Joachim Nowotny
Hochwasser im Dorf
Leider keine Beschreibung verfügbar Kinderbuchverlag 1963 Dieses E-Book ist nicht z...
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Joachim Nowotny
Hochwasser im Dorf
Leider keine Beschreibung verfügbar Kinderbuchverlag 1963 Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Inhalt Der lange Bartel .................................................................. 3 Jemand pfeift über eine offene Bierflasche ....................... 13 Heino kämpft mit seinen Beinen....................................... 21 Die Großmutter lockt mit Weißwurstschnitten................. 29 Der kleine Belo wird mißtrauisch..................................... 39 Hubein-Schäfer flicht Zöpfe ............................................. 46 Heino verlangt Gerechtigkeit ............................................ 67 Der alte Hubein schlägt Alarm.......................................... 75
Der lange Bartel Der lange Bartel ärgert sich über die Ferien und die Stare. Heino träumt von einem gelbbäuchigen Tier. Alle wünschen sich ein großes Unglück Der lange Bartel läßt seine Schultasche einfach fallen. »Los«, hetzt er, »machen wir Ringkampf! Wer will die Jacke voll haben?« Wir sehen uns an. Der kleine Belo tritt von einem Bein auf das andere. Dann verdrückt er sich hinter meinem Rücken. Brocken-Theo aber winkelt die Arme an. Ein Weilchen umkreist er den Hetzer wie ein aufgeplusterter Truthahn. Auf einmal macht er einen Satz nach vorn. Er packt den langen Bartel um den Leib, hebt ihn hoch und läßt ihn dann fallen. Beide wälzen sich auf dem Boden. »Laß los«, stöhnt der lange Bartel, »ich hab keine Lust.« Komisch, auf einmal hat er keine Lust mehr. »Feigling!« ruft der kleine Belo hinter meinem Rücken. Nicht einmal das kann den langen Bartel heut erschüttern. Er bleibt ruhig auf dem grauen Februargras sitzen. »Ihr könnt mir's glauben, Leute«, sagt er, »ich hab einfach zu nichts mehr Lust. Die Sache mit dem Ringkampf war bloß so ein plötzlicher Einfall. Aber sonst? Früher, da hab ich mich gefreut, wenn Ferien waren. Und heute? Was soll man mit den vierzehn Tagen anfangen, frag ich euch. Im Sommer, ja, da stellen sie sich auf den Kopf, bloß um uns zu beschäftigen. Ferienlager, Fahrten und Geländespiele, alles wird organisiert. Aber wer kümmert sich jetzt um uns? Niemand.« Wir hocken uns neben ihn. Recht hat er. Diese Ferien im Februar sind großer Quatsch. Schnee liegt nicht mehr. Und das Eis auf dem Mühlteich ist weich wie nasse Pappe. Man kann sich nicht mehr drauf wagen. Im Walde herumzustromern macht -3-
auch keinen Spaß. Alles ist dort naß und klebrig. Was soll man also tun? »Man müßte...«, sagt Brocken-Theo, »man müßte...« Er weiß auch nicht, was man müßte. Theo schnippst mit den Fingern. So macht er es immer, wenn er beim Gedichtaufsagen nicht weiter kann. »Mensch, die Stare«, sagt der kleine Belo plötzlich. Er zeigt mit seinem roten Zeigefinger auf eine Weide, die am Graben steht. Tatsächlich, dort sitzen die ersten Stare. Sie haben ihr Federkleid dick aufgeblasen. Aus ihren gelben Schnäbeln quetschen sie quengelnde Töne heraus. Dann hocken sie wieder stumm und trübsinnig beieinander und horchen in die Welt. Aber da ist noch niemand aus der Vogelschar, der ihnen was vorpfeifen könnte. Also können sie auch nichts nachpfe ifen. Von selbst fällt den Staren keine Melodie ein. Das wissen wir längst. Der lange Bartel starrt ein Weilchen zu der Weide hinüber. Dann sagt er: »Langweilig, die Biester. Sitzen zusammen wie die alten Weiber beim Federnschleißen.« Damit sind die Stare für uns erledigt. Was der lange Bartel sagt, das gilt. Ich sehe mich um. Hinter meinem Rücken liegt das große Dorf. Es heißt Reicha. Dort gibt es den Bahnhof, die Post, das Gemeindeamt und die Schule. Vor mir kann ich in der Ferne ein paar Häuser erkennen. Sie gehören zu unserem kleinen Dorf. Wir sitzen mitten auf der großen grauen Wiese, die zwischen den beiden Ortschaften liegt. Immer wenn wir aus der Schule kommen, machen wir an dieser Stelle halt. Hier entscheiden wir, welchen Weg wir wählen: Entweder gehen wir auf dem Dammweg, der kurz vor unserem Dorf eine Spitze des großen Kiefernwaldes durchschneidet, oder einfach quer über die Wiese. Das ist der -4-
kürzeste Weg. Aber es gibt noch eine Möglichkeit. Auf der Südseite wird die Wiese von einem Graben begrenzt. Am liebsten würden wir immer am Grabenrand entlang spazieren. Aber das ist ver- boten. Keiner weiß weshalb. Es ist einfach verboten, und fertig. Dabei gibt es in den Dämmen, die das Wasser von der Wiese trennen, Bisamratten. Tatsache. Wir haben sie schon mehrmals beobachtet. Der lange Bartel rappelt sich plötzlich auf. Mit einem Ruck haut er sich die Schultasche über den Kopf auf den Rücken. »Los«,sagt er, »wir gehen am Graben lang.« Keiner hat etwas dagegen. Heut ist schließlich der letzte Schultag. Und wenn sie schon sonst nichts mit. uns anstellen, dann müssen sie uns wenigstens das erlauben. Wer weiß, vielleicht finden wir gar einen Bisamrattenbau. Wir gehen im Gänsemarsch. Vor mir stakt der lange Bartel. Eigentlich heißt er Werner - aber wir sagen fast immer Langer zu ihm oder auch langer Bartel. Denn er ist dünn und gut anderthalb Kopf größer als der Brocken-Theo, der hinter mir über die Maulwurfshaufen stolpert. Dafür hat Theo einen mächtigen Brustkorb und harte Muskelballen an den Oberarmen. Der kleinste von uns aber geht hinten. Das ist der kleine Belo, und er muß schon immer trippeln, wenn wir noch einen ganz normalen Schritt drauf haben. Und ich? Ich bin mittel. Nicht zu groß, nicht zu klein. Nicht zu breit, nicht zu dünn. Ich habe gar nichts Besonderes an mir. Manchmal ärgere ich mich darüber. Ich möchte auch einen Spitznamen haben. Aber den anderen fällt nichts Passendes ein. So sagen sie ganz einfach Heino zu mir. Bloß, das ist mein richtiger Name. Wenn ich erst schneller als der kleine Belo rennen kann, dann hab ich was Besonderes. Vielleicht werden sie dann Flitzer Heino zu mir sagen oder so ähnlich. Im Augenblick bin ich erst der Zweitschnellste. Aber ich trainiere fleißig. Nicht -5-
ausgeschlossen, daß ich es in den Winterferien schaffe. Jedenfalls sollten sich die anderen schon jetzt den Kopf darüber zerbrechen, welchen Namen sie mir verleihen wollen. Aber sie denken gar nicht dran. Sie stampfen durch das harte Gras vom vorigen Jahr. Der lange Bartel kommandiert: »Links, zweidrei!« Plötzlich ruft er: »Halt!« Vor uns erhebt sich ein dichtes Erlengebüsch. Die trockenen Sträucheräste sind mit gelben Schilfstengeln zu einer festen Wand verknüpft. Man könnte das Hindernis leicht umgehen. Aber wir haben keine Angst vor den paar lächerlichen Sträuchern. »Belo vor«, ruft Bartel. Weil Belo der kleinste von uns ist, kann er wie ein Wiesel durch das Gestrüpp flitzen und uns einen guten Weg suchen. Schon ist er im gelben Schilfgesträuch verschwunden. Wir hören, wie er sich keuchend vorwärts arbeitet. Äste knacken. Manchmal seufzt der Boden tief auf, wenn der kleine Belo in den Morast getreten ist und seinen Schuh wieder herausziehen muß. Auf einmal ist es ganz still. Es rührt sich nichts mehr im Gebüsch. Dann schlüpft ein leiser Pfiff durch das Gewirr von Ästen und Schilf. Wir bleiben stehn - mucksmäuschenstill. Was war das? Der Pfiff bedeutet: Ruhe - ich belauere jemanden! Wir haben das so ausgemacht. Aber wen belauert der kleine Belo? Die Ungeduld zwickt uns in den Beinen. Sollen wir hier draußen stehenble iben und nichts erleben? Und der kleine Wicht flunkert uns später was vor? Schon hebt der lange Bartel die Hand: Achtung, gleich geht's los. Aber dann läßt er die Hand wieder fallen. Aus dem Gestrüpp kommt ein leises Geräusch: Tapp, tapp, tapp. Irgendetwas läuft auf vier Füßen, ganz vorsichtig kein Ästchen knackt. Langsam nähert sich das Tappen. Endlich steckt der kleine Belo seinen weißen Haarschopf aus dem -6-
gleichen Loch, in das er vorhin gekrochen war. »Was ist los?« zischt der lange Bartel aufgeregt. Der kleine Belo steht immer noch auf allen Vieren. Mit der rechten Hand fährt er sich an den Mund. Er legt den schlammigen Zeigefinger an die Lippen. Pst! Aber dabei verliert er das Gleichgewicht. Wie eine Walze rollt er seitwärts in das knisternde Schilf. »Dussel«, knurrt der lange Bartel. Recht hat er. Wir sollen uns nicht mucken, und er macht einen Spektakel wie eine Schar Teichenten. Endlich hat sich der kleine Belo aufgerichtet. »Da drin sitzt der alte Hubein«, flüstert er. »Ich hab ihn beobachtet.« »Na und?« sagt der lange Bartel. »Vor dem haben wir keine Angst.« »Er sitzt ganz nahe am Grabenrand. Manchmal stiert er ins Wasser. Dann steckt er den Finger rein und verdreht dabei die Augen wie ein gestochenes Kalb. Zuletzt hat er eine Handvoll Wasser geschöpft und daran gerochen.« »Vielleicht wollte er kosten?« Der lange Bartel grinst. »Hat er auch«, berichtet Belo weiter. »Ich trau meinen Augen nicht: Auf einmal nimmt er einen tiefen Schluck. Und schüttelt den Kopf.« Wir lassen uns auf den Damm fallen. Was hat das nun zu bedeuten? Ein bißchen wunderlich ist er ja, der alte Hubein. Früher, wie es noch den Baron gegeben haben soll, ist er mal Schäfer gewesen auf so einem Rittergut. Heute bekommt er Rente und vertreibt sich die Zeit mit Angeln. Manchmal, wenn im LPG-Stall eine Kuh kalbt, holen ihn die Bauern. Er versteht sich drauf, und mit dem Tierarzt ist er sich auch einig. Aber schrullig ist er doch. Wenn wir Kinder ihn ärgern, hebt er beide Hände über den Kopf. »Faß sie, Hasso«, ruft er, »faß sie! Jag sie von der Wiese, sie zerlatschen das ganze Futter.« Dabei hat er schon jahrelang keinen Schäferhund mehr. Wir Kinder umspringen ihn dann und machen: Waurau! Dann sagt -7-
er: »Ruhig, mein Hund! Ruhig!« Und er läßt die Arme wieder fallen. Aber wir heulen und knurren um die Wette weiter. So lange, bis er plötzlich aus den Holzpantoffeln fährt und auf uns zukommt. Die weiten Hosenbeine flattern um seine dürren Waden. Aber rennen kann er für sein Alter! Da gibt es nichts zu sagen. Wir müssen jedesmal unsere ganze Kraft zusammennehmen, damit er keinen von uns erwischt. Aber das wird ihm nie gelingen. Tatsache. Deshalb kann der lange Bartel auch leicht sagen: »Vor dem haben wir keine Angst. Wir werden ihm auflauern, drüben, auf der anderen Seite.« Nun umgehen wir das Gesträuch doch noch. Unter unseren Füßen quatscht das Wasser aus dem sumpfigen Boden. Manchmal spritzt es bis zu den dickblättrigen gelben Schilfstummeln vom vorigen Jahr. Auf der anderen Seite angekommen, können wir unser Dorf schon deutlich erkennen. Ganz vorn steht das weißgekalkte Haus vom Bauern Witschaß. Daneben duckt sich ein Fachwerkhäuschen hinter dem Querdamm. Dort wohnt der kleine Belo. Weiter hinten ragt eine hohe Fichte in den grauen Himmel. Sie steht im Hof vom LPG-Vorsitzenden Pistrosch. Diese drei Häuser gehören zusammen mit dem Genossenschaftsstall, den man von hier aus noch nicht erkennen kann, zum Unterdorf. Alle anderen Höfe liegen etwas höher auf einem kleinen Sandhügel. Wir sitzen da und starren hinüber. Tausendmal haben wir das Dorf scho n betrachtet. Aber von hier aus ist es schöner als sonst. Es liegt wie auf einer flachen Hand vor uns. Wenn man ein Fernglas hätte, könnte man Pistroschs Frau glatt in den Kochtopf gucken. Brocken-Theo zieht sein Taschenmesser hervor. Es hängt an -8-
einer goldglänzenden Kette. Wir wissen aber, daß es kein Gold ist. Theo hat die Kette zu Hause bei einer alten Pendeluhr abmontiert. Wie ein flinker Vogel saust das Messer plötzlich durch die Luft. Mit dem Griff prallt es gegen einen Erlenstamm. Noch ehe sich jemand aufrappeln kann, ist der lange Bartel schon hingesprungen. Mit dem Messer in der Hand kommt er zurück. »Paßt auf«, sagt er, »jetzt werd ich euch das mal zeigen.« Wieder schwirrt das Messer durch die Luft. Aber kurz vor dem Baum hört es plötzlich auf zu schwirren. Es schießt wie ein Pfeil mit der Spitze zuerst in den Stamm. Dort bleibt es zitternd hängen. Donnerwetter! Der lange Bartel kann das. Er kann überhaupt so ziemlich alles, wenn es nicht gerade um die Schularbeiten geht. Auch in unserem Pionierzirkel für Schiffsmodellbau ist er der beste. Deshalb haben wir ihn zu unserem Kapitän gewählt. »Hinlegen!« kommandiert er. Da hätten wir doch beinah den alten Hubein vergessen. Im Erlengebüsch knistert es. Langsam arbeitet sich der kleine alte Mann heraus. Heute hat er Gummistiefel an. Da besteht überhaupt keine Gefahr. In Gummistiefeln kann kein Mensch vernünftig rennen. Also bleiben wir ruhig sitzen. »He«, ruft der lange Bartel, »wie schmeckt denn das Wasser?« Der alte Hubein tut erschrocken. Hat er uns vorher nicht bemerkt? Er spuckt dreimal aus und will dann einen Bogen um uns machen. Aber so leicht kommt er nicht davon. Der kleine Belo ist schon aufgesprungen. Er läuft vom Damm auf die Wiese, bleibt kurz vor Hubein stehen und bellt: Haffhaff! Der alte Mann fährt sich unentschlossen in die grauen Stoppelhaare hinter den großen lederartigen Ohren. Was soll er tun? Er könnte natürlich auf uns zurasen. Aber dann würden wir mit wüstem Geschrei über ihn herfallen. Er kennt das. Deshalb überlegt er sich die Sache. Langsam kommt er auf uns zu. Ganz friedlich. -9-
Er läuft so, wie ein Bauer läuft, wenn er mit zwei Fingern Wasserrübensamen über das Feld streut. Wir können ruhig sitzen bleiben. Wer so läuft, der hat nichts Böses vor. Schließlich ist er bei uns angelangt. Als er sich stöhnend auf den Damm setzt, fährt seine rechte Hand zum Rücken. »Eh«, macht er, »das verdammte Ischias.« Dann nimmt er mich beim Kopf und dreht mich dem Wasser zu. »Bist du nicht dem Domko seiner?« Ich nicke, so gut ich es unter seiner Hand kann. »Soso«, sagt er, »und was siehst du da?« Ich weiß nicht, was ich tun soll. Er ist sicher ganz und gar übergeschnappt. Es ist nichts zu sehen als Wasser, in dem ein paar Eisbrocken schwimmen. Vielleicht mache ich mich mit einem Ruck frei? Aber seine knochigen Finger halten mich ziemlich fest. Hinter den Ohren fühle ich auf der einen Seite den Daumen und auf der anderen den Zeigefinger. »Wasser«, sage ich, und ich wundere mich selber, daß meine Stimme so komisch dabei klingt. Der Alte läßt mich los. »Ach, du Hammel«, knurrt er, »Wasser siehst du also. Mehr nicht? Das ist wenig, mein Lieber. Man muß unter das Wasser gucken. Da stecken die Geheimnisse. Oben ist es ganz friedlich. Grau und grün wie immer. Aber unten!« Er nimmt einen Stein vom Ufer und läßt ihn in den Graben plumpsen. Eine gelbe Fontäne spritzt hoch. »Habt ihr gesehen? Unten ist es gelb. Nicht so friedlich grün und grau. Und kalt ist es unten auch. Verteufelt kalt. Ich hab's ausprobiert. Es schmeckt nach Schnee und Eis, das Wasser da unten.« Es ist genau wie in der Schule. Der Lehrer stellt im Algebraunterricht eine Aufgabe, und wir wissen nicht, was wir damit anfangen sollen. »Na schön«, sagt der lange Bartel, »es ist unten also gelb, und es schmeckt nach Schnee. Was hat das zu bedeuten?« Aber der alte Hubein tut, als hätte er diese Worte nicht gehört. Er starrt -10-
ins Dorf hinüber. Seine wässrigen Augen werden plötzlich ganz klein. »Schlimm«, sagt er leise, »sehr schlimm. Das Wasser wird das Dorf verschlucken. Wenn es unten gelb ist, dann wird es bald auch oben gelb sein. Und dann macht es lange Finger über den Damm weg.« Ich stelle mir das Wasser als Tier vor. Das Tier hat einen gelben Bauch und einen grünen Rücken. Wie ein Laubfrosch. Langsam kriecht es vorwärts. Aber mit einem Male wird es zornig. Die gelbe Farbe zieht sich über dem Rücken zusammen. Und jetzt springt das Tier auf. Es klatscht auf unser Dorf nieder. »Hahaha!« lacht der lange Bartel los. »So ein Blödsinn.« Er kullert sich zur Seite und rollt vom Damm auf die Wiese. Unten bleibt er liegen. Sein ganzer Körper zuckt vor Lachen. Der alte Hubein ist eingeschnappt. Sein faltiges Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse. »Hammel«, sagt er, »alles Hammel.« Dann erhebt er sich, wieder mit der Hand zum Rücken fahrend. Langsam stapft er auf dem Damm fort, ohne sich noch einmal nach uns umzublicken. Warum hetzt uns der lange Bartel nicht hinter ihm her? Aber der ist immer noch mit seinem Lachen beschäftigt. Endlich beruhigt er sich. »Bei dem hat's hier oben ausgehakt«, erklärt er und zeigt zum Kopf. »Wie kann das Wasser lange Finger machen?« »Er meint, es kommt eine Überschwemmung«, piepst der kleine Belo. Als wenn wir das nicht selber wüßten. Überschwemmungen gibt es fast jedes Jahr. Wenn im Oberland das Eis und der Schnee von den Bergen tauen, dann läuft das Wasser hier über. Aber es geht nur ein bißchen auf der Wiese spazieren. Das ist alles. Nach zwei, drei Tagen ist es wieder in den Graben zurückgekehrt. Niemand kümmert sich groß darum. Nur das Gras wird noch ein bißchen saurer als es hier auf dem -11-
Sumpfboden ohnehin schon ist. Brocken-Theo hustet in die hohle Hand. Das ist sein Zeichen. Er will eine von seinen seltenen Reden halten. »Mein Großvater hat erzählt, daß hier so um Achtzehnhundertfilzlatsch herum eine große Überschwemmung war. Sie ist über Nacht gekommen. Und die Leute mußten das Dorf räumen. Das Vieh hat bis zum Bauch im Wasser gestanden. Und die Hühner sind samt den Hähnen aufs Trockene geschwommen.« »Schwindel«, knurrt der lange Bartel. »Hühner können gar nicht schwimmen.« Brocken-Theo legt die Hand aufs Herz. »So wahr ich hier stehe. Mein Großvater hat's erzählt.« Der kleine Belo sieht sich um. Ist denn keine Henne in der Nähe? Man könnte es mal ausprobieren. Aber der lange Bartel ist schon überzeugt. »Das wäre mal was Anständiges«, sagt er, und er blinzelt zum Dorf. »Wir hätten gerade Ferien. Das paßt. Den ganzen Tag könnten wir das Vieh retten. Und die Frauen, die auf den Häuserfirsten sitzen, weil sie sonst nasse Füße bekommen. Die Kinder würden jammern. Und wir kämen mit einem großen Floß, um sie aufzuladen. Oben auf dem trockenen Hügel würden sie dann vor uns auf die Knie fallen: Habt Dank, ihr edlen Retter...! Aber wir hätten gar keine Zeit für sie, denn da gäbe es noch so viel zu tun.« Wir liegen alle vier auf dem Rücken und sehen zum grauen Himmel auf. Wir träumen. Wo kann man so ein richtiges Hochwasser bestellen? Wäre das ein Leben, Leute! Mit der Zeit spüren wir die hartgefrorenen Erdschollen unter uns. Der Traum ist aus. Es wird kein anständiges Hochwasser geben. Nur eine kleine Überschwemmung auf den Wiesen. Es ist zum Auswachsen. »Alle Mann auf«, sagt Bartel schläfrig. Wir packen unsere Taschen und trotten müde dem Dorf zu.
