfeinde nennen die Gehege den Archipel Gulag der Föderation, in Anspielung an den Titel eines Buchs über Gefangenenlager, die im zwanzigsten Jahrhundert Rußland angeblich überzogen haben. Tatsächlich sind unsere historischen Gehege keine Straflager. Sie sind eine Art Sanatorien, 20
wo Menschen wie ich Gelegenheit haben, ausgeglichener zu werden und den Lebensschock zu überwinden. In Marblehead tragen wir Kleidung wie unsere puritanischen Vorfahren, wir haben das gleiche Essen und eine ähnliche Umwelt. Hier werden ganze Familien eingewiesen, einige bleiben Monate oder sogar Jahre, aber die meisten kehren nach wenigen Tagen geheilt zurück. Natürlich werden wir auch psychologisch behandelt, aber diese Kuren sind Lappalien im Vergleich mit denen, die im Reorientation Center praktiziert werden. Dort arbeiten die Mediziner mit Elektroschocks, Hypnose und sogar Gehirnschrittmachern, die unter der Schädeldecke eingesetzt werden. Andrew überflog, was er zu Papier gebracht hatte, überlegte einen Augenblick und fügte noch einen Absatz hinzu. Er ärgerte sich über den plumpen Federkiel, die klumpige Tinte und das flackernde Kerzenlicht. Er hatte den
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Verdacht, daß er sich an dieses Leben so schnell nicht gewöhnen würde. Ich bin als erwachsener Mensch in dieses Dasein getreten, und den Tag meiner Ankunft kann ich nur vermuten. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich, damit abzufinden, daß ich durchhalten muß, bis ich eine Gelegenheit erhalte, wieder in meine eigene Zivilisation zu gelangen. Zum Glück bin ich nicht so nackt und hilflos, wie ich vor fünfunddreißig Jahren in diese Welt geboren wurde. Ich verfüge über Kenntnisse – und über meine Arzttasche mit Instrumenten, Medikamenten und Drogen. Außerdem habe ich dieses Tagebuch. Leider hat Frances’ Chemiestift mich nicht in diese Vergangenheit begleitet, aber man kann nicht alles haben. Er erwachte, als in der Nähe ein Hahn krähte. Im Osten wurde der Himmel grau. Klee alias Andrew wälzte sich aus dem Bett und tappte barfuß zum Kamin. Ehe er schlafen gegangen war, hatte er noch einige Holzscheite aufgelegt. 22
Sie waren im Laufe der Nacht zu Asche zerfallen, und unter der Asche war noch ein wenig Glut. Vorsichtig blies er hinein, stapelte Reisig darauf und wartete, bis es Feuer fing. Nach seinem besten Wissen und Gewissen war dies sein zweiter Tag in Salem, weiter reichte sein Gedächtnis in diesem Abschnitt der Historie nicht zurück – doch bewies dies natürlich nichts. Er hatte festgestellt, daß sämtliche Leute in Salem Village ihn kannten – wie er viele von ihnen kannte –, möglicherweise hatte es also einen Lehrer Andrew wirklich gegeben. Vielleicht war er vor zwei Jahren aus Maine hierher übersiedelt, und er, Klee, hatte seine Identität angenommen. Oder war dies alles schiere Spekulation? Er dachte ernsthaft darüber nach, dann grinste er kläglich. Auch in seiner neuen Identität hatte er die lästige Angewohnheit, sich den Kopf zu zerbrechen, den Dingen auf den
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Grund gehen zu wollen und nichts als gegeben hinzunehmen. »Wirst du es denn nie lernen…?« fragte er sich rhetorisch. Er nickte mechanisch, weniger aus Überzeugung als zur Tarnung. Er hatte sich diese Geste im Psychological Reorientation Center angewöhnt, weil er sich dadurch stundenlange Verhöre hatte ersparen können. Die Verhöre waren aus seiner Erinnerung getilgt worden, seine Reaktion darauf war ihm geblieben. Als es draußen so hell war, daß er die kahlen Äste der Akazie vor dem Fenster erkennen konnte, zog er schnell Hose, Socken und Schuhe an, wusch sich mit kaltem Wasser, stieg in sein Hemd und bereitete das Frühstück: Tee mit Schwarzbrot und Butter. Später vervollständigte er seinen Anzug und trat vor die Tür. Mittlerweile hatte sich die Sonne über den Horizont geschoben, und der Himmel war stahlblau. Aus den Schornsteinen ringsum stieg 24
weißer Rauch, der Boden war gefroren. Im Pfarrhaus ertönten die Stimmen von Reverend Parris, seiner neunjährigen Tochter Elizabeth und seiner elfjährigen Nichte Abigail Williams. Sie flehten um Vergebung für ihre Sünden. Andrew blickte zum Parris-Hause, das knapp hundert Meter weiter unten an der Straße lag, ein stabiles Gebäude aus Feldsteinen mit einem geduckten Dach. Parris war Priester geworden, nachdem er in allen anderen Berufen, in denen er sich versucht hatte, gescheitert war. Dank seiner Erziehung war seine Tochter dumm vor Angst, im Gegensatz zu Abigail. Die war kalt und funkelnd wie ein Tresorschlüssel. Die Stimmen im Pfarrhaus wurden lauter und schriller. Der Reverend schimpfte, die beiden Mädchen jaulten. Andrew zuckte mit den Schultern und wollte eben in seine Unterkunft zurückgehen, als er verstand, was Parris schrie. Er blieb stehen.
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»Der Satan hat sie verführt, o Gott!« brüllte Parris. »Hilf ihnen, o Herr! Hilf diesen beiden unschuldigen Lämmern und befreie sie von dem Bösen!« Die Mädchen kreischten gellend und verstummten, abermals meldete Parris sich zu Wort. »O Gott!« donnerte er. »Der Satan hat sie gepackt, er ist in sie gefahren. Hilf mir! Hilf mir!!« Einen Augenblick später wurde die Tür des Pfarrhauses aufgerissen, der Reverend erschien auf der Schwelle. Er ruderte heftig mit den Armen und rief die Einwohner des Dorfs zusammen, ihm beim Kampf gegen den Versucher beizustehen. Andrew rannte zu ihm, aus anderen Häusern strömten Menschen und schlössen sich ihm an. »Da sind sie!« wetterte Parris und deutete nach drinnen, wo die Kinder sich auf dem Boden wälzten. »Das fügt der Satan ihnen zu!« 26
Die Mädchen wanden sich wie in Krämpfen. Ihre Gesichter waren verzerrt, die Augen weit aufgerissen. Sie hatten Schaum vor dem Mund. Andrew vermutete, daß sie einen hysterischen Anfall hatten, aber er durfte nichts sagen, ohne sich zu verraten. Parris richtete sich zu seiner ganzen beachtlichen knochigen Größe auf, blickte blauäugig blitzend in die Runde und schüttelte die Fäuste. Er atmete tief und zufrieden ein und wandte sich an die Umstehenden. »Ich habe euch gewarnt!« erklärte er. »Immer wieder habe ich darauf hingewiesen, daß mitten unter uns, mitten in dieser Kolonie, im Herzen von Salem Village der Teufel umgeht, aber ihr habt nicht auf mich hören wollen. Jetzt sind meine Tochter und meine Nichte von ihm besessen!« Hinter ihm an der Tür erschien seine Frau und brach in Tränen aus. Sie war dick und verhärmt, die Haare hingen ihr ins Gesicht. 27
»Der Teufel ist hier!« beteuerte Parris noch einmal. »Wir müssen ihn ausräuchern!« »Wir müssen beten«, meinte einer der umstehenden Männer. »Nur durch unsere Gebete können wir diesen bedauernswerten Kinder helfen.« Die übrigen Männer stimmten zu, einer von ihnen empfahl, den dreiundzwanzigsten Psalm aufzusagen. Parris gab das Zeichen zum Einsatz, die Männer und Frauen vor der Tür murmelten den Psalm, Andrew ertappte sich dabei, daß er den Text kannte, obwohl er sich damit nie befaßt hatte. Die Mädchen hörten auf, sich auf dem Boden zu wälzen, und ihre Gesichter wurden glatt und friedlich. Parris half ihnen auf die Beine und befragte sie streng. Weder Elizabeth noch Abigail wußten, was mit ihnen geschehen war, jedenfalls behaupteten sie von nichts zu wissen. Die Gaffer vor dem Pfarrhaus zerstreuten sich, nur Andrew blieb noch einen Augenblick 28
stehen. Er hörte, wie Parris den Mädchen androhte, sie am Abend vor der gesamten Gemeinde eindringlich zu befragen. Am Nachmittag zogen wieder schwere graue Wolken auf, die Luft roch nach Schnee. Andrew schickte die Schüler nach Hause, da ein sinnvoller Unterricht nicht möglich war. Die älteren Kinder wünschten lediglich über den Teufel zu diskutieren, der auf so wunderbare Weise in Elizabeth Parris und Abigail Williams gefahren war, und die jüngeren hockten duckmauserhaft auf ihren Stühlen und schielten immer wieder furchtsam zur Tür. Einer der größeren Jungen hatte sich nach Andrews Meinung über den Teufel erkundigt. War Andrew ihm je begegnet, und hatte er schon einmal eine Hexe gesehen? »In Maine ist es für den Teufel und für Hexen zu kalt«, hatte Andrew erwidert. Er hatte keine andere Wahl, als sich einigermaßen elegant aus der Affäre zu ziehen. »Dort ist es auch für 29
Menschen beinahe zu kalt, und ich habe in Connecticut und in Massachusetts Leute getroffen, die allen Ernstes behauptet haben, in Maine gäbe es keine Menschen.« Die Schüler hatten sich amüsiert, sie wußten, wie schlecht die Siedler in den einzelnen Kolonien aufeinander zu sprechen waren. Einer der Jungen hatte weitere Informationen einholen wollen. »Ich habe gehört, daß man vom Teufel Gold kriegen kann, wenn man ihm dafür seine Seele verschreibt«, hatte er verkündet. »Was halten Sie davon?« »Schwer zu sagen.« Andrew zuckte mit den Schultern. »Noch schwerer zu glauben…« »Mein Vater hat es mir erzählt«, sagte der Junge. »Dann muß er es wissen«, sagte Andrew. Als die Schüler fort waren, nahm er seinen Umhang und seinen Hut vom Haken und ging zur Tür. Er fragte sich, wie lange es wohl 30
dauern würde, bis die Einwohner von Salem begriffen, daß für ihn Gott und Teufel Kindereien waren. Wenn sie erst dahintergekommen waren, würden sie bald auch noch mehr ahnen, und was dann? Er stieß die Tür auf und stand vor Maude Bowin. Zum erstenmal hatte er Gelegenheit, sie aus der Nähe zu betrachten. Sie war nicht älter als fünfundzwanzig und hatte schwarze Haare, grüne Augen und eine helle Haut. Sie war sehr hübsch, und auch ihre Figur, soweit der unförmige Mantel es erkennen ließ, war durchaus bemerkenswert. Dank ihrer Farm im nördlichen Teil des Tals galt sie in Salem als ausgezeichnete Partie. Andrew wußte, daß William Argall sich für sie interessierte; in Ingersolls Ordinary hatte er ein paar Brocken von den Gesprächen der übrigen Gäste aufgeschnappt. Angeblich behandelte sie Argall mit freundlicher Distanz. Argall war nicht nur reich, sondern auch ein Mann der Kirche. 31
»Warum machst du so ein finsteres Gesicht?« fragte Maude. »Ich habe nachgedacht.« sagte Andrew. »Ich bin zufällig vorbeigekommen und hab gesehen, wie die Kinder aus der Schule gekommen sind«, sagte sie. »Sie sind heute zum Lernen nicht aufgelegt.« »Sind sie dazu jemals aufgelegt?« Er lachte. »Nur wenn der Teufel nicht in Salem ist«, sagte er. Sie schüttelte ernst den Kopf. »Bitte, Andrew«, sagte sie leise. »Du darfst darüber nicht lachen.« Er zog die Tür hinter sich zu und überlegte verzweifelt, welche Beziehung zwischen dem Lehrer Roger Andrew und dieser jugendlichen Witwe bestanden haben mochte. Anscheinend war die Beziehung ziemlich eng, und für ihn, Klee alias Andrew, kam es nun darauf an, den richtigen Ton zu finden. 32
»Dort ist es zugegangen wie in einem Taubenschlag«, sagte er und deutete auf das Pfarrhaus. »Sämtliche Einwohner des Dorfs sind hinein und wieder heraus. Ich habe den Verdacht, daß Parris und die Mädchen eine Schau abziehen.« »Die Mädchen sind wirklich besessen«, entschied sie. »Ich war eben bei ihnen.« »Ich habe gedacht, du bist nach Salem gekommen, um mich zu besuchen«, sagte er vorsichtig. »Ich hatte gehofft, dich zu sehen«, bekannte sie. »Du hast dich gestern so merkwürdig benommen.« »Entschuldige. Ich war wohl ein bißchen abwesend.« »Ich hab mich gewundert, daß du so spät noch auf dem Hügel warst. Ich bin zum Tor gelaufen, aber du hast mich betrachtet, als wüßtest du nicht, wo du bist und wer ich bin.« Andrew stimmte ein verlegenes Gelächter an. »Das ist nicht lustig«, sagte sie tadelnd. 33
»Nein.« Er nickte. »Mir wird von Minute zu Minute klarer, wie wenig lustig das alles ist.« »Andrew«, sagte sie, »gestern abend war William Argall bei mir. Er hat mich gebeten, seine Frau zu werden.« »Dahin mußte es kommen«, sagte er lahm. »Früher oder später.« »Ist das alles, was du mir zu sagen hast?« »Vermutlich bin ich der erste, der dir gratuliert…« »Nein!« Sie drehte sich auf dem Absatz um. »Das muß ich mir nicht anhören.« Er eilte ihr nach, holte sie ein und ging neben ihr her. »Was sonst sollte ich sagen…?« meinte er. »Mit Argall kann ich nicht konkurrieren. Wer bin ich, was habe ich?« Sie blieb abrupt stehen und blickte ihm in die Augen. Er blieb ebenfalls stehen. »Ich habe mehr als genug für uns beide«, erklärte sie. 34
»Außerdem… außerdem liebe ich dich.« Er teilte ihr mit, ihm erginge es in dieser Hinsicht nicht anders als ihr. Er wußte, daß sie es von ihm erwartete. »Heirate mich, Andrew«, sagte sie. Er schüttelte den Kopf. »Warum nicht?« »Ich bin hier ein Fremder«, sagte er mit mehr Ehrlichkeit als sie ahnte. »Daran wird sich nichts ändern.« »Das ist keine überzeugende Antwort!« »Es ist die Wahrheit.« Sie war wütend, es war ihr anzusehen. Sie kniff die Augen zusammen und starrte zu Boden, Andrew beobachtete sie und ärgerte sich über diese Komplikationen, die ihm mit der Identität des Lehrers Andrew zugewachsen waren. Am Abend schrieb Andrew wieder in sein Tagebuch.
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Dienstag, 16. Februar 1692: Der Teufel ist nach Salem Village gekommen, jedenfalls bilden die Leute es sich ein. Ich war im Parris-Hause, als Dr. Griggs nach einer gründlichen Untersuchung die beiden Mädchen für verhext erklärte. Die sogenannten Kirchenältesten sind mit Griggs der Auffassung, daß die „Ministranten« des Teufels nach Salem Village und in die nähere Umgebung eingesickert sind. Auf dieser armen, irregeleiteten Siedlung lastet die Angst wie ein blutgieriges Raubtier. Über die Rolle, die ich dabei zu spielen habe, bin ich mir nach wie vor nicht im klaren. Wenn ich verstünde, weshalb ich von einer Epoche in eine andere versetzt worden bin, käme ich wohl auch mit meiner Rolle oder Funktion besser zurecht. Aber ich stehe ausgeliefert mitten in einem dramatischen Abschnitt der Geschichte, und diese Vergangenheit wird für mich zur Gegenwart. So unwirklich dieses Leben ist, so real ist es. Ich habe sogar eine Freundin, eine junge 36
Witwe namens Maude Bowin, die mich partout heiraten will. Bestimmt habe ich auch Freunde und zweifellos eher noch mehr Feinde. Zu diesen Feinden dürften Reverend Parris und William Argall zählen, der sich lebhaft für Maude interessiert. Andrew stand auf, goß sich eine Tasse Tee ein und legte ein paar Holzscheite in den Kamin. Mit dem Sonnenuntergang hatte es angefangen zu schneien, und der Wind heulte ums Haus und klapperte mit den Fensterläden. Andrew setzte sich wieder an den Tisch, trank einen Schluck Tee und blätterte im Tagebuch. Er schlug die Eintragung vom 2. Januar 2150 auf: Etwas ist schiefgegangen, der Patient ist auf dem Operationstisch gestorben. Die nächste Eintragung stammte vom 5. Januar:Ich habe Vorbereitungen getroffen, in die Marblehead Historical Preserve zu gehen, Frances meint, es wäre für mich am besten. Ich habe das Gefühl, sie möchte mich loswerden. Immer wieder redet 37
sie mir ein, dergleichen könnte jedem passieren. Ich habe Angst davor, sie zu bitten, sich konkreter auszudrücken. Ich kann nicht mehr schlafen, ohne vier und manchmal sogar fünf Somintabs zu nehmen. Andrew überlegte, blätterte abermals im Buch und kehrte zu seiner letzten Eintragung zurück. Er tauchte den Federkiel ein und schrieb weiter: Anscheinend resultiert mein letzter Anfall des Zeitverschiebungssyndroms von einem Ereignis, das am 2. Januar 2150 geschehen ist. Meine Erinnerung daran ist ausgelöscht, und auch jetzt, im Jahr 1692, sträube ich mich gegen die Erkenntnis, daß damals einer meiner Patienten gestorben ist. Die Symptome sind beunruhigend. Mein Magen krampft sich plötzlich zusammen, und obwohl es im Zimmer nicht warm ist, bin ich in Schweiß gebadet. Tatsächlich will ich nicht wissen, was an jenem 2. Januar passiert
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ist! Mein Bewußtsein weigert sich, den Vorfall an diesem Tag zu registrieren. Er legte die Feder aus der Hand, seine Finger zitterten. Er griff nach der Tasse, aber in seinem Zustand benötigte er ein stärkeres Narkotikum als Tee. In der Flasche auf einem der Wandbretter war noch ein wenig Whisky. Andrew goß sich Whisky in die Tasse, füllte sie mit Tee und trank gierig. Der Alkohol wärmte, aber er beruhigte weder sein Gehirn, noch hörte er auf zu zittern. Er brauchte seine Tabletten. Er löschte die Kerze und zog seine Arzttasche unter dem Bett hervor. Er hatte den Mann, dessen Stimme er so gut kannte, nie gesehen. »Für Menschen wie Sie, Dr. Klee«, sagte der Mann, »kann es keinen Frieden geben, und für viele Ihresgleichen gibt es auch keine Hoffnung, wenn sie sich nicht ändern.«
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Die Stimme war beängstigend sanft, beinahe einschmeichelnd, und sie war allgegenwärtig, sie hüllte ihn ein wie ein Mantel, sie war sogar in ihm, so daß er den Verdacht hatte, Sprecher und Zuhörer in einer Person zu sein. Diese Möglichkeit stürzte Andrew in tiefe Verwirrung. Er brach in Tränen aus und wurde darüber wach. Er blinzelte in die graue Dämmerung und überlegte minutenlang, wo er sich befand. »Im guten, alten Salem Village«, sagte er laut, als er es begriffen hatte. »Im Mittelalter oder am Beginn der Neuzeit, es kommt auf den Standpunkt an.« Er stand auf, legte Holz in den Kamin, setzte den Wasserkessel auf und ging zum Fenster. Es schneite noch, und die Häuser und Bäume waren schwarze Schemen. Bei Parris brannte Licht. Andrew schnitt eine Grimasse und zog sich an. Er stellte fest, daß er Kopfschmerzen hatte wie von einer Nebenhöhlenentzündung, aber er kannte dieses Symptom. Es trat regel40
mäßig auf, wenn er aus Träumen erwachte, an die er sich nicht mehr erinnern konnte. Allmählich verebbten die Schmerzen, und als es draußen hell war und Andrew gefrühstückt hatte, waren sie verschwunden. Er räumte das Geschirr ab und das Zimmer auf und wollte eben in die Schule gehen, als an die Tür geklopft wurde. »Wer ist da?« rief er. »Simon«, antwortete eine Männerstimme. »Simon Crenshaw.« Andrew öffnete die Tür. Crenshaw trat sich den Schnee von den Stiefeln, kam herein, marschierte stracks zum Kamin und hielt die Hände über die Flammen. Dann nahm er den Hut ab und drehte sich zu Andrew um. Crenshaw war ein dicker Mann mit Spinnenbeinen, einem Gesicht wie eine Bulldogge, einer Glatze und freundlichen braunen Augen. Er war ein erfolgreicher Pelzhändler und eine der Stützen der Kirche. 41
»Es gibt nichts Angenehmeres als Wärme«, verkündete er. »Andrew, was halten Sie von der Sache?« »Von welcher Sache?« erkundigte sich Andrew. Er wußte, was Crenshaw meinte, aber er mußte sich erst an dessen Anwesenheit gewöhnen. Ihm war bekannt, wen er vor sich hatte, obwohl er Crenshaw noch nie begegnet war. »Die Sache mit dem Teufel und daß seine Ministranten ins Dorf gekommen sind«, erläuterte Crenshaw und gestikulierte wild. »Nach meiner Ansicht ist das nur eine gewaltige Verrücktheit.« »Eine Verrücktheit…«, echote Andrew. »Natürlich meine ich nicht den Teufel«, korrigierte Crenshaw hastig. »Er ist bestimmt nicht verrückt! Aber diese Aufregung über die Hexen… Sie sind ein studierter Mann, ich möchte erfahren, wie Sie darüber denken.«
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»Eine solche Frage ist nicht einfach zu beantworten«, sagte Andrew vorsichtig. »Wollen Sie wissen, was ich glaube? Der Reverend und die beiden Mädchen wollen das Dorf in Panik versetzen, davon bin ich überzeugt! Der Reverend giert nach Macht, und der Teufel soll ihm dazu verhelfen.« »Dann halten Sie auch nichts von der Diagnose, die Dr. Griggs gestellt hat?« »Was versteht dieser alte Esel schon davon…?« »Sehr wenig«, sagte Andrew. »Eine tüchtige Tracht Prügel würde die Mädchen wieder zur Vernunft bringen«, behauptete Crenshaw, »aber daran ist wohl nicht zu denken.« Andrew sagte nichts. Er stand in der Nähe der Tür und erinnerte sich an die Schulglocke, die er läuten mußte. Crenshaw stahl ihm die Zeit, was ihn nicht zu kümmern schien.
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»Ich möchte, daß Sie mich bei den Ermittlungen und bei den etwaigen Verhandlungen vertreten«, verkündete Crenshaw. »Ich brauche einen Mann, der seinen Kopf nicht nur dazu benutzt, einen Hut darüber zu stülpen.« »Ich verstehe nicht…«, sagte Andrew unsicher. »Sie verstehen mich schon!« Crenshaw schmunzelte. »Sie sind intelligenter als die meisten Leute in Salem Village und in der Stadt Salem.« Andrew deutete die Möglichkeit an, daß Crenshaw sich irrte. Crenshaw schüttelte energisch den Kopf und setzte sich auf eine Ecke des Tischs. Andrew kam von der Tür, stützte sich auf eine Stuhllehne und wartete. »Ich werde Ihnen sagen, worum es geht«, erklärte Crenshaw. »Ich begreife, daß Sie vorsichtig sind, aber mir gegenüber müssen Sie es nicht sein. Ich will einen genauen Bericht über alles, was hier geschieht, ich möchte wissen, 44
wer was über wen gesagt hat. Denken Sie an meine Worte – dieser ganze lächerliche Unsinn wird dort aufhören, wo er angefangen hat: im Parris-Haus!« »Sie haben von Ermittlungen und Verhandlungen gesprochen«, ermahnte ihn Andrew. »Dazu wird es kommen.« Crenshaw nickte. »Die Hexen müssen entlarvt, vor Gericht gebracht und ordentlich abgeurteilt werden, so verlangt es Gott, und so wird es geschehen. Man wird so lange suchen, bis man Hexen gefunden hat. Wenn solche Gerüchte erst einmal in Umlauf sind, werden die Leute sich nicht beruhigen…« »Bis eine Hexe enttarnt und bestraft worden ist«, sagte Andrew. »Mindestens eine!« sagte Crenshaw. »Und Sie möchten eine zuverlässige Liste der Schreihälse, die am lautesten nach Blut gelechzt haben.« »So ist es.« 45
»Um sie zu bestrafen, wenn der Irrsinn abgeflaut ist…« »Nicht unbedingt«, sagte Crenshaw. »Aber ich will sie bloßstellen können. Falls Menschen sich von Luzifer beeinflussen lassen, sollen sie sich vor Gott verantworten, wenn sie vor seinem Richterstuhl stehen – mein ist die Rache, spricht der Herr –, aber jemanden als Hexe denunzieren und ihm das Leben nehmen, ist unchristlich, und das möchte ich diesen Leuten im Nachhinein unter die Nase reiben.« Andrew richtete sich auf. »Ich bin nicht sicher, daß ich für Sie der richtige Mann bin«, sagte er vage. »Außerdem ist da noch die Schule.« »Um die Schule müssen Sie sich nicht kümmern.« »Was soll das heißen?« »Die Leute fürchten, daß die Hexerei sich ausbreiten könnte wie eine Seuche, deswegen hat der Reverend in seiner unendlichen Weis46
heit und unterstützt vom Doktor beschlossen, die Schule zuzumachen. Sie werden in Zukunft viel Zeit haben.« Andrew ärgerte sich, daß weder Parris noch der Arzt ihn informiert hatten. Er nahm den Affront so persönlich, als wäre er wirklich der Lehrer. »Sollten Sie mich von dieser Entscheidung unterrichten?« »Nein«, sagte Crenshaw lauernd. »Der Reverend hat die Absicht, sich direkt an die Schüler zu wenden, sobald sie in der Klasse beisammen sind.« »Das wollen wir doch sehen!« Andrew ging zur Tür, Crenshaw rief ihn zurück. »Wohin wollen Sie?« »Zum Reverend. Ich werde diese Angelegenheit mit ihm regeln!« »Ersparen Sie sich den Weg«, sagte Crenshaw. »Die Angelegenheit ist geregelt.« 47
Andrew kehrte mißtrauisch um. Crenshaws Ton hatte ihm nicht gefallen. »Da ist doch noch etwas«, sagte er. »Crenshaw, was haben Sie mir bis jetzt verschwiegen?« »Argall«, antwortete Crenshaw. »Was hat er mit der Schule zu schaffen?« »Er hat den Reverend auf den Gedanken gebracht, daß die Seuche sich in der Schule ausbreiten könnte.« Andrew fluchte. »Wollen Sie mein Schreiber werden?«, fragte Crenshaw. »Ja«, sagte Andrew bissig, »das will ich!« Crenshaw rieb sich die Hände und feixte. »Wunderbar«, sagte er ohne Ironie. »Wissen Sie übrigens, daß ich vorhin beinahe meine Absicht geändert hätte, Sie um diese Gefälligkeit zu bitten?« »Ich weiß es nicht«, sagte Andrew. »Warum wollten Sie Ihre Absicht ändern?« 48
»Als ich zu Ihnen gekommen bin, haben Sie sich zuerst benommen, als wären Sie mir noch nie begegnet. Sie… Sie waren auch ungewöhnlich zurückhaltend.« »Vielleicht war ich noch nicht richtig wach«, sagte Andrew. »Machen Sie sich keine Sorgen, jetzt bin ich wach!« Am frühen Nachmittag hörte es auf zu schneien, aber die Wolken trieben so niedrig über die Hügel, daß es im Tal vorzeitig dämmerig wurde und die Einwohner von Salem ein weiteres Zeichen des Übels witterten, das sie scheinbar befallen hatte. Andrew und einige Männer waren im Parris-Haus zusammengekommen. Andrew saß schweigend in der Ecke und hörte zu, wie die übrigen über die Windpocken jammerten, mit denen dieser Winter für die Kolonie begonnen hatte, und über die Indianer, die im Nordwesten ein paar Weiße massakriert haben sollten. Zu allem Überfluß 49
kursierte seit kurzem ein Gerücht, der englische König plane, die Privilegien der Kolonie aufzuheben. Für die Männer waren diese Ereignisse ein Zeichen dafür, daß ihr Gott sich von ihnen, seinem auserwählten Volk, für das sie sich allen Ernstes hielten, und von ihrem Neuen Jerusalem abgewandt hatte. Und nun also war es dem Satan gelungen, sich Menschen in der Kolonie dienstbar zu machen, was nur dadurch möglich war, daß Gott in der Tat nichts mehr von ihnen wissen wollte. Zweifellos war der Tag des Jüngsten Gerichts nicht mehr fern! Vielleicht ging noch in der Nacht oder am nächsten Tag die Welt unter; jedenfalls würde der Weltuntergang nicht mehr lange auf sich warten lassen. Davon waren die Männer fest überzeugt. Einer von ihnen, ein Farmer namens Williams, versuchte Andrew ins Gespräch zu ziehen. Er erkundigte sich nach Andrews Meinung über die Nähe des Jüngsten Gerichts. 50
Andrew zögerte mit der Antwort, was die Anwesenden sich mit seiner Gründlichkeit und Nachdenklichkeit erklärten, schließlich zuckte er mit den Schultern. »Stehen wir nicht gewissermaßen ständig vor Gericht?« erwiderte er. Er brachte die Vokabel Gott nicht über die Lippen. »Werden wir nicht unentwegt gerichtet?« »Man soll eine Frage nicht mit einer Gegenfrage beantworten«, tadelte Williams. »Ein Mensch, der so etwas macht, will der Antwort ausweichen!« »Nicht unbedingt«, sagte der Schuhmacher der Siedlung. »Seine Antwort hatte nur die Form einer Frage, aber tatsächlich hat er geantwortet!« »Dann hätte er die Antwort als Antwort formulieren sollen!« »Wollen Sie etwas bestreiten, daß ständig über uns gerichtet wird?«
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»Ich bestreite es nicht«, sagte Williams giftig, und sein Gesicht wurde rot vor Wut. »Ich bestreite aber, daß er die Frage beantwortet hat.« »Bitte«, sagte Andrew, »bitte! Ich brauche keine Verteidiger und keine Ankläger. Ich wiederhole, daß wir im übertragenen Sinn immer vor Gericht stehen.« »Das habe ich nicht wissen wollen«, beharrte Williams. »Mich interessiert, ob Sie auch glauben, daß Gottes Jüngstes Gericht schon ganz nahe ist.« »Eigentlich nicht…«, sagte Andrew schwach. »Aber die Vorzeichen sind doch nicht zu übersehen!« Williams deutete auf Elizabeth und Abigail, die am Kamin auf steiflehnigen Stühlen thronten. »Wenn sie imstande wären, die Wahrheit zu sagen, würden sie es bestätigen.« Die Männer schwiegen, offenbar waren sie mit Williams’ Ausführungen einverstanden.
