Scan by Schlaflos
Buch Ein neues Mittelalter, eine neue Epoche voller Magie und Fabelwesen, ist über das Land gekommen...
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Scan by Schlaflos
Buch Ein neues Mittelalter, eine neue Epoche voller Magie und Fabelwesen, ist über das Land gekommen, und es bricht eine verheerende Epidemie aus, vor der es keine Rettung zu geben scheint. Da erhält die Ärztin Caitlin Shepherd einen mysteriösen Auftrag: Um ein Heilmittel für die grausame Krankheit zu finden, soll sie in die mythische Anderswelt vordringen. Doch auf ihrer Reise in das Land der Träume und Nachtmahre muss sie nicht nur gegen äußere Gefahren bestehen, sondern auch gegen sich selbst. Denn Caitlin, die letzte Hoffnung der Menschheit, vereinigt in sich fünf sehr widersprüchliche Persönlichkeiten, und eine davon scheint ein fremdartiges, besonders gefährliches Wesen zu sein ... Autor Mark Chadbourn wurde 1960 im britischen South Derbyshire geboren. Er arbeitete als Polizeireporter für Zeitungen und die BBC, bevor er mit seiner ersten veröffentlichten Kurzgeschichte den Preis als bester neuer Autor des Horrormagazins Fear gewann. Danach verlegte er sich ganz auf das Schreiben und erzielte gleich mit seiner »Weltendämmerung«-Saga einen großen internationalen Erfolg. Mark Chadbourn lebt in London und den Midlands. Weitere Informationen auch unter www.markchadbourn. com. Bereits erschienen: DIE RÜCKKEHR DER TEMPELRITTER: 1. Klingen der Macht. Roman (24352), 2. Haus der Pein. Roman (24353) WELTENDÄMMERUNG: 1. Im Anbruch der Finsternis. Roman (24191), 2. Der Zyklop. Roman (24192), 3. Im Angesicht der Götter. Roman (24193) Demnächst erscheint: DIE RÜCKKEHR DER TEMPELRITTER: 3. Die Jäger von Avalon. Roman (24354) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Mark Chadbourn
Haus der Pein Die Rückkehr der Tempelritter 2 Ins Deutsche übertragen von Joannis Stefanidis blanvalet Die englische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »The Queen of Sinister. The Dark Age« bei Victor Gollancz/Orion Publishing Group, London. Um weithin weis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2006 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Copyright © 2004 by Mark Chadbourn Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Luserke/Sam und Hanka Steidle (Collage) Redaktion: Alexander Groß V. B. • Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN-10: 3-442-24353-X ISBN-13: 978-3-442-24353-2 www.blanvalet-verlag. De
Chronik einer untergegangenen Welt Eines Nachts schied die uns bekannte Welt lautlos dahin. Als die Menschheit erwachte, fand sie sich an einem
Ort wieder, der sich auf geheimnisvolle Weise verwandelt hatte. Über den Städten kreisten Fabelwesen, deren feuriger Atem die Wolken rötete. Übernatürliche Geschöpfe suchten das Land heim - Kobolde und Gestaltwandler, Blut saugende Geister und Menschen, die sich in Wölfe verwandeln konnten, absonderliche Tiere, deren Schreie die Nacht erkalten ließen, und noch viele mehr, zu verschieden und mannigfaltig in ihrer Art, um jedes Einzelne zu begreifen. Die Magie war wieder lebendig, und sie war allerorten. Niemand wusste, warum es geschehen war — auf Befehl irgendeiner höheren Macht oder als willkürliches Ereignis im Gezeitenstrom des Seins -, der Schock für die menschliche Gesellschaft saß jedenfalls tief. Aller Glaube an das, worauf die Leute sich als Garanten für ihre Sicherheit verlassen hatten - Politiker, Gesetze, die traditionellen Religionen -, war erloschen. Nichts davon zählte mehr in einer Welt, in der Geschöpfe jenseits aller Vorstellungskraft aus dem Dunkel der Nacht springen und mit einem Wimpernschlag Leben vernichten konnten. Und über allem standen die Götter - wundersame Wesen, die der verschwommenen kollektiven Erinnerung der Menschheit und den Tiefen uralter Mythologien entsprangen, Wesen, die uns so überlegen sind, dass wir auf das Niveau von erschrockenen, hilflosen Tieren redu5 ziert wurden. Vor langer, langer Zeit waren sie schon einmal hier gewesen und schufen damit den Ursprung unserer wildesten Träume und dunkelsten Ängste, aber nun, da sie uns ein zweites Mal besuchten, waren sie fest entschlossen, für immer zu bleiben. In den Tagen nach ihrem Erscheinen, als die Welt wieder ein Ort der Mythen wurde, kämpften diese Götter untereinander um die Vorherrschaft, und in dieser schrecklichen Auseinandersetzung wurde unsere gesamte Zivilisation vernichtet. Überall gab es Tod und Zerstörung. Angst schlotternd traten die Überlebenden aus dem Chaos dieser Verwandlung hinaus in eine von Grund auf veränderte Welt, aus der die vertrauten Muster des Lebens verschwunden waren: Es gab keine modernen Kommunikationsmittel mehr, im Land herrschte Anarchie, und die Gesellschaft war zurückgeworfen in ein neues Mittelalter, in dem der Aberglaube regierte. Das Sein selbst hatte sich gewandelt: Magie und Technik standen fortan gleichberechtigt nebeneinander. Es galten neue Regeln, die zu befolgen waren, neue Grenzen, die man nicht überschreiten durfte, und die Menschheit stand nun nicht mehr am Ende der Nahrungskette. Es war ein Zeitalter der Wunder und Schrecken, der Mythen und Angst, ein Zeitalter, in dem das Überleben des Menschen nicht mehr selbstverständlich war. 1 Krähenleben »Bis auf den Tod ist das Leben die traurigste aller Angelegenheiten.« EDITH WHARTON Zwei Stürme. Draußen eines der nächtlichen Unwetter, die den Übergang vom Winter in den Frühling kennzeichneten. Drinnen ein Sturm aus Tod und Verderben. Leichen stapelten sich im dörflichen Gemeindesaal, im abscheulichen Wirrwarr eines mittelalterlichen Beinhauses, auf einem Parkettfußboden, der einst Hochzeiten, Geburtstage und Jubiläumsfeiern erlebt hatte, und im Anbau versperrten die Toten den Blick auf die Esstische, an denen abertausende Mahlzeiten eingenommen worden waren. Selbst auf den früher keimfreien Arbeitsplatten in der Küche stapelten sich die Leichen. Anfangs hatte man sie noch respektvoll nebeneinander aufgebahrt, um Ordnung zu halten in dem unbegreiflichen Chaos. Doch als sich mit der Zeit das volle Ausmaß der Katastrophe offenbarte, war man dazu übergegangen, die Leichen einfach in irgendeiner Ecke aufzustapeln. Bevor das Massensterben so richtig begann, hatte man die Toten noch einzeln bestattet, doch das ließ sich schon bald nicht mehr bewerkstelligen. Inzwischen bestand keine Hoffnung mehr, den Rückstand aufzuholen. Ab und an erwogen die Dorfbewohner praktische Lösungen - Massengräber oder Feuer, Feuer oder Massengräber -, doch das Entsetzen war zu groß, um rational 7 über die weitere Vorgehensweise nachzudenken. Die Leute wussten natürlich, dass die Leichen rasch entsorgt werden mussten, um das Ausbrechen von Infektionskrankheiten zu verhindern - der Gestank raubte Besuchern jetzt schon den Atem und ließ sie würgen -, doch dies würde bedeuten, die Katastrophe anzuerkennen und als unabwendbar zu akzeptieren. Es war nicht allein der Verwesungsgeruch, der den Gemeindesaal in eine Hölle verwandelte. Gelblicher Eiterschleim floss aus den aufgeplatzten, schwarz angelaufenen Beulen, die die Leichen von Kopf bis Fuß verunstalteten. Die eklige Flüssigkeit sammelte sich auf dem Fußboden, klebte unter den Schuhsohlen, verströmte den Gestank verfaulten Obstes. Die Pfleger banden sich, bevor sie den Saal betraten, parfümgetränkte Taschentücher vor die Gesichter, doch dies half nur wenig. Schlimmer noch war, dass es ihnen vorkam, als würden sie sich allmählich an den Gestank gewöhnen, als würde er sich mit jedem neuerlichen Besuch im Gemeindesaal immer mehr in ein leicht zu ignorierendes Ärgernis wie Autoabgase an einem diesigen Morgen verwandeln. Die grauenvolle Szenerie, die sich den Pflegern bot, war fast zu viel für ihre angegriffenen Seelen. Nur das Stöhnen der Sterbenden auf den an der Wand aufgereihten Feldbetten erinnerte sie daran, dass sie noch auf der Erde waren und nicht in der Hölle.
Sie waren zu fünft. Caitlin Shepherd war die Leiterin der Gruppe. Sie war achtundzwanzig, fühlte sich im Moment aber wie siebzig; ihr Körper war zerbrechlich geworden vor Erschöpfung, ihr Geist war ausgelaugt von zu vielen durchgearbeiteten, kummervollen Nächten. Die anderen Pfleger - der ehemalige Vorsitzende des Gemeinderates, ein Jugendlicher und zwei ältere Schwestern, die früher das Postamt geleitet hatten - waren die 8 Einzigen, die willens waren zu helfen. Die übrigen Dorfbewohner hatten sich mit ihren Familien in ihren Häusern verbarrikadiert und drohten jedem mit Gewalt, der töricht genug war, sie besuchen zu wollen. Caitlin zog sich das Gummiband aus dem Haar, nur um es im nächsten Moment wieder überzustreifen. Es war eine nervöse Angewohnheit geworden, die sie im Unterbewusstsein ein wenig von der Vergeblichkeit ihres Tuns ablenkte. Die Frau auf dem Tisch vor ihr hatte soeben mit einem rasselnden letzten Atemzug ihr Leben ausgehaucht. Caitlin hatte sie im Sommer jeden Morgen bei der Gartenarbeit gesehen, konnte sich aber nicht an ihren Namen erinnern. »Wie viele sind es heute Abend?«, fragte sie. Es machte es leichter für sie, in Zahlen zu denken statt an Menschen. Eileen, eine der Schwestern, legte Caitlin eine Hand auf den Unterarm. »Denk jetzt nicht darüber nach. Du solltest dir eine Pause gönnen.« »Wie kann ich mir eine Pause gönnen?« Caitlin wurde schummrig vor Augen, und sie musste sich am Tisch abstützen. »Du hilfst niemandem damit, wenn du dich zugrunde richtest«, sagte Gideon. Der Vorsitzende des Gemeinderates - dessen Mitglieder inzwischen alle gestorben waren - hatte einen scheußlichen dunklen Schleimfleck auf dem Hemd; es sah aus, als hätte man auf ihn eingestochen. »Und ohne unsere Ärztin sind wir aufgeschmissen.« In der grauenhaften Umgebung klang Caitlins Lachen resignierter als beabsichtigt. »Eine Ärztin, die nicht weiß, womit sie es zu tun hat, kann sowieso nichts ausrichten. Ich habe so was noch nie gesehen. In den Lehrbüchern steht nichts darüber. Soweit ich sagen kann, ist 9 dies eine ganz neue Krankheit. Ich habe keine Ahnung, wie man sie behandelt ... Antibiotika wirken nicht. Ich kann es den Betroffenen nur etwas leichter machen, bevor sie sterben.« Und sie starben alle. Ausnahmslos. Das erste Auftauchen der schwarzen Flecken kam einer Todesstrafe gleich. Sie blickte zu den wenigen Medikamentenpackungen auf, die noch im Regal lagen. Bald würde alles aufgebraucht sein, und da es in dem Chaos, das seit dem Untergang im Land herrschte, niemanden gab, der neue Medikamente herstellte, würden sie sich demnächst mit Kräutern und guten Wünschen behelfen müssen. »Trotzdem ist es wichtig, es den Menschen in ihren letzten Stunden so angenehm wie möglich zu machen«, sagte Eileen sanft. »Das genügt aber nicht.« Caitlin nahm das nutzlose Taschentuch vom Mund und massierte ihre müden Augen. »Wir müssen diese Frau ... Mrs ...« »Mrs Waid«, half ihr Eileen. »Mrs Waid ... Wir müssen sie rübertragen.« »Das übernehme ich«, sagte Gideon. »Komm, Timothy, hilf mir.« Der Jugendliche stand wie paralysiert da, starrte in die regengepeitschte Nacht hinaus. »Der Fluss wird über die Ufer treten«, sagte er, als ob dies wichtig wäre. Während Gideon und Timothy die dunkel angelaufene, schleimtriefende Tote zum neuesten Leichenberg im Hauptsaal trugen, umarmte Eileen Caitlin rasch. Es überraschte Caitlin, wie trostvoll sie die Geste fand. »Du solltest wirklich mal eine Pause einlegen ... geh nach Hause zu deinem Mann und deinem Sohn. In Zeiten wie diesen ist die Familie noch wichtiger als sonst. Ruh dich aus, und wenn du zurückkommst, legen wir einen neuen Arbeitsplan fest.« 10 Caitlin schaute die ältere Frau an, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Wie schaffst du das bloß?« »Was meinst du?« »Immer weiterzumachen ... nicht zu verzweifeln.« Eileen schien die Frage nicht zu verstehen. »Wir tun einfach, was getan werden muss, oder? Es ist sinnlos, sich zu viele Gedanken zu machen ... damit ist niemandem geholfen.« Caitlin atmete tief durch. »Na schön, ich gehe nach Hause. Aber nur für ein, zwei Stunden.« »Tu das, meine Liebe.« Eileen umarmte sie erneut, und diesmal hätte Caitlin sie am liebsten nicht mehr losgelassen. Der Moment wurde unterbrochen von Daphnes leisem Aufschrei. Eileens ältere Schwester starrte bestürzt auf ihre Hände. Caitlin wusste sofort, was los war. »Oh Gott ...« Sie eilten zu Daphne hinüber, auf deren faltigen Handrücken die ersten schwarzen Seuchenflecken zu erkennen waren. Daphne blickte aus tränengefüllten Augen zu den beiden Frauen auf. »Oh, mein Gott...« Eileen wischte ihre eigenen Tränen fort, doch davon abgesehen blieben die Schwestern gefasst. Schließlich war
ein solcher Fall absehbar gewesen - jeder wusste um das Risiko, sich anzustecken. Die Krankheit befiel nicht jeden; manchmal nur eine Person in einer Familie, manchmal alle Familienmitglieder. Caitlin wusste nicht, welche medizinischen Ursachen dies hatte, vermutete aber, dass regelmäßiger Kontakt mit Erkrankten die Ansteckungsgefahr erhöhte. Caitlin starrte hilflos auf die dürftige Medikamentensammlung. Eileen erriet ihre Gedanken. »Mach dir keine Sorgen — geh nach Hause.« 11 »Ich kann doch jetzt nicht gehen!« »Du weißt genau, dass du mir nicht helfen kannst, Caitlin.« Daphne lächelte schwach; eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. Noch lebte, atmete, fühlte und redete Daphne, doch sie war bereits so gut wie tot. In wenigen Stunden würde das Fieber ausbrechen. Sie würde ins Delirium fallen und allen Kontakt mit der Wirklichkeit verlieren, während sich die Krankheit unaufhaltsam durch ihren Körper fraß. Die Flecken bildeten sonderbar gleichmäßige Linien auf der Haut, und wenn sie die Drüsen erreichten, schwollen diese zu dicken schwarzen Eiterbeulen an. Drei bis vier Tage später trat der Tod ein, ohne dass der Patient noch einmal zu sich kam. Caitlins Hilflosigkeit zerriss sie im Innern. All die Jahre an der medizinischen Fakultät und in der Arztpraxis waren wertlos; sie konnte nichts gegen die Seuche tun. »Ich möchte dich nicht allein in diesem Elend zurücklassen«, sagte Daphne zu Eileen; ihre brüchige Stimme verriet die Emotionsfülle, die sich hinter der simplen Äußerung verbarg. Sie hatten ihr ganzes Leben zusammen verbracht, hatten nie geheiratet, hatten sich in schweren Zeiten gegenseitig geholfen und die guten Zeiten miteinander genossen, waren seit Jahrzehnten nicht einen Tag getrennt gewesen. Und nun hatte all das ein Ende. Caitlin tätschelte Daphnes Arm und fluchte innerlich, weil die schlichte Geste nicht einmal im Ansatz ihre Gefühle ausdrückte, doch sie wusste nicht, was sie sonst hätte tun sollen. »Ich glaube, wir brauchen ein bisschen Zeit für uns, Caitlin«, sagte Eileen mit Tränen in den Augen. Sie führte Daphne in eine stille Ecke, wo sie einander in die Arme nahmen. Caitlin beobachtete die beiden Schwestern mit derart 12 intensiven Gefühlen, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Das Bild der beiden Frauen fasste alles zusammen, was sie im Laufe des letzten Jahres empfunden hatte: Leid und Kraft, Kummer und Hoffnungslosigkeit. Menschliche Anteilnahme. Zu erschöpft, um zu weinen, zog Caitlin ihren zerschlissenen Allwetter-Parka an und trat in den Sturm hinaus. Der heftig niederprasselnde Regen war kalt, der tosende Wind zerrte an ihr. Und doch fühlte sie sich wie in Watte gepackt, und die harte, unnachgiebige Welt war bloß ein böser Traum. Das Gefühl von Unwirklichkeit war seit dem Untergang immer stärker geworden. Es hatte mit einer vagen Regierungserklärung begonnen, derzufolge es im Land eine ernste Bedrohung gäbe, und anschließend hatte man das Kriegsrecht verhängt, und die Medien hatten die Arbeit eingestellt. Reisen waren nur noch begrenzt möglich, und da das Telefonnetz zusammengebrochen war, beinhalteten alle verfügbaren Informationen eine ungesunde Dosis an Gerüchten, Halbwahrheiten und glatten Lügen. Newcastle sei ausgelöscht. Die Königliche Familie sei im Exil. Eine nukleare Katastrophe, ein Militärputsch, ein Angriff eines - nicht identifizierten - Schurkenstaates, ein aus dem Labor gelangter künstlicher Virus, der eine landesweite Epidemie ausgelöst habe. Letzteres hatte sie immer ausgeschlossen, doch nach den Ereignissen der letzten Wochen war sie zu dem Schluss gelangt, dass dies vermutlich die Wahrheit sei oder zumindest ein Teil der Wahrheit. Vielleicht hatte auch ein Zusammenspiel all dieser Dinge den Untergang verursacht. Wie die Antwort auch lauten mochte, das Leben in den darauf folgenden Monaten war zu schwer gewesen, um sich allzu viele Gedanken über die Gründe für den 13 Untergang zu machen - die ersten Wochen des Fast-Verhungerns, als die Geschäfte und Supermärkte keine Lieferungen mehr bekamen, die langwierigen Bemühungen, ein Verteilungssystem für lokal produzierte Lebensmittel einzurichten, und weitere Monate auf Subsistenzniveau, während neue Produktionsstätten aufgebaut wurden. Aber langsam, ganz langsam waren die Menschen wieder auf die Beine gekommen ... bis die Seuche ausgebrochen war. Caitlin wusste nicht, ob es sich um ein landesweites oder um ein örtlich begrenztes Phänomen handelte. Die Seuche war zu schnell und heftig über sie gekommen, um sich weitergehende Gedanken zu machen. Sie senkte den Kopf in den Sturm und versuchte, den Pfützen auszuweichen, aber ohne Straßenbeleuchtung sah man kaum etwas. Dank einiger Sonnenkollektoren auf einer nahe gelegenen Gesundheitsfarm und einer Windturbine, die ein ortsansässiger Ingenieur aufgestellt hatte, hatten sie tagsüber etwas Strom, doch abends schaltete man ihn ab. Die nationale Stromversorgung war nach wie vor unterbrochen; die Nächte blieben dunkel, bedrohlich und einschüchternd, erfüllt von den Schauergeschichten, die die Abergläubigen unter den Dorfbewohnern erzählten. Es war nur ein kurzes Stück die High Street hinunter, dann musste sie auf den unbefestigten Weg abbiegen, der zu ihrer umgebauten Scheune führte; sie wünschte, sie und Grant hätten damals ein Haus im Dorfzentrum gekauft. Als sie den Weg erreichte, war es dort noch finsterer als im bebauten Gebiet, wo in den Fenstern
wenigstens ein paar Kerzen brannten. Auf beiden Seiten des Weges bildeten die knospenden Bäume und wild wuchernden Büsche eine Mauer aus dichter Vegetation. Bevor sie die High Street verließ, gab sie dem mensch14 liehen Urinstinkt nach und schaute zurück. Und bemerkte etwas Eigenartiges. Seit sie den Gemeindesaal als Kranken- und Sterbehaus nutzten, ließen sie dort auch abends das Licht brennen, und von ihrer erhöhten Position aus konnte Caitlin die hell erleuchteten Fenster über den Hausdächern am hinteren Dorfrand erkennen. Aber als sie sich umgedreht hatte, waren die Fenster einen Moment lang verdeckt gewesen, obwohl ihr nichts die Sicht versperrte. Etwas war am Gemeindesaal vorbeigehuscht, und aufgrund ihrer Perspektive wusste sie, dass es deutlich größer als ein Mensch gewesen war. Das war natürlich unmöglich, sagte sie sich, doch unerklärlicherweise traf die kurze Beobachtung einen Nerv und weckte eine seltsame Furcht in ihr. Sie eilte weiter, über ihr die tief hängenden Äste, die nach ihrer Kapuze zu greifen schienen. Der aufgeweichte Weg war fast eine halbe Meile lang und wand sich um zahlreiche scharfe Biegungen, bevor er die Anhöhe hinaufführte, auf der die umgebaute Scheune stand. Am Hang war der Weg weniger geschützt vor den Elementen, und sie musste sich mit aller Kraft gegen den heulenden Wind stemmen, der ihr dort entgegenschlug. Es war ohrenbetäubend laut, und doch hatte sie den Eindruck, hinter dem Lärm Schritte oder Hufgetrappel zu vernehmen. Der Gedanke war völlig irrational, ja sogar kindisch, löste aber trotzdem ein unangenehmes Bauchkribbeln in ihr aus. Sie schaute erneut zurück, sah aber nichts als Dunkelheit und die schemenhaften Bewegungen der sich hin und her wiegenden Bäume. Versteck dich!, rief eine Stimme in ihrem Kopf. Die Aufforderung klang so drängend und kam so unerwartet, dass Caitlin erschrocken stehen blieb. Sie hatte keinen Grund, sich zu fürchten, aber dann überkam sie aus dem 15 Nichts das Gefühl einer überwältigenden Präsenz; die Empfindung war so furcht einflößend, dass sie sich zwingen musste, nicht Hals über Kopf loszurennen. Dahinten ist jemand. Sie blickte erneut zurück und konnte nichts Verdächtiges erkennen. Siehst du. Langsam wurde sie genauso abergläubisch wie die Dorfbewohner, die davon überzeugt waren, draußen auf dem Land wimmele es von Geistern, Teufeln und mythischen Fabelwesen. Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den vor ihr liegenden Weg richtete, erblickte sie erschrocken einen großen schwarzen Vogel, der wenige Meter vor ihr im Schlamm hockte. Es war eine Nebelkrähe, größer als jede, die sie bisher gesehen hatte. Dass in einer so unwirtlichen Nacht ein Vogel vor ihr landete, war schon schaurig genug, aber wie er sie aus wachen Augen anstarrte, jagte ihr einen Angstschauer über den Rücken. Caitlin ging zwei Schritte auf ihn zu, um ihn zu verscheuchen, doch er rührte sich nicht. Sie hatte noch nie etwas so Unnatürliches erlebt. Alles an dem Vogel machte ihr Angst. Sie hatte das beklemmende Gefühl, dass er sie nicht passieren lassen würde. Zögernd gab sie ihrer Irrationalität nach, kletterte über einen Zaun zum angrenzenden Acker und lief zwischen den Bäumen weiter, die den Weg säumten. Sie spähte durchs Gebüsch, aber die Krähe schien verschwunden zu sein. Siehst du, dachte sie, während das feuchte Unterholz ihre Jeans durchnässte. Das hast du jetzt davon, dass du so kindisch warst. Trotzdem wurde das Gefühl, dass jemand sie verfolgte, immer stärker. Was hatte das zu bedeuten? Im stürmenden Wind bewegten sich die Bäume, Büsche und Gräser wie lebendige Wesen. Sie ging weiter und stapfte mühevoll durch die tropfnasse Vegetation, 16 als der Sturm unvermittelt abflaute und nur noch der stakkatoartig von den Ästen tropfende Regen an das Unwetter erinnerte. Caitlin merkte, dass sie den Atem anhielt; ihr Instinkt reagierte auf etwas jenseits ihres Wahrnehmungsvermögens, aber was immer dort draußen war, kam unaufhaltsam näher. Zuerst dachte sie, der Wind würde wieder stärker, aber dann wurde ihr bewusst, dass es Stimmen waren. Das ist Geflüster, erkannte sie schaudernd. Von Leuten, die mit gesenkten Stimmen sprachen, aber keine Anstalten machten, ungehört zu bleiben. Die Wortfetzen schwebten zwischen den Bäumen umher, verschmolzen mit dem Tropf-Tropf-Tropf des Regens und wurden zunehmend lauter. Es klang absonderlich. Caitlin fragte sich, wer um diese Zeit bei so scheußlichem Wetter aus dem Haus ging. Der Weg führte nur zu den vier umgebauten Scheunen, und Caitlin konnte sich nicht vorstellen, dass einer ihrer Nachbarn so seltsam vor sich hin murmelte. Doch während das Geflüster intensiver wurde, wurde Caitlin gewahr, dass sie trotzdem kein Wort verstand. Es hörte sich für sie wie eine fremde Sprache an. Mal klang es wie Russisch oder wie etwas Nordisches, Kehliges, dann plötzlich wie ein schnalzender afrikanischer Stammesdialekt. Ihr sträubten sich die Nackenhaare. Sie hockte sich rasch hin und hielt den Atem an. Zwischen den Büschen war der Weg kaum zu erkennen. Das Geflüster tastete nach ihr wie eisige, ihr Rückgrat hinaufwandernde Finger. Obwohl sie die Worte nicht verstand, klangen sie bedrohlich und unheilvoll und auf merkwürdige Weise zutiefst verzweifelt. Es schien unmöglich, dass diese komplexen Laute von Menschen stammten. 17 Hinter dem Flüstern war Hufgetrappel zu vernehmen; anfangs meinte sie, es wären Pferde, aber als der Boden zu
vibrieren begann, stand fest, dass sich etwas viel Größeres näherte. Wumm-wumm-wumm. Sie musste an eine gewaltige Maschine denken, als die Erschütterungen ihr tief in die Magengrube fuhren. Gleich ist es hier, dachte sie. Das Geflüster drang in ihren Geist ein, ließ sie bibbern vor Angst, beschwor in ihr eine tiefe Niedergeschlagenheit herauf. Es überraschte sie, wie intensiv das Gefühl war. Ihr Instinkt riet ihr, nichts zu tun, was die Aufmerksamkeit ihrer Verfolger wecken würde, aber sie musste einen Blick riskieren. Sie stützte sich mit einer Hand auf dem durchweichten Boden ab und spähte durch die Lücken zwischen den Büschen, als eine Bewegung in ihr Blickfeld rückte. Sie sah nur verschwommene Teile des Ganzen, ein Puzzle aus beunruhigenden Fragmenten, die ihr Verstand trotz der Warnungen ihres Unterbewusstseins zu einem Bild zusammenfügte. Es waren tatsächlich zwei Reiter, deren Rösser allerdings erheblich größer waren als gewöhnliche Pferde: Sie waren riesig, extrem muskulös und schienen ein schuppiges Fell und gespaltene Hufe zu haben. Caitlin versuchte, eine rationale Erklärung zu finden für das, was sie sah, doch ihr fiel nichts Vernünftiges ein. Sie erkannte kaum etwas von den Reitern, doch das bedrohliche Gefühl wurde immer intensiver. Die Beine der Männer waren spindeldürr, als lägen unter den flatternden schwarzen Lumpen, die sie umhüllten, nur die blanken Knochen. Was sie vom Rest der Kleidung erkannte, verstärkte ihre Furcht noch: ein aufgerissenes Kettenhemd, rostige Panzerhandschuhe, zerschlissenes, 18 verschimmeltes Leder. Ein schwerer Lehmgeruch hing in der Luft, als wären die Reiter mitsamt ihren Rössern dem Erdboden entstiegen. Das zischelnde Flüstern war überall. Caitlin rührte sich nicht, schluckte nicht, atmete kaum und betete, dass sie schnell weiterreiten würden. Doch als die beiden sie fast passiert hatten, hielten sie plötzlich an. Das Flüstern erstarb, und irgendwie war die gespenstische Stille noch beängstigender. Sie spüren mich. Aus einem instinktiven, ihr unerklärlichen Gefühl heraus war sie fest davon überzeugt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Erneut erklang das schwere Hufgetrappel, das nun auf das Gebüsch zukam, hinter dem sie sich versteckte. Konnten sie sie sehen? In der Dunkelheit war dies eigentlich unmöglich. Die Pferde, die keine Pferde waren, kamen näher. Gleich würde der vordere Reiter hinter dem Gebüsch nachsehen. Und welches grauenvolle Wesen würde sie erblicken, wenn sie in das Gesicht aufschaute? Sie sah sich verzweifelt um. Sie konnte versuchen, zwischen den Bäumen davonzurennen; dies würde den Rössern das Vorankommen erschweren, aber früher oder später musste sie hinaus ins offene Gelände. Gerade als sie im Begriff war loszurennen, brach ein Stück den Weg hinunter heftige Aktivität aus. Caitlin konnte kaum nachvollziehen, was geschah: Ein Schrei peitschte durch die Nacht, durch die Büsche waren schemenhafte, flatternde Bewegungen zu erkennen. Die Reiter hielten an. Es war die Krähe, vermutete Caitlin. Einen schmerzvollen Moment lang verharrte sie regungslos. Dann, als sie glaubte, es nicht länger aushalten zu können, rissen die Reiter ihre grotesken Rösser herum und ritten auf die Stelle des Tumults zu. 19 Caitlin kauerte noch fünfzehn Minuten reglos am Boden, bis sie es wagte, sich wieder zu bewegen. Geduckt schlich sie an den Büschen entlang, bis sie das dunkle Feld erreichte und zum Haus rannte. 'Von den Reitern und der merkwürdigen Krähe war nirgends etwas zu sehen. Caitlin stürmte hinein, als hätte sie den Teufel im Nacken, und schloss und verriegelte die Tür in einer einzigen fließenden Bewegung, bevor sie eilig zwischen den Vorhängen in die Dunkelheit hinausspähte. Ein ferner Blitz erhellte einen Moment lang eine Gestalt, die gleich hinter der Auffahrt zwischen den Bäumen stand. Sie hatte den Eindruck, dass es ein Mensch war, obwohl die Gestalt gleichzeitig etwas zutiefst Animalisches ausstrahlte; in dem kurzen Augenblick hatte sie etwas gesehen, das sie an einen Wildschweinkopf erinnerte. Doch als sich nach dem Blitz ihre Augen wieder an das Dunkel gewöhnt hatten, sah sie an der Stelle nur eine knorrige Eibe. Ein Trugbild? »Was ist los?« Grant kam aus der Küche, ein Geschirrtuch und einen Teller in den Händen. Er sah müde aus; das entbehrungsreiche Leben ließ ihn deutlich älter wirken, als er es mit seinen dreißig Jahren war. Aufgeregt und ohne dabei den Blick von der finsteren Landschaft abzuwenden, schilderte sie ihm, was sich auf dem Heimweg ereignet hatte. »Es gibt jede Menge Spinner da draußen«, sagte Grant gleichgültig, bevor er in die Küche zurückging. Verängstigt wie sie war, ärgerte sie seine Reaktion, doch sie verstand ihn: Seine Kräfte waren nun mal nicht unerschöpflich. Es war überaus anstrengend für ihn, aufs Tischlerhandwerk umzusatteln, um die Haushaltskasse aufzubessern, im Dorf Verteidigungsanlagen zu bauen, um der 20 zunehmenden Gesetzlosigkeit auf dem Land entgegenzuwirken, und sich bei alledem auch noch um Liam zu kümmern. Caitlin wartete noch einige Minuten, bis sie überzeugt war, dass die sonderbaren Reiter weitergezogen waren. Dann ging sie Grant nach; sie fühlte sich ausgelaugt nach dem Abflauen des Adrenalinstoßes. Das flackernde Kerzenlicht verlieh der Küche eine traumartige Atmosphäre. »Wie läuft's?« Grant stellte das Geschirr in den Schrank, ohne ihre Antwort abzuwarten. »Auf dem Herd steht
noch etwas Eintopf. Ich habe ihn aufgehoben, für den Fall, dass du mal wieder nach Hause kommst.« Sein vorwurfsvoller Tonfall machte sie wütend. Glaubte er etwa, dass sie nicht lieber bei ihrer Familie sein wollte? Dass es ihr Spaß machte, unter immensem Stress ihr Leben zu riskieren und sich tagelang nicht auszuruhen? Sie biss sich auf die Unterlippe, denn sie wusste, dass eine flapsige Erwiderung nichts Gutes bewirken würde. »Das ist lieb«, sagte sie und tauchte einen Löffel in den Kochtopf, um von der Suppe zu kosten. »Danke, dass du mir was aufgehoben hast. Ich esse, sobald ich bei Liam war. Er ist noch wach, oder?« »Er ist in seinem Zimmer.« Grant fuhr fort, das Geschirr wegzuräumen, dann fügte er an: »Er vermisst seine Mutter im Haus.« Oberflächlich betrachtet schien es bloß eine achtlos geäußerte Bemerkung zu sein, doch ihr kamen die Tränen, und sie spürte ein schmerzhaftes Brennen in der Kehle. »Ich geh rauf.« Sie eilte los, bevor der Gefühlsausbruch sie überwältigen konnte. Liam lag in seinem SK8board-Py)ama im Bett und blätterte in einem alten Digimon-Jahrbuch. Da es im Mo21 ment praktisch keine Popkultur gab, fanden alte Favoriten neuen Anklang. Sie hatten sich bemüht, sein Zimmer so normal aussehen zu lassen wie vor dem Untergang: An den Wänden hingen Poster, und auf dem Nachttisch stand eine Playstation2 und schlummerte vor sich hin wie ein antikes Röhrenradio. Liam setzte sich mit einer Energie auf, mit der verglichen sie sich alt und müde fühlte. »Mommy!« Mit dem leidenschaftlichen Überschwang der Jugend schlang er die Arme um sie, und sie drückte ihn ihrerseits fest an sich, spürte sein Haar an der Wange und seine Wärme und die Zartheit seines kindlichen Körpers; sie merkte, wie sehr sie ihn vermisst hatte, und blinzelte die Tränen aus den Augen. »Du arbeitest zu viel!«, sagte er. »Daddy meint, du würdest dich zu sehr verausgaben.« Er rutschte ein Stück zur Seite, damit sie zu ihm ins Bett steigen konnte. »Komm unter die Decke, Mommy, hier ist es gemütlicher.« Er kuschelte sich an sie. »Es gibt viele Menschen, die meine Hilfe benötigen«, sagte sie. »Es ist Mommys Arbeit, und die Leute wären sehr traurig, wenn ich mich nicht um sie kümmern würde.« Die Hohlheit ihrer Worte hallte ihr in den Ohren wider. »Aber Daddy und ich brauchen dich auch, Mommy.« »Ich weiß. Und jetzt bin ich ja hier, siehst du, ich bin hier.« Sie drückte ihn spielerisch an sich und ließ ihn sich aus der Umarmung herauswinden. »Soll ich dir etwas vorlesen?« Sie nahm die eselsohrige Ausgabe von Der kleine Hobbit, durch die sie sich seit einer Weile langsam durcharbeiteten. Caitlin glaubte, das Vorlesen mehr zu genießen als Liam; angesichts der Welt jenseits ihres Hauses war der Eskapismus, den das Buch bot, für sie vermutlich noch wichtiger als für ihren Sohn. 22 »Nein, heute nicht«, sagte er zu ihrer Enttäuschung. »Erzähl mir eine Geschichte.« Der Regen hatte wieder eingesetzt und trommelte beharrlich ans Fenster. Das Geräusch vermittelte ihr ein trügerisches Gefühl von Sicherheit, während sie sich unter der Decke an Liam kuschelte und seine erwartungsvolle Unschuld genoss. Sie schloss die Augen und überlegte. »Okay«, sagte sie nach einer Weile, »vor langer Zeit gab es ein großes, mächtiges Königreich, dessen Bewohner hart arbeiteten, und wenn sie nicht arbeiteten, genossen sie ihre Freizeit und glaubten, die Herren der Schöpfung zu sein. Sie hatten hervorragende Wissenschaftler, die tief ins Universum schauen und die kleinsten Teile der Materie, die Atome, betrachten konnten. Und es gab unter ihnen Geschäftsleute, die für die Schatzkammern des Königreichs Millionen Pfund verdienten, und Soldaten mit schrecklichen Waffen, die jeden Feind vernichten konnten. Zumindest dachten sie das. Und die Menschen glaubten, die Dinge würden immer nur besser werden.« »Aber so war es nicht, stimmt's?« »Nein. Eines Tages erwachten sie und entdeckten, dass sich alles verändert hatte. Sie waren nicht mehr die Herren der Schöpfung. In der Nacht waren mächtigere Wesen erschienen und hatten alle Regeln auf den Kopf gestellt. Die Wissenschaftler waren nicht mehr wichtig, denn plötzlich gab es Dinge, die sie nicht erklären konnten. Und die Soldaten fanden heraus, dass ihre Waffen längst nicht so wirkungsvoll waren, wie sie gedacht hatten.« »Wer waren diese Wesen? Außerirdische?« Liams Stimme klang schläfrig. »Ich nehme an, man könnte sie so nennen. Niemand 23 wusste, wer oder was sie in Wirklichkeit waren, aber es hatte sie schon seit langer Zeit gegeben. Sie hatten dieses Königreich schon vor hunderten, vor lausenden von Jahren besucht, und damals hatte man sie für Götter gehalten. Du weißt schon, so wie bei Herkules.« »Hmm.« »Und sie brachten all die magischen Wesen mit, die Kinder aus Märchen kennen. Alle hatten gedacht, diese Wesen seien bloß Ausgeburten der Fantasie, aber das waren sie nicht, sie waren echt... und sie waren ganz anders als in den Märchen. Vor all den Jahren hatten die einfachen Leute im Königreich Geschichten niedergeschrieben und Legenden weitererzählt, um diese Wesen irgendwie zu erklären, aber im Laufe der Zeit wurden die Geschichten immer stärker verändert, und Ausgedachtes hat sich mit wahren Begebenheiten
vermischt.« Liams Atmung war gleichmäßig, doch Caitlin spürte die leichten Bewegungen seiner Gesichtsmuskeln am Arm, wenn seine Lider als Antwort auf ihre Worte zuckten. »Es sah aus, als würde das Königreich untergehen. Die Regierung fiel auseinander, und die Soldaten verloren eine Schlacht nach der anderen, und keiner wusste, was zu tun war und wie die Dinge fortan funktionierten, denn plötzlich gab es überall Magie, die niemand begriff. Aber in Zeiten wie diesen - du weißt schon, Katastrophen, Krisen ...« Sie sprach nun zu sich selbst, verloren in den Bildern, die wie gleißende Blitze in ihrem Geist aufflammten. »... sind es nicht die großen, wichtigen Leute, die uns retten - die Könige und Königinnen und Politiker und Generäle -, sondern ganz normale Menschen. Menschen, die an sich glauben, die so sehr an das Gute glauben, dass sie allen Gefahren zum Trotz dafür kämpfen. Und so erschienen eines Tages fünf Männer 24 und Frauen, um die ... die Götter anzugreifen. Ihre Namen waren ...« Sie versuchte sich an die Einzelheiten der abstrusen Geschichte zu erinnern, die ihr die abergläubischen Dorfbewohner erzählt hatten und die sie so gerne damit aufzog. »... Church, Ruth, Laura, Ryan und Shavi. Und einige behaupten, die fünf hätten gewonnen. Zumindest wurde das Königreich nicht vollständig zerstört, und die Götter zogen sich in ihre Verstecke zurück, doch was aus den fünf Helden geworden ist, weiß niemand ... Aber die Dinge konnten nicht mehr so sein wie früher. Die Menschen kannten die neuen Regeln nicht, und alles, woran sie glaubten, hatte sich in nichts aufgelöst. Sie mussten wieder ganz von vorne anfangen und versuchen, sich ein neues ... ein besseres Königreich zu erschaffen. Aber es war sehr, sehr schwer, und viele hofften - und beteten dafür -, dass diese fünf Helden - falls es sie denn wirklich gab - zurückkehren und ihnen abermals helfen würden.« Ein Windstoß am Fenster riss sie aus der Träumerei. »So geht jedenfalls die Geschichte. Einiges davon mag stimmen, anderes haben sich die Menschen ausgedacht, aber so ist das eben mit Märchen.« Sie blickte auf Liam hinab und sah, dass er eingeschlafen war. Märchen, um die Welt lebenswerter zu machen, dachte sie. Um uns die hinter den Ereignissen stehende Wahrheit zu erklären. Plötzlich kehrte sie in Gedanken zu dem Moment von Liams Geburt im St. James' Hospital in Leeds zurück; Grant war dabei, und das Sonnenlicht strömte durch die Fenster. Es war das letzte Mal gewesen, dass sie so sehr im Jetzt gelebt hatte, dass das, was mit ihr geschah, alle bewussten Gedanken auslöschte. Die konzentrierte Hoffnung dieser wenigen Stunden und der unerschütterliche Glaube, dass alles nur besser werden konnte, 25 waren auch rückblickend noch so berührend, dass sie ihre aufsteigenden Tränen spüren konnte. Liam war in einer schwierigen Zeit gekommen. Sie hatte mit ihrem Medizin-Studium gerade erst angefangen, und der lange Weg der späten Nächte, der drögen Fachbücher und schweren Examen lag noch vor ihr. Die große, alles entscheidende Frage hatte sich von dem Moment an gestellt, als der Schwangerschaftstest für den Hausgebrauch im Mülleimer gelandet war: Sollte Grants Architektur-Studium Vorrang bekommen oder ihr eigenes großes Ziel? Wer sollte seinen Berufswunsch aufgeben und sich um Liam kümmern? Eine Abtreibung kam nicht in Frage. Die Länge der beiden Studiengänge bedeutete, dass es nach der Entscheidung kein Zurück mehr gab; es war eine einmalige, ihr weiteres Leben bestimmende Wahl, ein Opfer und eine Verpflichtung, die für die Ewigkeit galten oder in späteren Jahren zu einer tiefen Verbitterung führen könnten. Caitlin hatte sich bereits entschlossen, ihr Studium aufzugeben, als Grant sie auf dem Handy angerufen und sie gebeten hatte, sich mit ihm im Roundhay Park zu treffen, wo ihre erste Verabredung stattgefunden hatte, fernab von Leeds' lärmendem Stadtzentrum und dem inzestuösen Klatsch auf dem Universitäts-Campus. Als sie im Park erschien, hatte sie Grant in der sommerlichen Morgensonne auf derselben Decke sitzen sehen, die er zum ersten gemeinsamen Picknick mitgebracht hatte, mitsamt einem Korb voller kulinarischer Köstlichkeiten. Der Moment besaß etwas - die Art des Lichts, der Duft des sattgrünen Rasens, Grants rätselhaftes Lächeln und die Offenheit in seinen Augen -, das ihre Gefühle greifbar machte, und in diesem Augenblick wurde ihr einmal mehr bewusst, wie sehr sie ihn liebte und dass sie sich niemals nach einem anderen Mann sehnen würde. Es 26 würde bloß sie beide geben, sie beide und ihr gemeinsames Kind, und daran war überhaupt nichts Erschreckendes; es fühlte sich richtig an. »Ich werde mich um das Baby kümmern«, hatte er gesagt, noch bevor sie sich zu ihm gesetzt hatte. »Nein.« Sie hatte versucht, ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen zu bringen. »Ich habe schon beschlossen ...« »Ich wusste, dass du versuchen würdest, es mir auszureden, und deshalb habe ich bereits alle meine Bücher und meine Utensilien zum Zeichnen verkauft und mich offiziell exmatrikuliert. Es gibt kein Zurück mehr.« »Grant!«, hatte sie entsetzt ausgerufen. »Seien wir doch ehrlich, Caitlin, ich würde bestenfalls ein mittelmäßiger Architekt sein. Du dagegen bist brillant. Also gebe ich mein Studium auf, nicht du.« Sie starrte ihn verblüfft an. »Du wolltest es mehr als ich, das weißt du ganz genau.« »Dann stehst eben du bis zum Hals in meiner Schuld.« Er hatte gelächelt und eine Wasserflasche geöffnet; sie hatte ein paar Tränen vergossen, die sie vor ihm verbarg, um nicht seinen gnadenlosen Spott auf sich zu ziehen, aber zum ersten Mal im Leben war sie davon überzeugt gewesen, dass alles perfekt werden würde.
Als Caitlin aus Liams Zimmer kam, saß Grant mit einem Glas selbst gebrautem Bier am Küchentisch und wirkte todmüde. Auch sie fühlte sich ausgelaugt, doch nach der kurzen Unterbrechung mit Liam beherrschte sofort wieder die harsche Realität der Seuche ihre Gedanken. Seit dem Untergang verließ sich die Dorfgemeinschaft mehr auf sie, als sie es sich als einfache praktische Ärztin jemals hatte träumen lassen. In einer plötzlich aus den Fugen geratenen Welt war sie ein Symbol für Stabilität, 27 eine Art Dorfweise, die für jeden einen Rat hatte und jedermanns Krankheiten heilte. Sie forderten mehr von ihr, als sie zu geben imstande war - als einzige Ärztin in der Gegend stand sie sieben Tage die Woche, vierundzwanzig Stunden am Tag auf Abruf bereit —, doch ihr Pflichtbewusstsein war stärker als der Wunsch, ihrer anstrengenden Arbeit zu entfliehen. Im Wohnzimmer nahm sie einen Stapel medizinischer Bücher aus dem Regal und setzte sich an den Tisch, auf dem eine Kerze brannte. In den letzten Monaten hatte sie eine umfangreiche Fachliteratursammlung zusammengetragen, um ihre Wissenslücken zu schließen, doch in keinem der Bücher hatte sie einen Hinweis auf eine Krankheit finden können, deren Symptome sich mit denen der Seuche deckten. Einige Aspekte erinnerten sie an das, was sie über die Beulenpest gelesen hatte, doch die Geschwindigkeit und die schwarzen Hautverfärbungen wiesen eher auf die septikämische Pest hin, die im Mittelalter viel seltener gewesen war, aber vom gleichen yersinia-pesfjs-Bakterium übertragen wurde. Wie der gegenwärtige Ausbruch hatte auch sie eine Todesrate von annähernd hundert Prozent gehabt, und beunruhigenderweise hatte man nie ein Mittel dagegen gefunden. Doch die mit der septikämischen Pest einhergehenden Hautflecken, von denen der Name Schwarzer Tod herrührte, wurden durch die Streuung intravaskulärer Gerinnungsherde verursacht, die auf großen Hautbereichen sichtbar waren und nicht als die scharf abgegrenzten, fleckigen Linien, die bei dieser Krankheit entstanden. Caitlin hatte bei keiner ihrer Autopsien eine Ursache für dieses Symptom finden können. Sie fragte sich, ob es sich vielleicht um eine unbekannte Tropenkrankheit handelte — die Heftigkeit des Angriffs auf den menschlichen Körper glich jedenfalls 28 der des Ebola-Virus —, aber selbst wenn sie einen Virus identifizieren könnte, würde sie ohne die Hilfe eines hochmodernen medizinischen Labors nichts gegen die Krankheit tun können. Die Seuche war im Dorf wie aus dem Nichts ausgebrochen. Eines frühen Morgens hatte man sie gerufen, um einen Bauern zu behandeln, der seltsame schwarze Hautflecken und hohes Fieber hatte. Der Mann war auf dem Markt in Fordingbridge gewesen, um einen weiteren Zweig im Lebensmittelverteilungssystem zu organisieren, doch bei seiner Rückkehr hatte er gegenüber seiner Familie mit keinem Wort von irgendeiner Erkrankung gesprochen. Innerhalb eines Tages waren überall im Dorf zahllose neue Krankheitsfälle aufgetreten. Caitlin hatte versucht, die Ausbreitung zurückzuverfolgen, doch schnell wurde offenkundig, dass auch Leute erkrankten, die keinen Kontakt miteinander gehabt hatten. Die einzige Erklärung war, dass es aus der Luft kam - ein niederschmetterndes Szenario mit katastrophalen Folgen. Ohne landesweites Kommunikationssystem gab es kaum Informationen aus anderen Regionen, aber zu diesem Zeitpunkt war sie schon von aberdutzenden Toten und Sterbenden umgeben gewesen und hatte ohnehin für nichts mehr Zeit außer für die Entsorgung der Leichen. »Was machst du?« Sie erschrak. Grant stand in der Tür, das Bierglas in der Hand. Sie konnte sein im Schatten liegendes Gesicht nicht erkennen. »Ich recherchiere. Wenn ich den Genotyp der Seuche bestimmen kann, würde dies einen Hinweis liefern auf ...« »Wir haben dich seit Tagen nicht gesehen. Kannst du deine Arbeit nicht wenigstens heute Abend mal sein lassen?« 29 Sie kannte den Tonfall und wusste, was als Nächstes kommen würde. »Grant ...« »Nein. Komm mir jetzt nicht wieder mit deinen Entschuldigungen. Du bist kaum noch Teil dieser Familie ...« »Ich habe Pflichten!« Ihre Stimme überschlug sich, und Tränen der Frustration schössen ihr in die Augen. Sie hatte sich vorgenommen, ruhig zu bleiben, und es kaum eine halbe Minute durchgehalten; der unerträgliche Stress, unter dem sie stand, drückte förmlich von innen gegen ihre Haut, versuchte aus ihr herauszubrechen. »Uns gegenüber hast du auch Pflichten.« Grant war kühl und distanziert, aber unter der Oberfläche schwelte sein Zorn. Caitlin senkte den Blick und starrte auf die Buch-Illustration eines Virus. Sie hatte diesen Streit in letzter Zeit in so vielen unterschiedlichen Tonarten erlebt, von verzweifelt bis fuchsteufelswild, dass sie nicht mehr die Kraft besaß für eine weitere Neuauflage. »Ja, die Menschen brauchen ihren Arzt«, fuhr Grant fort. »Aber wir brauchen dich auch. Du bist überhaupt nicht mehr hier. Du denkst nicht mal an uns, wenn du dort draußen bist...« »Woher weißt du, woran ich denke?« Sie zuckte zusammen; ihre Erwiderung war zu aggressiv gewesen - damit würde sie den Streit nur verschärfen und ihn auf die nächste Ebene heben. »Ich weiß es eben. Ich kann es in jedem Aspekt deines Verhaltens erkennen ... in allem, was du tust. Wir stehen dir bloß im Weg. Du verbringst keine Zeit mit uns, verschwendest keinen Gedanken an uns. Wir sind unwichtig.