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Jemand pfeift über eine offene Bierflasche Jemand pfeift über eine offene Bierflasche. Das Wasser zermalmt den Winter. Ein Kapitän verliert seine Mannschaft Pfeifend saust die Rakete mit mir über den Himmel. Vorn hat sie ein kleines rundes Fenster. Ich kann durch dieses Fenster die blanke Raketenspitze sehen. Ich wundere mich: Warum pfeift und dröhnt es so? Ist da etwas nicht in Ordnung? Auf einmal blitzt es an der Raketenspitze hell auf. Ich muß die Augen zupressen - so blendet das Licht. Als ich sie wieder öffne, bin ich plötzlich nicht mehr in der Rakete, sondern in meinem Bett. Schade, alles war nur ein Traum. Einen Moment bleibe ich still liegen. Dann aber fahre ich erschrocken aus den Federn. Was ist los? Warum ist es so hell? Habe ich verschlafen? Doch dann komme ich endlich zu Verstand. Heut ist der erste Ferientag. Da hat mich die Großmutter nic ht geweckt. Und ich Murmeltier schlafe bis in die Puppen. Beinah will ich auf mich böse werden. Aber dann denke ich: Ein schöner Traum war das. Wie die Rakete gepfiffen und gedröhnt hat! Ich will den Laut mit meinen Lippen nachahmen. Aber es ist nicht nötig; das Pfeifen und Donnern ist noch da. Es füllt die ganze Schlafkammer aus. Was ist denn da passiert, denke ich verwundert. Dann höre ich genauer hin. Das Brausen kommt aus der Richtung der Wehrbrücke. Sonst rauscht das Wasser immer gemütlich über die Steinstufe hinunter in den Mühlgraben. Aber heute donnert und pfeift es, als bliese jemand mit aller Macht über eine offene -13-
Bierflasche. Überschwemmung! Hat der alte Hubein doch recht gehabt? Schnell ziehe ich mich an. Die Großmutter hat die Winterjoppe über den Stuhl gehängt. Aber die laß ich links liegen. Ich zerre die braune Windjacke aus dem Schrank. Das ist der richtige Anzug für so einen Tag. Als ich mir im Hausflur die blaue Skimütze vom Haken nehmen will, fällt mir ein: Ich müßte mich noch waschen. Ich zögere nur einen ganz kleinen Augenblick. Dann steckt mein Kopf schon unter der Pumpe. Das Wasser ist kalt, es schmeckt nach Schnee. Frierend sause ich zurück in die Küche. Her mit dem Handtuch! Beim Abtrocknen spüre ich plötzlich Hunger. Auf dem Küchentisch liegen zwei Quarkschnitten. Ich klappe sie übereinander und beiße zu. Fertig! Oder? Die Großmutter hat einen blauen Henkeltopf voll Milch für mich hingestellt. Jetzt habe ich keine Zeit zum Milchtrinken. Mit einem Schwung gieße ich sie in einen Blechnapf, der neben dem Ofen steht. Die Katze soll auch einen guten Tag haben. Endlich bin ich soweit. Vom großen Dorf her weht ein starker kühler Wind. Er treibt mich die Gasse hinauf zur Wehrbrücke. Dort stehen meine Freunde. Der kleine Belo hat sich auf die untere Strebe des eisernen Brückengeländers gestellt, damit er besser sehen kann. BrockenTheo starrt unentwegt hinunter ins tobende gelbe Wasser. Nur der lange Bartel sieht zu mir hin. »Wie kann man bloß so lange pennen«, sagt er. Ich zucke mit den Schultern. Schließlich möchte ich das selber gerne wissen. Dann aber sehe ich den Mühlteich vor mir. Er ist bis zu seinen Rändern hin mit gelbem Wasser gefüllt. Mächtige Eisschollen schießen mit der Strömung auf das Wehr zu. Kurz vor der steinernen Stufe - direkt unter unseren Füßen - stellen sie sich auf den Kopf und prasseln krachend und donnernd in den -14-
Mühlgraben. Ich laufe schnell auf die andere Brückenseite. Wo sind die großen Eisschollen? Man sieht nur noch kleine glasige Fetzen, die sich geschwind im Kreise drehen. So stark ist das stürzende Wasser. Es zermalmt und zermahlt den ganzen Winter. Stundenlang könnte man zusehen. Doch der lange Bartel hat was vor. »Die Wiesen sind schon überschwemmt«, sagt er, »da gehen wir mal hin.« Im Dauerlauf traben wir den Hügel hinauf. Dann geht es die Gasse hinunter. Wie wir bei unserem Haus vorbeikommen, sehe ich die Großmutter im Hof stehen. Sie winkt mit dem rechten Arm und ruft etwas. Vielleicht soll ich Kienspäne hacken oder Wasser holen. Immer hat sie was für mich zu tun. Aber heute spielt sich da nichts ab. Wie kann man an einem solchen Tage Holz hacken? Ich habe es auch gar nicht richtig gehört, was die Großmutter eigentlich wollte. Ehrenwort! Wir rennen, daß uns der Wind in den Ohren pfeift. Schon sind wir im Unterdorf. Es geht bei Pistroschs Fichte vorbei, dann an Belos Fachwerkhaus. Noch ehe wir den Hof vom Witschaß-Fritz erreicht haben, können wir die Bescherung sehen. Die ganze große Wiese ist ein einziger See. Hurra! Das ist doch wenigstens mal was! Der lange Bartel läuft vor mir, und er legt noch einen Zahn zu. Genau an der Stelle, wo der Kiefernwald an die Wiese heranreicht, bleibt er plötzlich stehen. Brocken- Theo tritt mir auf die Hacken. Wir stehen auf dem hohen Wegdamm. Hier kann das Wasser nicht weiter. »Habt ihr alle Taschenmesser mit?« fragt der lange Bartel. Wir kramen in den Hosentaschen. Natürlich haben wir Messer. Wer wird denn keins haben? -15-
Ein paar Minuten später sitzen wir auf einem umgestürzten Kiefernstamm. Jeder hat ein Stück Rinde in der Hand und schnitzt daran herum. Wir bauen Schiffe. Am besten kann das natürlich der lange Bartel. Er schält die Rinde mit langen Schnitten von den Seiten des Stückes ab. Eins, zwei, drei - ist ein Boot fertig. Es hat einen hohen Bug und ein flaches breites Heck. Wie ein richtiger Dampfer. Brocken-Theo will keine schmalen Schiffe. Er schabt breite, beinah runde Teller aus der Rinde. »Das sind Lastkähne«, behauptet er. Der lange Bartel verzieht grinsend das Gesicht. »Kähne sollen das sein? So sehen bei uns die Kartoffelplinsen aus.« Auch der kleine Belo ist ganz bei der Sache. Aber seine Schiffe sind winzig. Das größte davon könnte er glatt in der hohlen Hand verbergen. Nur ich komme mit der Schnitzerei nicht so richtig zurecht. Ich kratze und kratze - und was übrigble ibt, sieht nach allem aus, nur nicht nach einem Schiff. Der lange Bartel nimmt mir das Ding aus der Hand. Zwei-, dreimal fährt sein Messer an den Seiten entlang, und schon ist ein Dampfer daraus geworden. Ein feiner Kerl, der lange Bartel. Der kleine Belo saust zurück ins Dorf. Nach fünf Minuten ist er wieder bei uns. Er hat einen Gänseflügel vom vorigen Jahr in der Hand. Wir zerren uns die schönsten Federn heraus. Das werden die Segel für unsere Schiffe. Endlich können wir Stapellauf machen. In der Bucht des Sees sind die Wellen ganz klein. Der Wind kann nicht so richtig über das Wasser fahren, weil ihn der Wegdamm aufhält. Hier ist ein guter Hafen. »Das ist mein Gebiet«, sagt der lange Barthel. Und er fährt mit der Spitze einer Haselrute über das Wasser. Den größten Teil der Bucht kann er damit erreichen. -16-
»Das gibt's nicht«, ruft der kleine Belo. »Wo sollen wir mit unseren Schiffen hin?« »Ist mir egal«, sagt der lange Bartel. »Jedenfalls, wenn eins von euren Dingern in meinen Bereich kommt, dann kippe ich's um.« Da ist nichts zu machen. Der Kerl ist imstande und vernichtet unsere ganze Flotte. Wir müssen uns auf den Rand der Bucht beschränken. Unsere Schiffe schwimmen mit den Randwellen ein Stück hinaus auf das Meer. Dort fährt der Wind in die Segel. Er treibt sie zurück. Aber nur ein kleines Stück, denn schon wieder sind die Randwellen da. So geht es hin und her. Mit der Zeit haben sich alle unsere Schiffe um den Hafen vom langen Bartel aufgestellt. Aber sie liegen so weit draußen, daß er sie mit seiner Rute nicht erreichen kann. Der kleine Belo tanzt vor Freude auf dem Damm herum. »Sie werden dich so lange belagern, bis du sie reinläßt«, erklärt er mit seiner tiefsten Stimme. »Ich bin der Kapitän und der Hafenmeister dazu«, schimpft der lange Bartel. »Ich hab hier zu bestimmen. Und es kommt kein Wasserfloh ohne meine Erlaubnis in den Hafen.« Aber er ärgert sich doch. Seine Macht reicht nicht weit genug. Unsere Schiffe schaukeln und pendeln ihm vor der Nase herum wie die Mücken im Sommer. Eine Weile sieht er sich das mit an. Dann aber steht er auf und sucht auf dem Wege nach einem großen Schlackebrocken. Den wirft er mitten unter unsere Schiffe. Gerade will er ein Triumphgeheul anstimmen, da wird er von hinten gepackt. »He«, sagt eine Männerstimme, »seit wann schmeißt man denn Steine auf die Wiese?« Wir sind zusammengefahren. Richtig, da unter dem Wasser -17-
ist ja die Wiese. Und wir hatten vom großen Meer geträumt. Niemand hat gesehen, wie der dicke Witschaß-Fritz herangekommen ist. »Schert euch weg hier«, sagt er. »Ihr wollt wohl mit aller Gewalt in die Brühe fallen.« Und er schwingt drohend einen derben Fichtenknüppel. Seine braunen Haare sind wie immer mit Margarine glatt auf den runden Kopf geklebt. Aber trotzdem sieht er nicht so aus wie sonst. Die Wülste unter den kleinen Augen sind beinah blau gefärbt. Hat er Sorgen? Es ist besser, wenn wir uns verziehen. Mit unausgeschlafenen Männern ist nicht zu spaßen. Wir gehen ein Stück in den Wald hinein und verstecken uns hinter den Bäumen. Von hier aus können wir beobachten, was der Witschaß-Fritz tut. Viel gibt es nicht zu sehen. Mit der verkehrten Axtseite schlägt der Bauer den Fichtenpfahl mitten in unsere Bucht. Dann geht er eilig dem Dorfe zu. Der Pfahl steht im Wasser. Auf der Seite, die dem Weg zugewandt ist, trägt er fünf große gelbe Kerben. »Ein Pegel«, erklärt der lange Bartel wichtig. »Man kann daran sehen, wie das Wasser steigt.« Der lange Bartel muß es wissen. Sein Vater hatte früher die Fischteiche gepachtet. Auf einmal liegt der kleine Belo flach auf dem Boden. Er drückt das linke Auge zu und peilt am Kerbpfahl entlang auf den Querdamm, der das Unterdorf vom Wasser trennt. Dann springt er auf. »Menschenskind«, sagt er schnell, »wenn das Wasser bis hierher steigt« - und er zeigt mit Barteis Haselrute auf eine Kerbe -, »dann läuft's über den Damm ins Dorf.« Wir stehen wie vom Donner gerührt. Kaum eine Handbreit ist es bis zu dieser Kerbe. Hier auf dem sicheren Dammweg haben -18-
wir gar nicht bemerkt, wie gefährlich die Sache ist. Schon zuckt es uns in den Beinen. Wir müssen sofort ins Dorf. Doch der lange Bartel winkt ab. »Es steigt nicht weiter. So weit ist es noch nie gestiegen.« Theo hustet in die hohle Hand. »Aber mein Großvater...« Der lange Bartel läßt ihn nicht weiterreden. »Das war Achtzehnhundertfilzlatsch. Heute ist alles anders.« Das Wasser gibt ihm nicht recht. Während wir unschlüssig von einem Bein auf das andere treten, klettert es langsam, aber beständig zur nächsten Kerbe empor. »Los, gib Kommando!« ruft der kleine Belo dem Langen zu. »Wir müssen ins Dorf. Vielleicht können wir irgendwo helfen.« »Pöh«, macht der, »sie werden uns davonjagen, die Großen Was hat der Witschaß gesagt? Schert euch weg, hat er gesagt. Er denkt, wir könnten ins Wasser fallen. So sind sie alle. Niemand wird uns ranlassen. Wir dürfen uns nur in die Ecke drücken und zugucken. Und auch da stehn wir noch im Wege.« Ich überlege. Hat er recht? Natürlich hat er recht. Bei so ernsten Sachen haben die Kinder nichts zu suchen. Das bilden sich die Erwachsenen nun einmal ein. Aber dann sehe ich den Pfahl. Und das Wasser. Es steigt. Vielleicht weiß man im Dorf noch gar nicht, wie gefährlich das alles ist. Da drüben liegen die Häuser vom Unterdorf. Und auch der Viehstall der Genossenschaft. Wenn das Wasser über den Damm tritt, ist es vorbei. Dann muß alles geräumt werden. Mit einem Male denke ich an Franka. Das ist die Tochter vom LPG-Vorsitzenden Pistrosch. Sie liegt im Bett und hat Fieber, Grippe oder so was ähnliches. Wenn sie nun räumen muß? Der kalte Wind, der überall hier draußen weht. wird ihre Krankheit verschlimmem. Ganz sicher. Es durchfährt mich wie Feuer. Franka darf nicht räumen. Sie ist meine Freundin. Jawohl! -19-
Niemand weiß es, nicht einmal Franka selbst. Aber ich weiß es ganz genau. Und jetzt werde ich sie retten. »Wer helfen will, der hört auf mein Kommando«, rufe ich. Dann trabe ich los, dem Dorfe zu. Nicht ein einziges Mal drehe ich mich um. Aber zufrieden bin ich doch, als ich das schwere Trappen von Brocken- Theo und die flinken Trippelschritte vom kleinen Belo hinter mir vernehme. Nur der lange Bartel ist stur auf seinem Platz stehengeblieben. Wütend wirft er uns einen Stein nach. Doch der plumpst neben dem Weg ins Wasser.