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Auch die Mädchen und Parris’ eingeschüchterte Frau schwiegen. »Die Entwicklung wird die Wahrheit an den Tag bringen«, sagte Andrew salomonisch. »Das gefällt mir nicht«, erklärte Williams schroff. »Sie reden über die Wahrheit wie damals Pontius Pilatus…« »Das wollte ich nicht.« Andrew hatte nicht die Absicht, sich in eine bedenkliche Diskussion ziehen zu lassen, aus der ihm nur Unannehmlichkeiten erwachsen konnten. »Offensichtlich leiden die Mädchen und brauchen Hilfe.« »Wir beten für sie«, stellte Williams fest. »Der Herr möge sein Angesicht leuchten lassen über ihnen.« Andrew nickte und sagte nichts. Er überlegte gerade, wie er sich unauffällig aus dieser Versammlung zurückziehen konnte, als Abigail zu winseln begann. Elizabeth schloß sich unverzüglich dem Beispiel an. Reverend Parris rannte zu den Kindern und ging in die Knie. Er fal53
tete die Hände und betete. Die übrigen Anwesenden starrten mit grauen Gesichtern auf Parris und die Kinder. Parris’ Frau weinte. Die Mädchen kippten von den Stühlen und wälzten sich am Boden. Parris hörte auf zu beten. Die Mädchen kreischten, Parris redete ihnen zu; was er sagte, war nur mit Mühe zu verstehen. »Oh, meine Kinder, habt Vertrauen zu mir, erleichtert euer Gewissen, erzählt mir, was ihr getan habt, daß finstere Mächte über euch gekommen sind! Sprecht und bereut! Beichtet, meine Lieben, und ich werde euch vergeben, wie Gott in seiner unendlichen Gnade euch vergeben wird!« Er griff sich Elizabeth und stellte sie mit einem Ruck auf die Füße. Elizabeth wand und krümmte sich wie unter Schmerzen. Parris drückte sie an sich und blickte nach oben. »O Gott!« betete er. »Laß mich ihre Qualen auf mich nehmen!« 54
Abigail setzte sich auf, sah sich ausdruckslos um und bellte. Erschrocken ließ Parris seine Tochter los und prallte zurück. Elizabeth setzte sich wieder auf den Stuhl und beobachtete Abigail, die mit gespreizten Fingern zu einem der Männer kroch und nach seinem Gesicht krallte. Der Mann wich zurück. Elizabeth wiegte sich auf dem Stuhl hin und her. Abigail stand auf. »Ein Hund«, leierte sie, »eine Katze, eine Ratte…« »Ein Hund, eine Katze, eine Ratte«, echote Elizabeth. »Osten, Westen, Norden und Süden!« kreischte Abigail und zeigte in die vier Himmelsrichtungen. »Die Teufel kommen!« Die Männer im Zimmer hielten entsetzt den Atem an. »In einem Ei!« kreischte Abigail. »In einem Ei – ich habe die Zukunft in einem Ei erblickt!«
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Elizabeth kam ebenfalls vom Stuhl hoch. Ihre Augen leuchteten, ihr Gesicht war verklärt. »Meine Zukunft!« schrie Abigail und deutete auf Elizabeth. »Und ihre Zukunft! Ich werde es sagen, ich werde alles sagen! Er läßt mich leiden, o wie herrlich er mich leiden läßt! Ein Glas und ein Ei…« Elizabeth lief zu Abigail und umarmte sie. »Sie sollen es wissen!« rief Abigail. »Sie sollen wissen, daß ich den Tod gesehen habe! Mit dem Ei und einem Glas, mit einem Ei und einem Glas, mit einem Ei und einem Glas haben wir gesehen…« Ihre Stimme brach, und mit langgezogenem, mißtönendem Geheul stürzte Abigail zu Boden, Elizabeth warf sich über sie und stöhnte. Der Reverend und seine Frau eilten zu den Kindern. Sie kümmerten sich zuerst um Abigail und dann um ihre Tochter. Die Mädchen beruhigten sich. Parris und seine Frau führten sie zu den Stühlen. Abigail blinzelte heftig – sie 56
hatte bemerkenswert lange und dichte Wimpern – und lächelte hinreißend. »Onkel«, sagte sie sanft, »wieso haben wir heute so viele Besucher?« Parris schüttelte den Kopf und räusperte sich. Elizabeth wirkte vergnügt, auch sie schien sich an nichts zu erinnern. »Wer von uns könnte noch bezweifeln, daß wir von den Ministranten der Hölle belagert werden…?« fragte Parris rhetorisch. Er atmete tief ein und forderte die Bürger von Salem zum Widerstand auf. Er sagte: »Wir stehen im Kampf gegen die Mächte der Finsternis, gegen den Teufel und seine Gefolgschaft…« Andrew ging langsam zur Tür. »Wir werden uns mit Gebeten wappnen!« verkündete Parris. »Unsere Gebete sollen unsere Waffen sein! Ich werde Geistliche zu unserer Unterstützung nach Salem rufen. Wir werden den Satan aus unserem New Jerusalem vertreiben! Wir werden beten und fasten, bis Gott un57
sere Stimmen hört und in seinem Zorn diejenigen zerschmettert, die ohne seine Hilfe uns zerschmettern würden.« Andrew war noch einen Schritt von der Tür entfernt, als diese aufgerissen wurde und Putman und Wolcott hereinplatzten. Sie marschierten stracks auf Parris zu. Putnam war ein breiter, stiernackiger Mann mit roten Harren, Wolcott war klein und dürr und grauhaarig. »Meine Tochter ist auch besessen«, erklärte Putnam grimmig. Er deutete auf Parris’ Tochter und Nichte. »Die beiden haben sie angesteckt!« »Mit meiner Mary ist es genauso«, bemerkte Wolcott schüchtern. »Der Teufel läuft Amok«, klagte Parris, »und er verschont keinen! Kommt, laßt uns beten, daß nicht noch mehr Menschen infiziert werden.«
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Er fiel auf die Knie und stimmte wieder ein Gebet ein. Andrew schlüpfte hastig aus der Tür, die Putnam und Wolcott offen gelassen hatten, und ging über die Straße zu Ingersolls Ordinary. Vom Meer kam ein eisiger Wind, die Luft roch nach Tang und Salz. Der Himmel war immer noch grau, am Strand segelten Möwen. Andrew ging langsamer und blickte über die Schulter zum Pfarrhaus, aus dem Gebete schallten, er begriff nicht, wie vernunftbegabte Wesen sich so unvernünftig benehmen konnten. Er trat in die Taverne. Der große Raum war leer. Andrew entschied sich für einen Tisch in einer Ecke, dort war es am wärmsten. Das Feuer im Herd reichte nicht überall hin. Susanna Hicks trat zu ihm und lächelte breit. Sie war Ingersolls Kellnerin und wohnte oben im Haus. In ihrer Freizeit verdiente sie sich ein bißchen Geld nebenher, indem sie die männli59
chen Gäste aufs Zimmer nahm. Sie war hübsch und dunkelhaarig und hatte bemerkenswerte Brüste und weiche Hüften. »Hallo, Schulmeister«, sagte sie salopp. »Womit kann ich dir heute nachmittag dienen?« Er überlegte. Sie unterbreitete ein Angebot, das sie für verlockend hielt. Er lachte und schüttelte den Kopf. »Besser nicht«, sagte er. »Im Augenblick wäre mir ein Whisky lieber.« Susanna amüsierte sich. Sie deutete mit dem Daumen auf das Pfarrhaus. »Haben sie’s dort nach wie vor mit dem Teufel?« wollte sie wissen. Er nickte. »Wenn du meine Meinung hören willst«, sagte sie, »dann haben einige dieser frommen Leute mehr den Teufel im Leib als der Rest der Menschheit.«
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Er nickte noch einmal und erinnerte sie an den Whisky. Samstag, 20. Februar 1692: In den letzten vier Tagen ist in Salem viel geschehen. Die angebliche Seuche hat sich von Parris’ Tochter Elizabeth und seiner Nichte Abigail weiter ausgebreitet. Als ebenfalls verhext gelten mittlerweile Ann Putnam, zwölf, Mary Wolcott, sechzehn, Elizabeth Hubbard, siebzehn, Mary Warren, zwanzig, und Mercy Lewis, neunzehn. Mercy Lewis ist Dienstmädchen bei den Putnams, Elizabeth Hubbard ist Dienstmädchen bei Dr. Griggs, und Mary Warren ist Dienstmädchen bei den Proctors. Ich habe die Mädchen einige Male gesehen. Entweder leiden sie an Hysterie, oder sie sind großartige Schauspielerinnen. Die drei älteren Mädchen sind ziemlich hübsch, Mary Warren ist sogar eine Schönheit. Sie hat ein blasses, vornehmes Gesicht, dichte dunkle Haare und schwarze Au61
gen mit schweren Lidern; nicht einmal die sackähnlichen Puritanerkleider können ihre reizvolle Figur völlig verstecken. Die Mädchen und diese jungen Frauen liefern vor jeder Art Publikum gewissermaßen auf Stichwort eine Vorstellung ab. Sie bellen und heulen oder stoßen andere befremdliche Laute aus, entweder Solo oder im Konzert, und ihre Bewegungen würden unter normalen Umständen als obszön gelten, aber nun nimmt die Öffentlichkeit sie als Symptome ihrer Agonie. Ich bin mit den Einzelheiten zu wenig vertraut, um zu wissen, was weiter gesehenen wird. Tatsächlich sind meine historischen Kenntnisse mangelhaft. Die United Territorial Federation, zu der die früheren Vereinigten Staaten, Kanada, Mexico und Mittelamerika gehören, hat das Geschichtsstudium weitgehend abgeschafft, das heißt konkret: Der Regierungschef und seine Berater halten es für ein Verbrechen, wenn jemand sich für Ereignisse 62
vor dem Jahr 1984 interessiert. Damals war der politische und ökonomische Fortschritt der Welt an einem Punkt angelangt, der eine radikale Veränderung der politischen Struktur und Praxis erforderte. Man speist die Bürger mit Fakten ab, die den Tumulten von 1980 und in den folgenden Jahren vorausgegangen sind und die hundert Jahre später zur Gründung der United Territorial Federation geführt haben, aber überprüfen können wir diese Fakten nicht. Andererseits ermöglichen uns die verschiedenen historischen Gehege, Geschichte zwar nicht zu studieren, aber zu erleben und dadurch die Wirkung des Zeitverschiebungssyndroms zu verringern. Auf den ersten Blick erscheint diese Methode absurd, aber möglicherweise wirklich nur auf den ersten Blick. Jedenfalls weiß ich lediglich, daß die Bevölkerung von Salem Village durch eine Periode
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grassierender Hysterie gegangen ist, die gelegentlich als Epoche der Hexenjagd erwähnt ist. Noch rätselhafter als die mutmaßliche Entwicklung ist mir immer noch der Zweck meiner Anwesenheit. Was immer passieren mag – es ist vor vierhundertfünfundachtzig Jahren passiert, und ich habe nicht die geringste Möglichkeit, darauf einzuwirken. Auch wenn ich mir einbilde, aus eigenem Ermessen zu handeln, werde ich doch durch die Verhältnisse gesteuert. Ich spiele eine Rolle, nicht anders als die hysterischen Mädchen, und habe noch weniger eigenen Willen als sie, obwohl die Gefahr besteht, daß ich das vorübergehend vergesse. Inzwischen hat Reverend Parris seine Drohung wahrgemacht und Unterstützung geholt. Ein halbes Dutzend Prediger ist aus der näheren Umgebung angereist, um mit ihm gemeinsam zu beten. Um diese seine wachsende Truppe gebührend zu ehren, hat der Reverend einen Fastentag verordnet und eine private Ge64
betsstunde in Gegenwart der befallenen Mädchen abgehalten. Soviel ich habe erfahren können, ist nichts dabei herausgekommen. Die Mädchen haben ein beachtliches Spektakel auf die Bretter gelegt, vor allem Abigail, die ein rechter Höllenbraten zu sein scheint, und zwar nicht nur jetzt. Sie hat in Salem einen beachtlichen Ruf. Zu den herbeigeeilten Predigern gehört Nicholas Noyes aus der Stadt Salem, den der Ruf begleitet, unsäglich grausam mit Sündern umzuspringen, die ihre Verbrechen leugnen. Außerdem gibt es hier nun einen gewissen John Hale aus Beverly, der als Fachmann für Hexen fungiert und dem es kürzlich gelungen ist, zwei Frauen von der Anklage zu entlasten, Unzucht mit dem Teufel getrieben zu haben. Die beiden Frauen waren Dorcas Hoar und Bridget Bishop. Ingersoll hat mir erzählt, Reverend Hale wäre vom Betragen der Mädchen so deprimiert ge65
wesen, daß ihm das Gebet in der Kehle steckengeblieben sei. Wahrscheinlich fragt er sich jetzt, so sagte Ingersoll zu mir, ob Dorcas Hoar und Bridget Bishop nicht doch schuldig waren und für die Zustände in Salem verantwortlich sind. Ich habe meine Meinung für mich behalten, denn eine eigene Meinung zu haben, wird von Tag zu Tag gefährlicher. In Salem redet jeder über jeden, Klatsch und Gerüchte machen einen erheblichen Teil im Leben dieser Gemeinschaft aus, und wer von den Ansichten der Mehrheit abweicht, wird öffentlich kritisiert oder sogar in aller Form verbannt. Diese Methode, Menschen unter Druck zu setzen, besteht allerdings auch im Jahr 2150, und wenn ich darüber nachdenke, komme ich zu dem Resultat, daß in dieser Hinsicht die beiden Epochen einander verblüffend ähnlich sind. Ich sollte lieber nicht darüber nachdenken.
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Mittlerweile hatte ich einen ersten Zusammenstoß mit William Argall. Er ist ein Mann, den man unter allen Umständen ernstnehmen muß. Er ist fast so groß wie ich, aber breiter und muskulöser. Er hat ein ungewöhnlich festes Kinn, dünne Lippen, eine kräftige, gerade Nase und Augen wie Granit. Seine Stimme ist tief und laut und klingt auch bei Lappalien autoritär. Er ist intelligent und weiß, was er will. Ich bin davon überzeugt, daß er zu den wenigen in Salem gehört, die sich von den Mädchen nicht bluffen lassen, aber aus unerfindlichen Gründen gibt er vor, an ihre Besessenheit zu glauben. Ich hatte ihn bisher nur von ferne gesehen, und zwar seit meiner Ankunft beinahe täglich, und als ich heute nachmittag vor dem Pfarrhaus in der Sonne stand und versuchte, mich vom Gebetsschwall hinter den Mauern zu erholen und wieder einen klaren Kopf zu bekommen, kam er auf mich zu. Er war von zwei
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Männern begleitet, deren Namen ich vergessen habe. »Schulmeister«, sagte er schallend, daß sämtliche Umstehenden die Hälse reckten, »auf ein Wort…« Ich nickte und wartete. »Einige von uns haben beobachtet, daß Sie im Pfarrhaus geschrieben haben«, sagte er. »Wir haben uns gewundert.« »Worüber?« erkundigte ich mich. Er runzelte die Stirn. »Ich habe gehört, daß Sie Fragen gern mit Gegenfragen beantworten«, sagte er. »Ich habe also richtig gehört.« »Ich hatte nicht den Eindruck, daß Sie mich etwas gefragt haben«, sagte ich. »Für mich war es eine Feststellung.« »Die Frage war in der Feststellung enthalten.« »In diesem Fall«, sagte ich, »war meine Antwort angemessen.«
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»Treiben Sie keine Haarspaltereien, Schulmeister!« schimpfte er. »Sie sollten sich nicht über Dinge wundern, die Sie nichts angehen«, sagte ich. »Sind Sie mit dieser Antwort zufrieden?« Ich ließ ihn stehen und steuerte über die Fahrbahn auf Ingersolls Ordinary zu. »Schulmeister!« brüllte Argall hinter mir her. »Halt!« Ich drehte mich nicht einmal zu ihm um. Er holte mich ein und packte mich am Arm. Ich duckte mich blitzschnell, wirbelte herum und rammte ihm die rechte Schulter unter die Rippe . Er verlor das Gleichgewicht und setzte sich in den Schnee. Niemand sagte etwas. Ich nickte ihm freundlich zu und ging weiter, aber als ich zu Ingersoll kam, zitterte ich so heftig, daß ich zwei Whisky trinken mußte, um mich zu beruhigen. Ich bin kein gewalttätiger Mensch, und ich weiß nicht, wo ich den Trick gelernt habe, mit dem ich Argall von den Füßen holte. Ich 69
scheine den Trick sogar sehr gut zu beherrschen, denn ich brauchte nicht darüber nachzudenken, sondern reagierte ganz mechanisch. Bestimmt waren Argall und die Zuschauer erstaunt über die Fähigkeiten ihres Schulmeisters, denn Lehrer sind im allgemeinen keine Raufbolde. Übrigens haben Elizabeth Parris und ihre Kusine Abigail erläutert, wie sie mit einem Glas und einem Ei Teufelskult betrieben haben. Sie zerschlugen das Ei, gossen das Eiweiß vorsichtig in ein Glas und benutzten es wie die Wahrsager eine Kristallkugel, indem sie auf die transparente Masse starrten, bis sie die Zukunft zu erkennen glaubten. Angeblich hat Abigail einen Sarg und den Tod erblickt. Ich bin davon überzeugt, daß die anderen Mädchen und jungen Frauen ähnlich experimentieren, aber bestimmt haben sie sich diese Methode nicht allein ausgedacht.
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Draußen ist es wieder sehr kalt, und am wolkenlosen Himmel steht ein runder, weißer Mond. Der Nachtwächter hat eben die siebente Stunde ausgerufen. Ich fühle mich sehr einsam und würde mich gern mit einem freundlichen Menschen unterhalten. Andrew ging durch die Nacht am Strand entlang. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen, in der Ferne stachen die Masten und Rahen der Schiffe im Hafen schwarz in den mondhellen Himmel. Er hätte sich immer noch gern mit einem freundlichen Menschen unterhalten. Abwesend dachte er an die Leute, die er im Jahr 2150 gekannt hatte. Die meisten waren Spezialisten wie er, aber nur einige waren Ärzte. Da war ein Ingenieur, mit dem er befreundet war, ein anderer arbeitete für den Sicherheitsdienst, das Bureau of Internal Security genannt BOIS. Der Name des Ingenieurs fiel ihm
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nicht ein, und auch den Namen des Mannes von BOIS hatte er vergessen. Andrew schüttelte mißvergnügt den Kopf. Erinnerungslücken waren bei Patienten, die am Zeitverschiebungssyndrom litten, nicht selten, manche konnten sich nicht einmal an ihren eigenen Namen erinnern, an die Namen der Leute in ihrer Umgebung schon gar nicht, doch traf dies auf ihn nicht zu. Er erinnerte sich an die Ärzte William Harris, Steven Dort und Yancy. »Yancy«, flüsterte er vor sich hin. »Dr. Yancy…« Etwas an dem Namen störte ihn. Yancy hatte mit seinem gegenwärtigen Zustand zu tun, aber was er damit zu tun hatte, blieb unklar. Immer wenn Andrew auf der richtigen Fährte zu sein wähnte, war sein Gehirn plötzlich wie ausgeleert, vor seinen Augen verblaßten Konturen, wie sie es möglicherweise in der Antarktis taten: Von einer Sekunde zur anderen konn72
te Sonnenschein sich in undurchdringlichen Nebel verwandeln. Er fand es albern, daß ihm jetzt ausgerechnet die Antarktis einfiel, zum zweitenmal seit er sich in Salem befand. Seines Wissens war er nie in der Antarktis oder auch nur in ihrer Nähe gewesen. Ihm war auch nie weiß vor Augen geworden, sondern höchstens schwarz, und das hing mit seinem Zeitverschiebungssyndrom zusammen. Die Symptome waren bei jedem verschieden. Andrew bog vom Weg ab und stieg auf den Hathorne’s Hill, der nicht viel mehr als eine Anhöhe am Rand des Dorfs war. Er überlegte, daß er nicht viele Freunde hatte, er war kein geselliger Mensch – das heißt, der Paul Klee aus dem Jahr 2150 war kein geselliger Mensch. Aber wie stand es mit Roger Andrew? Sein Instinkt, das heißt, was von seinem Instinkt noch übrig war, verriet ihm, daß Andrew und Klee einander ähnlich waren, und ein Lehrer war 73
auch nicht wohlhabend und mächtig genug, daß die Leute sich nach seiner Freundschaft drängten. Er besaß nicht mehr als das Gehalt, das die Einwohner des Dorfs ihm bezahlten und das Parris ihm in regelmäßigen Abständen aushändigte. Er lief auf der anderen Seite des Hügels hinunter und marschierte abwesend weiter. Er wurde erst aufmerksam, als er in einiger Entfernung vor sich Maudes Farmhaus und die Ställe entdeckte. Hinter den Fenstern im Erdgeschoß flackerte Kerzenlicht. Er sah Maudes Silhouette, die sich im Zimmer bewegte. Sie löschte die Kerzen, bis nur noch das rote Licht des Feuers hinter dem Glas zu sehen war. Langsam ging Andrew zum Haus und klopfte an die Tür. »Ich bin spazierengegangen«, sagte er, als Maude öffnete. »Ich habe mir gedacht…« »Du brauchst mir nichts zu erklären«, sagte sie. »Komm rein.« 74
Er trat an ihr vorbei ins Zimmer und hatte den Eindruck, nicht zum erstenmal hier zu sein; sogar der Schaukelstuhl am Kamin und das Spinnrad daneben waren ihm erschreckend vertraut. Maude trug einen gesteppten Morgenmantel über dem Nachthemd, die Haare fielen ihr locker über die Schultern. »Möchtest du eine Tasse Tee?« fragte sie. »Nein«, sagte er unsicher. »Danke.« »Etwas Stärkeres?« Sie lächelte. »Whisky?« »Natürlich.« Sie ging zum Schrank, langte einen Tonkrug heraus und schenkte einen Becher voll. Andrew griff nach dem Becher. »Auf dein Wohl«, sagte er. Er trank den Becher aus und stellte ihn auf den Tisch. »Mehr?« fragte sie. »Nein.«
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Sie nahm den Becher und wusch ihn in einer Schüssel in der Küche aus. Sie wandte sich um und musterte Andrew. »Du hast Argall in den Schnee gesetzt…«, sagte sie. Er lachte. »Er ist nachtragend«, sagte sie. Sie kam zu ihm zurück. Er stand immer noch am Tisch. »Dann kann ich es auch nicht ändern«, sagte er. »Eine seltsame Zeit…«, sagte sie nachdenklich. »Man glaubt einen Menschen zu kennen, aber man kennt ihn nicht, man kennt niemanden. Argall läßt sich so leicht nicht in den Schnee setzen, im allgemeinen jedenfalls nicht.« Er streckte zögernd die Arme nach ihr aus, sie schluchzte unterdrückt und fiel ihm um den Hals. Sie küßte ihn gierig und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. 76
»Ich habe gehofft, daß du kommst«, flüsterte sie. »Ich habe zweimal Karten gelegt, jedesmal haben sie männlichen Besuch prophezeit, aber ich habe ihnen nicht geglaubt. Manchmal sprechen sie die Wahrheit.« Er küßte sie noch einmal. Sie fühlte sich angenehm an. »Ich habe gedacht, ich war zu aufdringlich«, flüsterte sie. »Vor ein paar Tagen…« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Kind mehr, Andrew.« Sie blickte ernst zu ihm auf. »Ich sage, was ich denke!« »Ich möchte dich nicht anders haben«, sagte er. »Du sollst mich haben«, sagte sie leise. »Komm.« Sie ging voraus ins Schlafzimmer und zog den Morgenmantel und das Hemd aus. Andrew schälte sich aus den Kleidern des Schulmeisters, Maude legte sich aufs Bett und beobachtete ihn. Im Schlafzimmer war kein Licht, beim 77
Schein der Kerze auf dem Tisch nebenan war die Frau mehr zu ahnen als zu sehen. Andrew legte sich zu ihr. Als sie zusammenkamen, hatte er einen Augenblick lang eine Vision – er trug die Uniform der United Territorial Federation des Jahres 2150 und befand sich in einer Umgebung, die er nicht kannte – dann erlosch die Vision, und er sah nur noch die Frau unter sich. Später hatte sie den Kopf auf seiner Brust, und er streichelte zärtlich ihre Schulter. Sie lächelte und blickte abermals zu ihm auf. »Habe ich geschrien?« fragte sie leise. »Nicht sehr laut«, sagte er. »Bevor ich dich kannte«, sagte sie, »habe ich nicht gewußt, wie schön es sein kann…« Er streichelte ihre Brüste. »Sie gefallen mir«, sagte er. »Die Form und die Größe.« »Groß genug für unsere Kinder«, sagte er. »Für mich auch«, sagte er. 78
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?« »Was sonst könnte ich sagen?« Sie rückte von ihm ab. »Nein«, sagte er. »Bleib hier.« Sie schwieg. Andrew blickte in ihr Gesicht. »Maude«, sagte er, »wer bin ich?« »Was ist das jetzt wieder für eine Frage…« »Ich meine es ernst. Sag mir, wer ich bin.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wann bin ich nach Salem gekommen?« »Meinetwegen, wenn du auf dieser Albernheit bestehst…« Sie starrte zur Decke. »Ein Jahr nach dem Reverend, also sechzehnhundertneunzig, aus Maine.« »Wo in Maine?« »Weißt du es denn nicht mehr?« Sie musterte ihn verwirrt. »Ich glaube, ich muß dir etwas erklären.« Er atmete tief ein. Er hatte das Gefühl, sich einem Menschen anvertrauen zu müssen, und außer ihr kam niemand in Betracht. »Aber du darfst 79
mich nicht unterbrechen. Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich vom Smith’s Hill herunter und an dir vorbeigegangen bin?« »Natürlich.« »Damals habe ich dich zum erstenmal gesehen.« Sie begriff nicht, und er sagte es noch einmal. »Ich verstehe immer noch nicht…« Sie kniff kritisch die Augen zusammen. »Du hast mich doch sofort erkannt!« »Ja«, räumte er ein, »aber ich weiß nicht, wieso ich dich erkannt habe.« »Andrew!« Ihre Stimme war plötzlich heiser. »Was soll diese Spielerei?« »Keine Spielerei.« Er spürte, daß sie Angst vor ihm hatte. »Ich wollte dir nur erklären…« »Wir kennen uns schon lange!« Sie ließ ihn nicht ausreden. »Wir… wir haben uns schon geliebt, als mein Mann noch gelebt hat. Er war monatelang krank, nachdem er auf der Weide vom Pferd gefallen und mit dem Kopf an einen 80
Felsen geprallt war. Die Leute haben über uns geklatscht – es hat mich nicht gestört, und dich hat es auch nicht gestört.« Er überlegte. Er sah ein, daß es keinen Sinn hatte, ihr erläutern zu wollen, wer er war und woher er kam. Er wälzte sich aus dem Bett und zog sich an. »Warum bleibst du nicht, bis es hell wird?« fragte sie. »Die Leute würde noch mehr klatschen.« »Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Wilkes und Ruth haben dich bestimmt gesehen…« »Wer sind Wilkes und Ruth?« Sie lachte nervös. »Wilkes arbeitet auf der Farm«, sagte sie. »Ruth ist seine Frau. Sie haben von Anfang an Bescheid gewußt. Die Puritaner in der Stadt lassen mich in Ruhe, vielleicht würden sie mich nicht in Ruhe lassen, wenn ich Mitglied der Kirche wäre.« 81
Sie stand ebenfalls auf. Andrew zog sie an sich. »Andrew«, flüsterte sie, »begehe ich eine Sünde?« »Ich weiß nicht, was Sünde ist.« »Dann bist du unschuldig. Dann sind wir unschuldig.« Sie befreite sich und streifte schnell das Nachthemd über den Kopf. Sie zog den Morgenmantel an und ging ins Nebenzimmer, Andrew folgte. Wortlos kochte sie Tee auf, schnitt das Brot hin, sie benahm sich, als hätte sie es schon sehr oft getan. Andrew setzte sich an den Tisch und aß, Maude setzte sich ihm gegenüber und schenkte sich auch eine Tasse Tee ein. »Ich muß immer wieder an die Mädchen denken, die angeblich vom Teufel besessen sind«, sagte sie nach einer Weile. »Der Teufel hat doch bestimmt mehr zu tun, als in Salem herumzulaufen und zu veranlassen, daß diese 82
Kinder sich auf dem Boden rollen und die Augen verdrehen!« »An deiner Stelle würde ich diese Ansicht für mich behalten«, meinte er, »wenigstens so lange, bis die Verhältnisse ein bißchen übersichtlicher werden.« »Glaubst du an den Teufel?« wollte sie wissen. »Weder an Gott noch an den Teufel!« erwiderte er spontan. »Und das sagst ausgerechnet du!« Sie staunte. »Nachdem du mich eben gewarnt hast…« »Du hast recht«, bekannte er. »Ich bin manchmal unvorsichtig. »Aber deine Antwort war ehrlich?« Er nickte. »Das heißt doch aber, daß du gegen deine Überzeugung sprichst, wenn du deinen Schülern die Heilige Schrift erklärst!« »Mir bleibt nichts anderes übrig. Ich werde dafür bezahlt, den vorgeschriebenen Lehrstoff
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zu vermitteln. Wenn ich es nicht tue, werde ich nicht bezahlt.« Sie schüttelte den Kopf und ging zum Herd. Andrew ging zu ihr und streckte die Arme nach ihr aus, doch sie wich zurück. »Etwas stimmt nicht«, murmelte sie, »ich spüre es. Vorhin hast du gewollt, daß ich dir von dir erzähle. Warum erzählst du nicht selbst?« »Nein!« sagte er scharf. Leise fügte er hinzu: »Es ist besser, wenn du nichts weißt.« Sie zitterte und starrte ihn entsetzt an, dann hob sie die rechte Hand und bekreuzigte sich. »Hebe dich von mir, Satan!« ächzte sie. Er packte sie an den Schultern. Sie trommelte mit beiden Fäusten gegen seine Brust, schloß die Augen und betete. »Hör zu!« herrschte er sie an. »Ich bin kein Satan! Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut!«
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Er schüttelte sie, sie betete lauter. Er schlug ihr ins Gesicht, sie verstummte und riß die Augen auf. »Hör mir jetzt zu!« befahl er. »Ich bin Roger Andrew, der Schulmeister, kapierst du das?!« Sie nickte und wimmerte. »Entschuldige, daß ich dich geschlagen hab.« »Sag mir, wer du bist.« Er schüttelte den Kopf. »Bitte!« flehte sie. »Ich kann sonst nie mehr ruhig schlafen.« »Ich hätte nicht kommen dürfen«, sagte er. »Aber du bist gekommen!« sagte sie. »Eben haben wir drüben auf meinem Bett gelegen! Andrew, ich schwöre bei dem allmächtigen Gott, daß ich dich nicht verraten werde!« Er fand sich damit ab, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als sie nun doch einzuweihen, so gefährlich es für ihn war. Wenn er weiter schwieg, wurde die Gefahr noch größer.
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»Ich stamme aus einer anderen Epoche«, sagte er widerstrebend, »aus einem künftigen Jahrhundert. In meiner Welt heiße ich Paul Klee.« Sie zitterte wieder, aber nicht so heftig wie vorher. »Mehr kann ich dir nicht erzählen«, sagte er. »Ich würde dich bloß verwirren.« »Ich bin wirklich verwirrt, Andrew. Ich verstehe das alles nicht.« »Ich auch nicht, Maude«, bekannte er. »Was hast du vor?« »Ich weiß es nicht.« »Vielleicht bist du verhext?« »Bestimmt nicht in dem Sinn, den der Begriff für dich hat.« »Bist du ganz sicher?« »Ja«, sagte er. »Wo ich herkomme, gibt es weder Gott noch Teufel.« Er zog sie wieder an sich, und diesmal wehrte sie sie nicht. 86
»Hast du Angst?« erkundigte er sich. »Ja«, flüsterte sie, »aber mehr um dich als vor dir.« »Ich werde aufpassen.« Er küßte sie auf die Stirn und ging zur Tür, Maude riegelte hinter ihm ab. Als er auf der Straße war, blickte er sich noch einmal um. Das Kerzenlicht hinter den Fenstern war schon erloschen. Langsam marschierte er weiter, obwohl es noch kälter geworden war als vor einigen Stunden. Andrew bedauerte, daß er sich Maude gegenüber zu Andeutungen und Fragen hatte hinreißen lassen, denn damit hatte er ihre Furcht und Neugier geradezu provoziert. Aber hätte er eine Entwicklung beeinflussen können, die Jahrhunderte in der Vergangenheit lag, wenn er geschwiegen hätte? Da er die Antwort auf diese Frage nicht kannte, begnügte er sich mit dem stereotypen Nicken, das er sich im Psychological Reorientation Center angewöhnt hatte. Er hoffte, Maude 87
vertrauen zu können, aber konnte sie sich selbst vertrauen? Wie er das Bedürfnis hatte, sich auszusprechen, konnte sie auch das Bedürfnis haben, und dieses Bedürfnis war so alt wie Menschheit, Andrew kannte sich damit aus. Die Polizei der United Territorial Federation lebte davon. Jeder Bürger war angehalten, so viel wie möglich über seine Freunde herauszufinden und regelmäßig zu berichten. Auf diese Weise arbeiteten sämtliche Einwohner der Föderation zum Wohl des Staats. Als Andrew vor Ingersolls Ordinary ankam, hörte er plötzlich Schritte hinter sich. Er wartete noch einen Augenblick und wirbelte herum. Vor ihm standen drei vermummte Gestalten. Jede hielt einen dicken Knüppel in der Hand. Der Mann links von Andrew griff zuerst an. Andrew zertrümmerte den Knüppel mit einem Handkantenschlag und beförderte den Besitzer mit einem Tritt unters Kinn auf den Boden. Die beiden übrigen Männer griffen gleichzeitig 88
an. Ein Hieb lähmte Andrews rechten Arm, aber die linke Hand genügte ihm, einen der Männer an der Brust zu packen. Er ließ sich auf den Rücken fallen und schleuderte den Mann über sich hinweg gegen einen Baum. Dann war der dritte Mann über ihm. Er hämmerte ihm mit dem Knüppel auf den Kopf und auf die Schultern. Andrew versuchte mit dem linken Arm seinen Nacken zu schützen. Seine Nase blutete, und er war davon überzeugt, daß er diesen Ort nicht mehr lebend verlassen würde. Dann spürte er, wie das Gefühl in seinen rechten Arm zurückkehrte. Er raffte sich auf, ging in die Hocke, schnellte hoch und boxte dem Mann gegen die Kehle. Der Mann erstarrte, aus seinem Mund quoll Blut. Andrew stieß ihm die Fingerspitzen unter die Rippen und spürte, wie sie brachen. Der Mann kreischte und wurde bewußtlos. Andrew taumelte auf die beiden anderen zu, aber sie hatten genug. Sie flüchteten. 89
Andrew schleppte sich zu seinem Haus und hinein und kippte aufs Bett. Im Schlaf zitterte er vor Kälte und träumte von einer anderen Zeit. Damals war er viel jünger und hieß Paul Klee und war Lieutenant in der Armee der Föderation. Er hatte eine graue Uniform, und nach einem Jahr intensiver Ausbildung im Norden des Staats wurde er zum Queen Maude Land in Antarctica geschickt, wo die Kriege stattfanden. Er hatte den Befehl, einen Hügel zu erobern, der sich hundert Meter vor der Frontlinie befand, aber während er mit seinem Zug unterwegs war, wirbelte eine Bö Schnee auf, und von einer Sekunde zur anderen war nichts mehr zu sehen, und LaserGewehre waren nutzlos. Klee hätte seine Truppe zurückziehen müssen, doch er tat es nicht. Er trieb seine Männer vorwärts. Ein Handgemenge entstand, die Männer schrien durcheinander. Klee kämpfte verbissen. Er tötete einen
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Mann mit dem Messer, einen zweiten mit den Händen und bekam einen dritten zu packen. Sie wälzten sich im Schnee, jeder krallte nach dem Gesicht des anderen. Klee drückte dem Gegner ein Auge aus, der Mann schrie. Klee versuchte ihn im Pulverschnee zu ersticken, doch der Mann war kräftig und setzte sich zur Wehr. Ringsum war Getümmel. Klee drückte dem Gegner auch das zweite Auge heraus, der Mann schrie wieder und fiel von ihm ab. »Vorwärts!« kommandierte Klee. »Zum Hügel!« Schweißnaß und atemlos hetzte er weiter, aber er fand den Hügel nicht. Das Getümmel verebbte, es wurde totenstill. Klee blieb stehen und lauschte, anscheinend war er ganz allein. Der Wind flaute ab, der Schnee senkte sich, die Sicht wurde klar. Klee wartete. Der Hügel tauchte nah vor ihm auf, und rechts und links und vor und hinter ihm lagen tot oder verwundet die Männer des Zugs. Sie waren im 91
Schneetreiben übereinander hergefallen und hatten sich gegenseitig umgebracht. Klees Parka und seine Handschuhe waren blutverschmiert. Er rannte zu seinen Männern, doch er konnte ihnen nicht mehr helfen. Die Verwundeten starben in der nächsten halben Stunde. Er fand den Mann, dem er die Augen ausgedrückt hatte, lud ihn sich auf die Arme und schleppte ihn zurück zu den Eishöhlen der Föderation. Anschließend berichtete er seinem Vorgesetzten, einem Colonel Tyson. »Jedenfalls haben Sie den Hügel erobert«, stellte Tyson fest. Klee schwieg. »Sie haben doch den Hügel erobert?« fragte Tyson. »Ja, Sir«, sagte Klee. Der Colonel drückte auf einen Knopf seines Computers. »Sehr gut«, sagte er. »Sie haben ausgezeichnete Führungsqualitäten bewiesen.« 92
»Es war Wahnsinn«, sagte Klee. »So etwas will ich nicht hören«, sagte der Colonel. »Vierunddreißig Mann. Nur zwei Überlebende, einer davon blind…« »Damit muß man sich abfinden. Dazu sind wir in Antarctica.« »Ja, Sir«, sagte Klee. »Dazu sind wir in Antarctica.« Er fror. Jemand rüttelte ihn an der Schulter, Schmerz durchzuckte ihn, er öffnete die Augen und starrte in Crenshaws dickes Gesicht. »Sie bieten einen lieblichen Anblick«, sagte Crenshaw. Andrew nickte, die Bewegung verursachte ihm wieder Schmerzen. Er biß die Zähne zusammen. »Kalt«, sagte er undeutlich. »Wenn Sie das Feuer ausgehen lassen, wird es zwangsläufig kalt, obendrein war Ihre Tür
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spaltbreit offen.« Crenshaw ging zum Kamin und hantierte mit Spänen. »Was ist passiert?« »Ich bin ausgerutscht.« »Und dann haben Sie sich mit einem Knüppel auf den Schädel geschlagen, um wieder auf die Füße zu kommen.« Crenshaw feixte. Die Flammen prasselten, Crenshaw legte drei mächtige Scheite auf und kehrte zu Andrew zurück. »Glauben Sie, daß Sie aufstehen können?« »Wahrscheinlich.« »Aber ohne Hast, sonst wird Ihnen schwindlig.« Andrew setzte sich auf; die Anstrengung trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Er schwang die Beine über den Bettrand. »Haben Sie was gebrochen?« fragte Crenshaw. »Nein.« Andrew torkelte zum Tisch und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. »Soweit hab ich’s immerhin geschafft.«
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»Sie brauchen jemand, der sich um Sie kümmert.« »Ich werde mich wieder erholen. Und wer sollte sich schon um mich kümmern…« »Ich wüßte jemand«, erklärte Crenshaw. »Ich kann ihr eine Nachricht schicken.« Andrew sah ihm an, wen er meinte, und winkte ab. »Wie Sie wollen.« Crenshaw ging wieder zum Kamin und wärmte seinen Rücken. »Ich habe gehört, heute nacht waren etliche Männliche Hexen unterwegs.« »Tatsächlich?« Andrew blickte uninteressiert zu ihm hin. »Argall gibt vor, sie beobachtet zu haben.« Andrew begriff. »Drei männliche Hexen«, sagte er. »So ist es. Argall ist ihnen begegnet, als er bei…«
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»Als er bei Ingersoll vorbeikam.« Andrew ließ ihn nicht ausreden. »Bestimmt hat er auch ihre Blutspuren im Schnee bemerkt.« »So ähnlich hat er sich ausgedrückt.« »Sind Sie auch Hexen begegnet?« »Keiner einzigen.« Crenshaw amüsierte sich, »Aber ich habe einen festen Schlaf.« »Hat jemand anders Hexen gesehen?« »Diakon Ingersoll sagt, er hat die Hexen schreien hören.« Andrew blickte zum Fenster. Der Himmel war grau. »Schneit es wieder?« wollte er wissen. »Nicht sehr.« Andrew stand ächzend auf, füllte den Wasserkessel und hängte ihn über das Feuer. Er zog seinen Mantel und die Jacke aus. »Haben Sie schon gefrühstückt?« fragte er. »Vor etlichen Stunden, aber ich trinke gern mit Ihnen eine Tasse Tee.« »Wie spät ist es?« 96
»Ungefähr zehn. Morgens!« Andrew zeigte auf das getrocknete Blut an seinem Mantel. »Von den Hexen«, erläuterte er. »Eine Hexe mehr, und es wäre mir gelungen, mich selber totzuschlagen, weil ich auf der Straße ausgerutscht bin.« Crenshaw lachte, daß sein Bauch wackelte. »Es war gar nicht lustig«, sagte Andrew, »das können Sie mir glauben.« Er schüttete Wasser in eine Schüssel und wusch sich. Allmählich fühlte er sich besser. Crenshaw setzte sich. Andrew stellte zwei Tassen auf den Tisch, füllte einen kleinen Teller mit Teeblättern und goß kochendes Wasser in die Tassen. Er und Crenshaw schaufelten Tee in die Tassen und rührten um. Sie warteten, bis das Getränk dunkel und kräftig war. »Was wollen Sie gegen Argall unternehmen?« fragte Crenshaw. »Gegen ihn und seine Hexen.« 97
»Nichts.« Crenshaw nippte an seiner Tasse, verbrühte sich und verzog das Gesicht. Andrew trank ebenfalls einen winzigen Schluck. »Als ich Sie geweckt habe«, sagte Crenshaw, »haben Sie im Schlaf gesprochen. Was ist Antarctica?« »Ich habe geträumt«, sagte Andrew erschrocken. »Natürlich«, sagte Crenshaw. »Aber das beantwortet nicht meine Frage.« »Was hab ich gesagt?« »Dazu sind wir in Antarctica, so hab ich Sie jedenfalls verstanden. Können Sie sich an den Traum noch erinnern?« Andrew schüttelte den Kopf, aber er konnte sich sehr gut erinnern. Seine Finger zitterten. »Fehlt Ihnen was?« Crenshaw starrte auf Andrews Hände. »Schlechte Nerven«, sagte Andrew ohne Überzeugung. 98
»Ich bin nur reingekommen, weil Ihre Tür offen war.« Crenshaw trank seine Tasse aus und stand auf. »Ich habe mich gewundert, wie ein vernünftiger Mensch bei diesem Wetter die Tür offen lassen kann.« »Danke für die Fürsorge«, sagte Andrew ohne Ironie. Er begleitete seinen Besucher hinaus. »Vielleicht kann ich mich gelegentlich revanchieren.« »Sie können.« Crenshaw blieb stehen. »Dieses Land…« »Antarctica«, sagte Andrew leise. »Was hat es damit auf sich?« »Es besteht aus Schnee, Eis, Wind und Tod.« »Es gibt dieses Land also?« »Ja«, sagte Andrew, »es gibt dieses Land.« »Sie müssen mir mal davon erzählen.« Andrew sah ihn ernst an. »Sie würden mir nicht glauben«, sagte er. Crenshaw erwiderte den Blick.