Warum kannst du deinen Beruf nicht mal für eine Weile vergessen?« »Weil dort draußen Menschen sterben!« 30 »Hier sterben auch Menschen ... sie werden älter ... die Zeit verrinnt unaufhaltsam ...« »Du weißt genau, was ich meine«, entgegnete sie mürrisch. »Wir schlafen nicht mal mehr miteinander ...« »Oh Gott, wenn ich mir das noch einmal anhören muss ...« »Es geht nicht bloß um Sex! Es ist symptomatisch für alles andere. Es geht um Intimität, jemandem nahe zu sein, den man liebt ...« Er knallte das Glas so heftig auf den Tisch, dass das Bier überschwappte. »Ich bin zu müde für Sex!« Ihre Emotionen brachen einer Sturmflut gleich aus ihr heraus. »Ich bin völlig fertig ... verängstigt und viel zu ... ach, ist doch egal!« Die nachfolgende Stille war erfüllt von ihren Schuldgefühlen und dem Ärger darüber, ihren Emotionen nachgegeben zu haben. »Was ist aus uns geworden, Caitlin?« Grants Stimme war wie Glas. »Wir genießen nicht mehr, was wir haben ... wir existieren bloß noch. Früher haben wir ununterbrochen genossen ...« »Früher, früher, früher, das ist alles, worüber du sprichst!« »Hör zu«, sagte er. »Wir müssen irgendetwas tun, um unsere Beziehung wieder hinzubekommen, sonst...« »Sonst was?« Sie sprang vom Stuhl auf und stürmte durchs Zimmer. »Sonst was? Willst du mich verlassen? Dann geh doch!« Sie schob sich an ihm vorbei, nahm ihre Jacke und marschierte hinaus in die Nacht. In der Ferne flammten in regelmäßigen Abständen Blitze am Himmel auf. Es regnete nicht mehr, aber die Bäume ringsum schwankten im Wind noch immer hin und 31 her wie lebendige Wesen. Caitlin stemmte sich gegen den Sturm, verloren in ihren aufgewühlten Emotionen. Sie dachte weder an das, was sich auf dem Heimweg ereignet hatte, noch an die Seuche oder an all das Leid, das der Untergang über die Menschen gebracht hatte. Nach zehn Minuten merkte sie, wo ihr Unterbewusstsein sie hinführte. Die Fenster von Mary Holdens Haus leuchteten im rötlichen Lichtschein eines Kaminfeuers. Das weiße Landhaus stand am Dorfrand, getarnt durch jahrelangen Rebenbewuchs und umgeben von einem wilden Garten, der auf allen Seiten so ungezügelt wucherte, dass es schien, er würde in die behagliche Wärme des Hauses durchzubrechen versuchen. Es war Caitlin unangenehm, zu so später Stunde vorbeizuschauen, doch Mary war in den schweren Monaten nach dem Untergang eine gute Freundin geworden und würde sie bestimmt nicht abweisen. Mary antwortete sofort auf Caitlins Klopfen und bat sie herein. »Warum bist du bei so einem Mistwetter draußen?«, fragte sie. Mary war Anfang sechzig, sah aber viel jünger aus: Ihr langes graues Haar besaß einen strahlenden Glanz und war mit einem schwarzen Band zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden; sie trug ausgewaschene Jeans und ein übergroßes weißes T-Shirt, das aussah, als wäre es des Öfteren in die Buntwäsche gelangt. »Sind dir die Kräuter ausgegangen?«, fuhr sie fort. »Ich habe einen neuen Stoß fertig. Sind aber noch nicht getrocknet. « »Nein, es ist ...« Plötzlich konnte Caitlin die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Was ist los?« Mary legte Caitlin einen Arm um die Schultern und führte sie zu der behaglichen Wärme des Kaminfeuers. Das Haus besaß einen exotisch würzigen Geruch von den Kräutern und Wildpflanzen, die Mary 32 sammelte und zu medizinischen Kräutermischungen oder Weihrauch verarbeitete; das Esszimmer war voll gestopft mit Einmachgläsern, in denen die getrockneten Produkte lagerten. Mary wusste alles, was es über die verschiedenen Anwendungsgebiete zu wissen gab, und versorgte Caitlin regelmäßig mit geheimnisvollen Pflanzen- und Kräutermischungen, um den schwindenden Medikamentenvorrat im Gemeindesaal aufzufüllen. Die bemerkenswerten Heilerfolge der Mittel, die Mary ihr zusammenstellte, hatten Caitlin veranlasst, sich voll und ganz auf das Wissen der älteren Frau zu verlassen. Anfangs bekam Caitlin kein Wort heraus - die Tränen wollten nicht versiegen, ihre Kehle war wie zugeschnürt -, deshalb setzte sie sich auf das gemütliche alte Sofa vor dem Kamin, während Mary in die Küche ging und ihr einen Kräutertee zubereitete. »Hier, nimm.« Mary reichte ihr eine angeschlagene Tasse. »Schmeckt wahrscheinlich eklig, aber heutzutage gibt's anderswo auch nichts Besseres.« »Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt weitermache«, sagte Caitlin. »Alles ist so sinnlos.« »Du weißt, dass das nicht stimmt.« Mary setzte sich zu ihr und streckte die Beine aus. »Alles hat einen Sinn, selbst wenn man ihn nicht erkennt. Aber das möchtest du bestimmt nicht hören, stimmt's? Was ist los?« Mary strahlte etwas Friedfertiges aus, das Caitlin äußerst beruhigend fand. In den Augen der Dorfgemeinde nahm Mary eine ähnliche Position ein wie sie. Die meisten der Dorfbewohner hatten irgendwann vor Marys Tür gestanden und ersuchten sie in zunehmendem Maße um medizinischen Rat oder um Heilkräuter, die sie bei Caitlin nicht bekamen. Nun war Caitlin die Ratsuchende und sprach über die Seuche und über ihre Befürchtungen, dass das ganze Dorf ausgelöscht werden könnte, 33
und über ihre Schuldgefühle, weil sie nichts dagegen tun könne. Und wider besseres Wissen erzählte sie von Grant und der wachsenden Kluft zwischen ihnen und wie ihre Beziehung ihnen zu entgleiten schien, obwohl sie es beide nicht wollten. Mary hörte aufmerksam zu und nickte an den richtigen Stellen. Als Caitlin fertig war, lächelte Mary traurig und sagte: »Die Sache liegt doch auf der Hand, findest du nicht? Selbst stärkere Frauen als du würden unter einem derartigen Druck ins Wanken geraten. Du musst dich nicht grämen, wenn du nicht alles perfekt unter einen Hut bekommst.« »Tu ich aber. Die Menschen verlassen sich auf mich.« »Du bist nicht Supergirl, verstehst du?« Marys schwarzer Kater erschreckte sie, als er aus dem Schatten neben dem Sofa auf Marys Schoß sprang. Mary hatte ihn Arthur Lee genannt, nach einem Sechzigerjahre-Sänger, den sie seit ihrer Hippie-Jugend bewunderte. »Was soll ich denn tun?«, fragte Caitlin. »Ich sage es ja ungern, aber ich finde, Grant hat Recht.« Caitlin musterte sie argwöhnisch. »Im Leben geht es darum, im Gleichgewicht zu bleiben. Du bist im Moment völlig aus der Balance geraten. Zu viel Yin, nicht genug Yang. Du hilfst niemandem damit, wenn du dich zugrunde richtest.« »Ich fühl mich aber zu fertig, um ...« »Dann tu etwas dagegen. Dies sind harte Zeiten, Caitlin, aber es ist schon schlimmer gewesen ... nicht für uns, aber früher. Es ist leicht, sich in all dem Elend zu verlieren, obwohl wir das Leben doch eigentlich genießen sollten. Denn noch können wir es genießen.« Einen Moment lang nagte Mary nachdenklich an der Unterlippe, bevor sie hinzufügte: »Und wenn du nichts dagegen 34 hast, dass ich meine Nase in deine Intimsphäre stecke, dann solltest du endlich wieder mit Grant schlafen.« Caitlin blickte ruckartig auf; diesen Aspekt hatte sie mit keinem Wort erwähnt. »Komm schon. Man merkt es doch ganz deutlich.« Sie ließ ihre Fingerknöchel knacken wie ein Hafenarbeiter. »Manchmal fällt es einem schwer, die nötige Kraft aufzubringen, aber man wird belohnt, wenn es einem gelingt. Sex ist der Klebstoff einer Beziehung, Caitlin, und genau darum dreht sich alles im Leben. Es ist das Gegenteil von Tod, von Aufgeben, davon, sich überwältigen zu lassen von ...« - sie machte eine Handbewegung in Richtung Fenster - »... von dem dort draußen. Betrachte es symbolisch.« »So einen Satz bekommt man von Männern nie zu hören.« Sie lachten, umhüllt vom Feuerschein und der Wärme, während draußen der Wind an den Fensterrahmen rüttelte. »Ich weiß es zu schätzen, dass ich so spät noch zu dir kommen kann.« »Du weißt doch, du bist die Tochter, die ich nie gehabt habe«, sagte Mary sardonisch. »Nein, im Ernst.« »Ich bin eben ein Magnet für Obdachlose und streunende Tiere.« Arthur Lee drehte sich auf ihrem Schoß um, damit sie ihn hinter den Ohren kraulen konnte. »Wir müssen uns zusammenreißen, und zwar so sehr wie noch nie.« Mary war ernst und nachdenklich, und allein in ihrer Nähe zu sein hatte schon eine beruhigende Wirkung auf Caitlin. Mary gehörte zu den Menschen, die viel größer wirkten, als sie tatsächlich waren. »Meinst du wirklich, dass es das wert ist?« 35 »Die Uhr wurde zurückgestellt, Caitlin. Wir haben die einmalige Gelegenheit, diesmal alles richtig zu machen. « »Du findest, all die Toten und das viele Leid sind das wert?« »Es so zu betrachten ist falsch, denn wir sehen nicht das große Gesamtbild - wir stehen zu dicht davor. Aber eins weiß ich: Die Welt, wie wir sie vorher hatten, war nicht so, wie sie hätte sein sollen. Die Menschen haben einfach bloß ... existiert. Sie waren nicht wirklich glücklich. Sie haben gearbeitet und mehr besessen als ihre Eltern und ein paar Jahre länger gelebt, aber glücklich waren sie nicht. Alles in der Gesellschaft war dazu ausgerichtet, das System, den Status quo zu erhalten, denn davon haben viele Leute profitiert. Alle anderen schwammen einfach mit. Ist das ein lebenswertes Dasein?« »Sag das mal den Leichen im Gemeindesaal. Ich wette, sie hätten ihr altes Leben liebend gerne zurück, egal wie eintönig es war.« Mary lächelte, aber es war nicht zustimmend gemeint. Sie schob Arthur Lee vom Schoß und ging zu einem Wandregal, in dem eine Reihe eselsohriger Vinylschall-platten standen. »Die sind jetzt nutzlos«, sagte sie, »aber ich behalte sie aus Sentimentalitätsgründen.« Lachend ging sie die Schallplatten durch, zog eine heraus und reichte sie Caitlin. Die Platte war von einer Band namens Love und hieß Forever Changes, und die Hülle zeigte eine Reihe psychedelisch eingefärbter Köpfe vor einem weißen Hintergrund. »Ich kenne die Gruppe nicht«, sagte Caitlin und wusste nicht so recht, worauf Mary hinauswollte. »Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zum letzten Mal Musik gehört habe.« »Love ist eine Band aus den Sechzigerjahren«, sagte 36 Mary. »Sie hatten im Untergrund eine große Anhängerschar, haben aber nie den Durchbruch geschafft, weil sie
sich weigerten, sich mit der rein auf Kommerz ausgerichteten Musikindustrie einzulassen. Sie waren brillant. Na ja, jedenfalls wurde mal etwas über sie geschrieben, das mir nicht mehr aus dem Kopf ging, und zwar Folgendes: >Love waren die perfekte Mischung aus der Schönheit und Angst, die die Sechzigerjahre kennzeichneten^ Und genau das haben wir heute wieder, Schönheit und Angst.« »Schönheit wohl weniger.« »Sie ist da, wenn es einem gelingt, am Schmutz und am Elend und an den Toten vorbeizuschauen. In gewisser Weise gleicht die heutige Zeit den Sechzigern.« Caitlins ungläubiger Gesichtsausdruck ließ Mary auflachen. »Es war eine richtungweisende Ära, in der sich vieles verändert hat. Dieses eine Mal waren junge Menschen kurz davor, die Gesellschaft umzuformen. Es waren keine alten Säcke wie ich. Es waren junge Menschen - jünger als du. Man brach aus den repressiven Zwängen aus und bewegte sich auf die Freiheit zu ... auf Hoffnung und Optimismus. Spiritualität - Magie, wenn man möchte - war wieder angesagt, und es herrschte eine aufrichtige, wirklich ernst gemeinte Nächstenliebe unter den Menschen. Eine Weile schien es, als würde sich das Leben tatsächlich in diese Richtung entwickeln ... auf ein goldenes Zeitalter zu.« »Und dann kam die Natur des Menschen ins Spiel.« »Du bist eine Zynikerin«, schalt Mary sie. »Nein, das war es nicht. Die menschliche Natur besteht im Wesentlichen aus dem, was ich gerade aufgezählt habe - aus Hoffnung ... Sehnsucht ... Freiheitsliebe ... dem Wunsch nach Spiritualität. Aber es gibt eine winzige Gruppe, der es immer gelingt, an die Spitze der Gesell37 schaft zu gelangen. Auf der Straße würde man keinen zweiten Blick an sie verschwenden - sie sind langweilig, verschmelzen mit der Umgebung. Aber ihr Fluch ist es, keine Vorstellungskraft zu besitzen, und das ist etwas Furchtbares. Wenn man Vorstellungskraft besitzt, sorgt man sich um die Gefühle seiner Mitmenschen, weil man sich in ihre Lage versetzen kann, man sorgt sich um seinen Platz in der Welt und in der Geschichte. Diesen Menschen ist bewusst, dass es ihnen an Vorstellungskraft mangelt, und diesen Mangel versuchen sie durch Macht zu ersetzen, und sie tun alles, um an die Spitze zu gelangen - ohne Skrupel.« »Ist das deine Verschwörungstheorie?«, fragte Caitlin mit einem schiefen Lächeln. »Es ist keine Verschwörung. Man hat diese Leute ständig um sich, denkt aber nie schlecht über sie, weil sie so langweilig sind. Sie waren diejenigen, die Kennedy umgebracht haben - beide Kennedys -, Martin Luther King, John Lennon; sie haben Charles Manson fehlgeleitet, die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg gesprengt und die Hippiebewegung zerstört. Sie sind diejenigen, die die Sechzigerjahre kaputtgemacht haben.« Caitlin winkte kichernd ab. »Lach ruhig, Mädchen, aber es stimmt. Diese Leute finden keinen Gefallen an positiven Dingen, am Licht und an Freiheit und Hoffnung, denn in so einer Atmosphäre können sie nicht existieren. Jetzt, wo das Land auf den Kopf gestellt ist ... wo es offenbar keine Regierung mehr gibt... sind wir an einem Punkt, wo wir wieder in die richtige Richtung gehen können, wenn ein paar anständige Menschen dem Rest den Weg weisen. Aber die Verhinderer halten sich im Moment bloß verborgen, und ich wette, dass sie bald wieder ihre hässlichen, langweiligen Häupter erheben und versuchen 38 werden zu verhindern, dass aus all dem Leid vielleicht etwas Gutes erwächst.« Caitlin blickte lächelnd ins Kaminfeuer. Je mehr sie über Mary erfuhr, desto mehr mochte sie sie. Mary war eine eigenartige Mischung aus Härte, die sie sich während ihrer Zeit als Krankenschwester in der Psychiatrie angeeignet hatte, und Optimismus, den sie meistens verbarg, um ihr hartes Image aufrechtzuerhalten. Caitlin konnte ihr den ganzen Tag zuhören. Doch als sie aufschaute und Marys besorgten Blick sah, wusste sie, dass Mary ihren leidenschaftlichen Diskurs nur vorgetragen hatte, um Caitlin von ihren Problemen abzulenken. »Ich habe vorhin etwas gesehen.« Caitlin suchte die richtigen Worte, um das Erlebnis zu schildern, das sie auf dem Heimweg gehabt hatte. »Es waren zwei Männer auf Pferden. Es sah aus, als wären sie auf der Jagd.« Sie sah Mary vorsichtig an. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob es Menschen waren. Und die Pferde sahen auch höchst sonderbar aus. Ich weiß, es klingt blöd ...« »Die Welt hat sich in vielerlei Weise verändert, Caitlin.« Mary ging zum Fenster und blickte in die dunkle Nacht hinaus. »Einige der Dinge dort draußen ...« »Du glaubst an das Zeug - an den Unsinn, den die Leute im Dorf verbreiten?« Mary wandte sich zu ihr um; zum ersten Mal wirkte ihre Miene unergründlich. »Du nicht?« »Nein.« Caitlin wich ihrem Blick aus und schaute wieder ins prasselnde Feuer; sie konnte nicht akzeptieren, was sie in Marys Augen sah. »Das ist bloß eine menschliche Reaktion auf die plötzlichen Umwälzungen. Wenn man in einem unverständlichen Chaos gefangen ist, verfällt man leicht wieder kindischen Sichtweisen und glaubt, das alles sei das Wirken einer übernatürlichen Macht ... Götter, Engel, Geister ...« 39 »Was hast du vorhin gesehen?«, fragte Mary unvermittelt. »Ich weiß es nicht.« »Das weißt du sehr wohl, Caitlin. Es ist nicht rational, das, was deine Augen gesehen haben, als Unsinn abzutun.« »Wirklich, ich weiß nicht, was ich gesehen habe. Es war dunkel, stürmisch ... Ich hatte einfach ein komisches Gefühl ...«
Mary nahm eine Flasche Jack Daniel's von der Anrichte. »Den hat mir Gary Smedley als Gegenleistung für ein Kräuterschlafmittel angeboten. Da sagt man natürlich nicht nein.« Sie schenkte zwei Gläser ein, reichte Caitlin eines und setzte sich wieder zu ihr aufs Sofa. »Schau«, sagte sie, »ich weiß, dass du ein nüchtern denkender Mensch bist, aber du kannst nicht abstreiten, dass viele Menschen seltsame Dinge gesehen haben ...« »Ich streite nicht ab, dass viele Menschen glauben, seltsame Dinge gesehen zu haben.« »Du bist ziemlich stur, was?« Mary stürzte ihren Whiskey herunter. »Selbst auf das Risiko hin, unsere Freundschaft zu gefährden, muss ich dir berichten, dass die Mitglieder meiner Familie immer geglaubt haben, sie besäßen das zweite Gesicht.« »Oh, also konnten sie in die Zukunft schauen.« Caitlin lächelte. »Haben sie im Lotto gewonnen?« »Nicht nur in die Zukunft. Oh, du brauchst wohl wirklich ein paar hinter die Löffel, was?« Sie schenkte sich Whiskey nach. »Sie haben auch ... geglaubt ... aus der Ferne Ereignisse beobachten und in die Vergangenheit schauen zu können. Jedenfalls ...« »Und du besitzt diese Fähigkeit auch.« Caitlin lachte. »Möchtest du mir vielleicht aus der Hand lesen?« Einige Sekunden lang herrschte Stille, und als Caitlin 40 aufblickte, sah Mary sie todernst an. »Ich kann vieles tun, was dich überraschen würde.« »Nur zu.« Caitlin zuckte mit den Schultern. »Ich könnte ein bisschen Unterhaltung gebrauchen.« Mary schüttelte den Kopf, dann überlegte sie einen Moment lang und gab sich schließlich einen Ruck. Sie ging in die Küche und kam mit einer großen, mit Wasser gefüllten Glasschale zurück. Trotz ihrer Skepsis wurde Caitlin neugierig. »Hast du jemals vom so genannten Kristallschauen gehört?«, fragte Mary. »Was soll das sein? Eine neue Sportart?« Caitlin schenkte sich Whiskey nach und genoss das verschwommene Gefühl von Leichtigkeit, das der Jack Daniel's in ihr auslöste. »Es ist eine Technik, um mit dem Unbewussten in Kontakt zu treten. Man starrt auf eine helle, spiegelartige Oberfläche — in diesem Fall auf Wasser - und versetzt sich in Trance. Und dann faselt man merkwürdiges Zeug.« »Woran erkenne ich, wenn du in diesem Zustand bist?«, scherzte Caitlin. Mary winkte bloß ab und stellte die Schale auf einen Beistelltisch vor dem Kamin. »Ich mache es manchmal, um zu begreifen, was mit unserer Welt los ist.« Erstaunt sah Caitlin, wie ein Schatten über Marys Gesicht huschte. »Vielleicht finden wir etwas, das dir ein wenig Trost spendet.« Sie hielt inne. »Das ist wahrscheinlich nicht der richtige Ausdruck ... eher etwas, das dir eine neue Sichtweise ermöglicht.« »Meinst du das ernst?« »Sag jetzt nichts mehr.« Mary lächelte, doch dahinter lag ein solcher Ernst, dass Caitlin augenblicklich gehorchte. 41 Stille breitete sich im Zimmer aus; nur das Prasseln des Feuers war zu hören. Draußen schien sogar der Wind abzuflauen. Mary beugte sich über die Schüssel und starrte ins Wasser. Caitlin beobachtete sie eine Weile, bis sie ihre Aufmerksamkeit erst aufs Feuer und dann auf das Schlierenmuster richtete, das die vereinzelten Regentropfen an der Fensterscheibe erschufen. Sie dachte an Liam, der eingekuschelt im Bett lag, und dann an Grant. Die Klarheit ihrer Gedanken überraschte sie; sie vergegenwärtigte sich den Anfang ihrer Beziehung und war überwältigt vom Strom der schönen Erinnerungen; sie sah die Gründe, weshalb sie sich in Grant verliebt hatte, seine Sanftheit, seinen Humor, das Gefühl der Sicherheit, das er ihr gab. Plötzlich tat es ihr Leid, einfach aus dem Haus gestürmt zu sein. Sie würde es nachher wieder gutmachen; vielleicht würden sie sogar miteinander schlafen. Falls er schon schlief, würde sie ihn wecken und ... »Ich sehe etwas.« Marys Stimme klang verträumt. »Ich sehe ...« Ihre Worte hingen träge in der Luft. Caitlin beugte sich zu ihr vor; sie war neugierig, was Mary erzählen würde. »Ich sehe ...« Zuerst fragte sich Caitlin, ob Mary ihr einen Streich spielte, um sie auf andere Gedanken zu bringen; das wäre typisch für sie. Aber ihr Gesicht hatte einen sonderbar entrückten Ausdruck, der darauf schließen ließ, dass ihre Trance echt war. »Ich sehe einen Drachen«, sagte Mary träumerisch. »Er liegt unter der Erde. Er regt sich ... und da sind blaue Linien ... so blau ...« Die Worte verursachten ein Kribbeln auf Caitlins Haut. Obwohl sie nicht wusste, warum, verspürte sie ein Gefühl tiefer Behaglichkeit. »Er steigt in die Luft ... auf mächtigen Schwingen ... 42 ist jetzt weit oben am Himmel... verwandelt sich ... verwandelt sich in ... Caitlin ...« Caitlin schauderte. Sie war sich instinktiv sicher, dass dies etwas zu bedeuten hatte. »Und jetzt verwandelt auch sie sich ... Caitlin wird wieder zu dem Drachen ... und fliegt ... fliegt übers Land ...« Plötzlich zuckte Marys Gesicht, und ihre Stimme wurde ein kaum hörbares Flüstern. »Etwas beobachtet uns ... am Nachthimmel ... es ist wie ein Loch in der Welt... es ist so tief... unendlich tief... es schickt... Wesen ... um den Drachen zu jagen ... um Caitlin zu jagen ... um sie zu vernichten ...«
Marys Kopf flog zurück, als hätte sie jemand bei den Schultern gepackt und aufs Sofa geschleudert. Ihre Kinnlade klappte herunter, die starrenden Augen waren weit aufgerissen und fixierten einen Punkt an der Decke. Sie sah überhaupt nicht mehr wie Mary aus. Caitlin fuhr schockiert zusammen. »Mary ...?« Bevor sie etwas tun konnte, begann Mary zu sprechen. Zuerst war es bloß ein kaum vernehmbares Murmeln. Aber als Caitlin sich zu ihr hinabbeugte, wurden die Worte lauter und verständlicher. Es war nicht Marys Stimme. Ein tiefes, männliches Brummen schwang darin mit; es klang seltsam verzerrt, als würde es aus einem tiefen Brunnen kommen. Caitlin gefror das Blut in den Adern. Das war kein Trick. »Man hat dich bemerkt.« Es folgte eine Pause, während der Mary heiser hustete. »Es verfolgt dich.« Caitlin schauderte angesichts der alten Männerstimme, die aus dem Mund ihrer Freundin kam. Wer hat mich bemerkt? Bei der zweiten Frage regte sich ein kalter Schatten in ihrem Herzen. Und warum verfolgt es mich? Mary legte den Kopf in den Nacken, sodass ihr starren43 der, gleichzeitig nicht sehender und sehender Blick auf Caitlin gerichtet war. »Die Flüsterer sind unterwegs. Sie haben deine Seele gewittert.« Wieder ein heiseres Husten. »Sie werden dich holen, Schwester der Drachen. Es gibt kein Entkommen.« Speichel tropfte aus Marys Mundwinkeln, während winzige Zuckungen durch ihre Gesichtsmuskeln fuhren. Caitlin packte Mary bei den Schultern, hatte Angst, dass ihre Freundin einen epileptischen Anfall bekam. Dann versteifte sich Marys Körper abrupt, doch im nächsten Moment entspannte sie sich, und ein umwölktes, erschrockenes Bewusstsein kehrte in ihre glasigen Augen zurück. Sie versuchte zu sprechen, doch es kam nur ein Röcheln heraus. »Ganz ruhig«, sagte Caitlin, die nicht begriff, was geschehen war. Mary schob sie zur Seite und griff nach der Jack-Daniel's-Flasche. Sie schenkte sich zwei Fingerbreit ein und stürzte den Whiskey mit zitternder Hand in einem Zug herunter. »Was war das gerade?«, fragte Caitlin, als Mary sich einigermaßen beruhigt hatte. »Es ist noch nie so stark gewesen«, sagte Mary erschöpft. »Seit dem Untergang ist es viel fokussierter, aber das ...« Sie nahm Caitlins Hand in ihre. »Ich glaube, etwas Schlimmes wird passieren.« »Du hast meinen Namen erwähnt.« Caitlin war völlig durcheinander, bestürzt über das, was sich gerade ereignet hatte. Sie sank aufs Sofa zurück. »Ich kann nicht mehr. Wirklich.« Das Mitleid, das sie in Marys Gesicht sah, verstärkte ihre Empfindung bloß. »Trink noch einen.« Caitlin schüttelte den Kopf. »Was ist gerade geschehen?« 44 »Nichts. Blanker Unsinn.« Ihr Gesichtsausdruck strafte ihre Worte Lügen. »Nichts ergibt mehr einen Sinn.« Caitlin trocknete sich mit dem Handrücken die Augen und stand auf. »Ich gehe jetzt besser. Ich muss mich im ... Gemeindesaal melden.« Fast hätte sie Leichenhalle gesagt. »Sie brauchen meine Hilfe.« »Ich muss nachdenken, Caitlin ... darüber, was gerade geschehen ist«, sagte Mary ernst. »Ich komme rüber, sobald mir klar ist, was es zu bedeuten hat.« Caitlin lächelte gezwungen. »Das hat doch bis morgen früh Zeit, oder? Ich bleibe nicht lange im Saal. Ich möchte nach Hause.« Mary brachte sie zur Tür, doch als Caitlin in den Sturm hinausgehen wollte, nahm Mary sie fest in die Arme. »Gib auf dich Acht«, sagte sie. Dann: »Sei vorsichtig.« Es klang wie eine Warnung. Als Caitlin in den übel riechenden Gemeindesaal trat, begrüßte Gideon sie mit trauriger Miene und nickte in Richtung eines der Nebenzimmer. Durch den Türspalt sah Caitlin Eileen zusammengesunken neben ihrer Schwester sitzen und deren Hand halten. Daphne lag auf einem Tisch, schon komatös und schweißgebadet. Die Flecken auf ihrem Gesicht und den Unterarmen erinnerten an eine Maori-Tätowierung. Caitlin konnte nicht fassen, mit welcher Geschwindigkeit sich die Seuche im Körper ausbreitete. War dies das Ende der Welt?, fragte sie sich. Die Menschheit ausgelöscht binnen weniger Wochen; schuf die Natur sich Platz für die nächste Phase? Es schien so ungerecht nach allem, was sie in den letzten Monaten ausgehalten hatten: Sie waren dem großen Knall ent45 kommen, nur um vom Nachbeben dahingerafft zu werden. Es gab nichts, was sie Eileen hätte sagen können, deshalb überließ sie sie ihrer Trauer. Da keine neuen Patienten eingeliefert worden waren, ging sie ins Büro; sie war dankbar, ein paar Momente allein sein zu können. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich bergeweise Unterlagen und Notizen, während an der Wand Tabellen und Grafiken und daneben eine vergilbte Ankündigung für einen Das-gepflegteste-Dorf-Wettbewerb hingen. Caitlin hegte noch immer die verzweifelte Hoffnung, dass sie, wenn sie immer wieder ihre Unterlagen studierte, früher oder später zu einer Erkenntnis über das wahre Wesen der Seuche gelangen würde. Doch die Art und Weise der Übertragung war ihr schleierhaft; die ganze epidemiologische Struktur der Krankheit war ein völliges Rätsel. Waren bestimmte Menschen genetisch veranlagt, sich anzustecken? Vielleicht war es selbst für Leute wie
sie, die scheinbar immun waren, nur eine Frage der Zeit. Sie versuchte sich auf das Positive zu besinnen, aber alles wies auf das Undenkbare hin: Bestenfalls würde eine Hand voll Überlebender das Erbe der Menschheit weitertragen. Schlimmstenfalls: das Ende. Sie starrte auf ihre Unterlagen und spürte, wie Wellen der Verzweiflung über ihr zusammenschlugen. Es war ein einziges Chaos. Es war zu viel, und ihr fehlte die Zeit, um es zu begreifen. Liam lag im Bett. Grant schlief ebenfalls tief und fest. Erleichtert ging sie in die Küche und goss sich ein Glas Bier ein. Sie hasste den Geschmack, aber wenigstens betäubte es sie ein wenig. Nach einer Weile hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie zu Bett gehen konnte. Sie wür46 de Grant wecken, überlegte sie, und sie würden miteinander schlafen und die Welt und all ihre heimtückischen Bedrohungen vergessen. Ihre verzweifelte Sehnsucht nach etwas Lebensbejahendem machte Caitlin genauso betrunken wie der Alkohol. Sie schlüpfte ins dunkle Schlafzimmer und zog sich aus; ihre Ungeschicklichkeit verflüchtigte sich in der Hitze ihrer Erregung. Grant schlief wie ein Toter, doch sie wusste, wie sie ihn wecken würde. Sie tastete nach seiner Brust und schob die Hand zu seinen Lenden hinunter. Es dauerte einige Sekunden, bis sie merkte, dass etwas nicht stimmte. Grants Haut fühlte sich wächsern und fiebrig an, und sein Bauch war schweißnass. Zum ersten Mal achtete sie auf seine Atmung: Sie war flach und angestrengt. »Grant?« Ihr Geist verwandelte sich in eine Sturzflut rasender Gedanken: Szenarien schlimmstmöglicher Fälle schössen ihr durch den Kopf, Stoßgebete, Erinnerungen an die Zeit, als alles perfekt gewesen war. Tief im Herzen kannte sie die Wahrheit, und sie glaubte, der Ansturm brutaler Emotionen würde ihr den Verstand rauben. Sie sprang aus dem Bett, fluchte darüber, dass es keinen Strom gab, und holte rasch die Kerze aus dem Flur. Sie schirmte sie mit der Hand ab und schloss für einen Moment die Augen, bevor sie hinzuschauen wagte. Der Schmerz war so scharf wie bei einem körperlichen Schlag. Im Kerzenschein sah Grants Haut frostweiß aus, was die schwarzen Flecken auf seinem Körper umso stärker hervorhob. Sie tat so, als täte sie etwas Nützliches, prüfte seinen Puls und hob seine Augenlider. Er würde nicht mehr das Bewusstsein erlangen. Sie hatte seinen Abschiedskuss schon bekommen und die 47 letzten Worte mit ihm gewechselt - und was waren sie gewesen? Die Bitterkeit und der Zorn ihres Abschieds beschworen einen neuerlichen Schwall herzzerreißender Emotionen herauf. Inmitten der kalten Tiefen ihrer Verzweiflung verspürte sie einen alles verzehrenden Selbsthass, der jedoch Sekunden später von einem weiteren entsetzlichen Gedanken verdrängt wurde. Sie stürmte mit der Kerze in den Flur, blieb vor Liams Tür stehen und flüsterte: »Bitte, lieber Gott, bitte, bitte, bitte.« Sie wagte es nicht, hineinzugehen, glaubte, tatsächlich auf der Stelle verrückt zu werden von dem Anblick, der sich ihr wahrscheinlich bieten würde. Doch die Realität war noch viel, viel schlimmer. Liam lag im Bett, die Bettdecke ans Kinn gezogen, so wie sie ihn nach dem Gute-Nacht-Kuss verlassen hatte. Seine Haut war weiß. Und schwarz. Draußen war der Sturm abgeflaut - der in ihr dagegen würde ewig andauern. 2 Wieder allein, oder? »Abschiednehmen ist alles, was wir vom Himmel wissen, und alles, was wir über die Hölle wissen müssen.« EMILY DICKINSON Die Nacht endete nie. Alle Gedanken und Ängste, die Trauer und die Verzweiflung traten in den Hintergrund, während Caitlin sich in den nächsten Tagen unablässig in ganz gewöhnlichen Tätigkeiten verlor: Sie wechselte die Bettlaken, wusch die Wäsche, sortierte die wenigen Schmerztabletten, die sie noch vorrätig hatte und - sie redete. Stundenlang saß sie an Liams und Grants Betten, während die Worte aus den Tiefen ihrer Seele und ihres Herzens heraussprudelten, bis sie in ihrem tranceartigen Zustand nicht mehr wusste, was sie überhaupt erzählte. Sie redete so, als wären Grant und Liam auf den Beinen, als wären sie irgendwo im Haus zugange und würden ihr antworten, sobald sie mit dem, was sie gerade taten, fertig waren. Sie redete ohne Unterlass, ohne Punkt und Komma, damit die beiden keine Gelegenheit hatten zu antworten; solange ihr Wortschwall Grant und Liam am Sprechen hinderte, bestand nicht die Möglichkeit, dass einer der beiden etwas erwidern könnte. Und ständig erzählte sie ihnen, wie sehr sie sie liebte; dabei tauchte sie in den Brunnen ihrer Emotionen ein, den sie so lange nicht 49 mehr besucht hatte, und war überrascht von der Intensität der Gefühle, die sie dort vorfand. Am vierten Tag starben die beiden. In der ersten Stunde verspürte sie nur tiefen Frieden, war gehüllt in einen Kokon aus apathischer Betäubtheit. Caitlin existierte nicht mehr; ihr Leben war vorüber. Später saß sie an Grants Bett und dachte an das, was nun unwiederbringlich verloren war; und dann setzte sie sich zu Liam und überlegte, was hätte sein können, nun aber
nie eintreten würde. Dann ging sie in die Küche und kochte sich eine Kanne von dem Gebräu, das sie scherzhaft als Tee bezeichnet hatten, während das trübe Licht des Morgengrauens allmählich durch die Fenster hereinströmte. Über den Becher gebeugt, sah sie Grants und Liams Schuhe vor der Hintertür stehen, verdreckt von ihrem letzten gemeinsamen Spaziergang als Familie. Der Anblick traf sie mit schmerzhafter Wucht, und dann wurde sie hinfort gerissen von der Sturzflut ihrer alles ertränkenden Trauer. Kurz nach Mittag ging Caitlin im strömenden Regen mit einem Spaten in den Garten, um den sie sich vor dem Untergang alle gemeinsam gekümmert hatten. Sie wählte die Stelle unter der knorrigen Eiche, auf der Liam so gerne herumgeklettert war und auf der Grant ihm ein Baumhaus gebaut hatte. Der Mutterboden war einen halben Meter tief, dann stieß sie auf eine pampige, gelb-graue Lehmschicht. Ihre Muskeln brannten und ihre Gelenke ächzten, doch sie zwang sich weiterzuschaufeln und genoss den Schmerz. Der Regen klebte ihr das Haar an den Kopf und durchnässte ihre Kleidung so sehr, dass sie meinte, nur Wasser am Leib zu tragen. Sie dachte an Grant: Als direkt nach der Geburt das 50 winzige, warme Bündel des Lebens auf ihrer Brust lag, hatte er ihre Hand gehalten und gesagt: »Ich liebe dich so sehr. Du wirst nie wieder allein sein, weißt du das?« ... Wie er sie an Silvester in den Arm genommen und mit ihr das Feuerwerk am Himmel betrachtet hatte. Und als sie die erste Grube ausgehoben hatte, fing sie mit der zweiten an, einer kleineren. Liam, drei Jahre alt, zu Weihnachten, wie er dem Weihnachtsmann einen Obstkuchen vor die Tür stellte... Wie er sie an ihrem Geburtstag mit einem selbst eingepackten Geschenk und einer selbst gebastelten Karte weckte ... Wie er ihr immer einen Kuss auf die Wange gab, wenn er sie weinen sah ... Drei Stunden später war sie fertig. Sie ging ins Haus zurück, wie in einem Traum, in dem ihr nichts etwas anhaben konnte, und war zufrieden mit ihrem Befinden. Aber in dem Moment, als sie Grant aus dem Bett zu heben versuchte, merkte sie, dass die entrückte Apathie nur ein vorübergehender Zustand gewesen war. Seine Haut war kalt und er antwortete nicht, als sie seinen Namen sagte; er würde nie wieder antworten. Er sah aus wie Grant, fühlte sich aber nicht so an, war nicht warm, nicht liebevoll, lachte nicht mehr; es ergab keinen Sinn, und das machte alles nur noch schlimmer. Erneut kamen ihr die Tränen; sie liefen ihr in die Mundwinkel, und vom Salzgeschmack wurde ihr übel. Grant war viel zu schwer für sie. Sie fiel zweimal hin und schlug seinen Kopf gegen den Schlafzimmerschrank. Seine Arme und Beine hingen nicht so, wie sie es haben wollte. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung gelang es ihr, ihn sich halb auf den Rücken zu wuchten, und dann schleppte sie ihn aus dem Zimmer und stöhnte jedes Mal auf, wenn ein Körperteil von ihm gegen die 51 Tür oder gegen ein Möbelstück schlug - so als würde er es noch spüren. Draußen rutschte sie aus und ließ Grant auf den nassen Rasen fallen. Sie hockte sich neben ihn und weinte, als wäre das Ende der Welt gekommen. Aber nachdem auch diese Tränen versiegt waren, machte sie weiter, schleifte ihn durchs Gras, stürzte erneut, verdrehte sich den Fußknöchel. Einmal lag seine Wange an ihrer, und wegen des Regens auf seinem Gesicht fühlte es sich an, als würde auch er weinen. Ihr Geist zerbröselte in unzusammenhängende Gedankenfragmente, sodass es schien, als würde die Zeit in abrupten Sprüngen verstreichen. Sie lag mit Grant im Gras und starrte zu den Wolken empor. Sie torkelte über den Rasen, Grant hing an ihrem Rücken. Sie erreichte die Grube. Sie schaute auf Grants verrenkten Körper unten im Grab und dachte: Warum steht er nicht auf? Den Schmutz bekomme ich nie wieder aus dem Hemd raus. Und dann holte sie Liam, und er war viel leichter zu tragen. Aber sie brachte es nicht fertig, ihn ins Grab zu legen. Sie hielt ihn an sich gedrückt und gab ihm einen Kuss nach dem anderen, und sie hätte ewig dort gekauert, wenn das Universum ihr nicht gesagt hätte, was zu tun war. Der Rand des Grabes bröckelte, und sie fielen gemeinsam hinein und landeten in der Regenpfütze auf dem Grund. Caitlin lief Wasser in den Mund, und sie war von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt, sodass sie aussah wie eine wilde, prähistorische Kriegerin. Und noch immer hielt sie Liam in den Armen. Sein Körper war so klein, seine Kleider waren klitschnass, und sie betete, dass sie etwas Wärme spüren würde, dass sich die Welt zurückdrehen und mit einem Mal alles wieder gut sein würde. 52 Sie blieb dort sitzen, während sich um sie herum das Wasser sammelte und an ihren Beinen anstieg und das trübe Tageslicht schwand und von Osten die Dunkelheit heranrückte. Ihre Gedanken waren noch immer ein einziges Chaos. Nichts war schlimmer als das, was sie ertragen musste. Sollte die Menschheit doch aussterben, dahingerafft von der Seuche; es war ihr egal. Nichts war mehr wichtig. Wenn es nach ihr ginge, konnte die Welt heute enden. Fragmente ... Als irgendwann Blitze die Nacht zerrissen, kletterte sie aus dem Grab und nahm den Spaten. Jedes Mal, wenn sie glaubte, das Schlimmste überstanden zu haben, geschah etwas noch Schlimmeres. Die erste Schaufelladung auf Liam landen zu sehen zerriss ihr Herz in noch kleinere Stücke. Es waren ihr Mann und ihr Sohn, und sie war dabei, die beiden im Boden zu verscharren. Die Erde landete mit einem dumpfen Knall auf einem reglosen Brustkasten. Sie wartete auf eine Beschwerde -»Mommy, was tust du da?« -, aber es kam keine.
Sie lag auf dem aufgeweichten Rasen, der Regen prasselte auf sie nieder und spülte alles hinfort. Wieder riss ein greller Blitz sie aus dem Nichts. Sie spürte etwas Sonderbares: ein Gewicht auf der Brust. Sie schlug die Augen auf und sah eine große, merkwürdig vertraute Nebelkrähe auf ihrem Brustbein sitzen; die glänzenden schwarzen Augen waren nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Die Krallen bohrten sich in ihre Haut. Der schwarzblaue Schnabel war lang und spitz. Hielt der Vogel sie für tot? Suchte er nach Aas? 53 Er brauchte sich nur vorzubeugen, um ihr die Augen auszuhacken. Aber statt anzugreifen, starrte die Krähe sie bloß an. Träumte sie? Die Krähe ging ein Stück zurück und begann auf ihrer Brust herumzupicken, allerdings nicht so wild, dass es wehgetan hätte. Vielleicht war sie aber auch zu betäubt, um den Schmerz zu spüren. Und die Krähe hörte nicht mehr auf; das rhythmische Picken ging immer weiter, als versuchte sie, sich in Caitlins Körper hineinzuwühlen. Außerdem war der Vogel so schwer, dass sie kaum noch Luft bekam. Sie sollte ihn einfach verjagen, aber warum eigentlich? Sie schloss die Augen und ließ sich wieder vom Regen hinfort tragen. Mary hatte ein ungutes Gefühl. Seit drei Tagen deuteten die Karten auf etwas Dunkles hin: ein Ende oder ein Anfang - was beides ein und dasselbe war, soweit es das Universum betraf. Sie wünschte, sie könnte die Kräfte, in die sie eintauchte, dazu bringen, ihr die Dinge wenigstens einmal aus menschlicher Perspektive zu veranschaulichen; vermutlich würden sie genauso aussehen, aber bestimmt würden sie sich anders anfühlen. Sie hatte es mit Kristallschauen versucht, aber nicht den tranceartigen Zustand erlangen können, weil sie aus irgendeinem Grund ständig an Caitlin gedacht hatte. Beunruhigt und aufgewühlt trank sie einen Whiskey nach dem anderen, ungeachtet der Tatsache, wie selten er in dieser neuen Welt war. Doch sie wusste, dass sie erst zur Ruhe kommen würde, wenn sie ihre Freundin besuchte. Sie legte noch ein Holzscheit ins Feuer, damit es bis zu ihrer Rückkehr weiterbrannte, und zog dann ihren Anorak an. Sie hatte das miese Wetter satt; 54 es kam ihr vor, als würde es seit Monaten ununterbrochen regnen. Das Wetter schlug ihr aufs Gemüt. Sie war schon immer anfällig für Depressionen gewesen, und in dieser düsteren, verregneten Zeit machten sie ihr mehr denn je zu schaffen. Unweigerlich dachte sie an die Vergangenheit und wie sie an den Punkt ihres Lebens gelangt war, an dem sie heute stand. Wären die Dinge anders gelaufen, wenn sie sich mit jemandem zusammengetan hätte? Oder hätte sie sich trotzdem so wenig gemocht, dass sie dadurch auch ihrem Partner nur Kummer bereitet hätte? Sie hatte immer gedacht, alleine ginge es ihr am besten - ohne einem anderen das Leben zu vermiesen -, aber sie vermisste Berührungen, morgendliche Begrüßungen, die Wärme eines anderen Menschen, die kleinen Dinge genauso wie die großen. Sie wunderte sich noch immer darüber, wie ein Leben manchmal durch ein einziges, simples Ereignis eine bestimmte Richtung nehmen konnte. Wie sich in einem einzigen Wimpernschlag Arroganz in Schuldgefühl und jugendlicher Optimismus in Selbstmitleid verwandeln konnten. Manchmal gab sie der Religion ihrer Kindheit die Schuld dafür, dass sie ihre Selbstvorwürfe noch heute mit sich herumtrug. Doch ihre Unfähigkeit, über ihr früheres Verhalten hinwegzukommen, hatte nicht bloß einen Ursprung; sie rührte aus einer Anhäufung vieler kleiner Niederlagen her. Ein ganz und gar verpfuschtes Leben. Der Katholizismus hatte ihr beigebracht, dass es für jeden Menschen einen Grund gab zu existieren. Sie war das perfekte Gegenbeispiel für diese dumme kleine Kinderfantasie. Als sie nach der alten Bergarbeiter-Lampe suchte, die ihrem Vater gehört hatte, hörte sie draußen ein Geräusch. Es hätte der an der Tür des Schuppens rüttelnde 55 Wind sein können oder ein hinter dem Haus umkippender Besen, aber sie spürte ein eigenartiges Kribbeln im Bauch. Besucher - und sie hatte viele Besucher, die sie zu jeder Tageszeit um Rat und Hilfe baten - würden direkt zur Eingangstür kommen. Das Geräusch war neben dem Haus gewesen. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Seit dem Zusammenbruch aller Ordnung gab es dort draußen Heerscharen von Plünderern, die ohne zu zögern eine allein stehende Frau überfielen. Das Dorf hatte seinen eigenen Nachbarschaftswachdienst aufgestellt, der nachts patrouillierte, doch wegen der Seuche gab es kaum noch Mitglieder; vermutlich existierte der Wachdienst überhaupt nicht mehr. Sie nahm den neben der Tür stehenden Besenstiel, an dessen Ende statt einer Bürste ein Schnitzmesser befestigt war. Mit einem einzigen Eindringling würde sie wohl fertig werden; falls es mehrere waren, würde sie fliehen müssen. Vorsichtig trat sie an eines der Fenster. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen; die Bäume und Hecken bogen sich im Sturm, und vom dahinter liegenden Feld war nichts zu sehen. Sie wartete geduldig auf eine Bewegung, doch es kam keine. Gerade als sie sich eingeredet hatte, sich getäuscht zu haben, tauchte ein Blitz die Umgebung in grelles weißes Licht. Jemand stand unter dem Weißdornbaum; die Gestalt hatte sie beim Hinausspähen beobachtet. Sie fluchte erschrocken, wich zurück und wäre beinahe über den Sessel hinter ihr gestürzt. Die Dunkelheit verschluckte die Gestalt wieder. Mary ging in die Mitte des Wohnzimmers und drehte sich im Kreis, da sie nicht wusste, ob der Eindringling vorne oder hinten ins Haus kommen würde. Plötzlich klopfte es an der Tür.
56 »Wer ist da?«, rief sie ängstlich. »Man hat mich zu Ihnen geschickt.« Die Stimme war kräftig, klang selbstbewusst, gebildet und ein wenig arrogant. »Warum schleichen Sie draußen rum?« »Ich wollte mir sicher sein, dass es das richtige Haus ist.« Mary entspannte sich ein wenig. Der Mann klang nicht wie ein Plünderer oder Mörder; andererseits, wer tat das schon? »Lassen Sie mich nun rein oder nicht? Ich bin völlig durchnässt; mir ist kalt.« Den selbst gebastelten Speer erhoben, beugte sie sich vor, drehte den Hausschlüssel und zog die Tür auf. Auf der Schwelle stand ein groß gewachsener, kräftiger Mann in einem klitschnassen langen Mantel; auf dem Kopf trug er einen breitkrempigen Filzhut, der im Regen fast vollständig die Form verloren hatte; er hielt einen Rucksack und einen knorrigen Stab in den Händen. Der Mann war Ende fünfzig, hatte schulterlanges graues Haar und einen struppigen Vollbart. Sein von unzähligen geplatzten Äderchen durchzogenes Gesicht sah aus wie das eines Menschen, der gerne trank, doch in seinen hellen Augen lag ein wacher, überheblicher Glanz. Mary hielt ihm den Speer vor die Brust. Der Mann blickte verächtlich auf die Waffe hinab. »Sind Sie die Hexe?«, fragte er barsch. »Was ...?« Mary war völlig perplex. Er stieß den Speer zur Seite und schob sich an ihr vorbei. »Ein Baum hat's mir erzählt«, fügte er schroff hinzu. Mary bereitete sich innerlich darauf vor, den Besucher hinauszuscheuchen, doch er hatte schon den Mantel ausgezogen und tropfte ihr Wohnzimmer voll. Dann warf er den Mantel in eine Ecke und marschierte zum Kamin, um sich die Hände zu wärmen. Mary trat mit dem Speer vor. 57 »Jetzt nehmen Sie doch endlich den Zahnstocher runter« , sagte er, während er sie aus dem Augenwinkel beobachtete. »Den nehme ich höchstens runter, um Ihnen den Arsch aufzureißen.« Sie erwog, ihm einen kleinen Stoß zu verpassen, um ihn kurz aufjaulen zu hören. »Wer sind Sie?« Er straffte den Rücken und schüttelte müde den Kopf, während er den Hut auf den Mantel warf. »Mein Name ist Crowther. Frank, wenn Sie freundlich sein möchten.« Seine Augen verengten sich. »Was vermutlich nicht der Fall ist.« »Und, weiter ...«, drängte sie ihn und fuchtelte mit dem Speer herum. »Ich bin hergekommen, um Sie zu treffen«, sagte er. »Nehme ich jedenfalls an.« Mary biss sich kurz auf die Lippe, dann deutete sie mit dem Speer auf einen Stuhl. »Aber machen Sie nicht alles nass, während Sie mir Ihre Geschichte erzählen.« Er ließ sich auf den Stuhl fallen, und die Erschöpfung grub ihm tiefe Falten ins Gesicht, als er den Kopf auf die Rückenlehne zurücklegte. Mit geschlossenen Augen begann er: »Ich hoffe, wir müssen nicht bei Adam und Eva anfangen. Wir können doch voraussetzen, dass es in der Welt ein Element gibt, das wir als übernatürlich zu bezeichnen pflegten, oder?« »Weiter.« »Nun, von Zeit zu Zeit kommuniziere ich mit diesen anderen Mächten. Neuerdings verhalten sie sich allerdings reichlich sonderbar. Offenbar ist irgendwas im Gange. Etwas ziemlich Großes und extrem Beunruhigendes, aber wie immer erhält man von diesen Mächten keine konkreten Informationen; es ist, als würde man versuchen, Wasser in einem Sieb zu tragen. Anscheinend hängt die Sache aber mit dieser verdammten Seuche zu58 sammen.« Er wedelte mit der Hand. »Wie auch immer, das ist jetzt nebensächlich. Wichtig ist, dass man offenbar etwas gegen die Seuche tun kann. Und wie es scheint, spiele ich dabei irgendeine Rolle, und Sie auch, denn man hat mich hierher geleitet. Offen gestanden kann ich mir einen schöneren Zeitvertreib vorstellen, aber ich nehme an, das Überleben der Menschheit ist eine drängende Angelegenheit.« »Wer hat Ihnen das alles erzählt?« »Der Holzgeborene.« Er musterte sie erwartungsvoll. Sie nickte. »Die Baumgeister.« »Sie reden so, als wäre das irgendwelches Zeug aus einem Kindermärchen. Wenn man diesen Wesen dumm kommt, machen sie kurzen Prozess mit einem. Ich habe mal einen Mann gesehen, dem wuchs ein knorriger Ast aus dem Bauch. Er hatte irgendwie ein Stück Holz verschluckt, und das Zeug ist in ihm gewachsen und durch die Bauchdecke herausgeplatzt.« »Wahrscheinlich hat er es verdient.« »Wie mitfühlend von Ihnen.« Trotz seines Äußeren fühlte sich Mary von Crowther nicht bedroht. Für gewöhnlich hatte sie eine gute Menschenkenntnis, was aber nicht bedeutete, dass sie den Mann mochte. Er trug seine Arroganz wie einen Schild vor sich her und erinnerte sie an Intellektuelle, die nicht anders konnten, als mit kalter Verachtung auf gewöhnliche Menschen herabzublicken. »Warum sollte ich Ihnen vertrauen?«, fragte Mary. Crowther überlegte einen Moment lang, dann stieß er ein lang gezogenes Seufzen aus. »Die schlichte Antwort
ist, dass Sie mir wahrscheinlich nicht vertrauen sollten. An Ihrer Stelle würde ich es wohl auch nicht tun.« »Sie sehen aus, als hätten Sie einen langen Weg hinter sich«, stellte Mary fest. 59 Er nickte. »Ich komme aus West Country. Es gibt dort ein College, das nach dem Untergang gegründet wurde. Sein Ziel ist es, die alten Traditionen des Naturstudiums und die Zusammenhänge zwischen Himmel und Erde weiterzugeben. Es sind die überlieferten Weisheiten einer uralten Vereinigung, die sich die Kultur nannte, obwohl jeder sie unter einem anderen Namen kennt. Es ist sozusagen ein mythisches College. Haben Sie schon mal davon gehört?« Mary schüttelte den Kopf. »Ich war mein ganzes Leben lang Akademiker, deshalb war es wohl zwangsläufig, dass es mich an das College verschlug. Etwas anderes, etwas Produktiveres kam für mich nicht in Frage. Ich bin Professor, was früher mal etwas bedeutet hat. Ich war in verschiedenen Fachrichtungen tätig, hier ein bisschen Psychologie, dort ein bisschen Archäologie und Anthropologie. Eine Weile war ich in Oxford ...« »Verheiratet?« »Meine Frau ist tot.« Seine Züge blieben ausdruckslos. Mary hatte keine Ahnung, wie viel sie von dem, was er sagte, glauben konnte. »Wo meine Kinder stecken, weiß ich nicht. Sie sind erwachsen und führen ihr eigenes Leben. Wie Sie sehen, habe ich keine familiären Bindungen. Das College klang interessant... und das war es auch. Außer dass es von einem der elendsten, jähzornigsten alten Mistkerle geleitet wird, die man sich vorstellen kann.« Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Und von einem der fünf Helden.« Mary war verblüfft. »Dann gibt es sie also wirklich?« Er nickte. »Ja. Sie sind kein Mythos, obwohl sie sich zunehmend zu einem entwickeln. Fünf Menschen, die die Welt gerettet haben, als alles auf der Kippe stand. Der in Glastonbury ist der Schamane. Der Krieger hat sich als 60 Verräter erwiesen und wurde bei der Schlacht um London getötet. Dann gibt es eine Art Mischwesen aus Mensch und Pflanze ... keine Ahnung, ich weiß nichts Genaues darüber. Der Anführer ist verschollen; er gilt als tot. Und es gibt eine Frau aus Ihrer Branche.« Mary setzte sich auf die Armlehne eines Stuhls und starrte ins Leere. »Ich kenne die Geschichte. Jeder kennt sie, aber so richtig glauben konnte ich sie nie. Werden diese Helden zurückkehren?« »Um uns zu retten?« Er lachte bitter. »Sie haben ihren Teil getan. Jetzt sind wir am Zug.« »Dann ist dieses College wohl etwas ganz Besonderes.« Sein Blick schweifte in die Ferne. »Die Dinge, die ich dort gelernt habe ... unglaubliche Dinge ... Welten jenseits der unseren ... die Existenz von Wesenheiten, die wir als Götter bezeichnet haben ... Magie ... eine neue, tief greifende Philosophie darüber, wie alles miteinander zusammenhängt...« Er hielt kurz inne. »Aber das ist unwichtig. Was zählt, ist, dass ich hier bin.« »Sie sind den ganzen Weg hierher gekommen, weil der Holzgeborene es Ihnen gesagt hat.« Insgeheim freute sich Mary, als sie sah, wie Crowther unter ihrem bohrenden Blick zusammenzuckte. »Weil Sie so ein gütiges Herz haben und der Menschheit helfen wollen. Sie wirken gar nicht wie ein Samariter.« »Ich habe auch nie behauptet, einer zu sein. Ich bin Teil der Menschheit, was immer andere sagen mögen, und ich habe ein berechtigtes Interesse an ihrem Überleben.« »Und die Baumgeister haben Ihnen von mir erzählt?« Je länger sie über seine Erklärung nachdachte, desto argwöhnischer wurde Mary. »Nicht bloß die Baumgeister. Nachdem feststand, dass etwas im Gange ist, wurden am College gewisse Rituale abgehalten, die bestimmte Arten der Kommunikation er61 möglichen. Und ja, ich wurde aus einem ganz bestimmten Grund hergeschickt, wegen etwas, das den Mächten, von denen ich gesprochen habe, wie ein Leuchtfeuer entgegenstrahlt.« »Und worum handelt es sich dabei?« »Das werde ich Ihnen gerne in allen Einzelheiten erzählen. Aber wäre es möglich, zuerst einen Tee zu bekommen, bevor wir ans Eingemachte gehen?« Ohne auf seine Bitte mit einer freundlichen Erwiderung zu antworten, wandte sie sich um und ging in die Küche. Doch als sie an ihm vorbeilief und er sich im Lichtschein des Feuers vorbeugte, um sich am Kamin die Hände zu wärmen, bemerkte sie etwas Eigenartiges: In seinen Schläfen und unter den Ohren schienen Löcher zu sein, als hätte sich ihm etwas in den Schädel gebohrt. Als Mary mit zwei Bechern Kräutertee zurückkehrte, hatte Crowther Stiefel und Socken ausgezogen und wackelte vor dem Feuer mit den Zehen. »Sie sind ein ungehobelter Bauer«, sagte sie und reichte ihm einen der Becher. »Vielen Dank. Ich halte die Fähigkeit, andere Menschen brüskieren zu können, für ein Merkmal von Einzigartigkeit.« Er schlürfte am Tee, bevor er anerkennend nickte. »Also«, sagte Mary nach einigen Momenten, »haben Sie noch andere Informationen, oder muss ich mir den Rest aus den wenigen Versatzstücken zusammenreimen, die Sie mir gerade erzählt haben?« »Ja, etwas gibt es noch: Der Schlüssel zu allem ist eine Frau ...« Mary zuckte zusammen.