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Heino kämpft mit seinen Beinen Heino kämpft mit seinen Beinen. Der lange Bartel vertreibt die Katzen aus dem Weinspalier. Pistrosch klettert auf ein Bierfaß Wo wollen meine Beine hin? Sie rennen den Weg entlang direkt auf Pistroschs Haus zu. Jetzt weiß ich Bescheid. Die Beine treiben mich zu Franka. Vielleicht könnte man mal durchs Fenster gucken, was sie so macht. Aber dann überlege ich mir die Sache. Was sollen meine Freunde denken? Da wollen wir nun helfen, und ich hab nichts anderes zu tun als den Mädchenknecht zu spielen. So geht das nicht. Ich zwinge meine Beine zu einer scharfen Rechtskurve. Es fällt mir schwer. Aber schließlich bin ich eben Kapitän geworden. Da kann ich doch nicht aus der Reihe tanzen. Ein Zaun stellt sich uns in den Weg. So ein Zaun ist eine Kleinigkeit. Wir klettern wie die Wiesel über ihn hinweg. Dann laufen wir über ein kleines Ackerstück direkt auf den Viehstall zu. Vor dem großen Tor im Giebel stehen Pistrosch, der Vorsitzende, und Witschaß-Fritz. Sie schauen besorgt hinüber zur großen Wasserfläche. Was wird das werden? fragen ihre Gesichter. Ich denke: Die haben keine Augen für uns. Als wir aber gerade vorbeiflitzen wollen, ruft Pistrosch: »He, ihr Strolche, hiergeblieben! Ich hab was zu tun für euch.« Ich bremse im vollen Lauf. Wieder tritt mir Theo auf die Hacken. Hier sind wir richtig. Wollten wir nicht helfen? Oder will er uns etwa bloß veralbern? Ich sehe Pistrosch ins Gesicht. Er sieht nicht nach Spaßmachen aus. Unter der blauen Schirmmütze quellen pechschwarze Haarsträhnen hervor. Das -21-
ganze Gesicht ist mehr schwarz als alles andere. Vom Hals her wuchern die Bartstoppeln bis hinauf zu den Ohren. So ähnlich sieht mein Großvater aus, wenn er von der Nachtschicht kommt. »Ihr lauft jetzt so schnell ihr könnt zu allen Leuten. Um zehn machen wir eine Versammlung auf dem Dorfplatz. Jede Familie soll wenigstens einen schicken. Kapie rt? Und daß ihr die Sache ordentlich macht. Es darf keiner ausgelassen werden.« Ich lege die Hand aufs Herz. »Wir schleppen sie an den Haaren herbei«, piepst der kleine Belo. Pistroschs Lippen verziehen sich. Er will lachen. Aber er kommt heute nicht so ga nz zurecht damit. »Zieht Leine! Dalli, dalli!« sagt Witschaß-Fritz. Wir rennen los. Weil es näher zum Dorf ist, verlassen wir hinter dem Stall den Weg und klettern wieder über einen Zaun. Auf der anderen Seite angelangt, schaue ich mich um. Schimpft der Vorsitzende etwa? Er schimpft nicht. Wäre ja noch schöner. Schließlich sind wir jetzt bei ihm angestellt. Da können wir auch über die LPGZäune klettern. »Zuerst zu Bartels«, rufe ich in vollem Lauf. Und ich denke dabei: Der Lange wird wieder mitmachen, wenn er hört, daß uns die Großen Arbeit gegeben haben. Aber Kapitän bleibe ich vorläufig. Bartels Hof liegt auf dem Hügelrücken; links ist der Schuppen, in der Mitte das Wohnhaus und rechts die große Scheune. Zu der vierten, offenen Seite führt der Weg. Aber wir können nicht auf den Hof. Bartels haben den Schäferhund Harras an die lange Leine gelegt. Als wir ankommen, springt das Vieh auf und fletscht die Zähne. Es kann den ganzen Eingang überwachen. Nicht einmal eine Katze wäre imstande, da ungerupft durchzuschlüpfen. -22-
Da stehn wir nun wie die Kuh vorm neuen Tor. »Wir müssen den Hund hetzen, daß er bellt. Dann wird schon jemand kommen«, flüstert der kleine Belo. Warum hetzt er nicht selber? Er verkriecht sich hinter meinem Rücken, dieser Feigling. Theo aber faßt sich ein Herz. Er nimmt ein Holzscheit von der runden Feie und wirft es Harras zwischen die Pfoten. Erschrocken prallen wir zurück. So ein Vieh! Nimmt Anlauf und springt auf uns zu. Ein Glück, daß die Kette hält. Sie zerrt den Hund mit einem Ruck zurück, so daß seine Vorderpfoten Löcher in die Luft hacken. Dann aber bellt Harras. Er bellt geschlagene fünf Minuten lang. Und niemand kommt. Bartels Haustür sieht aus, als wäre sie von innen verriegelt und verrammelt. Die anderen sehen mich ratlos an. Ich bin der Kapitän. Mir muß was einfallen. »Los«, sage ich, »wir versuchen's von der Gartenseite aus.« Wieder müssen wir über einen Zaun klettern. Wieviel Zäune es bloß auf der Welt gibt. An der Hinterfront des Wohnhauses sind die Fenster von der Küche und der Wohnstube. Wir kennen uns da aus. Ich schicke den kleinen Belo vor. Er soll am Weinspalier hochklettern und durch das Fenster spionieren. Inzwischen rufe ich: »Langer, komm raus. Sie haben uns nicht weggejagt.« Drinnen rührt sich nichts. Vielleicht ist der lange Bartel gar nicht in der Wohnstube. Ich rufe: »Um zehn ist Versammlung auf dem Dorfplatz. Einer muß kommen!« Wieder nichts. Zusammen mit Theo schleiche ich zum Küchenfenster. Es steht offen. Dicker grauer Waschtrogdampf quillt ins Freie. Im -23-
Nebel sehen wir den Langen für einen Augenblick durch das Fenster schielen. Er hat uns bemerkt. Ganz sicher! Was sagt er? »Papa«, sagt der lange Bartel zu seinem Vater, »ich werd mir mal die Luftbüchse aus dem Schrank holen. Es ist mir so, als kletterten da draußen wieder die Katzen im Weinspalier rum.« Wir sind sofort hinter einer Hecke verschwunden. »Los,komm«, rufe ich dem kleinen Belo zu, »er will schießen.« Dann hocken wir alle drei in der Sandgrube und schmieden Rachepläne. Ich hab eine Wut auf den langen Kerl! Man könnte glatt den Befehl geben, alle Fensterscheiben in Barteis Haus einzuschmeißen. So eine Wut habe ich. Aber wir heben uns die Rache für später auf. Sie wird kommen. Das ist sicher. Wir lassen uns von dem Dickkopf nicht verhöhnen. Jetzt aber müssen wir erst die Einwohner bestellen. Schnell teile ich die Häuser unter uns auf. Dann preschen wir in verschiedene Richtungen auseinander. Eine halbe Stunde später haben wir es geschafft. Es ging ganz leicht. Die meisten haben alles stehen- und liegenlassen und sind zum Dorfplatz gerannt. Obwohl es noch lange nicht zehn war. Jetzt stehen sie beieinander und warten. Von weitem sieht es aus, als wäre der Erste Mai. Gleich werden sich die Menschen in Reihen aufstellen, und dann geht der Umzug los. Aber bis zum Ersten Mai ist noch lange Zeit. Kein grünes Blatt hängt an den Linden vor dem Gasthaus. Und die Menschen stehen nicht auf dem Frühlingsrasen, sondern im Schlamm. Niemand hat Feiertagskleidung an. Die Frauen tragen verwaschene Schürzen und alte Strickjacken. Die Männer stecken in blauen Arbeitsanzügen und Gummistiefeln. Der Gastwirt rollt ein leeres Bierfaß auf den Platz. Es wird hochgekippt, und Pistrosch klettert drauf. »Ruhe!« ruft er. »Ruhe!« -24-
Die Versammelten drehen sich ihm zu. Nur der einbeinige Jakubenko kann sein Maul nicht halten. Er spricht fortwährend auf den alten Hubein-Schäfer ein und pocht dazu mit seiner Prothese an einen großen Feldstein. Wir Kinder zischen: Pst! Endlich hört Jakubenko auf zu reden. »Sind alle da?« fragt der Vorsitzende vom Faß. Ich presche nach vom. »Alle«, melde ich stolz. »Bloß von Bartels ist keiner gekommen.« Der Vorsitzende starrt für einen Augenblick zu Bartels Hof hinüber. Dann kneift er die Augen zusammen. Leise sagt er zu Witschaß-Fritz, der neben dem Faß steht: »Er hat immer noch Wut auf uns, der Willem. Sogar jetzt, wo wir ihn so nötig brauchen.« Also hat der Vorsitzende Streit mit dem alten Bartel, so wie wir Streit mit seinem Sohn haben. Das ist schon eine Bagage! »In diesem Jahr wird es eine große Überschwemmung geben«, beginnt der Vorsitzende seine Ansprache. »Ich habe Nachricht vom Kreis. Überall ist der Graben über die Dämme getreten. Auf Hilfe von draußen können wir nicht warten. Das Wasser steigt unaufhörlich. Wenn wir nicht Herr drüber werden, läuft es ins Dorf.« In die Umstehenden kommt Bewegung. Aufgeregt murmeln sie miteinander. Was meint er mit »Dorf«? Doch bloß die drei Häuser vom Unterdorf. Auf die Hügel kann das Wasser nie und nimmer. Aber was macht es schon aus, wenn bloß drei Häuser betroffen werden? Der Pistrosch will nur seine Buden retten. Soll er doch räumen und Belos und der Witschaß-Fritz auch. Dann kann nicht viel passieren. »Es geht nicht um das Unterdorf, Leute«, ruft Pistrosch dazwischen. »Es geht um den Genossenschaftsstall, um den Futterspeicher und das Weideland. In all dem steckt unser Geld. Wir haben hochtragende Kühe, wenige Tage alte Kälber und eine ganze Menge Ferkel. Wollt ihr das Vieh in die Kälte -25-
treiben? Wollt ihr das Futter verderben lassen? Sollen die Weiden überschwemmt werden, die wir im Herbst so mühselig trockengelegt haben?« Das will keiner. Alle, die hier stehen, sind Genossenschaftsbauern. Jahrelang haben sie an dem großen Stall mit allem, was dazu gehört, gebaut. Als er endlich fertig war, haben sie ihr Vieh eingetrieben. Und nun soll das Wasser alles vernichten? »Sag schon, was wir anfangen sollen«, ruft einer. Pistrosch hebt die Hand: Ruhe! »Wir müssen die Dämme verstärken, das ist das Wichtigste. Im Spritzenhaus liegen an die tausend Säcke. Die werden in der Grube mit Sand gefüllt und dann auf die schwächsten Dammstellen gepackt. Ein paar hundert brauchen wir zur Reserve, falls irgendwo der Damm bricht.« Dann teilt er die Leute ein. Die Frauen werden die Säcke füllen. Die Männer laden sie auf Pferdefuhrwerke und transportieren sie zu den Dämmen. Dort steht wieder eine Gruppe bereit, die ablädt und stapelt. Viel Menschen gibt es nicht in unserem kleinen Dorf. Im Handumdrehen sind alle eingeteilt. Sie begeben sich eilig vom Platz an ihre Arbeit. Pistrosch guckt erschrocken zu Witschaß-Fritz herunter. »Wir sind zuwenig«, klagt er. »Die Wache muß noch aufgestellt werden.« Witschaß-Fritz zuckt mit den Schultern. »Was willst du machen? Die jungen Leute sind alle auf Arbeit in der Glasfabrik. Die scheren sich doch nicht ums Dorf.« Sie sehen sich ratlos an. Sollen die Dämme etwa unbewacht bleiben? Dann ist unter Umständen die ganze Mühe umsonst, und das Wasser bricht durch. Ich trete einen Schritt vor. Wir sind auch noch da, bitte schön! -26-
Die schwarzen, brennenden Augen des Vorsitzenden sind nachdenklich auf uns gerichtet. »Eh, ihr Strolche«, sagt er. »Was steht ihr hier rum?« Wir wissen es auch nicht. Wir würden uns alle ins Wasser stürzen, wenn es der Vorsitzende verlangte. »Könnt ihr schwimmen?« fragt plötzlich der Witschaß-Fritz. »Klar können wir schwimmen«, flunkere ich. Dabei weiß ich ganz genau, daß sich der kleine Belo höchstens eine Minute lang über Wasser halten kann. »Also, ihr übernehmt die Dammwache. Wenn die jungen Leute von der Arbeit kommen, werden sie euch ablösen.« Sieh einer an. Das sagt derselbe Witschaß-Fritz, der uns vorhin weggejagt hat. Da muß es schlimm aussehen ums Dorf. Der Vorsitzende steht immer noch auf seinem Faß, obwohl der Platz mittlerweile fast leer ist. »Sucht euch dazu ein paar Kinder aus dem Dorf. Aber sie müssen schwimmen können, verstanden? Und daß sie nicht unter zwölf Jahre sind! Ihr drei übernehmt die Leitung. Den Querdamm und den gesamten Wegdamm bis nach Reicha müßt ihr im Auge behalten. Falls irgendwo das Wasser überläuft oder gar den Damm zerbricht, kommt einer von euch sofort ins Gasthaus. Dort wird der Jakubenko-Josef mit der Handsirene sitzen. Kapiert?« »In Ordnung«, sage ich und lege die Hand aufs Herz. »Aber daß ihr mir keine Mätzchen macht. Die Sache ist ernst. Wir haben keine Zeit, euch aus der Brühe zu fischen.« Witschaß-Fritz schwingt drohend die Faust. »Wir werden keine Mätzchen machen«, versichert der kleine Belo für uns alle. »Dann zischt los! Dalli, dalli! In einer halben Stunde muß die Wache stehen.« Pistrosch brummt etwas vor sich hin. -27-
Du kannst doch nicht so mit den Leuten umgehen, jetzt, wo wir sie brauchen, soll das wohl heißen. Aber garantieren kann ich nicht dafür, daß er so etwas gesagt hat. Denn wir sind schon unterwegs.
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Die Großmutter lockt mit Weißwurstschnitten Die Großmutter lockt mit Weißwurstschnitten. Der kleine Belo muß seine Laufkünste zeigen. Pistrosch springt ins Wasser Im Dorf suchen wir uns die Kinder zusammen. Alle wollen mitmachen, sogar die Kleinen. Sie sind wie die Kletten. Überallhin rennen sie uns nach. Eine ganze Herde. »Ich auch, ich auch!« rufen sie durcheinander. Man versteht sein eigenes Wort nicht mehr. Warum gibt es so viel kleine und so wenig große Kinder im Dorf? Brocken-Theo sieht sich das Theater eine Weile mit an. Dann hustet er in die hohle Hand. »Schert euch fort«, brummt er mit tiefer Stimme, »sonst könnt ihr was erleben. Ich hau euch zu Klumpen.« Und dazu droht er mit seiner großen Hand. Die Kleinen verdrücken sich um die Ecke. Na, endlich! Als wir abmarschieren wollen, sind sie plötzlich alle wieder da. Ich kratze mir ratlos den Kopf. Man hat schon seinen Ärger mit dem kleinen Volk. Aber dann kommt mir ein Gedanke. Ich lotse die ganze Gesellschaft die Gasse hinunter auf unseren Hof. »Großmutter«, rufe ich durch das Fenster. Niemand antwortet. Ist sie etwa auch zum Säckefüllen gegangen? Das kann nicht gut sein. Die Großmutter hat's in den Beinen. Sie kann keine schwere Arbeit verrichten. Kurz entschlossen trete ich in die Küche. Das hätte ich nicht tun sollen. Denn die Großmutter hat sich die ganze Zeit in der Ofenecke versteckt gehalten, nur um mich hereinzulocken. »Ach«, sagt sie, »hab ich dich endlich, Bürschchen? Den ganzen -29-
Vormittag frag ich schon nach dir. Niemand weiß Bescheid. Aber ich kann mir denken, wo du gesteckt hast. Am Wasser nämlich.« »Schmier mir eine Schnitte«, sage ich. »Wir sind vom Vorsitzenden eingeteilt. Müssen Wache machen.« Aber da komme ich gut an. »Nichts da von wegen Wache«, schreit sie. »Hiergeblieben wird. Willst wohl jämmerlich ersaufen?« Da hab ich mir was Schönes eingebrockt. Die ganze Sache wird schiefgehen, bloß weil sie kein Einsehen hat. Ich trete ans Fenster und mache eine Grimasse nach draußen. Moment mal, signalisiere ich, ich hab hier noch was zu regeln. Schon will ich wieder vom Fenster zurücktreten, da sehe ich jemanden die Gasse entlang kommen. Schnell reiße ich einen Flügel auf. »He, hallo! Meister Witschaß!« rufe ich. »Ich bin gefangengesetzt.« Witschaß-Fritz schmunzelt ein bißchen. Aber er tritt ans Fenster und zwängt seinen Kopf durch die Öffnung. »Geht schon in Ordnung, Martha«, erklärt er. »Wir brauchen die Jungens.« »Aber wenn sie nun reinfallen?« weimert die Großmutter. »Sie haben versprochen aufzupassen«, beruhigt sie der Mann. Die Großmutter ist schon halb überzeugt. Dem WitschaßBauern traut sie. Sie wirft mir einen flinken Blick zu. Den kenne ich. Was soll man mit so einem Kerl anfangen? heißt das. Weil sie nun nicht mehr weiß, was sie sagen soll, schiebt Großmutter mir mit dem Fuß den Katzennapf hin. »Die Milch hast du auch einfach weggeschüttet«, brummelt sie. »Morgen trinke ich zwei große Tassen«, erwidere ich schnell. »Aber jetzt mach mir die Schnitte. Ich muß mich ranhalten.« Als ich mit dem Brot aus dem Hause komme, sehe ich die gierigen Augen der Kleinen. Wie, was - Weißwurst aus dem -30-
Glas ist drauf? Das Wasser läuft ihnen im Munde zusammen. Die Großmutter sieht es. »Kommt rein, ihr Bucht«, ruft sie. »Wenn ich schon einmal dabei bin, wird es für euch auch noch reichen.« Wie sie sich drängeln! Jeder will zuerst durch die Tür. So eine Bande. Aber mir soll es recht sein. »Schieb den Riegel vor«, rufe ich durch das offene Fenster. Tatsächlich, die Großmutter riegelt sich mit den Kleinen ein. Ich blicke stolz zu meinen Freunden. Da könnt ihr mal sehen, was ich für eine schlaue Oma habe. Eine richtige Kapitänsoma. Aber nun nichts wie fort. Es geht alles viel zu langsam. Die Jungens kleben geradezu auf dem Pflaster vor dem Hause. Haben sie etwa auch Appetit auf Weißwurstschnitten? »Ich hole Proviant, wenn wir eingeteilt haben«, versichere ich. Endlich kommen wir in Bewegung. Nach einer knappen Viertelstunde hocke ich auf einer hohen Kiefer, die dicht am Rande des Waldzipfels steht. Von hier aus kann ich die Dämme gut übersehen. Die Wachen sind eingeteilt. Ganz vorn auf dem Wegdamm - schon beinah bei den ersten Häusern von Reicha - sitzt Brocken-Theo auf einem Kieshaufen. In einem Abstand von etwa fünfundsiebzig Metern steht der nächste, das ist der Tusche-Lothar. Dann kommt der dicke schwerfällige Lukas aus dem Hause mitten auf dem Hügel. Und so geht es weiter, den Dammweg entlang bis zum Querdamm, der das Wasser nicht ins Dorf läßt. Nur daß auf ihm die Wachen dichter stehen, denn dort ist es besonders gefährlich. Unter mir, auf den Wurzeln der Kiefer, hockt der kleine Belo, Er ist mein Melder. Falls es nötig ist, kann er in ein paar Minuten beim Jakubenko-Josef im Gasthof sein. Eine Zeitlang sitze ich so auf dem starken Ast und starre auf die unendliche Wasserfläche. Ob es immer noch steigt? Man müßte mal den Pegel untersuchen. -31-
Aber es ist schon zu spät. Gleich wird Theo das verabredete Zeichen geben. Da sehe ich ihn aufstehn. Ich weiß, daß er jetzt pfeift. Aber das kann ich im Windgetöse nicht hören. TuscheLothar gibt den Pfiff an den dicken Lukas weiter. Nun dringt er auch an mein Ohr. »Los!« rufe ich dem kleinen Belo zu. Der saust ab ins Dorf. Ich zähle: eins, zwei, drei... immer weiter, schön langsam und gleichmäßig. Bei vierundzwanzig heult die Sirene im Dorf auf. Donnerwetter, das ging flott. Ich bin mit meiner Methode zufrieden. Auch mit den Wache n kann ich zufrieden sein. Alle sind sie auf ihren Plätzen geblieben, obwohl die meisten nicht einmal wußten, daß es bloß ein Probealarm war. Na, ich hab ihnen das auch schön eingebleut. Jedenfalls: Die Wache steht. Wir werden das heimtückische Wasser nicht aus den Augen lassen. Der kleine Belo kommt atemlos zurück. »Menschenskind«, ruft er zu mir hoch, »die wollten mir die Jacke voll hauen, weil der Jakubenko geheult hat mit dem komischen Ding. Als sie alle aus der Sandgrube gestürzt kamen, hat er gesagt: 'Beruhigt euch, Leute. Es ist nichts, bloß Probealarm.' Sie haben mich vielleicht angestiert. Ich denke, dein Großvater will mich fressen. Na, so rennen wie ich, kann eben keiner.« Was sie nur haben, denke ich. Man muß doch so eine Sache mal ausprobieren. Ich verstehe meinen Großvater nicht. Sonst will er immer so schlau sein. Nachdenklich klettere ich von meiner Kiefer. Gemeinsam mit dem kleinen Belo gehe ich zum Pegel. Das Wasser ist gestiegen. Es steht jetzt genau zweifingerbreit unter der gefährlichen Kerbe. Mir wird ein bißchen schwummrig. Tatsache. Vor zwei Stunden sah alles noch so harmlos aus. Wir haben mit Rindenschiffchen gespielt. Und jetzt? -32-