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»Ich fürchte, Sie haben recht«, sagte er zögernd. »Ich würde Ihnen nicht glauben.« Montag, 22.Februar 1692: Meine Beziehungen zu Maude machen mir Sorgen. Was wird aus ihr, wenn ich in meine eigene Epoche zurückkehre? Wird der wirkliche Roger Andrew meinen Platz wieder einnehmen? Ich frage mich, ob er sich jetzt dort aufhält, wo ich herkomme, und falls ja, wie er sich in meiner Welt zurechtfindet, ich frage mich auch, ob er Frances kennt. Seltsam sich vorzustellen, daß sie vielleicht ein Gespenst umarmt, denn tatsächlich ist er ja schon lange tot. Ich sehe keine Möglichkeit, Maude zu schützen, wenn ich so plötzlich verschwinde, wie ich aufgetaucht bin. Darüber hinaus würde ich sie gegen meinen Willen ins Unglück stürzen. Meine Bedenken, ihr gegenüber zu mitteilsam gewesen zu sein, sind übrigens seit dem Gespräch, das ich am Nachmittag mit ihr hatte, zwar nicht ausgeräumt, aber verblaß t. 100
Ich kam aus dem Pfarrhaus, wo ich einige Stunden damit zugebracht hatte, die hysterischen Anfälle Abigails und Elizabeths zu beobachten, und wollte in die Taverne, um etwas zu trinken, als Maude einem Korb am Arm aus Richtung Hafen kam. Ich bot ihr an, den Korb für sie zu tragen. »Er ist nicht schwer«, sagte sie. »Ich habe einen Kabeljau gekauft. Manchmal habe ich das Räucherfleisch satt.« Trotzdem trug ich den Korb und begleitete sie nach Hause. Die meisten Leute, denen wir begegneten, grüßten höflich, aber einige wandten den Blick ab, und ich dachte an Maudes Bemerkung, daß jedermann in Salem über uns informiert wäre. »Wo du herkommst«, sagte sie nach einer Weile, »dürft ihr da lieben, wen ihr wollt?« »Ja«, erwiderte ich nachdenklich. »Wir sind frei, alles zu tun, was von der Regierung offiziell sanktioniert wird.« 101
Sie sah mich fragend und ein bißchen verständnislos an. Ich verzichtete darauf, ihr zu erläutern, daß wir in einer sogenannten totalitären Gesellschaftsordnung leben. »Hast du eine Frau?« wollte sie wissen. »Eine Freundin«, sagte ich. »Und du durftest sie lieben«, sagte sie. »Ja«, sagte ich. »Wir waren einander angepaßt.« »Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Das macht nichts«, sagte ich. »Nach den Bestimmungen meiner Welt waren wir frei, miteinander zu leben.« »Das muß schön sein«, sagte sie. Ich wußte nicht, was ich darauf hätte entgegnen sollen. Als wir den Hathorne’s Hill erreichten, stand die Sonne schon tief im Westen, und im Haus steckte Maude sofort die Kerzen an. Sie präparierte den Fisch und füllte ihn mit einer Mischung aus Walnüssen, eingeweichtem Weißbrot und getrockneten Früchten und briet 102
ihn im Ofen. Zum Essen tranken wir Bier, das sie selber gebraut hatte. Um acht Uhr abends verabschiedete ich mich von ihr und war eine halbe Stunde später zu Hause. Niemand lauerte mir auf, ich hatte auch nicht damit gerechnet. Ich war ziemlich sicher, daß Argall Mühe haben würde, weitere Schläger im Hafen anzuheuern, nachdem sich herumgesprochen hatte, was mit den drei anderen geschehen war. Argall hat zwei Tage lang versucht, die Leute aufzuwiegeln, indem er Gerüchte lancierte, er hätte mehrere Hexen getroffen, doch die Leute haben sich nicht noch mehr aufwiegeln lassen. Nach meiner Ansicht hat er seine Karten ein bißchen überreizt. Als ich gestern bei Ingersoll – der gewissermaßen nebenberuflich Diakon ist – ein gebratenes Hähnchen verzehrte, kam Argall mit zwei Begleitern herein, ich erkannte die beiden Männer wieder, die bei ihm waren, als ich ihn in den Schnee stieß. Sie nahmen an einem Tisch auf der anderen Seite des Raums 103
Platz. Argall bemerkte mich erst, als einer seiner Begleiter ihn auf mich aufmerksam machte. Er glotzte zu mir herüber, aber ich reagierte nicht. Er hielt einen langen und lauten Vortrag über Hexen und den Teufel und anderen Unfug, und schließlich stand er auf und kam zu mir. Ich blieb sitzen und aß ruhig weiter. »Ich werde den Schulmeister nach seiner Meinung fragen«, sagte er zu den Leuten in Ingersolls Taverne; und zu mir: »Ich möchte gern Ihre Ansicht über dieses Problem kennenlernen.« »Was könnte das wohl sein?« fragte ich scheinbar stupide. »Die Hexen natürlich!« Er wurde ein wenig verlegen. »Ich habe noch keine gesehen«, sagte ich. »Aber Sie bestreiten doch nicht, daß es Hexen gibt?«
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»Ich bemühe mich, für alles eine vernünftige Erklärung zu finden.« »Sir!« sagte er giftig. »Sie weichen mir aus!« »Wieso?« Endlich blickte ich zu ihm auf. »Soll ich Sie so verstehen, daß Sie von vernünftigen Erklärungen nichts halten?« »Ich glaube an die Heilige Schrift!« verkündete er mit Nachdruck. »Dann sind Sie in guter Gesellschaft«, sagte ich. »An die Heilige Schrift glauben viele.« »Sie haben mir immer noch nicht Ihre Meinung mitgeteilt«, beharrte Argall. »Gewiß haben Sie über das Problem nachgedacht.« »Über das Problem der Hexen?« fragte ich. »Darüber reden wir doch die ganze Zeit!« behauptete er giftig. »Sie, Sie ganz allein reden darüber«, belehrte ich ihn. »Ich möchte dieses Thema lieber nicht diskutieren.« Ich sah, wie schwer es ihm fiel, sich zu beherrschen. Am liebsten hätte er mich geohrfeigt. 105
»Sie können mit Worten umgehen!« fauchte er schließlich. »Sie sind mein Handwerkszeug«, erläuterte ich geduldig. »Seien Sie vorsichtig«, grollte er, »daß Sie sich an diesem Handwerkszeug nicht verletzen.« Er kehrte zu seinen Kumpanen zurück, und ich blieb länger sitzen, als ich beabsichtigt hatte, und trank Ingersolls dünnes Bier, damit Argall nicht vermutete, ich ginge ihm aus dem Weg. Und nun komme ich zum wichtigsten Punkt dieser Eintragung, nämlich zu einem Traum, den ich hatte, nachdem ich von Argalls Handlangern zusammengeschlagen worden war. Bis zu diesem Traum war die Erinnerung ausgelöscht, und ich habe den Verdacht, daß er durch das Zusammentreffen von Kälte, Schnee und sinnloser Gewalttat beeinflußt worden ist. Ich will versuchen, diese Erinnerung festzuhalten, ehe sie mir abermals entgleitet. 106
Ich war zweiundzwanzig, als ich in die Antarktis kommandiert wurde, mit vierundzwanzig kam ich in die Föderation zurück. Ich hatte eine Menge Auszeichnungen für tapferes Verhalten vor dem Feind und hätte wahrscheinlich eine militärische Karriere einschlagen können, aber in der Zwischenzeit war etwas geschehen, das mein Leben entscheidend veränderte. Ich hatte den Befehl, einen Hügel zu erobern, was nicht besonders schwierig war. Ich hatte den Hügel schon oft erobert. Er wechselte ständig den Besitzer und war strategisch ziemlich wertlos, einmal abgesehen davon, daß er zwischen unseren Linien und der Front der Ostasiatischen Föderation lag, mit der wir seit sechzig Jahren im Kriegszustand leben. Mein Zug war nicht mehr weit von dem Hügel entfernt, als der Wind Pulverschnee aufwirbelte und uns damit überschüttete, so daß wir nichts mehr sahen. Dieses Phänomen ist in der An-
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tarktis recht häufig, wir haben es Whiteout genannt. Ich hätte sofort Halt oder den Rückzug kommandieren müssen, aber ich war ehrgeizig, ich wollte den Hügel haben. Ich hatte es satt, ihn immer wieder zu besetzen und zu verlieren, denn jeder Angriff kostete Menschen und Material. Damals wußte ich noch nicht, daß diese Verluste beabsichtigt waren. Wir drangen also weiter vor. Im weißen Gestöber hielt jeder meiner Männer die übrigen für Feinde, und sie brachten einander um. Es war eine Katastrophe, und ich allein war dafür verantwortlich. Mein Vorgesetzter, Colonel Tyson, versuchte mich davon zu überzeugen, daß ich einen großartigen Sieg errungen hatte; es gelang ihm nicht, aber durch ihn gelangte ich zu einem tieferen Verständnis für die politische Lage. Die Antarktis ist gewissermaßen das einzige Schlachtfeld, das noch existiert: darauf haben sämtliche Föderationen sich geeinigt. Jede Fö108
deration unterhält dort riesige Armeen, die unentwegt Krieg führen. Sie trachten sich gegenseitig zu vernichten aber es gibt weder Sieger noch Unterlegene abgesehen von den Männern, die getötet oder verstümmelt werden. Aber dank unserer fortgeschrittenen Medizin konnten schon viele von denen, die durch Laserstrahlen oder ein Schallbombardement aus der Luft oder von der Artillerie verletzt wurden, geheilt werden Ich war gegen die East Asia Federation eingesetzt, während andere Teile unserer Armee gegen die African Federation gekämpft haben. Ein eigentlicher Grund für diese Kriege besteht nicht, wenn man nicht geneigt ist, die Beseitigung der Bevölkerungsüberschüsse und die Auslastung der Industrieproduktion als Kriegsgrund zu akzeptieren. Im übrigen dienen die Kriege der Massenunterhaltung wie die großen sportlichen Veranstaltungen im vorigen Jahrhundert. Sie sind ein Teil unseres Le109
bens. Jeder auch noch so kurzzeitige Erfolg und jede Niederlage nehmen erheblichen Raum in den Zeitungen, den Fernsehprogrammen und in unseren Gesprächen ein. Die Föderationen haben sich vertraglich verpflichtet, lediglich Laser- und sogenannte Sonic-Waffen zu verwenden. Kernwaffen sind strikt verboten, und eine Föderation, die sich an dieses Verbot nicht hielt, würde von allen anderen Föderationen gemeinsam mit Wasserstoffraketen ausgelöscht. Nach dem Zwischenfall am Hügel war ich als Frontoffizier nicht mehr zu gebrauchen. Ich wurde zum Stab versetzt, aber auch dort war ich nutzlos. Nach Beendigung meiner Dienstzeit wurde ich nach Hause geschickt und beschloß Medizin zu studieren. Vielleicht hatte ich das Bedürfnis, mein Schuldgefühl abzutragen, doch bin ich mir dessen nicht sicher. Tatsächlich ist mit jenem Traum nicht nur meine Erinnerung zurückgekehrt, sondern auch mein 110
Schuldgefühl. Natürlich kann ich als Arzt leben retten, wie ich vorher Leben vernichtet habe, aber mich selbst habe ich jedenfalls nicht retten können. In den nächsten Tagen geschah in Salem Village nichts von Belang, und die optimistischen Einwohner kamen zu der Überzeugung, daß der Teufel sich zurückgezogen hatte, weil sie, die Einwohner von Salem Village, allzu hartnäckig an Gott glaubten, so daß für den Teufel nicht viel zu gewinnen war. Allerdings wurden solche Ansichten nie in Gegenwart des Reverends, seiner Frau oder Argalls geäußert, da diese beinahe verzweifelt an ihrer Meinung festhielten, das Dorf wäre von Hexen verseucht, obwohl einstweilen keine mehr identifiziert wurden. Die Schule blieb geschlossen, und Andrew verbrachte mit anderen Männern der Siedlung seine Nachmittage im Vorderzimmer des 111
Pfarrhauses, wo Parris und die übrigen Geistlichen die besessenen Mädchen zum Beten zwangen. An den Abenden ging er häufig an den Hafen nach Salem Town, betrachtete die eleganten Schiffe der Ostindischen Gesellschaft, die hier vor Anker lagen, und unterhielt sich mit den Seeleuten. Seine Nächte gehörten Maude. Mittlerweile war sie für ihn nicht nur eine Bettpartnerin, sondern ein Freund, wodurch sie sich von den Frauen seiner Epoche erheblich unterschied, auch von Frances, weswegen die Menschen der Föderation so häufig ihre Bindungen lösten und neue eingingen. Maude interessierte sich nicht weniger für seine Welt als er sich für die ihre. Einmal brachte sie das Gespräch auf Frances. »Wie sieht deine Freundin aus?« wollte sie wissen. »Was für einen Charakter hat sie?« »Sie ist dir sehr ähnlich«, meinte er nachdenklich. »Vielleicht ein bißchen größer.« »Hat sie auch eine Farm?« 112
»Nein. Sie ist ein Basis-Kommunikator, sie empfängt und versendet Nachrichten.« Er verstummte. Er konnte Maude nicht erklären, daß die Föderation Kolonien auf dem Mond und auf dem Mars eingerichtet hatte. »Sie lebt also sehr anders als wir«, sagte Maude. Er nickte. »Du hast gesagt, du bist Arzt…« »Chirurg.« »Das macht bei uns der Barbier.« Er lachte, stand vom Tisch auf und trat ans Fenster. Ein bleicher Sichelmond schwebte über den schwarzen Bäumen. »Meine Arbeit war sehr schwierig«, sagte er. »Sie erforderte eine lange Ausbildung.« Sie trat zu ihm und legte eine Hand auf seine Schulter. »Ich habe nicht andeuten wollen, daß ich dich für einen Barbier halte«, sagte sie. Sie überlegte. »Ich habe den Eindruck, daß du in unserer 113
Welt mehr zu Hause bist, als ich in eurer wäre.« »Wahrscheinlich ist der Eindruck richtig«, erwiderte er. »Trotzdem ist es hier für mich nicht einfach, dazu sind die Ansichten zu verschieden.« »Natürlich«, sagte sie überzeugt. »Du hast nicht unseren Glauben!« Sie trat zurück ins Zimmer und räumte das Geschirr vom Abendessen ab, und Andrew half ihr. Sie begann abzuwaschen, er setzte sich wieder an den Tisch. »Manche Leute behaupten, die Menschen in Salem sind zu streng«, sagte sie nach einer Weile. »Ich fürchte, sie haben recht. Die Kirchenältesten regieren drakonisch, jede kleine Freude und jedes Vergnügen gilt als Sünde.« »Sie spekulieren auf das Jenseits«, erläuterte er, »dafür opfern sie die Gegenwart. Aber das alles ist auch eine Frage der Macht.«
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»Ich hatte mich in dich verliebt.« Sie hatte nicht zugehört. »Aber wenn John nicht vom Pferd gefallen wäre, wäre ich ihm nicht untreu geworden. Ich hätte die Augen geschlossen und mir vorgestellt, du wärst bei mir.« »Du hast die Augen geschlossen…«, sagte er. »Ja.« Sie wandte sich zu ihm um. »Was hätte ich sonst machen sollen?« Plötzlich begriffen sie, daß Maude nicht ihn, sondern den wirklichen Lehrer Andrew meinte. Sie erschrak. »Mein Gott, was habe ich gesagt…« flüsterte sie. »Es ist schon in Ordnung«, sagte er. Sie schüttelte heftig den Kopf. Er stand auf und ging zu ihr. Sie lehnte den Kopf an seine Brust. »Wir sind beide Opfer eines Mechanismus, der mich an Andrews Platz befördert hat«, sagte er. »Wir können uns nur damit abfinden.«
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»Es ist gespenstisch«, sagte sie leise. »Bin ich in dich verliebt, oder in ihn?« »Wenn ich dir nicht verraten hätte, wer ich bin…« »Aber darum geht es! Ich… ich habe Angst um mein Seelenheil. Ich kann Schein und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden.« »Wichtig ist nur, daß ich bei dir bin«, sagte er. »Bestimmt?« fragte sie. »Bestimmt«, sagte er. Allmählich wurden die Besucher im Pfarrhaus weniger, obwohl die besessenen Mädchen nach wie vor aus Leibeskräften bellten, jaulten und sich auf dem Boden wälzten. Schließlich blieben nur die Geistlichen, die Kirchenältesten, Argall und Andrew übrig. Am 28. Februar stießen Andrew und Argall vor Parris’ Gartentor beinahe zusammen. Andrew lehnte am Zaun und konnte sich nicht entschließen, ins Haus zu gehen. Er hatte in der 116
Nacht miserabel geschlafen und genoß das milde Wetter und die frische Luft. Argall grüßte überraschend höflich und blieb bei ihm stehen. »Ich wundere mich schon lange«, sagte Argall. »Wie kommt ein Mann mit Ihren Fähigkeiten in dieses kleine Dorf?« »Ich hatte keine andere Wahl«, erwiderte Andrew. »Das verstehe ich nicht«, erklärte Argall. »Gott hat uns einen freien Willen geschenkt.« »In meinem Fall war es anders«, sagte Andrew. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen«, meinte Argall jovial. »Ich habe Beziehungen. Was halten Sie von einer Stellung an einem College?« »Ich bin hier zufrieden.« »Offenbar wollen Sie mich nicht verstehen.« Argall ärgerte sich schon wieder und stützte sich schwer auf seinen Spazierstock. »Ich muß
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also ohne Umschweife zu unserem gemeinsamen Interessengebiet kommen.« »Wir haben kein gemeinsames Interessengebiet«, sagte Andrew ruhig. »Ich meine Maude Bowin.« »Sie ist eine Frau, kein Interessengebiet«, belehrte ihn Andrew. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen – ich möchte ins Haus gehen.« Er schob sich an Argall vorbei durchs Tor. »Sie überschätzen sich, Schulmeister!« sagte Argall wütend. »Offenbar wissen Sie nicht, wo Sie hingehören!« Andrew zuckte mit den Schultern und trat ins Haus, einen Augenblick später folgte Argall. Andrew blieb in der Nähe der Tür wie es seine Gewohnheit war, Argall begrüßte Parris, der ein wenig abwesend wirkte. Er unterhielt sich flüsternd mit seinem Kollegen Nicholas Noyes und mit Ingersoll. Die Mädchen saßen auf ihren Stühlen und schienen sich zu langweilen. 118
Abigail wurde als erste unruhig. Sie streckte den Männern die Zunge heraus, dann leckte sie sich scheinbar wollüstig die Lippen. Elizabeth und die anderen Mädchen begannen wie auf Kommando zu bellen und zu jaulen, schließlich zischte Abigail wie eine Schlange. Andrew war überrascht. Dieses Zischen hatte bisher nicht zum Repertoire gehört. Parris hörte auf zu tuscheln und ging vor den Mädchen in die Knie. Die Mädchen verstummten und blickten zu ihm hin, Parris reckte die gefalteten Hände zur Decke. »O Herr!« rief er. »Gib mir Kraft für dieses Werk! Verleihe mir Macht, um den Bösen zu bekämpfen!« Die Geistlichen wiederholten seine Worte im Chor. »Hör mich an!« rief Parris. »Höre meine Bitte um Gnade! Hilf mir, mein Kind und die übrigen Kinder zu retten, die sich in den Krallen des Satans befinden! Eine schwarze Hand hat 119
sich gegen diese Kinder erhoben, schenk mir die Stärke, sie aus diesem entsetzlichen Griff zu befreien!« »Amen!« sagte Nicholas Noyes. Auch die anderen Männer knieten nun nieder, Andrew tat es ihnen widerstrebend nach. Er hatte eine verschwommene Erinnerung, daß er schon einmal gezwungen worden war, vor jemandem zu knien, damit waren Unannehmlichkeiten verbunden gewesen. Aber so sehr er sich anstrengte, die Erinnerung nahm keine Konturen an. »Hilf mir, Herr«, stöhnte Parris, »damit ich diejenigen entlarve, die diese Kinder verhext haben!« Die Geistlichen beteten, Andrew bewegte stumm die Lippen. Er konnte nicht beten. Diese Bitte war bei Gründung der Föderation abgeschafft worden, die Götter, so hieß es, hatten nie existiert. Offenbar schlossen Religion und
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die Föderation einander aus, denn beide erhoben Anspruch auf den ganzen Menschen. Die Geistlichen und die anderen Anwesenden richteten sich wieder auf, und Parris wandte sich an seine Tochter. »Wer hat dich verhext, Kind?« Elizabeth schüttelte den Kopf. Abigail verweigerte ebenfalls die Auskunft, abermals zischte sie wie eine Schlange. Auch die übrigen Mädchen blieben störrisch. Parris seufzte und trat wieder zu Elizabeth. »Sag mir, wer dich verhext hat«, bettelte er. »Wer hat den üblen Bann über dich und diese Mädchen gebreitet?« Elizabeth sackte in sich zusammen. »Gott ist mit dir, Kind«, sagte einer der Geistlichen. »Ich verlange einen Namen!« kreischte Parris mit überschnappender Stimme. »Einen Namen!«
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Andrew schielte zu den Männern. Einer nach dem anderen kam von seinem Stuhl hoch, näherte sich Elizabeth und bedrängte sie, den Namen des Verführers preiszugeben. Elizabeth krümmte sich, schüttelte den Kopf und heulte. »Du mußt Vertrauen zu mir haben«, sagte Parris mit Würde. »Ich bin dein Vater! Baue auf Gott und nenne mir einen Namen.« Elizabeth zitterte, sie wollte etwas sagen, aber sie konnte nicht. Aus ihrem Mund troff Speichel. Parris zerrte sie zu sich, umarmte sie und blickte wieder nach oben. »Verzeih ihr, o Herr«, sagte er. »Laß sie mir einen Namen nennen, auf daß wir dein Werk in diesem New Jerusalem vollenden können!« Elizabeth stammelte etwas, Parris neigte sich zu ihr und horchte. Er prallte zurück und starrte sie an. »Sag es noch einmal!« befahl er. »Laut!« »Tituba!« schrie Elizabeth. Sie schluchzte. »Tituba…!« 122
Die Männer murmelten durcheinander. »Wer noch?!« keifte Parris. »Ich will die Wahrheit wissen! Mach den Mund auf, rede!« »Sarah Good!« rief eines der Mädchen. Ein anderes Mädchen schrie: »Sarah Osbourne!« »Na also«, sagte Parris zufrieden. »Da haben wir ja die Namen der Menschen, die diese Kinder quälen!« Montag, 29. Februar 1692: Dorf und Stadt Salem sind in Aufruhr, nachdem die Mädchen die Namen ihrer angeblichen Verführer enthüllt haben. Leute aus Beverly, Andover und Lynn sind im Laufe des Tages ins Dorf geströmt, um die Mädchen und die Beschuldigten anzustaunen. In Ingersolls Ordinary ist Hochbetrieb, nicht zuletzt weil John Indian dort arbeitet, denn John Indian ist mit Tituba verheiratet.