Crowther sah ihre Reaktion. »Wissen Sie, von wem ich spreche?« 62 »Stellen Sie den Tee weg«, sagte Mary. »Wir müssen los.« Als Marys Ruf durch Caitlins Haus schallte, fürchtete sie schon das Schlimmste. Sie hatten zuerst im Gemeindesaal nach ihr gesucht, aber selbst wenn Caitlin einen Hausbesuch machte, müssten Grant und Liam zu dieser späten Stunde eigentlich im Bett liegen. Crowther überprüfte die Schlafzimmer und kehrte kopfschüttelnd zurück. Laute Knarrgeräusche lockten sie in die Küche, wo die offene Hintertür im Wind hin und her schwang. Draußen sah Mary eine Bewegung am Ende des Gartens. Sie rannte sofort hinaus und fand eine derart schlammbesudelte Gestalt, dass sie Caitlin zuerst gar nicht erkannte. Die Ärztin kauerte knietief in einer Grube und schaufelte fieberhaft Erde heraus. Caitlin schaute aus großen, starrenden Augen zu Mary auf und brüllte: »Ich muss sie rausholen!« Sie schien Mary überhaupt nicht zu erkennen. Caitlin grub wie eine Wahnsinnige, schleuderte die Erde in alle Richtungen, dann warf sie den Spaten fort und sank auf die Knie, um mit bloßen Händen weiterzubuddeln. Mary starrte auf die tiefer werdende Grube und auf den Erdhaufen daneben und wusste, was geschehen war. »Oh, du Arme.« Ihre Stimme bebte vor Mitleid. »Ich muss sie rausholen!« Caitlin wühlte wie ein Tier in der Erde und versuchte sich loszureißen, als Mary sie aus dem Grab herausziehen wollte. Mit vereinten Kräften gelang es Crowther und Mary schließlich, Caitlin so weit zu beruhigen, dass sie sie aus der Grube herauslocken konnten, und nachdem diese aus ihrem Blickfeld verschwunden war, schien Caitlin das Grab völlig vergessen zu haben. Ihre Miene wurde 63 ausdruckslos, ihr Blick war leer. Hand in Hand mit Mary trottete sie wie eine Schlafwandlerin zurück zur Küche. Sie setzten sie an den Küchentisch, doch Caitlin antwortete auf keine von Marys Fragen, schien nicht einmal zu bemerken, dass jemand bei ihr war. Das Kinn fiel ihr auf die Brust, und sie starrte teilnahmslos auf die Tischplatte. Crowther musterte Caitlin geringschätzig. »Wenn das die Frau ist, die ich finden sollte, sehe ich keine Möglichkeit, dass unser Unterfangen Erfolg hat.« »Halten Sie den Mund«, blaffte Mary. Sie rutschte dicht zu Caitlin heran und sagte sanft: »Du musst dich um Grant und Liam nicht mehr sorgen, meine Liebe. Sie sind jetzt im Land des ewigen Sommers und warten glücklich und zufrieden darauf, dich eines Tages wieder zu sehen.« Die Worte hingen in der Luft, und dann flackerte in Caitlins Augen ein schwaches Licht auf, bevor sie den Blick auf Mary richtete. Mary begriff nicht, was sie in den Augen ihrer Freundin sah. »Ich kenne dich.« Caitlins Stimme war deutlich höher als normalerweise, klang fast wie die eines Kindes. »Natürlich kennst du mich, meine Liebe. Ich bin's, Mary.« Sie nahm Caitlins Hand. Caitlin sah Mary fragend an. »Ich bin Amy.« Mary zuckte zusammen. »Nein, du bist Caitlin.« »Caitlin ist auch hier, aber ich bin Amy.« Crowther beugte sich vor und fragte ein wenig schroff: »Wie alt bist du, Amy?« »Sechs.« »Und wie viele seid ihr?« Caitlin lehnte sich zurück und zählte lautlos an ihren Fingern ab. »Fünf«, sagte sie. »Amy. Caitlin. Brigid. Briony. Und ... und die, über die wir nicht sprechen.« Ein Schatten zog über ihr Gesicht. 64 Crowther schien auf ungehörige Weise fast begeistert von dem zu sein, was er da hörte. »Multiple Persönlichkeit«, sinnierte er, »oder dissoziative Persönlichkeitsstörung, um einen anderen Fachausdruck zu verwenden. In Psychologenkreisen wurde immer debattiert, ob es so etwas wirklich gibt.« »Das arme Ding«, sagte Mary. »Können wir irgendetwas für sie tun?« »Ein paar Jahrzehnte Therapie und jede Menge Medikamente.« »Mir gefällt es hier nicht. Es ist furchteinflößend. Im Garten ist etwas, das mir Angst einjagt«, sagte Caitlin/Amy und blickte wie ein kleines Mädchen ängstlich zur Hintertür. »Ich will gehen. Ich möchte nie wieder hierher zurückkommen.« »Hab keine Angst.« Mary setzte ein tapferes Gesicht auf. Sie half Caitlin vom Stuhl und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Wir bringen dich an einen Ort, wo es warm und sicher ist.« Während er den beiden Frauen nachging, brummte Crowther: »Lügnerin.« Der Marsch über den aufgeweichten, windgepeitschten Weg war wie eine Totenprozession; Mary führte die kleine Gruppe an, dann folgten Crowther und Caitlin, die den beiden mit dem Gang eines kleinen Mädchens hinterher trottete. Auf halber Strecke riss die Wolkendecke auf, und der helle Mond erstrahlte wie ein Scheinwerfer und tauchte die Landschaft in unwirkliches weißes Licht. Sofort war Mary nervös. Sie wusste, dass sie aus dem Augenwinkel etwas gesehen hatte, das nur ihr Unterbewusstsein registrierte. Sie wandte sich langsam zur Seite und sah rechts von sich, etwa eine Meile entfernt, schwarze Gestalten über das Feld ziehen; das Mondlicht
65 schien auf sie herab, als wollte die Natur ihr etwas Wichtiges mitteilen. Beunruhigt blieb Mary stehen. »Was ist das?«, fragte sie. Caitlin schaute nicht hin, doch Crowther trat zu Mary heran und hob die triefende Hutkrempe, um einen besseren Blick zu haben. Zwei Gestalten ritten langsam über das Feld. Zuerst sah es aus, als wären ihre Tiere gewöhnliche Pferde, aber dann sah man, dass die Rösser seltsam unförmig waren, viel zu groß, länglich und gedrungen, als wären sie das Ergebnis einer Kreuzung zwischen einem Pferd und einer Riesenechse. Bei dem Anblick wurde Mary bang ums Herz, und an seiner Haltung sah sie Crowther an, dass auch er beunruhigt war. »Kommen die Ihnen bekannt vor?«, fragte sie. Crowther schüttelte den Kopf. »Das sind die Flüsterer«, murmelte Caitlin/Amy, ohne zu den Reitern zu schauen. Mary und Crowther starrten sie einen Moment lang an, dann eilten sie rasch weiter. In ihrem Landhaus verbarrikadierte Mary die Tür, bevor sie ein weiteres Holzscheit ins Feuer warf. Crowther war etwas aufmerksamer geworden, gab sich höflich wie noch nie während ihrer kurzen Bekanntschaft. Im Flur hängte er sorgfältig Hut und Mantel auf, während Mary Caitlin in der Küche auszog, ihr Gesicht und Hände wusch und sie dann in einen alten Bademantel hüllte. Sobald sie sich vor dem Kamin in den Sessel gesetzt hatte, sank Caitlin zurück und schlief ein, als hätte man einen Schalter umgelegt. »Ich glaube nicht, dass sie uns weiterhelfen kann«, sagte Crowther. »Geben Sie ihr Zeit«, erwiderte Mary. »Sie muss einen 66 schweren Schlag verarbeiten, aber sie ist ein zäher Mensch.« Sie ging zum Fenster und blickte hinaus; nichts regte sich, nachdem der Sturm nun weitergezogen war. »Statt besser zu werden, wird es immer schlimmer, nicht wahr?«, sagte sie fast so, als redete sie mit sich selbst. »Die Seuche ist natürlich eine böse Geschichte«, pflichtete Crowther ihr bei. »Aber davon abgesehen bin ich mir nicht sicher, wie ich über unsere Lage denke. Wir scheinen viel Ballast abgeworfen zu haben, der uns behindert hat. Ich glaube, wir haben die Uhr zurückgestellt und können es diesmal besser machen. Das ist natürlich ziemlich darwinistisch, ich weiß, aber so ist es nun mal.« »Und was tun wir jetzt?« »Ich weiß nicht. Ich sollte Sie aufsuchen, und irgendwie müssen wir drei ein Mittel gegen die Seuche finden. Irgendwie ... ich weiß nicht... ich habe diese vagen Andeutungen gründlich satt.« Er seufzte. »Ich muss mit der anderen Seite in Kontakt treten.« Mary wusste, warum er so angespannt klang. Derartige Kontaktaufnahmen hatten ihren Preis: Meistens kosteten sie einfach nur immens viel Kraft, manchmal aber war der Preis noch viel, viel höher. Eine weitere Frage kam ihr in den Sinn, und diese war so rätselhaft, dass ihr nicht einmal im Ansatz eine Antwort darauf einfiel. »Warum gerade wir?« Crowther zuckte missmutig mit den Schultern. »Wahrscheinlich haben wir im Lotto gewonnen.« Die glühenden Kohlen verströmten eine dumpfe Hitze, die die Kälte nur in unmittelbarer Nähe der Feuerschale vertrieb. Dahinter lag das endlose Eisfeld unter einem Sternenlosen Nachthimmel. Sie hatten in einer kleinen Felsformation Schutz gefunden, dem einzigen Land67 Schaftsmerkmal weit und breit. Die Felsen waren sichelförmig angeordnet und kaum drei Meter hoch, was aber ausreichte, um den scharfen Wind abzuhalten. Caitlin saß auf einem Felsbrocken neben der Feuerschale. Sie hatte die Arme um den Leib geschlungen und dachte und fühlte nichts. Neben ihr stand Amy und zupfte an ihrem Ärmel. Die Kleine starrte mit großen, furchtsam blickenden Augen in die Nacht hinaus. »Es kommt näher«, sagte sie. Bald wird es hier sein. Dann werden wir alle büßen.« »Halt den Mund!« Die schrille Stimme kam von einer neurotisch aussehenden, etwa vierzigjährigen Frau; sie war dünn und knochig, und ihr verhärmtes Gesicht wirkte wie das eines Menschen, der meinte, zu viel unnötiges Leid erlebt zu haben. Briony zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch ein; ihre Augen waren wässrig. »Spar dir dein Gejammer, du verzogenes Balg.« »Lass sie in Ruhe. Du weißt, dass sie Recht hat.« Brigid war so alt, dass sie aussah wie ein knorriger, windschiefer Baum; es war ein Wunder, dass ihr das Fleisch nicht von den Knochen fiel. Ihr Haar war weiß und zerzaust. »Wir sollten sie fortschaffen.« Sie nickte Caitlin zu. »Das ist unsere einzige Hoffnung.« »Ihr könntet mich rauslassen.« Die Frauen zuckten zusammen, als die heisere Stimme erklang. Sie wandten sich zum hinteren Teil ihres Unterschlupfes um, wo ihnen aus der Dunkelheit zwei rot glühende Augen entgegenblickten. Auf dem Eisfeld heulte der Wind, und die Nacht wurde noch eine Spur dunkler. Mary fuhr erschrocken zusammen, als der Schrei durchs Haus schallte. Er kündete von körperlicher Qual, aber auch von einem einschneidenden psychischen Schmerz. 68 Crowther hatte sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, um das Ritual durchzuführen, das ihn in Kontakt mit den Mächten brachte, die ihn mit Informationen versorgten. Er hatte darauf bestanden, es allein zu tun, obwohl sie ihm Hilfe angeboten hatte.
Nach zehn Minuten kehrte er zurück. Er zitterte und war leichenblass. Mary reichte ihm einen Whiskey, den er ohne Dank entgegennahm und in einem Zug hinunterkippte. »Hat es funktioniert?«, fragte sie. »Einigermaßen. Wie immer.« Er lehnte sich an die Wand. Sie sah es seiner Miene an, dass er schlechte Nachrichten hatte. »Was ist los?« »In dieser Welt gibt es kein Mittel gegen die Seuche.« Ihr Herz sank. »Was?« »In dieser Welt.« Die Art, wie er die Worte betonte, verursachte ein merkwürdiges Kribbeln in ihrer Magengrube. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Es gibt eine Welt, die neben unserer existiert ... die Kelten nannten sie Tir n'a n'Og ...« »Anderswelt«, hauchte Mary. »Der Ort, zu dem die Toten gehen. Für die Kelten die Heimat ihrer Götter. Der Ursprungsort aller übernatürlichen Einflüsse, Träume und Fantasien ...« Sein Gesicht war gerötet, seine Atmung flach. »Diese Welt existiert wirklich. Dort gibt es das Gegenmittel.« »Sie glauben, was man Ihnen erzählt hat? Sie wissen doch, dass diese Mächte nicht immer das sagen, was man zu hören glaubt.« »Ich weiß«, entgegnete er. »Aber diesmal war die Information eindeutig.« Mary setzte sich aufs Sofa und schlug die Hände vors 69 Gesicht. Die Schwärze der Depression, gegen die sie ihr ganzes Leben lang kämpfte, umfing sie wie ein alter Feind. »Was sollen wir jetzt tun?« »Es gibt Orte, wo man auf die andere Seite überwechseln kann.« Sie sah ihn aufmerksam an, als ihr dämmerte, worauf dies hinauslaufen würde. »Historisch betrachtet waren diese Orte als dünne Stellen bekannt, wo man bestimmte Tore öffnen kann, wenn man weiß, wie es geht. Unsere Urahnen haben es gewusst. Uns ist dieses Wissen abhanden gekommen, wie so vieles andere auch.« Crowther trat einen Schritt vor. »Wir können nicht hier bleiben. Diese Reiter wollen uns aufhalten.« »Warum? Wer sind sie?« Er zuckte mit den Schultern, schüttelte kurz den Mantel aus und zog ihn über. »Mir wurde bloß mitgeteilt, dass sie uns verfolgen.« Es war schwierig für Mary zu akzeptieren, dass sich ihr Leben von einem Moment auf den anderen derart auf den Kopf stellen würde. Doch sie wusste um ihre Pflichten, und wie sehr sie sich auch ängstigte, sie mussten eine lebenswichtige Aufgabe erledigen. »Ich packe schnell ein paar Sachen.« »Sie kommen nicht mit.« Mary blieb stehen und starrte Crowther verwirrt an. »Nur das Mädchen und ich«, erklärte er. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, man hätte Sie hergeschickt, weil ich in dieser Geschichte eine Rolle spiele.« »Das tun Sie auch. Sie sorgen dafür, dass die Frau einigermaßen klar im Kopf ist ... zumindest so weit, dass ich sie mitnehmen kann.« Er schüttelte seinen Hut aus, dann verzog er das Gesicht und setzte sich das durchweichte Stück auf. 70 Mary hatte keine Erklärung für ihre plötzliche Beklommenheit, und es geschah so vieles zugleich, dass sie keine Zeit hatte, darüber nachzudenken. Sie hockte sich vor dem Kamin auf die Knie und nahm Caitlins Hand. Sie war so kalt, dass Mary einen Moment lang glaubte, Caitlin wäre gestorben. Dann regte sich die schlafende Frau und erwachte langsam. »Komm, meine Liebe, steh auf.« In ihrem traumartigen Zustand bewegte Caitlin die Lippen. Mary konnte die Worte nicht verstehen, meinte aber verschiedene Stimmen flüstern zu hören, als würde Caitlin einen inneren Dialog führen. Es war so unheimlich, dass es Mary fröstelte. »Caitlin«, sagte sie. »Wir brauchen dich hier.« »Sie geht nicht mit.« Die Stimme war scharf, gehörte nicht Caitlin. Mary wich erschrocken zurück, dann riss sie sich zusammen. »Caitlin«, sagte sie bestimmt. »Ich bin's, Mary. Du musst zurückkommen, und zwar sofort.« Es folgte ein kurzer Moment der Stille, und dann schlug Caitlin die Augen auf. In ihnen erkannte Mary die wirkliche Caitlin. Die junge Ärztin beugte sich vor und fasste sich an die Stirn. »Was ist geschehen?«, fragte sie schwach. Dann: »Grant ... Liam ...« Sie fing an, leise zu weinen. »Ich weiß, ich weiß.« Mary fühlte sich, als würde ihr selbst das Herz brechen, während sie Caitlin an sich drückte. In den letzten Monaten hatte Caitlins Familie fast jene entsetzliche Leere in Marys Leben ausgefüllt, die sie seit ihrer schrecklichen Tat empfand - seit sie damals, vor vielen, vielen Jahren, bewiesen hatte, was für ein furchtbarer Mensch sie war. Es hatte Mary mit einer solchen Freude erfüllt zu sehen, wie viel Schönheit in Caitlins Wesen steckte und dass ihre Freundin allem Un71
gemach zum Trotz ein so glückliches Leben führte. Es war ungerecht, dass Caitlin einen solchen Verlust erleiden musste, denn sie war jemand, der immer sein Bestes für andere Menschen gegeben hatte. Im Gegensatz zu ihr selbst, dachte Mary; sie hatte ihre Selbstsucht zu einer hohen Kunst erhoben. »Es ist meine Schuld«, murmelte Caitlin. »Wäre ich für sie da gewesen ... Dies ist meine Strafe.« »Sag so etwas nicht.« Mary hatte einen Kloß im Hals. »Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Du bist ein guter Mensch ... Solche Dinge geschehen eben.« Als Caitlin zu ihr aufblickte, tat sie dies aus Augen, die Mary nicht erkannte. »Ich bin Ärztin. Ich soll Menschen helfen. Und den wichtigsten Menschen in meinem Leben habe ich nicht geholfen.« Sie biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass diese zu bluten begann. »Als ich das letzte Mal mit Grant sprach, haben wir uns gestritten. Das war das Letzte, woran er sich erinnert hat... das Allerletzte.« »Schhhh. Ruhig, Liebes.« Mary strich Caitlin übers Haar. Alles, was sie sagte, klang so profan. Wie konnten bei einer solchen Tragödie Worte auch nur im Geringsten helfen? »Ich habe mich nicht einmal von ihnen verabschiedet. Jetzt werden sie nie erfahren ... sie werden nie erfahren ... wie ich mich gefühlt habe ...« »Sie wissen es, ich bin mir ganz sicher. Wo immer sie sind, sie kennen deine Gefühle.« Crowther schaute ihnen gleichgültig zu. Mary fragte sich, wie er so kalt sein konnte. Doch obwohl sie kaum etwas über ihn wusste, spürte sie, dass er ihr die Wahrheit gesagt hatte über die Warnung aus Anderswelt und dass es dort ein Mittel gegen die Seuche gab. Vielleicht war der Gedanke ja naiv, aber wenn Caitlin dazu auser72 koren war, ein Heilmittel zurückzubringen, würde ihr dieses Unterfangen vielleicht ein gewisses Maß an Erlösung aus dem Albtraum verschaffen, den sie gerade durchlebte. In der nächsten Stunde saßen Mary und Caitlin eng umschlungen vor dem Kamin, während die jüngere Frau leise vor sich hin weinte. Caitlin war nicht sie selbst - manchmal änderte sich unvermittelt ihre Stimme oder ihre Worte wurden unverständlich -, doch die Tiefe ihrer Trauer war unverkennbar. Dann verfiel Caitlin in schmerzerfülltes Schweigen. Mary wartete eine Weile, war sich nicht sicher, ob sie genug für ihre Freundin getan hatte, und dann überließ sie Caitlin ihrem Schmerz. Crowther stand ungeduldig an der Tür. »Gehen Sie behutsam mit ihr um«, warnte ihn Mary. »Vergessen Sie nicht, was sie durchgemacht hat. Wagen Sie ja nicht, ihr wehzutun.« »Ich habe nicht vor, ihr wehzutun«, sagte Crowther. »Sie ist die entscheidende Figur bei dem, was wir vorhaben. Ohne sie besteht keine Hoffnung.« Es war nicht ganz die Beschwichtigung, die Mary sich erhofft hatte, aber es musste ausreichen. Sie wandte sich um und half Caitlin auf die Beine. »Hör zu, Liebes, du musst Professor Crowther begleiten. Er wird dich an einen sicheren Ort bringen.« Mary zuckte wegen der Lüge zusammen. »Stell keine Fragen. Tu einfach, was er sagt, bis ihr in Sicherheit seid. Verstehst du?« Caitlin nickte, verloren in ihrem Schmerz, aber wenigstens war sie wieder die Caitlin, die Mary kannte. Mary zog ihr einen alten Anorak über und führte sie zur Tür. Als Caitlin in die Nacht hinausgetreten war, packte Mary Crowthers Arm. »Ich mag Sie nicht besonders und vertraue Ihnen nicht«, sagte sie, »aber ich setze auf meinen Instinkt. Wenn Sie mit Caitlin irgendetwas Schlim73 mes anstellen, bringe ich Sie zur Strecke, schneide Ihnen die Eier ab und stopfe sie Ihnen ins Maul.« »Oh, Sie sind wirklich charmant«, entgegnete Crowther. »Keine Sorge. Ich selbst gehe auch ein großes Risiko ein.« Mary lachte schnaubend, um zu demonstrieren, wie sehr sie dieser Umstand kümmerte. Crowther trat hinter Caitlin nach draußen, dann wandte er sich halb um. »Noch eine Sache. Wenn ich Sie wäre, würde ich nicht hier bleiben. Diese Reiter könnten beschließen, dass Sie zu nahe am Geschehen sind, um weiterleben zu dürfen.« »Wo soll ich denn hin?« Er machte eine Ist-mir-doch-egal-Geste. »Das ist nicht mein Problem.« Und dann legte er Caitlin eine Hand auf die Schulter und führte sie den Weg hinunter zur Straße. 3 Die Flüsterer »Ein menschliches Herz ist wie Kautschuk: Ein bisschen Gefühl lässt es anschwellen, doch große Gefühle lassen es noch lange nicht platzen.« ANNE BRONTE In den anderthalb Jahren seit dem Untergang hatten sich die Forstgebiete Englands in unberührte Naturwälder zurückverwandelt, die so dicht waren, dass man an einigen Stellen kaum durchkam. Da es praktisch kein Benzin mehr gab, fuhren auf den Straßen keine Autos mehr, und so hatte sich überall struppiges Unkraut durch den aufgerissenen Asphalt gefressen. In den Wäldern selbst waren die Veränderungen noch dramatischer. Die uralten, breitblättrigen Bäume regierten in einer stillen Welt, die gegen jeden rebellierte, der dort einen Fuß hineinsetzte. Wäre es nicht unbedingt nötig gewesen, hätte sich Crowther niemals in den düsteren, wild wuchernden Wald hineingewagt.
Während sie dahintrotteten, versank Caitlin immer wieder in eine eigenartige Benommenheit, doch es gab erste Anzeichen, dass sie sich allmählich von dem Schock erholte. Trotzdem überraschte es ihn, als er sie weinen hörte. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte; jede Form von Gefühlsduselei war ihm zuwider. Zögerlich fragte er: »Geht es Ihnen gut?« Als sie zu ihm aufblickte und er den Schmerz in ihrem tränenüberströmten Gesicht sah, fuhr er zusammen. »Es 75 ist so ungerecht«, stammelte sie. »Ich habe die beiden doch so geliebt.« Ihr Schluchzen verriet einen alles verzehrenden Seelenschmerz. Crowther lehnte sich an einen Baum, überrascht darüber, wie leid sie ihm plötzlich tat. Er hatte gedacht, derartige Emotionen nicht mehr aufbringen zu können. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung für ihn. Als sie weitergingen, war Caitlin hauptsächlich mit ihren chaotischen Gedanken beschäftigt. Hin und wieder redete sie mit sich selbst oder stellte Crowther eine Frage. Es beunruhigte ihn, denn ständig wechselten ihre Stimmen. Er hatte viel über multiple Persönlichkeiten gelesen, aber es selbst zu erleben war etwas ganz anderes. Er wusste, dass die verschiedenen Identitäten, von Experten Alter Egos genannt, unterschiedliche Sprechweisen, Philosophien, Manierismen und manchmal sogar ein anderes Geschlecht besitzen konnten. Ebenso konnte ihr körperlicher Zustand variieren: Eine Identität hatte Allergien, eine andere war Links-, die nächste Rechtshänder, einige waren kurzsichtig, während die Haupt-Persönlichkeit eine dicke Lesebrille benötigte. Es gab Psychologen, die die Existenz von multiplen Persönlichkeiten abstritten und behaupteten, dies seien bloß Fantasien des Patienten, aber falls er jemals irgendwelche Zweifel gehabt hatte, stand neben ihm der lebende Gegenbeweis. »Brigid sagt, Sie hätten Angst.« Caitlins Stimme überraschte ihn. Er schaute zur Seite. »Woher will sie das wissen?« »Brigid weiß solche Dinge eben. Sie ist sehr klug. Wovor haben Sie Angst?« Er lachte hohl. »Wovor ich Angst habe? Vor allem, so 76 wie jeder kluge Mensch. Ich habe Angst, weil wir es gewohnt waren, in einer Welt der Vernunft zu leben, und plötzlich ist alle Vernunft abhanden gekommen. Uns fehlen die Werkzeuge, um es in dieser neuen Welt weit zu bringen. Und ich habe Angst, weil wir in der Nahrungskette so weit unten stehen, nur noch ein kleines Stück über dem Mastvieh.« »Brigid sagt, Sie würden in ihrem Mantel etwas verstecken. « Er zuckte zusammen. »Brigid soll sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.« »Da vorne ist ein Dorf«, wechselte Caitlin von einem Moment zum nächsten das Thema. »Woher wissen Sie das?« »Ich rieche es.« Er schnüffelte, konnte aber nichts anderes als die Düfte des Waldes riechen, doch er wusste, dass Menschen mit Geistesstörungen manchmal schärfere Sinne besaßen. Einige Meter weiter wurde der widerliche Verwesungsgestank unverkennbar. Im Freien liegen gelassene Leichen waren ein eindeutiger Warnhinweis, und Crowther setzte schon an, das Dorf zu umgehen, als Caitlin ihn am Arm packte. Sie hatte etwas registriert, das er nicht wahrnahm. Entgegen seinem Instinkt ließ Crowther sich von ihr führen. Sie schlich geduckt durchs Unterholz, bis sie nicht weit entfernt einen Sechzigerjahre-Bungalow erblickten. Hinter einem der Fenster leuchtete der rötliche Lichtschein eines Feuers, während aus allen Öffnungen und Ritzen dicker schwarzer Rauch hervorquoll. Die Eingangstür flog auf, und zwei Männer kamen mit einem Lebensmittelkarton, einem Gewehr und einigen anderen Gegenständen, die Crowther nicht erkennen konnte, he77 rausgerannt. Beide trugen eine Art Uniform, schwarze T-Shirts mit einem blutroten V, das sich von den Schultern bis zum Bauchnabel erstreckte. Als die Plünderer davoneilten, schlich Crowther näher heran, um bessere Sicht zu haben. Ein Stück die Straße hinunter sah er weitere gleichartig gekleidete Männer - eine Bande, nahm er an - mit ihrer Beute aus anderen Häusern herauskommen. Sie arbeiteten schnell und effizient, nahmen nur das, was sie brauchten, und verließen das Dorf in Pferdekarren, die am anderen Ende der Hauptstraße standen. »Den Kerlen laufen wir besser nicht über den Weg«, sagte Crowther. Neben ihm ertönte ein Rascheln, und bevor er reagieren konnte, war Caitlin aus ihrem Versteck gekrochen und rutschte die Böschung zu der wild wuchernden Wiese hinunter, die an die Hauptstraße grenzte. »Warten Sie«, zischte er, doch sie beachtete ihn nicht. Sie eilte durch das kniehohe Gras und kletterte über einen Zaun, bevor sie prüfend die Straße hinunterblickte. Crowther wartete ab, ob sie angegriffen wurde, und folgte ihr dann widerwillig. Er überlegte, ob er sie für den Rest ihrer Reise fesseln sollte, als sie ihn zu einem großen, etwas abseits stehenden Haus heranwinkte. Der Vorgarten war wild zugewachsen, und das Haus selbst sah aus, als hätte man an ihm seit dem Untergang keine Reparaturen mehr ausgeführt. »Gehen Sie nicht rein«, sagte er und deutete auf das rote X, das auf die Haustür gepinselt war. »Ich habe drinnen etwas gehört.« »Es ist ein Seuchenhaus.« »Professor, wir sind doch nicht im Mittelalter«, sagte sie.
»Sollte man meinen, oder?« Er wandte sich zur unkrautüberwucherten Auffahrt um und seufzte verdros78 sen, als er hörte, wie Caitlin die Tür öffnete. Diesmal würde er ihr nicht folgen. Alles hatte seine Grenzen. Der Gestank im Haus war überwältigend. Caitlin schlug die Hand vor den Mund und kämpfte gegen den aufsteigenden Brechreiz an; sie war sich nicht sicher, warum sie hineingegangen war, aber sie vermutete, dass es mit den merkwürdigen Stimmen zusammenhing, die sie ab und an im Kopf hörte. Sie ging durch den Flur, in dem die feuchte Tapete von den Wänden abblätterte, und schob die Tür zu dem Zimmer auf, in dem sie glaubte das Geräusch gehört zu haben. Ihr bot sich ein grauenvoller Anblick, doch sie empfand nur überwältigendes Mitleid. Überall lagen Leichen mit den unverkennbaren Seuchenflecken. Anfangs hatte man sie noch sorgfältig aufgestapelt, die letzten Toten dagegen waren achtlos auf den Haufen geworfen worden. Der Anblick beschwor bei Caitlin eine Folge verstörender Erinnerungen herauf: Der erste Fall, den man in ihre Praxis gebracht hatte, die plötzliche Erkenntnis, was los war, das wachsende Entsetzen, als sich im Gemeindesaal die Leichen stapelten. Die Gesichter ... ihre Freunde ... Bekannte ... gute Menschen, Menschen, die es nicht verdienten ... und dann Grant ... und Liam ... Sie stieß sich die Fäuste in die Augenhöhlen, um die furchtbaren Bilder zu vertreiben, den modrigen Schlammgeruch und das klamme Gefühl von feuchter Kleidung auf der Haut. Das Geräusch war kaum zu hören, riss sie aber aus ihren Gedanken. Etwas Lebendiges war im Zimmer. Ratten? Plötzlich verrutschte der Arm einer Leiche, und dahinter sah sie eine Bewegung - das konnte kein Nagetier gewesen sein. 79 »Komm raus.« Sie konnte es nicht fassen, dass sich jemand unter dem stinkenden Leichenberg versteckte. Das plötzliche Hinundherrucken der Toten deutete darauf hin, dass ein kurzer Kraftakt im Gange war, und dann rutschten die Leichen zur Seite, und ein etwa neun- oder zehnjähriger Junge kam heraus gekrochen. Er war dunkelhäutig und leicht übergewichtig, hatte kurzes Haar und große, ausdrucksvolle Augen, die ihn viel jünger wirken ließen. Er blinzelte ein paar Mal und sah sie hoffnungsvoll an. »Keine Angst«, sagte Caitlin schockiert. »Ich tu dir nichts.« Plötzlich rutschten weitere Leichen zur Seite und eine zweite Gestalt kam heraus gekrochen: ein etwa sechzehnjähriges Mädchen, ebenfalls dunkelhäutig; ihre Züge waren hart und ihre Augen funkelten drohend. »Kommen Sie nicht näher«, sagte sie. Sie hielt ein Schnappmesser in der Hand. Caitlin hob die Hände. »Ist ja gut.« Der kalte Blick des Mädchens wanderte durchs Zimmer und hinaus in den Flur. »Sie gehören nicht zu denen?«, fragte sie, ohne das Messer zu senken. »Zu der Bande mit den komischen T-Shirts? Nein. Ich kam rein, nachdem sie verschwunden waren.« Das Mädchen musterte Caitlin abschätzend. »Machen Sie keinen Scheiß«, sagte sie. Trotz der Härte in ihrer Stimme verriet ihre Artikulation eine gute Schulbildung, aber ihr Gebaren war unverkennbar gefährlich. »Mein Name ist Caitlin. Ich bin Ärztin.« Die Information beruhigte das Mädchen so weit, dass es das Messer senkte, doch der eisige Blick blieb. »Sie kommen ein bisschen spät, finden Sie nicht?« »Kommt, lasst uns verschwinden«, sagte Caitlin sanft. »Es ist gefährlich.« 80 »Es ist überall gefährlich.« Die Stimme des Mädchens klang stahlhart, doch sie bedeutete dem Jungen trotzdem, Caitlin nach draußen zu folgen. Crowther wartete im Schatten einer hohen Esche und beobachtete die verlassene Straße. Als Caitlin mit den beiden Kindern auf ihn zukam, zog er eine ärgerliche Miene. »Das ist Professor Crowther.« Das Mädchen machte keine Anstalten, seinen Namen zu nennen, bis der Junge es anstupste. »Mahalia«, sagte sie. »Jackson.« Crowther hob eine Augenbraue. »Wie die Sängerin.« »Wie ich«, entgegnete Mahalia. Caitlin hockte sich vor dem kleinen Jungen hin; seine offenen, ehrlichen Züge gefielen ihr. »Und wie ist dein Name?«, fragte sie ihn. »Er ist stumm.« Mahalias Körpersprache verriet, dass sie sich für den Jungen verantwortlich fühlte. »Ich glaube aber, dass er in Wahrheit sprechen kann - er will es bloß nicht. Fragen Sie mich nicht, warum.« Caitlin schaute dem Kleinen ins Gesicht, suchte nach einer Bestätigung für Mahalias Vermutung, doch er lächelte sie bloß breit und warmherzig an. »Sein Name ist Carlton Breen. Er hat ihn mir aufgeschrieben.« »Wo sind eure Eltern?« Mahalia schnaubte nur und wandte den Blick ab. »Stammt ihr von hier?« »Nein, aus Winchester. Ich zumindest. Ich weiß nicht, wo Carlton herkommt. Haben Sie etwas zu essen dabei?« »Nein, aber wir werden schon was finden ...«
»Ja, und schicke Kleidung besorgen wir uns auch, wenn wir schon auf Einkaufstour gehen«, meckerte Crowther. 81 »Wir können die beiden nicht hier zurücklassen«, sagte Caitlin. »Wir nehmen sie nicht mit. Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, was uns bevorsteht? Glauben Sie mir, die beiden sind hier viel besser aufgehoben.« Plötzlich verspürte Caitlin einen scharfen Kopfschmerz; es kam ihr vor, als stürze sie in einen tiefen, dunklen Brunnen. »Wenn ihr die beiden nicht mitnehmt, komme ich auch nicht mit!« Mahalia und Carlton rissen die Augen auf, als die bockige Kinderstimme aus Caitlins Mund kam. Crowther fluchte leise. »Na schön. Eine Weile wird's schon gehen.« Er marschierte die Auffahrt hinunter. »Obwohl Ihnen hoffentlich klar ist, dass es wahrscheinlich unseren Tod bedeuten wird, wenn wir einen Kindergarten mit uns herumschleppen.« Sie fanden etwas Gemüse, das die Plünderer übersehen hatten, und kochten eine dünne Suppe, bevor sie weiterzogen. Crowther marschierte voraus und bekundete damit, dass er keine Lust auf die Gesellschaft der anderen hatte. Genau genommen überlegte er bereits, wie er Mahalia und Carlton bei der ersten Gelegenheit wieder loswerden konnte. Sobald feststand, dass die beiden Kinder mitkommen würden, ließ Amy Caitlin wieder zum Vorschein kommen. »Was war das vorhin?«, fragte Mahalia, während sie zwischen den Bäumen dahintrotteten. »Ich meine, die unheimliche Kleine-Mädchen-Stimme?« Furcht regte sich in Caitlin. »Darüber möchte ich nicht sprechen.« »Dann eben nicht«, sagte Mahalia mit einem gleichgültigen Schulterzucken. »Das kann ja lustig werden. 82 Unterwegs mit einem mürrischen alten Sack und einer Verrückten.« »Seid ihr schon lange auf euch allein gestellt?«, fragte Caitlin. Es war Mahalia anzumerken, dass sie an oberflächliches Plaudern nicht gewöhnt war. »Seit dem Untergang. Ich bin von der Südküste raufgewandert und versuche am Leben zu bleiben, wie alle anderen auch.« »Und es gibt niemanden, der sich um euch kümmert? Keine Familie?« »Ich kann mich um mich selbst kümmern.« »Ihr solltet nicht gezwungen sein, euch allein durchzuschlagen. Jeder braucht einen anderen Menschen.« Aus irgendeinem Grund verärgerte die Bemerkung das Mädchen. »Ich habe Carlton und er hat mich, und bisher kommen wir ganz gut zurecht. Wir brauchen euch nicht. Wir kommen nur mit, weil es ein bisschen Abwechslung bedeutet. Wir können jederzeit verschwinden. Vergessen Sie das nicht.« Sie ging ein Stück voraus, um nicht weiter mit Caitlin reden zu müssen. Die nächsten fünf Meilen führten durch dichten Wald. Zuweilen kamen sie nur mühsam voran, doch am frühen Nachmittag klarte der trübe Himmel auf, und der helle, freundliche Frühlingssonnenschein machte den anstrengenden Marsch etwas erträglicher. »Aber Sie müssen doch wissen, wo Sie hinwollen!«, sagte Mahalia ungläubig, nachdem sie Caitlin nach ihrem Ziel gefragt hatte. Die Frage beunruhigte Caitlin. Einfach nur zu laufen erfüllte sie mit einem existenziellen Frieden; in die Zukunft zu denken bedeutete gleichzeitig auch, an die Vergangenheit zu denken. »Ich folge einfach dem Profes83 sor.« Sie wusste, wie dämlich das klang, aber so war es nun mal. Mahalia richtete ihre Aufmerksamkeit auf Crowther, der darauf bedacht war, zwischen sich und den anderen einige Schritte Abstand zu halten. »Sie wissen, wo es hingeht. Ich habe gesehen, wie Sie zur Sonne aufgeschaut haben, um die Marschrichtung zu überprüfen.« »Du bist aber ein schlaues Mädchen.« »Wenn Sie es mir nicht verraten, frage ich so lange, bis ich Ihnen auf die Nerven falle.« »Du fällst mir jetzt schon auf die Nerven.« »Wohin gehen wir?« Crowther brummte verärgert, sagte aber einige Sekunden später: »Wir besorgen ein Mittel gegen die Seuche.« Caitlin blickte angespannt zu Boden. Mahalia dachte einen Moment lang über Crowthers Antwort nach. »Dann kennen Sie also einen Ort, wo es einen Impfstoff gibt?« »Nicht ganz.« »Wohin gehen Sie dann?« »Es ist sinnlos, es dir zu erklären; du würdest es nicht verstehen«, sagte Crowther, so herablassend er konnte. Mahalia bohrte weiter. »Versuchen Sie es doch.« Crowther drehte sich zu ihr um. »Na schön, du Nervensäge. In dieser Welt gibt es kein Mittel gegen die Seuche es gibt keine Hoffnung. Deshalb werden wir die Dimensionsgrenze zu einer anderen Welt überqueren und hoffentlich dort die Antworten finden, nach denen wir suchen.« Mahalias Miene verriet ihre Gedanken: Zuerst glaubte sie, er nähme sie auf den Arm, dann dass er genauso wahnsinnig sei wie Caitlin. Aber dann geschah etwas Eigenartiges, das Crowther zu denken gab: Carlton zupfte an Mahalias Ärmel, um ihre Aufmerksamkeit zu erlan-
84 gen, und nickte beipflichtend. Sofort akzeptierte das Mädchen die Erklärung des Professors. »Okay«, sagte sie. »Erzählen Sie mir von dieser anderen Welt und wie wir dort hingelangen.« »Eine andere Welt?«, rief Caitlin ungläubig. »Nicht irgendeine andere Welt. Anderswelt«, sagte Crowther, während er über einen umgestürzten Baumstamm stieg. »Sie ist seit Jahrtausenden Teil der allgemein bekannten Legenden ... den Kelten zufolge ist es die Heimat der Götter. Und diese Welt, Anderswelt, gibt es wirklich, und mit den Legenden haben unsere Vorfahren das Wissen für die Nachwelt konserviert - halb als Information, halb als Warnung. Es gibt Menschen, die dort gewesen sind, und mit einem von ihnen habe ich gesprochen.« »Soso.« Mahalia zwinkerte Carlton auf eine Weise zu, die Crowther immens verärgerte. »Ehrlich gesagt, gewöhne ich mich langsam an den Gedanken, euch nach Anderswelt mitzunehmen«, erklärte Crowther. »Sie ist der Ursprungsort jeder albtraumhaften Erscheinung, die seit dem Untergang hier herübergelangt ist, und glaubt mir, dort drüben warten noch viel schlimmere Wesen. Ich glaube, es wird dir einen Heidenspaß machen, ihnen zu begegnen.« »Nun, wir kommen mit, ob's Ihnen gefällt oder nicht«, erwiderte Mahalia unbekümmert. »Was meinst du, Kumpel?« Carlton nickte eifrig. »Ich dachte, ich hätte die Dummheit der Jugend verstanden, aber jetzt habe ich dich kennen gelernt«, sagte Crowther. »Wirklich ... vielen Dank für die erhellende Erfahrung.« »Wir werden unsere Welt verlassen?« In Caitlins Gesicht erstrahlte ein Licht. »Ist das wirklich möglich?« 85 Auch Mahalia schien der Gedanke zu faszinieren. »Wie stellen wir das an?« »Warte einfach ab«, sagte Crowther schroff. Auf den nächsten fünf Meilen ignorierte er alle weiteren Fragen, und dann hob er die Hand und signalisierte damit den anderen, stehen zu bleiben. Sie blickten zwischen den Bäumen auf ein hübsches georgianisches Dorf, das von einem einzelnen großen Gebäude dominiert wurde. »Das ist unser Ziel?«, fragte Caitlin. »Ja. Das National Motor Museum«, sagte Crowther. »Wir besorgen uns ein Auto.« Als der Professor sie weiterführen wollte, blieb Carlton reglos stehen. »Was ist los mit ihm?«, fragte Caitlin. »Er hat Angst.« Mahalia ließ sich vor dem Jungen auf die Knie sinken. Er starrte unruhig auf die Bäume, die das Dorf umgaben. »Was hast du, Carlton?« »Warum stellst du ihm Fragen, die er sowieso nicht beantworten kann?«, wollte Crowther verärgert wissen. »Carlton hat Recht. Spüren Sie es nicht?« Caitlin hatte den Kopf zur Seite geneigt und lauschte nicht bloß, sondern ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Eine langsam steigende Spannung lag in der Luft. »Die Vögel haben aufgehört zu zwitschern«, bemerkte Mahalia. Crowther wirkte beunruhigt. »Ich fürchte, sie haben uns eingeholt. Kommt.« »Wer ist hinter euch her?«, fragte Mahalia. »Wesen, die nicht von dieser Welt stammen«, sagte der Professor. »Ein weiterer Grund, ein Auto zu besorgen und so schnell wie möglich zu verschwinden.« Das Museum befand sich auf dem Gelände einer Zisterzienser-Abtei aus dem vierzehnten Jahrhundert; der 86 zwischen den Gebäuden stehende Trennzaun war mit Kletterpflanzen überwuchert, und der einstmals gepflegte Rasen glich einem wilden Garten. Sie fanden den Eingang und kletterten über das Tor, Crowther unter lautem Schnaufen und Fluchen. »Warum brauchen wir unbedingt ein Auto?«, fragte Caitlin. »Weil der Zeitfaktor von entscheidender Bedeutung ist und ein weiter Weg vor uns liegt«, antwortete Crowther. »Und um ehrlich zu sein, ist mir jede Möglichkeit willkommen, die Zeit, die ich mit Ihnen - und jetzt auch mit den beiden Kindern - verbringen muss, zu verkürzen.« »Meinen Sie nicht, dass die Fahrzeuge längst gestohlen wurden?« »Nur wenn es in der Gegend einen Sammler klassischer Autos gibt. Ansonsten ist niemand an den Museumsstücken interessiert. Ich setze darauf, dass bisher niemand darauf gekommen ist, dass es hier ein Benzindepot geben muss. Wir werden den Wagen voll tanken und losbrausen, und wer immer uns verfolgt, kann an unseren Abgasen ersticken.« Die Explosion ließ sie zusammenschrecken. Direkt neben ihnen zersplitterte ein Ast und fiel herunter. »Jemand schießt auf uns«, rief Crowther ungläubig, bevor Caitlin ihn zu Boden riss. »Verschwindet, ihr Schweine! Ich knall euch ab!« Vom Museum her kam ein wild starrender Mann auf sie zugestürmt. Er hatte einen grauen Haarkranz und trug einen zerschlissenen Mantel und eine dreckstarrende braune Hose, und die Muskete in seinen Händen war so alt und verrostet, dass es aussah, als würde sie beim nächsten Schuss auseinander fallen. »Das ist mein Platz!«, brüllte er. »Ihr habt hier nichts zu suchen!« Eine weitere Kartätsche zischte über ihre Köpfe hin87
weg. Das Gewehr war so ungenau, dass sie eher ein Querschläger töten würde als ein tatsächlicher Treffer. »Zu den Bäumen!«, rief Caitlin und schaute zu den anderen zurück. Carlton war da, doch Mahalia war verschwunden. Der Angreifer machte sich an die umständliche Aufgabe, die Muskete nachzuladen - Hohlgeschoss, Schießpulver, alles feststopfen. Caitlin nutzte die Gelegenheit, um Carlton zu sich zu ziehen, während Crowther auf allen vieren zu ihnen heran kroch. Sobald sie sich versteckt hatten, hielt Caitlin Ausschau nach Mahalia. War sie zum Zaun gerannt? Die Antwort folgte Sekunden später. Wie ein sich aus dem Boden erhebender Schatten tauchte Mahalia hinter dem Angreifer auf. Sie bewegte sich völlig lautlos, sodass er sie nicht bemerkte, bis sie ihm die Muskete aus den Händen schlug, die Arme um ihn schlang und ihm die Messerklinge an die Kehle drückte. Die anderen drei eilten zu ihr, als der Mann schließlich aufhörte, sich zu wehren. Mahalia hatte ihm etwas ins Ohr geflüstert. An seinem Hals lief ein feiner Blutfaden herunter. »Tu mir nichts«, wimmerte er. Tränen der Angst quollen ihm aus den Augen, in denen ein Hauch von IsolationsWahnsinn schimmerte. »Was sollte das?«, schimpfte Crowther. »Sie hätten uns fast umgebracht!« »Dies ist mein Platz«, wiederholte der Mann. »Ihr könnt hier nicht rein.« »Soll ich ihn töten?« Mahalias kalte Stimme erschreckte Caitlin. »Ihn töten?«, fragte Crowther ungläubig. »Du bist genauso verrückt wie er. Wir ziehen nicht herum und bringen Menschen um!« 88 »Wenn wir ihn gehen lassen, könnten wir es bereuen«, entgegnete Mahalia. »Ach, halt den Mund.« Crowther zog ihre Messerhand grob vom Hals des Mannes weg. Der Gefangene sank schluchzend zu Boden. »Der Kerl hat einen Dachschaden«, sagte Crowther. »Wahrscheinlich lebt er seit dem Untergang hier und ballert wie ein Hinterwäldler auf jeden, der sich dem Gebäude nähert. Was ist bloß los mit den Menschen? Sobald es kritisch wird, werden sie verrückt.« Er warf Caitlin einen Seitenblick zu. Hinter ihnen fing Carlton an zu weinen. Als Caitlin sich umwandte, um ihn zu trösten, deutete er furchtsam auf das Tor. Hinter dem Trennzaun tauchten zwischen den Bäumen fünf Gestalten auf. Als Caitlin sie erblickte, kam es ihr vor, als würde alle Lebenskraft in ihr versiegen. Es waren die Flüsterer, wie sie nun ohne jeden Zweifel wusste. Sie hatten Fratzen, die Caitlin für den Rest ihres Lebens Albträume bereiten würden: Es waren forensische Studien eines gehäuteten Menschenkopfes; die Muskulatur war schneeweiß, trocken und pergamentartig, die Zähne waren lang und spitz, und ihre Augen verströmten ein rauchiges, purpurnes Licht, das sie wie eine giftige Nebelwolke umhüllte. Sie waren groß und dürr und sahen aus, als besäßen sie kaum die Kraft, sich aufrecht zu halten. Ihre Körper wirkten verloren in den zusammengewürfelten Rüstungen aus geflügelten Pickelhauben, verrosteten Brustpanzern, Panzerhandschuhen und flatternden schwarzen Lumpen. Auf dem Rücken und an ihren Gürteln hingen die verschiedensten Waffen - Schwerter, Speere, Äxte und Gebilde, die aussahen wie Spitzhacken. Ihre Rösser waren eine verstörende Kreuzung aus Riesenechse und Pferd, mit grau89 en Hautschuppen und extrem ausgeprägten Muskelsträngen. Mahalia, Crowther, Caitlin und Carlton standen wie angewurzelt da. Hinter dem sanften Rauschen des Windes im knospenden Laub erhob sich ein Flüstern, das Ahnungen von grauenvollen, deprimierenden Dingen weckte, obwohl man keine einzelnen Worte verstand. Die Flüsterer stiegen ab und schwebten wie Geister zum Zaun, vor dem sie regungslos verharrten. »Warum kommen sie nicht rein?«, fragte Caitlin. »Sie können nicht«, sagte der Eremit. »Dies ist ein geweihtes Klostergelände.« Crowther ging auf die Knie und legte die rechte Handfläche auf den Erdboden. »Wovon spricht der Mann?«, fragte Caitlin. »Vom Blauen Feuer«, sagte Crowther. »Ich wünschte, ich könnte es spüren.« »Sie bluten.« Sie deutete auf seine blutende Nase, und dann merkte sie, dass auch ihr etwas Feuchtes über die Lippen lief. Sie berührte die Stelle und sah den Blutfleck an der Fingerkuppe. »Was machen die mit uns?« »Kommt schon«, drängte Mahalia. »Ihr steht rum, als würdet ihr träumen.« Sie hob einen Stein auf und schlug damit dem Gefangenen auf den Hinterkopf. Der Eremit sackte bewusstlos zusammen. »Damit er uns nicht im Weg ist.« Caitlin war zu abwesend, um sich über die Tat des Mädchens zu entrüsten. Gedanken, die nicht ihre eigenen waren, schössen ihr durch den Kopf, und sie spürte ein fremdes Bewusstsein, das mit ihr Kontakt aufnahm - vor ihr erschien das Gesicht eines der Flüsterer, und obwohl der Mund keine hörbaren Silben formte, waren die Worte klar zu verstehen: Gebt auf. Es gibt keine Hoff90 nung für euch ...zu fliehen ist sinnlos. Ihr werdet alle sterben. Genauso gut könntet ihr euch das Leben nehmen. Die Seuche wird euch dahinraffen ... Die Botschaft enthielt einen Virus, der ihren Geist infizierte wie ein Gift das Blut: Er bestand aus reiner Verzweiflung. Das Gefühl bereitete ihr fast körperliche Schmerzen.
Plötzlich war Caitlin wieder auf dem Eisfeld, und Briony schüttelte sie grob. »Brigid sagt, sie seien in euren Köpfen. Ihr müsst verschwinden.« Caitlin erwachte aus ihrer Trance und merkte, dass sie, Mahalia, Carlton und Crowther wie Schlafwandler auf den Zaun zugingen. Sie reagierte blitzschnell und verpasste Crowther eine so heftige Ohrfeige, dass seine Lippen aufplatzten und ihm Blut in den Mund lief. Der Schmerz riss ihn aus dem geistigen Sog. »Sie dumme Kuh!«, brüllte er. Aber es hatte funktioniert. Caitlin packte Carlton, Crowther schlang die Arme um Mahalia und legte sie sich über die Schulter, und dann rannten sie auf die Museumsgebäude zu. Sie merkten, dass sie dem Einflussbereich der Flüsterer entronnen waren, als Mahalia plötzlich brüllte: »Lassen Sie mich runter, Sie Mistkerl!« und wild um sich schlug. Crowther ließ sie unsanft zu Boden fallen, etwas zu genüsslich, wie Caitlin fand. Caitlin warf noch einen letzten Blick auf den purpurnen Lichtnebel am Zaun, dann eilte sie weiter. »Was sind das für Wesen?«, fragte sie, »und warum jagen sie uns?« »Die offensichtlichen Antworten wären, weil sie hungrig sind oder weil sie es als Sport betrachten«, murmelte Crowther, doch seine Miene verriet, dass die Fragen ihn beunruhigten. Es dauerte eine Weile, bis sie sich Zugang zu den Aus91 Stellungsräumen verschafft hatten; der bisherige Bewohner hatte alle Eingänge sorgfältig verbarrikadiert. Schließlich gelang es ihnen, eine der Türen einzutreten, und als sie drinnen waren, fühlte es sich sonderbar an, zwischen den glänzenden, archaischen Fahrzeugen herumzulaufen, die sie an die Welt vor dem Untergang erinnerten. Eine große Halle führte in die nächste, und in allen roch es nach Schmieröl, Gummi und Lederpolsterung. Die Autos - alle nur erdenklichen Modelle, bekannte und unbekannte - standen Seite an Seite, die makellosen Lackierungen schimmerten im Halbdunkel. »In kommenden Jahrhunderten, wenn die Pflanzenwelt diesen Ort verschlungen hat und er lange vergessen ist, wird dies für die dann lebenden Archäologen wie Tutenchamuns Gruft sein«, sagte Crowther mit gedämpfter Stimme. »Das heißt, falls es die Menschheit dann noch gibt.« Crowther ging an den ältesten Fahrzeugen vorbei, die aussahen, als wären sie kaum schneller als ein Pferd, und blieb vor einer Sportwagensammlung aus den Siebziger Jahren stehen. Schließlich wählte er einen Wagen aus, einen Ferrari Dino 246 GT aus dem Jahre 1974. Mahalia lachte. »Ich wette, so einen wollten Sie schon immer haben.« »Leider hatte ich nie das nötige Geld«, sagte Crowther. »Ein Vorteil des Untergangs ist, dass man sich alles nehmen kann, was man möchte.« »Wenn man nicht tot ist«, fügte Caitlin hinzu. Crowther studierte die Informationstafel. »Genau genommen nehme ich diesen Wagen, weil er ein Zweisitzer ist und wir die Kinder in den Stauraum hinter den Sitzen zwängen können, wo ich sie nicht die ganze Zeit sehen muss. Wird bestimmt ziemlich unbequem.« Dann las er laut vor: »2418 cc V-6 Motor, zwölf Druckluftven92 tile, 195 PS bei 7600 Umdrehungen pro Minute, Höchstgeschwindigkeit 240 Stundenkilometer. Das sollte reichen. Jetzt müssen wir ihn nur noch voll tanken.« Er öffnete den Wagenschlag, dann hielt er betreten inne. »Ich nehme an, keiner von uns weiß, wie man ein Auto kurzschließt, oder?« Mahalia schob sich rüde an ihm vorbei und beugte sich unter das Lenkrad. Wenige Sekunden später schallte das raue Motorbrüllen durch die Ausstellungshalle. »Oh, das hätte ich wissen müssen.« Crowther setzte sich mit sichtlicher Freude hinters Steuer. »Wie es aussieht, ist der Tank voll genug, um uns zum Benzindepot zu bringen, wo immer es sein mag.« »Ein kurzes Dankeschön wäre nett gewesen«, sagte Mahalia säuerlich. Das Benzindepot befand sich hinter den Ausstellungshallen. Der Wind hatte es mit Plastikplanen, abgebrochenen Ästen, Laub und anderer Vegetation getarnt. Crowther entdeckte mehrere Benzinfässer und füllte lächelnd den Tank des Ferrari. »Es ist komisch«, sinnierte er, »ich hatte völlig vergessen, wie Benzin riecht.« Carlton stand etwas abseits und blickte unsicher zu den Baumkronen auf. »Ich glaube, der Junge weiß mehr, als er uns zeigt«, sagte Caitlin. »Es ist, als könnte er die Flüsterer spüren.« »Mir sind die Kerle da draußen egal«, sagte Crowther, während er den Tankverschluss zuschraubte, »denn mit diesem Rennwagen halten sie nie im Leben mit.« Als alle drin saßen, startete Crowther den Motor und fuhr quer über das Gelände zum Tor. Zwischen den Bäumen waberte der purpurne Lichtschein, der die Anwesenheit der Flüsterer kennzeichnete, doch Crowther beachtete ihn nicht. Das Auto raste auf das Tor zu. Der Aufprall schüttelte 93 sie durch, doch der Holzrahmen brach aus den Angeln, und dann waren sie draußen auf der kurvigen Zufahrtsstraße. »Wir haben es geschafft!«, sagte Caitlin ungläubig. Carlton beugte sich über die Rückenlehne und schlang von hinten die Arme um den Professor. »Lass mich los, Bengel!«, brüllte Crowther.