Das Schlimmste ist, daß sich das Wasser so ruhig verhält. Es schleicht wie ein Nachttier langsam nach oben. Die feuchten Krallen saugen sich am Damm fest. Wenn man in die Tiefe starrt, siebt man nur eine stille, schwarze Fläche. Ich schließe die Augen. Vom Dorf her tönt das Knarren der Fuhrwerke, die die Säcke transportieren. Eine Kuh brüllt. Hähne krähen. Irge ndwo bellt ein Hund. Die Töne sind nur ganz schwach zu hören, weil der Wind braust und das Wasser unter der fernen Wehrbrücke brüllend tobt. Dieses Toben verändert die ganze Welt. Der kleine Belo packt mich am Arm. »Ein Schiff«, sagt er und zeigt hinaus aufs Wasser. Tatsächlich. Da kommt mit dem Wind ein großes Rindenboot angesegelt. Es hat einen hohen Bug und ein flaches breites Heck. In der Mitte steckt eine gewaltige Truthahnfeder. Mit diesem Segel kann das Schiff die Randwellen leicht überwinden. Der kleine Belo bugsiert es mit einer Rute an Land. Auf dem Schiff liegt ein Glasröhrchen. Da waren früher mal Spalttabletten drin. Jetzt aber umhüllt es einen Zettel. Und was steht drauf? »Wer sich an mich ranwagt, wird mit Bleischrot beschoßen. Der große Kapitän und Hafenmeister.« Ich schaue mich in der Gegend um. Irgendwo muß der lange Bartel stecken. Wo kann er das Boot ausgesetzt haben? Es ist niemand zu sehen. »Pöh«, sagt der kleine Belo, »nicht mal richtig schreiben kann er. Beschossen mit eszet, wo gibt's denn so was?« Langsam kommt die Wut wieder in mir hoch. Er soll sich ja nicht blicken lassen, der Aufschneider. Ich bin imstande und trommle die ganze Wache zusammen. Da könnten wir ihn mal ordentlich vermöbeln. Aber so sehr ich auch meine Augen anstrenge, der Kerl ist nirgends zu sehen. Bestimmt steckt er in -33-
den Kiefernkuscheln. Mit der Zeit wird es hier draußen ungemütlich. Der Wind zerrt an unseren Jacken, und die Kälte kriecht durch die Gummistiefel an den Beinen hoch. Der Himmel sieht aus wie Wurstsuppe. Sicher fängt es gleich an zu regnen. Das hat uns noch gefehlt. Wasser von oben und Wasser von unten... Ich schüttle den Kopf. Wie komisch es doch auf der Welt eingerichtet ist. Einmal sehnen sich die Menschen nach jedem Tropfen Wasser. Sie gucken zum Himmel auf und möchten am liebsten jede noch so winzige Wolke mit den Augen herbeizerren. Und dann ist plötzlich so viel da, daß man sich kaum retten kann. Immerfort muß der Mensch gegen die Natur kämpfen. Und wehe, er vergißt es. Dann ist es gleich vorbei. Entweder das Wasser verzieht sich in die unerreichbaren Winkel - sogar unser Graben kann dabei fast vollständig austrocknen -, oder es braust daher und verschluckt ein ganzes Dorf. Man muß ständig auf der Hut sein. Sind wir es vielleicht nicht? Wieder zup ft mich der kleine Belo am Arm. Er zeigt hinüber zu Brocken-Theo, der jetzt auf seinem Kieshaufen steht und mit beiden Armen rudert. Er winkt uns. Wir rasen auf dem Damm entlang an den Wachen vorbei. Theo sagt kein Wort. Er deutet mit seinem Zeigefinger auf die dem Wasser abgewandte Dammseite. Dort unten wuchert unter einigen mächtigen Eichen gelbes vorjähriges Farnkraut. Es bildet eine undurchsichtige Decke über dem Waldboden. Ich kann nichts Besonderes feststellen. Theo springt vom Dammweg herunter und biegt das Gestrüpp auseinander. Da sehen wir die Bescherung. Dort unten steht Wasser. Wo kommt es her? Auf der anderen Seite hat der Wasserspiegel noch lange nicht den Dammscheitel erreicht. -34-
Theo sagt: »Es sickert unter dem Damm durch. Das ist es.« Vor lauter Aufregung vergißt er sogar, in die hohle Hand zu husten. Mich durchfährt ein eisiger Schreck. Wieso kann das Wasser unter dem Damm durchsickern? Gibt es da vielleicht Löcher von den Bisamratten? Dann ist es bald passiert. So ein zernagter und durchfurchter Damm kann im Handumdrehen weggespült werden. Schon will ich den kleinen Belo losjagen. Aber der errät meine Gedanken. »Noch einen blinden Alarm überleb ich nicht. Sie kreisen mich ein und dreschen mich zusammen«, sagt er leise. Recht hat er. Man soll keinen unnötigen Lärm machen. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm. Ein bißchen Wasser auf der Waldseite - na gut! -, was hat das schon zu bedeuten? Sogar möglich, daß es sich um Grundwasser handelt. Ich verzichte auf den Alarm und weise Theo einen neuen Platz an. So ganz geheuer ist mir nicht. Dann gehen wir, Belo und ich, wieder auf unsere Kiefer zu. Manchmal ist es schwer, Kapitän zu sein, denke ich. Was hätte wohl der lange Bartel jetzt beschlossen? Für den wäre eine richtige Entscheidung kein großes Kunststück gewesen. Er kennt sich in solchen Sachen aus. Noch ehe wir unter meinem Beobachtungsstand sind, holt uns der Alarmpfiff ein. Diesmal ist er ernst gemeint. Dort, wo Brocken-Theo noch vor fünf Minuten gestanden hatte, gähnt jetzt ein tiefes Loch. Das Wasser schießt durch die Dammöffnung in den Wald. Dammbruch! Wir laufen nach zwei Seiten auseinander. Der kleine Belo wetzt wie der Blitz ins Dorf. Ich aber renne zurück zu Theo. »Es ging ganz schnell«, berichtet er. »Erst sackte mitten auf dem Weg der Boden weg. Dann schoß eine Springflut auf, und -35-
im Nu hatte der Strudel das Loch vergrößert. Ehe ich richtig pfeifen konnte, waren die Dammränder schon weggespült.« Ich könnte mich selbst in den Hintern treten. Tatsache. So ein Kamel, wie ich es bin, gibt es nicht zweimal auf der Welt. Hätte ich den Alarm nicht gleich auslösen müssen, als der Theo das Wasser auf der Waldseite bemerkt hatte? Aber nun ist es passiert. Da hilft kein Jammern. Gespannt lausche ich in den Wind. Warum heult die Sirene noch nicht? Ist der Jakubenko-Josef etwa eingeschlafen? Dann soll doch der kleine Belo die Kurbel drehen. Es ist zum Auswachsen! Wie lange das dauert. Verzweifelt blicke ich zum Himmel hinauf. Der kann mir auch nicht helfen, im Gegenteil. Gleich wird er das Unglück mit seinem Regen noch verschlimmern. Endlich, endlich hören wir im Windgetöse ein schwaches, sehr fernes Tuten. Die Sirene! Im Dorf werden sie jetzt lebendig werden. Hoffentlich... Zuerst kommt Pistrosch auf seinem Moped angeprescht. Er fährt bis hart an die Bruchstelle, erst dort bremst er so scharf, daß die Reifen knautschen. Noch bevor er absteigt, kratzt er sich den Kopf. »Eh«, sagt er, »das sieht böse aus. Sehr böse.« Witschaß-Fritz steigt schweratmend vom Fahrrad. »So schlimm ist es wieder nicht«, meint er. »Das Wasser fließt in den Wald ab. Ins Dorf wird es nicht gleich kommen. Da sind die Wälle vom alten Schießstand dagegen. Aber hier kriegt es ein wenig Luft, und es kann nicht mehr so rasch steigen.« Pistrosch sieht sich die Sache gründlich an. »Der Rand wird mit Sandsäcken ausgepolstert, damit der Damm nicht weiter reißt. Sonst bleibt hier alles, wie es ist«, entscheidet er. Ein Gummiwagen, von Nitsches Fuchs gezogen, rollt eilig an. -36-
Ein paar Männer sitzen drauf. Schnell sind die Säcke abgeladen. Pistrosch springt mitten in die kalte Brühe. Mit Müh und Not vermag er sich im Strudel aufrecht zu halten. »Die Säcke her!« kommandiert er. Sie werden ihm zugereicht. Sorgfältig packt er sie an den Rand der Bruchstelle, stapelt einen Sack genau auf den anderen. Das Wasser muß kapitulieren. Es kann nur durch den Raum strömen, den Pistrosch freiläßt. Schließlich ist alles fertig. Der Vorsitzende greift nach der Hand, die ihm Witschaß hinunterreicht. Mit einem Ruck zieht er sich aufs Trockene. »Menschenskind, ist das kalt«, brummt er. Und schüttelt sich wie ein Hund. Witschaß-Fritz grübelt schon wieder. »Man müßte den Damm an ein paar ungefährlichen Stellen öffnen. Dann würde das Wasser ablaufen. Wenn genausoviel wegläuft, wie aus dem Oberland kommt, hätten wir nicht s mehr zu befürchten.« Pistrosch holt tief Luft. »Schön und gut«, sagt er, »aber weißt du die richtigen Stellen? Sonst verschlimmem wir die ganze Sache. Das Wasser darf um Himmelswillen nicht ins Dorf laufen.« »Bartel-Willem muß ran«, antwortet Witschaß-Fritz. »Das ist der einzige, der solche Dinger schon gemacht hat. Der versteht sich drauf.« Aber da kommt er schön beim Vorsitzenden an. Der BartelWillem hat das Dorf in der größten Not im Stich gelassen. Bei dem betteln? Kommt nicht in Frage. Ich bin ganz seiner Meinung. Tatsache. Aber Pistrosch fragt nicht nach meiner Meinung. Er schwingt sich in seinen nassen Klamotten aufs Moped und knattert zurück ins Dorf. Dort, wo er gestanden hat, ist ein dunkler Fleck auf dem Weg geblieben. »Bis um halb vier müßt ihr aushalten«, ruft Witschaß vom -37-
Rad, »dann kommt Ablösung.« Wir werden schon aushalten. Aber ob das Wasser aushält? Mittlerweile ist es Mittag geworden. Ich hole mir bei der Großmutter ein Riesenpaket Schnitten. Damit gehe ich von Wache zu Wache. Nur wer verspricht, bis um halb vier zu bleiben, bekommt seinen Proviant. Sie versprechen es alle. Wer hat schon keinen Hunger? So stehen wir Wache im strömenden Regen. Das Wasser steigt immer noch. Langsamer freilich als am Vormittag. Aber es steigt. Sonst passiert weiter nichts. Schon gegen drei starren wir ungeduldig ins Dorf. Wo bleibt die Ablösung? Wir sind naß und durchgefroren. Es macht gar keinen Spaß mehr. Auf einmal sind die großen Jungens da. »Schert euch hinter den Ofen, ihr erfrorene Bande«, rufen sie. Die haben gut reden. Den ganzen lieben Tag waren sie in der warmen Glashütte, während wir hier im Wetter gestanden haben. Ich könnte schon wieder mal Wut bekommen. So eine hochnäsige Bagage! Aber dann sehe ich, daß sie die Wache genauso einteilen, wie ich es heut früh gemacht habe. Das haben sie sich schon bei uns abgeguckt. Zufrieden stapfen wir ins Dorf.
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Der kleine Belo wird mißtrauisch Der kleine Belo wird mißtrauisch. Bartels Harras streckt alle vier Beine in die Luft. Heino ist mit seinem Schwiegervater zufrieden Wir kommen bei Pistroschs Haus vorbei, da sage ich ganz laut: »So eine eine Zucht! Wie kann man bloß den ganzen Tag im Bett liegen?« Das Fenster von der Schlafstube wird geöffnet. Frankas Mütter steckt den Kopf heraus. »Lärmt hier nicht so rum«, sagt sie leise. »Franka ist gerade eingeschlafen.« Ich beiße mir auf die Zunge. Daß ich auch immer alles falsch machen muß! »Geht's ihr schon besser?« frage ich. Doch die Frau hat das Fenster wieder zugeklappt. Der kleine Belo sieht mich von oben bis unten an. »He«, sagt er, »bist du nun unser Kapitän oder nicht?« Natürlich bin ich der Kapitän. »Dann gib dich nicht mit kleinen Mädchen ab.« »Brüll nicht so«, zische ich zurück. »Hast doch gehört, daß sie schläft.« Der kleine Belo zuckt mit den Schultern. Ob sie schläft oder nicht, ist ihm gleichgültig. Mir aber nicht. Mit niemandem kann ich darüber reden. Das ist ein Jammer. Franka heißt eigentlich Franziska. Weiß der Himmel, weshalb die Eltern so einen ulkigen Namen für sie ausgesucht haben. Franziska kann man eine Kuh nennen, zur Not noch eine Ziege. -39-
Aber ein Mädchen? Wir Kinder haben uns auf Franka geeinigt. Das paßt wenigstens zu ihr. Sie hat pechschwarze Haare wie der alte Pistrosch, und sie hängen ihr - zu einem dicken Zopf geflochten - immer vorn auf der Brust. Und dann hat sie schwarze Augen. Und rennen kann sie, schneller als der kleine Belo. Dabei ist sie noch ein Jahr jünger als wir. Sie geht nämlich erst in die 6. Klasse. Ich werde Franka später mal heiraten. Und wer das nicht glaubt, den hau ich zu Klumpen. Wie der Brocken-Theo immer sagt. Aber jetzt muß ich mich ranhalten. Die anderen Jungens sind schon bei den ersten Häusern des Oberdorfes. Bei Bartels bellt der Hund. Hat Theo etwa wieder mit einem Holzscheit geworfen? Zwei Männer stehen vor dem Tor. »Da kommen wir nicht rein«, sagt Witschaß-Fritz. »Wir müssen rein«, erklärt Pistroschi. Er hat sich inzwischen umgezogen, trägt jetzt eine graue Manchesterhose und eine Wattejacke. Furchtlos geht der Vorsitzende auf den Hund zu. Einen Meter vor Harras bleibt er stehen. »Nu, nu«, sagt er mit gespitzten Lippen, »ruhig mein Hündchen.« Das Hündchen will nicht ruhig sein. Es fletscht die Zähne und knurrt. Seine Augen verfolgen jede Bewegung des Mannes. Pistrosch geht in die Hocke. Während er immer wieder beruhigend auf den Hund einspricht, hält er ihm den Ärmel der Wattejacke vor die Nase. Harras schnappt plötzlich zu. Aber er bekommt nur den Stoff mit den Zähnen zu fassen. Pistrosch ist nicht einmal zusammengezuckt. Ganz ruhig bleibt er vor dem Hund hocken. Mit der Zeit wird Harras die Sache langweilig. -40-
Könnte man nicht mal so richtig in den Arm beißen, mag er denken. Dieser Stoff schmeckt abscheulich. Genau in diesem Moment erhebt Pistrosch die linke Hand. Er krault Harras unter dem Kinn. Sieh einer an! Das grimmige Vieh läßt den Jackenärmel fahren, fällt plötzlich auf die Seite und streckt die Pfoten in die Luft. Pistrosch packt mit beiden Händen zu und rollt den Hund lachend im nassen Hofsand hin und her. Harras jault vor Vergnügen. Puh! Ich stoße mit einem Male die Luft aus. Vor lauter Aufregung hatte ich glatt das Atmen vergessen. Solch ein Kerl ist der Pistrosch. Ich bin mit meinem späteren Schwiegervater sehr zufrieden. »So, den hätten wir überzeugt«, behauptet Pistrosch. Er geht zur Haustür und klopft. Er klinkt und rüttelt. Aber die Tür ist zu. Verriegelt und verrammelt. Ich schiele zum Holzstapel. Könnte man da nicht so einen Meterknüppel nehmen? Aber der Vorsitzende weiß schon, was er tut. Er klopft und donnert mit beiden Fäusten gegen die Türfüllung. Einmal, zweimal - fünf Minuten lang. Niemand kommt und öffnet. Da donnert Pistrosch noch einmal fünf Minuten. Endlich hören wir, daß drinnen eine Tür klappt. Der Riegel wird zurückgeschoben, und die Haustür geht nach innen auf. Der alte Bartel steht im Rahmen. Aber er sieht uns gar nicht. An Pistrosch vorbei geht er über den Hof zum Hackklotz. Dort legt er sich einen verwurzelten Kiefernkloben zurecht. Ratsch, fährt das Beil hinein. Jetzt weiß ich, was gespielt wird. Niemand soll sich etwa einbilden, daß der alte Bartel nur deshalb herausgekommen ist, weil da einer geklopft hat. Nein, das hat er nicht nötig. Seinetwegen könnte alle Welt stundenlang klopfen, er hat gute Nerven, bitte schön! Aber schließlich muß man ja auch mal Holz hacken, nicht wahr? Nur zum Holzhacken ist er -41-
also auf dem Hofe erschienen. Ich sehe mir den alten Griesgram das erste Mal richtig an. Er ist so lang, daß er sich ständig über seine Arbeit bücken muß. Sicher hat ihn das ein wenig krumm gemacht. Der braune Cordanzug, den er trägt, ist zum Holzhacken viel zu schade. So etwas zieht man an, wenn man am Sonntagvormittag die Felder besichtigt. Die Mütze kenn ich. Sie gehört eigentlich dem Langen. Vielleicht hat sie der Alte in der Eile verwechselt. Aber das schadet nichts, denn sie paßt dem Willemso gut wie dem Werner. Überhaupt ähneln sich die beiden sehr. Nur daß der Alte einen Schnurrbart hat, der jetzt mit seinen Spitzen grimmig in die Höhe gesträubt ist. Und seine Nase ist groß und rot. Großvater sagt immer, rote Nasen kämen vom Schnapstrinken. Bei dem alten Bartel könnte das zutreffen. Was er für Hände hat! So groß wie Teller. Sie umfassen den breiten Axtstiel und sind sich selbst dabei im Wege. Von dem möchte ich keine gelangt haben! Der Pistrosch soll sich vorsehen. »Mach mal Pause«, sagt der Vorsitzende plötzlich. Er sagt es ganz ruhig, als hätte er nie Streit mit dem Alten gehabt. Aha, denke ich, jetzt fängt er genauso an wie mit dem Hund. Aber Bartel-Willem hackt weiter. Die Scheite fliegen im Hof herum, so haut er zu. »Hab meine Zeit nicht auf dem Jahrmarkt gefunden«, knurrt er. Pistrosch sieht sich das eine Weile mit an. Als er aber merkt, daß der alte Kerl tatsächlich nicht hören will, geht er ganz nahe an ihn heran. Bartel holt gerade mit der Axt zu einem mächtigen Schlag aus. Sein Mund öffnet sich vor Anstrengung unter dem Bart zu einem schwarzen Loch. Schnell schiebt Pistrosch das Holzstück vom Hackklotz. Mit einem kurzen Schwung setzt er sich selbst drauf. Mich durchfährt es siedendheiß. So ein tollkühner Bursche! -42-
Was macht Bartel? Was macht er? Das Beil schwebt genau über seinem Kopf. Er kann es beim Herunterfallen gerade noch ablenken. Die Schneide saust am Klotz vorbei in den Hofsand Bis zum Öhr steckt sie drin. Für den Moment sind wir alle starr vor Schreck. Alle, außer Pistrosch. Der schlenkert vergnügt mit den Beinen, so daß die Hacken an das Klotz pochen. Der alte Bartel holt sein großkariertes Taschentuch hervor. Umständlich wischt er sich den Schweiß von der Stirn. »Bist wohl lebensmüde, Pistrosch?« sagt er brummend. »Müde bin ich«, antwortet der Vorsitzende, »da hast du recht. Die ganze Nacht hab ich nicht geschlafen. Das verdammte Hochwasser.« Bartel kramt aus der Tasche seines Anzuges die Deckelpfeife heraus. Nachdem er sie gestopft und angezündet hat, fragt er: »Was hab ich damit zu tun?« »Alle haben wir mit dem Hochwasser zu tun, alle. Auch du!« Bartel lacht kurz. Es klingt, als hätte er ein Reibeisen im Mund. »Hierher kommt das Wasser nicht«, behauptet er dann. »Aber in den Stall wird's kommen.« Das Beil steckt immer noch im Boden. Bartel schaut sehnsüchtig zu ihm hinunter. Schade, daß ich nicht Holz hacken kann, denkt er. Da wäre ich mit dem hier besser fertig geworden. »Der Stall geht mich nichts mehr an«, brüllt er plötzlich los, »ihr habt mich ja daraus vertrieben.« Jetzt rutscht Pistrosch vom Hackklotz. Er stellt sich ganz nahe vor Bartel auf. »Niemand hat dich vertrieben, Willem. Niemand. Du bist selber gegangen. Das ist es. Weil wir den Witschaß-Fritz als -43-
Stallmeister eingesetzt haben, deshalb bist du gegangen. Du wolltest eben keinen zweiten neben dir. Wolltest allein bestimmen. Aber der Fritz war auf Schule. Er kennt sich jetzt aus in der Viehzuchtwissenschaft. Und du hast die praktische Erfahrung. Ihr beide hättet ein gutes Gespann abgegeben. Aber dir hat es nicht gepaßt. Du hast einfach den Kram hingeschmissen.« Der alte Bartel merkt gar nicht, wie er mit dem Pfeifenstiel einen Zipfel vom Bart in den Mund schiebt. Nun kaut er darauf herum. »Na gut«, sagt er plötzlich. »Ich hab den Kram also hingeschmissen. Und was wollt ihr jetzt von mir?« Pistrosch läßt sich nicht zweimal fragen. Er schildert die Lage. Sagt auch, daß man den Damm an den richtigen Stellen öffnen müßte, damit das Wasser einen Ausweg findet. Der alte Bartel zieht nach dieser Rede das Beil aus der Erde. Will er etwa weiter Holz hacken? Er legt es mit der Breitseite auf den Klotz. »Alma«, ruft er durch die offene Haustür, »leg die grüne Joppe zurecht. Und die Füßlinge für die Stiefel.« Nun geht alles schnell. Kaum habe ich mir die Nase geputzt, da stapfen die drei Männer schon vom Hof. Ich sehe ihnen nach und muß lachen. Der alte Griesgram hat immer noch die Mütze vom Langen auf. So durchgeleiert ist er. Mit dem Vorsitzenden spricht er, mit Witschaß-Fritz aber nicht. Der Streit ist noch nicht beigelegt, nur vertagt. Jetzt wird erst einmal der Wegdamm geöffnet und dem Dorf geholfen. Dann wird man weitersehen. Morgen mach ich's mit dem langen Bartel genauso wie der Pistrosch mit dem alten, denke ich. Ganz bestimmt. Eigentlich wollten wir ja Rache üben für die Schmach, die er uns angetan hat. Aber in dieser Zeit geht das nicht. Es wird jeder -44-
Arm gebraucht. Und auf den Langen können wir schon gar nicht verzichten. Der findet sich in jeder Lage zurecht. Wie eine Katze fällt er immer auf die Beine. Dem wäre die dumme Geschichte mit dem verspäteten Alarm bestimmt nicht passiert. Schon bin ich auf dem Heimweg. Jetzt, da alles vorbei ist, spüre ich die Kälte wieder. Meine Zähne klappern. Und einen Hunger hab ich! Nicht zu beschreiben.