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Tituba und John sind Sklaven, die Reverend Parris von der Insel Barbados mitgebracht hat. Tituba ist eine milchkaffeefarbene Mulattin und versorgt den Haushalt der Parris. John ist ein karibischer Indianer, deswegen wird er John Indian genannt; Parris hat ihn an Ingersoll vermietet. Angeblich ist Tituba ungefähr fünfunddreißig, langhaarig, vollbusig, hat sanfte Augen und eine sympathische Stimme und sieht recht ansprechend aus. Ich bin ihr noch nicht begegnet. John ist groß und knochig und hat vorstehende Backenknochen wie die Asiaten. Er ist heiter und folgsam. Er und Tituba haben keine Kinder. Die beiden anderen Beschuldigten, Sarah Good und Sarah Osbourne, sind Weiße. Sarah Good ist alt, hat Ähnlichkeit mit einem Geier und wohnt nirgends; ihr Mann William ist Gelegenheitsarbeiter, und wer immer ihn beschäftigt, muß die Familie aufnehmen. Angeblich hat sie das Dorf mit Windpocken verseucht. 124
Zur Zeit ist William ohne Erwerb, und Sarah bettelt an den Türen. Ich bin ihr einige Male begegnet. Sie raucht beinahe immer eine entsetzlich stinkende Pfeife. Sarah Osbourne kenne ich nicht persönlich. Wie es heißt, ist sie sehr wohlhabend und besitzt Land und ein Haus. Ihr Mann heißt ebenfalls William. Heute Nachmittag sind diese drei Frauen von Thomas Putnam, Edward Putnam, Joseph Hutchinson und Thomas Preston offiziell als Hexen angezeigt worden. Sie wurden verhaftet und im Ipswich Prison eingekerkert, morgen sollen sie von zwei Mitgliedern des Magistrats der Stadt Salem verhört werden. Sollte man sie für schuldig befinden, müssen sie mit der Todesstrafe rechnen. Für mich sind diese Vorgänge so unwirklich und absurd wie ein Alptraum. Ich hatte auch nicht den Eindruck, daß Elizabeth die Mulattin bezichtigen wollte, vielmehr schien sie in ihrer Verzweiflung Tituba um Hilfe zu rufen. Da 125
Parris’ Frau krankhaft hypochondrisch ist, hat sie sich weder um Elizabeth, noch um Abigail gekümmert, und Tituba hat zwangsläufig die Mutterrolle übernommen, zugleich war sie die Freundin aller Mädchen, die mit Elizabeth und Abigail verkehrten. Sie soll ihnen wirre Geschichten aus ihrer Heimat erzählt haben, und zweifellos stammt der Einfall, mit einem Ei und einem Glas die Zukunft erforschen zu wollen, von ihr. Mir erscheint es einleuchtend, daß Elizabeth in ihrer Bedrängnis sich an Tituba wandte, doch Parris wollte von ihr einen Namen hören. Elizabeth muß instinktiv begriffen haben, daß er mit Titubas Namen einverstanden war, obwohl sie es gewiß so nicht gemeint hatte, und ließ es damit bewenden. Möglich ist indes auch, daß der Reverend seiner Tochter den Namen der Mulattin suggeriert hat. Dafür schien es zunächst keinen vernünftigen Grund zu geben, bis ich mich am Abend in Ingersolls Ordinary mit Crenshaw unterhielt. 126
Crenshaw setzte sich zu mir an den Tisch und bestellte einen Krug Rum mit zerlassener Butter, ich trank ein Glas Wein. Der Raum war sehr voll, und immer wieder kamen Leute zu uns, die unsere Ansicht kennenlernen wollten. Ich hielt den Mund und überließ es Crenshaw, mit den Leuten zu reden. »Offenbar sind Sie ziemlich nachdenklich«, meinte er, als ihm mein Benehmen endlich auffiel. »Vermutlich haben Sie recht. Wenn wir alle mehr nachdenken würden, wäre es zu diesen Vorfällen nicht gekommen.« Ich schwieg. »Haben Sie dazu nichts zu sagen?« fragte er. »Eigentlich nicht«, entgegnete ich. »Ein Narr hätte begreifen müssen, was heute nachmittag los war«, erklärte er grimmig. »Parris will sich Tituba vom Hals schaffen!« »Warum so umständlich?« fragte ich. »Er könnte sie verkaufen.«
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»Das reicht nicht.« Crenshaw schüttelte energisch den Kopf. »Das ist nicht endgültig genug.« »Und weshalb sollte er sie sich vom Hals schaffen wollen?« erkundigte ich mich. »Sie hat seine Tochter aufgezogen und…« »Und!« Crenshaw ließ mich nicht ausreden. »Entweder hat er sie schon benutzt, oder er möchte gern. Sie stellt für ihn eine Versuchung dar, und das paßt ihm nicht. Sie ist jünger und hübscher als seine Frau, sie hat mehr zu bieten.« »Und was ist mit den beiden anderen beschuldigten Frauen?« »Damit hat Parris bestimmt nicht gerechnet. Er wollte nur Titubas Namen hören. Angeblich war er sehr überrascht, als auch Sarah Good und Sarah Osbourne ins Spiel kamen.« Ich wußte nicht, von wem er seine Information hatte, aber sie war richtig. Parris hatte in der
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Tat mit Verblüffung reagiert, aber ich hatte mir das mit der Schwere der Bezichtigung erklärt. »Parris wird von Dämonen getrieben«, behauptete Crenshaw. »Ich habe beobachtet, wie er den jungen Frauen nachgestarrt hat, auch der Witwe Bowin; er hat sich kaum beherrschen können. Ich kann ihm nicht verübeln, daß er ein leidenschaftlicher Mann ist, schon gar nicht bei der jammervollen Frau, die er geheiratet hat, aber ich verzeihe ihm seine Scheinheiligkeit nicht!« Ich trank mein Glas aus und verabschiedete mich. Durch das Gespräch war ich noch nachdenklicher geworden. Wenn Crenshaw sich nicht irrt, sind die Verhältnisse in Salem schlimmer als ich bisher angenommen habe. Ich bin entschlossen, die Augen offen zu halten und die Dinge für das zu nehmen, was sie sind, anstatt sie so zu sehen, wie ich sie gern hätte. Ich habe den Verdacht, daß ich dazu in meiner eigenen Epoche nicht imstande war. Übrigens 129
habe ich noch einen Verdacht, der spontan in mir gewachsen ist, als ich am Nachmittag die Crance River Bridge überquerte. Ohne Absicht betrachtete ich einige Bäume, und plötzlich glaubte ich Gewißheit zu haben, daß man mich mit Absicht in dieses Zeitkontinuum gestellt hat. Über die Ursache bin ich mir indessen nach wie vor nicht klar. Am nächsten Tag erwachte Andrew mit dumpfen Kopf wie immer, wenn er am Abend mehr als zwei Somintabs genommen hatte. Ihm war nichts anderes übriggeblieben, wenn er nicht die ganze Nacht schlaflos verbringen wollte. Mechanisch wusch er sich und zog sich an. Seine Zunge war belegt, und er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Er aß eine Scheibe geröstetes Brot und spülte sie mit Tee hinunter, dann zog er seinen Mantel an, vergewisserte sich, daß er die schwarze Tasche und das Tagebuch versteckt hatte – seit er 130
überfallen worden und Crenshaw zu ihm hereingeplatzt war, verbarg er beides unter Dielenbrettern unter dem Bett-, und verließ das Haus. Die Sonne schien, und obwohl es noch nicht acht war, wärmte sie wie im Frühling. Andrew zog die Tür hinter sich zu und ging zu Ingersolls Ordinary, wo die Bürger von Salem die Ankunft der beiden Männer vom Magistrat erwarteten. Inmitten der Menge vor dem Haus stand Argall und unterhielt sich mit Henry Houtton und Samuel Endicott, Crenshaw plauderte mit John Proctor. Maude kam aus der Richtung zu ihrer Farm; sie war noch ein Stück von der Taverne entfernt. Andrew ging ihr entgegen. »Ich habe dich gestern abend erwartet«, sagte Maude. »Hier ist so viel passiert…« Er zuckte mit den Schultern. »Heute wird noch mehr passieren«, sagte sie. 131
»Das ist möglich, sonst wären nicht so viele Leute gekommen.« Sie nickte. Sie teilte ihm mit, er sähe krank aus. »Ich habe schlecht geschlafen«, sagte er. »Wahrscheinlich haben etliche Leute schlecht geschlafen«, sagte sie. Er stimmte ihr zu und blickte zu Argall, der offenbar ihn und Maude bemerkt hatte, jedenfalls verschwand er schnell im Haus. »Was hältst du von den Frauen, die von den Mädchen beschuldigt worden sind?« wollte sie wissen. »Du kennst doch meine Antwort.« »Aber warum haben die Mädchen gegen die Frauen ausgesagt?« »Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem sie vorziehen, als verhext zu gelten.« Im selben Augenblick traten Parris, seine Frau, seine Tochter und seine Nichte aus der Pfarrei, die Mädchen gingen zwischen den bei132
den Erwachsenen und starrten zu Boden. Parris und seine Frau wirkten versteinert. »Die Kinder sind sehr blaß«, flüsterte Maude. »Ich würde mich nicht wundern, wenn jemand mit Puder ein bißchen nachgeholfen hätte.« »Andrew!« sagte sie vorwurfsvoll. Er zuckte mit den Schultern. »Es war nur eine Vermutung.« Die Menschen vor der Taverne bildeten eine Gasse, die Parris verschwanden aus dem Blickfeld. Wenig später rückten Ann Putnam und Mercy Lewis in Sicht, hinter ihnen marschierten Anns Eltern. Abermals bildeten die Leute eine Gasse, die Ankömmlinge traten ins Haus. Sie hatten eben die Schwelle hinter sich, als noch mehr besessene Mädchen mit Vätern und Müttern auftauchten. »Das dürften alle sein«, sagte Andrew. »Falls es mittlerweile nicht noch weitere Besessene gibt…« 133
»Das sind alle!« sagte Maude spitz. »Dein Spott ist nicht angebracht.« Andrew nickte mechanisch; er begriff, daß Maude sich inzwischen der Meinung der Majorität angeschlossen hatte. »Diese vielen Leute passen doch unmöglich in Ingersolls Ordinary«, sagte er. »Man sollte die Veranstaltung unter freiem Himmel abhalten.« »Wahrscheinlich gehen wir ins Versammlungshaus«, meinte Maude. »Sobald die beiden Männer aus der Stadt da sind.« Andrew und Maude blieben vor der Tür stehen. Mrs. Pope stapfte die Fahrbahn entlang auf sie zu. Sie war unglaublich wohlgenährt und hatte ein dreifaches Kinn und winzige stechende Augen. Atemlos baute sie sich vor Maude und Andrew auf und stemmte die Hände in die Seiten. »Martha Corey hat Giles nicht erlaubt, zur Verhandlung zu kommen«, verkündete sie.
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»Sie hat schrill gelacht, als sie gehört hat, daß die Kinder die drei Hexen entlarvt haben.« »Bis jetzt«, sagte Andrew vorsichtig, »ist nichts bewiesen.« »Hexen!« sagte Mrs. Pope schrill. »Jeder weiß es!« »Was ist mit Giles und Martha Corey?« Einer der Umstehenden mischte sich ein. »Giles kommt trotzdem«, erklärte Mrs. Pope. »Martha bleibt zu Hause. Sie hält nichts von der Aussage der Kinder.« »Sie sollte lieber nicht so laut lachen!« sagte eine der Frauen spitz. »Nicht nur sie!« sagte Mrs. Pope und schielte zu Andrew und Maude. »Wenn es keine Hexen gibt, dann gibt es auch keinen Teufel, und dann gibt es auch keinen Gott, und dann…« »Still!« zischte die andere Frau. »Hüten Sie sich vor einer Blasphemie!« Andrew biß die Zähne zusammen. Die feiste Person arbeitete sich durch das Gedränge und 135
wiederholte ihren Bericht über Giles und Martha Corey. »Achte nicht auf sie«, sagte Maude leise. »Uns allen ist bekannt, daß sie sich ständig um die Angelegenheiten anderer Leute kümmert. Du darfst sie nicht ernst nehmen.« Andrew schwieg. Er wußte, wie gefährlich Frauen vom Kaliber dieser Mrs. Pope waren. Unten an der Straße tauchten drei Reiter auf, die schwarze Mäntel und große Hüte trugen. Sie ritten im Schritt, als hätten sie alle Zeit der Welt zur Verfügung. »Sind das die Männer, auf die wir warten?« erkundigte sich Andrew. »Ja.« Maude atmete auf. »Jetzt wird Gott uns beistehen, den Erzfeind in unseren Mauern zu besiegen!« Die drei Reiter zügelten vor Ingersolls Ordinary. Die Einwohner von Salem Village schielten scheu zu ihnen hin; anscheinend war ihnen nun nicht mehr behaglich zumute, obwohl sie 136
die Magistratsbeamten selber gerufen hatten. Die beiden Amtspersonen waren kurz und stämmig; einer von ihnen sah notorisch humorlos aus, sein Kollege wirkte fanatisch. Der Schreiber war schlechter angezogen, lang, dürr und verschüchtert. »Wir gehen ins Versammlungshaus«, entschied der Fanatiker. »Damit alle hören können, wie wir mit Hexen umspringen!« Die Gaffer jubelten verhalten. »Wer ist das?« fragte Andrew leise. »John Hathorne«, erwiderte Maude. »Der andere ist Jonathan Corwin. Der Schreiber heißt Ezekiel Cheever.« Die Reiter setzten sich zum Versammlungshaus in Bewegung, die Gaffer in und vor der Taverne folgten. Die Magistratsbeamten, der Schreiber und die Zuschauer quollen hinein, einer der Männer aus Salem Village brachte die drei Pferde zum Mietstall. Hathorne übernahm das Kommando, und unter seiner Anleitung 137
wurde der Raum in einen provisorischen Gerichtssaal verwandelt. Hathorne, Corwin und Cheever nahmen vor dem Altar an einem Tisch Platz, die Zuschauer setzten sich auf die Kirchenstühle, die beiden vorderen Reihen blieben den besessenen Mädchen vorbehalten, die Geistlichen stellten sich hinter die drei Männer aus der Stadt. Andrew kniff die Augen zusammen. Die Sonne drang durch die Fenster auf der rechten Längsseite und blendete. Hathorne befahl, Sarah Good zu holen. Die Zuschauer redeten aufgeregt durcheinander, Hathorne klopfte mit einem Hammer auf den Tisch. Allmählich wurde es still. »Ruhe!« brüllte Hathorne. »Sonst lasse ich den Saal räumen!« »Andrew«, flüsterte Maude, »so habe ich diese Menschen noch nie erlebt, sie sind so begierig…« »Nach Blut«, sagte er trocken.
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»Nein!« Sie sah ihn verstört an. »Sie sind begierig, Gott zu dienen!« Er hatte den Eindruck, daß der Unterschied nicht wesentlich war. Er sagte nichts. Draußen holperten Räder über das Pflaster und kamen vor der Tür zum Stehen – hier war der Schnee teils weggeräumt, teils getaut –, ein Pferd schnaufte, dann eskortierten die beiden Konstabler, Locker und Braybrook, Sarah Good ins Haus. Ihre grauen Haare waren zerzaust, ihre Kleider zerlumpt; Andrew vermutet, daß die Konstabler schon mal auf eigene Verantwortung mit dem Verhör begonnen hatten. Sie hatten eine ganze Nacht Zeit dazu. Das Leben hatte Sarah Good heftig zugesetzt. Sie war hager und verbraucht, so daß sie älter schien, als sie war. Wieder redeten die Zuschauer aufgebracht durcheinander, und wieder hämmerte Hathorne auf den Tisch.
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Die Konstabler schoben Sarah Good vor die beiden Magistratspersonen und traten einen Schritt zurück. Hathorne erhob sich mit Würde und baute sich breitbeinig vor der Frau auf. »Sarah Good«, sagte er barsch, »mit welchem üblen Geist haben Sie Umgang gepflegt?« Sarah fixierte ihn. Sie war so ruhig, als wäre sie längst jenseits von Angst und Hoffnung und hätte nichts zu gewinnen und nichts mehr zu verlieren. »Kein Umgang«, sagte sie. »Kein Geist.« Hathorne lächelte fein. »Aber Sie haben doch einen Kontrakt mit dem Teufel…«, sagte er. »Nein.« »Dann berichten Sie uns, warum Sie diesen Kindern Leid zugefügt haben.« Er deutete auf die Mädchen in den vorderen Reihen. »Ich habe ihnen nichts zugefügt.« Sie drehte sich um zu den Kindern und den Gaffern. »Die Behauptung ist lächerlich.« 140
Die Gaffer murrten, Hathorne gestikulierte, bis sie verstummten. Er forderte Sarah auf, ihn anzusehen. Sie tat es. »Wen haben Sie beauftragt, diesen Kindern zu schaden?« fragte er. »Ich habe niemand beauftragt.« »Niemand – das heißt offenbar, keinen Menschen. Folglich haben Sie eine nicht menschliche Kreatur beauftragt!« Hathornes Augen funkelten; er schien auf seinen Scharfsinn sehr stolz zu sein. »Welche Kreatur?!« »Keine«, antwortete Sarah. »Ich bin zu unrecht angeklagt.« Hathorne ging an ihr vorbei zu den Mädchen. »Hat sie euch verhext?« wollte er wissen. »Ist sie verantwortlich?« Sekundenlang blieb es totenstill. Das Publikum hielt den Atem an. Hathorne wartete. »Sie ist es!« kreischte plötzlich eines der Mädchen. »Sie hat es getan!«
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Die übrigen Mädchen brachen in gellendes Geschrei aus, doch was sie schrien, war nicht zu verstehen. Ann Putnam wand sich wollüstig auf ihrem Stuhl, ein paar andere heulten wie Wölfe. »In Gottes Namen!« brüllte Hathorne. »Hören Sie auf damit, Sarah Good! Ich befehle es Ihnen!« Die Mädchen beruhigte sich. »Ihr Geist ist über uns gekommen und hat uns gequält!« rief Mercy Lewis. »Eben ist ihr Geist über uns gekommen, und sie hat sich nicht einmal gerührt!« »Seid ihr ganz sicher?« Hathorne wirkte ein wenig verblüfft. Die Mädchen bestätigte Mercy Lewis’ Aussage. »Sarah Good«, sagte Hathorne streng, »sehen Sie nicht, was Sie angerichtet haben? Wollen Sie nicht ein Geständnis ablegen? Warum ha-
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ben Sie diese bedauernswerten Kinder gequält?« »Ich habe sie nicht gequält.« Sarah betrachtete kritisch die Mädchen. »Das ist lächerlich!« »Sarah Good!« Hathorne wurde unvermittelt jovial, anscheinend hatte er begriffen, daß er mit Grobheit nicht weiterkam. »Sagen Sie uns, wer verantwortlich ist. Vielleicht sind Sie wirklich unschuldig, aber Sie sind nicht unwissend. Sie können sich erhebliche Ungelegenheiten ersparen, wenn Sie uns die Namen der Verantwortlichen nennen.« Sarah Good spähte wieder zu den Zuschauern, angestrengt dachte sie nach. Sie wackelte mit dem Kopf und drehte sich um zu Hathorne, der sichtlich die Geduld verlor. »Sarah Osbourne«, sagte sie leise. »Lauter!« brüllte Hathorne. »Sprechen Sie klar und deutlich!« »Sarah Osbourne!«
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Im Saal brach Tumult aus. Hathorne hatte seinen Hammer auf dem Tisch vergessen, Corwin griff sich das Werkzeug und bearbeitete damit das Holz. Abermals breitete sich Totenstille im Saal aus. »Das war ein Name«, sagte Hathorne zu Sarah Good. »Gibt es noch einen anderen?« »Tituba.« Tumult, Hammerschläge, Stille. Hathorne befahl, die Beschuldigte abzuführen und in Ingersolls Ordinary zu bewachen. Die Konstabler eskortierten Sarah Good zur Tür. Sarah blickte sich noch einmal mit tiefer Verachtung um, zog ihre zerbissene Stummelpfeife aus der Tasche, klemmte sie zwischen die Zähne und marschierte hinaus. Hathorne setzte sich hinter den Tisch und rief Zeugen auf. Keiner der Zeugen hatte ein freundliches Wort für Sarah, nicht einmal ihr Mann, ein träger, gleichgültiger Mensch mit trüben Augen und einem schlurfenden Gang. 144
»Ich hatte immer Angst, daß sie eine Hexe ist«, erklärte William Good. »Sie sollten sie näher kennenlernen! Wenn sie noch keine Hexe ist, wird sie es bestimmt bald werden.« »Haben Sie beobachtet, daß Ihre Frau sich mit Hexerei beschäftigt hat?« wollte Hathorne wissen. »Nein«, antwortete William Good. »Warum glauben Sie dann, daß sie eine Hexe ist oder bald werden könnte?« »Weil sie mich so schlecht behandelt. Ich gestehe unter Tränen, daß sie keine einzige gute Eigenschaft hat!« Die Männer im Saal lachten, der humorlose Corwin langte wieder nach dem Hammer. William Good lachte fröhlich mit und erschrak vor seiner eigenen Heiterkeit. »Das ist nicht lustig!« schimpfte Hathorne. »Wir kämpfen hier gegen den Satan, und er könnte zu der Überzeugung kommen, daß alle
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unsere Bemühungen nicht mehr wert sind als ein Gelächter!« Er nahm sich William noch einmal gründlich vor, und William bekannte, daß er am Körper seiner Frau eine seltsame Warze bemerkt hatte. Am Oberkörper. »Sind Sie ganz sicher?« fragte Hathorne stupide. »Sicher bin ich sicher«, sagte William. Im Saal entstand Bewegung, und diesmal ließ Corwin den Hammer ruhen. Andrew neigte sich zu Maude. »Was ist daran so sonderbar?« »Die Warze«, flüsterte Maude. »Sie könnte eine Hexenzitze sein.« »Das verstehe ich nicht. Viele Leute haben Warzen!« »Ja, aber bei einer Hexe ist das etwas anderes. Der Teufel kann daran saugen!« »Das ist doch absurd!« sagte Andrew heftig.
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Die Zuschauer starrten zu ihm hin, er entschuldigte sich hastig. Er hatte lauter gesprochen als beabsichtigt. Hathorne rief Sarahs vierjährige Tochter Dorcas auf. Dorcas war bleich und dünn, ihre Kleidung bestand aus einer abgewetzten blauen Decke. Hathorne deckte das Kind mit barschen Fragen ein. »Wenn er so weitermacht, wird sie alles sagen, was er von ihr hören will«, flüsterte Andrew verdrossen. Maude sah ihn scharf an und hielt einen Finger vor den Mund. »Dorcas«, sagte Hathorne, »hat deine Mutter Tiere?« »Sie hat Vögel«, antwortete Dorcas. »Was für Vögel?« »Einer ist schwarz, einer ist gelb, und einer ist grün.« »Saugen sie an deiner Mutter?« »Sie knabbern manchmal an ihren Fingern.«
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Hathorne sah außerordentlich zufrieden aus. Triumphierend blickte er zu seinem Kollegen und zum Publikum. »Dorcas«, sagte er milde, »was macht deine Mutter mit den Vögeln?« »Sie… sie spricht mit ihnen.« »Führen sie die Befehle deiner Mutter aus?« Dorcas war ratlos. »Was tun die Vögel?!« brüllte Hathorne. »Schickt deine Mutter sie zu anderen Menschen? Fügen Sie anderen Menschen Leid zu?« Das Kind fing an zu weinen. »Du sollst antworten!« schnauzte Hathorne. »Mach endlich den Mund auf! Hat deine Mutter die Vögel zu diesen Mädchen geschickt, um Kummer über sie zu bringen?!« »Ja!« schluchzte Dorcas. »Ja, sie hat… sie hat…« Abermals Tumult, alle im Saal redeten gleichzeitig. Hathorne brachte den Hammer an sich und trommelte auf den Tisch. Er wischte sich 148
mit einem Spitzentaschentuch den Schweiß vom Gesicht, schickte Dorcas fort und befahl, Sarah Osbourne vorzuführen. Sarah Osbourne war offensichtlich krank und hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen, die beiden Konstabler stützten sie. Hathorne erlaubte ihr großzügig, sich zu setzen. Einer der Konstabler brachte einen Stuhl. »Sarah Osbourne«, sagte Hathorne ernst, »warum verhexen Sie diese unschuldigen Kinder?« Sarah Osbourne blickte zu den Mädchen und wieder zu Hathorne und schüttelte den Kopf. Sie räusperte sich. Eines der Mädchen begann unverzüglich zu heulen, die übrigen wanden sich wie unter Höllenqualen. Hathorne befahl Sarah Osbourne, ihr teuflisches Spiel zu beenden. Nach und nach wurden die Mädchen wieder normal. Hathorne blickte tückisch in die Runde. »Haben Sie dafür eine Erklärung?« fragte er. 149
»Vielleicht nimmt der Teufel manchmal meine Gestalt an«, gab Sarah Osbourne zu bedenken. »Ich weiß es nicht, und ich habe auch nichts damit zu tun.« Hathorne erkundigte sich bei den Mädchen, ob Sarah Osbourne sie verhext hätte. Sie bestätigten es. Ja, Sarah Osbourne hatte sie verhext. Hathorne setzte das Verhör fort, und Sarah Osbourne räumte ein, Sarah Good zu kennen. Eines der Mädchen meldete sich zu Wort und unterstellte, daß Sarah Osbourne vielleicht nicht selber eine Hexe, sondern nur verhext war. Hathorne dachte über diese Möglichkeit angestrengt nach, dann erkundigte er sich bei Sarah Osbourne nach etwaigen ungewöhnlichen Träumen. »Einmal hab ich von einem Indianer geträumt«, sagte sie zögernd. »Ich habe mit den Nachbarinnen darüber gesprochen. Der Indianer hat mich am Genick gepackt und in meinem Haus zur Tür gezerrt.« 150
»Und dann?« Hathorne lauerte. »Dann bin ich aufgewacht.« Eine der Frauen im Publikum meldete sich zu Wort. Sarah Osbourne hatte ihr mitgeteilt, sie wolle mit diesem verlogenen Geist nichts mehr zu schaffen haben, doch wer dieser Geist war, wußte sie nicht. Hathorne lächelte – er hatte bemerkenswert gelbe Zähne – und verlangte von Sarah Aufschluß über die Natur dieses Geistes. »Kein Geist«, erwiderte Sarah kleinlaut, »eine Stimme, ich habe sie im Traum gehört…« »Bis jetzt haben Sie diesen Traum verschwiegen!« stellte Hathorne eisig fest. »Was wollte die Stimme von Ihnen?« »Ich sollte nicht mehr zu Versammlungen der Kirche gehen«, sagte Sarah. »Aber am nächsten Sabbat bin ich trotzdem gegangen.« »Und danach?« »Danach nicht mehr. Ich bin krank geworden.« 151
Hathorne flüsterte mit Corwin. »Die Sitzung wird bis zwei Uhr unterbrochen«, verkündete er. »Die Konstabler bringen die Gefangene in Ingersolls Hinterzimmer und sperren sie ein.« Er hämmerte dreimal auf den Tisch, und die Konstabler schleiften Sarah Osbourne zur Tür. Mit den übrigen Zuschauern gingen Andrew und Maude langsam zurück zu Ingersolls Ordinary. Für Andrew waren der blaue Himmel und die frische Brise eine Wohltat nach der stickigen Luft in dem vollgepferchten Versammlungshaus, aber Maude bestand darauf, etwas zu essen. Die Taverne war ebenfalls überfüllt; trotzdem fanden Andrew und Maude in einem Winkel noch einen freien Tisch. John Indian stand am Herd und drehte langsam einen Bratspieß mit etlichen fetten Kapaunen. Die Kellnerin Susan-
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ne fragte Andrew nach seinen Wünschen. Er bestellte einen der Vögel. »Groß?« fragte sie und taxierte Maude. »Mittelgroß«, sagte Andrew. »Und bring uns zwei Krüge Bier.« »Für mich lieber Tee«, sagte Maude. Susanna nickte, lächelte Andrew zu und ging mit wiegenden Hüften zur Theke. Maude blickte ihr nach. »Sie mag mich nicht«, meinte sie. »Und wenn schon«, sagte Andrew und spähte zu den übrigen Gästen, die damit beschäftigt waren, sämtliche Einzelheiten der Verhandlung wiederzukäuen. »Diese Leute machen mich krank. Wenn ich an diesen Hathorne denke…« »Er versucht Gott zu dienen«, wandte Maude ein. »Der Prozeß ist Gottes Werk!« »Nein.« Andrew schüttelte den Kopf. »Zu so etwas sind nur Menschen fähig.«
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»Aber warum?« Maude überlegte. »Weshalb sollten die Mädchen sich so aufführen, wenn sie nicht verhext wären? Nach meiner Ansicht ist Sarah Osbourne wirklich unschuldig, trotzdem haben die Mädchen sie angeklagt!« »Sarah Osbourne!« sagte er sarkastisch. »Was ist mit Sarah Good, hältst du sie für weniger unschuldig?« »Sie… sie sieht aus wie eine Hexe«, sagte Maude unsicher. »Außerdem ist sie ordinär.« »Das ist kein Grund, sie vor Gericht zu bringen. Und Tituba, ist sie etwa eine Hexe?« »Sie ist eine Negerin, und alle Neger sind mit dem Teufel im Bund.« Andrew hätte ihr gern mitgeteilt, daß in Salem jemand anders als der Teufel an der Arbeit war, doch er fand keine Gelegenheit mehr dazu, denn Susanna servierte den Kapaun, Tee und Bier. Andrew tranchierte das Geflügel und legte Maud vor. Sie aß heißhungrig, während ihm bei dem Gespräch der Appetit vergangen 154
war. Er würgte ein paar Bissen hinunter und starrte zu dem bleiverglasten Fenster empor. Die Scheibe war verzogen, so daß die Außenwelt grotesk verzerrt erschien. Andrew überlegte, wo er schon einmal die Umgebung so seltsam deformiert gesehen hatte. Er kam nicht dahinter, aber plötzlich war eine andere Erinnerung wieder da, verschwommen und wie hinter einem Nebel, sie ließ sich nicht verdrängen: Er selbst, Paul Klee, hatte einmal vor einem ähnlichen Gericht gestanden! Man hatte ihn beschuldigt, und er war genötigt gewesen, sich zu verteidigen, soviel war klar. Die übrigen Einzelheiten waren verschüttet. »Andrew«, sagte Maude besorgt, »du bist ganz blaß geworden! Bist du krank?« »Nein«, sagte er. »Ich brauche nur frische Luft.« Er winkte Susanna zu sich, bezahlte die Rechnung und ging mit Maude hinaus. Vor der Tür standen Argall, Reverend Noyes und Dr. 155
Griggs. Sie begrüßten Maude und Andrew, als wären sie ihnen seit Monaten nicht mehr begegnet. »Goody Bowin«, sagte Hoyes artig, »Sie werden von Tag zu Tag hübscher!« »Danke, Reverend.« Sie lächelte. »Ich bekomme nicht oft Komplimente zu hören.« »Das wundert mich«, sagte Argall kühl. Maude schielte zu Andrew und wurde verlegen. Griggs wandte sich an Andrew. »Was halten Sie von der Verhandlung?« »Nicht sehr viel«, sagte Andrew vorsichtig. Noyes nahm den Faden auf. »Glauben Sie, daß die Frauen keine Hexen sind?« »Ich glaube, daß nicht wenige Menschen ziemlich einfältig sind.« Andrew haßte sich dafür, daß er nicht deutlicher werden durfte. »Das ist eine gefährliche Ansicht!« Argall fixierte ihn.
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»Wieso?« fragte Andrew scheinbar naiv. »Sie sind zu weltläufig, Argall, um die Leute für intelligent zu halten.« Argall hielt verbiestert den Mund. »So hatten Sie es nicht gemeint«, sagte Noyes. »Das war eine Anspielung, aber Sie verstehen es, sich herauszureden.« »Sie geben meinen Worten eine Bedeutung, die ihnen nicht zukommt.« Andrew lachte unbehaglich. »Jedermann weiß, daß ich recht habe. Ich vermute, daß die Mädchen nicht verhext, sondern ganz einfach dumm sind.« »Sie vermuten…« echote Argall. »Und was wissen Sie?« »Ich weiß, was ich gelernt habe.« »Und woran glauben Sie?« fragte Hoyes. »Ich glaube an das, was ich weiß.« Griggs machte dem unerquicklichen Gespräch ein Ende, indem er seine Begleiter daran erinnerte, daß sie noch mit Parris hatten disku-
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tieren wollen, ehe die Verhandlung fortgesetzt wurde. Die drei Männer eilten zum Pfarrhaus. »Du hast Argall provoziert«, sagte Maude leise. »Ein bißchen«, sagte Andrew. »Er kann dir schaden!« »Mir kann niemand schaden.« »Er hat es schon einmal versucht, und wenn du ihn weiter provozierst…« »Für ihn kann es keine größere Provokation geben, als wenn er uns zusammen sieht, und daran werden wir nichts ändern!« »Du hast dich geärgert«, sagte sie. »Deswegen mußt du mich nicht anschnauzen.« »Entschuldige«, sagte Andrew, »du warst nicht gemeint. Ich kenne Argall und seinesgleichen. Solche Leute wollen, daß alle anderen nach den Gesetzen, den Befehlen und den Launen der Argalls leben! Ich kenne sie, und ich habe keine Angst vor ihnen. Argall möchte dich haben, aber noch mehr möchte er, daß ich 158
ihn fürchte. Diesen Gefallen werde ich ihm nicht tun!« »Hast du nie Angst?« fragte sie beklommen. »Ich bin nicht sicher.« Er zuckte mit den Schultern. »Doch, vermutlich hatte ich in der Welt, aus dei ich komme, vor einigen Leuten Angst, ich kann es nicht mit Gewißheit sagen, aber Argall kann mich jedenfalls nicht einschüchtern!« Ingersolls Ordinary leerte sich, die Einwohner von Salem strömten zum Versammlungshaus zurück. Maude und Andrew schlossen sich an. Die Sonne schien nun durch die Fenster auf der linken Seite. »Das ist nicht gut für Tituba«, meinte Andrew. »Sie hat die Sonne voll im Gesicht.« »Ist es ein Unterschied, aus welcher Richtung die Sonne scheint?« erkundigte sich Maude verständnislos. »Für sie ist es ein Unterschied.« 159
Die Magistratsbeamten nahmen wieder ihre Plätze ein, Jonathan Corwin klopfte mit dem Hammer auf den Tisch, die Zuschauer verstummten, die Konstabler brachten Tituba herein. Hathorne baute sich auch vor ihr breitbeinig auf, wie er es bei Sarah Good getan hatte; er achtete darauf, daß er im Schatten blieb, während Tituba in der Sonne stand. »Ich kann Parris verstehen«, sagte Andrew leise. »Sie ist eine Schönheit…« »Wieso Parris?« Maude begriff nicht. »Sie ist doch eine Sklavin!« Andrew hatte nicht zugehört, er beobachtete Tituba. Sie hatte die Augen zusammengekniffen, weil die Sonne sie tatsächlich blendete, und vermutlich sah sie von ihren Anklägern nicht mehr als einige schwarze Schemen. Wenn sie wirklich so abergläubisch war, wie etliche Leute in Salem behaupteten, mußte ihr diese Verhandlung als Spuk erscheinen.
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»Ich habe hier eine beeidigte Aussage von Reverend Parris!« donnerte Hathorne. »Tituba, du sollst einen Hexenkuchen gemacht und an den Hund von Reverend Parris gefüttert haben. Willst du das bestreiten?!« Tituba schüttelte den Kopf. »Ich verlange eine Antwort!« schrie Hathorne. »Nein, Sir«, sagte Tituba rauchig. »Ich habe den Kuchen gebacken, um den Kindern zu helfen.« »Woraus hat der Kuchen bestanden?« »Es war ganz einfach ein Hexenkuchen…« »Ja, aber woraus hast du ihn gemacht? Was hast du hineingerührt?« »Roggenmehl und… und Urin von Elizabeth. Ich habe den Teig in heißer Asche gebacken und dann dem Hund zu fressen gegeben.« »Warum dem Hund?« »Weil der Teufel Hunde, Katzen, Vögel und andere Tiere hat. Sie sind seine Freunde.« 161
»Und du hast gedacht, der Hund von Reverend Parris wäre ein Freund des Teufels?« »Ja, Sir.« »Aha!« sagte Hathorne zufrieden. »Und wer hat dir befohlen, den Kuchen zu backen?« »Mary Selby«, antwortete Tituba ohne zu zögern. »Sie ist die Tante von Mary Wolcott, und Mary Wolcott ist eins von den verhexten Mädchen. Sie ist zu mir gekommen und hat gewollt, daß ich Mary Wolcott vom Teufel befreie.« Die Zuschauer starrten auf Mary Selby, die geduckt und tränenüberströmt auf ihrem Stuhl saß. Corwin hämmerte vorsorglich auf die Tischplatte. »Weißer Zauber gegen schwarzen Zauber ist in Gottes Augen ein Greuel!« erklärte Hathorne. »Unsere Sache ist Gottes Sache, und wir werden unseren Kampf gegen den Teufel durch Gebete, Fasten und Vertrauen in den Allmächtigen gewinnen! Tituba, mit welchen bösen Geistern hast du Umgang gepflegt?« 162
»Mit keinen Geistern«, sagte Tituba und blinzelte. »Du hast nicht diese Kinder gequält?« »Ich habe niemand gequält!« »Und wer quält sie?!« »Soviel ich weiß- der Teufel…« Hathorne trat nah vor sie hin. »Hast du je den Teufel gesehen?« fragte er scharf. Andrew spähte nach rechts und nach links. Niemand der Anwesenden schien zu bemerken, was dort vor sich ging. Er verfluchte die Dickfelligkeit und Ahnungslosigkeit der Menschen. »Ja«, sagte Tituba harmlos. »Er ist zu mir gekommen und hat verlangt, daß ich ihm diene.« Der Saal kochte über. Frauen kreischten und zeterten, Männer brüllten heiser durcheinander. Einige brachen in die Knie und beteten, andere verlangten sämtliche Schwarzen aus dem Dorf zu schaffen. 163
»Jetzt kannst du nicht mehr zweifeln!« sagte Maude. »Oder doch?« »Oder doch«, sagte Andrew. »Aber sie hat ein Geständnis abgelegt, daß der Teufel zu ihr gekommen ist!« »Sie hat nur gesagt, was man ihr zu sagen aufgetragen hat.« »Wie kannst du so etwas behaupten?« »Weil ich es weiß.« »Und woher weißt du es?« »Weil ich auch einmal so vor Gericht gestanden habe.« Sie blickte ihn fragend an, aber Andrew sagte nichts mehr. Immer noch kannte er keine Einzelheiten, sondern wußte nur, daß er sich einmal in einer ähnlichen Lage befunden hatte wie jetzt Tituba. Hathorne tuschelte mit Corwin, und Corwin stellte mit dem Hammer die Ordnung wieder her. Hathorne drohte noch einmal, notfalls den
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Saal räumen zu lassen, und wandte sich wieder an Tituba. »Bist du ganz sicher, daß es der Teufel war, der zu dir gekommen ist?« »Ja, Sir.« »Wie hat er ausgesehen?« »Manchmal war er ein Mann im schwarzen Anzug mit weißen Haaren, manchmal ein Hund, eine Katze oder ein Tier, das ich noch nie gesehen hatte.« »Welche Farbe hatten die Tiere?« »Sie waren rot, Sir. Die Katzen und die Hunde waren rot. Die Katzen sind aus einem roten Hof gekommen, und sie haben zu mir gesagt, ich soll dem Mann im schwarzen Anzug und mit den weißen Haaren dienen.« »Und was hat er selbst getan, Tituba?« »Er hat gesagt, er wäre Gott.« »Ist das alles?« »Außerdem hat er noch gesagt, ich müßte an ihn glauben und ihm sechs Jahre dienen.« Sie 165
zögerte. »Als ich ihm endlich geglaubt habe, er wäre Gott, war er sehr glücklich.« »Er hat also gespürt, daß du ihm geglaubt hast«, stellte Hathorne fest. »Habe ich dich richtig verstanden?« Tituba nickte. Hathorne ging zum Richtertisch und sagte etwas zu dem Schreiber; der stand auf und eilte nach nebenan. Einen Augenblick später kam er mit einem Zinnkrug wieder. Er reichte ihn Hathorne, der mit Genuß daraus trank. Hathorne stellte den Krug ab und wandte sich zu Tituba. »Der Teufel und seine Tiere«, sagte er, »haben sie dir was dafür versprochen, wenn du dem Teufel dienst?« »Ja.« Sie nickte eifrig. »Viele schöne Sachen!« »Und was solltest du tun?« »Ich sollte die Kinder zwicken. Ich wollte nicht, aber die Good und die Osbourne haben mich dazu gezwungen.« Die Kinder jaulten. 166
»Du hast die Kinder also gezwickt!« sagte Hathorne. »Alle?« »Nur Betty Hubbard und Ann Putnam«, antwortete Tituba. »Mit einem Messer.« »Mit einem Messer!« echote Hathorne mit deutlichem Entsetzen. »Bist du auch durch die Luft geflogen?« »Wir sind auf einem Stock geritten«, erklärte Tituba, »ich und die Good und die Osbourne. Ich weiß nicht, wie weit wir geritten sind, ich habe keine Bäume und auch keinen Weg gesehen, aber auf einmal waren wir da.« Hathorne erkundigte sich nicht, wo die drei Frauen auf einmal waren. Andrew hatte den Eindruck, daß es nicht in sein Konzept paßte. Statt dessen fragte Hathorne, ob Good und Osbourne Haustiere hätten. Tituba berichtete, daß Sarah Good eine Katze und einen gelben Vogel besaß, während Sarah Osbourne sich ein Tier mit Flügeln und einem Frauenkopf hielt.