»Sie können mir danken, wenn Sie so weit sind«, sagte Mahalia und setzte sich so hin, dass Crowther sie jedes Mal ansehen würde, wenn er in den Rückspiegel schaute. Der Professor grummelte: »Anscheinend bist du doch nicht völlig nutzlos.« Er lenkte den Ferrari auf die Hauptstraße und trat so hart aufs Gaspedal, dass es sie in die Sitze presste. »Ich wünschte, wir hätten Musik«, sagte er. Euphorie über ihre gelungene Flucht erfüllte sie. Nur Carlton blickte zurück und beobachtete, wie der purpurne Nebel ihnen träge hinterher wallte. Seit Caitlin gegangen war, hatte Mary mit einem Gefühl des Unbehagens gerungen, vor allem aus Sorge um ihre Freundin. Als sie sich vor drei Jahren kennen gelernt hatten, hatten sie sich nicht gemocht. Mary, die Kräuterfrau und Naturheilerin, und Caitlin, die rationale Medizinerin, konnten keine Gemeinsamkeiten finden. Doch als sie im Laufe der Wochen und Monate immer wieder Kontakt miteinander hatten, durchschauten sie ihre oberflächliche Sichtweise. Mary hatte angefangen, vieles an Caitlin zu bewundern. Die Charakterstärke der jungen Ärztin und die Fähigkeit, ihre persönlichen Wünsche dem Wohle anderer unterzuordnen, waren ein starker Gegensatz zu dem, wie Mary sich selbst sah. Wären ihr in der Vergangenheit nicht so große Fehler unter94 laufen, hätte sie vermutlich einen Partner gefunden, und vielleicht hätten sie eine Tochter gehabt. Sie wäre stolz gewesen, wenn das Mädchen so wie Caitlin geworden wäre. Aber Marys Unbehagen rührte auch von dem Wissen her, dass die Bedrohung nicht mit Caitlin und Crowther weitergezogen war. Etwas lag in der Luft; sie spürte es. Als sich in ihrem Whiskeyglas das Licht des Kaminfeuers fing, bekam sie ein schlechtes Gewissen, denn sie hatte erst vor einer halben Stunde gefrühstückt. Andererseits, das Leben war schmerzvoller, als man es sich je hätte träumen lassen, und was war so schlimm an etwas, das der harschen Realität ein wenig die Schärfe nahm? Zumindest würde es nicht so weit kommen, dass sie eines Tages auf dem Dorfplatz herumlungern und jedem ein Tänzchen vorführen würde, der ihr einen Drink ausgab. Es gab keine Spirituosengeschäfte, wo sie ihren schwindenden Alkoholvorrat hätte auffüllen können. Die herrschenden Mächte würden für eine Periode absoluter Nüchternheit sorgen. Der Gemeinde war es gelungen, einen weiteren dunklen, harten Winter zu überstehen. Aber dann war mit dem Frühling diese Seuche gekommen, vermutlich die Pest. Das Sein hatte wirklich einen Sinn für Ironie. Wo sollte das alles bloß enden? Arthur Lee kam aus der Küche gestürmt, mit einer Dringlichkeit, die sie aus ihren trüben Gedanken riss. Mit gesträubtem Fell versuchte er sich zwischen ihren Waden zu verstecken, obwohl er für gewöhnlich kein ängstlicher Kater war; genau genommen fürchtete er sich normalerweise vor nichts und niemandem. Mary fröstelte. Das ist eine Warnung, dachte sie. Nach einem Mut machenden Schluck Whiskey ging 95 sie von Fenster zu Fenster und schaute in die Landschaft hinaus, die ins Licht der frühen Morgensonne getaucht war. Die Bäume und Büsche hatten neue Knospen; sie konnte den Jahreszeitenwechsel riechen. Nichts störte die friedvolle Szenerie - keine im Schatten stehenden Gestalten, keine sich entgegengesetzt zum Wind biegenden Zweige. Sie öffnete all ihre Sinne, nahm aber lediglich das Unbehagen am Rande ihres Bewusstseins wahr. »Wovor fürchtest du dich?« Sie ließ sich auf die Knie nieder, um dem Kater in die glänzenden Augen zu schauen, doch er war zu aufgeregt und blieb nicht still stehen. Ein Tropfen fiel ihr auf die Wange. Verwundert blickte sie zur Zimmerdecke auf und wischte die Flüssigkeit weg, aber dann erstarrte sie, als sie ihre Fingerkuppen sah: Der Fleck war dunkel. Im Spiegel sah sie, dass ihr ein dünner Blutfaden aus den Ohren lief. Gedanken an die Pest und an den Tod schössen ihr durch den Kopf, doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzugrübeln, denn in dem Moment klingelte das Telefon - obwohl seit dem Untergang die Telefone nicht mehr funktionierten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Alles veränderte sich gleichzeitig: Die Schatten im Zimmer verrutschten ein Stück, das Licht wurde sonderbar grell, das kaum hörbare Geräusch ihrer Füße auf dem Teppich brummte ihr laut in den Ohren; ihre geschärften Sinne stellten sich auf etwas ein, das einen Schritt von der Realität entfernt war. Mit einem flauen Gefühl von Unwirklichkeit ging Mary zum Telefon. Sie zögerte, steif vor Furcht, und dann nahm sie den Hörer ab. »Hallo?« Es folgte ein Moment zischender Statik und dann eine hohle Leere, die sie an den Weltraum erinnerte. Danach kam eine fragende Stimme, die irgendwie mechanisch 96 klang. »... Schhh ... hsss ... Bist du dran? Hörst mich? ... hsss ... vorbei ... Hörst du mich? ... schhh ... nicht vorbei. Es ist nicht vorbei. Du musst ...« Mary schleuderte das Telefon durchs Zimmer. Nachdem sie einen Moment lang mit einer irrationalen Furcht gerungen hatte, marschierte sie durch den Raum und nahm den Hörer auf: Das Telefon war wieder tot. Sie starrte es entgeistert an, während Arthur Lee sich unterm Beistelltisch flach auf den Boden presste. Dann riss sie ein heftiges Klopfen an der Tür aus der Benommenheit.
Mach nicht auf, sagte eine schrille Stimme in ihrem Kopf. Und sie hatte die feste Absicht, den Rat zu befolgen, aber dann lag ihre Hand unerklärlicherweise auf der Klinke, drückte sie herunter und öffnete die Tür. Ihr stockte der Atem. Auf der Schwelle stand eine groß gewachsene, dunkle Gestalt. Merkwürdigerweise konnte sie nichts von dem Gesicht erkennen, das sie so erschreckte; es war von Schatten erfüllt, die wie Rauchschwaden umherwirbelten. Die Gestalt kam herein, und sie, Mary, schien vor ihr zurückzuschweben. Schließlich erkannte sie, dass es ein Mann war, aber dies war wenig tröstlich. Sein Gesicht besaß eine eigenartige Plastizität, die auf eine Maske hindeutete, und den Eindruck verstärkten noch die brennenden, furchteinflößenden Augen, die durch die Maskerade hindurchstarrten. Und doch war alles andere an ihm ganz gewöhnlich: Sein Äußeres glich dem einer Person, die lange unterwegs gewesen war; schlammbespritzte Jeans, verwaschenes T-Shirt, abgewetzte Jacke, langes, fettiges, zu einem Zopf zurückgebundenes Haar. »Mary Holden.« Die Stimme schien aus einem ande97 ren Teil des Zimmers zu kommen; der Mann, offenbar ein Bauchredner, zog einen gemeinen Party-Trick mit ihr ab. »Wer sind Sie?« »Ich komme von einem Ort, an dem es Blitze und Donner gibt.« Er stand reglos da, die Arme hingen an den Seiten herunter, und das Licht, das ihn umgab, schien ein wenig dunkler zu sein als im restlichen Zimmer. Mary meinte vor lauter Angst gleich tot umfallen zu müssen. »Was wollen Sie von mir?« »Es ist nicht vorbei.« Aus irgendeinem Grund entsetzten sie die Worte. »Du musst fortgehen.« Die durch die Maske starrenden Augen brannten sich in ihren Kopf. »Das Mädchen wird deine Hilfe brauchen.« »Caitlin?« »Etwas am Rande des Seins ist auf dich aufmerksam geworden. Es hat dich bemerkt und weiß, was du bist und was du sein wirst, und es ist auf dem Weg hierher, um dein Erwachen zu verhindern.« Marys Gedanken überschlugen sich, wirbelten durcheinander wie in einem tosenden Sturm, bis in ihrem Bewusstsein allmählich eine Art Verstehen einsetzte. »Wir sind in Gefahr?« »Eine Zeit von Eis und Feuer naht heran.« »Und was geht Sie das Ganze an?« Sie zuckte zusammen, denn ihre Worte hatten viel patziger geklungen, als sie es gemeint hatte. Als er nicht antwortete, fragte sie: »Was erwarten Sie von mir, was soll ich tun?«, obwohl sie Angst vor der Antwort hatte. »Nichts ist, wie es scheint. Du brauchst neue Augen.« Er streckte ihr den Arm entgegen, der sich wie schmelzender Gummi auszudehnen schien. Finger, die keine Finger waren, kratzten ihr über die Stirn, und Marys 98 Blickfeld zerbarst in Myriaden winziger Sternenexplosionen. Als sie Sekunden später wieder sehen konnte, deutete der Fremde auf die Tür. »Geh. Sieh es dir an.« Sie fand sich vor dem Gemeindesaal wieder, ohne zu wissen, wie sie dort hingelangt war. Sie hatte noch ihre Hausschuhe an, trug aber keinen Mantel und bibberte in der Kälte des frühen Morgens. Träumerisch trat sie in den Saal. Ihre Hand flog zum Mund, als ihr der stickige Gestank entgegenschlug. Gideon, der Vorsitzende des Gemeinderates, und ein Jugendlicher, an dessen Namen sie sich nicht erinnerte, saßen dösend auf Stühlen, erschöpft von ihren vergeblichen Anstrengungen. Sie versuchte, nicht auf die beiden achtlos abgelegten Leichen zu schauen, die, von der Seuche geschwärzt, in der Saalmitte lagen, sondern ging in den Nebenraum, wo die lagen, die sich noch an ihr verkümmerndes Leben klammerten. Doch als sie über die Schwelle trat, erstarrte sie entsetzt. Winzige Figuren, substanzlos wie Rauch, schwebten tänzelnd über den Köpfen einer Frau und eines kleinen Jungen, die auf einem der Tische lagen. Mit der schwarzen Haut und der Mischung aus menschlichen und echsenartigen Erscheinungsmerkmalen erinnerten die Wesen Mary an mittelalterliche Teufelsillustrationen. Ein hämisches Vergnügen erfüllte jede ihrer tänzelnden Bewegungen, während sie um ihre unglücklichen Opfer herumsausten und sie kniffen und stachen. Und an den Stellen, wo sie die Frau und den Jungen berührten, floss eine schwarze Flüssigkeit in die Todgeweihten hinein und ließ entlang der Körpermeridiane neue Seuchenflecken entstehen. Als Mary desorientiert nach dem Türknauf griff, schienen die Teufelchen schockiert darüber zu sein, 99 dass sie sie sehen konnte. Ihre Boshaftigkeit kehrte jedoch flugs wieder zurück, und sie verspotteten und verhöhnten sie lautlos mit beleidigenden Gesten, in dem Wissen, dass Mary nichts dagegen tun konnte. Sie nahm einen Handbesen von der Wand und stieß nach den Kreaturen, um sie zu verscheuchen, doch das Holz fuhr durch sie hindurch; die Wesen waren nicht wirklich da, nicht in dem Sinne, wie sie es verstand. Taumelnd kehrte Mary in den Saal zurück, von Begreifen durchströmt. Sie wusste jetzt, warum es kein Gegenmittel gab, warum die Seuche anders war als jede andere: Sie stammte nicht von dieser Welt. Und danach
stürzten weitere Gedanken auf sie ein, doch der wichtigste war folgender: Caitlin hatte sich auf die Suche nach einem Heilmittel begeben, ohne das wahre Wesen der Seuche zu kennen. Ebenso gut hätte man sie in den Tod schicken können. 4 Am Rande der Ewigkeit »Erinnert euch meiner, wenn ich gegangen bin, hinfort ins ferne Land der Stille.« CRISTINA GEORGINA ROSSETTI Oxfordshires Landschaft war aus dem Winterschlaf erwacht. An den Ästen und Büschen sprossen die Frühlingsknospen, und überall, wo Caitlin hinschaute, sah sie dichte Vegetation. Die Straße, auf der sie fuhren, war mit Disteln und gelben Grasbüscheln überwuchert. Caitlin kämpfte gegen eine Welle von Trauer an, als ihr bewusst wurde, dass sie diese Erfahrung nun nicht mehr mit Grant und Liam würde teilen können. Manchmal kam die Verzweiflung aus dem Nichts über sie, wie ein Sturm auf hoher See, und dann musste sie darum ringen, nicht die Beherrschung zu verlieren. Bei anderen Gelegenheiten war sie einfach bloß betäubt. Um sich abzulenken, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Mahalia und Carlton, während Crowther fuhr. »Was hattet ihr eigentlich vor, als wir euch begegnet sind?«, fragte sie. Mahalia überlegte einen Moment, dann sagte sie: »Wir hätten uns auf die Suche nach Ihnen gemacht.« Caitlin hatte in der Antwort keinen Sarkasmus gehört, doch sie war sich nicht ganz sicher. Sie wusste noch nicht, ob sie Mahalia mochte und ob die widerspenstige Art des Mädchens bloß ein Schutzmechanismus war. Mahalia sah, was Caitlin durch den Kopf ging, und 101 winkte ärgerlich ab. »Carlton hat Sie in seinen Träumen gesehen. Ja, wirklich. Er wollte Sie unbedingt finden.« Der Junge blickte mit großen, unschuldigen Augen zu Caitlin auf. Sie erkannte etwas von Liam in ihnen und hätte ihn plötzlich am liebsten an sich gedrückt. »Er hat von mir geträumt?« Mahalia sah Caitlins sehnsüchtigen Blick, und in einer besitzergreifenden Geste legte sie Carlton einen Arm um die Schultern. »Er ist etwas Besonderes. Das bist du doch, stimmt's?« Er kicherte lautlos, als sie ihn kitzelte. »Zuerst habe ich es nicht geglaubt, aber dann hat er es mir demonstriert. Er kann Dinge sehen.« »Sprichst du von Visionen?« »Vermutlich. Er weiß alle möglichen Dinge, von denen er eigentlich nichts wissen dürfte. Manchmal fällt es ihm schwer, mir begreiflich zu machen, was er sagen will, aber das meiste verstehe ich. Er hat uns schon einige Male geholfen. Einmal in Southampton, da ...« Sie schüttelte den Kopf, um die unangenehme Erinnerung zu verdrängen. »Ohne ihn säße ich jetzt nicht hier.« »Aber warum hat er gerade von mir geträumt?«, fragte Caitlin. Mahalias säuerliche Miene besagte, dass sie keine Ahnung habe. »Warum ich, Carlton, verrate es mir«, sagte Caitlin sanft. Aber der Junge lächelte sie bloß an. »Das tut er oft«, sagte Mahalia. »Er wird es Ihnen erzählen, wenn er so weit ist.« »Und wann hattest du vor, mir davon zu erzählen, Mahalia?« »Oh, bald«, antwortete das Mädchen leichthin. Caitlin fiel nicht darauf herein. Sie fragte sich, was sich sonst noch alles hinter Mahalias diamantharter Schale verbarg, das die Jugendliche für sich behielt. 102 Sie fuhren durch malerische Dörfer, in denen das Leben ganz normal weiterzugehen schien: Aus den Schornsteinen stiegen Rauchfahnen auf, und in den Hintergärten hing Wäsche an der Leine. Dorfbewohner, die ihre Besorgungen erledigten, blieben stehen und starrten fassungslos, wenn der Ferrari an ihnen vorbeidonnerte. Auf einigen Straßen fuhren Pferdekarren, auf denen Produkte von einem Dorf ins andere transportiert wurden, und wenn das unvertraute Ungetüm heranrauschte, rissen die Kutscher die Zügel an sich, damit ihnen nicht die Pferde durchgingen. Als sie schließlich die Landstraße auf einem windgepeitschten Hügelkamm am Rande der Cotswolds Hills erreichten, hielt Crowther neben einem wilden Pflanzengestrüpp an, das einst ein unbefestigter Seitenstreifen gewesen war. »Sind wir da?«, fragte Caitlin und hielt nach etwas Ungewöhnlichem Ausschau. Sie sah nur unbearbeitete Felder, die sich in Wildnis verwandelten, und Büsche und Gestrüpp und niedrige Wäldchen. Crowther brummte eine unverständliche Antwort und marschierte auf der Straße los, ohne auf die anderen zu warten; er stieß seinen Stab im Rhythmus seiner Schritte auf den Asphalt. Mahalia und Carlton krochen hinter den Sitzen heraus und streckten ihre schmerzenden Gliedmaßen. Es war ruhig und friedvoll; über den hohen Gräsern schwirrten Insekten durch die Luft, und auf den Bäumen zwitscherten Vögel. Als Caitlin, Mahalia und Carlton zum Professor aufschlössen, begannen auf einmal die Stimmen in Caitlins Kopf durcheinander zu reden; irgendetwas beunruhigte die verschiedenen Persönlichkeiten in ihr. Auch Mahalia schien etwas zu spüren, denn die Überheblichkeit war aus ihrem Blick gewichen und hatte ei103 ner für sie ungewöhnlichen Unsicherheit Platz gemacht. »Wo gehen wir hin?«, fragte sie. Carlton drückte aufmunternd ihre Hand; von allen wirkte er am gelassensten.
Crowther deutete auf einen verwitterten Felsen, der sich auf einem Feld zu ihrer Linken erhob. Ein rostiges Eisengeländer umschloss ihn. »Dorthin«, sagte er mürrisch. Er ging durch ein pflanzenüberwuchertes Tor und führte sie an einem verlassenen Pförtnerhäuschen vorbei, vor dem Vitrinen mit vergilbten Schautafeln standen. Und dann waren sie da. Vor ihnen lag ein auf drei Seiten von Bäumen und Büschen umgebener Steinkreis, dessen Durchmesser etwa vierzig Schritte betrug. Nur einige wenige der löchrigen, erodierten Kalksteinsäulen standen noch in voller Größe da. Die Mehrzahl waren abgebrochene Stümpfe. Auf der vierten Seite öffneten sich zwei Torsteine zu sonnenbeschienenen Feldern, die sanft geschwungen ins Tal hinunterführten. »Die Rollrights«, sagte Crowther. »Ein neolithischer Steinkreis.« »Hier sollen wir in diese andere Welt hinübergelangen?«, fragte Caitlin. »Wir werden es zumindest versuchen.« Crowther führte die kleine Gruppe an; sein Blick schoss zwischen den Bäumen hin und her. Sie blieben am Rande des Steinkreises stehen. »Diese Blöcke heißen >Die Mannen des KönigsDie Flüsternden Rit104 ter< nennt. Der Legende nach sind es ein König und seine Ritter, die von einer Hexe in Stein verwandelt wurden. Einige der Einheimischen behaupten, die Steinblöcke würden um Mitternacht lebendig werden und seltsame rituelle Tänze aufführen .... Geschichten wie diese sind eine der Informationsquellen, von denen ich gesprochen habe. Die Andeutungen von Verwandlungen und Magie verraten, dass unsere Vorfahren glaubten, dieser Ort besäße spezielle Kräfte - und genau diese müssen wir anzapfen, deswegen sind wir hier.« Caitlin erwartete einen höhnischen Kommentar von Mahalia, aber das Mädchen sagte kein Wort. »Ich bin mir nicht sicher, ob es mir hier gefällt«, sagte Caitlin. »Sie reagieren auf die Umgebung. Dies ist ein besonderer Ort«, entgegnete Crowther. »Wie meinen Sie das?« »Er besitzt eine einzigartige Atmosphäre, die durch das Zusammenwirken subtiler Veränderungen des Lichts, der Pflanzendüfte und der Temperatur entsteht ... und auf unmerklicher Ebene durch Veränderungen der Hintergrundstrahlung im Ultraschallbereich. Was Sie spüren, ist Ihre Reaktion auf eine gänzlich neue Erfahrung. Es ist ziemlich ... destabilisierend. Aber man gewöhnt sich daran.« Mahalia wirkte nicht überzeugt. Sie legte wieder den Arm um Carlton und führte ihn zur Seite, wo sie ihm eindringlich etwas zuflüsterte und dabei immer wieder kurz zu Caitlin hinüberschaute. Crowther ging zum am nächsten gelegenen Steinblock und streckte die Hand aus, als wollte er ihn berühren. Aber dann hielt er inne, als wäre er im Begriff, die Hand in kochendes Wasser zu tauchen. Schließlich gab er sich einen Ruck, legte die Hand auf den Stein und lächelte. 105 »Sehen Sie, die Kräfte wohnen jedem einzelnen Molekül inne.« »Von welcher Art Kräften sprechen Sie?«, wollte Caitlin wissen. »Ah, gute Frage. Die Wissenschaft hat es nie endgültig geklärt. Dieser Ort ist wie eine Batterie ... nein, wie ein Knotenpunkt eines landesweiten Energie-Versorgungsnetzes.« Er nahm den Hut ab und beugte sich vor, bis seine Stirn den kühlen Fels berührte. »Ende der Siebziger-, Anfang der Achtziger Jahre hat eine Forschungsgruppe namens >Drachenprojekt< hier gearbeitet, um herauszufinden, ob es tatsächlich so etwas wie tellurische Energien gibt - also gewissermaßen Erdkräfte. Kinderkram, mag man meinen.« Er lachte. »New-AgeUnsinn. Aber dann registrierte ein Geigerzähler einen plötzlichen Strahlungsanstieg, etwas, das nur an megalithischen Orten zu geschehen schien. Und plötzlich haben sie starke Ultraschallimpulse entdeckt, sonderbare kurze Funksignale, wie ein Zielflugfunkfeuer. Die Ursache dafür haben sie nie entdeckt.« Caitlin merkte, dass Crowther Recht hatte: Sie fühlte sich wieder besser; offenbar stellte sich ihr Körper auf die subtilen Kräfte des Ortes ein. Die Stimmen in ihrem Kopf waren verstummt, und in ihrem Herzen breitete sich ein Gefühl andauernden Friedens aus. Aber ihr rationales Wesen meldete sich trotzdem zu Wort. »Wie viel Zeit haben wir wohl?« Crowther blickte zum Himmel auf, wie ein alter Schamane, der die Windrichtung und Wolkenformationen prüft. »Nicht so viel, wie ich gerne hätte.« »Sie glauben nicht, dass wir die Flüsterer endgültig abgeschüttelt haben?« »Nein. Glauben Sie das etwa?« Er musterte sie missmutig, bevor er beschloss, sich nicht die Laune verder106 ben zu lassen. »Es ist ein wunderschöner Tag. Machen wir das Beste draus.« Der Morgen verstrich langsam. Hinter dem Pförtnerhäuschen entzündeten sie ein Lagerfeuer und bereiteten eine Mahlzeit aus Eiern und Kräutern zu, die Mahalia auf einem Bauernhof gestohlen hatte, an dem sie in der Nacht vorbeigekommen waren. Der Tag war wärmer, als man es zu dieser Jahreszeit hätte erwarten können. Caitlin und Mahalia hielten abwechselnd Wache, während Crowther sich mit Dingen beschäftigte, die er vor dem für den Abend angesetzten
Ritual meinte erledigen zu müssen; Caitlin hingegen glaubte, dass er sich bloß vor der richtigen Arbeit drückte. Während ihrer dritten Wache am frühen Nachmittag ließ Caitlin sich von funkelnden Lichtern zwischen den Baumkronen verzaubern. Zunächst hielt sie es für das Spiel des Sonnenlichts in den Ästen, bis sie sah, dass sich das Glitzern aus eigener Kraft zu bewegen schien. Sie beobachtete die Leuchtspuren mit matter Neugier, verloren im traumartigen Frieden, der sie erfüllte, seit sie sich an die eigenartige Atmosphäre des Steinkreises gewöhnt hatte. Selbst das schmerzhafte Stechen, das ihre Trauer in der Magengrube auslöste, war abgeklungen, und obwohl sie noch immer alle paar Sekunden an Grant und Liam dachte, tat sie dies nun mit der warmherzigen Erinnerung an glücklichere Zeiten, nicht mit dem körperlich schmerzenden Verlustgefühl. Vielleicht waren die Lichter eine weitere Manifestation dessen, was die merkwürdigen Klang- und Strahlungseffekte verursachte, von denen Crowther gesprochen hatte, überlegte sie. Doch nach einigen Minuten wurde ihr mit zunehmender Verblüffung bewusst, dass sie inmitten der Lichter 107 winzige Gestalten sah - kleine Menschen mit Flügeln. Die Entdeckung erfüllte sie mit purer, unschuldiger Verwunderung, ein Gefühl, das sie zuletzt als Kind empfunden hatte. Sie beobachtete die Gestalten eine Weile, bis einer der Winzlinge sie bemerkte und heruntergeflogen kam. Er schwebte auf hauchzarten Flügeln, war kaum zehn Zentimeter groß; seine androgynen Züge waren wunderschön. Sie streckte die Hand nach ihm aus, doch er hielt sich immer ein Stück von ihren Fingerspitzen entfernt und musterte sie mit tiefer Neugier, als würde er in ihren Geist schauen. Schließlich verwandelte sich seine fragende Miene in ein sympathisches Lächeln, und er sauste heran und strich ihr mit den Fingern über die Stirn, bevor er wieder davonschoss, aber Caitlin durchströmte eine wohlige Wärme, und die letzten Spuren ihrer Trauer waren von einem Augenblick zum anderen verschwunden. Das Wesen lächelte sie strahlend an. Es winkte ihr noch einmal zu, dann schwebte es wieder nach oben zu seinen Gefährten in den Bäumen. Caitlin konnte kaum glauben, was geschehen war. Aufgeregt rannte sie zu den anderen zurück, um ihnen zu erzählen, was sich zugetragen hatte. Crowther war nirgends zu sehen, aber Mahalia und Carlton kehrten gerade von einer Erkundungstour zurück. Begeistert schilderte sie ihnen ihr Erlebnis und endete mit dem leidenschaftlichen Bekenntnis: »Es hat mich geheilt! Von meiner Trauer, meine ich! Es wird bestimmt zurückkehren ... das weiß ich ... aber im Moment ... es ist unglaublich!« Mahalia nickte bloß und sagte: »Schön für Sie.« »Bist du nicht überrascht? Ich meine, ich rede hier von Elfen oder so was und du ...« Das Mädchen zuckte unbekümmert mit den Schul108 tern. »Ich habe auch komische Sachen gesehen. Jeder, der draußen auf dem Land unterwegs ist, tut das.« Plötzlich wurde Caitlin bewusst, dass Mahalia sich viel abgeklärter und erwachsener verhielt, als ihr Alter es vermuten lassen würde. »Was ist mit deiner Familie geschehen, Mahalia?« »Das geht Sie nichts an.« Caitlin musste sie nicht groß ausfragen, um die Geschichte in groben Zügen zu kennen. Sie wusste, wie schlimm es in den Städten zugegangen war - der Zusammenbruch der Kommunikationsnetze und Lebensmittellieferungen, die Aufstände und Plünderungen. In einigen Gegenden hatte es angeblich Unmengen von Toten gegeben. Alle hatten die Gesellschaft für so stark gehalten, doch letztendlich war sie genauso zerbrechlich wie das menschliche Leben selbst. Während sie zum Lagerfeuer zurückgingen, fragte Caitlin: »Warum begleitest du uns? Du weißt, dass es gefährlich werden könnte.« Mahalias Lachen war so bitter, dass Caitlin erschrak. Das Mädchen streifte die Jacke ein Stück von der Schulter und offenbarte eine Art Harnisch aus selbst zusammengebundenen Gürteln. An ihm hingen unzählige Stichwaffen - Messer, Rasierklingen, Schraubenzieher und andere Dinge, die selbst gefertigt, aber nichtsdestoweniger tödlich aussahen. »Sie haben nicht erlebt, was dort draußen los ist.« »Nein, das habe ich nicht, aber ich kann es mir vorstellen ...« »Nein, das können Sie nicht. Niemand kann das, denn alle waren dem Irrglauben erlegen, wir wären so liebe, mitfühlende Menschen. Aber ohne die zivilisatorischen Annehmlichkeiten kommt die Wahrheit zum Vorschein.« 109 »Ich kenne einige Leute -«, wollte Caitlin widersprechen. Mahalia lachte erneut. »Hören Sie zu. Ich hatte mich auf dem Land versteckt, fand aber nirgendwo etwas zu essen in jenem ersten Winter, also bin ich nach Southampton gegangen. Böser Fehler. Das reiche Gesocks hatte sich eine nette kleine Festung gebaut, wo sie ihre Lebensmittel horteten und mit Waffengewalt jeden Neuankömmling verjagten. Die Armen im Stadtzentrum mussten sich irgendwie selbst durchschlagen. Und das haben sie auch getan. Es gab Banden - junge, alte, schwarze, weiße -, die sich für einen Laib Brot die Köpfe wegschössen. Es war ihnen gleich, was im Rest der Welt abging, sie kannten keine Rücksicht, wollten bloß den Tag überstehen. So läuft es, wenn es ums blanke Überleben geht. Man tut alles, um nicht zu krepieren.« »Nein ...« »Doch! Als ich zum ersten Mal durch die Straßen lief und um Essen bettelte, hat mich ein ekliger alter Kerl
überfallen. Er zog mir eine Holzlatte über den Kopf, schleppte mich in sein Haus und sperrte mich zusammen mit einigen anderen auf dem Dachboden ein. Er hatte ein nettes kleines Geschäft am Laufen, hat Menschen gegen Lebensmittel eingetauscht ... Mädchen, Jungen, Frauen ...« »Für sexuelle Zwecke?« »Für alles Mögliche ... für Sex, Sklavenarbeit, zum Klauen. Ich habe vier Nächte dort verbracht - zehn Leute in einem winzigen Raum. Keine Toilette, kein Licht, ab und zu mal ein paar Krümel zu essen und ein bisschen Wasser, das geschmeckt hat, als hätte er reingepisst. Eine Frau war da, die hatte ein Baby. Sie war schon länger dort. Das Kind hat die ganze Zeit gewimmert, die Frau hatte kaum noch Milch in den Brüsten. Es war 110 schrecklich. Dann plötzlich gab es kein Wimmern mehr.« Caitlin hatte ein lebendiges Bild von Liam im Kinderwagen vor Augen. »Sie hat es getötet. Erstickt, weil sie ihre Kraft für sich selbst brauchte, um am Leben zu bleiben.« »Oh, nein ...« Mahalia schnaubte abfällig. »So ist das. Ich wurde kurz darauf verkauft. Aber ich habe dem Käufer nicht lange gehört. Ich habe ihm mit einem Löffel ein Auge rausgerissen und es unter meinem Stiefel zerquetscht, während er mit seinem gesunden Auge zusah. Und wissen Sie was? Ich habe ihn zu leicht davonkommen lassen - ich hätte ihm beide Augen rausreißen sollen. Einem anderen Kerl habe ich einen Schraubenzieher in die Rippen gerammt und ihm die Lunge zerfetzt. Aber ich wurde nie vergewaltigt, und darauf bin ich verdammt stolz! Von den kranken Schweinen da draußen hat mich kein einziger gekriegt.« Carlton tätschelte sie am Arm; der Junge hatte Tränen in den Augen. »Tut mir leid, Kleiner.« Mahalia drückte ihn liebevoll, dann sagte sie zu Caitlin: »Dieses Land ist die Hölle. Dort, wo Sie hingehen, kann es nicht schlimmer sein.« Mit einem Zweig zeichnete Caitlin Muster in den Sand, während sie über Mahalias Ausführungen nachdachte. Schließlich sagte sie: »Ich habe furchtbare Dinge gesehen - nicht das, was du erlebt hast, keine Sachen, die Menschen einander antun, sondern ... entsetzliches Leid. Und man darf nicht in den Glauben verfallen, alle Menschen wären schlecht. Ja, viele sind es, aber das Beste der Menschheit ist auch dort draußen. Leute, die sich gegenseitig helfen ... die zum Wohle der Allgemeinheit unfassbare Opfer bringen. Ich glaube aufrichtig, dass die meisten Menschen gut sind.« 111 »Da werden wir wohl unterschiedlicher Meinung bleiben.« Plötzlich sprang Mahalia auf und zog unter ihrer Jacke ein Messer hervor. Caitlin fuhr herum und sah in den gleißenden Sonnenstrahlen eine Gestalt näher kommen. Es war ein Mann, aber nicht Crowther. »Keinen Schritt weiter«, sagte Mahalia. Er hob die Hände und trat einen Schritt zur Seite, sodass der Sonnenstrahl hinter einem Baum verschwand und sie ihn erkennen konnten. Er war Anfang dreißig, gut aussehend, hatte blondes Haar und blaue Augen, die Caitlin ein wenig an Leonardo DiCaprio erinnerten; mit seinen sensiblen Zügen fand sie ihn auf Anhieb sympathisch. »Ich wollte euch keine Angst einjagen ...«, sagte er. »Das tun Sie auch nicht«, erwiderte Mahalia. »Wir mögen Sie einfach nicht.« »Ihr wollt rübergehen, stimmt's?« Er richtete den Blick auf Caitlin. Mahalia trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und schaute sich Hilfe suchend um. »Ihr müsst nicht antworten - ich sehe es in euren Gesichtern.« Er nahm langsam die Hände herunter. »Ich möchte mitkommen.« »Wer sind Sie?«, fragte Caitlin. »Und woher wissen Sie, was wir vorhaben?« »Matthew Jensen. Matt. Architekt von Beruf. Ich weiß, was Sie jetzt denken: >Oh, super, den Typ nehmen wir mit, einen Brückenbauer können wir wirklich gut gebrauchen^ Aber es könnte schlimmer sein, zum Beispiel wenn ich Makler wäre. Woher ich weiß, was Sie vorhaben? Woher ich überhaupt weiß, dass man zu einem anderen Ort überwechseln kann? Nun, das ist eine lange Geschichte.« 112 Carlton betrachtete ihn neugierig, dann bedeutete er dem Mann, näher zu treten. »Carlton möchte noch ein bisschen mehr hören«, übersetzte Mahalia. »Ich persönlich frage mich, warum wir uns einen wie Sie aufhalsen sollten. Aber ich bin lernfähig ... Ich biete Ihnen die Gelegenheit, uns zu überzeugen. Sie haben fünf Minuten.« »Fünf Minuten? Ich kann euch in der Hälfte der Zeit meine ganze Lebensgeschichte erzählen.« Er kam ans Feuer und setzte sich. Obwohl Caitlin seine Art gefiel, sah sie keinen Vorteil darin, ihn in ihre Gruppe aufzunehmen. Wäre sie damals emotional nicht so angeschlagen gewesen, hätte sie auch Mahalia und Carlton nicht dazu ermutigt, sie und Crowther zu begleiten. »Also, woher wissen Sie, was wir vorhaben?«, fragte sie und setzte sich neben ihn. Die Frage, die aus ihrem Mund gekommen war, hatte Brigid gestellt, die sich für Matt zu interessieren schien. »Ganz einfach. Es gibt keinen anderen Grund, warum ihr hier sein solltet«, entgegnete Matt. »Es ist viel zu gefährlich, sich draußen rumzutreiben. Hättet ihr ein bisschen Grips im Kopf, würdet ihr euch bei euren Leuten
verschanzen. Und dieser Ort hier ... all diese Orte ... die Schauergeschichten, die darüber kursieren, halten Besucher normalerweise fern. Dies ist alles andere als ein Urlaubsziel.« Er deutete auf den Steinkreis. »Während des Untergangs bin ich jemandem begegnet, der hat erzählt, all diese altertümlichen Stätten seien Übergänge zu der Welt, aus der die Götter stammen. Ihr habt davon gehört, stimmt's? Ihr kennt die Geschichten ... was in London geschehen ist? Na ja, ich habe das Gefasel jedenfalls als Spinnerei abgetan und bin weitergezogen. Aber dann habe ich während der Sonnenwenden seltsame Lichter über den Steinen gesehen und Gestalten, die 113 plötzlich aus dem Nichts erschienen - und es waren keine Menschen. Und dann Musik - Gott, was für herrliche Klänge!« Er lächelte verlegen. »Entschuldigung. Ihr müsstet sie selbst hören, um zu verstehen, was ich meine.« »Und warum möchten Sie rüber in die andere Welt?«, fragte Mahalia. Caitlin sah, dass sich das Mädchen nicht für Matt erwärmen konnte. »Und was führt Sie zu der Annahme, dass wir wüssten, wie man das anstellt?« »Keine Ahnung, ob ihr es wisst, aber ich kenne viele Leute, die aus vielerlei Gründen liebend gerne rübergehen würden. Mein Grund? Ganz einfach.« Er blickte offen in ihre Gesichter. »Ich glaube, meine Tochter ist dort.« Ein leiser, trauriger Vogelschrei ließ Caitlin zusammenschrecken; sie merkte, dass sie förmlich an seinen Lippen gehangen hatte. »Sie glauben, Ihre Tochter sei hinübergegangen?« »Ich glaube, sie wurde entführt.« Er atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen. »Ich glaube, jene Welt und die Wesen, die dort leben, sind verantwortlich für all unsere Mythen und Legenden. Wir haben ihr Erscheinen jahrtausendelang falsch gedeutet - als Engel und Teufel, Feen, Ufos und so weiter. Und wisst ihr, wie viele Menschen jährlich spurlos verschwinden? Zehntausende allein in Großbritannien. Jahr für Jahr. Ich nehme an, viele von ihnen werden in die andere Welt entführt... warum auch immer.« Er schaute zu den Bäumen, konnte seine Unruhe nicht verbergen. »Wie alt ist Ihre Tochter?«, fragte Caitlin. »Acht. Zumindest wäre sie das jetzt. Sie ist seit neun Monaten verschwunden. Jemand aus dem Dorf hat sie kurz vor ihrem Verschwinden hier oben gesehen, obwohl ich ihr verboten hatte herzukommen. Ich habe 114 überall nach ihr gesucht - in jedem Graben, in jedem Wald, an den Seen ...« Er schüttelte den Kopf. »Dies ist meine letzte Chance.« »Das tut mir so leid«, sagte Caitlin. »Ich weiß, wie sich so etwas anfühlt ...« Sie hielt inne. »Wie kommt Ihre Frau damit zurecht?« »Sie hat uns verlassen, als Rosetta zwei war. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.« Er breitete die Arme aus. »Also, wenn ihr wisst, wie man rübergelangt, dann nehmt mich mit. Bitte. Ich bin in Topform und kann gut auf mich aufpassen.« »Das können wir auch«, sagte Mahalia. »Das glaube ich gern, aber eine zusätzliche Person, die Nachts Wache hält, kann nicht schaden.« Caitlin musste nicht lange überlegen; wie sollte sie ihm den Wunsch abschlagen? »Natürlich können Sie mitkommen«, sagte sie, »falls es uns gelingt. Ich bin mir noch nicht sicher.« Er lächelte. »Danke für Ihr Vertrauen.« Da Mahalia mit den Erwachsenen eindeutig nicht länger als nötig zusammen sein wollte, gingen Caitlin und Matt zur nahen Wiese und spazierten durch das hüfthohe Gras. Dort fühlten sie sich sicherer als zwischen den dicht beieinander stehenden Bäumen, wo immer irgendetwas herumzuschleichen schien. Obwohl sie nur wenig über ihn wusste, fühlte sich Caitlin zu Matt hingezogen. Er war ein geistreicher Mensch, der unter der Oberfläche jedoch auch etwas Beunruhigendes zu haben schien. Sie wollte mehr über ihn erfahren, aber während sie spazieren gingen, war er derjenige, der die ersten Fragen stellte. »Geht es Ihnen gut?«, fragte er. »Denn Sie haben .... ich weiß nicht ... Sie haben etwas Trauriges an sich. 115 Oder liegt der Amateurpsychologe in mir mal wieder völlig daneben?« Das vertraute Anschwellen der Trauer traf sie so heftig, dass sie beinahe aufstöhnte. Wie gewöhnlich drängte sie die Empfindung an den Ort zurück, wo Brigid, Briony und Amy den Schmerz in Watte hüllten, bis es ihr vorkam, als wäre es bloß ein böser Traum und alles, was ihn auslöste, wäre niemals geschehen. Aber diesmal war es anders. Nach kurzem Zögern erzählte sie Matt in stockenden Worten von Grant und Liam. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, und Matt schien es nichts auszumachen, daher ließ sie ihnen einfach freien Lauf. Matt wartete, bis ihre Tränen versiegt waren, dann sagte er: »Das tut mir leid. Ich komme mir wie ein Narr vor, dass ich Ihnen mit meinen Sorgen in den Ohren gelegen habe, obwohl das, was Sie erlebt haben, noch viel schlimmer ist ...« »Nein!«, entfuhr es Caitlin. »Sagen Sie das nicht! Mein Leben liegt in der Vergangenheit, es ist vorbei. Sie dagegen haben immer noch die Möglichkeit, Rosetta zu finden; das ist das Einzige, was zählt.« »Ich möchte ja nicht wie ein Fernsehmoderator in einer billigen Ratgebersendung klingen, aber Sie sollten nicht sagen, dass Ihr Leben vorbei sei ...« »Das ist es aber.« Sie erreichten die Felsblöcke, die Crowther die Flüsternden Ritter nannte. Eisengeländer schützten sie vor tatschenden Touristenhänden, doch Caitlin hätte gern die kühle Oberfläche berührt. »Auf dem Weg hierher war ich in einem fürchterlichen Zustand ... Ich habe nicht gewusst, was ich tue. Als ich schließlich wieder halbwegs bei Sinnen war und der Professor mir erzählt hat, was er zu tun beabsichtigt ... Nun, wäre ich
eine geistig gesunde, vernünftige Frau mit einer intakten Familie, ich hätte auf der Stelle kehrtge116 macht. Ich glaube noch immer nicht richtig an diese Anderswelt, aber der Professor ist von ihrer Existenz überzeugt. Wenn es sie nicht gibt, dann haben wir nichts zu verlieren. Falls doch, gehen wir an einen Ort voller Träume und Albträume ... an einen Ort, wo es eigentlich keine Menschen geben darf. Wie lange können wir dort wohl überleben?« »Nun, wir müssen es einfach herausfinden.« Caitlin beugte sich über das Geländer und berührte einen der Steinblöcke; ihre Finger kribbelten. »Ja, Sie müssen es für Ihre Tochter herausfinden, und falls es dort tatsächlich, wie Professor Crowther glaubt, ein Mittel gegen die Seuche gibt, dann muss auch ich es herausfinden. Besser, ich sterbe, als ...« »Ich wünschte, Sie wären nicht so fatalistisch. Es könnte ansteckend sein.« Er starrte zu den Bäumen zurück, in deren Schutz sich der Steinkreis verbarg. »Ich bin neugierig auf den Professor. Er scheint eine Menge zu wissen. Wie ist er denn so, ein typischer, verkopfter alter Zausel?« Caitlin lachte. »Warten Sie einfach ab, bis Sie ihn kennen lernen.« »Vertrauen Sie ihm?« »Er scheint in Ordnung zu sein. Allerdings glaube ich nicht, dass er die ganze Wahrheit erzählt. Man kann nicht sagen, dass er lügt, aber er rückt nicht mit allen Einzelheiten heraus.« Caitlin bemerkte, dass Matt aufmerksam zu den Megalithen zurückstarrte. »Was ist los?« »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nichts. Ich dachte, ich hätte etwas gesehen ...« Er lächelte sie verkniffen an. »Warten Sie hier. Ich schaue kurz nach.« Bevor Caitlin widersprechen konnte, eilte er davon. Sie wartete einen Moment lang, doch alleine war ihr plötzlich so unheimlich zumute, dass sie Matt nachging. 117 Sie war erst wenige Schritte gegangen, als ein ohrenbetäubender Donnerschlag ertönte, obwohl der Himmel strahlend blau war. Um sie herum stieg der Geruch von geschmolzenem Eisen auf, und sie meinte hinter sich ein pulsierendes Licht zu spüren. Sie fuhr herum und sah, dass die Luft über den Flüsternden Rittern flirrte wie unter einer Hitzeglocke. Und dann trat dahinter eine Gestalt hervor und kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Ihr erster, schockierender Eindruck war der eines schwarzhäutigen Ungetüms mit einem Schweinekopf. Dann erkannte sie, dass es ein Ritter in einer schwarzen Rüstung war, der am Gürtel ein Schwert trug und auf dem Kopf einen Helm in der Form eines Wildschweinkopfes. »Verschwinde!«, brüllte Briony aus Caitlins Mund, während der Ritter weiter auf sie zumarschierte. Sie wirbelte herum und rannte davon, versuchte auf dem unebenen Untergrund nicht hinzufallen. Sie wusste, dass dies der Mann war, den sie an dem Abend gesehen hatte, als Grant und Liam krank geworden waren. Er war ihr bis hierher gefolgt, und selbst auf dem Eisfeld hatte der Gedanke an ihn sie mit kalter Furcht erfüllt. »Was ist los?« Matt kam auf sie zugerannt und packte sie bei den Schultern; sie fiel ihm in die Arme. »Er verfolgt mich!«, brüllte Briony. Matt schaute über ihre Schulter, dann drehte er Caitlin/Briony langsam um. Die Wiese war verlassen, abgesehen von den Flüsternden Rittern, die einsam Wache hielten. Zurück am Lagerfeuer erklärte Mahalia Matt, in welcher psychischen Verfassung Caitlin war, wobei die Jugendliche wenig mitfühlende Formulierungen wählte. Als Briony sich beruhigt und zurückgezogen hatte, kam 118 Caitlin wieder zum Vorschein. Sie war froh, dass Matt genauso freundlich zu ihr war wie zuvor. »Ich habe wirklich jemanden gesehen«, sagte Caitlin. Mahalia tippte sich an die Stirn und zwinkerte Carlton zu. Doch der Junge ging nicht darauf ein; seine dunklen Augen kündeten nur von tiefem Mitgefühl. Caitlin lächelte ihm dankbar zu. »Wer zum Teufel ist das!« Sie schraken zusammen, als Crowther heranmarschiert kam und vorwurfsvoll auf Matt zeigte. »Allmächtiger, ist euch noch immer nicht klar, was wir vorhaben? Warum ruft ihr nicht gleich alle Mörder und Banditen herbei, die in der Gegend ihr Unwesen ...« »Ich bin kein Bandit«, sagte Matt, erhob sich und reichte Crowther die Hand. »Ich bevorzuge den Ausdruck Desperado. Ich hatte schon immer ein Faible für Cowboys.« »Ahhhh!«, brüllte Crowther und warf die Arme in die Luft, als wollte er sich auf Matt stürzen. »Hauen Sie ab, Mann, sofort!« Caitlin sprang auf und stellte sich zwischen die beiden Männer. »Moment, Professor, ich habe ihn gebeten zubleiben.« »Soll mich das etwa beruhigen? Nur weil eine Frau mit einem äußerst fragwürdigen Geisteszustand einen Seelenverwandten gefunden hat? Ich sollte Sie beide auf der Stelle mit meinem Stab erschlagen!« Caitlin brauchte gut zwanzig Minuten, um Crowther zu besänftigen. Er schimpfte über Vagabunden und Diebe und andere zwielichtige Gestalten, die für ihr Unternehmen ein Sicherheitsrisiko darstellten, und am Ende musste Caitlin sich der Unterstützung einer neurotisch herumkreischenden Briony bedienen. Erst dann gab Crowther sich geschlagen, unfähig, mit ihren Psychosen zurechtzukommen. 119
Als ihm klar wurde, dass er an der Situation nichts ändern konnte, zog Crowther sich beleidigt auf die andere Seite des Steinkreises zurück, während Mahalia aufs Dach des Pförtnerhäuschens kletterte und Steine nach den Waldtieren warf. Carlton saß mit Caitlin und Matt am Feuer und lauschte lächelnd ihrer Unterhaltung. Matt zeigte sich überrascht, als Caitlin ihm schilderte, wie heftig die Seuche in ihrer Gegend wütete - er hatte einige Gerüchte gehört, aber nie einen Erkrankten gesehen. Dies weckte in Caitlin die Hoffnung, dass sich die Seuche doch nicht so schnell wie befürchtet ausbreitete. Vom Dach aus bemerkte Mahalia, dass der Professor davonschlich. Sie sprang herunter und forderte die anderen auf, mitzukommen und ihm zu folgen, doch irgendwie entwischte er ihnen. Eine halbe Stunde später schallte sein gequälter Ruf aus dem Wald. Das Blut gefror ihnen in den Adern; sie befürchteten das Schlimmste. Matt und Caitlin rannten über die Wiese, aber dann kam ihnen der Professor auch schon mit wirrem Blick entgegengetaumelt. Blut lief ihm über beide Gesichtshälften. »Was ist geschehen?«, fragte Caitlin. Sie wollte seine Kopfverletzung untersuchen, doch Crowther stieß ihre Hand fort. Bei der ungestümen Bewegung flogen seine Haare empor, und sie sah, oder glaubte zu sehen, dass er ein Loch in der Schläfe hatte. »Wer hat das getan?«, fragte sie besorgt. »Niemand hat irgendetwas getan«, schimpfte Crowther. »Ich habe die Informationen erlangt, die wir benötigen jemand muss es ja tun.« Er stapfte an ihnen vorbei, doch sie sahen, dass seine Hände heftig zitterten. Zurück im Lager setzte er sich ans Feuer, um sich aufzuwärmen, obwohl es alles andere als kalt war. »Ich 120 weiß jetzt, wie man hinübergelangt«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich hatte vorher schon eine Ahnung, aber jetzt weiß ich es genau.« Er zeigte mit dem Finger auf Caitlin. »Sie sind der Schlüssel.« »Ich? Warum ich?« »Ich habe es mir gedacht«, fuhr Crowther fort, als hätte sie nichts gesagt. »Und ich weiß jetzt, wo wir das Heilmittel finden, wenn wir drüben sind. An einem Ort namens Haus der Schmerzen.« Matt lachte und handelte sich dafür einen vorwurfsvollen Blick von Crowther ein. »Na ja, Freudenhaus wäre ja auch etwas unpassend gewesen, was? Ich glaube, Sie ...« »Ich werde Sie ab jetzt ignorieren«, sagte Crowther, »und nur noch mit ihr sprechen.« Er deutete auf Caitlin. »Mir wurde gesagt...« »Wer hat Ihnen etwas gesagt?«, unterbrach ihn Caitlin. »Das spielt keine Rolle.« Er klang erschöpft. »Aber vor uns liegt ein langer, gefährlicher Weg.« Die Schatten wurden länger, als der Tag sich dem Ende zuneigte und Crowther mit seinen Vorbereitungen begann. Er führte die anderen in die Mitte des Steinkreises, wo sie den exakten Moment des Sonnenuntergangs abwarteten. Keiner von ihnen machte einen Rückzieher, trotz Crowthers wenig erhellender Informationen; selbst Mahalia zeigte sich gespannt. »Sie wissen also wirklich, was Sie tun?«, fragte Matt in einem Tonfall, der verriet, dass er nicht glaubte, dass der Professor überhaupt irgendetwas wusste. Crowther ignorierte ihn, doch Matt blieb hartnäckig. »Die Leute haben diese Steinkreise immer geheimnisvoll gefunden«, fuhr er fort. »Aber letztlich haben es alle für reinen Aberglauben gehalten, für Humbug.« 121 Diesmal konnte Crowther nicht an sich halten. »Da haben Sie es. Die Hinweise liegen seit Jahrhunderten offen da, aber in unserer arroganten Annahme, dass unsere frühen Vorfahren ignorante, ungebildete, abergläubische Barbaren gewesen seien, haben wir den wahren Kern, der sich in den Legenden verbirgt, übersehen. Dinge, die auf den ersten Blick absurd erscheinen, sind in Wahrheit Metaphern und Symbole. Dass Steinblöcke plötzlich lebendig werden und sich bewegen, bedeutet zum Beispiel ...« »Ich bin mir nicht sicher, dass es bloß eine Metapher ist«, flüsterte Caitlin. Alle folgten ihrem Blick zu den Steinblöcken, an deren Kanten nun im Sonnenuntergang ein schwaches blaues Licht zu schimmern schien. Die Steine selbst hatten angefangen, gespenstisch hin und her zu ruckeln, was natürlich an den Lichtverhältnissen liegen konnte, aber es sah so aus, als neigten sie sich mal nach links, dann nach rechts, mal vor und dann wieder zurück. »Die Steine tanzen«, sagte Caitlin mit Amys Stimme. »Was geht hier vor?«, fragte Matt. »Das ist eine Realitätskrümmung«, sagte Crowther mit gedämpfter Stimme. »So entstand die Legende, dass man die Steine niemals richtig zählen konnte ... ihre Zahl variierte an verschiedenen Tagen. Die Realität hier ist hauchdünn und krümmt sich unter dem Einfluss der Kräfte, die sich an diesem Ort konzentrieren.« »Was für Kräfte?«, fragte Matt. »Strahlung?« »Nein, die Erdkraft - man nennt sie das Blaue Feuer, und sie ist in allem. Wenn ich sie sehen könnte, wäre es viel einfacher, die Muster zu finden, die einem den Übergang ermöglichen«, erklärte Crowther. »Man kann dieses Blaue Feuer sehen?«, fragte Matt. »Einige können es. Entweder man hat es gelernt, oder 122 man besitzt spezielle Fähigkeiten. Man muss das Blaue Feuer manipulieren, um hinüberzugelangen, aber die meisten Menschen besitzen nicht die dafür nötige Wahrnehmung.« Er kramte in seinem Rucksack und holte einen kleinen Plastikbeutel mit einer dunklen Substanz heraus.
»Was ist das?«, fragte Mahalia argwöhnisch. »Amanita muscaria. Der Fliegenschwammpilz. Er stammt aus Mexiko. Ihr glaubt ja nicht, wie schwer es ist, an so was ranzukommen.« »Magic Mushrooms?«, fragte Matt. »So was esse ich nicht«, flüsterte Caitlin/Amy. »Das ist Gift!« »Alles kann giftig sein«, sagte Crowther schroff. »Sibirische Schamanen haben diesen Pilz für außerkörperliche Erfahrungen und mystische Prophezeiungen verwendet. In Mexiko gab es einen Kult des heiligen Pilzes. Die Indianer in Kolumbien nannte ihn das Fleisch Gottes. Akademiker sind zu dem Schluss gelangt, dass der Amanita muscaria entscheidend zur Gründung des Christentums beigetragen hat. Alle unsere Religionen ... die Zivilisation an sich ... ohne diesen winzigen Pilz wären sie nicht entstanden.« »Ich kennen ein Mädchen in Southampton, das ausgeflippt ist, als es das Zeug genommen hat«, sagte Mahalia. »Der Amanita muscaria ist nicht für jedermann gedacht.« Crowther öffnete den Beutel und schüttete sich die schrumpeligen Pilze auf die Hand. »Er ist etwas Besonderes, weil er den >göttlichen Bereich< in unserem Hirn aktiviert und es uns erlaubt, das Göttliche zu kontaktieren, den Ort, wo die höheren Mächte existieren, die Heimat der Träume, Visionen und Fantasie ... Anderswelt. Wir werden die Tore unserer Wahrnehmung öffnen.« 123 Mahalia schüttelte den Kopf. »Ich mag Drogen nicht. Sie versperren einem den Blick auf die Realität. Sie sind ein Luxus für Schwache und Faulpelze.« »Wir reden nicht über Hedonismus, Kleine«, sagte Crowther. »Wir reden über die einzige Möglichkeit, von hier auf die andere Seite zu gelangen. Nun, zumindest gilt das für dich und mich - sie braucht es nicht.« Er nickte Caitlin zu, die wie ein kleines Mädchen zurückschreckte. »Keine Sorge, Sie müssen sie nicht nehmen«, sagte er mit lauter Stimme. Gedankenvoll fingerte er an den Pilzen herum. »Noch ein kurzer Nachtrag: Aldous Huxley sagte: >Sind die Tore der Wahrnehmung einmal geöffnet, ist der Weg in die Hölle genauso geebnet wie der in den Himmel.Aus der Stadt im Walde von Canute wird eine junge Maid erscheinen, um ein Heilmittel zu finden. Sobald ihr dieses Kunststück gelungen ist, wird sie die vergifteten Brunnen mit dem Hauch ihres Atems trockenlegen. Danach wird sie, nachdem sie sich mit dem heilsamen Trunk gestärkt hat, in der rechten Hand den Stab des Caledon halten und mit der linken auf die Festung London deuten.Buckland konnte mir nichts anhaben. Ich bin besser als er. Ich bin gerissener. Ich bin härter.< Und die meisten Menschen sind dumm - sie glauben, das Gefasel könnte wahr sein. Und dann haben wir den Salat. Ein Problem zieht das nächste nach sich. Deshalb lasse ich es gar 322 nicht erst so weit kommen und begnüge mich nicht mit halben Sachen.« Er nippte am Whiskey, während er Thackeray in die Augen starrte. Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Du hast Angst.« »Wer hätte das nicht an meiner Stelle?« »Stimmt.« Buckland trank einen Schluck und warf dem Seuchenwächter einen Blick zu; der Mann ging zu der Tür im hinteren Teil des Zimmers. »Du bist ein schlauer Kerl«, fuhr Buckland fort. »Das sehe ich. Ich besitze eine gute Menschenkenntnis. Du weißt, dass sich die Dinge verändert haben.« Er saugte an seiner Unterlippe, während er nach der richtigen Formulierung suchte. »Dir ist bekannt, dass es dort draußen Wesen gibt, von deren Existenz du vor einiger Zeit nicht mal geträumt hättest.« »Ich habe Geschichten gehört.« »Das sind keine Geschichten. Es ist die Wahrheit. Diese Wesen sind ... übernatürlich.« Er nickte voller Stolz über seine Wortwahl. »Und weißt du, wie hart ich bin? So hart, dass ich eins von ihnen gefangen genommen habe. Ich bin so hart, dass es inzwischen alles tut, was ich von ihm verlange, wie ein dressierter Hund, weil es eine Scheißangst vor mir hat. Kannst du dir das vorstellen?« Thackeray wurde schlecht. Harvey hatte Recht gehabt. Er hatte erwartet, dass man ihn erschießen oder totschlagen würde. Nun aber fragte er sich beklommen, welches Schicksal ihn ereilen würde. Wenn Buckland
sich diesen besonderen Schrecken aufgehoben hatte, um jemandem eine Lektion zu erteilen, dann musste es grauenvoller sein als alles, was er sich vorstellen konnte. »Ich glaube, du musst es kennen lernen.« Buckland deutete auf die Tür, vor der der Seuchenwächter stand. Thackeray dachte an Caitlin. 323 Nachts waren auf den Straßen nur zwielichtige Gestalten unterwegs, die durch die Dunkelheit huschten und die Stellen mieden, wo Fackeln die Finsternis erhellten. Überall roch es nach Fäkalien und Verwesung. In einer Gegend boten Frauen im Tausch gegen Nahrung ihre Körper feil; sie wähnten sich in Sicherheit, weil sie so viele waren. Kinder warfen mit Steinen nach Ratten, die zu tausenden die müllübersäten Straßen bevölkerten und selbst vor Angriffen auf Menschen nicht Halt machten. Und ständig fuhren Seuchenwächter auf ihren Motorrädern vorbei und hielten Ausschau nach Kranken, erschossen einige, trieben andere zu den Todeshäusern. Caitlin streifte wie ein Geist durch die nächtliche Stadt. Harvey ging voran, schaute gelegentlich unsicher zu ihr zurück. Er fürchtete sich ein wenig vor der Frau, die noch wenige Stunden zuvor so schwach und ungefährlich gewirkt hatte. In Caitlins Kopf ertönte das Geflüster der Kriegsgöttin, die ihr schreckliche Geheimnisse anvertraute, von grausamen Schlachten berichtete und künftige Ereignisse andeutete. Caitlins eigene innere Stimme wirkte dagegen unbedeutend, aber sie waren beide da, Seite an Seite, Schwestern des Blutes. »Die New Street Station ist da vorne«, sagte Harvey und zuckte zusammen, als er sah, dass Caitlin bereits einen Pfeil an die Bogensehne gelegt hatte. »Glaub mir, es ist sinnlos. Du kommst nicht an den Wachen vorbei. Es sind Tausende! Außerdem ...« Seine Stimme nahm einen traurigen Klang an. »Außerdem ist Thackeray längst tot.« »Du magst ihn doch, oder?« Caitlin schaute zum Eingang des U-Bahnhofs. Nichts regte sich. »Er ist ein feiner Kerl, der beste, den ich kenne. Es gibt 324 nicht viele, die bei mir geblieben wären.« Er wandte sich von ihr ab. »Ich tauge zu nichts. Ich bin bloß eine Belastung für andere. Ohne mich wäre Thackeray besser zurechtgekommen. Er weiß, wie man überlebt. Aber er blieb bei mir. Das werde ich ihm nie vergessen.« »Wenn ich runtergehe, hältst du dich im Hintergrund, dann gerätst du nicht in die Schusslinie.« »Keine Sorge - ich werde ein Punkt am Horizont sein. Du bist verrückt, weißt du das?« Er trat einen Schritt zurück, für den Fall, dass sie ihm eine Ohrfeige verpassen wollte. »Du bist nicht der Erste, der das sagt.« Eine Hand tastete nach dem Köcher, prüfte den Vorrat an Pfeilen. »Ich muss sie mir unterwegs zurückholen ... es sind nicht mehr viele.« »Bist du dir sicher, dass du dir keine richtige Waffe besorgen willst? Es wäre ...« »Na los.« Sie schob sich an ihm vorbei und ging auf nen U-Bahnhof zu. Eine kräftige Hand stieß Thackeray in den angrenzenden Raum, und die Tür schloss sich hinter ihm. Anfangs war er sich nur seines pochenden Herzens und seiner kurzen Atemzüge bewusst. Dann bemerkte er den grässlichen Gestank von verfaultem Fleisch. Es war stockfinster, bis seine Augen sich daran gewöhnten und er ein schwaches Licht wahrnahm, das durch kleine Löcher in den Wänden strömte. Es reichte gerade aus, um zu erkennen, wo der Bewohner des Raumes lag. Zuerst sah er aus wie ein Schatten, der dunkler war als das vorherrschende Halbdunkel. Aber dann regte er sich, richtete sich in der Ecke auf, wo er an irgendetwas geknabbert hatte, und seine Haut glänzte wie Öl. Man erkannte drohend starrende Augen, ein Maul mit 325 einem gewaltigen, vorstehenden Unterkiefer, dazu eine Art Brustpanzer und dicke Knorpelwülste an der Stirn; aber jedes Mal, wenn Thackeray sich auf ein Detail konzentrierte, veränderte es sich, sodass er insgesamt nur etwas Monströses und Tödliches wahrnahm. »Sie nennen sich Fomorii«, hatte Buckland gesagt, bevor er ihn in den Raum gestoßen hatte. »Der Untergang geschah während eines Kriegs zwischen ihnen und irgendwelchen ... Göttern. Die Fomorii haben verloren und waren mit einem Mal verschwunden, einfach so. Außer dem da drin. Er konnte nicht weg, weil ich ihn einkassiert hatte.« Thackeray hatte keine Ahnung, woher Buckland das alles wusste oder ob er es sich nur ausgedacht hatte. Ihm war schleierhaft, wie der Verbrecher ein solches Wesen gefangen halten und seinem Willen beugen konnte, doch das spielte nun keine Rolle mehr. Der Fomor richtete sich zu voller Größe auf; er maß fast drei Meter. Seine Gestalt war fließend und wurde mit jeder neuen Inkarnation grauenvoller, bis Thackeray glaubte, schon der bloße Anblick würde ihn in den Wahnsinn treiben. Caitlin schlich lautlos die Rolltreppe hinunter. Der Kontrast zwischen dem Fackellicht und der tiefen Dunkelheit drum herum hätte die meisten Menschen verwirrt, doch Caitlins Sehvermögen funktionierte nun auf einer anderen Ebene. Es war, als schaute sie durch einen Rot-Filter. Sie sah alles, was sich im Schatten verbarg, und auch die Entfernung spielte keine Rolle; sie nahm jedes kleine Detail im U-Bahnhof wahr. Sie sah die Stacheldrahtmauer an den Fahrscheinschranken und in der Mitte die Tür, die auf Augenhöhe einen verschlossenen Sehschlitz hatte.