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Hubein-Schäfer flicht Zöpfe Hubein-Schäfer flicht Zöpfe. Der lange Bartel sagt zu einem Lehrling Meister. Witschaß-Fritz droht mit Gefangennahme Am nächsten Morgen ist alles anders. Wir Kinder werden nicht gebraucht. Die großen Jungens sind heute nicht in die Glashütte zur Arbeit gegangen. Sie lösen sich untereinander ab und stehen immer noch auf Wache. Diesmal bin ich der erste, der im Dorf herumspaziert. Schlafen die anderen noch? Tatsächlich. Den kleinen Belo muß ich glatt aus den Federn schütteln. Er reißt die Augen auf. »Was denn? Brennt's irgendwo?« fragt er. Wie kann es brennen bei so viel Wasser ringsum? Brocken-Theo ist gerade beim Frühstück. Er nickt uns durch das Fenster zu. Moment noch, bin gleich soweit. Theo ißt drei Teller Mehlsuppe. Da dauert so ein Moment ziemlich lange. Endlich stehen wir alle drei auf der Gasse. Was soll man anfangen? »Wir gehen zum Hochstand«, schlägt der kleine Belo vor. Gute Idee! Vom Hochstand können wir das ganze Dorf überblicken. Auf der Hügelmitte, nahe am Hof vom Bauer Lukas, ragt eine mächtige Eiche in den Himmel. Wir haben vierzehnzöllige Nägel in ihren Stamm getrieben. An denen können wir bis zu den ersten Ästen hochklettern. Von dort ist es nicht schwer, zum Hochstand zu kommen. Ganz oben, wo die Äste nur noch armdick sind, liegen ein paar Knüppel in den Gabeln. Wir haben sie mit alten Fußbodenbrettern abgedeckt. Zur Not kann diese luftige Fläche drei Mann tragen. Natürlich -46-
schwankt es ein bißchen, aber das sind wir schon gewöhnt. Ein Glück, daß es erst Februar ist. Die Eiche hat noch kein frisches Blatt. Nur ein paar gelbe vom Vorjahr hängen in der Gegend herum. Sie stören uns nicht weiter. Wir haben eine gute Aussicht nach allen Richtungen. An einer Stelle in der grauen Wolkendecke hat die Sonne ein Loch gefunden. Sie strahlt auf das Wassermeer, und es blitzt und funkelt zu uns herauf, daß wir die Augen schließen müssen. Der kleine Belo holt eine grüne Flaschenscherbe aus der Hosentasche. Die klemmt er sich in die Augenwinkel wie ein Monokel. Nun kann er alles sehen, denn die Sonne is t gegen grünes Glas machtlos. »Menschenskind«, ruft der kleine Belo und macht eine hastige Bewegung, so daß die Bretter unter uns knistern. »Menschenskind! Wir sind eingeschlossen.« Ich reiße ihm die Scherbe aus der Hand. Schnell wandert mein Blick rundum. Tatsächlich, überall um das Dorf steht Wasser. Rechts am Hügel vorbei wälzt sich der riesig angeschwollene Graben, der sich vor dem Wehr zum Mühlteich ausdehnt. Im Mühlgraben, also unter dem Wehr, ist das Wasser über Nacht mächtig gestiegen. Dort, wo der Hügel zu Ende ist, läuft es aus dem Graben auf die Kleinwiesen und von da weiter über einen flachen Feldweg in den Wald hinein. Überall unter den Kiefern und Birken glitzert es. Bis hinüber zu dem großen See, der sich schon gestern auf der Großwiese gebildet hatte. Also sind wir zur Insel geworden. Ich stelle fest, daß auf dem Wegdamm keine Wache mehr steht. Die großen Jungens haben sich auf den Querdamm zurückgezogen, denn er ist das einzige Hindernis für das ins Dorf drängende Wasser. Der Wegdamm aber, auf dem wir gestern Wache gestanden haben, ist an vier Stellen geöffnet worden. Das Wasser strömt durch die Lücken in den Wald, von da auf den Feldweg und dann auf die Kleinwiesen.... -47-
Mir wird ganz komisch im Kopf. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie nun die Strömung geht. Überall sehe ich bloß Wasser, Wasser, Wasser. Schnell gebe ich die Scherbe an Theo weiter. Der hustet in die hohle Hand. »Auf dem Querdamm sind schwarze Stellen«, sagt er. »Sicher haben sie über Nacht Feuer abgebrannt, damit sie sich wärmen und was sehen konnten. Ein großer Haufen Sandsäcke liegt auf dem Acker hinter dem Haus vom Witschaß-Fritz. Und das Wasser steht so hoch, daß es mit dem Dammscheitel eine Fläche bildet. Jeden Augenblick kann es überlaufen.« Da halten wir es auf dem Hochstand nicht mehr aus. Flink wie die Eichkatzen klettern wir vom Baum. »Alle Mann zum Querdamm!« kommandiere ich. Während des Laufens rumoren allerlei finstere Gedanken in meinem Kopf: Soll denn alles umsonst sein? Die ganze Mühe und Arbeit? Im Geiste sehe ich schon das Wasser an den Wänden der Unterdorfhäuser lecken. Und die Weiden sind überschwemmt, das Vieh steht bis zum Bauch im Wasser und Franka... In der Gasse werden wir aufgehalten. Witschaß-Fritz steht breitbeinig da und ruft: »Halt! Daß ihr mir nicht weiterrennt. Dort ist es gefährlich jetzt.« Sein Gesicht ist grau. Das weiche Fleisch über den breiten Backenknochen zittert und zuckt. Sicher hat er die vergangene Nacht wieder nicht geschlafen. Muß er ausgerechnet jetzt eine Arbeit für uns haben? Wir sind gar nicht mit ihm einverstanden. Auf dem Querdamm ist es viel interessanter als anderswo. Doch Witschaß-Fritz schert sich nicht um unsere Ansichten. Er packt mich einfach bei den Schultern und dreht mich auf der Stelle um. -48-
Wie ich mit dem Gesicht zur Wehrbrücke stehe, sagt er: »Lauft los. Dalli, dalli! Es ist eilig.« Mißmutig traben wir die Gasse zurück. Die Füße wollen nicht richtig. Aber Meister Witschaß paßt auf wie ein Luchs. Wir können nicht verschwinden. Bei der Mühle machen wir halt. Was liegt dort am Wege vor dem alten Düngerschuppen? Ein breiter Teichkahn. Wo kommt der auf einmal her? War er vielleicht schon immer in der Mühle? Das hätten wir eher wissen sollen. Gemeinsam kippen wir den Kahn um. Als er auf dem Bauch liegt und uns seine Rückseite zeigt, sehen wir die Bescherung. Die Bodenbretter sind so zusammengetrocknet, daß der kleine Belo seine Finger durch die Spalten schieben kann. »Zwecklos«, sage ich, »wenn wir den ins Wasser bringen, säuft er im Handumdrehen ab.« »Ihr werdet ihn abdichten«, befiehlt Meister Witschaß. Er führt uns hinter den Speicher. Dreißig Schritt vom Gebäude entfernt qualmt ein kleiner Blechtonnenofen. Und wer schürt das Feuer? Der alte Hubein. Witschaß kramt zwei alte Malerbürsten hervor. »Die taucht ihr in den heißen Teer, und dann geht's los. Aber macht die Sache ordentlich. Ich komme kontrollieren.« Eine schöne Arbeit haben wir da. Das Wachestehen von gestern war direkt eine Erholung dagegen. Aber es hilft nichts. Wir müssen ran. Theo nimmt den alten Stalleimer aus der Tonne und läuft damit zum Kahn. Der kleine Belo und ich, wir beginnen die Bodenbretter einzustreichen. Da haben wir den Salat! Es geht nicht. Der flüssige Teer rinnt durch die Ritzen auf den Sand unter dem Kahn. Was sollen wir machen? Witschaß-Fritz ist schon fort. »Verdammter Mist«, knurrt Theo. -49-
Der kleine Belo kratzt sich eine Teerperle vom Handrücken. »Wir hauen einfach ab«, schlägt er vor. Ich bin einverstanden. Aber da steht auf einmal der alte Hubein hinter uns. Er kichert vor sich hin. »So ein Ungeschick! Hehe. Hammel! Alles Hammel.« Er zieht ein Stück Werg aus der Tasche und beginnt, zweifingerlange Zöpfe daraus zu flechten. Brocken-Theo hat als erster begriffen. Er packt einen fertigen Zopf, zieht ihn durch die Teerbrühe und stopft ihn dann in eine der Ritzen. Danach schwappt er mit der Malerbürste Teer darüber. Tatsächlich, das wird was. Wir stopfen und pinseln um die Wette. Ein Teufelskerl, der Hubeinschäfer! Er kann die Zöpfe gar nicht schnell genug flechten. Schließlich muß ihm der kleine Belo dabei helfen. In einer knappen Stunde ist der Kahn dicht. Sein Boden glänzt schön schwarz in der Sonne. Stolz stendem wir um unser Werk herum. Wo bleibt denn nun der Meister Witschaß? Wollte er nicht kontrollieren? Bitte schön, soll er kommen. Wir haben ganze Arbeit geleistet, da kann keiner was bemeckern. Aber es kommt niemand, uns zu loben. Der alte Hubein ist gerade dabei, Sand in die Blechtonne zu schaufeln, damit das Feuer erstickt. Wir schlendern mit schwarz verschmierten Händen und Gesichtern auf die Wehrbrücke. Soll jeder sehen, wie wir geschuftet haben zum Wohle des Dorfes. Auf der Brücke steht der lange Bartel. Als er uns sieht, ruft er: »Teerpantscher! Teerpantscher!« Ich vergesse meine guten Vorsätze von gestern. Hatte ich etwa von Versöhnung gesprochen? Keine Spur. Mit dem hier haben wir nichts mehr zu schaffen. Der ist für uns Luft. Wortlos stolzieren wir an ihm vorbei. Dann klettern wir über -50-
einen Zaun. Wir wollen uns den Mühlgraben ansehen. Auf einmal ist der kleine Belo vor mir. »Scher dich in die Reihe«, schimpfe ich. Aber er denkt gar nicht dran. Ich drehe mich um. Der lange Bartel folgt uns mit einem Knüppel in der Hand. Deshalb also will der kleine Wicht nicht als letzter gehen. »Du bist ein Feigling«, flüstere ich ihm zu. Der kleine Belo wird rot bis über beide Ohren. Er tritt von einem Bein auf das andere. »Der Bartel ist imstande und schmeißt mir den Knüppel zwischen die Beine«, jammert er. Und dann läuft er wieder vor mir her. Es ist schon ein Kreuz mit solchem Waschlappen. Aber was soll ci h machen, Leute sind knapp. Ich nehme mir vor, von jetzt an den kleinen Belo eine Zeitlang links liegenzulassen. Unser Marsch führt uns am Mühlgraben entlang. Weit kommen wir nicht. Dort, wo im Graben eine kleine Verengung ist, haben sich mächtige Eisscho llen aufgestellt und verkeilt. Das Wasser kann nicht in seinem alten Bett weiterfließen, es läuft vielmehr über das rechte niedrige Ufer auf die Kleinwiesen. Ich zermartere mir den Kopf. Wo kommen die Eisschollen auf einmal her? Hab ich nicht gestern gesehen, daß jede Scholle, die durch das Wehr stürzte, in tausend Stücke zersprang? Und auf einmal gibt es Flächen, die beinah so groß wie ein Teichkahn sind. Die Strömung treibt sie geschwind heran. Krachend und splitternd schieben sie sich auf- und übereinander. Ein richtiger Eisberg hat sich gebildet. Mitten auf dem Block stehen Pistrosch und der alte Bartel. Mit einem langen Feuerhaken stemmen sie sich gegen die äußeren Schollen. Dabei strengen sie sich so an, daß es über ihren Schlä fen die blauen Adern heraustreibt. Aber es hat keinen Zweck. -51-
Bartel-Willem läßt plötzlich den Feuerhaken los und sagt zu Pistrosch: »Wir schaffen es nicht. Das schafft überhaupt keiner.« Seine Schnauzbartspitzen hängen traurig herab, so daß er sie bequem mit der Zunge erreichen könnte. Er kratzt sich mit dem Pfeifenstiel hinter den Ohren. »Damit habe ich nicht gerechnet«, murmelt er vor sich hin. »Sagtest du was?« fragt Pistrosch, ihn hilfesuchend anblikkend. Aber der alte Bartel weiß keinen Rat. Er kann bloß erklären. »Wie wir gestern den Wegdamm geöffnet haben, konnten wir das noch nicht wissen«, sagt er. »Es ist so viel Wasser gekommen, daß es der Wald gewissermaßen nicht verkraften kann. Hinterm Dorf ist die Brühe über den Feldweg und die Wiesen gelaufen. Und zuletzt auch in den Mühlgraben. Wie nun das Wasser hier stieg und stieg, fehlte plötzlich unter dem Wehr das Gefälle. Und die Eisschollen sind nicht mehr auf die Steinstufe geprallt, sondern gewissermaßen in Watte getaucht. Da blieben sie heil, und nun haben wir die Bescherung.« Er will sich eine Pfeife stopfen, findet aber die Tabakschachtel nicht. Pistrosch gibt ihm eine Zigarette. »Und? Was nun?« fragt er. »Hier bildet sich gewissermaßen ein Stau. Weil das Wasser nicht durchkann, wird es weitersteigen. Immer weiter. Bis es gewissermaßen den Spiegel vom Mühlteich erreicht hat. Und dann fließt überhaupt nichts mehr ab. Es läuft nur noch zu. Vom Oberland nämlich.« Pistrosch wirft seine Zigarette im hohen Bogen auf den Eisberg. »Dann ist der Damm nicht zu halten.« »Gewissermaßen nicht«, sagt der alte Bartel. »Spätestens heut abend ist es soweit.« -52-
Die beiden Männer stehen mit hängenden Schultern am Grabenrand. Sie sind müde. Man sieht es ihnen an. Es macht ihnen nichts mehr aus, so mutlos und erschöpft vor uns Kindern zu stehe n. »Hier hilft bloß eins«, beginnt der alte Bartel noch einmal. »Hier muß ein Sprengkommando ran. Die pelzen das Eis in einer Viertelstunde weg. Und dann haben wir Luft.« Pistrosch winkt ab. Sein Gesicht sieht aus wie zerknittertes Pergamentpapier. »Ich hab schon alles versucht und telefoniert«, brummt er. »Das Kommando ist im Oberland eingesetzt. Vor übermorgen kommen die nicht.« So wütend habe ich den alten Bartel noch nie gesehen. »Diese Idioten!« brüllt er. »Wenn sie da oben sprengen, kommt noch mehr Wasser zu uns. Sie machen ihm ja den Weg frei.« Er reißt sich die Mütze vom Kopf und schleudert sie uns vor die Füße. Pistrosch zieht langsam die Schultern hoch. Dann läßt er sie wieder fallen, hebt die Mütze auf und reicht sie dem alten Bartel. Beide stapfen auf dem Rand des Mühlgrabens dem Dorfe zu. Uns lassen sie stehn. »Das Wasser kann nicht ablaufen, gewissermaßen«, sagt Brocken-Theo mit der tiefen Brummstimme des alten Bartel. Wir lachen. Aber nicht lange. Denn plötzlich denken wir alle drei an den Querdamm. Spätestens heut abend wird er brechen. Das hat der alte Bartel gesagt. Und diesmal hat er sich bestimmt nicht getäuscht. Gibt es keinen Ausweg? Wir stehen und schweigen. Keinem fällt etwas ein. Plötzlich springt Brocken-Theo auf den Eisberg. »Los, die Feuerhaken her!« ruft er. »Wir versuchen's noch mal.« Warum nicht? denke ich. Schließlich sind wir drei. -53-
Da stehen wir schon auf dem Eisblock und stemmen uns aus Leibeskräften gegen die äußeren Schollen. Aber es ist alles umsonst. Das Eis läßt sich keinen Millimeter bewegen. Wütend knallt Brocken-Theo den Feuerhaken nach unten. »Zwecklos«, sagt er. Der kleine Belo zeigt in Richtung Wehr. Von dort schwimmen neue Eisschollen eilig heran. Gleich werden sie auf unseren Berg stoßen. Ehe es soweit ist, fällt plötzlich ein Schatten aufs Wasser. Ist da jemand? Wir blicken hoch. Der lange Bartel steht auf dem Damm und grinst. Er hat die Schildmütze von seinem Vater auf und die Hände in den Taschen. Ich überlege gerade, daß es bequem ist, wenn zwei im Hause die gleiche Kopfgröße haben. Man kann nie in Verlegenheit kommen. Da sagt der lange Bartel: »So wird das nichts.« Das sagt er genauso, als wäre zwischen ihm und uns nie etwas gewesen. Er kann lange reden. Wir hören gar nicht bin. Weil er doch erledigt ist für uns. »Ich wüßte schon was«, sagt der lange Bartel. Was wird er schon wissen? Hier ist nichts zu machen. Die Eis- schollen werden so lange liegenbleiben, bis sie weggetaut sind. Und bis dahin ist das Unterdorf jämmerlich ersoffen. Da kann kein Mensch helfen, und wenn er noch so schlau ist. »Allein kann ich das natürlich nicht machen«, sagt der lange Bartel. Also weiß er doch etwas. Will er das Eis vielleicht weghexen? Langsam werde ich neugierig. Und ich beschließe, es so zu machen, wie gestern der Pistrosch mit dem alten Bartel. Vorübergehend werde ich Frieden schließen, bis dem Dorf aus der Not geholfen ist. Danach ist auch noch Zeit, um auf die alte Geschichte zurückzukommen. Ich springe mit einem mächtigen Satz vom Eisberg auf den -54-