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»Das stimmt!« rief Abigail. »Ich hab’s gesehen!« Die anderen Mädchen versicherten ebenfalls, dieses Tier gesehen zu haben. Hathorne ersuchte nachdrücklich um Ruhe. »Abigail«, sagte er, »wo und wann bist du diesem Tier begegnet?« »Im Pfarrhaus«, erwiderte sie. »Vorgestern abend hat es am Ofen gestanden.« Die übrigen Mädchen bestätigten Abigails Aussage. Wie sie erklärten, war das Tier durch den Schornstein entschwunden, sobald Parris und die anderen Geistlichen zu beten begannen. Hathorne massierte nachdenklich sein Kinn und tuschelte mit Corwin, dann kehrte er zu Tituba zurück und lobte sie herzlich für ihre Wahrheitsliebe. Sie schien sich zu freuen. Sie hatte nun nicht mehr die Sonne im Gesicht. »Der Mann im schwarzen Anzug hat mir ein dickes Buch gebracht«, sagte sie, als wäre es ihr eben erst eingefallen. »Ein Buch mit Namen!« 168
Hathorne stutzte. »Tituba!« sagte er streng. »Hast du deinen Namen in das Buch geschrieben?« »Ich kann nicht schreiben«, antwortete sie. »Aber Sarah Goods Name war in dem Buch, ihr Geist hat es mir erzählt. Sarah Osbournes Geist wollte mir nicht verraten, ob auch ihr Name in dem Buch gestanden hat. Er war böse mit mir.« Hathorne unterließ es, sich nach dem Grund für dieses angebliche Zerwürfnis zu erkundigen. Er wollte wissen, ob noch mehr Namen in dem Buch waren. »Ja«, bekannte Tituba. »Kennst du sie?« »Ich kann nicht lesen«, erinnerte sie ihn. »Aber es waren neun Namen. Sie waren mit Blut geschrieben.« Hathorne wirkte verwirrt, anscheinend hatte er ein solches Ausmaß der Verruchtheit in Salem Village nicht erwartet. Er wischte sich den 169
Schweiß vom Gesicht und trank wieder aus dem Krug. »Da war auch noch eine Frau aus Boston«, sagte Tituba. »Sie hatte einen seidenen Mantel und eine weiße Haube. Der Mann in Schwarz ist auch aus Boston gekommen.« ,Aus Boston?« Hathorne staunte. »Das hat er gesagt.« »Und die Leute in dem Buch«, sagte er lahm, »woher sind sie gekommen?« »Hier«, sagte Tituba. »Die meisten von hier.« Ann Putnam stimmte ein gellendes Geheul an, Abigail zischte wie eine Schlange, die anderen Mädchen stöhnten und wanden sich, die männlichen Zuschauer schimpften, ein paar Frauen brachen in Tränen aus, andere beteten wieder. »Ruhe!« schrie Hathorne. »Wer wagt es, schon wieder diese Kinder zu quälen?!« »Ich bin blind!« kreischte Tituba. »Ich kann nichts mehr sehen!« 170
Mühsam stellten die Magistratsbeamten und die Konstabler die Ordnung wieder her. Hathorne verfügte, die drei Gefangenen nach Boston ins Gefängnis einzuliefern und als Hexen vor Gericht zu bringen, dann erklärte er die Sitzung für beendet. Andrew begleitete Maude nach Hause. Sie hatte eine dicke Suppe aus Fleisch, Kartoffeln, Mais und Linsen gekocht und brauchte sie nur aufzuwärmen. Andrew entfachte Feuer im Herd, Maude deckte den Tisch. Draußen war es noch hell, trotzdem steckte sie die Lampe an. Andrew setzte sich in den Schaukelstuhl und wartete, bis das Essen fertig war. »Ich glaube, du solltest Pfeife rauchen«, sagte Maude. »Du würdest damit reifer und seriöser wirken.« »Vielleicht werde ich es eines Tages tun.« Er amüsierte sich. »Wenn du nicht mehr von mir verlangst…« 171
Die Suppe war ausgezeichnet, und Andrew verzehrte eine doppelte Portion. Er war ausgehungert, weil er am Mittag in Ingersolls Ordinary fast nichts gegessen hatte. Später arbeitete Maude am Spinnrad, und Andrew sah ihr zu. »Ich habe viel über dich nachgedacht«, sagte sie nach einer Weile. »Ich weiß so wenig von dir. Wie warst du als Kind?« »Wahrscheinlich wie andere Kinder«, antwortete er. »Ich habe gespielt, bin in die Schule gegangen und, als ich alt genug war…« »In die Armee«, sagte sie. »Das auch, aber das habe ich nicht gemeint.« Er überlegte. »In meinem Staat muß jeder in der Armee dienen, sogar die Blinden und die Lahmen. Aber mit siebzehn kann man freiwillig in die Special Organisation zum Schutz der Föderation eintreten, das ist so was ähnliches wie hier die Kirche.« »Hier kann man in die Kirche kommen, weil man gewählt wird, oder weil Gott einen durch 172
Reichtum auszeichnet, so daß alle wissen, daß man ein gottgefälliges Leben führt.« »Die Voraussetzungen sind also durchaus vergleichbar, soweit habe ich die Verhältnisse in dieser Kolonie schon kennengelernt. Aber sobald man Mitglied der Special Organisation ist, erhält man eine besondere politische Ausbildung.« »Unsere Politik hängt auch eng mit der Kirche zusammen«, sagte Maud. »Mich interessiert nicht die Politik deines Staats, sondern dein Privatleben. Was für Menschen waren deine Eltern?« »Ich habe sie kaum gekannt. Ich war noch ganz klein, als ich in ein staatliches Internat gekommen bin. Meine Eltern haben mich einmal monatlich besucht. Als ich zwölf war, sind sie nicht mehr gekommen, ich weiß nicht warum.« »Hast du nicht gefragt?« »Vielleicht. Ich kann mich nicht entsinnen.« 173
»Hast du sie nicht vermißt?« »Nein.« »Ich habe meine Eltern geliebt«, erklärte Maude. »Als sie vor fünf Jahren an den Pocken starben, habe ich gedacht, ich werde nie aufhören zu trauern.« »Ich habe sie kaum gekannt«, sagte er noch einmal. »Ich erinnere mich nur noch, daß mein Vater gewissermaßen natürlich gezeugt war, im Gegensatz zu meiner Mutter. Sie war gezüchtet.« »Ich begreife nicht…« »Man züchtet zum Beispiel Tiere«, erläuterte er, »um bestimmte Eigenschaften zu vererben und zu kultivieren, so war es bei meiner Mutter. Die Eltern meines Vaters waren einfach zusammengelaufen.« »Aber das ist gegen Gottes Willen! ’ Sie war entrüstet. »Wir alle sind sein Ebenbild!« »Gott hat keinen Willen«, sagte er geduldig, »es gibt ihn gar nicht, und in meinem Staat 174
werden Menschen nach einem Idealbild des Menschen geschaffen.« »Gibt… gibt es auch Menschen nach deinem Ebenbild?« »Vielleicht.« Er brütete. »Maude, du stellst so viele Fragen. Du möchtest erfahren, wer ich bin, das ist verständlich, aber ich weiß es selber nicht genau. Erst vor kurzem ist mir wieder eingefallen, daß ich Soldat war, und seit heute habe ich die Gewißheit, daß ich verhaftet und verurteilt worden bin, aber ich habe keine Ahnung, welches Verbrechen ich begangen habe.« Sie sah ihn entgeistert an. »Bist du sicher, daß du ein Verbrechen begangen hast?« »Ziemlich sicher.« Sie stand auf und trat dicht vor ihn hin. »Andrew«, sagte sie ernst, »warum bist du nach Salem gekommen?« »Wenn du wüßtest, wie oft ich mir diese Frage schon gestellt habe…« »Es muß doch einen Grund geben!« 175
»Das vermute ich auch.« »Wenn du beten würdest, Andrew, meinst du nicht, daß Gott dir helfen würde?« Er lachte unbehaglich. Sie strich sich verwirrt die Haare aus dem Gesicht und ging wieder zum Spinnrad. »Ich weiß«, sagte sie tonlos, »du behauptest, es gibt keinen Gott. Aber du hast doch selbst erlebt, wie er heute den Teufel bloßgestellt hat, wie er Tituba gezwungen hat, ein Geständnis abzulegen.« »Tituba ist keine Hexe, so wenig wie ich.« Er schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich bin ich dank meiner absurden Situation noch eher eine Hexe.« »Nein!« sagte sie erschrocken. »Eine Frau spürt so etwas. Aber vielleicht hat man dich hier hergeschickt?« »Daran habe ich auch schon gedacht.« »Warum sollte man dich nach Salem geschickt haben?« 176
»Vielleicht zur Strafe.« Er lachte bitter. »Aber in deiner Gegenwart ist diese Strafe erträglich.« Maude schlief. Andrew lag neben ihr und lauschte auf ihren Atem und auf das Knacken des Holzes im Kamin. Er bedauerte, daß er seine Somintabs nicht mitgenommen hatte; nach den Ereignissen des Tages hätte er sich denken können, daß er in der Nacht keine Ruhe finden würde. Er starrte auf den Baldachin über dem Bett und beobachtete den zuckenden Widerschein der Flammen. Er dachte an Parris, an Sarah Osbourne, an Tituba, dann dachte er an Sarah Good, die in Salem einen so miserablen Ruf hatte, daß die Leute ihr buchstäblich jedes Verbrechen zutrauten. Außerdem war sie arm, für die Puritaner ein ausreichender Beweis, daß Gott sie nicht auserwählt hatte, im Gegenteil. Sie war für das Himmelreich nicht prädestiniert. Wenn sie überhaupt prädestiniert war, dann für die Hölle. 177
Aber was war mit seinem eigenen Prozeß? Warum hatte man ihn vor Gericht gebracht, welches Verbrechen hatte er begangen? Er zermarterte sich das Gehirn, er versuchte die Verhandlung in sein Gedächtnis zurückzurufen, aber jedesmal, wenn die Bilder in seiner Erinnerung plastisch zu werden schienen, breitete sich wieder ein Nebel darüber. Er spürte, wie er nun doch müde wurde, aber er wollte nicht einschlafen, ehe das Rätsel gelöst war. Krampfhaft riß er immer wieder die Augen auf, wenn sie ihn zufielen, er betrachtete die huschenden Flammenmuster am Baldachin. Sie übten eine hypnotische Wirkung aus, und schließlich schlief er doch. Er träumte. Im Traum hieß er wieder Paul Klee, und Paul Klee schlief und träumte ebenfalls. Er hörte die Stimme des Mannes, den er nie gesehen hatte. »Für Menschen wie Sie, Doktor«, sagte die Stimme, »wird es nie Frieden geben, und für die meisten gibt es nicht einmal Hoffnung.« 178
Das Signal des Telefons schlug an und vertrieb die Stimme, und Klee nahm den Hörer ab. Sekundenlang war er wie geblendet und blinzelte heftig, er fühlte sich, als wäre er aus einer tiefen Ohnmacht ins Bewußtsein zurückgekehrt. Er meldete sich vorschriftsmäßig. Am anderen Ende der Leitung war die Telefonistin vom Dienst. »Operation in Einheit Eins«, sagte sie. »Schicken Sie Dr. William Harris und Steven Dort in die Chirurgie von Einheit Eins«, sagte er. »Wiederholen Sie.« Die Telefonistin wiederholte. »Richtig«, sagte er. »Noch etwas, Sir?« »Nein«, sagte er. In der Leitung klickte es, Klee legte auf. Er zog sich schnell an, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und blickte in den Spiegel. Er hatte Wassertropfen im Bart, seine Augen waren gerötet, und er sah elend aus. Abwesend 179
nahm er den kleinen Raum, in dem er sich befand, zur Kenntnis: ein Bett, ein Metallschrank, ein Tisch, ein Stuhl, ein Fenster. Die Möbel waren weiß, denn die Männer an der Regierung liebten diese Farbe. Klee zweifelte nicht daran, daß sie sogar den Himmel hätten weiß tünchen lassen, wenn es nur möglich gewesen wäre. Klee haßte dieses Zimmer, und seit einiger Zeit haßte er auch den Nachtdienst, weil er dann gezwungen war, in diesem Zimmer zu schlafen. Er ging hinaus und den langen, weißen Korridor entlang. Unterwegs stießen seine Assistenten zu ihm. Harris war hellhäutig, blond und hatte blaue Augen und trug einen erstaunlichen Gesichtsausdruck zur Schau, den die Frauen attraktiv fanden. Er wechselte häufig seine Sexualpartner. Dort war dunkelhaarig und verwittert und sah aus wie ein Schurke aus dem Bilderbuch.
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Die drei Männer passierten die Antibakterienkammer und wuschen sich die Hände. Sie zogen Handschuhe und Schürzen an und maskierten sich, dann traten sie in den Operationssaal, wo die übrigen Mitglieder des Teams den Patienten präparierten. Der DiagnoseComputer hatte einen Schädelbruch mit einer dreiundsiebzigprozentigen Wahrscheinlichkeit eines Blutgerinnsels festgestellt. »Harris, bleiben Sie rechts von mir«, verfügte Klee. »Dort, gehen Sie auf die andere Seite.« Dort nahm den Platz gegenüber von Klee ein. Klee blickte auf die Uhr: drei Uhr dreißig und fünfzehn Sekunden. Ein Techniker schaltete das Tonbandgerät an. »Dr. Paul Klee«, sagte Klee ins Mikrophon, »Chefchirurg in Einheit Eins des Central Goverment Hospital der Sektion New York, 15. März 2150. Assistenten sind William Harris und Steven Dort. Patient männlich weiß, Alter
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ungefähr fünfundvierzig. Opfer eines Verkehrsunfalls.« Er griff nach dem Elektroskalpell und legte einen Teil der Schädeldecke des Mannes auf dem Operationstisch bloß, gleichzeitig beschrieb er für das Tonband seine Tätigkeit. Harris klammerte die abgelöste Haut fest. »Ich drille drei Löcher«, sagte Klee auf das Band, »eins im Schädeldach, die beiden anderen im gleichen Abstand von dem ersten.« Er tat es, Dort entfernte die Knochensplitter. Klee nahm das Laser-Craniotom und schnitt zwischen den drei Bohrungen ein dreieckiges Stück der Schädeldecke heraus. Er trat zurück und ließ sich von einer der Schwestern den Schweiß von der Stirn wischen. Er hatte Kopfschmerzen, seit er vom Telefon aus dem Schlaf gerissen worden war, und während der Arbeit waren sie stärker geworden. Wieder blickte er auf die Uhr. Seit Beginn der Operation waren fünfundvierzig Minuten und zweiundzwanzig 182
Sekunden vergangen. Harris hob das Knochenstück ab, Dort klammerte abermals die Haut fest. Klee untersuchte die Verletzung. »Die Arterien zum Gehirn sind unterentwickelt«, sagte er. »Eine Geschwulst direkt vor dem Eintritt der Arterie ins Gehirn. Zur Zeit keine Blutung.« Er entfernte den Blutpfropfen. »Ich trenne die Arterie vom umliegenden Muskelgewebe«, sagte er. »Ich benutze ein Stück Muskelgewebe, um die beschädigte Arterie zu verbinden.« Seine Assistenten sahen ihn befremdet an. »Dadurch wird ein jäher Blutverlust verhindert«, sagte Klee, er wandte sich an die Assistenten. »Das Gewebe ist ausreichend elastisch, um die Blutzufuhr zum Gehirn zu ermöglichen. Die Technik ist nicht neu, aber es ist gut, sie zu kennen.« »Sie steht nicht in der Vorschrift«, sagte Harris. 183
»Nein«, räumte Klee ein. »In der Vorschrift steht, man soll das Arterien-Flexo-KontrollGerät verwenden, aber Muskelgewebe ist ebenso wirkungsvoll.« Noch einmal ließ er sich von der Operationsschwester den Schweiß abtupfen und brachte seine komplizierte Arbeit zu Ende. Plötzlich zuckte die Arterie, Blut sprudelte. »Silberklammer!« befahl Klee. Er klemmte die Ader ab. »Dort, wenn ich es Ihnen sage, nehmen Sie die Klammer weg.« »Ja«, sagte Dort. »Wäre es nicht besser, doch auf das Flexo-Kontroll-Gerät zurückzugreifen?« Klee schüttelte den Kopf. Seine Schmerzen wurden von Sekunde zu Sekunde unerträglicher. Er versuchte die Arterie zu nähen, aber sie verschwamm vor seinen Augen. »Dort!« rief Harris plötzlich. »Öffnen Sie die Arterie!«
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Klee begriff, was geschehen war. Er stieß Dorts Hand zurück und löste selbst die Klammer. »Lebenszeichen negativ«, sagte einer der Techniker. »Der Mann ist tot«, sagte Harris. Klee blickte fragend zu Harris und zu Dort, stumm erwiderten sie den Blick. Klee wirbelte herum, rannte aus dem Operationssaal und den Korridor entlang zu seinem Zimmer. Ausgepumpt warf er sich aufs Bett, schloß die Augen und spürte, wie ihn ein Schüttelfrost überfiel. »Was hast du?« fragte Maude. »Warum zitterst du?« Andrew setzte sich mit einem Ruck auf und starrte sie verständnislos an. Sie stand hastig auf. »Mein Gott«, sagte sie, »du bist ganz naßgeschwitzt! Warte, ich hol dir was…«
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Nackt rannte sie in die Küche und kam eine Minute später mit einem Tonkrug wieder. Sie reichte ihm den Krug. »Trink«, sagte sie. »Das ist Whisky, er wird dich aufwärmen.« »Danke«, sagte er. Seine Zähne klapperten. Er trank einen Schluck, japste nach Luft und trank noch einmal. »Das Zeug weckt einen Toten auf.« Sie brachte eine Wolldecke und hängte sie ihm um die Schultern, dann lief sie zum Kamin und legte ein paar Scheite Holz auf. Andrew hörte auf zu zittern. »Mach dir nicht soviel Mühe«, sagte er. »Mit geht’s schon besser.« »Du hast mich erschreckt.« Sie kroch wieder zu ihm ins Bett. »Was war mit dir los?« »Ein Traum«, sagte er vage, »ein Traum in einem Traum. Hast du das schon einmal erlebt?« »Als wir uns kennengelernt haben, als John noch nicht tot war…« Wieder erinnerte sie 186
sich, daß sie damals den Lehrer Andrew kennengelernt hatte, und nicht den Mann, der neben ihr lag. Sie fröstelte. »Eines Tages werde ich mich vor Gott dafür verantworten müssen!« Er trank noch einen Schluck Whisky und stellte den Krug neben sich auf den Boden. Maude schmiegte sich an ihn. »Erzähl mir von deinem Traum.« »Vielleicht später…« »Nein. Sofort. Sofort oder gar nicht!« »Ich habe dir gesagt, daß ich Chirurg war.« Er suchte nach Worten. »Ich war Spezialist für Gehirn und Nervensystem. Ich hab von einer Operation geträumt. Der Mann hatte einen Unfall, sein Hinterkopf war teilweise zertrümmert. Seine Adern zum Gehirn haben nichts getaugt, außerdem habe ich einen Fehler gemacht und meinen Assistenten nicht die richtigen Anweisungen gegeben. Der Mann ist auf dem Tisch gestorben.« 187
»Ich habe eine Gänsehaut«, sagte Maude. »Wie ist der Traum ausgegangen?« »Das war der Traum«, erklärte Andrew. »Aber außerdem war da noch die Stimme eines Mannes, dem ich nie begegnet bin. Er redet und redet und sagt meistens dasselbe.« »Heißt das, du hast schon öfter von ihm geträumt?« Er nickte. »Jetzt könnte ich auch was zu trinken gebrauchen«, sagte Maude. Er reichte ihr den Krug herüber. Sie trank und hustete. Sie dachte nach. »Der Mann, der auf dem Tisch gestorben ist, hast du ihn gekannt?« »Nein.« »Vielleicht ist es sein Geist, der immer zu dir redet?« Er schüttelte den Kopf. »Wie kannst du davon so überzeugt sein?« »Die Stimme war schon früher da, vor der Operation.« 188
»Du hast von der Operation also nicht nur geträumt! Es hat sie wirklich gegeben?« »Wahrscheinlich. Nein, ich bin ganz sicher, daß die Operation stattgefunden hat, wenn auch möglicherweise nicht mit sämtlichen Einzelheiten.« Sie trank noch einmal, diesmal ohne zu husten, und reichte ihm den Krug zurück. »Ich muß gehen«, sagte er. »Es wird bald hell.« »Ich habe Angst«, flüsterte sie. »Ich möchte nicht allein sein.« Er küßte sie auf die Stirn. »Andrew«, sagte sie leise, »hast du keine Angst?« »Doch«, räumte er widerstrebend ein. »Ich habe auch Angst.« »Das hört sich an, als ob du dich schämst.« »Ich schäme mich, daß ich meine Angst zu dir getragen habe.«
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Am Zaun vor dem Hathorne’s Hill lauerte Maudes Landarbeiter. Wilkes war ein kleiner, hagerer Mann mit spitzer Nase, grauen Stoppeln am Kinn und einem stereotypen Grinsen. Er hatte einen Hammer in der einen und ein paar Nägel in der anderen Hand, als hätte er am Zaun gearbeitet, doch Andrew bezweifelte es. Wilkes nahm den Hut ab und grüßte höflich. Andrew erwiderte den Gruß und wollte weitergehen. Wilkes vertrat ihm den Weg und stülpte den Hut wieder auf. »Anscheinend gibt’s heute wieder Schnee«, sagte er scheinbar beiläufig und deutete auf den wolkenverhangenen Himmel. »Allmählich hab ich genug von diesem Winter.« »Jeder Winter ist einmal zu Ende«, sagte Andrew leise. »In vier Wochen haben wir Frühling, und danach kommt der Sommer.«
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Wilkes lachte wie über einen großartigen Witz. Er schielte zu dem schneebedeckten Acker zwischen Zaun und Haus. »Der größte Teil der Ernte besteht in dieser Gegend aus Steinen«, sagte er. »Wenn sie zu verkaufen wären, könnten die Farmer reich werden.« Andrew lächelte. Er war neugierig, was Wilkes von ihm wollte. »Das ist die lautere Wahrheit!« sagte Wilkes. »Davon bin ich überzeugt«, sagte Andrew. »Aber ein Mann, der tüchtig pflügt, kann auch eine Menge einfahren…« Andrew schwieg. »Wo früh gesät wird«, sagte Wilkes doppeldeutig, »ist auch eine frühe Reife zu erwarten.« »Warum erzählen Sie mir das?« Andrew ärgerte sich. »Weil Sie es richtig machen!« Wilkes feixte. »Was mache ich richtig?«
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»Sie pflügen früh – schon früh am Morgen!« Wilkes schüttete sich aus vor Heiterkeit und wurde abrupt ernst. »Haben Sie schon einmal auf einer Farm gearbeitet?« »Nein.« Andrew unterdrückte seinen Zorn. »Ich war immer Lehrer.« »Solange Wilkes da ist, dürfen Sie Lehrer bleiben«, meinte Wilkes. »Wenn es Zeit für die Ernte ist, können wir immer Leute einstellen.« »Das beruhigt mich«, sagte Andrew ironisch. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich muß nach Salem.« »Es ist bloß so«, sagte Wilkes gedehnt, »da Sie der Favorit der Witwe Bowin sind…« »Wilkes!« sagte Andrew scharf. »Möchten Sie sich nicht lieber um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern?!« »Das tue ich.« Wilkes fixierte ihn. »Einige Leute hier glauben, daß Sie sich überschätzen!« Andrew packte ihn an der Jacke, Wilkes grinste und leistete keinen Widerstand. And192
rew ließ ihn los, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte weiter. Er begriff nicht, was plötzlich in Wilkes gefahren war. Hatte jemand ihn aufgehetzt? In Ingersolls Ordinary brannte Licht, aus dem Schornstein quoll Rauch. Andrew hatte keine Lust, schon in sein Haus zu gehen, er hatte auch keinen Appetit auf sein trostloses Frühstück aus Brot und Tee. Er trat in die Gaststube. Sie war leer, lediglich Susanna stand hinter der Theke. Sie trug ein so tief ausgeschnittenes Kleid, daß ihre Brüste fast nackt waren. Er setzte sich an einen Tisch in der Nähe des Ofens, Susanne achtete nicht auf ihn. »Guten Morgen«, sagte er nachdrücklich. Sie gönnte ihm einen schiefen Blick. »Seit wann stehst du so zeitig auf?« wollte sie wissen. Er antwortete nicht. Sie kam zu ihm an den Tisch und reckte ihm ihren Ausschnitt entgegen. Er lächelte, und seine schlechte Laune 193
schwand. Er bestellte gegrillten Schinken, Eier und Kaffee. »Wie geht’s deiner Freundin?« fragte sie schnippisch. »Zufriedenstellend«, sagte er. Sie zuckte mit den Schultern und ging mit wiegenden Hüften zum Herd, um das Frühstück zu bereiten. Einen Augenblick später kam Ingersoll herein. Er entdeckte Andrew und setzte sich zu ihm. Er wirkte vergrämt. Andrew erkundigte sich nach seinem Kummer. »Die Hexen«, sagte Ingersoll. »Wer hätte gedacht, daß der Teufel so eine Armee gegen Salem mobilisieren würde…« »Ich hätte es jedenfalls nicht gedacht«, sagte Andrew hinterhältig. »Der Teufel hätte sich doch eine größere Siedlung aussuchen können, wo mehr für ihn zu holen war, zum Beispiel Boston.« »Sie haben recht«, meinte Ingersoll nachdenklich. »Wenn der Teufel die Gläubigen ver194
führen will, hätte er in Boston viel mehr Opfer gefunden.« Susanna servierte und zog sich stumm zurück. Andrew griff nach dem Besteck und machte sich über sein Essen her. »Neun Namen hat Tituba in dem Buch gesehen«, sagte Ingersoll verdrossen, »aber nur drei sind bekannt. Also sind sechs Hexen in Salem noch auf freiem Fuß!« »Vielleicht sogar mehr«, sagte Andrew ernsthaft. »Der Herr behüte uns!« Ingersoll erschrak. Er starrte noch einige Minuten lang ausdruckslos vor sich hin, dann stand er auf und verschwand in der Küche. Drei Männer traten sich vor der Tür den Schnee von den Füßen und marschierten zur Theke. Sie waren aus der Stadt und wollten von Susanna wissen, ob in der Zwischenzeit noch mehr Hexen ausfindig gemacht worden wären.
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»Davon weiß ich nichts«, sagte Susanna unfreundlich. »Aber mehr als eine Frau hat schon die Männer verhext!« Andrew wandte sich zu ihr und lachte. Sie lachte ebenfalls und streckte ihm die Zunge heraus. »Schäm dich«, sagte er. »Ich habe gedacht, wir sind Freunde!« Die Männer aus der Stadt lachten mit, einer von ihnen lud Andrew ein, mit ihnen etwas zu trinken. Andrew legte Geld auf den Tisch und stand auf. »Tut mir leid«, sagte er. »Vielleicht ein andermal. Für Alkohol ist es mir noch zu früh.« Er ging hinaus. Auf der Straße war wenig Verkehr – einige Reiter, ein paar Passanten –, die Sonne war noch hinter Wolken verborgen. Aus dem Pfarrhaus drang Parris’ quäkende Stimme, er betete schon wieder um Gottes Unterstützung gegen den Teufel. Andrew schüttelte den Kopf und trat schnell in sein Haus. 196
Im Kamin war noch Glut. Er entfachte ein Feuer, zog den Mantel und die Jacke aus, blickte sich gedankenlos um und stutzte. Der Tisch stand näher am Ofen, als er stehen sollte, eine schwere Kiste war verrückt worden, und einige Bücher waren verkehrt einsortiert. Er lief zum Bett und schob er zur Seite. Aufatmend stellte er fest, daß sein Tagebuch und die Arzttasche sich noch unter den Dielenbrettern befanden. Andrew räumte oberflächlich auf und ging nachdenklich im Zimmer hin und her. Was immer der Eindringling bei ihm gesucht haben mochte – die Tasche und das Tagebuch hätten ausgereicht, ihm, Andrew, einen Prozeß wegen Hexerei anzuhängen. Ihm war klar, daß Argall dahintersteckte, außer ihm kam niemand in Betracht. Das scheinbar zufällige Zusammentreffen mit Wilkes bekam nun eine Bedeutung. Hatte Wilkes den Auftrag, ihn aufzuhalten? Argall hatte gewußt, daß er, Andrew, die Nacht bei Maude verbrachte, und hatte die Gelegen197
heit dazu benutzt, seine Spießgesellen auszuschicken. Welche Spießgesellen? »Die Männer«, sagte er laut vor sich hin. »Die drei Männer in der Taverne…« Er hielt sich nicht damit auf, Jacke und Mantel anzuziehen. Er rannte zu Ingersolls Ordinary, wo die Männer noch mit Susanna schäkerten. Mittlerweile waren mehr Leute in der Gaststube. Andrew trat an die Theke. »Einer von euch sollte Argall Bescheid sagen«, erklärte er. »Wenn noch einmal jemand ungebeten mein Haus…« Weiter kam er nicht. Der größte der drei Männer schnitt ihm das Wort ab. »Sind Sie der Schulmeister?« erkundigte er sich spöttisch. »Ja«, sagte Andrew. »Verraten Sie uns, was wir Argall mitteilen sollen«, sagte der Mann.
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»Wenn ihr noch eine Weile leben wollt«, sagte Andrew leise, »dann solltet ihr um mich und um mein Eigentum einen Bogen machen.« »Habt ihr das gehört, Freunde?« Der Mann wandte sich an seine Kumpane. »Der Schulmeister hat uns gedroht, und wir schätzen es gar nicht, bedroht zu werden. Ich glaube, er hat eine Lektion christliche Demut verdient.« Er warf sich auf Andrew, der parierte den Angriff mit einem Hieb gegen die Halsschlagader des Mannes. Der Mann brach zusammen wie ein gefällter Baum. Seine beiden starrten einander ratlos an. »Ihr braucht nicht um ihn zu weinen«, sagte Andrew kalt. »Er ist nicht tot.« Samstag, 12. März 1692: Seit meiner letzten Eintragung ist eine Weile vergangen, weil ich damit beschäftigt war, Hintergrundinformationen zu sammeln. Argall scheint etwas gegen mich vorzubereiten, und wenn ich mich weh199
ren will, muß ich die Verhältnisse kennen. Nachdem drei seiner Spießgesellen in meiner Abwesenheit mein Haus durchsucht hatten, habe ich einen von ihnen in Ingersolls Ordinary zusammengeschlagen. Dieser Mensch, er heißt William Smith, verbreitet nun überall, ich hätte ihn mit einer schwarzen Wolke zugedeckt, so daß er mich nicht sehen konnte. Seine Begleiter – Albert Mitchell und Thomas Wright – sind mit dieser Erklärung nicht einverstanden. Sie behaupten, ich hätte ihn in einem ehrlichen Kampf besiegt. Inzwischen weiß ich, daß ich mich falsch verhalten habe. Ich hätte den Einbruch ignorieren und für meine Arzttasche und das Tagebuch ein besseres Versteck suchen sollen, was ich unterdessen getan habe. Ich habe einige Steine aus dem Kamin entfernt, die Tasche und das Buch dahinter verborgen und den Kamin wieder zugemauert. Aber meine Reaktion auf den Vorfall hat mich nachdenklich gestimmt. Ich 200
frage mich, ob ich in meiner Epoche ähnlich impulsiv gewesen bin. Ein gespenstischer Traum über eine mißlungene Operation, die ich als Paul Klee durchgeführt habe, hat einen weiteren Teil meiner Vergangenheit in meine Erinnerung zurückgeholt. Meine Assistenten Harris und Dort hatten einen Bericht für die Regional Medical Commission geschrieben, und ich wurde vorgeladen. Ich litt damals an einem akuten Anfall des Zeitverschiebungssyndroms und wurde beurlaubt. Ich weiß jetzt wieder, daß Harris sich abfällig über meine Qualifikation als Chirurg geäußert hat. Dort beschränkte sich auf die Mitteilung, ich hätte mich schon Wochen vor der Operation sonderbar benommen. Daher hätte er ein Trauma vermutet. Übrigens habe ich Dort nach der Verhandlung vor der Kommission nicht mehr gesehen, während Harris mir noch einige Male begegnet ist.