326 Caitlin hustete laut. Der Sehschlitz wurde geöffnet, und zwei runde Schweinsäuglein spähten hinaus. In einer fließenden Bewegung hob Caitlin den Bogen, zog den Pfeil zurück und ließ ihn los. Er zischte durch die Halle, flog durch den Schlitz und schlug mitten zwischen den Augen ein. Der Kollege ihres Opfers schrie entsetzt auf. Sie erwartete nur Dummheit und wurde nicht enttäuscht. Ein zweites Augenpaar erschien im Sehschlitz, doch diesmal schoss sie nicht darauf. Sie stand schon vor der Tür und lächelte unschuldig; sie hielt den Bogen so, dass ihr Gegenüber ihn nicht sah. »Schnell«, sagte sie atemlos, »lass mich rein ... bevor er mich erwischt.« Der Wachmann handelte instinktiv und öffnete die Tür ein Stück. Caitlin huschte hinein. Ihre Schnelligkeit erstaunte den Wachmann, doch er konnte nicht lange darüber nachdenken, denn ihre Hand schoss an seine Kehle und bohrte sich zur Luftröhre durch. Sie krümmte die Finger und wühlte in der Wunde herum, bis sie ihm die Halsschlagader aufgerissen hatte. Blut schoss heraus, spritzte auf den Boden und an die Wand. Der Wachmann stürzte, fasste sich an den Hals und begriff noch immer nicht so recht, was geschehen war. Es war doch nur eine Frau; eine Frau, verdammt noch mal. Nachdem sie sich den Pfeil zurückgeholt hatte, eilte Caitlin den Gang hinunter, aber dann hörte sie Harvey rufen und blieb im Lichtkreis einer Fackel stehen, um auf ihn zu warten. Harvey sah, dass sie von Kopf bis Fuß mit Blut bespritzt war. »Allmächtiger!«, rief er. »Du siehst ja aus wie ... Carrie\« Aus den umliegenden Räumen stürmten Seuchenwächter und andere Wachen heraus. Caitlin wandte sich 327 zu ihnen um, die emotionslosen Augen weit aufgerissen. In ihrem Kopf schwoll das drohende Flüstern der Kriegsgöttin zu einem hasserfüllten Schlachtruf an. Caitlin hob den Bogen. Die Pfeile surrten durch den Gang. Vier Männer gingen tödlich getroffen zu Boden, bevor den anderen überhaupt klar wurde, dass Caitlin bewaffnet war. Obwohl sie bloß eine Frau war, ging einer von ihnen kein Risiko ein. Er hob sein Gewehr und schoss auf sie. Die Explosion schallte durch den Gang, und die Kugel schlug dort ein, wo Caitlin eben noch gestanden hatte. Aber da hatte sie ihm schon das Gewehr entrissen und mit dem Kolben den Unterkiefer zertrümmert. Als er zu Boden sank, hob sie das Gewehr über den Kopf und ließ es dreimal herabsausen; sie schlug ihm den Schädel ein, bis Hirnmasse auf den Fußboden quoll. Die restlichen Männer waren wie erstarrt. Es waren kräftige Kerle, an Brutalität gewöhnt, doch sie wussten nicht, wie sie auf die Frau reagieren sollten, die wie ein tosender Wirbelwind zwischen ihnen herumsprang. Einen schlug sie mit dem Gewehrkolben nieder, und noch bevor er zu Boden gegangen war, hatte sie ihm die Machete entwunden und einem anderen damit den Bauch aufgeschlitzt. Drei weitere Männer fielen, bevor man ihr die Machete aus der Hand stieß; sie ging dem Mann an die Gurgel und biss sich darin fest. Als sie von ihm abließ, spuckte sie Blut und Haut aus und merkte, dass sie allein war. Der Fomor spielte mit ihm wie ein Löwe im afrikanischen Busch mit seiner Beute. Thackeray war zweimal unter den Prankenhieben hinweggetaucht und in die andere Ecke gerannt, doch er wusste, dass er das Unausweichliche nur hinauszögerte. Und er hatte entdeckt, 328 was das Unausweichliche war: In einer Ecke lag ein Haufen sauber abgenagter Knochen, die eindeutig von Menschen stammten. Trotz seiner Größe und Kraft bewegte sich das Ungetüm geschmeidig durch den Raum, während es weiterhin ständig sein Äußeres veränderte: Aus Brustpanzern wurden grausam aussehende Stachel, die sich wiederum in mächtige Fledermausschwingen verwandelten ... Thackeray duckte sich unter einer heranfliegenden Pranke, doch die messerscharfen Krallen trafen ihn am Rücken und rissen ihm die Haut auf. Als er sich fluchend abrollte, schoss der Kreatur ein Stachel aus dem Oberschenkel, der ihn um wenige Zentimeter verfehlte und ein Loch in die Wand rammte. Eigentlich kannst du aufgeben, dachte Thackeray. Doch er brachte es nicht fertig. Ein heftiger Schlag hätte ihm beinahe den Kopf von den Schultern gerissen. Er schmeckte Blut im Mund und spürte, wie es ihm über den Rücken und in die Augen lief. Allmählich wurde der Fomor seines Spielkameraden überdrüssig, deswegen schlug er immer schneller und härter zu. Thackeray rollte sich zur Seite, als eine Faust auf ihn herabfuhr und am Boden eine Wolke aus Betonstaub aufwirbelte. Doch durch das schwungvolle Ausweichmanöver stieß er mit dem Kopf an die Wand und blieb halb ohnmächtig liegen. Seine Zeit war abgelaufen. Licht fiel in den Raum. In seiner Benommenheit dauerte es einen Moment, bis er begriff, dass die Tür aufgeflogen war. Jemand stand dort; die Umrisse hoben sich vom Fackellicht dahinter ab, und als die Gestalt hereinkam, erblickte Thackeray eine grauenvolle Erscheinung, die von Kopf bis Fuß mit Blut beschmiert war und aus 329 hellen Augen ins Dunkel starrte. Sie hielt eine Machete in der Hand, doch Thackeray blieb nur ein kurzer Moment, dies zu registrieren, denn dann trat die Gestalt in Aktion. Sie stürzte sich auf den Fomor und ließ die Klinge wie einen metallenen Blitz durch die Luft schnellen; goldene Funken sprühten, als die Machete von der Panzerung abprallte. Das Ungetüm stieß ein nicht-menschliches
Heulen aus, und dann durchlief es eine rasend schnelle Folge von Mutationen. Es war unmöglich für Thackeray, das Geschehen zu verfolgen, denn alles passierte in unglaublicher Geschwindigkeit. Er erhaschte nur kurze Schnappschüsse eines in seiner Intensität apokalyptischen Titanenkampfes. Irgendwie gelang es der schlanken Gestalt, den Klauen, Stacheln und Fängen stets im letzten Moment auszuweichen und gleichzeitig mit der Machete nach einer Schwachstelle am Körper des Ungetüms zu suchen. Thackeray glaubte nicht, dass es eine solche gab - der Fomor war zu sehr eine Tötungsmaschine -, aber dann spritzte neben ihm plötzlich eine schwarze Flüssigkeit auf den Boden und brannte sich zischend in den Beton. Das Gebrüll des Ungetüms schraubte sich in derartige Höhen, dass Thackeray sich fast übergeben hätte. Die schwarze Flüssigkeit spritzte dem Fomor aus mehreren Wunden. Er taumelte, doch die Gestalt ließ nicht von ihm ab, sondern hackte wie im Blutrausch weiter auf ihn ein und nutzte es aus, dass das Ungetüm sich immer weniger panzern konnte. Schwarze Fleischbrocken fielen auf den Boden, gefolgt von zuckenden Fingern und dann ganzen Gliedmaßen. Selbst als der Fomor zuckend am Boden lag, ließ die Gestalt immer wieder die Machete auf ihn herabsausen, bis nur noch unkenntliche Fleischklumpen von ihm übrig waren. Thackeray musste den Blick abwenden. 330 Im nächsten Moment stand die Gestalt über ihm, und er fragte sich, ob er jetzt an der Reihe war. Überrascht sah er, dass es eine Frau war. Allmählich dämmerte es ihm. Der einsetzende Schock war so heftig, dass er nur verständnislos zu ihr aufstarren konnte. Schließlich reichte sie ihm eine blutverschmierte Hand und half ihm auf die Beine. »Mein Name ist Caitlin«, sagte sie. Trotz allem, was er erlebt hatte, schauderte er, als er ihre Stimme hörte. »Was bist du?«, fragte er. Sie warf die Machete zu Boden, und einen Moment lang glaubte er, Tränen in ihren Augen zu sehen. Dann warf sie sich ihm mit der gleichen Vehemenz, mit der sie den Fomor attackiert hatte, in die Arme und küsste ihn so heftig, dass er Sterne vor den Augen sah. Die Heftigkeit des Kusses und die knisternde Energie, die dahinterlag, ließen Thackeray wieder zu Boden sinken. Er war zu geschwächt, um sich zu widersetzen, und wollte es auch gar nicht. Sie küsste ihn weiter, dann biss sie ihm ins Gesicht, in den Hals und den Nacken, in die Hände und überall auf seinem Körper, bevor sie von ihm abließ und erst ihm und dann sich selbst die Kleidung vom Leib riss. Ihre Brüste und ihr Bauch schimmerten weiß im Kontrast zum blutigen Rot der Hände und des Gesichts. Ihr Haar flog durch die Luft, während sie das Becken an seines presste und ihm Blut aufs Gesicht und die Brust tropfte. Ihre Fingernägel schnitten ihm schmerzhafte Furchen in die Haut, doch vor sexueller Ekstase merkte sie gar nicht, dass sie ihm wehtat. Thackeray ließ sich von ihrer Wildheit mitreißen und gab sich ihr ganz hin. Caitlin war wie eine Droge; sein Blut pochte, in seinem Kopf drehte sich alles. Es war ein halluzinogenes Begehren, etwas Transformierendes, etwas Heiliges, das zwischen ihnen geschah, knisternde 331 blaue Energie, die jenseits des Körperlichen lag. Caitlin war alles, was er sich immer gewünscht hatte. Als sie ihm die Hose von den Beinen gezerrt hatte, stellte sie mit Mund und Händen sicher, dass er voll erigiert war, und dann setzte sie sich auf ihn und ließ ihn in sich hineingleiten. Sie ritt auf ihm wie von Sinnen, beugte sie zu ihm herab und küsste und biss ihn, und überall war Blut, auf ihm, in seinem Blickfeld, in ihrem Haar. Als er in einer Explosion reinster Euphorie ejakulierte, ließ sie nicht von ihm ab, sondern machte weiter, bis Sekunden später auch sie einen Orgasmus hatte. Erst dann sank sie mit pochendem Herzen auf seine Brust. Es fühlte sich an, als hätte sie ihm alles gegeben, was in ihr war. »Ich glaube, ich liebe dich«, sagte er und strich über ihr klebriges Haar. Sie zogen sich an und gingen in Bucklands Büro. Der Gangsterkönig lag in der Ecke und stöhnte leise vor sich hin. Seine Kniescheiben waren zertrümmert. Er fluchte laut, als Caitlin und Thackeray hereinkamen. Harvey stand an der Tür, ängstlich und zugleich außer sich vor Freude. »Ich dachte, du wärst tot«, sagte er mit schiefem Blick. »War ich auch fast ... eine Minute später wäre es so weit gewesen.« »Ich bin froh, dass du durchgehalten hast.« »Ja. Sieht so aus, als müsstest du es noch eine Weile mit mir aushalten.« Sie standen etwas verlegen da, waren unfähig, ihre Emotionen auszudrücken, und dann deutete Thackeray auf Caitlin. »Sie ist unglaublich, was?« »Ja. Wer hätte das gedacht?« Harvey schaute unsicher zu ihr hinüber. »Wie jemand aus Matrix.« »Eher wie Red Sonja. Erinnerst du dich an Conan, der 332 Barbar? Das Teufelsweib mit dem Schwert? Nun, bei uns hat sie eine Machete.« »Sie sind alle tot.« Harvey deutete mit dem Daumen auf den Gang hinaus, der in die Bahnhofshalle führte. »Jeder Mann, den der Drecksack hatte.« Thackeray schaute Caitlin in die Augen. Er wusste nicht so recht, was er dort erblickte, aber es war gewiss nicht die Leere, die er bei der Frau gesehen hatte, in die er sich ursprünglich verliebt hatte. »Kann ich dich überhaupt meiner Mutter vorstellen?«, fragte er scherzhaft. »Warum hast du ihn nicht kaltgemacht?« Harvey nickte in Bucklands Richtung, der vor Schmerzen allmählich das Bewusstsein verlor.
»Er muss sich seinem persönlichen Fegefeuer stellen.« Caitlins neue Klarsicht, die sie besaß, seit die Morrigan aus dem Dunkel herausgetreten war, erwies sich als Offenbarung. Als Caitlin auf Buckland schaute, sah sie kleine Teufel über ihm tanzen und ihm entlang seiner Körpermeridiane, durch die das Chi - seine Lebenskraft floss, die Seuche einspritzen. Sie wusste jetzt, was es mit der Krankheit auf sich hatte: Sie griff die elementare Kraft an, die alles zusammenhielt; sie zerstörte die lebensspendende Essenz, auf der die Realität des Seins beruhte. Und man hatte die Seuche nicht erschaffen, um bloß den Menschen auszurotten; sie sollte alles auslöschen, erst das Blaue Feuer, dann die physische Materie. Die Seuche sollte das gesamte Sein vernichten. Diese schauerliche Heimsuchung konnte durchaus natürlichen Ursprungs sein, doch Caitlin vermutete, dass eine Intelligenz dahintersteckte. Etwas hatte diese Seuche über die Welt gebracht; etwas wollte das Sein zerstören. Und dies brachte sie auf den Gedanken, dass womöglich alles miteinander zusammenhing - die Seuche, die Flüsterer, der Versuch, sie - Caitlin - umzubrin333 gen. Aber wer oder was wollte das gesamte Sein auslöschen? Wer konnte so etwas wollen? »Also, verschwinden wir jetzt?«, fragte Thackeray. »Buckland stellt keine Bedrohung mehr dar. Was du ihm angetan hast, kommt in einer Welt ohne medizinische Versorgung einem Todesurteil gleich.« »Er hat es verdient«, sagte Caitlin tonlos. »Wir könnten ja seine Nachfolger werden«, sagte Harvey. »Mit einem Oberboss wie ihr würde sich niemand gegen uns stellen.« »Nein«, sagte Thackeray. »Das ist mir zu viel Verantwortung. Ich würde lieber in den Urlaub fahren.« Er sah Caitlin hoffnungsvoll an, doch ihre Miene verriet ihm alles, was er wissen musste. Sie standen auf einem der Bahnsteige; die brennende Fackel, die Harvey hielt, sorgte für etwas Licht in der beklemmenden Dunkelheit. Thackeray hatte die Arme um Caitlin gelegt und zog sie an sich, um ihre Weichheit zu spüren. »Musst du wirklich gehen?« »Ja. Die Menschen zählen auf mich.« Sein Seufzen sollte dramatisch klingen, doch es klang nur traurig. »Na ja, irgendwie ist es verständlich, dass du aus Birmingham verschwindest. Wer würde das nicht gerne?« »Du könntest auch fortgehen.« »Sollte man meinen, was?« Er schaute ihr in die Augen und versuchte gleichmütig zu wirken. »Ich könnte dich ja begleiten.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich zurückkehren werde, Thackeray. Was ich tun muss ... nun, mein Instinkt sagt mir, dass es mich das Leben kosten wird. Diese Geschichten enden immer tragisch.« 334 »Ja. Weißt du, diese Sache mit der Verantwortung ... Ich kenne das Wort eigentlich gar nicht.« Sie beugte sich vor und küsste ihn zärtlich auf die Lippen. Es war eine ganz sanfte Berührung, aber dennoch so potent wie die Leidenschaft, die er zuvor erlebt hatte. Ein Kribbeln fuhr ihm über die Haut. Tief im Herzen wusste er, dass er nie wieder eine Frau finden würde, die ihm so viel bedeutete. Man konnte ihre gemeinsame Zeit in Tagen zählen, doch die Verbundenheit, die er ihr gegenüber empfand, war so tief und andauernd wie der Ozean. Er wollte ihr sagen, wie sehr er sie brauchte und dass er wusste, dass auch sie ihn liebte, selbst wenn ihr das noch nicht klar war. Aber er wusste, dass es sinnlos war. Sie konnte nicht bleiben; die Verantwortung lastete wie ein Mühlstein auf ihren Schultern. »In der Welt, mit der wir es zu tun haben«, sagte er, »geschehen einfach zu viele traurige Dinge.« Sie lächelte, und erneut sprang ein Funke der Leidenschaft zwischen ihnen über, doch die Intensität des Gefühls tat ihm fürchterlich weh. Sie löste sich von ihm, und seine Hände glitten an ihren Seiten herunter. »Mach's gut, Harvey«, sagte sie winkend. Ein Anflug von Erleichterung lag in seinem Lächeln. »Wasch dir demnächst mal die Haare, Red Sonja.« Sie lachte und sprang vom Bahnsteig auf die Gleise. Sie sahen ihr nach, während sie langsam auf den Tunnel zuschritt und sich noch einmal umdrehte, bevor die Dunkelheit sie verschluckte. In dem Moment glaubte Thackeray, er müsse sterben. Harvey klopfte ihm auf die Schulter. »Tut mir leid für dich, Kumpel. Aber sieh's mal von der Seite ... du hättest dich nie mit ihr anlegen können.« Thackeray versuchte, mit seinem Blick die Dunkelheit zu durchdringen, und stellte sich vor, wie Caitlin in die 335 Nacht hineinschritt, entschlossen, schön und wild, wie die Natur. »Ich wäre für sie durchs Feuer gegangen, Harvey. Ich würde ihr bis ans Ende der Welt folgen. Und darüber hinaus.« »Du bist ein unverbesserlicher Romantiker, Thackeray. Es ist ein Wunder, dass du überhaupt Freunde hast.« Harvey wandte sich um und wedelte mit der Fackel in Richtung Ausgang. »Komm ... wir holen uns Bucklands Whiskey-Vorrat.« 13 Am Hof der Singenden Träume »O Freiheit! Welche Verbrechen begehet man in deinem Namen!«
MADAME ROLAND Crowther schwitzte aus allen Poren; er war gereizt, denn der Pfad nahm einfach kein Ende. Es war drückend schwül unter dem dichten Blätterbaldachin, und selbst die ausgiebigen Trinkpausen an den vielen kleinen Waldbächen halfen ihm nicht gegen sein Unwohlsein. Mahalia sagte kaum etwas, doch was ihn beunruhigte, war der Umstand, dass sie, wenn sie doch einmal sprach, höflich, nachdenklich, ja fast gutmütig freundlich klang. Er befürchtete, dass die Belastung, die Carltons Tod für sie darstellte, sie irgendwann zerstören könnte. »Vielleicht hilft es dir, wenn du über ihn sprichst«, sagte Crowther. »Ich meine, über den Jungen ... Carlton ...« »Da gibt's nichts zu erzählen.« »Wie hast du ihn denn kennen gelernt?« Sie überlegte einen Moment lang, dann sagte sie: »Es war irgendwann nach meiner Flucht vom ... Dachboden. Es war ein hartes Leben, ich habe überall nach etwas Essbarem herumgestöbert ...« Sie verzog das Gesicht. »Ich habe die widerlichsten Sachen gegessen, um nicht zu verhungern. Daraus habe ich gelernt, dass man alles tut, 337 um zu überleben - alles.« Sie lief neben ihm her, sah ihn aber nicht an. »Ich glaube, Sie können sich vorstellen, wie es war - ein junges Mädchen auf der Straße ist ein leichtes Opfer. Eines Morgens haben vier Männer, vier Dreckschweine, versucht, mich zu vergewaltigen ...« Sie spie die Worte aus. »Im hellen Tageslicht, auf dem Bürgersteig in einem der großen Einkaufsviertel. Überall waren Leute. Niemand hat mir geholfen, obwohl ich geschrien habe wie am Spieß. Sie haben einfach weggesehen.« Crowther warf ihr einen Seitenblick zu und verstand die unausgesprochenen Emotionen hinter ihren Worten. »Und dann war auf einmal Carlton da«, fuhr sie fort. »Irgendwie gelang es ihm, ein paar Passanten zusammenzutrommeln - ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, er konnte ja nicht sprechen -, aber er hatte eben eine ganz besondere Art - die Menschen haben ihn gemocht, sind ihm gefolgt ...« Sie unterdrückte ein Schluchzen und wischte sich über die feuchten Augen. »Die Passanten haben die Männer verjagt... und mich gerettet. Carlton hat mich gerettet. Und als er zu mir kam und mir lächelnd die Hand reichte, um mir aufzuhelfen, da wusste ich, dass ich einen Freund gefunden hatte - jemanden, der mir helfen würde und dem ich helfen konnte.« Crowther sah, dass sich ihre Schultern verkrampften und sie den Kopf hängen ließ. Etwas unbeholfen klopfte er ihr auf den Rücken. Es kam ihm merkwürdig vor, sie zu berühren, doch die Geste erfüllte ihren Zweck, denn Mahalia warf ihm ein kurzes, trauriges Lächeln zu. Es ließ sie wie einen ganz anderen Menschen aussehen. »Jetzt werden wir wohl nie erfahren, was es mit Carlton auf sich hatte ... und wozu er imstande war«, sagte sie. »Vielleicht war er einfach nur ein guter Mensch«, er338 widerte Crowther. »Nicht mehr und nicht weniger. Wer weiß, vielleicht hatte er die für ihn vorgesehene Aufgabe erledigt, und es gab nichts mehr zu tun für ihn.« Mahalia sah ihn merkwürdig an. »Glauben Sie an Gott, Professor?« »Früher ja, dann nicht mehr und jetzt... nun, ich lasse mit mir reden.« Die Frage bereitete ihm Unbehagen, und er wechselte rasch das Thema. »Woher kommst du eigentlich, Mahalia? Von uns allen wissen wir über dich am wenigsten. Du hast eindeutig eine gute Schulbildung genossen und stammst offenbar aus den so genannten besseren Kreisen.« Innerlich schalt er sich dafür, so gekünstelt zu klingen, aber nett zu sein fiel ihm nun mal nicht leicht. Es kam ihm vor, als wären sie zwei Blinde, die im Dunkeln nach einander tasten, um herauszufinden, ob der andere ein Tier, ein Stein oder eine Pflanze ist. Sie seufzte, und einen Moment lang glaubte er, sie würde nicht auf die Frage eingehen. Aber die Offenheit, die sie beide an den Tag gelegt hatten, machte sie mitteilIsamer als sonst. »Ich rede nicht gern über die Vergangenheit«, sagte sie. »Die ist vorbei und vergessen. Aber ... okay ... ich bin aufs Cheltenham Ladies' College gegangen. Das war ein Internat. Meine Eltern haben in Hampshire gewohnt. Mein Vater war Finanzberater. Meine Mutter hat für verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen gearbeitet. Als Farbige hatten sie es nicht leicht in diesen Kreisen, aber sie kamen ganz gut zurecht. Als dann der Untergang begann und alles den Bach runterging, wollte ich zurück zu ihnen. Ich habe mit ein paar Freunden ein Auto geklaut, und als das Benzin alle war, bin ich den Rest gelaufen. Eine Woche später stand ich vor unserem Haus. Meine Eltern waren verschwunden.« »Hast du irgendeine Ahnung, was aus ihnen geworden ist?« 339 Sie schüttelte den Kopf, hatte aber einen abwesenden Blick, als riefe sie sich lange verdrängte Bilder ins Gedächtnis. »Auf dem Tisch standen noch zwei halb volle Teller, aber von meinen Eltern fehlte jede Spur - als hätte man sie entführt oder so. Wer weiß? Na ja, jedenfalls ... in den Berufen, die sie hatten, haben sie nichts gelernt, was ihnen beim Überleben in unserer neuen Welt hilfreich gewesen wäre. In ihrer Welt waren sie angesehene Leute, aber jetzt ... welchen Nutzen haben Menschen, die nur wissen, wie man Geld macht?« Er hob die Stimme, als ein kräftiger Luftzug durchs raschelnde Unterholz fuhr. »Du hast es mit diesem Überlebensding, was?« Sie zuckte die Achseln. »Wenn's drauf ankommt, hat man nur sich selbst. Kein anderer kümmert sich um einen.« Dem konnte er nicht widersprechen. Als er sich über die schweißnasse Stirn wischte, fiel ihm etwas auf: Wieso spürte er keine kühlende Brise auf der Haut, obwohl es im Unterholz fortwährend raschelte? Die Antwort sprang
ihn an wie ein Wolf, und er wandte sich angsterfüllt um. So weit das Auge reichte, schwebten purpurne Lichter zwischen den Bäumen. Die Flüsterer hatten sie fast eingeholt, ohne dass er es bemerkt hatte. Er verfluchte sich für seine Unaufmerksamkeit. Sein Schock vertiefte sich, als er sah, dass die Flüsterer-Armee mindestens doppelt so groß war wie in der Nacht, als sie dem Fluss entstiegen war. Hatten sie etwa die Gehennis rekrutiert oder andere der geheimnisvollen Waldbewohner? Gab es eine Art Virus, der sich rasend schnell ausbreitete und die Waldbewohner in Flüsterer verwandelte? Crowther gab Mahalia das Zeichen loszurennen. Das Mädchen war viel schneller als er und lag nach wenigen 340 Augenblicken ein gutes Stück vor ihm, während der Professor mit rotem Gesicht und brennender Lunge hinterher hechelte. Hinter ihm ließ das Hufgetrappel der Flüsterer-Rösser den Boden erbeben. Als Mahalia merkte, dass der Professor nicht mehr hinter ihr war, verlangsamte sie ihre Schritte. »Warte nicht auf mich!«, rief er ihr zu. Sie zögerte. »Ich sagte, warte nicht auf mich!« Sie rannte weiter, und er versuchte, so gut es ging mitzuhalten, während das Geflüster hinter ihm immer intensiver wurde und in seinen Kopf einsickerte. Schwarze Gedanken stiegen in ihm auf. Seine Beine wurden bleischwer. Gib auf. Leg dich hin. Stirb. Mit einer schnellen Handbewegung schlug er sich den Stab an die Stirn und dann, noch härter, an die Nase. Er fluchte laut, als ihm Blut auf die Lippen tropfte, aber so war er wenigstens wieder wach. Vor sich sah er Mahalia zwischen den Bäumen verschwinden. Sie hatte etwas entdeckt - wahrscheinlich eine Abkürzung, denn der Pfad beschrieb eine zu ihm zurückführende Kurve. Wider besseres Wissen folgte Crowther ihr. Zwischen den Bäumen erblickte er den blau schimmernden Himmel; an dieser Stelle endete der Wald. Mahalia bremste abrupt ab und versuchte, mit rudernden Armen das Gleichgewicht zu halten. »Bleiben Sie stehen!«, rief sie. Crowther konnte nicht mehr abbremsen. Er rannte ihr in den Rücken und stieß sie über eine Felskante. Erschrocken schrie er auf und packte einen Ast, um ihr nicht hinterher zustürzen; mit der freien Hand griff er nach ihr. Er kam zu spät. Mit einem gellenden Schrei fiel Mahalia in die Tiefe. 341 Crowther hörte Wasserrauschen und sah rechts von sich, wo er einen freien Blick über die Felskante hatte, weit unten die reißenden Stromschnellen. Panik explodierte in ihm. Er hatte Mahalia in den Tod gestoßen! Er ignorierte die näher kommenden Flüsterer, ließ sich auf die Knie sinken und spähte in die Tiefe. Drei Meter unter ihm lag ein schmaler Felsvorsprung. Keine Spur von Mahalia. Ein Ruf weckte seine Aufmerksamkeit, und dann sah er rechts von sich Matt und Jack, die auf in den Granit geschlagenen Stufen heraufgeeilt kamen. Benommen ließ Crowther sich an der Kante herunter. Er blickte noch einmal zu den purpurnen Lichtern zwischen den Bäumen, ließ los und landete zwei Sekunden später auf dem Felsvorsprung. Jack rief ihm etwas zu. Er las dem Jungen die Worte von den Lippen ab, bevor der Schall ihn erreichte. »Sie lebt!« Verblüfft beugte er sich über den Felsvorsprung und sah, dass Mahalia sich an einer Felsspalte festhielt; aus einer Stirnwunde floss ihr Blut übers Gesicht. Überglücklich versuchte Crowther sie zu packen, aber dann waren Matt und Jack da und schoben ihn zur Seite. Sie gingen auf die Knie, beugten sich herunter und streckten sich nach Mahalias Händen, konnten sie aber nicht erreichen. Mahalias Arme zitterten vor Anstrengung, und in ihrem verzweifelten Blick lag die Angst eines Menschen, der wusste, dass er nur noch wenige Augenblicke zu leben hatte. Crowther schaute nach oben und sah einen der Gehennis, dessen substanzlosem Leib purpurnes Licht entströmte. Sich der heraufziehenden Gefahr bewusst, versuchten 342 Matt und Jack fieberhaft, Mahalia zu erreichen, aber sie kamen nicht an sie heran. Crowther erhob sich, lehnte sich mit dem Rücken an die Felswand und packte von hinten die Gürtel der beiden Männer. Es folgte ein kurzer Moment der Unentschlossenheit, dann setzten Matt und Jack ihr ganzes Vertrauen in Crowther und beugten sich so weit herunter, bis der Professor ihr gesamtes Gewicht hielt. Falls er losließ, würden sie in die Tiefe stürzen. Das war auch Crowther bewusst, doch er war fest entschlossen, das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Matt und Jack bekamen Mahalias Handgelenke zu fassen. Hinter den Gehennis folgten die Flüsterer. Ihr Wispern übertönte sogar das Donnern der Stromschnellen. »Ich höre nicht hin!«, brüllte Crowther. Matt und Jack hievten Mahalia herauf. Einen Moment lang fürchteten sie, hinunterzufallen, doch Crowther hielt die beiden fest, bis Mahalia auf dem Felsvorsprung lag. »Schnell!«, sagte der Professor. »Wir müssen fliehen!« Jack nahm Mahalia bei der Hand und rannte los, gefolgt von Matt und Crowther. Die Flüsterer waren ihnen dicht auf den Fersen, während die Gefährten über die schmalen Stufen hinuntereilten. Schließlich kam der Hof der
Singenden Träume in Sicht. Sie erklommen eine Steintreppe zu einem gepflasterten Vorplatz, der weit in die Schlucht hinausragte. Ein fünf Meter hohes, hölzernes Bogenportal versperrte den Zugang zu der dahinter liegenden Stadt. Als sie darauf zurannten, blieb Matt plötzlich stehen und sagte: »Halt. Hier ist eine geeignete Stelle. Wir müssen die Stufen im Fels zerstören, sonst kommen die Flüsterer hier rein.« »Und wie sollen wir das anstellen?«, fragte Crowther. 343 Nervös blickte er zu den purpurnen Lichtern zurück, die höchstens zwei Minuten von ihnen entfernt waren. »Los«, sagte der Professor, »wir gehen jetzt da rein.« »Nein.« Matt packte Jack bei den Schultern. »Du musst dieses Ding einsetzen, das in dir steckt, so wie auf dem Boot.« Jack verzog das Gesicht. »Das kann ich nicht!« Matt schüttelte ihn. »Du musst.« »Lassen Sie ihn in Ruhe.« Mahalia versuchte Matts Hände fortzuziehen, doch es gelang ihr nicht. »Ich kann es nicht kontrollieren«, flehte Jack. »Ich befürchte, dass ich ... dass ich den ganzen Bannfluch explodieren lasse! Ich könnte alles zerstören!« »Tu es einfach«, sagte Matt. »Auf dem Boot hast du die Kraft doch auch kontrolliert.« »Das war Zufall.« »Ach was. Du kannst es. Das weiß ich.« Jack war unschlüssig, blickte Hilfe suchend zu Mahalia, und dann rannte er mit hängenden Schultern zu dem Steingeländer, das den Vorplatz umgab. Darunter rauschten die Stromschnellen durch die Schlucht. »Was, wenn wir alle umkommen?«, rief Crowther über das Tosen des Wassers hinweg. »Das wird nicht geschehen. Die Danann hätten ihm keine Bombe eingepflanzt, wenn diese willkürlich hochgehen könnte. Sie sind nicht dumm - sie müssen einen militärisch geschulten Verstand haben, um sich so etwas auszudenken. Es muss eine Sicherung geben.« »Das hätten Sie ihm sagen sollen!«, rief Mahalia. »Ich möchte, dass er voll unter Strom steht und wütend ist, damit er die Felswand komplett in Schutt und Asche legt.« Vor dem massiven Steingeländer wirkte Jack klein und verloren. Er senkte den Kopf, drehte sich um die ei344 gene Achse und ging in die Hocke. Als er sich wieder erhob, schoss ein silberner Lichtball aus ihm heraus. In der näheren Umgebung wurden alle Geräusche aufgesaugt, bis der Lichtball plötzlich explodierte. Matt, Crowther und Mahalia wurden von einer Druckwelle umgeworfen. Ein Überschallknall zerriss ihnen beinahe die Trommelfelle, und als sie aufschauten, sahen sie, dass Jack erschöpft am Geländer lehnte. Hinter ihm stieg eine Staubwolke auf, wo gerade noch die Granitwand gewesen war, und unter den feinen Trümmerstaub gemischt verloschen die letzten purpurnen Lichtfetzen. Matt nickte zufrieden. »Hat doch prima geklappt.« »Man kann es auch anders betrachten«, sagte Crowther. »Hoffentlich sind wir hier willkommen, denn zurück können wir nicht mehr.« »Da haben zwei Leute aber mächtig Spaß.« Matt stieß Crowther an, während dieser das große, beeindruckende Bogenportal betrachtete. Jack und Mahalia saßen auf dem Steingeländer, von dem aus man auf den reißenden Fluss blickte. Sie lagen sich in den Armen. Ihr Kuss war eher von Verzweiflung erfüllt denn von Leidenschaft, vom Erkennen einer gleichgearteten Einsamkeit und dem Wunsch, diese Leere zu füllen. »Schön für sie«, erwiderte Crowther. »Wenigstens für die beiden hat sich dieser Horrortrip gelohnt.« »Ich weiß nicht, was ich wegen Caitlin tun soll«, sagte Matt. »Daran hätten Sie denken sollen, bevor Sie die Felswand wegsprengen ließen.« »Anders ging es nicht.« »Dann muss Caitlin eine andere Route finden ... oder eben nicht. Wir können ihr nicht helfen.« 345 Crowther sah, dass Matt versuchte, seine Sorge um Caitlin zu verdrängen, indem er sich auf die anstehende Aufgabe konzentrierte, doch man merkte ihm an, wie sehr ihm die junge Ärztin am Herzen lag. Matt suchte nach einer Möglichkeit, das Portal zu öffnen. »Ich verstehe nicht, warum noch keiner gekommen ist. Sie müssen doch wissen, dass wir hier sind.« »Triathus meinte jedenfalls, dass man uns hier helfen würde«, erklärte Crowther. »Es scheint hier zwei Architekturstile zu geben«, sagte Matt unvermittelt und deutete auf die monolithischen Steinblöcke und die fein geschwungenen surrealistischen Details, die sie überlagerten. »Das liegt daran, dass die Stadt das Werk zweier Völker ist.« Jack stand hinter ihnen, den Arm um Mahalias Schultern gelegt. »Die Danann tun gerne so, als wären sie die Einzigen, die hier geherrscht haben, aber es gab auch andere.« Er ging zur Mauer und klopfte auf einen der gewaltigen Steinblöcke. »Der stammt aus dem Zeitalter der Krieger. Die Drakusa waren ein starkes, gewalttätiges Volk - wenigstens habe ich es so gehört. Es ist nur wenig über sie bekannt, aber ich glaube, sie sollen noch irgendwo existieren. Das Goldene Volk hat kein Interesse daran, mehr über sie herauszufinden.« »Hatten diese Drakusa einen Einfluss auf die Menschheit?«, fragte Crowther. »Ich weiß nicht... wahrscheinlich schon. Es heißt, sie hätten die Macht besessen, gewaltige Erdbrocken aus dem
Boden zu heben und sie kraft des Geistes in die gewünschte Form zu bringen. Als ich am Hof des Letzten Wortes war, habe ich mich mit Math, dem Hüter der schriftlichen Überlieferungen, angefreundet - obwohl angefreundet eigentlich nicht das richtige Wort ist. Ich glaube, er sollte mich vor allem im Auge behalten, nach346 dem sie ihre Arbeit an mir verrichtet hatten. Aber so erhielt ich die Möglichkeit, in ihrer Bibliothek herumzustöbern. Sie verbergen dort unzählige Geheimnisse.« »Klingt, als könntest du für uns noch wertvoller werden, als du ohnehin schon bist«, sagte Matt mit einem merkwürdigen Klang in der Stimme. »Wertvoller als bloß eine Waffe?« Jacks Tonfall verriet, wie sehr es ihn verletzt hatte, von Matt zum Gebrauch des Bannfluchs gezwungen worden zu sein. »Können wir nicht einfach reingehen?«, sagte Mahalia. »Nachdem ich fast abgestürzt wäre, könnte ich eine kleine Erholungspause gut gebrauchen. Und glauben Sie ja nicht«, fuhr sie an Crowther gewandt fort, »ich hätte vergessen, wer mich beinahe in den Tod gestoßen hätte.« »An den meisten großen Höfen lassen sich die Eingangsportale ganz einfach öffnen, wenn man weiß, wie man es anstellen muss«, sagte Jack. »Die Danann fürchten sich vor niemandem und gehen deshalb davon aus, dass niemand so dumm ist, sie anzugreifen.« Matt musterte den Professor listig. »Was hecken Sie nun schon wieder aus?«, fragte Crowther nervös. »Sie könnten die Maske aufsetzen ...« »Nein! Das kommt nicht in Frage!« »Sie könnten ...« »Sie haben doch gesehen, was beim letzten Mal passiert ist! Sind Sie ein Idiot?«, sagte Crowther mit entschlossen klingender Stimme, obwohl er in sich das Kribbeln einer fiebrigen Vorfreude spürte. Die Maske, die er nach wie vor in einer Geheimtasche seines Mantels trug, zupfte sanft an seinen Emotionen. »Sie sind doch ein kluger Mensch. Sie können die Kraft kontrollieren ... oder es lernen, sie zu kontrollieren.« 347 »Und dabei riskiere ich, alles zu zerstören.« »Sie machen mit ihm das Gleiche wie mit mir!«, sagte Jack vorwurfsvoll. »Es ist nicht meine Absicht, meine Mitmenschen leiden zu lassen oder sie unnötigen Risiken auszusetzen.« Matt seufzte. »Aber wir befinden uns in einer schwierigen Situation, in der eine Menge auf dem Spiel steht. Jeder muss das seine dazu beitragen, um unsere Mission weiterzubringen, selbst wenn es ein persönliches Opfer verlangt.« »Ich sehe aber nicht, dass Sie irgendwelche Opfer bringen.« Crowther ging an Matt vorbei und setzte sich im Schneidersitz vor das Portal. Mit schweißnassen Händen zog er die Maske aus dem Mantel. »Sie haben eine sehr unangenehme Art, die Leute zu manipulieren. Gefällt es Ihnen nicht doch, andere leiden zu sehen?« Matt tat die Bemerkung kopfschüttelnd ab und ging zum Geländer, um die Geschehnisse von dort aus zu verfolgen. Crowther hielt die Maske in den Händen und zögerte, doch er zitterte vor Aufregung und konnte es trotz seiner Angst nicht mehr abwarten. Er hob sie an, und sobald die Maske vor seinem Gesicht war, glitten aus den Seiten die Bolzen heraus und bohrten sich in die Löcher in seinem Kopf. »Diesmal wird es sehr, sehr angenehm für dich werden.« Maponus' schmeichelnde Stimme erklang in Crowthers Kopf. »Du musst dich nicht ängstigen ... dich erwarten keine bösen Überraschungen. Es wird so sein, als würdest du auf dem Rücken liegen und einen Bach hinuntertreiben und über dir die Wolken vorbeiziehen sehen; du wirst den Sonnenschein im Gesicht spüren und wissen, dass du einschlafen könntest, falls du es wolltest. Du wirst einen nie gekannten inneren Frieden verspü348 ren. Und dieses Gefühl wirst du immer wieder haben wollen, immer wieder, für den Rest deines Lebens. Nach diesem Mal wirst du die Maske ständig tragen wollen ... um mit der Größe und den wilden Wundern meines Geistes verbunden zu sein ... für immer.« Und genauso war es. Losgelöst von allem, was ihn umgab, versank Crowther in einen Zustand purer Freude und Behaglichkeit und bemerkte die blau leuchtenden Kraftlinien, die kreuz und quer auf dem Portal lagen und sich auf der rechten Seite in Hüfthöhe in einem zentralen Knotenpunkt trafen. Die Stelle begann hell zu glühen und sich um sich selbst zu drehen. Es war ein Drache, der seinem Schwanz hinterherjagte. Träge erhob sich der Professor, trat auf das Portal zu und legte eine Hand auf den kreisenden Drachen. Blaue Funken schössen aus seinen Fingerspitzen, und das Portal schwang auf. »Sehen Sie, war doch gar nicht so schwer.« Matt klopfte Crowther auf die Schulter. Der Professor starrte auf die Maske in seinen Händen; sie hatte sich aus eigener Kraft von seinem Gesicht gelöst, obwohl er sie am liebsten aufbehalten hätte. Im Geiste hörte er Maponus' fernes, helles Lachen. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Matt. »Natürlich.« Crowther wandte sich um und trat durch das Portal, damit Matt die Tränen in seinen Augen nicht sehen konnte. Vor ihnen erhob sich ein riesiger Prunksaal unter einem in Dunkelheit liegenden Deckengewölbe. Die Wände bestanden aus den monolithischen Steinblöcken der Drakusa, doch alles andere - die Skulpturen, Säulen,
Balustraden, Strebepfeiler und Geländer - war so kunstvoll gemeißelt, dass es fast eine halluzinogene Wirkung auf 349 den Betrachter ausübte. Man konnte alle Details gar nicht wahrnehmen, denn je länger man hinsah, desto mehr Einzelheiten präsentierten sich dem Auge. Der überbordende Symbolismus sagte ihnen zwar nichts, doch tief in ihrem Unterbewusstsein zeigte er seine Wirkung. Ihnen kamen sonderbare, beunruhigende Gedanken, als würde ihnen jemand geheime Informationen ins Ohr flüstern. Mahalia ergriff Jacks Arm. »Siehst du das? Ich dachte, es wäre eine optische Täuschung - wie das Licht die Schatten flackern lässt.« »Es sind die Skulpturen ... sie bewegen sich«, sagte Jack beklommen. »Sie schauen uns nach.« Und das taten sie tatsächlich, kaum wahrnehmbar zwar, aber es reichte, um den Gefährten einen Riesenschreck einzujagen. Die sonderbaren Skulpturen und Bildnisse rutschten ständig leicht herum, als wären sie lebendig; es sah aus, als würden sie ihre Position verändern, um einen besseren Blick auf die vier Neuankömmlinge in ihrer Mitte zu haben. »Das gefällt mir nicht«, flüsterte Mahalia und hasste sich dafür, so ängstlich zu klingen. Sie wusste, dass sie mit realen Bedrohungen problemlos zurechtkam, denn sie hatte ja das Fomorii-Schwert und die Messer, aber was in diesem merkwürdigen Saal geschah, entzog sich ihrer Kontrolle. »Warum ist es so dunkel?«, fragte Matt. »Wenn es an diesem Hof so viele von Triathus' goldenen Danann gibt, müssten sie doch für eine anständige Beleuchtung gesorgt haben.« Mahalia stellte sich so zu Jack, dass er ihr den Arm um die Schultern legen konnte. Die vier Gefährten standen in dem riesigen Saal dicht beieinander und ließen beklommen die furchteinflößende Atmosphäre auf sich wirken. 350 »Es kommt mir vor«, sagte Jack, »als ob hier etwas Schlimmes geschehen wäre. Ich weiß nicht, was, aber...« Crowther hatte sich wieder so weit unter Kontrolle, dass er die Maske im Mantel verstaute. »Nun, zurück können wir ja nicht«, sagte er mit einem vorwurfsvollen Unterton. »Hoffentlich gibt es an diesem Hof noch einen anderen Ausgang.« Matt ging zu einer der Wände; die Blicke der steinernen Skulpturen folgten ihm. Er nahm eine Fackel aus der metallenen Halterung, schlug seinen Feuerstein dagegen und entzündete die Fackel. Dann wandte er sich um und schritt langsam auf den rückwärtigen, in tiefer Finsternis liegenden Teil des Saals zu. Die anderen warfen sich beklommene Blicke zu, dann folgten sie ihm. Der Saal führte in ein Labyrinth aus Gängen und Kammern, die allesamt mit den beunruhigenden Skulpturen dekoriert waren. Einmal schauten die Gefährten nach oben und sahen, wie ihnen über einem Rundbogen eine gehörnte Figur nachblickte, und ein anderes Mal sahen sie etwas über den Boden kriechen und hinter einer Ecke verschwinden. Dann meinten sie, die Skulpturen reden zu hören, und es dauerte eine Weile, bis sie bemerkten, dass die vermeintlichen Worte aus fußballgroßen, mit Löchern versehenen Kugeln kamen, die weit oben an den Wänden angebracht waren. Die Bewegungen der vier Gefährten lösten Luftströmungen aus, die durch die Löcher wehten und die dadurch merkwürdige Laute verursachten. Als sie begriffen, wie die Laute zustande kamen, wurde ihnen bewusst, dass es keine Worte waren; es gab verschiedene Klangfarben, Rhythmen und Kadenzen; es war Musik, aber von einer ihnen völlig unbekannten Art. Crowther erklärte, dass die Musik umso lauter würde, 351 je mehr Personen in den Räumlichkeiten wandelten, und so eine beruhigende Hintergrundmusik zustande käme. Aber da sie nur zu viert waren, wirkte es eher unheimlich und beängstigend. In einem anderen riesigen Saal hingen verblichene Gemälde an den Wänden, Darstellungen von Bergen und Feuer, von epischen Wäldern und reißenden Flüssen. Ein Teil der Gemälde wurde von Skulpturen verdeckt, woraus sich schlussfolgern ließ, dass die Gemälde vermutlich aus der Zeit der Drakusa stammten. Auf einem fielen ihnen sonderbare silberne Objekte auf, die aussahen wie Eier mit Beinen. »Das sind Caraprixe«, erklärte Crowther. »Es sind Symbionten. Alle Danann tragen einen bei sich.« »Caitlin sagte, Lugh hätte auch so einen gehabt«, meinte Matt. »Aber auf dem Gemälde sind sie riesig und dominieren das Bild«, sagte Crowther verblüfft. »Das bedeutet, dass auch die Drakusa Caraprixe besaßen. Aber wie sie hier dargestellt werden ... es sieht fast so aus, als hätte man sie als Gottheiten verehrt.« Der Professor hätte das Gemälde gerne eine Weile studiert, denn er war davon überzeugt, dass die Caraprixe in irgendeiner Form bedeutsam waren, aber die anderen wollten weiter, um endlich der beklemmenden Dunkelheit zu entfliehen. Der Hof schien meilenweit in den Berg hineinzuführen. Im flackernden Fackellicht sah man riesige Säulenhallen mit Ornamentierungen aus Messing und Glas, dunkelroten Samtvorhängen, glänzenden Marmorböden und geschwungenen Flügeltreppen, auf denen fünfzig Personen nebeneinander hätten hinauflaufen können. Es gab ein Zimmer, dessen Wände komplett verspiegelt waren; die vier Gefährten kamen sich darin vor, als wür352
den sie - oder ihre Ebenbilder - in dutzenden Dimensionen durch die Ewigkeit wandeln. Die prachtvollen Räumlichkeiten schrien förmlich nach Bewohnern, die einen Blick für die Schönheit der feinen Künste hatten, aber es gab nirgendwo einen Hinweis auf Leben. Die leise Musik, die ihnen überallhin folgte, unterstrich nur das Gefühl von Verlassenheit. Als ihnen nach einer Weile vor Erschöpfung die Beine schwer wurden, beschlossen sie, sich in einem der kleineren Räume, in dem sie sich nicht so ungeschützt fühlten, auszuruhen. Matt hängte die Fackel in einen Wandhalter, doch ihr spärliches Licht reichte bei weitem nicht aus, die beklemmende, von allen Seiten heranrückende Dunkelheit zu verdrängen. »Kennt ihr das Gefühl, den falschen Weg eingeschlagen zu haben?«, fragte Matt, als er sich an einer Wand niederließ. Die bedrückende Atmosphäre hatte ihm den Humor geraubt. »Ich begreife das nicht«, murmelte Crowther. »Alles lässt darauf schließen, dass der Hof noch vor kurzem bewohnt war. Triathus hat mit keinem Wort erwähnt, dass niemand hier sei. Wohin könnten die Bewohner also verschwunden sein?« Es war eine rhetorische Frage, und keiner setzte zu einer Antwort an, obwohl sie sich seit geraumer Zeit das Gleiche fragten. Matt und Mahalia schliefen schnell ein. Crowther, der die ganze Zeit mit seiner Gier rang, die Maske aufzusetzen, ließ sich neben Jack nieder. Selbst im Klammergriff seiner Sucht gab es noch andere Dinge, die ihn beschäftigten. Er betrachtete den Jungen, der im Begriff war, sich hinzulegen, und sagte: »Also, du und Mahalia ... offenbar geht ihr miteinander, wie man in meiner Jugend zu sagen pflegte.« 353 Jack runzelte die Stirn. »Wir gehen miteinander?« »Ja. Ihr seid ein Paar. Habt Gefühle füreinander. So etwas hast du wahrscheinlich noch nie erlebt, oder?« »Ich ... ich liebe sie.« Jacks Augen funkelten im Halbdunkel. »Meinst du? Tut mir leid, dass ich deine Seifenblase zerplatzen lasse, aber was du fühlst, ist nur Schwärmerei. Deine Hormone sind in Aufruhr. Es ist ein genetisch veranlagter Prozess, der zum Erhalt der Spezies das Paarungsverhalten beschleunigen soll.« Jack sah ihn kühl an. »Ich weiß, was ich empfinde.« »Nein, du glaubst zu wissen, was du empfindest. Das ist ja der Grund für dieses chaotische Schlamassel - alles ist Einbildung, und die Wahrheit verbirgt sich irgendwo dahinter. Von Liebe lässt sich sprechen, wenn man jahrelang mit jemandem zusammen war, wenn man sich um ihn gekümmert hat, wenn der andere krank war, wenn man seine Launen ertragen hat und man trotz alledem immer noch zu ihm hält.« Er blickte in die Dunkelheit und fügte leise hinzu: »Liebe ist, wenn man sich ganz entsetzlich verhalten hat und der andere einen trotzdem akzeptiert.« »Warum machen Sie sich so viele Gedanken über Mahalia und mich?« Crowther schnaubte. »Das tue ich doch gar nicht.« Jack blickte zu Mahalia und beobachtete das sanfte Auf und Ab ihres Brustkorbs. Gelegentlich zuckte sie zusammen und nuschelte ein unverständliches Wort. Dann erregte Crowther seine Aufmerksamkeit, als dieser in seinem Mantel herumsuchte; Jack dachte schon, der Professor würde die Maske herausholen, aber es war ein eselsohriges Bild. »Was ist das?«, fragte Jack und rutschte näher heran, um sich den Schnappschuss anzusehen. »Ein Gemälde?« 354 »Nein. Ein Foto.« Crowthers Stimme klang belegt. Das Bild zeigte zwei Mädchen im Teenageralter mit langen blonden Haaren und großen, lachenden Augen. Jeder außer Jack hätte die Mode der frühen Neunzigerjahre erkannt. »Wer sind die beiden?« »Sophie und Stacia.« »Und wo sind sie jetzt?« »Du stellst viele Fragen«, sagte Crowther mürrisch. Er strich mit dem Finger sanft über das Foto. »Ich weiß nicht, wo sie sind. Sie waren vor dem Untergang schon lange aus dem Haus. Ich hatte kaum noch Kontakt zu ihnen. « »Das ist nicht schön.« »Es ist nicht ihre Schuld«, erklärte Crowther. »Ich war kein besonders guter Vater. Ich war nur mit meinem eigenen Leben beschäftigt. Kinder haben da bloß gestört.« Er verstummte einen Moment lang, dann fügte er leise hinzu: »Das Sprichwort scheint zu stimmen - man weiß erst, was man besaß, nachdem man es verloren hat.« Er steckte das Foto ein. »Nun, ich weiß, was ich an Mahalia habe«, sagte Jack kühl. Crowther zog sich den Hut ins Gesicht und kuschelte sich in seinen Mantel; er war hundemüde. Seine gemurmelten Worte sprach er ins Dunkel. »Pass auf, wie du sie behandelst, Junge.« »Ich würde ihr niemals wehtun.« Jack versuchte, im Schatten unter der Hutkrempe etwas zu erkennen, doch Crowthers Gesicht blieb ihm verborgen. »Sie ist Ihnen wichtig, stimmt's?« Doch als Antwort bekam er nur ein lang gezogenes leises Schnarchen. 355
Sie wachten alle gleichzeitig auf und waren der Meinung, dass sie ein Geräusch aus dem Schlaf gerissen haben musste. Sofort übernahm Matt das Kommando und brachte sie mit einer schneidenden Handbewegung zum Schweigen, während sie angestrengt lauschten. In der Ferne war ein Scharren zu vernehmen, doch in der gruftartigen Stille klang es fast wie eine Alarmsirene. Matt nahm die Fackel von der Wand, und sie schlichen aus dem Raum. Das Geräusch ertönte in längeren Abständen, und oft mussten sie lange warten, bis sie es wieder vernahmen und es sie in die richtige Richtung wies. Sie gingen durch einen breiten Korridor und erreichten schließlich einen großen Saal, der eine Art Wallfahrtsort hätte sein können, denn er verströmte eine sonderbare Aura von Heiligkeit. Exquisite Gemälde mit fantastischen Szenen hingen an den Wänden, und in der Mitte des Saals stand etwas, das einem Altar ähnelte - ein großer Steintisch, auf dem Objekte der Ehrerbietung aufgestellt waren. In dem Saal hatte die durch Bewegungen ausgelöste Musik, die sie allerorten begleitete, eine andere Klangfarbe, war ernster, pathetischer und unterstrich die kirchenartige Atmosphäre. Das Scharren kam vom Fuß des Altars. Als sie näher herangingen, ließ das Fackellicht die Schatten durch den Saal tanzen. Das Dunkel wich und offenbarte eine auf dem Boden kauernde Gestalt und darüber merkwürdige Flatterbewegungen. »Gehen Sie nicht näher«, sagte Mahalia und zupfte an Matts Ärmel. Er schüttelte sie ab; er war neugierig und gleichzeitig beunruhigt. Er musste sich die Gestalt ansehen. Nun konnte man sie erkennen. Es war ein Angehöriger des Goldenen Volkes, ein Mann mit ebenso schönen Zü356 gen wie Triathus, golden schimmernder Haut und langem schwarzem Haar. Er lag gekrümmt auf der Seite und versuchte vergeblich, sich am Altar hochzuziehen. Mahalia seufzte erschrocken und teilnahmsvoll auf, denn man sah, dass der Danann im Sterben lag. Sie eilten zu ihm: Man hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt und ihm zahlreiche andere Wunden zugefügt, aus denen jedoch kein Blut floss. Stattdessen brach sein Körper in unzählige winzige Teile auf, die sich in goldene, zum Deckengewölbe emporflatternde Motten verwandelten. Er schien im Innern einzig aus Licht zu bestehen. Crowther schob Matt zur Seite und hockte sich neben den sterbenden Gott. Als Erstes versuchte der Professor, den Auflösungsprozess irgendwie zu stoppen, doch als offenkundig wurde, dass dieser unaufhaltsam war, beugte er sich hinab und fragte: »Wer hat das getan?« Die Lider des Gottes hoben sich und offenbarten glänzende Augen, die einige Male hin und her wanderten, bevor sie Crowthers Gesicht fixierten. Mit letzter Kraft hob der Gott den Arm und zog Crowther zu sich herunter. »Sie kommen«, hauchte er. »Sie kommen.« Sobald die Worte über seine Lippen gedrungen waren, sank er zurück und schloss die Augen. Der Zerfall seiner körperlichen Hülle beschleunigte sich plötzlich; eine Wolke flatternder goldener Motten stieg zum Deckengewölbe auf und blendete die Gefährten, und als sie wieder sehen konnten, war nichts mehr von dem Gott übrig. »Darum ist keiner mehr hier«, sagte Crowther entsetzt, während er auf die Stelle starrte, wo eben noch der Danann gelegen hatte. »Man hat sie umgebracht. Alle umgebracht ... den ganzen Hof.« »Hier drüben!« Jacks Stimme kam aus dem Halbschatten. Sie eilten zu ihm und sahen ihn vor einer Standarte stehen, die man mit so unnatürlicher Kraft in den Fuß357 boden gerammt hatte, dass zahlreiche dicke Risse den Marmor durchzogen. Die Flagge bestand aus einem glänzenden, aber ultraleichten Metall, auf dem die stilisierte Zeichnung einer Meeresmuschel prangte. Im Fackellicht sah Jacks Gesicht so aus, als wäre alle Farbe daraus gewichen. »Das ist die Standarte des Hofs des Sehnsüchtigen Herzens«, sagte er fassungslos. Matt packte ihn an den Schultern. »Was heißt das?« Jack fasste sich an die plötzlich triefende Nase. »Das ist einer der schlimmsten Höfe. Menschen sind denen gleich. Denen ist alles gleich.« Er blickte sich blinzelnd um. »Sie haben alle getötet! Ihre eigenen Leute!« »Wir müssen verschwinden«, sagte Crowther. »Der arme Kerl sollte uns eine Warnung sein.« Irgendwo am Hof ertönte ein dröhnendes Glockenläuten, das die dicken Steinmauern durchdrang und seine Warnung verbreitete, bis jeder Saal, jeder Korridor und jedes einzelne Zimmer von dem voluminösen Klang erfüllt waren. »Sie wissen, dass wir hier sind«, sagte Mahalia mit aufgerissenen Augen. »Aber woher?« Matt fluchte. »Der Danann wurde gerade erst getötet ... es war eine Aufräumarbeit. Sie wollten wahrscheinlich gerade verschwinden, als wir aufgetaucht sind.« Er blickte sich um. »Man kann nicht sagen, ob das Läuten von vorn oder von hinten kommt.« Der Moment der Unentschlossenheit endete, als sie plötzlich etwas vernahmen, das wie ein Hornissenbrummen klang. Es dauerte einen Augenblick, bis ihnen klar wurde, dass es Hunderte von Füßen waren, die eilig über den Marmorboden schritten. »Eine Armee!«, sagte Crowther entsetzt. »Verdammt noch mal, da kommt eine ganze Armee angestürmt!« Matt führte sie zu einem Rundbogen, hinter dem ein 358 Anbau mit einem flachen, rechteckigen Wasserbecken lag. Sie rannten daran vorbei und fanden sich plötzlich in
einem breiten, mit prachtvollen Wandteppichen geschmückten Korridor wieder. Das Stampfen der heranmarschierenden Schritte wurde lauter, kam von allen Seiten. »Es klingt wie Kinder«, keuchte Mahalia. Sie hatte das Fomorii-Schwert gezückt und war jederzeit bereit, es einzusetzen. Nach einer Weile endete der Korridor, und sie traten durch ein offen stehendes goldenes Tor in eine riesige überdachte Gartenhalle mit Bäumen und gepflegten Hecken, schmiedeeisernen Zäunen und kleinen Lauben, an denen grüne Kletterpflanzen herabhingen, mit Beeten, in denen fremdartige rote, blaue und purpurne Blumen einen berauschenden Duft verströmten, mit bizarr geformten Felsen und Kiesarealen, in denen hohe Gräser wuchsen. Die Wege im Garten waren labyrinthartig angelegt, sodass sie dem Besucher erst im letzten Moment einen neuen Bereich offenbarten. Am beeindruckendsten aber war, was sich genau in der Mitte der Grünanlage befand: eine gewaltige Säule aus Sonnenlicht, das sich durch ein Loch in der Decke ergoss und einen scharfen Kontrast zum umliegenden Halbdunkel bildete. Dazu gab es ein System von Spiegeln, die man so ausrichten konnte, dass sie den ganzen Garten beleuchteten. Erst als sie tief in den Irrgarten hineingewandert waren, wurde ihnen bewusst, dass sie einen Fehler begangen hatten. Wegen des labyrinthartigen Aufbaus würden sie die Verfolger erst erblicken, wenn diese sie fast erreicht hatten. »Lasst uns zum Licht gehen. Dort können wir uns besser verteidigen«, sagte Matt. Es dauerte nicht lange, bis sie merkten, dass man sie umstellte. Überall huschten Gestalten durch die Dunkel359 heit. Ihre Schritte knirschten auf dem Kies, und das Geräusch wurde so laut wie Regen, der in einer stürmischen Herbstnacht ans Fenster trommelt. Von den Gestalten selbst konnten sie kaum etwas erkennen, nur dass es keine Menschen waren und dass sie sogar noch kleiner waren als die Danann am Hof der Einträchtigen Seelen. Die Verfolger schienen nur darauf zu warten, dass sie die Besucher vollständig umzingelt hatten. Es war so weit, als die Gefährten schließlich die Säule aus Sonnenlicht erreichten, das auf eine erhobene Plattform aus weißem Marmor herabfiel. Die vier stürmten ins Licht hinein und genossen die Wärme auf den Gesichtern, aber weil sie in der Helligkeit nicht erkennen konnten, was in der dahinter liegenden Dunkelheit geschah, traten sie widerwillig aus der Lichtsäule heraus. Von ihrem Aussichtspunkt aus hatten sie freie Sicht auf den Garten. Überall huschten kleine Gestalten umher: Es waren bleiche Danann-Krieger mit langen Gliedmaßen, gedrungenen Körpern und kleinen Knopfaugen. Crowther konnte nicht fassen, dass diese Wesen einst elegante, anmutige Angehörige des Goldenen Volkes gewesen waren. Sie schienen auf eine Evolutionsstufe zurückgefallen zu sein, in der sie in dunklen Höhlen hausten und nur des Nachts herauskamen und mit animalischem Hass Jagd auf andere Lebewesen machten. Und während der Professor sie beobachtete, glaubte er zu verstehen, warum sie sich so verhielten. Er nahm sie so wahr, wie sie wirklich waren, nicht mehr als die distanzierten, gottgleichen Tuatha De Danann, sondern als umherhuschende Kreaturen aus den dunkelsten Albträumen der Menschheit; sie waren an ihrer Niederlage und Verbitterung zerbrochen und wollten verzweifelt verhindern, dass der Mensch die nächste Stufe seiner spirituellen Entwicklung erreichte. Je mehr sie sich ih360 rem Hass und ihrer Mordlust hingaben, desto weiter sanken sie in ihrer Entwicklung zurück. Es waren Heerscharen von ihnen, und alle trugen winzige, im Licht schimmernde Messer. Das war's, dachte Crowther. Mahalia, Matt und Jack zückten ihre Waffen, und Crowther hob halbherzig seinen Stab. Plötzlich teilte sich die wogende Menge, und eine Gestalt tauchte von hinten aus der Dunkelheit auf. Als er näher kam, sahen sie, dass er sich aufrechter hielt als die anderen, aber genauso klein war. Er hatte einen langen grauen Bart, und in seinen Augen loderte unverhohlener Hass. Als er aus der Menge heraustrat, musterte er die Gefährten mit kalter Verachtung. »Zerbrechliche Geschöpfe«, sagte er geringschätzig. »Was habt ihr in Fernlande zu suchen?« Matt trat vor. »Uns kümmert der Krieg nicht, den ihr gegeneinander führt. Wir werden uns nicht einmischen. Wir möchten bloß weiterziehen und unsere Angelegenheiten erledigen.« »Einmischen?« Der kleinwüchsige Mann lachte heiser. »Mein Name ist Melliflor. Ich bin der Oberleutnant der Königin am Hof des Sehnsüchtigen Herzens«, fügte er hinzu. »Uns gefällt es nicht, wenn Zerbrechliche Geschöpfe nach Fernlande kommen. Ihr habt euer eigenes Zuhause, Sohn von Adam, und hier befindet ihr euch in einer Welt, in der ihr nicht willkommen seid.« Die Streitmacht kleinwüchsiger Krieger hinter ihm war wie eine Sturmflut, die darauf wartete, über die im Licht stehenden Gefährten hinwegzuspülen. Sie drängten vehement nach vorn, doch Melliflor hielt sie kraft seiner Ausstrahlung im Zaum. Er zog ein kleines Messer aus dem Gürtel und säuberte seine langen, schmutzigen Fingernägel. Einer der Krieger aus seiner Armee konnte sich nicht 361 mehr zurückhalten, stürmte nach vorn und packte Mahalias Fuß. Sie ließ das Fomorii-Schwert herabsausen und schlug ihm den Unterarm ab. Der Krieger schrie schmerzerfüllt auf und stürzte rückwärts zu Boden. Ein hasserfülltes Raunen ging durch die Menge. Die Gefährten rechneten jeden Moment mit einem Angriff. »Für euch gibt es keinen Sonnenschein mehr«, sagte Melliflor mit aufgesetzter Trauer. Er hob den Arm; seine Krieger waren bereit loszuschlagen.