Damm. »Also«, sag ich zum Langen, »was weißt du? Wir könnten dir unter Umständen helfen.« Der Lange mustert mich mißtrauisch. Kann man dem trauen? fragen seine Augen. Schließlich gibt er sich zufrieden. »Aber ich mach die Sache nur, wenn ich wieder euer Kapitän bin.« Das könnte ihm so passen. Den Posten gebe ich nicht wieder her. Und wenn er sich auf den Kopf stellt. Brocken-Theo ist schon wieder wütend. Seine Schuhspitze knallt gegen einen Eisbrocken, so daß der in tausend Stücke zerspringt. Dann hustet er in die hohle Hand. »Ihr steht hier und streitet euch um den Posten, und derweil bricht vielleicht der Querdamm. Eine Zucht ist das!« Sieh mal einer an, wie sich der Theo mausert. Sonst kriegt er kaum den Mund auf. Und auf einmal will er mich kritisieren. Aber nicht genug! Auch der kleine Belo zupft mich am Ärmel. »Sag doch ja«, bettelt er. Von so einem Feigling laß ich mir überhaupt nichts sagen. Der lange Bartel zuckt mit den Schultern. Weil er die Hände immer noch in den Taschen hat, zucken sogar die Hosen mit. »Ich kann die Sache natürlich auch mit Tusche-Lothar und dem dicken Lukas machen. Nur, mit euch war mir's vielleicht lieber.« Was sagt er da? Andere sollen ihm bei der Rettung des Dorfes helfen? Kommt gar nicht in Frage! »Also«, presse ich heraus, »da übergeb ich dir also das Kommando.« Der Lange schiebt die Mütze ins Gesicht. Breitbeinig steht er plötzlich auf dem Damm. -55-
»Das wird eine tolle Sache, Leute«, erklärt er. »Aber nun nichts wie fort! Wir müssen uns beeilen.« An der Spitze läuft der lange Bartel, dann folge ich, und hinter mir kommt Brocken-Theo. Ganz am Schwänze trippelt der kleine Belo. Wie in alten Zeiten. An der Sandgrube machen wir halt. Heute ist niemand hier. Alle Säcke sind längst bis zum Platzen gefüllt. Bartel teilt uns ein. »Theo und du, Belo, ihr sucht hier im Scherbenhaufen nach einer alten Korbflasche. Sie muß irgendwo liegen. Vorige Woche habe ich sie gesehn. Das Korbgeflecht schneidet ihr runter, das brauchen wir nicht. Aber daß ihr mir um Himmels willen nicht am Verschluß rummontiert! Sonst geht er in die Binsen, und alles ist umsonst.« Er zeigt auf mich. »Wir beide gehen in die Schmiede.« Ich muß mich wundem, wie gut wir parieren. Jedenfalls laufe ich ohne Widerspruch mit ihm los, während Theo und der kleine Belo schon mit ein paar Knüppeln den Scherbenhaufen umgraben. Bei Bartels Hause bleiben wir stehen. »Du gehst jetzt langsam an der Schmiede vorbei und guckst, ob der alte Hentschke drin ist. Wenn ja, dann sagst du zu ihm, er soll sofort zum Querdamm kommen. Kapiert?« Natürlich habe ich kapiert. Der alte Hentschke, was der Meister ist, soll aus der Schmiede verschwinden. Dann ist nur noch der Lehrjunge da, und mit dem kommen wir schon zurecht. Ich renne wie ein geölter Blitz die Dorfstraße hinunter. Was hat der Lange bloß vor? überlege ich. Warum sagt er nichts? Doch dann denke ich: Hauptsache, dem Dorf wird geholfen. Wir werden schon noch erfahren, wie. Ich habe Glück. Der alte Hentschke ist tatsächlich beim Querdamm. Günter, der Lehrling, steht allein am Amboß und -56-
hämmert auf einer verbogenen Feuerhakenspitze herum. »Suchst du was Bestimmtes?« knurrt er mich an, während ich mich in der schwarzverräucherten Schmiede umsehe. »Der lange Bartel will mit dir verhandeln«, sage ich. »Na und? Was machst du dann hier?« Mir fehlen die Worte. Ich kann ihm doch nicht sagen, daß ich als Kundschafter geschickt bin. »Scher dich raus«, schimpft Günter weiter. »Du starrst mir ja den Hammer aus den Händen.« So ein eingebildeter Kerl! Da ist er kaum vier Jahre älter als ich, und schon glaubt er auf mir herumhacken zu können. Am liebsten würde ich ihm ins Schmiedefeuer spucken. Aber das geht nicht. Man muß den Günter bei guter Laune halten. Vor dem Tor liegt ein großer alter Mühlstein. Hier hat mir keiner was zu sagen. Also setze ich mich drauf. Nach fünf Minuten kommt der Lange. Ich zwinkere ihm zu: Die Luft ist rein. »'n Tag auch«, sagt er zum Lehrjungen. »Immer fleißig, Meister?« Donnerwetter, denke ich, der kann einem den Honig ums Maul schmieren, wie ein Großer. Günter fühlt sich auf den Bauch geklatscht. »Die Deichselbeschläge für euren Landauer sind noch nicht fertig«, sagt er freundlich. »Vielleicht siehst du nächste Woche noch mal mit rein?« »Ich komme nicht deswegen«, antwortet der Lange. Und nach einer kleinen Pause fährt er fort: »Das Hochwasser hat euch allerhand Arbeit gebracht, wie?« »Es langt zu. Von früh bis abend steht man in der Bude. Kein Mensch würde so schuften. Bloß ich bin so blöd.« Der lange Bartel schüttelt mitleidig den Kopf. So schwer -57-
haben's die Schmiedemeister. Nicht zu glauben. Endlich rückt er mit seinem Anliegen raus. »Mich schickt der Onkel, du weißt schon, der da draußen in der Bahnwärterbude steckt.« Günter läßt den Hammer auf den Amboß fallen und überlegt. Tatsächlich, er kennt diesen Onkel so ein bißchen. Aber was will der von ihm? »Das Karbid für die Lampen ist ihm ausgegangen«, erklärt der lange Bartel.« Jetzt kann er nicht durchs Wasser zum Bahnhof. Und ihr habt doch hier so einen Schweißapparat, der mit Karbid gespeist wird. Da sind vielleicht so zwei, drei Pfund übrig.« Günter kratzt sich hinterm Ohr. Mit dem Karbid, das ist so eine Sache. Es gehört nicht in Kinderhände. Deshalb wiegt er auch bedenklich den Kopf. »Willst du nicht lieber warten, bis der Meister zurück ist?« Der Lange läßt sich nicht fangen. »Wenn's nicht zu lange dauert«, sagt er, »kann ich gern warten. Bloß, der Onkel hockt bei uns in der Stube. Er muß gleich' zum Dienst.« Da sitzt Günter schön in der Klemme. Natürlich braucht so ein Schrankenwärter Karbid. Das leuchtet ihm ein. Die Reichsbahn muß Licht haben, zum Beispiel für die Signale. Sonst kann es vorkommen, daß ein Lokführer das Haltsignal überfährt, und schon ist das größte Unglück passiert. Günter sieht im Geiste zwei Züge aufeinanderrasen. Die Leute schreien um Hilfe. Aber niemand kann in der Nacht zu ihnen, denn überall steht das Wasser. Bis an den Bahndamm. Erschrocken läßt der Lehr junge den Hammer fallen. Um ein Haar hätte er seinen Fuß damit getroffen. »Wieviel sagtest du? Drei Pfund? Ich weiß nicht, ob noch soviel da ist.« -58-
Doch der Lange läßt nicht locker. »Soviel möchte es schon sein. Sonst reicht es am Ende nicht.« Als er aber unter seiner Joppe einen kleinen Blechkanister hervorzieht, auf dem mit schwarzer Farbe »DR« - Deutsche Reichsbahn steht, ist Günter überzeugt. »Komm mit«, sagt er, »wir werden sehen, was sich machen läßt.« Sie verschwinden in der finstersten Ecke der Schmiede, dort wo das Licht vom Koksfeuer nicht mehr hinreicht. Ich sitze derweil auf meinem Mühlstein und sehe den Hühnern zu. Eine Henne kratzt vor meinen Füßen im Hofsand. Sie kann mir auch nicht sagen, wo der Lange den reichsbahneigenen Kanister her hat. Aber das ist letzten Endes egal. Hauptsache, wir haben das Karbid. »Du kriegst es ganz bestimmt wieder«, versichert der lange Bartel. Und Günter denkt: Wenn es so ist, dann brauche ich dem Meister gar nichts zu sagen. Der Lange gibt den Kanister mir. Ich soll ihn tragen. Na gut, trage ich ihn also. Schließlich muß ich mich ja auch an der Sache beteiligen. «Schwenk das Ding nicht so. Karbid ist gefährliches Zeug.« »Was machen wir denn mit dem gefährlichen Zeug?« »Abwarten.« In der Sandgrube sitzen Brocken-Theo und der kleine Belo vor der blankgeputzten Flasche. Sie ist so groß wie ein Wassereimer, hat aber einen sehr engen Hals. Ich kann gerade meinen Daumen durchstecken. »Mach nicht solche Faxen«, schimpft der Lange. »Los, zurück zum Mühlgraben.« Ich trage wieder den Kanister. Theo schleppt die Flasche. Der -59-
lange Bartel führt uns, und er weiß es so einzurichten, daß uns niemand auf unserem Wege sieht. Immerfort muß der kleine Belo vor, um die Lage zu peilen. Aber die Leute sind fast alle beim Querdamm. Am Mühlgraben angekommen, steigt Brocken- Theo wieder auf den Eisberg. Diesmal hat er ein Beil in der Hand. Mit ihm hackt er ein Loch. Die Eissplitter Biegen durch die Luft und fallen klirrend neben uns nieder. Nun habe ich begriffen. Wenn das Sprengkommando nicht kommt, dann werden wir eben das Eis sprengen. Und zwar mit Karbid. Ich bin schon wieder mal stolz auf uns. Wie werden sie alle staunen, wenn es plötzlich donnert. Sie werden gelaufen kommen, und wo ist das Eis? In tausend Stücke zersprengt, schwimmt es schon den Mühlgraben hinunter, noch ehe jemand sagen kann: Habt auch schönen Dank! Das Dorf ist nun gerettet. Und die großen Jungens werden voller Neid aufschauen und denken: Während wir auf dem Damm machtlos zusehen mußten, wie unsere Füße naß wurden, haben die Teufelskerle hier gesprengt. Eine Schande ist das für uns. Pistrosch aber wird zum Telefon gehen und mit dem Sprengkommando sprechen. Es ist nicht mehr nötig, daß ihr kommt, wird er sagen, unsere Kinder haben die Geschichte inzwischen erledigt. Und der Sprengmeister wird staunend fragen: Wie? Was? Die Kinder...? Niemand kann mehr Hammel zu uns sagen. Auch der alte Hubein nicht. Und der WitschaßFritz wird den Leuten verkünden: Es ist ein wahrer Segen, daß wir die Jungens haben. Gestern sind sie den ganzen Tag in Wind und Regen Wache gestanden, heute haben sie den Kahn geteert und nun auch noch das Eis gesprengt. Ein wahrer Segen, Tatsache. Vielleicht wird der alte Bartel seine Mütze nicht mehr umtauschen. Es ist mir eine Ehre, gewissermaßen, unter der Mütze meines -60-
Sohnes herumzulaufen, so wird er sprechen. Und seine Schnauzbartspitzen werden sich dabei in die Höhe sträuben. Weil er nun einmal so gute Laune hat, wird er auch dem Witschaß-Fritz gleich Versöhnung anbieten, und alles ist erledigt. Und wir haben das geschafft mit einem einzigen Donnerschlag... Die Stimme des langen Bartel reißt mich aus meinen Gedanken. »Du stehst Schmiere«, sagt er zu mir, »es darf niemand kommen.« Dann packt er die Flasche und schleppt sie aufs Eis. Sie paßt genau in das Loch hinein. Eine saubere Arbeit hat der Theo da geleistet. Ich sehe mich um. Es ist niemand in der Nähe. Oder doch? Wer kriecht zum Beispiel da hinten im Schilf herum? Ich strenge meine Augen an und erkenne... den kleinen Belo! Er hat sich vor lauter Angst verdrückt. »Feigling, elender«, rufe ich ihm zu. »Ruhe«, zischt der Lange von unten. »Willst uns wohl mit aller Gewalt die Leute auf den Hals hetzen?« Warum er nur so heimlich tut, denke ich. Gleich wird alle Welt den Donnerschlag hören. Sicher auch Franka. Was ist das? wird sie fragen. Und nach einer Weile wird die Mutter ans Bett treten und sagen: Beunruhige dich nicht. Die tapferen Jungens haben nur das Eis gesprengt und uns gerettet. Der Domko-Heino war auch dabei. Und Franka wird geschwinde an ihren schwarzen Zöpfen flechten und sagen: Ich bin eigentlich schon gesund, Mütterchen, wann darf ich denn raus? Wenn wir wieder einmal Wettlauf machen, dann lasse ich den Heino gewinnen, ganz sicher, wird sie noch denken und... »Achtung!« kommandiert der lange Bartel. »Alle Mann hinter -61-
den Damm! Volle Deckung!« Zusammen mit Theo springt er schnell vom Eisberg. Sie legen sich neben mich. Wir senken die Köpfe ganz tief auf das nasse graue Gras. Theo kneift die Augen zu und steckt sich die Zeigefinger in die Ohren. Währenddessen hockt der kleine Belo weit vom Schuß hinter einer gelben Schilfwand. Er könnte sich selbst ohrfeigen. Daß er immer so eine entsetzliche Angst hat! Sobald es irgendwo brenzlig wird, schlottern ihm alle Glieder. Manchmal, wenn er was Schlechtes geträumt hat, dann zwingt er sich, den übrigen Teil der Nacht nicht mehr zu schlafen. Weil er Angst hat, der Traum könnte wieder kommen. So einer ist das. Aber wehe, es sagt einer Feigling zu ihm. Das wurmt ihn mächtig. Am liebsten möchte er dann mit beiden Fäusten dreinschlagen - nur, da hat er schon wieder Angst. Man müßte mal was ganz Verrücktes tun, denkt der kleine Belo hinter dem Schilf Vorhang. Es müßte so eine mutige Sache sein, daß ihnen der »Feigling« im Halse steckenbleibt. Jetzt und immerdar. Er weiß selbst nicht, wie es kommt. Jedenfalls erhebt er sich plötzlich. Ohne darauf zu achten, daß ihm die harten, dürren Schilfstengel das Gesicht peitschen, geht er aufrecht durch das Gestrüpp. Genauso aufrecht kommt er auf dem Damm entlangspaziert, bis zu der Stelle, wo wir in voller Deckung liegen. »Mensch«, schreie ich aufgeregt, »verschwinde! Schnell! Gleich kracht's.« Aber mein Belo steht da, die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben. Er zuckt mit den Schultern. Soll's doch krachen, was macht ihm das schon aus? »Hinlegen!« kommandiert der lange Bartel mit seiner schärfsten Stimme. -62-
Der kleine Belo denkt nicht daran. Schließlich springt Brocken-Theo auf. Er packt den leichtsinnigen Patron am Schlafittchen und zerrt ihn vom Damm herunter. Endlich gibt sich der kleine Belo zufrieden. Schade, denkt er, nun wollte ich mal mutig sein. Und da lassen sie mich nicht. Eine Weile liegen wir alle vier stumm nebeneinander. Vor uns auf dem Eis tut sich nichts. Der lange Bartel wird unruhig. »Vielleicht ist der Verschluß nicht dicht«, flüstert er. Das wäre eine große Schweinerei. Wir könnten lange auf die Explosion warten und das Dorf auf seine Rettung. »Na«, sagt der kleine Belo plötzlich, »da werd ich mal nachsehen müssen.« Ehe Theo zupacken kann, ist der kleine Wicht über den Damm weg auf den Eisberg geklettert. »Zurück!« donnert der lange Bartel. »Sofort zurück! Sonst pas- siert ein Unglück.« Er hat alle Vorsicht vergessen. Es ist ihm gleichgültig, wie weit seine Stimme reicht. Doch der kleine Belo läßt sich nicht beeinflussen. Er ist schon bei der Flasche. Ich riskiere schnell einen Blick über den Damm und sehe ihn am Verschluß herumhantieren. Mir steigt das Blut in den Kopf. Die Glieder werden mit einem Male pflaumenweich. »Lieber kleiner Belo«, bettle ich, »komm um Himmelswillen zurück.« Das Gesicht vom langen Bartel ist vor Wut krebsrot. BrockenTheo liegt wie ein Toter auf dem Rücken. Er hat die Augen geschlossen und macht ein Gesicht, als wollte er sagen: Es ist doch alles gleich. Ein Unglück passiert sowieso. »Der Verschluß ist in Ordnung«, kräht der kleine Belo vom Eis- berg, »ich hab mir die Sache genau angesehen.« »Zurück!« brüllt Bartel noch einmal. Plötzlich kracht es vor uns ol s. Es ist, als wollte die ganze -63-
Welt zusammenfallen. Wir werden von einem Eissplitterhagel überschüttet. Eine Wasserfontäne schießt hoch. Die Erde schwankt für einen kurzen Augenblick. Wir liegen wie benommen. So ein Getöse. Aber dann fahren wir hoch. Der kleine Belo steht immer noch auf dem Eisberg. Er jammert: »Mein Bein, mein Bein!« In Sekundenschnelle sind wir bei ihm. Was ist los? Er kann uns nichts sagen. Er jammert immer nur: »Mein Bein, mein Bein!« Der lange Bartel zieht ihm das rechte Hosenbein hoch. Da sehen wir das Unglück. Ein Glassplitter vom Flaschenhals ist ihm durch den Hosenstoff und die Strümpfe in die Wade gefahren. »Hilfe«, jammert der Verletzte laut, »Hilfe, mein Bein!« Wir schleppen ihn gemeinsam auf den Damm. Dort muß er sich hinsetze n. Was sollen wir bloß tun? Durch den Donner der Explosion sind die Erwachsenen angelockt worden. Sie preschen von allen Seiten auf uns zu. Vorn läuft der Vorsitzende, hinter ihm Witschaß-Fritz und danach der alte Bartel. Der Hubein-Schäfer ist auch dabei. »Was ist hier los?« schreit der Vorsitzende noch ganz außer Atem. Wir stehen vor Schreck wie gelähmt. Keiner kann einen Ton sagen. Witschaß-Fritz kümmert sich um den kleinen Belo. Zwei von den großen Jungens beßehlt er: »Schafft ihn zur Gemeindeschwester. Aber dalli, dalli. Damit er nicht zu viel Blut verliert.« Sie heben den schreienden Kerl an und schleppen ihn eilig weg. Bartel-Willem untersucht inzwischen das Loch auf dem Eisberg. Mit zusammengepreßten Lippen kommt er auf den -64-