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Was die Situation in Salem betrifft, so fällt es mir von Tag zu Tag schwerer, den erforderlichen Ernst zu bewahren, aber natürlich bin ich hoffnungslos in der Minderheit, obwohl auch andere Leute nicht daran glauben, daß Salem vom Teufel belagert wird. Männer wie George Jacobs und John Proctor haben sich öffentlich über die besessenen Mädchen geäußert; der erstere hat sie »Hexenhuren« genannt, während Proctor meinte, man sollte sie auspeitschen oder ganz und gar aufhängen. Wenn es nach diesen Mädchen ginge, so erklärte er, wären alle anderen Menschen in Salem Teufel und Hexen. In Proctors Worten steckt viel Wahrheit, denn mittlerweile ist jeder verdächtigt. Die Leute haben Angst, und das mit gutem Grund. Crenshaw ist ebenfalls als Skeptiker bekannt, aber er hält sich mehr zurück als Jacobs und Proctor. Gestern war wieder ein Tag des Fastens und des Gebets; beides gehört zur Strategie der 202
Geistlichen, die allen Ernstes behaupten, Krieg gegen die Mächte der Finsternis und des Bösen zu führen. Niemand in dieser Siedlung redet über etwas anderes, was auf mich mindestens so ermüdend wirkt wie die endlosen Gespräche über die Siege und Schlappen der Armee der Föderation in Antarctica, nachdem ich von dort zurückgekommen war und die Schrecken und die Sinnlosigkeit jenes ewigen Kriegs kannte. Nicht weniger sinnlos erscheint mir der Krieg, den die Leute von Salem austragen. Wenn ich einen Vergleich finden sollte, so würde ich sagen, daß über Salem ein Wirbelwind hinwegfegt und daß im Zentrum dieses Wirbelwinds Reverend Parris steht. Ich habe mich über ihn erkundigt und erfahren, daß er seine Stellung erst nach langen und unerquicklichen Streitereien angetreten hat. Das Dorf Salem steht im Ruf, seine Geistlichen sparsam, wenn nicht gar schäbig zu entlohnen, und Parris scheint sich eine Sinekure erhofft zu haben. 203
Die Kirchenältesten waren in einer stärkeren Position, überdies war Parris nach seinem geschäftlichen Fiasko auf Barbados verarmt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als nachzugeben, aber bestimmt hat er den Ältesten diese Demütigung nicht verziehen. Sobald er im Amt war, führte er ein eisernes Regiment und weigerte sich nicht selten, Diakone zu weihen, die ihm von der Gemeinde vorgeschlagen wurden, außerdem führte er strikte Regeln ein und stellte Mitglieder der Gemeinde bloß, wenn sie auch nur geringfügig gegen diese Regeln verstießen. Angeblich wurde dadurch der Kirchenbesuch immer schwächer. Schließlich rangen die Leute im Dorf sich dazu durch, vertragsbrüchig zu werden und ihren Pfarrer fortzuschicken. Sie waren sogar bereit, einen Prozeß zu riskieren, aber Ingersoll handelte einen Kompromiß aus. Parris erklärte sich bereit, seine Gesetze weniger streng zu handhaben, dafür sollte er bis zum Auslaufen des Kontrakts im Amt bleiben 204
dürfen. Wenig später waren die beiden Mädchen in seinem Haus verhext. Leider kann ich nicht beweisen, daß ein Zusammenhang besteht, doch ich halte es für wahrscheinlich. Crenshaws Ansicht über die Beziehungen des Reverends zur Sklavin Tituba dürfte richtig sein. Wenn sie seine Geliebte war oder ist, beschuldigt Parris sie bestimmt, ihn verführt zu haben, dafür bürgt sein Charakter. War oder ist sie nicht seine Geliebte, so hat er doch jedenfalls den Wunsch, sie dazu zu machen. Auch dann ist sie in seinen Augen schuldig. Was liegt also näher, als daß er mit der ihm widerwärtigen Tituba gegen die ihm nicht weniger widerwärtige Gemeinde vorgeht? Tituba hat keine andere Wahl, als zu gehorchen, und wenn sie es nur tut, um nicht mißhandelt zu werden – als Sklavin ist sie praktisch rechtlos –, und seine Tochter und seine Nichte in seinem Sinn zu beeinflussen, dürfte für Parris nicht schwer sein. 205
Offenbar ist Parris’ Inszenierung wie geplant über die Bühne gegangen – bis zu dem Augenblick, in dem Titubas lebhafte Phantasie sich selbstständig machte und ein Buch mit neun Namen produzierte. Für Parris muß es ein Schock gewesen sein. Statt der gewünschten drei Personen, die einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatten, gab es nun neun, und statt eines abgeschlossenen Falls hatte er es mit einer Lawine zu tun: Jeder Bürger von Salem Village mußte sich fragen, ob nicht die Nachbarin eine der sechs nicht identifizierten Hexen ist. Im Gegensatz zu Crenshaw bin ich nicht der Meinung, daß Parris überrascht war, als die Namen Sarah Good und Sarah Osbourne fielen. Falls überhaupt, dann hat er sich nicht über die Namen gewundert, sondern darüber, daß sie aus einer unverhofften Quelle kamen. Ich vermute, daß die Mädchen die Rollen anders verteilt haben, als Parris erwartete. Gewiß sollte Elizabeth die Sklavin bezichtigen, dann 206
war Abigail mit einem zweiten Namen an der Reihe, und Elizabeth steuerte den dritten Namen bei. Aber möglicherweise irre ich, und meine Phantasie macht sich ebenfalls selbständig. Über Sarah Good ist in diesem Zusammenhang kaum ein Wort zu verlieren. Sie ist seit langen der Schandfleck der Gemeinde, und bestimmt hat Parris es für seine Christenpflicht gehalten, sein New Jerusalem von ihr zu befreien. Mit Sarah Osbourne ist es ein wenig komplizierter, nicht zuletzt weil sie wohlhabend ist. Trotzdem muß sie Parris ein Dorn im Auge gewesen sein. Nach dem Tod ihres ersten Mannes Samuel Prince hat sie William Osbourne als Landarbeiter in ihr Haus genommen und mit ihm zusammengelebt. Vor kurzen hat sie zwar Osbourne geheiratet, aber ihres früheren nach Ansicht der Leute unsittlichen Lebenswandels wegen wird sie nach wie vor nicht geschätzt, außerdem geht sie nicht in 207
die Kirche. Ich kann mir ohne Mühe vorstellen, daß Parris sie bestraft sehen will. Darüber hinaus halte ich es für wahrscheinlich, daß einige der besessenen Mädchen mit dem Reverend verbündet sind, während andere einfach gedankenlos mitspielen. Einstweilen sind diese beiden Gruppen nicht mit Gewißheit zu trennen, ich weiß aber, daß beide für ihre Umgebung tödlich sind. Gestern nachmittag beim Gebet im Versammlungshaus hat Ann Putnam plötzlich geschrien, sie werde von Martha Coreys Spektralleib gezwickt und gebissen. So eine Anschuldigung kann nicht ununtersucht bleiben, und so sind heute morgen Edward Putnam und Ezekiel Cheever beauftragt worden, mit Martha Corey zu sprechen. Als sie in Ingersolls Ordinary zurückkamen, waren sie todernst, und Cheever benötigte dringend einen doppelten Whisky. »Wir waren zuerst bei Ann Putnam«, erzählte er. »Wir haben sie gefragt, was Martha Corey 208
anhatte, als sie bei ihr war. Aber der Spektralleib hatte das Mädchen geblendet, und sie meint, vor heute abend kann sie nichts sehen. Dann sind wir zu Martha Corey gegangen. Sie war allein im Hause. Sie wußte, was wir wollten. Ihr wollt mit mir darüber reden, daß ich eine Hexe sein soll, sagte sie, aber ich bin keine. Dann hat Edward Putnam sich eingemischt und ihr gesagt, daß wir tatsächlich deswegen gekommen sind, und sie hat gefragt, ob Ann Putnam gewußt hätte, was für ein Kleid sie anhatte. Wir sind schnell fortgegangen, und sie hat hinter uns hergegrinst.« Martha Corey wird bestimmt als Hexe angeklagt werden. Dabei war die Frage berechtigt, schließlich kann man von einem Spektralleib nicht erwarten, daß er nackt zu den Leuten kommt. Aber in Salem begreift man nichts. Offenbar kann man sich nicht vorstellen, daß ein Mensch wie Parris einer solchen Gemeinheit fähig ist. Ich habe mehr Erfahrung als diese 209
Bürger. Ich möchte sie warnen, aber sie würden natürlich nicht auf mich hören, außerdem wird mir wieder einmal schmerzlich bewußt, daß man die Geschichte nicht nachträglich beeinflussen kann. Eine Woche später waren die Magistratspersonen Hathorne und Corwin wieder in Salem Village und fertigten in Ingersolls Ordinary einen Haftbefehl für Martha Corey aus. Der Saal war gepfercht voll, Andrew und Crenshaw standen an der Tür. »Was halten Sie davon?« fragte Crenshaw leise. »Müssen Sie mich das noch fragen?« »In diesem Stadium der Verrücktheit sind neun Hexen nicht genug«, nörgelte Crenshaw. »Damit wird sich der Volkszorn nicht zufrieden geben.« Er zupfte Andrew am Ärmel und ging hinaus, Andrew folgte. Die Sonne brannte vom Him210
mel, als wäre der Frühling wirklich schon in Salem eingekehrt. Nur an einigen Stellen lag noch Schnee, dazwischen zeigten sich die ersten Grashalme. Die beiden Männer schlugen die Richtung zum Fairmaid’s Hill ein. »Wissen Sie, Andrew«, sagte Crenshaw, »daß Sie sich einen bedenklichen Ruf als Raufbold erworben haben?« »Ich kann es mir denken«, erwiderte Andrew. »Kein Grund, besonders stolz zu sein…« »Was hält Maude davon?« »Sie ist nicht sehr glücklich.« »Und wie ist Ihre Ansicht? « »Man hat mich provoziert.« »Sie hatten keinen Beweis dafür, daß die Männer in Ihrem Haus waren.« Sie kamen zu einem eingezäunten Feld. Crenshaw setzte sich auf einen Stein und spielte mit seinem Spazierstock. »Einige Leute sind der Ansicht, daß Sie zu Überreaktionen neigen.«
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»Das hat man mir bereits mitgeteilt.« Andrew blieb vor ihm stehen. »Aber diese Leute glauben entweder nicht, daß Argall mir nachstellt, oder sie verstehen seinen Neid.« »Warum sollte Argall seine Männer zu Ihnen schicken?« »Weshalb sollte er mich beneiden…?« »Das ist einfach zu beantworten«, sagte Crenshaw ernst. »Sie besitzen etwas, das er haben möchte.« »In der Tat«, sagte Andrew ironisch. »Und daß Maude ihn nicht will, ist offenbar belanglos.« »Für ihn ist nur wichtig, was er selber will.« »Ob er sich auch für sie interessieren würde, wenn sie eine Kellnerin ohne Landbesitz wäre?« »Sie kennen die Antwort so gut wie ich. Aber würden Sie sich mit einem Mann wie Argall anlegen, wenn die Witwe Bowin eine Kellnerin ohne Landbesitz wäre?« 212
»Ja«, sagte Andrew ohne zu zögern. »Ich will nicht die Farm, sondern die Frau.« »Und haben mehr oder weniger beides…« Crenshaw grübelte. »Darf ich offen mit Ihnen sprechen?« »Gewiß.« Andrew lachte. »Tun Sie das nicht schon die ganze Zeit?« »So etwas läßt sich auf verschiedenen Ebenen bewerkstelligen.« Crenshaw amüsierte sich. »Bisher haben wir uns auf Augenhöhe unterhalten, es könnte sein, daß ich jetzt gewissermaßen auf einen Stuhl steigen muß.« »Steigen Sie rauf«, ermutigte ihn Andrew. »Ich höre.« »Warum heiraten Sie die Frau nicht?« »Ich bin nichts und habe nichts…« »Keine befriedigende Antwort«, stellte Crenshaw sachlich fest. »Trotzdem will ich sie vorläufig gelten lassen. Sie führt mich zu meiner zweiten Frage. Wer sind Sie? Wer sind Sie wirklich?« 213
Andrew wandte sich ab. Sein Herzschlag setzte- einen Sekundenbruchteil aus. Andrew atmete tief ein. »Lehrer Roger Andrew«, sagte er leise. »Sie sehen aus wie er, und meistens benehmen Sie sich auch wie er.« Crenshaw lauerte. »Aber?« »Sie sind es nicht.« »Wer sonst sollte ich sein?« »Diese Frage, mein Freund«, sagte Crenshaw ernst, »können nur Sie beantworten!« Andrew lehnte sich an den Zaun und starrte auf das kahle Feld. Seitab waren einige mächtige Eichen, darunter stand im dürftigen Schatten eine dürre Kuh. »Sie müssen mich so nehmen, wie ich bin«, sagte Andrew milde. »Habe ich je etwas anderes getan?« fragte Crenshaw rhetorisch. Andrew schwieg.
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»Vielleicht wollten Argalls Männer eben dies herausfinden«, sagte Crenshaw. »Wer Sie sind, meine ich. Vielleicht zweifelt auch Argall an Ihrer Identität. Wenn es so ist, sind Sie selbst daran schuld. Der Andrew, den er kannte, hätte sich vermutlich auch gewehrt, aber er hätte nicht um sich geschlagen wie ein Berserker.« Andrew sah ein, daß Crenshaw wieder einmal recht hatte. Er sagte nichts. »Argall beobachtet und begreift mehr, als er sich anmerken läßt«, sagte Crenshaw. »Offensichtlich«, sagte Andrew verdrossen. Crenshaw stand auf und sie gingen zurück zum Dorf. Vor dem Versammlungshaus blieb Crenshaw stehen und blickte sich vorsichtig nach etwaigen Lauschern um. Niemand war in Sicht. »Noch etwas«, sagte er. »Wird der echte Roger Andrew je wiederkommen?« »Aber ich bin Andrew!« sagte Andrew ohne Überzeugung. 215
»Wie Sie wollen.« Crenshaw zuckte mit den Schultern. »Trotzdem sollten Sie vorsichtig sein. Wenn Argall den gleichen Verdacht hat wie ich, wird er alles daran setzen, ihn zu beweisen.« »Danke für den Rat«, sagte Andrew. »Aber jetzt habe ich auch eine Frage. Wenn Sie vermuten, daß ich jemand anders bin, warum haben Sie mich nicht längst schon denunziert?« Crenshaw lächelte. »Dazu habe ich keinen Grund«, bekannte er, »außerdem bin ich neugierig. Ich lasse die Dinge geschehen, ohne zu versuchen, sie zu beschleunigen oder zu bremsen.« »Eine ehrliche Antwort«, bemerkte Andrew. »Immerhin weiß ich, woran ich bin.« Crenshaw nickte freundlich und trat ins Versammlungshaus. Andrew ging zum Pfarrhaus, um als Crenshaws Aufpasser der Betstunde beizuwohnen.
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Am Nachmittag war Andrew wieder bei Maude. Das Wetter war immer noch prächtig, deswegen gingen sie über Maudes Felder spazieren. Wilkes war zu Besorgungen in die Stadt Salem geritten. Andrew berichtete von seiner Unterhaltung mit Crenshaw. »Mich wundert nicht, daß Crenshaw mißtrauisch geworden ist«, sagte er. »Aber ich hatte nicht damit gerechnet, daß Argall ein so aufmerksamer Beobachter ist.« »Mein Gott!« sagte sie erschrocken. »Und was wirst du jetzt machen?« »Nichts«, sagte er. »Was kann ich schon machen…?« Sie kletterten auf einen Hügel und spähten zu den Schiffen im Hafen. Ein Gewirr von Masten zeichnete sich schwarz gegen den Himmel ab. »Ich habe Angst«, sagte Maude. »Nicht nur vor Argall, sondern noch mehr vor Crenshaw. Er ist klüger als Argall – und gefährlicher.«
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»Wir sind befreundet«, sagte Andrew lahm, »trotzdem gebe ich mich keinen Illusionen hin. Er würde mich skrupellos benutzen.« »Wozu?« »Was immer ihm in den Kram paßt.« Wortlos stiegen sie wieder ins Tal. Als sie unten waren, stand die Sonne tief im Westen. Maude erkundigte sich, ob Andrew die Nacht mit ihr verbringen wollte. »Ich möchte schon«, antwortete er. »Ich bin nur nicht sicher, ob es in meiner Lage besonders weise wäre.« »Wir sind nicht weise.« Sie lachte. »Komm!« Er legte ihr einen Arm um die Schultern, und sie gingen zum Haus. Sie befanden sich in der Mitte zwischen Haus und Hügel, als hinter dem Haus zwei Reiter hervorgaloppierten. Jeder hatte einen dicken Knüppel in der Hand. Die Reiter brachten ihre Pferde vor Maude und Andrew zum Stehen.
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»Lassen Sie die Frau los«, sagte einer von ihnen. Andrew nickte mechanisch und bat Maude, ins Haus zu gehen. »Ich bleibe bei dir!« sagte sie entschlossen. »Geh«, sagte er noch einmal. Maude eilte zum Haus. »Und jetzt, Schulmeister«, sagte der Reiter, der mit ihm gesprochen hatte, »ist es an der Zeit, daß Sie selber Ihre Lektion lernen.« Er hob den Knüppel und trieb sein Pferd zu Andrew hin, der bis zum letzten Augenblick wartete. Dann wich er aus und griff nach dem Reiter. Er verfehlte ihn und verlor das Gleichgewicht, als der zweite Reiter anrückte. Andrew spürte einen furchtbaren Schlag auf der rechten Schulter, und sekundenlang sah er alles verschwommen. Als das Blickfeld klar wurde, war der erste Reiter über ihm. Der Hieb traf Andrew quer über die Brust, er japste und ging in die Knie. 219
»Wir brauchen die Pferde nicht mehr«, sagte der erste Reiter. Beide Männer stiegen ab und trotteten behäbig auf Andrew zu. Unsicher kam Andrew auf die Füße. »Er wird die Lektion nicht bei Bewußtsein überstehen«, sagte der erste Reiter, »aber das macht nichts. Wenn er sie bloß nicht mehr vergißt!« Er hämmerte Andrew mit dem Knüppel gegen die Beine, sein Begleiter erwischte Andrew am Kopf. Andrew kippte um, aus seinem rechten Ohr und aus seiner Nase troff Blut. »Und jetzt verprügeln wir ihn richtig«, sagte der erste Reiter fröhlich. »Mit Genuß!« »Halt!« schrie Maude. »Genug! Steigt auf eure Pferde! Verschwindet und laßt euch nicht mehr auf meinem Bodensehen!« Andrew starrte zum Haus. Maude stand vor der Tür und hatte eine Muskete auf die beiden Männer gerichtet. Sie schwangen sich hastig in 220
ihre Sättel und ritten weg. Maude kam zu Andrew. »Sie sind fort«, sagte sie. Sie legte die Muskete neben ihn. »Warte, ich helfe dir.« »Ich kann allein aufstehen«, sagte Andrew störrisch. »Du brauchst mir nicht zu helfen.« Langsam richtete er sich auf. Das Blut rauschte ihm in den Ohren, sein Kopf dröhnte, dann wurde ihm schwarz vor Augen. Das letzte, was er sah, war die Erde, die ihm entgegenstürzte. Die Stimme des Mannes, dessen Gesicht er nicht kannte, war wieder da. »Für Leute wie Sie, Dr. Klee«, sagte die Stimme, »kann es keinen Frieden geben, und wenn Sie sich nicht ändern, gibt es auch keine Hoffnung.« Klee schwieg. Er hockte auf den Knien, seine Hände waren auf den Rücken gefesselt, die Fessel war mit einem zweiten Strick um seine Fußgelenke verbunden.
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»Wir haben noch mehr Männer aus Ihrer Gruppe festgenommen«, sagte die Stimme. »Wenn Sie uns nicht mitteilen, was wir wissen wollen, werden sie es tun.« Klee schwieg. Er versuchte, nicht in den gleißenden Scheinwerfer zu blicken, doch jedesmal, wenn er den Kopf abwandte, packte jemand ihn an den Haaren und drehte ihn ins Licht. »Ihre Kameraden werden bestimmt nicht so zurückhaltend sein«, sagte die Stimme. »Wir wissen zum Beispiel, daß viele von euch Offizier waren, wir wissen auch, daß einige in hohen Stellungen sind. Aber wir möchten noch mehr wissen.« Wieder Stille. Klee hörte nur seinen eigenen Atem. Dann klatschte eine Peitsche auf seinen Rücken, er ächzte und kippte nach vorn. Ein benagelter Stiefel trat ihm in den Magen, und Klee übergab sich.
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»Mit diesem Verhalten helfen Sie niemand«, sagte der Mann, »nicht einmal sich selber. Sie handeln sich nur Schmerzen ein.« Abermals Stille. Ein Gummischlauch pfiff durch die Luft, und Klee schrie. Er schrie, solange er mit dem Schlauch geschlagen wurde, und als er nicht mehr geschlagen wurde, schrie er weiter. Seine Schreie riefen Andrew wieder ins Bewußtsein; er sah, daß Maude neben ihm stand. »Man hat mich geschlagen«, sagte er leise. »Ich habe geträumt, man hätte mich geschlagen.« »Du bist vorhin zusammengeschlagen worden«, sagte Maude. Sie legte die Hand auf seine Stirn. »Du hast Fieber.« Er starrte auf den Baldachin über dem Bett. »Es wird vergehen…« sagte er. »Ich kenne den Zustand.« »Hast… hast du wieder die Stimme dieses Mannes gehört?« 223
»Er hat diesmal mehr geredet als sonst.« Andrew schloß die Augen. »Ich sollte ihm verraten, wer die anderen sind. Ich habe geschwiegen, und er hat mich geschlagen. Vielleicht hat er mich auch nicht selber geschlagen, sondern die Leute bei ihm.« »Du hättest ihm sagen sollen, wer die anderen sind«, meinte Maude schüchtern. »Früher oder später legt jeder ein Geständnis ab, und es war ja auch nur ein Traum.« »Kein Traum«, flüsterte Andrew, »nicht nur. Ich lege kein Geständnis ab!« Dienstag, 22. März 1692: Nachdem zwei unbekannte Männer mich überfallen hatten, habe ich zwei Tage im Bett verbracht, und Maude hat sich um mich gekümmert. Ich war in einer Art Delirium und hatte Alpträume. Ich kann nicht mehr daran zweifeln, daß ich in meiner eigenen Zeit verhaftet worden bin, aber die Gründe dafür sind mir nach wie vor unbe224
kannt. Der Mann, dessen Gesicht ich in meinen Träumen nicht sehe, scheint für meine Verhaftung verantwortlich gewesen zu sein. Maude hat von mir wissen wollen, warum ich die Fragen des Mannes nicht beantwortet habe. Sie meint, daß dann vielleicht die Träume nicht wiederkehren. Möglicherweise hat sie recht, trotzdem kann ich Menschen, die mir vertraut haben, nicht verraten, nicht einmal im Traum. Offenbar läßt mein Charakter einen solchen Verrat auch im Unterbewußtsein nicht zu. Mein instinktives Mißtrauen ist so tief, daß ich die Namen meiner Gefährten auch jetzt nicht aufzuschreiben wage. Es hat mich aus meiner Epoche in diese historische Vergangenheit begleitet und betrifft nun auch die Menschen meiner gegenwärtigen Umgebung. In dieser Beziehung bin ich nicht anders als sie, die ihre Freunde und Nachbarn verdächtigen, Komplicen des Teufels zu sein.
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Wenn ich wach war, hat Maude sich nach den Verhältnissen in meiner Welt erkundigt. Sie hat sich dafür interessiert, ob wir ebenfalls in Städten und Dörfern leben. »Eigentlich nicht«, erklärte ich. »Die Menschen sind in riesigen Siedlungen zusammengefaßt, zu denen Städte und Dörfer zusammengewachsen sind, eine solche Siedlung heißt Megalopolis. Die Megalopolis, aus der ich komme, wird Nord Eastern Corridor genannt.« Ich berichtete von den gewaltigen Hochhäusern, von den ausgezeichneten sozialen Verhältnissen und vom Transportwesen, zum Beispiel von unseren Monorails und den Raketenflugzeugen. Sie hörte wie gebannt zu. Ich war bisher nie auf solche Einzelheiten eingegangen. »Wir sind eine technokratische Gesellschaft«, erläuterte ich. »Die Menschen haben der Gemeinschaft zu dienen, der Gemeinschaft oder dem Staat, das ist dasselbe. Individualismus wird unterdrückt.« 226
»Bei uns ist es ganz ähnlich«, meinte Maude versonnen. »Wer sich nicht bedingungslos anpaßt, wird verhöhnt oder verfolgt oder vertrieben.« Sie hatte natürlich recht, und ich fragte mich, ob dies im Verlauf der Menschheitsgeschichte je wesentlich anders war. Im Prinzip bleiben diese Dinge sich wohl immer gleich; es gibt bestenfalls Abstufungen. Trotzdem bereitet mir die Verwandtschaft meiner Zeit mit dieser Epoche der Hexenjagd großes Unbehagen. »Andrew«, sagte Maude bei einer anderen Gelegenheit, »wo warst du, bevor du ins Dorf gekommen bist?« Ich hatte selbst schon oft darüber nachgedacht. Vorübergehend hatte ich angenommen, spazieren gegangen zu sein, als plötzlich die Zeitverschiebung eintrat, aber dann waren Zweifel in mir gewachsen. Ich zuckte hilflos mit den Schultern.
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»Du warst in einem historischen Gehege…« vermutete sie. Ich nickte. Ich hatte ihr von dieser Einrichtung erzählt. Sie empfahl mir, noch einmal gründlich zu überlegen. »Warum?« fragte ich. »Wenn du es wüßtest, könntest du möglicherweise auch verstehen, weshalb du hier bist.« Der Vorschlag hatte einiges für sich, aber nicht so, wie Maude hoffte, denn wenn ich mich auf das Problem konzentriere, wo ich mich aufhielt, ehe ich nach Salem gelangte, mochte diese Konzentration mich dorthin zurückbefördern. Maude stand vom Stuhl neben dem Bett auf und machte sich am Herd zu schaffen, und ich durchforschte mein Gedächtnis. Zu meiner Überraschung blieb meine Mühe nicht ohne Erfolg. Mir fiel wieder ein, daß ich mit einer kleinen Gruppe Männer einem politi228
schen Vortrag zugehört hatte. Ich langweilte mich außerordentlich wie immer bei derlei Veranstaltungen. Ich erinnerte mich, daß ich plötzlich anfing zu blinzeln, entweder weil ich halb eingeschlafen war und krampfhaft wach bleiben wollte, oder mir etwas ins Auge geflogen war. Dabei mußte es passiert sein. Zwischen jedem Blinzeln war ich abwechselnd bei dem Vortrag und auf dem Hügel über Salem Village. Als Maude wiederkam, berichtete ich über meine Entdeckung. »Aber es war ganz blödsinnig«, sagte ich. »Ich habe den Eindruck, daß alle Leute im Vortragssaal auf dem Rücken lagen!« »Blödsinnig?« Sie lachte. »Jedenfalls nicht erstaunlicher als alles andere, das du mir über deine Welt erzählt hast.« Sie setzte sich zu mir und erbot sich, mir aus den Handlinien zu lesen. Ich kannte diese Prozedur nicht und hatte nichts dagegen. Sie besah 229
sich meine rechte Hand und runzelte die Stirn. Ich erkundigte mich, was ihr an meiner Hand nicht gefiele. »Es ergibt keinen Sinn«, sagte sie. »Ich verstehe nicht…« »Ich auch nicht!« Sie ließ meine Hand los und blickte zur Tür. Dort stand Wilkes. Maude fragte ihn, was er wollte. »Ich habe angeklopft«, sagte er, »aber Sie haben nicht geantwortet.« »Ich habe nichts gehört«, sagte sie scharf. »Worum geht’s?« Er teilte mit, daß Crenshaw dagewesen wäre und morgen wiederzukommen beabsichtigte. Maude dankte ihm und schickte ihn fort. »Ich möchte wissen, wie lange er schon an der Tür gestanden hat«, sagte Maude. Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe Crenshaw eine Nachricht geschickt«, erläuterte sie. »Er soll dich abholen.« 230
Crenshaw kam am Nachmittag mit einem Wagen und transportierte mich zurück ins Dorf. Unterwegs unterhielt er sich über das Wetter und über die mutmaßliche Ernte; zu einem ernsthaften Gespräch war er offenbar nicht aufgelegt. Um mich für seinen Freundschaftsdienst zu revanchieren, lud ich ihn in Ingersolls Ordinary zum Abendessen ein. Als wir am Tisch saßen, taute er endlich auf. »Die Männer, die Sie zusammengeschlagen haben«, sagte er, nachdem Susanna uns Bier gebracht hatte, »sind Sie ganz sicher, daß es keine Seeleute waren?« »Sie haben nicht so ausgesehen«, sagte ich. »Außerdem hatten sie Pferde.« Er nickte ernst und wollte etwas sagen, als John Proctor zu uns an den Tisch trat. In der Zwischenzeit hatte ich mehr über Proctor erfahren. Er ist nicht nur groß und ungewöhnlich breitschultrig, sondern angeblich auch furchtbar stark. Die Leute im Dorf schätzen ihn 231
nicht sonderlich, weil er die fatale Neigung hat, immer zu sagen, was er denkt. Er setzte sich zu uns und berichtete, daß Deodat Lawson wieder in Salem wäre, um den Teufel zu bekämpfen. Deodat Lawson war früher einmal Pfarrer in Salem Village. »Er ist sofort in die Taverne gekommen«, sagte Proctor. »Zufällig war Mary Wolcott hier, und sie hat geschrien, eine Hexe hätte sie gebissen. Lawson hat sie untersucht. Sie hatte die Abdrücke von Zähnen am Handgelenk.« »Sie kann sich selbst gebissen haben«, bemerkte Crenshaw. Proctor und ich hielten diese Erklärung für vernünftig. »Anschließend ist Lawson ins Pfarrhaus gegangen«, sagte Proctor, »und Abigail hat eine große Schau abgezogen. Sie hat zu fliegen versucht, dann hat sie behauptet, etwas zu sehen, das nicht da war, und schließlich ist sie zum Kamin gerannt und hat brennendes Holz im 232
Zimmer verstreut. Zuletzt wollte sie durch den Schornstein aufs Dach schweben.« Susanna kam zu Proctor und erkundigte sich nach seinen Wünschen. Er hatte keine Wünsche, und wie er sagte, hatte er auch keine Zeit. Er verabschiedete sich und ging. Susanna hatte wieder das ausgeschnittene Kleid an. Sie informierte uns, wir müßten mit dem Essen noch ein bißchen warten. »Crenshaw«, sagte ich, als wir wieder allein waren, »glauben Sie, was Proctor erzählt?« »Ich habe davon nichts gewußt«, sagte Crenshaw vage, »aber Proctor lügt nicht. Entweder war er dabei, was nicht wahrscheinlich ist, oder er hat es von einem Augenzeugen gehört, vielleicht von Lawson selber. Übrigens hat Abigail auch am Sonntag in der Kirche eine große Schau abgezogen, wie Proctor sich auszudrücken beliebt.« Mir war davon nichts bekannt. Maude war meinetwegen nicht ins Dorf gegangen, und 233
auch schon vorher hatte sie die Kirche gemieden, und zwar seit der echte Roger Andrew ihr Liebhaber geworden war. Crenshaws Bericht überzeugte mich noch mehr davon, daß Abigail die Partie von Reverend Parris gegen die Gemeinde spielt und, nachdem Deodat Lawson wieder im Dorf ist, auch gegen ihn. Martha Corey war ebenfalls in der Kirche; daß Ann Putnam sie als Hexe denunziert hatte, schien sie nicht zu genieren, und sobald die Mädchen sie entdeckten, stimmten sie ein wüstes Gegröle an und gefielen sich in wollüstigen Gesten. Lawson wollte predigen, aber Abigail hinderte ihn daran. »Genug!« schrie sie, als er kaum angefangen hatte. Sie deutete auf einen Deckenbalken. »Da sitzt Martha Corey, und ein gelber Vogel saugt an ihren Fingern!« Ann Putnam beschrieb, wie der Vogel von Martha Corey zu dem Kleiderhaken flog, wo Lawson seinen Mantel aufgehängt hatte. Und 234
Martha Corey saß stumm da und rührte sich nicht und gönnte ihren Peinigern keinen Blick. »Sie imponiert mir«, sagte Crenshaw abschließend. »Ich hätte mich nicht richtiger verhalten können, aber ich bin nicht sicher, daß mein Temperament nicht mit mir durchgegangen wäre.« Danach sprachen wir über die zweite Ermittlung, die gestern in Ingersolls Ordinary stattgefunden hat. Die Mädchen enthüllten, daß auf dem freien Platz vor der Kirche die Hexen ihren Sabbat zu veranstalten pflegten, was allgemeine Verwunderung auslöste, da niemand davon etwas bemerkt hatte, und Ann Putnam steigerte die Verwunderung, indem sie Rebecca Nurse der Hexerei beschuldigte. Rebecca Nurse ist ein angesehenes Mitglied der Kirche. »Solange der Magistrat eine allein geistige Anwesenheit für möglich hält«, sagte Crenshaw, »kann buchstäblich jeder verdächtigt werden. Sie hätten die Gesichter der Mädchen 235
sehen sollen! Wenn man es nicht besser wüßte, könnte man sie wirklich für besessen halten.« »Was ist mit Rebecca Nurse?« fragte ich. »Sie wird sich vor dem Magistrat verantworten müssen.« Susanna brachte das Essen, und wir schlangen es einsilbig hinunter. Wir waren mit unseren Gedanken bei dem Wahnsinn, der über Salem hereingebrochen war. Crenshaw ging anschließend nach Hause, und Susanna trieb sich in der Nähe meines Tisches herum. Mitleidig betrachtete sie mein zerschlagenes Gesicht und erbot sich, nach Feierabend zu mir in mein Haus zu kommen und mich zu pflegen. Ich lehnte freundlich ab. »Wenn ich eine reiche Witwe wäre«, sagte sie giftig, »hättest du bestimmt nichts gegen meinen Besuch.« Ich trachtete sie mit einem guten Trinkgeld zu versöhnen und ging nach Hause. Inzwischen ist mir klar, daß ich ein wenig mehr über 236
Ann Putnam herausfinden muß, die neben Abigail allmählich zur Schlüsselfigur der Ereignisse wird. Ich weiß, daß ihre Mutter, die ebenfalls Ann heißt, seit meiner Anwesenheit in Salem krank ist. Aber woran leidet sie? Andrew marschierte nervös in Maudes Küche auf und ab. Maude hantierte am Herd. Die tiefstehende Sonne schien durchs Fenster und vergoldete das Glas. Eine weitere Verhandlung im Versammlungshaus war vor einigen Stunden zu Ende gegangen, und Andrew hatte Maude auf ihre Farm begleitet. »Der Wahnsinn in diesem Dorf kann einen um den Verstand bringen«, sagte Andrew. »Warum rührt sich niemand, um diesen Zuständen ein Ende zu machen…« Die Frage war rhetorisch gemeint, doch Maude fühlte sich angesprochen. Sie fand Andrews Entrüstung nicht ganz verständlich.