In dem Moment wurde das Kribbeln in Crowthers Rücken zu einer Sturzflut aus geschmolzenem Eisen, das seine Adern durchströmte. Selbst wenn er es gewollt hätte, er hätte nicht mehr verhindern können, dass seine Hände in die Geheimtasche griffen und die Maske herauszogen. Wenn er schon sterben musste, dann doch zumindest in der berauschenden Welt der Maske, dem einzigen Ort, an dem er sich jemals richtig gut und willkommen gefühlt hatte. Doch als er die Maske herauszog und das Sonnenlicht auf die silberne Oberfläche fiel, wichen die kleinwüchsigen Krieger zurück und rissen erschrocken die kleinen Knopfaugen auf. Matt sah ihre Reaktion und packte Crowther am Arm. »Setzen Sie sie nicht auf«, sagte er. »Halten Sie sie einfach in der Hand.« Am ganzen Leib zitternd, folgte Crowther Matts Anweisung, doch die Maske hob sich aus eigener Kraft langsam zu seinem Gesicht. Melliflor erholte sich als Erster von dem Schock; in seinen Augen lag ein gieriger Glanz, den Crowther nur zu gut kannte. »Gib mir die Maske. Sie ist zu gefährlich für Zerbrechliche Geschöpfe. Gib sie mir, dann dürft ihr gehen.« »Wie sollen wir dir vertrauen?«, fragte Matt. »Ich gebe euch mein Wort.« 362 »Versprochen?« »Versprochen. Ich gebe mein Wort nicht leichtfertig, Zerbrechliche Geschöpfe.« Der Anblick der Maske schien Melliflor zu hypnotisieren. »Geben Sie sie ihm«, flüsterte Matt Crowther zu. »Wir haben keine andere Wahl. Selbst wenn er sein Wort bricht, dürfte die Maske für genug Ablenkung sorgen, dass wir verschwinden können; werfen Sie sie einfach in die Menge.« »Nein«, sagte Crowther entschlossen. »Seien Sie nicht dumm!« Matt krallte die Finger in Crowthers Arm. »Was ist los mit Ihnen?« »Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, was die mit der Maske anstellen könnten?« Matt sah Crowther eindringlich an. »Das ist nicht der wahre Grund, warum Sie sich nicht von der Maske trennen wollen. Was ist es?« Matt wartete nicht auf die Antwort, sondern versuchte, dem Professor die Maske aus der Hand zu reißen. Crowther wich einige Schritte zurück und setzte sich hastig die Maske auf. Die Armee kleinwüchsiger Krieger schrie entsetzt auf. Weiter hinten kam es zu heftigen Tumulten, als sich Heerscharen von ihnen umdrehten und flohen; andere gingen irgendwo in Deckung, während die vorne stehenden Krieger vor Angst erstarrten. Im Sonnenlicht, das die Maske reflektierte, sah Melliflor gespenstisch blass aus. »Guter Sohn, vergib uns«, sagte er mit erstickter Stimme. In dem Moment, als sich die Maske an Crowthers Gesicht presste, bemerkten Matt, Mahalia und Jack, wie sich schlagartig die Atmosphäre veränderte. Plötzlich klang alles ganz dumpf und seltsam verzerrt. Hinter der Maske schrie Crowther auf. Er wollte sie herunterreißen, aber die Arme fielen ihm schlaff an den 363 Seiten herunter, und er wandte sich zu den kleinwüchsigen Kriegern um. Melliflor wich bereits in die Menge zurück, während seine Männer panisch die Flucht ergriffen und übereinander stürzten. Die Maske richtete ihre kalten, blinden Augen auf Melliflor. Unter der Last ihres Blickes sank er auf die Knie, schlug die Hände vors Gesicht und grub sich die Fingernägel in die Haut. Dann nickte Crowther leicht, und von einem Moment zum anderen löste sich Melliflors Körper auf und brach auseinander, bis nur noch eine flatternde Wolke aus winzigen Motten übrig war; diese waren jedoch tiefschwarz, nicht goldfarben. Die entsetzten kleinen Krieger stoben in alle Richtungen davon und suchten in der Dunkelheit nach einem Versteck, wo sie vor dem zerstörerischen Einfluss der Maske sicher waren. Plötzlich war der Weg auf die andere Seite des Gartens frei. »Sie können die Maske abnehmen!«, rief Matt, doch Crowther schien ihn nicht zu verstehen. Die ihn umgebende Luft flirrte und schien sich in gläserne Geschosse zu verwandeln, die durch den Garten rasten und ganze Heerscharen der fliehenden kleinen Krieger niedermetzelten, bis die gesamte Umgebung voller schwarzer Motten war, die flatternd zur Decke aufstiegen. »Er kommt nicht gegen die Maske an!«, sagte Mahalia. »Wir müssen ihn hier rausschaffen!«, befahl Matt. Er packte Crowther am Arm und zog den Professor mit sich. Während sie aus dem Garten rannten, setzte die Maske ihr zerstörerisches Werk ungemindert fort; umherirrende Krieger wurden in Stücke gerissen, Köpfe explodierten, und selbst die, die sich bereits in einem sicheren Versteck wähnten, wurden von der Kraft der Maske tödlich getroffen. Doch als die drei Crowther in den angrenzenden Saal 364 führten, verlor die Kraft an Aggressivität, obwohl sie noch immer hochgradig potent war. An den Wänden erstrahlten psychedelische Farben. Mahalias rechte Hand wurde für kurze Zeit durchsichtig. Die BewegungsMusik erschallte mit der Wucht von hundert Orchestern und wurde so laut, dass die Gefährten kaum einen klaren Gedanken fassen konnten. Und wohin sie auch eilten, überall taten sich fremdartige Landschaften vor ihnen auf, dann der Weltraum mit
seinem kalt funkelnden Sternenmeer, andere Welten, andere Dimensionen. Sie sahen Menschen vorbeihuschen, sonderbar vertraute Gesichter, alte Freunde und Fremde, doch hinter allem lag das beunruhigende Gefühl von Bedeutsamkeit, als sähen sie zum ersten Mal das strukturelle Gefüge, auf dem die Realität basierte. Jack sah am Himmel über London ein Fabelwesen kreisen, das einen Feuerball auf einen dunklen Turm spie. Mahalia bekam einen Mann zu sehen, der sich vor lauter Verzweiflung eine Kugel in den Kopf jagte, und dann stürmte sie plötzlich mit einem Sehwert durch eine Kathedrale. Und Matt sah Generäle, Spione und Politiker am Tisch sitzen und eine gewaltige Lüge aushecken, mit der sie die Bevölkerung täuschen wollten, nur dass die Lüge dann Realität wurde. Und jeder von ihnen sah jemanden, der ein Buch las und aus den Worten Bilder malte und mit jedem Gedanken neue Realitäten erschuf, die sich binnen eines Wimpernschlags in fester Materie manifestierten. Das Sein war fließend, alles war in ständigem Wandel. Sie eilten weiter, zerrten Crowther mit, überall umgeben vom chaotischen Wahnsinn der halluzinogenen Bilder, die ununterbrochen auf sie einprasselten, bis sie nach einer Weile nicht mehr wussten, wo sie waren und was sie taten. 365 Der Hof war ein riesiges Labyrinth, und in der beklemmenden Dunkelheit ließ sich nicht erkennen, wohin sie eigentlich gingen oder ob sie womöglich im Kreis liefen. Sie fühlten sich, als würden sie bis in alle Ewigkeit dort umherirren müssen, gefangen in einem grauenvollen Fegefeuer. Aber dann merkten sie, dass Crowther allmählich die Führung übernahm. Zuerst geschah es ganz unmerklich, indem er mit einer Verlagerung des Körpergewichts eine bestimmte Richtung vorschlug, dann aber wurde es immer offensichtlicher, bis er sie entschlossenen Schrittes mit sich zog. Sie eilten durch extravagant dekorierte Korridore und durch riesige Säle, bis sie einen Rundbogen erreichten, durch den drei Busse nebeneinander hätten hindurchfahren können. Oben war ein geflügeltes Drachenwesen mit saphirfarbenen Augen in den Stein gemeißelt, und hinter dem Rundbogen lag eine steile Treppe, die sich in die Dunkelheit hinunterwand. »Das könnte der Ausgang sein«, sagte Jack atemlos. Er ließ Crowther los; der Professor, der noch immer die Maske trug, stand reglos da. »Warum ist er plötzlich so ruhig?« »Ich habe keine Lust, hier ewig rumzufaseln«, sagte Mahalia. »Ich will einfach nur aus diesem Geisterschloss verschwinden.« Sie trat durch den Rundbogen, und die anderen folgten ihr wortlos. Nachdem sie scheinbar ewig die Treppe hinabgestiegen waren, erreichten sie eine riesige Höhle mit einem kleinen Strand, an den der Fluss heranschwappte. Durch den Höhlenausgang sahen sie die Nachmittagssonne, die auf das träge dahinplätschernde Wasser schien, und dahinter den dichten Wald am anderen Ufer. »Sieht so aus, als hätten wir die Schlucht und die Stromschnellen umgangen«, sagte Matt erleichtert. »Ich 366 möchte unser Glück nicht herausfordern, aber vielleicht treffen wir ja Triathus.« »Schön wär's«, erwiderte Mahalia. »Wird langsam Zeit, dass uns mal etwas gelingt.« Sie halfen Crowther, über die rutschigen Felsen am Höhlenausgang zu steigen, wateten durch das flache Wasser ans Ufer und legten sich zwischen den Bäumen hin. »Ich dachte da drin, wir würden sterben«, sagte Mahalia, die sich einen Arm über die Augen gelegt hatte und allmählich wieder zu Atem kam. Jack setzte sich neben sie und strich ihr zärtlich übers Haar. »Professor Crowther hat uns gerettet. Hätte er nicht die Maske dabei ...« »Ich glaube, so einfach ist es nicht«, warf Matt ein. Mahalia blickte zu ihm auf. Matt starrte argwöhnisch auf den Professor, der reglos an einem Baumstamm saß; sein Gesicht war noch immer hinter der Maske verborgen. »Warum nimmt er sie nicht ab?«, fragte Mahalia. Matt verzog das Gesicht. »Ich glaube, er kann es nicht.« Caitlin marschierte durch die Nacht. Birmingham lag weit hinter ihr. Blitze schössen ihr durch die Adern, ihr Bewusstsein glühte; sie fühlte sich wie aufgeladen, berstend vor Energie, fast so, als würde sie schweben. Zuweilen trat ihr eigener Geist in den Vordergrund, aber ohne die Zweifel, die sie früher innerlich zerrissen hatten. Die Klarheit und Zuversicht verstärkten noch das Gefühl ultimativen Wohlbefindens, das sie empfand. Dann wieder erschien der dunkle Geist der Kriegsgöttin in ihrem Bewusstsein, wie ein umherwirbelnder Krähenschwarm, und in diesen Momenten gab es nur 367 Chaos und bruchstückhafte Gedanken, wie kurze Blicke auf ein blutdurchtränktes Schlachtfeld, über dem der Rauch der Zerstörung hing. In ihrem kraftstrotzenden Zustand war Caitlin meilenweit gelaufen; sie hatte keine Ahnung, wohin sie ging, aber die Morrigan wusste es bestimmt. Die Landschaft der Midlands flog unter ihren Füßen nur so dahin. Sie wurde nicht müde und legte keine einzige Pause ein, während sie einen Tag und eine Nacht lang lief und sich nur von wild wachsendem Obst ernährte, das sie unterwegs fand. Im saftig grünen Leicestershire erreichte sie ein Dorf namens Griffydam, das der Legende nach seinen Namen deshalb trug, weil angeblich einst ein Greif, das mythologische Hybridgeschöpf, das halb Adler, halb Löwe war, den Dorfbrunnen bewacht hatte. Crowther hätte ihr sagen können, dass diese uralten Legenden ein Kode waren, der Orte benannte, an denen die Grenze nach Anderswelt durchlässig war und an denen oft merkwürdige Wesen
von einer Welt in die andere überwechselten. Doch Caitlin wusste dies instinktiv. Als sie in der Dunkelheit kurz vor Sonnenaufgang auf einen alten, runden Steinbrunnen am Straßenrand zuging, durchzogen feine blaue Linien den Boden unter ihren Füßen und wurden heller und breiter, während sie auf den Brunnen zuströmten und ein saphirfarbenes Licht auf die umliegenden Hausfassaden warfen. Vom Grund des Brunnens stiegen blaue Flammen auf und schössen zum Himmel empor, wo sie ein kathedralenartiges Gebäude aus knisternder Energie bildeten, das wie ein Leuchtturm über die nächtliche Landschaft hinwegstrahlte. Ein Donnergrollen erschütterte den Boden, als in der ionisierten Luft blaue Funken aufblitzten. Caitlin blieb 368 stehen und blickte ehrfürchtig zum Himmel empor, aber dann ertönte in ihrem Kopf wieder das vertraute, drängende Krächzen der Morrigan. Obwohl er gerade noch nicht da gewesen war, stand ganz in der Nähe der Ritter mit dem WildschweinkopfHelm. In ihrem entrückten Zustand sprach Caitlin ihn an, noch immer unsicher, ob er ihr helfen oder sie quälen wollte. Doch er deutete mit seinem Schwert nur auf die gewaltige, knisternde Lichtsäule hinter ihr. Sie warf ihm einen letzten, wachsamen Blick zu, und dann schleuderte die Morrigan sie ins blaue Licht. 14 Uralte Erinnerungen »Man muss die Frauen vom Podest runterholen. Die Männer haben uns dort raufgestellt, damit wir ihnen nicht im Weg sind.« VlSCOUNTESS RHONDDA Am Himmel kreisten so viele Rabenkrähen, dass mitten am Tag ein abendliches Halbdunkel über den Feldern lag. Und überall flitzten Ratten herum, fetter und furchtloser, als Mary es je erlebt hatte. Sie versuchte, nicht allzu biblisch zu denken, aber die Vorzeichen und Omen waren für den, der sie sehen wollte, ziemlich eindeutig. Auf ihrer verschlungenen Reise durchs englische Herzland war Mary, fernab der Bevölkerungszentren, uralten Pfaden gefolgt, aber die Seuche hatte inzwischen selbst die entlegensten Dörfer erreicht. Rauchfahnen stiegen auf wie Marksteine der Verzweiflung, und manchmal standen ganze Ortschaften in Flammen. Der Verwesungsgeruch verpestete die Luft, war immer präsent hinter den lieblichen Düften der sommerlichen Landschaft. Mary kannte sich in Geschichte aus. Im Mittelalter hatte der Schwarze Tod in ganz Europa zwanzig Millionen Menschen dahingerafft und damit in kürzester Zeit ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausgelöscht. Bestürzende Fragen prasselten auf sie ein. Wie viele Menschen starben diesmal? Tausende? Millionen? Wie viele Leute brauchte man, um eine überlebensfähige Population zu bilden? Denn war diese Grenze einmal unterschritten, 370 würde die Menschheit unweigerlich aussterben, eine weitere Spezies in einer langen, langen Liste. Viele Nächte saß sie am Lagerfeuer und dachte über die bösartigen Kreaturen nach, die die Seuche mit ihrer Berührung verbreiteten und die Infizierten verhöhnten. In ihren Überlegungen hatte Mary die verschiedenen Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammengefügt, und als sie sich dieses vergegenwärtigte, wurde ihr bewusst, dass eines der Teile nicht passte. Etwas ergab keinen Sinn. Und so reiste sie nach Stonehenge. Als sie den Steinkreis betrat, war die Energie im Boden so potent, dass ihr ganzer Körper kribbelte. Sie merkte, dass sie den Energiestrom spüren und auf diese Weise den Kernpunkt finden konnte. Sie musste keinen Geist-Flug mehr unternehmen, um die Verbindung herzustellen. Sie saß mit geschlossenen Augen im Schneidersitz da und stellte sich das Blaue Feuer vor. Augenblicklich spürte sie, wie die Kraft in ihren Chakras, der Kundalini-Schlange der östlichen Mythologien, aufstieg. Stonehenge war eine einzige gewaltige Batterie! Die Flammen schössen ihr Rückgrat hinauf bis in den Kopf und strömte dort ins metaphorische dritte Auge. Als es sich öffnete, war es, als faltete sich ihr Schädel auf, um das gesamte Universum einzulassen. Und als sie ihre richtigen Augen öffnete, offenbarte sich ihr die Wahrheit. Über Stonehenge erhob sich eine Kathedrale aus flammender blauer Energie, und alles darin war von einer so potenten Spiritualität erfüllt, dass Mary schauderte. Um sie herum standen die Elysium. »Sharish?« Ihr Schutzengel trat vor. Er lächelte wissend, und sie kam sofort zur Sache. »Du warst nicht zufällig am Dragon Hill. Du hast auf mich gewartet.« Umgeben vom blauen Lichtschein, wirkte Sharish zum ersten Mal wirklich engelhaft. 371 »Warum sagst du das?«, fragte er. »Ich habe über Verbindungen und Zufälle nachgedacht und warum einige Dinge immer ein gutes Ende zu finden scheinen ... als wäre es so geplant.« Sein Lächeln veränderte sich ein wenig und kündete von unendlicher Weisheit. »Es gibt keine Zufälle.« »Also gibt es eine Art... Plan. Und ich dachte immer, ich handle aus freiem Willen.« »Alle lebenden Geschöpfe nehmen sich automatisch als Mittelpunkt der Welt wahr. Es liegt nicht in der menschlichen Natur, sich als Teil von etwas viel, viel Größerem zu betrachten ...« »Als Rädchen im Getriebe ...« »... als existenzieller Teil des großen Weltenplans.« Mary verkrampfte sich. »Der Puzzle-Mann - er wurde mir nicht von demjenigen, der die Seuche verursacht hat,
nachgeschickt. Das wart ihr.« »Nicht wir ...« »Dann eben derjenige, für den ihr arbeitet. Es ist doch ganz offensichtlich, wenn man darüber nachdenkt. Das Wesen, das diese kleinen Seuchenkobolde erschaffen hat, hätte mich mühelos umbringen können. Es musste mir nicht diesen zusammengeflickten Kerl auf den Hals hetzen. Was ist da im Gange?« Sharish nickte gütig. Mary hatte schon das Schlimmste befürchtet - dass die Elysium mit demjenigen unter einer Decke steckten, der für die Seuche verantwortlich war -, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass dies nicht der Fall war. »Hätte man dich nicht dieser Gefahrensituation ausgesetzt, wäre deine Suche vergebens geblieben.« »Dann war es also gut für mich, dass dieser Wahnsinnige mir nachstellte?«, fragte sie scharf. Sharish presste die Fingerspitzen beider Hände aneinander und überlegte einen Moment lang, als versuche 372 er sich darüber klar zu werden, wie viel er ihr verraten sollte. »Man wächst und entwickelt sich nur durch ... Prüfungen. Das gilt nicht nur für einzelne Individuen, sondern für ganze Spezies. Prüfungen bewirken ein inneres Wachstum. Diejenigen, die die nächste Stufe erklimmen möchten, müssen sich auf eine spirituelle Suche begeben. Sie müssen Hindernisse überwinden und ihre Fähigkeiten weiterentwickeln.« »Dann kann mich der Puzzle-Mann also gar nicht umbringen.« »Oh doch, das kann er sehr wohl. Er würde es tun. Wenn er keine wirkliche Bedrohung darstellte, hätte die Prüfung keinen Sinn.« »Und diese Seuche - ist die auch eine solche Prüfung? Eine Prüfung für die Menschheit? Nach dem Motto: Es werden zwar viele sterben, aber die Überlebenden stehen dafür umso besser da?« »Sie ist eine Prüfung, aber nicht wir haben sie über die Menschen gebracht. Das ganze Leben ist eine Prüfung auf dem Weg nach ...« Er hielt inne. »... nach anderswo. Es ist eine Schule, wenn man es so ausdrücken möchte. Eine Schule für den Geist.« »Und den Abschluss erhalten wir erst, wenn wir alle Prüfungen bestanden haben.« Sie lachte humorlos. »Verzeih mir, wenn ich nicht in Freudenschreie ausbreche. Ich denke wohl zu viel an all das Leid, das über die Menschen gekommen ist.« »Ich verstehe deine Reaktion. Aus deiner Perspektive ...« »Ach, hör auf damit!« Sie winkte geringschätzig ab. »Wahrscheinlich wäre es zu viel verlangt, dich zu bitten, mich einfach in Ruhe zu lassen, damit ich mit dem fortfahren kann, was ich tun muss, oder?« »Es gibt einen großen Weltenplan und gewaltige 373 Mächte jenseits deines VorstellungsVermögens. Aus deiner Perspektive kannst du unmöglich erkennen, welche Rolle du dabei einnimmst. Oder was auf dem Spiel steht.« »Du kannst es mir ja erzählen.« Einen Moment lang ängstigte sie seine von Ehrfurcht erfüllte Miene; sie glaubte zu erkennen, dass sich ganze Universen darin spiegelten. »Du darfst nicht erfahren, welche Rolle du darin spielst, denn sonst würde deine Entwicklung Schaden nehmen. Aber was auf dem Spiel steht? Alles. Die gesamte Existenz der Menschheit hat auf diesen Punkt zugeführt. Wir stehen an der Schwelle zu Allem und zum Nichts. Zum Leben und zur Leere. Die Menschheit muss die nächste Stufe erklimmen, wenn sich der Zyklus des Seins fortsetzen soll.« Sharish sah ihre Verwirrung und berührte sie daraufhin in der Mitte der Stirn. In ihrem Geist flammte ein Bild auf: ein Mann in zerschlissener Kleidung; es war derselbe, dem Mary an der Straßenkreuzung begegnet war. »Die Götter, die mit dem Untergang gekommen sind, sind nicht die einzigen. Über ihnen stehen noch größere, ältere Gottheiten«, sagte Sharish. »Sie sind diejenigen, die dich geleitet haben. In deiner Welt nimmt man sie jetzt als ortsgebundene Geister wahr, als genii loci. Man begegnet ihnen an Kreuzungen und Seen, an Flüssen und Bergen, doch ihr Äußeres täuscht über ihre wahre Natur hinweg.« »Gehören dazu auch der Lange Mann von Wilmington und die verschwundene Göttin?« »Sie existieren außerhalb eures Bezugsrahmens«, fuhr Sharish ausweichend fort. »Das Sein ist viel zu gewaltig und komplex, als dass lebende Geschöpfe auch nur einen geringfügigen Teil davon begreifen könnten.« 374 »Du dienst den älteren Gottheiten«, sagte Mary. »Ich bin einer ihrer Beauftragten.« Sharish führte sie in die lockende Wärme des Blauen Feuers zurück. »Nun habe ich deine Fragen beantwortet. Nimm dir noch diesen einen Ratschlag zu Herzen: Du bist wichtig. Alles ist wichtig. Jeder spielt eine Rolle. Niemand stirbt ohne Grund. Niemand leidet unnötig. Hinter allem, was geschieht, liegt eine übergeordnete Bedeutung.« Seine Worte waren für Mary überaus tröstlich. Denn so konnte sie sich als Teil von etwas Wichtigem fühlen, neben dem ihre persönlichen Schwierigkeiten bedeutungslos waren. »Du könntest aber auch aufgeben«, sagte Sharish. »In diesem Fall würde derjenige, der dich verfolgt, die Jagd sofort beenden.« Mary lachte über seine Durchschaubarkeit. »Du testest mich. Nein, ich gebe nicht auf. Ich tue dies nicht um meinetwillen. Ich tue es für Caitlin, die mir sehr, sehr wichtig ist, und für die Göttin. Als ich jünger war, habe ich alle, die mir nahe standen, betrogen. Nicht in dem Sinne, dass ich sie an die Polizei verraten oder ihnen etwas gestohlen hätte. Nein, so nicht, sondern auf eine Weise, als hätte ich mir dabei selbst ein Loch ins Herz gestoßen.
Und so etwas werde ich nie wieder tun. Vielleicht ist dies meine Chance, frühere Fehler wieder gutzumachen. « Sharishs Lächeln war erstaunlich warmherzig. Er hob den Arm und fasste ihr erneut an die Stirn. Kurz darauf fand Mary sich allein im Schatten eines der Megalithen wieder. Sharish war verschwunden, ebenso die Kathedrale aus Blauem Feuer. Ihr erster Gedanke war ganz klar: Warum hatte man von allen Menschen auf der Welt gerade sie ausgewählt? Sie verdiente es nicht. Oder 375 führte dies in Wirklichkeit zu der Bestrafung, die sie seit fünfunddreißig Jahren erwartete? War es vielleicht ein aufwendiger Plan, um es ihr heimzuzahlen, weil sie ihr Leben verpfuscht hatte? Die Sonnenjäger war einige hundert Meter flussaufwärts in einem verlassenen Hafen festgemacht, dessen bemerkenswerte Gebäude in den Tiefen des Waldes verschwanden. Im verblassenden Licht der untergehenden Sonne schwirrten Mückenschwärme über dem Wasser, und es war tropisch schwül. Mahalia, Matt und Jack hatten eine Weile gebraucht, bis sie sich mit Crowther einen Weg durch den Wald gebahnt hatten; sie mussten den Professor wie einen Schlafwandler durchs Unterholz führen. Er antwortete auf keine ihrer Fragen, schaute nicht nach links und rechts, schaffte es aber trotzdem irgendwie, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als sie sich dem Boot näherten, rief Matt eine freudige Begrüßung. Obwohl Triathus nicht an Deck kam, war seine Reaktion eindeutig: Die Sonnenjäger setzte sich in Bewegung und trieb langsam auf sie zu. Als das Boot nahe genug war, liefen die Gefährten ins flache Wasser und kletterten die am Rumpf herabhängende Strickleiter hinauf. »Wo ist Triathus?«, fragte Mahalia argwöhnisch. Das Boot fuhr vom Ufer in die Flussmitte; es war bereit, die Reise fortzusetzen. Nach dem Erlebnis am Hof der Singenden Träume blieben die Gefährten sicherheitshalber an der Reling stehen. Dann vernahmen sie im Unterdeck Triathus' beruhigende Stimme. »Ich bin hier unten.« Sie eilten zur Luke, erpicht darauf, mal wieder ein freundliches Gesicht zu sehen, aber als sie in die Kombüse hinabschauten, verschlug es ihnen die Sprache. 376 Triathus kauerte auf dem Boden, an eine der Vorratskisten gelehnt. Seine goldene Haut war voller schwarzer Linien, als hätte man ihn tätowiert. Seine Atmung war flach, und er hatte kaum die Kraft, zu ihnen aufzublicken. »Oh Gott«, sagte Mahalia. »Er hat die Seuche.« Die Gefährten ließen Crowther an Deck stehen und eilten nach unten. »Kurz nachdem ihr geflohen seid, habe ich die ersten Anzeichen bemerkt.« Trotz seines schlechten Zustands war Triathus' Stimme deutlich zu verstehen. Matt fasste dem Gott an die Stirn, um dessen Körpertemperatur zu prüfen, gab aber gleich wieder auf. »Ich wüsste gar nicht, womit ich anfangen soll ...« »Macht euch keine Gedanken.« Triathus lächelte schwach. »Ihr könnt nichts dagegen tun.« »Irgendwas muss es doch geben!«, rief Mahalia aufgebracht. Traurig schüttelte Triathus den Kopf. »Ich werde aus dem Sein entfernt.« »Du stirbst«, sagte Jack mit leiser Ehrfurcht. Obwohl Triathus dem Volk angehörte, das ihn so lange gequält hatte, hatte der Jüngling Mitleid mit dem Gott. »Ich dachte, die Tuatha De Danann können sich nicht anstecken«, sagte Matt. Triathus' Blick wanderte über seine Gliedmaßen; der Gott sah Dinge, die für die anderen unsichtbar waren. »Die Seuche ist nicht das, was ihr Menschen als normale Krankheit bezeichnen würdet. Sie greift die Kraft an, die alles zusammenhält ... den lebenspendenden Geist des Seins.« »Uns sind ein paar seltsame Dinge aufgefallen«, erklärte Matt. »Blumen und Pflanzen werden von etwas befallen, was wie die Symptome der Seuche aussieht. 377 Und da war noch etwas anderes.« Er beschrieb das merkwürdige, offenbar ins Nichts führende Loch im Waldboden, das er und Jack kurz vor ihrer Ankunft am Hof der Singenden Träume gesehen hatten. »Ganz Fernlande läuft Gefahr, von der Seuche zerstört zu werden«, entgegnete Triathus. Seine Stimme war schwächer geworden. »Wir haben sie hier eingeschleppt, stimmt's?«, sagte Mahalia. »Grämt euch nicht.« Seine Lider flatterten und er rutschte auf die Seite. »Verzeiht. Mich verlassen die Kräfte.« »Kommt, wir legen ihn in eine Koje«, sagte Matt. »Da hat er es bequemer.« »Nein. Bringt mich an Deck. Ich möchte ein letztes Mal den Sonnenuntergang sehen.« Jack und Matt trugen den Gott die Stufen hinauf und fanden einen geeigneten Platz für ihn. Der Danann war federleicht, als bestünde er aus kaum mehr als Luft. Mahalia stand an der Reling und beobachtete, wie sich zwischen den Bäumen die Dunkelheit ausbreitete. Sie blickte nicht auf, als Matt zu ihr herantrat. »Wissen Sie, allmählich stelle ich mir die Frage: Wozu das Ganze?«, sagte sie. »Eigentlich solltest du das wissen«, entgegnete Matt. »Bei uns zu Hause sterben die Menschen wie die Fliegen.« »Das weiß ich. Aber glauben Sie wirklich, dass wir etwas dagegen tun können? Carlton ist tot.« Sie stockte kurz, doch ihre Miene blieb unverändert. »Caitlin ist vielleicht auch tot. Triathus liegt im Sterben. Der Professor ist ein Zombie. Nur noch Sie, Jack und ich sind übrig. Wir wissen nicht, wohin wir uns wenden sollen. Wir wissen nicht, was das Heilmittel überhaupt ist und was
378 wir tun sollen, wenn wir es herausfinden. Alles fällt auseinander.« Matt starrte in die Dunkelheit zwischen den Bäumen. »Ich habe mich gefragt, ob wir umkehren und Caitlin suchen sollen.« »Super Idee. Sie steuern diese Nussschale durch die Stromschnellen, und hinterher machen wir die Flüsterer platt und ...« »Ist ja gut.« Er klang zum ersten Mal wütend, und das erschreckte sie. »Schauen Sie, ich weiß, was Sie für Caitlin empfinden, aber sie ist die Art Person, die überlebt, wenn es irgendwie möglich ist. Wir können immer noch auf dem Rückweg nach ihr suchen ...« Sie verstummte; selbst für sie klangen ihre Worte hohl. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf Crowther, der schwankend an Deck stand; das rötliche Licht der untergehenden Sonne schimmerte auf der glänzenden Maske. Mahalia stieß sich von der Reling ab und ging zu ihm hinüber. Sie zog ihn an seinem Mantel zu Boden, zwang den Professor, sich hinzusetzen, dann holte sie ein Messer heraus. Matt zuckte erschrocken zusammen und eilte herbei. Als sie die Klinge seitlich an Crowthers Gesicht hob, stieß Matt ihre Hand weg, und das Messer fiel klappernd auf die Deckplanken. »Hast du sie noch alle?« »Wieso? Die Maske ist ein lebendiges Wesen. Erinnern Sie sich nicht, was er gesagt hat ...« »Hast du sie noch alle?«, wiederholte er. Ihn beunruhigte die Kälte in ihren Augen, und normalerweise brachte ihn nichts so schnell aus der Fassung. Sie hob das Messer auf, hielt es locker in der Hand. »Ich schiebe ihm die Spitze seitlich in den Kopf und versuche, den Bolzen herauszubiegen. Und falls die Maske 379 irgendwie anders angebracht ist, schneide ich sie ihm vom Gesicht.« Matt wusste nicht, ob sie ihn einfach nur ärgern wollte. »Du würdest ihm das Gesicht zerschneiden?« »Nun, betrachten Sie es mal von der Seite: Wofür würde er sich wohl entscheiden - für ein Leben mit ein paar Narben im Gesicht oder mit einer Maske rumzurennen, die ihn langsam aber sicher umbringt?« »Du weißt nicht, was los ist. Vielleicht dauert es diesmal einfach länger, und irgendwann fällt die Maske von alleine ab.« »Vielleicht. Das Wort gefällt Ihnen, was?« Sie musterte Matt eindringlich und sah, dass es sinnlos war, mit ihm zu streiten. »Sie haben keine Ahnung, wie Crowther drauf ist.« »Und du weißt es? »Ja, allerdings. Er mag es nicht, wenn etwas Macht über ihn hat...« »Keiner mag das.« »Er mag es wirklich nicht. Er glaubt, er sei zu nichts nutze, und zieht sich deshalb innerlich zurück, aber in Wahrheit versteckt er sich vor den Dingen, die seiner Meinung nach Macht über ihn haben. Er ist ein freier Geist.« Sie schob das Messer in die Scheide. »Du hältst dich wohl für oberschlau, was? Und für knallhart. Aber du bist ein Kind, nichts weiter. Vergiss das nicht.« Matt wandte sich um und ging. Mahalia sah ihm nach; ihre eisige Miene zerschmolz unter einer dumpfen, tief in ihr aufsteigenden Hitze. Kurz darauf trat die Maske wieder in Aktion. Der erste Hinweis darauf waren wunderschöne psychedelische Farbmuster auf dem Fluss, die Matt, Mahalia und Jack eine Weile wie verzaubert betrachteten. Dann folgten 380 Geräusche, ein tiefes Grollen und hohes Gekreische, unsichtbare Feuerwerke und überirdisch klingende Musik, die mal lauter, mal leiser wurde. Allmählich wurden die von der Maske ausgelösten Effekte immer intensiver und verstörender. An der Achterreling kroch Mahalia zu Jack unter die Decke, wo sie sich küssten und streichelten, doch als absolut unerfahrener Jüngling, der er war, ejakulierte er, sobald sie ihn zwischen den Beinen berührte. Sie wusste nicht, ob sie sich über das klebrige Zeug ärgern oder freuen sollte. Sie hätte mit ihm geschlafen; es wäre ihr erstes Mal gewesen, doch sie hätte es nicht aus Liebe getan, sondern wegen ihres verzweifelten Wunsches nach Nähe und Trost und etwas Stabilität in einer wahnsinnig gewordenen Welt. Irgendwann in den frühen Morgenstunden rissen Matts Rufe Mahalia und Jack aus dem Schlaf. Ein gewaltiger goldener Lichtball sauste über das Boot hinweg und explodierte in einem grellen Blitz irgendwo am anderen Ufer. Zuerst hielt Mahalia es für das Werk der Maske, aber als eine zweite Explosion folgte, wurde ihr klar, dass es etwas anderes sein musste. Sie trat an die Reling und sah, dass an beiden Ufern zwischen den Bäumen eine Schlacht tobte. Verschwommene Gestalten, einige golden, andere dunkel und gedrungen, stürmten zwischen den Bäumen umher und griffen sich gegenseitig an. Ab und zu erklangen seltsame Schreie, bevor einer der Krieger fiel und entweder eine goldene oder eine schwarze Mottenwolke gen Himmel stob; immer wieder zuckten grelle Blitze auf, manche weiß, andere farbig. Sie schrak zusammen, als sich hinter ihr eine wehklagende Stimme erhob. Es war Triathus. Obwohl er im Delirium lag, bekam er auf einer bestimmten Ebene die Er381
eignisse am Ufer mit und weinte oder sang leise vor sich hin; genau konnte sie es nicht sagen, aber die fremdartigen Laute ließen einen Schwall anrührender Emotionen in ihr aufsteigen. Etwas schlug gegen den Rumpf, und sie schaute hastig nach, ob nun auch das Boot angegriffen wurde. Im dunklen Wasser trieben zahllose Holzstücke - zuerst dachte sie, es wären Überreste explodierter Bäume, doch die Teile schienen sich aus eigener Kraft zu bewegen. Eine grelle Explosion direkt über ihnen offenbarte die Wahrheit, und Mahalia wich erschrocken zurück. Die Objekte bewegten sich tatsächlich. Es waren keine Überreste von Bäumen, sondern kleine, halb tote Danann, ihre Körper so geschunden und zerrissen, dass die einstmals menschliche Gestalt kaum noch zu erahnen war. Immer wieder erlosch bei einem der Krieger der letzte Lebensfunke, und die Leiche explodierte in einer flatternden Mottenwolke, die sofort zum Himmel aufstieg. Mahalia war angewidert, schaute aber wie gebannt zu. Der Strom der Leichen nahm kein Ende; im steten Rhythmus von Kriegstrommeln schlugen sie gegen den Rumpf. Triathus' Wehklagen wurde immer eindringlicher. »Das ist Wahnsinn.« Matt hatte sich neben Mahalia gestellt und starrte düster aufs Wasser. »Sie schlachten sich gegenseitig ab. Was zum Henker soll das bringen?« Die halluzinogenen Masken-Effekte verstärkten nur ihr Gefühl von Desorientierung, doch in den gelegentlichen Lichtblitzen sahen sie, dass am fernen Horizont ähnlich bizarre Phänomene abliefen. »Was ist da los?«, fragte Mahalia beklommen. Jacks Hände schoben sich in ihre. »Das ist der Rand der Welt.« »Wo die Realität aufbricht und im großen Nichts versinkt« , sagte Matt, dem eingefallen war, was sie am Hof 382 der Einträchtigen Seelen erfahren hatten. Er atmete tief durch. »Wir sind fast da.« Eine Stunde später, während die verheerende Schlacht noch immer tobte, sahen sie, dass Triathus' Zeit so gut wie abgelaufen war. Seine Atmung war flach, sein Blick starr. Das golden schimmernde Licht auf seiner Haut war zu einem matten, verwaschenen Gelb verblasst, und die schwarz gefleckten Linien überzogen nun seinen ganzen Körper. Matt, Mahalia und Jack wussten, dass sie nur schweigend zuschauen konnten. Von den dreien beobachtete Mahalia den goldenen Gott am eindringlichsten. Sie bemerkte jedes kleine Zucken in seinem Gesicht und registrierte sogar den flüchtigen Moment, in dem ihn der letzte Rest seiner Lebenskraft verließ. Es war kaum wahrnehmbar, als würde seinem Körper ein zarter Lufthauch entströmen. Es überraschte sie, dass sie eine einzelne Träne verdrückte, doch sie wischte sie schnell ab, bevor die anderen es sahen. Sein Körper löste sich in golden schimmernde Motten auf, die in einem faszinierenden Tanz der Trauer und Hoffnung umherflatterten und schließlich zum düsteren Himmel aufstiegen, wo sie wie erlöschende Sterne verblassten. Sie standen mit gesenkten Häuptern da und traten schließlich an die Reling. Am Ufer wies die Flora nun unverkennbar die Symptome der Seuche auf: Das Laub war welk, die Blüten waren geschwärzt, und breite schwarze Linien durchzogen die Baumstämme. Und immer wieder bemerkten sie Risse in der Luft. Noch waren diese recht klein, doch sie wurden stetig größer, als wäre die gesamte Umgebung eine riesige Bildtapete, die sich unaufhaltsam auflöste. 383 »Fällt es euch auch auf? Je weiter wir flussaufwärts kommen, desto schlimmer wird es«, sagte Mahalia. »Und hier ist es schon schlimm genug«, erwiderte Matt. Nach dem leuchtenden Blau gab es nur noch die endlose goldene Sandwüste und einen von der Hitze ausgebleichten Himmel. Hinter Caitlin knisterte die Energie in einem jahrtausendealten Kreis aus zu Glas geschmolzenen Steinen. Sie blickte nicht zurück. Sie trat in die Einöde hinaus und spürte, wie ihre Stiefel im Sand versanken. In ihrem Kopf wirbelte ein Strudel aus schwarzen Krähenfedern ihre Gedanken durcheinander. Irgendwo wimmerte Amy, doch Caitlin beachtete es nicht. Ihr Herz pochte im Rhythmus einer Kriegstrommel; ihr Blickfeld war blutgetränkt. In der Welt, die sich vor ihr ausbreitete, gab es nichts, wovor sie sich gefürchtet hätte. Der vor ihr liegende Weg würde sie geradewegs zu ihrer Bestimmung führen. Sie ging los. Im Morgengrauen zog Nebel auf. Die Schlacht war vorüber, und unter dem grauen Himmel lag alles still und reglos da. Nur das leise Schwappen des Flusses war zu hören. Wie als Reaktion darauf hatte die Maske eine ihrer Ruhephasen eingelegt. Matt schlief in der Kombüse, während Mahalia und Jack sich an Deck hingelegt hatten. Im Laufe der Nacht waren sie so oft aufgewacht und wieder eingeschlafen, dass sie nach einer Weile nicht mehr wussten, was Traum und was Realität war. Mahalia erwachte als Erste, verwirrt von der beklemmenden Stille. Der Nebel war so dicht, dass man das Ufer nicht mehr sah; sie hätten ebenso gut auf hoher See 384 treiben können. Sie trat an die Reling und lauschte. Nichts war zu hören, nur leises Wasserplätschern. Sie schlang die Arme um den Leib und betrachtete Jack, der noch tief und fest schlief. Sie musste an Carlton denken und vergoss einige Tränen, und dann bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie wegen Jack gar nicht
mehr so oft an den kleinen Jungen dachte. Aber sie liebte Jack, und diese Liebe wurde mit jedem Tag stärker. Ihn auch noch zu verlieren, würde sie nicht ertragen, so viel war ihr klar. Es würde sie umbringen. Sie hatten befürchtet, dass die Sonnenjäger nach Triathus' Tod nicht mehr funktionieren würde, doch die Instruktionen, die er dem Boot gegeben hatte, waren nach wie vor wirksam. Es reagierte auf jeden ihrer Wünsche, fuhr schneller, wenn sie es für nötig hielten, oder korrigierte seine Position auf dem Fluss. Nun sah Mahalia, dass es aufs Ufer zutrieb, denn im Nebel kamen plötzlich geisterhaft die Bäume zum Vorschein. Sie weckte Matt und Jack, und als sie an die Reling traten, hatte die Sonnenjäger am Ufer angehalten. Überrascht sahen sie, dass sie den Wald hinter sich gelassen hatten. Die Bäume, die Mahalia gesehen hatte, standen vereinzelt in einer flachen Sumpflandschaft, die den Geruch von verfaulender Vegetation verströmte; wie weit die Landschaft sich erstreckte, konnte man allerdings nicht erkennen, denn im Nebel betrug die Sichtweite höchstens zwanzig Meter. »Warum halten wir hier an?« Jacks Stimme war ein nervöses Flüstern. »Ich glaube nicht, dass uns die Sonnenjäger absichtlich in eine gefährliche Situation bringt«, sagte Matt. »Vielleicht sollen wir hier unseren Wasservorrat aufstocken oder so.« »Ich glaube nicht, dass ich dieses Wasser trinken wür385 de.« Mahalia deutete auf die brackigen Teiche inmitten der Sümpfe und gelben Marschgräser. Dann lichtete sich der Nebel ein wenig, und Mahalia zuckte erschrocken zusammen, denn was sie anfangs für eine kleine Baumgruppe gehalten hatte, waren in Wahrheit acht bis zehn Männer, die reglos dastanden und das Boot beobachteten. Matt holte seinen Bogen, Mahalia ihr Schwert, doch die Männer machten keine Anstalten anzugreifen. Sie hatten Barte und langes Haar, waren Ende vierzig oder älter - zwei waren bestimmt Mitte siebzig - und trugen lange graue Kutten und auf dem Kopf Reife aus Efeu. Einer, der einen kunstvoll geschnitzten Stab hielt, trat vor. Er war um die sechzig, hatte aber eine imposante Statur und stechende graue Augen. »Willkommen in der letzten Heimstatt der Kultur«, sagte er mit sonorer Stimme. Der Name des Anführers war Matthias. Es dauerte eine Weile, bis er Matt, Jack und besonders Mahalia davon überzeugt hatte, dass er und seine Männer keine Bedrohung darstellten, aber schließlich gingen die drei zusammen mit Crowther von Bord. Matthias erstarrte, als er den Professor sah. »Die Maske des Maponus!«, rief er. »Keine Sorge - er ist ungefährlich«, sagte Mahalia hoffnungsvoll. »Bitte ... er läuft einfach mit uns mit, okay?« Matthias entspannte sich ein wenig, doch die anderen Männer beäugten Crowther weiterhin argwöhnisch. »Wir versuchen die Zeit noch immer auf unsere Weise zu messen, obwohl es an diesem Ort nahezu unmöglich ist«, sagte Matthias, »aber es ist auf jeden Fall viele lange Jahre her, dass wir anderen Menschen begegnet sind.« 386 »Ihr seid Menschen?«, fragte Matt. »Ja, es gibt einige von uns hier in Fernlande, aber nicht viele. Den meisten fällt es sehr schwer, sich an die Gegebenheiten dieser Welt anzupassen. Es kann einen Menschen in den Wahnsinn treiben und ihn alles vergessen lassen, woran er einmal geglaubt hat.« »Aber ihr habt überlebt.« »Wir haben ein sehr ausgeprägtes Verständnis für andere Realitäten. Kommt in unser Lager. Wir würden gerne Neuigkeiten aus unserer alten Heimat hören und bieten euch im Gegenzug Speisen und Trank an. Und ihr bekommt alles umsonst und ohne jede Verpflichtung.« Mahalia und Matt merkten, wie hungrig sie waren, während Jack kaum noch zu essen schien. »Haben wir denn genug Zeit?«, fragte Mahalia leise. »Vielleicht wissen sie etwas, das uns weiterhilft«, entgegnete Matt. »Kommt, wir gehen mit.« Sie marschierten los; Matthias übernahm die Führung, während die anderen Männer aus seiner Gruppe die Nachhut bildeten. »Passt auf, wo ihr hintretet«, sagte Matthias. »Diese Sümpfe sind sehr trügerisch. Sie ziehen einen blitzschnell in die Tiefe, und die säureartigen Eigenschaften der Flüssigkeiten im Boden ätzen einem das Fleisch von den Knochen.« Irgendwo im Nebel stieß ein Vogel einen so düsteren Schrei aus, dass ihre Stimmung augenblicklich in den Keller rutschte. Die Landschaft wirkte gespenstisch. »Was tut ihr hier?«, fragte Matt. »Wir haben hier unsere Zufluchtsstätte gefunden«, antwortete Matthias, »und genau darin liegt die besondere Ironie. Sterbliche, die Zuflucht in Fernlande suchen! Dass wir uns hier sicherer fühlen als zu Hause, zeigt nur, wie schlecht es um die Menschheit bestellt ist. 387 Wir Menschen sind unser schlimmster Feind - wir brauchen keine anderen Widersacher. Gier, Verlogenheit, Arroganz, Brutalität - diese Dinge und nicht die Götter verhindern, dass wir unser wahres Potenzial ausschöpfen.« Nach einer Weile erreichten sie eine Insel inmitten der Sümpfe. Sie war dicht bewaldet, doch zwischen den