Damm zurück, geht auf uns zu und haut mit einem raschen Schlage dem langen Bartel die Mütze vom Kopf. »Karbid, gewissermaßen«, sagt er. Da wissen die anderen Bescheid. Pistrosch wendet sich zu uns. »Seid ihr denn alle verrückt?« brüllt er. »Was habt ihr euch dabei gedacht?« Wir wollten das Dorf retten, bitte schön. Das haben wir uns gedacht. Der Vorsitzende fährt sich mit der Hand an den Kopf. »Mit Karbid sprengen! So was! Ins Auge hätte das gehen können! Ins Auge, versteht ihr?« Er winkt hoffnungslos ab. Dann fährt er, leiser geworden, fort: »Wir quälen uns mit dem Querdamm nun, bloß damit er noch ein paar Stunden länger hält. Und ihr macht hier so einen Blödsinn.« Er dreht sich um. »Haben wir jetzt vielleicht Zeit, auf die Kinder Obacht zu geben?« fragt er. »Niemand hat Zeit dazu. Und diese Bagage nutzt das aus, anstatt uns zu helfen.« Das geht uns bis in den Magen. So wird die Sache also angesehen? Der Pistrosch hätte lieber weiter brüllen sollen. Das hätte uns nicht so gestört. Der Vorsitzende tritt auf mich zu und packt mich an der Windbluse. »Bist du nicht der Kapitän?« Ich will etwas sagen, aber die Worte bleiben mir im Halse stecken. »Ein Versager bist du«, brüllt Pistrosch plötzlich los, »ein lächerlicher Versager!« Die Leute murmeln beifällig. Ich senke den Kopf. Auch wenn -65-
er brüllt, kann er gemein sein, denke ich. Aber niemand kann schließlich wissen, daß der lange Bartel inzwischen wieder unser Kapitän geworden ist. »Verschwindet«, sagt Witschaß-Fritz mit drohender Stimme. »Aber dalli! Laßt euch nicht mehr sehen, so lange das Hochwasser anhält. Sonst sperren wir euch alle Mann ins Spritzenhaus, verstanden?« Wir kratzen eilig die Kurve. Bloß weg hier. Es ist alles aus. Ein paar junge Kerle halten sich die Bäuche vor Lachen. »Hahaha! Mit Karbid wollten sie den Eisberg sprengen. Halt mich fest, sonst fall ich vor Lachen um. Nicht eine Scholle haben sie damit geritzt.« »Hammel!« ruft der alte Hubein. »Alles Hammel!«
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Heino verlangt Gerechtigkeit Heino verlangt Gerechtigkeit. Die Gemeindeschwester berichtet von einem zerbrochenen Quirl. Der kleine Belo zählt bis 2011 Mit dem Zeigefinger male ich allerlei Fratzen auf die vom Küchendunst angelaufene Fensterscheibe. Rechts oben, das ist der Pistrosch mit seinen harten Stoppeln im Gesicht. Daneben grinst midi Witschaß-Fritz an. Seine paar Haare sind rechts und links vom Scheitel wie mit Schuhwichse an den Kopf geklebt. Und darunter kaut jemand an seinem Schnauzbart. Das ist der alte Bartel. Ich male meine ganze Wut auf die Fensterscheibe. Mit der Zeit werden die Fratzen so abscheulich, daß sogar unsere Katze einen krummen Buckel macht, als sie am Fenster vorbeikommt. »Schmier mir die Scheiben nicht voll«, schimpft die Großmutter und klappert wütend mit den Herdringen. Es ist zum Auswachsen. Ich weiß nicht, was ich anfangen soll. Erst habe ich ein Weilchen Mundharmonika gespielt. Lauter traurige Melodien. Das ging der Großmutter auf die Nerven. Kann ich vielleicht nach dieser Blamage was Lustiges spielen? Dann wollte ich auf den Boden klettern, um durch die Dachluke das Hochwasser zu beobachten. Der Großmutter war es zu gefährlich, und sie hat die Bodenkammertür abgeschlossen. Jetzt darf ich nicht mal die Scheiben bemalen. Was soll ich denn tun? Draußen ist alle Welt mit dem Wasser beschäftigt. Vielleicht ist es sogar schon an einigen Stellen über den Querdamm gelaufen. Und ich muß hier drin hocken, wo ich vor Langeweile bald umkomme. Ich könnte natürlich versuchen, in einem -67-
günstigen Augenblick durch die Tür zu wischen. Das wäre nicht das Schlimmste. Aber was soll ich draußen? Sobald man von einem der Großen erwischt wird, geht's ab ins Spritzenhaus. Der Witschaß-Fritz hat bestimmt keinen Spaß gemacht, als er das sagte. Mißmutig starre ich zum Fenster hinaus. Es regnet. Der ganze Hof ist voller Pfützen, in denen unser Hahn herumspaziert. Das Vieh hat's gut. Es kann laufen, soviel es will. Niemand kümmert sich darum. Ich hole tief Luft. Wie sich alles geändert hat. Erst, da waren wir gut. Wir konnten uns die Beine wegrennen, wie es hieß, die Menschen sollen zur VerSammlung kommen. Und frieren konnten wir, auch beim Wachestehen. Niemand hat danach gefragt, ob wir uns vielleicht beim Abdichten des Teichkahnes die Sachen verschmieren. Niemand. Und was hat die Großmutter für ein Theater gemacht, als sie den schwarzen Teerfleck auf der Windjacke sah. Aber das zählt alles nicht. Jetzt zählen bloß noch die drei Pfund Karbid. Die haben alles verdorben. So ist das also, denke ich. Da kannst du hundert Mal gute Taten vollbringen, und ein einziges Mal machst du was Schlechtes. Und schon schreit alle Welt los: Seht euch den Übeltäter an! Ab ins Spritzenhaus mit ihm! Ist das vielleicht Gerechtigkeit? Ich nehme mir vor, die Sache mit dem Großväter zu besprechen, sobald er kommt. Er wird mich schon verstehen und aufklären. Schließlich bin ich nicht auf den Gedanken mit dem Karbid gekommen. Nein, das war der lange Bartel. Und Kapitän war er zu dieser Zeit auch. Also muß er den größten Schuldsack tragen. Und warum hat der Pistrosch mich angebrüllt, von wegen Versager und so? Jetzt weiß ich schon, was der Großvater sagen wird. Wenn du so schlau sein willst und Gerechtigkeit verlangst, wird er sagen, dann hättest du auch vorhin am Mühlgraben schlau sein müssen. Das ist ganz einfach: An deiner Stelle hätte ich das Kommando -68-
wieder an mich gerissen, sobald das Wort Karbid gefallen war. Wer schlau ist, macht so eine gefährliche Sache nicht mit, hätte ich an deiner Stelle gesagt. Und Feierabend! Genau diese Worte wird der Großvater sprechen. Und dabei wird er sich die Brille absetzen, die Gläser putzen und sich freuen, daß er ein so kluger Mann ist. Insgeheim muß ich ihm recht geben. Wir können dem langen Bartel nicht die ganze Schuld aufladen. Das wäre ungerecht. Wir alle haben unser Päckchen zu tragen. Und ich sogar das größte. Denn der Brocken-Theo und der kleine Belo, die hätten auf mich letzten Endes gehört. Tatsache. Warum habe ich bloß die Sprengerei nicht verhindert? Während ich so da sitze und überlege, wird es langsam dunkel. Die dicken Regenwolken sind schuld, daß die Finsternis heute schon so zeitig kommt. Die Großmutter schiebt mir den Korb vor die Füße. »Hole Holz«, sagt sie. »In ein paar Minuten siehst du im Schuppen nicht mal mehr die Hand vor den Augen.« Ich greife mir den Korb und gehe zur Tür hinaus. Eine Gelegenheit, denke ich. Jetzt bist du einmal draußen, und ßnster wird es auch gleich. Niemand kann dich sehen, wenn du dich einigermaßen geschickt verhältst. Aber der Regen! Er peitscht mir ins Gesicht. Wenn ich bloß eine Mütze hätte. Doch dann beschließe ich, auf die Mütze zu verzichten. Ich will die Großmutter nicht mißtrauisch machen. Im Schuppen packe ich Scheit für Scheit in den Korb. Dabei lege ich mir den Fluchtplan zurecht. Am besten wird es sein, wenn ich hinter der Scheune über den Zaun klettere. Da bin ich mit einem Satz auf der Gasse. Fünf Minuten später steht der Korb allein im Schuppen. Ich drücke mich vorsichtig an den Zäunen entlang hinunter ins Unterdorf. An der Kreuzung brennt eine elektrische Lampe. Das ist eine gefährliche Stelle für mich. Ich muß sie mit einem -69-
Sprung überqueren. Neben der Milchbank nehme ich Anlauf. Los! Hoppla, da wäre ich doch beinah jemanden ins Rad gerannt. Auf einmal radelte einer aus dem Dunkel in den Lichtkreis. Genau mir vor die Füße! Und wer ist es? Die Gemeindeschwester. Sie hat einen schwarzen Umhang an und eine weißgestärkte Haube auf dem Kopf. Aber kein Licht am Fahrrad. Das ist mir eine. Gerade will ich rufen: »Das kostet drei Mark!« und im Dunkeln verschwinden, da fällt mir was ein. »Schwester Maria«, frage ich so höflich wie nur irgend möglich, »wie geht's denn dem kleinen Belo, bitte?« Die alte Frau blinzelt mich durch die naßgeregneten Brillengläser an. »Wer fragt da?« Ihre Stimme dröhnt, als käme sie aus einer Gießkanne. Donnerwetter, denke ich, hat die aber einen Schnupfen. Ist Gemeindeschwester und hat Schnupfen. So was! Mir ist es immer peinlich, wenn ich meinen Namen sagen muß. »Ich bin dem Domko seiner«, antworte ich deshalb. »Warst du nicht auch beteiligt an der Detonation?« Wie umständlich sich manche Leute ausdrücken. »Ich war dabei, Schwester«, sage ich. »Und hat man dir ordentlich den Hosenboden strammgezogen und versohlt?« So eine Frage. Ich bin ganz verdutzt. Stotternd erwidere ich: »Nnnein.« »So«, sagt die Schwester, »man hat dich also nicht versohlt. Weiß der Himmel, was sich die Eltern heutzutage denken. Früher, da gab's bei solchen Gelegenheiten reichlich Schläge. Das war noch Erziehung. Meine Mutter hat einmal einen langen Quirl auf meinem Rücken zerbrochen, weil ich Kaffee auf mein -70-
neues weißes Musselinkleid geschüttet hatte. Nie wieder in meinem Leben hab ich auch nur einen Tropfen Kaffee verschüttet. Und ihr? Ihr sprengt die halbe Welt in die Luft, und es findet sich keine Hand, die euch straft.« Ich habe keine Lust mehr, mich mit der alten Frau zu unterhalten. »Wie geht es denn nun dem kleinen Belo?« frage ich, schon gar nicht mehr so höflich. »Schlecht genug, den Umständen entsprechend«, antwortet sie und steigt wieder aufs Rad. Im Handumdrehen hat sich ihr schwarzer Umhang in die Finsternis eingewickelt. Komisch, denke ich. Wegen ein paar Kaffeeflecken hat die Mutter sie geprügelt. Aber daß sie nicht ohne Licht fahren darf, das hat ihr noch niemand beigebracht. Doch dann richte ich meine Gedanken auf den kleinen Belo. »Schlecht genug, den Umständen entsprechend.« Das waren ihre Worte. Was soll man damit anfangen? Daß die Leute nie richtig Auskunft geben können! Aber vielleicht geht es dem kleinen Belo wirklich schlecht? Er könnte einen Arzt brauchen. Aber wie soll der Arzt aus dem großen Dorf hierher kommen, wenn ringsum das Wasser steht? Jetzt erst fühle ich richtig, was wir angestellt haben. Ich achte nicht mehr auf die Leute, die mich sehen könnten. Ich renne, was das Zeug hält. Dann stehe ich endlich vor dem niedrigen Haus, in dem der kleine Belo wohnt. Ich weiß, wo er schläft. Er hat eine eigene Kammer. Durch ihr Fenster kann man direkt auf den Mühlteich sehen. Leise schleiche ich mich um die Ecken. Dann kratze ich mit den Fingernägeln an den Scheiben und pfeife unser Signal. Drinnen piepst es. »Wer ist denn da?« -71-
»Ich bin's«, flüstere ich, die Lippen fest an die Scheibe gepreßt. Der kleine Belo balgt sich ein Weilchen mit dem Federbett herum. Dann sehe ich einen weißen Fleck im Fenster auftauchen. Das ist sein Gesicht. »Wie geht's?« frage ich. »Die Schwester hat den Splitter mit einem silbrigen Ding herausgezogen, das war so eine Zange oder so ähnlich...« »Eine Pinzette«, sage ich ungeduldig. »Richtig«, flüstert der kleine Belo, »eine Pinzette. Und dann hat sie das Bein verbunden. Jetzt juckt es ganz erbärmlich. Ich kann nicht einschlafen, weißt du.« Ich atme auf. Also kann es nicht sehr schlimm sein. »Das Jucken läßt bald nach«, tröste ich ihn. »Wenn du bis 465 zählst, dann wirst du auch schlafen können.« »Ich hab schon bis Tausend gezählt. Es geht nicht. Der Schlaf verkriecht sich immer wieder.« »Er kommt schon noch.« »Klar, kommt er. Jetzt werd ich bis 2011 zählen. Aber eine Gemeinheit ist es doch.« »Was ist eine Gemeinheit?« »Konnte der Splitter nicht in den Arm fahren? Aber nein, er sucht sich das Bein aus. Jetzt kann ich ein paar Ta ge nicht laufen.« Ich verstehe. Wenn es einem von uns schwerfällt, in einer Tour still dazuhocken, dann dem kleinen Belo. Es wird eine harte Nuß für ihn werden. »Ich komme jeden Tag ein paarmal vorbei«, versichere ich. Und dann pfeife ich durch die Zähne. Das heißt: Mach's gut! Der kleine Belo pfeift auch: Mach's besser! Ein bißchen erleichtert schleiche ich vom Hof. Dabei riskiere ich einen Blick zum Querdamm. An drei Stellen brennen hohe -72-
Holzstöße. Im roten Schein der Flammen packen dunkle Schatten eilig Sandsäcke auf den Dammscheitel. Der Wind treibt ein paar Rufe an mein Ohr: »Dalli, dalli!« Und: »Hierher, den Sack!« Es sieht alles so merkwürdig aus. Solange es das Hodhwasser gibt, haben sich die Leute immer beeilt. Aber sie haben auch überlegt dabei, daß sie keinen Schritt umsonst tun. Jetzt im Feuerschein hetzt alles durcheinander. Man stößt sich gegenseitig an, fährt hierhin und dorthin, und keiner ist da, der den Betrieb mit seinem Kopfe steuert. Da begreife ich: Es geht um das Letzte. Das Wasser hat zum Sprung angesetzt. Man muß ihm den Weg verbauen, so schnell wie möglich. Sonst ist alles für die Katz. Mein Blick wird schärfer. Auf der Gasse kann ich eine lange Reihe von Ackerwagen erkennen. Sie stehen bereit, falls das Unterdorf geräumt werden muß. Vorhin bin ich an ihnen vorbeigegangen, ohne sie zu sehen. Da hatte ich nur den kleinen Belo im Kopf. Falls sie nun doch räumen müssen, denke ich, werden acht Hände fehlen. Und es wird niemand da sein, der auf Franka aufpaßt, daß sie der kalte Wind nicht greifen kann. Niemand. Ich erinnere mich an die Worte von Brocken-Theo. Achtzehnhundertfilzlatsch mußten die Leute in der Nacht räumen. Natürlich in der Nacht. So ein Unglück sucht sich immer die Finsternis aus... Langsam gehe ich die Gasse hinauf. Mein Kopf ist schwer wie ein Oktoberkürbis. Was soll bloß werden? An der Milchbank bleibe ich mit einem Ruck stehen. Was war das? Ein Donnerrollen ist in der Luft. Dann schießt hinter der Wehrbrücke - in der Nähe des Mühlgrabens - ein greller Blitz auf. Und es donnert noch einmal. Diesmal aber laut -73-
und so heftig, daß mir die Luft wegbleibt. »Hurra!« rufe ich so laut ich kann ins Getöse. »Sie sprengen, sie sprengen!« Und vor lauter Freude hüpfe ich durch die Pfützen wie ein hungriger Sperling. Da ist das Sprengkommando doch noch gekommen. Ich könnte glatt den alten Kastanienbaum umarmen, dessen Stamm eine Seite der Milchbank trägt. Ich könnte... Aber dann lausche ich: Jemand tutet dreimal in ein Hörn. Das heißt: Sprengung vorbei! Alles in Ordnung! Das Eis hat kapitulieren müssen. Tatsache. Jetzt wird es von der Strömung davongejagt, und das Wasser kann endlich ablaufen. Meine Beine wollen mit mir fort. Wohin denn? Zum Mühlgraben natürlich. Aber ich stoppe sie mit aller Gewalt. Regungslos stehe ich auf der Kreuzung. Was die Gemeindeschwester nur mit ihrer Prügelei hat, denke ich. Heutzutage strafen uns die Großen viel schlimmer. Alle rennen und arbeiten, daß die Schwarte knackt. Und wir, die wir was verzapft haben, dürfen einfach nicht mitmachen. Ein zerbrochener Quirl kann da gar nicht mitzählen.