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»Wer hätte sich nach deiner Ansicht für Rebecca Nurse einsetzen sollen?« wollte sie wissen. »Ihre Familie hat es versucht, aber es ist nichts dabei herausgekommen. Jeder andere hätte sich bei einem solchen Versuch bloß die Finger verbrannt.« Andrew blieb stehen und verschränkte die Hände auf dem Rücken. Er war mit dem gesamten Dorf Salem außerordentlich unzufrieden, und da ihm klar war, daß die Einwohner von Salem weder besonders feige, noch besonders tückisch waren, war er mit den Menschen schlechthin unzufrieden. »Hathorne hat Rebecca mit mehr Respekt behandelt als die übrigen Beschuldigten«, sagte er unnatürlich ruhig. »Ist dir das aufgefallen?« Es war ihr aufgefallen. »Gut«, sagte Andrew. »Das legt doch den Verdacht nahe, daß Hathorne anfängt, dem Unfug der geistigen Anwesenheit zu mißtrauen.« 238
»Diesen Eindruck hatte ich nicht«, erklärte Maude, »ich weiß auch nicht, ob die geistige Anwesenheit wirklich Unfug ist. Du vergißt, daß die ältere Ann Putnam ausgesagt hat, ihr verstorbenes Kind wäre bei ihr gewesen und hätte Rebecca beschuldigt!« »Ja!« höhnte Andrew. »Und diese Versammlung ist nicht in ein dröhnendes Gelächter ausgebrochen!« Maude zuckte mit den Schultern und kümmerte sich um ihre Arbeit. Andrew nahm seinen Fußmarsch wieder auf. »Die meisten Leute hätten wohl trotzdem Rebecca geglaubt«, sagte er. »Aber Dorcas Good hat den Ausschlag gegeben. Wer immer sie vor dieses Gericht gebracht hat – er wußte, was er tat!« »Ich bin nicht sicher, daß ich verstehe, worauf du hinauswillst…«
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»Dann muß ich es dir erklären.« Er lehnte sich mit dem Rücken ans Fenster. »Dorcas ist vier Jahre alt…« »Hexen können jedes Alter haben.« Sie ließ ihn nicht ausreden. »Ich meine, ob sie Hexen sind oder nicht, das ist nicht vom Alter abhängig!« »Hörst du gefälligst mal zu?!« sagte er gereizt. »Du mußt wenigstens versuchen zu begreifen, was hier gespielt wird .« »Und du kannst mit mir nicht reden, als wäre ich noch ein Kind!« Sie war nun ebenfalls gereizt. »Man sollte immer bemüht sein, die Dinge so zu sehen, wie sie sind.« Er zwang sich zur Ruhe. »Es hilft nichts, sich selber etwas vorzumachen oder vormachen zu lassen.« »Du bist schlecht gelaunt«, erwiderte Maude, »trotzdem darfst du deine Laune nicht an mir auslassen. Wenn Dorcas sagt, eine kleine Schlange hat an ihrem Zeigefinger gesogen, 1
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warum soll ich es dann nicht glauben? Sie hat dem Magistrat sogar die Stelle gezeigt!« »Das beweist nichts!« sagte er hitzig und überlegte, wie sehr dieses Gespräch sich unter seinem Niveau bewegte. »Dorcas ist ein armes, verwirrtes Mädchen, auf dessen Mutter ein Prozeß zukommt, den sie vermutlich…« »Und Dorcas selber hat ihre Mutter in diese Lage gebracht!« Maude lachte ohne Heiterkeit. Überheblich fügte sie hinzu: »Das Schlimme mit dir ist, daß du nicht glauben willst, was du mit deinen eigenen Augen siehst und mit deinen eigenen Ohren hörst.« »Was habe ich gesehen?« Er war außer sich vor Zorn. »Nein, antworte nicht, ich will dir sagen, was ich gesehen habe! Ich habe eine dürre, schwerhörige Frau gesehen, die sich gegen ein Rudel weiblicher junger Wölfe verteidigt hat. Und was habe ich gehört, Maude? Unsinn, Lügen und Absurditäten, aber eben sie waren die Zähne und Klauen, die diese alte Frau zu 241
Boden gezerrt haben. Ich habe ein Kind gesehen, das nicht ganz richtig im Kopf ist, wie ihr Leute aus Salem es ausdrücken würdet, und das Kind ist ebenfalls beschuldigt worden, eine Hexe zu sein, und zwar mit der ganz und gar idiotischen Behauptung, es könnte sich in einen Hund oder eine Katze oder ein anderes Tier verwandeln und nachts die Menschen erschrecken. Und dieses Kind legt nun also ein Geständnis ab. Verlangst du im Ernst, daß ich glaube, was ich bei dieser Verhandlung gehört und gesehen habe?« »Es gibt einen Gott«, sagte Maude widerspenstig, »dann gibt es auch einen Teufel, und dann gibt es Hexen und…« »Nein!« brüllte er. »Nein!« »Ich glaube, du solltest jetzt lieber gehen«, sagte Maude eisig. »Auch wenn ich mit dir gesündigt habe, lasse ich mir doch nicht meinen Glauben stehlen.« »Was war das?« fragte er verdutzt. 242
»Hexen sind nicht weniger wirklich als du und ich. Sie werden in der Bibel erwähnt, du brauchst es nur nachzulesen. Aber wahrscheinlich glaubst du nicht einmal, was in der Bibel steht.« »Natürlich nicht«, sagte er tonlos. Er starrte sie an, als hätte er sie noch nie richtig gesehen. »Du hast recht. Ich sollte jetzt gehen.« Er nahm seinen Mantel vom Haken und stürmte aus dem Haus und in Richtung Straße. Er bedauerte, sich auf dieses Glatteis gewagt zu haben, er bedauerte auch, Anteil am Schicksal Salems genommen zu haben, an dem er nichts ändern konnte, einmal weil die Bürger allzu verblendet waren, und weil überdies alles längst Vergangenheit war, obwohl er, Andrew, dazu neigte, diese Tatsache immer wieder zu ignorieren. Maude rief hinter ihm her. Er blieb stehen und wartete, bis sie bei ihm war. Sie fiel ihm
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um den Hals. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. »Entschuldige«, flüsterte sie. »Bitte, geh nicht weg. Ich… ich kriege ein Kind…« Er hielt sie auf Armeslänge von sich ab und blickte ihr in die Augen. »Ein Kind!« Er mußte sich erst an den Gedanken gewöhnen. »Seit wann weißt du es?« »Schon eine Weile.« Sie wischte sich die Tränen ab. »Ich wußte nicht, wie du reagieren würdest.« »Wie sollte ich reagieren…« »Wahrscheinlich ist es nicht dein, sondern sein Kind!« »Sein Kind?« »Das Kind des Mannes, dessen Platz du eingenommen hast.« Soweit hatte er nicht gedacht. Auch daran mußte er sich erst gewöhnen. Maude lächelte zaghaft.
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»Ich werde zu Gott beten, daß das Kind von dir ist«, sagte sie. »Komm, wir gehen wieder ins Haus.« Freitag, 25. März 1692: Eben hat der Nachtwächter Mitternacht ausgerufen. Vor einer Stunde habe ich Maude verlassen, obwohl ich gern bis zum Morgen geblieben wäre, aber ich wollte nicht noch einmal Wilkes begegnen. Vermutlich hätte ich ihm meinen Verdacht an den Kopf geworfen, daß er im Auftrag Argalls hinter mir und Maude herspioniert. Ich erwäge, Maude zu heiraten. Sie bekommt ein Kind, ob von mir oder von dem echten Roger Andrew ist belanglos. Notgedrungen muß ich mich verhalten, wie er sich verhalten hätte. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, daß weder die Ehe noch das Kind in meine Vorstellungswelt passen, und doch habe ich nichts dagegen, Roger Andrews Rolle auch weiter zu spielen. Ich würde versuchen, dem Kind ein 245
guter Vater oder wenigstens Erzieher zu sein, besser jedenfalls als die Erzieher in den Internaten, in denen ich aufgewachsen bin. Vielleicht ist die Geburt des Kindes ein Zeichen dafür, daß ich nicht mehr in meine eigene Zeit zurückkehren werde. Während ich diese Worte niederschreibe, dämmert mir, wie einfältig sie sind. Tatsächlich entsprechen sie genau dem, was ein Mensch aus Salem geäußert haben könnte. Die Einwohner Salems glauben an Wunder – oder haben an Wunder geglaubt –, während wir die Wunder längst durch Technik ersetzt haben. Trotzdem sind diese Menschen denen aus meiner Zeit bestürzend ähnlich, sie sind mir in ihren Lebensgewohnheiten so vertraut, als ob ich sie schon immer kennte. Ich habe keine Erklärung dafür, aber ich bin ganz sicher, daß ich mich nur ein wenig mehr an meine Vergangenheit zu erinnern bräuchte, um in der Lage
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zu sein, eine Verbindung zwischen den beiden Epochen herzustellen. Nach wie vor werde ich das Gefühl nicht los, daß ich hier einen Zweck zu erfüllen habe, zugleich weiß ich natürlich nach wie vor, daß ich nichts an einer Entwicklung ändern kann, die längst abgeschlossen ist. Nicht einmal die Föderation kann erledigte Fakten beeinflussen, obwohl das Informationsministerium es verzweifelt versucht. Für das Ministerium ist nicht wichtig, was geschehen ist, sondern was geschehen sein sollte. Daher wird die Geschichte ständig umgeschrieben und der jeweiligen Situation angepaßt. Steht dies nicht im direkten Widerspruch zu der These, daß jedes Ereignis von Zeit, Ort und den Umständen abhängt? Es steht im Widerspruch dazu, und ich frage mich, woher ich diese These habe. In der Föderation ist alles so, wie die Regierung bestimmt, daß es zu sein hat – das gilt für die Vergangenheit, die Gegenwart 247
und die Zukunft. Woher also habe ich meine ketzerischen Gedanken? Wahrscheinlich habe ich sie in einem Buch gelesen, aber ein Buch mit solchen Überlegungen wäre nie veröffentlicht worden, nicht mit dem Einverständnis der Regierung. Es kann also nur aus einer der geheimen Druckereien der sogenannten Dissidenten stammen. Wie ist das Buch in meinen Besitz gelangt? Was hatte ich mit den Dissidenten zu tun? Heute nachmittag habe ich Maude ärgerlich empfohlen, die Dinge endlich so zu sehen, wie sie sind, und nicht so, wie andere uns lehren, sie zu sehen. Dies ist eine Parallele – unter anderen – zu meiner eigenen Epoche, wo die Menschen genötigt werden, zu empfinden, was sie empfinden sollen. In Salem dient die Religion als Instrument der Unterdrückung, in meiner Zeit dient die Furcht um die Sicherheit des Staats dem gleichen Zweck. In Salem wird die allgemeine Angst durch die Drohung mit ei248
nem rächenden Gott und den ewigen Qualen der Hölle erzeugt, in meiner Zeit bedient man sich subtilerer Mittel. Der Erfolg unserer Machthaber ist nicht geringer als der Erfolg der Machthaber in Salem: Wir erschrecken vor uns und vor anderen, wir bangen, daß unsere Gedanken von den Gedanken abweichen, die uns verordnet werden, und wir empfinden ein Grauen bei der Vorstellung, daß jemand uns bezichtigen könnte, die Staatsräson untergraben zu wollen. Wir zittern davor, verhaftet zu werden, obwohl meines Wissens noch kein Dissident hingerichtet worden ist. Eben habe ich meine letzten Eintragungen noch einmal durchgelesen und weiß nun intuitiv, daß das Psychological Reorientation Center, in das ich eingewiesen wurde, in Wahrheit ein Gefängnis ist. Falls dies stimmt, muß mir in der Reihenfolge der Begebenheiten ein Irrtum unterlaufen sein, denn aus einem Gefängnis kommt man nur tot oder durch Flucht heraus. 249
Da ich nicht tot bin, muß ich also geflohen sein. Mein Besuch im historischen Gehege Marblehead und der Tod meines Patienten, der für meinen Aufenthalt in Marblehead verantwortlich war, müssen vor meiner Verhaftung gewesen sein. Und falls auch dies stimmt – wie komme ich hierher? Könnte ich aus meiner Zeit – und aus dem Gefängnis – in die Vergangenheit und geradewegs in die Wirren von Salem geflohen sein? Am Morgen stellte Andrew fest, daß ein großer Teil dessen, was er in der Nacht geschrieben hatte, durchgestrichen war. Der Tisch und seine Hände waren tintebeschmiert, und es konnte nicht den geringsten Zweifel daran geben, daß er selbst seinen Text verdorben hatte, als hätte er ihn nachträglich auslöschen wollen. Er konnte sich an nichts mehr erinnern, und ihm blieb nur die Erklärung, daß er Angst vor seinen eigenen Ausführungen bekommen und 250
sein Unterbewußtsein sich selbständig gemacht hatte. Er klappte das Buch zu und versteckte es wieder in der Mauernische des Kamins. Er reinigte den Tisch und sich selbst mit Seife und heißem Wasser, brühte Tee auf und leistete sich zum Frühstück zwei Scheiben Brot, die dick mit Blaubeermarmelade bestrichen waren. Er hatte das beunruhigende Gefühl, etwas vergessen zu haben. Er durchforschte sein Gehirn, doch ihm fiel nicht ein, was es sein mochte. Als er auf die Straße trat, stand die Sonne schon hoch am Himmel, im Osten schwebten einige Wolken wie weiße Wattebälle, und auf einem kahlen Ast saß eine Wanderdrossel. Sie zwitscherte melodisch, eine zweite Drossel antwortete, dann flogen beide auf und strichen niedrig über die Dächer. Während Andrew noch den Vögeln nachblickte, wurde die Tür des Pfarrhauses geöffnet, und Parris kam heraus. Er hatte eine schwarze, in Leder gebun251
dene Bibel unter dem Arm. Andrew ging ihm entgegen. »Guten Morgen, Reverend«, sagte er höflich. »Haben Sie einen Moment Zeit?« »Eigentlich nicht«, erwiderte Parris hochmütig. »Ich werde in der Stadt Salem erwartet.« »Die Verhandlung…«vermutete Andrew. »Gottes Werk«, sagte Parris finster. »Mein Anliegen ist bestimmt weniger wichtig, trotzdem möchte ich mit Ihnen darüber reden.« »Falls es um Ihr Gehalt geht…« »Nein.« Andrew schüttelte den Kopf. »Ich möchte, daß Sie für mich und die Witwe Bowin das Aufgebot bestellen.« Parris’ Unterkiefer sackte herab, und mühsam bewahrte er die Fassung. »Ihnen wird nicht verborgen geblieben sein, daß die Witwe Bowin und ich einander häufig sehen«, sagte Andrew.
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»So ist es in der Tat«, bemerkte Parris hämisch. »Und um ehrlich zu sein – ich hätte schon längst mit Ihnen gesprochen, wäre unser kleines Dorf nicht zum Schlachtfeld im Kampf gegen den Teufel geworden.« »Na ja, Teufel oder nicht«, sagte Andrew lahm. »Das Leben geht weiter, und eine Heirat ist ein Teil des Lebens.« »Sie machen es sich zu leicht«, nörgelte Parris. »Werden Sie die notwendigen Vorbereitungen treffen?« »Sie zwingen mich, freimütiger zu sein, als es in meiner Absicht lag.« Parris musterte ihn finster. »Ihre gegenwärtigen Beziehungen zu dieser Frau sind in den Augen Gottes ein Greuel!« »Was sagen Sie da?« Andrew spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. »Die Leute beobachten, sie sind geschwätzig…« »Und die Leute sind Gott?« 253
»Er sieht alles und grämt sich um Sie und diese Frau, die Sie verführt haben.« »Wollen Sie das Aufgebot bekannt machen oder nicht?« fragte Andrew hitzig. »Es wird Einwände geben«, sagte Parris. »Von wem?« »Von Menschen, die den heiligen Stand der Ehe nicht entweiht wissen möchten von einem Mann und einer Frau, die nur an ihre Lust gedacht haben.« »Sie werden das Aufgebot veröffentlichen!« sagte Andrew. »Soll das eine Drohung sein?« »Spielen Sie nicht mit mir herum, Reverend!« warnte Andrew. »Ich habe mir jetzt genug von Ihnen anhören müssen; es reicht.« »Sie überschätzen sich«, sagte Parris giftig, »und Sie neigen dazu, sich zu übernehmen. Passen Sie auf, daß Sie nicht dem Teufel zum Opfer fallen, sonst sind Sie verloren wie die anderen!« 254
»Ich werde daran denken«, sagte Andrew kalt. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging wieder in sein Haus. Er wollte es nicht wahrhaben, aber plötzlich hatte er Angst, sich tatsächlich übernommen zu haben. Wenn Parris wollte, war er der nächste, den die Mädchen der Hexerei beschuldigten, und dann war er wirklich verloren. Parris hatte nicht übertrieben. Die Angst verebbte ebenso unvermittelt, wie sie gekommen war. Andrew blickte aus dem Fenster und sah, daß wieder einmal Passanten sich vor Ingersolls Ordinary versammelten. Er ging hinüber und entdeckte Henry Houtton, der den Umstehenden von Joseph Putnam erzählte. Joseph Putnam war Ann Putnams Onkel. Houtton nickte Andrew zu und grinste. »Sie kommen nicht zu spät«, sagte er. »Den besten Teil der Geschichte habe ich für Sie aufgespart.« Andrew und die Umstehenden lachten. 255
»Wenn Henry etwas mitzuteilen hat«, meinte einer von ihnen, »zieht er es so in die Länge, daß man den Anfang schon wieder vergessen hat, wenn er endlich fertig ist.« Die Männer lachten wieder. »Alles will gekonnt sein«, sagte Henry Houtton heiter. »Jedenfalls wißt ihr alle, daß Joseph Putnam sich vor nichts fürchtet, das zwischen Himmel und Hölle liegt. Er hat sich also seine Muskete gegriffen und ist stracks zu Ann Putnams Haus marschiert. Er ist reingegangen und hat Ann Putnam ganz aus der Nähe das schwarze Loch im Lauf der Muskete gezeigt und gedroht: Wenn du wagst, über jemand in meinem Haushalt deine faulen Lügen zu verbreiten, bist du fällig! Dann ist er umgekehrt und nach Hause marschiert. Was haltet ihr davon?« »Viel«, sagte einer der Zuhörer. »Sämtliche Männer sollten es genauso machen.«
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»Ich weiß nicht recht…« sagte ein anderer. »Ebensogut hätte Joseph Putnam behaupten können, es gibt keine Hexen.« »Schulmeister«, sagte Henry Houtton, »wie denken Sie darüber?« »Joseph Putnam wollte seine Familie schützen«, sagte Andrew. »Das ist sein gutes Recht.« »Aber wenn wir alle es so halten würden«, sagte der Mensch, der gegen den ersten Zuhörer Bedenken angemeldet hatte, »wie sollten wir dann je erfahren, wer eine Hexe ist und wer nicht?« »Ich glaube, jeder muß für sich selbst entscheiden, was für ihn wichtiger ist«, sagte Andrew langsam. »Offensichtlich hat Joseph Putnam diese Entscheidung getroffen und danach gehandelt.« Die Tage wurden wärmer, die Nächte waren nicht mehr so kalt. Wildblumen wuchsen aus dem Boden, in den Bäumen stieg der Saft, und 257
die Erde wurde grün. Nach Monaten öffneten die Leute in Salem Village zum erstenmal wieder die Fenster. Viele von ihnen klammerten sich an die Überzeugung, daß nicht noch mehr Hexen im Dorf gefunden und die schon überführten nicht verbrannt würden, sondern der Allmächtige sich gewiß einen Ausweg einfallen ließ, um sich mit ihnen wieder zu versöhnen. Sie sollten sich irren. Bis alles vorüber war, wurden noch viele als Spießgesellen des Satans entlarvt, und nicht wenige wurden hingerichtet. Andrew verbrachte die meiste Zeit bei Maude. Wenn er nicht bei ihr auf der Farm war, streunte er entweder allein am Hafen herum oder saß mit Crenshaw in Ingersolls Ordinary. Am 3. April, einem Sonntag, entschloß sich Maude spontan, mit ihm in die Kirche zu gehen. »Bei dieser Gelegenheit können wir mit dem Reverend sprechen«, meinte sie. »Er muß das 258
Aufgebot an drei Sonntagen hintereinander ausrufen.« Andrew teilte ihr mit, daß er sich schon mit Parris unterhalten hatte. Sie sah ihn fragend an. »Es ist nicht ganz einfach, mit ihm zu reden«, sagte Andrew. »Ist er dagegen?« flüsterte sie. Andrew nickte. »Ich hätte es mir denken können«, sagte sie. »Er wird trotzdem das Aufgebot ankündigen«, sagte er. »Hat er es versprochen?« »Er wird nicht wagen, mit mir herumzuspielen«, sagte er. Sie gingen miteinander nach Salem Village. Maude war still und sehr nachdenklich. Vor dem Versammlungshaus blieb Andrew stehen. Er deutete auf die Tür. »Bist du ganz sicher, daß du da reingehen willst?« fragte er. »Es ist auch mein Gott…« sagte sie. 259
Sie traten ins Haus, und sämtliche Köpfe wandten sich nach ihnen um. Andrew erkannte Argall und die ältere Ann Putnam. Als das Wetter besser geworden war, hatte er sie einmal auf der Straße gesehen, Crenshaw hatte sie ihm gezeigt. Sie war eine blasse Frau mit weinerlichen Augen. Andrew wußte nun auch, wieso sie so lange krank war. Sie hatte eine Fehlgeburt und dabei viel Blut verloren. Maude und Andrew fanden Platz in der Nähe der Tür. Wenig später kam Parris. Mit hocherhobenem Kopf schritt er zu seiner Kanzel und blickte weder nach rechts noch nach links. Er war magerer geworden. Er betete, dann ließ er die Gemeinde einen Psalm singen. Andrew besah sich die Gesichter der Gläubigen. Sie drückten Inbrunst, Frömmigkeit, Vertrauen und eine tiefe Furcht aus, und er wußte nicht, ob er sie bedauern oder auslachen sollte; zugleich war ihm klar, daß sie nicht einfältiger waren als die Menschen seiner Zeit einschließ260
lich er selbst, bevor ihm die Wahrheit über seinen Staat bewußt geworden war. Der Gesang verstummte, Parris räusperte sich, klappte seine Bibel auf und fixierte seine Gemeinde. Andrew blickte zu den Sonnenstrahlen, die durch die linke Fensterseite drangen und in denen winzige Stäubchen tanzten. »Du mußt aufpassen«, flüsterte Maude. »Er wird predigen.« »Ich habe meinen Text bei Johannes ausgewählt«, sagte Parris markig. »Kapitel sechs, Vers siebzig…« Er las etwas über zwölf Getreue vor, unter denen sich angeblich ein Teufel befand. Die Gemeinde tuschelte. Eine Frau stand abrupt auf, warf Parris einen vernichtenden Blick zu und ging mit lauten Schritten hinaus. Sie knallte die schwere Tür hinter sich zu. »Das ist Sarah Cloyce«, sagte Maude leise zu Andrew. »Sie ist die Schwester von Rebecca Nurse.« 261
Andrew nickte verständnislos. »Christus weiß, wie viele Teufel in seiner Kirche sind!« schrie Parris. »Er weiß auch, wer sie sind!« Er predigte zwei Stunden, dann wurde ein zweiter Psalm gesungen und noch einmal gebetet. Parris baute sich neben der Tür auf, die Gemeinde defilierte an ihm vorbei. Seine Anhänger gratulierten ihm zu der wunderschönen Rede, die übrigen hechelten Sarah Cloyce durch: Ein anständiger Mensch verließ nicht die Kirche, so etwas tat man einfach nicht, damit hatte Sarah Cloyce bewiesen, daß ihre Schwester eine Hexe und sie selber mit dem Satan verbündet war. »Was war da drin los?« fragte Andrew, als er und Maude draußen waren. »Wozu die Aufregung?« »Ganz einfach«, erläuterte Maude. »Sarah Cloyce hat sich gegen Gott und für den Teufel
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entschieden, und das hat der Reverend ihr zu verstehen gegeben.« »Wieso hat sie sich entschieden?« Andrew begriff immer noch nicht. »Ihre Schwester ist nicht als Hexe verurteilt worden, jedenfalls noch nicht, und wieso ist Sarah für ihre Schwester verantwortlich?« »Rebecca ist schuldig, auch wenn sie noch nicht verurteilt ist«, belehrte ihn Maude. »Und Sarah ist ebenfalls schuldig, weil sie nicht an die Schuld ihrer Schwester glauben will.« Argall wartete auf der Straße auf Maude und Andrew. »Ich will nicht viele Worte machen«, sagte er. »Andrew, der Rat der Kirchenältesten hat mich ermächtigt, Ihnen mitzuteilen, daß Sie nicht länger benötigt werden. Sie dürfen aber weiter in dem Haus leben, bis Sie eine andere Stellung gefunden haben.« »Du kannst bei mir wohnen«, sagte Maude hastig. 263
Andrew wurde verlegen. »Ist das alles?« fragte er. »Vorläufig«, entgegnete Argall. »Über die Details können wir ein andermal sprechen, Sie bleiben ja noch in Salem.« Er wandte sich ab, Andrew hielt ihn zurück. »Einen Augenblick«, sagte er. »Ich habe Ihnen auch etwas mitzuteilen. Argall, wenn Sie je sich wieder in mein Leben mischen gleichgültig wie, dann werde ich Sie so behandeln, daß Sie wünschen, nicht geboren zu sein. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?« Argall würgte und sagte nichts. »Ich meine, was ich sage«, erklärte Andrew. »Vergessen Sie es nicht! Und jetzt verschwinden Sie, bevor ich es mir anders überlege.« Argall stieß einen Wutschrei aus und riß die Fäuste hoch, doch Andrew war darauf vorbereitet. Er rammte Argall ein Knie in den Bauch. Argall ächzte und klappte zusammen. Die Kirchgänger hatten auf den Zwischenfall nicht 264
geachtet, aber nun wurden sie aufmerksam. Sie bildeten einen Kreis und gafften. »Jemand muß sich um ihn kümmern«, sagte Andrew kalt. »Er leidet an Epilepsie.« Er faßte nach Maudes Hand, und sie drängten sich zwischen den Zuschauern hindurch. Maude war verwirrt, Andrew ärgerte sich. »Ich habe einen Fehler gemacht«, zischte er. »Ich hätte ihn mir ganz anders vornehmen sollen!« »Hättest… hättest du ihn töten können?« fragte Maude. »Ich hätte ihn so zurichten können, daß er am Leben verzweifelt«, sagte Andrew. »Dann hätte er sich selber umgebracht.« »Aber das darf er nicht!« wandte sie entsetzt ein. »Gott hat es verboten.« Er zuckte mit den Schultern. Sie gingen nebeneinander zur Farm. Maude grübelte. »Hast du dich je umbringen wollen?« fragte sie. 265
»Ja«, sagte er. »Ich habe die Schmerzen nicht mehr ausgehalten. Ich wollte tot sein.« »Du hattest Angst, Selbstmord zu begehen…« »Nein«, sagte er. »Ich war gefesselt. Ich hatte Glück, ich habe überlebt.« »Ja«, sagte sie leise. »Gott hat dir geholfen.« Montag, 4. April 1692: Heute haben Jonathan Wolcott und Nathaniel Ingersoll Haftbefehle gegen Sarah Cloyce und Elizabeth Proctor, die Frau John Proctors, beantragt. In sieben Tagen sollen die beiden Frauen verhört werden. Wahrscheinlich werden einige zusätzliche Magistratsbeamte Jonathan Corwin und John Hathorne unterstützen, unter anderen Samuel Sewall und Thomas Danforth, der Hilfsgouverneur der Kolonie, der dabei präsidieren soll. Wie ich bei Gesprächen herausgehört habe, sind viele Leute in Salem der Meinung, daß Rebecca Nurse und ihr gesamter Anhang, zu dem auch Sarah Cloyce gezählt wird, es zu sehr 266
an christlicher Demut mangeln lassen und deswegen eine Lektion verdient haben, zugleich jedoch sind die Nurses mit Zerbul Endicott zerstritten. Es geht dabei um ein Stück Land, das beide Parteien beanspruchen, und Endicott ist offensichtlich mächtiger oder mindestens gerissener als die Nurses. Elizabeth Proctor ist von ihrem Dienstmädchen Mary Warren angezeigt worden, und Mary Warren ist, wie es heißt, in John Proctor verliebt. Diese Ereignisse lassen darauf schließen, daß Parris seine Marionetten aus den Fingern geglitten sind und ein Eigenleben entwickeln, mit dem er gewiß nicht gerechnet hat. Wie ich mittlerweile weiß, bestehen enge Bindungen zwischen Parris und der älteren Ann Putnam, deren Tochter immerhin geholfen hat, die Lawine auszulösen. Nach allem, was Maude und Crenshaw mir über die ältere Ann Putnam mitgeteilt haben, ist sie eine Hysterikerin mit stark paranoidem Einschlag. Die kürzliche 267
Fehlgeburt scheint ihre Neigung, in einer Phantasiewelt zu leben, noch gesteigert zu haben. Zwei männliche Mitglieder der PutnamFamilie, Jonathan und Edward, haben seinerzeit die Verhaftung der kleinen Dorcas Good veranlaßt, nach meiner Ansicht im Auftrag eines Dritten, der ausreichend intelligent war um zu begreifen, daß Rebecca Nurses Schicksal müheloser zu besiegeln war, wenn eine geständige Hexe gegen sie aussagte. Daß die angebliche Hexe erst vier Jahre alt ist, scheint niemanden zu stören. Gerüchte behaupten, daß die nächsten Verhöre in der Stadt Salem stattfinden sollen, weil das dortige Versammlungshaus geräumiger ist und eine Menge Zuschauer erwartet werden. Ich möchte am liebsten nicht hingehen, doch Crenshaw meint, unsere Anwesenheit wäre für John Proctor eine moralische Stütze. Möglicherweise werde ich also doch an der Verhandlung teilnehmen, obwohl ich weder Proctor 268
noch sonst jemand helfen kann. Aber wenigstens moralischen Beistand müssen die Opfer und muß Proctor mir wert sein. Maude ist übrigens ziemlich einsilbig geworden. Nach wie vor ist sie zwar davon überzeugt, daß es Hexen gibt und man sich ihrer erwehren muß, aber Mary Warrens Verhalten war für sie ein Schock. Sie findet es ungehörig, daß ein Dienstmädchen die Herrin beschuldigt. Maude fühlte sich elend, die Schwangerschaft machte ihr zu schaffen. Sie übergab sich häufig und versank in Melancholie. Außerdem entwickelte sie Launen, die Andrew bisher nicht an ihr gekannt hatte, und schließlich redete sie sich ein, daß sie das Kind nur als Leiche geboren würde, und falls es wirklich lebte, war es bestimmt entsetzlich deformiert. Sie teilte Andrew ihre Überlegungen mit. »Das ist ein Zeichen«, belehrte sie ihn. »Gott zürnt.« Andrew begriff nicht. 269
»Wieso ein Zeichen?« fragte er. »Warum sollte Gott ärgerlich sein?« »Ich habe das Kind in Sünde empfangen«, sagte sie heftig. Sie schluchzte. »In Sünde…!« Er versuchte sie zu beruhigen, und nach einer Weile gelang es ihm. Sie trocknete ihre Tränen und erzählte, daß sie schon einmal ein Kind tot geboren hatte. »Ich bin mit siebzehn Jahren nach Selm gekommen«, erklärte sie. »Eigentlich stamme ich aus Beverly. Ich habe meinen Mann kennengelernt und geheiratet, und zwei Jahre später… zwei Jahre später…« »Du mußt nicht darüber sprechen«, sagte er. »Mich geht es nichts an.« »Aber das Kind war doch tot!« sagte sie. »Na und?« sagte er. »Ich wollte das Kind nicht«, sagte sie leise. »Gott möge mir verzeihen, aber ich wollte kein Kind von John unter meinem Herzen, ich wollte kein Kind von ihm an meiner Brust.« 270
»Warum nicht? Du hattest ihn doch geheiratet!« »Ich habe nichts gewußt.« Sie weinte wieder. »In der Hochzeitsnacht ist er zu mir gekommen, und ich habe nicht geahnt, was er von mir will. Ich habe mich gewehrt und er hat mich verprügelt. Er ist über mich hergefallen. Später habe ich ihn gewähren lassen. Ich habe unter ihm gelegen und die Fäuste geballt und das Gesicht zur Seite gedreht.« »Was soll man dazu sagen…« Andrew zuckte mit den Schultern. »Man hätte dich aufklären müssen. Was hast du dir gedacht, wozu er dich geheiratet hat?« »In allem anderen war er ein guter Mann.« Sie hatte nicht zugehört. »In dieser Beziehung nicht. Er hat mich immer wieder gezwungen.« Danach wich Andrew solchen Gesprächen aus, er lehnte auch ab, sich über ihre Beziehungen zu dem echten Roger Andrew zu unterhalten. Aber Maudes Launen und ihre Niederge271
schlagenheit steckten ihn allmählich an. Er schlief miserabel und träumte nahezu regelmäßig von dem Mann, dessen Gesicht er nicht kannte. Manchmal erlebte er die Mißhandlung im Gefängnis im Traum wieder und erwachte schreiend und verschwitzt. In der Nacht nach der Verhaftung von Sarah Cloyce und Elizabeth Proctor hatte er zum erstenmal das Gefühl, daß er beobachtet wurde. Er und Maude lagen nackt im Bett. Auf dem Kaminsims brannte eine einsame Kerze, das Feuer war erloschen. Die Luft war angenehm warm, und irgendwo in der Ferne quakten Frösche. Er streichelte Maudes Brüste. Sie hatte die Augen geschlossen und küßte ihn. »Komm«, flüsterte sie nach einer Weile. »Ich will dich in mir spüren.« Er wälzte sich über sie; im selben Augenblick hatte er den Eindruck, mit Maude nicht allein zu sein. Er spähte über die Schulter zum Fenster, aber da war niemand. 272
»Was ist mit dir?« fragte Maude. »Nichts«, sagte er. »Ich habe gedacht, ich hätte was gehört.« Sie war mit der Antwort zufrieden, aber er war tief beunruhigt und wurde diese Unruhe nicht mehr los. Als er am nächsten Tag nach Salem ging, hatte er plötzlich wieder das Gefühl, belauert zu werden. Weit und breit war weder Mensch noch Tier in Sicht, trotzdem ließ das Gefühl sich nicht abschütteln. Andrew versuchte es sich mit der allgemeinen Hysterie, die über Salem lag, zu erklären. Wo jedermann Hexen und Geister witterte, mußte auch ein vernünftiges Gehirn früher oder später Schaden nehmen. Parris hatte abermals eine flammende Rede gehalten und verkündet, nach wie vor gäbe es Ministranten des Teufels im Dorf, und kaum jemand zweifelte daran, daß man sie finden und zerstören mußte, zugleich hatte jedermann Angst, selbst bezichtigt zu werden. Andrew war davon überzeugt, daß sein Syn273
drom erlöschen würde, sobald die Hexenjagd zu Ende war. Aber es kostete ihn nicht wenig Energie, mit Maude nicht über seine Erscheinungen, wie er sich in langen Monologen ausdrückte, zu sprechen und sich zu erkundigen, ob sie ähnliche Erscheinungen hatte. Vier Tage später kam sie von sich aus auf dieses Thema zu sprechen. Sie waren in Maudes Küche und wuschen ab. »Ich weiß, es ist albern«, sagte sie unsicher, »aber ich habe so eine Ahnung, daß jemand mir zusieht…« Er bestätigte, daß diese Ahnung in der Tat albern war. Doch ihm war nicht wohl dabei. »Ist es dir auch schon mal so ergangen?« fragte sie. »Jedem ist es schon mal so ergangen«, sagte er. Später im Schlafzimmer kam Maude noch einmal darauf zurück.