Bäumen gab es zahlreiche große Lichtungen. In der Mitte der Insel befand sich ein Lager aus im keltischen Stil gebauten Rundhäusern. Die meisten waren Wohnunterkünfte, doch es gab einen größeren Bau, der als eine Art Gemeinschafts- und Speisesaal diente. In einer Einfriedung grasten Schafe, und ein anderes Areal diente dem Ackerbau. »Wir leben fast so, wie wir es zu Hause bis zu unserer Flucht getan haben«, sagte Matthias und führte sie in den Saal, der groß genug war, um bis zu fünfzig Leute aufzunehmen. In der Mitte brannte ein Feuer, und der Rauch zog durch ein Loch in der Decke ab. Ein großer Holztisch in Form eines Hufeisens lud zum Verweilen ein. Matthias setzte sich auf einen hochlehnigen Holzstuhl, dessen Rückseite kunstvoll eingeschnitzte Drachenmotive zierten. Er bedeutete Matt, Mahalia und Jack, Platz zu nehmen. Crowther blieb hinter ihnen stehen. Nach einigen Minuten servierten die anderen Mitglieder der Kultur kaltes Lammfleisch, Gemüse, Obst und Karaffen mit frischem Wasser. »Greift zu«, sagte Matthias warmherzig. »Es ist schön, nach all der Zeit wieder Gäste zu haben.« Er lächelte die Gefährten freundlich an, worauf diese sich sichtlich entspannten. »Es gab eine Zeit, als die Kultur eine äußerst wichtige Rolle in den Angelegenheiten der Menschheit gespielt hat«, fuhr er fort. »Aber ich glaube, unser Name sagt den Menschen nichts mehr, oder?« 388 Matt zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid ...« Matthias senkte einen Moment lang den Blick und sammelte sich. »Das war zu erwarten. Dann werde ich euch unsere Geschichte erzählen. Unsere Gruppierung existiert seit dem Anbeginn der Menschheit. Unsere Aufgabe war, uns um die spirituellen Bedürfnisse unserer Mitmenschen zu kümmern, und in dieser Funktion haben wir großes Wissen angesammelt, es gehütet und weitergegeben, und wir haben die unsichtbaren Welten, die unsere umgeben, beobachtet. Wir standen als Wachposten und Hüter zwischen unserer Welt und den anderen.« Die übrigen Mitglieder der Kultur hatten ihre Plätze am Tisch eingenommen, und sie nickten verständig, aber traurig, während Matthias ihre Geschichte vortrug. »Wir waren Priester des Waldes. Unser Werkzeug war die heilige Sichel, unsere Sprache die Sprache der Bäume. Die Kultur wurde in Britannien gegründet, lange bevor die ersten Steinkreise errichtet wurden, und Weisheitssuchende kamen über alle Ozeane, um von uns zu lernen. Wir wussten um das Blaue Feuer und seine Bedeutung als Lebensblut aller Dinge. Und wir lernten, es zu formen und zu kanalisieren. Wir wussten von den unbehauenen, vorgeschichtlichen Steinsäulen und den heiligen Hügeln, den Brunnen und den Seen, wo das Feuer am stärksten ist. Im Laufe der Zeit erkannten wir, dass all dies die Basis für ein Zeitalter des Friedens und Wohlstands sein könnte und dass die Menschen dadurch den nächsten Schritt auf ihrer Reise zu den Sternen tun könnten. Wir nahmen die Rolle als Schäfer der Menschheit an und als Hüter gegen die vielen Mächte, die unsere Existenz im Universum hätten beenden können. Wir riefen die Brüder und Schwestern der Drachen ins Leben. Wir ver389 steckten unsere machtvollen Waffen und kennzeichneten die Landschaft mit unseren Prophezeiungen und Warnungen, damit künftige Generationen die Wahrheit erfahren konnten, falls sie den dafür nötigen Scharfblick besäßen. Und mit der Zeit haben wir die zerstrittenen keltischen Stämme zu einer wundervollen Nation vereint, die unsere Vision eines Tages wahrmachen sollte.« Matthias hielt inne und trank einen Schluck Wasser. Dann sah er die Gefährten ernst an. »Diejenigen, die das Spirituelle über den kalten Materialismus stellen, sind immer leichte Ziele für Machthungrige, und so war es auch bei uns. Gerade als wir glaubten, unsere Träume könnten wahr werden, kamen die Invasoren. Auf Caesars Befehl segelten sie mit ihren Schiffen nach Britannien, waren begierig auf Eroberungen und voller Verachtung für andere Glaubensrichtungen. Sie bauten ihre geraden Straßen und schickten ihre Legionen aus, töteten Abertausende von Menschen und vertrieben die Stämme aus ihren angestammten Gebieten. Und sie wussten von unserer Macht, denn sie hatten in ihrer Heimat viel über uns gehört, und deshalb stellten sie uns gnadenlos nach, um uns zu schwächen und den Menschen das Gefühl zu geben, wir hätten sie im Stich gelassen. Nach der Entscheidungsschlacht bei Mon, wo dieser Bastard Suetonius eine riesige keltische Streitmacht erbarmungslos abgeschlachtet hat, zogen wir uns in die Wälder und Berge zurück. Während der nachfolgenden vierhundertjährigen römischen Besatzung wurden wir gejagt und dezimiert, bis nur noch eine Hand voll von uns übrig war. Wir hatten eine letzte Gelegenheit, an unseren Träumen festzuhalten. Acht von uns ... wir hier am Tisch ... wurden zum ultimativen Versteck geschickt: nach Tir 390 n'a n'Og, dem Land der Götter. Hier haben wir unser Wissen gehütet und mit Hilfe des großen Kriegers Jack Churchill, den alle nur Church nannten, diese Enklave aufgebaut. Und seither warten wir. Wir warten und warten und werden nicht älter, hier, im Land des Ewigen Sommers, aber unser Anliegen, der Sinn unseres Seins, ist verwässert, denn wenn man alle Zeit der Welt hat, warum soll man dann etwas tun? Und so ist es bis heute geblieben.« Er lehnte sich zurück und schloss traurig die Augen. Eine Weile war nur das knisternde Feuer zu hören. Matt schien die Geschichte gelangweilt zu haben, denn er interessierte sich nur für das Essen auf seinem Teller. Mahalia hingegen hatte aufmerksam zugehört, und als die Brüder und Schwestern der Drachen erwähnt wurden,
war ihr fast schlecht geworden. Ihr fiel ein, wie sie Caitlin das Messer an die Gurgel gehalten hatte, wie Caitlin ins Wasser gefallen war, wie die Flüsterer dem Fluss entstiegen waren ... Matthias musste ihre schuldbewusste Miene gesehen haben, denn er fragte sie sanft: »Was ist los?« »Eine Frau ist mit uns gereist ... jeder hat ihr gesagt, sie sei eine Schwester der Drachen ...« Die Mitglieder der Gruppe wurden unruhig; aufgeregtes Geflüster erhob sich am Tisch. »Eine Schwester der Drachen in Fernlande?«, rief einer aus. »Ja, so hieß es ständig«, sagte Mahalia und versuchte, nicht zu viel zu verraten. »Aber wir sind uns ziemlich sicher, dass sie tot ist.« Betretenes Schweigen. Dann sagte Matthias nur ein Wort: »Nein.« Als über Caitlin gesprochen wurde, wurde Matt hellhörig und blickte auf. »Was hat es denn mit ihr auf sich?« 391 »Es gibt Prophezeiungen. Dies sind besondere Zeiten - Zeiten, die uns in eine goldene Epoche führen werden. Aber die Brüder und Schwestern der Drachen müssen alle am Leben sein, um uns durch die dunklen Tage zu führen, denn sonst wird alles ins große Nichts hinabstürzen.« Mahalia lehnte sich zurück, damit Matts Körper sie vor Matthias' bohrendem Blick schützte. Aber Matthias hatte sie vergessen. Er erhob sich und sagte: »Wir müssen wichtige Dinge besprechen, wenn ihr wirklich die Gefährten einer Schwester der Drachen seid. Aber dies ist weder der rechte Ort noch der rechte Zeitpunkt dafür. Wir reden später. Ich bereite mich jetzt auf das Ritual vor.« Mit neuer Entschlossenheit schritt er aus dem Saal. Einer der anderen Männer kam herüber; er war jünger, legte aber einen Respekt an den Tag, der den Gefährten seit ihrer Ankunft auf der Insel in diesem Maße noch nicht zuteil geworden war. »Bitte - lasst euch Zeit, ruht euch aus, erkundet unsere Insel. Wir stehen euch zu Diensten. « Matt machte es sich in einem der kleinen Rundhäuser bequem und beschloss, ein Nickerchen zu machen, während draußen die Männer von Gebäude zu Gebäude eilten und sich mit gedämpften Stimmen unterhielten; ihre Gesichter waren gerötet, ihre Augen glänzten. Es war, als wären sie aus einem langen Schlaf erwacht. Jack ging zu Mahalia, die auf einem Steinhaufen saß, den Überresten eines uralten Gebäudes, das schon vor der Ankunft der Kultur auf der Insel gestanden hatte. Wortlos setzte er sich neben sie, und sie beobachteten eine Weile die umhertreibenden Nebelschwaden. Ihr Aussichtspunkt lag über der Wolkendecke, und es sah 392 aus, als würde ein See aus sonnenbeschienenem Gold auf das Blätterdach des fernen Waldes zuwogen. »Es ist wunderschön«, sagte Jack leise, und sie musste zugeben, dass er Recht hatte. Und dann fügte er hinzu: »Du bist wunderschön«, worauf sie in Tränen ausbrach. Überrascht und besorgt, legte er den Arm um sie, damit sie sich anlehnen konnte, während sie weinte und weinte und weinte. In der Abenddämmerung wurde die Insel ein magischer Ort. Zwischen den Bäumen wurden Laternen angezündet, die Heerscharen von umherschwirrenden Insekten anzogen. Im Gemeinschaftssaal warfen die Männer Kräuter ins Feuer, sodass sich ein berauschender Duft über die gesamte Insel ausbreitete. Und dann begannen sie in einer Sprache zu singen, die Matt, Mahalia und Jack nicht kannten. Während die feinen Harmonien ihren Zauber woben, tauchten zwischen den höheren Ästen winzige Gestalten mit hauchzarten Flügeln auf und kamen herabgeflogen, um mit Stimmen, die wie Flöten und Oboen klangen, den Gesang zu begleiten. Mahalia, Jack, Matt und Crowther folgten den Männern auf einer Prozession, die sie tief in den Wald hineinführte, und als sie über die Grenzen der Insel hinausschauten, sahen sie dort blaue, an Nordlichter erinnernde Lichtstreifen in der Luft. Die Prozession endete auf einer Lichtung. Sie stellten sich in einen Kreis aus uralten Steinblöcken und wuchtigen Eichen. Der Vollmond schien auf sie herab, und sein Licht war so hell und weiß, dass die Steinblöcke scharf geschnittene Schatten aufs Gras warfen. »Magie liegt in der Luft«, sagte Matthias, »so wie früher, als wir uns unter einem sternengesprenkelten Him393 mel in heiligen Wäldern trafen und die Winde erfüllt waren von sommerlicher Wärme und den Echos anderer Welten.« Er lächelte warmherzig. »Ich habe mit unserem Bruder an der großen Grenze gesprochen, und es scheint, als wäre dies tatsächlich die seit Jahrtausenden vorhergesagte Zeit des Wandels. Es ist eine Zeit des Leids und Kummers, aber vor allem des Aufstiegs in nie gekannte Höhen, denn etwas Großes lässt sich nicht erreichen, ohne große Opfer zu bringen. Im Universum herrscht das Gesetz des Gleichgewichts. Nun lasst uns demütig die Häupter senken, denn das Goldene Zeitalter ist nahe.« Zum ersten Mal seit vielen Stunden bewegte Crowther sich aus eigenem Antrieb; er setzte sich in der Mitte des Kreises auf den Boden und ließ den maskierten Kopf herabsinken. Mahalia fragte sich, ob er Matthias' Ausführungen verstanden hatte. Matthias wandte sich in die vier Himmelsrichtungen und schwang dabei langsam eine Weihrauchschale. Der Rauch beschwor so lebendige Bilder in Mahalias Geist herauf, dass sie meinte, die Szenen würden tatsächlich im Steinkreis ablaufen; und vielleicht taten sie es auch. Sie sah England, so wie sie es kannte, die überfüllten Städte, die Eisenbahnen, die verstopften Straßen, die Leute mit ihrem High-Tech-Spielzeug. Und dann änderte sich das Bild plötzlich, und mit einem Mal schwärmten
magische goldene Wesen über das Land aus, einige auf Pferden, andere zu Fuß. »Zu Zeiten der Stämme waren diese Wesen als die Tuatha De Danann bekannt«, sagte Matthias. »Sie sind das Goldene Volk, das hier in Tir n'a n'Og seine Heimat gefunden, sich aber immer nach unserer Welt gesehnt hat. Deshalb kamen sie zurück. Sie verachteten Sterbliche, aber gleichzeitig haben sie sie geliebt. Sie wollten so sein 394 wie wir, doch mit ihren gewaltigen Kräften und ihrer Arroganz waren sie ein Quell der Zerstörung. Und mit ihnen kehrten auch ihre Feinde zurück, die monströsen Fomorii, die unter dem Befehl ihres Herrn, Balor, des einäugigen Todesgottes, standen.« Mahalia sah, wie sich ein schwarzer Schatten über das Land herabsenkte, als die goldenen Tuatha De Danann gegen die Fomorii kämpften. Städte wurden in Schutt und Asche gelegt, Hunderttausende starben, das Gemeinwesen löste sich auf. Das Land versank im Chaos. So also war der Untergang vonstatten gegangen. Warum kannte niemand den wahren Grund dafür? Hatten die Behörden es bis zum bitteren Ende geheim halten wollen? »Die Rückkehr der Götter und die damit einhergehenden Zerstörungen wurden in den Zeiten der Stämme nach der zweiten Schlacht von Magh Tuireadh vorausgesagt, als Balor getötet und gleich darauf wiedergeboren wurde.« Mahalia sah, wie in einer altertümlichen Landschaft eine grausame Schlacht tobte. »In diesen lange zurückliegenden Zeiten wurde der Orden der Brüder und Schwestern der Drachen gegründet, um auf die Rückkehr der Götter und auf das, was folgen würde, vorbereitet zu sein. Und tatsächlich haben diese Helden entscheidend dazu beigetragen, die Tuatha De Danann und die Fomorii aus unserer Welt zurückzudrängen. Zumindest fürs Erste.« Jetzt sah Mahalia fünf Menschen: einen Mann mit langem, dunklem Haar und ernstem Gesicht; eine groß gewachsene Frau mit stolzem Blick, eine weitere Frau mit einem blonden Wuschelkopf; einen zierlichen Asiaten und einen gut aussehenden Mann, dessen Oberkörper voller Tätowierungen war. Sie hatte das Gefühl, die fünf zu kennen, und dann fiel ihr ein, dass sie sie im flackern395 den blauen Licht in den Rollrights gesehen hatte, kurz bevor sie nach Anderswelt herübergekommen waren. »Wer sind diese Leute?«, fragte sie ehrfürchtig. »Der Anführer war Jack Churchill, der durch die Zeit zurückgereist ist, um auf den Tag zu warten, da man ihn wieder brauchen würde«, sagte Matthias. »Der schlafende König! Erhebt eure Stimmen! Ruft ihn zurück! Denn der Tag ist gekommen!« Matthias hob die Arme über den Kopf, und zwischen seinen Händen sprühten blaue Funken. Der Boden erbebte unter Mahalias Füßen, und irgendwo in den Sümpfen war ein tosendes Wasserrauschen zu vernehmen. Die Mitglieder der Kultur wechselten ehrfürchtige Blicke. »Was war das?«, fragte Mahalia beklommen. Matthias sah sie an. »In Englands dunkelster Stunde wird sich ein Held erheben ... Die Rückkehr der Götter und der Krieg zwischen ihnen war nur der erste Teil der Prophezeiung. Die Auseinandersetzung führte einen Wandel im Sein herbei... und die Menschheit wurde bemerkt. « Mahalia schauderte wegen der eigenartigen Wortwahl. »Am Rande des Universums ist etwas erwacht. Und es ist auf dem Weg hierher ... das Wesenlose!« »Was soll das sein?«, fragte Mahalia. »Es heißt, in der Heimat der Toten - in den Graulanden - gebe es einen Tempel. Und was beten die Toten an?« Matthias nickte ernst. »Das Wesenlose. Es existiert hinter dem Licht des fernsten Sterns. Dort hat es in einem traumlosen Schlaf die Zeit überdauert. Aber jetzt ist es erwacht und hat uns bemerkt. Es ist unbegreiflich, unermesslich. Es ist nichts ... und es ist alles. Das Größte und das Kleinste. Macht und die Abwesenheit von 396 Macht. Es ist das Gegenteil vom Leben. Die Abwesenheit von allem, was existiert und jemals existieren wird.« Mahalia hatte den Eindruck, etwas, das so groß wie eine ganze Galaxie war, würde inmitten der Weihrauchschwaden auf sie zufliegen, doch ihr Verstand konnte das Bild nicht verarbeiten. Sie verspürte völlige Leere und hatte mit einem Mal das dumpfe Gefühl, nie gelebt zu haben. »Das Anti-Leben«, murmelte Matt. »Ist das Wesenlose für die bei uns grassierende Seuche verantwortlich?« »Es gibt winzige unsichtbare Geschöpfe, die die Ankunft des Wesenlosen vorbereiten ... man könnte sie als Seuchendämonen oder teuflische Kobolde bezeichnen«, sagte Matthias. »Sie infizieren das Blaue Feuer - und alles, was es durchdringt — mit ihrer Verderbtheit.« Hinter den Bäumen regte sich etwas. In den Lücken zwischen der Vegetation erhaschte Mahalia kurze Blicke auf etwas Riesiges, das die Insel umkreiste. In ihrem traumartigen Zustand sah sie in den Rauchschwaden über dem Steinkreis eine schwarze, unförmige Monstrosität, die vor einer gotischen Kathedrale versuchte, mit einem Schwert einen Mann niederzumetzeln. Und dann erschienen die Flüsterer in ihrem purpurnen Nebel und sahen so real aus, dass Mahalia unwillkürlich zurückwich. »Die Flüsterer sind die lebendig gewordene Verzweiflung«, fuhr Matthias fort. » Sie sind das Leben ohne Hoffnung. Falls das Wesenlose die Welt auffrisst, wird sich die Prophezeiung niemals erfüllen: Die Menschheit wird nicht ihren Platz an der Seite der Götter einnehmen, und es wird kein Goldenes Zeitalter geben.«
»Wie soll man so etwas denn aufhalten?«, fragte Mahalia, erschüttert von dem, was sie gesehen hatte. Matthias kam so entschlossen zu ihr herübergelaufen, dass Mahalia schon glaubte, er wüsste, dass sie versucht 397 hatte, Caitlin umzubringen, aber dann wurden seine Züge weicher. »Hinter der Struktur des Seins verbergen sich bestimmte geheime Regeln. In unseren Herzen kennen wir sie, doch wir vertrauen uns nicht. Eine dieser universellen Regeln lautet, dass im Wesen der Realität eine grundsätzliche Moralität eingebettet ist. Und genauso verhält es sich mit der Liebe. Und in diesen beiden Dingen finden wir Hoffnung. Wir müssen unseren Glauben in die Brüder und Schwestern der Drachen setzen, so wie wir es früher schon einmal getan haben, denn sie repräsentieren die wundervollste und mächtigste Kraft von allen. Seht!« Er hob den Arm und deutete über das Eiland hinweg. Das Wesen, das die Insel umkreiste, war über die Baumkronen aufgestiegen, und Mahalia konnte es erstmals in voller Pracht erkennen. Es hatte riesige, ledrige Flügelschwingen, einen schlangenartigen Körper mit einem durch die Luft peitschenden Schwanz und juwelenartig glitzernden Schuppen. Es war wie ein über den Nachthimmel schießender Komet mit einem Schweif aus blauem Feuer. Für Mahalia sah es so aus, als bestünde es vollständig aus der geistigen Energie, denn sie glaubte, durch die Haut bis auf die Knochen und Organe und sogar durch sie hindurchschauen zu können; es war gar kein lebendiges Wesen, sondern das Gestalt gewordene Blaue Feuer. »Das ist das erste aller Fabelwesen«, sagte Matthias. »Es ähnelt seinem Ursprung - dem Blauen Feuer - am stärksten. Es kam her, um sich hier bei uns zu verstecken, denn falls alle anderen Fabelwesen umgebracht würden, falls das Blaue Feuer kurz vor dem Verlöschen stünde, gäbe es immer noch Hoffnung.« »Aber falls Caitlin wirklich tot sein sollte ...«, sagte Mahalia verzweifelt. 398 Matthias legte ihr behutsam eine Hand auf die Stirn. »Wir werden verlieren, wenn wir der Verzweiflung Ein-lass in unsere Herzen gewähren, wenn die Menschheit ein weiteres Mal gegen sich selbst kämpft. Wie gesagt, wir sind unser schlimmster Feind. Schon in der Vergangenheit haben wir mehrfach unseren Aufstieg verhindert. Soll uns das wieder passieren?« Mahalia wurde schlecht. Eine Prophezeiung, die so alt wie die Zeit war. Puzzleteile, die sich über die Jahrtausende hinweg ineinander fügten, um die Menschheit auf die nächste Evolutionsstufe zu führen; die höchste Stufe überhaupt. Und wegen ihrer dummen Eifersucht hatte sie in einem einzigen Moment alles zerstört. Sie verdiente es nicht, am Leben zu sein. Mit beseeltem Blick schaute Matthias zu dem Fabelwesen auf. »Unser nächtliches Ritual hat es aufgeweckt. Es fliegt zum ersten Mal seit über einem Jahrtausend. Wir müssen es in unsere Welt hinüberschicken, um auf das Kommende vorbereitet zu sein.« »Das dürfen Sie nicht tun!«, flehte Mahalia. »Was, wenn alles schief läuft? Dann ist ein so wundervolles Geschöpf für alle Zeiten verloren!« Sie blinzelte sich die Tränen aus den Augen; der blaue Schweif des Fabelwesens verwandelte sich in einen Regenbogen aus glitzernden Saphiren. »Falls alles schief läuft«, sagte Matthias, »spielt es keine Rolle, wo das Fabelwesen ist, denn dann hat das gesamte Sein aufgehört zu existieren.« 15 Die Ebene der Hügelgräber »Wie alles andere, ist auch das Sterben eine Kunst. Ich beherrsche sie außerordentlich gut.« SYLVIA PLATH Nach zwei Stunden in der sengenden Hitze erhob sich eine grüne Palmenoase aus den sanft geschwungenen Sanddünen. Caitlin war wie ein Olympialäufer durch die Wüste gehetzt, aber nun beschloss sie, ihren Marsch zu unterbrechen und etwas zu trinken, obwohl sie das Gefühl hatte, ewig weiterlaufen zu können. Im Schatten der Palmen schöpfte sie mehrere Hand voll Wasser und trank, dann tauchte sie den Kopf hinein und wusch sich den Sand und das trockene Blut aus den Haaren. Sie hatte die Oase erst kurze Zeit verlassen und lief in die Richtung, die ihr die Morrigan vorgab, als sie merkte, dass sie nicht allein war. Ein Windstoß wirbelte den Sand auf, und darunter kamen links und rechts von ihr zwei kleine Hügel zum Vorschein; wie sich herausstellte, waren es zwei Gestalten, die direkt unter der Oberfläche gelegen hatten. Sie schüttelten den Sand ab und erhoben sich. Sie trugen Rüstungen, die an japanische Samurai erinnerten: schwarze, mit feinen Goldlinien durchwirkte Emaillepanzer; Helme mit kurzen, aufwärts geschwungenen Seitenflügeln und Langschwerter mit handbreiten, messerscharfen Klingen. Doch die Gesichter unter den Helmen schienen aus nichts als Sand zu bestehen. 400 Caitlin wartete, dass der Sand herunterrieselte, doch das tat er nicht; stattdessen strömte er so lange herum, bis sich so etwas wie Münder, Augen und lange Hakennasen erahnen ließen. »Wer seid ihr?«, fragte Caitlin mit fester Stimme. »Wir gehören zu den Djazeem«, sagten sie unisono; ihre Stimmen klangen wie herabrieselnder Sand in einer Eieruhr. »Du hast von unserem Wasser getrunken. Man hat es dir nicht umsonst und ohne Verpflichtung angeboten.«
»Ich tue, was ich möchte«, erwiderte Caitlin, »und niemand schreibt mir etwas vor.« »Es gibt Regeln ...« »Ich mache meine eigenen Regeln.« Caitlin legte einen Pfeil an, fragte sich aber, ob sie die Oasen-Wächter überhaupt verletzen konnte, wenn sie tatsächlich nur aus Sand bestanden. »Aus dem Weg - ich habe keine Zeit.« Die Wächter kamen mit mechanisch wirkenden Bewegungen auf sie zugestapft und zückten die Schwerter. »Wir fordern eine Gabe als Gegenleistung für den Diebstahl dieser kostbarsten aller Ressourcen. Du musst bezahlen ...« Caitlin schoss den Pfeil ab. Er traf den rechten Wächter mitten ins Gesicht und durchschlug die Rückseite des Helms. Wie erwartet, beeindruckte es den Wächter nicht im Geringsten. Er kam weiter auf sie zugestapft, zog sich dabei den Pfeil heraus und warf ihn achtlos zur Seite. »Wie nennt ihr euch noch mal? Djazeem?«, fragte Caitlin. Sie versuchte Zeit zu gewinnen, während sie ihre Möglichkeiten abwog. Doch ihr war der Name längst eingefallen, den der Weiße Läufer erwähnt hatte, als sie mit den anderen nach Fernlande gekommen war. »Ja. Wir sind die Herren der Weinenden Wüste«, sag401 ten die Wächter und traten weiter auf sie zu. »Du bist Gast auf unserem Territorium. Du musst unseren Regeln gehorchen.« »Dazu habe ich mich bereits geäußert.« Caitlin bückte sich rasch, um den Pfeil aufzuheben. Die Wächter sprangen blitzartig heran und schlugen so schnell zu, dass ihre Klingen nur verschwommene Schatten waren. Doch als sie angriffen, veränderte sich Caitlins zeitliche Wahrnehmung: Alles schien in extremer Zeitlupe abzulaufen, ihre Angreifer glichen Statuen. Sie berechnete den Einfallswinkel ihrer Schwerter, zog verschiedene Taktiken in Erwägung und sprang dann geschmeidig aus dem Weg. Die Klingen schnitten durch die Stelle, wo sie gerade noch gestanden hatte, und die Wächter fuhren überrascht herum, weil Caitlin der Attacke so mühelos ausgewichen war. Der Tanz dauerte volle fünf Minuten. Caitlin wich ihren Schwerthieben aus, während die Wächter immer entschlossener und ihre Manöver zunehmend komplexer wurden. Caitlin wusste, dass sie fortrennen und ihnen wahrscheinlich entkommen könnte, doch die krächzende Stimme der Kriegsgöttin in ihr wies einen anderen Weg. Sie blieb abrupt stehen, wusste nicht mehr, was sie tat; die Morrigan hatte die Kontrolle übernommen. Es war, als hätte sich in ihrer Magengrube ein bleiernes Gewicht gebildet. Die Wächter hielten in ihrem Angriff nicht inne. Ihre Klingen kamen aus zwei Richtungen herangeflogen und würden Caitlin in wenigen Augenblicken in Stücke schneiden. Dem letzten Rest ihres eigenen Bewusstseins war klar, dass sie der Attacke nicht mehr ausweichen konnte. Das Gewicht in ihrer Magengrube drehte sich und sprang auf und ab, als nistete dort eine Rattenfamilie. 402 Elektrizität strömte in ihre Extremitäten, dann wurde sie zurückgeschleudert, und eine schwarze Wolke schoss aus ihrem Bauch heraus. Krähen. Es waren so viele, dass sie den Himmel, die Sanddünen und die angreifenden Djazeem verdeckten. Und in einem steten Strom aus schwarzen Federn, flatternden Flügeln, scharfen Klauen und spitzen Schnäbeln kamen immer neue Krähen aus ihrem Leib herausgeschossen. Ihr ohrenbetäubendes Kreischen klang wie ein Sommergewitter. Die Krähenwolke sauste mit der Wucht eines Hurrikans auf die Wächter zu. Caitlin konnte nicht erkennen, was als Nächstes geschah, aber nach wenigen Sekunden zogen sich die Krähen wieder in ihren Bauch zurück. Caitlin fühlte sich, als würde man sie mit Felsbrocken bewerfen. Sie verlor kurzzeitig das Bewusstsein, und als sie wieder zu sich kam, waren die Krähen verschwunden. Sie lag rücklings auf einem Dünenhang. Sie griff sich an den Bauch; er grummelte ein wenig, als hätte sie eine Kiste fauler Äpfel gegessen, aber davon abgesehen war sie unverletzt. Sie setzte sich auf und sah die im Sand verstreuten Rüstungen der Djazeem; ihre Sandkörper waren offenbar mit der Düne verschmolzen. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung. Ein Wesen, das aussah wie ein haarloser, etwa handgroßer Affe, kam unter einem der Brustpanzer hervorgekrochen. Caitlin schnellte vor und packte ihn. Er schrie auf, doch sie hielt ihn fest und hob ihn ans Gesicht. »Tu mir nichts!«, wimmerte der Djazeem mit hoher Stimme. »Und jetzt hörst du dir meine Regeln an«, sagte Caitlin. »Als Gegenleistung für dein Überleben beantwortest du mir ein paar Fragen. Verstanden?« 403 »Ich diene den Herren der Weinenden Wüste ...« »Keine Sorge. Ich will dir nichts entlocken, was deine Chefs geheim halten wollen. Ich brauche nur eine Wegbeschreibung.« Das kleine Wesen starrte aus seinen johannisbeerfarbenen Augen zu ihr auf. Caitlin spürte seinen schnellen Herzschlag in der Hand. »Also, wie weit bin ich vom Endlosen Fluss entfernt?« »Er liegt südöstlich von hier«, sagte der Wächter beflissen. »Folge dem Weg, auf dem du warst, und wenn du die Weinende Wüste durchquert hast, wende dich nach Süden. Du musst die Ebene der Hügelgräber durchqueren ...« Ein seltsames Flackern huschte dem Winzling übers Gesicht. Caitlin gewann den Eindruck, dass die Ebene kein Ort war, den sie zu durchqueren versuchen sollte. »Nach zwei Sonnenaufgängen solltest du dort sein.«
»Gut. Also, auf dem Fluss soll ich zu einem Ort fahren, der Haus der Schmerzen heißt. Kennst du diesen Ort?« Der Djazeem in ihrer Hand riss erschrocken die Augen auf. »Das Haus der Schmerzen ist nicht in Fernlande.« »Mir wurde aber gesagt...« »Es befindet sich im Grenzland, aber nicht in Fernlande selbst. Es wechselt hin und her ... einige behaupten sogar, es existiere hier und dort. Es gehört zum Großen Dunkel.« »Und wenn ich auf direktem Weg dort hingelangen möchte ...« »Du würdest nicht zurückkehren.« »... welchen Weg muss ich dann nehmen?« Der Djazeem schauderte und verdrehte die Augen, fand aber keinen Grund dafür, es ihr auszureden. Kühl sagte er: »Wenn du den Rand der Wüste erreichst, wird sich dir der Weg offenbaren. Wenn er nach dir verlangt, kannst du dich nicht mehr abwenden.« 404 Caitlin schaute zum Horizont; ihr Entschluss stand ohnehin fest. Es wäre Zeitverschwendung, erst ihre Gefährten zu suchen. Außerdem hatte sie von Anfang an gewusst, dass letzten Endes sie diejenige war, auf die es ankam. »Noch eines: Ich möchte nicht, dass ihr oder andere von euch mir Schwierigkeiten machen. Ich werde einfach die Wüste durchqueren, und ihr kümmert euch um eure Angelegenheiten. Ist das klar?« Der Wächter nickte eifrig. »Und falls dir andere Reisende folgen, sollen wir ihnen auch freies Geleit gewähren?« »Sicher. Warum nicht? Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wer mir freiwillig folgen würde.« Sie sah den Gefährten des Wächters unter dem zweiten Brustpanzer hervorlugen und warf den Djazeem in ihrer Hand in dessen Richtung. Er landete mit einem leisen Aufschrei im Sand. »So«, sagte sie, »vor nicht allzu langer Zeit habe ich ein Wort der Macht gelernt, das ich euch jetzt zuflüstern werde.« Matt, Jack und Mahalia verabschiedeten sich am nebelverhangenen Flussufer von den Mitgliedern der Kultur. Die Männer waren begeistert darüber, eine aktive Rolle in den so lange herbeigesehnten Ereignissen zu spielen, und konnten es kaum erwarten, in ihr Lager zurückzukehren und dort das nächste Ritual durchzuführen. Mahalia sagte kaum etwas. Das schlechte Gewissen, das sie wegen des Mordversuchs an Caitlin hatte, lastete ihr nach wie vor schwer auf der Seele, doch sie glaubte, einen Ausweg gefunden zu haben. Während die Männer durch den Sumpf zurückmarschierten, um das Ritual zu initiieren, welches das Fabelwesen in die Welt der Menschen zurückkehren lassen würde, fuhr die Sonnenjäger auf den Fluss hinaus. 405 Der Nebel verzog sich so schnell, dass den Gefährten klar wurde, dass er zu den Schutzvorkehrungen gehörte, mit denen die Mitglieder der Kultur sich ungebetene Besucher vom Leib hielten. Wenig später brannte die Sonne auf eine Savanne nieder, die im Osten zu einer schneebedeckten Bergkette führte und im Westen hinterm Horizont verschwand. Plötzlich wogten die hohen gelben Gräser an den Ufern ruckartig hin und her, als würden riesige Tiere dem Boot folgen, doch man sah nichts. Es war, als wären die Gräser selbst lebendig. »Es geht wieder los«, sagte Matt zu Jack und Mahalia. Verkrampft packte Crowther die Reling, als die Maske in Aktion trat. »Es deutete sich an, sobald wir aus dem Nebel raus waren«, erklärte Matt. »Vielleicht hätten wir ihn auf der Insel zurücklassen sollen«, sagte Jack. »Nein«, erwiderte Mahalia. »Er gehört zu uns.« »Das sagst du jetzt.« Matt wischte sich über die schweißnasse Stirn; es wurde allmählich heiß. »Du hast doch gesehen, wie heftig es werden kann. Falls er außer Kontrolle gerät, haben wir ein Problem.« »Wir überlegen uns etwas«, entgegnete Mahalia. Matt zögerte kurz, dann sagte er: »Im Zweifelsfall müssen wir den Professor töten. Wir dürfen die Mission nicht gefährden.« Mahalia warf Matt einen eisigen Blick zu, unter dem er sich augenblicklich unwohl fühlte. »Dass Sie hier den Anführer markieren können, steigt Ihnen wohl zu Kopf. Sie klingen wie ein billiger Rambo-Abklatsch. Oder«, fügte sie an, während sie auf den Professor zuging, »wie ich.« Sie setzte sich zu Crowther und sagte sanft: »Professor, verstehen Sie mich?« Es kam keine Antwort, doch sie 406 glaubte, die Maske wäre ihr ein Stück entgegengerückt. »Ich habe Sie letzte Nacht im Steinkreis beobachtet. Etwas war anders an Ihrem Verhalten. Ich glaube, Sie sind wach unter der Maske und bekommen alles mit. Verstehen Sie mich?« Erst schien es, als würde sie keine Antwort erhalten, aber dann erklang seine gedämpfte Stimme. »Ja.« Sie empfand tiefe Erleichterung. »Wenn Sie wieder Sie selbst sind, warum nehmen Sie die Maske nicht ab?« »Ich kann nicht.« »Lässt sie Sie nicht?« »Nein. Ich lasse es nicht zu.« Er wandte den Kopf zur Seite. »Professor, Sie wissen doch, was die Maske anrichten kann. Sie haben es uns selbst erklärt. Hier draußen gerät es außer Kontrolle.« Sie schaute zu Matt zurück, der sie mit verschränkten Armen beobachtete. »Der Kerl wird nicht zulassen, dass Sie uns auf der Suche nach dem Heilmittel im Weg stehen.« »Ich weiß, was du andeutest.« »Dann nehmen Sie doch um Himmels willen die Maske ab!«
»Lass mich in Ruhe«, sagte er tonlos. »Und versuche nicht noch mal, mich zu überreden ... um deinetwillen.« Sie wartete einen Moment lang, um zu sehen, ob er vielleicht doch noch einlenken würde, aber er hielt den Kopf weiter abgewandt, und das Leuchten der Maske wurde intensiver, als reagiere sie auf Crowthers Empfindungen. »Und, wie sieht's aus? Müssen wir rabiat werden?«, fragte Matt, als Mahalia zurückkam. Sie ging an ihm vorbei zum Bug. »Wahrscheinlich werden wir lange tot sein, bevor eine solche Entscheidung anstünde.« 407 Die Stimmung an Bord war gedrückt, und jeder suchte sich in der brütenden Hitze einen eigenen Platz. Mahalia sagte Jack, sie brauchte etwas Zeit zum Nachdenken. Er war zwar gekränkt, fügte sich aber ihrem Wunsch. Die Savanne wich allmählich einer buschigen Einöde und dann einer kargen, felsübersäten Landschaft, die der Mars-Oberfläche ähnelte. Der Fluss war inzwischen deutlich schmaler geworden, und ihnen wurde bewusst, dass es schwierig werden würde, seinem gewundenen Lauf zu folgen. Doch bevor sie sich darüber den Kopf zerbrechen konnten, fuhr die Sonnenjäger eine leichte Kurve und hielt auf einen hölzernen Anlegesteg zu. Der Aufbau, bei dem viele Planken fehlten oder zerbrochen waren, wirkte nicht sehr vertrauenerweckend; der Steg schien nur selten benutzt zu werden. »Endstation«, sagte Matt. Sie klaubten ihre Habseligkeiten zusammen und gingen von Bord, traurig darüber, die relative Sicherheit der Sonnenjäger zu verlassen. »Wo lang?«, fragte Jack. Matt zeigte zum nördlichen Horizont, wo am Himmel wie in einem Kaleidoskop explodierende Farben aufleuchteten. Davor lag ein dunkler Bereich, der auf eine Art Gebäude hindeutete, doch sie spürten ein schmerzhaftes Stechen in den Augen, wenn sie zu lange hinsahen. »Das Haus der Schmerzen«, sagte Matt unnötigerweise. »So, jetzt müssen wir nur noch diese öde Felslandschaft durchqueren«, sagte Jack, der mit der Hand die Augen vor der Sonne abschirmte. »Das sind keine Felsen«, erwiderte Mahalia. »Es sind Hügelgräber.« 408 Über Berge und Wiesen lief sie, schlich durch dunkle Straßen, durchquerte finstere Wälder und windgepeitschte Ebenen, auf denen sie die Echos uralter Stimmen vernahm. Sie stieg über kristallklare Bäche und überquerte sonnendurchflutete Lichtungen, und manchmal dachte Mary, ihre Odyssee würde niemals enden. Es war eine Reise, die von den gewohnten Pfaden abwich und sie in ihr tiefstes Inneres führte, wo dunkle Höhlen wie Kathedralen aufragten, Orte, die zeit ihres Lebens unerforscht geblieben waren, Orte, deren Schrecken im Lichtschein ihrer prüfenden Blicke zusammenschrumpften. Als sie an einem strahlend klaren Morgen aus Bradford-on-Avon herausspazierte, fühlte sie sich wie wiedergeboren, obwohl ihr dieser Umstand noch nicht ganz bewusst war. Der Puzzle-Mann war nach wie vor hinter ihr her, und er war näher gekommen; einige Male hatte sie in der Ferne seinen verrenkten Körper ausgemacht und gezwungenermaßen einen Schritt zugelegt. Aber sie fürchtete sich nicht mehr vor ihm; er war einfach da, und falls es zu einer Konfrontation käme, dann war es eben so. Und nun hatte sie endlich ihr Ziel erreicht. Bath lag ausgebreitet vor ihr, seit zehntausenden von Jahren die Heimat ihrer spirituellen Vorfahren - seit die ersten neolithischen Sammler und Jäger an den warm sprudelnden Heilquellen ihre simplen Opfergaben dargeboten hatten. Mary kannte die historischen Hintergründe und wusste ihr magisches Talent zu gebrauchen, und alles hatte auf diesen Ort als die Stätte hingewiesen, wo sie Antworten auf ihre brennenden Fragen erhalten würde. Doch dies war nicht das Bath ihrer Erinnerung. Die wild wuchernde Pflanzenwelt verdeckte beinahe den Blick auf die herrschaftlichen georgianischen Gebäude, den viktorianischen Königspalast und die Pulteney-Brü409 cke mit ihren Anspielungen auf den Ponte Vecchio. Ein gut fünf Meter hoher Schwarzdorn-Wall, den hier und da Geißblatt und Waldreben auflockerten, umschloss die gesamte Stadt. Auf den Hauptstraßen waren Bäume durch den Asphalt heraus gesprossen. Efeu hing an den Schornsteinen herab, und überall sah man Stechginsterbüsche und farbenprächtige Wildrosen. Obwohl sich die Pflanzenwelt seit dem Untergang ungehemmt ausbreiten konnte, waren die Dichte und der Wachstumsstand der Flora viel zu weit fortgeschritten. Magie lag in der Luft, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Das Werk der Menschen und der Natur im harmonischen Zusammenspiel zu sehen war zweifellos erbauend. Doch die Stadt selbst war gespenstisch still. Nicht eine Rauchfahne stieg aus den vielen Schornsteinen, nichts regte sich in den alten, verwinkelten Straßen, weder Mensch noch Tier. Und doch war dort etwas; Mary konnte es spüren, wie einen gewaltigen, nach außen strebenden Druck. In der verzweifelten Hoffnung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, stieg sie den Abhang hinunter und ging auf die Stadt zu. Sie lief fast eine Meile um den Schwarzdorn-Wall herum, bis sie darin eine Lücke fand. Sie war gerade breit genug für einen Menschen, und die vielen Dornen waren so spitz, dass ein falscher Schritt üble Schnittwunden verursacht hätte. Während sie sich vorsichtig vorantastete, wurde ihr bewusst, dass der Durchgang so angelegt war, dass jeweils nur eine Person hindurchlaufen konnte; dies war entweder eine Schutzvorkehrung, oder es
handelte sich um einen Prozessionsweg zu einem Heiligtum in der Stadt - oder es war beides. Der Schwarzdorn-Wall war gut fünfzehn Meter tief, 410 und als sie schließlich auf der anderen Seite herauskam und ins helle Sonnenlicht trat, fühlte sie sich wie in einer anderen Welt. Die Stadt verströmte nicht mehr die Atmosphäre einer menschlichen Ansiedlung; sie hatte etwas Überirdisches, Geheimnisvolles, ja Heiliges. Während Mary durch die pflanzenüberwucherten Straßen ging, fühlte sie sich, als stünde ihr in Kürze eine unglaubliche, transzendierende Offenbarung bevor. Alles um sie herum kündete von einer tiefen Bedeutsamkeit, selbst die Luft, die sie atmete. In Bath hatte man immer das Gefühl gehabt, als wäre die Zeit stehen geblieben, und dieser Eindruck war nun noch intensiver. Und während Mary den Ort durchquerte, bemerkte sie, dass die Lichter, die sie ab und zu im Augenwinkel sah, keine aufblitzenden Sonnenstrahlen zwischen den Ästen waren. Da waren Bewegungen, doch es gab kein Leben. Geisterhafte Männer und Frauen wanderten träge im Unterholz herum. Mary sah seltsam gekleidete Gestalten, die sie für die Kelten hielt, die 700 vor Christus an den Stadtquellen den ersten Schrein errichtet hatten; des Weiteren waren da Römer, die danach gekommen waren, und andere Personen in den Gewändern späterer Zeitalter, und alle wanderten seelenruhig umher; man sah sie kaum, spürte aber ihre Gegenwart. Sie waren nicht furchteinflößend; vielmehr erweckten sie in Mary ein sonderbar tröstliches Gefühl. Schließlich erreichte sie ihr Ziel. In zwei mannshohen Messingschalen links und rechts des Weges brannten Feuer; wer sie entzündet hatte, war ihr schleierhaft. Die dahinter liegende Eingangshalle zum römischen Stadtbad war fast vollständig hinter wuchernden Pflanzen verborgen. Aber die Türen standen offen, und dahinter lag undurchdringliche Dunkelheit. 411 Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Mary ging hinein. »Wir haben fast kein Wasser mehr.« Mahalia befeuchtete die Lippen am Hals des Kanisters, den sie von der Sonnenjäger mitgenommen hatten. Matt schirmte die Augen gegen die Sonne ab und blickte über die staubige Ebene, auf der nur einige struppige Grasbüschel und scharfkantige Felsen die Monotonie der Hügelgräber durchbrachen. »Ich weiß. Aber es sollte nicht mehr lange dauern, bis wir die andere Seite erreichen.« »Was, wenn es dort auch kein Wasser gibt?«, fragte Jack. »Nicht dass ich es unbedingt brauchte, aber ...« Er blickte besorgt zu Mahalia. »Ich glaube, das ist das kleinste unserer Probleme«, entgegnete Matt. Obwohl die Sonne tief am Horizont stand, war der Himmel ein einziges buntes Farbenmeer; purpurne Bereiche gingen in leuchtendes Gold über, explodierende rote Lichtsprenkel hinterließen grün schimmernde Schweife. Den Umstand, dass das Grenzland nahe war, erkannte man auch daran, dass im Wind gelegentlich merkwürdig anschwellende Geräusche zu vernehmen waren, die klangen wie die psychedelischen Sound-Effekte einer Garagenband. Auf den Zungen nahmen sie die verschiedensten Geschmäcker wahr - darunter Erdbeeren, verbranntes Holz, Kardamom und Zitronen. Der Duft von Rosenblüten und Weihrauch erfüllte die Luft. Crowther trottete in einigem Abstand hinter ihnen her; er war ganz in die halluzinogene Welt hinter seiner Maske versunken, auf deren silberner Oberfläche sich die bunten Himmelsfarben spiegelten. Sie waren den ganzen Tag durch die trostlose Einöde 412 marschiert; der Fluss hinter ihnen war schon lange verschwunden. Ihre Kleidung und ihr Haar waren weiß vom allgegenwärtigen Staub, der in jede Ritze eindrang und ihnen in den Augen und im Rachen brannte. Jack beäugte eines der Hügelgräber, an denen sie ständig vorbeikamen. »Was hat es damit auf sich?« »Ist doch ganz einfach«, erwiderte Mahalia. »Da wurden Leute begraben.« »Mann, dann ist das Ganze hier ja ein einziger riesiger Friedhof«, sagte Matt. An Jacks Miene erkannte Mahalia, dass ihm ein Gedanke gekommen war. »Was überlegst du?«, fragte sie ihn sanft. »Ich habe am Hof des Letzten Wortes etwas gehört«, sagte er. »Über einen Ort der Toten ... eine Art Anhängsel der Graulande, wie es hieß. Es hatte einen bestimmten Namen ...« »Wir brauchen jetzt keine Geschichtsstunde«, sagte Matt, gereizt vom ewigen Herumlaufen. »Geh einfach weiter, sonst kommen wir nie ans Ziel.« Jack tat wie geheißen, suchte aber weiter nach dem Namen, der ihm auf der Zunge lag. »Habt ihr das gesehen?«, fragte Mahalia unvermittelt. »Von dem Hügelgrab dort drüben ist ein Stein runtergerollt. « »Das war wahrscheinlich ein Effekt der Maske«, sagte Matt. »Unsinn«, entgegnete Mahalia. »Die Maske verändert das Licht und die Geräusche, aber sie ruft keine Vibrationen hervor.« Links von ihnen rollte ein weiterer Stein von einem Hügelgrab, dann, direkt vor ihnen, noch einer. Diesmal hatte es auch Matt gesehen. Die Steine schienen sich aus eigener Kraft bewegt zu haben. 413 »Sehen Sie?«, sagte Mahalia triumphierend.