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Der alte Hubein schlägt Alarm Der alte Hubein schlägt Alarm. Franka will ihren Vater nicht mehr drücken. Heino wird wieder Kapitän Heute scheint die Sonne. Sie steht am Südosthimmel direkt über der Giebelspitze unseres Hauses. Im Hof füttert der Großvater die Hühner mit kleingeschnittenem altem Brot. »Ist das Wasser gefallen?« frage ich und reibe mir den Schlaf aus den Augen. »Es steigt nicht mehr, also wird es fallen«, sagt der Großvater. Ich überlege. Die größte Gefahr ist vorüber. Aber das Hochwasser hat sich noch nicht verlaufen. Ob da die Ankündigung vom Witschaß-Fritz von wegen dem Spritzenhaus noch gilt? »Was stehst du hier rum?« fragt der Großvater mürrisch. »Wasch dich und iß etwas. Dann holst du mir im Gasthaus ein paar Zigarren.« Nun habe ich keine Sorgen mehr. Wenn mich der Großvater ins Dorf schickt, kann auch der Witschaß-Fritz nichts dagegen machen. Im Nu bin ich gewaschen. Ich stopfe schnell die Honigschnitten in mich hinein. Dann trinke ich die Milch. »Willst du Zigarren mit oder ohne Bauchbinde?« fragte ich den Großvater. »Bauchbinde, Bauchbinde«, knurrt er, während er im Portemonnaie kramt. »Ist heute vielleicht ein Feiertag?« »Drei Dreißiger und eine zu einer Mark«, sagt er dann. Und er gibt mir ein blankes Zweimarkstück. Wenn er sich eine so teure Zigarre leistet, dann hat er gute Laune. Auch wenn er äußerlich mürrisch aussieht. Könnte man -75-
das nicht ausnutzen? »Na, was stehst du noch rum?« Wie soll ich es ihm bloß beibringen? »Weißt du«, sage ich, »da bleibt ein Groschen übrig.« »Na und?« »Die Limonade kostet fünfundzwanzig Pfennige.« Großvater schüttelt den Kopf. »Tt, Tt«, macht er. »Kaum daß ein Tag nach seinen Schandtaten vergangen ist, da stellt er schon wieder Ansprüche.« Doch dann gibt er mir fünfzehn einzelne Pfennige. Befriedigt trabe ich von dannen. Wäre ja auch noch schöner. Er raucht dicke Zigarren, und für unsereinen ist nicht mal eine Limonade übrig. Beim Rennen lausche ich zur Wehrbrücke hinüber. Noch immer tobt und donnert das Wasser über die Steinstufe. Aber mir kommt es vor, als klänge es gar nicht mehr so gefährlich. Auf einem der Geländerpfosten rekelt sich eine dicke Katze in der Sonne. Gemütlich leckt sie sich die Pfoten. Sicher hat sie eben eine Maus verspeist. Oder einen Haussperling. Wer weiß das schon bei so einem Katzenvieh? Ein Scheppern und Klirren weckt mich aus meinen Gedanken. Wo kommt es her? Der alte Hubein steht bei der Milchbank und schlägt wie toll mit einem Deckel gegen die Aluminiumkannen. »Haltet ihn, haltet den Dieb. In das Spritzenhaus mit ihm!« brüllt er aus Leibeskräften. Und - sehe ich richtig - er zeigt auf mich dabei. Ein paar junge Burschen kommen den Weg herauf. Sie springen, durch den Alarm geweckt, sofort auf mich zu. »Das ist er!« rufen sie. »Er hat das Karbid gema ust.« -76-
Ich drehe mich nach der ersten Schrecksekunde auf der Stelle um und laufe zurück, daß der Wegsand unter meinen Sohlen hervorspritzt. Die Jungens kommen mir nach. Sie sind mir dicht auf den Fersen. Wie soll ich sie abschütteln? Oben auf dem Hügel biege ich schnell um das Haus vom Lukasbauern. Unsere Hochstandeiche versperrt mir den Weg. Ohne zu überlegen, greife ich in die Vierzehnzöller und ziehe mich mit aller Kraft hoch. Dicht an den Stamm gepreßt wie ein Specht bleibe ich so hängen. Unter mir poltert es. Zwei der Jungen sind mir gefolgt. »Wo ist er bloß hin?« wundert sich der eine. »Ich hab ihn doch eben noch um die Ecke rennen sehen.« Der andere läuft ein Stück weiter. Dann kommt er zur Eiche zurück. »Verschwunden«, sagt er. »Wie vom Erdboden verschluckt.« Keiner kommt auf den Gedanken, mal hochzublicken. Wie leicht könnten sie mich fangen! »Gehen wir«, sagt der eine wieder. »Jedenfalls haben wir ihm einen schönen Schreck eingejagt. Der Kerl hat tatsächlich gedacht, daß wir ihn ins Spritzenhaus sperren wollen, haha.« Lachend verschwinden sie um die Ecke. Ich lasse mich einfach los und plumpse hart auf die Erde. Meine ganze Kraft hat mich mit einem Male verlassen. So erschrocken bin ich. Warum bin ich bloß ausgerissen? Ich könnte mich selbst ohrfeigen. Tatsache. Wegen dem Spritzenhaus so eine Angst zu haben. Feigling! So weit haben sie mich nun gebracht. Ich sage schon selbst Feigling zu mir. Nicht genug, daß sie uns von der Arbeit ausgesperrt haben, nein, nun verhöhnen sie uns auch noch. Dem alten Hubein werde ich demnächst einen Salzhering an den Angelhaken hängen, wenn er wieder mal am Grabenrand eingeschlafen ist. Da soll er an mich denken! -77-
Aber wenn die Leute nun wirklich glauben, ich hätte das Karbid gestohlen? Möglicherweise hat der Schmiedelehrling seinem Meister bis heute nichts gesagt. Und der alte Hentschke wollte irgendwas schweißen, und siehe da, das Karbid war weg. Weil es nun aber Leute gibt, die mich gestern haben auf dem Mühlstein vor der Schmiede sitzen sehn, wird er sich die Sache zusammenreimen. Wer weiß, was ihm die Leute alles erzählt haben! Es gibt da welche, die quatschen und quatschen, und im Handumdrehn haben sie aus einem kranken Hund einen toten Menschen gemacht. Ich muß zur Schmiede. Soll der Großvater auf die Zigarren warten, diese Sache hier ist wichtiger. Diesmal schleiche ich mich von der Gartenseite aus an die Werkstelle heran. chls ich mein Ohr an das verstaubte und verqualmte Fenster der Schmiede drücke, rätscht plötzlich ein Eichelhäher los. Das miserable Vieh sitzt auf dem hohen kahlen Birnbaum, den wir im Herbst manchmal plündern. Wenn ich doch bloß eine Luftbüchse hier hätte! Ich würde dem Biest eins auf den Balg brennen, daß ihm das Krakeelen vergeht. Jetzt aber kann ich mich nicht rühren, denn in der Schmiede spricht der alte Hentschke mit seinem Lehrling. »... du mußt noch viel lernen, mein Lieber«, sagt er. »Es geht ja nicht um die paar Pfund Karbid. Die sind schnell wieder beschafft. chber daß du dich hast bequatschen lassen und es ihm gegeben hast, das ist der Fehler.« Fing, ping macht der Hammer auf dem Amboß, und der Häher ruft: Rätsch! Rätsch! Man versteht kein Wort mehr. Ich muß schnellstens verschwinden. Wie lange wird es noch dauern, und der Schmied wird auf den Krach im Garten aufmerksam. Dann bin ich geliefert. Mit einem grimmigen Blick zum Birnbaum verlasse ich leise das Grundstück vom alten Hentschke. Eigentlich weiß ich ja nun Bescheid. Der Günter hat seinen -78-
Mund auf gemacht, und wir stehen wenigstens nicht als Spitzbuben da. Nein, der lange Bartel hat dem Günter das Karbid ehrlich abgequatscht. Das ist ein Unterschied. Ich sehe den Großvater vor mir. So groß ist der Unterschied nicht, würde er sagen. Schließlich war Lug und Trug bei der Sache. Aber geschickt und listig ist dieser Bartel. Das kann man nic ht anders sagen. Wenn er seine Geschicklichkeit nur für eine gute Sache einsetzen würde. Kunststück, denke ich, wenn sie uns mit dem Spritzenhaus drohen, da kann man überhaupt nichts mehr gutmachen. In der Gaststube geht es hoch her. Die Katastrophenkommission des Kreises hat erlaubt, daß Bier und Schnaps wieder ausgeschenkt werden. In den Tagen der höchsten Gefahr war es nämlich verboten. Die jungen Glasmacher waren am meisten davon betroffen, denn sie trinken das Bier wie unsereins das Wasser. Und dabei behaupten sie noch, das gelbe Zeug führe ihren von der Hitze ausgedörrten Körpern allerlei Nährstoffe zu. Warum essen sie dann nicht einfach mehr Brot? Heute wollen sie das Versäumte nachholen. Anstatt vom Damm weg ins Bett zu gehen, sind sie in die Gast- stätte gekommen. »Wie denn«, sagt einer von ihnen, »hat das Glas vielleicht ein Loch?« Und er guckt sich verwundert um. Das Bier war im Handumdrehen in seinem Halse verschwunden. »Bring mir noch eins. Aber diesmal einen halben Liter, wenn du nichts dagegen hast.« Der Wirt hat nichts dagegen. Er schwitzt schon am frühen Morgen. So ein Betrieb! Ich kaufe die Zigarren und setze mich mit meiner Limonade an einen leeren Tisch. Während ich das süße Zeug langsam die -79-
Kehle hinabrieseln lasse, höre ich dem Gespräch der Glasmacher zu. Sie sprechen vom Wasser, vom Damm, von der Arbeit und schließlich auch von Pistrosch und Witschaß-Fritz. Da spitze ich die Ohren. Vielleicht haben sie auch etwas an den beiden auszusetzen, und ich finde Verbündete. Aber ich werde enttäuscht. Alle loben sie nur den Vorsitzenden und den Stallmeister. Wie die den Kram geschmissen haben! Als hätten sie ihr Leben lang nichts weiter gemacht als Hochwasser bekämpft. Und das ganze Dorf sei mit ihnen einig gewesen, sogar der alte Bartel. Staatskerle sind das! Ich trinke einen Riesenschluck. Lobt ihr die beiden nur, denke ich. Sie haben auch ihre Fehler. Jawohl! Sie sind ungerecht. So ungerecht, daß jetzt niemand von uns Kindern spricht. Haben wir vielleicht nicht gearbeitet? Mit einem Schwung knalle ich die leere Flasche und das Glas auf die Theke. »Mahlzeit!« rufe ich noch, dann verschwinde ich durch die Tür ins Freie. Drinnen rufen sie mir empört nach: »So ein Tölpel...!« Mögen sie schreien, was sie wollen. Sie sind ungerecht. Heben den Pistrosch und den Witsdiaß in den Himmel und sagen kein Wort über uns Kinder. Überall ist Ungerechtigkeit. Vom Gasthaus aus muß ich bei Pistrosdhs Haus vorbei. Ob ich will oder nicht. Ich könnte natürlich einen Umweg machen und über ein paar Zäune klettern. Aber das fällt mir nicht ein. Da haben sie am Ende gleich was Neues, um auf uns herumzuhacken. Wie ich so langsam an der großen Fichte vorbeispaziere, klappt auf einmal das Fenster. »Heino«, ruft Frankas Mutter, »willst du nicht mal für einen Sprung reinkommen? Franka geht es schon wieder besser.« Himmel, denke ich, jetzt wollen die mir auch noch die -80-
Leviten lesen. »Ich kann nicht«, sage ich trotzig. »Aber weshalb denn nicht?« Ich stottere und werde rot. »Man hat mir schon gesagt, daß ich ein Versager bin.« Die Frau am Fenster lacht. »Wer hat das gesagt?« »Der Vorsitzende.« Für einen Augenblick wird Frankas Mutter ernst. »So, das hat er also gesagt! Aber komm trotzdem rein. Franka möchte Gesellschaft haben.« Ach, denke ich, Franka will es also? Mein Zorn zerschmilzt wie Straßenteer in der Augustsonne. Da kann ich nicht widerstehn. Es ist warm im Zimmer. Franka sitzt im großen Ohrensessel beim Ofen. Sie hat einen dicken Rollkragenpullover an und auch Filzschuhe. Ihr Zopf liegt auf der Brust. »Da bist du ja endlich«, plappert sie sofort los, als ich eintrete. »Niemand kommt mich besuchen. Dabei möcht ich doch gern wissen, was draußen los ist. Ausgerechnet jetzt muß ich krank sein.« Franka kann nicht nur schnell rennen, sie bringt es auch fertig, sich eine lange Zeit mit jemanden zu unterhalten, ohne daß der andere ein einziges Wort sagen muß. »Es ist so gut wie vorbei«, brumme ich. »Das Wasser steht, mit der Zeit wird es ablaufen.« »Das hat mir Papa schon erzählt, heute früh«, plappert sie weiter. »Und gestern abend bin ich bald aus dem Bett gefallen, so hat es geknallt und...« Der Pistrosch hat's ihr also erzählt, denke ich. Da wird er weidlich auf uns geschimpft haben. Todsicher. Die Sache mit dem Karbid vergißt er uns nicht so schnell. -81-
Ich werde wieder rot bis über beide Ohren. »Gestern abend haben sie nun gesprengt«, sage ich völlig abwesend. »Ja, ja, Papa hat's erzählt, und sie...« Papa hat's erzählt. Es ist zum Verrücktwerden! Was will sie eigentlich von mir, wenn sie schon alles weiß? Ich stehe von der Ofenbank auf. »Wo willst du denn schon hin?« fragt Frau Pistrosch erstaunt. »Ich muß nach Hause. Der Großvater braucht die Zigarren.« »Schade«, klagt Franka, »wir könnten noch ein bißchen tratschen.« »Mit mir macht's heute keinen Spaß, Franka, ich hab Sorgen.« »Bloß noch ein Weilchen«, bettelt sie. Ich werde langsam wieder wütend. Soll ich hier etwa den Notnagel spielen? Wenn sie gesund wäre und draußen herum spazieren könnte, dann würde sie sich um mich gar nicht kümmern. Verschwinde, Versager, würde sie mit ihrer spitzen Zunge sagen. Und basta! Frankas Mutter kommt plötzlich vom Aufwaschtisch und fährt mit der Hand unter mein Kinn. »Was ist bloß mit dir los, Heino?« fragt sie ganz leise. Und ihre Stimme ist so zart, daß ich die Rauheit der Finger unter meinem Kinn gar nicht spüre. Am liebsten möchte ich losheulen. Aber kann man vor zwei Frauen heulen? Die Mutter setzt sich auf einen Küchenstuhl und zieht mich auf ihren Schoß. Tatsächlich, ich sitze auf ihrem Schoß wie ein kleines Kind. Warum wird mir auf einmal so warm? »Erzähle«, fordert mich die Frau auf. Und ich schütte meinen ganzen Kummer von wegen der Ungerechtigkeit aus. Warum tue ich das? Ich weiß es selber nicht. -82-
Frankas Mutter läßt mich ausreden. Dann erst sagt sie: »Nun paß mal auf, Heino. Du siehst ja Gespenster. Der Pistrosch, das ist nun mein Mann, nicht wahr? Und den kenne ich ein bißchen besser als du. Mit uns schimpft der auch manchmal. Wirklich! Aber er meint es gar nicht so. Hinterher tut es ihm meistens leid. Bloß, dann findet er nicht mehr die richtigen Worte. Das ist es. Und so ganz in Ordnung war ja die Sache mit dem Karbid von euch nun wirklich nicht. Oder?« »Sie war nicht in Ordnung«, sage ich heiser. »Na also. Und nun laß dir von Franka erzählen, wie der Vorsitzende wirklich über euch denkt.« Sie gibt mir einen kleinen Stups, so daß ich von ihrem Schoß rutsche. »Setz dich hierher«, befiehlt Frahka, und sie klopft mit ihrer Hand auf die Sessellehne. Ich bin ganz benommen und gehorche. »Der Vater hat gesagt«, plappert sie einfach los, »er hat gesagt, daß ihr dem Dorfe viel geholfen habt. Gelobt hat er euch, wirklich. Bloß mit der Sprengerei, da hättet ihr euch vergriffen.« Franka rückt ganz nahe an mich heran, so daß mich ihre Schläfenhaare kitzeln. »Aber das hat auch seine guten Seiten gehabt«, flüstert sie in mein Ohr. »Gestern nachmittag hat Papa den Sprengmeister noch einmal angerufen. Legt einen Zahn zu, hat er in den Hörer gebrüllt. Sonst pelzen wir das bißchen Zeug mit Karbid weg. Unsere Kinder haben's schon versucht, und einer ist dabei verunglückt. Und der Sprengmeister am anderen Strippenende hat sich daraufhin die Sache noch einmal richtig überlegt. Schlimm muß es dort stehen, hat er sich gedacht, wenn sogar schon die Kinder sprengen. Und so sind sie spät am Abend gekommen. Beim Transformatorenhäuschen hat sie der Witschaß-Fritz mit dem Teichkahn abgeholt.« -83-
Mich überläuft es ganz kalt. So steht die Sache also? »Ja«, sagt Franka, »so steht es. Und mit Witschaß-Fritz hat Papa auch schon gesprochen. Weil der euch doch ins Spritzenhaus sperren wollte. Besser wäre es gewesen, hat Papa zu ihm gesagt, wenn du wenigstens deinen Kopf behalten hättest. Man muß mit den Kindern vernünftig sprechen und nicht mit Einsperren drohen. Und Witschaß-Fritz hat sich den Kopf gekratzt und gesagt: Du kannst schon recht haben. Bloß das haben wir nicht auf der Stallmeisterschule gelernt.« Franka schweigt. Ich sehe ihr ins Gesicht. Vielleicht macht sie mir was vor? Ich muß sofort zu Pistrosch und sehen, was an der Sache dran ist. Eher habe ich keine Ruhe. »Bist du nun zufrieden?« fragt die Mutter vom Aufwaschtisch her. »Gut und schön«, sage ich, »ihr wißt nun also Bescheid. Aber die andren Leute, vor denen er uns abgekanzelt hat, wissen's die vielleicht? Sie schlagen gleich Alarm, wenn sich einer von uns auf der Straße blicken läßt.« »Papa wird auf der nächsten Versammlung darüber sprechen, verlaß dich drauf!« ruft Franka dazwischen. »Eher laß ich mich von ihm nicht mehr drücken.« Das geht nicht. Auf einmal ist det Vorsitzende zum Sündenbock geworden. Dabei haben wir die Geschichte mit dem Karbid verzapft. Weshalb soll nun plötzlich der Pistrosch darunter leiden? »Drück ihn nur«, sage ich zu Franka, »drück ihn ganz fest, sobald er heimkommt.« Dann rase ich wie der Blitz aus der Stube. Draußen mache ich einen Riesenfreudensprung. Pistroschs schwarzer Hahn kräht erbost hinter mir her. Er macht das ganze Hühnervolk verrückt mit seiner Hopserei, soll das heißen... Der Großvater steht am Zaun. Ich sehe es ihm direkt an der -84-
Nasenspitze an, wie sehr er auf das Rauchzeug gewartet hat. »Du hast wohl die Zigarren erst gedreht?« fragt er mürrisch. »Ja, ja!« rufe ich schon wieder im Laufen. Im Unterdorf pralle ich beinah mit Witschaß-Fritz zusammen. »He«, sagt er, »bleib stehen.« Ich beobachte genau seine Bewegungen. Falls er die Hand hebt, um mich vielleicht doch noch ins Spritzenhaus zu stecken, zische ich ab. Aber er hat andere Sorgen. »Hol deine Leute zusammen, aber dalli, dalli! Nimm den dicken Lukas dazu, weil der kleine Belo nicht kann. Und dann kommt ihr zur Mühle. Da gibt's Arbeit für euch. Kapiert?« Wie sollte ich nicht kapiert haben? Ich renne, was das Zeug hält. Keiner kann mich heute aufhalten. Brocken-Theo nimmt sich schnell eine Semmel vom Tisch. »Gleich bin ich so weit.« Wir laufen zum langen Bartel. Der ist mißtrauisch. »Wenn sie uns nun eine Falle stellen?« fragt er. Ich lege die Hand aufs Herz. Sie meinen's ehrlich mit uns. Tatsache. Auch der dicke Lukas hat Bedenken. Er will nicht so richtig. »Ihr lacht midi immer aus«, sagt er, »weil ich so einen Bauch habe.« Niemand wird ihn auslachen. Dafür werd ich sorgen. Endlich ist er bereit. Gemeinsam preschen wir zur Mühle. Im Laufen keucht Theo plötzlich: »Wer ist denn nun eigentlich der Kapitän?« Wir bleiben mit einem Ruck stehn. Der lange Bartel schluckt und schluckt. Dann sieht er mich an. »Mir könnten sie vielleicht nicht trauen. Wegen dem Karbid, gewissermaßen. Also mach du derweil den Kapitän.« -85-
Ein guter Kerl, der lange Bartel. Ich kommandiere: »Zur Mühle, marsch!« Pistrosch steht am Speicher und empfängt uns. »Na, du Versager?« sagt er. Aber er blinzelt mir dabei mit dem linken Auge zu und lacht. Dann haut er mir auf die Schulter, daß ich in die Knie gehe. »Dalli, dalli!« ruft der Witschaß-Fritz. eBook Info Title: Hochwasser im Dorf (Palm-Fassung) Author: Joachim Nowotny
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