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»Mir ist, als ob Augen mich anstarren«, sagte sie. »Ob ein Geist bei uns ist?« Er antwortete nicht, aber plötzlich fröstelte er. Er erkundigte sich, ob er im Kamin Feuer machen sollte. »Ja«, sagte sie leise. »Nachts ist es manchmal noch ziemlich kühl.« Er hantierte am Kamin. »Es gibt keine Geister«, sagte er nach einer Weile. »Du hast keinen Grund, dich zu fürchten.« Er wandte sich zu ihr um und sah, daß sie sich entsetzlich fürchtete. Er ging zu ihr und nahm sie in die Arme, aber ihre Angst blieb. Montag, 11. April 1692: Ich komme eben von der Verhandlung in der Stadt Salem. John Indian war der Hauptbelastungszeuge gegen die beiden Frauen, und John Indian ist immerhin Reverend Parris’ Sklave und Titubas Ehemann, er ist also als Zeuge ganz und gar nicht qualifi275
ziert, weil mehr oder weniger Partei, aber auf solche Feinheiten nimmt man hier keine Rücksicht. Hathorne wollte von ihm wissen, was Sarah Cloyce ihm angetan hätte, und John hat erklärt, sie hätte ihm das Teufelsbuch zur Unterschrift vorgelegt. Als er sich weigerte, hat sie angeblich versucht, ihn zu erdrosseln. »Wann soll das gewesen sein?« fragte ihn Sarah Cloyce. »Oft«, sagte John. »Du bist ein niederträchtiger Lügner«, sagte die Frau. Hathorne wandte dann seine Aufmerksamkeit Elizabeth Proctor zu. Mary Warren war nicht erschienen. »Elizabeth Proctor«, sagte Hathorne, »ist Ihnen bewußt, daß Sie als Hexe angeklagt sind? Sprechen Sie die Wahrheit, denn Sie werden sich vor Gott zu verantworten haben!« Elizabeth schwieg, sie suchte nach Worten, und Hathorne rief Mary Wolcott als Zeugin 276
auf. Er wollte wissen, wann und wie oft Elizabeth ihr Schmerzen zugefügt hätte. »Ich habe nie gesehen, daß sie mir Schmerzen zugefügt hat«, sagte Mary Wolcott. »Mercy Lewis«, sagte Hathorne, »hat Elizabeth Proctor dir Schmerzen zugefügt?« Das Mädchen schwieg. Hathorne befragte sämtliche besessenen Mädchen, und keins von ihnen bezichtigte Elizabeth. Daher nahm Hathorne sich noch einmal John Indian vor und stellte ihm die gleiche Frage. »Sie ist als Geist zu mir gekommen«, sagte John. »Sie hat mich gewürgt.« »Hatte sie ebenfalls das Buch dabei?« erkundigte sich Hathorne. »Ja, Sir.« Hathorne rief abermals Abigail und Ann Putnam auf. Die Mädchen sagten nichts. Hathorne fixierte Elizabeth Proctor. »Sie haben alles gehört«, sagte er. »Was haben Sie zu erwidern?« 277
»Gott ist mein Zeuge!« jammerte Elizabeth. »Ich weiß von nichts, ich bin unschuldig wie ein ungeborenes Kind!« Hathorne befragte zum drittenmal die Mädchen, und diesmal spien sie einen Schwall Beschuldigungen aus. Abigail und Ann Putnam versuchten einander zu übertreffen und gerieten sich darüber in die Haare. In diesem Augenblick mischte sich John Proctor ein. Er stellte sich neben seine Frau und schrie, die Mädchen allein wären schuldig, weil sie mit ihren Lügen so viel Unheil heraufbeschwörten. »Dieser Schuft!« kreischte Abigail Williams. »Er kneift uns genauso brutal wie seine Frau!« Ein Getümmel brach aus, und als es vorbei war, wurden John Proctor und Elizabeth und die beiden anderen Frauen ins Gefängnis nach Boston abtransportiert. Ich habe über diesen Auftritt lange nachgedacht und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß John Indian, Abigail Williams und Ann Putnam nur gegen Eliza278
beth ausgesagt haben, um John Proctor zu provozieren. Wieder ist also die Allianz zwischen Parris und seinen Kreaturen und den Putnams aktiv, während die übrigen Mädchen nur dem Beispiel von Ann und Abigail folgen. Proctor mußte dem Reverend lästig sein, denn immerhin war er gewissermaßen der Wortführer der kleinen Gruppe, die skeptisch geblieben war. Bemerkenswert scheint mir, wie Mary Wolcott mit Abigail zusammenarbeitete. Was immer Abigail vorzubringen hatte, Mary Wolcott bestätigte es. Mary Wolcott ist bekanntlich Mary Selbys Nichte, und Mary Selby hat Tituba auf den Gedanken gebracht, den Hexenkuchen zu backen, wofür sie, Mary Selby, von Parris tüchtig ausgescholten wurde. »Wir müssen uns schämen«, sagte Crenshaw auf dem Heimweg. »Keiner von uns hat ein Wort für John Proctor eingelegt.« »Hätte es etwas genützt?«
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Er schüttelte stumm den Kopf. Wir schwiegen, bis wir in Sichtweite des Dorfs waren. »Schulmeister«, sagte er dann, »warum bleiben Sie hier, obwohl Sie keine Stellung mehr haben?« »Maude«, antwortete ich prompt. »Wir werden heiraten.« »Ich gebe Ihnen einen Rat«, sagte er. »Sie soll die Farm verkaufen. Gehen Sie mit ihr nach Boston oder nach New York.« »Argall?« Er nickte. Wir verabschiedeten uns vor Ingersolls Ordinary. Ich hätte gern noch mit ihm ein Bier getrunken, aber ich wollte diesen Bericht niederschreiben, so lange meine Erinnerung noch frisch war. Da fällt mir ein, daß ich etwas vergessen habe. Bei der Auseinandersetzung zwischen Elizabeth Proctor und Abigail beschuldigte diese Mary Warren, sich ebenfalls in das Buch des Teufels eingetragen zu haben.
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Diese Anschuldigung ist verdächtig. Warum stellen sich die Mädchen plötzlich gegen ihre Komplicin? Aber vielleicht stellt Mary Warren sich gegen sie, ihr Fehlen beim Prozeß könnte ein Indiz dafür sein… Dienstag, 19. April 1692: Heute ist Mary Warren in Salem Village von Hathorne und Corwin vernommen worden. Sie versuchte ihre Anzeige gegen Elizabeth Proctor zurückzuziehen, und erklärte, die übrigen Mädchen hätten gelogen und wären weder verhext noch besessen. Die beiden Magistratsbeamten glaubten ihr nicht, und die übrigen Mädchen verdrehten unverzüglich die Augen, bellten und stöhnten. Hathorne ordnete an, Mary Warren vor Gericht zu bringen. Sie wurde festgenommen und auf einem Wagen nach Boston transportiert. Mary Warren ist das einzige dieser Mädchen, das sich doch noch dazu durchgerungen hat, die Wahrheit zu sagen, und dafür wird man sie als Hexe anklagen. Mit dieser Art Justiz bin ich 281
bis zum Überdruß vertraut. Sie ist nicht blind, aber sie sieht nur, was sie sehen möchte. Hier will sie Hexen sehen, in meiner Zeit wollte sie Staatsfeinde sehen. Die Justiz dient ausschließlich dem, der sie beherrscht. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber bitter. Andrew und Crenshaw saßen an einem Tisch in der Nähe eines offenen Fensters in Ingersolls Ordinary. Jetzt am späten Nachmittag war die Gaststube beinahe leer. Vor dem Haus spielten Kinder, Andrew beobachtete sie. Sie waren Miniaturausgaben ihrer Eltern, und wie ihre Eltern schienen sie das Leben als Qual zu empfinden. Allerdings waren die Jungen weniger verbiestert als die Mädchen, die von den Erwachsenen noch strenger behandelt wurden. »Ob sie schon begreifen, was in diesem Dorf geschieht?« meinte Andrew und deutete auf die Kinder.
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»Sie werden wissen, daß Salem von Hexen bedroht ist«, sagte Crenshaw und lachte unangenehm. »Ja«, sagte Andrew. Er trank einen Schluck Bier. »Wie sollten sie nicht…« »Haben Sie mit Maude schon über meinen Vorschlag gesprochen, Salem zu verlassen?« »Noch nicht. Ich warte auf eine günstige Gelegenheit.« »Ich würde einen guten Preis für die Farm bezahlen«, sagte Crenshaw. »Sie könnten mit Maude nach Maine gehen, dort kommen Sie doch her…« »Ja.« Andrew lächelte. »Aber ich gehe nicht wieder hin.« »Wie wäre es mit – wie haben Sie gesagt? –, ja, Antarctica. Wo ist das übrigens? Doch wohl nicht in New England!« »Nicht in New England«, sagte Andrew. Er hatte gehofft, daß Crenshaw das Thema längst
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vergessen hatte. »Das ist kein Ort für eine Frau.« »Sie waren schon mal da?« »Ja, ich war da.« »Offenbar möchten Sie nicht darüber reden«, sagte Crenshaw. Andrew blickte wieder zu den Kindern. Ein gelbhaariger, struppiger Junge teilte etwas aus, die anderen begannen, darauf herumzukauen. »Wo ist Antarctica?« »Am Ende der Welt.« Draußen ging einer der Jungen in die Knie und lief blaurot an, die übrigen Kinder glotzten. Andrew schwang sich durchs Fenster und rannte zu dem Jungen. Dessen Gesicht war tränenüberströmt, er hämmerte mit beiden Fäusten auf die Erde und hustete krampfhaft. Ein paar Männer und Frauen kamen näher und sahen ergeben dem Jungen bei seinem Todeskampf zu.
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»Nehmen Sie seine Beine«, sagte Andrew hastig zu einem der Männer. »Helfen Sie mir, ihn in mein Haus zu tragen!« Der Mann stand wie angewurzelt. Andrew lud sich den Jungen auf die Arme, lief zu seinem Haus, trat die Tür auf und setzte den Jungen auf den Tisch. Die Gaffer trotten hinterher. »Jemand muß seine Arme und Beine festhalten«, sagte Andrew. »Ein anderer muß mir leuchten.« »Was haben Sie vor?« erkundigte sich einer der Gaffer. »Ich will ihm das Leben retten. Wer von euch möchte mir dabei helfen?« Zwei Männer packten den Jungen, ein dritter hielt die Lampe. Andrew kramte die Arzttasche aus dem Versteck, er spähte kurz zu den Leuten, die in sein Haus geeilt waren. Er ahnte, was auf ihn zukommen würde, ob es ihm nun gelang, dem Jungen zu helfen, oder nicht. Er fischte ein Skalpell aus der Tasche. 285
»Er wird ihn aufschneiden!« schrie eine Frau. »Ich will dafür sorgen, daß er wieder atmen kann.« Andrew beugte sich über den Jungen. »Ich brauche ein Tuch, eine der Frauen soll mir ihre Schürze geben.« Der Junge würgte, er krümmte sich vor Anstrengung, Luft in die Lunge zu pumpen. Andrew tastete nach den hufeisenförmigen Knorpelringen der Luftröhre. Hinter ihm wurde getuschelt, er hörte, daß der Junge Thomas Haines hieß. Der Junge hatte nicht zu seinen Schülern gehört. Er zog mit der linken Hand die Haut am Hals des Jungen straff und schnitt mit der Spitze des Skalpells bis herunter zum Brustbein. »Er soll aufhören!« kreischte eine Frau. »Um Gottes Willen, er bringt meinen Sohn um!« Der Einschnitt füllte sich mit Blut. »Jemand muß das Blut abwischen«, sagte Andrew nach rückwärts. »Ich kann nichts mehr sehen.« 286
Eine der Frauen reichte ihm zaghaft ihre Schürze. Andrew tupfte das Blut ab, während der Junge sich bäumte und gegen die Hände kämpfte, die ihn bändigen wollten. Sobald die Verengung des Schildknorpels freigelegt war, drückte Andrew sie nach oben, kam so an die Luftröhre heran und öffnete sie mit einem raschen Schnitt. Der Junge stellte den Kampf ein und atmete pfeifend. Andrew zwang ihm die Zähne auseinander und holte einen mächtigen Mehlkloß aus seinem Schlund. »Das war’s«, sagte er und schleuderte den Kloß in den Kamin. »Daran wäre er beinahe erstickt.« Die Zuschauer schwiegen, sogar die Mutter des Jungen war verstummt. Andrew füllte eine Injektionsspritze mit einem Antibiotikum und jagte sie dem Jungen in den Arm, sprühte ein Betäubungsmittel in die Umgebung der Wunde und verschloß sorgfältig den Einschnitt.
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»Er wird keine Infektion bekommen«, sagte er zu dem Umstehenden, als wäre er ihnen eine Erklärung schuldig; und zu dem Jungen: »In einigen Tagen bist du wieder so gut wie neu. Wenn deine Mutter mit dir zu Hause ist, legst du dich ins Bett. Dein Hals wird noch eine Weile weh tun, und du solltest so wenig wie möglich sprechen.« Er injizierte dem Jungen noch ein Beruhigungsmittel und wandte sich an die Mutter des Jungen. Sie stand einen Schritt vor den übrigen Zuschauern und starrte ihn verständnislos an. »Suppe und Tee«, sagte er. »Keine festen Speisen.« Sie nickte. »Wird… wird er überleben?« fragte sie heiser. »Ja«, sagte Andrew, »er wird überleben.« Ein kleiner, drahtiger Mann zwängte sich durch die Menge an der Tür und sah sich verwirrt um. »Mein Sohn!« rief er. »Wo ist mein Sohn?« 288
»Luke«, sagte seine Frau, »Luke, der Schulmeister hat ihn gerettet!« Haines trat zum Tisch. »Er hat versucht, einen ganzen Mehlkloß zu verschlingen«, erläuterte Andrew. »Dabei kann man ersticken«, meinte Haines. »Wenn man so was nicht rausbringt, muß man ersticken.« »Er hat ihm den Hals aufgeschnitten«, sagte einer der Männer. Haines betrachtete seinen Sohn, der mittlerweile eingeschlafen war. Andrew ging zu ihm und deutete auf die Wunde. »Durch den Einschnitt konnte er wieder atmen«, sagte er. »Dann hab ich ihm den Kloß aus dem Hals geholt. Nehmen Sie ihn jetzt mit. Wenn Sie wollen, kann ich später noch einmal nach ihm sehen.« »Er ist mein einziges Kind«, sagte Haines leise. »Dem Herrn hat es nicht gefallen, uns mehr Kinder zu schenken. Ich weiß nicht, wie Sie es 289
gemacht haben, aber ich bin Ihnen dankbar. Meine Tür wird für Sie immer offen sein, und ich werde die Nahrung, die der Herr mir beschert, immer mit Ihnen teilen.« Er nahm den Jungen auf die Arme und trug ihn hinaus, seine Frau folgte. Andrew dankte den drei Männern und der Frau, die ihm geholfen hatten, und schickte sie fort. Er kochte die Instrumente aus, packte sie ein und trat vor die Tür, wo Crenshaw auf ihn wartete. »Ich bin schon informiert«, sagte Crenshaw. »Der Schulmeister, den ich gekannt habe, wäre dazu nicht fähig gewesen, aber er war auch nur ein Schulmeister.« »Was soll ich Ihnen darauf antworten…?« fragte Andrew rhetorisch. »Ich weiß es nicht. Aber ich war immer mißtrauisch.« »Ich habe es geahnt«, sagte Andrew. »Ich war mißtrauisch, daß Sie vielleicht mißtrauisch sein würden.« 290
Crenshaw lachte herzlich. Sie gingen in die Richtung zu Maudes Farm, und die Leute auf der Straße starrten ihnen nach und tuschelten wieder. »Sie wollen mir wohl nicht verraten, wer und was Sie sind?« meinte Crenshaw. »Nein«, sagte Andrew. »Oder woher Sie kommen…« »Nein.« Crenshaw war nicht gekränkt. Er begleitete Andrew bis zum Hathorne’s Hill und kehrte um. Maude stand am Tor. Andrew legte ihr einen Arm um die Schultern und ging mit ihr zum Haus. In der Küche roch es nach frischgebackenem Brot und gebratenem Fleisch; der Tisch im Zimmer war schon gedeckt. »Du kommst spät«, sagte Maude. »Ich habe mir Sorgen gemacht.« »Dazu bestand kein Grund«, sagte Andrew. Er betrachtete sie beim Schein der Kerzen, die
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in einem silbernen Leuchter flackerten. »Du siehst besser aus als in den letzten Tagen.« »Es liegt an der Beleuchtung.« Sie lachte und brachte das Essen und setzte sich Andrew gegenüber. »Was hast du den ganzen Tag gemacht?« Unsicher berichtete er, was er getan hatte. Maude ließ das Besteck sinken, sie war kalkweiß geworden. »Das ist das Ende!« flüsterte sie. »Andrew, du hast dich selber ausgeliefert…« »Ich hatte keine andere Wahl«, entgegnete er, »ich konnte nicht dabeistehen und den Jungen einfach sterben lassen!« Sie nickte, aber sie hatte Tränen in den Augen. Andrew hörte den Wagen zuerst. Er ging zur Tür und stieß sie auf. Ein bleicher Vollmond schwebte über den Bäumen, die Luft war erfüllt
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vom Duft umgepflügter Erde. Wilkes und seine Frau waren bereits unterwegs zum Tor. »Sie wollen mich holen«, sagte Andrew. »Jetzt schon?« Maude trat neben ihn. Er nahm seinen Mantel vom Haken und zog ihn an. Der Wagen holperte zum Haus, auf dem Bock saßen zwei Männer. Einer hielt die Zügel, der andere eine Muskete. Wilkes und seine Frau liefen hinter dem Wagen her. »Das ist er!« schrie Wilkes und deutete auf Andrew. »Und die Schlampe, die bei ihm steht, ist die Witwe Bowin, ihr gehört die Farm.« Der Wagen hielt, und der Mann mit der Muskete zielte auf Andrew. »Ich muß euch mitnehmen«, sagte der Mann mit den Zügeln. »Beide. Ihr seid verhaftet.« »Was wird uns vorgeworfen?« fragte Andrew. »Hexerei«, sagte der Mann. »Also die Operation«, sagte Andrew. »Aber daran war sie nicht beteiligt, sie war gar nicht im Dorf!« 293
»Ich habe selber gesehen, wie sie Karten gelegt hat!« rief Wilkes und lachte hämisch. »Ich habe noch viel mehr gesehen!« »Eine anständige Frau macht so was nicht«, erklärte Wilkes’ Frau. »Und Susanna in Ingersolls Ordinary sagt, die Witwe Bowin ist nachts zu ihr gekommen und hat sie gezwickt.« Von der Straße galoppierten zwei Reiter heran und zügelten vor dem Haus. Auch sie waren mit Musketen bewaffnet. »Wilkes«, sagte der Fahrer, »auf dem Wagen sind Hand- und Fußeisen. Fesseln Sie den Mann, Ihre Frau soll die Witwe Bowin fesseln.« Wilkes und seine Frau kamen dem Auftrag mit offenkundigem Vergnügen nach. Die Reiter stiegen ab und halfen Maude und Andrew auf den Wagen, sie begleiteten das Fahrzeug zum Gefängnis in Ipswich. Andrew und Maude wurden in getrennte Zellen gesperrt, er gleich neben der Tür, sie am Ende eines langen Korridors. 294
Das Gefängnis stank nach Schweiß und Urin und ranzigem Fett. Bis auf eine Kerze, die auf dem Tisch des Aufsehers flackerte, war es stockfinster. Hoch in den Mauern waren einige vergitterte Fenster. Andrew warf sich auf einen Strohhaufen in einer Ecke seiner Zelle. Er war ausgepumpt und schlief sofort ein. Wieder träumte er von dem Mann, dessen Gesicht er nicht kannte, aber diesmal war der Traum nicht störend. Andrew wurde erst wach, als die Sonne auf ihn schien. Er versuchte zu analysieren, wieso der Traum ihn diesmal weniger beunruhigt hatte als sonst. Er kam zu dem Ergebnis, daß die Wirklichkeit inzwischen zu unerfreulich geworden war. Träume konnten ihn nicht mehr erschrecken. An die Verhafteten wurden Brot und Tee ausgeteilt. Später wurden einige Zellen aufgeschlossen, die Gefangenen wurden zum Versammlungshaus in Salem getrieben. Maude ge-
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hörte zu ihnen. Andrew rief sie an, als sie an ihm vorüberging, aber sie blickte nicht auf. Stunden später kamen etliche der Gefangenen zurück; diesmal war Maude nicht dabei. Andrew fragte nach ihr, niemand gab ihm Auskunft. Andrew wandte sich an den Aufseher. »Sie ist auf dem Weg nach Boston«, erklärte der Aufseher. »Sie sollten sich nicht um die Frau, sondern um sich selber Sorgen machen!« Andrew sackte wieder auf den Strohhaufen. Der Aufseher blieb an der Gittertür stehen und feixte. »Ich habe noch was gehört«, sagte er. »Die Frau hat den Verstand verloren!« Andrew sprang auf. »Ja, da wird man munter«, sagte der Mann gemütlich. »Aber mehr werden Sie von mir nicht erfahren.« Andrew stand im Versammlungshaus in Salem Village, und die Nachmittagssonne drang 296
durch die Fenster und blendete ihn. Hathorne, Corwin und der Schreiber waren nicht mehr als dunkle Schemen an einem schemenhaften Tisch, und die angeblich besessenen Mädchen und das Publikum waren noch weniger als Schemen. »Schulmeister Andrew«, sagte Hathorne, »sind Sie ein Ministrant des Satans?« »Nein«, sagte Andrew. »Aber durch welche Zauberformeln ist es Ihnen gelungen, den Hals des Kindes…« »Keine Zauberformeln. Dazu braucht man nur etwas Geschicklichkeit.« »Ich mache Sie darauf aufmerksam«, sagte Hathorne scharf, »daß ich keine Unterbrechungen dulde! Sie haben lediglich die Fragen zu beantworten, die dieses Gericht Ihnen stellt!« »Ihre Fragen sind absurd«, sagte Andrew.
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Das Publikum redete aufgeregt durcheinander. Corwin schwang den Hammer. Hathorne wartete, bis es wieder still war. »Haben Sie einen Pakt mit dem Teufel?« wollte er wissen. »Ich ermahne Sie dringend, sich an die Wahrheit zu halten, damit Sie nicht vor Gottes Gericht nach Abschluß Ihrer irdischen Tage schuldig befunden werden.« Andrew trat aus der Sonne und blickte zu den Zuschauern. Die meisten Gesichter kannte er, einige waren fremd. Er entdeckte Argall und Crenshaw. »Antworten Sie!« schrie Hathorne. »Ich habe keinen Pakt mit dem Teufel.« »Kennen Sie sich mit okkulten Wissenschaften aus?« »Nein.« »Und diese Tasche«, sagte Hathorne triumphierend und deutete auf Andrews schwarze Tasche, die vor ihm auf dem Tisch lag, »sie gehört wohl auch nicht Ihnen?« 298
Andrew überlegte, daß der Magistrat gewiß nicht nur die Arzttasche, sondern auch das Tagebuch entdeckt hatte. Er, Andrew, war nicht auf den Gedanken gekommen, das Buch an einem anderen Platz zu verstecken, auch nach der Operation nicht. Dieser Mangel an Vorsicht war sicher nicht nur eine Nachlässigkeit; im Unterbewußtsein hatte er offenbar gewünscht, daß sein Buch gefunden wurde. Aber warum? »Sie sieht aus wie meine Tasche«, antwortete er. Die Mädchen stöhnten und wimmerten, Abigail jammerte, Andrew wäre mitten unter ihnen. Hathorne befahl Andrew, sein teuflisches Spiel unverzüglich einzustellen. »Sehen Sie nicht, daß ich vor Ihnen stehe?!« brüllte Andrew. »Aber Ihr Geist ist bei den Mädchen!« schrie Hathorne.
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Wieder einmal brach unter den Zuschauern Getümmel aus. Männer grölten durcheinander und drohten mit den Fäusten, die Frauen weinten. »Er versucht mir zwischen die Beine zu greifen!« kreischte Mercy Lewis. »Aber ich erlaube es ihm nicht, Gott ist mein Zeuge!« Corwin schwang seinen Hammer. Allmählich kehrte wieder Ruhe ein. Corwin drohte, Andrew in Eisen zu legen, daß sein Geist nicht mehr fähig sein würde, die Mädchen oder andere Menschen zu belästigen. »Mein Geist tut ihnen nichts«, erklärte Andrew. »Wenn sie überhaupt leiden, dann an ihrer eigenen Bosheit.« »Ich habe ihn mit dem schwarzen Buch gesehen!« rief Ann Putnam. »Er ist der Mann im schwarzen Anzug!« behauptete Mary Wolcott. »Er ist aus Boston gekommen!«
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»Haben Sie dazu etwas zu sagen?« erkundigte sich Hathorne. »Ich bin aus Maine«, sagte Andrew. »Das haben Sie uns bereits mitgeteilt, aber Sie haben uns ziemlich viel mitgeteilt, das wir jetzt untersuchen sollen.« Hathorne zeigte auf die Arzttasche. »Die Instrumente in diesem Beutel verleihen Ihnen die Macht, Gott Menschen wegzunehmen, die er in seinem unerforschlichen Ratschluß zu sich gerufen hat!« »Falls Sie meinen, daß ich unter gewissen Umständen einem Menschen das Leben retten kann«, sagte Andrew, »dann haben Sie recht.« »Sie bekennen also, über teuflische Fähigkeiten zu verfügen!« »Ich verfüge nur über eine gewisse Geschicklichkeit.« »Woher haben Sie diese Geschicklichkeit?« »Ich bin Chirurg.«
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Abermals Geschrei im Saal, abermals Hammerschläge, abermals Stille. Hathorne lauerte. Er schien seiner Sache sehr sicher zu sein. »Ich denke, Sie sind Schulmeister«, sagte er. Andrew schwieg. »Nein, Sie sind kein Schulmeister.« Hathorne beantwortete seine Frage selbst. »Wir sind im Besitz eines Tagebuchs, aus dem hervorgeht, wer Sie sind. Sie sind ein gewisser Paul Klee!« »Ich bin Roger Andrew«, entgegnete Andrew. »Zugleich bin ich Paul Klee.« »Aber wir alle kennen Roger Andrew!« Hathorne hatte das Tagebuch aus der Tasche genommen und aufgeschlagen. Jetzt klappte er es dramatisch zu. »Sie sind ein Dämon, der die Gestalt eines anderen Menschen angenommen hat, um das Werk des Teufels zu verrichten! Sie kommen auch nicht aus Maine. Woher kommen Sie wirklich?« »Wenn Sie das Tagebuch gelesen haben, wissen Sie, woher ich komme.« 302
»Trotzdem.« Hathorne lächelte. »Sagen Sie es uns.« »Ich komme aus der United Territorial Federation.« »Und wo liegt dieser Staat?« »Hier.« »Hier liegt Salem!« »Im Jahr 2150 liegt hier ein mächtiger Staat.« »Im Jahr 2150!« wiederholte Hathorne mit Genuß. Er kam um den Tisch herum und fixierte Andrew. »Glauben Sie an den lebendigen Gott?!« »Nein.« Die Zuschauer murrten, Corwin ließ sie gewähren. »Glauben Sie an den Teufel?« »Nein.« »Was ist mit der Hölle? Sie müssen doch an das ewige Feuer der Hölle glauben!« »Ich war in der Hölle«, sagte Andrew kalt. »Sie besteht aus Schnee und Eis und heulenden 303
Stürmen. Dort bringen Menschen grundlos einander um. Aber diese Hölle befindet sich auf der Erde, und sie hat weder mit Göttern noch mit Teufeln etwas zu tun. Sie ist das Werk der Menschen. Ich muß es wissen, denn ich war dort.« Den Zuschauern und den Männern vom Magistrat hatte es die Sprache verschlagen. Hathorne schluckte und wich zu seinem Tisch zurück. »Diese Hölle heißt Antarctica«, sagte Andrew, »aber sie ist nicht die einzige Hölle auf dieser Welt. Dieses Dorf ist mindestens ebenso höllisch, und dies sind die Dämonen!« Er zeigte auf die besessenen Mädchen. Die Mädchen kreischten. Corwin hämmerte um Ruhe. »Ich bin unschuldig!« schrie Andrew. »Ich habe kein Verbrechen begangen!« »Sie sind angeklagt!« schrie Hathorne. »Sie stehen vor einem Gericht des Staats!« 304
»Ich habe einen Verstand«, sagte Andrew, »ich kann denken. Ist das ein Verbrechen?« Die Mauern des Versammlungshauses zerfielen, Hathorne schien sich aufzulösen wie Nebel in der Sonne, und Paul Klee sah vor sich einen Mann in der grauen Richterrobe der Föderation. »Das Gericht hat Sie für schuldig befunden«, sagte der Mann. »Sie werden in das Institute for Psychological Reorientation eingewiesen.« Paul Klee öffnete die Augen und blickte auf zu Dr. Yancy, einem dünnen Mann mit Ziegenbart, einem schwammigen Gesicht, kleinen Augen und Himmelfahrtsnase. Neben ihm standen noch andere Ärzte in weißen Mänteln. »Beim nächstenmal lassen wir Sie hängen!« sagte Yancy und lächelte liebenswürdig. »Dann werden Sie verbrannt!« Klee sah sich in dem großen, weißgetünchten Saal um. In zwei langen Reihen waren Tische aufgestellt, und auf jedem Tisch lag ein Mann 305
oder eine Frau, an deren Köpfen eine Anzahl Elektroden befestigt waren. »Weiß er, daß wir ihn zurückgeholt haben?« fragte einer der Ärzte. »Die Symptome sprechen dafür«, sagte Yancy. »Er hat Tränen in den Augen.« »Und er ist der Mann der diese Behandlung erfunden und entwickelt hat?« meinte ein anderer Arzt. »Ja, sie trägt seinen Namen – Klee-Effekt«, sagte Yancy. »Mit dieser Kur wird jede Bestrafung überflüssig, häufig ist sogar eine Umerziehung gewährleistet. Wer mit seiner Epoche unzufrieden ist, wird mit einer anderen Epoche konfrontiert. Wer die Vergangenheit kennt, weiß die Gegenwart zu schätzen. Dabei geschieht eigentlich nichts! Alles spielt sich im Gehirn des Patienten ab. Wir füttern es mit Fakten, den Rest besorgt das Gehirn allein. In diesem Fall hat der Patient nicht nur das Schulhaus an einen anderen Platz gerückt, er 306
hat sogar im Traum ein Tagebuch geführt. Über einen Monitor können wir ständig kontrollieren, was er gerade erlebt.« »Und er merkt nichts davon?« »Vielleicht hat er manchmal das Gefühl, beobachtet zu werden«, sagte Yancy. »Einmal war es bestimmt der Fall, und zwar ausgerechnet, als er mit seiner imaginären Geliebten zusammen war.« »Bemerkenswert«, sagte einer der Ärzte. »So ist es«, sagte Yancy. »Klee war ein brillanter Mann mit einer beträchtlichen Phantasie.« »Was hat er angestellt?« »Er ist Dissident geworden«, erklärte Yancy. »Er und sein Assistent Dort haben angefangen, Bücher zu lesen.« »Was geschieht jetzt mit ihm?« erkundigte sich der Arzt, der Klees Methode bemerkenswert gefunden hatte. »Vielleicht lassen wir ihn alles noch einmal erleben«, sagte Yancy, »aber ich weiß nicht, ob 307
er es aushält. Seine Nerven sind in einem miserablen Zustand. Wenn mir die Gentlemen jetzt bitte folgen wollen – wir haben da ein paar Frauen, die eine Vergewaltigung erleben.« Yancy und die übrigen Ärzte verschwanden aus Klees Blickfeld. Er wandte den Kopf zur Seite und entdeckte Dort. Er atmete tief ein und flüsterte seinen Namen. ENDE
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