Matt blieb stehen, drehte sich langsam im Kreis und blickte suchend in die Ferne. Überall rollten Steine und kleine Felsbrocken von den Grabhügeln. Er schaute zum Horizont, wo inmitten der psychedelischen Himmelslichter ein karamellfarbener Vollmond aufging. Jack zuckte zusammen. »Jetzt weiß ich es! Das Land der Schlafenden Toten!« Weitere Steine rollten herunter. Die Grabhügel erwachten zum Leben. In den freigelegten Öffnungen waren Bewegungen auszumachen. »Da kommen irgendwelche Wesen raus!«, rief Mahalia erschrocken. Eine geisterhafte weiße Hand erhob sich aus einem der Gräber. »Oh Gott!«, murmelte Matt. Er packte Mahalia und Jack und zog sie weiter. »Der Professor!«, rief Mahalia. »Vergiss ihn.« Matt wollte losrennen, aber als er in der Ferne die unzähligen Hügelgräber sah, wurde ihm bewusst, dass sie nicht fliehen konnten. »Die Baobhan Sith!«, sagte Jack; sein Gesicht war kreidebleich. »Was sind das für Wesen?«, fragte Mahalia. Sie wollte weitereilen, sah eine Gestalt aus dem Hügelgrab steigen und fuhr herum, aber auch hinter ihnen erwachten die Gräber zum Leben. »Sie liegen hier und warten darauf, Reisenden das Blut auszusaugen ... man kann ihnen nicht entkommen ...«, sagte Jack atemlos. Matt sah, dass sich auf den Hügelgräbern noch nichts regte. »Die Kerle erwachen, wenn das Mondlicht auf die Gräber fällt!«, sagte er. »Wenn wir rennen, könnten wir ihnen zuvorkommen.« Er sprintete los. 414 »Man kann ihnen nicht entkommen!«, rief Jack ihm nach. Nichtsdestotrotz packte er Mahalias Hand und rannte ebenfalls los. Weiße Staubwolken stoben unter ihren dahinfliegenden Schritten auf. Um sie herum stiegen überall seltsam schimmernde Gestalten aus den Hügelgräbern heraus. Es waren Tausende, vielleicht Zehntausende; und Matt, Jack und Mahalia waren mittendrin in der verwunschenen Heimat der vampirartigen Geschöpfe. Aufgrund seiner Schnelligkeit lag Matt ein gutes Stück vor den anderen, doch er ließ sich zurückfallen, als er sah, dass Jack und Mahalia ins Stolpern gerieten. Die Baobhan Sith stiegen träge aus ihren düsteren Schlafstätten; sie hatten langes Haar, die ausdruckslosen Gesichter von Puppen und trugen zerfetzte Lumpen. Die Schattengrenze wich in bemerkenswertem Tempo vor den Mondstrahlen zurück; die drei konnten sie unmöglich rechtzeitig erreichen. Die Baobhan Sith schwebten von allen Seiten auf sie zu, und in der Ferne reckten sich immer neue Arme aus den Hügelgräbern. Und dann schnitt ein furchtbares Kreischen durch das staubige Zwielicht. Mahalia fühlte sich, als ob man ihr ins Herz gestochen hätte. Es war ein Alarm. Matt schaute zurück, als immer mehr Blutsauger in das Kreischen einstimmten, und sein Gesichtsausdruck verriet das Entsetzen, das sie alle empfanden. Dann war das Kreischen überall. Die vor ihnen liegenden Hügelgräber explodierten regelrecht, als immer neue Heerscharen der Baobhan Sith dem Ruf folgten. Und dann konnten sie sich in keine Richtung mehr wenden. Mahalia warf sich zu Boden und rollte sich zu einem Ball zusammen. Jack warf sich schützend über sie. Matt konnten sie nirgends entdecken. Und dann, als sie jeden Moment mit dem Ansturm der 415 Blutsauger rechneten, geschah etwas Sonderbares. Ein schwerer Rosenduft senkte sich über sie herab, gefolgt von der intensivsten Stille, die Mahalia jemals erlebt hatte; im Bruchteil einer Sekunde gab es kein Kreischen mehr, keinen Wind, nichts. Sie schlug die Augen auf und sah, dass sich um sie herum eine glänzende Blase gebildet hatte; Matt lag neben ihnen im Staub; Blut floss aus einer üblen, von messerscharfen Klauen hervorgerufenen Kratzwunde an seiner Stirn. Außerhalb der Blase sah Mahalia die Baobhan Sith, die wie Kakerlaken umherhuschten, aber die Blase und die Personen darin nicht wahrnehmen konnten. »Was ist geschehen?«, fragte Jack benommen. Matt deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Crowther stand ganz in der Nähe, die schimmernde Maske auf dem Gesicht. Die Baobhan Sith hielten einen respektvollen Abstand zu ihm, denn sie hatten Angst vor der Macht, die der Professor verkörperte. Mahalia sprang auf. »Ich wusste es! Er lässt uns nicht im Stich!« Die Blase flackerte und begann sich aufzulösen, dann wurde sie wieder fest. »Ich glaube, er kann sie nicht mehr lange aufrechterhalten«, sagte Matt. Er schaute sich fieberhaft nach einer Lösung um, bis eine Idee seine Züge erstrahlen ließ. Er stand auf, stieg auf eines der leeren Hügelgräber innerhalb der Blase und ließ sich langsam durch die enge Öffnung hinunter. »Kommt!«, rief er den anderen beiden zu. »Das ist verrückt!«, sagte Mahalia. »Was passiert, wenn sie zurückkommen? Dann sitzen wir in der Falle.« »Hast du eine bessere Idee?«, schimpfte Matt. »Ich wette, sie kommen erst kurz vor Sonnenaufgang zurück. Falls sie so sind, wie Jack sagt, ertragen sie wahrschein416 lieh kein Sonnenlicht. Wenn der, der hier wohnt, zurückkehrt, springen wir raus und hauen ab. Im Tageslicht
können er und seine Kumpane uns nicht verfolgen.« Mahalia war nicht überzeugt von der Idee, wusste aber keinen anderen Ausweg. Zuerst schob sie Jack hinunter und zwängte sich dann selbst durch die Öffnung. Es war extrem eng im Innern des Hügelgrabs. Die scharfkantigen Felsbrocken, die sich ihnen in den Rücken und in die Gliedmaßen bohrten, ließen keine bequeme Sitzposition zu. Mit Matts Hilfe schloss Mahalia die Öffnung, und kaum dass der letzte Stein an die richtige Stelle gelegt war, löste sich draußen die Blase mit einem leisen Plop auf. Mahalia schlug das Herz bis zum Hals. Durch die Ritzen zwischen den Steinen sah sie, wie die Baobhan Sith wie Raubtiere auf die Stelle zuschnellten, wo gerade noch Matt, Jack und sie selbst gekauert hatten. Ihr stockte der Atem. Würden die Blutsauger sie in dem Versteck sehen, den Hügel aufwühlen, sie herauszerren und ihnen mit ihren spitzen Zähnen die Kehlen aufreißen? Einen Moment lang schien genau das zu geschehen. Die Baobhan Sith glitten auf den Hügel zu, umkreisten ihn mehrere Male und kamen schließlich heraufgestiegen. Doch keiner bemerkte die eilig verschlossene Öffnung, die vermutlich bei der geringsten Berührung in sich zusammenfallen würde. Offenbar besaßen die raubtierartigen Wesen nur minimale Intelligenz. Die Erkenntnis schmälerte die Furcht der drei Gefährten allerdings nicht im Geringsten. In den langen Nachtstunden saßen sie reglos da, denn sie befürchteten, dass schon die kleinste Bewegung ein verräterisches Geräusch machen könnte. Sie wagten 417 kaum zu atmen, und als die dunkelsten Stunden verstrichen waren, schmerzten ihnen vor Anstrengung die Lungen. Und die ganze Zeit über stand Crowther stocksteif in der Nähe ihres Verstecks; die Maske warf bunte Lichtblitze in die nächtliche Landschaft. Die Baobhan Sith hielten sich von ihm fern wie geprügelte Hunde. Schließlich wurde es hell am Himmel. Das chaotische Gewimmel der Baobhan Sith kam von einem Moment zum anderen zum Stillstand, das Kreischen verklang, und sie wandten sich alle gemeinsam zu dem Punkt um, wo in Kürze die Sonne aufgehen würde. Nach einem furchterfüllten oder vielleicht sogar respektvollen Moment fuhren sie herum und eilten zu ihren Hügelgräbern zurück. Mahalia spürte, dass Matt leicht nervös wurde. Alles hing von den nächsten Augenblicken ab. Nach einigen Sekunden kam ein Baobhan Sith auf den Hügel zugeschwebt und stieg herauf. Am Eingang hielt er kurz inne, verwundert über die verschlossene Öffnung, dann zog er mit seinen unfassbar langen, dünnen Fingern die Steine heraus. Matt tippte Mahalia auf die Schulter und flüsterte: »Jetzt.« Ohne lange zu überlegen, stieß Mahalia durch die Öffnung in die Höhe und kletterte, gefolgt von Matt und Jack, blitzschnell ins Freie. Der Blutsauger wich zurück und fauchte wie eine Katze, griff aber nicht an. Stattdessen bedachte er sie mit unheilvollen Blicken, während er in das Hügelgrab hinabglitt und über sich die Öffnung verschloss. In allen Richtungen strömten die Baobhan Sith zu ihren Gräbern zurück; einige blieben stehen und fauchten die Gefährten an oder stießen drohend die klauenbe418 wehrten Hände in die Luft, aber keiner trat ihnen entgegen. Umgeben von dem übernatürlichen Schauspiel, standen die drei wie zu Salzsäulen erstarrt da, bis sie schließlich begriffen, dass man sie nicht angreifen würde. Die Baobhan Sith wurden von einer Urangst getrieben: ihrer Angst vor der aufgehenden Sonne. Matt bedeutete den beiden anderen, ihm zu folgen, und so setzten sie ihren Marsch zum Haus der Schmerzen fort. Mahalia war schweißgebadet. Sie konnte nicht fassen, dass sie noch einmal davongekommen waren. Sie hatte schon mit dem Leben abgeschlossen und auf einen schnellen Tod gehofft. Als sie sich kurz umdrehte, sah sie zu ihrer überschwänglichen Freude, dass Crowther ihnen unermüdlich hinterher trottete. Sie verspürte eine tiefe und überraschende Verbundenheit mit dem Professor; das Gefühl hatte sich ganz allmählich in ihr entwickelt, und am überraschendsten war, dass es sich gut anfühlte. Sobald sie eine Möglichkeit gefunden hatten, ihm die Maske abzunehmen, würde sie ihn wissen lassen, dass sie ihn für einen guten Menschen hielt und dass sie ihm vertraute. Eine höhere Lobpreisung gab es in ihren Augen nicht. Als die Sonne vollends über den Horizont gestiegen war, hatte sich auch der letzte der Blutsauger in sein Hügelgrab verkrochen. Erst jetzt erlaubten sich die drei einen Moment offener Freude. Mahalia und Jack schlössen sich und dann auch Matt in die Arme. »Ich dachte, mit uns wäre es vorbei!«, sagte Matt. »Der gute alte Crowther. Wer hätte gedacht, dass der alte Narr uns eines Tages derart aus der Patsche helfen würde?« Mahalia lief zum Professor, um sich bei ihm zu bedanken, doch er reagierte nicht. Sie ließ sich davon nicht beeindrucken und ging einfach zu den anderen zurück. 419 Dass sie diese grauenvolle Nacht überlebt hatten, erfüllte sie mit neuer Kraft und Zuversicht. »Wisst ihr was?«, sagte Mahalia. »Wenn wir so was überstehen, dann überstehen wir alles.« »Sei nicht vorschnell«, warnte Matt, aber seine Miene verriet, dass er genauso empfand. Die Ebene endete unvermittelt an einem üppigen, sattgrünen Vegetationsgürtel. Sobald sie diesen erblickten,
stürmten sie jauchzend los. Gleich hinter den ersten Bäumen lag ein kleiner See. Sie rannten voll bekleidet hinein, spülten sich den Staub aus den Haaren und Kehlen und tollten eine Weile ausgelassen herum. Danach legten sie sich ans Ufer, ruhten sich aus und unterhielten sich leise, doch sie wussten, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm war. Am Himmel erstrahlten bizarre Farbmuster, und aus der Ferne wehten die absonderlichsten Klänge zu ihnen heran. »Wir sind fast da«, sagte Matt, während er zu dem Himmelsschauspiel aufblickte. Er deutete auf eine steile, grasbewachsene Anhöhe hinter dem See. »Dort drüben ist es, würde ich sagen.« Sie nahmen ihren ganzen Mut zusammen, gingen los und erklommen die Anhöhe; sie ließen sich Zeit dabei, um das Bevorstehende noch ein wenig hinauszuschieben. Noch vom Hang aus sahen sie in der Ferne das Haus der Schmerzen aufragen. Es schien hoch wie der Himmel selbst zu sein, doch ihr Verstand konnte keines der zahllosen Details verarbeiten. Sie nahmen es lediglich als schwarzen Fleck wahr, und je angestrengter sie hinschauten, desto stärker wurden die Kopfschmerzen und die Übelkeit, die sie währenddessen empfanden. Als sie schließlich oben ankamen und über eine weitere felsübersäte Ebene hinwegblickten, sahen sie, dass 420 die Baobhan Sith bei weitem nicht die schlimmste Bedrohung gewesen waren. So weit das Auge reichte, hingen purpurne Nebelschwaden in der Luft, wie Rauch über einem Schlachtfeld. Und inmitten des Nebels stand die Armee der Flüsterer, deren Truppenstärke apokalyptische Dimensionen angenommen hatte. Sie hatten das Haus der Schmerzen komplett umstellt und starrten auf die Anhöhe, während sich ihre Reihen in der nebligen Ferne verloren. »Allmächtiger«, flüsterte Matt. »Sieht so aus, als hätten sie sich alle Bewohner von Fernlande einverleibt«, sagte Jack. »Es müssen Hunderttausende sein.« »Und wir sind zu viert.« Mahalia wandte sich von dem grauenvollen Anblick ab und sah ihre Gefährten mit glänzenden Augen an. In ihr war eine nie gekannte Leidenschaft erwacht. Das war es: Ihr großer Augenblick war gekommen. Es gab kein Zurück mehr, keine Überlebenschance. Es ging nur noch darum, würdevoll zu sterben; der Tod selbst kümmerte sie nicht. Sie lächelte verkniffen und sagte: »Die letzte Runde beginnt.« 16 Das Haus der Schmerzen »Ich habe nie gesagt: >Lasst mich allein.< Ich habe gesagt: Ach möchte in Ruhe gelassen werden.< Das ist ein gewaltiger Unterschied.« GRETA GARBO Eine Welle der Verzweiflung schlug ihnen von den hunderttausenden von Flüsterern entgegen. Mahalia, Jack und Matt versuchten, sich der negativen Wirkung so gut es ging zu entziehen - indem sie summten, schnell redeten und sich tief in die Augen schauten -, doch gänzlich verhindern ließen sich die emotionalen Reaktionen nicht. »Die lassen uns nicht mehr weg, stimmt's?«, sagte Jack beklommen. Er blickte zu den Flüsterern zurück, als hoffte er, sie wären fortgezaubert worden, während er sich abgewandt hatte. »Wir hätten wissen müssen, dass es so endet. Wir hatten nie eine Chance.« Matts Miene verriet seinen Kummer über ihre nahende Niederlage. Er schaute zur Ebene der Hügelgräber zurück, dann wieder zu den Flüsterern. »Er hat Recht. Es ist vorbei. Zurück können wir nicht mehr, und wenn wir runtergehen, sind wir in wenigen Sekunden tot ...« Er senkte den Kopf und versuchte zu verarbeiten, dass er in wenigen Augenblicken sterben würde. Er atmete tief durch, schaute auf und lächelte gezwungen. »Es ist sinnlos, rumzujammern. Das war's.« »Dann sollten wir wenigstens würdevoll sterben«, 422 sagte Mahalia. »Ich will nicht, dass man mich vergisst, ich will kein namenloser Verlierer sein, und wenn man sich an mich erinnert, möchte ich nicht, dass es heißt, ich wäre ein verzogenes, egoistisches Miststück gewesen. Ich möchte, dass man so über mich spricht, wie Matthias über die fünf Brüder und Schwestern der Drachen gesprochen hat. Aus ihnen ist ein Mythos geworden ... wie König Artus und seine Ritter oder so. Das möchte ich auch.« Sie biss sich auf die Lippe und versuchte ihre Emotionen im Zaum zu halten. Matt zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand über diese Auseinandersetzung berichten wird ...« »Das kann man nie wissen! Vielleicht sieht das Wesenlose, oder wie auch immer man es nennen will, wie heldenhaft wir uns wehren, und denkt: Wenn die ganze Menschheit so ist, habe ich keine Chance gegen sie. Ich ziehe mich lieber wieder zurück ...« Matt grinste und schüttelte den Kopf. »Lachen Sie nicht! Manchmal können bestimmte Handlungen eine Eigendynamik entwickeln. Taten besitzen Energie.« Sie winkte ihn abfällig fort und ging auf den Abhang zu. Matt hielt sie am Arm fest. »Du hast Recht - wir ziehen das gemeinsam durch und werden den Zombies da unten eine heldenhafte Schlacht liefern.« Er schaute von Mahalia zu Jack. »Ihr sagt euch jetzt besser Lebewohl.«
Seine Worte machten ihnen eindringlich bewusst, was in Kürze geschehen würde. Jack und Mahalia fielen sich in die Arme, und Tränen schössen ihnen in die Augen. Sie küssten sich innig, und bevor sie voneinander abließen, flüsterten sie sich etwas ins Ohr. Sobald Mahalia sich von Jack löste, wurde sie emotionslos. »Okay«, sagte sie, »los geht's.« 423 Bevor sie den Hügel hinabstiegen, eilte Mahalia zu Crowther zurück. »Professor, Sie haben uns gegen die Baobhan Sith geholfen, und dafür werden wir Ihnen ewig dankbar sein - Sie haben uns das Leben gerettet. Aber wir benötigen noch mal Ihre Hilfe, denn diesmal ist die Bedrohung noch viel schlimmer. Wenn Sie irgendetwas tun könnten ... irgendetwas ...« Sie erhielt keine Antwort, doch Mahalia war überzeugt, dass er sie verstanden hatte. Entgegen ihrer üblichen Zurückhaltung schlang sie ihm die Arme um den Hals und drückte den Professor kurz an sich, bevor sie zu den anderen zurückging»Alles klar?«, fragte Matt, als würden sie sich auf einen Spaziergang begeben. Als sie den Hang hinunter schritten, wurde das Flüstern immer intensiver, und der Drang, sich einfach hinzulegen und aufzugeben, war fast überwältigend. »Kämpft so lange ihr könnt dagegen an«, sagte Matt. Er blickte zu Jack. »Wirst du den Bannfluch einsetzen?« »Sicher. Bis ich ausbrenne - oder das Universum in Stücke gesprengt habe.« Die Flüsterer standen wie Statuen da; nur ihr fortwährendes Gebrabbel verriet, dass sie lebendig waren. Als Mahalia auf die grauenvoll entstellten Geschöpfe hinabblickte, fragte sie sich, wie lange sie gegen diese Übermacht bestehen würden - drei Minuten? Eine? Dreißig Sekunden? Sie erwartete, dass Matt das Angriffssignal geben würde, doch er zückte bloß das Krummschwert, das er sich am Hof der Einträchtigen Seelen genommen hatte, und stürmte los. Sie folgte ihm, das rostige, blutverkrustete Fomorii-Schwert in der Hand, fest entschlossen, so viele Flüsterer wie möglich mit in den Tod zu reißen. Jack rannte neben ihr her, breitete die Arme aus und 424 ließ aus seinem Körper einen kleinen weißen Lichtball herausschießen. Dieser besaß nicht die gleiche zerstörerische Wucht, wie Mahalia es am Eingang zum Hof der Singenden Träume erlebt hatte, aber es reichte aus, um fünf der Flüsterer zu zerfetzen. Jack musste sich seine Kräfte einteilen, denn der Einsatz des Bannfluchs war extrem anstrengend, und er wollte nicht gleich am Anfang kampfunfähig zu Boden sinken. Und dann hatten sie den Fuß des Abhangs erreicht und stürmten in die erste Reihe der Flüsterer hinein. Matt schlug einem den Kopf von den Schultern, dann spaltete er einem anderen den Schädel. Doch die Flüsterer sahen dem Angriff nicht tatenlos zu. Sie stürmten ihrerseits los, hatten aber das Problem, dass sie so dicht beieinander standen, dass sie kaum ihre Schwerter, Speere und Äxte heben konnten. Matt parierte mehrere Schwerthiebe, duckte sich und ging zum Gegenangriff über, doch die Flüsterer stürmten von allen Seiten auf ihn zu. Obwohl sie selbst fieberhaft um sich schlug, sah Mahalia, was für ein guter, ja geradezu professionell wirkender Kämpfer Matt war. Fast wie ein Elitesoldat. Doch der Gedanke war sofort verflogen, als um sie herum das ekelerregende Geflüster anschwoll und der purpurne Nebel ihr in Mund und Nase strömte. Sie sah nur noch eine Wand aus gegen sie drängenden Leibern. Sie legte ihr ganzes Gewicht hinter das Schwert, stieß die grausam gezackte Klinge in einen Bauch und schnitt mühelos durch die Eingeweide. Als sie es wieder herauszog, spritzte ihr ein kalter Blutschwall entgegen, dann wirbelte sie herum und stieß die Klinge in eine ungeschützte Kehle. Zwei Flüsterer hatte sie erledigt, doch von der Wucht ihrer Schwerthiebe taten ihr bereits die Arme weh. Sie 425 war nicht stark genug, um diesen grausigen Tanz lange durchzuhalten. Sie wünschte, sie hätte mehr trainiert und wäre nicht so überheblich gewesen, doch sie hatte immer gedacht, dass sie sich im Falle einer ernsthaften Auseinandersetzung davonstehlen und den anderen das Kämpfen überlassen würde. Ihre Konzentration ließ nach, und einer der Flüsterer durchbrach ihre Deckung und war im Begriff, ihr seinen Speer in die Brust zu rammen. Jack kam aus dem Nichts und stieß die Waffe zur Seite, bevor er einen Lichtball abschoss, der den Angreifer atomisierte. Verschwommen sah Mahalia, dass Jacks Augen qualmten, als würde in ihm ein gewaltiges Feuer lodern. Die Zeit zog sich endlos dahin; die Gefährten kämpften mit dem Mut der Verzweiflung, stießen zu, parierten, duckten sich und spürten ihre immer stärker schmerzenden Muskeln, während sie einen Flüsterer nach dem anderen niederstreckten. Doch sie hatten nicht einmal den Ansatz einer Schneise in die massierten Reihen der feindlichen Armee geschlagen. Und dann ertönte hinter ihnen ein ohrenbetäubendes Dröhnen, wie von einem startenden Düsenflugzeug. Mahalia sah etwas Rotes und Goldenes über ihre Schulter hinwegsausen, und dann explodierte vor ihnen eine fünfzig Quadratmeter große Fläche voller Flüsterer; es regnete kaltes Blut und abgerissene Körperteile und roch wie auf einer brennenden Mülldeponie. Die Druckwelle warf sie zu Boden. Als das Dröhnen in ihren Ohren verklungen war und sie aufblickte, sah sie Crowther den Abhang herunterschreiten. Von ihrem Standort aus wirkte er viel größer als sonst; er schien mit jedem Schritt zu wachsen und von einer furchtbaren Kraft erfüllt zu sein. Aus der silbernen Maske strömten Wände aus rotem, blauem, grünem und gelbem Licht. 426
Um ihn herum formten sich alle möglichen Gebilde, scheinbar aus dem Nichts. Mahalia sah eine Rose, die in sich zusammenfiel und sich in ein schmerzverzerrtes Geistergesicht verwandelte, aus dem wiederum ein Falke wurde; dann sah sie eine Echse, weitere Angst einflößende Fratzen, Blitze, Wolkengebilde, Feuer. Die emotionalen Ausbrüche der Maske ließen den Professor noch furchterregender wirken, und bei jedem seiner Schritte schien die Erde zu beben. Ein Flüsterer, der dem Professor zu nahe kam, wurde wie von Geisterhand in Stücke gerissen. Und Crowther hatte den Angreifer nicht eine Sekunde lang beachtet. Mahalia krabbelte rasch zur Seite, um dem Professor den Weg frei zu machen. Er schritt an ihr vorbei, und ein weiterer Energiestoß löschte eine andere Sektion der riesigen Streitmacht aus. Die Flüsterer blieben wie erstarrt stehen, begriffen nicht, womit sie es plötzlich zu tun bekommen hatten. Einen Moment lang bildete Mahalia sich ein, dass sie womöglich doch gewinnen würden; dass Crowther einfach zum Haus der Schmerzen marschieren und alles, was ihm im Weg stand, vernichten würde, sodass Mahalia, Matt und Jack ihm bloß über die blutgetränkte Erde nachlaufen mussten. Doch zwei Dinge machten ihr bewusst, dass es nicht so kommen würde. Während Crowther übers Schlachtfeld marschierte, schoss ihm ein roter Blitz aus dem Kopf und flog auf Matt zu. Diesem gelang es, im letzten Moment aus der Flugbahn zu hechten, doch die Druckwelle schleuderte ihn trotzdem durch die Luft, und die Explosionshitze ließ seine Stiefelsohlen qualmen. Crowther konnte die Maske nicht mehr kontrollieren. Die zweite Sache geschah im selben Moment. Die Flüsterer gruppierten sich neu und kamen heranmarschiert. Da sich vor ihr eine große Lücke aufgetan hatte, 427 hatte Mahalia nun einen besseren Blick über die Ebene, und sie war schier überwältigt von der unfassbaren Zahl ihrer Gegner: Es waren wirklich Hunderttausende, und selbst das schien noch untertrieben. Trotzdem kämpften sie unverdrossen weiter; Crowther metzelte ganze Truppenteile nieder, doch sofort waren neue Flüsterer zur Stelle, um den Platz ihrer gefallenen Mitstreiter einzunehmen. Mahalia, Matt und Jack bildeten die Nachhut, um dem Professor den Rücken freizuhalten, doch selbst hinter ihm entgingen die Untoten nicht seinen fürchterlichen Attacken. Einige der aus der Maske schießenden Energiestöße kamen den Gefährten allerdings gefährlich nahe, und bald schon hatte jeder von ihnen verbrannte Stellen an den Armen und im Gesicht. Das fortwährende Geflüster um sie herum erfüllte sie mit zunehmender Verzweiflung. Matt bemerkte als Erster die Gestalt auf der Anhöhe. Er schaute immer wieder kurz hinauf, aber da er sich der unablässigen Angriffe der Flüsterer erwehren musste, war er sich nicht sicher, ob er wirklich sah, was er zu sehen glaubte. Nach einigen Augenblicken aber brüllte er atemlos: »Ich glaube, wir bekommen Hilfe!« Caitlin erreichte den Scheitelpunkt der Anhöhe als Erste. Mit Augen, die in einer Meile Entfernung ein einzelnes Sandkorn erkennen konnten, machte sie Mahalia, Matt und Jack sofort im Getümmel aus. Crowther war ohnehin nicht zu übersehen. Für Caitlin schien es, als wäre der Professor in eine rote Nebelwolke gehüllt. Der Anblick der riesigen Flüsterer-Armee ließ sie nur einen kurzen Moment innehalten - sie hatte erwartet, dass ein dichter Verteidigungsring um das Haus der Schmerzen gezogen sein würde, und deshalb hatte sie Verstärkung mitgebracht. 428 Hinter ihr erklommen die Djazeem-Krieger die Anhöhe. Es waren nicht mehr als fünfhundert, doch Caitlin wusste, dass es den Flüsterern immense Probleme bereiten würde, gegen die Sand-Wesen zu kämpfen. Eigenartigerweise musste sie in dem Moment an Matt denken. Ihr wurde bewusst, wie nahe sie sich ihm gefühlt hatte, bevor es sie nach Birmingham verschlagen hatte, und wie sehr sie ihn vermisst hatte. Hinzu kam eine dumpfe Wut, denn nun würde sie herausfinden, wer Carlton umgebracht hatte. Sie glaubte zu wissen, wer der Täter war, und er würde einen furchtbaren Preis für den Mord zahlen. Wenn sie an Carlton dachte, hatte sie immer Liam vor Augen und spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Bevor sie den Abhang halb hinuntergestürmt war, hatte sie bereits all ihre Pfeile verschossen. Jeder hatte sein Ziel getroffen, sodass sich inmitten der Flüsterer eine schmale Schneise vor ihr auftat. Sie wandten ihr den Rücken zu, denn ihre Aufmerksamkeit galt Crowther und den anderen. Als sie an ihren ersten Opfern vorbeistürmte, hob sie einen Speer vom Boden auf und stemmte sich mit ihm über die Köpfe ihrer Feinde hinweg. Sobald sie gelandet war, wirbelte sie mit dem Speer herum, stach Augen aus, rammte ihn in Gesichter und stieß auf alles ein, was in ihrer Reichweite lag. Aberdutzende Flüsterer starben unter Caitlins ungestümen Attacken. Sie war ein Wirbelsturm aus blanker Gewalt. Als es angebracht schien, warf sie den Speer weg und schnappte sich ein Schwert, mit dem sie die Reihen der Flüsterer weiter lichtete. Und als die Djazeem von der Anhöhe stürmten, stürzte Caitlin sich tiefer ins hin und her wogende Getümmel; nichts konnte sie aufhalten. Sie war zu schnell, zu rück429 sichtslos, zu erfindungsreich, sprang den Flüsterern auf die Schultern und benutzte diese als Sprungbrett, um sich zu ihren Gefährten vorzuarbeiten. Die Krieger der Djazeem bildeten eine Phalanx und stürmten ihr hinterher. So heftig die Flüsterer auch auf sie einschlugen, sie konnten die Streitmacht nicht aufhalten. Ihre Schwerter und Speere trafen nichts als Sand. Gelegentlich landete einer einen Glückstreffer auf das winzige, affenähnliche Geschöpf, das sich in der Rüstung
verbarg und sich sofort an eine sicherere Stelle zurückzog. Zahlenmäßig waren die Gefährten nach wie vor weit unterlegen, doch die Flüsterer waren derart verunsichert, dass Caitlin dies kaltblütig auszunutzen vermochte. Ihre Wildheit schraubte sich in neue Höhen. Die Kriegsgöttin in ihr - die Morrigan - pflügte mit blitzenden Augen und wehender Mähne durch die feindlichen Linien, riss ihren Gegnern die Gliedmaßen ab und schleuderte sie in hohem Bogen durch die Luft. Dann kamen aus dem Nichts die Krähen und hackten den noch zuckenden Leibern die Augen aus. Sie war so grausam, dass die Flüsterer vor ihr zurückwichen; nicht weil sie Angst hatten, denn zu bewussten Gedankengängen waren die Untoten nicht fähig, sondern weil sie nicht begriffen, was da auf sie zukam. Es sah aus wie ein Zerbrechliches Geschöpf, aber es war die menschgewordene Zerstörungswut; nichts konnte dem standhalten. Mahalia war verblüfft, als sie Caitlin näher kommen sah. Zuerst konnte sie es nicht glauben, und dann erwachten ihre Schuldgefühle, doch ihre Lage war zu verzweifelt, um jetzt darüber nachzudenken. Doch als sie sah, mit welch grausamer Wildheit Caitlin kämpfte, bekam sie 430 Angst; sie konnte nicht begreifen, wie die zarte Frau, die sie gekannt hatte, nun mit so monströser Brutalität agieren konnte. Und was würde sie erst tun, wenn sie Mahalia erreichte? Auch Matt war schockiert, aber als er sah, wie rasend schnell Caitlin durch die Flüsterer pflügte, kämpfte er mit neuer Entschlossenheit weiter. Was immer ihr widerfahren war, mit ihr hatten sie eine Chance. Als die Morrigan Crowther erreichte, trat Caitlins Bewusstsein in den Vordergrund. »Professor! Wenn Sie mich hören können: Greifen Sie nicht wahllos an!«, brüllte sie über den kakophonischen Schlachtenlärm hinweg. »Die Maske soll eine schmale Schneise durch die Ebene schlagen!« Crowther schien sie nicht zu verstehen. Die Maske warf sprühende Funken, Lärm und Zorn verdichteten sich zu einem Sturm, der die ganze Welt in Stücke zu reißen drohte. Aber dann endete das Schauspiel abrupt und hinterließ eine gespenstische Stille. Selbst die Flüsterer hielten inne und versuchten zu verstehen, was im Gange war. Purpurne Nebelschwaden hingen in der Luft. Die Welt stand still. Und dann zuckte Crowther zusammen, und ein weißer Lichtstrahl kam aus der Maske herausgeschossen. Er schnitt durch die Leiber der Flüsterer und ließ alles, was ihm im Weg war, zu Asche zerfallen. Er reichte bis zum Felssockel, auf dem das Haus der Schmerzen stand. »Rennt!«, rief Caitlin. Matt stürmte als Erster in die verkohlte Schneise, dicht gefolgt von Mahalia, Jack und Caitlin. Als Letzter kam Crowther, und hätte jemand zurückgeschaut, hätte er gesehen, dass der Professor einige Zentimeter über dem Boden schwebte. 431 Die Schneise war gesäumt von zwei Wällen aus verbrannten Flüsterern, deren verrenkte Leiber in der glühenden Hitze miteinander verschmolzen waren. Der Gestank nach verbranntem Fleisch war ekelerregend. Hinter den Toten starrten die Flüsterer - noch immer viele Zehntausende - zu ihnen herüber. Sie versuchten zu begreifen, was geschehen war, kamen aber nicht auf die Idee, einfach über ihre toten Kameraden hinwegzusteigen und den Gefährten nachzueilen. Pures Adrenalin trieb Matt und die anderen an. Während sie rannten, rückte das Haus der Schmerzen immer deutlicher ins Blickfeld. Es war schwarz wie Vulkanstein, hatte aber keinerlei Ähnlichkeit mit den Gebäuden, die sie aus ihrer Welt kannten. Es erhob sich wie eine riesige Spinne aus der Ebene und hatte beinartige, seltsam verdrehte Auswüchse, die in die Umgebung hinausragten. Dazu hatte es Rundungen und Stachel und eine Art Panzer, aber keine geraden Linien. Man hatte den Eindruck, dass es von seinem Ursprungsort hergekrochen war, sich niedergelassen hatte und alles aufsaugte, was in seine Nähe kam. Und vielleicht war es auch so. Es war gewaltig. Als Matt in den kühlen Schatten des Spinnengebäudes hineinrannte, schätzte er dessen Höhe auf gut fünf Meilen. Es verströmte eine furchteinflößende, Übelkeit erregende Atmosphäre. Und als sie weiter darauf zurannten, blitzten bei ihnen im Geiste grauenvolle Bilder auf: Folterszenen, die schlimmsten Akte von Unmenschlichkeit, Felder voller Toter, Schmerzen und nie endendes Leid. Mahalia schössen Tränen in die Augen. Matt glaubte sich übergeben zu müssen. Jack rannte ungerührt weiter; solche Dinge hatte er sein Leben lang gekannt. Schließlich erreichten sie die schwarzen Granitfelsen, 432 auf denen die Fundamente ruhten. Atemlos stiegen sie hinauf, aber bevor sie weit gekommen waren, überholte Caitlin die anderen mit einer erstaunlichen Beweglichkeit. Matt und Mahalia verstanden nicht, warum die junge Ärztin unbedingt die Erste sein wollte, bis sie einen donnernden, von den ringsum liegenden Felsen widerhallenden Schrei vernahmen. Den Laut verursachte das Echsenross des Flüsterer-Anführers, der von der Seite auf sie zugeritten kam. Er war der Einzige unter den seinen, in dessen Augen das Feuer der Intelligenz brannte. In einer Hand hielt er ein Schwert, in der anderen einen Speer. Als Caitlin auf ihn zustürmte, warf er den Speer nach ihr. Caitlin wich ihm mühelos aus, doch er hätte Mahalias Brust durchbohrt, wenn Jack sich nicht auf sie geworfen und sie umgestoßen hätte. Das Schwert mit beiden
Händen umschlossen, stürmte Caitlin auf den Angreifer zu. Das Ross fletschte die messerscharfen Zähne und bäumte sich auf, versuchte, sie mit den Hufen niederzutrampeln, doch sie wich ihm mühelos aus und rammte ihm das Schwert in den Hals. Heißes, schwarzes Blut spritzte heraus, und der hohe, schmerzerfüllte Schrei des Rosses nahm einen fast menschlichen Klang an. Es schwankte hin und her, die Klinge steckte noch im Hals. Der Reiter rang einige Sekunden um Kontrolle, dann sprang er geschmeidig ab, als das Ross zusammenbrach und sich am Boden in seinen letzten Zuckungen wand. Der Flüsterer landete in perfekter Körperhaltung auf dem Felsen; mit erhobenem Schwert trat er heran. Caitlin hatte keine Waffe. Ohne lange zu überlegen, warf Mahalia ihr das Fomorii-Schwert zu. Caitlin fing es, ohne hinzuschauen, und griff sofort an. Sie parierte, schlug zu, parierte erneut. Alles ging so schnell, dass die 433 anderen nur verschwommene Bewegungen sahen und das Klirren der aufeinanderprallenden Klingen hörten. Sie kämpften minutenlang, doch Caitlins Miene blieb unbewegt, als wäre sie in Trance und würde einen künstlerischen Tanz aufführen, statt einen Kampf auf Leben und Tod auszutragen. Und als die Krähen in einem schwarzen Wirbel um sie herumflogen, war es für die anderen offenkundig, dass man Caitlin nicht besiegen konnte. Die Schlacht war ihr Leben, Töten ihre Berufung. Schließlich wich sie einem Hieb des Flüsterers aus, schwang mit beiden Händen das Schwert herum und schlug ihm den Kopf ab. Er fiel zu Boden, und die Leiche kippte um. Purpurner Nebel entströmte ihr und umfing die Gefährten, bevor eine Windbrise ihn aufs Schlachtfeld hinauswehte. Caitlin wandte sich zu den anderen um; sie war von Kopf bis Fuß mit Blut besudelt und sah aus wie die personifizierte Hölle. Sie bedeutete ihnen, ihr zu folgen, und eilte die Felsen hinauf zu einem abgeflachten Bereich mit einem Eingang, der aussah wie ein aufgerissenes Maul. Mahalias Aufschrei ließ Caitlin herumfahren. Crowther war auf die Knie gesunken; der Speer des FlüstererAnführers hatte seine Brust durchbohrt. Sein Mantel war bereits blutdurchtränkt. Der bestürzende Anblick drängte die Morrigan in den Hintergrund, sodass Caitlin halbwegs Herrin ihrer Sinne war. Sie eilte zu den anderen hinunter. Der Kopf des Professors war auf die Brust gesunken, und die Maske hatte ihren silbrigen Glanz verloren. Jack wollte den Speer herausziehen, doch Matt hielt ihn zurück. »Damit würdest du noch größeren Schaden anrichten«, sagte er. 434 Die Djazeem-Krieger waren den Gefährten durch die Leichenschneise gefolgt und hatten sich um den Felsberg verteilt, auf dem das Haus der Schmerzen stand. »Wir bringen ihn nach oben«, sagte Caitlin. Sie trugen den Professor über die Felsen zum flachen Bereich hinauf und legten ihn dort behutsam hin. Matt zog Caitlin zur Seite und sah ihr prüfend ins Gesicht, um herauszufinden, ob noch etwas von der Frau übrig war, die er gekannt hatte. Zufrieden, dass dem so war, sagte er: »Er stirbt. Wir können nichts für ihn tun.« Caitlin blickte zu den purpurnen Nebelschwaden hinunter und entgegnete: »Wir können nicht riskieren, abzuwarten, bis er tot ist.« »Ich weiß.« »Ich möchte aber nicht, dass er alleine sterben muss.« »Wahrscheinlich bekommt er hinter der Maske sowieso nichts mit. Sie hat ihn völlig unter Kontrolle.« Mahalia spürte, worüber die beiden sprachen, und kam herüber. »Ich bleibe bei ihm.« Caitlin musterte sie kühl; sie spürte, wie sich die Morrigan in ihr regte, registrierte das fiebrige Flattern schwarzer Flügel. Mahalia sah, was in Caitlin vorging, und sagte: »Ich weiß, ich habe etwas Schlimmes getan, aber dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um mich zu bestrafen. Das können Sie später tun, nachdem er gestorben ist.« Ohne auf Mahalia einzugehen, nickte Caitlin Matt zu und eilte zum Eingang des Hauses der Schmerzen. »Was geht da zwischen euch beiden ab?«, fragte Matt das Mädchen. Mahalia schüttelte bloß den Kopf und wandte sich zu Crowther um. »Ich bleibe auch hier«, sagte Jack. »Nein. Wir brauchen dich.« Matts Tonfall verriet, dass er keine Widerrede duldete. 435 »Geh nur«, sagte Mahalia zu Jack. »Ich warte hier auf dich.« Sie wussten beide, dass es eine Lüge war. Sie fielen sich in die Arme und küssten sich innig, dann eilten Jack und Matt hinter Caitlin her. Als Caitlin auf das Haus der Schmerzen zuschritt, schlug ihr der vertraute Geruch von verbranntem Eisen entgegen, und in der Luft flammten grelle Lichtblitze auf. Neben dem Eingang stand der Ritter mit dem Wildschweinkopf-Helm und bedeutete ihr mit einer knappen Geste, ins Haus der Schmerzen einzutreten. Nun erkannte Caitlin, was es mit dem Mann auf sich hatte: Auf irgendeine Weise war er Teil der schrecklichen Wesenheit, die hier lebte, und alles, was er getan hatte, hatte nur dazu gedient, sie herzubringen. Sie erwog kurz, ihm den Kopf abzuschlagen, aber das war sinnlos; sie würde sich ihren Zorn für das aufbewahren, was sie drinnen erwartete. »Geh hinein, Caitlin Shepherd. Dein Schicksal erwartet dich«, sagte er mit donnernder Stimme.
Als sie an ihm vorbeiging, hielt sie ihm die Klingenspitze an die Kehle; er zuckte nicht zurück. »Was sollte das?«, fragte Matt, als sie durch den Eingang schritten. Caitlin blickte von Matt zu dem Ritter. »Sie können ihn nicht sehen?« Matt starrte sie verwirrt an. Offenbar war der Ritter ihr persönlicher Dämon. Ohne noch einmal zurückzuschauen, betrat sie das Haus der Schmerzen. Marys Schritte hallten hohl durch den großen, gefliesten Eingangsbereich des römischen Bades. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie wusste, etwas war hier, aber sie hat436 te keine Ahnung, was es war. Auch Arthur Lee spürte es; der Kater hatte das Fell aufgestellt und presste sich an ihre Wade. Vorsichtig ging sie durch die nächste Tür und trat in den hellen Sonnenschein hinaus. Ein Gang führte um einen quadratischen, zum Himmel offenen Bereich herum. Mary beugte sich übers Geländer und sah das grüne Wasser in dem altertümlichen Badebecken. Die weihevolle Atmosphäre, die Mary spürte, seit sie die Stadt betreten hatte, war hier noch stärker. Fast schien es, als wäre sie lebendig, würde atmen. Mary lief den Gang hinunter und erreichte eine Treppe, über die sie zu den Wasserbecken gelangte, in denen vor fast zweitausend Jahren die Römer gebadet hatten. Die Echos, die hier unten noch lauter waren, hallten vom steinernen Gemäuer wider, das man bei Ausgrabungsarbeiten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts freigelegt hatte. Der Großteil des Bades war im Originalzustand erhalten geblieben, und es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie das Leben hier vor all der Zeit abgelaufen war. Doch die Römer waren bloß eines von vielen Völkern gewesen, die das natürlich warme, stark mineralienhaltige Wasser genossen hatten. Schon viel früher war die Heilquelle ein wichtiger Wallfahrtsort gewesen, so als käme das Wasser aus der Nachbarwelt in diese herübergeflossen, um in Bath einen überirdischen Zauber zu verbreiten. Die allgegenwärtige Ruhe lud zum Verweilen ein. Mary hockte sich an den Beckenrand und tauchte die Finger ins Wasser. Es war angenehm warm und seltsam entspannend, doch als kleine Wellen die Oberfläche kräuselten, wurde es mit einem Mal sonderbar dickflüssig. Anfangs hatte Mary noch die Steinfliesen auf dem 437 Grund erkennen können, nun aber sah es aus, als wäre das Wasser unendlich tief. Die Veränderung hatte eine hypnotische Wirkung, und Mary merkte, dass sie benommen hinabstarrte und darauf wartete, dass sich im Wasser etwas tat. Etwas bewegte sich. Jemand war dort unten, in unermesslicher Tiefe. Die Gestalt kam herauf geschwommen, rollte herum wie ein Delfin; die Haut schimmerte weiß, das Haar war lang und grau. Schließlich stoppte das Wesen wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche und drehte sich auf den Rücken, um zu ihr aufblicken zu können. Mary sah, dass sie in ihr eigenes Gesicht hinabschaute. Sie wich erschrocken zurück, doch die Frau im Wasser blieb ganz ruhig und blickte aus großen Augen zu ihr auf. »Wer bist du?«, fragte Mary. Die Lippen des schwimmenden Wesens bewegten sich, und irgendwie drang die Stimme durchs Wasser zur Oberfläche. »Ich bin du.« Mary beruhigte sich; zwar war es merkwürdig, in sein eigenes Gesicht zu schauen, aber ihr schien keine Gefahr zu drohen. Sie hatte das eigenartige Gefühl, dass das Wasser gar kein Wasser war, sondern ein Fenster in eine andere Welt. »Wir sind ein und dieselbe«, fuhr die schwimmende Mary fort. »Alles ist eins.« »Ist die Göttin hier?« Es folgte eine lange Pause, bevor ihre Doppelgängerin antwortete. »Wenn du ihr zu begegnen wünschst, musst du dich zuerst als würdig erweisen.« »Wie stelle ich das an?« »Folge dem Weg. Dir wird sich alles offenbaren.« Ihr anderes Selbst schwamm nicht davon, sondern ließ sich einfach hinabsinken, bis es in den dunklen Tie438 fen verschwunden war. Mary erhob sich, und als sie noch einmal ins Becken schaute, sah sie wieder die schimmernden Steinfliesen auf dem Grund. Das Gefühl von Verbundenheit mit dem Überirdischen hielt an, während sie nach irgendeiner Art Weg Ausschau hielt. Als sie sich umblickte, bemerkte sie auf dem Boden eine leuchtende blaue Linie. Der Hinweis war eindeutig; sie folgte ihm. Die blaue Linie führte ins angrenzende Bad, das weit weniger gut erhalten war als das erste. Der Raum war überdacht und deutlich kühler. Es dauerte eine Weile, bis Marys Augen sich an das trübe Licht gewöhnt hatten, und dann sah sie, dass in einer Ecke jemand im Halbdunkel stand, reglos wie eine Statue. »Hallo?«, fragte sie unsicher. Nach einigen Augenblicken trat er oder sie einen Schritt vor, doch nicht weit genug, als dass Mary Genaueres hätte erkennen können. Mary erstarrte. Im trüben Licht sah es so aus, als würde sich das lange Haar der Gestalt aus eigener Kraft bewegen. Und als die Gestalt einen weiteren Schritt vortrat, sah Mary, dass es sich tatsächlich bewegte - und
dass es genau genommen gar keine Haare waren, denn dafür waren die Strähnen viel zu dick und zu sehr ineinander verschlungen. Ein eisiger Schauer kroch ihr über den Rücken, als ihr die Kindheitsgeschichten über Götter und Halbgötter, über Ritterzüge und Monster einfielen. Sie wusste, dass sie augenblicklich die Flucht ergreifen sollte, aber dann würde sie niemals der Göttin begegnen, und ihre ganze Odyssee wäre vergebens gewesen. Ganz langsam trat die Gestalt einen weiteren Schritt vor, als wollte sie prüfen, ob die Besucherin sie schon erkennen konnte. Mary kehrte ihr rasch den Rücken zu, 439 hob Arthur Lee vom Boden auf und hielt ihm die Augen zu, damit auch er die Gestalt nicht zu sehen bekam. »Also kennst du mich.« Ein leichtes Zischeln schwang in der Stimme mit; sie klang androgyn, und es ließ sich unmöglich sagen, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte. »Ich glaube ...« Marys Stimme bebte so stark, dass sie verstummte, um ihre Furcht nicht zu offenbaren. Der oder die Unbekannte trat heran. Ein Schauder durchfuhr Mary. Die Gestalt stand nun direkt hinter ihr. Wenn sie sich jetzt zu ihr umdrehte ... »Du weißt, was geschieht, wenn du mein Gesicht siehst?« »Ja.« »Die Griechen haben mich gekannt, obwohl ich keine der ihren war. Perseus hat nur einen Aspekt gesehen. Auch die Kelten haben mich gekannt und für einen Menschen gehalten, doch ihnen ging es nur um meine Rolle als Diener des Sulis. Aber auch zu ihnen habe ich nicht gehört. Ich bin Teil von etwas Größerem ... der Macht, die diesem Orte innewohnt. Ich bin die Dienerin. Begreifst du das?« Mary nickte beklommen. »Wenn du wissen möchtest, wie ich aussehe, werde ich es dir beschreiben: Mein Haar gleicht den wogenden Wellen des Meeres, aber ebenso strahlt es wie Sonnenschein in die Ferne. Am Kopf habe ich steinerne Flügel. Ich bin Wasser, Feuer, Luft und Erde. Ich bin ein Teil von allem. Und dem diene ich. Begreifst du das?« Diesmal klang die Stimme härter, und Mary erbebte, als sie sie vernahm. »Du wirst meine Hand nehmen, und ich werde dich führen. Du musst die Augen geschlossen halten, denn du weißt, was geschieht, wenn du mein Gesicht er440 blickst. Ich könnte deinen Tod herbeiführen; du würdest in einen Abgrund stürzen und dir dabei alle Knochen brechen. Bedenke, dies ist eine Prüfung, kein Trick. Alles, was auf dem Spiel zu stehen scheint, steht wirklich auf dem Spiel. Falls du versagst, wirst du mit dem Leben bezahlen.« »Ich verstehe.« »Gut. Dann nimm meine Hand. Dein Leben wird mir gehören. Ob du lebst oder stirbst, ist meine Entscheidung. Und du musst mir völlig vertrauen. Solltest du dich losreißen ... solltest du nur ein klein wenig die Augen öffnen ...« »Ich weiß, ich weiß!« Mary kniff die Augen zu und hielt die Hand nach hinten. »Na los, mach schon!« Kühle, harte Finger schlössen sich um ihre; die Haut fühlte sich fast schuppig an. Mary murmelte ein kurzes Stoßgebet, dann ließ sie sich von der Dienerin fortführen. Mary hatte keine Ahnung, wo es hinging. Sie hielt die Augen so fest geschlossen, dass die Muskeln drum herum schmerzten. Die kühle Hand zog sie immer weiter und weiter. Plötzlich spürte sie Sonnenschein im Gesicht und nahm an, dass die Dienerin sie nach draußen geführt hatte, doch die Luft roch anders, und sie hatte das eigenartige Gefühl, nicht mehr auf dem Gelände des römisches Bades zu sein. Es ging immer weiter, und hin und wieder stöhnte sie erschrocken auf, wenn ihr Fuß gegen ein Hindernis stieß und sie befürchtete, instinktiv die Augen aufzureißen. Dann folgten einige Schreckmomente, als sie das Gefühl hatte, am Rande eines jähen Abgrunds entlangzulaufen; von den Seiten und von unten kommende Windböen zerrten an ihr, und in einem plötzlichen Anfall von Höhenangst wurde ihr schwindlig. Sie hatte keine Ahnung, wie es ihr gelang, nicht auszurutschen; ihre Führerin 441 nahm keine Rücksicht auf sie, gab ihr keinerlei Hilfestellung. Mary konnte nur tun, was man ihr gesagt hatte: der Dienerin voll und ganz vertrauen. Die furchterregende Prüfung schien Stunden zu dauern, obwohl es wahrscheinlich nur zehn Minuten waren, und dann konnte Mary plötzlich nicht mehr die Hand der Dienerin in ihrer spüren. Sie tastete in der Luft, war sich nicht sicher, ob sie versehentlich losgelassen hatte, konnte die Hand aber nirgendwo finden. Ihr erster Gedanke war, dass es sich dabei um einen Teil der Prüfung handelte: Wenn sie die Augen öffnete, würde die Dienerin vor ihr stehen und ihr ins Gesicht starren. Sie wartete volle fünf Minuten, tastete immer wieder um sich und gelangte schließlich zu dem Schluss, dass die Dienerin verschwunden war. Sie öffnete vorsichtig die Augen, schaute zuerst nur auf den Boden und stellte zu ihrer tiefen Erleichterung fest, dass sie vor einer der Touristen-Schautafeln im Untergeschoss des Stadtbades stand. Ganz in der Nähe hörte sie Wasserrauschen, und in der Luft hingen Dampfschwaden: Das musste die eigentliche Heilquelle sein, nahm sie an. Sie ging in die Richtung, aus der das Rauschen kam, fand sich aber nach wenigen Schritten vor einer Mauer aus herabfließendem Wasser wieder. Als Mary versuchte hindurchzulaufen, war es, als wäre sie gegen eine
Felswand geprallt. Erst als sie einige Schritte zurücktrat, sah sie die beiden Masken, die ganz in der Nähe an der Wand hingen. Eine war konturlos, hatte aber eine weibliche Form. Die andere war eine erschreckend genaue Nachbildung ihrer eigenen Gesichtszüge. Es war zutiefst beunruhigend, sie dort hängen zu sehen, denn es schien, als hätten die Höheren Mächte schon immer gewusst, dass Mary eines Tages nach Bath kommen würde. 442 Nachdem sie eine Weile gegrübelt hatte, was das alles bedeuten mochte, schlussfolgerte sie, dass es ein weiterer Teil der Prüfung sein musste. Man erwartete von ihr, eine der beiden Masken auszuwählen, und damit wäre die Prüfung vielleicht abgeschlossen. Es schien so eindeutig; das musste es sein. Sie nahm die Maske, die ihr Gesicht darstellte - das Material fühlte sich an, als bestünde es aus echter Haut. Sie wollte die Maske aufsetzen, aber dann zögerte sie. Es war zu einfach, viel zu einfach. Dies sollte eine Prüfung sein, also musste noch etwas anderes dahinterstecken. Nur was? Sie setzte sich an die Wand, legte die Maske neben sich auf den Boden und streichelte Arthur Lee, während sie angestrengt nachdachte. Was hatte der erste Test bedeutet?, fragte sie sich. Sie betrachtete es aus allen Blickwinkeln und befand, dass Glaube die Antwort war. Sie hatte ihr Vertrauen, ihren Glauben vollständig in die Hand der Höheren Mächte gelegt. Und den Test hatte sie offensichtlich bestanden. Aber dieser hier? Sie schaute zu der gesichtslosen Maske, stand auf und nahm sie von der Wand. Diese fühlte sich kalt und leblos an. Sie blickte zwischen den beiden Masken hin und her und dachte an die Warnung der Dienerin, dass sie mit dem Leben bezahlen würde, falls sie versagte. Schließlich glaubte sie, die Lösung zu kennen. Sie nahm allen Mut zusammen und setzte die konturlose Maske auf. Sie passte perfekt und war angenehm kühl. Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Sie hörte, dass das Prasseln der Wassermauer verklang, und zu ihren Füßen ertönte ein metallisches Klicken. Sie nahm die Maske ab und sah mit Entsetzen, dass zwei metallische Eisenspitzen aus der Innenseite der Gesichtsmaske herausragten, genau an der Stelle, wo 443 ihre Augen gewesen wären, wenn sie die Maske aufgesetzt hätte. Benommen lehnte sie sich an die Wand zurück und konnte kaum glauben, wie knapp sie dem Tod entronnen war. Sie beschloss, dass die Wahl der konturlosen Maske symbolisch dafür war, dass sie in Gegenwart der Göttin eine demütige Identitätslosigkeit akzeptieren würde. Glaube und Demut - diese beiden Dinge würde sie in dem verborgenen Heiligtum benötigen. Sie hängte die konturlose Maske wieder an die Wand und ging weiter. Als sie um eine Ecke kam, blieb ihr fast das Herz stehen, denn wie aus dem Nichts stand jemand vor ihr. Zuerst dachte sie, es wäre die Dienerin, doch die Gestalt war viel kleiner und gedrungener und trug eine grobe graue Kutte; die tief ins Gesicht gezogene Kapuze ließ nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Genau genommen war Mary sich nicht einmal sicher, ob sich unter der Kapuze wirklich ein Gesicht oder vielleicht nur gähnende Leere verbarg. »Zwei Prüfungen hast du bestanden«, sagte die Gestalt, der Stimme nach eine alte Frau. »Der dritte und letzte Test ist der wichtigste. Er besteht nur aus einer einzigen Frage. Beantworte sie weise, dann hast du bestanden. Die falsche Antwort verurteilt dich zum Tode, schlimmer noch, zur ewigen Verdammung. Dein Geist würde niemals nach Graulande gelangen, sondern für alle Zeiten im Nirgendwo gefangen sein.« Mary holte tief Luft; sie wusste, dass es nun kein Zurück mehr gab. Eine einzige Frage klang nicht weiter bemerkenswert, doch Mary wusste, dass dies die schwerste aller Prüfungen werden würde: die letzte Hürde. »Frag«, sagte sie aufgeregt. »Wie du wünschst. Welches ist das dunkelste Geheimnis in deinem Herzen?« 444 Mary zuckte zusammen, wusste nicht, woran sie als Erstes denken sollte. Woher sollte sie auf die Schnelle wissen, welches ihrer vielen Geheimnisse wirklich das dunkelste war? Die alte Frau schien ihre Gedanken zu lesen. Sie hob warnend den Finger. »Irgendein kleines Geheimnis reicht nicht aus. Und das zweitdunkelste auch nicht. Aber tief in deinem Herzen weißt du, welches das allerschlimmste ist - eines, von dem du niemals sprichst, weil du befürchtest, dass deine Mitmenschen dich dafür hassen würden. Eines, das du dir niemals selbst eingestanden hast.« Mary schloss die Augen und überlegte. Doch sie merkte, dass sie hinter ihrer Panik ganz genau wusste, welches ihr dunkelstes Geheimnis war; es war diese eine Sache, der sie sich nie gestellt hatte, die sie immer verdrängt hatte. »Sprich.« »Ich kann nicht.« »Dann stirb.« Mary stieß ein bebendes Seufzen aus, während sie um Fassung rang, und dann ließ sie es mit heiserer Stimme zum ersten Mal heraus. »Meine Mutter lag im Sterben. Wir kamen schon seit einer ganzen Weile nicht mehr besonders gut miteinander aus. Ich war ein kleiner Rebell, habe immer absichtlich Sachen gesagt und getan, die sie auf die Palme brachten. Wenn ich mit jemandem geschlafen hatte - selbst wenn es nur eine beiläufige Nummer auf einer Party gewesen war -, habe ich es ihr brühwarm erzählt, um sie zu schocken. Oder wenn ich Drogen genommen habe. Es waren die Sechzigerjahre. Damals haben alle solche Sachen gemacht... zumindest
ist das immer meine Rechtfertigung vor mir selbst gewesen. Aber es ist bloß eine billige Ausrede. Jeder ist selbst für 445 seine Taten verantwortlich. Man kann anderen nicht die Schuld zuschieben.« Sie sprach zu sich selbst, aber es klang, als würde jemand anders über eine Person sprechen, die sie nicht kannte. »Ich hasse mich dafür, wie ich damals gewesen bin. Ich fand mich so modern und klug ... klüger als meine Eltern. Sie hatten keinen Schimmer von der neuen Welt, die wir uns damals zurechtbastelten. Wie naiv ich doch war. Wie naiv und arrogant! Ich fand mich so superschlau, dabei war ich der größte Trottel von allen!« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Tränen standen in ihren Augen, doch sie sah die Alte nicht an. Ihr Blick war in die Vergangenheit gerichtet, auf den sonnendurchfluteten Sommer der Liebe. »Ich hatte meiner Mutter erzählt, dass ich sie nicht mehr brauche, dass sie mich nicht mehr an die Leine legen könne. Der Frau, die mich großgezogen und alles für mich geopfert hat. Ich brauchte sie nicht mehr! Und dann hat sie eines Tages angerufen und mir erzählt, sie liege im Sterben.« Die Worte blieben ihr im Hals stecken; sie konnte nicht weitersprechen. »Du musst alles erzählen«, forderte die Alte sie auf. Mary beruhigte sich ein wenig, doch ihre Brust war noch immer wie zugeschnürt. »Ich sagte ihr, ich würde mit diesem Typen losziehen. Sie sagte, es sei dringend. Ich sagte, sie solle nicht so dramatisch sein ... sie war immer die Drama-Königin. Ich meinte also, ich würde wegfahren und sie anrufen, wenn ich wieder zurück wäre. Wir fuhren zu irgendeinem Festival, nahmen jede Menge Drogen, hatten wilden Sex, und dann bin ich wieder zurückgefahren und habe sie immer noch nicht angerufen. Das dunkle Geheimnis? Ich hatte meine Mutter nicht vergessen. Ich hatte einfach keine Lust, mich mit dem Thema Sterben auseinanderzusetzen. Das zieht 446 einen doch bloß runter. Ich hatte zu viel Spaß, um mich von so etwas stören zu lassen. Ich würde sie sowieso nicht vermissen - ich meine, wir haben uns ja überhaupt nicht verstanden!« Sie starrte ins Leere und sah im Geist die furchtbare Szene ablaufen. »Ich weiß noch, wo ich war, als ich einen Anruf erhielt und von ihrem Tod erfuhr. Ich war in meiner Wohnung, voll auf LSD, mit irgendeinem jungen Typen und habe Love gehört, >Alone Again Or